Giganto meldet: Vorstoß in die Erde 1. Das Ferienabenteuer beginnt „Schwül, heute abend“, pustete Henri, „ich glaube, vo...
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Giganto meldet: Vorstoß in die Erde 1. Das Ferienabenteuer beginnt „Schwül, heute abend“, pustete Henri, „ich glaube, vor dem Abendessen spring ich schnell mal ins Schwimmbecken!“ „Aber sieh erst nach, ob das Wasser nicht abgelassen ist“, sagte Tatjana. Tatjana, genannt Tati, war Henris Schwester. Ein Jahr jünger als er, sah sie zu seinem stillen Ärger älter aus. Daß sie sehr hübsch, schlank und sportlich war, kümmerte ihn dabei nicht. Für Micha, den kleinen Bruder der beiden, gab es einen Trost: Es war ja noch der Zwergpudel Loulou da, auf den er seinerseits herabgucken konnte. Zu den drei Geschwistern zählten als Abenteuergefährten noch zwei von Henris Schulfreunden. Vor allem aber darf die Hauptperson dieser unvergleichlich geheimnisvollen, spannenden und aufregenden Ferien nicht vergessen werden: Marcel. Der spindeldürre, flachsblonde Junge mit der Riesenbrille. Wegen seiner Blitzgescheitheit hieß er bei den anderen immer nur „das Superhirn“. In Monton, am Golf von Biskaya, oberhalb jener weiten atlantischen Bucht zwischen der gebirgigen Nordküste Spaniens und der flachen Westküste Frankreichs, besaß Superhirns Onkel einen Landsitz mit einem malerischen Schloß am Steilhang. Der Onkel war nicht da. Er würde wohl noch eine lange Zeit wegbleiben. Was die jugendlichen Gefährten nicht störte. Sie konnten sich zwanglos in dem unheimlich schönen (oder schön unheimlichen) Schlößchen tummeln. Die nähere Umgebung bestand aus einem Park mit herrlichen alten Bäumen, Blumenrondellen, Brunnen, Steinfiguren, Grotten, aber auch aus einem Golfplatz, einer „Trimm-dich-Wiese“ mit modernsten Sportgeräten und dem neuen Swimming-Pool. In diesem Grundstück konnte man sich nach Herzenslust austoben, oder man konnte perfekt faulenzen oder über Felsmauern in die Fischer- und Segelsporthäfen der winzigen, tief unten liegenden Bucht von Monton sehen. Den heutigen Tag aber hatten die Gefährten im Ort unterhalb des Steilhangs verbracht, um an den Vorbereitungen für ein Volksfest teilzunehmen. „Was mich betrifft“, sagte Tati noch zu ihrem Bruder Henri, „ich schwimme heute nicht mehr. Ich bade inwendig. Mit Limonade. Ich habe Durst wie ein Kamel.“ „Du bist zwar ein Kamel“, grinste Henri, „aber ein Kamel hat selten Durst!“ „Sehr schlau!“ verteidigte sich Tatjana. „Auch wenn du dich nicht zu den Kamelen rechnest, läufst du wie ein Trampeltier. Wo du hinstapfst, wächst kein Gras mehr!“ „Olle Kamelie!“ frotzelte Henri. „Danke“, lächelte Tatjana. Sie machte einen beneidenswert anmutigen Knicks. „Eine Kamelie ist eine japanische Rose.“ „Merkst du was?“ feixte Superhirn. „Die japanische Rose pikt wie 'ne Distel!“ „Hau ab, geh schwimmen, Henri“, riet Gérard seinem Klassenkameraden. Madame Claire, die Wirtschafterin, hatte den Tisch auf der Terrasse bereits gedeckt: „Na, habt ihr was erlebt? Ihr seht ganz so aus!“ „Und ob!“ rief der kleine Micha. „Morgen fängt in Monton die Festwoche an. Na - und was da schon alles aufgebaut ist!“ Madame Claire lachte. „500-Jahr-Feier! Daß ich nicht lache. Dabei haben zur Zeit meiner Großmutter erst drei Fischerhäuser an der Bucht gestanden!“ Superhirn grinste. „Es gibt keinen Ort auf der Welt, der nicht irgend´nen Anlaß zum Feiern sucht und auch findet. Der Bürgermeister stützt sich auf die Ausgrabungen angeblicher Grundmauern, auf ein zerfleddertes Buch des Pfarrers - und auf die Familie meines Onkels, der das Gut und ein Stück Ufer schon seit langer Zeit gehört.“
„Die Hauptsache ist der Jahrmarkt!“ ereiferte sich Micha. „Die Geisterbahn, das Autodrom, das Pony-Karussell, das Gondelrad, die Stände, Buden, Kapellen, der Fesselballon, der morgen steigen soll, das Feuerwerk - und vor allem... Fußball!!!“ Waff, waff! bellte der kleine Pudel wie zur Bekräftigung. Nach dem Essen, bei dem Henris Gesicht besonders reinlich glänzte, wollten Gérard und sein Klassenkamerad Prosper Steine in den Brunnen auf der Wiese werfen. Sie stritten sich seit zwei Tagen, ob der Plumps nach fünf oder sechs Sekunden erfolgte. Wenn einer warf, bediente der andere die Stoppuhr. Und jeder beschuldigte den anderen, nicht rechtzeitig zu „schalten“. Die Stoppuhr gehörte Henri, aber sein kleiner Bruder Micha sauste sofort nach oben, um sie zu holen: eine Gelegenheit, das teure Ding auch mal in der Hand zu haben. Er war noch nicht wieder da, als ein Blitz wie ein himmelhoher Speer in Madame Claires Küchengarten fuhr und einen Obstbaum buchstäblich in Stücke zerschlug. Wer draußen war, dem war zumindest der Donnerschlag in die Knochen gefahren. Hustend vor Schreck, raste der Zwergpudel Loulou ins Haus zurück. Dort lief er den sprachlosen, ebenfalls geflüchteten Geschwistern und Freunden wie verrückt um die Beine. „Wo ist Micha?“ fragte Tati heiser. Alle, außer dem Kleinen, standen im Kaminzimmer. „Hier, hier bin ich“, bibberte Michas Stimme. „Aber die Stoppuhr ist kaputt.“ Henri wollte etwas sagen, doch Superhirn kam ihm zuvor: „Immer noch besser, als wenn wir dich als Schmorpflaume vom zertrümmerten Obstbaum hätten klauben müssen.“ „Es war ein Kirschbaum“, stellte Tati richtig. „Wenigstens hat er nicht angefangen zu brennen. Es stinkt nur furchtbar nach Schwefel.“ Man hörte Madame Claires Zetergeschrei. „Hört mal!“ murmelte Prosper. „Es regnet, als schütte einer Erbsen aufs Dach!“ „Das Volksfest beginnt!“ grinste Gérard. Es war plötzlich sehr dunkel geworden. Henri knipste die Lampen an. „Machen wir's uns hier gemütlich“, schlug Superhirn vor. „Entfachen wir ein Feuer im Kamin!“ Das war mit Hilfe der jammernden Wirtschafterin bald geschehen. „Der schöne Baum! Er war mir so ans Herz gewachsen! Die Blüten jedes Jahr! Und er hat im Wind geflüstert wie ein lebendiges Wesen!“ Dabei blieb sie. Und sie wiederholte es wie ein eintöniges, trauriges Lied. Tati setzte sich an ein Tischchen und schrieb an die Eltern. Loulou blickte mißtrauisch ins Kaminfeuer. Wenn ein Scheit knackte oder ein Funken stob, machte er drohend waff oder wuff. Das klang sehr komisch. Superhirn hockte mit gekreuzten Beinen auf einem Tigerfell und trug etwas in ein Tagebuch ein. Die mächtige Stehlampe mit dem enormen Schirm goß ihr Licht auf seine strohblonden Haare. Wenn er aufblickte, funkelte seine Brille. Noch im Lichtkreis dieser Lampe lagen Henri und Gérard wie zwei müde Krieger auf dem Teppich und spielten mit winzigen Figuren auf einem entsprechend kleinen Brettchen Schach. Im angrenzenden Raum versuchte Prosper mit Micha Billard zu spielen. Es klang aber eher wie eine Mischung aus Vorwürfen, Verhöhnungen, Durcheinanderschmeißen von Bällen und Fechten mit Stöcken. Madame Claire kam mit einem Tablett herein. „Tee für euch“, sagte sie. „Tee beruhigt. Mir scheint, das Gewitter kommt noch mal zurück. Ein unheimlicher Abend.“ Tati bedankte sich für den Tee und half ihr, die Kanne und das übrige Geschirr auf die Anrichte zu stellen. ,Ach, die Löffel, Moment!“ rief Madame Claire. Sie lief in die Küche. Aber sie brachte auch eine Zeitschrift mit. „Mein Kreuzworträtsel von gestern“, sagte sie. „Ich werde doch nicht damit fertig! Mexikanischer Gott mit zwölf Buchstaben. Was kann das sein?“ „QUETZALCOATU“, half Superhirn, ohne aufzublicken.
Madame Claire verschlug es die Sprache. Seelenruhig buchstabierte Superhirn. „Spricht sich ´ketsallkoti´. Schreiben Sie's getrost hin.“ Die Wirtschafterin fügte an Tatis Tischchen einen Buchstaben nach dem anderen in die vorgesehenen Kreuzworträtsel-Kästchen. „Und was ist die arabische Bezeichnung für den Fluß Tigris?“ fragte sie - immer noch mit großem Staunen in der Stimme. „Didschla“, lächelte Superhirn, so, als hätte sie nur gefragt: Wie viele Beine hat ein Pferd? Henri hob den Kopf vom Schachspiel. „Haben Sie das noch nicht bemerkt, Madame? MarcelSuperhirn ist sein eigener Computer. Bei dem können Sie sich das Kochen sparen. Füttern Sie ihn nur mit Fragen!“ „Ich glaube, der braucht nicht mal sein Gehirn“, brummte Gérard. „Wette, er denkt mit Augen, Ohren, Nase, Mund . Oder mit dem linken kleinen Finger Wenn Sie wissen wollen, wieviel 12+12 ist, sagt er Ihnen das im Schlaf.“ „Zu leicht!“ rief Henri. „5555 X 5555!“ „Ergibt 30 858 025“, erwiderte Superhirn prompt. Madame Claire nahm ihr Kreuzworträtsel und lief kopfschüttelnd aus dem Raum. „Daß er klug ist, wußte ich“, hörte man sie brabbeln, „aber daß er hexen kann...“ Gérard, Henri und Tati lachten. „Vorsicht“, meinte Gérard. „Am Ende denkt sie noch, dieser Kopf zieht Blitze an. Dann sind wir am längsten hier Feriengäste gewesen.“ „Könnte schon sein“, überlegte Tati. „Die gute Claire ist sowieso ein bißchen abergläubisch.“ Sie schenkte Tee ein und brachte zwei Tassen ins Billardzimmer für Prosper und Micha. Henri, Gérard und Superhirn gingen zur Anrichte, um sich selbst zu bedienen. Als Tati aus dem Billardzimmer zurückkam, stand Superhirn vor dem Kamin. Er hatte seine Tasse in der Hand und blickte verblüfft auf den Sims. Neben ihm kauerte der Pudel sprungbereit. Er knurrte. „Das Feuer tut dir nichts. Und das Gewitter entfernt sich“, lachte Tati. Ohne sich etwas zu denken, ging das Mädchen zu Henri, Prosper und Gérard. Sie trank auch einen Schluck Tee. Plötzlich hörten sie vom Kamin her einen leisen Schreckensschrei. Ein Plumps und ein Klirren folgten. Superhirn lag bewußtlos auf dem Boden. 2. „War was?“ fragt Superhirn Entsetzt sahen Tati, Henri und Gérard auf Superhirn. Teetasse, Untertasse und Löffel waren ihm aus der Hand geglitten. Auf dem Blech vor dem Kamin breitete sich eine Teepfütze aus. „Was ... was ist denn los?“ hauchte Tati. „Mensch, Superhirn!“ begann Henri. „Ist dir schlecht?“ rief Gérard. Mit ihren Billardstöcken kamen Prosper und Micha aus dem Nebenraum. Sie machten große Augen. Doch Superhirn blieb nicht lange liegen. Er erhob sich merkwürdig rasch und forsch, als wäre er überhaupt nicht bewußtlos gewesen. „War was?“ fragte er gleichgültig. Er rückte seine Brille zurecht. Auf das Geschirr hinunterblickend, fügte er ebenso gleichgültig hinzu: „Ach so, ich bin ausgerutscht.“ „Wie kann man im Stehen ausrutschen?“ schluckte Tati. Sie starrte Superhirn fassungslos an. Bevor Tati weiter sprechen konnte, erschien Madame Claire wieder mit ihrem Kreuzworträtselheft. „Mon Dieu!“ rief sie. „Mein Gott! Ein kleines Unglück!“ Sie meinte die Scherben. „Moment, ich bringe einen Lappen!“ (Das galt dem Teefleck.) Schweigend hob Tati die Scherben und den Teelöffel auf Schweigend blickten die Freunde auf Superhirn. Nur der Pudel Loulou kam auf den dürren jungen zu und ließ sich streicheln. Niemand hatte an dem
Benehmen des Hundes etwas Unheimliches wahrgenommen. Selbst Superhirn zermarterte sich den Kopf Was war eigentlich passiert? Er konnte sich nur noch erinnern, vom Boden aufgestanden zu sein. Die Ursache des Sturzes, die kurze Ohnmacht: Er konnte sich an nichts erinnern. Weshalb waren die anderen so entsetzt? Madame Claire kam mit einer Kehrichtschaufel für die Scherben und einem Lappen für den vergossenen Tee zurück. „Wenn's weiter nichts ist?!“ rief sie. Sie schwatzte ununterbrochen. Mit ihrem Kreuzworträtsel war sie auch noch nicht fertig: „Wasserfall, vier Buchstaben ... Da fällt mir überhaupt nichts ein!“ Alle grübelten. Henri schielte verstohlen auf Superhirn. Der wußte doch sonst alles. Superhirn schwieg. „Dann brauch ich noch einen Bezirk im Schweizer Kanton Wallis - auch vier Buchstaben“, seufzte Madame Claire. Superhirn schwieg. Prosper warf ihm einen Blick zu, der besagte: Dir ist wohl dein Gehirn abhanden gekommen? Dann erklärte er: „Kanton Wallis? Gibt's drei Bezirke mit vier Buchstaben: Orbe, Oron und Nyon.“ Und er grinste triumphierend. Endlich einmal hatte Superhirn etwas nicht gewußt. Micha sperrte vor Staunen Mund, Augen und sogar die Nasenlöcher auf. Superhirn putzte seine Brille. Zwinkernd, aber so ganz nebenbei, sagte er zu Madame Claire: „Prospers Weisheit schreiben Sie lieber nicht auf. Damit lösen Sie Ihr Rätsel nie. Seine Bezirke gehören nämlich nicht nach Wallis, sondern in den Kanton Waadt.“ „Und was gibt's in Wallis mit vier Buchstaben?“ rief Prosper ärgerlich. Er war furchtbar enttäuscht, das sah man ihm an. „Die Bezirke Brig und Visp“, lächelte Superhirn. Madame Claire richtete sich schweratmend, aber strahlend auf: „Visp! Natürlich. Das paßt! Und der Wasserfall, auch mit vier Buchstaben?“ „Tosa!“ erwiderte Superhirn. Diesmal gab er die Antwort, bevor die Wirtschafterin die letzte Silbe ihrer Frage ausgesprochen hatte. „Der Tosa-Fall in Italien, 160 m Sturz.“ „Ich schreib mir das auf!“ rief Madame Claire. Sie nahm Kehrichtschaufel und Lappen und verschwand eilig. Die Gefährten waren um eine weitere Erfahrung klüger - oder dümmer. „Sag mal, Superhirn“, staunte Gérard, „mußt du von Zeit zu Zeit mal auf den Kopf fallen, damit dein Gehirn auf höhere Drehzahlen kommt???“ „Scheint wahrhaftig so!“ meinte Henri. „Ich hab' mal eine Uhr gehabt“, lachte Micha. „Die blieb ab und zu stehen: Wenn man sie hinschmiß, rasten die Zeiger wie verrückt!“ „Spar dir deine albernen Vergleiche“, mahnte Tati. Sie hatte sich zu sehr erschrocken. Außerdem war Superhirn bestimmt nicht ausgerutscht! Er war bewußtlos zusammengebrochen, mochten die anderen und Superhirn selbst jetzt tausendmal an seine Erklärung glauben. Das, was geschehen war, war zutiefst unheimlich. Darüber kam Tati nicht hinweg... Madame Claire brachte eine neue Tasse. „Nun brauche ich nur noch ein Wort für mein Rätsel, dann ergibt sich das andere ganz von allein!“ „Na, woran knobeln Sie denn noch herum?“ fragte der dünne Junge ruhig, fast gemütlich. Er nahm die Tasse und goß sich Tee ein. „Was für Geld gibt's in der Mongolischen Volksrepublik?“ erkundigte sich die Wirtschafterin. „Gar keins!“ fuhr Prosper dazwischen, „In der Mongolei tauscht man Waren aus. Da macht man keine Geldgeschäfte!“ Alle beobachteten nun Superhirn. Würde er wieder schweigen wie zu Anfang? Würde er Prosper recht geben und sich eingestehen müssen, daß der andere schneller gewesen war? Oder würde er sofort die richtige Antwort wissen?
