Nr. 139
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Nr. 139
Wanderer aus der Vergangenheit Er kommt aus einer anderen Zeit – und erwacht in einem fremden Körper von Hans Kneifel
Tsopan, der Planet der Bewußtseins-Forscher, der im Jahre 10 497 v. A., also zur Blütezeit des arkonidischen Imperiums, die etwa dem 9. Jahrtausend vor Christi Geburt entspricht, eine wichtige Rolle spielte, ist längst untergegangen. Die Nachfolger der skinischen Wissenschaftler, die seinerzeit das Bewußtsein des jungen Kristallprinzen Atlan speicherten und konservierten, um es in aler Ruhe zu studieren, sind in ihrem Forschungsdrang zu weit gegangen, als sie Experimente mit Antimaterie anstellten. Und so kam es, wie es zwangsläufig kommen mußte: Die Skinen starben, weil sie die Gewalten, mit denen sie spielten, nicht bändigen konnten. Zwar verging der Planet Tsopan mitsamt seinen Bewohnern, aber ein Teil des Erbes der Skinen konnte der Nachwelt dennoch überliefert werden. Jetzt, im März des Jahres 2843 irdischer Zeitrechnung, werden Raumfahrer aus den Reihen der Galaktischen Händler mit dieser Hinterlassenschaft konfrontiert – mit dem WAN-DERER AUS DER VERGANGENHEIT …
Wanderer aus der Vergangenheit
3
Die Hautpersonen des Romans: Curs Broomer - Ein junger Mann verwandelt sich in einen anderen. Cessiana und Warton Broomer - Curs Broomers Eltern. Broltanvor - Patriarch einer Springersippe. Friinkojes - USO-Agent auf dem Planeten Suskor. Ancra - Ein Mädchen von Suskor. Chart Huskins – Beauftragter des Lordadmirals der USO.
1. Es waren Tausende und aber Tausende Sterne, die auf ihn herunterstarrten. Er fühlte wieder einmal die gleiche Faszination; es gab kein besseres Leben, als sich im großen Raumschiff zwischen diesen fernen Sonnen zu bewegen. Trotz seiner siebzehn Jahre wußte Curs, daß ihn dieses Leben glücklich machte. Er war der geborene Sternenhändler, einer der vielen Personen, die in Walzenschiffen durch den Kosmos streiften und zwischen den vielen Planeten und Planetenvölkern handelten und vermittelten. Eine dunkle, befehlsgewohnte Stimme drang aus den Kopfhörern des leichten Raumanzugs. »Wie weit, Curs?« »Noch etwa dreißig Minuten!« sagte der junge Techniker. Er klebte mit den magnetisierten Sohlen der Anzugstiefel an der Außenhülle des sechshundert Meter langen Schiffes. »Beeile dich. Wir steuern Suskor an und landen bald! Sind ohnehin schon zu lange im Bremsflug!« »Selbstverständlich!« gab Curs zurück. In den winzigen Lautsprechern knackte es abschließend. Vorsichtig zog Curs einen zweiten Schraubenschlüssel aus einer der Anzugtaschen. Langsam zog sich die federnde Halterung auseinander. Beim letzten Start waren nur einige Sekunden lang die Schirmfelder der BROLTAN-VOR III nicht eingeschaltet gewesen. Die Geschwindigkeit eines zufälligen und seltenen Meteors oder eines anderen Stückes, vielleicht eines Stückes Abfall aus einem Schiff, hatten sich addiert und in dieser winzigen Zeitspanne in die Hülle der
BROLTANVOR eine lange Schramme gerissen und zwei hydraulisch ausfahrbare Stabantennen abgeschnitten. Eine Antenne war bereits wieder erneuert und befestigt, die zweite saß locker in dem Gewinde, das voller Spezialfett war. Ich muß mich beeilen, dachte Curs. Schnell und sicher hantierte er mit dem Spezialwerkzeug und versuchte, die Antenne richtig zu befestigen und sämtliche Anschlüsse fertigzustellen. Der junge Springer war ein breitschultriger und muskulöser junger Mann, der älter und reifer wirkte, als es seine siebzehn Jahre erwarten ließen. Im Gegensatz zu seinem Vater würde er nicht nur ein guter Händler werden, sondern auch ein Mann, der gute Musik, kultivierten Stil und eine gewisse Aufgeschlossenheit für alle künstlerischen Dinge schätzen gelernt hatte. Aber der junge Mann mit den roten, gelockten Haaren und roten Augen, dem Zeichen des starken arkonidischen Erbguts, war ebenfalls ein begeisterter und tüchtiger Techniker. Deswegen war er hier an der Außenhaut des dahinrasenden Walzenschiffs und reparierte die Antennenanlage. Curs Broomer, dachte er, wieder allein mit den beängstigenden und gleichzeitig begeisternd schönen Sternen, der Stille und der Dunkelheit des planetennahen Weltraums, du bist ein glücklicher Junge. Mit präzisen Bewegungen befestigte er die letzten Schrauben, sicherte die Teile des eiskalten Metalls und führte das dick isolierte Kabel in die Ventilöffnung der äußersten Schicht der Schiffshülle. Curs Broomer war ebenfalls ein Angehöriger der Sippe des Schiffseigners Broltanvor. In zehn Minuten würde er wieder in der warmen Geborgenheit des Schiffes sein, das auf die freie Han-
4 delswelt Suskor zusteuerte. Die Sonne wurde von der mächtigen Masse des Schiffes abgedeckt, aber weit voraus sah Curs die kleine Scheibe des Planeten. Seine Scheinwerfer, die sich im Helm, an der Schulter und am Gürtel befanden, leuchteten das Metall des Springerschiffes in genau abgezirkelten Kreisen aus. Es gab keinerlei Zwischentöne, nur stechend hell und nachtschwarz. Eine Hand sicherte den Techniker, die andere tastete umher und sammelte die Werkzeuge ein. Die langen Werkzeugtaschen füllten sich. Das Werkzeug war kostspielig und durfte nicht verloren werden. Endlich hatte er alles eingesammelt und drehte sich herum. Die Lichtkreise überschnitten sich. Saubere Arbeit, dachte er vergnügt. Die Sender und Empfänger werden wieder erstklassig funktionieren. »Hier ist die Steuerkanzel. Alles klar, Curs?« fragte die Stimme des Patriarchen dieser kleinen Springersippe, die ein Teil einer freiwillig zusammengeschlossenen Gruppe war. Die Gruppe war der Schrecken aller Institutionen. »Es ist alles klar. Ich bereite mich auf den Einstieg vor!« gab Curs zurück. »Werde ich in der Schleuse erwartet?« »Selbstverständlich. Die Linsen sind auf dich gerichtet.« »Danke, Patriarch. Ich komme.« »Gut.« Zwischen einem Haken in Curs Nähe und der Schleuse spannte sich ein langes Seil, ein isolierter und beheizter Stahlkern. Curs schloß die Taschen seines breiten Werkzeuggürtels, löste die Verankerungen seiner Sicherheitsseile und hakte sich an dem langen Seil fest. Dann ging er langsam, Schritt vor Schritt setzend, auf die Schleusentür zu. Ein leichter Kopfschmerz befiel ihn, aber er achtete nicht sonderlich darauf, sondern konzentrierte sich darauf, die magnetisierbaren Platten der Sohlen richtig abzuziehen und aufzusetzen. Die harten Erschütterungen setzten sich durch das Gewebe des Anzugs fort. Auch die Vibrationen, mit denen sich die Schleusentür aufschob, erreichte ihn.
Hans Kneifel Gleichzeitig schob sich ein immer größer werdender Spalt gelber Helligkeit in der glatten Hülle auf. »Ich bin jetzt am Rand der Schleuse und habe das Seil eingeholt. Achtung, ich komme!« sagte Curs und blieb noch einmal stehen, genau am Rand der Öffnung. Er blickte hinaus in die Flut der Sterne, sah die einzelnen Sonnen erster Größe und dazwischen und dahinter die Formen und Schleier der winzigen Lichtpunkte, die zu der Kulisse des Alls gehörten. Inmitten dieser Kulisse war Curs Broomer aufgewachsen. Er schleuderte vorsichtig das Sicherungsseil in die Schleuse, wo es ein Mann der Besatzung auffing. Dann erst löste Curs seine Sohlen von dem glatten Metall und schwang sich nach vorn. Er spürte den sanften Ruck an seinem Gürtel, der seinem Körper eine neue Richtung gab. Während er im freien Fall fünf Meter weit durch das Vakuum schwebte, geschah es. Er merkte nichts davon.
* Es war unsichtbar und doch das Ganze. Es bildete eine unfaßbare, unsichtbare und nicht feststellbare Wolke aus einer Materie oder einer Energieform, für die es keine zutreffende Definition gab. Früher einmal, ehe die Menschen und die vielen Wesen sich über die Galaxis ausgedehnt hatten, würde man es als Seele bezeichnet haben. Es bezeichnete sich selbst in Ermangelung eines anderen Begriffes als »Bewußtseinsinhalt«. Es war aus einer fernen Vergangenheit plötzlich aus der Stasis erwacht, in den Weltraum geschleudert worden und hatte hier ein denkendes, aber augenloses und ohrloses Dasein geführt. Es war ungreifbar, aber in seinen Reaktionen schnell wie ein Gedanke. Schon seit einigen Minuten, als dieser riesige Gegenstand aus Metall seinen driftenden Kurs zwischen den verschiedenen Massekonzentrationen gekreuzt hatte, stellte das
Wanderer aus der Vergangenheit Bewußtsein Leben fest. Leben … es ist ein Wesen, das sich bewegen kann, handeln kann. Wie sieht es aus? Abstoßend, anziehend? Gleichgültig, denn es ist eine intelligente Wesenheit, die mir – vorübergehend oder nur kurzfristig – Unterschlupf geben kann. Wo bin ich überhaupt? Mit seiner merkwürdigen, schwer in Worte zu fassenden Begabung glitt das Bewußtsein, dieses gesamte gedankliche Leben eines anderen Wesens, näher an den Mann heran. Mann? Ja, denn es gab eindeutig männliche Impulse. Der Bewußtseinsinhalt verarbeitete in rasender Geschwindigkeit die Eindrücke. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Ein junger Mann im Raumanzug hatte eben eine wichtige Reparatur beendet und wollte zurück ins Schiff, das auf den Planeten zuflog. Gleich würde sich die Schleuse hinter ihm schließen. Einen kurzen Augenblick lang dachte der junge Mann – Curs Broomer hieß er, das fand sich in seinen Gedanken – an die Sterne, seine jugendliche Sehnsucht. Der treibende Vagabund, der nur noch eine Plattform brauchte, um sich wieder restlos wohl zu fühlen, bedeckte jetzt wie ein unsichtbarer Schwarm von Vakuumhornissen den Helm des Raumanzugs. Als Curs seinen letzten, freundschaftlichen Gedanken an die fernen Sterne hinausschickte, tastete sich das fremde Bewußtsein in seine Gedanken, glitt an ihnen wie an einem Seil entlang und schlüpfte in diese lebende Zelle. Es gab nicht einmal einen Kampf. Curs Broomers Bewußtsein zog sich erschreckt zurück, und der neue Verstand nahm halb passiv, halb aktiv Besitz von dem Körper. Als er zum erstenmal mit den Augen des Jungen etwas sah und identifizierte und es verarbeitete, befiel den fremden Verstand eine kurze, aber sehr intensive Panik. Wo bin ich? Hat sich die Gelegenheit gelohnt?
5 Je mehr sich der Verstand ausbreitete, je mehr Ventrikel und graue Zellen kontrolliert wurden, desto kräftiger wurde auch der Verstand, der jetzt den Körper regierte. Der letzte Rest des ehemaligen Verstandes wich aus und verkroch sich zitternd. Hinter dem neuen Bewußtsein in diesem »alten« Körper schloß sich die äußere Schleusentür. Helligkeit überflutete den Raum. Verständnislos blickten die Augen des Wirtskörpers, bis sich der Körper mit dem Verstand und dieser sich mit dem Körper zu einer geschlossenen Einheit verband. Der Fremde war Curs Broomer. Aber noch wußte der eine vom anderen nichts. Sie mußten sich erst entdecken und die Umwelt entdecken. Jedenfalls war dieser Bewußtseinsinhalt nicht mehr länger heimatlos …
* Curs Broomer wartete auf das Signal, das ihm zeigte, daß sich die Schleuse wieder mit guter, warmer Atemluft gefüllt hatte. Dann hob er, etwas unsicher und wenig vertraut mit dieser Technik, die Hände an die Helmverschlüsse und brauchte viel zu lange, um sie zu öffnen. Endlich konnte er den Helm abklappen, nahm ihn unter den Arm und ging mit schweren Schritten aus der Schleuse ins Schiff hinein. In einer spiegelnden Fläche sah er einen hochgewachsenen jungen Mann mit rotem Bart, bleicher Haut, roten Augen und ebensolchem Haar auf sich zukommen … nein! Das war er selbst. Die Platte besaß Spiegelfunktion! »Was ist denn überhaupt los? Wie komme ich …« Ohne es genau zu wissen, hatte Broomer geschrien. Der Mann hinter ihm kam auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Was hast du, Curs? Übergeschnappt?« Curs Broomer war nicht mehr er selbst. Er fühlte, daß er lebte, und daß er sich in der Wärme und der Geborgenheit eines Raumschiffes befand; andere Gebäude besaßen
6 keine derartige Luftschleuse. Wieder starrte er sein Gesicht an, sein neues Aussehen, wie es ihm jene spiegelnde Platte zeigte. »Wo bin ich?« fragte er hartnäckig. Er fühlte halb uninteressiert, halb beunruhigt, wie der Mann hinter ihm am Anzug hantierte und ihm den Gerätegürtel abnahm. »Du bist in der BROLTANVOR, du junger Narr! Was ist eigentlich in dich gefahren? Haben dich die Sterne krank gemacht?« Mit einem Blick voll brennender Intensität starrte der Körper Curs' mit dem darin herrschenden Fremdverstand den Helfer an. »Wo ist Fartuloon? Was ist die BROLTANVOR?« Der Mann blickte ihm entgeistert in die Augen und ging einen Schritt rückwärts. Er blinzelte verwirrt. Langsam schälte sich der junge Mann vor ihm mit hölzernen Bewegungen aus dem Anzug. Derartig unbeholfen hatte sich der Techniker Broomer noch niemals bewegt, seit er aus dem Schiffskindergarten gekommen war. Der Helfer verstaute den Anzug in einer geöffneten Wandkammer und drehte sich dann um. Seine Hand lag in der Nähe des Schockstrahlers. »Jetzt komme wieder zu dir, Broomer!« sagte er beschwichtigend. »Nichts ist passiert. Du bist im Schiff, die Antennen sind hervorragend repariert worden, und wir landen in kurzer Zeit auf Suskor.« »Suskor? Ist das ein Planet?« flüsterte Broomer. »Natürlich! Was dachtest du?« »Ich kenne keinen Planeten dieses Namens. Was habt ihr mit Fartuloon gemacht? Wo steckt er?« »Fartuloon? Was soll das sein?« Der andere Mann, in dem Broomer einen Angehörigen der Springersippen zu erkennen glaubte, lehnte sich an die Metallwand und umfaßte den Kolben der Schockwaffe. Curs Broomer fühlte, wie seine einstige Existenz restlos verschwand und durch neue Kenntnisse und Überzeugungen verdrängt wurde. Er war jemand anderer. Der Schmerz in seinem Kopf machte ihn halb rasend. Abwechselnd drangen glühende Hitze und eisi-
Hans Kneifel ge Kälte in Wellen durch seinen Körper. Wieder stöhnte er auf wie ein verwundetes Tier, das große Schmerzen spürte. »Ich bin körperlich umgewandelt worden, Freund!« sagte er voll mühsam unterdrückter Panik. Der andere Mann bemerkte, wie Broomers Finger zitterten. »Ich bin ein junger Arkonide, der alles verloren hat. Aber in diesem Körper … was ist eigentlich passiert?« Sein Gegenüber streckte den Arm aus und sagte deutlich und langsam, als spräche er zu einem kleinen Kind: »Ich bringe dich zum Patriarchen. Komm mit mir!« Broomer schüttelte die Hand von seinem Arm und wich ängstlich zurück. Dann, ganz plötzlich, schien er sich zu fassen. Sein Blick wurde wieder klar, seine Stimme erreichte wieder die normale Tiefe. »Wer hat mich in dieses Schiff gebracht?« wollte er wissen und wartete, bis der Mann neben ihm war. »Ich, Alvor Evora!« sagte Alvor ruhig. »Ich habe dich an der Sicherungsleine in die Schleuse hineingezogen. Du hast die Antenne repariert, erinnerst du dich nicht mehr?« Seine Erinnerungen waren ganz anders. Er suchte und grub in ihnen und fand seinen eigenen, wirklichen Namen. Aber sofort durchzuckte ihn ein Gedanke an Vorsicht und Tarnung. Er war von seinen Gegnern, vermutlich vom Blinden Sofgart oder dessen Auftraggeber, diesem Verbrecher Orbanaschol, hierher verfolgt und manipuliert worden. Warum eigentlich lebte er noch? Wieder erreichte ihn die Panik. Aber er verriet seinen Namen nicht. Er sagte: »Ich bin nicht Broomer oder wie du mich nennst. Ich bin Ginez Bragha, ein junger Arkonide, der von bösen Mächten verfolgt wird.« Ein listiges Grinsen stahl sich in sein großflächiges Gesicht, aber die Antwort von Evora ernüchterte ihn wieder. »Du bist bestenfalls ein junger Springer, der durchgedreht hat. Aber das läßt sich durch eine Gehirnwäsche klären«, sagte
Wanderer aus der Vergangenheit Evora. »Los jetzt!« Er ergriff ihn am Arm und zog ihn mit sich. Sie gingen mit schnellen Schritten durch einen Längskorridor des Schiffes, offensichtlich auf die Zentrale und die umgebenden Räume zu. »Man hat meinen Körper umgewandelt. Ich habe früher anders ausgesehen!« stöhnte der vermeintliche Arkonide auf. »Daran wird sich niemand in diesem Schiff erinnern!« gab Evora lachend zurück. Aber langsam begann auch er zu zweifeln. Offensichtlich hatte der Anblick der Myriaden Sterne den jungen Mann erheblich verwirrt. »Wer hat mich umgewandelt?« war die nächste, hart hervorgestoßene Frage. Der Junge litt tatsächlich; das war keine Schauspielerei mehr. »Niemand hat dich umgewandelt. Du hast diesen Körper seit siebzehn Jahren.« Sie sahen und trafen niemanden auf dem Weg von dreihundert Metern bis zur Zentrale des wuchtigen Walzenschiffes. Die Mannschaft des Schiffes bereitete sich auf die bevorstehende Landung vor. »Wer kann einen Grund haben, mich umzuwandeln?« murmelte Broomer leise. Er war völlig niedergeschlagen. »Niemand!« gab Evora zu. »Ich glaube, du bist übergeschnappt.« »Auf keinen Fall. Ich erinnere mich genau an alles. An Farnathia, an Fartuloon und die anderen Freunde. Und an die Abenteuer auf dem Planeten der Skinen!« »Niemals etwas von Skinen gehört. Meinst du die kleinen Würfeldinger?« Broomer starrte Evora an, als habe er ihn ins Gesicht geschlagen. »Nein!« flüsterte er nervös. »Das kann nicht möglich sein.« Evora zuckte nur seine mächtigen Schultern und stapfte weiter durch den Korridor. Sie näherten sich der Zentrale. Andere Springer, Angehörige der Sippe, kamen an ihnen vorbei, schenkten ihnen aber kaum Beachtung. Curs Broomer, der sich mit Garantie für einen anderen hielt, schrie plötz-
7 lich auf: »Wer hat mich eigentlich in dieses merkwürdige Schiff gebracht? Was wollt ihr Galaktischen Händler eigentlich von mir? Ich habe euch doch niemals etwas getan!« Evora faßte Broomer an den Schultern und stieß ihn vorwärts. Mit einer schnellen Handbewegung drückte er eine Kontaktplatte. Das schwere Sicherheitsschott schwang auf. Sie befanden sich in einem Nebenraum der Zentrale. Hier saßen viele Sippenangehörige an den Schaltpulten und arbeiteten zusammen, um das Walzenschiff auf dem vorgesehenen Kurs auf die Oberfläche des Planeten zu bringen. Undeutlich kamen Funkanrufe durch die Lautsprecher. Geräte summten und knisterten. Niemand drehte sich um. Nur der Patriarch hob den Kopf, als er Broomer und Evora erkannte. »Seid ihr endlich da?« brummte er verdrossen. »Mit einigen Überraschungen!« sagte Evora laut. »Curs Broomer ist übergeschnappt und redet irre.« Broltanvor, der Patriarch mit seinem mächtigen roten Bart stemmte sich halb aus dem Sessel hoch, in dem er die Aktivitäten des Landeanflugs koordinierte und beobachtete. Sie hatten alle ein großes Handelsprogramm auf Suskor geplant. »Was? Übergeschnappt? Ich habe eben doch noch mit ihm gesprochen, als er draußen war!« rief der Patriarch polternd. »Ich war nicht draußen!« rief Curs. Plötzlich stand er im Mittelpunkt des Interesses. Viele Gesichter wandten sich ihm zu. »Er erinnert sich an nichts mehr. Oder an ganz andere Dinge. Ich glaube, er ist schizophren!« rief Evora aus. »Ich bin nicht schizophren. Ich bin … Ginez Bragha, ein junger adeliger Arkonide. Man hat mich verschleppt und manipuliert. Ich weiß nichts mehr.« Aus einem Lautsprecher fuhr eine deutliche Stimme dazwischen. »Broltanvor, die Funkleitstelle will von uns wissen, ob wir einen besonderen Platz brauchen. Es stehen noch einige Vorzugsplätze zur Verfügung.«
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Hans Kneifel
Einige Sekunden lang blickte der Patriarch Curs Broomer ins Gesicht. Der fremde Verstand in dem hünenhaften Körper des jungen Springers bemerkte deutlich den prüfenden Blick, der ihn zu analysieren versuchte. Er würde es auch weiterhin sehr schwer haben, selbst wenn sich diese nahezu totale Verwirrung gelegt haben würde. »Bringt ihn zu seinen Eltern und dann ins Bordhospital! Schnell!« »In Ordnung, Chef!« erwiderte Evora. »Ich werde alles veranlassen. Komm mit, Junge.« Fast willenlos ließ sich derjenige, der sich als Ginez Bragha bezeichnete, aus der Zentrale bringen. Wieder ging es durch unbekannte Gänge, über einige Treppen und in diejenige Zone des Schiffes, die kühl erschien, heller und freundlicher. Ich muß Zeit gewinnen, dachte der fremde Verstand. Ich muß über alles klarwerden; ich muß wissen, warum ich diesen Körper besitze und mich plötzlich in einem Springerschif befinde. Eine breite Tür schob sich in die Wand zurück, und Broomer sah sich in einem kleinen Raum, in dem ein weißer Untersuchungsstuhl, ein großer Sessel war es eigentlich, mit vielen verwirrenden Mechanismen und Geräten stand. »Setz dich bitte. Deine Eltern und der Arzt sind verständigt. Sie werden sofort hier sein. Bleib ruhig, es passiert dir nichts. Aber wir müssen dieser Sache nachgehen.« »Ja, ich verstehe!« flüsterte Ginez Bragha. In Wirklichkeit hieß der eigentliche Träger dieser Bewußtseinseinheit ganz anders, aber das durfte er gerade den Springern nicht verraten. Ich glaube, dachte er zuletzt, daß ich fliehen muß. Ist dieser Planet aber ein geeignetes Versteck? Er wußte es nicht. Er wußte nur, daß er im Augenblick gar nichts wußte …
2. Die Hauptarbeit liegt immer im Nachden-
ken, dachte der Epsaler konzentriert. Im Augenblick sah es nicht so aus, als ob er irgend etwas arbeiten würde. Er lag ausgestreckt in seinem schweren, hoch gepolsterten Sessel, hielt ein schlankes Glas in den Fingern und drehte mit der anderen Hand an den Abstimmknöpfen seines Spezialempfängers. »Und wieder sind die listigen Springer unterwegs«, brummte er. Seine Laune war gut und wurde immer besser, denn der Spezialist der United Stars Organisation witterte förmlich die kommende Auseinandersetzung. Jetzt, im März des Jahres 2843, schien wieder einmal der Planet Suskor im System der Sonne Phrokus zum Schauplatz gewisser handelspolitischer Auseinandersetzungen zu werden. Über den wuchtigen Lautsprecher dieses schweren Empfängers – die Behörden von Suskor würden ihn, den Epsaler, augenblicklich verhaften, wenn sie von der Existenz dieses Gerätes erfuhren! – hörte Friinkojes den Funkverkehr zwischen der BROLTANVOR III und dem Raumhafen ab. Broltanvor, der Chef und Patriarch der Sippe, war ein mächtiger und sehr einflußreicher Mann. Es war bekannt, daß er den Terranern einen unauslöschlichen und kalten Haß entgegenbrachte, weil sie nach seiner Meinung ihm das »richtige Handeln« unmöglich machten. Achtzehn Schiffe und insgesamt rund 7300 Sippenmitglieder hörten auf seine Befehle, aber im Augenblick schien er wirklich nur mit dem sechshundert Meter langen und zweihundert Meter durchmessenden Flaggschiff der Sippe hier aufzukreuzen. Wo Broltanvor landete, waren Aufregungen nicht weit. Natürlich würden sie nicht unmittelbar nach dem Aufsetzen auf dem Raumhafen losbrechen. »Einen guten roten Wein machen sie hier auf Suskor!« brummte der Spezialist und hob das Glas an die Lippen. Wieder dachte er. Als strenger und konservativ handelnder Sippenchef herrschte Broltanvor nach den alten, überlieferten Regeln der Springer.
