Franziska Drohsel, geboren 1980, ist seit November 2007 Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinne...
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Franziska Drohsel, geboren 1980, ist seit November 2007 Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD (Jusos). Sie promoviert derzeit in Öffentlichem Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin, an der sie auch wissenschaftliche Mitarbeiterin ist.
Franziska Drohsel für den Bundesvorstand der Jusos
Was ist heute links? Thesen für eine Politik der Zukunft Mit Beiträgen von Niels Annen, Katie Baldschun, Björn Böhning, Ulrich Brand, Franziska Drohsel, Henny Engels, Meredith Haaf, Michael Heinrich, Wilhelm Heitmeyer, Anna Klein, Uwe Kremer, Benjamin Mikfeld, Franz Müntefering, Andrea Nahles, Sonja Pellin, Michael Sommer, Jennifer Stange, Johano Strasser und Heidemarie Wieczorek-Zeul
Campus Verlag Frankfurt/New York
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-38928-8 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2009 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main. Umschlaggestaltung: Hißmann, Heilmann, Hamburg Satz: Fotosatz L. Huhn, Linsengericht Druck und Bindung: Freiburger Graphische Betriebe Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
Inhalt
Vorwort Franziska Drohsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Für eine Linke der Zukunft – Thesen zu jungsozialistischer Politik Jusos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Was ist heute links? Franz Müntefering . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Generationengespräch Franziska Drohsel im Gespräch mit Andrea Nahles, Benjamin Mikfeld, Niels Annen und Björn Böhning . . . . . . . 105 Für eine moderne Linke Johano Strasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Programmatische Fantasie – Moderner Sozialismus Anmerkungen zu den neuen Juso-Thesen Uwe Kremer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Die Wirtschaftskrise und die Erklärungskraft der Marxschen Ökonomiekritik Michael Heinrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
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Der organisierte Aufschub. Über den Konservatismus der institutionalisierten Linken Jennifer Stange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Globalisierung, Hegemonie und Alternativen Ulrich Brand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Subjektive Bedrohung oder ökonomistische Orientierungen? Warum soziale Desintegration Abwertung befördert Anna Klein und Wilhelm Heitmeyer . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Das Ziel ist gute Arbeit Michael Sommer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Feminismus, neue Männer und die Machtfrage Henny Engels und Meredith Haaf im Gespräch mit Katie Baldschun und Sonja Pellin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – weltweit Heidemarie Wieczorek-Zeul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Die BeiträgerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
Vorwort Franziska Drohsel
»Was ist heute links?« Diese Frage ist wieder in aller Munde. Das war lange Zeit anders, und Liberale wie Konservative nahmen die Veränderungen 1989/90 zum Anlass, das Ende der politischen Linken auszurufen. Vom »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) war zu lesen. Als Linke fand man sich wieder in Defensivkämpfen. Sei es bei den Rechten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sozialstaatlichen Errungenschaften oder einem angenommenen antimilitaristischen Konsens: Man war damit beschäftigt, erkämpften Fortschritt zu verteidigen. Risse bekam die neoliberale Hegemonie mit dem Aufkommen der globalisierungskritischen Bewegung 1999. Auch wenn diese Bewegung weit davon entfernt war, Schaltzentralen der Macht besetzt zu halten, machte sie doch deutlich, dass nicht alle auf dieser Welt das neoliberale Credo bereit waren zu akzeptieren. Die Kernaussage war und blieb: Diese Welt ist von Menschen gemacht und von Menschen veränderbar. Die neoliberale Alternativlosigkeit von Steuersenkungswettbewerben, Sozialkürzungen und immer härteren Arbeitsbedingungen wurde schlicht negiert. Die Stimmung begann sich vor allem aufgrund der Folgen neoliberaler Politik zu ändern. Allenthalben war eine Zunahme sozialer Ungleichheit zu beobachten. In Deutschland schwand die reaktionäre Stimmungsmache – jeder sei für sein Leben selbst verantwortlich, Arbeitslose seien schlicht zu faul, und ihnen müsse
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nur genug Druck gemacht werden – zugunsten einer betroffenen Berichterstattung über Kinder, die nicht genug Geld für ein gutes Mittagessen haben, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die keinen Job mehr finden, und arme Wohnquartiere, in denen die Menschen kaum noch Chancen haben. Für den Rest sorgte die Krise an den Finanzmärkten. Mit ihr wurde deutlich, dass das neoliberale Dogma von Deregulierung, Liberalisierung und freien Märkten nicht in Wohlstand für alle mündet, sondern neben sozialer Ungleichheit auch Krisen in gigantischem Ausmaß produziert, die ganze Volkswirtschaften in den Ruin treiben. Der Neoliberalismus ist in der Krise. Wie es weitergeht, ist offen. Ob es gelingen wird, eine grundsätzliche Gesellschaftskritik zu verankern, ob es gelingen wird, soziale Regulative durchzusetzen, ist ungewiss. Abhängen wird das von politischen Akteuren, die bereit sind, sich in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Zukunft dieser Gesellschaftsordnung zu begeben. Als Jungsozialistinnen und Jungsozialisten wollen wir mit diesem Buch einen Beitrag dazu leisten. Wenn der Neoliberalismus in einer Legitimationskrise ist, kann linke Politik eine Renaissance erfahren. Aber was heißt heute überhaupt links? Ist es links, für Mindestlöhne und gegen Online-Überwachung zu sein? Ist es links, den Kapitalismus schlecht zu finden? Und was sind die Grundlagen linker Politik? Diese Fragen haben wir uns als Jusos gestellt und in einem Thesenpapier festgehalten, was für uns elementare Annahmen linker Politik sind. Wir haben über mehrere Monate bundesweit diskutiert und auf unserem Bundeskongress 63 Thesen beschlossen. Wir freuen uns darüber, dass sich so viele Menschen aus Politik, Wissenschaft und Bewegung an der Diskussion über die Frage zukünftiger linker Politik beteiligt haben. Die Resonanz hat unsere Erwartungen übertroffen. Sie zeigt, dass der Bedarf an einer solchen Debatte groß ist. Deshalb haben wir uns entschlossen, einen Teil der Diskussion in diesem Buch nicht nur zu dokumentieren,
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sondern auch weiterzuführen. So viele Positionen es gibt, die unserer Überzeugung entsprechen, so viele offene Fragen gibt es, an denen wir weiterdiskutieren wollen.
Die 63 Thesen In der Debatte rund um die Thesen ist für uns deutlich geworden, dass eine Verständigung über die Grundlagen linker Politik zwingend notwendig ist. Eine politische Praxis ohne Analyse wird zufällig und beliebig. Analyse ohne Praxis entbindet sich von dem Anspruch, gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu führen. Analyse und Praxis gehören folglich zusammen. Jungsozialistische Politik hat es ausgemacht, immer wieder auch grundsätzliche Strategiebestimmungen vorzunehmen. Ausdruck davon sind die Herforder Thesen und auch die »53 Thesen des Projekts Moderner Sozialismus«. Unsere Diskussion und unsere Positionierung sind der Versuch einer Standortbestimmung im Jahre 2008. Linker Politik liegt das Anliegen zugrunde, dass alle Menschen frei und gleich miteinander leben können. Alle Strukturen, die verhindern, dass Menschen sich frei und gleich gegenüberstehen, stehen im Fokus der Kritik und sind politisch zu bekämpfen. Was das gegenwärtig heißt, war Gegenstand unserer Diskussion. Zentral bleibt für uns die Kritik am Kapitalismus. Kapitalismus als dominantes Strukturprinzip unserer Gesellschaft durchzieht alle Lebensbereiche und sozialen Beziehungen. Als System macht er die Verwertbarkeit von Kapital zum Maßstab und die Ausbeutung der Menschen zum Prinzip. Vermittelt durch das Marktprinzip, Gewinn und Profit, sind ihm nicht nur soziale Ungleichheit – Gewinner und Verlierer –, sondern auch Krisen immanent. Es ist unsere Überzeugung, dass eine Gesellschaft in Freiheit und Gleichheit nur jenseits einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu realisieren ist. Dabei ist es elementar, sich der ambivalenten Rolle des Staates
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bewusst zu sein. Über den Staat kann sozialer Fortschritt errungen werden, und gleichzeitig sichert er die kapitalistischen Strukturprinzipien ab. Staat ist folglich ein Terrain politischer Auseinandersetzungen. Gegenwärtig sehen wir insbesondere drei Entwicklungen im Kapitalismus, auf die eine politische Linke Antworten finden muss. Das betrifft die Prozesse, die allenthalben mit dem Begriff Globalisierung beschrieben werden. Technische Entwicklungen und politische Entscheidungen haben eine veränderte Form von internationaler Wertschöpfung hervorgebracht. Auf die Internationalisierung von Wirtschaft ist bisher noch immer keine Internationalisierung von politischen Regulativen gefolgt. Die Spielräume von Nationalstaaten, welche allen Unkenrufen zum Trotz noch immer vorhanden sind, müssen genutzt werden. Vor allem aber muss die Standortkonkurrenz der Nationalstaaten mit neuen Formen internationaler Verständigung beantwortet werden. Der zweite Bereich betrifft die Prekarisierung der Arbeitswelt. Ein Rückgang klassischer industrieller Arbeit, veränderte Erwerbsbiografien und eine prekarisierte Arbeitswelt stellen viele Menschen nicht nur vor schlechte Arbeitsbedingungen, sondern machen eine kollektive Interessenorganisierung schwierig. Das dritte Feld ist die soziale Polarisierung, die in den letzten Jahren rapide gestiegen ist. Die Folge ist, dass sich immer mehr Menschen als ausgeschlossen wahrnehmen und es zunehmend nicht mehr gelingt, über Bildung, Arbeit, Demokratie, Kultur, öffentliche Daseinsvorsorge gesellschaftliche Partizipation zu organisieren. Doch um die Gesellschaft zu verstehen, reicht es nicht aus, die Funktionsweisen des Kapitalismus zu untersuchen. Gesellschaftliche Machtverhältnisse sind noch immer zugunsten der Männer verteilt. Dieses Patriarchat ist ein weiteres Strukturelement unserer Gesellschaft. Wir wissen um die Erfolge der Frauenbewegung. Wir wissen aber auch, dass noch viel zu tun ist. Noch immer sind es die Männer, die meist die Schalthebel bedienen, an denen über die Geschicke der Welt entschieden wird. Noch immer sind es die
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Frauen, denen der Bereich der Kindererziehung selbstverständlich zugeschrieben wird. Noch immer gibt es informelle Machtbeziehungen, gegen die Frauen allerorts anzukämpfen haben. Feminismus bleibt deshalb aktueller, notwendiger und immanenter Bestandteil linker Politik. Rassismus, Antisemitismus, Rechtsextremismus und Nationalismus sind Triebfedern diskriminierender Strukturen in unserer Gesellschaft. Ihre Ausprägungen sind verschieden. Sie finden sich unter anderem bei militanten Neonazis, in ausländerfeindlichen Pöbeleien von Biedermännern, in unverhältnismäßiger Kritik am Staate Israel oder in einer unmenschlichen Flüchtlingspolitik. Sie alle in den Blick zu nehmen, genau zu analysieren und hart zu bekämpfen gehört zu linker Politik unweigerlich dazu. Als Jungsozialistinnen und Jungsozialisten sind wir internationalistisch und antimilitaristisch. In den letzten Jahren war eine Militarisierung der deutschen Außenpolitik zu beobachten. Der Kosovo-Krieg war dabei eine einschneidende Zäsur. Eine nachhaltige Entwicklungspolitik, der Kampf für ein soziales Europa und eine Politik für Frieden, die auf Prävention setzt, stehen für uns auf der Tagesordnung. Im Bereich der Ökologiepolitik sehen wir gerade für eine progressive Linke viel zu tun. Wir sind davon überzeugt, dass weder eine Rückkehr zu einer »ursprünglichen« Lebensweise noch ein quasireligiöser Glaube an technischen Fortschritt die Lösung der Umweltproblematik mit sich bringt. Ziel muss es sein, die Begriffe »sozial« und »ökologisch« zusammenzubringen und den Fortschritt zum Wohle aller Menschen zu nutzen. Seit der Linkswende 1969 verstehen sich die Jusos als linker Jugendverband und als sozialistischer Richtungsverband in der SPD. So hat die Jusos trotz aller Differenzen, Strömungsauseinandersetzungen und -kämpfe die Überzeugung geeint, dass der »demokratische Sozialismus« des SPD-Grundsatzprogramms nur durch eine Überwindung des Kapitalismus Realität werden kann. Deshalb war und ist es richtig, für eine grundlegende Gesellschaftskritik
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zu kämpfen. Darüber hinaus sind die Jusos aber die Jugendorganisation der SPD und kämpfen in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen im Hier und Jetzt für progressive Veränderungen. Dabei ist es notwendig, sich bewusst zu machen, wo die Grenzen einer Politik im Bestehenden liegen. Auch wenn die Bahn nicht privatisiert wird, Studiengebühren wieder überall abgeschafft werden und der gesetzliche Mindestlohn flächendeckend eingeführt wird, wird es noch immer der Kapitalismus sein, in dem wir leben, der von Krisen und sozialer Ungleichheit gekennzeichnet ist. Nichtsdestotrotz lohnt es sich, für Veränderungen zu kämpfen, weil sie das Leben für viele Menschen erträglicher machen. Ohne die SPD wird es keine progressive Politik in diesem Land geben. Deshalb kämpfen wir als Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der und um die SPD. Wir sind davon überzeugt, dass die SPD Antworten auf die Fragen finden muss, wie in der derzeitigen Situation soziale Gerechtigkeit verwirklicht werden kann. Dafür muss die SPD stehen, und dafür streiten wir als Jusos. Mit der Doppelstrategie sehen wir unser Handlungsfeld nicht nur in der SPD, sondern auch außerparlamentarisch in der Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und den sozialen Bewegungen. Jungsozialistische Politik zu machen bedeutet das Bewegen in Widersprüchen. Auf der einen Seite das große Ganze im Blick zu haben und gleichzeitig in der SPD mit den Widrigkeiten der Realpolitik zu kämpfen und Kompromisse zu machen ist nicht einfach. Gemeinsam mit anderen Menschen linke Politik zu machen hat etwas Befreiendes und zeigt, dass nichts naturgegeben ist, sondern alles verändert werden kann. So notwendig die Organisierung und ein kollektives Handeln zur Veränderung gesellschaftlicher Zustände sind, so groß sind auch die Gefahren von Kollektiven für das Individuum. Die Widersprüche sich bewusst zu machen, darüber in der politischen Praxis zu sprechen, ist die einzige Möglichkeit, um zu großen Frustrationserfahrungen und resignativen Reaktionen zu begegnen. Es bleibt jedoch notwendig, denn nur so werden wir den langen Atem bewahren können,
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um diese Zustände endlich einmal so verändern zu können, dass sie uns nicht erdrücken.
Der Prozess Nach Veröffentlichung der 63 Thesen sind diese im Verband vielfach, lebhaft und kontrovers diskutiert worden. Einige der Autorinnen und Autoren in diesem Buch haben schon die Diskussion bereichert. Viele Diskussionsanstöße gingen in die Thesen ein und finden sich nun in der beschlossenen Fassung wieder. Einige Punkte wurden in fast jeder Veranstaltung angesprochen und zeigen, dass es an diesen Stellen großen Klärungsbedarf gibt. Virulent war immer der Umgang mit der Vision von einer anderen Gesellschaft, dem demokratischen Sozialismus. Hier wurden stets konkretere Definitionen angemahnt. Zutreffend ist, dass wir nicht ausformulieren können, wie eine bessere Gesellschaft im Einzelnen funktionieren wird. Dies ist weder möglich noch politisch wünschenswert. Wir glauben nicht an den fertigen Schaltplan für eine andere Gesellschaft, sondern wollen aus der Kritik am Bestehenden im demokratischen Prozess herausfinden, wie es anders gehen könnte. Über Wirtschaftsdemokratie haben wir auf fast allen Veranstaltungen diskutiert. Zwei Aspekte sind dabei auf sehr großen Widerhall gestoßen. Zum einen die Frage, welche wirtschaftlichen Bereiche gesellschaftlicher Kontrolle unterstellt werden sollen. Hier ging es um die öffentliche Daseinsvorsorge von der kommunalen Müllabfuhr, dem Schwimmbad bis hin zur Bahn. Die andere Seite war der Bereich der betrieblichen Mitbestimmung mit dem Kernanliegen, dass die Menschen, die in einem Unternehmen arbeiten, auch über die Unternehmenspolitik mitentscheiden sollen. Ein immer wiederkehrender Diskussionspunkt war das Spannungsfeld von Markt und Kapitalismus. Angemerkt wurde, dass der Markt an sich nichts Schlechtes sei. Allerdings wurde dabei
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übersehen, dass die Verteilung von Gütern über den Markt stets Gewinn und Verlust und in der Konsequenz soziale Ungleichheit produzieren wird. Deshalb bleibt es richtig, auch das Marktprinzip als Bestandteil des Kapitalismus der Kritik zu unterziehen. Zuletzt ist noch ein Punkt zu nennen, den wir oft diskutiert haben, an dem wir aber noch immer mit mehr Fragen als Antworten stehen. Es handelt sich um die Frage nach den Trägern emanzipatorischer Gesellschaftsveränderungen. In früheren Generationen war diese Frage zumindest in der Theorie ganz einfach zu beantworten: Es gab das revolutionäre Subjekt der Arbeiterklasse, und diese musste nur noch von der Notwendigkeit des Handelns überzeugt werden. In der Praxis stellte sich diese Arbeiterklasse – auch schon für frühere Generationen – als wesentlich differenzierter dar als vielfach angenommen. Legen wir die Annahme einer per se homogenen Arbeiterklasse beiseite, wird deutlich, dass Teile dieser Arbeiterklasse durchaus auch Ideologien vertreten, die sie zum politischen Gegner werden lassen. Ohne die arbeitenden wie auch die arbeitslosen Menschen in diesem Land geht es nicht. So viel steht fest. Was das für die politische Praxis heißt, bleibt virulent. Klar scheint für uns nur, dass wir als Jugendverband an den Interessen junger Menschen anknüpfen müssen. Das betrifft bei Schülerinnen und Schülern die Schule, bei Azubis die Lehrstelle, bei Studierenden ihr Studium und für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren Job. Das betrifft aber auch die Strukturen der Gesellschaft, mit denen junge Menschen bei ihren Entscheidungen immer wieder konfrontiert sind und die ihre Möglichkeiten immer wieder einschränken.
Das Buch Das vorliegende Buch dokumentiert zunächst die 63 Thesen »Für eine Linke der Zukunft«. Das Thesenpapier wurde im Juni vom Juso-Bundesvorstand veröffentlicht und daraufhin viel diskutiert.
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Zahlreiche Diskussionsanstöße wurden aufgenommen. Im Oktober haben wir das Papier auf unserem Bundeskongress beschlossen. Der erste Beitrag stammt vom Vorsitzenden der SPD Franz Müntefering, der sich mit der Frage auseinandersetzt, was links ist. Er erläutert zunächst, dass Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu linker Politik dazugehören. Aber auch die Überzeugung, dass Gesellschaft Fortschritt brauche, sei notwendiger Bestandteil. Außerdem geht er auf den Internationalismus der Arbeiterbewegung und das Anliegen für Frieden ein. Ebenso gehöre zu einer linken Politik das Soziale und das Demokratische sowie ein pragmatischer Anspruch, der die Sozialdemokratie auszeichne. In dem sich anschließenden Generationengespräch ehemaliger Juso-Bundesvorsitzender geht es um die Herausforderungen einer Politik bei den Jusos, wie sich diese in den letzten Jahren verändert haben und was die spezifischen Antworten in den einzelnen Amtsperioden waren. Das Gespräch wurde mit Andrea Nahles (Juso-Bundesvorsitzende 1995–1999), Benjamin Mikfeld (Juso-Bundesvorsitzender 1999–2001), Niels Annen (Juso-Bundesvorsitzender 2001–2004) und Björn Böhning (Juso-Bundesvorsitzender 2004–2007) geführt. Prof. Dr. Johano Strasser war in den 60er und 70er Jahren bei den Jusos aktiv, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender und hat vor allem die theoretische Diskussion nach der Linkswende 1969 entscheidend mitgeprägt. Er erläutert, dass er die offene Debatte jenseits dogmatischer Verrenkungen innerhalb der Linken für notwendig hält und dabei die Kategorie der Freiheit eine zentrale Rolle spielen muss. Im Zentrum einer Vision steht für ihn die Debatte um die Arbeitszeit und wie die Arbeitswelt nach den Bedürfnissen der Menschen gestaltet werden könnte. Uwe Kremer war in den 80er Jahren und zu Beginn der 90er Jahre bei den Jusos aktiv, auch stellvertretender Bundesvorsitzender und hat die 53 Thesen mitgeschrieben. Er stellt zunächst dar, wie in den 80ern darüber diskutiert wurde, wie die politische
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Linke auf den Übergang von Fordismus zu Postfordismus reagieren könne. Darüber hinaus erörtert er das Spannungsverhältnis zwischen grundsätzlicher Orientierung und dem konkreten Handeln in der Gegenwart. Er fordert ein, dass die Debatte hinsichtlich alternativer Vergesellschaftungsformen, sozialistischer Strukturreformen und solidarischer Ökonomie auch schon im Hier und Jetzt geführt werden müsse. Dr. Michael Heinrich ordnet in seinem Beitrag die gegenwärtige Krise an den Finanzmärkten ein. Im Fokus dürfe dabei nicht nur der Neoliberalismus stehen, sondern der Kapitalismus generell. Im Anschluss erläutert er, inwieweit die Marxsche Theorie auch heute noch für eine Kritik am Kapitalismus hilfreich ist. Dabei geht er nicht nur auf die Frage von Wert und Kapital ein, sondern auch von Klassen und der Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Ulrich Brand behandelt die Frage vom politischen Umgang mit der Globalisierung. Dabei macht er sich insbesondere für eine kritische Regulierungsperspektive stark. Darüber hinaus geht er auf die Frage nach einer Doppelstrategie ein und damit auf das Verhältnis von Parteien und sozialen Bewegungen sowie die Thematik einer linken Ökologiepolitik. Außerdem fordert er ein, zu untersuchen, inwieweit die Hegemonie des Neoliberalismus tatsächlich Risse bekommen hat. Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer und Anna Klein gehen auf die soziale Polarisierung in Deutschland ein und untersuchen dabei insbesondere die soziale Desintegration. Eine der Fragen ist, wie Menschen, die sich vom sozialen Abstieg bedroht sehen, mit ihren Mitmenschen umgehen, das heißt, was die Folgewirkungen einer Verschärfung der sozialen Frage für das soziale Zusammenleben sind. Insbesondere der Einzug ökonomistischer Einstellungen auch in soziale Beziehungen, wie zum Beispiel die Haltung, dass eine Gesellschaft sich »nutzlose« Menschen nicht leisten könne, spielt in der Untersuchung eine zentrale Rolle. Im Mittelpunkt des Beitrags von Michael Sommer steht die
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Gestaltung der Arbeitswelt. Dabei erläutert er zunächst, welche Veränderungen in der Arbeitswelt zu beobachten sind, um im Anschluss zu skizzieren, worin die Anforderungen der Gewerkschaften an »gute Arbeit« liegen. Dabei spielt nicht nur der existenzsichernde Charakter von Erwerbsarbeit eine Rolle, sondern auch Sinnstiftung und Erfüllung sowie ein effektiver Arbeitsschutz. Im Gespräch mit Meredith Haaf und Henny Engels wird die Frage eines zeitgemäßen Feminismus erörtert. Dabei spielen Themen wie Prostitution, der Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Patriarchat oder der Umgang mit Aussehen und Weiblichkeit eine Rolle. Aber auch die Frage wird aufgeworfen, ob der »neue Feminismus« lediglich von jungen, gut ausgebildeten Akademikerinnen getragen ist und die Situation ärmerer Frauen kaum eine Rolle spielt. Heidi Wieczorek-Zeul betont, dass solidarischer Internationalismus ein Kernanliegen sozialdemokratischer Politik ist. Darüber hinaus führt sie aus, dass die Sozialdemokratie für eine gerechte Gestaltung der Globalisierung stehen muss: für den Einsatz für die Millenniumsziele, eine echte Friedenspolitik und eine engagierte Entwicklungspolitik. Hinsichtlich Letzterer untersucht sie insbesondere die Rolle von Frauen und die Situation nach der Finanzmarktkrise, die Preissteigerungen bei Lebensmitteln und beim Öl. Jennifer Stange geht zunächst auf das Spannungsverhältnis von Reformismus und grundsätzlicher Orientierung ein. Darüber hinaus untersucht sie, wie reaktionäre Kapitalismuskritik sich darstellt und insbesondere im Kontext der globalisierungskritischen Bewegung auftritt. Auch wird erörtert, wie die soziale Frage in linken Zusammenhängen teilweise mehr als Appell an die deutsche Solidargemeinschaft denn als Emanzipationsanliegen behandelt wird. An diesem Projekt waren viele beteiligt. Danken möchte ich allen aus dem Bundesvorstand für die gemeinsame, solidarische Arbeit
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an den Thesen und dem ganzen Projekt. Bedanken möchte ich mich bei meinen politischen Freunden Jan Böning, Michael Karnetzki, Tobias Pforte-von Randow und Ruppert Stüwe. Hätten sie damals nicht an einem Sonntag mit mir diskutierend zusammengesessen und wären mir so oft mit Rat und Unterstützung zur Seite gestanden, wäre dieses Projekt so nicht zustande gekommen. Danken möchte ich außerdem Katrin Münch, ohne die gar nichts gehen würde.
Für eine Linke der Zukunft Thesen zu jungsozialistischer Politik Jusos
1. Intro These 1 Voraussetzungen linker Politik heute Für linke Politik standen die Vorzeichen in den letzten Jahren schlecht. Der real existierende Sozialismus war gescheitert und eine Alternative zum Kapitalismus damit scheinbar diskreditiert. Dem entsprach, dass die Behauptung des »There is no Alternative«-Prinzips (TINA) der Konservativen von den linken Kräften des Parlamentarismus übernommen und dem links-liberalen Bürgertum als vermeintlich entideologisierte Politikform des einzig Möglichen dargebracht wurde. Auf der anderen Seite wuchs bei vielen links stehenden politisch Interessierten die Überzeugung, Parteipolitik führe zwangsläufig zu Konformismus, Opportunismus und Karrierestreben. Als Beweis mussten ehemalige 68er herhalten, die sich von alten Idealen abgewandt hatten und diese nunmehr als spannende Geschichten ihrer Jugend abtaten. Die Früchte der Politik der scheinbaren Alternativlosigkeit und Sachzwänge sind heute allgegenwärtig: soziale Spaltung, Armutszunahme, prekäre Beschäftigungssituationen. Viele Menschen sind nicht mehr bereit, diese Zustände zu akzeptieren. Das bedeu-
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tet nicht, dass die Skepsis junger Menschen gegenüber Parteipolitik abgenommen hat, aber damit haben sich die Vorzeichen und Chancen für linke Politik geändert.
These 2 Wohin wir gehen Jungsozialistische Politik trägt die Überzeugung in sich, dass der Kapitalismus überwunden werden muss, um ein freies und gleiches Leben für alle zu verwirklichen. Wir gehen davon aus, dass eine menschliche Gesellschaft nur verwirklicht werden kann, wenn Freiheit, Gleichheit und Solidarität erkämpft werden. Wir wissen, dass Freiheit, Gleichheit und Solidarität noch nicht erreicht sind, sondern der Kampf um sie die Aufgabe der sozialistischen Bewegung ist. Daran hat sich auch heute nichts geändert. Wir Jungsozialistinnen und Jungsozialisten gehen davon aus, dass jeder Mensch für sich erstrebt, ein vollkommenes Leben zu führen. Unser Ziel bleibt der demokratische Sozialismus. Dessen Grundwerte waren der Maßstab, an dem sich SozialdemokratInnen als Teil der ArbeiterInnenbewegung gemessen haben. Sie sind die Grundlage für den politischen Erfolg, den die SPD als Partei immer wieder erzielen konnte. Wir Sozialistinnen und Sozialisten geben uns mit dem Erreichten nicht zufrieden, sondern wollen, dass es den Menschen besser geht. Daher streiten wir für eine Überwindung der Verhältnisse, in denen der Mensch ausgebeutet wird und die nach wie vor in historisch wandelbarer Gestalt fortbestehen. Den demokratischen Sozialismus zu erreichen ist eine dauernde Aufgabe. Ihn exakt zu definieren ist unmöglich. Es ist eine unmögliche Aufgabe und nicht wünschenswert, eine Vision bis ins kleinste Detail aus den heutigen Verhältnissen heraus zu beschreiben. Diese Verhältnisse werden nicht nur von uns heute geformt, sondern formen auch uns und unsere Vorstellungswelten. Für uns ist aber wichtig, klarzustellen, dass das derzeitige System
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ein System der Ungleichheiten ist und wir deshalb nach anderen Formen des Zusammenlebens suchen. Wir sehen es als unsere Aufgabe, Kritik am bestehenden System zu formulieren und aus dieser Kritik die Kraft zu schöpfen, für eine andere gesellschaftliche Verfasstheit zu kämpfen. Es hilft nicht, wenn ein »ArbeiterInnenführer«, eine »linke Elite« oder eine »Avantgarde« der Gesellschaft ein Modell aufzwingen will. Die Diskussion darüber, wie eine Gesellschaft anders aussehen kann, sehen wir als Teil unseres Kampfes. Ziel ist eine demokratische Verständigung über die Frage, wie eine andere Gesellschaft aussehen und organisiert werden kann. Diese Vision ist nur durch Menschen und ihre Überzeugung verwirklichbar. Daraus ergibt sich jedoch auch, dass jetzt noch nicht feststeht, was am »Ende« dieses Überwindungsprozesses kommt. Sozialismus ist also ein Ergebnis offener demokratischer Prozesse, die sich an unserem Bild vom Menschen und an unseren Grundwerten orientieren. Mit diesem Papier wollen wir eine innerverbandliche Verständigung über jungsozialistische Politik erreichen und eine Standortbestimmung jungsozialistischer Politik vornehmen.