„Wie jedem bekannt ist“, sagte Superhirn, „besteht der amerikanische Dollar aus 100 Cents, der französische Franc aus 100 Centimes und die Deutsche Mark aus 100 Pfennigen.“ Er trank einen Schluck und beendete den Satz: „... in der Mongolischen Volksrepublik zahlt man mit Tugrik und Mongo.“ „Sind das Schafe und Ziegen?“ rief Micha. „Unsinn. Geld! Ein Tugrik hat 100 Mongo!“ „Werd sehen, was paßt!“ Madame Claire verschwand. „Tugrik und Mongo!“ Prosper rieb sich heftig seine lange Nase. „Ich radle morgen zur nächsten Bank und erkundige mich.“ „Da würdest du dich aber hübsch blamieren!“ Tati lachte auf einmal. Superhirn blieb Superhirn. Das Unheimliche war weggewischt. Nur die enorme Gescheitheit und das verblüffende Wissen waren da, also gerade das, was das „Normale“ an dem jungen ausmachte. Aber sie erinnerte sich, daß der väterliche Freund der Gefährten, Professor Charivari, ihr einmal eine Intelligenzaufgabe gestellt hatte. Von der konnte Superhirn nichts wissen, denn er war zu dieser Zeit unendlich weit von ihnen entfernt gewesen. Rasch nahm sie ihren Kugelschreiber und setzte zwei Zahlenreihen auf ein Blatt ihres Briefblocks: 335577 244668 „Was fällt dir daran auf?“ „Sehr viel“, lachte Superhirn. „In der oberen Reihe sind von den sechs Zahlen drei doppelt: Die 3, die 5, die 7. In der unteren ist nur die 4 und die 6 doppelt. 2 und 8 haben in keiner Reihe eine Wiederholung.“ „Sieht jedes Kind auf den ersten Blick“, behauptete Micha. „Na, ich weiß nicht“, murmelte Gérard. „Möchte sogar wetten, in diesen. Zahlenreihen stecken viele Teufelshörner.“ Kopf an Kopf beugten sich alle über das Blatt. 335577 244668 „Gérard hat recht“, nickte Superhirn. „Zähl mal immer zwei Zahlen der beiden Reihen zusammen.“ Er drehte das Blatt um und nahm Tatis Kugelschreiber: „3 + 3 = 6, 5 + 5 = 10, 7 + 7 = 14, das heißt, von jedem Ergebnis zum nächsten ist die Differenz eine 4.“ „6, 10, 14.“ Prosper rieb sich wieder heftig die Nase. „Stimmt.“ „Mit der unteren Reihe ist's genauso“, erklärte Superhirn. „2 + 4 = 6, 4 + 6 = 10, 6 + 8 = 14.“ „Aber wie siehst du das so schnell?“ rief Micha, „Ich sehe noch mehr“, lächelte Superhirn. „Zähl mal die Ziffern von links nach rechts, jeweils zwei von oben und unten zusammen.“ Er schrieb auf den Zettel in Sauseschrift:
3 3 5 5 7 7 +=5 +=7 +=9 += 11 +=13 +=15 2 4 4 6 6 8 „Die Ergebnisse differieren stets um 2, also laufend zwischen 5, 7, 9, 11, 13, 15. Und rechnet man
die Zahlen beider Reihen zusammen, so lautet das Resultat für oben und unten übereinstimmend 30.“ Er warf den Kugelschreiber auf den Tisch: „Seht zu, was ihr sonst noch rauskriegt!“ Tati sah Superhirn an, als wollte sie sagen: Ich zweifle jetzt jedenfalls nicht mehr daran, daß du wieder auf Draht bist! Keine Spur von Erschöpfung! Hm ... vielleicht bist du wirklich nur gestolpert! Es war gut, daß Superhirn sich nicht noch einmal dem Kaminsims näherte, auf dem eine überzählige Schachfigur stand. Er hätte sonst wohl doch begriffen, daß sich die Gefährten bereits mitten in einem Abenteuer befanden. Einem welterschütternden Abenteuer, zu dessen Bewältigung nicht mal die UNO imstande gewesen wäre. Die kurze Ohnmacht hatte Superhirn die Schachfigur auf dem Sims vergessen lassen. 3. Komische Figuren Die Geschwister und ihre Freunde wollten noch nicht schlafen gehen. Es war erst 20.30 Uhr. An einem klaren Abend hätte man sogar noch im Freien lesen können. Die Schlechtwetterwolken und dichter Regen machten die hohen Fenster dunkel. Es blitzte und donnerte noch in der Ferne. Ein Grund mehr, in gemütlicher Kaminnähe und im Billardraum zu bleiben. In den Schlafräumen, dicht unterm Dach, hätten sich zumindest Tati und Micha nicht wohl gefühlt. Überdies hatte man ja Ferien. Tati schrieb weiter. Micha seufzte. „Wenn das Wetter so bleibt, fällt das Volksfest morgen ins Wasser.“ Er ging mit Prosper in das Billardzimmer. Gérard und Henri lümmelten sich wieder auf dem Teppich zu beiden „Fronten“ ihrer Schachpartie. Superhirn saß wieder frisch und munter auf dem Tigerfell. Er beobachtete die beiden Schachspieler. Er dachte nicht im geringsten mehr daran, was ihn vorhin zu Boden geworfen hatte. Die Schachfiguren fand er ulkig. Er wußte, es gab welche aus billigem, roh geschnitztem Holz, einfach weiß und schwarz gebeizt kostbare, üppig und kunstvoll gedrechselte Figuren aus seltenen Edelhölzern, Elfenbein und Horn, Figuren aus Silber und Gold, besetzt mit Juwelensplittern. Aus dem Besitz des letzten indischen Großfürsten hatte eine einzige „Schachkönigin“ auf einer Versteigerung in London einen ganzen Sack voller Geld erbracht. Sie bestand aus einem hellen Edelstein mit roter Edelsteinkrone. Natürlich gab es auch billiges Plastikzeug für den „Hausgebrauch“. Und - größer als Kegel - für das auf Fliesen in Kurparks, Seebädern und öffentlichen Freizeitplätzen. Hier aber war jede Schachfigur, ihrer Bedeutung entsprechend, genau zu erkennen, und zwar in der Art von winzigem Trapper-Cowboy - und Indianerspielzeug. Jede war hübsch bemalt, aber so, daß man sie nach ihren Parteien „Schwarz“ und „Weiß“ erkannte. Die „Schachspringer“ waren Pferdchen, die sich mit flatternder Mähne aufbäumten - tatsächlich sprungbereit. Zierliche Fächer hielten die „Schachdamen“. Die „Läufer“ hatten die Arme angewinkelt und ein Bein in der Luft, als liefen sie im Stehen. Auf den „Türmchen“ sah man winzige Wetterfahnen. Besonders lustig waren die „Bauern“ dieses Schachspiels. Sie steckten in schwarzen oder weißen Stiefeln (je nach Partei). Ihre hellblauen Anzüge zierten breite schwarze oder weiße Kragen. Sie hatten die Näschen in der Luft und eine Hand schützend über gekniffenen Augen an der Stirn: Na, ob das Wetter schlechter wird? schienen sie zu denken. Superhirn konnte verstehen, daß die Freunde sich gerade dieses Schachspiel und kein anderes, aus dem Nebenzimmer geholt hatten. „Woraus besteht dann das Brett?“ fragte er. „Die schwarzen und weißen Felder schimmern wie AluFolie! Kann man das knicken oder rollen?“ Er wartete keine Antwort ab, sondern rief: „Henri! Was machst du denn da? Du schlägst ja eine deiner eigenen Figuren! Mensch, das geht nicht! Auch, wenn's vielleicht später einen Vorteil für dich bringt!“ „Ach“, brabbelte Henri. „Gérard ist hoffnungslos im Vorteil. Ich habe keine Chance. Wenn du übernehmen willst?“ „Soll mir recht sein“, sagte Gérard.
„Mir auch“, erklärte Superhirn. „Aber das mach ich von hier.“ Er überblickte die Positionen der „schwarzen“ Gegner und nannte die Bezeichnungen der Felder, wenn „Weiß“ am Zuge war. Henri zog für ihn die Figuren und Gérard war im Handumdrehen „matt“. „Das gibt's doch nicht!“ staunte Gérard. „Mensch, ich glaube, du kannst das sogar im Dunkeln.“ „Warum nicht?“ lachte Superhirn. Tati hob den Kopf. Sie hatte ihren Brief beendet. „Schluß jetzt!“ rief sie. „Hört auf, euch gegenseitig die Köpfe zu zerbrechen. Es ist schon viel zuviel geknobelt worden, heute abend.“ Sie fühlte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief, denn unwillkürlich war ihr Superhirns „Sturz“ wieder eingefallen. „Schluß für heute. Sonst müssen wir den Rest der Ferien allesamt in die Klapsmühle. So. Ich führe Loulou noch mal vors Haus. Prosper und Micha sollen mit ihrem Billard aufhören. Bringt das Schachspiel nach nebenan!“ Micha hörte wohl auf. Er war zornrot über Prospers fortwährendes „Geklotze“, wie er es nannte. Sofort nahm Superhirn den Stock, den er richtig „das Kö“ nannte, zielte - und traf nach kurzer Winkelberechnung prompt mit dem „Spielball“ die beiden anderen Kugeln. Als Tati zurückkam, war eine heftige Partie zwischen Superhirn und Prosper im Gange. ,Also, das ist die Höhe“, japste sie. „Da peilt und zielt ihr ja wieder, daß euch der Rauch aus den Ohren kommt! Marsch, ins Bett. Der Pudel sitzt auf der Schwelle und will euch schon gar nicht mehr sehen!“ Die Gefährten knipsten die Lampen aus und gingen in ihre Mansardenzimmer. Loulou, der vor Tatis und Michas Zimmer in seinem Körbchen lag, winselte und schniefte angstvoll die ganze Nacht hindurch ... Das arme Tier wußte nicht, was es bedrückte. Und Superhirn hatte durch seine kurze, aber abgrundtiefe Ohnmacht die überzählige Schachfigur auf dem Kaminsims vergessen: „einen Bauern“, von dem etwas Furchtbares ausgegangen war! 4. Tolles Fest! Aber auf einem Volksfest - was da auch immer Erstaunliches geschah - sollte alles, aber auch alles, mit rechten Dingen zugehen. Am darauffolgenden Morgen war es noch ein bißchen kühl. Aber der Regen hatte aufgehört. Hell schien die Sonne zwischen vereinzelten Wolken auf das Schloß und die Bucht von Monton. Das schwarze Lotsenschiff verließ zur Feier des Tages ausnahmsweise seinen „Dienstplatz“ vor der Küste, näherte sich den Molen und leitete mit einem Böllerschuß aus seiner Signalkanone die Feier ein. Vergessen war der vom Unwetter zerstörte Obstbaum in Madame Claires Küchengarten, vergessen auch Superhirns rätselhafter Zusammenbruch (den er selber kaum vermerkt und nur mit einem „Stolpern“ hatte erklären können). Tatis dunkle Gefühle waren verflogen. Sie dachte: Die schwüle Gewitterluft - und später das Blitzen und Donnern haben uns zugesetzt. Wir waren alle überreizt. Wetterfühligkeit ist wahrscheinlich doch etwas Ärgeres, als manche Leute denken. Im kleinen Ort, eigentlich nur einer hufeisenförmigen Kante zwischen Hafen und Steilhängen, schoben sich Henri, Gérard, Prosper, Superhirn, Tati und Micha mit ihrem Zwergpudel durch das Gedränge. Loulou war wieder munter. Er hopste und bellte so lustig, als hätte er nicht noch vor Stunden eine Todesangst vor etwas Unbestimmbarem gehabt. Die Glocken der Hafenkirche läuteten. Vor dem kleinen Rathaus stand eine Tribüne. Von seinem Platz aus hielt der Bürgermeister eine Rede, wobei er seinen Hut schwenkte, als wollte er Schmetterlinge einfangen. „Fünfhundert Jahre Monton!“ rief er triumphierend ins Mikrofon. Die Fischer, Bauern, Steinbrucharbeiter, Beamten, Ladenbesitzer, alle Bürger von Monton mit ihren Kindern, die Touristen und Besucher aus den Nachbarorten - alle jubelten und klatschten. Denn die „Fünfhundert Jahre“, die sowieso keiner ernst nahm, bedeuteten billigen Wein, Bonbonregen, Bratfisch,
Preisschießen, Platzkonzert der Feuerwehr, Tanz, ach, und noch alles mögliche. „Wir wollen feiern!“ rief der Bürgermeister. Wieder schrien die Leute freudig auf. Solange sie im Chor das verheißungsvolle Wort „feiern“ wiederholten, dröhnte und röhrte die Kapelle mit all ihren Pauken, Trommeln und Trompeten. „Unser Völkchen von Monton“, hob der Bürgermeister wieder an, „arbeitet hart. Aber es ist ein fröhliches Volk. Und wie klein Monton auch sein mag - es steht, dessen bin ich sicher, unter einem Glücksstern.“ Das war „blumig“ gesagt. Aber woher sollte der Bürgermeister wissen, daß er ausgerechnet den falschen, gegenteiligen Vergleich gebraucht hatte! „Stern“ war wohl richtig. Doch „Glücksstern“ stimmte keinesfalls. Wenn einer von einem „Stern über Monton“ hätte ernsthaft sprechen wollen, so hätte er das Wort „Unstern“ oder „Unglücksstern“ benutzen müssen. Und dieser jemand müßte den Arm ausgereckt zum Steilhang, auf das kleine Schloß gedeutet haben: „Da ist der Unstern der Vernichtung! Der Vernichtung Montons, der Vernichtung der ganzen Menschheit! Ha, aber was heißt hier Stern oder Unglücksstern? Ist die Hölle ein Licht am Himmel? Nein, das Verhängnis dringt aus dem Trüben, durch Dunkelheit, Schwefel, feurige Ströme! Es kommt aus dem Erdreich! Sein Vorbote ist schon da! Er ist im Schloß! Dort, wo Superhirn, Gérard, Prosper und die drei Geschwister ihr Ferienquartier haben!“ Na, was hätte das genützt? Nichts. Viele Leute wären in panischer Furcht nach Hause gelaufen, die Abergläubischen voran. Andere hätten gedacht, der Bürgermeister wäre schon vor dem Fest „ins Weinfaß gefallen“. Die Touristen hätten die Köpfe geschüttelt und gemeint: Ein komisches Nest! Ein verrückter Bürgermeister! Eröffnet ein Volksfest und schnappt vor lauter Eifer gleich über! Und Superhirn, Henri, Tati und die anderen? Sie hätten das Schloß und den Park durchsucht und nichts mehr gefunden. Tati und Micha schleckten Eis, die Jungen aßen leckere Bratfische, und Loulou bekam zur Feier des Tages einen großen Waffelkeks. Dann fuhren sie mit dem Lift am Nordosthang hoch, zur alten Seewarte. Hier parkten Autos aus der ganzen Umgebung, denn auf dem flachen Gelände, auf dem gelegentlich Sport- und Seenotflugzeuge landeten, sollte ein Fesselballon steigen. Die Gefährten hatten riesiges Glück. Der Ballonführer, Herr Berry, war ein Vetter von Madame Claire. Er lud die ganze Bande ein, den Aufstieg mitzumachen. So kletterten mit Loulou auch seine Freunde „ins Körbchen“, den Korb zur Aufnahme der Passagiere. Dieser offene Behälter war allerdings ziemlich groß, denn es handelte sich nicht um einen gewöhnlichen, runden Freiballon, der vom Wind über Felder und Dörfer getrieben wird, sondern um einen Parsevaldrachenballon. Das Gebilde mit dem Auftriebsgas, dem Luftbehälter und dem „Steuer“ glich eher einer gewaltigen, prallen Wurst. Das „Steuer“ diente nur dazu, dem mit dem Boden verankerten „Wurstballon“ durch Drehung gegen den Wind eine ruhige Lage zu verschaffen. Das „gefesselte“ Ballon-Luftschiff hieß „Toulon II“ und diente sonst der Beobachtung von Seeschiffen im Küstenbereich. Heute war er für einen großen Bonbonregen ausgeborgt worden. Er schwebte nun zweihundert Meter über dem Volksfest. Herr Berry und seine jungen Passagiere hätten hundert Hände und Tausende von Bonbons haben müssen, um die Kinder unten auf dem Volksfest zufriedenzustellen ... Eifrig warfen sie die eingewickelten Dinger über Bord, sahen, wie Gestalten hurtig umherliefen und sich bückten. Die Triumph- und Enttäuschungsschreie hörte man recht deutlich. Loulou, der nicht wußte, was das alles zu bedeuten hatte (er konnte ja nicht über den Korbrand lugen), bellte aufgeregt. Gérard war wütend. „Nun seht euch das da unten an!“ rief er. „Da wirft und wirft und wirft man Bonbons! Und wer stürzt sich am wildesten darauf?“ „Die Erwachsenen“, sagte Tati. „Man mü ... mü ... müßte ihnen Knallerbsen auf die Köpfe schmeißen!“ fauchte Prosper.