Wanderer aus der Vergangenheit Terraner und Neu-Arkoniden waren ihm und seiner Sippe gleich tief verhaßt. Er bezeichnete die Neu-Arkoniden sogar als Verräter; Friinkojes kannte einige seiner markanten Aussprüche und wußte, daß der Patriarch keinerlei Rücksichten kannte, wenn er sich eingeschränkt glaubte oder tatsächlich durch Kleinkram wie terranische Gesetze eingeengt wurde. Wie hatte die entsprechende Ausführung aus Quinto-Center gelautet? Uns ist diese aufrührerische Sippe bekannt, aber wir werden soweit wie möglich tolerant bleiben. Broltanvor und seine achtzehn Schiffe, einschließlich der etwa siebeneinhalbtausend Mitglieder, stellen keinerlei größere Ge-fahr dar. Abgesehen davon verhalten sich die übrigen Galaktischen Händler gesetzeskonform und lehnen Wirrköpfe vom Format dieses Patriarchen ab. Trotzdem ist sehr genaue Beobachtung erforderlich. Sämtliche Meldungen über besondere Aktivitäten sind schnellstens in die Zentrale weiterzugeben. Broltanvor besitzt nach unseren letzten Erfahrungen wenige oder keine Anhänger unter den übrigen Springern. Sollte eine solche oder ähnliche Entwicklung beobachtet werden, ist ebenfalls höchste Dringlichkeit für Meldungen und Aktionen gegeben. Dieser letzte Satz war, wie Friinkojes sich selbst gegenüber ehrlich zugeben mußte, für ihn eine Ermunterung, seine scharfen Augen auf dem anfliegenden Schiff, dessen Patriarchen und der Mannschaft ruhen zu lassen. Er hörte die letzten Anweisungen, die den Landeplatz betrafen, dann stand er auf und schaltete das Gerät ab. Die Stille seines Apartments irritierte ihn so sehr, daß er sofort wieder einen Schluck Wein trinken mußte. Dann beschloß er, eine Fahrt hinaus zum Raumhafen dicht neben der Stadt Apvron zu machen. Apvron war die größte Niederlassung des Planeten. Friinkojes trank sein Glas leer und schlenderte zum raumhohen Fenster. Er blickte über die dreitausend Meter Entfernung genau auf den runden Raumhafen und auf die
9 Schiffe und Gebäude auf oder rund um den Platz. Noch war das Schiff nicht zu sehen, aber es würde dort drüben, neben dem Ausgang unweit der langgestreckten Schuppen landen. »Gehen wir!« sagte er. Er vergewisserte sich, daß er alles bei sich hatte, was er brauchte, dann verließ er sein geräumiges Apartment. Er schwebte im Antigravlift nach unten, rief den Gleiter aus der Tiefgarage ab und fuhr dann langsam hinaus in die Gegend des Raumhafens. Ihn erfüllte das undeutliche Gefühl, als ob er in absehbarer Zeit mehr Ärger haben würde, als ihm lieb war. Er sollte recht behalten.
* Zur gleichen Zeit, als sich das Schiff der äußersten Lufthülle des Planeten näherte, befanden sich vier Personen rund um den weißen Sessel, in dem Curs Broomer ausgestreckt lag. »Das kann ich nicht verstehen! Sage doch etwas, Warton!« jammerte Cessiana Broomer. Sie war Curs' Mutter und sah mit dem ersten Blick, daß ihr Sohn nahe daran war, durchzudrehen und seinen Verstand zu verlieren. O-der hatte er ihn etwa schon verloren? Sein Blick war so merkwürdig stumpf und leer, als habe sich alles Bewußtsein tief im Innern dieses jungen Menschen hinter einen schützenden Wall versteckt. »Was soll ich sagen, Frau?« fragte der stämmige Springer. »Ich verstehe das alles nicht. Er war doch heute früh noch völlig klar im Kopf.« Der Arzt in seiner dünnen rosafarbenen Kombination beobachtete sorgfältig die zitternden Zeiger seiner Testgeräte. »Ich kann nichts feststellen!« knurrte er nach einiger Zeit. Ich weiß, dachte der Fremde, daß ich Atlan bin, der Kristallprinz von Arkon, der sich überraschenderweise in diesem Körper wiedergefunden hat. Meine letzten Erinnerungen sind mit diesen merkwürdigen Wür-
10 mern verknüpft, die sich »Skinen« nannten. Sie taten etwas mit mir – oder waren es die Kralasanen oder andere Mördertruppen? Er stöhnte auf. »Wo sind wir? Welches Ziel?« fragte er leise und schloß die Augen. Er konnte die Gesichter der Springer, die so aussahen wie sein eigenes Antlitz, einfach nicht mehr sehen. Atlan kam sich verstümmelt vor, denn sein ganzer Verstand und alle seine Empfindungen sagten ihm, daß er in diesen Körper versetzt worden war. Dieses Psychospiel der Kralasanen oder des Orbanaschol! Er mußte aus diesem Schiff hinaus! »Wir fliegen den Planeten Suskor an. Er ist eine freie Handelswelt!« sagte der »Vater« Warton Broomer beschwichtigend. »Können wir dort leben?« Atlans hervorragender Verstand funktionierte wieder in gewohnter Güte und Geschwindigkeit. Er versuchte, sich in der neuen Umwelt zurechtzufinden. Er hörte genau zu. Evora erklärte zuvorkommend und auch einwenig hilflos, weil er sich mit dem Unvorhergesehenen konfrontiert sah. Ein Schiffsunglück hätte ihn mit Sicherheit nicht derartig aus dem Konzept bringen können. Er sagte: »Suskor ist der dritte von vier Planeten, die um die Sonne Phrokus kreisen, eine gelbe Normalsonne. Eine Sauerstoffwelt, auf der wir ungehindert leben können.« Eine wilde Freude durchzuckte Atlan. Wenn er dieses Schiff verließ, und genau das hatte er vor, dann würde er auf der Welt weder einen Schutzanzug noch andere Hilfsmittel brauchen. »Von der Erde ist Phrokus fast vierzehntausend Lichtjahre entfernt«, warf die angebliche Mutter beruhigend ein. Nicht einmal sie selbst wußte, warum sie gerade diese Entfernungsangabe machte. Aber sie mußte einfach etwas sagen. Die Sorge um den Verstand ihres Sohnes trieb sie zu einer Handlung, aber sie mußte einsehen, daß sie zur Passivität verurteilt wurde. Sie war fast außer sich und konnte sich nur mühsam be-
Hans Kneifel herrschen. »Was tun wir dort?« fragte Atlan. »Wir handeln. Es ist eine freie Handelswelt. Wir landen in einer Stunde.« Jetzt begann Atlan zu schauspielern. Er hatte seine vermutlichen Chancen so genau abgewogen, wie es ihm in dieser Situation möglich war. Er fühlte sich einsam und von allem abgeschnitten. Noch niemals hatte er sich so sehr nach der beruhigenden Nähe des alten Freundes Fartuloon gesehnt, des »Bauchaufschneiders«. Aber er war allein und mußte allein handeln. Und vor allem mußte er es bald und schnell tun. »Mutter!« flüsterte er, und seine Hand tastete suchend umher. Die Hand der jungen Frau legte sich warm auf seine Finger. »Ja, Curs?« »Bitte«, sagte er leise, »laß mich allein mit dem Arzt. Er wird feststellen, was mir fehlt. Ich bin unruhig, weil ich weiß, daß ihr verwirrt seid. Es wird alles gut werden, glaubt mir. Ich bin so müde!« Cessiana flüsterte eindringlich: »Wir gehen schon. Gleich werden wir landen, und der Arzt wird wissen, was er zu tun hat.« »Ja, natürlich!« brummte der Arzt, der an allen seinen Diagnosegeräten nichts Ungewöhnliches und keinerlei Abweichungen von der Norm feststellen konnte. Noch einmal verstärkte sich der Druck von Cessiana Broomers Fingern, dann verließen drei Menschen den Raum. Atlan nahm jetzt andere Geräusche und starke Vibrationen wahr. Das Schiff setzte zur Landung an. Der ersehnte, lebensrettende Augenblick kam näher und näher. In diesem Schiff trachtete man ihm nach dem Leben, oder man wollte ihn vernichten. Also mußte er hinaus. Mit dem Arzt würde er unschwer fertig werden können, obwohl ein erwachsener Springer ein starker Gegner war. »Vielleicht können uns ein paar Kollegen aus Apvron helfen, der großen Niederlassung neben dem Raumhafen!« sagte der Arzt, während das Geräusch des sich schließenden Schotts verklang. Atlan in seinem
Wanderer aus der Vergangenheit fremden Körper öffnete die Augen und sah ins Gesicht des Arztes. »Es ist schon wieder besser«, sagte er leise. »Als ich draußen am Raumschiff arbeitete, gab es eine Art Ruck in meinem Gehirn. Es war, als ob ein fremder Verstand sich in meinen Kopf drängen würde!« »Ich werde dir eine Beruhigungsspritze geben. Schlaf ist in solchen Fällen meist die schnellste und verblüffendste Art, sich wieder wohl zu fühlen«, sagte der Arzt und drehte sich um. Er suchte zwischen den verschiedenen Hochdruckinjektionsspritzen und hob dann eine der wuchtigen Konstruktionen hoch. »Noch nicht!« sagte Atlan und setzte sich auf. »Ich kann schlafen, auch ohne Betäubungsmittel.« Der Arzt zuckte unschlüssig die Schultern und deutete auf die helle Couch am anderen Ende des Raumes. »Dorthin. Ich werde bei dir bleiben, bis du schläfst. Ich kann dir noch immer ein Beruhigungsmittel spritzen.« »Ja, danke.« Atlan erhob sich aus dem Sessel, kam schwankend auf die Beine und wankte hinüber zu der Liege. Er setzte sich schwerfällig auf den Rand und sah den Arzt an. Es war ein alter, fast goldhaariger Springer mit hängenden Schultern und einem Ausdruck der Gemütlichkeit im Gesicht. »Ich bin verdammt müde!« murmelte Atlan und streckte sich aus. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloß wieder die Augen. Alles in ihm spannte sich und wartete auf die richtige Sekunde. Brummend und schüttelnd bohrte sich der Koloß des Schiffes durch die dichtere Lufthülle und bewegte sich auf den Raumhafen zu. Bewegungen solcher Art und die typischen Triebwerksgeräusche kannte Atlan zur Genüge. Er wartete mit flatternden Nerven und am Rand seiner letzten Beherrschung. Was war passiert? Atlan wußte alles: Sein gesamtes Leben war ihm gegenwärtig. Bis zu dem Zeitpunkt,
11 an dem die Skinen alles zur Aufzeichnung seines Bewußtseins vorbereitet hatten, sah er klar und verfügte über sämtliche Erinnerungen und alles, was zu ihm und seinem gefahrvollen Leben gehörte. Dann kam eine Pause. Eine Sekunde lang oder aber eine Ewigkeit. Das wußte er nicht, das konnte er hier auch nicht erfahren. Er war auf der Suche nach seiner eigenen Identität. Als erstes hatte er sich im Körper eines jungen, noch unausgereiften Springers wiedergefunden. Nicht die entfernteste Ahnung hatte er, wie er in diesen Körper gelangt war. Er mußte hinauf auf diese ihm unbekannte Welt Suskor und sich dort anhand aller nur denkbaren Informationen selbst wiederfinden. Wo waren die Freunde? Was war mit ihnen geschehen? Chretkor Eiskralle, Farnathia, das Mädchen, das ihn liebte, der zuverlässigste aller Freunde, nämlich Fartuloon! Wo befanden sie sich? Warum waren sie getrennt worden? Das alles waren Fragen, die er klären mußte. Dann aber, nach dieser Klärung, mußte er entweder deutliche Zeichen setzen oder den Weg zu Fartuloon und den Freunden selbst finden. Eine der vielen Irrfahrten begann … jetzt. Die kaum wahrnehmbare Erschütterung, mit der das Walzenschiff auf dem Raumhafengelände aufsetzte. Er riskierte es, die Augen zu öffnen und in die Richtung des Bordarztes zu blicken. Der Arzt saß an der heruntergeklappten Platte und schrieb etwas oder rechnete etwas aus. Er sah nicht in Atlan/Broomers Richtung. Jedenfalls, dachte Atlan mit steigendem Optimismus, gehorcht der fremde, fast völlig unbekannte Körper mir. Mir, meinem Verstand. In einer einzigen schnellen Bewegung richtete er sich auf, warf einen blitzschnellen Blick auf die Sohlen der leichten
12 Stiefel – sie würden ihn nicht verraten! – und warf sich nach vorn. Sein Ziel stand fest. Er überwand die Entfernung zwischen dem Arzt und der Liege in einer einzigen Sekunde, dann riß er seinen Arm hoch. Als er zielte und zuschlug, wurde der Arzt unruhig und blickte hoch. Der Schlag, der den Hals des Mannes treffen sollte, wurde von dem instinktiv hochgerissenen Arm abgefangen und abgelenkt. Der Arzt sprang auf, aber Atlan handelte mit der reflektierten Schnelligkeit, die er sich in einer Unzahl einzelner Kämpfe angeeignet hatte. Der Stuhl fiel um. Atlan sprang zurück, hämmerte mit der Faust der linken Hand den schützenden Arm des Arztes hinunter und schmetterte die Handkante in einem genau berechneten Schlag gegen den Hals des Mannes. Der Arzt wollte etwas sagen oder hervorstoßen, aber als Atlans Handkante die Muskeln und die Adern am Hals traf, gab der ältere Mann nur noch einen gurgelnden Schrei von sich. Er brach zusammen, dicht vor Atlans Füßen. Fieberhaft überlegte der junge Arkonide, blickte gehetzt um sich und sichtete die Regale und die offenen Fächer. Was war dort zu finden, was davon konnte ihm helfen? »In diesem Schiff«, murmelte er, »gibt es Hunderte von Springern. Nicht alle werden wissen, daß ich mich verrückt verhalten habe. Ich brauche eigentlich nichts!« Er ging mit schnellen Schritten zum Schott, drückte den Schalter und sah zu, wie sich die Platte in die Wand zurückschob. Er zwang sich und seine wie wahnsinnig wirbelnden Gedanken gewaltsam zur Ordnung. Der Schweiß brach aus und lief unter den Achselhöhlen und zwischen den Schulterblättern herunter. Atlan steckte den Kopf nach vorn und blickte nach beiden Seiten des Korridors. Niemand hielt sich hier auf. Er sprang hinaus und ging auf die Treppe zu, über die ihn Evora heraufgeführt hatte. Eine Stufe nach der anderen. Jeder Schritt brachte ihn um einige Handbreit näher an
Hans Kneifel die Schleuse. Es herrschte bereits dieser bestimmte, kaum wahrnehmbare Zug frischer Luft, der sich immer dann einstellte, wenn die Schleusen auf einem Planeten geöffnet wurden. Mühsam zwang sich der junge Arkonidenprinz zur Ruhe. Er würde auffallen, wenn er rannte oder sich untypisch verhielt. Die Treppe war zu Ende. Er ging in die Richtung, aus der jener frische Lufthauch kam. Er sah noch niemanden, aber Lautsprecherstimmen, zahlreiche Geräusche und Schritte waren zu hören. Wieder hatte er zwanzig Meter gewonnen. Eine Rampe! Einige Springer kamen ihm entgegen und kümmerten sich nicht um ihn. Hoffentlich blieb es nicht ewig ein Rätsel, warum ihn die Häscher des Blinden Sofgart ausgerechnet hierher gebracht hatten! »Jetzt endlich können wir unsere Talente entfalten!« sagte jemand. »Für dich ist es der erste Besuch hier, nicht wahr, Curs?« Automatisch reagierte Atlan. Er lächelte und erwiderte: »Sicher nicht das letztemal, Freund!« Er erkannte diesen Sippenangehörigen nicht. Nur vier oder fünf Springer dieser Sippe kannte er: den Patriarchen, den Arzt, seine »Eltern« und Evora. Er ging ruhig weiter. Jetzt war der Zugwind der frischen Luft deutlicher spürbar. Ein kurzes Stück Korridor, dann ein Liftschacht. Atlan meinte, daß ihn die Spannung zerreißen würde, aber er scha-te es, vorbei an einzelnen Schiffsinsassen und an kleinen Gruppen, bis zum Vorraum der Schleuse zu kommen. Er ging auf die Rampe zu, die sich eben bis zum Boden hinunterschob und rasselnd aus den Aussparungen des Rumpfes ausgefahren wurde. Plötzlich sagte neben ihm eine barsche, dunkle Stimme: »Curs! Schon wieder in Ordnung?« Panik überschwemmte Atlan. Plötzlich fror er am ganzen Körper. Er erkannte die Stimme und identifizierte sie als die Stimme von Warton Broomer, seinem »Vater«. Er drehte sich langsam herum und zwang sich in einer übermenschlichen Anstrengung zur
Wanderer aus der Vergangenheit Ruhe. »Warton«, sagte er, »eigentlich sollte ich nicht hier sein, aber der gute Doktor meinte, mir würde die frische Luft guttun. Er murmelte etwas von einer Schiffspsychose. Ich schnappe nur etwas frische Luft. Wenn ihr mich braucht … ich bin irgendwo an einer Landestütze.« Der Mann winkte und brummte erleichtert: »Schon gut. Erhole dich ein bißchen. Wir haben viel zu tun, also laufe nicht zu weit vom Schiff weg.« Atlan grinste breit und erwiderte: »Keine Sorge. Du weißt, daß ich mich vor keiner Arbeit drücken werde!« Er drehte sich herum. Er konnte nicht länger in dieses besorgte Gesicht blicken. Vor ihm lag der dunkle Belag der Rampe – und die Freiheit. Er ging weiter und verließ durch die Kielschleuse das Schiff. Noch immer schaffte er es, mit langsamen Schritten zu gehen. Schließlich, nach einer weiteren Ewigkeit, berührten seine Sohlen den Boden des Planeten, vielmehr den Beton des Raumhafens. Er atmete tief ein. Dann beschleunigte er seine Schritte. Er hielt sich genau unterhalb des Kiels des Schiffes. Er wurde immer schneller und lief schließlich auf das Heck des walzenförmigen Schiffskörpers zu. In der unmittelbaren Nähe sah er Schuppen und Hallen, einige riesige Bauwerke und den Turm des Raumhafens. »Nichts wie weg!« stieß er hervor. Wenn er jetzt den Schatten des Schiffes verließ und etwa dreihundert Meter weit rannte, war er zwischen den Gebäuden und den seltsam zerzausten Bäumen und um die Hafenanlage. Er sah die Stadt, deren weiße Wohntürme für ihn wie eine Verheißung waren, wie ein Symbol der Freiheit. Er mußte zwischen sich und das Schiff in möglichst kurzer Zeit eine möglichst weite Entfernung bringen. Er rannte, nachdem er mehrmals tief Atem geholt hatte, mit riesigen Schritten los. Noch niemals hatte er sich so deutlich spür-
13 bar beobachtet und verfolgt gefühlt. Er war für jeden, der ihn verfolgen würde, wie eine Ameise auf einer glatten Tischplatte. Nach hundert Schritten hörte er die Summer und die Sirenen des Raumschiffes. Man hat den niedergeschlagenen Arzt gefunden! Man wird mich suchen und verfolgen! Man darf mich nicht sehen und nicht erwischen! Atlan oder Broomer aktivierte seine Kräfte und rannte los. Hinter sich hörte er die ausfallenden Geräusche, die seine Flucht signalisierten. Er begann zu ahnen, daß die halbe Schiffsbesatzung und die Polizei der Stadt binnen weniger Minuten hinter ihm her sein würden. Er rannte um sein Leben. Immer näher kamen die Wände der Lagerhallen. Immer mehr näherte er sich den rettenden Bäumen und dem Gewirr der Stadt Apvron. Würde er entkommen können? Auch das wußte er nicht, aber er setzte alle seine Kräfte und Hoffnungen ein, um die Freiheit zu gewinnen.
3. Sein neuer oder umgewandelter Körper war kräftig und ausdauernd. Atlan drehte den Kopf, aber er bemerkte unterhalb des Springerschiffes keinerlei Aufregung oder Aktivitäten, die er auf sich beziehen konnte. Aber noch immer hörte er die Signale. Sie galten unzweifelhaft ihm und seiner Flucht. Er winkelte die langen Arme an und rannte in einem kurzen, aber ungewöhnlich schnellen Spurt auf die niedrige Mauer zu, die deutlich das Hafengelände abgrenzte. Mit einem riesigen Satz schwang er sich darüber und duckte sich. Sein Kopf bewegte sich hin und her, seine Augen versuchten, das gesamte Panorama vor ihm genau zu beobachten. Niemand schenkte ihm besondere Beachtung. Ein paar Roboter, schwere Gleiter, die riesige Ballen und Kisten transportierten, eine Gruppe von Arbeitern, die ruhig miteinander sprachen. Er richtete sich aus seiner gebückten Stellung auf und ging schnell, aber ohne auffällige Hast, weiter.
14 Er wußte nichts von dieser Stadt. Aber er mußte schnellstmöglich das Raumhafengelände verlassen. Hier, auf den freien und gut überschaubaren Flächen, würde jede einzelne Person auffallen. In der Stadt selbst fiel auch ein Springer auf, aber die Chancen, sich zu verstecken und nach Informationen zu suchen, waren in Apvron selbst viel besser. Atlan ging jetzt an der Wand aus farbigen Fertigteilen entlang. Sie gehörte zu einem riesigen, flachen Lagerhaus; neben den dicken Stämmen von Bäumen mit seltsam zerzausten Wimpeln führte eine schmale weiße Kunststoffstraße entlang. Am Ende der Straße standen eine Reihe geparkter Gleiter. Atlan blieb am zweiten Fahrzeug stehen; hinter ihm ragte die ungeheure Masse des Schiffes auf. Dahinter sah er andere Raumschiffe in allen erdenklichen Formen. Auch einige mittelgroße, vollkommen kugelige Schiffe mit fremden Bezeichnungen in unbekannter Schrift waren wie gewaltige Perlen in einer Linie aufgereiht. Atlan murmelte leise: »Vielleicht schnappen sie mich schneller, wenn ich einen Gleiter stehle?« Er ging die Reihe entlang, blickte in die Fahrzeuge und sah einmal, als er sich prüfend umdrehte, wie zwei schwere Gleiter aus dem Springerschiff ausgeladen wurden. In wenigen Sekunden würden sie ihn verfolgen. Auch hatte Patriarch Broltanvor sicherlich die Behörden alarmiert. Von links näherte sich ein brummendes Geräusch. Atlan fuhr herum und sah den weißen, stromlinienförmigen Gleiter. Die Schrift bewies, daß er zwischen dem Hafen und der Stadt verkehrte. Raumhafen – Avilah-Safi-Square und zurück. Der Verbindungsgleiter, ein riesiges Ding mit vielen hochlehnigen Sesseln, kam bremsend auf ihn zu. Atlan drehte sich herum und sah, daß er direkt unter einem Halteschild stand. Zischend glitten die Türen auf, und Atlan stieg zögernd ein. Offensichtlich war der Transport kostenlos, denn weder der
Hans Kneifel Fahrer noch andere Kontrollen behelligten ihn. Er setzte sich im zweiten Drittel des Gleiters und kauerte sich auf der dem Raumhafen abgewandte Seite in den Sitz, ganz in der Nähe der breiten Tür. Ich muß mein Äußeres verändern! dachte er. Aber auch dazu mußte er in die Stadt hineinkommen. Der Gleiter fuhr ohne Rucken an, beschleunigte und fuhr auf der Ringstraße weiter. Er nahm die Richtung auf das Raumhafengebäude, das im Schatten des Funkturms lag. Atlan sah sich um und registrierte vieleEinzelheiten, die ihm bisher entgangen waren. Der Planet Suskor schien noch nicht sehr lange besiedelt zu sein. Überall sah Atlan Wälder und weitgehend unberührte Natur, durch die diese Straße führte. Es gab wenig Verkehr, aber die Stadt bestand aus einem Kern riesiger Wohntürme, die gleichmäßig nach der Peripherie der Stadt zu niedriger wurden. Über allem spannte sich ein dunkelblauer Himmel, über den lange, fadenförmige Wolken von Westen nach Osten zogen. Die Luft war frisch und kühl. Die Sonne Phrokus tauchte auf und verschwand immer wieder hinter den Wolken. Ein ständiger Wechsel harten und weichen Lichts überzog die Landschaft. Ein startendes Schiff unterbrach die Linien der Wolken. Aus einer anderen Richtung kam langsam ein eiförmiges Schiff, das landen würde. Der Verbindungsgleiter verringerte seine Fahrt und hielt vor einem Kreuzungsbauwerk, auf dem sehr viel Bewegung herrschte; hier wurden eine Menge Güter umgeschlagen. Eine Gruppe von ungefähr dreißig Leuten wartete auf den Bus. Sie stiegen ein, als sich die Türen nach den Seiten geschoben hatten. Ein älterer Mann mit bemerkenswert breiten Schultern und untersetztem Körperbau stieg als letzter ein und setzte sich auf der anderen Seite des Ganges neben Atlan. War es ein Epsaler? Er warf Atlan einen Blick voll kühlen Interesses zu, dann blickte er wieder durch die Panoramascheibe hinaus auf den Raumha-
Wanderer aus der Vergangenheit fen. Vom Schiff der Springersippe kamen jetzt zwei Gleiter. Der erste fuhr auf das Raumhafengebäude zu, der andere näherte sich der Stelle, an der Atlan über die Mauer gesprungen war. Er saß hier, unruhig und waffenlos, allein und ohne jeden Freund in einer unbekannten Stadt auf einem fremden Planeten. Zuerst hatten die Springer geglaubt, er habe einen Scherz machen wollen, dann aber sahen sie ein, daß er als Curs Broomer sich für einen anderen Mann gehalten hatte. Und jetzt suchten sie nach einem gemeingefährlichen Irren, der den Arzt niedergeschlagen hatte und entkommen war. Was sollte er tun? Er war ratlos, und seine Erregung wuchs, als der Zubringer über eine weite Brücke fuhr und er sehen konnte, wie sechs oder mehr Springer aus dem Gleiter sprangen und auf die weit offenen Türen des Gebäudes zurannten. Der andere Gleiter war inzwischen verschwunden und fuhr vermutlich hinter dem Zubringergleiter her. Der Zubringer hielt. Etwa zehn Leute stiegen aus, und zwanzig stiegen ein. Dann setzte sich das Gefährt wieder in Bewegung. Bäume und Hügel schoben sich, da die Geschwindigkeit schnell zunahm, zwischen Atlan und den Raumhafen. Seine Spannung löste sich ein wenig. Er konnte wieder an sich denken und seine Probleme. Als er in den Taschen der Springerkombination suchte, fand er einige Scheine und eine Handvoll Münzen. Er sah der Ankunft in der Stadt eine Spur weniger aufgeregt entgegen. Zuerst aber mußte er sein Aussehen verändern.