2. 40 Jahre »Linkswende« der Jusos – Kontinuität im Wandel These 3 Selbstverständnis der Jusos Seit der auf dem Münchner Juso-Bundeskongress 1969 mit der demonstrativen Abwahl des damaligen Bundesvorsitzenden vollzogenen »Linkswende« verstehen sich die Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD sowohl als eigenständige linke Jugendorganisation als auch als sozialistischer Richtungsverband in der SPD. Dieses doppelte Selbstverständnis prägt die Jusos trotz vielfältiger Brüche in den vergangenen Jahrzehnten auch heute noch.
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Trotz aller Differenzen zwischen den verschiedenen Strömungen des Verbandes eint die Jusos seit der Linkswende die Überzeugung, dass der »demokratische Sozialismus« des SPD-Grundsatzprogramms nur durch eine grundlegende Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsformation Wirklichkeit werden kann. Dabei gab es im Verband unterschiedliche Einschätzungen in der Analyse des real existierenden Kapitalismus, in der Frage der Strategie antikapitalistischer Gesellschaftsveränderung und in der Bewertung der Rolle der Sozialdemokratie. Diese Differenzen wurden in äußerst heftigen Flügelkämpfen ausgetragen, ohne jedoch das gemeinsame sozialistische Selbstverständnis der Jusos infrage zu stellen.
These 4 Die Linkswende und die Jusos in den 70er Jahren Ausgangspunkt für die Linkswende der Jusos war das Wiederaufbrechen der kapitalistischen Krisenhaftigkeit in der BRD Mitte der sechziger Jahre, das den Glauben an die immerwährende Prosperität der »Wirtschaftswunder«-Jahre erschütterte. Im Zuge der antiautoritären Studentenrevolte strömten massenhaft junge kritische Studierende und SchülerInnen in die SPD. Die Reformeuphorie zu Beginn der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt wirkte als Katalysator für gesellschaftsverändernde Bestrebungen vor allem in der Jugend. Nach der vollzogenen Linkswende bildeten sich bei den Jusos Anfang der 70er Jahre unterschiedliche Flügel heraus. Während die »reformsozialistische« Strömung (im Juso-Jargon »Refos«) sich die Überwindung des Kapitalismus mittels schrittweiser »systemüberwindender Reformen« durch eine SPD-Regierung vorstellte, beharrten andere Teile der Jusos auf einer »Mindestschwelle der Vergesellschaftung der Produktionsmittel«, unterhalb derer alle Reformen der kapitalistischen Gesellschaftsform verhaftet bleiben und immer wieder infrage gestellt werden würden.
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Unterschiedliche Auffassungen gab es in der Einschätzung des Strukturwandels der kapitalistischen Gesellschaft. Die im »Hannoveraner Kreis« zusammengeschlossene Juso-Linke orientierte sich in ihrer Strategie an der vor allem aus Frankreich übernommenen Theorie des »staatsmonopolistischen Kapitalismus« (»Stamokap«), die davon ausging, dass sich der Kapitalismus durch die immer stärkere Konzentration und Zentralisation des Kapitals zu einem von einigen wenigen Monopolen beherrschten System entwickelt habe, bei dem sich die Monopole den formal demokratisch organisierten Staatsapparat zunehmend unterordnen würden. Gegen diese Theorie wandte sich vor allem die Strömung der »AntirevisionistInnen«, die einen monopolistischen Strukturwandel der kapitalistischen Gesellschaft bestritten, da dieser durch die kapitalistische Konkurrenz immer wieder gesprengt werden würde. Aus diesem Grunde wurde auch die der Stamokap-Theorie immanente Strategie antimonopolistischer Bündnisse zwischen ArbeiterInnenklasse, nichtmonopolistischen Kapitalgruppen und kleinbürgerlichen Zwischenschichten verworfen. Unterschiedliche Auffassungen gab es schließlich in der Einschätzung der Rolle der SPD und hinsichtlich der Bedeutungszumessung der beiden Seiten der »Doppelstrategie«. Die ReformsozialistInnen stellten Parteiarbeit in der SPD und Arbeit in sozialen Bewegungen unvermittelt nebeneinander. Die »AntirevisionistInnen« hielten die Politik der SPD für unaufhebbar reformistisch an die kapitalistische Gesellschaftsformation gebunden und sahen deshalb die zentrale Aufgabe der Jusos alleine in der Entfaltung autonomer Gegenmachtpositionen außerparlamentarischer Basisbewegungen. Die Juso-Linke betrachtete die »Doppelstrategie« als einen Hebel für die »prinzipiell lösbare Kampfaufgabe«, die SPD zu einer »wirklich sozialistischen« Partei zu machen. Mit der Stärkung des in realen Klassenkämpfen wachsenden sozialistischen Bewusstseins in der ArbeiterInnenklasse würde sich dieses auch in der SPD, die man als »reformistische Arbeiterpartei« ansah, durchsetzen.
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In den »Herforder Thesen« zur Arbeit von Marxisten in der SPD von 1980 entwickelte die Juso-Linke die Theorie des »demokratischen Übergangs zum Sozialismus«, der sich durch das Bekenntnis zum Mehrparteiensystem sowie zur garantierten Meinungs- und Organisationsfreiheit vom Realsozialismus in der Sowjetunion, der DDR und den anderen Ländern in Mittel- und Osteuropa abhob. Der Untermauerung dieser Unterscheidung diente auch die bei den Jusos in den 80er Jahren verbreitete Rezeption des »Austromarxismus« in der österreichischen Sozialdemokratie der Zwischenkriegsperiode.
These 5 Die Jusos in den 80er Jahren In den 80er Jahren zeigten sich gesellschaftliche Veränderungen in der kapitalistischen Gesellschaft selbst: wirtschaftlicher Strukturwandel im Zuge der wissenschaftlich-technologischen Entwicklungen, die Auflösung traditioneller ArbeiterInnenmilieus im Prozess der zunehmenden Individualisierung, die Entstehung neuer sozialer Bewegungen jenseits des unmittelbaren Konflikts zwischen Kapital und Arbeit, die Entstehung der Partei Die Grünen. Diese Entwicklungen zerstörten alte Gewissheiten und führten wie in anderen Teilen der bundesdeutschen Linken auch bei den Jusos zu strategischen Neuausrichtungen. Diese bezogen sich unter anderem auf ein neues Verständnis des Verhältnisses Ökonomie und Ökologie, auf die »Zukunft der Arbeit« (bei der sich Teile des Juso-Verbandes zu einem die Erwerbsarbeit relativierenden »Recht auf Faulheit« bekannten) und vor allem – unter dem Begriffspaar »Sozialismus und Feminismus« – auf eine neue Bewertung der Geschlechterverhältnisse für eine emanzipatorische Gesellschaftsveränderung. Mit der »jugendpolitischen Orientierung« versuchten die Jusos in der zweiten Hälfte der 80er Jahre eine spezifische Antwort auf die zunehmende Individualisierung im Kapitalismus zu geben, in der auch ihre Rolle als Jugendverband wieder stärker in den
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Mittelpunkt der Aktivität gerückt werden sollte. Strategischer Ausgangspunkt war die Analyse einer im Zuge verlängerter Ausbildungszeiten sich herausbildenden eigenständigen Jugendphase im Kapitalismus. Die gewachsenen Lebensansprüche der Jugendlichen wurden als eine emanzipatorische Potenz begriffen, ihre Verteidigung gegen die kapitalistische Zurichtung als Hebel zur Gewinnung der Jugendlichen für sozialistische Politik.
These 6 Die Jusos in den 90er Jahren Das Dilemma dieser emanzipatorisch gedachten Neuausrichtungen sozialistischer Strategie bei den Jusos war ihr zeitliches Zusammentreffen mit dem Zusammenbrechen der real existierenden Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft im Jahre 1989. Trotz aller Distanzierung der Jusos vom Sozialismus-Modell in Osteuropa waren auch die Jusos von dessen Zusammenbruch betroffen. Die Vorstellung einer möglichen grundsätzlichen Alternative zur kapitalistischen Gesellschaftsform schien insgesamt diskreditiert. Was in der Juso-Strategiediskussion in der zweiten Hälfte der 80er Jahre als Modernisierung sozialistischer Politik gedacht war, geriet jetzt unbeabsichtigt zu einem Element der Defensive sozialistischer Vorstellungen. Schon die als Nachfolgeprojekt der Herforder Thesen gedachten »53 Thesen des Projekts Moderner Sozialismus« von 1989 hatten in versuchter Aufhebung des »Gegensatzes von Reformismus und revolutionärem Sozialismus« zur zentralen Aufgabe von SozialistInnen erklärt, sich aktiv reformpolitisch »in die nächste Phase kapitalistischer Entwicklung einzuschreiben«. Nun geriet der Sozialismus in der Grundsatzerklärung der Juso-Linken von 1991 (in abgewandelter Form auch als Grundsatzerklärung des gesamtdeutschen Juso-Verbandes 1991 vom Potsdamer Bundeskongress beschlossen) gar zur Aufgabe, »in den ökonomischen, sozial-kulturellen und politischen Verhältnissen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft die Grundlagen für einen entwickelten
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Sozialismus so weit wie möglich auszubauen«. In dieser Vorstellung verwischten sich die grundlegenden Unterschiede zwischen kapitalistischer und sozialistischer Gesellschaft. Und die »jugendpolitische Orientierung« der Jusos in den 80er Jahren verwandelte sich in den 90er Jahren mit der Konzeption der »Jugendlinken« von einer auf die Gesellschaft gerichteten Strategie zu einem rein organisationspolitischen Ansatz eines Bündnisses von Jugendverbänden.
These 7 Die Jusos in den 2000er Jahren Die Ende der 90er Jahre und Anfang dieses Jahrzehnts geführte neue Strategiediskussion bei den Jusos unter dem Titel »Neue Zeiten denken!« versuchte schließlich, aufbauend auf den Debatten von Anfang der 90er Jahre, die sich im Zuge der neuen Kommunikationstechnologien und der New Economy abermals verstärkende Individualisierung der Gesellschaft – die vor allem die Jugendgeneration prägt – in einem Ansatz aufzunehmen, in dem »Ansprüche auf eigene Leistungserbringung« mit dem Wunsch nach solidarischen Gesellschaftsverhältnissen miteinander verbunden werden sollten. Damit war dieser Ansatz zugleich Widerspiegelung und Antwortversuch auf die im Umfeld von Gerhard Schröder für die Politik der rot-grünen Bundesregierung entwickelten Strategien der »neuen Sozialdemokratie« mit ihrer Verbindung von »Innovation und Gerechtigkeit«. Ziel dieser Strategie war es, eine neue Koalition zwischen Gewinnern und Verlierern der aktuellen gesellschaftlichen und ökonomischen Umbrüche zu bilden, deren Grundgedanke der der Solidarität sein sollte. Der Begriff der »Leistung« wurde zu einem positiv bewerteten Begriff, wobei seine kapitalistische Formbestimmtheit unhinterfragt blieb. Im sozialdemokratischen Diskurs rund um die Hartz-Gesetzgebung und das Prinzip des »Fördern und Fordern« wurden jetzt auch soziale Ansprüche an die Erbringung von »Gegenleistungen« der Menschen gebunden. Bei den Jusos wurde darüber hinaus über den Umgang
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mit veränderten Erwerbsbiografien diskutiert. Grundlage der Analyse war, dass sich Erwerbsleben verändern und die Menschen nicht mehr ihr ganzes Erwerbsleben im gleichen Betrieb verbringen. Die Orientierung war dabei auf den Umbau des Sozialstaates gerichtet, um insbesondere Brüche in den Lebensläufen abzusichern.
These 8 Die Jusos heute Linke Ideen waren in den letzten Jahrzehnten in der Defensive. Mit Versuchen der Relativierung sozialistischer Positionen und der Anpassung an vermeintliche Sachzwänge hatte auch der Juso-Verband zu kämpfen. Umso bemerkenswerter ist es, dass trotz all dieser Schwierigkeiten die Jusos mehrheitlich links geblieben sind. Dass sich in den letzten Jahrzehnten sozialistische Grundvorstellungen der Jusos in Form einer die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse überwindenden Zielorientierung mehrheitlich erhalten haben, rührt auch daher, dass die Widersprüche kapitalistischer Logik und der auf ihre systemimmanente Gestaltung gerichteten Politik der SPD Menschen stets aufs Neue zu Widerstand in Form sozialer Bewegungen herausfordern. An diesen sozialen Bewegungen waren und sind die Jusos immer wieder beteiligt gewesen: Kampf gegen die Abschaffung des Asylrechts Anfang der 90er Jahre, Kampf gegen die Militarisierung deutscher Außenpolitik durch die Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen, globalisierungskritische Bewegung, Proteste gegen »Hartz IV« und die »Agenda 2010«. Die »Doppelstrategie« der Jusos bestätigt sich auf diese Weise als immer wieder aktualisierter Impuls, sich nicht mit den bestehenden Verhältnissen abfinden zu wollen, sondern diese zu verändern. Als Jusos haben wir heute mit Schwierigkeiten in der politischen Organisierung zu kämpfen. Viele junge Menschen engagieren sich nicht links. Dass sie nicht in der SPD aktiv werden, hat mit
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vielen Problemen der SPD zu tun. Gleichzeitig gilt es hierbei aber auch, selbstkritisch mit der politischen Praxis unseres Verbandes umzugehen. Eine Vielfalt des Verbandes hinsichtlich seiner Mitglieder ist anzustreben, und dafür lohnt es zu kämpfen. Gleichzeitig stehen wir vor einem Dilemma: Die Bedeutungszunahme der sozialen Frage führt dazu, dass sich weniger junge Menschen politisch engagieren. Viele fühlen sich als EinzelkämpferInnen um Praktika, Auslandskenntnisse, schnelle Abschlüsse und so weiter und sehen für sich nicht den Weg der kollektiven Organisierung. Gleichzeitig brauchen wir das Engagement von mehr jungen Menschen, um dem Druck auf die Lebensbiografien durch politisches Handeln in Form von sozialstaatlichen Absicherungen entgegenwirken zu können. Die tatsächliche Veränderung der bestehenden Verhältnisse erfordert also stets aufs Neue eine zeitgemäße Analyse der kapitalistischen Gesellschaft und die Entwicklung einer diese Gesellschaft überwindenden politischen Strategie.
3. Don’t fight the player, fight the game These 9 Kapitalismus als Totalität Kapitalismus ist das dominante Strukturprinzip der Gesellschaft. Die ihm innewohnende Logik und Dynamik der Verwertung durchzieht alle Lebensbereiche und sozialen Beziehungen der Menschen untereinander. Diese Totalität des Kapitalismus determiniert auch seine Gegnerschaft. Weder kommunal verwaltete Schwimmbäder noch das besetzte Haus mit Volksküche untergraben die Strukturmerkmale der Verwertungslogik. Sie sind im besten Fall erkämpfte Rettungsringe der Vernunft im Meer der Unvernunft. Um die inneren Zwänge der kapitalistischen Produktionsweise
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hinreichend darstellen zu können, müssen die strukturierenden Gegensätze näher betrachtet werden. Diese Gegensätze stellen sich nicht personifiziert dar, sondern müssen als Strukturelemente in ihrer Abstraktheit begriffen werden. Der Kapitalismus hat bewiesen, dass er sich immer wieder auf neue Bedingungen einstellen und seine Strukturprinzipien mit neuem Gesicht erhalten konnte. Die jeweiligen Strukturen spiegeln sich in permanenten Auseinandersetzungen der AkteurInnen wider. Die Rolle der AkteurInnen ist durch die historische Konstellation bestimmt, und umgekehrt bestimmen die Auseinandersetzungen der AkteurInnen und die Ergebnisse dieser Prozesse die Strukturen immer wieder neu. Kapital und Arbeit als Antagonisten bedingen sich gegenseitig und lassen sich nicht hierarchisieren. Im Folgenden wird aber versucht, sie einzeln zu charakterisieren.
These 10 Das Kapital Triebkraft kapitalistischer Gesellschaft ist die Suche nach immer neuen Verwertungsmöglichkeiten für das eingesetzte Kapital. Dies ist der entscheidende Unterschied zu nicht kapitalistisch strukturierten Gesellschaften: Die Vermehrung des eingesetzten Kapitals ist das eigentliche Ziel der Produktion. Dabei bildet das Kapital keinen homogenen Block. Im Gegenteil: Unterschiedliche Einzelkapitale stehen in Konkurrenz zueinander und treiben sich durch die Entwicklung immer neuer Produktionsweisen und Waren gegenseitig an. Durch Innovation bei Produkten und Produktionsweisen ist es möglich, in der Konkurrenz zu bestehen und überdurchschnittlichen Profit zu erwirtschaften. Daher braucht es einen wachsenden Kapitalstock, um zumindest mit der durchschnittlichen Produktion mithalten zu können. Ein Ausbrechen aus dieser Logik bedeutet dabei den Verlust an eigenen Produktionsmöglichkeiten und damit des eigenen Kapitals. Der eigentliche und logisch
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notwendige Zweck der Produktion ist nicht die Bedürfnisbefriedigung, sondern die Vermehrung des eingesetzten Kapitals. Diese Entwicklungen geschehen im Kapitalismus weder starr noch linear. Denn die Konkurrenz der einzelnen Kapitale bringt nicht nur immer wieder Neues hervor, sie führt notwendigerweise auch zum Zusammenbruch einzelner Kapitalisten, Wirtschaftszweige oder ganzer Volkswirtschaften. Dies geschieht immer dann, wenn mit den eingesetzten Mitteln nicht der notwendige Profit erwirtschaftet werden kann und so das im Laufe der Zeit akkumulierte Kapital nicht mehr der Kapitallogik entsprechend eingesetzt wird. Dieses wird dann von anderen Kapitalen aufgesammelt und es erfolgt eine zunehmende Konzentration der Produktionsmittel. Wenn dies in größerem Umfang geschieht, kommt es zur Machtverschiebung innerhalb der Kapitalfraktionen.
These 11 Die Arbeit Arbeit besitzt einen Doppelcharakter. Zum einen ist sie lohnabhängige Erwerbsarbeit, die in Entfremdung und Ausbeutung Tauschwert schafft. Zum anderen ist sie Tätigkeit, die Gebrauchswerte schafft und durch welche sich die Menschen in produktiver Tätigkeit selbst verwirklichen können. Denn nur wenn erkannt wird, dass die spezifische Form der Arbeit im Kapitalismus – die Erwerbsarbeit – diejenige ist, über welche Ausbeutung, Fremdherrschaft und Last vermittelt wird, kann der Kampf für eine Humanisierung der Erwerbswelt aussichtsreich aufgenommen werden. Um das Notwendige zu produzieren, ist die Gesellschaft weiterhin auf Arbeit angewiesen. Nur durch Arbeit entsteht im Produktionsprozess mehr als die Summe der einzelnen Teile. Im Kapitalismus nimmt die Arbeit die Form von Lohnarbeit an, durch die Mehrwert geschaffen werden kann. Gewinn fließt in der Regel nicht denjenigen zu, die ihre Arbeitskraft veräußern, sondern jenen, welche die Produktionsmittel zur Verfügung stellen.
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Arbeit ist Ausbeutung, denn im Kapitalismus haben die ArbeitnehmerInnen lediglich die formale Freiheit zu entscheiden, wem und zu welchem Preis sie ihre Arbeitskraft verkaufen, sind tatsächlich aber dazu gezwungen, sie zu verkaufen, da sie nicht im Besitz von Produktionsmitteln sind und nur durch Lohnarbeit ihren Lebensunterhalt sichern können. Dabei treten sie zwangsläufig in Konkurrenz um Arbeitsplätze. Dies ist ein weiteres strukturierendes Element des Kapitalismus. Über die Stellung innerhalb der Produktion wird jedem seine gesellschaftliche Stellung zugewiesen, aber auch die Selbstwahrnehmung definiert. Deshalb ist in der kapitalistischen Gesellschaft Erwerbsarbeit auch für den einzelnen Menschen und die Gestaltung seines Lebens zentrales Element. Dennoch baut auch der Kapitalismus darauf, dass unentgeltlich Reproduktionsarbeit geleistet wird, was meist für Frauen eine doppelte Vergesellschaftung bedeutet. Im Kapitalismus kommt es nicht auf die Befriedigung der Menschen an, sondern ausschließlich auf den Profit. Diese Logik breitet sich in allen Lebensbereichen aus. Die gesellschaftlichen Verhältnisse von Menschen werden zu Verhältnissen von Sachen, die alle dem Wertgesetz unterliegen. Das System der Lohnarbeit funktioniert nur, wenn die Menschen einerseits durch ihren Lohn ihre Arbeitskraft reproduzieren können und andererseits sie auch genug »Freizeit« haben, um ihre Arbeitskraft ausreichend regenerieren zu können. Diese Reproduktionsarbeit ist notwendige Bedingung für die Funktionsfähigkeit des Kapitalismus. Die ungleiche Verteilung der Produktionsmittel und der Zwang der Lohnabhängigen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, ist die Grundlage dafür, dass der bei der Produktion entstehende Mehrwert nicht ihnen, sondern den KapitaleigentümerInnen zugute kommt. Mehrwert ist der Wert, den ArbeiterInnen durch ihre Arbeit in ein Produkt stecken und der über den Ersatz für die Arbeitskraft, das heißt den Lohn, und den Wert der eingesetzten Produktionsmittel hinausgeht. Der systemimmanente Innovationsdruck zwischen den Unternehmen
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sorgt dafür, dass die notwendige Arbeitszeit sinkt. Die Konkurrenz der ArbeiterInnen untereinander beeinflusst die Verteilungsverhältnisse zugunsten des Kapitals. So besteht die Tendenz dahin, dass der Mehrwert im Verhältnis zum Lohn der ArbeiterInnen anwächst. Die konkrete Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse ist dabei im Kapitalismus nicht festgelegt, sondern Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen – um Bedingung und Organisation von Arbeit, um die Frage nach Entlohnung und darum, was an Qualifikation und Reproduktionsarbeit notwendig ist, um die eigene Arbeitskraft herzustellen und zu erhalten. Zur Arbeit gehört auch der Erhalt der eigenen Arbeitskraft. Der Erwerbsarbeit kommt dabei in unserer Gesellschaft eine große Bedeutung für das Selbst- und das Fremdbild zu. Vielfach werden gesellschaftlich notwendige Arbeiten, wie Pflege, Kindererziehung und ehrenamtliches Engagement, weder materiell noch immateriell ausreichend gewürdigt.
These 12 Der Traum vom neutralen Staat »[I]mmer übersetzt der Staat den objektiven Zwangscharakter der gesellschaftlichen Reproduktion in politische Form. In Zeiten von Krise und sozialer Unruhe tritt dies krude und unverbrämt zu Tage; es zeigt sich darüber hinaus in den Präventivstrategien, die darauf gerichtet sind, die Krise einzudämmen oder besser zu verwalten. Aber es gilt auch für den ›Normalfall‹ einer friedlichen und befriedeten Reproduktion, die innerhalb und vermittels der Institutionen vor sich geht.« Johannes Agnoli
Im Staat verdichten sich die Kräfteverhältnisse der Klassen, das macht ihn zum Austragungsort für Kämpfe der widerstreitenden Interessen. »Den« Staat gibt es nicht. Staatlichkeit ist jeweils das Produkt der bestehenden gesellschaftlichen und ökonomischen
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Verhältnisse. Staat und gesellschaftliche Verhältnisse zwischen Klassen und Gruppen beeinflussen sich gegenseitig: Über- und Unterordnung spiegeln sich in den Institutionen und Apparaten des Staates wider, der Staat selbst nimmt durch seine vielfältigen Handlungsformen Einfluss auf das Gefüge der Produktions- und Klassenverhältnisse. Kapitalismus braucht keinen bürgerlichen Rechtsstaat, er kann aber nützlich sein. Demzufolge ist der Staat nicht nur Rechtsstaat, der einen formalen Rahmen setzt und die Einhaltung dieses Rahmens durch sein Gewaltmonopol absichert. Im Kapitalismus sind dem Staat bestimmte Aufgaben zugewiesen. Staatsbildung und die Existenz von Nationen waren und sind Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des Kapitalismus. Eine grundlegende Funktion des Staates ist die Sicherung der Verwertungsbedingungen des Kapitals. Dies geschieht durch ökonomische Tätigkeiten, Gesetze und das Gewaltmonopol. Auch in der gegenwärtigen Phase ökonomischer Globalisierung sichert der Staat die neoliberalen Interessen institutionell und ideologisch ab (»innere Sicherheit«, Standortfaktoren, »Festung Europa«, Agenda 2010 etc.). Er ist Garant der materiellen Voraussetzungen der Kapitalakkumulation. Ob Bildung, Infrastruktur oder die Durchsetzung nationaler Interessen mittels Kriegen: Der Staat erfüllt die ihm zugedachte Funktion als Dienstleister des Kapitals. Er kann auch gar nicht anders: Durch die strukturelle Abhängigkeit von ökonomischer Prosperität durch die Steuereinnahmen ist es schlichter Eigennutz, die ökonomische Verfasstheit strukturell gewalttätig und notfalls militärisch abzusichern. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch im Hier und Jetzt durchaus Akzentverschiebungen möglich sind. Zu den Basisaufgaben bürgerlicher Rechtsstaaten gehört der soziale Frieden ebenso wie die Autobahnzufahrt zum Industriegebiet. Der Staat ist nicht einfach das Instrument der herrschenden Klasse, die ihrerseits von Konflikten um die Vorherrschaft geprägt
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ist, sondern stellt ein Terrain von Auseinandersetzungen dar. Noch immer ist Staatlichkeit für gesellschaftliche Gestaltung im kapitalistischen System entscheidend. Wer für eine fortschrittliche Politik kämpft, muss offensiv in die Auseinandersetzung um die Rolle und die Aufgaben des Staates gehen. Für Jusos ist die Bedeutung des Staates daher stets ambivalent.
These 13 Kapitalismus und andere Ungleichheiten Neben dem Kapitalismus gibt es noch weitere Strukturen, die verhindern, dass Menschen in dieser Gesellschaft frei und gleich miteinander leben. Patriarchale Strukturen führen dazu, dass es noch immer ungleiche Verhältnisse zwischen Frauen und Männern gibt. Rassistische und antisemitische Diskriminierung sind Realität in diesem Land. Nicht richtig ist es, davon auszugehen, dass es sich hier um Wirkmechanismen handelt, die losgelöst nebeneinanderstehen. Die Zuordnung der unbezahlten Reproduktionsarbeit an Frauen hat einen entscheidenden Anteil an der Stabilität der kapita listischen Ordnung gehabt. Rassistische Ideologien wurden benötigt, um imperialistische Kriege gegen andere Länder zu führen. Deshalb ist es nötig, nicht nur gegen den Kapitalismus, sondern auch gegen weitere Ungleichheiten wie Rassismus und Patriarchat zu kämpfen. Entscheidend ist zu verstehen, wie sich Kapitalismus aktuell, wie sich ein Mechanismus wie das Patriarchat darstellt und in welchem Verhältnis sie gegenwärtig zueinander stehen.
