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JASON DARK VOODOO‐LAND I Die Stille der Nacht wurde nur von einem fernen, unheimlich klingenden Trommeln unterbrochen. Es war ein besonderer Klang, nicht gleichmäßig wie der bei den Ritualen afrikanischer Buschstämme, eher fordernd, mehr Rhythmus, beinahe aggressiv, so als hätte dieser Klang eine schlimme Bot‐ schaft zu überbringen. Er war fern und trotzdem nah. In einer anderen Welt schien er geboren worden zu sein, und sein Schall ließ sich vom sanften Nachtwind tragen, bis er dorthin gelangte, wo die wuchtige Front der hohen Öltanks breiten Stummelfingern gleich aus dem flachen Gelände ragte. Hier genau trafen die beiden unterschiedlichen Welten zusammen. Auf der einen Seite die moderne Technik, auf der anderen das Mystische, Un‐ heimliche des Trommelklangs, der schon seit zwei Stunden wie ein flacher Donner über die Plains grummelte. Ansonsten schwieg die Nacht. Unter dem kalten, bläulich schimmernden Licht der hohen Peitschen‐ leuchten wirkten die bis zu den Rändern gefüllten Öltanks wie eine Film‐ kulisse, die noch in völliger Ruhe lag und darauf zu warten schien, daß ein Regisseur in den hektischen Ruf »Action« ausbrach. Umzäunt waren die Tanks mit festem Maschendraht. Ein Elektrozaun schützte sie, und die Überwachung durch Video funktionierte außerdem. Man kontrollierte das Gelände Tag und Nacht. Besonders nachts, denn oft genug schon waren bei der Zentralverwaltung der Gesellschaft Warnungen vor Sprengstoffanschlägen eingegangen. Die Männer vom Sicherheitsdienst waren ausgezeichnete Leute. Man konnte sie auch Spezialisten nennen, da ihre Ausbildung super war. Als Techniker ebenso zu gebrauchen wie als Löschmannschaft und auch als Kämpfer. Wer sich dem Lager näherte und es schaffte, trotz der elektroni‐ schen Kontrollen hineinzukommen, hatte noch immer die Wächter mit den Schnellfeuergewehren zu überwinden. Und das war nicht einfach. 2
Es gab mehrere Zufahrten und Tore. Einer dieser insgesamt drei Engpäs‐ se wurde von Clint Arrik und Ralph Hopkins bewacht. Beide Männer ar‐ beiteten bereits seit über fünf Jahren zusammen, und man konnte sie als Team bezeichnen. Auf solche Teams mußte man sich verlassen können. Keinen Alkohol im Dienst, keine Drogen, und ein Team mußte es sich auch gefallen lassen, außerhalb der Dienstzeit überwacht zu werden. Daran hatten sich Arrik und Hopkins gewöhnt. Auch an den Nacht‐ dienst, der immer so verdammt langweilig war und kaum vorübergehen wollte. Arrik stammte aus Boston. Daß ihn das Schicksal einmal hierher in den heißen Süden verschlagen würde, hätte er sich nicht träumen lassen. Sein Kollege kam aus Baton Rouge. Er war kein Weißer und auch kein Schwarzer. In seinem Blut vereinigten sich mehrere Rassen. Manchmal hatte seine Haut sogar einen leicht bläulichen Schimmer. Der Süden war heiß, der Süden war anders als der Norden. Hier peitsch‐ ten die Gefühle schneller hoch, saßen Messer und Revolver lockerer, vor allem in den großen Städten wie New Orleans oder Baton Rouge. Jeder, der etwas auf sich hielt, besaß Air Condition im Haus, und auch die betonierte Wachbude der beiden Männer war mit einer Klimaanlage ausgestattet worden. Die Aufpasser hockten auf bequemen Stühlen, hatten die Beine auf die Konsolen gelegt und ließen ihre Blicke über die Bildschirme gleiten. Kame‐ ras bewachten jede Ecke des Geländes. Nicht einmal eine Maus würde durchschlüpfen, wurde immer behauptet. Sie tranken Kaffee. Heiß und süß. Ein widerliches Getränk; beide mochten es nicht, beide schimpften darüber, aber sie hatten sich so an das Zeug gewöhnt, daß sie nichts anderes mehr schluckten. Zudem wurde der Automat in der Wach‐ bude jeden Tag frisch gefüllt. »Das ist wie Negerschweiß!« schimpfte Clint Arrik. Er suchte nach einer Gelegenheit, um seinen Becher zu leeren. Nur trinken wollte er das Zeug nicht. Hopkins drehte träge seinen Kopf. Über sein dunkles Gesicht huschte ein Grinsen. »Das sagst du jedesmal, Partner. Irgendwann einmal schlage ich dir die Zähne ein.« »Ach. Hast du auch einen Grund dafür?« 3
»Klar. Du sagst Negerschweiß. Ich fühle mich beleidigt.« »Seit wann fühlst du dich als Nigger?« »Irgendeiner hat bei mir mitgemischt.« Hopkins lachte. »Glaubst du viel‐ leicht, meine Mutter hätte mir etwas davon gesagt, als ich sie danach frag‐ te. Die hat nur gegrinst und mich auf später vertröstet.« »Und dann ist sie gestorben.« Hopkins hob seinen Becher. »Richtig. Woher weißt du das?« »Ich habe es mir oft genug anhören müssen.« Arrik streckte sich. »Eigent‐ lich ist es eine Strafe, mit dir zu arbeiten, du komischer schwarzer Kuchen‐ bäcker.« »Dann verzieh dich und laß dir von Grayson einen neuen Job geben.« Clint hob die knochigen Schultern. »Ach, weißt du, Baby, irgendwie mag ich dich. Das ist ja das Verrückte an der Sache. Ich mag dich wirklich. Wir sind gut, wir beide…« »O danke. Und was kommt danach?« »Wie meinst du das?« »Nur so. Du hast das doch nicht ohne Hintergedanken gesagt, Baby. Soll ich dir vielleicht einen neuen Kaffee holen? Ist es das, was du willst?« »Nein, auch kein Bier.« »Eine Frau?« Arrik lachte. »Die könnte mir jetzt gefallen. Ich würde sie nehmen, so wie ich hier sitze.« Clint streckte die Arme aus und tat so, als wollte er eine Frau umfassen. Dabei bewegte er seinen Unterleib rhythmisch. »Im Prinzip wäre es das ja«, gab er zu, »wenn ich nicht noch eine andere Idee gehabt hätte.« »Dann laß hören.« »Du bist gut, Nigger‐Freund. Verdammt gut. Hören ist der richtige Aus‐ druck. Hast du es gehört?« Hopkins tat gelangweilt und dehnte die Antwort. »Was soll ich gehört haben?« »Das Trommeln!« »Na und?« »Ich meine nur.« »Was habe ich damit zu tun?« Clint zündete sich eine Zigarette an. Er rauchte die starken aus Frank‐ reich. »Es muß von den Bayous hochgeklungen sein. Da stecken sie wieder 4
in den Sümpfen.« »Wer?« »Deine Freunde.« »Hör zu, du weißes Großmaul, das sind nicht meine Freunde. Hast du kapiert?« Arrik lachte und stieß dabei den Rauch aus. »Klar habe ich kapiert. Aber die sind schwarz so wie du.« »Partner, du fällst mir auf den Wecker. Ist jeder, der eine widerliche wei‐ ße Hautfarbe hat, auch dein Freund?« »Das nicht.« »Dann rede nicht so eine gequirlte Affenscheiße.« Ralph Hopkins richtete sich im Drehsessel auf und schaute auf die drei vor ihm stehenden Matt‐ scheiben der Monitore. Clint beobachtete ihn aus schmalen Augen. »Danke, Partner.« Ohne sich umzudrehen, fragte der Schwarze nur: »Wofür denn? Daß ich dir dabei helfe, diese verdammte Nacht rumzukriegen?« »Nein, dafür, daß du mal rausgehst und deine Lauscher aufstellst. Mich macht die Trommelei nervös.« »Witzbold. Du hörst sie doch nicht.« »Allein die Tatsache, daß getrommelt wird, stört mich. Komm, ich zahle auch die nächste Runde Kaffee. Steh auf und schau nach. Oder leg meinet‐ wegen dein Ohr auf den Boden.« »Ich dachte, du trinkst keinen Niggerschweiß.« »Bei dir mache ich eine Ausnahme.« Ralph Hopkins war ein Gemütsmensch. Er stemmte sich hoch und streckte die Hand aus. »Erst das Geld für den Kaffee!« forderte er. »Traust du mir nicht?« Der Schwarze schüttelte den Kopf. »Nein. Dafür bin ich zu lange mit dir zusammen.« »Verrecke im Sumpf!« knurrte Arrik und holte aus der Brusttasche seines Uniformhemdes einige Nickel. Er warf dem Schwarzen die Geldstücke zu, der sie geschickt auffing. »Willst du ihn sofort?« fragte er. »Nein, wenn du wieder zurückkommst.« Hopkins ging. Er drückte die schwere Glastür nur so weit auf, daß er sich hindurchschieben konnte. Vor der Tür blieb er stehen, reckte sich und ging einige Schritte auf das große Metalltor zu, das nur durch einen elektroni‐ 5
schen Kontakt zu bewegen war und selbst einem fahrenden Panzer stand‐ gehalten hätte. Arrik schaute ihm nach. Er bewunderte den geschmeidigen Gang seines Partners. Den hatten alle Schwarzen an sich. Sie gingen so ungewöhnlich geschmeidig. Das mußten sie noch von ihren Dschungelvorfahren über‐ nommen haben. Hopkins schritt durch eine der Lichtinseln. Der Schein stülpte sich wie eine Glocke über ihn und ließ seinen Körper bläulich schimmern. Bevor er das Tor erreichte, blieb er stehen. Da er auch weiter‐ hin vom Lichtschein erfaßt wurde, konnte Arrik ihn erkennen und sah die etwas gespannte Haltung des Mannes. Sie ließ darauf schließen, daß Hop‐ kins dem Trommelklang lauschte. Nicht, daß sich Clint deswegen Sorgen gemacht hätte, aber ungewöhn‐ lich war dies schon. Er kannte den Klang. Oft genug wurden hier im Süden Feste gefeiert, und dann glichen die Dörfer und Städte kleinen Höllen, aber diesmal war nichts angesagt. Da er das Mißtrauen in Person war, wollte er sich auch darum kümmern. Manchen Leuten gelang es, am Rhythmus der Trommelei herauszufinden, welche Botschaft übermittelt wurde. Ralph Hopkins machte es spannend. Er blieb eine Weile stehen und war auch noch draußen, als Clint Arrik die Routinemeldung an seinen Chef durchgab. Das war so eingeplant und durfte keinesfalls vergessen oder verschlafen werden. »Der Truck ist noch nicht da, Mr. Grayson«, sprach er in das Telefon. »Sonst alles in Ordnung?« »Ja, Sir, bis auf eine Sache.« Arrik schaute nach draußen, wo sein Partner auf‐ und abging, immer parallel zum Tor. »Wir haben schon über einige Zeit hinweg einen Trommelwirbel gehört und nach einer Erklärung ge‐ sucht, aber keine gefunden. Wissen Sie vielleicht, was diese Trommelei zu bedeuten haben könnte?« Grayson dachte nach. »Nein, eigentlich nicht. Wir in der Hauptstation hören sie nicht. Feiern die Schwarzen denn ein Fest?« »Habe davon nichts gehört.« Grayson überlegte. »Ich kann euch da auch nicht helfen. Haltet mal eure Ohren weiter offen als sonst. Okay?« »Machen wir.« »Nun zu etwas anderem. Ich habe keine genaue Uhrzeit bekommen, wann der Track eintrifft. Sie lassen ihn jedenfalls durch und werden keinen 6
Versuch unternehmen, ihn zu entladen. Schauen Sie sich die Verplombung an. Und melden Sie sich, damit ich die vier Leute schicke, die ihn für den Rest der Nacht bewachen.« Arrik wollte nicht neugierig erscheinen, trotzdem konnte er sich die nächste Frage nicht verkneifen. »Was hat er denn geladen?« »Bestimmt keine Eier, Mann. Und wenn, sind sie hochexplosiv. Wir ha‐ ben uns um nichts zu kümmern. Der Truck bleibt auf dem Gelände und wird morgen früh abgeholt. Aber ich will Ihre Neugierde ein wenig befrie‐ digen, weil ich Sie kenne, Ralph. Es geht da um einen neu entwickelten Treibstoff, der sehr gut sein soll. Vor allen Dingen kostensenkend. Aber das ist vertraulich.« »Danke, Sir.« Grayson räusperte sich. Es klang, als würde ein dünner Finger in der Lei‐ tung kratzen. »Ich erwarte dann Ihre Meldung.« »Okay, Sir.« Arrik legte auf. Ein Faltenmuster zierte seine Stirn. Neuer Treibstoff, dachte er und grinste scharf. Wie in einem Agentenfilm. Fehlten nur noch die Typen, die, verkleidet mit dunklen Anzügen, sich in der Nacht anschli‐ chen, um den Truck zu rauben. Als er das dachte, blickte er auf sein Schnellfeuergewehr und nahm es prüfend in die Hand. Es war eine besondere Waffe. Vom Lauf her wesentlich kürzer als die normalen Gewehre. Auch eine Spezialentwicklung, die man nicht jedem in die Hand drücken konnte. Hopkins hatte sich umgedreht, schaute auf die Bude und winkte seinem Kollegen zu. Arrik hatte zwar keine Lust, den klimatisierten Raum zu verlassen, aber es schien wichtig zu sein, das entnahm er Hopkins’ Gestik. »Was ist denn, Ralph?« »Komm her.« Arrik schlenderte näher. »Hast du den Truck gehört oder schon seine Lichter gesehen?« »Nichts von beidem.« »Und wo liegt das Problem?« Arrik blieb neben dem anderen stehen. »In der Trommelei.« »Ach so.« Clint winkte ab. »Das ist nicht weiter tragisch. Ich sprach auch mit Grayson darüber. Die hören es nicht. Er meinte nur, das hätte nicht viel 7
zu bedeuten.« »So?« fragte der Schwarze. »Meint er das?« »Sicher.« »Ich sehe das anders.« »Und wie?« »Jedes Trommeln hat seine bestimmte Bedeutung. Niemand schlägt, oh‐ ne Grund auf das Fell. Jeder Klang sagt ebenfalls etwas aus. Ich habe mir die Sache hier lange genug angehört, und mir fielen auch wieder die Dinge ein, die man sich so erzählt. Mein Großvater hatte mal davon berichtet. Er hat so etwas auf einer Insel im Mississippi erlebt.« »Komm zur Sache.« Clint rieb sein Kinn und schlug nach zwei umhersir‐ renden Mücken, ohne sie zu erwischen. »Voodoo!« Die Mücken sirrten weiter. Arriks Hand blieb in der Luft hängen. »Was hast du da gesagt?« Der Schwarze wiederholte das Wort langsamer und betonte jeden Buch‐ staben. »Okay, okay, ich habe verstanden. Voodoo also. Eine Spinnerei, ein A‐ berglaube.« Arrik lachte. »Ich hätte nicht gedacht, daß du noch an so einen Mist glaubst. An dir scheint die moderne Zeit spurlos vorüber gegangen zu sein.« Ralph teilte die Ansicht seines Kollegen nicht. »Ich weiß nicht, ob das Mist ist.« Arrik verzog die Mundwinkel. »Für mich schon. Du kommst aus dem Busch, da glaubt man an vieles.« »Rede doch keine Affenscheiße!« Hopkins wurde sauer. »Man muß es einfach ernst nehmen.« Die beiden Männer standen einander gegenüber und wurden vom kalten Licht der Peitschenleuchten bestrahlt. Ihre Gesichter wirkten hart, eingefro‐ ren die Züge. Wie ein dünner Film lag der Schweiß auf ihrer Haut, denn es war schwül in dieser Nacht. Der Wind wehte aus Südosten. Er trieb den alten Modergeruch der Bayous über das Land. Ein Gestank von Verfaulung und Verwesung. Die Atmosphäre gefiel Arrik nicht. Er wollte bei sich selbst zwar nicht von Angst sprechen, das Gefühl der Beklemmung allerdings war vorhan‐ den und ließ sich auch nicht wegleugnen. 8
»Den Grund für die Trommelei hast du auch nicht herausgefunden, ob‐ wohl du Schwarzer bist?« »Nein. Ich weiß nur, daß es um Voodoo geht.« Arrik grinste breit. »Und damit auch um Zombies? Oder wie sehe ich das? Gehören nicht beide zusammen? Zombies und Voodoo?« Clint hatte die Frage nicht einmal ernst gemeint, Ralph aber gab ihm eine sehr ernst klingende Antwort. »Das sind zwei verschiedene Dinge und trotzdem ein Paar Schuhe. In der letzten Zeit haben sich sogar Wissenschaftler mit dem Phänomen des Voo‐ doo und der Zombies beschäftigt. Du brauchst nur mal auf die Karibik‐ Inseln zu fahren, da ist Voodoo an der Tagesordnung.« »Auch Zombies?« Ralph nickte. »Sicher. Es gibt da Leute, die lassen sich lebendig begraben und tauchen irgendwann in den Städten oder Dörfern auf, in denen sie gelebt haben. Das sind keine Geschichten, sondern Tatsachen. Ärzte haben diese Leute untersucht und von den Ritualen gehört, an denen sie teilnah‐ men. Es gibt da einen Trank, dessen Zusammensetzung nur die Eingeweih‐ ten kennen. Wenn du den zu dir nimmst, kannst du zu einem dieser Zom‐ bies werden. Das wollte ich dir nur sagen.« Clint Arrik verzog sein Gesicht zweifelnd. »Wie man es nimmt, Ralph. Ich für meinen Teil bin davon nicht überzeugt. Das Trommeln kann auch einen anderen Grund haben.« »Klar. Nur ist es lauter geworden.« »Was heißt das?« Hopkins schabte mit der Schuhspitze über den glatten Asphalt. »Sie nä‐ hern sich wohl ihrem Finale.« »Das ist doch gut. Dann können wir hoffen, daß der ganze Mist bald ver‐ stummt.« »Vielleicht.« Ralph machte ein bedenkliches Gesicht. Er ging zum Tor und preßte sich gegen das Gitter. Zwischen den Stäben hindurch schaute er auf die Straße, die in die Unendlichkeit zu führen schien. Glatt, fugenlos. Highway into Hell, hatte mal jemand gesagt, dem dieser Job hier gewaltig gestunken hatte. Straße in die Hölle! So mußte es auch sein. Dieses Land war die Hölle, weil es einfach nichts gab, außer dieser verdammten Disziplin. Aber man wurde gut bezahlt, und 9
die vier Wochen, in denen die Männer Wache hielten, gingen irgendwann auch vorbei. Hopkins Gedanken drehten sich um Voodoo. Er lauschte dem Klang und hatte das Gefühl, einen vibrierenden Boden zu erleben. Natürlich konnte es die reine Einbildung sein, seine Nerven waren nicht mehr die besten. Ge‐ wöhnen konnte er sich an das Trommeln nie. Da wurden Erinnerungen an seine eigene Jugend wach, wenn die Eltern oder Großeltern von dem Voo‐ doo‐Zauber berichtet hatten. Als Junge schon hatte er Angst davor be‐ kommen. Clints Hand übte Druck auf seiner rechten Schulterhälfte aus. »Komm schon, Ralph. Du stehst hier wie ein Affe am Käfig. Laß uns reingehen, hier ist es mir zu schwül.« Hopkins streckte einen Arm in den Raum zwischen zwei Stäben. »Der Track kommt.« »Wo?« »Schau die Straße entlang. Ich habe Lichter gesehen.« Arrik blickte nach vorn. Sein Kollege hatte sich nicht getäuscht. In der Ferne tanzten die hellen Augen über den Boden, als hätten sie eine Bot‐ schaft für die beiden Männer. »Er ist pünktlich«, sagte Clint. »Wieso? Kennst du die Ankunftszeit?« Arrik lachte. »Nur so. Los, wir gehen rein.« Die beiden Männer betraten die Bude. Als die Tür hinter ihnen zugefal‐ len war, hörten sie kaum noch etwas von dem Klang der Voodoo‐ Trommeln. Arrik sprach von seinem Kaffee. »Den kriege ich noch von dir. Aber du kannst dir Zeit lassen.« »Wie großzügig.« Ralph blieb am Fenster stehen. Er hatte sein Schnell‐ feuergewehr in die rechte Hand genommen. Manchmal strich er mit der Linken über den Schaft, als wollte er mit der Waffe eine magische Verbin‐ dung eingehen. »Hast du etwas?« fragte Clint. »Ja, ein dummes Gefühl.« »Das habe ich immer.« »So meine ich das nicht. Ich spüre, daß etwas in der Luft liegt. Ich kann dir nur nicht sagen, was. Nenn es Intuition oder so. Jedenfalls ist es nicht normal.« 10
»Was ist schon in dieser verdammten Nacht normal? Die Ladung auch nicht, die uns der Truck bringt.« »Weißt du mehr?« »Kaum.« »Mir ist es egal. Ich will es nur so rasch wie möglich hinter mich brin‐ gen.« »He, Partner.« Arrik lachte laut auf. »Du klingst so deprimiert, als wür‐ dest du dicht davorstehen, ins Grab zu steigen. Das kann doch nicht der Sinn sein.« »Wir warten erst mal ab.« Sie schauten zu, wie die Lichter größer wurden und nicht mehr an Au‐ gen, sondern an explodierende Sterne erinnerten. Der Ablauf war immer gleich. Der Wagen würde bis direkt an das Tor fahren, das von der Bude aus durch die Steuerelektronik bewegt werden konnte. Weitere Kontrollen gab es nicht. Die beiden Männer hatten ent‐ sprechende Anweisungen bekommen. Der heranfahrende Truck wuchs vor dem Tor hoch. Ein moderner Gigant aus Stahl, Reifen, Mechanik und Elektronik. Einer dieser Wagen, die »from coast to coast« fuhren und keine Hindernisse kannten. Sie räumten sie aus dem Weg, wenn sie sich vor ihnen aufbauten, und Männer, die diese Highway‐Panzer fuhren, gehörten zur besonderen Sorte. Der Truck kam zum stehen. Im Leerlauf lief der Motor. Kontrolliert zu werden brauchte nichts. So legte Arrik seinen rechten Zeigefinger auf einen bestimmten Knopf, den er nach unten drückte. Mit dieser Bewegung läute‐ te er gewissermaßen das Verhängnis ein, doch dies wußte weder er noch sein Kollege. Sie handelten exakt nach ihren Vorschriften und schauten zu, wie das Tor auf der im Boden versenkten Schiene langsam zur Seite glitt. Dabei entstanden so gut wie keine Geräusche, die Maschinerie der Technik war hervorragend eingespielt. Wer im Führerhaus saß, war nicht zu erkennen. Jedenfalls handelte es sich um zwei Männer, so viel konnten die beiden in ihrer Bewacherbude schon ausmachen. Der Truck rollte auf das Gelände. Seine gewaltigen Reifen wirkten wie Panzerketten, die alles zermalmen würden, was sich ihnen in den Weg stellte. Es war ein Tankwagen. Sein großer Kessel leuchtete karmesinrot! In hel‐ 11
ler Leuchtschrift waren an beiden Seiten die Warnungen gepinselt worden. Dieser Truck erinnerte an einen Giganten. Er rollte sehr langsam, während hinter ihm das Tor wieder zuschwang. Ohne Gewehr wollten die beiden Männer ihre Bude nicht verlassen. Sie schauten einander noch einmal an. Dabei fiel Arrik auf, daß sein Kollege grau im Gesicht geworden war. »Hast du was?« fragte er. »Kaum.« »Was ist denn, Mensch?« »Willst du es wirklich wissen?« »Ja doch. Und beeil dich. Wir müssen raus.« »Clint, ich habe das Gefühl, daß es uns in dieser Nacht noch erwischen wird.« »Du meinst, wir werden sterben?« »Richtig.« Arrik mußte lachen. »Du hast zuviel über Voodoo gehört und gelesen. Vielleicht kommen die Zombies noch und…« »Das kann passieren.« Mehr sagte der Schwarze nicht. Er drehte sich um und schritt auf die Tür zu. Als erster verließ er auch die Wachbude. Arrik folgte ihm kopfschüttelnd. Bis zum Wagen waren es nur zwei Schritte. Die Spielregeln waren klar. Kein Fahrer durfte seine Kabine verlassen. Erst wenn das Wachpersonal die Türen öffnete und damit sein Okay gab, konnten die Männer aus ihrem Fahrzeug klettern. Arrik überließ Ralph den Vortritt. Der Schwarze wirkte neben dem ho‐ hen Führerhaus klein und unscheinbar. Er mußte sich recken, um den Griff fassen zu können. Clint blieb im Hintergrund. Die Waffe hatte er von seiner Schulter rut‐ schen lassen. Das Gewehr lag schußbereit in der Hand, und wie zufällig wies die Mündung auf den Einstieg des Trucks. Ralph sprach kein Wort, als er die Tür offen hatte. Arrik, der sich zur Sei‐ te gedreht hatte, hörte den verwunderten Ausruf seines Kollegen und er‐ kundigte sich, was geschehen wäre. »Da ist niemand.« »Wie?« »Der Wagen ist leer.« Hopkins drehte sich um, schaute Arrik an und deu‐ 12
tete auf die offene Tür. »Schau selbst nach, Clint, das verdammte Führer‐ haus ist leer.« »Das gibt es doch nicht.« »Und ob es das gibt.« Entschlossen näherte sich der Mann dem Einstieg, kletterte die Alusrufen der Leiter hoch und blieb so stehen, daß er seinen Oberkörper in das Füh‐ rerhaus beugen konnte. »Und was siehst du?« hörte er den Schwarzen fragen. »Einiges, aber keine Fahrer.« »So ist es mir auch ergangen. Ich sah auch keinen. Fragt sich nur, wer den Track gefahren hat?« »Von allein ist er ja nicht hergerollt.« Clint drehte sich um. »Ich schaue mich hier genau um. Geh du mal in die Kiste. Wenn wir nichts finden, werden wir Grayson alarmieren.« »Ist gut.« Hopkins war es bei dieser Antwort überhaupt nicht wohl. Er dachte an den Klang der Trommeln und an sein Gefühl. Das Trommeln war verstummt. Es schien so, als wäre sein Ziel erreicht. Der Truck war da, die Trommeln nicht mehr zu hören. Hopkins wußte selbst nicht, aus welch einem Grund er beide Ereignisse in Zusammenhang brachte. Er dachte nur daran, daß etwas vorging; da war einiges faul, diese Nacht konnte er wirklich nicht mit dem Wort nor‐ mal umschreiben. Er mußte auf der Hut sein… Hopkins wollte einmal um den Wagen herumgehen. Er dachte über die oder den Fahrer nach. Vielleicht waren die Männer auf der Beifahrerseite ausgestiegen. Sie konnten zahlreiche Gründe für ihr Verhalten gehabt ha‐ ben, alles war möglich, aber sehr seltsam. Zwischen seiner Handfläche und dem Gewehrschaft spürte er den feuch‐ ten Schweißfilm. Er ließ die Waffe leicht durch seine Hand gleiten. Hopkins atmete durch die Nase. Seine Lippen lagen fest aufeinander. An der Seitenfront schritt er entlang, las die in heller Schrift gemalten War‐ nungen an den Außenseiten, spürte den Druck im Magen, erreichte eines der Hinterräder und sah neben dem gewaltigen, dunklen und noch heißen Rad die Bewegung. Ein Mann stand dort geduckt lauernd. Fast hätte Ralph ihn übersehen, so aber blieb er stehen und richtete die Mündung seiner Waffe auf den ande‐ 13
ren. »Komm raus, Bruder! Du brauchst dich nicht zu verstecken. Hier bin ich der Dirigent!« Der andere war ebenfalls ein Schwarzer. Er trug einen ölbeschmierten Overall und sonst nichts. Kein Hemd, nicht einmal Schuhe. Das Kraushaar war schmutzig, sein Kinn wirkte deformiert, als hätte ein Faustschlag die Knochen verschoben. Seine Füße klatschten auf den Boden, wenn er ging. Hopkins war geschockt. Er trat trotz des Gewehrs einen Schritt zurück, so hatte der andere Zeit, unter dem Truck hervorzukommen. Leichter Ben‐ zin‐ und Ölgeruch wehten Ralph entgegen, der so verwirrt war, daß er nicht wußte, wie er reagieren sollte. Eines jedoch stand fest. Hier stimmte einiges nicht. Dieser Typ vor ihm war nicht normal, der sah nicht aus wie ein Trucker, eher wie ein… wie ein… Ralph suchte nach einem Vergleich, aber ihm fiel keiner ein, dafür begann er zu schwitzen und zuckte zusammen, als er das metallisch klin‐ gende Geräusch oberhalb des Tanks hörte. Dort mußte jemand einen der Verschlußdeckel geöffnet haben. Ver‐ dammt, das durfte nicht sein. Plötzlich war Hopkins unsicher. Er schaute zum Fahrerhaus hin, aber sein Partner kam nicht. Dafür näherte sich ihm der Fahrer. Er kam so weit an Ralph heran, daß der ihm die Mündung des Schnellfeuergewehrs gegen den Magen drückte, bis der Lauf eine Kuhle in die Bauchhaut bog. »Ich will von dir eine Antwort haben!« flüsterte der Wachtposten scharf. »Was wird hier gespielt?« Der Fahrer erwiderte nichts. Er rollte ein wenig mit den Augen. Ralph fiel auf, daß sie schief in den Höhlen lagen. Das hatte er auch noch nicht gesehen, und er nahm einen Geruch wahr, der ihn an altes, allmählich faul werdendes Fleisch erinnerte. Der Geruch von Leichen, wenn sie zu lange über der Erde lagen… Ein Schauer kroch über Ralphs Rücken, als hätten Spinnenbeine ihn be‐ rührt. Er spürte auch den Druck im Magen und im Nacken den kalten Film aus Schweiß. Es gelang ihm, seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken und zu einem Entschluß zu kommen. Dieser Typ vor ihm, dem es nichts ausmachte, daß die Gewehrmündung so tief in seinen Körper gedrückt war, konnte nur eines jener Wesen sein, 14
vor denen Ralph schreckliche Furcht hatte und an die er noch vor kurzer Zeit beim Klang der Voodoo‐Trommeln gedacht hatte. Ein Zombie! Ein lebender Toter, das grausame Ergebnis einer Voodoo‐Zauberei. Es gab sie also! Dieser letzte Gedanke glich einem Schrei, und Hopkins wollte etwas tun, als sein Blick zufällig an der Tankseite des Trucks hochglitt und er auch auf den runden Tank blicken konnte. Und dort war das Gesicht. Es schaute über den Rand hinweg, wirkte wie eine bleiche Kugel, auf de‐ ren Vorderseite es zuckte und die von strähnig dunklen Haaren einge‐ rahmt wurde. War das der zweite? Ralph hätte schießen und nicht wie erstarrt schauen sollen. So aber gab er dem Zombie Gelegenheit, selbst die Initiative zu ergreifen, und das tat die lebende Leiche, die mit beiden Händen den Gewehrlauf packte, ihn zur Seite drückte und Ralphs Knie hochriß. Nicht sehr flüssig und schnell. Ralph hätte unter Umständen ausweichen können, aber er schaffte es nicht, denn das Grauen, dieser Vorbote des To‐ des, kam über ihn wie ein Gewitter. Bösartig zuckte der Schmerz vom Unterleib her durch seinen Körper, wollte im Gehirn explodieren und seine Schädeldecke wegsprengen. Das geschah nicht. Statt dessen sackte er in die Knie und kippte dabei nach hinten. Er merkte kaum, daß ihm der Zombie das Gewehr entrissen hatte und es am Lauf gepackt hielt. Er reagierte wie ein Automat. Der erste Schlag traf Ralph seitlich am Kopf. Bewußtlos wurde er nicht, aber er kippte auf den Asphalt. Zuerst kam er mit der rechten Schulter auf, drehte sich langsam zur Seite, und das gab dem seelenlosen Werkzeug des Teufels Zeit, genau Maß zu nehmen. Der Zombie hob das Gewehr. Noch immer hielt er den Lauf fest. Er sah das Blut aus der Kopfwunde des Wachtpostens sickern, bevor er den Kol‐ ben ein zweitesmal nach unten rammte. Er tat das, was sein Auftrag war. Er tötete! 15
Und die anderen, seine schrecklichen Brüder und Schwestern, kletterten aus dem Tank. Sie waren wie Ameisen. Tumbe Gestalten, die Mühe hatten, sich zu hal‐ ten, aber mit einer Zielstrebigkeit reagierten, die erschreckend war. Ralph Hopkins bekam davon nichts mehr mit. Er war tot… * Arrik lebte noch. Auch ihm war die ganze Sache spanisch vorgekommen, aber er ging sie härter an, nicht so zögernd wie sein Partner. In das Führer‐ haus wand er sich hinein. Irgendwo mußte der Fahrer zu finden sein. Das gab es einfach nicht, daß ein Truck dieser Größenordnung fuhr, ohne ge‐ steuert zu werden. Das war nicht drin! Über der Rückenlehne der breiten Sitze befanden sich die Schlafkabinen. Vielleicht waren es zwei oder drei, bei diesen großen Wagen wußte man das nie so genau. Arrik kletterte auf den Sitz. Er hatte bereits die Hand erhoben, um den Vorhang zur Seite zu ziehen, als er mitten in der Bewegung zögerte. Ein unnatürlicher Geruch war in seine Nase gedrungen. Er konnte nicht genau sagen, zu welcher Art er diesen Geruch zählen sollte, angenehm jedenfalls war er nicht. So faulig… Clint räusperte sich. Das Kratzen im Hals wollte nicht weichen. Jetzt hör‐ te er auch die Stimme seines Partners. Er mußte draußen irgend jemandem einen Befehl geben. Leider waren seine Worte nicht genau zu verstehen, aber Clint vermutete, daß Ralph einen der beiden Fahrer gestellt hatte. Er wollte den zweiten. Deshalb riß er den Vorhang zur Seite. Dabei vernahm er noch das krat‐ zende Geräusch, als die Ringe über die Stange schleiften, und mußte im nächsten Augenblick eine Szene miterleben, in der er die Hauptrolle spielte und die ihm trotzdem vorkam wie in einem Film. Etwas kippte ihm entgegen. Zwei Körper – zwei Leichen. Clint war ein harter Bursche. Er konnte einiges vertragen, hatte auch 16
schon vieles gesehen, das hier aber war grauenhaft und einfach furchtbar. Dem Mann gelang es nicht mehr, seine Arme hochzureißen. So fielen die starren, toten Körper gegen ihn und drückten ihn zurück, bis er mit dem Rücken gegen das breite Lenkrad stieß und durch die zwei Leichen ein‐ gepreßt wurde. Sekunden vergingen. Das Gesicht des Clint Arrik zeigte fast die gleiche Starre wie die Züge der Toten. Er nahm wahr, daß die Männer Overalls trugen, Hemden darüber, beide schwarzes Haar besaßen, dessen Strähnen jedoch blutverkrustet wa‐ ren, da man sie durch schwere Schläge gegen den Kopf getötet hatte. Getötet, ermordet! Diese beiden Begriffe rasten durch seinen Kopf, und Arrik dachte plötz‐ lich wieder normal. Er wußte, daß auch er sich in höchster Lebensgefahr befand und daß er sofort handeln mußte, denn dieses Führerhaus kam ihm auf einmal vor wie ein Sarg aus Stahl und Glas. Durch heftiges Anheben der linken Schulter konnte er eine der Leichen zur Seite wuchten. Sie rutschte noch gegen die geschlossene Tür, blieb dann mit hocherhobenen und ausgestreckten Beinen halb auf dem Sitz liegen. Den zweiten Toten schleuderte Clint einfach herum, so daß er sich neben dem Beifahrersitz auf dem Boden ausstreckte und Arrik über ihn hin‐ wegsteigen konnte. Er mußte raus aus dieser Rattenfalle! Fast hätte er noch sein Gewehr vergessen. Clint schnappte nach der Waf‐ fe und wollte über den Toten hinwegsteigen, da vernahm er außerhalb des Wagens Geräusche, als wäre jemand aus einer gewissen Höhe zu Boden gesprungen. Vielleicht vom Dach des Trucks her… Etwas in seiner Kehle wollte ihm die Luft abschnüren. Er bekam für ei‐ nen Moment das Zittern und mußte sich überwinden, aus dem Führerhaus zu klettern. Er bewegte sich ganz vorsichtig. Clint stieg nicht auf die Leiche, das brachte er einfach nicht fertig. Einen langen Schritt benötigte er, um die oberste Stufe der Alutreppe zu errei‐ chen. Dort zögerte er, schaute nach draußen, sah keinen, und erst als er sich 17
schon abstoßen wollte und trotzdem noch nach links blickte, entdeckte er auf dem Boden das dunkle Bündel. Wie ein Mensch sah es aus. Es war ein Mensch! Sein Partner! Clint Arrik öffnete den Mund, ohne etwas zu sagen. Sturmwindartig durchtosten ihn die Gefühle. Plötzlich zitterte er. Die Haltung des Mannes sagte ihm alles. Ralph konnte nicht überlebt haben. Jemand hatte ihn gekillt, und Clint sah auch den dunklen Fleck, der den Kopf seines Partners umrahmte. Lan‐ ge zu raten brauchte er nicht. Das war Blut! Wie Hiebe spürte Clint seinen eigenen Herzschlag. Etwas durchtoste sei‐ nen Körper. Er mußte hier weg, stieß sich ab und sprang aus der offenen Tür des Führerhauses nach draußen. Auf dem Asphalt landete er, lief noch einen Schritt und fuhr mit angeschlagenem und schußbereitem Gewehr herum, weil er die Gegner suchte. Er sah sie nicht… Clints Mund verzerrte sich. »Verdammt!« sagte er keuchend. »Ver‐ dammt, kommt raus aus euren Löchern. Ich jage euch meine Kugeln in die Bälger, ihr verfluchten Killer.« Niemand gab Antwort, und so suchte er weiter nach den Killern, die nicht nur die beiden Fahrer auf dem Gewissen hatten, sondern auch seinen Freund und Partner Ralph. Da sah er die Bewegungen. Unter dem Tank des Wagens hatten sie sich verkrochen, dicht neben den Reifen standen sie, und er entdeckte einen geduckt hockenden Körper auf dem Tank, wo die Deckel offen standen, aber kein Kerosingeruch aus‐ strömte. Ihm wurde klar, daß der Truck keinen Treibstoff geladen hatte, sondern eine andere Fracht. Der Kerl auf dem Tank stierte in seine Richtung. Er trug zerfetzte Klei‐ dung, die im leichten Nachtwind flatterte. Clint Arrik tat das, was er tun mußte, und es machte ihm nicht einmal etwas aus. Er schoß. Mehrere Kugeln jagte er aus dem Lauf, sah die Einschläge und bekam 18
mit, wie die Gestalt von der Wucht der Schüsse hinweggefegt wurde. »Okay, okay!« schrie er. »Das mußte sein!« Der Blick des unter Dau‐ erstreß stehenden Mannes fieberte. Vielleicht war sein Freund doch nicht tot. Er mußte nachschauen und lief geduckt auf ihn zu. Da zuckte er zusammen, denn er hatte abermals den Trommelklang ver‐ nommen. Voodootrommeln waren es, und plötzlich lachte er nicht mehr darüber. Nicht in dieser verdammten Lage, wo vor seinen Füßen ein Toter lag, das hatte er jetzt festgestellt. Ralph Hopkins konnte niemand mehr helfen. Clint richtete sich wieder auf. Seine Augen schwammen in Tränenwasser. »Ihr Schweine!« brüllte er über den Platz. »Ihr verdammten Schweine habt ihn gekillt!« Seine Stimme wurde zu einem schrillen Echo, das seinen Widerhall an den blanken Außenseiten der wie glotzend dastehenden riesigen Tanks fand, in die Nacht hineinflog und sich mit dem dumpfen Trommelwirbel der Voodoo‐Klänge vermischte. Dann kamen sie… Bisher hatten sie in der schützenden Dunkelheit unter dem Truck gelau‐ ert. Das Trommeln schien das Zeichen für sie gewesen zu sein, sich aus den Deckungen zu lösen. Clint packte schleichende Angst. Vor ihm bewegte sich das personifizierte Grauen. Hineingepreßt in die unheimlichen, seelenlosen, roboterhaften Gestalten der lebenden Leichen, die eine kompakte Mauer bildeten und nun das zweite Opfer innerhalb kurzer Zeit haben wollten. Das war Clint Arrik! Er sah sie wie durch einen Schleier. Frauen und Männer schoben sich vor. Einige von ihnen hielten die Arme ausgestreckt, andere schwangen damit, um das Gleichgewicht zu halten, doch eines hatten sie gemeinsam, auch wenn sie so unterschiedlich gekleidet waren. Sie wollten töten. Programmiert auf Mord. Und Clint stand ihnen gegenüber. Die Innenflächen seiner Hände waren vom kalten Schweiß so glitschig geworden, daß es ihm kaum noch möglich erschien, sein Gewehr zu halten. Die Mündung zitterte. Von oben nach unten schwang sie, denn Clint war einfach nicht in der Lage, die schwere 19
Waffe ruhig zu halten. Sein Mund war trocken, dunkle Schweißflecke bildeten auf seinem Hemd ein Muster. Die Angst drückte gegen seinen Magen. Sie verstärkte sich noch, als er sah, daß aus dem Tank weitere Gestalten kletterten und sich kurzerhand herunterrutschen ließen. Sie fielen gegen die anderen. Einige von denen wurden zu Boden gesto‐ ßen, kamen aber wieder hoch und setzten ihren Weg unbeirrt fort, als wäre nichts gewesen. »Das ist doch Wahnsinn!« ächzte der Mann. »Verrückt, einfach…« Ihm fehlten die Worte. Am Ende des Trucks sah er noch einen Zombie kommen. Clint kannte ihn. Das war genau der, den er mit seiner Kugelgarbe vom Wagen geholt hatte. Der Untote ging schwankend. Sein Körper war mehrmals getroffen wor‐ den. Deutlich konnte Clint die Spuren erkennen, denn das Licht der Peit‐ schenleuchte erhellte die Szenerie mit einer nahezu brutalen Deutlichkeit. Der lebende Tod! Dieser Begriff kam ihm in den Sinn. Er schüttelte den Kopf und wußte, er mußte etwas tun, denn die ersten Zombies standen bereits so nahe vor ihm, daß sie nach ihm greifen wollten und ihre teigig wirkenden Finger bereits ausgestreckt hatten. Er schoß. Das Schnellfeuergewehr tat seine »Pflicht«. Clint sah die Gestalten fallen, hörte keinen Schrei, sah nur die um sich schlagenden Arme und vernahm auch die dumpfen Geräusche, die entstanden, als die Wesen zu Boden klatschten. Für Sekunden hatte er Luft. Und er dachte an Flucht. Doch wo sollte er hin? In Gedankenschnelle hatte er sich entschieden. Relativ sicher war seine Bude. Wenn er sie erreichte und die Tür abschloß, würde es auch diesen Zombies fast unmöglich sein, das gepanzerte Glas des Wachhauses zu zer‐ stören. Er konnte dann Hilfe holen. Grayson mußte Bescheid wissen und mit seiner Kampftruppe anrücken. Clint ging zurück. Die von ihm getroffenen Zombies erhoben sich wieder 20
und begannen mit der Verfolgung. Die ersten beiden Schritte war er noch langsam gegangen. Dabei hatte er den Mund weit aufgerissen, holte tief Luft, schüttelte sich, und Schweißtropfen wirbelten wie abgeschleuderte Perlen von seinem Gesicht weg. Die Angst gab ihm Kraft. Er rannte schneller, obwohl seine Knie zitterten, und er drehte sich auch um, feuerte im Laufen zurück, spürte das Tanzen der Waffe in seinen Fäusten, sah, daß er einige dieser Gestalten erwischte, und er setzte seine Flucht fort. Auf einmal kam ihm der Weg verdammt lang vor. Arrik dachte nur noch daran, daß er Hilfe holen und sein Leben dadurch vielleicht retten konnte. Etwas flog heran. Er sah es erst, als rechts von ihm in einer gewissen Hö‐ he das Ding vorbeihuschte. Ein Ei – torkelnd, taumelnd, doch ein Höllenei aus Metall, dem man auch den Namen Eierhandgranate gegeben hatte. Wenn die in seiner unmittelbaren Nähe explodierte und die Splitter ihn erwischten, war es aus. Dann wurde er zerrissen. Aus vollem Lauf warf Clint sich zu Boden. Er hatte sich nicht genügend schützen können, der Aufprall zerschmetterte ihn fast. Rauher Asphalt riß Furchen in seine Gesichtshaut. Zwei Zähne splitterten, der Schädel schien in die Luft zu fliegen, doch das Krachen stammte von etwas anderem. Die Granate war detoniert! Ein Splitterregen verteilte sich nach allen Seiten. Der Mann hatte unheim‐ liches Glück, daß die scharfen Metallecken nicht durch seine Kleidung und in den Körper schlugen. Dem tödlichen Hagel folgte die Druckwelle. Sie zerrte an ihm, riß ihn hoch; er überrollte sich und spürte erst jetzt den Schmerz in seinem rechten Bein. Dort hatte es ihn erwischt. Ein zuckendes Stechen und die gleichzeitig außen zu spürende Wärme waren für ihn Be‐ weis genug. Er kam hoch, knickte wieder ein, denn das rechte Bein wollte nicht so, wie er es gern gehabt hätte. Jetzt waren die Zombies schneller als der humpelnde Mensch, der rechts von sich den Krater sah, den die Granate gerissen hatte. Clint biß die Zähne zusammen. Sein eigenes Luftholen kam ihm vor wie Schreien, als er sich weiterschleppte und trotz aller Widrigkeiten versuchte, die rettende Wach‐ bude zu erreichen. Ein Dauerschutz würde es nicht sein, aber Hilfe mußte herbeigeholt wer‐ 21
den. Wenn Graysons Mannschaft die Wagen nahm, dauerte es nur Minu‐ ten, bis sie eintrafen. Hinkend schleppte er sich weiter. Kalt angestrahlt vom Licht der Peit‐ schenlampen, in deren schattenlosem Schein sich auch die Blutspur des’ aus der Wunde rinnenden Lebenssafts abzeichnete. Wieviele Schritte waren es noch? Clint wußte es nicht. Er sah die Tür, die Helligkeit dahinter. Selbst der verdammte Kaffeeautomat schien ihn zu erwarten. Immer härter jagten die Schmerzen durch sein Bein. Er hatte nicht erst nach der Wunde geschaut. Sie brannte, sie wollte ihn daran hindern weiterzugehen, aber dieser Mann gab nicht auf. Er kämpfte sich vor. Einsam, verbissen und auch sehr tapfer, das mußte man ihm einfach las‐ sen. Trotz seines desolaten Zustandes fand er noch die Kraft, den Kopf zu drehen, denn er wollte schauen, ob und wie weit die Zombies aufgeholt hatten. Er sah auch diese Mauer aus lebenden Toten, aber das schaurige Bild in‐ teressierte ihn plötzlich nicht mehr. Viel wichtiger war die Figur, die die Zombies anführte und dabei eine Eierhandgranate lässig von einer Hand‐ fläche in die andere warf. Es war ein schwarzer Koloß! Ein Neger mit Muskeln, wie sie auch Arnold Schwarzenegger in seinen Filmen zeigte. Vielleicht sogar eine lächerliche Figur, was seine Kleidung anging, doch Clint Arrik hütete sich, diesen Mann zu unterschätzen. Er war der gefährlichste von allen, und er war kein Zombie, denn er sprach Clint an. »He, du Irrer, wo willst du noch hin?« Clint zuckte zusammen. Nicht wegen der lauernd und krächzend klin‐ genden Stimme, er hatte nur sein Gewicht falsch verlagert, so daß er auf seinem rechten Bein stand. Der Neger hob den Arm. Diese eine Bewegung reichte aus, um den Gang der Zombies zu stoppen. Hinter ihm blieben sie stehen. Eine gefährliche, tumbe, lauernde Masse, die darauf wartete, einen Auftrag zu beenden. Der Schwarze gab sich lässig. Noch zweimal flog die Eierhandgranate hin und her, dann ließ er seine Arme sinken. Deutlich erkennbar stand er 22
im Streulicht einer Bogenlampe. Nein, er war keine Witzfigur, auch wenn er im ersten Moment so wirkte. Auf seinem haarlosen Schädel saß wie angeklebt ein pechschwarzer, sei‐ dig schimmernder und steifer Zylinder. Der mit Öl oder Fett eingeriebene muskelbepackte Oberkörper war nackt. Als einziges Kleidungsstück trug er eine rotweißgestreifte Hose. Sie hatte Ähnlichkeit mit Bermuda‐Shorts, saß schon provozierend eng und endete mit den Hosenbeinen dicht über den Knien des Mannes. Schuhe trug er nicht. Seine Füße mußten nur aus Schwielen bestehen, wenn er sich mit den nackten Tretern bewegte. Kein Zombie, dachte der Wachtposten. Er ist, verdammt noch mal, kein Zombie, sondern ein Mensch. Und sicherlich auch nicht kugelfest. So ge‐ fährlich die lebenden Leichen auch waren, ihr Vordenker und Boß war dieser Mann mit dem Topfhut. Wenn er ausgeschaltet wurde, bestand für Clint Arrik eine Chance, die Wachbude noch zu erreichen. Und er mußte schnell regieren. Aus der Wunde sickerte immer mehr Blut. Die Splitter hatte ihm die rechte Wade aufgerissen. Er mußte einfach etwas tun, um diesem Grauen zu entkom‐ men. Der andere blieb kalt. Er lachte sogar höhnisch und sagte: »Verlaß dich nur nicht auf dein Gewehr. Ich bin besser, wir sind besser, und wir werden unseren Job durchführen.« »Welchen?« schrie Clint. »Das Lager muß brennen!« Diese Antwort erschütterte Arrik. Er hatte auf eine unbestimmte Weise damit gerechnet, doch nun war er mit den Tatsachen konfrontiert worden, und diese direkte Erkenntnis traf ihn wie der Schlag mit einem Hammer. »Nein!« schrie er plötzlich. »Nein, ihr Hunde. Ich lasse es nicht zu. Ihr werdet nichts dergleichen tun. Ihr…« Er riß sein Gewehr hoch, und diese Bewegung war einfach zu hastig durchgeführt worden, denn er knickte mit dem rechten Bein weg, so daß die Schüsse schräg in den Himmel peitsch‐ ten. Furchtbare Angst quälte ihn plötzlich. Arrik wußte genau, daß dies sein Ende war. Er dachte an die Handgranate und deren mörderische Kraft. Der Neger hatte sie längst entsichert, sie aber nicht geworfen, sondern gerollt. »Ich bin Barnabas!« schrie er. »Ich bin der Voodoo‐Meister!« Dann lachte 23
er und schaute zu, wie Clint verzweifelt versuchte, dem Höllenei zu ent‐ kommen. Er schaffte es nicht. Zu sehr war er behindert, zu schwerfällig bewegte er sich. Den grellen Blitz nahm er noch wahr, dann spürte er den gewaltigen Druck und das Reißen in seinem Körper. Barnabas und seine Zombies schauten zu. Das Gesicht des Menschen blieb ebenso ausdruckslos wie das dieser schrecklichen Wesen. Keinen Funken Mitgefühl besaßen sie mit dem Mann, den sie vor wenigen Sekun‐ den getötet hatten. Sie würdigten ihn auch keines Blickes, als sie auf ein Zeichen des gewal‐ tigen Schwarzen voranschritten, um einer mörderischen Aufgabe nachzu‐ kommen. Barnabas war es, der die Sprengladungen persönlich anlegte. Das hatte man ihm in einer langen Zeit der Ausbildung beigebracht. Exakt sieben‐ undzwanzig Minuten später flog das Lager in die Luft. Da hatten es die Zombie bereits verlassen. Sie schauten aus der Ferne zu, wie der Himmel über diesem Teil des Staates Louisiana zu einem gewaltigen Meer aus Flammen und Rauch wurde. Wieder einmal hatten sie zugeschlagen, und die Welt sollte noch mehr von ihnen hören… II Mein Vater hatte mir einmal gesagt: »Wenn du dein Glück finden willst, Junge, mußt du dem Regenbogen bis zu seinem Ende hin folgen…« Worte, die in etwa stimmten, nur würde es kaum jemandem gelingen, das Ende des Regenbogens zu erreichen. Und das Glück fand man woan‐ ders. In sich selbst vielleicht oder in seiner Arbeit und in der Familie. Eine Familie besaß ich nicht. Arbeit dafür genug, aber glücklich machte sie mich auch nicht. Sie mußte nur getan werden, und dafür war ich seit Jahren der richtige Mann, wie man mir hin und wieder bestätigte, um mich weiterhin zu motivieren. Denen, die mich noch nicht kennen, möchte ich mich ganz kurz vorstel‐ len. Mein Name ist John Sinclair, von Beruf bin ich Polizist, arbeite für Scot‐ 24
land Yard und stehe dort im Range eines Oberinspektors. Damit wäre eigentlich alles gesagt, bis auf eine Kleinigkeit, die jedoch entscheidend war. Ich mußte mich mit Fällen beschäftigen, wo andere gar nicht erst anfin‐ gen oder die Brocken hinwarfen und nach mir riefen; meine Arbeit war die eines Selbstmordkandidaten, denn ich stellte mich den Mächten der Fins‐ ternis entgegen. Das heißt, ich kämpfte gegen die Hölle und deren schwarzmagische Kre‐ aturen. Ich hatte zu tun mit Zombies, mit Vampiren, mit Werwölfen und anderen Bestien, fightete gegen Dämonen, Monster und Kreaturen aus anderen Dimensionen und Zeiten. Mich hatte es schon nach Atlantis verschlagen oder in die Vergangenheit unserer Welt, und ich wußte von den haarsträubenden Dingen sowie schrecklichen Gefahren, die über der Menschheit schwebten und die ich verzweifelt abzuschwächen oder abzuwehren versuchte. Zum Glück stand ich nicht allein in diesem gewaltigen Kampf. Da wäre ich schon längst untergegangen. Ich besaß Freunde, die mir hal‐ fen. Da war zum Beispiel Suko, mein Kollege, Partner und Freund. Oder das Ehepaar Conolly sowie die Freunde aus dem alten Atlantis, die Kara und Myxin hießen. In Deutschland hielt ein gewisser Kommissar Mall‐ mann die Augen offen, und weil wir alle so gut zusammenhielten, hatte es bisher geklappt, den Mächten der Finsternis zu trotzen. In der letzten Zeit war noch ein junger Türke namens Yakup Yalcinkaya zu uns gestoßen. Er hielt im fernen Amerika die Stellung. Er hatte ein Klos‐ ter nahe der Stadt San Francisco geerbt und war dabei, es zu einem Hort des Guten auszubauen. Ihm zur Seite stand seit kurzer Zeit Jane Collins, ehemalige Detektivin und Hexe, in die ich einmal stark verliebt gewesen war. Nun, das gehörte der Vergangenheit an. Obwohl ich oft genug mit eben dieser Vergangenheit konfrontiert wurde, galt mein Augenmerk mehr der Zukunft oder der Gegenwart, denn ich mußte mich einfach immer wieder auf die neuen Fälle konzentrieren. Davon gab es genug. Leider, muß ich sagen, denn Schwarzblütler schliefen nie. Sie besaßen keine geregelte Arbeitszeit, sie schlugen eiskalt zu und immer dann, wenn man am wenigsten mit ihrer Attacke rechnete. 25
Über all diese Dinge dachte ich nach, als ich in meinem Bentley saß und durch die flache südenglische Landschaft gondelte. Es war eine Postkarten‐ Idylle, die sich zu beiden Seiten der Straße ausbreitete. Parkähnliche Land‐ schaften, satter grüner Rasen, Waldstücke, die wie dunkle Inseln aus ihm herausragten, hin und wieder eine kleine Ortschaft, deren Häuser wie ver‐ streut wirkend im Gelände lagen. Und mein Ziel war eine Ruine. Was ich dort sollte, war mir unbekannt. Ich hatte von meinem Chef, Sir James, diesen Auftrag bekommen und suchte nun den kleinen Ort namens Ticehurst, der an einem idyllischen See liegen sollte. Auf der Karte hatte ich mir die Strecke genau angesehen, sie aber nicht mehr im Kopf behalten, so daß ich hin und wieder nachschauen mußte. In Ticehurst und am See sollte die Ruine liegen. Ich hatte meinen Freund und Kollegen Suko mitnehmen wollen, war je‐ doch auf den energischen Widerspruch meines Chefs gestoßen. Der Super‐ intendent hatte verlangt, daß ich allein fuhr. So war mir nichts anderes übrig geblieben, als diesem Wunsch nachzukommen. Informationen hatte man mir nicht mit auf den Weg gegeben, und das wunderte mich ein wenig. Natürlich machte ich mir meine Gedanken. Mit einer Falle rechnete ich nicht, dann hätte mich Sir James nicht geschickt. Etwas Geheimnisvolles lag über meiner Reise, das hatte ich sehr deutlich beim Gespräch mit Sir James gespürt. Die Mittagszeit lag hinter mir und leider auch das schöne Sommerwetter. Seit dem gestrigen Tag hatte es sich stark abgekühlt. Große Wolkengebirge ballten sich am Himmel zusammen und bildeten verschiedene Muster. Da schoben sich die dunklen in die hellen Dunstschwaden hinein, kreisten, wirbelten und ließen ihre Ladung, den Regen, ab. Zweimal war ich in hef‐ tige Schauer geraten, und dicht vor dem Ziel erwischte es mich zum dritten Mal. Ich hörte das harte Trommeln der Tropfen auf dem Blech des Wagens, schaltete die Wischer auf die schnellste Stufe und mußte auch das Licht einstellen. Sehr dunkel war es geworden. In langen Fäden rann der Regen aus den tiefen Wolken, klatschte auf die schmale Straße oder fegte als Wasservor‐ hang durch das Gelände. Es hatte auch aufgefrischt. Der Wind trieb die Regenvorhänge über das flache Land und schleuderte sie gegen die einsam 26
wachsenden Wälder, wo die Bäume mit den frischen, grünen Blättern ge‐ schüttelt und gerüttelt wurden. Es war zum Glück nur ein kurzer Schauer. Als ich in die direkte Straße zum See hin einbog, fielen nur noch ein paar Tropfen. Wenig später hörte der Regen ganz auf. Als hätten Riesenhände die Wolken zerrissen, so wurden sie auseinan‐ dergeschoben, und an einigen Stellen lugte die helle Scheibe der Sommer‐ sonne wieder durch. Sie schickte ihre wärmenden Strahlen der Erde entgegen und dampfte die Nässe weg, so daß ich durch dunstige Schwaden rollte, die auch auf‐ hörten, bevor ich Ticehurst erreichte. Um an mein Ziel zu gelangen, hätte ich nicht in den Ort hineinfahren müssen, aber ich war ein Fremder und kannte mich nicht aus, deshalb wollte ich mich dort erkundigen, welchen Weg ich nehmen mußte. Es war ein hübsches Städtchen. In der Art eines Rundlings gebaut, denn die Häuser konzentrierten sich kreisförmig um die Kirche, deren schmaler Turm mit dem Wetterhahn darauf sich in den wieder blank gewordenen Himmel schob. Es blies allerdings ein frischer Wind, der mir nicht unangenehm war. Als ich den Silbergrauen schon in das Dorf hineingelenkt hatte und bremsen mußte, weil Hühner über die Straße liefen, entdeckte ich das Schild genau an der Einmündung einer schmalen Gasse. Ich stoppte den Bentley. Vom Wagen aus las ich die Beschriftung. Abbey and Lake, stand da nur. Wahrscheinlich für Fremde oder Angler, denn ein stilisiert dargestellter Fisch war ebenfalls noch zu erkennen. Dieses Hinweisschild ersparte mir die Fragerei. Ich lenkte den Wagen in den Weg, der keine Asphaltdecke hatte und fuhr zwischen gepflegten Gär‐ ten weiter. Hier passierte ich eine dichte Buchenhecke, dort die Rückfront einer Scheune oder die gepflegte Vorderseite eines Bauernhauses, dessen grüne Fensterläden frisch gestrichen schimmerten. Nach den Gärten begannen die Felder. Keine großen Kornfelder, mehr Beete, auf denen Obst angebaut wurde. Erdbeeren! Zahlreiche Menschen knieten oder standen in gebückter Haltung da, um die Früchte zu ernten. Eine ältere Frau hatte mich heranfahren hören, rich‐ 27
tete sich auf, drehte sich um und schaute mir entgegen. Um ganz sicherzugehen, stoppte ich meinen Bentley neben ihr und ließ die Seitenscheibe nach unten fahren. Mein bestes Sonntagslächeln zauberte ich auf die Lippen, und auch das Gesicht unter dem bunten Kopftuch der Frau verzog sich zu einem Lächeln. »Kann ich etwas für Sie tun, Sir?« Ich grüßte höflich und erkundigte mich nach dem Weg zur alten Kloster‐ ruine. Das Lächeln aus dem Gesicht der Frau verschwand. Sie trat sogar einen Schritt zurück, als hätte sie Angst vor mir. Ich merkte das natürlich und sagte: »Sorry, Madam, ich verstehe Ihre Re‐ aktion nicht. Ist es schlimm, daß ich Sie nach der Ruine fragte?« »Nein, eigentlich nicht.« »Sondern?« Auf diese Suggestivfrage gab sie mir Antwort. »Sie sind nur nicht der erste, der diese Frage gestellt hat.« Sieh mal an, dachte ich. »Wer denn noch?« »In den letzten Tagen ist öfter nach dem Weg zum Kloster gefragt wor‐ den.« »Hat das einen Grund gehabt?« Sie schaute mich verwundert an. »Den müßten Sie doch eigentlich wis‐ sen, Mister.« »Nein, man hat mich nur geschickt. Stimmt etwas nicht mit dem Klos‐ ter?« Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich sage nichts mehr. Gar nichts.« Sie wollte gehen, doch mein Ruf hielt sie auf. »Moment, Madam.« Ich hatte meinen Ausweis hervorgeholt und hielt ihn so, daß sie ihn sehen konnte. »Ich bin von der Polizei und…« Die Frau kam wieder näher, holte eine Brille aus der Kitteltasche, setzte sie aber nicht auf, sondern hielt sie vor ihre Augen, um das Gedruckte le‐ sen zu können. »Scotland Yard sogar«, flüsterte sie. »Sehr richtig, Madam. Ich möchte mir die Ruine einmal genauer ansehen, wissen Sie.« »Wenn Sie unbedingt wollen, Sir…« Sie hatte die Worte so komisch ausgesprochen, daß ich stutzig wurde. 28
»Es ist mein Job, und ich habe mir bisher bei diesem Auftrag nichts ge‐ dacht. Jetzt allerdings wundere ich mich über Ihre merkwürdige Reaktion. Stimmt da irgend etwas nicht?« Mit der letzten Frage hatte ich die Frau verlegen gemacht. Sie wischte ih‐ re Hände an der Vorderseite des Kittels sauber und hob die Schultern. »Das kann man nicht so genau sagen. Ich jedenfalls und die meisten ande‐ ren Leute im Ort auch würden die Ruine in der Nacht nicht besuchen. Das ist zu gefährlich.« »Spukt es dort?« Ich hatte die Frage sehr ernsthaft gestellt, denn ich wuß‐ te genau, daß zahlreiche Bewohner unseres Landes an Geister und Spuker‐ scheinungen glaubten, die es auch tatsächlich gab, wie ich aus eigener Er‐ fahrung wußte. »Das weiß ich auch nicht«, wurde mir erwidert. »Jedenfalls ist es ko‐ misch. Nachts sollen da Gestalten herumgeschlichen sein. Vielleicht war das Kloster auch ein Treffpunkt. Wagen sind hingefahren. Schwarze Autos, die sehr offiziell oder gefährlich aussahen.« »Wann war der letzte denn da?« »Noch in dieser Woche.« »Haben Sie sich zufällig das Kennzeichen gemerkt?« »Nein, wo denken Sie hin.« Ich wollte schon weiterfahren, doch die Frau hatte noch einen Tip für mich. »Etwas hatte ich doch gesehen. Zwischen den Heckleuchten ein ovales Schild. Blau und mit weißer Schrift. USA las ich dort.« »Das ist doch etwas«, erwiderte ich und bedankte mich sehr herzlich für die Auskunft. »Wollen Sie trotzdem noch fahren?« erkundigte sich die Frau. »Natürlich.« »Viel Glück.« Während ich die Scheibe hochfuhr, rief ich ihr noch ein »Danke« zu und startete. Sehr langsam rollte ich über den schmalen Weg. Meine Gedanken be‐ schäftigten sich mit dem Gehörten. So ganz ohne wichtigen Grund schien mich mein Chef, Sir James Powell, doch nicht losgeschickt zu haben. Ir‐ gendein Geheimnis mußte es um diese Ruine geben, wenn sie schon als Treffpunkt für Fremde diente. Ich war gespannt. 29
Die Erdbeerfelder verschwanden. Leider wurde die Strecke nicht besser; im Gegenteil, als der Wald auftauchte, wuchs der Weg noch mehr zusam‐ men. Weit konnte ich nicht in dieses Stück Natur hineinfahren. Ich hielt an, und es war nicht zu vermeiden, daß mein Silbergrauer den Weg versperrte. Als ich den Wagen abschloß, warf ich noch einen Blick zurück. Die ernten‐ den Menschen auf den Erdbeerfeldern waren kleiner geworden. Zudem zog wieder einmal die Bewölkung auf. Sicherlich würde es bald den vier‐ ten Schauer geben. Einen Mantel hatte ich nicht mit, so hoffte ich, daß mich das dichte Laub der Bäume schützen würde. Auf dem Waldweg ging ich weiter. Die Bäume standen sehr dicht, die Helligkeit hielt sich deshalb in Grenzen, und ich sah durch die Lücken auch nicht das Wasser des nahen Sees schimmern. Ein frischer, herrlicher Frühsommergeruch schwängerte die Luft. Das war Ge‐ sundheit hoch drei. An manchen Stellen dampfte es noch. Da trafen die Strahlen der Sonne auf die noch feuchte Erde. Ich wunderte mich doch ein wenig. Bestimmt gab es noch einen zweiten, bequemeren Weg, der zum Kloster oder zum See führte. Ich hatte wohl leider Pech gehabt und den anderen genommen. Der Boden war weich, mit Humus bedeckt und an manchen Stellen auch rutschig. Das Gelände führte ein wenig bergab. Vogelgezwitscher begleite‐ te mich, bis es vom Prasseln der ersten Regentropfen auf dem Laub der Bäume übertönt wurde. Sekunden später goß es wie aus Kübeln. Jetzt hätte ich doch einen Regen‐ schutz gebrauchen können, alles hielten die Blätter nicht ab. Die Tropfen klatschten mir auf den Kopf, rannen in den Nacken und glitten meinen Rücken entlang. Auch das überstand ich. So heftig der Schauer gewesen war, so rasch hörte er wieder auf. Ich war mittlerweile über zwanzig Minuten unterwegs gewesen, schaute nun nach vorn und entdeckte zwischen den Bäumen eine Fläche, die die Farbe von blaugrauem Blei besaß. Ein Metall war es sicherlich nicht. Das sah mir eher nach einem Wasser aus. In der Tat stand ich – nachdem ich einen kleinen Anhang hinunterge‐ rutscht war – am Ufer des Sees, blickte auf die gekräuselte Fläche und sah die Klosterruine. 30
Sie befand sich auf einer kleinen Insel, die mitten im See lag. Zum Glück nicht sehr weit. Zudem war sie durch einen Steg mit dem Ufer verbunden. Das gefiel mir. Ich blieb noch vor dem Steg stehen und schaute mir die Umgebung noch einmal an. Das Ufer des Sees war bewaldet. Die Bäume wuchsen bis dicht an das Wasser heran. So etwas wie einen kiesigen Strand gab es nicht. Ich entdeck‐ te auch keine zweite Zufahrt, es sei denn, sie lag so versteckt, daß die Bäu‐ me sie verbargen. Aus der kleinen, mit Gras, Krüppelbäumen und Unterholz bedeckten In‐ sel wuchsen die Mauern des Klosters hervor. Kantige Stücke, manche von ihnen nur mehr fragmenthaft. Ein Torbogen war noch heil geblieben. Durch ihn konnte man wohl auf den Innenhof der Klosterruine gelangen. Er war mein Ziel, da wollte ich hin, und ich machte mich auf den Weg. Der Steg sah mir nicht sehr vertrauenserweckend aus. Die Nässe stammte nicht allein vom letzten Regenschauer. Das Holz war brüchig und faul geworden. Es hatte sogar die Spuren jener Leute konserviert, die vor mir den Steg benutzt hatten. Anhand der Abdrücke erkannte ich, daß es sich um Männerschuhe ge‐ handelt hatte. Vielleicht befand sich noch jemand zwischen den Mauerres‐ ten und erwartete mich. So etwas wie Spannung überfiel mich. Zudem umgab mich eine seltsame Stille. Als Ruhe vor dem Sturm wollte ich sie nicht gerade bezeichnen, aber normal war sie auch nicht. Vielleicht lag es an der waldreichen Umgebung, daß jeder Laut oder Ton von außen auf ein Minimum reduziert wurde, ich jedenfalls konnte mich mit meiner näheren Umgebung nicht so recht an‐ freunden. Der Steg führte auch durch eine schmale Schilfregion. Ein idealer Platz für Frösche und anderes Kleingetier. Ich vernahm hin und wieder ein Glucksen oder Platschen. Diese Geräusche schienen tatsächlich von den Tierchen zu stammen. Hin und wieder bogen sich die Planken unter meinem Gewicht durch, aber sie hielten stand. Auch die Insel war von einem flachen Schilfgürtel umgeben, den ich durchschritt. Dann setzte ich meinen Fuß auf den festen, aber dennoch weichen Boden. 31
Vor mir lag das Kloster. Wie Brandruinen wirkende Mauern, als hätte sie irgendwann jemand mit Feuer bestrichen. An einigen Stellen lag kein Stein mehr auf dem anderen. Da waren die Mauern völlig zusammengebrochen. Ich orientierte mich am Torbogen. Durch ihn schritt ich, wobei hohe, feuchte Grashalme über meine Füße schleiften und auf dem Leder Nässe hinterließen. Der ehemalige Innenhof des Klosters lag vor mir. Im Laufe der Zeit hatte ihn die Natur überwuchert. Gras, Moos, Unkraut bildeten diesen Teppich, der auch eine alte Zisterne einrahmte, die mein nächstes Ziel war. Vor dem Brunnen blieb ich stehen und schaute in die Tiefe. Mein Blick verlor sich in der Düsternis. Auch als ich meine Bleistiftleuch‐ te anknipste, konnte ich kaum mehr erkennen als nur die moosüberwu‐ cherten Innenmauern der Zisterne. Ich ging weiter. Zwar war das Kloster zerstört worden, aber aus dem, was noch stand, konnte ich erkennen, wie die Erbauer es damals angelegt hatten. Ein Hauptgebäude gab es und zwei im rechten Winkel dazu stehende Seiten‐ trakte. Nur war dieses Kloster sehr klein gewesen, vielleicht nur mehr eine Zuflucht für die frommen Männer. Ich schritt auf den Haupttrakt zu und sah auch so etwas wie einen alten Eingang. An zwei Mauerresten ging ich vorbei. Sekunden später blieb ich auf einem Steinboden stehen, der ebenfalls überwuchert war, wobei an einigen Stellen der blanke Stein durchschimmerte. Eine düstere Atmosphäre hielt mich umfangen. Vielleicht lag es auch am Verschwinden der Sonnenscheibe und an der Rückkehr einiger dicker Wolkenberge. Ich durchmaß den Innenraum, und mir fiel der kantige, rechteckige Stein auf, der dort stand, wo einmal eine Mauer gewesen war. Diese Form war mir nicht unbekannt. So sah ein Altar aus. Demnach mußte ich mich in der kleinen Kirche oder Kapelle des Klosters befinden. Und dieser Altar stach von der übrigen Umgebung ab. Er war längst nicht so verfallen wie das Mauerwerk und auch nicht von irgendwelchen Unkrautgewächsen überwuchert. Im Gegenteil, seine Platte schimmerte so blank, als hätte jemand sie geputzt. Bis auf einige dunkle Flecken, die meiner Ansicht nach zu dieser blanken 32
Platte nicht passen wollten. Weshalb hatte man sie nicht weggewischt? Ich erreichte durch bloßes Schauen nichts. Dafür strich ich mit dem Finger über die Flecken, fühlte die Feuchtigkeit, so daß es mir vorkam wie zähe Schmiere. Aber das war es auch nicht. Als ich den Finger hob und genau nach‐ schaute, sah ich auch die rötliche Färbung. Die Sache war klar. Auf diesem Altar gab es Blutflecke! Es wurde zwar nicht gerade eng in meiner Kehle, dennoch gefiel mir die Vorstellung, daß auf dieser Platte jemand umgebracht worden war, über‐ haupt nicht. Sollten hier tatsächlich Menschen geopfert worden sein? Es war kaum zu fassen, und wiederum dachte ich nicht eben mit Freude an meinen Chef Sir James, der mich quasi ohne Informationen auf diese Insel geschickt hatte. Ich umrundete den Altar. Schräg dahinter, im Schlagschatten einer noch stehenden Mauer, war es ziemlich düster. So dunkel, daß ich leuchten mußte, um etwas erkennen zu können. Ich holte wieder die kleine Lampe hervor und schickte den dünnen Strahl auf die Reise. Zielgenau traf er das bleiche, mit Blutfäden durchwobene Gesicht eines Toten, dessen offene Augen mich irgendwie anklagend anstarrten, so daß ich unwillkürlich den Atem anhielt. * Meine Bewegungslosigkeit dauerte nicht sehr lange. So schlimm es sich anhört, aber Funde und Anblicke dieser Art war ich gewöhnt, das passierte mir eben öfter. Tief atmete ich durch, bevor ich niederkniete, um die Leiche genauer zu untersuchen. Man hatte dem Mann den Kopf eingeschlagen. Ich möchte in keine De‐ tails verfallen, aber der Mörder hatte grausam gewütet, und ich schüttelte den Kopf, weil ich so etwas niemals verstehen würde. Trotzdem mußte ich meiner Aufgabe nachkommen und diese traurige Pflicht der ersten Unter‐ suchung vornehmen. 33
Ich schätzte, der Tote war in meinem Alter. Er trug einen normalen Stra‐ ßenanzug, ein Hemd mit Krawatte, wobei die beiden letzten Teile Blutfle‐ cken aufwiesen. Das linke Revers seines Jacketts hob ich ein wenig an, um meine Hand in die Brusttasche gleiten zu lassen. Vielleicht fand ich etwas, das ihn identifi‐ zierte. Ich fühlte eine schmale Brieftasche, zupfte sie hervor und schlug sie auf. Der Mann hieß Wayne Turner. Er wohnte in London. Mehr bekam ich über ihn nicht heraus. Der Tote besaß keine Visitenkarten, und auch kein ande‐ rer Fund deutete auf einen Beruf hin, den er zu seinen Lebzeiten vielleicht ausgeübt hatte. Dennoch mußte er irgend etwas mit mir und einem Fall, vor dem ich stand, zu tun habe. Wer war dieser Wayne Turner gewesen? Ein Schwarzblütler oder ein normaler Mensch, dem nur eine besondere Aufgabe zugefallen war? Wie ich es auch drehte und wendete, zu einem Ergebnis kam ich nicht. Da ich Zeit hatte, untersuchte ich den Toten und dessen Kleidung genau‐ er. Vielleicht besaß die Jacke noch ein Geheimversteck, in dem sich Dinge befanden, die mich interessierten. Aber so sehr ich auch suchte, fühlte und tastete, ich entdeckte nichts. Dieser Mann war – so hatte es den Anschein – ein völlig normaler Bür‐ ger. Und doch hatte man ihn umgebracht. Zu guter letzt untersuchte ich noch seine Geldbörse. Einige Scheine fand ich, eine Kreditkarte, ein paar Münzen. Sonst nichts. Keinen Hinweis auf einen Club, eine Bar, ein Lokal, bis auf die Kleinigkeit, die mir beim ersten Durchblättern der Scheine überhaupt nicht aufgefallen war. Zwischen den Pfundnoten steckte noch eine fremde Währung. Dollarscheine! Und plötzlich dachte ich wieder daran, was mir die erdbeerpflückende Frau berichtet hatte. Es waren Männer angekommen, die einen amerikani‐ schen Wagen fuhren. Gehörte dieser Engländer vielleicht zu ihnen? Wenn ja, was hatte er dann mit ihnen zu tun? Ich ließ die Geldbörse neben ihm liegen, drückte mich wieder hoch, zün‐ dete mir eine Zigarette an und dachte nach. 34
Jeder Mensch trägt doch irgend etwas Persönliches bei sich, außer seinen Ausweispapieren. Warum nicht dieser Mann? Dafür mußte es verdammt gute Gründe geben. Es gab Menschen, die aus beruflichen Gründen ihre wahre Identität ver‐ bergen mußten. Das waren die Typen, die für die Geheimdienste arbeite‐ ten. In den Staaten ebenso wie in Europa. Ich hatte schon des öfteren mit ihnen zu tun gehabt und erinnerte mich nur ungern an diese Fälle, denn Leute von der CIA oder auch von unserer Abwehr trauten nicht einmal sich selbst, geschweige denn einem anderen. Sollte Wayne Turner etwa zu einem solchen Verein gehört haben? Das konnte durchaus hinkommen. Jedenfalls wiesen einige der Fakten auf ei‐ nen Verdacht in dieser Richtung hin. Und Sir James hatte mich nicht eingeweiht. Auch das wunderte mich sehr, normalerweise redete er immer mit mir über einen Fall. Während meiner Überlegungen ging ich innerhalb des Klosterhofes hin und her, rauchte, stäubte ab und zu Asche ab und hatte mich auch an die Geräusche meiner eigenen Schrittfolge gewöhnt. Bis zu dem Augenblick, als ich ein völlig anderes vernahm. Ein Kratzen und auch Schleifen. Von mir stammte es nicht. Ich drehte mich um, wenn mich nicht alles täuschte, war es genau dort aufgeklungen, wo sich der Tote befand. Mit vorsichtigen Schritten näherte ich mich dem Platz, wo er lag. Ein Irrtum, denn er lag nicht mehr dort. Die Leiche war dabei, sich vor meinen Augen in die Höhe zu wuchten. * Das hatte mir noch gefehlt! Kein echter Toter, sondern eine lebende Leiche, für die man den Begriff Zombie erfunden hatte. Ich sah ihn nur schattenhaft, weil es einfach zu dunkel war. Also leuchte‐ te ich in die Ecke. Furchtbares spielte sich vor meinen Augen ab. Der Zombie hatte die Ar‐ me ausgestreckt und seine gekrümmten Finger dort in die Mauer verkrallt, wo die Steine durch moosbedeckte Fugen miteinander verbunden waren. 35
An ihnen zog er sich in die Höhe, glitt mal ab, schwankte, versuchte es von vorn und schaffte es tatsächlich, auf die Füße zu kommen. Für einen Mo‐ ment blieb er so stehen, wobei er noch nach vorn kippte, mit der Stirn die Mauer berührte, dagegenstieß und sich so halten konnte. Er drückte auch seine Arme vor, die Handflächen berührten das Gestein, damit er den nöti‐ gen Halt bekam, um sich drehen zu können. Er wollte mich! Ich stand zwar nicht gerade im Hellen, aus seinem Blickwinkel aber mußte es so wirken, denn er sah deutlich meinen Umriß. Ich spürte die federnde Spannung in mir. Es bestand kein Grund zur Pa‐ nik, mit einem Zombie wurde ich immer fertig. Waffen besaß ich genug, allein mein geweihtes Silberkreuz würde dafür sorgen, daß er endgültig erlöst wurde. Nur stellte ich mir jetzt schon die Frage, wer diesen verdammten Zom‐ biewahn angezettelt haben konnte. Lebende Leichen in dieser Idylle, dieser Gedanke trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Den lebenden Toten ließ ich nicht aus den Augen. Ich schaute genau zu, wie er sich bewegte, drehte und danach den ersten, unsicher wirkenden Schritt tat. Er kam auf mich zu. Auch der zweite Schritt änderte nichts daran, dann aber wechselte er die Richtung, wandte sich im rechten Winkel um und damit dem Eingang des zerstörten Klosters zu. Ich brauchte nicht mehr länger darüber nachzugrübeln, was der lebende Tote vorhatte. Er wollte den Komplex des zerstörten Klosters verlassen. Dafür durfte ich über das Ziel nachgrübeln. Von der Insel konnte er nur weg, wenn er den Steg benutzte. Zwar wür‐ de er sich auch durch das flache Wasser bewegen können, dies aber nur im Notfall. Normalerweise scheuten Zombies das kühle Naß. Ich schaute ihm zu. Er bewegte seine Beine ruckartig, als würden die O‐ berschenkel an Gelenken hängen. Eine komische Gestik, dennoch gefähr‐ lich; einen Zombie durfte man auf keinen Fall unterschätzen, auch wenn er noch so lächerlich wirkte wie dieser hier. Ich folgte ihm langsam. Er drehte sich weiter herum, so daß er auf direk‐ tem Weg den Ausgang erreichen konnte. Sein heller Anzug hob sich gut vor dem düsteren Mauerwerk ab. Nur einmal stolperte er, als er den Ein‐ 36
gang durchschritten hatte. Mit Glück fing er sich wieder und lief weiter. Für mich bildete der Untote nach wie vor ein Rätsel. Nicht allein sein Entstehen, auch das Motiv, das ihn leitete und ihn zu einem mir noch nicht bekannten Ziel führen würde. Wir befanden uns wieder auf dem Innenhof, und ich erkannte bereits den Umriß der Zisterne. Es sah so aus, als wollte der Zombie auf sie zulaufen. Was konnte er dort suchen? Ohne sich ein einziges Mal umzudrehen, bewegte er sich weiter und er‐ reichte das Ziel. Er lief noch gegen den Brunnen, berührte den Rand und kippte wieder zurück, wobei er mit seinen Armen schlenkerte und so das Gleichgewicht behielt. Ich schlich bis zu einer natürlichen Deckung. Es war ein Teil der Mauer. Dahinter ließ ich mich nieder, zog meine Beretta, legte sie auf den Rand und drehte die Mündung dabei so, daß ihr dunkles Loch gegen den Rü‐ cken des Zombies zielte. Sollte er versuchen, innerhalb des Zisternenschachtes zu verschwinden, würde ich schießen. Im ersten Augenblick sah es so aus, denn er beugte sich vor, legte dabei jedoch seine Pranken auf den Brunnenrand, um sich abzustützen. Ich blieb in der Deckung, richtete mich nur etwas weiter auf, um besser sehen zu können. Vornübergebeugt stand er da. Seine Arme bildeten abstützende Säulen. Er hatte den Kopf vorgestreckt und stierte in den Schacht. So wie dieser Wiedergänger kam mir jemand vor, der auf irgendein Ereignis wartete. Was konnte an dem leeren Zisternenschacht so interessant sein? Ich hatte keine Ahnung. Möglicherweise hatte ich auch nicht tief genug hineinge‐ leuchtet, oder inzwischen war etwas verändert worden. Wie ich es auch drehte und wendete, der Untote hatte die Initiative übernommen, und ich mußte vorerst warten. Sekunden verstrichen. Sie dehnten sich in die Länge. Kein Geräusch stör‐ te uns. Das Säuseln des Windes und das Rascheln der Blätter waren die einzige Untermalung. Fast erschrak ich, als sich der Zombie wieder ruckartig aufrichtete. Er trat noch einen Schritt zurück, drehte sich aber nicht herum, denn er wollte nach wie vor auf den Zisternenrand schauen. Dort tat sich etwas. 37
Ich wechselte meinen Standort, blieb weiterhin hinter der Mauer und war nur ein wenig nach links gehuscht, so daß ich einen besseren Blickwinkel bekommen hatte. Da sah ich es. Aus der alten Zisterne stieg das Grauen. Es waren zuerst die Hände, die in mein Blickfeld gerieten, als sie sich um den Zisternenrand klammerten. Bleiche Klauen, wie sie eigentlich nur To‐ ten gehören konnten. In diesem Fall lebenden Toten! Sie krochen aus dem verdammten Brunnen, stemmten sich hoch, rutsch‐ ten ab und versuchten es erneut. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, daß sie niemals aufgeben wür‐ den. Die kämpften sich weiter vor bis zum bitteren Ende, und das geschah auch hier so. Zwei lebende Leichen verließen die Zisterne. Fast zur gleichen Zeit beug‐ ten sich die Untoten über den Brunnenrand, kippten ihre Oberkörper nach vorn und rollten ihrem Artgenossen fast vor die Füße. Wie Gewürm krochen sie über den Boden, drehten und orientierten sich, da sie sich hochstemmen wollten und es auch schafften, weil sie sich an der Zisterne abstützten. Für mich wurde es Zeit, einzugreifen. Schon ein Zombie war gefährlich genug. Drei von ihnen konnte ich auf keinen Fall hinnehmen. Die Beretta lag immer noch in meiner Hand. Ich schob mich nur höher und nahm den ersten aufs Korn. Er trug dunkle Lederkleidung, schon halb zerrissen, und sein blasses Gesicht hob sich deutlich vom Schwarz der Kleidung ab. Der andere war fast nackt bis auf eine Hose, von der das linke Bein fehlte. Sein Haar leuchtete fahlblond. Sie standen günstig für mich. Fast nebeneinander, so daß ich mit drei geweihten Silberkugeln auskommen würde, wenn ich schnell genug feuer‐ te. Sehr genau nahm ich Maß. Ich konzentrierte mich auf den mit den blonden Haaren. Es peitschten die Schüsse. Jawohl, Schüsse waren es. Ich zuckte zusammen, denn ich hatte nicht ge‐ feuert und spürte meinen Herzschlag schneller werden. Dabei schaute ich auf die drei Zombies und sah, daß sie die Einschläge der Geschosse nicht 38
mehr auspendeln konnten, sich abgehackt bewegten, ihre Arme hochschleuderten, nach vorn gehen wollten und in weitere Kugeln hinein‐ liefen, deren Aufschlagwucht sie zu Boden schleuderte, so daß sie zuckend vor der alten Zisterne liegenblieben und sich danach nicht mehr rührten. Ich war auf dem Fleck stehengeblieben. Wachsbleich im Gesicht. Diese wenigen Sekunden der eskalierenden Gewalt hatten mich völlig verunsi‐ chert, und ich lauschte immer noch den Echos der Schüsse nach. Die Abschußgeräusche waren mir verdammt bekannt vorgekommen, als hätte jemand mit einer Beretta geschossen. Ich bekam keine Ordnung in meine Gedanken und wunderte mich weiter. Lange brauchte ich es nicht, eine Erklärung bekam ich sehr schnell, denn ich vernahm hinter mir eine sehr bekannte Stimme. »Stecken Sie die Waffe ruhig weg, John. Sie brauchen sie vorläufig nicht mehr.« Der da gesprochen hatte, war kein anderer als mein Chef, Superintendent Sir James Powell… * Ich drehte mich um. So recht glauben wollte ich es noch immer nicht, bis ich ihn mit eigenen Augen sah. Er wurde eingerahmt von zwei anderen Männern, nickte mir zu und hatte einen Arm ausgestreckt, als wollte er mir die Hand zur Be‐ grüßung reichen. Sir James trug einen dünnen Mantel, den er nicht geschlossen hatte. Dar‐ unter wie immer seinen dunklen Anzug. Die Gläser der dicken Brille fun‐ kelten, und auf dem Kopf saß der Bowlerhut, als wäre er exakt für seine Schädelform hergestellt worden. Neben ihm stand der Mann, der geschossen hatte. Und er war wiederum eine Überraschung wert, denn ich bezeichnete diesen Menschen neben Bill Conolly als meinen besten Freund. Es war Suko, der Chinese, der Kollege, Freund und Inspektor. In seinem Gesicht regte sich nichts. Ich nahm mir jetzt schon vor, ihn zur Rede zu stellen, denn was er und Sir James getan hatten, bezeichnete ich als kleines Komplott. Sie hatten mich nicht eingeweiht und mir gewissermaßen eine Falle gestellt. 39
Den anderen Mann kannte ich nicht. Er war ziemlich klein und hager, mochte um die Fünfzig herum sein, trug einen grauen, faden Anzug und hielt die Augen durch die dunklen Gläser einer Sonnenbrille bedeckt. Das blondgraue Haar war genau in der Mitte gescheitelt. Dicht vor mir blieben die drei Männer stehen. Suko hob in einer knappen Geste wie entschuldigend die Schultern. Nur ich bemerkte dies und dachte daran, daß auch er sicherlich nicht anders gekonnt hatte, als sich zu fügen. Zudem wurde ich die Vermutung nicht los, daß sich irgend etwas Großes anbahnte, aber ich hielt mich mit Fragen zurück. Es war Sache meines Chefs, mich in die Tatsachen einzuweihen. »Haben Sie sich von Ihrer Überraschung erholt, John?« fragte er und reichte mir tatsächlich die Hand. »In etwa.« »Ja, es war nicht ganz sauber, wie ich zugeben muß.« Sir James schaute an mir vorbei auf die Zombies, »aber ich wollte, daß sie mit den Dingen direkt konfrontiert werden, die in einer nahen Zukunft auf sie zukommen können, John.« »Zombies also?« »Ja.« »Die sind mir bekannt.« Sir James winkte ab. »Vergessen Sie mal alles, was Sie bisher von diesen seelenlosen Wesen gehört haben. Was vor Ihnen liegt, John, wird härter, verdammt hart sogar. Sie und Suko werden einen Job übernehmen, den ich fast als undurchführbar bezeichnen möchte, aber davon später. Schauen wir uns die Gestalten an.« Ich hatte nichts dagegen. So gingen wir auf die Zisterne zu. Der dritte Mann hielt sich an meiner Seite. Ich ahnte, daß er mich aus dem Augen‐ winkel anschielte. Sehen konnte ich das nicht, da die dunklen Gläser seine Augen verdeckten. Neben den endgültig erlösten Männern blieben wir stehen. Einen Halb‐ kreis hatten wir gebildet, und Sir James deutete auf die drei Körper. »Sie waren die Vorhut, um auszukundschaften, ob wir bereits gegen sie ange‐ hen, John.« Ich hatte noch immer nicht begriffen. »Wußten Sie von den lebenden Lei‐ chen, Sir?« Der Superintendent nahm seine Brille ab und reinigte mit einem Spezial‐ 40
tuch die Gläser. »Ja, wir wußten von ihnen. Das heißt, Colonel Maynard hat mir davon berichtet.« Jetzt wußte ich auch, wie der dritte Mann hieß. Colonel Maynard, das hörte sich nach Militär oder Geheimdienst an. Ich fragte ihn nicht, sondern nickte ihm nur zu. »Sie waren Agenten«, sagte mein Chef. Ich hob den Blick. »Für wen arbeiteten sie?« »Das genau ist das Problem, über das Colonel Maynard Ihnen eine besse‐ re Auskunft geben kann, John. Bitte, Colonel, wenn Sie reden wollen. Wir haben noch Zeit. Es wäre außerdem besser, die Informationen vor dem Film zu geben.« »Ja, natürlich.« Zum erstenmal hörte ich den Mann sprechen. Seine Stimme klang hart, abgehackt. Aber so würde wohl jeder reden, der zu einer militärisch straff geführten Organisation gehört. Einen originellen Sponti‐Spruch konnte ich mir bei ihm nicht vorstellen. Einen Vorteil besaßen diese Männer. Wenn sie etwas erklärten, beschränkten sie sich zumeist auf das Wesentliche. Sie redeten also nicht um den heißen Brei herum, und auch Maynard kam sofort zur Sache. »Sie wissen selbst, Sinclair, daß auf dieser Welt einiges nicht im Lot ist. Zwei Supermächte stehen sich gegenüber. Aber dazwischen gibt es noch genügend Raum für andere Aktivitäten. Gruppen bilden sich, Industrie‐ konzerne wollen Politik machen und scheuen auch nicht vor Raub, Mord und Totschlag zurück. Diese Taten sind nicht allein auf Konzerne oder Regierungen beschränkt. Die Geheimdienste sind um keinen Deut besser, das sage ich. Ob KGB, CIA, Mossad oder der japanische Kempetai, sie alle kochen ihr eigenes Süppchen. Und dennoch sind ihnen gewisse Grenzen gesetzt. Erstens durch die Regierungen, unter deren Kontrolle sie eigentlich stehen müßten, und manchmal auch moralische. So gibt es also zwischen ihren Aufgaben und diesen Grenzen ein gewisses Loch oder Niemands‐ land. Haben Sie das bisher verstanden, Sinclair?« »Ich bemühe mich«, erwiderte ich spöttisch. Maynards Mundwinkel zuckten, bevor er weitersprach. »Ich weiß, wer Sie sind, Sinclair, deshalb nehme ich Ihre lasche Antwort hin. Für mich zählen nur Erfolge, und die haben Sie ja gehabt. Aber weiter. Ich komme noch einmal auf das Niemandsland zurück, für das sich niemand zustän‐ 41
dig fühlte. Ich betone: fühlte. Nur deshalb konnte das entstehen, das leider entstanden ist. Wo das FBI sich nicht traute, der CIA die Sache zu schmut‐ zig war, das KGB auch Abstand nahm und die anderen Geheimdienste ebenfalls abwinkten, da griff jemand ein, der alles machte. Die Division!« Beim letzten Satz hatte er mich so angeschaut, als würde er darauf war‐ ten, daß ich vor Ehrfurcht in die Knie fiel oder wenigstens einen entspre‐ chenden Kommentar dazu gab. Das aber tat ich nicht und hob nur die Schultern. »Ich kenne keine Division.« Er nickte. »So ist es leider immer. Deshalb haben sie diese Erfolge erzie‐ len können.« Zum erstenmal mischte sich Suko ein. »Da ich ebenfalls betroffen bin, Co‐ lonel, würde ich gern Details von Ihnen hören, was diese Organisation angeht.« »Sofort.« Er holte ein dünnes Zigarillo aus einem flachen Etui, zündete das braune Stäbchen an und rauchte einige Züge. Sein Blick glitt hinauf zu dem mit dicken Haufenwolken bedeckten Himmel. »Die Division, das wis‐ sen wir, setzt sich aus den Leuten zusammen, die einmal für Geheimdiens‐ te gearbeitet haben und von diesen ausgestoßen wurden, weil sie nicht mehr tragbar waren. Sie kannten keine Moral, sie töteten sinnlos und wur‐ den für die Dienste zu einer Belastung. Man suspendierte sie und gab ih‐ nen eine neue Existenz, falls es nötig war. An der langen Leine hielt man sie unter einer gewissen Kontrolle, und es fiel auf, daß sie plötzlich ver‐ schwunden waren. Nicht nur Amerikaner, Russen oder Engländer, auch die Leute vom Mossad oder einem Geheimdienst in Südamerika. Sogar Deutsche waren dabei. BND und Staatssicherheitsdienst. Zusammengefaßt: eine internationale Bewegung setzte sich fort und sammelte sich. So ent‐ stand die Division. Hier hatten all die Männer eine neue Heimat gefunden. Die Division verstand es tatsächlich, sich an die Regierungen oder Konzer‐ ne heranzumachen, um Aufträge zu sammeln. Man gab sie weiter. So konnte die Division existieren, sich weiter ausbauen, zu einem geheimen Machtfaktor werden, den viele benötigten, mit dem offiziell aber keine Regierung etwas zu tun haben wollte. Kurzum, die Division erledigte die Dinge, die man dem KGB und der CIA nicht mehr anhängen konnte.« »Sie war also erfolgreich?« fragte ich. »Sehr sogar. Und man konnte sie nicht packen, denn die Division wußte zuviel. Sie trieb es immer weiter, stellte höhere Forderungen und sorgte 42
dafür, daß Probleme erledigt wurden. In allen Ländern der Erde sind sie tätig gewesen, diese Agenten…« Es war zwar unhöflich, aber ich unterbrach Colonel Maynard trotzdem. »Die drei Toten gehörten zur Division?« »Ja.« Meine Augen wurden schmal. »Dann sind ihre Mitglieder also Zom‐ bies?« Maynard schleuderte seinen Zigarillo weg und atmete durch die Nasen‐ löcher ein. »Genau das ist unser Problem, Sinclair«, erwiderte er mit kratzi‐ ger Stimme. Sämtliche ehemalige Geheimagenten und jetzige aktive Mit‐ glieder der Division sind zu Zombies geworden. Können Sie sich vorstel‐ len, was das bedeutet? Können Sie das? Ich war blaß geworden, ging zwei Schritte zurück und spürte Sukos Hand an meiner Schulter. Er hatte mich aufgehalten. In meiner Kehle schienen plötzlich Reißnägel zu sitzen, mir hatte es einfach die Stimme verschlagen. Was dieser Colonel uns in wenigen Minuten gesagt hatte, war unfaßbar. Grauenvoll, kaum zu glauben und dennoch eine verdammte Realität. Da lauerte eine kleine Armee von ehemaligen Geheimagenten, die mit allen Wassern gewaschen war, auf Einsätze, die die Welt in ein Chaos stürzen konnten. Aus Agenten waren Zombies geworden! Diese Tatsache mußte ich erst einmal verdauen. Zombies würden jeden Job ausführen, sie kannten keinerlei menschliche Regungen. Sie brachten um, sie töteten, sie… Ich dachte nicht mehr weiter und wischte über meine Stirn. Auf den Fin‐ gern spürte ich den kalten Schweiß; ich hörte die Stimme des Colonels wie durch einen Filter. »Ist Ihnen nun klar geworden, welch eine Gefahr diese Division für uns darstellt?« »Das allerdings.« »Und deshalb müssen wir sie stoppen, Sinclair!« Ich wollte lachen, ich konnte es nicht. Es blieb mir einfach im Halse ste‐ cken. Sir James und dieser Colonel schauten mich an. Nur Suko blickte zu Boden. Er konnte nachfühlen, wie es in mir aussah. Ihm würde es nicht anders ergehen. Kurzerhand faßte ich zusammen. »Das alles würde bedeu‐ ten, daß Sie mir, Colonel, die Aufgabe zugedacht haben, die Armee von 43
Zombies zu sprengen.« »Exakt erfaßt, Sinclair.« »Nicht ganz, Sir«, meldete sich Suko. »Ich bin ebenfalls mit am Ball, wenn Sie verstehen.« »Natürlich.« Es wäre für mich interessant gewesen, auch die Meinung meines Chefs zu hören. Der Superintendent hielt sich zurück. Er konnte mir auch nicht direkt in die Augen schauen. Wohl war ihm bei dieser Sache nicht, das sah ich ihm an. Dieser Job bedeutete nichts anderes, als daß er mich in das Höl‐ lenfeuer schickte. Und zwar wissentlich. Um den Colonel zu ärgern, fragte ich: »Kann ich mich auch weigern?« Er wurde bleich. »Sie wollen sich weigern, Sinclair? Hören Sie, das ist ei‐ ne Aufgabe, die sie lösen müssen! Sie haben den Eid geschworen, außer‐ dem haben wir Ihnen demonstriert, wie weit die Zombies schon vorge‐ drungen sind…« »Sie haben recht, Colonel, ich fühle mich selbst betroffen, doch ich steige in keinen Fall ein, in dem ich so wenig Informationen bekommen habe, wie bei diesem.« »Keine Sorge, John, Sie bekommen welche.« Sir James sprach. »Ich möch‐ te noch einmal auf Ihren Einwand zurückkommen. Diese Sache ist an al‐ lerhöchster Stelle abgesegnet worden. Wir haben lange überlegt, und man weiß dort oben auch von Ihren Erfolgen. Ich war zunächst nicht damit einverstanden, aber ich mußte mich fügen. Sie kennen das Wort der Staats‐ räson, das genau trifft hier zu.« Er hatte tatsächlich recht. Ich konnte nicht anders. Meine Weigerung hät‐ te den Abstieg bedeutet, wahrscheinlich die Suspendierung. Ich kam wie‐ der auf die drei erledigten Zombies zurück. »Weshalb sind sie gekommen? Was hatten sie vor?« Maynard gab die Antwort. »Wir wissen es nicht genau. Sie reden ja nicht. Wir bekamen nur einen Tip, daß sich drei aus der Division hier umsehen sollten. Wahrscheinlich sollten sie einen englischen Stützpunkt gründen, denn ihre Zentrale befindet sich nicht hier, das wissen wir mittlerweile auch.« »Und wo kann ich die finden?« »In den Staaten.« »Das heißt, wir müßten rüber.« 44
»Genau.« Ich zündete mir eine Zigarette an, ordnete meine Gedanken und fragte, während ich den ersten Rauch ausstieß: »Alles gut und schön. Aber Zom‐ bies müssen geleitet werden. Sie sind Geschöpfe, die Befehle brauchen. Diese drei hier ebenfalls. Wer also steckt hinter dieser Kampagne? Wer ist der Chef der Division?« Die Antwort kam schnell, war aber nicht präzise. »Wir kennen ihn und kennen ihn doch nicht.« »Wie soll ich das verstehen?« »Hinter der Division steht jemand, der sich D. C. nennt. Zwei Buchstaben nur, vielleicht die Abkürzung eines Namens. Das herauszufinden ist Ihre Sache. Zum Glück gibt es eine Spur, die wir Ihnen beiden gleich zeigen werden, denn uns ist etwas in die Hand gekommen, das man als einmali‐ ges Dokument bezeichnen kann. Ein sogenannter Video‐Clip über die Di‐ vision.« Ich vergaß zu rauchen. Die Überraschungen rissen einfach nicht ab. Da‐ mit hätte ich nicht gerechnet. Daß dies so war, bewies mir gleichzeitig, welch eine Macht die Division darstellte. »Wann kann ich ihn sehen?« fragte ich. »Gleich. Wir werden zum Wagen gehen. Dort ist alles vorbereitet. Wir sind schon etwas länger hier als Sie und haben einen anderen Weg ge‐ nommen. Wir wollten Sie nur davon überzeugen, wie wichtig und brandei‐ lig der Fall bereits ist; das Auftauchen dieser drei Zombies hat es gezeigt. England kann vorerst von der Division als Stützpunkt abgeschrieben wer‐ den, aber sie werden es immer wieder versuchen. Deshalb dürfen Sie und Ihr Kollege keine Zeit verlieren, und wir auch nicht.« Maynard wandte sich an unseren Chef. »Lassen Sie die Leichen später abtransportieren, Sir Ja‐ mes?« »Natürlich.« Maynard nickte. »Gut, dann können wir gehen.« Der Colonel und Sir James blieben zusammen, während sich Suko an meiner Seite hielt und sich meiner etwas langsameren Schrittfolge anpas‐ sen mußte. »Das wird ein verdammt heißer Job«, flüsterte er, »ein Krieg im Dunkel der Geheimdienste und garniert mit lebenden Leichen. Wenn wir nicht achtgeben, kostet es uns den Kopf.« 45
»Ja, und du hast davon gewußt.« »Nicht alles. Sir James hat mir nur ans Herz gelegt, dir nichts zu sagen. Du solltest überrascht werden.« »Und weshalb dieses geheimnisvolle Getue?« »Wahrscheinlich rechnete man damit, daß du dich weigern würdest. Und da wollte man dich direkt mit der Härte des gesamten Falles konfrontieren. Mehr weiß ich auch nicht.« »Hast du die drei Zombies gekannt?« »Nein. Ich hörte nur von Maynard, daß sie einmal für die englische Ab‐ wehr gearbeitet haben und gefeuert worden sind. Klar, daß sie an ihre e‐ hemalige Wirkungsstätte zurückkehrten.« Wir hatten mittlerweile den Steg erreicht, über den Sir James und der Co‐ lonel bereits gingen. Auch sie sanken fast in dem weichen Holz ein. Der Himmel bedeckte sich wieder. Man hatte einen Wetterumschwung vorher‐ gesagt. Seine ersten Ausläufer bekamen wir bereits zu spüren. Der Wind war aufgefrischt und hatte an Kühle zugenommen. Mir gingen die erledigten Untoten nicht aus dem Sinn. »Ich will nur hof‐ fen, daß es die einzigen drei waren, deren Weg nach England geführt hat.« »Davon kannst du ausgehen. Sir James und Maynard meinen, daß das eigentliche Hauptbetätigungsfeld die USA und deren Umgebung sind.« »Weshalb gerade dort?« Suko hob im Gehen die Schultern. »Der Grund ist mir nicht bekannt. Wir werden ihn bad hören.« »Da wurde von einem Video‐Film gesprochen.« Mein Freund verzog die Mundwinkel. »Das muß wirklich ein Hammer gewesen sein. Über den Inhalt des Films ist mir nichts bekannt, doch als Sir James davon gesprochen hat, ist er blaß um die Nase geworden und hat leichte Schweißausbrüche bekommen. Ich bin gespannt.« Nach wenigen Schritten hatten wir den Steg verlassen und wandten uns nach rechts. Ein Pfad war nicht zu erkennen. Unsere Füße schleiften durch hohen Ufergras, das der Wind zu einer Seite hin kämmte. Nach einigen Yards wurde es besser. Zwar tauchten wir zwischen die ersten Bäume, aber es gab einen mit altem Blattwerk bedeckten Weg, der über kleine Hügel und in Schlangenlinien den Wald durchschnitt, bis er auf einer lich‐ tungsartigen Fläche endete, wo zwei Wagen standen. Die dunkle Limousine unseres Chefs und ein Transporter, der Ähnlich‐ 46