* Als der Patriarch aus dem Gleiter sprang und zu rennen begann, heftete sich Warton Broomer an seine Fersen und rief: »Warum verfolgt ihr eigentlich Curs mit solcher Hartnäckigkeit?« Ohne sich umzudrehen, gab der Patriarch
15 zurück: »Er ist gemeingefährlich. Er hat den Arzt niedergeschlagen. Außerdem kann er unser gesamtes Handelskonzept verraten, wenn er in falsche Hände fällt. Es ist wichtig, ihn zu fangen, ehe er sich so versteckt, daß wir keine Möglichkeiten mehr haben.« »Aber … Curs war doch immer völlig loyal. Er wird nichts verraten!« »Woher willst du das wissen? Er ist übergeschnappt. In einem solchen Zustand kann man das letzte Geheimnis aus ihm herausholen!« schrie Broltanvor und rannte in einen Korridor hinein, der sich zu einer Halle erweiterte. Dort standen bereits drei Polizisten der Raumhafentruppe und ein Polizeiroboter. Der Leutnant hob die Hand und stoppte den Patriarchen. »Sie sind Broltanvor, der Chef des Springerschiffes? Sie haben uns alarmiert?« »So ist es!« schnaufte der Patriarch. Seine Zöpfe schaukelten wild. »Sie müssen uns hel-fen. Curs Broomer, so heißt der Junge, ist krank. Er kann zu einer Gefahr werden.« »Haben Sie eine Beschreibung? Ein Bild? Hat er Freunde hier in der Stadt oder auf dem Planeten?« Die Stimme des Polizisten war ohne Erregung. Er betrachtete den Haufen der rothaarigen Riesen mit kühler Aufmerksamkeit. Broltanvor zog ein dreidimensionales Bild aus einer Tasche und reichte es dem Polizisten. Dann deutete er auf den Vater von Curs, der erschrocken zurückwich und die Arme über seinem gewaltigen Brustkasten kreuzte. »Wir suchen selbst mit, wenn Sie das erlauben. Das hier ist Warton Broomer, der Vater. Nehmen Sie ihn mit, er wird Ihnen helfen. Kommt, Leute!« Er stürmte wieder hinaus. Seine Truppe, alles treue Sippenangehörige, folgte ihm. Die Maschinen des Gleiters heulten auf und rissen das Fahrzeug nach vorn. Es glitt durch ein Tor im Hafengebäude und schlingerte hinaus auf die Straße. Sie waren überzeugt, daß sich Broomer hier irgendwo versteckte.
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Broltanvor sagte zweien seiner Besatzungsangehörigen, daß sie sich in die Stadt begeben und dort gefälligst ihre Augen offenhalten sollten. Dann raste der Gleiter wieder dorthin, wo sie Broomer zum letztenmal gesehen hatten. Die hektische Suche ging weiter.
* Friinkojes Dorn fühlte förmlich, daß er sich bereits im Zentrum der Auseinandersetzung befand. Er hatte, nachdem er seinen Gleiter abgestellt hatte, die Sirenen und Signale des Springerschiffes gehört. Einer plötzlichen Eingebung folgend, war er in diesen Zubringer gestiegen. Jetzt registrierte er deutlich die Erregung und die Unschlüssigkeit des jungen Mannes, der fünf Sitze von ihm entfernt auf der anderen Seite des Gleiters saß, zusammengekauert, hochgradig nervös, mit einem verstörten Ausdruck in dem weißen Gesicht, in das die Aufregung hektische, rote Flecken gezaubert hatte. Suchten die Springer einen aus ihrem Schiff? Wenn dies der Fall war, dann konnte es sich mit größter Wahrscheinlichkeit nur um diesen Jungen handeln, dessen Größe Friinkojes auf mehr als hundertachtzig Zentimeter schätzte. Der Gleiter wurde schneller und legte die rund zehn Kilometer bis zum Hauptplatz der Stadt in zwölf Minuten zurück, da es keine weiteren Haltepunkte mehr gab. Der rothaarige und rotbärtige Junge wurde abermals unruhig und rutschte auf seinem Sitz hin und her. Warum flüchtete ein Springer aus dem eigenen Schiff, aus dem Hort seiner Sippe? Diese Frage konnte sich Friinkojes keinesfalls beantworten. Hin und wieder sah er das Spiegelbild des Fremden in der Scheibe. Je mehr er überlegte, desto sicherer erschien es ihm, daß die Unruhe rund um das Springerschiff mit diesem Flüchtling zusammenhing. »Jetzt habe ich meine Aufgabe!« brumm-
te er so leise vor sich hin, daß nur er es verstehen konnte. Durch eine Aviale aus vier Reihen uralter, mächtiger Bäume näherte sich der Zubringer dem Avilahplatz. Die Kronen der Bäume beschatteten die gesamte Fahrbahn und auch die breiten Fußgängerwege zwischen den Häusern und die untersten Geschosse der Hochbauten. In wenigen Minuten würde die Endstation erreicht sein. Dann wurde es spannend. Endlich wieder etwas auf diesem Handelsplaneten zu tun! Wochenlang war nichts Aufregendes geschehen. Der Zubringer hielt. Ein Gongschlag ertönte, bevor acht Halbtüren seitlich aufzischten. Inmitten des Platzes erhoben sich die vielfarbigen Säulen der Wasserspiele, von Schleiern, Tropfen und Fontänen halb undurchsichtig gemacht. Ohne sonderliche Hast stiegen die Fahrgäste aus. Auch Friinkojes stand auf, vermied es aber, den jungen Springer anzusehen. Der Springer stieg direkt vor ihm aus, ging einige Schritte und sah sich prüfend um. Dann steuerte er mit schnellen Schritten zielsicher auf ein Geschäft in den Arkaden des Platzes zu, in dem man alle möglichen Utensilien zur Körperpflege kaufen konnte. Bedächtig folgte ihm Friinkojes und wartete. Minuten später kam der Springer aus dem Geschäft und trug ein Paket mit sich, dasnicht gerade leicht zu sein schien. Wieder folgte ihm der Epsaler. Der Weg führte sie hinunter in die Fußgängerunterführung, die unterhalb des Zentralplatzes gelegen war und Ein- und Ausgänge in sämtliche Richtungen besaß. Der Springer orientierte sich schnell. Jetzt, da er nach einem genauen Plan vorging, konnte Friinkojes kaum noch Unsicherheit und Nervosität feststellen. Der Springer verschwand hinter der Tür eines kleinen, öffentlichen Rekreationszentrums. Ein Grinsen stahl sich in das verwitterte Gesicht des Epsalers. In dem Alter dieses jungen Mannes und in dessen Lage hätte er auch keinen anderen Ausweg gehabt. Er wartete an einem Zeitungsstand etwa
Wanderer aus der Vergangenheit zehn Minuten lang, dann kam ein total veränderter Springer aus den Kabinen. Die Haut seines Gesichts war mittelbraun eingefärbt. Er sah aus, als habe er lange Zeit an der Sonne verbracht. Der rote Bart fehlte völlig, und das sich kräuselnde Haar lag straff am Schädel und war jetzt tiefschwarz mit feinen blauen Reflexen. Der Overall fiel locker über die Stiefel, und das Hemd wurde über dem Oberteil getragen. »Hmm. Fast unkenntlich!« sagte sich Friinkojes und nahm die Verfolgung wieder auf.
* Warton Broomer hatte sich von einem Gleiter mitnehmen lassen und war bis in die Stadt Apvron gelangt. Er hatte nicht die geringste Ahnung, warum sein Sohn geflohen war, aber wenn er es versuchte und sich in die Lage seines Sohnes versetzte, dann ließ sich ein gewisses Muster konstruieren, das auch Curs nicht umgehen konnte. Wenn er fliehen wollte – und das stand ziemlich gewiß fest –, dann würde er bestimmte Schritte unternehmen. Broomer faßte den Kolben seines Betäubungsstrahlers und bog nach rechts ab. Langsam begann er den Platz zu umrunden. Minuten später las er auch den Namen: Avilah-Safi-Square. Hier hatte der Zubringergleiter seine Endstation. Vielleicht hielt sich Curs hier auf. Broomer spähte in jeden Hauseingang, preßte sich an die Scheiben der vielen bunten Geschäfte, starrte den Fußgängern, denen er begegnete, in die Augen und blieb schließlich, nachdem er den halben Platz umrundet hatte, vor einem Kiosk stehen. Langsam und konzentriert musterte er die Umgegend und suchte nach einer winzigen Spur seines Sohnes. Der Zufall half ihm. Er wollte sich eben abwenden, als seine Augen auf einen breitschultrigen Mann fielen, der scharf und prüfend einem anderen Mann nachblickte. Broomer folgte dem Blick. Er sah einen schwarzhaarigen Mann, der mit schnellen
17 Schritten auf ein Gebäude zuging, auf dem Bibliothek und Informationszentrum in leuchtenden Lettern stand. Die Bewegungen dieses zweiten Mannes waren … sie deckten sich mit den Erinnerungen, die Broomer an seinen Sohn Curs hatte. Er begann zu laufen und schrie: »Curs!« Der junge Mann zuckte zusammen, blickte sich aber nicht um und wurde schneller. Warton Broomer war jetzt sicher. Er zog seine Waffe und war entschlossen, seinem eigenen Sohn in die Knie zu schießen und ihn zu lähmen. Er lief Curs hinterher und rief abermals: »Curs! Hier ist dein Vater! Bleib stehen, sonst muß ich schießen!« Jetzt blieb Curs tatsächlich stehen. Erregung packte den älteren Springer. Er verstand das alles nicht mehr. Er rannte los, wich einigen Passanten aus, die ihm verwundert nachblickten, erreichte seinen Sohn, der völlig verändert aussah. Aber er war es tatsächlich! Curs blieb am Stamm eines Baumes stehen und wartete. Dicht vor ihm bremste Broomer und richtete die Waffe auf Curs. »Curs! Sie suchen dich alle! Fast das halbe Schiff ist inzwischen hinter dir her! Hast du außerhalb des Schiffes den Verstand verloren?« Sein Sohn, der tatsächlich kaum mehr zu erkennen war, erwiderte kalt und gefaßt: »Ich bin nicht Curs Broomer. Ich habe vielleicht seinen Körper, aber ich bin es nicht. Ich bin ein Arkonide.« »Aber … Doktor Noswilder hat auch gesagt, daß du nicht verrückt bist. Komm mit mir. Alles wird sich aufklären!« »Es wird sich nichts aufklären. Ich bin der arkonidische Prinz Atlan und suche meine Freunde. Was habt ihr Verbrecher mit Farnathia gemacht? Wo steckt der Bauchaufschneider?« Wenn der Patriarch erfuhr, daß sich Curs für den »Oberverräter Atlan« hielt, würde er wahnsinnig vor Wut werden. Jetzt begriff Warton Broomer die Sorge des Patriarchen.
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»Du bist nicht Atlan. Du bist mein Sohn. Erinnere dich! Deine Mutter Cessiana kommt vor Sorge halb um!« flehte Broomer seinen Sohn an, der ihn kalt anblickte und die Schultern zuckte. »Das alles geht mich nichts an. Ich habe euch verlassen und werde mich verstecken, bis alles vorbei ist. Möglicherweise bist du der Vater dieses häßlichen Körpers, aber mehr bist du nicht. Geh zurück zum Schiff und sage ihnen, daß sie mich nicht verfolgen sollen. Ich werde jeden töten, der mich verfolgt. Ich lasse mich nicht vom Blinden Sofgart erwischen.« Warton hob den Strahler und war tatsächlich bereit, zu feuern. Um beide hatte sich ein kleiner Kreis von Neugierigen gebildet, die sich jedoch in achtungsvoller Entfernung hielten, denn sie sahen deutlich die Waffe in der Hand des älteren Springers. Atlan blickte seitlich am Kopf des fremden Mannes vor ihm vorbei, lächelte kurz und sagte: »Entwaffne ihn, schnell, Evora!« Walton ließ sich täuschen. Er drehte den Kopf, und da handelte Atlan bereits. Er warf sich nach vorn, und beide Hände umklammerten die Waffe und das Handgelenk des Springers. Dann ging er in die Knie, rammte seinen Oberkörper aufwärts und nach vorn und schleuderte den wuchtigen Körper über seine Schultern. Ein lauter unterdrückter Schrei aus dreißig Kehlen erscholl um die beiden Kämpfer.
4. Friinkojes hatte von dem erregten Wortwechsel nur ein einziges Wort gehört. Aber dieses Wort hatte genügt, um ihn in Alarmzustand zu versetzen und seine letzten Hemmungen hinwegzufegen. Atlan! Dieser junge Springer wollte zu Atlan. Das hatte, wie immer er selbst es auslegte, nur eines zu bedeuten: Der Junge hatte Atlan eine wichtige Botschaft zu überbringen oder wußte etwas, das wichtig war. Also war die-
ser Fall jetzt ein Fall für ihn. Er konnte nicht mehr zurück. Langsam schob er sich durch den Kreis der Zuschauer, die den Kampf der beiden Springer beobachteten. Typisch, dachte Friinkojes. Weit und breit kein Polizist zu sehen. Warton Broomer wurde durch die Luft geschleudert und knallte dann auf den Boden. Er kam augenblicklich wieder auf die Füße, aber die schwere Schockwaffe befand sich in der Hand des Jungen. Wie ein wütender Stier griff Warton an, senkte den Kopf und stürzte auf denjenigen zu, der es abstritt, sein Sohn sein zu wollen. Er schwang seine Fäuste und zielte auf Kinn und Brust des Jungen, aber mit einer Serie schneller, fast nicht mehr sichtbarer Bewegungen wehrte Curs den Angriff ab. Er lähmte mit einigen Handkantenschlägen die Oberarmmuskeln des Mannes, schlug ihm gegen den Hals, tauchte unter einem Schlag hinweg und feuerte ein einziges Mal den Strahler ab. Der ältere Springer, in die Brust getroffen, sackte langsam zusammen und fiel in die Arme der Umstehenden. Der Junge bedrohte die ihm am nächsten stehenden Zuschauer und wandte sich zur Flucht. Vor ihm sprangen die Menschen auseinander und bildeten eine Gasse. Curs Broomer rannte geradeaus – jetzt kannte er keine Rücksicht mehr, jetzt mußte er alles auf eine Karte setzen. Er rannte hinaus auf die Straße und auf einen Mann zu, der eben seinen Gleiter verlassen wollte. Mit einer Hand öffnete der Bewohner von Apvron die Tür, mit der anderen wollte er den Zündschlüssel aus dem Armaturenbrett ziehen. Curs blieb neben dem Fremden stehen – was er sagte, konnte Friinkojes nicht verstehen, aber die Waffe sprach eine deutliche Sprache. Mit einer Handbewegung fegte Curs den aussteigenden Mann zur Seite, dann schwang er sich in den Gleiter, der summend hochstieg und dann in einem einzigen Satz davonschoß. In diesem Augenblick handelte der Spezialist der United Stars Organisation. Er ignorierte alle Zuschauer, ver-
Wanderer aus der Vergangenheit gaß den bewußtlosen Springer und rannte hinter dem Flüchtling her. Der mittelgroße Gleiter raste die breite Straße entlang und verschwand außer Sicht. »Verdammt!« rief Friinkojes aus und sah sich um. Nach etwa hundert Metern scharfen Rennens bremste er vor einem kleinen Geschäft, in dem man Gleiter vermietete. Er riß die Tür auf, rannte bis zum Pult und warf seine Kreditkarte auf die Platte. »Es geht um Leben und Tod!« schrie er. »Ich brauche sofort einen Gleiter! Schnell!« Eine Angestellte schoß aus einem Raum heraus und blieb vor der Theke stehen. »Was ist los? Sie sind in Eile, Sir?« »Beträchtlich!« brüllte Friinkojes. »Wollen Sie, daß jemand stirbt?« »Keineswegs. Kann ich Ihnen helfen?« Friinkojes deutete auf seine Karte und sagte in einem Tonfall, der keinerlei Zweifel mehr offen ließ: »Ich brauch sofort einen Gleiter. Ich wiederhole: sofort. Hier haben Sie meine Karte, es geht wirklich um Leben und Tod. Den Schlüssel!« Ab jetzt ging alles ziemlich schnell. Er bekam einen Schlüssel, rannte wieder aus dem Laden und fand den bezeichneten Gleiter. Er schwang sich hinter das Steuer, startete und raste rücksichtslos in die Richtung, in der der junge Springer geflüchtet war. In einer Serie verrückter Manöver überholte er andere Gleiter, raste an dem Fahrzeug einer entgegenkommenden Polizeistreife vorbei und setzte seinen Gleiter auf die Überholspur. Dort trat er den Geschwindigkeitsregler bis zum Anschlag durch und lehnte sich einigermaßen bequem zurück. Als er unter seine Schulter griff, spürte er das Metall der Waffe. Aber auch das war keine Beruhigung. »Hoffentlich flieht dieser junge Idiot nicht quer über den Planeten«, sagte Friinkojes laut und registrierte zufrieden, daß er erstens auf der Straße war, die nach Phrokus Fields führte, und daß zweitens diese Straße ziemlich leer war. Er versuchte, sich in die wenig reizvolle
19 Lage des flüchtenden Springers zu versetzen. Was immer der Springer vorhatte – es würde nicht leicht werden, und so wie es jetzt aussah, würde es weitaus länger dauern als ein paar Stunden.
* Mühsam kam Warton Broomer zu sich, winkelte stöhnend vor Schmerzen und nur halb bei Bewußtsein seinen Arm an und schaltete mit den Zähnen den Minikom ein. Mit langen Pausen zwischen den einzelnen Worten erklärte er dem Patriarchen, der sich augenblicklich vom Raumhafengelände meldete, was vorgefallen war. Als er bis an die betreffende Stelle gekommen war, schrie der Patriarch: »Was hat er gesagt? Er ist Atlan? Dieser arkonidische Chef aller Verräter?« »Ja … er denkt … er hat mir gesagt, er ist … Atlan.« »Dann ist er tatsächlich gemeingefährlich!« brüllte Broltanvor. »In Ordnung. Ich weiß, was ich zu tun habe. Das ganze Schiff wird ihn suchen! Und wenn er sich auf der anderen Seite des Planeten verstecken will. Wo bist du, Warton?« Warton sagte, daß er sich auf dem Avilahplatz befand, dann verließen ihn die Kräfte. Einige Minuten später schleppte man ihn in einen Polizeigleiter und brachte ihn weg.