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4. Politischer Kampf »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.« Karl Marx
These 14 Es hat keinen Sinn, zu warten, bis es besser ist Die Analyse der gesellschaftlichen und ökonomischen Verfasstheit muss schonungslos sein. Niemandem ist geholfen, wenn unter falschen oder verkürzten Grundannahmen Hoffnungen auf grundsätzliche Überwindung des Bestehenden geweckt werden. Im selben Rhythmus mit den zyklischen Krisen des Kapitalismus wird gerade aus Teilen der Sozialdemokratie regelmäßig entweder der Moral der UnternehmerInnen, vergangener Prosperitätskonstellationen oder der Gestaltungskompetenz der Politik gedacht. Wenn dahinter mehr steckt als ein taktisches Argument im aktuellen Diskurs, bricht sich das Ur-Dilemma der Sozialdemokratie Bahn: das Denken und Handeln in der oben beschriebenen Totalität, verbunden mit der Sehnsucht nach Vernunft und Gerechtigkeit. Als Jusos müssen wir die Beschränktheit unseres Handlungsrahmens kennen, um erfolgreich zu sein. Nur wer weiß, welche Kämpfe man im Bestehenden mit den politischen Mitteln gewinnen kann, ist vor der Kapitulation in Anbetracht der Wirklichkeit gefeit. Nur wer versteht, nach welchen Gesetzen der Kapitalismus funktioniert, kann im Hier und Jetzt für Gestaltungsperspektiven, Reformen und soziale Standards kämpfen. Gleichzeitig wissen wir, dass dieses System von Menschen gemacht und somit auch von Menschen wieder überwunden werden kann. Der Behauptung der Alternativlosigkeit dieser Gesellschaftsordnung werden wir deshalb auf jeder Ebene entgegentreten.
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Das ist anstrengend. Es setzt voraus, dass wir in der Lage sind, neben Schule/Uni/ Job, Familie, FreundInnen und dem Spaß des Lebens und nicht zuletzt neben dem Sog der Partei in Ämter und dem Kleinklein der Tagespolitik die Kritik am Grundsätzlichen nicht aufzugeben, den Austausch zu suchen mit gesellschaftlichen Bündnis partnerInnen und Scheuklappen abzulegen, die gerne den Blick verstellen. Aber es lohnt sich, da die Wirklichkeit in all ihrer Unvernunft Menschen braucht, die sich nicht nur auf die Ebene der Kritik zurückziehen, sondern gegen die alltäglichen Zustände das solidarische Prinzip setzen und sich nicht zu fein sind, auf allen Ebenen den zähen Kampf um Akzentverschiebungen zu führen.
These 15 Die SPD Mit dem Hamburger Programm hat die SPD sich zum demokratischen Sozialismus bekannt. Die SPD ist derzeit keine sozialistische Partei. Ohne die SPD wird es jedoch keine progressive Politik in diesem Land geben. Deshalb engagieren wir uns in der SPD und sind ein Teil von ihr. Wir kämpfen als Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der und um die SPD. Das heißt auch, für progressive Mehrheiten innerhalb der SPD zu werben. Dazu gehört aber auch, dass wir offensiv dafür kämpfen, viele andere linke Kräfte von der Notwendigkeit eines sozialistischen Engagements in der SPD zu überzeugen. Gemeinsam mit progressiven Kräften wollen wir für unsere Positionen innerhalb der SPD kämpfen.
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These 16 Die SPD aktuell Mit dem Hamburger Programm hat sich die SPD zum demokratischen Sozialismus bekannt. In den Regierungsjahren ist die SPD jedoch einen Weg gegangen, der dem neoliberalen Mainstream gefolgt ist. Der Versuch, über die Konstruktion einer neuen Mitte und eines aktivierenden Sozialstaats eine Politik zu etablieren, die mit scheinbar traditionellen Werten und Instrumenten sozialdemokratischer Politik aufräumte und an ihre Stelle scheinbar Modernes setzte, ist in mehrfacher Hinsicht gescheitert. Letzten Endes hat sich Rot-Grün der eigenen Basis beraubt, indem die konkrete Regierungspolitik diese Basis negierte. Die Grundannahme, die zu dieser Fehleinschätzung der tatsächlichen gesellschaftlichen Gegebenheiten führte, lag in der Vorstellung, die alte Klassengesellschaft habe sich überlebt. Die sozialen Gegensätze wurden stattdessen als Ergebnis unterschiedlicher Leistungsbereitschaft interpretiert. Folgerichtig bestand die politische Aufgabe darin, Arbeitslose zu »aktivieren« und, wenn es sein musste, eben auch durch Sanktionen zur Aufnahme niedrig entlohnter und unsicherer Arbeit zu animieren. Dadurch hat sich das Verhältnis zu unseren traditionellen BündnispartnerInnen, wie den Gewerkschaften, enorm verschlechtert. Neue fortschrittliche BündnispartnerInnen wurden mit der Politik der »Neuen Mitte« hingegen nicht gewonnen. Inhaltlich ist diese Politik offensichtlich gescheitert. Eine Zunahme sozialer Spaltung, fehlende soziale Aufstiegsmöglichkeiten und eine unwürdige Behandlung für jene, die in eine soziale Notlage gerutscht sind, sind Entwicklungen, die am Ende langjähriger SPD-Regierungsbeteiligung stehen. Innerparteilich hat dieser Weg die Partei zerrissen. Austritte, Frustration, Enttäuschung und der Verlust der Überzeugung, in dieser Partei Entscheidungen beeinflussen zu können, waren die
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Folge. Hinzu kam eine Entfremdung zwischen FunktionärInnen und Basis. Gesellschaftlich hat die SPD in diesen Jahren an Zustimmung eingebüßt, was sich in schlechten Wahlergebnissen und dem massiven Rückgang der Mitgliederzahl ausdrückt. Das Scheitern von Rot-Grün ist damit auch das Scheitern derjenigen, die linke Theorie- und Strategiebildung bloß als unnützen Ballast herabgewürdigt haben und sich stattdessen in postmoderner Beliebigkeit ergingen. Dies heißt konkret und auch mit Blick auf die letzten Jahre sozialdemokratischer Regierungspolitik: Ja, die Eigenverantwortung des/der Einzelnen ist eine wichtige Säule der Solidarität und auch der Würde. Aber: Bedingung jeder Forderung nach Eigenverantwortung ist konsequenterweise, dass der solidarische Staat die Voraussetzungen für eigenverantwortliches Handeln des Einzelnen schafft. Geschieht dies nicht, verletzt der Staat seine Fürsorgepflicht. Außerdem: Der Markt macht nicht jede/jeden zum Gewinner, nicht jede gesellschaftlich wertvolle Tätigkeit wird von ihm nachgefragt. MarktverliererInnen dürfen für ihre Lage nicht individuell beschuldigt werden, denn ihre Situation ist Folge des Marktversagens. Soziale Leistungen können deshalb niemals ausschließlich an erbrachte Leistungen der EmpfängerInnen gekoppelt werden! Für uns darf ferner soziale Gerechtigkeit nicht in den Gegensatz zu sozialer Gleichheit gestellt werden. Die Politik der Senkung staatlicher Einnahmen, vor allem auf Kosten sozialer Leistungen, lehnen wir deshalb ab. Im Zuge der Globalisierung entwickelte sich ein Diskurs um Dritte Wege der Sozialdemokratie, der versuchte, sozialdemokratische Ziele unter den neuen Bedingungen – den globalisierten Märkten – zu verwirklichen. Wir wissen: Das Suchen neuer Wege sozialdemokratischer Politik ist immer wieder notwendig. Doch ist aus unserer Sicht entscheidend, dass Veränderungen nie die drei Grundwerte – die Zieldimensionen –, sondern immer die Instrumente unserer Politik – die Wege –, betreffen dürfen.
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All jenes hat in der SPD dazu geführt, dass sich zwei Seiten gegenüberstehen: jene, die ein »Weiter So« wollen, und jene, die nach einer neuen Politik für soziale Gerechtigkeit suchen. Dieser Richtungsstreit ist für die Zukunft der Sozialdemokratie entscheidend. Wir glauben, dass diese Grundsätze in regulierten Märkten auf breite gesellschaftliche Akzeptanz stoßen. Sie haben uns 1998 zur Regierungsverantwortung gebracht. In den folgenden Jahren wurde in der SPD jedoch versäumt, eine nachhaltige Diskussion über Wege und Ziele der sozialdemokratischen Politik – ein neues Grundsatzprogramm – zu erarbeiten. Die SPD hat mit dem Hamburger Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2007 den langen Weg der Programmdiskussion endlich erfolgreich abgeschlossen. Diesem Programm in den kommenden Jahren auch Leben einzuhauchen und es in einzelnen Politikfeldern durchzudeklinieren, dazu wollen wir Jusos stets mahnen. Unsere Linie ist dabei klar: Der SPD muss es gelingen, Antworten auf die Frage zu formulieren, wie im derzeitigen Entwicklungszustand der Gesellschaft soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit verwirklicht und diese konsequent umgesetzt werden können. Wir sehen es als jungsozialistische Aufgabe an, die Diskussion um die richtigen Antworten auf allen Ebenen anzufachen und mitzuführen. Es ist notwendig, hier Druck auf die Partei mit gezielten Kampagnen und Aktionen aufzubauen. Der politische Streit um die besten Konzepte in unserer Partei ist dabei ein notwendiger Motor, um die Partei weiterzuentwickeln. Kontroversen beleben die Partei und schwächen sie nicht. Ein Unterdrücken von Debatten führt im Gegenteil dazu, dass sich Genossinnen und Genossen frustriert zurückziehen. Das darf es nicht geben. Letzten Endes muss die SPD als linke Volkspartei hier Konzepte vorlegen, die sich auch in der Regierungspraxis widerspiegeln. Deshalb wissen wir, dass die internationalistische Zusammenarbeit mit SozialistInnen und SozialdemokratInnen aus anderen Ländern unbedingt ein stärkeres
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Gewicht bekommen muss, um sozialdemokratische Politik auf den Ebenen zu verwirklichen, wo sie die stärkste Durchschlagkraft besitzt.
These 17 Die SPD und das Parteiensystem Das deutsche Parteiensystem ist in Bewegung gekommen. Während lange Zeit die Orientierung auf einer Zwei-Parteien-Koalition lag, erscheint dies zunehmend aussichtslos. Es besteht allerdings weiterhin die Gefahr einer schwarz-gelben Mehrheit, solange es die SPD nicht schafft, sich bei Wahlen kontinuierlich über 30 Prozent festzusetzen. Unser Ziel ist es, eine linke Politik mehrheitsfähig zu machen. Dabei können die Entwicklungen der letzten Jahre nicht unberücksichtigt bleiben. Die Grünen als langjährige Verbündete der SPD haben sich zunehmend zu einer bürgerlichen und wirtschaftsliberalen Milieupartei gewandelt. Wir müssen in Zukunft genau darauf achten, inwieweit wir mit ihnen progressive Politik real umsetzen können. Die CDU/CSU steht in den meisten Politikfeldern, wie der sozialen Gerechtigkeit, der Innenpolitik oder dem Antifaschismus, unseren Vorstellungen diametral entgegen. Eine linke Politik ist mit ihr nicht durchsetzbar. Gleiches gilt für die derzeitige FDP. Einzige Ausnahme bei einer Zusammenarbeit mit der FDP könnte der Bereich der BürgerInnenrechte sein, in dem es durchaus Schnittstellen gibt. Neu im parlamentarischen System der Bundesrepublik ist die Linkspartei. Dies hängt zum einen mit der besonderen Situation nach der Wende zusammen. Die PDS erfüllte hier eine besondere Funktion, insbesondere im Osten der Republik. Zum anderen hat die Politik der SPD unter Schröder und in der Großen Koalition dazu beigetragen, dass sich die Linkspartei mittlerweile auch im Westen etablieren konnte. Hinzu kam der Umgang mit der PDS und der WASG, der sich durch Scheuklappen und Abschottung
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auszeichnete und sich so der inhaltlichen Auseinandersetzung verwehrte. Die Agenda-2010-SPD sorgte durch die konkreten Auswirkungen ihrer Politik für eine beschleunigte Auflösung bereits angegriffener Parteibindungen. Eine weitere Auswirkung sozialdemokratischer Regierungspolitik der letzten Jahre ist der Verlust der Glaubwürdigkeit in vormals sozialdemokratischen Milieus. Die SPD der Agenda 2010 hat auf der linken Seite des politischen Spektrums viel Platz gelassen, sodass sich im bundesdeutschen Parteiensystem die Linkspartei entfalten konnte. Faktisch müssen wir in der mittelfristigen Perspektive mit einem Fünf-Parteien-System umgehen. Ziel innerhalb dieser Neukonstellation muss es natürlich sein, für eine stärkere SPD zu kämpfen, aber auch, ein linkes Zukunftsprojekt zu entwerfen und für dessen konkrete Umsetzung einzutreten. Dazu werden wir sowohl mit den noch vorhandenen progressiven Kräften der Grünen als auch mit denen der Linkspartei eine inhaltliche Auseinandersetzung beginnen und ausloten, ob diese Parteien für ein solches Projekt bereit sind.
These 18 Gewerkschaften Die kapitalistische Gesellschaft prägt der Widerspruch von Kapital und Arbeit. Wir stellen uns als JungsozialistInnen in den durch diesen Widerspruch produzierten Konflikt klar auf die Seite derjenigen, die darauf angewiesen sind, als Lohnabhängige ihre Arbeitskraft verkaufen zu müssen. Die Gewerkschaften als Interessenorganisationen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind damit unsere natürlichen BündnispartnerInnen. Eine politische Strategie von links kann nicht an den Gewerkschaften vorbei definiert werden. Gesellschaftliche Veränderung kann es nur im Zusammenspiel von Sozialdemokratie und Gewerkschaften geben. Allerdings stehen auch die Gewerkschaften vor schwierigen
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Herausforderungen. Der zunehmenden Internationalisierung des Kapitals muss eine Internationalisierung der Politik entgegengesetzt werden. Dies schließt eine konsequente Internationalisierung der Interessenvertretung von ArbeitnehmerInnen ein. Hier tut sich für jungsozialistische Politik eine große Chance auf, die darin besteht, dass wir die nationalstaatlichen Hemmnisse von Politik, die in der Vergangenheit auch innerhalb der ArbeiterInnenbewegung immer wieder zu reaktionären Entwicklungen geführt haben, endlich auflösen können. Wirkliche internationale Kooperation findet bei Gewerkschaften derzeit nur in seltenen Fällen statt. Gerade im Zuge von Standortverlagerungen mit der zeitgleichen Verlagerung von Arbeitsplätzen ist ein nachvollziehbares nationalstaatliches beziehungsweise standortbezogenes Denken festzustellen. Auch wenn es eine schwierige Aufgabe sein wird, so führt doch kein Weg an dem Versuch vorbei, unsere Ideale auch in praktische Politik umzusetzen. Deshalb werden wir in Zukunft vehement dafür eintreten, an einer Internationalisierung der ArbeiterInnenbewegung zu arbeiten. Wir wollen mehr als einen reinen »Struktur-Internationalismus«. Wir wollen einen »Internationalismus der Praxis« entwickeln. Weg von standortnationalistischen Argumentationsmustern hin zu einer Politik für alle Menschen, unabhängig von Wohnort, Herkunft, Hautfarbe. Eine immer größer werdende Zahl von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern organisiert sich nicht mehr gewerkschaftlich. Dies betrifft zum einen prekär Beschäftigte: Sie sind in vielen Fällen nicht oder nur unwirksam an der betrieblichen Mitbestimmung beteiligt. Eine gewerkschaftliche Organisierung wird darüber hinaus von vielen ArbeitgeberInnen gezielt verhindert. Außerdem fühlen sich viele Arbeitslose von den Gewerkschaften nicht angemessen repräsentiert, und des Weiteren organisieren sich zunehmend starke Berufsgruppen in Spartengewerkschaften und entziehen sich damit dem solidarischen Arbeitskampf. Der Grund für diese Entwicklung liegt zum einen in der Verände-
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rung der Arbeitsgesellschaft mit dem Trend zu atypischen und prekären Arbeitsverhältnissen selbst. Zum anderen aber haben es die Gewerkschaften in einigen Bereichen auch versäumt, die Interessen der »atypisch« Beschäftigten oder eben Nicht-Beschäftigten angemessen in ihre strategische Ausrichtung aufzunehmen. Deutlich ist aber auch, dass es auf der anderen Seite auch Positivbeispiele gibt und der Trend der abnehmenden Mitgliederzahlen gestoppt und sogar ins Gegenteil umgekehrt werden konnte. Klar ist aber, dass die Gewerkschaften nur dann stark sein können, wenn sie alle oder zumindest den überwiegenden Teil der Beschäftigten organisieren können. Wollen die Gewerkschaften weiterhin ein bedeutender gesellschaftlicher Akteur bleiben, müssen Antworten auf die Fragen einer besseren politischen und gewerkschaftlichen Interessenvertretung von prekär Beschäftigten, neuen Berufsgruppen und Arbeitslosen und auch auf die Herausforderung der internationalen Organisierung gefunden werden. Gleichzeitig gilt es auch, die Stellung der Gewerkschaften bei der Mitbestimmung und in den Tarifverhandlungen zu stärken. Wir sehen unsere Aufgaben darin, im Schulterschluss mit den Gewerkschaften für unsere gemeinsamen Forderungen zu kämpfen und gleichzeitig die inhaltliche Diskussion über eine zeitgemäße ArbeitnehmerInnen-Organisierung zwischen Jusos, der SPD und den Gewerkschaften in kritischer Solidarität zu führen.
These 19 Soziale Bewegungen Die Protestformen und die Herangehensweise an politisches Engagement haben sich mit der studentischen Bewegung von 1968 massiv verändert und erweitert. Die in den Jahrzehnten nach 1968 entstandenen »Neuen sozialen Bewegungen« prägen mittlerweile das politische Geschehen in Deutschland mit. Das Spektrum politischer Beteiligung ist breiter geworden,
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und es ist regional sehr unterschiedlich. Dies ist Ausdruck veränderter Klassenlagen, die sich heute komplexer darstellen als noch zu Hochzeiten des Fordismus. Die IndustriearbeiterInnenschaft als Kern der ArbeiterInnenklasse dominiert nicht mehr alleine linkes politisches Engagement. Ein Großteil der sozialen Bewegungen verfolgt meist nur Teilziele und definiert sich jeweils als Ein-Punkt-Bewegung (Umwelt-, Friedens- oder Frauenbewegung). Sie können so wesentlich kampagnen- und ergebnisorientierter Plattformen für gesellschaftliche Beteiligung bieten als Organisationen wie politische Parteien und auch wir Jusos. Wir wollen darum kämpfen, dass wir wieder Ansprech- und BündnispartnerIn für die AkteurInnen sozialer Bewegungen werden. Allerdings sehen wir in der Fokussierung auf nur wenige politische Teilbereiche nicht die Antwort auf differenziertere Gesellschaften der Gegenwart. Nur wer einzelne Politikbereiche in gesellschaftliche Zusammenhänge stellt, wird am Ende eine gesamtgesellschaftliche Perspektive entwickeln können. Nichtsdestotrotz sehen wir auch viele positive Ansatzpunkte bei den »Neuen sozialen Bewegungen« und wollen mit ihnen gemeinsam und solidarisch für unsere Ziele eintreten. Einerseits bieten sie enormes Know-how auf den Politikfeldern, für die sie sich einsetzen. Andererseits können wir von ihnen und ihren Aktionsformen und Vorschlägen lernen. Ziel von uns Jusos muss es deshalb sein, in diesen sozialen Bewegungen für eine gesamtgesellschaftliche Emanzipation zu kämpfen und deutlich zu machen, dass mit dem Erreichen von Teilzielen nicht alle gesellschaftlichen Probleme gelöst sind. Doch nicht jede soziale Bewegung ist per se emanzipatorisch und progressiv. Zum einen gerieren sich auch reaktionäre Kräfte immer wieder als soziale Bewegungen. Diese müssen wir aktiv bekämpfen. Zum anderen gibt es soziale Bewegungen, die ein progressives Anliegen haben, aber in denen reaktionäre Strömungen mitwirken. Nicht selten gleitet zum Beispiel eine verkürzte Kapi-
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talismuskritik in Antiamerikanismus, Antisemitismus und Nationalismus ab. Unsere Aufgabe kann es daher niemals sein, Zusammenarbeit mit außerparlamentarischen Bewegungen nur um der Zusammenarbeit willen zu suchen. Wir müssen genau prüfen, ob wir die Kernanliegen dieser Bewegungen mit unseren Idealen vereinbaren können. Es geht darum, innerhalb der jeweiligen Bewegung für progressive Ansätze und gegen reaktionäre Argumentationsmuster zu streiten. Das wollen wir in Zukunft offensiv und selbstbewusst tun.
These 20 Die Doppelstrategie Die Doppelstrategie bleibt zentraler Bestandteil unseres Selbstverständnisses. Das bedeutet für uns, dass wir uns neben der Parteiarbeit auch in sozialen Bewegungen verankern wollen. Wir wollen beides miteinander verbinden und zu einem Politikansatz emanzipatorischer Gesellschaftsveränderung zusammenfügen. In den letzten Jahren haben wir Jusos die Verankerung in den sozialen Bewegungen vernachlässigt und uns sehr stark auf die Partei fokussiert. Wir haben bei unserem verstärkten Engagement in der SPD erfahren, dass dieses nicht ausreicht, wenn wir konkret Politik umsetzen und bestimmen möchten. Es muss deshalb in Zukunft darum gehen, BündnispartnerInnen im außerparlamentarischen Raum zu suchen und uns in den sozialen Bewegungen wieder stärker zu verankern. Dies bedeutet, den inhaltlichen Austausch mit uns nahestehenden Gruppen zu suchen, in Bündnissen mitzuarbeiten, verlässlicher Ansprechpartner zu sein, aber eben auch deutlich und selbstbewusst für unsere politischen Überzeugungen einzutreten. Innerhalb der Partei müssen wir klarmachen, dass wir gegebenenfalls nicht nur Forderungen als Jusos stellen, sondern dass hinter diesen Forderungen gesellschaftliche Kräfte stehen. Verlässlich zu sein heißt auch, gemeinsame Forderungen der Bewegung zu
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vertreten, auch wenn wir damit auf innerparteiliche Schwierigkeiten stoßen. Gerade im Falle von Repression gegen linke Bewegungen haben wir als Jusos eine besondere Verantwortung. Dabei gilt das Prinzip der Solidarität innerhalb der gesellschaftlichen Linken. Als Jusos müssen wir darum kämpfen, dass die SPD den realen Bezug zu den sozialen Bewegungen wiederherstellt. Es ist auch unsere Aufgabe, beide Seiten wieder in Kontakt miteinander zu bringen.
5. Gegenwärtige Entwicklungen des Kapitalismus »Die proletarische Klasse führt ihren Kampf nicht nach einem fertigen, in einem Buch, in einer Theorie niedergelegten Schema. Der moderne Arbeitskampf ist ein Stück Geschichte, ein Stück sozialer Entwicklung. Und mitten in der Geschichte, mitten im Kampf lernen wir, wie wir kämpfen müssen … Das erste Wort der politischen Kämpfer ist, mit der Entwicklung der Zeit zu gehen und sich jederzeit Rechenschaft abzulegen über die Veränderung in der Welt wie auch über die Veränderung unserer Kampfstrategie.« Rosa Luxemburg
These 21 Relevante Phänomene Kapitalismus ist ein dynamisches System und verläuft niemals linear oder starr, sondern wandelt sich ständig. Vor diesem Hintergrund ist es entscheidend, bestimmte Phänomene gegenwärtiger Entwicklung zu untersuchen und zu fragen, welche politischen Antworten dies erfordert. Globalisierung, soziale Polarisierung und eine veränderte Arbeitswelt bestimmen aktuell das gesellschaftliche Zusammenleben. Diese drei Phänomene gilt es also besonders zu analysieren.
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Globalisierung These 22 Standortfaktoren Das neoliberale Versprechen der Globalisierung, allen freien Zugang zum Markt zu gewähren, wurde nicht erfüllt. Ungleiche Verteilungsstrukturen haben innerhalb der und zwischen den Staaten zugenommen. Auch die Ungerechtigkeit in der internationalen Arbeitsteilung ist nicht weniger geworden, und noch immer sind viele Staaten Rohstofflieferanten für westliche Industrienationen. Seit Beginn der Industrialisierung, insbesondere aber in den letzten Jahrzehnten, haben sich die Kosten für Warentransport und Kommunikation durch technische und politische Entwicklungen stark reduziert. Im Rahmen der WTO und ihrer Vorläufer sind Zölle und nicht tarifäre Handelshemmnisse abgebaut worden. Damit ist die Bedeutung natürlicher Konkurrenzgrenzen zwischen verschiedenen Standorten gesunken. Die Folge: Produktionskosten können nun unmittelbarer miteinander verglichen werden. Die Qualifikation der Beschäftigten für die Entwicklung und Leitung der Produktion nimmt einerseits an Bedeutung zu. Andererseits werden komplizierte Produktionsabläufe durch den technischen Fortschritt und die Digitalisierung an immer mehr Standorten möglich. Als Folge dieser Entwicklung sind heute die beeinflussbaren Standortfaktoren wie Bildung, Infrastruktur, Lohnkosten und Subventionen bedeutsamer als die natürliche Standortausstattung mit Rohstoffen und Energievorkommen. Die Globalisierung wird gleichzeitig flankiert durch eine Debatte, die das TINA-Prinzip und die neoliberale Ideologie zum Dogma erhebt. Diese Debatte dient nur dazu, die dem kapitalistischen System innewohnenden Systemzwänge zu verschleiern, die nationale Ökonomien unter einen qualitativ neuartigen Anpassungsdruck an die globalisierten Standards von Produktivität und Rentabilität setzen.
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Allerdings sind der Mobilität Grenzen gesetzt. So kann das Kapital nicht beliebig zwischen verschiedenen Standorten wählen. Insbesondere bei der Hochwertproduktion muss der Zugriff auf bestimmte Qualifikationsprofile, Basistechnologien und Infrastrukturen vorhanden sein, der tatsächlich nicht an allen Orten existent ist. Die wissenschaftlich-technische Entwicklung schafft damit eine neue Qualität von Kapitalmobilität als auch von Standortabhängigkeit bestimmter Produktionsschritte. Die freie Austauschbarkeit der Standorte gehört damit zu den Mythen der Globalisierungsdiskussion. Gleichzeitig ist nicht zu unterschätzen, dass sich die Möglichkeiten zur Auslagerung durch die beschriebenen Entwicklungen vergrößert haben.
These 23 Finanzmärkte Die gestiegene Bedeutung der Faktoren Zeit, Geld und Unsicherheit für die Wertschöpfung führt zu einer neuen Dynamik der aktuellen kapitalistischen Formation. Die Finanzmärkte konnten einen starken Bedeutungszuwachs verzeichnen und sind mittlerweile stark von der Güterproduktion entkoppelt. Die Bedingung dafür war der Zusammenbruch der weltwirtschaftlichen Regulierungssysteme, insbesondere des Bretton-Woods-Systems, das zwischen 1944 und 1973 durch feste Wechselkurse und den US-Dollar als Weltleitwährung die internationalen Handels- und Finanzbeziehungen stabilisiert hat. Auch der Abbau von Kapitalverkehrskontrollen zählt hier dazu. Infolge mangelnder Investitionsmöglichkeiten und der daraus entstehenden Unsicherheit sowie aufgrund von fehlender Regulierung war es den Kapitaleignern möglich, hoch spekulative Investitionsmöglichkeiten auf den Finanzmärkten zu erschließen und neue, risikoreiche Kapitalbeschaffungsinstrumente zu schaffen. Dadurch haben die Finanzmärkte einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren. Darüber hinaus hat sich ihre Rolle als Informationsver-
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arbeitungsmaschinen, die Auskunft über die ertragreichsten Anlagemöglichkeiten über entsprechende Renditekennziffern bieten, gewandelt. Durch die Durchschlagskraft institutioneller Investoren sind Renditeziele und konkrete Verwertungsbedingungen nur noch lose miteinander gekoppelt. Dabei tritt die eigentliche Information über die Renditepotenziale einer Anlagemöglichkeit in den Hintergrund. Die gestiegene Mobilität von Kapital ermöglicht die Nutzung auch von kleinsten Schwankungen der Profitabilität von Anlagemöglichkeiten, von Informationsvorsprüngen. Was zählt, sind die Erwartungserwartungen auf den Märkten, diese ordnen die Investitionsentscheidungen und bewirken über ihre gegenseitige Abhängigkeit massive Schneeballeffekte, deren Auswirkungen ganze Volkswirtschaften über Jahre hinweg ruinieren können. Dadurch hat sich das Verhältnis von Eigentum und Kontrolle neu ausgerichtet. Eine Veränderung der Eigentumsstrukturen ist zu beobachten. Dies hat zur Folge, dass sich auch innerhalb der Unternehmen Entscheidungsstrukturen verändert haben. Eine einseitige Ausrichtung auf den maximalen kurzfristigen Profit führt dazu, dass nachhaltige und längerfristige Entwicklungen weniger berücksichtigt werden. Einen weiteren Schub hat diese Entwicklung durch die Entstehung der »New Economy« mit ihrem vorläufigen Höhepunkt zum Jahrtausendwechsel erhalten, da sie hohe Erwartungserwartungen bei niedrigem Kapitaleinsatz versprochen hat. Die Verschiebung von Eigentum und Kontrolle sowie die insbesondere dem Shareholder-Value folgende Logik der derzeitigen kapitalistischen Formation haben den Druck auf den »Faktor Arbeit« im Produktionsprozess erhöht und zum Wandel der Arbeitsgesellschaft selbst beigetragen.
