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Von Beileidsbesuchen bitten wir abzusehen
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rororo thriller Herausgegeben von Bernd Jost 58.-60. Tausend ...
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Von Beileidsbesuchen bitten wir abzusehen
Rowohlt
rororo thriller Herausgegeben von Bernd Jost 58.-60. Tausend Mai 1988 Erstausgabe Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Juli 1972
Umschlagentwurf Katrin Mack Copyright © 1972 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Reprosatz Herbert Kröger, Hamburg 80 Printed in Germany 580-ISBN 3 499 42250 6
Max Nedomanski ist tot – das steht fest. Das ist aber zugleich auch das einzige, was feststeht. Der Arzt, der den Tod konstatiert, ist kein Arzt. Zu dem Zeitpunkt, zu dem er es tut, hat Nedomanski noch gelebt. Die Tatsache, daß eine Anzahl Menschen sowohl gute Gründe als auch Gelegenheit hatten, Nedomanski umzubringen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er sehr wohl auch eines natürlichen Todes gestorben sein kann; ferner ist die Möglichkeit eines Selbstmordes nicht auszuschließen, und selbst Tötung auf Verlangen wäre vorstellbar… Es ist alles sehr kompliziert. Dann wird ein Mann festgenommen: ein Einbrecher, der nachweislich, im übrigen auch unbestritten, in das Zimmer eingedrungen ist, in dem Nedomanski lag – noch lebend lag? Oder bereits tot? Und, falls tot: wie zu Tode gekommen? «Er hat noch gelebt!» behauptet der Einbrecher. «Und ich habe vom Nebenraum aus gehört, wie er geröchelt hat. Aber ob ihn jemand erwürgt hat, kann ich nicht sagen…» Immerhin ergibt sich im Verlauf der Untersuchung, daß alles für einen Mord spricht. Und dann stellt sich heraus, daß ein Mann, der zunächst kaum als Täter in Betracht zu kommen schien, ein recht handfestes Motiv gehabt haben könnte. Die Frage ist nur: Hatte er tatsächlich ein Motiv?
A Faint Cold Fear Thrills Through My Veins • William Shakespeare
Die Hauptpersonen
Max Nedomanski: stirbt – es fragt sich nur, woran. Beziehungsweise, durch wen. Walter Nedomanski, Maria Nedomanski, Guido Winkler, Martina Dahms, Dieter Dreyer: könnten aus recht unterschiedlichen Gründen am vorzeitigen Ableben Max Nedomanskis interessiert gewesen sein. Manfred (Pokerface) Raabe: gerät in eine Situation, die ihn dazu prädestiniert, in Mordverdacht zu geraten. Robert Borkenhagen: betätigt sich als Hansdampf in allen Gassen und merkt, daß dies mit gewissen Risiken verbunden sein kann. -ky: beschränkt sich weitgehend darauf, zu lesen und gerät trotzdem an das falsche Ende einer Pistole.
Da dies – trotz anderslautender Behauptungen des Autors –ein Roman ist, sind alle Personen und Ereignisse frei erfunden; jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Begebenheiten könnte darum nur auf einem Zufall beruhen.
Der See war mir nie so groß erschienen. Ich hatte das Gefühl, ununterbrochen durch ein umgedrehtes Fernglas zu schauen. Unser Blockhaus am Ufer war nur noch ein kleiner brauner Würfel; und seltsam, wenn ich die NEDO III wendete und auf den Steg zuhielt, dann wurden die weißen Villen am Strand immer winziger. Ich rieb mir die Augen, bis sie tränten; ich versuchte es mit einer Brille, aber das half nichts… Vielleicht lag es am Wetter. Die Wolken hingen tief herab, und ich glaubte zuweilen, unter einer weitgespannten Betondecke dahinzufahren. Das Wasser war grau und kam mir eigentümlich zähflüssig vor. Der Motor dröhnte monoton; der Plastikrumpf vibrierte leicht. Ich fror, obwohl mir Max unser grünes Badetuch um die Schultern gelegt hatte. Wir waren allein, nirgendwo ein anderes Boot. Auch kein Vogel, kein Fisch, kein Insekt – alles wie ausgestorben. Wie spät war es überhaupt? War es noch Vormittag? Oder schon Abend? Ich wußte es nicht… Sonderbar, daß mein Bruder von alldem nichts merkte. Für ihn war es eine Bootsfahrt wie jede andere. Er witterte nichts. Er redete von der Firma, von den Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung, von modernen Public-Relations-Methoden und von den Schwierigkeiten mit dem neuen Betriebsrat. Wie immer. Inzwischen war es völlig windstill geworden, und als ich den Motor abgestellt hatte, um nur so dahinzugleiten, brach sich hinten an den steilen Wänden der Berge der erste Donner. Ein dumpfer, ein schauriger Ton. Es war heiß geworden, heiß und drückend schwül. Der Schweiß brach mir aus, doch ich fror noch immer. Die Luft war plötzlich stickig, das Atmen fiel mir schwer, ich jiemte wie ein Asthmakranker. Mein Bruder schien das alles nicht so richtig wahrzunehmen. Er hielt eine Zeitung in der Hand und wies lachend auf einen mehrspaltigen Artikel. Lies mal, sagte er. Doch ich konnte nicht – die Buchstaben
waren viel zu klein, waren nur Punkte. Sie schreiben etwas über mich, sagte er. Dann dröhnte seine Stimme über das Wasser, drang aus vielen unsichtbaren Lautsprechern zu mir herüber, schwappte über mir zusammen: Max Nedomanski ist es mit Tatkraft, Können und Geschick gelungen, den Großen der Branche zu trotzen. Seit sie die Produktion von Multivitamin-Dragees aufgenommen haben, können die NEDO-Werke wieder einer gesicherten Zukunft entgegensehen. Das neuentwickelte Präparat NEDO-Vit ist ein ausgesprochener Verkaufsschlager geworden… Die Lautsprecher dröhnten weiter; ich hörte nicht mehr zu. Von mir, der ich das alles in die Wege geleitet und entwickelt hatte, war ohnehin nicht die Rede. Wer verschwendet schon seine Druckerschwärze, wenn es um Walter Nedomanski geht, den verwachsenen Sonderling? Max aber strahlte übers ganze Gesicht. Er schälte sich aus seinem weiten Bademantel, um noch einmal ins Wasser zu springen. Er sah jung und kräftig aus und nicht so fett wie andere Männer seines Jahrgangs. Ich zeigte zum Himmel und meinte, das Unwetter werde jeden Augenblick losbrechen. Doch schon schwamm er im See und rief mir prustend zu, ich solle mit dem Boot in seiner Nähe bleiben, damit er jederzeit hineinklettern könne. Dann kraulte er mit kräftigen Schlägen dem westlichen Ufer entgegen. Er kam auch gut voran. Ich ließ den Motor an und fuhr seitwärts vor ihm her. Stunden schienen zu vergehen, doch ich hatte den Eindruck, als bewegten wir uns ständig auf der Stelle. Dann brach das Unwetter los. Eine Bö peitschte das Wasser, und dann raste der Sturm. Schaumgekrönte Wellen rollten über den roten Bug des Bootes hinweg. Regen schlug mir ins Gesicht; der Uferstreifen war verschwunden. Max schrie: Los, zieh mich an Bord! Ich fuhr eine Schleife und hielt auf ihn zu. Seine Hände schossen hoch, die Finger streckten sich, es
waren nur noch Zentimeter bis zum Bootsrand – da gab ich wieder Gas. Die NEDO III schoß davon. Hinter mir ertönten Schreie. Ich wartete ein paar Sekunden, dann wendete ich und fuhr zu Max zurück. Er hatte schwer mit den Wellen zu kämpfen, mußte tüchtig Wasser schlucken. Doch er war ein guter Schwimmer. Er rief, mach doch keinen Quatsch, das ist nicht sehr witzig, das geht zu weit! Ich entschuldigte mich und warf ihm eine feste Nylonleine zu. Zentimeter um Zentimeter zog er sich ans Boot heran. Schon glaubte er, es geschafft zu haben, da ließ ich die Leine plötzlich los. Im Nu lagen zwei Körperlängen zwischen uns – dann drei, vier, fünf. Er flehte und bettelte, er schimpfte und drohte, bis er so viel Wasser im Mund hatte, daß es nur noch gurgelte. Mit wilder Kraft schwamm er auf mich zu, die Todesangst trieb ihn voran. Ich richtete meine Geschwindigkeit so ein, daß ich ihm immer eine knappe Bootslänge voraus war. Dabei fuhr ich noch, den starken Wellengang mißachtend, im Kreise herum, so daß er langsam alle Energien verbrauchte, ohne dem fernen Ufer näher zu kommen. Hin und wieder ließ er sich treiben und verfluchte mich. Dann kämpfte er sich wieder an das Boot heran. Ich sorgte dafür, daß der Motor für Sekunden stotterte und die NEDO III an Fahrt verlor. Er konnte wieder hoffen. Wenn der Motor versagte, war er gerettet. Ich tat verzweifelt und sah, wie er seine letzten Kraftreserven mobilisierte. Er kam auch heran… Ein einziger Meter noch bis zum Heck des Bootes, ein halber Meter; schon schlägt er die Beine zusammen, um aus dem Wasser zu schnellen und den rot-weißen Rettungsring zu packen – da lasse ich das Boot mit einem schnellen Griff zum Gashebel davonschießen. Er versinkt im aufgewühlten Wasser, fängt sich wieder, schnappt nach Luft…
Ich mußte mehr als fünf Minuten warten, bis er verschwunden war. Endgültig verschwunden.
Das sind nur drei von vielleicht dreihundert inzwischen vollgeschriebenen Blättern. Ein Tagtraum von Walter Nedomanski; er hat ihn für mich aufgeschrieben, nachdem es mir gelungen war, ihn unter Alkohol zu setzen… Das wäre eigentlich ein guter Aufhänger für die Story. Bloß zu lang, verdammt noch mal! Vier Seiten, hat der Chefredakteur gesagt… Der spinnt ja – vier Seiten! Das soll er mir erst mal vormachen. „Straffen, -ky, straffen!“ hat er gesagt, „das ist das ganze Geheimnis!“ Rindvieh. Daß er mich -ky nennt, stört mich nicht mehr; die ganze Redaktion ruft mich bei meinem Kürzel. Ein paar sagen auch einfach Doktor zu mir… Nein, aber daß er immer solche Banalitäten… Ach was: soll er doch. Genau 20 Uhr ist es, und ehe ich ins Bett gehe, muß ich mich entschieden haben, ob ich diesen Tatsachenbericht nun schreibe oder nicht. Tatsachenbericht. Ob da ein Traum… Ich glaube, ein Traum ist doch kein guter Aufhänger. Ich sortiere die Blätter besser gleich aus. Bleiben noch 297 Seiten Material für vier Seiten Text… Scheiße. Aus den Bergen von Papier, die hier vor mir liegen, sollen vier Illustriertenseiten werden, maximal vier, einschließlich der Fotos. Das schafft kein Mensch! Aber ich habe viel zuviel Arbeit in die Nedomanski-Story investiert, um sie jetzt so einfach in der Schublade verschimmeln zu lassen. Tatsachenbericht? Daß ich nicht lache! Wo habe ich denn wirklich Fakten? Das meiste sind doch Thesen, Mutmaßungen, Spekulationen… Egal; bevor das Material nicht durchgesehen ist, läßt sich gar nichts sagen.
Ich fürchte, das Ganze scheitert daran, daß ich keinen Anfang finde. Vielleicht geht es doch mit dem Tagtraum von Walter Nedomanski. Man müßte nur dezent andeuten, daß das, was anfangs nur Traum ist, sehr schnell Wirklichkeit werden kann. Oder daß Max Nedomanski durchaus in der Lage ist, den Spieß auch umzudrehen. Und irgendwie müßte man dem Leser sagen: Keine Angst, du kriegst deinen Mord auf alle Fälle – nur ein Stückchen weiter hinten; und es bleibt jemand auf der Strecke, der nicht im Traum daran gedacht hat… Die Auswahl an Opfern ist groß. Ich brauche nur mal meine Zettel durchzublättern. Max und Walter Nedomanski hatten wir schon; nehmen wir mal Tina. Blatt Nr. 24. Martina (,Tina’) Dahms, 24, Sekretärin und Geliebte von Max Nedomanski. Schweres Schicksal, von N. aus dem Dreck gezogen, geisteskranke Mutter (Schizophrenie). Szene von mir nach einem vertraulichen Bericht der Sachbearbeiterin Ingeborg B. gestaltet. Tina ist klein, zart, zerbrechlich, mädchenhaft. Ihr Gesicht ist schmal, die dunklen Haare fallen lang auf die Schultern herab. Ihre Augen sind groß, braun, mandelförmig, ein wenig japanisch. Ihr Näschen ist breit und trägt eine aufgesetzte Kuppe – Himmelfahrtsnase sagt man in Berlin. Max Nedomanski hat einen ausgeprägten Lolita-Komplex, und sie ist das Kleinod seiner Sammlung. Er besucht sie regelmäßig in dem Apartment, das er ihr in der Nähe des Kurfürstendamms eingerichtet hat. Aber das reicht ihm nicht. Er ist es nicht gewohnt, die Befriedigung seiner Bedürfnisse auf die lange Bank zu schieben. So kommt er eines Nachmittags in sein Vorzimmer und schließt die Türen hinter sich ab. Er riecht nach Schweiß und Alkohol. „Was soll denn das?“ fragt sie.
„Siehst du doch“, antwortet er und fummelt an seiner Hose herum. Sie weicht nach hinten zurück und stößt mit dem Gesäß gegen ihren Schreibtisch. Er drängt sich gegen sie, sie stößt ihn zurück. Sie will schreien, er erstickt ihren Schrei mit einem brutalen Kuß. Seine rechte Hand fährt unter ihren schwarzen Rock, schiebt ihn weit hinauf. Sie wehrt sich, er bricht ihren Widerstand. Er ist wütend geworden. Ein Kettchen, das sie am Handgelenk trägt, klirrt zu Boden. „Wozu bezahle ich dich denn?“ keucht er. Sie läßt alles lautlos über sich ergehen. Er ist gerade fertig, da klingelt das Telefon. Er läßt von ihr ab, ordnet seine Hose und nimmt den Hörer hoch. „Ja, Herr Professor“, sagt er, schwer atmend, „ja, ich bin gleich bei Ihnen im Institut.“ Er bückt sich, hebt das Kettchen auf und läßt es gedankenlos in die Tasche gleiten. Dann geht er zur Tür, schließt auf, ist draußen. Ohne einen Blick für das Mädchen. Tina sitzt schluchzend am Schreibtisch. „Ich bringe dich um!“ flüstert sie. „Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich…“
… Auch nicht schlecht. Aber als Anfang? Ich weiß nicht… Sollte man aber auf alle Fälle drinlassen. Schmeckt allerdings ein bißchen nach Klischee und Kolportage… Na und? Schließlich machen wir eine Illustrierte und keine Literaturzeitschrift. Wenn ich meinen Ringordner so durchsehe und in meinem Zettelkasten wühle, dann kann ich nur sagen: Die potentiellen Mörder sind unter uns! Es handelt sich bei ihnen durch die Bank um Menschen, die für eine solche Story was hergeben,
die man mit wenigen Strichen zum Leben erwecken kann. Das ist das große Plus. Blatt Nr. 36. Guido Winkler, 26, Neffe von Max Nedomanski, von Beruf Industriekaufmann. Schwergewichtig. Herzfehler. Wirkt altmodisch und opahaft. Schreibt in einem Brief an seinen Freund Werner F. in Bonn: … und so bin ich noch immer todunglücklich. Ich liebe Tina mit der ganzen Kraft meines Herzens, sie bestimmt meine Gedanken und meine Träume, aber sie jemals zu besitzen, ist so hoffnungslos wie das Unterfangen, über den Atlantik zu schwimmen. Wir sehen uns öfter, wenn ich im Büro meines Onkels zu tun habe (wozu ich natürlich jede Gelegenheit nütze), aber jeden schüchternen Annäherungsversuch weist sie kühl und bestimmt zurück. Sie ist meinem Onkel vollkommen hörig. Er überhäuft sie mit Geschenken. Und gegen einen Max Nedomanski komme ich mit meinem 1050 netto nicht an. Wenn Du wieder in Berlin bist, Werner, dann müssen wir ausgiebig über alles reden. Ich habe Angst – Angst vor mir selbst. Immer wieder ertappe ich mich bei dem Gedanken, ihn aus dem Wege zu räumen – diesen verdammten Blutsauger! Es hat mich einige Mühe und Hundert-Mark-Scheine gekostet, diesen Brief für meine Dokumentation zu erwerben… Ich blättere weiter. Ah, Maria Nedomanski! Blatt Nr. 51. Maria Nedomanski, 48, in ihrer zweiten Ehe dritte Frau von Max Nedomanski. Herb, etwas maskulines Gesicht, elegant gekleidet, arrogant. Aussage einer guten Bekannten von ihr (Eva-Maria R. aus dem gleichen Tennisclub.): … ja, wir haben auch über den Mordfall Wimmer gesprochen… Sie erinnern sich doch? Die Wimmer hatte ihren Mann mit E 605 vergiftet, weil er sie mit mehreren Mädchen betrog und sich überhaupt nicht mehr um sie kümmerte. Als wir uns darüber unterhielten, sagte Maria, sagte Frau
Nedomanski zu mir: „Ich verstehe die Wimmer; ich würde sie freisprechen. Ich würde ihr noch eine Belohnung zukommen lassen. Diese Männer haben nichts anderes verdient! Irgendwann kommen wir alle mal an den Punkt…“ Ich kann Ihnen sagen, Herr Doktor, mir lief es eiskalt den Rücken runter! Blatt Nr. 62. Dieter Dreyer, 21, ungelernter Arbeiter, jahrelang bei Max Nedomanski als Bote, Butler, Entertainer, Gärtner und Hausmeister beschäftigt. Klein, dicklich, Babygesicht, Spitzname ,Moppel’. Nach verschiedenen Recherchen von mir geschriebene Szene: Dreyer konzentrierte sich auf Nedomanskis birnenförmigen Kopf. Die Entfernung mochte fünf Meter betragen, eher noch weniger. Langsam hob er die Pistole. Er war ganz ruhig; der Lauf der Waffe zitterte nicht. Er hielt unwillkürlich den Atem an. Jetzt bildeten Kimme und Korn und Nedomanskis flache Stirn eine Linie. Für den Bruchteil einer Sekunde schwankte der Lauf ein wenig nach rechts… Dreyer korrigierte die Abweichung, ohne nervös zu werden, und drückte ab. Die Kugel drang über dem rechten Auge in die Stirn. Wäre auch kein schlechter Anfang. Allerdings müßte dann kommen, daß Dreyer lediglich Max Nedomanskis Foto aus dem Mitteilungsblatt der NEDO-Werke ausgeschnitten und auf ein Stück Pappe geklebt hatte, um eine geeignete Zielscheibe für seine Übungen mit der Luftpistole zu haben. Blatt Nr. 54. Manfred Raabe, 31, Spitzname ,Freddy’, Ladearbeiter, betätigt sich im Augenblick als Einbrecher. Sein Komplice arbeitet in einem Delikatessengeschäft, das die Parties reicher Leute beliefert. Er bekommt von dort die Tips, wo etwas los ist, und steigt dann ein, während die Gäste lärmend feiern, und läßt Schmuck und Geld mitgehen. Ein Kumpel (Günther G.) über ihn:
Freddy ist ein eiskalter Bursche. Er hat mir des öfteren gesagt, daß er jeden umlegt, der sich ihm in den Weg stellt. Einen Mordversuch hat er ja schon aufm Konto. Aber das weiß keiner. Das wären die eigentlichen Hauptpersonen der Handlung… Moment, da war doch noch… Wo hab ich denn das Blatt? Ach so – das muß weiter vorn liegen. Ich hätte das Material unter der laufenden Nummer sortiert lassen sollen. Systematiker sollte man sein… Hier! Blatt Nr. 33. Max Nedomanski, 56, Unternehmer. Bemerkung zu einem Geschäftsfreund am 25. Mai abends im Coupe 77: Alles was da um mich herum kreucht und fleucht ist mir derart zuwider – kannst du dir gar nicht vorstellen! Weißt du, was ich mir manchmal denke? Ich lade die ganze Bagage zu meinem Geburtstag in meine Villa ein – alle die lieben Verwandten und sogenannten Freunde, die mir dauernd in den Arsch kriechen, obwohl sie mich nicht ausstehen können… Und unten im Keller liegt ein Haufen Dynamit, und in dem Moment, wo sie auf mein Wohl anstoßen, fliegt der ganze Laden in die Luft – das wäre doch endlich mal was anderes! Mich kotzt sowieso alles an… Du bist doch Bauunternehmer, Heinz, du sprengst doch jeden Monat in den Sanierungsgebieten die alten Mietskasernen in die Luft – kannst du mir nicht ‘n bißchen Dynamit… Was, du willst nicht? Daß ich nicht lache! Ich hab dich doch in der Hand – und wenn ich will, dann besorgst du mir Dynamit, verstanden?! Mensch, bin ich besoffen! Nicht schlecht, eine recht effektvolle Erklärung. Man muß sie nur an der richtigen Stelle placieren. Aber wie bekomme ich denn eine sinnvolle Ordnung in meine Sammlung? ScheißArbeit! Halb neun ist es schon geworden, verdammt noch mal!
Und diesen dreimal verfluchten Borkenhagen muß ich auch noch irgendwo unterbringen. Ist ja schließlich in gewisser Hinsicht die Hauptperson. Blatt Nr. 21. Robert Borkenhagen, 27, Student der Publizistik. Wird möglicherweise trotzdem mal ein brauchbarer Journalist – kommt ja vor, hin und wieder. – B. sagte in einem Gespräch mit mir: Man kann eine soziale Handlung, die sich zwischen zwei Menschen abspielt, als Journalist oder Schriftsteller nur dann vollkommen adäquat beschreiben, analysieren und erklären, wenn man sie unter ähnlichen Umständen selbst einmal begangen hat. Introspektion ist das einzige Mittel, mit dem man die Wirklichkeit angemessen erfassen kann. Ja, das gilt auch für einen Mord. Nur ein Mörder kann einen Mord, der von einem anderen begangen wird, richtig beschreiben und die Motive ans Licht bringen, weil er allein in der Lage ist, den Täter zu verstehen. Sie, Doc, wären da nur ein Stümper, ein Hochstapler, ein Schaumschläger, ein literarischer Betrüger. Zusatz: In einem Taschenbuch, das Borkenhagen gehört (Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, rororo Nr. 300, S. 145), fand ich folgenden Satz unterstrichen: Es ist etwas Dunkles in mir, unter allen Gedanken, das ich mit den Gedanken nicht ausmessen kann, ein Leben, das sich nicht in Worten ausdrückt und das doch mein Leben ist… Das ist zwar in mancher Hinsicht Blech – nicht was Musil, sondern was Borkenhagen da gesagt hat – , aber er riskiert wenigstens eine Meinung und kann sie einigermaßen formulieren… Er ist es übrigens, der mir die ganze Suppe eingebrockt hat. Ohne seinen Ehrgeiz könnte ich mir heute abend einen schönen Abend machen und brauchte mir nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, wie man diesen Wust von Informationen zu einer knappen Story verdichten… eh, straffen soll…
Nur widerwillig greife ich zu dem Gedächtnisprotokoll, das ich über Borkenhagens erstes Kontaktgespräch mit mir angefertigt habe. Tennisplätze am Kurfürstendamm, 11. Juli, vier Uhr nachmittags; Gluthitze, Trainerstunde bei Mahlow. Wir üben Aufschlag, und ich setze die Bälle regelmäßig hinter die TLinie. Mahlow lächelt mitleidig, ich koche vor Wut. Wir haben Platz 8, ganz außen an der Straße. Aber ich sehe Borkenhagen erst, als er neben mir steht und mich behindert. „Seien Sie gegrüßt, großer Meister!“ sagt Borkenhagen. Er trägt helle Jeans, ein tomatenrotes Frotteehemd, keine Strümpfe und Jesuslatschen. In der rechten Hand hält er einen orangefarbenen Schnellhefter, vielleicht fingerdick gefüllt. Es entwickelt sich folgender Dialog: Borkenhagen: Es ist noch kein Meister auf den Tennisplatz gefallen… Ich: Wie das Studium der Publizistik doch die Beobachtungsgabe schärft! Wie kommen Sie denn hierher? Sind Sie umgezogen? Borkenhagen: Was denn, seh ich schon so aus wie der Insasse einer Neubauwohnung? Jedem seine numerierte Zelle, in der er fernsehen und saufen, fressen und schlafen und vor dem Schlafen beischlafen kann, um unsere Gesellschaft mit seinen Ebenbildern zu beglücken? Brrr! Wie die Hühner im Silo… Und draußen warten die, die die Eier in die Pfanne hauen und das Schlachtfest vorbereiten – die sogenannte Gesellschaft… Ich: Und ich als Helfershelfer dieser Schlächter soll Ihnen das abkaufen, was Sie da in Ihrem Schnellhefter haben? Borkenhagen: Sind Sie Hellseher? Ich: Nein, Borkenhagen-Kenner. Seit Ihrer Volontärzeit bei uns ist das schon die dritte Story, die Sie mir verkaufen wollen.
Borkenhagen: Wer immer strebend sich bemüht… Sie, diese Geschichte ist wirklich faszinierend, originell, verblüffend! Sie werden Ihren ersten literarischen Orgasmus bekommen, wenn Sie sie lesen. Ein Knüller, sag ich Ihnen! Ich: Haben Sie die Beate-Uhse-Story verbrochen? Borkenhagen: Nein. Die Nedomanski-Story. Ich: Nedomanski? Der mit den NEDO-Werken? Ist er vielleicht an einer seiner Pillen erstickt? Oder hat er womöglich ein Mittel gegen den Untergang des Abendlandes entdeckt? Borkenhagen: Wozu? Da haben wir ja schon Gummiknüppel, Tränengas und Wasserwerfer… Sagen Sie mal, lesen Sie keine Illustrierte? Ich: Ich? Mensch, ich mach doch eine! Aber wenn es Sie interessiert: Ich habe gerade drei Wochen Urlaub gemacht in einem gottverlassenen Nest in Irland. Borkenhagen: Sie haben den interessantesten Kriminalfall des Jahrzehnts versäumt. Wie schön, daß ich Ihnen da informatorischen Nachhilfeunterricht erteilen kann. Vertrauliche Informationen aus erster Hand – Sie werden es nicht für möglich halten, aber ich bin stärker in den Fall verwickelt als mir lieb sein kann… Drei Tage und drei Nächte lang habe ich an der Schreibmaschine gesessen; den Rest der Geschichte bekommen Sie, wenn der Film in voller Länge abgelaufen ist. Aber langer Rede kurzer Sinn: Ich brauche 5000 Mark. Ich: Ich auch. Borkenhagen: Meine Story ist das wert… Ich will durch Südamerika trampen, Doktor. Ich will erst mal raus. Das heißt, sobald sie mich weglassen. Ich: Wer hindert Sie? Borkenhagen: Einstweilen noch die Polizei… Lesen Sie’s, dann verstehen Sie, was ich meine. Ich habe es nicht in der
Ich-Form geschrieben, damit Sie es gleich so drucken können, wie es dasteht. Ob Sie es unter Ihrem Namen veröffentlichen oder unter meinem, ist mir vollkommen egal, Hauptsache, Sie sehen endlich ein, daß ich Talent habe. Er drückt mir den Schnellhefter in die Hand und verschwindet grußlos. Ja, das war Robert Borkenhagen, Student der Publizistik, der Soziologie und der Politischen Wissenschaften, 27 Jahre alt, ein Liebling der Götter. Unsere Fotografen haben sich große Mühe gegeben, und die drei Hochglanzfotos, die auf meinem Schreibtisch liegen, sind einfach Klasse. Langes, aber nicht schulterlanges Haar. Ein freundliches, rundes Gesicht mit einem blonden Schnauzbart. Hellblaue, lachende Augen; Ganghofer würde schreiben: zwei schimmernde Seen voll heiterer Ironie. Untersetzt, ja stämmig ist er, und doch wirken seine Bewegungen weich und katzenhaft. Ich mag ihn. Beim Lachen hat er Grübchen in den Wangen… Ich werde mir wohl die Arbeit machen müssen und Borkenhagens Beichte mit Bedacht lesen. Es ist nicht schlecht, was er da zusammengeschrieben hat, gewiß nicht, aber ob man viel davon in dieser Form übernehmen kann? Na, mal sehen… Borkenhagen kam von der Gedächtniskirche und rollte langsam den Kurfürstendamm hinunter, aber offenbar brauchte niemand ein Taxi. Der Abend war mild und trocken, und Kinos und Theater spielten noch. Sein Chef hatte darauf bestanden, daß er sich schon um acht in den schwarzen Mercedes setzte, denn die Presse veranstaltete zur Zeit ein gewaltiges Geschrei, es seien zu wenig Taxis auf den Straßen. Er hatte erst eine einzige Fuhre gehabt, eine alte Dame vom Flughafen Tempelhof nach Neukölln – genau DM 5, – , mit Trinkgeld. Er hätte sich lieber an irgendeinen Halteplatz stellen und dort warten sollen; der Chef fluchte immer über die vielen Leerkilometer. Aber er scheute die bissigen Bemerkungen der
Kollegen. Er hatte lange Haare, die hinten auf den Kragen seiner cognacfarbenen Wildlederjacke stießen, er trug einen Schnauzbart, und er war Student. Natürlich stand er sehr weit links, aber er war kein Eiferer und kein Agitator. Er verstand wohl, warum sie auf Abwehr schalteten, wenn er sich zu ihnen stellte; er hielt den Mund oder gab ihnen sogar recht, wenn sie auf die Parasiten, die Nichtstuer und die Anarchisten schimpften. Aber es half ihm wenig. Er dachte an Sabine, die mit einer Gruppe nach Ibiza gefahren war und zur Stunde garantiert mit dem Reiseleiter schlief. Sie hatte eine Schwäche für Reiseleiter. Wenn er was dagegen sagte, lachte sie ihn aus. Sie studierte Medizin; ihr Vater war Chefarzt einer privaten Klinik. Er bog in die Schlüterstraße ein, um dann über die Kantstraße zum Zoo zurückzufahren. Immer noch kein Fahrgast. Wenn das so weiterging, war es nichts mit dem Flug nach Südamerika. An der Ecke standen die ersten Prostituierten. Kurz hinter der Mommsenstraße mußte er vor einer Baustelle halten, weil ihm ein Thermolastzug entgegenkam. Sein Blick fiel auf das hohe, mit Stuck überladene Portal eines vierstöckigen Hauses, in dessen erster Etage eine Pension untergebracht war. Das Licht im Flur flammte auf, und er sah einen Mann im grauen Sommeranzug die Treppe herunterkommen. An seiner Seite ging ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren und einem knappen Lederrock. Er stopfte ihr noch etwas in ihre korallenrote Handtasche. Vor dem Haus verabschiedeten sie sich mit einem schnellen Händedruck, und der Mann winkte Borkenhagen heran. Borkenhagen hielt neben der Bordsteinkante, lehnte sich nach hinten, stieß die Tür auf und ließ den Mann einsteigen. Er kam ihm irgendwie bekannt vor. „Badenallee!“ sagte der Mann mit barscher Stimme.
„Neu-Westend, ist recht…“ Borkenhagen klappte das Freizeichen herunter, schaltete die Uhr ein und fuhr los. Es roch nach Alkohol; der Mann im Fond mußte schon einiges getrunken haben. Borkenhagen hatte Mühe, sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren. Es ließ ihm keine Ruhe; er mußte unbedingt herausbekommen, wo er diesem Fahrgast schon mal begegnet war. Ein alter Lehrer war es nicht, ein Redakteur von der Illustrierten auch nicht, und draußen in der Nähe seiner Laube war er ihm bestimmt noch nicht über den Weg gelaufen – Kleingärtner und Bewohner von Laubenkolonien pflegen keine Brillantringe am kleinen Finger zu tragen. „Machen Sie mal Musik an!“ kam die Stimme von hinten. Borkenhagen gehorchte. Für einen Augenblick hatte er den Kopf des Mannes im Rückspiegel – einen birnenförmigen Kopf. Kleines Gesicht; dünne, streng nach hinten gekämmte dunkelbraune Haare, stark mit grauen Strähnen durchsetzt. Große, etwas abgeplattete Nase mit auffallend fleischigen Flügeln. Bräunliche Haut, soweit Borkenhagen das erkennen konnte; einige dunkle Altersflecke. Etwas abstehende, überdimensionierte Ohren, Doppelkinn, kleine und listige wässerigblaue Augen… Beim Überqueren der Kreuzung Messedamm und Masurenallee machte es plötzlich Klick bei Borkenhagen: Max Nedomanski war das – natürlich! Er kannte ihn vom TuS Westend her, da hatte er sich als Mäzen der LeichtathletikAbteilung versucht. Das mußte bald zehn Jahre her sein. Borkenhagen dachte nicht daran, Nedomanski anzusprechen; er hatte ihn nie sonderlich gemocht. Für ihn war das einer von diesen Kapitalisten, die schuld daran waren, daß es in dieser Gesellschaft so zuging, wie es nun einmal zuging… Borkenhagen hatte selber das Gefühl, daß dies etwas verschwommen war für einen Journalisten, und er war sich
auch durchaus bewußt, daß er lernen mußte, seine Antipathien im Bedarfsfall zu verdrängen, wenn er ein halbwegs guter Journalist werden wollte. Er umrundete den Theodor-Heuss-Platz und bog in die Heerstraße ein. Zwei Minuten später hatte er die Badenallee erreicht. Zurückgesetzte Villen, parkähnliche Gärten; eine Gegend für die oberen Zehntausend. „Halten Sie!“ sagte Nedomanski. Borkenhagen nahm das Gas weg und trat sanft auf die Bremse. Als der Wagen am Bürgersteig hielt, stellte er die Uhr ab und schaltete die Innenbeleuchtung ein. „Macht vierachtzig“, sagte er, während er sich nach hinten wandte. Nedomanski hielt einen Haufen Kleingeld in der offenen Hand und suchte ein Fünf-Mark-Stück heraus. „Stimmt so!“ Schon wollte er die Tür aufklinken, da stutzte er. „Mensch, Sie kommen mir so bekannt vor – haben Sie mal bei mir gearbeitet?“ „Nein, bestimmt nicht.“ „Dann kenn ich Sie vom Bowling…?“ „Auch nicht.“ „Ich seh doch an Ihrem Grinsen, daß Sie mich kennen! Wenn Sie ausposaunen, wo Sie mich eingeladen haben, dann… Na los – raus mit der Sprache!“ Borkenhagen war nicht der Mann, der von Stolz und Selbstbewußtsein strotzte und Nedomanski kurzerhand hinausgeworfen hätte. Er kuschte lieber und ließ sich verprügeln, um hinterher adäquat beschreiben zu können, wie einem zumute ist, wenn man kuscht und verprügelt wird. So sagte er nur: „Sie kennen mich vom TuS Westend. Leichtathletik. Ich bin die Hundert mal in elf Sekunden gelaufen. Elfnull…“ „Borkenhagen! Mensch, Sie waren mal meine große Hoffnung. Sie wollte ich mal in Rom und Tokio laufen sehen.
Und Sie hätten einen Haufen Geld verdienen können, wenn Sie dann in meine Werbung eingestiegen wären. Wir machen ja auch so einen Krafttrunk – NEDO-Sport. Kennen Sie sicher… Aber es gibt ja auch noch was anderes zu trinken. Kommen Sie, fahren wir zur Heerstraße; ich kenn da ein nettes Lokal.“ „Gern, aber ich muß noch…“ „Ich lade Sie ein – und da gibt es keine Widerrede!“ Borkenhagen fügte sich und vergaß, über den Zusammenhang zwischen Schwäche und Neugierde nachzudenken. Wenig später saßen sie in der Nische eines kleinen Lokals und begannen zu trinken. Es ging ganz systematisch zu, jede Viertelstunde ein Bier und ein Korn. „Das waren noch Zeiten, was?“ Nedomanski strahlte. „Du warst ja Klasse damals, und eure Staffel auch: Vierundvierzigdrei – weiß ich noch wie heute… Was ist denn aus den anderen geworden?“ „Keine Ahnung. Ich hab sie alle drei aus den Augen verloren…“ Nedomanski redete schon wieder, erging sich in Sportreminiszenzen, und Borkenhagen fühlte sich plötzlich wohl. Nedomanski gab ihm ein Gefühl der Geborgenheit, der Zugehörigkeit zu einer Clique, unter deren Schutz einem nichts mehr geschehen konnte. Er brauchte nur zu trinken, zuzuhören und zu nicken, um Nedomanskis Wohlwollen zu finden. Er spürte genau, wie er dem anderen von Minute zu Minute sympathischer wurde. Es schmeichelte ihm. „Was macht denn Rudi Buchmann?“ fragte er. „Der? Der handelt mit Verpackungsmaterial. Sein Geschäft floriert – und er defloriert!“ Nedomanski bog sich vor Lachen. Borkenhagen lachte mit. „Sie sind immer noch der Alte“, sagte er.
„Nichwah?“ Nedomanski war in seinem Element. Er erzählte Geschichten und Anekdoten aus seinem Betrieb, seinem Bowlingclub, seiner Sauna und vor allem von seinen vielen Reisen. Doch je mehr er trank, desto verkrampfter wurde seine Munterkeit. Wie ein Ballon erschien er Borkenhagen, dem langsam, aber sicher die Luft ausging. Schließlich saß er schweigend da und starrte in sein Glas. Borkenhagen, der ziemlich trinkfest war, registrierte mit einer gewissen Genugtuung, wie Nedomanski in dumpfes Grübeln versank, und er war klug genug, zu schweigen. Nedomanski begann wieder zu sprechen, langsam und abgehackt; manche Worte verschluckte er. Nicht daß er schwer betrunken gewesen wäre; er hatte nur den Punkt erreicht, wo der Trinker in zwei Personen zerfällt, von denen die eine frei von gewohnten Widerständen redet und handelt und die andere dabeisitzt und mit Verwunderung zuschaut. Borkenhagen war ihm fremd genug, um ungefährlich zu sein, und zugleich auch wieder vertraut genug, um die Schleusentore zentimeterweit zu öffnen. Mit ihm zu reden, entlastete heute und war doch morgen ohne Folgen. Dachte Nedomanski. „Alles Potemkinsche Dörfer!“ sagte er schleppend. „Ein großes Werk, Alleinherrscher, Millionär… Hört sich schön an, was? Keiner, der mich nicht beneidet. Fragen Sie mal meine Arbeiter – da will jeder mit mir tauschen. Aber wie’s drinnen aussieht…“ Arme Unternehmer, dachte Borkenhagen; müssen sich abrackern, um der Nation den Wohlstand zu sichern, und keiner versteht sie. „Sie hassen mich alle“, sagte Nedomanski, „alle! Kenn’ Sie das Gefühl?“ Du Ärmster, dachte Borkenhagen, du hast schon was zu leiden! Deine Sorgen möcht’ ich haben.
