Wachgeküsst in St. Aubain
Sophie Weston
Romana 1335
19/2 2000
Scanned by suzi_kay
PROLOG
"Braut und Count Nikol...
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Wachgeküsst in St. Aubain
Sophie Weston
Romana 1335
19/2 2000
Scanned by suzi_kay
PROLOG
"Braut und Count Nikolai Ivanov", sagte der Fotograf im Ballsaal leise zu seiner Assistentin und fotografierte das tanzende Paar. "Aufnahme achtundneunzig, Ivanov", notierte sich diese eifrig. Dann warf sie einen Blick auf den gut ein Meter neunzig großen breitschultrigen Mann. Er hatte schwarzes Haar, ein markantes Profil und strahlte eine überwältigende Selbstsicherheit und Vornehmheit aus. "Du meine Güte, warum habe ich ihn nicht schon früher gesehen?" "Das hätte Ihnen nichts genutzt", erwiderte ihr Chef, während er nach dem nächsten Fotoobjekt Ausschau hielt. "Er ist der begehrteste Junggeselle Europas und verbringt seine halbe Zeit im Urwald. Was für eine Verschwendung! Aber er ist nicht Ihr Typ." "Oh, ich könnte durchaus ein Auge zudrücken. Er ist einfach umwerfend." Zynisch sah ihr Boss sie an. "Und auch ein Herzensbrecher. Nach dem Tod seines Bruders ist er der Letzte seines Geschlechts." "Ich will ihn doch nicht gleich heiraten", protestierte das junge Mädchen lachend. "Die Ivanovs haben eine längere Ahnenreihe als die Romanows, wie es heißt. Count Nikolai wird niemanden heiraten, der nicht zumindest drei Wappen und einen Titel in der Familie hat." Wieder setzte er den Fotoapparat an. "Ah, die Mutter der Braut zusammen mit der Gastgeberin. Aufnahme neunundneunzig: Madame Repiquet und Countess Ivanova." "Großmutter sieht müde aus", flüsterte Nikolai Großvater Pauli ins Ohr. "Soll ich sie in mein Haus geleiten?" "Du kannst es versuchen." Weil Veronique Repiquet ihre Hochzeit in dem französischen Chateau feiern durfte und die Festlichkeiten bestimmt bis in die frühen Morgenstunden dauern würden, hatte man vereinbart, dass der alte Count und seine Frau in Nikolais Haus übernachteten. Es lag etwas abseits auf dem herrlichen Besitz. Nikolai lachte leise. "Ich werde sehr energisch auftreten. Das wirkt bei Frauen eigentlich immer." "Du glaubst, viel über Frauen zu wissen, stimmt's?" "Ich bin Tierverhaltensforscher", antwortete Nikolai mit einem Zwinkern, "und habe ein geschultes Auge für Frauen." Trotz des Lächelns wirkte sein Großvater leicht beunruhigt. "Zweifelst du nie, Nicki?" "Ständig. Bei jeder Expedition, jedem Referat, jeder Vorlesung. Hätte ich keine Zweifel, gäbe es nichts Interessantes mehr zu erforschen."
"Ich habe nicht an deine Arbeit gedacht." Pauli klang plötzlich verärgert. "Meine Frage bezog sich auf Frauen." Nikolai sah ihn besorgt an. Sein liebenswürdiger Großvater verlor eigentlich nie die Beherrschung. "Was ist los?" Besänftigend legte er ihm den Arm um die Schultern. "Bereust du es, dein Chateau für dieses Fest geöffnet zu haben?" "Nein", antwortete er halb seufzend. "Nein. Aber deine Großmutter hat gesagt... dass es eigentlich Vladis Hochzeit sein sollte." Nikolais Miene verschloss sich, und Pauli verwünschte seine Ungeschicklichkeit. Schon öfter hatte er sich gefragt, ob sein Enkel den Tod des Bruders vor einem Jahr möglicherweise noch nicht verwunden hatte. "Es ist schön, dass sie ihre Freude hat", fügte er schnell hinzu. "Ich hatte befürchtet, dass so ein großes Fest zu viel für sie sein könnte. Aber sie hat gemeint, es wäre eine gute Übung für deine Hochzeit." "Autsch." Nikolai sah teils betroffen, teils traurig drein. "Warum bist du so gegen das Heiraten, Nicki?" Nikolai ließ den Blick durch den Ballsaal schweifen. Die Kapelle hatte wieder zu spielen begonnen. Die Rhythmen waren jetzt heißer und schneller, da die älteren Leute allmählich gingen. Die Männer tanzten ohne Jacketts, und auch die jungen Frauen zeigten Schulter und kümmerten sich nicht darum, dass ihre kunstvollen Frisuren litten. Er schnitt ein Gesicht. "Vielleicht bin ich nur kein Partygänger." Pauli ließ sich nicht beirren. "Du kannst mit den Besten feiern, wenn du willst. Aber eine Heirat ist mehr als eine Party." "Genau." "Hast du Angst vor der Ehe, Nicki?" Er sah, wie sich die Miene seines Enkels noch mehr verschloss. Normalerweise wäre er jetzt nicht weiter in ihn gedrungen, aber aus irgendeinem Grund konnte er heute nicht schweigen. "Du weißt, wir haben dich nie gefragt, wissen, dass dir dein Privatleben heilig ist. Aber ... hast du je mit einer Frau zusammengelebt?" Nikolai lächelte seinen Großvater gekünstelt an und erschauderte. "Nie." "Aber es hat Frauen gegeben", stellte Pauli fest und offenbarte, dass er, auch ohne zu fragen, informiert war. "Natürlich", erwiderte Nikolai ruhig. "Ich lasse sie nur nicht bei mir einziehen." "Aber..." "Das würde sie nur ermutigen. Hängt eine Frau erst ihre Sachen in deinen Schrank, glaubt sie, Anrechte auf dich zu haben." Pauli blickte beiseite. "Das klingt sehr kaltherzig." "So bin ich", antwortete Nikolai heiter. "Heißblütig und kaltherzig. Das verschafft mir ein ruhiges Leben."
1.KAPITEL
"Dann feuern Sie mich!" Lisa Romaine lehnte sich gegen die Wand und sah ihren Chef herausfordernd an. Sam Voss saß gereizt am Schreibtisch. "Darf ich meiner Verantwortlichen für den Bondhandel keinen Rat geben?" "Rat?" Er versuchte es mit einem gewinnenden Lächeln. "Lisa, reagieren Sie nicht über. Warum setzen Sie sich nicht, und wir reden." Wie nicht anders zu erwarten, rührte sie sich nicht von der Stelle. "Nicht über mein Privatleben", erwiderte sie und blickte ihn kritisch mit ihren grünen Augen an. "Wenn man für die Bank Napier Kraus arbeitet, hat man kein Privatleben." Lisa sah ihn ironisch an. "Sie vielleicht nicht, aber ich." Sam schüttelte den Kopf. "Ich dachte, Sie wollten vorwärts kommen." "Deshalb arbeite ich auch hart und bringe meine Leistung. Aber ich gebe mich nicht auf und versuche nicht, ein Klon des Generaldirektors zu werden." "Das reicht", erklärte Sam energisch. "Sie gehören jetzt zur Führungsriege. Und wenn Sie dort bleiben wollen, sollten Sie sich entsprechend verhalten." "An meinem Arbeitsplatz tue ich das natürlich. Aber ich werde nicht mein ganzes Leben umkrempeln und mich von meinen Freunden abwenden." "Sehen Sie, Mädchen ..." "Ich bin zweiundzwanzig", brauste Lisa auf. "Behandeln Sie mich nicht so von oben herab." "Dann seien Sie nicht so störrisch. Sie sind eine kluge junge Frau und verdienen Ihre Chance. Vergeben Sie sie nicht." "Was wollen Sie damit sagen?" "Nun, in der Personalabteilung ist man sich in Bezug auf Sie nicht ganz sicher." "Warum? Meine Leistung ..." "Oh, damit ist man sehr zufrieden. Sie stehen in der engeren Wahl zum Händler des Jahres. Man ist sich dort nur nicht ganz sicher, ob eine Frau als Chefin mehrerer flotter Männer so geeignet ist." Lisa zuckte verächtlich die Schultern. "Und auch Ihr Erscheinungsbild ist nicht unumstritten." "Was ist daran auszusetzen?" "Sie sind ein hübsches Mädchen. Pardon, eine hübsche junge Frau. Legen Sie sich eine anständige Frisur zu und einige Designerklamotten, und Sie nehmen es mit all den Akademikerpüppchen auf. Sie sind ein heller Kopf, Lisa, aber Sie
sehen aus wie ein Punk." Sie rümpfte die Nase. Ihr Chef ließ keine Gelegenheit aus, sie herabzusetzen. Doch was ihr Äußeres anging, besaß sie ein gesundes Selbstvertrauen. Die Spiegelwand hinter seinem Schreibtisch reflektierte ein Bild, mit dem niemand außer ihm Probleme hatte: naturblondes Haar, knabenhafte Züge, in Relation zu ihrer etwas bescheidenen Größe lange Beine und eine umwerfende Figur. Sie hatte ihre ganze, nicht unbeträchtliche Persönlichkeit aufbieten müssen, ihre neuen Mitarbeiter davon abzuhalten, nicht jedes Mal anerkennend zu pfeifen, wenn sie vom Schreibtisch aufstand. "Ich sehe nicht aus wie ein Punk", erwiderte sie ruhig. Sam war der Einzige bei Napier Kraus, der ihre schwarz bestrumpften Beine nicht schätzte. Ärgerlich blickte er auf ihren kurzen Rock. "Eines nicht mehr fernen Tages werden Sie als Gastgeberin für Bankkunden fungieren. Was werden die Leute wohl denken, wenn sie auf der Rennbahn von einer Frau mit Ohrgehängen begrüßt werden, die wie ein kitschiger Christbaumschmuck glitzern?" Unwillkürlich fasste sie sich an eines der Schmuckstücke. "Das ist nicht Ihr Ernst!" "In der Chefetage weiß man bereits, dass Ihr Zuhause sich kaum von einer Studentenbude unterscheidet. Die Chauffeure reden." Lisa war empört. "Sie sind ein Snob", erwiderte sie mit kühlem Blick. "Nein. Ich weiß nur Bescheid." Sam war zwischen Verzweiflung und Zuneigung hin- und hergerissen. "Machen Sie sich nichts vor, Lisa. In unserer Muttergesellschaft hat man klare Vorstellungen, wie führende Mitarbeiter leben sollten. Und denen entsprechen Sie in keinem Punkt." Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn wütend an. "Und um ihnen zu entsprechen, muss ich vorgeben, jemand zu sein, der ich nicht bin?" "Das ist Ihre Entscheidung", antwortete er ungeduldig. "Und jetzt gehen Sie, und verdienen Sie Geld für uns." Lisa hatte eine schreckliche Woche hinter sich. Die Börsen in Fernost hatten entsetzlich nachgegeben. Sie hatte jeden Morgen früh in der Bank sein müssen und sie erst spätabends wieder verlassen können, nachdem die Wall Street geschlossen und man das weitere Vorgehen diskutiert hatte. Deshalb war sie auch nicht dazu gekommen, die Gemeinschaftsküche zu putzen, womit sie diese Woche an der Reihe gewesen wäre. Aber das hatten ihr die Mitbewohner nicht so verübelt wie ihr Fernbleiben von der Feier anlässlich Annas einundzwanzigstem Geburtstag am Mittwochabend. "Bist du zu grandios, um noch an so etwas wie eine Geburtstagsparty zu denken?" hatte Alec spöttisch gefragt.
Von allen Leuten, mit denen sie sich das Haus teilte, wusste er am meisten über ihren Job Bescheid. Er hatte sogar kurzzeitig selbst bei Napier Kraus gearbeitet. Als er zu ihnen gezogen war, hatten sie sich gut verstanden. Aber seit ihrer Beförderung hatte er ständig gestichelt. Lisa konnte das in gewisser Weise verstehen. Alec war älter und nicht wie sie mit sechzehn ins Berufsleben eingetreten, sondern hatte studiert. Es war nur natürlich, dass er eine Art Konkurrenzdenken entwickelt hatte. Doch in letzter Zeit hatten seine Bemerkungen eine Spur Bosheit enthalten, und das fand sie schwer zu ertragen. Vielleicht sollte ich Sams Wunsch entsprechen und ausziehen, dachte sie. Aber es widerstrebte ihr, etwas zu tun, das in ihren Augen snobistisch war. Wenn sich Alec jedoch weiter so benahm, würde sie sich anderswo sicherlich wohler fühlen. Lisa war wenig begeistert, als sie am Abend in die Küche kam und feststellte, dass Alec als Einziger zu Hause war. Er stand am Herd und kochte Spaghetti Bolognese. "Die anderen sind ausgegangen", informierte er sie, ohne sich umzudrehen. "Sie haben gesagt, sie würden versuchen, ins Equinox hereinzukommen. Du könntest sie dort treffen." "Offen gestanden ist mir ein ruhiger Abend ganz recht. Es war eine höllische Woche." "Die schwere Last der Verantwortung", erwiderte er leicht gereizt, und Lisa spürte sofort eine gewisse Anspannung. Aber dann deutete er auf den Nudeltopf. "Willst du Spaghetti?" Dankbar ging sie auf das Friedensangebot ein. "Gern. Ich ziehe mich nur schnell um." Sie duschte kurz, schlüpfte in Jeans und Sweatshirt und kehrte in die Küche zurück. Alec hatte inzwischen den Tisch gedeckt und reichte ihr ein Glas Rotwein, nachdem sie sich gesetzt hatte. Stumm trank sie ihm zu. "Der schmeckt gut. Danke, Alec." "Gern geschehen." Zwanglos unterhielten sie sich beim Essen über die Pläne fürs Wochenende, ihre Familien und sogar die Arbeit. "Gehört der Ausflug ins Equinox noch zu den laufenden Geburtstagsfeiern?" fragte Lisa irgendwann arglos, und Alec explodierte. "Ein sechsstelliges Einkommen macht dich nicht zu etwas Besserem als uns." Sie seufzte. Für ihre Mitbewohner war sie das Mädchen aus dem East End, das es geschafft hatte. Sie sahen in ihr jemanden, der nicht kleinzukriegen war, hart arbeitete und schlagfertig war. Keiner wusste, wie sehr sie sich das erkämpft hatte und wie einsam sie sich fühlte. Und niemand ahnte auch nur, was im Privatbereich alles auf ihren Schultern lastete.
"Ich bin zu müde dafür, Alec." Er lachte bitter auf. "Zu müde", äffte er sie grimmig nach. "So eine Topstellung beansprucht, stimmt's? Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, dass du heute Zeit hattest, mein Essen zu essen." "So ein Unsinn." Alec stand auf, kam um den Tisch herum und blickte sie nachdenklich an. "Wann hattest du zuletzt Zeit für mich?" "Alec..." Er schien sie nicht zu hören, sah sie nur forschend an. "Dir dämmert noch nicht einmal was, stimmt's?" Er verzog das Gesicht, und Lisa dachte einen schrecklichen Moment lang, er würde gleich weinen. Sie wich seinem zu sprechenden Blick aus, aber es war zu spät. Alec hatte ihren Widerwillen bemerkt, fasste sie und zog sie vom Stuhl hoch. "Sieh mich an, Lisa." Schwer atmend und verzweifelt stand er vor ihr. "Bitte. Bitte. Ich liebe dich. Niemand liebt dich so wie ich." Lisa war entsetzt und völlig überrascht. In der Wohngemeinschaft gab es eine klare Abmachung: keine Beziehung unter den Mitgliedern. Alec war für sie immer nur ein Freund gewesen. Dass er mehr für sie empfand, traf sie gänzlich unerwartet. "Sag das nicht", bat sie. Aber er hörte sie nicht. Er hielt sie umklammert, als ginge es um sein Leben. Auch sie war einmal verliebt und verletzbar gewesen. Und seine Verwundbarkeit zu sehen schnitt ihr ins Herz. Das ertrage ich nicht. "Lass mich los." Sie versuchte, sich zu befreien, was er jedoch nicht zu bemerken schien. "Du glaubst, du bist so stark. Aber du brauchst Liebe. Jeder braucht Liebe. Ich kann dir Liebe geben." Maßlos entsetzt verfolgte sie, wie er sich hinkniete und das Gesicht an ihren flachen Bauch presste. "Alec, bitte, tu das nicht." Sie wollte ihn wegschieben, aber er hielt sie fest umklammert. Hilflos, schmerzerfüllt und verlegen sah sie sich um. Alec schien sich seiner Kraft überhaupt nicht bewusst zu sein oder der Tatsache, dass sie, Lisa, versuchte, sich von ihm zu befreien. Bleib ganz ruhig, ermahnte sie sich stumm. Wenn sie die Beherrschung nicht verlor und sich ablehnend, aber freundlich gab, würde gleich alles vorbei sein, und sie wären wieder Freunde. Mach dir nichts vor, dachte sie dann. Sie würden nie wieder Freunde sein können. Nicht, nachdem er seine Gefühle so vor ihr offenbart hatte. Alec bemerkte ihre ablehnende Haltung überhaupt nicht. Er war viel zu sehr in seinen Gefühlen gefangen. Schon begann er, an ihrem Sweatshirt zu zerren. Ob er
es ihr ausziehen oder sie so auf den Boden bekommen wollte, war nicht eindeutig. "Ich liebe dich, ich liebe dich", murmelte er in einem fort. Angewidert riss Lisa sich los. Und endlich sah er sie an. In seinem Blick lag ein Anflug von Wut, aber in seinen Augen schimmerten Tränen. Geschmeidig stand er auf, fasste sie und presste seine Lippen auf ihre. Lisa schloss die Augen, empfand Mitleid sowie Entsetzen. Sie versuchte, ihn wegzustoßen, aber er hielt sie weiter fest, merkte vielleicht nicht einmal ihre Gegenwehr. Energisch befreite sie sich aus seinem Griff. "Ich liebe dich", wiederholte er empört. Alte Erinnerungen waren in ihr wach geworden, von denen er nichts wusste. Und diese zusammen mit der aktuellen Situation erschütterten sie zutiefst und brachten sie so durcheinander, dass sie vergaß, freundlich zu sein. "Du liebst mich! Beleidige nicht meine Intelligenz." Sie wich hinter den Tisch zurück. "Du möchtest mit mir schlafen und glaubst, das mit einer Liebeserklärung zu erreichen. Ich habe eine Überraschung für dich. Das funktioniert nicht. Nicht mehr." "Lisa ..." Er war verzweifelt, aber auch etwas wütend. In eindeutiger Absicht kam er auf sie zu. "Fass mich nicht an", stieß sie hervor und flüchtete aus der Küche. Am nächsten Morgen verließ Lisa das Haus, noch bevor irgend jemand aufgestanden war. Sie spielte kurzfristig mit dem Gedanken, zu ihrer Mutter zu gehen, verwarf ihn dann aber wieder. Joanne würde nur sagen, dass sie schon genug Schwierigkeiten mit Kit habe. Von ihr, Lisa, wurde erwartet, dass sie stark war und ihre Probleme allein löste. Schließlich fuhr sie ins Tanzstudio nach Ladbroke Grove. Jazztanz stand dort auf dem Programm. Und sie stürzte sich mit Leib und Seele hinein. "Was hat Sie denn heute getrieben?" fragte eine Teilnehmerin, als Lisa nach der Stunde den Raum verließ. "Wie bitte?" Sie sah sich um. "Oh, hallo, Tatiana. Ich wusste nicht, dass Sie auch Jazztanz machen." Tatiana Lepatkina musste über siebzig sein, gab hier aber noch immer Ballettunterricht. "Tanzen nennen Sie das?" Gemeinsam gingen sie zum Umkleideraum. "Was Sie gemacht haben, war reines Kampftraining." Lisa lachte zum ersten Mal wieder seit gestern Abend. Tatiana lächelte. Sie war klein, hatte Muskeln wie eine Athletin und war stets bühnenmäßig geschminkt. "In Ihre Reichweite zu kommen wäre gefährlich und schmerzhaft geworden", sagte sie und verschwand in eine der Duschkabinen. "Sie haben herrliches Haar. So blond und auch noch natürlich", meinte sie, als sie einige Zeit später wieder erschien und Lisa sich vor dem Spiegel kämmte. "Mit wem haben Sie es denn in Gedanken vorhin aufgenommen?"
"War das so offensichtlich?" Tatiana nickte. "Einem Mann?" "Oder zwei", antwortete Lisa nur halb scherzend. "Das hört sich kompliziert an. Trinken wir etwas zusammen, und Sie erzählen mir alles." Und zu ihrer eigenen Überraschung tat Lisa dann genau das. Als sie ausgeredet hatte, sah Tatiana sie einen Moment kritisch an. "Sie sind sicher, dass Sie Alec nicht ermutigt haben?" "Nicht, dass ich wusste. Wir hatten von Anfang an die Abmachung: keine Beziehung innerhalb der Wohngemeinschaft. Daran hat sich jeder gehalten. Okay, okay", fuhr sie dann fort, als Tatiana viel sagend schwieg. "Ich dachte, jeder würde sich daran halten." "Gefühle lassen sich nicht reglementieren. Das funktioniert nicht." Störrisch sah Lisa sie an. "Glauben Sie mir", erklärte Tatiana eindringlich. "Als ich noch aktiv getanzt habe, sind wir oft monatelang auf Tournee gewesen. Anfangs heißt es immer: keine Gefühle. Aber die menschliche Natur siegt jedes Mal." Lisa verfluchte leise die menschliche Natur. "Es gibt keinen Grund, sie zu bekämpfen", erwiderte Tatiana. "Und was haben Sie nun vor?" Lisa seufzte. "Mir eine andere Bleibe suchen. Alec wird mir nie verzeihen, und ich bin offen gestanden auch nicht gerade stolz auf meine Reaktion. Ich bin in Panik geraten. Diese ganze Leidenschaft ..." Sie schnitt ein Gesicht. Tatiana hatte viel für Leidenschaft übrig. "Na, höre ich da nicht doch ein Interesse?" "Nicht im Mindesten. Männer sind Idioten." "Oh." "Ich habe mit achtzehn meinen Reinfall erlebt. Inzwischen bin ich erwachsen geworden. Warum nicht auch sie?" erwiderte Lisa. "Und eigentlich habe ich keine Zeit, mich um eine neue Wohnung zu kümmern. Aber was noch schlimmer ist, mein Chef wird mir ab jetzt zusetzen, dass ich mir auch ja etwas Angemessenes suche. Wofür ich so gut wie sicher kein Geld habe, es sei denn, ich verpfände meine Unterwäsche. Und überhaupt widerstrebt es mir zutiefst, das zu tun, was er will." "Ah." Tatiana gab nicht nur Ballettunterricht, sie war auch Choreografin. Während sie Lisa zuhörte, entwickelte sich in ihrer Fantasie allmählich ein Szenario. Das könnte der dramatische Pas de deux sein, überlegte sie. Ein mächtiger Mann, der von einer Frau bekämpft wird, weil sie sich die Anziehungskraft zwischen ihnen beiden nicht eingestehen kann.
"Was ist an Ihrem Chef auszusetzen?" fragte sie vorsichtig. "Es missfällt ihm, dass eine Frau die besten Umsätze erzielt", antwortete Lisa grimmig. "Er konnte nicht umhin, mich zu befördern. Aber dann hat er sich Luft gemacht, indem er meinen Lebensstil kritisierte." Tatiana war enttäuscht. Sie hätte gern mehr Leidenschaft in ihrer Geschichte gehabt. "Was bemängelt er denn?" "Ich wohne falsch, kleide mich falsch und habe die falschen Freunde." Das ergibt doch noch eine dramatische Handlung, dachte Tatiana zufrieden. "Offenbar glaubt er, Sie wären nicht gut genug für ihn." "Absolut", bestätigte Lisa. Ihr Miene verfinsterte sich. "Und er ist nicht der Erste", fügte sie leise hinzu, was Tatiana aber entging, denn sie war zu sehr in Gedanken. "Wollen Sie etwas mieten oder kaufen?" "Ich wohne zur Zeit zur Miete ..." "Sie könnten die Souterrainwohnung in meinem Haus haben, wenn Sie nichts kaufen wollen." "... aber ich möchte nicht ..." Was hatte Tatiana da gesagt? "Wie bitte?" Tatiana wiederholte ihr Angebot. "Ich wusste nicht... Ich war nicht darauf aus ...", erklärte Lisa verlegen. "Das ist mir klar", erwiderte Tatiana amüsiert. "Warum sollten Sie auch? Sie wissen nicht, wo ich wohne und dass ich eine Wohnung zu vermieten habe. Aber das habe ich. Mein Haus liegt gleich um die Ecke." Sie machte eine eindrucksvolle Pause. "Stanley Crescent." "Oh." Tatiana schwieg erwartungsvoll, und Lisa erkannte, dass sie offenbar noch etwas sagen sollte. Aber was? Tatiana sah ihre Verwirrung und lächelte. "Es ist eine sehr gute Adresse." "Ist es das? Oh ... ich bin sicher, dass es das ist." Lisa verzweifelte fast an sich. "Ich kenne mich in diesem Teil Londons nicht so aus." "Hier gibt es versteckte Gärten", erklärte Tatiana geheimnisvoll. "Entschuldigung?" "Wenn man durch Notting Hill geht, sieht man beiderseits der Straße diese weißen Häuserreihen, stimmt's?" "Ja", bestätigte Lisa verwirrt. "Was man nicht sieht, sind die riesigen Gemeinschaftsgärten, die teilweise dahinter liegen. Manche sind so groß wie ein Park. Dort sind alte Bäume, Rosarien und vieles mehr. Es ist so, als würde man auf dem Land leben."
Plötzlich sah Lisa saftiges grünes Gras vor ihrem geistigen Auge, sprießende Bäume und Vögel, die Nester bauten. Unbewusst seufzte sie sehnsüchtig auf. "Sie mögen Gärten?" fragte Tatiana erfreut. "Ich weiß es nicht. Wir hatten nie einen." Tatiana sah den träumerischen Ausdruck in ihren Augen und sagte: "Ziehen Sie am Montag ein." Nachdem die Möbelpacker Lisas wenige Habseligkeiten in die Wohnung gebracht hatten, bezahlte sie sie und fuhr mit dem Taxi zur Bank. Um elf Uhr saß sie vor ihrem Computer. "Arbeiten wir heute nur halbtags?" neckte ihr Stellvertreter Rob sie. "Ich bin umgezogen", antwortete sie, während sie ihr Passwort eingab. Rob zog die Brauen hoch. Lisa hatte ihm noch am Freitag wütend von der Unterredung mit Sam berichtet. "Du bist aber von der schnellen Truppe." Lisa sah ihn kurz über die Bildschirmkante hinweg an und lächelte frech. "Gesagt bekommen, schon in die Hand genommen. So bin ich." "Sam wird beeindruckt sein." "Ich weiß. Aber das kann ich nicht ändern." "Wetten, dass er deine neue Adresse überprüft? Nur um sicher zu gehen, dass du diesmal angemessen wohnst." "Das wagt er nicht. Aber wenn doch", fügte sie mit grimmiger Zufriedenheit hinzu, "wird er eine Überraschung erleben." Auch für Lisa barg der Umzug einige Überraschungen. Es erwies sich als entsetzlich schwierig, Tatiana zu bewegen, ihr eine Miete zu nennen. Die alte Dame hatte sie begeistert durch Haus und Garten geführt und keinen Zweifel daran gelassen, dass sie sich über Lisas Anwesenheit freute. Aber über Geld zu sprechen, hielt sie eindeutig für schnöde und wollte nichts davon hören. So klopfte Lisa eines Abends - eine Flasche teuren Rotweins in der einen und einige Maklerunterlagen in der anderen Hand - bei ihrer Vermieterin. "So kann es nicht weitergehen", sagte sie energisch, nachdem Tatiana sie hereingelassen und die Flasche gnädig entgegengenommen hatte. "Wir müssen einen Mietvertrag abschließen." Sie legte ein Blatt Papier auf den Nussbaumtisch, der im sanften Licht der Artdeco-Lampe glänzte. "Hier ist ein Standardformular. Ich habe es unterschrieben, aber zeigen Sie es erst Ihrem Anwalt, bevor Sie unterzeichnen." Sie verstummte einen Moment, als sie Tatianas Gesichtsausdruck sah. "Sie haben doch einen Anwalt?" "Die Familie hat einen." "Gut. Rufen Sie ihn morgen an. Den Mietbetrag habe ich nicht eingesetzt, Ihnen aber vom Makler einige Unterlagen über Zweizimmerwohnungen und deren
Preis hier in der Gegend mitgebracht." Lisa legte die restlichen Papiere auf den Tisch. "Suchen Sie sich eine aus." Tatiana rümpfte die Nase. "Als ich in Ihrem Alter war, haben die jungen Damen so getan, als würde Geld nicht existieren. Das war allein Männersache." Lisa ließ sich nicht beirren. "Zieren Sie sich nicht", erwiderte sie lächelnd. "Ich gehe nicht, bevor Sie einen Scheck von mir genommen haben." Widerwillig warf Tatiana einen Blick auf die erste Wohnungsbeschreibung. "Das ist viel zu viel. Außerdem hat sie einen separaten Eingang." Lisa war bestens vorbereitet. "Okay. In den Unterlagen sind Mieten für neun Wohnungen angegeben. Ich habe den Durchschnittspreis errechnet." Sie holte einen Zettel aus der Hosentasche, den Tatiana mit spitzen Fingern nahm. "Reden Sie mit Ihrem Anwalt, oder ich ziehe wieder aus. Aber das wäre schade, denn es gefällt mir hier sehr." Sie sank auf die Chaiselongue aus den zwanziger Jahren. "Das freut mich", erwiderte Tatiana, öffnete die Weinflasche und schenkte ihnen ein Glas ein. "Meine Familie hat mir das Haus vor langer Zeit gekauft. Sollte ich nicht mit Tanzen meinen Lebensunterhalt verdienen können, dann als Vermieterin." "Und wie ist es gelaufen?" "Ich habe beides gemacht. Tanzen ist kein leichter Broterwerb. Vor allem nicht, wenn man älter wird. Jetzt arbeite ich als Choreografin, aber als ich in den Vierzigern war, war es ganz schön hart." Tatiana runzelte die Stirn. "Allerdings kommt immer noch einmal im Jahr jemand von der Familie vorbei, um nach dem Rechten zu sehen." Lisa trank einen Schluck. "Wer ist denn so mutig, das zu tun?" "Dieses Jahr wird es wohl mein Neffe Nikolai sein. Es gibt keine ungeeignetere Person. Als ich ihn zuletzt gesehen habe, hatte er einen Bart und trug khakifarbene Tarnkleidung. Allerdings war das im Fernsehen", fügte sie widerwillig hinzu. "Was für eine glamouröse Familie!" "Nikolai ist nicht glamourös", erwiderte Tatiana. "Er ist Forscher und schreibt Bücher über das Verhalten von Primaten." "Oh, hat er dann etwas von einem wilden Tier an sich?" "Gütiger Himmel, nein", antwortete seine stolze Tante. "Er ist immer die Beherrschung in Person." "Aber?" fragte Lisa. Tatianas Stimme hatte leicht reserviert geklungen. "Er möchte auch jeden anderen beherrschen. Und dann findet er, man solle erfreut sein, weil er sich herabgelassen und einem so viel von seiner Aufmerksamkeit geschenkt hat. Männer." In Lisas Familie gab es keine Männer. Aber sie hatte sich seit ihrer Anstellung bei Napier Kraus in einer Männerwelt behaupten müssen und konnte Tatiana nur beipflichten.
"Aber er ist erst im Dezember hier gewesen. Ich dürfte also noch ein halbes Jahr vor ihm Ruhe haben." Wie sollte sie sich irren! "Oh nein, nicht wieder London", sagte Nikolai zu seinem Großvater, als sie von den Stallungen zurück zum Chateau gingen. Er befasste sich genauso widerwillig mit den Angelegenheiten seiner Tante, wie diese ihn das tun ließ. "Ich hasse London. Wer möchte schon in eine schmutzige, laute Großstadt fahren, wenn er hier in dieser Idylle sein kann." Pauli lächelte. "Ich dachte, jeder wollte heutzutage in London sein. Veronique hätte ihre Hochzeit vermutlich gern dort gefeiert. Sie hält London für ,cool'." Nikolai verdrehte die Augen. "Veronique, ja. Aber ich bin sechsunddreißig und nicht mehr auf das Großstadtleben versessen." "Aber du scheinst dir eine ganz schöne Zeit zu machen, wenn du dort bist", erwiderte sein Großvater trocken. Nikolai gab erst gar nicht vor, ihn nicht zu verstehen. Mehrere Zeitschriften hatten von den letztjährigen Londoner Weihnachtspartys der High Society berichtet und auch Fotos von Nikolai veröffentlicht. Auf jedem Bild war er mit einer anderen Frau zu sehen gewesen, was seiner Großmutter wenig gefallen hatte. Aber Pauli hatte ihr nur erklärt, er fände es schön, dass Nicki allmählich über den Tod seines Bruders hinwegkomme und sich wieder amüsiere. Taktvoll hatte er ihr dann das Foto verschwiegen, das aus einer der an Nikolai gerichteten Weihnachtskarten herausgefallen war. Es schien auf einer Studentenparty aufgenommen worden zu sein. Seine Frau wäre entsetzt gewesen, dass Nikolai halb nackt Klavier gespielt hatte. Aber Pauli war realistischer und beneidete seinen Enkel ein wenig, wie dieser auch wusste. "Es muss doch Bekannte geben, die du gern besuchen würdest", sagte Pauli unschuldig. Auf jenem Bild waren mehrere flotte junge Frauen gewesen. "Hast du eine besondere Bekannte im Auge?" fragte Nikolai trocken. Sein Großvater schüttelte den Kopf. "Fürs Verkuppeln ist deine Großmutter zuständig, nicht ich", antwortete er bestimmt. "Ich will nur sicher sein, dass Tatiana nicht... töricht ist." "Sie ist eine eigenwillige alte Dame." Im vergangenen Dezember hatte er lange, anstrengende Stunden mit ihr und ihrem Steuerberater verbracht und war auf eine Wiederholung dessen absolut nicht erpicht. "Und sie wird sich töricht verhalten, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche." Pauli protestierte nicht. "Aber du magst sie und würdest nicht wollen, dass jemand sie ausnutzt." "In Ordnung, Pauli. Ich fahre nach London und sehe nach ihr. Worum geht's?" Lisa war in den nächsten Wochen kaum mehr als zum Schlafen zu Hause. Sie arbeitete hart und ging abends häufiger mit ihren Freunden weg, um ihnen zu
zeigen, dass sie sich auch nach dem Auszug noch für sie interessierte. Deshalb lag sie auch noch im Bett, als eines Sonntagmorgens jemand um zehn Uhr an der Haustür klingelte. "Nein", stöhnte sie und zog sich die Decke über den Kopf. Aber als es erneut und penetrant lange klingelte, fügte sie sich in ihr Schicksal und stand auf. Noch etwas schläfrig, blickte sie sich nach dem Morgenrock um, sah ihn nicht und behalf sich mit dem Mantel, den sie am Vortag angehabt hatte. Mit schleppenden Schritten ging sie die Stufen zur Haustür hinauf. Da klingelte es zum dritten Mal. "Es ist Sonntag", sagte sie unfreundlich, als sie die Tür öffnete. Nikolai blinzelte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Es gab nicht viel, was ihn schockierte. Und eigentlich hatte er im Leben schon so ziemlich alles gesehen. Aber nicht Lisa Romaine nach einer durchfeierten Nacht. Sie war um fünf Uhr früh nach Hause gekommen, hatte sich nur schnell ausgezogen und dann schlafen gelegt. Deshalb schimmerte ihr Haar jetzt noch regenbogenfarben. Die Wimperntusche war etwas verlaufen, und ihr Gesichtsausdruck war kämpferisch und streitsüchtig zugleich. Nikolai blickte sie gleichermaßen entsetzt und fasziniert an. "Was ist?" fragte Lisa. Der Fremde war so groß, dass sie den Kopf weit nach hinten legen musste, um ihn anzusehen. Er hatte hohe Wangenknochen und dunkelbraune Augen. Seine Gesichtszüge waren ausgesprochen arrogant - und sensationell markant. Lisa mochte keine attraktiven Männer. Sie hatte die leidvolle Erfahrung gemacht, dass sie eher in sich verliebt waren als in eine Frau, die zufällig ihren Weg kreuzte. "Was wollen Sie?" Schweigend musterte er sie einige entnervende Sekunden lang. "Wer sind Sie?" Böse sah sie ihn an. "Ich wohne hier und habe noch geschlafen." Er wirkte verblüfft. Und dann, als könnte er nicht anders, musterte er sie von Kopf bis Fuß. Anschließend verzog er den Mund. "Warum überrascht mich das nicht?" fragte er. Lisa mochte es überhaupt nicht, wenn man sich über sie lustig machte. Sie fuhr sich mit der Hand durch das Haar und blickte ihn wütend an. "Entweder sagen Sie mir, was Sie wollen, oder Sie gehen." "Ich wollte diejenige sehen, die hier wohnt." Natürlich hätte er nach Tatiana fragen sollen. Aber nachdem der erste Schock vorüber war, merkte er, dass diese barfüßige junge Frau ihn irgendwie faszinierte. Auch wenn sie ihm gerade bis zur Brust reichte und vielleicht noch nicht ganz wach war, bot sie ihm entschlossen die Stirn. Und das rang ihm Bewunderung ab.