These 24 Konkurrenz von Staaten Die Kräfteverhältnisse haben sich zugunsten der KapitaleignerInnen verschoben. Damit hat der Nationalstaat scheinbar vielfach
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an Bedeutung verloren. Das transnationale Kapital reorganisiert die Kapitalakkumulation, bindet sich nicht an einzelne Standorte und zwingt die Staaten dazu, diese Akkumulationsdynamik durch Deregulierung, Privatisierungen und Abbau staatlicher Umverteilung zu unterstützen. Dadurch entsteht zunehmender Druck auf bestehende Standards der Regelungen von Arbeitszeit, Urlaub, ArbeitnehmerInnenrechte und Mitbestimmung sowie auf Steuererhebung und soziale Sicherungssysteme. Auch innerhalb der EU haben sich die Kräfteverhältnisse zugunsten neoliberaler Logiken verschoben. Gleichzeitig kommen neue Arenen der Aushandlungen hinzu: So ist die nationale zwar weiterhin die zentrale Arena der Interessenauseinandersetzung, doch zunehmend verlagern sich Entscheidungen auf die exekutive Ebene der »Staatschefs«. Auch innerhalb der EU geben die Staats- und Regierungschefs immer noch den Ton an, das Parlament verbleibt weitgehend einflusslos. Dadurch entzieht sich ein Großteil der Entscheidungen der unmittelbaren Legitimation durch die Bevölkerung. Mit dem Schwinden der demokratischen Legitimation schwindet auch die Legitimation der weiteren europäischen Entwicklung insgesamt. Die Verschiebung eines Teils der Macht auf die internationale und die supranationale Ebene führt zu einem Funktionswandel des Staates. Es kann nicht generell von einem Rückzug des Staates aus der Gesellschaft gesprochen werden, auch wenn sich die Formen staatlicher Regulierung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereiche enorm verändern. Der Staat bleibt Kern dieses neuen Systems mehrerer Ebenen, aber demokratische Beteiligung wird dabei zurückgedrängt. Das neoliberale Paradigma des »schlanken Staates« lässt sich daher lediglich auf den Abbau von Institutionalisierung im traditionellen Sozialstaat beziehen, nicht jedoch auf die generelle Zurücknahme staatlicher Interventionspolitik. In anderen Bereichen, zum Beispiel bei innerer und äußerer Sicherheit, wird die Politik im Staat zunehmend autoritär. Die Sicherung privater Eigentumsrechte und der Neuaufbau solcher Rechte durch Pri-
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vatisierung, der verstärkte Druck, seine Arbeitskraft trotz hoher Arbeitslosigkeit auf dem Markt zu verkaufen, sind Ausdruck einer solchen Politik. Darüber hinaus geraten die persönlichen Freiheitsrechte zunehmend unter Druck. Seit den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 hat sich die Sicherheitsgesetzgebung deutlich verschärft. Mit drohender Terrorismusgefahr wird die rechtsstaatliche Balance zwischen der Freiheit der/des Einzelnen und der allgemeinen Sicherheit verschoben. Der präventive Überwachungsstaat hält mehr und mehr Einzug. Das ist nicht hinnehmbar. Vorhandene Unzufriedenheit über zunehmende staatliche Überwachung greifen wir auf und beteiligen uns mit gesellschaftlichen AkteurInnen am Kampf gegen die Beschränkung von Freiheitsrechten.
These 25 Vorhandene Spielräume nutzen Zuerst ist festzuhalten, dass die Gestaltbarkeit im nationalstaatlichen Rahmen nicht Geschichte ist, sondern die Leugnung dieser Regulierungsebene als Instrument zur Verhinderung sozialer Gestaltung und Fortschritte eingesetzt wird. Nationalstaatliche Spielräume müssen weiterhin genutzt werden. Vor allem muss auf die Standortkonkurrenz der Nationalstaaten mit einer neuen Form der internationalen Zusammenarbeit geantwortet werden. Gegen den neoliberalen Trend zur Deregulierung müssen neue Regulierungsschritte auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene unternommen werden, um politische Gestaltungsfähigkeit zurückzugewinnen. Dazu zählen wir die Stabilisierung der Wechselkurse und der Zinssätze, die Tobin-Steuer, die Steuerharmonisierung, eine wirksame Kontrolle und Regulation der Kapitalmärkte, die Festlegung sozialer und ökologischer Mindeststandards. Gesellschaftliche Kräfte müssen mobilisiert werden, um Spiel-
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räume gegen die Durchkapitalisierung und marktförmige Zurichtung aller Lebensbereiche zu erkämpfen. Dabei geht es um die gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber, was dem Markt übertragen wird und was gesellschaftlich verantwortet werden muss. Die gesellschaftlichen und politischen Kräfte müssen dabei die Bedingungen der Mehrebenen-Staatlichkeit annehmen, wenn sie handlungsfähig sein wollen. Ziel muss es dabei sein, konkrete Bereiche aus der globalisierten Konkurrenzökonomie herauszulösen und in die Verfügungsgewalt der Gesellschaft zurückzugeben. Der Standortlogik ist also auch dadurch Widerstand entgegenzusetzen, dass der Zurichtung des Alltags und der Lebensräume nach den Kriterien globaler Konkurrenz die Menschen ihre Bedürfnisse entgegenstellen und sich die notwendigen Ressourcen für ein selbstbestimmtes Leben aneignen. Wir verstehen Staat und Markt nicht als zwei voneinander abgegrenzte – oder nach neoliberaler Logik abzugrenzende – Räume. Staatliche Regulierung greift beständig in wirtschaftliche Prozesse ein und wird von diesen beeinflusst. Der Staat kann und muss intervenieren, und zwar in dem Sinne, dass er selbst in wirtschaftliche Prozesse eingreift, sie eigenständig gestaltet und Impulse setzt. Der Staat wird dadurch zum gestaltenden Akteur der Ökonomie und überlässt den Markt nicht dem freien Spiel der Kräfte. Er erhält und schafft sich seine eigene Handlungsfähigkeit. Das ist der Gegenentwurf zum sogenannten »schlanken Staat«, der nach neoliberalem Paradigma den Staat sich auf seine behaupteten Kernaufgaben beschränken lässt.
Der Prekarisierung der Arbeitswelt entgegentreten These 26 Veränderungen Die Veränderungen in der kapitalistischen Formation haben sich in einer Umstrukturierung der Produktion niedergeschlagen.
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Durch den Glauben an unbegrenztes Wachstum und damit verbundene Profite war die Produktion früher an den beiden Größen Arbeitszeit und Arbeitsentgelt ausgerichtet. Heute richtet sich die Produktionsplanung an einem vorgegebenen Gewinnergebnis aus. Die Arbeitszeit beziehungsweise der Weg zu diesem Ergebnis bleibt der einzelnen arbeitenden Person überlassen. Dies hat nicht nur Folgen für die innerbetriebliche Produktionsplanung, sondern manifestiert sich in innerbetrieblicher Konkurrenz und Übertragung von Risiko und Managementaufgaben auf die Belegschaft im konkreten Arbeitsalltag der abhängig Beschäftigten. Das Leitbild des Normalarbeitsverhältnisses erodiert auch in den Traditionsbereichen der industriellen Produktion. Sein Anteil an der Gesamtzahl der Beschäftigungsverhältnisse ist kontinuierlich am Schwinden. Der grundlegende Widerspruch zwischen den Zielen des Kapitals und der Arbeit tritt in der Zeit der Krise noch offener zutage. Ebenso fallen durch eine Aufweichung von Kernarbeitszeiten die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit zunehmend. Die Ungleichheit in der Verteilung von Arbeit nimmt weiter zu. Während es bei den Vollzeitbeschäftigten wieder einen Trend zu ansteigenden tatsächlichen Wochenarbeitszeiten gibt, sind andere gezwungen, in prekären Beschäftigungsformen oder unfreiwilliger Teilzeittätigkeit weniger zu arbeiten, als sie es sich persönlich wünschen. Prekarisierte Beschäftigung heißt, dass die Entlohnung oftmals zu gering zum Lebenserhalt ist, die betriebliche Mitbestimmung oder der Kündigungsschutz eingeschränkt oder nicht gegeben ist oder es keine ausreichende soziale Sicherung gibt. Die Lebensrealität vieler Menschen ist davon gekennzeichnet, dass sie sich permanent von einem Auftrag zum nächsten hangeln müssen und dass erkämpfte Errungenschaften wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Urlaubsgeld nicht der Realität entsprechen. Die ArbeitgeberInnen flexibilisieren die Beschäftigungsverhältnisse und verlagern auf diese Weise das Unternehmensrisiko zum Teil auf die ArbeitnehmerInnen. Aufgrund der Regelungen wie
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beispielsweise zur Leiharbeit gibt es in vielen Betrieben zudem eine Konkurrenz innerhalb der Belegschaft. Die Gefahr der Entsolidarisierung wächst, die ArbeiterInnen werden zu ArbeitskraftunternehmerInnen. Massenarbeitslosigkeit bewirkt, dass Menschen, die arbeiten können und wollen, vom Erwerbsleben ausgeschlossen und so gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Arbeitslosigkeit bedeutet für die Betroffenen nicht nur einen sinkenden Lebensstandard, sondern zunehmend auch Not und gesellschaftliche Isolation. Schon allein die Bedrohung von Arbeitslosigkeit wirkt in weite Teile der Gesellschaft und schürt Existenzängste, erhöht den Druck auf ArbeitnehmerInnenrechte und die Gestaltung von Arbeit. Auch in geschlechtsspezifischer Hinsicht liegt eine Ungleichverteilung vor. Frauen partizipieren nach wie vor weniger als Männer an Erwerbsarbeit, erhalten selbst bei gleicher und gleichwertiger Arbeit eine deutlich geringere Entlohnung als Männer, ihre Aufstiegschancen sind deutlich niedriger. Frauen sind weit überproportional in Teilzeitarbeit oder geringfügig beschäftigt und somit von prekären Beschäftigungsverhältnissen betroffen.
These 27 Neuorganisation von Interessen Wir bleiben dabei: Die kapitalistische Ökonomie orientiert sich nicht an den wirklichen Interessen der Menschen. Sie funktioniert nach der ihr eigenen Verwertungslogik. Gesellschaftlicher Fortschritt findet dort statt, wo sich diese Ansprüche erfolgreich artikulieren und durchsetzen. Angesichts von veränderten Beschäftigungsformen müssen wir politisch daran arbeiten, wie die Interessen derjenigen, die außerhalb klassischer Beschäftigungsformen arbeiten, vertreten werden können. Die klassische Form: ein Betrieb und eine Gewerkschaft trifft heute die Lebensrealität vieler ArbeitnehmerInnen nicht mehr. Dabei ist eine Interessenvertretung gerade all jener dringender denn je.
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Es gehört zu den Grundbedingungen linker Politik, auf das (auch oftmals von den Beschäftigten gewollte) Aufbrechen klassischer Erwerbsbiografien zeitgemäße Antworten zu finden.
These 28 Sozialistische Wirtschaftspolitik Wir Jusos stehen für eine sozialistische Wirtschaftspolitik. Kern dieser Politik ist, die Verelendung der Gesellschaft im jetzigen System zu verhindern und zeitgleich die kapitalistische Marktwirtschaft zu überwinden. Linkskeynesianistische Politik ist für uns ein Mittel, im jetzigen Wirtschaftssystem die Verelendung zu verhindern, durch ihren systemstabilisierenden Charakter kann sie jedoch nicht ohne zusätzliche Maßnahmen als sozialistische Wirtschaftspolitik bewertet werden. Kern dieser Politik sind einerseits eine pragmatische Konjunktur- und Wachstumspolitik und andererseits eine längerfristige Strategie der Humanisierung des kapitalistischen Systems. Wir widersprechen der neoliberalen Ansicht, wonach die weitere Entlastung der Unternehmen in Deutschland von angeblich zu hohen Lohnkosten und Steuerabgaben Voraussetzung für künftige Wachstumserfolge ist. Die ausschließliche Fokussierung auf sogenannte »Strukturreformen« widerspricht einer sozialdemokratisch ausgerichteten Wirtschaftstheorie und -politik. Diese empfiehlt nicht nur aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch auf der Grundlage von makroökonomischen Effizienzüberlegungen eine Lohnpolitik, die den Verteilungsspielraum aus Produktivitätswachstum und Inflation mittelfristig ausschöpft und zudem über das Steuersystem gerade die einkommensschwachen Haushalte fördert. Zwar sind für die Unternehmen zweifellos auch Kostengesichtspunkte von Bedeutung. Eine kräftige Ausweitung ihrer Produktionskapazitäten (Investitionen) lohnt sich für sie jedoch nur dann, wenn sie
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sich einer entsprechend kräftigen Güternachfrage gegenübersehen. Weiterer Bestandteil einer sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik ist der pragmatische Einsatz von makroökonomischer Stabilisierungspolitik (Geld- und Fiskalpolitik). Nur wenn Unternehmen mit einer permanent dynamischen Nachfrageentwicklung konfrontiert sind, werden sie im Kampf um Marktanteile entsprechend kräftig investieren, woraus sich wiederum im Zuge des kräftigeren Produktivitätswachstums positive Angebotseffekte ergeben. Die in wirtschaftlichen Schwächephasen unvermeidlich steigenden Haushaltsdefizite des Staates werden in Phasen kräftigeren Wachstums wieder verringert. Das geldpolitische Mandat der Europäischen Zentralbank sowie der Stabilitäts- und Wachstumspakt der Europäischen Union bieten bislang wenig Spielraum für stabilisierungspolitische Maßnahmen und müssen daher entsprechend reformiert werden. Längerfristig können wir Jusos uns jedoch nicht mit einer reformierten Makrosteuerung zufriedengeben. Wachstum kann für SozialdemokratInnen kein Selbstzweck sein. Zwar müssen angesichts der aktuellen Verteilungssituation die Einkommen gerade der Schwächsten in der Gesellschaft gestärkt werden. Dies geht nur mit Wachstum, wenn gesellschaftliche Verteilungskonflikte nicht eskalieren sollen. Forderungen nach einem sofortigen Übergang zu einer Strategie des Negativwachstums, zum Beispiel aus globalisierungskritischen Kreisen, sind daher mit Skepsis zu begegnen. Längerfristig muss es aber dennoch Ziel von Sozialdemokraten sein, eine kritische und grundsätzliche Diskussion darüber anzustoßen, inwieweit Wachstum gesellschaftlich wünschenswert und ökologisch vertretbar bleibt. Verbesserte Produktionsmöglichkeiten müssen sich letztlich immer dadurch legitimieren, dass sie dem einzelnen Menschen dienen, indem sie sein Leben angenehmer, sicherer und freier machen. Einen hochaktuellen Orientierungsrahmen bieten hierbei die »Schlussbetrachtungen über die Sozialphilosophie« von John Maynard Keynes in seiner Allgemei-
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nen Theorie, in der vier mehr oder weniger langfristige Ziele benannt werden: 1. eine gleichmäßige Einkommensverteilung, 2. internationale Solidarität zur Vermeidung von Wirtschaftskriegen und militärischen Auseinandersetzungen, 3. die demokratische Steuerung der Investitionstätigkeit in gesellschaftlich gewünschten Bereichen sowie schließlich 4. die Nutzung des Produktivitätsfortschritts zur Überwindung der materiellen Knappheit und zur Ermöglichung von individueller Entfaltung auch außerhalb der marktwirtschaftlichen Güterproduktion. Der Staat sollte zwar kurzfristig sich in die Besitzverhältnisse der Produktionsmittel einmischen und durch eine Verstaatlichung der Schlüsselindustrien die Macht des Marktes brechen, um Verelendung zu verhindern. Grundsätzlich ist jedoch eine radikale Demokratisierung der Wirtschaft unser Ansatz, um die kapitalistische Marktwirtschaft zu überwinden. Die Grundidee der Genossenschaften, der Besitz der Produktionsmittel durch die Gemeinschaft der ArbeitnehmerInnen, ist das Ziel, welches wir auch auf die restlichen Betriebe übertragen wollen. Parallel dazu wollen wir im verstärkten Maße Konsumgenossenschaften (Stromeinkaufsgemeinschaften) aufbauen, um dadurch Widersprüche des Systems nutzen zu können und so die Marktprinzipien zu überwinden. Der Staat soll diesen Aufbau von Konsumgenossenschaften finanziell unterstützen.
These 29 Staatliche Regulierung erkämpfen Wir sind nicht bereit zuzuschauen, wie sich auf dem Arbeitsmarkt immer mehr unwürdige Verhältnisse durchsetzen. Hier müssen wir uns in den politischen Kampf für konkrete staatliche Regulierungen begeben. Ein effektiver Kündigungsschutz, klar definierte
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Bedingungen für Praktika, soziale Regulierungen, die helfen, dass reguläre Beschäftigungsverhältnisse nicht verdrängt werden, das Eindämmen von Leih- und Zeitarbeit sowie die soziale Regulierung beziehungsweise langfristige Abschaffung des Niedriglohnbereichs können wir nur mit politischem Druck erreichen. Angesichts von Massenarbeitslosigkeit und Produktivitätssteigerungen muss die individuelle durchschnittliche Erwerbsarbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten kontinuierlich verkürzt werden. Dies führt zu einer gerechteren gesellschaftlichen Verteilung von Arbeit und Einkommen (auch zwischen den Geschlechtern) und trägt zur Beschäftigungssicherung bei. Wohlstandsgewinn muss auch im Zuwachs an erwerbsarbeitsfreier Zeit gesehen werden. Dies kommt auch dem Bedürfnis der Beschäftigten nach mehr Zeitsouveränität entgegen.
Gespaltene Gesellschaft These 30 Soziale Ungleichheit und Kapitalismus So sehr wir uns in Verband, Partei und Gesellschaft auch anstrengen werden: Soziale Gleichheit werden wir im Bestehenden nie erreichen. Der Kapitalismus produziert dabei die Ungleichheit nicht mangels besserer Organisation, sondern als Folge seiner ihm innewohnenden Gesetzmäßigkeit. Konkurrenz kennt nur GewinnerInnen und VerliererInnen. Der soziale Ausgleich, die Deckelung allzu großer Lohngefälle oder die Mitbestimmung im Betrieb: all das muss politisch erkämpft werden, weil es den direkten Verwertungsgesetzen zuwiderläuft. Die Geschichte hat gezeigt, dass der Kampf für Mitbestimmung, Teilhabe und gerechte Löhne bisher kein Sargnagel des Systems war. Im Gegenteil. Die Paradoxie des Kapitalismus zeigt sich genau darin, dass diese empirischen Prosperitätsfaktoren bis aufs Messer bekämpft wurden, obwohl doch gerade dadurch erst
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die Akzeptanz des Systems bei einem Großteil der Menschen erreicht wurde. Keinesfalls darf Konsequenz dessen sein, es auf immer schlechtere Bedingungen – im Sinne der Verelendungstheorie – geradezu ankommen zu lassen. Es darf uns auch nicht entmutigen, sondern soll uns nur zeigen, dass wirkliche Solidarität, Gleichheit und Freiheit nur jenseits des Kapitalismus Realität werden können.
These 31 Schwindende soziale Sicherheit Langfristige Arbeitsverträge, streng reglementierte Entlassungsregeln, festgelegte Arbeitszeiten und Löhne konstituierten das männliche Normalarbeitsverhältnis als gesellschaftliche Norm in den reichen entwickelten Industrienationen. Diese Entwicklung war geprägt durch industrielle Massenproduktion und große staatliche Investitionen. Mit dem durch die wirtschaftlichen Bedingungen und die ausgeprägte Leistungsorientierung ermöglichten sozialen Aufstieg war eine beispiellose Ausweitung der beruflichen Kompetenzen der klassischen Arbeiterklasse verbunden. Gleichzeitig wurden Teilhabeansprüche entwickelt und ein gewisses Maß an sozialer Sicherung garantiert. Die Aushandlungsprozesse zwischen ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen wurden zunehmend verrechtlicht und dadurch Sozialdemokratie und Gewerkschaften eingebunden. Dies waren die Grundpfeiler eines relativen Wohlstands. Durch die Strukturveränderungen in der Wirtschaft wurde Arbeit stetig prekärer, und die individuelle wirtschaftliche Sicherheit ist von schlechteren Arbeitsbedingungen und die Bedrohung durch Arbeitslosigkeit abgelöst worden. Gleichzeitig wurden die westlichen Industrienationen zunehmend von neoliberalen Prinzipen durchzogen, was zum Wandel vom Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat geführt hat. Anstatt soziale Sicherheit zu bieten, wurden die Rechte der ArbeitnehmerInnen zurückgenommen und gesellschaftliche Risiken auf die Einzelnen übertragen.
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Es ist aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass auch in einer relativen Prospäritätsphase Unterdrückungsmechanismen wirkten. Alternative Lebensentwürfe konnten sich in der Enge dieser Prosperitätskonstellation nicht wirklich entfalten, Werte wie Selbstverwirklichung passten nicht in dieses Gesellschaftsbild. Des Weiteren traten neue Werte hinzu, wie das Streben nach Selbstverwirklichung. Frauen wurden auf die Rolle der Mutter mit Dazuverdienerin-Funktion reduziert. Für uns Jusos kann das politische Ziel unserer Arbeit deshalb nicht bedeuten, lediglich die alten Regulationsmechanismen wiederzubeleben.
These 32 Folge: Soziale Polarisierung Die Folge der beschriebenen Entwicklung ist, dass die Seite der ArbeitnehmerInnen zunehmend in die Defensive geraten ist und es immer schwieriger wurde, soziale Standards zu verteidigen. So hat die soziale Ungleichheit rapide zugenommen. Armutsstrukturen verfestigen sich und sozialer Aufstieg wird immer schwerer möglich. Die Menschen im »oberen« Drittel haben recht gesicherte Chancen und Lebensperspektiven. In der »Mitte« der Gesellschaft ist die Verunsicherung angekommen. In der Hoffnung auf den langfristigen Erhalt des Lebensstandards werden immer mehr Einbußen akzeptiert. Dadurch geht für viele der Abwärtstrend los. Im »unteren« Drittel verfestigt sich die soziale und gesellschaftliche Abkoppelung. Gleichzeitig zeichnet die Entwicklung der Einkommen und der Vermögen ein klares Bild. Der Anteil aus Unternehmertätigkeit und Vermögen am Volkseinkommen hat in den vergangenen Jahren immer weiter zugenommen; im Gegenzug sinkt der ArbeitnehmerInnenanteil. Die untere Hälfte der Haushalte verfügt insgesamt nur über 4 Prozent des gesamten Nettovermögens, das reichste Fünftel besitzt hingegen rund zwei Drittel. Noch gravierender ist die Verteilung des
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Produktivkapitals: 3 Prozent der Bevölkerung besitzen 90 Prozent. Auch die Kluft zwischen Einkommen aus abhängiger Beschäftigung und Unternehmensgewinnen ist gewachsen. Die Lohnspreizung nimmt vor allem wegen der wachsenden Zahl der atypisch Beschäftigten zu. In den 70er Jahren lebte ein Fünftel der Alleinerziehenden unterhalb der relativen Armutsgrenze, heute sind es mehr als doppelt so viele. Jeder Achte befindet sich unterhalb der Armutsgrenze. Die Verteilungsfrage ist nicht nur die Frage danach, was man sich alles leisten kann, sondern bestimmt das gesamte Leben der Betroffenen und ihrer Kinder. Dies geht so weit, dass sogar die Lebenserwartung von der Höhe des Einkommens abhängt. Das deutsche sozial selektive Bildungssystem befördert diese Entwicklung. In Deutschland hängt der Bildungserfolg so stark von der sozialen und ethnischen Herkunft ab wie sonst nirgendwo. Es besteht in unserer Gesellschaft ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Einkommen und Teilhabemöglichkeiten.
These 33 Ein menschenwürdiges Leben für alle Diese Gesellschaft produziert Armut. Armut führt zum Verlust eines selbstbestimmten Lebens. Wir kämpfen dafür, dass Armut nicht entsteht. Solange es diese jedoch noch gibt, kämpfen wir in dieser Gesellschaft dafür, dass jeder Mensch trotzdem menschenwürdig leben kann. Dies ist gegenwärtig nicht gewährleistet. Jedem Bürger/jeder Bürgerin ist ein menschenwürdiges Leben unabhängig von seiner Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Menschen, die nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehen, das es ihnen ermöglicht, menschenwürdig zu leben, sind von staatlicher Seite in angemessener Seite zu unterstützen. Darüber hinaus muss das Prinzip »Fordern und Fördern« verändert werden. Das Förderelement funktioniert oftmals nicht, sondern demoralisiert die Betroffenen. Eine unterstützende Poli-
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tik muss die Selbstbestimmung jedes Menschen über eine Tätigkeit in den Mittelpunkt stellen. Fördern macht nur Sinn, wenn zu etwas gefördert wird, was auch vorhanden ist. Wir wollen eine Gesellschaft, in der solidarisch und demokratisch über die zu verrichtenden Tätigkeiten entschieden wird. Eine Fokussierung auf die Notwendigkeit des »Förderns« dient der Ablenkung von der Tatsache, dass in Wahrheit viel zu wenige Ausbildungs- und Arbeitsplätze vorhanden sind. Gleichzeitig gibt es viele öffentliche Aufgaben, die derzeit brachliegen. Notwendig ist der Ausbau des öffentlichen Beschäftigungssektors. Das Prinzip des Forderns mit seinem ausufernden Sanktionskatalog wird dem Anspruch an die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht gerecht. Druck und Repression auf jene, die sich sowieso schon in einer schwierigen Situation befinden, sind keine Instrumente linker Sozialpolitik. Vielmehr widersprechen sie den Grundprinzipien des Humanismus. Die Lebensbedingungen der betroffenen Menschen werden durch Sanktionen und Druck verschlechtert. Dies muss unterbunden werden.
These 34 Bildungspolitik Bildung ist für uns ein Wert an sich und wichtige Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben. Das kapitalistische System begreift Bildung vor allem als Qualifikation, weshalb immer die Gefahr besteht, dass Bildung hierauf reduziert wird. Für uns muss dagegen der emanzipatorisch-kritische Aspekt Maßstab für gute Bildung sein. Auch wenn eine Forderung nach guter Bildung für alle auf allen Ebenen ein Einsatz für bessere Verwirklichungsmöglichkeiten im Kapitalismus bedeutet, ist klar, dass Bildung alleine das Konkurrenzsystem Kapitalismus nicht überwinden wird. Bildung wird auch bestehende Ungleichheiten niemals abschaffen können, denn die kapitalistische Konkurrenz lebt gerade von diesen
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Ungleichheiten. Bildungssysteme können aber durchaus unterschiedlich durchlässig gestaltet werden. Deshalb ist ihre Reform ein wichtiger Schritt zu stärkerer Gleichheit, jedoch kein Ersatz, sondern lediglich Ergänzung zu einer Sozialpolitik, die für mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft sorgt. Der Weg dahin für uns Jusos ist klar: die Abschaffung des selektiven Bildungssystems. Weiter muss jegliche Art von Bildung vom ersten Lebensjahr an bis zum Lebensende für alle zugänglich und kostenlos sein. Bildung ist ein wichtiges Instrument zur Reproduktion von Arbeitskraft, denn für die meisten Tätigkeiten im Produktionsprozess müssen Qualifikationen erst durch Bildung erworben werden. Bildung bedeutet aber nicht nur Qualifikation, sondern auch in erster Linie Hinterfragen und Weiterdenken, und ist so für die selbstbestimmte Entwicklung des Menschen zentral. Bildung ermöglicht also die Teilhabe am Produktionsprozess, ist aber gleichzeitig auch ein wichtiges emanzipatorisches Instrument. Nur mit neuem Wissen und neuen Fertigkeiten lässt sich die eigene Unmündigkeit überwinden. Bildung dient damit der Selbstverwirklichung. Bildung ist in die Logik des kapitalistischen Systems integriert. Solange die meisten Menschen darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, beeinflusst der Grad an Bildung beziehungsweise an Qualifikation direkt den Preis ihrer Arbeitskraft. Wer über mehr Bildung verfügt, hat auch mehr Möglichkeiten bei der Gestaltung des eigenen Lebens. Doch auch auf den Inhalt kommt es an: Nicht jede Art von Wissen und nicht alle Fertigkeiten sind gleich verwertbar. Die Logik des Kapitalismus fördert deshalb die Tendenz, sich möglichst »marktgerecht« zu bilden. Schnittstellen zwischen einzelnen Bildungsabschnitten tragen zudem zur Teilung der Gesellschaft bei, denn beim Übergang von einer Stufe zur nächsten findet Selektion statt. Der beschränkte Zugang zu Kinderkrippe und Kindergarten, das dreigliedrige Schulsystem, fehlende Ausbildungs- und Studienplätze, eine Verkürzung von Studienzeiten und Verknappung von höheren Studienabschlüssen und stark reglementierte Fort- und Weiter-
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bildungsmöglichkeiten schaffen auf jeder Stufe nicht nur neue Ungleichheiten, sondern reproduzieren auch noch die alten. Dadurch wird Bildung zum vermeintlich objektiven Rechtfertigungsgrund für vorhandene Ungleichheiten.