„Ich bin eingekreist. Eingekreist von Tieren, die ich nich sehn kann, die ich nich greifen kann, die mich zerreißen woll’n. Sie bestehen aus… aus geronnenem Haß bestehen die!“ Nedomanski spülte einen doppelten Klaren hinunter. „Sie werden nicht aus dem Nichts entstanden sein…“ „Kann ich dafür, daß ich so bin, wie ich bin? Soll’n sie mich doch nehmen, wie ich bin! Wir könnten doch alle in Ruhe und Frieden… Jeder muß eben so verbraucht wer’n, wie er ist. Aber noch hab ich Kraft genug, um denen zu zeig’n, wer ich bin! Die wer’n sich noch umgucken wer’n die sich noch!“ Plötzlich verpuffte seine Kraft, und er wurde weinerlich. „Keiner mag mich! Denen wäre es am liebsten, wenn ich auf der Stelle tot umfallen würde…“ „Wem wäre das am liebsten?“ „Wem? Na, allen! Meinem Bruder, meiner Frau, meinem Neffen, meiner Sekretärin, meinem Gärtner – was weiß ich, wem noch… Schmeißfliegen sind das; Aasgeier, die nur warten, bis ich abkratze… Mich will keiner, aber mein Geld – das woll’n se alle!“ Er rülpste. „Ich komm aus kleinen Verhältnissen“, fuhr er fort, „und ich hab mich hochgearbeitet… War mühsam genug, sag ich Ihnen. Und nun muß ich mich mit diesem Gesocks rumquälen. Ich komm nicht mehr los von ihnen. Die sind mir überall angewachsen. Haben sich überall festgesaugt an mir… Ich werd siemunfuffzig, ja? Ich kann doch kein neues Leben mehr beginnen! Ich muß doch im alten Trott weitermachen… Und woanders ist es auch nicht besser. Wir müssen uns eben ertragen… Hör’n Sie, Borkenhagen, Sie sind Akademiker, aber ich – ich komm vom Hinterhof, drei Treppen; und ich sag Ihnen: denen möchte ich mal richtig vor den Koffer kacken… Prost!“ „Prost!“ Borkenhagen unterdrückte ein Gähnen. Er hatte allmählich genug getrunken. Als die Serviererin vorbeikam, versuchte er, sich gegen ihre breiten Hüften zu legen. Sie stieß
ihn zurück. Er stand auf und torkelte zur Toilette. Nachdem er leicht schwankend uriniert hatte, wusch er sich das Gesicht mit kaltem Wasser ab. Aber die Gaststube blieb düster, quallig, unwirklich. Die Leute bewegten sich noch langsamer als Schildkröten. Nur die Stimmen waren hell und beißend. Wenn ich doch bloß auf einen Knopf drücken könnte und mit einem Schlag wieder nüchtern wäre, dachte er. Sein Magen schmerzte; er verzog das Gesicht. Nedomanski starrte ihm mit geweiteten, feucht schimmernden Augen entgegen. „Lachen Sie, Borkenhagen! Sie könn’ noch lachen…“ „Was gibt’s denn auf dieser Scheißwelt zu lachen?“ „Dann kommen Sie mal auf meine Beerdigung – da könn Sie die Leute lachen sehn! Und wie! Endlich isser dot, der Alte! Dieser Zyniker, dieser Egozentriker, dieser Egoist!“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser tanzten: „Ein Königreich für den, der wirklich, der ehrlich weint, wenn ich mal abkratze! Der soll alles kriegen, was ich ein Leben lang zusammengetragen habe… Aber den gibt’s ja nicht! Und ich mach nicht mehr lange; ich hatte neulich ‘ne Herzattacke – na! Sie, ich dachte, jetzt isses aus. Fürchterlich! Und meinen Sie, wie die schon innerlich gejubelt haben…“ Borkenhagen hatte endgültig die Nase voll. Was interessierte ihn schon das Gewäsch dieses reich gewordenen Pillendrehers! Wär ich nicht mitgegangen, dachte er, hätte ich schon 50 oder 60 Mark verdient… Er wagte aber auch nicht, abrupt aufzustehen. Wahrscheinlich hätte Nedomanski getobt; er hatte bestimmt noch einigen Seelenmüll abzuladen… Um ihn von sich aus zum Aufbruch zu bewegen, begann Borkenhagen zu blödeln. „Ich hab mal ‘nen Roman gelesen, da ist ein reicher Mann in der gleichen Lage wie Sie. Er hat ‘n Haufen Geld, aber alle,
die als Erben in Frage kommen, die mögen ihn nicht. Was macht er da? Er fällt um, stellt sich tot und hört zu, was seine Sippe von sich gibt… Natürlich geht’s gut aus, denn die Dienstmagd, die er immer verprügelt hat, liebt ihn… Na ja, oder so ähnlich.“ Nedomanski starrte ihn an. „Mensch…“ Man sah, wie es in ihm arbeitete. „Mensch, das ist ‘ne Idee!“ „Da war auch noch ein Arzt, mit dem er unter einer Decke gesteckt hat. Der hat ihn untersucht und weise Reden geführt, so daß es jeder geglaubt hat.“ Nedomanski dachte nach. „Wo soll ich denn einen Arzt herkriegen, der das mitmacht?“ Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf: „Den Arzt machen Sie!“ „Klar!“ Borkenhagen zögerte keinen Augenblick. „Mach ich mit Vergnügen! Das ist die Idee des Jahrhunderts!“ Eine makabere Szene. Absurdes Theater. Ein Skandal. Ein Beweis für die Dekadenz der herrschenden Klasse – und er im Mittelpunkt des Ganzen… Endlich wieder ein spektakulärer Ausbruch aus der genormten Welt! Ihm wurde heiß, er fieberte. „Ich spiel Ihnen einen Arzt, daß alle drauf reinfallen! Schließlich bin ich drei Jahre lang im Cabaret aufgetreten – jeden Abend! Und medizinische Kenntnisse hab ich mehr als mancher Mediziner: Die Sabine, die studiert doch Medizin, ja? Und ich muß sie immer abhören. Ihr Vater ist ein großes Tier, Professor, Chefarzt… Da krieg ich schon die richtige Ausrüstung zusammen.“ „Das war eine Fügung des Himmels, daß wir heute zusammengekommen sind“, lachte Nedomanski. „Ein dreifaches Hoch auf den alten Herrn von Ihrer Freundin – hoch soll er leben, hoch soll er leben, draaaiijj-maaal hoch! – Also, das wird der Gag meines Lebens!“ Er verschluckte sich. „Wir machen das während meiner Geburtstagsparty, wenn das Haus bis oben ran voll ist… Ich krieg wieder ‘n Herzanfall. Sie
schaffen mich ins Schlafzimmer; ich sterbe, und Sie hörn sich an, was die trauernden Hinterbliebenen über mich sagen. Dann verschwinden Sie, und ich platz in die Trauergemeinde rein: April, April! War noch ‘n junger Arzt – na und? Irren is menschlich!“ „Sie müssen mich aber vorher vorstellen, und ich muß irgendwas Kluges von mir geben – damit ich auch echt wirke.“ „Klar. Sie sind Dr. Hartmann vom FU-Klinikum; ein fähiger junger Mann, der unser NEDO-Tranquil an seinen Patienten ausprobiert.“ „Jaaa…“ Plötzlich kamen Borkenhagen Bedenken. „Wir sind verrückt!“ „Na und? Andere werden’s vielleicht… Stell dir doch mal vor: Da sitzen sie alle rum und tun so, als ob sie Rotz und Wasser heulen und sind innerlich heilfroh, daß der Alte endlich ins Gras gebissen hat; sie rechnen, was sie an Geld und Posten erben… Plötzlich sind sie am Ziel: Der eine kann heiraten, der andere kann Chef werden, der dritte kann sein Leben endlich wieder genießen. Und dann…“ Er grinste breit und rülpste. „Mann, das issen Ding! Wieviel wollnsen haben dafür?“ „Wieso?“ Borkenhagen kapierte nicht gleich. „Wofür denn?“ „Na, für die Idee! Und Ihre – äh – Gage für den Auftritt…“ „Ach so.“ Er mußte schlucken. „Ja, also… Also, ich dachte…“ Wenn ich nur nicht so blau wäre! dachte er; wieviel soll ich denn… „Ein Studentenflug nach New York kostet etwa siebenhundert…“ „Soll’n Sie haben!“ Nedomanski ergriff Borkenhagens Hand und schüttelte sie lange. „Sie sind mein Mann!“ Dann umarmten sich beide, verloren sekundenlang die Orientierung und lehnten schwer gegeneinander. „Du bist mein Freund, Borkenhagen!“ lallte Nedomanski. „Mein bester Freund…“ „Ein Froiiind, ein guter Froiiind, das is das Schönste, wasses gibt auf der Welt!“ grölte Borkenhagen. Sein Kopf fiel auf den
Tisch. „Bis daß der Tod uns… uns scheidet!“ brabbelte er noch. Nedomanski rutschte halb unter den Tisch. Ein wenig sabbernd kicherte er. „Die wer’n vielleicht Augen machen, wenn ich plötzlich… Auferstanden von den Toten…“
Hier endet Borkenhagens erstes Kapitel; ich zögere noch, ein abschließendes Urteil zu fällen. Hat es Borkenhagen wirklich verstanden, die spezifische Stimmung einzufangen, in der solche Ideen geboren werden? Kann man das überhaupt? Das schummerige Lokal; die beiden Männer, allein in einer Nische, durch Alkoholgenuß verbunden und zugleich von hemmenden Mechanismen befreit; die ziellose Unruhe Nedomanskis und Borkenhagens Sinn fürs Absurde – eine explosive Mischung. Borkenhagens Lust, mit sich und den Menschen zu experimentieren, trifft mit Nedomanskis Anlage zu kleinkariertem Cäsarenwahn zusammen… Man sollte ihn Neromanski nennen. Er säuft und hurt, gibt rauschende Feste, die in Orgien ausarten, peinigt die von ihm abhängigen Menschen, ist exaltiert und egozentrisch – ein auf bürgerliches Maß zurückgestutzter Renaissancemensch. Und Borkenhagen ist genau der Mann, das alles anzuheizen. Er ist, davon bin ich überzeugt, in manchen Bereichen skrupellos. Dabei mag ich ihn gut leiden; ich finde ihn sogar sympathisch. Aber es macht ihm ganz einfach Spaß, Menschen zu Handlungen zu provozieren, die sie sonst nicht begehen würden; er hat eine Nase für so etwas. Er entdeckt auch instinktiv Nedomanskis verwundbare Stelle: Nedomanski – und das paßt zu seinem Charakter – ist beherrscht von dem Wunsch, geliebt zu werden. Aber er spürt zugleich, daß ihn niemand liebt – auch die nicht, die er mit seinen Geschenken überhäuft. Vom Alkohol sentimental geworden, hofft er, es werde jemand in
echtem Schmerz weinen, wenn ihn Borkenhagen für tot erklärt… Ob es doch einen Menschen gibt, der ihn versteht? Der ihn so liebt, wie er ist? Max Nedomanski ist ein ideales Versuchskaninchen für Robert Borkenhagen, aber natürlich hat er das so nicht aufgeschrieben; soweit reicht sein Verlangen nicht, soziale Situationen zu sezieren. Und darum taugt seine Story nicht allzuviel. Sie enthält eine Menge persönlicher Details, die aber allesamt nur von seiner Person ablenken. Es gibt schon ein bißchen Selbstkritik, ja, aber die ist eitel und ein bißchen masochistisch, ohne den Kern zu treffen. Einerseits ist sein erstes Kapitel nicht straff genug, zum anderen jedoch ist es zu gerafft, um dem Dekadenten, dem Absurden, dem fast Surrealistischen der einzufangenden Stimmung ganz gerecht zu werden… Aber kann ich’s denn besser? Und ich brauche sein Material ganz einfach, wenn ich die Story überhaupt machen will. Ich muß zusehen, daß ich doch zwei, drei Folgen rausschinde… Mein Gott – schon gleich neun. Und ich sehe immer noch nicht klarer. Ich muß… Wo ist denn sein zweites Kapitel… Hier.
Endlich fand Borkenhagen eine Parklücke für seinen weinroten R 4. In der Nachbarschaft eines Ferrari 365 GTC und eines Commodore nahm sich der Wagen recht ärmlich aus, paßte aber zum Bild eines Assistenzarztes. Auf die Plätze… Fertig… Borkenhagen war nervös wie vor einem Hundert-MeterEndlauf. Neben einem Sandhaufen blieb er stehen und zündete sich eine Gauloise an. Schräg vor ihm, noch auf der anderen Straßenseite, lag Nedomanskis Villa, ein kleines Schloß beinahe. Eine Hecke gab es nicht, aber zwischen dem Gebäude und dem Bürgersteig
lagen gut und gerne fünfzig Meter von grünstem Rasen. An einer weißen Fahnenstange hing schlaff die NEDO-Flagge, blau, gelb und protzig. Das Haus war ein ockerfarben gestrichener klassizistischer Kasten mit zwei Geschossen und einem recht steilen Schieferdach. Es hatte nichts Anheimelndes an sich. Borkenhagen ging zum schmiedeeisernen Tor hinüber, dachte irgendwie an den Buckingham-Palast und fand in einem steinernen Pfeiler eine Wechselsprechanlage. Mit klopfendem Herzen drückte er kurz auf einen verchromten Knopf. Ein Knacken, ein Rauschen, eine quäkende Stimme. „Bitte sehr?“ „Ich bin eingeladen – Doktor Hartmann…“ Im Pfeiler brummte ein Elektromotor, das schmiedeeiserne Tor mit der vergoldeten NEDO-Rose öffnete sich ganz sanft. Borkenhagen schritt über einen breiten Kiesweg auf die angedeutete Freitreppe zu. Max Nedomanski kam ihm entgegen, natürlich im Smoking. Sie schüttelten sich die Hände. „Herzlichen Glückwunsch!“ rief Borkenhagen. „Viel Glück im neuen Lebensjahr, insbesondere Gesundheit. So wie Sie gebaut sind, werden Sie bestimmt hundert Jahre alt. Und weiterhin viel Erfolg mit Ihrer Firma. Also: Glück und Segen auf allen Wegen! Wachsen, blühen und gedeihen Sie!“ „Vielen Dank, Doktor!“ Nedomanski sah sich kurz um, dann flüsterte er Borkenhagen zu: „Alles in Ordnung. Nach dem Essen bekomme ich meinen Anfall. Jetzt haben wir es acht; zehn Uhr wird es werden. Gedulden Sie sich also ein bißchen. Es kann gar nichts schief…“ Er brach ab, denn hinter ihm tauchte ein etwas schwammiger junger Mann auf, dessen Faunsgesicht vor Anstrengung und Eifer stark gerötet war. „Dreyer – meine rechte Hand“, sagte Nedomanski. „Na, Moppel, wie stehen die Aktien?“
„Alles in Ordnung, Chef!“ Der Faun verschwand mit einer angedeuteten Verbeugung. „Mensch, ich hab ja vergessen, ein Geschenk mitzubringen!“ rief Borkenhagen. „Pst! Schreien Sie nicht so… Das macht doch gar nichts. Kommen Sie…“ Nedomanski führte ihn in die geräumige Halle und stellte ihn den fast vollzählig versammelten Gästen vor. „Herr Dr. Hartmann, ein sehr fähiger junger Arzt, der auf breiter Basis klinische Tests mit unserem NEDO-Tranquil anstellen wird… Guido – das heißt, Herr Winkler, mein Neffe… Fräulein Dahms, meine Sekretärin… Walter Nedomanski, mein Bruder, die gute Seele der Firma… Meine Frau… Edda, meine Tochter aus erster Ehe… Herr Hambach, ihr Verlobter… Senator Häusler… Frau Professor SchmidtTenever… Direktor von Wysocky…“ Borkenhagen hörte schon gar nicht mehr hin; er verneigte sich rhythmisch und murmelte monoton: „Hartmann… Hartmann… Hartmann…“ Etwa dreißig Personen mochten in dem langgestreckten, holzgetäfelten Raum versammelt sein, überwiegend Leute, die im Who-is-Who standen. Borkenhagen kam sich klein und unbedeutend vor und wäre gern weit, weit weg gewesen. Er verfluchte innerlich seine – im wahrsten Sinne des Wortes – Schnapsidee und merkte, daß er feuchte Hände bekam. Er versuchte, an das Geld zu denken, das ihm Nedomanski versprochen hatte, aber es half nichts. Plötzlich wurde ihm klar, daß er Angst hatte vor diesen Leuten. Es ärgerte ihn. Verdammt noch mal, dachte er, reiß dich zusammen! Wer sind denn die schon? Und wer bist du? Du bist doch auch wer! Du brauchst doch nicht zu kuschen, bloß weil keiner von deinen werten Vorfahren nach dem letzten Krieg rechtzeitig auf die Idee gekommen ist, mit Schrott zu handeln…
„Hallo – Doktor!“ Jawoll: Doktor, Senator, Direktor – Arschlöcher seid ihr! Und den Doktor mach ich auch noch. Nun gerade, um euch zu… Doktor? Ach so, der meint ja mich. Nedomanski rief quer durch den Raum: „Hallo, Dr. Hartmann – Sie sind doch Experte… Kommen Sie doch bitte mal zu uns!“ Er stand mit seinem Bruder, einem AEGDirektor, einem Journalisten und einem Chemiker in der Nähe der Tür; sie diskutierten. Borkenhagen rammte beide Hände in die Hosentaschen, versuchte arrogant auszusehen und trat zu der Gruppe. „Ja…?“ „Hören Sie, Doktor, wir streiten uns, ob in Deutschland tatsächlich schon Leute am Burkitt-Tumor erkrankt sind…“ Borkenhagen unterdrückte ein Lächeln; seine Unsicherheit war verflogen. Die Virus-Theorie der Krebsentstehung war eines der Gesprächsthemen, die zwischen Nedomanski und ihm abgesprochen waren; er hatte sich mit Hilfe von Sabines Büchern entsprechend vorbereitet. „Leider gibt es schon zwei Erkrankungen bei uns…“ „Burkitt-Tumor? Nie gehört!“ Der AEG-Direktor schüttelte den Kopf. Borkenhagen dozierte: „Es handelt sich dabei um eine Lymphdrüsengeschwulst im Gesichtsbereich, die… warten Sie… 1958 von Professor Burkitt in Afrika gefunden wurde. In den Zellen des Burkitt-Tumors hat man ein Virus gefunden, das dem Herpes-Virus ähnlich ist: das Epstein-Barr-Virus. Das ist ein wichtiger Hinweis darauf, daß Tumoren auch beim Menschen durch Viren erzeugt werden… Darf ich Ihnen kurz die DNS- und die RNS-Viren erklären?“ Er gewann langsam an Selbstsicherheit und wuchs immer mehr in die Rolle des Dr. med. Hartmann hinein. Es war von einem eigenartigen Reiz, ein Hochstapler zu sein, ein Lustgefühl von erotischer Qualität. Dazu kam das brennende
Glücksgefühl, das alle Verschwörer empfinden. Dies war ja seine Verschwörung gegen die Konventionen des Establishments, sein Attentat gegen die Arrivierten, gegen die Leute, vor denen er gerade noch Angst gehabt hatte. Das reizte ihn mächtig; sein schauspielerisches Talent entfaltete sich gleichsam von selbst, ohne sein Zutun. Als er Maria Nedomanski, die an Verdauungsstörungen litt, die Funktion der Gallenblase erklärte, machte er keinen Fehler. Doch nach einigen Minuten wurde ihm klar, daß er an sich nur Eulen nach Athen trug, denn in diesem Kreis glaubte ihm jedermann von vornherein den Mediziner; hier trieb man keine Scherze mit seinen sozialen Rollen. So fühlte er sich schnell als Herr der Lage, und als man sich bald darauf an der langgestreckten Tafel zum Abendessen niederließ, nickte er Nedomanski unauffällig zu. Und als serviert wurde, aß er mit Appetit. Nach dem zweiten Gang erhob sich Walter Nedomanski und klopfte an sein Glas. „Mein lieber Bruder, liebes Geburtstagskind! Im Namen deiner Freunde, deiner Mitarbeiter und – last not least – deiner Anverwandten möchte ich dir noch einmal sehr herzlich zur Vollendung deines 57. Lebensjahres gratulieren. Drehen wir die Zahl um, so haben wir das Alter, bis zu dem wir dir vorerst Gesundheit und unverminderte Schaffenskraft wünschen – dann sprechen wir uns wieder, um dir die besten Wünsche bis zum Hundertsten mit auf den Weg zu geben. Wir zweifeln nicht, daß du auch im kommenden Lebensjahr alle deine Ziele erreichen wirst – und wir wünschen dir das nötige Glück dazu. Und: wenn’s schlecht dir geht – nimm NEDO-Med!“ „Bravo!“ Händeklatschen. „Hoch soll er leben!“ Dann wurde der nächste Gang aufgetragen.
Max Nedomanski ließ sich Zeit; erst ehe die Eisbombe serviert wurde, machte er Anstalten, auf den Toast zu antworten. Ein wenig mühsam stand er auf. „Meine lieben Gäste! Ich bin glücklich, euch alle hier zu sehen. Wieder ist ein Jahr vergangen…“ Er hielt inne und atmete ein paarmal tief durch; dann sprach er weiter: „Wieder ist ein Jahr vergangen, aber zum Glück für uns ist in diesem Jahr niemand von uns gegangen. Ich glaube ganz fest daran, daß…“ Er brach wieder ab, hustete, trank hastig und stützte sich auf die Tischplatte. „Max, was ist denn?“ rief Maria Nedomanski. „Nichts, Schatz, nichts… Pardon! Ich wollte nur sagen, daß mein Leben nur so reich ist, weil ich so viele Freunde habe, die mir… Mein Gott!“ Er lief rot an, preßte beide Hände gegen sein Herz, keuchte heftig und sackte mit einem heiseren Stöhnen zusammen. Alle saßen wie erstarrt. „Dr. Hartmann!“ schrie Maria Nedomanski. „Schnell – helfen Sie ihm!“ Borkenhagen lief um den Tisch herum und rief noch im Laufen nach feuchten Tüchern. Dreyer und ein anderer Mann hatten Nedomanski auf den Rücken gelegt und ihm das Smokinghemd aufgeknöpft. Borkenhagen beugte sich über ihn und massierte ihm die Herzgegend. Nedomanski röchelte so echt, daß Borkenhagen fast Angst bekam. Er hielt einen Augenblick inne und gab Dreyer seine Autoschlüssel. „Draußen steht mein R 4, Nummer B – UR 6731. Holen Sie mal meine Tasche. Da stecken Nitrolingual-Gelatinekapseln drin, damit bringen wir ihn durch…“ Verdammt, dachte er, ich darf nicht übertreiben. Kein Arzt erläutert seine Maßnahmen so genau… „Fassen Sie mal mit an!“ wandte er sich an Walter Nedomanski. „Wo ist denn das Schlafzimmer?“
Sie trugen den »Kranken« hinüber in sein Zimmer – das Ehepaar schlief getrennt – und legten ihn aufs Bett. Als Dreyer mit der Tasche kam, verabreichte Borkenhagen eine Vitaminkapsel, die er zu diesem Zweck mitgebracht hatte; dann bat er die anderen, ihn mit dem Patienten allein zu lassen. „Das haben Sie phantastisch gemacht!“ sagte er, als auch Maria Nedomanski gegangen war. „Meine Anerkennung!“ Nedomanski richtete sich auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Na, Sie waren auch nicht schlecht. Aber anstrengend ist es ja, so einen Herzanfall zu simulieren. Nur gut, daß ich schon einmal einen echten hatte…“ Er lachte, es klang krächzend. Borkenhagen fröstelte. Draußen war es längst dunkel geworden; schwere Wolken waren aufgezogen, und der Wind peitschte den Regen gegen die Scheiben. Borkenhagen fühlte sich plötzlich bedrückt; die Euphorie war verflogen, und er ertappte sich bei einem Gedanken, der ihn selbst überraschte: Es war Blasphemie, derart mit dem Tod zu spielen. „Hören Sie, Herr Nedomanski“, begann er, „ich weiß nicht… Noch können wir zurück. Niemand denkt sich was dabei, wenn wir jetzt zurückgehen und sagen, Sie hätten sich wieder…“ „Was denn!“ lachte Nedomanski. „Sie haben wohl Angst vor Ihrer eigenen Courage? Nee, mein Lieber – Max Nedomanski kehrt niemals um! Diesen Gag lasse ich mir nicht entgehen. Da spricht man noch nach fünfzig Jahren drüber.“ „Das kann man doch den Leuten draußen nicht antun…“ Borkenhagens Stimme klang belegt. „So darf man seine Gäste, so darf man seine Freunde nicht foppen. Das geht zu weit; das ist einfach unanständig!“ „Ihr Idealismus ist rührend… Freunde? Aasgeier sind das; kühle Rechner, die sich von meiner Geburtstagsfeier neue Verbindungen erhoffen. Falsche Freunde, vor denen man sich in acht nehmen soll… Aber das ist noch nicht das Schlimmste:
Die meisten hassen mich, wünschen mich zum Teufel! Aber hören Sie mal, wie sie jammern werden, wie sie mich über den grünen Klee loben werden, wenn Sie ihnen sagen, daß ich das Zeitliche gesegnet habe.“ „Ich weiß nicht…“ murmelte Borkenhagen. Nedomanski verstand sein Zögern als Erpressungsversuch und zog die Schublade des Nachttischs auf. „Ich erhöhe mein Angebot um 200 Mark. Hier sind fünf Hunderter als Anzahlung.“ „Hm…“ Borkenhagen steckte die blauen Hundert-MarkScheine in die Brusttasche. „Na schön; meinetwegen. Sie sind der Boss.“ „Allerdings!“ Nedomanski grinste. „Lassen Sie mich noch so eine halbe Stunde als »Toten« hier liegen, achten Sie aber darauf, daß niemand zu mir ins Zimmer kommt. Und dann…“ Er rieb sich die Hände. „Hoffentlich lynchen die mich nicht, wenn Sie dann wieder lebendig auftauchen.“ „Ein Kunstfehler. Kann doch jedem mal passieren… Sie bekommen 1200 Mark dafür, daß Sie Ihren Buckel hinhalten. Und später kommt wenigstens keiner auf die Idee, Sie mal zu konsultieren… Vielleicht sag ich ihnen auch, daß alles ein abgekartetes Spiel war – mal sehen, wie sie auf mein Erscheinen reagieren. Ich muß mir das noch mal durch den Kopf gehen lassen… Hoffentlich schlaf ich nicht ein!“ „Keine Angst, ich wecke Sie schon. Ich könnte mich ja vorher aus dem Staube machen, aber… Nein: wenn schon, dann will ich auch sehen, wie die Leute Mund und Nase aufsperren, wenn der Verstorbene wieder auf der Bildfläche erscheint.“ „Das wird eine Szene, die Sie Ihr Lebtag nicht vergessen werden… Tun Sie mir einen Gefallen: Halten Sie die Ohren offen und schnappen Sie alles auf, was man über mich sagt, ja?
Merken Sie sich vor allem, wer was sagt. Wenn Ihnen das gelingt, wenn Sie mir ein paar hübsche Bemerkungen liefern, können wir noch mal über eine Honorarerhöhung sprechen; Geld spielt keine Rolle. Vor allen Dingen passen Sie auf, ob irgend jemand mal was Positives über mich sagt, ob einer wirklich um mich trauert, ob es irgendwo mehr ist als Konvention und Maske – verstehen Sie?“ „Ja, ja; ich werde drauf achten.“ „Dann gehen Sie jetzt“, sagte Nedomanski mit einem undefinierbaren Lächeln. „Viel Glück!“ „Passen Sie auf, wenn Sie den Hades überqueren“, sagte Borkenhagen mit aufgesetzter Munterkeit. „Ich erkläre Sie hiermit für tot!“ Er schaltete die Deckenbeleuchtung aus und verließ das Zimmer. Draußen auf dem Flur erlitt er einen heftigen Schweißausbruch; er mußte stehenbleiben und tief atmen. Dann ging es wieder. Wie in Trance schritt er in die hellerleuchtete Halle hinein. Die Gäste, die in kleinen Gruppen zusammengestanden hatten, wichen etwas zurück und bildeten einen Halbkreis. Die Gespräche verstummten, erhobene Gläser wurden nicht mehr zum Mund geführt. Borkenhagen starrte in die gespannten Gesichter, die langsam zu fleischfarbenen Ovalen verschwammen. Er wünschte nur noch, unter ihm möge sich in dieser Sekunde eine Falltür auf tun. Er bewegte die Lippen, brachte aber kein Wort hervor. „Was ist denn…?“ Eine Stimme von weit her. „Herr Nedomanski ist soeben verstorben“, flüsterte Borkenhagen.
Meine Frau kommt herein und bringt mir eine Coca. Sie kennt das, was ich lese, ziemlich genau. Sie interessiert sich dafür,
teilweise hat sie es auch vom Band oder vom Notizblock abgetippt. Aber eine Idee, wie ich im Handumdrehen aus diesem Berg von Zetteln eine packende Illustrierten-Story machen könnte, hat auch sie bisher noch nicht. „Immer noch Nedomanski?“ „Hm… Im Büro bin ich nicht dazu gekommen, das Material zu sichten.“ „Du, ich hab dir zu sagen vergessen, daß in Borkenhagens Aufzeichnungen noch was fehlt.“ „So? Was denn?“ „Er war doch nach dem Abend im Lokal noch einmal in Nedomanskis Villa – oder nicht?“ „Ja, stimmt! Das hat er ausgelassen… Komisch. Aber du hast recht – das muß noch rein, wenn wir’s bringen…“ Ich mache mir eine Notiz: Borkenhagens Besuch bei Max Nedomanski! „Borkenhagen schreibt seine Rolle ganz schön um, was?“ „Gott ja… Natürlich. Er rückt sich in den Mittelpunkt, und trotz der vornehmen Zurückhaltung, mit der er sich selbst in der dritten Person nennt, wird er zur eigentlich interessanten Figur… Ich weiß auch nicht, ob es gut ist, daß er unter seinem vollen Namen auftritt.“ „Was soll er machen? Sich -en nennen, analog zu -ky?“ „Mal im Ernst: Stilistisch kippt er immer wieder um. Das ist mir stellenweise zu sachlich, denn um dem hanebüchenen Geschehen gerecht zu werden, müßte da ein wenig mehr ironische Distanz zu erkennen sein.“ „Aber die Story ist gut, das kannst du nicht abstreiten. So was darf einfach nicht in deiner Schublade verschimmeln!“ Ich stöhne nur. „Dann lies man schön weiter, ich guck noch ein bißchen in die Röhre.“ „Tu, was du nicht lassen kannst.“ Ich blicke ihr einen Augenblick hinterher, erfreue mich an dem, was ihr Minirock
freigibt, verwerfe mit eiserner Beherrschung einen verständlichen Gedanken, stöhne noch einmal und nehme die nächsten Seiten von Borkenhagens Manuskript in die Hand. Das Bild auf der Leinwand war plötzlich erstarrt. Borkenhagen, der schon seit einer ganzen Weile das Gefühl gehabt hatte, in einem großen Kinosaal zu sitzen, schien es sekundenlang, als sei der Vorführapparat bei seinen letzten Worten mit einem lautlosen Ruck stehengeblieben. Keine Bewegung, kein Laut, keine Tränen… Dann lief der Film wieder an. Jemand sagte: „Ausgerechnet an seinem Geburtstag!“ Walter Nedomanski fügte kaum hörbar hinzu: „Wie es sich für einen außergewöhnlichen Menschen gehört.“ Der Direktor sagte zu seiner Frau: „Da hilft auch kein NEDO-Med mehr.“ Die Angehörigen standen im Kreis um Maria Nedomanski herum. Sie war beherrscht wie immer; in ihrem Gesicht, das Borkenhagen irgendwie an eine Schildkröte erinnerte, zuckte es nicht einmal. Walter Nedomanski sah auf die Spitzen seiner altmodischen Schuhe; Guido, Nedomanskis Neffe, suchte mit unruhigen Blicken nach Martina Dahms. Edda hatte ihren Kopf an die Schulter ihres Verlobten gelegt. Die ersten Gäste gingen auf die kleine Gruppe zu, drückten erst Maria Nedomanski und dann den anderen die feucht gewordenen Hände. „Mein herzliches Beileid, gnädige Frau.“ „Er wird uns allen furchtbar fehlen.“ „Wenigstens brauchte er sich nicht so lange zu quälen.“ „Der Herr möge Ihnen die Kraft geben, mit allem fertig zu werden.“ „Er ist viel zu früh von uns gegangen.“ „Ein unersetzlicher Verlust für uns alle.“ „Meine aufrichtige Anteilnahme, Frau Nedomanski.“
„Bleiben Sie tapfer!“ „Ja, die Besten müssen immer zuerst gehen!“ „Mitten aus dem Leben gerissen…“ „Darf ich Ihnen für die kommenden schweren Tage die Hilfe meines Büros anbieten…?“ Borkenhagen registrierte den ganzen Ritus mit der uneingeschränkten Aufmerksamkeit, die Nedomanski ihm eingeschärft hatte. Er war noch immer überdreht; das Blut rauschte in den Ohren, aber die Beklemmung war weg. Die Kondolationscour ging zu Ende; die Gäste standen unschlüssig in der Nähe der Tür. „Wir sollten noch einmal an sein Bett treten“, schlug Guido vor. Borkenhagen fuhr zusammen. Das könnte Nedomanski möglicherweise um seinen spektakulären Auftritt bringen. Er mußte sich etwas einfallen lassen. Wie aus weiter Ferne und so dumpf, als käme sie aus einer Gießkanne, hörte er plötzlich seine Stimme: „Herr Nedomanski hat mir noch gesagt, er wünsche keine rühr… äh… keine große Abschiedsszene an seinem Sterbebett.“ Maria Nedomanski nahm es kommentarlos zur Kenntnis. „Ich darf Sie alle bitten, noch ein wenig bei mir zu bleiben; Stille und Einsamkeit wären jetzt das Schlimmste für mich. Es tut mir sehr leid, daß dieser Tag so enden mußte. Herr Dreyer wird dafür sorgen, daß wir einen starken Kaffee bekommen. Ich danke Ihnen allen…“ Der Film lief weiter. Borkenhagen konnte es nicht fassen, daß dies alles Wirklichkeit war. Er kam aus einem Milieu, wo solche Geschehnisse undenkbar waren, wo es kleinbürgerlich und vernünftig zuging, wo sich die Phantasie im wesentlichen mit Brüsten, Beförderungen und Torschüssen beschäftigte. Frau Professor Schmidt-Tenever, die Biologin war, erkundigte sich, woran Herr Nedomanski eigentlich gestorben
sei. Borkenhagen mußte sich wieder auf seine Rolle besinnen. Er machte nicht wieder den Fehler, zu ausführlich zu werden. Er ließ alles beiseite, was er mühsam auswendig gelernt hatte, und sagte nur kurz: „Angina pectoris.“ Genauer wollte es auch niemand wissen. Der Kaffee wurde serviert, und die Stimmung lockerte sich. Die Gesichter hellten sich wieder auf, zuweilen erklang schon gedämpftes Lachen. Man erzählte in einzelnen Gruppen Anekdoten aus Nedomanskis Leben. „Sie wissen ja, ich bin mit Nedomanski zusammen zur Schule gegangen… Am Schulweg lag eine Apotheke, in einem Eckhaus, die hatte zwei Türen, eine zur Haupt- und eine zur Nebenstraße hin. Wir waren vielleicht siebzehn damals; der Apotheker, ein ganz scharfer Hund, kaum älter als Mitte Zwanzig. Wir machten uns nun einen Spaß daraus, durch die eine Tür hinein- und durch die andere wieder hinauszugehen – ohne ein Wort zu sagen. Für jeden Durchgang gab’s einen Punkt. Wir waren zehn Mann. Bald war der Apotheker dem Wahnsinn nahe. Eines Tages griff er sich Nedomanski, schleppte ihn zum Direktor – und der machte Max fix und fertig… Und wie das Leben so spielt, 1951 kommt derselbe Apotheker zu Nedomanski, um sich Geld zu borgen. Er kriegt es und baut sich eine Fabrik, in der er ein Dutzend Salben produziert. Was macht Nedomanski? Er stellt die gleichen Salben her, verkauft sie zu einem Dumpingpreis und wartet, bis der Apotheker – total verschuldet – Selbstmord begeht.“ „Wissen Sie auch, daß Nedomanski zu seinem achtzehnten Geburtstag eine stadtbekannte Nutte zur Feier eingeladen hat – nur um seine Eltern zu schocken…?“ „Er hatte mal einen Prokuristen, der wollte einfach nicht aus der Firma ausscheiden; er besaß wohl auch einige Anteile. Da hat Nedomanski das Büro ausräumen lassen und ihm keine
Arbeit mehr gegeben. Nach drei Wochen war der Mann erledigt.“ „Vor fünf Jahren, da hatte er ein Verhältnis mit einer Sachbearbeiterin aus der Einkaufsabteilung. Sie dachte, sie würde ein Kind von ihm bekommen. Er wollte, daß sie es abtreiben ließ. Sie weigerte sich und war nahe dran, vor seinen Augen aus dem Fenster zu springen. Er hat nur gelacht. ,Tu’s doch’, hat er gesagt. ,Wenn du dich dadurch verbessern kannst…’“ „Man hört ja so einiges, wie er zu seinem Geld gekommen ist… Er hatte eine reiche Tante; der hat er eingeredet, ihr Sohn wäre in einem russischen Gefangenenlager gestorben. Das war 1948. Als sie starb, hat sie ihm ihr ganzes Vermögen vermacht. Sein Startkapital. 1955 ist der Sohn zurückgekommen. Er rätselt heute noch herum, wieso seine Briefe damals nicht… Aber das bleibt unter uns, ja?“ „Natürlich!“ Borkenhagen registrierte das alles ohne sonderliche Anteilnahme. Mochte an alldem auch nur ein Körnchen Wahrheit sein – entscheidend war, daß überhaupt Gespräche dieser Art geführt wurden. Und das, obwohl immer wieder einer sagte: „Toten soll man ja nichts Schlechtes nachsagen…“ oder: „Laßt die Toten ruhen!“ Wie würden sich diese Leute schämen, wenn Nedomanski plötzlich wieder auftauchte! Die halbe Stunde mußte bald um sein; er konnte jede Sekunde hereinkommen. Borkenhagen, der plötzlich wieder eine ungewisse Furcht verspürte, zog sich in die äußerste Ecke des Raums zurück. Die Aussicht, sozusagen moralisch gelyncht zu werden, war nicht sonderlich angenehm. Maria Nedomanski kam aus dem Bad, wo sie sich ein wenig erfrischt hatte, und ging zu ihrem etwas abseits gelegenen Schlafzimmer hinüber, um sich zwei Beruhigungstabletten zu holen. NEDO-Tranquil half ihr immer ziemlich schnell. Sie
stieß die Tür auf und tastete nach dem Schalter. Als sie ihn betätigt hatte, flammte oben an der Decke ein bläulicher Blitz auf, es gab einen kurzen, scharfen Knall, sie fuhr zusammen. Auch die Lampe im Korridor war erloschen, und der Aufschrei ihrer Gäste verriet ihr, daß es überall dunkel geworden war. Ein Kurzschluß also. Sie wußte, daß auf dem obersten Brett ihres recht hohen Bücherregals eine Taschenlampe lag. Die wollte sie haben, um Dreyer damit in den Keller zu schicken, wo der Sicherungskasten hing. Während hinten in der Halle Streichhölzer und Feuerzeuge aufflammten, zog sie im Schein einer schnell entzündeten Kerze einen fellbespannten Hocker zur Bücherwand hinüber und stieg hinauf. Doch sie hatte übersehen, daß der eine Fuß des Hockers genau auf dem Rand des dicken Teppichs stand. Der Hocker rutschte etwas zur Seite, Maria Nedomanski verlor den Halt und schrie auf. Von der Angst erfaßt, auf die scharfen Kanten ihres Frisiertischs zu stürzen und sich die Rippen zu brechen, suchte sie verzweifelt nach einem Halt. Im letzten Augenblick bekam sie die dünnen Streben des Bücherregals zu fassen und packte zu. Doch sie war zu schwer. Ihr Gewicht riß die Dübel aus der Wand; sie stürzte, und das Bücherregal fiel über sie. Ihr Aufschrei ließ einen Teil der Gäste aus der Halle stürzen und über den Korridor laufen. Vor der Tür zu ihrem Zimmer entstand ein kleiner Stau. Man fand Frau Nedomanski halb unter Büchern begraben, auf dem Bauch liegend; man hob sie auf und legte sie aufs Bett. Sie hatte eine Platzwunde am Kopf und stöhnte leise. Dr. Hartmann wurde gerufen, doch der meldete sich nicht. Schließlich schrie jemand: „Der Doktor ist im Keller!“ Für die nächsten zehn Minuten herrschte in Nedomanskis Villa eine ziemliche Verwirrung.
Die Gäste quirlten durcheinander; einer stand dem andern im Wege. Man suchte nach Sicherungen, nach Kerzen, nach Dr. Hartmann, nach einer Mullbinde für Maria Nedomanski und vor allem nach der Ursache des Kurzschlusses. Ein hektisches Stimmengewirr erfüllte das Haus. „Sie hat eine Wunde am Kopf… Wo bleibt denn bloß dieser verdammte Doktor? Herr Hartmann!“ „Die Glühbirne muß defekt sein – die hat den Kurzschluß ausgelöst. Los, wir müssen sie rausschrauben!“ Man fand aber nur einen Tritt, den die Reinmachefrau zum Fensterputzen benötigte, und auch der größte der anwesenden Männer reichte nicht an die Lampe heran. „Habt ihr oben ausgeschaltet?“ rief Borkenhagen aus dem Keller. „Ja!“ Doch in der allgemeinen Aufregung hatte man sich geirrt. Als Borkenhagen eine neue Sicherung einschraubte, knallte sie sofort wieder durch. Ausgerechnet dieser Strang war nicht mit einem Automaten gesichert. Sie zogen alle Schubladen auf, fanden aber keine intakte Sicherung. Maria Nedomanski blutete noch immer still vor sich hin, umstanden von Leuten, die sie mittlerweile nicht mehr beachteten, sondern sich stritten, in welcher Stellung der Lichtschalter auf EIN beziehungsweise auf AUS stand. Niemand wußte es mehr. Eine Markierung war nicht vorhanden, und die Schalter in den anderen Räumen waren unterschiedlich montiert. Also mußte man doch die defekte Glühbirne herausschrauben. „Bevor sie nicht draußen ist, traue ich mich nicht, die kaputte Sicherung mit Silberpapier zu umwickeln“, sagte Borkenhagen. „Sonst knallt uns noch die Hauptsicherung durch und der ganze Block liegt im Dunkeln.“
„Lassen Sie uns das machen, kümmern Sie sich lieber endlich um Frau Nedomanski!“ Borkenhagen holte seine Tasche aus dem Vorraum und versorgte Maria Nedomanski. Außer einer kleinen, aber heftig blutenden Platzwunde an der linken Augenbraue hatte sie offenbar keine weiteren Verletzungen davongetragen. Inzwischen hatte man draußen an der Wand der Wellblechremise eine Stehleiter von ausreichender Länge entdeckt. Dreyer war unauffindbar, und so bugsierten drei sonst überwiegend geistig arbeitende Herren das sperrige Ding durch das weitgeöffnete Fenster in das Schlafzimmer. Da im Kerzenlicht Entfernungen und Ausmaße nur schwer abzuschätzen waren, zerriß eine Gardine, und etliche Flakons fielen vom Frisiertisch. Parfüm lief auf den Teppich. „Hier stinkt’s ja wie im Puff“, sagte jemand. „Mensch, ist das ein Tohuwabohu hier! Und nebenan liegt Nedomanski!“ Borkenhagen hoffte nur, daß Nedomanski die Ruhe und die Nerven behielt. Dieser Zwischenfall vermasselte ihm womöglich die ganze Tour. Seit dem Kurzschluß mochte gut und gern eine Viertelstunde vergangen sein – oder war es erst vor wenigen Minuten passiert? In solchen Situationen versagt das Zeitgefühl. Er wagte es nicht, zu Nedomanski ins Zimmer zu gehen und mit ihm zu sprechen, denn auf den Gängen wimmelte es von Menschen, und womöglich folgte ihm noch jemand oder belauschte ihn. Sie waren ja laut genug gewesen; Nedomanski mußte alles mitgekriegt haben. Daß dem so war, ging ja schon aus der Tatsache hervor, daß er seinen großen Auftritt verschoben hatte. Wenn er jetzt, in diesem Durcheinander, auf der Bildfläche erschien, bestand die Gefahr, daß sein Erscheinen so ziemlich verpuffte… Vielleicht war es gut, wenn er noch einmal mit Nedomanski sprach. Aber wie?
Da hatte Borkenhagen eine Idee. Er erinnerte sich, auf Nedomanskis Nachttisch einen Telefonapparat gesehen zu haben. Sicherlich mußte es möglich sein, ihn von seinem Arbeitszimmer aus anzurufen. Diese Telefone schnarrten ja so leise, daß man draußen auf der Diele gar nichts hören konnte. Die brennende Kerze in seiner linken Hand tropfte ihm die ganze Hose voll. Sein einziger anständiger Anzug, ausgerechnet. Im flackernden Licht stieß er die breite Tür zum Arbeitszimmer auf. Ein Windstoß fuhr ihm entgegen und hätte fast die Kerze zum Erlöschen gebracht. Es roch nach Leder, altem Holz und Zigarrenrauch, und am Schreibtisch… Borkenhagen erstarrte. Vor dem durchwühlten Schreibtisch stand ein Mann in schwarzem Rollkragenpullover und suchte mit fliegenden Fingern ein Bündel Geldscheine in eine Aktentasche zu stopfen. Der Mann erstarrte ebenfalls. Sie glotzten sich an. Buster Keaton, schoß es Borkenhagen durch den Kopf. Er hat ein Gesicht wie… Pokerface. Er sieht aus wie ein Pokerspieler im Western… Borkenhagen wollte schreien, aber er brachte nur ein undeutliches Gurgeln zustande. Dann erkannte er, wie dürr und schmächtig Pokerface war. Er warf dem Mann die Kerze ins Gesicht und stürzte sich auf ihn. Doch Pokerface stieß ihm in einer blitzschnellen Reaktion das rechte Knie in den Unterleib. Borkenhagen schnappte nach Luft und fiel um. Pokerface zögerte; sein Blick zuckte zwischen Fenster und Tür hin und her. Draußen im Garten standen noch die Herren, die die Leiter ins Schlafzimmer geschoben hatten. Trotzdem wandte er sich dem Fenster zu – vielleicht baute er auf den Überraschungseffekt. Aber nun hatte sich Borkenhagen wieder aufgerappelt. Mit einem wilden Hechtsprung konnte er Pokerface an den Füßen
packen, als der sich nun doch aufs Fensterbrett schwingen wollte. Es begann ein lautloser und verbissener Kampf.
Na endlich! Endlich passiert was. Und ganz geschickt macht er das, der Borkenhagen: Er kann ja unmöglich überall dabei gewesen sein, er rekonstruiert – aber es geht ohne Bruch… Na, fast ohne Bruch. Meine Frau läßt sich Badewasser ein, und ich blicke einen Augenblick von Borkenhagens schludrig getipptem Manuskript hoch, um meine leicht brennenden Augen auszuruhen. Mein Blick bleibt auf dem van Gogh-Druck haften, den ich mir vor einigen Tagen neben meinem Schreibtisch an die Wand geklebt habe. Einfach mit vier Streifen Tesa-Film. Er hat bei Hertie fünf Mark gekostet und zeigt einen blühenden Pfirsichbaum. Das Original ist 1888 in Arles entstanden, 73 x 59,5 cm groß und hängt im KröllerMüller-Museum in Otterlo… Ja, ich habe mich einige Stunden lang mit dem großen Brabanter beschäftigen müssen, um bei meinen Recherchen weiterzukommen. Dieser luftigbeschwingte Pfirsichbaum spielt in meinem Tatsachenbericht eine nicht unwesentliche Rolle. Das müßte ich dem Leser irgendwann mal klarmachen. Aber es paßt nirgends hin… Es ist schon ein verdammter Mist mit dieser Story! Aber sie läßt mich nicht mehr los. Hm… Es ist bald 22 Uhr, und wenn ich so weitermache, sitze ich noch die ganze Nacht hier. Also her mit Borkenhagens nächstem Kapitel!
Pokerface war entkommen. Borkenhagen hatte es zwar fertiggebracht, dem Einbrecher die Beute wieder abzujagen, denn die Tasche mit dem
Diebesgut wurde neben Nedomanskis Schreibtisch gefunden, es war ihm aber nicht gelungen, den Ganoven an der Flucht zu hindern. Nach einem wilden Ringkampf hatte ihn ein Faustschlag in die Magengrube für Sekunden mattgesetzt, und er hatte mitansehen müssen, wie Pokerface aus dem Fenster gehechtet war. Walter Nedomanski hatte einen Funkwagen herbeigerufen, aber die beiden Beamten hatten auch nichts weiter unternehmen können. Bis zum Erscheinen der Kriminalpolizei würde noch eine Weile vergehen; man hatte auch im Augenblick wichtigere Dinge zu erledigen. Die defekte Glühbirne war inzwischen von beherzten Männern ausgewechselt worden, und eine rasch in der Nachbarschaft ausgeliehene Sicherung sorgte für ausreichende Helligkeit in allen Räumen. Allzu festliche Beleuchtung ziemte sich für ein Trauerhaus ohnehin nicht. Borkenhagen war es gar nicht recht, daß alles so gekommen war. Sie hatten bei ihrem Plan vorausgesetzt, daß die Nachricht vom Tode Nedomanskis die Gäste betroffen, zumindest nachdenklich machen und in eine entsprechende Stimmung versetzen würde, in der der »Tote« in den Mittelpunkt ihrer Gedanken rückte. Nun aber hatten Maria Nedomanskis Sturz, der Stromausfall und der Einbruch völlig von Nedomanski abgelenkt. Borkenhagen erkannte, daß es einiger Minuten bedurfte, ehe die Nähe des Todes von neuem zu den erwarteten Reaktionen und Verhaltensweisen führen würde: vor dem Gesicht die Trauermaske, im Mund Phrasen und Zynismen, im Kopf die Erkenntnis, daß man sich eigentlich erleichtert fühlte, höchstens hier und da Ärger über ein nicht abgewickeltes Geschäft, einen nicht unterschriebenen Vertrag… Alles, nur kein echtes Gefühl, keine Wärme, keine Trauer. Ein Druck auf den Knopf, und das gespeicherte Programm lief ab – das Programm Angemessenes Verhalten beim Ableben
eines beneideten und verhaßten Verwandten oder Bekannten. Verpflichtung der Witwe und den anderen gegenüber, Chance zur eigenen Entlastung von angestauten Aggressionen, Schadenfreude, Distanzierung vom Geschehen. Und dabei ein mehr oder weniger schlechtes Gewissen, denn es gab nichts, das echt war – keinen Schmerz, kein Mitleid, keine Tränen, keinen tiefempfundenen Dank. Alles fehlte, was einem das Gefühl eigener menschlicher Größe oder auch nur Anständigkeit hätte vermitteln können. Von den sogenannten hohen Werten, die Schule, Elternhaus und Kirche einem eingepflanzt hatten, war auf einmal nichts mehr übriggeblieben. Gott und der Gesellschaft gegenüber war man schuldig geworden – und man verdrängte es. In diese Stimmung hatte Max Nedomanski hineinplatzen wollen, um Scham und Entsetzen zu verbreiten, sich zu rächen und zugleich seine Gäste zu quälen und zu foppen. Borkenhagen hoffte nur, daß er sich noch etwas Zeit ließ. Die Gäste hatten sich wieder vollzählig in dem großen Speisezimmer versammelt. Man stand in kleinen Gruppen beisammen, fragte sich, was man hier noch sollte und traute sich doch nicht, sich zu verabschieden und damit den allgemeinen Aufbruch auszulösen. Außerdem war man neugierig. Jeder wußte, daß Nedomanskis Verwandte einander nicht grün waren. Wann würden sie die Beherrschung verlieren und sich dramatische Wortgefechte liefern? Es war fast allen bekannt, daß Martina die Geliebte Nedomanskis war. Wann würde Maria Nedomanski auf sie losgehen? Ob sich Guido und Walter Nedomanski wegen der Führung der NEDO-Werke in die Haare gerieten? Borkenhagen schlenderte von Gruppe zu Gruppe und hörte überall das gleiche. Man sprach vom Tod.