Lisa verschränkte die Arme vor der Brust - was sie besser unterlassen hätte. Denn ihr Mantel sprang vorne etwas auf und offenbarte Nikolai, wenn er es nicht schon geahnt hatte, dass sie nichts darunter trug. Er gab überhaupt nicht erst vor, nichts zu bemerken. Unverhohlen sah er sie an. Er lachte zwar nicht laut, aber versuchte keineswegs, sein Amüsement zu verbergen. Was er jedoch - hoffentlich - verbarg, war das plötzliche Kribbeln, das ihn bei ihrem Anblick überfiel. Es war ein unerwartetes, keineswegs willkommenes und äußerst primitives Gefühl, das ihn aber auch faszinierte und das er gern etwas näher erforschen wollte. Deshalb hatte er es auch nicht eilig, nach Tatiana zu fragen. Lisa schien sich der Situation absolut nicht bewusst. "Sie wollten mich sehen? Nun, das tun Sie. Also?" Er ließ den Blick an ihr hinuntergleiten. "Ja, das tue ich tatsächlich", erwiderte er mit weltmännischem Genuss in der Stimme. Sie war es gewöhnt, geneckt zu werden, und reagierte normalerweise mit Ignoranz darauf. Aber jetzt sah sie an sich hinunter Und schloss den Mantel energisch über der Brust. "Was wollen Sie?" "Ich möchte mit der Hauseigentümerin sprechen." Da er nicht länger von einem verführerischen Dekollete abgelenkt wurde, fragte er sich zum ersten Mal, was mit Tatiana sei. Hatte Pauli vielleicht Recht, und sie war verrückt geworden und hatte ihr Haus dieser unbekannten, knabenhaften jungen Frau überschrieben? Eigentlich hatte er gedacht, sein Großvater würde übertrieben panisch reagieren. Aber jetzt wurde er doch etwas unsicher. Lisa sah seinen argwöhnischen Blick, und plötzlich wirkte er auf sie wie ein Tiger, wachsam und gefährlich. Sein perfekt sitzender, eleganter Anzug ließ ihn nur noch mächtiger erscheinen. Überhaupt, wer trug denn am Sonntag einen Anzug? Dir fiel wieder Robs Warnung ein, dass Sam ihre neue Adresse bestimmt irgendwie auf ihre Eignung überprüfen würde. Und sah dieser Mann in Anzug und Krawatte nicht wie ein Banker aus? Er hatte sogar einen Aktenkoffer dabei. "Ich wohne hier", erklärte sie herausfordernd. "Lisa Romaine, wie es zweifellos in Ihren Unterlagen steht. Möchten Sie noch eine Unterschrift, oder gehen Sie jetzt und lassen mich in Ruhe?" Kritisch blickte er sie an. "Und was ist mit Madame Lepatkina passiert?" "Tatiana?" fragte sie verblüfft. Woher kannten ihre Arbeitgeber deren Namen? "Zumindest geben Sie zu, dass sie existiert", stellte er grimmig fest, kam herein und schloss die Tür.
In der kleinen Diele wirkte er noch größer, als er ohnehin schon war. Lisa wünschte sich, Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen. Oder überhaupt irgend etwas. Hastig zog sie den Mantel fester um sich. Nikolai bemerkte ihre Verunsicherung und versuchte, sich diese zunutze zu machen. "Fangen wir noch einmal von vorn an.' Wo ist Tatiana?" Lisa zuckte die Schultern. "Ich weiß es nicht. Warum haben Sie nicht bei ihr geklopft?" "Es gibt nur eine einzige Klingel." "Das stimmt, meine. Wenn Sie zu Tatiana wollen, müssen Sie den Türklopfer benutzen. Dieses große schwarze Ding mit dem hässlichen Gesicht darauf." Schon wollte sie die Haustür öffnen. Aber er stand so groß und breitschultrig in der Diele, dass sie lieber von der Idee Abstand nahm. Stattdessen drehte sie sich um und klopfte an Tatianas Tür. Alles blieb still. "Vielleicht ist sie einkaufen gegangen", sagte sie nach einem Blick auf ihre Armbanduhr. "An einem Sonntag?" "Hier in Notting Hill kann man an jedem Tag einkaufen." "Und auch zu jeder Zeit. Warum sollte sie ausgerechnet um die Zeit einkaufen gehen, für die ich mich bei ihr angemeldet habe?" Lisa betrachtete ihn genauso von Kopf bis Fuß, wie er es eben bei ihr getan hatte. "Möglicherweise haben Sie sich Ihre Frage gerade beantwortet." Er sah sie verwirrt an. Offenbar ist er es nicht gewöhnt, dass die Leute bei seinem Erscheinen nicht immer hocherfreut sind, dachte sie säuerlich. "Haben Sie einen Schlüssel zu Tatianas Wohnung?" "Nein. Aber ich könnte durch den Garten zu ihr nach oben gehen und nachsehen, ob sie da ist." "Ja, das ist eine Idee. In Ordnung." "Vielen Dank, Miss Romaine", murmelte sie, was er jedoch nicht zu hören schien. Missmutig stapfte sie die Treppe hinunter. Sie machte sich keine Sorgen um Tatiana, denn sie hatte sie gestern kurz in der Diele getroffen, und da war sie noch bester Gesundheit und Laune gewesen. Wahrscheinlich war sie nur weggegangen, um diesem grässlichen Menschen zu entkommen. Und das konnte sie ihr wirklich nachfühlen. Sie drehte sich um, um ihm das zu sagen, und bemerkte, dass er ihr auf dem Fuße folgte. "Oh", stieß sie erschrocken hervor und wankte. Schon fasste er sie an den Mantelaufschlägen und verhalf ihr so wieder ins Gleichgewicht. Lisa atmete tief ein, als sie seine Finger nur durch den Stoff getrennt an ihren Brüsten fühlte. "Oh", sagte sie verwirrt.
Auch Nikolai war überrascht, hatte sich aber besser unter Kontrolle. "Alles in Ordnung?" fragte er mit rätselhaftem Gesichtsausdruck. "Sie haben mich erschreckt. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Sie mir folgen würden." "Ich kann Sie ja wohl kaum allein in Tatianas Wohnung einsteigen lassen." "Einsteigen?" "Wenn nötig." Finster blickte sie ihn an, zuckte dann die Schultern und ging ihm voraus in ihr Apartment. "Der Sicherheitsschlüssel für die Terrassentür liegt auf dem Tisch. Ich ziehe mir schnell etwas an." Drei Minuten später kam sie in schmuddeligen Jeans und verschlissener Bluse aus dem Schlafzimmer zurück. Sie war in Turnschuhe geschlüpft und hatte das Haar unter einem Tuch verborgen. Doch dass sie sich heute früh nicht abgeschminkt hatte, war ihr noch immer nicht bewusst geworden. Offenbar ist es ihr egal, wie ich sie sehe, dachte Nikolai und spürte wieder dieses unerwartete Kribbeln. Das war doch verrückt. "Wir können", sagte Lisa und ging nach draußen. Eine schmiedeeiserne Wendeltreppe führte vom Garten hinauf zu Tatianas Balkon. Auf einer Stufe standen ein Kasten mit Pflanzen und eine Gießkanne. "Wenn sie im Gärten ist, hört sie das Klopfen natürlich nicht", stellte Lisa fest und rief laut nach ihrer Vermieterin. "Tatiana! Wo bist du?" Nikolai zuckte zusammen. "Wäre es nicht besser, sie einfach zu suchen. Schließlich ist es Sonntagmorgen. Manche Leute schlafen vielleicht noch. Oder ..." Oder sind im Bett und lieben sich, dachte er, sprach es aber nicht aus. Doch Lisa blickte ihn verstehend und schockiert an und errötete. Sie erinnerte sich nicht, wann ihr das je passiert war. Ungläubig schlug sie die Hände vors Gesicht und fühlte, wie ihre Wangen glühten. Und dann lachte er auch noch, während er sie wohlgefällig von Kopf bis Fuß musterte. "Suchen Sie sie doch allein", sagte sie bissig, lief zurück in ihre Wohnung und schlug die Terrassentür zu.
2. KAPITEL
Nikolai fand Tatiana unter einer Birke und kam schnell zur Sache. "Wer ist sie?" fragte er grimmig. Überrascht sah sie ihn an. So unbeherrscht kannte sie ihn eigentlich nicht. "Du hörst dich an wie dein Onkel Dmitri. Und in dem Anzug siehst du auch noch aus wie er." Sie wussten beide, dass das kein Kompliment war. Dmitri Ivanov arbeitete als Handelsbanker in New York. Tatiana hielt ihn für einen arroganten Dummkopf und machte bei Familientreffen keinen Hehl daraus. Nikolai winkte ungeduldig ab. "Wer ist sie?" "Wer ist wer?" "Diese grimmige Person aus dem Souterrain." "Lisa? Meine Mieterin? Sie ist nicht grimmig." Er schnitt ein Gesicht. "Doch, das ist sie, wenn man sie vorzeitig weckt", erwiderte er erbittert. "Sie hat mir fast den Kopf abgerissen." "So?" Nachdenklich ließ sie den Blick durch den Garten schweifen. "Woher kommt sie?" "Wie bitte?" "Lisa Sowieso", sagte er ungeduldig. "Wo hast du sie aufgegabelt?" Tatiana war noch immer mit ihren Gedanken woanders. "Oh, irgendwo." Nikolai mahnte sich zur Ruhe. Seine Tante war alt und exzentrisch und sorgte sich wahrscheinlich um ihre Finanzen. "Warum hast du die Wohnung plötzlich wieder vermietet?" fragte er behutsam. "Ich habe immer Zimmer vermietet, wenn ich das musste." "Aber das musst du doch überhaupt nicht", erwiderte er freundlich. "Ich kenne die Zahlen von letztem Jahr und habe mich schon mit deinem Steuerberater getroffen. Deine finanzielle Situation ist bestens." Tatiana rümpfte die Nase. Aber da sie Pauli vor über vierzig Jahren erlaubt hatte, ihre Dinge zu regeln, konnte sie jetzt kaum von Eigenmächtigkeit reden. "Ich mag Lisa und wollte, dass sie die Wohnung bezieht." Forschend sah er sie an. "Wird dir die Arbeit mit dem Haus zu viel?" "Nein, natürlich nicht", antwortete sie ungeduldig. "Ich habe zweimal in der Woche eine Zugehfrau. Was brauche ich mehr?" "Fühlst du dich vielleicht einsam?" "Ich bin zu beschäftigt, um mich einsam zu fühlen." "Warum ..." "Wie ich schon sagte, ich mag sie. Und da sie eine Bleibe brauchte..."
"Aha. Sie brauchte eine Bleibe, ist also eine Landstreicherin. Das kann ich mir bei dem Anblick eben gut vorstellen." "Oh Nicki, sei nicht so arrogant. Natürlich ist sie keine Landstreicherin." "Was weißt du über sie? Hat sie dir Referenzen gegeben?" "Nein, aber ..." "Ich wusste es doch. Sie nutzt dich aus." "Nikolai, hörst du mir mal zu? Sie hat einen guten Job." "Als was?" Tatiana konnte ihm die Frage nicht beantworten. Sie hatte sich nicht gemerkt, wie Lisa ihren Lebensunterhalt verdiente, und nur eine vage Idee, wo sie arbeitete. "Ich kenne sie schon über ein Jahr. Wir besuchen das gleiche Tanzstudio." Nikolai hütete sich, triumphierend dreinzublicken. Aber der leicht skeptische Zug um seinen Mund machte Tatiana zornig. "Und sie nutzt mich nicht aus. Sie war sogar diejenige, die auf einem Mietvertrag bestand." "Um ihre Position abzusichern. Wie klug." "Du weißt, dass es sehr ungesund ist, von anderen immer nur das Schlechteste zu denken. Das verursacht Magengeschwüre." "Tanten tun das auch", erwiderte er kläglich. "Wirst du sie um Referenzen bitten? Wenn nicht, mache ich das." Tatiana blickte ihn arglos an. "Du musst lernen, den Menschen mehr zu vertrauen." "In Ordnung. Ich kümmere mich darum." Nikolai ging von dannen, ohne eine Antwort abzuwarten. Sie sah ihm nach. Und als er außer Sichtweite war, lächelte sie triumphierend. Etwa zur gleichen Zeit hörte Lisa auf, wütend zu tanzen. Sie war an dem Punkt angelangt, an dem sie nicht wusste, ob sie sich mehr über ihre Dummheit ärgerte oder über Tatianas arroganten Besucher. Zornig zog sie sich aus und marschierte ins Bad, wo sie bei ihrem Anblick erschreckte. Jetzt verstand sie auch besser, warum dieser Mann sie so angesehen hatte. Schließlich passierte es nicht alle Tage, dass einem das Ungeheuer von Loch Ness die Tür aufmachte. Aber trotzdem hatte er kein Recht, mich so zu mustern, dachte sie störrisch und stellte sich unter die Dusche. Zehn Minuten später betrachtete sie noch immer wütend den Inhalt ihres Kühlschranks. Mehrere leicht schimmlige Mohren, eine sauer gewordene Milch und zwei Mineralwasserflaschen. Sie brauchte dringend einen Kaffee, hasste es aber, ihn schwarz zu trinken. Doch nach Einkaufen war ihr auch nicht zumute, denn es hatte angefangen zu regnen.
"Sei ruhig", befahl sie ihrem Magen, als er grimmig knurrte. "Einmal wird dir schon schwarzer Kaffee nicht schaden. Sobald Tatiana wieder allein ist, borge ich mir Milch von ihr." Es wurde Mittag, und Lisa hatte noch immer die Haustür nicht zufallen hören. Draußen goss es inzwischen in Strömen. "Verdammt", fluchte sie und verließ mit einem Schirm bewaffnet die Wohnung. Ärgerlich saß Nikolai in seinem Mietwagen und beobachtete Tatianas Haus, als wäre er ein Privatdektiv. Er kam sich ziemlich merkwürdig vor. Auch daran ist diese zweifelhafte Person schuld, dachte er. Sie hatte ihm nicht nur die Stirn geboten, sondern ihn auch fast die Beherrschung verlieren lassen. Das war unerträglich und musste korrigiert werden. Außerdem hatte er Tatiana gesagt, dass er sich um die Angelegenheit kümmern würde. Und genau das würde er tun. Lisa war viel zu sehr in Gedanken, um den Mann auf der anderen Straßenseite im Auto zu bemerken. Sie spannte den Schirm auf und eilte, ohne nach rechts und links zu sehen, den Bürgersteig entlang. Und sie registrierte genauso wenig, dass Nikolai den Wagen ausparkte und ihr im Schritttempo folgte. Hätte mich dieser entsetzliche Mensch doch nur nicht geweckt, dachte sie. Dann würde sie jetzt noch schlafen und nichts zum Trinken und Essen brauchen. Und außerdem würde nicht dieses blöde Gefühl an ihr nagen, sich zur Idiotin gemacht zu haben. Sie verschwand in dem kleinen Supermarkt und packte wenig später die Sonntagszeitung, einen Liter Milch, eine teure, aber kalorienarme Ananas in eine Tüte, und ein Baguette, das sie eigentlich nicht hatte kaufen wollen, dessen verführerischem Duft sie jedoch erlegen war. Die Vorstellung, gleich das knusprige Brot zu essen, hob ihre Stimmung, so dass sie beschwingt über die Türschwelle trat und prompt in jemanden hineinlief. "Entschuldigung", sagte sie zerknirscht und sah dann, wer es war. "Was machen Sie denn hier?" "Ich bin Ihnen gefolgt", antwortete Nikolai. Lisa war einen Moment sprachlos. "Ich wollte mit Ihnen reden", erklärte er, als wäre das Rechtfertigung genug. "Das haben Sie", erwiderte sie kurz angebunden. Die Einkaufstüte begann sich verdächtig zu neigen, und Nikolai fasste das Baguette, das herauszufallen drohte. "Diese Dinger sind auch wirklich etwas zu aerodynamisch", sagte er freundlich. Dann brach er sich ein Stück ab und aß es. "Schmeckt nicht schlecht." Überrascht und empört presste Lisa die Tüte an ihre Brust. "Sie sind wohl ein Experte?" Er lächelte sie frech an. "Ich habe so meine Erfahrungen gesammelt."
Sein Lächeln war beunruhigend attraktiv. Pass auf, warnte eine innere Stimme sie sogleich. Sie wollte sich zu keinem Mann mehr hingezogen fühlen. Das führte bestenfalls zu einer netten Zeit, aber schlimmstenfalls ins Elend. Und dieser Mann war arrogant und hatte es schon geschafft, dass sie sich so gründlich zur Idiotin gemacht hatte, wie in vielen Jahren zusammengerechnet nicht mehr. Sie blickte über die Schulter zurück. "Sie können sich dort welche kaufen", meinte sie und wollte an ihm vorbei. Nikolai rührte sich nicht von der Stelle. "Ich sagte doch bereits, dass ich mit Ihnen reden möchte." "Großartig", erwiderte sie aufgebracht. "Interessiert es vielleicht auch, was ich möchte?" "Leider nein", antwortete er ohne jedes Bedauern in der Stimme und nahm ihr die Tüte ab. "Kommen Sie mit zu meinem Wagen. Wir werden ganz nass." Stocksteif blieb sie stehen. "Geben Sie mir die Einkäufe zurück", befahl sie gefährlich leise. "Nun machen Sie keine Schwierigkeiten", sagte er ekelhaft geduldig. "Dann fordern Sie mich nicht heraus." Sie streckte die Hand nach der Tüte aus, aber er hielt sie weiter fest. "Sie müssen doch zugeben, dass es im Auto bequemer ist. Wir unterhalten uns, und dann fahre ich Sie heim." "Ich tue nie, was man mir sagt. Und ich warne Sie, ich kämpfe mit allen Mitteln." "Wer will denn hier kämpfen?" Er schenkte ihr sein charmantestes Lächeln, das Gastgeberinnen bewog, ihm sein Zuspätkommen zu verzeihen, und Frauen veranlasste, ihn nach einem gemeinsamen Abend noch auf eine Tasse Kaffee zu sich einzuladen. Aber bei Lisa zeigte es absolut keine Wirkung. Abschätzend sah sie ihn noch einen Moment lang an und begann dann, lauthals zu schreien. Völlig überrascht ließ er die Tüte fallen. Und schon blieben die ersten Neugierigen stehen. Lisa hörte auf zu schreien und hob den Einkauf auf. "Vielen Dank", sagte sie gelassen und ging davon. Sie fühlte sich so glänzend, dass sie den Schirm nicht aufspannte, sondern das Gesicht freudig in den Regen hielt. Auf halbem Weg zu ihrer Wohnung holte Nikolai sie im Wagen ein. Er stoppte auf der falschen Straßenseite unmittelbar neben einer Reihe parkender Autos und ließ das Seitenfenster heruntersurren. "Eins zu null für Sie. Aber ich muss trotzdem mit Ihnen reden." Lisa blickte ihn voller Abneigung an und ging einfach weiter.
"Ich habe Ihnen ein Ersatzbrot gekauft", rief er hinter ihr her. Aber sie ignorierte ihn. Und so fuhr er wieder an, holte sie erneut ein und blieb auf Schritthöhe mit ihr. "Hier herrscht Linksverkehr", sagte sie mit finsterem Blick. Nikolai lachte. "In London fährt man da, wo man durchkommt. Aber wenn Sie einsteigen, kann ich wieder auf die vorgeschriebene Straßenseite zurückkehren." Sie zuckte die Schultern. "Brechen Sie ruhig das Gesetz. Mir ist das egal." "Das ist keine verantwortungsbewusste Haltung", erwiderte er vorwurfsvoll. Das Ganze machte ihm allmählich Spaß. Lisa sah stur geradeaus. "Ich bin nur für mich verantwortlich und sonst niemanden. Wenn Sie sich wie ein Verkehrsrowdy benehmen wollen, ist das Ihre Sache." "Es regnet. Hier im Wägen ist es warm und trocken." Sie marschierte unbeirrt weiter. "Meine Mutter hat mir beigebracht, zu keinem Fremden ins Auto zu steigen." "Aber wie wir bereits festgestellt haben, können Sie sehr gut auf sich aufpassen. Und außerdem bin ich kein Fremder. Ich bin Tatianas Neffe." Ungläubig sah sie zu ihm hin und blieb stehen. Nikolai hielt den Wagen an. "Der Dschungelkämpfer?" Plötzlich fand er die Situation nicht mehr ganz so amüsant, und ein Anflug von Ärger spiegelte sich auf seinem Gesicht. "Ich mache Expeditionen in den Urwald. Ja." "Bartträger?" fragte sie vorsichtig. "Tarnkleidung?" "Nicht hier in London", antwortete er steif und fühlte sich regelrecht beleidigt, als sie aus vollem Hals lachte. "Sind Sie immer so laut?" "Ja." Frustriert blickte er sie an. Es regnete wieder heftiger, und die Nässe drückte ihr blondes Haar flach an den Kopf. Er ist elegant geformt, fand er und bemerkte auch zum ersten Mal ihren zarten Teint. Sie hatte tief liegende grüne Augen mit Wimpern so dicht und lang, dass sich Regentropfen darauf sammelten. Die würde ich jetzt gern mit der Fingerspitze entfernen, dachte er. Seine Gedanken überraschten ihn und machten ihn ärgerlich. Er wollte sich von dieser jungen Frau nicht angezogen fühlen. Sie war zu unhöflich und laut, und außerdem zweifelte er stark an ihrer Lauterkeit Tatiana gegenüber. Und doch saß er hier im Auto und dachte über sie nach, als hätte er vor, mit ihr zu schlafen. Nikolai war wütend auf sich und übertrug diese Wut auf Lisa. "Steigen Sie ein!" Sie zuckte zusammen, und ihr Lachen verstummte. "Sagen Sie mir nicht, was ich tun soll." Sie blitzte ihn an.
"Dann hören Sie mit Ihren Spielchen auf. Sie sind kein hilfloses Unschuldslamm. Und Sie sehen in mir auch keine Gefahr. Seien Sie endlich vernünftig, und lassen Sie sich nicht weiter durchnässen." Lisa war selbst etwas überrascht, dass sie der Aufforderung folgte. "Fangen wir noch einmal von vorn an", sagte er und fuhr los. "Wer sind Sie?" Sie hatte zwar nachgegeben und war in seinen teuren Wagen gestiegen, aber Informationen würde er so leicht nicht von ihr bekommen. "Warum wollen Sie das wissen?" Er sah sie aus den Augenwinkeln an. "Tatiana ist meine Tante", antwortete er ruhig. "Wir haben zwar nicht genug Kontakt, was aber nicht heißt, dass wir nicht an sie denken. Außerdem mag ich sie sehr." "Oh." Lisa biss sich auf die Lippe. Auch sie mochte Tatiana. Und zu ihrem Bedauern musste sie sich eingestehen, dass Nikolais Argument überzeugte. Er hütete sich, triumphierend zu lächeln. "Wer sind Sie?" wiederholte er freundlich. "Und woher kommen Sie?" "Ich heiße Lisa Romaine. Tatiana und ich gehen ins gleiche Tanzstudio." "Das hat sie mir bereits gesagt. Aber das ist nicht ganz das, was ich wissen wollte." "Was wollen Sie denn wissen?" fragte sie bissig. "Meine Ahnenreihe über die letzten sechs Generationen und meine Körbchengröße?" Er war einen Moment verblüfft. "Ich schätze, die Ahnenreihe können wir überspringen. Ich interessiere mich eigentlich mehr dafür, wo Sie vorher gewohnt haben und ob Sie einer Arbeit nachgehen." Lisa fühlte sich beleidigt. "Natürlich arbeite ich. Ich leite bei Napier Kraus den Bondhandel." Der Wagen kam den am Straßenrand geparkten Autos gefährlich nah, und Nikolai bremste. "Napier Kraus?" Nicht zuletzt durch seinen Onkel Dmitri kannte er diese renommierte Bank. "Sie sind Bankerin?" Zufrieden registrierte sie seine Reaktion. "Ja." "Aber Sie sehen nicht so aus", erklärte er entrüstet. "So?" "Sie sind zu jung. Zu vergammelt. Zu ..." "Weiblich?" Er blickte einen Moment verblüfft drein. "Also weiblich sind Sie bestimmt nicht." Sekundenlang herrschte tiefes Schweigen. "Wie hässlich", erwiderte sie in ihrem freundlichsten Ton, auch wenn sie maßlos wütend war. "Sie sind bestimmt eine echte Lachnummer im Dschungel." Nikolai ärgerte sich über sich selbst. "Ich habe nur gedacht..." "Ja? Es interessiert mich sehr, was Sie gedacht haben."
Er beging einen taktischen Fehler. "Tatiana kennt einige merkwürdige Leute. Und sie kann ... unbesonnen sein." Wieder herrschte Schweigen. "Sie halten mich für eine Schwindlerin", stellte sie dann unumwunden fest und begann leicht zu zittern, als er nicht protestierte. Das war ihr schon früher passiert, aber nicht oft. Normalerweise, wenn jemand ihre Familie bedrohte. Ein- oder zweimal auch, als sie selbst in Bedrängnis war und um ihren Job kämpfte, von dem sie alle abhängig waren. Es hatte etwas mit Überleben zu tun und noch mehr mit Gerechtigkeit. "Anders kann eine Gammlerin wie ich auch nicht zu einer Wohnung in einer so vornehmen Gegend kommen, stimmt's?" meinte sie zuckersüß und boshaft. Er war überrascht, wie schnell und treffend sie zurückschlug. "Ich hätte Sie nicht als vergammelt bezeichnen dürfen. Dafür möchte ich mich entschuldigen." "Warum die Mühe?" Sie lächelte ihn an. "Geschäfte lassen sich so viel leichter abwickeln, wenn man offen und ehrlich ist. Finden Sie nicht?" Er schwieg einen Moment. "Machen wir denn Geschäfte?" "Tun wir das nicht?" erwiderte sie mit ihrem bezauberndsten Lächeln. Lisa war so wütend, dass sie ihre ganze Beherrschung aufbieten musste, um das zu verbergen. Er soll denken, dass ich die schlimmste Schwindlerin auf Erden bin, dachte sie, und dann feststellen, dass er nichts gegen mich unternehmen kann. Ihm musste endlich einmal jemand zeigen, dass er nicht der Herrscher aller Welten war. "Heißt das, ich soll Ihnen Geld geben, damit Sie bei Tatiana ausziehen?" fragte er, nachdem er es zu Lisas Leidwesen mühelos geschafft hatte, den Wagen in die einzige kleine Parklücke vor dem Haus zu manövrieren. Angelegentlich betrachtete sie ihre Fingernägel. "Ich möchte Sie warnen", sagte er leise. "Ich lasse mich nicht leicht erpressen." "Und ich lasse mich nicht leicht einschüchtern." Sie lächelte ihn verbindlich an und löste den Sicherheitsgurt. "Das dürfte eine interessante Verhandlung werden." "Ich verhandle nicht mit jemandem wie Ihnen." Lisa spürte, dass er wütend war. Und frustriert. Sie empfand ein gewisses Machtgefühl, das sie in eine Art Hochstimmung versetzte und leichter über seine Beleidigung hinwegsehen ließ. "Wie Sie möchten", antwortete sie und wollte ihre Tüte nehmen. Aber er hielt ihren Arm fest. Sie fühlte seinen eisernen Griff und bekam plötzlich Angst. Schnell rief sie sich im Stillen zur Vernunft und schaffte es sogar, verächtlich aufzulachen. Sie sah ihn herausfordernd an, und er lockerte seinen Griff etwas, ließ sie aber nicht los. "Denken Sie nicht einmal daran." "Woran?"
"Es mit mir aufzunehmen." Er ließ sie los und lehnte sich im Sitz zurück. "Sie können nicht gewinnen." "Ich kann tun, was immer ich will", erwiderte sie ruhig. "Ich habe etwas, das Sie wollen." "So? Und was ist das?" "Mein Vertrag." Ungehindert stieg sie aus, während er reglos mit gefrorener Miene dasaß. Lisa machte ihrer Wut, wenn auch nur einen Moment lang, Luft und schlug die Tür so heftig zu, dass er zusammenzuckte. Zufrieden ging sie dann auf das Haus zu. Nikolai griff zum Autotelefon und wählte. "Hallo, Tom. Ich muss unser Mittagessen absagen. Mir ist etwas dazwischengekommen." "Und was mache ich mit Sedgewick? Ich bin nicht derjenige, der mit ihm nach Borneo will." "Halt ihn fest. Ich komme später." Tom war nicht sonderlich begeistert. "Er wird am späten Nachmittag gehen. Egal, ob du sie bis dahin bezirzt hast oder nicht." "Sie bezirzt? Wovon sprichst du?" "Wie lange kenne ich dich jetzt, Nicki? Leg die Frau heute Nachmittag auf Eis, wenn du wirklich an der Expedition teilnehmen willst." Nikolai war gekränkt. "Was du immer gleich denkst. Ich kümmere mich um die Angelegenheiten meiner Tante." "Schon klar, du Weiberheld. Sei spätestens um vier Uhr da, oder vergiss Borneo." Tom legte auf. Als Lisa das Haus betrat, sah sie, dass Tatianas Tür offen stand. Und als hätte ihre Vermieterin auf sie gewartet, erschien sie prompt auf der Schwelle. "Alles in Ordnung mit Ihnen?" "Natürlich", antwortete Lisa zornig. "Dachten Sie, Ihr Neffe würde mich mit Giftpfeilen beschießen?" Tatiana blinzelte. Sie hatte Lisa noch nie so erlebt. "Er ... sagte, dass ihr euch begegnet wärt." "Begegnet! Vermutlich kann man das so nennen." "Was hat er getan?" fragte Tatiana leicht beunruhigt. "Er hat mich anzüglich gemustert und als Schwindlerin bezeichnet." "Du meine Güte! Er hat Sie verletzt." "Das kann er nicht. Selbst wenn er es versuchte. Männer sind nicht ernst zu nehmen. Und Ihr Neffe ist ein selbstgerechter Steinzeitmensch." Lisa stapfte die Treppe hinunter in ihre Wohnung und wischte sich ärgerlich einige Tränen weg. Dann kühlte sie ihr glühendes Gesicht im Badezimmer und beruhigte sich langsam wieder.
Männer, dachte sie, verursachen nichts als Schwierigkeiten. Sam, der nur widerwillig zugab, dass sie gute Arbeit leistete, und sie verunglimpfte, wo er nur konnte. Alec, der beschloss, in sie verliebt zu sein, und sie so praktisch zum Auszug gezwungen hatte. Und all die Verehrer ihrer Schwester Kit, derentwegen diese sich gegrämt und schließlich auch gesundheitlich Schaden genommen hatte. Joanne wachte mit Argusaugen über ihr. Aber Kit schien einen untrüglichen Instinkt zu haben, immer wieder an den Falschen zu geraten, der sie erst ausnutzte und dann verließ. Und anschließend bestrafte sie sich, weil er sie nicht geliebt hatte. Unwillkürlich traten Lisa wieder Tränen in die Augen. Und jetzt Nikolai, der mich beschuldigt, ihn erpressen zu wollen, dachte sie, und ihre Traurigkeit schlug in Ärger um. Wenn er sich unbedingt mit ihr anlegen wollte, dann würde sie ihn so hart und gemein bekämpfen, wie sie seiner Meinung nach war. Und sie würde gewinnen! Das Klingeln an der Haustür schreckte sie aus ihren Gedanken. Lisa hatte nicht den geringsten Zweifel, wer das war. Energischen Schritts ging sie nach oben. Nikolai hielt ihr die Einkaufstüte entgegen und sah sie unerschrocken an. "Wir hatten keinen guten Start", sagte er. "Meine Schuld. Es tut mir Leid. Können wir noch einmal von vorn anfangen?" "Blasen Sie jetzt zur Charmeoffensive?" Einen kurzen Moment spiegelte sich Ärger auf seinem Gesicht. Doch dann riss er sich zusammen und gestattete sich, eine Sündermiene aufzusetzen. "Ich war gemein", antwortete er. "Schreiben Sie das meiner Zuneigung für Tatiana zu. Und lassen Sie mich das mit einem späten Mittagessen wieder gutmachen." Starr blickte sie ihn an. Sein Lächeln machte ihn noch anziehender, als er ohnehin schon war. Es war das Lächeln, das Frauen dahinschmelzen ließ. Aber nicht mich, ermahnte sie sich stumm. "Warum?" fragte sie, als hätte sie einen Kloß im Hals. "Dann können Sie mir von dem Vertrag mit meiner Tante erzählen. Und ich erzähle Ihnen alles, was Sie über mich wissen wollen." Sie spielte mit dem Gedanken, ihm zu sagen, dass sie nichts über ihn wissen wolle, bemerkte aber noch rechtzeitig seinen Gesichtsausdruck. Zweifellos erwartete er genau jene abschlägige Antwort. "Ein Name wäre nicht schlecht", erwiderte sie trocken und sah zufrieden, wie sein aufgesetzter freundlicher Blick verschwand. Schnell hatte sich Nikolai jedoch wieder unter Kontrolle. "Entschuldigung. Nikolai Ivanov", stellte er sich vor und streckte ihr die Hand entgegen. Zu ihrem Ärgernis nahm sie sie auch und schüttelte sie. Seine Finger fühlten sich warm und stark an. Lisa spürte ein gefährliches Kribbeln und zog ihre Hand schnell zurück. "Guten Tag und auf Wiedersehen."
"Wie ich schon sagte, sollten wir uns wirklich besser kennen lernen", erwiderte er amüsiert. "Lassen Sie uns doch zusammen essen gehen. Quasi als Entschädigung dafür, dass ich Sie geweckt habe", fuhr er leise, aber entsetzlich entschlossen fort. Lisa erbebte innerlich, ließ sich aber nichts anmerken. "Das ist nicht nötig", erklärte sie kühl. "Öh doch, das ist es." Er lächelte sie gewinnend an. "Wenn Sie nicht mitkommen, sterben wir beide vor ... nennen wir es Neugier?" Sie meinte, ihr Blut in den Adern rauschen zu hören. Wie machte er das bloß? "In Ordnung", antwortete sie und konnte kaum glauben, dass sie seine Einladung akzeptierte. "Lassen Sie mich die Einkäufe verstauen, und dann können wir ins 192 gehen." Nikolai nickte. Und sie fragte sich, ob das bedeutete, dass er das in Notting Hill zur Zeit beliebteste Lokal kannte oder nur ihr Mitkommen zur Kenntnis nahm. Wahrscheinlich Letzteres, dachte sie wütend auf sich. Sie presste die Tüte an sich und lief die Treppe hinunter in ihre Wohnung. Er folgte ihr auf dem Fuße. Wortlos räumte sie die Einkäufe weg und verschwand dann kurz ins Schlafzimmer. Als sie zurückkam, saß er in einem Korbstuhl - einem der wenigen Möbelstücke, die sie mitgebracht hatte - und legte gerade den Telefonhörer auf. "Was haben Sie gemacht?" fragte sie argwöhnisch. "Einen Tisch reservieren lassen", antwortete er im Aufstehen und musterte sie wohlgefällig in ihrer schwarzen Hose, der bunten Seidenbluse und der Lederjacke. "Schön." Herausfordernd sah sie ihn an. Nikolai ließ sich nicht beirren. "Gehen wir", sagte er ruhig und machte auch nicht den Fehler, sie am Arm zu fassen. Draußen öffnete er ihr galant die Wagentür, und Lisa blickte verwundert drein. Sie ist es offenbar nicht gewöhnt, wie eine Dame behandelt zu werden, dachte er amüsiert, hütete sich aber zulächeln. "Sie wollen doch nicht allen Ernstes dorthin fahren?" fragte sie lachend. "Zu Fuß braucht man höchstens zehn Minuten." Jetzt sah er verwundert drein. Wann immer er eine Frau ausführte, erwartete sie für gewöhnlich, bis vors Restaurant gefahren zu werden. Vor allem in London mit seinem unfreundlichen Wetter. "Aber es regnet." Lisa zuckte verächtlich die Schultern. "Und Sie wollen ein Forscher sein?" Sein Humor gewann einen Moment die Oberhand. "Soll ich Sie schultern und mich dann von einem Laternenmast zum nächsten schwingen?" Wieder lachte sie. "Ich würde gern sehen, wie Sie das versuchen."
