Dragon – Söhne von Atlantis Nr. 22
Wächter der Totenküste von Ernst Vlcek
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon – Der ...
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Dragon – Söhne von Atlantis Nr. 22
Wächter der Totenküste von Ernst Vlcek
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon – Der König von Myra erhält einen Auftrag. Jaggar, Nabib, Ubali, Yina und Iwa – Dragons Freunde und Begleiter. Azael – Wächter der Totenküste. El Habek – Der Mann mit der Eisenhand. Arischa – Eine widerspenstige Sklavin.
Obwohl seit dem großen Inferno, in dem die kontinentgroße Insel Atlantis in den Fluten des Meeres versank, rund zwei Jahrtausende verstrichen sind, existiert noch ein echter Atlanter auf der Erde, ein Augenzeuge des legendären »Goldenen Zeitalters«. Dieser Mann ist Dragon, genannt der »Schlafende Gott«. Ihn erweckte Amee, die jetzige Königin von Urgor und Myranien, zu neuem Wirken und zum Kampf gegen Cnossos, den balamitischen Gestaltwandler, dessen Machenschaften zum Untergang von Atlantis führten. Dragon, gehandikapt durch den Verlust der Erinnerung aufgrund der langen Hibernation im Schrein, gelingt es nichtsdestotrotz, seinen alten Gegenspieler Cnossos, der an vielen Plätzen des Erdenrunds bislang uneingeschränkt seine Macht ausüben konnte, weil ihn kein ebenbürtiger Gegner in die Schranken forderte, sogar aus Myranien zu vertreiben und den vakanten Königsthron zu besetzen. Auch der Angriff der »Bruderschaft des Großen Meeres«, der auf Cnossos‘ Betreiben hin gegen Myra unternommen wurde, scheiterte kläglich. Dennoch konnte der Balamiter einen wichtigen Vorteil für sich buchen, indem er Dragon durch die Entführung seines Sohnes in eine Zwangslage versetzte. Und so kann Cnossos dem Atlanter seine Forderungen diktieren, deren erste lautet: Töte den WÄCHTER DER TOTENKÜSTE
1.
Über Azael, den Wächter der Totenküste, erzählt man sich die schaurigsten und wunderlichsten Geschichten. Vom Berg des Windes bis hinunter zur Schweigenden Öde, von dem kleinen Fischerdorf Akko bis nach Alesch und weit über die Grenzen dieser Stadt der Verdammnis hinaus zu den Zeltlagern der »Söhne des Fuchses« weiß man über den einäugigen Riesen Furchtbares und Unglaubliches zu berichten. Wenn Wolken über der Totenküste aufziehen, die Donner und Blitz und Stürme mit sich bringen, dann bricht Azaels Zeit an. Die Fischer wagen sich nicht mehr aufs Meer hinaus, und wenn sie auf offener See vom Sturm überrascht werden, dann kämpfen sie lieber dort draußen gegen haushohe Wellenberge an, als in eine der Buchten an der Küste zu steuern und dort zu ankern. Denn sie wissen, wenn sie in die Strömung geraten, dann werden sie unweigerlich zum Totenfinger getrieben, einer Felsformation, die weit in das Meer hinausragt und der gefährliche Riffe vorgelagert sind. Und dort wartet Azael. Er haust in einer riesigen Höhle, die viele schon betreten aber keiner wieder lebend verlassen hat. Die Fischer und Wüstensöhne glauben zu wissen, daß die Höhle ausgeschmückt ist mit den Gebeinen von Azaels unzähligen Opfern. Aber nicht minder sind sie davon überzeugt, daß der einäugige Riese dort ungeheure Schätze gehortet hat. So mancher wagemutige Abenteurer ist ausgezogen, den Schatz des Wächters der Totenküste zu heben, doch
man hat keinen von ihnen je wiedergesehen. Entweder wurde ihnen das Meer zum Grab – oder Azaels Höhle. Wo immer sich Fischer oder Schäfer um Lagerfeuer scharen, wo Wüstensöhne in Oasen zusammentreffen, da kommt die Rede irgendwann auf den einäugigen Riesen. Viele Fischer haben ihn schon durch die Brandung waten gesehen, auf der Suche nach Opfern und nach Beute. Der eine Fischer mußte hilflos zusehen, wie Azael sein Weib raubte, ein anderer wurde Zeuge, wie Azael sein Boot gegen einen Fels schmetterte und ein dritter, der nur noch ein Bein besaß, schwor, daß ihm das andere von Azael abgebissen worden sei. Niemand zweifelte an der Wahrheit dieser Erzählungen, denn es gab keine Abscheulichkeit, die man Azael nicht zugetraut hätte. Er war der Schrecken der Totenküste, von Fischern und Kauffahrern gleichermaßen gefürchtet. Man sagt, der einäugige Riese sei so stark, daß er ein Fischerboot mit einem einzigen Hieb entzweischlagen könne; er knicke die Masten der Segelschiffe wie Grashalme und er könne größere Felsbrocken schleudern als jede Wurfmaschine; wenn er einen Menschen zu fassen bekäme, dann risse er ihn ohne Mühe in Stücke; sein Hunger sei so groß, daß er ganze Rinder mit Haut und Haaren und mitsamt den Knochen verspeise; er hätte ein Maul so groß wie eine Bootsluke und ein so scharfes Gebiß, daß er damit leicht den Kopf eines Mannes vom Rumpf trennen könne. Mit Vorliebe aber, so sagt man, labe er sich am zarten Fleisch von kleinen Kindern ... Das ist Azael, der Wächter der Totenküste, über den man sich die schaurigsten Dinge erzählt.
Aber wer kennt den Riesen mit dem einen großen Auge wirklich? Wer hat je danach gefragt, was hinter seiner grünen Stirn, die von schlohweißem Haar umrahmt wird, vorgeht? Was dieses Wesen mit der Kraft von zwanzig Kamelen fühlt, denkt? Niemand. Und so wird man auch weiterhin nur Schauriges über den Wächter der Totenküste berichten, von dem keiner weiß, ob es für ihn so etwas wie Einsamkeit, Sehnsucht und Angst und Liebe gibt. Mitten hinein in die Verhandlung mit König Jellis von der Schlangeninsel war Yina mit einer Nachricht aus dem Palast geplatzt. »Prinz Atlantor ist verschwunden!« Dragon war es unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Während er sich auf den Rücken des nächstbesten Pferdes schwang und in halsbrecherischem Tempo vom Hafen zum höhergelegenen Königspalast preschte, da sickerte die ganze Wahrheit langsam in sein Bewußtsein ein. Atlantor, sein Sohn, den ihm Amee vor Tagen geschenkt hatte, verschwunden ... Kurz zuvor hatten sie über der Stadt einen riesigen Geier kreisen sehen, der ein winziges Bündel in den Krallen hielt ... Cnossos! Cnossos mit Atlantor in den Fängen! Dragon hätte die Palastwachen über den Haufen geritten, wenn sie nicht rechtzeitig zur Seite gesprungen wären. Während er sich aus dem Sattel schwang und die breite Freitreppe zum Tor hinaufstürmte, ertönte hinter ihm weiteres Hufgetrappel. Als er das Tor passierte, tauchte neben ihm Partho auf. Der urgorische Hauptmann schritt schweigend an Dragons Seite durch die Halle
in Richtung der Frauengemächer. Sein Gesicht war verkniffen, die Hände zu Fäusten geballt. Am Verbindungsgang zu den Kemenaten stand Kim, der eine der Gedankenzwillinge. Er hatte Yina das schreckliche Ereignis gemeldet. Er war ein Häufchen Elend, sein Gesicht von Tränen aufgeweicht. Dragon erreichte Amees Gemach und blieb abrupt stehen. Sein erster Blick fiel auf die kunstvoll verzierte Prinzenwiege. Sie wirkte in dem riesigen Raum und im flackernden Schein der Fackeln verloren, der spitzenbesetzte Seidenvorhang war zerrissen, die Wickeltücher hingen unordentlich über den Wiegenrand, lagen offen – waren leer. Dragon rannte hin und griff hinein. Die Tücher waren noch warm. Er drückte sie an sich. So stand er lange da, ungeachtet der Tatsache, daß seine Haltung jegliche königliche Würde missen ließ. Dann wandte er sich um. Amee erhob sich gerade mit kraftlos wirkenden Bewegungen aus einem Stuhl. Iwa, die schon ihre Amme gewesen war und die nun den kleinen Atlantor in ihre Obhut genommen hatte, stand ihr helfend zur Seite. Im Hintergrund hatten sich die Zofen zusammengedrängt. Dragon scheuchte sie mit einer Handbewegung aus dem Raum. Er sah Amee an und drückte sie dann an sich. Auch jetzt, als sie die Geborgenheit von Dragons Umarmung spürte, konnte sie ihren Tränen noch nicht freien Lauf lassen. Der Schrecken lähmte sie. Dragon begegnete dem Blick Iwas, die ihn mit großen Augen anstarrte. »Ich will nicht nach Schuldigen suchen, Iwa«, sagte Dragon. »Aber – wie konnte das passieren?«
»Ich war nur für einen Augenblick unaufmerksam«, sagte Iwa mit zittriger Stimme. »Vorher hatte ich mich die ganze Zeit um Atlantor gekümmert. Nachdem Amee ihn stillte, habe ich ihn in den Schlaf gewiegt. Er war gerade eingeschlafen ... und ich ging nur kurz zum Fenster, um zu sehen, was das Scharren an der Außenmauer zu bedeuten habe ... Da schwang sich der Riesengeier durch das Fenster und schleuderte mich gegen die Wand, daß ich die Besinnung verlor. Als ich wieder zu mir kam, war ...« Iwa verstummte. Dragon ließ von ihr ab. Es hatte keinen Sinn, ihr Vorwürfe zu machen. Sie hätte nicht verhindern können, daß Cnossos sein Vorhaben in die Tat umsetzte, selbst wenn sie davon geahnt hätte. Es hatte keinen Sinn, über die Versäumnisse nachzudenken, die gemacht worden waren. Als die Niederlage von Jellis‘ Flotte besiegelt war, hätten sie sich denken müssen, daß Cnossos sich auf irgendeine teuflische Weise rächen würde, denn sie wußten von seiner Anwesenheit. Aber er, Dragon, hatte angenommen, daß sich Cnossos vorerst in eines seiner Verstecke zurückziehen würde, um dort neue Ränke zu schmieden. Wenn er jemandem Vorwürfe machen wollte, dann auch sich selbst. Doch was sollte es, es brachte Atlantor nicht zurück. So tief der Schmerz über den Verlust seines Sohnes auch in ihm saß, er versuchte sich darüber hinwegzusetzen und seinen klaren Verstand zurückzugewinnen. Er mußte handeln. Er wollte Amee von sich schieben und Iwas Obhut übergeben. Doch sie wehrte sich dagegen. Sie rückte nur einen Schritt von ihm ab und ergriff seine Hände.
»Dragon«, sagte sie leise. »Ich glaube, Cnossos ist nicht verschwunden, ohne ein Zeichen zu hinterlassen ...« »Wovon sprichst du?« fragte Dragon. »Komm mit.« Sie führte ihn an beiden Händen durch den Raum zu einer der Säulen. Dabei sagte sie: »Als ich von Atlantors Verschwinden erfuhr und hierher kam, konnte ich das Schreckliche noch gar nicht fassen. Ich flüchtete mich zu dieser Säule hier, um mich daran zu stützen. Da fühlte ich mit den Fingern, daß der Stein sich verändert hatte. Die Ornamente waren nicht mehr rund und ebenmäßig und glatt, sondern auf eine Art behauen worden, daß sich scharfkantige Erhebungen und Vertiefungen zeigten. Ich besah mir die Säule und entdeckte die Zeichen. Hier!« Sie hatten die Säule erreicht. Sie zeigte Szenen aus der myranischen Geschichte und Götterwelt, die durch kunstvolle Ornamente bereichert waren. Aber die aus dem Stein gehauenen Reliefe waren durch jemanden zerstört worden, der seltsame Zeichen hineingemeißelt hatte. »Heute morgen war die Säule noch unbehauen«, sagte Amee. »Sie muß von Cnossos bearbeitet worden sein. Vielleicht hat er eine Nachricht für uns hinterlassen. Könnte es sich nicht um die Schriftzeichen einer alten Sprache handeln, Dragon?« Sie sah ihn hoffnungsvoll an. »Es handelt sich um Schriftzeichen der Alten Sprache«, bestätigte Dragon und ließ seine Hände über die Einkerbungen gleiten. »Bist du sicher?« sagte Amee. »Dann soll Cheron kommen! Vielleicht kann er die Nachricht entschlüsseln.« »Nicht nötig«, sagte Dragon.
Er hatte die Zeichen lange angestarrt. Zuerst erstaunt und ohne etwas damit anfangen zu können. Aber nach und nach hatte er einen Sinn darin erkannt. Es war so, als ob er beim Anblick der Schriftzeichen einen Teil seiner verlorengegangenen Erinnerung wiedergefunden hatte. Zuerst erahnte er die Bedeutung eines Zeichens, dann konnte er mehrere von ihnen zu Worten und ganzen Sätzen aneinanderreihen ... Er konnte Cnossos‘ Nachricht lesen. »Ich, Cnossos von Balam, genannt Gott der vielen Namen, der ich durch den von mir herbeigeführten Untergang von Atlantis uneingeschränkt über diese Welt herrsche, die Ihr niederes Menschengewürm als Erde bezeichnet, habe mich entschlossen, Dich, Dragon, für Deine an mir und meinen Geschöpfen begangenen Missetaten zu bestrafen, indem ich Deinen Erstgeborenen mit mir nehme. Wenn Dir, Mann ohne Gedächtnis, das Leben Deines Sohnes lieb ist, dann befolgst du von nun an meine Gebote. Du, der Du Dir angemaßt hast nach der Königswürde von Myra zu greifen, der Du Dich erdreistet hast, die Fäden meiner Macht zu durchtrennen und ein eigenes Netz über dieses Land zu spinnen, sollst Dich im Gespinst Deiner menschlichen Schwäche fangen, die da heißt Liebe zu Deinem eigen Fleisch und Blut. Ich, Cnossos von Balam, habe mit dem Leben Deines Sohnes auch Dich, Dragon, in meiner Hand, der Du mir Buße leisten wirst für all Deine Taten, die mir schaden sollten. Und so befehle ich Dir kraft meines zweitausend jährigen Herrscheramtes über diese Welt als erstes: Reise ohne Verzug zur Totenküste und töte den Wächter dort. Azael war mir lange Jahre hindurch ein
wertvoller Diener, doch hat sich sein Geist in letzter Zeit verwirrt, und er bereitet mir mehr Ärgernis als Nutzen, da sein Gehorsam zu wünschen übrig läßt und er meinen Anordnungen nicht mehr Folge leistet. Wenn es Dir gelingt, diese Tat zu vollbringen – und merke wohl: Du mußt sie allein und ohne fremde Hilfe vollbringen –, dann wirst Du den Weg eines meiner Boten kreuzen, von dem Du erfährst, was Du weiter zu tun hast, um das Leben Deines Sohnes zu erhalten. Doch denke immer daran: Ich, Cnossos von Balam, werde, in welcher Gestalt auch immer, Deinen Weg verfolgen und beobachten, ob Du meine Bedingungen erfüllst. Bin ich mit Dir zufrieden, so wird Dich mein Bote am vierzehnten Tag des Mondes der Kröte bei Sonnenuntergang am Berg des Windes erwarten, der einen guten Tagesritt landeinwärts von der Höhle des Wächters Azael entfernt liegt. Halte diese Frist ein, sonst ist das Leben Deines Sohnes verwirkt.« Die Kunde von Atlantors Entführung hatte sich wie ein Lauffeuer ausgebreitet, und so war es nicht verwunderlich, daß Dragons Freunde und Vertraute bald nach Dragon am Ort des Geschehens eintrafen. Partho stand jedoch im Eingang und hinderte sie am Betreten des Gemachs. »Zurück, Freunde«, sagte er. »Niemand soll jetzt die Trauer des Königs stören.« Stimmen schwirrten durch die Luft, Worte des Mitgefühls, aber auch Worte voll Haß und Wut, die nach Vergeltung dieser schändlichen Tat verlangten. »Und wieder einmal Cnossos«, sagte Nabib, der Händler von der Weißen Küste und schnaubte. »Wann 10
wird es endlich gelingen, dieses Scheusal ins Jenseits zu befördern!« Ubali, der hünenhafte Schwarze, der sich geschworen hatte, Dragons Leben mit dem seinen zu schützen, versuchte, Partho zur Seite zu drängen und sich einen Weg in das Gemach zu bahnen. »Laß mich zu meinem Herrn, Partho«, verlangte er. »Ich kann nicht dastehen und zusehen, wie er leidet. Er muß sehen, daß ich auch jetzt für ihn da bin.« Partho ergriff Dragons Leibwächter an den muskulösen Armen und hielt ihn unter Aufbietung seiner ganzen Kraft zurück. »Dragon weiß auch so, was er an dir hat, Ubali«, redete er ihm zu. »Wenn er deinen starken Arm braucht, wird er nach dir rufen. Aber für den inneren Kampf, den er jetzt ficht, benötigt er keine Unterstützung. Er muß ihn allein durchstehen.« Yina stand fröstelnd an den Torbogen gelehnt, die Finger ineinander verschränkt. Der Blick ihrer großen Augen war auf Dragon gerichtet, so als könnte sie bis in seine Seele hineinsehen. Und das stimmte sogar, denn sie lauschte seinen Gedanken. »Der König steht nur da und starrt auf die Säule«, hörte sie Wigor sagen, der mit Sela, dem Iquani-Mädchen, an seiner Seite aufgetaucht war. Hinter den beiden stand Kapitän Jaggar mit verkniffenem Gesicht. »Ich habe es schon oft erlebt, daß Männer, die sich in tausend Schlachten heldenhaft bewährten, völlig gebrochen waren, wenn ihnen ein persönliches Leid widerfuhr«, murmelte er. »Die meisten von ihnen fanden danach nie mehr zu sich selbst zurück.« »Was meint er damit?« fragte Ubali und blickte sich angriffslustig um. 11
»Wagst du es, meinen Herrn zu beschimpfen, Pirat?« »Nein, Sklave«, sagte Jaggar nur. Als Ubali sich so angesprochen hörte, empfand er es als Beschimpfung und Verhöhnung. Seine Muskeln spannten sich, sein Gesicht verzerrte sich vor Wut, aber noch ehe er sich auf den Kapitän der Schwarzen Wellenreiterin stürzen konnte, hatte sich Nabib zwischen die beiden gestellt. »Er hat nicht in böser Absicht gesprochen«, versuchte der Händler zu vermitteln. Und Yina, die durch den Zwischenfall von Dragon abgelenkt wurde, warf Kapitän Jaggar einen spöttischen Blick zu. »In Myra gibt es längst keine Sklaven mehr, Kapitän«, sagte sie zu dem Mann, dessen Gefangene sie einmal gewesen war. »Ubali war schon ein guter Freund des Königs, bevor dieser den Thron von Myranien bestieg.« Jaggar erwiderte ihren Blick ruhig und sagte: »Und ich bin längst nicht mehr Pirat. Ich stehe mit meinem Schiff in den Diensten des Königs.« Yina hatte eine weitere spöttische Bemerkung darüber auf der Zunge. Doch sie behielt sie für sich. Denn irgend jemand stellte verwundert fest: »Irgend etwas an dieser Säule scheint Dragon in Bann geschlagen zu haben. Warum nur läßt er keinen Blick von ihr.« »Die Säule trägt eine Botschaft von Cnossos«, erklärte Yina. Die Umstehenden wandten sich ihr zu, und sie fügte hinzu: »Cnossos hat Dragon in der Alten Sprache eine Nachricht hinterlassen, in der er ihm sagt, was er zu tun hat, wenn er Atlantor wiedersehen möchte.« »In der Alten Sprache, sagst du?« meinte Cheron, der einer der weisesten der Söhne von Atlantis war. »Wenn 12
es so ist, laßt mich zu Dragon. Ich muß die Botschaft für ihn übersetzen.« »Dragon kennt den Inhalt bereits«, entgegnete Yina. »Ich weiß das aus seinen Gedanken.« »Wie lautet die Botschaft?«, verlangten Partho und Nabib wie aus einem Mund zu wissen. Yina erzählte ihnen, daß Cnossos verlangte, Dragon solle den Wächter der Totenküste aus eigener Kraft töten. Nur Jaggar stand schweigend da. Er, der selbst von der Totenküste stammte, wußte am besten, welch unerfüllbare Bedingung Cnossos an Dragon stellte. »Wie ist es möglich, daß Dragon den Inhalt der Botschaft kennt, wo er doch die Alte Sprache nicht beherrscht?« wunderte sich Cheron. »Er beherrscht die Alte Sprache, er hatte es nur vergessen«, sagte Yina. »Aber jetzt hat er einen Teil seiner Erinnerung wiederbekommen!« Sie blickte wieder zu Dragon hinüber, der immer noch mit Amee vor der Säule stand. Sein Gesicht war ausdruckslos und ließ nicht einmal erahnen, welches Durcheinander in seinen Gedanken war. Nur Yina, die an seiner Gedankenwelt teilhaben konnte, wußte, in welcher zwiespältigen Situation er sich befand. Er war voll Sorge um seinen Sohn, konnte sich diesem Problem jedoch nicht voll widmen, weil gleichzeitig in seinem Geist Erinnerungsbruchstücke aus der Vergangenheit auftauchten. Das Stichwort war Cnossos von Balam gewesen. Cnossos, der Balamiter war für Dragon plötzlich ein Begriff. Balam war kein Ort auf dieser Erde, sondern ein Ort wie die Erde in einer anderen Dimension. Das stand für Dragon auf einmal fest, obwohl er mit dem Begriff »Dimension« nicht viel anfangen konnte. Aber er wußte, 13
daß Balam eine andere Erde war und Cnossos ein ganz und gar fremdartiges Geschöpf dieser anderen Erde. Er war damals, vor zweitausend Jahren, nach Atlantis gekommen. Dragon wußte von einem Augenblick zum anderen, daß er schon damals mit dem Balamiter eine Auseinandersetzung gehabt hatte. Sie waren vor zweitausend Jahren schon Feinde gewesen. Wie hieß es in Cnossos‘ Botschaft? ... durch den von mir herbeigeführten Untergang von Atlantis ... Cnossos hatte diesen Ort namens Atlantis vor zweitausend Jahren vernichtet. Dragon strengte seinen Geist an, um mehr darüber zu erfahren, aber mehr als unscheinbare Erinnerungsfetzen, die ihm den Eindruck vermittelten, daß Atlantis ein Paradies gewesen sein mußte, stellten sich nicht ein. Er konnte das Rätsel der Vergangenheit immer noch nicht lösen, wenngleich er einige der Zusammenhänge, die es zwischen ihm und Cnossos gab, begriff. Aber nun durfte er hoffen, daß er bald mehr wissen würde. Es erschien ihm als wahrscheinlich, daß sich der Schleier des Vergessens nach und nach von seinem Geist heben und er bald im Besitz einer lückenlosen Erinnerung sein würde. Und diese Erinnerung mochte seine stärkste Waffe im Kampf gegen Cnossos sein. Mit ihrer Hilfe hoffte er, einen geeigneten Weg zu finden, um dieses Scheusal in naher Zukunft für immer auszuschalten. Dragon griff sich unwillkürlich an das Sonnenamulett, das er an einer Kette um den Hals trug. Es hatte bisher seine einzige Verbindung zu einer Zeit hergestellt, an die er alle Erinnerungen verloren glaubte. Jetzt gab es plötzlich eine Brücke zu dieser Zeit. Sie war noch nicht 14