„… im Juni 1945 gestorben; wir haben ihn auf dem Handwagen zum Friedhof gefahren. Der Sarg aus Kistenbrettern…“ „… da hat auch der Pneumothorax nichts mehr geholfen; nach einem Jahr war er tot.“ „Sie wußte, daß sie multiple Sklerose hatte. Sie konnte nicht mehr richtig sprechen, die Hände zitterten, ihr war andauernd schwindlig. Letzten März ist sie dann gestorben.“ „… wacht morgens auf und wundert sich, warum ihr Mann noch nicht aufgestanden ist. Sie sagt was zu ihm, er stöhnt nur etwas. Sie macht Licht an, da ist er schon tot. Herzschlag!“ „Na, Nedomanski hat’s überstanden; wer weiß, was auf uns noch alles zukommt.“ Jetzt könnte er bald kommen, dachte Borkenhagen. Walter Nedomanski war schon dabei, in Gedanken die Anzeige zu formulieren. Vielleicht konnte man den Text noch heute abend durchgeben… „Was nehmen wir denn für Zeitungen?“ fragte Walter Nedomanski. Maria Nedomanski überlegte. „Auf alle Fälle den Tagesspiegel, dann die FAZ, die Welt und die Süddeutsche – das reicht wohl.“ „Und was für ‘n Institut?“ „Grieneisen.“ „Kommst du mit, den Sarg aussuchen?“ „Ja. Gehen wir gleich morgen früh.“ „Hat Dr. Hartmann noch keinen Totenschein ausgestellt?“ „Nein, er hat kein Formular bei sich; er bringt ihn morgen früh vorbei.“ „Wollen wir schreiben: Die Trauerfeier findet im engsten Familienkreis statt?“
„Nein, laß sie nur alle kommen. Das kostet sie Zeit. Außerdem, er hat es ja geliebt, im Mittelpunkt zu stehen. Das einzige, was er geliebt hat…“ „Und die Traueranzeige, die wir als Familie drucken lassen?“ „Da kommt auf alle Fälle rein: Von Beileidsbesuchen bitten wir abzusehen.“ „Wer soll denn mein Nachfolger in der Firma werden, wenn ich dann auf seinem Stuhl sitze?“ „Schuhmacher – oder? Das ist doch der Tüchtigste. Kein Abend, an dem er nicht bis neun in der Firma hockt.“ „Okay!“ Walter nickte. „Wann willst du denn die Leute nach Hause schicken?“ „Wenn ihnen der Gesprächsstoff ausgegangen ist. Dreyer soll ihnen was zu trinken bringen – geh, such ihn mal bitte.“ Walter Nedomanski drehte sich um und stieß mit Borkenhagen zusammen. „Pardon“, murmelte er. „Oh, bitte…“ Borkenhagen sah ihn an. Er sah scharlachrote Flecken auf gelblicher, mit winzigen Schweißperlen bedeckter Haut, sah unruhige, kalte Möwenaugen, die hinter dicken Brillengläsern auseinanderzufließen schienen – ein Gesicht von faszinierender Häßlichkeit… Mein Gott, ist der verwirrt, dachte Borkenhagen: hoffentlich bekommt er keinen Herzschlag, wenn sein Bruder wieder auftaucht! Er trat zur nächsten Gruppe. Vier, fünf Gäste lauschten den Worten des bekannten Parteipolitikers, unter ihnen Guido und Martina. „… uns stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden und mußte nun von uns gehen, ohne vorher erlebt zu haben, daß seine hohen Ziele noch Wirklichkeit wurden…“ Er hustete und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Tja, der Tod: Gestern noch auf stolzen Rossen… Wie sagt doch ein altes chinesisches Sprichwort: Es ist immer später als du denkst! Aber was hilft’s…? Max, Nedo, was haben wir für schöne
Stunden miteinander verbracht! Unsere Skatabende. Wir haben immer wie die Chinesen gesprochen – Obel, blingen Sie uns bitte dlei Gläsel mit lotem Maltini – , und wer ein r mitsprach, der mußte die Lage bezahlen. Na, und dann die Reise nach Paris; Nina und Michele… Ach ja: leuchtende Tage; nicht weinen, daß sie vergangen, sondern lachen, daß sie gewesen…“ Jetzt könnte Nedomanski langsam kommen, dachte Borkenhagen; jetzt hat sich auch jemand gefunden, der ihn mag… Er sah, daß die ersten Gäste Anstalten machten, sich zu verabschieden. Höchste Zeit für Max Nedomanski. Wahrscheinlich war er eingeschlafen. Oder hatte er im letzten Augenblick kalte Füße bekommen? Vielleicht wartete er nur, um ihn, Borkenhagen, zu überreden, vor die Gäste hinzutreten und den sehr verehrten Damen und Herren seinen Irrtum einzugestehen. Nur ein schwerer Herzanfall, es hatte aber ganz den Anschein… Ja… Sein Herz hat wieder angefangen zu schlagen. Es tut mir sehr leid, daß ich Sie alle durch eine falsche Diagnose… Ja, so oder so ähnlich würde es ablaufen. Für weitere 500 Mark war er auch dazu bereit. Borkenhagen paßte die Sekunde ab, da ihn niemand beobachtete. Er tat so, als wollte er die Toilette aufsuchen und schlüpfte dann in den rechtwinklig abgehenden Teil des Flurs hinüber, der zu Nedomanskis Schlafzimmer führte. Hier brannte keine Lampe, aber es war hell genug, um die schwere Bronzeklinke an der Tür auf den ersten Blick zu finden. Vom Speisezimmer her drang gedämpftes Gemurmel zu ihm herüber. Er kam sich vor wie ein Kind, das sich vor den Erwachsenen versteckt. Er spürte, wie sich Arme und Beine mit einer kribbelnden Gänsehaut überzogen. Er erinnerte sich: Es war derselbe lustvolle Schauder, der ihn immer gepackt hatte, wenn sie ihm das Märchen von dem Mann vorgelesen hatten, der ausgezogen war, das Fürchten zu lernen… Er zog
die Tür auf, trat ins Zimmer und ließ sie wieder ins Schloß fallen. Fahles Mondlicht erhellte den kleinen, quadratischen Raum. Rechter Hand füllte ein hochglanzpolierter Einbauschrank den Raum bis zur Decke; links stand Nedomanskis Bett, neben der Tür der Stuhl mit Nedomanskis Sachen. Eine Mücke surrte durch das Zimmer und suchte Borkenhagen. Er scheuchte sie mit einer hastigen Handbewegung zurück. Irgendwo zirpte eine Grille. Das Fenster zum Garten war nur angelehnt. Die Nachttischschublade stand offen. Das Bild über Nedomanskis Bett hing ein wenig schief. Nedomanski lag auf der rechten Seite und hatte das Gesicht zur Wand gedreht. Das Bett sah ein wenig zerwühlt aus, offensichtlich war er ungeduldig geworden. Die Sache mit dem Kurzschluß hatte ja auch eine ganze Weile gedauert. Darüber mußte er eingeschlafen sein. „Hallo, Herr Nedomanski!“ rief Borkenhagen halblaut. „Kommen Sie, es ist soweit!“ Keine Antwort. Hoffentlich hat er keinen allzu festen Schlaf, dachte Borkenhagen. Er trat an das Bett, um Nedomanski wachzurütteln. Er packte ihn mit beiden Händen an der linken Schulter. Als er ein wenig Kraft einsetzte, klappte der Körper herum wie ein Sack, der umkippt. Borkenhagen schrie auf. Draußen im Garten schaltete jemand die Lampen ein, weil die Gäste gehen wollten. Lichtreflexe huschten über zwei glasige Augen. Max Nedomanski war tot. Das ist der letzte Satz in dem Manuskript, das mir Borkenhagen auf dem Tennisplatz gegeben hatte. Nicht schlecht, alles in allem. Es geht ein bißchen gestelzt los, aber dann bekommt es plötzlich Farbe und Atmosphäre. Das ist
schon eine Geschichte, die unter die Haut geht. Die Moral von der Geschicht: spiele mit dem Tode nicht. Überschrift: TOTE LEBEN NICHT LANGE… Pustekuchen. Das ist vielleicht ein Titel für einen Krimi – aber dies wird, wenn’s überhaupt was wird, ein Tatsachenbericht. Wär ja auch eine ganz alte Masche: ein Toter, ein Haus voller gleichermaßen verdächtiger Personen – wer ist der Mörder? Großes Rätselraten, Spannung bis zur letzten Seite… Aber wer sagt denn, daß Nedomanski ermordet worden ist? Einstweilen spricht nichts dafür; er kann durchaus eines natürlichen Todes gestorben sein. So etwas soll ja gelegentlich vorkommen. Herzkrank war er ja, dazu die Erregung… Dann kann er allerdings noch im Grabe lachen, wenn die Kripo womöglich doch anfängt, unter all den Leuten, die er nicht ausstehen konnte, seinen Mörder zu suchen… Todesursache? Na, es soll schon vorgekommen sein, daß man die nicht so ganz zweifelsfrei ermitteln konnte. Weitere Möglichkeit: Nedomanski hat Selbstmord begangen – und zwar, wenn die lieben Verwandten Pech haben, auf eine Art und Weise, die nur einen Schluß zuläßt: Mord! Keine schlechte Idee, wenn man ohnehin schwer krank ist und sich an seiner Umwelt rächen will. Die Frage ist, wie krank war Nedomanski? Immerhin: Jeder der hohen Gäste unter Mordverdacht… Wir bitten Sie, bis auf weiteres Berlin nicht zu verlassen! Ja, und dann kann es natürlich eben doch ein waschechter Mord gewesen sein. Das allerdings würde die Gäste entlasten: sie hatten ja alle geglaubt, Nedomanski sei bereits tot. Und wer ermordet schon einen Toten? Halt – ein Gast wußte, daß Nedomanski noch lebte: Borkenhagen. Aber der hatte kein Motiv – im Gegenteil: wie sollte er zu seinem restlichen Geld kommen, wenn sein Auftraggeber tot war?
Hm… Na ja. Erst mal weiterlesen… Was ist denn das für ein Zettel? Aha – von der Gattin, der teuren: Paß auf: Der Borkenhagen will dich bloß reinlegen! Er zieht eine große Schau ab, um vom wahren Sachverhalt abzulenken. Es könnte nach Lage der Dinge doch sehr gut Tötung auf Verlangen gewesen sein. § 216 StGB besagt – lach nur; ich hab nachgesehen: (1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Gefängnis nicht unter drei Jahren zu erkennen. (2) Sind mildernde Umstände vorhanden, so ist die Strafe Gefängnis nicht unter sechs Monaten. (3) Der Versuch ist strafbar. War das nicht ein genialer Einfall von Nedomanski, sich auf diese Art und Weise an seinen ihm verhaßten Mitmenschen zu rächen? Borkenhagen, das Luder, wird erheblich mehr gekriegt haben, als er zugibt – und Vorauskasse! Was riskiert er schon groß? Wahrscheinlich hat er sich von Nedomanski einen entlastenden Brief geben lassen; da kommen höchstens drei Jahre Gefängnis dabei raus. Den Brief, das ist jetzt schon klar, wird er nur im Notfall benutzen; er hofft, daß die ganze Geschichte unaufgeklärt im Sand verläuft, wenn der erste Wirbel abgeklungen ist. Überleg dir das mal. Ich habe Borkenhagens Manuskript sehr genau gelesen, auch zwischen den Zeilen. PS: Die Summe, die B. von N. bekommen hat, kann sehr hoch gewesen sein – sechsstellig. Schließlich braucht N. kein Geld mehr, und seine Erben konnte er nicht riechen.
Na, ich weiß nicht… Bißchen phantasievoll, was sich die Gute da ausgedacht hat. Das Risiko ist sehr groß – Brief hin, Brief her; es hat auch niemand sechsstellige Beträge in der Brieftasche, und größere Bewegungen auf einem Konto, dessen Inhaber kurz darauf unter zweifelhaften Umständen
stirbt… Also, das kann ein Rohrkrepierer werden. Und Borkenhagen mag ein Abenteurertyp sein und ein unausgegorener Zyniker obendrein – aber wenn’s ernstlich riskant wird, da wird er sehr schnell zum Realisten. Nein, Tötung auf Verlangen scheidet wohl aus. Also weiter im Text… Oha: ein Stilbruch. Ein gewollter Stilbruch ohne Zweifel – ich kenn doch den guten Borkenhagen! Präsens, so. Präsens, und was sich Herr Borkenhagen unter Expressionismus vorstellt… Na, mal sehen.
Borkenhagen irrt durch die Straßen. Sein R 4 steht irgendwo zwischen Knesebeck- und Uhlandstraße auf dem Mittelstreifen des Kurfürstendamms. Er weiß nicht mehr, wie er überhaupt bis dorthin gekommen ist. Immerhin fünf bis sechs Kilometer Entfernung zwischen diesem Parkplatz und Nedomanskis Villa, über den Daumen gepeilt. Borkenhagen schlendert, schlingert, schleicht den Kudamm hinunter. Er hat seinen besten Anzug an. Dunkelblau. Zerknautscht und vollgekleckert; zu dem Kerzenwachs ist inzwischen noch Tomatenketchup gekommen. Er hat an der Bude zwischen Bleibtreu- und Schlüterstraße eine Currywurst gegessen. Daran erinnert er sich noch. Dann hat er getrunken. Pernod, Martini, Bier, Whisky; alles durcheinander und insgesamt eine ganz schöne Ladung. Nedomanski. Er hat ihm noch die Augen zugedrückt. Dann hat er sich verabschiedet. Morgen früh bringe ich den Leichenschein vorbei… Schön wär’s. Sabine ist nicht da. Vielleicht kann ich ihrem Vater einen Schein aus dem Schreibtisch klauen? Aber wie soll ich ins Haus kommen, wenn Sabine nicht da ist? Die alte Krähe ist nie da, wenn man sie braucht. Scheiße.
Er hätte an diesen verdammten Leichenschein denken sollen… Das heißt, er hat daran gedacht und sich bei seinen Vorbereitungen auch darüber informiert: Die erste Urkunde nach dem Ableben stellt der Arzt mit dem Leichenschein aus. Vermag der Arzt sich über Todesstunde oder -ursache kein genaues Bild zu machen und vermerkt er seine Feststellungen unter dem Vorbehalt vermutlich, dann sind zunächst die Kriminalpolizei und die Staatsanwaltschaft einzuschalten. Die Staatsanwaltschaft entscheidet letztlich über die Freigabe oder über weitere Untersuchungen durch den Gerichtsmediziner und gegebenenfalls über die Aufnahme kriminalpolizeilicher Ermittlungen. Läßt der Leichenschein dagegen keinerlei Zweifel offen, dann ist bei dem Polizeirevier, in dessen Zuständigkeitsbereich der Tod des Verstorbenen festgestellt wurde, der Schein mit den standesamtlichen Urkunden vorzulegen… Aber woher sollte er wissen, daß Nedomanski wirklich abkratzen würde? Ein Königreich für ein Formular! Er hockt im Coupe 77 und hat einen Fetzen des Tagesspiegel vor sich liegen. Wenn er ein Formular hätte, ginge alles glatt über die Bühne. Kein Schwein würde was merken. Aber wie hätte er ahnen sollen. Hinterher ist man immer klüger. Er sitzt an einem Vierertisch. Es sieht hier aus wie in einem alten Eisenbahnwaggon. Schilder, Lampen, Fenster, Edelholzverkleidung – alles echt oder gut imitiert. Wenn der Zug bloß fahren würde. Weg von hier, weg von Berlin. Ein Ehepaar sitzt mit am Tisch, Büromöbelhändler, sie hat eine Freundin mitgebracht. Die Musik ist fürchterlich laut. Die Freundin heißt Britta, das hat er schon mitbekommen. Sie trägt einen kurzen Kordrock und zeigt viel Schenkel. Er fordert sie zum Tanzen auf. Sie ist sehr anschmiegsam. Ihm wird schwindlig, in den Ohren rauscht es, alles dreht sich, er fährt Kettenkarussell. Sie ist Fräulein Inspektor, außerplanmäßig, beim Senator für Inneres. Er denkt nur immer: Nedomanski ist
tot. Nedomanski ist tot. Nedomanski ist tot. Er hat ihm noch die Augen zugedrückt. Britta sorgt dafür, daß sein rechtes Knie ab und zu zwischen ihre Schenkel gerät, doch, es ist ihm egal. Würde Nedomanski noch leben, wenn er das makabere Spiel nicht mitgemacht hätte? War er schuld an allem? „Gott, ist mir schlecht!“ „Wenn’s schlecht dir geht, nimm NEDO-Med!“ „Bitte?“ Britta ist erstaunt. „Ach, entschuldigen Sie…“ Seine Stimme ist ihm fremd, klingt schrill und viel zu hell, kommt aus weiter Ferne. Kein Zweifel, sie will ihn mit nach Hause nehmen. Lieb von ihr. Aber heute nicht. Nedomanski ist tot. Er zahlt, auch für sie, und verläßt die Bar. Die Luft draußen ist kühl. Ein paar Autos, Taxis zumeist. Wenige Passanten. Im Osten dämmert es schon. Nedomanski ist tot. Er geht. Er geht. Er geht. Nedomanski ist tot. Ist er gestorben, von allein, durch die Aufregung? Hat er Selbstmord begangen? Ist er ermordet worden? Wird man ihm, Borkenhagen, den Mord in die Schuhe schieben? Ist er zur Anzeige verpflichtet? Soll er einen Leichenschein fälschen, soll er irgendwo in eine Praxis einbrechen und einen stehlen? Rote Ampeln, rote Punkte, rote Kreise, rot wie Blut, tiefrot. Grüne Ampeln, grüne Punkte, grüne Kreise. Orange und gelb. Müde Lichtreklamen. Schlußlichter. Farben fließen durcheinander, zerplatzen; es tut weh. Er überquert einen Fahrdamm. Da liegt eine zermalmte Taube. Federn, Blut und Knochen… Bremsen quietschen; er springt nach vorn. Verdammte Scheiße, da hast du dich ja auf was Schönes eingelassen!
Morgen früh, heute früh… Nedomanskis Villa. Sie warten auf ihn und den Leichenschein. Er kommt nicht. Es wird 11 Uhr. Er ist noch immer nicht da. Sie suchen im Telefonbuch nach einem Dr. Hartmann, sie rufen im Klinikum an. Auch nichts. Langsam durchschauen sie den Schwindel. Nächster Anruf: Kriminalpolizei. Die Maschinerie setzt sich in Bewegung. Gesucht wird… Mordverdacht! Und nun bittet die Kriminalpolizei um Ihre Mitarbeit… Geh und stell dich, sag ihnen alles! Geh nicht – die behalten dich gleich da. Er hat im StGB nachgesehen, § 132a. Wer unbefugt inländische oder ausländische Amtsoder Dienstbezeichnungen, Titel oder Würden führt, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr und mit Geldstrafe oder mit einer dieser Strafen bestraft. Er hatte es ja gewußt, aber Nedomanski hatte es verstanden, seine Bedenken zu zerstreuen: Ist doch alles bloß ein Spiel… Der hat ausgespielt. Mordverdacht. Warum gerade ich? Verhöre, Scheinwerfer, bohrende Fragen, anmaßende Beamte. Ach, Publizistik studieren Sie? Wer einen Bart trägt, ist links und infolgedessen schon von vornherein verdächtig. Olivaer Platz. Er sitzt auf einer Bank. Es ist kühl; er fröstelt. Die Sonne geht auf, Amseln beginnen zu singen. Und Nedomanski ist wirklich tot. Eine Nutte steigt in ein Taxi. Ist es nicht die, mit der Nedomanski aus der Pension gekommen ist? Vielleicht. Na und? Ein Kunde weniger; davon wird die nicht arm… Busse fahren vorbei, noch leer; nur ein paar verschlafene Gesichter im Unterdeck. Die ersten Männer mit Aktentaschen. Er hat heiße Augen und Sodbrennen. Er merkt, daß er nach Schweiß riecht… Justizirrtümer hat es immer gegeben. Wenn es denen gelingt, ihm einen Mord nachzuweisen? Quatsch.
Nedomanski ist an einem Herzschlag gestorben. Das war alles zuviel für den alten Knacker… Er friert. Aber er hat Angst davor, nach Hause in seine kleine Laube zu fahren. Er beißt an der Kuppe seines rechten Daumens herum, bis das Blut kommt. Regression, denkt er, Rückkehr zu kindlichen Verhaltensmustern infolge von Frustration oder Konflikt… Er ist plötzlich todmüde. Er gähnt. Er verliert sich in Traumbildern. Er ist Mittelstürmer. Er läßt den rechten Außenverteidiger aussteigen, den Libero, den Torwart – Tooor! Tooor! Hunderttausend springen auf, er reißt die Arme hoch, der Ball liegt im Netz… Klick. Tennis, Centre-Court. Der Australier hat ihm die ersten beiden Sätze abgenommen; den dritten hat er 14:12 gewonnen, den vierten 7:5, und jetzt führt er 6:3. Er hat Aufschlag, und es steht 40:30. Matchball. Wimbledon hält den Atem an. Hoch schwingt er das Racket zum Aufschlag. Ein As! Spiel, Satz und Sieg! Klick. Sie kauern in den Blöcken. Fertig – Schuß! Blitzstart. Harter Kampf. Klarer Vorsprung. Sieg. Zeit: 9,8 – Weltrekord… Klick. Sabine zieht langsam den Rock über die gespreizten Schenkel… Er schreckt hoch. Eine alte Frau zieht einen leinenbespannten Karren vorüber. Sie trägt eine Zeitung aus, die ihn anekelt, und er würde eher verhungern, ehe er auch nur eine Zeile für dieses Wurschtblatt schriebe. Aber das bringt ihn auf eine Idee, eine Idee, die ihn fasziniert. Mensch, man könnte ja Kapital aus der Sache schlagen! Wenn ich den Stoff zu einer Reportage verarbeite… Da sind doch sicher ein paar hundert Mark drin! Der Fall Nedomanski – der Millionär, der seinen Tod genießen wollte… Der -ky war immer ganz verrückt nach solchen Themen. Vielleicht würde er die ganze Story Zeile für Zeile übernehmen, vielleicht auch nur als Material für einen großen Bericht verwenden – egal; das mußte mindestens 500 Mark
bringen. Und die brauchte er dringend. Trotz der Scheine, die er von Nedomanski bekommen hatte. Außerdem hatte er die Chance, die Arbeit der Kriminalpolizei aus erster Hand, am eigenen Leib kennenzulernen, wenn sie ihn pausenlos verhörten… Robert Borkenhagen – verwickelt in einen skandalösen Fall! Eine Möglichkeit. Eine einzigartige Möglichkeit… Los, zugreifen! Angriff ist die beste Verteidigung. Es ist in jedem Fall besser, wenn er selber zur Kripo geht – schnappen tun sie ihn ohnehin. Und Abhauen kommt nicht in Frage. Da kann er genausogut den Mord an Nedomanski gestehen… Falls es überhaupt einer war. Eben: da liegt der Hund begraben. Wenn man nur wüßte… Wieso Hund? Nedomanski wird begraben. Nedomanski ist tot. Nedomanski ist tot. Nedomanski ist… Sein Kopf fällt zur Seite; er nickt ein. Minuten sind es nur, aber als er hochschreckt, weiß er nicht mehr, wo er ist. Es dauert ein Weilchen, bis er wieder ganz zu sich kommt. Es ist ja alles nur ein Traum, redet er sich ein. Nedomanski und die Geburtstagsparty und das makabere Spiel und der Tod – er hat ja alles nur geträumt. Das kann ja gar nicht wahr sein, das ist eine Ausgeburt seiner Phantasie… Aber dann weiß er wieder, daß es wahr ist. Er steht auf, überlegt einen Augenblick. Ihm fällt ein, daß sich die Mordkommission in der Keithstraße befindet. Er macht sich auf den Weg. Es nieselt, es regnet, es nieselt wieder. Er niest, er hustet. Er geht durch Straßen, die er nicht kennt. Er ist noch immer nicht nüchtern. Ein Imbißstand. Er trinkt einen starken Kaffee. Die Straßen füllen sich, an den Haltestellen warten die Menschen auf die heranschießenden Busse. Flugzeuge dröhnen über die Stadt hinweg. Niemand beachtet ihn. Die Füße tun weh. Rechts spürt er eine Blase. Sein Kinn ist rauh, seine Lippen sind
zerbissen. Die Haare fühlen sich spröde an, obgleich sie naß sind. Es tut irgendwie weh, wenn er darüber streicht. Es ist acht Uhr morgens, als Borkenhagen durch kahle Gänge irrt. Endlich findet er das Zimmer, das der Pförtner ihm bezeichnet hat. Er wird mürrisch empfangen. Fiebernd erzählt er seine Geschichte. Sie lachen ihn aus. Es ist wahr! Kommen Sie, schlafen Sie erst mal Ihren Rausch aus. Rufen Sie doch Frau Nedomanski an! Ein bißchen früh dafür, nicht? Vielleicht kommt es auf jede Minute an! Sie, wenn Sie uns hier auf den Arm nehmen wollen… Borkenhagen weiß nicht mehr, was er sagen soll. Er hört die Stimme des Beamten mit einem dumpfen Nachhall. Er hofft nur, daß es bald überstanden ist. Seine Augen machen nicht mehr mit. Farben und Konturen verschwimmen. Er schließt sie.
Soweit Borkenhagens dichterisches Intermezzo. Wenn ich den Bericht wirklich schreiben sollte, werde ich sein ganzes Elaborat in einem Satz zusammenfassen müssen: Da er sich davon gewisse finanzielle und berufliche Vorteile verspricht, kommt Borkenhagen im Laufe der Nacht zu dem Entschluß, daß es das Beste wäre, bei der Kripo eine Art Geständnis abzulegen… Hoffentlich ist er mir nicht allzu böse, wenn sein bestes Kapitel unter den Tisch fällt. So, wie geht’s denn weiter? Die Kripo ist also alarmiert, und allmählich merkt man, daß Freund Borkenhagen weder betrunken noch bescheuert ist. Man fährt zu Nedomanskis Villa, findet den Toten und übergibt ihn den Herren Gerichtsmedizinern. Maria Nedomanskis Aussagen decken
sich mit denen von Borkenhagen. Die kriminalpolizeilichen Mühlen beginnen zu mahlen. Zum Glück habe ich einen Draht zur Kripo; Oberkommissar Mannhardt ist ein alter Bekannter von mir. Ich habe mich gleich mit ihm verabredet.
Blatt Nr. 11. Unterredung mit Kriminaloberkommissar M. am 14. 7. im Romanischen Café. M. wußte ganz genau, worauf ich hinauswollte; er zierte sich aber, auf den Fall Nedomanski zu sprechen zu kommen. Statt dessen hielt er mir einen längeren Vortrag über die Möglichkeiten und Grenzen der daktyloskopischen Spurenauswertung mittels Computer. Der Arbeitsaufwand bei der Computer-Auswertung sei gegenüber der manuellen Kombinations-Auswertung in der Zehnfingerabdrucksammlung rund dreimal, gegenüber der manuellen Auswertung in der Einzelfingerabdrucksammlung rund siebenmal kleiner… Und so weiter und so weiter. Um M. nicht, zu verstimmen, zeigte ich mich interessiert. Endlich kam er auf Borkenhagen zu sprechen. Man traue ihm nicht so recht über den Weg, müsse aber im Augenblick davon ausgehen, daß er die Wahrheit sage; er für seine Person habe kein Verständnis für die makaberen und sittenwidrigen Abmachungen zwischen Nedomanski und Borkenhagen, aber in einer Zeit, da man in einem Sex-Blatt ungestraft inserieren könne Suche für Bordell in Husum Mädchen unter 21, möglichst ohne Anhang, sei ja alles möglich. Die gerichtsmedizinische Untersuchung habe ergeben, daß Max Nedomanski an Atemnot zugrunde gegangen sei. Man habe sich auf Tod durch Ersticken geeinigt. Im Mund des Toten hätten sich Fasern des Kopfkissenbezugs gefunden, am Kopfkissenbezug Spuren von Nedomanskis Speichel. Es deute
zwar alles darauf hin, daß jemand das Kopfkissen genommen und Nedomanski auf den Mund gepreßt habe, man könne aber keineswegs die Möglichkeit ausschließen, daß der herzkranke Nedomanski ohne Gewaltanwendung infolge der Aufregung eines natürlichen Todes gestorben sei und im Todeskampf in das Kissen gebissen habe. Sein Bett wäre so oder so zerwühlt gewesen, und aus der Lage des Leichnams hätte man keine diesbezüglichen Schlüsse ziehen können. Auf meine Frage erklärte M. es sei zwar theoretisch denkbar, daß ein herzkranker, asthmatischer Mann Selbstmord begeht, indem er sich selber den Mund verschließt – man denke nur an die Fälle der Selbsttötung mittels eines eigenhändig über den Kopf gezogenen Plastikbeutels – , aber im Fall Max Nedomanski halte er das für so ziemlich ausgeschlossen. Warum sollte Nedomanski Selbstmord begehen, wo er doch systematisch auf den Augenblick seiner »Auferstehung« hingearbeitet habe? Auf meinen Einwand, durch die Vortäuschung eines Mordes und die damit ausgelöste Suche nach einem Mörder hätte er sich auf geradezu geniale Weise an seinen verhaßten Gästen rächen können, bemerkte M. nur, der dafür zu zahlende Preis wäre einem kühlen Rechner wie Nedomanski sicherlich zu hoch gewesen. Seiner persönlichen Meinung nach scheide auch ein natürlicher Tod aus, denn es sei ja immerhin ein Einbrecher im Haus gewesen, und direkt über Nedomanskis Bett befinde sich ein Safe. Außerdem hätten im Nachttisch einige tausend Mark gelegen. Der Einbrecher, nach dem fieberhaft gefahndet werde, habe vermutlich mitbekommen, daß der Hausherr gestorben war und sich im Zimmer des Toten ein ungestörtes Arbeiten erhofft. Man müsse sich die Sache so denken, daß der im Bett auf seinen Auftritt wartende Nedomanski mit dem Einbrecher gekämpft habe; dieser sei verständlicherweise stärker gewesen und habe ihn mit dem Kissen erstickt. Trotz der von Borkenhagen erwähnten
Spannungen in Nedomanskis Familie und Mitarbeiterkreis würde alles dagegen sprechen, daß ein anderer als dieser Einbrecher für den Mord in Frage komme – sofern es sich überhaupt um einen Mord handle. Natürlich, und darin gab er mir recht, müsse man auch die Möglichkeit ins Kalkül ziehen, daß der Einbrecher sich nur zur Tarnung wie ein solcher verhalten habe und in Wahrheit von einer dritten Person dazu gedungen und bezahlt worden war, Nedomanski in diesem so günstigen Augenblick zu ermorden. Aber dann müßte diese dritte Person ja gewußt haben, was Nedomanski und Borkenhagen vorhatten – und wie sollte sie zu dieser Information gelangt sein? M. gab zu, daß man rein theoretisch auch an eine Tötung auf Verlangen denken könne, und damit an Borkenhagen, aber das sei doch außerordentlich unwahrscheinlich. Man werde sich auf alle Fälle auf den Einbrecher konzentrieren. Möglicherweise habe er, sollte er nicht selber der Täter sein, diesen bei der Ausführung der Tat beobachtet oder aber Nedomanskis Todeskampf bzw. Selbstmordversuch miterlebt. Ja, das könne man nicht so ohne weiteres ausschließen, daß Nedomanski einen Selbstmordversuch unternommen habe und dann trotz der kaum dazu geeigneten Versuche und Umstände infolge seiner besonderen Konstitution tatsächlich gestorben sei – daß er dem Tod quasi etwas nachgeholfen habe. Er habe ja des öfteren unter Herzkrämpfen gelitten; auch seien die Ärzte im Gerichtsmedizinischen Institut zu dem Schluß gekommen, Nedomanski hätte auch ohne die Geschehnisse an diesem Abend nicht mehr viel länger als ein Jahr zu leben gehabt. Wenn er sich recht entsinne, habe man von einer sehr weit fortgeschrittenen Arteriosklerose gesprochen, genauer gesagt einer Koronarsklerose, also einer Verkalkung der Kranzgefäße des Herzens. Dazu sei eine Angina pectoris gekommen, die ja stets mit schwerster Atemnot verbunden ist… Unter diesen
Umständen könne man natürlich nicht ausschließen, daß Nedomanski durch bestimmte Manipulationen seinen Tod bewußt eingeleitet habe; aber er neige ganz eindeutig zu der Ansicht, daß der Einbrecher ihn in einer klassischen Affekthandlung ermordet habe. Es sei doch alles ziemlich klar – Nedomanski habe sich auf den Einbrecher gestürzt und dieser habe sich gewehrt. M. beharrte auch im Verlauf unseres Gesprächs auf dieser Ansicht. Wir plauderten noch ein wenig über unsere gemeinsamen Freunde und Bekannten, dann verabschiedeten wir uns. Das Gespräch hatte von 17.30 bis 18.45 Uhr gedauert. M. versprach mir, mich stets auf dem laufenden zu halten.
Ich lege dies Gedächtnisprotokoll mit einem leisen Fluch beiseite. Damals, nach diesem Gespräch mit Mannhardt, war ich auch nicht viel klüger als vorher. Aber der Fall begann mich langsam zu interessieren. Meine Frau kommt herein, in ein höchst verführerisches Neglige’ gewandet. Sie küßt mich, sagt mir gute Nacht und versucht mich zu überreden, das zu tun, was wieder mal fällig ist. Ich stöhne. „Du bist gemein! Du weißt doch, daß der Kram bis morgen fertig sein muß…“ Sie zieht ab. Schmollend. (Warum besitzt die im allgemeinen nicht eben ausdrucksarme deutsche Sprache dafür nur dieses Verb? Schmollen – das ist doch reines 19. Jahrhundert…) Ja, ich witterte damals eine ergiebige Story. Ich bekam auch grünes Licht, Zeit und Geld für die nötigen Recherchen. Es war mir sofort klar, daß ich vorerst nur vorankommen konnte, wenn ich mit Borkenhagen zusammenarbeitete. Ich setzte mich also mit ihm in Verbindung, und zwar telefonisch. Ich wußte, daß man ihn mitunter in der soziologischen Bibliothek in der
Garystraße erreichen konnte. Und ich hatte Glück. Wie immer in solchen Fällen habe ich auch dieses Gespräch mittels Adapter und Tonband mitgeschnitten… Ein Knopfdruck; das Bandgerät läuft. – Freie
Universität. die soziologische Bibliothek. – Augenblick bitte. – Soziologische Bibliothek, Ratzlaff… – Guten Morgen. Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber könnten Sie bitte mal sehen, ob Herr Borkenhagen in der Bibliothek sitzt? – Ja, der sitzt drin. – Könnten Sie ihn mal an den Apparat holen, bitte? – Bitte
– Wer –
ist denn da?
-ky.
– Wie
bitte? -ky. Ka-ypsilon. – -ky, so… Sind Sie zufällig Vietnamese? – Den Witz muß ich irgendwann schon mal gehört haben… – ‘schuldigen Sie schon! Also, ich hol ihn. – Ja, danke. – (Pause. Knacken in der Leitung.) – Borkenhagen hier. Doc? – Ja… Freut mich, daß Sie noch immer auf freiem Fuß sind, Herr Dr. med. Hartmann. – Die Freude ist ganz meinerseits. Haben Sie mein Manuskript gelesen? – Hab ich. Das ist auch der Grund, warum ich Sie anrufe. – Dann nehmen Sie’s also? – Ja und nein. Für sich allein ist es natürlich witzlos. Wir müssen mal abwarten, was aus der ganzen Sache wird. Ich –
hab ein ziemlich großes Spesenkonto bewilligt bekommen. Haben Sie Lust, mir beim Recherchieren zu helfen? – Wunderbar! Ja, natürlich. – Sie
können auch die eine oder die andere Passage selber schreiben, veröffentlicht wird’s dann aber unter meinem Namen. – Da kann man nichts gegen machen. – Meiner ist nun mal ein Markenartikel, Ihrer nicht. Ich verspreche Ihnen aber, daß Sie bald mal einen eigenen Auftrag bekommen. Nicht zu reden von dem finanziellen Trostpflaster. – Okay, Doc. Wann fangen wir an? – Haben Sie ‘ne Idee, wo man am besten einsteigen kann? – Für mich war es ein Mord, und der Mörder ist einer der Gäste, nicht der Einbrecher. – Nicht der Einbrecher? Na, hören Sie mal – die Gäste wußten doch nicht, daß Nedomanski noch… – Vielleicht doch – wer weiß? Vielleicht ist jemand dahintergekommen… Auf alle Fälle gibt es wenigstens vier Personen, die genauso verdächtig sind wie der Einbrecher. – Bloß vier? Das geht ja noch… – Die sollten wir alle mal unter die Lupe nehmen. – Gut. Und mit wem fangen wir an? – Wie wär’s mit Martina? – Ist mir recht. Wann wird sie Schluß haben? Um fünf vielleicht. Dann ist sie um sechs zu Hause. Wo treffen wir uns? – Ich warte um sechs am U-Bahnhof Neu-Westend, wir können ja dann mit Ihrem Wagen hinfahren. Ich muß mal bei NEDO anrufen und fragen, wo sie wohnt.
Schön. Bis heute abend dann. Ja. Tschüß! – Tschüß! (Knacken.) –
–
Ich bin dann mit Borkenhagen zu Martina Dahms gefahren, Nedomanskis Hilfskraft im Büro und im Bett. Gleich nach diesem Besuch habe ich mich an die Schreibmaschine gesetzt und einen mehrseitigen Bericht getippt. Ich überfliege ihn schnell mal…
Borkenhagen wartete zum festgesetzten Zeitpunkt am festgesetzten Ort. Er sah aus wie ein Pop-Sänger; Mädchen drehten sich nach ihm um. Er trug schlappige Wildlederstiefel, schwarze Kordhosen, einen furchtbar engen schwarzen Rollkragenpullover und um den Hals eine kupferfarbene Kette, die zu einem mittelalterlichen Bürgermeister gepaßt hätte. „Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Redakteure“, sagte Borkenhagen, während er in meinen Wagen kletterte. „Vorsicht, meine Blumen!“ „Blumen…?“ „Ja, Blumen. Schließlich fahren wir zu einer Dame, die im Augenblick herrenlos ist.“ „Wo wohnt sie denn?“ „Knesebeckstraße 16. Feudale Fünf-Zimmer-Wohnung – der alte Nedomanski hat sich sein Liebesleben schon was kosten lassen. Seid nett aufeinander!“ Er verrenkte sich nach rückwärts, angelte die Abendzeitung, die ich unterwegs gekauft hatte, und überflog die Schlagzeilen. Ich grinste etwas gequält. „Übrigens“, sagte ich, „wo hausen Sie jetzt eigentlich?“
„In ‘ner Laube hinter der Olympischen Brücke – ein Erbstück von meiner Großtante selig… Nee, in der Zeitung steht nichts drin.“ „Von Ihrer Laube?“ „Ja, von der steht auch nichts drin… Von meiner Rolle als Dr. Hartmann, meine ich. Ich gelte weiterhin als echt. Die Presse hält dicht – die Nedomanskis müssen gute Beziehungen haben. Die Kripo hat bisher nur fünf Personen etwas von meiner Doppelrolle erzählt: Martina, Guido, Walter Nedomanski, Frau Nedomanski und Dreyer. Und die werden wohl den Mund halten; die Sorte Publicity schätzen solche Leute nicht… Gehen Sie mit zur Beerdigung?“ „Mal sehen.“ „Die Bullen sagen aus kriminaltaktischen Gründen nichts; erst wenn der Mord aufgeklärt ist, komme ich an die Reihe.“ „Ich bin kein Jurist, aber viel wird Ihnen bestimmt nicht passieren.“ „Hoffen wir das beste… Da – links um die Ecke; wird sind gleich da.“ „Das ist doch erst die Leibnizstraße!“ „Ach so, ich kenn mich in der Gegend nicht so gut aus.“ „Wir schaffen’s schon.“ Die Knesebeckstraße, die wir bald erreichten, hat Atmosphäre; sie erinnert mich immer ein wenig an Paris. Alte, bombastische Fassaden aus den Gründerjahren; in den großen Wohnungen dahinter vielköpfige Familien, Kommunen, Schauspieler, Professoren und Leute vom Film. Auf den breiten Bürgersteigen eine bunte Mischung: Hippies, dicke, schwitzende Frauen, laute und dreckverschmierte Kinder, puppenhafte Maximädchen, bullige Arbeiter, ab und zu ein Louis, Strichjungen, aufgeputzte Künstler, lässige Studenten, Spießbürger mit Supermarktplastiktüten. Stühle vor den Lokalen, Weiße mit Schuß, Spitzwegtypen.