keit mit den Fahrzeugen aufwies, die Gefangene von den Gerichtssälen in die Gefängnisse brachten. Ein Mann in Uniform stieg aus dem Wagen, während der Chauffeur un‐ seres Chefs sitzenblieb. Der Uniformierte größte seinen Vorgesetzten sehr zackig, bevor er die hohe Tür an der Rückseite des Wagens öffnete und den Colonel einsteigen ließ. Sir James wartete noch auf uns. »Wundern Sie sich über nichts«, er‐ klärte er mit tonloser Stimme. »Ist es so hart, Sir?« fragte ich. »Darauf können Sie sich verlassen, John. Ich habe so etwas noch nie ge‐ sehen und kann das Ganze nur mehr als eine Unverschämtheit bezeich‐ nen.« Diese Worte erhöhten meine Spannung noch. Ich betrat hinter Sir James den Wagen. Suko ging als letzter und zog die Tür von innen zu. Der Uni‐ formierte schaltete das Licht ein. Die sehr schwache Beleuchtung erhellte den Raum nur unvollständig. Ich konnte trotzdem die beiden Sitzreihen erkennen, so daß ich mir vorkam wie im Kino. Drei Stühle standen jeweils hintereinander. In der ersten Rei‐ he hatten Sir James und der Colonel ihre Plätze gefunden und hockten dort mit übereinander geschlagenen Beinen. Beide schauten auf das fahle Weiß einer Leinwand. Der Uniformierte stand abwartend neben ihnen und schaute sie fragend an. Maynard wartete bis auch wir saßen, und gab erst dann seine Anord‐ nung. »Schalten Sie den Apparat ein.« »Sehr wohl, Sir.« Der Uniformierte verschwand mit leisen Schritten im Hintergrund des Wagens. Das Licht verlosch. Ein weißer Strahl zeichnete seine Bahn in die Dunkelheit, traf auf die Leinwand, und ich dachte daran, daß wir hier kei‐ nen Video‐Clip sahen. Sir James schien meine Gedanken erraten zu haben. Er wandte sich um und flüsterte: »Es gibt den Bericht auch als Super 8‐Film.« Kaum hatte er sich auf seinem Sitz gedreht, als der Film begann und sich meine Spannung dem Siedepunkt näherte… * 47
Der Raum besaß vier Wände, von denen drei dunkel waren. Nur eine zeigte Licht. Sie wurde auch nicht angestrahlt, sondern leuchtete von innen heraus in einem schwachen, fluoreszierenden Grün, damit diese Farbe die große Weltkarte für den sichtbar machte, der im Dunkeln hockte. Es war D. C! Ein Mensch – ein Name – ein Mythos! Jemand, der über zehn Jahre an diesem Image gearbeitet und es endlich geschafft hatte. Der sich mit gefährlichen Zombies umgab, die auf sein Kommando hörten. Der Menschen befehligte, die ihm treu ergeben waren, und der keine Gnade kannte. Sein Kurs hieß Erfolg! Bisher hatte er ihn einhalten können, aber es war etwas eingetreten, das ihm überhaupt nicht paßte. Ihn persönlich hatte es nicht getroffen, trotz‐ dem empfand er diese Niederlage als eine große Schmach und Schande. Und die mußte ausgewetzt werden. Er saß stets im Dunkeln. Niemand seiner engsten Vertrauten kannte sein wahres Aussehen und Gesicht. So hatten sich über D. C. Legenden bilden können. Die einen sprachen von ihm als Zombie, die anderen nahmen ihn als Mensch hin, wieder andere redeten von einem Halbmenschen, und ganz Abergläubige sahen in ihm den Teufel persönlich, der sich auf die Erde begeben hatte, um sein Reich aufzubauen. Die Wahrheit kannte nur D. C. allein. Von den ihm angedichteten Eigen‐ schaften traf jeweils ein Teil zu, das aber kümmerte den Mann im Dunkeln nicht. Ihn beschäftigten andere Probleme. Seine erste Niederlage war perfekt. Drei seiner Zombies, die als Kundschafter in England hatten agieren sollen, waren ausgeschaltet worden. Er konnte es daran erkennen, daß auf der Weltkarte drei rote Lichter erloschen waren. Die Lichter in den Staaten allerdings brannten weiter. Und hier konzent‐ rierten sie sich besonders auf den Staat Louisiana und die Umgebung der größten Stadt New Orleans, wobei der Golf von Mexiko mit seinen zahlrei‐ chen Inseln ebenfalls nicht ausgespart worden war. D. C. wußte nicht genau, wer für das Verlöschen der drei Lichter verant‐ wortlich war, aber er hatte eine Idee. Als Gehirn der lebenden Leichen war ihm natürlich bekannt, wer zu seinen Gegnern zählte. Das waren nicht nur die Geheimdienste der einzelnen Staaten und deren Polizei, auch bestimm‐ 48
te Typen, wie er sie nannte, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Schwarze Magie zu stoppen, rechnete er zu seinen Todfeinden. Einige von ihnen lebten in der Nähe von London, wobei sich sofort ein Name herauskristallisierte. John Sinclair! Noch hatte er mit ihm keinen Kontakt gehabt, doch er ging davon aus, daß Sinclair seine Spur aufgenommen hatte, wenn auch auf Umwegen, die er noch nicht erfassen konnte. Man machte Jagd auf ihn, und er würde sich zu wehren wissen. Wahr‐ scheinlich war er zu lasch gewesen, denn es mußten Informationen nach außen gedrungen sein, die ihm schaden konnten. Und dagegen wollte er etwas tun. Diejenige Person, der er sein Vertrauen schenkte, und die etwas daran hätte ändern können, wartete vor der Stahltür des Raumes darauf, daß sie gerufen wurde. Sie schmorte bereits eine halbe Stunde, bevor sich D. C. entschloß, sie he‐ reinzurufen. Da er hinter einem Schaltpult hockte, brauchte er nur einen bestimmten Knopf zu drücken, der einen Kontakt schloß, so daß sich die Stahltür automatisch in Bewegung setzte. Gleichzeitig flammte der Strahl eines weißen Scheinwerfers auf, der den Weg der Person nachzeichnete und sie begleitete. Es war eine Frau! In früheren Jahren hatte man bestimmte Frauen als Weib bezeichnet. Das traf bei dieser ebenfalls zu. Außerdem hätte man noch das Attribut gefähr‐ lich hinzufügen müssen, denn sie besaß eine gewisse Aura, die sie unsicht‐ bar umgab, aber von dem zu fühlen war, der in ihre Nähe gelangte und so etwas wie einen Schauder bekam. Sie war an sich normal, und dennoch gab es an ihr eigentlich alles Un‐ normale. Das fing bei dem langen weizenblonden Haar an, das sie im Na‐ cken zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Das Gesicht konnte man als schmal bezeichnen, die Wangenknochen standen ein wenig hoch, und sie zeigten eine rötlichbraune Schminkfarbe, die durch geschicktes Reiben gut, glatt und gleichmäßig verteilt war. Schmale Lippen und kalte, grüne Au‐ gen wichen ebenfalls vom Normalen ab. Jedem Betrachter fiel auch das schwarze Band auf, das sie um ihre Stirn geschlungen hatte. Es bestand aus weichem Samt, war so breit wie zwei 49
aufeinandergelegte Finger und besaß ein besonderes Merkmal. Ein kleiner gelbfarben schimmernder Totenschädel, der sich genau zwi‐ schen den Augen auf dem Stirnband befand. Gekleidet war diese Frau lässig und dennoch streng. Streng die enge Le‐ derhose, die sich über die schlanken Beine spannte und ein sehr gut ge‐ bautes Hinterteil nachmodellierte. Die Weste aus bunten Lederfetzen fiel ebenso locker wie die daruntersitzende weiße Bluse. Die schmalen Füße der Frau steckten in dunklen weichen Schuhen, die Ähnlichkeit mit Turn‐ schuhen aufwiesen, so daß die Blonde sehr leise auftreten konnte und es auch tat. Sie hatte nun die Aufforderung bekommen und den Raum betreten. Be‐ gleitet vom Licht des Scheinwerfers, der jedes Fältchen auf ihrem glatt wir‐ kenden Gesicht hervorholte. »Bleib stehen, Rhonda!« Sofort gehorchte die Frau. Sie hatte die elektronisch verzerrte Stimme er‐ kannt. Wenn D. C. etwas anordnete, sollte sich der andere peinlichst genau daran halten. Die Frau nahm sogar so etwas wie Haltung an, als sie ihren Schritt stopp‐ te, und schaute in das Dunkel vor ihr, da der sie begleitende Lichtstrahl erloschen war. »Rhonda Lassalle!« hörte sie die Stimme aus dem Hintergrund. »Du hast die letzte Operation durchgeführt und das Ölfeld abfackeln lassen. Die Division hat dafür kassiert, weil unser Auftraggeber sehr zufrieden war. Es spricht sich herum, daß wir sehr gut arbeiten. Weitere Aufträge liegen schon vor. Einer sogar von weltweiter Bedeutung, da wir in einem süd‐ amerikanischen Staat eine Revolution entfesseln sollen. Diese Sache würde mich reizen, und ich hätte sie auch schon in Bewegung gebracht, wenn da nicht in London eine Schlappe passiert wäre, die mir zu denken gibt und deren Ursachen wir umgehend untersuchen müssen. Vorgesehen habe ich dich, Rhonda Lassalle. Du wirst dich an die Arbeit machen und aufkom‐ menden Widerstand schon im Keim ersticken. Du wirst dich unserer Geg‐ ner annehmen, falls sie hier in der Nähe erscheinen sollten. Gelingt es dir nicht, sie zu töten, kannst du versuchen, ihnen Voodoo‐Land näher zu bringen. Dann sollen sie den Schrecken erleben, den wir für sie bereithal‐ ten. Hast du deinen Auftrag bisher verstanden?« »Ja, D. C.!« 50
»Kommen wir zu den Einzelheiten. Dafür kannst du zwei Schritte näher‐ treten!« Die blonde Rhonda ging vor. Aus der Dunkelheit erschien ein metallisch glänzender Greifarm, der ihr ein Papier reichte. Es waren zwei sehr eng beschriebene Bogen. Rhonda nahm sie an sich. Zwischen ihren Fingern knisterte das Papier, als sie es gegeneinander rieb. »Du wirst dort alle Informationen finden, die nötig sind«, erklärte die Stimme aus dem Dunkel. »Lies sie genau durch und behalte das Wichtigste davon. Ist das klar?« »Sicher!« »Dann geh!« Rhonda Lassalle zögerte. Die im Gegensatz zu ihrem Haar dunklen Au‐ genbrauen zogen sich zusammen, und die Stirn bekam ein kleines Falten‐ muster. »Wie lange Zeit gibst du mir, D. C?« »Es gibt kein Limit!« »Unbegrenzt also?« »Erledige deine Aufgabe so rasch wie möglich, da neue, große Dinge auf uns warten.« Rhonda verbeugte sich. »Ich werde alles versuchen, was in meinen Kräf‐ ten steht.« »Und noch ein wenig mehr!« erklang die Stimme aus dem Finstern. Dann war die Frau entlassen. D. C. brauchte nichts zu sagen. Rhonda spürte genau, daß sie nicht mehr gebraucht wurde, nickte dem anderen noch einmal zu, drehte sich scharf um und ging davon. Wieder begleitete sie der Strahl des breiten Scheinwerfers, der erst er‐ losch, als Rhonda die Befehlszentrale verlassen hatte. Sie schritt durch den kahlen Gang bis hin zum Aufzug, wo ein Mann wartete, der einen Zylinder auf dem Kopf trug und ihr entgegenstarrte. Wie immer spannte sich seine knielange, rot und weiß gestreifte Hose um die muskulösen Schenkel, und das breite Gesicht trug einen lauernden Ausdruck. »Wir bekommen Arbeit, Barnabas!« »Wer ist es?« »Ich weiß es noch nicht, aber es sind Feinde. Der nächste Job ist kein normaler, verstehst du?« 51
Barnabas nickte. »Brauchst du meine Kenntnisse als Meister des Voo‐ doo?« Beinahe versonnen schaute Rhonda Lassalle ihn aus ihren grünen Augen an, bevor sie die Schultern hob. »Es kann sein, daß wir ihnen Voodoo‐Land vorführen.« Der Schwarze verneigte sich. »Reizen würde es mich schon, und bereit bin ich immer.« »Das hoffe ich für uns beide«, erwiderte Rhonda. »Sage auch den ande‐ ren Bescheid. Wir werden uns ab jetzt auf die Lauer legen, das Netz ziehen und all die ausschalten, die sich uns in den Weg stellen. Sie sollen spüren, daß wir unbezwingbar sind…« * Der Film war eine einzige Provokation, und ich hatte Mühe, ruhig sitzen zu bleiben. Es gibt Künstler, die von sich und ihrer Arbeit Video‐Clips drehen lassen. Michael Jackson war berühmt durch seinen Zombie‐Video‐Clip geworden. Als ich auf die Leinwand schaute, hatte ich das Gefühl, ihn zu sehen. Die‐ ser Film war nicht so effektvoll gedreht worden, mehr sachlich, aber gerade darin lag der Schrecken. Wir sahen Szenen, die nicht gestellt wäre. Zombies, die Menschen angriffen und sich durch Kugeln nicht aufhalten ließen, vorausgesetzt, sie zerstörten nicht ihre Schädel. Sie gingen weiter wie Maschinen und näherten sich ihren Zielen. Das war zum Beispiel ein Kraftwerk irgendwo im Dschungel, das sie zerstörten. Sie waren kleine Selbstmörder, die schon in den Gräbern gelegen hatten, und nichts hielt sie auf. Mit Schrecken schauten wir zu, wie sie auch ein Schiff besetzten und es anzündeten. Was dabei mit den Menschen geschah, darüber möchte ich lieber schweigen. Später luden die Zombies kurz vor der Explosion des Schiffes Säcke ab, die ein weißes Pulver enthielte. Wahrscheinlich hatten sie für eine große Menge von Rauschgift gesorgt. Vertont worden war der Film ebenfalls. Wir hörten die harte Stimme ru‐ fen: »Und so geht es Schlag auf Schlag. Jeder Auftrag, den wir überneh‐ men, wird erledigt. Für uns gibt es keine Hindernisse. Ob Dschungel, Wüs‐ 52
ten und Gebirge, wir bezwingen sie ebenso wie Gegner, die sich uns in den Weg stellen…« Während dieser Worte liefen Szenen auf der Leinwand ab. So bekamen wir die Landschaften zu sehen, von denen gesprochen worden war, und auch die Gegner, denn wir sahen sie fallen. Die Zombies kannten kein Pardon. »Haben Sie schon jemals eine so schlagkräftige Truppe zu Gesicht be‐ kommen?« fragte der Sprecher, wobei die Kamera geschwenkt war und die Meute aufnahm, wie sie auf der halbrunden Kuppe eines Hügels stand, die untergehende Sonne im Rücken, so daß sich die untote Killertruppe wie Schattenfiguren davor abhob. Der Film war noch nicht durchgelaufen. Eine neue Szene wurde bezeigt. Der Überfall auf ein Öllager, wo die Zombies sogar mit Sprengstoff arbeite‐ ten und die ersten Tanks in Brand setzten, bevor Löschtrupps eintrafen. Ihnen stellten sie sich in den Weg. Sie ließen sich beschießen, einige gingen auch dabei drauf, das Gros der untoten Mörder aber überlebte, tötete selbst, während im Hintergrund das gesamte Lager in schwarzroten Flammen stand und selbst der Himmel zu brennen schien. Es war die Hölle! Grauenhaft und furchtbar. Sogar die Todesschreie vernahmen wir durch das Brausen und Knattern der langen Feuerzungen, und dazu hallte der erklärende Kommentar durch den provisorischen Kinoraum. »Das war unser größter Coup. Wenn Sie Probleme haben, wenden Sie sich an uns. Wir setzen uns mit Ihnen in Verbindung. Eine kleine Anzei‐ gennotiz reicht. Hier der Text.« Es war nur ein Wort. VOODOO‐LAND Ich buchstabierte flüsternd, sah das blutige Rot der Buchstaben und stell‐ te fest, daß mich dieser Film verdammt hart mitgenommen hatte. Nicht allein wegen der schlimmen Szenen, ich hatte leider schon grausamere sehen müssen, es war das Wissen darüber, daß dieser Film nicht gestellt, sondern echt war. Voodoo‐Land stand noch einige Sekunden und flimmerte auch dann bei mir nach, als die Leinwand wieder ihre ursprüngliche weiße Farbe zeigte. »Licht!« Die Stimme des Colonels unterbrach die Stille. »Und bringen Sie uns et‐ 53
was zu trinken, Major!« »Sehr wohl, Sir.« Der Offizier spielte Ordonnanz. Wir hörten das Klappern von Gläsern und Flaschen. Gesprochen wurde noch nicht. Ich spürte die Blicke des Co‐ lonels auf mich gerichtet und schaute ihn an. Er hatte seine dunkle Brille abgenommen. Farblos waren die Pupillen. Sehr blaß und fischig. Diese Augen schienen selbst tot zu sein. Das wußte der Mann, deshalb setzte er die Brille wieder auf. Der Major baute das Tablett zwischen uns auf. Er hatte es auf eine schwenkbare Schreibunterlage gestellt. Wir hatten die Wahl zwischen Whisky und Sodawasser. Ich konnte jetzt einen kräftigen Schluck gebrauchen, nahm die schon of‐ fene Flasche und ließ die hochprozentige Flüssigkeit in das Glas gluckern. Auch der Colonel trank Whisky, Sir James und Suko entschieden sich für Sodawasser. Gesprochen, kommentiert und erklärt wurde zunächst nicht. Wir tranken schweigend. Ein jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Suko hatte sich gedreht und breitbeinig hingesetzt. Er drehte das Glas zwischen seinen Fingern und schaute auf die zerplatzenden Perlen an der Oberfläche. Ich hatte die Augen halb geschlossen, den Kopf zurückgelegt und starrte gegen die Decke, wo eine Lüftungsklappe halb offen stand. Dann zündete ich mir eine Zigarette an und blickte dem Rauch nach, wie er durch den breiten Schlitz verschwand. »Das war es also«, sagte der Colonel. Sir James fügte etwas hinzu. »Und Sie wissen Bescheid, John und Suko, was auf Sie zukommt.« Wir nickten beide. »Irgendwelche Fragen?« erkundigte sich der Colonel. Ich stäubte die Asche ab. »Natürlich habe ich die. Es waren bisher nur Basis‐Informationen.« »Aber die reichen aus!« Der Colonel erhob sich. Er blieb neben der Reihe stehen und ballte beide Hände. Ruckartig schob er seinen Kopf vor. Flüs‐ ternd drangen anschließend die Worte über seine Lippen. »Dieser Film ist, so wie wir ihn gesehen haben, für uns eine wahre Provokation. Eine Un‐ verschämtheit, ein Dokument des Schreckens, andere Worte finde ich lei‐ der nicht dafür. Mit dieser Tatsache müssen wir uns abfinden, wir müssen 54
uns ihr stellen, und Sie sind gefordert. Was Sie gesehen haben, ist die Divi‐ sion. Diese Zombies, die sich aus zahlreichen entlassenen Agenten rekru‐ tieren, werden alles versuchen, um die schrecklichen Befehle auszuführen. Mord, Entsetzen, Panik, ihre Bahn ist vorgezeichnet. Sie haben zahlreiche Erfolge errungen, das zeigten die Bilder deutlich. Nichts ist getürkt, alles ist wahr, der letzte Anschlag auf ein Öllager in der Nähe von New Orleans kam einer Katastrophe gleich. Zum Glück lagen die Tanks im freien Gelän‐ de. Wäre es in der Nähe einer Stadt…« Der Colonel winkte ab und sprach nicht mehr weiter. »Was sagen die Amerikaner zu dem Problem?« erkun‐ digte ich mich. »Sie nehmen es zur Kenntnis.« »Tun sie auch etwas?« fragte Suko. »Kaum, weil sie nicht davon überzeugt sind, obwohl sich die Gruppe in ihrem Land gesammelt hat. Andere Dienste haben da schneller reagiert. FBI und CIA halten sich zurück, denn die USA sehen ihre Interessen noch nicht unmittelbar betroffen.« »Und der Brand?« warf ich ein. »Man nimmt ihn als Anschlag einer militanten Gruppe hin. Das ist alles.« »Kennt man bei den zuständigen Stellen diesen Film?« »Noch nicht, Mr. Sinclair. Wir haben davon Abstand genommen, weil wir keine große Aktion wollten. Man kennt die Amerikaner, die fangen an zu klotzen und würden vielleicht mehr zerstören als richten. Ich bin der Ansicht, daß wir mehr im Hintergrund bleiben und aus dieser Deckung zuschlagen sollte. Diese Aufgabe habe ich Suko und Ihnen zugedacht. Zer‐ stören Sie die Division.« »Und D. C«, fügte Suko hinzu. »Richtig, denn er ist der Chef.« »Hat man eine Spur?« Mein Freund schaute Maynard und auch Sir James an. »Nein«, erwiderte der Colonel. »Es gibt keine Spur. Wir wissen nur, daß sich der Führer D. C. nennt. Das ist alles.« »Und woher haben Sie die Informationen bekommen?« »Das, Mr. Sinclair, ist uns in einer langen und intensiven Arbeit gelun‐ gen, ebenso wie die Beschaffung des Films. Ich würde sagen, daß wir je‐ mand dankbar sein können, der sich hart eingesetzt hat und noch immer am Ball ist. Er sammelt Fakten und Spuren, hält die Stellung und ist unser 55
Verbindungsglied. Es ist ihm zwar nicht gelungen, in die Phalanx der Zombies einzubrechen, aber er liegt auf der Lauer und hat auch in den letzten Wochen gute Arbeit geleistet. Sie werden ihn kennenlernen, wenn Sie nach New Orleans fliegen.« »Wie heißt der Mann?« fragte ich. »Fred Diamond.« Ich schaute Suko an, er mich. Zur gleichen Zeit hoben wir die Schultern. »Sorry, seinen Namen habe ich noch nicht gehört.« Maynard gestattete sich ein knappes Lächeln. »Das ist gut so, denn Dia‐ mond möchte nicht gern enttarnt werden. Er ist ein Mann, der mehr im Verborgenen arbeitet, aber über vieles informiert ist. Sie werden das noch feststellen können.« »Welcher Gruppe gehört er an. Ist er ein Agent des Secret Service oder von MI‐5?« »Nichts von beidem. Er arbeitet für unser Land. Mehr möchte ich Ihnen nicht sagen. Zudem ist er keinem Rechenschaft schuldig. Man kann Dia‐ mond als Person zwischen den Fronten bezeichnen, als Einzelgänger im harten Geheimdienstgeschäft, der natürlich nicht mit dem Namen Dia‐ mond geboren worden ist. Seine wahre Identität spielt keine Rolle. Er hat sich entschlossen, Sie zu empfangen und sich dabei sehr kooperativ zu zeigen. Sie werden mit ihm zurechtkommen.« »Und wo genau treffen wir ihn?« »Die Informationen wird Ihnen Major Holbrock noch überreichen. Wir trennen uns gleich. Ich werde zusammen mit Sir James wegfahren, Sie nehmen wieder Ihren Wagen. Major Holbrock wird dieses Fahrzeug hier wegschaffen. Alles klar, oder haben Sie sonst noch irgendwelche Fragen, die gestellt werden müssen.« Ich hob die Schultern. Suko reagierte mit der gleichen Geste, und der Co‐ lonel lächelte schmal. »Dann bin ich zufrieden.« Er blickte unseren Chef an. »Sie noch, Sir James?« Der Superintendent nickte. »Das würde ich meinen. Ich möchte meine Männer nicht so ohne weiteres fahren lassen, ohne mit Ihnen ein paar Wor‐ te geredet zu haben.« Maynards Lippen zuckten. »Ich habe nichts gegen diese kleine Sentimen‐ talität einzuwenden.« Schon allein wie er diesen Satz sagte, strafte er seine Worte Lügen. 56
Sir James reagierte leicht pikiert. »Was hat gute Zusammenarbeit zwi‐ schen Mitarbeitern und einem Vorgesetzten mit Sentimentalität zu tun? Können Sie mir das sagen?« »Jeder fühlt eben anders.« Wir verließen den Wagen. Draußen atmete ich die kühle Sommerluft ein. Auf meiner Zunge spürte ich noch immer den Whisky‐Geschmack, doch mein Hals war trocken geworden. Auch Suko machte einen betretenen Eindruck, als er zu Boden schaute und mit dem Fuß scharrte. Ihm behagte dieser Fall überhaupt nicht. Sir James zwinkerte mit den Augen, bevor er uns ansprach. »Ich weiß, was ich Ihnen beiden zumute, doch es gab keine andere Möglichkeit. Staatsräson, sagt man wohl. Zudem wissen Sie selbst, wie gefährlich diese Zombies sind.« »Natürlich, Sir.« »Gewinnen können Sie nichts. Nur Ihr Leben.« Ich grinste schief. »Das ist immerhin etwas.« Der Superintendent hob die Schultern. »Jedenfalls sind Sie fast auf sich allein gestellt. Nehmen Sie mit, was Sie an Waffen haben. Es könnte sein, daß dieser Job der härteste wird, der Ihnen je über den Weg gelaufen ist.« Ich schaute zu Boden. »Das ist eine Armee«, flüsterte ich. »Sie kann sich aufsplitten, verteilen. Wenn wir an einer Ecke zuschlagen und Zombies vernichten, können sie an der anderen wieder auftauchen. Irgendwie habe ich das Gefühl, daß es keinen Erfolg bringt, wenn wir beide als Einzelgän‐ ger arbeiten.« »Sie vergessen Fred Diamond. Er ist ein guter Mann, habe ich mir sagen lassen. Knallhart, nicht so leicht aus dem Spiel zu bluffen und schon einige Jahre im Geschäft. Angeblich soll er den heißen Süden der Staaten besser kennen als seine Geburtsstadt Liverpool. Sie werden ihn kennenlernen und mit ihm zusammenarbeiten.« »Wann fliegen wir?« fragte Suko. »Schon am heutigen Abend. Es ist alles vorbereitet. Viel Zeit bleibt Ihnen nicht.« »Kaum für einen Abschied«, murmelte mein Freund und dachte sicher‐ lich dabei an seine Partnerin Shao. »Das ist Ihr Schicksal.« Colonel Maynard erschien im Eingang und sprang nach draußen. Er warf 57
einen bezeichnenden Blick auf die Uhr. »Meiner Ansicht nach ist es Zeit. Ich werde im Ministerium erwartet.« »Die Schreibtischhengste können ruhig noch länger hockenbleiben«, er‐ widerte Sir James fast böse. »Wenn die wüßten, mit welchen Schwierigkei‐ ten wir hier zu kämpfen haben, würden sie anders reagieren, darauf kön‐ nen Sie sich verlassen.« Sir James ließ sich nicht beirren. Er reichte uns die Hand. Zu sprechen brauchte er nicht. Nur in die Augen schaute er uns. In seinen stand alles zu lesen, was er uns wünschte. Vor allen Dingen, daß wir gesund wiederkehrten. »Ich weiß«, sagte er zum Schluß. »Ich kann mich auf Sie beide verlassen. Sie werden es schaffen…« Es waren seine letzten Worte, bevor er sich um‐ drehte und zu seinem Dienstwagen ging. Maynard hielt sich an seiner Seite. Der Wagenschlag wurde den beiden Männern geöffnet. Auf uns kam der Major zu. Er reichte uns zweimal die Informationen, die Maynard uns versprochen hatte. Einen Kommentar gab er dabei nicht ab. Und kommentarlos stieg er auch in seinen Wagen, um abzufahren. »Der eifert seinem Chef jetzt schon nach!« meinte Suko. »Irgend etwas färbt immer ab.« »Das sieht man bei mir. Früher war ich noch so unverdorben, aber heute ist alles anders. Da bin ich…« Ich winkte ab. »Nur nicht die alte Leier, die glaubt dir keiner mehr.« Wir schauten zu, wie die Wagen anfuhren. Sir James warf noch einen Blick zurück, ein knappes Nicken, dann hatte der englische Mischwald das Fahrzeug verschluckt. Der Transporter rollte etwas später an. Uns ließ man allein mit der Stille und den Gedanken. »Jetzt wünsche ich sie mir«, sagte ich leise. »Was?« »Die einsame Insel am Ende der Welt. Nichts hören, nichts sehen, nichts wissen.« »Denk an die Flaschenpost. Wie ich unseren Chef kenne, würde er dich auch auf der Insel erreichen.« Suko schlug mir auf die Schulter. »Nein, Alter, wir werden uns wieder voll reinhängen müssen.« Ich nickte. »Sieht so aus. Willst du fahren?« »Ja, nach deiner Stimmung zu urteilen, ist es besser. Außerdem hast du 58
einen Whisky getrunken.« »Komm.« Wir stiefelten durch den Wald und nahmen den Weg, den ich schon ein‐ mal gegangen war. Bald hatten wir den Silbergrauen erreicht und drückten uns in die Sitze. Suko mußte rangieren, bis er den Bentley so weit hatte, daß wir in den Pfad hineinrollen konnten. Auch an den Erdbeerfeldern kamen wir vorbei, und ich sah die Frauen, die dort die Früchte pflückten. Sie winkten uns zu, lächelten, so daß ich nicht umhin konnte, sie irgendwie zu beneiden. Sie besaßen ihre kleine Welt, in der sie sich wohlfühlten. Wir aber wurden hineingestoßen ins kalte Wasser, und es war fraglich, ob ich in meinem Leben jemals wieder erdbeerpflückende Frauen sehen würde… III Der Krach ließ sich ertragen, denn Fred Diamond hielt sich im Hinter‐ grund der großen Markthalle auf, in der ein fast wahnsinniger Betrieb herrschte. Das mußte so sein. Tag für Tag war hier eine kleine Hölle los. Da wurde angeboten, was die Felder und Meere hergaben. Da handelten Verkäufer und Käufer. Buntheit und Vielfalt mischten sich zu einem Chaos, für das New Orleans berühmt war. Leben hieß dies. Lockeres Leben. Nicht zu vergleichen mit der rattenschnellen Betrieb‐ samkeit in New York, und dieses Leben besaß auch nicht die Scheuklappen der Karrieretypen, wie sie in Chicago, Boston und Los Angeles zu finden sind, wo jeder arbeitet und Freizeit gewissermaßen Nebensache ist. Hier genoß man – das Essen, das Trinken und auch die kleinen Verbote, die es zu übertreten galt. Nicht umsonst war New Orleans die französischste Stadt der Staaten, und viele Menschen redeten noch französisch, um so zu dokumentieren, woher sie stammten. Fred Diamond hatte sich dieser Art von Leben angepaßt, ohne jedoch seine Wachsamkeit zu verlieren. Und die brauchte man in einer Stadt wie 59
New Orleans, in der leider auch das Verbrechen blühte. Kleine Straßenräuber oder Mugger kümmerten diesen hochgewachsenen Mann mit den eckigen Schultern, dem Narbengesicht und dem blonden, fast bleichen Haar nicht. Er wollte die größeren Fische, und das waren Zombies. Fred wußte, daß es sie gab, er wußte ferner von einem gewissen D. C, der im Hintergrund hockte und seine Fäden zog. Nur herangekom‐ men war er an diesen Mann noch nie. Spuren hatte er schon aufgenommen. Aus London würden bald zwei Männer erscheinen, die man ihm empfohlen hatte, und Fred war damit einverstanden gewesen, obwohl er sonst als Einzelgänger agierte. Dieser Fall jedoch war einfach zu groß für einen allein. Auch für einen guten Mann. Es war warm in der Stadt. Der Sommer konnte regelrecht brutal werden. Fred Diamond trug trotzdem seinen blauen Blouson, denn er verdeckte den großkalibrigen Magnum Revolver, der in einem Halfter unter der lin‐ ken Achsel steckte. Die graue Leinenhose zeigte Flecken. Auf dem Weg in die Lagerhalle war Fred durch zerquetschte Tomaten gelaufen, die Kinder von einem Wagen geholt hatten. Wo er sich hingehockt hatte, war es ruhiger und auch dunkler. Kein Licht fiel durch die zur Decke hin offenen Schächte. In diesem Teil lagerten Wa‐ ren, und man hatte die Halle angedeckt, so daß die Sonne auf das Dach knallen konnte und das Innere allmählich in einen Brutofen verwandelte. Nicht weit entfernt rollten die großen Gabelstapler vorbei. Auf ihren brei‐ ten Gummirädern waren sie kaum zu hören. Ihre Fahrer holten Nachschub für die Verkaufsstände. Das Obst leuchtete in den herrlichsten Farben. Knallrot, fast überreif die Tomaten. Rotgelb die Orangen. Weintrauben, Mangos, Zitronen, Bananen, es gab alles, was das Herz begehrte. Nicht weit von ihm entfernt waren dicke, grüne Wassermelonen in einer Nische zu einem Dreieck gestapelt. Bisher hatte sich noch keiner um die Früchte gekümmert, und Fred hoffte, daß dies so bleiben würde. Auf dem Boden lag der Abfall. Zerquetschtes Obst mischte sich mit Pa‐ pierresten, zerschlagenen Kisten und anderem Abfall. In New Orleans nahm man es nicht so genau. Auch auf den Straßen warf man einfach das weg, was man gerade in der Hand hielt. Niemand hielt sich an irgendein Gebot der Reinlichkeit. Das Durchein‐ 60
ander gehörte einfach dazu. * Mit dem Fuß angelte Diamond sich eine stabile Kiste heran, ließ sich dar‐ auf nieder und nahm seine Sonnenbrille ab. Zusammengeklappt steckte er sie in die obere Außentasche seiner Jacke. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten. Sein Informant hatte versprochen, ihn hier zu treffen, wo die dicken Melonen lagerten. Eine exakte Zeit hatte er nicht angegeben und sich einen Spielraum von sechzig Minuten ausgebeten. Es war der gleiche Mann, der ihm auch den Film heimlich zugespielt hat‐ te. Welche Motive ihn geleitet hatten, war Diamond nicht bekannt. Es inte‐ ressierte ihn auch nicht. Für ihn zählte nur der Erfolg, und der war nur auf dem direkten Weg zu erreichen. Diamond war gespannt. Diesmal sollten die Nachrichten noch besser sein, zentraler sogar, denn sein Informant hatte vor, ein Geheimnis zu lüf‐ ten. Es hing mit D. C. zusammen. Leider war der Mann nicht zu bewegen gewesen, vorab ein paar Informationen zu geben, und er hatte eine gewisse Angst verspürt, das war deutlich aus seiner Stimme zu entnehmen gewe‐ sen. Über den Grund brauchte Diamond nicht lange nachzudenken. Die anderen hatten etwas bemerkt und waren ihm auf den Fersen. Zahlreiche Gerüche wehten dem Wartenden entgegen. Es roch nicht al‐ lein nach Obst, auch nach Gebratenem, denn in der Nähe der Hallen be‐ fanden sich zahlreiche Lokale und Garküchen, die für solche Leute koch‐ ten, die rasch einen Happen zu sich nehmen wollten. Da wurden Fisch und Fleisch in große Pfannen geschleudert und auf of‐ fenen Herden gebraten. Ein herrliches Bild, gefüllt mit praller Menschlichkeit. Jenseits der Nischenwand fuhren die Stapler. Manchmal knallte eine Kis‐ te zu Boden, ertönten Flüche und wilde Beschimpfungen, auch mal ein Lachen. Das alles kümmerte den einsamen Mann nicht. Hin und wieder warf er einen Blick auf seine Uhr. Der Informant hatte nicht mehr viel Spielraum, wenn er sein Zeitlimit einhalten wollte. Fred machte ihm keine Vorwürfe. Das kannte er selbst. Oft genug war man 61
schon hinter ihm hergewesen. Da hatte er Haken schlagen müssen wie ein Hase, um den Verfolgern zu entkommen. Sein Informant hieß Georgie. Er stammte aus dieser Stadt und wohnte im French‐Viertel, wo es fast noch zuging wie vor 100 Jahren. In dieser wäh‐ rend der Franzosenzeit gegründeten Stadt pulsierte das wahre Leben des Südens, dort entstanden auch die neuen Ideen, die Gerüchte, und da war auch der Aberglaube zu Hause. Voodoo‐Zauber und Schwarze Messen, geheimnisvolle Riten, all das fei‐ erte man in den Verstecken dieser Stadt in der Stadt. Das Viertel besaß einen typischen Geruch. Da wehte kaum Wind. Die Luft stand, sie war schwül, sie war warm und aufgefüllt mit den E‐ motionen der Menschen. Manchmal entluden sich diese Emotionen in Aggressionen. Da kam es dann zu gefährlichen Übergriffen, Straßenschlachten, Schießereien und Messer kämpfen. Und doch wohnte der, der etwas von der Szene mitbekommen wollte, in diesem Viertel. Auch Fred Diamond hatte in einem der schmalbrüstigen Häuser seine Wohnung gefunden, die er nur selten benutzte, weil er doch ziemlich viel unterwegs war. Auf seiner Kiste hockend, schaute er nach vorn, da er Schritte vernom‐ men hatte. Er mußte die Augen etwas verengen, weil aus einem Deckenspalt hellen Sonnenlicht sickerte. Zwei Männer waren es, die sich ihm näherten. Als sie sich in direkter Sichtweite befanden, erkannte Fred, daß sie noch sehr jung waren. Jugendliche Neger, deren nackte Oberkörper blauschwarz glänzten. Die beiden trugen abgeschnittene Jeans und grüne, lange Schürzen. Einer von ihnen zog einen Wagen hinter sich her. Die hellen Turnschuhe an ihren Füßen strahlten, als wären sie mit weißer Leuchtfarbe bestrichen worden. Fred veränderte seine Haltung. Er drückte die Ellenbogen von seinen Knien weg und schaute in die Höhe. Die beiden Schwarzen blieben stehen. In ihren dunklen Augen flackerte Mißtrauen. Sie wunderten sich über die Anwesenheit des Weißen, wußten aber nicht, was sie sagen sollten. »Ihr könnt ruhig arbeiten«, sagte Diamond. Der Junge mit dem Karren schob ihn so vor, daß die Ladefläche parallel 62
zum Dreieck der aufgestapelten Melonen stand. »Wir müssen hier abräu‐ men«, sagte er. »Bitte.« »Gehören Sie hierher?« Fred grinste. »Jetzt ja«, erwiderte er gedehnt. Die jungen Arbeiter hoben die Schultern und begannen damit, den Berg abzutragen. Diamond schaute ihnen zu. Sie fingen an der Spitze des Melonen‐ Dreiecks an. Jede Kugel hatte soviel Gewicht, daß nur jeweils eine von zwei Händen getragen werden konnte. Die Melonen wurden auf den kleinen Wagen gelegt und dort auch sorg‐ fältig aufgebaut. Fred beobachtete. Schon bald glitzerten kleine Schweißperlen auf den dunklen Körpern, und die Gesichter hatten einen verbissenen Ausdruck bekommen. Diamond kümmerte sich nicht darum. Er hatte eine Schwarze aus der Packung gedrückt und rauchte in tiefen Zügen. Die Jungen besaßen Routine. Sie wußten genau, wie sie die Melonen zu stapeln hatten, damit die einzelnen ›Bälle‹ nicht in Bewegung gerieten und die Pyramide zusammenbrach. Eine letzte wurde noch obenauf gesetzt, so daß fast die Hälfte des Berges aufgebaut war. »Schafft ihr das?« fragte Fred. »Klar.« Vorsichtig hoben sie die lange Deichsel des Wagens an. Sie faßten den Griff von zwei verschiedenen Seiten und zogen mit ihrer Ladung ab. Der Agent blickte ihnen nach. In der Tat fiel die Melonen‐Pyramide nicht zu‐ sammen. Er warf die Kippe auf den Boden, trat sie aus und schaute auf den ge‐ schrumpften Stapel. Es war ein desinteressierter Blick, der den Früchten galt, doch einen Moment später stand Fred wie unter Strom. Ein schneller Rundblick bewies ihm, daß er in diesem Teil der Halle al‐ lein war. Von den beiden Jungen sah er nicht einmal mehr die Schatten. Auf einmal schwitzte er. Vorsichtig drückte er sich von der Holzkiste hoch und schritt auf den halbierten Melonenstapel zu. Etwa in Kniehöhe hatte er es entdeckt. Gequetscht zwischen zwei Früchten schaute etwas Längliches hervor. 63
Der Agent mußte sich bücken, um den Gegenstand zu identifizieren, dann wußte er Bescheid, als er die hellere Nagelspitze sah. Es war ein Finger! Eine kalte Schweißperle rann über seinen Nacken. In der Kehle spürte er die Trockenheit, und er räumte sehr behutsam die Melonen zur Seite, die in der Nähe des Fingers gestapelt waren. Die oberen gerieten ins Rollen, da er nicht vorsichtig genug gewesen war. Neben ihm klatschten sie zu Boden. Von zweien wurde er auch getroffen. Jetzt war ihm alles egal. Mit beiden Händen schaufelte er die Melonen weg, achtete nicht darauf, wo sie hinrollten, und sah schon Sekunden später den Schrecken. Jemand hatte den Toten hinter den Melonenstapel gedrückt. Es war sein Informant Georgie. Die tiefe Wunde in dessen Brust mußte von einer breiten Messerklinge stammen. Auf diese üble und widerliche Art und Weise hatte man den Mischling gekillt. Fred ballte die Hände. Er spürte das Ziehen im Nacken, und ihm wurde bewußt, daß dieser Treffpunkt bekannt sein mußte. Wahrscheinlich kannte die andere Seite auch die entsprechenden Informationen und hatte Zeit genug gehabt, eine Falle aufzubauen. Das paßte Diamond überhaupt nicht. Er trat einen Schritt zurück. So war sein Blickfeld besser geworden. Nach vorn schaute er, nach hinten, auch zur Seite hin, er hörte die Stimmen aus der Gabelstaplerhalle hinter der Wand, und ihm war klar, daß er ver‐ schwinden mußte. Den gleichen Weg wie die beiden schwarzen Jungen wollte er nicht neh‐ men. Es gab auch einen anderen. Durch die Lagerhalle jenseits der Wand und sich dann in den Marktwirrwarr zu stürzen. Über einige Melonen sprang er hinweg, lief bis zum Ende der Trenn‐ wand und schob sich dort durch eine Lücke in die Halle mit den hohen Regalen hinein, wo nicht nur Obst lagerte, auch andere Lebensmittel. Vor allen Dingen Gemüse. Neben einem Kistenstapel mit der Aufschrift ›sweet potatoes‹ blieb er stehen. Soviel Zeit mußte er sich einfach nehmen, um die Lage zu sondie‐ ren. Wenn die anderen da waren, hielten sie sich bestimmt gut verborgen. Sie konnten sogar in den Regalen lauern, wenn diese leer waren. Dann 64
wirkten sie wie dunkle Stollen. Von der Decke pendelten einige lange Lampen, die vom Windzug be‐ wegt wurden und dabei von einer Seite auf die andere schwankten, so daß ein Spiel aus Licht und Schatten entstand. Die Fahrer auf den Staplern waren kaum zu erkennen. Sie trugen Ein‐ heitskleidung. Es waren die langen Schirme der Mützen, die ihre Gesichter im Dunkeln liegen ließen. Sehr normal sah alles aus. Zu normal für den Geschmack des Agenten. Er befand sich lange genug im Geschäft, um die versteckte Gefahr zu ahnen. Sie lauerte hier irgendwo. Trotzdem blieb er bei seinem Entschluß, die Halle zu durchqueren, denn hier besaß er mehr Bewegungsfreiheit. Nur sehr zögernd löste er sich aus der Deckung des Kistenstapels. Seine Füße schleiften über den Boden. An der gegenüberliegenden Seite sah er zahlreiche zerquetschte Bananen auf dem Boden liegen. Sie bildeten Rutschfallen. Da wollte er nicht hin. Er blieb an der rechten Seite und immer in der Nähe der hohen Regale. Drei Stapler befanden sich in der Halle. Die andere Hälfte fuhr außerhalb und brachte Ladung. Zwei Stapler hielten sich an der gegenüberliegenden Seite auf. Die langen Metallgabeln schoben sich unter Paletten, die mit Orangenkisten beladen waren. Nur das dritte Fahrzeug hielt sich noch in der Mitte auf. Sein Fahrer schien sich nicht entschließen zu können, welches Regal er anvisieren soll‐ te. Fred lief vor. Er behielt das Fahrzeug im Auge, besonders dann, als es sich drehte und die beiden starken Zinken in seine Richtung wiesen. Sie standen halbhoch, sahen verdammt gefährlich aus und würden in einen Körper gleiten wie durch Butter. Nicht gerade ein angenehmes Gefühl. Fred befand sich mit dem Wagen noch nicht auf einer Höhe, als dieser beschleunigt wurde. Und innerhalb einer Sekunde erkannte der Agent die Gefahr. Um vorzulaufen war es zu spät. Der Stapler beschleunigte noch. Er fuhr zudem leichte Schlangenlinien, so daß diese Fahrerei es dem Agenten 65
schwermachte, einen genauen Fixpunkt zu erkennen und auszuweichen. Deshalb blieb er stehen. Das Ungetüm aus Stahl wuchs vor ihm auf. Den Fahrer konnte er kaum erkennen, die schweren Metallspieße wurden für ihn zu alptraumhaften Messern, und was er dann tat, grenzte bereits an Wahnsinn. Es war aber seine einzige Chance. Er schnellte mit einem tigerhaften Sprung genau in dem Moment hoch, als die Gabeln ihn fast erwischten. Zu seinem Glück war der Transporter beim letzten Rest der Strecke geradeaus gefahren, auch der Raum zwischen den beiden Gabeln war groß genug. Diamond landete auf dem halbrunden Vorderteil und hielt sich an einer Kante des glaslosen Fensters fest. Er sah noch das erschreckte und dann verzerrte Gesicht des Fahrers, bevor er den gewaltigen Rückstoß verspürte, als der Stapler in das Regal hineinfuhr. In seiner unmittelbaren Umgebung schien die Hölle ausgebrochen zu sein. Ein Krachen, Knirschen und Splittern drang an seine Ohren. Irgend‐ wo brach etwas zusammen, und Fred klammerte sich eisern fest. Wenn er jetzt hinuntergeschleudert wurde, sah es böse aus. In das Regal raste der Stapler. Trotz des Widerstandes der Holzaufbauten wurde seine Fahrt nur allmählich langsamer. Er schob Stützpfosten um, Fred hörte sie brechen, und große Kisten gerieten samt ihrer Ladung ins Rutschen. Das war die große Gefahr. Diamond wollte nicht unter einer der schwe‐ ren Kisten begraben werden, deshalb verließ er den Stapler und sprang geduckt zu Boden. Genau im richtigen Moment. Als er sich umdrehte, sah er die große Kiste fallen. Sie hatte das Übergewicht bekommen, und ihre Ladung ergoß sich wie ein gewaltiger Strom nach unten. Es waren Tomaten! Tausende dieser roten Früchte klatschten auf den Stapler und dessen Fahrer, zerplatzten dort, rutschten auch an beiden Seiten zu Boden und bildeten einen gewaltigen Matschteppich, der schon einer Rutschbahn glich. Diamond wurde ebenfalls nicht verschont. Tomaten trafen ihn, platzten auf, das glitschige Zeug rann über sein Gesicht und den Körper, lief an seiner Kleidung herab, so daß er sich vorkam wie mit verdünntem Blut 66
Übergossen. Als er zur Seite springen wollte, rutschte er aus und vernahm gleichzeitig das gefährliche Knirschen über seinem Kopf. Da brach noch mehr zusam‐ men. Der Stapler hatte tatsächlich aufgeräumt und wie ein Rammbock gewirkt. Dem Agenten war klar, daß diese gesamte Regalfront in den nächsten Sekunden zusammenkrachen konnte, deshalb mußte er so schnell wie möglich den unmittelbaren Gefahrenbereich verlassen. Er stieß sich ab und sah auch, daß der Fahrer die Maschine verließ. Er sprang zu Boden, schützte mit seinen Armen den Kopf, blickte sich um und entdeckte seinen Gegner. Diamond hatte sich wieder gefangen. Zwar waren seine Sohlen noch immer glatt, doch er konnte laufen, ohne hinzufallen, und es gelang ihm, die unmittelbare Umgebung des Regals zu verlassen. Sein Verfolger schaffte es nicht. Er hatte zu lange gezögert, und ihn erwischte es kurz vor seiner endgül‐ tigen Rettung. Es waren mehrere Kisten zugleich, die aus der obersten Etage nach unten kippten, Stützgebälk mit sich rissen, dabei aufplatzten und den Mann unter sich begruben. Trotz des Lärms hörte Diamond noch den Schrei des Fahrers, dann nahm ihm das Obst, eine Mischung aus Orangen, Zitronen und Tomaten, die Sicht auf einen Toten, denn so etwas konnte niemand überleben. Das Geschäft war nicht nur hart, auch brutal. Wieder einmal hatte Fred dies feststellen müssen, und er sah zu, daß er die Halle so schnell es ging verlassen konnte. Noch waren zwei Stapler da. Deren Fahrer schienen nicht zu dem dritten zu gehören. Sie jedenfalls tra‐ fen keinerlei Anstalten, auf Fred zuzufahren. Im Gegenteil, sie mußten unter einem Schock stehen, denn keiner von ihnen fuhr auch nur einen Meter vor. Diamond jagte an ihnen vorbei. Eingehüllt in die vom Boden hochquel‐ lenden Staubwolken und auch durch sie geschützt, erreichte er das Ende dieser großen, nach vorn offenen Lagerhalle und wurde von der grellen Sonne geblendet. Hier begannen bereits die ersten breiten Gassen mit den Ver‐ 67
kaufsständen. Natürlich hatte man auch an dieser Stelle gehört, was ge‐ schehen war, nur handelte niemand. Die Menschen standen da wie ge‐ lähmt. Aus Erfahrung wußte Fred, daß es in den nächsten Sekunden schon zu einem großen Chaos kommen konnte. Er hatte sich nicht getäuscht. Bevor sich der Schock löste, befand er sich bereits in einer relativ sicheren Deckung zwischen zwei Ständen einge‐ klemmt. Hier atmete er tief durch. Es störte ihn dabei auch nicht der Fischgestank der rechten Bude. Von dort roch es so, als würden faule Heringe verkauft, vermischt mit einem scharfen Curry‐Gewürz. Panik griff um sich. Niemand lief weg, auch wenn es so aussah, viele Menschen drängte es zum Ort des Geschehens. An der Lücke, in die sich der Mann gequetscht hatte, huschten die Leute vorbei, wobei ihre Gesichter wie zerfließende Schemen wirkten. Allmählich beruhigte sich Fred Diamond. Wieder einmal war er haar‐ scharf dem Tod entwischt, wie schon so oft in seinem Leben. Eines aber hatte ihn diese Attacke gelehrt. Nicht allein Zombies waren seine Gegner, auch normale Menschen, nor‐ male Killer, wie derjenige, der auf dem Gabelstapler gesessen hatte, um Fred aufzuspießen. Die Division besaß hervorragende Beziehungen und ebenso gewaltige Reservoire an menschlichem Nachschub. Es würde noch härter werden. Ein kalter Schauer lief über Diamonds Nacken. Zwar konnte, wenn die Polizei eintraf, nicht das gesamte Viertel abgesperrt werden, aber in eine zufällige Kontrolle wollte er auch nicht gerade hineingeraten. Es gab zu‐ dem Zeugen, die ihn gesehen hatten. Er brauchte nur an die beiden Neger‐ jungen zu denken. Notdürftig reinigte er seine Kleidung. Zwischen seinen Fingern blieb der Tomatenschmier kleben, ebenso wie die kleinen, gelben Samenkörner die‐ ser Früchte. Noch ein paar Sekunden wartete er ab, dann verließ er den schmalen Spalt zwischen den beiden Ständen. Der Markt sah ziemlich leer aus. Nahe der Halle ballten sich die Menschen und diskutierten erregt. Und noch 68
immer strömten andere hin. Der Agent lief gegen den Strom. Manchmal mußte er sich seinen Weg freischaufeln. Er wurde angerempelt, angestoßen, beschimpft und einmal bespuckt, doch er schaffte es, dieses Gebiet hinter sich zu lassen, und hatte sich während des Laufens auch schon einen neuen Plan zurechtgelegt. Da man über ihn Bescheid wußte, würde man auch seine Wohnung unter Bewachung halten. Deshalb war es besser, wenn er sich vorerst aus der vordersten Front zurückzog und sich in dem Wirrwarr am Ufer des Missis‐ sippi begab. Die Anlegestellen grenzten an die südliche Seite des French Market. Bis zu diesen Touristensammelstellen war es nicht weit. Zum Ufer hinunter bewegte er sich durch schmale Gassen. Auch hier wurde verkauft, saßen die Verkäufer vor ihren außen aufgebauten Waren und Ständen. Ein Mädchen wollte ihm Schnee andrehen. Er stieß die Kleine zur Seite, die wütend hinter ihm herschimpfte. Viel zu schnell war die Zeit vergangen. Er wußte, daß er bald mit den beiden Männern aus London zusammentreffen mußte. Vom Flughafen wollte er sie nicht abholen, sondern im Hotel anrufen. Dabei mußte er un‐ beobachtet sein. Man roch den Fluß, und auch das Bild der Menschen änderte sich. Spra‐ chenwirrwarr hüllte ihn ein. Busse hatten Touristen angekarrt, damit sie auf einem der historischen River Boats eine Fahrt auf dem Vater aller Flüs‐ se unternehmen konnten. Die Anlegestellen waren besetzt. Gnadenlos knallte die Sonne vom Himmel, über dem Wasser lag Dunst. Fauliger Geruch wehte dem Mann ins Gesicht. Fast alle Telefonzellen waren besetzt. Er mußte lange warten, bis eine frei wurde. Bevor er das kleine Häuschen betrat, drehte er sich noch um. Verdächtige Gestalten konnte er nicht entdecken. Die Menschen, die hier standen, war‐ teten auf die Schiffe. Die Rufnummer des Hotels hatte er auswendig gelernt. Es war das New Orleans Hilton, ein gewaltiger, strahlend weißer, kastenförmiger Bau nicht weit vom Fluß entfernt. Das Mißtrauen saß in ihm wie angeboren. Deshalb drehte er sich auch 69
noch einmal um, bevor er den Hörer abnahm und die Zahlen in die Wähl‐ scheibe tippte. Im gleichen Moment öffnete eine schmale Hand die Tür. Nur einen Spalt weit, aber der reichte aus, um die scharfe Eierhandgrana‐ te in die Zelle rollen zu lassen… * Wenn es die berühmte Schrecksekunde gab, nahm Diamond sie jeden‐ falls nicht wahr. Er sah in der kurzen Folgezeit viele Dinge auf einmal. Bewußt kristallisierte sich nur eine bestimmte Szene heraus. Das grinsende Gesicht eines dunkelhäutigen Mannes, der in einem weißen Anzug steckte und sich mit tänzerischer Gewandtheit zurückzog, um sofort innerhalb des Menschengewühls unterzutauchen. Die Granate aber hatte er zurückgelassen. Der Agent wußte, daß ihm keine Zeit mehr blieb. Er konnte nur noch ei‐ nes tun. Die Tür aufreißen und sich aus der Zelle werfen. Das tat er. Mit der Schulter rammte er die Tür nach außen, stieß sich schon ab und hechtete in den Wirrwarr hinein, wobei es ihm nichts ausmachte, daß er gleich drei Leute mit zu Boden riß. Vielleicht hatte er ihnen durch diese Aktion sogar das Leben gerettet, denn die Handgranate im Innern der Zelle detonierte in diesem Augen‐ blick. Es war die Hölle! Zwar entstand kein Feuerball, doch eine Riesenfaust schien die kleine Zelle von innen gepackt und auseinandergerissen zu haben, so daß sie nach allen Seiten auseinanderflog. Glas, Metallteile, verbogen und schief, rasten in die Menge oder über die Köpfe der Menschen hinweg. Schreie gellten auf, die Druckwelle erfaßte nicht allein den Agenten, auch andre und schleuderte sie zu Boden. Eine Mutter warf sich dicht neben Diamond über ihr Kind, damit sie es mit ihrem Körper schützen konnte, und den beiden passierte auch nichts. Als erster kam Fred in die Höhe. Er blickte sich um, sah die Verletzten, Haß und Wut auf diesen heimtückischen Attentäter stiegen in ihm hoch, 70
und er nahm sich vor, ihn zu stellen. Wieder bahnte er sich mit beiden Armen einen Weg. Diesmal lief er nicht weg, sondern blieb in der Nähe. Es war möglich, daß der Killer zurück‐ kehrte, um sich vom Erfolg seines Anschlages zu überzeugen. Dann wollte Diamond ihn packen. Ihm kam seine Größe zugute. Über die Köpfe der meisten konnte er hin‐ wegschauen. Angerempelt wurde er, viele Menschen drängte es zum Un‐ fallort, das war wie in den Hallen. Es kam schon einem kleinen Wunder gleich, daß er noch seine Sonnen‐ brille trug. Sie hatte diesen verdammten Horror schadlos überstanden. Leider trugen sehr viele Menschen weiße Kleidung, auch die Farbigen, das erschwerte die Suche. Der Agent schaute in die Richtung, in die der andere verschwunden war. Da mußte er etwas erkennen können, wenn überhaupt. Er ging auf eine Bank zu, die nicht mehr besetzt war. Nur eine Einkaufs‐ tüte stand dort. Mit einem Satz sprang Fred auf die Bank. Jetzt hatte er einen besseren Überblick. Er sah den anderen. Vielleicht war es Zufall, vielleicht auch das Glück des Tüchtigen, jeden‐ falls entdeckte er den Mann, der ihm das Höllenei in die Zelle gerollt hatte. Er tauchte aus einer schmalen Gasse auf und hielt sich im Schlagschatten eines langsam fahrenden Wagens. Es war ein dunkler Pontiac, der jetzt abgebremst wurde und zwei Männer in Zivil entließ, die sehr nach Polizei aussahen. Fred sprang von der Bank. Wenn die Männer gewußt hätten, wie nahe ihnen der Attentäter war, hätten sie sicherlich durchgedreht. So blieb der andere in der Nähe des Wagens stehen und ahnte nicht, wer ihm da so plötzlich entgegenkam. Diamond machte es geschickt. Wegen seiner Größe duckte er sich dies‐ mal und dachte daran, daß der schwarze Pontiac auch ihm als Sichtschutz dienen würde. Schräg glitt er auf den Wagen zu, der wie eine dunkle Insel inmitten des Touristengewühls wirkte. Der Attentäter war ein abgebrühter Gangster. Er schaute sich kurz um und hüpfte plötzlich mit einem Sprung auf die Kühlerhaube des Pontiac, wo er stehenblieb und sich drehte, damit er bessere Sicht auf den Ort be‐ kam, wo einmal die Zelle gestanden hatte. 71
Trotz seiner erhöhten Stellung würde er nicht viel sehen können, das stand fest, denn der Kordon aus Menschen war einfach zu dicht, und auch die beiden Polizisten hatten Mühe, ihn zu durchbrechen. Auf Fred achtete keiner. Sein Gesicht war erstarrt. Die Sonnenbrille hatte er weggesteckt. Er woll‐ te nicht in Gefahr geraten, sie durch einen unbedachten Schlag zerstört zu bekommen, denn man wußte nie, wie jemand reagierte, der sich in die Enge getrieben sah. Vor ihm schritten zwei Touristinnen her, deren Hinterteile an die von schaukelnden Reitpferden erinnerten. Entsprechend breit waren auch die in Sommerkostüme eingezwängten Körper, hinter denen Fred eine gute Deckung fand. So näherte er sich von dem Attentäter ungesehen dem dunklen Pontiac. Die beiden hellhäutigen Matronen gingen weiter, Diamond aber blieb ste‐ hen und starrte auf den leicht gebeugten Rücken des anderen, als er seinen rechten Arm hob und die Handkante krümmte. Schleichend setzte er sich in Bewegung und glitt an der Vorderfront des Wagens vorbei. Keiner achtete auf ihn, die Menschen interessierte etwas anderes. Plötzlich hörte er das Heulen der Sirenen. Ein Beweis, daß die ersten Krankenwagen anrollten. Auch der Attentäter hatte den Sirenenklang vernommen. Er drehte sich um und schaute dabei nach unten. Sein Blick traf Diamonds Gesicht. Bevor noch das Erkennen in den Augen des anderen aufblitzen konnte, schlug Fred zu. Hand und Unterarm erwischten die beiden Kniekehlen des Kerls und sensten dessen Füße vom Autoblech. Er warf noch die Arme hoch, bekam keinen Halt und kippte nach hinten. Mit dem Rücken zuerst dröhnte er auf das Blech, das sich durchbog, aber zu keiner dauerhaften Liegestatt wurde, denn Fred packte den Kerl und schleuderte ihn zu Boden. Sofort kam der andere wieder hoch. Er sprang in den hämmernden Faustschlag des Agenten. Wieder krachte er gegen den Wagen. Seine Augen bekamen einen glasigen Ausdruck, der Mann stand dicht vor dem knock out. Sofort griff Diamond zu. Seine Hände glichen einer Stahlmanschette, als er den rechten Arm des Attentäters packte, ihn herumdrehte und auf den 72
Rücken bog, so daß der Polizeigriff perfekt war. Wenn der andere sich jetzt noch falsch bewegte, konnte ihm der Arm gebrochen werden. Und genau das wußte er. Er stöhnte auf. Tränen rannen aus seinen Augen, als ihn Fred dicht an sich heranzog und mit scharfer Stimme in sein Ohr flüsterte: »Rühr dich nur nicht, du Bastard!« Der Schwarze stand steif. Trotz des Lärms hörte ihn Fred scharf atmen. Er wußte auch schon, wie er ihn packen konnte. Nicht weit entfernt befand sich die Einmündung einer Gasse. Dort hinein wollte er den anderen schie‐ ben und sich in Ruhe mit ihm unterhalten. »Geh und wehr dich nicht!« befahl der Agent, als er seinen Gefangenen vorschob. Den harten Griff lockerte um keinen Deut. Die beiden gingen dicht hintereinander. Fred roch den säuerlichen Schweiß des Mannes. Er kümmerte sich nicht um die Blicke der Passanten, denen sie begegneten. An der linken Eckeinmündung der Gasse lag eine Kneipe. Aufgemacht im Saloon‐Stil des letzten Jahrhunderts und versehen mit einem schmalen Vordach, das durch Säulen gestützt wurde. Die Fenster waren relativ groß, das Glas dahinter getönt, so daß die Gäste von außen kaum zu erkennen waren. Deshalb entdeckte der Agent auch nicht das Pärchen an einem der Ti‐ sche. Sie war blond, hatte eine helle Haut, er war dunkel, trug eine knie‐ lange Hose und hatte ein Leinenhemd über seinen stählern wirkenden Körper gestreift. Einmal versuchte der Attentäter die Flucht. Dafür bekam er das Knie in den verlängerten Rücken gestoßen. Er stöhnte auf und lief weiter. »Unschuldige hast du erwischt, du Hund!« keuchte Fred. »Unschuldige Menschen, aber darüber unterhalten wir uns noch.« Er hatte längst den Türbogen neben der Kneipe entdeckt. Dahinter lag eine Einfahrt. Die beiden Häuser rechts und links waren durch einen Steg miteinander verbunden. Hinter der Einfahrt schloß sich ein schmaler Hof‐ gang mit Abfall übersät und mit auch im hellen Licht dunkel wirkenden Hinterhausfronten. Kinder spielten Ball. Ein alter Neger flickte ein Fischernetz. Er sah nicht auf, als die beiden Männer erschienen. Die zu einer Kellertür hinführende Außentreppe kam Fred Diamond ge‐ rade richtig. Er stieß seinen Gefangenen über die Stufen nach unten und 73
ließ ihn auch auf dem Weg nicht mehr los. Am Ende der Treppe lag rechts von ihm die alte Kellertür. Mit einem Fußtritt rammte Diamond sie auf und drückte den Schwarzen über die Schwelle. Er stolperte in den Keller hinein, fiel über eine Sitzbadewanne aus Zink, die scheppernd zur Seite rutschte, und prallte anschließend mit dem Rü‐ cken gegen die Wand, denn Fred Diamond hatte ihn losgelassen und dort‐ hin geschleudert. Durch ein schmutziges Fenster fiel nur schwaches Licht. Und ausgerech‐ net auf das Gesicht des Attentäters, das grau vor Angst war. Er hatte noch junge Züge. Der Kerl konnte kaum älter als zwanzig sein. Fred ging auf ihn zu. Er sah, daß sich der andere seinen rechten Arm hielt. Das Gelenk mußte angeschwollen sein. »Wie heißt du?« »Ist egal!« Fred grinste kalt und brachte seine Hand in die Nähe des Revolverkol‐ bens. Er wollte die Waffe langsam ziehen und dem anderen damit zeigen, wer Herr im Haus war. Diamond war zu langsam. Plötzlich bewegte sein Gefangener den linken Arm. Er hatte ihn bereits in einer für ihn günstigen Stellung gehalten, um seinen heimtückischen und mörderischen Trick einsetzen zu können. Aus dem Ärmel schoß schlangengleich und silbern blitzend etwas her‐ vor. Lang, schmal und spitz. Eine Messerklinge. Von links nach rechts wurde sie gezogen, hätte Diamond das Hemd durchtrennt und einen blutigen Streifen über die Brust gezogen, aber es mißlang, denn Fred hielt den Arm genau in dieser Höhe, so daß er am Au‐ ßengelenk und weiter oben erwischt wurde. Der zweite Stich verfehlte ihn, weil er zurückgesprungen war. Doch er hörte das Kichern des Attentäters, der sofort nachsetzte und mit links wahrscheinlich so gut wie mit rechts zustoßen konnte. Diamond unterdrückte seinen eigenen Schmerz. Er wollte auch nicht Schießen, wich noch einmal geschickt aus und trat mit dem rechten Fuß zu. Der Treffer erschütterte den anderen. Er stieß gurgelnde Laute aus, sack‐ te zuerst ein und fiel dann auf die Knie. Ein weiterer Tritt gegen die Schulter schleuderte ihn auf den Rücken, und plötzlich war Diamond schnell, packte den Messerarm, kniete selbst dabei, 74
riß ihn hoch und hörte das Wimmern. »Laß es fallen!« keuchte er. »Geht nicht… Manschette…« Diamond fetzte den Ärmel zurück. In der Tat trug der Kerl eine Man‐ schette. Sie besaß eine Metallmechanik, ähnlich einer Schiene, die auf Knopfdruck das Messer hervorschnellen ließ. Eine verdammt böse und heimtückische Vorrichtung. Da Diamond die Klinge so rasch nicht lösen konnte, rammte er das Messer nach unten und die Spitze zwischen zwei Steine in den lehmartigen und holprigen Boden des Gerümpelkellers. Ein Ruck nach rechts, die Klinge brach ab. Das vordere Teil flog sirrend davon und landete dicht neben einem schmutzigen Fenster in einem offe‐ nen Metallgefäß. Blitzschnell tastete Fred den Kerl ab. Weitere Waffen fand er nicht. Dieser Typ war clean. Er riß ihn hoch und wuchtete ihn wieder gegen die Wand. Das Messer hatte Fred am rechten Arm erwischt und doch eine blutende lange Wunde hinterlassen, die ihm überhaupt nicht gefiel. Er hatte das Gefühl, Salzsäure über seine Haut gegossen bekommen zu haben. In regelmäßigen Abstän‐ den fielen Blutstropfen zu Boden. Diesmal zog er die Waffe, und der andere erkannte ihr gewaltiges Kali‐ ber. Der Agent streckte seinen Arm aus. Die kalte Mündung berührte den schweißbedeckten Hals des Attentäters dicht unter dem Adamsapfel und hinterließ dort einen runden Abdruck. »Und jetzt wirst du reden, Freund!« flüsterte Fred. Mit dem Daumen zog er den Hammer zurück. Sein Blick war starr, kalt und entschlossen. Fred würde seine Absichten durchsetzen. »Ich… ich weiß nichts.« Diamond erlaubte sich ein kurzes, hartes Lachen. »Wenn du lügst, mache ich dich fertig. Darauf verstehe ich mich, verlaß dich drauf. Ich kenne alle Tricks.« »Ob du oder die anderen…« »Welche anderen?« »Die Voodoo‐Queen!« »Und wer noch?« 75
»Barnabas. Er ist der beste. Er ist der Voodoo‐Priester. Sie beherrschen Voodoo‐Land, sie…« »Bißchen viel Voodoo auf einmal, findest du nicht?« »Es ist aber so.« »Okay. Wo kann ich die Voodoo‐Queen finden?« »Überall. Auch in den Cities of the Dead…« »Die Friedhöfe?« »Ja, und im Museum.« »Ist das Voodoo‐Land?« »Nein.« Er atmete erstickt. Der Schweiß rann in Bahnen an seinem Hals entlang. »Es ist woanders.« »Okay, wie heißt die Queen mit richtigem Namen?« »Ich weiß es nicht, ich kann es dir nicht sagen. Es ist alles so furchtbar. Heute nacht, die Totenwanderung. Es wird das Ritual geben, alle, die nicht zu uns gehören…« Der Agent hörte nicht mehr hin, denn ihm war etwas aufgefallen. Nur durch ein Fenster fiel ein Lichtstreifen. Und dieser helle Schein wurde plötzlich unterbrochen. Es mußte jemand am Fenster stehen… Fred Diamond sprang zurück. Der andere wußte überhaupt nicht, wie ihm geschah, als er den Druck der Waffe nicht mehr spürte. Dafür zersplit‐ terte die Scheibe, und im nächsten Augenblick lag Fred am Boden, als die aus der schallgedämpften Waffe abgefeuerten Kugeln schräg an ihm vor‐ beijagten und in den Körper des Attentäters schlugen. Diamond sah ihn fallen und feuerte zurück. Sein schwerer Magnum Revolver wummerte auf. Feuerlanzen standen vor der Mündung, er hatte auf das Fenster gezielt und sah hinter der zer‐ brochenen Scheibe eine hastige Bewegung. Der Killer zog sich zurück. Er hatte seine Aufgabe erledigt. Nicht aber Fred Diamond. Wenn es eben möglich war, wollte er den heimtückischen Schützen stellen. Geduckt und dabei Tür sowie Fenster im Auge behaltend, jagte der Mann auf den Ausgang zu. Nur hütete er sich, zu forsch vorzugehen, da er sonst Gefahr lief, in die Falle des Killers zu rennen. Er blieb neben der Wand hocken, öffnete die Tür nur einen Spalt und schob die rechte Körperseite vor, wobei er den Kopf nach links drehte, da 76
er die Stufen der Treppe hochschauen wollte. An deren Ende stand der Killer. Für einen Moment sah Fred ihn und den Zylinder auf seinem Schädel, dann mußte er den Kopf einziehen, denn der andere feuerte schräg von oben nach unten. Und er hielt zwei mit Schalldämpfern versehene Revol‐ ver in den Händen. Die Geschosse prallten auf den Boden. Mörtelstaub spritzte in das Ge‐ sicht des Agenten, der seinen Schädel gerade noch im rechten Augenblick zurückgezogen hatte. Diamond sah ein, daß er sich in einer wesentlich schlechteren Lage be‐ fand und jetzt nur abwarten konnte. Fünfzehn Sekunden verstrichen. Nichts tat sich draußen. Die Schüsse waren sicherlich gehört worden. Diamonds Waffe machte Lärm genug. Außerdem befand sich die Polizei in der Nähe. Das war un‐ günstig, aber nicht nur für ihn, auch für den Killer mit dem Zylinder. Der würde auch keine Bullen gebrauchen können. So war sich Fred ziemlich sicher, den anderen nicht mehr am Ende der Treppe zu sehen, als er die Tür abermals aufdrückte. Eine Kugel war durch das Holz gefahren und hatte ein fast faustgroßes Loch gerissen. Dieser Hundesohn schoß mit einem gefährlichen Kaliber. Die Stufen lagen frei. Auch an ihrem Ende zeichnete sich die Gestalt des ungewöhnlichen Killers nicht ab. Der hatte tatsächlich das Weite gesucht. Überzeugen wollte sich Fred Diamond davon, ob der Attentäter tatsäch‐ lich nicht mehr lebte. Er lief zu ihm und sah schon an der Haltung, daß der Mann vor einem Höheren stand. Drei Kugeln hatten seinem Leben ein Ende gesetzt. Wie zum Hohn hielt er den Arm mit der Manschette und dem abgebrochenen Messer vorge‐ streckt. Fred dachte über einen Fluchtweg nach. Er hätte durch den Hof auf die Straße laufen können, aber auch durch die zweite Kellertür, wobei er dann tiefer in das Haus gelangen würde. Man‐ che dieser alten Bauten waren verschachtelt wie Rattenlöcher. Da konnte man sich leicht verlaufen. Da der Agent es eilig hatte, entschied er sich für den kürzeren Weg. Allerdings nicht, ohne zuvor seine Hand zu verbinden. Die Wunde war ziemlich lang, ein Taschentuch reichte da nicht aus. Es würde schnell durchgeblutet sein. 77
Diesmal lief er die Treppe hoch. In seinem rechten Arm hämmerte und pochte es. Er brauchte eigentlich eine schmerzstillende Spritze oder eine starke Tablette. Das mußte warten. Wichtig war, daß er zum Hilton kam, wo die beiden Männer aus London sicherlich schon ungeduldig wurden. Über seinen Aufzug würde man sich in diesem schicken Laden sicherlich wundern, doch das war ihm egal. Aus den Fenstern schauten die Menschen. Die Schüsse waren gehört worden, aber niemand traute sich, einzugreifen oder nachzusehen. Unbehelligt verließ Diamond dieses gefährliche Gebiet, er‐ reichte die Gasse und suchte hastig nach dem Mann mit dem Zylinder. Er hatte Pech. Der Killer war verschwunden. Trotzdem sah Fred der Zukunft optimistischer entgegen, denn einige In‐ formationen hatte er bekommen. Und die konnten ihm und den Männern aus London weiterhelfen… IV Wir hatten einen ruhigen Flug hinter uns und waren in einen knallheißen Sommer gekommen. Auf dem Airport hatte uns die Luft zwar nicht gerade erschlagen, aber so ähnlich war es uns doch vorgekommen, und beim Durchatmen glaubte ich, meinen Mund mit irgendeiner Flüssigkeit zu füllen. Wir hatten gewisse Papiere mitbekommen, die eine Zollabfertigung und Kontrolle ausschalteten, so daß wir ziemlich schnell wegkamen, uns ein Taxi suchten und in die Stadt des Südens hineinfahren ließen. Ich war zum erstenmal in New Orleans, Suko erging es nicht anders, so daß uns diese Stadt beide faszinierte. Der französische Einfluß war unverkennbar. Wenn der Wagen nicht ge‐ wesen wäre, hätten wir uns um 150 und mehr Jahre zurückversetzt fühlen können. Hinzu kam die wahre Menschenflut aller Rassen und Nationen. Das hatte ich selbst in Frisco nicht erlebt. Im Gegensatz dazu stand die amerikanische Richtung. Erst in letzter Zeit war es den Architekten gelungen, auf dem Schwemmsandboden Hochhäu‐ ser zu bauen. Man hatte extra dafür ein neues Verfahren entwickelt, und 78
die hohen Wolkenkratzer wirkten direkt gigantisch. Wie auch das Hilton Hotel am Ufer des Stroms aller Ströme, das in seiner schneeweißen majestätischen Pracht dastand und von uns regelrecht be‐ staunt wurde. Ich entlohnte den Fahrer, wir nahmen unser leichtes Gepäck selbst und betraten die fantastische Vorhalle, in der eine herrliche Kühle herrschte und die trotz ihrer Größe und Betriebsamkeit wie eine Oase der Ruhe wirk‐ te. 1200 Zimmer, sechs Bars, luxuriöse Suiten im Tower des Hotels, ein fran‐ zösischer Garten, eine Austern‐Bar in der Nähe eines Dschungels, der e‐ benso in den Tropen hätte wachsen können. Das alles hatte ich gelesen und wußte genau, daß wir kaum dazu kom‐ men würde, diese angepriesenen Vorzüge auszukosten. Das Entree jeden‐ falls war wunderbar. Die Klaviermusik schwang uns weich und melodiös entgegen. Ein dunkelhäutiger Mann im weißen Dinnerjackett saß hinter einem ebenfalls weißen Flügel, der erhöht auf einem Podest stand und an einer Seite von tropischer Blütenpracht gerahmt war. Die Rezeption paßte sich der gediegenen Atmosphäre an. Sie wirkte un‐ aufdringlich, obwohl von hier, einer Art Steuerzentrale, alles gelenkt wur‐ de. Aber Computer arbeiten leise. Eine Kreolin lächelte uns entgegen. Sie hatte ihr pechschwarzes Haar mit roten Schleifen verziert. »Sie wünschen, bitte?« »Wir hatten reservieren lassen«, erklärte ich ihr. »Bitte gehen Sie dorthin.« Ihr rotlackierter Fingernagel deutete auf einen abgetrennten Teil der großen Theke. Schon jetzt wünschte sie uns einen angenehmen Aufenthalt. Um Reservierungswünsche kümmerte sich ein junger Mann im dunklen Anzug. Auch er war sehr freundlich, rückte seine Brille zurecht, schaute in der Computerliste nach, fand die entsprechende Eintragung und bestätigte die beiden Zimmer. Er händigte uns auch die Schlüssel aus. »Ist vielleicht schon ein Anruf für uns gekommen?« erkundigte ich mich. »Moment, Sir, ich sehe nach.« Er schaute, um anschließend bedauernd den Kopf zu schütteln. »Sorry, Sir, ich habe nichts vorliegen.« »Danke sehr, dann sind wir wohl etwas zu früh.« 79
Wieder wurde uns ein angenehmer Aufenthalt gewünscht, dann waren wir »entlassen«. Mehrere Lifts standen den Gästen zur Verfügung. Unsere Schuhe ver‐ sanken in den weichen Teppichen. Durch die Kühle Air Condition‐Luft wehte ein schwacher Blütengeruch. Von einer Bar im Hintergrund der Halle hörten wir Gelächter. Wir sahen auch den Durchgang zu den Gärten. Die Schwimmhalle lag ebenfalls im Freien, war aber mit einer Glaskuppel überdacht worden. Auch wenn sich die Gäste schnell bewegten, wirkte es nicht hektisch, weil der Teppich die meisten Geräusche schluckte. Diese Halle war schallgedämpft worden. Man konnte sich im Flüsterton unterhalten. Manchmal hatte ich das Gefühl zu schweben. Dann waren die Geräusche um mich herum weit weg. Das ging vorbei. Es mußte der Klimawechsel sein, der mich erwischt hatte. »Was hast du?« fragte Suko, dem mein Zustand nicht verborgen geblie‐ ben war. »Ich fühle mich nur müde. Die Atmosphäre hier hat wohl dafür gesorgt. Dann der Flug, die Zeitverschiebung…« »Eine Dusche wird dir die Erschöpfung schon aus den Knochen spülen.« »Das glaube ich auch.« Wir waren vor einer der Lifttüren stehengeblieben. Mit einem leisen Glo‐ ckenton schwang die Tür zurück. Vor uns lag die sehr breite Kabine, in die wir gingen. Unser Zimmer befand sich im elften Stock, längst nicht so hoch wie der Tower. Lautlos wurden wir in die Höhe transportiert. Auch in der Kabine atme‐ ten wir die reine Luft. In den Gängen war die Pracht nicht mehr vorhanden. Da herrschte kühle Sachlichkeit vor. Schließlich mußte man die Zimmer irgendwo unterbrin‐ gen. Nebeneinander lagen die Räume. Wir verabredeten uns nach dem Du‐ schen und gaben eine halbe Stunde als Zeitspanne an. Ich betrat den fast üblichen Standardraum. TV und Video interessierten mich nicht, trotz der Hinweistafel, die auf dem Fernsehapparat lag. Für mich war die Dusche wichtiger. Den Koffer hatte ich auf das Bett ge‐ 80
legt. Ein dünner Leinenanzug befand sich darin. Das war genau die richti‐ ge Kleidung für diese Temperaturen, wenn ich schon eine Jacke überstrei‐ fen mußte. Das kleine Bad glänzte blitzsauber, als wollte man hier einen Werbefilm für ein Hotel drehen. Ich schlüpfte schnell aus der verschwitzten Kleidung, stellte mich in die Wanne und drehte die Dusche an. Die Strahlen fielen schräg aus der Wand, in der die feststehende Brausetasse eingebaut wor‐ den war. Die Wechselbäder taten gut. Sie weckten den Kreislauf und holten etwas von der Energie zurück, die mir gefehlt hatte. Da ich nach dem Duschen noch Zeit hatte, schabte ich mit dem Rasierer über mein Kinn, zog den weißen dünnen Anzug an, das blaue Hemd und brachte auch meine Beret‐ ta unter. Das nasse Haar war schnell gekämmt, die Müdigkeit zwar nicht völlig verschwunden, doch es ließ sich aushalten. Die Jacke zog ich wieder aus und hängte sie über den Arm. Für zehn Mi‐ nuten wollte ich mich noch auf das Bett hauen. Da lag schon jemand. Klein, fast zu übersehen, und trotzdem bekam ich plötzlich ein Kratzen im Hals, denn ich kannte diesen Gegenstand und wußte auch, wozu er benutzt wurde. Auf dem Bett lag eine Puppe. Sie besaß ungefähr meine Gesichtszüge, und quer durch ihren Hals hatte man einen langen, rostigen Nagel ge‐ schlagen… * Am Bettrand blieb ich stehen und dachte nach. Das Spiel war bekannt. Voodoo‐Priester benutzten Puppen, um ihren Feinden zu demonstrieren, daß man sie auf die Abschußliste gesetzt hatte. Ich gehörte zu den Feinden, deshalb konnte mich die Puppe nicht einmal so sehr überraschen. Eine andere Tatsache bereitete mir größere Sorgen. Unsere Feinde wuß‐ ten bereits, daß wir uns in New Orleans aufhielten. Sie hatten entsprechend schnell reagiert, so daß ich damit rechnen mußte, unter Beobachtung zu stehen. Ich selbst kannte die Gegner nicht. Sie aber wußten über mich Bescheid, sogar mein Aussehen war für sie kein Problem, wenn ich mir die Gesichts‐ 81
züge der Puppe einmal anschaute. Das sollte und konnte ich sein. Man hatte ihr nichts angezogen, sie war nackt und geschlechtslos, nur eben der lange Rostnagel, den jemand durch die Kehle geschlagen hatte, paßte mir überhaupt nicht. Vorsichtig nahm ich die Puppe hoch und schaute sie mir genauer an. In der Tat wies das Gesicht eine gewisse Ähnlichkeit mit dem meinigen auf. Auf die Haare hatte man verzichtet, wichtig allein war der Nagel. Ich drehte die Puppe auf den Bauch, wieder auf den Rücken, hielt sie ge‐ gen das Licht, und dabei fiel mir etwas auf. Es war die Spitze des Nagels, die sich von dem übrigen Teil unterschied, denn sie zeigte einen matten Glanz, als hätte sie jemand mit einer Flüssigkeit getränkt oder bestrichen. Sherlock Holmes hatte immer eine Lupe bei sich getragen, ich besaß kei‐ ne, konnte die Spitze trotzdem sehen und die winzigen Tropfen. Wenn mich nicht alles täuschte, hatte man das Ende des Nagels mit einem gefähr‐ lichen Gift getränkt. Ich legte die Puppe vorsichtig auf den kleinen Schreibtisch. Ein wenig komisch war mir schon zumute. Bei meinem Eintritt hatte die Puppe noch nicht auf dem Bett gelegen. Sie mußte gebracht worden sein, als ich mich duschte. Kein gutes Gefühl, wie ich selbst zugab, und ein Zeichen, daß ich unter Kontrolle stand. Auch hier im Hotel waren Suko und ich vor den Feinden nicht sicher. Mein Blick fiel auf die Uhr. Die mit Suko abgesprochene Zeit war inzwi‐ schen vorbei. Da mein Partner nicht kam, ging ich zu ihm, klopfte an die Tür und bekam keine Antwort. Allmählich wurde mir unwohl. Suko mußte das Geräusch einfach gehört haben, da ich das Rauschen der Dusche nicht vernahm. Ich drehte am Tür‐ knauf und stellte fest, daß mein Freund nicht abgeschlossen hatte. Nach dem leisen Schnacken schwang die Tür nach innen, so daß ich den kleinen Flur betreten konnte. »Suko?« Diesmal rief ich den Freund, der wiederum nicht antwortete. Meine Sorgen wurden größer. Ich erreichte das Zimmer, sah Suko auf dem Bett liegen und neben ihm die Puppe, die seine Gesichtszüge zeigte. Verwundert blieb ich stehen. Mein Freund und Kollege sah aus, als wäre er eingeschlafen. So etwas kannte ich von Suko nicht, und ein schrecklicher Verdacht stieg in mir hoch. 82
Das Blut strömte aus meinem Gesicht, die Haut nahm eine bleiche Farbe an. Auf Zehenspitzen schritt ich an das Bett heran. Im Zimmer kam mir die Stille wie eine Totenruhe vor. Mein Freund lag auf dem Rücken. Sein Mund war nicht ganz geschlos‐ sen, und auch die Augen standen offen. So sah jemand aus, der tot war. Mein Herz schlug plötzlich schneller. Schweiß brach mir aus. Ich setzte mich auf die Bettkante, faßte Sukos Haut an, schüttelte seinen Kopf, klatschte auch gegen die Wange, ebenso gut hätte ich gegen die Puppe schlagen können, denn mein Freund zeigte keine Reaktion. Sein Kopf pen‐ delte von einer Seite auf die andere, er wirkte erschlafft, fast tot, erledigt. Ich atmete tief ein und hob meine Hand. Sie kroch zögernd über Sukos Körper, als hätte sie Angst davor, mir die endgültige Wahrheit zu vermel‐ den. Schließlich stoppte ich sie an der Stelle, wo der Herzschlag zu fühlen sein mußte. Hier spürte ich nichts. Unter der Brust war es tot. Kein Herzschlag, kein Zittern, keine Reaktion. Dafür gab es nur eine Erklärung. Suko, mein alter Freund, Partner und Kampfgefährte, lebte nicht mehr… * Wie lange ich unbeweglich auf der Bettkante gesessen und nachgedacht hatte, wußte ich nicht. Vielleicht hatte ich überhaupt nicht gedacht, weil ich einfach nicht in der Lage dazu war und nur in das leblose Gesicht meines Freundes schaute, aus dem alles gewichen war, das man mit dem Wort Leben umschreiben konnte. Im Bett lag ein Toter. Irgendwann beugte ich mich über ihn und fühlte noch einmal nach. Puls‐ und Herzschlag waren nicht zu spüren. Suko hatte sein irdisches Leben beendet. Ich weinte nicht einmal. In meinem Körper war eine völlige Leere. Auch machte ich mir keine Gedanken darüber, wie mein Freund ums Leben ge‐ kommen war. Es spielte alles keine Rolle mehr. Ob die Zombies, die Divisi‐ on, D. C. oder irgendein anderer. Die Welt sah für mich jetzt völlig anders aus! 83
Suko war tot, und mir kam es vor, als wäre ein Stück von mir mit gestor‐ ben. Nicht zum erstenmal hatte ich einen schweren Schicksalsschlag hinneh‐ men müssen. Ich dachte an Nadine Berger, an Jane Collins und andere Menschen, die mir ans Herz gewachsen waren. Die Frau des Vampirjägers Marek hatte ich sogar töten müssen, weil sie zu einem Blutsauger gewor‐ den war, und nun lag mein bester Freund tot vor mir. Ich schloß seine Augen mit einer behutsamen Geste. Über meinen Körper mußte eine andere Macht die Kontrolle übernommen haben, da ich nichts spürte. Keine innere Regung, überhaupt kein Gefühl, nur diese verdammte Leere hielt mich umfangen. Daß die Stille des Zimmers von einem Summton unterbrochen wurde, merkte ich erst viel später. Wie ein Roboter stand ich auf, ging zum Telefon und hob ab. Eine Männerstimme grüßte freundlich und erklärte mir, daß man mich sprechen wollte. »Schicken Sie den Mann hoch.« »Es ist gut, Sir.« Ich ließ den Hörer einfach fallen, setzte mich nicht wieder ans Bett, son‐ dern trat an das Fenster und schaute hinaus. Der Blick auf den breiten Strom und über das Land hinweg war einfach fantastisch. Sonnenlicht spiegelte sich auf den Fluten, wurde gebrochen, so daß auf den Wellen oft die bunten Farben des Spektrums lagen. Ausflugsboote hoben sich in ihrem strahlenden Weiß deutlich davon ab. Sie durchpflügten das Wasser, schoben weiße Bugwellen vor sich her und brachten ihre Passagiere in die tropische Umgebung der Stadt. Mir fiel auch das satte Grün der Uferwälder auf und, auf der anderen Seite, die gewaltige Stadt, die sich New Orleans nannte und die den zweitgrößten Hafen der Staaten besaß. Die Kräne, Silos und Verladerampen bildeten eine Welt für sich, wie auch dieses Hotel, in dem ich mich mit einem toten Freund befand. Es war müßig, darüber nachzudenken, wer Suko umgebracht haben könnte. Jedes Zimmermädchen hätte in Frage kommen können. Wahrscheinlich hatte mein Freund den Mörder überrascht und es nicht geschafft, gegen ihn an‐ zukommen. Ich atmete tief ein, hörte das Klopfen, und ein spröde klingendes »Come 84
in« drang über meine Lippen. Als die Tür des Zimmers weit offen stand, hatte auch ich mich umge‐ dreht und schaute dem Mann entgegen. Das mußte Fred Diamond sein. Er war so groß wie ich, hatte ebenfalls blondes Haar und eine von der Sonne stark gebräunte Haut. Er war locker gekleidet, und mir stach der Verband an seinem rechten Unterarm sofort ins Auge. Er sah frisch aus und leuchtete weiß. Diamond mußte es erst vor kurzem erwischt haben. Nickend kam er auf mich zu, sah Suko auf dem Bett liegen und blieb wie angewurzelt stehen. »Was ist mit ihm? Schläft er?« »Nein.« Der Agent schaute mich lauernd an. »Sie wollen doch nicht sagen, daß er tot ist?« »Genau das behaupte ich.« Diamond zog scharf die Luft ein. Er verengte die Augen, schaute mich noch einmal an, ging zum Bett und ließ sich, so wie ich vorhin, auf der Kante nieder. Ich lehnte neben dem Fenster an der Wand und beobachtete ihn stumm. Diamond fühlte nach. Seine Fingerspitzen glitten über Sukos Gesichtshaut, er spürte die Kühle, den kalten Schweiß und nickte schließlich. »Ja, eigent‐ lich ist er tot.« »Nicht nur eigentlich«, widersprach ich. Diamond schüttelte leicht den Kopf. »So dürfen Sie das nicht sehen, Sinclair.« Er griff an Suko vorbei und nahm das in die Hand, was neben dem Inspektor lag. Es war eine Puppe! Er hob sie so hoch und drehte sie auch in meine Richtung, damit ich sie anschauen konnte. Auch in ihrem Hals steckte ein langer Rostnagel, den der Agent sehr genau unter die Lupe nahm. Dabei schürzte er die Lippen, schaute hin und wieder auf Suko und stand mit einem Schwung von der Bettkante auf. Er kam auf mich zu. »Stellen Sie sich bitte gegen das Licht«, bat er mich. »Was wollen Sie mir zeigen?« »Diesen Nagel.« »Ich kenne ihn. Man hat mir die gleiche Puppe auf das Bett gelegt.« 85
»Und es hat Sie nicht erwischt?« »Nein.« Ich deutete mit dem Zeigefinger auf die Puppe und merkte, wie ein Kloß in meinem Innern hochstieg, so daß es mir schwerfiel, weiter zu sprechen. »Natürlich habe ich mir auch den Nagel genau angeschaut und festgestellt, daß seine Spitze mit einer Flüssigkeit getränkt worden ist.« »Ja, mit Gift.« »Dann hat man meinen Freund vergiftet.« Diamond hob die Schultern. »Sie müssen ihn kalt erwischt haben.« »Noch vor dem Duschen, denn er ist gar nicht mehr dazu gekommen, sich umzuziehen.« Diamond winkte ab. »Das ist jetzt alles uninteressant. Wichtig für mich ist…« Er senkte den Kopf, legte einen Finger gegen sein Kinn und schaute plötzlich hoch. »Sagen Sie, John, haben Sie eigentlich ein Messer bei sich?« »Wieso?« »Wenn ja, geben Sie es mir.« Er schaute mich hart an. Ich sah keinen Grund, ihm die Bitte zu verweigern, holte mein Taschen‐ messer hervor, das ich ihm aufgeklappt überreichte. »Danke«, sagte er. »Überlassen Sie jetzt bitte mir das Feld, ich kenne mich aus.« »Wie Sie wollen, Fred.« Ich konnte mir nicht vorstellen, was er mit dem Messer wollte, und wunderte mich auch darüber, daß er an das Fußende des Betts trat und den rechten Schuh meines Freundes Suko auszog. Er stellte ihn auf das Bett, faßte das Bein unter der Wade an und hob es in die Höhe. »Kommen Sie näher, John.« Ich blieb neben ihm stehen. Er stand gebückt, das Bein festhaltend. »Wundern Sie sich nicht über das, was gleich geschieht. Es ist ein Test, damit ich ganz sicher gehen kann. Klar?« »Sie sind der Fachmann.« »In diesem Falle stimmt es sogar. Es ist ein altbekanntes Mittel, das hier in New Orleans und Umgebung wieder zu Geltung, Rang und Namen gekommen ist. Sie werden es auch kennen.« »Meinen Sie den Schnitt?« »So ist es.« Über eine weitere Erklärung brauchte ich nicht nachzudenken, da Fred Diamond sich an die Arbeit machte. Er brachte die Klinge dicht an Sukos 86
Fuß und schnitt in den Zeh. Mein Adrenalinspiegel wurde hochgepeitscht, ich hatte die linke Hand zur Faust geballt und spürte die Nägel in mein Fleisch drücken. Und ich sah das Zucken des Fußes! Danach die kleine Wunde, die weni‐ gen Blutstropfen, die aus dem Schnitt quollen und das Bettzeug benetzten. Das kümmerte mich nicht, ich dachte nur daran, daß Suko einen Reflex gezeigt hatte. Er war nicht tot. Tote reagieren nicht. Auch der Agent atmete auf. Er ließ das Bein zurücksinken. Die Klinge überreichte er mir mit einem Lächeln auf den Lippen. »So leicht stirbt man auch hier am Mississippi nicht«, erklärte er. Daß ich das Messer in meiner Tasche verschwinden ließ, merkte ich kaum, denn mir war plötzlich schwindelig geworden. Dieses Wechselbad der Gefühle zerrte an meinen Nerven. »Atmen Sie mal tief durch«, hörte ich die ruhige Stimme des Agenten. »Es wird Ihnen helfen.« Rücklings ließ ich mich auf einen Stuhl fallen. Durch meinen Kopf tosten tausend Gedanken zur gleichen Zeit. Ordnung konnte ich in den Wirrwarr nicht hineinbringen. Ich hörte Diamond reden und verstand seine Worte nicht. Erst als er neben mir stand, schaute ich auf und sah, daß er mir ein Glas in die rechte Hand drückte. Whisky schimmerte darin. Er hatte die kleine Flasche aus der Zimmerbar geholt. »Trinken Sie, John, das hilft fast immer.« Ich schluckte den Bourbon. Zwar war ich Scotch gewohnt, in der Not half er auch. Der Agent nahm mir sogar das leere Glas aus der Hand und stellte es wieder weg. »Geht es einigermaßen?« »Glaube schon.« Er holte sich einen zweiten Stuhl und setzte sich im rechten Winkel zum Bett. Wir beide befanden uns an dessen Fußende, so daß wir auf den lie‐ genden Suko schauen konnten. »Er ist nicht tot, John!« »Das habe ich mittlerweile gemerkt. Da Sie sich auskennen, Fred, müßten Sie auch die Erklärung parat haben.« 87
Er schenkte sich ebenfalls einen Whisky ein. Sogar einen dreifachen, und er nahm den ersten Schluck. »Manchmal kann man diese Stadt und die schwüle Hitze nur mit Bourbon bekämpfen. Hemingway hat auch in die‐ sem Klima gelebt und es vorgemacht. Das ist ein anderes Bier. Kommen wir zum Voodoo. Sie wissen, John, daß es Voodoo gibt?« »Ich bin mit seinen Auswüchsen oft genug konfrontiert worden.« Diamonds Augen wurden schmal. »Meinen Sie die Zombies damit?« »Genau.« Er nahm noch einen Schluck. »Dann brauche ich Ihnen darüber nicht viel zu sagen, dafür über Ihren Freund. Er ist zu einem Zombie geworden, wie man hier sagt.« Ich hob die Hand. »Moment. So sehe ich das nicht. Die Zombies, mit de‐ nen ich zu tun hatte, waren lebende Leichen. Die standen unter dem Einfluß Schwarzer Magie.« »Und trotzdem ist auch Suko ein Zombie. Da gibt es nämlich Unterschie‐ de, die ich Ihnen erklären möchte, John.« »Bitte.« »In den letzten Jahren ist Voodoo gewissermaßen »in« geworden. Nicht hier in New Orleans. Wir hatten uns an diesen Totenkult längst gewöhnt. An jedem Abend finden an verborgenen Plätzen die verbotenen Totenritu‐ ale der Voodoo‐Diener statt. Dafür ist New Orleans bekannt, das ist schon Tradition, und auch die Wissenschaftler fühlten sich genötigt, hier nachzu‐ fassen. Man nahm Voodoo unter die Lupe. Besonders intensiv wurden die Forschungen in der Karibik vorangetrieben. Dort stieß man auf ein erstaun‐ liches Phänomen. Die Wissenschaftler stellten fest, daß Menschen, die jah‐ relang unter der Erde gelegen hatten, plötzlich wieder in ihren Heimatdör‐ fern erschienen, als wäre nichts gewesen. Die Toten waren auferstanden und gesellten sich unter die Lebenden. Das war für viele grauenhaft und unfaßbar, doch eigentlich nur die Folge des Tranks, den gewisse Medizin‐ männer gebraut und den Bedauernswerten gegeben hatten. Nach Einnah‐ me des Tranks fielen sie in einen totenähnlichen Schlaf, aus dem sie dann früher oder später erwachten. Den Wissenschaftlern gelang auch eine Ana‐ lyse des Tranks. Aus welchen Ingredienzien er genau bestand, wurde nicht bekanntgegeben, jedenfalls zeigte er diese Wirkung. Man konnte ihn so konzentrieren, daß er eine festere Form annahm, die man mit der des Ho‐ nigs vergleichen kann, und damit hat man auch den rostigen Nagel be‐ 88
schmiert, der Ihren Freund Suko erwischt hat.« Ich warf einen Blick auf den Chinesen und dachte über die Worte des Agenten nach. »Soll das heißen, daß Suko vielleicht Monate in diesem ko‐ maähnlichen Zustand liegenbleiben muß?« »Das kann passieren.« Fred legte mir eine Hand auf die Schulter. »Ich will Ihnen reinen Wein einschenken. Nicht nur Monate kann es dauern, auch Jahre. Es kommt auf die Konzentration des Giftes an, da möchte ich Ihnen nichts vormachen.« Ich schluckte. »Jahre?« wiederholte ich nach einer Weile mit tonlos klin‐ gender Stimme. »So müssen Sie es sehen.« Ich schaute zu Boden. Wenn ich darüber nachdachte, war es an sich gleich, ob Suko lebte oder nicht. Wenn er Jahre im Koma lag und nicht mehr mitbekam, was in dieser Welt vorging, konnte er alles vergessen. Er würde als ein anderer Mensch zurückkehren. Trotz der Kühle im Zimmer rann mir der Schweiß über den Rücken. Es war die Angst vor einer furchtbaren Zukunft, die mich so fertigmachte. Fred Diamond ahnte etwas von meinen Problemen und Gedanken, und er sah auch zu, wie meine Gesichtshaut immer blasser wurde. »Es ist ein Schock, ich weiß«, sagte er leise. »Aber jedes Ding hat zwei Seiten.« »Wieso?« »Es gibt ein Gegenmittel!« Ich hatte da gesessen und auf meine Fußspitzen gestarrt. Nach dieser Antwort zuckte ich in die Höhe, hob den Kopf, schaute auf den bleichen Suko, drehte mich auf dem Stuhl herum und fragte lauernd: »Es gibt ein Gegenmittel?« »Ja.« »Und wer hat es?« Da lachte Diamond. »Ich nicht, John. Wir müßten es uns erst besorgen!« Ich sprang auf. »Worauf warten wir. Dann nichts wie…« Er drückte seinen rechten Arm von oben nach unten. »Langsam, John, langsam. Nichts überstürzen. Sie können nicht einfach in einen Laden ge‐ hen und das Gegenmittel verlangen. Es befindet sich im Besitz bestimmter Personen, die eine gewisse Macht ausüben.« »Voodoo‐Macht?« 89
»Ja. Man nennt sie die Voodoo‐Meister oder Könige. Ich habe von einer Voodoo‐Königin gehört, die hier regieren soll. Sie hält in der Stadt den magischen Zauber unter Kontrolle.« »Wer ist es?« Diamond hob die Schultern. »Tut mir leid, einen Namen weiß ich nicht. Aber es gibt sie, das weiß ich. Sie müssen wir finden und sie auch zwingen, das Gegenmittel herauszurücken.« Mein Nicken fiel mehr als heftig aus. »Daß wir dieses Mittel finden wer‐ den, dafür sorge ich. Voodoo‐Königin hin oder her, ich werde sie zwingen. Wenn es sein muß, mit Gewalt.« »Wobei wir beim Thema wären.« »Wieso?« »Hören Sie zu, John. Wir beide arbeiten zusammen. Der eine muß sich auf den anderen verlassen können, sonst ist alles zu spät. Deshalb will ich Ihnen auch reinen Wein einschenken und keinerlei Informationen hinter dem Berg halten. Ist Ihnen klar, daß wir längst unter Kontrolle stehen? Sonst hätte die Sache mit Suko und der Puppe nicht passieren können.« »Das sehe ich auch so.« »Gut, weiter im Text. Sie werden sich sicherlich fragen, woher ich diese Verletzung habe. Es war ein Glück, daß ich sie bekam, denn der Typ wollte mir die Kehle aufschlitzen…« In den folgenden Minuten bekam ich zu hören, was Fred Diamond wi‐ derfahren war und daß man auf ihn Jagd gemacht hatte. Ich hörte von der Voodoo‐Queen, von Voodoo‐Land und von den Cities of the Death, wo die geheimnisvollen Totenrituale stattfinden sollten. Aber auch das Voodoo‐ Museum vergaß Diamond nicht zu erwähnen. »Davon habe ich noch nie gehört«, erwiderte ich, ohne auf die anderen Aspekte seines Berichts einzugehen. »Ich schon.« »Waren Sie bereits da?« »Nein, das ist mehr eine Attraktion für Touristen. Den wahren Voodoo‐ Zauber erleben wir dort sowieso nicht. Der findet an verborgenen Kultstät‐ ten und in geheimnisvollen Kellern sowie auf Friedhöfen statt. Was man vorzeigt, ist harmlos.« »Und hinter allem steht die Division?« fragte ich. »Das müßte man herausfinden.« 90
Ich zählte an den Fingern ab. »Die Division, die Voodoo‐Königin, eine kleine Armee von Zombies und ein geheimnisvoller Mann namens D. C! Wie bringen wir das in eine Reihe?« »Darüber grübele ich auch nach. Wir müssen der Reihe nach vorgehen und von unten her beginnen.« »Wie sähe das aus?« »Auf der Abschußliste stehen wir sowieso. Ich komme mir als Lockvogel vor. Also ergreifen wir die Initiative und schauen uns einmal im Voodoo‐ Museum um.« »Was machen wir mit ihm?« Ich hatte plötzlich wieder an Suko gedacht und alles andere aus meinem Gedächtnis verbannt. »Im Zimmer lassen können wir ihn nicht.« »Der Ansicht bin ich auch.« Wir überlegten beide. Mir fiel ein, daß wir ihn mitnehmen könnten. Das schlug ich auch vor. »Wollen Sie ihn tragen?« »Nein, wir könnten uns einen entsprechenden Wagen leihen. Vielleicht einen Caravan, der eine genügend große Ladefläche besitzt, auf der Suko seinen Platz finden kann.« Diamond grinste. »John, Sie haben Ideen.« »Ich mußte erstmal den Schock überwinden.« »Wollen Sie das übernehmen?« Ich telefonierte mit der Rezeption. Man versprach, mir den Leihwagen zu besorgen. In einer Viertelstunde würde er auf dem Hotelparkplatz bereit‐ stehen. Zufrieden legte ich auf und dachte über das nächste Problem nach, das auf uns zukam, denn wie sollten wir Suko nach unten schaffen? Es würde auffallen. In einem Hotel wie diesem konnte man alles brauchen, nur keine Skandale. Einen Scheintoten zu transportieren käme einem kleinen Skandal gleich. »Da läßt sich bestimmt eine Möglichkeit finden«, sagte Fred. »Welche?« »Wir nehmen nicht den normalen Lift, sondern den Lastenaufzug, mit dem auch das Personal fährt, wenn es die Wäsche hochschafft.« Er ging zum Telefon. »Lassen Sie mich mal machen.« Diamond lebte lange genug in den Staaten, um mit Problemen dieser Art 91