fest und konnte ihn noch nicht tragen. Aber der Anfang war getan, und er fühlte, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis diese Brücke geschlagen war. Im Augenblick war es ihm noch nicht möglich, sich diesen Dingen voll und ganz zu widmen. Etwas Furchtbares war geschehen – und wieder einmal hatte der Balamiter seine Hand im Spiel gehabt. Dragon fand endgültig in die Wirklichkeit zurück. Er blickte zum Eingang, wo Partho zusammen mit zwei Wachen die anderen am Eindringen zurückhielt. »Meine Freunde, ihr wißt, welcher harte Schicksalsschlag Amee und mich getroffen hat«, sagte er. »Ich will nicht hadern, auch will ich nicht, daß mich der Gedanke an Rache verblendet. Alles was ich tun werde, soll nur dem Zweck dienen, daß Amee unseren Sohn bald wieder wohlbehalten in die Arme schließen kann. Deshalb werde ich mich Cnossos‘ Bedingungen unterwerfen. Ich bitte euch, mir in den Thronsaal zu folgen und mir mit eurem freundschaftlichen Rat zur Seite zu stehen.« »Du nennst es Wahnsinn, wenn ich beschließe, Amee unseren Sohn zurückzubringen, Partho?« fragte Dragon und drückte Amees Hand, die rechts des Thrones Platz genommen hatte. »Verzeih, Dragon, aber so war das nicht gemeint«, erwiderte Partho. »Ich kann mit dir fühlen, aber ich fürchte auch, daß der Schmerz dich blind macht. Du wolltest unseren Rat, und deshalb sage ich, daß es Wahnsinn ist, auf Cnossos‘ Bedingungen einzugehen.« Es waren nur Dragons engste Vertraute anwesend. Dragon hatte die große Schar seiner Gefolgsleute ausgeschlossen, um die Besprechung nicht zu einer Staatsangelegenheit zu machen. In vertraulichem Kreis konnte 15
eine schnellere Entscheidung gefällt werden, und darauf legte Dragon größten Wert, denn die Zeit drängte. Man schrieb den letzten Tag im Mond des Wildebers, und morgen begann bereits der Mond der Kröte. Cnossos aber hatte verlangt, daß Dragon den Wächter der Totenküste bis zum vierzehnten Tag dieses Mondes zur Strecke gebracht haben mußte. Außer Dragon und Amee hatten sich nur noch eine Handvoll weiterer Personen im Thronsaal eingefunden. Iwa, die eingedenk ihrer vermeintlichen Schuld überaus schweigsam war; Nabib, der Händler, dessen listigen Verstand Dragon überaus schätzte; Ubali, Dragons treuer Leibwächter; Partho, der für Dragon nicht nur der beste Heerführer war, sondern auch sein bester Freund; Cheron, der Sprecher der Söhne von Atlantis, die für Dragon als Begründer einer neuen Zeit galten; Yina, die wegen ihrer gedankenleserischen Fähigkeiten zu einer Art Schutzengel für Dragon geworden war; Kapitän Jaggar, der von der Totenküste stammte und allein aufgrund seines Wissens wertvoll war; Wigor, der seine Verbundenheit zu Dragon bewies, als er ihn vor der heransegelnden Flotte der Großen Meeresbruderschaft warnte, und seine Gefährtin Sela, die nicht von seiner Seite wich. »Ich möchte mich Parthos Meinung anschließen«, erklärte Cheron. »Wenn du Cnossos‘ Bedingungen annimmst, dann lieferst du dich ihm völlig aus.« »Ich bin ihm jetzt schon ausgeliefert, weil er Atlantor in seiner Gewalt hat«, meinte Dragon. »Du hast die Möglichkeit, Cnossos‘ Spielregeln abzulehnen«, gab Cheron zu bedenken. »Und damit Atlantors Tod zu besiegeln?« rief Dragon aus. »Nein, niemals. Ich werde tun, was der Balamiter von mir verlangt.« 16
»Und warum – nur auf das Versprechen hin, daß du deinen Sohn nach Erfüllung der Bedingungen wohlbehalten zurückbekommst?« hielt ihm Partho entgegen. »Rufe dir ins Gedächtnis, wer dieses Versprechen gegeben hat, Dragon. Cnossos ist kein Mann von Ehre. Wie kannst du ihm nur vertrauen, zumal wir alle wissen, daß er heimtückisch zu handeln pflegt und seinen Worten nicht zu trauen ist. Er wird nicht halten, was er verspricht.« »Es ist Wahrheit in deinen Worten«, sagte Dragon bitter. »Aber was schlägst du dann vor, was ich tun sollte, um Atlantor zu retten?« Einen Moment herrschte Schweigen, dann sagte Partho dumpf: »Ich sehe keinen Weg.« Amee schluchzte auf. Als Partho sah, wie Dragon enttäuscht zurückfuhr, fügte er schnell hinzu: »Es tut mir leid, Dragon, aber es wäre Verrat an dir, würde ich deine Hoffnungen nähren. Es ist meine Überzeugung, daß Cnossos gar nicht vorhat, dir Atlantor wiederzugeben, nachdem du seine Bedingungen erfüllt hast. Vielmehr glaube ich, daß er dich nur in eine Falle locken möchte. Entweder du versagst bei der Prüfung und kommst im Kampf gegen den Wächter der Totenküste um – oder Cnossos ersinnt eine weitere Teufelei, um dich ins Verderben zu stürzen. Du kannst, wenn du Cnossos‘ Spielregeln annimmst, nur verlieren, Dragon.« Partho sah, daß Dragon ernsthaft über seine Worte nachdachte. Cheron, dem das ebenfalls nicht entgangen war und der Parthos Meinung teilte, ergriff schnell das Wort. »Du stehst vor einer schweren Entscheidung, Dragon«, sagte er mitfühlend. »Du hast zu wählen, zwischen dei17
nem persönlichen Glück und deiner Verantwortung als König. Nimmst du Cnossos‘ Herausforderung an, dann setzt du damit den Thron von Myranien aufs Spiel. Wenn du sagst, daß dieser Preis nicht zu hoch wäre, um deinen Sohn wiederzubekommen, dann muß ich dich an die Tausende von Menschen erinnern, die du mit ins Verderben reißen kannst, wenn du Myranien aufgibst. Unter dir als König blüht dieses Land auf. Was wird aber geschehen, wenn du den Thron wieder verläßt, kaum daß die Saat deiner segensreichen Reformen aufgegangen ist?« »Warum beschwörst du solche düsteren Bilder herauf, Cheron?« sagte Dragon gequält. »Weil ich möchte, daß du dich von deinem Verstand und nicht von trügerischen Gefühlen leiten läßt«, antwortete Cheron. Dragon wich dem Blick des Weisen aus. Er wußte, daß Cheron und Partho recht hatten. Cnossos dachte nicht daran, ehrliches Spiel mit ihm zu treiben. Er wollte ihn fortlocken, in ein fremdes Land und ihn dann, wenn er schutzlos und allein war, vernichten. Durfte er, Dragon, sein Leben so leichtfertig aufs Spiel setzen? Als König von Myranien lastete eine große Verantwortung auf seinen Schultern. Er war sich klar darüber, daß das Wohl der Myraner seinem eigenen vorging. Er blickte zu Amee. Würde er ihr je wieder in die Augen blicken können, wenn er keinen Finger rührte, um das Leben ihres Sohnes zu retten? Nein, und er würde sich sein Leben lang Vorwürfe machen, er würde nie mehr Ruhe finden können – und ohne inneren Frieden, ohne seelische Ausgeglichenheit wäre er ein schlechter Herrscher. Das hatte er bei Amees Anblick, erkannt. Er drückte ihre Hand, lächelte ihr zu und wandte sich dann an die anderen. 18
Er sagte: »Ich habe mich entschlossen. Ich werde zur Totenküste reisen.« »Wenn du schon nicht Vernunft annehmen willst, dann werde ich dich bei diesem waghalsigen Unternehmen begleiten und darauf achten, daß du dich, zu keinen Torheiten hinreißen läßt«, erklärte Partho, der wußte, daß es keinen Sinn mehr hatte, Dragon von seinem Entschluß abzubringen zu versuchen. »Nein, du bleibst in Myra«, entschied Dragon. »Ubali allein genügt, um für meinen Schutz zu sorgen.« Der dunkelhäutige Hüne grinste breit. »Danke für dein Vertrauen, Herr«, sagte er und verneigte sich leicht. »Aber«, versuchte Partho einzuwenden, »ich werde in Myra nicht gebraucht. Es gibt genügend Heerführer, denen ich voll vertrauen kann und die die Krieger führen können. Warum also willst du auf mein Schwert verzichten, wenn du in ein fremdes Land voll unbekannter Gefahren gehst? Hast du das Vertrauen in mich verloren?« »Keineswegs, Partho«, entgegnete Dragon. »Ich könnte mir keinen besseren Schwertkämpfer als dich vorstellen. Aber ich darf dich nicht mitnehmen, denn Cnossos verlangt, daß ich Azael allein und ohne fremde Hilfe töte. Da ich weiß, wie heißblütig du bist, müßte ich befürchten, daß du dich im entscheidenden Augenblick nicht bezähmen könntest. Ich muß die Prüfung allein bestehen, deshalb sollst du in Myra zurückbleiben.« »... um hier zu verrosten«, fügte Partho zähneknirschend hinzu. »Aber ich möchte dich bitten, daß du ein Dutzend deiner besten Männer aussuchst, um sie für mich abzustellen«, fuhr Dragon fort. 19
»Nur zwölf Mann?« wunderte sich Partho. »Ich hätte eigentlich angenommen, daß du mich damit beauftragen würdest, zumindest die Besatzung für ein Kriegsschiff zu stellen. Wie willst du zur Totenküste kommen?« Statt einer Antwort blickte Dragon zu Kapitän Jaggar. »Ist Eure Schwarze Wellenreiterin seetüchtig, Kapitän?« fragte er ihn. Kapitän Jaggar wurde von dieser Frage so sehr überrascht, daß es ihm die Sprache verschlug. Aber er faßte sich schnell. »Die Schwarze Wellenreiterin kann jederzeit in See stechen, mein König«, sagte er. »Allerdings habe ich keine vollzählige Mannschaft.« »Es wird Euch nicht schwerfallen, in der myranischen Flotte die geeigneten Männer zu finden«, meinte Dragon. »Würdet Ihr bereit sein, mich zur Totenküste zu fahren, Kapitän?« »Es wäre mir eine Ehre, mein König.« Partho trat einen Schritt auf Dragon zu. »Warum vertraust du dich gerade Kapitän Jaggar an?« erkundigte er sich. »Weil er die Totenküste kennt wie kein anderer«, antwortete Dragon. »Ist das nicht leichtsinnig?« gab Partho zu bedenken. »Er war einer der gefürchtetsten Piraten der Meeresbruderschaft und darüber hinaus König Jellis‘ rechte Hand. Du kannst nie sicher sein, daß er nicht doppeltes Spiel mit dir treibt.« »Und wenn es nach Kapitän Jaggar gegangen wäre, dann hätte er mich auf dem Sklavenmarkt von Candis feilgeboten«, rief Yina dazwischen und warf Jaggar einen wütenden Blick zu, was ihr von ihm aber nur ein freches Grinsen eintrug. 20
»Es ist nichts einfacher, als mir über Kapitän Jaggars Gesinnung Klarheit zu verschaffen«, sagte Dragon. »Yina, ich bin sicher, daß du deine Neugierde nicht bezähmen konntest und in seinen Geist gehorcht hast. Konntest du Hinterlist darin entdecken, oder böse Gedanken wider mich?« »Nein,«, mußte Yina zugeben. »Er spricht, wie er denkt.« »Damit wären deine Bedenken zerstreut, Partho«, sagte Dragon. »Und du wirst Gelegenheit bekommen, dich mit Kapitän Jaggar zu versöhnen, Yina. Ich möchte nur ungern auf deine Gabe verzichten und bitte dich, mich zu begleiten.« »Wenn du mir dein königliches Wort gibst, daß du auf einer Versöhnung mit dem Piraten nicht bestehst, dann komme ich gern mit«, sagte Yina. Dragon mußte unwillkürlich lächeln, wurde aber sofort wieder ernst, als er den Druck von Amees Hand spürte. »Ich werde dir Atlantor wiederbringen«, versprach er. »Nimm mich mit, Dragon«, bat sie. »Ich könnte das Warten während deiner Abwesenheit nicht ertragen. Die Ungewißheit über Atlantors Schicksal würde mich verzehren. Es wären endlose Tage für mich, voll Hoffen und Bangen ... Ich will dich begleiten!« Dragons Gesicht war eine Maske der Ablehnung. »Ich darf dich nicht mitnehmen, Amee«, sagte er gepreßt. »Deine Anwesenheit würde mich ablenken und mich in meinen Handlungen beeinflussen. Außerdem möchte ich nicht, daß auch du dich noch in Gefahr begibst. Du wirst während meiner Abwesenheit den Thron von Myra behüten. Das ist mein letztes Wort!« 21
»Aber ... was soll mit Atlantor geschehen, wenn ihr ihn wirklich findet?« wagte Amee einzuwerfen. »Er bedarf des Schutzes seiner Mutter ...« »Iwa wird sich an deiner Statt um ihn annehmen«, beschloß Dragon. »Das werde ich tun«, versicherte die Amme. »Gut, dann können wir darangehen, die Vorbereitungen zu treffen«, sagte Dragon. »Ich habe vor, zusätzlich zu Kapitän Jaggars Schnellsegler noch sechs weitere Schiffe zur Totenküste mitzunehmen – sagen wir, zwei Segler und vier Galeeren. Ich hoffe, diese Vorsichtsmaßnahme beruhigt dich einigermaßen, Partho. Die sechs Schiffe sollen aber Abstand zur Schwarzen Wellenreiterin halten. Das deshalb, weil Cnossos unsere Reise sicher verfolgen wird und ich nicht möchte, daß er einen Verstoß gegen die Abmachung befürchtet. Wir werden aber mit den Begleitschiffen in ständigem Kontakt bleiben. Dafür benötigen wir allerdings die Hilfe der Tainu und ihrer Wasserbrüder. Es wäre deine Aufgabe, Yina, die Tainu für dieses Vorhaben zu gewinnen. Suche in der Bucht der Großen Steine Issola auf und trage ihr meine Bitte vor. Ich bin gewiß, daß sie sie mir nicht abschlagen wird. Kapitän Jaggar, macht Ihr schon die Schwarze Wellenreiterin flott, wir werden noch in der kommenden Nacht auslaufen. Du, Partho, kümmerst dich um die Begleitschiffe. Damit wäre alles gesagt.« »Du hast sehr vorausschauend geplant, Dragon«, erhob Nabib zum erstenmal während der Versammlung die Stimme. »Aber eines hast du nicht bedacht. Wenn du in das fremde Land hinter der Totenküste gehst, benötigst du einen Unterhändler, der Zungenfertigkeit und Redegewandtheit besitzt, der im Umgang mit fremden Völkern geschult ist und sich aufs Verhandeln versteht. Kurzum, du brauchst einen Mann von meinem Schlag.« 22
Dragon nickte. »Du bist angeheuert, Nabib.« In diesem Moment löste sich Wigor von Selas Seite und kam mit drei schnellen Schritten auf Dragon zu. »Vergeßt bitte nicht, mich in Euren Plänen zu berücksichtigen, König«, sagte der myranische Edelmann. »Ich achte Euer Angebot, Herr Wigor«, entgegnete Dragon höflich. »Aber wenn ich es dennoch nicht annehme, dann deshalb, weil ich meine, daß Euer Platz dort ist, wo Ihr Euer Herz gelassen habt – bei Sela.« Iwa hatte sich zu Nabib gesellt und raunte ihm zu: »Du kannst Dragon erzählen, was du willst, aber mir machst du nicht weis, daß es dich nur zur Totenküste zieht, um dich als Unterhändler zu betätigen. Was sind deine wahren Beweggründe, Dickwanst?« »Eigentlich lasse ich mich sonst nur von schönen Frauen beleidigen«, meinte Nabib knurrend. Er warf Iwa einen Blick zu und seufzte. »Dir kann man wahrlich nichts verheimlichen, alte Giftmischerin. Weißt du nicht, daß der Wächter der Totenküste unermeßliche Reichtümer gehortet hat ...?«
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2.
Mainala hatte noch das Weinen der Frauen und die Todesschreie der Männer im Ohr, obwohl längst schon wieder Schweigen über der Wüste lag. Wie lange war es her, daß die wilden Reiter auf ihren Kamelen über das Gauklerlager hergefallen waren? Sie blickte vorsichtig unter der Decke hervor. Es war immer noch Nacht. Der schwarze Himmel mit seinen unzähligen Lichtpunkten spannte sich samten über das Land der Sanddünen. Der Mond strahlte als helle Sichel und spendete sein kaltes Licht. Mainala sah vor sich die steife Hand eines toten Mannes aus dem Sand ragen und schauderte. Die Wüstensöhne hatten gnadenlos alle Männer niedergemacht und die Frauen und Kinder geraubt. Sie hatten den wehrlosen Gauklern keine Chance gelassen, sondern waren aus dem Dunkel der Nacht ohne Warnung über sie hergefallen. Gaunth war einer der ersten gewesen, der niedergeschlagen worden war. Aber er war nicht tot. Als Mainala das erkannte, hatte sie ihn und sich unter einer Decke versteckt. So hatte sie dagelegen, bis der Lärm verstummte und sie sicher sein konnte, daß die Wüstensöhne sich zurückgezogen hatten. Jetzt erst wagte sie sich ins Freie. Gaunth stöhnte leise und rührte sich. »Wasser ...« Mainala durchsuchte die niedergerissenen Zelte, doch sie konnte weder einen Wasserschlauch, noch irgend etwas Eßbares finden. Die räuberischen Wüstenbewohner hatten alles geplündert. Mainala hatte lediglich 24
ihre Trommeln und Gaunths Messersammlung retten können. »Still, mein Liebling«, flüsterte sie Gaunth zu und strich ihm übers Gesicht. »Ich werde eine Quelle suchen und dir Wasser bringen.« »Du lebst, Mainala ...?« Gaunth erhob sich und stützte sich auf die Arme. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut und Schmerz, als er die Verwüstungen um sich sah. »Die anderen ...?« »Alle tot«, antwortete Mainala. »Die Frauen und Kinder geraubt. Wir beide hatten Glück.« »Glück nennst du es, ohne Wasser und ohne Reittiere in der Wüste ausgesetzt zu sein?« »Alesch ist nicht mehr weit. Wir werden es bis zu dieser Stadt bestimmt schaffen.« »Alesch!« Gaunth sagte es mit Abscheu und Verachtung. »Hast du vergessen, was man sich über diese Stadt erzählt, die man die Grausame und die Blutige nennt?« »Alles ist besser, als in der Wüste umzukommen«, erklärte sie. »Wir werden nach Alesch gehen und uns auch dort behaupten. Wir beide sind nicht unterzukriegen, Gaunth. Unsere Liebe ist stärker als alles Böse dieser Welt.« Sie küßte ihn zart, auf seine Schwäche Rücksicht nehmend, aber als sie ihre Hand auf seinen Hinterkopf legte, stöhnte er vor Schmerz auf. »Tut es sehr weh?« fragte sie liebevoll. »Dieser Hundesohn hat mir mit aller Wucht den Lanzenschaft auf den Schädel gedonnert ...« Gaunth versteifte sich und lauschte. »Sie kommen zurück!« Jetzt lauschte auch Mainala. Aber sie vernahm kein Geräusch. »Du hast dich geirrt, Liebster.« 25
»Nein.« Er hob mit einer ruckartigen Bewegung den Arm und deutete nach vorn. »Da!« Sie blickte in die Richtung, die seine Hand wies, und erstarrte vor Schreck. Über einer der Sanddünen tauchten die schemenhaften Umrisse von drei Reitern auf. Zwei von ihnen saßen auf mit bunten Tüchern geschmückten Kamelen, der dritte ritt ein weißes Pferd. Sie waren wie die Wüstenbewohner gekleidet, trugen knöchellange Kleider aus verschiedenfarbigen Geweben und weite Umhänge; ihre Köpfe waren jedoch nicht mit Tüchern umwickelt, sondern wurden von eisernen Helmen bedeckt, unter denen der Nackenschutz aus Stoff flatterte. Sie waren zwei Atemzüge später heran, und Mainala konnte jetzt erkennen, daß ihre Helme ein seltsames Wappen zierte: ein senkrechter Wasserstrahl, der sich an seinem höchsten Punkt nach zwei Seiten teilte – und darin ein Totenkopf. Diese Männer gehörten nicht demselben Stamm an, von dem die Gauklerkarawane überfallen worden war. Die drei Reiter schwiegen immer noch. Sie blickten prüfend auf die beiden Überlebenden hinunter und wechselten dann bedeutungsvolle Blicke. »Wer seid ihr?« fragte schließlich der Reiter des weißen Pferdes. »Ich heiße Gaunth, und das ist meine Gefährtin Mainala«, antwortete Gaunth. Nachdem er auch erzählt hatte, daß sie Gaukler waren und auf dem Weg von der Totenküste nach Alesch von einem Stamm von Wüstensöhnen überfallen worden waren, erklärte der Schimmelreiter: »Das ist das Werk der Söhne des Fuchses. Du hast Glück, daß du noch lebst. Und du, schönes Kind, darfst 26
dich nicht minder glücklich schätzen, daß du nicht das Zelt eines räudigen Fuchses teilen mußt.« »Und woher kommt ihr?« »Wir stammen aus Alesch und stehen im Dienste des allmächtigen Wasserspenders El Habek!« Als Mainala diesen Namen hörte, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Auf dem Weg durch die Wüste hatten sie in den Oasen von anderen Reisenden furchtbare Dinge über die Schreckensherrschaft des El Habek gehört. »Wollt ihr immer noch nach Alesch?« fragte der Schimmelreiter. »Dann werden wir euch in die Stadt bringen.« »Das ist sehr freundlich«, sagte Gaunth, dem die drei Fremden nicht recht geheuer waren. »Aber es genügt, wenn ihr uns etwas Wasser überlaßt, dann werden wir den Weg allein finden.« »Kommt nicht in Frage«, sagte der Schimmelreiter. »Wir werden euren Schutz übernehmen. Du, Gaunth, scheinst ein kräftiger Bursche zu sein und würdest als Haussklave unseres allmächtigen Wasserspenders eine gute Figur machen. Und was kannst du, schönes Kind?« »Ich bin Trommeltänzerin«, sagte Mainala mit belegter Stimme. »Dann tanze!« »Aber, Herr«, begehrte Gaunth auf. »Sie ist schwach und ...« Weiter kam er nicht. Eine Kamelpeitsche zischte heran und legte sich ihm um den Hals. Gaunth wurde nach vorn gezerrt, aber es gelang ihm noch im Fallen, seinen Messergürtel an sich zu nehmen, der unter der Decke verborgen gewesen war. Er schleuderte eines der Messer 27
nach dem Kamelreiter mit der Peitsche, und es bohrte sich ihm in den Hals. Es war alles so blitzschnell geschehen, daß die anderen beiden mit dem Schauen nicht nachkamen. Gaunth warf das zweite Messer, das sich zielsicher in die linke Brust des anderen Kamelreiters bohrte. Jetzt erst begriff der Anführer auf dem Schimmel die Geschehnisse und wandte sich zur Flucht. Doch er kam nicht weit. Gaunths Messer warf ihn aus dem Sattel. Mainala hatte alles schweigend mit angesehen. Als alles vorbei war und Gaunth sich seine Wurfmesser aus den Leichen holte, sagte sie mit zittriger Stimme: »Wir sind verloren. Wir dürfen es nicht mehr wagen, uns in Alesch blicken zu lassen.« »Im Gegenteil«, erwiderte Gaunth und reinigte seine Messer mit der Decke vom Blut der Getöteten. »Jetzt haben wir zwei Kamele und können die Stadt viel eher erreichen. Wenn wir die Kamele außerhalb der Stadtmauern zurücklassen, wird niemand erfahren, daß ich diese Männer getötet habe.« Alesch lag mehrere Tagesritte östlich der Totenküste inmitten der Wüste. Das Land war in weitem Umkreis öde und trocken, und vor allem im Osten und Süden reihte sich Düne an Düne, so weit das Auge reichte – und weit darüber hinaus. Die Stadt aber war dank nie versiegender Quellen ein Ort des Lebens. Ein breiter Grüngürtel erstreckte sich rund um sie und verhieß den Karawanen schon von weitem Schatten und Wasser. Daß dennoch viele Karawanen einen weiten Bogen um Alesch machten und lieber eine lange Durststrecke auf sich nahmen, als sich an den Quellen des El Habeks zu laben, geschah aus der Überlegung heraus, daß man 28