Er blitzte sie an und machte einen Schritt auf sie zu. Aber Lisa lief schon den Bürgersteig entlang. "Kommen Sie!" rief sie. "Ich habe Hunger und werde nass." Nikolai lachte und folgte ihr. Hier hat sich seit letztem Dezember nichts verändert, dachte er, als sie das Lokal betraten. Es war noch genauso modern eingerichtet und von herrlichen Düften durchzogen. Und da die eigentliche Mittagessenszeit schon vorbei war, herrschte auch kein Hochbetrieb mehr. Eine freundliche Bedienung führte sie zu ihrem Tisch und reichte ihnen die Speisenkarte. Amüsiert beobachtete er, dass Lisa ihre nicht öffnete. "Kommen Sie oft hierher?" Ich lasse mir doch von ihm nicht das Essen verderben, beschloss sie augenblicklich. Sie war hungrig und die Küche hier ausgezeichnet. "Ich kann nicht kochen", erwiderte sie lächelnd. "Ich kenne nicht viele Frauen, die das zugeben würden." Seine Neugier war geweckt. "Warum nicht?" "Ich habe es nie gelernt." Die Kellnerin kam an ihren Tisch. Lisa bestellte und sah, wie Nikolai die Brauen hochzog. "Was ist?" Herausfordernd blickte sie ihn an. "Nichts." Er bestellte ebenfalls. "Und was möchten Sie trinken? Bucks Fizz? Kir Royal? Oder etwas anderes?" "Bucks Fizz", antwortete sie desinteressiert, als würde sie jeden Tag Champagner trinken. Nikolai nickte der Kellnerin zu, die sich alles notierte, dann die Speisenkarten nahm und ging. "Warum haben Sie mich so angesehen?" "Wie habe ich Sie denn angesehen?" fragte er ausweichend. "Als hätte ich gerade ein Kaugummi in das Zuckerschälchen gespuckt", antwortete sie. "Was für eine grässliche Vorstellung." "Sehr richtig. Also, was habe ich getan?" "Nicht der Rede wert. Erzählen Sie mir lieber, wie Sie Tatiana kennen gelernt haben." "Was habe ich getan?" "Ich möchte Sie nicht verletzen." "Dann zwingen Sie sich dazu. Ich will es wissen." "Aber es ist nicht wichtig", erwiderte er leicht gereizt. Lisa beugte sich etwas vor. "Ich gebe keine Ruhe, solange Sie es nicht gesagt haben." Sein verbindlicher Blick wurde ärgerlich. "Sie müssen eine ganz schön schwierige Freundin sein."
Sie lehnte sich wieder zurück und lächelte ihn an. "Darüber brauchen Sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen, oder? Heraus mit der Sprache." Er zuckte die Schultern und erzählte es ihr. "Ich hätte warten sollen, dass Sie mich nach meinen Wünschen fragen?" wiederholte Lisa verblüfft, nachdem sie einen Moment ungläubig geschwiegen hatte. Er lächelte verzeihend. "Da ich Ihr Gastgeber bin, wäre das höflich gewesen. Eine kleine gesellschaftliche Konvention, aber nicht wichtig, wie ich schon sagte." Sie schüttelte den Kopf. "Das ist idiotisch." Nikolai versteifte sich. Hätte sie sich zerknirscht gezeigt, hätte er ihr ehrlich versichert, wie belanglos das sei. Aber angesichts ihres offenen Protests, hatte er das Gefühl, etwas verteidigen zu müssen. "Ganz im Gegenteil. Das ist zivilisiert." Sie schnaufte verächtlich. "Wissen Sie", sagte er bedächtig, "die Zivilisation hat schon ihr Gutes. Ich erforsche das Verhalten von Tieren und weiß, wovon ich spreche." Seine Antwort war eine Herausforderung, wie ihnen beiden klar war. Sie blitzte ihn an. "Bezeichnen Sie mich als Tier?" "Wir sind alle Tiere. Einige von uns lernen es nur, die hässlicheren Triebe zu zügeln." Lisa atmete hörbar ein. "Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, oder?" "Und Sie?" Sie maßen sich mit Blicken. "Nein", erwiderte sie schließlich. "Das tue ich wohl nicht." "Dann haben wir ja etwas gemein", stellte er zufrieden fest. "Wir haben nichts gemein." Sie war stark versucht zu gehen. Aber da kam die Kellnerin an den Tisch und servierte die Getränke. Lisa blieb sitzen, um vor ihr keine Szene zu machen, und trank zur Beruhigung einen großen Schluck Champagner. "Also, Boris", sagte sie dann forsch. Er runzelte die Stirn. "Nikolai." Lässig winkte sie ab. "Egal. Ich habe Hunger, und sich zu streiten ist schlecht für die Verdauung. Bringen wir es besser hinter uns. Was wollen Sie wissen?" Er schenkte ihr sein charmantestes Lächeln, das bei Frauen normalerweise Wunder wirkte. Aber Lisa schien dagegen immun zu sein und sah ihn nur höchst skeptisch an. Nikolai war beleidigt, zeigte das aber nicht. "Was möchte jeder Mann wohl über eine attraktive Frau wissen?" "Oh, bitte." "Okay", erwiderte er mit einem Schulterzucken, "dann machen wir es, wie Sie wollen. Erzählen Sie mir alles, was es zu wissen gibt."
Sein Lächeln war so intim, dass jeder Außenstehende sie für ein Liebespaar gehalten hätte. Und einen verrückten Moment lang glaubte Lisa fast selbst, dass sie das wären. "Sie wollen also doch meine Ahnenreihe und Körbchengröße wissen", erwiderte sie spitz und wandte mühsam den Blick von ihm. "Wenn Sie damit beginnen wollen." Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer Lederjacke und schob die Enden unauffällig übereinander. "Ich arbeite seit dem siebzehnten Lebensjahr bei Napier Kraus im Bondhandel und bin jetzt leitende Angestellte." Nikolai nickte. "Haben Sie Familie?" Lisa war überrascht. "Eine Mutter und eine Schwester." "Stehen Sie sich nahe?" "Wir halten Kontakt", erwiderte sie ausweichend. "Hat Tatiana sie kennen gelernt?" "Warum sollte sie?" Er runzelte die Stirn. "Sie beide sind sich also im Tanzstudio begegnet. Sie haben miteinander geredet..." Scharf sah er sie an. "Worüber haben Sie geredet?" "Übers Leben." "Über Tatianas oder Ihres?" Lisa seufzte. "Über beide. Das nennt man kommunizieren." Nikolai lächelte triumphierend. "Wie kommt es dann, dass sie nicht weiß, wo und was Sie arbeiten?" "Weil es sie nicht interessiert. Kennen Sie Ihre Tante denn überhaupt nicht? Ich arbeite in der City, habe mit Geld zu tun. Und sie spricht nicht über Geld. Über Sex, ja. Sogar manchmal über den Tod. Aber nicht über Geld. Das findet sie vulgär und allein Männersache." Aufmerksam blickte er sie an. "Tatiana und Sie trennen mindestens zwei Generationen. Es ist nicht erstaunlich, dass sie Dinge anders sieht." Lisa trank einen Schluck Champagner, spielte mit dem Glas und betrachtete angelegentlich die perlende Flüssigkeit. Plötzlich war ihre Empörung Wie weggeblasen. "Ich glaube nicht, dass es nur der Generationenunterschied ist", sagte sie schließlich leise. "Menschen, die ums Überleben kämpfen, haben wohl schon immer über Geld gesprochen." Still saß Nikolai da und sah sie aufmerksam an. Aber Lisa war tief in Gedanken versunken und nahm das überhaupt nicht wahr. "Was wissen Sie vom Überlebenskampf?" fragte er schließlich im Plauderton, als wäre ihm das eigentlich egal. Aber sein Blick war alles andere als desinteressiert, was sie jedoch nicht bemerkte, denn sie war zu sehr in ihren Erinnerungen gefangen. "Wann haben Sie ..." Er verstummte und stellte dann eine andere Frage. "... bei Napier Kraus angefangen?"
Sie blickte auf, war in Gedanken aber weit weg, wie er an ihrem Augenausdruck sah. An keinem glücklichen Ort, dachte er. "Gleich nach der Schule", erwiderte sie ziemlich abwesend, kam dann aber in die Gegenwart zurück und erwachte zu neuer Kampfeslust. "Beantwortet das alle Ihre Fragen?" "Kaum." Er betrachtete sie einen Moment finster. "Wie viel haben Sie Tatiana erzählt?" Lisa bemühte sich nicht im Mindesten, ihre Verachtung zu verbergen. "Sie hat nicht dieselben Fragen gestellt." "Wonach hat sie gefragt?" "Nun, sie weiß, dass ich nicht aus einer .guten Familie' stamme, wie Sie das wohl ausdrücken würden." "Das habe ich nicht gefragt", sagte er ärgerlich. "Nicht?" Das Essen wurde serviert. Lisa nahm Messer und Gabel und schnitt sich ein Stück vom Schnitzel ab, als wäre es ihr persönlicher Feind, den sie schnellstens vernichten müsste. Nikolai beobachtete sie einen Moment und meinte dann gereizt: "Wenn Sie versuchen, mir zu beweisen, was für eine kleine Wilde Sie sind, bemühen Sie sich nicht weiter. Ich bin überzeugt." Ein anderer Mann hatte sie schon so genannt. Lisa hatte gedacht, sie hätte das vergessen, aber das war ein Irrtum gewesen. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, und blitzte Nikolai an. Er lachte auf. "Eine tolle Freundin. Wie kommen die Männer mit Ihnen klar?" "Er überlebt", antwortete sie bewusst irreführend. Nikolai gab sich überrascht. "Nur einer?" "Jedenfalls nicht mehrere auf einmal." "Eine altmodische junge Frau", erwiderte er amüsiert. "Eine altmodische Wilde." Er war so anständig, beschämt dreinzublicken. "Das war nicht nett. Es tut mir Leid." "Das braucht es nicht. Es ist mir egal, was Sie von mir halten." "Das sehe ich." Er schwieg einen Moment. "Und wohnt dieser glückliche Mann auch in Tatianas Souterrain?" Lisa betrachtete ihr Schnitzel. "Das ist wohl meine Sache." "Und Tatiana meine", sagte er mit einem Anflug von Schärfe in der Stimme. "Sie ist eine alte, allein stehende Dame und in gewisser Weise weltfremd. Ich trage dafür Sorge, dass sie nicht ausgenutzt wird. Was würden Sie an meiner Stelle tun?" Lisa blickte auf. "Warum begegnen Sie mir so argwöhnisch?"
"Tatiana zufolge, hat sie Sie praktisch von der Straße aufgelesen. Aber Sie erzählen mir von einem Job, der, wie jedermann weiß, hervorragend bezahlt wird. Würden Sie da nicht auch argwöhnisch sein?" Er hatte Recht. Aber Lisa verabscheute ihn zu sehr, um das zuzugeben. "Möchten Sie vielleicht einen Kontoauszug sehen? Oh, und natürlich auch eine Gehaltsabrechnung." "Reden Sie keinen Unsinn", erwiderte er scharf. "Ich bin argwöhnisch, weil ich weiß, dass Bondhändler mit großen Summen jonglieren und einen Teil der Gewinne als Provision bekommen. Entweder sind Sie nicht sonderlich erfolgreich - dann kann es nicht stimmen, dass Sie leitende Angestellte sind -, oder Sie verdienen so viel, dass Sie sich ein Penthouse kaufen könnten. In Tatianas Souterrain zu wohnen passt einfach nicht ins Bild." Lisa versteifte sich. "Wenn Tatiana nicht beunruhigt ist, begreife ich nicht, was Sie dann wollen." "Dass sie nicht beunruhigt ist, ist genau mein Problem." Sie zuckte die Schultern. "Ich halte Tatiana nicht für so leichtgläubig, wie Sie das anscheinend tun. Sie ist eine unabhängige, beruflich erfolgreiche Frau und braucht keinen, der nach dem Rechten sieht." Schweigend betrachtete er sie einen Moment. "Sie wollen sagen, dass Sie es vorziehen würden, wenn sie keinen hätte, der nach dem Rechten sieht." "Das ist so herablassend ..." "Applaus. Nennen Sie einen besorgten Verwandten einen verdammten Chauvinisten, und er verzieht sich entschuldigenderweise. Aber ich entschuldige mich nicht gern. Und ich tue, was notwendig ist. Egal, ob das anderen gefällt oder nicht. Vor allem wenn es sich um manipulierende Schwindlerinnen handelt, die Political Correctness auf ihre Fahnen schreiben", schloss er wütend. Lisa blickte auf ihren Teller, der noch ziemlich unberührt war. Aber an dem nächsten Bissen würde sie ersticken. Sie legte das Besteck beiseite. "Es ist sinnlos, weiterzureden", erklärte sie und nahm ihre Handtasche. "Vielen Dank fürs Mittagessen." Seufzend lehnte sich Nikolai zurück. "Was, in aller Welt, ist nur in Tatiana gefahren? Wissen Sie das?" Sie sah ihn an. "Vielleicht mag sie mich einfach." "Das genau meine ich ja", sagte er bedächtig. "Haben Sie noch nie jemanden einfach gemocht?" "Nicht so, dass ich ihn bei mir einziehen ließ." "Das glaube ich Ihnen gern", antwortete sie und stand auf. "Sie mögen mich nicht, und ich will meine Zeit nicht weiter opfern. " Sie holte ein weißes Kärtchen aus der Handtasche und legte es auf den Tisch. "Meine Visitenkarte. Überprüfen Sie, was immer Sie wollen. Nur kommen Sie nicht mehr in meine Nähe."
Und noch bevor Nikolai etwas erwidern oder aufstehen konnte, ging sie davon.
3. KAPITEL
Als Nikolai bei Tom eintraf, hatte dessen Freundin Melissa gerade den Nachtisch serviert. Sie holte auch für ihn einen Teller und bat ihn, sich neben Professor Sedgewick zu setzen, "Ivanov, wie schön Sie zu sehen", begrüßte dieser ihn herzlich. Er beglückwünschte ihn zu seinem gelungenen Buch über die Makaken und fragte dann rundheraus: "Sie kommen doch mit mir nach Borneo, nicht wahr?" Nikolai war erstaunt, dass er das Thema so geradewegs anschnitt. "Ich würde mich natürlich geschmeichelt fühlen, aber leider..." "Sie haben andere Verpflichtungen?" meinte er mitfühlend. "Buchabgabetermine? Fernsehauftritte? Vorlesungen?" Seine Stimme war voller Abscheu. "Nein, nichts dergleichen. Meine Verpflichtungen sind privater Natur." Sedgewick sah erst verblüfft drein und lächelte dann. "Nehmen Sie sie mit. Borneo ist eine herrliche Insel für Hochzeitsreisende." Melissa verschluckte sich fast, und Tom blickte sie strafend an. "Da haben Sie bestimmt Recht", erwiderte Nikolai. "Aber ich werde nicht heiraten. Es geht offen gestanden um meine Großeltern." Diese Erklärung überstieg das Verständnis des Professors eindeutig. Er ignorierte sie einfach und sprach über sein Vorhaben, wieder wilde Orang-Utans im Urwald von Borneo anzusiedeln, als wäre Nikolais Teilnahme an der Expedition im Oktober beschlossene Sache. Als er schließlich gegangen war, schlug Tom Nikolai freundschaftlich auf die Schulter. "Also ab in den Urwald mit dir, du verdammter Glückspilz. Sedgewick ist nur noch interessierter, weil du nicht gleich zugesagt hast." Er sah ihn schräg von der Seite an. "War das Taktik? Oder hält dich wirklich etwas zurück?" Nikolai zögerte. "Sei nicht so neugierig, Tom", ermahnte Melissa ihn, aber er ließ sich nicht beirren. "Es ist also doch eine Frau im Spiel", meinte er lachend. "Nein", antwortete Nikolai kategorischer als nötig. Amüsiert zog Tom die Brauen hoch. "Es geht um meine Großeltern", erklärte Nikolai gelassener. "Genauer gesagt um das Gut, um das ich mich seit Vladis Tod kümmere." Tom wurde ernst. Er kannte Nikolai schon lange und hatte ihm in der entsetzlichen Zeit nach Vladimirs Verkehrsunfall beigestanden. Und er wusste auch, welche Verantwortung der Freund als Letzter seiner Familie trug.
"Das ist jetzt über ein Jahr her", erwiderte er leiser. "Deine Großeltern können nicht erwarten, dass du deine Karriere für immer ruhen lässt." "Das tun sie nicht." "Ja dann ...". "Ich denke darüber nach", sagte Nikolai energisch, und Tom wusste, dass es zwecklos war, das Thema weiterzuverfolgen. Lisa war kaum zu Hause, als das Telefon klingelte. "Nikolai Ivanov", sagte sie ärgerlich vor sich hin, "ich werde mich bei Ihrer Tante beschweren." Aber der Anrufer war nicht Nikolai, sondern ihre besorgte Mutter. "Ich komme sofort", erklärte Lisa, nachdem sie Joanne geduldig zugehört hatte. In Windeseile brach sie zu der kleinen Doppelhaushälfte in einem Londoner Vorort auf. Sie hatte sie gekauft, sobald es ihr möglich gewesen war, damit Mutter und Schwester aus der Mietwohnung im East End ausziehen konnten. "Was ist passiert?" fragte sie, nachdem Sie Joanne umarmt hatte. Sie versuchte, nicht resigniert zu klingen. Kit war als junges Mädchen magersüchtig gewesen, und seither hatte ihre Mutter Angst, sie könnte rückfällig werden. "Kit hat diese Woche kein einziges Mal mit mir zusammen gegessen." "Oh!" Lisa kannte die Anzeichen, denn sie hatte bis zu ihrem neunzehnten Lebensjahr zu Hause gewohnt. "Ich habe im College angerufen", fuhr Joanne fort. "Die Studienberaterin hat mich mehr oder minder eine überängstliche Mutter genannt." Sie legte eine theatralische Pause ein. "Und dann hat sie gesagt, dass jetzt alles in Ordnung sei." "Jetzt?" Lisa war verwirrt. "Kit ist mit einem älteren Studenten ausgegangen. Die Studienberaterin hat mir erzählt, dass sie ein Auge auf ihn habe. Wegen Drogen. Deshalb wusste sie auch, dass er zu den letzten zwei Collegepartys mit einem anderen Mädchen gekommen ist." "Er hat sie also abgeschoben." Lisa drehte sich um und ging nach oben. Als sie die Tür zu Kits Zimmer öffnete, sah sie die Schwester auf dem Boden sitzen. Sie hörte Panflötenmusik und starrte Löcher in die Luft. "Darf ich reinkommen?" Kit sah sie mit abwesendem Blick an. "Hallo, Lisa", sagte sie teilnahmslos. "Sicher." Lisa nahm ein Kissen und schob es sich in den Rücken, als sie sich auf den Teppich setzte und gegen ein Bettbein lehnte. "Du magst diese Musik?" erkundigte sie sich, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Kit nach ihrem Befinden zu fragen verbat sich von selbst. Kit lächelte. Aber es bedeutete zweifellos eine Anstrengung. Lisa war bestürzt über deren Aussehen, sagte aber nichts. "Zu was, in aller Welt, tanzt du? Das geht
doch schlecht zu diesen Klängen, die sich eher wie das Bohren beim Zahnarzt anhören." Kit blickte sie gequält an. "Ich tanze nicht." "Wie schaffst du das? Ist nicht das Studentenleben heutzutage eine endlose Party?" "Nur wenn man hübsch ist." Lisa schwieg einen Moment. Es war zwecklos, ihr zu sagen, dass viele Kommilitoninnen sie bestimmt um ihre goldblonden Haare und graugrünen Augen beneideten. Wenn Kit so niedergeschlagen war, hasste sie sich und begegnete jedem zutiefst argwöhnisch, der irgend etwas Gutes über sie sagte. Aber wie konnte sie die Schwester nur aus ihrer Verzweiflung reißen? "Habe ich dir schon erzählt, dass ich möglicherweise eine Auszeichnung erhalte?" Kit wusste nichts über Lisas Arbeit und interessierte sich auch nicht für die Finanzwelt. Aber sie beide hatten sich immer über die Erfolge des anderen gefreut. "Großartig. Und welche?" "Händler des Jahres. Sie wird am Dienstagabend auf dem jährlichen Verbandsdiner verliehen. Das wird noch was werden, denn ich weiß erst ganz zum Schluss, ob ich sie bekomme oder nicht." Kit wurde lebhafter. "Das wirst du bestimmt." Lisa schnitt ein Gesicht. "Vielleicht. Aber eine Dankesrede sollte ich für alle Fälle parat haben." Sie verstummte. "Übrigens könnte ich gut etwas Unterstützung brauchen." "Welcher Art?" "Meinst du, Mutter und du könntet kommen?" fragte sie listig. Kit konnte häufig überzeugt werden, etwas für Joanne und sie, Lisa, zu tun, das sie für sich selbst nicht tun würde. "Mir ist klar, dass es langweilig für euch ist", fuhr sie fort, als die Schwester stumm wegblickte. "Aber es würde mir viel bedeuten." Und noch während sie redete, erkannte sie, dass es nicht gelogen war, "Warum?" "Weil mein Chef nicht kommt. Das ist sicher." Lisa merkte erst jetzt, wie viel ihr das ausmachte. "Er wird sich die Chance nicht nehmen lassen, mir öffentlich eine Ohrfeige zu geben." "Warum sollte er das wollen?" fragte Kit besorgt. "Er mag mich nicht mehr seit ..." Seit ihrer Affäre mit Terry Long. "Er hat auch für Terry gearbeitet." Kit nickte. Sie wusste mehr über Lisas katastrophale Beziehung als sonst jemand.
Lisa war achtzehn gewesen und hätte die ganze Welt umarmen können, als sie feststellte, dass ihr die Arbeit nicht nur Spaß machte, sondern sie auch gut in ihrem Job war. Die Bank schickte sie auf Fortbildungsseminare, und ihr eröffnete sich eine Karriere, die sie sich nie hätte träumen lassen. Und dann trat Terry Long in ihr Leben. Er war ein Mann auf dem Weg nach oben. Ein genialer Vorgesetzter, der nicht nur Lisa, sondern auch Sam und jeden anderen in der Abteilung zur Höchstleistung motivierte. Doch er war auch ein gewissenloser Herzensbrecher, und Lisa war machtlos gegen ihn. "Aber Terry ist schon vor Jahren nach New York gegangen", wandte Kit ein. "Vor drei Jahren. Doch Sam ist in dieser Sache unversöhnlich. Er findet ein Verhältnis am Arbeitsplatz unprofessionell und meint, dass ich es nie dazu hätte kommen lassen dürfen." "So ein Blödmann. Dann willst du sowieso nicht, dass er kommt." Lisa lachte auf. "Es wäre mir schon lieber, er würde es nicht so öffentlich machen, wie wenig er von mir hält." "Sein Pech. Aber viel wichtiger ist, was du anziehen wirst." "Hallo, das ist keine Oscarverleihung." "Für dich schon. Und du musst allen zeigen, wie sehr du darüber stehst." Schalkhaft blickte sie sie an. "Ich bin für purpurrote Seide und Diamanten." "Nicht mein Stil und beim Verband auch nicht gefragt. Die Herren erscheinen alle im Smoking, Und die Frauen sollen ihnen so ähnlich wie möglich sehen. Ich werde etwas Dunkles, Seriöses tragen." "Und keine Diamanten?" fragte Kit enttäuscht. "Vielleicht irgendwann. Momentan kann ich sie mir noch nicht leisten." Kits Miene gefror. "Du gibst zu viel für uns aus, stimmt's? Vor allem für mich. All die Therapien und Fachärzte." "Natürlich nicht", erwiderte Lisa, wütend auf sich. "Lüg nicht. Diese letzte Klinik, in der ich war ... Du hast gesagt, sie sei eine wohltätige Einrichtung. Aber alle anderen dort waren Kinder aus reichem Haus." "Auch Reiche werden krank." "Ja, und ihre Väter zahlen die Behandlung. In meinem Fall du, stimmt's?" Angelegentlich klopfte Lisa das Kissen auf. "Gesundheit ist wichtig." Kit schüttelte den Kopf und hüllte sich in Schweigen. Lisa gab es schließlich auf und ging zurück nach unten. "Ich habe es verdorben", sagte sie niedergeschlagen zu ihrer Mutter und erzählte ihr die wichtigsten Punkte. "Vielleicht kommt sie doch mit. Sie braucht etwas Zeit, um sich zu überzeugen", erwiderte Joanne und tätschelte Lisas Arm. "Besorg uns zwei Karten. Ich rede mit ihr."
Das Wasser im Kessel begann zu kochen. Sie nahm ihn vom Herd und brühte ihnen eine Kanne Tee auf. "Alles schien so gut zu laufen. Aber wenn es da einen Mann gab ..." Lisa schnaufte verächtlich. "Ja, ich weiß. Du hältst Männerbekanntschaften für Zeitverschwendung. Aber wir sind nicht alle so wie du. Kit ist sehr verletzlich." "Jeder ist verletzlich, wenn er sich herumstoßen lässt." "Es ist nicht immer eine Frage des Lassens", sägte Joanne trocken. Lisa fühlte sich einen Moment schuldbewusst. Ihr Vater hatte ihre Mutter kurz nach Kits Geburt verlassen. Lisa erinnerte sich nicht mehr an ihn. Aber sie erinnerte sich sehr wohl, dass ihre Mutter in dem von Armut bestimmten Leben danach keinen Mann mehr angesehen hatte. "Es tut mir Leid", entschuldigte sie sich zerknirscht. "Ich verstehe nur einfach nicht, wie man Männer ernst nehmen kann. Mein Chef ist so neidisch auf mich, dass es offensichtlich ist. Alec hat sich wie ein verwöhntes Kind aufgeführt, und heute habe ich einen Mann kennen gelernt, der so aussieht, als wäre er einem Traum entsprungen. Aber er hat sich als der Schlimmste von allen entpuppt." Sie lachte ärgerlich auf. Nachdenklich sah ihre Mutter sie an. "Wer ist dieser Traummann?" Lisa zuckte die Schultern. "Nur ein sich einmischender Verwandtet meiner neuen Vermieterin." "Oh." Joanne schenkte ihnen Tee ein und ging mit den Bechern ins Wohnzimmer. Vor dem großen Fenster blieb sie stehen und blickte nach draußen. Es regnete noch immer, aber das konnte ihr die Freude am Garten nicht verderben. Lächelnd nahm Lisa ihr einen Becher ab. Bevor sie das Haus gekauft hatte, hatten sie in verschiedenen Wohnungen in den ärmsten Stadtteilen Londons gelebt. Und wenn immer ihre Mutter jetzt an diesem Fenster vorbeikam, blieb sie einen Moment stehen, um die grüne Oase zu genießen. Lisa fühlte, wie ihr Tränen in die Augen traten, und blinzelte. Du bist nicht sentimental, ermahnte sie sich stumm. Das bist du nicht. Joanne riss sich von dem herrlichen Anblick los. "Wie hast du diesen sich einmischenden Verwandten kennen gelernt?" "Wie bitte?" Lisa war in Gedanken kurzfristig bei ihrer Kindheit gewesen. "Oh, Boris. Er hat mich heute Morgen aus dem Bett geklingelt." Joanne unterdrückte ein Lächeln. Sie wusste, dass ihre Tochter am Wochenende gern lang schlief. "Dann bin ich überrascht, dass du ihn noch für einen Traummann hältst."
"Ganz so ist das nicht. Aber er erfüllt die Kriterien. Er ist groß, dunkelhaarig und attraktiv. Und kann sogar nett sein, wenn er will." "Aber du hasst ihn." Joanne wusste aus langer Erfahrung, wie der Tonfall ihrer Tochter zu deuten war. "Nur weil er dich aus dem Bett geklingelt hat?" Lisa lächelte. "Das hat es nicht besser gemacht." "Der Arme." "Dein Mitgefühl ist an Nikolai verschwendet." "Ich dachte, er hieße Boris." "So habe ich ihn genannt. Es hat ihm nicht gefallen", erwiderte Lisa zufrieden. "Ihr scheint euch ganz schön unterhalten zu haben." "Oh, er hat mich zum Mittagessen eingeladen." "Er hat..." Joanne sah sie überrascht an. "Wie lange kennst du den Mann?" "Na, seit heute Morgen, als er mich wach geklingelt hat." "Und du bist mit ihm essen gegangen?" fragte ihre Mutter beeindruckt. Seit der Geschichte mit Terry hielt Lisa normalerweise einen Mann mehrere Monate auf Distanz, bevor sie mit ihm auch nur eine Tasse Kaffee trank. "Das muss ja ein Traummann erster Güte sein." "Er ist ein Mistkerl erster Güte." Lisas Miene verfinsterte sich. "Und wie schätzt er dich ein?" erkundigte sich Joanne amüsiert. "Er hält mich für eine Erzschwindlerin mit schlechten Tischmanieren." "Wie bitte? Er muss verrückt sein." "Nein, ich habe ihn provoziert", sagte Lisa ehrlich. "Er hat gemeint, er könne mich mit seinem Charme einwickeln, und ich ... habe ihm gezeigt, dass er sich irrt." Joanne nickte bedächtig. "Ja, das kann ich mir vorstellen", erwiderte sie und lächelte ihre Tochter plötzlich strahlend an. "Kein Mann wird es je schaffen, dir mit seinem Charme den Verstand zu rauben. Nicht wahr, mein Schatz?" "Sehr richtig." Das nie wieder konnte sie sich sparen. "Du hast fast die Chance verpasst, ins Fernsehen zu kommen", sagte Hob, als Lisa am späten Montagmorgen aus der Besprechung kam. "Gary würde gern für dich einspringen." Er lachte. "Er ist weggegangen, um sich Strähnen ins Haar machen zu lassen." "Das ist nicht dein Ernst." Lisa blieb vor ihrem Computer stehen. "Doch. Das Kamerateam kommt um zwölf. Und ich wette fünf zu eins", fuhr er dann so laut fort, dass ihn jeder im Raum verstehen konnte, "dass Gary bei seiner Rückkehr gebräunter ist als vorher." Spöttisches Gelächter erklang. Und dann wurde eifrig gewettet. "Bestimmt würde er dich am liebsten umbringen, wenn er feststellt, dass du noch rechtzeitig zurückgekommen bist", meinte Rob mit Genugtuung in der Stimme.
Er hatte Recht. "Natürlich bist du die Chefin und solltest das machen", sagte Gary beleidigt. Sein frisch gestyltes Haar glänzte im Licht der Scheinwerfer. Lisa lächelte ihn an. "Aber du hast dich so hübsch zurechtgemacht." "Was soll das heißen?" "Dass du für den Auftritt wie geschaffen bist. Du eignest dich viel besser als ich." Raues Gelächter erklang, und Gary errötete. "Nur weil du dich vernachlässigst", antwortete er gehässig. "Es ist nicht meine Schuld, dass du unmöglich aussiehst." Ihr Lächeln verschwand. "Vielen Dank für die Beurteilung." Sie setzte sich, wandte ihm den Rücken zu und begann zu arbeiten. Gary zuckte die Schultern und ging hinüber zum Fernsehteam. "Gary ist ein Trottel", sagte Rob über den Rand seines Bildschirms hinweg. Lisa nickte nur. "Nimmst du zu dem Dinner morgen jemanden mit?" "Meine Mutter und meine Schwester." Er sah unzufrieden drein. "Wenn du einen Mann brauchst..." Sein Versuch, feinfühlig zu sein, ließ sie zusammenzucken. "Ich brauche keinen Mann", schrie sie. Von allen Seiten hagelte es Kommentare. "Lass die Hände von ihr, Rob, du erbärmlicher Lustmolch", rief ein Mitarbeiter. "Weißt du nicht, dass sie ein Junge ist?" Der Besucher in Sams Büro sah gespannt auf. Lisa wusste nicht, dass sie beobachtet wurde. Die Frotzeleien der Kollegen vertrieben ihren Ärger, und sie lachte. "Ihr verdammten Sexisten." Rob atmete erleichtert auf. "Wie läuft das denn morgen Abend ab?" "Ich esse viel, versuche, maßvoll zu trinken, und lausche diversen langweiligen Reden. Und halte dann selbst eine, sollte ich gewinnen." Der Ehrengast der Veranstaltung war ein Politiker, dessen finanzielle Transaktionen zur Zeit von der Presse untersucht wurden. Die Händler bei Napier Kraus schlössen schon eifrig Wetten ab, ob er noch lang genug im Amt sein würde, um die Preise zu verleihen. "Es dürfte schwierig werden, so kurzfristig jemand anderes zu bekommen", meinte Lisa. "Glaube ich nicht. Irgendein hohes Tier wird sich schon finden lassen." Auf den Bildschirmen tat sich etwas, und jeder widmete sich wieder seiner Arbeit. Lisa nutzte die allgemeine Geschäftigkeit und sah noch einmal zu Rob hin. "Danke dir", sagte sie leise.
Nikolai nutzte Lisas Visitenkarte erfolgreich. Allerdings musste er feststellen, dass seine Nachforschungen länger dauern würden als geplant. Und er hasste es, im Hotel zu wohnen, wie luxuriös es auch immer war. Also rief er einige Bekannte an, bekam bis Montagmorgen gleich mehrere Wohnungen angeboten und zog noch am Vormittag um. Ein Geologieprofessor hatte ihm die Wohnung seiner Mutter zur Verfügung gestellt, die den Sommer immer in Schottland verbrachte. Sie war zwar nicht so günstig zur Royal Geographical Society Library gelegen, aber dafür nicht weit von Tatianas Haus entfernt. Und am Montagnachmittag trafen auch die ersten Reaktionen auf seine sonstigen Telefonate ein, die er getätigt hatte. "Count Ivanov? Roger Maurice am Apparat. Ich bin der Herausgeber des Financial Monthly. Man hat mich gebeten, Sie anzurufen." "Wirklich?" Nikolai war wenig begeistert. Er mochte Journalisten nicht. "Ich schätze, wir können uns gegenseitig helfen. Sie wollen etwas über Lisa Romaine erfahren/Nun, ich habe gerade einen Artikel über Top-Frauen in der City geschrieben. Was möchten Sie wissen?" Nikolai war erstaunt. "Ist sie so bekannt?" "Und erfolgreich." "Du liebe Zeit." "Ihr Werdegang ist möglicherweise nicht ganz makellos. Sie weist gute Ergebnisse auf. Aber wie sie zu ihren Beförderungen kommt, ist zuweilen mit einem kleinen Fragezeichen zu versehen. Ich könnte Ihnen einige Leute nennen, mit denen Sie reden könnten. Und als Gegenleistung ..." Nikolai hörte ihm interessiert zu und lächelte dann triumphierend. Er würde Lisa Romaine zeigen, was es hieß, sich mit ihm anzulegen. "Und morgen Abend?" fragte Roger Maurice, nachdem er ihm einige Namen gegeben hatte. "Können wir auf Ihre Hilfe zählen?" "Das ist mir eine Ehrenschuld." Kit rief Lisa an und sagte ihr ab. Und sosehr Lisa es auch versuchte, sie konnte die Schwester nicht umstimmen. Traurig akzeptierte sie dann auch Joannes Entscheidung, Kit nicht allein zu lassen. Wie gut, dass Rob sich als Begleiter angeboten hatte. Lisa verbarg ihre Einsamkeit hinter riesigen Ohrgehängen, die ihr bis auf die Schultern reichten, und unter einer Samtjacke, die sie sich von Sams Sekretärin Angela geliehen hatte. "Zieh sie nur nicht aus", sagte diese, als sie ihr in der Damentoilette einige Flusen vom Revers bürstete. "Dein Outfit ist Spitze fürs Tanzen. Aber beim Anblick von so viel nackter Haut bekommen die alten Herren draußen im Saal einen Herzinfarkt."
Lisa betrachtete sich prüfend im Spiegel. "Kommt Sam auch?" fragte sie wie nebenbei. Umständlich legte Angela die Bürste zurück. "Er hat eine Eintrittskarte gekauft." "Danach habe ich nicht gefragt." "Ich glaube, es gibt zu Hause irgendwelche Probleme", antwortete sie ausweichend. Lisa tat ihr Leid, aber sie schuldete ihrem Chef auch Loyalität. Lisa warf den Kopf zurück. "Du musst das für mich nicht bemänteln. Ich wusste, dass er nicht kommen würde. Kein Boss. Keine Familie. Na ja, das Financial Monthly hält mich für die Größte. Was will ich mehr?" Sie stolzierte aus der Damentoilette wie eine Frau, die es mit jedem aufnehmen wollte. Hob beschlich ein ungutes Gefühl. Er nahm zwei Gläser vom Tablett eines Kellners und reichte Lisa eines. "Ziemlich ruhig dieses Jahr", sagte er, nachdem er den Blick durch den halb leeren Saal hatte schweifen lassen. Sie kniff die Augen zusammen wie eine Katze auf der Jagd. "Das wird sich bald ändern." "Was soll das heißen?" fragte er alarmiert. Lisa lachte nur. "Mach keinen Blödsinn", bat er. "Und glaub nicht, dass Sam nichts erfährt, nur weil er nicht hier ist. Alle seine Spießgesellen sind es. Wenn du anfängst, auf Tischen zu tanzen, greifen sie schon zu ihren Handys." Sie lächelte geheimnisvoll, und Rob schwante nichts Gutes. "Lisa ..." "Okay, okay", sagte sie ungeduldig. "Kein Tanzen auf Tischen. Zumindest nicht hier. Hast du Lust, später noch woanders hinzugehen?" Er nickte und atmete insgeheim auf. Und als immer mehr Leute eintrafen, wurden sie getrennt und sahen sich erst beim Hinsetzen wieder. Lisa schien sich beruhigt zu haben, wie er erleichtert feststellte. Aber als sie dann das Programm nahm, merkte er, wie sie sich verspannte. "Was ist?" Langsam sah sie auf. Ihr Blick war leer. Und dann begann sie, kaum merklich zu zittern. "Oje!" Was hatte nur ihren Zorn erregt? Die Organisatoren hatten ihr Bestes getan, um mit den Absagen am Tisch von Napier Kraus Schritt zu halten. Sie hatten zwei Gedecke entfernt, waren dann aber über Sams Fernbleiben gestolpert. So war der Platz neben Lisa frei, und auf der Tischkarte stand auch noch "Kit Romaine". Eilig steckte Rob die Karte ein, doch Lisa bebte immer noch vor Zorn. "Der Ehrengast", stieß sie hervor.