These 35 Umverteilung von oben nach unten organisieren Die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten ist für uns zur Verwirklichung unserer Gerechtigkeitsvorstellungen notwendig, um Freiheit und Solidarität zu ermöglichen. Der Sozialstaat ist ein wesentliches Instrument, um Umverteilung zu organisieren. Über das Einkommenssteuersystem muss wieder mehr Umverteilung stattfinden. Dafür muss der Spitzensteuersatz erhöht werden, bei gleichzeitiger Anpassung der Progression, sodass kleine und mittlere Einkommen nicht stärker belastet werden. Zudem muss die Erbschaftssteuer ausgebaut, die Vermögenssteuer wieder eingeführt und die Mehrwertsteuer sozial gerecht gestaltet werden. Insbesondere gilt es des Weiteren, auch Unternehmensgewinne und Finanzspekulationen zur Finanzierung des Gemeinwesens heranzuziehen. In den Sozialversicherungssystemen gibt es einen Trend zur Privatisierung und zum Abbau von Leistungen. Dem treten wir entgegen. Wir sind für eine solidarische Finanzierung und gegen eine Leistungsbegrenzung. Unsere Instrumente sind die solidarische BürgerInnenversicherung und die Arbeitsversicherung, die immer wieder neue Perspektiven für alle schafft.
These 36 Öffentliche Daseinsvorsorge Die Gewährleistung der öffentlichen Daseinsvorsorge ist in unserem Verständnis eine der zentralen Aufgaben des Staates, um
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Chancengleichheit zu erreichen. Dazu gehören Bildung, Gesundheitsfürsorge, Pflege, Wasser- und Energieversorgung, Verkehrsinfrastruktur, Kommunikation und Information, Wohnraum, Sparkassen, Umweltschutz, Sicherheit, Sport- und Kultureinrichtungen. TrägerInnen der öffentlichen Daseinsvorsorge können über staatliche Institutionen hinaus gesellschaftliche, gemeinnützige Kräfte sein, beispielsweise im Rahmen alternativer Wirtschaftsformen genossenschaftlich, gemeinnützig organisierte TrägerInnen. Auch hierfür muss der Staat Freiräume schaffen. Würden diese Bereiche dem Markt überlassen, könnten viele Menschen ihr Leben nicht würdig gestalten und wären von der Gesellschaft ausgegrenzt. Deshalb ist es Ziel, dass der Staat den Zugang für alle zu diesen Schlüsselbereichen garantiert. Wo es erforderlich ist, sprechen wir uns für eine Vergesellschaftung der Bereiche aus, die nur unter öffentlicher Kontrolle unseren Ansprüchen entsprechen können. Nur wenn allen Menschen ein gleicher Zugang zu bestimmten Gütern garantiert wird, sind gleichwertige Lebensverhältnisse zu gewährleisten. Durch die eigene Bereitstellung von öffentlichen Dienstleistungen und Gütern wird das Allgemeinwohl durch demokratische Kontrolle sichergestellt.
6. Feminismus These 37 Patriarchat Die kapitalistische Gesellschaft ist geprägt von Widersprüchen. Unterdrückung und Ungleichbehandlung gehören zu den prägenden Elementen und zeigen sich in vielfältigen Erscheinungsformen. Patriarchale Strukturen prägen auch im 21. Jahrhundert die gesellschaftlichen Verhältnisse unabhängig von Staatsform und Wirtschaftsweise. Es ist nicht zu leugnen, dass die Frauenbewegung in den letzten Jahrzehnten viel erkämpft hat. Dennoch gilt es
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festzuhalten: Die gesellschaftlichen Machtverhältnisse sind auch über hundert Jahre nach den Anfängen der Frauenbewegung ungleich zugunsten der Männer verteilt. Die Erscheinungsformen des Patriarchats sind jedoch bei globaler Betrachtung unterschiedlich stark ausgeprägt. Selbst in Staaten, in denen Frauen formal gleiche Rechte haben wie Männer, sind patriarchale Strukturen noch nicht aufgebrochen, geschweige denn überwunden. Die zentralen Positionen von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Macht werden ganz überwiegend von Männern besetzt. Frauen werden gesellschaftlich und beruflich nur subtiler, nicht aber weniger diskriminiert.
These 38 Diskriminierung heute Die männlich strukturierte Gesellschaft zeigt sich auf sämtlichen Ebenen. Für Frauen ist der Weg in führende Positionen in Wirtschaft, Forschung und Lehre, Politik und Kirche schwerer. Sie erhalten weniger Lohn, selbst wenn sie im Vergleich zu Männern gleich oder höher qualifiziert sind. Frauen sind weitaus häufiger in Teilzeit, ohne Sozialversicherungspflicht oder in befristeten Arbeitsverhältnissen zu Niedriglöhnen beschäftigt – vor allem Frauen sind arm trotz Arbeit. Die Sorgearbeit in der Familie wird immer noch zum größten Teil von Frauen getragen und ihnen durch die Gesellschaft als scheinbar naturgegeben zugeschrieben. Steuer- und Sozialsysteme sind auf den Mann als Ernährer und Versorger zugeschnitten. Frauen spielen nur als »Dazuverdienerin« eine Rolle, hier werden Abhängigkeiten gestärkt und nicht aufgebrochen. Es sind regelmäßig Frauen, die Opfer von Gewalt und Belästigung, von körperlicher und seelischer Unterdrückung sind. Auch Männer, die dem klassischen Rollenverständnis nicht entsprechen, sehen sich immer wieder Diskriminierungen ausgesetzt. Damit wird eine individuelle freie Entfaltung durch patriarchale Strukturen für beide Geschlechter wesentlich erschwert.
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Überkommene Rollenbilder und die Zuschreibung geschlechtsspezifischer Eigenschaften und auch sexueller Orientierung sind längst noch nicht überwunden. Hinzu kommen ethnizitätsbezogene Stereotype, die Frauen in doppelter Hinsicht diskriminieren: als Frau und als Migrantin.
These 39 Kapitalismus und Patriarchat Der Kapitalismus und das Patriarchat sind Herrschaftssysteme, die auf Ungleichbehandlung, Unterdrückung und Ausbeutung aufbauen. Jedes System, das auf ungleiche Verteilung von Macht und Wohlstand und Erhalt dieses Zustandes ausgelegt ist, bedient sich des patriarchalen Prinzips. Deshalb dienen Kapitalismus und Patriarchat einander als sich gegenseitig stützende und schützende Prinzipien. Die ungleiche Verteilung und Bewertung von Produktions- und Reproduktionsarbeit und die damit einhergehende Benachteiligung von Frauen ist Ausdruck davon. Eine Gesellschaftsordnung, die das kapitalistische Prinzip überwindet, ist nicht notwendig eine, in der sich die Frauenfrage erledigt hat. Allerdings kann nur in einer Gesellschaft, die auf Ausbeutung und Unterdrückung verzichtet, auch Gleichheit der Geschlechter erreicht werden. Die Gleichstellung der Frauen ist deshalb Teil unseres Kampfes für den demokratischen Sozialismus. Der Kampf für den demokratischen Sozialismus kann aber niemals den Kampf für die Gleichstellung ersetzen.
These 40 Perspektive Wir Jusos erstreben eine Gesellschaft, in der Frauen und Männer gleich, frei und solidarisch miteinander leben. Wir wollen eine Gesellschaft, in der nicht ein scheinbar männliches Prinzip das lei-
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tende ist. Wir wollen eine Gesellschaft, in der das Geschlecht keine Rolle mehr spielt in dem Sinne, dass alle Menschen die gleiche Freiheit leben können – ein Leben in Selbstbestimmung und ohne starre Rollenbilder, unter gleicher Teilhabe an Macht und Einfluss, ohne geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Sexismus. Die Gleichheit der Geschlechter ist die grundlegende Idee einer auf Emanzipation angelegten Strategie. Dabei geht es nicht um Negierung von Individualität oder das Ignorieren unterschiedlicher Betroffenheiten. Nur die Gleichheit von Lebenschancen und Voraussetzungen schafft jedoch überhaupt erst die Bedingung, um Verschiedenartiges leben zu können. Die Demokratisierung aller Lebensbereiche und die Überwindung von Ausbeutung und Unterdrückung sind unsere grundlegenden Ziele. Dazu ist die Veränderung von Strukturen nötig. Solange die patriarchalen Strukturen nicht überwunden sind, bedarf es zudem gezielter Instrumente, die die Benachteiligung von Frauen ausgleichen.
These 41 Strategie Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ist ebenso ein prägendes Strukturmerkmal des Patriarchats wie die geringe Beteiligung von Frauen an gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Macht. Wir brauchen daher eine sanktionierte Regelung für die Teilhabe von Frauen an Führungspositionen; die Quote in allen Bereichen ist ein wesentliches Instrument, um Gleichstellung flächendeckend und praktisch umzusetzen. Wir brauchen ein Steuer- und Sozialrecht, das individuelle Lebensentwürfe fördert und absichert und nicht das männliche Familienernährermodell bevorzugt. Eine Privilegierung der Ehe durch das Recht lehnen wir ab. Wir brauchen eine Arbeitsmarktpolitik, die existenzsichernde Beschäftigung schafft, und einen Arbeitsmarkt, auf dem gleiche und gleichwertige Arbeit gleich bezahlt wird. Wir brauchen eine
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berufliche Bildung, die weder typisch weibliche noch typisch männliche Berufsbilder produziert. Die Medienlandschaft ist zu einem großen Teil durch Sexismus und Rollenstereotype geprägt, und somit wird jeder täglich mit diesen konfrontiert. Wir fordern, dass Medien sich jenseits dieser Bilder bewegen müssen, damit bestehende Verhältnisse hinterfragt werden und Sexismus nicht salonfähig bleibt. Gender-Mainstreaming und Gender-Budgeting müssen als praktizierte Gleichstellungsmaßnahmen überall Anwendung finden. Wir brauchen eine emanzipatorische Familienpolitik, in der Elternzeit zwingend von Vätern und Müttern je zur Hälfte übernommen wird. Der (zeitweilige) Ausstieg aus dem Berufsleben ist ein Risiko für die individuelle Absicherung und stärkt wiederum innerfamiliäre Abhängigkeiten. Dieses Risiko dürfen zukünftig nicht mehr hauptsächlich die Frauen tragen. Verantwortung für Familie und gleiche Chancen im Beruf sind dann für alle möglich, wenn Arbeitszeiten gerechter verteilt und allgemein reduziert werden.
These 42 Feminismus Die derzeitigen Debatten um den Feminismus des 21. Jahrhunderts sind zwiespältig. Es ist gut und richtig, dass – bei früheren und aktuellen Versuchen des Backlashs und der Umkehr der Verhältnisse – Frauenfrage und Feminismus wieder zurück und erneut auf der öffentlichen Tagesordnung sind. Wir wehren uns jedoch gegen den Versuch, Feminismus auf das Feuilleton zu reduzieren. Dem Vorhaben, einzelne Generationen der Frauenbewegung und des Feminismus gegeneinander auszuspielen, erteilen wir eine Absage. Unsere Verbündeten finden wir überall da, wo die Frauenfrage das politische Handeln bestimmt. Wer die menschliche Gesellschaft will, muss die männliche überwinden.
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7. Antifaschismus These 43 Rechtsextremismus Der Rechtsextremismus ist ein Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzeichen die Vorstellung von der Ungleichwertigkeit von Menschen ist. Dieses Muster äußert sich im politischen Bereich in der Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung beziehungsweise Rechtfertigung des Nationalsozialismus, einer Volksgemeinschaftsideologie sowie dem Glauben an die Durchsetzung seiner Vorstellungen durch Gewalt, sei es durch den starken Staat oder durch eigenes Handeln, wie es im Falle brennender Asylbewerberheime oder militanter Neonazis zu sehen war. Im sozialen Bereich sind diese Muster gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen.
These 44 Formen des Rechtsextremismus Rechtsextremismus ist kein ausschließliches Jugendproblem. Das Potenzial an rechtsextremen Einstellungen ist in der gesamten Gesellschaft hoch, und das heißt auch: in sämtlichen Altersgruppen. Inwieweit es rechtsextremen Gruppierungen gelingt, dieses Potenzial zu vereinnahmen, ist unterschiedlich. Seit der Wiedervereinigung ist allerdings zu beobachten, dass die radikale Rechte vor allem im Osten des Landes ein Vakuum teilweise besetzen konnte, welches durch das Fehlen progressiver gesellschaftlicher AkteurInnen entstanden war. Die Wahlerfolge der NPD und die schleichende Etablierung rechtsextremen Kleidungsstils bei Jugendlichen sind Indiz dafür, dass rechtsextreme Einstellungen von der sogenannten Mitte der Gesellschaft akzeptiert und von dieser selbst produziert werden.
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Trotz ihres desolaten Zustands stellt die NPD in diesem Zusammenhang eines der größten Probleme dar. Die öffentlichen Mittel helfen der NPD, ihre Strukturen zu festigen. Daneben wird die Zusammenarbeit mit der militanten Neonaziszene intensiviert. Partei und »freie Kräfte« vermischen sich indes sehr stark. So bettet die NPD die von freien Kräften aufgebauten sozialen Netzwerke gezielt ein und stärkt somit ihre Organisationskraft. NPD-Kader geraten wegen Körperverletzungs- und Volksverhetzungstatbeständen immer wieder in den Fokus der Strafverfolgungsbehörden. Gebietsweise konnte die NPD ihr Drei-SäulenKonzept vom Kampf um die Straße, die Köpfe und die Parlamente umsetzen; dort gibt es No-go-Areas, welche in dem Ausmaß ohne die bestehenden Kameradschaftsstrukturen und deren Netzwerke nie hätten möglich sein können. Neben dem Fokus auf den Nationalsozialismus arbeitet die NPD mit der sozialen Frage, wie zum Beispiel bei ihrem Versuch, auf den Zug der globalisierungskritischen Bewegung anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm im Jahr 2007 aufzuspringen. Die rechtsextreme Kapitalismuskritik ist keine Fratze oder Vertuschung, sondern fußt auf der Angst vor einer Gefährdung ihrer Ideologeme »Volk« und »Nation«. Die propagierten völkischen Lösungsansätze sind nicht nur falsch, sondern bedeuten – konsequent gedacht – für viele Menschen das sichere Todesurteil.
These 45 Gegenstrategien Die wichtigsten Elemente bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus sind die Aufklärung und die Förderung einer antifaschistischen Gegenkultur. Momentan leidet die öffentlich geförderte antifaschistische Arbeit darunter, dass sie einerseits politischen Konjunkturen und andererseits spezifischen haushaltspolitischen Konstellationen unterworfen ist. Damit ist es schwierig, eine nach-
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haltige Unterstützung auf die Beine zu stellen. Der Kampf gegen Rechtsextremismus ist aber nur wirkungsvoll, wenn er eine langfristige Strategie verfolgt. Eine Lösung, um die finanziellen Mittel kontinuierlich zu sichern, würde eine Bundesstiftung für demokratische Kultur darstellen. Ein gut vorbereites NPD-Verbotsverfahren, das auf staatlich alimentierte NPD-Kader als V-Leute verzichtet, wäre eine Möglichkeit, rechtsextreme Strukturen effektiv zu schwächen. Kampf gegen Rechtsextremismus heißt vor allem, selbst aktiv zu werden. Diejenigen, die antifaschistische Politik nicht nur als Lippenbekenntnis vor sich hertragen, sondern in praktische Politik umsetzen, haben unsere Solidarität. Wir empfinden es als Doppelmoral, wenn einerseits – wie im Rahmen des »Aufstands der Anständigen« – von offizieller Seite zum Kampf gegen Rechts aufgerufen wird und andererseits denjenigen, die dann aktiv werden, Strafverfahren drohen. Ein Ende der Kriminalisierung antifaschistischen Engagements ist für uns zwingend. Wir verurteilen die ständigen Diffamierungskampagnen gegenüber AntifaschistInnen und Linksalternativen, die das Ziel haben, Repression zu legitimieren und unliebsamen kritischen Projekten die Existenzgrundlage zu entziehen. Grundlage dafür ist das Konzept des politischen Extremismus, welches von einer »vernünftigen« politischen Mitte ausgeht. Dies relativiert nicht nur die wachsenden Ungleichheitstheorien, wie Rassismus und Antisemitismus, in der Gesellschaft, sondern setzt zudem Antifaschismus auf eine Ebene mit Nazismus. Daneben gilt es, die Problematik stärker in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu rücken: Rechtsextremismus ist nicht nur dann dramatisch, wenn die NPD wieder einen Wahlsieg errungen hat, ein jüdischer Friedhof geschändet wurde oder ein besonders brutaler Angriff auf MigrantInnen stattgefunden hat. Rechtsextremismus ist ein gesamtgesellschaftliches und dauerhaftes Problem.
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These 46 Rassismus Rassismus soll vermeintlich oder tatsächlich wahrgenommene Unterschiede als Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe rechtfertigen. Damit geht eine Diskriminierung aufgrund dieser Zugehörigkeit einher. Rassismus spiegelt sich in der gesamten Gesellschaft in unterschiedlichen Formen wider. Sei es durch Wohlstandschauvinismus und Fremdenfeindlichkeit oder durch verbale Entgleisungen von Personen des öffentlichen Lebens oder in großen deutschen Zeitungen zu Zeiten sportlicher Großereignisse wie der Fußballweltmeisterschaft. Insbesondere die Zuwanderungsdebatte wird immer wieder von rassistischen Zwischentönen, gerade von PolitikerInnen, überlagert. Rechtspopulistisches Gedankengut versucht zudem, zunehmend Zugang zum Diskurs der bürgerlichen Mitte zu finden und gezielt vorhandene islamfeindliche Ressentiments zu nutzen, besonders etwa über die direkte Auseinandersetzung vor Ort über Moscheebauten. Wir Jusos setzen uns für ein Menschenbild ein, das frei ist von Nützlichkeitserwägungen. In einer offenen Gesellschaft, so wie wir sie fordern, ist kein Platz für Diskriminierung und Rassismus. Dafür muss ein offensiver Kampf um das gesellschaftliche Klima stattfinden.
These 47 Flüchtlingspolitik Ebenso muss es ein Umdenken im staatlichen Umgang mit Flüchtlingen und Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft geben. Unser Ziel bleibt eine Gesellschaft ohne Grenzen. Wir wollen, dass alle Menschen die Möglichkeit haben, dort zu leben, wo sie wollen, und fordern ein globales Recht auf Migration ein. Alles, was dazu beiträgt, dass Menschen daran gehindert werden, in dieses Land zu kommen, findet unsere Kritik.
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Wir wollen, dass das Asylrecht im Grundgesetz vollständig wiederhergestellt wird, und kämpfen für einen menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen. Das Schnellverfahren am Flughafen, die Residenzpflicht und Abschiebegefängnisse sind für uns nicht akzeptabel und gehören abgeschafft.
These 48 Antisemitismus Im Gegensatz zum Rassismus wird im Antisemitismus das Judentum nicht nur mit Unterlegenheitsmerkmalen gekennzeichnet, sondern auch als gefährlicher Akteur des globalen Finanzkapitals gegen das einheimische produktive Kapital gesehen. Die Shoa mit über sechs Millionen industriell ermordeten Jüdinnen und Juden war ein unfassbarer, entsetzlicher Tiefpunkt des jahrhundertealten Antisemitismus und eine spezielle Folge des vor allem in Deutschland seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreiteten völkischen Antisemitismus. Der Holocaust wurde in seiner vernichtenden Qualität erst möglich, weil die AntisemitInnen – im Gegensatz zum religiösen Antijudaismus – das Konstrukt einer »jüdischen Rasse« schufen, die nur durch Vernichtung beseitigt werden könne. Diese Denktradition gibt es vor allem im deutschen Antisemitismus noch immer. Antisemitismus ist auch heute noch eine ernstzunehmende Gefahr. Ausdruck finden diese Überzeugungen zum einen in OpferTäter-Verdrehungen und geschichtsrevisionistischen Meinungen, die vor allem im rechtsextremen Spektrum von der Relativierung des Holocaust bis zur Leugnung desselben reichen. Weltverschwörungstheorien kursieren, die Jüdinnen und Juden in den Mittelpunkt dunkler Machenschaften rücken und ihnen als Kollektiv den Griff nach der Weltherrschaft und Unterdrückung anderer unterstellen. Aber auch außerhalb der Kreise ausgewiesener Rechtsextremisten gibt es Aussagen aus der Mitte der Gesellschaft, die verlangen, die Erfahrungen des Holocaust zu relativieren und einen
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»Schlussstrich« unter die Geschehnisse zu setzen. Für uns existiert eindeutig die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass solche Verbrechen nie wieder passieren. Auch heute ist es leider in Deutschland eine Tatsache, dass Synagogen, jüdische Kindergärten und andere jüdische Einrichtungen von der Polizei geschützt werden müssen. Daher kann es aus unserer Sicht keinen »Schlussstrich« geben.
These 49 Antisemitismus in Form von Israelkritik Innerhalb der politischen Kultur Deutschlands wird offener Antisemitismus nicht mehr als legitime politische Meinung anerkannt. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein konsistenter Antisemitismus nach wie vor in der deutschen Gesellschaft virulent ist und der Antisemitismus statt eines offenen Bekenntnisses zur Judenfeindschaft über andere Ventile artikuliert wird. So kann Kritik, die am Staate Israel geübt wird, ein Ventil für Antisemitismus sein. Darüber hinaus sind Vergleiche der heutigen israelischen Politik mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik der Jahre 1933–45 für uns nicht akzeptabel. Der Versuch, sich der deutschen Täterrolle zu entledigen, indem überzogene Kritik am Staate Israel formuliert und im Nahostkonflikt einseitig Stellung zugunsten der Palästinenser bezogen wird, ist ein Beispiel für ein solches Ventil. Der Nahostkonflikt ist weitaus komplexer und nicht in einfachen Schwarz-Weiß-Bildern beschreibbar. Oftmals tendiert aber die gesellschaftliche Diskussion gerade in diese Richtung: Gerade aus der deutschen Gesellschaft werden den Israelis Methoden vorgeworfen, die mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik der Jahre 1933–45 assoziiert werden. Darüber hinaus akzeptieren wir es aber auch nicht, dass sich die deutsche Politik ihrer besonderen Rolle in der Region durch eine einseitige Stellungnahme im Nahostkonflikt entledigt. Eine einseitige Stellungnahme zugunsten einer der Parteien verkennt die Tragweite dieser Auseinandersetzung.
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Wir sehen unsere politische Verantwortung darin, in der Gesellschaft und vor allem in der gesellschaftlichen Linken für ein differenziertes Israelbild zu werben. Wir Jusos denken weiter und setzen uns gerade mit unserem Projekt, dem Willy-Brandt-Center Jerusalem (WBC), für eine für beide Seiten gerechte politische Lösung des Nahostkonflikts ein. Wir sind für das Existenzrecht Israels und für einen palästinensischen Staat. Die Zweistaatenlösung ist für uns das politische Ziel, da wir der Überzeugung sind, dass zwei stabile, demokratische Staaten die grundlegende Voraussetzung für Sicherheit sind. Gruppierungen, die sich mit der Hamas oder anderen radikalislamischen Bewegungen solidarisieren oder das Existenzrecht Israels negieren, stellen für uns keine BündnispartnerInnen dar. Die Bekämpfung des Antisemitismus muss auch dort mit Konsequenz geführt werden, wo er sich als scheinbar legitime Kritik am Staat Israel tarnt. Antisemitismus ist in allen seinen Formen das Gleiche: eine menschenverachtende, mörderische Ideologie.
8. Internationalismus – Antimilitarismus
These 50 Internationalismus Wir Jusos sehen uns als sozialistischen, feministischen und internationalistischen Richtungsverband. Das bedeutet, die internationale Arbeit ist Teil der tagtäglichen Arbeit des ganzen Verbandes. Unsere Ideen und unser Kampf hören nicht an den Landesgrenzen auf. Wir Jusos denken international. Wir arbeiten an einer Bewegung internationaler Solidarität. Wir Jusos wissen, dass wir Veränderungen nur in Kooperation mit anderen fortschrittlichen Organisationen auf regionaler und internationaler Ebene erreichen können. Deshalb engagieren
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wir uns in internationalen Organisationen wie der International Union of Socialist Youth (IUSY; Sozialistische Jugendinternationale), der ECOSY (European Community Organisation of Socialist Youth – Young European Socialists) und mit unserem Projekt Willy-Brandt-Center in Jerusalem. Wir setzen uns ein für eine gerechte Weltordnung. Der globale Kapitalismus in seiner heutigen Form produziert wenige GewinnerInnen und viele VerliererInnen. Eine Produktionsweise, die allein auf Gewinnmaximierung basiert, nimmt keine Rücksicht auf soziale und ökologische Folgewirkungen und widerspricht damit einer nachhaltigen Entwicklung. Es geht deshalb darum, die Globalisierung nicht nur zu gestalten, sondern diese Welt nachhaltig zu verändern. Eine andere Welt ist notwendig. Die Spaltung der Welt konnte bis jetzt nicht überwunden werden. Die Nord-Süd-Frage stellt sich heute immer noch; die zum Millennium ausgerufenen Ziele, die Armut zu halbieren oder zum Beispiel mehr Menschen den Zugang zu sauberem Trinkwasser zu gewähren, werden aller Wahrscheinlichkeit nicht verwirklicht werden können. Entwicklungshilfe ist deshalb für uns keine Wohltätigkeitsveranstaltung, sondern jeder Mensch hat ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in Würde. Nach diesem Ziel muss Entwicklungshilfe ausgerichtet werden und nicht nach den Interessen der deutschen Wirtschaft, wie das oft der Fall ist.
These 51 Friedenspolitik Der Kampf gegen die Militarisierung der Gesellschaft stand immer schon im Mittelpunkt unserer Organisation. Die Anfänge der Jusos waren geprägt durch den Kampf gegen den Ersten Weltkrieg: gegen den Burgfrieden mit dem Kaiser und den bürgerlichen Parteien und den aufkommenden Nationalismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg lautete die Parole: »Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!«
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Kriege werden nicht aus altruistischen Gründen geführt. Um als SozialistIn und AntimilitaristIn (wohlgemerkt nicht als PazifistIn) den Charakter einer militärischen Auseinandersetzung zu bestimmen, müssen die ökonomischen Grundlagen und die weltpolitische Rolle der beteiligten Staaten sowie der nichtstaatlichen Akteure analysiert werden.
These 52 Militarisierung der deutschen Außenpolitik Heute, im Jahr 2008, sind wir konfrontiert mit einer rasanten Normalisierung des Krieges als legitimem Mittel der deutschen Politik. Die Strategie der kontinuierlichen Gewöhnung an die weltweiten Bundeswehreinsätze – 1992 in Kambodscha, 1993 in Somalia, 1995 mit der IFOR, später SFOR in Bosnien – hatte Erfolg. Die Akzeptanz gegenüber militärischen Einsätzen stieg in der Bevölkerung mit jedem Mal. Das Ziel Deutschlands, auf der internationalen Ebene nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch eine gleichberechtigte Rolle zu spielen, war mit der Beteiligung am Kosovo-Krieg endgültig erreicht. Der Kosovo-Krieg war ein Wendepunkt der deutschen Außenpolitik, da sich Deutschland das erste Mal in der Nachkriegsära an einem Angriffskrieg beteiligt hat. Dieser Kriegseinsatz hat unter Rot-Grün stattgefunden und wurde von Rot-Grün innenpolitisch durchgesetzt. Dort wurde letztlich erfolgreich versucht, die Zustimmung der Bevölkerung mithilfe einer besonders bekämpfenswerten Legitimationsstrategie zu erreichen, indem Hitler- und Auschwitz-Vergleiche über die deutsche Medienlandschaft hinwegrollten. Seither geht es nicht mehr um eine Grundsatzfrage, sondern um ob und wann. Ja zu Afghanistan und nein zum Irak, so lässt sich kurz gefasst die Politik der Sozialdemokratie im Moment charakterisieren.
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These 53 »Neue Kriege« Legitimiert wird diese Wende durch ein neues Bild des Krieges: Das Bild eines sauberen Krieges soll gezeichnet werden. Man spricht von chirurgischen Eingriffen und zielgenauem Bomben. Das wahre Gesicht des Krieges soll vertuscht werden. Oberste Priorität hat es inzwischen, nach außen den Schein zu wahren. Das Risiko von Bildern toter Soldaten, die das schöne Bild scheinbar ungefährlicher Kriege stören könnten, wird durch Luftkriege oder durch die Vergabe von gefährlichen Aufträgen an private Söldnerfirmen minimiert. Die Realität sieht anders aus: Es gibt keinen neuen Krieg, kein humanes Gesicht des Krieges. In mehr als 40 Staaten herrscht derzeit Krieg oder Bürgerkrieg. Das in den Genfer Konventionen niedergelegte Prinzip der Unterscheidung zwischen SoldatInnen und ZivilistInnen wird in den heutigen Kriegen weitgehend missachtet. Am Anfang des vorigen Jahrhunderts waren 95 Prozent der Kriegsopfer Soldaten, inzwischen ist der Anteil der zivilen Opfer auf 90 Prozent gestiegen. Russland und die USA sprechen inzwischen auch offen von Aufrüstung, nachdem jahrelang unter dem Deckmantel der Professionalisierung von Armeen aufgerüstet wurde. Selbst der nukleare Erstschlag findet sich in offiziellen Papieren wieder. Auch die Staaten der EU sind zentral an Aufrüstung beteiligt. Angriffskriege werden heute nicht mehr geächtet.
