Achim Hiltrop präsentiert
Folge 11: Wahnsinn (#1 von 2) Lord Cecil Hutton starrte mit offenen Augen an die Zimmerdecke...
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Achim Hiltrop präsentiert
Folge 11: Wahnsinn (#1 von 2) Lord Cecil Hutton starrte mit offenen Augen an die Zimmerdecke. Sein Körper, dessen Haut einen gesunden rosigen Farbton angenommen hatte, war nackt. Nur ein dünnes weißes Laken bedeckte seine Lenden. Das Fenster seines Schlafzimmers stand offen. Der stetige Regen prasselte gegen die Scheibe, lief daran herab und sammelte sich in Pfützen auf dem teuren Parkett der vornehmen Villa, die in einer teuren Straße in Belgravia lag. Sergeant Archibald Moore setzte sich auf die Bettkante und beugte sich behutsam über Lord Hutton, bis sein Gesicht nur noch einen Zoll vom Mund des Adligen entfernt war. Dann schnupperte er vorsichtig daran. "Nun, Sergeant?" fragte Doktor Ebenezer MacKinnon. Archibald seufzte theatralisch, als er sich wieder aufrichtete. "Sie hatten recht, Doktor." "Blausäure?" "Blausäure", grollte Archibald. Der schwache, aber unverkennbare BittermandelGeruch, der noch immer dem Mund des Toten entströmte, war ein eindeutiges Indiz für eine Vergiftung mit Blausäure. "Dann müssen wir ja nur noch den Täter ausfindig machen." Der Gerichtsmediziner räumte seine Utensilien wieder in sein Köfferchen ein. "Aber das ist ja Ihr Job, nicht wahr?" "Gewiß", nickte Archibald. "Und ich habe auch schon eine Vermutung." MacKinnon hielt ihn am Ärmel fest, als er aus dem Zimmer stürmen wollte. "Nicht so eilig, lieber Herr Kollege. Sie haben etwas vergessen." Archibald brummte eine Verwünschung, kramte mit finsterer Miene in seiner Manteltasche und drückte dem Arzt schließlich einen zerknitterten Geldschein in die Hand. "Ich wette nie wieder mit Ihnen, Doktor!" MacKinnon grinste. "Ich gebe Ihnen eine Chance, Ihr Geld zurück zu gewinnen. Ich wette, daß es der Butler war." Archibald schnaubte verächtlich. "Sie meinen, weil er sich so auffallend zuvorkommend um Lady Hutton gekümmert hat, als wir hier ankamen? Ja, ich hatte auch schon den Gedanken, daß die beiden etwas miteinander haben könnten. Um das zu erkennen, muß man kein Kriminalist sein, Doktor." "Zweifelsohne." MacKinnon ließ gleichgültig seinen Koffer zuschnappen. "Wo wir gerade von Kriminalisten reden, wie geht es eigentlich Ihrem Kollegen, Sergeant Mirth? Ich habe ihn ja schon seit Tagen nicht mehr gesehen." Seit zwei Wochen, korrigierte Archibald ihn in Gedanken. Colin ist jetzt seit zwei Wochen nicht zum Dienst erschienen. "Er hatte einen Trauerfall in der Familie. Das hat ihn sehr mitgenommen. Ich wollte ihm gleich einen Besuch abstatten – sobald wir mit Lady Hutton und ihrem Butler fertig sind." *
Colin Mirth Archibald Moore pochte an die Tür von Colins Haus, bis ihm die Finger weh taten. Dann betätigte er die Türglocke. Nachdem auch dies nichts brachte, verlegte er sich wieder aufs Klopfen. Nach rund zehn erfolglosen Minuten im strömenden Regen gab er es auf. Colin Mirth war entweder nicht zu Hause – oder er war daheim, wollte aber keinen Besuch empfangen. Genau wie an den dreizehn Tagen zuvor. Das letzte Mal, daß Archibald seinen Kollegen gesehen hatte, war an dem Abend gewesen, an dem Abdul starb. Er und Colin waren im Red Lion gewesen und hatten Unmengen von Bier in sich hineingeschüttet. Wann und wie er in dieser Nacht eigentlich nach Hause gekommen war, wußte Archibald nicht mehr. Verdrossen gab er der Haustür einen kräftigen Fußtritt. Dann drehte er sich um und stieg die Treppe zum Bürgersteig hinab. Durch das Prasseln des Regens hörte er kaum, wie sich hinter ihm die Tür öffnete. "Archie!" Archibald wirbelte herum und sprang mit einem Satz die Treppe hinauf. Zum einen wollte er die offene Tür erreichen, ehe Colin es sich anders überlegte und ihn wieder aussperrte – zum anderen wollte er aber auch einfach aus dem Regen ins Trockene kommen, und zwar so schnell wie möglich. "Das hat aber lange gedauert", brummte er, als an Colin vorbei ins Innere drängte. "Ich dachte schon, Sie wollten erst abwarten, wieviel Regenwasser mein Körper aufzunehmen in der Lage ist." "Entschuldigen Sie, Archie", sagte Colin kleinlaut. "Ich hatte Sie zu spät gehört. Ich hatte geschlafen." "Geschlafen?" Archibald zog ungläubig die Brauen hoch, als Colin ihm Mantel und Hut abnahm. "Zu dieser Stunde?" Colin hängte die Sachen seines Kollegen an die Garderobe. "Warum, wie spät ist es denn?" Archibald zog seine Taschenuhr hervor und warf einen prüfenden Blick darauf. "Äh, genau halb fünf. Sie könnten schon mal das Teewasser aufsetzen, mein Freund." "Ich trinke keinen Tee", erinnerte Colin ihn. Dann lächelte er müde. "Aber wenn Sie eine Tasse möchten, mache ich Ihnen gerne eine. Ich glaube, in der Küche ist noch irgendwo ein wenig Tee übrig. Warten Sie, ich schaue mal nach." * Archibald beugte sich skeptisch über die Teetasse, die Colin ihm wenig später anbot. "Stimmt etwas