Er warf einen Blick ins Programm. "Count Nikolai Ivanov", las er laut und sah sie an. "Wer ist das?" "Count!" Lisa war so wütend, dass sie kaum reden konnte, und Rob nicht klüger als zuvor. "Er ist ein Forscher", klärte ihn schließlich ein Kollege auf. "Schon ein kleiner Coup, ihn zu bekommen. Vor allem so kurzfristig." Lisa schnaufte verächtlich. "Nein, wirklich. Er hält gewöhnlich keine Tischreden." "Das tun alle Forscher", erwiderte sie kategorisch. Seit sie bei Napier Kraus arbeitete, hatte sie schon diverse Ansprachen über sich ergehen lassen müssen. "Sie sind nicht besser als Politiker. Gelder müssen immer und überall beschafft werden." "Ich schätze, ein Ivanov hat das nicht nötig. Die Familie hat mehrere Konten in der Schweiz." Rob merkte, dass diese Information Lisa nur noch wütender machte. Sie sprach kaum während des Essens und brütete vor sich hin. Erst als der Gastredner aufstand, erwachte sie aus ihrer Versunkenheit, setzte sich aufrecht hin und starrte ihn zornig an. Nikolai schien öfter zu ihrem Tisch zu sehen, als er woandershin blickte. Und als er Lisa zur Händlerin des Jahres erklärte, stand sie auf - und streifte die Samtjacke ab. Darunter trug sie ein silberfarbenes rückenfreies Top und wirkte entsetzlich jung inmitten all der seriös und dunkel gekleideten Gäste. In stummer Herausforderung richtete sie den Blick auf Nikolai, während sie auf das Rednerpult zuging. Er blieb absolut gelassen. Aber er wusste, genau wie sie, dass sie beide niemanden sonst im Saal mehr sahen. Als sie um einen Tisch herumging und ihm kurz den Rücken zuwandte, entdeckte er den tätowierten Schmetterling unterhalb des linken Schulterblatts. Sein Puls begann zu rasen, und er meinte das Blut in seinen Adern rauschen zu hören. Und als sie dann mit katzenhafter Geschmeidigkeit die Stufen zum Podium heraufkam, musste er sich sehr beherrschen, um sie nicht anzufassen und ruhig zu erscheinen. Er nahm die Statuette und schenkte Lisa sein charmantestes Lächeln. "Herzlichen Glückwunsch." Ihre Augen färbten sich dunkel vor Zorn. Und zu ihrer Entrüstung nahm er einfach ihre Hand und schüttelte sie, während die Leute applaudierten. "Wie mir gesagt wurde, haben Sie sie sich wahrlich verdient." "Vielen Dank", stieß sie mühsam hervor.
Mit funkelndem Blick überreichte er ihr die Plastik und legte Lisa dann zu ihrer grenzenlosen Verblüffung einen Arm um die Schultern und zog sie neben sich, so dass sie ins Publikum sah. Sie hatte das Gefühl, einen elektrischen Schlag zu bekommen, und konnte einen Moment nicht atmen. Sie wollte einen kleinen Schritt zur Seite machen, aber er hielt sie unbeirrt fest. Finster blickte sie ihn an. "Lassen Sie mich los", sagte sie, ohne die Stimme zu dämpfen. Ihre Worte gingen in dem anhaltenden Applaus unter. Nur Nikolai hörte sie und begann, sich zu amüsieren. Aber Lisa war offenbar zu wütend, um das zu bemerken. Er entspannte sich und sah sie an. "Lächeln Sie für die Kameras", forderte er sie freundlich auf. Sie hätte schreien mögen. Doch sie machte gute Miene zum bösen Spiel, während die Fotografen Bilder schössen. Dann hielt sie eine so kurze Dankesrede, dass die Leute ehrlich begeistert applaudierten, und verließ das Podium, ohne Nikolai noch einmal anzublicken. Er hatte nur Augen für den Schmetterling auf ihrem Rücken und gab sich ein Versprechen. Er würde die provokante Tätowierung küssen. Am liebsten noch heute Abend. Lisa meinte, weiterhin unter Strom zu stehen. Ihr ganzer Körper schien zu kribbeln. Benommen ging sie zu ihrem Tisch zurück. Sie hätte sich schon besser gefühlt, wenn sie Nikolais begehrliche Blicke gesehen hätte. Aber Rob hatte sie bemerkt und war daher auch nicht überrascht, als Nikolai auf ihren Tisch zukam, nachdem der formelle Teil des Abends beendet war. Er blieb zwar immer wieder stehen, weil ihn der eine oder andere ansprach, aber die Richtung schien klar. Er machte Lisa darauf aufmerksam und wunderte sich sehr, als sie ihn eindringlich bat, sie nicht allein zu lassen. So kannte er sie gar nicht. Und dann stand Nikolai vor ihnen. "Miss Romaine, wie schön, Sie wieder zu sehen!" Diesen besonderen Ton zu treffen muss über Generationen geübt sein, dachte sie wütend. Sie war sich bewusst, dass er ein Spiel mit ihr spielte, und bot ihm trotzig die Stirn. "Dann sind Sie glücklicher als ich. Ich hatte gehofft, Sie das letzte Mal gesehen zu haben." "Wirklich? Das ist unter den gegebenen Umständen nicht gerade wahrscheinlich", antwortete er mit einem fast schon zärtlichen Blick. Was für Umstände? fragte sich Rob beunruhigt. Ihm schwante nichts Gutes. Und genau das hatte Nikolai beabsichtigt. Rob murmelte eine Entschuldigung und zog sich zurück, was Lisa überhaupt nicht bemerkte. Ihre ganze Aufmerksamkeit gehörte dem Feind - Nikolai.
"Heißt das, Sie sind dafür bekannt, Frauen zu verfolgen?" "Ich bin dafür bekannt, zu Ende zu führen, was ich begonnen habe." "Sie haben nichts mit mir begonnen", stieß sie hervor. Er blieb völlig ungerührt. "Ich denke, wir wissen beide, dass das nicht stimmt." Er drehte einen Stuhl zu sich herum und setzte sich rittlings darauf. Dann stellte er die Ellbogen auf die Rückenlehne, stützte das Kinn auf die Hände und sah Lisa an. Normalerweise kümmerte es sie nicht - oder sie bemerkte es auch gar nicht -, wenn jemand sie anstarrte. Aber unter seinem prüfenden Blick fühlte sie sich zunehmend unwohler und wurde immer wütender. "So ein Unsinn", sagte sie kurz angebunden. Er lächelte. "Und warum haben Sie die dann ausgezogen?" Leicht hob er mit dem Zeigefinger die Samtjacke an, die über ihrer Rückenlehne hing. "Wie bitte?" Er ließ den Blick auf ihren wohlgeformten Brüsten ruhen. "Wollten Sie mich erinnern, dass wir Ihre Körbchengröße noch nicht geklärt haben?" fragte er amüsiert und sah sie wieder an. Lisa las die Herausforderung in seinen Augen und das Lachen und... Entsetzt spürte sie, wie sie errötete bei dem, was sich sonst noch darin spiegelte. "Nicht", stieß sie unwillkürlich hervor und ärgerte sich sogleich. Was erdreistete er sich ihr gegenüber? "Was machen Sie später?" erkundigte er sich leise. Sie war zu aufgewühlt und durcheinander, um eine passende Antwort zu finden. "Das geht Sie überhaupt nichts an." Nikolai lächelte, als hätte sie ihm gesagt, was er wissen wollte. "Ich dachte mir schon, dass Sie nicht der Typ sind, der nach Hause geht und schläft", erwiderte er selbstgefällig. "Welche Disko?" Lisa hatte sich wieder im Griff. Niemand verwirrte sie so leicht oder ließ sie errötend den Rückzug antreten. Niemand. Sie lehnte sich zurück und musterte Nikolai unverschämt. "Sie dürften in keine der Diskos hereinkommen, in die meine Freunde und ich gehen." Er zog die Brauen hoch. Seine Augen waren braun und hatten einen weichen, etwas abwesenden Ausdruck. Als stellte er sich gerade vor, dass sie allein miteinander wären, sich küssten ... "Hören Sie auf", sagte sie leise. Er lachte. "Werden Sie dem Inhaber sagen, er solle mich rauswerfen?" fragte er in neckendem Ton, der die reinste Verführung war. Lisa schluckte und riss sich zusammen. "Das ist nicht nötig. Sie sind zu alt." Vorwurfsvoll schüttelte er den Kopf. "Das ist aber nicht nett." "Das ist die Wahrheit selten."
"Ich glaube nicht, dass man mir wegen Greisenhaftigkeit den Zutritt verwehrt." Sie glaubte das genauso wenig. "Egal, Sie sind jedenfalls völlig falsch angezogen." Er lachte freiheraus. "Wie viel muss ich ausziehen, um passend angezogen zu sein?" Lisa blickte verständnislos drein. Und er beugte sich mit dem Stuhl so weit vor, bis sein Mund fast ihr Ohr berührte. "Ich kann meine Sachen nämlich auch ausziehen", flüsterte er rau. Sie sprang auf, als hätte sie sich verbrannt, und warf sich die Samtjacke über. Nikolai lachte. Lisa war entsetzt. Sie hatte das Gefühl zu fallen. Alles drehte sich um sie her, und sie kam sich verloren, gedemütigt und hilflos vor. Das hatte sie zuletzt als Achtzehnjährige erlebt. An jenem Abend, als Terry über sie gelacht hatte. Sie sah Nikolai einen Moment bestürzt an und flüchtete aus seiner Gegenwart.
4. KAPITEL
Nikolai stand auf und sah Lisa mit unbewegter, entschlossener Miene nach. Rob bemerkte den harten Blick, und da er ohnehin Gewissensbisse hatte, weil er die Freundin im Stich gelassen hatte, ging er auf den Ehrengast zu. "Ich würde das nicht tun", sagte er freundlich, aber energisch. Langsam wandte Nikolai den Blick von Lisa. "Wie bitte?" fragte er verständnislos. Er wirkt, als hätte er vergessen, dass er nicht allein mit ihr im Raum ist, dachte Rob und stellte sich unmittelbar vor ihn. "Lassen Sie sie in Ruhe." "Wie bitte?" Rob wiederholte seine Worte. Kritisch sah Nikolai ihn an. "Und wer sind Sie?" "Nur ein Freund", antwortete er hastig, hatte plötzlich das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. "Aber Lisa ist heute in einer merkwürdigen Stimmung. Es hat sie ziemlich mitgenommen, dass jemand ... den sie gern dabei gehabt hätte, im letzten Moment abgesagt hat. Wenn ich Sie wäre, würde ich es lieber nicht weiter versuchen." "Danke für den Rat", erwiderte Nikolai und ging grußlos an Rob vorbei. Was spielt sie nur für ein Spiel? fragte er sich wütend. Sie spürten doch beide die Anziehungskraft, die die Atmosphäre zwischen ihnen knistern ließ. Und sie war eine moderne junge Frau, stark und kompromisslos. Warum, zum Teufel, lief sie weg? Ich werde das nicht tun, dachte er entschlossen, und auch nicht zulassen, dass sie das tut. Lisa mischte sich unter die Leute. Sie wurde von allen Seiten beglückwünscht, die Fotografen schössen eifrig Bilder, und sie selbst redete so viel und so schnell, als könnte sie so das Unvermeidbare abwenden. Ihr Blick war unruhig, aber sie sah sich kein einziges Mal um und erwähnte auch Nikolai mit keiner Silbe. "Fertig zum Feiern?" fragte sie Rob, als sie schließlich wieder auf ihn traf. Er sah ihr hektisch gerötetes Gesicht. "Gehst du nicht vielleicht lieber heim?" "Heim? Ich? So ein Unsinn. Jetzt fängt's erst richtig an. Und niemand", fuhr sie dann mit Nachdruck fort, "hindert mich daran, mich heute zu amüsieren." Rob verstand sie genau. "Keine Sorge, er ist schon lange weg." "Er? Wer?" "Der von dir gehasste Count." Lisa warf den Kopf in den Nacken. "Ich hasse ihn nicht. Er kümmert mich nicht so viel." Sie schnippte mit den Fingern unmittelbar vor seiner Nase, sodass
er nervös zurückwich. "Und jetzt mache ich mich etwas zurecht, und dann können wir." Fünf Minuten später kam sie mit regenbögenfarbenen Spikes in den Haaren wieder aus der Damentoilette heraus. Statt des Rockes trug sie jetzt Jeans zu dem Top und der Samtjacke, eine Silberhalskette und Ohrgehänge aus bunten Büroklammern. Sie sah wirklich toll aus und zu allem bereit. "Sie haben gerade deinen Namen ausgerufen", sagte Rob. "Offenbar hat man dir ein Taxi organisiert." Lisa machte ein erstauntes Gesicht. "Prima, wohl eine Zugabe für den Gewinner. Na dann los." Sie sah einen australischen Kollegen von einer anderen Bank. "Hast du Lust, noch woanders hinzugehen?" Schließlich saßen sie zu sechst im Wagen und ließen sich zum Deep South in der Stadtmitte fahren, das erst kurz zuvor eröffnet hatte und zur Zeit sehr angesagt war. Problemlos kamen sie am Türsteher vorbei, und Lisa suchte erneut die Damentoilette auf. Sie steckte Geld, Parfüm und Wimperntusche in einen kleinen Beutel, den sie sich um die Taille band, packte Samtjacke, Handtasche und Statuette in ihr Aktenköfferchen und gab dieses ab. Und nachdem sie die herzförmige Marke ebenfalls sicher im Beutel untergebracht hatte, stürzte sie sich ins Vergnügen. Anderthalb Stunden später fühlte sie sich einfach großartig. Sie hatte mit Rob getanzt, mit den anderen, allein und auch mit Fremden. Ihre Wut, die Verletztheit und sogar die Sorge um Kit hatte sie abstreifen können, nur Nikolai beschäftigte sie noch am Rande. Aber sie weigerte sich, sich vor morgen mit ihm zu befassen. Und wieder einmal tanzte sie allein. Ihr Körper wirkte eins mit den heißen Rhythmen und sie absolut selbstvergessen. Dem Mann auf der Galerie kam es so vor, als wäre sie geradezu von der Musik besessen. Und als er sie weiter beobachtete, lachte sie plötzlich aus purer Lust. Er zeigte sofort Wirkung. Ich will, dass sie so aussieht, wenn ich sie liebe, schoss es Nikolai durch den Kopf. Lisa war ganz in ihrem Element. Da versucht es offenbar wieder einer, dachte sie nachsichtig, als sie irgendwann eine Berührung am Rücken spürte. Tanzend drehte sie sich um, während sie eine Hand vorsichtshalber auf ihren Beutel legte. Das Gesicht des Mannes lag im Dunkeln, aber Lisa sah, dass er beruhigend den Kopf schüttelte. Er trug eine khakifarbene Weste und eine weite Hose - was beides hervorragend in diese Umgebung mit tropischem Flair passte. Und ihm schien das Tanzen im Blut zu liegen. Lisa hatte nur selten das Vergnügen, mit jemandem zu tanzen, der so gut war wie sie. Sie genoss es in vollen Zügen und staunte, dass er offenbar nicht ermüdete.
Normalerweise schaffte sie so schnell keiner. Aber dieses Mal war es anders, denn sie verließen allmählich die Kräfte. Er merkte das sofort, legte ihr galant den Arm um die Taille und führte sie vom Parkett. Sie spürte seine Stärke und fühlte, wie ihr Puls noch mehr raste. Mitten auf der Wendeltreppe blickte sie über die Schulter. "Okay, Sie haben es mir bewiesen." Sie versuchte, so normal wie möglich zu klingen. "Man hat mich also doch reingelassen." Nikolai lächelte sie an. Lisa hatte das Gefühl, als würde ihr Herz einen Moment zu schlagen aufhören. Oh verdammt! "Wahrscheinlich aus Angst", konterte sie. Wie gut, dass sie sich von einem Schock meistens schnell erholte. "Sie sehen wie ein richtiger Gangster aus." Er lachte. "Aber nicht wie ein alter Gangster." Eine Gruppe junger Leute kam die Wendeltreppe herunter. Nikolai zog Lisa fest an sich, damit sie an ihnen vorbeigehen konnten. Entsetzt merkte sie, wie ihr selbst die leidenschaftslose Umarmung den Atem raubte. "Was tun Sie hier?" fragte sie, sobald sie wieder sprechen konnte. Ihre Stimme klang rau, so dass sie sich erst räuspern musste, bevor sie weiterreden konnte. "Sich unters gemeine Volk mischen, Count Ivanov?" "Ich folge Ihnen", antwortete er seelenruhig. "Wie bitte?" Er ließ sie endlich los und blickte sie merkwürdig an. "Ich habe es auf Ihre Tätowierung abgesehen", sagte er leise mit einem erregenden Unterton in der Stimme. Lisa schluckte. "Warum sollte ich sonst wohl hier sein?" Ein junges Pärchen drängte sich an ihnen vorbei und schob Lisa fest gegen ihn. Sie zuckte entsetzt zusammen. "Ich sage es nur ungern, aber meinen Sie nicht, wir sollten weitergehen? Es ist etwas unhöflich, die Treppe so zu verstellen." "Wie bitte?" Sie rang um eine halbwegs normale Atmung. "Gehen Sie", erwiderte er leise dicht an ihrem Ohr. Lisa erbebte. "Oh. Ja." Sie hastete die Stufen hoch und überlegte fieberhaft, wie er herausgefunden hatte, wohin sie wollten. Sie hatten sich doch erst im Auto fürs Deep South entschieden. "Können wir gehen?" Sie versteifte sich. "Was soll das heißen?" "Dass ich Sie nach Hause bringe", antwortete er lächelnd. "Ich gehe mit dem Mann weg, mit dem ich auch gekommen bin. Und das waren nicht Sie."
"Stimmt. Drei Ihrer Begleiter sind schon aufgebrochen. Die beiden anderen wissen Bescheid." "Ich bin kein Paket, das man nach Belieben weiterreichen kann. Ich gehe allein." Er schüttelte den Kopf. "Keine Chance." "Was erlauben Sie sich?" Nikolai blieb ungerührt. "Holen Sie Ihren Mantel." Sie warf einen Blick auf die Armbanduhr. Es war gleich drei und wirklich Zeit, aufzubrechen. Wortlos verschwand sie in der Garderobe und kehrte kurz darauf mit dem Aktenköfferchen zurück. Nikolai nahm es ihr ab und führte sie hinaus auf die Straße, die kaum noch befahren war. "Taxis kurven um diese Zeit nicht mehr einfach so herum", sagte sie mit Genugtuung, als sie sah, dass er die Hand hob. "Nicht hier. Sie müssen ..." Ein dunkler Wagen hielt an der Bordsteinkante. "... ein Taxi bestellen", schloss sie lahm. Lächelnd öffnete er ihr die Tür. Lisa war zwar nicht begeistert, aber ein Taxi war um diese Zeit schwer zu bekommen, und so stieg sie widerwillig ein. "Das haben Sie wohl gerufen, als ich in der Garderobe war", meinte sie ärgerlich. "Stanley Crescent", informierte Nikolai den Fahrer, setzte sich neben sie und legte einen Arm über die Rückenlehne. "Im Gegenteil. Der Wagen war in Warteposition, seit Sie ins Deep South gekommen sind." "Wohl auch wieder eine Ihrer tollen Planungen", sagte sie verächtlich. "Richtig." "Seit ich ins Deep South gekommen bin?" fragte sie dann verwundert. "Alfredo hat Sie hingefahren", antwortete er sachlich. "Wie glauben Sie, habe ich herausgefunden, wohin ich kommen musste?" Lisa wandte sich ihm empört zu. "Sie haben mir nachspioniert?" "Das war nur gute Planung." "Also für mich stellt sich das als spionieren dar", erwiderte sie hitzig. Nikolai lehnte sich bequem zurück. "Und warum kümmert Sie das ... wenn Sie nichts zu verbergen haben?" Sie blitzte ihn an. "Seien Sie vorsichtig. Ich lasse mich nicht leicht einschüchtern." "Und Sie kämpfen mit allen Mitteln, wie Sie mich bereits gewarnt haben", sagte er amüsiert. Er ließ den Blick über sie schweifen und bemerkte auch das Stück nackte Haut, das unter der Samtjacke hervorschimmerte. "Was ich Ihnen glaube. Allein schon, wie Sie sich kleiden, verschafft Ihnen einen unfairen Vorteil."
Lisa hätte ihn am liebsten geohrfeigt und schloss die Augen, damit er das nicht darin las. Fest zog sie die Samtjacke um sich. "Ich kleide mich so, um nicht zu schwitzen", erwiderte sie scharf. "Tanzen ist nämlich ziemlich schweißtreibend." "Wenn man so tanzt wie Sie bestimmt. Sie tun es mit Leib und Seele, nicht wahr? Ich mag es, wenn eine Frau sich so engagiert." Seine Selbstsicherheit erboste sie. Er mit seinen Kontakten zur City und den abrufbereiten Limousinen saß lässig da und beleidigte sie auf raffinierte Art. Und sie konnte ihn nicht daran hindern. Sie hatte keine einflussreichen Freunde, keine unerschöpflichen Mittel, keine gesellschaftliche Stellung. Sie hatte nichts, um ihn zu bekämpfen, als ihren Verstand und ihre Entschlossenheit. "Das wird Ihnen noch Leid tun", stieß sie zornig hervor. "Dass ich Sie nach Hause bringe, wenn Sie unmöglich ein Taxi gefunden hätten? Obwohl, so wie Sie angezogen sind, vielleicht doch", erwiderte er und lachte. Er lachte. Lisa stürzte sich auf ihn. Sie war unfähig, noch klar zu denken, wusste nur, dass sie sein Gespött nicht eine Sekunde länger ertragen konnte. Nikolai schien einen Moment verblüfft, reagierte dann aber blitzschnell und hielt ihre Arme fest. "Vorsicht, Sie lenken Alfredo ab." "Lassen Sie mich los." Sie war außer sich und versuchte, sich zu befreien. "Was erlauben Sie sich, so mit mir zu reden. Lassen Sie mich sofort los." "Ruhe!" Der Befehl kam mit solch unwillkürlicher Autorität heraus, dass Lisa aufhörte, sich zu wehren, die Augen aufriss und ihn irgendwie benommen ansah. Erstaunt bemerkte er ihren entgeisterten Blick und spürte, wie sich sein Gewissen leise regte. Er ließ sie los, und sie rieb sich die Handgelenke. "Entschuldigung." Lisa erwiderte nichts. Sie zog sich in die Ecke zurück, wandte ihm halb den Rücken zu und sah nach draußen. Ihr war entsetzlich zumute. Seit dem Abend, als Terry ihr erklärt hatte, er würde sie verlassen, hatte sie sich nicht mehr so hilflos und verletzlich gefühlt. Ich werde ihm nie verzeihen. Sie lehnte die heiße Stirn an die Scheibe und wünschte sich, zu Hause zu sein. Nikolai betrachtete sie besorgt. Eine Lisa, die mit Fäusten auf ihn losging, war kein Problem. Aber eine Lisa, die sich so in Schweigen hüllte, war beunruhigend. "Sind Sie in Ordnung?" Stumm bückte sie weiter nach draußen. Der Wagen glitt gerade einen von Bäumen gesäumten Boulevard entlang, und sie musste unwillkürlich an die erdrückend engen Straßen ohne jegliches Grün denken, die sie in ihrer Kindheit
erlebt hatte. Der Mann neben ihr hatte keine Ahnung, wie das gewesen war. Er konnte sich nicht vorstellen, wie man an einem Tisch saß, die offenen Rechnungen und das vorhandene Geld zählte und versuchte, die Ungleichung zu lösen. "Ich habe zu viel geschafft, um zuzulassen, dass Sie mich aus der Bahn werfen", sagte sie kaum hörbar. "Was meinen Sie?" Lisa schüttelte den Kopf. "Sie würden es nicht verstehen." "Wetten, dass?" erwiderte er über sich selbst erstaunt und fuhr einen Moment später fort, als sie nicht im Mindesten reagierte: "Ich habe ein Apartment gemietet. Lassen Sie uns noch einen Kaffee zusammen trinken." Sie blickte ihn bitter ironisch an. "Nur einen Kaffee", erklärte er lächelnd. "Es ist spät. Ich muss um sieben in der Bank sein." "Sind Sie müde?" "Natürlich bin ich müde." "Als Sie getanzt haben, wirkten Sie, als könnte Sie nichts ermüden." Sie blickte ihn nur an. "Ich habe noch nie jemanden so tanzen sehen wie Sie." Er meinte es ernst und keineswegs beleidigend. "Sie tanzen wie eine Flamme." Liga blieb ungerührt. Er hatte schon zu viel anderes gesagt. "Ich werde trotzdem müde wie jeder andere." Sie sah nach draußen, um festzustellen, wo sie waren. Offenbar in einer vornehmen Gegend, den stattlichen Häuserreihen und dem vielen Grün nach zu schließen. Sie hörte kaum, wie Nikolai Alfredo Anweisungen gab, und sagte halb zu sieh: "Man muss sehr reich sein, um in der Natur zu wohnen." "Was haben Sie gesagt?" Er war sich nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte. Sie erwiderte nichts. Und als der Chauffeur dann auf Nikolais Geheiß vor Tatianas Haus hielt, stieg sie aus und drehte sich um, um das Aktenköfferchen zu nehmen. Aber Nikolai kam schon damit auf sie zu. "Wenn Sie nicht mit zu mir wollen, trinke ich einen Kaffee bei Ihnen", erklärte er bestimmt. "Ich brauche meinen Schlaf." Er sah auf sie hinunter. Eine Brise strich so sanft über ihr Haar, als würde sie es streicheln. Als würde er es streicheln. Reglos stand er da, aber Lisa hatte schon aufgrund seines Blickes das Gefühl, er würde sie berühren. "Und glauben Sie, Sie werden schlafen, wenn Sie jetzt allein hineingehen?" "Natürlich werde ich..."
Ohne Vorankündigung setzte er das Aktenköfferchen ab und zog sie fest an sich. Seine Hände lagen warm unter der Samtjacke an der nackten Taille. Lisa erstarrte einen Moment. Doch dann kam wieder Leben in sie. Sie schrie leise vor Zorn auf und versuchte, sich zu befreien. Nikolai atmete scharf ein. Er lockerte seinen Griff, so dass sie dachte, er würde sie loslassen, und aufhörte, sich zu wehren. Und noch bevor sie wusste, wie ihr geschah, presste er die Lippen auf ihren Mund und küsste sie energisch. Sie war schon öfter geküsst worden, als sie sich erinnern konnte. Manchmal, wenn sie es nicht erwartet hatte. Sogar ein- oder zweimal, als sie wütend gewesen war. Aber noch nie zuvor so wie jetzt. Lisa konnte seine Entschlossenheit spüren. Sie versuchte, ihn wegzustoßen, aber ihre Hände schienen kraftlos. Seine nackte Brust unter der Weste war warm, und die Härchen darauf fühlten sich erstaunlich weich an - und entsetzlich angenehm. Sie erbebte. Nikolai merkte es. Und Lisa hörte, wie er einen leisen triumphierenden Laut ausstieß. Sie spürte, wie er die Hände erst fester um ihre Taille legte, dann eine Hand den Rücken hinauf gleiten ließ, bis sie besitzergreifend an ihrem Schulterblatt ruhte. Mühelos zog er sie in seinen Bann. Es war, als hätte sie keinen eigenen Willen mehr oder auch keine Gewalt über ihren Körper. Als würde er wissen, dass sie ihm nicht widerstehen konnte. Unwillkürlich sank ihr Kopf in den Nacken. "Lassen Sie mich rein", flüsterte er rau an ihrem Hals. Im ersten Moment wusste sie nicht, ob er damit ihre Wohnung oder ihren Körper meinte. Oder beides. Und es war ihr verrückterweise auch egal. Fast hätte sie zugestimmt, was auch immer sich daraus ergab ... Aber dann sah sie die vornehme Häuserreihe, die elegante Limousine. Dies ist ein reicher Mann, der ein Spiel spielt, dachte sie. Ein raffiniertes Spiel, aber dennoch ein Spiel. Er spürte, wie sie sich in seinen Armen versteifte, und blickte auf. "Was ist los?" Lisa antwortete nicht. Reglos stand sie da und sah ihn einfach nur an. Er ließ sie los. Sie wich keinen Schritt zurück, war aber die Unnahbarkeit in Person. "Sie ändern schnell Ihre Meinung." In seiner Stimme schwang leiser Ärger mit. Sie nahm ihr Aktenköfferchen. "Nein, das ist nicht wahr. Ich habe wiederholt gesagt, dass ich nichts mit Ihnen zu tun haben möchte." Sie war selbst erstaunt, wie gelassen und sogar selbstsicher sie sich anhörte. "Streiten Sie ab, dass Sie mich gerade gewollt haben?" Sie blickte ihn nur seelenruhig an. "Lügnerin."
Lisa blieb gelassen. "Die sexuelle Anziehungskraft kann eine starke Droge sein", erwiderte sie kritisch. "Glücklicherweise verliert sie bei mir die Wirkung, bevor ich etwas Dummes tue." Nikolai war beleidigt. "Wie ... praktisch!" "Lebensrettend." Sie nickte ihm kurz zu. "Danke fürs Heimbringen. Gute Nacht." "Noch nicht." Er fasste sie am Arm, und ihre Nerven begannen sofort wieder zu flattern. "Lassen ..." Sie verstummte, als sie seinen Blick sah. "Eine Frage noch." "Ich sage Ihnen nichts über Tatiana oder ..." "Vergessen Sie Tatiana. Um sie geht es nicht." "Also?" "Wer war der Mann, der heute Abend nicht gekommen ist?" Seine Stimme klang wütend. Mit dieser Frage hatte Lisa absolut nicht gerechnet. Verständnislos blickte sie ihn an. "Der freie Stuhl neben Ihnen", stieß er hervor. "Wer hätte darauf sitzen sollen?" Sie sah ihn nur verächtlich an, riss sich los und wandte sich wortlos ab. Nikolai machte einen Schritt vor, blieb dann aber jäh stehen, als wäre er in einem Kraftfeld gefangen. Lisa zwang sich, die Stufen zur Haustür nicht hochzulaufen. Sein frustrierter Blick schien ihr förmlich den Rücken zu verbrennen. Mit bebender Hand schloss sie auf und verschwand ins Haus, ohne sich noch einmal umzusehen. "Was werden die Leute wohl denken, wenn sie das sehen?" fragte Sam Lisa wütend in seinem Büro und zeigte ihr ein Hochglanzfoto, auf dem sie Nikolai anblickte, als hätte er ihr Gift gegeben und nicht gerade einen Preis verliehen. Er war natürlich schon über ihr Benehmen vom Vortag informiert. Sie zuckte die Schultern. "Der Mann ist unerträglich." Sani konnte kaum noch an sich halten. "Dass die Bondhändler von Napier Kraus ein wild gewordener Haufen sind, das werden sie denken. Und meinen Sie, ein Kunde würde noch zu uns kommen, wenn Sie so aussehen, dass er befürchten muss, gleich von Ihnen ins Bein gebissen zu werden?" Lisa war ärgerlich und müde. Nikolai hatte ihr eine fast schlaflose Nacht bereitet. Aber wie Sam auf das Bild stierte und sich ereiferte, war einfach zu amüsant. Sie lachte. Bitterböse blickte er sie an. "Roger Maurice vom Financial Monthly hat mich schon angerufen und gefragt, ob Sie immer so seien. Bestimmt schreibt er etwas in seiner Klatschspalte über Sie."
"Kostenlose Publicity, Sam." "Schlechte Publicity ist immer gratis." Wieder zuckte sie die Schultern. "Wenn sie auch meine Umsätze abdrucken, ist sie nicht schlecht", antwortete sie zynisch. "Sie müssen ihn anrufen und sich entschuldigen." "Wen anrufen?" fragte sie täuschend sanftmütig. "Count Ivanov." "Nein", erklärte sie noch immer sanftmütig. "Maurice hat mir eine Telefonnummer gegeben", fuhr Sam fort, als hätte Lisa nichts erwidert, und schob ihr einen Zettel über den Schreibtisch zu. Angeekelt sah sie darauf, nahm ihn aber nicht auf. "Ich habe Nein gesagt." "Sie müssen das tun. Er war Gast des Verbands. Und Sie haben ihn in eine unangenehme Situation gebracht." "Hat er sich beschwert?" fragte sie mit kritischem Blick. "Wenn er das getan hätte, dann hätte er jede Berechtigung dazu", antwortete Sam ausweichend. "Berechtigung?" stieß sie empört hervor. Sam zeigte wütend auf das Foto. "Das sagt alles." "Nein, das tut es nicht. Es sagt nichts darüber aus, warum ich ihn so ansehe." "Hören Sie auf, Lisa. Spielen Sie nicht die beleidigte Frau. Und sollte er Sie in den Po gekniffen haben, haben Sie das bestimmt herausgefordert." "Das hat er nicht getan." "Ja dann ..." "Wir sind uns schon früher begegnet. Er war ... beleidigend." "Sie sind sich schon früher begegnet? Sie und Count Ivanov? Das glaube ich nicht." "Glauben Sie, was Sie wollen. Aber eines ist sicher: Ich werde mich nie im Leben bei ihm entschuldigen. Und Sie können mich nicht dazu zwingen. Und wenn Sie meinen, es würde auch nur den geringsten Unterschied an meinen Umsätzen machen, dass ich Londons Bondhändlern etwas nackte Haut gezeigt habe, sind Sie dümmer, als ich dachte. Ist das alles gewesen? Ich würde nämlich gern zurück an meine Arbeit gehen und das tun, wofür ich bezahlt werde." "Count Ivanov und Sie?" Sam war noch immer wie erschlagen. Lisa seufzte. "Sie sind ein solcher Snob, Sam. Wissen Sie, wir leben alle auf demselben Planeten." "Ein Mädchen aus dem East End mit Haltung?" Sie errötete, schaffte es aber, lässig die Schultern zu zucken. "Manche Leute mischen sich vermutlich nur zu gern unters gemeine Volk. Kann ich jetzt gehen, oder gibt es noch etwas, das Sie beanstanden wollen?" "Raus!"
Lisa schlenderte bewusst gemächlich und provokant zur Tür. Das war endgültig zu viel für Sam. "Und besorgen Sie sich anständige Kleidung", rief er ihr nach. Seine Worte folgten ihr in das angrenzende Großraumbüro, und einige Kollegen sahen interessiert auf. Sie nahm keine Notiz davon, setzte sich an ihren Computer und stürzte sich in die Arbeit. Es gelang ihr, Sams Beschwerden zu verdrängen, nicht aber die unangenehme Erinnerung an Nikolai. Und eigentlich ging es nicht sosehr um ihn, sondern vielmehr um ihr eigenes Verhalten. Dieser arrogante, selbstgefällige Mensch gehörte zu jenen Männern, die glaubten, bei einer Frau wäre nur das Aussehen wichtig und dass sie auf sie reagierte. Und genau das hatte sie getan. Brennende Scham erfüllte sie, wenn sie nur daran dachte, wie sie - seiner Erwartung gemäß - in seinen Armen zu Wachs geworden war. Er hatte die richtigen Knöpfe gedrückt, und schon hatte sie sich in ein törichtes, klammerndes, bebendes Wesen verwandelt, das sie zutiefst verabscheute. Lisa wusste nicht, auf wen sie wütender war - auf Nikolai oder sich selbst. Als sie nach einem ausgesprochen umsatzstarken Arbeitstag heimkam, duschte sie und zog sich um. Aber sie fühlte sich immer noch ziemlich rastlos und ging nach draußen auf die herrlich bepflanzte Terrasse. Vielleicht würde sie ja hier etwas zur Ruhe finden. Genüsslich atmete sie den Blumenduft ein, der in der Luft lag. "Lisa?" Sie hörte etwas auf der Wendeltreppe klappern, die von Tatianas Wohnzimmer nach unten führte, schob eine prächtige Kletterrose beiseite und sah hoch. "Ja." Das hatte ziemlich schroff geklungen. Aber sie hatte auch wirklich gern allein sein wollen. Doch dies war letztlich Tatianas Garten, und so riss sie sich zusammen und versuchte, höflich zu sein. "Ich wollte Sie nicht stören." "Das haben Sie auch nicht. Warten Sie, ich komme." Sie lief die Stufen hinunter. "Wie geht es Ihnen? Ich habe Sie einige Tage nicht gesehen." "Es ist viel los gewesen." Prüfend blickte Tatiana sie an. "Ist irgendetwas nicht in Ordnung? Sie wirken ... nervös." "Wir nennen das ,elektrisiert'", erwiderte Lisa lächelnd. "Sie arbeiten zu hart." "Aber ich mache Gewinne. Erfolg gibt ein Wahnsinnsgefühl. Ich mag es, zu gewinnen." "Sie klingen wie Nicki." Lisa verspannte sich. "Oh?" "Ja, wie mein Neffe Nikolai", antwortete Tatiana in aller Unschuld. "Sie haben ihn am Sonntag kennen gelernt. Er ist sehr darauf aus, dass ich tue, was er will."