These 54 Bundeswehr Es fehlt heute an einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Militär. Ziel ist die Schaffung einer neuen Normalität des Militärs – öffentliche Gelöbnisse sind ein Ausdruck dafür. In Deutschland wird die Bundeswehr mehr als Friedenshelfer
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und Brunnenbauer gesehen, denn als das, was sie ist: eine Armee. Das Hamburger Parteiprogramm ist ausschließlich voll des Lobes für die Bundeswehr, kritische Töne sind unerwünscht. Für uns ist das Militär Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Wir arbeiten langfristig an einer Welt ohne Militär. Des Weiteren gilt für uns: Jeder hat das Recht, den Dienst an der Waffe zu verweigern. Wir setzen uns darüber hinaus für die Abschaffung der Wehrpflicht ein.
These 55 Die Rolle der Entwicklungspolitik Im Zuge der neuen Militärstrategie wird die Entwicklungspolitik immer mehr in die Einsatzplanung miteinbezogen. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) übernehmen Stück für Stück militärische Aufgaben, wenn sie sich zum Beispiel um Zivi listInnen in besetzten Gebieten kümmern. Entwicklungspolitik wird aber auch als Argument für Kriegseinsätze herangezogen. Der Schutz von NGOs vor Ort wird zum offiziellen Grund, Militär zu stationieren, wie es zum Beispiel in Afghanistan geschehen ist. Wir lehnen eine Militarisierung der Entwicklungspolitik ab. Entwicklungspolitik ist für uns aber mehr als nur Engagement von NGOs. Entwicklungspolitik steht für uns SozialistInnen unter dem Prinzip der Nachhaltigkeit. Dazu gehört nicht nur die Sicherheit des Landes oder der Region, sondern vor allem die Hilfe beim Aufbau von Strukturen. Dies bedeutet den Aufbau von Infrastruktur, Wirtschaft und Bildung sowie die Verbesserung des Zugangs zu essenziellen Ressourcen wie Wasser, die Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Im Zentrum hat die Armutsbekämpfung zu stehen. Dafür muss die Zivilbevölkerung vor Ort einbezogen werden. Entwicklungspolitik kann aber nicht nur als Korrektiv der anderen Politikfelder gesehen werden. Vielmehr ist damit die nachhaltige Durchdringung allen politischen Handelns mit entwicklungspoli-
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tischem Denken gemeint. Vor allem gilt dies für die europäische Handels- und Agrarpolitik. Deshalb fordern wir fairen Handel, auch mit den ärmsten Regionen dieser Welt, und den Abbau der Agrarsubventionen. Das Ziel muss dabei echte Armutsbekämpfung sein und nicht nur die Steigerung des Wirtschaftswachstums.
These 56 Nationalismus Eng verbunden mit der Frage der Militarisierung war und ist die Frage des Nationalismus und des Chauvinismus. Wir Jusos lehnen es ab, uns in unseren Ideen und Zielen auf ein Land zu beschränken. Unser Ziel bleibt die perspektivische Überwindung von Nation und Nationalismus. Wir Jusos sind internationalistisch. Wir verlieren die Folgen von Politik nicht aus dem Blickfeld, wenn sie die Landesgrenzen überschreiten. Wir machen Politik für Menschen – für Menschen weltweit. Für uns gibt es kein legitimes deutsches Interesse. Wer für Frieden kämpfen will, der muss auch Nein sagen zu Standortwettkämpfen. Wir stehen für eine gerechte Welt ein.
These 57 Prävention Prävention wird immer mehr degradiert zu Gesprächen und offiziellen Tagungen und damit Stück für Stück delegitimiert und als wirkungslos dargestellt. Prävention ist nicht Dialog, sondern soll Dialog ermöglichen. Prävention schafft ein Umfeld, in dem es möglich ist, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Prävention bedeutet, eine internationale rechtliche Regulierung zu schaffen und diese auch mit Leben zu füllen. Wir stehen für die Fortführung einer aktiven und zivilen Friedenspolitik, wie sie in Deutschland durch Willy Brandt geprägt wurde. Für uns als Jusos ist klar, dass Krieg niemals wieder ein
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legitimes Mittel der Politik sein darf, und wir treten national wie international für seine Ächtung ein. Wir stehen ein für Systeme der kollektiven Sicherheit wie die Vereinten Nationen. Um diesen Anspruch gerecht zu werden, muss die UN aber handlungsfähiger werden. Wir setzen uns dafür ein, dass mehr Geld für zivile Konfliktlösung ausgegeben wird als für Aufrüstung, und wir kämpfen für die Ausweitung und die Einhaltung von Abrüstungsverträgen im Rahmen der internationalen Organisationen. Prävention bedeutet, dass eine gerechte Weltwirtschaftsordnung angestrebt wird, von der alle Menschen profitieren.
These 58 Ein soziales Europa Wir Jusos haben als internationalistischer Richtungsverband immer für die Integration der europäischen Staaten gekämpft. Die Überwindung der europäischen Nationalstaaten war dabei stets unser Leitbild. Die Nationalstaaten sind noch nicht überwunden, dennoch ist Europa heute bereits in vielen Bereichen Realität. Europa muss für uns Jusos aber mehr sein als ein gemeinsamer Binnenmarkt und eine Wirtschafts- und Währungsunion. Das heutige Europa der 27 Mitgliedsstaaten muss ein soziales Europa sein. Um eine Abwärtsspirale bei Löhnen und Sozialleistungen in Europa zu verhindern, brauchen wir soziale Mindestnormen auf europäischer Ebene. Wir Jusos fordern daher ein System europäischer Mindestlöhne, eine europäische Höchstarbeitszeit und eine EU-einheitliche Mindestbesteuerung von Unternehmen durch eine EU-Körperschaftssteuer. Wir fordern darüber hinaus auch die Demokratisierung der europäischen Wirtschaft durch Mitbestimmung in den Betrieben. Wir setzen uns daher für die Schaffung europäischer Betriebsräte ein. Europa ist nach innen heute weitgehend ein Europa ohne Grenzen. Nach außen ist Europa aber zu einer Festung geworden. Aus
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Entwicklungsländern ist es nahezu unmöglich geworden, nach Europa zu reisen, geschweige denn einzuwandern. Diese Entwicklung betrachten wir mit großer Sorge und fordern daher die Öffnung der Außengrenzen der Europäischen Union. Der Demokratisierungsprozess der Europäischen Union muss fortgesetzt werden, um ein Europa für die Menschen und nicht für Wirtschaftsinteressen zu schaffen. Wir Jusos setzen uns für die umfassende legislative Kompetenz des Parlamentes ein. Es ist ein demokratisch legitimiertes Gremium, das die Bürgerinnen und Bürger Europas vertritt, und muss deshalb die Entscheidungsbefugnisse zugesprochen bekommen anstelle der nur indirekt legitimierten Exekutivorgane. Wir Jusos haben als internationalistischer Richtungsverband immer für die Integration der europäischen Staaten gekämpft. Die Überwindung der europäischen Nationalstaaten war dabei stets unser Leitbild. Die Nationalstaaten sind jedoch noch nicht überwunden, dennoch ist Europa heute bereits in vielen Bereichen Realität. Ohne die europäische Dimension können viele Aufgaben wie beispielsweise der Klimawandel gar nicht mehr bewältigt werden. So stehen die europäischen Staaten vor ähnlichen Problemen, die nur gemeinsam effektiv gelöst werden können. Europa muss für uns Jusos aber mehr sein als ein gemeinsamer Binnenmarkt und eine Wirtschafts- und Währungsunion, denn wirtschaftliche und soziale Integration sind zwei Seiten einer Medaille. Deshalb müssen auch auf europäischer Ebene Systeme des sozialen Ausgleichs geschaffen werden, um den Standortwettbewerb einzudämmen, der soziale und ökologische Standards ruiniert. Soziales Europa: Das geht am ehesten durch die Solidarisierung der Arbeitnehmerschaft auf europäischer Ebene. Deshalb fordern wir, Betriebsräte und die arbeitende Bevölkerung in ihren Rechten zu stärken und Eurobetriebsräte und europäische Gewerkschaften
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auszubauen. Wir kämpfen gegen die Aushöhlung der Arbeitnehmerrechte und fordern stattdessen Mindestnormen im Arbeitsrecht auf europäischer Ebene. Dazu zählen Mindestlöhne, Höchstarbeitszeiten und europäische Konten für Leistungsansprüche aus Sozialkassen. Die EU braucht nach unserem Verständnis eine steuerpolitische Kompetenz, um Steuerdumping innerhalb der Union zu stoppen. Wir setzen uns daher für Mindeststeuersätze in der EU ein, um eine Harmonisierung der Steuern zu erreichen. Die Geldpolitik der EZB muss überdacht werden. Wir wollen, dass sich die Geldund Fiskalpolitik nicht mehr einseitig auf die Geldwertstabilität konzentriert. Leider wird Europa, obwohl es für die Öffnung der Grenzen steht, nach außen immer mehr zur Festung Europa, anstatt eine multikulturelle Union zu werden. Wir Jusos kritisieren daher scharf die zum Teil unmenschliche Flüchtlingspolitik der EU. Internationale Solidarität sollte nationale und kontinentale Grenzen überwinden. Entwicklungszusammenarbeit mit anderen Ländern muss ein größeres Gewicht bekommen. Wir wollen eine europäische Partei werden! Die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) soll die Mutterpartei aller europäischen SozialdemokratInnen werden. Die Forderung nach einer sozialdemokratischen europaweiten Bewegung darf nicht weiter eine Phrase bleiben. Die SPE muss gestärkt werden. Den neoliberalen und neokonservativen Kräften, dem durch die Lissabon-Strategie zum Selbstzweck erhobenen Wettbewerbsparadigma und der einseitigen, auf die wirtschaftliche Integration bezogenen Einigung kann nur eine schlagfertige und kraftvolle sozialdemokratische Bewegung auf europäischer Ebene entgegentreten. Wir müssen der Vorreiter der Politisierung europäischer Politik sein.
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9. Die Ökologie und die Linke These 59 Ökologie innerhalb der Sozialdemokratie In der Vergangenheit waren es in besonderem Maße die Jusos, die ökologische Fragestellungen in die Sozialdemokratie hineingetragen haben. Ohne die Jusos wäre es fraglich, ob die SPD heute so vehement für den Atomausstieg kämpfen würde. Doch ist es uns bisher nicht gelungen, Ökologiepolitik stringent innerhalb einer gesamtgesellschaftlichen Analyse zu entwickeln. Als SozialistInnen glauben wir nicht daran, dass eine Rückkehr zu einer »ursprünglichen« Lebensweise die Lösung des Problems ist. Diese stellt vielmehr eine reaktionäre Antwort auf die drängenden Fragen im Umweltbereich dar, und hier lag der Denkfehler vieler AktivistInnen der Ökologieszene. Mittels solcher Konzepte versucht mittlerweile auch die politische Rechte, an die Umweltbewegung anzudocken.
These 60 Schwierigkeit linker Ökologiepolitik Linke Umweltpolitik bewegt sich in verschiedenen Spannungsfeldern. Dazu gehört, dass der technische Fortschritt einerseits einen höheren Lebensstandard, eine höhere Mobilität und bessere Kommunikation und damit Fortschritt im Interesse der Menschen geschaffen hat. Andererseits baut dieser technische Fortschritt aber auch auf der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen auf, einer der Quellen des menschlichen Reichtums. Linke Umweltpolitik muss deshalb darauf abzielen, die technische Entwicklung so weiterzuführen, dass der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen verbunden mit weiterem Wohlstand erreicht werden kann. Dies schließt auch ein, dass die Länder des Südens zum westlichen Lebensstandard aufschließen können. Umweltpolitik kann und darf nicht als Argument gegen die Entwicklungschancen der Länder des
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Südens verwendet werden. Die »Versöhnung« von technischem Fortschritt mit der Ökologie ist möglich. Sie setzt aber politisches Handeln voraus. Marktmechanismen können sie nicht schaffen. Die umweltpolitischen Folgen dieser Entwicklung können wir allerdings trotzdem nicht außer Acht lassen. Der globale Klimawandel und der Einfluss der Menschheit auf selbigen ist heutzutage naturwissenschaftlicher Konsens. Wir können diese Entwicklung nicht mehr aufhalten, sondern allenfalls abmildern. Um dies zu erreichen, bedarf es gewaltiger Anstrengungen, bei denen den westlichen Industrieländern als Hauptverursachern bis dato die primäre Verantwortung zukommt. Die zu erwartenden Folgen des Klimawandels sind vielfältig und werden verschiedene Konsequenzen haben. Während die Erwärmung für einige Regionen der Welt zu besseren landwirtschaftlichen Bedingungen und mehr Niederschlag führen wird, sind für andere Gegenden verheerende Folgen wie Dürre, Überschwemmung und extreme Wetterereignisse zu erwarten. Fakt ist, dass die sich entwickelnden Länder im Äquatorbereich die schwerstwiegenden Konsequenzen der globalen Erwärmung zu ertragen haben werden, obwohl sie minimal zu dieser beigetragen haben. Außerdem stehen wir vor der Herausforderung, dass die aufstrebenden Schwellenländer mit hohen Wachstumsraten ihre Industrialisierung vorantreiben und in immer stärkerem Ausmaß die lokale und die globale Umwelt belasten. Als Sozialistinnen und Sozialisten stehen wir für eine Umweltpolitik ein, die sich ihrer sozialen Folgewirkungen bewusst ist und versucht, diese zu vermeiden oder, wo dies nicht möglich ist, durch Umverteilungspolitik auszugleichen. Wir fordern für alle das gleiche Recht auf Teilhabe. Dies schließt Mobilität und Teilhabe am technischen Fortschritt für alle ein, unabhängig von ihrer finanziellen Situation Deswegen wollen wir, dass für alle Energie bezahlbar bleibt. Wir wissen aber auch, dass durch die kurzfristige Profitlogik des Kapitalismus politische Handlungslosigkeit in die ökologische Katastrophe führen würde. Klima-
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veränderungen und Umweltprobleme sind langfristigen Zeitspannen unterworfen. Das Klima verhält sich träge, das heißt, Effekte politischer Maßnahmen sind teilweise erst in 30 Jahren spürbar. Diese langen Zeiträume widersprechen der immanenten Logik des Kapitalismus. Seine zuvor erwiesene Flexibilität, auf Veränderungen zu reagieren, wird deshalb voraussichtlich im umweltpolitischen Bereich ins Leere laufen. Das erfordert politische Reaktionen. Dem Staat kommt die Aufgabe zu, den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel zu organisieren und zu fördern. Die Impulse müssen von links kommen, da sich ansonsten neue gesellschaftliche und soziale Spaltungen entlang der Ökologiefrage auftun werden. Das Dilemma sozialistischer Politik ist aber, dass wir bisher noch keine überzeugenden Antworten von links auf diese Entwicklungen formulieren konnten.
These 61 Linke Ökologiepolitik Wir wollen eine moderne Umweltpolitik, die sich nicht gegen den technischen Fortschritt richtet, sondern auf ihm aufbaut und ihn fördert. Wir möchten nicht, dass dies zu Entwicklungshindernissen für die Weltregionen außerhalb der westlichen Hemisphäre führt. Das bedeutet aber auch, dass damit die reichen, entwickelten Staaten eine besondere Verantwortung haben. Trotz aller Diskussionen, dass die Verknappung fossiler Brennstoffe auf den »Energiehunger« aufstrebender Staaten wie China und Indien zurückzuführen sei, bleibt festzuhalten, dass der mit Abstand größte Pro-Kopf-Energieverbrauch immer noch in den entwickelten Industriestaaten erfolgt. Die Folgen spüren vor allem die Menschen in den armen Regionen dieser Welt. Wir wollen internationale Abkommen, die zu geringeren CO2-Emissionen und zu mehr Umweltschutz führen, und fordern eine sinnvolle Gestaltung des globalen Emissionshandels. Wir sind uns zugleich aber bewusst, dass zuallererst Handlungsbedarf bei uns selbst besteht, bevor wir
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mittels Machtpolitik und Abkommen und mit dem moralischen Zeigefinger sozialen Fortschritt für Menschen aus anderen Weltregionen erschweren, indem wir ihnen das verweigern, was wir selbst zuvor für uns beansprucht haben. Heutige ökologische Probleme sind sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene immer stärker Probleme der sozialen Gerechtigkeit und Teilhabe. Der Zugang zu natürlichen Ressourcen wird kontinuierlich erschwert. Elektrizität, Wärme, saubere Luft und sauberes Wasser sind in weiten Teilen der Welt Luxusgüter und könnten dies unter Einfluss des Klimawandels in immer größerem Maße werden. Unser Selbstverständnis als internationalistischer Richtungsverband gebietet uns, hier mit progressiven Vorschlägen für eine neue ökologische Gerechtigkeit zu kämpfen. Die wechselseitigen Abhängigkeiten der globalisierten Welt zeigen sich besonders im Energie- und im Rohstoffbereich. Machtpolitisches Kalkül führt häufig zu mangelnder zwischenstaatlicher und internationaler Solidarität. Wir Jusos wollen diesen Zustand der Abhängigkeiten überwinden.
These 62 Konkrete Handlungsansätze Wir wollen den technologischen Fortschritt zum Wohle der Menschheit nutzen. Wir müssen Konzepte dafür entwickeln, wie Technologie nicht kurzfristigen Profiten nutzt, sondern vernünftig, energieschonend und den Lebensstandard erhaltend zum Einsatz kommen kann. Der sich beschleunigende Klimawandel muss bekämpft werden. Deutschland und Europa kommt hierbei die Pflicht zu, Treibhausemissionen drastisch zu senken. Gleichzeitig haben wir die finanziellen Möglichkeiten, den ökologischen Umbau unserer Energiewirtschaft und unserer industriellen Landschaft voranzutreiben. Notwendig wird eine rasche Steigerung der Energieeffizienz im privaten, im kommerziellen sowie im industriellen Bereich.
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Bei der Energieerzeugung liegt die Zukunft in den erneuerbaren Energien. Für den Übergang in das »solare Zeitalter« – basierend auf Windkraft, Solarenergie, Wasserkraft, nachhaltiger Biomasse und weiteren fortschrittlichen Energieträgern – brauchen wir jedoch Brückentechnologien. Da wir die risikoreiche und letztendlich teure Atomenergie ablehnen, verbleiben hierfür einzig die fossilen Energieträger Kohle, Gas und Erdöl. Um diesen Wandel zu ermöglichen, muss die Energiewirtschaft grundlegend umgestaltet und in öffentliche Verantwortung überführt werden. Die Erfahrungen mit den liberalisierten Energiemärkten zeigen, dass diese weder zu ökologischem Fortschritt noch zu günstigeren Preisen geführt haben. Um eine dezentrale und damit ökologischere Energieversorgung bei gleichzeitig bezahlbaren Preisen aufzubauen, ist daher eine Verstaatlichung der zentralen Energieumwandlung und der Übertragungsnetze sowie eine Rekommunalisierung der lokalen Energieumwandlung, der Energieverteilung und -belieferung notwendig. Essenzieller Bestandteil gesellschaftlicher Teilhabe ist Mobilität. Diese muss für alle gewährleistet werden. Dabei kommt dem öffentlichen Personennahverkehr eine besondere Rolle zu, und er muss als Element der öffentlichen Daseinsvorsorge erhalten, gefördert und ausgebaut werden. Die Bildungsanstrengungen im ökologischen Bereich müssen entscheidend verbessert werden. Nur wer ausreichend informiert ist, kann am technischen Fortschritt teilhaben und im eigenen Interesse einen Beitrag zur Energieeffizienz leisten. Alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche müssen natürliche Ressourcen auf möglichst effiziente Art und Weise nutzen. Ökologische Industriepolitik stellt für uns einen richtigen Ansatz dar. Neben der kontinuierlichen Modernisierung bestehender Wirtschaftszweige müssen zusätzliche fortschrittliche Technologien von staatlicher Seite aktiv gefördert werden. Die Rolle des Staates als Pionier ist hierbei von entscheidender Bedeutung. Wir verwahren uns gegen Maschinenstürmerei in dem Glauben,
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eine Lösung der Umweltproblematik sei nur durch den Verzicht auf erreichten Lebensstandard und technischen Fortschritt möglich. Genauso verwahren wir uns gegen einen undifferenzierten, quasireligiösen Glauben, dass technischer Fortschritt automatisch die Lösung der Umweltproblematik mit sich bringe. Es kommt erstens darauf an, unkalkulierbare Folgen des technologischen Fortschritts zu benennen und zu begrenzen, und zweitens, den Fortschritt in einem aufklärerischen, vernünftigen Sinne zum Wohle der Menschheit zu nutzen. Dies schließt seine umweltpolitischen Auswirkungen mit ein.
10. Zum Finale These 63 Kollektiv und Individuum »Alle unsere Bemühungen um Befreiung waren bedingt vom Versuch, die Vorherrschaft der Autoritäten abzuwerfen und endlich dorthin zu gelangen, wo wir selbst zu urteilen und zu bestimmen hatten. Dabei gerieten wir immer wieder vor die von oben, die uns erklärten, wir wüssten nicht, was das Richtige für uns sei und dass deshalb die Führung für uns handeln müsse … Dies ist es, was ich sagen wollte. Dass keine Gleichheit vorhanden ist. Dass wir immer, so sehr wir uns auch um Unabhängigkeit bemühen, auf jemanden stoßen, der uns vorschreibt, was wir zu tun haben. Dass wir unaufhörlich reglementiert werden. Dass alles, was uns vorgesetzt wird, noch so richtig sein kann, und dass es doch falsch ist, solange es nicht von uns, von mir selbst kommt.« Peter Weiss
Sozialistische Politik bei den Jusos stellt das Individuum vor Schwierigkeiten, mit denen wir solidarisch und unterstützend umgehen müssen. SozialistIn zu sein heißt heute, in der Gesellschaft eine AußenseiterInnenrolle einzunehmen. Viele politische Kämpfe werden aus der Defensive geführt und/oder verloren. Die
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Auseinandersetzung mit dieser Schwierigkeit sollte nicht nur individuell erfolgen, sondern gehört auch zu einer solidarischen, gemeinsamen politischen Arbeit. Die Praxis sozialistischer Politik hat einen Moment von Befreiung, weil sie zeigt, dass über Grenzen unserer Gesellschaft hinausgedacht werden kann. Es zeigt, dass es auch andere Menschen gibt, die ebenfalls die Verhältnisse überwinden wollen, deren Schranken jedes Individuum irgendwann im Laufe seines Lebens zu spüren bekommt. Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kollektive auch Zwang und Druck ausüben können. Das Spannungsverhältnis von Kollektiv und Individuum ist uns bewusst, kann jedoch zu keiner Seite hin aufgelöst werden. Politik braucht die Organisierung im Kollektiv und braucht das selbstbestimmte Individuum. Gemeinsam sozialistische Politik zu machen hat auch deshalb ein befreiendes Moment, weil in ihr bereits auch überwunden werden kann, was wir bekämpfen. Bewertungen von Menschen nach kapitalistischer Leistungslogik, Ausgrenzung aufgrund sexueller Orientierung, Sexismus und andere Diskriminierungsformen haben bei uns keinen Platz. SozialistInnen in der SPD leben im Widerspruch. In der Partei werden SozialistInnen häufig als Linksaußen wahrgenommen. Innerhalb der gesellschaftlichen Linken sehen wir uns vielerorts dem Vorwurf des Opportunismus ausgesetzt. Ersteres birgt die reale Gefahr der Anpassung an vermeintliche machtpolitische Zwänge. Dabei geht es nicht darum, pauschal Vorwürfe gegen Individuen zu erheben. Vielmehr müssen wir Strukturen schaffen, in denen dieser Gefahr begegnet werden kann. Das bedeutet vor allem, verbindliche und kollektive Zusammenhänge zu schaffen, die dem Anpassungsdruck innerhalb von parteipolitischen Strukturen entgegenwirken können. Zweiteres, das heißt der Opportunismusvorwurf, birgt die Gefahr des Rückzugs aus der gesellschaftlichen Linken. Hier hilft nur
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die Einsicht in die Notwendigkeit des Austausches und der Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Bündnispartnern. Die Auflösung des Widerspruchs lag in der Vergangenheit für einige im Austritt. Das ist ein Trugschluss. Politisch Handeln in der derzeitigen Gesellschaft kann nicht widerspruchsfrei erfolgen, weil wir uns auf Regeln, Mechanismen und Bedingungen einlassen müssen, die nicht die unseren sind. Dies wäre auch in anderen Parteien, Verbänden, Initiativen und Gruppen der Fall. Ohne ein Eingehen auf die Widersprüchlichkeit sozialistischer Politik im Kapitalismus wäre jedoch politisches Handeln in der Gegenwart nicht möglich. Deshalb gilt es, in den Widersprüchlichkeiten tagtäglich darum zu kämpfen, die grundsätzliche Orientierung auf eine andere Gesellschaft zu erhalten und dennoch in der Gegenwart für Veränderungen zu kämpfen. Wir wollen im Hier und Jetzt zeigen, dass Solidarität möglich ist, und in der Überwindung des Kapitalismus Freiheit, Gleichheit und Solidarität verwirklichen. Wir wissen, dass im kapitalistischen System ein freies und selbstbestimmtes Leben für alle Menschen nicht möglich ist. Konkurrenz von Menschen und Staaten, soziale Selektion, eine zunehmende soziale Polarisierung, das Patriarchat, Diskriminierung, Faschismus: Viele gesellschaftliche Realitäten sind so widerwärtig, dass sie nicht zu ertragen sind. Uns ermutigt aber unser Ziel, und unser Wissen um unsere politische Strategie stimmt uns zuversichtlich. Politik ist nie alternativlos. Viele Alternativen kennen wir, andere wollen wir noch entwickeln. Gemeinsam wollen wir unsere Vision verwirklichen: den demokratischen Sozialismus.
Was ist heute links? Franz Müntefering
Links ist für manche eine erstrebenswerte Vision, für andere eine hinreichend diskreditierte Illusion. Links ist für manche Hoffnung auf eine bessere Welt – mindestens auf ein besseres eigenes Leben –, für andere die Verleugnung der Realitäten in dieser Welt. Links ist für manche ein stolzes Banner, für andere ein grobes Schimpfwort. Den einen ist es ein Glaube, den anderen eine Ketzerei. Im Parlament links zu sitzen zieht seit Beginn der französischen Nationalversammlung den Stolz der einen und die Geringschätzung der anderen nach sich. Da spiegelt sich auch die alte biblische Ordnung: Die Gerechten sitzen im Himmel zur Rechten. Kein Vorwurf an den Evangelisten Matthäus: Er kannte die parlamentarische Sitzordnung noch nicht. Und immerhin sitzen bei ihm die Schafe zur Rechten und die Böcke zur Linken. So schlecht hört sich das ja nicht an. Ein Glück auch, dass die besagte Nationalversammlung nicht kreisrund war, denn dann wäre noch unbestimmter, wo denn eigentlich Links und wo Rechts ist. So sitzt die SPD links, Mitte-links, im Bundestag. Das trifft es, denn das entspricht unserem Selbstverständnis als linke Volkspartei, die die Mitte nicht den Rechten überlässt. So ideengeschichtlich jung und politgeografisch willkürlich interpretierbar die Linke und das Linke sind, so schillernd wunderkerzenhaft kommen sie manchmal daher, und so bierernst fundamentalistisch auch.
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Unter dem Strich bleibt: Links ist als Wort eine Formel, die die Zuversicht in die Gestaltbarkeit der Dinge zum Inhalt hat – und den konsequenten Willen zum Fortschritt auch. Das ist viel, das ist entscheidend. Denn dieser Wille zum Fortschritt hat sich durchgesetzt. Nicht nur für Physik oder Chemie gelten allgemeingültige Naturgesetze, sie prägen auch das Miteinander der Menschen, die Gruppe, die Gesellschaft: Macht hatte der Stärkste, solange er der Stärkste war. Der Schwache war schwach und abhängig von der Barmherzigkeit des Starken. Diese Naturgesetze sind nicht außer Kraft gesetzt, aber sie sind durch den Gesellschaftsvertrag der Freien und Gleichen – mindestens partiell – domestiziert. So bescheiden und so großartig ist der Stand der Dinge. Fortschritt ist möglich. Aber: Wie nun weiter? Was ist heute links?