einen zu hohen Preis zahlen mußte, um seinen Durst zu stillen. Man konnte nur allzu leicht seine ganze Habe verlieren, oder seine Freiheit und vielleicht sogar sein Leben – und wem Fharapha ganz abhold war, der konnte in Alesch sogar seine Seele verlieren. Mainala und Gaunth jedoch schienen von Fharapha begünstigt zu sein. Als sie in den Palmenhain außerhalb der Stadtmauern kamen, gelang es Gaunth, die beiden Kamele, die er der verräterischen Schmuckdecken entledigt hatte, bei einem Eseltreiber gegen dreißig Kupfermünzen und einen Packesel einzutauschen. So brauchten sie ihre Habe nicht selbst zu tragen und hatten dazu noch mehr Geld, als sie seit den glücklichen Tagen hinter dem Grünen Strom besessen hatten. Die beiden Gaukler staunten, als sie das Tor in der wuchtigen Mauer aus gelbem Stein durchschritten, die von vier Steinbildnissen unbekannter Götter und steinernen Schreckensgestalten bewacht wurden. Alesch zeigte sich ihnen an diesem lauen Morgen von ihrer friedlichsten Seite. Das bunte Treiben auf den Straßen schlug die beiden sofort in ihren Bann, und die prächtig gekleideten Edelleute auf ihren Reittieren und in den Sänften, der saubere und ordentliche Eindruck, den die Bürger machten, überstrahlte all das Elend der Bettler und Aussätzigen, die sich am Tag nicht aus den Schatten der Häuser wagten. Die beiden Gaukler fanden eine Herberge, die ganz in der Nähe des Lebensbrunnens, der größten Quelle von Alesch, und des Herrscherpalastes lag. Sie betraten den Schankraum, dessen niedrige Decke und die vielen wuchtigen Stützpfeiler eine anheimelnde Atmosphäre schafften. Es brannte nur eine einzige Öllampe, so daß Gaunth und Mainala nicht sehen konn29
ten, ob sich zu dieser frühen Stunde schon andere Gäste eingefunden hatten. Eine ältere Frau erschien schlurfenden Schrittes. Sie war die Besitzerin der Herberge und führte sie ganz allein. Sie nannte sich Vayga und betrachtete Gaunth und Mainala lange und eingehend, bevor sie sich dazu entschloß, ihnen Unterkunft zu geben. Man einigte sich auf den Preis von einer Kupfermünze für die Nacht. Vayga ließ von einem Knecht die Habe der beiden auf das Zimmer bringen und den Esel versorgen und lud sie dann zu einem Glas Wasser ein. »Wein würde mir an diesem herrlichen Morgen besser munden«, meinte Gaunth lachend. »In ganz Alesch bekommt Ihr nichts anderes als Wasser, Herr«, entgegnete die Wirtin. »Aber dafür kann es Euch mit tausend verschiedenen Geschmäckern serviert werden. Ihr könnt es mit dem Aroma der Dattelblüte haben, oder der Kokosnuß, Ihr könnt Honigwasser ebenso bekommen wie den Liebestropfen, der den Zauber von zwanzig verschiedenen Kräutern in sich hat. Bei mir bekommt Ihr sogar Traumwasser, Herr, aber davon würde ich Euch abraten, wenn Ihr ihm noch nicht verfallen seid.« »Dann schon lieber den Tropfen mit Liebe«, sagte Mainala. Sie tranken, und das Gauklerpaar erzählte von seinen abenteuerlichen Erlebnissen auf der Reise von der Flachen See über den Grünen Strom bis hierher, ins Land hinter der Totenküste. »Und was führt Euch gerade nach Alesch?« wollte die Alte wissen. »Ob Alesch, oder eine andere Stadt«, sagte Gaunth. »Wir sind ruhelose Wanderer und durchstreifen die 30
bekannte Welt, um Land und Leute kennenzulernen. Wenn es uns gelingt, die Menschen mit unseren Künsten zu unterhalten, dann macht es uns glücklich.« »Ihr seid zu beneiden«, sagte Vayga. Es schien einen Moment, als hinge sie irgendeinem Traum nach, dann fand sie zurück in die Wirklichkeit. »Was könnt ihr beiden eigentlich?« »Mainala ist Trommeltänzerin – die beste«, erklärte Gaunth nicht ohne Stolz. »Ich werfe Messer. Wenn unsere Darbietungen in dieser Stadt Gefallen finden, werden wir es hier schon eine Weile aushalten.« »Wenn es Euch nicht zu minder ist, dann konntet Ihr bei mir auftreten«, schlug Vayga vor. »Ihr bekommt dafür Quartier und Essen und Trinken.« Die beiden Gaukler nahmen das Angebot an. Als sie am späten Nachmittag aus ihrem Zimmer kamen, wurden sie ungewollt Zeuge eines seltsamen Zwischenfalls. Vayga war in der Küche und hatte gerade von einem Mann Besuch, der einen Helm aus Eisenstäben trug. Die Eisenstäbe reichten bis zu seinen Schultern hinunter und waren dort mit einem eisernen Halsring verbunden. Im Mund hatte der Mann einen großen Holzklotz, der so fest wie ein Knebel saß und ihm die Kiefer auseinanderdrückte. Er saß zurückgelehnt auf einem Schemel, und die Herbergsbesitzerin träufelte ihm gerade mit einem Schwamm Wasser auf die Lippen. Plötzlich entdeckte der Mann mit dem Kopfkäfig das Gauklerpaar. Er sprang mit einem unartikulierten Laut auf und rannte wie von Dämonen gehetzt durch die Hintertür. Vayga war blaß geworden und stand starr vor Schreck da. Gaunth entschuldigte sich für ihr Eindringen, doch konnte er die Wirtin dadurch nicht versöhnlicher stimmen, noch konnte er sie, die vor Furcht zitterte, beruhi31
gen. Auf die Frage, wer der Mann gewesen sei und warum er einen Eisenkäfig um den Kopf trage, antwortete Vayga schließlich: »So bestraft man in Alesch Wasserdiebe oder andere, die sich eines Wasservergehens schuldig gemacht haben. Sie sind vogelfrei, und jeder kann sich nach Belieben an ihnen vergreifen. Je nach der Schwere des Vergehens müssen sie den Kopfkäfig einen Tag lang tragen oder solange, bis sie verdurstet oder verhungert sind. Wer einem solcherart Bestraften auch nur einen Tropfen Wasser schenkt, hat die gleiche Strafe zu erwarten.« Gaunth und Mainala waren entsetzt. »Ihr braucht nicht zu befürchten, daß wir Euch verraten«, versicherte Gaunth. Bei ihrem Gang durch die Stadt sahen sie noch einige Male Männer und auch Frauen mit eisernen Kopfkäfigen. Einmal sahen sie ein junges, dunkelhäutiges Mädchen, dessen Körper von Hunger und Durst gezeichnet war, im Staub inmitten einer Menge liegen. Die Männer ließen einen Wasserkrug im Kreis gehen – und als der Krug leer war, lebte das Mädchen nicht mehr. Jetzt verstanden die beiden Gaukler schon eher, warum man Alesch, die Grausame und die Blutige nannte. Doch bisher hatten sie erst einen Vorgeschmack der Abscheulichkeiten bekommen, die hinter den dicken, zyklopenhaften Mauern dieser Stadt passierten. Mainala drängte zur Heimkehr. Sie fühlte sich von den Soldaten begafft, die überall anzutreffen waren und auf ihren Helmen das Wappen von Alesch hatten: den Wasserstrahl mit dem Totenkopf. Auf dem Weg zurück zur Herberge hatten die beiden noch zwei Erlebnisse, die besonders Mainala arg zusetzten. Gerade als sie den Platz vor dem Palast überqueren 32
wollten, um sich die Wasserspiele des Lebensbrunnens anzusehen, sperrten Soldaten den Platz ab. Wenig später kam aus der Richtung der Stadtmauer eine unheimliche Prozession. Es waren an die zwanzig zerlumpte Gestalten, die alle eines gemeinsam hatten: Ihre Gesichter waren leer, die Augen waren starr, die Bewegungen ihrer Arme und Beine wirkten eckig und irgendwie auch unbeholfen. Von ihnen ging eine Eiseskälte aus. Die Umstehenden verstummten bei ihrem Anblick, und Mainala, die sich an Gaunths Arm geklammert hatte, spürte, daß es ihnen allen so ähnlich wie ihr ging. Die zerlumpten Gestalten waren ihnen unheimlich und flößten ihnen Furcht ein. Erst als sie im Palasttor verschwanden, atmete die Menge auf. Aus den Gesprächen der Umstehenden hörte Mainala, daß es sich bei den zerlumpten Gestalten um Sklaven besonderer Art handelte. Sie wurden Uh-toths genannt, Untote, die nicht mehr lebten, aber auch nicht sterben konnten. Sie rekrutierten sich aus den Reihen jener, die El Habek feindlich gesinnt oder lästig waren. Das zweite Ereignis, das Mainala und Gaunth an ihrem ersten Tag in Alesch erlebten, war für die Allgemeinheit nicht besonders aufregend, aber für die beiden noch viel erschreckender. Denn es betraf sie persönlich, und nur sie beide. Sie sahen die Ansammlung und wollten der Menge ausweichen, weil Mainala irgend etwas Grauenhaftes erwartete. Doch da teilte sich die Menge, eine Gasse bildete sich, und durch sie kam ein Schimmel, der auf seinem Rücken einen wankenden Reiter trug. Für einen Moment konnte sich der Reiter aufrichten, und Mainala war, als blicken sie die blutunterlaufenen Augen geradewegs an. 33
Sie lief schreiend davon, denn es handelte sich um jenen Schimmelreiter, den Gaunth in der vorangegangenen Nacht zusammen mit zwei anderen Soldaten durch einen Messerwurf getötet zu haben glaubte. Wieder zurück in der Herberge, kostete es Gaunth viel Überredungskunst, Mainala dazu zu bringen, am Abend in der Schankstube aufzutreten und ihren Trommeltanz vorzuführen. Vor dem Auftritt erschien Vayga noch einmal und riet Mainala: »Schminkt Euch alt und, wenn möglich, auch häßlich. Wenn man in Alesch seine Schönheit so großzügig zeigt wie Ihr, mein Kind, kann das gefährlich sein.« »Ich bin nicht eifersüchtig«, meinte Gaunth. »Es erfüllt mich sogar mit Stolz, wenn Mainala von Männern bewundert wird.« Dann war es soweit. Der Knecht stellte die sieben Kupfertrommeln nach Mainalas Anweisungen im Halbkreis auf, und Gaunth wartete in einer Entfernung von fünfzehn Schritten, die beiden Gürtel mit den vierundzwanzig Messern über Kreuz um die Brust geschnallt. Doch noch bevor Mainala zum erstenmal die Stäbe über die Trommeln wirbeln konnte, ging die Tür auf, und vier Soldaten kamen herein. Mainalas Herzschlag setzte für einen Moment aus, denn sie dachte, der verwundete Schimmelreiter hätte sie in der Menge erkannt, und die Soldaten kämen, um sie zu holen. »Der allmächtige Wasserspender gibt heute zu Ehren Nyniphs, der Göttin der lustvollen Qual, in seinem Palast ein Fest«, verkündete einer der Soldaten, ohne den Blick von Mainala zu nehmen. Plötzlich hob er die Hand und zeigte auf sie. »Du, schönes Kind, wirst eine der Auserwählten sein, die unseren Herrscher mit ihren Darbietungen ergötzen wird.« 34
»Aber ...« »Du kommst sofort mit!« Gaunth trat auf die Soldaten zu. »Mainala und ich gehören zusammen«, sagte er entschlossen. »Und was hast du zu tun?« fragte der Soldat. »Ich werfe mit Messern nach ihr, während sie tanzt.« »Und – fließt dabei Blut?« »Nein, denn ich habe eine treffsichere Hand.« »Vielleicht nicht mehr, wenn du erst genug Traumwasser genossen hast.« Die Soldaten lachten lauthals. Wenig später fuhren die beiden auf einem Wagen zusammen mit anderen Gauklern und Liebesdienerinnen durch das Palasttor. Die Hallen des Wassers verliefen über die gesamte Länge des Parks vom Palast, mit den Gemächern des Herrschers, bis zum Harem. Das langgestreckte Gebäude mit seinen Zwiebeltürmchen und Erkern aus kostbarem Stein besaß keine einzige Wand. Das Dach wurde durchwegs von Säulen getragen, zwischen denen sich reichverzierte Bögen spannten. Man hatte aus den Hallen des Wassers einen prächtigen Ausblick auf den exotischen Palastgarten und weiter über die gesamte Stadt. Wenn El Habek allerdings danach war, dann senkten sich schwere Vorhänge vor die Lauben und verwehrten den Palastwachen den Blick in das Innere. Noch aber waren die Vorhänge hochgezogen, gerafft und wurden durch dicke Kordeln gehalten. Die Sonne war noch nicht lange hinter den Dünen verschwunden, das Fest hatte noch nicht seinen Höhepunkt erreicht. 35
El Habek lag gelangweilt auf seinem Lager, das am oberen Ende des langgestreckten Wasserbeckens stand. Hier entquoll der Lebensbrunnen dem Boden, das Wasser floß über die stufenförmig abfallenden Becken, verlor sich teilweise in unterirdischen Kanälen, die in verschiedene Teile des Palastes führten, wurde in die Häuser der Günstlinge und Reichen geleitet – und was übrigblieb, floß auf den Platz vor dem Palast und ergoß sich in die Wasserspiele. Dort durften die einfachen Bürger ihren Durst stillen, sofern sie sich nicht El Habeks Unmut zugezogen hatten. Der strenge Wasserkult, der so alt war wie die Stadt selbst und schon bestanden hatte, bevor El Habek vor drei Sommern seine Schreckensherrschaft angetreten hatte, besagte, daß alles Wasser dem Herrscher gehörte und dieser als Wasserspender es nach Belieben an seine Untertanen verteilte. Dadurch war es El Habek möglich, die Bewohner der Stadt von sich abhängig zu machen. Denn außerhalb der Stadtmauern gab es weit und breit keine Oase, die Wasser genug besaß, um den Durst einer größeren Anzahl von Menschen zu stillen. Zu El Habeks Füßen saß eine Sklavin, die Schalen und Fläschchen mit verschiedenen Flüssigkeiten vor sich ausgebreitet hatte und seine Zehen damit behandelte. Er betrachtete sie versonnen. Sie war achtzehn Sommer alt, hatte dunkles, seidiges Haar, glutvolle dunkle Augen und eine Haut wie Samt. Sie war gertenschlank, so ganz anders als die meisten Töchter aus dem Stamm des Fuchses. Sie war seine Lieblingsfrau, wenngleich er ihren Körper nur mit Gewalt nehmen konnte. Und sie war seine Lieblingssklavin, obwohl sie von ihm mehr Schläge bekam als jede andere Sklavin an seinem Hof. 36
Sie hieß Arischa. Seine Zuneigung zu ihr war so etwas wie Haßliebe. Er mochte sie so sehr, daß er ihr im Gegensatz zu den anderen Sklaven ihren Willen gelassen hatte. Aber er haßte sie so tief, daß er sie ins Herz traf, wo sich ihm eine Gelegenheit bot. Arischa hielt in ihrer Tätigkeit inne. »Bist du fertig?« fragte er. »Ja, Herr«, sagte sie demütig. »Dann mach hier weiter«, sagte er und streckte ihr die Rechte entgegen. Sie blickte auf und zuckte erschrocken zurück. »Habe ich dich erschreckt?« fragte er erheitert. »Dabei finde ich, daß meine Eisenhand ein Kunstwerk ist – und immerhin habe ich sie dir zu verdanken. Sei also nett zu ihr und pflege sie, als sei sie ein Teil von mir aus Fleisch und Blut. Mach schon!« Das Mädchen rückte ihre Schalen und Fläschchen zurecht und begann dann mit der Pflege von El Habeks Eisenhand. Es war ein Kunstwerk, wie er schon gesagt hatte. Die Finger waren naturgetreue Nachbildungen und leicht gekrümmt, etwa so, wie man sie hält, wenn man aus der hohlen Hand trinken möchte, nur waren sie auch etwas gespreizt. Die Finger waren massives Eisen und sollten den Platz füllen, den seine eigenen eingenommen hatten, bevor sie ihm von seinem Stamm, den Söhnen des Fuchses, abgehackt worden waren. Die Eisenhand reichte allerdings bis zum Ellbogen, hinauf und war seinen Handballen, den Handgelenk und den Knöcheln maßgerecht angepaßt. Den Handrücken und den gesamten Unterarm schmückten Szenen aus El Habeks Leben. Das heißt, es waren Szenen aus den letzten drei Jahren, von dem Zeitpunkt an, da er Arischa entehrt hatte, bis zum heutigen Tag. 37
Es gab noch einige freie Stellen auf der Eisenhand, doch sorgte sich El Habek nicht darum, daß die Lücken nicht schon bald gefüllt werden würden. Sein nächstes großes Ziel war es, die Söhne des Fuchses endgültig auszurotten – das wäre auch sein liebstes Motiv für die freien Stellen an seiner Eisenhand. »Denkst du oft an Eben Emal?« fragte El Habek unvermittelt. Diesmal zuckte Arischa mit keiner Wimper. »Ich habe dich gefragt«, sagte El Habek drohend, als sie schwieg. »Warum sollte ich an ihn denken«, sagte sie leise. »Er ist tot.« »Nein«, erwiderte El Habek. »Er lebt und befindet sich in meiner Gewalt. Soll ich dich zu ihm in den Kerker führen? Möchtest du ihn sehen, ihn sprechen?« »Er ist bereits so gut wie tot«, meinte Arischa ohne Trauer. »Ich habe ihn im Gedanken wie einen Verstorbenen.« »Aber du liebst ihn noch immer«, stieß El Habek hervor. Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Vielleicht liebst du ihn doch nicht genug, denn wenn du freiwillig mein Lager teiltest, würdest du damit Eben Emal die Freiheit schenken.« »Ich war schon als Kind Eben Emal als Weib versprochen«, entgegnete Arischa. »Auch wenn mein Stamm anders denkt, weil du mich entehrt hast, so fühle ich mich ihm immer noch verbunden. Ich werde ihm treu bis in den Tod sein. Du kannst meinen Körper mit Gewalt nehmen, aber nie wirst du erreichen, daß meine Gedanken Eben Emal verlassen.« El Habeks Gesicht verzerrte sich. Er schlug Arischa die Eisenhand vor die Brust, daß sie nach hinten fiel und herrschte sie an: »Verschwinde!« 38
In seiner ersten Wut wollte er sie auspeitschen lassen, überlegte es sich dann aber anders. Er griff hinter sich in eine goldene Schale und holte eine Handvoll eines weißen Pulvers hervor. »Traumpulver!« riefen einige Günstlinge verzückt. Als El Habek das Pulver ins Becken warf, stürzten sich einige Männer und Frauen ins Wasser, noch bevor sich das Pulver darin aufgelöst hatte. El Habek sah ihnen belustigt zu. Er überlegte sich, welchen der Verräter – und es gab gut ein Dutzend solcher in den Reihen seiner Vertrauten – er als nächsten für das Dasein als Uh-toth bestimmen sollte ... El Habek hatte bisher keine Augen für die Darbietungen der Gaukler gehabt. Die Bauchtänzerinnen, die Feuerschlucker und auch die Gladiatoren langweilten ihn lange schon. Aber jetzt erschien ein Paar auf dem spiegelglatten Steinboden, das etwas Neues bot. Es handelte sich um ein Mädchen – das ungewöhnlich schön war und flammend rotes Haar besaß, wie El Habek es noch nie gesehen hatte – und einen Mann. Das Mädchen drehte sich inmitten eines Halbkreises aus metallenen Trommeln, die in Schulterhöhe in einem Gestell hingen, und schlug mit Stöcken auf den Trommeln den Takt zu ihren Bewegungen. Die Trommeln hatten einen faszinierenden Klang, und nicht minder faszinierend war der Tanz des Mädchens. Der Mann hatte in fünfzehn Schritt Entfernung Aufstellung genommen. Er trug zwei vorne überkreuzte Brustgürtel, in denen Messer steckten. Jetzt zuckte seine Hand empor, ein Messer blitzte darin auf und schoß gleich darauf auf das sich in einem rasenden Wirbel drehende Mädchen zu.
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El Habek sah erleichtert, daß das Messer im Holzrand einer Trommel steckte. Es wäre auch zu schade um diese köstliche Blüte gewesen. Das Mädchen tanzte immer schneller, die Stöcke wirbelten durch die Luft und über die Trommeln, die Töne verschiedener Höhen von sich gaben. Auch der Mann warf die Messer nun in immer kürzeren Abständen – und dann griff er mit beiden Händen in seine Gürtel und schleuderte zwei Messer gleichzeitig. El Habek war von dem artistischen Können der beiden angetan, aber mehr noch von dem Mädchen. Er winkte seinen Wesir heran und trug ihm auf: »Die beiden sind für heute nacht meine Gäste. Weise ihnen aber getrennte Zimmer zu, Badmar.« »Sehr wohl, allmächtiger Wasserspender. Und welches Gewand soll das Mädchen anlegen?« »Eines, das Nyniph geweiht ist.« Der Wesir entfernte sich lautlos. El Habek wollte sich gerade wieder der Trommeltänzerin zuwenden, als plötzlich und unerwartet eine Sturmbödurch die Halle des Wassers strich und die Vorhänge bauschte. El Habek glaubte gesehen zu haben, wie irgend etwas durch die Luft geschossen kam und ins Wasser des Beckens vor ihm eintauchte. Das Wasser spritzte hoch auf, und als die Fontäne wieder in sich zusammenfiel, hatte es sich getrübt und ein Bastkorb trieb auf der Oberfläche. Der Bastkorb wurde von der Strömung fortgeschwemmt und landete im tieferen Becken, bevor sich eine der Haremsdamen einen Ruck gab und den Bastkorb aus dem Wasser holte. Sie teilte die Tücher, und El Habek hörte sie gleich darauf überrascht ausrufen: »Ein Wunder! In dem Körbchen liegt ein Neugeborenes – ein Knabe!« 40
El Habek starrte immer noch auf die Trübung des Wassers, und eine Ahnung beschlich ihn. Er hatte schon einmal ein ähnliches Wunder erlebt – und damals war es von seinem Gott vollbracht worden, dem er sein Leben verschrieben hatte. So mußte es auch diesmal sein. Das Wasser begann zu brodeln, und etwas erhob sich daraus, wurde größer und stieg höher, war zuerst formlos und nahm immer mehr die bekannte Gestalt des Gottes allen Wassers an. Und dann trat der Gott in voller Größe aus dem Becken und vor El Habek hin, der in Demut und Ehrfurcht niederkniete. »Erhebe dich, El Habek, mein Diener«, donnerte die Stimme des Wassergottes durch die Laube, »und verjage diese Unwürdigen, auf daß wir beide ungestört sind.« Diesem letzten Befehl brauchte El Habek nicht erst nachzukommen. Jene, die nicht sofort, von abergläubischer Furcht gepackt, geflüchtet waren, wurden von den Wachen hinausgetrieben. Die Vorhänge fielen vor die Lauben. El Habek und sein Gott waren allein in der Halle des Wassers. In die unheimliche Stille hinein ertönte das Schreien des Neugeborenen. Der Wassergott ging zu dem Bastkorb, brachte ihn zu El Habek, der etwas ratlos daraufstarrte. »Halte dieses Balg am Leben«, rief der Gott mit gewaltiger Stimme. »Du bürgst mir mit deinem Kopf dafür. Es ist von königlichem Geblüt, und vielleicht habe ich später noch Verwendung für es. Lasse es also nicht an Fürsorge mangeln. Ich war bis jetzt mit dir, meinem Diener, zufrieden, enttäusche mich auch weiterhin nicht. Und nun höre weiter ...«
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3.