Ich fand eine Parklücke, wir stiegen aus und gingen zu dem Haus hinüber, in dem Martina Dahms wohnen sollte. Borkenhagen stieß eine schmiedeeiserne Tür auf, schwer wie die an einem alten Rathaus, dann standen wir in einem marmorverkleideten Flur, einer kleinen Bahnhofshalle. Hier war es kühl, hier roch es vornehm. Eine hochherrschaftliche Treppe führte nach oben, ein roter Teppich auf gelblichem Stein, ein riesiger, schon etwas blinder Spiegel; in der ersten Etage eine geschnitzte Balustrade, ein Fahrstuhl wie in Opas Grandhotel. Wohnungen nicht unter 600 Mark. „Geliebte müßte man sein“, sagte Borkenhagen. „Wenn ich da an meine Laube denke…“ Wir entdeckten im dritten Stockwerk das künstlerisch gravierte Messingschild mit dem Namen M. Dahms, und Borkenhagen zog an einem Bronzelöwen. Drinnen schepperte es, wir hörten Schritte. Martina stand in der Tür. Braungebrannt, in weißen Shorts und einer blaugeblümten Bluse. Sie war schlank und reichte mir gerade bis zur Schulter, erschien mir aber doch nicht ganz so zierlich, wie ich sie mir nach Borkenhagens Worten vorgestellt hatte. „Gnädiges Fräulein, wir sind da!“ sagte Borkenhagen, überreichte mit großer Geste seinen Strauß – sieben rote Rosen – und drückte mir unauffällig das zusammengeknäulte Einwickelpapier in die Hand. Martina war verblüfft, und man sah ihr an, daß sie sich freute. Wahrscheinlich litt sie unter der Vorstellung, jeder betrachte sie nun als herrenlose Hure. „Kommen Sie doch rein“, sagte sie. „Danke.“ Ich beförderte den Papierball in eine große Vase, die offenbar als Schirmständer diente, und stellte mich vor. Ich nannte ihr auch den Namen der Illustrierten, für die wir arbeiteten. Sie
sagte, die lese sie jede Woche; sie wolle mir alles erzählen, was sie über Nedomanski wisse; ein Honorar käme natürlich nicht in Frage. „Nett von Ihnen, Fräulein Dahms…“ „Setzen wir uns doch. Trinken Sie Gin mit Eis und Sinalco?“ „Wenn Sie das zusammenmixen – gern!“ Sie machte sich in der Küche zu schaffen, und wir hatten Zeit, uns in ihrem Wohnzimmer umzusehen. Borkenhagen hatte sich auf die pompöse Eckcouch gesetzt und wippte mit Kennermiene. Der fast quadratische Raum, schätzungsweise sechs mal sechs, war mit einem goldgelben Teppich ausgelegt. Die Wände waren orange und hellgrau gestrichen, zwischen gradlinigen weißen Möbeln hingen farbenfrohe Ölbilder vom Berliner Künstlermarkt – ein bißchen Picasso, ein bißchen Klee, ein bißchen Miro, ein bißchen Schulze. Die mannshohe Vasenlampe, der Sockel beleuchtbar, mochte allein 500 Mark gekostet haben. Von der weißgekalkten Decke blickten dicke Stuckengel auf uns herab. Auf einer Regalwand, die meterweit ins Zimmer ragte, standen Gläser, Taschenbücher, eine Pendule und zwei Stereolautsprecher. Martina kam mit den Getränken herein und setzte sich mir gegenüber in den zweiten ihrer gurkengrünen Sessel. „ Rauchen Sie?“ Ich lehnte ab; Borkenhagen nahm eine Zigarette, Martina auch. Er gab ihr Feuer und sah ihr dabei gerade in die Augen. Sie senkte sofort den Blick; es paßte schlecht zu dem selbstbewußten, forschen, fast arroganten Eindruck, den sie bisher gemacht hatte. Nanu, dachte ich, bist du unsicher, Mädchen? Weißt du noch nicht recht, welche Maske dir am besten steht? Ich sagte: „Sie wissen, welchen Pakt Herr Borkenhagen mit… mit Nedomanski geschlossen hatte?“ „Ja, die Beamten haben es mir erzählt… Typisch Mäxchen!“
„Mäxchen?“ Ich lächelte. „Ach, tun Sie doch nicht so! Sie wissen doch ganz genau, was los war. Daß ich seine… Daß er das alles bezahlt hat…“ Sie machte eine Armbewegung, die ,das alles’ umfaßte; dann zog sie nachdenklich an ihrer Zigarette und klopfte die Asche ab. „Und nun möchten Sie gern wissen, wie es dazu gekommen ist?“ „So ist es!“ Ich vertiefte mich in den Anblick ihrer übereinandergeschlagenen Schenkel und empfand plötzlich so etwas wie Sympathie für Nedomanski. Wir alle wollen ja das Leben ausschöpfen. Sie drückte ihre Zigarette aus, trank einen Schluck und behielt das Glas in der Hand. „Ja, wo soll ich anfangen…“ Sie war hübsch; ein kleines Teufelchen, ein süßer Fratz, eine bezaubernde kleine Hexe. Das Gesicht schmal, ein wenig an eine Kreolin erinnernd; die dunklen Haare fielen lang auf die Schultern herab. Groß, mandelförmig, exotisch die Augen, dunkelbraun oder schwarz. Die Nase lief in einer kleinen, lustigen Kuppe aus, die dem Gesicht die Strenge nahm. Erst sprach sie sachlich und mit alltäglichen Worten. „Meine Eltern sind 1949 bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen; ich war gerade drei Jahre alt. Ich kann mich kaum noch an sie erinnern. Aufgewachsen bin ich bei einer Tante – na ja, es war eine Nenntante – meine Patin… Tante Elisabeth. Das war etwas besser als im Heim, aber auch nicht viel. Ihr Mann war bei Stalingrad gefallen; sie litt immer unter Depressionen. Als ich zwanzig war, ist sie vom Balkon gesprungen, aus dem vierten Stock – vor meinen Augen…“ Sie zupfte sich eine neue Zigarette aus der Packung, die vor uns auf dem Glastisch lag. Borkenhagen gab ihr Feuer. „Scheußlich“, sagte er. Es klang ehrlich.
„Ja, sicher…“ Plötzlich versteinerte ihr Gesicht, sie sah um Jahre älter aus. „Ich sehe das immer wieder vor mir. Es ist wie ein Film. Da stehe ich, da steht sie; jetzt springt sie… Ich brauche immer eine Weile, um zu glauben, daß ich es bin.“ Sie zog ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen; sie sah aus, als quäle sie ein hoher, summender Ton. „Nedomanski!“ mahnte ich halblaut. Sie fuhr zusammen. „Wie?“ Über das Haus hinweg flog ein Flugzeug. Ziemlich niedrig offenbar. „Immer dieser Flugzeuglärm!“ beschwerte sie sich, fuhr aber gleich lebhaft fort: „Ich möchte auch mal wieder fliegen. Vor zwei Jahren war ich in Kopenhagen… Ich begreife nicht, wie diese schweren Dinger überhaupt fliegen können. Ich habe lange darüber nachgedacht, was das ist – Luft… Die Luft lebt nicht, steht in den Büchern, und der Sauerstoff, der Wasserstoff, das sind alles tote Substanzen… Aber mir kommt es so vor, als wenn… Das sind ganz winzige Wesen, so klein, daß man sie nicht erkennen kann. Sie haben jedoch eine mächtige Kraft; sie können überall eindringen, ja, wohin sie nur wollen, durch die Poren jedes Menschen, das ist es… Ein Künstler sollte das mal darstellen.“ Sie lachte, und plötzlich entspannte sich ihr Gesicht. „Ja, also Nedomanski… Mäxchen, der ist auch nicht gern geflogen. Der Mensch gehört mit beiden Beinen auf die Erde, hat er immer gesagt… Wie ich ihn getroffen habe? Ich war Bodenstewardeß bei der BEA, ich habe Tickets verkauft… Ich war schon ein armes Würstchen damals. Alkohol, keine Nacht geschlafen, in den Bars gehockt, einen Haufen Männer – es ging bergab mit mir, das Ende war schon abzusehen. Da hat sich Nedomanski ein Ticket nach London gekauft – und dann hat er mich zum Essen eingeladen… Ja, so ist es dann gekommen. Er hat wieder einen Menschen aus mir gemacht.“ Sie trank ihr halbes Glas leer.
„Haben Sie ihn geliebt?“ „Geliebt…“ Sie zuckte die Achseln. „Manchmal schon, glaube ich. Manchmal war er gut für mich. Aber gut zu mir, das war er eigentlich nie.“ „Keine Haßgefühle gegen ihn, weil er sich nicht scheiden lassen wollte? Weil er Sie so ganz und gar beherrscht hat?“ „Haß? Mein Gott – wo leben Sie denn? Auf dem Mond? Liebe, Haß… Glauben Sie im Ernst, es geht im Leben so zu wie in Ihren Illustriertenromanen?“ Sie sah starr zur Decke. „Ich habe ihn gebraucht“, sagte sie langsam. „Und er hat mich gebraucht – das war alles. Das geht auch ohne Liebe und…“ Sie hielt inne. „Moment mal!“ Sie stand auf und ging in die Diele hinaus. „Es hat geklingelt“, sagte sie über die Schulter. „Scheiße!“ knurrte Borkenhagen. „Gerade als sie in Fahrt kam…“ „Pst!“ machte ich. Draußen hörte man Stimmen. Es war ihr Nachbar. Sie hatte seinen Volkswagen mit ihrem Capri eingeklemmt und mußte nun nach unten gehen, um ihren Wagen ein Stück zurückzusetzen. Sie entschuldigte sich wortreich und ließ dann die Tür hinter sich ins Schloß fallen. Ohne ein Wort der Verabredung sprangen wir auf. Das war die Chance für uns, ihre Wohnung ein wenig unter die Lupe zu nehmen. Borkenhagen stürzte ins Schlafzimmer, um in ihrem Nachtschrank herumzuwühlen, während ich ins Nebenzimmer eilte und den Inhalt ihres Schreibtischs – Versandhaus-Empire – untersuchte… Zugegeben – fein war das sicher nicht. Aber haben Sie schon mal einen Journalisten gesehen, der fein ist und trotzdem erfolgreich für ein Massenblatt schreibt? Na also. Unter einem Stapel alter Briefe fand ich ein Oktavheft – ihr Tagebuch. Ich begann zu blättern… Ich erschrak.
24. 3. – Ich leide wieder stärker unter Tagträumen. Vor allem, wenn ich Maschine schreibe. Heute habe ich die ganze Zeit über das Gefühl gehabt, von vielen Kindern umgeben zu sein, die alle wie Mäxchen aussahen. Und ich spielte die ganze Zeit mit ihnen. Dabei mochte ich sie gar nicht, sie machten mich ganz nervös… 14. 4. – Ich habe immer so ein schmatzendes Geräusch im Kopf. Mäxchen sagt, ich würde manchmal so reden wie ein Philosophieprofessor, er würde nichts mehr verstehen… 3. 5. – Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Manchmal ist mir so, als hätte ich einen Radioempfänger im Kopf. Immer wieder glaube ich, eine tiefe Stimme zu hören, die mir sagt: Mäxchen will dich loswerden. Er läßt dich von Männern verfolgen, die dich umbringen sollen. Er liebt dich nicht mehr. Du bist ihm nur noch eine Last. Er will dich beseitigen. Seine Frau hat ihn dazu gebracht. Du mußt ihm zuvorkommen. Du mußt ihn umbringen, ehe er dich umbringt. Tu’s bald. Du haßt ihn. Er vergewaltigt dich doch jedesmal… Dann ist es wieder still, und alles ist so wie immer. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich habe Angst. Ich schreie fast, wenn mir abends ein fremder Mann auf der Straße begegnet. Ich muß von Mäxchen loskommen. Aber wie? Ich werde… Hastig schob ich das Tagebuch wieder unter die Briefe, als ich hörte, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde, und sprintete auf meinen Platz zurück. Borkenhagen saß bereits. Er sah mich fragend an. Martina ließ sich Zeit; man hörte sie in der Diele. „Armes Ding“, flüsterte ich, „sieht ganz so aus, als ob sie…“ Ich hielt inne. Nein, sie kam noch nicht herein. „Was?“ fragte Borkenhagen. „Der Beginn einer paranoiden Schizophrenie oder so was Ähnliches.“ „Mein Gott – wollen Sie sagen, daß sie…“ Er brach ab.
Martina kam zurück und sah so normal aus wie jedes normale Mädchen in ihrem Alter. „So, das hätten wir geschafft! Ich hab mich beim Einparken nur ein bißchen verschätzt. Haben sich die Herren gut über mich unterhalten?“ „Von Ihnen spricht man nicht“, sagte Borkenhagen, „von Ihnen träumt man!“ „Oh…“ Sie war ein wenig verlegen. „Wenn Sie noch etwas wissen wollen, Herr Doktor…?“ Ich fragte, mehr taktisch als taktvoll: „Warum tragen Sie nicht Schwarz?“ Der rüde Ton schien sie nicht zu berühren. „Wer trägt denn heute noch Schwarz? Und eine, die sich aushalten läßt, braucht das sowieso nicht mitzumachen.“ „Sie haben schließlich als Sekretärin bei ihm gearbeitet“, sagte Borkenhagen. „Als enge Mitarbeiterin, kann man sagen.“ „Ja…“ Sie lächelte dankbar. „Hat Herr Nedomanski viele Feinde gehabt?“ „Mehr Feinde als Haare auf dem Kopf.“ „Wer ist denn Ihrer Meinung nach sein Mörder?“ „Na, der Einbrecher doch! Oder…“ Sie stockte. „Oder?“ „Ich weiß nicht, ob ich darüber sprechen sollte, aber…“ Sie zog nervös an ihrer Zigarette und spielte mit der linken Hand an der Schnalle ihrer Sandale. Wir warteten. „Es ist nur, weil ich doch der Kripo nichts davon gesagt habe… Kennen Sie Gui… Herrn Winkler, den Neffen von Herrn Nedomanski? Guido Winkler?“ „Sicher!“ Borkenhagen nickte. „Der war doch bei der Geburtstagsparty dabei.“ „Er ist ganz verrückt nach mir. Er hat mir Liebesbriefe geschrieben – ich kann Ihnen sagen!“ Sie lachte, vielleicht ein wenig zu schrill. „Er will mich erretten, stand da drin; weg
vom lasterhaften Leben, hin zur tugendsamen Ehefrau. Und zwischen den Zeilen war immer wieder zu lesen, daß er Nedomanski umbringen wird, wenn der mich… äh… wenn er mich nicht gehen läßt. Ich will damit nichts gesagt haben, aber…“ „Haben Sie die Briefe noch?“ „Nein.“ Wir sahen uns an. Borkenhagen hob die Schultern. „Was halten Sie denn von den anderen?“ fragte ich. „Von Walter Nedomanski beispielsweise?“ „Die beiden konnten sich nicht riechen. Walter hat im Leben kein Glück gehabt, er ist immer zweiter Sieger geblieben. Aber ein Mörder – ach nein… Ich möchte wissen, wieviel der geerbt hat!“ „Und Dreyer?“ fragte Borkenhagen. „Dreyer? Zwischen Dreyer und Nedomanski herrschte ein Verhältnis wie zwischen Herr und Hund. Wenn Max pfiff, dann kroch Dreyer herbei und wedelte mit dem Schwanz, sozusagen.“ „Hätte Dreyer ein Motiv gehabt?“ stieß ich nach. „Kann ich mir nicht vorstellen… Der war Gärtner, Butler, Mädchen für alles… So genau kenne ich ihn nicht, aber ich glaube, er war ganz zufrieden. Verkrachte Existenz, wissen Sie – neulich, da wollte er mir ein Bild andrehen, da hat er ein bißchen erzählt… Seine Großmutter ist gestorben, und er erbt ihr Haus. Der Großvater war Kunstmaler – Sonnenuntergang in der Lüneburger Heide und so; außerdem hat er kopiert, was nicht niet- und nagelfest war… Die Bilder hat Dreyer auch geerbt. Deswegen kam er, wissen Sie. Weil er mir eines verkaufen wollte…“ Wir unterhielten uns noch ein Weilchen über dies und jenes, insbesondere über Nedomanskis Eigentümlichkeiten, ohne daß
sich das Bild, das wir bisher von ihm und von ihr gewonnen hatten, wesentlich verändert hätte. Plötzlich, wir waren schon aufgestanden, um uns zu verabschieden, zog Borkenhagen ein Goldkettchen aus der Hosentasche, an dem eine Kennedy-Münze hing. „Kennen Sie das?“ Wurde sie blaß oder kam es mir nur so vor? „Auf der Fassung steht: Für Tina von Max.“ „Ja, die Kette gehört mir“, sagte sie leise. „Ich habe sie neben Nedomanskis Bett gefunden in jener Nacht…“ Er hielt ihr das Kettchen hin: „Bitte sehr!“ Sie nahm sie mit einer automatenhaften Bewegung.
Damit schließt das erste Kapitel, das ich selber geschrieben habe. Eine Frage ergab sich an diesem Punkt: Ist eine so zierliche Person wie diese Martina überhaupt physisch in der Lage, einen Mann wie Nedomanski mit einem Kissen zu ersticken? Um Mißverständnisse zu vermeiden: Es bestand zu diesem Zeitpunkt kein Verdacht gegen Martina Dahms, der schwerer oder begründeter gewesen wäre als der gegen andere Personen aus der Umgebung des Toten (denn das Kettchen konnte sie nach Lage der Dinge sehr wohl bei einer anderen Gelegenheit verloren haben). Genauer gesagt: es bestand eigentlich überhaupt noch kein Verdacht (wennschon sich die Polizei auf den einstweilen unbekannten Einbrecher konzentrierte). Für uns, für Borkenhagen und mich, war es jedoch wichtig, jeden Interviewpartner unter dem Aspekt zu sehen: Kommt er (oder sie) als Täter in Betracht? Nun ja; Recherchen ergaben, daß Martina Dahms jahrelang der Frauenriege der Berliner Turnerschaft angehört und am Stufenbarren eine Wertung von 9,05 erreicht hat; die Frage ist
also beantwortet, und zwar positiv. (Nebenbei bemerkt: Maria Nedomanski spielt Tennis und gilt als überdurchschnittlich gute Schwimmerin…) Also weiter; was haben wir denn noch… Drei DIN-A4-Seiten habe ich nach den Beisetzungsfeierlichkeiten vollgetippt… Weg damit. Wenn die Leute Schwulst reden, kann man hinterher nur Schwulst aufschreiben. – Hier, was ist das? MILLIONÄR AM GEBURTSTAG ERMORDET… DER TOD ALS LETZTER PARTYGAST… Ach du lieber Gott! Aus der nacht-depesche! Warum hab ich das aufgehoben? Steht da was drin? Während nebenan frohgestimmte Gäste seinen 57. Geburtstag… ist der bekannte Gründer und Hauptteilhaber der NEDO-Werke, Max Nedomanski, gestern abend ermordet worden… Ganz interessant: Hier sind bereits alle anderen Möglichkeiten beiseite gelassen – und das hätten die nicht so geschrieben, wenn sie’s nicht von der Kripo hätten. – Weiter: Dringend der Tat verdächtig ist ein Mann, der gegen 22 Uhr 30 in die Villa in der Badenallee 124 eingestiegen war, um den allgemeinen Trubel auszunutzen und sich ungestört… Wissen wir ja. Nach dem opulenten Festessen erlitt Nedomanski einen leichten Herzanfall. Ein anwesender Arzt… Blablabla… nach einiger Zeit nach dem Patienten sah, konnte er nur noch Nedomanskis Tod feststellen. Wie alle anderen auch, glaubte er zu diesem Zeitpunkt, N. sei eines natürlichen Todes… Wenig später… Kurzschluß… In dem nun entstehenden Durcheinander wurde der Einbrecher aufgestöbert, der sich aber der Festnahme entziehen konnte… Wissen wir doch alles längst! – Am nächsten Morgen ging Dr. Hartmann zur Kriminalpolizei und äußerte den Verdacht, daß N. möglicherweise ermordet sein könnte… Ach, so haben sie’s gedreht! Und immer noch ,Dr. Hartmann’… Der mutmaßliche Täter… wie folgt beschrieben werden: Etwa 30 Jahre alt,
knapp mittelgroß, schmächtig, hageres Gesicht, blondes Haar, Hände mit stark hervortretenden Adern, auffallender Adamsapfel… Kriminalpolizei äußert… Vermutung, daß die Tat auf das Konto des sogenannten ,Party-Schrecks’ geht, der in letzter Zeit mehrfach… Nein, das hätte ich wirklich nicht aufzuheben brauchen. Daß die Polizei hier bereits eindeutig auf Mord und auf den Einbrecher als mutmaßlichen Täter tippt, ist nichts Neues… Ach so, ja: Da ist noch die Belohnung erwähnt, die Maria Nedomanski für die Ergreifung des Täters ausgesetzt hat – 10000 Mark. Ganz schön üppig. Kein Wunder, daß der wackere Borkenhagen sich spornstreichs auf die Suche nach diesem Party-Schreck machte – er hatte ihn schließlich als einziger von Angesicht zu Angesicht gesehen… Wo ist denn… ach hier: Borkenhagens Bericht über seine Verbrecherjagd. Borkenhagen zieht durch die Kneipen an der Potsdamer Straße. Es ist Donnerstag, kurz nach 18 Uhr. Alle Tische sind besetzt. Kaum noch Platz am Tresen. Männer, die von der Arbeit kommen. Männer, die zur Spätschicht wollen. Dazwischen Wermutbrüder, Arbeitslose, Rocker, Zuhälter, Kriminelle, Nutten und grell geschminkte Frauen, die ihrerseits dafür bezahlen… Borkenhagen sucht nach Pokerface. So hat er den Einbrecher getauft. Er glaubt daran, daß Nedomanski von Pokerface ermordet worden ist. Er sitzt auf einem Barhocker an der Theke. Umdrehen kann er sich kaum. Links ein Maurer. Er riecht nach Kalk, nach Sand, nach Beton. Rechts zwei Automechaniker. Sie riechen nach Öl. „Akkord is Mord! Kalle kann dir ‘n Lied von singen. Kreislaufstörungen, drei Wochen krank jeschrieben. Wer weeß, ob der noch mal uff de Beene kommt.“ „Sterben müssen wa alle mal!“
„Tolle Biene! ‘n Wagen – ick kann da sar’n! Alfa-Romeo Giulia Super, rot, Baujahr 69… Vergaserbrand. Ich hab ‘n aba wieda hinjekricht.“ „Haste da denn mit ihr vaabredet?“ „Bei der harn wir nischt zu melden; die klingelt bloß, wenn man ihr hundert Emm innen Schlitz steckt.“ Borkenhagen merkt, daß er auf dem falschen Dampfer sitzt. Keine Spur von Pokerface. Das ist schon die dritte Kneipe. Er versucht, sich in Pokerface hineinzuversetzen. „Noch ‘n Pils?“ „Hm…“ Pokerface wird sich vor der Kripo fürchten, und vor mir. Ich kann ihn identifizieren, ich allein. Die Zeichnung bei der Mordkommission ist mißglückt, so sieht Pokerface nicht aus. Ist er der Mörder, ist er es nicht? Egal; er wird Angst haben, daß sie ihn zum Mörder machen – so oder so. Den Partygästen wird keiner den Mord in die Schuhe schieben: sind ja alles hohe Tiere. Es wird an ihm hängenbleiben… Und wenn er ‘s nicht war? Vielleicht hat er den wirklichen Mörder gesehen, vielleicht kann er ihn wiedererkennen… Er kann ihn auch erpressen. Man müßte ihm sagen, daß er den Mann erpressen kann. Der macht dann einen Fehler, und die Kripo kann zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen… Ich muß Pokerface finden! denkt Borkenhagen. Die Tatsache, daß die Stadt ein paar Millionen Einwohner hat, spricht noch nicht dagegen, daß er mir über den Weg läuft. Ich muß ihn suchen. Die Chance ist nicht sehr groß, daß ich ihn erwische – aber wenn ich ihn nicht suche, erwische ich ihn bestimmt nicht! Er zahlt und tritt auf die Straße hinaus. Ein Bus dröhnt vorüber. Hält vor dem Sportpalast. Teenager und Twens quirlen heraus. Miniröcke, daß einem der Schweiß ausbricht. Drinnen wird irgendsoein schwachsinniger Heini singen. Und
hinterher mit einem von diesen Girls bumsen. Schlagersänger müßte man sein. Also, wenn ich Schlagersänger wäre… Da – das ist doch… Pokerface! Er läuft hinter einem schlanken Mann hinterher. Weißer Helanca-Pullover, dunkelblaue Hose. Sonnenbrille auf… Jetzt hat er ihn eingeholt, ist auf gleicher Höhe, schielt nach links… Scheiße. Er bleibt vor einem Schaufenster stehen und merkt, daß er guckt. Ruhig atmen! Er schaut durch die Scheibe. Farbfernseher gibt es hier, und… Moment mal! Der Kerl da im kalkgrauen Anzug – den hat er doch schon mindestens dreimal gesehen. Der schleicht doch schon die ganze Zeit hier in der Gegend rum… Sieht aus wie Erich Ollenhauer… Ollenhauer verschwindet in einem Hausflur. Ob Pokerface einen seiner Freunde nach ihm, Borkenhagen, suchen läßt? Kann doch sein. Die sind ja auch nicht auf den Kopf gefallen. Er ißt an einem Kiosk eine Currywurst, aber Ollenhauer bleibt verschwunden. „’tschuldigung, haben Sie mal Feuer?“ Borkenhagen fährt herum. Ein hagerer Mann steht hinter ihm, vielleicht dreißig. Er ist nicht rasiert; er sieht irgendwie gefährlich aus. Heimtückische braune Augen. „Moment.“ Borkenhagen fummelt in seiner linken Jackettasche herum. Seine Hände zittern etwas. Er findet keine Streichhölzer. „Tut mir leid…“ Der Hagere geht weiter. Borkenhagen wischt sich den Schweiß von der Stirn. Dann spießt er das letzte Stückchen Currywurst auf und kaut es langsam. Es kaut sich wie Gummi. Eine Weile später entdeckt Borkenhagen ein blau-weiß-rotes Plakat: DEUTSCH-FRANZÖSISCHES VOLKSFEST. Ob
Pokerface gerne Achterbahn fährt und seiner Puppe rote Rosen schießt? Warum nicht – aussehen tut er danach… Also los! Er klettert in seinen R 4 und fährt zum Kurt-SchumacherDamm. Auf der Höhe des Flugplatzes Tegel ragt das bunte Riesenrad in den schmutzig-rosaroten Himmel. Die Gondeln drehen sich. Er findet einen Parkplatz, löst eine Eintrittskarte, stürzt sich ins Gewühl. Er fährt Achterbahn und schießt rote Rosen, aber ohne Sabine ist der Rummel verdammt langweilig. Er fährt Kettenkarussell. Er fährt Autoscooter. Ein Mädchen läuft ihm in die Arme, er spricht ein paar Worte mit der Kleinen; die würde schon wollen, kann aber höchstens fünfzehn sein. Er läßt sie laufen. Er sucht Pokerface und keine Nymphen. Er haut auf ein Lederpolster. Die Nadel bleibt auf Affe stehen. Die Umstehenden lachen. Er lacht nicht mit. Ein Mädchen müßte man dabeihaben… Martina! Warum nicht Martina? Er läuft zur nächsten Telefonzelle und ruft sie an. Besetzt. Er blättert im Telefonbuch und versucht es noch einmal. Jetzt nimmt keiner ab. Er ist irgendwie traurig. Möglicherweise liebt er sie schon. Auch das noch! Die tickt doch nicht mehr sauber… Scheißspiel. Er kauft sich zwei Lose, weil der Ausrufer so häßlich ist. Er gewinnt einen Teddybären und schenkt ihn einem dreijährigen Mädchen. Große Dankestiraden der Mutter. Er geht weiter, kommt am Eingang vorüber. Er sieht auf die Straße hinaus. Mensch – da drüben… Das ist doch Erich Ollenhauer im kalkgrauen… Nee. Ist er nicht. Er ißt eine Thüringer Rostbratwurst. Schnapsidee, hierher zu kommen! Was sollte Pokerface wohl hier? Der pennt sicher längst. Oder er steigt gerade irgendwo ein – falls er noch den Nerv hat. Was tun? Er schlendert zur Geisterbahn hinüber. Kein großer Andrang. Man bekommt heutzutage auch so das Grausen. Er schnappt sich einen hellgrünen Wagen und zwängt sich hinein.
Er hat mal einen Krimi gelesen, da lag der Tote in der Geisterbahn. Rechts hinter dem Henker hieß er; nachher haben sie ein Fernsehspiel daraus gemacht… Schwupp! Die Ledertüren klappen hinter ihm zu. Bindfäden streifen sein Gesicht; in Totenschädeln glühen Augen auf. Schrille Schreie vor ihm. Ein Sensenmann. Ein Sargdeckel hebt sich. Ein grünes Krokodil schnappt nach seiner Hand. Er lacht… Das Lachen bleibt ihm im Hals stecken. Ein Mann turnt durch die Kulissen… Pokerface! Er kommt auf ihn zu, kommt näher… Borkenhagen schreit auf, springt aus dem Wagen, stolpert über eine Schiene, fällt, liegt da… Fäuste packen ihn. Flüche. Man stößt ihn ins Freie. Er keucht; Schweiß steht ihm auf der Stirn. Ganz allmählich nur kommt er zu Atem. Es war nicht Pokerface; es war der Schausteller. Irgendwo hatte es einen Defekt gegeben… Er steckt sich eine Gauloise an. Ah, das tut gut! Er hat also Angst vor Pokerface. Warum auch nicht? Vielleicht hatte der tatsächlich die Absicht, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Er, Borkenhagen, ist ja der einzige, der ihm gefährlich werden kann… Allerdings, sagt er sich, dürfte es Pokerface ebenfalls schwerfallen, ihn zu finden, wie umgekehrt. Aber er hat die Nase voll vom Volksfest. Er verläßt den Rummelplatz und setzt sich wieder in seinen R 4. Die Dämmerung ist hereingebrochen, bald ist es dunkel. Er schaltet das Licht ein. Langsam rollt er der City entgegen. Plötzlich entdeckt er… Das kann doch nicht wahr sein! Doch. Der Rückspiegel trügt ihn nicht: Ollenhauer folgt ihm in einem dunklen Mercedes. Neben ihm sitzt noch ein Kerl. Pokerface hat also doch…? Borkenhagen hat plötzlich Angst.
Die Ampel am Heckerdamm. Sie springt auf Gelb, springt auf Rot… Borkenhagen gibt trotzdem Gas. Bremsen kreischen. Er kommt durch; der Mercedes nicht mehr. Borkenhagen rast weiter – lieber ein lebendiger Feigling als ein toter Held. Er fährt die Stadtautobahn entlang, nimmt die Ausfahrt am Messedamm. Er schwitzt, vor seinen Augen flimmert es. Er beschimpft sich, schimpft auf seine schwachen Nerven. Es fällt ihm aber auch etwas ein: Wenn man um Haaresbreite einem Absturz entgeht, soll man gleich ins nächste Flugzeug klettern, sonst wagt man nie wieder zu fliegen… Also los! Er geht in eine Striptease-Bar in der Bleibtreustraße. Hier haben sich vor einiger Zeit eine persische und eine deutsche Band ein Gefecht geliefert. Und hier gibt es was zu sehen. Ob Pokerface hier sein Geld verjubelt? Borkenhagen ist das erste Mal in einer solchen Bar, aber die Illustrierte zahlt ihm ja die Spesen. Er bestellt sich einen Whisky. An seinem Tisch sitzen drei Geschäftsleute, unüberhörbar aus Frankfurt. Er zuckt zusammen, der Name Nedomanski fällt. Sie müssen ihn gekannt haben. Das Licht geht aus, die kleine Bühne liegt im Strahlenkegel eines Scheinwerfers. Schwüle, erotische Musik. Eine üppige Blondine erscheint im Minirock, Pulli und Stiefeln und beginnt, sich mit den branchenüblichen Verrenkungen freizumachen. Je weniger sie anhat, um so dunkler wird es. Dann kommt ein Tusch – es wird ziemlich hell und gleich darauf völlig dunkel. Dünner Beifall. Als die matten Lampen wieder angehen, schwingt die Tür auf; der Kellner bringt ein Paar herein… Borkenhagen erstarrt. Guido und Tina. Er dreht sich so, daß sie ihn nicht sehen können. Dieses Schwein, denkt er. Hat ihm doch dieser blöde, vierschrötige
Kerl das Mädchen weggeschnappt. Kaum ist der alte Nedomanski unter der Erde, da tritt er schon die Nachfolge an… Die drei Geschäftsleute brechen auf. Das Programm läuft weiter – zwei nicht mehr ganz taufrische Damen gebärden sich lesbisch. Guido und Tina trinken Sekt. Zwei Mädchen setzen sich an Borkenhagens Tisch, beide Mitte Zwanzig, zumindest bei dieser Beleuchtung. Sie sind auffallend zurechtgemacht: lange schwarze Wimpern, aufregende Lidschatten, die Brüste wohl mit Silikon behandelt. Sie tragen knappe Kostüme. Die Rothaarige sieht aus wie ein Tier – eine, vor der man Angst kriegen kann. Die Schwarzhaarige sieht nett aus, ein bißchen nach Krankenschwester… Mensch, kenn ich die nicht? – Aber es fällt ihm nicht ein, woher er sie kennt. Eine neue Darbietung: ein Pärchen markiert einen Geschlechtsakt. Die akrobatischen Stellungen amüsieren ihn, aber er ist abgelenkt durch die Schwarzhaarige. Sie hat ein bißchen Ähnlichkeit mit Sabine… Wo hat er sie bloß schon mal gesehen? Auf der Bühne keuchen sie. Die Rothaarige sieht sich nach einem Kunden um. Ein unscheinbarer Herr setzt sich an ihren Tisch. Er sieht grau aus im Gesicht; vielleicht ist ihm die Frau weggelaufen. Plötzlich fällt’s ihm ein: Das ist das Mädchen, mit dem Nedomanski aus der Pension gekommen ist! Er sieht sie noch beide die Treppe herunterkommen. Schlüterstraße, gleich nebenan. Dann ist Nedomanski in das Taxi gestiegen… Die Schwarzhaarige wird ihm helfen. „Hier ist ja doll was los“, sagt er zu ihr. Sie lächelt. „Vielleicht sehen wir uns mal was anderes an?“ Sie nickt.
Er bezahlt ihren Gin-Fizz, dann verlassen sie die Bar. Er ist scheu, verlegen, angespannt. An der nächsten Ecke bleibt er zögernd stehen. „Was ist?“ fragt sie. „Ich will gar nicht…“ Ihr Gesicht verfinstert sich. „Ich hab Sie bloß wiedererkannt!“ „Na und?“ „Sie kannten doch Max Nedomanski…?“ „Ja. Und?“ „Vielleicht können Sie mir helfen.“ „Kripo?“ „Nein, ich… Ich bin der Arzt, der Nedomanski… Dr. Hartmann. Ich habe seinen Mörder gesehen. Ich suche den Einbrecher, der…“ „Ach so. Ich weiß schon… Kommen Sie!“ Ihr Apartment ist nicht weit entfernt. Es liegt in der Etage über der Pension, die sie nicht mehr nötig hat. Sie heißt Rosemarie, Rosi. Sie war mal Sekretärin und verdient jetzt einen Haufen Geld. „Einen besseren Job kann man sich als Nymphomanin gar nicht vorstellen“, lacht sie. Er findet sie sympathisch. Sie kommen in ihre Wohnung. Alles todschick – wie im Film. Er ist beeindruckt und verstört. „In drei Jahren mach ich einen Modesalon auf; dann schicken sie ihre Frauen und Töchter zu mir, und ich verdiene an der ganzen Familie.“ Sie hat ein kehliges Lachen, das er bezaubernd findet. Er ist verkrampft. „Schade, daß Sie schon Großmutter sind, wenn ich’s mir mal leisten kann“, lacht er. „Sie haben’s doch wirklich nicht nötig!“ „Danke!“
Sie holt zwei Flaschen Bier aus der Küche, setzt sich mit übereinandergeschlagenen Beinen auf ein orientalisches Sitzkissen, blickt verträumt zu ihm herüber und erzählt dann von Nedomanski. Borkenhagen hört aufmerksam zu. „Er war oft bei mir, mindestens jede Woche einmal. Er hatte zwar seine Sekretärin, aber die hat ihn wohl so gehaßt, daß nicht mal er Spaß dran hatte. Zu mir war er immer recht zart. Er hat sich immer eingeredet, ich wär seine Tochter – ohne diese Vorstellung ging’s bei ihm gar nicht… Pervers, was? Aber ich mochte ihn ganz gerne. Jedenfalls ist es nicht schön, daß er auf diese Art und Weise sterben mußte…“ Sie redet und redet… „Aber ich weiß doch auch nicht, wer ihn ermordet hat!“ Borkenhagen beschreibt Pokerface, so gut er kann; sie möchte sich doch mal bei ihren Kolleginnen umhören, ob die ihn kennen. „Ja, mach ich.“ Sie geht zum Schrank und zieht eine Nerzstola heraus. „Hat mir Nedo geschenkt. Als Prämie sozusagen… Es hat ihm mehr Freude gemacht, als seiner Familie was zu schenken. Ich kann Ihnen sagen – da war immer was los!“ Sie erzählt mit einiger Begeisterung. „Besonders schlecht ist er ja mit seinem Bruder ausgekommen. Den hat er wie einen Sklaven behandelt, aber der wollte es auch nicht anders. Einmal…“ Es klingelt. Sie erstarrt und wird ein wenig bleich. „Donnerstagabend! Mein Gott – das ist der dicke Mierke von der Versicherung… Los!“ Sie schiebt Borkenhagen ins Nebenzimmer. „Wart hier, bis er… Bis wir… Dann gehst du leise raus, ja? Aber leise! Und sonst – also, ich hör mich mal um. Bestimmt!“ Weg ist sie. Das Zimmer ist schmal und riecht nach Bohnerwachs. Borkenhagen stolpert über einen Sessel. Er wagt es nicht, das Licht anzuknipsen. An der linken Wand entdeckt er ein matt
erleuchtetes Rechteck. Ein Aquarium. Als er genauer hinsieht, merkt er, daß er durch das Rechteck in das andere Zimmer blicken kann. Aha, der Spiegel drüben! Rosi hat also auch Voyeure unter ihren Kunden. Soll sie. Mierke kippt seinen Begrüßungswhisky hinunter und macht sich ans Werk. Er drückt Rosi auf die fellbespannte Liege. Dann reißt er ihre Bluse auf und knutscht ihre braungebrannten Brüste. Sie küßt ihn. Schweiß steht auf seiner fleckigen Kopfhaut. Borkenhagen ist am Mierkeschen Liebesleben nicht interessiert. Er empfindet die Situation als komisch und peinlich zugleich. Vor allem als peinlich. Leise klinkt er auf, tritt in die Diele. Mierke keucht und grunzt, daß man es durch die geschlossene Tür hört. Auf Zehenspitzen schleicht Borkenhagen zur Wohnungstür – Gott sei Dank, Rosi hat das Licht angelassen… Er steht im Treppenhaus. Langsam geht er nach unten. Auf der Straße regnet es. Feiner Nieselregen. Ihm fällt noch etwas ein. Er kramt in den Taschen, findet einen alten Kassenbon und schreibt die Nummer auf, unter der er tagsüber zu erreichen ist, und fügt noch hinzu: Arme Rosi! Dann steckt er den Bon in Rosis Briefkasten. Sein Wagen steht auf dem großen Parkplatz zwischen Leibniz- und Wielandstraße. Nicht weit weg. Er geht mit gesenktem Kopf durch die leeren Straßen. Autos huschen vorüber. Er achtet nicht auf die Männer, die ihm entgegenkommen. Er ist müde. Was er heute erlebt hat, das reicht ihm. Er will nur noch schlafen. Was geht’s ihn an, wer Nedomanski auf dem Gewissen hat. Er überquert den weiten Parkplatz. Vor seinem R 4 stehen jetzt vier Reisebusse. Er quetscht sich zwischen zweien hindurch, er scheut den kleinsten Umweg.
Da steht sein Wagen. Hinter dem linken Scheibenwischer steckt ein weißer Zettel. Reklame? Zu spät bemerkt er den Schatten hinter sich. Er will sich noch zur Seite werfen, schafft es nicht mehr. Ein Schlag auf die Halsschlagader… Aus. Ich gähne und lege die Blätter zur Seite. Es ist vielleicht unfair, nach dieser Passage zu gähnen – Borkenhagen hat sich viel Mühe gegeben, sie spannend zu machen. Aber es ist gleich Mitternacht… Ich gähne noch einmal und betrachte lustlos den Stapel Papier, durch den ich mich noch hindurcharbeiten muß. Eigentlich sollte ich einfach Schluß machen – das läßt sich nicht so durch den Wolf drehen, daß vier Seiten dabei rauskommen… Was liegt denn da noch so alles rum? Hier – ein paar Seiten, die ich meiner Frau in die Maschine diktiert habe.
Ich saß in der Redaktion und blätterte in Borkenhagens Manuskript herum, und zwar in dem ersten Teil, den er mir auf dem Tennisplatz gegeben hatte. Hin und wieder las ich eine Passage. Ich hob mal ‘n Roman gelesen, da ist ein reicher Mann in der gleichen Lage wie Sie. Er hat ‘n Haufen Geld, aber alle, die als Erben in Frage kommen, die mögen ihn nicht. Was macht er da? Er fällt um, stellt sich tot und hört zu, was seine Sippe von sich gibt… Natürlich geht’s gut aus, denn die Dienstmagd, die er immer verprügelt hat, liebt ihn… Das brachte mich auf eine Idee. Ohne mich lange zu besinnen, ließ ich mich mit der soziologischen Bibliothek in der Garystraße verbinden und fragte nach Herrn Borkenhagen. „Tut mir leid, der ist heute nicht hier.“
„So… wie dumm. Haben Sie eine Ahnung, wo ich ihn erreichen kann?“ „Tut mir leid.“ Hm… Na, vielleicht ging es auch ohne Borkenhagen. Ich rief meinen alten Freund Uri an. Er ist Diplom-Bibliothekar und liest die Bücher meterweise, und zwar quer durch den Garten. Nicht einmal vor Jacqueline Susann und Harold Robbins schreckt er zurück. Wenn jemand darüber die Nase rümpft, sagt er, er ist literatursoziologisch interessiert. „Hallo, Uri, wie geht’s?“ „-ky? Mensch, daß du auch noch lebst…“ Das übliche Wie-geht’s-danke-und-selber-danke-auchGerede. Dann: „Du, Uri, ich brauch mal deine Hilfe.“ „Schieß los!“ „Ich suche ein Buch, aber ich weiß weder den Titel noch den Autor…“ Ich erzählte ihm den Inhalt. „Irgendein Trivialroman. Gibt’s da irgendjemand bei euch, der mir da weiterhelfen kann?“ „Ich werd mal unsere Putzfrau fragen… Weißt du wenigstens den Verlag? Das Erscheinungsjahr? Ist es ein Taschenbuch oder eine gebundene Ausgabe?“ „Keine Ahnung. Sieh mal zu, was sich machen läßt.“ „Du machst mir Spaß… Na schön. Ich ruf zurück.“ Ich saß da und wartete. Mein Gedankengang war ganz simpel: Warum sollte nur Borkenhagen dieses Buch gelesen haben? Konnte es nicht auch einem der potentiellen Mörder in die Finger gekommen sein? Vielleicht stand es sogar in Nedomanskis Bücherschrank! Angenommen, der Mörder kannte den Inhalt des Buches – dann lag es doch nahe, daß er im Laufe des Abends gemerkt hatte, was da gespielt wurde: der Arzt, den keiner jemals zuvor gesehen hatte, die hochgespielte Geburtstagsparty, der Zyniker Nedomanski mit
seinem Spaß an makaberen Gags, der plötzliche Herzanfall – da mußte er doch was gemerkt haben! Welche Chance für ihn, einen perfekten Mord zu begehen! Außer ihm und dem Arzt waren ja alle anderen Gäste felsenfest davon überzeugt, daß Nedomanski eines natürlichen Todes gestorben war. Und der Arzt, von dem er ja annehmen würde, daß er echt und gekauft war – der Arzt würde schon den Mund halten, wenn er später den Mord bemerkte, denn für ihn stand ja seine ganze Existenz auf dem Spiel. Sicherlich hatte er mit Nedomanski ein hohes Honorar für seinen ,Irrtum’ ausgemacht; wenn das bekannt wurde, war er erledigt… Ergo: Wer das Buch kannte, konnte Nedomanskis Spiel durchschauen und hatte eine reelle Chance, einen perfekten Mord zu begehen. Das war’s, was ich mir da zusammengereimt hatte. Sicher, da war auch noch der Einbrecher. Aber in Anbetracht so vieler Anwesender mit potentiellem Tatmotiv fand ich, daß der gute Oberkommissar Mannhardt zu eingleisig fuhr. Auf alle Fälle eröffnete die Sache mit dem Buch neue Möglichkeiten. Am Nachmittag rief mich Uri an. „Dein Glück möchte ich haben!“ „Was ist denn herausgekommen?“ „Ich hab den ganzen Tag über telefoniert – nichts! Von meinen Kollegen hat keiner den Schmöker gekannt. Kein Wunder! Dann bin ich rübergegangen zur Ausleihe und hab ein paar alte Muttchen gefragt…“ Er legte eine Pause ein, um es spannender zu machen. „Unsere älteren Mitbürgerinnen kannten das Buch allesamt nicht. Muß wohl ein bißchen aus der Mode gekommen sein. Ich wollte schon aufgeben, da fiel mir ein, daß eine Bekannte von mir eine Doktorarbeit über den deutschen Kolportageroman schreibt. Und siehe da – sie wußte Bescheid: Die Wahl der Erben heißt das Dings; ein gewisser Paul Ritter hat es verbrochen.“
„Du bist ein Genie! Ich werde dich in mein Nachtgebet einschließen!“ „Bargeld wär mir lieber.“ „Materialist… Einigen wir uns auf eine Flasche Cognac?“ „Cognac ist gut. Allein wegen des Geldwertschwundes.“ „Hör mal, Nachtgebet ist auch währungsbeständig…“ Wir blödelten noch eine Weile hin und her und legten schließlich auf. Das hatte ja geklappt. Wunderbar; nun mußte ich nur noch diejenigen Personen herausfinden, die das Buch gelesen hatten. Das war leichter gesagt als getan. Wenn es der Einbrecher nicht getan hatte, kamen nach menschlichem Ermessen nur sechs Personen als Mörder in Frage: Guido Winkler, Martina Dahms, Maria Nedomanski, Walter Nedomanski, Dieter Dreyer und Robert Borkenhagen. Daß Borkenhagen das Buch gelesen hatte, stand fest, spielte jedoch keine Rolle. Borkenhagen schied praktisch aus – erstens hätte er das Buch nicht erwähnt, wenn er der Täter wäre, zweitens hätte er sich um das Geld gebracht, das er noch von Nedomanski bekommen sollte… Moment mal: Und wenn Borkenhagen den ganzen Betrag vorher erhalten hatte? Wenn er nur behauptete…? Als Alibi, gewissermaßen? Nein; es blieb die Tatsache, daß er es war, der das Buch aufs Tapet gebracht hatte. Halt mal… Auch das konnte natürlich ein Trick sein – logisch! Und wenn es einer war, dann war ich soeben darauf hereingefallen: Er spricht von dem Buch, damit jeder denkt, wäre er der Mörder, dann hätte er nie von dem Buch gesprochen… Nein. Zu kompliziert. Eben dies würde zwar zu Borkenhagen passen, aber etwas anderes gar nicht: der Mord. Wenn Borkenhagen je kriminell werden sollte, dann als Schreibtischtäter…
Ich rief mich zur Ordnung; mit derlei Sophistereien kam ich nicht weiter. Also: Winkler, Dahms, Maria Nedomanski, Walter Nedomanski, Dreyer… Sollte ich vielleicht in ihren Bücherschränken, ihren Öfen und ihren Mülltonnen herumwühlen? Oder gar die Karteikästen sämtlicher Leihbüchereien unter die Lupe nehmen? Am sinnvollsten war es wohl, sich erst einmal für ihre Bücherschränke zu interessieren. Ich beschloß, bei Maria Nedomanski zu beginnen, denn das gab mir Gelegenheit, nicht nur sie, sondern auch den Tatort kennenzulernen. So setzte ich mich in meinen Wagen und fuhr zur Badenallee hinaus. Ich klingelte, und nach einiger Zeit öffnete mir ein schwarzhaariges Mädchen, das auf Kammerkätzchen getrimmt war. Ich stellte mich vor und sagte, daß ich Frau Nedomanski sprechen wollte. „Tut mir leid, Herr Doktor, Frau Nedomanski ist noch in der Stadt… Aber Herr Nedomanski ist da. Darf ich Sie melden?“ Ich sagte, sie dürfe. Sie führte mich zu Walter Nedomanski. Ich murmelte mein Verslein, und er gab mir die Hand. Sie war eiskalt. „So, Sie recherchieren also… Hm… Und Sie wollen mich auch ausfragen. Hm…“ „Gott, »ausfragen« – sagen wir, ich hätte gern ein paar Informationen. Es dürfte doch auch in Ihrem Interesse sein, wenn die Berichterstattung möglichst…“ Ich hielt inne, denn in der Etage über uns war etwas mit dumpfem Krachen zu Boden gefallen. Nedomanski sah zur Decke hinauf. „Ach, das ist bloß Dreyer“, sagte er. „Unser – na, Faktotum. Er ist gerade beim Ausziehen – hat ein Haus geerbt, glaube ich.“ Die Stuckornamente schienen ihn zu faszinieren. Ich hüstelte.