* Atlan steuerte den gestohlenen Gleiter mit Höchstgeschwindigkeit über die gekrümmte Gleiterpiste. Er war halb besinnungslos vor Panik gewesen, aber er tröstete sich damit, daß er schnell und mit gewohnter Sicherheit gehandelt hatte. Jedenfalls wußte er, daß ihn die Springer verfolgten, jedenfalls konnte er etwas sicherer sein, ihnen zu entkommen, denn das Verstecken auf fremden Planeten hatte er schließlich gelernt. Trotzdem wurden die Fragen lauter und zahlreicher. Ich bin sicher, daß ich Atlan bin. Ganz si-
20 cher. Ich brauche dringend Informationen und einige Zeit, um zur Ruhe zu kommen und die Informationen zu verarbeiten. Ich wollte die Bibliothek besuchen, aber dieser verdammte Mann, der sich als mein Vater ausgab, hat mich daran gehindert. Suskor … es gibt diesen Planeten nicht. Es muß eine imaginäre Welt sein, eine Falle, die Orbanaschol und seine willenlosen Werkzeuge aufgestellt haben. Alles, was ich bisher erlebt habe, seit diesem merkwürdigen Einstieg in das fremde Schiff, ist aber von lückenloser Eindringlichkeit. Erlebe ich einen Traum? Eine psychologische Folter des Blinden Sofgart? Wo sind die Freunde? Man hat sie von mir getrennt. Es muß, ohne daß ich es gemerkt habe, ein Überfall stattgefunden haben. Man hat mich in den fremden Körper versetzt, hierher verschleppt und spielt mir jetzt aus Gründen, die ich noch nicht kenne, einen bösen Traum vor, an dessen Ende meine Vernichtung steht. Aber … ich sehe nicht wie Atlan aus! Auch das gehört zum Plan. Vielleicht, aber dies ist kaum möglich, hat auch eine Versetzung in der Zeit stattgefunden? Ich weiß nichts. Es muß eine besonders raffinierte Folter des Blinden Sofgart sein, der mich haßt und nichts sehnlicher als meinen Tod wünscht. Ich bin Atlan, aber ich habe Curs Broomers Körper. Was ist passiert? Atlan sah jetzt, daß sich die Piste zwischen bewaldeten Hügeln entlangschlängelte. Als drei Gleiter, die dicht hintereinander fuhren, an ihm vorbeizischten – sie fuhren auf der Gegenfahrbahn in Richtung auf die Stadt, rief sich Atlan alles ins Gedächtnis zurück, was er über die Gegend rund um Stadt und Raumhafen wußte. Es war herzlich wenig. Dann riß er entschlossen die Lenkung herum, raste schräg über die Piste und sprang mit der schweren Maschine über die Abgrenzungsränder. Der Gleiter durchbrach einige Büsche, schrammte entlang der federnden Äste und entfernte sich nach Norden
Hans Kneifel über eine Wiese voll hochstehenden Grases, auf den nicht fernen Waldrand zu. Zuerst raste der Gleiter mit Höchstgeschwindigkeit, schleudernd und immer wieder mit dem Heck ausbrechend, auf den Waldrand zu. Hier schien weitgehendst vollkommen unberührte Natur zu sein. Kleine Gruppen von Vögeln stoben aus den Zweigen. Unsichtbare Tiere bewegten sich im Gebüsch. Eine Herde von antilopenähnlichen blauen Tieren mit langem Gehörn sprengte um einen Felsen herum. Vor dem Waldrand steuerte Atlan die Maschine nach rechts. Er hatte in weiter Entfernung einen Berg gesehen, der stark bewaldet war und offensichtlich eine Menge Höhlen enthielt. Er mußte also um diesen Wald herumsteuern. Der Gleiter wurde schneller und raste, die Gräser bewegend und eine Zone von Luftwirbeln hinter sich, wieder nach Osten. Dann tauchte eine unregelmäßige Schneise auf. Hinein! Atlan erhöhte den Bodenabstand, verringerte aber die Geschwindigkeit nicht. In einer einzigen langen Schlängelbewegung raste das Gefährt durch die Lichtung, entlang aus zwei langen Palisadenzäunen aus grünem Laub und fast schwarzen Baumstämmen. Je näher er dem breiten Spalt vorauskam, desto deutlicher erkannte er, daß hinter dem Wald eine Wüste oder eine Ebene lag, aus der jener Berg aufragte. Einige Sekunden vergingen, in denen der Arkonide im Springerkörper virtuos den Gleiter handhabte, dann bremste er die Maschinen ab und schwebte vorsichtig und langsam zwischen den Stämmen und dem wuchernden Unterholz aus dem Wald heraus. Er befand sich am oberen Rand eines schüsselförmigen Tales. »Halt!« sagte er. Die Landschaft, noch vor einigen Minuten normal und begreifbar, veränderte sich hier in den Bereich des Phantastischen hinein. Atlans verwirrte Augen huschten über das Panorama, das sich vor ihm ausbreitete. Der flache Talkessel war auf allen Seiten
Wanderer aus der Vergangenheit von einem Wald mit hohen Stämmen eingeschlossen. Einzelne Zungen aus kleineren Bäumen und kugelförmigen Büschen wucherten abwärts und stießen wie gierige Pseudopodien ins Zentrum des Talkessels vor. Der Kessel selbst schien eine einzige, mit vielfarbigen Gräsern bedeckte und dichtbewachsene Fläche zu sein. Der Wind kam von Westen und bewegte die Gräser in langen, ungleichmäßigen Wellen. Die Landschaft schien tatsächlich aus einem unwirklichen Traum zu stammen. Je länger Atlan sie anstarrte, desto mehr glaubte er, sich wirklich in einem Zaubergarten von Orbanaschol zu befinden. Er reduzierte die Schwebehöhe des Gleiters und sank hinunter zwischen die Kugelbüsche. In wenigen Sekunden, direkt unter seinen Augen, schien sich die Landschaft abermals, in einer Reihe kleiner, auffälliger Prozesse, zu verändern. Die Sonne, die direkt oder durch die länglichen Wolken gedämpft, auf die Grasebene strahlte, brachte die Farben der verschiedenen Gräser zum Auflodern und machte im nächsten Augenblick wieder stumpfe Pastellfarben aus ihnen. Der Wind, der lange Wellen erzeugte, brachte diese Farben durcheinander. Sie wechselten sich in Schleiern, und Streifen ab und bildeten Muster, die das Auge eines jeden Betrachters verwirrten und ihre psychedelisch wirkenden Eindrücke an den Verstand weitergaben. Unter diesem Eindruck schien sich auch der Berg mit seinen weißen Kalksteinwänden und den Punkten der kleinen Höhlen zu verändern. Es sah aus, als schwanke und zittere er wie eine gelierte Masse. Der untere Rand des Berges war mit ebensolchen Büschen und kleinen Bäumen gesäumt wie die Wachstumsausläufer des Ringwaldes. Die Bäume sahen aus, als wären sie aus einem nahezu senkrechten Stamm und darüber sich ständig vergrößernden Scheiben zusammengesetzt, die waagrecht auf die Stämme gespießt worden waren. Über den letzten Wipfeln erhoben sich
21 die Kalksteinbrüche mit den Löchern und den Simsen. Der Berg war etwa siebentausend Meter entfernt. Über dem Kalkstein breitete sich wiederum ein kuppelförmiger grüner Bewuchs aus, der von einem System aus weißen Säulen und Türmen gekrönt war. Die Spitze des Berges war in außerordentlich bizarren Formationen ausgewittert und sah aus wie ein uraltes Bauwerk mit Giebeln und Zinnen. Und das gesamte Bild schwankte, zitterte und bewegte sich. Je länger Atlan darauf starrte, desto verwirrter wurde er. Er drehte sich im Gleiter herum und suchte auf den Hintersitzen, in den Seitentaschen und dann in dem riesigen Handschuhfach. Er fand eine dunkle Brille, die auf einen schmaleren Schädel als den des Springers paßte, aber er setzte sie trotzdem auf. Schlagartig verlor die Ebene der leuchtenden Gräser etwas von ihrem wahnsinnig machenden Eindruck. Atlan fand eine kleine, aber voll geladene und leistungsfähige Waffe im Handschuhfach, eine große Geländekarte und einige Rationenpakete neben einem Haufen persönlichen Kram. Als er sich umdrehte und die Schneise entlangblickte, sah er einen Lichtreflex auf einer Gleiterschnauze. »Die Springer!« stöhnte er auf. Augenblicklich trat er den Geschwindigkeitsregler, schaltete auf den Vorwärtsantrieb um und raste los. Aber er machte nicht den Fehler, den Berg geradlinig anzufliegen, sondern er bog nach rechts ab und fegte auf den Waldrand zu, der an der Kuppe des Tales zu sehen war. Er hetzte die Maschinen des erbeuteten Gleiters, so gut sie es schaffen konnten. Zwischen dem Waldrand und den kleinen Kugelbüschen zischte der Gleiter dahin wie ein Geschoß. Er wurde immer schneller, obwohl ihn Atlan in einem selbstmörderischen Zickzackkurs steuerte. Das Seitenfenster an der Fahrerseite war heruntergeschoben; der Fahrtwind heulte und zerrte an den schwarzgefärbten Haaren. Wieder kämpfte Atlan gegen die Versuchung, sich auf schnellstem
22 Weg über die Tiefebene zu flüchten und in den Höhlen des Berges zu verstecken. Er hatte jetzt fast ein Drittel des Beckens umkreist und wollte genau gegenüber der Schneise, also auf der anderen Seite des Tales, in den Berg eindringen. Immer wieder drehte er sich um. Etwas später sah er einen einzelnen Gleiter, winzig klein, in der hervorbrechenden Sonne aufglitzernd, zwischen den Bäumen der Schneise hervorkommen. Die fremde Maschine schwebte in halber Höhe der Wipfel. Atlan hoffte, daß ihn der Springer in dieser Maschine nicht sehen würde, aber trotzdem ging er tiefer und raste dicht über der Oberfläche von Gräsern und Büschen dahin. Dann plötzlich schob sich das Bild des Mittelfelsens vor den Ausschnitt. Atlan befand sich in Deckung und bewegte das Steuer nach links, ehe er die Geschwindigkeit drosselte. Langsam schob sich die Maschine durch das grüne Hindernis und tauchte wieder am oberen Rand des Talkessels auf. Durch die dünnen Plastikscheiben der Sonnenbrille hindurch wurde der verwirrende Eindruck der psychedelischen Farbschleier gemildert, aber nicht ganz außer Kraft gesetzt. Also ist Suskor tatsächlich die Welt aus einem Psychotraum! Aber ich kann nicht einfach dasitzen und warten! Ich muß handeln! Ich muß mir dringend Informationen beschaffen! Der Gleiter fuhr an, wurde schneller und näherte sich dem Felsen. Der Flug zwei Meter über den schillernden Farbgräsern vor Phrokus Fields war ein Alptraum. Atlan heftete seine Augen starr auf die grün bewachsenen Berghänge und die Kalkfelsen darüber, aber trotzdem verursachten die Farbschleier geradeaus und an beiden Seiten ihm fast Übelkeit. Endlich brummte der Gleiter den Hang hinauf und auf die weiße Wand zu. Die einzelnen Löcher und Simse wurden deutlicher. Atlan hantierte an den Hebeln und schaltete ununterbrochen, um mit der schweren Maschine den schrägen Hang hinaufzukommen.
Hans Kneifel Vorsichtig kletterte er höher, erreichte einen breiten Absatz in dem schneeweißen Gestein und fuhr langsam darauf entlang. Spiralig wand sich der Sims nach oben. Atlan umrundete den Berg in westlicher Richtung und befand sich schließlich, nach einer halben Stunde verzweifelten Kämpfens, wieder auf der südlichen Seite des Berges. Rückwärts stieß der Gleiter in eine große Höhle hinein, hatte etwa zwanzig Meter freien Weg und setzte dann auf. Atlan schaltete die Maschinen aus und lehnte sich erschöpft zurück. Dann öffnete er die Tür und streckte seine langen Beine nach draußen. Die Sonne sank im Westen langsam dem Horizont zu, und der einzelne Gleiter, der in gerader Linie über die Farbgräser auf den Berg zuschwebte, warf einen langen Schatten. Atlan ging aus dem Höhlenschlauch hinaus und sah, daß Wände und Decke porös waren wie ein Schwamm. Ein feiner, singender Luftzug kam aus den kleinen Löchern. Der Boden war mit kleinen, kieselsteingroßen Kalkstücken bedeckt. Atlan lehnte sich gegen die Felswand, betrachtete zuerst die Waffe in seiner Hand und dann die Maschine, die jetzt den Raum zwischen den Gräsern und den ersten Gewächsen des Bergsockels erreicht hatte. Vermutlich war in diesem Gleiter der Springerpatriarch, und andere Gleiter würden ihm folgen. Atlan hob den Kopf und spähte hinüber zum Waldrand. Dort tauchten jetzt vereinzelte Lichter auf. Sie waren immer paarweise angeordnet. Andere Gleiter! Atlan sah genau hin und zählte in dieser ungewöhnlichen, purpurnen Dämmerung zehn Paare von Scheinwerfern. Als die Gleiter aus dem Einschnitt des Waldes heraus waren, verteilten sie sich nach beiden Seiten und bildeten eine sichelförmige Linie. Zehn Gleiter, nein, elf waren es, voller Springer. »Die Jagd geht weiter!« sagte Atlan. Er wußte nicht, wohin er fliehen sollte, aber er versuchte, diesen Berg und die Ebene in seinen Plan einzubeziehen. Er war in einem
Wanderer aus der Vergangenheit tödlichen System eines wahnsinnigen Traumes gefangen. Er mußte alles unternehmen, um hier herauszukommen oder die Rätsel, die ihn mitten in diesen Teufelskreis gestellt hatten, lösen. Er stieß sich mit den Schultern vom Felsen ab. Der Stein speicherte noch die Wärme des vergangenen Tages. Unter ihm brach der einzelne Gleiter durch das Gestrüpp.
5. Die Dinge entwickeln sich, dachte Friinkojes, als er die Maschinen seines Gleiters abstellte und die Maschine sorgfältig zwischen Felsen, Steinen, Büschen und übermannshohen Gräsern versteckte. Er merkte sich einige wichtige Geländepunkte, um nötigenfalls schnell zu diesem Gleiter zurückzufinden, dann machte er sich an den Aufstieg. Wenige Sekunden, nachdem er die Maschine verlassen hatte, hörte ihn niemand mehr; es war bemerkenswert, wie leicht und behende sich dieser wuchtig gebaute Epsaler bewegte. Einige Minuten vergingen, in denen er sich über Kalkbrocken, Geröll, Sand und Rasen aufwärts bewegte. Er konnte sich denken, daß sich der Springer in einer der größeren Höhlen versteckte, aber die kleineren waren viel interessanter. Etwa fünfzig Meter weiter oberhalb hielt Friinkojes inne und sah hinüber nach Süden. Die Springer hatten, unterstützt von der lokalen Polizei, die Spur des Flüchtenden aufgenommen. Und jetzt – sehr deutlich sah Friinkojes die Kette der aufgeblendeten Scheinwerfer – waren sie dicht vor ihrem Ziel. Der Epsaler war ein alter, erfahrener Spezialist der Organisation des arkonidischen Lordadmirals. Die Ausrüstung, die er in den vielen Taschen seiner Kleidung mit sich trug, würde für diesen Einsatz ausreichend sein. Nur fünfzehn Kilometer von hier lag seine »Jagdhütte«, die in Wirklichkeit nichts anderes war als eine hervorragend getarnte USOStation. Dorthin mußte er den jungen Sprin-
23 ger bringen. Vorher war der Flüchtende, der vermutlich vor Angst und Nervosität halb verrückt war, noch zu finden und zu überzeugen. Anschließend mußte er gegen den Widerstand der anderen Springer von hier weggeschafft werden. Und das alles inmitten einer planetaren Oase aus zufälligen Geländemerkmalen, die diese Gegend zur Illustration eines Märchenbuches machten. Friinkojes grinste in der beginnenden Dunkelheit und kletterte weiter. Mit der Größe der Aufgabe wuchs der einzelne, sagte er sich.
* »Halt!« dröhnte die Stimme des Patriarchen Broltanvor aus neun Lautsprechern. Die zehn Gleiter hielten einen Kilometer vor dem Sockel des Berges an. Einige Suchscheinwerfer zogen gleißende Bahnen durch das beginnende Dunkel. Die weißen Felsen reflektierten das Licht. Die Lautsprecher knisterten. »Was ist los?« Broltanvor brummte: »Ihr wißt, daß ich es erstens nicht dulden und zweitens auch gar nicht riskieren kann, daß ein Angehöriger unserer Sippe flüchtet und vielleicht sogar unsere Ansichten diesem verräterischen Atlan erzählen würde!« Jemand sagte: »Das wissen wir, Broltanvor. Was tun wir hier eigentlich?« »Wir sollen den Flüchtigen fangen«, sagte ein anderer Mann. »Suchen wir Curs Broomer!« »Das ist es, was wir wollen«, erwiderte der Patriarch. »Curs ist hier in diesem Berg. Oder auf diesem Berg. Wir müssen uns darauf einrichten, die ganze Nacht zu suchen. Aber wir hören nicht eher auf, bis wir Curs gefunden haben. Los! Umzingelt diesen verfluchten Berg! Sucht nach Curs! Und wenn ihr ihn habt, dann lähmt ihn und bringt ihn hierher. Verstanden?«
24 »Völlig klar!« Friinkojes, der sein Armbandfunkgerät auf die gebräuchliche Welle der eingebauten Gleiterfunkgeräte eingestellt hatte, nahm das winzige Gerät vom Ohr und nickte zufrieden. »Also doch!« murmelte er. Der Spezialist hatte kurz nach dem Tag, an dem er diesen Planeten betreten hatte, dieses verwirrende Stück Landschaft gesehen. Die natürliche und die berufliche Neugierde hatten ihn sehr bald dazu gebracht, jeden Quadratmeter dieses Geländes zu untersuchen. Er fand, daß diese Oase keineswegs in die Natur des Planeten paßte. Er konnte den Eindruck durch nichts belegen, nur durch seine Phantasie und seine lange geschulten Kenntnisse. Während er nachdachte, kletterte er weiter. Er hoffte, daß er sich in dem Labyrinth der vielen Gänge und kleinen Höhlen im Mittelteil des Berges noch immer zurechtfinden würde. Was die ausgefressenen, aberodierten Türme des phantastischen Berges betraf, war er sicher. Er kannte dort jeden Stein. Die Kette der Gleiter zog sich auseinander. Zwei, nein – er sah es nach einigen Metern Kletterei – drei Gleiter preschten rücksichtslos über die Gräser, durch die Büsche und hangaufwärts. Wenn jeder Gleiter nur mit vier oder fünf Springern besetzt war, so hatte Friinkojes zwölf oder fünfzehn Gegner. Aber er vertraute auf die Dunkelheit und die Schwärze der Nacht, die ihm schon immer gewogen gewesen waren. Gleitermotoren heulten auf. Zweige und Äste knickten und krachten. Flüche ertönten, die Friinkojes zum Grinsen brachten. Er befand sich nun sechzig Meter über den Springern und sah weit über sich eine undeutliche Bewegung vor einer weißen Wand. »Hier entlang!« schrie jemand laut. Ein anderer Springer lachte dröhnend, als ob ihm diese Jagd ein besonderes Vergnügen bereiten würde. Sie gingen nicht gerade leise vor. Der Epsaler schwang sich um einen Felsen herum und kam auf ein schmales Felsenband, das sich in der Dunkelheit verlor.
Hans Kneifel Langsam und vorsichtig ging er weiter. Nach etwa zwanzig Schritten tastete er unter seine Jacke und zog schnell seine Waffe hervor. Scheinwerferstrahlen geisterten durch das Dunkel. Kreischend und flügelschlagend raste ein großer, dunkler Vogel schräg über Friinkojes Kopf nach unten und verschwand in der Finsternis. Der Spezialist ging weiter, umrundete eine Felsnase und tastete sich auf dem Sims weiter nach vorn. Über ihm, in einer schrägen Linie, war diese Bewegung gewesen. Er mußte den jungen Springer unbedingt vor seinen Verfolgern erreichen. Jetzt feuerte einer einen Schuß ab. Das donnernde, fauchende Geräusch des Strahlschusses weckte vielfache Echos. Ein gleißend roter Lichtschein überschüttete die Felswand sekundenlang mit seinem Licht. Friinkojes riß den Kopf hoch und starrte in die Richtung, in der er vorhin die flüchtige Bewegung gesehen hatte. Er sah nur einen Höhleneingang, eine kaum wahrnehmbare Möglichkeit, dort hinaufzukommen – und sonst nur die rötlich überglänzten Kalkwände. Er holte tief Luft und kletterte, so schnell er es vermochte, weiter. Unter ihm arbeitete sich eine Kette von mehr als zehn Springern den Hang aufwärts. Mindestens die Hälfte von ihnen trug schwere Handscheinwerfer, mit denen sie nach oben leuchteten. Immer wieder mußte sich der Epsaler zwischen die Felsen ducken oder in flachen Spalten verbergen, um nicht von den kalkigen Lichtbalken getroffen zu werden. »Sie sind keineswegs in Übung!« zischte Friinkojes zwischen den Zähnen und merkte, daß die Springer nicht mit System suchten, sondern vorgingen wie eine Gruppe von unerfahrenen Jungen, die einen ihrer Spielgefährten verfolgten. Sie machten eine gewaltige Menge Lärm, ließen ihre Scheinwerferstrahlen umherwandern und unterhielten sich auffallend laut. Manchmal fluchten sie auch. Der Epsaler kletterte weiter und versuchte, in die Dunkelheit über sich hineinzuhorchen. Natürliche Stufen führten weiter aufwärts. Winzige Steine brachen unter den weichen
Wanderer aus der Vergangenheit Sohlen des Spezialisten los und kollerten leise in die Tiefe. Er sah vor sich den Eingang der untersten Höhle. Die Gänge durchzogen, in Jahrzehntausenden durch Wasser und Witterungseinflüsse geschaffen, wie die Gänge verrückter Maden den gesamten Felsstock. Friinkojes bückte sich und schlüpfte in das dunkle Loch hinein. Er sprach kein Wort, bemühte sich, vorsichtig aufzutreten, dann streckte er beide Arme aus und stellte sich das System der Gänge, Stollen und Kamine vor. Er lief langsam los, wich einzelnen Steinbrocken aus, stieß hin und wieder an, aber er kam schnell und geräuschlos voran. Hinter ihm wurden die Geräusche der suchenden Springer immer leiser. Der Gang machte eine scharfe Biegung nach links. Dann stieg er im schrägen Winkel nach oben. Friinkojes zählte drei weitere Mündungen, die er aber nicht benutzte. Er blieb in dem breiten Gang und keuchte die Steigung aufwärts. Seiner Berechnung zufolge befand er sich in demjenigen Gang, in den sich auch der Flüchtende zurückgezogen hatte. Wie ein Korkenzieher drehte sich der Gang aufwärts. Selbst wenn sich der junge Springer weiter in den Berg flüchtete, würde er dem Spezialisten genau in die Arme laufen. Plötzlich fauchte draußen ein Energiestrahler auf. Das laute, schneidende Geräusch hallte als vielfältiges Echo durch den Felsengang. Ein Schrei war zu hören. »Dort ist er! Treibt ihn in die Höhle hinein!« Friinkojes glaubte, während er jetzt etwas achtloser durch den Gang stolperte und rannte, die Stimme des Patriarchen Broltanvor zu erkennen. Er grinste in der Dunkelheit und zog die flache Lampe aus dem Innenfach seiner Jacke, aber er ließ sie uneingeschaltet. Dann hörten die verrückten Windungen auf, und er blickte in einen geraden Abschnitt des Ganges. Deutlich hob sich gegen das runde Loch die Gestalt des Springers ab. Wieder fauchten und krachten zwei Schüsse, die jeden Quadratzentimeter der
25 Umgebung des Eingangs rötlich erstrahlen ließen. Jetzt war die Silhouette des Flüchtlings deutlich zu sehen. Ohne Zweifel – er war es. Friinkojes zog sich um vier Meter zurück, verbarg seinen wuchtigen Körper hinter den vorspringenden Kalksteinzacken und flüsterte: »Curs Broomer!« Der Springer fuhr zurück, kauerte sich blitzschnell zusammen und feuerte ohne Warnung in die Richtung des Spezialisten. Glühende Gesteinsbrocken flogen nach allen Richtungen. Dicht vor Friinkojes breitete sich ein rotglühender Fleck in dem verdampfenden Kalkstein aus. »Ich bin kein Springer, der dich verfolgt!« sagte Friinkojes leise. »Deine Leute stürmen von allen Richtungen den Berg. Hör auf zu schießen!« Eine stechende Stimme, angespannt, aber ohne Panik, kam vom anderen Ende des Stollens. »Zeige dich! Wer bist du?« Friinkojes zögerte kurz, dann schaltete er die kleine Lampe ein und leuchtete, nach vorn tretend, sich selbst ins Gesicht. Er schaltete die Lampe sofort wieder aus und sagte: »Schnell! Ich bin Spezialist der United Stars Organisation. Ich kann dich zu Atlan bringen!« Ein erschrecktes Einatmen war zu hören, dann rannte der junge Springer mit erhobener Waffe auf ihn zu und blieb dicht vor ihm stehen. Friinkojes rechte Hand mit dem schweren Strahler blieb unten, die Mündung zeigte auf den Boden. »Zu Atlan?« »Ja«, sagte der Epsaler. »Wir kennen uns. Wir saßen im Zubringerbus fast nebeneinander. Komm! Es muß schnell gehen! Vertraue mir!« »Ich glaube, ich habe keine andere Wahl!« Der Stollen wurde plötzlich hell, weil mehrere Scheinwerferstrahlen die Flächen rund um den Eingang ausleuchteten. Wieder
26 machte der Junge einen Schritt, aber Friinkojes drehte sich bereits um und packte den Arm des Mannes. »Los jetzt! Sonst erwischen Sie uns noch hier!« Sie flüchteten schweigend. Ab und zu ließ Friinkojes die Lampe aufblitzen, um sich zu orientieren. Wie von panischer Furcht gehetzt, rannten sie die spiraligen Windungen abwärts und an den ersten der Nebenstollen vorbei. »Hoffentlich finde ich noch den richtigen Weg!« brummte der Epsaler. »Du kennst diesen Berg?« »Ja, flüchtig!« Es ging weiter. Diesmal nahm der Epsaler nicht den Weg, auf dem er hereingekommen war, sondern suchte einen hohen, schmalen Eingang. Dort hinein quetschten sie sich und folgten dem Spalt. Auch dieser Gang machte eine Menge Kurven und Windungen, aber er führte steil abwärts. Sie schlugen sich die Knie, die Schienbeine und die Köpfe blutig, aber sie kamen gut voran. Hinter ihnen erfüllten Schüsse und der Nachhall von Flüchen die dunklen Systeme der Korridore. Die Flucht wurde schneller. Friinkojes täuschte sich nicht eine Sekunde lang über den tödlichen Ernst der Lage. Die Springer, besonders diese Gruppe, würden ihn als Spezialisten der USO keineswegs milde behandeln und auf alle Fälle ihren geflüchteten Sippenangehörigen mitnehmen. Er mußte ihn in Sicherheit bringen – und er würde es tun. Im nächsten Augenblick krachte er mit der rechten Schulter voll gegen einen hervorstehenden Felsen, wurde halb herumgeschleudert. Dann fiel der junge Springer über ihn, fluchte und stieß sich dann wieder von der Felswand ab. »Verdammt!« sagte Friinkojes. »Wir kommen in der Nähe des Bergsockels heraus.« Der Springer schien ihm jetzt zu vertrauen. Er flüsterte drängend: »Wohin bringen Sie mich? Ich muß ihnen entkommen!« »Das ist auch meine Absicht«, erwiderte
Hans Kneifel der Epsaler und tastete sich weiter, nachdem er mehrmals seine Lampe hatte aufblitzen lassen. Noch immer, lauter und direkter jetzt, aber auch mit viel mehr irreführendem Nachhall, klangen die Geräusche und die Schüsse der Verfolger durch das Labyrinth. »Wohin?« »In meine Jagdhütte. Ich finde sie in der Dunkelheit, aber sie ist auch der Polizei bekannt. Ich habe den Polizeifunk abgehört. Die Behörden sind auf der Seite des Patriarchen.« »Das habe ich vermutet!« murmelte der Springer. »Schnell, weiter. Ich glaube, ich kenne Sie.« »Noch nicht, aber bald wirst du mich kennen.« Sie hasteten weiter. Sie folgten den Windungen des Ganges, glitten eine schräge nasse Halde abwärts und sahen dann vor sich ein Loch, dessen Durchmesser sich eine Spur heller gegen die umgebende Dunkelheit abhob. Sie rannten darauf zu, der Springer immer einige Schritte hinter dem überbreiten Rücken des Spezialisten. Dann blieb Friinkojes stehen, drehte sich um und machte: »Psst! Ruhe!« »Ich verstehe!« gab der Springer zurück. »Sie sind fünfzig oder mehr Meter über uns. Aber sie können uns hören, wenn wir nicht aufpassen!« wisperte der Epsaler. »Ich werde mich bemühen. Ich kann geräuschlos schleichen. Fartuloon hat es mich gelehrt!« »In Ordnung!« Sie gingen langsam und unter Vermeidung jeglicher Geräusche auf das Loch zu. Kühle Luft kam ihnen entgegen, und der riesige gelbe Mond stand jetzt schon zwei Handbreit über dem Wald und leuchtete das Tal aus. Sein fahles Licht, die Windbewegungen und die langen Schatten verwandelten den schmalen Ausschnitt des Tales wiederum in eine märchenhafte Szenerie. Friinkojes schob vorsichtig und wachsam den Oberkörper aus dem Loch und drehte den Kopf.