fertig zu werden. Er sprach von einem Kranken, den man unauffällig aus dem Haus schaffen wollte. Die Verantwortlichen zeigten sich sehr angetan davon. Man versprach, keinerlei Schwierigkeiten zu machen, wollte noch Hilfe schicken, die Fred höflich, aber bestimmt ablehnte. »Das wäre erledigt«, sagte er und ging zur Zimmertür. »Ich schaue mal nach, wo sich der Aufzug befindet.« »Okay.« Ich blieb mit Suko allein zurück und sah mir meinen Freund sehr genau an. Immer wieder schüttelte ich den Kopf. Nie hätte ich gedacht, daß ein Mensch wie er, der tatsächlich mehr einem Toten glich als einem Lebenden, doch nicht verstorben war. Ich fühlte die Kälte auf seiner Haut. Sogar eine Leichenstarre würde ein‐ setzen. Furchtbar… Deshalb war es auch so ungemein wichtig, daß wir das Gegenmittel in die Hand bekamen, um Suko von diesem schrecklichen Fluch zu befreien. Die Attacke auf uns in einem der Luxushotels hatte bewiesen, daß die an‐ dere Seite auf nichts Rücksicht nahm. Ich rauchte eine Zigarette. Dabei stellte ich fest, daß meine Finger leicht zitterten. Ganz war der Schock nicht verschwunden. Ich dachte auch dar‐ über nach, ob ich London über die Vorfälle Bescheid geben sollte, nahm davon Abstand, denn ich wollte weder Sir James noch Shao, Sukos Lebens‐ gefährtin, beunruhigen. Diamond kehrte zurück. »Es sieht günstig aus«, erklärte er. »Wir brau‐ chen nicht weit zu laufen.« Er schaute mich auffordernd an. »Wollen Sie noch etwas mitnehmen?« »Ich habe alles bis auf eine Kleinigkeit.« Er schaute mir zu, wie ich zu meinem Einsatzkoffer ging, ihn öffnete und den Bumerang entnahm. Lang‐ sam trat er näher. »Was ist das denn?« »Ein Bumerang.« »Darf ich mal?« fragte er und nahm ihn in die Hand. Sehr genau unter‐ suchte er die Waffe. »Können Sie damit umgehen?« »Ich habe es lernen müssen.« Er kniff ein Auge zu. »Das würde ich gern sehen.« 92
»Vielleicht kommen Sie in den Genuß. Warten wir es ab.« Er gab mir die silberne Banane wieder zurück. Ich steckte sie in den Gür‐ tel. Selbstverständlich störte mich ihr Gewicht, aber was sollte ich machen? Auf den Rücken schnallen konnte ich mir die Waffe wohl kaum. Wir hoben Suko vom Bett hoch und trugen ihn zur Tür. Noch verließen wir das Zimmer nicht, nur ich trat über die Schwelle, schaute in den Gang, fand ihn leer und ließ mich von Diamond zu dem Lastenfahrstuhl hin diri‐ gieren, der sich am Ende des Ganges befand, noch hinter den normalen Expreßlifts. Die Tür hatte Fred ins Schloß gezogen. Er hielt Sukos Beine gepackt, ich die Schultern meines Freundes, der schlaff wie eine Gliederpuppe in unse‐ rem Griff hing. So hätte ich mir den Beginn des Falles nicht vorgestellt. Fred hatte den Fahrstuhl schon hochgeholt und die Tür spaltbreit aufge‐ zogen, damit die Kabine gesperrt war. Mit dem Ellbogen drückte ich sie so weit auf, daß wir in den Fahrstuhl gehen konnten. Wir traten in eine ande‐ re Welt. Es roch nach Schweiß, nach Hitze und auch nach Metall. Hier hatte man auf Air condition verzichtet. »Wohin?« fragte ich. »Man riet mir, bis zur Tiefgarage durchzufahren. Einer kann dort mit Su‐ ko warten, während der andere den Wagen holt.« Die Idee war ausgezeichnet. Ich wollte die Tür schließen. Noch einmal schaute ich in den Gang und sah einen der weißgekleideten Kellner. Der Mann war ein Mischling. Er schaute auf den Fahrstuhl. In seiner rechten Hand hielt er ein leeres Silber‐ tablett. Hatte er uns vielleicht einen Besuch abgestattet? Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich wollte nicht jeden verdächtigen und schloß die Tür, während Fred mit seinem Finger den Knopf drückte, der als zweitletzter in der lan‐ gen Reihe schimmerte. Abwärts! Zwar gleitend, trotzdem im Stottertempo, wenn ich ihn mit dem Expreß‐ lift verglich. Suko hatten wir auf den Boden gesetzt. Im Rücken die Wand und unsere Beine an den Seiten hielten ihn in dieser Lage. Wir sprachen über das Voo‐ 93
doo‐Museum. Ich wollte wissen, wo es lag. »Im French‐Quarter. St. Ann Street.« »Das ist in der Altstadt?« »Genau. Man kann es als Geburtsstätte dieser Stadt bezeichnen. Andere sehen darin auch die Seele von New Orleans. Gäbe es dies nicht, wäre New Orleans ganz anders. Im French Quarter brodelt das Leben. Dort werden neue Ideen entwickelt, da gebiert man Trends, Mode, Kleidung und so weiter. Nichts ist dort uniform. Jedes Haus sieht anders aus, und ebenso bunt sind auch die Bewohner. Zum Mississippi hin liegen die berühmten Markthallen, durch die man mich gejagt hat. Sie waren noch nie hier, John?« »Nein.« »Dann haben Sie etwas verpaßt. Nur schade, daß wir nicht als Touristen in der Stadt sind, sondern einen verdammten Job zu erledigen haben.« Er wechselte plötzlich das Thema. »Wissen Sie eigentlich, welches Datum wir haben?« »Heute ist Montag, der 24. Juni 1985!« »Genau.« Diamond grinste schief. »Und wissen Sie auch, was dieses Da‐ tum bedeutet?« »Im Moment nicht.« »Ich will es Ihnen sagen. Die Johannisnacht, die Wende vom 24. zum 25. Juni, ist das wichtigste Datum des Voodoo‐Kalenders. In dieser Nacht zündet man fast in ganz Louisiana Voodoo‐Kerzen an. Damit können die magischen Feiern beginnen.« Ich mußte ihn sehr ungläubig angesehen haben, denn er begann zu la‐ chen. »Es stimmt, John. Ihr in England habt eure Gespenster und Schloß‐ geister, wir unseren Voodoo, der sogar mit Elementen der christlichen Re‐ ligion gemischt ist. Ich habe mich damit beschäftigt und könnte Ihnen ei‐ nen langen Vortrag über seine Entstehungsgeschichte halten…« »Nicht jetzt, vielleicht später.« Ich deutete auf die Anzeigetafel. Der vor‐ letzte Knopf leuchtete auf. Ein Zeichen, daß wir das Ziel erreicht hatten. Diamond öffnete die Tür, während ich Suko bereits unterfaßte und in die Höhe zog. Er hatte sein Gewicht. Ich stöhnte und war froh, daß Fred mir half. Die Garage war sehr groß und wenig übersichtlich durch die verschiede‐ nen Trakte. Man sparte mit Licht. Nur wo der Schein die abgestellten Fahr‐ 94
zeuge direkt traf, glänzten die Karossen. Wir hörten die Motorengeräusche der an‐ und abfahrenden Autos. Von den kahlen Wänden hallte der Klang zurück. Bis zu einer der Stützsäulen gingen wir. Dort setzten wir Suko ab. »Soll ich gehen und den Wagen holen?« fragte Fred. »Das wäre gut.« Er nickte und meinte: »Ich erledige das auch mit der Kaution. Bis gleich dann.« Der Zugang zum Hotel lag nicht weit entfernt. Durch ein Rollband wur‐ de man in die Halle transportiert. Ich wartete im Halbdunkel, das hin und wieder durch das gelbweiße Licht der Scheinwerferlanzen erhellt wurde, wenn Wagen drehten und die Anlage verließen. Menschen sah ich nicht. Der Betrieb nahm in den nächsten beiden Minu‐ ten noch ab. Um die Mittagszeit hatte niemand Lust, in die knallige Hitze zu fahren, auch wenn Air condition im Wagen war. Ob in London, Paris oder hier in New Orleans: Die Auspuffgase völlig absaugen zu lassen, würde man wohl niemals schaffen. So lag auch über dieser Garage ein typischer Gestank nach Benzin, Öl und Wärme. Wenn ich atmete, hatte ich das Gefühl, Luft trinken zu können. Immer wieder mußte ich Suko anschauen, der da saß wie eine Puppe. Ich hätte heulen können vor Wut, und der Zorn auf meine noch unbekannten Gegner stieg heiß in mir hoch. Unbeweglich auf einem Fleck zu stehen, war nicht gerade mein Fall. Deshalb schritt ich auf und ab, schaute in die Garage hinein und wartete darauf, daß Fred zurückkehrte. Plötzlich sah ich den Schatten! Es war nur mehr eine flüchtige Bewegung zwischen zwei Reihen gepark‐ ter Wagen, aber ich war alarmiert. Meine Hand tastete zur Waffe. Fred hatte mir von den Überfällen berich‐ tet, und ich wußte auch, daß mich die anderen unter Kontrolle hielten, obwohl ich sie nicht sah. Jetzt mußten sie in meiner Nähe sein. Mit wenigen Schritten erreichte ich eine Säule, blieb gegen sie gepreßt stehen und versuchte, so flach wie nur möglich zu atmen. Über meinen Rücken kroch eine kalte Schweißperle, auch auf der Oberlippe lag die kalte 95
Schicht. Ich wartete. Wenn der andere es auf mich abgesehen hatte, würde er kommen, das war sicher. Vorsichtig zog ich die Beretta. Mit dem linken Zeigefinger wischte ich über meine Augen, erst dann schob ich mich vor und schaute über die Dächer der Wagen hinweg. Ich sah nichts mehr. Sekunden vergingen. Meine Spannung wuchs ständig, denn es war nicht gerade beruhigend, daß meine Gegner immer noch nicht auftauchten. Es tat mir zwar leid, aber ich mußte Suko allein hocken lassen, der Platz hier gefiel mir gar nicht. Geduckt schlich ich auf eine Wagenreihe zu, die im rechten Winkel zu einer der »Straßen« parkte. Dort fand ich hinter einem schweren Cadillac Deckung, ging so weit in die Knie, daß ich über das Dach schauen konnte, und versuchte mit meinen Blicken das Halbdunkel der Garage zu durch‐ dringen. Hatte ich mich vorhin doch getäuscht? Der Vorgang jedenfalls wieder‐ holte sich nicht. Ich schien tatsächlich der einzige Mensch inmitten der abgestellten Wohlstandsschlitten zu sein. Bis sich ein Wagen bewegte. Ein sanftes Schaukeln nur, nicht weit von mir entfernt. Es war ein Ford, der sich an der rechten Seite neigte und wieder in die Höhe schwang. Nur sein Dach konnte ich erkennen, und erst als ich meine Stellung wechselte sah ich ihn ganz. Soeben schwang die Tür auf. Mit dem Oberkörper voran schob sich schlangengleich eine Gestalt aus dem Wagen. Und was für eine! Im ersten Augenblick bekam ich einen Schreck, denn dieser Mensch be‐ saß kein Gesicht mehr, sondern nur noch ein steifes rotes Etwas. Er trug eine Maske. Bevor ich mich auf seine Anwesenheit einstellen konnte, war er schon vorgekrochen und unter einem anderen Automobil verschwunden. Nur die offene Tür des Fords schwang noch leicht hin und her. Ansonsten wies nichts mehr auf die Gestalt hin. Wie ein Spuk war sie gekommen, wie ein Spuk verschwunden. Ich warte‐ 96
te nicht auf sie und ging davon aus, daß sich noch Helfer in der Tiefgarage herumtrieben. Wieder wechselte ich meinen Platz. Auf Zehenspitzen umkurvte ich eini‐ ge Fahrzeuge und stand dicht neben dem breiten Gang, der in einer Links‐ kurve auf den Ausgang der Tiefgarage zulief. Von dort kam ein Wagen. Seine Scheinwerfer waren noch eingeschaltet, so daß die Lichtflut als heller Teppich in diese Mittelstraße hineinfiel, mich aber noch nicht erfaßte, weil ich einfach zu weit entfernt stand. Den Kopf zog ich ein wenig zurück und wartete, bis das Fahrzeug in ei‐ nen anderen Trakt eingebogen war. Dann ging ich wieder vor. Es war mir egal, ob man mich sah. Die Span‐ nung mußte sich einfach lösen, und ich wollte unbedingt den oder die Gegner sehen. Außerdem mußte Fred Diamond bald erscheinen. Der konnte doch nicht so lange brauchen, um den verdammten Wagen zu holen. Das Pfeifen hörte ich, als es fast zu spät war. Aus der finsteren Lücke zwischen zwei abgestellten Autos schoß etwas hervor, das ich nicht so rasch identifizieren konnte. Mein heftiger Sprung nach vorn war genau richtig gewesen. So klatschte das, was mich erwischen sollte, dicht hinter meinen Hacken auf den schmutzigen Boden. Ich drehte mich um und bekam noch mit, wie die schwarze Schnur einer Peitsche wieder in die Mitte gezogen wurde. Ich griff an. Bevor der andere zu einem Schlag ausholen und mich vielleicht noch er‐ wischen konnte, war ich in die dunkle Lücke getaucht, sah zwar nicht viel, aber ich traf auf Widerstand. Es war mein hochgerissenes Knie, das sich in etwas Weiches bohrte. Ich hörte ein erstickt klingendes Gurgeln und einen Fall. Der andere war zu Boden gerutscht. Leider sah ich ihn nur schattengleich, aber er kam sofort wieder hoch und mußte meine Faust nehmen. Der erste Schlag trieb ihm die Luft aus den Lungen, der zweite explodierte an seinem Hals und wirbelte ihn so weit zurück, daß er mit seinem Gewicht einen Außenspiegel abbrach, be‐ vor er aus der Lücke hervorgestoßen und zu Boden gehämmert wurde. Er lag in einer leeren Parkbucht, hielt den Peitschenstiel noch fest und blieb in 97
einer gekrümmten und halb knienden Lage. Hatte ich ihn voll erwischt? In relativ sicherer Entfernung blieb ich stehen. Die Beretta hielt ich in der rechten Hand. Ihre Mündung zeigte schräg nach unten auf die Gestalt in dem dunklen Hemd. Es war ein Weißer. Das braune Haar lag auf seinem Kopf wie eine verschwitzte Kappe. »Komm hoch!« flüsterte ich. Er wollte erst nicht. Durch seinen Körper lief ein Zittern. Zudem bewegte er rollend seine Schultern, bis er es sich schließlich überlegte und aufstand. »Die Peitsche weg!« Der Mann drehte sich. Zum erstenmal sah ich sein Gesicht. Es war schweißverklebt. Er hatte den Mund geöffnet und atmete keuchend. Meine Treffer mußten ihn erschüttert haben. Und dann sah ich auf seinem Gesicht das Grinsen. Das konnte ein Bluff sein, vielleicht auch nicht, deshalb drehte ich mich zuerst nach rechts und brauchte dann gar nicht mehr in die gegenläufige Bewegung überzugehen, denn nicht weit entfernt und breitbeinig auf einem Autodach stehend sah ich die hochgewachsene Gestalt eines Schwarzen, der zwei Revolver in den Händen trug und auf seinen Kopf einen Zylinder gesetzt hatte. Ich erinnerte mich im Bruchteil einer Sekunde an die Erzählungen Fred Diamonds. Er hatte ebenfalls von diesem Killer mit dem Zylinder gespro‐ chen und sogar dessen Namen erwähnt. Barnabas! Und der stand jetzt vor und über mir. Ich flog zurück. Fragen Sie mich nicht, wie ich das vollbracht hatte, je‐ denfalls landete ich rücklings auf einer Kühlerschnauze, machte dort eine Rolle, hörte ein Lachen und ein hartes Sägen, als die aus der schallge‐ dämpften Waffe abgefeuerten Kugeln in das Blech schlugen, glücklicher‐ weise ohne mich zu erwischen. Ich landete auf dem Boden. Meinen weißen Anzug dekorierte ich dabei mit einem Muster aus Schmier und Dreck. Das störte mich nicht, wenn ich mit dem Leben da‐ vonkam. Einen harten Befehl vernahm ich und huschte weiter, um das Heck des Wagens zu erreichen. Es war ein Mercedes. 98
Halb richtete ich mich auf und zielte dorthin, wo ich den anderen gese‐ hen hatte. Das Wagendach war leer. Weder Barnabas sah ich, noch den anderen. Sie hatten sich entweder ver‐ steckt oder zurückgezogen. Ein Ziel jedenfalls gab es für mich nicht. Vor Zorn hätte ich am liebsten die Beretta weggeworfen, riß mich aber zusammen und konzentrierte mich auf meine Gegner, die immer noch unsichtbar blieben. Dafür sprang schräg hinter mir der Motor eines Wagens an. Gleichzeitig flammten auch Scheinwerfer auf, kreischten Reifen, und bevor ich mich auf die neue Situation eingestellt hatte, war der Wagen schon an mir vorbeige‐ rast. Ich konnte nicht einmal die Marke erkennen. Es war ein großes und dunkles Fahrzeug, eine Limousine. Sie verschwand mit eingeschalteten Heckleuchten, die wie rote Glutau‐ gen wirkten. Das Auto nahm die Kurve hart und war meinen Blicken ent‐ schwunden. Wieder einmal hatte ich das Nachsehen. Wenigstens war der Zweck ihres Erscheinens nicht erreicht worden. Ich lebte noch, und das machte mich froh. Gleichzeitig ärgerte ich mich darüber, daß Fred noch nicht mit dem Wa‐ gen gekommen war. So konnte ich an eine Verfolgung nicht denken. Zwar hätte mir ein Ford zur Verfügung gestanden, doch der Fahrer hatte den Zündschlüssel mitgenommen, und ich hätte den Wagen erst kurzschließen müssen. Zudem kannte ich mich in der Stadt nicht aus. Die Vorteile lagen also auf der Seite meiner Gegner. Schade. Ich ging wieder zurück zu meinem Stammplatz, wo ein scheintoter Suko auf mich warten sollte. Tief in Gedanken war ich versunken, so daß mir die Tatsache erst auffiel, als ich die Säule fast erreicht hatte. Suko war verschwunden! * Zuerst dachte ich an nichts. Dann schüttelte ich den Kopf und flüsterte: »Das kann doch nicht wahr sein…« Ich schaute mich um. Mein Blick hatte dabei schon einen gehetzten Aus‐ 99
druck bekommen. Stand ich vielleicht an der falschen Säule? In diesem Dämmerlicht konnte man sich leicht irren. Auch das war nicht der Fall. An der nächsten und übernächsten Säule entdeckte ich ebenfalls keinen Suko. Ich hatte die richtige schon gewählt, nur war ich abermals geleimt worden. Von allein konnte Suko nicht verschwunden sein. Da mußte jemand nachgeholfen haben. Es gelang mir, meine panikartigen Gedanken zurückzudrängen, so daß ich nüchterner darüber nachdenken konnte. Möglicherweise hatte der Be‐ such mir überhaupt nicht gegolten. Wahrscheinlich wollten die anderen Suko in ihre Klauen bekommen, und das hatten sie letztendlich auch ge‐ schafft. Ich war der Gelackmeierte. Wieder fuhr ein Wagen herein. Er nahm ebenfalls die normale Einfahrt, rollte aber nicht in einen der anderen Trakte, sondern fuhr weiter in meine Richtung. Die Lichtlanzen schwenkten nach rechts, erfaßten mich, wurden gelöscht, und auch der Motor erstarb. Als der Wagenschlag aufschwang, erkannte ich meinen Begleiter Fred Diamond. Er kam auf mich zu und entschuldigte sich, während er lief. »Tut mir leid, John, der Wagen war noch nicht da. Es hatte einen Verkehrsunfall gegeben, ich mußte…« Sein Blick wurde starr, denn er hatte dorthin ge‐ schaut, wo eigentlich Suko hätte sitzen müssen. Dann blickte er mich an und schüttelte den Kopf. »Was ist los, John? Hast du deinen Freund woan‐ ders hingeschleppt?« »Ich nicht.« »Was soll das heißen?« »Man hat ihn gekidnappt.« Er lachte. Ich hörte den unechten Unterton heraus. »Du machst doch kei‐ ne Witze – oder?« »Leider nicht.« Tief holte er Luft, sprach kein Wort und schaute mich nur auffordernd an. Ich sah keinen Grund, ihm die Wahrheit vorzuenthalten, und berichtete von meiner Begegnung mit den Killern. »Deshalb siehst du so fleckig aus, John.« Er blieb beim Du. Es war auch besser so. »Sei froh, daß sie dich nicht erwischt haben. Barnabas ist ein gnadenloser Schießer. Der nimmt keine Rücksicht.« 100
»Zum Glück haben die Kugeln nur einen Wagen angebohrt. Wobei ich mich frage, was die Leute mit Suko vorhaben. Weshalb haben sie ihn ge‐ kidnappt? Weißt du die Antwort?« Der Agent wiegte den Kopf und verzog seinen Mund. »Die folgende Nacht ist eine besondere, das habe ich dir schon erzählt. Es kann sein, daß sie ihn als Demonstrationsobjekt ausgesucht haben.« »So.« Ich hob die Augenbrauen. »Daran glaube ich nicht, Fred. Du hast dich falsch ausgedrückt.« »Opfer wollte ich nicht sagen.« »Das hättest du ruhig können. So zart bin ich nicht besaitet. Suko könnte also dem Voodoozauber unterliegen, vielleicht erweckt oder in den Kreis aufgenommen werden.« »Das sind die Möglichkeiten.« »Gefällt mir gar nicht.« »Denkst du, mir?« »Bleibt es bei unserem Plan?« erkundigte ich mich. »Du kennst dich hier besser aus.« »Ja, wir werden dem Museum einen Besuch abstatten.« »Kennst du es eigentlich von innen?« »Sicher.« Er grinste schief. »Da ist vieles Humbug. Alles mögliche kannst du dort kaufen, angeblich sollen dir die Dinge Glück, Geld und Segen bringen.« »Ich wäre froh, wenn sie mir Suko zurückbrächten.« »Das wird schwer sein.« Wir stiegen in das Fahrzeug. Die Ladefläche des Wagens brauchten wir nicht mehr. Für uns hätte auch ein Zweisitzer gereicht und nicht dieser Chevrolet. Als ich die Tür zuschlug, klang es wie ein Schuß. Ich sah dies als Symbol, als Startschuß für einen Platz in der Hölle… V Das French Quarter! Es fällt mir wirklich schwer, über diesen Stadtteil etwas zu berichten, weil es einfach zu viel gab, das ich zu sehen bekam. Es war unwahrschein‐ lich vielfältig, stets bekam ich neue Eindrücke und konnte nur mehr stau‐ 101
nen. Museen, Kathedralen, Galerien, prächtige Wohnhäuser, sogar ein Spuk‐ haus und Baustile, bei denen sich spanische Elemente mit den französi‐ schen vereint hatten. Häuser aus Holz mit großen Baikonen und Loggien. Stepwalks, vorge‐ baute Dächer, die von Stützbalken gehalten wurden. Kutschen, die Touris‐ ten durch die engen Straßen karrten, viel Grün, herrliche Bäume mit gewal‐ tigen Kronen und eine heiße Sonne, die auf die zahlreichen Menschen nie‐ derbrannte, die sich im French Quarter aufhielten. Hier bekam man alles. Obst, Gemüse und Meeresfrüchte in den alten Markthallen. Kunst und Kitsch in den unzähligen kleinen Geschäften, die ein Sammelsurium an Waren anboten. Dazwischen die zahlreichen Restaurants und kleinen Bars, wo man im Freien oder in den Räumen sitzen konnte. Die Menschen gaben sich lässig. Trotz des Betriebs war keine New Yorker Hektik zu spüren. Das ›savoir vivre‹ der Franzosen schlug in diesem Viertel voll durch. Wir mußten langsam fahren, da die Straßen oftmals verstopft waren. Hier war der Fußgänger wichtiger als der Autofahrer, und mich freute es irgendwie, so hatte ich Gelegenheit, die Menschen und die Umgebung genau zu beobachten. Die bunte Vielfalt war kaum in Worte zu fassen. Man ging nicht unbe‐ dingt nach der Mode, man trug, was gefiel. So sah ich Punker zwischen alten Ladies eingeklemmt und junge Mädchen mit kurzen Hosen und lan‐ gen braunen Beinen. Zumeist waren es Mischlinge, Kreolinnen, eine wahre Augenweide. Fast hätte ich meinen eigentlichen Job vergessen, so beeindruckte mich dieser Stadtteil und gleichzeitig das Herz von New Orleans. Mein Fahrer lachte hin und wieder, wenn er meinen Gesichtsausdruck sah. »Bist du so beeindruckt?« fragte er, als wir wieder einmal stoppen mußten. »In der Tat.« »Aber London ist auch nicht ohne. Swinging London, das war doch was, oder nicht?« »Schon, und es kommt auch wieder. Gerade die Gegend um den Porto‐ bello Market ist mehr in den Vordergrund getreten. In London wird wieder Mode gemacht. Ich deutete aus dem Fenster, wo zwei lässig gekleidete 102
Blondinen sich gegen den Wind stemmten. Ihre Gesichter waren mit blaßgrünen Farben geschminkt. Die weißen Flatterblusen wurden eng an die Körper gedrückt, so daß wir durch den Stoff die spitzen Brustwarzen sahen. »Schau dir die Schminke der beiden Girls an. Das ist in London er‐ funden worden. Neon‐Kosmetik. Der ganz heiße Renner und sehr in.« »Das habe ich doch gemeint.« Er ließ den Wagen wieder anrollen. Wir glitten an den Mädchen vorbei, die sich noch immer abkühlen ließen. »Wenn wir euer Klima hätten, wäre London noch kreativer«, sagte ich. »Man kann nicht alles haben.« Vor uns rollte ein Karren. Er wurde von einem knatternden Wagen gezo‐ gen und war vollbeladen. Obst und Gemüse lagen übereinander. Dazwi‐ schen standen Holzkäfige mit Hähnen und Hühnern. Der Wagen bog bald in Richtung Markt ab. Wir hatten die etwas breitere Bourbon Street genommen. Man kann sie ohne weiteres als die berühmteste Straße New Orleans’ bezeichnen. Es ist die Straße der Bars, der Restaurants und des Jazz. Hier hatte die Wiege dieser heißen Musik gestanden, und auch heute konnten wir die Spuren an fast jeder Straßenecke erkennen. Die zahlreichen Kellerkneipen, in denen Musik gemacht wurde, die Tanzhallen, die Restaurants, manche sehr vornehm mit zur Rückseite hin liegenden Gärten, andere wieder klein, aber fein, und kein Schnellimbiß, wie man es von anderen amerikanischen Städten her kennt, sondern im französischen Bistro‐Stil errichtet, und jedes mit einer persönlichen Note versehen. Ein wirklich wunderbares Flair lag über diesem Viertel, und mein Stau‐ nen nahm kein Ende. »Hätten wir jetzt Zeit für einen Drink, würden wir uns eine Bar oder ein Bistro mal von innen ansehen. Aber so…« Mein Begleiter hob die Schul‐ tern. »Wird uns nur die Zunge lang.« Da hatten es die Gäste vor den Lokalen besser. Sie saßen an den kleinen, oft runden Tischen, schlürften ihre Drinks, aßen eine Kleinigkeit, hatten die Beine ausgestreckt und ließen den Lieben Gott ansonsten einen guten Mann sein. Dennoch wurde auch hier gearbeitet. Nur eben anders. Nicht umsonst besaß New Orleans nach New York den zweitgrößten Hafen der USA und war in den letzten Jahren von der reinen Baumwollstadt zum Zentrum der 103
amerikanischen Petrochemie herangewachsen. In Texas verwaltete man das Öl, hier wurde es verarbeitet. Seit 1949 ver‐ bindet der Gulf Intracoastal den Rio Grande mit Florida. Er bietet der Küstenschiffahrt eine sichere Wasserstraße. In der Nähe von New Orleans quert er sogar den Mississippi und schwenkt dann nach Osten ab. Mit einer Kamera bewaffnet, hätte ich mich nur ans Fotografieren halten können, so mußte ich die Eindrücke normal aufnehmen und versuchen, sie in Erinnerung zu behalten. Fred Diamond drückte seine Sonnenbrille höher. »Gleich wird es schwie‐ rig«, sagte er. »Wieso?« »Wir haben unser Ziel fast erreicht und müssen einen Parkplatz finden.« Ich lachte. »Das hat New Orleans mit London gemeinsam. Auch wir ha‐ ben da unsere Probleme.« »Hast du mal nach Verfolgern Ausschau gehalten?« Ich schüttelte den Kopf. »Wie denn bei diesem Betrieb?« »Stimmt auch wieder.« Wir erreichten die Einmündung zur St. Ann Street. Fast kam ich mir vor wie in Manhattan, wo ebenfalls die meisten Straßen im Schachbrettmuster angelegt worden waren und einige Häuser zusammen stets einen Block bildeten, verbunden durch Hinterhöfe, Gänge und blühende Gärten, die einen Platz zum Plaudern boten. Vor allen Dingen in den feuchtwarmen Sommernächten. Leider störten die Mücken, die sich auf die Menschen stürzten und unzählbar waren. Doch ein richtiger Südstaatler hatte sich daran gewöhnt. Fred deutete nach links. »Schau mal an mir vorbei auf das Eckhaus. Das ist das Voodoo‐Museum mit dem angegliederten Voodoo‐Shop.« »Wie alt ist der Bau?« »Keine Ahnung.« Ich blickte auf die Fassade. Sie sah prunkvoll aus, war mit Stuck verziert und die großen Fenster besaßen Sprosseneinsätze. Der Voodoo‐Shop neben dem Museum fiel dagegen direkt ab. Er sah irgendwie nüchtern aus, auch wenn seine Fassade angestrichen war, in die St. Ann Street bogen wir ein. Ich war froh, Diamond dabei zu haben, denn auch jetzt wußte er sich Rat. Bevor ich mich versah, hatte er das Lenkrad plötzlich nach rechts gerissen und fuhr auf den Eingang zu einem Hinterhof zu. 104
Dann bremste er heftig, denn aus dem Schatten der Einfahrt hatte sich ei‐ ne Gestalt gelöst, die Lederkleidung trug. Die grün gefärbten Haare waren mit Gel beschmiert, so daß sie wie die Zinken eines Kamms in die Höhe standen. Unter der Jacke schaute ein Schlagstock hervor. Von den Augen des Bur‐ schen konnte ich überhaupt nichts sehen. Die Gläser seiner Sonnenbrille waren fast schwarz. »Bleib du sitzen«, sagte Diamond und stieg aus. Er ging auf den Knaben zu, reichte ihm die Hand und sprach einige Worte mit ihm, bevor er einen Geldschein nahm und ihn dem Rock‐Punker in die Hand drückte. Grin‐ send setzte er sich wieder neben mich. »Was war das denn?« fragte ich. »Verhandlungen für einen Parkplatz.« »Und? Hat es geklappt?« »Klar, ich mußte nur mehr bezahlen als beim letztenmal. So steht die Karre unter Bewachung. Das lasse ich mich schon zehn Dollar kosten.« So hatte eben jede Stadt ihre eigenen Regeln. Die Einfahrt wurde zum Ende hin sogar schmaler, zudem war sie sehr schattig, weil sie auch ein Dach besaß, und erst der hinter ihr liegende Hof oder Platz war wieder in grelles Sonnenlicht getaucht, denn der Glutball stand fast senkrecht am Himmel. Zwei Bäume boten Schatten. Unter den Kronen standen einige Bänke und Tische. Familien hatten sich dort zum Essen versammelt. Ein scharfer Ge‐ ruch durchwehte den Hof. Die Frauen drehten sich um, Kinder verließen ihre Plätze und liefen uns nach. Wir fuhren neben einen Wellblechschuppen. Zwischen ihm und der Mauer befand sich gerade soviel Platz, daß der Wagen in die Lücke hinein‐ paßte. An meiner Seite konnte ich nicht mehr raus, so mußte ich über den Fahrersitz klettern. Fred stand schon draußen. Er schloß den Wagen ab, während ich fragte: »Und hier sind wir sicher?« »Das glaube ich schon.« Er deutete auf den Schuppen, während ich mei‐ ne dunkle Brille aufsetzte. »Dieser Bau gehört dem Rockpunker. Er hat da seine Werkstatt.« Ich wunderte mich. »Einen Beruf hat er auch?« »Klar. Wenn ihn der Teufel oder der Wahnsinn mal packt, repariert er 105
Fahrräder und auch heiße Öfen.« Es war erstaunlich. So etwas hätte ich diesem Knaben beim besten Willen nicht zugetraut. In New Orleans war eben vieles anders. »Woher kennst du ihn denn?« »Ich habe ihm mal einen Gefallen getan«, erwiderte Fred. Mehr wollte er nicht sagen. Ein kleines Kind lief auf ihn zu. Es war ein dunkelhaariges Mädchen mit großen Kulleraugen. Barfuß rannte es über die warmen Steine, das weiße Kleid flatterte. Der Agent nahm die Kleine in die Arme, schwang sie hoch und preßte sie an sich. Er sprach spanisch mit ihr. Ich verstand nur einige Worte, aber er bekam einen Kuß auf die Wange. Dieser Mensch gab mir immer größere Rätsel auf. Diamond war nicht so hart, wie er vorgab. Er setzte das Kind ab, grüßte zur Familie hinüber und nickte mir zu. »Komm, wir werden uns die Sache ansehen.« »Man kennt dich hier?« Er schob die Hände in die Taschen seiner Jacke. »Ja, das hast du gesehen. Die Leute sind gut.« »Und denen hast du geholfen?« »Vor einigen Jahren und auch jetzt.« Er blieb stehen und schaute zu Bo‐ den. »Es hat da mal eine Zeit gegeben, als Banden versuchten, das French Viertel zu unterjochen. Auch hier fingen sie an. Ich wohnte in dieser Stadt, sogar in dem Viertel und habe mich eines Nachts – es glich fast einem An‐ fall von Wahnsinn – gegen diese Typen gestellt, als sie die Bewohner aus den Häusern getrieben hatten.« »Wie viele waren es?« »Eigentlich zu viele. Ich habe auch etwas abbekommen und stand zeit‐ weise auf der Kippe, doch mit meiner abgesägten Schrotflinte konnte ich sie so lange aufhalten, bis die Polizei kam. Das haben mir die Bewohner nicht vergessen.« »Und der Punker da?« »Er war damals noch halbwüchsig. Heute spielt er den großen Mann. Nur Schau. Ich hätte auch umsonst parken können, aber die Leute brau‐ chen jeden Dollar. Sie gehören nicht zu den Vermögenden im Staate.« »Was war das denn für eine Bande?« »Sie machten alles. Sie killten, sie dealten, für jeden dreckigen Job waren 106
sie zu haben.« »Und für wen arbeiteten sie?« Fred verzog verächtlich die Lippen. »Wenn ich das wüßte. Damals schon bekam ich es nicht heraus, und auch heute weiß ich noch keinen Bescheid. Der Chef hielt sich stets im Dunkeln auf.« »Hast du denn einen Verdacht?« Er lächelte mich an. »Den habe ich, John, aber ich behalte ihn für mich.« »Ich kann dich nicht zwingen.« Der Punkrocker oder Rockpunker tänzelte auf uns zu. Er sprach Fred an, mich übersah er. »Hast du hier zu tun?« »Ja.« Ein abgespreizter Daumen deutete auf mich. »Mit ihm?« »Er ist ein Freund.« Jetzt schob der junge Mann seine Sonnenbrille nach unten. Er hatte was‐ serhelle Augen und reichte mir die Hand. »Freds Freunde sind auch mei‐ ne.« Ich nahm die Hand und sagte meinen Namen. »Ich bin Tunky.« »Okay, Tunky, ich freue mich.« Er setzte die Brille wieder auf. »Führt euch eine heiße Sache her? Im Moment läuft nichts. Ich wüßte sonst was.« »Tunky, du bist nicht allwissend. Denk daran, was in der Nacht passie‐ ren wird.« Er winkte ab. »Ach so, das ist etwas anderes. Was ganz anderes. Bist du deswegen gekommen.« Er lachte krächzend. »Die Kerzen sind schon ge‐ kauft worden, auch wir zünden welche an.« »Uns geht es mehr um das Voodoo‐Museum.« Tunky schüttelte den Kopf. »Könnt ihr euch abschminken. Das ist ge‐ schlossen.« »Wie lange schon?« »Nur heute.« Auch mein Begleiter war von dieser Antwort überrascht worden. Er warf mir einen nachdenklichen Blick zu, ehe er seine nächste Frage stellte: »Ist das Zufall, oder steckt Methode dahinter?« »Die bereiten bestimmt nur alles für den Abend und die Nacht vor«, meinte Tunky. »Der Shop jedenfalls ist offen.« 107
»Danke für die Antwort.« Diamond schlug dem Rockpunker auf die Schulter, bevor wir wieder in die schattige Einfahrt tauchten, sie hinter uns ließen und am Rand der Fahrbahn stehenblieben. Über die Straße schauten wir. Lärm und Trubel vermischten sich zu ei‐ nem gewaltigen Wirrwarr, der gegen meine Ohren brauste, wobei ich ihn nicht als störend empfand, da er einfach in diese Gegend hineinpaßte wie das Salz in die Suppe. Ich war froh, einige Schritte laufen zu müssen, um die Gerüche aufneh‐ men zu können, die, vermischt mit den Abgasen der Autos, einen regel‐ rechten Quirl bildeten und mit dazu beitrugen, dem Viertel das typische Flair zu vermitteln. Es wurde verkauft, gehandelt, angepriesen, gelacht und geschrien. Die Geschäfte waren oft so eng, daß sie nur mehr die Breite von Schläuchen besaßen. Ich sah ein Mädchen, das sich ungeniert auf dem Gehsteig vor einem Ge‐ schäft umzog und die neuen, alten Second‐Hand‐Klamotten probierte, die es soeben erworben hatte. Als sie ein bunt bedrucktes T‐Shirt überstreifte, wippten ihre Brüste keck. Zwei Meter weiter standen Halbwüchsige und grinsten von Ohr zu Ohr. Das war pralles Leben, das gehörte dazu, es machte mich irgendwie an. Wir mußten die St. Ann Street überqueren, um zu unserem eigentlichen Ziel zu gelangen. Kurz danach standen wir vor dem Voodoo‐Museum. Das Schild »closed« stach jedem ins Auge, da die Schrift mit blutroter Farbe auf weißen Unter‐ grund gepinselt worden war. Möglicherweise war es Einbildung, doch ich wurde das Gefühl nicht los, daß dieses Gebäude etwas Außergewöhnliches oder Unheimliches ab‐ strahlte. In den alten Mauern schien der Geist einer längst vergessenen Zeit zu hocken und auf Opfer zu warten. Bestimmt hatten mich auch die Erzählungen meines Partners beeinflußt, der die Sache realistischer sah und sich selbst davon überzeugen wollte, ob die Tür verschlossen war oder nicht. Zweimal drückte er die Eisenklinke nach unten, einen Erfolg erzielte er nicht. »Es ist tatsächlich geschlossen«, erklärte er. »Kann man vom Shop aus hinein?« fragte ich. »Das käme auf einen Versuch an.« 108
Es lag kein Grund für uns vor, auf gewaltsame Art und Weise in das Voodoo‐Museum einzudringen. Ich hatte mich wieder umgedreht und schaute nach links, wo der Shop mit der bemalten Hausfront lag. Auch außerhalb der Ladenfläche wurde verkauft. Ein junger Neger stand dort und bediente die Kunden. Er grinste jeden breit an, sprach auch mit ihm und deutete in das Innere des Ge‐ schäfts, als würde der Kunde dort sein Seelenheil bekommen. Fred stieß mich an. »Sollen wir uns kennen?« fragte er. Ich hatte ihn richtig verstanden. »Meinetwegen nicht. Wäre vielleicht besser, wenn wir einzeln und zeitlich getrennt den Laden betreten.« »Das meine ich auch.« Er nickte mir kurz zu und tauchte im Gewühl der Passanten unter. Ich schlenderte wie ein Müßiggänger auf den Shop zu und auch in die Nähe des verkaufenden Negers. Er sprach mit einer hage‐ ren Frau und versuchte, ihr die Vorzüge einer Paste zu erklären. Ich schaute mir die Körbe an, in denen die Waren lagen. Bücher über Voodoo entdeckte ich ebenso wie Räucherstäbchen, schwarze Tücher und zahlreiche Reproduktionen einer berühmten Federzeichnung, die nur ein Gesicht zeigte. Das der Marie Laveau. Diese Mischlingsfrau herrschte fast fünfzig Jahre wie eine Königin über die Voodoo‐Gläubigen und wurde schon zu ihren Lebzeiten zu einer Legende. Von ihr inspiriert, entstanden Lieder, Bücher und Gesänge. Ungefähr hundert Jahre war sie schon tot, aber noch heute wanderten die Menschen zu ihrem Grab, um gegen die Grufttür zu klop‐ fen, damit sie durch dieses Zeichen Heil und Segen für ihre Zukunft erhiel‐ te. Ich hatte von der Frau gehört und mußte lächeln, wenn ich an die Gläu‐ bigen dachte, die so verrückt waren und sie heute noch verehrten. Ande‐ rerseits konnte der Voodoo‐Zauber eine regelrechte Hölle bringen und die Menschen verzweifeln lassen, wenn plötzlich Tote aus den Gräbern stie‐ gen. Doch dieser Zombie‐Voodoo war hier in New Orleans nicht so »ge‐ pflegt« worden, wie ich wußte. In der Stadt am Mississippi frönte man mehr dem einfachen und nicht so gefährlichen Kult. Der verkaufende Neger glitt neben mich. Er trug Kettchen um den Hals, die bei jeder Bewegung klingelten. Das Flatterhemd hing über seiner wei‐ ßen Hose, die Füße steckten in oben offenen Bastsandalen. »Haben Sie sich 109
noch nicht entschlossen, Sir?« »Nein.« »Beeilen Sie sich.« Ich lächelte schief. »Weshalb?« »Weil wir heute Johannisnacht haben«, flüsterte er und blies mir seinen schlechten Atem ins Gesicht. Er rollte mit den Augen, was wohl verschwö‐ rerisch aussehen sollte. »Sie verstehen doch – oder?« Ich stellte mich dumm. »Was soll ich verstehen?« »Kommen Sie nicht von hier, Sir?« »Europa.« »Ach so. Gibt es bei euch die Johannisnacht nicht?« »Schon.« Ich hob die Schultern und nahm wie spielerisch eines der Bilder hoch. »Sie ist eine Nacht wie alle anderen auch. Nichts Besonderes, finde ich.« »Aber hier, Sir.« Der Schwarze deutete auf das Bild. »Das ist die berühm‐ te Voodoo‐Mutter. Sie halten das Bild der Königin in der Hand. Marie La‐ veau, eine bewundernswerte Frau, die leider heute nicht mehr lebt.« »Was finden Sie an ihr so gut?« »Sie war die Königin des Voodoo.« »Auch der Zombies?« fragte ich wie nebenbei. Der Verkäufer stutzte für einen Moment. »Sie kennen sich doch aus, Sir.« Ich lachte. »Das scheint nur so. Wissen Sie, man hört so einiges. Auch wir in Europa leben nicht hinter dem Mond, wie Sie sich bestimmt denken können.« »Das glaube ich.« »Außerdem bin ich oft ins Kino gegangen.« Ich hatte schnell weiter ge‐ sprochen, da ich sah, daß der andere sich von mir abwenden wollte. »Da zeigt man Filme über lebende Leichen.« »Das dürfen Sie nicht alles glauben.« »Kann man dem Voodoo überhaupt trauen?« wollte ich wissen. »Sie glauben doch daran, nicht. Und an die Kräfte dieser Frau.« Ich hielt das Bild noch in der Hand und legte es nun zur Seite. Der Neger nickte. »Das stimmt alles.« »Schade, daß es heute keine Voodoo‐Königin mehr gibt. Ich hätte sie mir gern angesehen und wäre auch mit ihr ins Gespräch gekommen.« »Nur Gläubige dürfen so etwas.« 110
»Vielleicht wäre ich einer geworden. Es muß doch einen Anführer der Bewegung geben, auch heute, wenn die großen Feiern in der Nacht begin‐ nen. Führt denn keiner die Bewegung?« »Doch!« »Und wer?« Der Schwarze zeigte sein Gebiß, als wollte er mich auslachen. »Bisher hat die von uns verehrte Marie keine Nachfolgerin gefunden. Nun sieht es so aus, als würde jemand ihr Erbe übernehmen.« Ich horchte auf und beugte mich zu ihm hinab. »Auch eine Frau?« fragte ich leise und lauernd. »Möglich…« Weitere Auskünfte wollte er mir keinesfalls geben. Fast ruckartig drehte er sich um und bediente zwei Mädchen, die nach einer Salbe fragten. »Ihr bekommt sie im Laden.« Die Mädchen schoben sich auf die weit offen stehende Eingangstür des Geschäfts zu. Sie hatten sich untergehakt und kicherten sehr laut. Vielleicht wollten sie ihr Unbehagen damit überspielen. Ich folgte ihnen in den Laden und mußte erst eine gewaltige Matrone vorbeilassen, die sich mit einer Masse dunkler Kerzen eingedeckt hatte. Wie Spargelstücke steckten sie in einem runden Korb, was der Matrone nicht so gefiel, denn sie deckte die Kerzen mit einem großen Tuch zu. Mich nahm der Laden auf und damit eine andere Welt. Schon dicht hin‐ ter der Schwelle, wo das Licht sich fast verlor, weil die Sonnenstrahlen durch die Rollos vor den Fenstern gefiltert wurden. Die Hektik und der Lärm blieben zurück, dafür tauchte ich ein in das geheimnisvolle Düster eines Geschäftes, das aus zahlreichen kleinen, nischenartigen Räumen be‐ stand, die durch Regale und Schränke voneinander getrennt waren. Ein wahres Labyrinth und trotzdem einsehbar von irgendeiner zentralen Stelle aus, denn an der balkenbestückten Decke hingen ovale Spiegel, deren Flächen schräg nach unten wiesen, so daß sich die Kunden oft genug darin sahen. Ich hatte zahlreiche Kunden hineingehen sehen, trotzdem herrschte kein Gedränge, weil sich die Menschen in den geschickt angelegten Gängen verliefen. Verkaufsfördernd waren die großen Körbe mit den Kerzen hingestellt worden. Jeder, der kam, nahm zumindest eine Kerze mit, um sie am Abend 111
anzuzünden. Ob er nun an Voodoo glaubte oder nicht, es machte ihm viel‐ leicht einfach Spaß. Auch die beiden Mädchen kauften noch Kerzen und kicherten, als sie die Dinger in ihren Händen hielten. Ich schob mich an ihnen vorbei, mich inte‐ ressierten andere Dinge mehr. Vorbei an düsteren Regalen ging ich. Masken lagen dort und glotzten den Betrachter an. Hervorragende Kunstwerke, die immer einen anderen Ausdruck bekamen, wenn das Licht aus verschiedenen Winkeln auf sie fiel und sie mit einem Muster bedeckte. Da die Masken sich hinter Glas befanden, konnte ich sie nicht anfassen und ging weiter. Etwas Fremdartiges wehte mir entgegen. Es war der Duft von Räucherkerzen. Sie standen in einer mit Sand gefüllten Schale auf ei‐ nem Tisch, glommen und gaben den für mich fremdartigen und auch nicht angenehmen Duft ab. Von dem Räucherstäbchen‐Tisch mußte ich mich für eine Richtung ent‐ scheiden. Entweder nach rechts oder links. Ich entschied mich für die rechte Seite und verschwand in einem dunklen Schlund. Es war nur ein kleiner Durchgang, den ich hinter mir ließ, als ich in ein offenes Karree gelangte, wo allerlei Salben, Pasten und Tiegel in Rat‐ tan‐Regalen standen. Die Beschriftungen waren gerade noch zu entziffern. Ich las, daß eine Salbe gegen Krankheit helfen sollte, die andere Glück brachte, eine dritte dem Manne wieder auf die Beine half, wenn er nicht mehr konnte, und gerade nach diesem Tiegel griff die schmale Hand einer Frau. Sie nahm ihn und zog sich zurück. Ich blickte ihr hinterher, konnte aber nur mehr ihren gebeugten Rücken sehen, so schnell hatte sie sich entfernt. Es war ihr wohl peinlich gewesen. Sicherlich machte der Besitzer des Shops mit diesem Zeug ein Riesenge‐ schäft. Aber wie hieß er? Das hatte mir der junge Verkäufer nicht gesagt, und bisher sah ich keinen zweiten, an den ich mich wenden konnte. Ich schaute mich noch ein wenig um, kam an das Regal, wo die Extrakte aus getrockneten und zerriebenen Pflanzen standen, und nahm ein kleines Gefäß in die Höhe, von dem ich den Deckel abschraubte. Ich hielt meine Nase gegen die Öffnung. Die Geruchsprobe hätte ich auch 112
weglassen können, denn das Zeug stank widerlich. Es roch sehr fremdar‐ tig, wie eine Mischung aus Pfeffer und faulendem Holz, das lange in bra‐ ckigem Wasser gelegen hatte. Als ich das Gefäß wieder zuschraubte, sprach mich jemand so plötzlich an, daß ich erschrak. »Sie sollten es in heißem Wasser aufbrühen und trinken. Es entschlackt den Körper und ist nach einem sehr alten Rezept hergestellt worden, Mis‐ ter.« »Danke«, erwiderte ich im Umdrehen. »Ich bleibe lieber bei Tee oder Pulverkaffee.« »Das ist typisch für Nichtwissende.« »Wissen Sie denn mehr?« »Möglich.« Die Sprecherin trat so dicht an mich heran, daß ich sie genau erkennen konnte. Sie besaß ein etwas breites Gesicht, dessen Haut glänzte, als wäre sie mit einer blauschwarzen Farbe angestrichen worden. Die Haare hatte die Frau oder das Mädchen – ihr Alter war schlecht zu schätzen – zu schmalen Zöpfen gedreht und sie rosa gefärbt. Passend dazu zogen sich auch die Schminkstreifen durch ihr Gesicht, die mich an von den Wangen bis zur Stirn laufende Sicheln erinnerten. Die Lippen hatte sie anders angemalt. In einem hellen Grün. Auch hier hatte sie auf die Neonschminke zurückgegriffen. Ich nickte ihr zu. »Ist wohl nicht mein Fall.« Sie kam noch näher. Der Stoff ihres Kleides schabte und knisterte. Sie trug es eng, schulterfrei, dafür bis zum Boden reichend. An den Gelenken klapperten Ringe aus dunklem Holz. Die langen Finger sahen wegen ihrer spitzen grün lackierten Nägel aus wie kleine Messer, und in den dunklen Augen entdeckte ich einen Ausdruck, den ich von Süchtigen her kannte, wenn sie unter Stoff standen. Auch ein Geruch wehte mir von dieser Frau entgegen. Er war für mich nicht in die Reihe zu bekommen, schlecht zu identifizieren, auf jeden Fall roch die Frau nach Gewürzen. Curry vielleicht und irgendein anderes Zeug. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich meine, daß jeder etwas in unserem Laden finden kann.« »Das glaube ich Ihnen. Nur bin ich ein sehr kritischer Käufer.« 113
»Haben Sie nach etwas Bestimmtem gesucht?« »Nein, eigentlich nicht. Ich hatte vorgehabt, mir das Museum anzuschau‐ en…« »Das ist heute leider geschlossen.« Sie ließ für einen Moment die langen Wimpern sinken, und ich konnte erkennen, daß sie auch die Augendeckel grün angemalt hatte. »Ich habe es bemerkt. Weshalb haben Sie nicht geöffnet? Ist es wegen der Feier heute nacht?« »Hauptsächlich. Wir müssen viel vorbereiten.« »Das kann ich mir vorstellen. Aber wer ist wir? Sind Sie die Besitzerin des Ladens hier?« »Nein, das nicht.« Sie lachte leise. »Obwohl ich es gern wäre.« »Und wem gehört das hier?« »Museum und Shop bilden eine Einheit. Die Stadt sorgt für die Unterhal‐ tung, falls sich beides nicht mehr aus den Einnahmen selbst finanzieren sollte. Bisher ist alles gut gelaufen. Man setzt eben jemand als Verwalter ein.« »Und den Posten haben Sie übernommen?« »Auch nicht.« Ich lachte. »Wer sind Sie dann? Und wieso kümmern Sie sich so intensiv um mich?« »Ich bin Mona.« »Ein Name, der zu Ihnen paßt, das muß ich gestehen. Hat man Sie als Verkäuferin eingestellt?« »Genau richtig. Ich überwache den Laden, wenn die Verwalterin nicht anwesend ist.« »Und die ist nicht da? Schade«, erwiderte ich und schüttelte den Kopf. Natürlich war ich sehr auf der Hut. Diese Mona schien mir als Lockvogel eingesetzt worden zu sein, dem ich auf den Leim kriechen sollte. Aber da hatte sie sich geschnitten. »Liegt Ihnen denn so viel daran?« wurde ich gefragt. »Ich wollte das Museum besichtigen.« »Morgen…« »Muß ich leider wieder abfliegen. Ich komme aus London und bin nur kurz in der Stadt.« »Ja, das ist wirklich schade.« Mona senkte den Kopf und kaute auf ihrer 114
breiten Unterlippe. »Vielleicht könnte ich für Sie eine Ausnahme machen, Mister…« Ich gab mich freudig überrascht. »Sagen Sie, wollen Sie tatsächlich, daß ich… also, das wäre ja fast…« »Wenn Sie morgen schon fliegen.« Sie lachte mich an. »Sie dürfen nur nichts sagen. Außerdem müssen wir den zweiten Eingang nehmen, damit uns keiner sieht. Sie sind doch allein hier – oder?« »Ja, natürlich.« »Okay.« Die schöne und außergewöhnliche Mona nahm meinen Arm. »Dann kommen Sie.« Ich stemmte mich noch gegen sie. »Muß ich allein durch das Museum gehen, oder bekomme ich die Ehre Ihrer Begleitung?« Sie lachte lockend und gab mir eine negative Antwort. »Ich würde gern mit Ihnen laufen, das ist nicht zu machen, wissen Sie. Ich bin Verkäuferin, muß Kunden bedienen und beraten. Wenn Sie das Museum verlassen ha‐ ben, kommen Sie wieder zu mir und geben mir den Schlüssel. Einverstan‐ den?« »Es bleibt mir nichts anderes übrig.« »Noch können Sie ablehnen.« »Das glauben Sie wohl selbst nicht. So lange habe ich mich darauf ge‐ freut. Nein, da muß ich durch.« »Das ist gut.« Sie führte mich aus dem Raum. Zudem bekamen wir Besuch. Ein altes Negerehepaar suchte nach irgendwelchen Salben und Pasten. Er stützte sich auf einen Stock. »Ich sehe wenig Weiße in diesem Geschäft. Glauben die nicht an Voo‐ doo?« Mona gab eine diplomatische Antwort. »Zumindest geben sie es nicht gern zu.« »Wie ich.« »Weshalb dann Ihr Interesse?« Ich ließ mir blitzschnell eine Ausrede einfallen. »Ich unterrichte in Lon‐ don an einer Privatschule Geschichte. Da hatte ich mir vorgenommen, auch auf die mythischen Riten anderer Völker einzugehen. Und Voodoo ist ja etwas Besonderes, das sich bis in die heutige Zeit erhalten hat, wenn ich da nur an die Zombies denke.« 115
»Ja, die gibt es.« »Auch hier?« Wenn Mona es wußte, so log sie ausgezeichnet. »Nein, wo denken Sie hin? Der Zombie‐Glaube ist mehr auf den karibischen Inseln verbreitet oder auf denen im Golf und nahe unserer Küste.« »Darf ich fragen, wo Sie heute nacht feiern werden?« »Auf einem Friedhof.« Ich zeigte mich geschockt. »Wie das?« »Es ist so Brauch.« »Und… und… was geschieht da?« »Vielleicht sprechen wir mit den Toten, Mister.« Sie funkelte mich an und lachte plötzlich. »Kommen Sie weiter, sonst verpassen Sie noch die Zeit.« Ich hatte noch eine Frage. »Falls ich trotzdem Lust habe, wo kann ich Sie finden? Ich meine, verstehen Sie es nicht falsch. Wie heißt der Friedhof?« »St. Louis Cemetery Nr. 1.« »Aha.« »Wenn Sie mich besuchen wollen, Mister, bringen Sie gute Nerven mit. Die alten Rituale sind nicht für jedermann bestimmt. Sie können gefährlich sein.« »Ich werde mich schon vorsehen.« Wir waren während unserer Unterhaltung durch den Shop gegangen. Ich hatte andere Ecken und Winkel kennengelernt, auch Kunden gesehen, aber meinen Partner Fred Diamond nicht unter ihnen entdeckt. Schade, denn ihm hätte ich gern die Information zugesteckt, wo ich mich in der nächsten Zeit befinden würde. Vor einer schmalen Tür blieben wir stehen. Mona schloß sie auf, und ich betrat einen muffig und feucht riechenden Raum. Erst als Mona das Licht eingeschaltet hatte, erkannte ich, daß ich nicht im Voodoo‐Museum gelan‐ det war, sondern in einem Lager, wo die Dinge standen, die verkauft wer‐ den sollte. Die Salben und Extrakte fand man hier kiloweise, entweder in Glasbehäl‐ tern oder Säcken verpackt. Davon mußte eine ganze Industrie leben. Auch schwarze Voodoo‐Kerzen entdeckte ich und fragte Mona, weshalb sie diese Farbe hatten. »Sie müssen sich eben unterscheiden.« »Von den anderen, meinen Sie?« 116
»Voodoo ist eben so etwas wie eine andere Messe, wenn Sie verstehen, Mister.« »Ja, eine Schwarze Messe.« Monas Hand glitt in einen Taschenschlitz, um einen zweiten Schlüssel hervorzuholen. Auf meine Antwort ging sie nicht weiter ein, sondern führ‐ te mich zu einer Tür, vor der sie stehenblieb. »Das ist der Weg ins Muse‐ um«, erklärte sie. Ich nickte. »Gibt es dort Licht?« »Ja, ich werde es Ihnen noch anzünden. Nur wundern Sie sich nicht dar‐ über, wenn es nicht so stark scheint. Es ist alles etwas gedämpft und der gesamten Atmosphäre angepaßt. Wir haben verschiedene Gegenstände besonders hervorgehoben. Sie werden angestrahlt.« Bei diesen Worten steckte das Mädchen schon den Schlüssel ins Schloß. Ich startete einen letzten Versuch. »Und Sie wollen mich wirklich nicht begleiten, Mona?« »Nein, Mister, ich kann nicht. Ich muß in den Laden, aber wir sehen uns sicherlich wieder. Außerdem gefallen Sie mir. Ist es schlimm, wenn eine Schwarze dies zu einem Weißen sagt?« »Nein, es ist ehrlich.« »Das meine ich auch«, Mona drückte die Tür auf und bedeutete mir, über die Schwelle zu gehen. Das tat ich und hatte sofort das Gefühl, in einer Halle zu stehen, ohne daß ich es sah. Ich bekam meine Vermutung bestätigt, als Mona das Licht einschaltete. Es war tatsächlich nicht strahlend hell. Von der Decke fiel der gedämpfte Schein und erreichte nicht einmal den Boden, sondern erhellte die Dinge, die sehenswert waren, wie ein gewaltiges Schwert, das von der Decke hing und auf das mein Blick zuerst gefallen war. Mona legte mir ihre Hand auf die Schulter. »Mit dieser Waffe hat vor mehr als achtzig Jahren jemand seine Familie geköpft, weil sie sich dem Zauber nicht beugen wollte.« »Rauhe Sitten waren das.« »Ja, manchmal ist es schon hart.« Sie nahm die Hand wieder weg. »Ich ziehe mich jetzt zurück. In einer Stunde werden Sie das Wesentliche gese‐ hen haben, Mister.« Mit diesen Worten ging sie, schloß die Tür und ließ mich allein. Ich blieb zunächst einmal stehen, um die Atmosphäre auf mich einwir‐ 117
ken zu lassen. Fremd und ungewöhnlich kam sie mir vor. Sie besaß auch den Touch des Unheimlichen, denn die hier ausgestellten Gegenstände konnte man beim besten Willen nicht als normal bezeichnen. Hinzu kam die hohe Decke, so daß ich das Gefühl nicht loswurde, in einer alten Fab‐ rikhalle zu stehen. Man hatte Nischen gebaut, Vitrinen hineingestellt, in denen auch die al‐ ten Gegenstände lagen. War im Shop viel nachgemacht worden, so konnte ich hier echte Schrumpfköpfe sehen. Es waren schreckliche Fratzen, und die Köpfe erin‐ nerten mich an eingeschrumpfte Ballons. Einer von ihnen steckte sogar im weit aufgerissenen Maul eines Krokodils, das, ausgestopft zwar, noch im‐ mer sehr gefährlich wirkte. Alte Bilder und Stiche entdeckte ich ebenfalls. Natürlich wieder die Voo‐ doo‐Königin Marie Laveau. Sie war auf jedem Bild, das eine Voodoo‐Szene zeigte, verewigt worden. Manche hatten sie als schöne Frau gemalt und auch als runzelige Hexe, als sie schon älter geworden war. Die gelben Totenköpfe durften ebenfalls nicht fehlen. Echte Schädel, ir‐ gendwo aus der Erde gegraben und mit kleinen Namensschildern verse‐ hen. Wahrscheinlich gehörten die Schädel irgendwelchen Voodoo‐ Priestern. Ich schlenderte weiter. Es war schon ein etwas seltsames Gefühl, sich als Einzelner in einem derartigen Museum zu befinden. Nur meine eigenen Schritte hörte ich, dazu in bestimmten Abständen den Atem, ansonsten war es ruhig. Totenstill… Und Tote gab es genug. ZOMBIE! Es war die Schrift, die mir blutrot entgegenstarrte. Die Gestalt stand in einer hohen Glasvitrine und sah verdammt echt aus. Ein Wesen, bei dem das Fleisch von den Knochen hing und sich mit den Fragmenten eines schmutzigen Totenhemdes mischte. Auch der Schädel war zum größten Teil verwest. An den Stellen, wo ich keine Haut mehr sah, waren die blan‐ ken Knochen durchgebrochen und standen vor wie kleine Splitter. Erst beim näheren Hinschauen fiel mir auf, daß der Zombie keine Hände mehr besaß. Sie mußten ihm abgehackt worden sein. 118
Neben der Vitrine an der Wand konnte der Betrachter Erklärungen über Zombies lesen. Die sparte ich mir, denn mit diesen lebenden Leichen hatte ich schon genug Ärger gehabt. Ich geriet in einen Teil des Museums, den ich als den unheimlichsten be‐ zeichnen möchte. Zombies oder ähnliche Gestalten entdeckte ich zwar nicht mehr, dafür Gegenstände, die zum Voodoo‐Kult einfach dazugehör‐ ten, und damit meinte ich die Puppen. Sie waren von unterschiedlicher Größe. Manche so wie eine normale Puppe, andere wiederum lang wie ein Männerarm, und sie sahen alle ver‐ schieden aus. Dünne Spotlights strahlen sie an. Besonders die Gesichter, die sehr genau den lebenden Personen glichen, denen sie nachmodelliert waren. Hier hat‐ ten unbekannte Künstler wahre Meisterwerke geschaffen, dies besonders bei den großen Puppen, deren Körper mit allerlei bunten Voodoo‐Nadeln bestückt waren. Man hatte sie in das Holz hineingestoßen. Immer an ver‐ schiedenen Stellen. Mal in die Schulter oder die Beine, dann in die Brust. Das war die Magie des Voodoo. Der Mensch, den solch eine Puppe darstel‐ len sollte, spürte in dem Augenblick, wo die Nadeln in den hölzernen Kör‐ per hineingerammt wurden, einen ziehenden Schmerz. Wenn er eintrat, war er durch den Voodoo‐Zauber verhext worden. Eine Puppe fiel besonders aus dem Rahmen. Sie war ein kleines Kunst‐ werk für sich und zeigte einen stilisierten Menschen, der aus Stroh zu‐ sammengeflochten war. Die beiden Arme bestanden ebenfalls aus kräftigen Strohhalmen, und genau zwischen ihnen in der Körpermitte steckte eine dunkle Nadel mit weißem Kopf. Diese Farbe wiederholte sich in dem bleichen Totenschädel, der den Abschluß dieser Puppe bildete. Auch der Schädel war unfertig, und gerade deshalb faszinierte er mich so, denn seine Schlichtheit strahlte ein gewisses Flair ab. Vielleicht lag es auch an den hellrot eingepinselten Augen innerhalb des Kopfes und dem breiten Mund mit den gelben Stiftzähnen. Ich fragte mich, wem dieses kleine Kunstwerk wohl gegolten haben mochte. Noch wenige Schritte legte ich zurück, dann hatte ich die erste Halle durchwandert. Die Stille hielt an. Da knackte nicht einmal Holz. Ich hörte auch kein Schaben oder Schlei‐ 119
chen. Man hatte mir mal davon berichtet, daß es in New Orleans wegen der sumpfigen Ufernähe des Stroms zahlreiche Ratten geben sollte. Auch von ihnen vernahm ich nichts. Kein Trippeln schneller Füße, kein Weghu‐ schen aus dem hellen Schein in die Düsternis der geheimnisvoll wirkenden Winkel und Ecken. Dort, wo die Halle ihr Ende gefunden hatte, begannen die einzelnen Gänge. Sie führten in die kleineren Ausstellungsräume, die auf mich wirk‐ ten wie Inseln im schwarzen Mauerwerk. Ich schritt in die erste Nische. Ein stilisiertes Lagerfeuer entdeckte ich. Mehrere Gestalten gruppierten sich um die Flammen. Einige saßen, andere hatten sich halb erhoben, die Arme ausgestreckt und die Hände gespreizt, als wollten sie nach irgend etwas greifen. Alle Finger wiesen in eine Richtung. Hinter dem Feuer trat aus dem rötli‐ chen Halbdunkel eine Gestalt hervor, die einen langen Mantel trug und einen Stab in der Hand hielt, auf dem ein bunt bemalter Totenschädel die Spitze bildete. Das war ein Voodoo‐Priester, der die Düsternis verließ und von seinem Volk angehimmelt wurde. So hatten die Rituale früher begonnen, und so wurden sie auch heute noch ausgeführt. Mit Tanz, Trommelklang, heißem Feuer und Getränken, die aufputschten und gleichzeitig willenlos machten. Ich schaute mir weitere Nischen an. In einer entdeckte ich eine Voodoo‐ hexe, die zwei Schrumpfköpfe auf ihren Handtellern hielt und einen Fuß auf den Rücken eines vor ihr knienden Dieners gesetzt hatte, der sein Ge‐ sicht auf die Erde preßte. Eine schaurige Szene, aber ich hatte schon schlimmere gesehen, und die waren echt gewesen. In einer weiteren Nische entdeckte ich eine Trommlerrunde und ein tan‐ zendes Mädchen mit schwarzer Haut und hellen, strohigen Haaren. Auch Geräte waren ausgestellt. Große Kessel, in denen ein Gebräu gekocht wur‐ de, das ich nicht kannte. Lanzen, lange Nadeln, sogar Kreuze, denn ein Teil der Voodoo‐Religion besaß auch christliche Einflüsse, so schaurig es war und so schwer man es glauben wollte. In der zweitletzten Nische fand ich wieder einen Priester. Es war eine his‐ torische Gestalt. Den Namen Doctor John hatte ich schon einmal gehört und auch etwas über ihn gelesen. Er sollte der erste gewesen sein, der den Ka‐ tholizismus mit dem Schlangenkult verquickt und den Bamboula‐Tanz 120
seinen Anhängern wieder nähergebracht hatte. Es war der Tanz der Men‐ schen mit einer Boa constrictor, die von den Voodoo‐Jüngern als Sinnbild der besonders verehrten Schlangengottheit Dambhalah herhalten mußte. Dieser Doctor John machte auf mich einen sehr ausgemergelten Eindruck. Er war dünn, das Gesicht eingefallen, sein langer Mantel fiel für den Kör‐ per zu groß aus. Die Hände hielt er vor dem Bauch so verschränkt, daß er auf ihre Flächen schauen konnte. Man hatte dort einen weiß angemalten Totenschädel hineingelegt. Ich kam zur letzten Nische. Und die war mit am schaurigsten. Sie zeigte den Ausschnitt eines Fried‐ hofs. Zwei Gräber, einen Baum, lehmige Erde und ein Grab, das aus seiner Tiefe her aufgebrochen wurde, denn ihm entstieg eine zum Leben erweckte männliche Leiche. Ein Zombie! Halb war er schon aus dem Grab gekommen. Die rechte Seite lag völlig frei, nur das linke Bein und der linke Arm steckten noch im Boden. Der Tote mußte noch nicht sehr lange unter der Erde gelegen haben, da sein Gesicht keinerlei Spuren von Verwesung zeigte, bis auf die gelblich schimmernden Flecken an den Wangen. Ein Bild wie andere auch. Oder doch nicht? Plötzlich spürte ich etwas. Es war die leichte Erwärmung auf meiner Brust. Das Kreuz hatte sich »gemeldet« und mich gewarnt. In meiner un‐ mittelbaren Umgebung gab es eine Quelle der Schwarzen Magie. Und das bekam ich bestätigt, denn die rechte Schulter der aus dem Grab steigenden Leiche bewegte sich. Der Zombie war echt! * Die etwas zu breit geratenen Lippen der dunkelhäutigen Mona verzogen sich zu einem kalten, wissenden Lächeln, als sie die Tür hinter dem einsa‐ men Besucher zudrückte, den Schlüssel ins Schloß steckte und ihn zweimal herumdrehte. Jetzt war dieser Kerl eingeschlossen. Sie trat einen Schritt zurück und schob ihren Kopf nach hinten, wobei sie 121
den Mund öffnete und ein leises, glucksendes Lachen von sich gab. Dieser Narr war ihr in die Falle gelaufen. Er hatte nie seinen Namen ge‐ nannt, es war auch nicht nötig gewesen. Man hatte Mona sehr genau ein‐ geweiht. Der Kerl sollte krepieren! Als sie daran dachte, ballte sie die rechte Hand zur Faust, ließ einen Laut der Wut hören und rammte die Faust von oben nach unten. Ein Zeichen des Sieges bei ihr. Als wäre nichts gewesen, durchschritt sie das Lager und ging wieder zu‐ rück in den Verkaufs‐Shop. Dort hatten sich inzwischen mehr Kunden eingefunden, die sich für die angebotenen Dinge interessierten, und Mona schaffte es mit Geschick und Talent, ihnen Sachen anzudrehen, die sie ü‐ berhaupt nicht brauchten. Das Mädchen erkannte sofort, wer als Tourist gekommen war und wer nicht. An die Fremden hängte sie sich. Mancher Mann, den sie für einen Moment spüren ließ, wie gut sie gewachsen war, wurde von der Berüh‐ rung elektrisiert und kaufte mehr, als er eigentlich wollte. Auch die Kerzen gingen weg wie warme Semmeln. Sehr bald schon wurde Nachschub aus dem Lager geholt. Mona persönlich übernahm dies. Sie horchte auch an der zweiten Tür, konnte aber nichts hören, auch nicht die Schritte des Mannes, den sie ein‐ geschlossen hatte. Sinclair, so hieß er, John Sinclair! Ein gefährlicher Bursche, wenn auch nicht unattraktiv, wie sie zugeben mußte. Aber er stand gegen die Sache, und Mona wußte genau, welche Strafen demjenigen drohten, der aus der magischen Vereinigung ausbrechen wollte. Die Division und D. C. kannten kein Pardon. Kaum in den Laden zurückgekehrt, wurde sie von dem Außenverkäufer angesprochen. »Ich habe dich schon gesucht, Mona, du sollst zu ihr kom‐ men.« Über den Körper des Mädchens mit dem rosa gefärbten Haaren rann eine Gänsehaut. »Jetzt sofort?« »Ja, sie wartet.« Mona nickte. »Sieh zu, daß du allein zurechtkommst, und sage auch Sally an der Kasse Bescheid, daß sie achtgeben soll.« »Mach’ ich.« 122
Mona lächelte verkrampft, drehte sich um und ging zu dem Teil des La‐ dens hinüber, wo sich der Zugang zu einem kleinen Büro befand. Sie huschte hinein, blieb für einen Moment stehen und spürte auf ihren nack‐ ten Schultern den kalten Schweiß, der sich sofort in Perlen abgesetzt hatte. Auch ihr Herz klopfte schneller. Zum Glück hatte sie nichts verkehrt ge‐ macht, denn sie wollte nicht unbedingt die Peitsche zu spüren bekommen. Am Geländer einer nach oben führenden Wendeltreppe aus Metall hatte sie sich festgehalten. Die Knie zitterten schon, als sie die Metallstufen hoch‐ schritt. Mit ihren Sandalen aus Bast konnte sie sehr leise gehen und erreich‐ te am Ende der Treppe einen Gang mit niedriger Decke. Durch die kleinen Fenster fielen ab und zu die hellen Streifen des Sonnenlichts. Sie zauberten auch ein Muster auf ihre Haut. Es gab nur einen Raum in der ersten Etage. Er diente zum Aufenthalt und als Schlafstatt. Mona klopfte an. Das knapp gesprochene »Come in« trug nicht dazu bei, ihre Furcht zu senken. Am Klang der Stimme war zu erkennen, daß Rhon‐ da unter Spannung stand. Die Wände besaßen keine Tapeten. Statt dessen rote Stoffvorhänge, die bis zum Boden reichten. An den dunklen Palisandermöbeln des Jugendstil‐ Zeitalters hätten sicherlich auch Sammler ihre Freude gehabt. Hier wurden sie noch benutzt. Rhonda Lassalle saß auf dem hochlehnigen Stuhl hinter ihrem Schreib‐ tisch wie eine Königin. Sehr aufrecht, fast starr. Das blonde Haar trug sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Eine Frisur, die ihr Gesicht noch schmaler und härter erscheinen ließ. Fest zusammengepreßt waren die Lippen, die Hände lagen auf dem Schreibtisch dicht nebeneinander, und der Blick ihrer grünen Augen zeigte Kälte. Die weiße Bluse sah aus wie frisch gestärkt. Eine schwarze, ärmellose Lederweste stand im Kontrast dazu. Sicherlich trug sie auch wieder ihre figurbetonte Lederhose, die sehr stramm saß. Vielleicht brauchte sie sogar einen Schuhanzieher, um hinein‐ zusteigen. »Schließ die Tür, Mona!« forderte sie. »Natürlich, Rhonda!« »Ab jetzt Herrin! Ich will dich schon einmal an die Ereignisse der Nacht heranführen!« »Sehr wohl, Herrin!« Mona drückte die Tür ins Schloß und wartete in 123
demutsvoller Haltung ab, bis Rhonda Lassalle eine Hand hob und mit dem Zeigefinger winkte. Mona schritt mit zitternden Knien auf den Schreibtisch zu. Einen halben Schritt davor mußte sie stehenbleiben. Bisher hatte sie nur auf Rhonda geachtet. Erst jetzt erfaßte ihr Blick auch den Mann, der links von Rhonda und ein wenig nach hinten versetzt wie eine Statue stand. Es war Barnabas! Seinen Zylinder trug er nach wie vor. Der Körper war nackt, bis auf die rotweiße Streifenhose, die, ebenso wie die Kopfbedeckung, eine Art Mar‐ kenzeichen bei ihm war. Im Gesicht des Mannes zuckte nicht ein Muskel. Es sah aus wie eine zu Stein erstarrte Fleischmasse. »Ich höre!« sagte Rhonda. Mona mußte sich erst räuspern, bevor sie reden konnte. »Es ist alles so gekommen, wie du es vorausgesehen und erwartet hast, Herrin. Der Blon‐ de kam und war sehr neugierig. Es ist eine gute Idee von dir gewesen, das Museum zu schließen.« »Das will ich nicht hören, außerdem weiß ich es selbst.« Unwillig schüt‐ telte Rhonda den Kopf. »Berichte weiter. Wie hat er reagiert? Sagte er et‐ was?« »Nein – jedenfalls nicht das, was du oder ich hören wollten. Er tat sehr unwissend und erstaunt, zeigte für vieles Interesse. Besonders für das Mu‐ seum. Ich zierte mich etwas, aber er besichtigt jetzt die Ausstellungsstü‐ cke.« Nach diesem ersten Bericht zuckte über die schmalen Lippen der Rhonda Lassalle ein flüchtiges Lächeln. »Es läuft gut«, lobte sie sich selbst. »Den Chinesen haben wir, Sinclair ist auch in unsere Falle gelaufen, und eigent‐ lich wäre alles klar, wenn es nicht noch eine dritte Person gegeben hätte, Fred Diamond, den widerlichen Schnüffler. Was ist mit ihm?« fuhr sie das erschreckte Mädchen an. »W… wie?« stotterte Mona. Rhonda beugte sich leicht nach vorn, ließ die Hände noch auf der dunk‐ len Platte liegen, so daß sie sich mit ihren hellen Haut deutlich abhoben. »Ich habe dir von einem dritten erzählt, das mußt du doch wissen, kleine Mona.« 124
Monas Züge zeigten Furcht bei ihrer Antwort. »Daran erinnere ich mich auch. Nur…« Sie hob ihre Schultern. »Ich habe ihn nicht gesehen. Wirklich nicht.« »Sie waren immer zusammen!« erklärte Barnabas mit seiner tiefen, krat‐ zigen Stimme. »Nicht im Laden!« Rhondas Blick verengte sich noch mehr. Mona kannte diesen Ausdruck. Wenn sie so schaute, stand sie dicht vor einer Explosion, und die endete sehr oft schmerzlich und gemein für den anderen. »Ich hatte dir einen Auf‐ trag gegeben, und du hast ihn nur zur Hälfte erfüllt. Beide hättest du in das Museum locken sollen, wo sie ihr Ende finden werden. Einer nur befindet sich in den Räumen. Der zweite ist dir entwischt. Er könnte uns Ärger be‐ reiten. Ausgerechnet heute will ich keinen. Nicht Stunden vor dem großen Fest und vor unserer Reise nach Voodoo‐Land. Wem habe ich den Fehler zu verdanken? Dir, Mona, dir allein. Dafür wirst du bezahlen, das schwöre ich dir. Barnabas!« Ein Ruck durchlief die kräftige Gestalt. »Herrin?« »Hole die Peitsche!« »Sehr wohl!« Das Mädchen Mona zuckte zusammen, als hätte sie schon jetzt den ersten Schlag erhalten. Sie schaute dem dunkelhäutigen Hunnen nach, wie er auf eine bestimmte Stelle des wandbedeckenden Vorhangs zuschritt, in die Falten faßte und den Stoff zur Seite riß. Durch den dabei entstehenden Luftzug begann die runde Papierlampe an der Decke zu schwanken, wobei sie völlig neue Licht‐ und Schattenflecken schuf. Sie warf ihren Schein auch in die hinter dem Vorhang versteckt gewesene Nische, wo als zentraler Gegenstand und alles andere in den Hintergrund rückend ein schwarzer, offener Sarg seinen Platz gefunden hatte. Ein Mensch lag in ihm. Ein Chinese – Suko! Bleich, regungslos, wie tot. Die beiden Arme lagen steif rechts und links des Körpers. Nichts mehr rührte sich bei ihm. Keine Gesichtsfalte zuckte, der Tod hatte seine Knochenklaue nach ihm ausgestreckt und ihn berührt. Es fehlte nur mehr der letzte Sprung, um den Mann endgültig ins Jenseits zu befördern. Um Suko kümmerte sich Barnabas nicht. Er stieg über den Sarg hinweg 125
und griff nach einer der Peitschen, die an der kahlen Ziegelsteinwand auf‐ gereiht lehnten. »Reicht die?« fragte er, drehte sie um und hielt die dunkle Schlagwaffe hoch. Rhonda Lassalle schaute kurz hin. »Ja, die ist gut.« Sie lachte leise und meinte zu Mona gewandt: »Ich bin heute noch gnädig gestimmt und neh‐ me nicht die stärkste.« Das Mädchen rang die Hände. »Bitte«, flehte es. »Ich… ich konnte nichts dafür.« »Hör auf zu jammern!« unterbrach Rhonda sie hart und stand auf. Bar‐ nabas warf ihr die Peitsche zu. Geschickt fing Rhonda sie auf, faßte den Griff an zwei verschiedenen Stellen an und bog ihn durch, um seine Ge‐ schmeidigkeit zu testen. Zwei harte, mit Knoten bestückte Lederriemen besaß die Peitsche. Sie waren nicht sehr lang, nur knapp übertrafen sie die Länge des Griffs, und Rhonda Lassalle hatte sich diese Waffe ausgesucht, um ihre Untergebene zu bestrafen. Barnabas war an der offenen Nische stehengeblieben, um zuzuschauen, doch die Frau hatte etwas anderes vor. »Ich brauche dich nicht. Geh in das Museum und schau zu, ob Sinclair noch lebt. Wenn ja, schlag ihm den Kopf ab!« »Sehr wohl, Herrin!« Barnabas verbeugte sich vor seiner Drehung und schritt zur Tür. Er besaß trotz seiner Größe und Körperfülle einen ge‐ schmeidigen, beinahe lautlosen Gang. Für Mona hatte er keinen einzigen Blick mehr übrig. Erst als der Leibwächter die Tür hinter sich geschlossen hatte, kam Rhonda zur Sache. Kalt fragte sie: »Willst du dein Kleid ausziehen, oder soll ich den Stoff zerfetzen?« Mona war unfähig, auch nur ein Wort zu erwidern. Sie führte ihre Hände dem Rücken zu, wo sich der Reißverschluß befand. Sie zog ihn nach unten, und das dabei entstehende Geräusch unterbrach als einziges die lastende Stille der Angst. Unter dem Kleid trug sie nur einen dünnen Slip, den sie anlassen konnte. Rhonda nickte. »Du bist gut gewachsen, Mädchen, und für die meisten eine Sünde wert. Was jetzt folgt, hast du dir selbst zuzuschreiben. Noch eines. Höre ich von dir einen Schrei, nehme ich eine andere Peitsche, die 126
härter zuschlägt. Kapiert?« Mona nickte und hielt die Lippen zusammengepreßt. Sie konnte ihre Herrin jetzt in voller Körpergröße erkennen und sah, daß sie tatsächlich diese Lederhose trug. Zudem weiche Stiefel, die fast bis an die Knie reich‐ ten. Sie war tatsächlich der Prototyp einer Herrin. Mona wurde bis an den Schreibtisch dirigiert. Dort mußte sie sich bücken und die Hände auf die Platte stützen. Sie fühlte das Würgen im Hals und konnte nur mühsam einen Laut unterdrücken. Mit unbeweglichem Gesicht stand Rhonda Lassalle neben ihr. Nichts in ihrem Gesicht und an ihrer Haltung wies darauf hin, welche Gefühle sie durchtosten. »Sieben Schläge«, sagte sie leise. »Genau sieben werde ich dir geben, Mo‐ na. Du weißt, daß ich sehr an den früheren Zeiten hänge, und New Orleans war einmal die Hochburg der Sklaverei. Hier fanden die Versteigerungen der Black people statt, und sehr oft wurde die Peitsche dabei eingesetzt, aber härter als heute.« Das letzte Wort hatte sie noch nicht richtig ausgesprochen, als sie bereits ausholte. Diesmal regte sich der untere Teil ihres Gesichts. Die schmalen Lippen verzogen sich sichelförmig und erinnerten an einem blassen Halb‐ mond. Mona hörte noch das Pfeifen des Leders, versuchte abzuschalten und be‐ kam den ersten Hieb… * Selbstverständlich hatte ich mit einer Falle gerechnet, denn kaum jemand öffnet für eine Einzelperson extra ein Museum. Als ich nun bewußt mitbe‐ kam, wie sich der Zombie bewegte, überlief mich ein eigenartiges Gefühl, und ich fragte mich, ob nicht auch die anderen Figuren lebendige Wesen waren. Das mußte ich vorerst dahingestellt sein lassen, jetzt war allein die le‐ bende Leiche vor mir wichtig. Noch steckte sie mit beiden Beinen in der Graberde, die man herbeige‐ schafft hatte, und durch ruckartige Bewegungen wollte sich der Untote von ihr lösen. Ich hatte noch Zeit, darüber nachzudenken, wie ich ihn erledigen sollte. 127
Eine Kugel war am besten, aber auch am lautesten. Den Bumerang schleu‐ dern wollte ich auch nicht, mit den nackten Fäusten schaffte ich einen sol‐ chen Unhold nie, und da blieb eigentlich nur die letzte Möglichkeit. Das an einer Silberkette um meinen Hals hängende geweihte Kreuz. Eine sehr starke magische Waffe, hergestellt von dem Propheten Hesekiel vor einigen tausend Jahren, als sich dieser weise Mann zusammen mit seinem Volk in babylonischer Gefangenschaft befand. Das Kreuz bestand aus Silber. In das Metall waren starke Banner des Gu‐ ten eingraviert worden. Zum Beispiel die Heilige Silbe der Inder, um gegen die Kräfte dieser Mythologie bestehen zu können. Oder das Allsehende Auge, das sich gegen die altägyptische Magie wehrte, aber auch das Hen‐ kelkreuz und die Anfangsbuchstaben der Namen der vier Haupt‐Erzengel, die jeweils an den Enden des Kreuzes ihre Zeichen hinterlassen hatten. Auf diese »Waffe« konnte ich mich hundertprozentig verlassen. Gegen die meisten meiner schwarzmagischen Feinde wirkte sie absolut zerstö‐ rend, und das würde auch bei diesem Zombie so sein. Während ich die Kette bedächtig über den Kopf streifte, ließ ich die Aus‐ geburt der Hölle keine Sekunde aus den Augen. Ich dachte an die Berichte, die ich gelesen, und an den Film, den ich gesehen hatte. Da war von der Division die Rede gewesen. Zombies waren gezeigt worden, die gegen irgendwelche Objekte angingen und wie Kamikaze‐ Flieger sich durch nichts aufhalten ließen. Auch er mußte zu ihnen gehören. Und er kam. Der erste wuchtige Schritt brachte ihn bis an den vorderen Grabrand, wo er für einen Moment stehenblieb, sich schüttelte, so daß die Graberde von seiner zerfetzten Kleidung rieselte. Ich hielt ihm das Kreuz noch nicht ent‐ gegen, hatte die Hände auf dem Rücken versteckt und wollte ihn erst kommen lassen. Er stolperte mit einer ungeschickten Bewegung vor, fast wäre er mir noch entgegengefallen. Nur mit einem schnellen Tritt konnte er sich wieder fan‐ gen, breitete die Arme aus und nahm mich als nächstes Ziel. Dabei kam er mir vor, als wollte er mich umfangen und an seine kalte Leichenbrust drü‐ cken. Das Vergnügen sollte er nicht bekommen. Ich ging einen Schritt nach rechts, wich ihm so aus, drehte mich wieder um, stand vor ihm und hielt 128
mein Kreuz vor sein Gesicht. Er sah es! Ob er sich erschreckte oder nicht, war nicht feststellbar, denn Zombies sind zu menschlichen Reaktionen nicht fähig. Sie wollen nur killen, wie auch diese lebende Leiche. Sie hob den rechten Arm, um von oben her die Faust auf meinen Schädel rasen zu lassen. Damit hatte ich gerechnet. Bevor der Arm noch fallen konnte, kam ich voll durch. Und mit mir das Kreuz! Der harte Stoß traf den Zombie mitten in das teigige Gesicht. Diesmal hörte ich ein Geräusch. Es war ein Zischen, als würde beim Brennen das Fell eines Rindes versengt. Etwas Ähnliches geschah auch hier. Nur hinterließ mein Kreuz einen feuerroten, tiefen Abdruck in der Haut des anderen, wobei an den Rändern Dampf in die Höhe strömte, der widerlich roch. Der Zombie wankte nach hinten, denn ich hatte meine Hand wieder weg‐ gezogen. Dieser eine Kontakt mußte einfach genügen. Er reichte auch. Das Kreuz, von mir nicht einmal aktiviert, erlöste oder erledigte die unto‐ te Gestalt endgültig. Als wäre aus dem Zombie in den letzten Sekunden ein Brett geworden, kippte er steif nach hinten und bewegte sich auch nicht, bevor er auf den Boden schlug. Es war ein harter Schlag, dessen Gegenreaktion ihn noch einmal hochwuchtete, bevor er endgültig liegenblieb. Mit der oberen Hälfte seines Oberkörpers lag er auf der frischen aufgewühlten Graberde, in die seine hintere Schädelhälfte einsank, so daß nur mehr sein Gesicht hervor‐ stach und das in die Haut hineingebrannte Kreuz zeigte. Diese lebende Leiche würde nie mehr wieder aufstehen. Sie war endgül‐ tig tot. Ich steckte das Kreuz in die Tasche, bevor ich ebenfalls eines der beiden Gräber betrat. Natürlich mußte ich damit rechnen, daß auch aus dem zwei‐ ten Grab eine teuflische Gestalt steigen würde. Ich trampelte mit den Füßen auf der Erde herum, spürte keinen weichen Widerstand und ging davon aus daß mit dieser Ruhestätte alles in Ordnung war. Der Zombie hatte mich killen sollen. Es war anders gekommen. Ich fragte 129
mich deshalb, welche Überraschungen das Museum noch für mich besaß. Normalerweise konnte ich bei meinen Feinden immer davon ausgehen, daß sie sich nicht nur doppelt, sondern drei‐ und auch vierfach absicherten. Aus diesem Grunde war ich darauf gefaßt, auch von anderen Gestalten angegriffen zu werden. Ich verließ die Grabstätte und schaute in die Nische, wo Doctor John stand und den Totenschädel auf den Handflächen hielt. Er hatte sich nicht gerührt, und auch in den anderen Nischen zeigte sich nichts verändert. War der Zombie tatsächlich der einzige gewesen? Vor der Wand mit den Voodoo‐Puppen blieb ich stehen und überlegte. Wieder hatte sich Stille über den Raum des Museums gelegt. Bis ich das winzige Geräusch hörte, das mich erschreckte. Es war kein di‐ rekter Schritt gewesen, mehr ein Schaben oder Schleifen, als würde jemand versuchen, seinen Fuß so lautlos wie möglich aufzusetzen. Da schlich noch jemand herum! Ich blieb stehen, denn die Düsternis vor den Nischenrändern schützte mich einigermaßen. Als einige Minuten atemloser Spannung verstrichen waren, hatte sich noch immer nichts getan, und ich beschloß, den Fortlauf der Ereignisse in die eigenen Hände zu nehmen. Viel Zeit besaß ich nicht. Außerdem hatten wir bereits hohen Nachmittag, und wenn es in einigen Stunden dämmerte, wollte ich unbedingt auf dem St. Louis Cemetery sein, von dem Mona, das kleine Biest, mir berichtet hatte. Ein zweitesmal würde ich mich von ihr nicht reinlegen lassen. Mit diesem Vorsatz setzte ich mich in Bewegung. Bisher hatte ich mich nur anhand der ausgestellten Stücke und Dinge orientiert, die sich in mei‐ ner Sichtweite befanden. Zur Decke hin hatte ich so gut wie nie geschaut. Das holte ich nun nach. Dabei fiel mir etwas auf. Vielleicht eine Körperlänge unter ihr befand sich an einer Seite eine Gale‐ rie. Sie besaß ein Geländer mit senkrechten Stützpfosten. Die Tretfläche war zumindest so breit, daß jemand auf ihr laufen konnte. Zur Decke hin wurde der Zwischenraum in düstere Schatten gehüllt, da ihn auch das Licht der Lampen nicht mehr traf. So ein über dem Boden verlaufender Gang eignete sich auch als Versteck. Ich beschloß, ihn im Auge zu behalten. Unangefochten konnte ich mich der 130
Tür nähern. Es glich schon einem kleinen Wunder, und ich atmete auf, um einen Moment später einen wütenden Laut hören zu lassen, denn die Tür war abgeschlossen. Wie hätte es auch anders sein können? Was tun? Natürlich gab es für mich nur eine Möglichkeit. Ich mußte die Tür auf‐ brechen oder das Schloß zerschießen, wobei ich mir dies als letzte Mög‐ lichkeit bewahrte, da ich keine geweihte Silberkugel für solche profanen Dinge opfern wollte. Unter den hier versammelten Waffen würde ich sehr leicht ein Instru‐ ment finden, mit dem ich die Tür auframmen konnte. Eine Lanze oder ei‐ nen Speer. Als Hebel und Ramme waren sie beide zu gebrauchen. Ich machte mich auf die Suche. Was mich warnte, weiß ich nicht. Vielleicht war es der berühmte Sechste Sinn, der mich so vorsichtig werden und in die Höhe schauen ließ. Es war das lange Schwert, das zitterte und plötzlich fiel. Mit der Spitze raste es nach unten. Der Zufall wollte es, daß ich genau in seiner Fallrichtung stand, und ich mußte mich innerhalb einer winzigen Zeitspanne für eine Reaktion ent‐ scheiden. Aus dem Stand schaffte mich ein Sprung rückwärts weg. Ich prallte zu Boden und hörte im gleichen Augenblick das dumpfe Geräusch, mit dem die Schwertspitze in den Untergrund jagte, in den die Klinge so weit ein‐ drückte, daß sie zitternd steckenblieb. Das sah ich im Aufspringen. Und noch mehr nahm ich wahr. Es war die Gestalt eines riesenhaften Schwarzen, der mit einem mächti‐ gen Sprung über das Geländer der Galerie hinwegsetzte, dem Boden ent‐ gegenflog und dabei seinen Zylinder verlor. Nicht weit von mir entfernt kam er auf, schnellte sofort hoch, und ich umklammerte mit beiden Händen den Griff des im Boden steckenden Voodoo‐Schwertes… * Die Insel lag dort, wo Delphinrudel mit tanzenden und geschmeidigen 131
Sprüngen aus der graublauen See stachen und zur Freude mancher Passa‐ giere ihre Tänze aufführten. In der Tiefe lauerten die Haie, und bis zur nächsten langgestreckten Insel, dem Petit Bois Island, waren es mehr als fünf Meilen. Sie konnte man nur bei klarem und gutem Wetter sehen. Das wollten diejenigen überhaupt nicht, die das einsame Eiland am Ran‐ de des Golfs von Mexiko bevölkerten. Ihre Insel durfte kein Fremder betre‐ ten, es sei denn, er war ein Selbstmörder oder Lebensmüder. Dieses grüne, dichtbewachsene, aus dem Meer stechende Terrain befand sich in Privatbe‐ sitz, und es gehörte dem Mann, der der Insel auch den Namen Voodoo‐ Land gegeben hatte. D. C! Hier war sein Reich. Auf dieser Insel führte er seine magischen Beschwö‐ rungen durch, rief er die Geister der Hölle an, kokettierte er mit dem Teufel und frönte finstersten schwarzmagischen Riten. Keinen besseren Platz hätte er für seine Zombies finden können, die er allein unter ständiger Kontrolle behielt, denn es gab kaum eine Stelle der Insel, die nicht elektronisch überwacht wurde. Magie und Technik! Zwei Dinge, vom Prinzip her wie Feuer und Wasser, hatte D. C. zu sei‐ nem eigenen Nutzen vereinigt. Seine Zentrale, sein Kommandostand lag unter der Erde. Bunkerhaft ausgebaut, mit rampenartigen Zufahrtsstraßen, die selbst von einem tief fliegenden Hubschrauber kaum entdeckt werden konnten, da der grüne Dschungel sie deckte. Über 50 Prozent der Insel waren feuchter Moorboden. Zu vergleichen mit den Everglades in Florida. Wer nicht achtgab und in bestimmte Gegenden geriet, wurde von der Erde verschluckt, die eine Leiche nie mehr wieder hergeben wollte. Es war eine Eigenheit der Insel, daß sie ständig unter einem feinen Dunstschleier lag. In den Morgenstunden wurde er sogar zu einem dichten Nebel, der eine Sicht auf das Eiland völlig versperrte. Es schien so zu sein, als hielte der Teufel persönlich seine schützende Hand über dieses Stück Erde, damit kein Fremder es betreten konnte. Der Staat Louisiana hatte sich mal für diese Insel interessiert. Dann war plötzlich jemand aufgetaucht, der sie kaufen wollte. Der gesamte Vertrag wurde über ein Anwaltsbüro abgewickelt, so daß der wahre Käufer über‐ 132
haupt nicht ins Rampenlicht zu treten brauchte. Der Anwalt hatte nur ver‐ sichern müssen, daß sein Mandant den amerikanischen Interessen positiv gegenüberstand. Natürlich hatte man in den ersten beiden Jahren nach dem Käufer ge‐ fahndet. Das war auch D. C. klar gewesen. So hatte er sich die Legende von einem stinkreichen, spleenigen Engländer aufgebaut, der irgendwann ein‐ mal sein Schloß aus seiner Heimat zu dieser kleinen Insel transportieren wollte. In der Tat hatte es Transporte gegeben. Amerikanische Behörden waren, obwohl es nicht zu sein brauchte, zuvor um Erlaubnis gebeten worden. D. C. hatte den Freischein stets bekommen. Er wußte genau, wie man Beam‐ ten schmeichelte. Und er hatte seine Armee aufgebaut. Er kannte die alten Riten, die Be‐ schwörungen, um Tote aus der Erde klettern zu lassen. Von vielen Friedhö‐ fen hatte er sie sich geholt und bei Nacht und Nebel auf seine Insel schaffen lassen, wo er sie, falls sie es noch nicht waren, zu einem seelenlosen Leben erweckte. Das alles hatte Geld gekostet. Erst Jahre später konnte D. C. darangehen, dieses Geld wieder hereinzuholen. Und nun liefen die Aufträge. Es waren Konzerne, die sich an ihn wandten, auch Privatleute. Diktatoren und Generäle, die unliebsame Konkurrenten aus dem Weg haben wollten, Südafrikaner ebenfalls, und sogar aus dem Ostblock hatte er einen Auftrag bekommen. Die Geheimdienste schliefen nicht. Sie wußten inzwischen von der Divi‐ sion, aber es gab keine Zeugen. Die Truppen, die D. C. in den Kampf schickte, waren Zombies, die nicht reden konnten und nur töten wollten. Wenn sie erwischt wurden, schoß man ihnen in die Köpfe und erledigte sie endgültig. Über sie jedoch ließ sich niemals ein Weg zurück zum Auftrag‐ geber finden. Die Helfer hatten einfach zu lange in den kühlen Gräbern gelegen und waren dort zum Teil vermodert. Die Geheimdienste wußten zwar Bescheid, nur ließen sie nichts an die Öffentlichkeit dringen. Die Berichte der zuständigen Abteilungsleiter lagen wohlverwahrt in den unterirdischen und einbruchsicheren Panzerschrän‐ ken des Pentagon. Und auch an anderen Gründen war es dem geheimnisvollen D. C. gelun‐ gen, seine Fäden noch weiter und länger zu ziehen. Nun war alles perfekt. 133
Er hatte die Verluste ausgleichen können, neue Zombies würden entstehen oder standen schon bereit, um sich in für Menschen lebensgefährliche Auf‐ träge zu stürzen. Aus dem Meer schaute die Insel hervor wie ein kleiner grüner Hügel. Wer sie überflog, achtete kaum auf sie, aber sie machte sich »bemerkbar«. Es war das leise Trommeln, das irgendwann in den Nachmittagsstunden anfing. Zuerst schlugen nur wenige Hände auf die Felle, es wurden mehr, und es blieben so viele, daß diese dumpfen Laute wie ein nie abreißender Geräuschvorhang über der Insel lagen und die Untermalung für die große Stunde X bringen sollten, die immer näher rückte. Hin und wieder strich ein warmer Windhauch über das Eiland. Dann durchwühlte er die Kronen der exotischen Gewächse oder schleuderte noch höhere Schaumkämme gegen die felsigen Uferstreifen an der Südsei‐ te. D. C. war zufrieden. Er hockte in seiner unterirdischen Anlage, schaute auf die Monitore, die ihm Bilder von der Insel übertrugen und ihm eine Ruhe vor dem Sturm zeigten. Vor kurzem noch hatte er Verbindung mit New Orleans gehabt und er‐ fahren, daß dieser Mann aus England eingetroffen war. Seinen Freund hatten sie schon aus dem Verkehr ziehen können. D. C. war sicher, daß es Sinclair ebenfalls nicht schaffte, einen Fuß auf Voodoo‐Land zu setzen… In seinen dunklen Augen lag ein lauernder Ausdruck. Zwischen den Lippen hing eine sehr dünne und flach wirkende Zigarette von deren Spit‐ ze ein ungewöhnlich duftender Qualm in die Höhe stieg und erst dicht über dem Kopf zerflatterte. Der Schwarze rauchte Marihuana, aber das regte hier keinen besonders auf. Es gehörte mittlerweile zur Tagesordnung. Er war aus dem Laden gekommen, hatte Mona hochgeschickt, neue Ker‐ zen besorgt und seinen Platz vor dem Voodoo‐Shop eingenommen, um weiterhin zu verkaufen. Es herrschte Betrieb, dennoch fiel dem Neger hin und wieder ein blond‐ haariger Mann mit dunkler Sonnenbrille auf, der sich in der unmittelbaren Nähe des Geschäfts herumtrieb. Der wollte etwas. Das führte den Verkäufer zu gewissen Überlegungen, die für den ande‐ ren gar nicht gut aussahen. 134
Der Mann, der auf den Namen Bayonne hörte, wurde immer mißtraui‐ scher. Er dachte daran, daß dieser andere Typ mit den blonden Haaren nicht allein gewesen war. Das zumindest hatte man ihm gesagt. Als Ein‐ zelperson war er in den Laden gekommen, und nun strich ein zweiter um das Geschäft herum wie eine Katze um ihr Fressen. Das mußte etwas zu bedeuten haben. Bayonne hatte Glück im Unglück, denn ein Freund kam vorbei. Ihn winkte er heran. »Du kannst etwas für mich tun.« Der andere schob seinen Strohhut in den Nacken. »Umsonst?« »Nein.« »Wieviel?« »Das kommt auf die Zeit an.« »Okay, wen soll ich auseinandernehmen?« »Keinen.« »Schade.« Der andere wollte gehen, doch Bayonne reagierte schneller und hielt ihn am Arm fest. »Bleib hier. Dein Fest wirst du erleben. Es dauert nicht lange. Höchstens eine halbe Stunde. Du brauchst mich nur zu vertreten und das Zeug hier draußen zu verkaufen.« »Ist das alles?« »Sicher.« »Ich mache es. Fünf Dollar.« Bayonne verzog das Gesicht. Dieser Kerl war geldgierig, das hatte er ge‐ wußt, doch er befand sich in einer Zwickmühle. Tat er nichts und lief etwas schief, würde es ihm an den Kragen gehen. Dann lieber die fünf Dollar zahlen. »Warte einen Augenblick.« »Aber nicht zu lange, Bruder.« »Nein, nein.« Bayonne winkte ihm, drehte sich an zwei Kunden vorbei und tauchte in den Laden, wo er sofort den direkten Weg zur Kasse an‐ steuerte. Die Kassiererin bediente ebenfalls. Eine kitschige Heiligenfigur verkaufte sie, hatte die Kasse offen und zählte Wechselgeld ab. Zwischen ihren Händen griffen die Finger des Schwarzen zielsicher nach einer Fünf‐ Dollar‐Note. Bevor Sally protestieren konnte, hörte sie die geflüsterten Worte an ihrem linken Ohr und nickte schließlich. 135
»Bis gleich dann«, sagte Bayonne. »Laß mich nur nicht zu lange allein.« »Nein, nein.« Er ging wieder zu seinem Kumpel zurück, der schon Ker‐ zen verkauft hatte. »Und?« »Hier ist der Schein.« Bayonne stopfte ihn dem anderen in den Hemd‐ ausschnitt. »Wenn du wechseln mußt, nimmst du diese Kasse.« Er bückte sich und hob eine Metallkassette hoch, die unter einem Verkaufstisch ge‐ standen hatte. »Hüte dich nur, mehr rauszunehmen als reingekommen ist. Wir würden es erfahren, und dann garantiere ich für nichts.« Der neue Verkäufer breitete die Arme aus. »Bin ich denn kein ehrlicher Mensch?« »Nein, dazu kenne ich dich einfach zu lange.« »Ashole«, erwiderte der Neue und streckte Bayonne gleichzeitig die Zunge heraus. Der kümmerte sich weder um den Kraftausdruck noch um die Gestik, für ihn war der Blonde wichtiger. Dieser Mann mußte einfach gefunden wer‐ den. Daß er etwas im Schilde führte, spürte Bayonne. Er besaß für diese Dinge gewisse Antennen. Schon bei der ersten Begegnung war es ihm ge‐ wesen, als wären zwei verschiedene Pole aufeinander getroffen. Leider hielt er sich momentan zu gut versteckt, und Bayonne wurde ein wenig nervös, weil er ihn nicht so rasch entdeckte. Das merkte auch Sally an der Kasse. »Was hast du?« »Nichts.« »Du suchst was?« »Ja.« »Kann ich dir helfen?« Bayonne schaute in Sallys breitflächiges Gesicht. Er wollte schon ableh‐ nen, als ihm einfiel, daß die Kassenfee eventuell doch etwas gesehen haben könnte. Er beugte sich vor und stemmte eine Hand auf die Theke, wobei er Sally anschaute. »Ja, Süße, vielleicht kannst du mir sogar helfen. Ich suche einen Mann.« »Ich auch.« Ärgerlich wischte Bayonne durch die Luft. »Mach hier keine Scherze, Sal‐ ly, ich suche ihn wirklich, verstehst du? Das ist kein Spaß.« »Schon gut.« Sally drückte sich gegen die Wand und verschränkte ihre 136
Arme unter dem blaßblauen T‐Shirt. »Kannst du ihn mir beschreiben? War er hier im Laden?« Der andere drehte den Kopf, während er sprach. »Ja, er muß einige Male hier gewesen sein. Draußen habe ich ihn gesehen. Das war so ein Blonder mit einer Sonnenbrille. Seine Kleidung war nicht gerade sauber.« Der Schwarze schnippte mit den Fingern. »Außerdem trug er einen Verband um sein rechtes Handgelenk gewickelt.« »Einen Verband?« Sally wiederholte murmelnd. »Ja, du, den habe ich ge‐ sehen.« »Wo und wann?« »Im Laden.« »Kannst du eine genaue Zeit nennen? Ist es vor zwei Minuten passiert oder vor zehn?« Sally hob die Schultern. »Darauf habe ich nicht geachtet. Aber ich sah ihn hereinkommen, weißt du.« »Was tat er? Wo ging er hin? Verdammt, rede, laß dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.« Er wollte nach ihr greifen, Sally schlug ihm auf die Finger. Eine Kundin, die an die Kasse wollte, ging erschreckt wieder zu‐ rück. »Das ist noch gar nicht lange her. Der Typ fiel mir auf, weil er mich so komisch anschaute. Irgendwie prüfend. Ich hatte auch das Gefühl, als woll‐ te er mir etwas sagen…« »Er sprach dich nicht an?« »Nein, er ging weiter.« »Nach draußen?« Bayonne ärgerte sich darüber, daß Sally so schwerfällig reagierte. Sie gehörte nicht zu den intelligentesten Menschen, man mußte ihr hin und wieder einen zugeben und sich mit ihrer Art abfinden. »Das weiß ich nicht genau.« Bayonne verdrehte die Augen. »Überlege genau. Es hängt viel von deiner Aussage ab.« Seine Stimme wurde leiser. »Vielleicht sogar dein Leben, Süße.« Sally erschrak. »Du… du… machst…« »Keine Scherze, Sally. Wo ist er hingegangen?« Die Kassiererin wischte über ihr Gesicht und kratzte an der Stirn. »Wenn du mich so fragst, ich glaube nicht, daß er den Laden verlassen hat. Der ist noch hier.« 137