»Die Totenküste ist nicht fern«, sagte Kapitän Jaggar. »Aber es wird eine lange Reise, weil die Windverhältnisse in diesem Teil des Großen Meeres ungünstig sind. Du hast klug gehandelt, mein König, daß du sofort aufgebrochen bist, denn vierzehn Tage sind eine kurze Frist für eine so schwere Aufgabe. Ich an deiner Stelle hätte jedoch eine Galeere für diese Reise gewählt, denn dann wärest du von den Winden unabhängig gewesen und hättest gewiß einen ganzen Tag eingespart.« »Ich wollte dich als Kapitän haben, Jaggar«, entgegnete Dragon, »weil du die Totenküste kennst wie kein anderer. Oder hättest du deine Wellenreiterin aufgegeben und das Kommando über eine Galeere übernommen, Jaggar?« »Nur ungern, mein König.« Der stolze Dreimaster war in der vergangenen Nacht, kaum daß die Sonne am Horizont von Myra untergegangen war, in See gestochen. Die Schwarze Wellenreiterin hatte eine Mannschaft von dreißig Mann, dazu kamen noch zwölf von Parthos Soldaten, Kapitän Jaggar und Dragon und dessen persönliche Begleiter, Iwa, Yina, Nabib und sein Leibwächter Ubali. Zusätzlich zu den Vorräten, ausreichend Wasser, Nahrungsmittel und Waffen, ließ Dragon sechzehn ausgesuchte Pferde an Bord bringen, um auch nach Erreichen der Totenküste an Land beweglicher zu sein. Er hatte nicht vergessen, daß er nach Erledigung der ersten Aufgabe von einem Boten Cnossos‘ am Berg des Windes erwartet werde. 42
Jaggar hatte Bedenken gegen die Beförderung von Pferden über das Meer geäußert und gemeint, man würde an der Totenküste bestimmt Kamele auftreiben können. Doch Dragon hatte ohne große Mühe Pferde beschafft, die noch aus König Zogors Beständen stammten und schon mehr als eine Seefahrt hinter sich hatten. Und tatsächlich hatte es bisher mit den sechzehn Reittieren noch keine Schwierigkeiten gegeben. Sie waren unter Deck untergebracht und hatten bereits einen Sturm ohne Schaden überstanden. Überhaupt war bisher alles glatt verlaufen. Yina hatte von der Tainu Issola die Zusicherung erhalten, daß einige Wassermenschen mit ihren Delphinen ständig in der Nähe der Schwarzen Wellenreiterin sein würden, um den sechs Schiffen der Nachhut, die in einer Entfernung von einer Tagesreise folgten, den Weg zu weisen. Auch von der Großen Bruderschaft des Meeres drohte keine Gefahr. König Jellis hatte Wort gehalten, denn obwohl auf Höhe der Schlangeninsel drei Enterschiffe das Fahrwasser der Schwarzen Wellenreiterin schnitten, war es zu keinem Zwischenfall gekommen. Jaggar hatte sich sogar durch Lichtsignale zu erkennen gegeben, und die drei Piraten wünschten auf die gleiche Weise »Gute Fahrt«. Nun war man im offenen Meer, und Jaggars Worte hatten sich sofort bestätigt. Die Winde waren lauer geworden, und die Schwarze Wellenreiterin kam nur langsamer voran. Nach Einbruch der Dunkelheit hatten sich der Kapitän und Dragon mit Iwa, Yina, Nabib und Ubali in dessen Kabine eingefunden. Vorher schon hatte Jaggar seine Kajüte Dragon angeboten, doch dieser wollte nicht von seinem Vorrecht als König Gebrauch machen, sondern sich, solange sie auf See waren, in allen seefahrerischen 43
Belangen dem Kapitän unterordnen. Er erinnerte Jaggar auch jetzt daran, indem er sagte: »Auf dem Schiff sind wir nicht König und Untertan, Jaggar, sondern Kameraden. Berücksichtige das auch in deiner Anrede.« »In Ordnung, Dragon.« »Erweist du dem. Kapitän damit nicht zuviel Ehre?« meinte Yina spitz. »Er war Zeit seines Lebens ein Pirat, ein Menschenhändler, ein Plünderer und Dieb und wird es wohl auch für immer bleiben.« »Ich weiß, daß man aus einem Wolf keinen Schäfer machen kann«, erwiderte Dragon leicht amüsiert. »Aber es kommt vor, daß Wölfe zu treuen Gefährten von Männern werden.« Dragon spielte natürlich auf Bodo an, den Mann aus dem Wolfsland, den Yina geliebt aber, wieder verloren hatte, bevor es zu einer Verbindung zwischen ihnen gekommen war. Er betrachtete Yina prüfend, stellte aber zu seiner Zufriedenheit fest, daß sie seine Worte nicht trafen. Sie war also über diese unglückliche Liebe hinweggekommen. »Ich glaube, es wäre an der Zeit, daß du dich mit Jaggar versöhnst, Yina«, mischte sich Iwa ein. »Du mußt lernen, die Taten der Männer nicht nach ihrem Ruf zu beurteilen – überhaupt wird es Zeit, daß du lernst, Männer mit den Augen einer Frau und nicht mit denen eines Kindes zu sehen.« Die Männer grinsten, als sie sahen, wie Yina rot wurde und nervös an ihrem Kleid nestelte. Aber Iwa fuhr ungerührt fort: »Ich werde überhaupt diese Reise dafür nutzen, um dich jene Dinge zu lehren, die ein Dummerchen wie du wissen muß, um in der Welt der Männer zu bestehen. 44
Betrachte nur Jaggar, oder noch besser, seine Gedanken. Sind sie böse, daß du ihn verurteilst?« »Wie er jetzt denkt, kann mich nicht vergessen machen, welche Schandtaten er früher vollbrachte«, erwiderte Yina, die sich nicht recht wohl in ihrer Haut zu fühlen schien. »Sei nicht kindisch«, stichelte Iwa weiter, die dem Wein stark zugesprochen hatte. »Sieh dir Jaggar an, und glaube mir, wenn ich sage, daß Männer seines Schlages die besten Liebhaber sind.« »Nimm es dir zu Herzen, Yina, die alte Kupplerin spricht aus Erfahrung«, rief Nabib, der ebenfalls schon tief in seinen Krug geschaut hatte. Yina rannte aus der Kabine. »Du bist zu weit gegangen, Iwa«, sagte Dragon mit sanftem Tadel. Iwa nickte und stand umständlich auf. »Ich werde das mit Yina schon wieder in Ordnung bringen«, sagte sie. »Aber jetzt werde ich mich besser zurückziehen, bevor ich mit meiner losen Zunge noch mehr Dummheiten anrichte.« Als Iwa gegangen war, sagte Nabib aufatmend: »So, jetzt können wir endlich wichtige Dinge besprechen.« Er beugte sich leicht über den Tisch, und seine Augen bekamen einen listigen Ausdruck, als er Kapitän Jaggar ansah. »Du bist also ein Sohn der Totenküste, Jaggar. Wenn du dort zu Hause bist, dann wirst du uns einiges über den einäugigen Riesen sagen können. Hast du ihn schon mit eigenen Augen gesehen?« »Das habe ich«, versicherte Jaggar. »Nur ein einziges Mal zwar, aber diese eine Begegnung genügt, um die Erinnerung an ihn nie verlöschen zu lassen.« »Erzähle«, forderte Nabib. 45
»Es war vor zwei Sommern«, begann Jaggar. »Ich hatte mit der Schwarzen Wellenreiterin ein Schiff aus dem Land am Grünen Strom geentert und reiche Beute gemacht. Gold, kostbare Stoffe und Duftwässer, die dem Wert von drei vollbesetzten Galeeren entsprachen.« »Donnerwetter«, entfuhr es Nabib, und seine Augen begannen zu leuchten. »Ich übertreibe nicht«, versicherte Jaggar und fuhr fort: »Da meine Lagerräume noch nicht voll waren und wir die Gunst der Götter hatten, beschloß ich, die Totenküste entlangzufahren. Dort herrscht eine tückische Strömung, müßt ihr wissen, und wer diese Gewässer nicht kennt wie ich, der kann mit seinem Schiff leicht in Not geraten. Es gibt viele unerfahrene Kauffahrer, die von den exotischen Weinen und den ausgezeichneten Webearbeiten der Völker, die hinter der Totenküste leben, angelockt werden ...« »Genug der Vorrede«, unterbrach Nabib ungeduldig. »Berichte uns von deinem Erlebnis mit dem Wächter.« »Ich erinnere mich daran, als sei es gestern geschehen«, sagte Jaggar. »Die See war ruhig, die Luft bewegte sich kaum. Wir wähnten uns in Sicherheit, weil es hieß, daß Azael nur bei Sturm seine Höhle am Totenfinger verließ, um in Not geratene Seeleute zu bedrohen. Doch plötzlich sahen wir ihn bei herrlichem Wetter an der Felsküste auftauchen. Er muß Verstand genug besitzen, daß er damals erkannte, daß wir wegen der Windstille mit unserem Segelschiff festsaßen. Er bot einen furchterregenden Anblick, so groß wie drei Männer, mit grünem Fell am ganzen Körper und dem mächtigen Schädel mit dem einen glühenden Auge, das weiße Haar bis über die breiten Schultern hängend. Er watete plötzlich ins Meer hinaus. Wir loteten die Tiefe aus und stellten entsetzt fest, daß er bei seiner Grö46
ße an dieser Stelle noch Grund haben würde. Ich befahl, die Ruder einzusetzen. Aber da die Schwarze Wellenreiterin keine Galeere ist, kamen wir nicht rasch genug voran, und der einäugige Riese holte uns bald ein. Er warnte uns, die Waffen nicht gegen ihn zu erheben, sonst würde er das Schiff mit Mann und Maus versenken. Um uns zu zeigen, daß er es ohne Mühe tun konnte, warf er uns einige mannsgroße Felsen vor den Bug und hieb uns mit einem einzigen Schlag seiner Keule den Kielmast ab. Als er uns erreicht hatte, griff er zur Reling hinauf und brachte das Schiff so zum Schwanken, daß wir über die Bohlen geschleudert wurden. Dann zog er uns durch die Klippen zur Küste. Dort sagte er uns, daß er nicht unser Leben, sondern nur unsere Schätze wolle.« »Und – gabst du sie ihm?« wollte Nabib wissen. »Bis auf das letzte Goldstuck«, sagte Jaggar. »Er hat euch demnach nur die Beute abgejagt?« meinte Nabib. »Wie kommt es, daß man dann sagt, Azael vernichte alles und töte jeden, der sich in seine Gewässer wagt?« »Wenn ich nicht klug gewesen wäre, ihm meine Beute zu überlassen, dann wäre die Schwarze Wellenreiterin wohl nicht mehr«, antwortete Jaggar. »Ich glaube, ich habe damals tatsächlich klug und nicht feige gehandelt. Die Wracks, die entlang der Totenküste zwischen den Riffen liegen, geben mir recht.« »Und die Geschichten, wonach Azael unermeßliche Reichtümer in seiner Höhle versteckt hat, müssen demnach auch stimmen«, stellte Nabib fest. »Wenn ich bedenke, daß allein Jaggars Beute den Wert von drei Galeeren besitzt, dann wage ich zu behaupten, daß jener, der Azaels Schatz hebt, zum reichsten Mann dieser Welt wird.« 47
»Hast du nur Gold im Kopf?« fragte Ubali vorwurfsvoll. Nabib machte ein zerknirschtes Gesicht. »Ich sorge mich in erster Linie um den kleinen Atlantor«, sagte der Händler. »Aber – wenn Dragon den einäugigen Riesen besiegt hat, dann gehört der Schatz uns. Es besteht kein Grund, all das Gold zu verachten. Nur schade, daß du es uns versagt hast, dir im Kampf gegen den Riesen zu helfen.« »Ich werde nicht von deiner Seite weichen, Herr«, versicherte Ubali. »Ich muß es allein durchstehen – Atlantors wegen«, sagte Dragon. »Cnossos wird als unsichtbarer Beobachter zur Stelle sein und darüber wachen, daß ich nicht gegen die Abmachung verstoße.« Die Nacht war ruhig verlaufen, und am nächsten Morgen kam Wind auf. »Wenn wir weiterhin so gute Fahrt machen, dann erreichen wir die Totenküste früher als erwartet«, meinte Jaggar zufrieden zu Dragon, als dieser an Deck erschien. Die Gischt hatte ihn nach kurzer Zeit völlig durchnäßt, und die Wassertropfen in seinem Gesicht ließen ihn blasser erscheinen als er war. »Wäre es nicht besser, einige Segel einzuholen, Jaggar?« sagte Dragon stirnrunzelnd. »Das Knarren der Masten hört sich bedrohlich an, und die Segel flattern, daß ich befürchte, das Leinen könnte jeden Augenblick reißen.« Jaggar lachte. »Die Segel werden den Sturm besser überstehen als du, Dragon. Aber willst du nicht rasch an dein Ziel? Wir 48
müssen die Winde nutzen, denn schon in der nächsten Stunde kann die See wieder spiegelglatt sein.« Jaggars Befürchtung bewahrheitete sich. Noch vor Mittag riß die Wolkendecke auf, der Wind legte sich, kein Lufthauch bewegte sie Segel, und die Sonne stach erbarmungslos vom tiefblauen Himmel. Die Männer spannten die Seile fest, die sich gelockert hatten, überprüften die Segel und schöpften Wasser aus den Lagerräumen des Schiffes. Aus dem Schiffsbauch kam gelegentlich das Wiehern der Pferde, das Krächzen der Vögel war zu hören, die die Schwarze Wellenreiterin begleiteten und sich aus ihrem Fahrwasser ihre Nahrung holten, die sie in den über Bord geworfenen Abfällen fanden. Dragon stand mit Yina an der Reling und starrte versonnen auf die Vögel, die im Sturzflug in die Fluten tauchten oder auf den Rahen saßen und ihr Gefieder putzten. »Welcher von ihnen ist ein Teil von Cnossos?« fragte er wie zu sich. »Du sprichst genau meine Gedanken aus, Dragon«, sagte Yina. Dragon stellte schmunzelnd fest, daß sie das »Onkel« wegließ und hatte nichts dagegen. Yina fuhr fort: »Aber ich finde keine Antwort auf diese Frage. Die Vögel denken nicht, und bei keinem von ihnen kann ich die unheimliche Ausstrahlung feststellen, die von Cnossos ausgeht.« Dragon nickte. Er hob sein Amulett an und betrachtete es. Schon einige Male hatte es zu pulsieren begonnen, wenn Cnossos in der Nähe war und ihn gewarnt. Doch nicht so diesmal. Vielleicht war in diesem Augenblick gar kein Späher des Balamiters in der Nähe, oder aber er kreiste in gro49
ßer Höhe, um sich nicht zu verraten. Wie dem aber auch war, Dragon war sicher, daß der Balamiter die Fahrt der Schwarzen Wellenreiterin verfolgte ... Balam! Das war ein Stichwort, das bei Dragon heftige Erregung aufkommen ließ. Von Balam aus war alles Unheil gekommen: Cnossos, jene Kräfte, die den Untergang von Atlantis verursacht hatten und vielleicht auch jene schaurigen Gestalten, die Cnossos‘ Diener waren ... Wo lag Balam? Dragon blickte zum Himmel. Irgendwo dort oben? Ihn fröstelte, denn plötzlich wußte er, daß es dort oben kalt war, so kalt, daß kein menschliches Wesen dort leben konnte. Dragon erkannte jedoch nicht, wieso er das wußte. Er forschte auch nicht länger danach, denn das hatte er schon die ganze Nacht hindurch getan und deshalb kein Auge zugemacht. Irgendwann, davon war er überzeugt, würde er die volle Wahrheit über die Vergangenheit und sein Schicksal erfahren. Das Tor zu seiner Erinnerung hatte sich erst einen Spalt geöffnet und gewährte orakelhafte Einblicke. Doch bald, hoffentlich recht bald, würde es sich ganz öffnen. Zwei Männer aus Jaggars Mannschaft waren auf die Heckaufbauten geklettert, holten Pfeile aus ihren Köchern, spannten die Sehnen ihrer Bogen und schossen zwei der Vögel ab. Dragon erwartete halb, daß sich einer der Vögel in unzählige Fragmente auflöste und sich so als Cnossosteil zu erkennen gab. Aber nichts dergleichen geschah. Die Männer schossen noch ein halbes Dutzend Vögel ab, bevor Dragon einschritt. »Halt!« rief er den Bogenschützen zu. »Macht nicht weiter. Es ist ein sinnloses Töten, das ihr betreibt.« Die Männer gehorchten. 50
Dragon besann sich wieder Yinas. Er fand, daß er ihr nach dem gestrigen Vorfall einige tröstende Worte spenden mußte und sagte: »Es war nicht recht, wie Iwa zu dir gesprochen hat. Aber im Grunde meinte sie es gut mit dir, Yina.« »Du meinst, daß ich kein Kind mehr bin, Dragon?« Sie legte die Hand auf den Mund. »Oh, ich glaube, ich sollte Onkel zu dir sagen.« »Nein, das sollst du nicht.« Dragon schnitt eine Grimasse. »Ich komme mir uralt vor, wenn du mich so nennst, Maus. Hm, und ich dürfte dich nicht mehr Maus nennen.« Er hob ihr Kinn an. »Du hast auch gar nichts mehr von einer Maus an dir. Du bist zu einer hübschen kleinen Blüte geworden, die zu einer Blume reift.« Yina schluckte und stotterte: »Sage nur weiterhin Maus zu mir. Es hört sich nett an, wenn ... wenn du es sagst.« Er bemerkte überrascht, daß sie leicht zitterte und legte den Arm um sie. Es war weniger eine liebevolle, als eine beschützende Geste. Dragon entging es jedoch, daß Yina sie falsch verstand. »Ist dir kalt, Maus?« »Nicht mehr«, sagte sie wohlig und kuschelte sich an ihn. Plötzlich zuckte sie jedoch zurück und sagte erschrocken: »Wenn uns hier jemand so sieht, Dragon ...« Sie wandte sich ab und lief davon. Dragon lachte. Vielleicht war Iwa in ihrem Bemühen, Yina das Bewußtsein einer Frau zu geben, doch etwas zu weit gegangen. Wie es der Zufall wollte, erschien in diesem Augenblick Iwa neben Dragon. »Ich habe euch zufällig beobachtet«, meinte sie. »Findest du nicht auch, daß sich Yina verändert hat?« »Und ob«, sagte Dragon schmunzelnd. »Sie sagt nicht mehr Onkel zu mir und findet es unschicklich, daß ich 51
ihr den Arm um die Schulter lege. Na ja, immerhin zählt sie schon siebzehn Sommer.« »Der wahre Grund für ihr eigentümliches Verhalten liegt viel tiefer«, erklärte Iwa. »Sie ist verliebt.« »Doch nicht in Jaggar!« rief Dragon aus. »Aber wenn ich es recht überlege – wie sie mit ihm streitet, ihn herausfordert ...« »Nein, nein«, unterbrach ihn Iwa. »Merkst du denn nicht, wie sehr sie dich anhimmelt?« Dragon war sprachlos. Iwa zwinkerte ihm lächelnd zu und meinte: »Aber ich werde ihr schon die Flausen austreiben.« Dragon wurde zum Glück einer weiteren Auseinandersetzung mit diesem Thema enthoben. Der Mann im Ausguck rief: »Ein fremdes Schiff – steuerbord voraus!« Die Ketten klirrten bei jedem Ruderschlag. Vom Himmel brannte heiß die Sonne, in der Luft lag das Trommeln des Taktgebers und das Knallen der Peitsche des Aufsehers. Letzterer raffte sich hie und da zu aufmunternden Worten für die Galeerensklaven auf. »Beißt die Zähne zusammen, ihr faulen Säcke, und legt euch mit aller Kraft in die Riemen!« Wenn es danach immer noch nicht klappte, konnte er auch energischer werden: »Wollt ihr wohl den Takt einhalten, ihr verfluchten Hundesöhne! Oder muß ich euch erst die Peitsche spüren lassen?« In der Regel geschah es, daß der Aufseher seine Drohung wahr machte. Ob nun eine besondere Veranlassung dafür bestand oder nicht, er ließ die Rudersklaven 52
von Zeit zu Zeit die Peitsche spüren. Und er achtete darauf, daß dabei keiner zu kurz kam. Gun Umbar spürte, wie ihn die Kräfte verließen. Er beugte sich mit gekrümmtem Rücken weit über das Ruder, so daß es aussah, als würde er sich mit besonderer Anstrengung in die Riemen legen, ruhte sich in Wirklichkeit jedoch aus. »Du falsches Aas«, zischte ihm sein Nebenmann auf der Ruderbank zu. »Glaubst du, ich mache die Arbeit auch für dich. Los, rudere kräftiger!« »Ich kann nicht mehr«, stöhnte Gun Umbar. Im nächsten Augenblick trat ihm sein Nebenmann mit der Fußkette gegen das Schienbein, daß er sich vor Schmerz aufbäumte. Dem wachsamen Auge des Aufsehers war der Streit zwischen den beiden Sklaven nicht entgangen, und er ließ die Peitsche auf den Rücken jenes hinuntersausen, der Gun Umbar mit der Kette geschlagen hatte. Als der Aufseher die Peitsche zum zweitenmal hob, streckte Gun Umbar abwehrend die Hände von sich und flehte: »Laßt Gnade vor Recht ergehen, Herr. Schlagt B‘Meve nicht mehr, und er wird es Euch mit besonderem Fleiß danken.« Der Aufseher peitschte B‘Meve tatsächlich kein zweites Mal, machte dafür aber eine kurze Drehung und ließ den Striemen auf Gun Umbar niedersausen. »Das ist dafür, daß du das Ruder losgelassen und den Mund aufgemacht hast!« Gun Umbar biß die Zähne aufeinander, um den Schmerz zu unterdrücken. Aber jedesmal, wenn eine Welle gegen die Bordwand schlug, die Gischt durch das Ruderloch spritzte und Schauer des Salzwassers seinen wunden Rücken benetzte, brannte es wie Feuer. 53
»Ich kann Euch nicht wegen Eurer Taten hassen, Herr«, preßte Gun Umbar hervor. »Ich werde für Euch hoffen, daß Er eines Tages Euren Weg kreuzt und Euch den Frieden bringt.« »Was bist du für ein seltsamer Mensch, Umbar«, meinte sein Nachbar verhalten, damit der Aufseher es nicht hörte, und schüttelte den Kopf. »Du läßt dich von mir beschimpfen, ohne mir zu grollen, läßt dich für mich sogar schlagen und verzeihst auch dem Mann mit der Peitsche.« »Der Namenlose gibt mir die Kraft dazu«, meinte Gun Umbar nur. B‘Meve schüttelte wieder den Kopf. Er wartete, bis der Aufseher außer Reichweite war, dann nahm er den Gesprächsfaden wieder auf. »Wer ist das, von dem du dauernd sprichst und von dem du solche Wunderdinge hältst?« wollte er wissen. »Ein neuer Gott? Ein mächtiger Eroberer mit einem unbesiegbaren Heer?« »Nein«, sagte Gun Umbar keuchend. »Der Namenlose ist ein Wesen, das wie du und ich über diese Erde wandelt. Er ist kein körperloser Gott, sondern er ist zu sehen und zu fühlen – und vielleicht hat er gerade deshalb keinen Namen.« »Du redest wirres Zeug, Umbar.« »Nein, das ist nicht wahr. Ich habe gesehen, welche Wunderdinge der Namenlose vollbrachte. Niemand weiß, wie er aussieht, obwohl viele ihn gesehen haben, und niemand weiß, woher er kommt und wohin er geht, obwohl viele ihm folgen. Wo er auch hinkommt, sät er Frieden unter die Menschen, verscheucht er die Gewalt und das Böse und macht alle Menschen gleich. Feinde werden zu Brüdern, seine Macht erhebt die Sklaven auf die Höhe ihrer Herren.« 54
»Du spinnst. Hast du diesen Friedensbringer denn schon selbst gesehen?« »Nein ... Aber ich hole ihn noch ein, obwohl ich ihm nun ferner bin als je zuvor ...« »Du hast den Verstand verloren«, sagte B‘Meve überzeugt. Das Gespräch verstummte wieder, weil der Aufseher mit der Peitsche neben ihnen erschien. Gun Umbars Glaube war unerschütterlich. Noch vor sieben Tagen hatte er geglaubt, den Namenlosen endlich gefunden zu haben. Er war seit vielen Monden der Spur des Friedensbringers gefolgt und war an viele Stätten seines Wirkens gekommen. Überall wo der Namenlose gewesen war, traf er friedliche Menschen ohne Haß und Hader an, und sie sagten ihm, daß sie ihr neues Dasein dem Namenlosen verdankten. Vor sieben Tagen war Gun Umbar mit einigen Gleichgesinnten, die wie er den Namenlosen suchten, in ein Zeltlager von zwanzig Wüstenbewohnern gekommen. Der Namenlose war am Tage zuvor bei ihnen gewesen und hatte ihnen den inneren Frieden gebracht. Gun Umbar traf glückliche Menschen an, und er hoffte, nun, bald so wie sie zu sein, weil der Namenlose ganz in der Nähe war und er endlich auf ihn treffen würde. Doch da wurde das Zeltlager von diesen Sklavenhändlern überfallen, die mit ihrem Schiff an der Totenküste anlegten, um Karawanen auszuplündern. Er, Gun Umbar, überlebte als einziger, weil er versucht hatte, sich zur Wehr zu setzen. Die befriedeten Wüstensöhne aber wurden von den Piraten erbarmungslos niedergemacht. Und so war es gekommen, daß er, Gun Umbar, dem Namenlosen ferner war als je zuvor und auf der Enterkönigin als Sklave die Ruderbank drückte. Aber seine Hoffnung gab er dennoch nicht auf ... 55
»Schiff – backbord voraus!« Der Ruf, der von der Spitze des Hochmastes kam, scheuchte die Piraten auf. Sie rannten schreiend durcheinander und wollten jeder einen Aussichtsplatz an Backbord ergattern. Sogar der Aufseher vernachlässigte seine Pflichten, und der Trommler kam aus dem Takt. Kapitän Pandor erschien an Deck und kletterte auf die Bugaufbauten, um einen besseren Ausblick zu haben. Die anderen Piraten überboten sich gegenseitig mit ihren Vermutungen darin, welche Beute sie machen würden, wenn sie das fremde Schiff enterten. Aber die Piraten wurden enttäuscht, denn bald stellte es sich heraus, daß der Dreimaster unter derselben Flagge wie sie segelte: Er hatte das Wappen der Großen Bruderschaft des Meeres gehißt. Und dann wurde auch bekannt, daß es sich um kein anderes Schiff als die Schwarze Wellenreiterin handelte. »Was hat Kapitän Jaggar in diesen Gewässern zu suchen?« meinte Kapitän Pandor nachdenklich, den sie auch das Narbengesicht nannten. »Er ist bestimmt nicht zu einer Vergnügungsreise unterwegs.« »Nein«, stimmte der Steuermann lachend zu. »Wo Jaggar auftaucht, ist immer reiche Beute zu holen.« »Die Schwarze Wellenreiterin dreht ab!« meldete der Mann im Ausguck. »So, so«, meinte Pandor. »Warum tut Jaggar so etwas? Er muß die Enterkönigin doch erkannt haben. Ob er vor mir etwas zu verbergen hat? Nun, ich werde es herausfinden.« Und Kapitän Pandor befahl, Kurs auf die Schwarze Wellenreiterin zu nehmen. 56