"Was für eine Überraschung", murmelte Lisa. "Und er ist so entschlossen, mich im Auge zu behalten", fuhr Tatiana mit schalkhaftem Blick fort, "dass er sogar irgendwo hier in der Nähe eine Wohnung gemietet hat." "Elender Schnüffler." "Ich fand das auch etwas übertrieben." Tatiana unterdrückte ein Lächeln. "Ich habe ihm vorgeschlagen, doch mal abends auf ein Glas Wein zu mir zu kommen und Sie näher kennen zu lernen. Damit er merkt, dass er viel zu viel Aufhebens macht." Lisa blickte sie entsetzt an. "Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist." "Aber er hat all diese schrecklichen Vorstellungen von Ihnen..." "Ich weiß. Und das wird ihm noch Leid tun." "Wie bitte?" Tatiana wirkte verwundert. Lisa riss sich zusammen. "Haben Sie den Mietvertrag schon Ihrem Anwalt gezeigt oder meinen Scheck eingelöst?" "Ich bin zur Zeit viel im Tanzstudio", antwortete Tatiana ausweichend. Lisa seufzte. "Tatiana, ich bin Ihrer Ansicht. Ihr Neffe ist ein sich einmischender Fiesling. Aber wenn Sie keine Rechtsgrundlage für mein Wohnverhältnis schaffen, geben Sie ihm etwas in die Hand", erklärte sie bedauernd. "Lassen Sie Ihren Anwalt das dringend regeln." "Ich werde mit Mr. Harrison reden."
5. KAPITEL
Lisa hoffte, das Thema damit abgehandelt zu haben. Aber sie hatte Tatianas Hartnäckigkeit unterschätzt. Als sie gerade im Wohnzimmer saß und Kleidungsstücke reparierte, erschien ihre Vermieterin mit einem Teller Gebäck an der Terrassentür. Sie brauchte nicht lang, um zur Sache zu kommen. "Ich glaube, Sie mögen Nicki nicht." Lisa legte den Rock mit dem ausgerissenen Saum beiseite. "Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit", erwiderte sie vorsichtig. Tatiana sah sie amüsiert und weise an. Fieberhaft suchte Lisa nach einer Begründung, ohne dabei verleumderisch zu sein. Sie war erstaunt, dass ihr tatsächlich etwas einfiel. "Er hat mich vergammelt genannt." "Nikolai ist verwöhnt. Alle seine Freundinnen waren Modepuppen. Er weiß das natürlich nicht. Aber Sie scheinen wirklich nicht sehr an Ihrer Kleidung interessiert zu sein." Lisa lachte auf. "Das sagt jeder." "Dann hatte Nicki nicht so ganz Unrecht. Möchten Sie denn an Ihrer Garderobe überhaupt etwas ändern?" "Keine Zeit. Kein Geld." "Man braucht entweder das eine oder das andere. Oder einen erstklassigen Rat... Ich verstehe einiges davon, ein Ballett günstig auszustatten." "Und was verstehen Sie davon, Bankerinnen so günstig auszustatten, dass sie aussehen, als würden sie Top-Designer-Mode tragen?" "Das ist schwierig. Darüber muss ich nachdenken." "Tun Sie das. Und sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie eine Antwort wissen." Tatiana verstand den Wink und ging. Lisa machte es sich mit einigen Buttertoasts und einem Becher Kakao vor dem Fernseher gemütlich. Sie ignorierte das erste Klingeln an der Haustür, aber das zweite war nicht mehr zu überhören, und so stand sie seufzend auf. Als sie sah, wer der Besucher war, hätte sie ihm fast die Tür vor der Nase zugeschlagen. "Nicht wieder", sagte Nikolai energisch und trat schnell in die Diele. "Wieder?" "Sie haben mich gestern Abend ausgesperrt", erinnerte er sie. "Ich mag das nicht." Finster musterte sie ihn von Kopf bis Fuß. Er trug eine Wildlederjacke und schwarze Jeans und sah darin erstaunlich sexy aus. Lisa blieb gelassen, aber es kostete sie einige Mühe.
"Heute Morgen", verbesserte sie ihn. "Und ich habe meine Meinung nicht geändert." "Aber ich." Er bedeutete ihr, ihm den Weg zu zeigen. "Ich hätte gestern nicht gehen sollen." Sie rührte sich nicht von der Stelle. "Meiner Erinnerung nach war ich diejenige, die gegangen ist." "Nur weil ich es zugelassen habe." Sie musterte ihn ein zweites Mal - langsam und provokant - und lächelte ansatzweise, als wäre sie nicht sonderlich beeindruckt. Fast so gekonnt, dachte sie grimmig, als wäre auch ich das Produkt jahrhundertealter adliger Abstammung. "Noch ein erzkonservativer Mann für meine Sammlung", sagte sie schließlich bedächtig. Nikolai zog die Brauen hoch. Sie frohlockte innerlich. "Wissen Sie, Sie sind für mich keine neue Erfahrung." Er funkelte sie an. "Nicht?" Und noch bevor sie wusste, wie ihr geschah, hob er sie hoch. Sie schrie entsetzt auf und krallte sich an der Lederjacke fest. "Was tun Sie?" Er ging die ersten Stufen hinunter, und Lisa hatte das Gefühl, von der Eigernordwand nach unten zu blicken. Schnell sah sie auf seine Schulter und hielt sich weiter an ihm fest. "Sie sind verrückt", stieß sie hervor, wartete aber, bis sie unten waren, und sprang in die Freiheit. Sie landete auf einem Knie, ignorierte seine ausgestreckte Hand und rappelte sich hoch. "Sie sind nicht allein?" fragte er, als er Geräusche aus der Wohnung hörte. Lisa hätte fast gelogen. Aber sie besann sich noch rechtzeitig, dass er bestimmt ins Wohnzimmer gehen würde, um das zu überprüfen. "Von jetzt an werde ich sicherstellen, dass hier jeden Abend eine Party stattfindet." "Dann erledigen wir unsere Angelegenheit besser gleich." "Welche Angelegenheit?" Ohne zu antworten, ging er einfach hinein. Als würde ihm die Wohnung gehören, dachte sie und folgte ihm wütend. Er schaltete den Fernseher aus und betrachtete dann mit einem merkwürdigen Blick den Teller mit den Buttertoasts und den Kakaobecher auf dem Couchtisch. "Wie nett. Ich hätte nie gedacht, dass Sie nach Kindergetränken süchtig sind." "Kindergetränke!" stieß sie zornig hervor. "Da spricht ein Mann, der mit Kindermädchen hinter gepolsterten Türen aufgewachsen ist." Nikolai war verblüfft. "Wie bitte?" "Vergessen Sie's." Sie nahm das Geschirr vom Tisch und brachte es in die winzige Küche. Er folgte ihr auf dem Fuße.
"Erklären Sie's mir." "Ich sagte, vergessen Sie es." Sie drehte sich zu ihm um. "Count Ivanov." "Count? Sind Sie etwa auf Ihre Art ein erzkonservativer Snob?" Ärgerlich auf sich, wandte sie sich ab. "Sagen Sie mir, welche Angelegenheit Sie erledigen wollen. Und dann gehen Sie." Er lehnte sich gegen den Türrahmen und versperrte ihr den Weg. "Interessiert es Sie wirklich nicht?" "Brennend. Also?" Er lächelte. "Ich meine, interessiert es Sie nicht, was gestern Abend geschehen wäre, wenn wir zusammengeblieben wären?" Sie verstand nur zu genau, was er meinte. Es stand einfach im Raum. Selbst wenn sie die Augen schloss, würde sie es fühlen, fast so, als wäre es passiert: seinen Atem auf ihrer Haut, die Berührung ihrer Körper... Wie er das zweifellos beabsichtigt hatte. Sie geriet einen Moment fast in Panik. Für wie dumm hielt er sie? Lisa drängte sich an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Sie musste unbedingt aus seiner Nähe, sonst sah er noch, wie sehr er sie aus dem Gleichgewicht brachte. Sie ging zum Fenster und stellte sich hinter den Lehnstuhl. Sie ärgerte sich über sich, konnte aber nicht anders. Er war einfach zu groß und mächtig. Komm, das schaffst du schon, machte sie sich insgeheim Mut, verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte ihn an. "Das funktioniert normalerweise, stimmt's?" Nikolais Lächeln verschwand. Er war ihr gefolgt, bis sie hinter den Stuhl getreten war, und dann stehen geblieben. "Wie bitte?" "Die ganzen Tricks. Aufreizende Blicke. Raue Stimme. Versteckte Andeutungen", erklärte sie gefällig. "Beschert das die Waren?" Finster sah er sie an. "Welche Waren?" "Nun, in diesem Fall wohl mich." Er schwieg einen Moment und sagte dann ärgerlich: "Sie sind sehr direkt." "Das bin ich. Ich nenne das Kind immer beim Namen." Er blickte sie an, als wäre sie ein ihm unbekanntes Tier. "Nicht sehr romantisch." Lisa zog die Brauen hoch. "Und was ist romantisch daran, mir zu sagen, ich hätte etwas Gutes verpasst, weil ich nicht mit Ihnen schlafen wollte?" Zu ihrem Erstaunen errötete er leicht. "Das habe ich nie gesagt." "Nein. Aber sollte ich nicht genau das denken?" "Sehr direkt." "Meine Mutter hat mich stets ermahnt, die Wahrheit zu sagen und den Teufel zu beschämen."
Nikolai empfand Ärger und Amüsement zugleich. "Was mich dann wohl zum Teufel macht?" Sie zuckte die Schultern. Die vergangenen Tage waren sehr informativ gewesen. Er hatte zwar noch nicht mit Alec gesprochen, der Gerüchten zufolge ihr letzter Freund gewesen war, aber alle hatten ihm dasselbe über Lisa erzählt. Sie sei aufgeweckt und ehrgeizig. Und je nachdem, ob die Leute sie mochten oder nicht, charakterisierten sie sie als ungestüm und launisch oder als absolut zuverlässig. Ihr Chef, der zweifellos nicht zu ihren Bewunderern zählte, hatte ihm gesagt, dass sie immer gleich einen Streit vom Zaun breche. Damit schien er nicht ganz Unrecht zu haben. "Es wäre vernünftiger, mich zu besänftigen", erklärte er leicht gereizt. "Ist das eine fantasievolle Aufforderung, mit Ihnen zu schlafen?" Er war nun wirklich ärgerlich. "Müssen Sie so krass sein?" Sie entspannte sich. Mit einem wütenden Mann konnte sie wesentlich leichter fertig werden. "Mögen Sie die Wahrheit nicht, Count Ivanov?" Er hatte sich wieder unter Kontrolle. "Ich mag es nicht, wenn man mich beschuldigt zu versuchen, eine Frau mittels Erpressung ins Bett zu bekommen." "Das verstehe ich", erwiderte sie mit vorgetäuschtem Mitgefühl. "Genauso wie ich es nicht schätze, wenn man mich zu manipulieren versucht." Sie maßen sich mit Blicken. "Worum streiten wir?" fragte er schließlich mit angespannter Stimme. "Sie haben sich Zutritt zu meiner Wohnung verschafft. Sagen Sie's mir." Er seufzte. "Nun kommen Sie schon, Lisa. Es muss nicht so sein." "Sie haben zweifelsfrei klar gemacht, wie es Ihrer Vorstellung nach sein sollte", antwortete sie grimmig. "Ich bin nicht interessiert." Plötzlich trat ein Funkeln in seine Augen. "Sie meinen, dass Sie lieber so tun, als würde es Sie nicht interessieren, wie wir zusammen wären." Ihr Kopf fuhr zurück, als hätte Nikolai sie geohrfeigt. "Und Sie wollen, dass auch ich so tue." "Das ist verrückt." "Ja?" Er setzte sich auf die Armstütze eines älteren, mit Chintz bezogenen Sessels, der Tatiana gehörte, und lehnte sich so an die Rückenlehne, als hätte er das schon oft gemacht. Plötzlich hatte Lisa das Gefühl, dass nicht er der Eindringling wäre, sondern sie. "Wissen Sie, was ich tue?" fragte er ruhig, während er sie aufmerksam betrachtete. "Ich dachte, Sie wären ein neuzeitlicher Tarzan."
"Tierverhaltensforscher." Er lächelte sie an. "Ich befasse mich mit Körpersprache." Sofort richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf und nahm die Arme herunter. Sein Lächeln vertiefte sich. "Zu spät." Das hatte sie auch gedacht und ärgerte sich. "Ich bin kein Tier." Nikolai lachte. "Soll ich Ihnen sagen, was mir Ihre Körpersprache über Sie verrät?" fragte er im Plauderton. "Nein." "Dominantes Wesen. Vertraut niemandem. Ist unabhängig von den übrigen Artgenossen. Wird leicht aggressiv. Ist sexuell..." Sie rang um Atem. Er lächelte und fuhr fort: "Ist sexuell im Großen und Ganzen desinteressiert." "Aber ich dachte, Sie hätten gesagt...", stieß sie in ihrer Überraschung hervor. "Ich sagte im Großen und Ganzen", wiederholte er freundlich, "Nehmen wir zum Beispiel das Dinner am Dienstag oder besser noch die laute Disco, in der es Ihnen so gefallen hat. An beiden Orten wurden Sie von Männern umworben. Mal deutlicher, mal versteckter. Aber Sie schienen das nicht zu bemerken, reagierten nicht im Mindesten darauf." Lisa triumphierte. "Ich habe Ihnen doch gesagt..." "Aber Sie haben mich bemerkt", fuhr er leise fort. Sie fühlte sich, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen. Er hatte Recht. Entsetzt sah sie ihn an, wusste nicht, was sie erwidern sollte. "Deshalb helfe ich Ihnen auch nicht, die Wahrheit zu verschleiern. Vor allem nicht, sich selbst zu belügen. Das ist nicht gut für Sie", schloss er ekelhaft freundlich. "Da danke ich Ihnen aber vielmals." "Ehrlichkeit ist immer am besten. Vermutlich sind Sie im Moment nicht sehr angetan von mir ..." "Stimmt", stieß sie hervor und spürte, wie ihr Gefühl der Verachtung wuchs. "Aber am Ende werden Sie mir dankbar sein." "Ich werde es mir merken. Das heißt, wenn ich je noch einmal an Sie denken sollte." Nikolai schüttelte den Kopf. "Leicht aggressiv." Lisa zwang sich zur Ruhe. "Eine interessante Beurteilung und auch noch so fundiert." Er lächelte. "Ich bin ein guter Beobachter." "Ich will nicht, dass Sie mich beobachten. Ich will Sie eigentlich überhaupt nicht hier. Also würden Sie jetzt bitte gehen." "Wir haben erst noch einiges zu besprechen." "Und zwar?"
"Ihren Vertrag mit Tatiana. Sie haben doch einen, oder?" "Das ist Tatianas Angelegenheit. Und deren Dinge bereden Sie mit ihr." "Das habe ich schon versucht," "Dann versuchen Sie es noch einmal. Glauben Sie nicht, ich lasse mich aushorchen", sagte Lisa und kam hinterm Sessel hervor. Nikolai stand auf. "Alles, was ich will..." "Wenn Tatiana Ihnen nicht Rede und Antwort stehen wollte, bin ich ganz auf ihrer Seite. Und jetzt raus!" "Ich habe ein Recht, meine Familie zu beschützen." Er war nun genauso zornig wie sie. "Dann beschützen Sie sie. Aber erwarten Sie nicht von mir, Tatiana oder sonst jemandem nachzuspionieren. Ich bin kein Spitzel." "Nein. Sie sind eine clevere Frau, die sich gut auf Jammergeschichten versteht", erwiderte er in eisiger Wut. Lisa war bestürzt, beglückwünschte sich aber auch, seinem Lächeln nicht vertraut zu haben. In gespielter Vergesslichkeit fasste sie sich an den Kopf. "Hat da nicht jemand etwas von besänftigen gesagt?" "Ich habe Sie auf Ihrem eigenen Terrain erlebt. Sie sehen mir nicht wie ein Opfer aus." Instinktiv legte er ihr die Hände auf die Schultern. Er wusste selbst nicht, was er vorhatte. Vielleicht wollte er sie nur still halten, damit sie ihm zuhörte. Er wollte ihr keineswegs Angst einjagen, hätte auch nicht gedacht, dass er das überhaupt könnte. Oder dass irgendein Mann das könnte. Deshalb wusste er auch nicht, wie ihm geschah, als er erst den wilden Ausdruck in ihren Augen sah und sie dann so heftig zurückwich, als hätte sie sich verbrannt. Nikolai schwankte, und der rutschige Teppich unter seinen Füßen bewirkte dann endgültig, dass er das Gleichgewicht verlor und hinfiel. Lisa unternahm nichts. "Nein", sagte sie schwer atmend. "Ich bin kein Opfer." Kopfschüttelnd saß er auf dem Boden. "Warum das? Haben Sie gedacht, ich wollte Sie verletzen?" Ärgerlich blickte er auf. Er sah den Ausdruck in ihren Augen, und sein Ärger verrauchte. "Ja, das haben Sie." Lisa war bestürzt über ihre heftige Reaktion. Was hatte der Mann nur an sich, dass sie schon bei der kleinsten Berührung so alarmiert war? Sie trat hinters Sofa, als er sich hochrappelte. Nicht weil sie Angst vor ihm hatte, sondern weil sie eigentlich die Hand ausstrecken wollte, um ihm zu helfen. Aber sie wollte es nicht riskieren, sich bei einem erneuten Kontakt wieder zu elektrisieren. "Wenn ich die Frau wäre, für die Sie mich halten", stieß sie hervor, "würde ich zu Tatiana gehen und ihr von unserem Gespräch erzählen." Er schloss die Augen. "Und?"
"Ich werde es nicht tun. Aber nicht aus Angst vor Ihnen." Angewidert sah sie ihn an. "Sondern weil ich Tatiana mag und diese Sie offenbar gern hat. Ich möchte ihr nicht die Illusionen rauben. Aber ich will, dass Sie jetzt gehen und nie mehr wiederkommen." In der Stille, die im Zimmer herrschte, konnte sie ihr Atmen hören. Es klang, als wäre sie einen Berg hinaufgelaufen. Und dann, ohne ein Wort zu sagen, drehte Nikolai sich um und ging. "Was können Sie mir über Lisa Romaine erzählen?" fragte Nikolai Alec, als sie sich in einem kleinen Weinlokal trafen. Alec brauchte keine zweite Aufforderung. Er stellte sie als harte, oberflächliche Person hin, die ihre Mitmenschen ausnutzte. "Sie will Karriere machen", schloss er nach zehn Minuten. Nikolai fand seinen Eindruck bestätigt und wusste nicht, warum er protestierte. "Es ist nichts Falsches daran, zu versuchen, sein Leben zu verbessern." "Sich zu verbessern war nicht schwer. Wussten Sie, dass sie von ganz unten kommt?" fragte Alec gehässig. "Nein." "Als ich Lisa kennen lernte, war sie ein Mädchen aus dem East End, das Bratfisch und Pommes frites für das Höchste hielt. Heute ernährt sie sich von Sushi und Champagner." "Vielleicht möchte sie nur neue Dinge ausprobieren." "Sicher. Neuer Mann, neue Stufe auf der Leiter. Wenn immer sie einen Schritt vorwärts macht, lässt sie die alten Freunde sausen. Es heißt, dass sie so überhaupt den Einstieg geschafft hat." "Indem sie mit dem Chef geschlafen hat?" fragte Nikolai und spürte, wie sich alles in ihm dagegen wehrte. "So wird gemunkelt." Nikolai zuckte innerlich zusammen. Das Ganze klang entsetzlich glaubwürdig. Und es passte zu dem, was sein Großvater herausgefunden hatte, nachdem ihn Tatianas pflichtbewusster Steuerberater verständigt hatte. Auch Lisas Verhalten ihm gegenüber schien das zu bestätigen. Nur ... "Sie wirkt so ehrlich", sagte er eigentlich mehr zu sich. Alec sah ihn durchdringend an und lachte hart auf. "Sie auch?" Nikolai blickte ihn verwirrt an. "Es erwischt uns alle, Kumpel. Man sieht die großen grünen Augen und die schäbige Kleidung und denkt: Sie ist irgendwie etwas Besonderes, und nur du bemerkst es. Was für ein Irrtum. Wir haben das alle erlebt. Lisa erblicken, sie wollen, sie eine Stufe weiterbringen und dann auf Wiedersehen. Willkommen im Club."
"Ich will Lisa Romaine nicht", stieß Nikolai hervor. Er hatte nicht zu Alec geredet. Lisa besuchte ihre Familie normalerweise nur einmal in der Woche. Aber Kit machte ihr Sorge. Und so fuhr sie am Donnerstagabend erneut zu ihnen. Wieder saß die Schwester in ihrem Zimmer auf dem Boden. Sie hatte die Gardinen zugezogen, mehrere Kerzen angezündet und hörte einem seltsamen Gesang zu. Als Lisa die Tür aufmachte, blickte sie auf und lächelte matt. "Mum hat also Alarm geschlagen." Lisa setzte sich neben sie. Kit hatte alle Kissen um sich gebaut, als hätte sie sich vergraben. Aber sie reichte ihr ein großes Stoffkrokodil, damit sie es sich in den Rücken steckte. Lisa erkannte das Tier. Sie hatte es Kit einst von einem Seminar in New Orleans als Geschenk mitgebracht und war jetzt aus unerfindlichem Grund zutiefst gerührt. "Oh, Kleines", sagte sie mit erstickter Stimme. Kit ließ den Kopf an ihre Schulter sinken. "Mum glaubt, ich hätte wieder einen Rückfall, stimmt's? Sie kocht mir ständig Suppe. Ich kann es nicht ertragen", erklärte sie mit der Ruhe absoluter Verzweiflung. "Ich weiß, dass ich essen muss. Wirklich. Aber wenn Mum an mir herumzunörgeln beginnt, will ich nur noch schlafen." Lisa legte Kit den Arm um die mageren Schultern. "Du, ich habe Angst." "So kann es nicht weitergehen. Es muss eine Lösung geben. Ich werde eine finden", versprach Lisa leise. Wann immer Lisa am Freitag Zeit hatte, telefonierte sie wegen Kit herum. Aber es schien sinnlos. Kit hatte schon zu viele Behandlungen versucht. "Die Kosten sind mir egal", sagte sie verzweifelt. "Miss Romaine, Ihre Schwester hat jede Therapie gemacht, die wir ihr anbieten können", erklärte die Arztsekretärin. "Sie will nicht gesund werden. Es gibt nichts, was man noch tun kann." Lisa schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. "Aber ..." In ihrem Rücken machte es "ratsch". Irgend etwas war mit ihrer Jacke passiert. "Ich rede mit Mr. Feldstein und rufe Sie wieder an", sagte die Sekretärin und legte auf. Missmutig besah sich Lisa den Schaden. Die Jacke konnte sie vergessen. Die Mittelnaht war nicht nur aufgeplatzt, sondern auch ausgerissen. "Na, wunderbar! Sogar das Schicksal will, dass ich mir neue Sachen kaufe." "Großartig", erwiderte eine Kollegin. "Genieß es." Lisa seufzte. "Ich hasse Einkaufen."
Sie konnte schlecht sagen, dass sie jetzt kein Geld für Kleidung ausgeben wollte, da sie nicht wusste, welche Summen Kits neue Behandlung verschlingen würde. Angela verteilte gerade Kaffee und hatte alles mitbekommen. "Kopf hoch", sagte sie leise, als sie ihr einen Becher hinstellte. Sie ahnte, was in der Freundin vorging. "Du wohnst genau in der richtigen Gegend für günstige Klamotten. Auf dem Portobello Market werden nämlich nicht nur Antiquitäten an Touristen verkauft." Und so versuchte Lisa am Samstagvormittag dort ihr Glück. Es herrschte schon ein ziemlicher Andrang. Als sie endlich bei den Ständen war, an denen Kleidung verkauft wurde, stellte sie enttäuscht fest, dass sie umsonst hergekommen war. Die Jacken waren so schlecht geschnitten, dass sie sie unmöglich in der Bank tragen konnte. Und die Röcke waren aus Kunstfaserstoffen gearbeitet, denen man schon von weitem ansah, wie billig sie waren. Seufzend trat sie den Heimweg an. Das Geschiebe hatte mit fortschreitendem Morgen nur noch zugenommen. Sie musste ständig nach oben blicken, denn die Menschen um sie her waren zumeist größer als sie. Lisa hatte ohnehin schon das Gefühl, in der Menge zu versinken - und dann stolperte sie auch noch. Der Mann, der ihr in sicherem Abstand wie ein Schatten gefolgt war, drängte sich energisch zwischen empörten Leuten hindurch. Lisa kämpfte um ihr Gleichgewicht, hatte es auch fast geschafft, als eine Frau mit Handy in sie hineinlief. Sie schrie auf, legte schützend den Arm vors Gesicht und rollte sich zusammen, während sie fiel. Nikolai hockte sich neben sie und beugte sich vor, um sie mit seinem Körper zu schützen. Lisa schlug die Augen auf. "Sie?" "Sind Sie verletzt?" "Ich ... glaube nicht." Aber als sie aufstehen wollte, wurde ihr schwindlig. Unwillkürlich suchte sie Halt - bei Nikolai. Doch das merkte sie nicht. Erst als er sich mit ihr einen Weg durch die Menge bahnte, wurde sie sich bewusst, dass sie seine Hand umklammerte. "Vielen Dank", sagte sie leise. "Sind Sie sicher, dass Sie in Ordnung sind? Sie sehen sehr blass aus." "Ich bin okay." Aber sie wankte. Sofort stützte er sie. "Wir gehen zu mir. Das ist näher." Lisa fasste sich an den Kopf. Sie nahm seine Worte nicht wirklich auf. Und nach einem Blick in ihr kalkweißes Gesicht presste Nikolai sie fest an seine Seite und schlängelte sich mit ihr durch die Massen. Als sie schließlich bei dem Haus ankamen, in dem seine Wohnung lag, trug er sie mehr, als dass sie selber ging.
Die Sorgen und Belastungen der letzten Tage und dann heute die vielen Menschen, das war offenbar mehr, als sie verkraften konnte, Lisa lehnte sich an ihn, fühlte seine starken Arme und empfand ihn als Fels in der Brandung. Nikolai ließ sie keinen Moment los. Als er endlich die Wohnungstür aufgemacht und dann hinter ihnen beiden zugeworfen hatte, hob er sie einfach hoch. Es war so anders als neulich abends. Er trug sie, als wäre sie zerbrechlich und kostbar. Sie spürte, wie sein Herz an ihrer Wange langsam und regelmäßig schlug, schloss die Augen und fühlte sich unendlich geborgen; Er legte sie halb aufs Sofa und holte ihr ein Glas Wasser. Als er dann vor ihr in die Hocke ging, sah sie ihn an und meinte, dass er sie heute zum ersten Mal nicht argwöhnisch anblickte. "Vielen Dank." Sie nahm das Glas und trank einen Schluck. "Was ist passiert?" Er war ihr so nah. Wenn sie sich nur etwas vorbeugte, würde sie an seiner Brust liegen. Und dann wird er bestimmt den Arm um mich legen, dachte sie und spürte, wie sehr sie das wollte. Hör auf. Du kannst es dir nicht leisten, dich bei einem Mann anzulehnen. Vor allem nicht an diesen. Schnell trank sie das Glas aus. "Können Sie sich nicht erinnern, was passiert ist? Haben Sie sich vielleicht den Kopf angestoßen?" "Nein. Ich bin gestolpert, das ist alles. Ich habe mich nicht verletzt." "Das glaube ich nicht. Sie haben ausgesehen wie ein Geist. Und ein gesunder Mensch stolpert nicht einfach so." Sie biss sich auf die Lippe. ,jEs waren die vielen Leute", gab sie schließlich zu. "Ich hatte das Gefühl, in der Menge zu versinken. Ich weiß, dass es dumm war." "Nicht unbedingt." Flüchtig strich er ihr über die Wange. "Sie sind ein ziemlich kleines Persönchen." Sie hörte den zärtlichen Klang in seiner Stimme und wünschte sich ... Hör auf mit dem Unsinn, ermahnte sie sich im Stillen, das fällt dir nur ein, weil du noch etwas angeschlagen bist. Sie gab ihm das Glas zurück und schwang die Beine vom Sofa, wobei sie wie zufällig etwas zur Seite rückte. "Ich fühle mich schon besser." Er beobachtete sie genau. "So sehen Sie aber nicht aus. Bleiben Sie zumindest noch einen Moment sitzen, und ruhen Sie sich aus." Lisa war fast erleichtert und nickte. Ihr Herz schlug unangenehm heftig, was vielleicht mit seiner unmittelbaren Nähe zusammenhing. Nikolai stand auf. "Was haben Sie auf dem Portobello Market gemacht. Sind Sie Sammlerin?"
Sie bemerkte seinen argwöhnischen Blick und antwortete schnell: "Nein, ich habe etwas zum Anziehen gesucht." "Zum Anziehen?" "Ja." "Aber niemand kauft Kleidung an einem Marktstand." "Diese Festellung zeigt nur, wie engstirnig Sie sind." Ihre Feindseligkeit war wieder erwacht. "Vielen Leuten lässt das Einkommen keine andere Wahl." "Aber Ihres dürfte beträchtlich sein. Sie müssten es sich eigentlich leisten können, in den teuersten Boutiquen einzukaufen." . Lisa wurde zornig. "Sie wissen nichts über mich." "Ich weiß, was Bondhändler verdienen und dass die Prämien um so größer sind, je erfolgreicher man ist. Und erst diese Woche habe ich Ihnen einen Preis verliehen." Er zuckte die Schultern. "Es fällt mir deshalb schwer zu glauben, dass Sie Ihre Kleidung auf einem Markt kaufen müssen." Sie errötete. "Es sei denn, Sie geben ein Vermögen für etwas anderes aus." Er runzelte die Stirn. "Haben Sie ein Drogenproblem?" Wütend sprang sie auf. "Natürlich nicht." "Was machen Sie dann mit Ihrem Geld?" "Was geht Sie das an?" Sein Blick war hart. "Tatiana vertraut mir", antwortete er ruhig. "Und Vertrauen sollte nicht enttäuscht werden." Wir sind also wieder beim Thema, dachte Lisa. Aber sie musste mitgenommener sein, als sie gemeint hatte, denn sie hatte plötzlich das Gefühl, das nicht länger ertragen zu können. "Ich unterstütze meine Mutter und meine Schwester", erklärte sie. "Sie sind nicht anspruchsvoll. Aber der Bondhandel ist eher etwas für jüngere Leute, und ich weiß nicht, wie lang ich noch so viel verdiene. Also zahle ich das Haus in großen Raten ab. Dahin fließt das meiste Geld." Sie setzte sich wieder, als hätte sie gerade einen Fünftausendmeterlauf verloren. Nikolai schwieg einen Moment und sagte dann zu ihrem Erstaunen: "Das klingt, als wären Sie von Ihrem Job nicht allzu begeistert." Lisa zögerte. Aber heute schien die Stunde der Wahrheit geschlagen zu haben. "Ich mache ihn gut. Und ich tue gern etwas, worin ich gut bin. Außerdem verdiene ich genug, um die Rechnungen zu bezahlen. Oder zumindest..." Sie verstummte. Er wartete, aber sie redete nicht weiter. "Sie sind nicht sehr vertrauensselig, stimmt's?" "Da sind wir schon zwei." "Eins zu null für Sie", antwortete er nach einem Moment der Überraschung. "Lassen Sie uns einen Handel abschließen." "Was für einen Handel?" Ihr Blick war argwöhnisch. "Sehen Sie mich nicht so an", sagte er spontan. "Ich will nicht, dass Sie mir Ihre Seele verkaufen. Oder Ihren Körper", fügte er hinzu, als sich ihre Miene nicht aufhellte.
Nur nicht erröten, Lisa, ermahnte sie sich insgeheim und funkelte ihn an. "Was für eine nette Abwechslung." "Nein. Körper sind zum Verschenken, nicht zum Verkaufen." Flüchtig strich er ihr über die Wange. "Und ich lebe in Hoffnung. Aber momentan", fuhr er fort, noch bevor sie irgendwie reagieren konnte, "interessiert mich allein Tatiana. Ich werde nichts in der Wohnungsangelegenheit unternehmen, mich in keiner Weise einmischen. Und als Gegenleistung ..." "Ja?" Er zögerte noch einen Moment. "Ich möchte Sie gelegentlich anrufen." "Aber Sie haben doch gesagt..." "Es geht nicht um uns, sondern um Tatiana. Sie wird nicht jünger. Von der Familie lebt keiner in London, an den sie sich bei Problemen wenden könnte. Aber Sie wohnen im gleichen Haus." "Sie wollen, dass ich ihr nachspioniere?" "Ich möchte, dass Sie ein bisschen ein Auge auf sie haben." "Ich, der Sie nicht vertrauen?" "Meine Gefühle Ihnen gegenüber", erwiderte er mit Bedacht, "könnte man am besten als gemischt bezeichnen. Wenn ich einmal pro Woche anrufe, habe ich auch Sie im Auge." Sie schwiegen sich an. "Ich halte das für einen weiteren Ihrer listigen Pläne", antwortete Lisa schließlich. Nikolai lächelte verbindlich. "Das ist Dir gutes Recht. Also abgemacht?" Plötzlich schien ihr dieser Handel das Riskanteste zu sein, was sie je im Leben getan hatte. Und sein rätselhafter Gesichtsausdruck beruhigte sie auch nicht gerade. Nun sei nicht dumm, ermahnte sie sich im Stillen, atmete unsicher ein und stand auf. "Abgemacht."
6. KAPITEL
"Gut", sagte Nikolai. "Dann können wir jetzt von vorn anfangen." Er streckte Lisa die Hand entgegen. Verwirrt sah sie ihn an. Er nahm ihre Hand und schüttelte sie. "Nikolai Ivanov. Angenehm." "Mehr Spielchen?" fragte sie spöttisch und entzog ihm die Hand. "Machen Sie keine Spielchen?" "Nicht mit Ihnen." Er lachte leise auf. "Das nehme ich als Kompliment." "Nehmen Sie es, wie Sie wollen." Wo war nur ihr Beutel, den sie vom Pulli verdeckt an ihrer Taille getragen hatte, damit ihr niemand das Geld stahl? Sie sah sich im Zimmer um. Nikolai lehnte sich an den Kaminsims und beobachtete sie interessiert. "Sie sind ganz anders, als die Leute sagen," Lisa antwortete nicht. Sie nahm einen Stapel Bücher vom Tisch und hob einige Papiere hoch. Aber ihr Beutel blieb verschwunden. "Ihr Chef zum Beispiel hält Sie für ein Partygirl." Sie verharrte in der Bewegung. "Mein Chef?" "Ich weiß seinen Namen nicht mehr. Er findet Ihre Röcke zu kurz." "Er findet, ich sollte ein Mann sein", erwiderte sie und suchte weiter. "Ihre Oberteile sind ihm zu eng und Ihre Schmuckstücke zu ordinär. Ihre Tätowierung hat er wohl noch nicht gesehen?" Lisa drehte sich zu ihm um und stemmte die Arme in die Hüften. "Okay. Wo ist mein Beutel?" Nikolai blickte sie vorwurfsvoll an. "Wollen Sie denn nicht wissen, woher ich Ihren Chef kenne?" "Sie haben mir offenbar nachspioniert", antwortete sie gelassen. "Hoffentlich hat es Spaß gemacht." "Lass die Hände von ihr, Rob, du erbärmlicher Lustmolch'", zitierte er leise. Er war in der Bank gewesen und hatte sie beobachtet! Sie fühlte sich, als hätte er sie in ihrem Schlafzimmer gefilmt. "Sie waren dann da?" "Und Sie brauchen keinen Mann." Verzweifelt kämpfte sie dagegen an zu erröten. "Wo waren Sie?" fragte sie leise. "Ich habe Sie nicht gesehen."