»Gut, Sally, gut.« Bayonne streckte seinen Arm aus und tätschelte Sallys linke Wange. »Bist ein braves Mädchen. Irgendwann bumse ich dich noch mal zur Belohnung.« »Danke, darauf verzichte ich.« »Kann ich endlich bezahlen?« fragte jemand. Bayonne drehte sich um. »Sicher, Mann, sicher. Du und deine Mutter können endlich ran. Aber kauft schön.« Mit diesen Worten drehte sich Bayonne ab und verschwand in der Tiefe des Ladens. Er fühlte sich in Hochform. Die »Zigarette« hatte dafür gesorgt. Er war richtiggehend heiß geworden, ebenso wie seine Klinge. Wenn ihm der Typ über den Weg lief, würde er ihn fertigmachen. Alles konnten sie hier gebrauchen, nur keinen Schnüffler. Die waren einfach widerlich. Sehr leise bewegte er sich. Seine Augen waren überall. Er sah die Kun‐ den, hörte ihren leisen Gespräche zu, schaute in Winkel, Nischen und hin‐ ter Regale, den Weißen entdeckte er nicht. In Luft konnte er sich nicht aufgelöst haben, er mußte einfach gefunden werden. Bayonne dachte daran, daß es in diesem Haus einige Dinge gab, die nicht für alle Augen bestimmt waren. Wenn der Fremde etwas entdeck‐ te und mit seinem Wissen zu den scharfen Bullen rannte, konnte das für alle sehr unangenehm enden. Im Shop fand er ihn nicht. Blieb die Möglich‐ keit, daß Sally sich geirrt hatte. Sie war nicht gerade geistig beweglich. Kassieren konnte sie, mehr nicht. Oder hatte der andere schon einige Dinge, die ihn überhaupt nichts an‐ gehen, entdeckt? War das der Fall, mußte sehr schnell gehandelt werden. Bayonne kannte den Weg zum Büro. Dort wollte er noch nachschauen. Es war gewissermaßen die letzte Möglichkeit für ihn, den Blonden mit der Sonnenbrille zu treffen. Vor der Tür blieb er stehen und lauschte. Es tat sich nichts dahinter. Kei‐ nerlei verdächtige Geräusche waren zu vernehmen Wenn sich der Mann im Büro aufhielt, bewegte er sich sehr leise. Bevor Bayonne das Büro betrat, schaute er noch einmal zurück – und sah den Blonden. Er hatte in der Deckung eines Regals gestanden und zudem dicht neben der Wand. Als er hervortrat und auf Bayonne zukam, wußte dieser sofort, daß der andere auf ihn gewartet und sich einen sehr günstigen Moment ausgesucht hatte. 138
Sie befanden sich allein in diesem Teil des Ladens. Die Kunden kauften weiter vorn. Für diese Ecke interessierte sich niemand. Fred Diamond schlenderte näher. Er kannte Bayonne nicht. Irgendwie hatte er trotzdem das Gefühl, genau den richtigen gefunden zu haben, denn Fred sorgte sich um John Sinclair. Der Mann aus England hätte längst zurücksein müssen, und auch das Mädchen, mit dem er John zuletzt gese‐ hen hatte, war nicht mehr aufzufinden. Der Schwarze gehörte auch zum Personal, ihn wollte er nach dem Girl fragen. Lauernd schaute Bayonne dem Agenten entgegen. Er spürte, daß der an‐ dere etwas von ihm wollte, deshalb hielt er sich zunächst einmal zurück und sagte nichts. Fred nickte. »Ich suche jemand«, sagte er. »Ja und?« »Du bist doch hier angestellt.« »Klar.« »Dann kannst du mir sagen, wo ich die Kleine mit den rosarot gefärbten Haaren finde.« »Was willst du von Mona?« »Wenn sie so heißt, bin ich genau richtig. Das kann ich dir leider nicht sagen.« »Hör zu, Mann. Wenn du sie bumsen willst, laß dir gesagt sein, daß sie es nicht mit jedem treibt. Vor allen Dingen nicht mit Weißen. Hast du ver‐ standen?« »Du hast laut genug gesprochen. Trotzdem würde es mich interessieren. Ich will nicht mit ihr auf die Matratze.« »Mona geht dich nichts an.« »Vielleicht. Ich sah sie nur mit einem Freund von mir zusammen. Die beiden schienen sich sehr gut zu unterhalten. Das war hier im Laden. Mein Freund besitzt blonde Haare so wie ich.« »Ein Kunde…« »So sah es aus«, erwiderte der Agent. »Aber es braucht nicht zu sein. Ich suche ihn.« »Dann mach mal weiter.« »So einfach ist das nicht, mein Lieber. Ich will ihn finden, hast du ver‐ standen?« »Der hat den Laden hier längst verlassen!« 139
Diamond wollte das nun wieder nicht glauben. Er ließ sich nicht gern auf den Arm nehmen, ging noch einen Schritt vor, und im nächsten Moment wunderte sich der Schwarze, wie schnell dieser Typ vor ihm trotz seines verletzten Armes reagieren konnte. Die rechte Hand schoß vor. Bayonne wurde plötzlich die Luft knapp, als ihn der andere am Hals faßte und den Hemdstoff zusammendrehte. Er drückte den Mann dabei nach hinten und nickte zweimal. »So, Junge, jetzt wirst du mir erzählen, wo er tatsächlich steckt. Klar?« Hart preßte Diamond Bayonne gegen die Bürotür. Der Schwarze stieß scharf seinen Atem aus. »Ich suche ihn doch auch, verdammt!« Bevor Bayonne merkte, welchen Fehler er begangen hatte, fing der ande‐ re an zu lachen. »Gut, mein Junge, sehr gut. Das wollte ich nur wissen. Du suchst ihn also auch. Und weshalb?« »Nichts, gar nichts«, ächzte Bayonne. »Ich habe mich nur versprochen, ehrlich.« »Komm, rede. Weshalb suchst du ihn? Sag mir den Grund, damit ich mit dir meine Spielchen machen kann. Kennst du meine Spielchen? Sie sind nur etwas für Erwachsene…« Der Neger war rot im Gesicht geworden. Er atmete heftig, doch die Luft wurde ihm knapper, da Diamond einen Daumen abgespreizt hatte und ihn an eine bestimmte Stelle am Hals des Mannes drückte, so daß dessen Atem immer kürzer wurde. »Ich kann auch weitermachen!« flüsterte Fred. »Das beherrsche ich. Man lernt so etwas.« »Hör auf!« ächzte Bayonne. »Wo finde ich ihn?« »Keine Ahnung. Ich… ich habe ihn selbst gesucht.« Fred ließ den Schwarzen los. Zu weit durfte er es nicht treiben. Er benö‐ tigte den anderen noch. Bayonne hatte Mühe, sich auf den Beinen zu hal‐ ten, seine Knie waren weich geworden, er schüttelte sich, holte tief Luft und sah so aus, als müßte er sich jeden Augenblick übergeben. Schließlich blieb er hocken und schaute den vor ihm stehenden Agent aus großen Au‐ gen fragend an. »So ist das«, sagte Fred. »Wer nicht will, der hat schon. Es geht gleich weiter mit uns.« Bayonne saß jetzt auf dem Boden. »Moment, Mann, sei doch nicht so 140
stur.« »Das bist du.« »Es kommt dir nur so vor. Ich weiß wirklich nicht, wo dein Partner steckt. Ich wollte ihn auch suchen.« Diamond ging nicht weiter darauf ein. »All right, dann machen wir wei‐ ter. Diesmal zusammen, klar?« »Einverstanden.« Bayonne quälte sich wieder auf die Beine, und Fred ließ ihn gewähren. Das war ein Fehler. Es passierte nicht oft, daß er einen Men‐ schen unterschätzte, bei diesem schmalen, drahtigen Neger hatte er es ge‐ tan, und das sollte sich rächen. Bayonne wurde zu einer menschlichen Rakete. Fred kam nicht mehr weg, er mußte den Kopfstoß des anderen voll nehmen. In seinen Magen rammte der Schädel, und er hatte plötzlich das Gefühl, von den Hüften abwärts in Flammen zu stehen. Seine Knie gaben nach. Er wollte sich irgendwo fest‐ halten, griff ins Leere und kassierte den nächsten Hieb, diesmal federnd mit der Handkante geschlagen. Polternd landete Fred am Boden. Auf der Seite blieb er liegen, seine Hände hatte er gegen die schmerzende Stelle im Unterleib gepreßt, das Gesicht war verzerrt, und er hatte das Gefühl, in der Luft zu schweben und gleichzeitig nur die Schmerzen zu spüren. Diamond war groggy. Er konnte nichts daran ändern, daß Bayonne in eine fieberhafte Hektik verfiel. Es war ihm gelungen, einen gefährlichen Gegner vorerst auszu‐ schalten, nur wollte er ihn nicht hier im Geschäft liegenlassen. Das kleine Büro bot sich für weitere Aktivitäten geradezu an. Hastig öffnete er die Tür. Von den Kunden war nichts bemerkt worden, zudem lag die Ecke hier ziemlich versteckt. Bayonne durfte sich nicht zu‐ viel Zeit lassen, er schleifte den anderen über die Schwelle, trat die Tür wieder zu und ließ den Agenten auf dem Rücken liegen, bevor er sich über ihn beugte und mit flinken Händen von oben bis unten abtastete. Ein flüchtiges Lächeln huschte über das Gesicht des Schwarzen, als er den schweren Revolver fand und in seinen Gürtel steckte. Mit dieser Waffe konnte man Krokodile durchlöchern, und er freute sich schon auf die Au‐ gen, die der andere machen würde, wenn er in das Loch der Mündung starrte. Bayonne holte sich einen Stuhl heran. Gelassen setzte er sich hin, wäh‐ 141
rend er die Treppe hinaufschielte, von oben aber nichts hörte und sich frag‐ te, was dort wohl vorging. Diamond ging es nicht gut. Er hatte Schwierigkeiten, Luft zu bekommen, sein Mund stand offen, manchmal lief ein Zucken über seine Wangen, im‐ mer dann, wenn er die Beine krümmte. Trotz der Schmerzen wußte Fred genau, was um ihn herum vorging. Er hatte alles ziemlich deutlich mitbekommen, und er machte sich selbst die größten Vorwürfe. In den Markthallen war er den verdammten Killern entkommen, auch später im Keller, aber hier hatte man ihn erwischt, und das ärgerte ihn ge‐ waltig. Wenn er nicht achtgab und ihm nicht etwas einfiel, durchlöcherte der Kerl ihn mit der eigenen Waffe. »Reiß dich zusammen!« hörte der die Stimme des Schwarzen. »Verdammt!« keuchte Fred. »Du hast mich erwischt.« »Weiß ich. Deine Schuld.« Der Neger grinste breit und schielte über den Revolverlauf auf seinen Feind. »So etwas hast du dir selbst zuzuschreiben, und es kommt auch auf dich an, was ich mit dir machen werde. Ob ich dich schnell erschieße oder langsam, das liegt alles in deiner Hand.« Diamond winkelte die Arme an und drückte beide Ellenbogen gegen den Boden. Mühsam stemmte er sich etwas höher, damit er seinen Gegner an‐ sehen konnte. Der gab sich ungemein sicher. Aus der Nähe betrachtet sah der Revolver noch größer aus. Hinter dieser Kanone entdeckte Fred das Gesicht des Schwarzen. Es kam ihm vor wie eine breiige Fläche, in die jemand zwei hellere Kreise, die Augen, hineingedrückt hatte. Die breiten Lippen schimmerten rosig und waren zu einem Lächeln verzogen. »Ich warte nicht mehr lange«, flüsterte Bayonne. »Ich will von dir endlich wissen, was du hier wolltest.« »Ich habe meinen Freund gesucht.« »Wen?« »John heißt er.« »Aber du hast ihn nicht gefunden?« »Nein.« Bayonne nickte. »Das kann ich mir vorstellen. Er war da, und er hat sich unbeliebt gemacht. Mona nahm sich seiner an und führte ihn in das Muse‐ um. Er wollte es unbedingt kennenlernen, dieser Idiot. Jetzt ist er es selbst 142
schuld, daß…« »Was ist er schuld?« Bayonne gab keine direkte Antwort. »Dieses Voodoo‐Museum ist etwas Besonderes. Wir haben Sicherheiten eingebaut gegen Neugierige. Wer einmal in seinen Mauern ist, kann etwas erleben. Der spürt den Geist der Toten, der sich dort ausgebreitet hast. Kannst du nicht verstehen, wie?« »Soll das heißen, daß John nicht mehr lebt?« Bayonne nickte gelassen. »So sehe ich das in der Tat. Meiner Ansicht nach hat man ihn erledigt. Es gibt da verschiedene Möglichkeiten. Man kann ihn durchbohren oder…« »Es reicht, Mann…« Bayonne lachte hoch und schrill. »Keine Nerven, wie?« »Doch, aber nicht in diesem Fall. Ich will nicht mit dir reden, sondern mit deinem Boß.« Der Schwarze beugte sich vor. »Ach, meinst du? Und wenn ich gar kei‐ nen Boß habe?« Fred ließ sich wieder zurücksinken. »Tu nicht so, als wärst du der Chef. Hier muß es jemand geben, der das Format hat, eine Sache in die Hand zu nehmen und durchzuziehen. Du jedenfalls hast es nicht, das kann ich dir ansehen.« Bayonne verzog das Gesicht, er ballte eine Hand, es war die linke, in der rechten behielt er die Waffe. »Du hast ein zu großes Maul, weißt du das, Hundesohn?« »Ich sage nur die Wahrheit.« »Dann zeig mir doch mal meinen Boß?« »Ja, laß mich aufstehen.« »Nein!« Der Schwarze sprang in die Höhe. »Das will ich nicht, ver‐ dammt. Du bleibst liegen, bis ich dir die Kugel in deinen Balg jage. Wir hassen Schnüffler.« »Stammt das von dir, oder hat dir das die Division vorgesagt?« Es war eine lässig ausgesprochene Bemerkung, die ihre Wirkung nicht verfehlte, denn Bayonne zuckte zusammen. »Division?« fragte er. »Wie kommst du darauf?« »Das sage ich deinem Boß.« Bayonne war unsicher geworden. Er bezeichnete sich selbst nur als ein kleines Rädchen im Getriebe. Von der Division hatte er natürlich gehört 143
und auch von einem geheimnisvollen Mann, der sie leiten sollte. Wer aller‐ dings genau dahintersteckte, wußte er auch nicht zu sagen. Er schüttelte den Kopf. »Also?« fragte Fred. »Bringst du mich zu deinem Chef? Ich an deiner Stelle würde es tun. Wenn du mich jetzt killst, hast du nichts gewonnen. Niemand wird etwas glauben. Außerdem weißt du nicht, ob ich meine Informationen nicht schon weitergegeben habe. Das sind alles sehr unwäg‐ bare Dinge, die da auf dich zukommen. Du könntest ganz schön in die Scheiße fallen und darin ersticken…« »Halt’s Maul!« »War nur ein Vorschlag!« Bayonne überlegte. Es war seinem Gesicht anzusehen. Irgendwie hatte ihn die Lage überfordert. Er wußte nicht genau, wie er sich verhalten sollte. Der andere konnte geblufft haben, das brauchte er aber nicht. Wenn er tatsächlich Informationen weitergegeben hatte, sah es für ihn nicht gut aus, falls Rhonda Lassalle durch einen Zufall etwas davon erfahren sollte. Es war unter Umständen besser, auf den Vorschlag des Typs einzugehen. »Hast du dich entschieden?« fragte Fred. Er bewies auch in dieser Lage Nervenstärke. »Hör auf.« »Überlege nicht zu lange. Denk daran, der Abend ist schneller da, als du annimmst. Dann geht es los. Die Nacht der Nächte, die Zeit des Voodoo. Du mußt noch deine komischen Kerzen anzünden.« Bayonne zitterte vor Wut. Er wollte es nicht zugeben, aber der andere hatte in der Tat die Führung des Gesprächs übernommen. »Okay, Mann«, flüsterte Bayonne. »Okay, ich werde dir den Gefallen tun. Du sollst den Boß sprechen.« »Endlich wirst du vernünftig.« Bayonne ging zum Schreibtisch, ohne den Agenten aus den Augen zu lassen. Am Rand der Platte war ein Alarmknopf angebracht worden. Wenn er ihn drückte, ertönte im Raum in der ersten Etage ein akustisches Signal, und Rhonda Lassalle wußte Bescheid, daß sie eine Etage tiefer gebraucht wurde. So weit kam es nicht. Vom Ende der Wendeltreppe her klangen Schritte auf. Bayonne kannte sie genau. Er wußte, daß er nicht mehr zu drücken brauchte, denn Rhonda Lassalle erschien. 144
Zuerst waren nur ihre langen Beine zu sehen, wenig später auch der O‐ berkörper und schließlich der Kopf mit dem blonden Haar und dem schwarzen Stirnband, das auf seiner Vorderseite den kleinen Totenschädel zeigte. So etwas wie ein Markenzeichen für dieses Weib. Auch Fred hatte die Schritte vernommen und den Kopf nach links ge‐ dreht, damit er zur Treppe schauen konnte. Er sah die Frau zum erstenmal. Nur gehört hatte er von ihr. Das mußte einfach die Voodoo‐Königin sein. Einen Beweis für seine Annahme hatte er nicht bekommen, er sah nur, wie sie daherschritt, den Kopf stolz und hoch‐ erhoben, den kalten Blick ihrer Augen völlig unter Kontrolle haltend und auf Bayonne gerichtet. Der war plötzlich nervös geworden. »Ich… ich habe ihn endlich«, keuch‐ te er. Sie erwiderte vorerst nichts, ließ die Treppe hinter sich und blieb vor der ersten Stufen stehen. In der rechten Hand hielt sie eine Peitsche. Mit den beiden Riemen klatschte sie leicht gegen die Außenseite ihres Stiefel. Eine Geste der Ungeduld. »Wen hast du?« »Den Freund von dem anderen!« Die Frau nickte. »Gut gemacht, Bayonne. Besser als Mona.« Der Schwarze grinste über das Lob. Er fühlte sich innerlich aufgebaut und dreimal so groß wie noch vor wenigen Minuten. Die Lassalle schritt auf Diamond zu. Dicht neben ihm verhielt sie ihren Schritt, senkte den Blick und fragte mit einer sehr leisen Stimme: »Wer bist du?« »Jemand, der einem Verrückten in die Hände gefallen ist, Madam.« Rhonda konnte über diese Antwort nicht einmal grinsen. Sie hob nur die Peitsche an, und Fred rechnete damit, die beiden Riemen durch das Gesicht gezogen zu bekommen; das trat zum Glück nicht ein, obwohl sie ihn be‐ rührten, denn die Blonde ließ die Peitschenschnüre nach unten sinken, so daß sie die Haut des Mannes streichelten. Dazu gab Rhonda den Kommentar: »Sie können streicheln und vernich‐ ten«, sagte sie mit einer unbeteiligt klingenden Stimme. »Es liegt allein in deiner Hand, wie sie reagieren sollen. Klar?« »Sicher.« »Noch mal. Wer bist du?« 145
»Fred.« »Ich mag den Namen nicht.« »Geschmacksache.« »Und was willst du hier?« »Ich suche einen Freund.« »Sinclair?« »Richtig.« Rhonda Lassalle blieb gelassen. Sie faßte nur zusammen. »Dann bildet ihr beiden ein Team.« Sie nickte sich selbst zu. »Einer von euch lebt wohl nicht mehr, und da ihr den Teamgeist so schätzt, ist es nur eine logische Folge, daß du deinem Freund ins Jenseits folgst.« Sie hatte das Todesurteil lässig gesprochen, dieser Frau war es egal, ob sie über Mode redete oder den Tod anderer Menschen befahl. Allein der Erfolg zählte. Sie wollte auch nichts mehr weiter wissen, wechselte ihre Blickrichtung und schaute Bayonne an. »Steht mein Wagen eigentlich bereit?« »Jawohl, Herrin!« »Das ist gut. Ich werde fahren; ihr wißt, was ihr zu tun habt.« »Sicher.« Der Schwarze kam einen Schritt näher. »Aber was ist mit ihm? Was soll ich mit ihm machen?« »Erschießen, was sonst?« Wieder hatte sie die Antwort lässig gegeben. Von beiden Männern war sie gehört worden. Während der Schwarze automatisch nickte, spürte Di‐ amond den Stich in der Brust. Es war ein Zeichen der Furcht. Als die Frau hereingekommen war, hatte er sich noch eine hauchdünne Chance ausge‐ malt, die war jetzt verschwunden. Indirekt kam ihm Bayonne zu Hilfe. »Er sagte mir noch, daß er einiges weiß, Herrin.« Rhonda blieb stehen. Die Tür hatte sie schon fast erreicht. »So? Was weiß er denn?« »Das wollte er nur dir sagen.« Die Frau grinste lässig. »Versuchst du es mit einem Bluff, Mann?« »Das habe ich nicht nötig.« Sie hob die Augenbrauen. »Was willst du denn wissen?« »So einiges«, gab Fred zu. »Die Division ist nicht mehr unbekannt, meine Teure.« »Tatsächlich?« 146
»Aber sicher. Wenn man Filme oder Video‐Bänder als Reklame für sich verwendet, muß man immer damit rechnen, daß sie in die falschen Hände gelangen. So etwas ist natürlich.« »Das wußten wir bereits. Man hat ja euch geschickt. Nur wird es nicht reichen. Nicht zwei Leute, nicht drei, nicht eine ganze Armee. Wir sind einfach zu stark.« »Nicht allein wir wissen Bescheid. Andere sind ebenfalls informiert, und die werden euch zeigen, wo es langgeht. Ihr könnt euch nicht gegen die geballte Macht der Geheimdienste stellen. Das geht ins Auge. Ihr seid erle‐ digt, bevor ihr erst angefangen habt. Glaubt es mir.« Ihre Reaktion war nur mehr ein Achselzucken. »Ich kenne solche Sprü‐ che, sie stören mich nicht weiter, da wir alles einkalkuliert haben. Gib dir keine Mühe. Die folgende Nacht ist die entscheidende. Da werden wir un‐ sere Stärke beweisen. Voodoo war zweihundert Jahre lang ein wesentlicher Bestandteil des lokalen Brauchtums in diesem Staat, New Orleans das Kultzentrum. Hier haben die Schwarzen die Kraft schöpfen können, um sich gegen ihre weißen Herren zu verteidigen. Nein, was ihr auch vorhat‐ tet, ihr werdet den Voodoo nicht zerstören können. Er breitet sich immer mehr aus. Wir werden schon sehr bald Stützpunkte in der gesamten Welt haben. England ist anvisiert und damit Europa…« »Die Insel nicht mehr.« Er konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. »Mein Partner war dabei, als drei Zombies endgültig erledigt wurden. Ich hätte es gern gesehen.« »Für diese drei kommen zehn andere nach. Es sind nicht nur die ausge‐ stoßenen Agenten, die für uns arbeiten. Sie bilden nach wie vor die Kern‐ truppe, aber die wahren Massen lauern im Hintergrund. Diese Stadt ist mit Friedhöfen reich gesegnet. Sie liegen da so prächtig und tot, aber in der folgenden Nacht werden sie zu einem Leben erwachen, wie man es hier noch nie gesehen hat. Was um Mitternacht folgen wird, hat die Stadt noch nie gesehen und durchgemacht. Zum erstenmal wird die geballte Kraft des Voodoo über sie kommen. Unzählige Kerzen werden brennen und das Heer der Untoten mit ihrem Schein begleiten. So will es der alte Brauch, so wird es gemacht.« Fred Diamond hatte keinen Grund, an den Worten der Frau zu zweifeln. Diese Sicherheit, mit der sich Rhonda umgab, war nicht gespielt, sondern echt. Sie wußte genau, welchen Weg sie zu gehen hatte, und sie besaß ei‐ 147
nen starken Helfer im Hintergrund und als Rückendeckung. Darauf kam Fred noch einmal zu sprechen. »Was wird denn D. C. dazu sagen?« Rhonda zögerte mit einer Antwort. Sie bewegte nur ein wenig die Peit‐ sche, so daß die drei Riemen über den Boden schleiften. »D. C?« murmelte sie. »Ich bin hier die Herrin.« »Und er?« »Ist einer der größten, wenn nicht der Größte überhaupt.« Damit war für Rhonda Lassalle das Thema erledigt. Beim Öffnen der Tür wandte sie sich noch an ihren Helfer. »Mach es gründlich, und du weißt ja, wo du mich finden kannst.« »Was ist mit Mona, Herrin?« Die Frau lachte leise. »Sie hat ihre Strafe bekommen. Du kannst sie mit‐ bringen, den anderen habe ich auch schon wegschaffen lassen. Der Lift brachte ihn nach unten.« Bayonne nickte. »Du kannst dich voll und ganz auf mich verlassen, Her‐ rin.« »Das muß ich auch.« Es waren Rhondas letzte Worte. Danach verließ sie das Büro und ging in den Laden. Diamond hatte alles mitbekommen. Sein wütender Schmerz war abge‐ flacht. Nur im Unterleib spürte er noch das Stechen, den Handkantenhieb hatte er einigermaßen verdaut. Er lag da und suchte nach einem Ausweg. Dabei dachte er an das Messer, das er noch bei sich trug. Die Klinge war für den Notfall gedacht. Sie steck‐ te in einer Scheide, die in Höhe des Rückens am Gürtel befestigt worden war. Nur konnte er die Klinge nicht erreichen. Er hätte sich zur Seite wäl‐ zen müssen, und jede seiner Bewegungen wurde von Bayonne wie mit Argusaugen überwacht. »Du hast es gehört, nicht?« fragte der Schwarze. »Klar.« »Dann weißt du, was dir blüht.« Er baute sich vor dem Agenten auf und visierte ihn an. Die Mündung der Waffe zeigte in einer schrägen Geraden nach unten. Fred rechnete damit, daß der anderen seinen Kopf anvisierte. Das war dann endgültig. »Willst du wirklich schießen?« fragte Diamond. »Natürlich.« 148
»Man hört den Krach bestimmt. Der Laden liegt direkt neben diesem Bü‐ ro. Das kannst du dir nicht erlauben.« »Wer wird sich darum schon kümmern?« fragte der Schwarze. »Wer? Kannst du mir das sagen?« »Zeugen sehen und hören…« »Überhaupt nichts«, unterbrach Bayonne ihn. »Hier nicht. Ich kenne die Stadt. In diesem Viertel hat jeder seine eigenen Probleme, das kannst du mir abnehmen.« Da hatte er wohl recht. Fred widersprach auch nicht. Er schielte nur mehr nach rechts, denn in der von ihm einsehbaren oberen Hälfte der Treppe hatte er eine Bewegung wahrgenommen. Dort hockte ein dunkelhäutiges Mädchen, das seine Haare rosa gefärbt hatte. Sie trug außer ihrem Slip nichts am Körper und starrte mit brennen‐ den Augen in den Raum. »Also denn«, sagte Bayonne und klatschte seine linke Hand gegen das rechte Gelenk, um die Schußhand zu unterstützen. »Jetzt rettet dich nichts mehr, Hundesohn…« * Ich hatte den Griff des Schwerts mit beiden Händen umfaßt und wollte die Waffe aus dem Boden ziehen, als ich feststellen mußte, daß dies nicht möglich war. Wenigstens nicht beim ersten Versuch und nicht mit meinen Kräften. Ich zog verzweifelt, riß auch und versuchte die Klinge zu biegen. Es hatte keinen Sinn, so kam ich nicht weiter, zudem war es dem Killer gelungen, sich zu fangen. Er wirbelte herum, sprang dabei mit beiden Füßen in die Höhe, und ich sah, daß seine Hände nach hinten schnellten, um auf den Rücken zu gelan‐ gen. Was dort steckte, wußte ich nicht. Mir war nur klar, daß ich ebenfalls verdammt schnell sein mußte. Wie oft hatte ich darüber geflucht, wenn wir in den Trainingslagern das Ziehen der Waffe und schnelle Zielen üben mußten. Nun kam mir dieses Training zugute. Die Beretta lag plötzlich in meiner rechten Hand, und der muskulöse Riese starrte verwundert in die Mündung, genau in dem Augenblick, als 149
seine Hände wieder zum Vorschein kamen. Sie hielten beide etwas. Es waren zwei Revolver mit sehr langen Läufen. Ein Beweis, daß er sie mit Schalldämpfern bestückt hatte. Es stand pari zwischen uns. Das wußte auch der Hühne. Wenn er schoß, konnte ich ebenfalls abdrü‐ cken und würde ihn bei dieser kurzen Distanz kaum verfehlen, ebenso wenig wie er an mir vorbeischießen konnte. Die nächsten Sekunden verrannen, ohne daß einer von uns auch nur ein Wort sprach. Ich hatte endlich Zeit, mir den Kerl genauer anzusehen, von dem Fred Diamond berichtet hatte. Er sah tatsächlich gefährlich aus. Selten hatte ich einen so muskelbepack‐ ten Menschen zu Gesicht bekommen, die Stars der Bodybuilder mal ausge‐ nommen. Was dieser Mann an Oberkörper zeigte, war schon phänomenal, und dabei entdeckte ich kein Gramm Fett an ihm. Er war völlig durchtrai‐ niert, und seine dunkle Haut glänzte ölig. Selbst die rotweiß gestreifte Hose wirkte bei ihm nicht lächerlich. Sie hör‐ te am Knie auf, der Zylinder lag auf dem Boden, Schuhe trug er nicht, und während er breitbeinig stand, waren die Waden so durchgedrückt, daß sich Muskelstränge zeigten. Gewalt hieß sein Geschäft. Das sah ich ihm an. Obwohl die beiden Revolver Schalldämpfer besaßen, wirkten sie in sei‐ nen Händen viel kleiner als normal. Der besaß Pranken, die den Vergleich mit Kohlenschaufeln aushielten. Trotz allem hatte er sich den Kampf mit mir wahrscheinlich leichter vor‐ gestellt. Sehr spekulativ hatte er mich erledigen wollen, das war ihm miß‐ lungen, denn das fallende Schwert hatte mich nicht erwischt. Wie eine Grenze stand es zwischen uns. Ich atmete aus. Eine ungewöhnliche Ruhe war über mich gekommen. Die Beretta in meiner Rechten zitterte nicht. Die gleiche Konzentration sah ich auch bei dieser massigen Gestalt, er schaffte es, die Waffe völlig ruhig zu halten. Ich sprach ihn an. »Wer bist du?« Seine großen Augen verengten sich. Eine winzige Schweißperle rann vom haarlosen Schädel her über seine blanke Stirn und verteilte sich dicht vor der Nasenwurzel. »Barnabas.« 150
»Ein ungewöhnlicher Name«, gab ich zu. »Hat man dich geschickt, um mich zu killen?« »Sicher.« »Das wird nicht klappen«, erwiderte ich kalt. »Wenn du schießt, bleibt mir noch immer die Zeit, ebenfalls abzudrücken. Und als King‐Kong‐ Verschnitt bist du nicht zu verfehlen.« Er gab mir keine Antwort. Wahrscheinlich war er über meine Worte wü‐ tend. Wie eine unsichtbare Wand stand das Schweigen zwischen uns. Ü‐ berall verteilt befanden sich die fremdartigen, stummen Zeugen eines ma‐ gischen Kults. Ich hatte das Gefühl, als würde Leben in den toten Augen der Masken stecken, deren Blicke auf meinem Rücken brannten und mich auszusaugen schienen. Einen Helfer, den Zombie, hatte Barnabas gehabt. Ob es noch einen zweiten gab, wußte ich nicht. Auch er reichte mir; jetzt mußte ich die Nerven behalten und versuchen, das Museum zu verlassen. »Du bist hier hereingekommen«, sagte ich »und hast abgeschlossen. Also wirst du auch wieder hinauskommen. Deshalb gehst du jetzt zur Tür, schließt sie auf und läßt mich raus. Klar?« Er nickte. Sollte das alles gewesen sein? Ich wunderte mich, daß ich ihn so ohne weiteres kontrollieren konnte, bis ich seine eigentliche Antwort hörte, und die gefiel mir gar nicht. »Ich bleibe!« Meine Lippen zuckten. »Du schließt nicht auf?« »Nein!« »Dann gib mir den Schlüssel!« »Den behalte ich!« Der sah nicht nur aus wie ein Felsbrocken, der war auch noch so stur wie Stein. Mir wurde eines klar. Wenn ich hier tatsächlich rauskommen wollte, dann nur über ihn oder seine Leiche. Ein Schußwechsel brachte uns beiden nichts. Und nach einem Selbstmör‐ der sah mir Barnabas ebenfalls nicht aus, obwohl er etwas tat, das mich überraschte. Er senkte die Arme. Plötzlich und unerwartet öffnete er auch seine Fäus‐ te. Beide Revolver verloren den Halt, rutschten hervor und prallten zu Bo‐ den, wo sie liegenblieben. 151
Jetzt war er waffenlos, falls er nicht noch einen weiteren Revolver hinter dem Rücken versteckt hielt. Sehr bedächtig breitete er seine Arme aus. Die Füße stellte er dabei zu‐ sammen und hielt in der Bewegung erst an, als seine Arme waagerechte Verlängerung der Schultern bildeten. So blieb er stehen. Ich wußte nicht, was es bedeuten sollte, und schüttelte leicht den Kopf. Wollte er mich mit bloßen Händen angreifen oder irgendwie versuchen, das Schwert aus dem Boden zu reißen. Beides war möglich, und ich merk‐ te, wie meine Spannung allmählich anstieg. Mein Blick glitt in sein Gesicht. Er hielt die Augen geschlossen. Ob sie nun völlig zu waren, konnte ich nicht sehen, jedenfalls wirkte er wie er‐ starrt, rührte sich nicht und kam mir vor, als wäre er dabei, sich allmählich in einen anderen Zustand zu versetzen. In eine Trance, möglicherweise… Seine Haltung veränderte er um keinen Deut. Es mußte ihn Kraft kosten, die Arme so zu halten, und es kostete ihn auch innerliche Energie, als er mit seiner Beschwörung begann. Er bewegte seine Lippen. Zunächst war es nur ein Zucken, als würde ein Schatten über die untere Hälfte des Gesichts huschen, wenig später hörte ich die ersten Laute. Als Worte wollte ich sie nicht bezeichnen, da es mir nicht möglich war, sie auch zu verstehen. Die Sprache jedenfalls hatte ich noch nie gehört, ich verstand nicht ein‐ mal Silben, vernahm nur das heisere Gekrächze und die beschwörend klingende Stimme, die Formeln intonierte. Diese Worte setzten sich aus vielen Vokalen zusammen. Zumeist die dunkel klingenden wie das a oder das o. Sehr genau hörte ich zu, und über meinen Rücken lief allmählich ein Schauer. Auch den Druck im Magen spürte ich, die Weichheit in den Knien, und ich spürte am eigenen Leib, daß diese sehr langsam und be‐ schwörend gesprochenen Worte auch auf mich ihren Eindruck nicht ver‐ fehlten. Genauer gesagt: Ich geriet in ihren Bann! Und das gefiel mir überhaupt nicht. Oft habe ich den Vergleich des schleichenden Gifts benutzt. Hier war es ähnlich. Irgend etwas stand zwi‐ 152
schen uns, das auch seinen Weg zu mir fand. Es war nicht zu fassen, nicht zu greifen und auch nicht zu erklären, es war einfach vorhanden und brei‐ tete sich aus. Das Erbe eines uralten Kults. Voodoo‐Magie floß mir durch die gesprochenen Worte entgegen. Sie er‐ griff Besitz von mir. Auch meine Glieder gehorchten nicht so, wie ich es wollte. Da entstand eine bleierne Schwere, die nicht nur meine Arme erfüllte, sondern auch vor den Beinen nicht stoppte, so daß ich mich am liebsten auf den Boden ge‐ setzt und ausgeruht hätte. Besonders schwer wurde der rechte Arm, dessen Hand die Beretta hielt. Das Zittern begann in der oberen Hälfte und pflanzte sich bis in das Gelenk hinein fort. Auch die Waffe blieb nicht mehr ruhig. Am liebsten hätte ich sie losgelas‐ sen, doch ich riß mich mit eiserner Strenge zusammen und hielt sie fest. Er redete weiter. Seine Augen waren wieder leicht geöffnet. In die Spalte zwischen den Lidern konnte ich hineinblicken und erkannte auch einen Teil seiner Pupil‐ len, die mir seltsam verdreht erschienen. Nahm dieser Mann die Umwelt überhaupt noch wahr? Sicherlich nicht, und mir kam plötzlich eine Wahnsinnsidee. Wenn er sich so auf sich selbst konzentrierte, mußte es mir doch möglich sein, ihn zu überlisten und vor allen Dingen seine beiden Revolver an mich zu neh‐ men oder wegzustoßen. Das war die beste Idee, die mir in den letzten Minuten gekommen war. Ich wollte meinen rechten Fuß vorsetzen, um den ersten Schritt zu gehen, als ich feststellen mußte, daß mich der Bann bereits stark betroffen hatte. Hier herrschte die Magie, denn ich sackte im rechten Knie ein und wäre fast zu Boden gefallen, als es mir doch noch gelang, mich im letzten Mo‐ ment zu fangen. Dabei fiel der rechte Arm herab. Jetzt zeigte auch die Mündung meiner Waffe zu Boden. Noch hielt ich sie fest, aber die Lähmung in meinem rechten Arm schritt weiter fort. Aufhal‐ ten ließ sie sich nicht mehr. Mir wurde auf einmal klar, daß sich die be‐ schwörenden Worte des Schwarzen allein auf meinen rechten Arm kon‐ zentrierten und die anderen Folgen für mich nur erschwerende Begleiter‐ 153
scheinungen waren. Ich kämpfte weiter. So leicht bekam man mich nicht in die Knie, aber die Lähmung schritt fort. Ich konnte zusehen, wie es die Finger nicht mehr schafften, die Waffe zu halten, und wie mir die Beretta fast im Zeitlupentempo an der Handflä‐ che entlang zu Boden rutschte, wo sie aufschlug und liegenblieb. Jetzt war auch ich waffenlos. Es kostete mich Mühe, meinen Oberkörper wieder hochzudrücken. Über den Schwertgriff schaute ich hinweg und wunderte mich darüber, daß Barnabas von einer Seite zur anderen schwankte, als würde er in den nächsten Sekunden fallen. Nicht er war es, der schwankte, sondern ich! Das kam mir erst später zu Bewußtsein, als ich versuchte, wieder einen Schritt zu gehen. Dabei konnte ich mich nicht mehr halten, drehte mich auf dem linken Bein stehend herum, so daß meine Bewegung dem Beginn ei‐ ner Spirale glich. So ging ich auch zu Boden. Ich wurde mir dessen erst richtig bewußt, als ich schon auf dem Unter‐ grund saß und in die Höhe schauen mußte, um Barnabas zu erkennen, dessen Oberkörper ölig glänzte und dabei einen widerlichen Geruch aus‐ strömte, der mich an den alten Leichenhäuser und Grüfte erinnerte. Ja, so roch Moder! Mein Gehirn arbeitete klar. Ich fand auch eine Erklärung für diesen Ge‐ stank. Barnabas mußte sich seinen Oberkörper mit dem Zeug eingerieben haben, aus dem für bestimmte schwarzmagische Rituale auch Kerzen her‐ gestellt wurden. Aus Leichenfett! Durch die innere Anstrengung transpirierte der Mann, so daß der wider‐ liche Geruch von seinem Körper her mir entgegenströmen konnte. Zu‐ sammen mit den gefährlichen, beschwörenden Worten bildete er eine Ein‐ heit, der ich als normaler Mensch nicht hatte widerstehen können. Der machte mich hier fertig. Etwas Schreckliches kam mir in den Sinn. Oft genug hatte ich von den sogenannten Totsprechern gehört, auch darüber gelesen und sie sogar selbst erlebt. Das waren Menschen, die eine schreckliche Gabe besaßen und andere durch magische Worte so beeinflussen konnten, daß es bei ihnen zu einem Herzstillstand kam und sie nicht mehr lebten. 154
Furchtbar… Erlebte ich hier ähnliches? Fast konnte ich davon ausgehen, denn auch der Voodoo‐Kult kannte schaurige Riten und Beschwörungen, die nur Eingeweihten bekannt wa‐ ren, einem Fremden wie mir, der sich nur am Rande mit diesem gewaltigen Gebiet befassen konnte, jedoch nicht. Ich hockte auf dem Boden. Die bleierne Schwere in meinem Körper nahm zu. Es bereitete mir jetzt schon Mühe, den Rücken durchzudrücken. Wie schlimm würde es Minuten später noch werden? Mein Versuch, dagegen anzukämpfen, glich bereits einer Geste der Ver‐ zweiflung. Die Lähmung war durch mich nicht mehr aufzuhalten. Sie brei‐ tete sich noch weiter aus und griff schon auf andere Teile meines Körpers über. Wenn ich versuchte, meine Zehen zu knicken, schaffte ich das nicht mehr, und auch das tiefe Luftholen fiel mir bereits schwer. Dafür gab es nur eine Erklärung. Auch die Funktionen meiner inneren, lebenswichtigsten Organe wurden durch diese unheilige Magie gestoppt. Nur der Denkapparat funktionierte noch. Wahrscheinlich bewußt. Ich soll‐ te meinen Tod bis in alle Einzelheiten erleben. Bei Suko hatten sie die Dro‐ ge genommen, bei mir brauchten sie so etwas nicht. Ich starb allein durch gesprochene Worte. Es wurde noch schlimmer! Nicht bei mir begann es, sondern bei Barnabas. Bisher hatte er sich ruhig verhalten. Innerhalb der nächsten Sekunden änderte sich dies, denn durch seinen Leib lief ein heftiges Zucken, als hätte er plötzlich Krämpfe bekom‐ men. Seine Augen quollen aus den Höhlen, die Arme fielen nach unten, bevor er sie vor dem Unterleib verschränkte und plötzlich anfing, zu schreien. Ein Urschrei. Er zitterte durch den Raum, wurde zum Echo, das an schrecklichen Tö‐ nen nicht mehr zu überbieten war und als eine schaurige Botschaft durch das Voodoo‐Museum hallte. Ein Schrei dieser Art und Lautstärke hätte mich normalerweise aus mei‐ ner Lethargie gerissen, doch ich befand mich in einem Zustand, wo dies nicht mehr möglich war. Ich reagierte einfach lethargisch, ließ den Schrei Schrei sein und schaute 155
auf den Koloß, der nicht mehr ruhig auf dem Fleck stand. Er begann mit seiner heftigen, zuckenden Bewegung, und dies war der Beginn eines ma‐ kabren Totentanzes für mich. Sehr klar bekam ich jedes Detail mit. Ich hörte ihn noch immer schreien, nur hatte sich die Tonlage verändert. Die Laute waren dunkler und dump‐ fer geworden. Sie wurden ständig durch abgehackte Atembewegungen unterbrochen, danach regelrecht ausgespieen, und der schwere Körper des Mannes bewegte sich im Rhythmus der aus dem offenen Mund dringen‐ den Schreie. Er wurde dabei jeweils um neunzig Grad versetzt, so daß sich Barnabas nach vier Schreien einmal um die eigene Achse gedreht hatte. Jeden Lauf begleitete er mit einem stampfenden Fußtritt. Da klatschte sein blanker Fuß auf den Boden und trampelte einen höllischen Takt. Das Tanzen gehörte zu seinem magischen Voodoo‐Ritual. Es war aus den Urzeiten übernommen worden und konnte keinen anderen Grund haben als den, mich in den Tod zu begleiten. Ich saß auf der Erde. Die Kühle spürte ich nicht. Überhaupt hatte ich das Gefühl, keinen Kör‐ per mehr zu besitzen und nur mehr aus einem Kopf zu bestehen. Der funktionierte noch. Glasklar erkannte ich meine Gedanken, die völlig illusionslos waren. Wenn es mir in den nächsten Sekunden nicht gelang, gegen diesen Horror anzugehen, war ich verloren. Meine Waffe konnte ich vergessen. Ich würde es nicht mehr schaffen, sie in der Hand zu halten. Die Rechte taugte nichts mehr, nur noch in der Lin‐ ken spürte ich ein schwaches Gefühl und auch die Tatsache, daß ich über‐ haupt noch einen Kreislauf besaß. Was konnte ich machen? Das Kreuz war die letzte Hoffnung. Ich hatte es in meine Tasche gesteckt, leider an der rechten Seite, so daß ich mit dem linken Arm an meinem Körper vorbeigreifen mußte, um es überhaupt zwischen die Finger zu be‐ kommen, denn die rechte Hand war völlig nutzlos geworden. Durch geistig »gesprochene« Worte stachelte ich mich selbst an. Ich putschte mich innerlich auf, es endlich einmal zu versuchen, und es gelang mir tatsächlich, meinen linken Arm auf die rechte Seite zu schleudern, wo‐ bei die Finger sogar in die offene Seitentasche rutschen konnten und auch Kontakt mit dem Kreuz bekamen, das sich schon erwärmt hatte. 156
Es war bereits ein wenig aktiviert, denn es hatte die gefährliche Magie gespürt. Herausziehen und… Er tanzte, stampfte und schrie heiser. Die Beschwörung näherte sich dem Höhepunkt. Ich merkte, wie die Wellen der Hitze durch meinen Körper brandeten. An den Füßen begann es und stoppte erst oben im Schädel. War das der Anfang vom Ende? Während dieser Gedanken gelang es mir, die vier Finger der linken Hand zu krümmen. Den Daumen hielt ich dabei ausgestreckt. Er sollte mir als Stütze dienen. Mit einem Ruck, in den ich noch einmal alles hineingelegt hatte, zog ich das Kreuz hervor, sah es an und konzentrierte mich auf die so wichtigen Worte, die einst der große Prophet Hesekiel erfunden hatte. Es war ein lateinischer Spruch. Übersetzt lautet er wie folgt: Die Erde soll das Unheil halten – das Heil soll hier bleiben. Ich sagte die lateinische Fassung auf: »Terra pastem teneto – salus hic mane‐ to!« Mehr konnte ich nicht tun. Aber das reichte aus! * Fred Diamond sah das Gesicht, den fast nackten Frauenkörper, und er konnte auch den Ausdruck in den Zügen deuten. Haß und Schmerz! Aber er sah noch mehr. Das dunkelhaarige Mädchen war nicht unbe‐ waffnet. Sie hielt etwas in der rechten Hand, das aussah wie ein Stock und wahrscheinlich auch einer war, bis sie es hochhob und an den Mund setzte. Jetzt wußte der Agent Bescheid. Das war ein Blasrohr. Bayonne visierte genau. Er wußte noch nicht, ob er sich für den Kopf o‐ der die Brust entscheiden sollte. Und da schoß das Mädchen! Das Geräusch war nicht zu hören, der schmale Pfeil kaum zu sehen, aber sein Treffer hatte Folgen. Plötzlich zuckte Bayonne zusammen. Er wechselte die Waffe in die Lin‐ ke, seine Rechte zuckte hoch zum Ohr. Zufällig fanden Daumen und Zeige‐ finger sofort den Pfeil, der noch aus seiner Haut ragte. 157
Mit einem Ruck riß er ihn hervor, starrte ihn zwei Sekunden lang an und hatte Fred vergessen, der alles mit ungeheurer Spannung und aus weit geöffneten Augen beobachtete. Der Schrei war die Folge der Erkenntnis. Bayonne wußte auf einmal Be‐ scheid, und er sah auch, wie sich in diesem Augenblick das dunkelhäutige Mädchen auf der Treppe aufrichtete und die Hand mit dem Blasrohr tri‐ umphierend hochhob. Die Ringe rutschten dabei bis zum Ellbogen hin und klapperten dort gegeneinander. »Du?« schrie Bayonne. »Ja, ich! Du hättest mich retten können, aber man hat mich gepeitscht. Jetzt räche ich mich! Nein, ich habe mich gerächt. Du kennst die Pfeile, weißt von dem Gift und auch darüber Bescheid, wie schnell es einen Men‐ schen tötet.« Er wußte es tatsächlich, das zeigte der entsetzte Ausdruck in seinem Ge‐ sicht. Schwerfällig wankte er zurück. Für Fred hatte er kein Auge mehr, sah nur noch das Mädchen und nahm es aufs Korn. »Noch lebe ich!« keuchte er. »Noch bin ich nicht krepiert, du kleine Voo‐ doo‐Hure. Ich werde dich mitnehmen. Der Teufel soll noch seinen Spaß mit uns beiden haben, das schwöre ich dir. Ich bin nicht tot, Mona, ich lebe, ich kämpfe…« Wie er kämpfen wollte, das bewies er in der folgenden Sekunden, denn es gelang ihm, seinen rechten Arm zu heben und die Mündung auf das Mädchen zu richten. Noch schwankte er, aber die in ihm steckende Energie loderte als Feuer in die Höhe und sorgte dafür, daß er auf dem Fleck stand wie ein Fels im Sturm. Mona blieb auf der Treppe. Sie ging einfach nicht weg. Fred versuchte es mit einem Warnschrei, die junge Schwarze kümmerte sich nicht darum. Nahezu gelassen schaute sie in die dunkle Mündung und damit auch dem Tod ins Auge. »Ich… ich… ich…«, ächzte Bayonne. Sein Zeigefinger hatte den Stecher gefunden, während Diamond verzweifelt nach seinem Messer fingerte, um es vor dem Schuß zu schleudern. Es gelang ihm nicht, zu langsam war er. Dann wummerte die Waffe auf, die in der Hand des Schwarzen hoch‐ sprang und ihm fast noch aus den Fingern geschleudert wurde. 158
Das Mädchen bewegte sich nicht. Fred wußte, welche Löcher dieses Kaliber riß, und er sah auch den kra‐ terförmigen Einschlag. Allerdings nicht im Körper seiner Lebensretterin, sondern dicht daneben in der Wand. Die Kugel hatte gefehlt! Zu einem zweiten Schuß kam Bayonne nicht mehr. Das Gift wirkte. Er begann plötzlich zu zittern, schrie, warf sich auf die Knie, schleuderte die Waffe weg und preßte seine Hände gegen den Magen, der von tödlichen Krämpfen durchzuckt wurde. Die Hände blieben auch noch in dieser Haltung, als er bereits auf der Sei‐ te lag und sich nicht mehr rührte. Bayonne, den Killer, hatte es erwischt. Und seine Mörderin stand auf der Wendeltreppe, ohne sich zu rühren. Sie lehnte jetzt am Geländer, das dunkle Gesicht hatte eine aschgraue Farbe angenommen, während leise Worte über ihre Lippen drangen. »Sie haben mich gepeitscht. Sie haben es gewagt, mich zu peitschen. Das vergesse ich ihnen nicht, niemals. Er war der erste, den meine Rache getrof‐ fen hat…« Diamond hörte die Worte zwar, aber er achtete nicht darauf, weil er in‐ tensiv mit sich selbst beschäftigt war. Der Streß war vorbei, die Schmerzen nicht, ihnen mußte er sich stellen. Das letzte Wort seines Gedankens besaß die Funktion eines innerlichen Rucks. Aus seiner knienden Lage stemmte er sich hoch, stand breitbeinig nach vorn gebeugt, preßte die Hände noch einmal gegen den Unterleib, weil ihn wieder Stiche durchzogen, und taumelte wie ein Betrunkener auf die Wand zu, wo er sich abstützte, dabei erneut Schwung bekam, der ihn dorthin trieb, wo seine Waffe lag. Erst als die Schwindelanfälle vorüber waren, konnte er sich bücken und den Revolver an sich nehmen. Er kam ihm plötzlich so schwer vor. Mit viel Mühe steckte er ihn ein. Das dunkelhäutige Mädchen stand noch immer auf der Treppe und war‐ tete. Der Blick war ins Leere gerichtet. Mit schweren Schritten ging Dia‐ mond auf seine Retterin zu, schaute zu ihr hoch, hielt sich dabei am Gelän‐ der fest und bedankte sich. »Ich tat es nicht Ihretwegen«, erklärte sie mühsam. »Weshalb dann?« 159
»Ich mußte mich rächen.« »Das hast du jetzt getan.« Sie schüttelte den Kopf. Über ihren bloßen Oberkörper lief dabei ein Schauer. »Noch nicht«, flüsterte sie. »Ich habe nur einen Teil erfüllen kön‐ nen.« »Reicht das nicht?« »Nein, ich will alle!« Sehr entschlossen hatte sie gesprochen, und Fred wunderte sich darüber. »Weshalb haßt du sie so sehr? Du gehörtest doch einmal zu ihnen?« Mona blickte ihn nachdenklich an. »Weshalb?« wiederholte sie leise. »Das kann ich Ihnen sagen, Mister. Deshalb!« Eine scharfe Drehung ihres Körpers und der Agent konnte auf den Rücken des Mädchens schauen, der einfach schrecklich aussah. Peitschenhiebe hatten ihn gezeichnet. Er sah die dunkelroten Striemen, auch die aufgeplatzte Haut und das dunkle Blut, das Streifen gebildet hat‐ te. »Ja«, sagte er, »ja, jetzt kann ich dich verstehen. Sehr gut sogar. Vielleicht hätte ich nicht anders gehandelt. Obwohl…« Er schüttelte den Kopf. »Du wirst es kaum schaffen können. Die anderen sind brutaler als du, und sie sind in der Überzahl.« »Ich hole mir die wichtigsten.« Sie hatte zur Treppe hin gesprochen und drehte sich erst jetzt um. »Wer war es denn?« »Rhonda Lassalle, meine Herrin!« Fred schüttelte den Kopf. »Wie? Ich habe immer gedacht, daß die Sklave‐ rei vorbei ist.« »Das nahm ich auch an. Rhonda ist anders. Sie braucht Leibeigene, sie will Terror ausüben und Gewalt, denn sie ist wie ein gemeines Tier. Noch schlimmer!« zischte sie. »Weshalb schlug sie dich?« »Ich habe angeblich versagt!« Diamond wollte nicht nach Einzelheiten fragen. »Hast du nichts anzu‐ ziehen?« »Oben.« »Ich hole dir die Sachen.« Bevor das Mädchen noch protestieren konnte, hatte sich Fred in Bewegung gesetzt und ging schwerfällig die Stufen hoch. 160
Er passierte sie, sah ihr Gesicht aus der Nähe und erkannte auch die Leere in ihren Augen. Mona mußte mit den Gedanken sehr weit weg sein. Viel‐ leicht bei ihrer Rache. Fred fand nach der Wendeltreppe einen Gang mit einer einzigen Zimmertür. Nur in diesem Raum konnte das Schreckliche passiert sein. Mit dem Fuß stieß er die Tür auf, gleichzeitig zog er seinen Revolver. Im Halbkreis bewegte er den Arm und fächerte mit der Mündung das Zimmer ab. Es war leer. Jedenfalls befanden sich keine Menschen darin. Dafür entdeckte er neben einen Schreibtisch das Kleid des Mädchens. Es lag dort wie ein Bündel Lumpen. Er ging in den Raum. An der rechten Wand war der Vorhang ein Stück aufgezogen worden. Sicherlich nicht ohne triftigen Grund, dachte der A‐ gent und ging hin. Sehr schnell stoppte er, denn er hatte das Loch im Boden gesehen. Sein Blick fiel in die Tiefe. Dabei glaubte er, das Metall einer Plattform schim‐ mern zu sehen, und wenn ihn nicht alles täuschte, mußte das ein Hebeauf‐ zug sein. Man hatte also etwas weggeschafft. Was es war, darüber konnte ihm das Mädchen sicherlich Auskunft geben. Bevor er zurück zu Mona ging, nahm er deren Kleid noch und hängte es über seinen Arm. Vor der Treppe spürte er wieder den Schwindel, blieb für einen Moment stehen und wartete, bis der Anfall vorbei war. Eigentlich hätte er jetzt einen Schluck gebrauchen können. »Gibt es hier Whisky?« rief er nach unten. »Nein.« Mona gab die Antwort, ohne ihren Kopf zu drehen. Sie starrte weiterhin ins Leere. Fred war es egal. Vorsichtig lief er die Stufen hinab und überreichte der Schwarzen das Kleid. »Zieh es wieder über.« Sie nahm es und ließ es über dem Arm hängen, ohne sich zu rühren. Zwei Stufen vor ihr stoppte auch Diamond. »Was ist los mit dir, Mädchen? Willst du nicht kommen?« »Ich werde sie mir holen. Die verdammte Lassalle wird so sterben wie auch Bayonne.« »Klar doch, Süße. Aber jetzt zieh dir etwas über und komm mit. Ich will 161
hier nicht den Tag vertrödeln.« Endlich gehorchte sie. Erst als sie vor der Treppe stand, streifte sie das lange Kleid über den Kopf. Fred erkannte, daß es eng war. »Ist das nicht zu unbequem, wenn du läufst.« »Ich hole mir später etwas anderes.« »Das würde ich auch vorschlagen.« Er strich über seinen Nacken, weil wieder ein Stich durch den Kopf gezuckt war. »Jetzt mal zu etwas ande‐ rem, Süße. Ich habe da oben ein komisches Loch entdeckt und glaube fast, daß man dort etwas transportiert hat.« »Das stimmt.« »Wunderbar, und was, bitte sehr?« »Einen Sarg. Man hat ihn nach unten geschafft.« »Toll. Lag jemand darin?« Mona nickte. »Ein Chinese. Er schien tot zu sein, doch bei einem Voodoo‐ Zauber kann man das nicht so genau wissen.« Bisher hatte sich Fred Diamond noch in der Gewalt gehabt. Nun reagierte er hektisch. Er drehte sich um und packte das Mädchen an beiden Schul‐ tern. »Was hast du da gesagt?« fragte er. »Ein Chinese lag im Sarg?« »Ja.« Diamond überlegte. »Und was haben die mit ihm vor? Wollen sie ihn endgültig killen?« »Sie nehmen ihn mit.« »Wohin, verdammt?« »In der Nacht und bei Anbruch der Dunkelheit beginnen die Feiern. Er soll dabei sein. Welchen Grund das hat, weiß ich noch nicht. Rhonda hat es so bestimmt.« »Rhonda! Rhonda! Immer wieder dieses verdammte Weib!« fluchte der Agent. »Allmählich wird sie zu einem regelrechten Alptraum für mich. Ewig höre ich Rhonda…« »Sie ist die Voodoo‐Königin.« »Okay, ich weiß. Ihret‐ und einiger andererwegen sind wir ja gekommen. Wir werden sie schon vom Thron stürzen. Moment mal…« Er hielt inne. »John, verdammt!« Scharf schaute er die Schwarze an. »Du kennst meinen Freund. Du hast ihn…« »Ja, ich habe ihn…« »Steckt er noch im Museum?« 162
»Als Leiche wahrscheinlich, denn Barnabas ist ihm gefolgt. Falls es der Zombie nicht schafft, soll Barnabas eingreifen und ihn töten.« »Wie denn?« »Er wird ihm den Schädel abgeschlagen haben, nachdem er ihn durch ei‐ ne magische Beschwörung in eine Trance versetzt hat. Barnabas ist ein Voodoo‐Meister. Er besitzt ein Talent, das nur sehr wenige Menschen auf der Welt noch haben.« »Und welches?« »Er kann die Feinde totsprechen!« Unglaube stahl sich in Freds Blick. Er sah das Mädchen an, als wollte er es erdolchen. In seiner Kehle saß plötzlich ein dicker Kloß. »Totsprechen also«, hauchte er. »Verdammt, das ist doch der reine Irrsinn. Das… das glaubt keiner.« »Du hast noch nichts davon gehört?« »Doch schon.« Er hob die Hände und schlug sie zusammen. »Scheiße, ich habe das nur nicht geglaubt.« »Jetzt weißt du es«, erklärte Mona, »und vielleicht bekommst du auch die Folgen zu sehen.« Der Blick des Mannes wurde starr. Er dachte noch über die Worte nach, schüttelte den Kopf und sagte: »Nichts wie hin. Du hast John in die Falle geführt. Jetzt werden wir beide den gleichen Weg gehen. Besitzt du einen Schlüssel für das Museum?« »Sicher.« Fred Diamond knallte seine flache Hand auf Monas Schulter und drückte das Mädchen voran. »Alles haben wir zu verlieren, nur keine Zeit. Beeil dich.« »Es hat keinen Sinn. Wir werden John tot finden und den Killer Barnabas bei ihm.« »Mit dem Killer habe ich noch eine Rechnung zu begleichen«, erwiderte der Agent hart… * Es war das Aussprechen meiner Formel gewesen, das andere Gesetze ge‐ schaffen hatte und die Verhältnisse radikal änderte. Man hatte mir, als Sohn des Lichts, das Kreuz überlassen, damit es mich schützte und ich es 163
auch gegen die andere Seite, die Mächte der Finsternis, einsetzen konnte. Ich hatte oft genug mein Leben verteidigen müssen, war attackiert wor‐ den und hatte trotzdem auf das Kreuz und seine Kräfte vertraut, wie auch hier, als es sich gegen den bösen Höllenzauber stemmte, so wie es der Erz‐ engel Michael zu Anbeginn der Zeiten getan hatte, als er die abtrünnigen Engel bekämpfte und sie zusammen mit ihrem Anführer Luzifer in die ewige Verdammnis stieß, aus der er und seine Schergen sich noch immer zu befreien suchten. Bisher war es ihnen nicht gelungen, und es sollte ihnen auch heute nicht gelingen. Die Formel stand, das Kreuz war aktiviert worden. Ich hatte es laut ge‐ nug gerufen, und es sorgte dafür, daß die gefährliche Magie, die mich ein‐ lullte, zurückgeschleudert wurde. Ich saß noch immer auf dem Boden. Meine linke Hand, die das Kreuz hielt, begann zu zittern. Dabei kam ich mir vor wie auf einer kleinen Insel, denn um mich herum tobten die Magien. Ich hatte den fremden Einfluß, der Besitz von mir nehmen wollte, nicht sehen können, sondern ihn nur gespürt. Er war in meinen Körper hineinge‐ fahren, hatte mich gelähmt und wurde nun radikal hinausgedrängt. Die Luft schmeckte auf einmal reiner, das helle Gleißen umtanzte mich, breitete sich zu einem strahlenförmigen Kranz aus, dem auch der Koloß Barnabas nicht widerstehen konnte. Er wurde erwischt! Ich sah ihn torkeln, taumeln und fast fliegen, denn ich hatte das Gefühl, als würde er vom Boden abheben und, von einer unheimlichen Kraft ge‐ packt, durch die Dimensionen geschleudert, so jedenfalls kam er mir in‐ nerhalb des hellen Lichtkranzes vor. Vielleicht wurde auch die Zeit aufgehoben, ich wußte es nicht. Nur besser fühlte ich mich, viel besser, auch dann noch, als der helle Strahlenkranz zusammensank und die Umgebung sich wieder normal prä‐ sentierte. Ich sah – Barnabas lag. Auf der Seite und wimmernd. Der Koloß war gekippt, als hätte man ihn von den Beinen geschlagen. An seine beiden Revolver dachte er nicht mehr. Vielleicht war er überhaupt froh, daß er noch lebte, und ich hörte ihn schnaufend atmen. 164
Seine Waffen trat ich zur Seite, dann erst schaute ich ihn genauer an. Das Schwert stand noch immer da. Es interessierte mich im Moment nicht, Bar‐ nabas war wichtiger. Neben ihm ging ich in die Knie. Sein Wimmern klang leise. Auf seinem Körper lag eine Gänsehaut. Bestimmt nicht wegen der Kälte. Es mußte die Angst gewesen sein, die solche Spuren hinterlassen hatte. Ich wollte seinen Kopf anheben und merkte schon bei dem ersten Ver‐ such, welch ein Gewicht dieser Mensch besaß, allein der Schädel mußte doppelt so schwer sein wie der eines normalen Menschen. Endlich konnte ich in sein Gesicht schauen. Wir befanden uns in einer günstigen Position, da das Licht einer Lampe direkt auf unsere beiden Ges‐ talten fiel. Die Haut war aschgrau geworden. Meine Gegenwehr mußte ihn getrof‐ fen haben wie ein schwerer Schock. Seine Lippen zuckten, und die Augen‐ deckel begannen zu flattern. Ich sprach ihn an. »Hörst du mich, Barnabas?« Er mußte mich vernommen haben, da er plötzlich still lag. Keine Regung zeigte sich mehr in seinen Zügen. Nur die Augen öffnete er so weit, daß ich direkt auf die Pupillen schauen konnte. Unsere Blicke trafen sich. Erkennen blitzte bei Barnabas auf. »Wer… wer bist du?« »John Sinclair!« »Du hast mir widerstehen können?« »Das habe ich.« »Wie?« schrie er laut und röhrend. »Wie hast du das geschafft, verdamm‐ ter Hund?« »Ich war besser als du!« Er schaute mich an und sprühte Speichel in mein Gesicht. Ich wischte ihn weg. »Verbrannt!« keuchte er, »du hast mich verbrannt. Du hast mir die Seele genommen, du…« Er stierte mich an, und sein rundes Gesicht ver‐ zerrte sich dabei zu einer schrecklichen Grimasse, so daß ich das Gefühl bekam, in eine der Voodoo‐Masken zu starren, die an den Wänden des Museums verteilt hingen. »Welche Seele hätte ich dir schon nehmen sollen, Barnabas? Deine schwarze vielleicht? Die Seele, die du einem finsteren Götzen verschrieben hast? Irgendeinem Voodoo‐Götzen und…« 165
»Ich hätte dich töten sollen!« keuchte er. »Ich hätte schneller sprechen müssen oder schießen…« »Dein Pech«, erwiderte ich kalt. »Ich besitze meine Waffe, im Gegensatz zu dir. Ich habe deine einfach weggetreten, hast du gehört, Barnabas? Dein Spiel ist aus, vorbei. Endgültig Schluß. Du wirst nicht mehr siegen kön‐ nen…« Er zog die Beine an. Ich ahnte die Bewegung mehr, als daß ich sie sah, schaute dann erst hin und erkannte, daß er sich auf die Füße stemmen wollte. Daß dies zu meiner Ablenkung diente, damit hatte ich nicht gerechnet. Als die Schatten vor meinem Gesicht erschienen, war es für eine Reaktion zu spät. Plötzlich spürte ich seine Pranken, die meinen Hals umklammerten und mir radikal die Luft nahmen. Ich wurde nach hinten gedrückt und konnte dagegen überhaupt nichts unternehmen, denn der andere fiel auf mich wie ein Berg aus Beton. Ich hörte ihn keuchen. Seine Stimme klang rauh, als hätte er Sandpapier in der Kehle. »Ich habe dich, Hundesohn! Ich werde dir das Leben nehmen, so wie du mir die Seele geraubt hast. Es ist Schluß. Mit meinen eigenen Händen muß ich dich erwürgen. Die Schatten des Todes sollen dich bede‐ cken und nie mehr…« Was er noch sagte, verstand ich nicht mehr, denn im meinen Ohren er‐ klang ein gewaltiges Brausen, das alle anderen Geräusche überdeckte. Auch die Stimme des monströsen Killers. Ich war noch nicht bewußtlos, aber ich schwebte wie auf einer Wolke und bekam auch mit, wie man mich in die Höhe riß und auf die Beine stell‐ te, ohne daß Pranken meine Kehle losließen. Sehr nahe sah ich das verzerrte Gesicht vor mir. Ungewöhnlich klar in diesem Augenblick, als wäre dies der letzte Moment, bevor der Tod end‐ gültig zuschlug. Sogar Wortfetzen vernahm ich. Irgend etwas vom Brechen des Genicks. Und dann bewegte sich der Schädel ruckartig vor und zurück. Schweiß‐ tropfen flogen gegen meine Haut, wieder kippte der Kopf, diesmal blieb er unten, er verschwand, ich hörte noch ein dumpfes Klatschen und bekam plötzlich wieder Luft. Welche Schmerzen! 166
Das Einsaugen der Luft glich gleichzeitig einen heftigen Würgen und mir wurde der Magen in die Höhe getrieben. Aus welchem Grunde ich noch auf den eigenen Beinen stand, wußte ich auch nicht, dabei wäre ich gern gefallen und hätte mich einfach so niedergelegt, um für den Rest meines Lebens nicht mehr aufstehen zu müssen. Aber ich stand. Und ich hörte, wie jemand meinen Namen schrie: »John, verdammt, John!« Ich riß die Augen auf. Der Nebel war da, er tanzte, aber in seiner Mitte erkannte ich etwas Helles, das nur allmählich Formen annahm. Es mußte ein Gesicht sein. Es war ein Gesicht. Fred Diamond starrte mich an. Er hielt mich fest. Er hatte mich vorhin geschlagen, zurückgeholt in die Wirklichkeit. Ich wollte ihn ansprechen, aber die Schmerzen an meinem Hals ließen nicht zu, daß ich auch nur ein Wort hervorbrachte. Es blieb bei dem Versuch. Fred sah, daß es keinen Sinn hatte und daß ich auch nicht allein stehen konnte. Er drückte mich zurück. Während dieser Bewegung setzte ich mei‐ ne Füße automatisch in Bewegung, bis ich an den Waden Widerstand spür‐ te und nach unten gepreßt wurde. Auf einen Stuhl nahm ich Platz. Und dort blieb ich sitzen, mit dem Rücken gegen die Lehne gedrückt, immer noch schweratmend und nach vorn schauend, wo sich allmählich ein Bild hervorkristallisierte. Ich sah zwei Menschen. Fred Diamond und die dunkelhäutige Mona, die mich in die Falle gelockt hatte. Sie hier? Ich wollte Fred Erklärungen geben, hob den Arm, um ihn aufmerksam zu machen, er aber winkte ab, weil er ahnte, was ich ihm hatte sagen wol‐ len. Er kam zu mir, ließ seine Hand auf meiner Schulter liegen und sagte: »Ich kenne deine Bedenken, aber es ist nicht so, wie du es dir gedacht hast. Mona gehört jetzt zu uns.« »Wie das?« Die ersten beiden gesprochenen Worte waren nicht mehr als ein Hauch. »Erzähle ich dir später. Erst einmal muß ich hier aufräumen.« Er grinste mich an und drehte sich um. 167
Ich bekam Zeit, wieder zu mir selbst zu finden. Der Koloß lag am Boden und rührte sich nicht mehr. Fred Diamond hatte ihn hart erwischt. Ich er‐ innerte mich daran, daß ich seinen Kopf hatte auf‐ und niederschwanken sehen. Da war der Schädel des Voodoo‐Meisters von harten Revolverauf‐ schlägen getroffen worden. Wäre Fred nicht zu diesem Zeitpunkt erschie‐ nen, hätte ich jetzt bereits mit den Engeln pokern können. Zum Glück hatte Diamond den Mann nicht getötet, so konnte er uns wertvolle Hinweise auf D. C. und Voodoo‐Land geben. Der Agent schaute sich im Museum um. Ich massierte meinen Hals. Er schmerzte außen genau so stark wie innen. Wahrscheinlich zeichneten sich rote Streifen auf der Haut ab, denn Barnabas hatte hart gewürgt. Er war das Bindeglied zu anderen Personen, und ich war gespannt, wie Diamond ihn zum Reden bringen wollte. Auch Mona ließ ich nicht aus dem Blick. Sie hatte mich in eine Falle ge‐ lockt. Ich mußte Fred glauben, daß sie ihm geholfen hatte, meinen Blicken jedenfalls wich sie ständig aus und schaute zu Boden. Über meine räus‐ pernden Laute mußte ich selbst grinsen, sie klangen urkomisch, aber ich wollte die Kehle freihaben. Gern hätte ich einen Schluck getrunken, aber ich sah weder Wasser noch Whisky in der Nähe. Mona hatte sich bisher nahe der Tür aufgehalten. Fred geisterte irgendwo im Hintergrund herum, ich hockte auf dem Stuhl und bekam mit, wie sich die junge Negerin in Bewegung setzte. Sie lächelte breit, als sie mich an‐ schaute, und ich nickte ihr zu. Mona faßte diese Bewegung als Aufforderung auf. Sie kam auf mich zu und blieb vor mir stehen. Ich schaute zu ihr hoch. »Weshalb hast du das getan?« Wäre es mir mög‐ lich gewesen, so hätte ich über den Klang meiner eigenen Stimme gelacht, so seltsam hörte sie sich an. Sie hatte mich trotzdem verstanden. »Ich mußte es einfach tun.« »Wieso?« »Weil ich zu ihnen gehörte.« »Jetzt nicht mehr?« »Nein.« Es waren sehr knappe Fragen und Antworten. Ich fügte noch eine Frage hinzu. »Und der Grund?« Sie schaute mich aus ihren unergründlich wirkenden Augen an. Irgend‐ 168
was in ihren Pupillen gefiel mir nicht. Dieser Ausdruck schien nicht gegen mich persönlich gerichtet zu sein, er war mehr allgemein und wurde stär‐ ker, je länger ich auf die Antwort wartete. »Sie haben mir etwas angetan!« flüsterte sie und drehte mir ihren Rücken zu. »Öffne den Reißverschluß!« forderte sie mich auf. »Los, mach schon. Zieh ihn nach unten!« Ich hob die Schultern. »Wenn du willst.« »Ja!« Ich erhob mich. Es klappte besser. Allmählich überwand ich die Würge‐ folgen. Daumen und Zeigefinger faßten den Verschluß‐Nippel und zogen ihn herunter. Beide sprachen wir nicht. So war das Geräusch des sich öffnenden Ver‐ schlusses das einzige. Die beiden Kleiderhälften fielen nach zwei verschie‐ denen Seiten weg, und ich brauchte nicht mehr weit zu ziehen. Es war schon zu erkennen, was man ihr angetan hatte. Die frischen Wunden auf dem Rücken ließen keinen Zweifel offen, daß Mona von den Schlägen einer Peitsche getroffen worden war. Man hatte sie sehr hart geschlagen. Es mußte erst vor kurzer Zeit geschehen sein, die Wunden näßten noch. Ich sah frisches Blut und keine Krusten. Rasch zog ich den Verschluß wieder hoch. Sie hatte es bemerkt und drehte sich um. Auf ihrer Gesichtshaut glänzte Schweiß, auch zitterte sie unmerklich. Die Erinnerung mußte wieder in ihr aufgeflammt sein. »Hast du es jetzt gesehen?« Ich nickte. »Wer war es?« Mona ballte eine Hand, hob den Arm und hielt mir die Faust dicht vor die Augen. »Sie nahm eine Peitsche und schlug zu. Immer wieder. Sie war verdammt brutal.« »Eine Frau?« »Ja, weißer Mann. Eine Frau. Eine Weiße, die sich hier als Herrin auf‐ spielt. Sie war einmal meine Herrin, ich habe sie auch so anreden müssen, und sie heißt Rhonda Lassalle. Aber sie läßt sich nur Herrin nennen und bezeichnet sich selbst als Voodoo‐Königin.« Das waren gute Informationen. »Ist sie das auch?« »In New Orleans ja.« »Und hat sie einen Draht zu D. C?« Mona lächelte. »Den besten«, erwiderte sie. »Den besten Draht, den du 169
dir vorstellen kannst. Sie ist ganz nahe dran. Sie ist die Frau, der sein Ver‐ trauen gehört.« »Dann kann ich also über sie an ihn heran?« »Dazu mußt du beide erst haben.« »Das wird sich wohl machen lassen.« Ich nickte und überlegte gleichzei‐ tig. »Sag mal, Mona, du kommst aus der Szene. Ich bin nicht allein gewe‐ sen, ein Freund von mir ist noch mitgekommen…« »Meinst du den Chinesen?« »Ja!« Meine Antwort klang erstaunt. »Den kenne ich. Er war ihr Gefangener. Sie hat ihn in einen Sarg gesteckt und mitgenommen.« Meine schnell aufgeflammte Hoffnung zerbrach. Suko war in der Nähe gewesen, nun nicht mehr. Vielleicht hätte ich das Museum nicht durchsu‐ chen sollen, denn ich hörte noch, wie Mona mir erklärte, daß sich Suko über dem Voodoo‐Shop befunden hatte. »Du weißt nicht, wo man ihn hingebracht haben könnte?« »Doch, das weiß ich. Sie wird ihn zum Friedhof geschafft haben. Dort treffen sie sich alle.« »Wann?« »In der Nacht. Vergiß niemals, welches Datum wir haben. Ich werde auch dort sein und dafür sorgen, daß meine Rache…« Sie murmelte etwas, das ich nicht verstand. »Welche Rache?« fragte ich. »Meine. Ich hole sie mir. Einen nach dem anderen. Ich werde sie alle er‐ ledigen. Für jeden Peitschenschlag sterben fünf.« Abrupt drehte sie sich um. Erregung hielt sie gepackt. Ich konnte ihr nachfühlen, wie es in ihr aussah, aber diese Rachegedanken konnte ich nicht billigen. Doch konnte sie ihren Vorsatz überhaupt durchführen? Das war die Frage, die mich beschäftigte. So recht wollte ich daran nicht glauben. Mona allein war zu schwach. Und eine Killertour, wie sie im Wil‐ den Westen mal üblich gewesen war, durfte man in der heutigen Zeit nicht mehr zulassen. Wer sie sah, der konnte kaum glauben, was sich dieses Mädchen vorge‐ nommen hatte. Aber ihre Augen sprachen Bände. Darin loderten der Wille und der Haß, es zu versuchen. Sie würde sich unter keinen Umständen etwas gefallen lassen und Gleiches mit Gleichem vergelten. Genau so wirk‐ 170
te sie auf mich. Sie entfernte sich von mir. Auf den Koloß schritt sie zu und blieb dicht vor ihm stehen. Sie trat ihn. Ich wurde von dieser Aktion überrascht und protestierte erst, als sie den Vorgang noch zweimal wiederholt hatte. »Das ist nicht die feine Art!« fuhr ich sie krächzend an. »Dieser Mann ist bewußtlos.« Sie drehte sich um. »Er ist ein Schwein, ein Mörder!« stellte sie kurz fest. »Vielleicht. Dennoch möchte ich nicht, daß Sie ihn treten, Mona.« »Du kannst mich ruhig weiter duzen, John Sinclair. Ich weiß, wie man mit diesen Hunden abrechnet.« Ihre schmale Hand glitt in die kaum er‐ kennbare Tasche an der Seite des Kleides. Eine Waffe konnte sie dort nicht versteckt haben, deren Form hätte sich außen am Stoff sehr deutlich abge‐ drückt. Es gibt nicht nur Revolver und Pistolen als Waffen, sondern auch andere Dinge, die gefährlich werden können. Ein schmales Blasrohr sah ich, und auch mehrere Pfeile holte sie aus der Tasche. Sie steckten in einem schma‐ len Etui aus Plastik. Es hatte Ähnlichkeit mit dem, in das man Kugelschrei‐ berminen hineindrückt. Pfeile, Blasrohr – es lag auf der Hand, wie sie Barnabas umbringen woll‐ te. Aber nicht in meiner Gegenwart. Noch hatte ich etwas Zeit und ging nicht hastig auf sie zu. Auch Mona überstürzte nichts. Sie öffnete die Klappe des schmalen Etuis und suchte den entsprechenden Pfeil aus. Mit Daumen und Zeigefinger faßte sie ihn an. »Was machst du da?« fragte ich. Sie blieb gelassen. »Ich treffe Vorbereitungen für einen weiteren Teil meiner Rache.« »Und davon wird Barnabas betroffen sein?« »So ist es.« »Du tötest ihn nicht!« erklärte ich mit fester Stimme. Sie drehte den Kopf und schaute mich überrascht an. Ihr Mund stand so‐ gar offen. »Nicht töten?« fragte sie leise. »Wer soll mich daran hindern?« »Ich!« Mona lächelte. »Ihr Weißen seid undankbar. Habe ich dir nicht dein Le‐ ben gerettet, Sinclair. Zumindest indirekt.« 171
»Du hättest mich auch sterben lassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Das hebt sich also auf.« »Hindere mich nicht daran, das zu tun, was ich tun muß. Es geht nicht an, daß wir ihn am Leben lassen. Er hat den Tod hundertfach verdient.« »Mag schon sein, nur werde ich nicht zulassen, daß du ihn killst. Erstens ist er ein wehrloser Mensch, und ich bin nur dafür, daß in Notwehr ge‐ schossen wird, und zweitens könnte er uns noch einiges verraten, was die folgende Nacht und deren Folgen angeht. Das wäre auch ein Argument für dich, ihn am Leben zu lassen.« Ich hatte dabei auf Monas Einsicht gehofft, aber bei dieser dunkelhäuti‐ gen Frau mit der mittlerweile verlaufenen Neonschminke im Gesicht und den rosa gefärbten Haaren traf ich auf Granit. »Deine Argumente ziehen nicht, Sinclair. Überhaupt nicht. Was könnte er uns mitteilen, das ich nicht schon weiß? Wenn du etwas erfahren willst, halte dich an mich. Damit fährst du immer gut. Nur an mich, Sinclair. Wir könnten ein gutes Team bilden.« Sie grinste mich an und kniff mir gleich‐ zeitig ein Auge zu. Währenddessen ließ sie sich bei ihren Vorbereitungen nicht stören. Ge‐ lassen steckte sie den Pfeil in das sich zum Anfang hin leicht verengende primitive Blasrohr. »Der Pfeil ist mit einem schnell wirkenden Gift ge‐ tränkt. Ich habe es deinem Freund schon demonstriert und rettete ihm durch einen gezielten Schuß das Leben. Hier habe ich es leichter. Barnabas besitzt keine Waffe.« Ich ging auf sie zu und wurde plötzlich schnell. Ihre Hand befand sich bereits in Bewegung, sie wollte das Blasrohr zum Mund führen, als ich gegen ihren Arm schlug. Er sank nach unten. Der Schlag sorgte dafür, daß sie die gefährliche und heimtückische Waffe nicht mehr festhalten konnte und daß das Blasrohr aus ihren Fingern rutschte, zu Boden fiel und dort eine Fußlänge weiter‐ rollte, bevor es liegenblieb. »Es tut mir leid«, sagte ich, »aber das hättest du dir ersparen können, Mona.« »Sinclair, du machst Fehler!« Sie funkelte mich an und hatte Mühe, sich unter Kontrolle zu halten. »Ist es wirklich ein Fehler, wenn ich versuche, ein Menschenleben zu ret‐ ten?« Bei dieser Frage schaute ich sie hart an, und sie schüttelte den Kopf. 172
»Nein, es ist kein Fehler. Aber deine Humanität zur falschen Zeit bringt dich noch ins Grab.« »Bisher bin ich gut damit gefahren.« Mona schielte auf das Etui und ihr danebenliegendes Blasrohr. Ich ahnte, was sie vorhatte, bückte mich, nahm die Dinge an mich und steckte sie ein. »Es ist besser so«, sagte ich und hörte ihren Schrei. Ich fuhr hoch. Zusammen mit Barnabas! Innerhalb einer Sekunde hatte sich die Lage grundlegend verändert. Die‐ sem glatzköpfigen Muskelprotz in der gestreiften Hose war es tatsächlich gelungen, die Schläge so wegzustecken, als hätte er sie überhaupt nicht bekommen. In Gedankenschnelle wuchs er vor uns auf und ließ mich nicht dazu kommen, die Beretta zu ziehen, denn seine Arme wurden plötzlich zu Windmühlenflügeln. Sie räumten nicht nur mich aus dem Weg, auch Mona bekam einen Schlag mit. Ich hörte noch das Klatschen und lernte fast das Fliegen. Jeden‐ falls ging ich zu Boden, wo ich mich zusammenrollte, den Schwung aus‐ nutzte und wieder auf die Beine kam. Da stand Barnabas schon nicht mehr an seinem Platz. Er war vorge‐ sprungen und schlug beide Hände auf den Griff des im Boden steckenden Schwerts. Was mir nicht gelungen war, schaffte er mühelos. Er riß die Waf‐ fe hervor und schwang mit ihr herum. Das Schwert war nicht nur schwer, auch verdammt lang. Ich tauchte un‐ ter, sonst hätte mich die Klinge noch erwischt. So fuhr sie über meinen Kopf hinweg und auch über den des Mädchens, das noch auf dem Boden kniete. Barnabas schrie wieder; zu einen zweiten Schlag nahm er sich nicht die Zeit. Bis zur Tür war es nicht weit. Zwei wuchtige Sprünge reichten ihm. Bevor wir noch etwas unternehmen konnten, hatte er sie aufgerissen und war verschwunden. Als ich sie erreichte, hörte ich hinter mir Monas wütendes Schreien. Ich riß die Tür auf und schaute in den Lagerraum. Im nächsten Moment duck‐ te ich mich, denn Barnabas hatte einen der Säcke mit einer Hand hochge‐ wuchtet und gegen mich geschleudert. Zum Glück zielte er nicht gut. Der Sack wuchtete neben meinen Kopf ge‐ gen die Tür. 173
Ich aber nahm die Verfolgung auf. Was soll ich lange erzählen, Barnabas entwischte mir. Er war viel schnel‐ ler als ich und nutzte die Chance aus, daß sich innerhalb des Geschäfts zahlreiche Kunden befanden. Ich wollte sie nicht durch unüberlegte Hand‐ lungen in Gefahr bringen und ließ deshalb die Verfolgung sein. Ich hörte noch Schreie aus dem Geschäft, das Auftauchen des Barnabas mußte einige Leute aus der Fassung gebracht haben, mehr war nicht zu vernehmen, und mir blieb nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten. Fred Diamond und Mona erwarteten mich. Die Schwarze zitterte vor Wut und Haß. Ihr Zeigefinger stach vor wie eine Lanze. Zu Diamond ge‐ wandt sagte sie: »Er ist es schuld. Er allein trägt die Verantwortung, daß Barnabas entkommen konnte. Dafür wird er zahlen. Man wird ihm die Rechnung präsentieren. Er steht auf Barnabas’ Liste, er…« »Es reicht!« unterbrach ich sie scharf und blickte Fred an. »Stimmt das?« fragte er mich. »So ungefähr. Ich habe Mona nur an einem Mord gehindert. Das ist mir ja wohl gestattet – oder?« »Sicher, John, sicher. Nur…« Fred hob die Schultern. »Verstehe mich jetzt nicht falsch. Manchmal ist es sicherer, wenn man den skrupellosen Weg geht.« »Da gebe ich dir recht.« »Und weshalb hast du sie daran gehindert?« »Du hast mich nicht ausreden lassen, Fred. Vielleicht ist im Agentenge‐ schäft oder dem der Spionage Unmenschlichkeit Trumpf. Ich weiß, daß es Spezialisten gibt, die Menschen spurlos verschwinden lassen, falls es die Politik erfordert. Aber nicht bei mir. Du wirst es nicht glauben. Trotz mei‐ nes außergewöhnlichen Jobs habe ich mir noch ein wenig Menschlichkeit bewahrt. Die kann keinem schaden, auch dir nicht, Mona.« »Idiot«, sagte sie nur. »Vielleicht bin ich das. Kein Mensch kann aus seiner Haut. Auch ich nicht.« »Für die Folgen hast du dich zu verantworten.« »Das kann sein.« Sie schaute mich noch einmal an, schüttelte den Kopf, setzte sich in Be‐ wegung und ging an mir vorbei. Nach zwei Schritten schon blieb sie stehen und drehte sich noch einmal um. »Du trägst etwas bei dir, das mir gehört, 174
John.« »Dein Blasrohr und die Pfeile?« »Ja.« Sie streckte die Hand aus und hielt mir die offene Fläche entgegen. »Gib sie her!« Ich wollte erst nicht, aber was hatte es für einen Sinn, wenn ich jetzt auf stur schaltete. »Bitte, du kannst sie zurückhaben«, sagte ich und griff vor‐ sichtig in meine Tasche, aus der ich mit spitzen Fingern die Pfeile und das Blasrohr holte. »Ich hoffe nur, daß du sie beim nächstenmal etwas überleg‐ ter einsetzt.« Kalt sah sie mir ins Gesicht. »Eines weiß ich, John Sinclair. So leicht wer‐ de ich dein Leben nicht mehr retten.« »Vielleicht kommt es einmal umgekehrt.« Sie lachte nur auf und ging. An der Tür sagte sie: »Ich ziehe mich um, wie ich es versprochen habe. Wir können uns vor dem verdammten Laden treffen.« »Ist gut«, sagte Fred. Zwischen ihm und mir gab es in den folgenden Sekunden nicht viel zu sagen. Über das Thema Barnabas wollte er wohl nicht reden. Er sagte nur: »Laß uns auch gehen.« Ich hielt ihn fest. »Moment noch, Fred. Du warst mir meiner Handlung nicht einverstanden?« »Nein. Ich will dir den Grund auch sagen. In diesem Fall ist Rücksicht nicht angebracht. Nicht gegen diese verfluchten Voodoo‐Killer. Barnabas ist ein Voodoo‐Meister. Möglicherweise Anführer zahlreicher Zombies. Du hättest diesmal über deinen eigenen Schatten springen müssen, John Sinc‐ lair.« Ich schaute zu Boden, ließ mir die Worte durch den Kopf gehen und schüttelte ihn vor einer Antwort. »Dazu gehört mehr, als nur über den eigenen Schatten zu springen, Fred. Ich hätte mein Gewissen vergewaltigen müssen, verstehst du? Mein eigenes Gewissen, und das ist mir bis heute nicht möglich gewesen. Hätte ich es zugelassen, wäre ich wohl kaum noch in der Lage gewesen, meinen Job auszuführen. Es nimmt zu, Fred. In einer angeblich so modernen Welt, die immer undurchschaubarer und kompli‐ zierter wird, hängen sich Menschen an Rettungsringe, die man mit dem Überbegriff Teufel oder Satan bezeichnen kann. Ich habe das erlebt. Die Hölle nimmt immer größeren Einfluß. Es ist furchtbar, man kann im Prin‐ 175
zip daran nichts ändern, dazu mußte man die Menschen ändern, aber man kann es verhindern und immer wieder neue Tropfen auf die heißen Steine gießen. Das wird dich langweilen. Nur – ich denke so und kann nichts da‐ gegen machen. Nimm es als Schwäche hin…« »Das würde ich nicht sagen.« Ich lächelte. »Sondern?« »Stärke, John, Stärke. Irgendwie bist du zu bewundern, wenn ich genauer darüber nachdenke. Du gehst oft den komplizierteren Weg und hast trotz‐ dem deinen Mut und deinen Glauben nicht verloren. So etwas nötigt mir Achtung ab. Ich dagegen schaffe das nicht, so leid es mir tut. Vielleicht stecke ich schon tief drin, wer weiß das alles. Möglicherweise hätte ich alles anders anfassen sollen, denn ich bin in die Mühlen dieses verdammten Geheimdienstes hineingeraten und komme nicht heraus. Manchmal glaube ich sogar, daß es im Leben nichts Positives mehr gibt. Aber was soll das?« Er lachte etwas bitter auf und schlug mir auf die Schultern. »Wir sind nicht hier, um zu philosophieren. Vor uns liegt ein verdammt hartes Stück Arbeit, obwohl, das muß ich zugeben, dieses Nachdenken über unsere Arbeit auch mal ganz gut getan hat. Sonst hat man ja nur Ac‐ tion und Trouble. Ändern werde ich mich wohl nicht können. Außerdem habe ich immer das Gefühl, mit einem Bein im Grab zu stehen. Manchmal plagen mich Alpträume. Ich sehe mich umringt von Killern, die mich an‐ glotzen und mir versprechen, mich zu holen. Und im Hintergrund lauert die Fratze des Todes, dann winkt mir eine Knochenhand zu, daß sie mich…« Er brach mitten im Satz ab und wechselte das Thema. »Komm, wir haben hier nichts mehr zu suchen. Laß und verschwinden, John. Andere Dinge warten.« »Der Friedhof.« Er nickte. »Und wie. Hast du schon von St. Louis Cemetery Nr. 1 etwas gehört?« »Nein.« »Dann wirst du dich wundern.« »Wieso?« Er hielt mir die Tür auf. »Dieser Friedhof ist das Ungewöhnlichste, das wir hier haben. Man nennt die Begräbnisstätten nicht umsonst Cities of the Death. Es sind regelrecht Städte, durch die du mit deinem Wagen fahren kannst. Was soll ich viel reden? Du wirst es erleben. Mach dich nur auf eine 176
heiße Nacht gefaßt.« »Wo befindet sich der Friedhof?« »Nur ein paar Straßen weiter. Wir können zu Fuß hingehen. Das müssen wir auch, sonst werden wir in den Massen ersticken. New Orleans wird sich verwandeln. Außerdem liegt das Areal an der Grenze zu dem alten Vergnügungsviertel Storyville, wo vor hundertfünfzig Jahren die Hölle los war. Man brauchte die Toten praktisch nur über die Mauer zu schaffen. Vergnügen und Sterben lagen dicht beieinander. Das soll es heute auch noch geben, wie ich mir habe sagen lassen.« Wir hatten mittlerweile das Lager durchquert, erreichten auch das Ge‐ schäft und erlebten noch etwas von dem mit, das der andere hinterlassen hatte. Barnabas mußte wie ein Berserker gewütet und auf nichts Rücksicht ge‐ nommen haben. Auch nicht auf im Weg stehende Regale. Er hatte sie bei seiner Flucht einfach umgeräumt und niedergestoßen. Die in ihnen ausge‐ stellten Gegenstände lagen auf dem Boden verteilt. Eine Frau, die ich an der Kasse schon gesehen hatte, versuchte vergeblich, Ordnung in das Cha‐ os zu bringen. Sie schimpfte wie ein Rohrspatz und ließ ihrer Wut freien Lauf. Auf der Straße traten wir wieder in die Hitze. Sie war irgendwie anders geworden, hatte zwar nicht zugenommen, doch sie kam mir trotzdem schlimmer vor. »Es ist einfach zu schwül«, erklärte Fred. »Aber damit muß man am A‐ bend immer rechnen.« »Das richtige Wetter für den Voodoo.« »Da sagst du was.« »Wann geht es eigentlich los?« fragte ich den Agenten. »Immer bei Anbruch der Dunkelheit. Wir haben noch etwas Zeit.« »Dann könnte ich ins Hotel fahren, duschen und mich umziehen. Ein hel‐ ler Anzug ist mir zu auffällig. Der leuchtet im Dunkeln.« »Ja, das ginge.« »Und wir treffen uns hier?« Diamond nickte. »Wäre nicht schlecht. Ich muß sowieso noch auf Mona warten.« Ich schaute auf die Uhr. »In zwei Stunden spätestens?« Fred war einverstanden. Ich verabschiedete mich von ihm und begab 177
mich auf die Suche nach einem Taxi. Der Wagen besaß sogar Air condition. Aufatmend ließ ich mich in seine Polster sinken. Ich wußte, daß mir eine verdammt harte Nacht bevorstand, und hoffte, daß diese Nacht mich auf die Spur zu einem gewissen D. C. bringen würde und natürlich zu dem geheimnisvollen Voodoo‐Land. Auch dachte ich an Suko, den es schlimm getroffen hatte. Er stand unter meinen Freunden mit an erster Stelle. Ich würde nicht von hier verschwin‐ den, bevor ich ihn befreit hatte. Eine Maschine bin auch ich nicht. So kam es, daß mir die Augen zufielen und mich der schnauzbärtige Fahrer anstoßen mußte, um mich zu wecken. »Wir sind da, Mister.« Verwirrt schlug ich die Augen auf, schaute aus dem Fenster und sah die weiße, hohe Fassade des Hilton‐Kastens. »Danke. Was habe ich zu zahlen?« Er nannte den Preis, ich legte noch ein Trinkgeld drauf, verließ seinen Wagen und betrat das Hotel. Die Halle hatte sich bevölkert. Einige Gäste, Touristen, besaßen sogar Kerzen. Sie wollten den alten Brauch mitmachen und gaben sich aufgeregt, während sie ihre gefüllten Longdrinkgläser in den Händen hielten. Mich bedachten sie wegen meiner Kleidung mit sehr skeptischen Blicken, hielten sich aber mit Kommentaren zurück. Ich ließ mir den Zimmerschlüs‐ sel geben, erntete trotz meines schmutzigen Anzugs ein freundliches Lä‐ cheln und wurde auch gefragt, ob man mir irgendwie behilflich sein könn‐ te. Dankend lehnte ich ab. Im Zimmer angekommen, atmete ich tief durch. Die Puppe lag noch im‐ mer dort. Als ich sie sah, wurde ich wütend, nahm sie vom Bett, warf sie auf den Boden und trampelte so lange auf ihr herum, bis sie nur noch ein Klumpen war. »Ich kriege euch!« flüsterte ich. Nach dieser Tat ging es mir etwas besser. Auch die Dusche tat sehr gut. Aus dem Koffer holte ich mir frische Kleidung. Dunkle Jeans, ein ebenfalls dunkles Hemd und eine dünne Jacke, die auch in der Finsternis nicht auf‐ fiel. So angezogen, setzte ich mich auf das Bett und telefonierte mit London. Sir James, mein Chef, war zu jeder Tages‐ und Nachtzeit für mich zu errei‐ 178
chen. In diesem Fall versuchte ich ihn in seinem Büro zu erwischen und hatte auch Glück. Sehr schwach drang seine Stimme über den »Atlantik«. »John!« rief er. »Wie geht es Ihnen?« »Nicht besonders. Sie haben Suko.« Nach dieser Antwort hörte ich zunächst einmal nichts, nur das ferne Rauschen in der Leitung. »Ist er tot?« »Nein, Sir, nur scheintot.« Diese Antwort haute den Superintendent sicherlich vom Hocker, und ich fügte schnell einige Erklärungen hinzu. In Stichworten berichtete ich, was wir hier vorgefunden hatten und daß ich mich in den nächtlichen Voodoo‐ Trubel stürzen wollte. »Die Johannisnacht, Sir, ist die wichtigste in New Orleans. Da flippen die Leute aus und ziehen durch die engen Straßen des French Quarter, der Altstadt. Ich habe es selbst noch nicht gesehen, aber ich werde den Trubel erleben, der seinen Höhepunkt auf den Friedhöfen fin‐ det.« »Und da wollen Sie mitmischen?« »Ja.« »Was ist mit der Division und diesem D. C?« »Bisher habe ich noch nichts von beiden gesehen. Aber es gibt konkrete Spuren. Durch eine Frau namens Rhonda Lassalle, die hier als eine Voo‐ doo‐Königin verehrt wird, kann ich an sie herankommen.« »Das hört sich gut an.« Sir James überlegte sich die nächsten Worte. »Nur frage ich mich, ob es alles so klappen wird, wie Sie es sich vorgenommen haben. Ich wünsche es Ihnen jedenfalls. Und geben Sie bitte acht, John. Ich möchte nicht, daß eine Leiche überführt wird.« »Ich werde mich vorsehen, Sir.« Damit war unser Gespräch beendet. Für die Dauer einer Zigarettenlänge blieb ich noch auf der Bettkante sitzen, stützte mein Kinn auf die Handflä‐ che und dachte nach. Wenn ich ehrlich war, mußte ich zugeben, daß wir schon einiges erreicht hatten, und das innerhalb einer ziemlich kurzen Zeitspanne. Tief einatmend erhob ich mich, verließ das Zimmer und dachte daran, daß ich mich aus dieser Welt des Luxus in eine andere völlig entgegenge‐ setzte und unheimliche begeben würde, wo da; Grauen an meiner Seite 179
Pate stand. Ein Page besorgte mir ein Taxi. In der Halle standen die Touristen noch immer. Sie hatten die dunklen Kerzen jetzt angezündet. Trotz Air condition nahm ich den Geruch wahr, den sie ausströmten. Es roch widerlich süß. Eine Mischung zwischen Blut und Moder. Die Gesellschaft fand es toll und shocking zugleich. Wenn ich daran dachte, daß mich dieser Gestank die Nacht über beglei‐ ten würde, wurde mir ganz anders, aber es war nichts zu ändern. Ich muß‐ te mich mit den Tatsachen abfinden, ob ich wollte oder nicht. Der Wagen kam, ich stieg ein und dachte daran, daß wohl eine der schlimmsten Nächte meines Lebens vor mir liegen würde. Auf jeden Fall wollte ich dafür sorgen, daß die Stadt am Mississippi nicht zu meinem Grab wurde… VI Als ich vor dem Voodoo‐Shop ausstieg, war die Sonne bereits so tief ge‐ sunken, daß ihre rot glühenden Strahlen im spitzen Winkel über die Stadt fielen und man das Gefühl haben konnte, gegen eine Blutorange zu schau‐ en. Es hatte sich im Prinzip nichts verändert, dennoch war es anders ge‐ worden als am Mittag oder Nachmittag. Damit meinte ich die Atmosphäre. Eine nicht faß‐, nur fühlbare Spannung lag über der Straße. Die Men‐ schen wirkten fremder als noch vor Stunden. Ihre Blicke hatten sich verän‐ dert. In den Augen lag ein gewisses Funkeln, das ich mit dem Ausdruck der Erwartung umschreiben konnte. Auch sahen sie angespannter aus. Sie lächelten kaum noch, sondern hielten die Augen mehr zusammengeknif‐ fen, um abzuwarten, ob sie nicht irgend etwas entdeckten, das wichtig für sie sein könnte. Autos fuhren kaum noch. Die wenigen Taxis verschafften sich nur müh‐ sam und mit viel Hupen einen Weg. Ich wartete. Der Shop wurde geschlossen. Wer sich bis jetzt nicht mit Kerzen einge‐ deckt hatte, würde hier keine mehr bekommen. Immer mehr Menschen trafen ein. Sie schlenderten scheinbar ziellos umher, warfen Blicke auf ihre 180
Uhren oder schauten gegen den Himmel, dessen allmählich blaugrau wer‐ dender Ausschnitt sich zwischen den Dächern der Häuser abzeichnete. Bald würde es so weit sein. New Orleans ist eine Küstenstadt. Normalerweise weht ein stetiger Wind vom Meer oder von den Sümpfen des Mississippi‐Deltas hinüber. An die‐ sem späten Nachmittag oder frühen Abend war es nicht so. Kein Hauch streifte mein Gesicht, es kam mir vor wie die Ruhe vor dem Sturm, und die drückende Schwüle hatte zugenommen. Die Luft stand. Da sie nicht aufgefrischt oder ausgetauscht wurde, war sie geschwängert mit den Ausdünstungen und Gerüchen der sich versammelnden Men‐ schen. Schweiß, Alkohol, Räucherstäbchen, süßliches Parfüm oder der Ge‐ ruch von scharfem Essen vereinigte sich zu einem Konglomerat, das für europäische Nasen wie die meine nicht eben erträglich war. Zum Glück war es kein Leichengeruch, der mir entgegenwehte. Ich hatte mich gegen die Wand des Shops gelehnt und wurde von selt‐ samen Typen eingerahmt. Rechts von mir stand ein junger Bursche mit hagerem Gesicht, bei dem der Vollbart überwog. Er trug das Haar lang und hielt es durch ein blaues Stirnband vorn zusammen. Seine Hose stank, sie hätte auf den Müll gehört, er aber hatte sie angezogen. Als Oberteil trug er ein graues Unterhemd ohne Armansatz. Zwischen seinen schmutzigen beringten Finger ver‐ qualmte eine Zigarette. Die beiden Kreolenmädchen zu seiner Linken lutschten Eisstangen. Sie glichen in ihrer Kleidung bunten Vögeln. Fast alle Farben des Spektrums waren vertreten, und ihre buschigen Haare sahen aus wie große Mäntel, die ihre Köpfe umrahmten. Ich schaute auf die Uhr. Die zwei Stunden waren noch nicht ganz vorbei. Trotzdem hätten meine Partner kommen können. Je früher wir auf dem Friedhof eintrafen, um so besser war es, dann konnte ich wenigstens vor der großen Feier die Lage sondieren. Menschen schlenderten an mir vorbei. Ich sah in unzählige Gesichter. Manche weiß, andere dunkel, fast schwarz, wieder andere in Brauntönen. Dieser Rassenwirrwarr gefiel mir vor allen Dingen deshalb, weil sich die Menschen friedlich und noch nor‐ 181
mal verhielten. Hoffentlich würde es auch so bleiben, wenn sich die Dunkelheit über die Stadt legte. Der Typ im Unterhemd stieß mich an. Ich drehte mich und sah sein Grin‐ sen. »Hast du was zu rauchen?« fragte er mich. »Sicher.« Ich opferte drei von meinen Zigaretten. »Mit Filter«, murmelte er. »Auch nichts Echtes mehr.« Er knipste die Fil‐ ter ab und rauchte die erste Zigarette an. Die beiden anderen steckte er vorsichtig in die Hosentasche. »Willst du auch bei der Schau mitmischen?« fragte er mich und blies die Rauchwolke mit vorgestülpter Unterlippe gegen seine Stirn. »Das hatte ich vor.« »Alles Irrsinn.« »Wie man’s nimmt.« Er veränderte seine Haltung und lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand, so daß er mich direkt anschauen konnte. »Du bist als Tourist hier, nicht?« »Ja. Sieht man das?« »Ich immer.« »Kommst du aus der Stadt?« »Nein, aber ich stamme aus dem Süden. Bin hier hängengeblieben und kenne mich gut aus.« »Auch beim Voodoo?« »Klar.« Er grinste spöttisch. »Du hältst nichts davon?« »Nein, ich habe diesen Zauber schon oft genug erlebt. Scheiß Totenkulte. Dabei kommt nichts raus. Eigentlich bin ich Fischer. Ich fuhr oft genug in den Golf und versuchte, meine Brötchen zu verdienen. Aber da war nichts zu machen. Die Gewässer um die Inseln sind durch das verdammte Öl verpestet worden. Du bekommst kaum einen Brocken an die Angel. Ir‐ gendwann haben sie mir den Kahn weggenommen.« »Einfach so?« fragte ich. Er stäubte Asche ab. »Nein, ich hatte noch einige Nebengeschäfte ge‐ macht, die den Bullen nicht gefielen.« »Stoff?« »Nie. Alkohol. Billigware. Ich konnte sie im Golf übernehmen und im 182
Süden verkaufen. In manchen Gegenden glauben sie noch an die Prohibiti‐ on, diese Idioten. Aber das Geschäft ist vorbei. Es gibt genügend Leute, die selbst brennen. Mußt mal nach Virginia rauf, da ist vielleicht was los, sage ich dir.« Davon wollte ich nichts hören, denn mir war eingefallen, daß sich der junge Mann gut auskannte. »Du kennst den Golf und auch die Inseln, die da liegen?« »Ja.« »Was sind das denn für Flecken Erde?« »Miese Dinger, sage ich dir.« Er ließ die Zigarette fallen und trat den Stummel aus. »Die großen wie Dauphin, Cat, Petit Bois oder Hörn Island kannst du abhaken. Das sind die, die zwischen dem Golf und der Küste liegen. Da ist das Gewässer schmutzig. Außerdem führt dort der Intraco‐ astel Waterway entlang. Die Strecke ist sehr befahren, kann ich dir sagen. Na ja, der zweitgrößte Hafen der USA…« »Und wie sieht es im Golf aus?« Er wurde mißtrauisch. »Wieso interessierst du dich dafür, Mann?« Ich lachte. »Als Tourist immer. Ich komme aus England, mache ein paar Tage Urlaub, und da wollte ich soviel sehen wie möglich. Auch mal in den Golf hineinschnuppern.« »Da ist nicht viel zu riechen.« »Ich hörte, daß es noch kleine Inseln gibt, die man eventuell kaufen kann…« »Wenn du so viele Scheine hast.« Er rieb Daumen und Zeigefinger ge‐ geneinander. »Nicht ich. Ein Freund von mir. Seine Vorfahren stammen von hier, und er will auf seine alten Tage wieder zurück. Ein Jahr macht er noch Geld, dann möchte er eine Insel haben. Das Klima in Europa ist ihm zu rauh. Er liebt den Süden.« Der Mann strich durch seinen Bart. »Da gibt es einige, die schon im Golf liegen, ich würde keinem empfehlen, sie zu kaufen.« »Weshalb nicht?« »Da ist nichts los. Nur Dschungel und Steine. Ich habe einige von ihnen untersucht.« »Tatsächlich?« »Wenn ich es sage.« 183