Wanderer aus der Vergangenheit Dann winkte er nach unten. »Los. Dort unten, bei dem großen Busch, ist mein Gleiter versteckt.« »Ich sehe den Busch.« »Vorsichtig! Es darf kein einziger Stein rollen!« »Verstanden.« Sie verließen den Schutz des Felsens. Langsam und behutsam schoben sie sich nach vorn und tasteten mit den Spitzen der Stiefel vorsichtig die Teile des Weges und der Felssimse ab, auf die sie traten. Die Wand, vor der sie flüchteten, lag im vollen Licht des Mondes. Die beiden Schatten – ein breiter, wuchtiger, und ein großer, schlanker – erschienen auf der Kalkwand wie Schattenrisse oder perfekte Silhouetten. Sollte einer der Springer dort unten in den Gleitern zurückgeblieben sein und einen zufälligen Blick nach oben werfen, dann würde er wissen, was hier vorging. »Alles in Ordnung?« flüsterte Friinkojes und sehnte den ersten Schatten auf ihrem gefahrvollen Weg in die Tiefe geradezu mit körperlicher Sehnsucht herbei. »Noch!« gab der Springer zu. Sie glitten lautlos weiter. Friinkojes merkte, daß er schweißüberströmt war. Endlich kamen sie von dem breiten Sims herunter und zwischen den Wirrwarr der kleinen, obersten Sträucher. Einmal knackte ein trockener Ast unter der Sohle des jungen Mannes, und es klang wie ein Schockschuß. »Ruhe, verdammt!« wisperte der Epsaler. »Schon gut.« Weiter nach unten. Mehr Schatten. Schließlich kam die Dunkelheit. Zweige und harte Nadeln rissen an ihrer Haut. Harte Äste schrammten an den Schienbeinen entlang und federten pfeifend zurück. Die Felsen verströmten noch immer die Hitze des Tages. Unzählige Insekten gaben knatternde und summende Geräusche von sich, in denen die leichten, schnellen Tritte der beiden Männer fast untergingen. Weiter oben sahen und hörten sie noch immer vereinzelte Schüsse, mit denen die Springer versuchten, ihren Sippenangehörigen aus seinem Ver-
27 steck zu treiben. Ausrufe und Schreie bewiesen, daß der gestohlene Gleiter entdeckt worden war. Dann geisterten wieder, wie die Spinnenfinger eines Gespenstes, die Lichtstrahlen der Handscheinwerfer durch die Nacht und rissen wahllos Felsen, Gräser und Pflanzen aus der Dunkelheit und einzelne Springer, die wie die Figuren einer antiken, terranischen Spieluhr aus den Höhleneingängen auftauchten oder in ihnen verschwanden. Endlich stützte sich Friinkojes schwer gegen einen warmen Felsen ab. »Hier ist der Gleiter, Broomer!« sagte er. »Nennen Sie mich nicht Broomer. Ich bin Atlan, der Arkonidenprinz. Haben Sie irgendwo den Chretkor gesehen?« »Rhodan steh mir bei!« knurrte der Spezialist. »Nicht nur Springer, sondern auch noch Irre! Los, kommen Sie. Helfen Sie mir, Freund Atlan.« »Eigentlich sollten Sie … aber …« Der Springer schwieg und räumte Zweige weg, rollte vorsichtig Felsbrocken zur Seite und blieb stehen, als sich Friinkojes entlang der Gleiterschnauze in die kleine Höhle hineinschob und die Tür aufriß. Augenblicklich schaltete sich die Innenbeleuchtung ein. Der Epsaler schalt sich einen Idioten und sprang mit einer Schnelligkeit, die ihn selbst überraschte, in den Gleiter. Mit einer Handbewegung schaltete er das Licht wieder aus. Dann aktivierte er die Schaltungen. Ein leises Summen ertönte. Langsam schob der Gleiter nach vorn, knickte einige kleine Sträucher und schwebte dann höher. Einer der Scheinwerfer schwenkte herum und richtete sich zufällig gerade in dem Augenblick auf den Felsblock, als der junge Springer die Tür der Maschine öffnete und sich ins Innere schwingen wollte. Von oben schrie donnernd ein Springer: »Dort sind sie! Schnell! Zwei Männer!« Gleichzeitig feuerte er aus einem schweren Strahler. Der Schuß fauchte und setzte einen Busch in Brand. Sowohl Friinkojes als auch Curs richteten ihre Waffen nach oben und schossen zurück. Jetzt waren die Ma-
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schinen in der Lage, ihre volle Leistung abzugeben. Der Gleiter schwebte schnell zwischen den Felsen hervor, wurde schneller, die Insassen wurden in die Sitze gepreßt, dann riß Friinkojes das Steuer herum und lenkte die bockende Maschine hinaus auf die Grasfläche. Sie war im Mondlicht deutlich zu sehen. Unter den Springern brach die helle Aufregung aus. Wieder beginnt ein neuer Abschnitt deiner Flucht, sagte plötzlich eine Stimme in Atlans Gedanken.
6. Als der helle Gleiter, der ungefähr die Form zweier muschelähnlich übereinandergepreßter Schalen hatte, über die Grasebene raste und hinter sich Luftwirbel erzeugte, feuerten einige der Springer darauf. Ihre Strahlerschüsse und die schweren Entladungen der Paralysatoren fauchten röhrend über die Fläche. Einige Grasflecken begannen zu brennen, aber weißer Schaum, der aus den Blättern und Halmen abgesondert wurde, verhütete einen Flächenbrand. Im Zickzackkurs versuchte Friinkojes, den Schüssen auszuweichen. Er steuerte den gemieteten Gleiter auf die Lichtung zu. Die Springer würden eine halbe Stunde brauchen, bis sie zu ihren Gleitern heruntergeklettert waren. Friinkojes wandte sich an den Springer und fragte mit scharfer Betonung: »Warum bist du vor ihnen geflüchtet? Es sind doch deine Leute?« Die Aufregung des Jungen legte sich. Mit einer Stimme, die nicht zu ihm zu passen schien, erwiderte er: »Ich bin geflohen, weil ich kein Springer bin. Man hat mich in dieses Schiff gebracht und auf diese Traumwelt.« »Du bist kein Springer?« fragte Friinkojes verblüfft, aber er ließ sich nicht ablenken. Er mußte schneller sein und die Springer täuschen. »Nein. Ich bin Atlan. Man hat mich verschleppt. Du … du wirst meinen, daß ich verrückt bin!«
»In der Tat«, gab Friinkojes sarkastisch zu. »Der Eindruck liegt nahe! Wie kommst du dazu, zu behaupten, Atlan zu sein?« Das Licht des Mondes genügte, um den Epsaler den Weg zu zeigen. Er schaltete die Scheinwerfer nicht ein. Weit abseits der Stadt, weit entfernt von jedem Nebenlicht, bedeutete ein solcher Lichtschein sofortige Ortung. Entgehen konnte der Spezialist den Verfolgern ohnehin nicht. Sie waren zu zahlreich, hatten die Unterstützung der Behörden, und er war nur ein einzelner, der sich gegen sie stellte. Er riskierte ohnehin schon zuviel. »Ich behaupte es nicht. Ich bin Atlan. Ich weiß das genau. Nur dieser Körper ist nicht mein Körper. Ich bin außerdem hungrig.« »Wir werden essen, wenn wir in meiner Hütte sind.« »Gut. Warum hast du mich vor den Springern gerettet?« »Weil – du wirst jetzt vermutlich erschrecken – mein Chef, der große Boß der United Stars Organisation, zufällig auch ein Mann namens Atlan ist. Auch er ist, was du zu sein vorgibst, nämlich Arkonide.« »Das verstehe ich nicht!« erwiderte der Springer düster. Der Gleiter wurde, ohne abgebremst zu werden, in eine scharfe Linkskurve gezwungen. Der Berg war in der Undeutlichkeit der Nacht verschwunden, aber einige Scheinwerfer leuchteten dort auf. Mit nachtwandlerischer Sicherheit steuerte Friinkojes die Maschine auf einem anderen Kurs nach Osten aus dem Talkessel hinaus. Er hoffte, daß hinter dieser Geschichte mehr steckte als nur der Fall eines verrückt gewordenen Springers. »Ich verstehe es auch nicht. Wenn du sagst, du bist Atlan, dann müßtest du auch alle Erinnerungen Atlans haben.« Wenn dies zutraf, dann gewann dieser Fall plötzlich ungeahnte Größenordnung. Dann war dieser Junge ein Duplikat Atlans und wußte alles, was der Lordadmiral kannte und wußte. Siedendheiß überlief es den Spezialisten. Er raste haarscharf am Wald-
Wanderer aus der Vergangenheit rand entlang und auf sein fernes Blockhaus zu. »Ich habe alle Erinnerungen. Meine Erinnerungen sind aber an einem gewissen Punkt abgeschnitten.« »Abgeschnitten?« Der Gleiter raste jetzt durch einen anderen Abschnitt der Natur. Die Landschaft unterschied sich weder im Aussehen noch in den Eindrücken, die sie vermittelte, von Phrokus Fields. Überall gab es Türme und Gestein und verzauberte Hügel. Die Wälder und die Seen wirkten wie Kulissen aus längst vergessenen Theateraufführungen. »Ja. Ich kenne meine ganze Jugend bis zu dem Punkt, an dem ich mich in diesem Körper und im Springerschiff wiederfand.« Friinkojes schüttelte den Kopf. Er wurde aus dieser Sache nicht schlau. Es konnte ganz einfach nicht so sein. Der junge Lordadmiral Atlan, seinetwegen als Projektion des Arkonidenverstandes … unmöglich! Sorgfältig verglich der Epsaler die landschaftlichen Merkmale mit seiner Erinnerung, fand den schmalen Bach, den zugewucherten Weg, und in dem Wäldchen auf dem Hügel wußte er seine Blockhütte mit den diversen Einrichtungen. Je mehr er überlegte und über das nachdachte, was er hier erfuhr, desto mehr glaubte er daran, daß er allein diese Aufgabe nicht lösen konnte. Er näherte sich vorsichtig der dunklen, halb in den Hang hineingebauten Hütte und stieg aus, nachdem er den Gleiter zwischen zwei Bäumen geparkt hatte. Er öffnete mit einem verborgenen Hebel eine Art schrägliegendes Tor und stieß mit dem Gleiter wieder zurück, bis die Maschine verborgen war. Das Tor, eine Konstruktion aus Balken, Kunststoff und Grasbewuchs, klappte wieder herunter. Die beiden Männer gingen durch einen niedrigen Korridor hinüber in das Haus, das nur einen Raum hatte. Der erste Griff des Spezialisten war an den Lichtschalter, der zweite aktivierte den kleinen Hyperraumsender. Dann erst öffnete er die Tür der Küchenzelle. Er bereitete mit schnellen Griffen ein
29 Essen vor. Schließlich saßen sie sich am Tisch gegenüber. Mit einem langen Blick starrte Friinkojes den Springer an, der mit seinem abrasierten Bart und den gefärbten Haaren einen sehr merkwürdigen Eindruck machte. »So!« sagte er schließlich. »Du glaubst also, du bist Atlan?« »Ich glaube es nicht, ich bin es. Solltest du daran denken, daß ich verrückt bin – ich bin es keineswegs.« Friinkojes brauchte den Sender nicht mehr einzustellen. Er kippte einige Schalter und murmelte: »Wenn du wüßtest, wieviele Verrückte beteuern, sie wären nicht geisteskrank!« Dann hob er das Mikrophon an die Lippen und sagte: »Hier spricht Spezialist Friinkojes auf Suskor, System Phrokus. Ich habe eine Meldung zu machen …« Er berichtete in wenigen Sätzen, was vorgefallen war. Aufmerksam und mit kauenden Kiefern beobachtete der siebzehnjährige Springer jeden Griff und jede Geste des Epsalers. Schließlich beendete der Spezialist seine Durchsage an die nächste Relaisstation: »… auf alle Fälle einen Kreuzer schicken, dessen Kommandant entsprechende Vollmachten hat. Ich kann allein mit der Sache nicht fertig werden. Ende.« Ein mechanisch erzeugtes Schlußsignal kam aus dem kleinen Lautsprecher, dann schaltete Friinkojes den Sender ab und versenkte das Gerät in einer Höhlung in der Rückwand der Hütte, die aus dicken Brettern bestand. Er setzte sich wieder und sagte: »Jetzt zu dir. Du glaubst, daß man dich auf eine noch zu erklärende Weise entführt hat?« »Ich war mit meinen Freunden zusammen. Wir kamen auf diesen Planeten, von dem ich dir schon erzählt hatte. Die Skinen machten eine Aufzeichnung, und plötzlich fand ich mich in diesem Körper wieder. Ich weiß, daß du mir schlecht Glauben schenken kannst. Außerdem ist das hier eine Zauber-
30 welt, eine verrückte Welt, die es in Wirklichkeit nicht gibt.« Friinkojes dachte an seine blauen Flecken und betrachtete nachdenklich die Schnitte in der Haut seiner Finger und der Unterarme. »Sei überzeugt«, erwiderte er. »Der Planet Suskor ist eine sehr reale Welt! Ich kann das gut beurteilen. Aber weiter: warum sollten dich die Springer entführt haben?« »Ich weiß es nicht. Aber sie suchen doch nach mir? Sie haben also großes Interesse, mich zu fangen. Glaubst du, daß ein Patriarch seinen Handel vergißt und statt dessen hinter einem siebzehnjährigen Sippenangehörigen nachjagt, wenn es nicht außerordentlich wichtig wäre?« Friinkojes überlegte eine Weile, dann deutete er auf den Platz, an dem der Sender gestanden hatte. »Du hast gehört, was ich unternommen habe. Vertraust du mir?« »Ich wäre sonst nicht hier.« Friinkojes goß heißes, dampfendes Camana in die dicken Becher und schüttete eine Mischung aus Milch und Zucker hinein. Dann begann er langsam und methodisch umzurühren. »Es muß also wichtig sein. Was willst du eigentlich auf diesem Planeten?« »Ich suche meine Freunde. Fartuloon, Farnathia und Eiskralle. Ich muß sie finden. Vermutlich hat Orbanaschol sie ebenfalls in seiner Gewalt.« Langsam, aber mit allen Zeichen der Überraschung, erhob sich der Spezialist halb aus seinem schweren Stuhl. Er kannte etwas aus der arkonidischen Geschichte und aus dem Lebenslauf des jungen Atlan. »Orbanaschol, wie?« fragte er. »Mann! Dieser Arkonide ist schon seit Tausenden von Jahren tot!« Atlan zuckte zurück und sagte beunruhigt: »Du bist verrückt, Mann! Er ist an der Regierung. Er hat mich um mein Erbe betrogen.« Der Junge war verwirrt, aber er hielt sich gut, dachte Friinkojes. Er schüttelte seinen ergrauten Kopf, als ob er die beschwörenden
Hans Kneifel und drängenden Gedanken dadurch los werden konnte. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder war dieser Springer verrückt, und dann hatte er seinen Alarm in sinnloser Weise abgegeben. Oder das, was »Atlan« sagte, entbehrte nicht einer gewissen Grundlage. In diesem Fall sah er gigantische Verwicklungen voraus. Es würde wohl am besten sein, wenn er den Jungen versteckte und ihn mit dem USO-Kreuzer direkt zu Atlan nach dem Center schickte. Das werden die Springer natürlich zu verhindern versuchen. »Ich bin also mitten drin!« sagte er laut. »Hör gut zu, Freund. Ich bin allein hier. Ich kann dich nicht schützen, jedenfalls nicht genug. Wir werden uns in den Wäldern verstecken, bis das Schiff kommt. Wir müssen flüchten. Ich sehe keine andere Möglichkeit.« Der Springer deutete auf ihn und sagte gebrochen: »Niemand will mir helfen! Auch du nicht. Niemand sagt mir, was dies für eine Welt ist! Ich werde hier wahnsinnig, das ist sicher.« »Keine Sorge. Du wirst nicht wahnsinnig. Wie ist das mit deinen Freunden? Berichte!« Friinkojes war von der Sicherheit des jungen Mannes beeindruckt. Es war ohne jeden Zweifel nicht Atlan, aber jede Bemerkung, die von einigem Wert war, bewies dem erfahrenen Spezialisten, daß der Springer nicht nur phantasierte. »Du weißt es vermutlich nicht, aber die Sippe von Patriarch Broltanvor ist bei uns auf der schwarzen Liste. Diese Springersippe ist ein potentieller Gegner der Terraner …« »Wessen Gegner?« rief Atlan. Er kannte kein Volk dieses Namens. Je mehr der Mann vor ihm versuchte, ihn zu beruhigen und zu erklären, was dies für eine rätselhafte Welt sei, desto verwirrter wurde er. Nichts von alledem, was er hier erfuhr, war ihm bekannt. »Vergiß es. Die Terraner sind ein wichtiges Planetenvolk in dieser Galaxis. Jedenfalls werde ich alles tun, um dich zu Atlan zu bringen.«
Wanderer aus der Vergangenheit »Ich bin Atlan, Friinkojes!« Der Epsaler winkte ab und brummte: »Schon gut. Es wird am besten sein, ich beantworte deine Fragen. Aber auch hier werden uns die Springer finden. Wir sollten einige Vorräte zusammenpacken und einfach abhauen.« »Was bringt uns das?« »Zeitgewinn, mein unerfahrener Freund«, knurrte Friinkojes. »Und vielleicht ist der Patriarch derart erregt, daß er uns hier ein Feuergefecht liefert. Jedenfalls kann ich mich nicht gegen die Polizei des Planeten stellen. Mein Schutz ist also lückenhaft. Aber ich werde tun, was ich kann. Wie spät?« Er blickte schnell auf die rechteckige Uhr an seinem Mittelfinger. »Ich denke, wir haben noch etwas Zeit. Meine Hütte liegt abgelegen. Sie werden zuerst in die Stadt zurückfahren müssen.« »Ich habe viele Fragen!« begann der Springer. »Bitte!« »Bist du … gibt es hier so etwas wie eine Zeitrechnung?« »Es gibt. Wir schreiben März dreiundvierzig.« »Dreiundvierzig? Was bedeutet das?« »Wir schreiben das Jahr 2843 nach der Zeitenwende. Diese Zeit richtet sich nach geschichtlichen Daten auf der Erde, dem Planeten der Terraner. Sage nur nicht, daß du dies alles nicht genau kennst! Jeder Springer rechnet mit diesen Zahlen.« »Ich bin kein Springer!« Der Springer war aufgesprungen und klammerte sich an die Tischkante. Er hatte geschrien. »Schon gut. Aber du wirst es gegenüber jedem sehr schwer haben, dich als Atlan auszugeben. Mein Chef sieht aus wie ein etwa vierzigjähriger Mann. Jetzt zu den anderen Fragen.« »Du sagst, diese Welt ist real? Keine Projektion, die Orbanaschol der Dritte errichtet hat?« »Nein. Suskor ist ein realer Planet.«
31 »Sagt dir der Name der Blinde Sofgart etwas?« fragte Atlan beharrlich weiter. Er fürchtete sich vor den Antworten, denn er wußte, daß der Mann vor ihm log. Gleichzeitig klammerte er sich an jede Hoffnung; es konnte sein, daß dieser breitgebaute ältere Mann mit den knappen, entschlossenen Bewegungen tatsächlich die Wahrheit sagte … »Nein. Nicht das geringste. In unserer Organisation ist kein solcher Name bekannt. Wäre er ein Feind Atlans, unseres Chefs, dann würden wir den Namen kennen und nach diesem Mann suchen.« »Ich verstehe. Was tust du hier?« Friinkojes erklärte es ihm. Dann zuckte er die Schultern und stand auf. Er ging zur Kücheneinheit und begann, einzelne Pakete und Dosen aus den Vorratsfächern zu nehmen. »Was tust du?« »Ich bereite unsere Flucht vor. Wir brauchen etwas zum Essen.« Der Spezialist ging zu einem kleinen Gerät und betrachtete die handtellergroße dunkle Scheibe. Sie zeigte keinerlei Echos. »Was ist das?« »Ein Gerät, mit dem ich feststellen kann, ob sich jemand dieser Hütte nähert. Schließlich verfolgen dich ein halbes Hundert Springer.« »Sie werden uns fangen und ins Schiff zurückschleppen!« keuchte Atlan auf. Er wußte, daß er vollkommen desorientiert war. Jede Geste und der Ausdruck seines fremden Gesichts mußten es dem Fremden hier zeigen. Was sollte er tun? Er besaß nicht den geringsten Ansatzpunkt. Nichts gab es, an das er sich halten konnte. Es war ihm, als befände er sich in einem verstandesmäßigen Vakuum, das ihm nicht entgegenkam, in dem sich nichts wiederfinden ließ, womit er etwas anfangen konnte. Dieser Mann hatte ihn einmal vor den Springern gerettet, hatte ihm zu essen und zu trinken gegeben, aber auch er war nur Bestandteil einer Scheinwelt. Bisher hatten die ununterbrochen stattfindenden Aktionen verhindert, daß er selbst nachdachte und daß ihm der Ernst der Lage voll zum Bewußtsein gekommen war.
32 Wie würden die nächsten Stunden ablaufen? Er mußte ein Loch in der Mauer finden. Er, Atlan, ohne die Hilfe seines erfahrenen Freundes Fartuloon, zwar mit den Erkenntnissen der Ark sumnia ausgerüstet, mußte die Illusion durchbrechen. Er mußte zurück in die Stadt. Nur dort bekam er neutrale Informationen. »Kommen die Springer?« fragte er alarmiert und starrte auf die schwarze Scheibe. »Noch nicht!« Die Betonung lag auf dem ersten Wort. »Wohin flüchten wir?« »Überallhin und nirgendwohin!« sagte der Spezialist. »Es wird sich finden. Das Ziel ist jedenfalls der Raumhafen. Wir müssen genau in dem Moment dort eintreffen, wenn das Schiff meiner sehr verehrten Behörde landet.« Atlan deutete auf die Sichtscheibe des Rundumtasters. »Sie kommen!« sagte er. »Ich glaube, wir müssen uns wehren. Wir sollten in die Stadt zurück und dort nach einem Versteck suchen. Dort gibt es mehr Menschen.« In einer Serie schneller, zielbewußter Bewegungen warf Friinkojes die Vorräte in einen sackartigen Behälter und schnürte ihn zu. »Verlassen wir dieses Loch. Wir haben getan, was getan werden mußte. Die Springer sollen eine leere Heimstatt finden und sich ein wenig ärgern. Los, komm. Zum Gleiter!« Friinkojes packte den Springer an der Schulter und zog ihn mit sich zu der Verbindungstür zwischen dem Gleiterversteck und dem Haus. Das Licht wurde abgeschaltet. »Ich glaube, deine Sippe ist recht aufgebracht!« murmelte Friinkojes. »Aber wir werden sie an den dicken Nasen herumführen.« »Ich muß in die Stadt!« beharrte Atlan. »Auf Umwegen, bestenfalls!« meinte der Spezialist und löste einen Schalter aus, der zwischen dem Haus und dem Versteck eine Lawine aus Steinen und Erdreich auslöste,
Hans Kneifel die den Gang verschüttete. Gleichzeitig fielen täuschend nachgeahmte Bretter und Bohlen herunter und bildeten einen Abschluß in der Wand, der nur mit Spezialgeräten zu erkennen war. Die beiden Männer blieben neben dem Gleiter stehen und sahen durch winzige Schlitze nach draußen. »Dort sind sie.« »Lassen wir sie näher kommen!« murmelte Friinkojes. »Wir schaffen es auch diesmal!« »Das glaube ich nicht. Die Springer sind keine Springer. Wir sind auf einer chaotischen Scheinwelt. Sie wird uns alle umbringen. Eines Tages schalten sie alles ab.« Friinkojes glaubte, eine eiskalte Hand berühre ihn zwischen den Schulterblättern. »Wer schaltet wen ab?« Atlan sagte schaudernd: »Orbanaschol schaltet uns alle ab. Wir werden zu unserer Scheinwelt zurückkehren! Wir werden zu Asche werden.« »Ich glaube, ich werde verrückt!« brummte Friinkojes. »Wenn das alles vorbei ist, lasse ich mich pensionieren!«
7. Sie hatten ihre Spürgeräte eingesetzt und den Kurs entdeckt, den der Gleiter genommen hatte. Sie wußten nicht, wer jener Mann gewesen war, der Curs Broomer geholfen hatte, aber sie ahnten, daß es einer dieser verdammten Terraner war, womöglich sogar jemand von dieser verdammten USO, der Organisation dieses verräterischen Arkoniden! Patriarch Broltanvor starrte durch die Windschutzscheibe des Gleiters, der aus seinem eigenen Schiff stammte. »Verdammt!« brummte er. Sein Pilot hatte die linke Hand an der Steuerung und in der rechten die Schockwaffe. Vor ihnen lag im Dunkel der Mitternacht die Vorderfront eines kleinen, halb in den Berg hineingebauten Häuschens. »Richtig: verdammt! Und dort soll er sein?«
Wanderer aus der Vergangenheit »Wir haben mit den Geräten die Spur bis hierher verfolgt!« »Sind alle da?« »Sie sind hier entlang. Er kann nicht entkommen!« »Gut. Aussteigen. Scheinwerfer an! Wir holen ihn hier heraus!« »Verstanden!« Flüsternd wurden seine Befehle weitergegeben. Langsam und ohne viele Geräusche verließen etwa vier Dutzend Springer die Gleiter. Sie schlugen sich neben den Maschinen in das dunkle Gestrüpp, verbargen sich zwischen den kugeligen Büschen und schlichen langsam und mit äußerster Vorsicht auf das Haus zu. Es war eigentlich kein Haus, sondern nur eine Hütte aus drei Seiten; der Rest der Balkenkonstruktion verschwand im Gras eines bewachsenen Hanges. Nichts rührte sich. Nur die Geräusche des Windes waren zu hören. Und dann ein paar knackende Geräusche, einige Schritte, schwere Atemzüge. Ein Springer verhakte sich mit seinen Zöpfen in einem Zweig und fluchte flüsternd. Der Patriarch holte aus einer Tasche seiner Jacke einen fingergroßen Gegenstand, schob ihn in den Lauf einer kleinen Waffe und hob langsam die Hand. Klickend spannte sich ein Hahn. »Los«, sagte er zu sich selbst. »Die Polizei wird sich nicht einmischen. Fangen wir an.« Dann feuerte er. Die Leuchtpatrone, in die ein winziges Antischwerkraftaggregat eingebaut war, zischte fast senkrecht in den Himmel hinauf und explodierte. Es gab ein Licht, das zwanzigmal so stark war wie das Licht des Mondes. Der Waldrand verwandelte sich in eine Szene aus hartem, kalkweißem Licht und schwarzen Schatten. Nur zwei oder drei Springer waren zu sehen, die, ausgerüstet mit Handscheinwerfern und Waffen, auf die deutlich sichtbare Tür des Blockhauses zugingen. Sie bewegten sich ungeschickt, aber aus jeder ihrer Bewegungen sprach deutlich, daß sie entschlossen
33 waren, ihren Sippenangehörigen aus diesem Haus dort zu holen. Der Patriarch vermied es, in das grelle Licht dreißig Meter über ihnen zu sehen, aber er ging schnell und mit weit ausgreifenden Schritten auf die Tür zu. Er hob die Waffe. »Komm 'raus, Curs!« schrie er. Seine Stimme war heiser vor Wut und Müdigkeit. »Komm 'raus, oder wir schießen die Tür in Fetzen. Und Sie, Mister, Sie ergeben sich besser auch gleich. Wir sind fünfzig Leute!« Keine Antwort. Der Springer winkte. Ein stämmiger Mann trat vor, nahm einen Anlauf und warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Sie flog krachend auf. Das Innere des Hauses war leer. Handscheinwerfer leuchteten auf. »Sucht sie!« schrie Broltanvor. »Sucht sie, bei den ewigen Sternen! Sie dürfen nicht entkommen!« Mindestens fünfzehn Springer drangen in die Hütte ein.