Links ist Freiheit! Willy Brandts Wort gilt: »Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit. Die Freiheit für viele, nicht nur für die wenigen. Freiheit des Gewissens und der Meinung. Auch Freiheit von Not und von Furcht.« Ein anspruchsvolles linkes Vermächtnis. Natürlich: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Diese Grundwerte sind linker Konsens. Aber gerade weil sie so selbstverständlich sind, haken Linke diese Wahrheiten zu schnell zustimmend ab und wenden sich der Gesellschaft zu. Denn – richtig – Politik fängt bei der Gesellschaft an. Trotzdem: Vor der Gesellschaft kommt das Individuum. Das Individuum steht im Zentrum der linken Idee. »Die Sozialisten streben eine Gesellschaft an, in der jeder Mensch seine Persönlichkeit in Freiheit entfalten und als dienendes Glied der Gemeinschaft verantwortlich am politischen, gesellschaftlichen und kulturellen
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Leben der Menschen mitwirken kann«, heißt es gleich zu Beginn des Godesberger Programms. Es ist nicht lange her, dass in Deutschland eine Mauer und damit eine Grenze fiel und eine Diktatur endete und Freiheit ganz real wurde. Es ist länger her, dass in Deutschland öffentliche Schulen, Sozialsysteme, die Gleichstellung von Mann und Frau, der Schutz von Minderheiten, eine unabhängige Justiz Wirklichkeit wurden – das Maß an Freiheit sich erweiterte über das hinaus, was es vorher je gab in diesem Land. Klar ist heute: Freiheit ist der unbedingte Respekt vor dem Individuum, vor jedem einzelnen Menschen in gleicher Weise. Die Linke hat keinen guten Grund, die Freiheit als die Idee vom Individuum denen zu überlassen, die das Liberale in ihrem Namen führen. Dass die Gedanken frei sind, weil niemand sie erraten kann, das wussten und sangen die Liberalen, bevor es die demokratischen Sozialisten gab. Aber die Freiheit der Gedanken genügt dem Anspruch der sozialdemokratischen Idee nicht. Linke wollten die Freiheit immer schon real, so wie Willy Brandt sie beschreibt. Freiheit ist kein Luxus, der im Zweifelsfall entbehrlich ist. Freiheit ist nicht das Sahnehäubchen auf der sozialen Gerechtigkeit, sondern ihre Basis. Freiheit ist auch der Ausgangspunkt für den individuellen Lebensentwurf, der für jede und jeden Einzelnen das Wichtigste überhaupt ist. Ohne diese Ich-Bezogenheit, ohne diese Grundausstattung mit Egozentrik ist niemand. Aber das schließt solidarisches Handeln nicht aus. Starke Individuen, die selbstsicher sind und selbstbewusst, sind deshalb noch längst keine Egoisten, sondern oft eher zur Solidarität fähig als andere. Individualismus und sozial und solidarisch bestimmtes Handeln sind keine Gegensätze. Das Bescheidwissen, das Wählenkönnen, das Sich-nicht-verstecken-Wollen, das Betroffensein, das Besser-machen-Wollen, das Sich-nicht-Abfinden – darum geht es eben auch, wenn Linke von der Freiheit sprechen. Deshalb haben sie am Anfang Arbeiter-
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bildungsvereine gegründet. Sie wussten: Wenn man will, dass die Menschen mitreden können, dann muss man dafür sorgen, dass sie Bildungschancen haben. Bildung ist keine abgeleitete Größe aus dem Bedarf der Ökonomie, der Volkswirtschaft, sondern sie ist zuerst Menschenrecht – für jeden Menschen, für jedes Kind. Bildung ist die Grundlage der Aufklärung und der Freiheit. Der Appell, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, steht am Anfang. Freiheit wird so zur Selbstgewissheit in den Unsicherheiten des Lebens und der Welt. Sie ist spannend, aber nicht leicht – doch auch nicht triefend vor Bedeutungsschwere. Freiheit geht den aufrechten Gang, ist voller Zuversicht und nicht laut.
Links ist Gerechtigkeit! Gerechtigkeit ist Grundlage der Freiheit. Alle Menschen haben Anspruch auf gleiche Rechte und gleiche Freiheit. Dies gewährleisten zu helfen ist Aufgabe linker Politik: durch faire und gleiche Chancen zur Teilnahme und Teilhabe aller – heute und morgen – an Bildung, Arbeit, Wohlstand, Kultur und Demokratie. Gerechtigkeit ist nicht Garantie für Gleichheit im Ergebnis. Aber sie meint gleiche Ausgangs- und Zugangsbedingungen, faire Chancen und eine soziale Absicherung für Lebensrisiken. Der Staat muss gleiche Rechte und Schutz für alle garantieren, er muss auf soziale Gerechtigkeit und gerechten Ausgleich und Garantie der körperlichen Unversehrtheit immer wieder neu hinwirken. Das ist die feste Überzeugung der Linken: Wir helfen jedem, wir lassen niemanden zurück. Wir organisieren Gesellschaft so, dass sich jeder entfalten kann, auch hinfallen – und wieder aufstehen und weitermachen. In Gerechtigkeit steckt auch Rechnen. Wer statistisch denkt, der überlegt vor allem, wie er Vorhandenes anders und besser verteilen kann. Und ohne das geht es auch nicht. Soziale Gerechtigkeit ist eben auch Verteilungsgerechtigkeit – und das erfordert kon-
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krete Entscheidungen. Aber Gerechtigkeit ist doch auch wesentlich mehr als eine Verteilungsfrage. Sie ist Chancengerechtigkeit. Sie ist Geschlechtergerechtigkeit. Sie ist Generationengerechtigkeit. Es gibt viele Fragen nach Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft. Linke lassen nicht nach, sie zu stellen. Denn Ungerechtigkeit ist eine Provokation, sittenwidrig niedrige und sittenwidrig hohe Löhne zum Beispiel. Aber auch die Hypotheken für die kommenden Generationen. Denn mindestens seit Hans Jonas wissen wir: Auch für die tragen wir Mitverantwortung
Links ist Solidarität! Die Kraft der Solidarität ist Grundlage und zentrale Erfahrung der Arbeiterbewegung. Unsere Vorväter haben Gewerkschaften und Genossenschaften und Vereine gegründet, um Solidarität aus der Begrenztheit des Zufalls zu lösen und sie zur verlässlichen Regel zu machen. Heute ist diese linke Variante von Solidarität gesellschaftliches Organisationsprinzip. Sie ist akzeptiert, auch wenn manche eher von »Zusammenhalt« sprechen, weil das moderner klingt. Wir scheuen das alte Wort nicht: Wer in Not gerät, muss sich auf die Solidarität der Gesellschaft verlassen können. Menschen für Menschen. Generationen für Generationen. Das ist das Prinzip, nach dem wir unser Zusammenleben und unsere sozialen Sicherungssysteme solidarisch organisieren. Pflichten und Rechte. Nur eine Gesellschaft, in der die Menschen bereit sind, einander zu helfen, ist auch eine menschliche Gesellschaft und eine Gesellschaft, in der dauerhafter Wohlstand möglich ist. »Gemeinsam sind wir stark« – das ist eine mitmenschliche, aber auch eine ökonomische Wahrheit. In einer relativ einheitlichen Gruppe ist Solidarität leicht. Schwieriger wird es, wenn die Verhältnisse bunter und ungleichgewichtiger werden. Deshalb ist für linke Politik die Organisation
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von Solidarität heute noch wichtiger als früher. Wenn die Möglichkeiten wachsen, dann schwinden auch die Gemeinsamkeiten. Wer heute für nachhaltige und ökologische Politik streitet, damit unser Planet nicht zerstört, sondern erhalten wird, der weiß, dass Solidarität trotz aller Schwierigkeiten auch über die eigene Generation und über die eigenen Landesgrenzen hinaus gelten muss. Wir wissen, dass Solidarität aus der Einsicht der Freien wachsen muss. Zur solidarischen Gemeinsamkeit kann man nicht dauerhaft zwingen. Linke müssen überzeugen. Auch durch eigenes Handeln.
Links ist Fortschritt! Seit es Menschen gibt, gibt es welche, die sich nicht abfinden mit den Dingen, wie sie sind. Die auf Veränderung und auf Verbesserung setzen. Menschen, die den Fortschritt wollen. Das waren die Linken, auch wenn sie sich anfangs nicht so nannten. Linke wollen die Zukunft gewinnen. Wir wollen vorwärts. Die Philosophen sagen uns: Die Welt ist, wie sie ist. Die Menschen sind, wie sie sind. Fortschritt gibt es nicht. Wir sagen: Wir wollen ihn trotzdem. Das ist mühsam. Das ist anstrengend. Aber es lohnt sich. Dabei wissen wir: Fortschritt kann auch wieder zerrinnen. Auf immer sicher ist nichts. Zwei große Fortschritte von menschheitsgeschichtlicher Dimension haben sich bis heute durchgesetzt, das Soziale und das Demokratische. Sie sind Errungenschaften, gegen die kein Aufgeklärter – und wer möchte das nicht sein? – offen anzugehen wagt. Sie erfahren breite Zustimmung. Aber sie bleiben gefährdet und müssen verteidigt werden. Möglich ist das. Denn mit ihnen sind linke Pflöcke gesetzt, mit deren Hilfe wir die Landgewinne sichern und von denen aus wir weiter Boden gutmachen können. Die Linke braucht die Gewissheit des Erreichten und den Mut der Zuversicht. Wer das, was er hat, nicht festigt und populär macht, nur weil er
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noch nicht alles hat, der wird niemals alles gewinnen. »Alles oder nichts« ist kein linkes Prinzip. Die linke Idee setzt auf Schritte, auf Reformen. Die Frage ist erlaubt: Wo ist der Stolz der Linken auf das, was wir den Naturgesetzen schon abgetrotzt und abgekämpft haben? Zum Beispiel so etwas scheinbar Selbstverständliches wie unseren Gesellschaftsvertrag, unser Grundgesetz. Es ist weniger konsequent als Das Kapital, aber verständlicher und handlungsorientierter – und aufregend anspruchsvoll. Ein Ausgangspunkt für mehr. Für weiteren Fortschritt.
Links ist Soziales! Der Fortschritt des Sozialen beruht auf der großen Idee, dass sich derjenige, der Hilfe braucht, auf die organisierte Solidarität des Sozialstaats verlassen kann. Der Sozialstaat ist der Garant für das soziale Versprechen, das wir geben. Er basiert nicht auf Mitleiden, sondern auf konkreten Pflichten und Rechten. Nicht auf Aktien, sondern auf der Verantwortung füreinander. Jeder hat – auf Basis seiner unveräußerlichen Würde – einen Anspruch auf Unterstützung in existenziellen Lebenskrisen, aber auch die Verpflichtung, diese Unterstützung nicht zu missbrauchen und sie auch anderen zu garantieren. Niemand fällt in Deutschland ins Bodenlose, weil er arbeitslos oder krank wird, einen Unfall hat oder in den Ruhestand geht. Sozialstaat und soziale Sicherungssysteme sind ökonomisch sinnvolle Risikostrukturausgleiche. Sie zu schwächen ist töricht. Der Sozialstaat gibt verlässliche Sicherheit auch im Wandel. Aber er muss sich auch wandeln, um diese Sicherheiten künftig noch zu gewährleisten. Den Sozialstaat erstritten und ins Grundgesetz – Artikel 20 – gebracht zu haben ist auch eine große sozialdemokratische Leistung. Dieser Staat ist die vereinbarte Form der gesellschaftlichen Ord-
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nung in unserer Demokratie. Wir haben es uns in Deutschland aber in den letzten Jahren oft unnötig schwer gemacht, diesen Fortschritt zu verteidigen. Viele Menschen trauten dem Staat nicht mehr so recht. Da ändert sich gerade etwas. Mir ist das sehr recht. Das Soziale kann auf Dauer ohne den Staat nicht gesichert werden. Er ist das Instrument, mit dem sich eine Gesellschaft organisiert. Er steht deshalb auch nicht über einer Gesellschaft oder gegen sie. Er hilft dem Einzelnen und der Einzelnen dabei, ein Leben in Würde zu führen. Er regelt das Miteinander. Ohne soziale Gesellschaft allerdings bleibt der Sozialstaat unvollkommen. Die Bereitschaft der Menschen, einander zugewandt zu sein, zu helfen und sich helfen zu lassen und sich in der Gesellschaft zu engagieren – das ist der eigentliche soziale Kitt. Der ist nicht nur links, aber unverzichtbar. Die soziale Gesellschaft wird vor allem auch konkret vor Ort realisiert. Die Gestaltung des Kommunalen ist Aufgabe der Linken.
Links ist Demokratie! Die Idee der Demokratie, der Herrschaft des Volkes, ist alt – älter als die Idee der Linken. Aber erst die Linken haben durchgesetzt, dass alle Menschen als gleichwertig erkannt und anerkannt sind. Keiner soll sich bücken müssen vor dem anderen. Demokratinnen und Demokraten begegnen sich auf gleicher Augenhöhe: keiner Herr und keiner Knecht, sondern Bürgerinnen und Bürger, die in diesem Land als Freie und Gleiche – demokratisch – miteinander leben wollen. Linke wollen einen demokratischen Staat. Ohne einen Staat ist Demokratie nicht zu haben. Erst wenn der Staat errichtet ist und die dazugehörigen Bürgerrechte gesichert sind, kann Demokratie lebendig werden. Wenn 82 Millionen Menschen mit ihren Überzeugungen und Interessen zusammenleben wollen, dann brauchen sie dafür Regeln.
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Der Kampf für die Demokratie war schwer und hat viele Opfer gefordert. Heute ist uns Demokratie selbstverständlich. Fast zu selbstverständlich. Denn sie muss immer wieder neu garantiert werden. Demokratie ist kein Naturgesetz, sie ist nicht sicher vor Feinden und nicht vor gedankenlosen Ignoranten. Sie braucht vernünftige Organisation. Sie braucht aber vor allem Demokratinnen und Demokraten, die Demokratie wollen und sie leben, im Staat und in der zivilen Gesellschaft. Die sie schützen und sie durchsetzen, die ihr zu ihrem Recht verhelfen. Heute haben wir uns an die Demokratie gewöhnt. Sie ist stabil, kein Zweifel, und Demokratiefeinde haben heute in Deutschland keine Chance. Aber Demokratie braucht nicht nur Gewöhnung, sie braucht vor allem Lebendigkeit. »Mehr Demokratie wagen«, das ist das Credo der Linken. Lebendige Demokratie wagen erst recht. Demokratie ohne Parteien funktioniert nicht. Sie bündeln die Interessen und wirken an der Willensbildung mit, wie das Grundgesetz es vorsieht. Kein Alleinvertretungsanspruch, aber Verantwortung für das Ganze. Keine Parteiendemokratie. Aber wer etwas bewegen will, der geht in der Demokratie in eine Partei. Wir sagen: am besten in die SPD. Partei bewegt und ist Bewegung. Die SPD ist Zentrum und Motor der sozialdemokratischen Idee; sie ist die linke Volkspartei.
Links ist Internationalität! Der Internationalismus der Arbeiterbewegung ist eine gute Tradition – und er ist akut. Linke Ziele gelten global. Unser Gestaltungsanspruch ist deshalb nicht auf den Nationalstaat begrenzt: Wir bleiben Internationalisten; wir helfen weltweit gegen Not und Elend und Seuchen, gegen Gewalt und Diskriminierung. Wir kämpfen weltweit für Freiheit. Globalisierung der sozialen Demokratie – das ist ein Ziel unserer Politik im 21. Jahrhundert. Nicht
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weil wir größenwahnsinnig wären, sondern weil wir wissen, dass die menschengerechte Gestaltung von Demokratie und sozialer Macht einen internationalen Rahmen braucht. Und weil wir unsere internationale Mitverantwortung bejahen. Wir bestehen auf dem Primat der Politik. Und wissen doch auch: Staatliche Politik und Nichtregierungsorganisationen müssen sich nicht im Weg stehen. Im Gegenteil. Es gibt gute Beispiele und triftige Gründe, ihr Zusammenwirken zu intensivieren. Denn wenn das Kapital weltweit unterwegs ist, wenn Informationen auf Knopfdruck um den Globus gehen und Konzerne längst alle Grenzen überwinden, dann darf Politik nicht danebenstehen und im Nationalstaat verharren. Wir brauchen internationale Organisationen, die die Spielregeln verändern und menschliche Standards setzen. Diese Organisationen gibt es im Ansatz, aber sie funktionieren noch nicht so, wie es sein sollte. Wir wollen helfen, dass das anders wird. Europa vorne an.
Links ist Frieden! Linke wollen friedliche internationale Zusammenarbeit. Wir sind eine Friedenspartei. Aber wir sind nicht pazifistisch. Wir sind bereit, unter dem Dach der UNO zur Verhinderung von Völkermord auch militärische Mittel einzusetzen. Wir stehen auch für ein Deutschland, das aus den furchtbaren Verbrechen, die es in zwei Weltkriegen und im Holocaust begangen hat, richtige Schlüsse gezogen hat. Deshalb sind wir bereit zur internationalen Verantwortung. Ursachen gewaltsamer Auseinandersetzungen vorzubeugen oder sie zu bekämpfen kann nötig sein, manchmal unverzichtbar. Aber wo massive Gewalt droht, muss es auch den geben, der dem Kain in den Arm fällt. Gewalttäter müssen wissen und erfahren, dass Wehrhaftigkeit Teil der Mitmenschlichkeit und der Demokratie ist. Das Gewaltmonopol des demokratischen Staates oder der Völkergemeinschaft ist nicht entbehrlich.
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Wir streben den Frieden an und sehen an Europa, dass er möglich ist. Seit über 60 Jahren herrscht Frieden, wo sich früher die Völker bekämpft und gemordet haben. Europa ist Friedensregion geworden, auch weil es eine soziale Macht ist. Diese Idee zu verwirklichen gehört mit zu den größten Projekten, die Politik jemals erdacht und begonnen hat. Einen Startschuss hat die SPD 1925 mit dem Heidelberger Programm gegeben und der Forderung, die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen. Europa ist heute das Projekt all derer, die eine Zukunft in Frieden und Wohlstand organisieren wollen. Die Gewerkschaften sind mit dabei. Es kann gelingen. Wir dürfen zuversichtlich sagen: Frieden und Freiheit sind starke Ideen, die sich durchsetzen, wenn wir den Menschen die Chance geben, sie auch zu leben.
Links ist Pragmatismus! Der Kerngedanke der sozialdemokratischen Bewegung war und bleibt die Emanzipation des Einzelnen. Die Befreiung der Köpfe zuerst; die Befähigung des Einzelnen zur Freiheit. Dabei gab es lange Zeit eine Diskrepanz zwischen dem programmatischen und dem praktischen Teil sozialdemokratischen Wirkens. Die einen erstrebten das Paradies auf Erden irgendwann, die anderen stritten für Kaffeepausen jetzt. Heute – mindestens seit Godesberg 1959 – wissen wir es besser: Freiheit ist nicht Ziel einer freien Gesellschaft irgendwann, eine Utopie einer fernen Zukunft. Freiheit ist Weg und Ziel in gleicher Weise. Und zwar in jedem Menschen, und zwar jetzt. Wir wollen die Freiheit, die durch soziale Gerechtigkeit ermöglicht wird und die in Solidarität mündet. Im Hamburger Programm haben wir geschrieben: »Nicht Systeme, sondern Menschen ändern die Verhältnisse. Eine bessere Zukunft kommt nicht von selbst, sie muss erdacht und erstritten werden. Eine Partei kann immer nur so stark sein wie die Menschen, die ihre Werte teilen und ihre Ziele unterstützen.« Das
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bleibt unser Anspruch: Nicht Amboss, sondern Hammer, nicht Objekt, sondern Subjekt des Handelns sein, nicht passiv erleiden, sondern aktiv gestalten; nicht das Gewordene verwalten, sondern unsere Gesellschaft verändern und erneuern. Soziale Demokratie eben als Ziel und Weg. Die Sozialdemokratie ist die Verantwortungs-Linke und die Gestaltungs-Linke unseres Landes, mit Leidenschaft in der Sache und Verantwortung fürs Ganze und mit Augenmaß für das Machbare. Es geht um pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken, wie Helmut Schmidt das genannt hat. Wir wollen eine menschliche Gesellschaft, in der jeder Mensch nach seinem Willen und seinen Fähigkeiten frei leben kann und in der alle Menschen in ihrer Verantwortung am Gelingen des gesellschaftlichen Zusammenhalts mitwirken können. In dieser Gesellschaft sind wir die solidarische Bewegung, in der viele Einzelne zusammenhalten und zusammenarbeiten, um die Verhältnisse zum Besseren zu wenden. Das ist links!
Generationengespräch Franziska Drohsel im Gespräch mit Andrea Nahles, Benjamin Mikfeld, Niels Annen und Björn Böhning.
Franziska Drohsel: Jede Zeit hat ihre speziellen Herausforderungen. Gesellschaftliche Situationen wirken auf einen linken Jugendverband, da für sie nicht nur eine Analyse, sondern auch eine politische Strategie entwickelt werden muss. Was waren die gesellschaftlichen Herausforderungen zu eurer Zeit als Juso-Vorsitzende und wie habt ihr auf diese politisch reagiert? Andrea Nahles: Meine Zeit als Juso-Vorsitzende von 1995 bis 1998 war politisch und auch ideologisch eine interessante. Der damalige SPD-Vorsitzende Lafontaine hat versucht, die politischen Mehrheiten und die ideologische Deutungshoheit für die SPD zurückzugewinnen, indem er eine makro-ökonomische, globalisierungskritische Diskussion begonnen hat, noch bevor das sonst jemand auf dem Schirm hatte. Aber in guter Tradition hatten wir Jusos mit unserem Parteichef auch ständig Stress, zum Beispiel wegen der Asylfrage und der doppelten Staatsbürgerschaft – da hatten wir einen echten Konflikt. Denn hier war Lafontaine der beste Freund von Otto Schily. Aber in der Einschätzung der ökonomischen Fragen, bei der Kapitalismuskritik war er unser Verbündeter. Und das Witzige war, er hatte 93 Prozent der SPD hinter sich. Das war jedenfalls das letzte Ergebnis, das er als SPD-Vorsitzender bekam. Dass sich die Jusos während meiner Zeit als Vorsitzende so gut
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entwickeln konnten, lag daher auch daran, dass es bis 1998 plötzlich wieder ideologische und programmatische Anknüpfungspunkte gab. Man war nicht in der Defensive. Ich fühlte mich in einer Aufholjagd um die Deutungshoheit, und mit dem Wahlsieg schien sich das zu bestätigen. Wir hatten gewonnen. Diese Zeit Ende der 90er Jahre ist in Vergessenheit geraten, weil es in der Regierungsverantwortung, Stichwort SchröderBlair-Papier, im Grunde genommen eine Revision gab. Ob diese ganze Revision von langer Hand geplant war, wage ich – ehrlich gesagt – zu bezweifeln. Es war auch teilweise das gesellschaftliche Gesamtklima im kurzen New-Economy-Boom. Der damalige Zeitgeist spiegelte sich zum Beispiel in Sätzen wie: »Wir brauchen keinen Betriebsrat mehr, wir haben ja eine Tischtennisplatte im Büro stehen. Wenn wir Probleme haben, spielen wir da ’ne Runde.« wieder. Solche Interviews konnte man lesen. Anschließend folgte eine mehrjährige Stagnation. Das hat den Agendaprozess ausgelöst. Benny Mikfeld: Das würde ich – auch im Rückblick – etwas anders sehen. Außerhalb Deutschlands gab es gegen Ende der 80er Jahre Versuche des aufgeklärten Marxismus – ich denke an Stuart Hall oder auch an Chantal Mouffe und Ernesto Laclau –, der Linken ins Stammbuch zu schreiben, die progressiven Potenziale der sozioökonomischen Veränderungen in ihre Strategie einzubeziehen. Der Wandel der Arbeitswelt, technologische Entwicklungen, aber auch gesellschaftliche Liberalisierungen haben Menschen von alten Zwängen befreit – und zweifellos neue Zwänge geschaffen. Aber der starke Wunsch nach Individualität und Selbstverwirklichung war und ist da. Er kann im Prinzip vom Neoliberalismus ebenso wie von der Linken politisch adressiert werden. Die um 1970 Geborenen wurden schon heftig vom Neoliberalismus erwischt, bei den Jüngeren sieht’s wieder besser aus. Aber all diese Beiträge sind in der deutschen Linken in den 90ern weitgehend in Vergessenheit geraten. Zu sehr hat man sich unter dem Druck des Neoliberalismus in eine konservative Ecke
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drängen lassen. Andrea hat Lafontaine angesprochen. Der hat aber immer gesagt, modern (Betonung auf der zweiten Silbe) käme von (ver)modern (Betonung auf der ersten Silbe) – das war diskurspolitisch hochgradig unsinnig. Daher finde ich auch, dass es sich die Linke mit ihrer meist sehr schlichten Neoliberalismuskritik zu leicht gemacht und die eigenen Defizite zu wenig reflektiert hat. Wir haben damals den Begriff von Stuart Hall von den »New Times« aufgegriffen und unter dem Motto »Neue Zeiten denken« versucht, eine dezidiert linke Modernisierungsstrategie zu entwickeln. So waren wir beispielsweise der Meinung, dass es kein Zurück zu einer Arbeitgesellschaft gibt, die dem Takt und der Logik der alten (wie man damals sagte: fordistischen) Industriegesellschaft folgt: Weil die ökonomischen Voraussetzungen andere sind und ein großer Teil der Bürger das auch gar nicht wollte. Daraus resultierte die Überlegung, dass der Sozialstaat diese Veränderung nachvollziehen muss, und wir haben beispielsweise die Idee entwickelt, die bisherige Arbeitslosenversicherung in eine – auch brüchigere Erwerbsbiografien absichernde – Arbeitsversicherung zu reformieren. Zehn Jahre später ist das Vorhaben Beschlusslage der SPD und wird von der inzwischen stellvertretenden Parteivorsitzenden Andrea Nahles konzeptionell konkretisiert. Und darin sind wir uns dann natürlich wieder völlig einig. Niels Annen: Ökonomisch bestand ja damals eine völlig andere Ausgangsposition als heute. Wer heute die Debatte im Bundestag gehört hat, vermag sich das kaum vorzustellen, aber die ökonomische Debatte wurde damals fast ausschließlich von neoliberalen Ökonomen geführt. Die Jusos waren mit ihren Positionen, obwohl die SPD Regierungspartei war, in der Defensive. Nach 16 Jahren Opposition hatte sich bei vielen Jusos eine starke Binnenfixierung ergeben. Der eigene Bedeutungsverlust wurde durch besonders starke Strömungsauseinandersetzungen zu kompensieren versucht. 2001 wurde ich zum Juso-Bundesvorsitzenden gewählt, zu
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einer Zeit, die politisch von der Debatte um die Agenda 2010 dominiert war. Aber auch in der Außenpolitik wurden wir nach dem 11. September brutal mit den Zwängen der Regierungsverantwortung konfrontiert, als der Bundeskanzler wegen Afghanistan die Vertrauensfrage stellte. Dieser Schritt war schon für die SPD extrem schwierig und wirkt – wie wir wissen – bis heute nach. Für die Jusos stellte sich die Lage nachträglich noch viel dramatischer dar. Infolge der Auseinandersetzung um die Agenda 2010 verließen viele, die für uns traditionell Ansprechpartner in der Parteiorganisation gewesen waren, die SPD. Heute wird die Geschichte ja umgeschrieben. Ich hatte vor Kurzem eine Diskussion, bei der Uwe-Karsten Heye sagte, er sei stolz darauf, in dieser Zeit mitgewirkt zu haben, in der wir dafür gekämpft hätten, unter dem Druck der Globalisierung den solidarischen Sozialstaat zu erhalten. Nun will ich nicht sagen, dass der eine oder andere dies nicht im Kopf gehabt haben mag. Der damalige Diskurs war jedoch ein völlig anderer. Daran darf erinnert werden. Björn Böhning: Ich wurde zum Bundesvorsitzenden gewählt, da befanden wir uns auf dem Höhepunkt der innerparteilichen Auseinandersetzung um die Agenda 2010. Meinen Mitstreitern und mir war klar, dass diese Auseinandersetzung auch an den Jusos nicht spurlos vorbeigehen würde. Denn natürlich war der Konflikt um die Agenda auch eine Art Stellvertreterkrieg dafür, welche Konsequenzen die SPD aus verschiedenen gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen zieht. Es ging um die Frage, ob die Globalisierung gestaltbar ist oder nur hingenommen werden muss. Es ging um die Frage, ob der demografische Wandel den Sozialstaat insgesamt infrage stellt oder ebenfalls gestaltbar ist. Und es ging auch um die Frage, wie der Wandel der Erwerbsgesellschaft politisch bearbeitet werden muss, damit Leistung und Absicherung beziehungsweise Entlohnung in ein richtiges Verhältnis gesetzt werden. Das waren wahnsinnig harte Auseinandersetzungen, in
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denen die Jusos heftigen Widerstand erfahren haben. Nicht selten war ich als Bundesvorsitzender im Parteivorstand massiven Angriffen ausgesetzt; man fühlte sich mit Argumenten, die heute sozialdemokratisches Allgemeingut sind, fast im linkssektiererischen Lager. Aber auch im Verband selbst kamen immer mehr ultrapragmatische junge Leute zu uns, die die Politik Gerhard Schröders super fanden. Mit ihnen zu diskutieren, sie zu überzeugen und in den Verband zu integrieren, das war eine große Herausforderung. Gerade auch für diejenigen, die sich an bestimmte Traditionen und Verbandskulturen gewöhnt hatten und nicht mehr gewohnt waren, dass ihr eingespieltes Argument plötzlich auch infrage gestellt wird. Diese Zeit des Übergangs war sehr spannend zu beobachten, und wir haben durch eine gute Verbands- und Bildungsorganisation alles dafür getan, dass der Verband gestärkt und nicht geschwächt daraus hervorgeht. Nicht zuletzt die Gründung der Verbandsschule geht auf diese Zeit zurück. Programmatisch haben wir vor allem zwei Stränge verfolgt: Erstens wollten wir den sehr wirkungsmächtigen Diskurs um Generationengerechtigkeit rationalisieren und progressive Potenziale darin wecken. Uns hat es gestört, dass vor allem 55-jährige Politiker, die mit unserer Generation nicht sehr viel zu tun hatten, sich darüber ergossen, was Gerechtigkeit für die junge Generation bedeutet. Es ging dabei um nichts weniger als die kulturelle Deutungshoheit über den Generationenwechsel. Denn angeblich wollte die junge Generation gar keine soziale Absicherung mehr, ein wenig Bildung und die Förderung von Selbstständigkeit würden genügen. Das sahen wir naturgemäß anders. Wir haben dabei an den Ansprüchen junger Menschen an die Gestaltung ihres Lebenslaufs, an die Bildung und Ausbildung, an soziale Absicherung oder auch an die Nachhaltigkeit der Wirtschaftsweise angesetzt. Wir wollten zeigen, dass auch junge Menschen eine passgenaue und präventive soziale Absicherung wollen, dass das Bildungs- und Ausbildungssystem nicht nur unterfinanziert ist, sondern auch qualitativ den Anforderungen nicht mehr
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gerecht wird. Und wir haben deutlich gemacht, dass die Veränderung der Lebens- und Erwerbsläufe junger Menschen neue Anforderungen an den Sozialstaat stellt. Nicht zuletzt bei uns wurde ja auch die Idee der Arbeitsversicherung geboren und in die Partei – bis ins Grundsatzprogramm hinein – getragen. Es ging also weniger um die Gerechtigkeit zwischen den Generationen oder das Schüren eines Verteilungskampfes, sondern um Zukunftschancen für junge Menschen. Dies war letztlich nichts anderes als eine Verteilungsdebatte, in der wir Jusos uns auf die Seite der Jugendlichen gestellt haben, die den Porsche nicht schon vor die Wiege gestellt bekommen haben. Zweitens – und das habe ich zum Teil schon beschrieben – haben wir an der Lebensweise junger Menschen angesetzt, um deutlich zu machen, dass junge Menschen heute ein anderes Verständnis von Sozialstaat, von Familie oder auch von Politik haben. Unser Ziel war es, uns im Zentrum dieser Ansprüche zu positionieren und ein Sprachrohr für einen modernen Sozialstaat oder eine moderne Bildungs- und Familienpolitik zu sein. Franziska Drohsel: Meiner Wahrnehmung nach war der Neoliberalismus in den 90er Jahren auf dem Vormarsch, obwohl die SPD ab 1998 in der Regierung war. Mit allem, was links war, waren wir in dieser ganzen Zeit in der Defensive. Irgendwann entstanden dann leichte Risse – ob es nun die globalisierungskritische Bewegung im Zusammenhang mit Seattle war oder andere Ereignisse. Man merkte dann auch, dass sich die Aufgaben und die Funktionen eines linken Verbandes ändern. Im Neoliberalismus bestand die Aufgabe eher darin, defensiv zu verteidigen. So waren wir immer diejenigen, die gesagt haben, Gewerkschaften sind nicht nur Betonklötze, und man muss mit ihnen reden. Das ist jetzt anders. Der Neoliberalismus ist am Ende. Die wachsende soziale Ungleichheit hat zu einer immer größer werdenden Unzufriedenheit geführt, und die Krise an den Finanzmärkten zeigt jetzt ganz klar, dass das System nicht funktioniert.