»Hast du auch was gefunden?« »Wie meinst du das denn?« »Menschen und so.« »Bewohnt sind nur die wenigsten.« Er lachte plötzlich auf. »Einmal ist mir ein Ding passiert, kann ich dir sagen. Da haben sie mich von einer Insel verjagt. Die ist bewohnt und ziemlich groß. Ich hatte sie nur angefahren, um nach etwas Eßbarem zu suchen. Ich habe mal Biologie studiert, und da kenne ich mich aus. Als ich die Insel betrat, gab es Zoff. Zwei Kerle kamen an, die so aussahen, als würden sie nur versuchsweise leben. Das waren Typen, kann ich dir sagen. Die stanken wie Leichen. Wenn ich ja an Voo‐ doo glauben würde, hätte ich gesagt, daß mich Zombies angegriffen haben, aber so…« »Wie hieß die Insel denn?« »Weiß ich nicht.« »Und wo liegt sie? Schon im Golf?« »An dessen Rand, sagen wir mal.« Er schaute mich an und winkte plötz‐ lich ab. »Ach, ich habe keinen Bock mehr. Kannst ja hinschwimmen, wenn du Lust hast.« Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, ging er davon. Nach drei Schritten schon war er zwischen den zahlreichen Menschen unterge‐ taucht. Auch die beiden eisleckenden Mädchen hatten die Stellung ge‐ wechselt. Momentan war die Mauer neben mir leer. Ich war dem Schicksal dankbar, daß ich mich mit dem verhinderten Schmuggler unterhalten konnte. Dessen Informationen waren nicht schlecht gewesen. Besonders die letzten Sätze hatten mich aufmerksam werden lassen. Dieser Mensch hatte von einer bewohnten Insel gesprochen, wo Typen herumliefen, die aussahen wie Zombies. Für mich sahen sie nicht nur so aus, es waren sogar welche. Zombies auf einer Insel. Gab es eigentlich ein besseres Versteck? Vielleicht hieß die Insel sogar Voodoo‐ Land. Leider war ich nicht mehr dazu gekommen, den anderen zu fragen. »Da steht er und wartet.« Ich schaute auf, als ich die Worte hörte. Lächelnd schob sich Fred Dia‐ mond auf mich zu. »Schon lange hier?« »Es geht.« »Ich habe mich noch einmal umgesehen.« Er blieb neben mir stehen und zündete sich eine Zigarette an. Dabei roch ich seinen Whiskyatem. 184
»In einer Kneipe oder Bar?« fragte ich. »Genau.« Er schüttelte den Kopf. »Die Leute hier sind verrückt. Irgend‐ wie kommen sie mir noch verrückter vor als in den Jahren zuvor. Ein regel‐ rechtes Voodoo‐Fieber hat von ihnen Besitz ergriffen. Das ist kaum zu glauben, aber wahr.« »Was tun sie denn?« »Sie reden schon von alten Zaubersprüchen, lebenden Toten und ge‐ heimnisvollen Ritualen. Manche wollen auch in ihre Häuser gehen und dort die alten Voodoo‐Altäre aufbauen. Du kommst dir vor wie zweihun‐ dert Jahre zurückversetzt, zur Zeit dieser Marie Leveau. Nichts scheint sich verändert zu haben.« Ich hob meine Schultern. »Vielleicht ist es gerade das, was die Menschen heute wollen. Zuviel Technik, zu viele Computer, nervöse Vorgesetzte, nicht genügend Arbeit, auch hier nicht, das gibt eben Streß, der irgendwo einen Ausgleich braucht.« »Kann hinkommen.« »Wo steckt eigentlich Mona?« erkundigte ich mich. »Keine Ahnung. Wir haben uns getrennt. Sie wollte noch etwas besorgen. Umgezogen war sie schon.« »Wo sie wohnt, weißt du nicht?« »Nein, obwohl sie mich reizt. Die hat was in der Bluse, wo es sich für ei‐ nen Mann lohnt, sich damit näher zu beschäftigen. Himmel, ist die ge‐ baut.« Fred grinste. »Die Schwarzen und Mischlingsmädchen sind meist eine Wucht. Die haben Pfeffer im Blut wie die Tscherkessinnen.« »Woher weißt du das denn?« »Man sagt doch, daß die Tscherkessinnen einem das Weiße aus den Au‐ gen holen. Bei einem Einsatz in der UdSSR hat mir das mal jemand erzählt. Schade, ich habe es nicht ausprobiert.« »Du nimmst wohl alles mit, was dir so über den Weg läuft?« erkundigte ich mich. »Darauf kannst du dich verlassen, John. Bei dem Leben, das ich führe, ist es nur ganz natürlich.« Ich widersprach nicht. Es mußte eben jeder sehen, wie er glücklich wur‐ de. Ich vertrat da eine etwas andere Meinung. Auch Diamond blickte auf seine Uhr. »Meinetwegen könnte sie kommen. Es ist zwar nicht weit bis zum Friedhof, aber bei dem Betrieb dauert es 185
immer länger.« »Bin schon da.« Monas Stimme war nicht zu überhören. Sie löste sich aus dem vorbeizie‐ henden Pulk der Leute und stand vor uns. Ich hätte sie kaum wiedererkannt, wären nicht die gefärbten Haare ge‐ wesen. Die Neonschminke hatte sie abgewischt, dafür hatte sie ihr Gesicht angemalt. Mit weißer Farbe waren Doppelkreuze auf die Wange gepinselt worden, und auf der Stirn trug sie einen ebenfalls weißen Punkt, der so aussah wie ein drittes verfremdetes Auge. Über ihre Kleidung wunderte ich mich ebenfalls. Sie trug einen dunkelro‐ ten leichten Pullover mit braunen, dünnen Lederstreifen. Ihre Hose saß eng, die Füße steckten in schmalen Stiefeln ohne Absätze. Auf jeglichen Schmuck hatte sie verzichtet, und ihre Lippen schimmerten bleich durch die Bemalung des Fettstifts. »Was ist?« fragte sie mich. Ich lächelte. »Nichts. Du hast dich nur verändert.« »Man muß sich eben anpassen.« »Ja, das glaube ich. Wozu die Kreuze, und dann noch die doppelten?« »Es sind Voodoo‐Kreuze. Jeder, der sie trägt, zeigt damit an, daß er bereit ist, den Zauber zu genießen.« »Du auch?« Ihr Blick wurde lauernd. »Natürlich auch ich. Aber anders, als es sich ei‐ nige Menschen vorgestellt haben.« »Dann hast du deine Pläne noch nicht aufgegeben?« Sie stellte sich provozierend hin und stemmte ein Bein vor. »Hättest du das erwartet?« »Im Prinzip nicht.« »Na bitte.« Fred Diamond erinnerte uns an unsere Aufgabe. »Ich finde, wir sollten allmählich von hier verschwinden und uns auf den Weg machen.« Er deu‐ tete zum Himmel. »Die Sonne sinkt immer tiefer. Gleich werden die ersten Kerzen angezündet, dann bewegt sich die Menschenschlange noch lang‐ samer voran, kann ich euch sagen.« Mona und ich hatten nichts dagegen. Das Mädchen nahmen wir in die Mitte, als wir uns auf den Weg machten und in den Menschenstrom ein‐ tauchten. 186
Es war kein normales Gehen, eher ein Schlendern und ein Geschoben‐ werden. Fremde Körper stießen mich an, berührten mich, ich berührte sie, der Hautkontakt war stets vorhanden, und mir fiel auf, daß es so gut wie keine Passanten gab, die sich rücksichtslos benahmen. Wer in die andere Richtung laufen wollte, hielt sich auf der rechten Straßenseite, so kam es kaum zu Kollisionen, höchstens durch Kinder verursacht, die ebenfalls noch auf den Beinen waren. Die Farbigen überwogen. Kein Wunder, denn es war ihr Fest. Der Voo‐ doo‐Kult hatte seine Wiege in Afrika gehabt, und mit den Negersklaven war er auch in den Staaten und auf die Inseln der Karibik transportiert worden. Dort war er für die bedauernswerten Menschen, die sich unter der Knute ihrer Herren duckten, zu einer Ersatzreligion und zu einer Flucht aus der Realität geworden. Im Voodoo fanden sie Vergessen, sie lebten mit den Ritualen regelrecht auf, da waren sie in ihrer Welt und nicht in der der Weißen, wo sie nur gedemütigt wurden. Die Sonne sank tiefer. Ihr noch roter gewordener Ball schien von einem riesigen grauen Maul verschluckt zu werden. Die jetzt senkrecht fallenden Strahlen legten sich über die Dächer der Häuser und gaben ihnen einen blutigen Schein. Sie tupften auch gegen querstehende Wände, malten Muster und überdeckten andere Farben. Hohe Bäume, die überall zu finden waren, bekamen einen völlig anderen Glanz und standen wie scharf konturierte Gebilde vor dem Licht der letzten Sonnenstrahlen. Zum erstenmal erlebte ich New Orleans in dieser Stimmung und mußte zugeben, daß sie mich ebenfalls berührte. Zwar herrschte Hektik und Trubel, doch viel gedämpfter als an normalen Tagen. Die Bewegungen der Menschen schienen sich zu verzögern, man ging abwartend, irgendwie lauernd, als würde man auf eine bestimmte Zeit warten. Danach fragte ich Fred Diamond. Mir war aufgefallen, daß in den Stra‐ ßen bereits Dämmerlicht herrschte, während der obere Teil der Häuser noch vom roten Licht der Sonne betupft wurde. Er nickte. »Ja, sie warten auf ein Ereignis. Wenn die Turmuhren achtmal schlagen, ist der Zeitpunkt gekommen. Noch sind die Kirchenglocken ru‐ hig, aber warte mal ab.« Er schaute auf seine Uhr. »Wir haben noch zwan‐ 187
zig Minuten Zeit.« »Können wir nicht etwas trinken?« fragte ich. Plötzlich hatte ich großen Durst bekommen. Beide waren dafür. Mona entdeckte eine kleine Bar unter Bäumen. Sie war aufgemacht wie eine Bistro und erinnerte an Frankreich. Runde Tische standen vor dem Eingang, aus dessen offener Tür Jazzklänge wehten und ein Trompetensolo von einer nicht erfüllten Sehnsucht erzählte. Wir fanden drei schmale freie Plätze. Ein Mädchen in lockerer Kleidung bediente. Saft bekam ich nicht. Sie verkaufte nur Longdrinks. Also bestellte ich drei. Bunte Strohhalme ragten aus den Gläsern, die knapp eine halbe Minute später serviert wurden. Wahrscheinlich hatte man die Getränke schon be‐ reitstehen. Wir begannen zu trinken. In der trüben grünlichen Flüssigkeit klimper‐ ten Eisstücke. Das Zeug schmeckte ein wenig nach Anis. So etwas kannte ich aus Frankreich her. Nebenan standen Gäste, die sich auf französisch unterhielten. »Und was machen wir, wenn wir den Friedhof erreicht haben?« fragte ich, dabei in die Runde deutend. »Wenn ich mir überlege, daß alle Men‐ schen, die sich bisher gesehen habe, den Friedhof besuchen wollen…« »Moment, Moment!« Fred Diamond wedelte mit der Hand, und auch Mona schüttelte den Kopf. »So ist es ja nicht«, sagte der Agent. »Du ver‐ wechselst da einiges, John.« »Dann kläre mich auf.« »Ich bin dabei. Die meisten gehören nur zu den Mitläufern. Sie kaufen sich die Kerzen, stecken sie entweder auf den Straßen oder in ihren Woh‐ nungen an und belassen es dabei, falls sie nicht Freunde und Bekannte eingeladen haben, um ein Voodoo‐Fest zu feiern. Für sie ist das ein Brauch, der ihnen zwar Schauer über den Rücken jagt, aber nicht so ernst genom‐ men wird.« Ich nuckelte am Halm. »Was ist denn mit den anderen, diesem harten Kern, wenn ich das mal so sagen darf.« »Genau getroffen, John, der harte Kern. Der sucht sich die Friedhöfe aus, um das Grauen durch alte Rituale zu verbreiten. Noch immer gibt es einige 188
Leute, die Leichen aus den Gräbern holen wollen. Das wird in dieser Nacht versucht. Ob es allerdings klappt?« Er hob die Schultern und stülpte seine Unterlippe vor. »Garantieren kann ich da für nichts. Ich glaube auch nicht daran, daß sie es schaffen, die Toten aus der Erde zu locken. Das ist einfach zu unwirklich.« »Du mußt es wissen«, grinste ich. Mona sagte auch etwas. »Zudem versammeln sie sich nicht nur auf ei‐ nem Friedhof. Der, den wir besuchen wollen, ist für den harten Kern aller‐ dings am wichtigsten.« »Wieso?« »Weil er der älteste ist.« »Tut mir leid, für mich ist das kein einleuchtender Grund. Kannst du das nicht näher erklären?« Mona deutete auf Fred. »Er kennt sich wohl besser aus.« Diamond nahm einen Schluck und nickte. »Ja, so kann man es sehen. Ich habe mich mit dieser Stadt und ihrer Historie beschäftigt. Da kommt man einfach an den Friedhöfen nicht vorbei. Hör zu, John. New Orleans liegt an der Mündung des Mississippi. Daß dieses Gebiet praktisch aus Sumpfland besteht, brauche ich dir nicht zu sagen. Es war früher schon eine architektonische Meisterleistung, daß die Leute es überhaupt geschafft haben, die prachtvollen Häuser, Kathed‐ ralen und Kirchen auf Schwemmsandboden zu bauen. Sie schafften es, und alles ging auch gut, bis es zu sintflutartigen Regenfällen und Über‐ schwemmungen kam. Da konnte man der Toten nicht mehr Herr werden, denn Gelbfieber, Pest und andere Krankheiten dezimierten die Bevölke‐ rung. Der Spaten des Totengräbers stieß eher auf Schlamm, als auf einen festen Untergrund. Was sollten die Einwohner machen, um ihre Toten zu bestatten? Sie begruben die Leichen in den Kirchen und Kathedralen. Bald konnten die Keller und Krypten der Kirchen die Toten nicht mehr fassen. Was also tun?« »Friedhöfe bauen«, erwiderte ich. »Genau. Dies geschah außerhalb der Stadtmauern. Damals umfaßte New Orleans ja nur das Viertel, in dem wir uns jetzt befinden. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als den ersten der drei St. Louis‐Friedhöfe zu bauen. Deshalb Nummer eins. Die zwei und drei hat man später angelegt. Und der erste Friedhof lag neben dem berühmten Vergnügungsviertel Storyvil‐ 189
le. Lust, Sex und Frivolität waren eng benachbart. Die Friedhöfe gehörten der katholischen Kirche, andere, noch weitere entfernte wie Green‐land oder Maiterie wurden von Privatleuten gegründet. Die erinnern mehr an europäische Friedhöfe und ähneln großen Parklandschaften. Es heißt, daß der Maiterie eine der ersten Rennbahnen in den Staaten gewesen sein soll, und außerdem war er der Friedhof der Reichen, denn die Grabmäler, die du da zu sehen bekommst, sind oft größer als Reihenhäuser in Europa, von denen ich schon genügend gesehen habe. Aber am interessantesten sind die drei St. Louis‐Friedhöfe. Sie sind originell, und wenn früher Hochwas‐ ser war, hat man die Leichen in regelrechten Bootsprozessionen zu ihren Grabstätten gerudert, begleitet vom Schein der Votivkerzen, die auch zum Voodoo‐Kult gehören. Dann hallten die Klänge der Litaneien und das Wehklagen der Grabgesänge über das stille Wasser.« Ich hatte aufmerksam zugehört, denn Fred konnte wunderbar plastisch berichten. Er hatte seine Worte mit der entsprechenden Gestik und Mimik begleitet. Er wollte gerade weitersprechen, als ihm ein Ereignis, auf das wir schon gewartet hatten, unterbrach. Das Schlagen der Kirchenglocken! Für die Menschen in der Altstadt war es das Zeichen. Kaum erklang der erste Ton, als plötzlich sämtliche Geräusche verstummten und auch die Gespräche einschliefen. Selbst der Schlafgesang der Vögel war nicht mehr zu hören, nur dieser Glockenklang, der über die Altstadt schwang und jede noch so kleine Gas‐ se ausfüllte. Ich war wohl der einzige weit und breit, der sich bewegte, als ich den Kopf nach rechts und links drehte, um schauen zu können, was sich in meiner Umgebung abspielte. Die Menschen standen auf dem Fleck. Sie wirkten andächtig, wie erstarrt oder tief im Gebet versunken. Einige hatten ihre Hände auf die Tische ge‐ legt, andere die Fäuste geballt. Auch die Köpfe befanden sich in einer un‐ natürlichen Haltung, weil die Leute dem Klang der Glocken nachlauschten und selbst die Augen leicht verengt hatten. Verkehrsgeräusche hörte ich ebenfalls nicht. Jedes Fahrzeug mußte in der Altstadt angehalten haben, denn dieser Glockenklang läutete die unheim‐ lichste Nacht des Jahres ein. 190
Auch wir lauschten und rührten uns kaum. Mona stand wie erstarrt. Ich schielte zu ihr rüber. Ihr Gesicht hatte einen völlig anderen Ausdruck an‐ genommen. Die Züge wirkten gespannt, wie eingefroren, in den Pupillen lag ein lauernder, erwartungsvoller Ausdruck, während die weißen Kreuze sich in diesen langen Augenblicken noch stärker von ihrer dunklen Haut abhoben und der Atem leise pfeifend durch das Oval ihrer Lippen drang. Achtmal mußten die Glocken schlagen. Es waren unterschiedliche Laute. Manche dumpf, sogar grollend, andere Glocken läuteten hell und freundlich. Alle zusammen jedoch vereinigten sich zu einem gewaltigen Crescendo, aus dessen gewaltiges Fülle ich sogar das dünne Bimmeln einer Totenglocke heraushörte. Der letzte Schlag. Noch einmal schienen die Glocken alles aus ihren metallenen Formen herausholen zu wollen, bevor die Klänge und Echos über den Häusern der Stadt verwehten, als hätte sie der Old Man River, der Strom aller Ströme, verschluckt. Danach herrschte Stille! Es war keine natürliche Ruhe, wie man sie normalerweise kennt, sie kam mir angespannt vor, lauernd, denn sie wartete darauf, jeden Moment von einem Wirrwarr von Stimmen unterbrochen zu werden. Das geschah. Als hätte jemand den Menschen einen Befehl gegeben, sich aus ihrer Starre zu lösen, so bewegten sie sich plötzlich wieder. Aus den »Robotern« wurden normalen Individuen. Gläser wurden angehoben, die Eiswürfel klingelten, die ersten Gespräche brandeten dort auf, wo sie abgebrochen worden waren, und der Lärm auf den Straßen nahm ebenfalls zu. Jetzt hörten wir wieder die Musikfetzen, jemand lachte schrill auf, den‐ noch kam mir dies alles viel unnatürlicher vor, als noch vor zehn Minuten. Hatte der Klang der zahlreichen Glocken etwas verändert? Darüber sprach ich mit Fred Diamond. Der Agent hob nur die Schultern. »Was soll ich dazu sagen? Ich bin kein so sensitiver Mensch wie die meisten Farbigen hier. Mona könnte da mehr wissen.« »Hat er recht?« Sie leerte ihr Glas. »Schon möglich. Jetzt wissen die meisten, daß es ein‐ getreten ist und es kein Zurück mehr gibt. Sie müssen durch, und morgen, 191
bei Sonnenaufgang, sieht alles ganz anders aus.« Mona lächelte wenig ü‐ berzeugend. Sie schien sich unwohl zu fühlen. Ihre rechte Hand rutschte in eine der Taschen, und sie holte eine ebenfalls schwarze Kerze hervor. Das taten fast alle in der Nähe stehenden Gäste. Sie waren mit den dunk‐ len Voodoo‐Kerzen »bewaffnet«. Als hätten sie einen geheimen Befehl be‐ kommen, stellten sie die Kerzen auf die Tische oder behielten sie in den Händen. Die nächsten Augenblicke glichen schon einer Demonstration der Solidarität, als zahlreiche Feuerzeuge zur gleichen Zeit aufflammten, so daß die aus den Kerzen ragenden Dochtfäden in Brand gesetzt werden konnten. Noch etwas geschah, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Die alten Straßenlaternen verloschen. Um den Charakter des French Quarter zu bewahren, hatte man die Lam‐ pen jenen nachgebaut, wie sie vor zweihundert Jahren modern gewesen waren. Viel Gußeisen, Verzierungen, aber kein Petroleum, sondern Elektri‐ zität speiste sie. Es hätte finster werden müssen, wenn nicht die Kerzen gewesen wären. Sie verbreiteten, zu Tausenden angezündet, ihren flackernden, geheimnis‐ vollen und unruhigen Schein, der ein nicht mehr zählbares Wechselspiel aus Düsternis und Licht schuf, das über die Gesichter der Menschen zuck‐ te, sie manchmal zu fratzenhaften Gebilden verzerrte und andere wieder‐ um positiver zeichnete. Auch über Monas Gesicht flackerte der Widerschein. Er ließ sie geheim‐ nisvoll und unergründlich erscheinen. In ihren dunklen Pupillen sah ich die Lichtblitze zahlreicher anderer Kerzen, die von den Nachbarn und Nachbarinnen gehalten wurden. Es war ein Bild, das mich faszinierte, mich in seinen Bann schlug und mir gleichzeitig unheimlich vorkam, denn so etwas hatte ich tatsächlich noch nicht erlebt. Die Welt dieser Altstadt hatte sich verändert. Eine andere Umgebung war entstanden, ein Flair des Geheimnisvollen durchwehte die Straßen, Gassen und Häuser. Menschen wurden zu tanzenden Schatten, wenn sie sich bewegten und sich zu einer Prozession zusammenschlossen. Auch wir wollten gehen, doch ich hob noch einmal den Arm, und meine beiden Begleiter blieben stehen. »Was hast du?« fragte Fred. »Hörst du nichts?« 192
»Meinst du die flüsternden Stimmen der Leute?« »Nein, die nicht. Das ferne Grollen. Hört sich an wie ein über der See lauerndes Gewitter, dessen Donner nicht abreißen will.« Mona klärte mich auf. »Das ist kein Gewitter, John. Das sind die lauten Vorboten der Nacht, die den harten Kern herbeilocken sollen. Voodoo‐Trommeln.« So etwas Ähnliches hatte ich mir schon gedacht. »Okay«, sagte ich. »Auch uns gelten die Trommeln.« Ich nickte den beiden zu. »Laßt uns ver‐ schwinden, der Friedhof wartet.« Niemand widersprach. Wir lösten uns vom Tisch und sahen zu, daß wir wieder in die lange Reihe des Menschenstroms auf der Straße gelangten. Ich entdeckte einen Voodoo‐Trommler. Der Schwarze trug nur einen Len‐ denschurz, hatte die Trommel umgebunden und schlug seine Hände leicht auf das straff gespannte Fell, so daß keine lauten Klänge entstanden, aber der dumpfe Rhythmus auch nicht zu überhören war und andere Menschen dazu veranlaßte, sich in seinem Takt zu bewegen. »Gehört er zu den Ein‐ geweihten?« fragte ich Mona. »Nein.« »Wieso nicht?« »Er hätte sich sonst bemalt oder irgendwie anders ausgewiesen.« »Wie denn?« »Durch einen kleinen Totenkopf.« Sie ging weiter, ohne sich um mich zu kümmern. Ich folgte ihr, während sich Fred an meiner Seite hielt. Wenn gesprochen wurde, dann nur leise, als hätten die Menschen Angst, daß die Kerzen ver‐ löschen konnten. Sie schauten oft genug in die Flammen hinein und deck‐ ten sie mir ihren freien Händen ab, falls ein Windzug einmal zu stark wur‐ de. Nicht immer kamen wir normal voran. Des öfteren gab es Unterbrechun‐ gen und Stauungen. Da erlebte ich dann die seltenen Voodoo‐Rituale. Man hatte an den Hauswänden kleine Altäre aufgebaut. Voodoo‐Zauber und Heiligenfiguren gaben sich nebeneinander ein Stelldichein. Beleuchtet wurden sie von den Votikerzen, deren zuckender Schein über Voodoo‐ Puppen fiel, auch Masken streifte, und dann wieder die dazwischen ste‐ henden Holzfiguren irgendwelcher Schutzheiliger aus der Finsternis riß. Vor den Altären hockten die Schwarzen mit zumeist nackten Oberkör‐ pern, murmelten die alten Sprüche und Zauberformeln, streuten hin und wieder Pulver in die Flammen, so daß diese verschiedene Farben bekamen, 193
mal grün, mal blau oder hellgelb leuchteten. Nicht alle Menschen trugen nur Kerzen. Ich sah auch Räucherstäbchen, die so behutsam behandelt wurden, als bestünden sie aus kostbarem Por‐ zellan. Manche »Pilger« hatten ihre Kerzen auf Teller oder andere Untersätze gestellt, damit sie ihnen nur nicht aus der Hand fielen und verlöschten oder die Haut vom heißen, flüssigen Wachs verletzt und verbrannt wurde. Fremde Düfte streiften meine Nase. Ich schnupperte, ich roch, ich saugte die Gerüche ein, die manches Mal in meinem Hals kratzten und dort ein trockenes Gefühl hinterließen. Die versammelten Altersgruppen konnte man als einem Querschnitt der Bevölkerung bezeichnen. Ich entdeckte grauhaarige, greise Neger, junge Männer, alte Frauen, Teenager, aufreizend gekleidet, oder dicke Neger‐ mummies mit gewaltigen Busen, die wie Bugs von Schlachtschiffen Schnei‐ sen in die Menschenmenge schnitten. Selbst die Kinder waren still geworden. Wenn ein Kind eine Kerze hielt, so trug es sie mit einer gewissen Andacht, die mich in Erstaunen versetzte. Abermals mußten wir anhalten. Diesmal hatten sich Musiker mitten auf die Fahrbahn gesetzt. Die fünf Leute bildeten einen Kreis. Im Innern des Kreises standen Kerzen, die einen bleichen Totenschädel mit ihrem Licht bestrichen. Die Flammen tanzten und zuckten. Sie schienen sich im Rhythmus des Trommelschlages zu belegen und auch auf die fremdartig klingende Flötenmusik zu hören, die einer der jungen Leute produzierte. Die Menschen standen so dicht wie ein Wall. Ich schüttelte den Kopf und fragte Fred Diamond, ob es nicht noch eine andere Möglichkeit gab, zum Ziel zu gelangen. »Darüber denke ich auch gerade nach.« »Ist etwas dabei herausgekommen?« Er lachte. »Im Prinzip nicht. Ich frage mal Mona.« Sie stand etwas entfernt und schien in Gedanken versunken zu sein. Fred tippte sie an, sie drehte sich um und sah sein Winken. Ein Schritt brachte sie heran. Noch immer hielt sie die Kerze, deren Licht ihr Gesicht streifte. »Kennst du keine Abkürzung zum Friedhof?« fragte der Agent. »Nein, wir müssen auf dieser Straße bleiben.« Sie schaute sich um. »Es sei denn…« 194
»Rede schon.« »Du weißt doch selbst, daß die Häuser miteinander verbunden sind. Die‐ sen Weg könnten wir nehmen.« »Klasse.« Fred schaute mich an. »Was sagst du dazu, John?« »Ich bin dabei.« Und so kam es, daß wir uns von dem Menschenstrom lösten und andere Wege suchten. Dicht an den Hauswänden hielten wir uns und suchten nach einer Lücke, um hineinschlüpfen zu können. Die offenen Haustüren waren durch die Bewohner besetzt, die auch hier ihre Kerzen oder Mini‐Altäre aufgestellt hatten und aus glänzenden Augen der vorbeiziehenden Masse zuschauten. Wir gingen hintereinander. Wir hatten das Mädchen in die Mitte ge‐ nommen und erreichten nach einer Weile eine der schmalen Einfahrten zwischen den Bauten; die noch nicht so dicht besetzt war, als daß wir nicht hätten hindurchgehen können. Wieder schluckte uns eine andere Welt. Nur wenige Schritte von der an‐ deren entfernt. Mir kam es trotzdem vor, als lägen Meilen dazwischen, denn innerhalb der Einfahrt war es finster, und nur in dem sich anschlie‐ ßenden Garten, aus dem uns der Duft schwerer Blüten entgegenwehte, brannten die geheimnisvollen Voodoo‐Lichter. Es waren die Votivkerzen, die man an bestimmten Stellen verteilt und sogar zu kleinen Figuren zusammengestellt hatte. Lichter, die kaum fla‐ ckerten, denn nicht der Hauch eines Windzugs fuhr in den mit Blütenduft geschwängerten Hof. Vor mir sah ich den Rücken der jungen Negerin. Wieder einmal bewun‐ derte ich ihren geschmeidigen Gang. Mona hatte sich ihres Schmucks ent‐ ledigt, das Klappern der Ringe hätte uns in gewissen Situationen verraten können. Der Boden war mit Schmutz übersät. Was die Umweltbelastung anging, so gab man sich in New Orleans sehr lässig. Es war zwar verboten, Abfall auf den Boden zu werfen, doch niemand kümmerte sich darum. Irgendwer hob das Zeug schon auf. Unsere Sicht in und auf dem Hof besserte sich, als wir die Einfahrt pas‐ siert hatten. Wir sahen auch den großen Baum, der in der Mitte des Platzes wuchs. Es war ein tropisches Gewächs. Welchen Namen er trug, wußte ich nicht, aber das plötzliche Kreischen, das die Stille unterbrach, stammte 195
nicht von ihm und auch von keinem Menschen. Wir drei standen sofort still. Automatisch senkte ich meine Hand auf den Griff der Beretta und sah, wie sich Mona umdrehte und mich breit anlä‐ chelte, während ihre Finger meinen Ellbogen umschlossen. »Kein Grund zur Beunruhigung«, flüsterte sie. »Es sind nur die Affen.« Ich war verwundert. »Wie das?« »Es gibt Menschen, die sich diese Tiere halten. Gewissermaßen als Haustierchen. Unser Klima ist tropisch, wie in Florida. In den Everglades hausen auch Äffchen.« »Danke für die Information.« Ich nahm meine Hand wieder zurück. »Du hast mich beruhigt.« »Freut mich.« Nicht weit entfernt lag die erste Kerzeninsel. Interessant anzusehen. Beim Näherkommen sahen wir, daß ihr Schein über eine Puppe fiel, die, an ei‐ nem Stock gebunden, aus dem Boden ragte und tatsächlich – ich wollte es kaum glauben – von einer Schlange umdreht war. Ivtona bemerkte meine Verwirrtheit und gab flüsternd eine Erklärung. »Es ist das Sinnbild des uralten Voodoo‐Kults«, erklärte sie. »Normaler‐ weise muß man eine Boa nehmen. Das ist nicht möglich.« Sie streckte den Arm aus. »Die Puppe mit dem schrecklichen Schädel symbolisiert die Schlangengottheit Dambhalah.« Jetzt wußte ich wieder Bescheid. Eine ähnliche Szene hatte ich schon im Museum gesehen. Der Hof war größer als ich angenommen hatte. An einigen Stellen ge‐ pflastert, zum größten Teil jedoch bestand sein Untergrund aus festge‐ stampftem Lehm. »Und keine Menschen«, flüsterte ich. »Irrtum!« meldete sich Fred Diamond. »Ich habe sie bereits entdeckt.« »Und wo?« »Schau mal hoch. An einigen Häusern befinden sich Außengänge oder Galerien. Da huschen die Schatten her. Wir stehen unter Kontrolle.« Ich wurde mißtrauisch. »Wo hast du uns hier hingeführt?« »Sie feiern überall, John.« »Vielleicht sind wir auch in eines ihrer Nester gestoßen«, meinte Mona. »Der Friedhof liegt nicht mehr weit entfernt. Es kann sein, daß sie uns be‐ reits aufs Korn genommen haben. Vor allen Dingen meinetwegen.« 196
»Wieso?« Mona lächelte. In der Dunkelheit blitzte ihr Gebiß. »Ist doch klar. Ich bin meiner Herrin entkommen. So etwas läßt sie sich nicht gefallen. Sie wird anderen Anweisungen gegeben haben, die Augen offen zu halten.« »Noch können wir zurück«, schlug Fred vor. Damit war ich nicht einverstanden. »Eine erkannte Gefahr ist eine halbe Gefahr. Wir müssen durch.« »Wie du meinst.« Und so schritten wir noch tiefer in den Hof hinein, in dem die Dunkelheit nur hin und wieder von den leuchtenden Votivkerzen erhellt wurde. Dann sahen wir Menschen. Unter dem großen Baum saßen sie. Eine Bank umrundete den Stamm. Dort hatten Männer und Frauen ihre Plätze gefunden. Es waren nur dun‐ kelhäutige Gestalten. Sie sprachen nicht, sondern hielten sich an den Hän‐ den fest, hatten die Köpfe zurückgedrückt, daß sie die Rinde berührten, und machten einen geistesabwesenden Eindruck. Von uns nahmen sie keine Notiz. »Die sind bereits in Trance«, murmelte Fred. »Wahrscheinlich stehen sie auch unter Drogen«, fügte Mona noch hinzu. »Wir sollten uns nicht täuschen lassen, andere sind wesentlich wachsamer. Wenn Fred sie gesehen hat, behalten sie uns unter Kontrolle.« »Alles gut und schön«, gab ich ebenso leise zurück. »Mich würde interes‐ sieren, wie wir den Hof in einer anderen Richtung verlassen können. Es muß einen zweiten Ausgang geben – oder?« »Wir kämen zur Friedhofsmauer«, flüsterte Mona. »Oder in die direkte Nähe.« Sie deutete auf eine Hausmauer, die sich links von uns befand. Dort stach die Ecke eines Gebäudes im spitzen Winkel vor. Außerdem wehte uns von dieser Stelle der Duft besonders intensiv entgegen. Es war schon ein außergewöhnliches Bild, das wir sahen, obwohl die Dämmerung bereits von der Dunkelheit abgelöst wurde. Die vorstehende Hausecke wurde von einem regelrechten Wald aus lianenartigen Gewäch‐ sen überwuchert. Sie hatten einen dichten grünen Teppich, auf dessen O‐ berfläche unzählige Blüten ihren Platz gefunden hatten und den betäuben‐ den Duft ausbreiteten. Dieses Gewächs war so gewuchert, daß wir nicht einmal Fenster in der Hauswand entdeckten. 197
»Da müssen wir durch«, sagte Mona. »Ist wie ein Dschungel.« »Es gibt unten einen Eingang. Die Galerien können wir vergessen.« »Hast du dort nicht die Bewegungen gesehen?« fragte ich Fred. »Genau.« Zu sehen waren die außen an den Mauern und Häusern entlanglaufen‐ den Galerien nicht, denn auch dort hatte die Blütenpracht ein gewaltiges Dach gebildet, das weit überhing und dem Betrachter die direkte Sicht auf einen der Wehrgänge nahm. Wir brauchten nur mehr ein Schritt zu gehen, um den Eingang zu errei‐ chen. Auch neben und über ihm wuchsen die Blüten mit einer verschwenderi‐ schen Pracht. Dieser Duft kam fast einem Rauschmittel gleich. Ich mochte ihn schon nicht mehr. Dann ertönte der Pfiff! Ein lautes Geräusch, nicht kreischend wir das der Affen, und uns war klar, daß nur ein Mensch dieses Signal ausgestoßen haben konnte. Wes‐ halb? Wahrscheinlich galt es allein uns, so daß wir keinen Schritt weiter‐ gingen. Ich drückte mich nach rechts. Dort erkannte ich einen Aufgang, der zur Galerie hochführte. Es waren Holzstufen, ein Geländer sah ich nicht. Viel‐ leicht war es auch überwuchert worden. Dem Pfiff folgte der Knall. Es hörte sich fast an wie ein Schuß. Das war nicht der Fall, die Tür vor uns war nur ins Schloß geschmettert worden. Man hatte uns ausgesperrt. »John, es kann gefährlich werden«, sagte Diamond. Er grinste dabei wild. Vielleicht freute er sich auf einen Kampf, der die angespannte Ungewißheit beenden würde. »Gibt es noch einen anderen Weg?« fragte ich Mona. »Ja, aber die Türen werden bestimmt auch verschlossen sein. Wir könn‐ ten es nur noch über die Galerien versuchen.« »Das ist ein Wort«, erwiderte der Agent. Bevor ich noch reagieren konn‐ te, schob er sich an mir vorbei und lief den Aufstieg hoch. Ich sah ihn ver‐ schwinden, wollte ihn noch zurückholen, als wir das Poltern vernahmen, einen wütenden Laut hörten, dem ein hartes Klatschen folgte. Mona wußte Bescheid. »Gott!« rief sie, »die Peitschenmänner. Sie gehö‐ 198
ren zur Leibgarde der Voodoo‐Königin…« * Das war mir egal! Ich wußte nun, mit wem ich es zu tun hatte, aber ich dachte nicht im Traum daran, ihretwegen meine Pläne umzustürzen. Fred Diamond befand sich in Gefahr. In dieser verdammten Nacht mußte sich einer auf den ande‐ ren verlassen können, so zögerte ich keine Sekunde und machte mich auf den gleichen Weg. Zwei Stufen nahm ich auf einmal. Leider besaß der Aufgang kein Gelän‐ der, das erreichte ich erst, als ich auf der Galerie stand. Von Fred sah ich keine Spur. Der konnte sich nicht aufgelöst haben. Ich blieb für einen Moment stehen, lauschte und vernahm auch ein typisches Geräusch, das entsteht, wenn jemand über den Boden geschleift wird. Durch den Wuchs der Pflanzen an der Außenseite drang so gut wie kein Licht auf die Galerie. Im Dunkeln mußte ich mich weitertasten und atmete dabei den hier noch intensiveren Blütengeruch ein, der schon betäubend wirkte. Schattenhaft sah ich die Gestalt. Als schlankes, schmales Gebilde wuchs sie vor mir in die Höhe, und eine zweite Gestalt wand sich auf dem Boden. Mehr sah ich nicht. An der Haltung war abzulesen, daß es Fred erwischt hatte. Die Peitschenschnur des anderen umschlang seinen Hals. Nun ver‐ suchte der Kerl, den Agenten zu erwürgen. Ich startete und kam wie das berühmte Unwetter über ihn. Meine Arme jagten vor. Sie bildeten dabei eine Schere, so daß ich ihn an zwei Stellen gleichzeitig treffen konnte. Die Linke hieb ich in das Gesicht, das keines war, denn unter meiner Faust spürte ich eine weiche Masse, als hätte ich in Knetgummi geschlagen. Die Muskeln seines Magens waren härter. Meine Faust federte hinein, er kippte auch nach hinten und ver‐ schwand fast mit seinem gesamten Körper in der Blütenpracht, die sich außen von der Hauswand her überwellte. Zum Glück hatte er den Peitschenstiel losgelassen. Um diese gefährliche Waffe kümmerte ich mich zuerst. Noch immer zuckte Fred Diamond. Er atmete saugend, als ich die dünne Lederschnur von seinem Hals gelöst 199
hatte. »Ruh dich aus!« rief ich ihm zu und kümmerte mich um den Schwarzen, der dabei war, sich aus dem dichten blütenreichen Urwald über dem Ge‐ länder zu lösen. Nach unten war er nicht gefallen. Er hatte sich mit beiden Händen am Li‐ anenwirrwarr festhalten können und wuchtete seinen Körper vor. Ich stand sehr dicht bei ihm. Trotz der Dunkelheit konnte ich ihn zum ersten‐ mal gut erkennen und sah auch, wohin ich geschlagen hatte. Es war ein Gesicht gewesen, auch wenn es verfremdet und verzerrt wirkte, denn die‐ ser Mensch hatte eine Maske übergestreift. Es mußte eine alte Voodoo‐Maske sein, die tiefrot leuchtete und sich sei‐ ner Gesichtsform anpaßte, obwohl ihre äußerlichen Merkmale mit denen eines Menschen kaum Ähnlichkeit aufwiesen und mehr an einen Affen erinnerte. Die breite Stirn fiel dabei auf und auch das nach hinten fliehende Kinn. Er wollte seine Peitsche haben. Im Sprung erwischte ich ihn. Irgendwie verstand ich diesen Mann nicht. Er konnte sich doch ausrech‐ nen, daß es für ihn nicht so einfach sein würde, an die Peitsche heranzu‐ kommen. Als meine Handkante ihn von den Beinen säbelte, drehte er sich noch in der Luft, bevor er mit einem polternden Geräusch zurück auf den hölzer‐ nen Boden der Galerie krachte. Dort blieb er liegen, ohne sich zu rühren. Ich hatte ihn voll erwischt und ins Land der Träume geschickt. Tief holte ich Luft und rieb meine Hand. Fred hatte sich aufgesetzt. Er strich mit allen zehn Fingern über seinen Hals, schluckte dabei und krächz‐ te: »Dieser Hundesohn hat mich auf seine verdammt heimtückische Art erwischt. So ein Mist.« Mona kam herbei. »Habe ich euch zuviel versprochen?« fragte sie, wobei sie sich vorsichtig umschaute. »Es ist die verdammte Peitschengarde, und die Lassalle hat sie geschickt.« »Bisher war es nur einer«, bemerkte ich. »Die anderen siehst du nur nicht.« Auch Diamond war wieder auf die Beine gekommen. »Ich wäre dafür, daß wir nicht soviel reden, sondern handeln. Wir müssen sehen, daß wir 200
den Friedhof erreichen. Allmählich habe ich das Gefühl, daß es einige Ty‐ pen partout nicht wollen, wenn wir ihnen bei ihren Ritualen zuschauen. Oder sehe ich das völlig falsch?« »Nein, das stimmt schon.« »Dann los.« Ich bremste seinen Tatendrang mit einer Frage. »Du kennst dieses Haus auch nicht, oder?« »Nein. Ich glaube nur daran, daß wir irgendwo einen Eingang oder ein Fenster finden werden, durch das wir klettern können.« Er schaute uns an. »Alles klar?« »In etwa.« »Dann weiter.« Wohl war mir nicht. Zum Glück befand sich an der linken Seite die nor‐ male Hausfassade. Wenn sich jemand versteckt hatte, dann nur innerhalb des Pflanzenwirrwarrs rechts von uns. Da sich Mona dicht neben mir hielt, erhaschte ich einen Blick auf ihre Hände. Leer waren sie nicht. Die junge Negerin hielt ein Blasrohr um‐ klammert. Sie hatte meinen Blick bemerkt und nickte. »Ja, ich werde es einsetzen. Diesmal hinderst du mich nicht daran.« Ich enthielt mich eines Kommentars. Sie war alt genug und mußte auch mit ihrem Gewissen fertigwerden. Vom Hof aus hatte ich nicht gesehen, wie weit die Galerie sich an der Außenfront entlangzog. Zudem verlief sie nicht gerade, sondern führte in einer Linkskrümmung weiter. Wahrscheinlich befand sich ihr Ende sogar an der anderen Seite des Hauses. Drei Menschen besaßen sechs Augen; wir sahen mehr, als nur einer. Fred Diamond hatte seine schwere Waffe gezogen. Er war bereit, sie augenblick‐ lich einzusetzen. Das Holz, aus dem dieser Außengang bestand, kam mir vor wie das des Stegs nahe London. Es war sehr weich, dämpfte unsere Schritte, und Mona konnte sich sowieso fast lautlos bewegen. Sie war es auch, die sich plötzlich drehte. Fred bekam davon nichts mit, ich handelte nicht, sondern schaute zu, wie sie das Blasrohr gedanken‐ schnell an die Lippen führte und hindurchpustete. Der Pfeil war in den Wirrwarr neben uns gezielt. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich etwas Helles schimmern. Vielleicht ein angemaltes Ge‐ 201
sicht, jedenfalls verschwand es sofort nach dem Treffer, und die lianenarti‐ gen Gewächse gerieten in heftige Bewegungen, als der dort heimtückisch Lauernde um sich schlug, etwas zerriß, dumpf schrie und fiel. Wir hörten den Aufprall seines Körpers unten im Hof. Auch Fred hatte seinen Schritt gestoppt und sich umgedreht. Mona hob die Schultern, als sie meinen starren Blick sah. »Ich war schneller als er. Dieser Mann hatte uns töten wollen.« »Woher weißt du das?« »Ich kenne sie.« Das mußte mir als Antwort genügen. Sie sagte auch nichts mehr. Ich fragte mich, wie viele Pfeile noch in ihrem Etui steckten? Wahrscheinlich hatte sie sich in der Zwischenzeit neu bewaffnet, als Fred und ich auf sie warteten. Einer der Peitschenmänner war tot, der zweite bewußtlos. Zwei von wie vielen? Das fragte ich mich, auch Mona konnte mir keine Antwort geben. Sie wußte die genaue Stärke der Leibgarde nicht. »Ich weiß nur, daß sie uns davon abhalten sollen, auf den Friedhof zu kommen. Und das muß, ver‐ dammt noch mal, einen Grund haben.« »Die Division braucht Zombie‐Nachschub«, erklärte ich. »Sicher. Vielleicht werden sie die alten Totenrituale durchführen und die Leichen als seelenlose Geschöpfe aus den Gräbern holen. Wenn das der Fall ist, können wir uns warm anziehen.« »Rechnest du mit einem Überfall auf die Stadt?« »Das weiß ich nicht. Rhonda hat viel von Voodoo‐Land gesprochen. Möglicherweise versammeln sie sich dort. Außerdem ist dein Freund noch bei ihnen.« Da hatte sie leider recht. Auch ich fragte mich wieder, wie es uns gelin‐ gen sollte, Suko aus den Klauen dieser menschlichen Monstren zu befreien. Was wollten sie mit ihm, dem Scheintoten? »Du weißt es nicht?« »Nein, Mona.« »Ich will dir keine Angst einjagen, aber ich kann mir vorstellen, daß sie das Blut deines Freundes sehr gut gebrauchen können. Blut enthält Le‐ benskraft. Eine Stärke, die den lebenden Leichen fehlt. Durch das Blut eines Menschen könnten sie es schaffen, wieder so zu werden wie früher. Nur 202
eben ohne Seele und…« »Das ist dein Ernst?« »Ich könnte es mir zumindest vorstellen.« Ich leider auch, und ich mußte zugeben, daß mir der Gedanke daran Ma‐ gendrücken verursachte. Zudem begann ich noch stärker zu schwitzen. Die uns umgebende Luft konnte man kaum atmen. Erstens war es viel zu schwül, denn kein Windhauch drang durch die dichten Dschungelgewäch‐ se an der rechter Seite, und hinzu kam dieser verdammte Blütengestank, der mir auf den Magen schlug. Er hatte meinen gesamten Mund erfüllt. Ich hatte das Gefühl als würden die winzigen Pollenkörner an den Innenseiten meiner Wangen und auf der Zunge kleben. Natürlich schauten wir sehr genau nach, aber wir sahen nichts. Niemand lauerte mehr in dem dschungelartige! Gewächs auf uns. Jenseits davon, wo sich der Hof befand kreischten die Affen in der hohen Baumkrone. Viel‐ leicht wäre sie durch den Tod dieses Mannes erschreckt worden. Fred Diamond hatte auch weiterhin die Führung übernommen und die nach links führende Galeriekurve längst hinter sich gelassen, als wir sie erreichten und ihn nicht mehr sahen. »Verdammt, das ist…« »Keine Panik«, hörten wir Freds Stimme. »Ich habe einen Eingang ge‐ funden. Kommt.« Wir waren schnell bei ihm und sahen auch, daß wir uns am Ende der Ga‐ lerie befanden. Sie hörte abrupt auf. Ein querstehendes Geländer bildete im rechten Winkel zur Haus wand das Ende. Es war ein schmaler Eingang. Fred hatte die Tür nach innen gedrückt. Mit einer Hand hielt er sie offen. Die andere mit der Waffe deutete in die Dunkelheit des Hauses hinein, aus dem unter Umständen eine Gefahr auf‐ tauchen konnte. Ich schob mich als letzter über die Schwelle und auch an Mona vorbei. »Hat jemand eine Lampe?« fragte sie. Ich hielt meine berühmte kleine Bleistiftleuchte bereits in der Hand. Auf der Galerie hatte ich sie nicht einschalten wollen, aus Angst, ein zu gutes Ziel für einen lauernden Schützen zu bilden. Nun lag sie zwischen Dau‐ men und Zeigefinger meiner Linken, aber ich ließ sie noch ausgeschaltet, denn in der gleichen Sekunde vernahmen wir ein Geräusch, auf das wir 203
eigentlich schon länger gewartet hatten. Trommelklang! Nicht sehr laut, dafür dumpf und trotzdem unheimlich klingend. Es gab keinen Zweifel, daß es sich um Voodoo‐Trommeln handelte, die den Be‐ ginn des Festes auf dem Friedhof ankündigten. »Sind wir zu spät?« Die Stimme des Agenten zitterte ein wenig. Mona beantwortete die Frage, sie kannte sich am besten aus. »Nein, noch nicht. Wenn ich den Klang richtig deute, haben sie eben erst mit der Be‐ schwörung begonnen.« »Wie lange kann sie sich hinziehen?« »Um Mitternacht kommt es zum Finale.« Ich schaute auf meine Uhr. Da hatten wir gute zwei Stunden Zeit, in de‐ nen wir noch einiges tun konnten. Jetzt sah ich nicht mehr zu pessimistisch in die Zukunft. Als ich die Lampe einschaltete und den schmalen Strahl in einen Kreis führte, um mehr erkennen zu können, fielen uns sofort die Kerzen auf, die einen kleinen Altar an der gegenüberliegenden Wand schmückten und nicht angezündet waren. Der Altar selbst zeigte ein Heiligenbild. Es ließ sich an zwei Seiten auf‐ klappen und wies Ähnlichkeit mit einer russischen Ikone auf. »Laß die Lampe brennen.« Fred verband das Angenehme mit dem Nütz‐ lichen, lief vor und holte zwei Kerzen vom Altar. Er zündete die Dochte an. »Wer will die andere haben?« Ich nahm sie, weil Mona ihre Hände freihaben wollte. Der Grund lag auf der Hand. Sie mußte ihr Blasrohr so schnell wie möglich einsatzbereit ha‐ ben. Wir waren in einem Flur angekommen. Nicht sehr groß, viereckig angelegt und an einer Seite offen, denn dort begann eine Treppe. Sie be‐ stand aus Stein und führte in einem Bogen nach unten. Die mußten wir nehmen. Sogar an einem Geländer konnten wir uns festhalten. Nach einigen Schritten bereits fiel uns der Schein auf, der aus der Tiefe her in die Höhe strahlte. Er bewegte sich unruhig, als würden Flammen innerhalb eines Kamins tanzen. So ähnlich war es auch. Nur brannte das Feuer nicht in einem Kamin, sondern mitten im Raum, wo Menschen diese Feuerstelle gebaut hatten und kreisförmig um sie herum saßen. 204
Falls sie uns entdeckt hatten, ließen sie sich jedenfalls nichts anmerken, denn sie fuhren in ihrer für mich sehr befremdlichen Tätigkeit fort und kamen mir dabei vor, als würde nichts anderes auf der Welt sie interessie‐ ren. »Keine Gefahr«, wisperte Diamond. »Sei trotzdem vorsichtig«, warnte ich ihn, denn mir gefiel die Sache ü‐ berhaupt nicht. Die um das Feuer sitzenden Gestalten wirkten gespens‐ tisch, wenn sie vom Widerschein der Flammen erfaßt und in ihrem Ausse‐ hen verändert wurden. Auch Mona nickte. Ihr gefiel die Szene ebenfalls nicht. Sie hatte die Au‐ gen verengt. Mir erschien sie so, als würde sie über irgend etwas nachden‐ ken. »Ist was?« fragte ich sie. »Du siehst aus, als würde dir etwas quergehen.« »Ich weiß nicht so recht«, flüsterte Mona. »Diese Feuerrunde muß etwas zu bedeuten haben.« »Und was?« »Wenn ich das wüßte. Ich habe keine rechte Ahnung. Aber diese Gestal‐ ten sind mir nicht geheuer.« Wir befanden uns noch auf der Treppe. Diamond hatte sie bereits hinter sich gelassen. Vor der ersten Stufe hielt er an. Sein Blick war auf die Gestal‐ ten gerichtet. »Fünf«, murmelte er. »Wir sollten zusehen, daß wir so rasch wie möglich an ihnen vorbei‐ kommen«, schlug ich vor. Der Ansicht waren die anderen beiden auch. Leider blieb es beim Vor‐ satz. Wir hatten uns kaum in Bewegung gesetzt, als sich die am Feuer sit‐ zenden Männer rührten und aufstanden. Als hätte ihnen jemand einen nur für sie hörbaren Befehl gegeben, so drückten sie sich in die Höhe und drehten ihre Gesichter so, daß sie uns anblicken konnten. Es waren fratzenhafte Züge, verzerrt durch die tanzenden Flammen. Die Augen kamen mir übergroß vor. In den Pupillen sah ich den Widerschein des Feuers, der sich aus zahlreichen Lichtpunkten zusammensetzte, so daß die Augen wirkten, als würden sie funkeln. Die hatten nichts Gutes im Sinn, und Mona schlug eine Trennung vor. »Wir müssen einzeln durch.« 205
»Fragt sich nur, wo sich der Ausgang befindet«, sagte Diamond. Die Schwarze deutete nach vorn. In der Tat entdeckten wir bei genaue‐ rem Hinsehen die Umrisse einer Haustür in der Wand. Wenn wir sie er‐ reichten, hatten wir gewonnen. Hin und wieder sehe ich mir auch Filme über die Gebräuche und Sitten fremder Völker an. Ich kannte die Samba‐Tänzer aus Süd‐ und Mittelame‐ rika ebenso wie die Menschen, die noch den alten Volkstänzen nachhingen und dabei durch Feuer sprangen. Das geschah hier. Irgend jemand schlug plötzlich zwei Stöcke zusammen, die er mit einer geschmeidigen Bewegung vom Boden aufgehoben hatte. Dieses etwas hohl klingende Geräusch war der Startschuß für die anderen, die sich blitz‐ schnell bewegten. Von vier verschiedenen Seiten flogen sie auf das Feuer zu – und hinein. Uns blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Ich konnte es einfach nicht fassen, denn die Feuerzungen loderten noch höher auf und umgaben die Menschen wie ein Ring. Jetzt war unsere Chance gekommen. Die fünf kümmerten sich um ihre eigenen Probleme, wir konnten zur Tür laufen, sie aufziehen und ver‐ schwinden. Diamond setzte sich in Bewegung. Er wollte unbedingt als erster die Tür erreichen und sah, wie sich eine der Gestalten aus dem Feuer löste. Der Mensch sprang ähnlich wie ein Frosch. Er stieß sich ab, es sah lächerlich aus, aber er war es nicht, denn ruckartig riß er den Mund auf, um einen Moment später Feuer zu speisen. Eine armlange Lohe fauchte aus seinem Mund und unserem Begleiter entgegen, der nicht wegkam und nur die Arme hochriß, um sich zu schüt‐ zen. Er wurde erwischt. Wir hörten ihn fluchen und schreien. Um ihn konnte ich mich nicht kümmern, da ich ebenfalls von einem der aus dem Feuer springenden Ker‐ le aufs Korn genommen wurde. Ich tauchte in dem Augenblick weg, als die Lohe zwischen seinen Lippen hervorstieß. Den heißen Hauch spürte ich noch, dann rammte ich ihn mit der Schul‐ ter, so daß er zu Boden kippte. Ich hielt mich auf den Beinen und vernahm einen krachenden Schuß. 206
Ein schriller Schrei folgte. Er jagte in das Schrei‐Echo hinein, während ich an der Feuerstelle vorbeilief. Blitzschnell drehte ich mich. Eine der Gestalten lag auf den Rücken. Getroffen von Freds Kugel. Er selbst stand einen Schritt von dem Toten oder Verletzten entfernt. Seine Ärmel qualmten, da der Stoff angesenkt worden war. Mein zweiter Blick erfaßte Mona. Mit dem Rücken hatte sie sich gegen die Wand gepreßt und schoß einen Pfeil ab. Sie traf. Der nur mit einem Lendenschurz bekleidete Mann griff sich plötzlich an die Schulter, ging einen kleinen Schritt nach hinten und sackte zusammen. Das Gift wirkte verdammt schnell. Noch standen Gegner in unserer Nähe. Ich wollte diesen verdammten Kampf abbrechen und schrie den anderen zu, daß sie zur Tür laufen soll‐ ten. Diamond machte sich sofort auf den Weg. Er lief rückwärts. Die Mün‐ dung seiner schweren Waffe deutete in den Raum. Mona huschte an der Wand entlang, während ich das Schlußlicht bildete, die beiden an der Tür jedoch wieder einholte. Fred rammte sie auf. Die Luft, die uns traf, kam mir trotz der Schwüle kühl und gut vor. Kein Blütenduft schwängerte sie mehr. Wir waren in einer schmalen Gasse ge‐ landet, die an einer Seite von einer hohen Mauer begrenzt wurde. Wahr‐ scheinlich gehörte sie bereits zum Friedhof, das würde ich in den nächsten Sekunden erfahren. Mona kam als letzte. Ihre Augen glänzten, sie lachte hoch und sagte mit schrill klingender Stimme: »Wir haben dem verdammten Feuerzauber wi‐ derstanden. Wir haben es geschafft!« Ich warf einen letzten Blick in das Haus. Noch immer tanzten die Flammen. Der Musiker stand hinter dem Feuer. Er schlug seine beiden Stöcke gegeneinander, wobei er heulende Laute von sich gab, die mich an das Wehklagen für einen Toten erinnerte. Rasch schloß ich die Tür. Fred klopfte seine Jacke aus. Aschereste und Qualm wirbelten noch in die Höhe, während er seinen Kopf schüttelte. »Verdammt noch mal, das ging soeben gut.« »Mir ist es zu spät eingefallen«, erklärte Mona. »Es waren die gefährli‐ 207
chen Feuerschlucker. Das sind Menschen, die Feuer fressen und auch wie‐ der ausspeien können. Ihr kennt das sicherlich vom Zirkus.« Ich gab ihr recht. »Nur ist es in der Manege nicht so lebensgefährlich wie hier.« »In der Voodoo‐Nacht muß man mit allem rechnen.« Mona drehte sich um. »Schaut euch die Mauer an. Sie bildet bereits die Grenze zum St. Louis Friedhof Number One.« »Dann müssen wir rüber!« stellte ich nüchtern fest. »Sicher.« Mona hatte die Antwort gegeben, und Diamond schielte an der Mauer hoch. Sie war zwar ein Hindernis, dennoch würden wir es schaffen, sie ohne zu große Mühen zu überklettern. »Mach du den Anfang!« bat Mona mich. »Du bist am längsten von uns.« Auf die Mauerkrone konnte ich nicht schauen und wußte deshalb auch nicht, ob man sie vielleicht mit Glasscherben gespickt und abgesichert hat‐ te. Ich streckte die Arme aus und probierte es. Meine Hände glitten nur über den rauhen Putz, der zwischen den Ritzen der Steine steckte. Fred umfaßte meine Beine, drückte mich hoch und gab mir so eine Hilfe‐ stellung. Ich rollte mich auf die Mauerkrone, warf einen ersten Blick über den gewaltigen Friedhof, sah eine dunkle Fläche, die hin und wieder von helleren Inseln unterbrochen war, und entdeckte auch zwischen dem Un‐ tergrund und dem düsteren Himmel einen rötlichen Schein, der sich zu‐ ckend bewegte und nur von den zahlreichen Voodoo‐Feuern stammen konnte, die auf dem Friedhof angezündet worden waren. Ich nahm mir einfach die Zeit und blieb flach auf der Mauerkrone liegen, weil ich etwas von der Atmosphäre schnuppern wollte, die über diesem Gelände lag. Im Laufe der Jahre hatte ich gewisse Antennen dafür bekom‐ men, ob sich schwarzmagische Zonen in meiner Nähe befanden und sich ausbreiten wollten. Zu spüren war nichts. Trotzdem glaubte ich fest daran, daß auf diesem großen Gelände nicht alles mit rechten Dingen zuging, zumal ich das dumpfe Hämmern der Voodoo‐Trommeln vernahm. »Willst du da oben einschlafen?« hörte ich Freds zischende Stimme. »Nein.« »Dann hilf uns hoch.« 208
Auf der Mauer drehte ich mich und streckte meinen Arm nach unten, damit Fred die Hand umfassen konnte. Aber er war es nicht, der sich als zweiter hochzog; Mona schwang sich sehr schnell neben mich und blieb geduckt wie eine Katze hocken. Der Agent schaffte es allein. Als wir zu dritt auf der Krone hockten, nick‐ te der Mann. »Also denn«, sagte er und sprang als erster an der anderen Seite zu Bo‐ den. Ebenso wie ich landete er auf einem weichen Untergrund. Mona sprang über uns hinweg, lief ein paar Schritte vor und stand bereits auf einem schmalen Weg, der von Büschen umsäumt wurde. Ich atmete tief durch. Gehört hatte ich viel von diesem ältesten Friedhof der Stadt. Nun aber hatte ich ihn betreten und konnte die Gänsehaut auf meinem Rücken nicht verhindern. Welche Überraschungen würden innerhalb dieser unheimlichen To‐ tenstätte noch auf uns warten? Ich schaute nach rechts und nach links. Die Gesichter meiner beiden Be‐ gleiter waren angespannt, voll konzentriert. Für sie war klar, daß sie eben‐ falls alles einsetzen würden, um den Voodoo‐Zauber zu stoppen. Leider waren wir bisher noch nicht allzu weit gekommen. Mein Ziel hieß die Zer‐ störung der Division und auch das Ausschalten eines unbekannten Man‐ nes, der sich nur D. C. nannte… VII Cities of the Dead So wurden diese Friedhöfe genannt, und diejenigen, die ihnen den Na‐ men gegeben hatten, waren keinem Irrtum unterlegen, denn die Friedhöfe in New Orleans glichen wahren Städten. So etwas hatte selbst ich noch nicht gesehen, obwohl ich mich doch auf zahlreichen Friedhöfen herumgetrieben hatte. Bei Tageslicht wäre mir na‐ türlich mehr aufgefallen, aber auch in der Finsternis bekam ich etwas von dieser wahnsinnigen Größe mit, die den alten Friedhof auszeichnete. Man konnte es als Leben auf einer Grabstätte bezeichnen. Das hörte sich absurd 209
an, aber dem war nicht so. Denn hier konnte man viel über die Vergangen‐ heit, die Gegenwart und das Lebensgefühl der früheren und jetzigen Be‐ wohner erfahren. Wir hielten uns auf einer der »Main Streets«. So breit wie manche Ver‐ kehrstraßen in London und eingerahmt von Grabmalen, die man durchaus als prunkvoll bezeichnen konnte. Regelrechte Häuser, in einem fahlen Weiß glänzend und in ihrer Bauwei‐ se an die prachtvollen Herrensitze der großen Südstaaten‐Familien erin‐ nernd. Manche diese säulenverzierten und gestützten Bauten wurden von den Zweigen hoher Bäume beschützt. Kitschige Marmorengel sah ich e‐ benso wie Heiligenfiguren als Mosaik in die Wände eingearbeitet. Auch ein seltsamer Geruch fiel mir auf. Nicht unangenehm, anders eben, ich konnte ihn mir nicht erklären und fragte Mona danach. »Den wirst du hier noch oft riechen«, erwiderte sie mit leiser Stimme, wobei sie den Arm hob und auf die dunklen, großen Schatten wies, die in der Nähe wuchsen. »Das sind Kampferbäume, deren Blätter sich durch das Sonnenlicht nicht nur aufheizen, sondern auch grüngolden schimmern und diesen Geruch abgeben. Er paßt irgendwie in diese Gassen oder Straßen.« Da hatte sie recht, denn der Weg, auf dem wir gingen, wurde mittlerwei‐ le enger. Auch die prächtigen Bauten blieben nun zurück, dafür entdeckten wir andere Grabmäler. Viel schmuckloser und dunkler, fensterlos und uns eine surrealistische Welt vorgaukelnd. Sie begleiteten uns an der linken Seite. Auf mich wirkten sie wie große Bäckereiöfen, die darauf warteten, ihre Brotladungen zu bekommen. Zu‐ dem waren sie aus Ziegelsteinen errichtet. Als ich dann noch die Türen sah, oft zwei oder drei übereinander, blieb ich stehen, um sie näher anzuschauen. Mit dem Knöchel klopfte ich gegen eine der unteren Türen und stellte fest, daß sie aus Eisen bestand. Fred Diamond blieb zurück, während sich Mona neben mich stellte. »Wundert es dich?« fragte sie. »Ein wenig schon.« »Das sind die Grabtüren«, erklärte sie. »Wenn man die Toten bestattete, zog man die Türen auf und legte sie in die Schächte. Unter diesen Öfen befindet sich jeweils eine gewaltige Gruft, in der die blanken Gebeine der zuerst Bestatteten liegen. Viele sind bereits in den sumpfigen Untergrund abgesackt. Es kam auch vor, daß diese Öfen voll waren. Dann entfernte 210
man die hölzernen Sargreste und schleuderte die Gebeine in die unteren Regionen der Gruft, so wurde immer Platz für den Nachschub geschaffen.« Sie lächelte etwas hölzern. »Man mußte sich damals etwas einfallen lassen, um der Leichen Herr zu werden.« Ich nickte und ließ mir die Sache noch einmal durch den Kopf gehen. Es war schon allerhand, was wir hier erlebten, und alles wirkte irgendwie morbide, verfallen. Auch die den Herrenhäusern nachgeahmten Grabstät‐ ten der Verstorbenen. Moos wuchs an den Außenseiten. Feuchtigkeit und Hitze hatten für die Veränderungen gesorgt. Hier sahen wir keinen kostbaren Marmor, wie man ihn als Verkleidung für die großen Herrenhaus‐Grabstätten genom‐ men hatte. Mir war noch etwas aufgefallen. Der Trommelklang hatte an Lautstärke zugenommen. Für mich ein Beweis, daß wir uns dem eigentlichen Zentrum der Beschwörung näherten. Ich wollte ganz sichergehen und fragte deshalb die junge Negerin. Mona war mit mir einer Meinung. »Du hast recht, John, wir sind nicht mehr allzuweit vom Zentrum entfernt. Ich hatte mir schon gedacht, daß sie sich an dieser Stelle aufhalten.« »Wieso?« fragte ich. Auch der Agent kam näher, denn Monas Antwort hatte ihn ebenfalls überrascht. In den folgenden Sekunden zeigte es sich, daß uns Mona eine Hilfe war. Sie kannte sich nicht nur in der Voodoo‐Magie gut aus, sie wußte auch von den geheimen Plätzen, wo sich die Menschen trafen, um ihrer unheiligen Religion zu frönen. »Nicht weit von uns liegt ein bestimmtes Grab.« Den Namen des dort Bestattenen sagte sie nicht, sondern wandte sich erklärend mit einer weite‐ ren Frage an mich. »Du hast dich im Museum umgeschaut, John?« »Ja.« »Ist dir da nicht ein Name aufgefallen, der für den Voodoo‐Glauben eine besondere Bedeutung hat?« Ich überlegte. Bevor ich noch etwas sagen konnte, hatte Fred Diamond die Antwort gegeben. »Marie Leveau.« Mona zeigte ihr Gebiß. »Sehr richtig, Marie Leveau. Die Mutter des Voo‐ doo. Die absolute Königin, die Geschichte geschrieben und ein wahnsinni‐ ges Leben geführt hat. Sie war mehrere Male verheiratet, sie muß zahlrei‐ 211
che Kinder besessen haben, die ihren Glauben in die Welt tragen sollten, und diese Marie Leveau liegt hier in der Nähe begraben. Zu ihrer Grabstät‐ te pilgern täglich zahlreiche Gläubige. Das hört sich zwar befremdend an, ist aber so. Sie wird heute noch verehrt. Deshalb kann ich mir vorstellen, daß sich das Zentrum der Verschwörung dort befindet, wo auch ihr Grab steht.« »Ich sehe nichts.« »Wir müssen noch ein Stück gehen, John. Dann nehmen uns die hohen Gräber und Bäume nicht mehr die Sicht. Ich glaube fest daran, daß sie sich am Grabmal der Marie versammelt haben. Um das Grab ranken sich zahl‐ reiche Geheimnisse, und ich glaube daran.« »Welche denn?« »Man sagt, daß auf dem Grab kein Gras mehr wächst. Menschen, die es mit Blumen geschmückt haben, konnten feststellen, daß die Blüten schon nach knapp einer Stunde verwelkt waren. Über der Grabstätte liegt ein für mich unheimlicher Fluch.« Ich hob die Schultern. »Und doch wird es immer wieder besucht. Das ist für mich ein Rätsel.« »Nein, es ist ganz einfach, denn man sagt dem Grab auch positive Wir‐ kungen nach.« »Welche denn?« »Laß uns weitergehen«, schlug Fred vor. »Soviel Zeit haben wir nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Erst will ich wissen, was mit dieser Grabstätte los ist. Schon oft genug habe ich Fälle erlebt, bei denen das Grauen genau von einem Punkt ausging.« »John hat recht, man sollte so etwas nicht unterschätzen«, stand Mona mir bei und gab auch die Erklärung. »Die Magierin war zu ihren Lebzeiten schon für ihre Zauberkraft berühmt. Diese Kraft soll auch über das Grab hinausgewachsen sein. Doch nur wer einem vorgeschriebenen Ritual folgt, kann auf Erfüllung seiner geheimsten Wünsche hoffen. Er muß mit dem linken Fuß dreimal auf den Boden stampfen, sich dreimal nach links um die eigene Achse drehen und dann mit der Kreide, die an der linken Grab‐ seite hängt, dreimal den Buchstaben »X« mit der linken Hand schreiben.« »Hat er dann Glück?« fragte ich. »Die meisten glauben daran«, antwortete Mona. »Du auch?« 212
Sie hob die Schultern und ließ mich mit dieser Antwort im Unklaren. Wahrscheinlich aber traute auch sie den geheimnisvollen Kräften der ers‐ ten Voodoo‐Königin von New Orleans einiges zu, sonst würde sie nicht zu dem Kreis gehören. Fred drängte darauf, endlich weiterzugehen. Mona und ich hatten nichts dagegen. Es war schade, daß die Dunkelheit die meisten Grabsteine wie ein über‐ gezogener Mantel verdeckte. So konnten wir von den Kostbarkeiten nur schwerlich etwas erkennen, denn zahlreiche Künstler hatten hier kleine Meisterwerke geschaffen. Es waren besonders die Marmorfiguren, die mir auffielen. Bei manchen fehlten Glieder. Ich sah eine besonders schöne Frauenfigur, die ein Jesuskind in den Armen wiegte. Der Figur allerdings hatte man den Kopf abgeschlagen. Auf mich machte der Torso so, wie er da stand, einen ungemein traurigen Eindruck. Zudem war mir wieder einmal bewiesen worden, wie eng der Voodoo‐Kult mit der christlichen Lehre verbunden war. Die Grenzen waren oft genug fließend. Ich wollte von Mona noch etwas wissen, deshalb hielt ich mich an ihrer Seite. »Du meinst also, daß Rhonda Lassalle versuchen wird, durch dieses Ritual am Grab der ersten Voodoo‐Königin neue Kräfte zu bekommen.« »Ganz bestimmt. Das hat sie meiner Ansicht nach auch schon hinter sich. Sie ist ihr sehr verbunden.« »Sieht Rhonda sie als ihr Vorbild an?« »Sicher und als noch etwas mehr.« Mona blieb stehen. Ihre folgenden Worte sollten auch von Fred Diamond vernommen werden. »Marie Leveau ist nicht nur das Vorbild für Rhonda, sie ist mehr, viel mehr. Ich habe euch gesagt, daß die erste Voodoo‐Queen zahlreiche Ehemänner besessen hatte und eine dementsprechende Anzahl Kinder zur Welt brachte. Wenn man sich mit ihrer Familien‐Geschichte beschäftigt, wird man feststellen, daß sich die Spur der Nachkommen irgendwann einmal verloren hat. Sie haben sich über die ganze Welt verteilt. Es gibt nur eine, die steif und fest behaup‐ tet, daß sie von der Abstammung her eine direkte Nachfahrin der Marie Leveau ist.« »Rhonda Lassalle!« sagte ich. »Genau. Sie sieht sich als wahre Tochter der Marie Leveau, als Nachfol‐ gerin einer schrecklichen Frau, die Voodoo‐Geschichte geschrieben hat. 213
Was Marie vor fast 200 Jahren in die Wege geleitet und nicht zu Ende ge‐ bracht hatte, wollte Rhonda beenden.« Weder Fred noch ich widersprachen. Wir hatten mittlerweile genug er‐ lebt, um darüber auch nur zu lächeln. Hier wurden Sehnsüchte und menschliche Ängste ausgenutzt; die neue Voodoo‐Königin wollte ihrer Dienerschaft den Glauben an den alten Zauber wieder zurückgeben. Wenn sie es schaffte, und daran zweifelte ich nicht, hatte sie zweimal gewonnen. Einmal für sich persönlich einen großen Triumph errungen, und zum zwei‐ ten bekam die Division praktisch ununterbrochen fortlaufenden Nach‐ schub, diese Gedanken gab ich auch meinen beiden Begleitern bekannt. Fred stimmte mir zu, auch Mona widersprach nicht. Sie faßte nur einiges zusammen. »Dann läge es also an uns, diesen Schrecken erst gar nicht auf‐ kommen zu lassen.« »So ist es, Mona.« Es war genug geredet worden, wir mußten uns den eigentlichen Proble‐ men stellen. Vor uns öffnete sich das Gelände abermals. Der Blick fiel über Gräberfel‐ der, die in langen Reihen standen und als Grabsteine nur weiße Symbole besaßen. Sie wurden vom Schein auf den Gräbern stehender kleiner Toten‐ lichter angestrahlt. Nicht auf jedem Grab stand ein flackerndes Totenlicht. Sie waren so ver‐ teilt, daß sie ein Muster bildeten, aus dem ich einen Buchstaben herauslas. Es war ein »V«. Vielleicht stand dieser aus Lichtern gebildete Buchstabe als Symbol für das Wort Voodoo. Ich war nicht weitergegangen, weil mich der freie Blick über dieses Grä‐ berfeld nachdenklich gemacht hatte. Jenseits davon leuchtete ein helleres und auch größeres Feuer. Die längeren Flammenzungen leckten in den Himmel und gaben der Dunkelheit etwa in Baumkronenhöhe ein zucken‐ des Muster mit. Manchmal glaubte ich auch, Gestalten zu erkennen. Nur mehr huschende Schatten, die sich nahe dem Feuer aufhielten, mal zu se‐ hen waren und schnell wieder verschwanden. »Ist es dort?« fragte ich Mona. »Wenn du das Grab der Leveau meinst, ja.« »Und auch das Zentrum der Beschwörung?« »Möglich.« 214
Uns blieben mehrere Alternativen. Wir konnten das vor uns liegende Gräberfeld durchqueren, es aber auch umrunden. Die zweite Möglichkeit war wohl die bessere. Zwischen den Gräbern und den bleichen Symbolen darauf hätten wir uns zu sehr abgehoben und wären für unsere Gegner gut sichtbar gewesen. Die Lichter auf den verschiedenen Gräbern mußten eine Bedeutung ha‐ ben. Aus lauter Spaß stellte sie niemand dorthin. Der Klang der Voodoo‐ Trommeln wummerte dumpf über die Grabreihen und uns entgegen. Ich war einen Blick auf Mona, die sich auskannte. »Es geht um die Lich‐ ter. Welche Funktion erfüllen sie?« »Genau weiß ich es nicht«, erwiderte Mona zögernd, als hätte sie Angst, die Wahrheit zu sagen, »aber die alten Geschichten erzählen davon, daß jedes Licht einem Toten den Weg aus dem Jenseits zeigen soll.« Auch Fred Diamond hatte die Worte gehört. »Du meinst, daß die Leichen auferstehen sollen?« »So ähnlich.« Ich wußte Bescheid. Diese Rhonda würde, wenn sie so etwas einsetzte, tatsächlich aufs Ganze gehen und unter Umständen durch ihren magischen Zauber dafür sorgen, daß sich die Leichen aus den Gräbern erhoben und einen furchtbaren Terror verbreiteten. Noch war es nicht soweit. Zudem entdeckte ich keinen Hinweis darauf, daß sich innerhalb der Gräber irgend etwas ereignete. Die Erde lag bewe‐ gungslos vor uns. Ich machte mich auf die Suche nach einem Weg, um das Areal zu pausie‐ ren. Die beiden anderen blieben hinter mir. Hin und wieder strich ein Windzug über das Gelände. Nicht sehr kräftig, und jedesmal brachte er den fauligen Sumpfgeruch mit. Uns wehten die Vergänglichkeit und der Moder entgegen. Passend für diese Zeit und diesen Friedhof. Und immer begleitete uns der dumpfe Trommelklang. Wenn ich die Au‐ gen für einen Moment schloß, hatte ich das Gefühl, auf leichten Wolken zu schweben. Alles kam mir so unwirklich vor, realitätsfremd, weil kein elekt‐ risches Licht brannte, nur eben der flackernde Kerzenschein, der über die Grabreihen fiel und dem Friedhof eine schaurige Stimmung gab. Der Seitenpfad war längst nicht so breit wie die anderen Wege. Links von uns war das Gelände mit hohem Gras bewachsen, aus dem ebenfalls Grab‐ steine aufragten, als wollten sie neugierig und bleich über die Spitzen der 215
Halme hinweglugen. Aus einer Baumkrone löste sich ein Vogel. Mit ausgebreiteten Schwingen glitt er vorbei. Um das Zentrum und damit das Grab der Marie Leveau zu erreichen, mußten wir einen Bogen schlagen. Ich blieb stehen, als mir etwas entgegengeweht wurde und ich schnup‐ pernd meine Nase bewegte. Der Geruch paßte mir nicht. Es stank scharf und süßlich zur gleichen Zeit, als wären Blut und Gewürze gemischt und dann angesteckt worden. Mona legte mir eine Hand auf die Schulter, und ich blieb stehen. Wir hielten uns im Schatten einer Buschgruppe auf, die wie ein Wall vor einem Familiengrab stand. »Es ist so, John. Du hast sicherlich den Geruch wahr‐ genommen, der hier…« »Ja.« »Er ist der Beweis dafür, daß wir uns der unmittelbaren Grenze des Be‐ schwörungsfeldes genähert haben. Du kannst ihn als Warnung ansehen. Wer jetzt weitergeht, gerät in das magische Zentrum, da wird keine Garan‐ tie mehr übernommen.« »Das ist sowieso nie der Fall bei mir gewesen. Ich habe immer ohne Ga‐ rantie kämpfen müssen.« »Ich wollte es dir nur gesagt haben.« Sie drückte die Zweige an einer be‐ stimmten Stelle mit den Händen auseinander, so daß wir hinter die Hecke blicken konnten. Dort sah ich die Schale. Sie war ziemlich groß, auch flach, und als Inhalt beherbergte sie glühende Kohlen. Jedenfalls sah das Zeug, das in der Scha‐ le glomm und diesem merkwürdigen Geruch verbreitete, so aus. »Klar?« fragte Mona mich. »Natürlich. Wo stecken all die Diener deiner Voodoo‐Königin?« »Sie sind da und unsichtbar. Sei froh, daß wir sie noch nicht gesehen ha‐ ben. Sie hätten uns bestimmt aufgehalten.« »Das kann ich mir vorstellen, doch die Leibgarde im Rücken zu wissen, ist auch nicht das Wahre.« Ich schlug ihr leicht auf die Schulter. »Trotzdem, laß uns endlich weitergehen. Schließlich möchte ich endlich erfahren, wo sich mein Freund Suko befindet.« »Das wird man dir nicht sagen.« Ich lachte auf. »Laß es mal meine Sache sein. Vielleicht hole ich mir 216
Rhonda aus der Gruppe hervor.« Weder Mona noch Fred gaben eine Antwort. Wir näherten uns immer mehr dem Zentrum des Trommelklangs und auch des Feuers. Das dumpfe Geräusch schien von den Baumkronen auf uns niederzufallen, während ich nach den Menschen und Dienern des Voodoo immer noch vergeblich Aus‐ schau hielt. Bis wir sie auf einmal sahen! Sie hatten sich um ein Grabmal versammelt, daß von den Flammen ange‐ strahlt wurde und ein unheimliches Aussehen bekommen hatte. Düster und dunkel, obwohl das Feuer leuchtete. Das mußte das Grab der Marie Leveau sein. Ein viereckiger Kasten, mehr nicht, und auch völlig schmucklos. Bisher war ich davon ausgegangen, es nur mit einem Feuer zu tun zu ha‐ ben. Das erwies sich nun als Irrtum. Es brannten einige kleine Feuer, die man kreisförmig um ein Grabmal angelegt hatte und deren Schein auch über die stummen Wächter glitt, die wie Statuen an den Feuern standen und sich nicht rührten. Nur die Trommler bewegten ihre Arme. Sie hockten im Hintergrund. Ih‐ re genaue Anzahl konnte ich nicht ausmachen. Die anderen Wächter hatten sich auch verändert. Jedenfalls waren sie aus‐ oder umgezogen. Die Gesichter zeigten grelle Bemalungen. Sie sahen aus wie die Werke eines modernen Künstlers, der mit Farbe experimentiert hatte. Jedes Gesicht besaß einen anderen Ausdruck. Manche waren heller geschminkt, andere wieder dunkler, eines hatten sie gemeinsam. Den dä‐ monischen Ausdruck und das Funkeln in den Augen. Auch trugen die Männer nicht mehr ihre normale Straßenkleidung. Sie hatten sich umgezogen. Manche waren nackt bis auf einen schmalen Len‐ denschurz. Andere wiederum hatten sackähnliche Gewänder übergestreift und hielten Totenköpfe oder Gebeine in ihren Händen. Hin und wieder klapperten die Gebeine aneinander. Diese hohlen Geräu‐ sche hatte ich schon öfter vernommen. Mich schreckten sie nicht mehr, so schaurig die Tatsache auch war. Das durch Totenlichter erhellte Gräberfeld lag jetzt schräg hinter uns. Das »V« lief mit seiner Spitze dort aus, wo sich auch das Grabmal der Ma‐ rie Leveau befand. Dort leuchteten die größten Kerzen. Sie standen auf kleinen Stufen, die den Weg zum Eingang des Grabes markierten. 217
Meine Begleiter und ich sprachen kein Wort. Jeder versuchte, etwas von der Atmosphäre mitzubekommen, die sich auf diesem Friedhof und gerade in der Nähe des bewußten Grabes ausgebreitet hatte. Man konnte sie als unheimlich bezeichnen, als einfach anders und erfüllt von einer gewissen Erwartung. »Wir müssen warten«, flüsterte Mona. »Die Voodoo‐Königin ist noch nicht da.« Das paßte mir nicht. »Ihr könnt ja hierbleiben«, schlug ich vor. »Ich möchte mich nur ein wenig umschauen.« »Wo?« fragte Diamond sofort. »In der Nähe, auf dem Friedhof, hinter dem Grab meinetwegen. Das Ge‐ lände sondieren.« »Wenn sie dich erwischen…« »Werde ich mich zu wehren wissen, lieber Fred. Jedenfalls werde ich früh genug merken, wenn unsere liebe Rhonda erscheint.« Mona wollte mich noch nicht gehen lassen. »Sie wird ihren Auftritt ha‐ ben, John. Ihren Starauftritt. Dafür kenne ich sie gut genug. Rechne nicht damit, daß sie nur so einfach erscheint, das tut keine Königin.« »Hat sie ein bestimmtes Ritual?« »Nein, aber sie wird sich den Gegebenheiten anpassen.« »Ich auch«, erklärte ich. »Vor allen Dingen will ich wissen, wo sich mein Freund befindet. Und das bekomme ich heraus.« Die beiden hinderten mich nicht mehr daran, als ich mich auf den Weg machte. Die Aufpasser hatten ihre Blicke nur noch nach vorn gerichtet. Was links und rechts von ihnen passierte, schien sie überhaupt nicht zu interessieren. Zusätzlich gaben mir heckenartige Gewächse die nötige Deckung. Ich nahm auch wieder den ungewöhnlichen Geruch der Kampferbäume wahr, deren Kronen sich über meinen Kopf wie gewaltige Dächer ausbreiteten. Meine Füße schleiften durch hohes Gras. Eine Geruchsmischung aus Blü‐ tenduft und Moder wurde mir entgegengeweht. Manchmal sehr süßlich, als wäre jemand dabei, Blut zu erhitzen. Das Grabmal der ersten Voodoo‐Königin lag rechts von mir. Der leise Trommelklang wehte zitternd durch die Luft. Er kam mir vor wie ein nie abreißendes Vibrieren. Die Trommler hatte ich noch nicht gesehen, sie mußten hinter dem Grabmal ihre Plätze gefunden haben; statt dessen sah 218
ich eine andere Gestalt. Sie wuchs unbeweglich vor mir hoch. Ich blieb erschreckt stehen und schaute in ein schrecklich verzerrtes Gesicht, das nichts Menschenähnliches mehr an sich hatte. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte ich, daß es sich um eine Maske handelte. Ich mußte einige Male schlucken und spürte im Hals ein trockenes Krat‐ zen. Man hatte da eine Art Vogelscheuche aufgebaut. Einen künstlichen Körper, der eine schwarzrote Maske trug, die an Scheußlichkeit kaum zu überbieten war. An dieser Gestalt wand ich mich vorbei. Was sie darstellen sollte, wußte ich auch nicht. Möglicherweise einen lebenden Toten, aber das war nur Spekulation. Nur der fahle Mond begleitete mich. Zwischen den Büschen war es fins‐ ter. Die Luft stand hier, erfüllt von einem süßlichen Blütenduft, der sich schwer auf meine Atemwege legte. Grabsteine versperrten mir den Weg. Sie waren mannshoch. Auf man‐ chen sah ich weiße Kreuze. Andere wiederum zeigten Figuren, und wieder andere bestanden nur aus flachen Steinen. Die Schwüle der Luft trieb mir den Schweiß aus den Poren. So war es kein Wunder, daß mir die Kleidung feucht auf dem Körper klebte. Ich hatte den Bogen meines Erkundungsgangs relativ groß angesetzt, und ein mit hellem Kies bestreuter breiter Weg lag plötzlich wie ein Graben vor mir. Lange überlegte ich nicht. Huschend überquerte ich ihn, befand mich auf der anderen Seite, ging wieder nach rechts und näherte mich der rückwär‐ tigen Seite des Grabmals. Dabei geriet ich in die Nähe der ersten Feuer. Wieder einmal veränderte sich die Umgebung. Durch das tanzende, zuckende Licht sahen die Sträu‐ cher und Bäume irgendwie anders aus. Manchmal kamen sie mir vor, als würden sie leben. Und der Trommelklang riß nicht ab. Ich hörte ihn intensiver. Nicht, daß er mich direkt gestört hätte, aber er übertönte die anderen Geräusche und Laute. Auch Schritte würden nicht zu hören sein. Die zwei Wächter sah ich im letzten Augenblick. Die Männer standen 219
unbeweglich, nur durch den Lichtschein warfen ihre Körper Schatten, die heftig über den Boden tanzten. Schräg vor mir sah ich die Gruppe der Trommler. Sie hatten auf dem Untergrund ihre Plätze gefunden, die Beine überkreuzt und die Trommel zwischen sie gestellt, wobei sie mit ihren flachen Händen auf das Fell der Instrumente schlugen. Was ich von meiner Position aus sehen konnte, war zwar nicht sehr viel, aber mir reichte es aus. Das Grab wirkte an der Rückseite ebenso schmuck‐ los wie von vorn. In seinem unmittelbaren Umkreis wirkte das Gras tatsächlich wie ver‐ brannt. Ich sah nicht einen einzigen Halm wachsen. Die alten Geschichten schienen zu stimmen. Wenn Rhonda Lassalle hier eintraf, was hatte sie dann vor? Wollte sie vielleicht versuchen, ihre Ahnherrin zum Leben zu erwecken, damit die das Grab verlassen konnte? Rechnen mußte ich bei dieser Magie mit allem. Voodoo ist die geheim‐ nisvollste und schlimmste, die man sich vorstellen kann. Durch diesen Zauber war es möglich, Dinge geschehen zu lassen, die es normalerweise nicht gab. Wieder einmal blickte ich auf das Grab. Durch meinen Kopf zuckte ein fast wahnsinniger Gedanke. Es war ungefähr so hoch wie die Friedhofs‐ mauer, und es würde mir keine Mühe bereiten, es zu ersteigen. Eine Idee, über die ich innerlich grinsen mußte, die ich aber nicht zu den Akten legte. Ungewöhnliche Fälle erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Wer konnte schon damit rechnen, daß jemand wagte, die Ruhe dieser magischen Stätte zu stören und den Platz gleichzeitig zu entweihen. Ich wollte es tun. Dazu mußte ich zunächst einmal an das Grab heran. Und zwar ungese‐ hen, was nicht so einfach war, da ich eine freie Fläche zu überqueren hatte. Erst in der Nähe meines Ziels konnte ich in den Schatten der Grabwand tauchen. Dort ballte sich die Dunkelheit und wurde auch von keinem Flammenschein aufgerissen. Ich zögerte nicht mehr und lief in einer schrägen Linie auf mein Ziel zu. Sehr schnell bewegte ich meine Beine. Dabei hatte ich mich geduckt, mein Körper sollte ein so kleines Ziel wie möglich bilden. Ich kam auch gut weg, so daß ich die Hälfte der Distanz ohne Schwierigkeiten überwinden konn‐ te, bis zu dem Augenblick, als ich die Gestalt entdeckte. Wo sie hergekom‐ 220
men war, wußte ich nicht. Jedenfalls stand sie plötzlich vor mir, und aus dem bemalten Gesicht funkelten mich zwei Augen sehr böse an. Bewaffnet war der Knabe auch. Er sah zudem aus wie ein Dschungelkrieger, stank erbärmlich nach irgendeinem Öl und wollte die glänzende Machete hoch‐ reißen. Bis zur Hälfte schaffte er es, bevor ihn mein Schlag erwischte. Beide Fäus‐ te rammte ich in seine Gestalt. Ich hörte ihn würgen, sah ihn schwanken, und die Hand mit der Machete zitterte ebenso wie sein ganzer Körper. Dann sackte er zusammen. Ich stützte ihn ab und ließ ihn auf dem Boden liegen. Ein Voodoo‐Krieger weniger. Immer würde es mir nicht gelingen, alle Gegner so elegant auszu‐ schalten. Niemand hielt mich mehr auf. So erreichte ich ungesehen die Rückseite des Grabmals. Auch hier hatte ich über eine Treppe laufen müssen, schaute an der Außenfront hoch und sah die etwas überstehende Kante, an der ich mich festhalten mußte. Die Stätte war ziemlich groß, auf ihr würde ich genügend Platz finden. Ich schaffte es mit einem Klimmzug, in die Höhe zu kommen. Noch einmal mußte ich mich anstrengen, als ich mein Bein anwinkelte, um mich abzu‐ stützen, dann lag ich oben. Sehr flach blieb ich auf der Platte liegen. Mein pumpender Herzschlag sollte sich zunächst einmal beruhigen. Ich konnte es selbst kaum fassen, daß es mir gelungen war, mein Ziel so einfach zu erreichen, obwohl in der Nähe sehr viele Aufpasser gestanden hatten. Vielleicht hatten sie auch be‐ wußt nicht eingegriffen. Ich würde es noch merken. Jedenfalls war die Platte so breit, daß ich mich auf ihr bewegen und dre‐ hen konnte. Ich drückte meinen Körper herum, damit ich mit dem Kopf in die Richtung schaute, wo ich auch meine beiden Begleiter wußte. Ob sie mich sahen, war nicht zu erkennen. Zu weit konnte ich meinen Kopf auch nicht vorschieben, denn die Flammen kreisten die Grabstätte ein und wür‐ den auch mich aus der Finsternis reißen, wenn ich zu forsch war. Ich wartete ab. Von dieser Position aus gelang es mir auch, das Gräberfeld mit den Lich‐ tern zu sehen. Die Totenleuchten schimmerten in der Dunkelheit geheim‐ nisvoll und wirkten wie Grüße an mich aus einer fremden, sehr verlasse‐ nen Welt. 221
Die Trommler schlugen weiterhin ihre Handflächen auf die Instrumente. Vor mir standen die Wächter wie Statuen. Sie alle warteten auf ein be‐ stimmtes Ereignis. Ich drehte mein linkes Gelenk so, daß ich auf meine Uhr schauen konnte. Noch eine Stunde bis Mitternacht, dann war der Höhepunkt des Voodoo‐ Festes erreicht. Mußte ich wirklich so lange hier liegenbleiben, oder traf Rhonda nicht schon vorher ein. Im Prinzip konnte ich davon ausgehen, da für jedes Fest gewisse Vorbereitungen nötig sind. Daran würde sich auch hier nichts ändern. Und dann kam sie. Ich sah sie nicht, ich hörte nur das fremde Geräusch, war mir aber sicher, daß sie es einfach sein mußte. Der Trommelklang veränderte sich ebenfalls. Er war leiser geworden, nur mehr ein unterschwelliges Brausen, und ich drehte mich auf meinem Platz so, daß ich nach rechts schauen konnte. Hufschlag und das knirschende Drehen großer Räder auf dem kiesigen Untergrund drangen an meine Ohren. Im nächsten Moment schälte sich das Fahrzeug aus der Finsternis. Es war eine alte, schwarze Leichenkutsche! Gezogen wurde die Kutsche von ebenfalls schwarzen Pferden, auf deren Köpfen dunkle Federbüsche wippten. Die Rösser zeigten sich sehr folgsam, da die Zügel von dem Mann auf dem Bock stramm gehalten wurden. Es war Barnabas! Wie immer trug er seinen Zylinder, aber er hatte sich umgezogen und ei‐ ne Voodoo‐Kleidung übergestreift. Ein langes Gewand, das trotz der Dun‐ kelheit schimmerte und möglicherweise aus Seide bestand. Das Gesicht des Hünen schimmerte weiß. Er hatte es von der Stirn bis zum Kinn mit heller Farbe beschmiert. Nur die Augenhöhlen kamen mir vor wie dunkle Lö‐ cher. Nicht allein ich hatte die Ankunft der Kutsche bemerkt, auch die anderen Voodoo‐Diener waren aufmerksam geworden. Hatten sie bisher stumm auf ihren Plätzen gestanden, so lösten sie sich nun vom Fleck und schritten der Kutsche langsam entgegen. Es waren sechs Schwarze. Drei von ihnen trugen Masken, die anderen waren nur angemalt. Sie hielten Speere in den Händen, so daß ich mir vor‐ kam wie jemand, der den Dschungel und seine Bewohner beobachtet. 222
Barnabas schlug noch einmal mit den Zügeln, bevor er sie mit einem hef‐ tigen Ruck straff zog und die Kutsche so zum Halten brachte. Die beiden Rösser stampften ein paarmal mit den Hufen. Der aufspritzenden Kies war wieder zu Boden gefallen, das letzte Schnauben verklang ebenfalls, und auf dem Bock hakte Barnabas die Zügel an der Bremse fest. Im gleichen Augenblick steigerte sich der Trommelklang und wehte wie ein leichtes Donnergrollen über den Platz. Auch das Feuer hatte neue Nah‐ rung bekommen, denn die Flammenzungen wurden länger und glühten jetzt in stärkeren Rot‐ und Gelbtönen. Da mußte jemand irgendein Pulver hineingestreut haben. Und das alles zur Begrüßung der Voodoo‐Königin. Noch hatte ich sie nicht gesehen. Barnabas sprang vom Bock der schwar‐ zen Leichenkutsche und bewegte sich mit gemessenen Schritten auf die Tür an der rechten Seite zu. Er zog den Schlag auf und ließ die Frau aussteigen. Rhonda machte es spannend. Sekunden vergingen. Nur das Trommeln und das Knistern der Flammen waren zu vernehmen. Über dem Gelände lag ein gespanntes Schweigen, auch ich atmete flach. Ich hatte Glück, denn die rechte Tür des Leichenwagens befand sich an meiner Sichtseite. Der Ausstieg wurde von einem Schatten verdunkelt und gleichzeitig er‐ hellt. Barnabas streckte seine Hand aus. Er reagierte wie der Diener einer Adeligen vor zweihundert Jahren, wenn er ihr aus der Kutsche half. Sehr vornehm, schon galant. Barnabas interessierte mich nicht, ich wollte endlich Rhonda Lassalle se‐ hen und bekam sie einen Moment später auch zu Gesicht. Sie wirkte faszinierend und abstoßend zur gleichen Zeit. Mona hatte sie mir als herrisches Peitschenweib beschrieben. Eine Peitsche jedenfalls sah ich nicht bei ihr, dafür einen weißhäutigen Körper, dessen prägnante Stel‐ len nur mehr von zwei Teilen bedeckt wurden, die meiner Ansicht nach nicht aus Stoff, sondern aus Federn bestanden. Und bunter Federschmuck wuchs auch auf ihrem Kopf. Das Gesicht hatte sie angemalt. Blutrote Strei‐ fen hinterließen ihr Muster auf der hellen Haut. Diese Frau bot ein wirklich außergewöhnliches Bild, das auch auf mich seine Faszination nicht verfehlte. Ich ließ sie aus der Kutsche steigen, ohne irgend etwas zu unternehmen. 223
Sie berührte den Boden, hielt noch immer die Hand ihres Leibwächters fest, aus dessen Mund ein rauher Befehl drang. Es galt den Aufpassern. Sie hatten bisher die Kutsche eingerahmt. Jetzt kamen sie und nahmen ihre Königin in die Mitte. Mit gemessenen Schritten geleiteten sie Rhonda in die direkte Nähe des Grabmals, wo sie für einen Moment stehenblieb, um danach zusammenzusinken und mit den Knien die Stufen der kleinen Treppe zu berühren. Sie huldigte ihrer Ahnherrin. Und auch ihre Voodoo‐Diener verneigten sich. Barnabas ebenfalls. Sie berührten mit der Stirn den Boden, oder sie küßten ihn auch, so genau war das aus meiner Position nicht zu erkennen, denn ich erblickte nur noch ihren gebeugten Rücken. Selbst die weiter entfernt stehenden Aufpasser beugten ihre Köpfe. Sie wollten damit beweisen, wie sehr sie ihrer Königin zugetan waren. Mir kam für einen Moment der Gedanke, Rhonda anzuspringen. Ich ließ es bleiben, weil es einfach unvernünftig gewesen wäre und ich mich nicht von Gefühlen übermannen lassen wollte. Rhonda drückte als erste ihren Oberkörper wieder hoch. Noch blieb sie in der knienden Haltung und hatte die Lippen so fest zusammengepreßt, daß sie einen Strich bildeten. Dies sah ich, als der Ausläufer einer tanzen‐ den Flammensäule über ihr Gesicht zuckte. Sie schaute starr auf das Grabmal. Ich hatte mich so weit wie möglich zurückgezogen, wollte allerdings et‐ was sehen und hoffte, daß keiner der unten Stehenden auf die Idee kam, einen Blick auf das Dach des Grabmals zu werfen. Wieder verstrich Zeit. Ich dachte daran, was Mona mir erzählt hatte. Wenn Marie Leveau be‐ schworen werden sollte, mußte man ein bestimmtes Ritual einhalten. Des‐ halb war ich gespannt, ob auch Rhonda sich daran hielt. In ihrer knienden Haltung breitete sie die Arme aus, so daß sie von den Schultern waagerecht abstanden. Sie wirkte so, als wollte sie in ein lautes Gebet verfallen, aber nicht ein Ton drang über ihre Lippen. Nur der Trommelklang hüllte sie ein. Er wehte über den alten Friedhof wie ein nie abreißendes grummelndes Gewitter. Barnabas und die anderen Diener hatten ihre demütige Haltung nicht 224
aufgegeben. Allein die Voodoo‐Königin überragte sie. Wahrscheinlich konnten Mona und Fred sie ebenfalls sehen. Für die junge Schwarze mußte es schwer sein, sich zurückzuhalten, während der Rücken der Voodoo‐ Königin ein so prächtiges Ziel bot. Mit einer geschmeidigen Bewegung stand Rhonda plötzlich auf. Noch immer umgeben vom Klang der Trommeln. Die Arme sanken nach unten, wurden an den Körper gelegt, und Rhonda drehte sich plötzlich nach links. Auf einem Fuß stand sie dabei und begann mit den alten, überlieferten Ritualen. Sie sprach kein Wort, wurde von ihren Dienern und mir beobach‐ tet und brachte all das hinter sich, von dem mir Mona berichtet hatte. Zuletzt trat sie dicht an das Grabmal heran und griff nach der dort hän‐ genden Kreide. Mit der linken Hand malte sie ein großes X an die Wand. Mir war sie dabei aus dem Sichtbereich geraten, da sie sich im toten Winkel aufhielt. Ich war jedoch sicher, daß es sich nur um diesen Buchstaben handeln konnte. Sie kam wieder in mein Blickfeld. Rückwärts, mit geschmeidigen Bewegungen. Schuhe trug sie nicht. Ihre Nägel waren schwarz lackiert. Dadurch sahen die Spitzen der Zehen aus, als hätte man sie abgehackt. Mit einer sehr leichten Drehung wandte sie sich um, so daß sie ihre Die‐ ner direkt anschauen konnte. Hoch hob sie beide Arme und begann zu sprechen. Sie benutzte zum Glück die englische Sprache und nicht irgendein Kau‐ derwelsch. Mit wohlausgesuchten Worten redete sie auf die Versammelten ein und sprach von einer großen Rückkehr jener Frau, die schon viel zu lange in der Erde lag. »Marie Leveau wird kommen, ich habe es gespürt. Voodoo‐Land braucht sie, denn allein durch ihre Kraft, die sie uns mitgeben wird, sind wir in der Lage, die Toten aus den Gräbern zu holen. Jedes Grab, auf dem ein Licht steht, wird sich noch in dieser Nacht öffnen und seinen Inhalt entlassen. Wir sammeln die Armee der lebenden Toten und bringen sie zu dem, der unser aller Herr ist. D. C, der Herrscher über Voodoo‐Land und der einzi‐ ge, den ich außer ihr noch anerkenne. Sie, er und ich werden die Welt aus den Angeln heben. Und jetzt bereitet den Zauber vor.« 225
Das ließen sich ihre Helfer nicht einmal sagen. Nur drei blieben zurück, Barnabas eingeschlossen, die anderen verschwanden, um den Anordnun‐ gen ihrer Königin nachzukommen. Ich hatte sehr genau aufgepaßt und die Worte auch gut verstanden. Die Pläne der Rhonda Lassalle hörten sich überheblich und undurchführbar an. Sie wären es sicherlich auch gewesen, hätte sie nicht die Macht der leben‐ den Leichen als Stärkung in ihrem Rücken gespürt. Ich hatte die Lichter auf den Gräbern nicht zählen können, da die Zeit zu kurz gewesen war. Falls der Zauber in Erfüllung ging, konnten wir uns auf eine kleine Zombie‐ Invasion gefaßt machen. Von Suko hatte ich ebenfalls noch nichts gesehen. Wo sie ihn hingeschafft hatten, war mir unbekannt. Immer drängender wurde in mir der Wunsch, mich bei Rhonda auf meine Art und Weise zu erkundigen. Leider stand mir da jemand im Weg. Dieses Hindernis hießt Barnabas und besaß Kräfte wie ein Bär. Er hielt sich stets an Rhondas Seite, und einfach niederschießen konnte ich ihn nicht. Ich wollte es auch nicht zu einer Beschwörung kommen lassen. Griff ich erst dann ein, war es zu spät, dann krochen die Zombies schon aus der feuchten Erde. Wie also reagieren, und wann war der richtige Moment? Leider konnte ich meinen Begleitern kein Zeichen geben. Es wäre aufge‐ fallen, so konnte ich froh sein, noch nicht entdeckt worden zu sein, und blieb weiterhin liegen. Barnabas stand immer in Rhondas Nähe. Er sprach zwar nicht mit ihr, seine Gestik jedoch war eindeutig. Immer wieder schob er seinen mächti‐ gen Körper vor den der Frau, so daß er Rhonda absichern konnte. Ich bekam keine Chance, an sie heranzukommen. Dann änderte sich die Szenerie. Es begann mir einem Schrei. Ausgestoßen hatte ihn kein Mensch, son‐ dern ein Hahn, der irgendwo entfernt laut krähte, als würde er genau spü‐ ren, was ihm bevorstand. Tierblut, Knochen, geriebene Asche von Fledermäusen oder das Mehl ir‐ gendwelcher Gebeine gehörten zum Voodoo‐Kult wie das Salz zur Suppe. All diese Zutaten sollten dabei mithelfen, die Magie zu verstärken und die Toten aus der Erde zu holen. 226