* Atlan stand schweigend da. Seine breiten Schultern – vielmehr die Schultern des Körpers, in den sie ihn versetzt hatten – lehnten an dem kaum geglätteten Material der Wand. Loses Erdreich rieselte nach unten. Atlan preßte seine Augen dicht an den Schlitz und spähte nach draußen. Links neben sich hörte er die flüsternde Stimme des Mannes, der ihn eine Strecke des Weges begleitet hatte. »Sie dringen eben in das Haus ein. Hoffentlich kann ich anschließend wieder die Zerstörung beseitigen.« Atlan schwieg. In seinen Gedanken wisperte eine Stimme. Er glaubte sie zu erkennen: Flüchte! Besorge dir Informationen, die neutral sind! Aber sieh zu, daß du mit dem Leben davonkommst! Atlan nickte, aber er schlug mit der Stirn gegen die Balkenimitation. Der Mann dort drüben sagte:
34 »Wir werden durchbrechen, wenn sie alle im Haus sind oder sich zurückgezogen haben.« Atlan griff an den Gürtel, zog die erbeutete Waffe hervor und wog sie abschätzend in der Hand. Dann drehte er sie um und schlich um das Heck des Gleiters herum. Jetzt hatte er die fast doppelt mannsbreiten Schultern des Mannes vor sich. Langsam hob er den rechten Arm. »Sie scheinen die Hütte auseinandernehmen zu wollen!« murmelte Friinkojes. »Da wird sich jemand ärgern müssen!« Atlan zielte sorgfältig. Es war nicht so, daß dieser Mann sein Gegner war. Er bedeutete nur ein Steinchen in einem Mosaik. Er war eine positive Komponente in diesem verrückten Land, aber nicht mehr. Um flüchten und richtige Informationen einholen zu können, mußte er frei werden. Der Mann würde ihn begleiten, also war er unfrei. Er senkte in einer schnellen Bewegung den Arm und zielte auf eine Stelle des Hinterkopfes, von der er wußte, daß ein Schlag, der sie traf, nicht tödlich sein würde. Dann schlug er kurz und hart zu. »Was …?« gurgelte Friinkojes, dann brach er zusammen, schlug gegen Atlans Knie und fiel auf den Boden des Verstecks. Atlan steckte die Waffe ein und blickte in dem fast völligen Dunkel auf die schwarze Masse zu seinen Füßen hinunter. Das war nicht gut, aber notwendig. Versuche zu fliehen, aber denke an die vielen, die draußen auf dich lauern! Wieder flüsterte die Stimme, die Atlan seit dem Augenblick kannte, an dem er mit den Sternen allein gewesen war. Atlan kippte das Tor und zwängte sich durch den entstandenen Spalt, dicht über dem Boden. Er robbte auf den nächsten Busch zu und verbarg sich dort zwischen den Zweigen. Einmal kam er keine fünf Meter an einem Springer vorbei, der aber in die entgegengesetzte Richtung blickte. Atlan kroch weiter und erreichte schließlich die hochliegenden Wurzeln eines Baumes. Dort richtete er sich auf und drehte sich um.
Hans Kneifel Durch ein Loch in der grünen Wand jedoch konnte er einen kleinen Ausschnitt der Szene überblicken. Die Springer rannten aufgeregt rund um die Blockhütte herum und schrien sich Befehle zu. Atlan sprang nach oben, klammerte sich an einen Ast und schwang sich dann in die Höhe. Langsam kletterte er in die höheren Äste des Baumes hinauf und hielt sich dort am Stamm fest. Jetzt sah er die Umgebung weitaus deutlicher; auch das Sichtfeld war größer. Du mußt in die Stadt! sagte die Stimme in seinem Innern. Sein Extraverstand hatte sich gemeldet. »Aber wie?« flüsterte er tonlos. Wenn er den Springern einen Gleiter stahl, würden sie wissen, daß er hier gewesen war. Tat er es nicht, hatte er noch mehr Chancen. Er wartete also geduldig und mußte nach einer Weile erkennen, daß die Springer auch das Gleiterversteck des Spezialisten fanden, aber den Mann liegenließen. Sie veranstalteten abermals eine Suchaktion, aber sie fanden ihn nicht. Er wartete voller Ungeduld, aber drei Stunden später schwebte einer der Gleiter nach dem anderen zurück in die Richtung der Stadt. Lange sah Atlan von seinem hochgelegenen Platz aus den weißen, roten und gelben Lichtern nach. Dann machte er sich wieder an den Abstieg.
* »Aber … heute wird mich niemand erkennen!« sagte Atlan leise. Er wußte es, denn diesmal war seine Verkleidung fast vollkommen. Das Geld, das er in dem gestohlenen Gleiter gefunden hatte, würde ihm weiterhelfen. Mit der Maschine des Spezialisten war er zum Felsen geflogen, hatte dort die Rückrufautomatik gedrückt und so den Gleiter wieder bis an das Versteck zurücksteuern lassen. Mit dem Fahrzeug, das er selbst hier gestohlen hatte – keine dreißig Schritte vom Eingang des Informationszentrums entfernt! –, war er in die Stadt zurückgeschwebt. Aber er mußte sehen, daß er von der Straße
Wanderer aus der Vergangenheit herunterkam. Überall patrouillierten Springer oder Polizisten. Sie suchen dich noch immer! sagte der zusätzliche Sinn in seinem Innern. Er ging langsam die Stufen hinauf. Die Portale zogen sich in die Wand zurück und gaben den Weg frei. Eine fast leere Halle wartete auf ihn. Atlan vergrub die Hände in den Taschen seines gestohlenen Fellmantels und dachte an den Gleiter, den er in einer unterirdischen Großgarage geparkt hatte. Vielleicht hatte ihn der frühere Besitzer schon zurückerhalten. Langsam las er die Schriftreihen, die ihn in die verschiedenen Informationsräume führten. Schließlich entschied er sich für Planetare Geschichte und stellte sich auf eine Rolltreppe. Sie brachte ihn in einen eckigen Raum, der von vielen Nischen mit Projektionsgeräten, Kopfhauben und anderen Gerätschaften gefüllt war. Mildes Morgenlicht flutete durch raumhohe Fenster. Atlan setzte sich; er kannte solche Auskunfteien und Wissensmagazine. Er rechnete damit, daß Orbanaschol zwar eine phantastische Welt ersinnen, aber diesen Perfektionismus nicht auf die Spitze treiben und auch noch die historischen Daten verändern konnte. Er erwartete mit Sicherheit, daß diese Anlage nicht oder nur sehr lückenhaft funktionieren würde. Mit einem Knopfdruck aktivierte er die Armaturen des Rufpultes. Schriftreihen entstanden, er entschied sich für Von den Anfängen bis heute, ein SechzigMinuten-Abriß. Er schob sich die Haube über den Kopf, stellte die Okulare ein und lehnte sich in den bequemen Sessel. Bilder, Filme, Lehrmaterial, geschickt aufgemacht, lief vor ihm ab. Eine ruhige Stimme erklärte die einzelnen Stationen der jungen Geschichte dieses Planeten. Jede einzelne Information deckte sich absolut mit dem, was er in diesen wenigen Tagenseiner gefahrvollen Flucht erlebt hatte. »Das habe ich nicht erwartet!« murmelte er, als das Band stoppte. Er schwieg und begann nachzudenken. Langsam lief vor ihm auf der Archivscheibe der Text der vielen
35 gespeicherten Anschauungsbänder ab. Also hatte Friinkojes ihm doch die Wahrheit gesagt! Es gab diesen Planeten wirklich. Aber mit der Zeitangabe konnte er nichts anfangen. Er besaß kein Bezugssystem für diese Zahlen, die jedem anderen ein deutlicher Begriff gewesen wären. Dann suche ein anderes Bezugssystem! befahl die Stimme. Der Logiksektor seines aktivierten Verstandes meldete sich wieder mit neuer Dringlichkeit. Atlan kontrollierte jetzt den Speicher dieser Infothek. Schließlich las er das Wort Arkon. Augenblicklich senkte sich seine Hand und arretierte den Text. Kurze Geschichte ARKONS, konnte er jetzt lesen. Er tippte, von einer rätselhaften Erregung gepackt, die Kennziffern dieses Lehrbandes in die Anlage, und Sekunden später flutete die Erinnerung über ihn. Er las Namen, hörte den Text, sah die bekannten Bilder, die hier so dargestellt waren, als handle es sich um eine unvorstellbar weit zurückliegende Vergangenheit. Nur einmal tauchte der Name Orbanaschol der Dritte auf. Atlan stoppte den Vortrag und versuchte, seine erneut hochsteigende Panik zu unterdrücken. »Arkon!« murmelte er. Er fühlte seine steigende Verzweiflung. Was war dort auf dem Planeten der Skinen geschehen? Jemand aus dem großen Korps seiner Verfolger schien ihn gefunden zu haben. Sie steckten seinen Verstand in einen fremden Körper und ausgerechnet in den Körper eines Mitgliedes der Sippe Broltanvors, des Arkonidenhassers. Und gleichzeitig schien sein Verstand, zusammen mit diesem ungefügen Körper, in ein anderes System gebracht und vielleicht auch in eine andere Zeit geschleudert worden zu sein. »Was soll ich tun?« fragte er leise. Noch niemals war er so allein und so desorientiert gewesen. Von allem, aber auch wirklich von allem, hatten sie ihn abgeschnitten. Was hatte dieser fremde »Spezialist« gesagt? Atlan war der Chef seiner Organisation.
36 »Er heißt Atlan, und ich bin Atlan. Gibt es mehrere Männer dieses Namens?« Das ist unwahrscheinlich, flüsterte der Extrasinn. Jetzt bedauerte er, daß er den Agenten dieses unbekannten Atlans niedergeschlagen hatte und geflohen war. Konnte er zu ihm zurück? Ausgeschlossen, denn die Springer oder die Polizei würden ihn sehr schnell eingefangen haben. Verstecke dich in der Stadt, bis das Raumschiff des anderen Atlan landet! Umgib dich mit Menschen. Nur so kannst du die Wartezeit überstehen! »Das sollte ich tun!« knurrte Atlan und schaltete die Geräte ab. Als er den Raum, dessen einziger Insasse er gewesen war, verließ, sah er sich in einer Spiegelplatte. Er trug Stiefel, die er gekauft und Hosen, die er in einem Trödelladen erstanden hatte. Der Mantel, eine Mütze und sein Gesicht veränderten ihn völlig. Nur seine Größe hatte er nicht ändern können, aber dadurch, daß er sich leicht hinkend und etwas nach vorn gebeugt bewegte, fügte er seiner Tarnung noch einige Einzelheiten hinzu. Langsam verließ er das Informationszentrum und trat hinaus auf die Straße, die unter den alten Bäumen rund um den Avilah-Safi-Platz lief. Es war früher Morge. Wann kommt das Schif? Finde es heraus! flüsterte der Extrasinn. Atlan wandte sich nach links und ging gerade so schnell, daß er nicht auffiel, um den Platz herum. Er blieb vor Schaufenstern stehen, blickte hinein und trank irgendwo eine Tasse eines weißen, aufpulvernden Getränks. Er bemühte sich immer wieder, nichts zu tun, das ihn aus der Menge der Menschen herausragen lassen würde, aber sorgfältig wich er jedem Springer aus, den er sah, und erst recht jedem Polizisten. Er überlegte lange, ob er hinausfahren sollte zum Raumhafen, aber dort würde er noch weniger Möglichkeiten haben, sich zu verbergen. Stunde um Stunde verging. Obwohl er nicht ein einziges Mal auffiel, stiegen seine Unruhe und seine Nervosität. Er wußte nicht mehr, was er tun sollte. Angenommen, das
Hans Kneifel Schiff landete erst in wenigen Tagen, beispielsweise am siebenundzwanzigsten dieses Monats März – was sollte er in der Zwi schenzeit tun? Warten? Wo? An welcher Stelle? Wie lange? Er hatte kaum Chancen. Keine Unruhe! Gerate nicht in Panik! sagte der Extrasinn. Dreimal war er seinen Verfolgern entkommen. Ein viertes Mal würde es ihm vermutlich nicht mehr glücken. Seine Sorge nahm zu. Wie er den Tag verbrachte, das wußte er nicht mehr, aber am beginnenden Abend fand er sich selbst in einem dunklen, verräucherten, aber sehr gemütlichen Lokal wieder. Es lag zwei Treppen unterhalb des Straßenniveaus und war von dem Verteilerkreisel des Platzes aus zu erreichen gewesen. Bezeichnenderweise hörte es auf den Namen Das Tiefe Bohrloch. Atlan saß, seine Mütze schräg auf dem Kopf, am Ende der langen Theke. Hier war es ziemlich dunkel, aber nicht so dunkel, daß es wie ein Versteck wirkte. Vor Atlan stand ein hohes, zylindrisches Glas, neben seinem rechten Ellenbogen saß ein Mädchen oder eine junge Frau, die zwei schwere Bandgeräte bediente. Sie versorgte das Lokal mit Musik. Atlan streckte die Hand aus und ergriff das Glas. Bei der Gelegenheit sah er trotz des geringen Lichtes, daß er schmutzige Finger und aufgerissene Nägel hatte. Als er trank, wanderten seine Augen durch das langgestreckte Lokal. Er sah etwa dreißig Männer, ein Dutzend Frauen, einige Jugendliche. Es waren nicht nur Terraner. Aber ihnen allen war ein bestimmter Ausdruck eigen: Sie wirkten wie Angehörige eines Volkes, das es niemals in seiner Geschichte leicht gehabt hatte, etwas verwittert, trotzig oder stur, jedenfalls hart und gespannt. Einige Personen sprachen leise miteinander, die jungen Leute lachten, und Atlan fühlte sich plötzlich uralt und weise gegenüber diesen jungen Menschen. Er überdachte seine Le-
Wanderer aus der Vergangenheit benserfahrung und fand, daß sich alles ähnelte, auf allen Welten, die er betreten hatte. Er setzte das halbleere Glas ab. Dunkles Bier mit einem weißen Schaumrand schaukelte darin. Dann wandte er sich an die junge Frau, die mit schnellen, geübten Fingern Kassetten wechselte, Verstärker ein- und ausschaltete, Regler umherschob und an großen Schaltern drehte. Die Musik, die Atlan nicht kannte, beruhigte ihn und regte ihn gleichzeitig auf. Hier, wo er saß, störten Lärm und Melodien am wenigsten. Wenn es ihm gelingen würde, sich in einer Wohnung dieser Stadt zu verbergen, dann konnte er die Wartezeit durchstehen. »Es ist eine schöne Arbeit!« sagte er abschätzend und deutete auf die Spulenmagazine. Das Mädchen blickte hoch, Atlan begegnete einem kurzen, prüfenden Blick aus dunklen Augen. »Meinen Sie? Wollen Sie mit mir tauschen?« fragte sie zurück, schob einen Tonregler höher und griff nach einer Zigarette. »Keineswegs. Ich glaube, mir fehlt die Fähigkeit. Auch bin ich nicht stilsicher. Wie lange machen Sie das schon?« »Rund ein Jahr.« »Und wie lange noch? Ich kann mir denken, daß es für ein hübsches, junges Mädchen wie Sie nicht gerade ein Vergnügen ist, Nacht für Nacht hier zu sitzen.« »Ich möchte einen Laden oder ein Tageslokal aufmachen!« war die Antwort. Das Mädchen blickte auf die Uhr. »Noch drei Stunden, dann machen wir hier zu!« »Das kann noch Jahre dauern!« bemerkte Atlan. »Nicht mehr so lange!« erwiderte das Mädchen. Atlan schob, als der Kellner wieder an seinem Platz an der Thekenecke vorbeikam, ihm das Glas hin. Der Kellner nickte und stellte wenige Minuten später ein gefülltes Glas vor den jungen Mann. Atlan zog die zusammengerollten Scheine aus der Manteltasche, blätterte darin und schob einen davon über die Platte.
37 »Rest für Sie, Freund!« brummte er. Er schwieg wieder eine Weile. Er betrachtete das Mädchen. Sie war einen Kopf kleiner als er, gut gewachsen, mit langem, blondem Haar. Ihr Gesicht war auf besondere Weise reizvoll; länglich, mit großen Augen und einem sinnlichen Mund. Das Mädchen hatte eine Entschlossenheit an sich, die sich in jeder Geste und Bewegung zeigte und Atlan faszinierte. Er beschloß, seinen Versuch zu wagen, aber auf eine unverdächtige Weise und so spät wie möglich. wie möglich. »Haben Sie niemanden, der Ihnen hilft?« fragte er, als die Lautstärke der Musik es zuließ. »Wie meinen Sie das, junger Mann?« »Nun, einen Freund, Familie oder so etwas …?« Atlan lächelte und nahm dann die Mütze ab. Er stützte sich auf die Ellbogen und sah dem Mädchen ins Gesicht. »Nein, leider«, antwortete sie. »Ich helfe mir selbst, und das ist wohl die beste Art der Hilfe, die ich erwarten kann. Glücklicherweise sind die Chancen in einer relativ jungen Kolonie gut. Ich brauche nicht viel Stammkapital. Alles andere mache ich selbst.« »Ich zweifle nicht daran«, sagte Atlan und erinnerte sich an zahlreiche andere Gelegenheiten, an ähnliche und fast identische Gespräche an solchen Orten. Er setzte sein schönstes Lächeln auf; es hätte noch besser gewirkt, wenn er seinen eigenen arkonidischen Körper gehabt hätte. »So?« Das Mädchen wußte nicht, was sie von diesem Fremden und seinem Lächeln halten sollte. Verglichen mit achtundneunzig Prozent aller übrigen Gäste war er eine wohltuende Abwechslung. Andererseits sah es nicht so aus, als ob er sehr arm wäre. »Warum meinen Sie, daß ich es allein schaffen kann? Was macht Sie so sicher? Ich bin nämlich keineswegs sicher!« sagte das Mädchen und legte Atlan kurz ihre Hand auf den Arm. »Weil Sie sehr hübsch sind«, sagte Atlan
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voller Bedacht und hob sein halbgeleertes Glas, »und weil Sie unverkennbar tüchtig sind. Sie sehen aus wie ein Mensch, der es auch unter weitaus schwierigeren Verhältnissen schaffen würde. Ich bin ganz sicher. Brauchen Sie keinen Teilhaber?« Sie strahlte ihn an. »Möchten Sie mich anschließend nach Hause bringen? Einem hübschen jungen Mädchen kann manchmal etwas passieren; ich wohne in der Vorstadt.« Atlan spürte, wie die Spannung ihn verließ. Er schien die nächsten Stunden den Verfolgern abgewonnen zu haben. »Seit Monaten hat niemand etwas zu mir gesagt, das mich mehr gefreut hätte«, versicherte er wahrheitsgemäß. »Sie haben einen guten Freund auf diesem Planeten gefunden.« »Brauche ich einen?« erwiderte sie. »Ich bin ganz sicher!« Gut so. Einen Tag Aufschub. Wenn du es geschickt anfängst, dann werden einige Tage daraus, flüsterte der Extrasinn.
8. Friinkojes hatte Mühe, seine Fassung zu bewahren. Als er im ersten Morgengrauen zu sich kam und bemerkte, daß die Tür des Gleiterverstecks weit offen war, versuchte er, sich aufzurichten. Der Schmerz in seinem Nacken bewies ihm, daß er sich wie ein Stümper verhalten hatte. Er wuchtete sich auf die Knie, stand auf und ging langsam über den zertrampelten Waldboden hinüber zu der offenen Tür der Hütte. »Friinkojes, du bist ein Narr! Jedenfalls kannst du jetzt einiges aufholen!« sagte er. Jedes Wort erzeugte in seinem schmerzenden Schädel ein pochendes Echo und einen dumpfen Schmerz. Mit einem langen Rundblick sah er, daß der Raum gründlich und schnell durchsucht worden war, aber seine Einstellung zu den suspekten Springern änderte sich um geringfügige Grade, als er feststellte, daß sie nichts zerstört hatten. Jedenfalls war der falsche Atlan mit seinem,
Friinkojes', Gleiter abermals geflüchtet. »Hinterher! Zu Fuß!« Er packte die Vorräte wieder aus, schichtete sie mit pedantischer Sorgfalt in die Regale und bereitete sich ein kräftigendes Essen mit einem riesigen Becher Kaffee. Er schluckte ein paar Tabletten, mit denen er seine Schmerzen vertrieb und hörte zu seiner Verblüffung, mitten in einem Schluck, draußen ein bekanntes Summen. Er knallte den Becher auf den Tisch zurück und stürzte hinaus. Sein Gleiter, beziehungsweise der Mietgleiter, kurvte gerade zwischen den Bäumen hindurch und blieb vor der offenen Klapptür stehen. Friinkojes steckte seinen Kopf durch die offene Seitenscheibe und warf einen Blick auf die Instrumente. »Dieser junge Springer hat tatsächlich den Flug aufgezeichnet!« sagte er. »Also scheint noch nicht alles verloren zu sein.« Friinkojes erwartete das USO-Schiff nicht vor Mittag am Siebenundzwanzigsten. Noch genau drei Tage bis zu diesem Zeitpunkt. Er mußte also zurück in die Stadt und nach Atlan suchen. Er wußte nicht, warum er so sicher war, aber die Springer hatten den jungen Mann mit seinem rätselhaften Benehmen hier nicht gefangen. Er würde weitersehen. Er trank aus, räumte flüchtig auf, verschloß wieder sämtliche Türen und setzte sich in den Gleiter. Apvron, die Stadt, besaß etwa dreißigtausend Einwohner. Einer davon war vermutlich der »getarnte Springer«. Wo sollte er zu suchen anfangen?