„Ach so, ja… Sie werden mich für jetzt entschuldigen müssen, Herr Doktor, denn wie es der Zufall so will, bin ich in genau einer halben Stunde mit den übrigen Teilhabern der NEDO-Werke zu einer überaus wichtigen Besprechung verabredet, die sich keinesfalls verlegen läßt. Es wäre mir aber recht, wenn Sie mich morgen einmal in meiner eigenen Wohnung aufsuchten. Ich werde Sie ab siebzehn Uhr erwarten.“ Ich hatte noch selten einen Menschen so druckreif reden hören. „Das ist nett von Ihnen“, sagte ich und nahm die Visitenkarte mit der Adresse entgegen, die er mir reichte; dann stand ich auf. Er erhob sich gleichfalls, sagte aber: „Ach, noch etwas…“ Er schloß für ein, zwei Sekunden die Augen, dann fuhr er fort: „Sie sind Journalist, nicht wahr, und… Ich meine, es gibt doch keinen Journalisten, der nicht mit sich reden ließe… Ich biete Ihnen 10 000 – 10 000 Mark bar in die Hand – , wenn Sie Ihre Recherchen einstellen.“ „Sie bieten mir… oh!“ „Wir sehen uns ja morgen; überlegen Sie sich’s.“ Er zog die Tür auf und verschwand auf den Flur. Ich stand da wie betäubt. Das war doch nicht möglich! Wie durch ein umgedrehtes Fernglas hindurch sah ich das Kammerkätzchen über die Diele gehen und einen jungen Mann die Treppe herunterkommen, lässig gekleidet, blaue Jeans und weißer Pullover. Ein weiches Gesicht, ein Babygesicht, ganz nach dem Vorbild einer bekannten Seifenreklame. „Hallo, Ina!“ rief er dem Mädchen zu. „Hallo, D. D. Alles eingepackt?“ „Hmhm. Muß es bloß noch zum Wagen tragen… Du, ich hab vielleicht ‘n schickes Haus – na! Ich geb bald mal ‘ne Party; kommst du?“ „Klar komm ich.“
„Brauchst du ‘n Bild für dein Zimmer? Ich hab ‘n Haufen alter Schinken geerbt. Kannst dir ja mal den ganzen Krempel ansehen.“ „Mach ich.“ Das war also Dieter Dreyer, Nedomanskis Chauffeur, Gärtner, Butler und Laufbursche. So nach und nach bekam ich alle die Leute zu sehen, die ich bisher nur aus Borkenhagens Bericht kannte. „Frau Nedomanski müßte jeden Augenblick zurück sein“, sagte Ina, die mich in der Tür entdeckt hatte. „Kann ich vielleicht in der Bibliothek warten?“ „Gern…“ Sie führte mich in einen großen Raum, der weiß Gott eichenholzgetäfelt war – ich hatte immer gedacht, so was gibt’s nur noch in zugigen alten Schlössern oder in Werbefernsehspots, wenn sie auf ,Tradition’ machen. Ich spürte sozusagen den Hauch eines alten Patrizierhauses. In geschnitzten Vitrinen goldgeprägte Lederrücken: Goethe, Schiller, Shakespeare, Heine, Lenau, Dostojewski, Tolstoj, Flaubert, Balzac und Maupassant am laufenden Meter – gegen den literarischen Geschmack des Innenarchitekten war nichts einzuwenden. Es gab auch bürgerliche Pflichtlektüre in Buchklub-Ausgaben: Vom Winde verweht, Die Caine war ihr Schicksal, Doktor Schiwago, Wem die Stunde schlägt, Desirée, Die Deutschstunde, Don Camillo und Peppone. Es gab so ziemlich alles – nur Die Wahl der Erben von Paul Ritter gab es nicht. Auch nicht in der zweiten Reihe, hinter Goethe und Heine, wo stand, was Nedomanski offenbar für Pornographie gehalten hatte. Henry Miller und Kin Ping Meh waren das Verworfenste. Ich überlegte gerade, wie ich an das Bücherregal kommen könnte, das laut Borkenhagen im Schlafzimmer der Dame des Hauses stand, da sagte eine tiefe, gurrende Stimme:
„Haben Sie Spaß an dem Schweinkram?“ Ich fuhr herum. Maria Nedomanski trug ein raffiniert-schlichtes Kleid, dem man nicht ansah, daß es teuer gewesen war. Wenig Schmuck: Perlen, klein genug, um echt zu sein, in mehreren Reihen; ein Siegelring, der so aussah, als brauche man dafür einen Waffenschein – das war alles. Gesamteindruck: ein bißchen maskulin, aber viel Geschmack. So zieht sich eine Frau an, deren weibliche Vorfahren mindestens drei Generationen lang am Genfer See im Pensionat waren – oder die in einem sehr guten Modegeschäft als Verkäuferin gearbeitet hat. Die Tatsache, daß Maria Nedomanskis Gesicht völlig unter Makeup verborgen war, ließ mich auf Verkäuferin tippen. (Später habe ich erfahren, daß ich recht hatte – bis auf das sehr gute Modegeschäft. Es war ein Kaufhaus.) Ich sagte: „Oh, Pardon!“ und schob den Wendekreis des Krebses hinter die Wahlverwandtschaften. Ich war froh, daß ich nicht zum Erröten neige. „Guten Tag, gnädige Frau; ich bin Doktor…“ Sie winkte ab. „Ich weiß, wer Sie sind und was Sie wollen.“ Der Blick der kühlen grauen Augen wanderte an mir herab. Ich sah, daß sie sah, daß ich einen Anzug von der Stange trug; es war ein Blick von der Sorte, bei der man froh ist, wenn man frische Socken anhat und keine Löcher in den Schuhsohlen. Ich merkte, wie ich abgestempelt wurde: akademisches Proletariat. „Ich stehe Ihnen gern zu jeder Auskunft zur Verfügung“, gurrte sie. „Nehmen Sie doch Platz – der Tee kommt gleich.“ Ich versank in einem schwarzen Ledersessel. Der Tee kam. Das Porzellan war beeindruckend. Der Tee war ausgezeichnet. Ein Whisky wäre mir lieber gewesen. „Sie sind der erste Journalist, der dieses Haus betritt“, sagte sie, nachdem sie an ihrem Tee genippt hatte. „Ich meine das
nicht persönlich, aber Ihr Beruf hat so etwas – na, etwas Zersetzendes, ja? Immer nur Kritik – und meistens Kritik, die dem bloßen Neid entspringt. Immer nur die Verteufelung der Reichen. Statt des Dankes, daß man Arbeitsplätze schafft und das herstellt, was die Gemeinschaft zum Leben braucht, nur Verleumdungen…“ Ich ließ sie reden. War diese Frau tatsächlich so dumm? Leute ihres Schlages versuchen in solchen Situationen meist, sich gut mit der Presse zu stellen – wennschon im allgemeinen nicht auf die sehr direkte Weise, in der es Walter Nedomanski versucht hatte… Es dauerte eine Weile, bis sie endlich zur Sache kam. „Wo ich Max zum erstenmal gesehen habe? Das war 1952 auf einem Haveldampfer, unser Tennisclub hatte eine Mondscheinfahrt veranstaltet. Er forderte mich zum Tanzen auf. Nach der Scheidung von meinem ersten Mann hatte ich mir geschworen, nie wieder zu heiraten, aber Max sorgte dafür, daß ich diesen Vorsatz bald vergaß. Er war hart – hart und zielbewußt. Wenn er etwas wollte, dann bekam er es auch.“ „Er soll ja, was Weiblichkeit angeht, öfters mal ,etwas gewollt’ haben…“ „Ich weiß, ich weiß! Wie können Sie einen außergewöhnlichen Menschen mit gewöhnlichen Maßstäben messen? Natürlich brauchte er andere Frauen, aber das tat meiner Liebe keinen Abbruch. Wir zwei sind immer durch dick und dünn gegangen…“ Ich hörte gar nicht mehr hin; ich betrachtete ihre muskulösen Arme. Kraft genug, um… Aber sie war ja gestürzt und dann leicht verletzt liegen geblieben. Dennoch – sie hätte im anschließenden Tohuwabohu Zeit genug zur Tat gehabt, zumindest theoretisch. Aber da war noch eine andere Möglichkeit, und die wog wesentlich schwerer: Vielleicht hatte sie den Kurzschluß absichtlich herbeigeführt, um einem
Komplicen Gelegenheit zur Tat zu geben. Aber wem? Wie auch immer: Woher wußte sie – falls sie nämlich mit dem Mord zu tun hatte – , daß Nedomanski noch lebte? Kannte sie das Buch? Oder hatte sie ein Gespräch zwischen ihrem Mann und Borkenhagen belauscht? „Was meinen Sie denn, wer hat Ihren Mann ermordet?“ fragte ich, als der Redestrom endlich versiegte. „Na, dieser Einbrecher natürlich!“ „Und Ihr Mann hatte keine Feinde unter seinen Gästen?“ „Viel Feind, viel Ehr.“ „Aber niemand, dessen Feindschaft stark genug wäre, um…“ „Ich bitte Sie! Ehe man einen Menschen umbringt, muß man doch erst einmal ein Motiv haben!“ „Gewiß… Guido wollte Martina – und war an Nedomanskis Tod interessiert; Walter wollte die Firma – und war an seinem Tod interessiert; Martina hielt ihn für die Inkarnation des Bösen – und war an seinem Tod interessiert; Dreyer sah sich durch ihn zu einem haltlosen Leben verführt – und war an seinem Tod interessiert… Reicht das für’s erste?“ „Woher wissen Sie das alles?“ fragte sie kühl. „Ich habe eine Menge Leute an der Hand, die mir Informationen liefern. Sie sollten sich langsam mit dem Gedanken vertraut machen, daß es vielleicht doch nicht der Einbrecher gewesen ist.“ „Er war es! Und ich verbiete Ihnen solche Äußerungen! Noch ein Wort, und ich lasse Sie hier… hier… entfernen!“ Aha – sie hatte also doch Nerven… Ich sagte: „Bleiben Sie doch sachlich! Ich wollte Ihnen nur einmal klarmachen, daß theoretisch jede der anwesenden Personen den Mord begangen haben könnte. Auch Sie! Aber wenn Sie mir jetzt helfen, können wir diesen Verdacht womöglich bald zerstreuen.“ „Und wie?“ Sie hatte sich wieder in der Gewalt.
„Der Täter hat wahrscheinlich das Spiel Ihres Mannes durchschaut…“ Ich erzählte ihr von meinen Überlegungen und kam auf das Buch zu sprechen. „Borkenhagen hatte die Idee aus dem Buch. Und wenn nun einer der Verdächtigen das Buch ebenfalls gelesen hat, dann…“ „Wie heißt denn dieses Buch?“ „Paul Ritter – Die Wahl der Erben.“ Sie sprang auf und starrte mich an. „Mein Gott – das haben wir!“ „Dann muß es woanders stehen“, sagte ich. „Hier ist es nicht; ich habe ja gerade nachgesehen.“ „Nein, es steht hier – Augenblick!“ Sie ging zu der Vitrine rechts neben der Tür, zog die gläserne Tür auf und strich mit dem Zeigefinger über die einzelnen Buchrücken. „Hier… Nein. Komisch; hier müßte es…“ Sie schüttelte den Kopf. „Warten Sie mal…“ Sie kramte in einer Schublade herum. „Es muß verborgt sein. Zum Glück schreibe ich mir jedesmal auf, was ich an wen verliehen habe. Sonst bekommt man seine Bücher nie zurück. Das ist ja hier eine halbe Leihbücherei. Sehen Sie: Lady Chatterley – Anneliese. Tiefer Süden – Uschi. Wer die Nachtigall stört… – Walter. Zur Hölle mit den Paukern – Irma. Und hier: Die Wahl der Erben – na bitte! Und geliehen hat es Guido.“ „Was denn: Guido Winkler? Der gehört doch zur Apo, der fühlt sich doch als Linker, als Intellektueller…“ „Ich war ja auch erstaunt, was der alles liest.“ „Vielleicht sammelt er Material, um die bürgerliche Gesellschaft zu entlarven oder so etwas… Wo wohnt denn Herr Winkler?“ „In Wilmersdorf, in der Prinzregentenstraße; die Hausnummer weiß ich nicht, aber unten im Gebäude ist eine Tankstelle.“
Ich verabschiedete mich – hier war offenbar nichts zu holen. Schon in der Tür drehte ich mich noch einmal um und kam mir ein bißchen albern vor, weil es nach Fernsehkrimi aussehen mußte, aber die Frage war mir gerade erst eingefallen: „Haben Sie das Buch eigentlich mal gelesen?“ Es war unter der dicken Make-up-Schicht schwer zu erkennen, aber ich glaube, sie lächelte. „Nein“, sagte sie. „Nie.“ Mit gemischten Gefühlen ging ich die Auffahrt hinunter zur Straße. Zwar war ich mit meinen Ermittlungen ein gutes Stück vorangekommen und konnte sozusagen guter Hoffnung sein, doch der Gedanke an Maria Nedomanski ließ mich noch immer frösteln. So und nicht anders hatte ich mir als Kind immer Aschenputtels Stiefmutter vorgestellt… Die NEDO-Flagge hing auf Halbmast; Trauer im PillenImperium. Ich passierte das schmiedeeiserne Tor und ging zu meinem Wagen hinüber, der hinten an der Ecke stand. Welch eine stille Straße! Ich ließ mir Zeit. Schon hielt ich die Autoschlüssel in der Hand und ging um den Kühler herum, um mit einer mechanischen Bewegung aufzuschließen, da stutzte ich. Verdammt – der rechte Vorderreifen! Platt. Nichts mehr zu machen. Fluchend ging ich zur Heerstraße hinunter und rief von einer Zelle aus meinen Schwager an. Der versprach mir, sich noch heute abend um den Wagen zu kümmern. Mein Terminkalender war viel zu voll, als daß ich die Zeit gehabt hätte, mich mit dem Wagenheber abzugeben. Dann versuchte ich, ein Taxi zu bekommen, doch das war zu dieser Zeit – kurz vor 18 Uhr – ein vergebliches Unterfangen. Die Nummern der Funktaxis waren besetzt, die Warteplätze in der Nähe leergefegt. Auf die Taxifahrer schimpfend, lief ich zum Theodor-Heuss-Platz hinunter, um auf einen Bus der Linie 4 zu warten. Auf dem Oberdeck schaukelte ich dann für
50 Pfennig durch halb Berlin, ehe ich an der Ecke Bundesallee und Badensche Straße, geräuchert und durchgeschüttelt, vom Schaffner wachgerüttelt wurde. „Heh, Sie müssen raus… Kommen Sie, aufwachen! Sie wollten doch zur Prinzregentenstraße – nächste Querstraße in Fahrtrichtung. Hopp!“ Gähnend kletterte ich die steile Treppe hinunter und sprang auf die Straße. Mann, war das eine Hitze! Ganz Berlin eine große Sauna, und ich fühlte mich entsprechend. Aber ich hatte keine Lust, in ein Lokal zu gehen; Guido würde schon was zu trinken haben. Ich überquerte die Bundesallee, blickte kurz in den brodelnden Autotunnel hinab, ging an der breiten Auffahrt der Sparkassenverwaltung vorüber und erreichte eine knappe Minute später die gesuchte Straße. Es war nicht schwer, die von Maria Nedomanski bezeichnete Tankstelle zu finden. Guido Winkler… An einem ockerfarben verputzten Apartmenthaus fand ich unten seinen Namen. Im dritten Stock mußte das sein. Ich wollte schon klingeln, da kam aus einer Parterrewohnung eine ältere Dame mit einem schwarzen Pudel heraus und ließ mich ins Treppenhaus. Graugestrichene Wände vermittelten das Gefühl einer wohltuenden Kühle. Ich las, daß Betteln und Hausieren hier verboten sei und ging zum Lift. Im dritten Stock roch es feucht und säuerlich; offensichtlich hatte die Hauswartsfrau vor nicht allzu langer Zeit die Treppen gewischt. Ein typischer Neubauflur erfreute das Auge: links eine blaugestrichene Tür, in der Mitte eine blaugestrichene Tür, rechts eine blaugestrichene Tür. Winterfeldt, Steinbock, Winkler – die rechte also gehörte zu Guidos Wohnung. Unter mir tobten Kinder, über mir spielte jemand Mozart. Schon wollte ich den Finger auf den weißen Klingelknopf legen, da merkte ich, daß die Tür einen Spalt weit offenstand. Ganz deutlich konnte man die maisgelbe Tapete des Korridors
erkennen. Ich wollte klopfen, doch ich unterdrückte den Impuls. Von drinnen kam ein hohles Geräusch, so als klappte eine Schranktür zu. Es ist mein Beruf, neugierig zu sein, und Glück hat auf die Dauer nur der Indiskrete. Leise stieß ich die Tür ein wenig weiter auf. Ein roter Sisalläufer, eine braune Flurgarderobe, eine imitierte Petroleumlampe; sonst nichts. Der Spiegel hing so, daß man in die winzige Küche blicken konnte. Auf dem Herd ein Wasserkessel, der noch dampfte. Ob Guido nur schnell den Mülleimer hinuntergebracht hatte? Hm… Ein starker Luftzug; ein Fenster mußte offenstehen. Warum merkte er nicht, daß ich hier stand? Komisch… Ich drückte die Tür vollends nach innen. Sie war gut geölt. Wieder hatte ich das Gefühl, in einen amerikanischen Fernsehkrimi geraten zu sein. Ich kam mir albern vor. Rechts ein großes Zimmer; die Tür stand offen. Behutsam setzte ich einen Fuß vor den andern. Irgendwo das Summen einer Fliege. Ein helles Lachen auf der Straße. Nebenan duschte jemand. Ich hielt den Atem an und wagte es nicht, um die Ecke ins Zimmer zu sehen. Eine Falle? Unsinn! Ich gab mir einen Ruck. In der Mitte des Raums lag ein Mann; groß, klobig. Er lag auf dem Rücken. Von seinem Hinterkopf sickerte Blut auf den goldbraunen Teppich. Guido! Nach dem, was ich gelesen hatte, konnte es nur Guido sein… Hinter mir ein Hüsteln. Verdammt! Ich fuhr herum. Da stand Borkenhagen. Er hielt eine Pistole in der Hand.
Nanu – geht das nicht weiter? Das muß doch weitergehen; das hab ich doch alles aufgeschrieben… Ach du lieber Himmel!
Der Rest ist noch nicht getippt. Wo ist denn mein Manuskript? Einen grünen Stenoblock habe ich benutzt, das weiß ich noch… Uff, ist das eine Hitze! Wie spät ist… Viertel nach zwei. Prost Mahlzeit. Mindestens vier Uhr wird das werden. Na, macht nichts, wenn ich morgen um elf in der Redaktion bin, ist es auch noch früh genug. Und jetzt wollen wir mal sehen, ob noch ‘ne Cola im Kühlschrank ist! Es sind noch drei Flaschen da; die vierte steht vor mir. So – wo ist der Stenoblock? Also, manchmal kann ich Papier nicht mehr sehen. Man müßte alles Papier auf der Welt verbrennen. Wie sähe die Welt aus, wenn alles Papier… Da! Nee. Ein Schnellhefter, kein Stenoblock. Was ist denn das? Winkler, Guido…? Ach so, ja. Das hat Gläser recherchiert. Der neue Volontär. Ah, die Karteikarte mit den Daten des Herrn Guido Winkler. Gläser, mein neuer Volontär, hat sie zusammengetragen.
Winkler, Guido. Geb. 24. 8. 1944 in Nauen b. Berlin. Schule bis zur Mittleren Reife, dann Lehre als Industriekaufmann. Seit 1970 Einkäufer bei der Wunder KG. Nicht verheiratet, nicht verlobt. Monatliches Bruttoeinkommen etwa 1500,– DM. Verkehrt in Apo-Kreisen, aber bürgerlicher Habitus. Frustriert, weil er im Leben infolge Herzklappenfehlers wenig erreicht hat. Hat Angst vor engen Räumen und vor Fahrzeugen. Elternhaus intakt. Vater Postoberinspektor, Mutter Schneiderin. Fühlt sich als Versager. Unklares Verhältnis zu Nedomanski. Läßt sich zwar des öfteren Geld von ihm schenken, verteufelt ihn aber fortlaufend und lehnt es ab, in den NEDO-Werken zu arbeiten. Hat bei einem Betriebsfest in angetrunkenem Zustand einem Kollegen gegenüber erwähnt, die gesellschaftlichen Verhältnisse in der
Bundesrepublik ließen sich nur dann wirksam verändern, wenn man alle Unternehmer an die Wand stellte. Man solle sich nicht immer auf andere verlassen, sondern selber was unternehmen. Einer müsse mal den Anfang machen, das Volk brauche ein Zeichen. Er würde schon wissen, wo er anzufangen hätte. – Auch die Äußerungen anderer Gewährsleute bestätigen seinen Hang zum Einzelgängertum und zum Anarchismus. Zum Äußeren: Winkler ist groß und massig, hat aber keineswegs die Figur eines Schwergewichtsboxers, sondern wirkt eher schwammig trotz des länglichen Gesichts (,Pferdegesicht’). Seine Stimme ist dröhnend und etwas schleppend. Sehr blasser Teint. Kurzer ,Beamtenhaarschnitt’, dunkelblondes Haar, rechts gescheitelt. Altmodische, ein wenig opahafte Kleidung. Keine Freunde, wenig Bekannte. Kein engerer Anschluß in Apo-Kreisen, aber auch nicht bei Kollegen; ist überall Außenseiter. Wenig Kontakt zu seinen Eltern.
Gründliche Arbeit; Gläser hat sich Mühe gegeben. Aber was soll ich jetzt damit! Ich brauche den Stenoblock, in dem… Na so was. Da liegt er ja – ganz obenauf; da kann man natürlich lange suchen! So… Na, ich hab auch schon mal deutlicher geschrieben. Aber es wird schon gehen.
Wir starrten uns an. Borkenhagen ließ die Waffe sinken. „Was machen Sie denn hier?“ stieß ich hervor. „Ich habe eben meinen ersten Mord begangen, sehen Sie doch!“ „Quatsch!“
„Der Tote in der Mitte des Zimmers sprach eine deutliche Sprache“, sagte er, mich im Tonfall imitierend. „Ist er wirklich tot?“ „Keine Ahnung…“ Wir hockten uns neben Winkler; ich griff nach seiner Hand. Der Puls war kräftig und regelmäßig. Ich ging zum Telefon und alarmierte Funkstreife und Krankenwagen. Dann erzählte mir Borkenhagen seine Version. „Ich wollte mit ihm sprechen, über Tina. So von Mann zu Mann. Und ihn natürlich aushorchen – es hat sich ja mittlerweile herumgesprochen, daß er Mäxchen Nedomanski nicht mochte… Ich komme also hier an und klingle – nichts! Ich klopfe – nichts! Ich sehe, daß die Tür nur angelehnt ist und rufe seinen Namen – nichts! Ja, und da habe ich das getan, was auch Sie getan haben: Ich bin unaufgefordert näher getreten. Da lag er… Ich habe mich gleich in der Wohnung umgesehen, aber es war niemand mehr da. Dann kamen Sie.“ „Und das Schießeisen?“ „Ist nur eine Gaspistole. Die hab ich mir heute besorgt, nachdem es mir gestern nacht genauso gegangen ist wie dem guten Guido. Ich wollte mich in meinen Wagen setzen, da kriegte ich eine gewischt, einen Handkantenschlag – und vorbei! Sendepause. Später fand ich dann einen Zettel in meiner Tasche, da stand drauf: Wenn du weiterschnüffelst, ist es aus mit dir! Lieb, nicht?“ „Waren Sie schon bei der Polizei?“ „Aber sicher! Glauben Sie, ich mach noch was ohne die? Sie meinen, der mysteriöse Herr Einbrecher ist es gewesen.“ „Sehen Sie mal, das ganze Zimmer ist ja durchwühlt; Schränke und Schubladen – alles offen!“ „Ich war’s nicht, wenn Sie das meinen… Da, er kommt zu sich.“
Wir halfen Guido auf die Beine, setzten ihn in einen Sessel, preßten ein sauberes Taschentuch auf seine Wunde und flößten ihm einen doppelten Cognac ein. Noch immer etwas benommen, erzählte er stockend, was ihm widerfahren war. „… von hinten, der Kerl hat mich von hinten niedergeschlagen. Ich… Autsch! Das dröhnt vielleicht… Mann, hab ich Kopfschmerzen!“ Er stöhnte. „Ich wollte einholen gehen… Auf der Treppe… auf der Treppe fiel mir ein, fiel mir ein, daß ich kein Geld eingesteckt hatte. Ich also zurück in die Wohnung… Oh, mein Gott, tut das weh! Der Arzt – wann… Kommt er bald? Aahhh… Ich zurück ins Zimmer, um mir Geld… Die Tür nur angelehnt… Da muß er dann reingekommen sein…“ Plötzlich bekam er ganz große Augen. „Sagen Sie mal…“ Er zog die Stirn kraus. „Wie kommen Sie eigentlich hier rein?“ Und zu mir gewandt: „Wer sind Sie überhaupt?“ Ich stellte mich vor, sagte, daß wir ihn besuchen wollten und die Tür offen gefunden hätten. „Wir brauchen ein paar Auskünfte in der Sache Nedomanski“, fügte ich hinzu; ich hatte es eilig – wenn die Polizei erst da war, konnten wir sehen, wo wir blieben. Er hatte es gar nicht gehört. „Sehen Sie mal – ist meine Brieftasche noch da?“ fragte er. „Wo denn?“ „Auf dem Schreibtisch…“ „Bleiben Sie sitzen! Nein, da liegt keine.“ „Scheiße, verdammte!“ „Sie haben sich doch Bücher von Ihrer… äh, Tante geborgt – aus Nedomanskis Bibliothek, meine ich…“ „Hin und wieder, ja… Warum?“ „Auch Die Wahl der Erben?“ „Die – was? Ach so, ja. Steht da hinten auf dem roten Regal. Warum?“
„Haben Sie’s schon gelesen?“ fragte ich schnell. „Nein. Ich weiß nicht mal, warum ich’s neulich mitgenommen habe – Verwechslung wahrscheinlich; wollte irgendwas anderes… Warum fragen Sie?“ „Weil Nedomanskis Mörder das Buch gekannt haben muß.“ „Versteh ich nicht. Wieso?“ „Weil sich niemand in ein Schlafzimmer schleicht, um einen Toten zu ermorden.“ „Das ist mir zu hoch… Was steht denn in dem Buch drin?“ Ich sagte es ihm. Ich beobachtete ihn scharf dabei, wartete auf seine Reaktion. Es kam jedoch keine Reaktion; es kamen vielmehr zwei Polizeibeamte, gefolgt von zwei Feuerwehrleuten, die eine Bahre anschleppten. Trotz seines Protests schnallten sie Guido auf die Bahre und trugen ihn die Treppe hinunter. Vermutlich zur ambulanten Behandlung ins nächste Krankenhaus. Der Ranghöhere der beiden Polizisten zückte sein Notizbuch und begann Fragen zu stellen: Name – Anschrift – geboren… Dann: „Sind Sie zusammen in die Wohnung gekommen?“ „Ja“, sagte Borkenhagen schnell. Ich bestätigte es nickend. Während Borkenhagen Rede und Antwort stand, schlenderte ich wie zufällig zu dem roten Regal, von dem Guido eben gesprochen hatte. Ein Meter Bücher vielleicht. Mit leicht geneigtem Kopf überflog ich die Rücken. Adorno, Marx, Marcuse, Bakunin – sonderbare Nachbarschaft für Paul Ritters Wahl der Erben; ich neigte dazu, Guido zu glauben, daß er das Buch nur versehentlich entliehen hatte. Aber offenbar hatte er es auch verliehen… Das Buch war verschwunden.
Hübscher Kapitelschluß. Ich brauche aber keine Kapitelschlusse. Ich brauche überhaupt keine Kapitel, sondern eine Erleuchtung, wie ich das ganze Material auf vier Seiten unterbringen kann! Was tun? Weiterlesen und dann morgen früh… nee: heute früh eine knappe Zusammenfassung produzieren. Ich hab ja mehr oder weniger zugesagt, daß ich’s mache. Lieber komprimieren als sich kompromittieren. Wo geht’s denn weiter… Hier: eine Szenenfolge, die ich nach Unterredungen mit Borkenhagen und Mannhardt skizziert habe.
Ein Büro. Altbau. Hoch. Dunkel. Muffig. Billige Möbel. Aktenbock aus Kaisers Zeiten. An ihren Schreibtischen zwei Männer. Kriminalobermeister Herrmann (38) und Kriminalmeister Bethge (30). Freitagvormittag. Beide fluchen. „So ein schönes Wetter.“ „Und man muß in diesem miesen Stall hier hocken!“ „Hättest du gestern abend besser aufpassen sollen!“ „Ach, leck mich doch…! Was kann ich denn dafür, daß der Idiot so plötzlich bremst. Typischer Auffahrunfall; da kann man nichts machen.“ „Und Borkenhagen über alle Berge…“ „Der Teufel soll ihn holen!“ Kollision auf dem Kurt-Schumacher-Damm. Borkenhagen kam vom Rummelplatz. Sie hatten am Eingang gewartet. Wollten ihn im Auge behalten. Ein Köder. Vielleicht macht sich einer an ihn ran? Hatte ja Ambitionen, wollte ja Detektiv spielen. Gute Idee, ihn zu beschatten. Und dann… Verdammtes Pech! Konnte ja keiner ahnen. Die Tür geht auf. Beide blicken hoch. Borkenhagen!
Borkenhagen sieht Herrmann. Stutzt. Traut seinen Augen nicht. „Mensch, der Ollenhauer!“ Herrmann ist verblüfft. Borkenhagen lacht. „Haben Sie noch nie gemerkt, daß Sie dem Herrn ähnlich sehen? Vielleicht haben Sie Glück – vielleicht dreht mal einer ‘n Film über ihn, und Sie kriegen die Hauptrolle. Titel: »Hello, Olli« … Nett, daß Sie mir gestern gefolgt sind.“ „Setzen Sie sich doch, Herr Borkenhagen.“ Leichtes Mißtrauen. Intellektueller. Demonstrant. Kollegen bedrängt, ja? Steine geworfen, was? „Danke…“ Borkenhagen sitzt, mustert die beiden. Beamte des mittleren Dienstes; Bild-Leser, Lembke-Seher, HerthaBesucher. „Also, vielleicht sind Sie meine Freunde“, sagt er, „aber meine Helfer sind Sie nicht!“ „Wieso?“ Düstere Mienen. „Gestern nacht gegen ein Uhr bin ich auf dem Parkplatz zwischen der Leibniz- und der Wielandstraße niedergeschlagen worden, und zwar hinterrücks, von einem Unbekannten. Nach vorübergehender Benommenheit konnte ich ohne fremde Hilfe die Heimfahrt antreten.“ Zackig gesprochen. Befremden. Unsicherheit. Unterdrückter Ärger. „Haben Sie einen Funkwagen gerufen?“ „Nein. Wozu?“ Fischt Zettel aus der Tasche. Aufschrift in exakten Druckbuchstaben. WENN DU WEITERSCHNÜFFELST, IST ES AUS MIT DIR! „Bitte sehr! Hat man mir in die Tasche gesteckt.“ Herrmann ist neugierig. Greift schnell zu. „Mensch, das ist ja interessant!“ Bethge bedankt sich. Notiert, was Borkenhagen sagt. Zwanzig Minuten vergehen. Borkenhagen ausgequetscht. Dank an Borkenhagen. Eigentlich doch ein ganz netter Kerl.
Herrmann: „Und Sie versprechen uns, daß Sie nichts mehr auf eigene Faust unternehmen, ja? Sie sehen ja, wie leicht das ins Auge gehen kann.“ Borkenhagen schaltet um. Sind ja arme Teufel. Können nichts dafür. „Aber natürlich, Herr… äh… Kommissar. Sie werden das schon machen… Vielleicht bringt Sie der Zettel weiter.“ Kopfnicken. Aufgehellte Gesichter. Herrmann bringt Borkenhagen zur Tür. Borkenhagen geht. Ein paar Bemerkungen über ihn: Na ja; teils, teils. Man soll nicht alle über einen Kamm scheren. Herrmann frühstückt. Bethge frühstückt. Fußballgespräch. Dann Aktenstudium. Serientäter am Werk. Im letzten Jahr ist in siebzehn Villen eingebrochen worden. Besitzer oder Eigentümer: Prominente und Geschäftsleute. Vornehme Stadtteile: Grunewald, Dahlem und Frohnau. Gestohlen: Schmuck, Geld, Scheckhefte, Pelzmäntel. Geschätzter Gesamtschaden: 75000 DM. Bezeichnung des Täters in der Presse: ,Party-Schreck’. Modus operandi: Täter steigt durch Keller- oder Zimmerfenster ein, während im Haus Feiern und Parties mit durchschnittlich dreißig Gästen stattfinden. Typischer (und bisher letzter) Fall: Geburtstagsfeier Max Nedomanski. Kriminalobermeister Herrmann hat herausgefunden: Alle von den Einbrüchen betroffenen Villen sind von derselben Delikatessenfirma beliefert worden: Gourmet, 1 Berlin 19, Reichsstraße 192, Inhaber: Walter Bachmann. Täter muß Angestellter dieser Firma sein oder Tips von einem Angestellten dieser Firma bekommen haben. In Frage kommen vor allem: Sigurd Schulz, 31, wohnhaft: 1 Berlin 44, Weserstraße 21, als Verkaufsfahrer; Karin Apel, 22, wohnhaft: 1 Berlin 31, Berliner Straße 12, als Sekretärin; Peter Opitz, 29, wohnhaft: 1 Berlin 28, Heidenheimer Straße 14, als Auftragssachbearbeiter.
Die drei fraglichen Personen wurden ohne Ergebnis observiert und zum Verdacht gehört. Schriftproben liegen vor. Vergleich mit dem Zettel, den Borkenhagen in der Tasche gefunden haben will: keine Übereinstimmung. Aber Graphologe erst wieder am Montag verfügbar. Kriminalmeister Bethge hat sich nach Freunden der GourmetAngestellten erkundigt, dreizehn stehen in den Akten: HansDieter Hasse, Rudi Schuster, Günther Breitbart, Martin Adamitz, Peter Sablewski, Peter Scheinert, Manfred Raabe, Hans-Jürgen Hanke, Gert Czerwinski, Ingolf Pappert, Rainer Marwitz, Wolfgang Rohde, Jörg Raguse. Bei keinem hinreichende Verdachtsmomente. Ein Bote. Bringt Passagierlisten von BEA, Air France und PAN AM. Vom Morgen nach dem Mord an. Taucht einer der dreizehn Namen in den Listen auf? Beide suchen. Monotone Arbeit. Ermüdung. Flimmern vor den Augen. „Nichts.“ „Verdammte Scheiße!“ Verschiedene Schlußfolgerungen möglich: 1. Täter befindet sich nicht unter diesen Personen. 2. Täter hält sich noch immer in Berlin auf. 3. Täter hat Berlin mit Bahn, Bus oder Auto verlassen. 4. Täter hat falschen Ausweis benutzt. Ratlosigkeit. Herrmann steckt sich eine Zigarette an. Diskussion: Nach Hause gehen? Chef anrufen? Es klopft. Borkenhagen. „Nanu, haben Sie was vergessen?“ „Nein, nein!“ Borkenhagen setzt sich unaufgefordert. Zigarette? Ja. Feuer? Danke! „Also…?“ „Also, ich habe da was…“ „Aber Herr Borkenhagen! Sie sollen doch nicht…“ „Ach, war ja ganz harmlos. Passen Sie auf: Der Nedomanski hatte da ein Verhältnis…“
Abwinken. „Wissen wir doch! Alter Schnee. Die Dahms.“ „Nee – wissen Sie nicht! Außerdem noch was. Na ja – weniger Verhältnis als – na, Abonnement, ja? Die Dame tut’s hauptberuflich. Eine gewisse Rosi. Weiß der Teufel warum, aber sie mochte ihn…“ „Wen?“ Begriffsstutzig. „Nedomanski. Ich bin zufällig dahintergekommen. Ich hab ihr mal gut zugeredet, und sie hat mir versprochen, sich mal ein bißchen umzuhören nach diesem sogenannten ,PartySchreck’. Und jetzt passen Sie auf – ich hab sie gerade angerufen; sie hat was aufgeschnappt: Der ,Party-Schreck’ soll einen Tick haben. Er nimmt seinen Schäferhund mit zum Tatort und läßt ihn im Wagen warten. Als Talisman sozusagen. Nicht immer, aber ab und zu, wenn er sich seiner Sache nicht so sicher ist… Na, ist das keine Information?“ „Hm…“ Längerer Schaltprozeß. Dann hektische Betriebsamkeit. Bethge blättert im Behördenfernsprechbuch. Finanzämter, Hundesteuerstellen. Liest die Namen der Sachbearbeiter vor. Herrmann ruft sie der Reihe nach an und liest die Namen von seiner Verdächtigenliste ab. Mühseliger Vergleich. Zeitraubend. Ergebnis: Rainer Marwitz und Manfred Raabe besitzen einen Schäferhund. Na also! Marwitz wohnt in Kreuzberg, Waldemarstraße 73, Raabe in Neukölln, Sonnenallee 144. Herrmann steht auf. Zu Borkenhagen: „Am besten, Sie kommen gleich mit. Wir fahren zu den Meldestellen und sehen uns die Paßbilder an. Sie müßten den Mann ja wiedererkennen.“ Borkenhagen freut sich. Bleibt am Ball, erlebt was. Der rasende Reporter. Sie gehen hinunter zum Wagen, fahren los. Ganz schöner Verkehr. Brauchen eine Viertelstunde bis zum Revier am
Mariannenplatz. Beamte sehr zuvorkommend. Zeigen Borkenhagen das Bild von Marwitz. Borkenhagen schüttelt den Kopf. „Nie gesehen!“ Enttäuschung. Weiter. Fahrt über den Neuköllner Schiffahrtskanal hinweg. Links die Mauer. Immer am Kanal entlang. Gesprächsthemen: Fußball, Mini oder Maxi, Udo Jürgens. Neukölln. Sonnenallee Ecke Wildenbruchstraße. Dunkelroter Backsteinbau, wilhelminische Zeit. Polizeirevier 215. Rollen auf den Parkplatz. Steigen aus. Stellen sich vor. Die gleiche Prozedur wie vorhin. Borkenhagen starrt auf ein Paßbild. Elektrischer Schlag: Pokerface! „Das ist er!“ Freude. Bethge klopft Borkenhagen auf die Schulter. Herrmann: „Manfred Raabe also. Wir nehmen ihn gleich mal unter die Lupe. Haben Sie vielen Dank, Herr Borkenhagen.“ Will ihn entlassen. Borkenhagen protestiert. Möchte sehen, was sie mit Raabe machen. „Das geht nicht! Raabe ist wahrscheinlich bewaffnet. Wir dürfen Sie nicht gefährden!“ Borkenhagen hat seine Arbeit getan, Borkenhagen kann gehen. Ist wütend. Kann nichts dagegen machen. Herrmann und Bethge verabschieden sich. Raabe wohnt nur einen Steinwurf vom Revier entfernt. Sie gehen aber trotzdem zum Wagen hinunter. Mannschaftswagen blockiert die Ausfahrt. Müssen ein Weilchen warten. „Ob der Raabe um diese Zeit zu Hause ist?“ „Sicher. Wenn der wirklich 75 000 Mark gemacht hat, braucht er weiß Gott nicht mehr zu arbeiten.“
Ausfahrt ist frei. Wildenbruchstraße. Bushaltestelle. Ein paar Mädchen. Tolle Schenkel. Fahren langsam vorbei. Da müßte man jetzt seine Hände haben. Ampel auf Rot. Neue Wartezeit. Biegen in die Sonnenallee ein. Breite Promenade, vier Baumreihen. Bethge studiert die Hausnummern. 144. Da ist es! Herrmann findet eine Parklücke. Beide steigen aus. Blicken die alte Fassade hinauf. Treten ins Haus. Hoher Flur. Riecht nach Bohnerwachs und Bratfisch. Freitag, aha. Bethge macht Licht. Herrmann orientiert sich am Klingelbrett. Raabe? Ah, da oben. Gartenhaus, drei Treppen, rechts. Nicht gerade hochherrschaftlich. Kluger Kopf, erregt kein unnötiges Aufsehen. Oben bellt ein Hund. Aha! Dann stehen sie vor Raabes Wohnungstür. Bethge klingelt. Einmal. Zweimal. Drinnen rumpelt es. Schritte. Eine Kette wird zurückgeschoben. Tür öffnet sich. Raabe wird sichtbar. Hinter ihm der Hund, die Ohren angelegt. Erster Eindruck der beiden von Raabe: Figur höchstens mittelgroß, sehnig, kein Gramm Fett zuviel. Weltergewicht. Gesicht hager, kantig, scharfgeschnitten, wirkt tuberkulös. Blondes Haar, Locke in der Stirn. Kräftige Hände. Raabe muß gerade geschlafen haben. Blinzelt. „Was gibt’s denn?“ „Herr Raabe?“ „Ja…?“ Herrmann zückt seine Marke. „Kriminalpolizei.“ Nun geht alles ganz schnell. Bei Raabe brennen die Sicherungen durch. Er springt zur Seite. „Bessie – faß!“ Bessie stürzt sich auf Herrmann. Verbeißt sich im rechten Unterarm. Herrmann schreit. Bethge schaltet schnell. Hält schon die Pistole in der Hand. Verstellt Raabe den Weg. Herrmann wirbelt Bessie herum; das Tier prallt gegen Bethge, reißt ihm die Beine weg. Bethge stolpert, fällt gegen das
Treppengeländer, sucht einen Halt. Raabe reagiert blitzschnell, nutzt seine Chance. Tritt Bethge in den Unterleib, setzt über ihn hinweg und rast die Treppe hinunter. Bessie gibt Herrmann nicht frei. Herrmann blutet. Bethge rappelt sich hoch. Ist außer sich vor Wut. Tritt dem Hund in die Flanken. Will Herrmann helfen, muß Herrmann helfen. Herrmann ist wichtiger als Raabe. Verdammter Köter! Herrmann wirft sich nach hinten. „Los!“ Bethge jagt dem Hund zwei Kugeln in den Leib. Bessie verendet. Raabe ist über den Hof gelaufen, hat die Straße erreicht. Keucht. Augen flackern. Irrer Blick. Schweiß auf der Stirn. Schwitzt im weinroten Helanca-Pullover. Sein Kadett steht auf der anderen Straßenseite. Scheiße! Dichter Verkehr, kommt nicht rüber. Will nicht zu Fuß flüchten. Hat die Schüsse gehört. Bessie tot. Der Gedanke lähmt. Trauer. Keine Kraft mehr. Alles sinnlos. Soll er sich stellen? Verpfuschtes Leben… – Eine Lücke im Verkehr! Er rennt los. „Halt – stehenbleiben! Raabe, machen Sie keinen Quatsch!“ Bethge hat aufgeholt, ist dicht hinter ihm her. Noch zehn Meter bis zum Wagen. Er hat den Schlüssel in der Hand. Aber das Aufschließen wird zu lange dauern. Keine Chance mehr… Da sieht er Borkenhagen. Borkenhagen steht in einem Hausflur. Er ist zu Fuß hierher gekommen. Hatte vorhin die Hausnummer gehört. Wollte dabei sein. Raabe zieht die kleine Beretta aus der Hosentasche, reißt Borkenhagen herum, stößt ihm den Lauf in den Rücken. Bethge begreift sofort und stoppt. Es fällt kein Wort. Straßenpassanten prallen zurück, flüchten in die Hausflure und Läden. Raabe erreicht seinen Wagen. Roter Kadett. Tritt auf die Fahrbahn. Schließt auf. Borkenhagen klettert auf den Beifahrersitz.