nicht?", fragte Colin und nahm in einem der beiden Sessel Platz, welche vor dem Kamin standen. "Ich habe noch nie einen Tee mit einer solchen Farbe gesehen", brummte Archibald verunsichert. Er roch prüfend daran. "Und mit einem solchen Aroma." "Souvenir von Nakamura-san", erklärte Colin lapidar und nippte an seinem Kaffee. Archibald probierte den Tee und verzog das Gesicht wie ein Weinkenner, der einen ihm unbekannten Wein zum ersten Mal goutiert. "Und mit einem solchen Geschmack", ergänzte er nach einer Pause. "Japanischer Tee unterscheidet sich in einigen Punkten von dem, was Indien hierher exportiert", belehrte Colin ihn. "Und dieser hier heißt...?" Colin dachte kurz nach. "Sencha, glaube ich. Warum, wollen Sie sich welchen kaufen?" Seite 2
Colin Mirth "Nein. Ich frage nur, damit ich ihn in Zukunft vermeiden kann", murmelte Archibald und nahm einen weiteren Schluck von dem Gebräu. "Sencha. So, so..." Eine Weile saßen sie sich schweigend gegenüber. Sie nippten ab und zu an ihren Tassen und sahen nachdenklich in das Kaminfeuer. "Also", sagte Archibald nach einer Weile, "wie fühlen Sie sich?" Colin zuckte gleichgültig mit den Achseln. "Wie sollte ich mich fühlen?" "Nun ich meine, wie fühlen Sie sich jetzt? Es sind jetzt zwei Wochen her, daß Abdul... äh... Sie wissen schon..." Archibald rang hilflos nach Worten. Gestorben war das falsche Wort für jemanden, der die letzten sechshundert Jahre als verwunschener Flaschengeist in einer gläsernen Phiole zugebracht hatte. So gesehen war Abdul schon vor langer Zeit gestorben; nun allerdings hatte er auch als Geist aufgehört zu existieren. "Was soll ich Ihnen sagen?", seufzte Colin, "Abdul und ich standen uns sehr nah. Wir haben zusammen eine Menge erlebt und uns gegenseitig mehr als einmal aus sehr brenzligen Situationen gerettet. Habe ich Ihnen von der Sache in Paris erzählt?" Archibald schüttelte den Kopf. "Er war wie ein Bruder für mich", fuhr Colin fort, "und ich weiß nicht, wie ich ohne ihn weitermachen soll." Archibald stellte seine Tasse weg und sah seinem Kollegen fest in die Augen. "Ich weiß, was Sie durchmachen. Mir ging es genau so wie Ihnen, als Ellie damals gestorben ist." "Ich weiß", sagte Colin leise. "Und letztes Jahr um diese Zeit, kurz bevor Sie zu uns versetzt wurden, ist Sergeant Wilkes erschossen worden. Wir hatten zuvor jahrelang zusammengearbeitet, und ich denke, auch wir waren wie Brüder immer für einander da", sagte Archibald. Colin sah ihn überrascht an. Archibald seufzte. "Ich glaube, der Inspector hielt es für eine gute Therapie für mich, mir Sie als neuen Partner zuzuteilen. Und heute weiß ich, daß er recht hatte." Colins Mundwinkel zuckten nach oben. "Was wollen Sie mir damit sagen, Archie?" "Daß das Leben weitergeht", rief Archibald, "Sie können sich nicht ewig in ihrem Kummer vergraben und sich in Ihrem Haus einschließen. Sogar MacKinnon hat schon nach Ihnen gefragt!" Trübselig sah Colin ins Feuer. "Ich kann nicht, Archie." Archibald räusperte sich. "'Zu beharren in eigenwill'gen Klagen, ist das Tun gottlosen Starrsinns, ist unmännlich Leid!'", intonierte er. "Hamlet, 1. Akt, 2. Szene", antwortete Colin wie aus der Pistole geschossen. "Sie haben recht, Archie. Das heißt, König Claudius hat recht. Lassen Sie mich mal ausschlafen, dann komme ich morgen wieder zum Dienst und bin ganz der Alte." "Habe ich Ihr Wort darauf?", fragte Archibald mißtrauisch. "Habe ich jemals—", begann Colin, ehe ihn die Türglocke unterbrach. Archibald und Colin standen gleichzeitig auf. "Erwarten Sie jemanden?", fragte Archibald. "Eigentlich nicht", entgegnete Colin ratlos. "Sehen wir doch nach." Als er die Haustür öffnete, stand zu seiner großen Überraschung seine Schwester Emily vor ihm. * Archibald überließ Emily Mirth seinen Sessel und begnügte sich mit einem Stuhl, den ihm Colin vom Eßtisch herübergeholt hatte. "Nun, Liebes", begann Colin, "was führt dich nach London?" Seite 3
Colin Mirth Emily ließ ihren Blick von Colin zu Archibald wandern. "Das ist eigentlich eine Angelegenheit zwischen meinem Bruder und mir, Sergeant Moore." Archibald hob abwehrend die Hände. "Ich wollte ohnehin gerade gehen, Miss Mirth." "Bleiben Sie sitzen", sagte Colin ein wenig schärfer, als es hätte klingen sollen. "In meinem Haus entscheide ich, wann meine Gäste gehen, Emily." "Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Sergeant", beeilte Emily sich zu sagen, "es ist nur so, daß ich mit Colin unter vier Augen reden möchte." "Ich kann auch so lange draußen warten", bot Archibald an. "Es wird aber länger dauern", entgegnete Colins Schwester schnippisch. "Schluß jetzt, Emily", sagte ihr Bruder barsch. "Ich habe vor meinem Kollegen keine Geheimnisse. Wenn du etwas zu sagen hast, kannst du es ebenso gut jetzt und hier sagen." Archibald schnappte hörbar nach Luft. Seit dem Eklat beim letzten gemeinsamen Weihnachtsfest der Familie Mirth in Birmingham, zu dem er eingeladen gewesen