"Ich war bei Ihrem Chef. Sie haben mir selbst Ihre Visitenkarte gegeben." Er zuckte die Schultern. "Unsere Unterhaltung in seinem Büro war sehr aufschlussreich." "Das freut mich", log sie. "Wenn Sie mir dann jetzt bitte meinen Beutel geben. Ich habe heute noch viel zu tun." "Ist das wahr?" "Natürlich ... Ist was wahr?" "Brauchen Sie wirklich keinen Mann? Sie haben mir erzählt, dass Sie immer nur mit einem zusammenleben. Und in Tatianas Souterrain scheinen Sie allein zu wohnen." Er beobachtete sie genau. Dass er schon mit Alec geredet hatte, wollte er ihr zumindest noch nicht sagen. Er wollte, dass sie ihm selbst von ihm erzählte, dass es einen anderen Grund für die Trennung gab als den beruflichen Aufstieg. Lisa blitzte ihn an. "Mein Beutel." "Ihr Chef hat Unrecht, stimmt's?" "Mein Beutel." "Sie sind kein Partygirl, wenngleich Sie vorgeben, das zu sein. Sie sind eine Frau, die Karriere macht. Und nichts ist Ihnen wichtiger." "Zumindest ist das besser, als sich herumzutreiben und Leute auszuspionieren", erwiderte sie gereizt. "Karriere ist für Sie offenbar ein Fremdwort." Nikolai war sprachlos. Er hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass sie seine Argumente gegen ihn verwenden könnte, und deshalb keine Antwort parat. "Warum den Forscher geben?" Ihre Stimme klang verächtlich. "Oder handelt es sich um das Hobby eines reichen Mannes, das ihm im Winter ein warmes Plätzchen beschert?" Kritisch sah er sie an. "Wieso meinen Sie, ich wäre reich?" Sie zuckte die Schultern. "Haben Sie sich erkundigt?" "Warum sollte ich nicht? Sind Sie der Einzige, der andere überprüfen darf?" "Ich habe nicht nach Ihrem Vermögen gefragt." "Doch. Und nach vielem mehr." Boshaft lächelte sie ihn an, "Ich bin nur nicht so neugierig wie Sie. Mir ist es egal, wie viele Freundinnen Sie haben." Sie entdeckte ihren Beutel. Er musste heruntergefallen sein, als Nikolai sie zum Sofa getragen hatte, denn er lag halb darunter versteckt. Schnell hob sie ihn auf. "Ich gehe dann jetzt", sagte sie, während sie sich ungeduldig mit der Hand durchs Haar fuhr. "Ich werde meinen Teil des Handels erfüllen, weil ich Tatiana mag, wie Sie wahrscheinlich auch. Aber das ist alles. Kein Nachspionieren und keine Unterhaltungen mehr. Okay?" Er kochte vor Wut. "Okay."
Lisa verbrachte das Wochenende mit Putzen und Arbeiten. Aber immer wenn sie einen Moment innehielt, sah sie Nikolais Gesicht vor sich. "Das ist nur, weil er mich wütend gemacht hat", sagte sie im Badezimmer zu ihrem Spiegelbild und wusste doch, dass sie sich belog. Schon viele Männer hatten sie wütend gemacht. Und selbst Terry, der ihr übel mitgespielt hatte, hatte sie nicht so verfolgt. Mit Nikolai war das anders. Er nervte sie mit seinem arroganten, spöttischen und verführerischen Wesen. Und er hatte so eine Art zuzuhören, dass man meinte, ihm etwas besonders Wichtiges zu erzählen. "Nichts als Strategie", sagte Lisa und wusste, wovon sie sprach. Denn nicht zuletzt deshalb war sie so erfolgreich in ihrem Job. Terry hatte sie ein Naturtalent genannt und seine kleine Wilde. Aber in seinem Bett war sie ein Schaf gewesen. Gepeinigt schloss sie die Augen. Sicher, sie war erst achtzehn gewesen und verliebt, aber dennoch hätte sie sich nicht so dumm verhalten müssen. Als ihm dann die Stelle in New York angeboten wurde, hatte sie sein wahres Ich erkannt. "Aber Lisa, du wusstest doch, dass es nur um ein bisschen Spaß ging", hatte er mit jenem falschen Lächeln gesagt, das sie schließlich gehasst hatte. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Und ihr Schweigen machte ihn gereizt. "Du hast doch nicht etwa geglaubt, ich würde dich heiraten?" Er lachte auf. "Du hast gesagt, wir seien uns ähnlich", antwortete sie verwirrt, verstand noch immer nicht, was da geschah. "Du hast gesagt, dass du mich bewunderst." Ihre Naivität nervte ihn. "Natürlich habe ich das. Jeder Mann würde das. Aber du solltest das nicht für bare Münze nehmen." "Du hast mir etwas vorgemacht?" "Die Leute aus der Arbeiterklasse sind so prosaisch", beschwerte er sich. "Das war Strategie, Darling. Strategie." Lisa sah ihn an und erkannte erstmals, wie sehr sie sich in ihm getäuscht hatte. Monatelang hatte sie Nacht für Nacht in seinen Armen gelegen und gedacht, sie könnte sich für immer auf ihn verlassen. "Magst du mich überhaupt?" "Nicht, wenn du schwierig bist." Jetzt endlich begann sie, sich zu wehren. "Warum hast du dann deine Zeit verschwendet?" "Du bist amüsant." "Ach so. Armselig, aber amüsant." "Und hart", fügte er lächelnd hinzu und meinte das als Kompliment. Genau da beschloss sie, hart zu werden. Das schien ihr der einzige Weg zu sein, um zu überleben. Es veränderte sie nicht radikal. Sie mochte Männer nach
wie vor, ging auch weiter mit ihnen aus, aber achtete, darauf, sich nicht mit dem Herzen zu engagieren. Sie entwickelte ihren eigenen Verhaltenskodex. In einer Beziehung war sie zärtlich, leidenschaftlich und amüsant. Aber sobald sie vorüber war, war sie aus. Das schien ihr eine gute Lebensweise. Bis Nikolai mit den wenig schmeichelhaften Äußerungen und der sexy Ausstrahlung ihren Weg kreuzte und sie dazu brachte, all das zu hinterfragen, was sie noch jahrelang zu leben gedachte. Und auch, was sie selbst wollte. Brauchen Sie wirklich keinen Mann? "Ich bleibe noch", erklärte Nikolai seinem Großvater am Telefon. Pauli hatte das fast befürchtet. "Wegen der Expedition nach Borneo?" "Liebe Güte, nein. Tatianas Mieterin umgibt irgendein Geheimnis." Seine Wut war inzwischen ziemlich verraucht, aber er war entschlossener denn je. "Ich verlasse London erst, wenn ich das herausgefunden habe." "Aber sagtest du nicht gestern, Harrison sei zufrieden mit dem Mietvertrag?" Nikolai schnaufte verächtlich. "Sie ist zu clever, um etwas Illegales zu machen." "Bist du sicher, dass du nicht des Guten zu viel tust? Letztlich ist es Tatianas Sache, wem sie die Wohnung vermietet." "Was ich anfange, führe ich auch zu Ende." "Du möchtest doch nicht nur etwas beweisen, oder?" "Was beweisen?" "Dass energisches Auftreten bei Frauen immer wirkt." Nikolai war eine Sekunde sprachlos. Doch dann fiel ihm ihr Gespräch an Veroniques Hochzeit wieder ein. "Dein gutes Gedächtnis ist lästig", erwiderte er. "Aber ich würde nicht darauf wetten, dass energisches Auftreten bei Lisa Romaine etwas bewirkt." "Ach?" Pauli hörte sich plötzlich wesentlich heiterer an. "Das klingt nach einer interessanten Person. Vielleicht bringt Tatiana sie einmal mit, wenn wir sie fragen. Deine Großmutter würde sie bestimmt gern kennen lernen." "Denk erst gar nicht daran", warnte er seinen Großvater leise. "Sie ist allein meine Sache. Und du hältst dich da raus." Lisa saß im Garten und suchte verzweifelt nach einer Lösung ihres Garderobenproblems. Sie besaß nur noch einen Blazer, den sie zur Arbeit tragen konnte, und ihre Sommersachen eigneten sich wirklich nicht mehr für die Bank. Tatiana kam über den Rasen auf sie zu. "Sie sehen so nachdenklich aus. Was ist los?" Lisa erzählte es ihr. "Mir ist da etwas eingefallen. Versuchen Sie es doch in Secondhandshops."
Lisa schnitt ein Gesicht. "Ich hatte gehofft, diese Phase wurde hinter mir liegen. Meine Mutter hat uns Kinder immer dort eingekleidet." "Es gibt solche und solche. Gehen Sie zu einem in einer vornehmen Gegend, wo die betuchten Leute ihre Sachen loswerden, nachdem sie sie einige Male getragen haben." "Und wo finde ich diese vornehmen Gegenden?" Tatiana lächelte über ihre Unwissenheit. "Hier. Holland Park. Kensington ..." "Das hört sich nach Schwerarbeit an", erwiderte Lisa missmutig. "Nein, das wird Spaß machen. Ich muss nur noch einmal kurz in meine Wohnung, und dann brechen wir auf." Lisa fiel keine Entschuldigung ein, um sich vor dem Einkaufsbummel zu drücken. Lächelnd gab sie sich geschlagen. "Zu Befehl, Madame." Erstaunt stellte sie nach einer Weile fest, dass sie es genoss, mit Tatiana durch die Geschäfte zu streifen. Sie begutachteten und verwarfen diverse Outfits. Dann zog Lisa einen grauen Hosenanzug an, dessen weicher Stoff zeitlos, dessen taillierte Jacke aber zu altmodisch war, wie sie fand. "Darin sehe ich aus wie Marilyn Monroe", erklärte sie missmutig. "Da beschweren Sie sich?" Vorwurfsvoll schüttelte Tatiana den Kopf. "Warum nicht zeigen, was man hat?" Lisa errötete. "Lassen Sie sich von mir nicht irritieren. Ich sage, was ich denke." Sie nahm einen bunten Seidenschal und band ihn ihr um. "Nicki und ich sind uns in manchen Dingen sehr ähnlich", fügte sie wie nebenbei hinzu. Lisa errötete erneut und war dann so verwirrt von Tatianas Äußerung, dass sie es sich gestattete, den Hosenanzug, einen Leinenblazer und den Schal zu kaufen. "Sie nehmen jetzt ein langes Bad, kommen dann nach oben, und wir veranstalten eine kleine Modenschau", erklärte Tatiana bei ihrer Rückkehr. "Ich koche uns derweil ein Abendessen." "Aber..." "Bin ich die Expertin oder nicht?" "Doch, das sind Sie. Also abgemacht." Als Lisa später in dem Hosenanzug und dem locker umgebundenen Schal über die Wendeltreppe Tatianas Wohnzimmer betrat und Nikolai dort sitzen sah, blieb sie wie angewurzelt stehen. "Entschuldigung", stieß sie verwirrt hervor. "Ich dachte, Tatiana wäre allein. Ich komme nachher wieder." Nikolai war bei ihrem Eintritt überrascht aufgestanden. "Bleiben Sie", erwiderte er leise. Ihr Anblick raubte ihm fast den Atem. "Sie sehen bezaubernd aus."
Sie blickte beiseite. Ihr Herz schlug ganz seltsam. "Sie meinen, ich sehe endlich einmal halbwegs anständig aus", sagte sie zu laut. "Tatiana ..." "Sie telefoniert. Wann hat denn die Verwandlung stattgefunden?" "Gegen drei heute Nachmittag." Ihr Herz schlug allmählich wieder normal. "Unter Tatianas Leitung. Ich komme wieder, wenn sie Zeit hat." "Sie meinen, wenn ich nicht hier bin. Aber meinetwegen müssen Sie nicht gehen. Ich habe nur auf einen Sprung vorbeigeschaut." Dass Tatiana ihn darum gebeten hatte, verschwieg er. Er wusste nicht, was sie im Schilde führte, aber Lisa war eindeutig nicht eingeweiht. "Nein", erwiderte sie bestimmt. "Sagen Sie ihr, dass ich da war." Sie drehte sich um und verließ das Zimmer auf dem gleichen Weg, wie sie gekommen war. Nikolai trat ans Fenster und sah ihr nach. Warum habe ich noch nie bemerkt, wie anmutig sie sich bewegt? fragte er sich erstaunt und spürte, wie ihr Anblick ihn einen Moment gefangen nahm. "Du und ich, wir müssen uns unterhalten", sagte er dann, als Tatiana hereinkam. "Das wurde aber auch Zeit", meinte Sam, als er Lisa in ihrem neuen Outfit sah. "Hoffentlich haben Sie auch etwas Langes für abends." "Warum?" "Weil Sie die Haraldsens am Freitag nach Glyndebourne begleiten sollen." Ihr wurde leicht anders. Sie kam mit Leif Haraldsen, einem bedeutenden Portfolioinvestor, gut klar und hatte auch schon mehrmals mit seiner Frau gesprochen. Aber sie hatte erst einmal für die Bank als Gastgeberin fungiert, und das war bei einem recht kleinen Abendessen gewesen. "Warum ich?" Sam war genauso wenig erfreut. "Keine Ahnung. Die Anweisung kam von oben." "Ich hasse Opern, und in Glyndebourne finden doch immer Opernfestspiele statt." Sie wusste vom Hörensagen, wie glamourös es dort zuging und wie leicht sich ein Neuling dort blamieren konnte. "Ich war noch nicht da." Er wollte sich schon umdrehen, als ihm noch etwas einfiel. "Ach ja, Sie brauchen einen Begleiter im Smoking." Er lächelte boshaft. "Was glauben Sie, welche Wetten die Kollegen darauf abschließen werden?" "Dieselben wie auf alle meine Projekte", antwortete sie gelassen. "Meine Leistungen sprechen für sich." Sie maßen sich mit Blicken. Sam senkte seinen zuerst. Lisa war natürlich nicht so ruhig. Noch am gleichen Abend redete sie mit Tatiana und machte sich eifrig Notizen. "Muss das Kleid wirklich lang sein?"
"Nicht, wenn es von Chanel ist. In Glyndebourne geht es zwar elegant zu, aber auch in gewisser Weise dezent. Alle Frauen versuchen auszusehen, als gehörten sie zur Oberschicht. Und viele tun es auch." Entsetzt blickte Lisa sie an. "Das klingt, als würde ich mich in ein Minenfeld begeben." "Und ich weiß, wo sie liegen. Vertrauen Sie mir." "Das mache ich. Aber das Ganze findet schon Freitag statt. Ich habe keine Zeit, mir eine Strumpfhose zu kaufen, geschweige denn ein Kleid." "Ich kenne jetzt Ihre Größe und mehr Geschäfte, als Sie sich vorstellen können. Überlassen Sie das mir." Lisa erschrak noch mehr. "Ich muss aber immer noch sparen." "Natürlich", erwiderte Tatiana beschwichtigend. "Wie steht's mit einem Begleiter?" "Den müssen Sie mir nicht beschaffen", antwortete Lisa lachend. "Rob kann sich einen Smoking leihen und mitkommen." "Es wäre besser, Sie würden mit jemandem hingehen, der schon einmal dort war ... und sich auskennt. Nehmen Sie ein Picknick mit?" Lisa wurde sofort wieder ernst. "Ein Picknick?" "Sehen Sie, was ich meine? Sie brauchen eine Expertin. Überlassen Sie alles ruhig mir." "Das kann ich unmöglich tun." "Es wird mir Spaß machen. Aber Sie sollten sich bei Ihren Gästen erkundigen, ob sie alles essen können und ob sie selbst nach Glyndebourne fahren. Wenn nicht, wünscht man in Ihrer Bank bestimmt, dass Sie einen Wagen mit Chauffeur organisieren." Lisa stöhnte und regte sich noch mehr auf, als Rob am Mittwochabend aus heiterem Himmel nach Kopenhagen geschickt wurde. "Das hat Sam absichtlich getan", erklärte sie Tatiana zornig. "Er will, dass ich Schiffbruch erleide." "Vermutlich", erwiderte diese ungerührt. "Aber nutzen Sie das zu Ihrem Vorteil. Ich habe schon immer gemeint, Sie sollten sich von jemandem begleiten lassen, der sich auskennt." "Warum kommen Sie nicht mit? Es muss doch kein Mann sein." Tatiana schüttelte den Kopf. "Glauben Sie mir, mit einem Mann fühlen Sie sich wohler. Und ich weiß auch genau den Richtigen." "Also gut. An wen ... Nein." "Nicki und Vladi wurden schon in ihrer Schulzeit von ihren Eltern nach Glyndebourne mitgenommen", erklärte sie und unterdrückte ein Lächeln. "Sie sind auch in Salzburg und Aixen-Provence gewesen. Wenn Ihnen jemand sagen kann, was Sie tun sollen, dann Nicki."
"Aber genau das versuche ich seit unserer ersten Begegnung zu unterbinden." "Vielleicht ist es an der Zeit, dass Sie zuhören, was er zu sagen hat." Lisa war hin und her gerissen. Sie hatte sich fest vorgenommen, ihn nie wieder zu sehen. Aber sie war sich auch bewusst, wie sehr sie Tatianas Hilfe brauchte, um das Festival in Glyndebourne erfolgreich zu meistern. "Okay, wie Sie meinen, Tatiana", erwiderte sie missmutig. "Aber es muss klar sein, dass ich das nur aus beruflichen Gründen tue." Lisa protestierte, als Tatiana meinte, das Unternehmen "Glyndebourne" wäre ein Tagesprojekt. Der Nikkei-Index notierte zur Zeit schwächer, so dass sie unbedingt vormittags in die Bank musste. Widerwillig rückte Tatiana das Kleid heraus und nahm ihr das Versprechen ab, fertig zu sein, wenn Nicki sie um zwölf bei Napier Kraus abholte. "Mensch", sagte Angela, als sie in die Damentoilette kam, wo Lisa sich gerade umgezogen hatte. "Du siehst aus wie ein Filmstar." Sie war genauso erstaunt wie Lisa. "Das kommt davon, wenn man Sachen nicht vorher anprobiert", erwiderte diese grimmig. "Aber es passt doch." Angela lächelte schalkhaft. "Wenn dich die Jungs darin sehen, fallen sie der Reihe nach in Ohnmacht." "Ich weiß." Erneut betrachtete sie sich im Spiegel. Das Kleid saß wie eine zweite Haut, und der changierende Stoff schimmerte je nach Lichteinfall bronzefarben oder grünlich. Es war auf der einen Seite schulterfrei geschnitten und hatte auf der anderen einen langen eng anliegenden Arm. Sie hatte zum Tanzen schon weniger angehabt, sich aber nie so nackt gefühlt wie jetzt. Und bei dem Gedanken, dass Nikolai sie so sah, wurde ihr ganz anders. "Einen BH kann ich nicht darunter tragen", sagte sie leise. "Und einen Slip auch nicht", erklärte Angela, nachdem sie einmal um sie herumgegangen war. "Höchstens eine Strumpfhose." Lisa drehte sich um und sah über ihre Schulter in den Spiegel. Entsetzt stellte sie fest, dass Angela Recht hatte. Jedes Darunter zeichnete sich deutlich unter dem fließenden Stoff ab. Seufzend trat Lisa den Weg zur Damentoilette erneut an, im Stillen Tatiana verfluchend, die ihr ein so aufreizendes Kleid ausgesucht hatte. Nikolai war nicht bester Stimmung, als er die Limousine durch die City steuerte. Sicher, er hatte Lisa wieder sehen wollen. Aber erst, wenn er das wollte und sie zustimmte. Und nicht, wenn Tatiana das einfädelte und sie beide sich manipuliert fühlten. Missmutig griff er zum Autotelefon und rief bei Napier Kraus an. "Würden Sie Miss Romaine sagen, dass ich in fünf Minuten da bin und sie nach draußen kommen möchte, da ich vermutlich keinen Parkplatz finde ..."
Angela ging zurück in die Damentoilette, wo Lisa sich noch immer zu überzeugen versuchte, dass sie nicht anders aussah als sonst. "Dein Chauffeur möchte, dass du vor der Bank auf ihn wartest. Du solltest dich besser auf den Weg machen." Lisa überprüfte, ob Tatianas Ohrringe fest saßen, betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel und schluckte bei dem immer noch fremden Anblick. Dann verließ sie die Damentoilette fest entschlossen, diesen Tag mit Anstand hinter sich zu bringen.
7. KAPITEL
Als Nikolai den Wagen am Fuß der breiten Marmortreppe anhielt, sah er nur eine langbeinige Blondine, die auf halber Höhe am Geländer lehnte. Offenbar ein Model, dachte er. Irgendwo musste ein Fotograf oder Kamerateam sein, wenn er auch momentan niemanden entdeckte. Vermutlich wartet Lisa drinnen, um sie nicht bei der Arbeit zu stören, überlegte er weiter, schaltete die Warnblinkleuchten ein und stieg aus. Lisa hatte das Auto kommen sehen und mit Entsetzen bemerkt, dass Nikolai am Steuer saß. Sie hatte angenommen, dass Alfredo sie chauffieren würde, auch wenn sie die Haraldsens erst in Glyndebourne treffen würden. Das bedeutet, dass ich jetzt und vor allem nachher auf der Rückfahrt allein mit ihm sein werde, wenn ich müde bin und er im Schutz der Dunkelheit bestimmt glaubt, alle möglichen Fragen stellen zu dürfen, dachte sie beklommen. Fast hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und sich ins Gebäude geflüchtet, aber da kam Nikolai schon die Stufen hoch. "Sie sehen ... anders aus", begrüßte er sie und wirkte nicht gerade erfreut. "Erzählen Sie das meiner Modeberaterin. Tatiana hat das Kleid ausgesucht." "Tatiana?" Er klang empört. "Aber ich habe ihr gesagt ..." Jäh verstummte er. Lisa nahm das nicht wahr. Sie brauchte ihre ganze Aufmerksamkeit, um in den ebenfalls von Tatiana beschafften Pumps die Treppe hinunterzugehen. So hochhackige Schuhe hatte sie noch nie getragen. Nikolai öffnete ihr die Wagentür, und sie stieg vorsichtig ein, um mit den Absätzen nicht am Stoff hängen zu bleiben. "Vielen Dank", sagte sie angespannt und drehte sich etwas, um den Sicherheitsgurt zu fassen, als der geschlitzte Rock aufsprang und den Blick auf ihr schwarz bestrumpftes Bein freigab. Er hätte nie gedacht, dass sie so etwas tragen würde. Und es gefiel ihm nicht. Wenngleich ... "Keine Ursache", erwiderte er genauso angespannt. Sie brauchten fast eine Stunde, um in dem starken Mittagsverkehr aus London herauszufahren. Lisa schwieg, um Nikolai nicht abzulenken, aber auch, weil sie viel zu beschäftigt mit ihren Gedanken war. Zweifellos hatte Tatiana Recht, wenn sie meinte, dass sie, Lisa, sich von einem Kenner der Szene begleiten lassen sollte. Aber warum musste das ausgerechnet Nikolai sein? Er misstraute ihr und verachtete sie und machte keinen Hehl daraus. Bislang hatte sie sich sagen können, dass ihr das egal sei, weil sie nicht vorzugeben versucht hatte, jemand zu sein, der sie nicht war. Doch das war jetzt anders. Alles an ihr war falsch. Angefangen von dem raffinierten Kleid bis hin zu der Gastgeberinnenrolle, die sie spielte. Und er durchschaute das. Denn er war echt.
Als sie die Autobahn Richtung Brighton erreicht hatten, sah er kurz zur Seite. Lisa wirkte heute so anders. Das lag nicht allem an ihrem Outfit, das sie total veränderte, sondern auch an ihrer ungewohnten Schweigsamkeit. Sie kam ihm so fremd vor, und das waren sie sich doch eigentlich nicht. "Ich habe das Gefühl, als sollte ich höflich zu Ihnen sein", sagte er bedächtig. Lisa zuckte zusammen. Durchschaut schrie ihre innere Stimme. Um ihre Beklommenheit zu verbergen, antwortete sie spitz: "Warum mit einer lebenslangen Gewohnheit brechen?" Also doch noch die Alte, dachte er erfreut und entspannte sich. "Von lebenslang kann nicht die Rede sein. Das scheint nur so." "Warum kehren Sie dann nicht nach Frankreich zurück? Dann müssen Sie mich nicht mehr ertragen." "Erst wenn ich erreicht habe, wozu ich hergekommen bin." Sie zuckte die Schultern. "Zwingen Sie sich nicht, höflich zu mir zu sein. Ich bin es nicht gewöhnt, dass man mir schöntut. Das berührt mich nur unangenehm." "Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgend etwas Sie unangenehm berührt." "Sie kennen mich nicht sehr gut." "Ich kenne Sie besser, als Sie meinen", erwiderte er mit seinem sexy Lachen. "Sehen Sie, ich war noch nie in Glyndebourne und könnte mich entsetzlich blamieren." "Tatiana hat mir das erzählt. Aber keine Sorge, es gibt für alles ein erstes Mal." Argwöhnisch blickte sie ihn an. Aber seine Miene war unschuldig und seine Aufmerksamkeit auf die Straße gerichtet. "Instruieren Sie mich." Nikolai unterdrückte ein Lächeln und erklärte ihr, dass das Opernfestival ursprünglich in einem umgebauten alten Reitstall stattgefunden habe, inzwischen aber in ein neues Auditorium umgezogen sei. Etwa nach der Hälfte der Aufführung würde es eine anderthalbstündige Pause geben, in der die Besucher entweder in eines der Restaurants gingen oder zum Picknick in den riesigen Garten. "Die Darbietungen sind fantastisch", meinte er schließlich. Lisa veränderte leicht ihre Sitzposition. Sie sagte nichts, aber er verstand sie dennoch. "Sie mögen keine Opern?" "Ich bin erst in einer gewesen und fast verrückt geworden", antwortete sie ehrlich. Er lachte sie nicht aus. "Warum?" "Sie haben immerzu von Sachen gesungen, anstatt sie zu tun und mit der Handlung fortzufahren", erwiderte sie und sah ihn herausfordernd an. "Okay, ich bin ein Banause. Ich kann mich nicht für Dinge begeistern, die nichts mit dem wirklichen Leben zu tun haben."
Nikolai nickte, als hätte sie etwas absolut Vernünftiges gesagt. "Die JanacekOper heute Abend hat durchaus etwas mit dem wirklichen Leben zu tun. Sie handelt von einer Frau, die mit einem schwachen Mann verheiratet ist, dessen Mutter ihr das Leben zur Hölle macht." Lisa fühlte sich kritisiert. "Vermutlich kennen Sie sie vorwärts und rückwärts", antwortete sie resigniert. "Erzählen Sie mir die Story." "Katya Kabanova ist sehr sanftmütig und wohlerzogen. Aber ihr Ehemann erweist sich als Alkoholiker, der gänzlich unter der Fuchtel seiner Mutter steht. Diese hasst Katya, die sich in einen anderen Mann verliebt, in ein Gewitter gerät, das sie als Strafe ansieht, und sich in der Wolga ertränkt." "Wie heiter." "Nun ja, Katya besitzt nicht Ihre Entschlossenheit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie sich von Ihrer Schwiegermutter in den Tod treiben ließen." Lisa sah ihn argwöhnisch an. "Sie tun mir wieder schön, Boris." Nikolai blickte sie kurz verblüfft an. Dann trat ein Funkeln in seine Augen. "Ganz und gar nicht. Katya gibt sich der Liebe hin und glaubt sogar, dass dies im Tod endet. Ich kann mir das bei Ihnen genauso wenig vorstellen." "Liebe", stieß sie verächtlich hervor. "Sie endet nur mit einem Schlag ins Gesicht." Er zuckte die Schultern. "Sie haben bestimmt Recht." Er startete ein Überholmanöver und sagte danach lässig: "Übrigens, der Mann, in den sie sich verliebt, heißt Boris." Er lachte, und Lisa sah ihn einen Moment ungläubig an. Dann musste auch sie lachen. "Das ist nicht wahr." "Doch. Es tut mir Leid." "Das wird mir eine Lehre sein. Ich werde Sie nie mehr Boris nennen." Ihr kam ein Gedanke. "Ich hätte Sie so vor den Haraldsens anreden können. Dann hätten sie womöglich mehr als nur berufliche Gründe hinter unserer Beziehung vermutet." Sie lachte, aber es klang hohl. "Ich kann mich glücklich schätzen, wenn ich den Abend überstehe, ohne in ein Riesenfettnäpfchen getreten zu sein." Aber alles lief wie am Schnürchen, vor allem Dank Nikolais Beistand. Während des Picknicks entwickelte sich eine angenehm zwanglose Unterhaltung, und plötzlich empfand Lisa das Ganze nicht mehr als Last. Als sich Mr. Haraldsen nach den genossenen Köstlichkeiten entschuldigte, um einige Fotos von der bezaubernden Umgebung zu schießen, und Nikolai und Mrs. Haraldsen angeregt über die Oper plauderten, fühlte sich Lisa plötzlich beobachtet. Sie blickte auf und sah in einiger Entfernung einen Mann bei einer Gruppe von Leuten stehen, der sie aufmerksam betrachtete. Er war zu weit weg, um ihn erkennen zu können - außerdem unterschieden sich die Männer in ihren Smokings kaum voneinander - aber irgend etwas an ihm schien ihr vertraut.
Sie verfolgte, wie er sein Glas abstellte und auf sie zukam. Und als er nah genug war, gefror ihr das Blut in den Adern. "Lisa! Ich habe mir doch gedacht, dass du das bist." Nikolai unterbrach sein Gespräch mit Mrs. Haraldsen und stand höflich auf. "Hallo, Terry", stieß Lisa hervor. "Hallo, Kleines. Lang nicht gesehen." Er beugte sich zu ihr, um sie zu küssen. Eilig wandte sie den Kopf, sodass der KUSS in der Ohrgegend landete, und stand auf. "Darf ich vorstellen? Terry Long, ein ehemaliger Mitarbeiter von Napier Kraus. Terry, Mrs. Haraldsen und Count Ivanov;" Sie war wie erschlagen, und Terrys amüsierter, ungläubiger Blick bei Nikolais Vorstellung machte alles nur noch schlimmer. Dann legte er ihr auch noch den Arm um die Taille, als hätte er ein Recht dazu. Und obwohl sie sofort auswich» musste Nikolai die besitzergreif ende Geste registriert haben. "Lisa und ich haben uns lange nicht gesehen", erklärte Terry redselig. Er musterte sie von Kopf bis Fuß und ließ den Blick schließlich auf der nackten Schulter ruhen. "Du hast es weit gebracht, Kleines." Lisa bot all ihre Kraft auf, um Haltung zu bewahren. Wie hatte sie nur diesem Widerling vertrauen können? Sie fühlte sich entsetzlich gedemütigt und wusste absolut nicht, was sie sagen sollte. Nikolai rettete die Situation. Er bot Terry ein Glas Wein an, wechselte das Thema und hielt daran fest, bis die Festivalbesucher informiert wurden, dass die Aufführung in fünf Minuten weitergehen würde. Und während sie die Reste des Picknicks einpackten und die Stühle zusammenklappten, schaffte es Lisa auch, Terry aus ihren Gedanken zu verbannen. Aber sobald es dunkel im Zuschauerraum geworden war, war sie allein mit ihren Empfindungen. Die dramatische Musik ließ in ihr die jahrelang aufgestauten Gefühle von Scham und Schmerz aufbrechen. Als die von schrecklichen Schuldgefühlen geplagte Katya sich in die Wolga stürzte, liefen ihr Tränen über die Wangen. Sie konnte kaum atmen und hörte entsetzt, wie sie ein schniefendes Geräusch von sich gab. Kurz darauf spürte sie eine Berührung an der Hand und sah nach unten. Nikolai schob ihr ein Taschentuch zu. Sie schluckte und nahm es, konnte ihn aber nicht anblicken. Er verlor später kein Wort darüber. "Trinken wir noch einen Kaffee an der Bar", schlug er nach der Aufführung vor. "Sonst warten wir eine Ewigkeit in der Autoschlange auf dem Parkplatz." Heiter plauderte er mit den Haraldsens, sodass diese überhaupt nicht merkten, wie schweigsam Lisa plötzlich war. Als sie schließlich aufbrachen, schaffte sie es, angemessen auf Wiedersehen zu sagen, und folgte Nikolai in den Garten, um die Sachen zu holen.
"Ist das dunkel", meinte sie, als sie aus dem hellen Bereich des Hauptkomplexes herausgingen. "Kein 'Problem." Schon zauberte er eine Kugelschreibertaschenlampe aus dem Smoking. "Das nenne ich weitsichtig." "Unterschätzen Sie nie einen Forscher." Und als wollte er seine Feststellung untermauern, nahm er sich kurz darauf die Klappmöbel und den Picknickkorb, sodass Lisa nur den Weinkühler trug und ihnen mit der Lampe den Weg erleuchtete. Vorsichtig tippelte sie über den Rasen, aber nicht vorsichtig genug. Ein Absatz verfing sich im Gras, sodass sie etwas aus dem Gleichgewicht geriet und der Lichtstrahl wild hin und her tanzte. Nikolai zog sie an seine Seite. Selbst durch das Jackett hindurch fühlte Lisa, wie warm sein Arm war, und sie spürte, wie sein Puls raste. Wenn sie den Kopf nach hinten sinken ließ, würde er an seiner Schulter ruhen. Wenn sie aufsehen würde ... Ihre Fantasie blühte, und die Bilder vor ihrem geistigen Auge raubten ihr den Atem. "Wie haben Sie das gemacht?" stieß sie verwirrt hervor. "Sie haben so viel getragen. Was ist damit passiert?" Seine Stimme klang seltsam rau. "Schnelle Reflexe. Ich habe die Stühle weggeworfen." "Oh." Sie atmete wieder, aber viel zu schnell. Die Sommernacht war erfüllt von lieblichen Düften und Geräuschen und beflügelte ihre Fantasie noch mehr. Ich warte darauf, dass er mich küsst, dachte sie und konnte es nicht glauben. Er war beladen wie ein Muli, und sie erwartete, dass er sie küsste? "Hoffentlich haben Sie keine der Orchideen getroffen", sagte sie in dem schwaches Versuch, wieder zu einer gewissen Lockerheit zurückzukehren. Sie befreite sich aus seinem Arm und hob die Stühle auf. Nikolai protestierte nicht. Es schien ihr, als wäre er von seiner Reflexhandlung genauso verwirrt wie sie. Stumm gingen sie zum Auto und schwiegen weiter, bis sie die ersten Vororte von London erreichten. Es hatte geregnet, und die Scheinwerferlichter wurden von den Pfützen reflektiert. Das Stadtbild hatte in der Dunkelheit etwas seltsam Weltfremdes an sich. "Fast könnte man meinen, wir würden durch ein Wurmloch fahren", sagte sie unwillkürlich. Nikolai sah sie kurz an. "Sie sind ein Science-Fiction-Fan, stimmt's?" Sie fühlte sich sofort in der Defensive. "Vermutlich finden Sie das töricht." "Warum sollte ich?"
"Weil Sie Wissenschaftler sind." "Alle wissenschaftlichen Theorien sind Fiktion, bis sie bewiesen sind. Ich kann es mir nicht leisten, Science-Fiction-Anhänger zu verachten. Sie sponsern nämlich die Expeditionen." "Sie brauchen Sponsoren? Ich dachte ..." "Sie dachten, ich wäre reich." Er klang gereizt. "Sie dachten, ich würde mit einigen Freunden auf Jagd in den Dschungel gehen wie einst viktorianische Dilettanten." "Nein", stieß sie betroffen von seiner heftigen Reaktion hervor. "Ich betreibe Forschung nicht als Hobby, sondern verdiene mir so den Lebensunterhalt. Sicher, auf dem Papier ist meine Familie reich, sind wir zweifellos Millionäre. Wohlgemerkt die Familie, nicht ich." "Ich hatte nicht..." "Aber das Vermögen besteht größtenteils aus Immobilien, Gemälden und Möbeln. Wenn ich keine Bilder essen will, muss ich arbeiten. Und das heißt: Feldforschung betreiben, Referate schreiben und Vorlesungen halten." Er klang zornig. "Nichts, worüber man spotten kann, nicht einmal jemand, der Reichtum für das Wichtigste auf der Welt hält." "Okay, okay. Es tut mir Leid, dass ich voreilige Schlüsse gezogen habe. Ich wollte Ihre Arbeit nicht verspotten." Sie verstummte einen Moment und fügte dann leise hinzu: "Und ich halte Reichtum nicht für das Wichtigste auf der Welt." Nikolai konzentrierte sich auf die Ampel, der sie sich näherten. "Warum tun Sie dann das, was Sie tun?" fragte er ruhig. Eigentlich wollte sie nicht darauf antworten. Doch die Dunkelheit im Wagen, die leeren Straßen, die Stille der Nacht schienen irgendwie eine Atmosphäre der Vertrautheit zu schaffen. "Wie ich schon einmal gesagt habe ... Leute, die ums Überleben kämpfen, reden viel über Geld." Er schwieg einen Moment. "Ums Überleben kämpfen? Sie?" "Jetzt geht es mir gut. Aber früher war das anders." Er wartete vergebens, dass sie fortfuhr. "Wie war es denn früher?" Vielleicht lag es an ihrer Müdigkeit, dass Lisa meinte, sie wären jenseits von Zeit und Raum in einer Kapsel unterwegs. Sie hatte das Gefühl, es wäre egal, was sie ihm erzählte. Dass die Reise unendlich dauern würde und ein Morgen nicht existierte. So erzählte sie ihm, was sie noch keinem erzählt hatte, nicht einmal Terry. "Früher hatten wir nichts", sagte sie leise. "Kein Geld. Kein richtiges Heim. Nur diverse gemietete Zimmer, wie unsere Mutter sie gerade finden konnte. Keine Freunde, denn wir zogen immer wieder um. Keine ordentliche Ausbildung aus
dem gleichen Grund. Vielleicht war das auch die Ursache, dass ..." Sie verstummte jäh. "Dass?" Lisa seufzte. "Dass Kit solche Schwierigkeiten im Leben hat." "Wer ist Kit?" Seine Stimme klang weich. "Meine jüngere Schwester. Als sie dreizehn war, hat man bei ihr Magersucht festgestellt. Jetzt ist sie zwanzig. Die Ärzte sagen, dass sie das Gröbste geschafft habe. Und wir hoffen." Nikolai nickte, als wüsste er etwas von der Krankheit. "Sie hat Rückfälle?" "Wenn ihr Gefühlsleben einen Schlag erhält. Aber es ist nie so heftig wie beim ersten Mal." Sie seufzte erneut. "Manchmal frage ich mich, ob unsere Mutter sich das einbildet. Aber dann läuft Kit vor etwas weg, das ihr Angst macht, und alles scheint wieder anzufangen." "Ich habe einen Freund, der mit Magersüchtigen arbeitet, die das Schlimmste überwunden haben. Diese Krankheit kann einer Familie sehr zu schaffen machen." Er sah sie kurz an. "Wie reagieren Ihre anderen Angehörigen?" "Es gibt sonst niemanden." "Ist Ihr Vater tot?" fragte er behutsam. "Das glaube ich nicht. Er hat uns verlassen, als ich noch klein war. Wir haben es überlebt." "Aber ... Unterstützung? Zumindest Geld? Haben Sie nie versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen?" "Sie meinen, ein Mann hätte in unser Leben treten und sich um uns kümmern sollen." Lisa war zu belustigt, um sich gekränkt zu fühlen. "Schlechte Aussichten." Sie verdeutlichte sich, was sie gesagt hatte, und schüttelte unzufrieden den Kopf. "Missverstehen Sie mich nicht. Ich möchte nicht, dass sich ein Mann um mein Leben kümmert. Vielleicht hätte unsere Mutter früher gern etwas Unterstützung gehabt. Aber jetzt ist das nicht mehr nötig. Ich kann die Familie unterhalten." Nikolai war verblüfft. Und um sicherzugehen, dass er sie richtig verstand, fügte sie hinzu: "Ich bin unabhängig, und das gefällt mir." "Wirklich?" fragte er ernst. "Das ist das einzig Wahre für eine moderne junge Frau. Dann ist man niemandem Rechenschaft schuldig." Sie fuhren in nördlicher Richtung, und die Straßen wurden immer vornehmer. "Bäume und Gärten", sagte Lisa. "Man kann immer sehen, wo die Reichen wohnen." "Sind Sie deshalb zu Tatiana gezogen? Um zu leben wie die Reichen?" Seine Stimme klang hart.