* Durch eine große Glasscheibe, die von einem Gatter senkrechter, drehbarer Lamellen abgedämpft wurde, drang helles Sonnenlicht in den großen und gemütlich eingerichteten Raum. Atlan blinzelte und sah nach den Schatten; es mußte später als Mittag sein. Er öffnete die Augen und richtete sich auf. Er lag in einer sechs Quadratmeter großen
Wanderer aus der Vergangenheit Schlafgrube. Rund um die Vertiefung im Boden standen Gläser, Aschenbecher, ein Wecker, ein tragbares Visiphon und andere Gegenstände, die unzweifelhaft einer Frau gehörten. Atlan drehte den Kopf. Er fühlte sich herrlich ausgeruht. Alles, was er jetzt noch brauchte, um sich restlos wohl zu fühlen, waren ein Bad und ein Frühstück. Er sah durch eine offene Tür seinen Mantel, und seine Kleidung hing säuberlich über einer Sessellehne. Atlan zuckte zusammen. Keine Gefahr! flüsterte eindringlich der Extrasinn. Atlan sah zwischen Kissen und farbigen, zusammengeknüllten Decken eine Haarflut und ein Gesicht, dann eine Schulter. Das Mädchen Ancra bewegte sich unruhig, dehnte und streckte sich, bewegte einen Arm. Atlan brauchte sich nicht zu erinnern; er fühlte ihre Berührungen noch, seine Eindrücke waren frisch und durchaus gegenwärtig. Er war gerettet! Eine wilde Freude durchströmte ihn! Hier konnte er die nächsten Tage und Nächte warten. Ancra wußte nicht, wer er war; er hatte ihr so wenig erzählt, daß er es nicht nötig gehabt hatte, zu lügen. Eine wunderbare Nacht voller Leidenschaft und Zärtlichkeit. Nur einige Male hatte er gewünscht, seinen eigenen arkonidischen Körper zu besitzen. Er lehnte sich an die dick gepolsterte Kante der Schlafgrube. Verhalte dich ruhig! sagte der Extrasinn. Atlan lächelte. Ancra würde mit einiger Sicherheit erst wieder am späten Nachmittag die Wohnung verlassen. Atlan erinnerte sich an die letzten Stunden. Er hatte noch einige Gläser des schwarzen Bieres getrunken, ohne im geringsten betrunken gewesen zu sein. Dann, gegen Mitternacht mußte es gewesen sein, waren sie von dem Lokal etwa zwei oder drei Kilometer weit zu Fuß gegangen. Die Straßen waren leer gewesen. Das Haus, in dem Ancra wohnte, hatte zehn Stockwerke, war nicht besonders groß und stand mitten in einem Wald, einem Rest des riesigen Waldes, in den die Stadt Apvron hineinge-
39 baut worden war. Atlan schälte sich leise aus den Decken. Er stand auf und ging in die Naßzelle der Wohnung. Er schloß die Tür, öffnete die Wasserhähne und las die Aufschriften auf den Dosen und Flaschen auf den Wandbrettern. Schließlich fand er einen Badezusatz, dessen Geruch ihm entsprach. Er schüttete ihn ins Badewasser, prüfte die Temperatur und ging wieder zurück. Er setzte sich neben das schlafende Mädchen und wartete, bis sie aufwachte. Das Rauschen des Wassers schien ihre letzten Träume zu unterbrechen; sie ö-nete die Augen und sah ihn an. »Ginez«, murmelte sie schläfrig. »Ginez Bragha. Du bist ein netter Mann. Und ein vorzüglicher Liebhaber.« »Ich bin nur so gut, wie du es ermöglichst«, sagte er leise und lächelte. Er kratzte sich am Kinn und fühlte seinen wuchernden Bartwuchs. Vermutlich waren die Bartstoppeln unter der dünnen, wasserfesten Schicht Hauttönung rötlich; die Barthaare eines Springers. »Ich möchte baden«, sagte Atlan leise. »Darf ich?« Sie gähnte und erwiderte: »Natürlich. Aber ich muß vor dem Frühstück noch einkaufen. Der Eisschrank ist fast leer.« »Ich verstehe«, murmelte Atlan. »In der Tasche meines Mantels ist Geld.« »Geht schon in Ordnung!« Minuten später lag Atlan entspannt im warmen, schaumigduftenden Badewasser. Ancra hantierte in der Küche. Voller Wohlbehagen vergingen rund sechzig Minuten. Atlan erneuerte seine Tarnung, reinigte sich und seine Kleidung und versuchte, den Tisch zu decken. Kurz darauf kam Ancra zurück und leerte die Packungen und Tüten aus. Sie frühstückten zusammen, ein wenig verlegen, aus versteckten Lautsprechern spielte leise Musik. Schließlich als Atlan seine zweite Zigarette rauchte, sagte das Mädchen: »Du bist dieser Flüchtling aus dem Sprin-
40 gerschiff, nicht wahr?« Überlege, ob du ihr vertrauen kannst! flüsterte der Extrasinn. »Ja!« erwiderte Atlan. »Du hast es aus den Nachrichten?« Ancra schüttelte den Kopf und sagte leise: »Nein. Ich traf einen Polizisten und einen Springer. Sie suchen dich. Ein zweites Springerschiff ist gelandet!« Atlan hob beunruhigt den Kopf. »Ein zweites Schiff?« »Ja. Es landete neben dem Springerschiff, aus dem du geflohen bist. Warum suchen sie dich?« »Ich bin kein Springer!« sagte Atlan. »Ich bin ein Arkonide, den jemand verschleppt hat. Ich warte nur auf ein Schiff des Mannes, der so heißt wie ich. Mit ihm zusammen werde ich alles klären.« Ancra schüttelte langsam den Kopf und betrachtete ihn so intensiv, als sähe sie ihn zum erstenmal. »Ich weiß nicht recht …?« sagte das Mädchen. »Ich muß nur drei Tage warten«, murmelte Atlan leise. »Dann bin ich gerettet. Wirst du mich verraten? Darf ich hierbleiben und mich verstecken? Ich bin kein Verbrecher, eher das Gegenteil. Ich bin ein Gehetzter.« »Ich verrate dich nicht«, sagte Ancra. »A-ber die nächsten Stunden wirst du allein bleiben müssen.« »In Ordnung. Ich werde nichts anrühren. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin ganz ruhig. Ich gebe dir auch alles, was ich habe. Und wenn ich mit jenem Atlan gesprochen habe, wird er dir auch helfen.« Ancra strich ihr Haar aus der Stirn und versicherte: »Du brauchst mir nichts zu geben. Ich tue, was ich freiwillig tue. Auch dein Freund Atlan, der Arkonide, braucht mir nichts zu geben. Er wird mir auch nichts geben. Aber … ich muß jetzt sofort weg. Für zwei Stunden. Ich bin wieder zurück, bevor ich meine Arbeit antrete. Ich bringe auch etwas für das Abendessen mit.« »Das ist gut.«
Hans Kneifel Atlan blieb sitzen und sah dem Mädchen zu. Sie zog einen Mantel über, nickte ihm lächelnd zu und verließ die Wohnung. Atlan hörte das Geräusch der Tür, die sich leise klickend schloß, dann stand er zögernd auf, trank seine Tasse leer und ging ans Fenster. Er schob einige Lamellen zur Seite und spähte hinunter. Er sah das Mädchen das Haus verlassen. Sie ging mit schnellen Schritten quer über einen Plattenweg, trat an den Rand der Gleiterpiste und wurde für wenige Sekunden von den Bäumen verdeckt. Dann sah Atlan, wie zwei Springer und ein Polizist auf Ancra zukamen. Sie suchen dich! Ancra hat dich verraten! flüsterte der Extrasinn. Atlan wartete nicht länger als zwei Sekunden. Er sah gerade noch, wie die Springer aufgeregt nach hinten winkten, und wie der Polizist das langhaarige Mädchen wegbrachte. Dann rannte er in den Flur der Wohnung, riß seinen Mantel vom Haken und griff in die Taschen. Seine Waffe war noch vorhanden, aber das Geld war verschwunden. Sieh nach der Ladekontrolle! Das Magazin war noch voll. Atlan schlüpfte in fieberhafter Eile in den Mantel und rannte quer durch die Wohnung zum gegenüberliegenden Fenster. Auch dort sah er, was er zu sehen befürchtet hatte. Er erstarrte innerlich und fluchte leise. Eine Reihe Gleiter fuhr langsam auf das einzeln stehende Wohngebäude zu. Aus den Türen sprangen Mitglieder von Broltanvors Sippe. Sie alle trugen schwere Schockstrahler. »Die Falle. Ich bin mitten drin!« knurrte Atlan und überlegte im Verlauf der nächsten Sekunden, welche Chancen ihm noch blieben. Das Mädchen hatte ihn verraten; sie hatte nicht nur sein Geld genommen, sondern auch die Belohnung kassiert, die Broltanvor unter Garantie ausgesetzt hatte. Abermals schalt sich Atlan einen Narren, daß er nicht mit Friinkojes in die Wälder geflohen war, aber diese Chance hatte er nun nicht mehr. Er konnte nur versuchen, zu fliehen und dem dichten Sperrkreis der Springer und der Poli-
Wanderer aus der Vergangenheit zei dieses Planeten zu entkommen. Aber sein Weg würde kurz sein – er war eingekesselt. »Ich versuche es!« sagte er. Nichts mehr besaß er außer sich selbst und dem Strahler in seiner Hand. Er rannte zurück zur Eingangstür, riß sie auf und stürmte in den Korridor hinaus. Er fand die Treppe, entsicherte die Waffe und rannte die vielen Stufen hinunter. Alles ringsum war wie ausgestorben. Er hörte weder Sirenen noch Befehle, keine Lautsprecherstimmen und keine gebrüllten Kommandos. Vielleicht haut dich Friinkojes heraus? flüsterte der Extrasinn. Er verwarf diese Möglichkeit. Sie war unrealistisch. Er sprang die letzten Stufen hinunter und stand plötzlich in der leeren Halle. Er blickte durch das Glas, das den Raum auf drei Seiten umgab. Überall standen die Gleiter und neben ihnen, teilweise dahinter verschanzt, die Springer. Einige Polizeigleiter mit drehenden Rotlichtern schwebten in der ersten Reihe. Gerade hob ein Beamter den tragbaren Lautsprecher an die Lippen. »Curs Broomer! Wir haben das Haus umstellt. Kommen Sie heraus, wir haben nicht vor, Gewaltmaßnahmen anzuwenden. Kommen Sie zurück zu Ihren Leuten, die sich Sorgen um Sie machen. Wir wiederholen diese Aufforderung nur noch zweimal.« Atlan sah auf der anderen Seite der Piste einen Gleiter halten. Wenn er durch die Linie der Belagerer brach und nicht von den Schockstrahlern getroffen wurde, dann würde er diesen Gleiter erreichen. Er glaubte, den Insassen zu erkennen; war es Friinkojes? Atlan spannte seine Muskeln, hob die Waffe und rannte los. Die automatische Eingangstür zischte vor ihm nach beiden Seiten, als er den Kontaktstrahl unterbrach. Er krümmte den Zeigefinger und zielte genau zwischen die Leute, auf die Fronten der Gleiter. Ein Schuß nach dem anderen löste sich mit fauchendem Dröhnen. Die Menschen sprangen zur Seite. Der Polizist ließ
41 das Megaphon fallen und machte einen Hechtsprung hinter den Gleiter. Feurige Fetzen flogen nach allen Seiten. Die Feuerstrahlen aus der Waffe zuckten hierhin und dorthin, blendeten die Springer, schmolzen den Belag des Weges. Hinter einem zierlichen Pfeiler erhob sich die wuchtige Gestalt des Patriarchen. Er zielte mit dem Paralysator. Dann hob er den linken Arm, unterstützte das rechte Handgelenk und feuerte dreimal hintereinander auf Atlan. Der erste Schuß traf die Hüftgegend, der zweite die Brust und der dritte den Kopf. Atlan hatte inzwischen den Raum vor dem Haus überquert und war zwischen den Gleitern. Noch dreißig Meter im Zickzack bis zu der anderen Maschine, die mit laufenden Maschinen wartete. Da traf ihn der erste Schuß. Er stolperte, drehte sich halb herum und feuerte in die Richtung des Patriarchen. Der dritte Treffer machte ihn besinnungslos. Er warf die Arme hoch, verlor die Waffe und überschlug sich, ehe er halb in einen Busch fiel und dann still liegenblieb. Ein Polizist schaltete seelenruhig sein Armbandminikom ein und sagte: »Die Aktion ist beendet. Curs Broomer wird in das Schiff seiner Sippe zurückgebracht.« Von allen Seiten näherten sich Polizisten und Springer. Zunächst betrachteten sie den bewußtlosen Springer und erkannten ihn auf den ersten Blick nicht. Dann merkten sie, daß er sich getarnt hatte, und sie schleppten ihn zu dem größten Gleiter und fuhren zurück zum Raumhafen. Bis jetzt hatten sie, was den Handel betraf, kaum etwas unternommen.
* Friinkojes startete den Gleiter, fuhr eine Hundertachtzig-Grad-Kurve und sah mit seinen letzten Blicken, wie die Gleiterkolonne mit dem bewußtlosen jungen Springer in die Richtung auf den Raumhafen startete. Er
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hatte, kaum daß er sich der Stadt genähert hatte, eine entsprechende Meldung aus dem Polizeifunk entnommen. Dieses Mädchen hatte Atlan verraten – und er konnte es ihr nicht einmal verdenken. »Was jetzt?« Friinkojes zuckte die Schultern. Er wußte es nicht. Bisher hatte er wenig Gedanken an die Springer selbst und dafür mehr an denjenigen, der sich als Atlan ausgab, verschwendet. Vermutlich würde der Patriarch mit seinem Walzenschiff sehr schnell starten. Das mußte verhindert werden! Aber wie? Friinkojes hatte den gemieteten Gleiter zurückgegeben und fuhr jetzt seinen eigenen Gleiter. Offiziell war er hier als Handelsagent angemeldet und besaß auch eine perfekte Tarnung. Also konnte er sich so gut wie an jedem Platz bewegen. Nur langsam nahm sein Plan festere Umrisse an. Jedenfalls mußte ein Start des Schiffes verhindert und jener Mann, der sich einbildete, Atlan zu sein, zum wirklichen Atlan gebracht werden. Wenn nur dieses verdammte USOSchiff schon landen würde! In seiner Wohnung angelangt, führte Friinkojes einige Gespräche, packte einige ungewöhnlich aussehende Gegenstände ein und verließ dann das Haus wieder. Er schlug die Richtung zum Raumhafen ein.
* Der Springer setzte Ancra am frühen Nachmittag vor ihrem Haus ab und gab ihr einen Umschlag. Er war ziemlich dick. Sie steckte ihn achtlos in die Tasche. »Wollen Sie nicht nachsehen, ob das Geld stimmt?« fragte der Rothaarige mit den auffallend drapierten Zöpfen neugierig. Er hatte noch niemandem im Lauf seiner Karriere erlebt, der nicht Geld, das von einem Springer kam, automatisch nachzählte. »Nein«, sagte sie leise. »Ich glaube Ihnen, daß es stimmt. Und wenn es nicht stimmt, dann ist es auch nicht wichtig. Was werden Sie mit dem armen Kerl anfangen?«
Erstaunlicherweise glaubte sie die Antwort sogar. Der Springer blickte sie verblüfft an und murmelte: »Nichts! Ich bin Evora aus der Sippe Broltanvor. Wir werden ihn von guten Ärzten untersuchen lassen. Ich kenne Curs schon seit seiner Jugend. Er ist ganz plötzlich durchgedreht. Sagen Sie selbst, Ancra: Wo sollte ein Junge, der verrückt zu werden droht, am besten sein? Doch sicher in der Nähe seiner Eltern und eines guten Bordarztes; nicht wahr? Wir haben sogar einen Galaktopsychologen aufgetrieben. Er ist Sippenangehöriger des anderen Schiffes, das heute nacht gelandet ist.« Er langte an ihr vorbei, weil er merkte, daß sie aussteigen wollte. Seine Finger berührten den Türschnapper. Die Tür rollte langsam auf. »Zufrieden?« fragte er. »Jedenfalls soll ich Ihnen den Dank unseres Patriarchen übermitteln.« »Keine Ursache«, sagte Ancra und schwang ihre langen, schlanken Beine aus dem Gleiter. Evora blickte sie an. Seine Augen lagen prüfend auf ihrem Gesicht und ihrer Figur. Einen Augenblick beneidete er Curs; der junge Bengel schien bei Frauen mehr Glück zu haben als er selbst. Dieses Mädchen litt jetzt darunter, daß sie Curs gegen eine hohe Belohnung an die Springer verraten hatte. Wie konnte er ihr beibringen, daß sie nicht die Absicht hatten, Curs aus der Luftschleuse zu stoßen? »Es war kein Verrat!« sagte er. »Sie haben ihm in Wirklichkeit geholfen. Er hätte sonst auf seiner sinnlosen Flucht noch echtes Unheil angerichtet.« »Das hilft mir nicht viel«, sagte Ancra und stieg aus. Sie bückte sich und blickte ins Innere des Gleiters. Evora bewegte sich unruhig. »Es geht nicht so sehr darum, daß ich Curs verraten habe. Es ist mehr, weil ich zum erstenmal in meinem Leben jemanden verraten habe. Es widerspricht meinem Charakter und meiner Auffassung von Freiheit.« »Ich verstehe, aber ich kann Ihnen nichts
Wanderer aus der Vergangenheit anderes sagen, als daß Sie Curs und unserer Sippe einen entscheidenden Dienst erwiesen haben.« Sie nickte und schob die Tür zu. »Leben Sie wohl. Vielleicht erklären Sie es ihm … irgendwann!« Er nickte, und als sie zwanzig Schritte gegangen war, rief er ihr lautstark nach: »Übrigens … das Geld stimmt! Nicht alle Springer betrügen.« Sie gab keine Antwort, aber er glaubte zu sehen, daß sie die Schultern hochzog, als würde sie plötzlich frieren. Evora wendete den Gleiter und fuhr zurück zum Raumhafen.
9. Mitten in der Nacht, als die Aktivität eines Teiles der Mannschaft einem hektischen Höhepunkt entgegenstrebte, konnten sie Curs Broomer endlich aus der Starre der drei schweren Paralysatortreffer erwecken. In dem großen Untersuchungsraum befanden sich, als er die Augen öffnete und »Wasser!« röchelte, nur wenige Personen. Der Patriarch, seine Eltern und die beiden Ärzte. Doktor Noswilder und der Galaktopsychologe Trafuntor. »Hier!« sagte der Bordarzt der BROLTANVOR III und hob einen Becher mit einer Mischung aus allen möglichen kräftigenden Substanzen an die Lippen des jungen Mannes. Durch seine Verkleidung wirkte er mehr denn je wie ein entarteter Springer. Nicht einmal Cessiana und Warton Broomer hatten ihn auf den ersten Blick erkannt. Durstig trank Curs Broomer den ganzen Becher leer. »Wo bin ich?« fragte er dann etwas schwerfällig, aber mit klarer Stimme. »Im Schiff, Sorgenkind!« brummte der Patriarch. Einerseits war er erleichtert, daß sie ihn eingefangen hatten, andererseits sagte ihm seine Erfahrung, daß er und die Sippe mit Curs noch jede Menge Scherereien haben würden. Er musterte den Jungen, der seine Ge-
43 sichtshaut getönt, den Bart entfernt und das lockige Haar gefärbt hatte. Aber Broltanvor schwieg und wollte den Untersuchungen der beiden Ärzte nicht vorgreifen. »Im Schiff? Im Schiff der Springer?« fragte Curs und richtete sich auf, aber die Hand des Psychologen drückte ihn wieder zurück. »Ja. Du hast verzweifelt versucht, zu fliehen. Du hast dabei sogar Noswilder niedergeschlagen. Warum eigentlich? Was haben wir dir getan?« fragte der Galaktopsychologe. »Ich gehöre nicht hier her. Ich bin kein Springer. Ich bin Atlan, ein Arkonide!« begehrte Atlan verzweifelt auf. »Er ist verrückt!« stöhnte Broltanvor auf. »Mein Sohn! Das ist so schlimm … daß ich das erleben muß! Er war immer ein so netter Junge!« wimmerte Cessiana Broomer. »Schweige, Frau: Du störst die Untersuchung!« grollte ihr Mann. Der Galaktopsychologe ging die wenigen Schritte bis zum Untersuchungssessel, blickte lange auf Curs Broomer nieder und fragte dann: »Ich habe mich mit allen Betroffenen unterhalten. Laß mich zusammen fassen, Junge. Du behauptest also, nicht Curs Broomer zu sein, sondern Atlan? Du hast gesagt, daß du sämtliche Erinnerungen hast, die diese Person betreffen? Erlebnisse und Herkunft, Freunde und Schicksale, Daten und Wünsche?« »Bis zu einem bestimmten Punkt. Etwa achtzehn Arkon-Jahre. Dann, ganz plötzlich, fand ich mich in diesem Körper wieder. Es ist nicht mein Körper, das müßt ihr mir glauben. Meine Feinde haben mich in diese Welt geworfen. Ich weiß inzwischen, daß der Planet real ist, aber ich fürchte mich. Jemand treibt ein gefährliches Spiel mit mir.« Die Geräte, die rund um den Untersuchungssessel aufgebaut waren, genügten, um eine totale Gehirnwäsche durchzuführen. Die Gefahr bei dieser Anwendung war jedoch, daß es ein junger Verstand war, den man prüfen wollte. Curs Broomer konnte
44 aus diesem Versuch als stammelnder Idiot hervorgehen. Niemand wollte dies, nicht einmal Broltanvor. Was Broltanvor, der Sippenchef, wollte, war die Wahrheit. Aber was er jetzt sah und hörte, bestärkte ihn in dem Verdacht, daß die Angelegenheit von Stunde zu Stunde rätselhafter und verrückter wurde. Wieder sprach der Psychologe: »Du bist im Körper von Curs Broomer, wie du weißt, einem jungen Springer. Du hast dich im Spiegel gesehen. Hast du eine Erinnerung an diese Person, an die Persönlichkeit? Schließlich ist dein Körper seit siebzehn Jahren in diesem Schiff gewesen. Du müßtest also eine Unmenge von Erinnerungen dieses Curs Broomer haben!« Atlan hob beide Arme und rief gequält aus: »Ich schwöre Ihnen, Doktor, ich bin Atlan. Als Curs hätte ich nicht den geringsten Grund, aus diesem Schiff zu flüchten. Warumauch? Aber als Atlan, als junger Arkonide, der eben noch mit seinen Freunden zusammen war und gefahrvolle Abenteuer bestanden hat, mußte ich fliehen. Ich bin in der Gewalt einer fremden Macht!« Der Galaktopsychologe murmelte eindringlich: »Der Arkonide Atlan, der Chef der United Stars Organisation und der beste Freund des Terraners Perry Rhodan, des sogenannten Großadministrators, ist sehr alt. Man sagt, er sei älter als ein Dutzend Jahrtausende. Wenn du seine Erinnerungen hast, dann sind die Jugenderinnerungen uralt. Das können wir nicht glauben!« »Ich kann Ihnen nichts anderes sagen. Stellen Sie mich Fartuloon gegenüber, dann wird sich alles aufklären.« Sie starrten sich an, der alte, erfahrene Arzt und der junge Mann, der sich wieder wie ein Gefangener fühlte. Atlan hatte im Augenblick das Gefühl, daß der Arzt ihm nichts Böses wollte, daß er versuchte, ihm zu helfen. Der Mann verströmte Ausgeglichenheit und Ruhe. Plötzlich knackte ein Lautsprecher, und die Stimme eines Mannes
Hans Kneifel aus der Steuerzentrale sagte: »Patriarch! Bitte in die Zentrale. Es ist lebenswichtig.« »Bei den Göttern der Sterne!« schrie Broltanvor, dessen Geduld überstrapaziert wurde. »Schon wieder!« Er sprang auf und verließ im Sturmschritt das Krankenzimmer. Nicht nur, daß ihn die Feststellungen dieses Arztes verrückt machten, dessen Können er keine Sekunde lang anzweifelte, jetzt gab es auch noch Störungen innerhalb der Handelsvorgänge. »Was ist los?« schrie er, als er die Zentrale betrat. Ein Navigator drehte sich herum und erwiderte trocken: »Bombendrohung.« Broltanvor fühlte, wie eine eisige Hand sein Herz ergriff und anhalten wollte. Er setzte sich, starrte den Mann durchbohrend an und flüsterte dann: »Wiederhole! Was ist los?« Wort für Wort erfuhr er die fürchterliche Wahrheit. Im Schiff befanden sich vier versteckte Bomben. Ein anonymer Anrufer hatte die Polizei alarmiert und diese Botschaft durchgegeben. Es schien, als ob der Anrufer geistesgestört wäre, aber er hatte immerhin das Versteck einer der vier Bomben verraten. Die anderen drei wurden gesucht. Polizei war im Anrücken begriffen.