Bethge prägt sich die Nummer ein. Eilt in den nächsten Laden – Schreibwaren, Kinderspielzeug, Krimskrams: Wo ist das Telefon? Zentrale verständigt. Die Jagd beginnt, und Herrmann kommt ins Krankenhaus. Raabe rast durch die Straßen. Hat nichts mehr zu verlieren. Gehirn blockiert. Schlafwandler am Steuer. Borkenhagen ist begeistert. Borkenhagen hat Angst. Er ist sozusagen begeistert, weil er Angst hat. Tolles Erlebnis. Zum Teufel mit den Hörsälen! Der Wagen rast die Sonnenallee hinunter. Rausch. Multipliziertes Lebensgefühl. Funkwagen schießen heran. Aus der Weichselstraße einer, aus der Pannierstraße ein anderer. Vor ihnen der Hermannplatz. Was wird Raabe tun? Wird er schießen? Die Euphorie klingt ab. Wenn der Ernst macht… Er sieht so aus, als ob ihm alles egal ist. Raabe über das Lenkrad gebeugt. Zuckende Mundwinkel. Schweiß auf der Stirn. Ein Tier, in die Enge getrieben. „Ich war’s nicht“, sagt er plötzlich. „Ich hab dem Alten nichts getan!“ „Dann halt doch an!“ „Ich bin doch nicht verrückt! Damit die Schweine mir den Mord in die Schuhe schieben? Ich hab den Mörder gesehen – mit meinen eigenen Augen hab ich ihn gesehen! Aber wer glaubt mir denn? Kein Aas glaubt mir!“ Er fegt über den Hermannplatz. Bremsen kreischen; irgendwo kracht Blech auf Blech. „Die Reichen halten doch zusammen. Und unsereiner darf den Buckel hinhalten. Von denen geht doch keiner in den Knast – dafür sind wir da…“ Haß. Verzerrtes Gesicht. Höhnisches Lachen: „Aber denen hab ich’s gezeigt! Die Schränke hab ich denen ausgeräumt, den Hurenböcken!“ Pause. „Und jetzt kriegen sie mich an ‘n Arsch…“ Die Funkwagen halten sich zurück. Wollen Borkenhagen nicht gefährden. Reger Funkverkehr. Taxifahrer jagen mit.
Raabe rast die Hasenheide hinunter. Karstadt, Neue Welt, Ballhaus Resi. Vor ihnen der Südstern. Steil aufragende Kirchtürme. Borkenhagen schließt die Augen. Ist alles nur ein Traum. Ich liege besoffen im Bett… Er rafft sich auf: „Mach keinen Quatsch – halt an! Du hast doch keine Chance mehr.“ „Du halt die Schnauze! Wärste mir nicht dazwischengekommen… Du hast die Bullen erst auf meine Spur gebracht! Nu sitzte mit in der Tinte!“ Schadenfreude. „Hat doch keinen Zweck, Mann! Du kommst nicht weit!“ „Bis zum nächsten Baum komm ich immer!“ Schrilles Lachen. Borkenhagen zittert. Angst. Todesangst. Ganz plötzlich. Raabe ist zu allem fähig. „Lebendig kriegen die mich nich! Zwanzig Jahre Tegel – nee! Nich mit mir!“ Er keucht. Kurve. Borkenhagen wird gegen die Tür gedrückt. Rausfallen lassen? Selbstmord. Raabe fährt hundert. Was tun? Reden! „Wenn du jetzt abkratzt, kriegen die den richtigen Mörder doch nie!“ „Na und?“ Aber Raabe ist beeindruckt. Denkt nach. Entscheidet sich. „Ach was – mir glaubt ja doch keiner. Mein Alter hat drei Jahre lang gesessen, meine Mutter war registriert. Mir nehm se das nich ab, Mann! Guck doch mal in die Zeitung – für die bin ick jetzt schon der Mörder!“ „Ich helf dir vor Gericht…“ „Du kannst mir viel erzählen.“ „Ich schwör’s dir!“ „Uff deine Schwüre scheiß ick!“ Gneisenaustraße. Lang. Breit. Promenade in der Mitte. UBahn-Eingänge. Zwei Funkwagen dicht hinter ihnen. Raabe wimmert fast. „Ich hab ihn nich umgebracht! Ich war im Zimmer, ja. Ich dachte, der schläft da. Ich wollte zum
Nachttisch, da fährt er hoch. Ich hinter ‘n Vorhang… Er hat mich nich bemerkt, bestimmt nich. Ich hab ihm nichts getan! Ich wußte doch gar nich, wer da liegt. Ich kannte Nedomanski ja gar nich! Ich wollte warten, bis… Verdammt!“ Zwei Funkwagen von vorn, stellen sich quer. Raabe reißt den Kadett nach rechts. Sie werden hochgeschleudert; preschen über den Bürgersteig, erreichen – Rrrumms! – wieder die Fahrbahn. Borkenhagen zittert. Der macht weiß Gott ernst und… Keine Chance für Raabe – keine Chance für ihn. Raabe flüstert seinen Vers: „Mich kriegt ihr nich. Nich lebendig…“ Ein Knick im Straßenzug. Yorckstraße. Yorck von Wartenburg. Tauroggen… Blöde Assoziationen. Borkenhagen verzieht das Gesicht. Sind das die Sekunden vor dem Tod? Warum gerade hier, warum gerade jetzt? Nein! Nein! Borkenhagen betet. Stuckfassaden. Er sieht durch die Wände hindurch. Menschen trinken Kaffee. Sehen fern. Unterhalten sich, bumsen. Und er soll sterben. Wegen diesem Idioten da! Aufschießender Haß. Er will sich auf Raabe stürzen, egal, was passiert… Aber er kauert auf dem Sitz wie gelähmt. S-Bahnunterführung. Ein halbes Dutzend Brücken überspannt die Straße. Gelb geklinkerte Wände. Eine Schlucht. Runde, altmodische Pfeiler, gußeiserne Säulen. Raabe visiert die erste Säule an. Er zieht den Wagen nach rechts und tritt das Gaspedal durch.
Komisch – liest sich eigentlich ganz gut. Dabei sollten das nur Stichworte sein. Eine Skizze, die ich später ausarbeiten wollte. Aber wozu ausarbeiten? Ich habe ohnehin schon ein paar Kilo beschriebenes Papier zuviel…
Es geht schon auf drei. Soll ich Schluß machen? Soll ich versuchen, den Chef breitzuschlagen, daß er doch eine Serie macht? Macht er aber nie. Ist ja auch der reinste Roman. Na, mal sehen; in der Beschränkung zeigt sich erst der Meister… Wo geht’s denn weiter? Am besten… Ja. Mein Bericht von dem Besuch bei Walter Nedomanski.
Knapp drei Stunden nachdem Raabe mit Borkenhagen durch Berlin gerast war, machte ich mich auf den Weg zu Walter Nedomanski. Ich wußte zu diesem Zeitpunkt noch nichts von dem dramatischen Geschehen in der Innenstadt. Der frischgebackene Chef der NEDO-Werke hatte sich in den wenigen Tagen seit dem Tod seines Bruders noch keine standesgemäße Unterkunft beschaffen können und wohnte wie zuvor sehr bieder im Waidmannsluster Einfamilienhaus, ungefähr zehn Autominuten von Tegel entfernt. Ich kenne mich da draußen nicht so gut aus und mußte eine Weile suchen, ehe ich es fand. Walter Nedomanskis einstöckiges Haus unterschied sich von seinen unscheinbaren Nachbarn nur dadurch, daß es, von zwei gewaltigen Birken flankiert, noch unscheinbarer wirkte. Am Zaun welkten Feuerbohnen. Wenn mir auf mein Schellen ein unrasierter Kleinrentner in Filzlatschen geöffnet hätte, wäre ich nicht weiter erstaunt gewesen. Walter Nedomanski war rasiert und hatte Schuhe an. Er geleitete mich in eine winzige Diele. Eine moosgrüne Tapete schluckte das Licht einer Fünfzehn-Watt-Birne. Der Bügel, den er mir anbot, war aus rohem Holz und trug die Aufschrift Testorp wäscht und reinigt – 62 03 81. Ich hängte meinen Regenmantel auf und folgte ihm ins Wohnzimmer.
„Nehmen Sie bitte Platz“, sagte er mit einem unterkühlten Lächeln. „Vielleicht behagt Ihnen der Ledersessel dort am Fenster… Darf ich Ihnen vielleicht etwas zu trinken anbieten?“ „Ja, gern.“ „Ich bin – wie Sie ja sicher wissen – noch ein alter Apotheker von echtem Schrot und Korn. Und dort, wo ich mein Praktikum absolviert habe, in Eberswalde in der Mark, da verstand man es in unseren Kreisen ganz vortrefflich, einen guten Tropfen zu destillieren. Wenn Sie gestatten, serviere ich Ihnen einen selbst angesetzten Magenbitter.“ „Da sage ich nicht nein.“ Er ging hinaus, um Flasche und Gläser zu holen, und ich hatte ein paar Sekunden Zeit, seine gute Stube in Augenschein zu nehmen. Keine Tapete an den Wänden, nur eine unansehnlich grau gewordene Binderfarbe. Über einem durchgesessenen Biedermeiersofa eine düstere Moorlandschaft, Worpswede wahrscheinlich. Vor der linken Wand ein dunkel gebeiztes Bücherregal: Börne, Machiavelli, Friedell, Spengler, Sartre, Ortega Y Gasset, Szczesny, Nietzsche – aber auch Baudelaire, Benn, Ezra Pound; daneben pharmakologische und pharmazeutische Fachzeitschriften und ein schöner alter Mörser aus Messing mit fein ziseliertem Stößel. Ein abgetretener Täbris, vergilbte Brokatvorhänge, eine schwere Stehlampe mit einem Schirm aus dunkelroter Seide – das waren meine letzten Eindrücke, ehe Walter Nedomanski mit einer geschliffenen Karaffe ins Zimmer zurückkam. „Entschuldigen Sie die kleine Verzögerung“, sagte er, während er zwei Gläser auf das wacklige Schachtischchen setzte, das zwischen uns stand. „Einem Junggesellenhaushalt mangelt es verständlicherweise am Perfektionismus.“ Er ließ sich schwerfällig auf dem nahen Sofa nieder und begann mit einem karierten Taschentuch seine dickglasige Nickelbrille zu putzen.
Ich erschrak, wie man immer erschrickt, wenn man Brillenträger plötzlich ohne Brille sieht. Ein grobes, ein häßliches Gesicht; nicht faszinierend, eher komisch. Routinemäßig begann ich mein Gehirn mit Notizen zu füttern: Kopf im Verhältnis zum Rumpf viel zu groß. Ausgeprägter, kräftiger Unterkiefer, kantige Stirn, breiter Mund mit hauerartigen Vorderzähnen, klobige Nase, zu große Ohren. Ein typisches Pferdegesicht. Walter Nedomanski musterte mich. „Ich weiß wohl, was Sie denken. Das denken alle. In der Schule war ich immer der Kleine Muck für sie. Darf ich noch hinzufügen, daß ich verwachsen bin, daß ich einen Buckel habe, daß meine linke Hand ein wenig schlaff herunterhängt und daß mein rechter Fuß ein wenig verklumpt ist… Haben Sie alles? Prost!“ Verlegen starrte ich in mein Glas, nahm es schließlich und stürzte den Magenbitter in einem Zug hinunter. Er schmeckte nach Lebertran. Ich mußte irgend etwas Tröstliches, irgend etwas Sanftes sagen. Mir fiel nichts ein. Walter Nedomanski lächelte. „Nehmen Sie Herder: Was die Schickung schickt, ertrage; wer ausharret, wird gekrönt. – Oder Max Dauthendey: Das Schicksal weiß immer das Beste für uns… In fünfzig Jahren merkt man sich so einiges.“ Mich fröstelte. „Pardon!“ Er klopfte sich etwas Kalkstaub vom Ärmel seines schwarzen Anzugs. „Ich darf Sie auch um Verzeihung bitten für mein gestriges Angebot. Ich wollte Sie nicht bestechen; ich wollte nur verhindern, daß noch mehr Schmutz aufgewirbelt wird… Vergessen Sie also meine gestrigen Worte – ich stehe Ihnen nun zu jeder Auskunft zur Verfügung.“ „Danke sehr…“ Ich zog meinen Notizblock aus der Jackentasche. Dabei griff ich versehentlich auch einen leeren Briefumschlag, der nun wie eine Papiertaube Nedomanski vor die Füße segelte.
„Oh!“ Er hob ihn auf und entdeckte über meiner Adresse eine bunte Marke, Zinngeschirr wohl auf einer farbenfrohen Unterlage. „Deutsche Demokratische Republik“, las er, „Werke russischer und sowjetischer Malerei…“ „Von einer Kusine aus Dresden“, sagte ich. „Eine hübsche Marke… Darf ich sie behalten?“ „Bitte – natürlich!“ „Ich sammle nämlich Marken mit Gemäldemotiven, müssen Sie wissen…“ Er fing an, über Briefmarken zu sprechen, über Gemälde, über Maler. Er sprach über Kunst. Es war, als hätte er alles vergessen – den Mord an seinem Bruder, den Zweck meines Besuchs; er sprach sachverständig und, wie immer, druckreif. Als ich ihm sagte, daß ich vor Jahren ein Buch über die großen Kunstfälscher veröffentlicht hatte, gerieten wir in eine temperamentvolle Diskussion über den umstrittenen Berliner van Gogh-Fälscher Otto Wacker. Walter Nedomanski war überraschenderweise der Ansicht, die von Wacker präsentierten van Gogh-Gemälde wären echt und bezog sich dabei auf Meier-Graefe und den holländischen Experten Bremmer, während ich immer wieder den Amsterdamer Kunstund Fälscherexperten van Dantzig zitierte: Wer die Lebensgeschichte van Goghs kennt, der weiß, daß sich kein Künstler so gut dazu eignet, gefälscht zu werden. Denn van Gogh hatte an vielen Orten gemalt und seine Bilder irgendwo liegengelassen oder sie Freunden gegeben. Kurz und gut, wir konnten uns nicht einigen, aber dieser Disput brach alles Eis zwischen uns. „Apropos Malerei…“ Walter Nedomanski war noch etwas eingefallen. „Wußten Sie, daß die Villa in der Badenallee einem bekannten Kunstsammler gehört hat, bevor Max sie gegen Ende des Krieges gekauft hat?“ „Nein – woher sollte ich?“
„Professor Ernst Schierbaum – bekannt vor allem durch seine Interpretationen hinduistischer Bildwerke.“ „Interessant…“ „Aber nun wollen Sie sicherlich Ihr Material zum Fall Max Nedomanski zusammentragen…“ Er griff sich seinen Mörser und begann die darin befindliche Zigarettenasche zu zerstoßen. „Wenn Sie mir vielleicht etwas von sich und Ihrem Verhältnis zu Ihrem Bruder erzählen könnten?“ Er nickte bedächtig. „Ja… Geboren wurde ich am 24. Oktober 1912 in Pritzwalk, Ost-Priegnitz. Mein Vater war dort Eigentümer der Kurfürsten-Apotheke. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs ging er nach Berlin, um dort eine kleine pharmazeutische Fabrik zu eröffnen; Brandsalben, Augentropfen, Hustensäfte und ähnliches. Es ging ihm anfangs nicht besonders gut, und wir wohnten jahrelang im Hinterhof einer üblichen Mietskaserne. Meine Mutter starb, und ein knappes Jahr später heiratete er wieder – eine stämmige, resolute, herrschsüchtige Frau mit einer neurotischen Abneigung gegen alles Krankhafte, Unschöne, Verwachsene… Das weitere können Sie sich wohl denken. Max wurde geboren, ein gesundes, kräftiges Kind. Meine Rolle war von nun an fest umschrieben: ich hatte sein Domestik und sein Prügelknabe zu sein, ich hatte ihm zu dienen und seine Aggressionen aufzufangen. Ich überlebte wohl nur, weil ich gelernt hatte, zu träumen…“ Er schwieg. „Das muß bitter gewesen sein“, murmelte ich. Er goß sich einen zweiten Magenbitter ein und stürzte ihn hinunter. Während er eine Schachfigur nach der anderen aus einer silbernen Dose nahm und auf dem Brett aufbaute, fuhr er fort: „Ich wurde der Kleine Muck, sein Hofnarr. Die Späße, die er über mich machte, unterhielten die ganze Korona. Hatte ich mir ein Buch aus dem Schrank geholt, dann wollte er partout in dieser Sekunde dasselbe Buch lesen – und er prügelte es mir
aus der Hand. Sein Recht war das Recht des Stärkeren. Seine Mutter hielt das für nur allzu natürlich. Unser Vater hatte genug mit Inflation und Wirtschaftskrisen zu tun. Ja…“ „Und Sie sind nie von ihm losgekommen?“ „Haß und Demütigungen sind immer noch besser als die absolute Einsamkeit… Das habe ich mir zumindest eingeredet. Vielleicht war es nur Schwäche – zum Teil jedenfalls. Immerhin bin auch ich ein soziales Wesen; ich brauche einen Menschen, der an mich gebunden ist, an den ich gebunden bin – und wenn es ein Max Nedomanski ist. Ich habe ihn mit aller Kraft gehaßt; ich hätte ihn oft töten mögen, aber ich habe ihn gebraucht. Ich war Pharmazeut geworden; so konnte ich ihn später zwingen, mich in seinem Werk arbeiten zu lassen. Er mußte mich nehmen; wer hätte mich sonst genommen, mich…?“ Er hielt inne, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. „Aber sein Tod ist Ihre Chance“, sagte ich provozierend. Er lächelte müde. „Es kommt immer alles zu spät… Soll ich vielleicht Bayer oder Hoechst Konkurrenz machen?“ „Nein, aber Sie verfügen nun über Macht genug; Sie sind auch – lassen Sie mich das so hart formulieren – nun für viele Menschen attraktiv geworden. Auch für Frauen…“ „Vielleicht… Und Sie meinen, deswegen hätte ich Max ermordet?“ „Das habe ich nicht gesagt.“ „Aber gedacht.“ „Wer ist denn Ihrer Meinung nach der Täter?“ Walter Nedomanski überlegte einen Augenblick. „Ich möchte niemand belasten…“ „Guido vielleicht – der Anarchist?“ Achselzucken. „Oder der Einbrecher?“ „Schon eher möglich.“ Er wurde zunehmend wortkarger.
Es läutete. Er stand ächzend auf und ging in die Diele hinaus. Als er geöffnet hatte, hörte ich die kühle Stimme eines offenbar jüngeren Mannes. „Guten Tag, mein Name ist Bethge, Kriminalmeister Bethge. Herr Walter Nedomanski?“ „Ja, bitte?“ „Gegen Sie liegt ein Haftbefehl vor. Darf ich Sie bitten, uns zu begleiten…“
Hier endet mein Gedächtnisprotokoll. Natürlich war ich baß erstaunt. Kaum hatten sie Walter Nedomanski abtransportiert, da stürzte ich schon in die nächste Telefonzelle, um Oberkommissar Mannhardt anzurufen. Doch ich hatte Pech, er war noch nicht zu Hause. Ich konnte ihn erst am späten Abend erreichen. Von diesem Gespräch mit Mannhardt existiert eine recht interessante Tonbandaufnahme. Ich laß ihn holen und den Leichnam suchen. Oh, wie gefährlich ist’s, daß dieser Mensch So frank umhergeht! Dennoch dürfen wir Nicht nach dem strengen Recht mit ihm verfahren. Er ist beliebt bei der verworrenen Menge, Die mit dem Aug, nicht mit dem Urteil wählt… Verdammt, das ist doch Hamlet! Wie kommt Hamlet in das Gespräch mit… Wahrscheinlich hat sich meine Frau wieder mal eine Platte von einer Freundin geborgt, um sie zu überspielen… Es ist zum Heulen! – … noch nichts gehört? – Von Borkenhagen? Nein. Stop! Das Band hält an. – Gott sei Dank – sie hat’s noch rechtzeitig gemerkt! – … noch nichts gehört?
Von Borkenhagen? Nein. Er hatte einen Tip von einer Prostituierten bekommen, mit der Max Nedomanski liiert war. Zwei Kollegen von mir – Kriminalobermeister Herrmann und Kriminalmeister Bethge – haben dann mit Borkenhagens Hilfe den Einbrecher identifiziert: einen gewissen Manfred Raabe. – Gratuliere! – Bei der Festnahme gelang es ihm aber, unsere Beamten zu überwältigen und in seinem Wagen zu flüchten… – Wieder eine Meisterleistung! Wann gibt’s denn die nächste Beförderung? – … dabei hat er Borkenhagen als Geisel mitgenommen. – Was!? – Er hat ihn mit der Waffe in der Hand gezwungen, in den Wagen zu steigen. Dann sind beide davongerast. – Und? Ist was passiert? – Du kennst doch die S-Bahnunterführung Yorckstraße? – Klar, kenn ich. – Da gibt es eine Menge Stützpfeiler. Einen hatte sich Raabe ausgesucht, um Selbstmord zu begehen… – Mein Gott! Beide tot? – Nein, nein: nur Prellungen und Hautabschürfungen. Haben einen irren Dusel gehabt, die beiden. – Kann man wohl sagen! – Raabe hat es doch nicht fertiggebracht. Im letzten Augenblick hat ihn der Mut verlassen, und er ist auf die Bremse gestiegen. Nur ein relativ leichter Aufprall… – Und was sagt er? – Wir haben ihn die ganze Zeit verhört, Bethge und ich. Er gibt den Einbruch zu, bestreitet aber den Mord ganz entschieden. Allerdings hat er Angst, es glaubt ihm keiner. – Ihr habt ihm aber geglaubt? – Wieso? –
–
– Na,
deine Leute haben doch vorhin Walter Nedomanski verhaftet. – Ja, das stimmt. Raabes Aussagen belasten ihn ziemlich schwer. So schwer, daß wir einen Haftbefehl erwirken konnten. – Da bin ich aber platt! – Raabe sagt, er hat sich hinter dem Vorhang versteckt, als in der Villa draußen nach dem Kurzschluß das große Durcheinander begann. Er hat in dem Tohuwabohu nicht fliehen wollen, weil ihm die Gefahr zu groß erschien, mit jemand zusammenzustoßen. Auch im Garten waren Leute, sagt er, um nach Lampen und Leitern zu suchen. – Hat er denn Max Nedomanski bemerkt, den… Na ja: den »Toten«? – Ja… Das heißt, er sagt, da hat einer im Bett gelegen und sich hin und wieder bewegt. Er behauptet, er kann beschwören, daß Nedomanski noch gelebt hat. – Das deckt sich ja haargenau mit dem, was Borkenhagen uns erzählt hat. – Eben! Plötzlich ist dann laut Raabe ein kleiner, etwas verwachse ner Mann ins Zimmer gekommen und hat sich am Nachtschrank zu schaffen gemacht. Er will ihn genau gesehen haben – also Raabe, ja? Auch das Gesicht… – Kann schon sein; wir hatten schließlich Vollmond. – Eben… Jedenfalls hat Raabe bei der Gegenüberstellung Walter Nedomanski sofort identifizieren können. – Hm… Sieht wohl schlecht aus für den Herrn Apotheker? – Das möcht ich meinen. Wir haben nämlich seine Fingerabdrücke sowohl auf dem Nachtschrank als auch auf dem Safe gefunden. – Tüchtig, tüchtig! Hat denn Raabe gesehen, daß Walter seinen Bruder gewürgt hat? – Nein, gesehen nicht. Aber gehört.
Wie…? Raabe sagt, er ist schnell ins angrenzende Badezimmer geschlüpft, als Walter in der Nachttischschublade wühlte. Dort hat er dann den Lärm gehört – erstickte Schreie und so. Die Gelegenheit hat er dann benutzt, um ins Arbeitszimmer zu laufen, wo er dann Borkenhagen niedergeschlagen hat. – Was wiederum mit dessen Aussagen übereinstimmt. – Eben. – Gibt denn Walter Nedomanski den Zweikampf zu? – Ja. – Was…!? – Walter Nedomanski sagt, er ist in das Schlafzimmer seines Bruders gegangen, um dort nach dessen Testament zu suchen und es gegebenenfalls zu vernichten. – Warum denn das? – Das ist recht kompliziert. – Los, erzähl! – Na ja… Wir haben das Testament von Max Nedomanski inzwischen gefunden. Es lag nicht in der Nachttischschublade, sondern im Safe. – Aha. Und? – Max Nedomanski hat in seinem Testament seine gesetzlichen Erben von der Erbfolge ausgeschlossen und den Nachlaß dem Deutschen Roten Kreuz zukommen lassen. – Ach nee! – Hmhm… Maria und Walter Nedomanski sind also im vollen Sinne des Wortes enterbt worden. Begründung im Testament: ,Beide haben mir gegenüber stets eine abwehrende und feindselige Haltung ein genommen.‘ – Was sich nicht leugnen läßt! –
–
Nein. Und Walter Nedomanski wußte von der Absicht seines Bruders, ein Testament in diesem Sinne aufzusetzen – das hat er inzwischen zugegeben. Max hat es überall rumerzählt, um ihn damit zu reizen. Es gibt Zeugen genug. Er hatte auch damit geprahlt, daß er nachts im Bett – wenn er nicht schlafen konnte – an diesem Testament zu arbeiten pflegte. Und Walter war natürlich klar, was das bedeutete. – Mir ist es, offen gesagt, noch nicht ganz klar. – Ganz einfach: Walter mußte versuchen, das Testament zu vernichten, koste es, was es wolle. Wenn man nämlich überhaupt kein Testament gefunden hätte, wäre die gesetzliche Erbfolge eingetreten. – Ach so, ja. Natürlich! – Gesetzliche Erben sind immer die Verwandten des Erblassers und daneben die Ehefrau. Walter wäre gesetzlicher Erbe zweiter Ordnung gewesen, Maria gesetzlicher Erbe erster Ordnung. Sie hätte drei Viertel des Vermögens geerbt, Walter ein Viertel. Und zu vererben waren etwa zwanzig Millionen Mark in Geld- und Sachwerten. – Nicht schlecht! – Also fünfzehn Millionen für Maria Nedomanski und fünf Millionen für Walter. – Nun hat aber Max das Vermögen dem DRK vermacht… – Eben! Und es ergibt sich nun folgende Situation: Maria bekommt als Pflichtteilsberechtigte die Hälfte dessen, was sie sonst bekommen hätte, Walter Nedomanski aber keinen Pfennig, denn pflichtteilsberechtigt sind ausschließlich die Abkömmlinge des Erblassers – also sei ne Kinder und Kindeskinder – , der Ehegatte und die Eltern. Walter Nedomanski mußte also alles Interesse daran haben, das gerade abgefaßte Testament zu –
vernichten. Für ihn hieß die Frage: Fünf Millionen oder nichts! – Und er hat zugegeben, nach dem Testament gesucht zu haben? – Ja, sag ich doch! Er sagt, er war fest davon überzeugt, daß Max tot war. Er habe in der Nachttischschublade gewühlt, sagt er, und dann, als er dort nichts fand, versucht, den Safe über dem Bett seines Bruders zu öffnen. Max hätte wie tot dagelegen. – Und dann ist der ,Tote’ zum Leben erwacht, ja? – Ja. Er hat lauthals losgelacht. Walter ist zu Tode erschrocken, sagt er, ausgeglitten und auf den Körper seines Bruder gefallen. Genauer gesagt, der Bettvorleger ist ihm unter den Füßen weggerutscht… Er hat sich wieder aufgerappelt, obwohl Max versuchte, ihn festzuhalten, und ist aus dem Zimmer gerannt… Natürlich hat er keinem Menschen was erzählt von dieser Geschichte. – Klar. Tät ich auch nicht, an seiner Stelle. – Ach ja – und zu Bethge hat er noch gesagt, nicht er wollte Max mit dem Kissen ersticken, sondern umgekehrt… – Ach, da will er wohl auf Notwehr hinaus?. – Scheint so. – Fragt sich bloß, ob er genügend Kraft hat, einen Menschen mit einem Kissen zu ersticken. Schließlich ist seine linke Hand nicht ganz… eh, funktionstüchtig. – Wir haben seinen Arzt gefragt: So schlimm ist es gar nicht; er simuliert da ein bißchen. – Interessant… – Morgen früh setzen wir das Verhör fort. Wenn das Geständnis vorliegt, sag ich dir sofort Bescheid. – Okay. Herzlichen Dank, und
Hier bricht die Aufzeichnung ab; die Verabschiedung habe ich nicht mehr mitgeschnitten. Aber auf dem Band ist noch ein zweites Gespräch festgehalten: Kaum hatte ich aufgelegt, da rief mich Borkenhagen an. Ja…? Doc, Sie? – Mensch, Borkenhagen! Na, Sie drehen ja dolle Dinger! Hab’s gerade gehört – brühwarm, von der Kripo. – Hübsche Story, was? Haarscharf am Tode vorbei. Das mußte gleich gefeiert werden. Wir… äh… ich bin ganz schön angesektet. Haben Sie auch… – Wir? Wer ist ,wir’? – Wir? – Ja: wir! – Ach so… Na, mein Ich und mein besseres Ich… – Sie haben schon schlagfertiger reagiert! – Das hat die Rosi heute nachmittag auch gesagt. – Wer ist denn nun wieder Rosi? – Eine… Na, ich schäme mich, das auszusprechen. Unter anderem hat sie auch dem lieben Max Nedomanski Orgasmen verkauft… Na, das tut nichts zur Sache. Auf alle Fälle hat sie mir den entscheidenden Tip gegeben. In Sachen Raabe, meine ich. – Aha. Und daraufhin sind Sie mit ihr ausgegangen? – Sagen Sie mal, was geht Sie eigentlich meine Intimsphäre an? Erzählen Sie mir lieber, was es bei der Mordkommission Neues gibt. – Auf Grund von Raabes Aussage haben sie Walter Nedomanski verhaftet. – Ja, du lieber Himmel – wie kommen die denn auf den? – Passen Sie auf: Also Raabe behauptet – –
Stoptaste. Das brauch ich nicht noch mal zu hören, was mir Mannhardt gerade erzählt hatte. Lassen wir das Band mal ein paar Meter vorlaufen… mir eigentlich nicht vorstellen, daß Walter Nedomanski der Täter ist. So, wie ich ihn auf der Geburtstagsparty kennengelernt habe… Ich kann mir übrigens auch nicht vorstellen, daß er diesen Guido Winkler niedergeschlagen hat. – Ich auch nicht… Ich habe ja lange mit ihm gesprochen, und was ich dabei erfahren habe, paßt auch nicht ins Bild. Sein Bruder Max war – na, sagen wir, er war die Kraft, die Walters Leben einen Sinn gegeben hat. Man muß nur die Dialektik dieses Lebens kennen. – Schön gesagt – heben Sie’s auf für unseren… Nee: für Ihren Artikel. Was machen wir jetzt? – Haben Sie Vorschläge? – Schließlich haben wir noch ein paar Kandidaten, nicht? Viel leicht knöpfen Sie sich Guido Winkler vor; ich könnte mich mal bei diesem Dreyer umsehen – okay? – Okay. Lassen Sie von sich hören, sobald –
Hier ist das Band zu Ende; Glück gehabt – es hat gerade gereicht. Andererseits… Also, wenn man den Schaden bei Licht besieht: Sehr ergiebig ist das nicht. Was haben wir denn noch? Ach ja… Gähnen. Gott, bin ich müde! Ich werde mir Wasser aufstellen für einen Kaffee – zum Schlafen komme ich sowieso nicht mehr – und inzwischen den nächsten Bericht lesen: Borkenhagens Gedächtnisprotokoll von seinem ersten Besuch bei Dreyer. Das ist – Moment mal… Ja: das ist wieder in der dritten Person geschrieben, aber seine ejakulative Stilepoche hat er offenbar hinter sich gebracht.
Borkenhagen saß in seinem weinroten R 4 und fuhr zu Dreyer. Im Handschuhfach lag ein Zettel mit der Adresse: Walldürner Weg 83. Es war kurz vor 17 Uhr, und der Berufsverkehr hatte seinen Höhepunkt erreicht. So brauchte er eine ganze Weile. Endlich hielt er vor einem freistehenden Häuserblock. Sozialer Wohnungsbau auf den ersten Blick. Blonde Kinder, die gelangweilt auf dem Rinnstein hockten, bestaunten ihn; eine ältere Dame befestigte Gießkanne und Harke auf dem Gepäckständer und radelte langsam zum Friedhof hinüber. Ein kompakter Jüngling wusch hingebungsvoll einen Volkswagen. In der zweiten Etage war der Name Dreyer angebracht, weiß in schwarze Plastikfolie geprägt. Borkenhagen drückte auf den Klingelknopf. Drinnen schrillte es. Dann schlurfende Schritte, ein blaues Auge erschien im gläsernen Guckloch. Borkenhagen trat einen Schritt zurück. Das wußte er von seiner Tätigkeit als Interviewer: Immer so weit von der Tür zurücktreten, daß die Leute einen voll ins Blickfeld bekamen. „Wer ist denn da?“ „Mein Name ist Borkenhagen…“ „Ah, von der Illustrierten, ja? Ich weiß; mein Sohn hat mir schon erzählt, daß Sie kommen werden.“ Die Kette wurde zurückgeschoben, die Tür geöffnet. Elisabeth Dreyer, hager und grauhaarig, führte Borkenhagen in ihre gute Stube und ließ ihn die gerade angekommenen Versandhausmöbel bewundern. Wohnzimmerschrank, zwei Meter achtzig breit, Palisander furniert, natur mattiert, im Mittelteil links Barfach mit Spiegelrückwand… Der Fernseher lief; Frau Dreyer schaltete ab. Auf der Hör Zu zwei Frauenromane: Monika erkämpft sich ihr Glück und Brich dein Schweigen, Eva-Maria. Ein junger Wellensittich, Jockei gerufen, krakeelte im Bauer. Es roch nach Bohnerwachs.
Borkenhagen bekam einen Weinbrand angeboten. Als er nach Dieter fragte, sprudelte sie los. „Dieterle – wir nennen ihn immer Dieterle, wissen Sie – also, er hat sich prächtig rausgemacht. Die Zeit bei Herrn Nedomanski ist ihm gut bekommen, verstehen Sie? Er hat Schliff bekommen, Umgangsformen; er weiß jetzt, wie man sich bewegt, ja? Ich hatte es ja schwer mit ihm, mein Mann ist ja schon 55 gestorben, ein Arbeitsunfall, von einem herabstürzenden Eisenträger erschlagen, der Ärmste, und ich war ganz allein auf mich gestellt und mußte uns beide durchbringen, verstehen Sie? Ich hab saubergemacht, mal hier, mal da – war kein Zuckerlecken, kann ich Ihnen sagen. Es ist nicht jedermanns Sache, anderen Leuten den Dreck wegzuräumen; man hat ja auch seinen Stolz, verstehen Sie?“ „Natürlich versteh ich das.“ „Aber nun sind wir ja aus dem Gröbsten heraus. Dieterle fängt am nächsten Ersten in den NEDO-Werken an, im Lager – der Bruder von Herrn Nedomanski hat sich für ihn verwendet. Wenn er tüchtig ist, kann er es bis zum Abteilungsleiter bringen. Das ist seine Chance, verstehen Sie? Bis dahin hat er ja noch mit seinem Häuschen zu tun. Meine Schwiegermutter hat ihm ihr Haus vermacht, Wittenau, Tessenowstraße 102, und da malert er jetzt rum. Das soll er ganz für sich alleine haben als sein kleines Reich, verstehen Sie?“ „Ja, ja, ich verstehe…“ „Mein Gott, macht das alles eine Menge Arbeit! Der arme Junge! Alte Leute heben ja auch allen Plunder auf, nicht wahr? Vor allem das Atelier! Mein Schwiegervater war nämlich Kunstmaler, ja? Er hat Bilder kopiert und restauriert, verstehen Sie? Da stehen mehr alte Schinken rum als in manchem Museum. Dieterle macht gerade ‘ne große Liste, was so alles da ist, dann verkaufen wir den ganzen Klumpatsch, verstehen
Sie? Das wird uns ‘ne schöne Stange Geld einbringen. Na, mal muß sich ja das Glück auch den Richtigen aussuchen, und… Das war die Haustür – haben Sie gehört? Das müßte Dieterle sein…“ Wenig später saß Borkenhagen mit Dieterle am Tisch. Frau Dreyer hatte sich diskret zurückgezogen. Dreyer trug Jeans und einen weißen Rollkragenpullover. Er hatte ein rundes, rosiges Babygesicht, zu dem die Bartstoppeln nicht recht paßten. Die Stirn war stark nach vorn gewölbt und wirkte wie ein Wulst. Das Gesicht war auffallend bleich bis auf die hektisch geröteten Wangen. Dunkelblondes Haar hing ungepflegt herab und ließ den Kopf wie einen Mop erscheinen. Für seine 21 Jahre war Dreyer fett und aufgeschwemmt. Er steckte sich eine Roth-Händle an, hustete hart und heftig und stemmte sich dann stöhnend mit beiden Armen aus dem Sessel. „Ich hol uns mal ‘n Bier.“ Dann saßen sie sich gegenüber. Dreyer trank, sagte nichts. Borkenhagen wußte nicht recht, wie er anfangen sollte. Der stumme Sohn war offenbar noch schwieriger als die redselige Mutter. Nicht mit der Tür ins Haus fallen! ermahnte sich Borkenhagen. Schließlich sagte er: „Na, Ihre Mutter sagt, Sie sind aus dem Gröbsten raus?“ „Jaaa… Bei mir klingelt’s bald in der Kasse.“ Borkenhagen zündete sich eine Zigarette an. „Die Bilder von Ihrem Großvater, was?“ „Woher wissen Sie denn das?“ „Auch von Ihrer Mutter.“ „Die kann aber auch nie den Sabbel halten… Sind ein paar ganz hübsche Kopien bei. Gauguin, Kandinsky, Renoir, Degas, Cezanne und wie die Burschen alle heißen. Interesse?“ „Mal sehen…“ „Beeilen Sie sich mal – alles Klasse-Kopien, die gehn weg wie warme Semmeln. Viele Typen stehn auf so was.“
„Werden Sie denn noch bei NEDO arbeiten?“ „Klar.“ „Was machen Sie denn mit dem ganzen Geld?“ Dreyer lachte. „… kauf ich mir erst mal Platten…“ Dreyer zählte alle möglichen Schallplatten auf, die er sich anschaffen wollte, und begann die Vorzüge und Schwächen einzelner Interpreten ausführlich zu kommentieren. Jetzt war er nicht mehr stumm, aber er erzählte die falschen Sachen. Zwischendurch holte er Bier nach und schenkte ab und zu Weinbrand ein. Borkenhagen langweilte sich zunehmend; an relevanten Informationen war hier offenbar nichts zu erwarten. Er begann den Alkohol zu spüren und unterdrückte ein Gähnen. Dreyer goß ihm einen weiteren Weinbrand ein. Da geschah es. Vielleicht hing es mit dem Alkohol zusammen – oder eher mit dem Geruch des Alkohols. In Borkenhagens Gehirn lief ein sonderbarer Erinnerungsprozeß ab. Er sah sich plötzlich mit Max Nedomanski in dessen Arbeitszimmer sitzen, um die letzten Einzelheiten des großen Auftritts abzusprechen. Sie hatten beide viel getrunken; zum Betrunkensein fehlten nur noch ein, zwei Gläser. Beide hatten sich bemüht, dem anderen gegenüber einen möglichst nüchternen Eindruck zu machen. Aber dann hatte sich Borkenhagen kaum noch aufrechthalten können; sein Kopf war auf die Tischplatte gesunken… Und ausgerechnet jetzt, mitten in der Unterredung mit Dieter Dreyer, glaubte er sich an das zu erinnern, was dann geschehen war: Nedomanski war ans Telefon gegangen, hatte eine längere Nummer gewählt und dann mit irgend jemand gesprochen – das heißt, er hatte mehr gelallt als gesprochen. Borkenhagen achtete nicht mehr auf Dreyer. Er fühlte, daß das, was Nedomanski gesagt hatte, plötzlich von großer Bedeutung war. Er drückte gleichsam auf sein Gedächtnis, wie
um den letzten Tropfen aus einer leeren Tube herauszupressen. Dreyers Worte waren nur fernes Plätschern: „Ja, das war schon ein schöner Job bei Nedomanski…“ Da – da war es! Der Satz, den Max Nedomanski damals gesprochen hatte… Borkenhagen glaubte ihn wieder zu hören, ganz laut, den ganzen Satz. Ein Gefühl großer Erleichterung durchströmte ihn. Er schloß die Augen. „Ist was…?“ Dreyer sah ihn besorgt an. „Nein, nein – ich hatte nur einen Magenkrampf… Es läßt schon nach.“ Er fühlte sich beschwingt; er hätte tanzen können. Verdammt noch mal, das konnte die Lösung des Falles Nedomanski sein! Der Doc würde Augen machen. „Warum sind Sie eigentlich hier – jetzt, wo die Bullen Nedomanskis komischen Bruder verhaftet haben?“ „Gott, Herr Dreyer – ich werde schließlich dafür bezahlt, daß ich alle Fakten zusammentrage, ja? Und außerdem hat Walter Nedomanski meines Wissens noch kein Geständnis abgelegt.“ „Aber er ist der Mörder – da können Sie Gift drauf nehmen! Sie hätten mal seine Augen sehen sollen, wenn er sich mit dem Boss gestritten hatte: Haß, sag ich Ihnen; der blanke Haß… Einmal, da hat er was auf den Deckel gekriegt, weil eine Charge NEDO-Med versaut war – konnten sie glatt wegkippen, das Zeug, war irgendwie falsch dosiert… Als der dicke Max draußen war, da hat sein Bruder die Fäuste geballt und gesagt, du Schwein, hat er gesagt, ich bring dich noch mal um!“ „Haben Sie das der Polizei auch schon erzählt?“ „Klar. Diesem Bethge.“ „Dann ist es ja gut.“ Borkenhagen kritzelte etwas auf seinen Notizblock. „Sonst noch Fragen?“ Dreyer blickte auf die Uhr. „Ich hab nämlich ‘ne Verabredung.“ Er zog sein Portemonnaie heraus
und zählte die wenigen Scheine. „Meinen Sie, daß die Geschichte verfilmt wird?“ „Vielleicht. Das kommt darauf an, wer der Mörder ist.“ Dreyer staunte. „Ich denke, Walter Nedomanski…?“ Borkenhagen lächelte. „Das denken alle – außer mir.“
Soweit Borkenhagen. Ausgerechnet in dem Gespräch mit Dreyer, in dem ansonsten so gut wie nichts herausgekommen ist, fällt ihm etwas ein… Ich finde diese Geheimniskrämerei vor dem Leser übrigens ein bißchen billig. Muß ich ihm gelegentlich mal sagen. Immerhin, es hat sich dann bald herausgestellt, daß die Sache tatsächlich von erheblicher Wichtigkeit… Da: Jetzt fange ich genauso an! Also, lieber der Reihe nach: Nicht nur Borkenhagen war fündig geworden; auch ich hatte eine möglicherweise heiße Spur gefunden.