Lisa erwiderte nichts. "Entschuldigung", stieß er hervor. "Das hätte ich nicht sagen sollen. Das gehörte nicht zur heutigen Abmachung, stimmt's?" "Zur heutigen Abmachung?" "Das übliche Abkommen zwischen den Geschlechtern. Sie sehen hübsch aus, und ich passe auf Sie auf", antwortete er rau. "Es war nicht..." "Und wenn alles vorbei ist, sagen wir nett .danke schön' und ,gute Nacht'." Er parkte den Wagen und schaltete die Scheinwerfer aus, sodass es ziemlich dunkel wurde. Er schien ihr überraschend nah. Sie spürte seine Wärme, hörte ihn atmen - und fühlte sich nicht mehr wie in einer Kapsel. Lisa benetzte die plötzlich trockenen Lippen. "Gute Nacht." Das klang aber schrecklich zittrig, dachte sie entsetzt, und eben noch hatte sie so stolz von ihrer Unabhängigkeit geredet. Wenn er jetzt annahm, sie würde sich nicht kennen, oder schlimmer noch, sie hätte das aus weiblicher List gesagt, konnte sie ihm das nicht verübeln. Nikolai wandte sich ihr zu. "Oder vielleicht tun wir das auch nicht." Die Atmosphäre im Wagen war aufgeladen. Während Lisa noch fieberhaft nach einer Antwort suchte, bewegte er sich etwas in seinem Sitz und berührte mit der Hand zufällig oder absichtlich ihren nackten Arm. Wie schon in der Oper entrang sich ihr ein unkontrollierter Laut, und sie spürte, wie Nikolai sich entspannte. "Wir sind da", sagte er leise. Als würde sie träumen, ließ sie sich von ihm aus dem Wagen helfen und in das Haus führen, in dem seine Wohnung lag. Das war programmiert, seit wir uns das erste Mal begegnet sind, dachte sie. Er sagte kein Wort, selbst dann nicht, als sie die Wohnung betraten und er die Tischlampen anknipste. Lisa sah die alten Möbel, die Bilder an den Wänden. Bei ihrem ersten Besuch hatte sie die Antiquitäten, den Reichtum gar nicht so wahrgenommen. Verzweiflung überfiel sie. "Wir sind so verschieden." "Ich bin ein Mann, und Sie sind eine Frau. Das ist für gewöhnlich ein guter Anfang." Sie ging etwas von ihm weg, damit er ihr Zittern nicht merkte, und sah blind die Buchrücken in einem Bücherschrank an. "Das mache ich normalerweise nicht." "Was?" Ein Lächeln schien in seiner Stimme mitzuschwingen. Ihr war nicht nach Lächeln zumute. "Sex mit einem Fremden", antwortete sie bitter. Stumm betrachtete er sie einen Moment. "Nicht wirklich ein Fremder."
"Sie hören mir wohl nicht zu. Ich habe vorhin gesagt, dass Sie mich nicht sehr gut kennen. Eigentlich tun Sie das überhaupt nicht." Er trat hinter sie, wie sie in der Glastür sehen konnte. Dann beugte er sich zu ihr, und sie verspannte sich. Aber er küsste sie nicht, sondern neigte den Kopf etwas zur Seite, als wollte er die Luft über ihrer nackten Schulter streicheln oder den Duft ihrer Haut einatmen. Lisa spürte, wie eine Welle leidenschaftlichen Verlangens sie erfasste. "Möchten Sie nach Hause?" Das war die Gelegenheit. Sie brauchte nur Ja zu sagen. Dass sie einen Fehler gemacht und ihre Meinung geändert habe. Jetzt konnte sie fliehen. "Nein." Sie spürte seine Hände auf ihrem Körper und wusste, dass sie ihr Zittern nun nicht mehr vor ihm verbergen konnte. Innerlich wappnete sie sich gegen erneuten Spott. Aber er machte sich nicht über sie lustig, sondern küsste ihren Hals. Sie fühlte seine Zunge auf ihrer Haut, seufzte erstickt auf und drehte sich verlangend in seinen Armen um. Seine Hände brannten wie Feuer auf ihren Hüften. Er zog Lisa so fest an sich, dass sie seine Erregung spürte. Und auch ihre heftige Reaktion darauf. Erstaunt hörte sie sich sehnsüchtig aufstöhnen. Aber ihn schien das nicht zu überraschen, er war ganz Herr der Situation. Zärtlich küsste er ihren Hals, die Ohrläppchen und die Augenlider. Als sie kaum noch wusste, wie ihr geschah, umfasste sie sein Gesicht und küsste ihn so ungeschickt wie ein Teenager beim ersten Rendezvous. Er erwiderte den KUSS meisterlich und erforschte mit der Zunge ihren Mund. Lisa konnte nicht mehr denken, nicht mehr atmen. Sie drängte sich nur noch an ihn. "Im Schlafzimmer haben wir es bequemer", sagte er schließlich rau. Schon hob er sie hoch, legte sie wenig später auf sein Bett und öffnete gekonnt den Reißverschluss ihres Kleides. Das macht er nicht zum ersten Mal, dachte sie und war einen Moment ernüchtert. Aber dann zog er ihr den glitzernden Stoff über den Kopf, beugte sich Augenblicke später über sie und küsste ihre Brust. Sie hatte das Gefühl zu verbrennen und klammerte sich in hilflosem Verlangen an ihn. Lisa hörte, wie sich ihm ein leiser Laut entrang. Ein Ausdruck der Sinnenfreude? Oder des Triumphes? Vielleicht beides? Aber mit Sicherheit der Lust. Und die beruhte auf Gegenseitigkeit. Nikolai betrachtete die verräterisch aufgerichteten Spitzen. Scharf atmete er ein, drückte Lisa zurück in die Kissen und erkundete mit den Händen ihren Körper. Er war zweifellos nicht länger die absolute Selbstbeherrschung in Person.
Genießerisch rollte er die hauchdünne Strumpfhose von ihren Hüften und ließ die Lippen über die samtweiche Haut gleiten. Lisa stöhnte lustvoll auf. Bebend vor Verlangen lag sie schließlich nackt auf der Decke, während er ihren flachen Bauch, ihre Hüften und ihre Schenkel küsste. Als er sich zu ihrer geheimsten Stelle vortastete, schrie sie in heißem Begehren auf. Nikolai hielt inne. Er sah auf, und ihre Blicke trafen sich in der Dunkelheit. "Das ist kein Sex mit einem Fremden", sagte er rau. Lisa war jenseits aller Gefühle der Scham und des sich Zierens. "Dann zieh deine Sachen aus." Es war eine Herausforderung - wie sie beide wussten. Einen Moment lang sahen sie sich wie Feinde an. "Dann hilf mir." Sie richtete sich auf und streckte die Hände nach seinem Jackett aus, das kurz darauf zu Boden fiel. Und während er sein Hemd aufknöpfte, versuchte sie hektisch, die Fliege zu lösen. Ihre Finger bebten, und das Blut hämmerte in ihren Adern. "Bitte", stieß sie hervor. "Bitte, bitte." Sie wusste nicht, ob sie zu sich sprach oder ihm oder der verflixten Fliege, die sie einfach nicht aufbekam. Nikolai wusste es. Er schob ihre Hände weg und zog sich das Ding ab. Und Lisa sank zurück in die Kissen, während er sich seiner übrigen Kleidung entledigte. Dann beugte er sich zu ihr. "Ein Fremder?" "Nikolai", stieß sie halb bittend, halb stöhnend hervor. "Der Mann heute Abend, war er derjenige, der nicht gekommen ist? Zu der Preisverleihung meine ich." "Was?" Sie brauchte erst einen Moment, um zu begreifen, wovon er redete. "War er das?" fragte er in einem Ton, der eine Antwort verlangte. "Nein." "Wer war es dann? Dein Kollege sagte, du seist wütend, weil irgendein Mann nicht gekommen sei. Wer?" Er klang, als würde er Folterqualen erleiden. Lisa konnte nicht ruhig liegen, zu groß war ihr Verlangen. "Sam", stieß sie keuchend hervor. Nikolai drängte einen Schenkel zwischen ihre und küsste sie energisch. Unwillkürlich schloss sie die Augen und legte ihm die Arme um den Nacken. Aber dann hielt er unvermittelt wieder inne. "Wer ist dieser Sam? Sam Voss aus der Bank?" "Was?" Sie drehte den Kopf zur Seite. "Warum? Oh Nikolai..." Er war unerbittlich. "Wer ist er?" "Ja, mein Chef. Warum ..." "Ich werde dich ihn vergessen machen."
Dann erlöste er sie endlich von ihrem qualvollen Warten. Er nahm sie in die Arme, küsste sie verzehrend und drang schließlich in sie ein. Er fragte nicht, was sie wollte, zumindest nicht mit Worten, sondern ließ es sich von ihrem Körper sagen. Und der war sehr beredt. "Du ... willst ... mich", stieß er rau hervor und erklomm mit ihr den Gipfel der Glückseligkeit.
8. KAPITEL
Zufrieden lag Lisa in Nikolais Armen. Fast selbstvergessen streichelte er immer wieder ihre Schulter. Es war eine absolut besitzergreifende Geste, die ihr zu ihrer eigenen Überraschung ausgesprochen gefiel. Sie rieb die Wange an seiner Brust und genoss es, die feinen Härchen zu fühlen und seinen einzigartigen Duft einzuatmen. "Erzähl mir, dass ich dich nicht kenne", forderte er sie mit einem Lächeln in der Stimme auf. Schläfrig küsste sie seine Brust. "Oh, das tust du." "Bist du immer noch sicher, dass du keinen Mann brauchst, der sich um dein Leben kümmert?" fragte er neckend. Sie war schon fast im Reich der Träume. "Was immer du sagst", murmelte sie. "Wunderbar." Vergebens wartete er auf eine entrüstete Erwiderung. Lisa war eingeschlafen. Behutsam zog er die Decke über ihre nackten Schultern und war wenig später auch eingeschlafen. Lisa fuhr aus dem Schlaf hoch. "Nein!" schrie sie, noch bevor ihr klar wurde, dass sie nur geträumt hatte. Sie war in Stöckelschuhen unsicher eine endlose Treppe hinuntergegangen auf einen Mann zu, der das Gesicht vor ihr verbarg. Nikolai erschien barfuß auf der Türschwelle. Er trug nichts als entsetzlich sexy schwarze Jeans. Lisa errötete. "Entschuldige, ich habe das verpasst", sagte er fröhlich, war völlig unbefangen. Sie zog sich die Decke bis ans Kinn und erwiderte so würdevoll wie möglich: "Ich habe geträumt." "Wer muss denn träumen?" Ihre Blicke begegneten sich. Und plötzlich war die Atmosphäre mit den Erinnerungen an letzte Nacht erfüllt. Ihr Blut begann sogleich, schneller in den Adern zu pulsieren. Er entledigte sich der Jeans und zog Lisa an sich. Er kannte sie jetzt und wusste genau, wie sehr der Körperkontakt sie erregen würde. Ihre Atmung beschleunigte sich, und ihr Kopf sank nach hinten. Sie spürte seine Lippen an ihren Brüsten und wusste bald nicht mehr, wie ihr geschah. Unwillkürlich trat sie die Decke beiseite und zog ihn mit sich aufs Bett. Im nächsten Moment fühlte sie sich von ihm umgedreht. "Das ist nicht fair." Sie schlug mit den Fäusten aufs Kopfkissen. "Lass mich dich anfassen." "Gleich." Seine Stimme klang rau.
Er hielt ihre Arme fest und ließ die Lippen über ihren Rücken gleiten. Lisa erbebte in qualvoller, lustvoller Erwartung. "Ich wusste schon immer, dass ich Schmetterlinge mag", sagte er. Sie spürte seinen Mund dort, wo ihre Tätowierung war, und es fiel ihr schwer zu atmen. "Das habe ich mir vor Wochen versprochen", sagte er rau. Sie zitterte am ganzen Körper und konnte nicht glauben, dass er das nur mit einem KUSS bewirkte. Sie barg das Gesicht im Kissen und kam seufzend zum Höhepunkt. "Nicht fair", flüsterte er ihr ins Ohr. Im nächsten Moment drehte er sie wieder um und betrachtete ihr gerötetes Gesicht, als wäre jede kleine Regung darin ein persönlicher Triumph. Lisa schwirrte der Kopf. Sie empfand Stolz und Bescheidenheit, Schüchternheit und Schamlosigkeit. Und sie fühlte sich ihm ausgeliefert und mächtig wie eine Göttin, als sie die Beine um ihn legte und ihre Hände selbstbewusst über seinen Körper gleiten ließ. Nikolai erbebte. "Noch ... nicht." Seine Stimme war kaum wieder zu erkennen, aber er beherrschte Lisas Reaktionen noch immer. Sie wand sich hin und her, während er sie mit Mund und Händen stimulierte. "Was machst du mit mir?" stieß sie keuchend hervor. Sie lagen inzwischen inmitten von Decken und Kissen auf dem Boden. "Was machst du mit mir?" Er durchbohrte sie förmlich mit seinem Blick und schien allmählich die Kontrolle über sich zu verlieren. Er war atemlos, und seine Stimme bebte. Einen Moment hielt er sie unter sich fest, während seine Finger mit den feuchten Härchen spielten. In seinen Augen brannte ein Feuer der Leidenschaft. Lisas Lippen öffneten sich. "Oh Lisa, du musst mich nur ansehen", entrang es sich ihm. Sie konnte nicht länger warten und übernahm die Initiative. Seine Züge wurden so angespannt, dass die hohen Wangenknochen noch deutlicher hervortraten. Wild blickte er sie einen Moment lang an, dann schloss er die Augen und verlor sich in einer Leidenschaft, die sie mit sich in eine beglückende Tiefe riss. Später, viel später, fragte er matt: "Was machst du normalerweise samstags?" Lisa empfand zwar keine Peinlichkeit mehr, aber das feite sie nicht gegen Kälte. Sie setzte sich auf und sah sich nach etwas um, das sie sich überwerfen konnte. "Waschen", antwortete sie unverblümt. "Hast du nichts zum Anziehen für mich?"
Nikolai lehnte sich gegen die Wand und betrachtete Lisa angelegentlich. Er wirkte ausgesprochen zufrieden mit sich. "Was spricht gegen deine eigenen Sachen? Mir gefällst du sehr in dem Krizia Karlton-Modell." "Dir gefalle ich in allem." Warm blickte er sie an. "Oder in nichts." "Wie könnte ich das vergessen." Er stand auf, fand ihr Kleid hinter einem Stuhl und reichte es ihr. "Danke." Es wirkte noch offenherziger, als sie es in Erinnerung hatte. "Wie soll ich darin am hellichten Tag nach Hause gehen?" "Du bleibst einfach, bis es dunkel ist." "Ein Gentleman würde mir etwas zum Anziehen leihen." "Du kannst dir gern etwas aussuchen, das passt. Draußen im Wandschrank gibt es einige geschmackvolle Tischtücher. Probier eines an." "Das tue ich vielleicht", antwortete sie würdevoll. "Nach dem Baden." "Ich mache uns Kaffee." Er ist ein wunderbarer Liebhaber, dachte Lisa, als sie sich so zufrieden wie noch nie in der Wanne ausstreckte. Er hatte zwar nicht gesagt, dass er sie liebe, aber das musste er auch nicht. Sein Körper sagte es für ihn. Außerdem hatte sie schon vor langer Zeit gelernt, Liebeserklärungen zu misstrauen. Aber ich will von ihm hören, dass er mich liebt, gestand sie sich dann ein. Das will ich mehr als alles auf der Welt. Der Gedanke vermieste ihr das Duftschaumbad, und so stieg sie kurz darauf aus der Wanne. Als sie ihr Kleid überstreifen wollte, fiel ihr Blick zufällig auf das Label: "K2" war dort diskret aufgestickt. Das stand wohl für Krizia Karlton. Lisa lächelte. Nikolai kannte sich offenbar gut in Designermode aus. Zu gut, dachte sie dann und beschloss, ihn mit seinem Wissen aufzuziehen. Aber auf dem Weg in die Küche wurde sie doch stutzig. Sie hatte noch nie von Krizia Karlton gehört. Das Label bot zwar einen gewissen Anhaltspunkt, war aber nicht eindeutig. Woher wusste er, wer das Kleid kreiert hatte? Ihr kam ein entsetzlicher Verdacht. Wenn er alles leugnen oder eine halbwegs einleuchtende Ausrede finden würde, würde sie das akzeptieren. Denn sie wollte das so sehr. Aber er zuckte unbekümmert die Schultern. "Ertappt." "Ertappt?" "Ich wollte, dass du etwas Hübsches zum Anziehen hast. Ich fand es schade, wenn du ein Kleid aus irgendeinem noch so vornehmen Secondhandshop tragen würdest. Also habe ich ihr gesagt, dir ein Richtiges zu kaufen." "Du ... hast... mein ... Kleid ... bezahlt?" "Na und? Es hat dir gefallen, oder?" Er lächelte sie frech an. "Mir jedenfalls sehr."
Lisa wurde entsetzlich an Terry erinnert. Armselig, aber amüsant, rief eine innere Stimme. "Hattest du Angst, ich wurde dich mit meinem Outfit in Glyndebourne blamieren? Schließlich hätten wir Bekannte von dir treffen können." Er wunderte sich über ihren grimmigen Ton. "Ich wollte dir nur ein Geschenk machen." "Das stimmt nicht", erwiderte sie so leise, dass er sie kaum verstand. "Dann hättest du es mir selber gegeben und nicht mit Tatiana gemeinsame Sache gemacht, sodass ich denken musste, ich hätte es mir gekauft." Sie schluckte mehrere Male. "Sag mir die Wahrheit, Nikolai." Er seufzte ungehalten. "Also gut. Ich wusste, dass du es von mir nicht annehmen würdest. Ich hatte ..." "Geplant", ergänzte Lisa und meinte, ihr würde das Herz brechen. "Wie bitte?" "Das war alles ein Plan. Ein Plan, um deine Familie zu beschützen." "Red keinen Unsinn. Ich würde mit niemandem schlafen, um Tatiana zu beschützen." "Ja. Mit mir zu schlafen war wohl eine nette Zugabe." "Das ist verrückt." "Meine Mutter hat mir immer gesagt, wenn du dir von einem Mann Kleider kaufen lässt, erwartet er auch, sie dir, auszuziehen", erwiderte sie im Plauderton. "Das hast du getan." Nikolai erkannte endlich, wie ernst es ihr war. "Du glaubst doch diesen Unsinn nicht." Er war ganz blass. Lisa litt Höllenqualen. Nur eine Liebeserklärung hilft jetzt noch. "Das ist keine große Sache. Ich habe schon vielen Frauen Kleider gekauft." Lisa keuchte, als hätte man ihr den Todesstoß versetzt. "Nein, so habe ich das nicht gemeint. Lisa ..." Aber sie war schon fort. Lisa hetzte nach Hause. Sie schloss sich in der Wohnung ein, zog das Kabel aus dem Telefon und verschwand ins Bad, um sich den Duft des Schaumbads abzuwaschen. Vermutlich hatte Nikolai es extra für sie gekauft. Zur Benutzung vor oder nach der Verführung? fragte sie sich wütend. Wie sicher musste er sich seiner Sache gewesen sein! Ihr schauderte bei der Vorstellung. Das war schlimmer als alles, was Terry ihr angetan hatte. Sie hatte Terry nie vertraut. Zumindest nicht so, wie sie Nikolai vertraut hatte. Sie hörte auf, ihre Haut zu malträtieren, lehnte sich in der Wanne zurück und ließ den Tränen freien Lauf. Natürlich würde sie auch diesen Schlag überleben. Aber jetzt musste sie erst einmal den Schmerz herauslassen, bevor sie sich um die Verletzungen kümmerte, die Nikolai ihr beigebracht hatte.
Irgendwann stieg sie aus der Wanne, zog sich an und setzte sich unter einen Baum im Garten. Dort entdeckte Tatiana sie auch, die zwischenzeitlich überraschend Besuch von Nikolai erhalten hatte. Nachdem sie ihm den Zugang zu Lisas Wohnung verstellt hatte, hatte er ihr schließlich gestanden, dass sie von ihm weggelaufen war. "Dann geh, und denk darüber nach, bevor du versuchst, sie wiederzusehen." "Ich muss sie sehen", hatte er mit wildem Blick geantwortet. "Finde erst einen Weg, die Sache in Ordnung zu bringen. Und glaube nicht, mich einspannen zu können. Ich mische mich nicht in Liebesdinge ein." Sie hatte geschwiegen, und zu ihrer heimlichen Freude hatte er nicht protestiert. "Das musst du allein regeln", hatte sie ihm dann erklärt und ihn erbarmungslos verabschiedet. Als sie Lisa jetzt im Garten sitzen sah, beschloss sie, zu ihr zu gehen. Nicht um sich einzumischen, wie sie sich einredete, sondern aus Sorge. "Limonade?" fragte sie und hielt ihr ein Glas hin. "Ich mache im Sommer immer meine eigene. Wie war es in Glyndebourne?" "Prima, und nochmals vielen Dank." Tatiana setzte sich neben sie. "Hat Nicki seine Pflichten als Begleiter erfüllt?" Lisa lachte bitter auf. "Mehr als genug." "Oh." Sie schwieg einen Moment. "Er tut wohl manchmal etwas zu viel des Guten." Lisa reagierte nicht. "Natürlich weiß er immer genau, was er will", fuhr Tatiana im Plauderton fort und beobachtete Lisa verstohlen. "Mit fünf beschloss er, später Verhaltensforscher zu werden. Das hat er auch gemacht. Obwohl die Familie es lieber gesehen hätte, wenn er sich um die Weinberge gekümmert hätte." Er ist zielstrebig und unbeirrbar, dachte Lisa schaudernd, das hat er mir hinlänglich bewiesen. Sie hatte ihn immer wieder herausgefordert. Und wie hatte er es ihr heimgezahlt! "Vladi hat das dann übernommen. Er und Nicki standen sich sehr nah, obwohl sie ziemlich verschieden waren. Nicki war ernst, sein Bruder nicht. Vladi war immer von Mädchen umgeben." Flüchtig sah sie zu Lisa hin. "Nicki ist da anders. Er ist sehr kritisch." Ironisch blickte Lisa sie an. "Sie wollen doch nicht allen Ernstes andeuten, dass er nicht jede Frau bekommt, die er will?" Tatiana musste ihr Recht geben. "Aber er achtet Sie." "Ich nerve ihn." Das Eingeständnis tat weh, aber es zu machen schien ihr wichtig. "Ich will das nicht. Aber ich muss irgend etwas an mir haben, dass ..." Sie verstummte. "Das Tier in ihm weckt." Tatiana klang nicht erstaunt.
Lisa zuckte zusammen. Die Äußerung kam der Wahrheit viel zu nah. "Was auch immer. Es ist furchtbar. Ich schätze, er ist andere Frauen gewöhnt ..." Frauen, die selbstbewusst, weit gereist und bis ins Innerste ihrer strahlenden Schönheit kultiviert waren. "Frauen, die abwarten, bis der Mann im Restaurant für sie bestellt." Tatiana war verwirrt. "Wie bitte?" Lisa schüttelte den Kopf und stand auf. "Vergessen Sie es. Und vielen Dank für die Limonade." Während der nächsten Wochen mied Lisa jeden Kontakt mit ihrer Vermieterin, die Nikolais Anrufe aus Frankreich kurz und knapp beantwortete. Doch dann griff die Schicksalsgöttin ein. Als Tatiana nach einer Tanzstunde eilig den Raum verließ, glitt sie auf dem vom Putzen feuchten Flur aus und brach sich einen Fußknochen. Sie sagte dem Arzt, dass sie nicht laufen könne, sich auf dem Familiensitz in Frankreich pflegen lassen wolle und in ihrem Gesundheitszustand und Alter nicht allein dorthin fliegen könne. Dann gab sie ihm Lisas Telefonnummer in der Bank. Lisa hatte keine Wahl und rief wohl oder übel bei Nikolai an. "Lisa?" fragte er ungläubig. Das war nur zu verständlich. Sie hatte seine Anrufe abgelehnt und seine Briefe ungeöffnet zurückgeschickt. Natürlich musste er sich jetzt wundern. Sie hörte seine Stimme und begann zu zittern, als wäre er im gleichen Raum mit ihr. Ärgerlich auf sich, erzählte sie ihm in schon fast verletzend kühlem Ton, was anlag. Dann herrschte ein längeres Schweigen. "Was hast du ihr über uns erzählt?" fragte er schließlich. "Dass es kein Erfolg war." Diesmal war das Schweigen noch länger. "Ich verstehe." Er widersprach ihr nicht. "Wenn du sie herbringen kannst", sagte er schließlich bedächtig, "lasse ich euch in Toulouse abholen. Du brauchst dir auch keine Gedanken zu machen, dass du freundlich zu mir sein musst. Tatiana wird im Chateau meiner Großeltern wohnen. Ich habe ein eigenes Haus. Wir brauchen uns noch nicht einmal zu sehen." "Ich bin sehr beschäftigt und habe eigentlich keine Zeit." "Ein Wochenende würde genügen." Wenn er nur ansatzweise interessiert geklungen hätte, hätte sie sein Ansinnen abgelehnt. Aber er hörte sich so geschäftsmäßig an, als wäre nie etwas zwischen ihnen gewesen. "Okay, wir nehmen den letzten Flug am Freitag." Sie legte auf und wusste nicht, warum sie so frustriert war.
Langsam ritt Nikolai am Fluss entlang. Morgen würde Lisa kommen. Und was dann? "Das werde ich bald wissen", sagte er laut. Das Problem war, dass Lisa das Leben in St. Aubain kurz kennen lernen und hassen würde. Hier war alles dazu angetan, sie nervös und unsicher zu machen: sein kleines, gepflegtes Haus, das Chateau aus dem siebzehnten Jahrhundert mit den Antiquitäten, der Bibliothek und den Ställen und die zweifellos schönste Landschaft ganz Frankreichs. Er musste sich eine Strategie zurechtlegen. Lisa kam in dem Glauben, es wäre ihm egal, ob er sie überhaupt sah. Ich werde sie nicht bedrängen und besonnen und einfühlsam sein, nahm er sich vor. Er würde ihr zeigen, dass er bereit war, ihre Lasten mit ihr zu tragen, und auch schon einen Weg gefunden hatte, ihrer Schwester zu helfen. Aber vor allem würde er diesmal seine Leidenschaft zügeln. Tatiana war beleidigt, dass Nikolai sie nicht selbst vom Flughafen abholte, sondern den Taxifahrer von St. Aubain geschickt hatte. Nach einem kurzen Gespräch mit ihm war sie so ärgerlich, dass sie den bereitgestellten Rollstuhl übersah und in olympiareifem Tempo zum Wagen humpelte. "Nikolai wird nicht da sein, weil er arbeitet, und sie haben Gäste", erzählte sie Lisa aufgebracht, sobald sie im Auto saßen. "Eigentlich sollten sie wissen, dass ich als Rekonvaleszentin Ruhe brauche. Aber nein. Veronique Repiquet und ihr frisch angetrauter Mann sind aus Paris zu Besuch." "Mögen Sie V6ronique nicht?" Tatiana zuckte die Schultern. "Sie ist dumm." Als sie am Ziel ankamen, wurde schnell offenbar, weshalb sie die junge Frau ablehnte. Mit deren IQ hatte das überhaupt nichts zu tun. "Sie und Nikolai waren einmal zusammen, stimmt's?" fragte Lisa ruhig, als sie Tatiana aufs Zimmer begleitete. Sie war erstaunt gewesen, wie herzlich die Ivanovs sie begrüßt hatten. Natürlich waren sie ihr dankbar, dass sie Tatiana herbrachte. Aber das schien nicht der einzige Grund zu sein, denn Countess Ivanova hatte sie umarmt, als wäre sie eine lang verlorene Tochter. Nur Veronique hatte sich sehr reserviert gezeigt, und das hatte ihr zu denken gegeben. "Möglich", antwortete Tatiana widerwillig und ließ sich auf die Bettkante sinken. Lisa nahm ihr die Krücken ab und stellte sie in die Ecke. "War er gekränkt, als sie geheiratet hat?" fragte sie wie nebenbei. "Wer weiß schon, was ihn kränkt?" erwiderte Tatiana bissig, lehnte dann jede weitere Hilfe ab und legte sich beleidigt schlafen. Lisa hatte keine Lust, den restlichen Abend im Salon zu verbringen und Veronique zuzuhören, wie sie indirekt durchblicken ließ, dass in der Welt der
Ivanovs und Repiquets kein Platz für sie, Lisa, sei. So zog auch sie sich in ihr Zimmer zurück. Das Chateau mit all seinen Antiquitäten hatte ihr einen wahren Kulturschock versetzt. Auch ihr Turmzimmer war erlesen eingerichtet. Das Parkett blinkte, und in dem offenen Kamin stand eine große Kupferschale mit Rosen und Geißblattranken. Aber wie sollte sie nur in dem riesigen Himmelbett zur Ruhe finden, das eindeutig nicht nur für einen gedacht war? Und irgendwo auf dem Grundstück hielt sich Nikolai auf, wie die Ivanovs freimütig erzählt hatten. Nikolai, in dessen Armen sie so glücklich gewesen war. "Verdammt", fluchte Lisa und brauchte auch einige Stunden, bis sie endlich einschlief.
9. KAPITEL
Am nächsten Morgen kam Lisa erst spät zum Frühstück herunter. Nirgends war ein Mensch zu sehen. Nur Mut, ermahnte sie sich stumm und folgte ihrer Nase. Von irgendwoher duftete es köstlich nach frischen Croissants. Schließlich kam sie in die Küche, wo sich ihr zwei Frauen lächelnd zuwandten. Als sie feststellten, dass Lisa kein Französisch verstand, fassten sie sie an der Hand und führten sie an den Swimmingpool. Lisa blieb wie vom Donner gerührt stehen, als Nikolai sich zu ihrer Begrüßung erhob. Er musste vor kurzem schwimmen gewesen sein, denn seine von der Sonne tiefbraune Haut schimmerte noch feucht. Mein Geliebter. In ihrem Innern herrschte ein einziges Chaos. "Hallo, Lisa." Ihre Begleiterinnen sprachen kurz mit ihm. Er nickte, und sie gingen wieder. "Sie haben dir Croissants warm gehalten und machen frischen Kaffee", erklärte er. "In Ordnung?" "Vielen Dank", stieß sie mühsam hervor und setzte sich an einen Tisch, der vor einer üppig mit Bougainvilleen berankten Mauer stand. "Ich ... dachte, du wärst nicht da", sagte sie angestrengt. "Arbeiten", verbesserte er sie und klang nicht im Mindesten angespannt. Er setzte sich und lächelte sie an. "Ich war seit sechs auf dem Feld. Den Rest des Tages habe ich frei." "Ich wusste nicht, dass du ein Bauer bist." Sein Lächeln vertiefte sich, und sie spürte, wie ihre Haut zu kribbeln begann. Das macht er absichtlich, dachte sie mit erwachendem Ärger. "Du weißt überhaupt nicht viel von mir." "Ich hatte geglaubt, wir würden nie wieder Fremde sein." Kaum hatte sie das gesagt, erkannte sie, wie unklug das gewesen war. Denn sofort wurden die Erinnerungen an jene unvergessliche Nacht in ihr wach. Sie errötete und wandte den Blick ab. "Ich auch", erwiderte er leise. Sie fröstelte trotz des herrlichen Sonnenscheins. Entweder verbringe ich die nächsten zwei Tage damit, diesem Thema auszuweichen, oder ich stelle mich ihm gleich, dachte sie und atmete tief ein. "Ich habe dir schon einmal gesagt ... dass die sexuelle Anziehungskraft eine starke Droge sein kann. Das einzig Gute daran ist, dass sie sich verliert." "Tut sie das?" Typisch, dachte sie. Und sie hatte ihn gewarnt, dass sie mit allen Mitteln kämpfte! Wenn er es schaffte, fast nackt dazusitzen und sie anzusehen, als
erinnerte er sich an jede kleine empfindsame Stelle ihres Körpers. Und sich so anzuhören, als kümmerte ihn die ganze Angelegenheit. "Ja", antwortete sie kurz angebunden. Eine der Frauen kam mit einem Tablett zurück. Sie unterhielt sich ungezwungen mit Nikolai, während sie den Tisch deckte. Lisa sah ihr zu. Die Decke mit dem Spitzenrand musste ein Erbstück sein, und die Silberkanne sowie die Kaffeeschalen aus feinstem Porzellan würden jeden Sammler begeistern. Aber für Nikolai schien das nichts Besonderes zu sein. Und ich habe Sam erklärt, wir lebten auf demselben Planeten, dachte sie, der Verzweiflung nahe. Die Küchenfee schenkte ihnen Kaffee ein, nickte Lisa lächelnd zu und ging wieder, Nikolai nahm seine Tasse, schlenderte zu einem Vorsprung in der Mauer und setzte sich. "Was für ein zivilisierter Mann du bist", sagte Lisa ironisch und erwartete, dass er lachte oder etwas Schlaues in jenem verführerischen Ton erwiderte. Er runzelte die Stirn. "Ein zivilisierter Mann? Du meinst, ich unterdrücke meine Instinkte und verstecke meine Gefühle?" "Wie bitte?" "Das versteht man unter zivilisiertem Verhalten. Ich kenne mich aus. Das ist schließlich mein Fachgebiet." "Das hätte ich nie erraten." "Wären wir nicht zivilisiert, wäre vieles leichter. Ich würde deine Körpersprache lesen und du meine. Es gäbe keine Missverständnisse." Lisa verschränkte die Arme und wandte den Blick von seiner nackten Brust. "Ich dachte, Tiere würden alles Mögliche tun, um den Feind zu täuschen." "Aber wir sind keine Feinde." Sie betrachtete ihre Kaffeeschale. "Nein?" "Wie schaffe ich es, dass du mir vertraust?" Sie sah ihn an. Ihr Verlangen, ihn zu berühren, war so stark, dass es ihr wehtat. Schnell richtete sie den Blick auf das glitzernde Wasser im Pool. "In deinen Träumen", antwortete sie wütend auf sie beide und stand auf. Nikolai vertrat ihr den Weg. "Du hast mich nie richtig angehört." Er war genauso wütend wie sie, aber wesentlich beherrschter. "Du kannst es einfach nicht über dich bringen, einen Mann zu respektieren, stimmt's?" Ihr Blick verschwamm. Aber sie würde sich vor ihm nicht die Tränen aus den Augen wischen. Er hatte schon genug, worüber er triumphieren konnte. "Zeig mir etwas, das Respekt verdient. Dann hast du ihn." Seine Züge wurden weich. "Lisa, warum sind wir ..." Er verstummte, als er von jenseits der Lorbeerhecke hinter dem Pool Stimmen hörte. "Verdammt!"