Dampfen und kochen mußte das Blut, damit es seinen penetranten Ge‐ ruch ausbreiten konnte, der von den Anhängern so geliebt und wie eine Droge aufgesaugt wurde. Es waren furchtbare Riten, denen die Voodoo‐Jünger frönten. Ich konnte als normal denkender Mensch darüber nur den Kopf schütteln, mußte sie jedoch hinnehmen und sah zu, wie der Hahn herbeigeschleppt wurde. Er befand sich in einem Korb, schlug mit den Flügeln um sich, soweit es die engen Gitterstangen zuließen, hackte mit der Schnabelspitze gegen die Stäbe, krähte, drehte sich und verspürte schon jetzt so etwas wie Todes‐ angst. Der Korb wurde vor dem Grabmal abgestellt. Auch andere Utensilien schafften die Diener herbei. Sie trugen Gefäße mit halbrunden Deckeln, in denen sie die Ingredienzien aufbewahrten, und Rhonda Lassalle sorgte dafür, daß alles dorthin gestellt wurde, wo sie es haben wollte. Niemand sprach. Alles wirkte wie einstudiert. Der Trommelklang bot bei der folgenden Beschwörung die dumpfe Untermalung. Die Grabriten hatte Rhonda hinter sich, möglicherweise war sie innerlich gestärkt und würde nun darangehen, die Toten aus den Gräbern zu holen. Eine für mich immer wieder unfaßbare Sache, obwohl ich sie nicht zum erstenmal erlebte. Nach‐ schub für Voodoo‐Land, wo sicherlich noch weitere Zombies auf die Ver‐ stärkung warteten. Ich spann den Faden gedanklich weiter. Wenn es Rhonda tatsächlich ge‐ lang, den alten Friedhof zu einem Teil zu entvölkern, würden die Zombies durch New Orleans ziehen und möglicherweise all die anfallen, die sich ihnen in den Weg stellten. Beim Gedanken daran wurde mir heiß und kalt zur gleichen Zeit, und in der Kehle verspürte ich ein rauhes Gefühl. Noch tat sich nichts. Eine verhaltene Stille, gepaart mit einer etwas ner‐ vösen Spannung lag über dieser historischen Grabstätte. Auf den Gräbern leuchteten die kleinen Lampen. Jede einzelne von ihnen sollte das Licht einer untoten Seele dokumentieren. Ich atmete tief durch. In meinem Kopf spürte ich einen dumpfen Druck. Glücklicherweise hatte man mich nicht entdeckt. Auch der von mir Nie‐ dergeschlagene schien noch nicht gefunden worden zu sein. Alarm jeden‐ falls hatte niemand gegeben. 227
Vor dem Grabmal liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Zwei flache Schalen waren aufgestellt worden. Das Pulver in ihnen sah ich als dunkle Fläche. Jemand ging zum Feuer und holte ein brennendes Holzscheit. Mit ihm zündete er das Pulver in den Schalen an. Das Zeug puffte auf, sprühte dann, als wäre es aus dem Material einer Wunderkerze hergestellt, und fing wenig später an zu glimmen, wobei es schwadenartige Nebelwolken abgab, die sich wie ein dicker, graugrüner Vorhang verteilte. Auch meiner Spannung wuchs. Hin und wieder wurde mir die Sicht durch die wallenden Qualmwolken genommen. Der Geruch war ekelerre‐ gend. Moder und Blut vermischten sich. Schattenhaft nur sah ich die agierenden Gestalten. Ich hörte die knappen Befehle der Frau, sah eine heftige Bewegung und vernahm den schrillen Schrei einer gequälten Kreatur. Es war der Hahn, der ihn ausgestoßen hatte. Zufall war es nicht, daß ich in den folgenden Sekunden besser sehen konnte und daß dies auch so blieb. Die in den Schalen befindliche Masse war heruntergebrannt, der Nebel verschwand, und meine Sicht wurde besser, so daß ich die einzelnen Personen wieder ausmachen konnte. Die Voodoo‐Königin lag auf dem Rücken. Arme und Beine an den Kör‐ per gepreßt. Sie erinnerte mich in dieser Haltung an eine Tote und auch an Suko, den ich ebenfalls in diesem starren Zustand gesehen hatte. Der Trommelschlag war härter geworden. Er glich einem stampfendem Rhythmus, der auf die Voodoo‐Diener nicht ohne Wirkung blieb, denn sie folgten durch ihre Bewegungen diesem veränderten Klang. Die Männer begannen zu tanzen! Von einem Bein stampften sie auf das andere, bewegten ihre Oberkörper, wobei die Schultern konvulsivisch zuckten, während durch ihre Arme bis hin zu den Fingerspitzen ein Zittern lief. Sie hatten einen Kreis um die Liegende gebildet, die angefeuert wurde, ihre magischen Kräfte walten zu lassen, und nach wie vor in dieser Starre liegenblieb. Jemand bespritzte sie mit einer Flüssigkeit. Erst als ich die dunklen Fle‐ cken auf ihrer hellen Haut sah, erkannte ich, daß es sich um Blut handelte. Aus einem mit kleinen Öffnungen versehenen Gefäß sprühte es hervor 228
und bildete auch auf den Körpern der Diener ein gesprenkeltes Muster, das vom Kopf bis zu den Füßen verlief. Dem Trommelklang folgend, steigerte sich der Rhythmus ihrer Bewe‐ gungen. Barnabas hielt sich außerhalb des Kreises auf. Seine rechte Hand umklammerte den Hals des Hahns. Wahrscheinlich hatte er das Tier schon erwürgt und wartete nur auf dem Moment, um ihm den Kopf abzuschla‐ gen und das warme Tierblut auf den Körper der Voodoo‐Königin zu sprit‐ zen. Erste Schreie gellten auf. Heiser übertönten sie sogar noch den Klang der Trommeln. Die Diener konnten nicht mehr an sich halten, sie mußten einfach schreien, und sie brüllten ihre Wut hinaus. Dabei verzerrten sich die bemalten Gesichter noch stärker. Die Arme wurden gesenkt. Immer abwechselnd zielten die Spitzen ihrer Lanzen auf die am Boden liegende Rhonda. Ich hielt mehr als einmal den Atem an, da es so aussah, als würden die scharfen Metallspit‐ zen den Körper durchbohren. Das geschah nicht, nur der Tanz wurde wilder und die Schreie heiserer. Sie wetteiferten mit dem Hämmern der Voodoo‐Trommeln und fuhren mit ihnen zusammen als Echos gegen den düsteren Nachthimmel. Das Feuer gab der Szenerie eine schaurige Untermalung, bis zu dem Zeitpunkt, als alle Tänzer zur gleichen Zeit ihre Lanzen nach unten ramm‐ ten. Dicht neben dem Körper jagten sie in den hartgestampften Boden und blieben zitternd stecken. Sie hatten so etwas wie einen Käfig um die lie‐ gende Frau gebildet. Auch der Trommelklang ebbte ab. Ich wußte, daß ein unbegreifliches und gleichzeitig schauriges Ritual dicht bevorstand. Wenn der Körper der Frau vom Blut des Hahnes be‐ spritzt wurde, veränderte sie sich auch innerlich. Dann sollte die Kraft die‐ ses Tieres auf sie übergehen und dafür sorgen, daß Körper und Seele so weit gestärkt wurden, um die Toten aus den Gräbern holen zu können. Das alles war mir bekannt, ich wußte auch, daß ich es so weit nicht kommen lassen durfte. Leider hatte sich etwas verändert. Die im Boden steckenden Stangen bil‐ deten ein Hindernis für mich, wenn ich springen wollte, ich konnte nur mehr hoffen, daß ich es dennoch schaffte, mich in den Kreis hineinzusto‐ 229
ßen, und daß auch das Glück des Tüchtigen auf meiner Seite stand. Plötzlich war es still. Keine Trommeln mehr, kein Wind, nicht einmal ein Säuseln, das über den Friedhof strich, nur diese unnatürliche Stille, die ich mit der Ruhe vor dem großen Sturm vergleichen konnte. Rhonda bewegte sich. Zuerst ihren Mund. Durch die Bemalung in ihrem Gesicht wirkte es auf mich, als hätte sie sich eine dünne Gummimaske ü‐ bergestreift. Sie hauchte einige Worte, reckte ihre Arme und umklammerte mit den Händen zwei Stangen. Zum erstenmal veränderte auch ich meine Lage. Vorsichtig winkelte ich die Beine an, blieb knien und lauerte auf einen besonders günstigen Zeit‐ punkt, um springen zu können. Noch hielt Barnabas den Hahn. Die Finger seiner linken Hand umklam‐ merten den Hals. In der Rechten hielt er bereits sein Haumesser, mit dem er dem Tier den Kopf abschlagen würde. Von nun an dehnte sich jede Sekunde. Ich war mit mir selbst beschäftigt und riskierte nur noch einen hastigen Blick nach unten. Rhonda lag noch zwischen den Stangen. Sie hatte sich mit dem Oberkör‐ per hochgedrückt, der Kopf fiel dabei nach hinten. Es war eine dem ande‐ ren entgegenkommende Haltung, als wollte sie durch sie dokumentieren, daß er ihr endlich das antat, was sie erwartete. Und es mußte bald geschehen, denn auf einmal hörte ich wieder den Klang der Trommel. Es war nur eine, und es blieb auch eine. Dumpf und abwartend kam mir der Klang vor. Aber er steigerte sich von Sekunde zu Sekunde, so daß mir der Vergleich mit einem Zirkus in den Sinn kam, wo der Höhepunkt einer artistischen Darbietung auch durch Trommelklang angekündigt wurde. Barnabas trat näher… Man schuf ihm respektvoll Platz, so daß er dicht an das »Gitter« heran‐ stehen konnte, beide Arme hob und den Hahn sowie sein Haumesser da‐ rüberreichte. In der senkrechten Verlängerung befand es sich direkt über dem Körper der Frau. Ein Schlag würde reichen. 230
Ich richtete mich auf. Geschmeidig waren meine Bewegungen. Die Mus‐ keln hatte ich angespannt, die Beretta noch steckenlassen. Der Trommelklang verstärkte sich, und Barnabas kam mir insofern ent‐ gegen, als er eine andere Stellung einnahm und mir praktisch den Rücken und seine linke Seite zudrehte. Besser konnte es gar nicht kommen… Ich hätte nicht gedacht, daß sich der Rhythmus noch mehr steigern wür‐ de, aber das war möglich, und die eine geschlagene Trommel hörte sich fast so laut an wie vorhin die vier oder fünf. Am Rand des Grabmals stehend schaute ich nach unten und sah, daß Barnabas den Arm noch weiter angehoben hatte. Er zielte bereits auf den Hahn, und ich wußte, daß ich keine Sekunde länger mehr ausharren durf‐ te. Ich sprang! Im nächsten Augenblick war die Hölle los! * Natürlich hatte ich Angst, als ich mich in der Luft befand. Es war kaum zu fassen, welche Gedanken einem in dieser kurzen Zeit‐ spanne durch den Kopf schießen können, und ich kam auch nicht dazu, sie zu sortieren. Mein Blick war auf Barnabas konzentriert. Irgendeiner der anderen Diener schrie eine Warnung, die ihm galt. Bar‐ nabas drehte sich, mit ihm auch das verdammte Haumesser, nur ein wenig zu spät, denn ich erreichte ihn. Mit zwei Füßen erwischte ich ihn. Es waren regelrechte Volltreffer. Meine linke Sohle jagte gegen seinen Hals, stieß ihn zurück, und der rechte Fußstoß durch den Scherenschlag in seinen Magen. Dieser Treffer sorgte für einen zusätzlichen Schwung, den selbst dieser Riesenkerl nicht mehr ausgleichen konnte. Er geriet ins Stolpern und fiel hin. Während ich aufschlug, dachte ich daran, daß meine Aktion von Fred und Mona verfolgt worden sein mußte und sie sich auch entsprechend verhielten. Es war nur mehr ein kurzer Gedankenblitz, der durch meinen Kopf schoß, denn ich war gut aufgekommen und kreiselte sofort herum. Barnabas hatte zwei Voodoo‐Diener mitgerissen. Rhonda richtete sich 231
auf. Sie schrie wie eine Sirene und wollte den Kreis verlassen. Ich schlug einen weiteren Diener zur Seite, hatte freie Bahn und packte zu. Leider duckte sich die Lassalle, so daß ich ihre Schulter nicht zu fassen bekam, sondern nur den Federschmuck. Er saß zum Glück fest auf dem Kopf. Es gelang mir, die Frau in meine Nähe zu ziehen. Bevor sie mir ihre Fin‐ gernägel durchs Gesicht reißen konnte, hatte ich sie herumgewirbelt und meinen linken Arm um ihren Hals geschlungen. So drückte ich sie zurück und an mich. Und noch etwas tat ich. Diese Bewegung glitt praktisch in die erste über. Ich zog mit der rechten Hand meine Waffe und preßte der Voodoo‐Königin die Mündung gegen die Stirn. Sie zuckte noch einmal kurz zusammen, als sie den Kontakt mit dem kal‐ ten Metall spürte, und hörte meinen Befehl. »Jetzt pfeife deine Gorillas zurück, sonst hat dein Schädel ein Loch…« Sie schrie zwei, drei Worte mit sich fast überschlagender Stimme, danach wurde es totenstill. Sämtliche Bewegungen schliefen ein. Zeit verging. Nur wenig, doch sie kam mir lang vor. Ich nahm meine Umgebung überdeutlich wahr. Keiner der anderen wagte auch nur, einen kleinen Finger zu rühren. Selbst Barnabas stand still. Die Machete hielt er noch fest. Der nicht geköpfte Hahn lag bewegungslos neben seinem linken Fuß. Obwohl Rhonda Lassalle stillstand, zitterte sie innerlich. Ich spürte es an ihrem Hals, wo sich die Schlagader besonders stark vordrückte und sich hektisch bewegte. Die Frau stand unter »Strom«. Ich ließ ihr soviel Freiheit, um Atem zu holen. Laut sog sie ihn ein. Den Kopf hatte sie ein wenig zur Seite gedreht, so daß ich das Weiße in ihren Augen erkennen konnte. »Okay«, flüsterte ich. »Und jetzt zurück – alle. Auch du, Barnabas!« Er schaute mich starr an, ohne sich zu bewegen. Der Blick seiner Augen war zum Fürchten. In den Pupillen loderte unterschwellig ein wahnsinni‐ ger Haß. Wenn er mich jetzt gehabt hätte, wäre ich mit einem Genickbruch vom Leben zum Tod befördert worden, aber ich besaß eine Geisel, und 232
deshalb traute er sich nicht. »Geh, sonst wird sie es büßen!« Barnabas schaute mich noch einmal an, nickte und bewegte sich um drei Schritte zurück. Das gefiel mir schon besser. Weniger gut paßte mir das Haumesser in seiner Rechten. »Weg mit der Machete!« Er schaute auf die Klinge, sah seine Herrin an, und die verstand. »Ja, laß es fallen!« krächzte sie. Er schleuderte es mit einer lässig anmutenden Bewegung zur Seite. Nun standen meine Chancen etwas besser. Ich hatte den magischen Zauber brutal zerstört, es war nicht zum Letzten gekommen, die Toten lagen zum Glück in ihren Gräbern, wo sie auch so lange bleiben sollten, bis sie ver‐ modert waren. Das lange Hocken auf dem Grab und das Beobachten der Szene hatte mich Nerven gekostet. Nur allmählich ließ die Anspannung nach, ich fühl‐ te mich wieder besser. Der Schweiß auf meiner Stirn trocknete, und der leichte Wind wehte den Geruch der Kampferbäume in mein Gesicht. Das Feuer brannte noch. Es erzeugte Licht und Schatten, die huschend und sich immer wieder verän‐ dernd andere Muster auf den Boden und unsere Körper zeichneten. Auch die Spannung bei Rhonda Lassalle ließ allmählich nach. Sie atmete tief aus, ich vernahm ihre ersten Worte, mit denen sie mir zu erklären ver‐ suchte, wie gering meine Chancen doch waren. »Nein, Sinclair, hier kommst du nicht weg. Jeder auf diesem Friedhof hört auf mein Kommando. Du schaffst es einfach nicht. Du bist nicht stär‐ ker als wir.« »Jedenfalls hast du es nicht geschafft, die Leichen aus den Gräbern zu ho‐ len und für Nachschub an Untoten zu sorgen. Die Division wird nicht auf‐ gestockt, sondern zerschlagen, das kann ich dir schwören.« »Es ist nur eine Frage der Zeit, Sinclair. Uns kann niemand aufhalten.« »Wenn du dich unvorsichtig bewegst, ist dir die Kugel sicher! Ich an dei‐ ner Stelle würde nachdenken.« »Das mache ich die ganze Zeit über. Aber ich denke über dich nach, Geis‐ terjäger. Ich frage mich nämlich, wie du es schaffen willst, den Friedhof zu verlassen. Hier steht jeder auf meiner Seite, und die Männer, die du hier siehst, sind die wenigsten. Andere warten an bestimmten Stellen und be‐ 233
halten die Kontrolle. Sie sind die Paten für die lebenden Toten, die bald ihre Gräber verlassen werden. Nein, deine Chance ist gleich Null.« »Mit dir als Geisel nicht.« »Dann mach etwas!« Ich hatte das leichte Vibrieren aus ihrer Stimme herausgehört. So sicher und lässig, wie sie sich gab, war sie nicht. Die Lage, in der sie sich befand, mußte sie schon gewaltig stören, obwohl sie auf keinen Fall aufgegeben hatte. Leider stand ich allein. Zwar sah ich im Hintergrund des Friedhofs Bewegungen, nur gehörten die Gestalten, die da vorkamen, zum Kader der Rhonda Lassalle und nicht zu meinen Freunden. Es wurde Zeit, daß Mona und Fred eingriffen, damit auch die andere Sei‐ te etwas von ihrer Sicherheit verlor. Zudem hatte ich bereits darüber nach‐ gedacht, wie ich dem Friedhof zusammen mit meiner Geisel entkommen konnte. Die Kutsche würde uns helfen. Sie allein sah ich als meine große Chance an. Als Rhonda plötzlich lachte, wurde ich mißtrauisch. Die folgenden Worte bestärkten mich noch darin, denn sie sagte: »Ich bin zwar deine Geisel, Sinclair, aber du solltest nicht vergessen, daß auch ich noch eine habe. Kennst du einen Chinesen, den man Suko nennt?« »Sehr gut.« »Und er befindet sich bereits auf dem Weg.« »Wohin?« »Wolltet ihr nicht Voodoo‐Land sehen? Er wird es kennenlernen und dort sein Leben aushauchen. Die Zombies freuen sich über jeden Men‐ schen. Aber er wird zurückkehren, Sinclair.« Sie sprach jetzt sehr leise. »Auf Voodoo‐Land stirbt niemand. Es gibt keine Toten dort, nur lebende Leichen, die zum großen Angriff rüsten. Was meinst du, wie sich dein Freund zwischen ihnen fühlen wird, wenn D. C. dafür sorgt, daß er aus seinem scheintoten Dasein erwacht.« »Davon hast du aber nichts.« »Doch, ich schaue mir seine Leiche an. Eine Chance gebe ich dir noch, Sinclair. Laß mich frei, dann können wir über das Schicksal deines Freun‐ des diskutieren!« »Wir reden nicht, sondern handeln!« Ein anderer hatte den Satz gespro‐ 234
chen. Es war Fred Diamond. Er hatte es geschafft, von allen anderen un‐ bemerkt, heranzukommen. Wenn er da war, mußte auch Mona in der Nähe sein, und mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich sah den Agenten hinter seinem speziellen Freund Barnabas. Er stand so, daß er ihm die Mündung seiner schweren Waffe seitlich gegen die Stirn drücken konnte. »Darauf habe ich lange gewartet, du komischer Zylinder‐ träger, dich einmal vor die Mündung zu bekommen.« Er lachte. »Mona, zeig dich ruhig und nimm die verdammte Machete an dich. Wir wollen doch mal sehen, wie das ist, wenn wir hier den Ton angeben.« Der schmale Schatten der schlanken Negerin erschien. Sie erreichte die Waffe, bückte sich und hob sie auf. Ich sah, daß sie das Blasrohr in der an‐ deren Hand hielt. Sie ging hinter Barnabas und Diamond, so daß sie in keine Schußlinie ge‐ riet. Aber sie wollte, daß Rhonda sie sah. Dies geschah automatisch. Mona blieb stehen. »Hallo Peitschenweib«, sagte sie mit klirrender Stim‐ me. »Soll ich dir die Streifen zeigen, die das verdammte Leder auf meinem Rücken hinterlassen hat?« Die Lassalle verzog die Mundwinkel. »Du hattest es nicht anders ver‐ dient. Wer Ungehorsam zeigt, muß sterben. Das sind die Gesetze des Voo‐ doo…« »Nein, das sind nicht die Gesetze des Voodoo. Das sind deine eigenen, du Miststück.« Mona kam auf uns zu. Sie war erregt. Wahrscheinlich kehr‐ te genau in diesem Augenblick wieder die Erinnerung an die Schläge zu‐ rück, und der Haß durchschoß sie wie ein heißer Strom. Gelassen hob sie das Blasrohr, setzte es bis dicht vor den Mund und sprach mit leiser Stimme das aus, was ihr auf der Seele lag. »Ich habe es mit einem Giftpfeil geladen«, flüsterte sie. »Mit einem Giftpfeil, der extra für dich hergestellt wurde. Ich brauche nur zu pusten und ihn dir zwischen die Augen zu setzen…« Die Lassalle war eiskalt. Auch in dieser Lage behielt sie die Nerven. »Es wäre unklug von dir, dann würde die andere Geisel sehr schnell sterben. Oder willst du Sinclairs Freund auf dem Gewissen haben?« »Es könnte mir egal sein!« stieß Mona zwischen halb zusam‐ mengebissenen Zähnen hervor. »Laß es sein!« befahl ich, bevor sich die junge Schwarze noch mehr hoch‐ schaukelte. »Ich will es nicht.« 235
»Keine Sorge, John, ich vergesse mich nicht. Ich habe gelernt, mich zu beherrschen, aber bald, vielleicht noch in dieser verdammten Nacht, werde ich mit dir abrechnen, Rhonda! Du hast mich nicht umsonst gedemütigt, du hellhäutige miese Hure.« Von Fred bekam ich Unterstützung. »Reiß dich zusammen, Mona. Wir müssen erst mal von hier weg. Hast du einen Plan, John?« »Ja, wir gehen zur Kutsche.« Der Agent lachte. »Ein guter Vorschlag. Hätte fast von mir sein können.« Ob er wirklich so gut war, mußte sich noch herausstellen. Er war zumin‐ dest riskant, aber ich wußte keine andere Möglichkeit. Zu Fuß konnten wir nicht entkommen. Auch Mona war einverstanden. Sie lächelte verzerrt. Über ihr Gesicht tanzten die Schatten vom Widerschein des Feuers. »Auf eine Kutschfahrt mit dir habe ich mich schon immer gefreut, Rhonda«, erklärte sie. »Das wird ein Heidenspaß.« Die nächste Aktion übernahm Fred Diamond. Er trat einen halben Schritt zurück und schlug zu. Bevor dieser Koloß Barnabas auch nur reagieren konnte, hatte er bereits zwei wuchtige Schläge abbekommen. Es war ähnlich wie innerhalb des Museums, nur schlug Fred in diesem Falle dreimal zu, um sicher zu gehen. Barnabas brach in die Knie. Zusammen mit seinem Kopf schwankte auch der Oberkörper. Das ging einige Male so, bis der Riese das Übergewicht bekam und zu Boden kippte. Regungslos blieb er liegen. Tief sog Fred die Luft ein. Ich hörte ihn direkt aufatmen, und er wischte sich den Schweiß aus der Stirn. »Das war es dann wohl«, murmelte er, »diesmal schläft er länger.« Keiner der anderen hatte sich bewegt. Und auch Fred drohte ihnen noch einmal, als er seine Waffe in einem Halbkreis schwenkte und die Voodoo‐ Diener in die Mündung schauen ließ. »Bewegt euch nur nicht, ihr Hunde‐ söhne. Kein falsches Wimpernzucken, ich würde sonst verdammt sauer reagieren, verlaßt euch drauf.« Sie gehorchten wie Marionetten ihrem Fadenhalter. Ich drückte Rhonda ein Knie in den Rücken. Dabei stieß ich sie bereits in die Richtung, wo die Kutsche auf mich und meine Geisel wartete. Mir gefiel es nicht, daß sie sich nur mit kleinen Schritten voranbewegen 236
sollte. »Geh schneller!« zischte ich ihr ins Ohr. »Mach schon, verdammt.« Auch Mona und Fred befanden sich auf dem Weg zur Kutsche. Im Hin‐ tergrund des Friedhofs sah ich wieder Bewegungen. Dort hatten sich einige Gestalten gelöst, die zuvor in ihren Verstecken gewartet hatten, und kamen langsam näher. Es mußte sich bis zu ihnen herumgesprochen haben, was am Grabmal der Marie Leveau geschehen war. Auf ihre Kraft konnte sich Rhonda vorerst nicht verlassen. Der Agent und die junge Negerin behielten die anderen genau im Blick. Sie gingen nur rückwärts, und Fred zuckte plötzlich nach links, um im gleichen Moment zu feuern. Das Schußecho dröhnte über dem Friedhof hinweg. Gleichzeitig sprang auf dem Grabmal, das auch mir als Startplatz gedient hatte, eine dunkel‐ häutige Gestalt in die Höhe. Sie war von der Kugel erwischt worden und ließ den Speer fallen, den sie hatte schleudern wollen. Nach der Waffe kippte der Mann selbst zu Boden. Zwischen den Lanzen‐ stangen blieb er liegen. »So ergeht es allen, die irgend etwas versuchen wollen!« rief Fred und fügte noch ein hartes Lachen hinzu, wahrscheinlich, um seine innere Span‐ nung einzudämmen. Bis zur Kutsche brauchten wir nur mehr wenige Schritte. Mona erreichte sie als erste, riß an jener Seite die Tür auf, wo Rhonda auch ausgestiegen war. »Los, da kannst du rein!« Sie wollte nicht. Urplötzlich stemmte sie sich gegen meinen Griff, hob auch den Fuß und trat mir auf die Zehen. Hätte sie Schuhe mit spitzen Absätzen getragen, hätte ich sicherlich ein Tänzchen gemacht, so hielt sich der Schmerz in Grenzen, er machte mich nur wütend. Ich vergrub meine linke Hand in die blonde Haarpracht unter dem Federbusch und zog ihren Kopf hart zurück. »Hör auf!« keuchte sie. Ich ließ ihr Haar los. Sie setzte mir auf dem Rest der Strecke auch keinen Widerstand entgegen, als ich sie gegen die offen stehende Tür drückte. »Einsteigen!« Rhonda nahm den rechten Fuß hoch. »Sinclair, du hast eine letzte Chan‐ ce. Wir könnten uns arrangieren. Es geht auch um den Gelben…« »Steig ein, verdammt!« Ich war wütend auf die Frau. Sie kannte nur den 237
Haß und ihren Vorteil. Um meinen Worten den entsprechenden Nach‐ druck zu verleihen, rammte ich ihr die flache Hand in den Rücken und schleuderte sie in das Innere der Kutsche. Dort fiel sie auf die Knie, wollte herumwirbeln, als ich sie schon wieder hochriß und auf einen der beiden einander gegenüberliegenden schwarzen Ledersitze preßte. Meine Waffe spürte sie auch. Die Mündung traf sie fast an der gleichen Stelle, wo sich der Kreis bereits in der Haut abdrückte. Noch stand die Tür offen. Ich konnte nach draußen schauen. Fred Diamond kam herbei. Er blickte zurück und hielt seine Waffe in die entsprechende Richtung, um andere zu warnen. »Ich werde mich auf den Bock setzen, John.« »Bleibt dir wohl nichts anderes übrig. Kannst du denn eine Kutsche len‐ ken?« »Das machen doch die Pferde.« Er grinste, streckte seinen Arm aus und rammte die Tür zu. Rhonda und ich waren allein. Ich hörte ihr leises Lachen und sah auch den Schweiß auf ihrem Gesicht. »Sinclair, du bist wahnsinnig. Einer allein gegen die Division, D. C. und die Zombies. Das kann einfach nicht gutge‐ hen, hörst du?« »Überlasse es mir!« »Du kennst D. C. nicht…« »Aber du?« »Sehr gut sogar.« »Dann kannst du mir ja erklären, was für ein Mensch dieser Mann über‐ haupt ist!« Sie lachte kichernd und irgendwie wissend. »Ein Mensch, sagst du? Wirklich ein Mensch? Muß D. C. eigentlich ein Mensch sein oder kann er nicht auch zu den Zombies gehören?« Die letzten Worte hatten mich nachdenklich werden lassen. Dieser D. C. brauchte kein Mensch zu sein. Ich hatte erlebt, daß Zombies auch von ei‐ nem Untoten angeführt wurden. Mein ehemaliger Gegner Xorron war da‐ für das beste Beispiel. »Jetzt überlegst du, nicht?« »Was steckt hinter diesen beiden Buchstaben?« »Ein Name.« 238
»Und welcher?« »Du weißt es nicht?« Sie wunderte sich, und das schien mir nicht gespielt zu sein. »Sonst hätte ich nicht gefragt.« »Als Zeichen meiner Zusammenarbeit mit dir will ich es dir sagen, Sinc‐ lair. Ja, du erfährst von mir, wer sich hinter diesen beiden Buchstaben ver‐ birgt. Es ist ein Name, der in bestimmten Kreisen Gewicht hat. Merke dir ihn gut. Merke dir Damion Cargal…« Damion Cargal! Ich überlegte, ich ließ den Namen in meinem Hirn nachhallen. Hatte ich ihn schon gehört? Mußte ich ihn vielleicht gehört haben? Auf eine Lösung kam ich nicht, so sehr ich auch darüber nachgrübelte. Kein Damion Cargal war mir jemals untergekommen. Möglicherweise hatten wir uns bisher auf zwei verschiedenen Gleisen bewegt, aber ich würde mit ihm zusammen‐ treffen, dessen war ich mir sicher. »Er sagt dir nichts?« »Nein.« Rhondas Lippen zuckten. »Dann ist es gut.« Unsere Unterhaltung stoppte, obwohl sie sicherlich noch interessant ge‐ worden wäre, aber auf dem Kutschbock hatte Fred Diamond seinen Platz gefunden. Dann flog die Tür noch einmal auf. Bevor ich es verhindern konnte, glitt Mona in das Innere. Sie rammte den Ausstieg sofort wieder hinter sich zu und nahm uns ge‐ genüber Platz. Breit war ihr Grinsen, als sie Mona anstarrte. »Diese Kutschfahrt mit dir konnte ich mir nicht verkneifen. Sie ist das Höchste.« Das Blasrohr hielt sie nah an ihre Lippen und war nur darauf aus, daß die Voodoo‐Königin eine falsche Bewegung machte. Neben sich hatte sie das Haumesser gelegt. Rhonda saß steif da. Ihre Hände hatte sie in den Schoß gelegt. Kein Wort drang über ihre Lippen. Ich rückte zur Seite und schaute aus dem offenen Türfenster zurück. Es waren wieder mehr Diener geworden, die in der Nähe des Grabmals stan‐ den. In ihrer gespannten Haltung wirkten sie so, als wollten sie jeden Au‐ genblick angreifen, nur war niemand mehr da, der ihnen einen Befehl ge‐ ben konnte. Rhonda hockte mit uns in der Kutsche, und Barnabas lag be‐ wußtlos zwischen den Gestalten. 239
Besser hätten wir es nicht treffen können. »Fahr los, Fred!« rief ich zum Kutschbock hinüber. »Darauf kannst du dich verlassen.« Er mußte eine Peitsche gefunden ha‐ ben, denn er ließ das Leder einmal scharf knallen. Und so etwas kannten die beiden Pferde. Sie zogen an. Ich hatte mich auf den plötzlichen Ruck eingestellt und konnte ihn ab‐ fangen. Rhonda wurde nach vorn geworfen, flog auch wieder zurück, und bevor es ihr noch gelang, die Lage für sich auszunutzen, hielt ich sie wieder umklammert und drückte ihr den Waffenlauf gegen das Kinn. »Ganz ru‐ hig, Voodoo‐Königin, ganz ruhig. Wir wollen schließlich noch ein wenig zusammenbleiben.« Sie gab mir keine Antwort. Außerdem konzentrierte sie sich ebenso wie wir auf die Abfahrt der Kutsche, die allmählich Fahrt bekam. Daß sie auf dem normalen Weg blieb, konnte ich mir nicht vorstellen, denn die vier Räder holperten über einen unebenen Untergrund, so daß wir immer wie‐ der in die Höhe geschleudert wurden. Hoffentlich geht das gut. Es ging nicht gut. Vielleicht hatte Rhonda etwas geahnt, denn kurz vor dem Zwischenfall fing sie an zu grinsen, und wir hörten das schmerzhafte und erschreckte Wiehern, als würden die Pferde oder zumindest eines davon unter furcht‐ barer Pein leiden. Nur wenige Sekunden blieben wir noch in der normalen Lage, dann be‐ kam die Kutsche einen so heftigen Stoß, daß die Räder ihren Kontakt mit dem Untergrund verloren und das ganze Gefährt auf die linke Seite ge‐ schleudert wurde. Im nächsten Augenblick hatte ich das Gefühl, mich in einem Käfig zu be‐ finden, der zwischen zwei gewaltigen Händen steckte, die ihn durchschüt‐ telten. Es gelang mir nicht mehr, mich auf dem Sitz zu halten. Ich wurde zu Bo‐ den geschleudert, den beiden Frauen erging es nicht anders, und so ver‐ wischte das Bild von Freund und Feind. Ein häßliches Knacken und Bersten erklang. Irgend etwas war gebrochen, wahrscheinlich eines der Räder, die Kutsche bekam noch einen Stoß, kipp‐ te, brach noch einmal ein, weil kein Rad mehr das Gewicht halten konnte. 240
In diese Geräusche hinein erklang das Wiehern eines Pferdes wie der letzte Hilfeschrei, und das Geräusch endete mir einem schmerzhaften Stöhnen, als würde eine Kreatur unter einer furchtbaren Folter leiden. Ich konnte mich zurückwerfen. Ein Körper rutschte von mir. Es gelang mir auch, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, wo ich einen Schatten vorbeirasen sah. Das zweite Pferd hatte sich losgerissen. Nichts hielt es mehr auf, aber wir waren gestoppt worden, nur lagen wir nicht auf einer Stelle, sondern dreh‐ ten uns noch weiter im Kreis, denn die Fliehkraft hielt unser Gefährt ge‐ packt. Holz knirschte, brach und knackte. Ich hielt mich an der Sitzbank fest, und meine Hand rutschte ab, als sich der rutschenden Kutsche ein großes Hindernis in den Weg stellte. Wahrscheinlich war es eines der großen Grabmäler, gegen das sie mit dem Dach zuerst krachte. Ich riß noch den Kopf hoch, sah den Trümmerre‐ gen aus Holz wie in einem Zeitlupenfilm auf mich niedergehen und dachte nur daran, meinen eigenen Körper zu schützen. Ich wurde getroffen, durchgeschüttelt, bekam Schläge mit, die mich erbeben ließen, aber ich überlebte, obwohl ich mehr groggy als voll da war. Sogar den wütenden Schrei vernahm ich, auch das Stöhnen und danach das harte Hämmern an der Außenseite. Mühsam drehte ich den Kopf. Irgendein verdammtes Holzteil war so unglücklich gefallen, daß es zwischen meinem Hals, der Schulter und der Sitzbank klemmte, so daß ich Schwierigkeiten bekam. Zudem hatte es mich beim Herabfallen auf der Schädelplatte erwischt, und das war kein ange‐ nehmes Gefühl, das da in meinem Kopf tobte. Auch Mona erging es kaum anders. Sie hing schräg über einer Sitzbank und stöhnte. Mir drehte sie den Rücken zu. Verletzungen konnte ich an ihr auf den ersten Blick nicht entdecken. Am besten hatte Rhonda Lassalle den Aufprall überstanden. Zudem war sie dabei, sich zu befreien. Hilfe bekam sie von außen, denn mit heftigen Schlägen wurden die restlichen Latten des Kutschendaches eingeschlagen, so daß der Weg für andere frei war. Gesichter erschienen. Hände streckten sich Rhonda entgegen. Sie sanken wie große Greifarme von der Decke der Kutsche herab, und die Lassalle feuerte ihre Helfer mit 241
gezischten Worten an. Ich konnte nichts tun, da ich mich erst befreien mußte. Meine schräge Lage ließ kaum eine Bewegung zu. Die Wucht des Stoßes hatte mich regel‐ recht in die Ecke geschmettert. »Wir müssen sie noch töten!« keuchte Rhonda, als sie hochgehievt wur‐ de. »Ich will sie nicht mehr am Leben haben!« »Ja, Herrin! Sobald wir dich rausgeholt haben!« Sie schafften es tatsächlich, Rhonda durch das zerstörte Dach der auf der Seite liegenden Kutsche zu hieven. Sie verschwand vor meinen Augen. Die Machete hatte ich nicht gesehen. Wahrscheinlich war sie unter die Sitzbank gefallen, aber die Worte der Voodoo‐Diener hallten noch in mei‐ nem Kopf nach. Solange ich in dieser verdammten Kutsche festklemmte, würde es ihnen ein Leichtes sein, mich zu vernichten. Deshalb mußte ich unter allen Um‐ ständen raus. Die rechte Schulter konnte ich zum Glück anheben. Ich stieß sie hoch, ge‐ riet dabei unter einen Dachsparren, und es gelang mir, ihn in die Höhe zu wuchten. Frei! Wenigstens an der rechten Seite. Auch mein Arm war nicht mehr einge‐ klemmt, und da die Kutsche auf der Seite lag, mußte ich durch das zerstör‐ te Dach raus. Außerhalb des Gefährts hörte ich die hektisch klingenden Stimmen. Wahrscheinlich berieten meine Gegner, wie sie mich am besten erledigen konnten. Mitten in ihr Geschrei hinein fielen Schüsse. Am wummernden Klang der schweren Waffe erkannte ich, wer geschos‐ sen hatte. Das mußte Fred Diamond gewesen sein, vorausgesetzt, man hatte ihm seine Kanone nicht abgenommen. Ich vernahm auch Schreie und dumpf klingende Schritte auf dem wei‐ chen Boden. Wahrscheinlich ergriffen die Voodoo‐Diener die Flucht, was mir natürlich genau in die Rechnung paßte. Jemand hämmerte gegen die Außenseite. Ich hörte auch eine Stimme. »John, seid Ihr okay?« »Fast!« »Wieso?« »Mona rührt sich nicht.« 242
»Scheiße, verdammte. Warte, John, ich versuche es durch das Dach, aber wir müssen uns beeilen. Vorerst habe ich die verdammten Typen vertrei‐ ben können.« Während seiner Worte hörte ich ihn bereits klettern. Wenig später erschien sein blasses Gesicht über mir. Es war schweißbedeckt, in der Dunkelheit schimmerte es, aber das Grinsen auf den Lippen des Man‐ nes zeigte, daß er nicht aufgegeben hatte. Mir war es gelungen, den größten Teil der mich einklemmenden Holz‐ stücke zur Seite zu schleudern. Bisher hatte sich Mona nicht bewegt. Freds Stimme schien sie aus ihrer Lethargie gerissen zu haben, denn sie rollte sich stöhnend herum und rutschte mir entgegen. Ich streckte meine Arme aus, konnte sie halten, während Fred durch das Dach einen Arm in das Innere der Kutsche gestreckt hielt und die Hand spreizte, weil er Mona zuerst in die Höhe ziehen wollte. Ich umfaßte ihre Hüften, hörte sie sprechen und gleichzeitig stöhnen. »Reiß dich zusammen!« schrie ich ihr ins Ohr, während ich meine Kräfte mobilisierte und daranging, sie nach oben und Fred entgegen zu drücken. Er packte sie. Mona erholte sich zusehends. Sie half selbst mit, als sie ihren Arm lang machte, so daß Fred ihr rechtes Handgelenk umfassen konnte. Ich unter‐ stützte ihn noch, dann konnte er Mona aus der Kutsche hieven, während durch die doppelte Gewichtsbelastung wieder ein Teil des noch heilen Dachs nachgab, das Holz knirschte, einige Latten brachen und mir entge‐ genrutschten. Ich schleuderte sie weg. Dann war ich an der Reihe. Diamond wartete noch auf mich. »Los, keine Müdigkeit vortäuschen, John. Pack es und komm in die Höhe.« Es war leichter gesagt als getan, denn mich unterstützte keiner, aber ich war auch nicht so benommen wie die junge Negerin. Mit Freds Hilfe erreichte ich das Dach an der Außenseite, rutschte über eine noch nicht zerstörte Fläche und fand mich auf einem mit fettem Gras bewachsenen Friedhofsboden wieder, wo ich mich zusammenrollte und auf die Beine kam. Ein wenig zitternd blieb ich stehen, atmete einige Male tief durch, schloß die Augen und schüttelte den Kopf. Das war zum Glück geschafft. Fred schlug mir auf die Schulter. »Alles klar?« »So einigermaßen.« 243
»Und bei dir?« »Ich flog vom Bock, aber so etwas habe ich schon mal im Trainingscamp geübt. Ist zwar lange her, doch was einem eingepaukt wird, bleibt auch hängen. Ich konnte mich gut abrollen, mir ist praktisch nichts geschehen.« Ich untersuchte durch Bewegungen, ob ich irgendwie gehandicapt war. Zum Glück nicht. »Wie konnte das überhaupt passieren?« Fred zog mich zur Seite, damit ich auf das noch verbliebene Pferd schau‐ en konnte. Es hing im Geschirr und lebte nicht mehr. Eine Lanze steckte quer in sei‐ nem Hals und hatte das Tier getötet. Das also war der Grund gewesen. »Daran konnte ich nichts ändern, John. Tut mir schrecklich leid. So schnell war ich nicht.« »Verständlich.« Mona lag am Boden. Sie hatte die Arme angehoben, sie gleichzeitig an‐ gewinkelt und die Hände unter ihren Hinterkopf gelegt. Wir hörten sie sprechen und schimpfen. Sie redete davon, daß sie alles auf die Rechnung der verdammten Lassalle setzen wollte. Ich ging zu ihr. Unsere Blicke trafen sich, als ich meinen Arm ausge‐ streckt hatte. »Komm wieder hoch, Mädchen. Es lohnt sich nicht, wenn du dich hier ausruhst.« »Wieso?« »Die Sache ist vorbei, Mona. Endgültig. Wir sind aus der Kutsche raus.« Sie stöhnte auf. »Irgend jemand muß mir einen über den Schädel gegeben haben. Jedenfalls war es schrecklich. Ich glaube, das war sogar Rhonda Lassalle.« Ich winkte ab. »Das bildest du dir ein. Uns ist das Kutschendach entge‐ gengekommen.« »Mal sehen.« Sie ergriff meine Hand, ließ sich hochziehen, verzog das Gesicht und blieb ein wenig schwankend stehen. Einen Arm hob sie. Am Kopf befand sich eine Wunde. Die dunkle Nässe schimmerte zwischen ihren gefärbten Haaren. »Ein wenig härter und tiefer, dann hätte es mich gegeben«, erklärte sie, wollte etwas hinzufügen und wurde von dem Ruf des Agenten unterbro‐ chen. »Kommt mal her.« Fred hatte sich ein wenig abseits hingestellt und schaute auf die Strecke 244
zurück, die wir gekommen waren. Es war deutlich zu sehen, wo die Räder der Kutsche tiefe Spuren im weichen Boden hinterlassen hatte. Das große Hindernis aber, gegen das wir mit unserem Gefährt gekracht waren, be‐ stand aus einem Grabstein. Er war härter als die Kutsche gewesen. All das sahen wir und vergaßen es wieder, da andere Dinge viel wichtiger waren. Rhonda Lassalle hatte es geschafft und ihre Diener um sich versammelt. Sie waren mit Fackeln ausgerüstet und kamen uns vor, als würden sie aus einer einzigen Wand bestehen. »Weißt du, was die vorhaben?« fragte Fred mich. Die Antwort konnte er sich schenken. Sie wurde bereits von der Lassalle gegeben. Die schrille Stimme der Voodoo‐Königin hallte über den Friedhof. »Holt sie euch und schlagt sie tot, die drei verdammten Bastarde…!« * Das war natürlich nicht die feine englische Art. Noch standen wir genü‐ gend weit entfernt, um uns etwas einfallen lassen zu können. Fred schabte über seinen Kopf. »Wieviel Munition hast du eigentlich noch, John?« »Genug und trotzdem zu wenig. Außerdem ist das keine Lösung, einfach hineinzuhalten.« »Wir würden zumindest einige vertreiben können.« »Stimmt, aber was hätten wir davon? Die anderen bekämen einen noch größeren Haß auf uns. Zudem sind es Menschen und keine Zombies. Irre‐ geleitete Mitläufer, die man nicht einfach vernichten kann wie lebende Leichen. Sie sind…« »Ich habe verstanden, John. Aber was machen wir?« »Zurückziehen.« »Also Flucht?« »Fast.« Mona strich ihr Haar zurück. »Das gefällt mir überhaupt nicht. Damit geben wir unsere Angst zu.« Ich deutete nach vorn, wo die Voodoo‐Diener bereits einen großen Halb‐ kreis gebildet hatten. »Willst du ihnen in die Hände fallen und nach Voo‐ doo‐Land geschafft werden?« »Das nicht gerade.« »Dann halte dich an meinen Ratschlag.« Ich war ein wenig ärgerlich über 245
das Mädchen. Meiner Ansicht nach sah sie die Sache einfach zu locker. Letztendlich ging es nicht alleine um ihre persönliche Rache, sondern um uns alle. »Du wirst deine Chance bekommen!« versprach ich ihr und faßte sie an der Hand. So zog ich sie zurück, und sie folgte mir. Wir mußten zusehen, daß wir diesen verdammten Friedhof irgendwie verlassen konnten. Oder zumindest immer gute Verstecke fanden, die uns aufnahmen. Die Häscher konnten in der Dunkelheit ebenso wenig sehen wie wir. Aus diesem Grunde hatten sie Fackeln angezündet und hielten sie hoch, damit sie ihnen den Weg leuchten konnten. »Rechne damit, daß nicht alle Fackeln haben«, warnte Fred mich. »Das sind dann die Typen, die einen Stoßtrupp bilden.« »Okay.« Es stellte sich heraus, daß Diamond den Friedhof besser kannte als Mona. Aus diesem Grunde übernahm er auch die Führung. Schon sehr bald stell‐ ten wir fest, daß unser Plan nicht aufging, denn die andere Seite hatte sich ebenfalls eine gute Taktik zurechtgelegt. Unsere Gegner waren tatsächlich nicht alle mit Fackeln ausgerüstet. Einige von ihnen besaßen keine Lichter und nutzten die Dunkelheit für ihre Zwecke aus. Zum Glück sahen wir sie zuerst und konnten hinter einem Grabmal De‐ ckung finden. Dort warteten wir ab. Stimmen wehten uns entgegen. Zwar nur flüsternd gesprochen, dennoch zu verstehen. Dies bewies uns, wie nahe die Häscher an unserem Versteck vorbeischlichen. Wir waren stumm. Auch ich hatte meine Beretta gezogen und hielt sie ebenso schußbereit wie Fred seine Kanone. Mona war weiterhin mit ihrem Blasrohr bewaffnet. Trotz des Chaos in der Kutsche hatte sie es nicht verloren und würde es auch einsetzen. Wichtig war für uns die Mauer. Wenn wir sie erreichten, konnten wir auch das Gelände verlassen. Im Moment jedenfalls sah es nicht so aus, denn die beiden verschwanden vorerst nicht. Anhand der flüsternden Stimmen versuchten wir herauszufinden, um wie viele Personen es sich handelte. Fred Diamond hatte die gleiche Idee 246
wie ich, als er seine Hand hob und zwei Finger abspreizte. Ich war mit dieser Geste einverstanden und nickte. Sie verschwanden noch immer nicht. Dafür wechselten sie ihre Stellung, da ihnen eingefallen war, auch hinter dem Grabmal nachzuschauen. Damit gerieten sie in unser Sichtfeld. Wir waren auf sie gefaßt, die beiden nicht. Diesmal reagierte auch Fred so, wie ich es mir wünschte. Er schoß nicht und lief zusammen mit mir vor. Automatisch hatten wir uns die Gegner ausgesucht, die Waffen gehoben und schlugen zu. Weshalb die Voodoo‐Diener ihre entstellten Masken trugen, wußten wohl nur sie selbst. Wir jedenfalls ließen die Läufe der Waffen oberhalb der Masken auf die Köpfe krachen, und ohne einen Laut von sich zu geben sackten sie vor unseren Füßen zusammen. Rasch schleiften wir sie hinter das Grab. »Das wäre erst einmal geschafft!« flüsterte Fred. Er rieb sich die Hände und hob ein Bein an, als wollte er treten. »Dieser verdammte D. C. hat zwei weniger.« »Ich kenne ihn.« Diamond fuhr herum. »Wie?« »Ja, ich weiß, wer sich hinter den beiden Buchstaben verbirgt. Rhonda hat es mir in einem Anfall von Großmut oder Wahnsinn erzählt, weil sie mir klarmachen wollte, wie gering unsere Chancen doch eigentlich sind. Und sie ging auch davon aus, daß ich eigentlich den Namen des Typs ken‐ nen müßte.« »Okay, rede nicht lange um den heißen Brei herum. Wer ist es, John?« »D. C. ist eine Abkürzung für Diamon Cargal!« Ich hatte Fred nicht geschlagen, trotzdem kam es mir so vor, als er einen Schritt zurückging und mit dem Rücken gegen den hellen Stein des Grab‐ mals stieß. »Diamon Cargal, sagst du?« fragte er flüsternd, strich durch sein fahles Haar und schüttelte den Kopf. »Das… das kann doch nicht möglich sein.« »Wieso? Kennst du ihn?« Diamond lachte knapp und hart auf. »Und ob ich ihn kenne. Diamon Cargal ist eine Legende.« »Welche?« »Okay, ich will es dir in Stichworten sagen. Er ist ein in den Staaten sehr 247
bekannter Mann gewesen. Aus dem Süden stammte er und besaß Ansich‐ ten wie die Herren hier vor zweihundert Jahren. Er war Millionär, Indus‐ trieller, ein Baumwollkönig, und er versuchte, in die Politik einzusteigen. Seine Methoden waren nicht immer die saubersten. Er wurde mit der be‐ rüchtigten Mord‐AG in Verbindung gebracht, was man ihm allerdings niemals beweisen konnte. Allein der Verdacht reichte aus, um seiner politi‐ schen Laufbahn ein Ende zu bereiten. Es war nichts mit der Karriere als Senator. Das hat er nie überwunden. Cargal blieb im Geschäft. Er arbeitete mehr aus dem Untergrund. Gerüchte sprachen davon, daß er den Voodoo‐ Kult wieder aufleben lassen wollte…« »Dann hättest du doch auf den Namen kommen müssen!« warf ich Fred vor. »Nein, John, er ist tot.« »Ach.« »Wenigstens offiziell. Angeblich ist er mit seiner Privatmaschine über dem Golf abgestürzt. Das ging vor einigen Jahren durch alle Zeitungen. Er soll sogar verbrannt sein. Man hat Teile von ihm gefunden. Einen verkohl‐ ten Arm und ein Bein. Beides schwamm auf den Wellen und wurde auch der Presse vorgeführt.« »Man hat Cargals Tod also geglaubt«, resümierte ich. »Ja. Zumindest die Öffentlichkeit. Wir von den Diensten waren anderer Ansicht und forschten auch nach. Du weißt, John, daß wir einige Möglich‐ keiten haben, aber auch uns gelang es nicht, diesen D. C. zu finden oder durch weitere Beweise seinen endgültigen Tod zu untermauern. So glitt Cargal in den Schacht der Versenkung. Ich habe wirklich nicht mehr an ihn gedacht, als ich die beiden Buchstaben hörte, obwohl es eigentlich hätte auf der Hand liegen müssen. Vielleicht werde ich auch alt.« »Das werden wir alle mal. Jetzt weißt du es.« »Und wie.« Er stieß mich an. »Wo, sagst du, soll dieser Hundesohn ste‐ cken oder sich verborgen halten?« »Auf der Insel Voodoo‐Land.« »Da holen wir ihn weg.« »Erst müssen wir mal den Friedhof ungesehen verlassen.« Mona riß uns wieder in die Realität zurück. »Schaut mal nach rechts, da sieht es über‐ haupt nicht gut aus.« Wir hatten während unseres Gesprächs die Umgebung nicht so unter 248
Kontrolle halten können. Nun fiel uns auf, daß sich einige der Häscher unserem Versteck ziemlich weit genähert hatten. Die Männer hielten Fa‐ ckeln in den Händen. Der rötlich gelbe Lichtschein bewegte sich bei jedem Schritt und begann zu tanzen. Er wehte zumeist von einer Seite auf die andere. Wir verschwanden. Geduckt wie Einbrecher, die nicht gesehen werden wollten, huschten wir fort und suchten uns eine düstere Buschinsel aus, wo wir eine weitere La‐ gebesprechung vornahmen. Ich war dafür, den gleichen Weg zu nehmen, den wir auch gekommen waren. »Damit rechnen sie bestimmt nicht.« »Meinst du?« fragte Fred. »Ja.« Er ließ sich überzeugen. Mona hatte sowieso nichts dagegen, so machten wir uns wieder auf den Weg. Als Orientierung diente uns das große Grä‐ berfeld, auf dem die kleinen Lampen brannten und in ihrer Reihenfolge ein großes »V« bildeten. Die erste Enttäuschung erlebten wir, als wir so nahe an das Gräberfeld herankamen, daß wir mehr sehen konnten. Rhonda hatte nicht aufgegeben. Sie war deutlich zu erkennen, denn sie hielt sich in der Mitte des Gräberfeldes auf. Rechts und links wurde sie von zwei Fackelträgern flankiert, die ihre Gestalt aus der Düsternis rissen. Im Hintergrund hockten zwei Trommler auf flachen Grabsteinen und hämmerten mit ihren Händen auf das gespannte Fell. »Die hat etwas vor!« hauchte Mona. Ich wußte auch, was. Aufgeben wollte dieses Weib nicht. Sie hatte Dami‐ on Cargal die lebenden Leichen versprochen und war dabei, sie aus der Erde zu holen… * »Was können wir tun?« Eine verdammt gute Frage hatte Fred Diamond gestellt, nachdem ich ihm von meiner Vermutung berichtet hatte. Wir hätten dazwischen gehen kön‐ nen. Es wäre wahrscheinlich zu einer wahnsinnigen Schießerei und zu einem erbarmungslosen Kampf gekommen, der viele Tote gebracht hätte. 249
War das das Risiko wert? »Überleg es schnell, John. Du bist doch der Geisterjäger, und Zombies sind deine Spezialität.« »Unter anderem«, murmelte ich. Unsere Lage war nicht glücklich. Vor uns die Gegner, hinter uns wahrscheinlich auch, denn andere Gruppen, die nicht auf dem Friedhof gebraucht wurden, suchten nach wie vor das Ge‐ lände nach uns ab. Rhonda Lassalle hatte tatsächlich mehr Helfer um sich versammelt, als wir ahnen konnten. Der große, harte Kern der Voodoo‐Gläubigen mußte sich auf dem Friedhof versammelt haben. Sie hielt sich in der Mitte des aus kleinen Lampen bestehenden Buchsta‐ bens auf. Ich dachte daran, daß aus jedem Grab, das eine Lampe trug, ein Toter steigen sollte, und bekam einen Schauer. Dann hatten wir es mit mindestens 30 Zombies zu tun, und die konnten verdammt viel Unheil anrichten. Ein violettes Licht geisterte über den Friedhof. Irgend jemand hatte ein Pulver angezündet, das nicht nur in dieser Farbe brannte, sondern auch Nebelwolken produzierte, die über den Friedhof strichen und uns einen Großteil der Sicht nahmen. Das konnte ebenso gut ein Vor‐ wie auch ein Nachteil sein. Die Schwa‐ den wurden vom leichten Nachtwind bewegt. Sie trieben in unsere Rich‐ tung, so daß sie uns bald Deckung geben würden. Das Gelände vor uns verschwamm in einem violetten Nebel. Nur dort mehr aufgehellt, wo die Fackelträger standen, so daß sich die Gestalt der Voodoo‐Königin einigermaßen deutlich auch innerhalb der Schwaden ab‐ zeichnete. Ich hatte das Gefühl, als wäre es kühler geworden, konnte mich aber auch täuschen, denn die Gänsehaut auf meinen Armen hing nicht allein mit der Temperatur zusammen. Aus dem Zentrum des Nebels erklang die Stimme der Frau. Mit Rhonda hatte ich schon geredet. Hätte ich nicht genau gewußt, daß es sich um die Voodoo‐Königin handelte, die dort sprach, ich hätte sie sicherlich nicht erkannt, denn sie hatte ihrer Stimme eine völlig andere Tonlage gegeben. Jetzt sprach sie der Situation angemessen. Die Worte klangen rauh, dumpf und gleichzeitig auch fordernd. Zudem waren sie in einer für mich unver‐ ständlichen Sprache gesprochen, die wohl nur den großen Magiern allein 250
bekannt war. »Kennst du die Sprache?« hauchte Diamond. »Nein.« Mona wußte etwas mehr. »Das muß irgendein alter Voodoo‐Dialekt sein, der aus Afrika stammt. Nur die hohen Voodoo‐Priester beherrschen ihn so perfekt.« Noch rührte sich nichts auf den Gräbern. Wenigstens konnten wir nichts erkennen. Nach wie vor blieb die Erde ruhig, über die dünne, violette Schwaden trieben. Rhonda redete weiter. Begleitet vom irgendwie abwartend geschlagenen Klang der Trommeln, dessen Echos wie dumpfe Hammerschläge durch den Dunst hallten. Die Atmosphäre hatte sich verändert, obwohl die Umgebung die gleiche geblieben war. War es nicht kühler geworden? Drang aus dem Unsichtbaren nicht doch ein kälterer Hauch, ein Vorbote aus dem Reich der Toten, der über den Friedhof strich und auch uns nicht verschonte? Ich spürte in meinem Hals das Kratzen. Auf den Handflächen hatte sich der Schweiß gesammelt. Eine Waffe nutzte mir nichts, deshalb steckte ich sie weg. Diamond war anderer Meinung. »Willst du mit bloßen Fäusten gegen die Typen angehen?« »Das nicht gerade. Kugeln helfen uns jetzt auch nicht weiter.« »Man könnte sie erschießen.« »Und dann?« »Wäre das Durcheinander perfekt.« »In dem wir wahrscheinlich nicht entkommen würden, weil sie auf uns Jagd machen.« »Mit dir ist nicht zu reden, Sinclair.« Fred war sauer. »Hast du einen bes‐ seren Vorschlag?« »Möglich.« »Oh. Laß hören!« »Spar dir deinen Spott, Fred. Meiner Ansicht nach müssen wir sie scho‐ ckieren. Wenn wir schießen, würde das auch Wirkung zeigen, aber keine so bleibende.« »Und du hast auch die Möglichkeit, sie zu…« Die letzten Wörter sprach 251
er spöttisch aus. »Schocken.« »Ich glaube, ja.« »Das wäre?« Statt einer akustischen Antwort holte ich mein Kreuz hervor und ließ es für einen Moment dicht vor seinen Augen baumeln. Das Silber glänzte matt. Ich hatte das Gefühl, als wäre dieser so wertvolle Talisman mit einer Weißen Magie prall gefüllt, die nur darauf wartete, sich endlich lösen zu können. »Damit?« hauchte der Agent. »Genau.« Er lachte leise. »Sei mir nicht böse, John, aber vor Kreuzen haben sie kei‐ ne Furcht. Hast du nicht gewußt, daß sich die christliche Lehre und magi‐ sche Voodoo‐Mythen irgendwo berühren. Die Grenzen sind fließend. Mit deinem Kreuz kannst du ihnen nicht an den Karren fahren, das glaub mir mal.« »Es ist kein normales Kreuz«, erklärte ich. »Du wirst es sehen. Paßt genau auf. Ich werde versuchen, mich im Schutz des Nebels an Rhonda heranzu‐ schleichen. Dann attackiere ich sie mit dem Kreuz. Über Einzelheiten kann ich jetzt nicht reden. Das muß allein die Situation ergeben. Seht ihr nur zu, daß ihr inzwischen ein so gutes Versteck findet, daß man euch nicht ent‐ deckt.« Fred holte tief Luft. »Was meinst du dazu, Mona?« »Er kann es versuchen.« »Okay, ich bin überstimmt. Sollte etwas schiefgehen, werden wir kaum in der Lage sein, so rasch zu dir zu kommen, daß wir dir zur Seite stehen können. Das weißt du?« »Natürlich.« »Dann viel Glück.« Er schlug mir noch einmal auf die Schulter. Ich hörte ein leises Rascheln. Wenig später war von meinen beiden Begleitern nichts mehr zu sehen. Es gab am Rande des Gräberfeldes genügend Buschwerk, hinter dem sie sich verbergen konnten und wo sie auch den Suchtrupps nicht so leicht auffallen würden. Jetzt war ich auf mich allein gestellt. Gegen wie viele Gegner ich stand, daran wollte ich nicht denken. Ich suchte mir nur die Richtung aus, wo die Nebelschwaden am dichtesten waren. Inzwischen nahm die unheimliche Totenbeschwörung ihren Lauf. Das 252
magische Voodoo‐Ritual sollte endlich seine Wirkung zeigen. Alle Vorzei‐ chen deuteten darauf hin. Der Trommelklang hatte sich verändert. Er war schneller geworden und paßte sich den beschwörenden Worten an. Rhonda, die sich als Nachfolgerin der Marie Leveau bezeichnete, stand mit hocherhobenen Armen auf dem weichen Untergrund des Friedhofs und redete in ihrer kehligen Sprache, damit die magischen Worte, die noch Tote zu einem unheilvollen Leben erweckte und sie aus den Tiefen der Gräber holte. Ein unbeschreiblich grauenvoller Vorgang, den ich kannte. Bei meinem ersten Fall hatte ich so etwas erlebt. Da waren die Verstorbenen eines gan‐ zen Friedhofs durch ein asiatisches Medium namens Lara aus den Gräbern geholt worden. Hier sollte ich einen ähnlichen Vorgang erleben. Damals hatte ich ihn nicht verhindern können. So etwas sollte mir diesmal nicht wieder passie‐ ren. Es war trotz der Nebelschwaden nicht leicht, in die Nähe der Voodoo‐ Königin zu gelangen. Ich mußte, wenn ich sie erreichen wollte, einen Bo‐ gen schlagen. Das tat ich auch, und zwar wollte ich von der linken Seite herankommen, da der Friedhof dort nicht so offen war wie an der rechten. Die alten Grabmäler, die schon ihre langen Jahre auf dem Buckel hatten, gaben mir dort Deckung. Ungesehen erreichte ich einen dieser »Öfen«. Mein schneller Herzschlag beruhigte sich. Es war nicht so einfach gewe‐ sen, die Strecke zu überqueren, ohne entdeckt zu werden. Die Voodoo‐ Diener waren glücklicherweise so von den Vorgängen des unheimlichen Beschwörungs‐Rituals beeindruckt, daß sie auf andere Dinge nicht mehr achteten. Im schrägen Winkel schaute ich auf die Voodoo‐Königin. Vor mir befand sich ein Schenkel des »V’s«. Lampe reihte sich an Lampe. Das Licht brannte ruhig, die Lampen standen ebenfalls still. Für mich ein Zeichen, daß sich in den Tiefen der Gräber noch nichts regte. Das mußte auch so bleiben. Der Wind trieb mir den Trommelklang entgegen. Auch die Schwaden wurden herbeigeweht. Sie stiegen aus zwei hinter Rhonda Lassalle stehen‐ 253
den Schalen auf, wo das Zeug verbrannte. Nur Barnabas entdeckte ich nicht. Wahrscheinlich »schlief« er noch. Mein gesamtes Vertrauen setzte ich auf das Kreuz. Es mußte sich diesem ver‐ derblichen Zauber einfach entgegenstemmen, sonst konnte ich es verges‐ sen. Am Ende des Grabmals kam ich nicht mehr so sicher voran, da mich nichts mehr deckte. Ich mußte auf die Knie nieder, um so durch die Kette der Posten schlüp‐ fen zu können. Kaum hatte ich mich auf diese Art und Weise vorbewegt, als sich etwas änderte. Rhonda sprach zwar noch, doch ihre Stimme wurde plötzlich von einem dumpf klingenden Singsang unterbrochen, der aus den Kehlen der dun‐ kelhäutigen Wächter drang. So wurde meiner Ansicht nach das Finale eingeläutet. Ich konnte damit rechnen, daß sich wenig später die ersten Zombies zeigten. Noch tiefer ging ich. Die Rekruten nannten dies Entengang. Wie eine Ente kam ich mir auch vor, als ich mich so lautlos wie möglich näherschob und eine Lücke zwi‐ schen zwei Wächtern anpeilte, die schon ziemlich nah bei ihrer Voodoo‐ Königin standen. Schlangengleich kam ich voran. Mein Körper schleifte über den feuchten Boden. Die farbigen, künstlichen Nebelschwaden glitten an mir vorbei, und ich erreichte genau die Stelle, die ich mir ausgesucht hatte. Zwischen zwei Gräbern lag sie. Ich blieb für einen Moment ruhig, denn mir war rechts auf dem Grab das Flackern des Lichts aufgefallen. Bisher hatte sich so etwas nie ergeben, die Flammen in den oben offenen Lampen brannten ruhig, auch jetzt war es nicht windiger geworden, und ich warf einen Blick auf die rechte Seite. Da sah ich den Grund. Die Lampe kippte nach vorn weg. Keine Hand berührte sie dabei. Daß sie es trotzdem tat, lag an dem Druck, den sie von unten her bekommen hatte, denn zusätzlich bewegte sich auch die Oberfläche des Grabs. Der Tote kam… Als ich daran dachte und mir dies auch klar wurde, rann über meinen Rücken ein eisiger Schauer. Ich lag direkt neben dem Grab mit dem hellen Stein, brauchte nur meinen Arm auszustrecken, um die Hand auf die Erde 254
legen zu können und sah auch, daß sich der Grabstein nicht mehr hielt, sondern anfing zu schwanken, als wollte er auf die feuchte Erde fallen. Die lebende Leiche gab Druck. Ich konnte einfach nicht mehr weiter. Erst mußte ich mich um diesen Zombie kümmern, von dem ich bisher noch nichts gesehen hatte, der sich allerdings schon dicht unter der Oberfläche befinden mußte, weil die kleine Lampe umfiel. Dicht neben ihr brach die Erde auf! Die Horror‐Stimmung auf diesem alten Friedhof konnte nicht mehr ü‐ berboten werden. Der künstliche, farbige Nebel, das rhythmische Hämmern der Trommeln, der unheimlich klingende Singsang, die fahl leuchtenden Steine auf den flachen Gräbern und die von Schwaden umhüllte Gestalt der Voodoo‐ Königin sorgten dafür. Das hätte kein Filmregisseur besser in Szene setzen können. Nur war die‐ ser Horror echt, und ich spürte genau, daß er auch nicht an mir vorbeiging. Ich mußte mich zusammenreißen und durfte nicht daran denken, in welch einer Situation ich mich eigentlich befand. Die mir zunächst stehen‐ den Wächter brauchten nur die Köpfe zu senken und dabei zur Seite zu schauen, um mich erkennen zu können. Daß sie es nicht taten, war mein Glück. Zudem sorgte die Lassalle durch ihre beschwörende Stimme dafür, und auch der eigene Singsang lenkte die Schwarzen ab. Wieder schaute ich auf das Grab. Dicht neben der umgekippten Lampe erschien die Hand! Ich hatte genau im richtigen Moment hingeschaut, denn die Klaue war dabei, sich aus der Erde zu wühlen. Trotz der schlechten Lichtverhältnisse konnte ich erkennen, daß sie sich in einem Zwischenzustand befand. Sie war noch nicht völlig verwest, nur an einigen Stellen sah ich das Schim‐ mern gelblich bleicher Knochen. Eigentlich hätte ich deprimiert sein müssen, weil ich es nicht geschafft hatte, das Grauen zu stoppen. Statt dessen übermannte mich der Zorn. Ich drehte mich ein wenig nach rechts, hob den Arm, sah zitternd einen Nebelstreifen über das Grab hu‐ schen, als wollte er sich wie ein dünnes Tuch um die Haut wickeln, und drückte meine Rechte, in der ich das Kreuz hielt, nach unten. 255
Die Klaue war nicht zu verfehlen. Das Kreuz, weißmagisch aufgeladen, bekam mit den halbverwesten Fin‐ gern Kontakt. Wäre der Zombie frei gewesen, hätte er möglicherweise sei‐ nen letzten grunzenden Schrei ausgestoßen. Doch er lag zum Glück unter der Erde, und eine Klaue konnte nicht schreien. Dafür zuckte sie, als würden Stromstöße durch die Finger fahren. Sie bewegten sich vor, zurück, schlugen auf die Graberde, kratzten und wühlten sie auch auf. Danach knickte die Klaue nach vorn weg und blieb liegen, als wäre sie durch eine scharfe Messerklinge vom Gelenk getrennt worden. Dieser Zombie würde nicht mehr aus dem Grab steigen! Ein gutes Gefühl durchströmte mich. Ich atmete tief ein. Selbst der alte Modergeruch, den die Klaue abgegeben hatte, störte mich nicht, und ich warf einen Blick auf das linke Grab, das still vor meinen Augen lag. Dort rührte sich überhaupt nichts. Wahrscheinlich war dieser eine Zombie besonders neugierig gewesen. Ich jedenfalls buchte seine Vernichtung auf meine Habenseite. Niemand hatte mich beobachtet. Auch Rhonda Lassalle bemerkte nicht, wer sich ihr da näherte, und so kroch ich noch ein wenig weiter vor, blickte nach links und lag mit den Fußspitzen der beiden mich flankierenden Auf‐ passer auf einer Höhe. Ich schielte hoch. Hochaufgerichtet stand Rhonda. Den Kopf hatte sie in den Nacken ge‐ legt. Sie trug nicht mehr ihren Federschmuck, dafür das Haar offen, das im künstlichen Nebel eine den Kopf umwallende helle Fahne bildete. Be‐ schwörende Worte drangen nicht mehr über ihre Lippen. Sie waren von den leisen, jedoch unüber‐hörbaren, fordernden Schreien abgelöst worden, die darauf hindeuteten, daß sie sehr dicht vor dem Ziel stand. Zum Letzten durfte ich es nicht kommen lassen. Ich richtete mich auf. Das schwerste Stück Arbeit lag vor mir. Ich mußte sie angreifen und auch mein Kreuz aktivieren. Noch einmal tief durchgeatmet, dann schoß ich in die Höhe und startete. Hatte ich mich zuvor nur sehr langsam bewegt, änderte sich dies jetzt. Ich wurde auf einmal schnell und erschien wie ein Geist aus dem farbigen Nebel. 256
»Rhonda, sieh her!« Meine Stimme gellte über den Friedhof. Sie übertönte das Trommeln und den Singsang der Wächter. Und sie schreckte Rhonda aus ihrer magischen und tranceartigen Lethargie auf. Ihr zuvor nach hinten gedrückter Kopf sank vor. Dadurch bekam sie ei‐ nen freien Blick auf mich und das Kreuz! Es dauerte nur eine Sekunde, bis sie sich gefangen hatte und wußte, was geschehen war. Sie sah das Kreuz, und wenn sie eine so hohe Voodoo‐Königin war, muß‐ te sie dessen Magie auch spüren. Der rechte Arm war mit nach unten gefallen. Es sah so aus, als wollte sie mir das Kreuz aus der Hand reißen, doch sie ging einen Schritt zurück und stieß fast gegen einen der beiden Trommler. »Nein!« brüllte sie mir entgegen und ließ den Arm ausgestreckt. »Nein, so nicht!« Sie schüttelte den Kopf. Das Haar flog. »Du hast dich zu weit vorgewagt. Die Toten sind auf dem Weg. Sie werden dich zerfleischen. Ich weiß um die Macht des Kreuzes, doch sie kann mich nicht aufhalten. Sie werden aus ihren Gräbern steigen, und ich gebe meinen Wächtern den Befehl, dich zu vernichten…« Das hatte ich wissen wollen. Mein Kreuz beeindruckte sie zwar, es hin‐ derte sie aber nicht, denn Rhonda war ein Mensch, kein Dämon, den die Berührung des geweihten Silbers vernichtet hätte. So sah ich mich ge‐ zwungen, meinen letzten Trumpf auszuspielen. Es war die Aktivierung des Kreuzes. Mit einer gesprochenen Formel hol‐ te ich seine sämtlichen Kräfte hervor, die ihm von den Erzengeln mitgege‐ ben worden waren. Ich stand umwallt von violetten Nebelschleiern. Hoch hielt ich meinen rechten Arm. Aus der Faust ragte das Kreuz hervor. Ein Mahnmal, ein Zeichen, eine starke Waffe, die noch stärker wurde, als ich die Formel rief. »Terra pestem teneto – Salus hic manetol« Die Erde soll das Unheil halten. Das Heil soll hier bleiben. So hieß der Spruch übersetzt. Und er verfehlte seine Wirkung nicht! * 257
Mir kam es vor, als würde die Voodoo‐Königin plötzlich vor mir abheben und in der Luft schweben. Dabei hatte sie sich nur nach hinten geworfen, als wäre sie von der Wucht der Worte zurückgestoßen worden. Das Kreuz in meiner Hand entfaltete seine in ihm gespeicherte Energie vollkommen. Es strahlte wie ein Stern. Ich stand im Mittelpunkt dieser hellen Insel und hatte ebenfalls das Ge‐ fühl zu schweben. Körperlos kam ich mir vor, als wäre nur mehr meine Seele vorhanden, deren Existenz sich allein auf das Gehirn konzentrierte. Es gelang mir, die mir gegebenen Befehle in die Tat umzusetzen und mich zu drehen. Der Friedhof sah völlig anders aus. Er lag jetzt unter einer gleißenden Lichtglocke, deren Zentrum von mei‐ ner Hand ausging. Das Licht war hell und silbern, konnte einen bläulichen Schimmer aber nicht verbergen, der sich besonders an den Rändern der Lichtkugel hielt. Sie grenzten auch den Friedhof ein. Die dort stehenden Wächter wirkten wie Gestalten aus Metall. Auch die Grabsteine hatten eine andere Farbe bekommen, und die Mauern der hohen Gräber ebenfalls. Bäume und Büsche leuchteten in einem gespenstisch anmutenden Silber‐ blau, durch das fetzenartige Schwaden des künstlichen Nebels wie dünne Leichentücher trieben. Und die Gräber? Sie hatten sich öffnen sollen, wenn es nach dem Willen der Voodoo‐ Königin gegangen wäre. Jetzt blieben sie verschlossen, obwohl sich in ih‐ nen etwas tat. Die Erde soll das Unheil halten – so hieß es im ersten Teil der Beschwö‐ rungsformel. Voll traf dies zu. Die Zombies blieben in den Gräbern. Sie alle mußten schon erweckt wor‐ den sein und sich auf dem Weg in die »Freiheit« befunden haben, da ich bei einigen Gräbern feststellen konnte, daß sich die Erde bewegte und Grabsteine anfingen zu wackeln. Desgleichen geschah mit den kleinen Lampen. Auch sie blieben nicht mehr ruhig stehen, und jedes Grab schien von einem kleinen Extra‐Beben erschüttert zu werden. Zeit war für mich nicht mehr bestimmend. Ich stand da wie der große 258
Sieger, hatte den Arm ausgestreckt, hob das Kreuz im schrägen Winkel gegen den Himmel und fühlte mich einfach gut. Dieser alte, unheimliche Friedhof würde das Grauen nicht mehr entlas‐ sen. Das Kreuz strahlte noch immer, aber es legte seinen Bann nur über die Gräber und erfaßte nicht die Voodoo‐Diener, die nach diesem unerwarte‐ ten Schrecken die Flucht ergriffen. Sie waren in eine wilde Panik gefallen und ließen alles im Stich. Selbst die Trommler kümmerten sich nicht um die Instrumente, sondern rannten Hals über Kopf weg. Dabei gellten die heiseren Schreie der Männer durch die Dunkelheit. Ich hörte ihre Schritte, ich sah die Gestalten durch den Lichtschein huschen, stolpern, fallen, sich wieder aufraffen und ihr Heil weiterhin in der Flucht suchend. Das silberne Licht verschwand allmählich. Mir schien es so, als würde der silberne Schein vom Kreuz aufgesaugt und darin verschwinden. All‐ mählich senkte sich die Finsternis über den Friedhof. Die Nacht nahm ihre normale Farbe an, und nur das Pulver in den Schalen glomm noch nach. Ich fühlte mich allmählich wieder als normaler Mensch. Die Spannung verschwand, ich bekam meine Umgebung wieder mit, merkte, daß ich mit beiden Beinen auf dem Boden stand, und hatte auch nicht mehr das Ge‐ fühl, über allem zu schweben. Mein Blick fiel auf das Kreuz, und um meinen Mund zuckte ein Lächeln. Wieder einmal hatte ich mich auf diesen Talisman, der mir als Sohn des Lichts zustand, verlassen können. Es war gut so, diese Waffe bildete ein starkes Gegengewicht zu den meist ungeheuer starken schwarzmagischen Gegnern. Dabei spielte es keine Rol‐ le, ob es sich um Voodoo‐Diener handelte, um Dämonen oder dem Satan höchstpersönlich. Ich dachte auch daran, daß sich Rhonda Lassalle in meinem Rücken auf‐ halten mußte, und drehte mich um. Sie war verschwunden. Nur eine Feder steckte verlassen und wie ein letztes Zeichen im weichen Boden. Ich hob die Feder auf und zerbrach sie. Dabei murmelte ich: »So wird es auch dir ergehen, Voodoo‐Königin.« Eine schwere Niederlage hatte sie einstecken müssen. Es war ihr nicht gelungen, die Toten aus den Gräbern 259
zu holen, und mich würde es interessieren, wie Damion Cargal, ihr großer Herr und Meister, wohl darauf reagieren würde. Konnte er ihr noch einmal verzeihen, oder würde sie es nicht wagen, ihm vor die Augen zu treten? Nein, sie mußte einfach zu ihm und ihm die Niederlage eingestehen, wenn sie vernünftig war. Dennoch blieb ich mißtrauisch. Angeschlagene Gegner sind oft gefährlicher als solche, die man unter Kontrolle hat. Jetzt mußte Damion Cargal aus seiner Reserve hervortreten. Ich hatte ihm ein‐ fach eine zu große Niederlage bereitet. Tief atmete ich durch. Die Nacht war kühler geworden, der Wind hatte aufgefrischt. Er trieb auch die Schwaden des künstlichen Nebels weg, so daß sie mich nicht mehr störten. Schritte drangen über das Gräberfeld. Feinde von mir waren es sicherlich nicht. Ich drehte mich um und sah die Schatten meiner beiden Begleiter auf mich zukommen. Fred Diamond lachte mir entgegen, als er ankam. »John, du alter Hunde‐ sohn. Du hast es tatsächlich geschafft. Verdammt, das hätte ich nicht ge‐ dacht. Ich gratuliere dir.« Er blieb vor mir stehen und hämmerte mir seine Faust auf die Schulter. »Bitte nicht so heftig«, erwiderte ich. »Denn ich werde noch gebraucht.« »Von wem?« »Damion Cargal, zum Beispiel.« »Ja, um den kümmern wir uns als nächsten.« Er warf einen Blick auf Mo‐ na, die ebenfalls zu uns getreten war und ihren Mund zu einem breiten Lächeln verzogen hatte. »Ich begreife es nicht«, flüsterte sie, »wie hast du das nur geschafft, John?« »Nicht ich, Mona, mein Kreuz!« »Ist es eine Wunderwaffe?« Ich lächelte schelmisch. »Manchmal.« Damit war für mich das Thema er‐ ledigt. Ich wandte mich einem neuen zu. »Auf diesem Friedhof haben wir nichts mehr zu suchen. Die Nacht ist nicht so gelaufen, wie sie eigentlich verlaufen sollte, wenigstens aus der sieht unserer speziellen Freunde. Pa‐ cken wir etwas Neues an.« »Voodoo‐Land«, sagte Fred. »Genau. Wie kommen wir hin?« 260
»Mit einem Schiff.« »Das du natürlich hast.« »Nein, aber ich werde eins besorgen. Außerdem werde ich versuchen, herauszufinden, ob Rhonda Lassalle mit ihren Voodoo‐Dienern den Hafen verlassen hat. Ich habe da so meine Beziehungen zur Hafenmeisterei. Die lasse ich spielen.« Dagegen war nichts einzuwenden. Schneller als wir gekommen waren, verließen wir den ältesten Friedhof der Stadt. Neue Aufgaben warteten auf uns. Ich wurde dabei das Gefühl nicht los, daß die Szenen auf dem Friedhof nur ein kleines Vorgeplänkel zu dem gewesen waren, was noch vor uns lag. Auf Voodoo‐Land würden wir anderen, brutaleren und gefährlicheren Feinden gegenüberstehen. Den Zombies! VIII Der Wind brachte den Geruch von Öl, salzigem Wasser, gebratenem Fisch und Modergestank verfaulender Pflanzen aus den Sümpfen mit. Ich hielt mein Gesicht dagegen und freute mich, daß der Schweiß auf den Wangen endlich getrocknet war. In dieser Nacht schlief keiner! Zwar war die Tageswende überschritten, aber auf den Straßen, Gassen und Plätzen herrschte noch so viel Betrieb wie am hohen Nachmittag. Kei‐ ner der Bewohner verspürte Lust, in der wichtigsten Nacht des Jahres in sein Bett zu gehen. Wegen der drückenden Schwüle konnte man es sowie‐ so nur in Räumen mit einer Klima‐Anlage aushalten. Mona und ich saßen im Freien. Wir hatten uns ein Lokal am Hafen aus‐ gesucht, sogar dicht am Wasser. Ein Steg führte auf die Wasserfläche, wo man die Terrasse gebaut hatte und wo die farbigen Girlandenlichter im Nachtwind schaukelten. Dabei zauberten sie hin und wieder bunte Farb‐ tupfer auf unsere Gesichter. Einen Platz an der Brüstung hatten wir ergattern können. Obwohl der Geruch nicht zu den angenehmsten zählte, war ich froh, der Luft auf dem 261
Friedhof entronnen zu sein. Hier konnte ich wenigstens hin und wieder noch durchatmen. Fred Diamond hatte uns verlassen, weil er seine Beziehungen spielen las‐ sen wollte. Wir waren übereingekommen, unseren Einsatz absichern zu lassen. Wenn es uns nicht gelang, die Insel zu stürmen und in Besitz zu nehmen, sollte die Armee eingeschaltet werden und das Eiland zerbomben. Es war die einzige Chance, die Zombies zu zerstören. Auch Brandbomben sollten eingesetzt werden, aber noch war es nicht soweit. Außerdem mußte Fred sich erst rückversichern und einige hohe Tiere beim Geheimdienst kontaktieren. Für ein Boot wollte er ebenfalls sorgen, und er hoffte, bis um zwei Uhr zurück zu sein. Die Fahrt zur Insel würde ungefähr 80 Minuten in Anspruch nehmen. Im Morgengrauen wollten wir dort erscheinen. Genau die richtige Zeit waren diese Stunden zwischen Tag und Nacht, wo zumeist Nebel über dem Was‐ ser lag, der uns auch den nötigen Schutz geben konnte. Leider wußten wir nicht allzuviel über die Insel. Wir kannten zwar ihren Lagerort, aber über Warn‐ oder Sicherungsanlagen war uns bedauerli‐ cherweise nichts bekannt. Es gab auch keine Stelle, die davon wußte, und Rhonda konnten wir leider nicht fragen. Also mußten wir uns überraschen lassen. Mona und ich hatten kalte Drinks bestellt. Während ich das bittersüße Zeug schlürfte, dachte ich wieder einmal an Suko, der sich bereits auf der Insel befand. Hoffentlich blieb er nur scheintot. Nach dieser Niederlage würde die Lassalle bestimmt durchdrehen. Mona lächelte mir über den Glasrand zu. »Wie fühlst du dich?« »Im Augenblick besser, aber nicht gut.« »Wieso?« »Der Typ im weißen Flatterhemd gefällt mir nicht. Er spielt hier den O‐ ber. Jetzt steht er schräg hinter dir. Schon bei unserer Ankunft hat er uns angeschielt. Kennst du ihn?« »Nein.« »Aber du weißt, daß die Jagd auf uns nicht abgeblasen worden ist.« Mona lächelte. »Die bleibt bestehen.« »Und sie haben ihre Augen überall.« Die junge Negerin gestattete sich ein Lächeln. »Ja, das haben sie wohl. Diese Stadt hat tausend Augen. Hier arbeitet jeder für den Voodoo. Es gibt 262
kaum einen Farbigen, der nicht an die alten Gesetze glaubt. Wenigstens kenne ich keinen. Sie halten uns unter Kontrolle, John. Daran gibt es nichts zu rütteln.« »Und dieser Kellner gehört dazu. Ich rufe ihn mal.« »Was willst du denn von ihm?« »Ihm nur in die Augen sehen.« Bevor der Mann verschwinden konnte, schnippte ich so kräftig mit den Fingern, daß dieser Laut sogar innerhalb der allgemeinen Geräuschkulisse auffiel. Der Ober drehte sich um und sah mein Lächeln und das gleichzei‐ tige Winken. Er kam näher. Etwas verhalten, wie mir schien. Ich deutete auf mein leeres Glas. »Brin‐ gen Sie mir bitte noch etwas zu trinken?« »Das gleiche, Sir?« »Nein, ein Bier.« »Sehr wohl.« Er nickte, und ich hatte festgestellt, daß er mir bei dem Ge‐ spräch nicht in die Augen schauen konnte. Auch glitzerten Schweißperlen auf seiner Stirn. Das aber konnte eine Folge der anstrengenden Arbeit sein, denn er mußte wirklich etwas für sein Geld tun. Als er sich verziehen wollte, um die Bestellung auszuführen, griff ich zu und hielt sein Handgelenk fest. Beim ersten Schritt schon wurde er gestoppt, schwang noch ein Bein hoch und zog es wieder zurück. »Einen Augenblick, mein Freund.« »Hören Sie!« fuhr er mich an. »Was ist mit Ihnen los? Ich muß mich um die Gäste kümmern.« »Klar«, sagte ich und stand auf, ohne ihn loszulassen. »Ich möchte nur wissen, was du an uns beiden so interessant findest. Haben wir uns schon mal gesehen?« »N… nein… wieso?« »Ich meine nur. Dein Interesse an meiner Begleiterin ist sehr ausgeprägt. Fast zu stark. Wer hat dir den Auftrag gegeben?« Ich hatte schnell gefragt, und er zitterte plötzlich, bevor er sich mit einem Ruck losriß, fast gefallen wäre und stolpernd die Terrasse verließ. Ich setzte mich wieder. »Der hat Dreck am Stecken«, sagte ich. Vom Nebentisch fragte ein dicker Mann: »Wollte euch der Kerl da be‐ scheißen?« 263
»Nein, aber mein Longdrink schmeckte nach Spülwasser.« Der Dicke lachte. »Kann ich mir vorstellen. In diese Küche möchte ich nicht reinschauen. Hier müssen sie Bier aus der Flasche trinken, falls sie sich nicht vergiften wollen.« »Ja, ich habe mir auch eine bestellt.« Sie wurde gebracht. Aber diesmal von einer Kollegin, einem blutjungem Ding, das aussah wie eine zierliche Ballettänzerin. Sie stellte die Flasche Bier auf den Tisch und lächelte uns zu. »War das für Sie, Sir?« »Ja.« Öffnen und einschenken wollte sie. Ich bestand darauf, aus der Flasche zu trinken, so nahm sie das Glas wieder mit. Das Bier, es kam aus Deutsch‐ land, war gut gekühlt und schmeckte etwas bitter. Für mich ein wahrer Hochgenuß. Als ich die Flasche wieder absetzte, hatte Mona sich vorgebeugt. »Bist du nun davon überzeugt, daß wir auch weiterhin unter Beobachtung stehen?« »Ja.« »Was sollen wir dagegen unternehmen?« Ich schlug ein Bein über das andere. »Überhaupt nichts. Zunächst einmal abwarten. Wegen Fred. Wir haben ihm versprochen, hier auf ihn zu war‐ ten. Da können wir ihn nicht enttäuschen.« »Schon richtig. Nur frage ich mich, was wohl die andere Seite unterneh‐ men wird, jetzt, wo sie uns entdeckt hat?« »Das werden wir sehen.« »Du bleibst sehr gelassen, John.« Ich winkte ab. »Weißt du, Mona, ich habe auf dem Friedhof eine kleine Hölle überlebt, eine noch größere liegt vor mir, und was sich dazwischen befindet, kann eigentlich nicht so schlimm sein.« »Deinen Optimismus möchte ich haben, John.« »Ohne den kann man nicht leben. Und alles wäre sinnlos. Glaub mir, ich kenn mich da aus.« »Das mußt du wohl so sehen.« Wir enthielten uns einer weiteren Unterhaltung. Statt dessen schaute ich mich wieder um. Der Kellner war nervös geworden, das stand für mich fest. Er ließ sich auf der Terrasse nicht mehr blicken, statt dessen bediente das Mädchen weiter, und ich wunderte mich darüber, wie flink die Kleine war. 264
Ich stand auf. »Willst du gehen?« fragte Mona. »Zur Toilette.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Das kann sein, muß aber nicht. Oder suchst du den Kellner?« »Auch.« »Und dann?« Ich gab keine direkte Antwort. »Du kannst doch auf dich achtgeben, Mädchen, oder nicht?« »Schon.« »Dann wartest du jetzt eben auf zwei Männer. Verlasse auf keinen Fall den Platz.« Sie wollte noch etwas fragen, aber ich war schon gegangen. Den wahren Grund hatte ich ihr verschwiegen. Vor etwa einer Minute hatte ich den Kellner gesehen, und er war nicht allein gewesen. Wenn mich nicht alles täuschte, hatte sich ein kantiger, schwarzer Gegenstand über die Köpfe der meisten hinweg abgehoben. Ein Zylinder! Und wer den trug, der konnte nur Barnabas heißen. Dieser Mensch war brutal. Er kannte keine Rücksicht. Es würde ihm auch nichts ausmachen, wenn Zeugen in der Nähe waren. Seine Aufgabe mußte erledigt werden. Und die hieß Mord! Da er sich schon in der Nähe befand, wollte ich ihn weg von den Gästen locken und damit aus dem Restaurant heraus, um mich ihm an einem ein‐ sameren Ort zu stellen. Die Terrasse war mit dem eigentlichen Lokal, das aussah wie eine heller‐ leuchtete Baracke mit großen Scheiben, durch den bewußten Steg verbun‐ den. Damit die Bedienung nicht immer den weiten Weg zu laufen brauch‐ te, hatte man auf der Terrasse und dicht am Beginn des Stegs eine zweite Bar aufgebaut, wo kalte Getränke geholt werden konnten. Zwei Zapfer schwitzten um die Wette. Ich ging an der Theke vorbei. Den Kellner entdeckte ich nicht. Dafür ka‐ men mir drei neue Gäste entgegen, die einen freien Tisch suchten. Sie hiel‐ ten Voodoo‐Kerzen in den Händen. Die drei ließ ich passieren, sah einen vierten Mann, der aber nicht zu ih‐ 265
nen gehörte und auf dem letzten Drittel des Stegs stehengeblieben war. Barnabas! * Er grinste dreckig und trug wieder seinen Zylinder. Die Arme hatte er ausgebreitet. Seine Hände berührten die beiden Handläufe des Stegs, und sein dunkles Gesicht schimmerte noch immer weiß, obwohl die Kreide oder Schminke an einigen Stellen schon verlaufen war und kleine Kanäle in die Schicht gegraben hatte. Ich blieb nicht stehen, sondern ging ihm entgegen, bis ich auf Sprechwei‐ te an ihn herangekommen war. »Hier geht es nicht mehr weiter!« sagte er. »Wie du meinst, aber könnten wir unsere Auseinandersetzung nicht wo‐ anders fortführen? Du bist sicherlich nicht gekommen, um mit mir ein Bierchen zu trinken.« »Das nicht.« Er schüttelte den Kopf. Ein Windzug bewegte in diesem Augenblick die Girlanden und malte ein buntes Muster auf das bleiche Gesicht des Killers. »Gehen wir?« »Nein, ich töte dich hier!« Damit hatte ich gerechnet. Natürlich hätte ich mich mit ihm schlagen können und wahrscheinlich verloren, deshalb wollte ich das Verfahren abkürzen. Ich zog meine Waffe. Jetzt schaute Barnabas nicht nur in zwei Augen, auch in ein drittes, das der Mündung. »Reicht das als Antwort?« fragte ich ihn. »Klar.« »Dann weißt du auch, was du zu tun hast?« »Nein.« Mit dem Daumen meiner linken Hand deutete ich über das Geländer. »Du stinkst, Dicker. Deshalb wird dir ein Bad im öligen Hafenwasser zwar nicht viel helfen, dir aber einen anderen Geruch geben. Also, Barnabas, schwing dich rein.« »Und wenn ich nicht will?« »Werde ich schießen!« 266
»Das traust du dich nicht.« »Diesmal ja. Zudem brauche ich dich nicht tödlich zu treffen, aber ich habe langsam die Nase voll, hast du gehört. Nicht immer lasse ich mich reinlegen. Rhonda, die dich geschickt hat, wird dich danach kaum noch wiedererkennen.« »Ich bin von allein gekommen.« »Gegen einen Befehl? Hast du soviel Hirn?« In seinem Gesicht zuckte es. Er hatte zahlreiche Beleidigungen schlucken müssen. Für jede einzelne hätte er anderen schon den Hals umgedreht, bei mir schaute er in die Mündung. Es war auch keine Lösung, ich wollte nur etwas Zeit gewinnen, damit Mona und ich aus diesem vielbesuchten Re‐ staurant wegkamen. In seiner Nähe konnten wir uns verstecken, den Ein‐ gang beobachten und so sehen, wann unser Freund Fred Diamond zurück‐ kehrte. Noch hatte ich die Chance, denn der Steg war leer. Wenn erst Gäste ka‐ men, sah es nicht so gut aus. »Los, rüber mit dir!« Barnabas schaute mich starr an. Er sah, daß ich nicht scherzte, nahm die linke Hand vom anderen Geländer und legte sie auf das rechte. Er kletterte tatsächlich höher, drehte sich ein wenig und schaute mich dabei an. Ich wollte schon etwas sagen, als ich merkte, wie er seine Wangen aufblies und aus seinem Mund ein kleines Loch machte. Im nächsten Augenblick schoß etwas hervor. Es war Wahnsinn. Dieser Mensch mußte in seinem Mund ein Blasrohr versteckt gehalten haben. Zudem war es mit einem kleinen Giftpfeil gela‐ den, der, auf kürzere Entfernungen abgeschossen, bei dieser Geschwindig‐ keit sein Ziel kaum verfehlte. Auch mich hätte er getroffen, wenn ich nicht unmittelbar reagiert und mich gedankenschnell geduckt hätte. So wischte dieses kleine, aber tödli‐ che Geschoß über mich hinweg, und als nächsten Gruß sandte Barnabas sich selbst. Der Schatten wuchs zum Koloß an und prallte auf mich, bevor ich mich noch dagegen wehren konnte. Beide knallten wir auf die Planken. Ich hörte im Hintergrund die erschreckten Schreie der Gäste und kam nicht mehr dazu, richtig Luft zu holen, denn das Gewicht des Hünen nagelte mich gegen den Untergrund. 267
Ich roch und hörte ihn. Er stank zwar nicht nach Moder, doch sein Körpergeruch war nicht we‐ niger unangenehm. »Dir breche ich das Genick!« keuchte er dabei. »Mit meinen Händen drehe ich dir den Hals um.« Was er mir noch versprach, ging in einem keuchenden Gurgeln unter, und er versuchte, mir die Waffe aus den Fingern zu drehen. Leider war es ihm gelungen, mein Handgelenk zu fassen. Brutal drehte er es herum, riß mich in die Höhe, ließ mein Gelenk dabei nicht los und hätte mir wohl den Arm gebrochen, wenn es mir nicht gelungen wäre, den rechten Fuß wuchtig nach unten zu rammen. Seine Zehen mußten wohl zu den empfindlichen Stellen gehören, denn er heulte plötzlich auf und ließ mein Gelenk los. Ich freute mich zu früh. Bevor ich auf ihn anlegen konnte, traf mich ein linker Schwinger, der mich über die Breite des Stegs bis gegen das Stützgit‐ ter aus Holz wuchtete, das verdächtig hinter mir nachgab und knackte. Ich war so benommen, daß ich mich nicht mehr rechtzeitig genug fangen konnte. Zusammen mit den Holzteilen klatschte ich in die ölig warme Ha‐ fenbrühe. Wo Barnabas eigentlich hätte schwimmen sollen, paddelte jetzt ich. Zum Glück hielt ich die Lippen fest geschlossen, so daß ich kein Wasser schluck‐ te und mir nicht auch noch eine üble Infektion einfing. Das Wasser war nicht sehr tief. Es schlug zwar über meinem Kopf zu‐ sammen, dennoch fühlte ich sehr bald Grund unter meinen Füßen, wobei ich ihn als zähen Schlamm erfahren mußte, in den meine Schuhe tief ein‐ sackten. Natürlich hatte ich nicht gewonnen. Barnabas würde keine Rücksicht kennen und vor den Augen zahlreicher Zeugen versuchen, mich endgültig ins Jenseits zu schicken. Wie beweglich er im oder unter Wasser war, wuß‐ te ich nicht, aber ich machte mich auf das Schlimmste gefaßt. Den rechten Arm hatte er mir zum Glück nicht gebrochen. Ich tauchte und schwamm in Richtung Übergang, weil ich unter ihm erst wieder hoch‐ kommen wollte. Schnell tauchte ich auf, schüttelte Wasser aus den Haaren und bekam wieder ein einigermaßen freies Blickfeld. Auch der Killer war da. Es glich schon einem Zufall, daß er sich in meine Richtung gedreht hatte 268
und ebenfalls aufgetaucht war. So starrten wir uns an. Es war ein scheußliches Bild. Sein weißliches Gesicht schien auf der dunklen Fläche zu schweben. Zudem war es verzerrt, nur die Augen leuch‐ teten darin, und ein Teil der hellen Schminke zerfloß allmählich weiter. Das hätte mich nicht einmal so sehr gestört, viel schlimmer war seine verdammte Waffe. Ein dünnes, mit Sägezähnen versehenes Stahlband. Um es halten zu können, waren die beiden Enden des Seils an zwei runden Handschellen befestigt, die Barnabas zwischen den Fingern hielt und so weit auseinan‐ dergezogen hatte, daß das Stahlseil eine Gerade bildete. Mit diesem verfluchten Ding konnte er mich tödlich verletzen, wenn ich mich nicht rechtzeitig genug in Sicherheit brachte. Natürlich war unser Kampf nicht unbeobachtet geblieben. Das sah ich zwar nicht, aber ich hör‐ te, wie über mir die Echos der Schritte auf den Bohlen dröhnten. Auch die hektischen Stimmen vernahm ich, sowie die Fragen einiger besonders sen‐ sationslustiger Leute, die wissen wollten, wer wir waren. Fehlte nur noch, daß sie durch die Lücke im Geländer selbst in das Hafenwasser fielen. Ob mein Gegner stand oder wassertrat, konnte ich nicht erkennen. Von ihm sah ich nur den Kopf, dessen Kinn von den kleinen anlaufenden Wel‐ len umspült wurde, und die aus dem Wasser ragenden Hände, zwischen denen sich das Stahlseil befand. Er kam näher. Ein böses Grinsen umspielte seine Lippen. Ich hatte die Beretta nicht aus der Hand rutschen lassen. Wenn ich ihn oben schon nicht hatte stoppen können, dann wenigstens hier. Ich brachte die Mündung über Wasser, aber das war genau einen Mo‐ ment zu spät, denn Barnabas hatte auf dem Rücken gelegen, was bei der schmutzigen Brühe und der schlechten Beleuchtung nicht zu erkennen gewesen war. Deshalb traf mich sein Tritt voll gegen die Brust, als er sein Bein ausstreckte. Ich konnte dem Treffer nichts entgegensetzen, wurde nach hinten gedrückt und versank in den Fluten. Wieder schlug das Was‐ ser über mir zusammen. Ich spuckte, prustete und sah das Sägeseil dicht vor mir. Die beiden Arme des Killers fuhren nach unten. Blitzschnell rollte ich mich nach hinten. Am Hals wurde ich zum Glück nicht erwischt, dafür ratschte das Seil über meine Brust, wo es die Kleidung 269
zerfetzte. Abermals wurde ich unter Wasser und in den Schlamm gedrückt. Dies‐ mal wollte Barnabas mich nicht hochkommen lassen und griff zu einer besonders heimtückischen Methode. Er setzte mir ein Bein auf die Brust! Dieser Kerl hatte sein Gewicht. Wer je ein Catch‐Turnier erlebt hat und die Kerle kennt, kann sich ungefähr vorstellen, mit welch einem Gegner ich mich herumzuschlagen hatte. Mir kam es so vor, als hätte mir ein Elefant seinen Fuß auf den Körper gesetzt, und ich wurde noch tiefer in den Schlamm gepreßt. Unter Wasser schießt eine Waffe nicht. Die Beretta konnte ich deshalb vergessen. Ich steckte sie blitzschnell weg und packte mit beiden Händen das Bein. Vielleicht hätte ich es wegdrücken können, aber Barnabas wollte auf Nummer Sicher gehen, denn er stellte mir auch seinen zweiten Fuß auf die Brust. Das war schon Mord! Ich hatte das Gefühl, meine Rippen wären überhaupt nicht mehr vor‐ handen oder hätten sich in den Brustkorb geschoben, solche Schmerzen durchzuckten mich. Am liebsten hätte ich den Mund aufgerissen und ge‐ schrien, aber das wäre genau falsch gewesen und einem Erstickungstod gleichgekommen. Beide Hosenbeine umklammerte ich. Verzweifelt kämpfte ich darum, den Hünen von meinem Körper wegzustoßen. Er schwankte zwar, lockerte auch mal für einen Augenblick den starken Druck, im Endeffekt jedoch blieb er gleich, und meine Chancen, diese Attacke zu überleben, sanken mit jeder vergehenden Sekunde dem Nullpunkt entgegen. Außerdem brauchte ich Luft. Allmählich steigerte sich der Druck in meiner Lunge und stieg hoch bis in meinen Schädel, wo ich das Gefühl bekam, eine schwere Faust würde von unten her gegen die Schädelplatte stoßen und versuchen, sie einzudrü‐ cken. Das Hämmern und Tücken wollte einfach nicht aufhören, gleichzeitig begann von den Ohren her das dumpfe Rauschen. Ein Strudel, der mir die nahende Bewußtlosigkeit anzeigte. Ich griff noch einmal zu, startete einen letzten Versuch, hakte meine Fin‐ ger am Stoff der Hosenbeine fest und wollte diese lebende Mordmaschine 270
zur Seite drücken. Es klappte. Plötzlich war der Druck verschwunden, obwohl ich mir dies selbst kaum zugetraut hätte. Noch hatte ich meine Gedanken einigermaßen unter Kon‐ trolle. Für mich war jetzt wichtig, aufzutauchen und Luft in die Lungen zu pumpen. Meine Arme bewegte ich wie ein junger Hund, die Pfoten, wenn er das Schwimmen lernt, als ich mich an die Oberfläche wühlte, mich zur Seite drehte, den Mund aufriß und nur atmete, wobei ich das Gefühl hatte, ü‐ berhaupt keinen Sauerstoff einatmen zu können, denn die Lunge und die Rippen schmerzten durch den Druck der Füße mörderisch. Ich taumelte und paddelte zurück, fand durch Zufall einen Pfosten und hielt mich fest. Allmählich war die ölige Flüssigkeit aus dem Gesicht geronnen, ich sah wieder besser und konnte erkennen, daß vor mir das Wasser schäumte, als würden sich Piranhas um ein Stück Fleisch streiten. Es waren keine Piranhas, sondern der Killer Barnabas! Er befand sich in einem verzweifelten Kampf und schlug wild mit den Armen um sich. Dabei hämmerten seine flachen Hände auf das Wasser, so daß es aufschäumte. Den Kopf sah ich auf‐ und niedertanzen wie einen Korken. Manchmal kam er auch nach vorn, wenn ihn eine Welle im Nacken packte und in die entgegengesetzte Richtung schob. Da sah ich es. Zwischen seinen Augen und genau mitten in der Stirn steckte ein Pfeil, dessen Spitze nicht zu sehen war. Dafür ragte der schmale dünne Schaft hervor. Jetzt wußte ich, weshalb dieser Koloß mich nicht totgetreten hatte. Nicht meiner Aktion hatte ich dies zu verdanken, es war Mona gewesen, die »ge‐ schossen« und mir damit das Leben gerettet hatte. Sie mußte oben am Geländer des Stegs stehen, wie auch andere Zeugen, deren Schatten durch die hellen Inseln fielen, die von den Lampen des Restaurants geschaffen wurden. In Barnabas steckte eine unwahrscheinliche Kraft. Er wollte nicht sterben und bäumte sich gegen sein Schicksal auf. Manchmal hatte ich das Gefühl, als könnte er es schaffen, denn es erschienen sogar seine Hände über Was‐ 271
ser und die hielten diese verdammte Sägewaffe, um sie in meine Richtung zu drücken. Ich veränderte meine Stellung nicht, trat Wasser und berührte hin und wieder mit meinen Füßen den Boden, um mich wieder hochschwemmen zu lassen. Auch Barnabas wurde hochgeschwemmt. Er lag plötzlich, seine Arme wurden schlaff, sanken nach unten. Nur mehr das Gesicht schwamm auf dem dunklen Wasser, und es sah aus wie ein Fleck, der nicht mehr ver‐ schwinden wollte. Bis eine Welle kam, es überrollte und den schweren Mann in die Tiefe drückte. Seine Beine berührten mich noch am Oberschenkel. Dieser Kontakt riß mich aus meiner Trance zurück in die Wirklichkeit. Erst jetzt wurde mir bewußt, wie knapp ich mit dem Leben davongekommen war. Der schmer‐ zende Brustkorb war das äußere Andenken an diesen verdammten Kampf. Jedenfalls mußte ich aus dem Wasser. »Er ist untergegangen!« hörte ich jemand schreien. »Der sah aus wie tot.« »Trotzdem, holt die Polizei. Da hat sich doch einer mit ihm geschlagen! Die Bullen müssen kommen!« »Laßt sie doch. Bei dem Gewühl in den Straßen…« So liefen die Diskussionen hin und her. Ich kümmerte mich nicht um sie, schwamm zum Rand des Kais, wo ich eine Leiter entdeckte, über die ich an Land kletterte. Tropfnaß blieb ich stehen, bog den Rücken durch und suchte den Schat‐ ten, weil ich nicht unbedingt in dem durch die Scheiben des Restaurants fallenden breiten Lichtschein stehen wollte. Mit der amerikanischen Polizei wollte ich nichts zu tun bekommen. Nicht daß ich etwas gegen die gehabt hätte, aber Fragen und Antworten hätten mich viel zu lange aufgehalten, und weitere Zeit durften wir auf keinen Fall verlieren. Mona mußte meinen Weg verfolgt haben. Ich sah ihre Gestalt, wie sie sich vor dem breiten Fenster des Barackenbaus abhob. Sie lief sehr schnell, schaute sich hin und wieder um, verfolgt wurde sie nicht. Ich löste mich aus dem Schatten, damit mich Mona besser sehen konnte, rief ihren Namen und winkte ihr zu. Sie stoppte, drehte sich und kam zu mir. Ihr Gesicht zeigte Spuren der 272