war, hatte sich der Tonfall zwischen Colin und seiner jüngeren Schwester deutlich abgekühlt. "Also schön", zirpte Emily pikiert. "Colin, ich möchte Deine Schülerin werden." Colin sah sie ausdruckslos an. Wenn er von ihrer Erklärung überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken. "Und weiter?" "Was weiter?" Sie stutzte. Offensichtlich hatte sie mit einer anderen Reaktion ihres Bruders gerechnet. "Der Geheimdienst hat keine Abteilung mehr, die sich mit paranormalen Phänomenen beschäftigt. Die bisherigen Agenten dieses Ressorts sind in alle Winde verstreut. Bei Scotland Yard, meinem jetzigen Arbeitgeber, hält man nichts davon. Und selbst wenn eine dieser beiden Stellen Bedarf an Geisterjägern hätte, so bezweifle ich doch, daß man dafür ein junges Mädchen einstellen würde, Emmy. Was willst du also mit deinen Fähigkeiten tun? Auf dem Jahrmarkt in einer Schaubude auftreten?", fragte er spöttisch. Emily schluckte. "Ich könnte... ich könnte Menschen helfen." "So?" Colin verschränkte langsam die Finger. "Wie denn?" Emilys Gesicht verfinsterte sich. Sie sprang auf und drohte ihm mit dem Finger. "Ich weiß, was dein Problem ist, Colin. Du duldest niemanden neben dir, der dir Konkurrenz machen könnte. Du willst unbedingt der einzige Mensch mit paranormalen Fähigkeiten in England sein, du eingebildeter Affe!" Colin ging nicht auf die Provokation ein, dafür kannte er seine Schwester zu gut. Er blieb ruhig sitzen und schaute sie ausdruckslos an. "Ich denke, jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für dich, zu gehen", sagte er dann langsam. Emily rang nach Luft. "Ist das dein letztes Wort?", schrillte sie. Er nickte knapp. "Mein allerletztes." Seine Schwester stampfte mit dem Fuß auf und rauschte wutschnaubend aus dem Zimmer. Wenige Augenblicke später fiel die Haustür mit einem lauten Knall hinter ihr ins Schloß. Archibald, der den Wortwechsel der Geschwister sprachlos verfolgt hatte, atmete tief durch. "Sie hätte sich wenigstens anständig verabschieden können, finden Sie nicht?" Colin seufzte. "Ich weiß nicht recht, Archie. Könnte es sein, daß ich einen Fehler gemacht habe?" "Einen Fehler?" Archibald lachte heiser. "Reden Sie keinen Unsinn, mein Freund! Wir haben beide gesehen, was die junge Dame damals beinahe angerichtet hatte, als sie die Formeln von diesem... diesem..." "Euridicus."
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Colin Mirth "Euridicus, genau, in die Finger bekommen hat. Nein, Colin, Sie haben richtig gehandelt", beruhigte Archibald ihn, "machen Sie sich da mal gar keine Sorgen." Colin zuckte mit den Achseln. "Wie Sie meinen, Archie." * Als Archibald am nächsten Morgen sein Büro betrat und die druckfrische Ausgabe des Daily Mirrors auf seinen Schreibtisch warf, war Colins Platz noch immer leer. Archibald stutzte und sah auf die Uhr. Hatte Colin sich lediglich verspätet, oder würde er etwa heute wieder nicht zum Dienst erscheinen? Normalerweise war er ein Mann, der seine Versprechen hielt... Er hatte gerade Platz genommen und die Zeitung aufgeschlagen, als es an der Tür klopfte und Doktor MacKinnon in den Raum spähte. "Guten Morgen, Doktor", rief Archibald. "Guten Morgen, guten Morgen", murmelte der Gerichtsmediziner zerstreut und sah sich verlegen um. "Entschuldigen Sie bitte. Ich hatte gesehen, wie jemand das Büro betrat, und dachte, es wäre vielleicht Sergeant Mirth." "Das war dann wohl ich", stellte Archibald fest, "warum?" "Weil heute morgen schon jemand hier war und nach ihm gefragt hat. Darum." "Jemand?" Archibald legte die Stirn in Falten. "Ja, eine junge Dame. Dem Akzent nach definitiv nicht aus London. Birmingham, vielleicht, oder noch weiter nördlich." Die Erkenntnis traf Archibald wie ein Blitz. "Emily Mirth!" Der Doktor zuckte mit den Schultern. "Schon möglich. Warum?" Archibald sprang auf. "Wo ist sie jetzt?" "Sie... äh... hat mich gefragt, wo das Büro des Vorgesetzten von Sergeant Mirth ist. Ich habe sie daraufhin zu Inspector Pryce geschickt. Hätte ich das nicht tun sollen?" * "Was Sie nicht sagen", murmelte Inspector William Pryce und strich sich nachdenklich über seinen Bart. "Das ist ja höchst bemerkenswert." "Ich mache mir wirklich große Sorgen um ihn", sagte Emily Mirth und tupfte mit einem geblümten Taschentuch eine Träne aus ihrem Augenwinkel. "Er ist der einzige Bruder, den ich habe." "Er ist auch ein sehr guter Polizist", versicherte Pryce ihr, "ich meine, er war bisher ein vorbildlicher Polizist. Und er hatte auch einen sehr guten Einfluß auf seinen Kollegen, Sergeant Moore. Aber wenn das zutrifft, was Sie sagen, braucht Ihr Bruder dringend Hilfe." "Sie könnten mir keine größere Freude machen, als sich darum zu kümmern", flötete Emily und stand auf. Pryce gab ihr galant einen Handkuß. "Sie können sich ganz auf mich verlassen, Miss Mirth." * Archibald Moore erreichte das Büro des Inspectors, als sich Pryce gerade von Emily Mirth verabschiedete. Beide drehten sich zu ihm um, als er näherkam. "Guten Morgen, Miss Mirth. Guten Morgen, Inspector", sagte er und warf Colins Schwester dabei einen mißbilligenden Blick zu. "Hätten Sie einen Moment Zeit für mich, Sir?" Seite 5