Micha meinte: „Wir werfen keine Bonbons mehr runter. Wenn wir wieder unten sind, verteilen wir sie an die Kinder ganz gerecht!“ Herr Berry lachte. „Das wär aber kein Bonbonregen mehr! Der Spaß besteht doch gerade darin, daß der Segen von oben kommt, nämlich aus dem Ballonkorb! Und manche müssen sogar leer ausgehen, wie bei der Lotterie. Sonst wär's doch schrecklich langweilig! Ja, ja. Auch in den Erwachsenen steckt ein kindlicher Jagd- und Besitztrieb, der besonders bei Umsonst-Veranstaltungen plötzlich erwacht. Dazu bedarf es keines Gold- oder Silberregens, da genügen lumpige Bonbons. Das muß man schon so hinnehmen!“ Er blickte auf die Möwen, die in immer größeren Scharen den Ballon umkreisten. Sie hatten bemerkt, daß da etwas geworfen wurde, und aufgeregt kreischend versuchten sie zu ergründen, was das war. Aber allein die Bonbonpapiere verhießen ihnen nichts Besonderes für ihre Schnäbel und Mägen. Sie schnappten erstaunlicherweise nicht einmal danach, und bald verzogen sie sich wieder hinunter zum Hafen, wo es Fischgrills, Brot- und Käsebuden und andere Verkaufsstände für Eßbares gab. „Die haben einen Spürsinn für ihre Nahrung!“ staunte Henri. „Und eine Beobachtungsfähigkeit, die jeden Nachrichtendienst blamiert“, fügte Superhirn hinzu. „Sogenannte echte Möwen- nicht das Möwchen, das eine Haustaube ist - sind Raubvögel. Auf See können sie sogar erschöpften Schiffbrüchigen gefährlich werden. „Danke“, sagte Tati. „He, Micha! Stopf dir nicht so viele Bonbons in die Taschen. Was sollen die Kinder denken, wenn wir wieder landen...“ Am Nachmittag beteiligte sich Henri am Tontaubenschießen, Tati bummelte mit Loulou über den „Flohmarkt“, wo es von Sicherheitsnadeln über Taschenspiegel, Kugelschreiber, Töpfe, Hosenträger, Modegürtel, alte Sofas und einzelne Stühle bis zum reifenlosen Auto buchstäblich alles (jedenfalls die verwunderlichsten Dinge) gab. Micha hockte erst zwischen quietschenden Kindern vor dem Marionettentheater, bis er zur Geisterbahn ging. Prosper sah den Wettanglern am Südbollwerk zu, und Gérard machte den Rasenplatz beim stillgelegten Werkbahnhof unsicher. Dort wurde noch für das morgige Fußball-Freundschaftsspiel zwischen der Jugendmannschaft von Monton gegen die des Nachbarortes Segerac trainiert. Superhirn aber interessierte etwas anderes. Der Bürgermeister von Monton, Herr Ney, spielte vor den Tribünen beim Rathaus öffentlich Schach gegen den Lehrer Colinou. Dazu benutzten sie große, hohle Kunststoff-Figuren, die ihnen bis zum Bauch gingen, aber sehr leicht anzuheben waren. Dieses Gartenschach hatten sie gewählt, damit Neugierige jeden Zug und Schlag genau beobachten konnten. Als „Spielfeld“ dienten zweifarbige Gartenfliesen, die man entsprechend zusammengesetzt hatte. Die Umstehenden wetteten, wer gewinnen würde. Zwar war der Bürgermeister von Monton gleichzeitig Schachmeister, aber der Lehrer hatte sich offensichtlich in den Kopf gesetzt, ihm diesen Titel abzunehmen. Das erkannte man an seinem verbissenen Gesicht. „Herr Colinou verliert“, meinte ein dicker Mann, indem er sich den Schweiß von der Glatze wischte. Eben tat der Bürgermeister einen Zug und bewegte eine seiner Figuren auf ein anderes Feld. „Hab ich's nicht gesagt?“ rief der dicke Zuschauer. Im Eifer stieß er Superhirn an. „Der Lehrer ist geliefert!“ „Nur, wenn er jetzt den entscheidenden Fehler macht“, erwiderte Superhirn. „Wenn nicht, bricht die Stellung des Gegners zusammen.“ Der Lehrer blickte erstaunt auf die Umstehenden. „Welchen entscheidenden Fehler sollte ich denn machen?“ fragte er ärgerlich. „Und wieso könnte er mich schlagen?“ rief der Bürgermeister. Beide Spieler waren ziemlich ratlos. Sie wendeten die Köpfe hin und her und prüften ihre Chancen. Dann sahen sie sich an. „Na, Junge!“ lachte schließlich der Bürgermeister. „Vielleicht zeigst du uns mal, wie du meine Stellung knacken kannst!“ „Ihrem weißen König ist jede Flucht abgeschnitten, obwohl er scheinbar unangreifbar verteidigt ist“,
erklärte Superhirn ruhig. „Hilft Ihnen dieser kleine Hinweis?“ Tatsächlich staunte der Lehrer nach einer Weile. „Das hab ich noch nicht so überschaut, und ich hätte mich beim nächsten Zug um alle Vorteile gebracht. Aber nun ist die Partie natürlich ungültig, weil der Junge reingeredet hat!“ „Er kann ja mal gegen mich spielen!“ rief der Bürgermeister. „Komm, komm!“ Mit dröhnendem Gelächter stellte er die Figuren zurecht, wobei ihm der Lehrer half. Dem Bürgermeister verging das Lachen. Sehr schnell hatte Superhirn das wichtigste Ziel einer Schachpartie erreicht, nämlich den gegnerischen König „im Griff“, also „im Schach“ zu halten. Der Bürgermeister fand kein Feld mehr, um seinen König aus dem Schach wieder herauszuziehen“, weil er, wohin er ihn auch setzen wollte, immer durch Superhirns „Schachgebot“ seitens einer anderen Figur bedroht wurde. Die Umstehenden klatschten Beifall. Der Bürgermeister machte Stielaugen und überließ das nächste Spiel dem Lehrer. Aber auch den schlug Superhirn. Er lächelte. „Das kann ja mal vorkommen.“ Und er wandte sich den nächsten Gegnern zu. Als der Flohmarkt abgebaut wurde, um einer überdachten Tanzfläche Platz zu machen, hatte Superhirn vier weitere, geübte Schachspieler überlegen geschlagen: den Pfarrer, den Hafenkapitän, einen deutschen Touristen, von Beruf Rechtsanwalt, und den Polizeichef von Monton. Tati und Micha waren mit Loulou bei den Fischhallen Autoscooter und Gondelrad gefahren, Henri hatte zuletzt den Abtransport des Fesselballons beobachtet, und Gérard war es gelungen, als Reservespieler in die Jugend-Fußballmannschaft von Monton aufgenommen zu werden. Eine Aussage, die aus allen Lautsprechern über Hafenränder und Bucht dröhnte und von den Steilhängen widerhallte, ließ sie allesamt zu den Tribünen drängen. „Wer spielt gegen Marcel, den Schach-Wunderknaben?“ rief ein Mann vom Festkomitee. „Er hat den Schachmeister von Monton entthront und alle erwachsenen Spieler geschlagen! Anmeldungen für morgen erbeten!“ Superhirn war der Held des Tages. Als das goldene und silberne, blaue und violette Feuerwerk mit Pfeif- und Knalleffekten über der alten Bastion landeinwärts zum Abendhimmel emporschoß, zickzackte, perlte, vielfarbige Riesensträuße bildete oder sich springbrunnenhaft verbreitete - da war es, als feierte man Superhirns Sieg. Tati gabelte im Gedränge Madame Claire auf und ging mit ihr ins Tanzzelt. Die Jungen aßen noch ein paar Leckerbissen an einer Bude, wobei auch für den Pudel gesorgt wurde. Dann traten sie den Rückweg an. Tati und Madame Claire würden schon rechtzeitig mit dem Gärtnerpaar folgen. Unterwegs lachte Micha: „Also ist Superhirn jetzt Schachmeister von Monton! Warum wird er dann nicht auch gleich Bürgermeister?“ „Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun“, erwiderte Superhirn ernsthaft. „Es hat bestimmt schon Schachweltmeister gegeben, die für ein Bürgermeisteramt zu zerstreut gewesen wären.“ „Na, ich weiß nicht“, meinte Micha. „Ich verstehe ja auch überhaupt nichts vom Schach. Ich kann keinen König von 'ner Dame unterscheiden. Und die Spielregeln könnte ich niemals lernen.“ In dieser Nacht heulte der Pudel nicht. Er war satt und müde, und der Tag mit seinen Eindrücken hatte ihn genauso abgelenkt wie die Geschwister und ihre Freunde. Ins Kaminzimmer des Schlosses ging keiner mehr. Trotzdem sollten die vertrackten Schachspiele, die mit den winzigen Figürchen im Salon -und die mit den großen auf dem Volksfest-, ein grauenvolles Nachspiel haben. Superhirn war schon selber im Schachmatt einer Gewalt, die der ganzen Erdbevölkerung unbekannt war. Unauffällig zwischen den vielen Gegenständen auf dem Kaminsims, ja, sogar für Madame Claire wie eine festgefügte Verzierung, stand die unheilvolle, überzählige Schachfigur: Der Bauer mit der Hand über den Augen und dem hochgereckten Gesicht - wie angeschmiedet oder in den Sims eingefügt. Und es strahlte jetzt nichts mehr von ihm aus. Doch das sollte nicht so bleiben.