»Es hat keinen Sinn«, meinte Jaggar resignierend. »Bei dieser Flaute hat uns eine Galeere wie die Enterkönigin innerhalb kürzester Zeit eingeholt. Besser, wir versuchen erst gar nicht zu fliehen, sonst wird Pandor nur noch mißtrauischer.« Dragon biß ärgerlich die Zähne zusammen. Er hatte Jaggar gebeten, dem anderen Schiff der Meeresbruderschaft auszuweichen, und dieser hatte nach einigem Zögern auch zugestimmt. Doch nun trat wegen der Hartnäckigkeit des anderen Kapitäns trotzdem ein, was Dragon vermeiden wollte: ein unliebsamer Aufenthalt und der damit verbundene Zeitverlust. »Pandor kann gar nicht wissen, was sich inzwischen auf der Schlangeninsel zugetragen hat«, sagte Jaggar, nachdem er Befehl gegeben hatte, die Segel einzuholen, und die Enterkönigin rasch näher kam. »Es ist besser, wenn wir ihn nicht darüber aufklären, denn er ist unberechenbar und hat mich nicht gerade in sein Herz geschlossen!‘ »Wenn es unseren Aufenthalt verkürzt, bin ich damit einverstanden«, sagte Dragon. »Ich möchte mich auch nicht zu erkennen geben.« »Das auf keinen Fall«, rief Jaggar. »Pandor könnte auf die Idee kommen, dich als Geisel zu nehmen und Lösegeld für dich zu verlangen. Ich werde dich als meinen Steuermann Drag ausgeben. Seltsam, daß Pandor es so eilig hat, mit mir zusammenzutreffen. Wahrscheinlich war die Ausbeute seines Raubzuges nur gering, und er erhofft sich von mir Hinweise auf einen guten Fang. Aber da wird er sich die Zähne ausbeißen.« »Vielleicht würde es nicht schaden, ihm zu verstehen zu geben, daß wir unterwegs sind, um den Wächter der Totenküste zu töten«, meinte Dragon. »Das könnte abschreckend auf ihn wirken.« 57
»Genau das Gegenteil würden wir dadurch erreichen«, behauptete Jaggar. »Er würde uns die schmutzige Arbeit tun lassen, um nach Azaels Tod über uns herzufallen und den Schatz selbst zu heben. Nein, diesen Fehler dürfen wir nicht begehen. Laß mich nur machen, Dragon, ich kenne Pandor und weiß, wie man ihn nehmen muß.« Es dauerte nicht lange, und die beiden Schiffe standen Breitseite an Breitseite. Enterseile wurden von beiden Seiten geworfen, in den Bordwänden verankert und dann soweit eingeholt, bis die Ruder der Galeere an der Schiffswand der Schwarzen Wellenreiterin kratzten. Da die See ruhig war, war kaum Bewegung in den beiden Schiffen, so daß Jaggars Leute ein breites Brett von Bordwand zu Bordwand legen konnten, über das man aufs andere Schiff gelangte. Jaggar wurde von fünf seiner Leute und von Dragon, Ubali und Yina an Bord der Enterkönigin begleitet. Dragon nahm Yina mit, weil er hoffte, daß sie aus Pandors Gedanken dessen Absichten erfahren würde. Ubali hatte sich ihnen ohne Aufforderung angeschlossen, und Dragon hatte nichts dagegen, daß sein Leibwächter ihn begleitete. Dragon hätte es auch ganz gern gesehen, wenn anstatt Jaggars Leute fünf von Parthos mit auf die Enterkönigin gekommen wären, weil sie ihm als zuverlässiger erschienen. Aber Jaggars Argument, daß die Soldaten, die alles andere als Seeleute waren, sich nach kurzer Zeit verraten hätten, überzeugte ihn schließlich. »Pandor, häßliches Narbengesicht!« begrüßte Jaggar den Kapitän der Galeere mit gespielter Herzlichkeit. »Hast wohl wieder in den beuteträchtigen Gewässern vor der Totenküste gefischt. Ich hoffe, es hat sich ausgezahlt. Du warst auch lange genug unterwegs.« 58
»Fast zwei Monde«, gestand Pandor. »Ein Pirat wie du, Jaggar, macht in dieser Zeit natürlich doppelt soviel Beute wie ich, aber ich muß damit zufrieden sein.« »Ich hoffe, du hast an der Totenküste noch etwas zurückgelassen, Pandor, das sich zu erbeuten lohnt«, erwiderte Jaggar, und die beiden Männer schlugen sich lachend in die Seiten. Noch immer lachend, meinte Pandor lauernd: »Ich kann gar nicht glauben, daß du den weiten Weg zur Totenküste machst, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben.« So ging es noch eine Weile hin und her, die beiden Piraten spielten miteinander Versteck, keiner wollte vor dem anderen die Karten aufdecken, bis sich Pandor seiner Pflichten als Gastgeber bewußt wurde und sie in seine Kabine einlud. Yina hatte nicht auf das Wortgeplänkel der beiden geachtet und sich mehr auf die Gedanken um sie konzentriert. Dabei war sie auf die Gedanken eines Rudersklaven gestoßen, die sie faszinierten. Er hieß Gun Umbar und träumte mit offenen Augen, während die Peitsche des Sklaventreibers über seinem Kopf kreiste, von einem Mann, den sie den Namenlosen nannten und der durch die Welt wanderte und überall glückliche und friedliche Menschen hinterließ, wo er Halt gemacht hatte. Gun Umbar war es nicht entgangen, daß das Mädchen ihn anstarrte, und wenn ihr Blick auch wesenlos schien, so war ihm doch, als liege so etwas wie Verstehen und Anteilnahme in ihren Augen – gerade so, als hätte sie die Wunder des Namenlosen selbst geschaut ... Ketten rasselten, als sich Gun Umbar erhob und Yina zurief: 59
»Schwester, kennst du den Namenlosen? Wenn du je die Macht seiner Liebe gespürt hast, dann habe Erbarmen mit diesen Kreaturen und weise ihnen den Weg zum Frieden ihrer Seelen!« »Nein!« rief Yina, als sie den Sklavenaufseher mit knallender Peitsche heranstürmen sah. Dieser war so überrascht, daß er tatsächlich innehielt und fragend zu seinem Kapitän blickte. Pandor gab ihm mit einem Zwinkern zu verstehen, daß er dem Wunsch des Mädchens nachkommen solle. »Hab Dank, Schwester«, sagte Gun Umbar. »Du befindest dich auf dem richtigen Weg.« Yina folgte den anderen wie im Traum. An der Tür zu seiner Kabine blieb Pandor stehen und deutete auf Ubali. »Der stinkende Sklave bleibt draußen!« sagte er bestimmt. Yina sah, wie sich Ubalis Muskeln anspannten, aber Dragon packte ihn schnell am Arm, bevor er sich zu einer Unbesonnenheit hinreißen lassen konnte. »Schon gut«, beruhigte er ihn. »Es schadet nicht, wenn du an Deck bleibst.« Ubali fügte sich, warf Pandor aber einen grollenden Blick zu. Der Kapitän der Enterkönigin ließ in seiner Kabine gesalzenen Fisch mit verschiedenen Gemüsen und einen herben Wein auftischen, von dem er sagte, daß er von den Königen am Grünen Strom nur zu besonderen Anlässen genossen wurde. »Von wo stammt der Sklave, der ungeachtet der Peitsche und seiner Ketten den Frieden pries, Kapitän Pandor?« fragte Dragon, als sich dafür eine Gelegenheit bot. »Ein Verrückter, den ich bei nächster Gelegenheit den Fischen überlassen werde«, meinte Pandor knurrend. 60
»Er macht den anderen Sklaven den Kopf mit Blödsinn voll und ist zudem noch viel zu schwach für das Ruder. Er predigt den Frieden, aber als wir ein Zeltlager der Wüstenbewohner überfielen, war er der einzige, der sich zur Wehr setzte, während sich die anderen einfach niedermachen ließen. Darum schonte ich auch sein Leben und dachte mir, er eigne sich als Sklave. Aber er ist für nichts gut – außer als Fischfutter.« »Wenn er Euch lästig ist, Kapitän Pandor«, sagte Yina schnell, »dann überlaßt ihn Kapitän Jaggar. Er hat für ihn bestimmt eine bessere Verwendung.« »Ich würde ihn gegen den Schwarzen tauschen«, erklärte sich Pandor bereit. »Ubali ist kein Sklave«, sagte Yina. Pandor beugte sich grinsend zu Jaggar, dem es nicht zu gefallen schien, welche Wendung das Gespräch nahm, und sagte mit vollem Mund zu ihm: »Was ist in dich gefahren, daß du dir so eine mit auf eine lange Reise nimmst? An ihr ist doch nichts, sie hat nur ihre Jugend zu bieten. Und im Kopf scheint sie auch nicht ganz richtig zu sein.« »Was fällt Euch ein, mich als Jaggars Sklavin hinzustellen«, empörte sich Yina und langte besitzergreifend nach Dragons Arm. »Hat auf der Schwarzen Wellenreiterin der Kapitän überhaupt nichts mehr zu sagen?« fragte Pandor und stieß Jaggar an, um dann aus voller Kehle zu grölen. Jaggars giftiger Blick, den er Yina zuwarf, zeigte ihr an, daß sie zu weit gegangen war. »Wenn es auch dein Wunsch ist, Jaggar, dann kannst du den schwächlichen Sklaven haben«, sagte Pandor großzügig. »Du bekommst ihn fast umsonst.« »Mir liegt nichts an ihm«, erklärte Jaggar. »Aber nenne mir trotzdem den Preis.« 61
»Es kostet dich nichts weiter als ein paar Worte. Du brauchst mir nur zu verraten, was du an der Totenküste suchst.« »Es steckt kein Geheimnis dahinter«, behauptete Jaggar. »Aber es würde König Jellis nicht gefallen, wenn ich es dir verrate.« »Du bist in geheimer Mission für Jellis unterwegs, hm«, spottete Pandor und verdrehte die Augen. »Wenn das so ist, dann sprechen wir nicht mehr darüber. Reden wir über die Schlangeninsel, die ich schon seit zwei Monden nicht mehr gesehen habe. Berichte, was sich in Candis tut, Jaggar.« Yina mußte sich zwingen, nicht mehr an den seltsamen Pilger zu denken, der fest daran glaubte, daß es den Namenlosen gab, der das Wunder vollbringen konnte, Frieden unter die Menschen zu bringen. Sie konzentrierte sich nun mehr auf die Gedanken Pandors, weil Dragon ihr aufgetragen hatte, etwas über seine Absichten in Erfahrung zu bringen. Aber obwohl sie sofort merkte, daß er irgend etwas im Schilde führte, verrieten seine Gedanken nicht, was es war. Es war nur seine Absicht, Jaggar hinzuhalten, alles andere würde sich von selbst ergeben: Der Wein würde schon seine Wirkung zeigen ... Ihr erster Gedanke war, daß sich Gift im Wein befand. Und obwohl sie sich vorgenommen hatte, den Mund zu halten, platzte sie heraus: »Wie schmeckt der Wein?« Sie lächelte entschuldigend. »Ich habe noch nicht gewagt, meinen Becher anzurühren.« »Es ist ganz vorzüglicher Wein«, versicherte Pandor – und gleichlautend waren auch seine Gedanken, nur fügte er diesen an: Aber er ist für jemanden, der nicht daran gewöhnt ist, in großen Mengen nicht gerade be62
kömmlich. Und so trinkfest deine Männer auch sind, Jaggar, der Wein wird ihre Zungen lösen! Da erkannte Yina, daß Pandor Auftrag gegeben haben mußte, Jaggars Männer betrunken zu machen, um sie dann auszuhorchen. Und sie zweifelte nicht daran, daß sie unter dem Einfluß des Weines alles erzählen würden, obwohl ihnen Jaggar Stillschweigen befohlen hatte. Aber der Kapitän der Schwarzen Wellenreiterin hatte dabei eines nicht bedacht, nämlich daß der eine oder andere seiner Männer auf der Enterkönigin einen oder mehrere Freunde haben mochte, denen man sich, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, versteht sich, leichtfertig anvertraute. Yina wußte, daß sie etwas unternehmen mußte. Dragon und Jaggar schienen die Gefahr nicht zu ahnen, deshalb mußte sie eine Entscheidung herbeiführen. Sie machte einen kleinen Schluck aus ihrem Becher, wartete eine Weile, um sich dann mit einem Gähnen an den Kopf zu greifen. »Ich glaube, der Wein bekommt mir nicht«, sagte sie dann in das Gespräch der Männer hinein. »Du hast ja kaum von deinem Becher getrunken, Mädchen«, sagte Pandor verächtlich. »Trotzdem ...« Yina kicherte und ließ die Augen von Jaggar zu Dragon rollen. »Mir wird so heiß ... Ich fürchte, daß der Wein meine Sinne so umnebelt hat ... Meine Zunge sitzt so locker, daß ich drauf und dran bin, über Dinge zu plappern, die besser ungesagt bleiben!« Dragon entging die Betonung ihrer letzten Worte nicht. Er richtete sich in seinem Sitz auf und sagte: »Dann wäre es wohl besser, auf die Schwarze Wellenreiterin zurückzukehren.« »Aber, aber«, tadelte Kapitän Pandor und hob seinen Krug. »Trinkt, Freunde, ihr seid meine Gäste!« 63
Die Anspielung, daß er es nicht gern sehen würde, wenn man seine Gastfreundschaft mißachtete, war unmißverständlich. Yina spielte weiterhin betrunken. »Woher habt Ihr diese vielen Narben, Kapitän Pandor«, sagte sie lallend, »die Euch so häßlich machen ... O, jetzt habe ich Euch wohl beleidigt.« Pandor machte eine wegwerfende Handbewegung und lachte grölend. »Jetzt wird es erst gemütlich. Vielleicht tanzt du noch für uns auf dem Tisch, Mädchen.« »Soweit lassen wir es besser nicht kommen«, sagte Jaggar, der noch nicht ganz begriffen zu haben schien, worauf Yina hinauswollte, sich jedoch Dragons Verhaltensweise anschloß. »Es tut mir leid, Pandor, aber wir werden die Wiedersehensfeier auf später verschieben müssen. Wir holen sie nach, wenn wir wieder in Candis zurück sind.« Jaggar erhob sich. Kapitän Pandor sprang wütend hoch. »Willst du mich beleidigen, Jaggar?« »Keineswegs. Aber wenn du dich beleidigt fühlst und Genugtuung von mir forderst, dann wirst du damit ebenfalls warten müssen.« »Ich werde dir ...« Pandor griff sich an den Gürtel, zog den Dolch und wollte sich auf Jaggar stürzen. Aber da war Dragon zur Stelle und schlug ihn mit einem wuchtigen Schlag seiner Handkante ins Genick zu Boden. »Wo hast du das gelernt?« staunte Jaggar. »Ich kann dich später in waffenloser Selbstverteidigung unterrichten«, sagte Dragon. »Aber jetzt müssen wir machen, daß wir auf unser Schiff zurückkommen.« Jaggar packte Yina am Arm und fragte nur: 64
»Warum?« »Pandor wollte deine Leute betrunken machen, um so von ihnen das Ziel unserer Reise zu erfahren«, antwortete sie. Jaggars Gesicht verzerrte sich vor Wut, und er wollte sich dem bewußtlos daliegenden Kapitän zuwenden, aber Dragon schob ihn zur Tür hinaus. Als sie an Deck kamen, wurden sie dort vom Steuermann der Enterkönigin erwartet. »Nanu, Kapitän Jaggar, Ihr brecht schon so früh auf?« »Das liegt nicht an uns, sondern an deinem Kapitän«, antwortete Jaggar mit schadenfrohem Grinsen. »Wenn er keinen Wein verträgt, dann sollte er sich besser an Ziegenmilch halten.« Der Steuermann erwiderte das Grinsen. »Dasselbe gilt für Eure Leute, Kapitän Jaggar.« Jaggar blickte auf das Galeerendeck hinunter, wo seine fünf Begleiter grölend und torkelnd zwischen den Rudersklaven herumkletterten. Als er zu Yina blickte, nickte diese bestätigend: Seine Männer hatten den Mund nicht halten können und im Rausch das Ziel ihrer Reise verraten ... Als die fünf Betrunkenen zur Wellenreiterin zurückgebracht worden waren, wo sie von Ubali unsanft in Empfang genommen wurden und auch Dragon, Yina und Jaggar die Enterkönigin verlassen hatten, wurden die Enterhaken gelöst und an den Seilen eingeholt. Die beiden Schiffe trieben auseinander und nahmen wieder Fahrt auf. »Jetzt wird Pandor nichts Besseres zu tun haben als uns zu folgen«, erklärte Jaggar zähneknirschend. Er wandte sich Yina zu. »Sage mir, wer von meinen Leuten der Verräter ist. Ich werde ihn kielholen lassen!« 65
»Das dachte ich mir«, meinte Yina. »Und deshalb werde ich den Mann nicht an dich ausliefern. Du kannst ihn für seine Tat nicht verantwortlich machen, Jaggar.« Der Kapitän wandte ihr verärgert den Rücken zu und stapfte zum Steuerrad.
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4.
»Du bürgst mir mit deinem Kopf für das Königskind«, wiederholte Cnossos in der Gestalt des Wassergottes. »Jawohl, Gott des Wassers«, versicherte El Habek eingeschüchtert. Cnossos fuhr zufrieden fort: »Eines Tages, in naher Zukunft, wird ein Mann zu dir nach Alesch kommen, der sagen wird, er käme im Auftrag des Gottes der vielen Namen. Er wird eine Schriftrolle bei sich haben, mit der er seine Worte belegen kann. Verberge das Balg vor ihm, aber empfange ihn wie einen hohen Gast, doch dann bereite ihn auf das Leben als Untoter vor, auf daß er mir als solcher zu Diensten sein kann. Hast du verstanden, El Habek?« »Ich weiß, was ich zu tun habe, Gott des Wassers«, sagte der Statthalter von Alesch. »Wenn der Mann kommt, der sich als Bote des Gottes der vielen Namen ausgibt, dann werde ich ihn so behandeln, wie die vielen anderen Sklaven, die nur noch darauf warten, von dir zu Untoten gemacht zu werden.« »So soll es geschehen«, stimmte Cnossos zu. »Wie viele Sklaven sind es inzwischen, die du für mich zusammengetrieben hast, El Habek?« »Es sind fünf ...« El Habek zeigte die Finger einer Hand »... fünf Hundertschaften, die in den Kerkern darauf warten, von dir den Hauch des Todes eingeatmet zu bekommen.« »Fünfhundert?« wiederholte Cnossos. »Warum sind es nicht mehr? Du hattest viel Zeit zur Verfügung, um ein größeres Sklavenheer auf das Dasein von lebenden Toten vorzubereiten.« 67
»Wenn es dein Wille ist, kann ich in kürzester Zeit noch mehr beschaffen, mein Gott«, sagte El Habek schnell. »Aber das würde mich zu einem Schritt zwingen, den ich nur ungern tue. Bisher beschaffte ich mir die Sklaven aus den Zeltlagern der Söhne des Fuchses, aus den Händlerkarawanen, die an Alesch vorbeiziehen, und indem ich die Verräter aus den Reihen meiner eigenen Leute aussonderte. Aber wenn du es befiehlst, dann werde ich Bürger der Stadt und sogar meine eigenen Soldaten opfern!« »Es ist nicht mein Sinn, Alesch zu einer Stadt der Toten zu machen«, erwiderte Cnossos. »Nein, El Habek, fünfhundert an der Zahl sind mir genug, wenn sie in ihrem früheren Leben kräftig und gesund waren.« »Dafür verbürge ich mich mit meinem Wort, Gott des Wassers«, erklärte El Habek. »Die weitaus meisten kommen aus dem Stamm der Söhne des Fuchses, der die kräftigsten und zähesten Wüstenbewohner hervorgebracht hat. Ich bin, was die rohe Körperkraft anbetrifft, eine seltene Ausnahme.« El Habek gestand das ein, damit sein Gott nicht glaubte, er wolle ihn belügen. Denn er selbst war von kleinem Wuchs und schmalbrüstig, aber immerhin so zäh wie alle Wüstensöhne aus dem Stamm des Fuchses. Als Cnossos schwieg, fuhr El Habek fort: »Die Sklaven wurden alle bereits auf ihr neues Dasein vorbereitet. Wenn du willst, kannst du ihnen noch heute den Atem einhauchen, der sie zu Untoten macht.« »Das hebe ich mir für später auf«, erwiderte Cnossos. »Ich komme bald wieder, El Habek und dann will ich während eines Festes, das ein würdiger Rahmen für dieses Ereignis sein soll, die fünfhundert Sklaven zu Untoten machen. Aber heute begnüge ich mich mit einem einzigen Uh-toth. Diesen einen brauche ich sofort. 68
Es soll ein besonders starker Bursche sein, der ausdauernd ist, Entbehrungen auf sich nehmen kann und allen Schwierigkeiten gewachsen ist. Hast du so einen Sklaven zur Verfügung?« El Habek brauchte nicht lange zu überlegen. Er dachte sofort an Eben Emal, dem Arischa versprochen war – und den El Habek so haßte, daß er ihn sich für ein besonders grausames Schicksal aufgehoben hatte. Die einzige Schwierigkeit war nur, daß Eben Emal noch nicht auf das Dasein eines Untoten vorbereitet worden war. Aber El Habek war sicher, daß sich sein Gott nicht daran stören würde, wenn er ihm die Vorzüge dieses Sklaven nur mit den richtigen Worten pries. »Ich habe einen Mann zur Hand, von dem ich sicher bin, daß er deinen Erwartungen vollends entspricht, Gott des Wassers!« Eben Emal war sich klar darüber, daß er unter den Gefangenen El Habeks eine besondere Stellung einnahm. Er hatte ein Verlies für sich allein und war an Armen und Beinen an die Wand gekettet. Außerdem lag um seinen Hals ein eiserner Ring mit einer Eisenkette, die in der Decke verankert war. Er bekam zu essen und zu trinken – und das ausreichend, und einmal im Mond kam El Habek zu ihm und zeichnete seinen Körper mit glühenden Eisen. Aus El Habeks Worten wußte er, daß das Brandmal auf seinem Rücken – ein geteilter Wasserstrahl mit einem Totenkopf darin – nur noch dreier Brandzeichen bedurfte, um fertig zu sein. El Habek hatte ihm versprochen, den Augenblick der Fertigstellung mit besonderen Feierlichkeiten zu begehen und sich für Eben Emal eine ganz außergewöhnliche Folterart auszudenken. 69
Eben Emal hörte Geräusche, die durch die Kerkertür kamen, und zerrte wild an seinen Ketten. Unter der Tür erschien jetzt ein Lichtschein, und ein Schlüssel wurde ins Schloß gesteckt und umgedreht. Die Tür sprang auf. Eben Emal schloß, von der hellen Fackel geblendet, die Augen. »Hier bin ich wieder, Eben Emal«, vernahm er El Habeks giftige Stimme. »Ist schon wieder ein Mond um?« fragte Eben Emal, der in diesem finsteren Loch jegliches Zeitgefühl verloren hatte. »Nein, der Mond der Kröte ist erst fünf Tage alt«, erwiderte El Habek. »Aber Nyniph meint es gut mit dir, denn ihre Fürbitte beim Gott des Wassers hat bewirkt, daß dieser dich mit einer besonderen Aufgabe betrauen wird.« Eben Emal zog wieder an seinen Ketten, daß die Wachen, die den Statthalter begleiteten, zurückwichen und ihre Krummsäbel zogen. El Habek lachte. »Es erfreut mich, zu sehen, daß du bei Kräften bist. Der allmächtige Herr des Wassers wird zufrieden sein. Löst seine Ketten, aber wartet damit, bis ich ihm aus den Augen bin.« »Feige Ratte!« schrie Eben Emal dem Statthalter nach. »Es wäre besser, du tötest mich, denn sonst hole ich mir eines Tages deinen Kopf.« El Habek blieb stehen und drehte sich um. »Du wirst noch heute sterben, Eben Emal«, höhnte er. »Aber das wird dich nicht von deinen Qualen erlösen, denn du wirst als Toter weiterleben.« Eine kalte Hand griff nach Eben Emals Herz. Was El Habek sagte, konnte nur bedeuten, daß er einen Uh-toth aus ihm machen wollte. Eben Emal hatte schon früher, 70
als er noch bei seinem Stamm lebte, davon gehört, daß es in Alesch Geschöpfe geben sollte, die nicht mehr lebten, aber auch nicht fähig waren zu sterben. Nicht einmal ein Schwertstreich konnte sie von ihrem schrecklichen Dasein erlösen, es sei denn, man hieb ihnen den Kopf ab. Eben Emal begann zu rasen, während sich die Soldaten darum bemühten, ihn von seinen Ketten zu befreien. Aber sein Widerstand half ihm nichts, sondern brachte ihm nur schmerzhafte Schläge ein. Als alle Ketten gesprengt waren, führten sie ihn aus dem Verlies und in ein großes Kellergewölbe, an dessen Eingang ein flackerndes Öllicht in einer Schale brannte. Die schwere eisenbeschlagene Tür fiel hinter ihm zu. Eben Emal wähnte sich für einen Moment allein, aber dann vernahm er ein Geräusch, das aus einem dunklen Winkel kam, bis in den das Licht der Öllampe nicht reichte. Dort erschien eine große Gestalt, die völlig von einer wallenden Kutte umhüllt war. Wo die Ärmelschlitze für die Hände waren, sah Eben Emal nur Schwärze – und ebenso war hinter der Öffnung der Kapuze kein Gesicht, sondern das Nichts. Dennoch war Eben Emal, als blickten ihn Augen an, die ihn mit ihrer übernatürlichen Kraft bannten. Er konnte sich nicht bewegen. Er verspürte das Verlangen, sich von dieser unheimlichen Gestalt abzuwenden und durch die Tür zu fliehen, aber er hatte nicht die Kraft dazu. Er stand nur da und sah bewegungslos zu, wie sich ihm das Entsetzen lautlos näherte. »Du bist ein Diener der Götter, Eben Emal«, ertönte eine hohle Stimme aus dem Nichts unter der Kapuze. »Von uns erschaffen und durch unsere Gnade ins Leben 71
gestellt, an dem du dich erfreuen kannst bis zu dem Tag, da wir dich zu Höherem abberufen. Für dich ist dieser Tag gekommen, Eben Emal.« Eben Emal nahm all seinen Willen zusammen und wich einen Schritt zurück. Er wußte plötzlich, daß die unheimliche Macht nicht unbesiegbar war und er die Kraft hatte, sich ihr zu widersetzen. Doch war er dann nicht stark genug, dem ersten Schritt einen weiteren folgen zu lassen. »Noch bist du ein Sterblicher aus Fleisch und Blut«, ertönte die unheimliche Stimme wieder. »Wenn du mir zu Diensten sein willst, dann mußt du mir näher kommen, mußt dein Wesen mir angleichen. Dein Fleisch muß dorren, um unverwundbar zu werden, dein Blut soll vertrocknen, auf daß es nicht mehr fließen kann. Komm mir näher, Eben Emal, ich will dich mir angleichen ...« Eben Emal gehorchte der Stimme, wenngleich sich alles in ihm gegen die Befehle widersetzte. Er setzte langsam einen Fuß vor den anderen und stand dann vor der Gestalt, die nur aus Schwärze zu bestehen schien. Langsam hoben sich die Ärmel des Umhangs, legten sich um ihn und hüllten ihn schließlich ein. Schwärze war um ihn, und mit der Schwärze kam die Kälte. Eben Emal spürte, wie der Eishauch durch seine Haut in seinen Körper drang, seine Glieder erstarren ließ und mit seinem Blut zum Herzen vordrang. Von dort drang die Kälte, die der Hauch des Todes sein mußte, in seinen Kopf vor, so daß selbst seine Gedanken erstarrten. Als alles vorbei war, schien es ihm, als habe er keinen Körper mehr und keinen Geist. Aber er konnte sehen, auch sich selbst ... seine Hände, wenn sie sich hoben, seine Beine, wenn sie Schritte machten. Und in seinem Kopf waren auch Gedanken. 72