Colin Mirth "Ich wollte eben gehen", sagte Emily kühl. "Leben Sie wohl, Inspector. Auf Wiedersehen, Sergeant Moore." "Auf Wiedersehen." Pryce verneigte sich leicht. "Wiedersehen", brummte Archibald und drängte an ihr vorbei in das Büro seines Vorgesetzten. Als Emily gegangen war, zog Pryce die Tür zu. "Ich wußte gar nicht, daß Mirth eine so hübsche Schwester hat", bemerkte er, während er zu seinem Schreibtisch zurückging. "Wirklich, ganz reizend. Abgesehen von ihrem Akzent. Aber nun zu Ihnen, Sergeant. Was wollten Sie doch gleich?" "Ich würde gerne", sagte Archibald finster, "wissen, was Miss Mirth von Ihnen wollte, Sir, wenn Ihnen meine Bitte nicht zu indiskret erscheint." Pryce seufzte schwer. "Ganz im Gegenteil. Ich hätte mich jetzt umgehend an Sie gewandt, wenn Sie mir nicht zuvorgekommen wären. Sagen Sie, wie lange kennen Sie Sergeant Mirth jetzt?" Archibald blinzelte überrascht. "Nun, seit Sie ihn mir als meinen neuen Kollegen zugeteilt haben, Sir. Das war im November des letzten Jahres. Warum fragen Sie?" Pryce schürzte die Lippen. "Es fällt mir nicht leicht, mit Ihnen darüber zu reden, Sergeant Moore, und ich bitte Sie um Verständnis hierfür, daß das, was ich jetzt sage, diesen Raum unter keinen Umständen verlassen darf." Archibald nickte. "Sie können sich auf mich verlassen, Sir." "Danke, Sergeant. Ist Ihnen in den elf Monaten, in denen Sie mit Sergeant Mirth zusammengearbeitet haben, irgend etwas an ihm aufgefallen? Etwas... nun ja... Absonderliches?" Archibald rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Was zum Henker hatte Emily Mirth dem Alten erzählt? "Ich weiß nicht recht, ob ich Ihnen folgen kann, Sir." "Nun ja...", Pryce kraulte sich nachdenklich seinen eisengrauen Bart, "Sie haben mir doch erzählt, daß Sergeant Mirth seit einigen Tagen unpäßlich ist, weil ihn ein Todesfall in der Familie sehr mitgenommen hat. Richtig?" Die Haare in Archibalds Nacken richteten sich auf. Oh-oh... "Das ist jedenfalls mein letzter Kenntnisstand, Sir." "Nun, es wird Sie interessieren zu hören, daß es in letzter Zeit erfreulicherweise gar keine Todesfälle in der Familie Mirth gab", fuhr Pryce fort, "und Miss Mirth als die engste Familienangehörige des Sergeants sollte das ja wohl am Besten wissen, finden Sie nicht?" "Sie wollen damit sagen, daß einer von beiden die Unwahrheit sagt", stellte Archibald vorsichtig fest. "Nun, mein erster Gedanke war auch der, daß Sergeant Mirth uns diese Geschichte vom Todesfall in der Familie nur als Vorwand erzählt hat, weil ihn ein anderes Leiden plagt und ihn davon abhält, hier seinen Dienst zu verrichten", sagte Pryce, "aber irgendwie sähe ihm das gar nicht ähnlich." "Ja, Sir. Ganz meiner Meinung... Aber..." "Doch wissen Sie, was mir Miss Mirth soeben berichtete? Sie sagte, sie sei gestern bei ihrem Bruder gewesen – und er hätte ihr gegenüber einen sehr verwirrten Eindruck gemacht", sagte Pryce besorgt. "Das kann ich so nicht bestätigen", wandte Archibald ein, "ich war nämlich gestern abend zufällig bei Sergeant Mirth daheim, als seine Schwester ihn besuchen kam. Soweit ich es als Laie zu beurteilen in der Lage war, war Sergeant Mirth durchaus Herr seiner selbst!" Pryce massierte sich die Schläfen mit den Fingerspitzen. "Dann haben Sie auch nicht beobachtet, daß Sergeant Mirth mit einem imaginären, blau leuchtenden Geistwesen gesprochen hat, welches sein kranker Verstand ihm vorgaukelte?" Seite 6
Colin Mirth Archibalds Gesicht verfinsterte sich. Emily wußte ja nichts davon, was aus Abdul geworden war. Sie hatte den Flaschengeist nur einmal in Begleitung ihres Bruders gesehen – und versuchte nun offenbar, den Inspector davon zu überzeugen, daß Colin verrückt war. Nachdem Colin sich geweigert hatte, sie in den magischen Künsten des Euridicus zu unterrichten, hatte sie es sich wohl zum Ziel gesetzt, ihn bei seinem Vorgesetzten zu diskreditieren. "Nein, Sir, ich habe nichts dergleichen beobachtet", antwortete er wahrheitsgemäß, "Sergeant Mirth hat sich gestern zu keinem Zeitpunkt in Begleitung irgendeiner Geistererscheinung gewähnt. Das kann ich beeiden!" "Dann steht Aussage gegen Aussage, was das betrifft", konstatierte Pryce. "Die Aussage seiner eigenen Schwester, die ihn sehr gut kennen sollte, gegen die Aussage seines engsten Kollegen, der ihn ebenfalls sehr gut kennen sollte. Sie machen es mir nicht leicht, Sergeant." "Ich hatte nicht die Absicht, Ihnen Schwierigkeiten zu machen, Sir." "Das weiß ich. Aber so, wie die Dinge liegen, kann ich Sergeant Mirth erst wieder bei Scotland Yard willkommen heißen, wenn er sich einer gründlichen Untersuchung unterzogen hat", seufzte Pryce. Archibald riß die Augen auf. "Sie wollen ihn zu einem... einem Irrenarzt schicken?" "Ich bitte