5. Gérards Fußballtag Am folgenden Tag, der so schrecklich enden sollte, gab es für Gérard eine freudige Überraschung: Herr Limmat rief in der Villa Monton an. Herr Limmat war der Trainer der JugendFußballmannschaft: Er teilte Gérard mit, sein Linksaußen sei über irgend etwas verärgert, und er, Gérard, dürfe für ihn einspringen. Auch Micha war so begeistert, daß er deckenhoch sprang - und mit ihm Loulou. Obwohl doch der dumme Pudel gar nicht wußte, worum es eigentlich ging. Der Gärtner fuhr die Gefährten samt Hund in seinem klapprigen, offenen Geräte-Auto schleunigst hinunter. Es war Eile nötig. Die gegnerische Mannschaft war schon in ihrer Baracke am Platz. An beiden Seiten des Spielfeldes hatte man Bretterbänke aufgestellt. Auf einem rostigen Signalmast der stillgelegten Eisenbahnanlage hockte ein Junge mit einem Mikrofon. Der Kampfverlauf sollte durch Lautsprecher in jeden Winkel der kleinen Stadt und des Hafens übertragen werden. Zuschauer, Kinder und Jugendliche, viele mit ihren Vätern - schrien aufgeregt durcheinander. Manche drehten Handrasseln, andere bliesen in komische Tuten. Es hörte sich wie Schafsgeblöke an. Mit der gegnerischen Mannschaft waren auch Schlachtenbummler aus Segerac gekommen. Beide Zuschauerpartelen erkannte man nicht nur an ihren Ausrufen, sondern auch an kleinen Fähnchen, die die Farben der Orte Monton oder Segerac trugen. Gérard trabte in die Monton-Baracke zum Trainer Limmat und dessen Elf, wo er seinen Dreß - und natürlich noch einige Anweisungen - verpaßt kriegen sollte. „Wie wir erfahren“, hallte die Stimme des Jugendreporters durch den Lautsprecher am Spielfeld, „hat Segerac seinen Bomber mitgebracht, Pascal Didier. Damit hatte Monton nicht gerechnet, denn gestern abend hieß es noch, dieser spielwütige Napoleon sei verreist. Seine Beteiligung vermindert die Chancen Montons beträchtlich.“ „Napoleon?“ fragte Micha verwundert. Er saß, mit dem Pudel auf dem Schoß, in der ersten Reihe zwischen Prosper, Tati, Henri und Superhirn. „Na, das ist der Bomber, eine Spielkanone - hast du doch gehört!“ belehrte ihn Henri. „Napoleon ist bestimmt deshalb sein Spitzname, weil er ein Draufgänger ist.“ Die Ungeduld erreichte den Höhepunkt. Im Chor brüllten die Zuschauer: „Anfangen ... anfangen ... anfangen ... !!!“ „Also, ich weiß nicht“, meinte Tati. „Ich versteh überhaupt nicht, warum die so außer Rand und Band sind. Eigentlich bin ich nur wegen Gérard mitgekommen. Dieses Gebolze mit dem blöden Ball reizt mich wenig.“ „Na, hör mal!“ verwahrte sich Prosper. Eifrig fuchtelnd setzte er Tati auseinander, daß Fußball eine große Kunst sei. „Wenn's gute, aufeinander abgestimmte Spieler sind, die auf eine gleichwertige Gegenmannschaft stoßen, ja!“ nickte Henri. „Wenn man die Regeln nicht kennt und nicht weiß, was die markierten Linien auf der Spielfläche bedeuten, versteht man allerdings recht wenig.“ „Dann begreift man höchstens, was ein Tor ist!“ rief Micha verächtlich. Und er ließ auf seine arme Schwester Begriffe einprasseln, wie: Pfosten, Latte, Torraum, Torlinie, Eckball, Strafraum, Abseits, Mittellinie, Mannschaft, Mittelstürmer, Libero, Verteidiger ... „Aber ich weiß nie, woran ich erkenne, was ein Stürmer und was ein Läufer ist“, unterbrach Tati. Und sie erinnerte sich wieder an das Schach: Beim Schachspiel merkt man sogar im Dunkeln, ob man einen Springer oder einen Läufer in der Hand hat. Superhirn lachte still in sich hinein. „Na ja“, fuhr Tati fort. „Wie kann sich Fußball mit Schachspiel messen. Außer daß beide Kampfspiele sind. Schach gilt als das Spiel der Könige. Fußball ist nur groß in Mode.“ Jetzt geriet Prosper vor Aufregung ins Stottern: „Hast du noch nie von Au-Au-Ausgrabungen gehört?“ „Jedenfalls noch nie was davon, daß Archäologen einen Fußball ausgebuddelt hätten. Uralte, verschüttete Städte mit kostbaren Hausgeräten und Schmuckstücken, ja. Sogar Wikingerschiffe holt man vom Meeresboden rauf. Fußbälle kauft man im Sportgeschäft.“
„Irr-Irr-Irrtum!“ fauchte Prosper. „Auf Reliefs der ollen Römer kannst du schon Fußballer sehen! Geh mal in so´n Museum!“ „Stimmt das, Superhirn?“ fragte Tati verblüfft. „Hm. Wenn ich mich nicht irre, fand man sogar altägyptische Darstellungen vom Fußballspiel. Und bevor Kolumbus Amerika entdeckt hatte, kickte man in Florenz. Hundert Jahre später, aber so ganz genau weiß ich das nicht, gab es die ersten Spielregeln“, murmelte Superhirn. Henri wußte noch mehr: „In England traten Mannschaften schon im dreizehnten Jahrhundert gegeneinander an. Das ist sogar schriftlich erhalten!“ „Aber nicht mit der Schreibmaschine“, lachte Tati. „Und wie ging das weiter, Superhirn?“ Superhirn zuckte die Achseln. Da er niemals Lust gehabt hatte, einen Fußball etwa an seinen empfindlichen Kopf - womöglich auf die Brille - geschmettert zu kriegen, waren ihm Herkunft und Entwicklung dieses Spiels nicht so wichtig. Tati atmete auf. Sie lachte. „Endlich mal etwas, das Superhirn nicht weiß! Kinder, dafür gibt's heute Kuchen!“ „Na, und wenn du denkst, Fußball wäre auf dem Schulweg erfunden worden, mit 'ner getrullerten Konservenbüchse, bist du auf der falschen Hochzeit, Tati“, grinste ihr Bruder. „Obwohl es was mit Schule zu tun hat - sogar mit, mehreren: piekfeinen, zum Beispiel Eion und Harrow in England. Da haben sie Fußball als Freizeitgestaltung neu entdeckt. Denke mal: Noch bevor es eine Eisenbahn gab!“ „Jetzt versteh ich überhaupt nichts mehr“, staunte Tati. Bevor sie noch etwas sagen konnte, verstärkte sich das Zuschauergebrüll. Von beiden Seiten trabten die Jugendmannschaften auf das Feld: Von links kam die Monton-Elf im grünen Dreß, von rechts die aus Segerac in Gelb. Gérard sah in seiner Hemdbluse, seiner kurzen Hose und den Strümpfen an den drallen Beinen sehr komisch aus. Und sein Kopf war fast so rund wie der Fußball, den der Schiedsrichter in der Hand hielt. „Hoffentlich hat man ihm passende Fußballschuhe gegeben“, brummte Henri besorgt. „Die sind wichtig! Spezialschuhe mit Knöchelschutz, besonderen Kappen und genau vorgeschriebenen Sohlen!“ Tati hatte Gérard immer für ein Trampeltier gehalten, und sie zog ihn gern damit auf: „Wo du hintrittst, wächst kein Gras mehr!“ Aber als das Spiel im Gange war, wunderte sie sich doch: Wie er flitzte und federte! „Die Gäste...“, so wurden die Gegner aus Segerac vom schreienden Reporter genannt, „... retten sich in den Angriff! Irgend etwas macht sie nervös! Wahrscheinlich, weil sie auf einem fremden Platz spielen! Sie ergreifen die Flucht nach vorn! Kommen dem Tor gefährlich nahe! Da ... da ... der Bomber Napoleon! Erwischt er den Ball?“ Man sah den stiernackigen Spieler aus Segerac herumfliegen. „Schuß! Tor!“ Aber Napoleon hatte über die Latte hinweggekickt. Enttäuschungsschrei auf seiten der gegnerischen Schlachtenbummler, Jubel bei den Zuschauern aus Monton. „Wieder Napoleon! Herrlicher Schuß aus der Drehung!“ schrie der Reporter ins Mikrofon. „Leider noch mal über das Tor!“ Hohngebrüll des einheimischen Publikums. Micha sprang auf die Bank. Der Pudel sauste zu Boden und überschlug sich kläffend. Tati hielt sich die Ohren zu. Prosper klatschte fortwährend die Hände über dem Kopf zusammen, Henri rief durch die hohlen Hände: „Gérard ... Gérard ... Gérard ...“ Superhirn grinste nur. Aber er beobachtete die Spieltechnik der beiden Parteien höchst aufmerksam. Das eine begriff er besser als jeder andere Zuschauer, nämlich das, was mit Entfernungsberechnung, Winkelzuspielung und jeder Art von Kalkulation zusammenhing. Schneller als der Reporter hatte er heraus, daß die Mannschaft von Monton besser aufeinander „eingespielt“ war - obwohl die Gegenseite über den „Bomber Napoleon“ verfügte und die Jungen von Monton Gérard als Fremden in ihren Reihen hatten.
„Jemand aus Segerac hat mit seinen Dribblings kein Glück!“ schrie der Junge ins Mikrofon. „Die Spieler werden immer nervöser! Monton dagegen hält zwei starke Leute hinter dem Kampfgeschehen! Und da ... da . . . der Ersatzspieler Gérard ist zur Stelle. Schuß ... Schuß ... !!!“ „Tooor!!!“ quietschte Micha. Sein Schrei ging im Freudengeheul auf der einen - und im Enttäuschungsgeheul der anderen Seite unter. Aber nun gab es eine furchtbare Aufregung. Was tat der Schiedsrichter? Er ließ die Spieler nicht in ihren jeweiligen Spielplatzhälften antreten, wie es nach einem Torschuß üblich ist. Statt dessen ging er zum Tor der Segeracer Mannschaft, prüfte, fragte, ließ sich von den erregt fuchtelnden „Kämpfern“ etwas erklären, das er nicht gesehen hatte!!! Wohl war es richtig: Gérard war unvermutet schnell gewesen, sein Ball war wie ein Pistolenschuß ins gegnerische Tor gesaust. Der Torwart hatte sich im Reflex längelangs zurückgeworfen und den Ball erwischt, jedoch zu spät - und bereits hinter der Torlinie! „Es scheint, als will der Schiedsrichter den Schuß nicht anerkennen“, übertönte der Lautsprecher das Pfeifen, Tuten und Schimpfen des Publikums. „Es war ein Parade-Tor! Der Ball ist ganz glatt über die Torlinie unter der Querlatte und zwischen den Pfosten hindurchgegangen! Genau, ganz genau nach der Regel!“ „Unglaublich“, erboste sich Henri. „Die Schiedsrichter kommen mit dem modernen, schnellen Fußballspiel einfach nicht mehr mit! Oft sind sie bei Elfmeter-Entscheidungen gar nicht auf Ballhöhe!“ „Aber wozu gibt's die Li-Li-Linienrichter ... ?“ schrie Prosper. „Wozu haben sie ihre Fähnchen? Damit sie winken! Und nicht, damit sie einen schönen Eindruck machen!“ Was Prosper sagte, war eine Tatsache: Das Fußballspiel wird immer „rasanter“, immer perfekter. Der eine, einzige Schiedsrichter, dessen Entscheidung sich die Parteien zu beugen haben, ist der unerhört ausgebauten Technik und Taktik oft nicht mehr gewachsen. Linienrichter sollen ihm helfen, aber sie können ihre Beobachtung mitteilen, ohne daß sie der Schiedsrichter sich zu eigen machen muß. Es gibt wahrhaftig noch so selbstherrliche Schiedsrichter, die die Linienrichter in unklaren Fällen nicht einmal fragen! Schließlich wurde das Tor aber doch anerkannt. Die Leute aus Monton schwenkten die Fähnchen. Und alle Freunde, auch Tati, schrien im Chor: „Gérard ... Gérard ... Gérard ... !“ Dann gab es sogar noch ein „Eigentor“ durch einen Querpaß von „Bomber Napoleon“. Zweimal zwanzig Minuten dauert ein Jugendspiel (das der Erwachsenen zweimal fünfundvierzig Minuten). Bei Spielunterbrechungen kann die verlorene Zeit noch extra zugegeben werden. Zuletzt stand es 4:3 für Monton. Das letzte, entscheidende Tor hatte Gérard geschossen. Er war der Held des Platzes - und schwitzend wie eine Bratkartoffel in der Pfanne - mußte er vielen kleineren Zuschauern Autogramme geben. ' „Mensch, warst du prima“, beglückwünschte ihn Henri. Prosper kickte vor Begeisterung mit den dünnen Beinen nach unsichtbaren Fußbällen, Micha und Loulou sprangen um ihn herum - und Tati gab ihm sogar einen Kuß auf die breite Stirn. „Wenn ich auch nichts von Fußball verstehe“, lachte sie. „Aber eins ist mir doch aufgefallen: Du bist ganz große Klasse!“ Gérard schielte zu -Superhirn. Superhirn lächelte: „Bin durchaus Tatis Meinung! Am erstaunlichsten finde ich, daß du dich ohne Vorbereitung so glänzend auf die eigene und auf die gegnerische Mannschaft eingestellt hast!“ „Womit du den Nagel wieder mal auf den Kopf triffst!“ grinste Gérard stolz. Der „Sieger“ wurde von Herrn Limmat und der Mannschaft zu einer kleinen Feier eingeladen. Tati und die Jungen gingen in den Ort, um etwas zu essen. Sie schwatzten die ganze Zeit über das Spiel, und der Pudel hopste so freudig, als hätte er das letzte Tor erzielt. Am frühen Nachmittag trennten sich die Wege der Freunde. Tati wollte mit Micha zum Ponyreiten, Prosper schnappte sich den Hund und machte mit ihm einen Erkundungsgang durch die Felsgrotten
von 4 Monton. Das eigentliche Fest begann erst jetzt. Die meisten Einwohner hatten ja vormittags arbeiten müssen. Superhirn ging zum Bürgermeisteramt, denn dort wurde er zum Schachspielen erwartet. Er war erstaunt, als ihn ein Polizist in den Ratssaal hineinführte. Man wollte ihn doch nicht etwa verhaften, weil er den Bürgermeister und den Polizeichef gestern besiegt hatte? 6. Ein Großmeister wird klein Superhirn wurde nicht festgenommen oder verhört oder ins Ortsgefängnis abgeführt. Gedämpftes, keineswegs unfreundliches Stimmengewirr schlug ihm entgegen. Der Ratssaal war rammelvoll. Kaum konnte man den mit grünem Filz bedeckten Tisch übersehen. Auf einer Klappleiter stand der Stadtfotograf vor der altmodisch hohen Fensterfront. Trotz des hellen Sommernachmittags brannte der riesige Kronleuchter. Außerdem hatte man Lampen an Kabelgerüsten in die Ecken gestellt. Männer in Arbeitshemden liefen zwischen Ratssaal und Nebenräumen hin und her. Sie riefen sich technische Ausdrücke zu, aus denen hervorging, daß sie vom Fernsehen waren. „Unser Gast“, grinste der Polizist, Superhirn durch die Reihen der Erwachsenen geleitend. Ein paar Leute, klatschten. Dann war es plötzlich atemberaubend still. Wie durch einen Schleier erkannte Superhirn den Bürgermeister, den Lehrer, den Pfarrer, sogar den deutschen Rechtsanwalt, alle, die er gestern im Schach auf eine für sie so verblüffende Weise geschlagen hatte; auch den Hafenkapitän und den Chef der Polizei. Doch ihre Blicke waren nicht ärgerlich, sondern eher wohlwollend, auf alle Fälle jedoch gespannt. Überhaupt lag „knisternde“ Erwartung über dem langen Tisch unter dem hellen Kronleuchter. Unverhohlene Neugier ging von den Frauen und Männern des Festkomitees aus, ebenso von allen anderen, die die Schachleidenschaft hierhergetrieben hatte - und die nun froh waren, noch Einlaß gefunden zu haben. Die Leistungen des flachshaarigen, spindeldürren Jungen hatten sich mit geheimnisvoller Schnelligkeit herumgesprochen. Zudem war ja von der Festleitung die Aufforderung an jeden Schachbegeisterten ergangen, ihn zu einer Partie zu fordern. „Ist das der Wunderknabe?“ hörte Superhirn jemand raunen. Der Bürgermeister antwortete laut und fügte gleich eine Ansprache an. „Das ist er. Marcel, Neffe des Grafen Monton, der die Villa am Steilhang besitzt. Der langen Ansässigkeit dieses Geschlechts verdanken wir es mit, daß wir diese Feier begehen können. Leider ist Marcels Onkel geschäftlich in Amerika, doch er hat uns eine - wie sich herausstellte - besondere Ferienüberraschung gemacht: seinen Neffen, das Schachwunder. Er hat gestern mich und drei der besten Leute des Schachclubs Monton geschlagen. Noch gestern abend telefonierte ich mit dem Departementsbund. Ja...“ Er schwieg und deutete auf die eine Längsseite des grünen Sitzungstisches: „Aus dem Departementsbund ist Monsieur Paul de la Motte hervorgegangen.“ „De la Motte?“ rief eine Frau vom Festkomitee. Es klang wie ein Jubelschrei. „Der französische Großmeister im Schach? Mitglied des Weltschachbundes, der mit Spassky gespielt hat?“ Superhirn wurde an die andere Längsseite des Tisches geschoben. Hinter einem großen Schachbrett sah er sich gegenüber einen sportlich gekleideten Mann mit auffallend unbewegtem Gesicht in einem altmodischen Ratsstuhl lehnen: Herrn de la Motte, den Großmeister . . . der sogar Aussicht auf die Weltmeisterschaft hatte. Superhirn kannte ihn von Zeitungsfotos und aus Fernsehsendungen. Er war enttäuscht. Die Augen des Großmeisters wirkten wässerig. Der ganze Mann sah eigentlich recht unbedeutend aus. Doch im nächsten Moment war sich Superhirn darüber klar, daß er sich getäuscht hatte: de la Motte beeindruckte nichts. Weder die Umgebung noch die Ansprache des Bürgermeisters. Noch nicht mal das Volksfest in Monton. Das merkte man an seiner unsagbar gelangweilten Miene. Auch, daß Superhirn noch ein junge war, kümmerte ihn nicht. Denn er sagte, und zwar mit tonloser Stimme: Jugendliche Schachwunder gibt's viele. Ganz wenige
entsprechen den Erwartungen. Die meisten bleiben später in einer gewissen Durchschnittlichkeit stehen.“ Superhirn hatte sich inzwischen „gefangen“. „Warum sind Sie dann hergekommen?“ fragte er genauso ungerührt. „Schach ist nur ein Neben-Hobby von mir. Ich interessiere mich eigentlich nur für Weltraumfahrt!“ „Und doch hast du deine geübten Gegner erstaunlich geschickt geschlagen, wie mir der Bürgermeister telefonisch mitteilte.“ Der berühmte Schachspieler blickte auf das Brett. „Das ist der Grund, warum ich jetzt hier bin. Ich will mich davon überzeugen, ob dir gestern der Zufall half oder ob man in dir eine Entdeckung gemacht hat! Setz dich! Wir spielen eine Partie.“ Ein Raunen der Anerkennung, ja, Bewunderung ging durch den Saal. Superhirn nahm die Einladung an. Ohne Scheu, ohne Befangenheit oder Verlegenheit. Er setzte sich dem Großmeister gegenüber vor das quadratische Brett mit den vierundsechzig Feldern und den zweiunddreißig Figuren, als wolle er mit dem gefürchteten Mann keine Schlacht schlagen, sondern eben mal einen Teller Suppe essen. Die sogenannte Eröffnung begann schleppend. Der Großmeister ließ Superhirn nach jedem Zug Zeit zur Überlegung. Währenddessen lehnte er sich zurück und betrachtete den Kronleuchter, der ihn tausendmal mehr zu kümmern schien als sein jugendlicher Gegner. Superhirn nutzte die Zeit gut. Er vermied jeden überflüssigen Zug, um dem Feind keine Möglichkeit zum Vorantreiben zu geben und ihn vernichtend in seine Linien einbrechen zu lassen. Denn darauf wartete der Großmeister sicherlich! „Herr de la Motte schont den Jungen“, flüsterte eine Dame. Allerlei Voraussagen wurden jetzt hörbar. „Der Junge spielt vorsichtig, aber der Meister wird ihn gleich attackieren, daß die Steine nur so fliegen!“ „Ja! Herr de la Motte ist bekannt dafür. Er entdeckt jede Blöße. Und dann schlägt er zu.“ Doch der Großmeister „schlug“ zwar, aber nicht zu seinem Vorteil. Das Spiel war immer noch ausgewogen. Zu Beginn des Finales gähnte Herr de la Motte. Er reckte sich dabei wie ein Löwe, der aufgewacht ist und sein Opfer sucht. Als er seinen König verschoben hatte, schien er wieder mit offenen Augen zu schlafen. Diesmal blickte er ausdruckslos zum Fenster. Da sagte Superhirn: „Herr de la Motte! Wollen Sie ihren letzten Zug nicht noch einmal überdenken?“ Das war unerhört! Zwar kann man, solange man die Hand noch auf der Figur hat, selbst auf dem neuen Feld noch überlegen, welche Gefahr ihr drohen könnte - und sie dann wieder in die Ausgangsstellung bringen. Doch hat man die Figur gezogen und losgelassen, gibt's bei richtigen Schachturnieren kein Zurück. Nur unter guten Freunden kann man sagen: „Du - das ist doch nicht dein Ernst? Was machst du denn da? Guck dir das noch mal genau an!“ Und man gibt dem Freund anstandshalber die Möglichkeit, die schon losgelassene Figur wieder zurückzunehmen. Dies hier aber war keine Privatpartie, kein Gnadenakt. Und der Großmeister nahm ja nicht bei dem Jungen Unterricht! Die Zuschauer hielten den Atem an. Was würde der Großmeister auf Superhirns Angebot erwidern? Herr de la Motte wandte nicht einmal den Kopf Er tat, als sei er taub. „Wenn Sie Ihren König so stehen lassen, sind Sie schon jetzt ein toter Mann!“ warnte Superhirn. Jetzt warf der Großmeister ein „lässiges Auge“ auf seine Stellung. Er lächelte müde. „Mach dir um deinen Kopf Gedanken - nicht um meinen“, murmelte er. „Gut!“ sagte Superhirn. Nach zwölf weiteren Zügen war der Großmeister geschlagen. Nun starrte er auf das Brett, als wollte er den ganzen Vorgang im Geiste noch einmal zurückdrehen. Die Zuschauer begriffen zunächst nicht, was da geschehen war.