Du wirst mir gehorchen bis in alle Ewigkeit, bis ich deiner Dienste überdrüssig bin und gewillt, deinen Körper zu Staub werden zu lassen, Eben Emal. Zwischen diesen kalten, fremden Gedanken pulsierte in seinem Kopf aber auch eine winzige Wärmequelle, in der die Erkenntnis geboren wurde: Ich bin verloren – ich bin ein Uh-toth! Eben Emal wurde sich in diesem Augenblick noch nicht bewußt, daß er sich einen Rest seines eigenen Willens bewahrt hatte. Aber er empfand den Wärmequell in seinem Kopf als Wohltat, wenngleich er nicht stark genug war, ihn gegen die fremden Befehle aufbegehren zu lassen. Irgendwann fand er sich in prunkvollen Gemächern wieder, ihm gegenüber El Habek, hinter ihm die körperlose Gestalt. El Habek starrte ihn mit Entsetzen in den Augen an und fragte dann unsicher: »Ist er jetzt untot? Ich meine ...« »Überzeuge dich selbst davon. Unterziehe ihn der Prüfung.« El Habek zog sein Krummschwert und schlug damit Eben Emal eine tiefe Wunde quer über die Brust. Eben Emal verspürte keinen Schmerz. Aus der Wunde quoll kein Tropfen Blut, nur graues, vertrocknet wirkendes Fleisch war zu sehen – und dann begann sich die Wunde schnell wieder zu schließen, bis nur noch eine Narbe zurückblieb, die aber auch bald verschwand. »Was hast du mit ihm vor, allmächtiger Gott des Wassers?« fragte El Habek. Er hatte sich wieder gefaßt und bedachte Eben Emal mit einem höhnischen Grinsen. Wenn Arischa ihn so sehen könnte! »Eben Emal wird zum Berg des Windes reiten«, erklärte Cnossos, »und dort einen Mann treffen, der sich 73
Dragon nennt. Ihm wird er eine von mir verfaßte Schriftrolle übergeben, in der geschrieben steht, daß er dem Boten nach Alesch folgen soll. Es ist jener Mann, den du zum Untoten machen sollst, El Habek, wenn er sich im Auftrag des Gottes der vielen Namen bei dir einfindet.« »Ich bin sicher, daß Eben Emal die beschwerliche Reise in der von dir gesetzten Frist bewältigt«, sagte El Habek. »Du wirst mit ihm zufrieden sein.« »Ich bin auch mit deiner Wahl zufrieden, El Habek«, lobte Cnossos. »Zum Dank für deine treuen Dienste will ich dich mit ausreichend Traumpulver versorgen, damit du während meiner Abwesenheit alle Sinnesfreuden dieser Welt auskosten kannst.« Wie durch Zauberhand gereicht, erschienen vor El Habek plötzlich zehn große Lederbeutel, die prall gefüllt waren. Als El Habek von einem die Verschnürung löste, sich einen Finger mit dem weißen Pulver betupfte, und davon kostete, rief er verzückt aus: »Traumpulver!« »Es ist genug, um dich über die Zeit bis zu meiner Wiederkehr zu berauschen«, erklärte Cnossos. »Bedeutet das, daß du Alesch so rasch wieder verlassen willst?« fragte El Habek. »Ich bleibe nur noch so lange, bis ich diesen Uh-toth auf den Weg zum Berg des Windes schicken kann. Aber ich werde bald wiederkommen, El Habek.« »Ich habe noch eine letzte Bitte, allmächtiger Herr über das Wasser«, sagte der Statthalter demütig. »Würdest du mir gestatten, mich ein einziges Mal Eben Emals zu bedienen?«
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Das Mädchen mit dem roten Haar war schön, und Arischa hätte es zu gern gefragt, aus welchem Land es stammte und von welchem Volk, weil sie Haare dieser Farbe vorher noch nie gesehen hatte. Aber Arischa wagte es dann doch nicht, die Frage zu stellen, weil es ihr als Sklavin versagt war, herrschaftliche Gäste des Statthalters und Wasserspenders El Habek anzusprechen. So begnügte sie sich damit, das Mädchen verstohlen zu betrachten, während sie letzte Hand an sie legte. Nyniphs Kleid stand ihr gut. Die Brüste lagen frei und wurden von unsichtbaren Trägern, die in die Seide eingearbeitet waren, gehoben. Um die Mitte war das Kleid gerafft, bauschte sich um die Hüften und fiel dann in vier Lagen von Schleiern bis zu den Knöcheln hinunter. Arischa war zufrieden, und sie verscheuchte die Sklavin, die das rote Haar des Mädchens zu einer kunstvollen Frisur aufgetürmt hatte. Der Kopfschmuck schimmerte einer Krone gleich zwischen dem Rot des Haares und wurde durch Lederbänder um das Kinn und den Nacken des Mädchens festgehalten. Arischa jedoch wußte, daß es nicht nur ein Schmuckstück war, was das Mädchen auf dem Kopf trug, sondern in Wirklichkeit El Habek für seine Eisenhand als Griff dienen sollte, wenn er das Mädchen festhalten wollte. Arischa hatte bemerkt, daß das Mädchen unsicher und ein wenig furchtsam war, obwohl sie die ganze Zeit über, während die vier willenlosen Sklavinnen sie einkleideten, geschwiegen hatte. Jetzt, nachdem sie für den Brautgang geschmückt war, sprach sie zum erstenmal. »Was geschieht mit mir?« fragte sie mit leicht zitternder Stimme. 75
»Ihr tragt den Schmuck Nyniphs, edle Frau«, sagte Arischa und lächelte. »Wenn Ihr ihm so gegenübertritt, dann werdet Ihr sein Herz im Sturm erobern und seine Leidenschaft entfachen. Habt keine Bange, Ihr seid schön genug, um jeden Mann zu verzaubern.« Das rothaarige Mädchen machte ein bestürztes Gesicht. »Wessen Herz werde ich erobern? Wessen Leidenschaft entfachen? So sage mir doch schon, was mit mir geschehen soll!« Arischa erkannte nun, daß sie ganz falsche Vorstellungen von den Beziehungen des Mädchens zu El Habek hatte. Sie hätte sich denken können, daß sie ihm nicht aus freien Stücken ihre Gunst schenken wollte. Arischa scheuchte die Sklavinnen aus dem Zimmer, und als sie mit dem Mädchen in Nyniphs Gewand allein war, sagte sie: »Wißt Ihr denn nicht, daß Ihr El Habeks Gefallen erweckt habt und er Euch für diese Nacht bei sich erwartet?« »Nein!« stieß das Mädchen entsetzt hervor. »Ist es dein Ernst, daß der häßliche Zwerg mit der Eisenhand von mir erwartet ...« Die letzten Worte des Mädchens gingen in einem Schluchzen unter. »Das kann er mir nicht antun ... Meine Liebe gehört Gaunth. Nie könnte ich einem anderen Mann ... O nein, lieber sterbe ich.« »Es gibt schlimmere Dinge, die El Habek tun kann, als bloß Euren Körper zu nehmen«, versuchte Arischa das Mädchen zu trösten, mit dem sie plötzlich Mitleid empfand. »Seid tapfer. Und wenn Euch Eisenhand berührt, dann schließt die Augen und denkt es sei Euer Gaunth, dem nach Euch verlangt ...« 76
»Ich kann es nicht.« Das Mädchen sank langsam zu Boden, wo sie mit bebendem Körper liegen blieb. Plötzlich blickte sie auf und sah Arischa an. »Wie heißt du?« »Arischa.« »Mein Name ist Mainala. Ich bin nur eine Gauklerin, aber doch ist Stolz genug in mir, mich diesem Scheusal zu verweigern. Ich sagte, daß ich eher sterben würde, als diese Schande über mich ergehen zu lassen – und das meine ich ehrlich. Arischa, willst du mir helfen?« Arischa fühlte mit dem Mädchen, denn sie selbst befand sich in einer ähnlichen Lage. Aber im Gegensatz zu Mainala machte ihr El Habeks Umarmung nichts mehr aus, denn sie hatte gelernt, während dieser Zeit mit ihren Gedanken bei Eben Emal zu sein. »Du bist noch jung und so schön, Mainala, und es wäre schade, dein Leben El Habeks wegen hinzuwerfen.« Mainala schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß ich es nicht ertragen könnte, wenn er mich auch nur anrührt. Hilf mir doch, Arischa. Bitte!« Arischa schwieg eine Weile, dann sagte sie entschlossen: »Ich werde dir helfen, Mainala. Ich werde an deiner Stelle zu El Habek gehen. Vielleicht kann ich ihm dein rotes Haar vergessen machen. Bleibe du auf deinem Zimmer.« Noch bevor sich Mainala bei ihr bedanken konnte, lief Arischa hinaus. In der Halle angekommen, verhielt sie jedoch abrupt den Schritt, denn sie sah den Wesir in Begleitung zweier Eunuchen herankommen. Sie dachte, daß es nun zu spät sei, um ihr Vorhaben durchzuführen, 77
doch anstatt auf Mainalas Gemach zuzusteuern, blieben die drei vor ihr stehen. »Der allmächtige Wasserspender wünscht dich zu sprechen, Arischa«, sagte der Wesir. »Wir sollen dich sofort zu ihm bringen.« Sie zögerte, weil sie irgendeine Teufelei vermutete. Doch dann machte sie sich keine weiteren Gedanken mehr darüber, denn zu Eisenhand vorgelassen zu werden, war genau das, was sie wollte. El Habek erwartete sie im Lieblingsgemach seines Palastes, von wo er den westlichen Teil von Alesch überblicken konnte. Von hier aus konnte man nicht erkennen, daß die Stadt von öder Wüste umgeben war, denn der breite, fruchtbare Palmengürtel reichte bis zum Horizont. »Hier bin ich, Herr«, sagte Arischa und verneigte sich vor El Habek, der mit verschränkten Beinen auf einem Berg von Kissen saß und genüßlich an einem Schlauch sog, der in einen Schmuckbecher mündete. Ein zweiter Schlauch lag unbenutzt daneben. Traumwasser! durchzuckte es Arischa. El Habek hatte schon ganz glasige Augen durch den Genuß dieses Zaubergetränks. Zu seiner Rechten stand ein Bastkorb mit Tüchern. El Habek setzte den Schlauch ab und wies Arischa mit der Eisenhand einen Platz zu seinen Füßen zu. Nachdem sie sich gesetzt hatte, sagte er: »Ich will dir meine Gunst beweisen, indem ich dich mit einer ehrenvollen und verantwortungsvollen Aufgabe betraue, Arischa.« »Danke, Herr.« »Willst du gar nicht wissen, worum es sich handelt?« »Doch, Herr.« »Dann nimm den Korb an dich!« 78
Arischa gehorchte, und jetzt sah sie erst, daß ein Neugeborenes darin lag. Durch die ruckartige Bewegung begann es zu schreien, und Arischa wiegte es, bis es sich beruhigt hatte. »Magst du das Balg?« fragte El Habek. »Ja, Herr. Das Kind ist allerliebst.« »Dann will ich es in deine Obhut geben.« Arischa blickte überrascht hoch und versuchte hinter der Verschlagenheit, die aus El Habeks Gesicht sprach, seine Absichten zu erkennen. »Herr, ich ...« El Habek lachte. »Du vermutest eine Hinterlist von mir? Sei ganz beruhigt, Arischa, ich vertraue dir das Balg an, weil ich es bei dir in guten Händen weiß. Du bist die einzige Sklavin in meinem Palast, die ich mit dieser Aufgabe betrauen kann, denn die anderen sind alles nur Schattengeschöpfe, abgestumpft wie Tiere, abgerichtet, ergeben, aber ohne eigenen Willen.« »Woher stammt das Kind?« wollte Arischa wissen. »Das wissen die Götter«, antwortete El Habek. »Sie haben es mir nämlich anvertraut und mir aufgetragen, es am Leben zu erhalten. Es ist ein Knabe. Wirst du gut für ihn sorgen, wenn ich ihn dir übergebe?« »Ich werde ihm wie eine Mutter sein.« El Habek nickte zufrieden. »Ich wußte, daß du das Balg mögen würdest. Ich will mich dafür auch erkenntlich zeigen. Du hast einen Wunsch frei – verlange aber nichts Unmögliches von mir.« Arischa erinnerte sich schlagartig wieder des Versprechens, das sie Mainala gegeben hatte. Sie starrte auf den Trinkschlauch, der unbenutzt neben dem Prunkge79
fäß lag und dachte, daß sie unter Einfluß des Traumwassers alles leichter würde ertragen können. »Nicht du sollst dich erkenntlich zeigen, El Habek«, sagte sie verführerisch, »sondern ich werde mich für dein Vertrauen auf meine Weise bedanken.« El Habek schluckte, als sie sich mit entspanntem Gesicht und halbgesenkten Lidern näherte. Für einen Moment tauchte vor seinen Augen das Bild der rothaarigen Trommeltänzerin auf, der er sich ursprünglich in dieser Nacht widmen wollte. Doch sie würde ihm schon nicht davonlaufen. Die Gelegenheit, daß Arischa sich ihm anbot, würde sich dagegen nicht so schnell wieder ergeben. Er riß sie an sich, und erst als sie vor Schmerz aufstöhnte, merkte er, daß er sie mit der Eisenhand so fest an sich drückte, daß ihr Rücken blutete ... Irgendwann während der Nacht versprach er ihr: »Du hast noch einen Wunsch offen, Arischa. Wenn du immer noch Sehnsucht nach Eben Emal hast, werde ich ihn dich sehen lassen.« Sie bat ihn, jetzt keine bösen Scherze mit ihr zu treiben, doch er blieb bei seinem Versprechen und schwor, es bald schon einzuhalten. Als sie im Morgengrauen mit dem Bastkorb und dem schreienden Neugeborenen darin El Habeks Gemach verließ, begegnete sie im Park einer dunklen Gestalt. Zuerst dachte sie, es handle sich um eine steinerne Figur, die Eisenhand hatte neu aufstellen lassen, weil sie sich überhaupt nicht bewegte. Doch dann merkte sie, daß der Wind im Gewand des Mannes spielte. Sie verlangsamte den Schritt und kam zögernd näher, weil ihr die Regungslosigkeit des Fremden unheimlich war. 80
Je näher sie aber kam, desto mehr Einzelheiten erkannte sie, die ihr irgendwie vertraut schienen. Der Mann war so groß wie Eben Emal und hatte auch seine muskulöse Figur, und obwohl sein Gesicht im Schatten lag, glaubte sie auch den geraden Nasenrücken und den Schwung von Ebens Lippen zu erkennen. War es möglich, daß El Habek so schnell sein Versprechen wahr machte? Plötzlich war sich Arischa ihrer Sache völlig sicher. Vor ihr stand Eben. Sie begann zu laufen, lachte und weinte vor Glück, und ließ sich dann gegen seine Brust fallen. Er fühlte sich eiskalt an; seine Hände waren kalt, als er sie im Nacken berührte, und sein Gesicht war eine starre Maske, der Mund halb offen und dahinter zwei Reihen schwarzer Zähne, und schwarz waren auch seine Augen, die tief in den Höhlen lagen – und grau seine Haut, die lederartig und pergamenten wirkte. Die Hände, so kalt sie auch waren, so rauh ihre Berührung war, fühlten sich an, als besaßen die Finger keine Knochen ... Arischa riß sich schreiend los und rannte, den Korb mit dem Neugeborenen fest an sich gedrückt, in heilloser Panik davon. Eben Emal blickte ihr mit dem Ausdruck eines Untoten nach. Die Wärmequelle in seinem Kopf war wieder aufgeflackert, ein Gefühl ergriff von ihm Besitz, das ihm sagte, daß er Arischa immer noch lieben konnte. Doch dieser Gedanke erlosch so rasch, wie er aufgeflammt war – und zurück blieben Leere und Kälte. Gaunth konnte in dieser Nacht kein Auge zutun. Er mußte immer wieder an die Geschehnisse denken, die dazu geführt hatten, daß er von Mainala getrennt wurde. 81
Gerade als der Trommeltanz den Höhepunkt erreicht hatte, war ein Sturm durch die Laube gestrichen, der so stark war, daß er die sieben Trommeln umwarf. Er, Gaunth, warf das letzte Messer nicht mehr, sondern lief zu Mainala, weil er fühlte, daß sie seinen Schutz brauchte. Eng umschlungen hatten sie gesehen, wie sich eine unheimliche Gestalt aus dem Wasser des Beckens erhob und waren daraufhin mit den anderen geflüchtet, die in wilder Panik davonstoben. Im Park hatte er dann Mainala aus den Augen verloren. Er hatte einen Stoß erhalten, war gestürzt, und als er wieder auf die Beine kam, war das geliebte Mädchen verschwunden. Auf der Suche nach ihr war er den Wachen in die Hände gelaufen, die ihn in ein Gemach brachten und ihm auftrugen, es nicht zu verlassen. Als er es einmal versucht hatte, hatte er vor den überkreuzten Krummsäbeln der Palastwachen gestanden. Sie ließen ihn nicht hinaus. Auf seine Frage nach Mainalas Verbleib hatten sie nicht geantwortet. Sie sprachen überhaupt kein Wort, als seien sie stumm. Als er versuchte, sich gewaltsam den Weg freizumachen, stießen sie ihn in den Raum zurück und versperrten die Tür von außen. Und nun war er gefangen, ohne zu wissen, was aus Mainala geworden war. Er konnte nicht einmal durch das Fenster entfliehen, weil es vergittert war. Andererseits, warum sollte er fliehen? Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Bei Sonnenaufgang wurde die Tür aufgesperrt, und drei Soldaten traten ein. »Mitkommen«, forderte ihn einer in barschem Ton auf. 82
»Bringt ihr mich zu meiner Gefährtin?« fragte Gaunth hoffnungsvoll. »Das wirst du noch früh genug erfahren, Gaukler«, wurde ihm geantwortet. Die Soldaten nahmen ihn in ihre Mitte. Es ging durch unzählige Gänge, kreuz und quer, und über Treppen hinauf und hinab. Endlich machten sie vor einer Tür halt. Der Anführer der Soldaten fragte ihn: »Du bist doch der Messerwerfer?« »Ich habe zusammen mit Mainala dem allmächtigen Wasserspender den Trommeltanz vorgeführt«, antwortete Gaunth ausweichend. Der Soldat zog aus seinem Gürtel ein Wurfmesser und hielt es Gaunth mit der Frage hin: »Ist das eines von deinen Messern?« »Ja ...« Gaunth wollte danach greifen, aber der Soldat entzog es ihm. Er stieß die Tür auf. »Hinein.« Sie kamen in einen dunklen Raum, in den nur durch ein kleines, hohes Fenster Licht fiel. Entlang der Wände standen zwei Reihen von Schlaflagern. Aber nur auf einem lag jemand. Gaunth sah sofort, daß es sich um einen Kranken handeln mußte, der große Schmerzen auszustehen hatte, denn er stöhnte qualvoll. Die Soldaten führten ihn an das Krankenlager. Der von Schmerzen Gepeinigte öffnete die Augen, blickte Gaunth an und sagte: »Ja, das ist der Messerwerfer ...« Gaunth erstarrte. Vor ihm lag der Schimmelreiter, den er in der Wüste mit einem Messerwurf aus dem Sattel geholt hatte und den er und Mainala in Alesch 83
wiedergetroffen hatten, als er schwerverletzt in die Stadt eingeritten war. »Werft ihn in den Kerker!« Gaunth wurde von zwei Soldaten an den Armen gepackt und fortgeschleppt.
84
5.
Die Fischer von Abbu Manda, einem kleinen Dorf in einer idyllischen Bucht, einen halben Tagesmarsch nördlich des Totenfingers, wußten viele Geschichten über Azael, den Wächter der Totenküste. So diese vom Fischer Jaram, seiner Frau Shina und seiner blutjungen Tochter Ani Ahara, was soviel wie »Frucht des Meeres« hieß, denn sie war während eines starken Sturmes weit draußen auf dem Meer im Fischerboot Jarams geboren worden. In den meisten Erzählungen wurde Azael als blutrünstig und grausam dargestellt, was er auch unbedingt war, doch noch größer als die Lust am Töten war seine Gier nach Beute. Doch das wurde in den Geschichten, die sich um ihn rankten, zu erwähnen unterlassen. Die Fischer von Abbu Manda aber kannten Azael besser. Sie sahen ihn aus ihrer Bucht oft am Totenfinger hocken und aufs Meer hinausblicken. Wenn sich am Horizont der Mast eines Schiffes zeigte, dann kam Leben in den einäugigen Riesen. Er rannte unruhig zwischen den Riffen umher, so als sinne er auf eine Möglichkeit, das Schiff in seine Gewässer zu locken. Dazu sei noch gesagt, daß die Fischer längst nicht mehr ihre Hütten bewohnten, die seit vielen Sommern schon leer standen und immer mehr verfielen. Sie hatten sich aus Furcht vor Azael in Höhlen der steilen Felsküste zurückgezogen und nahmen große Mühen auf sich, um ihre Boote in einer Grotte unterzubringen, deren Eingang klein genug war, um den Riesen mit dem einen »bösen Auge« nicht durchzulassen. 85
Aber zurück zur Geschichte des Fischers Jaram, seiner Frau und seiner Tochter. Es liegt schon viele Sommer zurück, daß die drei friedlich vereint waren. Man sprach Jaram große Schlauheit zu und meinte nicht ohne Neid, daß Fharapha, die Göttin des Glücks, ihn besonders begünstigte, denn er kannte die beiden Fischplätze und machte fast immer den größten Fang. Doch eines Tages vor einigen Monden brach das Unglück über ihn herein. Es war windstill, und Jaram hatte seine Tochter zum Fischfang mitgenommen. Wie auch an anderen Tagen, war auch diesmal sein Netz schwer von Fischen, wenn er es einholte. So konnte er bald nach Sonnenaufgang wieder zurück nach Abbu Manda segeln. Doch wie es die Götter wollten, kam unvermittelt ein Sturm auf, der die starke Strömung bewirkte, die ihn unweigerlich am Totenfinger vorbei trieb. Dort wartete bereits Azael. Er rettete Jaram wohl das Leben, indem er verhinderte, daß sein Boot gegen eine Klippe prallte, verlangte für diesen Dienst aber Gold vom Gewicht des größten Fisches, den Jaram in seinem Boot hatte. Wo hätte Jaram soviel Gold hernehmen sollen? Er wußte gar nicht, daß es eine so große Menge davon auf der Welt gab. Aber Jaram gab nicht auf, nicht umsonst rühmte man seine Schlauheit. Er begann mit Azael zu verhandeln, der schon seine Keule erhoben hatte, um Jaram und seine Tochter zu erschlagen, weil sie ihm den geforderten Tribut nicht zahlen konnten. Er könnte die geforderte Menge des Goldes beschaffen, versicherte er Azael, wenn dieser ihm eine Frist gebe. 86
Er benötigte nur so lange Zeit, bis Azael alle Fische, die sich auf dem Boot befanden, aufgefressen habe. Azael lachte ihn aus, erklärte sich aber mit dem Vorschlag einverstanden. Doch da auch der einäugige Riese nicht dumm war, verlangte er, daß Jaram seine Töchter als Pfand zurücklasse. Jaram erklärte sich auch damit einverstanden. Der Sturm hatte inzwischen nachgelassen, so daß Jaram mit seinem Boot davonsegeln konnte. Er fuhr aber nur bis hinter den nächsten Felsen, wo er das Boot vertäute und dann zu Azaels Höhle zurückschlich. Aus einem Versteck beobachtete er, wie der einäugige Riese Ani Ahara in einen Käfig vor seiner Höhle sperrte und sich dann über den Fischberg hermachte. Jaram hatte damit gerechnet, daß Azael die Fische gierig verschlingen würde, um die Frist, die er dem Fischer gegeben hatte, zu verkürzen. Aber da es sich um eine so große Menge handelte, mußte er sich dabei überfressen. Und so geschah es auch. Bald hörte er den Riesen stöhnen und sah ihn sich mit Schmerzen auf dem Boden winden. Von dem Fischberg war nur noch ein einziger Fisch übriggeblieben, aber Azael konnte ihn nicht mehr hinunterbringen. Und nun sah Jaram seine Zeit gekommen. Er schlich sich an dem von Magenkrämpfen gequälten Riesen vorbei in dessen Höhle, um sich von seinen Schätzen soviel zu holen, wie ein großer Fisch wog. Doch Jaram fand in der Höhle nur die Gebeine von Opfern vor, die Schatzkammer entdeckte er nicht. So mußte er unverrichteter Dinge schnellstens zum Dorf zurückkehren. Dort angekommen, überredete er sein Weib dazu, ihm an einen abgelegenen Ort zu folgen, schlug sie dort nieder und fuhr mit der Bewußtlosen zum Totenfinger. Er liebte seine Tochter Ani Ahara 87
über alles und wollte in seiner Verzweiflung sein zanksüchtiges Weib gegen sie eintauschen. Ob er nun hoffte, den Tausch unbemerkt vollziehen zu können, oder ob er dem Riesen die doppelt so schwere Shina im Austausch anbieten wollte, erfuhr man in Abbu Manda nie. Jaram kehrte nicht mehr lebend zurück. Wenige Tage später wurde seine Leiche am Strand angeschwemmt. Ein Fischer, der Azael mit knapper Not entgangen war, wußte zu berichten, daß vor der Höhle des Riesen nun zwei Käfige standen, und in jedem war eine Frau gefangen. Warum Azael die beiden Frauen am Leben hielt, wußte niemand zu sagen. Die Fischer aber waren sich darin einig, daß er sie mästen wollte, bevor er sie fraß. Auf den Gedanken, daß Azael einsam war und jemanden um sich haben wollte, mit dem er reden konnte, kam niemand, denn solcher Gefühle hielt man den Wächter der Totenküste nicht für fähig. Und noch etwas. Wenn die Fischer die Geschichte vom Jaram, seiner Frau Shina und seiner Tochter Ani Ahara erzählten, so vergaßen sie nie ihre Meinung zu äußern, daß Jaram viel zu feige gewesen war, um in Azaels Höhle einzudringen und die Behauptung, daß er keine Reichtümer vorgefunden habe, eine glatte Lüge war. Denn wohin sollte die Beute verschwunden sein, die Azael im Laufe der vielen Jahre gemacht hatte? »Ein Schiff!« Der kleine Junge kam aufgeregt vom Strand zu den Höhlen gelaufen. »Ein großes Segelschiff!« rief er aufgeregt und hielt drei Finger in die Höhe. »Es hat so viele Segelmasten!« 88
Die Fischer von Abbu Manda kamen zögernd aus ihren Höhlen. Dabei warfen sie scheue Blicke in die Richtung, in der der Totenfinger lag. Doch es lag Dunst in der Luft, und die Sicht reichte nur einige hundert Bootslängen weit. Als die Fischer hinter den Felsen hervortraten oder diese erklommen hatten, sahen sie, daß der Junge nicht geschwindelt hatte. »Wahrhaftig, ein Dreimaster!« sagten sie überwältigt. Es war schon lange her, daß ein so großes Schiff in ihre Bucht gekommen war. Früher, als Azael die Totenküste noch nicht in Angst und Schrecken versetzt hatte, da legten die Kauffahrer und auch die Piraten und Sklavenhändler gern in der Bucht an. Aber sie mieden Abbu Manda, seit Azael hier zu wüten begonnen hatte. Kaum war ein Schiff eingetroffen, wartete der einäugige Riese auch schon draußen in der Meerenge und verlangte seinen Tribut. Weigerten sich die Seefahrer, ihm ihre Waren und Reichtümer zu überlassen, oder suchten sie gar den Kampf mit ihm, dann versenkte er das Schiff mit Mann und Maus. Aber auch in all den schrecklichen Sommern kamen immer wieder Händlerschiffe nach Abbu Manda. Die schlauen Kauffahrer hatten nämlich in ihre Lagerräume doppelte Böden eingebaut und führten wertloses Zeug mit sich, das sie Azael überließen. Daß die Waren von Wert unter den Bohlen versteckt waren, konnte der einäugige Riese nicht sehen, weil er das Schiff nicht betrat, sondern nur durch die Luken ins Innere starrte. Nun war aber in den letzten Monden eine Veränderung mit Azael vor sich gegangen. Er jagte die Fischer grundlos, vernichtete Schiffe, ohne seinen Tribut zu verlangen, oder wanderte sogar ins Landesinnere, um un89