Sie", sagte Pryce beschwichtigend, "niemand will Sergeant Mirth einfach wegsperren. Wir leben im neunzehnten Jahrhundert, Sergeant Moore! Seit den Tagen von John Conolly hat die moderne Psychiatrie faszinierende Fortschritte gemacht. Warten Sie nur ab." * Die Droschke kam im spätnachmittäglichen Verkehr nur langsam voran. Archibald fluchte leise in sich hinein. Hätte er doch nur die Untergrundbahn genommen! Die war zwar schmutziger, aber deutlich schneller als das altmodische Pferdefuhrwerk. Er saß auf glühenden Kohlen. Nachdem Colin entgegen seiner festen Zusage erneut der Arbeit ferngeblieben war, mußte Archibald ihn dringend von den Geschehnissen des heutigen Tages in Kenntnis setzen. Sein Kollege mußte unbedingt wissen, was ihm bevorstand! "Wir sind da, Sir", rief der Kutscher, als die Droschke endlich zum Stillstand gekommen war, "Ecke Tottenham Court Road und Grafton Street." Archibald sprang aus der Kutsche und drückte dem Fahrer schnell einige Münzen in die Hand. "Stimmt so." Dann hastete er die Stufen zur Haustür hinauf und pochte an die Tür. Zu seiner Überraschung war die Tür nur angelehnt. Archibald stutzte. Er stieß die Tür auf und betrat den Hausflur. "Colin?" Keine Antwort. Hier stimmte etwas nicht. Er zog seinen Revolver und ging vorsichtig weiter. Vielleicht waren Einbrecher hier gewesen... vielleicht waren sie sogar noch im Hause... Im Kaminzimmer bot sich ihm ein Bild, das seine schlimmsten Befürchtungen bestätigte. Hier hatte ganz offensichtlich ein Kampf stattgefunden; Colins Lieblingssessel lag umgestürzt auf dem Boden, die gläserne Tischplatte des Salontisches war zersplittert, und die Decken und Kissen, die normalerweise geordnet auf der Chaiselongue lagen, waren überall im Zimmer verstreut. Und vom Eigentümer des Hauses fehlte jede Spur.
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Colin Mirth Archibald ließ seine geschulten Augen über die Vitrinen wandern, die im Kaminzimmer und den Nachbarräumen standen. Dort schien auf den ersten Blick nichts zu fehlen; die silbernen Kerzenleuchter waren ebenso vollzählig wie die diversen Souvenirs, die Colin aus allen Teilen der Welt mit nach London gebracht hatte. Auch die Bilder hingen alle noch an den Wänden, nirgendwo verriet eine hellere Stelle auf der Tapete einen fehlenden Bilderrahmen. Archibald sicherte seine Waffe und steckte sie weg. Er war zu spät gekommen. Wer immer hier gewütet hatte, er war schon weg. Und es schienen keine gewöhnlichen Einbrecher gewesen zu sein – es hatte vielmehr den Anschein, daß Colin entführt worden war. In Gedanken ging Archibald die Liste derjenigen durch, die einen Grund haben könnten, Colin zu entführen. Kardinal Jean-Baptiste LeBlanc? Möglich, aber unwahrscheinlich. Die Worthingtons? Archibald schauderte. Nein, es mußte jemand anderes sein. Wer auch immer ihn entführt haben mochte, würde sich aber zwangsläufig irgendwann melden und ein Lösegeld fordern. Und die einzige in London lebende Person, die wohlhabend genug war, Lösegeld für Colin zahlen zu können, war... Archibald schnippte mit den Fingern. ... seine Tante. Früher oder später würde sich jemand bei Phoebe Carmichael melden und Lösegeld fordern, keine Frage. Archibald mußte unbedingt mit ihr sprechen. * "Mrs. Carmichael, Sie haben Besuch." Phoebe Carmichael setzte ihre Teetasse ab und sah von der Unterhaltung mit ihrem Sohn Peter auf. "Bitte?" Ihr Butler Mortimer hüstelte verlegen. "Besuch, Madam." Phoebe schüttelte mißbilligend den Kopf. "Mortimer, ich habe bereits Besuch, wie Sie sehen. Meinen Sohn, den ich seit über einem Jahr nicht gesehen habe. Ich kann im Moment leider niemanden empfangen." "Sehr wohl, Madam." Mortimer nickte. "Aber der Gentleman ist von Scotland Yard, Madam. Soll ich ihn trotzdem bitten, später wiederzukommen?" "Von Scot— warum sagen Sie das nicht gleich?" Phoebe sprang auf und tätschelte Peters Arm. "Das wird Colin sein, vermute ich." Peter Carmichael strich die Falten seiner Kapitänsuniform glatt. "Das wäre das erste Mal seit Jahren, daß Colin und ich mal gleichzeitig in London sind. Für gewöhnlich legen wir ein enormes Talent an den Tag, uns um wenige Stunden zu verpassen." Wenige Augenblicke später führte der Butler dann Archibald Moore herein. Phoebe ging ihm lächelnd entgegen. "Mein lieber Sergeant Moore, welche Überraschung. Darf ich Ihnen meinen Sohn Peter vorstellen?" Archibald registrierte die Streifen und Abzeichen auf den Ärmeln und Schultern von Peters Uniformjacke und salutierte steif. "Guten Abend, Captain. Es ist mir ein Vergnügen." Peter stand vom Sofa auf und schlenderte zu Archibald und Phoebe herüber. "Ganz meinerseits, Sergeant." Er reichte Archibald die Hand und drückte fest zu. "Was führt Sie her, Sergeant?" fragte Phoebe. Archibald atmete tief durch. "Mrs. Carmichael, wann... äh... wann haben Sie Ihren Neffen zum letzten Mal gesehen?" Phoebe wurde kreidebleich. "Gütiger Himmel... ist Colin etwas zugestoßen?"