Aufregung, als sie mich anfaßte und darauf drängte, von hier zu ver‐ schwinden. »Was ist mit Fred Diamond?« Sie strich über ihr Gesicht. »Verflixt, an den habe ich überhaupt nicht ge‐ dacht.« »Ohne ihn sind wir aufgeschmissen.« Ich legte meine nassen Hände auf ihre Schultern. »Noch was, Mona, danke. Ich danke dir. Ohne dich wäre ich jetzt tot.« Sie lächelte scheu. »Vergiß es, John. Nur möchte ich, daß du jetzt anders über mich denkst. Das kleine Blasrohr ist doch nicht so schlecht, wie du es immer machst.« »Stimmt. Nur kommt es darauf an, wie und wann man es einsetzt. Um sich selbst zu verteidigen oder andere Menschenleben zu retten. Wie dem auch sei, wir müssen weg.« »Willst du dich noch umziehen?« Ich schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Das Zeug trocknet so. Die Insel ist wichtiger. Und eine Erkältung wirft mich nicht aus den Schuhen, glaub mir.« Wir gingen nicht, obwohl wir schon das Heulen der Sirenen hörten. Mo‐ na wollte sich umschauen. »Mich hat keiner beachtet«, erklärte sie. »Wenn sie suchen, dann nach dir. Ich werde zusehen, ob mir Fred nicht in die Ar‐ me lauft.« Ich ging zurück in die Deckung. »Hier warte ich.« »Gut, und verrate dich nicht durch Niesen.« »Keine Sorge.« Mona verschwand, mir wurde kalt. Die Kleidung klebte, als wäre sie mit Leim eingeschmiert worden. Ich bekam eine Gänsehaut und das Zittern. Zudem schmerzte meine Brust. Gebrochen schien zum Glück nichts zu sein, aber tief durchzuatmen gelang mir nicht. Dann stach es wie wahnsin‐ nig durch meinen Körper. Als ich meine Brust abtastete und meine Hand wieder zurückzog, sah ich die dunklen Flecken auf den Fingerspitzen. Das war Blut, mein Blut. Im ersten Augenblick wußte ich nicht, weshalb ich blutete, bis mir einfiel, daß mich Barnabas mit seiner verdammten Säge doch noch erwischt hatte. Die Kleidung war aufgefetzt worden und hatte auch meine Haut nicht ver‐ schont. Daher das Blut. 273
Besser an der Brust als woanders. Es waren nur kleine Wunden. Mit dem feuchten Taschentuch tupfte ich sie ab. Zwei Polizeiwagen rollten an. Das Jaulen der Sirenen hallte über den Pier. Rotlicht flackerte, Männer verließen den Wagen und wurden von zahlreichen Zeugen empfangen, die durcheinander redeten und auf das Wasser deuteten. Die Beamten würden die Leiche bergen. Ob ich hier noch bleiben konnte, war ungewiß. Zum Glück erschienen Mona und Fred Diamond. »Weg hier, John«, sagte der Agent. Er stellte keine weiteren Fragen. Sein Job hatte ihn gelehrt, immer nur das eine und richtige zu tun und sich der Lage anzupassen. Sie nahmen mich in die Mitte. Bevor Scheinwerfer ihr Licht über die Wasserfläche werfen konnten, waren wir in der Dunkelheit verschwunden und untergetaucht. Fred fand einen schmalen Weg, der uns dorthin brachte, wo das von ihm gecharterte Boot lag. »Und das hast du in dieser Nacht geschafft?« Er grinste. »Niemand ist im Bett, John. Es wird gefeiert. Ich mußte nur die Kaution erhöhen und habe dem Verleiher erzählt, daß wir eine Art von Wasserprozession zu Ehren des Voodoo‐Glaubens halten wollen.« »Das hat er geglaubt?« »Ja, er hatte selbst leuchtende Votivkerzen in sein Fenster gestellt.« Das Restaurant blieb hinter uns zurück, und der eigentliche Fischereiha‐ fen nahm uns auf. Es war ein romantisches Bild. Dieser Hafen stach von dem des großen, in dem die riesigen Schiffe be‐ und entladen wurden, deutlich ab. Er hatte sich noch das Flair des Romantischen bewahrt. Dunkel war es nie. Man feierte das Johannisfest. Kerzen brannten auch auf den Decks der Schiffe. Manchmal hörten wir einen leisen Singsang oder den Klang der Voodoo‐Trommel. Oft saßen Menschen auf dem Deck beisammen und beschworen gemeinsam einen der großen Voodoo‐Geister. »Müssen wir noch weit laufen?« fragte ich. »Nein, nein.« Fred warf mir einen schnellen Blick zu. »Du bist nicht in Form, wie?« »Es geht. Der Kampf mit Barnabas war nichts für schwache Nerven. Er hätte mich geschafft, wenn Mona nicht gewesen wäre.« 274
»Ja, ich hörte es.« Wenig später blieben wir stehen. Boote dümpelten vor uns auf den Wel‐ len. Dahinter lag die schwarze Wasserfläche. Nur in der Ferne sahen wir noch Lichter. Dort befanden sich einige Inseln, auf denen rote Feuer brann‐ ten. Fred drückte sich an uns vorbei und ging auf einen Kiosk zu. An dessen Tür lehnte ein weißhaariger Mann. Der Schein brennender Kerzen leuchte‐ te ihn an und ließ seinen Bart aussehen wie vom Kinn hängender dünner Schnee. Die beiden redeten, und der Alte deutete über seine Schulter auf die Anlegestelle. »Ist es aufgetankt?« fragte Fred. »Ja, voll.« »Und die Reservekanister?« »Sind auch an Bord. Wo wollt ihr denn hin? Nach Cuba?« »Ja, ich liebe Castros Zigarren. Besonders die, die explodieren, weißt du.« »War schon gut, daß ich die Kaution verdoppelt habe.« Fred winkte ab, ließ ihn stehen und kam zu uns. »So, der Alte ist zwar kauzig, aber er hat für alles gesorgt. Jedenfalls behauptet er das.« »Was ist das für ein Kahn?« fragte ich. »Er nennt ihn Delphin. Muß sehr schnell sein, weil er zwei sehr leis‐ tungsstarke Motoren der Firma Rolls Royce besitzt. Die Jungs sind ja be‐ kannt für ihre guten Triebwerke. Das müßtest du wissen, John. Auf jeden Fall machen wir über vierzig Knoten.« »Mit oder ohne Rückenwind?« »Ich hoffe ohne.« Wir hatten das Boot erreicht. Es war nicht sehr groß, bot trotzdem unter Deck noch genügend Platz. Es roch nach frischer Farbe. Fred wollte ans Steuer. Ich schwang mich direkt unter Deck, wo ich eine kleine Kabine fand und die schmale Tür zu einem chemischen Klo. Zwei Kojen, ein Tisch, eine Lampe, eigentlich war es recht gemütlich. Und eine Decke fand ich ebenfalls. Nach ihr hatte ich gesucht. Da die Kleidung noch immer nicht getrocknet war, drehte ich mich in die Decke ein, nahm vor dem schmalen festgeschraubten Tisch Platz und untersuchte meine Waffen. Die Beretta funktionierte. Während ich sie auseinandergenommen hatte und mir die einzelnen Tei‐ le im Licht der Deckenleuchte anschaute, startete Fred Diamond. Ein Zit‐ 275
tern lief durch den Bootskörper. Ich lauschte dem Motorenklang. Gründe zur Beunruhigung bekam ich nicht zu hören. Mit dem Triebwerk schien alles in Ordnung zu sein, es lief rund und sicher. Auch mit meiner Waffe konnte ich zufrieden sein. Sie hatte das Bad eben‐ falls überstanden. Ich hörte Schritte. In der schmalen Tür tauchte Mona auf. Sie schleppte eine dieser dünnen Segeltuchtaschen, die prall gefüllt war. Das Mädchen wuchtete sein Gepäck auf die zweite Bank und begann damit, die Tasche auszupacken. »Ich soll dir bestellen, John, daß alles geregelt ist. Fred hat sich mit den zuständigen Stellen in Verbindung gesetzt. Nicht weit von der Insel ent‐ fernt wird ein kleines Kriegsschiff kreuzen. Wenn wir Alarm geben, startet von dort eine Kompanie Soldaten, die die Insel zerbombt und verbrennt.« Ich war zufrieden. »So sind wir wenigstens nicht allein auf uns gestellt.« Mein Blick fiel auf den Tisch. »Himmel, was hast du alles mitgebracht?« »Nur Signalpistolen und ein Funkgerät.« »Und die MPi?« »Soll für Fred sein.« Ich hob die Schultern. Es war eine israelische Waffe Marke UZI. Ein sehr handliches Gerät. Der Proviant hatte unter den Waffen gelegen. Orangensaft, Kekse, Scho‐ kolade und auch eine Flasche Bourbon zauberte Mona hervor. »Hast du Hunger?« fragte sie mich. »Auch.« »Besonders Durst, nicht?« Sie lächelte und holte Trinkbecher hervor. Es waren die Pappdinger, wie ich sie auch von den Automaten her kannte. Wenn sie mit heißem Kaffee gefüllt waren, verbrannt ich mir regelmäßig die Fingerspitzen. Ich riß eine Tüte mit Saft auf, trank in langen Schlucken und aß einige Kekse dazu. Wir merkten, daß wir mittlerweile das seichtere Hafengewässer verlassen und die offene See erreicht hatten. Das Meer wurde unruhiger. Eine lange Dünung trieb unser Boot in die Höhe oder senkte es Wellentälern entge‐ gen. Die Motoren brummten ruhig und gleichmäßig. Auch Mona hatte sich 276
gesetzt. Sie aß ebenfalls. Während des Kauens hatte ihr Blick etwas Geis‐ tesabwesendes angenommen. »Woran denkst du?« fragte ich. »An sie.« »Rhonda?« »Ja. Ich werde sie mir holen, darauf kannst du dich verlassen. Und wenn es sein muß, mitten aus der Hölle.« »So kannst du die Insel ruhig bezeichnen. Sie wird eine Hölle für uns werden. Wenn es tatsächlich Zombies gibt, und daran habe ich nach den Aufnahmen, die man mir zeigte, keinen Zweifel, kannst du Dinge erleben, von denen du bisher nicht einmal zu träumen gewagt hast.« »Tatsächlich?« Ich nickte und leerte den Rest Saft aus der Tüte. Als nächstes öffnete ich die Whiskyflasche. »Das ist gut gegen eine Erkältung.« Ich goß Whisky in einen Pappbecher. »Auch einen Schluck?« Mona schüttelte den Kopf. »Nein, danke.« Ich trank. Bourbon ist zwar nicht mein Lieblingsgetränk, aber besser als gar nichts. Er wärmte durch, und ich gönnte mir noch einen zweiten Trunk. Dann holte ich meine Zigaretten hervor und konnte sie gleich weg‐ werfen. Sie waren feucht geworden. Die Schachtel sah aus wie ein Klum‐ pen. »Ich habe keine«, sagte Mona. »Nicht schlimm.« Sie spielte mit ihren Fingern. »Wenn alles vorbei ist, John, wirst du zu‐ rück nach England kehren?« »Vorausgesetzt, ich lebe und habe meinen Freund Suko befreien kön‐ nen.« »Das kommt auch hinzu.« Sie zerbrach einen Keks. »Und was machst du dann?« Ich fing an zu lachen. »Es geht weiter. Ich jage Dämonen, Geister, Wer‐ wölfe, Vampire, Kreaturen der Hölle…« Sie schaute mich mit offenem Mund an. »Wenn man dich so reden hört, kann man Angst bekommen. Stimmt das auch alles?« »Leider.« Mona schüttelte den Kopf. »Geglaubt habe ich daran eigentlich nie. Nur an den Voodoo‐Zauber. Da du das sagst, nehme ich es dir ab. Ich bin da‐ 277
von überzeugt, daß es so etwas gibt. Mittlerweile ja. Dann lebst du auch ziemlich gefährlich.« »Das kann man wohl sagen.« »Hast du eigentlich nie Angst, John?« »Doch. Vielleicht mehr als die anderen.« »Ist das wahr oder kokettierst du damit nur, um dich interessant zu ma‐ chen?« »Nein, das habe ich nicht nötig. Dafür ist die Lage einfach zu ernst. Viel zu ernst. Ich bin in den Job hineingewachsen. Mein erster Fall drehte sich um Zombies. Damals war ich ein – sagen wir normaler Inspektor bei Scott‐ land Yard und kam zufällig mit der schwarzen Magie in Berührung. Knüppeldick bekam ich es, als Zombies aus den Gräbern stiegen. Hier in New Orleans haben wir es verhindern können, damals war es mir nicht möglich gewesen. Ich wußte noch nicht so viel über die Materie.« »Heute bist du besser?« »Zwangsläufig. Außerdem stehe ich nicht allein. Ich habe einige Freunde und Partner, die mich unterstützen. Suko gehört zu ihnen, auch mein ältes‐ ter Freund Bill Conolly ist noch mit von der Partie, dann ein deutscher Kommissar namens Will Mallmann; sogar eine ältere Dame von siebzig Jahren, die Sarah Goldwyn heißt und die wir Horror‐Oma nennen, steht mir hin und wieder zur Seite. Nicht zu vergessen Myxin, der Magier, und Kara, die Schöne aus dem Totenreich. Beide sind Personen, die schon auf dem vor über 10.000 Jahren im Meer versunkenen Kontinent Atlantis ge‐ lebt haben. Hier in den Staaten hält ein türkischer Freund namens Yakup Yakinkaya die Stellung, und Jane Collins, eine ehemalige Detektivin und Hexe, steht, so hoffe ich, jetzt wieder voll auf unserer Seite…« Während meiner Rede hatte Mona staunend zugehört. Es gelang ihr kaum, den Mund zu schließen, so überrascht war sie. »Ich wußte gar nicht, daß da soviel hintersteckt«, sagte sie. »Man muß eine schlagkräftige Organisation im Rücken wissen.« Sie nickte, senkte den Kopf und trank einen Schluck Saft. »Ich weiß selber nicht, was ich machen soll, wenn ich das hier überlebe.« »Was hast du denn vorher getan?« »Verkauft. Ich war angestellt im Voodoo‐Shop.« »Da kannst du nicht mehr hin.« »Eben.« 278
»Und einen ähnlichen Job in der Branche?« Sie holte tief Atem. »Weißt du, John, ob ich dazu noch einmal in der Lage sein werde, kann ich jetzt nicht sagen. Die kommenden Ereignisse werden mich prägen. Vielleicht suche ich mir einen ähnlichen Job, wie du ihn hast. Ich kann auch mal Fred fragen, ob ich bei ihm einsteigen kann. Als Agentin vielleicht.« »Das wäre nicht gut.« »Wieso?« »In dem Geschäft gibt es einfach zu wenig Menschlichkeit. Da kann man dem anderen nicht trauen. Oft ist der Freund der größte Feind. Möglicher‐ weise würdest du an dieser Gefühlskälte zerbrechen. Rücksicht kennen die Leute einfach nicht.« »Und als freie Mitarbeiterin?« Ich lachte. »Stell dir das nicht so einfach vor, Mona. Auch Fred ist ein‐ sam. Er hat es mir gesagt. Wer so lange in dem Geschäft steckt wie er, kann nicht mehr normal denken. Der ist immer mißtrauisch und lebt, wenn es ihm ermöglicht wird, sehr exzessiv.« »Du nicht, John?« Es war eine gute Frage, auf die ich so schnell keine Antwort fand. »Ich versuche, so normal wie möglich zu bleiben. Natürlich bin ich für fast hundert Prozent aller Menschen ein bunter Vogel, aber was soll’s? Ich habe mich damit abgefunden.« Nach diesem Satz ließ ich mich zurücksinken. Irgendwie war ich müde geworden. Hinzu kam das manchmal stechende Ziehen innerhalb des Brustkorbs, aber einschlafen wollte und durfte ich nicht, deshalb stand ich auf. »Wo willst du hin?« »An Deck. Ich muß ein wenig frische Luft schnappen, um wach zu wer‐ den. Kommst du auch?« »Gleich. Laß mich noch ein wenig nachdenken.« »Tu das.« Ich beugte mich zu ihr hinunter und hauchte ihr einen Kuß auf die Wange. »Du bist in Ordnung, Mona. Und vielen Dank noch mal.« Sie lächelte scheu. Jetzt wirkte sie wie ein hilfsbedürftiges kleines Kind. »Manchmal wünsche ich mir, eine Familie zu haben, Kinder großzuziehen und irgendwo in den grünen Hügeln von Virginia zu leben. Das wird wohl immer ein Traum bleiben. Es gibt Menschen, die so etwas schaffen, aber wir sind wohl schon zu sehr gezeichnet und auf irgendeine Art und Weise 279
kaputt. Meinst du nicht auch?« »So streng möchte ich das nicht sehen. Versuche mal etwas optimisti‐ scher ins Leben zu schauen.« »Ich werde mich bemühen.« Als ich mich durch die schmale Tür gedrückt hatte, hörte ich sie weinen. Auch Mona war keine Maschine. Sie hatte in den letzten Stunden einiges hinter sich und erst noch vor kurzem einen Menschen getötet, um ein an‐ deres Leben zu retten. So etwas steckt man nicht einfach weg, wenn man ein normaler Mensch ist. Das bleibt hängen, und man hat daran zu kna‐ cken. Ich stieg den Niedergang hoch. Frischer Wind blies mir ins Gesicht. Er brachte den Gischt der See mit. Ich trat an Deck, begab mich zum Heck und schaute auf die quirlenden Schaumstreifen, die von der Schraube an die Oberfläche geschleudert wur‐ den. Die Küste war kaum noch zu sehen. Einige Lichter, die wie ferne Sterne wirkten, ansonsten sah ich nur noch Boote, auf denen Kerzen brannten. Auch auf dem Wasser formierten sich die Anhänger der Voodoo‐Kultur zu einer Prozession. Was ihr Ziel war, wußte ich nicht. Ich drehte mich um, bekam Wind und Gischt wieder von vorn und ent‐ deckte im Osten einen Leuchtturm, der seine Lichtsignale über das Wasser schickte und den Seelen einen Orientierungspunkt gab. Fred Diamond drehte sich nicht um, als ich das Ruderhaus betrat. Er hockte auf einem Schalensitz und hielt das Ruder mit beiden Händen. Zwi‐ schen seinen Lippen hing eine Zigarillo. Die Packung lag auf der Ablage. »Darf ich?« fragte ich. »Sicher.« Ich nahm ein Stäbchen, auch Feuer, zündete den Zigarillo an und blies den Rauch von innen gegen die mit Spritzwasser überdeckte breite Sicht‐ scheibe. Fred schielte mich von der Seite her an. »Wieder getrocknet?« fragte er grinsend. »Fast.« »War nicht angenehm, das Bad?« »Ich würde es keinem raten, in die ölige Brühe zu springen.« »Auf jeden Fall lebst du, John, und ich bin auch nicht träge gewesen. So 280
einiges ist von mir in die Wege geleitet worden. Zum Glück reagierten meine Partner nicht störrisch. Man vertraute mir.« »Und?« »Wenn wir Alarm geben – das wird durch die Signalraketen oder über Funk geschehen – werden die anderen auf der Fregatte reagieren. Sie wol‐ len einen Hubschrauber schicken, in dem sich eine vollausgebildete Kampfmannschaft befindet. Ledernacken oder Anti‐Terror‐Gruppe. Die Jungs sind in der letzten Zeit ziemlich wachsam geworden.« »Ich hoffe, daß es nicht dazu kommt.« »Willst du dir jeden Zombie vornehmen und ihn vernichten?« fragte der Agent. Ich blies wieder Rauch aus. »Das wird wohl kaum klappen. Mir kommt es auf Damion Cargal an.« Diamond begann zu lachen. »Frag mich mal, John? Was meinst du, wie die Verantwortlichen reagiert haben, als sie hörten, wer hinter dieser Sache stecken soll? Die sind fast durch den Hörer gekrochen und drehten voll durch. Damion Cargal hat sie auf Trab gebracht. Der verursacht ihnen heu‐ te noch Magenschmerzen. Wenn er die Division führt, kann es uns noch dreckig ergehen.« »Gehen wir mal von der Theorie weg. Du kennst die Insel nicht?« »Nein.« »Weißt du denn, wo wir anlegen können?« »Im Prinzip ja.« Er löste die rechte Hand vom Ruder und wies auf eine zusammengefaltete Karte. »Schau sie dir mal an. Da ist die Insel einge‐ zeichnet. Wir müssen zwischen dem Hörn‐ und dem Petit Bois Island hin‐ durch. Da beginnt dann der Golf, und es sind nur mehr wenige Seemeilen bis Voodoo‐Land.« Ich faltete die Karte auseinander. Die beiden angesprochenen Inseln hatte ich mit einem Blick gefunden. Südlich davon lag also Voodoo‐Land. Der Flecken war eingezeichnet worden, ohne einen Namen bekommen zu ha‐ ben. Die Insel sah aus wie ein Pfannkuchen, den man an verschiedenen Stellen eingedrückt hatte. Das mußten Buchten sein. Leider ziemlich breit. Wenn das Meer unruhig war, würde es Schwierigkeiten beim Anlegen geben. Von dieser Sorge befreite mich Fred Diamond. »Nicht jede Bucht deckt sich zum offenen Meer hin mit Felsen ab. Die meisten besitzen einen herrlichen Strand, wo die Wellen allmählich auslau‐ 281
fen können.« »Ist er übersichtlich?« »Wahrscheinlich. Dicht dahinter beginnt der Dschungel. Auf der Insel herrscht ein tropisches Klima.« »Hast du dir einen Platz ausgesucht?« »Sicher, an der Westseite. Da soll es eine geschützte Felsenbucht geben. Eine Mischung aus Sand und Stein, wo wir mit unserem Boot auch dicht an das Land herankommen.« »Wir werden sehen.« Ich faltete die Karte wieder zusammen und legte sie weg. Danach verließ ich das Ruderhaus. Es war sehr dunkel geworden. Auch die Voodoo‐Boote waren weit zurückgeblieben. Dafür schimmerten vor uns Lichter. Als schwarzer Schatten hob sich eine Landmasse aus dem Meer ab. Dies mußte eine der beiden Inseln sein, die wir passieren wollten. Ich stellte mich an die Steuerbord‐Reling und schaute auf das Wasser. Der Wind war normal, die Wellen kamen von vorn, sie schnitten den Bug, und der helle Gischt wirbelte in zahlreichen Tropfen über mich hinweg oder klatschte gegen mein Gesicht. Es roch nach Salz, und ich schmeckte es auch, wenn Tropfen meine Lippen berührten. Das war Natur, das war echt. Was wir in vielleicht einer Stunde erleben würden, hielt damit keinen Vergleich stand. Zombies konnte ich nicht als Natur bezeichnen. Sie waren teuflische Wesen, lebende Leichen, die nicht in die Welt gehörten. Ich ballte die Hände, als ich an sie dachte, und rechnete auch damit, daß man uns erwartete. Sicherlich hatte Rhonda Lassalle die Insel längst er‐ reicht und Bericht erstattet. Aus diesem Grunde mußte ich auch die Mög‐ lichkeit in Betracht ziehen, daß Voodoo‐Land zu meinem Grab werden konnte…. IX Er saß wieder im Dunkel seiner unterirdischen Zentrale, und nur das grüne Licht der Instrumente erfüllte den ansonsten kahlen Betonraum mit seinem geisterhaften Schein, der nicht einmal sein Gesicht erreichte, denn das wollte er selbst Rhonda nicht zeigen. Aber er hatte ihren Bericht gehört, und die Lassalle wartete auf eine Antwort. 282
Sie trug nicht mehr ihre Voodoo‐Kleidung, sondern einen dunklen, eng anliegenden Anzug. Das blonde Haar wurde wieder von dem schwarzen Stirnband mit dem gelbweiß schimmernden Totenkopf in Stirnhöhe gehal‐ ten, und ihr Gesicht zeigte hektische, rote Flecken. Ein Beweis, daß sie un‐ ter schwerem Druck stand. D. C. verzieh alles, nur keine Niederlagen. Da reagierte er rigoros und gnadenlos. »Du hast also versagt«, stellte er fest. Sie lauschte dem Klang seiner Stimme nach. War sie noch menschlich, oder besaß sie nicht einen künstlichen Unterton, als würde sie aus einem Lautsprecher stammen, der in der Finsternis stand? Sie wußte es nicht. Früher hatte sie darüber nicht nachgedacht, heute war dies anders. Da kam sie sich vor wie auf einem Sprungbrett stehend, wo rechts davon das Leben wartete und links das Jenseits. Es lag in Damion Cargals Hand, in welche Richtung er sie stieß. »Ich warte auf deine Antwort, Voodoo‐Königin.« Das letzte Wort hatte er spöttisch ausgesprochen. Rhonda hob die Schultern. »Es waren einfach die Umstände. Wir haben Sinclair unterschätzt.« »Nicht wir – du!« »Natürlich.« Aus der Dunkelheit, wo Cargal saß, erklang ein schnaubendes Geräusch. »Du hast genau gewußt, daß ich Nachschub brauche. Die Division be‐ kommt immer mehr Aufträge. Schon jetzt mußte ich einen verschieben, wenn nicht abgeben. Das darf ich mir nicht leisten. Ich habe die Zombies gebraucht. Und du hast sie mir nicht gebracht, obwohl die Voraussetzun‐ gen dafür ideal gewesen sind. Nur mit diesem verdammten Chinesen und einigen Helfern bist du zurückgekommen, wobei ich einen noch vermißt habe. Barnabas. Ist er auch tot?« »Er wollte in New Orleans bleiben.« »Weshalb?« »Weil Sinclair auf seiner Liste steht.« D. C. lachte rauh. »Weil er auf seiner Liste steht. Darüber kann ich mal lachen. Glaubst du im Ernst, daß Barnabas den Geisterjäger schafft? Ich nicht. Wenn er es verstanden hat, dich zu stoppen und die Voodoo‐Magie zurückzudrängen, ist Barnabas, dieser hirnlose Killer, nur eine Kleinigkeit 283
für ihn.« »Das würde ich nicht sagen«, widersprach Rhonda. »Er wird schlau vor‐ gehen und hat auch Helfer an seiner Seite.« »Das wird ihm kaum etwas nutzen.« »Ich bekomme jedenfalls Bescheid.« »Wenn Sinclair tot ist?« »Ja.« »Hast du bisher etwas von deinem Freund gehört?« »Nein, aber…« »Vergiß es.« D. C. winkte ab. Für einen kurzen Augenblick sah Rhonda etwas aus der Dunkelheit erscheinen. Es schimmerte metallisch und sah aus wie eine Hand. Dann zog D. C. seine Klaue wieder zurück. Die Lassalle fragte sich, wie dieser Mann wohl aussehen würde. Auch ihr hatte er sich noch nicht gezeigt, nur den Zombies stellte er sich offen gegenüber, die konnten auch nichts verraten. »Soll ich dir meine weiteren Pläne mitteilen?« fragte Rhonda. »Nein! Du hast genug in den Sand gesetzt. Jetzt reagiere ich. Wir müssen davon ausgehen, daß Barnabas es nicht geschafft hat, Sinclair zu töten. Doch der Geisterjäger wird von Voodoo‐Land gehört haben und sich auf den Weg zu uns machen. Das heißt, er fährt in sein Verderben. Du weißt, daß wir eine Radarüberwachung haben, und wir werden ihn dementspre‐ chend erwarten. Ich will nicht, daß er einen Fuß auf die Insel setzt; wenn doch, soll er genügend Ärger zuvor bekommen. Zwei Dinge wirst du erle‐ digen. Den Sarg mit diesem Chinesen woanders hinschaffen und eines der Boote besetzen lassen. Nimm dir fünf Zombies und einen, der das Boot steuern kann. Ihr wartet so lange, bis ihr Bescheid bekommt. Ich werde die Kontrolle an den Radarschirmen übernehmen und sage euch Bescheid.« »Ich habe verstanden!« »Das hoffe ich für dich, Rhonda. Ich lasse dich noch einmal leben. Einen weiteren Fehler kannst du dir nicht leisten, dann mache ich dich zum Zombie. Verstanden?« »Sicher!« Ihre Stimme klang rauh. »Und jetzt verschwinde.« Rhonda Lassalle ging. Das Zittern in ihren Knien hatte etwas nachgelas‐ sen, dennoch verspürte sie eine drückende Furcht, die ihr Herz von zwei Seiten umklammert hielt. 284
Wenn sie versagte, sollte sie zu einem Zombie werden. Ein schreckliche‐ res Schicksal konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen und hoffte, daß es diesmal klappte. Sinclair durfte die Insel nicht betreten, und seine Begleiter ebenfalls nicht. Daß er nur allein kommen würde, konnte sich Rhonda beim besten Willen nicht vorstellen. An der Tür, die sich automatisch öffnete, drehte sie sich noch einmal um. Es war möglicherweise ein Zufall oder aber von D. C. so gewollt. Jeden‐ falls konnte Rhonda ihn plötzlich sehen, weil er sich für einen Moment aus der Finsternis gelöst hatte. Die Frau wurde bleich vor Schreck… * Wir stachen in den Golf von Mexiko! Die Durchfahrt zwischen den beiden Inseln lag hinter uns, jetzt fuhren wir genau nach der Karte und steuerten im direkten Kurs Voodoo‐Land an. Auch Mona hatte es nicht mehr in der Kajüte gehalten. Wir drei hielten uns im Ruderhaus auf, waren sehr konzentriert und richteten uns genau nach den eingezeichneten Positionen. Gern hätten wir ein Boot mit Radar gehabt, das war leider nicht aufzu‐ treiben gewesen. So mußten wir uns damit abfinden, daß unsere Sicht all‐ mählich beeinträchtigt wurde, denn meine Rechnung mit den dünnen Ne‐ belfetzen ging leider auf. In den Morgenstunden bildete sich die Feuchtigkeit über dem Wasser und verdichtete sich zu langen Dunstwolken oder Schleiern, die über die Wellenkämme trieben. Von der Insel sahen wir noch nichts, ich aber schaute so oft auf die Karte, daß es Fred auffiel. »Siehst du was, John?« »Ja, Riffe.« Er räusperte sich. »Wären welche da, hätte man sie auch eingezeichnet, meine ich.« »Bist du sicher?« Diamond grinste. »Was man so sicher nennt. Natürlich können wir Über‐ raschungen erleben…« »Die uns den Kiel aufschlitzen.« »Leider.« 285
Mona mischte sich ein. »Ich weiß auch nichts, obwohl Rhonda Lassalle so manches Mal mit mir über die Insel gesprochen hat. Auf Einzelheiten ging sie nie ein.« »Was weißt du überhaupt von Voodoo‐Land?« fragte ich. »Zu wenig. Das Eiland ist mit einer dschungelartigen Flora bewachsen. Es gibt dort lebende Tote – ja, das ist eigentlich alles.« »Nicht viel«, murmelte ich. »Stellt sich nur die Frage, wo sich Damion Cargal aufhält. Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Chef der Division seinen Unterschlupf in einem Zelt mitten im Dschungel errichtet hat.« »Das nicht.« »Sondern?« Mona überlegte. Sie kaute auf ihrer Unterlippe. »Da war irgend etwas, an das ich mich nur schwerlich erinnere«, gab sie zu. Rhonda sprach davon, daß man ihn nicht fassen könnte…Sie atmete tief. »Sein Versteck muß so gut sein, daß selbst Bomben kaum etwas dagegen ausrichten können.« Ich schnippte mit den Fingern. »Das hört sich nach Bunker an. Es muß in der Erde liegen – oder?« Das letzte Wort war an Fred Diamond gerichtet, und er nickte bedächtig. »Ja, so könnte man es sehen.« »Wenn dem so ist, muß es Zugänge geben, und wenn er tatsächlich dort unten lebt, wird er das System hervorragend ausgebaut haben. Denk nur an den Energieverbrauch, an die gesamten Anlagen, an die Technik, den Nachschub. Ich rechne sogar damit, auf der Insel eine Landebahn zu fin‐ den, auf der eine Propellermaschine aufsetzen kann…« »Nein!« widersprach Mona. »Er besitzt ein Wasserflugzeug.« »Noch praktischer«, gab ich zu. »Cargal hat an alles gedacht. Er muß sich ein regelrechtes Hauptquartier eingerichtet haben.« »Über die Anzahl der Zombies weißt du keinen Bescheid?« erkundigte ich mich. »Leider nein.« »Wir werden es sehen«, meinte Fred. »Oder auch nicht, wenn dieser Ver‐ dammte Nebel so bleibt. Bei klarem Wetter hätten wir die Insel längst se‐ hen müssen.« Der Meinung war ich auch. Zudem begann bereits im Osten die Dämme‐ rung. Es würde noch eine Weile dauern, bis sich der neue Tag so weit vor‐ 286
geschoben hatte, daß er die Nacht vollends ablöste. Bis dahin mußten wir die Insel einfach erreicht haben. Leider spielte uns das Wetter einen Streich, denn die eigentlich noch dünnen Dunstschwaden verdichteten sich immer mehr zu regelrechten Nebelbänken, in die wir hineinfuhren und die wir nicht umkreisen konn‐ ten. »Tut mir leid, Freunde, aber ich muß mit dem Tempo runter, sonst rasen wir irgendwann noch gegen den Strand.« »Bist du denn auf Kurs?« fragte ich den Agenten. »So gut wie.« »Denk an die Brandung und die Felsen.« Er winkte mit einer Hand ab. »Die Bucht finden wir immer. Sie ist breit genug.« Ich teilte den Optimismus des Agenten nicht unbedingt. Auch hielt mich nichts mehr unter Deck. Das Schaben der großen Wischblätter über das Außenglas der Scheibe machte mich nervös. »Ich schaue mich oben um«, sagte ich und verschwand aus dem Ruder‐ haus. Mona folgte mir nicht. Wir fuhren nur mehr die Hälfte der vorherigen Geschwindigkeit. Das Wasser spritzte kaum noch über die Reeling, nur wenn eine Welle mal quer anlief, bekam ich feuchte Hosenbeine. Ich schaute dorthin, wo die Insel liegen mußte. Kein Umriß schälte sich aus dem Dunst. Mir schien es so, als hätte sich die Natur mit D. C. und seinen Zombies verbündet. Das Wasser besaß eine Mischfarbe. Manchmal kam es mir dunkelgrün vor, dann wieder schwarz, und auf den Kämmen der Wellen tanzten oft genug Schaumkronen. Der Streifen im Osten war kaum heller geworden, aber der Nebel ver‐ dichtete sich. Er erinnerte mich an lange Tücher, die der Wind über das Wasser wehte, als wollte er dafür sorgen, daß all das Böse und das Grauen verdeckt wurden. Mir fielen wieder die Informationen ein, die mir Mona gegeben hatte. Obwohl die Insel von einem dichten Urwald bedeckt war, mußte sie in der Erde einen Ausbau besitzen, der den höchsten Stand der Technik darstellte. Technik bedeutete auch Elektronik, und von der Elektronik bis zum Ra‐ dar war es nur ein Katzensprung. Ich konnte mir gut vorstellen, daß die Umgebung der Insel von einem 287
Radargerät überwacht wurde. Früher hatte der Nebel diesen Geräten die allergrößten Schwierigkeiten bereitet, heute hatte man zwar auch noch Ärger damit, aber die Geräte waren so verfeinert worden, daß der Nebel nicht mehr zu störend wirkte. Wenn uns die Gegner auf irgendeinem Schirm hatten, konnten wir davon ausgehen, daß sie dem Rechnung trugen und bereits mit ersten Vorberei‐ tungen begannen, uns zu stoppen. Es war kein angenehmes Gefühl, sich mit diesem Gedanken auseinan‐ derzusetzen, rechnen mußten wir jedenfalls damit. Ich blieb auch in den nächsten Minuten an Deck, starrte in den noch dünnen Nebel und atmete irgendwann erleichtert auf, denn ich hatte in den letzten Minuten nicht wahrgenommen, daß sich der Nebel verdichtete. Er blieb so. Und das war gut. Wieder verstrich Zeit. Die Einsamkeit des Wassers umgab mich. Der Strich am östlichen Himmel wurde ein wenig breiter, aber noch nicht so groß, als daß sich der erste Sonnenstrahl hätte durchschieben und wie eine lange Lanze die Wellen des Meeres vergolden können. Haie sollte es hier geben. Entdeckt hatte ich weder sie, noch die putzigen Delphine, für die dieses Gewässer ebenfalls berühmt war. Vielleicht spür‐ ten selbst die Fische das Grauen, das die nahe Insel ausstrahlte. Und nahe war sie, wie ich plötzlich erkennen konnte, denn vor mir schob sich eine dunkle Masse aus dem Wasser. Sie war noch konturlos, denn ich konnte kaum Umrisse erkennen, nur diese hohe, dunkle Wand, die aus den Fluten ragte. Mich hielt nichts mehr an Deck. Ich betrat das Ruderhaus und sah Fred Diamond winken. »Alles okay, John, ich habe es schon gesehen.« »Und wir laufen die Bucht an?« »Klar.« Mona war ebenfalls aufgestanden und schaute durch die Scheibe. Die Wischer bewegten sich jetzt langsamer. Auch Mona hielt ihren Kopf nicht still und schüttelte ihn. »Was hast du?« fragte ich. »Da ist was!« Fred kümmerte sich nicht um ihre Bemerkung. Ich trat näher an Mona heran und schaute durch die Scheibe. Sie hatte ihren rechten Arm ausge‐ 288
streckt und einen Zeigefinger gegen das Glas gedrückt. »Genau zu erken‐ nen, John, wenn du hinschaust.« Ich strengte mich an und mußte zugeben, daß sich die junge Negerin nicht getäuscht hatte. Zwischen uns und der Insel schwamm etwas auf der Wasserfläche, das noch düsterer war als das Meer. »Ein Boot«, sagte ich. »Das sehe ich auch. Wie kommt es her?« Darauf wußte ich nur eine Antwort. »Von der Insel muß es geschickt worden sein.« »Ein Empfangskomitee«, meinte Fred. Er war noch langsamer geworden. Mir kam es vor, als würden wir dahinschleichen. »Welches Boot fährt ohne Lichter«, fragte Mona. »Könnt ihr mir das sa‐ gen. Doch nur diejenigen, die etwas zu verbergen haben, oder nicht?« »Falls sich jemand an Bord befindet«, schränkte ich ein. »Sollen wir es kapern?« Diamond hatte die Frage gestellt. Ich hob die Schultern. »Wäre vielleicht ein Zeitverlust. Wir könnten mal nachsehen, ob sich jemand an Bord befindet. Wozu haben wir die Leucht‐ kugeln.« »Das Licht wird auch auf der Insel gesehen«, hielt Fred dagegen. »Dazu würde ich nicht raten.« »Die wissen sowieso, daß wir kommen.« »Nur würden wir unseren genauen Standort verraten.« »Hast du einen anderen Vorschlag?« fragte ich. »Klar, die Scheinwerfer. Dieses Boot ist mit einem Deckscheinwerfer aus‐ gerüstet. Der müßte es schaffen, auch den dünnen Dunst zu durchdringen. Er läßt sich von hier aus bedienen und auch drehen. Wollt ihr hoch?« »Sicher.« Ich war schon auf dem Weg. Mona folgte mir mit hastigen Schritten. »Was hältst du von der Sache?« fragte sie mich. Ich strich mein Haar zurück. »Bis jetzt noch nichts. Aber irgend etwas hat die andere Seite vor. Das steht für mich fest. Die schicken nicht umsonst einen Kahn auf die Reise.« »Meine ich auch.« Die Distanz zwischen den beiden so unterschiedlichen Schiffen war in‐ zwischen geschrumpft. Das andere Boot hielt dem Vergleich mit einem 289
Fischerkahn stand, der zwar noch einen Segelmast besaß, ansonsten aber durch Motorkraft angetrieben wurde, denn ich glaubte, das leise Tuckern zu vernehmen, das durch die doch ziemlich gleichmäßigen Geräusche un‐ seres Bootsmotors hindurchklang. Der Scheinwerfer befand sich am Heck. Er stand auf einem Podest und konnte sich tatsächlich innerhalb eines Drehgelenks bewegen. Er wurde hell. Blitzschnell geschah dies, nur stach seine breite Lichtlanze genau in die verkehrte Richtung. Fred mußte ihn erst drehen. Wir behielten das große Auge im Blick und sahen, wie es sich langsam drehte, während der Strahl diesen Weg mit‐ machte, über das Wasser glitt und auf die Wellen einen gelben Teppich‐ streifen legte, bevor er weiter schwenkte, das Boot erfaßte und genau dort zur Ruhe kam. Auch wir fuhren nicht mehr aus eigener Kraft. Nur mehr die Dünung bewegte unser Boot. Das andere sahen wir genau. Wie ein Scherenschnitt hob es sich im Kegel des hellen Lichts ab. Es wurde natürlich nicht in seiner vollen Größe erfaßt, sondern teilweise, aber die größte Fläche des Decks war schon erleuchtet. »Leer!« erklärte Mona. »Und wer hat es gelenkt?« »Das Boot hat sich treiben lassen.« »Nein, meine Liebe, so einfach ist das nicht. Es kommt nicht gegen die Strömung an, außerdem habe ich vorhin Motorengeräusche vernommen. Ich sage dir eines. Mit diesem Kahn stimmt eine ganze Menge nicht. Darauf kannst du dich verlassen.« Sie verschränkte die Beine voreinander. »Willst du dir den Kahn aus der Nähe anschauen?« »Darauf läuft es hinaus.« »Und dann?« »Kann ich vielleicht dem Kapitän die Hand schütteln.« Sie lachte auf. »Gib nur acht, daß er dir nicht ans Leder will. Vielleicht hat man einen Zombie eingesetzt, der ein Schiff lenken kann.« »So schlau sind sie noch nicht.« Ich drehte mich. »Bleib du hier, Mona. Ich gehe zu Fred und sage ihm, daß er beidrehen soll, denn ich will rüber. Der Seegang ist nicht zu stark, möglicherweise packen wir das leicht.« 290
Sie war einverstanden. Ich kam nicht dazu, in das Ruderhaus zu gehen. Noch bevor ich den Niedergang erreicht hatte, warnte mich die Stimme der Farbigen. »John, auf dem Deck tut sich etwas!« Auf der Stelle drehte ich um und lief zurück. Im Licht des Scheinwerfers bot sich uns ein gespenstisches Bild. An der Steuerbordseite des Kahns, hinter dessen Wandung sie sich bisher verborgen gehalten hatten, erschie‐ nen die unheimlichen Gestalten wie Marionetten, die ein Unsichtbarer in die Höhe gezogen hatte… * »Das sind sie!« sagte Mona erstickt und bekam einen sehr harten Zug um die Mundwinkel. Ja, das waren sie. Zum erstenmal sahen wir die Zombies von dieser ver‐ dammten Insel. Voodoo‐Land hatte uns seinen Besuch entgegengeschickt, sein Empfangskomitee, und die bleichen, leer wirkenden Gesichter starrten zu uns herüber. Es waren die tumben Gestalten der lebenden Leichen, diese blicklosen Augen, die mich an in den Höhlen liegende Steine erinnerten, die teigige Haut und die Fetzen‐Kleidung, die an ihren Körpern hing, als hätte man die alte Haut zuvor mit Leim bestrichen. Obwohl sie nichts taten und nur dastanden, boten sie ein Bild des Schre‐ ckens. Es waren Wesen, die nicht denken, nicht selbst entscheiden konnten und nur Befehlen gehorchten. Sie würden nie in der Lage sein, ein Schiff zu steuern, da mußte noch jemand anderer lauern. Im Augenblick war es still. Das heißt, wir hörten das Rauschen der Brandung vom Ufer der Insel zu uns herüberschallen, das Klatschen der Wellen gegen die beiden Bootskör‐ per, aber keine Stimmen. Bis Fred Diamond das Schweigen unterbrach. Aus dem Ruderhaus schallte seine Stimme zu uns an Deck. »Das scheinen sie wohl zu sein, nicht wahr?« »Ja!« rief ich zurück. »Hast du einen Plan?« »Sicher, aber erst einmal will ich wissen, wer den verdammten Kahn ge‐ lenkt hat. Zombies bestimmt nicht.« 291
»Okay, ich gehe näher ran.« »Mach das.« Der Agent ließ den Motor kommen. Jetzt mischte sich das Tuckern in die normalen Geräusche. Ein leichter Ruck lief durch das Boot. Sein Bug schob sich vor, teilte das Wasser und auch die dünnen Nebelfetzen, die sich im breiten Licht des Scheinwerfers zu skurrilen Figuren drehten und träge hindurchschwammen. Im rechten Winkel glitten wir auf den anderen Kahn zu. So durfte es nicht bleiben. Wenn ich das Boot entern wollte, mußte Fred in den nächsten Sekunden beidrehen. Mona verschwand plötzlich von meiner Seite. »Ich hole die MPi«, sagte sie und war schon weg. Daran hindern wollte ich sie nicht. Zombies waren auch mit normalen Kugeln zu töten. Man mußte nur ihr Gehirn treffen, so schlimm sich das hier anhört. Wir schaukelten näher heran. Aus den Geräuschen der Maschine ver‐ nahm ich, daß sie sich im Leerlauf drehte; dann schwenkte unser Boot mit der Steuerbordseite langsam herum, so daß der Winkel zu dem anderen immer spitzer wurde. Mona erschien wieder an Deck. Sie hielt die UZI zwischen den Händen und sagte sofort: »Ich weiß auch, wie ich mit dieser Waffe umzugehen ha‐ be. Du brauchst mir nichts mehr zu erklären.« »Gut.« Ich hatte zudem andere Sorgen, denn wir waren fast beigedreht. Es war wahrlich nicht einfach, auf offener See von einem Boot auf das an‐ dere zu springen, denn die Wellen ließen sich nicht hundertprozentig be‐ rechnen. Manchmal verhinderten sie den Sprung, wie auch hier, als unser Kahn wieder abgetrieben wurde und zu einem neuen Manöver anlaufen mußte. Diesmal klappte es besser. Wir hörten die schabenden Geräusche, als die beiden Außenbordwände aneinanderrieben. »Willst du nicht springen?« fragte Mona. »Beim nächstenmal.« »Gut, ich gebe dir Deckung.« Auf dieses Mädchen konnte ich mich verlassen. Zum Glück behielt Mona auch in einer extremen Lage wie dieser hier ihre Nerven. Ich schaute genau hin und berechnete auch die Stelle, an der ich auf dem Schiff landen wür‐ de. 292
Dicht neben den lebenden Leichen… Wieder wurden die beiden Schiffe durch das vorsichtige Manövrieren des Agenten aufeinander zugetrieben, und ich kletterte bereits mit einem Fuß auf die Reling, um mich dort abstützen zu können. Noch eine Sekunde zögerte ich. Dann war es soweit. Ich sprang. Das andere Boot kam näher, die Zombies auch, alles ging sehr schnell, und ich sah plötzlich eine Gestalt hinter ihrer Deckung hervor huschen, mit der ich nicht gerechnet hatte. Dieser Mann war bewaffnet. In der rechten Hand hielt er einen Revolver oder eine Pistole. Dahinter sah ich fleckenhaft sein verzerrtes Gesicht. Er zielte auf mich und schwenkte dabei den Lauf. Wahrscheinlich wollte er abdrücken, wenn ich auf den Planken aufkam. Das Knattern der MPi hörte sich an wie ein trockenes Husten. Dicht an meiner rechten Seite jaulten die Kugeln vorbei, ich sah den anderen fallen und schwer auf das Deck krachen, wo er genau in dem Augenblick lie‐ genblieb, als ich ebenfalls Kontakt mit den Bodenplanken bekam. An den lebenden Leichen war ich vorbeigesprungen, befand mich nur für einen winzigen Moment in der Hocke und jagte sofort wieder hoch, um mich auf der Stelle zu drehen. Ich schaute gegen ihre Rücken. Von unserem Boot her winkte Mona. »Ich mußte schießen!« rief sie, die MPi schwenkend. »Schon gut.« Unser Boot trieb wieder ab. Ich hatte jetzt vier Zombies vor mir, die ich erledigen mußte. Aber war dieser Mann tatsächlich als einziger Mensch auf dem Kahn gewesen? Es konnte, brauchte jedoch nicht so zu sein, deshalb beschloß ich, das Boot zu durchsuchen. »Ich schaue mich mal im Bauch des Schiffes um!« rief ich zu Mona hin‐ über. »Aber die Zombies…« »Werden auch noch da sein, wenn ich wieder an Deck bin.« Den Nieder‐ gang hatte ich mir schon angeschaut. Eine Art Holzstiege führte in das Ruderhaus hinein, wo ich mich mit gezogener Beretta umsah. Es war leer. 293
Das Ruder war festgeklemmt worden. So hatte dieser andere Typ Zeit genug gefunden, sich mit mir zu beschäftigen. Als ich das Ruderhaus wieder verließ, hatten sich die Zombies schon auf dem Deck verteilt. Bewaffnet waren sie nicht. Ich kannte auch Zombies, die mit Äxten oder schweren Stangen in den Händen Menschen angriffen. Einer von ihnen kam breitbeinig auf mich zu. Zur Seite zu stoßen brauchte ich ihn nicht. Ein plötzlicher Wellenschlag hob den Kahn hoch, der Zombie verlor das Gleichgewicht, kippte gegen einen Artgenossen, den er mit zu Boden riß. Für mich war der Weg frei zu einer Luke, die offenstand. Darunter lag der dunkle Bauch des Schiffes. Früher hatten dort die großen, mit Eisstü‐ cken gefüllten Behälter gestanden, in denen der frisch gefangene Fisch gelagert wurde. Jetzt war der Stauraum leer. Nein, doch nicht. Ich sah einen fünften Zombie. Zunächst nur die Umrisse seiner Gestalt. Daß er überhaupt zu den lebenden Leichen gehörte, spürte ich an dem alten Modergeruch, der mir aus der Tiefe entgegenwehte. Etwas an seiner Haltung machte mich stutzig. Wenn mich nicht alles täuschte, mußte er die Arme erhoben haben. Das wollte ich genau sehen, holte meine kleine Lampe hervor, hörte die anderen auf dem Deck herumtrampeln und warf auch einen Blick über die Schulter. Noch hatte ich Zeit. Die Untoten mußten sich selbst erst zurechtfinden. Ich leuchtete schräg in die Tiefe. Es war furchtbar, und mein Herzschlag drohte auszusetzen. Nicht die Tatsache, daß der schmale Lichtfinger die Gestalt eines Zombies getroffen hatte, nein, diese lebende Leiche hatte ihre Arme tatsächlich ausgestreckt und hielt etwas zwischen ihren weichen Händen, das von rechteckiger Form war und an ein Paket erinnerte. Auch das hätte mich nicht weiter beunruhigt. Es war vielmehr das tickende Geräusch, das mir die Haare zu Berge ste‐ hen ließ. Der Zombie hielt zwischen seinen Klauen eine Höllenmaschine, die jeden Augenblick explodieren konnte… Jetzt hatte ich das Gefühl, nicht mehr auf den Planken eines Schiffes zu 294
hocken, sondern auf dem Deckel einer Zeitbombe. Jede Sekunde, die ich zögerte, konnte das Ende meines Daseins bedeuten, deshalb schoß ich in die Höhe, drehte mich und wuchtete einen Zombie zur Seite, daß er quer über das Deck flog. Mona sah mich rennen. »John, was ist geschehen?« »Weg!« brüllte ich. »Eine Bombe! Haut ab…!« Ich erreichte die Reling und setzte zu einem verzweifelten Hechtsprung an. Gut kam ich weg. In einem flachen Bogen wischte ich über Bord, sah das Wasser auf mich zukommen, und noch bevor meine ausgestreckten Finger‐ spitzen in die Flut eintauchen konnten, tat sich hinter mir die Hölle auf. Ich nahm einen Blitz wahr, hörte vielleicht auch das Krachen, da war ich schon im Wasser und tauchte auf einer nahezu senkrechten Bahn in die Tiefe, darauf hoffend, daß es mich nicht letztendlich doch noch erwischte… * Mona hatte die Worte des Geisterjägers gehört. Auch ihr raste der Schreck durch die Glieder, und sie wußte im Moment nicht, was sie unter‐ nehmen sollte. Sie sah den Geisterjäger nur rennen und dann mit einem gewagten Sprung über die Reling hechten. Da aber hatte sie bereits der zweite Ruf erreicht. »Komm her, Mona! Un‐ ter Deck!« Sie hörte auf Freds Schrei, warf sich zurück, duckte sich und sah trotz‐ dem den Blitz. Orange, Rot und Gelb – das waren die drei Farben, die plötzlich aufblüh‐ ten, bevor der alle anderen Laute überschmetternde Krach ertönte, dem wenig später die mörderische Druckwelle folgte, vor der Mona am meisten Angst hatte. Bevor sie das Mädchen voll erfassen konnte, hatte sich Mona auf die Planken geworfen und die Hände schützend über den Kopf gelegt. Sie lag dicht am Niedergang und hatte plötzlich das Gefühl, das Ende der Welt mitzuerleben. Um sie herum tobte ein nicht zu beschreibendes Chaos. Etwas rüttelte an ihr, sie hatte das Gefühl, in den Himmel gestoßen zu werden und kurz danach wieder in eine schreckliche Tiefe zu fallen. Etwas knallte auf ihren Rücken, sie schaukelte, schwang wieder in ein Tal, rutschte und wurde gepackt. 295
Dabei schrie sie und konnte sich selbst kaum hören, weil ihr das Trom‐ melfell geplatzt zu sein schien. Ein gewaltiger Wirbelsturm fegte über das Deck, spielte mit dem Boot und hob es aus dem Wasser. Heiße Angst durchfuhr die junge Negerin, daß sie von irgendwelchen unergründlichen Tiefen verschluckt werden könnte, und sie knallte noch einmal auf die Planken, wobei es ihr plötzlich gelang, sich irgendwo mit einer Hand festzuhalten. Sie klammerte sich auch dann noch fest, als der plötzliche Wirbel ihren Körper zur Seite driften wollte. Auf einmal wurde es ruhig. Mona konnte es selbst kaum fassen, daß sie nichts mehr hörte, nur mehr das Brausen und gleichzeitig dumpfe Gefühl in ihren Ohren, in das ein hartes Hämmern hineinstieß. War jetzt alles vorbei? Dieser Gedanke schoß ihr durchs Gehirn, und sie fragte sich auch, ob sie überhaupt noch lebte. Mona öffnete die Augen. Das Schiff schwankte. Sie merkte jetzt den Rhythmus, sah auch die Zer‐ störungen und wollte es kaum glauben, daß sie es überstanden hatte. Im nächsten Augenblick nahm sie etwas anderes wahr. Es war ein beißender Qualm, der gegen das Schiff trieb, und gleichzeitig hörte sie das Knistern und Brausen der Flammen. Brannte das Boot etwa? Sie drehte sich auf der Stelle und noch immer liegend. Nein, die Flam‐ men stammten von dem Boot, das mit Zombies besetzt gewesen war. Die Explosion hatte es in zwei Hälften zerrissen, wobei die des Hecks lichterloh in Flammen stand. Das andere waren Trümmer, über die lange Wellenkämme schäumten und immer mehr von den nur locker sitzenden eingerissenen Planken lös‐ ten, um sie mit sich zu reißen. Irgendwann würde das Schiff sinken und mit ihm alles, was an Bord ge‐ wesen war. Auch John Sinclair? Hatte er es geschafft? Mona holte tief Atem. »John!« schrie sie plötzlich gegen das Knattern der Flammen an, doch sie bekam keine Antwort. Un‐ gehört verhallte ihr Ruf. 296
Sie richtete sich auf, blieb aber hocken und kam endlich dazu, sich auf dem Deck umzusehen. Der Explosionsdruck hatte schrecklich gewütet. Von der Abdeckung des Ruderhauses waren nur mehr Trümmer zurückgeblieben. Der Druck hatte die Konstruktion einfach zerrissen. Zwar stand der Niedergang; doch dort, wo sich einmal der Eingang befunden hatte, gab es kaum ein Durchkom‐ men, weil sich dort die einzelnen Holzteile verkantet hatten und eine Sper‐ re bildeten. Von Fred sah sie nichts, und ihr Herz begann heftig zu hämmern. »Diamond?« rief sie. »Fred Diamond?« Ihre Stimme klang erstickt, die Augen wurden größer, und der Mund verzerrte sich, als sie auch von die‐ sem Mann keine Antwort bekam. Hatte es ihn erwischt? Sie wollte aufstehen, kam halb hoch und knickte zusammen, weil sie den scharfen Schmerz an ihrer rechten Wade spürte. Als sie nachfühlte und ihre Hand betrachtete, sah sie das Blut und auch die kleinen Holzsplitter, die sie aus der Wunde gezogen hatte. Die größeren Splitter steckten noch im Fleisch. Sie waren auch durch den Stoff der Kleidung gedrungen. Für Mona gab es keine andere Möglichkeit, als die Stücke aus ihrer Wade zu reißen. Dadurch begann die Wunde stärker zu bluten, was Mona nicht weiter störte. Sie war gelenkig und konnte ihr Bein gut drehen, so daß sie sich die Wunde genau betrachtete, während sie ein Taschentuch hervorhol‐ te und es um die Wade wickelte. Die MPi hatte sie auch verloren. Bestimmt war sie über Bord und ins Wasser gerutscht. Sehr hart zog das Mädchen den Knoten, trat im Sitzen auf und stellte fest, daß sich der Schmerz ertragen ließ. Im nächsten Moment wurde sie von einem gurgelnden und schmatzen‐ dem Geräusch abgelenkt. Sie hob den Kopf und konnte sehen, wie das andere Schiff sank. Ein Trichter hatte sich gebildet. Der Sog war enorm, und er riß alles mit sich, was in seine Nähe geriet. Planken, Holzteile, Metall, und sie glaubte auch, den sich drehenden Schädel eines Zombies gesehen zu haben, war sich aber nicht sicher. Mona schüttelte den Kopf. Sollte sie die einzige sein, die noch am Leben war. Das konnte sie einfach nicht glauben. 297
Ein letztes Schmatzen und Brausen vernahm sie, dann war das Schiff verschwunden. Sich ausbreitende Wellenbewegungen erfaßten ihren Kahn und ließen ihn schaukeln. Mona mußte wissen, ob ihre Begleiter noch lebten. In der Nähe mußte Fred sich befinden. Zum Zeitpunkt der Explosion hatte er sich im Ruder‐ haus aufgehalten, eine relativ gute Deckung. Der Weg dorthin war ihr versperrt. Auf allen vieren kroch sie vor, er‐ reichte den Niedergang und schaute hinab. Die Trümmerteile des Dachs lagen überall. Dazwischen glitzerte das Glas der Scheibe, die ebenfalls zer‐ stört worden war. Mona mußte sich sehr vorsichtig bewegen, damit sie sich an den scharfen Schneiden und Kanten nicht verletzte. Das Mädchen zitterte. Es atmete durch den offenen Mund, und jedes Luftholen war von einem pfeifenden Geräusch begleitet. Unter dem Druck ihres Gewichts zerbrachen noch einige Teile. Darum kümmerte sie sich nicht. Sie stützte sich ab, bewegte sich weiter, konnte auch das Ruderhaus betreten. In seinem Innern gab es nur noch Trümmer. Alles war zerfetzt worden. Mitten in diesem Chaos lag Fred Diamond! Man schien ihm den Kopf abgeschnitten zu haben, denn sein blutüber‐ strömtes Gesicht ragte zwischen den Speichen des abgerissenen und ver‐ kanteten Ruders hervor wie eine schreckliche Maske. Mona stand da, hatte einen Handballen gegen die Lippen gepreßt und fühlte das Entsetzen in sich hochsteigen. Grauen schnürte ihr die Kehle zu. Sie sah die offenen Augen und den leeren Blick des Mannes. Obwohl sie es nicht fassen konnte, war ihr klar, daß Fred Diamond nicht mehr lebte. Dieser Agent, der sich so hart eingesetzt hatte, würde die Insel nicht mehr betreten können. Ohne daß sie es wollte, fing sie an zu zittern. Sie lehnte sich an irgendei‐ nen Rahmen und weinte stumm. Noch nie im Leben war sich Mona so allein vorgekommen wie in diesen furchtbaren Minuten. Das Schiff schaukelte auf den Wellen. Es dümpelte vor und zurück, auch zu beiden Seiten hin, und bei fast jeder Bewegung geriet irgend etwas au‐ ßer Kontrolle. Glassplitter rutschten weiter, Holzteile nahmen eine andere Lage ein, und auch der Kopf des Toten blieb nie ruhig, so daß Mona das Gefühl hatte, Fred wollte ihr noch ein letztes Mal zunicken und ihr eine 298
Aufmunterung mit auf den weiteren Weg geben. Scherben und Splitter mußten ihn getötet haben. Auch die Konsole des Steuerstandes war regelrecht zerrissen worden. Metall hatte sich verbogen, aus den aufgerissenen Stellen hingen farbige Drähte wie lange, dünne Fin‐ ger. Geräusche entstanden nahezu überall auf dem Schiff. Das Mädchen hatte sich auch daran gewöhnt, bis es doch aufmerksam wurde, denn die Laute, die plötzlich an Monas Ohr drangen, wollten zu den anderen nicht so recht passen. Es waren Schritte. Schwere, stampfende Schritte. Genau über ihr an Deck. Kam John Sinclair? Mona drehte schwerfällig den Kopf, um dem Geisterjäger entgegenzubli‐ cken, und hatte das Gefühl, in eine bodenlose Tiefe zu fallen. Nicht John Sinclair stand am Ende des Niedergangs, sondern ein Wesen mit nur einem Arm, der linke war ihm durch die Explosion abgerissen worden. Es war eine lebende Leiche! * Wieder tauchte ich unter! Diesmal in ein Wasser, das kälter, dafür aber längst nicht so verdreckt war. Und ich mußte tief tauchen, wenn ich von der Explosion und der Druckwelle nicht letztendlich noch erfaßt und getötet werden sollte. Ich schwamm um mein Leben. Glitt hinein in eine Düsternis, die ewig zu sein schien, und bemerkte trotzdem, daß über mir etwas geschehen sein mußte, denn der Widerschein des Feuerballs huschte sogar in meine Regi‐ onen hinein. Ich kam weg… Die Explosion breitete sich natürlich dorthin aus, wo sie weniger Wider‐ stand traf, als den des Wassers. Dennoch befand ich mich noch innerhalb der Gefahrenzone. Ich hatte schon Schiffe sinken sehen und wußte auch, welch ein Sog da‐ bei entstand. So rasch wie möglich entfernte ich mich deshalb von der Explosionsstelle. Meine Arme teilten das Wasser. Die Beinstöße halfen mit, aber ich konnte 299
nicht immer die Luft anhalten und war auch kein Fisch. Die erste Atemnot »schluckte« ich noch nach unten, schwamm einige Y‐ ards weiter und sah bereits zu, daß ich mich der Oberfläche näherte, die ich Sekunden später durchstieß. Sofort drehte ich meinen Kopf in die Richtung, wo die Explosion stattge‐ funden hatte. Während ich nach Luft schnappte, erkannte ich das wahre Ausmaß der Katastrophe. Es war furchtbar, das Schiff brannte. Sehr hoch schlugen die Flammen. Sie rissen Funken und brennende Teile mit, und ich sah auch, daß der alte Kahn in der Mitte auseinandergerissen worden war. Dann fiel mein Blick auf unser Boot. Weder Mona noch Fred Diamond sah ich, dafür die Zerstörungen, die die Wucht der Explosion des ersten Schiffes auf dem zweiten angerichtet hatte. Es gab praktisch kein Ruderhaus mehr. Wo es einmal gestanden hatte, wirkte alles wie wegrasiert. Und die beiden Menschen? Konnte da jemand überlebt haben? Ich rief mir die letzten Sekunden vor meinem Absprung vom Schiff noch einmal ins Gedächtnis zurück. Mona hatte ich gesehen, den Blitz noch ir‐ gendwie gespürt, das andere hatte stattgefunden, als ich mich unter Was‐ ser befand. Kein für mich sichtbares Leben mehr auf dem Schiff, obwohl es durch das andere brennende Boot schaurig‐schön angestrahlt wurde. Auf jeden Fall bewegte sich dort nichts. Auch keine Zombies! Fünf hatte ich gezählt. Sie alle waren auf demselben Schiff gewesen. Wahrscheinlich hatte die Explosion sie zerrissen, wie sie auch den Mann eventuell getötet haben mußte, der von einer MPi‐Garbe verwundet wor‐ den war. Jedenfalls mußte ich nach Überlebenden suchen. Nur konnte ich diesen Vorsatz leider nicht sofort in die Tat umsetzen, da beim Sinken des Schiffes noch ein gewaltiger Sog entstehen würde, der auch mich mit in die Tiefe reißen konnte. Noch einmal nahm ich das grausige Bild in mich auf und sah auch unser Boot, das sich so deutlich vom Feuer abhob. Wahrscheinlich würde ich damit nicht mehr fahren können, man hatte es uns verdammt schwer ge‐ 300
macht, Voodoo‐Land zu betreten. Ich tauchte wieder unter und begann damit, einen großen Bogen zu schwimmen, so daß ich dem Sog entgehen konnte. Seine Ausläufer er‐ wischten mich trotzdem. Etwas zog und zerrte an meinen Füßen. Ich schwamm dagegen an und kam kaum von der Stelle. Zum Glück ging auch das vorbei. Nach Atem ringend tauchte ich wieder auf, schleuderte mir das nasse Haar aus dem Gesicht, glitt nicht mehr unter die Oberfläche und kraulte auf unser Boot zu. Dabei hielt ich sehr genau Ausschau nach irgendwelchen Zombies, die vom Sog ausgespieen worden waren und eventuell auf der Wasserfläche trieben. Ich sah zunächst nichts. Statt dessen wühlte ich mich durch die Wellen oder ließ mich hin und wieder von der Dünung tragen. Manchmal gelang es mir auch, einen Blick auf das Schiff zu werfen. Da es vom Schein des Feuers nicht mehr beleuch‐ tet wurde, konnte ich nur die dunklen Umrisse erkennen und nicht sehen, ob sich auf dem Deck etwas bewegte oder nicht. Meine Unruhe stieg. Dementsprechend steigerten sich die Bewegungen meiner Arme und Beine. Ich schwamm noch schneller und merkte mittler‐ weile auch das Gewicht des Bumerangs, den ich bei all dem Durcheinander ebensowenig verloren hatte, wie auch meine übrigen Waffen. Manchmal überschwemmten mich die Wogen, dann wieder trugen sie mich, und ich fragte mich, ob noch mehr Suchboote von der Insel heraus‐ geschickt worden waren, um uns aufs Korn zu nehmen. Wenn ja, und wenn man mich allein im Wasser schwimmend fand, konnte ich mein Tes‐ tament machen. Diese Befürchtung bewahrheitete sich zum Glück nicht. Und so ließ ich mich von einer letzten, höheren Woge an unseren Kahn herantragen, so daß ich fast gegen die Außenbordwand gestoßen wäre. Ich drehte zum Glück noch ab, trat für einen Moment Wasser, bevor ich wendete und an das Heck des Schiffes schwamm. Dort existierte eine Steigleiter, die ebenfalls im Rhythmus des Bootes schaukelte. Ich blickte an ihr hoch und stellte zu meiner Überraschung fest, daß das kleine Rettungsboot die Druckwelle wie durch ein Wunder überstanden hatte. Es war nicht aus seiner Halterung gerissen worden. Diese Tatsache 301
gab mir Mut. Über die Leiter kletterte ich an Bord. Möglicherweise war es eine Ah‐ nung, oder auch der sechste Sinn, jedenfalls ging ich vorsichtig und ver‐ suchte, so wenig Geräusche wie möglich zu produzieren. Lautlos gelang es leider nicht. Ich schaukelte im Rhythmus des Bootes mit und hatte noch keinen Blick auf das Deck geworfen, als ich den Schrei vernahm. Er war schlimm, schrill, und in ihm schwang eine gewisse Todesangst mit, die mir nicht unbekannt war, denn ich hatte sie auch schon bei ande‐ ren Schreien vernommen. Ein Mensch befand sich in Gefahr! Eine Frau! Mona, die junge Farbige! Ich stand am Heck, konnte noch nicht eingreifen, weil ich die Lage erst sondieren mußte. Auf dem Deck lagen die Trümmer des Ruderhauses. Aufgerissene Planken bildeten Hindernisse, Scherben verteilten sich wie lange Dolche, und innerhalb der Trümmer kämpfte Mona um ihr Leben. Sie wurde von einem Zombie bedrängt! Wahrscheinlich war es ihm auf dem gleichen Wege wie mir gelungen, an Bord zu gehen, und er hatte Mona mit dieser Aktion überrascht. Sie hielt zwar irgendeinen Gegenstand in der Hand, mit dem sie schlug, doch der Zombie steckte diese Treffer weg. Er konnte keine Schmerzen mehr ver‐ spüren, und es war ihm gelungen, Mona in die Ecke zu drängen, so daß sie schon fast die Reling erreicht hatte. Ich lief auf die beiden zu, weil ich einfach bei dem schwankenden Boot vom Heck her nicht schießen konnte. Die Gefahr, Mona statt des Zombies zu treffen, war einfach zu groß. Mein Erstaunen wurde noch größer, als ich bemerkte, daß der Zombie nur noch einen Arm besaß. Ihn hatte er hochgerissen und angewinkelt, um damit die hämmernden Treffer des Mädchens abwehren zu können. »John!« Ihr Ruf wehte mir entgegen. Sie hatte mich endlich entdeckt, wurde dadurch allerdings auch abgelenkt, so daß es dem Zombie gelang, sie umzustoßen. Zusätzlich verhakte sich ihr Fuß noch an einem auf dem Boot liegenden Hindernis. Ich hatte sie fallen sehen und setzte zu einem gewaltigen Sprung an. Gleichzeitig beugte sich der Untote nach unten. Er wollte das Mädchen mit 302
seiner Klaue würgen. Da war ich bei ihm. Ich schoß nicht, sondern schlug. Munition konnte ich bei dieser Bestie sparen. Mein Treffer schleuderte den Untoten zur Seite, noch bevor er Hand an das Mädchen legen konnte. Jetzt fiel er auf den Rücken. Mit dem Hinterkopf knallte er gegen einen Kasten, und sein Gesicht hatte einen Ausdruck angenommen, den ich mit dem Begriff Erstaunen umschreiben konnte. Der Mund stand offen. Zwischen den Lippen schimmerte es gelblich. Ich ging einen Schritt zurück, da ich dem Zombie Gelegenheit geben wollte, wieder auf die Füße zu kommen. Gleichzeitig warnte ich Mona. »Kriech du zur Seite, Mädchen! Mit dem werde ich allein fertig. Keine Panik.« Sie nickte, kam wieder hoch und bewegte sich auf allen vieren von mir weg. Dabei schluckte und weinte sie. Ihre Lippen zuckten, die Angst hatte ihr Gesicht grauer werden lassen. Der Zombie stand auf. Er hatte Mühe, aber er packte es doch. Vor mir blieb er schwankend ste‐ hen, wollte nach mir greifen, und ich drosch ihn zurück. Bis gegen die Re‐ ling fiel er, wurde aufgehalten und wäre fast wieder zur Seite gerutscht, hätte er sich nicht festgeklammert. Mir gab diese Zeitspanne Gelegenheit, mein Kreuz aus der Tasche zu ho‐ len. Damit wollte ich ihn packen. Unter seiner vorstoßenden Hand tauchte ich hinweg, der Rest war nur mehr ein Kinderspiel. Das Kreuz traf genau sein Gesicht. Ich sah die Ab‐ drücke in der blassen Haut, er fiel nach hinten, ich hebelte seine Beine hoch und schleuderte ihn über Bord. Der Untote verschwand im Meer. Er tauchte noch einmal auf. Dabei spülte ihn eine Welle nahe an das Boot heran, wo er noch gegen die Bordwand klatschte. Dann wurde er wieder abgetrieben, die Wellen kamen abermals und preßten ihn nach unten, wo er meinen Blicken entschwand. Das war erledigt. Zombies suchen, wenn sie eben können, die Nähe der Menschen. Auch der von mir vernichtete Untote hatte da keine Ausnahme gebildet, und 303
andere hätten es auch nicht getan. Da ich nur eine lebende Leiche auf dem Boot entdeckt hatte, konnte ich davon ausgehen, daß die anderen erwischt worden waren. Die Explosion mußte sie zerrissen, oder das Feuer sie verbrannt haben. Der Plan war mißlungen. D. C. und seine mörderischen Helfer hatten es also nicht geschafft. Ich hörte Mona schluchzen. Als ich mich umdrehte, stand sie schon wie‐ der auf den Beinen. Sie hielt sich an der Reling fest, schaute mich an und schüttelte den Kopf. Ich lächelte. »Vorerst haben wir es geschafft!« »Er ist tot!« Ich verstand nicht so recht, nickte aber. »Natürlich ist er tot, ich habe ihn ja…« »Den meine ich nicht, John!« Plötzlich spürte ich die Kälte, die wie eine Hand den Rücken hinabwan‐ derte. »Er ist tot?« fragte ich. »Wo?« »Im…Ruderhaus. John – ich…ich…kann nicht mehr hingehen. Du mußt es allein…« Ich winkte ab. »Schon gut, Mädchen, bleib hier oben. Ich sehe es mir an.« Meine Stimme erkannte ich kaum selbst wieder, in der Kehle saß ein dicker Kloß, und ich kam mir vor, als würde ich selbst der Mittelpunkt eines Alp‐ traums sein. Leider war es kein Traum. Das sah ich spätestens dann, als ich es ge‐ schafft hatte, den Niedergang hinter mir zu lassen und in das zerstörte Bootshaus zu schauen. Ich sah den Kopf, das Blut im Gesicht, die verzerrten Züge und wußte Bescheid, auch ohne daß ich näher zu ihm hingegangen wäre. Fred Dia‐ mond konnte keiner mehr helfen. Er war tot. Tief atmete ich durch. Ich mußte an seine Worte denken, die er mir über das Leben gesagt hatte. Wenn es ging, hatte er es in vollen Zügen genossen, weil er damit rechnete, daß es ihn in der nächsten Minute erwischen konn‐ te. Er hatte Recht behalten. Wir waren zwar in der kurzen Zeit keine Freunde geworden, trotzdem hatten wir uns gut verstanden und Fred Diamond hatte zu den Leuten gezählt, auf die man sich verlassen konnte. 304
»Okay, Fred«, flüsterte ich mit rauher Stimme. »Mach’s gut, alter Junge.« Dann drehte ich mich um. Der Tod eines mir bekannten Menschen ging mir immer sehr nahe. Ich dachte daran, daß auch ich schon unzählige Male auf der Kippe gestanden hatte. Auch mir würde es irgendwann einmal so gehen wie Fred Diamond. Wir hatten jedoch keine Zeit, unserer Trauer nachzugeben. Andere Dinge besaßen Vorrang. Ich verschwand in der Kajüte, die die Explosion fast wie durch ein Wunder völlig heil überstanden hatte. Das Funkgerät und die Leuchtpistolen nahm ich an mich, die Maschinenpistole suchte ich verge‐ bens, auch wenig später auf dem Deck fand ich sie nicht. Sie mußte über Bord geschleudert worden sein. Mona sah noch immer aus wie eine Tote. Sie schaute mich an, ich nickte ihr zu, als ich zu dem Rettungsboot ging, es kurz untersuchte und feststell‐ te, daß alles in Ordnung war. »Das werden wir nehmen.« »Willst du rudern?« fragte sie. »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Im Boot liegt ein kleiner Außenborder. Der wird uns weiterhelfen.« Ein Paket mit Notproviant entdeckte ich eben‐ falls sowie zwei Ruder, die auf dem Boden lagen. Das Mädchen hatte ge‐ fragt, ob es mir helfen konnte, und ich hatte abgelehnt. So stand Mona an der Reling und schaute aus leeren Augen über das dunkle Wasser. »Komm jetzt!« Sie ging wie eine Marionette. »Du hast alles eingeladen?« fragte sie. »Ja.« »Daran hätte ich nicht denken können.« Ich hob die Schultern. »Wenn man eine Arbeit verrichtet wie ich, schaltet man irgendwann alles andere aus und denkt nur an das Wichtigste. So etwas gehört zum Überleben dazu.« Mona betrat das schwankende Boot zuerst. Noch war es durch eine Leine mit dem Schiff verbunden. Ich löste sie, als ich neben Mona Platz genommen hatte. Sofort trieben wir ab. Den Außenborder hebelte ich am Heck über Bord und zog an der Reißleine. Nach einigem Stottern lief der Motor rund, eine Welle gab uns zusätzlich Schwung, so daß es mir keine Schwierigkeiten bereitete, den Kurs auf die Insel einzuschlagen. Mona hockte neben mir. Sie hatte ihr Gesicht in den Händen vergraben und sprach kein Wort. 305
Es war gut so, wenn sie schwieg. Sie mußte zunächst einmal zu sich selbst zurückfinden. Was hinter ihr lag, war verdammt schlimm gewesen. Ich hatte einmal von einer Hölle gesprochen. Dies war nicht übertrieben gewesen. Die erste Hölle lag hinter uns. Eine zweite würde noch auf uns zukommen, dessen war ich mir sicher. Der Streifen am Himmel hatte an Breite gewonnen. Noch kam die Sonne nicht durch, aber ein graues Licht sickerte bereits der Erde entgegen. Auch der Nebel war geblieben. Andererseits hätten wir ein wenig Schutz gut gebrauchen können. So dümpelten wir auf dem Meer und wurden von den Wogen getragen. Irgendwann ließ Mona die Hände wieder sinken und schaute mich an. »Jetzt sind wir allein, nicht?« »Ja.« »Willst du aufgeben, John?« »Nein, ich muß zur Insel.« »Fred haben sie erwischt.« Ich hob die Schultern. »Auf dem Eiland liegt mein Freund Suko als Ge‐ fangener. Und wenn ich Freund sage, meine ich das auch so. Einer würde für den anderen durch die Hölle gehen. Läge ich an seiner Stelle da, Suko hätte das gleiche für mich getan. Ich kann einfach nicht anders handeln. Verstehst du das?« »Jetzt, wo du es mir erklärt hast, ja«, erwiderte sie. »Zuvor hätte ich es nicht begriffen, denn ich habe niemals so viele Freunde oder einen so guten Freund besessen wie du. Ich bin in meinem Leben oft getreten worden und habe die Bösartigkeit der Menschen am eigenen Leibe gespürt. Auch den Rassenhaß, den es leider immer noch gibt.« Sie schaute an mir vorbei auf das Wasser. »Seltsam«, sagte sie leise. »Ich will mich plötzlich nicht mehr rächen. Das Gefühl ist weg, John, verstehst du das?« »Ja.« Sie zog ein zweifelndes Gesicht. »Wieso?« »Weil Rache der falsche Weg ist. Man kann sich die Gesetze nicht selbst machen, sondern muß in den Normen bleiben. Verbanne deinen Gedanken an Rache. Mag Rhonda dir auch noch so Schlimmes angetan haben, ihre Bestrafung wird sie bestimmt bekommen.« »Und wie?« »Das weiß ich nicht.« Das Mädchen lächelte, bevor es das Thema wechselte. »Wann wir die In‐ 306
sel erreichen, weißt du auch nicht.« »Nein. Ich habe das Gefühl, als würde die dunkle Wand überhaupt nicht näherkommen.« »Hast du dir denn schon einen Plan zurechtgelegt?« wollte sie von mir wissen. Ich nickte. »Keinen konkreten. Ich möchte nur, Mona, daß du die Insel nicht betrittst. Ich werde an Land gehen, während du mit dem Schlauch‐ boot wieder auf das Meer fährst. Du kannst meinetwegen warten, das Ei‐ land selbst ist einfach zu gefährlich.« Ich hatte damit gerechnet, eine Zustimmung zu erhalten, aber Mona schüttelte den Kopf. »Nein, so nicht, John. So geht es wirklich nicht. Ich werde dich auf die Insel begleiten. Wie heißt es noch so schön? Mitgefan‐ gen, mitgehangen. Ich bleibe an deiner Seite.« Was sollte ich dazu sagen? Die Entschlossenheit in ihrer Stimme hatte mir bewiesen, daß es keinen Sinn mehr hatte zu versuchen, sie einfach um‐ zustimmen. »Einverstanden, John?« Mein leises »Ja« ging im Tuckern des Außenborders unter. So hoffte ich, daß Mona sich auf der Insel vorsehen würde, denn wie gefährlich dieser Trip war, hatte das Auftauchen der lebenden Leiche an Bord schließlich bewiesen. In einer Bucht sollten wir an Land gehen können. Im Nachhinein mußte ich dem toten Fred Diamond ein Kompliment machen. Er hatte den Kurs gut berechnet, denn ich sah bereits die ersten, weißen Streifen der auslau‐ fenden Brandung. Voodoo‐Land erwartete uns! X Rhonda Lassalle überwachte den Transport. Sie hatte vier ihrer Leute zu‐ sammengeholt, die den schweren Sarg trugen, in dem der Chinese nach wie vor im Koma lag. Es war eine harte Schufterei für die Männer, die dunkle Totenkiste durch den Dschungel zu tragen. Auch in der Nacht hatte es sich auf den fast zugewachsenen Pfaden unter dem dichten Wirrwarr der Bäume kaum abgekühlt. Die Luft war stickig, sie stand, und unzählige 307
Insekten schwirrten umher. Aus dem feuchten Boden stiegen die trägen Dunstschleier und verteilten sich innerhalb der dichten, grünen Wände, die die Träger einrahmten. Rhonda war mitgekommen. Sie hielt sich hinter den Männern auf. Zum Schutz gegen die Schlangen hatte sie Reitstiefel übergestreift. Die hochha‐ ckigen Absätze waren gekürzt worden, so daß es Rhonda wenig Mühe bereitete, den Pfad entlangzugehen. Er führte in die Höhe. Kein Wunder, bei diesem hügeligen Gelände, wo es einmal auf‐ und dann wieder abwärts ging. D. C. hatte Rhonda befohlen, den Sarg an eine bestimmte Stelle zu schaf‐ fen. Es sollte der Opferplatz sein, wo sonst die großen Rituale gefeiert wurden. Ein Platz auf einer hohen Erhebung, der höchsten auf der Insel. Von dort hatte man einen guten Ausblick und konnte das Meer an vier verschiede‐ nen Seiten sehen. Rhonda trieb die Träger an. »Beeilt euch!« rief sie ihnen zu. »Zuviel Zeit haben wir nicht.« Sie murrten nicht. Diese Männer wußten genau, daß Rhonda zu befehlen hatte. Wer nicht spurte, bekam ihre Rache zu spüren, das waren zumeist Schläge mit einer Peitsche. Während sie hinter den Trägern herstampfte, beschäftigten sich ihre Ge‐ danken mit der nahen Zukunft, aber auch mit den Ereignissen, die erst kurz hinter ihr lagen. Sie hatte die fünf Zombies ausgewählt und einen normalen Menschen als Kapitän mit auf die Reise geschickt. Er sollte das Schiff steuern und den anderen entgegenfahren. Wenn es ihnen gelang, Sinclair und seine Helfer zu stoppen, war die Sache erledigt. Wenn nicht – Rhonda wollte darüber nicht nachdenken. Sollte Sinclair die Insel dennoch betreten, würde sie darunter zu leiden haben, denn sie kannte die Gnaden‐ losigkeit eines Damion Cargal. Je höher sie kamen, um so enger wurde der Weg. Er bestand aus scharfen Kehren. Be‐ und überwachsen mit lianenartigen, langen Pflanzenarmen, die auch gegen ihren Körper peitschten. Im Unterholz bewegte sich etwas. Es raschelte. Hin und wieder schrien die Tiere der Nacht, die allmählich aus ihrem Schlaf erwachten. Rhonda kümmerte sich nicht um diese geheimnisvollen Geräusche. Sie waren ihr im Laufe der Zeit vertraut geworden. 308
Gar nicht einverstanden aber war sie mit dem unerwarteten Halt der vier Träger. Ausruhen kam bei ihr nicht in Frage. Mit zwei schnellen Schritten erreichte sie die Männer und fuhr sie hart an. »Ich habe nichts von Stehenbleiben gesagt!« »Es ist schwer!« keuchte einer. »Das ist mir egal.« Sie hob die rechte Hand. Die Schnur der Peitsche rin‐ gelte sich dabei zusammen wie eine Schlange. Hart und kalt war ihr Blick, bevor sie ohne Warnung zuschlug. Gleich zwei traf sie auf den Rücken, und sie fühlte sich wie einer der bru‐ talen Sklaventreiber aus der schlimmen Vergangenheit dieses Landstrichs. Die Männer zuckten zusammen. Woanders hätten sie aufgemuckt, nur nicht auf dieser Insel, wo sie alle Befehle auszuführen hatten. Zudem wur‐ den sie gut bezahlt. »Reicht es?« fragte Rhonda. Sie kam sich als große Herrin vor und tippte mit dem Schaft der Peitsche gegen ihre Stiefelseiten. »Ja, wir gehen.« »Das wollte ich auch gemeint haben!« So schleppten sich die vier mit ihrer schweren Ladung weiter ab. Sie ü‐ berwanden auch trotz ihrer Schwierigkeiten die ersten engen Kehren des Wegs. »Na also, es geht doch!« Rhonda wußte, daß es nicht mehr weit bis zur Kuppe des Hügels war, wo der Blick weit über das Meer schweifen konnte. Eine Art Aussichtspunkt der Insel. Es gab nur wenige Menschen auf dem Eiland. Die anderen waren Zom‐ bies. Die vier Träger, dann Rhonda Lassalle und Damion Cargal, wobei sie sich nicht mehr sicher war, ob man ihn überhaupt noch als einen Menschen bezeichnen konnte. Sie hatte ihn endlich gesehen, und sie schüttelte sich im nachhinein, wenn sie an diesen furchtbaren Anblick dachte. Wieder trieb sie die Leute an. Zombies waren ihr auf dem Weg zum Hü‐ gel nicht begegnet. Sie hatten sich auf der Insel verteilt und irrten als tumbe Gestalten durch den Dschungel. Dabei wußten sie genau, wen sie anzugrei‐ fen hatten und wen nicht. Irgendwie mußte es D. C. geschafft haben, sie zu manipulieren. Normalerweise attackierten sie jeden Menschen, weil dies ihrem Trieb entsprach. Der dichte Tropenwald wurde bereits lichter, der Weg verbreiterte sich 309
zunehmend. Hin und wieder ragte graurötliches Gestein als spitze Stolper‐ falle hervor. Wind fuhr in die Gesichter der Menschen. Er kühlte ein wenig und roch nach dem Wasser des Meeres. Noch eine Kehre, und sie standen vor dem Ziel. Der Opferplatz war gut gewählt. Eingerahmt von Holzstangen, die hart in den Untergrund ge‐ rammt worden waren. Auch den Boden hatte man festgestampft. Er zeigte dunkle Flecken. Das Blut der Opfer. Die Lassalle schaute an den Stangen hoch. Die Spitzen waren mit teller‐ förmigen Gefäßen bedeckt, in denen brennbares Material lagerte. Kam es zu einer Opferung, sorgte dieses Zeug für die nötige schaurige Unterma‐ lung. Die vier Träger wußten Bescheid. Sie stellten den Sarg in der Mitte ab, drückten ihre Körper wieder hoch und schauten der heranschlendernden Rhonda entgegen. »Öffnen!« befahl sie. Als die vier Träger zögerten, hob sie zur Demonstration ihrer Stärke wie‐ der die Peitsche. Ein Wort hinzuzufügen brauchte sie nicht. Die Männer beeilten sich jetzt und zogen den Deckel hoch. Rhonda ging noch einen Schritt zur Seite, damit die Träger Platz beka‐ men, die unmittelbare Nähe des Sargs zu verlassen. Den Deckel hatten sie gegen die äußere Wand der Totenkiste gelehnt. Die Lassalle grinste überheblich, als sie in die Tiefe blickte. Sie schaute genau in das leichenblasse Gesicht des Chinesen, der noch immer so aus‐ sah wie ein Toter. Er hatte die berühmte Zombie‐Droge zu sich genommen. Dieses Pulver, um das so viel herumgerätselt worden war und dessen Herstellung nur wenige Eingeweihte kannten. Es bestand aus einer Mischung. Sie setzte sich zusammen aus dem Ex‐ trakt des Pulverfischs und den getrockneten Überresten einer ganz norma‐ len Kröte. In seiner Wirkung war es hundertsechzigmal stärker als das bekannte Kokain. Sie bückte sich und streckte ihre Hand aus. Mit zwei Fingern faßte sie die Haut an der Wange und drückte sie zusammen. Der Chinese rührte sich nicht. Er zeigte überhaupt keine Reaktion. Wenn er das Gegenmittel nicht bekam, würde er wahrscheinlich Monate oder Jahre in diesem Zustand 310
liegenbleiben. Und das Gegenmittel gab es. Nur besaß es D. C! Er allein konnte den Chinesen aus seinem Zustand erlösen. Rhonda schaute noch einmal über die Gestalt. Der Mann trug lockere Kleidung. Eine dünne Jacke, ein Hemd, eine Hose, aber die Jacke beulte sich an der linken Seite aus. Dort mußte sich etwas befinden. Sie fühlte nach, ertastete den Widerstand, schob ihre Hand unter den Stoff und lachte fast entzückt auf, als sie plötzlich eine Waffe in ihrer Hand spürte. Es war eine Pistole. Sie schaute nach und erkannte die Marke Beretta. »Na so was«, murmelte sie und schüttelte den Kopf. »Hat denn keiner der Idioten daran gedacht, den Kerl zu filzen?« Sie setzte ihre Bemühungen fort und fand noch zwei Gegenstände, mit denen sie momentan nicht viel anfangen konnte. Zunächst eine Peitsche. Okay, die hatte sie auch. Ein seltsamer Gegens‐ tand allerdings. Der Griff war an einer Seite offen. Sie schaute hinein und glaubte, eingerollte, dünne Riemen in der Griffröhre zu sehen. Als sie die Peitsche nach unten hielt, fielen die Schnüre nicht heraus, sondern blieben hängen. Was das wiederum zu bedeuten hatte, wußte sie auch nicht. Jedenfalls steckte sie die Peitsche ein und untersuchte den zweiten Gegenstand, einen Stab von graugrüner Farbe, der sich zwischen ihren Fingern anfühlte, als bestünde er aus Hartgummi. Wenn sie näher hinsah, glaubte sie, Schriftzeichen zu erkennen, aber nur sehr schwach. Was das nun wieder vorstellen sollte, konnte sie auch nicht sagen. So steckte sie den Stab zunächst einmal weg. Weitere Waffen fand sie nicht. Daß die gefundenen etwas zu bedeuten hatten, daran glaubte sie fest, und sie ging auch davon aus, magische Werkzeuge gefunden zu haben. Der Gelbe konnte ihr nicht mehr gefährlich werden, blieb nur mehr des‐ sen Freund, Geisterjäger John Sinclair, der sich irgendwo nahe der Insel auf dem Meer herumtreiben mußte. Und das stimmte. Der Aussichtspunkt machte sich tatsächlich bezahlt, denn über dem Wasser sah sie plötzlich den hellen Blitz, der sich zu einem Pilz erweiterte, 311
durch den eine gewaltige Flammenlohe in den Himmel stieg. Der Wider‐ schein breitete sich aus, erhellte die ansonsten dunkle Wasserfläche mit einer rötlichen Farbe, so daß sich ein zweites Boot auch deutlich abzeichne‐ te. Ihr Grinsen erstarb, denn Rhonda Lassalle hatte die Wahrheit erkannt. Das zweite Boot – es mußte von der Druckwelle einiges abbekommen ha‐ ben – trieb von dem ersten, brennenden weg. Das paßte ihr überhaupt nicht. Leider brannte nicht das Motorboot, sondern der Kahn, mit dem ihre Zombies unterwegs gewesen waren. Es war ihnen oder dem Kapitän also nicht gelungen, die Bombe auf das zweite Boot zu schleudern, um es in die Luft zu jagen. Wieso nicht? Rhonda besaß zwei scharfe Augen, zudem wurde die Szene noch gut an‐ geleuchtet, aber was im einzelnen vorgefallen war, konnte auch sie nicht erkennen. Vor allen Dingen war es ihr nicht möglich, die Personen zu ent‐ decken, die überlebt haben konnten. Da machte sie keinerlei Unterschiede zwischen einem Menschen und einem Zombie. Sie schaute als ferne Zeugin zu und mußte mit ansehen, wie ihr Boot all‐ mählich verbrannte. Als letzte Flammenzungen in die Höhe schlugen, ka‐ men bereits die Wellen. Sie rollten in höheren Wogen heran und über‐ schwemmten das Schiff. So löschten sie das Feuer. Und der Kahn sank. Selbst aus dieser weiten Entfernung konnte Rhonda erkennen, welch ein gewaltiger Strudel plötzlich entstand, als das Schiff von den Fluten in die Tiefe gerissen wurde. Das Wasser nahm wieder seine ursprüngliche Dunkelheit an und lag in der wogenden Dünung vor ihr. Es sah so aus, als wäre nie etwas gesche‐ hen. Sie ärgerte sich. Der Plan, das wußte sie jetzt, hatte nicht geklappt. Sinc‐ lair – falls er überlebt hatte – war sicherlich nur aufgehalten worden. Sie traute diesem verdammten Hundesohn durchaus zu, auch ohne Boot die Insel zu erreichen. Der machte alles möglich, und die Szene auf dem alten Friedhof war ihr noch in deutlicher Erinnerung geblieben. Da hatte er sogar die starke Voodoo‐Magie zurückdrängen können. 312
Lebte er oder lebte er nicht? Die Chancen standen fünfzig zu fünfzig. Und wahrscheinlich war sie nicht die einzige, die den Vorgang auf dem Wasser beobachtet hatte. Auch D. C. mußte ihn gesehen haben. Wie würde er reagieren? Zunächst durch einen Ruf, denn das Knacken, das jetzt in der Stille deut‐ lich zu vernehmen war, kannte Rhonda gut genug. Es erklang immer dann, bevor die Stimme durch die überall auf der Insel versteckt angebrachten Lautsprecher drang. »Ich will dich sehen, Rhonda!« Mehr brauchte D. C. nicht zu sagen. Die Frau wußte, daß sie sich zu fü‐ gen hatte. Ihm antworten konnte sie ihm nicht, da keine Mikrofone vorhanden wa‐ ren. Nur D. C. wollte die Kontrolle haben, und die hatte er bekommen, da die Insel und deren Untergrund sich in einem Zustand höchster Technisie‐ rung befanden. Sie lief den Weg zurück, den sie mit den vier Trägern gekommen war. In ihrem Innern wallte das Blut. An den Chinesen, der oben auf dem Opfer‐ platz lag, dachte sie nicht mehr. Wichtiger war jetzt Damion Cargal. Wie würde er reagieren? Hatte er die Explosion und den Brand so mitbekom‐ men wie sie auch? Das war die große Frage. Wenn ja und wenn er genau folgerte, hatte Rhonda versagt. Sie dachte an das Versprechen, das ihr der andere gegeben hatte, und ein Schauer rann über ihren Rücken. Er würde sie zum Zombie machen! Konnte sie sich wehren? Kaum, der andere war stärker. Er besaß die Mittel und Wege, um es zu schaffen. Neben ihr raschelte es. Zweige wurden zur Seite gedrückt, und dann er‐ schien eine taumelnde Gestalt mit bleichem Gesicht. Der Zombie besaß rote Haare, die zu einem Stoppelschnitt rasiert worden waren. In seiner breiten Stirn zeichnete sich ein waagerechter Schnitt ab. Rhonda wußte, daß er als normal Lebender zur Terror‐Gruppe der IRA gehört hatte, bis D. C. auf ihn aufmerksam geworden war und ihn in die Reihen der Zombies aufgenommen hatte. Er wankte vor Rhonda vorbei und verschwand an der anderen Seite des 313
Wegs im dichten Dschungel. Von seiner Sorte irrten mindestens zwanzig auf dem Gelände der Insel umher. Die genaue Zahl war auch Rhonda Lassalle nicht bekannt. Sie hatte nur mehr wenige Schritte zu laufen, um das Ziel zu erreichen. Es war der Eingang zu der völlig fremden, unterirdischen Welt von Voo‐ doo‐Land. Ein graues Tor, hineingebaut in einen felsigen Hügel und dabei schräg stehend. Die Glotzaugen zweier Kameras schauten aus einer schrägen Ebe‐ ne und erfaßten jeden Besucher, der sich dem Tor näherte. D. C. konnte alles kontrollieren. Rhonda ging etwas langsamer, weil sie ihren Atem unter Kontrolle hal‐ ten wollte. Cargal sollte nicht sehen, unter welch starkem Streß sie inner‐ lich stand. Kurz bevor sie das Tor erreicht hatte, schob es sich zur Seite. Es lief auf Rollen, und Cargall hatte von seinem Platz am Steuerpult aus nur einen Kontakt zu betätigen brauchen. Ein langer und breiter Betongang lag vor der Frau. Durch Leuchtstoff‐ röhren wurde er erhellt. An den Wänden hing nichts, was sie verschönert hätte. Hier war alles nur zweckmäßig eingerichtet worden, und Rhonda hatte damit begonnen, diesen Gang zu hassen. Überhaupt haßte sie die unterirdische Anlage, die eine so gefühllose Käl‐ te ausstrahlte, daß ihr stets eine Gänsehaut über den Rücken rann, wenn sie den Komplex betrat. Trotz der Waffen, mit denen sie sich eingedeckt hatte, spürte sie in den Knien ein weiches Gefühl. Bei D. C. wußte man nie, wie er reagierte. Er glich einem Wahnsinnigen, der stundenlang ruhig sitzen konnte, dann ein Messer nahm und einen blutigen Raubzug begann. Hinter ihr hatte sich die schwere Tür wieder zugeschoben. Rhonda kam sich vor wie in einem elektronisch überwachten Gefängnis, und dieser Eindruck verstärkte sich noch, als auf der linken Seite ebenfalls eine Stahl‐ tür zurückschwang. Nur war die wesentlich schmaler. Hinter ihr befand sich die Zentrale. Und dort hockte auch der Herrscher über Voodoo‐Land. Sie übertrat die Schwelle. Kaltes Licht, das nur die Hälfte des Bunkers ausleuchtete, blendete sie. Der andere Teil lag in der schwarzen, wattig wirkenden Finsternis, die nur 314
nahe dem zentralen Steuerpult durch den grünen Schein der Instrumente unterbrochen wurde. Dort hockte auch D. C. Zu sehen war von ihm nichts. Er saß im Dunkeln, und wie Rhonda ihn kannte, genoß er es, sie, die Versagerin, in den Raum treten zu sehen, um sie abzukanzeln. Zwei Schritte hinter der Tür blieb sie stehen. »Nein!« vernahm sie sein knarrendes Organ. »Ich will, daß du näher he‐ rankommst.« Sie ging zögernd vor. In ihrer Brust schlug hämmernd das Herz. Allein am Klang der Stimme hatte sie herausgefunden, daß D. C. mit ihrer Arbeit nicht zufrieden war. Nach vier Schritten mußte sie stoppen. Die Peitsche hielt sie in der rechten Hand. Zwischen ihren Fingern und dem Griff fühlte sie die Nässe des Schweißes. Auch auf der Oberlippe lag die kalte Schicht, und die hageren Wangen in ihrem Gesicht begannen zu zucken. Die Schnur der Peitsche lag wie eine tote Schlange auf dem Boden. Doch was nutzte ihr eine solche Waffe gegen eine Macht wie Damion Cargal sie darstellte? Nichts, sie war nur noch ein hinderliches Beiwerk, wenn Rhon‐ da ehrlich war. D. C. ließ sich Zeit. Wahrscheinlich musterte er sie aus seiner dunklen Deckung hervor, forschte in ihrem Gesicht, um dort nach Reaktionen zu suchen. »Du hast das Boot losgeschickt?« fragte er. »Ja.« »Es ist nicht zurückgekommen. Ich sah auf meinem Schirm etwas, das mir nicht so sehr gefiel.« »Es brannte aus.« »Wodurch?« »Die Zeitbombe explodierte.« Cargal lachte. »Das sollte sie doch auch.« »Sicher, nur…« Rhonda traute sich kaum, weiter zu sprechen. Sie war davon überzeugt, daß der andere Bescheid wußte, und das bewies er ihr auch sehr deutlich. »Nur explodierte sie leider auf dem falschen Schiff«, sagte er. »Deine 315
Rechnung ist wieder einmal nicht aufgegangen, Rhonda.« Sie nickte. Es war besser, wenn man ihm nicht widersprach. »Dennoch kann es ihn erwischt haben.« »Kann, Rhonda, muß nicht.« »Ich habe von der Hügelkuppe aus gesehen…« »Das weiß ich. Wo befindet sich Sinclair. Hast du ihn entdeckt? Hast du ihn erkannt? War er…« »Nein, ich sah ihn nicht.« »Das ist natürlich schlecht. Wen hast du überhaupt gesehen?« »Keinen, auch nicht die Zombies.« D. C. überlegte. »Dann können wir also davon ausgehen, daß sie vernich‐ tet sind, denn sie befanden sich auf dem Schiff. Feuer ist Gift für sie, das weißt du auch.« »Ja…« »Und nun?« »Ich werde mich weiterhin um Sinclair kümmern. Wir könnten einen Wall aus Zombies am Strand aufbauen…« »Das hätten wir gekonnt«, unterbrach der Mann sie mit harter Stimme. »Sehr gut sogar, wenn es dir gelungen wäre, die Leichen aus dem Friedhof zu holen. Aber du hast versagt. Sogar zweimal. Deshalb sind die Probleme nicht leichter geworden.« »Wenn er zur Insel kommt, haben wir ihn sicher!« sprach Rhonda dage‐ gen. Sie streckte ihren linken Arm vor. Es wirkte wie eine bittende Geste, durch die sich der andere auf keinen Fall beeindrucken ließ. »Nein«, sagte er, »nicht wir, ich.« Rhonda begann zu verstehen und hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand eine Hand gegen die Kehle gelegt und würde nun allmählich zudrücken. Es fiel ihr schwer, die nächste Frage zu formulieren. »Soll das heißen, daß ich…« »Genau das soll es heißen, Rhonda. Hast du meine letzte Warnung tat‐ sächlich vergessen? Ich habe dir doch gesagt, daß ich es nicht mag, wenn man mich hintergeht, wenn man meine Befehle nicht korrekt ausführt und mich so der Lächerlichkeit preisgibt. Das muß bestraft werden. Rhonda, du bist eine Voodoo‐Königin. Man hat dich anerkannt. Du wolltest die Nach‐ folgerin deiner Ahnherrin Marie Leveau werden. Das alles kann die Men‐ schen in der Stadt beeindrucken, mich nicht. Hier habe ich zu sagen. Auf 316
Voodoo‐Land gebe ich die Befehle. Ich bin der Herr der Insel, ich habe sie voll und ganz unter Kontrolle. Was hier geschieht, befehle ich. Ich habe vor keinem Respekt. Auch nicht vor einer selbsternannten Voodoo‐Königin, die letztendlich von mir abhängig ist. Verstanden?« »Sicher!« »Deshalb wirst du die Folgen tragen. Ich werde mir einen anderen Assis‐ tenten suchen, Rhonda!« Mit diesen Worten setzte er seinen teuflischen Plan in die Tat um. Rhon‐ da hatte nicht sehen können, wo seine Hände lagen. Ein Finger der Rechten hatte während des gesamten Gesprächs über einem bestimmten Knopf geschwebt. Jetzt berührte er ihn. »Als Zombie siehst du mich wieder!« rief D. C. lachend, und Rhonda wurde von der folgenden Aktion völlig überrascht. Schlagartig verschwand der Boden unter ihren Füßen. Sie fiel, über ihre Lippen drang noch ein Schrei, und sie prallte genau auf die Körper der beiden in der Grube lauernden Zombies, während sich über ihr die Klappe allmählich schloß… * Ich hatte den kleinen Außenborder abgestellt, hockte angespannt im Boot und schaute auf die letzte Welle, die uns gegen den Strand der kleinen Bucht trieb. Die rücklaufende zog das Boot nicht mehr hinein in das Wasser, so daß wir es geschafft hatten. Mona und ich konnten Voodoo‐Land endlich betreten! Ich spürte in meiner Brust schon ein komisches Gefühl, als ich die ersten Schritte auf das Eiland setzte. Von hier aus hatte das Grauen seinen Anfang genommen. Auf Voodoo‐Land hockte derjenige, der alle Fäden in den Händen hielt, dieser geheimnisvolle D. C. oder Damion Cargal. War er ein Mensch, ein Zombie, ein Monstrum? Vielleicht von jedem etwas oder alles zusammen. Ich wußte es noch nicht und sorgte zusammen mit Mona dafür, daß unser Schlauchboot an Land geschleift und in die Deckung eines Felsens gelegt wurde. In der Tat wuch‐ sen vor uns die Wände auf, die bei genauerem Hinsehen nicht so steil wa‐ ren, wie sie im Grau der Dämmerung wirkten. 317
Man konnte sie eigentlich mehr als Hügel bezeichnen, der typische Ge‐ ruch eines Tropenwaldes wehte uns entgegen. Er wuchs auf dem Hügel und hatte sich auf der gesamten Insel verbreitet. Das Mädchen Mona hielt sich an meiner Seite. Sie hatte ihre Depressio‐ nen mittlerweile überwunden und stand, ebenso wie ich, unter einer ge‐ spannten Erwartung. Das sah ich ihrem Gesicht an, in dem sich die Haut hart um Mundwinkel und Wangenknochen spannte. Noch hatten wir kein Lebewesen entdeckt. Weder einen Menschen, ein Tier, noch einen Zombie. Wir warteten auch ab und kontrollierten unsere Waffen. Jeder hatte eine Leuchtpistole an sich genommen und in den Gürtel neben die dazugehöri‐ gen Patronen gesteckt. Leider trug ich keine Ersatz‐Beretta bei mir, so daß Mona eigentlich auf eine Waffe verzichten mußte. Ich trennte mich deshalb von meiner eigenen. Als ich sie ihr in die Hand drückte, schaute sie mich aus großen Augen an. »Ist… ist die für mich, John?« »Ja.« Ihr Blick wurde noch erstaunter. »Und du? Willst du dich den Zombies unbewaffnet entgegenstellen?« Ich lächelte schwach. »Nein, das natürlich nicht. Ich habe mein Kreuz und auch meine Körperkräfte.« Sie widersprach. »Zombies kann man doch nicht mit Karate oder Kung Fu besiegen.« »Das nicht, und sie sind auch gefährlich. Doch sie haben einen Nachteil. Sie bewegen sich träger als Menschen. Ihr Handeln ist zwar zielstrebig, wirkt aber oft genug zeitlupenhaft, so daß wir auch als Unbewaffnete ge‐ wisse Chancen besitzen.« »Das müßte ich erst sehen.« Ich tätschelte ihre Wange. »Wirst du sicher, Mädchen. Darauf kannst du dich verlassen.« »Wenn du meinst.« Ich nickte ihr zu. »Ob man unsere Ankunft bemerkt hat oder nicht, wis‐ sen wir beide nicht. Rechnen müssen wir damit. Jedenfalls werden wir uns sehr vorsichtig bewegen. Klar?« 318