ter den Herden der Viehtreiber sinnlos zu wüten oder Karawanen zu überfallen. Manchmal hockte Azael aber auch tagelang an seinem Totenfinger, ließ sogar Schiffe, die in der Strömung an ihm vorbeitrieben, ziehen und schrie schaurig, daß es weit über das Meer zu hören war. Niemand, der einen gesunden Verstand besaß, wagte sich mehr in dieses Gebiet, sei es zu Lande oder auf dem Wasser. Die meisten der Jüngeren aus Abbu Manda hatten das Fischerdorf schon längst verlassen ... Und nun tauchte plötzlich ein Dreimaster auf und ging vor Anker. Ein Boot wurde zu Wasser gelassen und zum Strand gerudert. »Seht nur, der Segler hat zwei Flaggen gehißt«, rief jemand. »Das eine ist die Flagge der Großen Bruderschaft des Meeres ...« »Und die andere trägt das myranische Wappen!« »Seltsam ...« »Achmam, du kannst doch lesen«, sagten sie zu dem Ältesten. »Kannst du erkennen, welchen Namen das Schiff hat?« Achmam hatte es bisher verstanden, den anderen zu verheimlichen, daß es mit seinen Augen in letzter Zeit nicht mehr zum besten stand. Das war für ihn lebenswichtig, denn in seinem Alter war er auf die Almosen der anderen angewiesen, und da ein Sprichwort der Fischer sagte, daß sich mit dem Blick auch der Geist trübte, mußte er weiterhin vortäuschen, daß er ein scharfes Auge besaß, um als Weiser zu gelten und Geschenke zu bekommen. Achmam sah das Segelschiff nur als verschwommenen Fleck auf dem Meer. Deshalb wandte er sich einem 90
seiner Schüler zu, denen er die Weisheiten des Lebens lehrte und verlangte von ihm: »Zeige, daß du ein gelehriger Schuler bist, Babda, und male die Schriftzeichen, die du auf dem Schiff siehst, in den Sand.« Der Schüler gehorchte, und als er mit seiner Aufgabe fertig war, wurde er von Achmam gelobt, der den ungeduldigen Fischern nun sagen konnte, daß es sich bei dem Schiff um die Schwarze Wellenreiterin handelte. Inzwischen war das Boot am Strand angelangt, und vier Männer und zwei Frauen entstiegen ihm. Die vier Ruderer vertauschten die Ruder mit Waffen und kamen ebenfalls an Land. »Ich bin Dragon, der König von Myranien«, sagte der größte der Männer, der ein vornehmes Kampfgewand mit Harnisch und Helm trug und von dessen Brust ein großes Amulett wie die Sonne strahlte. »Wer ist das Oberhaupt eurer Gemeinschaft? Er soll sich zu erkennen geben.« Die Fischer blickten zögernd zu Achmam, der daraufhin einen Schritt vortrat und sich vor dem Mann, der sich als König von Myranien bezeichnete, in den Sand warf. Achmam wollte ihm die Füße küssen, aber Dragon wich zurück und meinte ärgerlich: »Steh auf, Alter, und bringe mich in deine Hütte, damit ich mit dir reden kann.« »Wir haben längst schon unsere Hütten mit Höhlen vertauscht, Erhabener«, erklärte Achmam. »Ich kann es nicht wagen, Euch in meine ärmliche Behausung zu führen, denn sie ist Eurer nicht würdig ...« »Aber ich wünsche es«, sagte Dragon entschlossen. Er wandte sich an die anderen Fischer, die durchwegs alt und schwach waren. Dragon war sicher, daß die jüngeren sich sofort versteckt hatten, als die Schwarze Wel91
lenreiterin gesichtet worden war, weil sie befürchteten, als Sklaven verschleppt zu werden. Er sagte zu den Fischern: »Ihr braucht euch nicht zu ängstigen. Wir tun euch nichts, denn wir sind keine Piraten. Um euch zu zeigen, daß meine Worte ehrlich gemeint sind, habe ich euch einige Geschenke mitgebracht. Viel können wir selbst nicht entbehren; aber ein Faß Wein, Fleisch und Brot, daß ihr für einige Tage eure hungrigen Mägen füllen könnt, werdet ihr sicher nicht verachten.« Die Fischer brachen in einen Jubelschrei aus und ließen den König von Myranien hoch leben, während sie Jaggars Männern beim Entladen des Bootes behilflich waren. »Wir werden immer weniger und immer ärmer, Erhabener«, erzählte Achmam. »Wir Alten sind zu schwach, um mit den Booten hinauszufahren und die großen Netze auszuwerfen. Was sollten wir auch damit machen, wenn uns ein guter Fang gelingt? Es kommen schon längst keine Händler mehr, weil sie sich vor dem Wächter der Totenküste fürchten, und der Weg zu den Städten und Oasen ist für uns zu beschwerlich. So fangen wir nur noch soviel Fische, wie wir zum Leben brauchen – und oftmals nicht einmal soviel, wenn Azael wieder wütet. Unsere Frauen sind zu alt, um Kinder zu zeugen, die jungen Mädchen verlassen uns, wenn sie allein für sich sorgen können, oder werden von den jungen Burschen entführt. Ihr findet in Abbu Manda kein Mädchen über elf Sommer. Und glaubt nicht, daß sich die jungen Männer aus Furcht vor Euch versteckt haben, Erhabener, nein, gewiß nicht. Aber es gibt nur noch wenige von ihnen unter uns. Und auch diese werden uns bald verlassen. Manche bleiben nur solange, um den Tod ihrer 92
Väter und Mütter abzuwarten, andere hält es nicht einmal mehr solange. Sie ziehen aus, um das Glück, das es hier nie mehr geben wird, anderswo zu suchen. Pilger haben ihnen den Kopf schwer gemacht. Pilger, die von einem Mann zu berichten wußten, der überall in der Welt Wunder vollbringt. Sie wußten keinen Namen für diesen Mann, nannten ihn aber den Weltenwanderer und auch den Friedensbringer. Unsere Jungen sind ausgezogen, um diesem Mann zu begegnen, der der Legende nach allen Glück bringt, deren Weg er kreuzt. Man kann den Jungen nicht hadern, daß sie ausfliegen, denn Abbu Manda liegt im Sterben, und bald wird dieser Name in Vergessenheit geraten sein. Denn Azael will es so.« Das Feuer in der Höhle des Alten war fast niedergebrannt, und Ubali warf einige Holzscheite hinein. »Azael wird euch nicht zum Schicksal werden«, sagte Dragon, nachdem Achmam geendet hatte. »Abbu Manda wird wieder aufblühen und größer und bedeutender werden als je zuvor. Man wird diesen Namen noch lange kennen, und er wird bei allen Seefahrern eine große Bedeutung haben, wenn wir alle schon längst zu Staub geworden sind. Denn wir sind hier, um Azael zu töten.« Vom Eingang der Höhle her, wo sich die Fischer neugierig drängten, erklang aufgeregtes Gemurmel. »Erhabener«, rief Achmam erschrocken aus, »wißt Ihr, welche Aufgabe Ihr Euch da gestellt habt?« »Nicht ich, sondern ein anderer hat sie mir gestellt«, sagte Dragon. »Ich muß es tun.« »Wie dem auch ist«, jammerte Achmam. »Aber um Azael zu töten, bedarf es eines großen Heeres, wie es in diesem Land kein Herrscher aufbieten kann. Oder ihr müßt eine Flotte aus vielen Kampfschiffen aufbieten, wie es sie nur im Land am Grünen Strom gibt ... 93
Aber wenn Ihr der König von Myranien seid, Erhabener, dann könnt auch Ihr genügend Schiffe zur Totenküste bringen, um den einäugigen Riesen zu bezwingen. Doch bedenkt, daß er viele Eurer Leute mit sich in den Tod nehmen wird.« »Ich muß es allein vollbringen«, erklärte Dragon. »Fharapha stehe Euch bei, Erhabener!« entfuhr es Achmam. »Wenn Ihr nicht Euer königliches Wort verpfändet habt, dann tretet von diesem Entschluß zurück. Kein einzelner Mann ist imstande, Azael zu besiegen, und es gibt sicher keinen außer Euch, der dieses Wagnis eingehen würde – um welchen Preis auch immer.« »Der Preis ist mein Erstgeborener«, sagte Dragon gepreßt. Schweigen senkte sich über die Höhle. Nabib konnte sich nur mit Mühe bezwingen, um nicht das Gespräch auf den Schatz des einäugigen Riesen zu bringen. Jaggar war mit seinen Gedanken bei Kapitän Pandor. Yina hatte von den Wassermenschen, die die Schwarze Wellenreiterin begleiteten, erfahren, daß ihnen die Enterkönigin folgte. Das bedeutete Schwierigkeiten. Denn wenn es Dragon gelang, den Wächter der Totenküste zu töten, würde Pandor versuchen, ihnen den Schatz abzujagen – und das gewiß ohne Rücksicht darauf, daß er, Jaggar, der Vertraute von König Jellis war, was Pandor in Unkenntnis der Situation immer noch glauben mußte. Yina beschäftigte sich mit den Gedanken des alten Fischers. Sie fand darin viele Bruchstücke von Geschichten über Azael und seine Greueltaten. Aber sie fand in seinen Gedanken nichts mehr über den Namenlosen, der den Menschen den Frieden brachte. »Ich muß Azael bezwingen, sonst ist das Leben meines Sohnes verwirkt, und du mußt mir dabei helfen, Achmam«, sagte Dragon in die Stille hinein. Als er das 94
betroffene Gesicht des Alten sah, fuhr er fort: »Ich will keine Taten von dir sehen, sondern brauche nur deinen Rat. Erzähle mir, was du über den Wächter der Totenküste weißt, aber lasse dabei deine Phantasie aus dem Spiel. Ich möchte alles über ihn erfahren, was bekannt ist, um so vielleicht seinen wunden Punkt zu finden, jedes Lebewesen hat irgendeine Schwäche, die man sich zunutze machen kann.« »Du sprichst weise, Erhabener«, sagte Achmam. »Es stimmt, was du sagst. Auch Azael hat eine Schwäche, das ist seine Gier. Er hat schon vielen das Leben gelassen, wenn er Gold dafür bekam. Aber er schenkte auch schon Menschen das Leben, die überhaupt nichts besaßen. Da gab es einst den schlauen Fischer Jaram ...« Und er erzählte die Geschichte von Jaram, der versuchte, mit dem einäugigen Riesen einen Tausch zu machen. Als er endete, entfuhr es Nabib: »Wie kannst du sagen, daß in Azaels Höhle kein Schatz vorhanden war, Alter!« »Nicht ich habe es behauptet, sondern Jaram«, meinte Achmam milde. »Aber er wird gelogen haben. Er war zwar schlau, aber auch feige. Er hat bestimmt gelogen, als er behauptete, in der Höhle gewesen zu sein.« »Das meine ich auch«, sagte Nabib nachdrücklich. Iwa, die sich zwischen Yina und Dragon gesetzt hatte, warf dem Händler einen bösen Blick zu. Doch Nabib schnitt ihr eine Grimasse. Achmam und einige andere Fischer, die längst ihre Scheu abgelegt hatten, trugen noch weitere Geschichten vor, die Dragon aber keine wirklich neuen Erkenntnisse mehr vermittelten. Das Wesentliche über Azael hatte er aus der Erzählung über den Fischer Jaram erfahren, nämlich, daß Azael keineswegs nur eine wilde Bestie, sondern auch ein denkendes Wesen war. 95
Was ging in diesem einäugigen Riesen vor? Was hatte ihn zu dem werden lassen, was er war: der Schrecken der Totenküste? Die zweite Frage war leichter zu beantworten: Azael war ein Diener des Cnossos. Aber Cnossos war seiner überdrüssig geworden, weil der Wächter der Totenküste seinem Herrn nicht mehr gehorchte. Die Fischer hatten bestätigt, daß sich Azael seit einigen Monden verändert hatte. Er war nicht mehr der zielbewußte Wächter, der von den Seefahrern Tribut forderte, sondern er tötete und zerstörte sinnlos, oder er kümmerte sich überhaupt nicht um vorbeifahrende Schiffe. Er saß oft tagelang auf dem Totenfinger, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben, oder er wütete und tobte, daß die Felsen erbebten, und wanderte ziellos durch die Wüste. »Du solltest dir nicht zuviel Gedanken über das seltsame Verhalten Azaels machen, Dragon«, sagte Nabib, der erraten zu haben schien, welche Überlegungen Dragon anstellte. »Wenn du versuchst, die Gründe für sein Verhalten zu finden, vergißt du darüber deine Aufgabe, die darin besteht, den einäugigen Riesen zu töten. Du mußt es tun, um Atlantors Leben nicht zu verwirken.« »Nabib hat recht«, pflichtete Iwa bei, was aus ihrem Mund ganz ungewohnt klang, denn sonst suchte sie immer nach Gelegenheiten, dem Händler zu kontern. Sie wurde sich auch diesmal noch rechtzeitig ihrer Rolle bewußt, indem sie sofort einschränkte: »Ich weiß natürlich, daß seine Einwände nur der Sorge entspringen, du könntest Azael verschonen, so daß er nicht an den Schatz herankäme. Aber wenn er sagt, daß du dich um die Beweggründe des einäugigen Riesen nicht kümmern sollst, dann hat er damit ein wahres Wort gesprochen.« Dragon schüttelte den Kopf. 96
»Ich suche nicht nach einer Rechtfertigung für Azaels Taten. Er hat große Schuld auf sich geladen, und es macht keinen Unterschied, ob aus eigenem Antrieb oder auf Cnossos‘ Geheiß. Ich werde ihn töten. Aber ich muß nach einem Weg suchen, der mir Aussicht auf Erfolg bietet. Bei einem Kräftemessen wäre ich haushoch unterlegen, so muß ich versuchen, ihn durch die Waffen des Geistes zu schlagen. Wäre er nur ein Tier, würde er keinen Verstand haben. Aber er kann sprechen, also denkt er, und wenn er denkt, so fühlt er auch. Und wenn man die Gefühle trifft, kann man jeden Gegner besiegen.« »Erinnere dich daran, was Achmam gesagt hat«, sagte Yina. »Azael ist unberechenbar geworden, er tut Dinge, die man früher von ihm nie erwartet hätte.« Dragon blickte überrascht auf und zwinkerte ihr dann lächelnd zu. »Sind das deine Überlegungen, Maus, oder hast du sie den Gedanken eines anderen entnommen?« »Ich habe einfach mitgedacht«, erwiderte Yina beleidigt. Sie ärgerte sich über Dragon, weil er nicht mehr so nett wie früher zu ihr war. Dabei – das hatte sie sich inzwischen vor sich selbst eingestanden – betete sie ihn an. Sie war sich klar darüber, daß der Mann, dem sie einmal gehören wollte, genauso sein mußte wie Dragon. Einem Vergleich mit ihm konnte keiner standhalten, auch nicht Bodo, der Mann aus dem Wolfsland, für den sie Liebe zu empfinden glaubte, was sie inzwischen aber als naive Schwärmerei erkannt hatte. Dragon hätte sie wirklich lieben können. Aber seit sie das wußte, war er auf einmal unausstehlich zu ihr. Ganz anders Kapitän Jaggar. Er benahm sich ihr gegenüber ganz wie zu einer Dame, und sie sah in ihm 97
längst nicht mehr den bösartigen Freibeuter wie früher. Aber – und sie seufzte – er war eben nicht Dragon ... »Worauf willst du noch warten, Dragon«, sagte Jaggar entschlossen. »Die Fischer können uns nicht mehr weiterhelfen, und du vergeudest hier nur deine Zeit. Segeln wir mit der Wellenreiterin los, solange der Nebel anhält. Dann können wir in der Strömung bis ganz nahe an den Totenfinger herankommen, bevor uns Azael entdeckt. Und während er dem Schiff seine Aufmerksamkeit schenkt, kannst du versuchen, ihn von Land und aus dem Hinterhalt zu töten.« »Dein Plan ist nicht schlecht, Jaggar«, erwiderte Dragon. »Aber er gefällt mir nicht, weil ihr euch alle in Gefahr begeben würdet. Ich möchte, daß die Wellenreiterin in der Bucht zurückbleibt. Ich werde mit einigen Freiwilligen in einem Boot zum Totenfinger fahren.« Yina berührte seine Hand. »Du mußt mir erlauben mitzukommen, Dragon«, bat sie. »Vielleicht kann ich dir das Leben retten, wenn ich dir sage, was Azael denkt.« Ubali empfand es als seine Pflicht, Dragon ebenfalls zu begleiten – und natürlich wollten die anderen auch nicht zurückstehen. Selbst Iwa wollte die Fahrt zum Totenfinger mitmachen, da, wie sie sagte, sie auf Yina aufpassen müsse. »Wenn der Nebel dichter wird, braucht Ihr einen kundigen Führer, der Euch durch die Klippen lotst, Erhabener«, meldete sich Achmam zu Wort. »Erlaubt mir, Euer Führer zu sein, denn es würde mir die Gewißheit geben, daß mein Leben nicht ganz so sinnlos ist, wie es scheint. Was kann ich schon verlieren?« »Dein Augenlicht bestimmt nicht mehr«, sagte Jaggar etwas vorschnell und bereute es sofort. Der Alte lächelte schmerzlich. 98
»Selbst wenn ich ganz erblindet wäre, könnte ich Euch sicherer ans Ziel bringen als jeder andere, denn ich kenne die Totenküste besser als selbst Azael.« »Dann sei es. Du begleitest uns, Achmam.« Der Nebel lichtete sich, je näher sie dem Totenfinger kamen. Dafür zogen dunkle Wolken am Himmel auf, und das Meer wurde immer unruhiger. »Ein Sturm kommt auf«, prophezeite Achmam, der das Steuerruder hielt und das Boot sicher zwischen die Riffe hindurchlenkte. »Wir müssen darauf achten, nicht in die Strömung zu geraten, denn sonst entkommen wir ihr nicht mehr und zerschellen am Totenfinger.« Jaggar hatte die Ruder einholen lassen, denn der Wind war inzwischen so stark geworden, daß sich das Segel bauschte und sie schnell vorankamen. Als Achmam das Boot nur mit größter Mühe und mit Ubalis kräftiger Unterstützung an einer Klippe vorbeisteuern konnte, war das das erste Zeichen für Jaggar, daß ihre Fahrt sogar zu schnell war. Er ließ das Segel aufgeien und die Männer wieder an die Ruder gehen. »Wir hätten besser den Weg über Land wählen sollen«, erklärte Nabib. »Ich fahre gern zur See, aber nicht bei diesem Sturm und in einer Nußschale. Wofür haben wir denn Pferde?« »Azael hätte die Reittiere schon von weitem gewittert«, versicherte Achmam. »Fürchtet Euch nicht, Herr, ich werde Euch sicher ans Ziel bringen.« »Wer spricht von Angst«, begehrte Nabib auf. »Ich meinte nur, daß wir über Land rascher vorangekommen wären.« »Nabib kann es kaum mehr erwarten, in Azaels Schätzen zu wühlen«, sagte Iwa spöttisch. »Ob er es auch so 99
eilig gehabt hätte, wenn Cnossos ihm diese Aufgabe gestellt hätte?« Yina saß zwischen Dragon und Jaggar im Heck und fröstelte. »Ich bin schon ganz durchnäßt«, sagte sie zu Dragon, der jedoch keine Hand rührte. Statt dessen entledigte sich Jaggar seines Wamses und legte es ihr um die Schultern. »Das wird dich wärmen, Yina.« Als die Männer an den Rudern immer müder wurden, lösten Ubali, Jaggar und Dragon drei von ihnen ab. Nabib nahm nur zögernd den Platz des vierten Mannes ein. »Hab dich nicht so«, spöttelte Iwa. »Bewegung schadet dir nicht und kostet dich höchstens etwas von deinem Bauchspeck.« »Ich weiß nicht, ob ich es vielleicht nicht doch wie der Fischer Jaram halten werde und dich Azael zum Geschenk mache, Iwa«, erwiderte Nabib keuchend, dem schon nach dem dritten Ruderschlag die Luft ausging. »Dein Pech, daß ich nicht dein Weib bin«, meinte Iwa. »Mein Glück, Iwa!« »Da vorne ist der Totenfinger«, sagte Achmam, der nun keine Mühe mehr hatte, das Ruder zu halten, denn die Wellen brachen sich an den weit vorgelagerten Klippen, und dahinter war das Meer verhältnismäßig ruhig. Trotzdem erforderte es ein großes Geschick, den felsigen Untiefen und den scharfen Riffen auszuweichen, die oftmals nur knapp über die Wasseroberfläche ragten. Sie blickten alle in die Richtung, die seine Hand wies. In einer Entfernung von etwa hundert Bootslängen schoben sich die Felsen weit ins Meer vor und fielen stellenweise fast senkrecht hinunter. Und noch etwas vorgelagert erhob sich ein spitzer, wie ein mahnender Finger 100
aufragender Fels an die dreißig Mannslängen hoch in den wolkenbehangenen Himmel. Dort hauste Azael, der Wächter der Totenküste. »Können wir es wagen, noch näher heranzufahren?« erkundigte sich Dragon. »Das würde ich Euch nicht raten, Erhabener«, meinte Achmam. »Nicht nur, daß Azael uns von seiner Höhle aus jederzeit entdecken könnte, kämen wir etwas weiter vorn auch in die Strömung.« »Dann gehen wir an Land«, beschloß Dragon. In diesem Moment sprang Yina auf und wäre beinahe über Bord gegangen, wenn ihr nicht einer von Jaggars Männern rechtzeitig beigesprungen wäre. »Ein Schiff!« rief sie über den Sturm hinweg. »Es ist eine Galeere.« »Wahrhaftig«, entfuhr es Jaggar, der das Schiff ebenfalls entdeckte, als es gerade von einem Wellenberg hochgehoben wurde. »Und wenn ich mich nicht irre, handelt es sich um die Enterkönigin.« »Es ist die Enterkönigin, Kapitän«, sagte einer seiner Leute, der auf den Mast geklettert war, um besser über die Klippen sehen zu können. »Das Schiff ist verloren«, behauptete Achmam. »Es befindet sich genau in der Strömung und wird zum Totenfinger getrieben.« »In diesem Fall gehen wir nicht an Land«, erklärte Dragon. »Azael wird sich wohl kaum um unser Boot kümmern, sondern seine ganze Aufmerksamkeit der Enterkönigin schenken. Oder glaubst du, daß wir von der Strömung abgetrieben werden und an den Klippen zerschellen könnten, Achmam?« »Das befürchte ich nicht, Erhabener«, antwortete der alte Fischer. »Meine Sorge galt nur Azael, aber Ihr mögt recht haben, daß er uns jetzt in Ruhe läßt.« 101
Dragon, Jaggar, Nabib und Ubali wurden wieder von den vier Seeleuten am Ruder abgelöst. Dragon stellte sich an den Segelmast und hielt sich an einem Tau fest. Er starrte zur Enterkönigin hinüber. Er erkannte, daß man auf der Galeere Anstrengungen unternahm, um der Strömung zu entkommen. Das Steuerruder war quergestellt, und die Ruder an Backbord schlugen in raschem Takt ins Wasser, während die Ruder auf der Steuerbordseite hochgestellt waren. Dadurch wurde zwar erreicht, daß sich das Schiff mit der Breitseite zur Strömung stellte, aber es machte nicht einmal eine Schiffslänge Fahrt voraus. Statt dessen begann es sich im Kreis zu drehen. Pandor mußte das Unsinnige dieses Manövers erkannt haben, denn er ließ nun auch die Steuerbordruder schlagen – und zwar, als die Enterkönigin mit dem Bug gegen die Strömung stand. Für einige Augenblicke erreichte er dadurch tatsächlich, daß das Schiff langsamer wurde und sogar eine kurze Strecke gegen die Strömung fuhr. Doch dann waren die Ruder dieser Belastung nicht mehr gewachsen und einige brachen. Die Sklaven konnten die verbleibenden Ruder nicht mehr halten und mußten dem Druck der Strömung einfach nachgeben, so daß die Enterkönigin wieder in Richtung des Totenfingers getrieben wurde. »Azael!« schrie Achmam über den Sturm hinweg. Tatsächlich war der einäugige Riese in diesem Moment hinter den Felsen vorgetreten. Er war ein langbeiniges Geschöpf mit einem verhältnismäßig kurzen Oberkörper, seine Arme waren dafür so lang, daß sie bis zu den Knien hinunterreichten. Von seinem mächtigen Schädel mit dem einen Auge wehte das lange, silbrig glänzende Haar. 102
Azael stand nur da und starrte zu der hilflos herantreibenden Enterkönigin hinüber, an deren Reling nun einige Bogenschützen und Speerwerfer erschienen. Dragon hatte sich den Anblick des einäugigen Riesen viel schrecklicher vorgestellt. Er bot einen ungewöhnlichen Anblick, erschien ihm aber keinesfalls furchterregend. Azael streckte die grünbehaarten Arme den Bogenschützen abwehrend entgegen und gab ein schauriges Gebrüll von sich. Da regnete es den ersten Pfeilhagel auf ihn. Die Pfeile bohrten sich in seine Handflächen und überall in seinen Körper – wie winzige Nadeln, dachte Dragon. Der einäugige Riese schrie wütend auf und rieb sich die Handflächen an seinem Körper, so daß die Pfeile abfielen. Als die Bogenschützen eine zweite Salve auf ihn abschossen, duckte er sich hinter einem Fels und tauchte im Wasser unter. Dragon wartete gespannt auf sein Auftauchen. Aber als er an die Wasseroberfläche kam, war es nicht in der Nähe der Enterkönigin, sondern noch weiter entfernt. »Er greift nicht an, sondern zieht sich zurück!« stellte Dragon fest. Azael teilte mit kräftigen Schritten das Wasser. Doch gerade als er an Land klettern wollte, bohrten sich an die zwei Dutzend Pfeile in seinen Rücken. Er schrie wieder auf und ließ sich rücklings ins Wasser fallen. Für einige Atemzüge war er untergetaucht. Als er diesmal auftauchte, hatte er einen mannsgroßen Felsbrocken in der Hand und war auf Wurfweite an die Enterkönigin herangekommen. Zwei Speere bohrten sich in seine Brust, aber Azael ließ sich davon nicht beirren. Er hob den Fels hoch über den Kopf und schleuderte ihn. 103
Sie waren mit dem Boot schon so nahe herangekommen, daß Dragon erkennen konnte, wie die Krieger an Deck der Galeere auseinanderstoben. Der Felsbrocken traf den Segelmast in seiner Verankerung und knickte ihn wie einen Grashalm.