Die Ivanovs kamen in Sicht. Sie waren in Begleitung von Veronique, die ein kurzes Designerkleid trug, das ihre Größe und langen Beine vortrefflich zur Geltung brachte. "Oh", sagte Countess Ivanova, als sie Nikolais Miene bemerkte, und verhielt den Schritt. Nicht so Veronique. Selbstbewusst schlenderte sie um den Pool, zog dann lässig das Kleid aus und zeigte sich in dem winzigsten Bikini, den Lisa je gesehen hatte. Sie wirkte darin wie eine Göttin. Kokett winkte sie Nikolai zu, ignorierte Lisa und verschwand im Wasser. Eilig trat Count Ivanov auf Lisa zu. "Sie sollten nicht ohne Hut in der Sonne sein, meine Liebe. Gehen wir hinein. Dort wird sich bestimmt ein passender finden." Er nahm sie am Arm und führte sie fort, noch bevor Nikolai protestieren konnte. "Möchten Sie sich das Haus etwas ansehen?" fragte er, als sie drinnen waren. Lisa war ihm unendlich dankbar. "Die Ivanovs haben sich immer für großartig gehalten, waren aber entsetzliche Opportunisten", sagte er, als er vor dem Porträt eines Mannes in einer Art Soldatenuniform stehen blieb. "Feodor. Er hat sein ganzes Geld verloren und eine Schneiderin geheiratet." Er schnitt seinem Ahnen ein Gesicht. "Sie hat die Uniform wohl nach dem Bild aus einem Märchenbuch angefertigt. Allerdings waren mit Bedacht geschlossene Ehen das Geheimnis des Überlebens. Viele ausländische Schwiegersöhne, falls die Zaren garstig wurden. Und das wurden sie regelmäßig." Er ging weiter und blieb vor einem Landschaftsgemälde aus dem achtzehnten Jahrhundert stehen, auf dem auch ein Gebäude zu sehen war, das eine kleinere Ausgabe des Chateaus sein konnte. "Nehmen Sie zum Beispiel dieses Haus", sagte der Count und bestätigte ihre Vermutung. "Ein Ahne war bei Hof in Ungnade gefallen. Also verheiratete er eine Tochter mit einem General Napoleons und, um auf Nummer Sicher zu gehen, eine andere mit einem Marquis des Ancien Regime. So ist das Chateau in die Familie gekommen. Er erwies sich auch als entsetzlicher Gauner", fügte er im Weitergehen grüblerisch hinzu. "Er hat Versailles einem Mann aus Massachusetts verkauft und musste aus Frankreich fliehen, als jener kam, um es in Besitz zu nehmen." Lisa lachte. "Ist das wahr?" "Vermutlich. Wir haben so einige Gauner in der Familie." Er fasste sie am Arm und führte sie um eine Ecke, hinter der ein gefährliches Hindernis in Gestalt einer großen Mingvase stand. "Nicki gehört nicht dazu", sagte er bedächtig.
Lisa blieb so unvermittelt stehen, dass es wirklich klug von ihm gewesen war, sie um das Erbstück herumzuführen. "Sein Bruder leider schon eher." Er seufzte. "Natürlich haben wir ihn geliebt. Aber Vladi war manchmal nicht gewissenhaft genug. Vor allem nicht bei Frauen. Nicki ist da anders." Lisa wurde es unbehaglich. "Count..." "Nennen Sie mich Pauli. Hier im Haus gibt es zu viele Counts. Vor allem wenn sich die ganze Familie trifft." "Also dann Pauli. Ich glaube nicht, dass Sie mit mir über Nikolai reden sollten." "Ich sage nichts, was ich nicht auch ihm schon gesagt habe", erwiderte er. "Nikolai und sein Bruder standen sich sehr nah, obgleich sie sehr verschieden waren. Nach Vladis Tod gab er sein bisheriges Leben auf und übernahm Vladis Verwalterrolle. Er arbeitet rund um die Uhr und hat alles so gut im Griff, wie sein Bruder es nie hatte. Aber er lässt niemanden an sich heran. Es scheint, als hätte er seine Gefühle mit einem Schloss versehen, an dem keiner rütteln darf." "Ich..." "Allerdings sage ich nicht, er sei ein Heiliger", fuhr Pauli unbeirrt fort. "Er hatte Freundinnen. Eine oder zwei wurden auch bestimmt von ihm verletzt. Er ist so heißblütig wie alle Ivanovs. Nur, keine hat sein Herz berührt. Aber er verspricht nie etwas, das er nicht halten kann. Und er lügt nicht." Es herrschte einen Moment drückendes Schweigen. "Aber er plant", platzte Lisa heraus. "Tut er das?" fragte der Count interessiert. "Die ganze Zeit. Und er beobachtet mich, als wäre ich eines seiner verflixten Tiere. Er könnte auch gleich ein Fernglas mitbringen." Pauli musste lachen, tarnte es aber geschickt als husten. "Ja, ich kann verstehen, dass das sehr ... beunruhigend ist." Er sah ihren rebellischen Gesichtsausdruck und beschloss, genug gesagt zu haben. "Lassen Sie uns einen Hut für Sie finden." Den restlichen Tag schienen sich Lisa und Nikolai zu meiden. In der Nacht fand sie kaum Schlaf, denn jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, meinte sie, seinen Blick zu fühlen und seinen Atem auf der Haut zu spüren. Sobald es hell war, stand sie entnervt auf und schlich sich aus dem Haus. Sie ging durch den herrlichen Garten auf den Hügel zu, der bereits in der Sonne lag. Noch bevor sie ihn erreicht hatte, begann ihr warm zu werden, denn in der Nacht hatte es sich kaum abgekühlt. Sie zog das Sweatshirt aus, band es sich um die Taille und ging in dem leicht ausgeschnittenen, ärmellosen Top weiter. Das Gelände stieg an, und irgendwann meinte sie, Wasser plätschern zu hören, und spürte, dass sie durstig war.
Schließlich hatte sie den Hügel erklommen. Sie sah hinunter ins Tal, durch das sich tatsächlich ein Fluss schlängelte, der gleichsam wie ein Silberband glänzte. Und auf der anderen Seite erhob sich majestätisch ein befestigtes Schloss, dessen Türme rosenrot leuchteten. Was für ein Anblick! Lisa vergaß, dass sie müde und durstig war. Sie setzte sich auf den staubigen Boden und genoss die faszinierende Aussicht. Wenn Nikolai doch jetzt hier wäre und das Erlebnis mit mir teilte, dachte sie plötzlich sehnsüchtig. Ihr Verlangen war so stark, dass sie meinte, er müsste es spüren. "So ein Unsinn", murmelte sie. "Du bist wohl zu lang ohne Hut in der Sonne gewesen." Aber sie war dann nicht wirklich erstaunt, als sie Pferdegetrappel hörte und Nikolai heranreiten sah. Ruhig blieb sie sitzen und lächelte ihm träumerisch entgegen, als hätte sie ihn erwartet. Er schwang sich aus dem Sattel, warf die Zügel über einen Strauch und hockte sich mit besorgter Miene neben sie. "Alles in Ordnung mit dir?" "Ich wollte, dass du das siehst." Ungeduldig blickte er ins Tal. "Ja, hübsch. Ich kaufe dir eine Ansichtskarte", sagte er gleichgültig. "Warum, in aller Welt, bist du so weggegangen? Ich habe gedacht, dir wäre etwas passiert." Lisa lächelte ihn an. "Ich glaube, das ist es auch." "Wie bitte?" Er beugte sich vor und betrachtete ihr Gesicht. Behutsam strich er ihr das Haar zurück, sodass er sie ungehindert ansehen konnte. "Bist du sicher, dass du in Ordnung bist?" Er klang besorgt. "Ich habe hier gesessen und dich herbeigewünscht. Und da bist du", antwortete sie selbstgefällig. "Natürlich bin ich in Ordnung." "Du solltest dergleichen nicht sagen, wenn du es nicht meinst", erwiderte er halb lachend, halb ernst. Er legte ihr einen Arm um die Taille und wollte ihr aufhelfen. "Kannst du nicht aufstehen?" Sie lächelte zu ihm hoch. "Bring mich dazu." "Oh Lisa", stöhnte er. "Hast du etwas gegessen, bevor du losgegangen bist?" Sie schüttelte den Kopf. "Oder getrunken?" "Nicht seit gestern Abend." "Okay. Zuerst brauchst du mehrere Liter Wasser." Er versuchte, sie hochzuziehen. "Kannst du reiten?" "Natürlich, Count Nikolai. Vor allem auf Schaukelpferden." Sie fand das ausgesprochen lustig, wiederholte es und schüttete sich aus vor Lachen, Er stellte sie auf die Beine und presste sie fest an seine Seite. Dann nahm er das Pferd am Zügel und machte sich an den Abstieg. Aber während das Tier ihm
gehorsam folgte, versuchte Lisa immer wieder, ihn anzuhalten, und wollte von ihm geküsst werden, wie sie ihm mehrfach erzählte. "Eines Tages ...", sagte er gereizt. Das Gelände wurde ebener. Hinter den Bäumen sah sie einen kleinen See, der von einem Bach gespeist wurde, dessen Plätschern sie wohl vorhin gehört hatte. Nikolai schleppte sie dorthin und ließ sie dann zu Boden gleiten. Er schöpfte mit den Händen etwas Wasser und hielt es ihr hin. "Trink." Sie folgte seiner Anweisung und merkte, wie durstig sie war. Schon kniete sie sich hin und trank direkt aus dem Bach, dessen Wasser köstlich schmeckte. Schließlich hatte sie genug und sah auf. Es war ihr, als würde sie aus einem Traum erwachen. Eher aus einem Alptraum, in dem sie sich total lächerlich gemacht hatte. "Oje." "Flüssigkeitsmangel führt zu seltsamen Reaktionen. Mach dir keine Gedanken. Du warst nicht verantwortlich für das, was du gesagt hast." "Aber ..." Scheu verschloss ihr die Lippen. "Oh, verdammt!" Sie ließ den Blick über den See schweifen, der malerisch in eine Lichtung eingebettet war. Vereinzelt drangen Sonnenstrahlen durch das dichte Blattwerk der Bäume und tanzten auf dem Wasser, dessen Oberfläche ansonsten ein dunkler Spiegel war. Schweigend standen sie beieinander. Ich will ihn, brauche ihn und sollte ihm das sagen. Aber Scheu verschloss ihr noch immer die Lippen, als wäre sie ein Teenager beim ersten Rendezvous. Sie verachtete sich zutiefst dafür, fühlte sich aber machtlos. Und Nikolai tat nichts, um ihr die Sache zu erleichtern. "Ich muss dich zurückbringen", sagte er schließlich mit angespannter Stimme. "Du hast dich überanstrengt." Er will mich nicht. Er musste wissen, was sie wollte. Sie hatte es ihm vorhin deutlich genug gesagt. Aber wie sein Großvater ihm erklärt hatte, versprach er nichts, was er nicht halten konnte. Vermutlich gehörte dazu auch, nicht zuzulassen, dass sich Frauen, die sich unglücklich in ihn verliebt hatten, unmöglich machten. Sie rang sich ein Lächeln ab. "Nicht nur ein zivilisierter, auch ein ehrenwerter Mann." Er schloss gequält die Augen. "Lisa ..." Aber sie hatte sich schon abgewandt. "Du hast Recht. Ich fühle mich ziemlich seltsam. Bring mich zurück." Widerspruchslos setzte er sie aufs Pferd und führte es zum Chateau. Lisa verschlief den schwülen Nachmittag, ließ sich dann aber überreden, mit der Familie und einigen Gästen etwas am Pool zu trinken.
"Wenn Sie nach dem Frauenschwarm Ausschau halten", sagte Veronique ärgerlich, "der ist weggefahren, um sich mit irgendeinem Wissenschaftler aus England zu treffen, der hier Urlaub macht. Als ob das nicht Zeit hätte ... Vor allem da Edmond gekommen ist, um mich heute Abend mit zurück nach Paris zu nehmen. Aber nein!" "Der Mann hat ihn angerufen und gesagt, er habe die Antwort auf seine Frage", erklärte Countess Ivanova begütigend. Sie tätschelte Lisas Hand. "Fühlen Sie sich wieder besser?" "Mir geht es gut", log sie und dachte, dass es ihr nie wieder gut gehen würde. Denn ihr war noch elender zumute als damals nach der Trennung von Terry. Weil ich Terry nicht geliebt habe, schoss es ihr durch den Kopf, und sie begann, leicht zu zittern, als ihr die Tragweite dieser Erkenntnis bewusst wurde. Dankend nahm sie den Champagnercocktail von Pauli an, trank aber keinen Schluck. Sie hörte der regen Unterhaltung zu, bekam jedoch nichts davon mit, auch wenn sie in Englisch geführt wurde. Ich liebe Nikolai. Es war wunderbar. Es war entsetzlich. Es war hoffnungslos. Aber zumindest würde sie jetzt für ihr restliches Leben wissen, was Liebe war. "Wir sind uns noch nicht vorgestellt worden", sagte Veroniques Ehemann. "Edmond Le Brun." Er schüttelte Lisa die Hand und setzte sich neben sie. "Wie ich gehört habe, sind Sie Bondhändlerin." Er war ausgesprochen nett und bezog sie durch Fragen nach ihrer Arbeit in die Gesprächsrunde mit ein. Schon bald erzählte sie ganz freimütig und brachte die Leute zum Lachen. "Das klingt nach viel Stress", meinte Pauli. "Wie hält man das aus?" "Zumeist mit Alkohol", antwortete sie ruhig. "Manche nehmen auch Drogen. Ausgelassen zu feiern ist unerlässlich. Aber die wirklichen Topleute bekommen einen solchen Kick, der besser ist als Alkohol, Drogen und Partys zusammen." "Und gehören Sie zu den Topleuten?" fragte Veronique boshaft. Lisa lächelte. "Ich war dieses Jahr die Beste." "Und brauchen Sie Alkohol und Drogen? Oder ist der Kick des Erfolgs genug?" "Sie tanzt." Niemand hatte Nikolai kommen sehen. Lisas Herz schlug sofort schneller. Er lächelte sie an, aber seine Augen waren die eines Fremden. "Sie tanzt wie ein Derwisch und kämpft wie ein Teufel, hat mich aber vorher gewarnt, wie ich fairerweise sagen muss. Stimmt's, Lisa?" "Stimmt", antwortete sie unbekümmert, aber in ihr sah es ganz anders aus. Das Herz lag ihr schwer wie ein Stein in der Brust.
Sie zog sich in sich zurück, aber niemand schien das zu merken. Es herrschte eine heitere Stimmung. Ein kaltes Büfett wurde aufgebaut und eröffnet, der Wein floss in Strömen, und auch für Musik war gesorgt. Veronique gesellte sich zu ihr. "Wir müssen aufbrechen", sagte sie, obwohl ihr Mann gerade mit der Tochter eines ortsansässigen Verlegers tanzte. "Es war schön, Sie kennen gelernt zu haben. Werden Sie auch zur Ernte hier sein?" Lisa schüttelte den Kopf. "Ich glaube nicht." "Wie schade. Da ist immer viel los." Lisa rang sich ein Lächeln ab. "Wirklich? Das klingt ganz nach Tradition." Veronique lachte rau auf. "Und die beste Tradition ist Nickis Anblick, wenn er sich auszieht und mit den Arbeitern anfasst. Einfach toll. Die Frauen kommen von nah und fern, um diesen Anblick nicht zu verpassen." Lisa hatte schon erkannt, dass Veronique boshaft war und Besitzansprüche an Nikolai stellte, obwohl sie frisch verheiratet war. Aber dennoch fühlte sie sich durch die Bemerkung verletzt Sie will mir zu verstehen geben, dass ich nur ein weiteres Mitleid erregendes Groupie bin, und vermutlich hat sie auch Recht. Sie sah zu Nikolai hin, der sie mit ernster Miene beobachtete. "Ich habe nur Tatiana begleitet", sagte sie etwas lauter als nötig. "Ich passe nicht hierher und möchte das auch gar nicht. Ich werde nicht zurückkommen." Er wandte sich ab.
10. KAPITEL
Lisa reiste am Sonntag absichtlich früh ab, bevor Nikolai ins Chateau kam. So konnte sie sich und ihm Peinlichkeiten ersparen. Nach dem gestrigen Vormittag musste er eigentlich wissen, dass sie ihn liebte. Auch wenn sie selbst das erst später erkannt hatte. Sein Verhalten war eindeutig gewesen: Er hatte nicht vor, sich weiter zu engagieren. Sie hatte verstanden und bewunderte ihn sogar in gewisser, verquerer Weise. Mit einer Frau zu schlafen, die wusste, was gespielt wurde, war eine Sache. Aber eine Frau zu küssen, die sich unglücklich in ihn verliebt hatte, eine ganz andere. Auf seine Art war Nikolai ein ehrenhafter Mann. "Zur Abwechslung grämst du dich mal über einen Ehrenmann", sagte sie zu ihrem Spiegelbild im Bad. "Jetzt musst du nur noch sehen, wie du über ihn hinwegkommst." Lisa tat in den nächsten Wochen ihr Bestes und empfand es als sehr hilfreich, dass sie beruflich entsetzlich eingespannt war. Sie flog zu einer Dringlichkeitssitzung von Napier Kraus nach New York und später zu einer Tagung nach Sydney, auf der die Ostasienkrise diskutiert werden sollte. Auch Nikolai arbeitete wie ein Wilder, um daheim alles Notwendige für die Zeit seiner Abwesenheit zu regeln. Und in jeder freien Minute bereitete er sich auf die Borneo-Expedition vor. "Ich fliege nach London, um das Team kennen zu lernen", informierte er seinen Großvater eines Tages. "So?" Kritisch sah Nikolai ihn an. "Sie sind alle schon gemeinsam unterwegs gewesen, ich nur mit Pinero. Wir müssen uns aufeinander einstellen." "Natürlich müsst ihr das." "Du bist ein alter Fuchs. Okay, Lisa spielt wieder verrückt und beantwortet keine meiner Nachrichten. In der Bank hat man mir gesagt, dass sie weg sei, diese Woche aber zurückkomme. Nur der Himmel weiß, ob sie überhaupt mit mir sprechen wird." "Was wirst du machen, wenn sie das nicht tut?" fragte Pauli interessiert. Er hatte Nikolai noch nie so erlebt. "Jagen, wie ich noch nie zuvor gejagt habe." Notting Hill rüstete sich zum alljährlich im August stattfindenden Karneval im karibischen Stil. Während Barrieren für den Festumzug aufgestellt wurden, verließen viele Anwohner das Viertel, um dem lauten Treiben an diesem langen Wochenende zu entkommen.
Würde Lisa mitfeiern oder auch vor dem Trubel fliehen? Nikolai wusste es nicht. Er hatte sie bis jetzt noch nicht erreicht. Also mietete er sich einen Wagen und bezog in der Nähe ihrer Wohnung Wache. Lisa fuhr direkt vom Flughafen zu ihrer Mutter. Joanne hatte sie morgens um vier Uhr in absoluter Panik angerufen. Als niemand ihr auf ihr Klingeln öffnete, holte sie den Schlüssel unter der Blumenschale hervor, um ins Haus zu kommen. Joanne saß am Küchentisch, der offenbar mehrere Tage nicht abgeräumt worden war. "Kit ist weg", stieß sie zur Begrüßung hervor. Lisas Temperament ging mit ihr durch. "Ja, danke, ich hatte einen guten Flug von Sydney. Und nein, ich bin überhaupt nicht müde." "Wie bitte?" Lisa hatte sich wieder im Griff. "Immer mit der Ruhe, Mum. Kit ist kein kleines Kind mehr. Wohin ist sie gegangen?" "Dieser Nick Ivanov oder wie immer er heißt..." "Nikolai? Woher kennst du ihn?" "Er ist hier gewesen und hat gesagt, er würde jemanden kennen, der sich mit Kits Problem befasst. Ich wollte nicht, dass sie mit ihm spricht, habe gemeint, es könnte gefährlich sein. Aber die Leute aus der Selbsthilfegruppe sagten» dass sie von ihm gehört hätten, er angesehen sei und keine Drogen oder dergleichen verabreichen würde. Und die ganze Zeit über hat er versucht, sie uns wegzunehmen..." Lisa war weiß wie die Wand. "Wer hat versucht, sie uns wegzunehmen? Nikolai?" "Nein, sein Bekannter. Ein Professor Soundso. Er sagt, sie müsse nur unabhängig sein. Wenn man weiß ..." Joanne begann zu weinen. "Okay, okay." Lisa tätschelte ihr den Rücken. "Heißt das, Kit ist mit diesem Professor auf und davon?" "Nein. Sie hat einen Job", stieß ihre Mutter verzweifelt hervor. "Sie hat mir eine Nachricht hinterlassen." Sie zog einen Zettel aus der Tasche, dessen Zustand darauf schließen ließ, das er schon oft gelesen wurde. "Das klingt in Ordnung", erklärte Lisa, nachdem sie ihn überflogen hatte. "Sie wohnt bei einem Freund und will dich anrufen, sobald sie eine feste Adresse hat." Ihr Blick fiel auf das Datum. "Mum, sie ist erst drei Tage weg. Hat sie sich schon bei dir gemeldet?" "Ja, aber..." "Dann hör auf, dir Sorgen zu machen. Sie wird schon zurechtkommen." "Du suchst sie, ja? Finde sie und veranlasse sie heimzukehren." Joanne war verzweifelt.
Lisa blickte ihre Mutter an, und plötzlich kam ihr eine Erkenntnis. Kit hatte jahrelang mit dieser erdrückenden Liebe gelebt. Kein Wunder, dass sie sich in sich zurückgezogen hatte. Warum hatte sie, Lisa, das nicht schon früher gesehen? "Ich fahre erst heim", antwortete sie ausweichend. "Wahrscheinlich hat sie mir eine Nachricht hinterlassen." Sie half ihrer Mutter auf und führte sie zur Treppe. "Warum nimmst du nicht ein Bad, während ich hier unten aufräume? Danach wirst du dich bestimmt besser fühlen." Nachdem Lisa Esszimmer und Küche in Ordnung gebracht hatte, war sie endgültig geschafft. Sie rief sich ein Taxi und schlief prompt auf der Heimfahrt ein. Deshalb nahm sie auch den Wagen und vor allem dessen Insassen nicht wahr, der schräg gegenüber Tatianas Haus parkte. Sie schleppte den Koffer die Stufen hoch, sperrte die Haustür auf und ging über die Schwelle, als sie hinter sich ein Geräusch hörte. Beunruhigt drehte sie sich um, reagierte aber aufgrund ihrer Müdigkeit zu langsam. Nikolai drängte sich in die kleine Diele und schloss die Tür hinter sich. "Du und ich, wir müssen reden." Ihre ohnehin zum Zerreißen angespannten Nerven gingen mit ihr durch. "Bist du ein Überwachungsfritze oder was? Verlass sofort mein Haus." "Tatianas Haus", erwiderte er leise. "Ich habe jetzt auch einen Schlüssel." "Sei nicht so herablassend." Sie war unerklärlicherweise den Tränen nah. "Ich kann Männer mit herablassendem Verhalten nicht ertragen." Er schüttelte den Kopf. "Von herablassendem Verhalten kann doch wohl nicht die Rede sein." "Jetzt geht es schon wieder los." Lisa konnte vor Wut kaum sprechen. "Ich schätze, das liegt am Kulturschock. Du hast bestimmt noch nicht viele Leute kennen gelernt, die gesellschaftlich so weit unter dir stehen wie ich." Durchdringend sah er sie an. "Meinst du, ich sollte mich dir gegenüber besser so benehmen wie dieser Terry Long in Glyndebourne? Oder wie dein Chef, der vor Eifersucht nicht mehr klar denken kann? Nach dem du dich aber dennoch verzehrst, oder? Du magst Männer, die dich schlecht behandeln? Ist es das?" "Niemand hat mich je so schlecht behandelt wie du", antwortete sie bebend vor Wut und merkte überhaupt nicht, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. "Du hast mich von Anfang an manipuliert. Du hast mir nachspioniert und mich listig dazu gebracht, dein verdammtes Kleid anzuziehen. Nur weil du diesen Plan hattest, mit mir zu schlafen." Nikolai war verblüfft. "Welchen Plan? Wovon redest du?" "Du hast es mir doch selbst erzählt! Du hast gesagt, dass du dir das vor Wochen versprochen hättest, du Mistkerl." "Du liebe Güte ... Deshalb der ganze Aufstand? Ich habe doch nur gemeint..."
Lisa ließ ihn nicht ausreden. "Raus! Du bist ein Lügner. Ich will dich nie mehr wieder sehen." Er war nun genauso aufgebracht wie sie. "Keine Sorge, ich gehe. Kein Wunder, dass du Männer verachtest, wenn sie dir solche Wutanfälle durchgehen lassen." Sekunden später machte er die Tür lautstark hinter sich zu. Lisa lehnte sich dagegen und weinte, bis ihr keine Tränen mehr kamen. Am nächsten Morgen stellte sie fest, dass ihr Anrufbeantworter voll besprochen war, und hörte ihn ab. Die meisten Nachrichten stammten von Nikolai und wurden immer drängender. Aber auch Kit hatte sich gemeldet. Wenn sie allerdings nicht ihren Namen genannt hätte, hätte Lisa die Stimme wohl nicht erkannt. Kit schien vor Lebensfreude überzuschäumen. Alles sei bestens, sagte sie, und dass sie am Sonntagmorgen zu ihr komme und mittags mit ihr Essen gehen wolle, um zu feiern. "Sonntag? Verflixt, das ist ja heute." Sie hatte noch nicht einmal den Koffer ausgepackt, geschweige denn angefangen zu waschen. Und da klingelte es auch schon an der Haustür. Nach einem Blick in Lisas Gesicht zog Kit die Schwester in die Arme. "Was ist los?" Lisa erzählte es ihr. Sie würde die Geschichte ohnehin nicht verheimlichen können, denn die Narben würden sie prägen. Aber Kit schien ihre Gefühle nicht wie gewohnt zu teilen. "Ich dachte, er wäre nett." Wütend sah Lisa sie an. Dann verließ sie jeglicher Widerspruchsgeist, und sie putzte sich die Nase. "Er ist wunderbar", sagte sie. "Dann triff ihn, und erklär ihm alles. Mit ihm kann man reden." "Nein, kann man nicht. Aber egal, das ist auch überhaupt nicht der Punkt. Das Entscheidende ist, Kit, er liebt mich nicht. Er ist der kultivierteste Mann in Europa. Ich kann ihm nicht im Mindesten das Wasser reichen." Der Jetlag machte Lisa zu schaffen, und so ging sie früh schlafen. Besorgt bot Kit an, über Nacht bei ihr zu bleiben. "Ich kann mich dann um deine Wäsche kümmern und dir morgen das Frühstück ans Bett bringen." "Vielen Dank", sagte Lisa gerührt. Kaum hatte sie sich hingelegt, war sie auch schon eingeschlafen. Sie hörte weder das Klingeln an der Haustür, noch dass Kit sie öffnete. Und sie bekam auch nichts von der anschließenden leisen Unterhaltung mit. Kit war hin und her gerissen. Einerseits empfand sie große Loyalität ihrer Schwester gegenüber, hielt andererseits Nikolai jedoch nicht für diesen
manipulativen Snob, als den Lisa ihn hingestellt hatte. Aber vor allem hatte sie das ungute Gefühl, dass sich die missliche Lage zwischen den beiden hauptsächlich deshalb ergeben hatte, weil die Schwester sie und ihre Mutter finanziell unterstützte. Nikolai wäre nie so argwöhnisch gewesen, wenn Lisa nicht den mittellosen Eindruck gemacht hätte. Kit schloss einen Kompromiss. Sie ließ Nikolai nicht in die Wohnung, weckte auch Lisa nicht auf, folgte Nikolai aber durch Tatianas Wohnzimmer in den Garten und hörte ihm zu. "Das Problem ist, dass Lisa Ihnen nicht glaubt, Sie würden sich wirklich für sie interessieren", sagte sie, nachdem er ausgeredet hatte. "Aber warum nicht?" "Wissen Sie", antwortete sie etwas beklommen, "es gab da einmal jemanden, dem sie nicht gut genug war." Nikolai fluchte und sah Kit dann mit fast verzweifeltem Blick an. "Helfen Sie mir." Lisa verstand absolut nicht, warum ihre sonst so zurückhaltende Schwester unbedingt zum Karneval wollte. "Ich möchte den Umzug sehen", sagte Kit entschlossen. Kurz nach Mittag machten sie sich auf den Weg. Lisa in kurzem, schwingendem Rock und schwarzem rückenfreiem Jersey-Top, und Kit in Shorts und T-Shirt, die sie sich von der Schwester geliehen hatte. Schon von weitem hörten sie die heißen Rhythmen, und Lisa reagierte unwillkürlich darauf, selbst wenn ihr eigentlich nicht nach Tanzen zumute war. Auch Kit hatte eine schöne Zeit. Sie tanzte ein wenig, aß begeistert karibische Spezialitäten und vergaß schließlich ihr Misstrauen und schloss sich mehreren Steelband-Groupies an. Lächelnd verfolgte Lisa, wie sie in der Menge verschwand. Sie trank noch eine Limonade und machte sich dann mit wiegenden Schritten auf den Heimweg. "Den tätowierten Schmetterling würde ich überall erkennen", hörte sie plötzlich jemanden mit rauem, sexy Lachen sagen, als sie den Trubel hinter sich gelassen hatte. Sie blieb augenblicklich stehen, drehte sich aber nicht um. Und dann wurde ihr bewusst, dass sie eigentlich die ganze Zeit mehr oder minder damit gerechnet hatte. Energisch richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf und marschierte buchstäblich weiter. Nikolai schloss im Nu zu ihr auf. "Komm und lass uns tanzen." Er trug ausgefranste Shorts und nichts darüber, wie sie empört bemerkte. Schnell wandte sie den Blick ab, ohne etwas zu erwidern. "Okay. Dann heirate mich."
Wütend sah sie ihn an. "Geh und such dir jemand anders, über den du dich lustig machen kannst." Sie war nicht mehr weit von dem kleinen Tor entfernt, hinter dem der von den Reihenhäusern abgeschirmte Gemeinschaftsgarten begann. Tatiana hatte ihr den dazugehörigen Schlüssel gegeben, den sie aber noch nie ausprobiert hatte. Problemlos schloss sie es auf, war dann aber nicht schnell genug, um Nikolai daran zu hindern, ihr zu folgen. Still lag der Garten in der Nachmittagssonne da. Kein Blatt regte sich an den Bäumen. In der flirrenden Luft hing der herrliche Duft von Rosen und Jasmin. "Niemand da", stellte Nikolai zufrieden fest. "Offenbar sind alle aufs Land geflohen." Sie sagte noch immer nichts, ging einfach nur weiter. "Lisa, wo oder wann habe ich etwas falsch gemacht?" Sie wandte sich ihm zu. "Gleich am ersten Tag", antwortete sie ernst. "Hör auf, mir etwas vorzumachen. Bitte." Er runzelte die Stirn. "Dir etwas vorzumachen?" "Ich entspreche nicht deiner Vorstellung. Das wissen wir beide. Verflixt, du hast das sogar gesagt." "Das habe ich nicht", erwiderte er empört. "Du hast gesagt, ich sei nicht weiblich", schrie sie ihn an. Nach einem Moment erinnerte er sich. "Aber das ist eine Ewigkeit her. Hattest du auf unserem Ausflug nach Glyndebourne den Eindruck, dass ich dich unweiblich fand?" Lisa errötete und ging eilig auf Tatianas Haus zu. "Das war etwas anderes." "Da bin ich aber froh, dass du das gemerkt hast." "Aber in Frankreich wolltest du mich nicht. Beim See ..." Sie presste die Lippen zusammen und ging unverändert schnell weiter. . Nikolai hielt sie an der Schulter fest und drehte sie zu sich herum. "Da warst du aufgrund des Flüssigkeitsmangels nicht mehr du selbst. Dachtest du, ich würde mich dann auf dich stürzen? Selbst wenn du das gewollt hättest?" Sie errötete. "Das wollte ich nicht. Das ..." Er zog sie so fest an sich, dass sie sein Herz hämmern spüren konnte. "Vorsicht", sagte er rau. "Ich bin langsam am Ende meiner galanten Zurückhaltung." "Du wärst nicht zurückhaltend, wenn du mich lieben würdest", schrie sie und versuchte, sich zu befreien. "So?" Er hielt sie noch einen Moment fest, bevor er sie behutsam hochhob. "Was tust du?" "Ich verliere den Kopf", antwortete er ruhig. Zielstrebig ging er auf eine dichte Rosenhecke zu, die ein kleines Stück Rasen umfriedete. Lisa hämmerte gegen seine nackte Brust. "Du findest alles witzig. Ich hasse dich. Ich hasse dich."
"Nein, das tust du nicht." Er zog sie mit sich auf das warme, weiche Gras. "Du hältst mich für verdorben." "Oh!" "Das beruht ganz auf Gegenseitigkeit. Und es ist an der Zeit, dass wir aufhören, das zu bekämpfen", sagte er und war plötzlich nicht mehr die Ruhe in Person. Er presste die Lippen auf ihren Mund Und erforschte ihn erbarmungslos. Lisa wehrte sich, auch wenn ihr Körper vor Verlangen zu brennen begann. Nikolai ließ die Hände unter das schwarze Top gleiten, ignorierte ihren wütenden Protest und liebkoste die wohlgeformten Brüste. Keiner von ihnen beiden hätte sagen können, wann sie sich zu bekämpfen aufhörten. Aber sie hatten schon Frieden geschlossen, als Lisa jeden Zentimeter seiner sonnengebräunten Haut mit Küssen bedeckte und an seiner Shorts zerrte. Oder als Nikolai sie etwas von sich schob und energisch sagte: "Heirate mich." "Nikolai", stöhnte sie qualvoll auf. "Entweder du heiratest mich, oder ich bringe dich auf der Stelle heim." Lisa schmiegte sich herausfordernd an ihn. "Ja?" Er schloss die Augen. Die Versuchung war riesengroß, aber er blieb standhaft. "Hochzeit oder nichts." Sie ließ die Hände ruhen. "Aber eine Heirat ist für immer", erwiderte sie unsicher. Seine Augen schienen sie zärtlich anzulachen. Oder war es gar Liebe, die sich in seinem Blick spiegelte? Diesen Ausdruck habe ich schon einmal bei ihm gesehen, dachte sie verblüfft. "Ja, das ist sie", bestätigte er leise. "Aber ich bin nicht dein Typ. Ich gehöre nicht in deine Kreise." Sie war so erschrocken, dass sie ihm ihre geheimsten Ängste offenbarte. "Du findest mich laut, rüde und nervtötend." Er zeigte ihr mit seinem Körper, wie er sie fand. Ihre Augen leuchteten. Aber sie konnte sieh und ihm die bittere Wahrheit nicht ersparen. "Terry war kein Count mit langer Ahnenreihe, und sogar er wusste, wie armselig ich war." "Sag so etwas nie wieder", stieß er leidenschaftlich hervor. Ihre Blicke begegneten sich. "Ich habe dich vom ersten Tag an gewollt", erklärte er mühsam. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als wurde das schwarze Top ihr zu eng. Ohne den Blick von ihm zu wenden, zog sie es aus. Nikolai sah ihr zu, schob dann behutsam und entschlossen zugleich den Rock beiseite und nahm sie in die Arme. "Und ich will dich jetzt so sehr, dass es wehtut." Seine Stimme klang gequält.
Sie hielten sich nicht länger zurück und ließen ihrer Leidenschaft freien Lauf. Es war ein Geben und Nehmen, bis sie sich schließlich in vollständiger Hingabe aneinander verloren. Später, viel später, strich er ihr den Rock glatt, küsste ihr Haar und erklärte ihr, dass es nun kein Zurück mehr gebe. "Aber..." "Und Schluss mit dem Unsinn, dass du nicht weiblich seist", sagte er kategorisch. "Noch weiblicher, das wäre mein Tod."
EPILOG Es war eine wunderbare Hochzeit. Da waren sich alle einig. "Habe ich dir nicht gesagt, dass Veroniques Heirat eine gute Übung war", flüsterte Countess Ivanova ihrem Mann ins Ohr. "Ich hätte das nie geschafft, wenn ich nicht all die Namen und Telefonnummern gehabt hätte." Pauli tätschelte ihr die Hand. Warum sollte er ihr sagen, dass seiner Meinung nach weder Nikolai noch Lisa das irgendwie gekümmert hätte. Als die Septembersonne langsam hinter dem Weinberg verschwand, ließ Lisa den Kopf an Nikolais Schulter sinken. "Ich habe das Gefühl, als gehörte ich jetzt hierher." Er legte den Arm noch fester um sie. "Ja." ' "Also ... gehörst du jetzt zu mir?" Sie war noch immer unglaublich scheu. "Solange ich lebe." Zufrieden seufzte sie auf. Sie kannte ihn inzwischen und wusste, dass sie ihm absolut vertrauen konnte. Was machte es schon aus, dass er es nicht schaffte, die drei Worte auszusprechen. Nikolai räusperte sich wie ein ungeübter Redner. "Lisa, mein Schatz, ich liebe dich", erklärte er eindringliche Es klang wie ein Schwur.
-ENDE