„Na, nanu?“ stammelte der Bürgermeister. „Wie konnte der Junge den Fehler so früh erkennen und alles andere vorausberechnen?“ „Das gibt's nicht!“ meinte der Hafenkapitän fassungslos. Doch der deutsche Rechtsanwalt und der Pfarrer waren sich darüber einig, daß ein hervorragender Schachspieler sehr wohl verzwickte Situationen ziemlich weit vorausberechnen kann, und daß alles mit rechten Dingen zugegangen war. Auch der Großmeister de la Motte sah das ein. Aber er lächelte, als habe er kaum aufgepaßt, nur, um Superhirn eine Chance zu geben. „Fordern Sie Revanche?“ fragte Superhirn. „Sie spielen jetzt Schwarz!“ Die Stille im Saal war nahezu unerträglich. Die Umstehenden glotzten wie im Traum auf das Brett. Ebenso forsch wie scheinbar lässig, in Wahrheit aber merklich angespannt, beobachtete Herr de la Motte jetzt seine Chancen. Aber dann setzte er seine Dame unvorsichtig, versuchte mit dem Springer die Rettung, was ihm jedoch nicht gelang. - und Superhirn schlug ihn nach weiteren acht Zügen. Mit zitternden Fingern zündete sich der Großmeister, Mitglied des Weltschachbundes, eine Zigarette an. Verloren? Er? Er sollte gegen einen Jungen zwei Partien verloren haben? Schweiß trat auf seine Stirn. Als die starken Scheinwerfer auf den Tisch gerichtet wurden und die Fernsehkamera heranfuhr, winkte er unwillig ab. Welche Blamage für den berühmten Mann! Doch er konnte nicht verhindern, daß er als Verlierer aufgenommen und interviewt wurde. Superhirn dagegen als Sieger. Von allen Seiten prasselten nun Fragen auf die beiden herab. Der Stadtfotograf machte hastig eine Aufnahme nach der anderen auf seiner Leiter am Fenster. „Ich bin müde!“ erklärte Großmeister de la Motte mit gequälter Stimme. „Ich hatte eine schwere Woche, und es liegt noch allerlei vor mir. Lassen Sie mich nach Hause fahren!“ Er war aber nicht müde. Das sah man ihm an. Er platzte fast vor Wut. „Jedenfalls habe ich ein junges Schachwunder entdeckt“, sagte er herablassend. „Sie wissen, ich bin ein Nachwuchsförderer!“ Trotzdem war er heute doppelter Verlierer gewesen, und das war jetzt jedem klar. Siegesgewißheit und Hochmut hatten ihn den jungen Gegner unterschätzen lassen. Zum Abschied gab er Superhirn nur flüchtig die Hand. Um so herzlicher wurde Superhirn von den Zuschauern beglückwünscht. Der Lehrer und der Bruder des Hafenkapitäns trugen ihn auf den Schultern ins Freie. Dort war das Ergebnis schon durch Lautsprecher bekanntgegeben worden. Viele Leute klatschten, schrien „Bravo“, und einige brüllten sogar: „Hoch, hoch, hoch Kaum stand Superhirn wieder auf den Füßen, als er Tati, die Freunde und den Hund vor sich sah. „Schnell!“ rief Tati. „Sonst holen die dich noch zu 'ner Siegesfeier! Aber ich hab heute den Kuchen spendiert und Sahneeis dazu! Madame Claire wartet mit dem Gärtner und seiner Frau am Hang!“ Auf dem offenen, alten Geräte-Auto fuhren die Freunde über die gewundene Straße hoch zur Villa Monton. „Ich glaub, Superhirn muß sich erst mal ausruhen“, meinte Tati nach dem Abendessen. „Nee, ich bin taufrisch“, grinste Superhirn. ..Zwei Sieger an einem Tag - toll!“ sagte Henri. Er blickte auf Gérard. „Wirklich, da vergeht einem sogar der Neid!“ bekräftigte Prosper ehrlich. „Fußball leuchtet mir noch ein. Aber, daß man als Junge einen Schach-Großmeister besiegen kann, zweimal nacheinander, ist für mich nicht zu fassen!“ „Ich möchte auch mal gewinnen“, maulte Micha. „Ich komme mir schon ganz dämlich vor!“ Superhirn lachte. „Wie wär's denn mit Schwarzer Peter oder mit Quartett?“ Er verließ die Veranda und ging durch das Kaminzimmer in den Billardraum. Dort waren in Wandschränken, in hohlen Klapptischen und auf Wandborden verschiedene Spiele untergebracht. Superhirn wollte Micha einen Gefallen tun. Der .jüngste sollte seine Chance bekommen . . . Zwei lustige Kartenspiele fand er schnell: Die „Schwarze Ente“ (dem „Schwarzen Peter“ ähnlich) und ein Quartett: „Beruf und Zubehör“. Da mußte man die Karte mit dem Förster zu denjenigen mit
der Flinte, dem Hirsch und dem Fernglas legen. Oder die mit dem Feuerwehrmann, zu denen, die Schlauch, Einsatzwagen und Stichflamme zeigten. Superhirn grinste still in sich hinein. „Hirsch“ als ..Zubehör“ zum Förster war komisch. Ebenso die Stichflamme für den Feuerwehrmann. Na ja. Weder der eine noch der andere konnte ohne das, was er zu jagen oder zu bekämpfen hatte, auskommen. Superhirn ging durch das Kaminzimmer zurück. Dort stand das Schachspiel mit den sonderbaren Figuren noch auf dem Tisch. Ebenso die unverrückbare kleine „Statue“ auf dem Kaminsims, die wie ein überzähliger Bauer wirkte. Superhirn war das egal. Er hatte genug vom Schach. Er wollte Micha aufheitern. Plötzlich vernebelten sich seine Gedanken. Er brach in die Knie. Irgendeine Macht drückte ihn zu Boden. Dunkel hatte er das Gefühl, er läge unter einer Decke, die komischerweise schwer wie Stein war. Auf einmal, so schnell, wie er gekommen, wich der Druck. Superhirn sah wieder klar. Er lag auf dem Teppich im Kaminzimmer. Was da geschehen war, wer oder was ihn umgeworfen hatte ... das konnte er sich nicht erklären... Er sammelte die Spielkarten auf, gab sich einen Ruck und ging in die Veranda. Die anderen schwatzten lustig. Sie aßen die Reste von Tatis „Belohnungskuchen“. Niemand hatte den Vorfall im Kaminzimmer durch die Tür beobachtet. Nur Loulou winselte wieder so merkwürdig. Er wich vor Superhirn zurück! „Was hast du?“ fragte Tati aufmerksam. Keiner wußte: Meinte sie den Zwergpudel oder Superhirn? Unter viel Gelächter spielten sie „Schwarze Ente“. Micha gewann zweimal „ehrlich“. Er hatte gesagt: „Wenn einer mogelt, damit ich gewinne, gilt´s nicht!“ Und er hatte dabei Superhirn aus den Augenwinkeln listig angesehen. Beim Quartett „Beruf und Zubehör“ verwandelte sich die gute Laune. Irgend etwas legte sich auf die Gemüter wie Eis ... ..Superhirn?“, stammelte Tati plötzlich entgeistert. „Was machst du denn da mit den Karten ... ???“ Während Micha zu der Karte mit dem „Arzt“ die mit den Zubehören „Augenspiegel“, „Spritze“, „Blutdruckmesser“ legte, ohne sich zu besinnen, kam Superhirn überhaupt nicht weiter. Auf seiner Stirn bildete sich Schweiß. „Ich habe hier eine Karte mit einem Kapitän“, jammerte er. „Was gehört zu einem Kapitän ... ???“ Tränen wurden hinter seiner großen Brille sichtbar. Sie rannen ihm über die Wangen. Prosper, Gérard und Henri schwiegen vor Schreck. Das war echt! Superhirn machte ihnen nichts vor! „Was gehört zu einem Kapitän ... ???“ schluchzte Superhirn. „Ein ... ein Schiff!“ hauchte Micha, total verdutzt. „Ach, so!“ rief Superhirn. Aber er legte statt des Schiffes eine Karte mit einem Kamel hin. „Das Kamel gehört zum Karawanenführer!“ sagte Tati. Sie beobachtete Superhirn besonders scharf. jetzt nahm er die Autobus-Spielkarte, die zum „Fahrerberuf gehörte“ - und legte sie neben den „Kapitän“. Auf „Schiff“ kam er nicht, obwohl Prosper ihm diese Karte immer wieder zuschob. Schließlich nahm Superhirn die „Schiffskarte“, tat sie aber immer noch nicht neben den Kapitän. „Ja, siehst du denn da keinen Zusammenhang?“ fragte Tati. Sie spürte, wie es ihr kalt über den Rücken lief Superhirn war der Klügste von allen. Jeder wußte das. Um so grauenhafter zu sehen, wie er vor aller Augen geradezu zum dummen Baby wurde! „Ja, ja“, greinte er. Er biß ein Stück von der Spielkarte ab und beklagte sich. „Der Keks schmeckt nicht...“ Heulend, nein, aufheulend fuhr er vom Stuhl hoch: „Au, au, mein Kopf...“ Er riß sich die Brille von der Nase und rieb sich die Stirn. „Es pikt mich einer ... Einer pikt mich mit Nadeln ... !“
Wie verrückt drehte er sich im Kreise. Und dann begann er, anhaltend zu schreien. Auch die anderen waren aufgesprungen. Der Pudel verkroch sich in eine Ecke. Hastig sagte Tati: „Gérard, du hast Kräfte für zwei. Bring Superhirn ins Bett! Schnell! Prosper, geh mit! Hilf Gérard! Redet auf ihn ein! Beruhigend, versteht ihr? Los, los! Ich muß inzwischen was mit Henri besprechen!“ Superhirn ließ sich abführen. Er war so schlaff wie eine leere Ballonhülle ... Micha scharrte die Spielkarten zusammen und breitete sie wieder aus. Verstört guckte er auf ihnen herum. Was hatte ausgerechnet Superhirn daran verrückt gemacht? Dieses „Berufsquartett“ war doch kindisch einfach... Henri und Tati wisperten miteinander. Sie achteten nicht auf den schniefenden Pudel in der Ecke. Gérard und Prosper kehrten zurück. Tati blickte auf. „Nun?“ fragte sie gespannt. „Glaube nicht, daß wir einen Arzt brauchen“, berichtete Gérard. seelenruhig. „Superhirn hat sich nur übernommen. War alles zuviel in den letzten Tagen!“ „Klar“, bekräftigte Prosper. „Das dauernde Berechnen, Peilen, Kalkulieren - Kinder, das wirft doch den dicksten Hund um!“ „So hab ich auch erst gedacht“, sagte Tati ernst. Jetzt hab ich mit Henri gesprochen. Er fürchtet dasselbe wie ich.“ „Was ... ?“ fragten Gérard und Prosper wie aus einem Munde. „Daß hier irgendwas nicht mit rechten Dingen zugeht“, erklärte Henri. „Superhirn war völlig normal, als er aus dem Rathaus kam. Ganz vergnügt! Nicht 'ne Spur erschöpft! Und hier, ausgerechnet bei dem albernen Spiel, da dreht er durch! Legt ein Kamel neben einen Kapitän- und beißt in 'ne Karte wie in einen Keks ...“ ,Aber er hat doch was von Kopfschmerzen gejammert“, murmelte Prosper. „Von Stichen, - oder so... Das hat man manchmal nach blöden Schularbeiten. Sieht das nicht nach Überanstrengung aus?“ „Er schläft jetzt“, sagte Gérard. „Wir haben ihn sachte, sachte auf sein Bett gelegt. So wie er war. ,Danke' hat er noch gebrummt. Das klang vernünftig. jedenfalls hat er nicht gehaucht wie jemand, der ein Messer in den Rücken kriegt` „Wenn man ein Messer in den Rücken kriegt, haucht man alles andere als Danke“, sagte Henri schwach. „Na, gut. Lassen wir ihn ausschlafen, Dann sehen wir weiter.“ „Weshalb soll hier was nicht mit rechten Dingen zugehen?“ fragte Gérard. „Meinst du, wir sind in einem Geisterschloß? Madame Claire wäre vielleicht eine Hexe?“ „Quatsch!“ wies ihn Tati ärgerlich zurecht. „Aber wenn du schon von Madame Claire sprichst: Sei froh, daß sie gleich nach dem Abendessen mit den Gärtnersleuten wieder nach Monton gefahren ist. Wir hätten ein Heidentheater, wenn sie Superhirns Affentanz beobachtet hätte!“ Tati ging ins Kaminzimmer. Die anderen folgten. Auch der Pudel, der aus seiner Ecke hervorgekommen war. „Was suchst du?“ erkundigte sich Prosper bei Tati. „Weiß ich selber nicht!“ kam die Antwort. Henri blickte überall umher, er blickte sogar zur Decke. „Möchte nur wissen, was ihr habt - wenn ihr's selber nicht wißt!“ murrte Gérard. ..Also, ich zieh aus!“ schnaufte Prosper. „Ich leg mich in den Pavillon, den ollen Schuppen, wo ich schon mal geschlafen habe! Mir ist das hier zu gefährlich. Wenn ihr auf einmal alle durchdreht, dann steckt ihr mich nachher noch an!“ „Vielleicht ist ein Gespenst in der Wand eingemauert?“ vermutete Micha. Das meinte er aber durchaus nicht spaßig. Unwillkürlich trat er ein paar Schritte zurück und prallte gegen den Tisch, auf dem die komischen Schachfiguren standen. „Halt!“ ertönte plötzlich die Stimme eines Mannes. „Weg vom Tisch, Micha! Weg, weg! Faß keine Figur an ... In der Terrassentür stand eine hagere Gestalt.