Azael hatte inzwischen wieder einen Fels hochgehoben. Er nahm nur kurz Ziel, dann warf er ihn zum Heck der Enterkönigin, wo er auf das Steuerruder prallte und es zertrümmerte. Die Galeere drehte sich wie in einem Wirbel herum und krachte mit der Breitseite gegen eine spitze Klippe. Dragon vermeinte, es bis hierher zu hören, wie die Planken splitterten ... die Galeere schob sich mit dem Bug weit aus dem Wasser und geriet in Schräglage, und etliche Krieger gingen über Bord, Sklaven wurden von den Ruderbänken gerissen und stürzten, immer noch anein104
andergekettet, in die Fluten, wobei die Ertrinkenden die anderen mit sich zerrten. Azael watete mit kräftigen Schritten zum Wrack, riß den geknickten Mast an sich und schwang ihn wie eine Keule. Dabei gab er winselnde Laute von sich. Dragon hatte es gar nicht bemerkt, daß sie mit dem Boot auf Grund aufgelaufen waren. Er hielt sich unwillkürlich fest, weil er dachte, daß sie kenterten, doch dann stellte er erleichtert fest, daß sie auf einem schmalen Sandstreifen zwischen den Felsen gelandet waren. Azael war für einen Moment ihren Blicken entschwunden. Aber nachdem sie das Boot verlassen hatten, erkletterten sie die Felsen und beobachteten von dort die weiteren Vorgänge. Der einäugige Riese wütete fürchterlich unter den Überlebenden. Er schlug mit dem abgebrochenen Segelmast auf alles, was im Wasser trieb. Jedesmal wenn er einen sah, der sich schwimmend zu retten versuchte, gab er einen fürchterlichen Schrei von sich und ließ seine Waffe niedersausen. Plötzlich jedoch hielt er inne, warf den Mast fort, beugte sich über das Wrack und starrte auf irgend etwas, das sein Interesse geweckt hatte. Dragon konnte nicht sehen, was es war, weil Azael ihm die Sicht verstellte. Aber als dieser einen Schritt zur Seite machte, erkannte er, daß es sich um einen Sklaven handelte, der halb im Wasser lag und an die Ruderbank gekettet war. Er schien noch zu leben, denn er bewegte sich, doch konnte es auch sein, daß er von den Wellen hin und her getrieben wurde. Azael kniete im Wasser nieder und griff behutsam – jedenfalls hatte Dragon den Eindruck, daß er vorsichtig zu Werk ging – zwischen die geborstenen Schiffsplanken hindurch. Er langte mit jeder Hand nach 105
etwas, wobei er jeweils nur zwei Finger einsetzte, und machte eine ruckartige Bewegung. Es gab ein Krachen und ein Kettenrasseln, und die Geräusche waren nochmals zu hören, als Azael den Vorgang wiederholte. Dann erhob sich der einäugige Riese, und etwas lag in der Höhlung seiner Hände, das sich leicht bewegte und fast darin verschwand, nur die Arme und Beine ragten darüber hinaus. »Azael hat einem Sklaven das Leben gerettet«, sagte Dragon verblüfft. »Er hat es nur getan, um ihn sich am Spieß zu braten«, sagte Achmam voll Überzeugung. »Wer weiß ...« Dragon blickte den Alten an. »Ist Azaels Höhle noch weit?« wollte er wissen. »Nein, Erhabener, sie liegt ganz in der Nähe. Aber seid vorsichtig, wenn Ihr Euch hinbegebt. Schleicht Euch nur gegen den Wind an, denn sonst wittert Azael Euch, und dann seid Ihr verloren.« »Danke für den Rat, Achmam«, sagte Dragon. »Ubali, bist du bereit, mir zu folgen?« Ubali hob grinsend die Arme. Er hatte in jeder Hand eine Lanze, zwei Gürtel mit Schwertern umgeschnallt und zusätzlich noch vier Dolche darin stecken; über seinen Rücken spannte sich ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen; der Unterarm seiner Rechten war mit einem runden Schild geschützt. »Nur über meine Leiche würde ich dich allein gehen lassen, Herr«, versicherte Ubali. »Ihr anderen bleibt hier zurück«, erklärte Dragon bestimmt. »Ihr habt gehört, wie schwer es ist, sich Azael unbemerkt zu nähern. Je mehr wir wären, desto größer würde die Gefahr einer Entdeckung. Sollte ich nicht zurückkommen, dann unternehmt nichts, sondern kehrt 106
einfach um. Ich hoffe, du hast verstanden, Jaggar! Vergiß nicht, daß du zwei Frauen bei dir hast. Nabib, dich bitte ich, Amee Trost zu spenden, falls ...« »Ich bin sicher, daß ich nicht in die Lage komme, eine traurige Kunde überbringen zu müssen«, unterbrach ihn der Händler. Als Dragon sah, daß Yina Tränen in den Augen hatte, schnippte er mit dem Finger gegen ihr Kinn. »Kopf hoch, Maus.« »Viel Glück, Dragon«, sagte sie und drückte ihm einen schnellen Kuß auf die Lippen. »Willst du ihn nicht auch küssen, Iwa«, schlug Nabib vor. »Er würde dann Azael allein mit seiner Witterung in die Flucht jagen.« »Ach, du Fettsack!« schalt ihn Iwa. Dann drückte sie Dragon kurz an sich. »Komm, Ubali«, sagte er und wandte sich abrupt ab.
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6.
Azael, Azael, was hast du nur getan! Er blieb stehen und lauschte, ob er die Stimme wieder hörte, aber da war nur das Pfeifen des Windes und das Tosen der Brandung. Hatte Ani Ahara ihn gerufen? Für einen Moment kam Hoffnung in ihm auf, aber dann sagte er sich niedergeschlagen, daß sie es bestimmt nicht war, die ihn rief, denn sie hatte schon seit Monden kein Wort mehr an ihn gerichtet. Er wußte nicht, warum sie schmollte, und versuchte es von Shina zu erfahren. Aber auch sie gab keine Antwort. Sie sprachen beide nicht mehr mit ihm. Sie erlaubten ihm, daß er zu ihnen sprach, sie hörten ihm geduldig zu, gaben jedoch keine Antwort. Wie hatte er das verdient? Er spürte, wie sein Auge feucht wurde und wischte die Träne mit der Schulter fort. Die Hände konnte er nicht benutzen, weil er darin seinen neuen Freund hielt. Azael lachte so glücklich, daß das Tosen der Brandung und das Heulen des Sturms in dem Geräusch unterging. Wie lange war es schon her, daß er zuletzt glücklich gewesen war? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, oder vielleicht doch – wenn er sich anstrengte. Er schloß sein Auge, öffnete es jedoch sofort wieder, als er die große Flut heranrollen sah. Nein, diese Bilder wollte er nicht. Er wollte nicht daran erinnert werden, was vor der großen Flut gewesen war. Dies hier war seine Welt, hier lebte er, hier mußte er sich behaupten. 108
Er sank auf die Knie nieder und senkte den Kopf. Plötzlich hob er ihn wieder und lauschte. Waren da nicht wieder Stimmen? Ja, aber diesmal hörte er die Schreie der von ihm Getöteten. Es waren viele, die da in all den Jahren zusammengekommen waren, so viele, daß er sie gar nicht mehr zählen konnte ... und sie erschienen ihm alle gleichzeitig in seinen Träumen und quälten ihn mit ihrem Gewimmer ... Er konnte es nicht mehr ertragen. Er hielt es nicht mehr aus, wenn die Toten ihn aufsuchten, um ihn zu quälen. Dann flüchtete er sich immer in andere Bilder. Ja, in seiner Erinnerung waren auch schönere Bilder als die von Mord und Totschlag, Zerstörung und Plünderung. Aber sie stammten alle aus der Zeit vor der großen Flut. Er blickte zu den Sternen hinauf, wo für ihn das Paradies lag. Doch er konnte sie nicht sehen, weil Wolken den Himmel verdeckten. Dort oben war ein großes Meer ohne Wasser, und darin schwammen Inseln, die so groß waren wie diese Welt ... von dort stammten die schönen Bilder. Aber es gab noch andere, die Suche-Bilder und die Buße-Bilder. In den Suche-Bildern sah er sich durch diese Welt streifen, die nach der Flut fremd und wild geworden war. Er suchte nach seinesgleichen oder zumindest nach Menschen, die ihn nicht haßten und ihn nicht fürchteten. Aber wohin er bei seiner Suche auch kam, überall verbreitete er panisches Entsetzen unter den Menschen. Er sagte ihnen, daß sie keine Angst vor ihm zu haben brauchten, doch sie verstanden seine Sprache nicht – und er nicht die ihre. Später erlernte er ihre Sprache und 109
zwang Menschen, ihm zuzuhören. Doch sie haßten und fürchteten ihn weiterhin, und sie bekämpften ihn auch. Das schmerzte ihn, und er zog sich zurück. Er wurde zum einsamsten Lebewesen dieser Welt. Das waren keine schönen Bilder, aber sie waren immer noch besser zu ertragen als die Träume, in denen ihm die Toten erschienen. Die Toten-Bilder zeigten sich ihm noch nicht lange, erst seit ein paar Monden. Sie kamen erst, als er zu bereuen begann, und diese Reue stärker wurde, als die ihm von seinem Herrn auferlegte Buße. Die Buße-Bilder ... Azael verließ sein Versteck. Er tat es selten genug und nur, wenn er keine Menschen in der Nähe wußte, die sich vor ihm fürchten konnten. Er kam an einen breiten Fluß, und dort stand ein alter Mann. Azael wollte sich verstecken, doch der Alte hatte ihn schon erblickt, und Azael flüchtete gar nicht, weil der Mensch keine Angst vor ihm zeigte. »Willst du über den Fluß, Väterchen?« fragte Azael ihn. »Soll ich dich hinübertragen?« »Vielleicht, Einauge«, sagte der Alte einsilbig. »Genügt es dir nicht, nur über den Fluß zu kommen, Väterchen?« »So ist es, Einauge.« »Ich kann dich auch weitertragen, Väterchen«, bot sich Azael an, der überglücklich war, endlich einen Menschen gefunden zu haben, der ihn nicht fürchtete. Das freute Azael, der von Natur aus friedlich und gutmütig war. »Ich bringe dich bis an dein Ziel, Väterchen, so weit du willst, und rasch und ohne Rast.« »Das ist ein Wort, Einauge. Du sagtest, wohin ich will und ohne Rast. Stehst du dazu?« 110
»Gewiß, Väterchen. Ich kann bestimmt länger laufen, als du dich auf meinen Schultern halten kannst.« »Und wenn es gerade umgekehrt ist?« »Dann will ich dir dein Lebtag lang dienen und alles tun, was du von mir verlangst.« »Väterchen« kletterte behende auf Azaels Rücken, setzte sich auf seine Schultern und schlang die Beine um seinen Hals, daß ihm schier die Luft wegblieb. Azael rannte los. Über Steppen und durch Wälder, durchschwamm Flüsse und überkletterte Berge, und als sie dann in die Wüste kamen, brach Azael vor Erschöpfung zusammen. Der Alte aber verwandelte sich in einen mächtigen Vogel, packte den einäugigen Riesen mit seinen Krallen und brachte ihn an die Totenküste, wo er ihm am Totenfinger seine Höhle zuwies. Und Cnossos sprach: »Von dieser Stunde an wirst du mein Diener sein, Azael. Ich weiß, daß du ein langes Leben hast, so wirst du mir bis zu deinem Tod treu und ergeben sein und tun, was ich verlange. Du bist der Herr dieser Küste, und alle Schiffe, die in dein Gebiet kommen, werden dir Tribut zollen, und du wirst die Schätze horten und an mich erstatten. Hier, nimm das zur Kräftigung.« Er verabreichte Azael irgend etwas, nach dessen Genuß der einäugige Riese willenlos gehorchte. Und Cnossos sah Azael tief ins Auge und versklavte ihn mit seinem Blick. Seit diesem Tag büßte Azael sein Vertrauen in die Menschen. Er tötete und tötete ... bis sich sein Geist verwirrte und ihm all die von ihm Getöteten im Traum erschienen. Das waren die Buße-Bilder. Irgendwann kam die Zeit, da konnte er Cnossos, seinem Herrn, nicht mehr gehorchen. Er wollte nicht mehr töten, sondern suchte die Menschen auf, um ihre Gnade 111
zu erbitten. Doch sie fürchteten und haßten ihn noch immer, und sie bekämpften ihn, wenn sie sich in die Enge getrieben sahen. Er mußte sich zur Wehr setzen, denn zu tief war der Trieb in ihm verankert, sein Leben zu schützen. Er tötete weiter, weinend und ohne zu wissen, was er tat. Kaum begangen, vergaß er seine Greueltaten wieder, aber dann kamen seine Träume, und die Bilder von den Toten, ihre Schreie und ihr Klagen erinnerten ihn wieder an seine Schuld. Azael, Azael, wohin gehst du! Sprachen Ani Ahara und Shina zu ihm? Aber nein, die beiden schwiegen schon seit langem. Er umhegte und pflegte sie, aber sie hockten schon seit Monden hindurch reglos da, rührten Speise und Trank nicht an und schwiegen. Die Einsamkeit wurde für Azael immer unerträglicher. »Eßt! Trinkt!« forderte er Ani Ahara und Shina auf. Aber sie verweigerten die Nahrung und wurden immer dürrer. Azael saß oft da und schrie sein Leid aufs Meer hinaus. Dann watete er wieder durch die Brandung und suchte die Fischer auf, die seit Jahrzehnten seine Nachbarn waren und deren Freundschaft er nie gewinnen konnte. Sie verkrochen sich auch jetzt vor ihm in den Höhlen, deren Zugänge so schmal waren, daß er nicht hindurchkam. Das ließ ihn leiden und machte ihn wütend, so daß er tobte und in seinem Zorn tötete – und dann bereute er wieder und beweinte die Toten. Heute war ein Schiff zum Totenfinger gekommen. Azael, von Neugier und Hoffnung getrieben, verließ seine Höhle. Er sah, daß das Schiff, wie viele andere Schiffe zuvor, in Not geraten war. Er wollte helfen. Es hätte ihm 112
keine besondere Mühe gekostet, das zerbrechliche Ding an Tauen aus der Strömung zu ziehen. Aber die Seefahrer wollten seine Hilfe nicht und fügten ihm mit ihren winzigen Nadeln Schmerz zu. Azael flüchtete, aber dann drangen die Nadeln in seinen Rücken, und irgend etwas in seinem Gehirn riß ... Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was dann geschah. Er wußte nur noch, daß das Schiff plötzlich barst und die Menschen ertranken. Nur einer von ihnen hatte überlebt. Azael löste die Ketten, mit denen er an die Schiffsplanken gefesselt war, und brachte ihn zu seiner Behausung. Er hatte einen neuen Freund gewonnen. Diesmal würde er sich besser vorsehen, um seinen Freund nicht zu verlieren wie Ani Ahara und Shina. Dragon erklomm einen Felsen und hielt plötzlich inne. Er bedeutete Ubali, sich still zu verhalten. Ubali hatte Mühe, kein Geräusch zu verursachen, denn seine Waffen scharrten über den Fels und klirrten gegeneinander. Aber auf Dragons Zeichen war er besonders vorsichtig und schob sich nur handbreitweise voran. Als auch er den Felsen erklommen hatte, bot sich ihm ein seltsames und furchterregendes Bild. Keine zwanzig Schritte vor ihnen war Azael, der grüne Riese mit dem einen Auge und dem schlohweißen Haar. Er hatte ein großes Lagerfeuer gemacht, in dem entwurzelte Bäume, Schiffsmasten und Planken brannten. Azael selbst benahm sich ungewöhnlich und so ganz anders als Ubali es von ihm erwartet hatte. Der Riese umschlich das Feuer, wobei er etwas in seinen mächti113
gen Armen wie ein Kleinkind wiegte. Dabei gab er seltsame Laute von sich, gerade so als singe er. »Er hat einen Gefangenen«, raunte Ubali. »Und das Feuer hat er nur gemacht, um ihn sich zu braten.« Dragon schüttelte den Kopf. »Du irrst, Ubali. Die Schauergeschichten der Fischer haben dich blind für die Wirklichkeit gemacht. Frißt du etwa Menschen, Ubali?« »Nein, aber ...« »Siehst du, und ebenso tut es auch Azael nicht. Er ist schließlich kein Tier.« Als Ubali daraufhin etwas sagen wollte, gebot ihm Dragon mit einer Handbewegung Schweigen und beobachtete wieder die Szene vor sich. Azaels Lagerplatz lag zwischen schroff aufragenden Felsen eingebettet und befand sich am Fuße des Totenfingers. Der Zugang zur Höhle war etwa dreißig Schritte – Menschenschritte natürlich – vom Lagerfeuer entfernt in der Felswand der Steilküste. Dragon sah links und rechts des Höhleneingangs je einen Käfig. In jedem hockte der mumifizierte Leichnam einer Frau. Das mußten Ani Ahara und Shina, die Tochter und die Frau des Fischers Jaram, sein. Sie hatten noch im Tode die Beine abgewinkelt und das Knie ans Kinn gezogen, die Hände umklammerten die Gitterstäbe. Dragon wandte seine Aufmerksamkeit wieder Azael zu, der nun vor dem Lagerfeuer niederkniete und auf das Wesen in seinen Armen hinunterstarrte. Dann rann ihm eine Träne aus dem Auge und fiel zischend auf ein glosendes Holzscheit. Eine Träne, so groß wie ein Vogelei. Dabei sprach der Riese in der Alten Sprache: »Wach auf, mein Kleines ... Rühre dich, öffne die Augen ... bewege die Lippen und sprich zu mir ... Du bist 114
nicht tot, nein, nein. Du wirst bald erwachen, denn ich fühle den Schlag deines kleinen Herzens ...« Azael bettete das Wesen, das kaum ein Drittel seiner eigenen Körpergröße maß, vorsichtig und mit einer rührenden Behutsamkeit auf ein Lager aus getrocknetem Gras, das in sicherer Entfernung vom Feuer war. »Das ist der Sklave!« entfuhr es Ubali überrascht. »Welcher Sklave?« wollte Dragon wissen. »Der Sklave, den Yina auf Pandors Schiff vor der Peitsche bewahrte«, antwortete Ubali flüsternd. »Er heißt Gun Umbar. Erinnerst du dich wieder, Herr?« Dragon nickte. Er erinnerte sich an den Vorfall. »Dein Amulett leuchtet in unregelmäßigen Abständen auf, Herr«, hörte er gleich darauf wieder Ubali sagen. »Was hat das zu bedeuten?« »Das Pulsieren gibt mir zu verstehen, daß Azael noch aus der Zeit von Atlantis stammt«, antwortete Dragon abwesend. »Dann kannst du auch die Sprache des Riesen verstehen?« Dragon nickte. Ubali zuckte zusammen, als Azael plötzlich einen großen Stein ergriff und von sich warf. Dabei rief er in der Alten Sprache: »Wehe mir Unseligen! Warum nur habe ich getötet? ... Die Mächtigen werden Sühne von mir verlangen ... Sie werden vor mir erscheinen und verlangen, daß ich für meine Schuld sühne!« Er kniete wieder nieder und trommelte seine Fäuste gegen die Brust und rief: »Nie wieder will ich Unrecht tun!« Dann warf er sich herum, so daß er neben dem reglos daliegenden Sklaven kauerte. »Du bist nicht tot, Kleines. Sag es! Sag, daß du lebst.« 115
Und als hätte Gun Umbar Mitleid mit dem heulenden Riesen, regte er sich und stützte sich auf die Arme. Da erst erkannte er den mächtigen Schädel mit dem einen Auge vor sich und wich erschrocken bis an die Felswand zurück. »Hab keine Angst, Kleines. Ich möchte, daß wir Freunde werden«, sagte Azael in der Sprache der Menschen. »Sprich zu mir und sag, daß du keine Furcht vor mir hast.« »Bist du ... Azael, der Wächter der Totenküste?« fragte Gun Umbar stockend. »Ich bin Azael, der Einsame«, rief der einäugige Riese klagend. »Ich will nicht mehr wachen und nicht mehr töten.« »Dann war der Namenlose bei dir und hat dir den Frieden gebracht?« erkundigte sich Gun Umbar. Azael heulte auf und trat gegen die brennenden Holztrümmer im Feuer. »Niemand war bei mir ... Keiner hat sich meiner erbarmt. Ich war allein mit meiner Einsamkeit.« Er beugte sich wieder zu Gun Umbar und griff nach ihm. Er hob ihn behutsam auf seine Handfläche, fügte dem Mann jedoch trotz aller Vorsicht. Schmerzen zu, daß dieser aufschrie. »Nicht weinen, Kleines«, bat Azael nun wieder in der Alten Sprache. Er erhob sich und umkreiste das Feuer, Gun Umbar dabei in seinen Armen wiegend. »Sei ganz ruhig ...« Und Azael begann in der Sprache der Zyklopen ein Kinderlied zu singen. Dragons Amulett begann nun noch heftiger zu pulsieren ... Er verstand auf einmal den Text des Liedes, ebenso wie ihm die Erkenntnis kam, daß das Volk, dem 116
Azael angehörte, die Zyklopen genannt worden waren ... damals in Atlantis. Azael sang von dem großen Meer ohne Wasser, in dem der Vater unterwegs war – Weltraum, assoziierte Dragon; Azael sang vom Weltraum! ... Und von der Mutter, die auf einer Insel in dem wasserlosen Meer, das Kind behütete ... Diese Insel war das Auge der Welt, das Herz des Universums, der Pulsschlag des Lebens ... Trockne dein Auge, sang Azael wie die Mutter für das Kind, und schließe es und schlafe, und wenn du erwachst, dann bist du groß und folgst dem Vater in das endlose Meer. Gun Umbar verhielt sich die ganze Zeit über still. Vielleicht wagte er sich nicht zu bewegen, vielleicht aber übertrug sich auch Azaels Stimmung auf ihn. Als Azael mit seinem Zyklopengesang fertig war, legte er den Mann auf das Lager zurück. »Schweige nicht wie Ani Ahara und Shina«, bat er. »Rede mein Kleines, sei mir ein Freund.« »Du bist mein Freund, Azael«, sagte Gun Umbar stockend. Der Riese sprang auf und brüllte: »Habt ihr es gehört, ihr Mächtigen. Ich bin der Menschen Freund.« Azael wirbelte zu den Käfigen mit den Mumien herum. »Stumme Ani Ahara«, rief er und hob den Käfig hoch über den Kopf. »Fort mit dir – aus meinem Auge!« Und er schleuderte den Käfig weit von sich, über die Klippen, hinaus ins Meer. »Und aus meinem Blick, stumme Shina!« Er hob den zweiten Käfig hoch. So stand er da, als Dragon aus seinem Versteck trat, den bis an die Zähne bewaffneten Ubali in seinem Rücken. 117
Azael starrte auf Dragon, als handle es sich um eine magische Erscheinung. Der Käfig entglitt seinen Händen und barst, die Mumie zerfiel zu Staub. »Rettet Euch, Herr!« schrie Gun Umbar von seinem Lager aus. »Das Ungeheuer hat den Verstand verloren, und nur ich kann es bändigen. Zurück Azael! Gehorche deinem Freund!« Aber der einäugige Riese schien ihn überhaupt nicht gehört zu haben. Sein Auge war auf Dragon gerichtet, aber er blickte nicht ihn an, sondern auf das Amulett an seiner Brust. Dragon stellte fest, daß sein Amulett nicht mehr pulsierte, sondern in einem hellgrünen Leuchten erstrahlte, von dem Azael wie gebannt war. »Ich bin den weiten Weg von Atlantis gekommen, um dir, Azael, den letzten der Zyklopen auf dieser Erde, die verdiente Ruhe zu bringen«, sagte Dragon in der Alten Sprache. Azael heulte auf und hielt sich die Arme vor das Auge. »Das Feuer der Mächtigen«, kam es gurgelnd aus seinem Rachen. »Es will mich blenden! Zu Hilfe, mein Freund! Rette mich, ich muß die Dunkelheit suchen!« Mit einem gequälten Aufschrei wandte er sich um, ergriff einen zwei mannsgroßen, brennenden Schiffsmast und rannte damit zu dem aufragenden Fels. Azael, Azael, was tust du? hörte es Dragon in der Sprache der Zyklopen. Die Worte waren nicht Schall, sondern erschienen plötzlich in Dragons Geist. Azael hatte den brennenden Schiffsmast zwischen die Zähne genommen und erkletterte so den Totenfinger. Die drei Männer starrten wie benommen zu ihm hinauf. 118
Als der Riese die höchste Spitze des Totenfingers erreicht hatte, rief er noch ein letztes Mal: »Dunkelheit, umfange mich!« Dann bohrte er sich den brennenden Schiffsmast ins Auge. Er schrie auf, wankte und verlor den Halt und stürzte in die Tiefe, wo sein Körper auf den Klippen zerschellte. Azael, der Wächter der Totenküste, war tot. Man würde sich weiterhin schreckliche Geschichten über ihn erzählen, und vielleicht würde sich auch ein Geschichtenerzähler finden, der sich an die Wahrheit hielt – der sagte, wie es war; daß Azael ursprünglich friedlich und gutmütig gewesen war, den Cnossos, der Gott der vielen Namen, aber zur Bestie gemacht hatte und der schließlich geistig zerbrach, als er sich seiner Greueltaten bewußt wurde. »Du hast es geschafft, Dragon!« rief Nabib triumphierend, als er mit den anderen die Höhle erreichte. »Du hast die von Cnossos geforderte Tat vollbracht.« »Und sogar, ohne selbst auch nur eine Hand zu rühren«, erklärte Ubali. »Warum hat er sich selbst gerichtet?« fragte Jaggar. »Wir haben von unserem Versteck aus gesehen, wie er sich auf der Spitze des Totenfingers den brennenden Mast ins Auge stieß. Was hat ihn dazu verleitet, Dragon?« Yina kam zu ihm und berührte seine Schulter. »Dragon?« Dieser zuckte zusammen, als hätte man ihn aus einer anderen Welt in diese geholt. »Was ist mit dir, Dragon?« fragte Yina sanft. Dragon sah durch sie hindurch. 119
»Erinnerungen«, murmelte er. »Ich muß allein sein, ich muß die vielen Eindrücke erst verarbeiten. Habt Geduld mit mir.« »Hast du deine Erinnerung nun zurückbekommen?« wollte Iwa wissen. Aber Dragon gab ihr keine Antwort. »Laßt ihn zufrieden«, schalt Nabib die beiden Frauen. »Merkt ihr denn nicht, daß euer Geschwätz ihn nur stört? Ubali, komm her und begleite mich in die Höhle.« Nabib rieb sich die Hände. »Jetzt wollen wir einmal sehen, welche Überraschungen sie für uns bereithält.« Nabib erlebte tatsächlich eine Überraschung – die größte Enttäuschung seines Lebens. Denn die Höhle war leer, das heißt, es lag genug Unrat und wertloses Zeug herum, von halbverbrannten Galeonsfiguren bis zu menschlichen Skeletten, aber von den erhofften Reichtümern fehlte jede Spur. Der Händler durchsuchte zusammen mit Ubali jeden Winkel der Höhle und klopfte sogar die Wände nach Geheimgängen ab. Doch es gab keinen Schatz. »Wo mag all die Beute hingekommen sein?« sagte Nabib niedergeschlagen, als er wieder bei den anderen zurück war. »Cnossos hat sie«, sagte Yina bestimmt. »Immer wenn Azael genügend Reichtümer angesammelt hatte, wird Cnossos gekommen sein, um sie abzuholen.« Nabib nickte. »Das muß die Erklärung sein.« Dragon schreckte für einen Moment aus seiner Versunkenheit hoch. »Achmam«, sagte er, ohne den Fischer anzusehen. »Können wir es wagen, zu deinem Dorf zurückzukehren?« 120
»Nicht auf dem Wasser, Erhabener«, antwortete Achmam. »Der Sturm hat zugenommen, und gegen die Strömung würden wir nicht ankommen.« »Dann lagern wir am Totenfinger, bis der Sturm vorbei ist«, beschloß Dragon. »Morgen werde ich dann zum Berg des Windes reiten und Cnossos‘ Boten treffen.« ENDE Wenn Dragon das Leben seines Sohnes retten will – er weiß noch nicht, daß es sich um den durch Maratha unterschobenen Dragomar handelt und nicht um Atlantor, den von Amee geborenen eigentlichen Thronerben –, muß er auch der nächsten erpresserischen Forderung des Balamiters nachkommen. Und diese Forderung lautet: »Reite nach Alesch!« Mehr darüber erfahren Sie im nächsten Band der Dragon-Serie. Der Roman ist von Ernst Vlcek geschrieben und erscheint unter dem Titel: ALESCH, DIE GRAUSAME
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