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Colin Mirth Archibald gelang es nur mit Mühe, seine Ungeduld zu verbergen. "Das versuche ich gerade herauszufinden", entgegnete er. "Also, es ist bestimmt zwei Wochen her", sagte sie unsicher. Dann tippte sie Archibald vor die Brust. "Natürlich! Sie beide waren doch noch hier und haben mir erzählt, daß Sie dienstlich zur Barnet Fair gehen sollten. Wissen Sie das etwa nicht mehr?" Archibald nickte. Unmittelbar danach hatte Colin Abdul verloren. In den vergangenen zwei Wochen hatte er also auch keinen Kontakt zu seiner Tante gehabt. "Was ist mit Colin?", fragte Peter Carmichael besorgt. "Das weiß ich nicht", antwortete Archibald. "Ich habe ihn gestern abend noch gesehen, da ging es ihm gut. Als ich heute nachmittag zu ihm ging, stand die Haustür offen, und im Kaminzimmer habe ich Anzeichen dafür gefunden, daß ein Kampf stattgefunden hat. Und Colin war nicht mehr da." "Oh, wie entsetzlich", hauchte Phoebe. "Einbrecher", mutmaßte Peter, "Schockschwerenot!" "Das war auch mein erster Gedanke. Aber scheinbar ist nichts gestohlen worden. Das läßt eigentlich nur den Schluß zu, daß man Colin entführt hat", sagte Archibald finster. "Entführt... mein Gott!" Phoebe setzte sich mit aschfahlem Gesicht wieder hin. "Es könnte sein, daß die Entführer versuchen, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, Mrs. Carmichael", fuhr Archibald fort. "Mit mir?" "Sie sind seine nächste Verwandte in London. Sie sind, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, wohlhabend. Es wäre naheliegend, daß sich dieses Gesindel von Ihnen ein Lösegeld erhofft", folgerte Archibald. Peter Carmichael ging nachdenklich auf und ab – eine Angewohnheit, die Archibald plötzlich schmerzhaft darauf hinwies, wie sehr sich Colin Mirth und sein Cousin ähnelten. "Was Sie sagen, entbehrt nicht einer gewissen Logik, Sergeant..." "Danke, Captain." "... aber es setzt voraus, daß die Entführer über die Beziehung zwischen den Familien Mirth und Carmichael bestens im Bilde sind", fuhr der Marineoffizier fort. "Angesichts der unterschiedlichen Familiennamen würde ich annehmen, daß man uns schon recht gut kennen muß, um zu dem gleichen Schluß zu kommen wie Sie." Archibald zwirbelte nervös seinen Schnurrbart. "Ich verstehe, Captain. Aber sagen Sie, Mrs. Carmichael, Sie und Ihr Neffe sind doch auch gemeinsam in der Öffentlichkeit gesehen worden, oder nicht?" Phoebe zuckte mit den Achseln. "Colin war so freundlich, mich im letzten Jahr einige Male zu gesellschaftlichen Anlässen zu begleiten. Er hat Ihnen doch sicher von dieser gräßlichen Mumienparty erzählt, auf der wir waren?" "Ja, ja", Archibald nickte eifrig, "aber können Sie sich vorstellen, daß irgend jemand aus dem Kreis der Personen, denen Sie dabei begegnet sind, dringend Geld braucht? Jemand, der so verzweifelt ist, daß er eine Entführung inszeniert, um an Geld zu kommen?" Phoebe seufzte. "Sergeant, mindestens die Hälfte der besseren Gesellschaft Londons ist bis über beide Ohren verschuldet. Die Liste wäre endlos. Haben Sie eine Ahnung, was es heißt, Underwriter bei Lloyd's zu sein und ein versichertes Schiff in einem Taifun zu verlieren?" Archibald schüttelte den Kopf. "Als Underwriter sind Sie im Schadensfall persönlich haftbar. Wenn die Versicherung zahlen muß, stehen Sie mit Ihrem ganzen Vermögen dafür ein." Sie fröstelte. "Wenn Sie mal Lord Aldritch begegnen sollten, können Sie ihn gerne mal nach seinen Erfahrungen fragen."