„Hier spricht Professor Charivari! Welches Wesen sich auch immer als Schachfigur eingeschlichen hat ... ich werde es vernichten ...!“ 7. Professor Charivari taucht auf Die Gefährten standen so starr wie die Schachfiguren auf dem Brett. Ein hagerer, hochgewachsener Kerl trat aus dem Zwielicht des Billardzimmers in den helleren Salon. Sein Anblick war zunächst erschreckend. Der kahle Schädel erinnerte an eine Salatgurke. Der armlange, strippenförmige, lackschwarze Bart wirkte, als seien dem Mann ein paar Schnüre am Kinn festgewachsen oder als habe er den Seidenschwanz eines fremdartigen Tieres an seinem Unterkiefer befestigt. Seine schmalen Augen waren fast schwarz. Sie glänzten wie im Fieber. Die Brauen darüber schienen aus dem gleichen Stoff gemacht wie der Bart. Sonderbarerweise trug der unheimliche Eindringling eine weiße, moderne Kombination mit vielen schräg und waagrecht angebrachten Taschen. Der erste, der gerochen hatte, wer dieser hagere Riese mit dem Gurkenschädel war (und daß er nicht in böser Absicht kam), war der Hund. Freudig bellend sprang er auf die sonderbare Erscheinung Zu. jetzt faßte sich auch Henri. „Professor Charivari!“ rief er. „... Charivari!“ wiederholte Gérard verblüfft. „Wir da-da-dachten, Sie umkreisen mit Ihrer Raumstation die Erde“, stammelte Prosper. „O-o-oder einen anderen Pla-Planeten. Hätte nie gedacht, Sie wie-wie-wiederzusehen!“ ,Aber ich ... !!!“ behauptete Micha. „Sie wollten an dem Volksfest teilnehmen? Denken Sie, Gérard hat in der siegreichen Fußballmannschaft gekämpft. Und Superhirn hat den Großmeister im Schach geschlagen? Aber jetzt.. .“ „Gut, daß Sie hier sind“, unterbrach Tati erleichtert. „Irgendwas Schreckliches liegt hier in der Luft.“ „... in der Luft, hm“, sagte der Professor. „Wenn's nur in der Luft wäre.“ Er wandte sich dem Schachbrett mit den ungewöhnlichen Figuren zu. Sein Gesicht veränderte sich. jeder hatte den Eindruck, daß die samtweiche Stimme Charivaris sich gleich wieder in ein Donnergebrüll verwandeln würde. Aber was bedeutete das alles? Warum kam Professor Charivari, Freund, Beschützer und Lehrmeister der Gefährten, so plötzlich, so spät - und wie ein Dieb durch die Terrassentür? Henri knipste die große Lampe an. Die Blicke folgten dem des Professors, dessen Augen sich geweitet hatten. Er kam von dem Schachbrett nicht los. Tati sah auf Charivari. Sein Schädel war auf einmal gelblicher als sonst. Rauh fragte er: „Das Spiel ist vollständig! Es hat 32 Figuren - wie üblich. Gibt es vielleicht noch überzählige Ersatzfiguren, falls mal welche verlorengehen?“ Im Chor kam die Antwort: „Nein ... !!!“ Charivari rührte sich eine ganze Weile nicht. Aber dann geschah etwas Merkwürdiges. War schon sein plötzliches Erscheinen sonderbar genug gewesen, so verschlug das Folgende den Freunden wieder den Atem. Der Professor warf sich auf den Teppich und wand sich wie eine Riesenschlange auf Beutejagd um den Tisch herum. „Wa-wa-was machen Sie denn da?“ fragte Prosper. „Ich suche einen überzähligen Bauern!“ ächzte Charivari. Seine sonst so ruhige Stimme bebte. „Helft mir! Tastet den Teppich ab! Kramt in jedem Winkel. Wir müssen den Burschen finden!“ Den Burschen...??? Henri und Tati wechselten einen Blick. Von früher her waren sie gewohnt, daß alles, was ihr großer, gelehrter Freund tat, einen Sinn hatte. Oft sogar den Zweck, seine Schützlinge oder sogar ganze
Menschengruppen vor Schaden zu bewahren. „Wo hattet ihr das Schachspiel her?“ fragte der Professor. Mit einem scharfen Lichtstrahl aus einem seiner Fingerringe leuchtete er unter den Tisch. Die anderen, vom ratlosen Pudel begleitet, krabbelten überall herum, schoben Sessel und Sofa beiseite, krempelten das Tigerfell um und kramten sogar im Papierkorb. „Henri und Gérard haben das Schachspiel aus dem Billardzimmer geholt“, keuchte Prosper. „Es gibt so viele Spiele, hier - und nebenan“, japste Tati. „Brettspiele, Würfel, Karten, Tischroulette“, bestätigte Henri. „Würfel jeder Art - aus Glas, Holz und Elfenbein - liegen offen auf dem Bücherbord“, brummte Gérard. „Es gibt da hinten auch noch einen Extra-Spieltisch zum Aufklappen. Da finden Sie alles mögliche. Große und kleine Spielkarten, französische und deutsche, ja und sogar mehrere Schachspiele. Aber keins mit so komischen Figuren.“ Tati richtete sich auf. „Was ist an den Dingern dran?“ fragte sie entschlossen. „Sie sind ihretwegen gekommen, Herr Professor? Woher wußten Sie überhaupt ... ?“ „Der Reihe nach, der Reihe nach“, unterbrach Charivari. Sein Fingerring-Scheinwerfer erlosch. Er kroch unter dem Tisch hervor und setzte sich einen Moment auf einen Hocker. „Wo ist Superhirn?“ „Er schläft“, antwortete Micha. Der Professor wandte sich an Tati: „Es stimmt. Ich bin wegen dieser Schachfiguren hier.“ Er deutete auf den Tisch. Während er sprach, wandte er kein Auge vom Spielbrett. „Das sind Sendboten. Vorboten. Figuren aus einer anderen Welt.“ Tiefes Schweigen herrschte. Gérard machte ein Gesicht, als wollte er sagen: Soll ich Ihnen einen Eisbeutel auf die Glatze legen? Auch die anderen - was sie auch erlebt haben mochten - sahen einen Augenblick so aus, als dachten sie: jetzt ist der Professor verrückt geworden! Aber dann erinnerten sie sich an seine einzigartigen Fähigkeiten, Erfolge und Zukunftsvorhaben: Zusammen mit seinen Brüdern, seinem Neffen und einem verschworenen Team von Wissenschaftlern aus allen Teilen der Welt hatte er Weltraumschiffe, eine Mondpolstation, einige Unterseestützpunkte und ein Himmelslabor geschaffen: aus enormen Goldfunden finanzierte Projekte, die nicht der Eigenmächtigkeit der irdischen Nationen, sondern der Wissenschaft zugunsten der gesamten Menschheit dienen sollten. Neben der Erforschung des Alls, der Förderung von Meeresbodenschätzen und dem Versuch, der Bevölkerungszunahme durch Erprobung heimlicher, bewohnbarer Erdtrabanten zu begegnen, testete er auch an geheimen Orten neue Nahrungskulturen gegen den Hunger. In seiner mit gewöhnlichen, technischen Geräten nicht ortbaren Weltraumstation beobachtete er aber auch die politischen und industriellen Weltgeschehnisse. Seine Leute beschäftigten sich mit der Friedensforschung ebenso, wie mit den kosmischen Einflüssen und den ungeklärten Fragen, die die normalen Wissenschaftler auf der Erde bewegten. Durch Zufall waren die Freunde mit ihm bekannt geworden. Professor Dr. Brutto Charivari hatte zu ihnen nicht nur wegen Superhirns enormer Gescheitheit, sondern auch wegen ihres Teamgeistes Vertrauen gefaßt. Einige Umstände bewirkten, daß er sie in seine Pläne einweihen mußte, ja, er hatte sie sogar in seinen Raumschiffen, den Monitoren, mitreisen lassen und ihnen die geheime Weltraumstation gezeigt. Superhirn war der Meinung, die Station entferne sich gegenwärtig immer weiter von der Erde weg, und zwar in Richtung auf die Mars-Bahn. Aber nun, auf einmal, schneller als gedacht, saß Charivari hier - in der Villa Monton. „Dieses Schachspiel stammt nicht von hier“, murmelte der Professor. Es ist in dieses Haus eingeschmuggelt worden.“ „Ei-ei-eingeschmuggelt?“ fragte Prosper. Ja. Und zwar von meinem Gegenspieler in der Erde. Ich kenne ihn nicht, aber ich weiß, daß er sein Hauptquartier im Erdinneren hat. Hm. Sehr geschickt, euch dieses putzige Schachspiel hier einzuschleusen. Aber wenigstens eine der Figuren ist ein Spion. Ein getarnter Spion, der über euch
meine Geheimnisse ausforschen will ... Womöglich, um nicht nur mich, sondern die ganze Erdoberfläche zu, vernichten.“ Tati berichtete rasch über die seltsamen Erlebnisse der letzten Tage und Stunden. Charivari strich sich nervös den lackschwarzen Strippenbart. Als Tati geendet hatte, meinte er entschieden: „Weder der Blitzschlag in den Obstbaum noch das Volksfest oder der Sieg über den Schach-Großmeister hat etwas mit Superhirns Zustand zu tun.“ Er trat an den Tisch und besah sich die kleinen Schachfiguren durch eine sonderbare Taschenlupe. „Lebloses Material“, murmelte er. „Die Lupe würde sich sonst glutrot färben. Und doch ... Mindestens ein innerirdischer Spion in Schachbauern-Gestalt ist irgendwo im Haus...“ „Aber Superhirn ist neulich hier zusammengebrochen, das erstemal. Hier, in diesem Zimmer!“ rief Micha. Der Professor fuhr herum. „Hier. . .???“ fragte er scharf „Stimmt“, nickte Tati, Der sonst so beherrschte Mann ruckte mit dem Hals wie ein Huhn. ,Also ist der Erdspion ganz in der Nähe! Superhirn, der das meiste von meinen Plänen wußte, sollte mürbe und willenlos gemacht werden! Der Erdspion wollte ihn aushorchen!“ „Gérard hatte schon mehrmals nachdenklich zum Kaminsims hinübergeschielt. Endlich sagte er: „Ich hab zwar 'ne sehr lange Leitung, Herr Professor. Aber ich denke, nun bin ich sicher - ganz sicher: Da, auf der Kaminplatte stand unter dem übrigen Krimskrams ein Püppchen, etwa halb so lang wie mein kleiner Finger. Das sah wie so ein Schachbauer aus ... Ich wollte es mal runternehmen, aber die Füße waren wohl in die Platte eingefügt.“ „Verkapselt! Der Spion aus der Erde hat sich verkapselt! Außerdem ...“ Der Professor unterbrach sich. „Wo ist das Ding jetzt?“ „Weg ... !!!“ staunte Tati. In diesem Moment ertönte von oben Superhirns markerschütterndes Schreien. Wie die Wilden stürmten Charivari, Henri, Tati, Prosper und Micha - gefolgt von dem winselnden Pudel - die Treppe hinauf. Der Professor warf sich gegen die Dachkammertür. Mit einem Krach flog sie gegen die Wand. Superhirn saß verstört auf seinem Bett. Ein riesiger Mann hatte sich über ihn gebeugt: Ein Mann im hellblauen Anzug, mit weißem Kragen, dunklen Haaren und weißen Stiefeln - genau wie einer der „Schachbauern“ . . . nur in Groß! Mit Donnerstimme rief der Professor: „Hier auf der Erde ist dein Spiel aus! Bestell das eurem Chef in seiner innerirdischen Zentrale! Ich habe Mittel, ihn und seinen Geheimstaat zu vernichten!“ Die seltsame Erscheinung schrumpfte schlagartig und verschwand. „Es ... es war wirklich eine Schachfigur“, schluckte Prosper. „Ein ... ein ... Bauer ... Aber...“ Superhirn blickte auf. Und wenn man eben noch den Eindruck gehabt hatte, er würde für die nächsten Tage nicht ansprechbar sein, so sollte man sich getäuscht haben. „Herr Professor!“ rief er lebhaft. „Professor Charivari ... !!! Daß ich an Sie nicht gedacht habe! Daß ich mir nicht denken konnte, Sie würden zur rechten Zeit hier auftauchen!“ „Auftauchen ist das richtige Wort“, gab Charivari ebenso erleichtert zurück. „Ich bin mit meinem neuen Erdschiff Giganto unter der Erdoberfläche hierhergekommen!“ „Erdschiff?“ schrie Micha neugierig. „Giganto? Dürfen wir da mitfahren. . .???“ „Sachte, sachte“, lächelte Professor Charivari. Er setzte sich neben Superhirn und forschte ihn aus. Ohne Zweifel: Sein Erscheinen hatte Superhirn wieder völlig zu sich gebracht. Die anderen bemerkten nicht die kleinste Gedächtnislücke. Sie erfuhren sogar Dinge, die sie noch nicht wußten. „Auf einmal fällt mir alles ein“, berichtete Superhirn. „An dem Abend, als ich mich über das lustige Schachspiel amüsierte, entdeckte ich auf dem Kaminsims eine Figur. Das heißt, sie hat mich wohl irgendwie angezogen. Ich ging mit meiner Teetasse auf den Sims zu. Der Pudel knurrte hinter mir, er muß wohl auch etwas gemerkt haben. jedenfalls begriff ich: Das Ding auf dem Kamin lebte! Und da brach ich zusammen.“ „Hm.“ Charivari überlegte. „Das war der Anfang einer raffinierten Taktik, dich mürbe zu machen.
Die Gedankenwelle - oder der Gehirnstrom - des Spions war für dich bestimmt. Der Hund hat was ,abgekriegt' und war deshalb so nachhaltig verwirrt.“ „Und Superhirn muß wohl heute wieder einen Stich in die Birne gekriegt haben“, meinte Micha. „Auf einmal konnte ich besser Quartett spielen als er. Er heulte sogar!“ „Wir waren ja alle darüber total verdattert“, sagte Henri. „Micha stellte sich an, als hätte er Klugheitsgrütze gegessen!“ „Und Superhirn wie ein angebrannter Strohkopf“, grinste Gérard. „Mein Gehirn ist wieder aufgetankt“, erklärte der dürre junge ruhig. „Als mich das menschenähnliche Ungeheuer eben weckte, stark gebückt, weil's sonst mit dem Kopf an die Decke gestoßen wäre, sah ich an der Kleidung, daß ich einen riesigen Schachbauern vor mir hatte.“' „Und ... ???“ drängte der Professor. „Er fragte mich auf englisch, deutsch und französisch: Was weißt du über Charivaris Pläne?“ „Dacht ich mir´s!“ Der Professor stand auf. „Kommt! Haltet euch dicht bei mir! Wir müssen diesen Schachbauern finden!“ 8. Erdschiff Giganto im Park „Halt!“ rief Prosper. „Hier, vor Superhirns Bett ist ein kreisrundes, kleines Loch im Fußboden!“ Charivari ließ den starken Scheinwerfer an seinem Fingerring aufblitzen. „Ein Loch im Boden“, wiederholte Prosper. „Kreisrund! Aber ganz winzig. Henri raste die Treppe hinunter. „In der Halle ist auch ein Loch“, meldete er. „Direkt unter dem oberen, ich kann das Licht des Fingerrings sehen! Es sieht so aus, als wäre ein Pistolenschuß senkrecht durch die Fußböden in den Keller gegangen!“ Der Professor sah sich das an. „Ist eigentlich außer euch noch jemand im Haus?“ fragte er. „Nein“, erwiderte Tati. „Madame Claire ist mit ihrer Schwägerin und den Gärtnersleuten zum Volksfest gefahren.“ „Hm.“ Charivari nickte. Er schien das längst zu wissen, hatte sich aber noch einmal rückversichern Wollen. „Henri und Gérard!“ befahl er. „Geht in den Keller unter dieser Halle. Ihr werdet dort ein drittes Loch von der Größe der beiden anderen finden.“ „Da unten ist kein Licht“, sagte Tati besorgt. Henri sauste hoch und holte eine starke Taschenlampe aus dem Zimmer, das er mit Gérard und Prosper bewohnte. „Meinen Sie, die falsche Schachfigur ist durch die Löcher in den Erdboden geschossen?“ fragte Gérard noch. „Nicht in den Erdboden, sondern in die Erde“, betonte Charivari. „Und die Löcher in Superhirns Zimmer und in der Halle stammen von dem Burschen, den wir gesehen haben. Er hatte Riesengestalt angenommen, als er Superhirn einschüchtern wollte. Als er uns aber kommen sah, schrumpfte er schlagartig wieder zusammen und schoß mit der Geschwindigkeit R 1 wieder dorthin zurück, woher er gekommen war: In den Erdball hinein, in seine innerirdische Befehlszentrale.“ Der Professor ging in den Salon. Stumm folgten ihm Superhirn, Tati, Prosper und Micha. Loulou schloß sich winselnd an. Das Schachspiel war nicht mehr da! Henri und Gérard erschienen. „Nun?“ Charivari blickte auf. „Wie Sie sagten“, berichtete Henri. „Ein gewissermaßen glatter Durchschuß im Keller unter der Halle.“ „Und ein weiteres Loch unter diesem Salon, ein schräger Einschlag“, fügte Gérard hinzu. „Also ist der Spion verschwunden“, murmelte der Professor. „Ich suche noch ein Loch im Salonboden!“ „Und die Figuren auf dem Schachbrett?“ fragte Tati.