Wieder stand ich in der Prinzregentenstraße vor Guido Winklers Wohnungstür und zögerte, den Klingelknopf zu drücken. Drinnen war einiges los – unüberhörbar. „Ich gehe jetzt – mir reicht’s!“ „Bitte, Fräulein Dahms…!“ „Ihre Eifersucht ist doch lächerlich! Wir sind zweimal miteinander ausgegangen – und Sie tun so, als hätten wir schon x-mal miteinander geschlafen!“ „Tina…“ „Sie stoßen ja alle Frauen ab. Immer nur das politische Gerede, und dann die Eifersucht.“ „Geben Sie doch zu, daß Sie gestern mit diesem Borkenhagen in der Vollen Pulle gesessen haben und…“ „Natürlich habe ich! Was geht Sie denn das an?“
„Eine ganze Menge! Sie wissen doch, wie… wie… Ich habe doch alles getan, um… Es war so schwer… Endlich sind Sie hier bei mir, und…“ „Geben Sie mir meinen Mantel!“ „Tina, bitte! Ich… So ein schöner Abend… und…“ „Sie sitzen ja doch bloß da und erzählen mir was von diesem Babuschkin…“ „Bakunin!“ „Meinetwegen. Ist mir doch egal, wie der…“ „Ich bin eben anders als die anderen, Tina. Ich will nicht gleich mit jeder ins Bett – man kann sich ja auch anders miteinander beschäftigen… Herrgott noch mal – verstehen Sie mich doch!“ „Wir passen eben nicht zusammen.“ „Aber zu Nedomanski haben Sie gepaßt, was?“ „Das ist doch meine Sache!“ „Entschuldigen Sie, Tina; ich will Ihnen doch nur helfen. Ich weiß doch, was Sie zu leiden hatten.“ „Einen Dreck wissen Sie!“ „Sie nehmen mich nicht für voll, weil ich keinen Alfa-Romeo habe und keinen Swimmingpool und keine Anzüge von Cardin, das ist es. Für Sie bin ich ein impotenter Spinner – oder?“ „Aber Guido! Wir kennen uns doch schon lange genug… Sie müssen erst mal lernen, mit einem Mädchen befreundet zu sein, ehe Sie…“ „Ich brauche keine Belehrungen!“ „Ich mein’s doch nur gut mit Ihnen.“ „Nein, Tina, ich…“ Und so weiter und so weiter. Ich klingelte, als ich sicher war, daß die nächsten Minuten kaum noch Neues bringen würden. Sofort verstummte ihr Streitgespräch. Guido öffnete mir, und beide taten so, als wäre
nichts gewesen. In zwei zierlichen Tassen stand kalt gewordener Tee. „Ich möchte die Herren nicht stören…“ Martina nutzte die Gelegenheit zum Rückzug. „Ihre Anwesenheit würde mich niemals stören“, versicherte ich. Ich sagte es nicht nur, ich dachte es auch in diesem Augenblick. Sie trug ein himbeerrotes Minikleid aus grobem Leinen und eine hübsch durchbrochene weiße Strumpfhose, und wäre ich Eigentümer einer Strumpffabrik gewesen, ich hätte ihre Beine auf alle meine Produkte geklebt. Sie sah viel ruhiger aus, viel entspannter, viel gesünder als bei unserer ersten Begegnung. Da ich jedoch kein Strumpffabrikant bin, konnte ich ihr kein entsprechendes Angebot machen. Sie verabschiedete sich. Dann saß ich mit Guido allein in seinem JunggesellenApartment und stellte meine erste Frage: „Sagen Sie, Guido, wie kommt es eigentlich, daß ein Mann wie Sie Bücher wie Die Wahl der Erben liest?“ „Ach…“ Er lockerte sich den weinroten Schlips, den er offenbar Martina zuliebe aus dem Schrank geholt hatte. Auch der graue Flanellanzug schien ihm nicht zu behagen. „Wissen Sie – um ehrlich zu sein – , je mehr man sich mit anarchistischem Gedankengut vertraut macht, desto größer wird im Unbewußten die Sehnsucht nach der heilen Welt, der Welt der Kolportageromane. Nehmen Sie mal Ganghofer, Der Dorfapostel, hier… Als er an der Kirche vorüberging, rührte er mit der Hand an die Mauer, als müßte von diesen geweihten Steinen durch die Berührung etwas auf ihn überfließen, etwas Gutes und Heiliges. Bei der offenen Kirchentür bekreuzte er sich… und so weiter. Das ist doch was – oder?“ „Ich will mal so sagen: Ich habe grundsätzlich nichts gegen eine Literatur, in der sich ein Autor noch trauen durfte, in allgemeinverständlicher Sprache von vorn nach hinten zu
erzählen und sich dabei obendrein auch noch Emotionen zu leisten, ohne von den Auguren belächelt beziehungsweise in der Luft zerpflückt zu werden. Ob es gerade Ganghofer sein muß…“ Er hatte gar nicht zugehört. „… zugleich enthüllt es aber auch das ganze bürgerliche Bewußtsein: Nicht das Gesellschaftssystem ist schuld an Ungerechtigkeit, Habgier und Elend, sondern das Böse im einzelnen Menschen… So ein Unsinn!“ Ich lächelte. „Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.“ „Gehen Sie mir doch mit diesem Schein-Hamlet! Bürgerliches Theater, moralische Anstalt – Manipulation und nochmals Manipulation! Wenn’s nach mir ginge, hätten die Theater alle schon zumachen können. Ich war seit drei Jahren in keinem mehr drin. Die dicke Bäckersfrau mit der Nerzstola, Herr Verwaltungsoberamtmann im schwarzen Sonntagsanzug…“ Langsam kam er in Fahrt. „Das Theater alten Stils als gesellschaftliche Institution hat doch nur den Zweck, die Masse der unmittelbaren Produzenten unterdrücken zu helfen und dazu beizutragen, daß sie sich – haha! – »freiwillig« einer ausbeuterischen Minderheit unterwerfen. Erst wenn man diese Minderheit zum Teufel jagt… Die Zertrümmerung der allgemeinen Werte… Ich sage Ihnen, wir…“ Und so weiter und so weiter. „… und um Max Nedomanski ist es nicht weiter schade. So müßte es allen diesen Schweinen gehen!“ Er atmete schwer. „Meinen Sie, sein Tod könnte so etwas wie – na: wie ein Signal sein?“ „Nein…“ Er stutzte. In seinem Gesicht begann es zu arbeiten; er schluckte und sein Adamsapfel tanzte auf und ab. „Jetzt wollen Sie mir wohl den Mord in die Schuhe schieben, was?
Das dekadente und verfaulte System braucht seinen Sündenbock, ja?“ „Langsam, junger Mann! Ich wollte lediglich…“ „Für mich ist Walter Nedomanski der Mörder!“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch. „So – meinen Sie? Und Walter Nedomanski soll Sie niedergeschlagen haben?“ „Warum nicht? Nur weil er verwachsen ist? Ich habe ihn schon Kisten heben sehen, unter denen Sie zusammengebrochen wären… Und in der Zeitung steht doch auch, daß er kein Alibi hat – er will allein in seinem Haus in Waidmannslust gesessen haben, als ich zusammengeschlagen wurde.“ „Wenn wir schon ,Warum nicht?’ fragen: Warum soll er da nicht gesessen haben?“ „Warum soll er?“ Er spülte einen Schluck kalten Tee hinunter. „Sie haben sich gehaßt, die beiden Nedomanskis; das wird Ihnen jeder bestätigen, der Bescheid weiß. Walter ist einfach der naheliegendste Täter.“ „Das sagt gar nichts. Im Gegenteil: Jemand könnte es sich zunutze gemacht haben, daß die gegenseitige Abneigung so allgemein bekannt war.“ „Theoretisch vielleicht… Sie kennen eben die Verhältnisse nicht so gut wie ich, Herr Doktor.“ „Sie behaupten also, man konnte es kommen sehen, daß die Auseinandersetzung einmal dieses tragische Ende nehmen würde?“ „Na ja – kommen sehen… Heute kann man das sagen, ja. Hinterher. Aber ein Hellseher bin ich schließlich auch nicht. Ich bin lediglich überzeugt – jetzt, nachdem es passiert ist, bin ich überzeugt…“ Er verzog das Gesicht und preßte die Hand auf den Magen. „Meine Gastritis! Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment…“ Er verließ das Zimmer hastig.
Ich stand auf, um mir die Beine zu vertreten, und blieb vor dem Bücherregal stehen. Drei Bände Lenin fielen mir ins Auge. Ich zog den ersten heraus. Dietz Verlag, Berlin 1970… Ich begann zu blättern. Dabei fiel eine Ansichtskarte heraus und segelte unter Guidos Liege. Ich kniete mich auf den Bettvorleger, um sie hervorzuangeln… Endlich hatten meine Fingerkuppen sie erreicht… Mit ihr zusammen kam eine orangefarbene Theaterkarte zum Vorschein. Schiller-Theater, Rang rechts, 3. Reihe, Sitz Nr. 16. Rechts abgerissen, etwa ein Jahr alt. Und Guido hatte vorhin erzählt, er sei seit drei Jahren in keinem Theater mehr gewesen… Komisch. Die Karte war in der Mitte geknickt, so als hätte man sie als Lesezeichen benutzt. Sollte sie vielleicht in Paul Ritters Wahl der Erben gesteckt haben, dem Buch, das verschwunden war, und herausgefallen sein, als man Guido niedergeschlagen hatte? Es schien weit hergeholt, aber unmöglich war es nicht. Ich ließ das Billet in meiner Brieftasche verschwinden. Gleich halb vier. Man müßte Postinspektor sein und seine festen Schalterstunden haben! Da schlägt man sich die Nacht um die Ohren, und morgen sagt der Chef: Doktor, das können wir nicht machen – viel zu lang… Was ist denn das für ein Zettel? Die Handschrift meiner Frau? Ach, da hat sie wieder mal ihre Bedenken für die Nachwelt festgehalten. Du, ich glaube, die wollen Dich alle für dumm verkaufen. Meiner Ansicht nach ist das alles eine große Verschwörung gegen Max Nedomanski, und sie stecken alle unter einer Decke. Du weißt ja, ich habe einen sechsten Sinn für so was. Ich glaube ganz bestimmt, daß Borkenhagen diese undurchsichtige Maria Nedomanski schon von früher her kennt. Hat er sich nicht im vorigen Jahr sein Geld als Tennislehrer verdient? Vielleicht hat sie bei ihm Stunden
gehabt? Du solltest das mal nachprüfen! Ist Dir auch schon aufgefallen, daß Borkenhagen eine Menge Geld ausgibt? Wenn er es nun vom Familienclan hat? Sie sind doch alle froh, daß M. N. von der Bildfläche verschwunden ist, das ist doch eine Erlösung für sie alle. Oder? Da er noch nicht sterben wollte, haben sie Borkenhagen beauftragt, diese ganze Komödie einzufädeln. Corriger la fortune! Jetzt belasten sie sich gegenseitig, so daß sich alles neutralisiert. Den Rest schieben sie auf Raabe. Vielleicht geht auch alles gegen Walter. – Denk doch mal darüber nach!
Na ja… Vielleicht waren es ja auch die kleinen grünen Männchen vom Mars! Was ist denn das nun wieder? – Tatsächlich – eine… Pardon: eine sogenannte Kotztüte der BEA. Eng mit meinen Hieroglyphen bekritzelt. Eine kleine Stilübung in 2800 Meter Höhe, im Luftkorridor nach Berlin irgendwann in den letzten Wochen einmal nachgeholt, gar nicht unter dem Eindruck des Geschehenen entstanden und darum ziemlich – na: manieriert. Nun ja; der Vollständigkeit halber: Ein Bettlaken, ein wenig schmuddelig; ein paar Flecken darauf: Rotwein, Lippenstift, Asche. Ein Laken auf einer flachen Liege. Auf dem Laken eine Zigarette, noch sieben Zentimeter lang, wovon zweikommadrei Zentimeter auf das Filtermundstück entfallen. Eine ganz gewöhnliche Zigarette wie Millionen andere auch. Die Zigarette brennt. Es ist drei Uhr morgens. Draußen sind die Vögel erwacht. Das Fenster steht weit offen. Der leichte Wind läßt die Gardinen flattern, fährt über das Gesicht eines Schlafenden, bringt den Glutkegel der Zigarette zum Aufleuchten. Es ist heiß und stickig in dem kleinen Raum. Alles mürbes Holz, ausgetrocknet, wurm zerfressen.
Die Wände aus Holz, die Decke aus Holz, der Boden aus Holz. Auf dem hölzernen Boden eine Rotweinflasche, leer. Zwanzig Zentimeter von der brennenden Zigarette eine gebräunte Hand. Eine junge Hand. Schlaff. Der Brandfleck auf dem Laken wächst und wächst. Wie eine Blume, die man im Zeitraffer filmt. Innen, wo die Zigarette wie ein Stempel sitzt, ist die Blume schwarz, dann durchläuft sie, immer heller werdend, viele Braunnuancen bis hin zum blassen Grüngelb ganz außen. Graue Zigarettenasche bröckelt ab, verliert sich auf der braunen Blume. Blaugrauer Rauch breitet sich aus. Ein Windstoß. Im Zentrum der Blume ist das Laken zu einer kleinen Falte aufgewölbt. Unter dieser Falte sitzt die Luft in einem flachen Polster. Dort durchsticht die fressende Glut das fliederfarbene Laken. Ein kleiner Krater entsteht. An seinem Rand verglimmt das Gewebe, stößt einen schwarzen Ring vor sich her, wuchert weiter, greift auf den blaugoldenen Bezug der alten Matratze über. Vor Jahrzehnten hat sie jemand mit Roßhaar gestopft. Heller, ätzender Qualm quillt hoch… Der Mann im Bett bemerkt nichts von alldem. Robert Borkenhagen schlief so tief und fest wie immer. Kein Wunder bei diesem Rotweinrausch.
Hm… Gleichviel; das sollte drinbleiben, ebenso wie der nächste Zeitungsausschnitt, der mir gerade entgegenflattert. Ein Artikel aus dem Tagesspiegel, bei dem mir, als ich ihn morgens am Frühstückstisch las, der Bissen in der Kehle steckenblieb.
ICH BIN ES GEWESEN, HERR KOMMISSAR! Sensationelle Wende im Mordfall Nedomanski Stiefbruder legt Geständnis ab Der mysteriöse Mord an dem bekannten Arzneimittelhersteller Max Nedomanski ist aufgeklärt. Sein Stiefbruder, der 61 Jahre alte Apotheker Walter Nedomanski, hat in den späten Abendstunden ein umfassendes Geständnis abgelegt. Nach seinen Angaben ist er am Mordabend in das Schlafzimmer des Opfers eingedrungen, um dort dessen Testament zu suchen und zu vernichten. Wie berichtet war Max Nedomanski vorher nach einer Herzattacke zusammengebrochen, und der Arzt hatte ihm Bettruhe verordnet. Walter Nedomanski gab zu, seinen Stiefbruder mit Hilfe eines Kopfkissens erstickt zu haben, als dieser ihn daran hindern wollte, das fragliche Testament aus dem Safe zu nehmen. Sein Motiv ist klar: Wie das inzwischen aufgefundene Testament zeigt, sollte Walter Nedomanski enterbt werden. Nach dem geltenden Erbrecht hätte ihm nicht einmal ein Pflichtteil zugestanden. Hätte man jedoch nach dem Tode seines Stiefbruders kein Testament gefunden, wären ihm etwa 5 Millionen an Geld- und Sachwerten zugefallen. Der nach einer aufregenden Verfolgungsjagd am Sonnabend in der Yorckstraße festgenommene Gelegenheitsarbeiter Manfred Raabe, gegen den sich der Verdacht ursprünglich gerichtet hatte, kommt nach Ansicht der Kriminalpolizei auf keinen Fall mehr für die Tat in Frage. Er bleibt aber wegen des Einbruchs in die Villa in der Badenallee weiterhin in Haft.
Lieber Gott, ja… Ich weiß noch, wie mir zumute war, als ich das las. Ich war bestürzt, denn ich hatte Walter Nedomanskis überraschende Inhaftierung noch immer für einen Irrtum
meines Freundes Mannhardt gehalten. Und wenn Walter wirklich nach dem Testament gesucht hatte – das bewies noch gar nichts, denn zumindest Raabe hatte ebenfalls in Nedomanskis Schlafzimmer herumgestöbert. Und nun dieses Geständnis… Sollte er – sensibel und wohl auch manischdepressiv, wie er war – ein falsches Geständnis abgelegt haben, um endlich seine Ruhe vor den quälenden Fragen der Beamten zu haben? Vor Gericht zählt ja manchmal ein bei der Kripo abgelegtes Geständnis nicht allzuviel. Widerrufen kann man immer noch. Zuzutrauen war es ihm… Oder hatte er, fern aller taktischen und momentanen Erwägungen, ganz einfach resigniert? Hatte er sich in sein Schicksal gefügt und sich der Welt ergeben, die ihn ein Leben lang gepiesackt, gequält und vergewaltigt hatte? Auch das war eine Möglichkeit… Wollte er, indem er sich als Unschuldiger verurteilen ließ, vor sich selbst die innere Größe gewinnen, nach der er wahrscheinlich zeitlebens gestrebt hatte? Bei diesem Typ ist alles möglich… Oder versuchte er, sich ernsthaft einzureden, den Mord tatsächlich begangen zu haben, nur um den Rausch auszukosten, den großen (archetypischen) Peiniger eigenhändig vernichtet zu haben? Dann konnte er womöglich doch der Täter sein… Ich versuchte mehrmals, Borkenhagen in der Bibliothek zu erreichen, um mit ihm die aufgetauchten Möglichkeiten abzuwägen, aber jedesmal sagte man mir, er sei nicht da. Oberkommissar Mannhardt, den ich nach einiger Mühe an den Apparat bekommen konnte, bestätigte mir das, was ich aus der Zeitung wußte. Für ihn gebe es keine Zweifel mehr – Walter Nedomanski sei der Täter; Raabes Aussagen und die gefundenen Fingerabdrücke sicherten das Geständnis nach allen Seiten ab. Ich ließ nicht einen Augenblick lang durchblicken, daß ich trotz allem seine Meinung ganz und gar nicht teilte, sondern machte mich ohne viel Aufhebens auf den
Weg, um den Besitzer der bei Guido gefundenen Theaterkarte zu ermitteln. Das war einfach genug, wie meine Notizen auch zeigen.
Wer von unseren Verdächtigen hatte sich am Abend des 3. Januar zum Theaterbesuch verleiten lassen? Vor mir lag die orangefarbene Eintrittskarte, die ich unter Guidos Ruhestatt gefunden hatte. Eine Theaterkarte wie tausend andere auch. Gedruckt bei Stange in Berlin 61. Für verfall. Kart, kein Ersatz. Nein, verfallen war sie offenbar nicht, denn der rechte Kontrollabschnitt fehlte. Aber wie um alles in der Welt sollte ich nun herausbekommen, wer mit eben dieser Karte am 3. Januar abends Einlaß ins Schiller-Theater gefunden hatte? Ich brütete vor mich hin. Kein Einfall weit und breit. Der Streß ließ mich kribbelig werden. Zorn packte mich. Ich fegte meinen Zettelkasten vom Tisch. Er hatte mich so dämlich angeglotzt. Das Auflesen der weit im Zimmer verstreuten Zettel beruhigte mich so einigermaßen. Ich genehmigte mir einen Whisky. Aber die orangefarbene Theaterkarte blieb stumm. Sollte ich nicht besser zu Mannhardt gehen und das Denken seinen Geistesakrobaten überlassen? Nein. Das konnte ich immer noch. Ich sagte meiner Sekretärin, daß ich in den nächsten sechzig Minuten nicht zu sprechen sei: dann legte ich die Karte vor mich auf den Schreibtisch, stützte die Ellbogen auf und die Stirn in die Hände und glotzte die Karte an. Fünf Minuten vergingen. Zehn Minuten. Dann zündete es bei mir! Ich bemerkte nämlich, daß die Karte auf dem linken Kontrollabschnitt einen von oben nach unten laufenden, etwa
fünf Millimeter breiten Streifen trug, der aus regelmäßig angeordneten Erhöhungen und Vertiefungen im Papier bestand – eine, könnte man sagen, waschbrettartige Prägung. Und das ließ darauf schließen, daß diese Karte von der Freien Volksbühne Berlin ausgegeben worden war! Ich schlug mir mit der flachen Hand an die Stirn. Da ich früher einmal selbst Mitglied war, hätte mir das auch eher einfallen können! In Berlin war meines Wissens folgende Prozedur verbindlich: Als eingeschriebenes Mitglied der FVB hatte man im Jahr zehn Vorstellungen zu besuchen, wobei einem das Theater und der Termin der Vorstellung jeweils auf dem Streifband des regelmäßig zugeschickten Mitteilungsblattes bekannt gemacht würden. Man hatte dann einige Zeit vor seiner Vorstellung die zuständige Annahmestelle – meist einen Tabakwarenladen – aufzusuchen und sich dort nach Entrichtung seines Beitrags die Gutscheine für die zugeteilte Vorstellung abzuholen. Mit Hilfe dieses Gutscheins konnte man sich dann im Foyer des Theaters aus aufgestellten Trommeln seine Karte bzw. zwei oder drei zusammenhängende Karten ziehen, hatte also die Chance, Plätze von der ersten bis fast zur letzten Reihe zu erhalten. Um nun dieses Lotterieverfahren gerecht abzuwickeln, wurden die Karten in der Mitte geknifft und mit Hilfe einer speziellen Zange an den Enden zusammengefügt – die bedruckte Seite natürlich nach innen. Bedienstete der FVB rissen einem dann, wenn man gezogen hatte, die Karten wieder auseinander. So konnte ich sicher sein, daß die orangefarbene Karte auf meinem Schreibtisch aus den Beständen der Freien Volksbühne stammte. Das weitere war einfach genug. Ich nahm die Karte, kaufte einen großen Kasten Konfekt und fuhr zur Verwaltung der FVB hinüber. Mit Hilfe der Süßigkeiten milde gestimmt, akzeptierte eine nette Sachbearbeiterin meinen Wunsch, bestimmte Nachforschungen anzustellen. Ich überreichte ihr
einen Zettel mit den Namen: Walter Nedomanski, Robert Borkenhagen, Dieter Dreyer, Guido Winkler, Martina Dahms, Maria Nedomanski und Max Nedomanski und den dazugehörigen Anschriften. „Könnten Sie vielleicht schnell mal nachsehen, ob eine dieser Personen am 3. Januar abends für eine Pflichtvorstellung im Schiller-Theater eingeteilt war?“ „Das wird ein Weilchen dauern“, sagte sie, nicht gerade begeistert. „Na schön…“ Ein Blick auf die Pralinen: „Meinetwegen.“ Sie wollte schon zu ihren Karteikästen hinübergehen, stoppte aber noch einmal ab. „Viele Leute verschenken aber auch ihre Karten“, gab sie zu bedenken. „Aber Kindchen – ich will doch nur wissen, ob die Namen da auf der Liste auch auf Ihren Karteikarten stehen.“ „Diese Personen können aber trotzdem mit einer geschenkten Karte im Theater gewesen sein – oder mit einer, die sie einem Mitglied abgekauft haben…“ Ich stöhnte. „Natürlich! Sie können sie auch gefunden haben. Selber drucken wird sich ja keiner eine!“ „Ich will bloß sagen…“ „… daß meine Aktien ziemlich schlecht stehen – ich weiß!“ „Bei uns zu Hause sind meine Eltern Mitglieder, aber sie lassen mich immer mit meinem Verlobten gehen.“ „Bestellen Sie ihm bitte, daß ich ihn darum beneide.“ Sie errötete und machte sich an die Arbeit.
Vier Uhr durch… Uff! Gleich weiter im Text: Die letzten Blätter, die Borkenhagen beschrieben hat.
Durch das Bullauge schimmert es rötlich. Ätzender Rauch dringt in die kleine Kabine. Durch die Gänge rasen die
Flammen. Das Schiff ist ein Feuerball. Er reißt das Bullauge auf. Gott sei Dank – Luft! Er kann wieder atmen. Unter ihm das rettende Wasser. Er zwängt den Kopf und die linke Schulter durch die enge Öffnung – dann bleibt er stecken. Sosehr er sich in seiner Todesangst auch müht, er kommt nicht hinaus. Rauch droht ihn zu ersticken; Flammen lecken nach ihm. Er schreit und schreit… Martina beugte sich über ihn, richtete ihn auf, küßte ihn. „Ist ja gut, Robert – ist doch schon gut! Du bist doch bei mir hier – hier brennt es nicht.“ „Danke, Tini, danke… In Martinas Obdachlosenasyl kann man’s schon aushalten.“ Er gähnte, mußte wieder husten; dann: „Wo kommst du eigentlich her?“ „Ich habe Mittagspause, wenn du gestattest.“ „Was – so spät ist es schon?“ „Genau ein Uhr!“ „Mensch, da hab ich ja fünf Stunden geschlafen!“ „Hast du; los, scher dich ins Bad!“ Sie zog ihn hoch und schob ihn unter die Dusche. Als dann das laue Wasser über seinen Körper rann, durchlebte er die letzten Stunden noch einmal. Die brennende Laube an der Olympischen Brücke. Drei Uhr morgens. Er ist schon halb erstickt, als ihn der Nachbar ins Freie zieht. Der schöne Waldemar, ein alter Mann mit einer schwachen Blase. Sie alarmieren die Feuerwehr. Als sie endlich kommt, ist nicht mehr viel übrig von der Laube. Immerhin kann ein Brandmeister noch die Brandursache feststellen: eine brennende Zigarette. Die große Frage: Ist er mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen oder hat ihm jemand eine brennende Zigarette von draußen auf das Bett geworfen? Der schöne Waldemar behauptet, kurz vor drei verdächtige Geräusche gehört zu haben. Die Kripo ermittelt – was will sie schon ermitteln? Er ist dann einfach zu Tina gefahren. Die
wollte gerade ins Büro gehen und hat ihm gleich ihr Bett überlassen. Jetzt fragt sie: „Bist du endlich fertig? Ich muß gleich wieder ins Büro.“ Borkenhagen kam aus dem Bad. Er fühlte sich wie neugeboren. Als er ins Zimmer trat, sah er Tina in knappen, durchbrochenen Höschen und einem weißen BH. „Moment – ich zieh mich gerade um…“ Borkenhagen machte Anstalten, die Situation auszunutzen, aber Tina ließ sich auf nichts ein. „Laß das! Ich muß wieder ins Büro, sag ich dir doch…Jetzt, wo die beiden Nedomanskis nicht mehr da sind, kommen sie alle zu mir gerannt.“ Er ließ sie los und setzte sich aufs Bett. „Na schön – schließlich will ich nicht Nedomanskis Konkursvergewaltiger sein!“ „So ist’s brav… Essen steht im Kühlschrank…“ „Ich denke, das liegt in Nordrhein-Westfalen?“ „… Bier auch – sag mal, du hast wohl deinen witzigen Tag heute? Na, egal; ich muß wieder los. Der Chauffeur wartet. Bis später!“ Sie rannte aus der Tür. Borkenhagen trat ans Fenster und sah zu, wie sie in den schwarzen Firmen-Mercedes stieg und davonfuhr. Seufzend zog er sich an, aß schnell einen Happen und rief dann die Kripo an. Aber man wußte noch nichts – die Untersuchungen im Labor seien noch nicht abgeschlossen. Dann versuchte er seinen großen Mentor zu erreichen, aber die Sekretärin in der Illustrierten-Redaktion konnte ihm lediglich versichern, daß der Herr Doktor nicht im Hause sei. Ein neuer Hustenanfall packte ihn – er hatte wohl doch mehr Rauch abgekriegt, als er zuerst gedacht hatte – , und als er sein Taschentuch aus der Hosentasche zog, segelte ein kleiner weißer Zettel zu Boden. Er hob ihn auf und entdeckte in seiner
krakeligen Schrift den Satz: … Sie sind doch Experte, Herr Schumann; das mit dem Bild könnte doch eine große Sache werden… Er mußte das wohl in der vergangenen Nacht kurz vor dem Einschlafen gekritzelt haben. So recht konnte er sich nicht mehr daran erinnern – der Rotwein! – , aber das war ja wohl die einzige Möglichkeit, die es gab. Da er mit dem Anzug ins Bett gestiegen war, hatten Anzug und Zettel überlebt. Obwohl Tina das gute Stück zum Lüften auf den Balkon gehängt hatte, roch der Stoff noch immer ekelerregend nach verbranntem Bettzeug. Aber einen anderen Ausweg hatte er nicht – seine sämtlichen Habseligkeiten waren ja verbrannt. Seine Wäsche, seine Bücher, sein Radio – er hätte heulen können. Blieb ihm nur der Canossagang zu seinem fernen Vater. Er verdrängte den Gedanken erfolgreich und konzentrierte sich auf näherliegendes: auf Max Nedomanski. Er rief sich die Szene ins Bewußtsein, an die er sich bei Dreyer plötzlich wieder erinnert hatte; unklar, verschwommen zunächst. Jetzt sieht er sie wieder in allen Einzelheiten vor sich. Sie reden hin und her. Sie trinken viel, einen Weinbrand, der so mies ist, daß er sich wundert, weil er bei Nedomanski Besseres erwartet hatte. Nedomanski beginnt einen großen, ziemlich unklaren Monolog. Borkenhagen langweilt sich; er steht auf, entschuldigt sich, wobei er Schwierigkeiten mit den Konsonanten hat, und sucht die Toilette auf. Er merkt, daß er taumelt. Draußen hält er lange den Kopf unter den kalten Wasserstrahl; er fühlt sich ein wenig besser. Er geht zu dem Raum zurück, in dem sie gesessen hatten, und kommt an Nedomanskis Arbeitszimmer vorbei. Die Tür ist nur angelehnt. Nedomanski telefoniert, lallt etwas; Borkenhagen versteht nur den einen Satz: Sie sind doch Experte, Herr Schumann, das mit dem Bild könnte doch eine große Sache werden… Er widersteht dem Drang, stehenzubleiben und zuzuhören; was
gehen ihn auch Nedomanskis dunkle oder halbdunkle Geschäfte an? Er setzt sich in seinen Sessel und wartet auf Nedomanski, der auch bald zurückkommt, offenbar, wenn er sich recht erinnert, ein wenig verärgert… Ja, so mußte es gewesen sein. Borkenhagen nickte unwillkürlich. Bei Dreyer gestern war dann die Erinnerung an diese Episode plötzlich wieder dagewesen – vielleicht, weil so viel von Bildern die Rede war und weil sie viel von einem ähnlich miesen Weinbrand getrunken hatten, das mochte Assoziationen ausgelöst haben. Wie auch immer: Dreyer hatte Bilder. Dreyer hatte mit Nedomanski zu tun. Nedomanski telefonierte mitten in der Nacht mit einem Herrn Schumann wegen eines Bildes… Bestand da ein Zusammenhang? Borkenhagen zögerte. Das Ganze kam ihm ziemlich unwahrscheinlich vor. Aber konnte er es sich leisten, eine mögliche Spur außer acht zu lassen? Er fand, daß die Sache einen Versuch wert sei. Er ging zu Tinas weißem Telefon und rief Maria Nedomanski an. „Ja, hallo…?“ Die gurrende Stimme; sie war selbst am Apparat. „Verzeihen Sie die Störung, gnädige Frau; hier ist Robert Borkenhagen.“ „Was gibt es, Herr Dr. Hartmann?“ Die Stimme klang kühl, herablassend. Er kratzte sich am Hinterkopf und zog eine Grimasse. „Sie wissen doch, daß mich die Illustrierten-Redaktion zum Hilfssheriff gemacht hat…“ „Ja, das weiß ich.“ „Und ich hätte da – wenn’s recht ist – zwei Fragen…“ „Es ist recht.“ „Hat Ihr Mann zufällig einen Kunsthändler gekannt?“ „Nicht daß ich wüßte.“
„Schade. Aber vielleicht gibt es in seinem Bekanntenkreis einen Mann namens Schumann?“ „Nicht daß ich wüßte.“ „Darf ich noch eine dritte Frage stellen?“ „Bitte.“ „Hat sich Ihr Mann mit Kunst beschäftigt, mit Malern, mit Gemälden?“ „Ja, gelegentlich. Im allgemeinen wohl weniger mit den Malern als mit ihren Modellen… Aber für Malerei hat er sich auch interessiert. Ich glaube, er hat auch aus diesen Kreisen damals den Tip bekommen, als unser jetziges Haus zum Verkauf stand – genau weiß ich es nicht; damals war er ja noch mit seiner ersten Frau… Jedenfalls hat das Haus einem Professor Schierbaum gehört; er hatte hier so eine Art Galerie. Er soll eine ziemlich große Sammlung besessen haben. Irgendwie hat er dann wohl bei den Nazis quergelegen – seine Sammlung haben sie beschlagnahmt, glaube ich, und er ist wohl im KZ umgekommen. Max hat dann das Haus gekauft… Soviel zum Thema Max Nedomanski und die Kunst. Um das Gerümpel, das noch aus Schierbaums Zeiten irgendwo im Keller liegt, hat er sich nie gekümmert… Sagen Sie mal, was hat denn das alles mit dem… mit dem Mord zu tun?“ „Wahrscheinlich gar nichts, gnädige Frau. Nur so – Background.“ „Ich verstehe… Sie halten mich aber auf dem laufenden, ja?“ „Gewiß, gnädige Frau. Und vielen Dank auch!“ Er legte auf. Da war also nichts zu holen gewesen. Er ging zu Tinas Hausbar hinüber und stärkte sich mit einem Whisky, mit dem Whisky, den Nedomanski übriggelassen hatte. Auf dem Nachtschrank lag eine halbvolle Schachtel NEDO-Med. Er schluckte zwei der weißen Tabletten. Wenn’s schlecht dir geht, nimm NEDO-Med… Plötzlich ging’s ihm schlecht.
„Das ist doch ein Windei, Mann!“ sagte er laut zu sich selbst. „Du spinnst doch!“ Dann suchte er das Branchentelefonbuch und begann zu blättern. Aber es gab offensichtlich in ganz Berlin niemand, der mit Bildern zu tun hatte und Schumann – oder Schuhmann, mit h – hieß. Auch bei den Antiquitätenhändlern hatte er Pech. Und im Telefonbuch standen schätzungsweise zweihundert Leute, die auf den Namen Schumann hörten; die Schuhmanns, mit h, waren etwas seltener. Hätte der alte Narr nicht auch einen Herrn Kackstein anrufen können, oder einen Herrn Bosetzke – davon gab’s bestimmt nicht so viele… Scheißspiel. Er begann bei den Schuhmanns mit h; dann rief er einen Schumann – ohne h – nach dem anderen an, immer schön der Reihe nach. Und jedesmal leierte er den gleichen Vers herunter: Sind Sie zufällig Kunsthändler? Kennen Sie zufällig einen Herrn Max Nedomanski? Nein? Dann entschuldigen Sie bitte… Waren Frauen am Apparat, so sagte er: Sagen Sie, Frau Schumann, könnte ich vielleicht Ihren Mann sprechen? Hatte sie einen und war er zu Hause, kam der erste Vers in entsprechender Variation. Es war ein verteufelt monotones Spiel. Auf zehn mürrische Gesprächspartner kam nur ein witziger. Aber niemand war Kunstexperte oder -händler, niemand kannte Nedomanski – außer aus der Zeitung. Nach reichlich anderthalb Stunden und dem 50. Anruf wollte er die Flinte ins Korn werfen; es war zu blöd. Aber dann zwang er sich doch, weiterzumachen. Und er hatte Glück. Der 89. Anruf war ein Volltreffer. Es meldete sich das Vorzimmer des Kunsthändlers Henry Schumann (ohne h). „Einen Augenblick bitte, Herr Schumann ist gerade aus Paris zurückgekommen…“ Es stellte sich heraus, daß Schumann aus irgendwelchen Gründen mit voller Absicht ohne Berufsangabe im
Telefonbuch stand, daß er längere Zeit an der Seine verbracht und infolgedessen keine Ahnung von dem Mord in der Badenallee hatte. Er war schockiert. „Max war ein guter Bekannter von mir! Immer fröhlich, immer vital – und nun das! Ich kann es noch gar nicht fassen!“ „Wann haben Sie ihn denn zuletzt gesprochen?“ „Also, das war…“ Schumann überlegte. „Kurz vor… vor dem Mord muß das gewesen sein, nach dem, was Sie mir da sagen. Er hat mich mitten in der Nacht angerufen…“ „Und? Was wollte er, mitten in der Nacht?“ Schumann lachte. „Er war angetrunken. Er hat sich einen kleinen Scherz mit mir erlaubt.“ „Wieso?“ „Er wollte, daß ich gleich mal bei ihm vorbeikäme – er hätte einen echten van Gogh im Keller stehen… Köstlich, was? Aber so war er eben. Echt Max Nedomanski!“ Borkenhagen beherrschte sich mühsam und brachte so etwas wie ein Lachen zustande. „Ach, so ist das also! Naja – Spaß muß sein bei der…“ Leiche, hatte er sagen wollen und konnte es gerade noch runterschlucken. Hastig fuhr er fort: „Da ich Sie gerade an der Strippe habe, Herr Schumann – kommt es denn heutzutage noch öfter vor, daß irgendwo wertvolle Gemälde auftauchen…?“ Schumann gab sich jovial. „Aber sicher!“ Er war offenbar Elsässer; er sprach mit alemannischem, leicht französisch eingefärbtem Akzent. „Sieben Mark hat ein englischer Friseur neulich bei einem Trödler für ein Bild bezahlt, das sich dann als echter Goya entpuppt hat – Wert 500 000 Mark. Soviel hat auch ein Tintoretto eingebracht, den ein Londoner auf seinem Dachboden gefunden hat.“ „Das sind ja stolze Summen!“
„Kann man wohl sagen… Apropos van Gogh – neulich hat ein 1886 gemaltes Stilleben mit Blumen von ihm bei Sotheby sage und schreibe 90 000 Pfund erzielt – da hätte mein Freund Max ganz schön was zum Investieren gehabt!“ „Ganz gewiß…“ Borkenhagen wußte nun, was er wissen wollte. „Herzlichen Dank, Herr Schumann!“ „Bitte sehr, gern geschehen!“ Borkenhagen legte auf. Er schrieb schnell noch einen kleinen Liebesbrief an Martina, dann fuhr er hinaus zur Badenallee. Martina hin, Martina her – ganz gut, daß er sich ein bißchen um Ina, das Nedomanskische Kammerkätzchen, gekümmert hatte… Man soll eben nichts anbrennen lassen. Auf sein Klingeln hin erschien Ina in der Tür, knickste wie im Heimatfilm und sagte, gewollt lispelnd: „Die gnädige Frau ist leider ausgegangen…“ „Das macht nichts. Ich möchte nur einmal das alte Gerümpel im Kohlenkeller ansehen.“ „Im Kohlen… Bist du Lumpensammler geworden?“ „Vor allem sammle ich tränenfeuchte Schürzen.“ „Idiot… Wenn nicht das Haus voller Handwerker wäre, würde ich dich gar nicht reinlassen.“ „Nett von dir, daß ich rein darf!“ „Ich hab’s aufgegeben. Bei dir kommt man einfach nicht dahinter, was du willst und warum du’s willst… Komm!“ „Also, was dich betrifft, sind meine Absichten völlig eindeutig!“ Ina kicherte und führte ihn erwartungsvoll in den Keller, aber Borkenhagen hatte Martina im Kopf, und außerdem lärmte im Nebenraum ein Rohrleger. Ina zog enttäuscht von dannen. Die nächste Stunde verbrachte Borkenhagen als Archäologe. Von Staubwolken eingehüllt, wühlte er im jahrzehntealten Gerümpel herum. Da gab es alte Kinderwagen, Rodelschlitten, Weihnachtskerzen, Schlittschuhe und
Modelleisenbahnbrücken, alte Stühle, Tische, ein Vertiko, Klingelzüge, ein Umbausofa und einen Einmachkessel, Spazierstöcke, Sonnenschirme, Stiefelknechte, Brennscheren, Gamaschen, einen Inhalationsapparat, einen Spucknapf und zwei schlechte Aquarelle, den Müggelsee bei Rahnsdorf und das Eierhäuschen in Treptow darstellend – doch keine Spur von einem Gemälde, das auch nur entfernt van Goghverdächtig gewesen wäre. Trotzdem hatte Borkenhagen gute Laune, als er sich oben von Ina abbürsten ließ. Die Spur war heiß. Er wußte, was zu tun war. Soweit Borkenhagen selber. Er tritt zwar auch noch in der nächsten Szene auf, doch da wird er von mir beschrieben. Er hat mir erzählt, was sich zunächst begab.
Dreyer, Berlin-Wittenau, Tessenowstraße 102 – Borkenhagen hatte sich die neue Adresse auf einem alten Lottoschein notiert. Ein Blick auf den Stadtplan – dann fuhr er in seinem weinroten R 4 los. Bald darauf – es war kurz vor 17 Uhr – hielt er vor dem Einfamilienhaus, das Dieter (,Dieterle’) Dreyer als Erbteil zugefallen war. Ein weiß getünchter Würfel mit zwei Giebeln und einem roten Ziegeldach, erbaut Anno 1929, wie auf der Fassade zu lesen war, doch gut erhalten. Am Holzzaun schon das neue Schild: DIETER DREYER. Borkenhagen klingelte. Es vergingen zehn, fünfzehn Sekunden, dann öffnete Dreyer. Er trug einen schicken beigefarbenen Anzug. „Ja?“ Es klang wie: Scheren Sie sich zum Teufel! „Nanu – so festlich?“ fragte Borkenhagen. „Wollen Sie sich fotografieren lassen?“ „Ich bin gerade aus der Stadt gekommen.“ „Ich störe doch nicht?“ „Eh… nein.“
„Sie haben gesagt, ich könnte mir mal Ihre Kopien ansehen – das heißt, die Kopien Ihres Großvaters…“ „Ja.“ „Also dann – hier bin ich… Oder hat Ihnen schon jemand Ihre ganze Galerie abgekauft?“ „Nein, nein.“ Dreyer schüttelte den Kopf. „Ich muß mir nämlich ‘ne neue Sammlung zulegen – meine Laube ist abgebrannt, und alle meine Drucke mit.“ „Abgebrannt?“ „Abgebrannt“, bestätigte Borkenhagen fröhlich. „Abgebrannt, so… Na, dann schauen Sie sich mal um. Steht alles oben im Atelier.“ Dreyer schien sich mit dem Besuch abgefunden zu haben. Er ließ Borkenhagen eintreten und wies ihm den Weg zu einer steilen Wendeltreppe, die ins oberste Stockwerk führte. In der dunklen Diele hingen Hirschgeweihe, zerschossene Königsscheiben und alte Landkarten. Borkenhagens Haare streiften einen ausgestopften Bussard. Dreyer ging dicht hinter ihm. Sie kamen auf einen geräumigen Dachboden, der mit Hilfe dreier großer Luken und eines weithin verglasten hinteren Giebels in ein brauchbares Atelier verwandelt worden war. Eine alte Staffelei stand da; Pinsel, Tuben und Paletten lagen umher; alles ein wenig vergammelt. Und Bilder. Viele, viele Bilder; Leinwände, in unterschiedlicher Technik und Manier mit Ölfarbe bemalt, zumeist auf Keilrahmen, einige gerahmt. Es roch nach Terpentin und Firnis. „Das meiste sind Kopien“, sagte Dreyer. „Es sind aber auch Originale von Berliner Malern bei. Das waren mal Freunde von meinem Opa – die meisten kennt heute kein Aas mehr.“ Borkenhagen lehnte das erste Gemälde, eine Havellandschaft von einem gewissen G. Breitbarth, gegen sein rechtes Knie und klappte langsam die folgenden nacheinander nach vorn.