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Colin Mirth * Colin erwachte mit Kopfschmerzen. Sein Bewußtsein flutete in Wellen in seinen Körper zurück. Mit jeder Welle nahmen die Schmerzen zu. Nicht nur sein Kopf schmerzte, sein ganzer Körper tat ihm weh. Er fühlte sich wie gerädert. Genauer gesagt, er fühlte sich, als hätte man ihn verprügelt. Dieser Gedanke driftete eine Weile in seinem schmerzenden Kopf herum. Man hatte ihn verprügelt! Er erinnerte sich an einen schweren Gegenstand, der ihn am Hinterkopf getroffen hatte. An der Stelle, wo die Quelle seiner Schmerzen zu sein schien. Behutsam tastete seine Hand danach. Er ertastete eine mächtige Beule unter seinem Haaransatz und zog stöhnend die Hand zurück. Colin versuchte, sich an das zu erinnern, was davor geschehen war. Sie waren zu dritt gewesen. Drei Kerle, groß wie Kleiderschränke, mit haarigen Armen, schlechten Zähnen und Nasen, die aussahen, als wären sie schon unzählige Male gebrochen gewesen. Typische Schlägervisagen. Sie hatten auf ihn eingeprügelt. Im Kampf war es ihm gelungen, einem von ihnen das Genick zu brechen. Das hatte die anderen beiden nur noch wütender gemacht. Sie hatten immer und immer wieder auf ihn eingeschlagen. Weil... Jede Bewegung, selbst das Atmen, tat weh. Colin bildete sich ein, jeden blauen Fleck und jede Schürfwunde an seinem Körper fühlen zu können. Wenigstens schien nichts gebrochen zu sein. Er entspannte sich und ließ seine Gedanken wieder zu dem Handgemenge zurücktreiben. Sie hatten ihn verprügelt, weil... Weil... Weil er nicht mitkommen wollte. Er hatte sich geweigert, mit ihnen mit zu gehen. Und zwar... Er schluckte. Emily! Emily war dort gewesen. Sie hatte ihn besucht und ihn erneut gebeten, sie auszubilden. Er hatte sich natürlich geweigert. Daraufhin hatte sie Anstalten gemacht zu gehen, doch als er ihr die Haustür hatte öffnen wollen, waren plötzlich diese drei Grobiane hereingestürzt. Zunächst hatte er geglaubt, seine Schwester verteidigen zu müssen. Erst nach einigen gezielten – und sehr schmerzhaften – Fausthieben war ihm klar geworden, daß der unangemeldete Besuch ihm selbst galt. Daraufhin hatte er sich auf die Kampftechniken besonnen, die er in Japan seinerzeit erlernt hatte. Einen der drei Angreifer hatte er so unwiderruflich ausschalten können. Doch die beiden anderen hatten unfair gekämpft und ihn schließlich überwältigt. Er fragte sich, was aus Emily geworden war. Sie war zwar ein kleines Biest, aber sie war trotz allem seine Schwester... Er konnte nur hoffen, daß die Männer sie nicht angerührt hatten. Wo bin ich eigentlich? Er schlug die Augen auf. Er lag auf einer hölzernen Pritsche und starrte geradewegs auf eine schmutzige, unverputzte Wand aus rauhen Steinen. Es war kalt und zugig, und es roch nach Urin. Colin fröstelte.
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Colin Mirth Langsam drehte er sich um, wobei ihn jeder einzelne Muskel daran erinnerte, was mit ihm geschehen war, ehe er das Bewußtsein verloren hatte. Die Decke bestand aus schmutzigen Holzbohlen, die vor langer Zeit einmal weiß lackiert gewesen sein mochten. Von der Farbe waren aber nur noch vereinzelte Reste übrig geblieben, das meiste mußte schon vor Jahren abgeblättert sein. Colin bemerkte, daß sein Atem eine feine weiße Spur in der Luft zurückließ. Es war wirklich empfindlich kühl hier! Vorsichtig stemmte er seinen Oberkörper hoch. Ehe ihm die Schmerzen wieder die Sinne raubten, gelang es ihm, sich halb herumzudrehen und den Rücken an die Wand zu lehnen. Schwer atmend blieb er so sitzen und kämpfte gegen die nahende Ohnmacht an. Nach einer Weile verschwanden die schwarzen Flecken vor seinen Augen, und er konnte den Kopf ohne neue Schwindelgefühle drehen, um den Rest seines Aufenthaltsortes in Augenschein zu nehmen. Drei der vier Wände waren aus Stein gemauert. Die vierte hingegen bestand aus dicken, schmiedeeisernen Stangen. * Archibald stieß die Tür zum Büro des Inspectors auf und blieb atemlos auf der Schwelle stehen. "Sir", schnaufte er, "Sergeant Mirth ist verschwunden. Ich befürchte, daß man ihn entführt hat!" Pryce sah von einem Telegramm auf, das er gerade gelesen hatte. "Was reden Sie da, Sergeant Moore? Sergeant Mirth ist nicht entführt worden." Archibald stutzte. "Sir?" Pryce schüttelte mitleidig den Kopf und reichte Archibald das Telegramm. "Lesen Sie", sagte er mit trauriger Stimme. Archibald griff nach dem Papier und überflog den Inhalt. Je weiter er las, desto mehr zitterten seine Hände. Gegen Ende glitt das Telegramm aus seinen kraftlosen Fingern und segelte anmutig zu Boden. "Bedlam?", fragte er heiser. Pryce seufzte schwer. "Es gibt nichts, was ich dagegen tun könnte, Sergeant. Sie ist immerhin seine leibliche Schwester. Wenn sie es für richtig hält und sie einen Arzt findet, der ihre Meinung teilt, ist die Sachlage klar." Archibalds Gesicht verfärbte sich. "Sie kann ihn doch nicht einfach so einweisen lassen!" "Das Bethlem Royal Hospital ist eine angesehene Nervenheilanstalt, kein Irrenhaus", beruhigte Pryce ihn, "ganz gleich, was die Leute sagen." "Bedlam", wiederholte Archibald fassungslos. "Bethlem Royal Hospital", korrigierte Pryce ihn geduldig, "Sie werden sehen, die bekommen unseren guten Sergeant Mirth wieder hin." * Colin ging unruhig in seiner Zelle auf und ab. Noch immer schmerzte jede Bewegung. Inzwischen war er davon überzeugt, daß sein enormer Muskelkater nicht nur eine Folge der Schläge war, welcher er hatte einstecken müssen. Wahrscheinlich hatte ihn man anschließend noch mit irgendwelchen Drogen ruhiggestellt, die sein Stoffwechsel nun nach und nach abbaute. In diesem Fall war ein wenig Bewegung das Beste, was er