„Keine wie auch immer gearteten Lebewesen“, beruhigte Charivari. „Die sind aus Erdmaterie und dienten der Tarnung. Oder wie man's nimmt: Sie wurden in der innerirdischen Befehlszentrale hergestellt, Wahrscheinlich hat sie der verkapselte Spion in der eingerollten Schachbrettfolie hinter sich hergezogen. Und zwar mit der unvorstellbaren Energie seines Gehirnkraftwerks.“ Selbst Superhirn machte große Augen. „Ich weiß, ich weiß, ihr wollt alles wissen“, sagte der Professor. „Aber ich habe nicht viel Zeit. Ich bin ja mit meinem Erdschiff Giganto hier. Es liegt unter dem Brunnenschacht im Park. Ich fürchte, ich werde heute noch zu einer unterirdischen Schachpartie in die Tiefe vorstoßen müssen.“ Die Freunde begriffen: Mit „Schachpartie“ meinte er die Verfolgung der geflohenen Figur. „Ich will mit in das Erdschiff ... !!!“ bat Micha. „Ist das ein Fahrzeug, das sich in die Erde bohren kann?“ „Warum nicht“, sagte der Professor. „,Wenn es Weltraumschiffe, Mondfähren, Marssonden, aber auch Tauchkugeln und Tiefseeschiffe gibt? Astronauten? Kosmonauten? Lunanauten? Aquanauten? Warum sollte es endlich nicht auch einmal ein Erdschiff mit Terranauten zur Erforschung des Erdinneren geben?“ Prosper rieb sich heftig die Nase. Doch da sprach Superhirn schon aus, was der andere nur ahnte. „Herr Professor! Das Erdschiff haben Sie aber nicht nur zu Forschungszwecken gebaut! Irgendwas hat Sie darauf gebracht, Ihre übrigen Pläne zu unterbrechen! Leicht zusammenzureimen! Sie sprachen vorhin von einer Befehlszentrale in der Erde!“ Charivari nickte. „Was diese Zentrale betrifft, so habe ich da bestimmte Vermutungen. Es stimmt, das Erdschiff dient der Aufspürung.“ Er strich sich den lackschwarzen Bart. „Ich habe in meinem Weltraumlabor Hirnwellen-Analysatoren! Diese Geräte verzeichnen zum Beispiel auch Vorgänge in euren Gehirnen. Das heißt: eure Geistesarbeit. Was Micha denkt - oder Tati oder Superhirn -, kann ich mit meinen Automaten entschlüsseln. So erfahre ich immer, was ihr denkt, ja, sogar, was ihr sprecht. Denn das Gehirn ist ja tätig, wenn der Mensch spricht. Aus euren Gesprächen erfahre ich also auch, wo ihr seid und was euch bewegt. Das ist wichtig für mich und euch: Ich kann jederzeit eingreifen, falls einer von euch in Gefahr ist.“ „Ach, und so sind Sie auf das komische Schachspiel gekommen?“ rief Tati. „Sie haben schon Superhirns ersten Schock empfangen?“ „Ja. Aber bereits lange vorher eine seltsame Erscheinung: Wir verzeichnen seit über einem Jahr Gehirnwellen, die wir nicht entschlüsseln können, weil ganz offenbar andere Zusammenhänge zwischen der Gehirntätigkeit des Absenders' und ihrer Bedeutung bestehen. Zwischen den Gehirnwellen von Tieren und der Bedeutung solcher Tiergehirnwellen bestehen wiederum andere Zusammenhänge.“ „Aber Sie konnten feststellen, daß die komischen ,Menschengehirnwellen' aus der Erde kamen?“ fragte Henri gespannt. „,Richtig. Und noch mehr: Es waren Unmuts- oder Unguts-Gedanken.“ „Unguts-Gedanken?“ staunte Henri. „Schlechte Gedanken?“ „So komisch es klingt.“ Charivari blieb stehen. Ja. Ich habe mich und einige Mitarbeiter einem Test unterzogen, diese Gedanken aus dem Diagramm ,entfesselt' und auf uns einströmen lassen.“ „Und . . .???“ forschte Superhirn gespannt. „Die Wirkung war verheerend. Wir wurden mißmutig, gereizt, keiner ließ die Meinung des anderen gelten. ja, alle Vorformen der Aggression zeigten sich: Augenrollen, Gesichtsverzerrungen, Fuchteln mit den Fäusten, drohendes Recken des Kinns - ja, sogar Zähnefletschen. Hätte ich das Diagramm nicht abgestellt, so hätten wir uns wahrscheinlich gegenseitig erschlagen.“ „Na ja, man weiß ja schon lange, daß es ansteckende' gedankliche und seelische Ausstrahlung gibt“, meinte Tati. „Wenn ich wütend bin - oder wenn irgendwas mit mir los ist -, brauch ich kein Wort zu sagen. Da verdrückt sich der Pudel, und selbst Micha und Henri gehen mir aus dem Weg.“ „Und man sagt doch auch, Fröhlichkeit, ach, jede Stimmung, überträgt sich auf andere“, rief Prosper eifrig.
„ja. Aber das ist ein weites Forschungsfeld“, nickte Charivari. „Hier sind so viele Dinge maßgebend, daß ich sie nicht alle auf einmal nennen kann. jedenfalls wurde uns eins klar. . .“ „Was ... ?“ hauchte Micha. Es war plötzlich sehr still. „Daß aus dem Erdinnern negative Gedankenstrahlen unbekannter Lebewesen eindringen, die den Lauf der Geschichte, die Einigung der Menschheit, den technischen Fortschritt ungünstig beeinflussen, ja überhaupt verhindern könnten. Und wahrscheinlich ist das sogar die Absicht des Ragamuffins!“ „Ragamuffin?“ fragten Prosper, Gérard und Henri fast gleichzeitig. „Ragamuffin?“ echoten Tati und Micha. Superhirn schwieg. „Ragamuffin ist eine alte englische Bezeichnung, die soviel wie Lump bedeutet. Ohne diese treibende Kraft in der innerirdischen Befehlshöhle zu kennen, nannten wir sie erst einmal so.“ „Nicht schlecht!“ grinste Superhirn. Charivari fuhr fort. „Der Ragamuffin ist offenbar ein Magier. Was ich bisher ahnte, weiß ich jetzt: Er ist mein Gegenspieler. Ich will den Fortschritt, er will ihn aufhalten. Der Ragamuffin muß mich schon lange beobachten. Aber wahrscheinlich begreift er die Geschehnisse an der Erdoberfläche und im Weltraum trotz seiner Klugheit nicht. Deshalb arbeitet er mit der stillen Unterjochung. Er braucht keine sichtbare Gewalt, keine Kriegsgeräte...“ „Aber mit Ihrem Erdschiff können Sie doch in seine Zentrale durchstoßen, oder?“ fragte Gérard eifrig. Professor Charivari seufzte. „Ich habe die innerirdische Zentrale des Ragamuffin bisher nicht anpeilen können, obwohl ich es auch mit Satelliten versucht habe. Dieser schlaue Bursche scheint irgendeine Möglichkeit zu haben, seine Wellen im Erdinneren so zu brechen oder steuern zu lassen, daß sie von einer riesigen Kugel zu kommen scheinen.“ „Kugel ... ???“ wunderte sich Prosper. Der Professor lachte. „Diese Kugel, die scheinbar die Wellen nach allen Richtungen ausstrahlt, hat einen Durchmesser von ungefähr 2.500 Kilometer. Ihr Mittelpunkt ist auch der Erdmittelpunkt. Wenn ihr mich als Physiker fragt, so kann ich nur sagen: Es ist der Erdkern. Nun ist es aber völlig unmöglich, daß die Wellen von dorther kommen - und daß dort die Zentrale des Ragamuffin-Staates ist. Die Wissenschaft vermutet da nämlich Temperaturen zwischen vielleicht 9.600 und 17.000 Grad. Der Ragamuffin kann den Erdkern also nur als eine Art Reflektor, als Spiegel für seine Wellen, benutzen.“ „Für die Unguts-Strahlen?“ wollte Micha wissen. Charivari erklärte: „Es ist mit diesen Strahlen so: Alle Nerven- und Gehirnimpulse sind elektrisch. Sie laufen durch die Nervenstränge, wie eine Wasserwelle durch einen Graben. Kann man in so einem Nervenstrang künstliche Impulse erzeugen, erhält das Gehirn - ohne es zu merken - eine Falschmeldung, Durch dauernde ,Falschmeldungen' könnte man die Menschen verwirren, ja sogar charakterlich verändern.“ Er überlegte wieder. Dann fuhr er fort: „Die von mir verzeichneten Wellen kommen nicht von einem Tier. Der Apparat vermerkt eine außerordentlich starke geistbetonte Entwicklung, das ist immerhin ersichtlich. ich umschreibe das mit dem Wort ,Bandbreite'. Das Überrumpelungsmittel Schachspiel bestätigt mir das. Nicht einmal der klügste Affe kann Schach spielen. Der Ragamuffin ist ein hervorragender Gegner auf geistigem Gebiet. Denn bedenkt: Selbst der großartigste Computer spielt nur mäßig Schach!“ In diesem Augenblick krachte es furchtbar an der Buchtseite der Villa Monton. Heulend flog etwas auf die Terrasse herab. Klirrend zerbrach eine Fensterscheibe, und rotglühend raste eine Feuerkugel durch den Salon. „Hilfe!“ schrie Micha gellend. Und der Pudel jaulte laut auf. 9. Wir gehen an Bord! „Sie ... sie greifen an!“ keuchte Prosper. Er rannte nach nebenan und warf sich unter den Billardtisch.
Heulend folgte ihm Loulou. Im Salon packte Tati den jüngeren Bruder, während Gérard und Henri in die Halle wollten. Krach ... uiiii, ertönte es draußen über der Bucht. Im Raum hatte sich der zischende, rote Glutball mit einem Peng aufgelöst. Rauch lag in der Luft. Der Pudel fegte jetzt um den Professor herum und hustete sich fast die Lunge aus dem Hals. Bevor Charivari etwas sagen konnte, kicherte Superhirn. Er öffnete eine Außentür und trat auf die Terrasse. „Feuerwerk“, rief er. „Prächtiges, farbiges, knatterndes und krachendes Feuerwerk in Monton! Freunde, das müßtet ihr doch kennen!“ „Aber nicht, daß 'ne verirrte Leuchtkugel hier hereinplatzt“, erboste sich Tati, die nun begriffen hatte, was geschehen war. „Dieser Volksfestrummel kommt mir zugute“, murmelte der Professor. „Die ganze Gegend ist so mit sich selbst beschäftigt, daß ich mich unbemerkt aus dem Staube machen kann! Vielmehr: In den Staub und den Stein hinein - und in weitere Erdschichten!“ „Waaas ... ?“ bibberte Micha. „Sie wollen uns allein lassen? Ich dachte, Sie sind hier, um uns zu retten? Was machen wir, wenn die Erdklopse wiederkommen, diese Raga ... Raga. ..“ „Ragamuffin-Spione“, half Superhirn. „ja“, nickte Micha. „Die haben doch auch Erdschiffe, oder?“ „Nein“, mutmaßte Charivari. „Sie sind ihre eigenen Erdschiffe, wenn ich das so sagen darf. Sie verkapseln sich stoß-, druck- und hitzesicher, legen ihre Körperfunktionen innerlich auf Eis und schießen mit dem ,Motor' ihrer enormen Willensenergie aus der Erde heraus und wieder in die Erde hinein. Die Löcher, die wir untersucht haben, scheinen mir das zu beweisen.“ Ja, sind diese Burschen nun aber klein wie die Schachfiguren und können sich so riesig vergrößern, wie der, der bei Superhirn war?“ fragte Tati. „Oder sind sie riesig - und in der Lage zu schrumpfen?“ „Zu schrumpfen!“ sagte der Professor mit Sicherheit. „Das ist möglich, wenn sie die Abstände zwischen den Kleinstteilchen, den Molekülen, ihrer Körper verringern, dadurch wird alles in und an ihnen kleiner.“ Gérard grinste breit: „Aber wie verkleinert oder vergrößert man seinen Anzug mit Willenskraft? Ich hatte ein paar Hemden für Micha, und ich würde gern meinem Vater den Freizeitanzug ausspannen!“ Charivari war um keine Antwort verlegen: „Die ,Schachfigur', die dann als Riese zu Superhirn ging, um ihn auszuhorchen, hat den Anzug nicht vergrößert, sondern ausgedehnt. – Trotzdem...“ Charivari schritt auf und ab und dachte wieder an etwas anderes. Micha hatte ihn auf einen Gedanken gebracht. Spione des Ragamuffin konnten tatsächlich zurückkommen. Möglicherweise würden sie sich etwas Neues, viel Raffinierteres ausdenken, um die jungen Freunde zu verwirren und auszuhorchen ... „Wenn ich euch in mein Erdschiff Giganto packen könnte“, sagte er schließlich. „Da wäret ihr sicher. Ich könnte euch mit all meinen Mitteln schützen. Aber ihr müßtet mich begleiten...“ „Hurra!“ schrie Micha. Er nahm den Pudel auf den Arm. „Los! Gehen wir! Einsteigen - und ab, die Post!“ Die anderen, auch Tati, horchten auf. Ein „Abstecher“ in die Erde hinein... Das klang verlockend! Wenn Charivari überhaupt auf den Gedanken kam, mußte er ziemlich sicher sein, den Ragamuffin zu besiegen ... „Die Frage ist nur“, murmelte der Professor, „wie erklären wir euer plötzliches Verschwinden?“ „Ach so, ja!“ Tati setzte sich ratlos in einen Sessel. „Wenn Madame Claire von dem Volksfest zurückkehrt und uns nicht mehr vorfindet, dann schlägt sie Alarm und telefoniert mit unseren Eltern!“ Alle legten die Stirn in Falten, und es sah tatsächlich so aus, als dächte Loulou ebenfalls nach. Doch das Problem erledigte sich verblüffend zufällig, einfach und rasch. Nein - eigentlich gar nicht zufällig: Während man noch heftig grübelte, rief Superhirns Mutter aus Lyon an. Sie hatte dort ihre Schwester besucht und durchs Autoradio die Nachricht vom Sieg über den Schachmeister de la Motte gehört. Nun war sie vor Begeisterung außer sich. Sie wollte ihren Sohn beglückwünschen. „Superhirn, deine Mutter!“ meldete Henri, der den Hörer aufgenommen hatte. „Sie weiß schon, daß du den Großmeister zweimal im Schach geschlagen hast!“