»Sicher.« »Ich übernehme die Führung.« »Auch klar.« Ich war froh, daß Mona so reagierte. Da konnte sich einer auf den ande‐ ren verlassen. Noch einmal schaute ich zum Himmel. Er hellte immer stärker auf. Der graue Streifen hatte sich vorgeschoben. Fast die gesamte Hälfte meines Sichtfeldes nahm er jetzt schon ein. Die andere Stelle blieb noch in der Dunkelheit. Nur mehr eine kurze Zeitspanne, dann würden auch die ersten Strahlen der Sonne am Horizont explodieren. Am Strand hatten wir den leichten salzgeruchreichen Seewind gespürt. Als wir den Pfad gefunden und in den Dschungel eingetaucht waren, um‐ gab uns nicht nur eine andere Welt, wir erlebten auch die stickige, duftge‐ schwängerte Luft der Tropen. Es roch nach Blüten und gleichzeitig nach allmählich verfaulenden Pflanzen. Wir schritten über den weichen Humus und kamen uns vor wie auf einem Teppich. Der Wald lag nicht still. In seinem dichten Innern bewegte sich immer etwas. Ob es nun das Zittern der Blätter oder das Schwanken der Zweige war, Ruhe lag nie über dem Dschungel. Wir vernahmen das Kreischen irgendwelcher Tiere und wurden von aufsteigenden feuchten Schwaden umwabert, die den Dschungel zu einer Waschküche machten. Die erste Strecke war am schwierigsten, da es dort ziemlich hochging. Später kamen wir besser voran, doch einen Feind oder Zombie hatten wir noch immer nicht zu Gesicht bekommen. An einer kleinen Kreuzung, wo von verschiedenen Seiten in den Wald gehauene Pfade aufeinander zuliefen, blieben wir stehen, um uns zu orien‐ tieren. Irgendwo mußte sich das Hauptquartier dieses D. C. befinden. »Hast du nicht von einem Bunker gesprochen oder bunkerhaften Anla‐ ge?« fragte Mona. »Das schon. Aber auch dazu muß es einen Einstieg geben.« »Ob wir den finden…« »Wir müssen, Mädchen!« Ich blickte mich um, auch in die Höhe sah ich und erkannte trotz der hier im Wald noch vorherrschenden Dunkelheit einen braunen Fleck. Irgendwie paßte er nicht dahin. Auch Mona wußte 319
keine Erklärung. So blieb mir nichts anderes übrig, als dem ›Fleck‹ entge‐ genzuklettern. Der Baumstamm, an dem ich mich in die Höhe hangelte, zeigte eine ge‐ wisse Glätte. Ich mußte ihn schon mit beiden Armen umfassen, wobei mei‐ ne Hacken nach Stellen suchten, an denen ich mich abstützen konnte. An dicken Ästen mangelte es nicht. Den ersten bekam ich zu fassen, als ich meinen rechten Arm langmachte. Von nun an ging es besser. Beinahe mühelos im Vergleich zum Beginn meiner Kletterpartie kam ich voran und näherte mich von der Seite her dem Gegenstand, der mir schon vom Boden her aufgefallen war. Ich holte meine kleine Lampe hervor und untersuchte ihn im schmalen Lichtfinger. Mit vielem hatte ich gerechnet, damit allerdings nicht. Wer stellte schon einen Lautsprecher in den Dschungel? Der hier klemmte zwischen den Zweigen und war echt. Mona hatte mich beobachtet. Ich sah sie unten stehen und hochschauen. Ihre Gestalt zeichnete sich nur schwach ab. »Was ist es denn, John?« Ich begann vor meiner Antwort zu lachen. »Du wirst es nicht glauben, ein Lautsprecher.« »Was?« »Ja, hier hängt ein Lautsprecher. Das Ding sieht sogar noch ziemlich neu aus, jedenfalls kann ich keine Spuren eines Verfalls entdecken.« Sie schüttelte den Kopf. »Und jetzt?« »Ganz einfach, Mona. Wir lassen ihn hängen.« Ich verlagerte mein Ge‐ wicht auf das linke Bein. »Das ist bestimmt nicht der einzige auf dieser komischen Insel.« »Dann wird man uns unter Kontrolle halten.« »Davon können wir ausgehen.« Ich hatte im Baum nichts mehr zu su‐ chen. »Moment noch, Mona, ich komme runter.« »Okay.« Die Äste waren zwar stark, auch gebogen, so daß sie Halt gaben, leider auch leicht rutschig. Ich mußte mich vorsehen, um nicht zu fallen. Sehr behutsam stieg ich in die Tiefe, wo Mona noch immer unter dem Baum wartete. Sie machte den Fehler, sich allein auf mich zu konzentrieren, so sah sie nicht, was hinter ihrem Rücken geschah. Da besaß ich schon den besseren 320
Blickwinkel. Ich sah die Bewegung. Hinter ihr teilte sich die dunkle Wand des Dschungels, und ein bleiches Gesicht erschien. Trotz meiner Entfernung konnte ich erkennen, daß es genau die Blässe besaß, wie ich sie von den lebenden Leichen her kannte. Ein Zombie war da! »Mona!« Mein Ruf alarmierte sie. Im Herumdrehen erreichte sie meine zweite Warnung. »Der Zombie!« Jetzt sah auch sie ihn! Ich tat nichts, sondern schaute zu, wie sie erschrak. Bewußt griff ich nicht ein. Ich wollte ihr das Grauen und die zweite Begegnung mit diesen Wesen nicht ersparen. Im Unterschied zu ihrem ersten Zusammentreffen mit einer solchen Schreckensgestalt war sie bewaffnet. Hoffentlich dachte sie daran. Der Zombie hatte zunächst nur geschaut und dabei sein Gesicht gezeigt. Jetzt schob er sich vollends aus dem dichten Dschungel nach vorn und ging auf sein Opfer zu. Mona wich zurück. Viel Platz hatte sie dabei nicht. Sie mußte in den nächsten Sekunden et‐ was tun, bevor der Unhold auf sie niederkippte. Sprungbereit hockte ich auf dem Baum. Ich drückte Mona die Daumen, daß sie ihre eigene Angst überwand. Mein Blick flackerte ebenfalls, und dann riß sie plötzlich den rechten Arm hoch. Genau in diesem Augenblick, als der Zombie zu einem letzten großen Schritt regelrecht ausholte und dabei sein rechtes Bein zuerst nach hinten schwang. Mona feuerte. Sie hatte sich selbst überwunden und konnte jetzt sehen, wie ihre Kugel auch traf. Genau in die breite Brust des Untoten jagte sie. Diese Gestalt hatte sie einfach nicht verfehlen können. Der Zombie blieb in der Bewegung stehen, drehte sich, und während Monas Arm nach unten sank, sah sie das seelen‐ lose Höllengeschöpf fallen. Vor ihren Füßen schlug der Zombie schwer auf die Seite und blieb liegen, ohne sich zu rühren. Er war erledigt. Ich sprang vom Baum, kam auf dem weichen Boden gut auf und spürte trotzdem in meiner Brust einen heftigen Schmerz, denn die Tritte des Kil‐ 321
lers Barnabas hatte ich noch nicht überwunden. »Er rührt sich nicht mehr!« flüsterte Mona. »Nein, du hast ihn erledigt.« »Aber ich schoß ihm nicht in den Kopf…« »Das ist bei dieser Waffe nicht nötig. Sie ist mit geweihten Silberkugeln geladen, das hatte ich dir gesagt.« »Ja… natürlich. Nur konnte ich es nicht glauben.« Ich deutete auf die Gestalt. »Das ist der Beweis.« Mona nickte, ohne ein Wort zu sagen. Sie war dazu einfach nicht mehr in der Lage. Ich dachte daran, daß wir einen Gegner geschafft hatten. Fragte sich nur, wie viele dieser tumben Gestalten noch innerhalb der dichten Dschungelwand lauerten? Da konnte sich eine halbe Armee versteckt hal‐ ten, ohne gesehen zu werden. Mona schüttelte sich, als wollte sie die letzten Vorgänge restlos aus ihrem Gedächtnis verscheuchen. »Und wo gehen wir weiter?« »Moment noch.« Uns standen leider mehrere Richtungen zur Auswahl. Ich wollte es genauer wissen, schaltete abermals die kleine Lampe an und suchte auf dem Boden nach Spuren. Dabei nahm ich mir jeweils die verschiedenen Wege vor und war nicht mal überrascht, daß der Weg, der rechts von uns in den Wald führte, tiefere Eindrücke zeigte. Ich ging in die Knie. Das Gras war flachgetreten worden. Mit Phantasie und gutem Willen konnte man die Eindrücke als menschli‐ che Spuren identifizieren. Das sagte ich Mona. »Dann gehen wir in diese Richtung.« »Ja, das ist klar.« Wir waren noch vorsichtiger geworden. Das Erscheinen des ersten Zom‐ bies hatte uns gewarnt. Breiter als der vorherige wurde dieser Pfad auch nicht, nur eben ausgetretener. Nach meiner Berechnung mußte er zur In‐ selmitte führen. Fanden wir dort auch das Hauptquartier? Meine Blicke hatte ich überall. Auch in die Höhe gerichtet. Und dort sah ich wieder etwas. Der nächste braune Kasten schimmerte uns entgegen. Auch Mona hatte ihn gesehen. »D. C. scheint seine Insel damit gespickt zu haben.« »Er will die völlige Kontrolle.« 322
»Dann müßte er auch Kameras aufgehängt haben.« »Wer sagt dir, daß er es nicht getan hat?« »Stimmt auch wieder.« Unser Weg führte immer tiefer in den Dschungel hinein. Etwas kam uns jetzt doch seltsam vor. Bisher waren wir vom Schreien der Tiere begleitet worden. Das hörte nun auf. Kein Vogel zwitscherte, kein Tier jaulte oder schrie mehr. Es war unna‐ türlich still geworden. Näherten wir uns tatsächlich schon dem Zentrum? Ich spürte den Speichel in meinem Hals, räusperte mich frei und merkte auch in dieser Stille die Schwüle doppelt. Sie lastete auf mir und machte mich irgendwie nervös. Mona reagierte ähnlich. »John, das gefällt mir nicht. Wir scheinen uns ei‐ ner zentralen Stelle zu nähern.« »Klar…« Ich faßte ihre Hand. Die Finger zitterten leicht. Einfach war es für sie nicht, denn die farbige junge Frau erlebte so etwas zum erstenmal, während ich im Umgang mit lebenden Leichen eine gewisse Erfahrung besaß. Wir gingen so lange, bis sich vor uns eine Art Lichtung auftat und wir ei‐ nen schräg stehenden helleren Gegenstand schimmern sahen, der über‐ haupt nicht in das Gelände hineinpaßte. Die Lichtung erreichten wir nicht. Eine Stimme stoppte uns kurz zuvor. Sie drang aus einem der versteckt angebrachten Lautsprecher an unsere Ohren. »Willkommen auf Voodoo‐Land, ihr beiden. Ich habe mir gedacht, daß ihr es schaffen würdet. Kompliment, Sinclair. Du gibst wohl nie auf, wie?« Nein, das gab ich nicht. Und ich gab auch keine Antwort, sondern ließ den anderen sprechen, der sich offenbar gern reden hörte. »Wenn ihr nach vorn schaut«, hörten wir wieder seine Blechstimme, »werdet ihr den helle‐ ren Fleck erkennen können. Es ist der Eingang zu meinem unterirdischen Reich, in dem ihr euer Leben aushauchen werdet. Noch ist er verschlossen. Wann er sich für euch öffnen wird und ob überhaupt, bestimme ich und das Schicksal, dem ich euch gegenübergestellt habe. Kommt ein wenig näher, dann werdet ihr es sehen.« Sein Bericht endete mit einem triumphierenden Lachen, das blechern durch den Dschungel hallte. 323
Was konnte er mit seiner Rede gemeint haben? »Sollen wir wirklich wei‐ tergehen?« fragte Mona. »Hier anwachsen können wir nicht.« »Und was will er von uns?« Ich grinste schief. »Das wird sich gleich herausstellen.« Ich hatte meinen Satz kaum ausgesprochen, als der dichte, grüne Dschungel um uns herum in Bewegung geriet und zahlreiche Gestalten hervorkamen. Zombies oder Menschen, das war hier die Frage? Denn vor uns standen zwei Typen, die wie Mona eine dunkle Hautfarbe besaßen, alte Kleidung trugen und ihre Gesichter bemalt hatten. Rhondas Voodoo‐Diener. Sie selbst sahen wir nicht. Dafür die anderen zwei, die sich in unserem Rücken aufhielten. Sie schlichen mit tappenden Schritten vor. Allein waren die Voodoo‐Diener nicht gekommen. Sie hatten die leben‐ den Leichen mitgebracht. Wie viele sich mit taumelnden Bewegungen zu beiden Seiten des Wegs aus der dichten Dschungelwand schoben, konnte ich nicht erfassen. Jedenfalls steckten wir bis zum Hals in der Tinte! * Rhonda war gefallen, und sie hatte Glück im Unglück, weil die Körper der Zombies ihren Aufprall dämpften und selbst von den Beinen gerissen wurden. In den folgenden Augenblicken, in denen ihr noch eine relative Ruhe blieb, dachte sie trotz der lebensbedrohenden Lage über ihr Schicksal nach. D. C. hatte Wort gehalten. Einen zweiten Fehler verzieh er ihr nie. Nor‐ malerweise auch nicht den ersten, bei Rhonda hatte er eine Ausnahme gemacht, weil er sie brauchte. In der Zukunft würde er sie auch noch benö‐ tigen, aber nicht mehr als Mensch. Da lief sie als lebende Leiche umher, und dafür sollten die Zombies sorgen, die mit ihr in diesem Verlies steck‐ ten. Damion Cargal wollte auf Nummer Sicher gehen, denn er sorgte dafür, daß sich die Lücke wieder schloß. Sehr langsam und schon provozierend schloß sich die Luke, das konnte Rhonda noch erkennen. Gleichzeitig fiel 324
ihr der grünliche Lichtschein auf, den zwei röhrenartige Glasschlangen an den beiden Wänden abgaben. Rhonda hatte oft genug etwas mit Zombies zu tun gehabt. Sie hatte sie hautnah erlebt, und ihr war durch diese Bestien eigentlich nie etwas ge‐ schehen. Trotzdem verspürte sie Angst. Sie wußte von der Macht, die D. C. über Zombies besaß. Er konnte sie nach seinem Willen tanzen lassen, es würde ihm also nichts ausmachen, sie so einzustellen, daß sie sich gegen Rhonda wandten. Davor genau fürchtete sie sich. Ein Untoter lag unter ihr, der andere war zur Seite gerutscht. Dicht neben einer der Lichtschlangen aus Glas berührte er die Wand mit seinem Rücken und zog die Beine an, um sich in die Höhe schaukeln zu können. Der andere wollte sie töten. Trotz der auf ihm sitzenden Frau drehte er sich herum, schwang auch seinen Arm und legte ihn von vorne um den Hals der Frau. Rhonda spürte die leichenkalte Haut und hatte das Gefühl, als hätte sich ein alter Gummi‐ schlauch um ihren Hals gewickelt. Sie selbst wurde durch die Bewegung nach hinten gedrückt; die Luft wurde knapp, Rhonda verzog das Gesicht und wollte trotzdem in die Höhe. Jetzt kam auch der andere Arm. Dabei drehte sich der Zombie noch wei‐ ter und brachte sein Gesicht nahe vor das der Frau. Rhonda schaute in eine schreckliche Fratze. Der Untote hatte sich ir‐ gendwo verletzt, das war an den tiefen Striemen in seiner Haut deutlich zu erkennen. Er hielt den Mund offen. Eine gelbliche Kruste lag auf seinen Lippen, die jedoch, wie alles andere in diesem engen schachtartigen Ver‐ lies, einen grünlichen Schimmer bekommen hatte, der auf irgendeine Art und Weise leichenecht wirkte. Dadurch sahen die Untoten noch schauriger aus, als sie es ohnehin schon waren. Rhonda rammte beide Fäuste vor. Das Gesicht traf sie in der Mitte. Der Zombie hielt sich noch für einen Moment in der Lage, bevor er nach hinten kippte und Rhonda Lassalle von seinem Körperdruck befreite. Endlich konnte sie aufstehen. So schnell wie möglich kam sie in die Höhe. Ihr wurde für einen Moment schwindlig. Sie taumelte zur Seite, faßte sich wieder und wich mit einer geschickten Bewegung dem zweiten Zombie aus, der dadurch an ihr vor‐ 325
beitorkelte, weiterging, wie eine aus Gummi bestehende Puppe gegen die Wand prallte, von der er wieder zurückdriftete, um sich noch in der Bewe‐ gung herumzudrehen. Schon war der mit den Spuren im Gesicht wieder da. Rhonda preßte sich ebenfalls gegen die Wand, denn sie folgte damit einem alten Gesetz, sich den Rücken freizuhalten. Ihr rechter Fuß schoß in die Höhe. Es war ein gezielter Tritt, der den Leib des Untoten traf und die Gestalt vor ihr wegfegte. Noch einmal setzte sie nach. Diesmal traf sie den zweiten, dem es nicht anders erging. Die beiden Aktionen hatten sie angestrengt und zwangsläufig etwas au‐ ßer Atem gebracht. Hinzu kam der Streß der letzten Stunden, und so etwas machten auch die besten Nerven nicht mit. Irgendwann flippte selbst eine Voodoo‐Königin aus. Was sollte sie tun? Sie hatte sich an D. C. gehängt wie ein Katzenbaby an seine Mutter. Er hatte sie eingeweiht in die Gebiete des Schreckens, in die Magie und die Technik, und er hatte ihr auch etwas von den geheimnisvollen Voodoo‐ Kulten erzählt, nachdem es ihm gelungen war, herauszufinden, wer ihre eigentliche Ahnherrin gewesen war. Dies alles war ihr bekannt, ebenso wie die Existenz der Zombies, und sie wußte auch, wie die Wesen reagierten. Daß sie niemals aufgaben. Da konn‐ te sie machen, was sie wollte. Schlagen, stechen, schießen… Schießen? Plötzlich durchzuckte es sie wie ein Blitzschlag. Sie dachte daran, daß sie dem Chinesen oben am Blutaltar die Waffe weggenommen hatte und sich nicht mehr nur auf ihre Peitsche zu verlassen brauchte. Das wußte D. C, der sonst alles überwachte, nicht, und um die Lippen der Frau spielte plötzlich ein wissendes, kaltes Lächeln. Er würde sich wundern. Sie zog die Waffe! Es tat gut, die Kühle des Metalls zu spüren, und die beiden tumben, un‐ toten Gestalten vor ihr würden überhaupt nicht wissen, wie ihnen geschah, wenn sie schoß. 326
Zuerst nahm sie den mit den Striemen im Gesicht aufs Korn. Wenn sie sonst vor einer so entscheidenden Situation gestanden hatte, war sie immer kalt gewesen. Nun zitterte sie. Ihr Gesicht war verzerrt. Halboffen stand der Mund. Schweiß rann über ihre Wangen. Der Totenkopf auf dem Stirnband wirkte wie der blanke Hohn, als sie auf den Zombie zielte und ihr rechtes Gelenk noch mit der linken Hand abstützte. Er wuchs vor ihr hoch. Ein breitschultriger Bursche, der aus Südeuropa stammte und für einen östlichen Geheimdienst gearbeitet hatte. Jetzt war er nur noch ein Nichts. Bei dem Gedanken an das Nichts drückte die Frau ab. Sie spürte noch das Zucken der Waffe in ihrer Hand, sah den Einschlag der Kugel und hatte für einen Augenblick das Gefühl, als wäre die Zeit stehengeblieben, um anschließend langsamer abzulaufen, denn der Zombie bewegte sich zur Seite, hielt den Kopf schief, und aus der Wunde dicht unter dem Kinn rann eine rötlich‐weiße Flüssigkeit. Sie hatte ihn nicht in den Kopf geschossen, trotzdem war er erledigt, blieb auf dem Rücken und mit weit ausgebreiteten Armen liegen, ohne sich je wieder zu rühren. Rhonda Lassalle zeigte sich überrascht. Dann schüttelte sie den Kopf, schaute auf die Waffe, auch die sah völlig normal aus. Nichts unterschied sie von anderen Pistolen. Dennoch mußte an ihr oder an der Ladung etwas Besonderes sein, weil der Zombie für immer liegenblieb. Wenn man gegen zwei lebende Leichen kämpft und auch schon eine er‐ ledigt hat, darf man sich trotzdem nicht durch Gedanken oder andere Din‐ ge ablenken lassen. Das merkte auch Rhonda, und es war fast zu spät, denn der zweite erschien dicht vor ihr. Seine Hände waren plötzlich da – und an ihrem Hals, wo sie sofort zu‐ drückten. Nie zuvor hatte Rhonda die teigigen Finger eines Zombies an ihrer Kehle gespürt, nun nahmen ihr die weichen, dennoch harten Finger die Luft und bewegten ihren Kopf von einer Seite auf die andere. Viel Zeit blieb Rhonda nicht mehr. Mit ihren eigenen Körperkräften hätte sie sich kaum aus den Klauen dieses Zombies lösen können, deshalb blieb 327
ihr nur eine Möglichkeit. Die Waffe und die Kugel! Der Zombie hielt ihre Kehle umklammert, sie dafür die Pistole, und sie hatte beide Hände dazu genommen, da sie ganz sichergehen wollte, wenn sie schoß. Der Knall des Schusses wirkte auf sie wie eine Erlösung und gleichzeitig auch eine Enttäuschung, denn die Finger rutschten von ihrer Kehle nicht weg, statt dessen bekam sie weniger Luft und konnte auch nicht atmen, obwohl sie den Mund weit geöffnet hatte. Sollte es der Untote letztendlich doch noch schaffen, sie weiter zu wür‐ gen? Es wäre furchtbar gewesen, eigentlich nicht gutzumachen, und dann spürte und sah sie, wie etwas geschah. Der Untote zitterte. Seine Beine gaben nach. Er knickte ein, löste den Griff seiner Finger, so daß Rhonda wieder tief durchatmete. Noch konnte sie es nicht richtig fassen, was da vor ihren Augen ablief. Doch sie täuschte sich nicht. Die lebende Leiche hatte es erwischt. Erneut sah sie mit an, daß die Kugel das untote Leben radikal vernichtete. Der Zombie fiel. Er drehte sich noch, schlug schwer auf, und nicht einer seiner Würgefin‐ ger zuckte mehr. Die Frau hob ihre Hände. Sie mußte einfach den Hals abtasten, dort, wo die lebende Leiche hingegriffen hatte. Spuren waren nicht zu fühlen, nur das Brennen wollte nicht abklingen. Zudem lag in ihrer Kehle ein Druck, als müßte sie sich jeden Augenblick übergeben. Das ging vorbei. So gewann das klare, nüchterne Denken wieder die O‐ berhand bei Rhonda Lassalle. Und das sah trotz der relativen Hoffnungslo‐ sigkeit, in der sie steckte, ziemlich optimistisch aus. Eines stand fest: Der Plan des Damion Cargal war nicht aufgegangen. Sie lebte normal weiter und nicht als Zombie. Als Mensch konnte sie weiterhin denken, fühlen, handeln und Pläne schmieden. Besonders darauf kam es ihr an. In der rechten Hand behielt sie die Waffe, die linke aber ballte sie zur Faust. Es war ein typisches Zeichen, eine Geste der Wut, des Hasses und auch der Kampfbereitschaft. In den letzten Minuten war sie von der Sklavin, die D. C. immer gehorcht hatte, zu einer Frau geworden, die nur hassen konnte und abrechnen woll‐ 328
te. Dafür stand ein Name. Damion Cargal! Ihn wollte sie vernichten, töten, leiden sehen und dabei mithelfen, sein Reich zu zerbrechen. Er hatte sie enttäuscht und nicht einsehen wollen, daß die Niederlagen nicht ihre Fehler gewesen waren. Das hatte sich eben aus den Umständen ergeben. Um D. C. zu stellen, mußte sie zunächst einmal aus diesem verdammten Gefängnis. Von innen war es nicht zu öffnen, da war sie schon auf Hilfe von außen angewiesen. Wie aber würde D. C. handeln, wenn er die beiden Zombies liegen sah? Plötzlich verschwand die Euphorie der Frau. Sie traute dem anderen zu, daß er es auf seine Art und Weise machte, eine Schußwaffe holte und in den Schacht feuerte. Natürlich mußte sie schneller sein, wenn es soweit war, und als erste schießen. Das alles kostete Zeit – und Nerven! Wieviel Zeit mußte man ihm wohl geben, bis er sich vom Erfolg seiner Aktion überzeugte? Gab es überhaupt eine Regel dafür? Das Licht schuf einen grünlichen Schimmer. Sie selbst kam sich schon fast wie eine lebende Leiche vor, und sie fragte sich, wie lange die miese Luft in diesem Gefängnis wohl ausreichen würde, um überleben zu kön‐ nen. Eine Stunde, zwei…? Rhonda begann, unruhig zu werden. Verdammt, weshalb ließ sich der andere überhaupt soviel Zeit. Der sollte endlich nachschauen, ob er es mit einem Zombie‐Diener zu tun hatte. Ihre Gedanken wurden unterbrochen. Es waren dumpfe, sehr entfernt klingende Geräusche, die sie hörte. Und sie waren über ihrem Kopf aufge‐ klungen. Schritte sogar… Wieso? Plötzlich stand sie unter einer starken Spannung, legte den Kopf schief und schielte in die Höhe. Lange brauchte sie nicht zu überlegen, um auf des Rätsels Lösung zu kommen. Damion Cargal hatte Besuch bekommen! 329
* Der Vergleich mit der Tinte war nicht mal so übel. Bis zum Hals steckten wir drin, und ich merkte, daß mir allmählich die Luft knapp wurde. Hatte es Sinn, sich gegen die Übermacht wehren zu wollen? Wäre ich allein ge‐ wesen, hätte ich vielleicht versucht, die vor mir stehende Wand aus zwei Körpern zu durchbrechen, vor allen Dingen deshalb, weil die anderen kei‐ ne sichtbaren Waffen trugen, aber ich dachte an das Mädchen neben mir. Mona besaß nicht die Kräfte wie ich. Doch sie gab nicht auf, denn sie flüsterte mir zu: »Nimm auf mich keine Rücksicht, John. Ich werde meine kleinen Pfeile…« »Nein, laß sie stecken.« »Und dann?« »Sie wollen etwas von uns.« »Ja, unseren Tod!« zischte sie durch die Zähne. »Das ist doch klar…« »Wenn sie das gewollt hätten, wären wir nicht mehr am Leben. Dann hätten sie uns aus dem Hinterhalt abknallen können. Es kann sein, daß sie den Auftrag haben, uns zu ihrem Herrn und Meister zu bringen. Wir werden abwarten müssen.« »Stehen die Chancen dann nicht noch schlechter?« fragte Mona. »Weiß ich nicht.« Unser Gespräch hatte nicht sehr lange gedauert, doch es war in dieser Zeit etwas verändert worden, denn die bleichen Zombie‐Gestalten beweg‐ ten sich innerhalb der dichten Gebüsche. Hatten wir bisher nur ihre Gesichter gesehen, so drückten sie nun ihre Körper vor, vergrößerten die Lücken, so daß sie den schmalen Weg betre‐ ten konnten. Das paßte mir nicht. Ich hob schon meinen rechten Arm. Noch hielten die Finger der Hand das Kreuz umschlossen. Wenn mir ein Zombie zu nahe kam, würde ich ihn vernichten. Einer näherte sich. Ein Typ in Lederjacke. Ich glaubte auch, ihn auf dem Film gesehen zu haben, den man uns in London gezeigt hatte. Er war ziem‐ lich breit, sah auch kraftvoll aus und durch die teigige Haut seiner Hände drückten sich Muskelstränge ab. Er griff nach mir. Mona wollte etwas sagen und schwieg erschreckt, als sie meine Linksbe‐ 330
wegung sah. Plötzlich hatte ich die Faust geöffnet, das Kreuz auf der Hand, und berührte im nächsten Moment das Gesicht dieses widerlichen Wesens. Es brannte den Abdruck hinein! Ein Zeichen, ein Sigill, das an seinen Rändern qualmte, wobei das Gesicht einen fürchterlichen Ausdruck bekam. Meinen linken Fuß drückte ich noch in seinen Körper, der keinen Halt mehr fand und zwischen die Büsche fiel. Er war erledigt. Einen zweiten konnte ich mir nicht mehr vornehmen, denn die vier Kerle griffen an. Mona bekamen sie als erste. Sie hatte sich zu stark auf die vor‐ deren beiden konzentriert, der Treffer erwischte sie im Nacken. Ich sah sie fallen, wollte ihr zu Hilfe eilen, als plötzlich die Lautsprecher stimme auf‐ dröhnte. »Rührt euch nicht!« Ich stand still, denn der für uns unsichtbare Sprecher hatte noch etwas hinzugefügt. »Es gibt da einen Chinesen, der sich in meiner Gewalt befin‐ det und dessen Schicksal in meiner Hand liegt.« Meine Hand sank nach unten. Mona lag noch auf den Knien. Einer der Helfer stellte ihr seinen Fuß auf den Rücken, und zwar so lange, bis der nächste Befehl über den schmalen Pfad hallte. »Schafft sie zu mir!« Ich atmete aus. Die Spannung löste sich, ich bückte mich, um Mona auf die Füße zu helfen. Sie stützte sich bei mir ab und fragte: »Willst du wirk‐ lich gehen, John?« »Es ist besser.« Sie nickte. »Aber dann sind wir in der Höhle des Löwen.« »Sieh es mal positiv. Wir können endlich diesem geheimnisvollen D. C. gegenüberstehen, wissen, wer er ist und wie er aussieht. Außerdem hat er sich Suko geschnappt. Ich will ihn auch befreien.« »Und Rhonda?« »Sie werden wir ebenfalls wiedertreffen.« Bevor die Helfer des Damion Cargal eingreifen konnten, hatten wir uns bereits in Bewegung gesetzt. Führen lassen wollte ich mich nicht, und so wurden wir von vier Menschen und zahlreichen Zombies auf dem Weg zum Zentrum begleitet. Die lebenden Leichen griffen uns nicht an. Das wiederum wunderte mich, normalerweise konnte man sie nicht unter Kontrolle halten, wenn sie 331
Menschen sahen. Irgendwie mußte es Cargal geschafft haben, sie unter seine Kontrolle zu bekommen. D. C. hatte die natürliche Flora der Insel nicht verändert. Unter der Erde mußte sich einiges getan haben, darauf deutete auch die Eisentür hin, die wir plötzlich sahen und die vor uns zur Seite glitt, wobei kaum ein Ge‐ räusch entstand. Vor uns lag der Bunker! Ich bekam schon ein komisches Gefühl, als ich in den betonierten Gang schaute, der in seiner Kahlheit erschreckend wirkte. Auch Mona ging es nicht gut. Bei einem Seitenblick stellte ich fest, daß ihre Gesichtsfarbe grau‐ er geworden war. Nur unsere und die Schritte der Begleiter waren zu hören. Die Zombies folgten uns nicht. Sie waren zurückgeblieben. D. C. verließ sich voll und ganz auf seine vier Aufpasser, die uns nicht aus den Augen ließen. Er wäre bestimmt nicht so lässig gewesen, hätte er nicht meinen Freund Suko als Trumpf in der Hinterhand besessen. Mein Blick war ebenso unruhig wie der meiner Begleiterin. Wir fühlten uns beide nicht wohl, besonders dann nicht, als wir den Luftzug im Na‐ cken nicht mehr spürten. Ein Zeichen, daß sich das Tor hinter uns automa‐ tisch geschlossen hatte. Irgendwo würde es eine Tür geben, hinter der D. C. auf uns lauerte. Ich war gespannt wie selten auf diesen Mann, der ein starker Gegner war und den ich bis zu diesem Augenblick noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Wer konnte es sein? Wie sah er aus? Ich mußte an Fred Diamonds Worte denken. Der Agent hatte davon ge‐ sprochen, daß Cargal verbrannt sein sollte. Er wäre nicht der erste gewe‐ sen, der auf diese Art und Weise ums »Leben« gekommen wäre, um sich anschließend eine neue Legende aufzubauen. »Da, links…« Mehr sagte Mona nicht. Ich sah es selbst. Eine schmalere Tür als die des Eingangs schob sich zur Seite. Es war für uns das Zeichen, über die Schwel‐ le zu treten. »Bleib etwas hinter mir!« hauchte ich meiner Begleiterin zu, die auch ge‐ horchte. Falls es Ärger gab, wollte ich ihn abfangen, damit er sich nicht auf Mona entlud. Gemeinsam betraten wir einen Raum, der auf den ersten Blick nicht viel 332
hergab und sich in zwei Zonen aufteilte. In ein helle und eine dunkle. Wir traten in die helle Zone hinein, die dunkle blieb im Vordergrund und auch der geheimnisvolle Damion Cargal, der auf Voodoo‐Land sämtliche Fäden in den Händen hielt. Unsere vier Bewacher betraten ebenfalls den Raum. Sie verteilten sich so geschickt, daß sie uns im Blickfeld hatten. Die Spannung konzentrierte sich bei mir auf den Magen, wo ich ein hef‐ tiges Drücken spürte. Auch Mona stand auf der Stelle, als wollte sie jeden Moment starten. Ich dachte daran, daß man mich nicht entwaffnet hatte. Wie sicher mußte sich D. C. doch fühlen. War es nur mehr Schau, oder konnte er sich tatsäch‐ lich darauf verlassen. »Du also bist John Sinclair!« hörte ich seine Stimme, der ich nachlauschte. Sie kam mir wieder vor, als würde dieser Typ in ein Mikro sprechen, denn der metallische, künstliche Klang war einfach nicht zu überhören. Redete er etwa vom Band, während er sich tatsächlich ganz woanders aufhielt. Möglicherweise nicht hier, sondern im Unsichtbaren, denn auch das hatte ich schon erlebt. Schwarze Magie, wenn man sie beherrschte, machte sehr viel möglich. »Gratuliere!« fuhr er fort. »Du bist der erste, der es gegen meinen Willen geschafft hat, Voodoo‐Land zu betreten. Alle anderen verloren ihr Leben und schwimmen irgendwo im Meer, falls ich sie nicht übernommen und sie zu Zombies gemacht habe. Sogar eine Freundin hast du dir mitge‐ bracht.« Er lachte. »Das ist fast wie im Film. Exotischer hätte es gar nicht sein können.« »Mona ist nicht meine Freundin, sie will Rhonda Lassalle.« Er lachte wieder. »Ja, die liebe Rhonda. Das ist auch ein Problem. Ich war einfach zu gütig und hätte ihren ersten Fehler, den sie in New Orleans be‐ ging, nicht durchlassen sollen. Ich gab ihr eine Chance, doch sie schaffte es nicht, euch zu stoppen, obwohl sie Helfer mit auf die Reise bekommen hatte. Das Schiff ist gesunken, nicht wahr? Schade eigentlich, da kann man eben nichts machen. Sie lebt übrigens, ich habe sie nicht vernichtet, und sie steht nach wie vor auf meiner Seite. Nur wird sie eigene Gedanken nicht mehr formulieren können. Ihr versteht, was ich meine?« Ich wenigstens begriff. »Sie haben sie zu einem Zombie gemacht, Car‐ 333
gal?« »Ausgezeichnet kombiniert, Geisterjäger. Und meinen Namen kennst du mittlerweile auch. Du bist nicht schlecht, das gebe ich zu. Wir hätten sogar zusammen arbeiten können und wären ein unschlagbares Team gewor‐ den.« »Ich hätte darauf verzichtet.« »Das kann ich mir denken, Sinclair, obwohl deine Kenntnisse über das Gebiet Schwarzer Magie nicht von schlechten Eltern sind. Doch was nicht ist, kann noch werden. Nur wirst du nicht gleichberechtigt an meiner Seite sein, da ich den Zombies keine Gleichberechtigung neben den Menschen zugestehe. Außerdem brauche ich einen Ersatz für Barnabas, den Posten könntest du mit Rhonda ausfüllen.« Ich hörte kaum noch hin. Zu Zombies sollten wir gemacht werden. Klar, das hatte einfach so kommen müssen, aber ich war nicht gewillt, dies so ohne weiteres zu akzeptieren. Bevor es Cargal schaffen würde, mich voll unter seine Kontrolle zu bekommen, würde ich zum Tiger werden, das nahm ich mir fest vor. »Kommen wir noch einmal auf Rhonda zurück, die euch ja so am Herzen liegt«, sagte er. »Wollt ihr sie sehen?« »Auch«, erwiderte ich. »Aber mich würde interessieren, was sie für eine Figur machen, Cargal, wenn wir uns gegenüberstehen.« »Ich werde eine gute Figur machen, Sinclair, darauf kannst du dich ver‐ lassen. Eine hervorragende sogar, denn du wirst erkennen müssen, wie wenig du mir gewachsen bist. Vielleicht steht dir damit zum erstenmal jemand gegenüber, der stärker ist als du. Sogar stärker als die Hölle, Sinc‐ lair.« »Noch sind es Worte.« »Immer der Reihe nach. Ihr hattet es eilig, die Insel zu betreten. Ihr seid auf Voodoo‐Land gekommen und dürft es auch erleben. Zunächst aber Rhonda. Tritt einen Schritt zur Seite, Sinclair, sonst wird es für dich gefähr‐ lich.« An einen Bluff glaubte ich nicht. Deshalb ging ich nach rechts, wo ich in die Nähe eines Bewachers geriet, der augenblicklich eine noch angespann‐ tere Haltung annahm. Er war ein Farbiger und diente dem Voodoo. Auf seiner Gesichtshaut vermengten sich rote, weiße und schwarze Symbole. D. C. hatte nicht geblufft. Wo ich bis vor wenigen Sekunden noch ge‐ 334
standen hatte, tat sich etwas im Boden. Automatisch öffnete sich ein Teil davon, da sich eine dünne Stahlplatte zur Seite schob. Darunter lag ein Gefängnis, in dem Rhonda Lassalle stecken mußte. Die‐ se Tatsache war für Mona interessant, weil Rhonda auf ihrer Liste stand. Ich blickte mehr in die Finsternis hinein und versuchte, dort etwas zu er‐ kennen. Es war mir nicht möglich. Nur ein fahler grüner Schein leuchtete an ver‐ schiedenen Stellen. Er kam mir vor wie eine Instrumentenbeleuchtung, die jedoch nicht den Umriß eines menschlichen Körpers aus der Dunkelheit riß. »Du kannst kommen, Rhonda!« hörten wir Cargals Stimme. »Hier ist jemand, der auf dich wartet!« Mona hielt es nicht mehr aus. Sie war nahe an die Luke herangetreten und schaute nach unten. »Ja, John, sie ist es. Er hat nicht gelogen…« Welchen Sinn hätte das auch haben sollen? Für Rhonda war es nicht ein‐ fach, ihr Gefängnis zu verlassen. Sie mußte klettern. Zuerst erschienen zwei Hände aus dem mit grünlichem Licht erfüllten Schacht. Die Finger krallten sich um die Kante, wo sie eisern festhielten, und Cargal kommentierte aus der ihn schützenden Finsternis den Vorgang. »Als Zombie braucht sie kei‐ ne Hilfe.« Da hatte er recht, aber war sie tatsächlich ein Zombie? Ich wollte es nicht glauben, denn ich hörte ihr scharfes Atmen, auch wenn sie versuchte, es zu unterdrücken und sich dadurch nicht zu verraten. Mona schien ebenfalls etwas bemerkt zu haben. Verwundert schüttelte sie den Kopf. Ich kniff ihr ein Auge zu. Verraten sollte sie nichts, denn mir schien nicht alles so zu laufen, wie es sich Cargal vorgenommen hatte. Das konnte noch interessant werden. Sie kam. Und sie hatte Mühe, auch die letzte Strecke zu überwinden. Ihren Körper konnte sie über den Rand schwingen, stützte sich auf dem Ellbogen ab, rollte sich weiter und hatte endlich ihr Gefängnis verlassen, wobei sie vor der Luke zunächst einmal kniete, und nur langsam den Kopf hob. Ihre Haltung war so, daß sie mich sehen mußte. Ich wich dem Blick nicht aus, sah das Aufleuchten ihrer Augen und das kurze Zucken ihrer Mundwinkel. Sie hatte mich erkannt, und ich wußte endgültig, daß ich es mit keinem Zombie zu tun hatte. Es mußte ihr gelungen sein, D. C. zu täuschen und zu 335
linken. Ich ging wieder zurück und konnte von der Seite her in die Öffnung hin‐ einschielen. Zwei Körper lagen auf dem Schachtboden. Zombies… Erledigt, für alle Zeiten. Das mußte Rhonda getan haben. Aber wie, zum Henker, hatte sie es geschafft, ohne die entsprechenden Waffen zu besit‐ zen? Das wollte mir noch nicht in den Kopf. Zudem traute ich mich nicht, sie zu fragen, es hätte die angespannte Situation völlig auf den Kopf gestellt. Damion Cargal jedenfalls wußte wohl nichts. Ihm machte es nur mehr Spaß, die beiden Feindinnen zu beobachten, wie sie sich gegenüberstanden und sich anschauten. »Da ist deine Rhonda, du kleine schwarze Hure!« rief er laut. »Na, ver‐ such es. Los, räche dich an ihr. Sie steht doch auf deiner Liste!« Er lachte wieder. Mona schüttelte den Kopf. »Nein, Mr. Unbekannt. So einfach ist das nicht. Vielleicht will ich nicht mehr.« »Und wieso nicht?« »Den Grund könnte sie dir selbst sagen!« »Ein Zombie und reden?« höhnte Cargal. »Niemals. Sie ist tot und lebt wieder…« »Irrtum, Damion!« Urplötzlich fuhr die Frau herum und zog eine Waffe. In der Bewegung hatte ich noch mehr gesehen. Nicht allein, daß sie eine Beretta hervorholte, nein, es steckte auch noch etwas in ihrem Gürtel, das ich sehr gut kannte. Sukos Dämonenpeitsche. Mir ging innerhalb eines Sekundenbruchteils ein ganzer Kronleuchter auf. Jetzt wußte ich auch, wieso es Rhonda Lassalle gelungen war, sich der Untoten zu entledigen. So etwas schafften geweihte Silberkugeln! Und D.C. wußte bis zu diesem Augenblick nichts davon, denn auch er mußte von der plötzlichen Reaktion seiner treuen Sklavin überrascht wor‐ den sein, die Sukos Pistole hielt und auf mich und Mona zielte. Nervös schien sie mir nicht zu sein. Wie sie die Waffe bewegte, das ließ schon auf eine gewisse Routine schließen. 336
Sie war gefährlich – und sie wußte, wo ich Suko finden konnte, sonst hät‐ te sie nicht seine Waffen besessen. Deshalb wollte ich mich, falls es mir bei Cargal nicht möglich war, an sie halten. »Kein Zombie, Damion!« rief sie. »Keine lebende Leiche. Im Gegenteil, ich bin verdammt aktiv! Ich habe die beiden gekillt, die mich töten und zu einer Untoten machen sollten!« »Das glaube ich dir nicht«, erklang die Stimme aus der Dunkelheit. Hatte nicht eine Spur von Unsicherheit in ihr mitgeschwungen? Ich war mir nicht sicher. Er erlebte abermals eine Enttäuschung, weil die Personen, die unter seiner Kontrolle standen, nicht so handelten, wie er es sich vorgestellt hat‐ te. »Willst du dir die tumben Gestalten anschauen, Damion? Dann komm aus deinem Versteck hervor und gehe zur Luke. Los, wirf einen Blick hin‐ ein. Da unten liegen sie und rühren sich nicht…« »Das brauche ich nicht.« »Feige auch noch.« »Kompliment, daß du es geschafft hast, Rhonda. Anscheinend bist du besser, als ich gedacht habe. Ich gebe es nicht gerne zu, doch es stimmt. Ich scheine mich in dir getäuscht zu haben. Deshalb schlage ich dir vor, daß wir wieder so zusammenarbeiten wie früher. Du stehst abermals an meiner Seite. Gemeinsam werden wir…« »Spar dir deine Worte, Cargal. Bei mir erreichst du nichts mehr. Und auch deine lebenden Leichen können mich nicht mehr beeindrucken. Ich will, daß du aus deinem verdammten Rattennest herauskommst. Hast du gehört, D. C? Komm her!« »Und dann?« »Du sollst herkommen, verdammt!« »Und wenn nicht?« »Auf diese Frage habe ich direkt gewartet. Ich werde die anderen der Reihe nach erschießen.« »Das ist mir egal.« »Weiß ich auch. Nur hast du dann nichts mehr von ihnen. Und gerade dieser Geisterjäger wäre doch für dich ein ideales Druckmittel, mit dem du Geheimdienste oder Regierungen erpressen kannst.« Ich hatte die Antwort vernommen und mußte innerlich lächeln. Als ob sich ein Geheimdienst oder eine Regierung so einfach erpressen ließen. 337
Wenn ich auf der Strecke blieb – und damit mußte ich immer rechnen –, war das mein Berufsrisiko. Dieser Trumpf würde nicht ziehen. Ich schätzte Cargal schlau genug ein, das ebenfalls zu wissen. »Du bist naiv, Rhonda!« hörten wir ihn sprechen. »Sehr naiv sogar. Deine Rechnung wird niemals aufgehen.« »Soll ich anfangen? Sinclair nehme ich mir zuerst vor.« Sie starrte mich an, während sie sprach, und ich schaute auch in die Mündung von Sukos Beretta. »Laß es sein.« »Dann kommst du her?« »Sicher!« Rhonda atmete tief ein. Ich sah das Glänzen in ihren Augen. Sie verzog den Mund in die Breite. »Das wird ein Spaß«, flüsterte sie mir zu. »Hast du ihn schon gesehen?« »Nein!« »Du wirst dich wundern!« Mehr sagte sie nicht und ließ uns mit der Spannung allein. Auch Mona kannte den geheimnisvollen D.C. nicht. Sie hob die Schultern, als ich ihr einen fragenden Blick zuwarf. Was hatte Fred Diamond noch erzählt? Eigentlich war dieser Mensch ja tot. Wenn er trotzdem lebte, mußte er sich eine perfekte Legende aufgebaut haben, und ich glaubte auch nicht daran, daß ich es bei ihm mit einem Zombie zu tun hatte. Diese Untoten besitzen niemals ein so großes Format, um das aufbauen zu können, was der andere geschafft hatte. Er kam. Wir sahen ihn nicht. In der Dunkelheit hörten wir nur seine Schritte, die lauter wurden. Er setzte seine Füße in einem gewissen Gleichklang. Bei jedem Schritt hämmerte der Absatz auf dem Boden, so daß sich die Echos ausbreiten konnten. Rhonda kannte ihn. Deshalb schaute sie auch nicht gegen die Dunkelheit, wo er bald erscheinen mußte. Ich hatte meinen Kopf ein wenig gedreht. Es war nicht völlig finster, da der Schein einer Instrumentenbeleuchtung die tintige Schwärze an einigen Stellen durchbrach, so daß es mir gelang, hin und wieder den Schatten der gehenden Gestalt zu sehen. »Da kommt er!« hauchte Mona. 338
Sie hatte recht. Am Rande der dunklen Zone war ein Umriß zu sehen. So groß wie ich. Ein normaler Mensch… Damion Cargal! Noch einen Schritt mußte er gehen, dann hatte er die Finsternis hinter sich gelassen. Er trat ins Licht – und… Ich hatte das Gefühl, einen Schlag gegen den Kopf zu bekommen. Zum erstenmal sah ich diesen geheimnisvollen Mann. Mit allem hatte ich ge‐ rechnet, nur damit nicht. »Das gibt es doch nicht!« hauchte Mona neben mir, denn auch sie kam sich vor wie in einem Alptraum… XI Damion Cargal, der sich auch D. C. nannte und der ein so großes Ge‐ heimnis um seine Person gemacht hatte, war ein Mensch und trotzdem ein anderer. Man konnte ihn als eine Mischung bezeichnen. Mensch und Maschine! Kein Roboter, vielleicht ein Kyborg, auch kein Zombie, denn er konnte denken, sprechen, reagieren, Pläne schmieden und handeln. Ein Wesen, das zwar menschlich aussah, mir aber vorkam wie ein Gebilde aus einem Zukunftsroman entsprungen. Einfach furchtbar… Er besaß noch ein menschliches Gesicht, das früher einmal verbrannt ge‐ wesen sein mußte. Der Arzt, der ihn anschließend behandelt hatte, war wohl kein großer Künstler gewesen, oder es war ihm nicht möglich gewe‐ sen, es besser zu machen, denn die Proportionen stimmten nicht mehr. Die Nase saß schief, ebenso der Mund, ein Auge war völlig zugewachsen, wäh‐ rend das andere mir vorkam wie eine Glaslinse oder das technische Auge einer Fernsehkamera. Cargal trug einen weißen Anzug. Die Jacke war hochgeschlossen, und sie fiel weit über die Hüften. Eine Art Mao Look im St.Laurent‐Stil. Auf sei‐ nem Kopf befanden sich dünne Haare, die eine dicke, rote Narbe nicht verdecken konnten. Mein Blick glitt an seiner Gestalt hinab und verharrte 339
bei den Klumpen, die aus seinen Hosenbeinen hervorschauten. Füße waren das nicht. Mich wunderte es überhaupt, daß er noch laufen konnte, so un‐ förmig sahen die schwarzen Schuhe aus. Zudem besaßen sie verschiedene Größen. Auch die Hände sah ich. Eine Hand war völlig normal, die andere nicht. Man hatte sie einer menschlichen nachgebaut. Eine Konstruktion aus Metall, wahrscheinlich sogar ein Edelmetall, doch durch irgendeine Mechanik war es D. C. mög‐ lich, die Finger der künstlichen Hand völlig normal zu bewegen. Er konnte sie krümmen, strecken und zusammenballen. Das war er also! Nachdem ich meinen ersten Schock überwunden hatte, wollte ich mehr über ihn wissen. »Ich hörte, daß du gestorben bist«, sagte ich. »Ich stehe doch vor dir!« »Kann es sein, daß du ein zweites Mal lebst?« »Als Zombie?« fragte er. »Nein, kein Zombie. Es gibt auch noch andere Dinge. Zwitter, die zwi‐ schen einem Menschen und einem Zombie stehen. Schon vor Jahren hat man sie mit einem bestimmten Namen bedacht. Man nannte sie Kyborgs. Technische Geschöpfe, menschenähnlich. Ich möchte das Monster Fran‐ kenstein als den ersten Kyborg bezeichnen oder auch den Golem. Das scheint mir meiner Ansicht nach dem, was du bist, am nächsten zu kom‐ men.« Er nickte. »Gut gedacht und gefolgert, Sinclair.« »Dann bist du also ein Kyborg und führst gewissermaßen ein zweites Leben?« »So ist es.« Ich lauschte dem Klang der Stimme nach. Sie klang zwar menschlich, dennoch auch technisch, als würde tief in seiner Kehle ein Band ablaufen. Demnach schienen seine Stimmbänder auch neu geschaffen worden zu sein. Stellte sich die Frage, was an ihm überhaupt noch normal war? Wahr‐ scheinlich gar nichts. Besaß er ein Herz, eine Leber, eine Lunge? Das wollte ich herausbekom‐ men, denn so eine Gestalt war mir in meiner Laufbahn noch nie begegnet. »Wer bist du geworden, Cargal?« »Du bist sehr neugierig, Sinclair!« »Steht mir das nicht zu, nach dem, was alles hinter mir liegt?« Er nickte. Sein Auge funkelte. »Ja, schon, das stimmt. Ich bin Herr über 340
die Zombies.« »Das kann der Teufel auch sein.« »Sicher, aber nicht so wie ich, denn ich kann sie leiten. Sie erfüllen meine Befehle, weil ich die, die auf magischer Basis leben, durch Technik kontrol‐ liere. Ist dir das klar?« »Noch nicht.« »Die Zombies reagieren wie Computer, denen man einen Befehl eingibt. Ich bin der Input, sie stellen den Output dar. Bei jedem ihrer Schädel habe ich ein kleines Modul eingebaut, so daß sie mit mir in Verbindung stehen. Ich habe einen Fehler insofern gemacht, daß ich auf die beiden, die im Schacht steckten, nicht achtete. So hätte ich ihre Vernichtung längst mitbe‐ kommen können. Das läßt sich nun nicht mehr ändern. Aber du willst wis‐ sen, wie ich zu dem gekommen bin, was ich heute bin.« »Genau.« »Hat man dir erzählt, wer ich war?« »So in etwa.« »Der Name Damion Cargal hatte Gewicht in Louisiana und über dessen Grenzen hinaus. Ich war auf dem Weg zur Macht, aber man setzte mir Grenzen. Man wollte mich nicht, man jagte mich. Ich beschäftigte mich deshalb mit Voodoo. Und ich wußte genau, daß ein Leben, auch wenn man schon im Sarg liegt, nicht beendet sein darf. Der Voodoo‐Zauber, von vie‐ len verlacht und nicht akzeptiert, besitzt jedoch Geheimnisse, die zu er‐ gründen es einer unheimlichen Arbeit bedarf. Ich erinnerte mich wieder an die Frau, mit der alles angefangen hatte: Marie Leveau. Sie wußte mehr, viel mehr, als die anderen Menschen oder Voodoo‐Diener. Sie kannte alle Geheimnisse, sie hatte geforscht, und ich machte es ihr nach. Dann entschloß ich mich zu sterben. Ich war plötzlich nicht mehr da. Man fand einen verbrannten Körper, der meinem glich. Ich selbst habe auch in der Maschine gesessen und ebenfalls etwas mitbekommen. Das war nicht ge‐ plant. Normalerweise hätte ich mit den Verbrennungen sterben müssen, aber ich zog mich zurück auf diese Insel, von deren Existenz ich schon damals wußte. Und hier lebte ein Voodoo‐Priester, mit dem ich mich zu‐ sammentat. Er besorgte alles, was ich brauchte, um ein neuer Mensch zu werden, eben ein Kyborg. Magie und Technik ermöglichten es. Ich wurde neu gebastelt und durch den Voodoo‐Zauber weiterhin am Leben gehalten. Du siehst mich vor dir. Nicht tot und nicht richtig lebendig, aber jemand, 341
der es versteht, zu denken und Pläne zu schmieden. Als ich soweit war, wollte ich keine Zeugen haben, tötete den Voodoo‐Priester auf dem großen Opferplatz und übernahm die Herrschaft. Ich baute die Insel aus und er‐ fand die Division. Schon bald lehrte mein Name die Geheimdienste das Fürchten, denn es wußte niemand, wer sich hinter dem Namen D. C. verbarg. Vielleicht ahnten es einige. Um sich nicht lächerlich zu machen, behielten sie den Verdacht für sich. Meine Macht wurde größer und stär‐ ker. Ich hatte schnell eine schlagkräftige Truppe beisammen, wurde von Regierungen und großen Konzernen kontaktiert, um ihre Probleme auf meine Weise lösen zu können. Nie habe ich soviel Geld und Macht beses‐ sen wie heute.« »Und trotzdem bist du am Ende«, erklärte ich. »Nein, Sinclair, ich stehe an einem Neubeginn, der mit deiner und der Vernichtung deiner Freunde weitergeführt wird. Auf dieser Insel herrsche ich, und ich bestimme, wer sie als Lebender verlassen kann oder wer nicht. Auch Rhonda werde ich ausschalten. Sie ist eben noch ein Mensch und macht zu viele Fehler.« »Nicht mehr, Cargal!« sagte sie. Der Klang ihrer Stimme warnte mich. Wenn mich nicht alles täuschte, hatte sich die Lassalle zu einer Initiative oder Tat durchgerungen. Zudem stand D. C. sehr günstig. Ich sprach dagegen. »Lassen sie es lieber! Dieser Mann ist ihnen über!« »Nein!« war die Antwort und ebenso schnell die Handlung. Rhonda drehte die Waffe und schoß. In ihrem Gesicht bewegte sich nichts, und verfehlen konnte sie diesen Mann auf diese Entfernung hin auch nicht. Es wurde ein Volltreffer. Die Kugel hämmerte in die Brust des Damion Car‐ gal, der beide Arme in die Höhe warf, zurückging, so daß ich schon be‐ fürchtete, er würde in der Dunkelheit verschwinden. Doch er blieb sehr schnell stehen und lachte scharf. Dann kam er wieder vor. Mit einer Kugel, die in seinem Körper steckte. Geweihtes Silber, das auch ihn nicht tötete. Dieser Mann war etwas Beson‐ deres. Ein Kyborg eben… Konnte man ihn überhaupt vernichten? Was an ihm war noch mensch‐ lich, was war Technik? Ich wußte es nicht, die Lassalle ebenfalls nicht, und sie stand da mit offe‐ 342
nem Mund, staunte D. C. an, wobei sie den Kopf schüttelte. Cargal freute sich über die Reaktion. »Es ist nicht so einfach, den Herrn der Zombies zu vernichten. Die Untoten selbst kannst du aus ihrem Dasein herausschießen, mich nicht.« »Wer bist du?« ächzte Rhonda. »Ein Kyborg!« »Ich finde noch eine Möglichkeit, dich zu töten.« Sie atmete schnell und hektisch. »Ich komme hier auch raus, und dann…« Er winkte ab. »Laß es, Rhonda, du hast keine Chance. Ebensowenig wie Sinclair und die kleine Schwarze an seiner Seite. Ihr seid die Verlorenen von Voodoo‐Land. Wie wollt ihr sterben? Sucht es euch aus, ich bin groß‐ zügig.« Bevor irgend jemand etwas erwidern konnte, hatte ich das Wort ergrif‐ fen. »Wenn wir schon keine Chance besitzen, möchte ich den Todesplatz meines Freundes Suko sehen.« »Du meinst den Gelben?« »Ja.« 0ie beiden Frauen schauten mich an, und D. C. ebenfalls aus seinem ei‐ nen Auge, das meiner Ansicht nach ebenfalls künstlich sein mußte. Cargals letzte Demonstration war zwar sehr eindrucksvoll gewesen, völlig abge‐ schrieben hatte ich mich jedoch nicht. Nur mußte ich zusehen, daß wir den verdammten Bunker wieder verließen. Hier unten besaß er die Kontrolle, außerhalb bekamen wir mehr Bewegungsfreiheit. Er starrte mich an. Ich lächelte harmlos. Jedenfalls versuchte ich das, und Cargal schüttelte den Kopf. »Das ist ein Trick, Sinclair.« »Wieso?« »Du willst dir eine Chance geben.« »Das will jeder«, gab ich zu. Meine Offenheit verwunderte ihn. Rasch sprach ich weiter. »Es wäre auch unnatürlich, aber du hast deine Insel un‐ ter Kontrolle, bist gegen Kugeln gefeit, weißt die Zombies im Rücken, was kann dir durch uns noch geschehen?« »Im Prinzip nichts.« »Dann laß uns gehen.« »Ich kenne den Ort«, meldete sich Rhonda. »Es ist die Opferstelle auf Voodoo‐Land. Sie liegt auf einem Hügel. Von dort kann man weit über das 343
Meer schauen…« »Ein idealer Platz zum Sterben«, erklärte D. C. nachdenklich. Er strich mit seiner Metallhand über den Kopf und drückte seine Finger gegen die Stirn, als würde er scharf überlegen. Seine vier Bewacher standen wie Ölgötzen. Sollte sich Cargal anders ent‐ scheiden und uns nicht freilassen, wollte ich mir die Typen vornehmen. Vielleicht konnte ich sie überraschen, und auch Mona mußte dann mit eingreifen. Unter Umständen Rhonda Lassalle, wir saßen jetzt schließlich in einem Boot. Die Sekunden dehnten sich. Allmählich wurde es spannend. Wie ent‐ schied sich D. C? Er legte seinen Schädel schief. Um die Mundwinkel sah ich das Zucken. »Nein«, sagte er plötzlich. »Nein und abermals nein. Darauf gehe ich nicht ein. Keine Kompromisse, Sinclair. Der Horror lauert draußen und hier. Ich bleibe dabei. Du wirst den Gelben nicht mehr sehen.« »Dein letztes Wort?« »Ja!« Es sah so aus, als hätte ich aufgegeben, denn ich senkte den Kopf und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. Eine Geste der Resignation, die auch Mona mitbekam. Beschwörend rief sie meinen Namen. »John, das kannst du nicht machen! Du läßt uns im Stich…« Cargal lachte. Ich drehte mich zu Mona hin und hob beide Arme. »Was soll ich denn noch alles…« Im gleichen Augenblick wirbelte ich auf der Stelle herum und nahm die beiden ersten Voodoo‐Diener aufs Korn… * Mit dieser Reaktion hatte keiner der Anwesenden gerechnet. Deshalb ge‐ lang mir auch die Überraschung. Bevor noch jemand angreifen oder sich mir in den Weg stellen konnte, war ich schon da und gewitterartig über die beiden gekommen. Da ich zwei Hände besaß, setzte ich sie auch zur gleichen Zeit ein. Ich hämmerte mit den Handkanten zu, und sie bekamen nicht einmal die Chance, ihre Arme zur Abwehr hochzureißen. 344
Dicht unter der ausgelaufenen Schminke trafen meine Hände. Ich spürte noch die federnden Muskelstränge, hörte das Ächzen der Männer, und einen Augenblick später sackten sie in die Knie. Sie fielen sogar gegenein‐ ander, klammerten sich aneinander fest, bevor sie endgültig ins Reich der Träume glitten. Während sie zusammensanken, sprang ich über die beiden hinweg und hörte auch den Schrei der jungen Negerin. Rhonda Lassalle setzte sich ebenfalls in Bewegung. Sie huschte weg von Mona und hatte sich als neues Ziel Damion Cargal ausgesucht. Noch war es nicht geschafft, denn die zwei restlichen Voodoo‐Diener griffen mich an, während Rhonda und D. C. in der Finsternis der zweiten Raumhälfte verschwanden. Die beiden machten es geschickter. Sie nahmen mich in die Zange. Und sie waren nicht waffenlos, denn sie zogen kurze Stöcke aus ihren Gürteln hervor, die sie in den Händen hielten und wippen ließen. Mona stand sprungbereit neben mir. Sie hatte ihr Blasrohr gezogen, was mir nicht gefiel, denn ich schüttelte den Kopf. »Keine Toten, Mona, das erledige ich auch so.« »Gib acht, Geisterjäger. Die Stöcke sind gefährlich. Sie enthalten Strom, werden durch eine Batterie gespeist. Eigentlich sollen sie Zombies abhal‐ ten. Wenn du von ihnen erwischt wirst, kann es schlecht aussehen für dich.« »Danke für die Warnung!« Ich schaute mir die beiden sehr genau an. Sie schlichen auf mich zu. Ihre nackten Füße hinterließen klatschende Laute auf dem Boden. Aus dem Hintergrund hörte ich Rhondas wütende Schreie und das La‐ chen Cargals. Ich war gespannt, wie die beiden zurechtkamen, und sah den ersten Voodoo‐Diener, der mir an den Kragen wollte. Er hatte weit ausge‐ holt und drosch seinen Knüppel von oben nach unten. Blitzschnell lief ich ihm entgegen, und als er zuschlug, tauchte ich unter dem Arm weg, drehte mich gleichzeitig zur Seite, so daß ich meine Hand in seine Achselhöhle stemmen konnte. Er flog zurück. Ich hörte ihn noch schreien, ließ mich gleichzeitig fallen und entging so dem nächsten Treffer. Als der zweite noch einmal ausholte, griff Mona zu einem alten Trick. Ihr Tritt säbelte in die Kniekehlen des Schwarzen und riß ihn von den Füßen. Damit hatte er nicht gerechnet. Wie 345
ein lebloser Gegenstand fiel er auf den Rücken, federte sofort wieder hoch und genau in meinen Schlag hinein, der ihn unter dem Kinn erwischte und durchschüttelte. Er wurde nach hinten geschleudert, sein Blick bekam schon den typischen Glanz eines Menschen, der kurz davor steht, bewußt‐ los zu werden. So auch er. Lang krachte er hin und blieb auf dem Rücken liegen. Die Augen hatte er verdreht. Sie wirkten wie zwei schiefsitzende Glasmurmeln in den Höhlen. Mona hatte bereits einen der Stäbe an sich genommen. Auch nach dem zweiten griff sie und hielt ihn mir entgegen, »Nimm ihn, John!« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich brauche Cargal!« »Der ist im anderen Teil des Bunkers.« »Gut, Mona. Bleib in der Nähe. Wenn die Voodoo‐Diener aus ihrer Be‐ wußtlosigkeit erwachen, weißt du, was du zu tun hast. Gib ihnen einen Schlag mit den Knüppeln.« »Mach ich.« Für mich war es nicht nur wichtig, Cargal zu finden, ich wollte aus dem Bunker hinaus. Irgendwo mußte es einen Kontakt geben, über den sich die Tür öffnen ließ. Zum erstenmal gelangte ich in das eigentliche Reich des Damion Cargal. Fast wäre ich über das gewaltige, halbrund gestaltete Steuerpult gestolpert, das so aussah wie die Steuerzentrale einer Fabrik. Zahlreiche Monitore konnten von einem zentralen Sitz aus gesteuert werden. Hier nahm derje‐ nige Platz, der alles überblicken wollte, und ich untersuchte die Anlage jetzt genauer. Sie gestattete die Kontrolle über Voodoo‐Land. Draußen lag bereits die Morgendämmerung über dem Golf. Das graue Licht verwischte noch die Konturen, aber ich konnte auf einigen Bildschirmen die umherirrenden Zombies erkennen, die eigentlichen Herren der Insel. Sie würden uns auch noch vor Probleme stellen, falls wir es schafften, den Bunker zu verlassen. Von Rhonda Lassalle und Damion Cargal sah ich nichts. Auch waren sie nicht zu hören. Sie mußten sich in der hinter mir liegenden Dunkelheit befinden, in die der Schein der Instrumentenbeleuchtung nicht mehr hi‐ neinstoßen konnte, da er sich sehr schnell verlor. Ich ging dennoch hin und blieb stehen, als ich ein heftiges Keuchen ver‐ nahm. 346
»Rhonda?« Meine Stimme klang gepreßt. »Ja…« »Wo bist du?« »Ich… ich komme.« Zeit hatte ich nicht. Ich mußte sie mir trotzdem nehmen und sah die Las‐ salle, wie sich weiterquälte. Sie mußte etwas abbekommen haben, sprach aber nicht darüber, sondern stellte sich aufrecht, als sie mich erreicht hatte und mich anblickte. »Wo steckt Cargal?« »Er ist weg.« Ich hatte nicht ganz begriffen. »Wieso das?« fragte ich. »Wie kann er ver‐ schwunden sein? Wir hätten ihn sehen müssen, wie er zum Ausgang ge‐ laufen ist.« »Das schon. Es gibt einen zweiten.« »Wo?« »Du kannst nichts damit anfangen. Es ist ein Geheimgang, der nur derje‐ nige öffnen kann, der auch den entsprechenden Code kennt. Nein, D. C. ist verdammt geschickt.« Das gefiel mir überhaupt nicht. Ich überlegte und kam zu dem Resultat, daß uns nichts weiter übrigblieb, als durch den normalen Ein‐ oder Aus‐ gang zu gehen. Rhonda nickte. »Das stimmt.« »Wie kriegen wir ihn offen?« »Keine Ahnung.« Sie deutete auf das große Steuerpult. »Dort hat er ge‐ sessen und alles gelenkt.« »Auch das Öffnen und Schließen?« »Ja.« »Dann werde ich mal nachsehen.« Mona kam herbei. »Sie schlafen«, erklärte sie, um anschließend Rhonda anzuschauen. »Wir beide haben auch noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen, du verdammte Hyäne.« Mir gefielen Monas Sprüche nicht. Schließlich hatten wir Wichtigeres zu tun, als uns über persönliche Probleme zu unterhalten und aufzureiben. Cargal war verschwunden, und ich konnte mir vorstellen, wohin er sich begeben würde. Zu diesem verdammten Opferplatz, wo Suko lag. 347
Auch ich wurde nervös. »Verdammt noch mal!« fuhr ich Rhonda an. »Stehen Sie hier nicht rum, helfen sie lieber mit, den Kontakt zu finden, der es uns ermöglicht, die Tür zu öffnen.« »Ich weiß es nicht.« »Sind sie nicht seine Vertraute?« »In New Orleans, nicht auf der Insel. Ich kannte ihn bis vor wenigen Stunden nicht mal persönlich. Voodoo‐Land gehörte ihm, ich blieb immer im Hellen stehen, wo er mich genau erkennen konnte. Tut mir leid, Sinc‐ lair, auf mich kannst du nicht rechnen.« Ich hatte ihr zugehört und gleichzeitig meine Blicke über das Kontroll‐ pult gleiten lassen. Auch auf die Monitore schaute ich, sah die unterschied‐ lichen Ausschnitte der Insel, entdeckte Zombies und auch eine Gestalt, die sich nicht so bewegte wie die lebenden Leichen. Sie lief wesentlich schnel‐ ler. Das war D. C! Er wußte genau, daß wir ihn beobachteten oder ob es Zufall war, jeden‐ falls befand er sich dicht bei einer der versteckt angebrachten Kameras, wo er seinen Kopf drehte und direkt in die Optik schaute, die das Bild auf den Monitor übertrug. Zum Greifen nahe war sein scheußliches Gesicht. Das eine Auge, die lan‐ ge Narbe, der flache Mund und das widerliche Grinsen, das einen Triumph anzeigte. Nein, Cargal hatte noch nicht aufgegeben. Er würde Voodoo‐ Land bis zum letzten Blutstropfen oder bis zur letzten Schraube verteidi‐ gen. Das Gesicht verschwand, ich suchte weiter. Hebel, Knöpfe, Kontrollichter. Auch Sensortasten, die alles mögliche in Funktion setzen konnten, doch wo sich die Tür bewegen ließ, stand nir‐ gendwo. Ich hätte natürlich alles drücken können, aber das wäre Unsinn gewesen. Trotz der Hektik ging ich systematisch vor. Den Stuhl, auf dem Cargal gesessen hatte, nahm ich mir besonders vor. »Hat er von hier immer ge‐ sprochen?« fragte ich Rhonda. »Ja, hier saß er.« »Dann mußten auch die für ihn wichtigen Bedienungselemente in Reichweite liegen?« »Davon kann man ausgehen.« 348
Ich kippte den Stuhl und konnte so unter die Konsole blicken. Manchmal sind an diesen Stellen auch irgendwelche Kontakte angebracht worden. Gleichzeitig fühlte ich nach. Meine Fingerspitzen glitten über das glatte Metall, suchten in verschie‐ denen Richtungen und schafften es nach mehrmaligem Tasten und Zurück‐ fahren endlich, die beiden Knöpfe zu finden. Sofort stoppte ich. »Hier ist etwas.« »Und?« fragte Mona. »Ich weiß es noch nicht genau, aber man könnte es ausprobieren.« Alles oder Nichts, so hieß die Devise. Deshalb zögerte ich keinen Augenblick länger und drückte die beiden Knöpfe gleichzeitig nach innen. Dann richte‐ te ich mich auf. Wir konnten in den hellen Teil des Raumes hineinschauen und sahen nach wenigen Sekunden das, was wir erhofften. Die Ausgangstür rollte zur Seite. Sie gab endlich den Weg frei. Da ich zwei Knöpfe gedrückt hatte, konnten wir auch damit rechnen, daß sich die Außentür ebenfalls öffnen würde. Für uns gab es kein Halten mehr. An den bewußtlosen Voodoo‐Dienern liefen wir vorbei und huschten in den breiten Gang, wo wir uns sofort nach rechts wandten und sahen, daß sich am Ende des Gangs etwas ereignet hatte. Erstes, graues Tageslicht sickerte uns entgegen. Der Ausgang war frei! Ich holte tief Luft und war schneller als die beiden Frauen. Es tat gut, wieder weichen Grasboden unter den Sohlen zu spüren, und ich blieb ste‐ hen, atmete tief durch, wartete auf die Frauen, während ich mich gleichzei‐ tig nach den lebenden Toten umschaute. Im Augenblick lauerte keiner in der Nähe. Sie besaßen zudem gute Ver‐ stecke, weil Frühnebelschwaden über den Boden und durch das Unterholz krochen. Mona und Rhonda kamen zu mir. Zum Glück war die Lassalle dabei. Sie kannte die Insel und würde auch den Weg wissen, der zu diesem Opfer‐ platz und Aussichtspunkt führte. Die Lassalle kam mir ziemlich erschöpft vor. Sie hielt sich auch nicht mehr so aufrecht wie sonst, ihr Gesicht zeigte hin und wieder einen ange‐ strengten oder verzerrten Ausdruck. Auch sah ich, daß sie eine Hand ge‐ 349
gen ihre rechte Seite gepreßt hielt. »Wo befindet sich der Platz?« »Ich führe euch hin.« »Schaffen Sie das?« »Ja, kommen Sie.« Abrupt drehte sie sich um. Unwirsch hatte ihre Ant‐ wort geklungen, und Mona wunderte sich ebenfalls, als sie die Frau an‐ schaute. »Was hat sie?« »Keine Ahnung.« »Sie sieht aus, als hätte es sie erwischt.« »Möglich.« »Hoffentlich hält sie durch, unsere Voodoo‐Königin.« Die Schwarze lach‐ te. »Wie klein sie doch geworden ist. So verdammt klein. Jetzt paßt sie in jeden Fingerhut. Und vor der haben die Leute mal gezittert. Wo gibt es denn so etwas?« Ich achtete nicht auf ihre Worte. Wahrscheinlich hatte sie sich dies von der Seele reden müssen. Wichtig war jetzt nur, das neue Ziel so rasch wie möglich zu erreichen. Wir folgten Rhonda. Schon sehr bald hatte uns der tropische Wald verschluckt, in dem die Luft stand und sich schwer auf unsere Atemwege legte. Ich hatte das Ge‐ fühl, mich in einer feuchten Waschküche zu befinden, denn die Dunst‐ schleier stiegen von Minute zu Minute höher. Sie würden sich bestimmt bis zum Mittag halten, bevor die Sonne so weit gestiegen war, daß sie den Nebel wegdampfen konnte. Sehr schmal waren die Pfade. Es gab auf der Insel wohl keine breiten Wege, dafür wuchs die Vegetation einfach zu dicht. Zum Glück brauchten wir keine Machete. An zahlreichen Stellen verteilt, entdeckte ich die braunen Kästen der Lautsprecher und sah auch hin und wieder die schimmernden Glotzaugen der versteckt angebrachten Kameras. Von den Zombies war uns seit unserer Flucht bisher noch keiner über den Weg gelaufen. Ich konnte mir vorstellen, daß Damion Cargal sie an der Opferstelle zusammenzog, damit sie dort einen Ring bildeten, der ihn schützen sollte. Rhonda Lassalle hatte Mühe. Sie strengte sich an, wir hörten sie keuchen, und wenn es besonders steil hinaufging – das waren immer nur kleine 350
Stücke – , hatte ich das Gefühl, als würde sie jeden Augenblick nach hinten kippen. Sie fing sich jedesmal, ging weiter und hielt sich manchmal an Zweigen oder Ästen fest. Über uns erhellte sich der Himmel. Der Tag hatte die Dunkelheit der Nacht weiter zurückgeschoben. An den Rändern zeigten sich schon sehr helle, breite Streifen, und sogar ein Sonnenstrahl explodierte in diesem Zwischenraum. Wie ein breiter Speer jagte er über den Himmel, um sich in der Ferne zu verlieren. Wir kämpften uns weiter in die Höhe. Liefen durch Kehren und Kurven, gaben nicht auf, und gewannen Yard für Yard. Rhonda hatte die Führung übernommen, blieb plötzlich stehen und deutete nach vorn. Sprechen konnte sie nicht, weil sie zu hart arbeitete. Auch ohne Kommentar sahen wir es. Zwei Zombies versperrten uns den Weg. Sie waren so breit, daß sie sich gegenseitig anstießen, als sie nebeneinander standen. Ihre Blicke waren starr nach vorne gerichtet, und wir wurden von ihnen fixiert wie Men‐ schen, deren letztes Stündlein bereits ein‐geläutet worden war. »Soll ich sie erschießen?« fragte Mona. »Nein.« Ich drängte auch Rhonda Lassalle zurück, die ebenfalls ihre Waf‐ fe gezogen hatte und bereits auf die beiden lebenden Leichen anlegte. »Das mache ich.« Mein Kreuz sollte sie lautlos vernichten. Der Weg führte nach oben. Die beiden standen demnach höher als wir. Sie schwankten, und einer von ihnen – es war der rechte ‐ ließ sich plötz‐ lich fallen. Mit seinem Gewicht wollte er mich zu Boden drücken. Ich blieb stehen und hämmerte meine rechte Faust vor. Aus ihr hob sich das Kreuz. Zur Seite drückte ich mich erst, als mich der untote Leib fast berührt hatte. Da‐ für bekam er Kontakt mit dem geweihten Kreuz, und das »überlebte« er nicht. Er schlug zu Boden, wollte sich noch herumwälzen, aber selbst dazu war er nicht mehr in der Lage. Rhonda schaute mich an. Ihr Blick war dabei auf das Kreuz gefallen, und sie nickte. »Das also ist deine starke Waffe.« »Genau.« 351
Sie ging weiter. Der zweite Zombie hatte sich zurückgezogen. Das Un‐ terholz schlug hinter ihm zusammen wie eine Woge. Vielleicht wollte er seinen Herrn und Meister warnen. Mir war das egal. Ich wußte sowieso, daß D. C. mit unserem Kommen rechnete. »Weiter!« trieb ich Rhonda an. Sie wollte etwas sagen, ich sah ihr verzerrtes, schweißüberströmtes Ge‐ sicht und wußte, daß sie Schwierigkeiten hatte. Mein Blick glitt an ihrem schlanken Körper nach unten. An der rechten Seite sah ich das Blut, es sickerte durch ihre gespreizten Finger und hatte auch einen Teil der Klei‐ dung durchnäßt. »Was ist los?« fragte ich sie. »Geht weiter, verdammt. Ich komme nach.« »Führt dieser Weg direkt zum Ziel?« »Ja.« Mona schaute auf ihre Widersacherin. In dem Gesicht der Schwarzen regte sich nichts. Sie drückte sich an der blondhaarigen Frau vorbei und blieb an meiner Seite. Hinter der nächsten Kehre sprach sie mich an. »Rhonda hat es erwischt, nicht?« »Sogar ziemlich böse.« »Wer kann das gewesen sein?« »Ich weiß es nicht genau. In Frage kommt eigentlich nur Damion Cargal, als sie ihm in den Bunker folgte.« »Dann muß er sie verdammt hassen.« »Wie auch umgekehrt.« Wenn wir redeten, verloren wir zuviel an Kondition. Deshalb brachen wir unsere Unterhaltung wieder ab und liefen weiter durch diese dumpfe Treibhaushölle. Es war naß. Selbst unser Atem dampfte, wenn er vor den Lippen kochte. Ich hatte das Gefühl, mich selbst auswringen zu können. Der Schweiß hatte sich in meinem Nacken gesammelt und lief mir in langen Bahnen den Rü‐ cken hinab. Hin und wieder sahen wir einen Zombie. Diese lebenden Leichen kamen aber nie so nahe an uns heran, daß wir sie mit einer schnellen Aktion erwi‐ schen konnten. Zumeist waren ihre blassen Gesichter sehr rasch zwischen dem Grün der Dschungelpflanzen verschwunden. Rhonda sahen wir nicht, auch wenn wir zurückschauten. Vielleicht wür‐ 352
de sie es bis zur Lichtung nicht mehr schaffen. Unser Problem war das nicht. Sie hatte sehr hoch gereizt, noch höher gespielt und war als Verliere‐ rin sehr tief gefallen. Durch unseren schnellen Gang hatten wir ziemlich rasch an Höhe ge‐ wonnen. Manchmal konnten wir auch über die Wipfel der tropischen Bäume hinwegschauen. Ich sah das Meer als graue Fläche, über der ein schwacher Dunstschimmer lag. Von dem in Reserve lauernden Kriegsschiff entdeckte ich nichts. Ich hoff‐ te allerdings, daß die Besatzung Voodoo‐Land wenigstens auf dem Radar‐ schirm unter Kontrolle hielt. Eigentlich mußten wir es in den nächsten Minuten gepackt haben, schließlich wuchsen auf dieser Insel keine Berge, sondern nur bewachsene Hügel. Wir kamen hoch, und wir sahen es. Zugleich blieben wir stehen. Ich drückte Mona schnell zurück, die schon vorrennen wollte. Jetzt war uns auch klar, aus welchem Grunde uns bisher so wenig Zom‐ bies begegnet waren. Die lauerten nicht mehr im Wald. D. C, ihr Herr und Meister, hatte es verstanden, sie auf dem Opferplatz zusammenzuziehen, wo sie einen regelrechten Ring bildeten, der zum Glück noch genügend Lücken besaß, durch die wir schauen konnten. Ich sah den Mittelpunkt. Und damit auch den Sarg! Aus den Tälern stiegen Nebelschwaden in die Höhe, die den dunklen Sarg und auch Damion Cargal wie dünne, schleierartige Arme umwoben, als wollten sie ihn nie mehr loslassen. D. C. hatte sich gebückt. Seine Arme griffen in den offenen Sarg hinein und hoben in diesem Augenblick eine leblose Gestalt hervor, die ich sehr gut kannte. Es war mein Freund Suko! Was sollte ich tun? Wie ein Berserker den Ring der lebenden Leichen durchbrechen und mich auf Cargal stürzen? Das machte ich nicht. Noch standen wir günstig, vielleicht hatte er uns nicht entdeckt, und wir warteten ab. Cargal schritt mit seiner menschlichen Last auf den Armen um den Sarg herum. Er mußte gewaltige Kräfte besit‐ 353
zen, denn Suko trug er mit einer gewissen Leichtigkeit. Bei meinem Partner und Freund sah ich keine Regung. Er hing auf den Armen dieses Mannes wie ein Toter. Seine Arme und Beine pendelten nach unten, sie schwangen bei jedem Schritt. Man konnte es schon mit der Angst zu tun bekommen, wenn man diesen Menschen, der zu den agilsten gehörte, die ich kannte, in so einer Lage sah. Ich mußte mich mit Gewalt zurückhalten und ballte meine Hände zu Fäusten. Ein Zeichen der inneren Wut, die in mir tobte. Die Zombies blieben auf dem Fleck. Ich hatte sie nicht genau gezählt, knapp zwanzig mußten es sein. Eine Menge an Gegnern, doch für uns allein war Damion Cargal wichtig. Was hatte er mit Suko vor? Ich erfuhr es nicht von ihm, sondern von einer anderen Person, die sich unserem Versteck keuchend näherte. Als ich mich umschaute, erkannte ich Rhonda Lassalle. Sie ging die letzten Schritte mit einer Mühe, die mich sehr nachdenklich werden ließ. Es schien sie stärker erwischt zu haben, als sie zugeben wollte. Sogar Mona ließ es zu, daß sie eine rechte Hand auf ihre Schulter legte und sich abstützte. Der Blutfleck an der rechten Seite war inzwischen ge‐ wachsen. Rhonda blickte mich an. »Er ist da, nicht?« »Ja.« »Und hast du auch deinen Freund gesehen?« »Sicher.« »Lebt er noch?« Ich lachte bitter. »Was soll die Frage. Du weißt selbst, daß man ihn in ei‐ nen scheintoten Zustand versetzt hat.« »Er bekam die Zombie‐Droge. Nur wenige kennen sie. Es sind die alten Meister, und noch weniger Menschen kennen das Gegenmittel.« »Weißt du es?« »Nein.« »Cargal denn?« fragte Mona. »Sicher kennt er es. Das Mittel trägt er sogar bei sich, wie er mir einmal sagte. Er hatte ja große Pläne vor. D. C. wollte mächtige Politiker und einflußreiche Manager der Wirtschaft mit seiner Zombie‐Droge infizieren. Bisher ist es ihm nicht gelungen, aber so sahen seine Pläne aus, die er noch zurückstellen mußte.« 354
»Wie nimmt man das Gegenmittel ein?« fragte ich. »Man kann es trinken, spritzen oder in Tablettenform kauen. Das ist ei‐ gentlich egal.« »Und du bist dir sicher, daß Cargal es bei sich trägt?« »Völlig.« Ich schaute wieder durch eine Lücke im Zombie‐Ring. Auch Rhonda Las‐ salle nahm eine andere Stellung ein. Sie hielt sich jetzt an einem Zweig fest und konnte das sehen, was auch ich erkannte. Sie winkte ab. »Ja, das ist das Ritual, er wird deinen Freund töten und mit seinem Blut den Boden tränken.« »Weshalb?« »Genau an dieser Stelle hat auch der alte Magier, den Cargal auf dieser Insel fand, seinen Opferplatz gehabt. Hier sind die Seelen der Toten kon‐ zentriert, auch die des Magiers lauert hier noch.« Ob das stimmte, wußte ich nicht. Mir kam es darauf an, daß D. C. seinen Vorsatz nicht in die Tat umsetzen konnte. Nur, wie sollte ich ihn daran hindern? Tief atmete ich ein. Ich sah zu, wie der Mann meinen besten Freund auf den Boden legte. Sehr weit stand ich nicht von den beiden entfernt. Eine gute Schußdistanz, aber es hatte keinen Sinn, wenn ich auf ihn schoß. Ich brauchte ihn lebend, ich mußte herausfinden, wo sich das Gegenmittel befand. Denn nur auf Rhondas Aussage wollte ich mich nicht verlassen. »Wenn dein Freund auf dem Boden liegt, wird Cargal das Opfermesser nehmen und zuschlagen!« erklärte Rhonda. »Es wird zu einem der schreck‐ lichsten Voodoo‐Rituale kommen, die du je erlebt hast. Das ist finsterste Magie, entstanden aus den alten Totenkulten der Afrikaner und wieder mit in die neue Zeit genommen.« »Geschieht noch mehr?« fragte ich. »Denk mal an die Zombies. Weshalb haben sie den Opferplatz wohl um‐ kreist. Man sagt ihnen nicht umsonst nach, daß sie Kannibalen sind, und deshalb werden sie Suko…« »Genug!« Meine Stimme klang rauh und dennoch hart. Ich spannte mich. Die Zombies hoben plötzlich ihre Arme. Es wirkte grotesk, wie überhaupt das gesamte Bild, das von den aus den Tälern hochsteigenden Morgenne‐ beln umwabert wurde. Eine schaurige Szenerie und auch eine tödliche, denn Cargal hatte plötz‐ 355
lich ein gewaltiges Messer vorgeholt. Er hielt es in seiner rechten Klaue. Die Metallfinger schienen mit dem Griff verwachsen zu sein, und ein zufäl‐ liger Sonnenstrahl verirrte sich auf die Klinge, so daß sie aufblitzte wie ein heller Spiegel. Die Zombies hielten ihre Arme noch immer hoch. Aber sie standen nicht mehr still. Zunächst bewegten sie ihre Arme aufeinander zu, so daß sie in die Hän‐ de klatschen konnten. Das war kein normaler Klatschklang, der über den Opferplatz hallte, denn ihre Hände waren nur mehr eine teigige Masse, die, wenn sie zusammenklatschte, schmatzende Geräusche erzeugte. Und sie bewegten sich. Wie Tänzer begannen sie mit ihrem Kreisreigen, als sie sich zusammen nach links wandten und jeweils nur immer einen Schritt setzten, das rechte Bein nachzogen und das linke anschließend zur Seite drückten, wenn es den rechten Fuß erreicht hatte. Es sah aus wie der erste Beginn eines Sirtaki‐Tanzes. Meiner Ansicht nach näherte sich das grausige Geschehen dem Höhepunkt. D. C. tanzte nicht. Er blieb stehen, hatte einen Arm erhoben, und aus seiner Metallfaust rag‐ te das Messer. »Wenn sie aufhören, wird er zustechen!« erklärte Rhonda. So weit wollte ich es nicht kommen lassen. Ich würde schneller sein und wollte mich schon in Bewegung setzen, als Mona und ich von Rhonda Las‐ salle überrascht wurden. Bevor wir irgend etwas unternehmen konnten, hatte sie sich aufgerafft und rannte vor. Woher sie Kraft für diese Aktion nahm, war mir unbegreiflich. Wir sahen nur die Blutspur, die sie zurückließ, und hatte wenige Sekunden später den Kreis der lebenden Leichen erreicht. Zwei von ihnen schaufelte sie mit ihren Händen zur Seite, um freie Bahn zu haben. »Cargal!« schrie sie. »Ich bin da!« * Ihr Schrei war noch nicht verhallt, als ich Monas Stimme vernahm. »Die ist lebensmüde!« 356
Sie hatte recht, aber der Haß auf diesen Mann mußte zu tief in Rhonda Lassalle sitzen. Sie wollte ihn mitnehmen, denn sie schien zu ahnen, daß ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Auch wir konnten jetzt nicht mehr in Deckung bleiben. Durch ihr Vorlau‐ fen hatte Rhonda uns praktisch zu einer Aktion gezwungen. Aber die Dis‐ tanz zwischen uns und ihr war einfach zu groß, als daß wir wirksam ein‐ greifen könnten. So waren wir gezwungen, der Frau zunächst die Initiative zu überlassen. Da die Zombies, die sie zu Boden gestoßen hatte, noch immer lagen, konnten wir alles sehr deutlich sehen. Wie eine Tigerin sprang sie Damion Cargal an. Sie hatte ihre Waffe wieder gezogen, und ich sah, daß sie die Mündung drehte, damit sie gegen den Kopf des anderen stach. War das Cargals schwache Stelle? Auch Mona hatte begriffen. »Sie darf ihn nicht töten!« schrie sie. »Dann ist dein Freund verloren!« Das farbige Mädchen hatte recht, und es handelte auch, bevor ich meine Skrupel überwinden konnte. Während ich weiterlief, war Mona stehengeblieben, hatte ihr Blasrohr hervorgeholt und es gegen die Lippen gepreßt. Das sah ich nicht, da sich die Szene in meinem Rücken abspielte und ich nur noch Augen für Cargal und Rhonda hatte. D. C. schlug zu. Es gelang ihm tatsächlich, die Frau zur Seite zu dreschen, bevor sie ab‐ drückte. Dafür aber jagte sein Arm mit dem Messer nach unten. Schräg kam die Klinge und zielgenau. Gleichzeitig wurde Rhonda Lassalle von dem abgeschossenen Giftpfeil erwischt. Sie starb doppelt, klammerte sich noch in den letzten Sekunden an Car‐ gal fest und wurde von ihm zur Seite gestoßen, bevor er sich umdrehte und seinem neuen Gegner zuwandte. Das war ich! * Zwischen Cargal und mir lag die tote Rhonda Lassalle. Innerhalb weni‐ ger Sekunden war die gefürchtete Voodoo‐Königin gestorben, aber derje‐ 357
nige, der für das alles verantwortlich war, stand noch auf den Beinen und hielt das Messer mit der blutigen Klinge fest. Ein Kyborg, eine Mischung aus Mensch und Roboter, bediente sich nun einer Waffe, die man schon im Altertum gekannt hatte. Ein seltsamer Ana‐ chronismus. Und ich stand vor ihm. Keine gefährlich wirkende Waffe in den Händen haltend. Nur eben das Kreuz in der Linken und in der Rechten einen Gegenstand, der aussah wie eine silberne Banane. Das war mein Bumerang! Wenn vieles nicht half, er hatte oft genug dafür gesorgt, daß ich einen mächtigen Gegner ausschalten konnte, und auch hier wollte ich ihn einset‐ zen. Alles andere war für Damion Cargal uninteressant geworden. Er sah nur mich an, und er mußte den Zombies einen Befehl gegeben haben, sich nicht zu rühren. Ich vernahm keine Geräusche mehr, hörte weder das rhythmi‐ sche Klatschen, noch das Tappen der Füße auf dem Boden. Es war ganz still geworden, und die über den Boden kriechenden Nebel‐ schwaden erzeugten keine Geräusche. Sie waren die lautlosen Begleiter dieser Totenstimmung. »Was willst du noch?« fragte er mich und streckte mir seine Metallhand mit dem Messer entgegen. »Ihn!« erwiderte ich und deutete auf Suko. D. C. lachte. »Der gehört mir.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin auf die Insel gekommen, um ihn zu holen und deinem schmutzigen Handwerk ein Ende zu bereiten. Was ich mir einmal vorgenommen habe, werde ich auch durchführen, auch du wirst mich nicht daran hindern. Und noch eines will ich von dir.« »Was denn?« »Das Gegenmittel!« Ich hatte ihn bei meinen Worten angelächelt, und er warf seinen Schädel zurück. »Nein!« schrie er. »Die Zombie‐Droge wird ihn für lange Zeit oder auch für immer außer Gefecht setzen. Du bekommst das Mittel nicht.« »Dann hole ich es mir!« Er senkte seinen häßlichen Schädel. »Und wann?« »Sofort!« 358
Nach dieser Antwort hielt mich nichts mehr. Mit zielsicheren Schritten ging ich auf ihn zu. Damion Cargal erwartete mich mit stoßbereitem Messer! * Ich steckte meine Waffen weg. Zuerst verschwand der Bumerang, dann das Kreuz. Mit bloßen Fäusten wollte ich ihn besiegen. Er lachte mich an. Wieder drang das metallisch klingende Geräusch aus seinem Maul, und ich hatte das Gefühl, als müßte ich zahlreiche Drähte aus seinem Körper ziehen, um ihn endlich zu erledigen. Er ging zurück, brach‐ te den offenen Sarg zwischen sich und mich und tänzelte herum. Dabei funkelte sein Auge in der Buntheit des Spektrums. Das Duell schien ihm Spaß zu bereiten. Als ich zur Seite schielte, erkannte ich Mona. Auch sie war in den Kreis der lauernden Zombies hineingetreten, ging zu der toten Rhonda hin und nahm deren Waffen, die eigentlich Suko gehörten, an sich. »Da ist noch ein Stab«, sagte sie plötzlich. Ich hatte mich auf D. C. konzentriert. Erst als sie die Worte gesprochen hatte, fiel mir ein, was sie eigentlich bedeuteten. Dieser Stab, von dem sie gesprochen hatte, war unwahrscheinlich wichtig für mich. Es war die Waf‐ fe überhaupt. Ich blieb stehen. Cargal stoppte auch. Ich sprach meine Begleiterin an. »Mona, gib mir den Stab.« »Wieso?« »Gib ihn her!« Sie näherte sich mir von der Seite. Cargal wußte nicht, was los war. Er be‐ fürchtete Ärger, griff aber noch nicht ein, nur seine Hand mit dem Messer zuckte. Das eine Auge drehte sich in seinem Gesicht, vielleicht das Zeichen eines Gefühl, und als ich den Stab zwischen meinen Fingern hielt, konnte ich mir ein kaltes Lächeln nicht verkneifen. Jetzt sah schon alles ganz an‐ ders aus. »Geh zurück!« forderte ich Mona auf, während ich mich auf Damion Cargal zubewegte. 359
Er war noch unsicherer geworden. Daß man mit ihm diesem unscheinba‐ ren Gegenstand etwas antun könnte, konnte er sich einfach nicht vorstel‐ len. Es war mir egal, ich wußte nur, daß ich nicht zu nahe an ihn heran‐ kommen konnte, und blieb stehen, als ich genau die richtige Distanz er‐ reicht hatte. Dann rief ich das bewußte Wort, das mich, den Träger des Stabs, in die Lage versetzte, die Zeit für fünf Sekunden anzuhalten. In dieser kurzen Spanne konnte sich niemand außer mir bewegen. Dafür hatte Buddha, der erste Träger und Besitzer des Stabs, gesorgt. Ein Wort nur, das alles verändern konnte. »Topar!« * Und plötzlich war alles anders. Die Zeit wurde angehalten, niemand au‐ ßer mir rührte sich. Die Zombies waren erstarrt, Mona ebenfalls, nur ich konnte mich bewegen und ging direkt auf den Herrscher von Voodoo‐ Land zu. Natürlich drängte die Zeit. Innerhalb der fünf Sekunden mußte ich ihn entwaffnet und das Gegenmittel gefunden haben. Ich suchte in seinen Taschen nach. Meine jetzt freien Hände bewegten sich flink. Ich fand nur ein flaches elektronisches Gerät, keine Spritze oder Flasche mit Flüssigkeit. Dann die Hosentaschen. Die Tasche war leer. Ich nahm mir die linke vor, griff hinein, und meine tastenden Finger spürte die Härte seines Beines, das bestimmt nicht aus Haut und Knochen bestand. Es war eine kleine Flasche. Kaum größer als eine Ampulle. Mit den Fin‐ gerspitzen mußte ich sie aus den Hosentaschen ziehen, schaute für einen winzigen Augenblick auf die Flüssigkeit und sah, daß sie eine leicht gelbe Färbung angenommen hatte. Das mußte es sein. Die Zeit war um! Plötzlich bewegten sich alle wieder, auch D. C, der vor mir stand und mit dem Messer zustach. Fast hätte er mich an der Hüfte erwischt. Die Klinge fuhr noch an der Kleidung entlang, und im nächsten Augenblick bekam D. C. von mir einen 360
Tritt, der ihn soweit zurückschleuderte, daß er in den Sarg hineinfiel. Da lag er gut. »Mona!« schrie ich und kreiselte herum. Was jetzt folgte, mußte inner‐ halb weniger Sekunden vorbei sein, und ich rechnete dabei fest mit Monas Hilfe. Sie schaute mich fragend an, während sie zwei Berettas in den Händen hielt. »Hol dir Suko. Schleif ihn weg!« Auch Cargal hatte die Worte gehört und blitzschnell kombiniert. Seine freie Hand fuhr in die Hosentasche, und sein Blick wurde plötzlich eisig. Das trotz des nur einen Auges. Er hatte begriffen. »Du hast es, Sinclair!« »Ja!« Danach war er mir zunächst egal, denn ich wollte sehen, was Mona machte. Sie hatte es nicht geschafft, Suko in die Höhe zu hieven. Unter den Achselhöhlen gepackt, schleifte sie ihn weg, damit er aus dem Ring der Zombies geriet und sich damit auch außerhalb der Gefahrenzone befand. Ich hoffte stark, daß sie es schaffte und konzentrierte mich auf D. C. Der verlor leider nicht die Nerven. Er ging nur zurück und gab seinen Zombies einen Befehl. Sie zogen den Kreis enger. Auf einmal wurde es kritisch. Was nutzte mir das Gegenmittel, wenn die Untoten über uns herfielen. Auch Mona hatte festgestellt, wie sehr sich die Lage veränderte. Sie rief mir etwas zu, was ich nicht verstand, weil ich mich auf D. C. konzentrierte und meinen Bumerang wieder hervorholte. Er wollte sein Messer werfen. Innerhalb eines Herzschlags entschied sich unser beider Schicksal. Ich warf ebenfalls, und beide trafen wir. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als hätte jemand meine linke obere Schul‐ ter weggerissen. Der Schmerz machte mich fast wahnsinnig, er trieb mir die Tränen in die Augen. Ich schaute nach, ob die Klinge steckte, das war nicht der Fall, denn sie hatte mich nur gestreift und eine stark blutende Wunde im Fleisch hinterlassen. Dafür peitschten Schüsse. Ich nahm mir die Zeit und schaute dorthin, wo sich das Mädchen befin‐ den mußte. 361
Mona kniete am Boden und schoß auf die Zombies. Ihr Gesicht hatte sie verzogen. Aus zwei Waffen verfeuerte sie die Kugeln. Ich sah die Untoten fallen und nicht wieder aufstehen, aber gegen alle kam sie nicht an. Und Cargal? Ich hörte ihn nicht einmal schreien, sah aber, daß es mein Bumerang ge‐ schafft hatte. Die hart und wuchtig geschleuderte Banane war tatsächlich in der Lage gewesen, ihm den Kopf von den Schultern zu reißen. Vor mir stand ein Torso, und aus dem Hals schauten bunte Drähte hervor, die gleichzeitig von dem aus der Wunde strömenden Blut überspült wurden, das sich ebenfalls noch in seinem Körper befand. Arme und Beine bewegte er wie ein aufgedrehtes Spielzeug. Hin und her schwang er sie, dabei ging er im Stechschritt und blieb auf der Stelle ste‐ hen. »John, es sind zu viele!« Die Stimme des Mädchens riß mich aus meiner Lethargie. Ich mußte et‐ was tun, aber ohne den Bumerang wollte ich nicht verschwinden. Unter den zupackenden Armen einer lebenden Leiche tauchte ich weg und kam durch eine Rolle vorwärts, die meiner verletzten Schulter nicht guttat, bis dicht an die silberne Banane heran, die direkt neben dem abgerissenen Schädel des Damion Cargal lag. Ich packte die Waffe, steckte sie ein, ließ den Schädel liegen und lief ei‐ nen Bogen. Dadurch gelangte ich in den Rücken der Zombies und konnte auch Mona sehen. Suko lag vor ihr. Sie kniete auf dem Boden und schoß nicht mehr, denn die Magazine waren leer. Wie viele Zombies am Boden lagen, zählte ich nicht. Jedenfalls standen noch genügend auf den Beinen, und Suko lag nach wie vor wie tot da. Ich räumte Zombies weg, erreichte meinen Freund und hievte ihn trotz der schmerzenden, blutenden Schulter hoch. »Weg von hier!« schrie ich Mona zu. »Nur weg!« Sie begriff sofort. Wir tauchten als wankende Gestalten in die Nebel‐ schleier und waren trotzdem schneller als die Zombies, die sich erst sam‐ meln mußten. Runter kommen sie immer, heißt ein altes Sprichwort. Auch für uns ging es bergab. 362
Nur fragen Sie mich nicht, wie ich es schaffte, zusammen mit Mona und Suko den Strand zu erreichen. Irgendwann lagen wir dicht neben unserem Boot, und ich hatte nicht einmal die Kraft, die Signalpistole zu ziehen. Das übernahm Mona für mich. * Das rote Licht war verglüht. Auf dem Wasser lag der Strahlenteppich der Sonne. Ein herrliches Bild, das sich unseren Augen bot, doch wir hatten keinen Blick dafür. Ich beobachtete meinen Freund Suko, dem ich das Gegenmittel inzwi‐ schen eingeträufelt hatte, und Mona hielt die Augen offen, um nach Zom‐ bies zu schauen, die sicherlich nachrücken würden. Ihre Beretta hatte ich nachgeladen, aber noch ließ sich keine der lebenden Leichen blicken. Dafür hörten wir ein bekanntes Geräusch. Das Rotor‐ und Motorbrummen eines Hubschraubers. Die Maschine mußte vom Kreuzer aus gestartet sein. Mona hatte das Zeichen gesehen. Mona sprang auf. Sie stellte sich breitbeinig nahe an die auslaufenden Wellen und winkte mit beiden Händen. Die Maschine schwenkte. Sie ging noch tiefer. Eine Rettungsleine wurde ausgeworfen und auch eine Trageschlinge, in die ich Suko hineinlegen konnte. Er wurde zuerst hochgezogen. Mona folgte. Bevor sie in die Schlinge stieg, übergab sie mir die Waffe. »Die brauche ich nicht mehr.« Aber ich brauchte sie. Aus dem nahen Gebüsch erschienen zwei Gestalten. Zombies waren es, und einer von ihnen hielt den Kopf des D. C. wie ein kostbares Geschenk auf den Händen. »Nein!« rief ich, »so nicht!« Dann schoß ich zweimal. Unter den in diesem Moment förmlich explodierenden Sonnenstrahlen sanken die lebenden Toten in den Sand, wo sie liegenblieben und sich nicht mehr rührten. Damit war auch für mich dieser Fall erledigt… 363
* Auf dem Kreuzer reagierte man prompt. Die Befehle waren schon vorher erteilt worden, und die Insel wurde zerbombt. Ich stand mit Mona zusam‐ men auf der Brücke und beobachtete den gewaltigen Rauchpilz, der in die Höhe stieg und sich über dem Eiland ausdehnte. »Das überlebt keiner mehr«, sagte der Commander. Ich nickte nur. Meine Wunde hatte man verbunden. Wir wurden eingedeckt mit flüssi‐ gem und festem Proviant, und ich ging in die Kajüte, wo mein Freund Su‐ ko in einer Koje lag. Er war wieder erwacht, schaute mich an, hielt seinen Kopf und fragte: »Was ist denn jetzt los?« »Weißt du das nicht?« »Nein.« Mona, die mich begleitet hatte, konnte sich nicht mehr halten. Sie fing an zu lachen, und auch ich tat es ihr nach. Eine halbe Stunde später grinste auch Suko. Da hatte er erfahren, wie es ihm ergangen war. Später, als wir beim Essen saßen, fragte Mona mich: »Es ist zwar schlimm, aber irgendwie ist es schade, daß wir nicht mehr zusammenblei‐ ben können. Es hat mir Spaß gemacht, mit euch zu arbeiten. Ihr wißt, was ihr wollt, aber ich?« Ich trank einen Schluck von der braunen Brühe, die sich Kaffee nannte. »Wieso? Hast du mir nicht von den ›rolling hills‹ im herrlichen Virginia erzählt?« Sie lächelte verloren. »Das ist ein Traum.« »Träume kann man sich erfüllen.« »Natürlich«, erwiderte sie, rückte plötzlich näher, und ich spürte ihre Lippen auf meinem Mund. In einer kleinen Atempause murmelte sie. »Ich fange bereits jetzt damit an, mir meine Träume zu erfüllen, John Sinclair.« Dagegen hatte ich überhaupt nichts, und Suko war so diskret, die Kabine zu verlassen, auch wenn er mit wackligen Knien ging … XII 364
Natürlich zog der Fall Kreise. Die Geheimdienste tauschten unter‐ einander Informationen aus, und die Amerikaner fühlten sich ein wenig blamiert, weil ausgerechnet vor ihrer Küste Voodoo‐Land entstanden war. Andererseits waren sie auch froh, daß es die Division, diese Armee aus Zombies, nicht mehr gab. Suko und ich hielten uns aus allem heraus. Wir waren da längst wieder in London eingetroffen, wo andere Fälle auf uns warteten. Eines möchte ich noch sagen. Das Voodoo‐Museum und der angrenzende Shop sind längst wieder ge‐ öffnet. Wer nach New Orleans kommt, kann sich mit eigenen Augen davon überzeugen, und ich wünsche ihm dann, daß es ihm nicht so ergeht wie mir damals…
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