* »Konferenzschaltung!« schnarrte er. Ein paar Kommunikationsschirme wurden hell, auf ihnen bildeten sich Teilansichten der Zentrale des anderen Schiffes, dieser Springersippe. Jemand rannte, auf den Schirmen deutlich sichtbar, durch den Raum und blieb vor den Linsen stehen. »Steuermann Senigara, Patriarch!« rief er. »Ich glaube, es gibt Aufregung!« Broltanvor nickte und knurrte haßerfüllt: »Es gibt sie! Ich habe soeben eine Bombendrohung erhalten. Schließen Sie das Schiff …« Der Steuermann winkte ab und sagte:
Wanderer aus der Vergangenheit »Schon geschehen. Wir suchen gerade unser Schiff ab. Auch wir haben eine Bombendrohung erhalten. Es versucht jemand, uns am Start zu hindern. Was geht vor, Broltanvor?« »Einiges. Wieviel Bomben?« »Drei. Ich höre gerade, daß zwei Gleiter mit Polizisten an der Rampe bremsen. Irgendwelche Direktiven?« Der Patriarch überlegte schweigend. Einige Vermutungen, die allesamt um die Person Curs Broomers kreisten, assoziierten sich zu langen Gedankenketten. Wenn es richtig war, was Senigara eben gesagt hatte, dann konnte es nur wenige Menschen auf Suskor geben, die daran interessiert waren, daß die Springerschiffe nicht oder nur mit erheblicher Verspätung starteten. Wäre es ein Eingeweihter gewesen, jemand von der Handelskammer etwa, dann hätte er gewußt, daß noch mindestens zwei Tage gebraucht wurden, um sämtliche Geschäfte zu tätigen. »Durchsucht das Schiff. Laßt euch von den Polizisten helfen. Unterstützt sie in allem. Und dann versucht, etwas über diesen Mann zu erfahren, der uns Curs weggeschnappt hat.« »Verstanden.« Der Patriarch fuhr herum, als eine Gruppe von Polizisten, geführt von einem jungen Springer, in die Zentrale kam. Die Männer blieben zögernd in der Mitte des großen Raumes stehen. »Ihre Anwesenheit bringt uns eine Unmenge Mehrarbeit, Sir«, sagte der junge Polizeileutnant. »Inzwischen sind einige weitere alarmierende Meldungen eingegangen.« »Bitte! Ich höre!« Der Patriarch war fast krank vor Sorge, Wut und Unsicherheit. Sorge um die Schiffe, denn jede kleinste Bombe konnte Sippenangehörige töten und wertvolle Teile des Schiffes zerstören. Wut – er hatte keine Ahnung, warum man ihn und seine Schiffe sabotierte. Und unsicher machten ihn sämtliche Ereignisse seit dem Augenblick vor der Landung, als Curs Broomer seine Antennenreparatur beendet hatte.
45 »Sie haben ihren Sippenangehörigen sicher im Schiff?« Broltanvor warf dem Polizisten einen leidgeprüften Blick zu. »Ja. Er ist in der Obhut der Ärzte und wird untersucht. Er wird kein zweites Mal fliehen.« »Sie wissen inzwischen auch, daß ihn ein Händler, ein Angehöriger des epsalischen Volkes, aus dem Berg von Phrokus Fields befreit hat. Man sagte mir, daß Sie und Ihre Leute dort gesucht hätten.« »Ja, so ist es. Wie bringen Sie diesen Friinkojes mit Broomer in Verbindung?« »Friinkojes ist ein Spezialist der United Stars Organisation. Er scheint verzweifelt bemüht zu sein, Ihre Schiffe am Start zu hindern.« Der Patriarch setzte sich überrascht. Jetzt wurden ihm weitere Zusammenhänge klar. »Ich weiß jetzt alles!« sagte er. Seine Stimme wurde mit jedem Wort lauter. Schließlich brüllte er. »Curs Broomer hält sich für Atlan. Das muß Friinkojes erfahren haben. Er ist ein Angestellter dieses arkonidischen Halunken. Die Ärzte sagen, daß Curs keineswegs verrückt ist, daß er in gewissem Sinn tatsächlich Atlan ist. Aber daß ein Spezialist der USO Bomben legt, das werde ich politisch ausnutzen. Haben Sie diesen Verbrecher?« Etwas indigniert fragte der Polizist zurück: »Wen meinen Sie? Lordadmiral Atlan?« »Nein! Seinen Vertreter auf Suskor!« »Wir suchen nach ihm. In seiner Wohnung war er nicht, sein Gleiter fehlt, und er wird sich irgendwo außerhalb der Stadt aufhalten, vermuten wir. Wir haben eine organisierte Suche begonnen.« »Danke. In Ordnung.« Aus der Zentrale des anderen Schiffes konnte die Unterhaltung mitverfolgt werden. Gerade, als der Patriarch andere Maßnahmen anordnen wollte, heulte eine Sirene auf. Ihr Klang war in jedem Raum des Schiffes zu hören. Eine Stimme schrie, sich aufgeregt überschlagend:
46 »Bombenalarm! Bombenalarm! Den Weg zur Schleuse räumen. Den Weg zur …« »Was ist los! Sofort melden!« dröhnte Broltanvor in das nächste Mikrophon. »Sofort, sage ich!« »Hier Aufenthaltsraum A-Deck! Wir haben zwei Bomben gefunden. Sie sind in den Jacken der Lademannschaft versteckt gewesen!« »Bringt sie hinaus! Setzt Roboter ein! Errichtet Energieschirme!« Das Schiff verwandelte sich in eine Art Tollhaus. Die Polizisten schwärmten aus, über eine Leitung wurde mit der Hauptstation in der Stadt und mit der Hafenpolizei gesprochen. Sämtliche Korridore waren leer, als die kleinen, schwebenden Roboter die Bomben durch das Schiff transportierten und drei Kilometer weit von sämtlichen Schiffen und den Hafengebäuden entfernt absetzten. Im anderen Schiff fanden sich nur wenige Minuten später an etwa derselben Stelle weitere Bomben. Das legte die Annahme nahe, daß man diese Gegenstände den Mannschaften in die Taschen geschmuggelt hatte, als sie an der Bar des Raumhafengebäudes tranken. In der Stadt nahm man genau in diesem Augenblick Friinkojes fest. Er bestätigte, daß er Spezialist der United Stars Organisation war, aber darüber hinaus sagte er kein einziges Wort. Man verhaftete ihn und brachte ihn in das Untersuchungsgefängnis der Stadt Apvron. Er stand jetzt unter dem Gesetz der Regierung; und da Suskor ein freier Planet war, konnte auch die USO daran nichts ändern. Als man die Kellner und Barhilfen desRaumhafens befragte, bestätigten sie es einwandfrei: Friinkojes hatte sich verdächtig lange in der Nähe einer Gruppe von zehn oder elf Springern aufgehalten, als diese Kaffee und Schnaps tranken, in einer Arbeitspause, die der Patriarch angeordnet hatte. Ein weiterer Robot brachte eine tragbare Kamera hinaus auf das Feld, auf den nun
Hans Kneifel sieben Bomben lagen. Es waren flache Behälter aus Plastik mit Schalteinrichtungen und verschiedenen Knöpfen. Die Linsen richteten sich auf diese Bomben, als ein ferngesteuerter Roboter begann, sie auseinanderzunehmen. Schirme in vielen Räumen des Schiffes übertrugen diese Aktion. In beiden Schiffen suchte man ununterbrochen weiter. Es stand nach einigen Stunden auch fest, daß kein Fremder in der fraglichen Zeit ins Schiff gekommen war. Alle Möglichkeiten, Bomben oder ähnliche Zerstörungsgeräte ins Schiff einzuschleppen, wurden daraufhin noch einmal überprüft. Aber trotz intensiver Suche, an der sich jeder einzelne Sippenangehörige beteiligte, unterstützt von rund hundert Polizisten und sämtlichen dafür programmierbaren Roboter, fand sich keine weitere Bombe. Langsam wich der Druck der panischen Angst von den Springern. Inzwischen versuchte ein Kommando, die Bomben zu entschärfen. Als die vierte Bombe geöffnet war, entdeckte man wie bei den drei vorhergehenden Versuchen, daß sie nur aus einem harmlosen Zündersatz bestand. Sie war so harmlos wie eine leere Zigarettenpackung. Diese Feststellung wiederholte sich bei den restlichen Proben. Der Vorfall wurde dadurch immer rätselhafter.
* Früh am Morgen traf sich Broltanvor mit seinen verantwortlichen Mitarbeitern. Er war müde und verärgert und stellte nur wenige Fragen. »Wie sieht es mit unserer Ware aus?« »Wir haben neunzig Prozent ausgeladen«, war die Antwort. »Die letzten zehn Prozent werden gerade mit Robotern und allen Männern, die noch nicht zusammengebrochen sind, aus dem Schiff geschafft.« »Die Werte liegen bei der Konkurrenz dort drüben«, eine Hand deutete in die Richtung des anderen Springerschiffes, »etwa ähnlich.«
Wanderer aus der Vergangenheit »Sind die kaufmännischen Aktionen beendet?« bohrte er weiter, dachte an einen schnellen Start und einen langen, erholsamen Schlaf. »In zwei Stunden sind alle Verhandlungen abgeschlossen. Sie verliefen erfolgreich und mit entsprechendem Gewinn. Wir nehmen eine Menge Waren mit.« Der Patriarch deutete auf den Bevollmächtigten der Laderäume. »Wir haben fast alles im Schiff. Wir können morgen gegen Mittag starten.« »Gibt es etwas Neues von Curs Broomer?« Der Patriarch stand auf und gähnte demonstrativ. »Nein. Sie untersuchen ihn noch immer. Der Psychiater sagt, er sei normal, aber in Wirklichkeit ist er tatsächlich der junge Atlan.« »Wie schön«, grollte der Patriarch. »Dann lautet unsere Direktive: sofort starten, dieses komische Duplikat mitnehmen und den Arkoniden damit erpressen. Ich bin in meiner Kabine zu finden.« »Geht in Ordnung, Patriarch!« Jetzt wußten sie, daß es dem USOSpezialisten darum ging, den Start des Schiffes zu verhindern. Da er ihn auf keinen Fall ganz verhindern, ihn aber beträchtlich hinaus zögern konnte, bedeutete dies, daß er versuchen würde, Curs Broomer abermals zu entführen. Die beiden Schiffe stellten zusätzliche Wachen auf und ließen sich dabei von der Polizei helfen, die aber immer wieder versicherte, daß Friinkojes sicher im Untersuchungsgefängnis saß.
10. Friinkojes ließ die leere Packung fallen und zündete sich die letzte Zigarette an. Er war keineswegs niedergeschlagen, aber er sah eine Menge Unannehmlichkeiten auf sich zukommen. Bis jetzt war BROLTANVOR III noch nicht gestartet. »Verdammt! Wo steckt das Einsatzkommando?« brummte er und streckte sich wieder aus. Er lag in einer der karg ausgestatte-
47 ten Zellen und hatte genügend Gelegenheit, in äußerster Ruhe über alles nachzudenken. Die Verhaftung, mit der er hatte rechnen müssen, war um einen Tag zu früh erfolgt. Jetzt stand er unter der Gerichtsbarkeit des freien Planeten, und zweifellos würde der Patriarch seine Vergehen ausschlachten und als politisches Druckmittel benutzen. Das alles war ihm ziemlich gleichgültig, aber er mußte Curs Broomer beziehungsweise Atlan unversehrt in die Hand bekommen. Nicht unbedingt er selbst, doch auf alle Fälle die Behörde, die er vertrat. Was ist zu tun? dachte er. Die »freien« Planeten hatten ihre eigene Gesetzgebung, und auch der Umstand, daß Friinkojes Angehöriger der USO war, würde ihm nicht helfen. Auf alle Fälle hatte er jedoch den Start der Schiffe erheblich verzögert. Sein zweiter Hyperraumanruf, den er getätigt hatte, bevor man ihn verhaftete, hatte die Dringlichkeit eines schnellen Handelns noch einmal hervorgehoben. Die Antwort, die er bekommen hatte, berechtigte zu den schönsten Hoffnungen, aber das USOSchiff konnte sich verspäten, und die Springer konnten früher starten. Sämtliche ernsthaften Probleme reduzierten sich auf die fragliche Zeitspanne. Wer würde gewinnen? Friinkojes zuckte seine breiten Schultern. Er hatte versucht, was er konnte. Erst morgen würde die Vorverhandlung sein. Früher konnte er nicht damit rechnen, freizukommen. Nachdem er abermals alle seine Möglichkeiten durchdacht hatte, resignierte er. Er selbst konnte nichts mehr tun. Nicht einmal flüchten konnte er. Friinkojes entschloß sich, fürs erste einmal auszuschlafen.
* Etwa zur gleichen Zeit erwachte Atlan aus einem unruhigen Schlaf, der durch das Medikament in seinem Kreislauf hervorgerufen war. Man hatte ihn ununterbrochen untersucht. Sie hatten Tausende Fragen gestellt – er war erschöpft. Er wußte nun mit unum-
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stößlicher Sicherheit, daß es sein größter Fehler gewesen war, den breitschultrigen Mann niederzuschlagen und auf eigene Faust zu fliehen. Jetzt war er hier, zwar nicht gerade gefesselt, aber mit zwei Wachen vor der Tür und voller beruhigender Medikamente. In kurzer Zeit würde das Schiff wieder starten, dann war er weiterhin ein Gefangener in einem fremden Körper und in einer fremden Umwelt, ein Gefangener der Springer. Wieder drohten ihn die schmerzlichen Gedanken zu überfallen – er hatte seine Freunde verloren und war weit von seinem Ziel abgekommen. Und immer drohender baute sich die Vision auf, daß ihn dieses rätselhafte Ereignis weit in der Zeit nach vorn (oder in ein anderes Universum, eine Parallelwelt etwa) geschleudert hatte. Betäubt und unsicher, mit wirbelnden Gedanken, schlief er wieder ein.
* Chart Huskins ging mit der Exaktheit und Schnelligkeit vor, an die er sich gewöhnt hatte. Er handelte bereits, noch ehe er auf Suskor gelandet war. Sein erster Kontakt bestand mit der Funkleitzentrale des Raumhafens. »Meine Herren«, sagte er kühl, »ich bin mit einer kleinen Flotte im direkten Anflug. Ich bitte Sie ausdrücklich, mein Gespräch keineswegs als Drohung aufzufassen. Ich habe von Lordadmiral Atlan jedoch volle Handlungsvollmacht erhalten. Ich bitte Sie nur um eine Anzahl kleinerer Gefallen.« Man hatte wegen seines ersten Anrufs sogar zwei der Planetaren Räte aus den Betten geholt. »Welche Gefallen?« »Bitte, verhindern Sie den Start des oder der Springerschiffe. Ich muß mit dem Patriarchen Broltanvor verhandeln. Atlan wäre untröstlich, wenn ich einen leeren Landeplatz vorfinden würde.« »Das können wir zusichern, denke ich!« »Anschließend bitte ich Sie um Landeer-
laubnis.« »Daran besteht ja wohl keinerlei Zweifel«, sagte man ihm aus dem kleinen Konferenzraum im Hafentower. »Und vermutlich möchten Sie auch Ihren Verbindungsmann sprechen.« »Ja, gern. Ich besuche ihn im Gefängnis. Habe ich Ihre Unterstützung?« »Selbstverständlich. Wir bemühen uns als freier Planet, jedem Interessenten einen möglichst großen Handlungsspielraum zu gewähren.« »Ich bin überzeugt«, erwiderte Chart, »daß man an höherer Stelle diese Bereitwilligkeit entsprechend honorieren wird. Danke, meine Herren. Wir landen etwa in einer Stunde.« Chart Huskins, ein großer, schlanker Mann mit grauem Haar und grünen Augen, wußte, daß er sich auf einer vermutlich gefahrlosen, aber höchst delikaten Mission befand. Aber er hätte nötigenfalls nicht davor zurückgeschreckt, sein Vorhaben mit erheblich mehr Nachdruck durchzuführen. Er grüßte mit einem knappen Lächeln in die Richtung des Bildschirms und gab dann an seine zehn Schiffe den Auftrag, alle Landungsmanöver durchzuführen. Es würde Vormittag auf diesem Teil des Planeten sein, wenn sie landeten …
* Friinkojes wachte auf, als sich der riesige Spiegel der Energiewand trübte und durchsichtig zu werden begann. Der Spezialist sprang auf die Beine und blieb in der Mitte der Zelle stehen. Aus dem Schleier kondensierte sich eine Gestalt; ein Terraner in einer unauffälligen, uniformähnlichen Kleidung. »USO-Spezialist Chart Huskins!« sagte der Mann. Er war ebenso groß wie Friinkojes und blickte sehr ernst auf den Epsaler. »Guten Morgen, Kollege. Ich bin Spezialist Friinkojes, was Sie aber wissen dürften. Sind die Springer …?« »Sie sind noch da. Es eilt. Ich habe in einer Stunde einen Termin mit dem Patriar-
Wanderer aus der Vergangenheit chen. Bitte, erzählen Sie mir, was vorgefallen ist.« Man brachte sie in einen kleinen Raum und ließ sie allein. Friinkojes ließ sich die Legitimation zeigen und sprach dann einen längeren Text in den Minikom des Spezialisten. Als er geendet hatte, erfuhr er, daß dieser Bericht über Relais zu Atlan direkt ging. Schließlich sagte Huskins: »Ich habe die Vollmacht ausgenutzt und mit dem Schnellrichter gesprochen. Sie werden gegen eine verdammt hohe Kaution auf freien Fuß kommen. Aber das nützt Ihnen jetzt nichts mehr. Was allerdings weiterhin passiert, ist auch mir völlig unklar.« »Ich denke, ich werde auf einer anderen Welt eingesetzt!« murmelte Friinkojes und zuckte die Schultern. Ein Lämpchen leuchtete im Minikom auf. Aus dem Schiff meldete sich die Funkzentrale. »Lordadmiral Atlan ist sehr nachdenklich geworden. Sie haben sämtliche Vollmachten und den sehr dringenden Wunsch des Chefs, den jungen Springer aus seinem Schiff loszueisen und per schnellstem Kurierschiff nach Quinto-Center zu schicken. Das war alles. Vollzugsmeldung wird erbeten.« »Verstanden«, murmelte Huskins. »Danke. Ende.« Er schaltete das Gerät aus und streckte Friinkojes die Hand entgegen. »Sie sollten schon Ihren Schreibtisch aufräumen!« empfahl er und grinste. Dann verließ er das Untersuchungsgefängnis in großer Eile und raste zurück zum Raumhafen. Der schwierigere Teil kam jetzt.
* Nur die besten Freunde und die engsten Mitarbeiter von Chart Huskins hatten ihn kennengelernt, wenn er entspannt war. Hier aber, auf dem weichen, farbigen Belag im Korridor eines Springerschiffes, noch dazu von vier bewaffneten Rotbärten begleitet, zeigte er nicht die geringste Regung. Nur seine Augen huschten umher und nahmen
49 jede kleinste Einzelheit wahr. Vor ihnen drehte sich das Schott auf, und ein riesiger Mann stand in dem Raum dahinter. »Kommen Sie herein, Arkonidenknecht!« rief der Patriarch. »Ihr könnt draußen bleiben, Jungens!« Seine rechte Hand lag auf dem Kolben einer schweren Waffe. Der Patriarch war eine starke Persönlichkeit, dachte Huskins, aber er zeigte leichte Anzeichen von Unsicherheit. Hinter ihm schloß sich die Sicherheitstür. Chart starrte bewegungslos in die Augen des Springers. »Der Unterschied zwischen einem Arkoni-denknecht und einem Profitsklaven ist nur unerheblich.« Der Patriarch brach übergangslos in ein brüllendes Gelächter aus. Er schlug sich auf die Schenkel und deutete dann auf einen leeren Sessel. »Ausgezeichnet!« lachte er. Er schnappte nach Luft. »Was wollen Sie wirklich? Doch nicht nur mit mir über Prozente, Steuern und Handelsspannen sprechen?« Chart setzte sich, nickte, als der Springer auf eine mindestens vier Liter fassende Kanne deutete, und schlug die Beine übereinander. »Ich bin kein Galaktischer Händler …«, begann er. Broltanvor unterbrach ihn dröhnend. »… was deutlich zu sehen ist. Mit Zucker?« »Schwarz bitte. Wäre ich ein Händler, würde ich handeln. Also stelle ich mich ungeschickt an und sage Ihnen: Mich schickt dieser verdammte Arkonide, von dem Sie vorhin sprachen. Ich soll, aus uns allen bekannten Gründen und Ursachen heraus, versuchen, Curs Broomer aus Ihrem Schiff und zu Atlan bringen.« Der Springer ließ beinahe die Kanne fallen. »Sie müssen verrückt sein! Wissen Sie, was der Junge für mich und die Springer wert ist?« »Ja«, entgegnete Chart kaltblütig.
50 »Nichts.« Eine Pause entstand. Chart mußte versuchen, dem Springer auszureden, daß Broomer für die Händler eine Gefahr war. Außerdem konnte er ihm zusichern, daß die USO bei einem gelegentlichen Streitfall mit Broltanvors Sippe und ihren vielen Schiffen künftig gewillt war, ein oder zwei Augen, eventuell auch für länger, zuzudrücken. Das versuchte er nun in einem halbstündigen Vortrag dem Patriarchen klarzumachen. Immer wieder unterbrach ihn Broltanvor, der diesen und jenen Einwand hatte und schließlich auf das unqualifizierte Verhalten des Kollegen hinwies, der nicht einmal vor Bombendrohungen zurückgeschreckt war. »Daran können Sie ersehen, wie wichtig es ist, wenn ein Mann mit dem Verstand des jungen Atlan davor bewahrt werden soll, als Gefangener im Springerschiff eine höchst unwillkommene Reise anzutreten. Ich versichere Ihnen, daß wir Ihnen Curs Broomer unbeschädigt zurückerstatten, falls sich dessen Bewußtsein wieder einstellt.« »Ich sollte eigentlich froh sein, wenn mir diese Sorge abgenommen wird«, murmelte Broltanvor. »Aber wozu braucht der alte Atlan den sogenannten jungen Atlan, was fängt er mit ihm an?« »Vermutlich spielen sie Schach, weil ja der alte Atlan so verdammt wenig zu tun hat!« meinte Chart erschöpft. »Wollen Sie nun oder nicht? Ich darf nicht ohne Ergebnisse zurückkommen!« »Das kann ich verstehen.« Wieder lachte der Patriarch. Chart ließ sich nicht täuschen. Dieses Gelächter, eine Art Markenzeichen der Springer, bedeutete im Grund gar nichts. Aber er konnte wenigstens hoffen, daß sich Broltanvor den Argumenten des Lordadmirals beziehungsweise seinen eigenen Argumenten nicht verschloß. »Wir haben nicht vor, Curs Broomer auszuquetschen oder zu sezieren. Es ist nur so, daß Atlan ihn kennenlernen und mit ihm sprechen will. In diesem Punkt sollte es leicht sein, dem Ehrenwort des Arkoniden zu glauben. Vergessen wir die verdammte
Hans Kneifel Politik. Ich habe immer wieder gehört, daß Springer harte, unbarmherzige Händler sind, daß sie aber sehr großzügig sind, wenn es um solche oder ähnliche Probleme geht.« »Meinetwegen«, sagte Broltanvor und stand auf. »Von mir aus können Sie diesen irren Knaben mitnehmen. Aber da ist er selbst und seine Eltern.« Chart seufzte tief. »Und jetzt beginnen wir das ganze Drama noch einmal von vorn. Diskutieren wir darüber, ob der Körper oder der Verstand des Jungen unter die Bezeichnung ›Sohn‹ fällt?« »Das machen Sie am besten mit Curs und seinen Eltern aus. Meinen Segen haben Sie. Was Curs sagen wird, ahne ich auch. Tun Sie Ihr Bestes!« Er drückte einen Knopf und rief die Eltern herein.
* Chart Huskins fühlte sich gerädert. Er war in Schweiß gebadet und kam sich vor, als sei er einer Mischung aus Schneesturm und Vulkanausbruch entkommen. »Zufrieden?« fragte er. Der junge Mann neben ihm sah weder einem Springer ähnlich – mit den Resten der Verkleidung – noch hatte er die geringste Ähnlichkeit mit einem Arkoniden. Aber zu seinem Erstaunen, fast zu seinem Entsetzen, sah der Spezialist, wie sich Curs Broomer aufrichtete und mit jedem Schritt sich veränderte: er wurde in seinen Gesten und Bewegungen einem Prinzen immer ähnlicher. »Ich bin zufrieden, Spezialist Huskins. Ich bin sehr froh, Atlan sprechen zu können. Gleichzeitig fürchte ich mich ein wenig. Ich bin verwirrt, müssen Sie wissen. Wie geht es Friinkojes?« »Gegen Kaution auf freiem Fuß.« »Gut. Was passiert jetzt?« »Dort drüben wird gerade ein schneller Kurierkreuzer startklar gemacht. Du wirst mit diesem Schiff zu Atlan gebracht. Verzeihung! Oder muß ich Sir zu dir … zu Ihnen sagen?«
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Broomer-Atlan lächelte kurz und erwiderte: »Sie können mich ruhig duzen, Sir. Ich bin schließlich nicht Ihr Vorgesetzter.« Leicht aus der Fassung gebracht, starrte der Spezialist Atlan nach, der wie ein arkonidischer Prinz zu dem Raumschiff ging, das kurz darauf startete und sich auf den langen
Weg nach Quinto-Center machte.
ENDE
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