Der spindeldürre junge „schaltete“ sofort. Er riß Henri den Hörer aus der Hand. Die Augen hinter den runden Brillengläsern verzogen sich eulenhaft. Sein Gesicht war ein einziges Strahlen. „Ja, ja. Große Sache!“ rief er in die Sprechmuschel. „Bin furchtbar gefeiert worden. Die Zeitungen und das Fernsehen werden sicher morgen auch noch was bringen. Ja, Mutter, ja! Aber, was ich sagen wollte: Hier ist noch ein Schachspieler, ein Gelehrter, seine Motorjacht liegt gerade im Hafen, und eben hat er mich und die anderen zu einer Seefahrt eingeladen!“ Vor Erstaunen über Superhirns Geistesgegenwart schmiß Micha den Pudel hin. Er ließ das arme Tier einfach auf den Teppich fallen. Schnell ging der Professor an den Apparat. „Ich nehme die ganze Bande auf mein Schiff, Madame“, sagte er. „Seien Sie überzeugt, ich sorge aufs beste für jeden! Unter meinem Schutz sind alle mindestens genauso sicher wie in Monton!“ Das war unter den gegebenen Umständen sogar die „bittere Wahrheit“! Aber mehr durfte Charivari nicht verraten, sonst hätte er nicht nur Superhirns Mutter, sondern auch alle Verwandten, die Angehörigen der anderen, das ganze Land - und am Ende die Menschheit in Angst und Schrecken versetzt. Das Auftauchen eines Spions des Ragamuffin hätte sich ja wie ein Lauffeuer verbreitet ... Charivari legte den Hörer auf. „Deine Mutter ist einverstanden. Sie meint, die Eltern deiner Freunde würden es auch sein. Also, ihr Küken: Unter meine Fittiche!“ So rasch wie möglich zogen alle die für das „Schiffsabenteuer“ zweckmäßigste Bekleidung an: Jeans, Pullis, Sportschuhe. Denn der Giganto, so sagte Charivari, sei vollklimatisiert, man könne sich frei darin bewegen. Besonderes Zeug, wie etwa „Erdfahreranzüge“, brauche man nicht. Die gewaltigen Druck- und Hitzeverhältnisse im Erdinnern würde ein Aussteigen auf keinen Fall gestatten. Für die Durchforschung von Höhlen dicht unter oder an der Oberfläche gab es Spezialkombinationen mit Atemmasken und anderen „Extras“ an Bord. Tati hinterließ Madame Claire einen Zettel, auf dem sie den „Ausflug“ genauso begründete, wie Superhirn das gegenüber seiner Mutter getan hatte. Es lagen so viele große und kleine Motorjachten im Hafen, wie sollte die gute Haushälterin da wissen, mit welcher die Gefährten ausfahren würden? Und übrigens -waren die Gefährten schon öfter überraschend irgendwohin eingeladen gewesen, und sie waren immer brav zurückgekehrt. „Außer dem Waschzeug lassen wir sowieso fast unser ganzes Gepäck in den Zimmern“, meinte Henri. „Daran sieht sie, daß wir bald wiederkommen! Aber was ist, wenn Ragamuffins Spione noch mal hier auftauchen und ihr Angst machen?“ „Was sollten sie von Madame Claire wollen?“ erwiderte Superhirn. „Sie weiß ja nichts! Sie kennt Professor Charivari nicht, und sie hat nicht die geringste Ahnung von seinen Geheimstationen!“ Als sie überall das Licht gelöscht hatten, verließen sie die Villa Monton. Während Henri die Eingangstür abschloß, traten die anderen in den nächtlichen Park hinaus. Das Feuerwerk in Monton hatte aufgehört. Es war so dunkel, daß man Bäume, Sträucher, den Rand des Swimming-pools, den alten Pavillon und den Rand des kunstvoll verzierten historischen Brunnens nur als Schatten wahrnahm. „Und da drunter liegt das Schiff?“ flüsterte Micha. „Das Erdschiff Giganto? Etwa im Brunnenwasser?“ Man hörte am Tonfall, daß der Professor lächelte. ..Mein Giganto ist zwar eine Art U-Boot, aber doch ein bißchen zu groß für den Brunnen. Die Wasserader ist im Augenblick abgedrängt, wir steigen über eine Leiter in den Schacht, direkt in die Schiffsluke hinein.“ Er ließ kurz seinen Fingerring-Scheinwerfer aufblitzen. Tati stieß einen unterdrückten Schrei aus. „Über dem Brunnen schwebt was!“ flüsterte sie. „Etwas mit schillernden Augen.“ Der Pudel bellte kurz und sprang mit einem Satz in die Höhe. „Spu - Spu - Spuk ... !!!“ stammelte Prosper. „Der Hund rennt doch über der Brunnenmitte - oder?“ Das war Gérards entsetzte Stimme. „Warum fällt er nicht hinein?“ „Weil ich einen Deckel aus Geballter Finsternis darübergesprüht habe“, erklärte der Professor. Er
klopfte an eine seiner Taschen: „Darkness Spray. Das wird so hart, daß keine menschliche Gewalt es knacken kann.“ jetzt lachte er leise. „Die Augen, die ihr saht, gehörten einer Katze. Und der ist Loulou nachgesprungen. Tati, nimm den Pudel runter. Ich löse den ,Patentdeckel' mit einem Gegenmittel.“ Er zog etwas hervor, das offenbar nicht größer als ein Feuerzeug war. Zisch machte es. Superhirn tastete den Brunnenrand ab. „Offen!“ verkündete er. „Ha, und hier fühle ich eine Leiter. Ein ausfahrbares Gerät des Erdschiffes?“ „Ja“, sagte Charivari. „Geh du mit Henri voraus. Tati kommt mit dem Pudel nach. Euer Waschzeug reiche ich euch zu, wenn ich mit Micha folge!“ Geräuschlos vollzog sich die Einbootung. Als der Professor noch auf der Leiter im dunklen Brunnen stand, Micha mit seinem Oberkörper abstützend, hörte man oben einen Automotor. „Die Klapperkarre vom Gärtner!“ rief Henri gedämpft herauf. „Madame Claire ist aus Monton zurück.“ „Möchte mal wissen, warum das Wasser am Tor aus der Erde kommt“, ertönte die Stimme des Gärtners. „Ist der Brunnen etwa verstopft?“ O Schreck! Madame Claire beugte sich über den Brunnenrand. Da es in dem runden Schacht noch dunkler war als oben, sah man den Schatten ihres Kopfes. Ausgerechnet in diesem Moment berührte Micha aus Versehen den Fingerring-Scheinwerfer des Professors. Der Scheinwerfer leuchtete kaum eine Sekunde lang auf, aber Micha rief erschrocken: „Hach!“ und Loulou machte Wuff! „Micha!“ schrie Madame Claire. „Was suchst du da unten?“ Ihr Kopf verschwand. Aufgeregt teilte sie dem Gärtner mit: „Ich glaube, da ist jemand im Brunnen.“ „Was?“ Man hörte derbe Schuhe auf dem Kies. „Na, das werden wir gleich haben!“ Und der Gärtner befahl lautstark seiner Frau, ihm die Taschenlampe aus dem Auto zu reichen. ..Schnell!“ rief Madame Claire. „Schnell. Die Kinder können ja ertrinken!“ Eilends kraxelten Charivari und Micha ins Erdschiff hinunter. „Verflixt“, wisperte Superhirn. „Zu spät! Wir sind entdeckt!“ 10. Giganto meldet: „Vorstoß in die Erde!“ Doch bevor der Gärtner seine Taschenlampe in die Tiefe richten konnte, ließ Charivari wieder das Sprühgerät zischen. Von oben, durch das Rund der Öffnung, drang nicht mehr der geringste Schimmer des Nachthimmels herein. Man sah auch keinen Schatten des hohen, auf vier Säulen ruhenden Brunnendachs. „Ich habe einen Deckel aus geballter Finsternis über uns gelegt“, sagte der Professor. „Die Dunkelheit gerinnt mit dem Spray, wie Wasser zu Eis erstarrt. Nur wird diese Abschirmung härter als Tresorstahl. Kein Gegenstand, kein Licht, kein Laut kann hindurchdringen.“ Er schaltete den Fingerring-Scheinwerfer an, stellte ihn auf sehr stark und leuchtete an der Leiter hinab in die Bootsluke. „Ich komme jetzt mit Micha!“ Die Leiter - sie war sehr fest, schien aber fast spinnwebenhaft leicht zu sein - war doch länger als Micha gedacht hatte. Und Charivaris Ring schoß einen breiten, blendenden Lichtkegel. Er strahlte nicht nur in die Einstiegsluke auf Tati, Prosper, Henri, Gérard, Superhirn und Loulou herab, sondern er erfaßte auch einen Teil der oberen Außenhülle des riesigen Erdschiffs Giganto. „Aaahhh!“ staunte Micha. Er blieb auf einer Leitersprosse stehen und blickte wie gebannt unter Charivaris Achsel hindurch. Tief unter dem Brunnen hatte der Professor den Wasserverlauf geändert und seinem Giganto einen „Parkplatz“ geschaffen. Immerhin war so viel freier, luftgefüllter Raum vorhanden, daß man den Rumpf erkennen konnte. Vorn verlief er spitz, hinten war er breit, kreisrund und glatt wie ein gewaltiger Bohrkreisel. „So hast du dir den Giganto nicht vorgestellt?“ Professor Charivari ließ den Scheinwerfer rasch hin
und her gleiten. Giganto bot ein herrliches Bild. Er blitzte und funkelte in allen Farben. Seine glatte, rassige Hülle. blendete beinahe die Augen. Micha krabbelte an Charivari vorbei und rutschte seitlich an der Leiterstange auf das Erdschiff hinunter. Tati steckte den Kopf durch die Luke. „Ich will das auch sehen!“ bat sie. „Als wir reinkrabbelten, war es ja dunkel!“ „Dann kommt schnell alle noch mal raus!“ rief der Professor. Tati verschlug´s die Sprache. „Die Außenwand besteht wohl aus eingeschmolzenen Königskronen?“ meinte sie schließlich verwundert. Das blitzt und blinkt und funkelt ja wie in All Babas Schatzhöhle“, grinste Gérard. „Ein Erdschiff - wie 'ne Staatskarosse von einem Scheich“, feixte Prosper. „Fehlen eigentlich nur noch 'n paar Zirkuspferde mit Federbüschen und Silberflitter.“ „Ich glaub nicht, daß der Professor dem Ragamuffin imponieren will“, sagte Henri. „Nee“, meldete Superhirn. „Habt ihr noch nie gehört, daß Gold, Silber, Platin nicht nur für Schmuckstücke wichtig sind? Silber verwendet man zum Beispiel in der Elektroindustrie. „Genau wie Edelsteine!“ fügte Henri hinzu. „Der Diamant ist ein wahnsinnig teurer Schmuck, aber er ist das härteste Mineral. Und so braucht man mehr von dem Zeug für alle möglichen Fabriken als für den Juwelierladen. Und auf wieviel Rubinen läuft denn deine Armbanduhr, Prosper? Du hast doch sicher auch einen Plattenspieler mit einem Saphir als Tonabnehmer!?“ „Ungefähr erraten“, lächelte Professor Charivari. „Die Hülle besteht aus einem Material, in dem unser Labor die Bindungen zwischen den Atomen so verstärkt hat, daß sie erst bei hundert Millionen Grad aufbrechen. Diese Hitze kommt aber nur ausnahmsweise in einigen außergewöhnlichen Sternen vor. Selbst in der Sonne herrschen nur ungefähr vierzehn Millionen Grad Hitze. Die feste Bindung der Atome macht die Hülle praktisch unempfindlich gegen Drücke bis zu einigen Milliarden Atmosphären-Überdruck.“ Sie stiegen in die Schiffsluke. Die Leiter zog sich automatisch ein, und die Luke schloß sich über ihren Köpfen. „Der Giganto durchdringt jeden Stoff, der im Erdinneren vermerkt wird“, erklärte Professor Charivari. „Er hat die Form eines regelmäßigen, langen Spitzkegels - also einer Tüte-, und er ist ein Allesfresser. Das heißt, er verarbeitet jeden Stoff, auf den er stößt, zu Treibstoff. Vor seinen sternförmigen Saugdüsen wird selbst das härteste Gestein jäh geschmolzen. Die Erwärmung geht so schnell, daß die Hitze gar nicht abfließen kann. Superhirn kennt sicher etwas Ähnliches vom Elektronenstrahl-Schweißen. Da wird die Umgebung der Schweißnaht auch nicht erhitzt. Für den Giganto ist das wichtig, weil dadurch das umgebende Gestein nicht beeinträchtigt wird. Es dehnt sich nicht merklich aus, und deshalb fahren wir auch geräuschlos, ohne Knistern, im Fels. Das geschmolzene Gestein wird einfach nach hinten gepumpt. Dort kann es hinter dem Giganto wieder erstarren. Durch das Zurückpumpen habe ich - wie beim Düsenmotor eines Jets - den Rückstoß, der den Giganto vorwärts treibt.“ „Ist das schick hier!“ rief Tati begeistert. „Ich komme mir vor wie in einem Hotel!“ Sie betrachtete die tiefgrünen Rundbänke um den gläsernen Tisch im Frontraum. „Ihr habt auch kleine Räume im Heck - genau wie im Hotel“, zwinkerte Charivari. „Und eine Küche, für die sich besonders Micha interessieren wird!“ „Nirgends In-In-Instrumente!“ stellte Prosper fest. „Kein Druckmesser, kein Tachometer, kein Schalter, kein Hebel, keine Taste, kein Knopf! ja, wie will denn das Ding fahren ... ?“ „Schätze, es fährt schon!“ grinste Superhirn. Er hatte den Professor beobachtet - und bemerkt, daß doch ein Gerät vorhanden war, nämlich ein Mikrofon, das wahrscheinlich nur auf Charivaris Stimme programmiert war. Der Professor nickte. „Wir haben bereits 200 Kilometer, nach Erdoberflächenberechnung, zurückgelegt.“ „200 Kilometer!“ rief Gérard. „Donnerwetter! In den paar Sekunden! Und noch dazu unter der Erde, ohne U-Bahn-Schacht, ohne Schienen, ohne ... ohne...“ Verwirrt klappte er den breiten Mund zu.
„Oh, der Giganto kann noch schneller sausen“' zwinkerte der Professor. „Und wenn ich bremse, merkt ihr das nicht. Wegen des innen eingerichteten Verzögerungs-Effekts. Übrigens kann Giganto auch Purzelbäume schlagen, ohne daß ihr's merkt!“ „Ich wundere mich über nichts mehr!“ murmelte Henri. „Mit solchem Tempo durch den dicksten Dreck und man spürt kein Beben unter den Füßen ...“ Der Professor sprach ins Befehlsmikrofon, wobei er einige Zahlen nannte. In der Wand erschien plötzlich ein fernsehähnliches Bild, auf dem der Signalchef seiner Weltraumstation zu sehen war. „Giganto meldet: Vorstoß in die Erde!“ sagte Charivari. „Sind auf Spürkurs, Zentrale Ragamuffin.“ Der Signalchef auf dem Bildschirm grinste. „Habe eine erstaunliche Nachricht“, tönte seine Stimme durch einen Lautsprecher. „Der Ragamuffin hat sich über unseren Gehirnwellenapparat zu erkennen gegeben.“ „Waaas?” rief Superhirn. Gérard und Prosper glotzten sich an. Micha tastete nach Tatis Hand. Henri nahm den Pudel auf den Arm und lauschte verblüfft. Das Gesicht des Professors zog sich immer mehr in die Länge. ja, da staunen Sie wohl“, sagte der Signalchef auf dem Bildschirm. „Wie lautet die Nachricht des Ragamuffin?“ fragte der Professor heiser. „Nun halten Sie sich fest, obwohl Giganto nicht wackelt“, klang die Stimme des Signalchefs. „Der Ragamuffin meldete im Klartext: Charivari, Sie haben eine gute Partie gespielt. Ich gebe auf, wenn Sie mich nicht verfolgen. Mein Bauer hat versagt.“ „Der versteht sogar Spaß. . .“, lachte Superhirn. „Er tut, als sei er ein Schachkönig.“ Charivari überlegte eine Weile. Schließlich meinte er: „Ich nehme an, der Ragamuffin wird gemerkt haben, daß wir stärker sind. Möglich, daß er sich für immer zurückzieht und seine Gehirnwellen nie wieder ausstrahlt.“ „Na, ein Glück!“ rief Tati erleichtert. Schön wär's, dachte Superhirn. Gérard, Prosper und Micha aber wollten unbedingt noch mindestens zwei Tage mit dem Giganto unter der Erdoberfläche umhergondeln. „Genehmigt“, lächelte Professor Charivari. „Nach all den ausgestandenen Schrecken, habt ihr das verdient ... !!!“
Ende