Dreyer nahm einen Schnellhefter vom Stuhl und schlug ihn auf. „Mein Großvater war ein großer Korinthenkacker; er hat alles numeriert und Maler und Titel hier aufgeschrieben… Die meisten Kopien hat er selber gemacht.“ „Nummer 37?“ Dreyer suchte einen Augenblick. „Hier: Claude Monet, Terrasse in… kann ich nicht lesen; selbst kopiert 1967 im Metropolitan Museum, New York.“ Er sprach alles so aus, wie es dastand. „Das gefällt mir schon mal. Und das hier – Nummer 22?“ „Moment mal… Kokoschka, Frauenbildnis 1965 in der Tate Gallery, London, kopiert… Der Alte hatte ‘ne Macke, was? In aller Welt ist er rumgereist, um den Mist da abzumalen, aber zu Weihnachten hat er mir nicht mal ‘n Fahrrad geschenkt… Was wollen Sie denn so lockermachen, wenn ich mal fragen darf?“ „Na, so 200, 300 Mark vielleicht.“ Dreyer musterte ihn mißtrauisch. „So viel?“ „Hmhm. Ich hab ja von der Illustrierten ganz schön was gekriegt.“ „Ach so, ja… Na, Sie können ja noch ein bißchen suchen.“ Borkenhagen suchte weiter. Er stellte die bereits besichtigten Bilder weg; er entdeckte immer neue Stapel. Er fand Degas’ Zwei Tänzerinnen mit Fächer, einen Blumenstrauß von Cezanne, von Gauguin eine Südsee-Szene, Maori-Frau mit Hund, und ein Kinderbildnis von Renoir. Etwas versteckt in einer Nische stieß er auf eine Nolde-Variante, ein Gemälde, das offensichtlich aus Motiven und Ausschnitten echter Bilder zusammengestellt worden war; ferner war da eine schlechte van Gogh-Kopie – nach Dreyers Auskunft der Briefträger Roulin – , eine Kopie von Renoirs Die Brücke der Künste, die nicht von Dreyers Großvater stammte, aber auch ganz gewiß nicht von Renoir, und noch verschiedenes mehr. Dreyer nannte
Namen wie Picasso, Chagall, Rembrandt, Frans Hals, Ferdinand Bols, Watteau, Liebermann und Menzel – der fleißige Großvater hatte wirklich alles kopiert, was ihm in die Hände fiel. „Immer noch nichts gefunden?“ fragte Dreyer und sah auf die Uhr. Borkenhagen hob die Schultern. „Wer die Wahl hat, hat die Qual!“ Und dann stieß er auf ein Gemälde, das seinem Aufbau und seiner Handschrift nach nur von einem Maler stammen konnte – von Vincent van Gogh. Und richtig, oben in der linken Ecke des Bildes konnte man ganz deutlich die Signatur Vincent erkennen. Die bemalte Leinwand war auf einen groben Keilrahmen gespannt und maß vielleicht einen halben Meter im Quadrat. Vor einer Reihe fugenlos aneinandergefügter japanischer Holzschnitte, die den Fudschijama, ein verschneites Dorf, einen blühenden Kirschbaum und eine hochgewachsene Frau im bunten Kimono zeigten, sah man den schmalen Kopf eines Mädchens, fast jadegrün das Gesicht, tiefschwarz das Haar und maisgelb die Bluse. Borkenhagen hob das Bild vom Boden hoch, besah es aufmerksam und stellte es dann behutsam auf die Staffelei, um es aus etwa fünf Meter Entfernung zu betrachten. Dreyer stand an der Treppe und zog an einer filterlosen Zigarette. Nach Sekunden absoluter Stille rief Borkenhagen plötzlich: „Das gefällt mir! Das nehme ich.“ Dreyer drückte seine Zigarette aus. „Das geht schlecht… Ich weiß ja gar nicht, was das Dings wert ist. Der Kunsthändler, den ich angerufen habe, kommt erst heute abend.“ „Ach was! Ich zahle Ihnen 200 Mark an, den Rest kriegen Sie später.“ Dreyer kaute an der Kuppe seines rechten Daumens. „Da war schon ein Freund von mir hier, der’s haben will.“
„Ach, nun seien Sie mal nicht so! Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß – wer zuerst kommt…“ „Eigentlich… Also, am liebsten möcht’ ich’s selber behalten… Da sind doch andere Kopien bei, die viel besser sind. Nehmen Sie doch die Brücke da… von… von…“ „Renoir?“ „Ja, von Renoir. Die laß ich Ihnen für 300 Mark…“ „Wissen Sie, ich hab was gegen Renoir. Ich mag van Gogh lieber.“ „Ja, aber… Nee. Den geb ich nicht weg!“ „Sagen wir… Sagen wir, 500 Mark. Die Hälfte heute, den Rest morgen. Ich geh gleich zur Redaktion und hol mir mein restliches Geld… Na – ist das ein Angebot?“ „Tut mir leid.“ Dreyer schüttelte den Kopf. „Da wird nichts draus.“ Borkenhagen zog seine Brieftasche und suchte zwei HundertMark-Scheine und einen Fünfziger heraus. Er wedelte damit wie mit einem Fächer und legte das Geld mit einer schnellen Bewegung auf ein kleines Regal. Dann nahm er das Bild von der Staffelei und klemmte es unter den Arm. „Heh…!“ Dreyer baute sich etwas breitbeinig vor ihm auf: „Laß das stehn!“ „Komm – mach mal Platz!“ Borkenhagen stieß ihn mit dem linken Arm zur Seite. Er war einen Kopf größer als Dreyer und, obschon schlank, 30 Pfund schwerer. Dreyer gab den Weg frei. „Na also!“ Borkenhagen grinste. Vorsichtig balancierend, stieg er die steile Treppe hinab. „Wo geht’s denn hier auf die Straße raus?“ „Hier geht’s überhaupt nicht mehr raus.“ Borkenhagen fuhr herum. Dreyer hielt plötzlich eine Pistole in der Hand. „Stehenbleiben!“
Borkenhagen glich sekundenlang einer schlecht gestellten Schaufensterpuppe. In seinem Gesicht war ein leeres Lächeln fixiert. Endlich kniff er die Augen zusammen. „Aha…“ sagte er schleppend. „Was – aha?“ fragte Dreyer. Von der Mündung der Waffe bis zu Borkenhagens Hosenbund waren es vielleicht 180 Zentimeter. „Das Bild ist also echt?“ „Erraten!“ Dreyer grinste. „Darum also…“ „Darum was?“ „Darum mußte Nedomanski sterben.“ „Wieso?“ „Hier hinten auf dem Keilrahmen – “ Borkenhagen drehte das Gemälde langsam herum – „sitzt ein kleiner Stempel, kaum noch zu erkennen: Sammlung Professor Schierbaum.“ „Na und?“ „Das war der Mann, der vor Nedomanski das Haus in der Badenallee bewohnt hat. Er ist von den Nazis verhaftet worden, ziemlich plötzlich. Er hat gerade noch Zeit gehabt, sein wertvollstes Gemälde im Keller zu verstecken. Und da hat es bald dreißig Jahre gelegen – bis Nedomanski endlich mal den alten Kohlenkeller ausräumen wollte. Bei seinem schlechten Gewissen – er ist ja sicher so ‘n bißchen außerhalb der Legalität an das Haus gekommen – hat er sich vorher nicht rangetraut… Stimmt, nicht wahr?“ Dreyer fand in der Seitentasche seines Anzugs ein Pfefferminzplättchen und steckte es in den Mund. „Sind Sie Hellseher?“ „Nein; bloß ‘n halbwegs intelligenter Mensch.“ Borkenhagen wechselte das Standbein. „Kannste nich mal deine Kanone wegstecken?“ Er berlinerte plötzlich. „Sicher ist sicher.“
„Das ohne Zweifel… Haste wohl auch gedacht, als de den alten Nedomanski umgelegt hast, was?“ „Den alten… Wer – ich? Mann, du hast ja ‘ne Meise! Denkste, der Walter hat ‘n Geständnis abgelegt, wenn er’s gar nich war?“ „Ja, das denke ich.“ „Das wird dir nich viel nützen!“ Dreyer lachte auf. „Und dir wird das Bild nich viel nützen“, gab Borkenhagen zurück. „Den Stempel mach ich weg…“ „Ich geh trotzdem zur Polizei und erzähl denen, woher dein van Gogh kommt!“ „Dazu wirste keine Gelegenheit mehr haben…“ Dreyer stützte sich mit dem linken Arm auf die Klinke an der Badezimmertür. „Gib doch zu, daß du Nedomanski ermordet hast.“ „Hab ich nich! Ich hatte auch gar keinen Grund dazu, Mensch!“ Borkenhagen zog die linke Augenbraue hoch. „Nedomanski hat dir wohl das Bild geschenkt, was?“ „Genau!“ Dreyer grinste. „Ach nee… Aber der hatte doch Ahnung von Kunst; der muß doch gleich gemerkt haben, daß…“ Er stutzte. „Ach so!“ Plötzlich hellte sich sein Gesicht wieder auf. „Klar, Mensch, daß ich da nicht gleich draufgekommen bin!“ Dreyers rechtes Augenlid begann zu zucken. „Auf was bist du nicht gekommen?“ Seine Stimme klang dünn. „Daß das Bild ‘ne Kopie ist! Oder ‘ne Fälschung… Das hat er gleich gemerkt – und darum hat er dir den Schinken geschenkt.“ „Denkste! Der ist echt… Ich hab nämlich auch die Expertise zu gefunden, denk mal an!“
„Und Nedomanski – “ – Borkenhagens Augen weiteten sich – „der Alte hat nichts davon gewußt?“ „Keine Ahnung hat er gehabt.“ „Das Bild gehört seinen Erben… Oder den Erben von diesem Schierbaum, wenn er welche hat – was weiß ich. Dir gehört es nicht, auf alle Fälle!“ „Red doch keinen Unsinn!“ „Das ist kein Unsinn. Dadurch, daß du die Expertise vorenthalten bzw. gestohlen hast, hast du auch das Bild gestohlen… Vergiß nicht, ich verstehe was von der Juristerei!“ „Das mit der Expertise weiß ja keiner.“ „Ich weiß es!“ „Das wird dir nichts mehr nützen, verstehst du?!“ Dreyer kickte einen herumliegenden Tischtennisball gegen die Kellertür. „Ein echter van Gogh ist mindestens ‘ne halbe Million Mark wert – mindestens! Und die gehört mir.“ „Noch habe ich das Bild in der Hand“, sagte Borkenhagen. „Leg’s da drüben auf den Schuhschrank, sonst knall ich dich ab!“ Borkenhagen rührte sich nicht vom Fleck. „Den Mord decken sie ganz sicher auf – und dann hast du gar nichts.“ Dreyer lachte heiser. „Und du erst recht nicht!“ Mit einem Ruck hob Borkenhagen das Bild, so daß es seinen Körper verdeckte. „Und wie willst du einen van Gogh verkaufen, der ein Schußloch hat?“ „Du stehst…“ Die Pistolenmündung wanderte nach oben. „Du stehst auf Kopfschuß, wie?“ Borkenhagen drehte das Bild so, daß es diagonal stand und die obere Ecke vor seinem Gesicht war. Er sah Dreyer nur mit dem rechten Auge. „So, dann triff mal schön… Wie gut schießt du eigentlich?“ Dreyer zögerte.
„Mann, überleg doch mal!“ sagte Borkenhagen beschwörend. „Wenn du mich umlegst, kriegen sie dich doch am Arsch! Und wenn sie dann das Bild finden, mit oder ohne Schußloch… Die sind doch nicht bekloppt, Mann! Dann hängen sie dir auch noch das Ding mit Nedomanski an – ob du’s nun warst oder nicht!“ „Ich weiß gar nicht, was du willst – Walter hat doch längst ein Geständnis abgelegt…“ „Aber er war’s nicht! Und er wird’s wieder zurücknehmen…“ Sie starrten sich an. Draußen röhrte ein Moped vorbei; dann war es wieder still. Nur eine Standuhr tickte langsam. Borkenhagen schwitzte. Schließlich ließ Dreyer die Pistole sinken. „Was schlägst du vor?“ „Kippe.“ „Wie?“ „Kippe. Halbe-halbe.“ „Du bist ja… Du hast ja ‘ne Meise hast du ja!“ „Weißt du was Besseres?“ „Allerdings…“ Dreyer kniff ein Auge zu: „Achtzigzwanzig?“ „Sechzig-vierzig.“ „Also gut: siebzig-dreißig… Aber das Bild bleibt hier – klar? Hier ist es am sichersten, mang die anderen Schinken.“ „Siebzig-dreißig; einverstanden…“ Borkenhagen legte das Bild auf den dunkel gebeizten Schuhschrank. „Na bitte – ich wußte doch, daß wir uns einig werden!“ Hoffentlich merkt er nicht, wie ich zittere, dachte er. „Das ist… Also, eigentlich ist das die reine Erpressung!“ „Na und? Das Geld reicht für uns beide.“ „Das schon…“
„Komm, jammere nicht, sei froh, daß du keinen Fehler begangen hast, der sich nicht wiedergutmachen…“ Er hielt inne. In diesem Augenblick klingelte es. „Scheiße!“ zischte Dreyer. „Pst…“ Wieder lärmte die Klingel. Borkenhagen grinste. „Vielleicht dein Kunsthändler…“ „Der geht auch wieder…“ Jemand schlug von draußen mit der Faust gegen die Tür: „He, Dreyer – machen Sie auf! Ich weiß, daß Borkenhagen bei Ihnen ist. Sein Wagen steht hier draußen…“ „Der Doc! So ‘ne Scheiße!“ Borkenhagen stampfte mit dem Fuß auf. Dreyer riß die Pistole hoch. „Abgekartetes Spiel ist das, du Schwein!“ Sein Gesicht war verzerrt. „Quatsch! Ich hab ihn nicht…“ „Wenn wir ihn nicht reinlassen, schlägt er womöglich Alarm“, sagte Dreyer. „Dann laß ihn doch rein!“ „Ich? Nee. Das machst du… Aber keine Dummheiten!“ „Ich geh ja schon…“ Borkenhagen ging zur Haustür und öffnete. „Sie haben weiß Gott Talent für dramatische Auftritte, Doc!“ sagte er.
Das erste, was ich sah, war die Pistole. „Na los, kommen Sie rein!“ knurrte Dreyer. Ich stolperte in die Diele, als müßte ich plötzlich auf einem schlaff gespannten Sprungtuch laufen. Hinter mir fiel die Tür ins Schloß. Ich blieb neben der Garderobe stehen, links von Borkenhagen. Dreyer ließ uns nicht aus den Augen. Keiner
wußte was zu sagen. Hinter Dreyer tickte eine schwere Standuhr, sonst war es still. Dann grinste Borkenhagen. „Welch widriger Wind hat Sie denn hierhergeweht?“ „Ich…“ Mir fiel das Sprechen schwer, mein Mund war ausgetrocknet. Ich wußte nicht, was sich zwischen den beiden abgespielt hatte; ich sah nur die Pistole. Immerhin schien Borkenhagen Oberwasser zu haben. So entschloß ich mich zum Angriff. Ich sagte: „Der Mann, der Guido niedergeschlagen hat, um das Buch mitzunehmen, hat sein Lesezeichen verloren: eine Theaterkarte der Freien Volksbühne. Durch einen dummen Zufall habe ich sie unter Guidos Couch gefunden. Ich bin der Sache nachgegangen: eine gewisse Elisabeth Dreyer hat seinerzeit die Karte bekommen – die Mutter unseres Freundes hier… Die hat mir auch gesagt, wo ich Sie finden kann, Herr Dreyer.“ „Gratuliere!“ sagte Dreyer. „Und was soll der Zirkus hier?“ fragte ich. Borkenhagen nahm ein Bild von einem niedrigen Schränkchen. „Kennen Sie das hier?“ Ich sah genauer hin. „Nein. Aber es sieht nach van Gogh aus.“ „Was meinen Sie, Doc, ist der echt?“ fragte Borkenhagen. „Klar is der echt!“ sagte Dreyer aggressiv. Ich wiegte den Kopf hin und her. „Ich weiß nicht so recht… Obwohl einiges dafür spricht. Aber ich bin schließlich kein Fachmann – und auch ein Fachmann könnte das nicht so auf Anhieb…“ „Ich sag doch, er ist echt!“ unterbrach mich Dreyer. „Ich hab ja die Expertise.“ „Wissen Sie auch, woher das Bild stammt?“ fragte Borkenhagen mich.
„Wenn Sie so fragen…“ Ich zögerte einen Augenblick. „Ist das Bild das Motiv für den Mord an Nedomanski?“ „Ich hab ihn nicht umgebracht!“ schrie Dreyer. „Er sagt, Nedomanski hat ihm das Bild geschenkt; er hat nicht gewußt, daß es echt ist.“ „Und die Expertise?“ fragte ich. „Die hat er später gefunden und Nedomanski unterschlagen“, antwortete Borkenhagen. „Das ist doch kein Verbrechen!“ rief Dreyer. „Und warum haben Sie Guido niedergeschlagen?“ fragte ich. „Weil ich das Buch haben wollte, denn…“ „Klar!“ „… da waren Notizen von mir drin. Ich schreibe immer was an den Rand. Und das Schlimme war, ich hatte das Buch im Frühjahr gelesen. Wenn die Kripo das Buch gefunden hätte, wär ich gleich der Täter gewesen… Das war Notwehr!“ „Dann haben Sie mir den rechten Vorderreifen zerstochen?“ „Ja, hab ich. Ich hab zugehört, wie Sie mit Frau Nedomanski gesprochen haben, und dann… Ich mußte vor Ihnen bei Guido sein!“ „Aha! Und warum haben Sie die ganze Zeit über die Schau mit dem Häuschen Ihrer Großmutter und den Kopien Ihres Großvaters abgezogen? Doch nur, um den van Gogh zwischen die Bilder hier zu stecken, so daß alle annehmen mußten, er hätte die ganze Zeit über hier gestanden.“ Dreyer lächelte. „Nedomanski hat mir das Bild geschenkt, verstehen Sie!“ „Und warum hat er dann den Kunsthändler angerufen und gesagt, er hätte einen echten van Gogh im Keller?“ fragte Borkenhagen. „Halt doch die Klappe!“ knurrte Dreyer. „Ich denke, du machst mit?“
Ach, so war das! Mir ging ein Licht auf. Borkenhagen, der Geschäftstüchtige… Oder Borkenhagen in Notwehr? Oder beides? Borkenhagen machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das bleibt ja sowieso alles unter uns.“ Dreyer hob unwillkürlich die Hand mit der Pistole. „Was denn – soll ich vielleicht durch drei teilen?“ „Natürlich“, sagte ich, nachdem ich einen schnellen Blick Borkenhagens aufgefangen hatte. „Sie wissen doch, daß das Bild von Rechts wegen Nedomanskis Erben gehört. Oder Schierbaums Erben, wenn es welche gibt. Außerdem stehen Sie unter Mordverdacht.“ „Ach nee!“ „Sie kannten den Inhalt des Buchs ganz genau; Sie merkten, was sich Nedomanski für seine Geburtstagsparty ausgedacht hatte – Sie sind doch kein Schwachkopf! Nach dem Kurzschluß sind Sie in Nedomanskis Zimmer gegangen – und zwar in dem Augenblick, als Raabe und Walter Nedomanski schon wieder draußen waren… Moment mal: Haben Sie den Kurzschluß etwa absichtlich…?“ „Quatsch! Da können Sie Ina fragen, das Mädchen: Die weiß, daß ich ein paar Tage vorher eine Sicherung geflickt habe; wir hatten keine im Haus. Ich hab dann vergessen, welche zu besorgen. Und dann ist das Ding halt durchgeknallt…“ Er grinste. „Aber Sie vergessen die Hauptsache: Walter Nedomanski hat ein Geständnis abgelegt!“ „Gott, ja…“ Borkenhagen gähnte, aber es wirkte nicht sehr echt: „Wenn er dabei bleibt…“ „Das Bild gehört mir!“ sagte Dreyer mit Nachdruck. „Ich hab ein Recht darauf.“ „… weil ich Nedomanski seinetwegen ermordet habe“, ergänzte ich.
Dreyer schwieg. Er hob die Pistole und ließ die Mündung von Borkenhagen zu mir wandern und wieder zurück zu Borkenhagen. Borkenhagen murmelte: „Nicht…“ Er war plötzlich sehr blaß. „Er knallt uns schon nicht über den Haufen“, sagte ich. „Das wäre Selbstmord.“ Ich sagte es viel zu laut, wie mir schien. Die Mündung schwankte wieder auf mich. „Sind Sie sicher?“ „Ihre Mutter weiß, wo ich hingegangen bin!“ rief ich hastig. „Ehe man Ihre Leichen findet, bin ich schon in Kairo.“ Ich riß mich zusammen. „Hören Sie doch auf mit dem Unsinn! Da kriegen Sie doch nur ein Butterbrot für Ihren van Gogh! Die hauen Sie doch übers Ohr, wenn die merken, daß Interpol Sie sucht!“ „Na ja…“ Die Mündung wackelte ein bißchen, dann sank sie nach unten. Borkenhagen wurde wieder munter. „Teilen wir lieber! Die Hälfte für dich, je ein Viertel für uns.“ „Mit dir ja, aber der da…“ Er wandte sich zu mir. „Ihnen trau ich nicht!“ „Es ist aber die einzige Möglichkeit“, beharrte Borkenhagen. „Ich leg ihn um, und wir schaffen die Leiche weg… Wenn wir beide sagen, er ist nicht hiergewesen, kann uns keiner was beweisen.“ „Du spinnst ja!“ sagte Borkenhagen spontan. „Ja, dann…“ Dreyer sah erst mich an, dann Borkenhagen. „Dann müßt Ihr eben beide dran glauben!“
Blatt Nr. 27. Dreyer und Nedomanski beim Auffinden des Bildes. Eine Rekonstruktion. Ein Sommerabend, kühl und regnerisch. Max Nedomanski sitzt in seinem Arbeitszimmer und blättert im Wirtschaftsteil der Zeitung. Unternehmenspolitik bedeutet doch nichts
anderes als die möglichst genaue Festlegung von Grundsätzen und Richtlinien, die die Zielsetzungen und das zukünftige Vorgehen des Unternehmens betreffen… Nedomanski gähnt, wirft die Zeitung beiseite, reckt sich. Die Gelenke knacken. Dabei fällt ihm ein, daß morgen Handwerker kommen sollen, um den alten Kohlenkeller zu einem Trainingsraum herzurichten. Ein Zimmerfahrrad, ein Rudergerät, ein Punchingball, eine Tischtennisplatte und zwei Hanteln sind schon bestellt. Der Arzt hat ihm körperliche Betätigung verordnet… Nedomanski nimmt den weißen Hörer und läßt es bei Dreyer oben klingeln. „Ja, bitte…?“ „Komm mal runter. Wir wollen uns mal das Gerümpel im alten Kohlenkeller ansehen…“ „Ja, ich komme.“ Als sie die Kellertreppe hinuntergehen, sagt Dreyer: „Endlich fliegt der Mist mal raus! Der stört mich schon, so lange ich hier bin. Sagen Sie mal, warum haben Sie denn den Zimt so lange aufgehoben?“ „Tja…“ Nedomanski zögert mit der Antwort. „Ich wollte mit dem Zeug nichts zu tun haben. Es war mir… unangenehm. Ich hab den Schierbaum nicht ins KZ gebracht, aber… Also, es war mir unangenehm. – Aber mal muß es ja sein…“ Dreyer sagt nichts und denkt sich seins. Sie beginnen die Sachen durchzusehen, nach Brauchbarem zu suchen – Trödel steht ja wieder hoch im Kurs. Nedomanski entdeckt einen alten Inhalationsapparat; Dreyer stößt auf einen chinesischen Faltfächer, einen Stiefelknecht und eine total verrostete Brennschere. „Schade, daß es in Berlin keinen Flohmarkt gibt“, sagt Dreyer. „Wir finden schon Abnehmer“, lacht Nedomanski, „keine Angst! Wenn wir heute einen Zettel bei den Amerikanern an
die Kaserne kleben, dann haben wir morgen das ganze Hauptquartier hier. Die Amis sind doch verrückt nach solchem Plunder, und… Du, sieh mal, was liegt denn da unter dem Vertiko?“ Er bückt sich und stößt mit den Fingerspitzen an den Nasenbügel einer Lorgnette, einer alten Stielbrille. „Die kann man mal für ‘n Fasching gebrauchen“, sagt Dreyer. „Eben – darum will ich sie ja haben.“ Aber die hübsche Kette der Stielbrille wird vom Fuß des Vertikos eingeklemmt. „Komm, wir tragen das Ding mal raus, dann haben wir mehr Platz hier“, sagt Nedomanski. Sie rücken den verstaubten Zierschrank ein paar Zentimeter von der Wand ab und tragen ihn ohne Mühe auf den hell erleuchteten Gang hinaus. Die zierlichen Regalbretter links und rechts von dem blind gewordenen Spiegel sind ein wenig zerkratzt; sonst können sie keinerlei Schäden entdecken. Nedomanski überlegt, ob das gute Stück – aufgearbeitet natürlich – in eines seiner Zimmer paßt, Jugendstil ist wieder ,in’, und die Wilhelminik kommt als Nächstes dran. „Was ist denn das hier?“ sagt Dreyer. An der Rückwand des Vertikos ist mit Hilfe von vier erst eingeschlagenen und dann umgebogenen Nägeln ein fast quadratischer Holzrahmen befestigt. Der Rahmen ist mit graubräunlicher Leinwand bespannt. „Ein Gemälde!“ ruft Nedomanski. Dreyer löst die Nägel aus dem weichen Holz. Dann bläst er den Staub von der Leinwand. Ein Mädchenkopf wird sichtbar. Nedomanski stutzt, schaut näher hin, nimmt das Bild und trägt es unter die helle Lampe im Kellervorraum. „Das ist doch – “ er zieht sein Taschentuch aus der Tasche, wedelt eine weitere Staubschicht weg – „van Gogh!“
Sein Herz schlägt schneller. Schierbaums Sammlung! Sollte er kurz vor seiner Verhaftung in aller Eile versucht haben, wenigstens dieses Bild in Sicherheit zu bringen? Sorgfältig entfernt er den restlichen Staub, soweit das möglich ist. Er betrachtet das Bild, hält es dicht vor die Augen, prüft Farbstruktur, den Pinselstrich. Er ist kein Fachmann, aber… „Was ist denn nun? Ist das Ding was wert?“ „Schnauze!“ Aber ein bißchen kennt er sich aus; er ist schon lange mit Schumann befreundet. Nein – wahrscheinlich ist das eine Fälschung. Eine Kopie, eine Variante… Warum hat aber Schierbaum das Bild versteckt? Dafür gibt es nur eine Erklärung: Das Bild muß aus den Beständen von Otto Wacker stammen – und Schierbaum hat es 1927 bei Paul Cassirer in Berlin gekauft, wahrscheinlich mit einer Expertise von MeierGraefe, Rosenhagen oder Bremmer, in der die unbedingte Echtheit des Bildes bestätigt wird. Nedomanski hat von Schumann viel über den Fall Otto Wacker gehört; er ist Schumanns Steckenpferd. Dreyer starrt ihn mit weit aufgerissenen Augen an, denn eben hatte er die Signatur entziffert. „Der ist echt – was?“ Nedomanski sieht ihn an. Das einfältig-kindliche Gesicht Dreyers reizt ihn. Dreyer ist nicht ernst zu nehmen; man kann ihn ungestraft foppen und aufs Glatteis schicken, man kann seinen Spaß an ihm haben. Wie an einer Katze, der man eine Büchse an den Schwanz bindet, oder einem schwachsinnigen Spielgefährten, dem man vormacht, wie herrlich es ist, zwei blanke Drähte anzufassen – und dann, wenn er es tut, den Strom einschaltet. „Der ist echt, so wahr ich was von Kunst verstehe!“ sagt Nedomanski und macht ein todernstes Gesicht dazu. Dann hat er noch einen Einfall: „Mensch, jetzt weiß ich auch… Ach so, da warst du ja noch nicht bei uns…“ Mal sagt er Sie zu Dreyer,
mal duzt er ihn. „Da hat mal unser Speiseaufzug geklemmt. Wir die Klappen aufgemacht und nachgesehen. Und was soll ich dir sagen, die Ursache war ein dünner Aktendeckel – eine Expertise! Die muß Schierbaum da versteckt haben. Es ist schon ein Weilchen her – zehn Jahre bestimmt schon; aber wenn ich mich recht erinnere, hat sie sich auf dieses Bild hier bezogen… So was!“ Und Dreyer glaubt ihm, denn Nedomanski gilt allgemein als Kunstkenner, besitzt auch einige wertvolle Gemälde, besucht relativ oft Galerien und fördert sogar die eine oder andere und ist mit Schumann befreundet. Und da ist noch etwas. Dieses Bild hier sieht irgendwie anders, irgendwie echter aus als die van Gogh-Kopien von Dreyers Großvater. Dieses Bild entspricht in Handschrift und Aufbau haargenau dem, was man sich unter einem echten van Gogh vorstellt. „Da ist nur noch eine Schwierigkeit“, sagt Nedomanski. „Wieso?“ „Das Bild ist seine 500 000 Mark wert, wahrscheinlich noch weitaus mehr…“ „Mein Gott!“ „… und wenn es rauskommt, daß wir’s hier gefunden haben, werden wir Schierbaums Erben am Hals haben.“ „Hat er denn welche?“ „Keine Ahnung. Aber warum soll er keine haben? Und unter den… eh, besonderen Umständen… KZ und so…“ „Scheiße!“ „Ich werde mir schon etwas einfallen lassen – wir dürfen bloß nichts überstürzen. Zuerst einmal: Es darf niemand was davon erfahren – auch meine Frau nicht. Ist das klar?“ „Ja, natürlich.“ „Wenn alles glattgeht, bekommst du deinen Teil ab – keine Angst… Komm, es ist wohl das beste, wenn wir das Bild wieder hinten am Vertiko befestigen. Und die Handwerker
müssen abbestellt werden – der Trainingsraum hat noch Zeit…“ Blatt Nr. 47. Dreyer als Dreizehnjähriger nach einem Verkehrsunfall im Krankenhaus: Schädelbasisbruch. (Rekonstruktion nach einem Bericht von Frau Elisabeth Dreyer.) Langsam nur sinkt die Fieberkurve, sehr langsam. Stundenlang starrt er auf den bunten Fleck an der Wand. Der bunte Fleck ist ein gut gemachter Druck. Van Gogh, Blühender Pfirsichbaum, entstanden in Arles im April 1888, 73 x 59,5 cm; das Original befindet sich im Kröller-Müller-Museum, Otterlo. Die Ärzte geben Dreyer auf, doch er übersteht die Krise. Wenn er die Augen aufschlägt, fällt sein Blick auf den hellen Druck, fixiert er ihn, graben sich die schaumigen Farben fest in die Netzhaut. Pfirsichblüte – Vision des Fernen Ostens; am Fuß des Baumes schmelzender Schnee. Ein Hauch von Schwerelosigkeit, ein erster Frühlingstag voll zarter Liebe. Skizzenhaft die Pinseltechnik, hingetupft die transparenten Farben, ausgehende Pariser Periode. Eine lyrische Melodie klingt auf. Er betrachtet das Bild Stunde um Stunde, als winziger Wattebausch sieht er sich über die scheckige Fläche schweben, eine Pusteblume, wird eins mit dem Bild, verschmilzt mit den Farben. Tage vergehen so, Wochen; seine Phantasie findet immer neue Nahrung. Van Gogh. Van Gogh, Blühender Pfirsichbaum.
Ich wich zurück, stieß gegen die Wand, sah eine Sekunde lang mein wächsernes Gesicht im Spiegel, die Augen weit aufgerissen. Ich brachte kein Wort heraus.
Borkenhagen preßte sich hinter einen schmalen Mauervorsprung, der kaum Schutz gewährte. Schweiß stand auf seiner Stirn. „Sei doch vernünftig… Tu’s nicht! Ich will nicht sterben… So nicht!“ Die große Standuhr hinter Dreyer begann zu schlagen. Einmal, zweimal… „Und wenn es – “ ich mußte mich räuspern – „und wenn es nun doch eine Fälschung ist?“ „Es ist keine Fälschung!“ Ich schloß die Augen. Da lachte Dreyer laut und schallend. „Ihr Idioten…“ Er verschluckte sich fast. „Das ist doch nur ‘ne Gaspistole!“ Wir starrten ihn an. „Eine Gaspistole – nichts weiter! Aber diesen Denkzettel, den mußte euch mal einer verpassen… Ihr denkt wohl, ihr könnt Menschen jagen wie ein Stück Vieh – nur um eine sensationelle Story zu haben… Nee, nich bei mir!“ Borkenhagen stieß eine Tür auf, fand einen Sessel, ließ sich hineinfallen. Ich folgte ihm. Dreyer bot uns Zigaretten an. „Und das Bild?“ fragte Borkenhagen nach einer Weile. „Ist eine gut gemachte Fälschung, eine Variante des Mädchen aus Arles und des Bildhändlers Tanguy. Das hab ich natürlich auf den ersten Blick gesehen – schließlich war mein Großvater Maler und Kopist; ich bin mit Bildern groß geworden.“ „Und die Expertise?“ „Sie werden lachen: ich hab gar keine!“ „Und Nedomanski hat dir das Bild geschenkt?“ „Ja, hat er. Er wollte von diesem Schierbaum nichts mehr in der Wohnung haben. Ich hab’s nur nicht gleich mitgenommen, weil ich bei meiner Mutter keinen Platz hatte – und er muß dann auf die Schnapsidee gekommen sein, diesem Kunsthändler einen Bären aufzubinden.“
„Na ja – besoffen genug war er an dem Abend…“ murmelte Borkenhagen. „Und was ist mit dem Überfall auf Guido?“ fragte ich. Dreyer senkte den Kopf. „Das muß ich wohl ausbaden… Aber schuld sind Sie, daß ich die Nerven verloren habe! Ich hatte ja oft Streit mit Nedomanski und hätte ihn manchmal am liebsten… Ich hab auch mal ‘ne Schere nach ihm geschmissen und so… Und es gibt Leute, die wissen das. Da hab ich natürlich Angst gekriegt, daß Sie mich…Naja!“ „Dann sagen Sie am besten gleich mal der Kripo Bescheid.“ „Wird mir wohl nichts weiter übrigbleiben…“ Dreyer ging zum Telefon hinüber.
Das müßte eigentlich der Schluß sein, mehr haben wir nicht ausgewalzt, Gott sei Dank. Da sind jetzt nur noch ein paar Zettel mit Notizen… Draußen wird es schon hell.
Blatt Nr. 83. Gespräch mit Oberkommissar Mannhardt. M. rief an und berichtete, Walter Nedomanski habe sein Geständnis widerrufen. Sein Anwalt töne jetzt vor der Presse, Nedomanski sei unter den harten Methoden der Polizei zusammengebrochen; er habe sein Geständnis nur abgelegt, um einem drohenden Herzinfarkt zu entgehen. Der Arzt im UG habe auch prompt extrem hohen Blutdruck festgestellt. Morgen früh werde man Walter Nedomanski entlassen müssen, da inzwischen feststehe, daß er höchstwahrscheinlich unschuldig sei. Walter Nedomanski ist also wieder ein freier Mann! Ich werde ihn bald einmal aufsuchen und ihm zu seiner neugewonnenen Freiheit gratulieren.
(Zusatz, drei Tage später: Besuch bei W. N. Kräuterschnaps wie gehabt, langes Gespräch, das keine neuen Gesichtspunkte ergibt. Beide ziemlich betrunken. N. schreibt mir einen skurrilen Tagtraum auf, in dessen Verlauf er seinen Bruder ertrinken läßt.)
Blatt Nr. 84. Gespräch mit Henry Schumann. Schumann sagte mir, daß das bei Nedomanski gefundene Gemälde aller Wahrscheinlichkeit aus dem Besitz des berühmt-berüchtigten Otto Wacker stammen müsse. (Otto Wacker kommt aus Düsseldorf, wo er in seiner Jugend Bilder seines Vaters verkauft hat, eines Amateurmalers. Er wird später Kunsthändler und Tänzer. Ende der zwanziger Jahre verkauft er an die dreißig van Gogh-Bilder, die er von einem geheimnisvollen russischen Emigranten erworben haben will, an Berliner Kunsthändler. 1928 bezeichnet der van GoghSpezialist de la Faille die Mehrzahl der aus der Sammlung von Otto Wacker stammenden Bilder als van Gogh-Fälschungen, und auf Ersuchen der Kriminalpolizei verfaßt Prof. Ludwig Justi, Direktor der Nationalgalerie, ein Gutachten, in dem er zehn Bilder Wackerscher Herkunft mit Sicherheit für falsch erklärt. Namhafte Experten aber wie Meier-Graefe und der Holländer Bremmer sind weiterhin von der Echtheit der van Gogh-Gemälde überzeugt, um die es hier geht.) Schumann vertrat die Ansicht, daß mit dem Fund aus Nedomanskis Keller der alte Streit wieder aufflammen könnte. Seiner Meinung nach müsse jeder Nicht-Spezialist das fragliche Bild unbedingt für echt halten.
Blatt Nr. 85. Prozeß gegen Dieter Dreyer. Notizen aus dem Gerichtssaal.
Der Staatsanwalt beschuldigt ihn des Mordes an Max Nedomanski. Er habe das van Gogh-Gemälde, von dessen Wert und dessen Echtheit er zutiefst überzeugt gewesen sei, gestohlen, um es auf eigene Rechnung zu verkaufen. Als er seine Sachen abgeholt hat, um in das von der Großmutter ererbte Haus umzuziehen, sei es ihm ein leichtes gewesen, das Bild unentdeckt abzutransportieren. An Hand des Buches Die Wahl der Erben, das er kurz zuvor gelesen hatte (was er zugibt), habe er schließen können, welch makaberes Spiel Borkenhagen und der später Ermordete verabredet hatten. Bei seiner Ortskenntnis sei es eine Kleinigkeit für ihn gewesen, während des allgemeinen Durcheinanders nach dem Kurzschluß in das Schlafzimmer seines Arbeitgebers einzudringen und diesen mit einem Kopfkissen zu ersticken. Max Nedomanski sei ja der einzige Mensch gewesen, der etwas von dem als äußerst wertvoll zu betrachtenden Fund gewußt habe. Der Weg zum Reichtum hätte für Dreyer allein über die Leiche seines Freundes und Gönners geführt – und er sei diesen Weg bedenkenlos gegangen. Fünf Punkte sind es, auf die sich die Anklage stützt: 1. Dreyer habe Guido Winkler niedergeschlagen, um das Buch an sich zu nehmen und so die Spur zu verwischen, die zu ihm geführt hätte. – Er bestreitet das nicht, gibt aber vor, aus begreiflicher Angst gehandelt zu haben: Er habe gefürchtet, wegen des Bildes, das Nedomanski ihm ja geschenkt habe, in den Verdacht des Mordes an seinem Chef zu geraten. Er betont immer wieder, Nedomanski habe ihm das Bild geschenkt, und sie beide seien von Anfang an davon überzeugt gewesen, daß es sich um eine Fälschung handle. 2. Dreyer habe versucht, Borkenhagens Laube in Brand zu stecken und ihn zu töten, als dieser ihm über den Kunsthändler Schumann auf die Schliche gekommen ist. Ein Alibi für die Tatzeit gebe es nicht. – Dreyer behauptet, zur fraglichen Zeit
im Bett gelegen zu haben, was ihm nicht widerlegt werden kann. (Sein Verteidiger macht auch geltend, daß es – wörtlich – »geradezu idiotisch« wäre, bei einer Brandstiftung mit oder ohne Tötungsabsicht so »stümperhaft« vorzugehen.) 3. Dreyers Angabe, Nedomanski habe das Gemälde von Anfang an für eine Fälschung gehalten, könne nicht stimmen, denn Nedomanski habe ja nachgewiesenermaßen später dem Kunsthändler Schumann mitgeteilt, bei ihm im Keller befinde sich ein echter van Gogh. – Dreyers Einwand geht dahin, daß Nedomanski – laut Aussage des Zeugen Borkenhagen – bei dem fraglichen Telefonat unter Alkoholeinfluß gestanden habe und sich wohl nur einen Scherz mit dem unfehlbaren Experten habe erlauben wollen. 4. Dreyer habe überall in auffallender Weise auf die im Atelier lagernden Kopien seines Großvaters hingewiesen, um später ein Alibi für den Fund des Bildes zu haben. Es wäre nur logisch und völlig unverdächtig gewesen, wenn man später das für echt gehaltene Bild inmitten der relativ wertlosen Kopien gefunden hätte. – Dreyer bestreitet das mit dem Hinweis auf sein Bestreben, die Kopien zu Geld zu machen. 5. Dreyer habe in Erwartung einer großen Summe aus dem Erlös des gestohlenen Bildes einen italienischen Sportwagen bestellt. – Dreyer wendet ein, daß es sich um einen älteren Gebrauchtwagen handle, der ohne weiteres aus dem Erlös der Kopien zu bezahlen gewesen wäre. Dann kommt die große Überraschung: Am vierten Verhandlungstag sagen drei Sachverständige gutachterlich über das Bild aus, um dessen Besitz es nach Ansicht der Staatsanwaltschaft dem Täter ging. Gutachten, Gegengutachten und die anschließende heftige Diskussion zwischen den Sachverständigen ergeben keine Klärung der Frage Echt oder Gefälscht. Immerhin beharren zwei von ihnen auf ihrem Befund: keinesfalls van Gogh!
Ungeachtet dessen fordert der Staatsanwalt in seinem Plädoyer Lebenslänglich wegen erwiesenen Mordes. Hauptargument: Dreyer habe nicht mit Sicherheit erkennen können, worüber sich zu einigen die Sachverständigen nicht in der Lage seien. Die Verteidigung dreht das Argument um: Gerade deshalb habe Dreyer überhaupt kein Motiv für die Tat – nur ein Freispruch komme in Frage! Nach längerer Beratung wird das Urteil verkündet: Freispruch mangels Beweises. Die Verteidigung läßt später die Presse wissen, man erwäge, Berufung einzulegen mit dem Ziel, einen Freispruch wegen erwiesener Unschuld zu erreichen. Nachdenklich räume ich den Wust der Papiere zusammen, die ich während der Nacht gesichtet habe. Ich bin nicht mehr müde; ich bin überwach. Drüben im Bad zischt die Brause; meine Frau steht auf. Der Gedanke an Frühstück ist nicht unsympathisch. Ja, der Fall Nedomanski… Das Interessanteste ist eigentlich der völlig offene Ausgang. Von vielen potentiellen Verdächtigen bleibt nur einer übrig – und der kann nicht überführt werden. Das mögliche Tatmotiv bricht in sich zusammen – es besteht in einem Bild, dessen Echtheit fraglich bleibt… Die Sache geht aus wie das Hornberger Schießen. Ist Max Nedomanski überhaupt ermordet worden? Ach ja – eines bleibt noch nachzutragen: Die angebliche Gaspistole, mit der Dreyer Borkenhagen und mich bedrohte, war eine ausgewachsene Walther 7.65. Sie wurde bei einer Hausdurchsuchung bei Dreyer gefunden – ohne Munition.
EPILOG
Das Telefon schellt. „Ja, bitte?“ „Doktor?“ „Mensch, Borkenhagen! Wo stecken Sie denn die ganze Zeit?“ „Ich war zu Hause. Der verlorene Sohn kehrt heim – mußte ja sein; ich war schließlich abgebrannt im wahrsten Sinne des Wortes.“ „Und? Ist das Kalb geschlachtet worden?“ „So einigermaßen, ja. Aber…“ „Ja?“ Pause. Dann: „Doktor, ich brauche Geld.“ „Wer nicht, mein Lieber – wer nicht?“ „Seien Sie nicht so eklig. Ich dachte, ich kann doch eigentlich mein Honorar…“ „Was für ein Honorar? Es wird Ihnen wohl kaum entgangen sein, daß wir die Story nicht veröffentlicht haben.“ „Gibt’s nicht so was wie Ausfallhonorar?“ „Naja… Gut; ich will sehen, ob ich was für Sie rausschlagen kann. Aber für den Abtransport des Geldes brauchen Sie keinen Kabinenkoffer, das kann ich Ihnen gleich sagen.“ „Kleinvieh macht auch Mist… Haben Sie nicht was anderes für mich zu tun? Der Mensch lebt nicht vom Kleinvieh allein, wissen Sie.“ „Nee… Also, im Augenblick…“ „Daß das aber auch nichts geworden ist mit der Story! Da erlebt man einen ausgewachsenen Kriminalfall aus nächster
Nähe, den reinsten Kriminalroman, und dann wird nichts draus, weil… Moment mal!“ Das letzte klingt erregt. „Was haben Sie denn?“ „Ich habe… Ich glaube, ich habe das Ei des Polykrates gelegt, Doktor!“ „Wird ein schönes Windei sein. Na los – was haben Sie auf der Pfanne?“ „Ich hab da gerade ganz spontan gesagt, der Fall Nedomanski, das war der reinste Kriminalroman, und…“ „Wenn die Sache nicht Romanlänge hätte, wäre sie jedenfalls unterzubringen gewesen.“ „Ja eben! Warum machen wir dann nicht gleich einen Roman daraus?“
Nachbemerkung: Dieses Buch ist also, strenggenommen, kein Roman – es ist die Entstehungsgeschichte eines Romans, dessen Autor nicht wußte, daß es ein Roman werden würde. (Ich habe mich mit Borkenhagen geeinigt; offiziell trete ich allein als Autor in Erscheinung.) Bis es tatsächlich einer geworden ist, war allerdings noch viel, viel Arbeit erforderlich: Es galt, das Geschehen so zu verfremden, Schauplätze und Personen derart zu verändern, daß man guten Gewissens das Wort »Kriminalroman« unter den Titel schreiben konnte. So kommt es, daß in gewissem Sinne nichts, aber auch gar nichts ,stimmt’ in diesem Buch; die realen Ereignisse, die Personen und Schauplätze, an denen es sich orientiert, sind nicht mehr zu identifizieren. So kann ich heute guten Gewissens behaupten, daß dies ein Roman ist und jede Ähnlichkeit mit tatsächlich Geschehenem sowie lebenden oder verstorbenen Personen nur auf einem Zufall beruhen könnte. Das einzige, was noch mit der Realität übereinstimmt, ist das Kürzel, mit dem ich meine eigenen redaktionellen Beiträge zu zeichnen pflege: -ky