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Colin Mirth tun konnte, um diesen Prozeß zu beschleunigen. Auch, wenn es Überwindung kostete, auf den Beinen zu bleiben. Er war so sehr mit sich und seinen verhärteten Muskeln beschäftigt, daß er zunächst seinen Besucher gar nicht bemerkte. Erst als sich der Mann, der an der Gittertür stand, leise räusperte, nahm Colin ihn war. "Wie ich sehe, geht es Ihnen schon besser", sagte der Fremde mit einem betont gütigen Lächeln. "Mir würde es noch besser gehen, Sir, wenn ich wüßte wo ich bin und warum man mich hergebracht hat", entgegnete Colin ungehalten, "und wer Sie sind." "Ich bin Doktor Charles Silverman", stellte sich der hagere Mann vor, "und ich bin der stellvertretende Leiter dieses Instituts." Colin legte die Stirn in Falten. "Und dieses Institut ist...?" Silverman lächelte unbeirrt weiter. "Sie befinden sich im Bethlem Royal Hospital, Mister Mirth. Seien Sie unbesorgt, Sie sind in guten Händen." Eine unsichtbare Hand schien Colins Kehle zuzudrücken. Das Bethlem Royal Hospital war eine überregional bekannte Nervenheilanstalt... allerdings kannte es der Volksmund eher unter dem verballhornten Namen Bedlam. In den finsteren Tagen vor dem Beginn der modernen Psychiatrie war Bedlam zu trauriger Berühmtheit gekommen, weil es seinerzeit seine bemitleidenswerten Insassen vor zahlendem Publikum zur Schau gestellt hatte wie Tiere in einem Zoo. Colin zweifelte keinen Augenblick daran, daß er in einer von den Zellen saß, in denen damals psychisch Kranke von johlenden Schaulustigen verspottet und beschimpft worden waren. "Ich weiß, was Sie jetzt denken", sagte Silverman milde, "und ich kann Ihnen versichern, daß unser Institut heutzutage über ganz reizende Krankenzimmer verfügt. Sie können bei uns lesen, musizieren, Bilder malen... was immer sie wollen, und was auch immer Ihnen hilft, Ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden." Colin sah sich fröstelnd um. "Und diese Zellen?" "Ach, die", winkte Silverman ab, "die sind eigentlich nur für die ganz harten Fälle. Als Sie gestern eingeliefert wurden, waren Sie nicht sehr kooperativ. Wir mußten Ihnen daher eine Spritze geben, und da wir nicht wußten, wie Sie reagieren würden, wenn Sie aufwachten, haben wir Sie vorsichtshalber erst mal hier schlafen lassen." Colin versuchte, sich an das, wovon Silverman sprach, zu erinnern – doch sein Gedächtnis ließ ihn im Stich. Er hatte keine Erinnerung an seine Ankunft in Bedlam. Die Medikamente, die man ihm eingeflößt hatte, hatten ganze Arbeit geleistet. "Aber wenn Sie mir versprechen, brav zu sein, dürfen Sie mit mir nach oben kommen", versprach Silverman und winkte Colin mit einem klimpernden Schlüsselbund. Colin verschränkte abwartend die Arme. "Und wann darf ich nach Hause?" Silverman blinzelte verdutzt. "Nun, wenn Sie geheilt sind, möchte ich meinen." "Hören Sie, Doktor", sagte Colin leise und trat näher an die Gefängnistür heran, "ich weiß nicht, was man Ihnen über mich erzählt hat, aber ich bin nicht verrückt!" "Nun, Mister Mirth, falls es Sie beruhigt: verrückt ist keiner unserer Patienten", entgegnete der Psychiater pikiert, "wir bevorzugen den Ausdruck hilfsbedürftig." "Natürlich. Hilfsbedürftig", beeilte Colin sich zu sagen, "genau das bin ich nicht! Ich bin Polizeibeamter im Morddezernat von Scotland Yard und ehemaliger Agent des Secret Service. Meinen Sie, ich hätte das alles erreicht, wenn ich nicht ganz richtig im Kopf wäre?" Silverman schürzte die Lippen. "Ich verstehe", sagte er langsam, "ja, ich verstehe." "Gut", sagte Colin erleichtert. Sein Lächeln erlosch, als Silverman den Schlüsselbund wieder in seiner Hosentasche verschwinden ließ. "Ich denke, es wird das Beste sein, Sie bleiben vorerst noch hier." Seite 12
Colin Mirth * "Emily hat was getan?", fragte Phoebe Carmichael entsetzt. "Bedlam", wiederholte Archibald geduldig, "sie hat ihren Bruder in Bedlam eingewiesen. Zu Unrecht und aus Boshaftigkeit, wie ich vermute." Phoebe sah hilfesuchend ihren Sohn an. "Peter, meine Güte, wir müssen doch etwas tun!" "Es gibt nichts, was wir tun können", sagte Archibald zerknirscht. "Emily Mirth ist seine Verwandte ersten Grades. Sie hat offenbar irgendeinen Arzt bestochen, der ihr eine Unterschrift auf einem Gefälligkeitsgutachten gegeben hat. Und danach hat sie London mit unbekanntem Ziel verlassen. Die einzigen Menschen, die ihn da herausholen könnten, sind Emily... oder Colins Eltern." "William und Elizabeth sind im Moment auf Jamaica", sagte Phoebe mit zitternder Stimme, "auf ihrer Plantage. Es wird Wochen dauern, bis sie die Nachricht bekommen." "So lange können wir nicht warten", widersprach Peter energisch. "Wir müssen ihn da herausholen." Archibald zwirbelte nachdenklich seinen Schnurrbart. "Ich teile Ihre Ansicht, Captain Carmichael. Doch wie wollen wir das anstellen?" Peter klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. "Keine Sorge, Sergeant Moore. Ich kenne genau den richtigen Mann für diese Art von Vorhaben!"
Demnächst: "Wahnsinn" (#2 von 2)
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