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Dies öffnet für uns den Raum und macht eine andere, eine offensivere Strategie notwendig. Niels Annen: Ja und nein. Der Diskurs war natürlich von der anderen Seite geprägt. Das war ja noch bis vor wenigen Wochen so und hat sich in atemberaubendem Tempo verändert, da gebe ich dir Recht. Die absolute Deutungshoheit der Neoliberalen ist aber schon seit mehreren Jahren in der Krise. Was die Jusos auszeichnet ist, dass es immer Leute gegeben hat, auch in wichtigen Positionen, die sich mit dem Kapitalismus beschäftigt haben. Ich glaube, dass es aber auch immer so war, dass maximal 10 Prozent die theoretischen Debatten überhaupt begriffen haben und dass es ein bisschen zum Juso-Lifestyle gehörte, sich möglichst unverständlich auszudrücken. Das hat uns nicht nur geholfen. Ich erinnere mich an einen Juso-Kongress, auf dem ich als einfacher kleiner Kongressteilnehmer war. Es wurde über die ja nicht ganz unaktuelle Frage erneuerbarer Energien diskutiert. Wir führten hoch komplizierte Debatten darüber, ob man nun eher auf Photovoltaik setzen muss oder ob die Lösung in der Solarenergie im weiteren Sinne mit Wind, Wasser und allem, was dazugehört, zu finden sei. Diskutiert wurde auch darüber, was dies alles für die Strukturen im Kapitalismus bedeutet. Das ist eine hochaktuelle Frage. Da waren die Jusos, auch wenn das die wenigsten wahrgenommen haben, gemeinsam mit Hermann Scheer und anderen auf der Höhe der Zeit. Es war eine Stärke der Jusos, dass wir eben nicht nur die ökologischen, sondern auch die ökonomischen Gesichtspunkte diskutiert haben. Wir haben die Frage als ein Strukturelement in der kapitalistischen Gesellschaft analysiert. Untersucht haben wir unter anderem, was Energiemonopole und die Verfügbarkeit von Energieressourcen bedeuten. Dezentralisierung wurde als ein Schritt in Richtung einer Demokratisierung betrachtet. Da gab es welche, die fanden die Zerschlagung der Monopolstrukturen wichtiger als den ökologischen Aspekt dieser Ener-
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gierevolution. Das war dann auch nicht das Gelbe vom Ei. Aber darüber haben wir schon damals diskutiert, auch wenn es nicht im Mainstream lag. Der Verband hat versucht, diese Debatten in Kampagnenform umzusetzen. Die Thematik sollte gleichzeitig mit der internationalen Politik verknüpft werden, um den Internationalismus praktisch erfahrbarer zu machen. Ich nenne hier das Kuba-Projekt, das Solarenergie für kubanische Schulen vorsah. Das war ein guter Ansatz. Andrea Nahles: Es gibt in meiner Generation keinen Juso, der nicht das Buch Sonnen-Strategie von Hermann Scheer gelesen hat. Und bis zum heutigen Tag ist das sogar eine Verbindungslinie zwischen Christian Lange und Andrea Nahles, wobei wir bei den Jusos nun wirklich unsere Schwierigkeiten hatten. Diese Energiefragen waren für uns schon immer eine strategische Frage, nicht nur eine ökologische im Sinne von Erhalt der Lebensgrundlagen. Es ging auch um die Frage der Wirtschaftsdemokratie. Den Begriff der Wirtschaftsdemokratie hatten wir dabei als Einzige noch im Repertoire. Ich wüsste nicht, welche anderen Teile der Partei dies überhaupt noch diskutiert haben. Höchstens noch in der etwas verkürzten Version der Mitbestimmung. Björn Böhning: Da muss ich Franziska widersprechen. Ich habe das politische Engagement der Jusos nie nur als Verteidigung gegen die Angriffe des Neoliberalismus verstanden. Das haben damals einige so gesehen. Viele andere, mich eingeschlossen, nicht. Widerspruch gegen neoliberale Politik war Kür, Entwicklungen von Alternativen die Pflicht. Deshalb haben wir sehr stark versucht – auch mit Partnern in der Wissenschaft, den Gewerkschaften, der Parteilinken oder dem spw-Spektrum –, linke Politikkonzepte zu entwickeln. Denn es reichte uns nicht, nur laut »Nein« zu rufen, sondern wir waren auch öffentlich aufgefordert zu sagen, was wir anders machen wollen. Sei es die bereits angesprochene Arbeitsversicherung, die Bürger- oder Erwerbstätigenversiche-
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rung oder die Reform der dualen Ausbildung, ich habe diese Zeit auch als inhaltlich sehr produktiv wahrgenommen. Wenngleich es schon richtig ist, dass eine Organisation, die sich mit erheblichem Druck von außen konfrontiert sieht, erst mal grundsätzlich nicht unbedingt innovativer wird. Aber dass wir inhaltlich nur defensiv waren, trifft definitiv für keine Zeit der hier anwesenden Juso-Bundesvorsitzenden zu. Manche Dinge sind ja auch geblieben, wie beispielsweise der Jugendgewerkschaftsrat oder der Kasseler Kreis; an diesen Kontakten kann die Sozialdemokratie heute wieder ansetzen. Franziska Drohsel: Ich erlebe den Juso-Verband als unglaublich vielfältig. Die einen führen abstrakte Diskussionen um den Verlauf des Weltgeschehens. Andere sind kommunalpolitisch interessiert. Die Leute sind überwiegend Anfang/Mitte 20, und wir bekommen zu spüren, dass der Druck auf die Erwerbsbiografien anwächst. Das sieht man zum einen an hoher Fluktuation durch Auslandssemester und Ähnliches. Zum anderen aber auch daran, dass so etwas wie eine eigenständige Jugendphase, in der man zum Beispiel auch viel politisch arbeiten kann, zugunsten von Fremdsprachen, Praktika, schnellem Studieren immer mehr verloren geht. Einen gemeinsamen Nenner zu finden ist eine Herausforderung, und eine Antwort auf die Frage zu finden wie politische Organisierung angesichts einer Verschärfung der sozialen Situation gelingen kann, ist eine weitere, an der wir arbeiten. Wie war denn die Situation im Verband bei euch damals? Andrea Nahles: Seit Anfang der 80er Jahre hatte es einen rapiden Bedeutungsverlust der Jusos gegeben, weil die gesellschaftliche Bewegung abgeebbt ist, auf der die 70er-Jahre-Jusos praktisch geschwommen sind. 1972 sind in nur einem Jahr 100 000 junge Leute in die SPD eingetreten, die in der Folge teilweise ganze Ortsvereine gekippt und übernommen haben und so natürlich eine Macht darstellten. In den 80er Jahren sind diese 70er-Jahre-Jusos in der
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SPD aufgestiegen. Anfang der 80er Jahre fiel die SPD aus der Regierung, es war die Zeit der NATO-Nachrüstung. Es entstand eine Anti-Krieg- und Anti-SPD-Bewegung bei den Jungen. Was 1972 die SPD war, waren 1982 die Grünen. Gleichzeitig haben die 70er-Jahre-Jusos, als sie in Parteifunktionen aufgestiegen waren, die nachfolgenden Juso-Generationen regelrecht weggebissen. Daher waren die Jusos der 80er nicht nur zahlenmäßig schwächer, auch ihr Aufstieg in die Partei wurde oft verhindert. Die Jusos bekamen dadurch oft Probleme, da ihre öffentliche Stimme kaum noch wahrnehmbar war. Fast alles spielte sich verbandsintern ab. Festzustellen bleibt aber auch, dass sich die Jusos teilweise geradezu krankhaft auf diese verbandsinternen Auseinandersetzungen gestürzt haben und sich in ihnen gesuhlt haben. Ich sage dies als Vertreterin der Generation danach. Wenn man mit den Jusos der 80er Jahre redete, erzählten diese einem immer von den Jusos der 70er Jahre und den Linien, die sie nun wie Fackeln weitertrugen. Es ging dabei um irgendwelche Pseudokonflikte, die ich als Siebzehn-, Achtzehnjährige überhaupt nicht mehr verstanden habe. Die zahlreichen unfruchtbaren Strömungsauseinandersetzungen trieben in den 80er Jahren teilweise unglaubliche Blüten. Im Gegensatz zu den 70er Jahren fehlte hierfür in den 80er Jahren der gesellschaftliche Rückhalt. Das führte dazu, dass die Jusos der damaligen Zeit gesellschaftlich als Stimme der Jungen oder als Bündnispartner für die Gewerkschaften überhaupt nicht mehr wahrgenommen wurden. Erst Ende der 80er Jahre entwickelte sich gerade durch die Juso-Linke die Idee einer neuen Jugendorientierung. Diese Idee entstand dabei aus einem Projekt heraus, das an die vorherrschenden gesellschaftlichen Realitäten und Probleme von Jugendlichen andocken sollte. Wichtig war für uns, durch eine Professionalisierung der Strukturen und des Auftritts, zum Beispiel beim Corporate Design, die Kampagnenfähigkeit der Jusos herzustellen. Da dies so gut klappte, wurden die Jusos auch wieder für die SPD in Wahlkämpfen inte-
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ressant. Als die SPD merkte, dass sie die Jusos als Wahlkampfmaschine gut gebrauchen konnte, sie eine kritische Jugendorganisation jedoch nicht haben wollte, hat die Partei während der Ägide des Juso-Bundesvorsitzenden Benny Mikfeld versucht, die Kampagnenfähigkeit der Jusos zu nutzen. Es gab »Rote Teams«, aber die Jusos selbst sollten entmachtet werden. Benny Mikfeld: Hat aber nicht geklappt. Die Guten von denen kamen später doch zu den Jusos. Die anderen schlossen sich den Protagonisten der vermeintlich modernen SPD an. Das war nämlich die Zeit, etwa 1998 bis 2002, in der eine Gruppe von jungen selbst ernannten Pragmatikern der SPD in den Bundestag einzog. Dann folgte der Berlin-Umzug. Überwältigt von der großen Stadt, die viel bunter war als die kleinen Städte in ihren Wahlkreisen, benannten sie eine ganze Republik nach ihr. So zogen sie in ihren ersten, meist schlecht geschnittenen Anzügen durch die Mitte der Hauptstadt und vernetzten sich. Sie sprachen davon, dass die Frage von links und rechts nicht mehr aktuell sei. Und sie forderten laufend Niedriglohnsektoren, Studiengebühren und manche auch die Liberalisierung der Finanzmärkte. Sie waren begeistert von Tony Blair und fanden, dass so in etwa auch die moderne SPD sein solle. Und viele alte und junge Journalisten fanden das auch und widmeten ihnen alle Aufmerksamkeit. Die Jusos und die Linke in der SPD galten in dieser Phase als ewig gestrig – sowohl in der Parteiführung als auch in der Öffentlichkeit. Nun ist das aber alles wieder vorbei. War wohl nur so eine Idee von denen. Aber dennoch hat diese ganze Neue-Mitte-Attitüde einen immensen Schaden für die Sozialdemokratie angerichtet, der bis heute nachwirkt. Niels Annen: Ich habe häufig bei kontroversen Diskussionen interessante Erfahrungen in Vorstandssitzungen gemacht, wo man dann von ehemaligen Juso-Vorsitzenden und ehemaligen stellvertretenden Juso-Vorsitzenden zur Schnecke gemacht wurde und einem dieselben Leute zum Ende der Sitzung freundlich auf die
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Schulter klopften nach dem Motto: »Wir waren aber damals rebellischer als ihr.« Das ist natürlich auch eine ganz besondere, altväterliche Art und Weise, seine eigene Vergangenheit zu verklären. Die Jusos haben sich verändert. Ich habe das in meiner Zeit wirklich gesehen. Natürlich gab es viele Leute, die sich vor allem mit Bundespolitik und übergreifenden Themen beschäftigt haben. Das ist aber zu meiner Zeit schon weniger geworden. Wir hatten auch ganz viele Leute, die aus lokalem Engagement zu den Jusos gekommen sind und den Bundesverband vielleicht einmal als Bundesdelegierte kennengelernt haben. Die wollten nicht alle den Kapitalismus reformieren, sondern sich vielleicht vor Ort einfach für ihre Schule – oder welche Anliegen auch immer – einsetzen. Der Laden ist insgesamt viel ausdifferenzierter und viel jünger geworden, die Fluktuation hat zugenommen. Das hat unsere Organisation natürlich vor Herausforderungen gestellt. Wir mussten immer mitdenken und uns fragen: Wie erreiche ich die Leute, die sich vielleicht nicht mit dem letzten Winkelzug der innerparteilichen Strategie auseinandergesetzt haben? Und wie schaffe ich es, dass sich alle vertreten fühlen und stolz darauf sind, dass sie in einem Verband sind, der selbstbewusst auftritt, aber auch auf ihre jeweiligen Erwartungen eingeht? Um diese unterschiedlichen Teile zusammenzukriegen, haben wir versucht, auf die Tradition der »Verbandswochenenden« auch inhaltlich aufzubauen. In der Partei gab es unter Matthias Machnig einen Diskurs »Netzwerkpartei« und die Gründung der »Jungen Teams«, die von uns sehr misstrauisch beäugt wurden. Diese »Jungen Teams« spielten auch im Bundestagswahlkampf 2002 eine Rolle, in dem ich Vorsitzender war. Wir haben diese Teams, die sich aus Jusos zusammensetzten, dann einfach übernommen. Björn Böhning: Allerdings, und mit zunehmenden Erfolg. Denn die Jusos wurden in der Folge als der kampagnenfähigste Teil der Partei wahrgenommen.
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Grundsätzlich war die jugendpolitische Orientierung der Jusos, die von Uwe Kremer oder Susi Möbbeck entwickelt worden ist, für uns immer eine Leitschnur. Wir haben versucht, sie mit einer generationenpolitischen Orientierung weiterzuentwickeln. Im Zentrum stand dabei, dass junge Menschen heute andere Ansprüche an politisches Engagement haben als vor 30 Jahren. Das hat natürlich mit dem Abschluss- und Zertifikatsstress zu tun, mit dem junge Menschen konfrontiert sind. Zehn Praktika, drei Auslandssemester, zwei Jobs, und das am besten mit 25 Jahren, das ist ja mittlerweile das Leitbild. Für einen Verband, der vor allem Studierende organisiert, ist das natürlich schon zeitbudgetär ein Problem. Daraus haben wir zwei Konsequenzen gezogen. Zuerst waren wir bemüht, nicht nur Studierende, sondern vor allem auch junge Berufseinsteiger und Auszubildende anzusprechen. Das war zeitweilig auch wirklich von Erfolg gekrönt, zumal sich dies bis in die Besetzung des Bundesvorstandes ausdrückte. Trotzdem erforderte dies erhebliche, auch verbandskulturelle Anstrengungen. Zweitens mussten wir sukzessive die Strukturen des Verbandes öffnen und für Verständnis politischer Arbeit jenseits der Gremienfixiertheit werben. Denn die Jusos hatten zwar seit den 70er Jahren gut 200 000 Mitglieder verloren, aber ihre Strukturen kaum verändert. Ich weiß nicht, ob uns das gelungen ist, und dies ist auch ein stetiger Prozess im Werden. Aber gerade über den Generationenwechsel im Verband reifte doch die Idee, dass offene Strukturen, Kampagnenorientierung und Aktionsorientierung erfolgreiche Mittel zur Mitgliederwerbung und zur Steigerung des politischen Einflusses sind. Nicht zuletzt die Trendwende bei den Mitgliedszahlen gab uns Recht. Andrea Nahles: Positiv zu bemerken ist schließlich auch, dass sich die Jusos noch in meiner Zeit auch international wieder stärker verankert haben. Dies lag auch daran, dass wir 1996 das IUSY-Festival nach Bonn geholt hatten. In der Vorbereitung dieses Ereignisses bin auch ich international sehr viel unterwegs gewesen. Das
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Festival hat dann viele Leute für die internationale Arbeit begeistert. Eine Folge war auch, dass die Jusos in den vergangenen Jahren immer sehr gute IUSY-Vizepräsidenten stellen konnten. Franziska Drohsel: Andrea, du hast den Bereich Internationales angesprochen. 1999 hatte die Militarisierung der deutschen Außenpolitik im Kosovo-Krieg ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Für die außerparlamentarische Linke, aber auch für viele in der SPD war das einschneidend. Deutschland war damit aktiv wieder an kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligt. Ein Konsens der Nachkriegsära wurde also gebrochen – und das von Rot-Grün und mit dieser spezifisch deutschen Legitimationsstrategie. Wie hat das die Politik der Jusos verändert oder bestimmt? Andrea Nahles: Das muss man differenzieren: Auch bei den Jusos begannen damals Debatten über UN-Friedensmissionen. Der Völkermord in Ruanda hat bei mir die Wende zu Blauhelm-Einsätzen eingeleitet. Aber gegen den Kosovo-Krieg haben wir mobilisiert, da kein UN-Mandat vorlag. Und wir – schade, das sagen zu müssen – sind auch von der eigenen Führung belogen worden. Die Jusos haben also, wenn auch zögerlich, die internationalen Realitäten nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes zur Kenntnis genommen. Aber ohne den friedenspolitischen Anspruch und die Achtung vor dem Völkerrecht aufzugeben. Benny Mikfeld: Was die internationalen Fragen angeht, will ich zwei Punkte ansprechen. Das Thema Bundeswehreinsätze ist ein schönes Lehrstück über Willensbildungsprozesse in der Linken. Von der grundsätzlichen Ablehnung jeglicher Einsätze über irgendwelche Blauhelme-vielleicht-aber-nicht-so-robust-Varianten bis zur Zustimmung zum Afghanistan-Einsatz war es ein weiter Weg. Ein schmerzhafter Lernprozess. Aber innerparteiliche Taktik und letztlich unpolitische Gesinnungsethik überwogen gelegentlich gegenüber einer nüchternen Einschätzung neuer Konflikte
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in der Welt. Dennoch ich möchte auch heute noch nicht in der Haut von euch Abgeordneten stecken, die über den Einsatz von Soldaten zu entscheiden haben. Der andere Punkt ist die Globalisierung. Wir haben die zwar immer schlau analysiert, sind aber in den 90ern in den inhaltlichen und organisatorischen Antworten meist national beschränkt geblieben. Da haben wir leider zu viel Zeit verloren. Björn Böhning: Also, ich bin Bundesvorsitzender geworden, da war der Kosovo-Krieg bereits fünf Jahre her. Ich habe mich damals in Ablehnung dieses völkerrechtswidrigen Krieges befunden. Auch danach hatten wir mit Afghanistan schwierige Debatten bei den Jusos stellvertretend für die gesamte Linke. Ich habe wahrgenommen, dass sich hier in den letzten Jahren ein Entwicklungsprozess in der gesamten Linken eingestellt hat. Gegenüber internationalem Engagement auch der Bundeswehr wird in der Linken neu nachgedacht. Oftmals sind es Linke, die aus moralischem Antrieb heraus sogar allzu schnell – und für mich zu undifferenziert – den Einsatz der Bundeswehr auch im Rahmen von Blauhelm-Einsätzen bei internationalen Konflikten befürworten. Auf der anderen Seite hat beim Libanon-Einsatz der Bundeswehrmarine im Juso-Verband fast niemand mehr widersprochen. Trotzdem diese programmatische Entwicklung ein für die friedenspolitisch orientierte Linke sehr schwerer Diskussionsprozess war, habe ich ihn als inhaltlich und programmatisch unheimlich reich empfunden. Am Ende, bei der Grundsatzprogrammdebatte der SPD, hat sich das Fenster auch in der SPD geöffnet, dass Einsätze eine völkerrechtliche Grundlage haben müssen, dass sie von zivilen Entwicklungsmaßnahmen begleitet werden müssen und dass es klare Kriterien auch für den Abzug beziehungsweise den Ausstieg der Bundeswehr geben muss. Das war eine wirkliche Weiterentwicklung, gerade auch gegenüber den wahnsinnigen propagandistischen Debatten rund um den Kosovo-Krieg, Stichwort »Hufeisenplan«.
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Bundeswehreinsätze standen aber nie im Mittelpunkt unserer Friedenspolitik. Wir wollten internationale Solidarität leben, auch mit ganz konkreten Projekten. Und wir haben uns an unterschiedlicher Stelle für die Millenniumsziele oder die Abrüstung eingesetzt. An dieser Stelle hat es in den letzten Jahren eine erfreuliche Kontinuität linker Politik bei den Jusos gegeben. Franziska Drohsel: Über die Doppelstrategie haben wir in den letzten Monaten viel diskutiert. Politische Veränderungen können über Parteien und über gesellschaftliche Bewegungen hinweg erkämpft werden. Wir Jusos wollten immer beides machen und gleichzeitig als Scharnierfunktion zwischen den Bewegungen und der Partei wirken. Das ist heute schwierig, da es zum Beispiel bei der globalisierungskritischen Bewegung zunächst einmal überhaupt keine Anknüpfung an die SPD gibt. Und auch bei der Arbeit mit den Jugendgewerkschaften merkt man, wie viel da in den letzten Jahren auch durch die die Politik der SPD kaputtgegangen ist. Außerdem spürt man, dass Doppelstrategie auf allen Ebenen gelebt werden muss. Das sind echte Herausforderungen. Wie sah es zu eurer Zeit mit der Doppelstrategie, das heißt der Bündnispolitik der Jusos aus? Und welche Themen bei den Jusos spielten damals in eurer Amtszeit eine bedeutende Rolle? Bei den Jusos heute merkt man sehr, dass die soziale Frage das zentrale Thema ist. Das ist angesichts der wachsenden sozialen Ungleichheit auch verständlich und politisch notwendig. Andrea Nahles: Ein prägendes Thema meiner Zeit als Juso-Bundesvorsitzende war das Thema Ausbildung. Programmatische Vorarbeit hierzu hatte es bereits durch meine Vorgänger, wie Thomas Westphal, gegeben. Hintergrund war eine sich verschärfende Ausbildungskrise bereits Ende der 80er Jahre. Wir haben das dann aufgegriffen, das Konzept der Umlagefinanzierung erarbeitet und pointiert gefordert: »Wer nicht ausbildet, wird umgelegt«. Durch die Beschäftigung mit diesem Thema waren wir wieder Teil der
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damaligen aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen. Über das Thema Ausbildung und eine hierzu verfasste jugendpolitische Erklärung war es plötzlich wieder möglich, sich mit den Gewerkschaften regelrecht zu verbünden. Auf diese Weise kamen die Jusos und die gewerkschaftliche Jugend zu einer neuen gesellschaftlichen Basis. Dieser Beweis von Allianzfähigkeit mit den Gewerkschaften hat den Jusos Mitte der 90er Jahre auch parteiintern enorm genutzt. Niels Annen: Programmatisch haben wir das Thema Ausbildung ebenso aufgegriffen und die Idee der Arbeitsversicherung weitergeführt und fortentwickelt. Für mich zeugt dies von einer gewissen Kontinuität. Viele dieser Punkte sind inzwischen in der SPD-Programmatik angekommen. Ich glaube, dass die Auseinandersetzung mit der Agenda 2010 ein bisschen die alte Doppelstrategie, gemeinsam mit den Gewerkschaften und den sozialen Bewegungen, innerhalb und außerhalb der Partei zu agieren, wiederbelebt hat. So wurde auch die Identifikation der Mitglieder mit ihrem Verband gestärkt. Konfliktreiche Zeiten bieten natürlich viele Chancen für die Jusos, das eigene Programm und die eigenen Ansätze in den Mittelpunkt zu stellen. Für einen Bundeskongress hatten wir die Überschrift »Recht auf Zukunftschancen« gewählt. Dieser Chancendiskurs ist ja bis heute eher von den Neoliberalen geprägt. Wir wollten diesen Begriff bewusst von links besetzen. Benny Mikfeld: Sollte es in Zukunft Gelegenheiten geben, bei denen Jusos eine strategische Rolle zwischen organisierter sozialer Bewegung und Sozialdemokratie übernehmen können, sollten sie diese nutzen. Ganz klar. Was mich an dem Begriff der Doppelstrategie jedoch stört, ist, dass er schon zu meiner JusoZeit schmeckte wie eine lauwarme, abgestandene Afri-Cola. Die Zusammenarbeit zwischen Parteijugend und Gewerkschaftsjugend war auch zu unserer Juso-Zeit wichtig, aber rechtfertigt sie
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einen so bombastischen strategischen Begriff? Er geht nämlich immer noch von einem sehr traditionellen Politik- und Organisationsverständnis sowie Typus von politisch Aktiven aus. Muss Doppelstrategie nicht heute beispielsweise heißen, als Juso in sozialen Netzwerken präsent zu sein und intelligente Netzkampagnen zu machen, mit denen Einfluss auf Partei und Parlamente ausgeübt wird? Die Unter-30-Jährigen wickeln einen großen Teil ihrer Kommunikation über soziale Netzwerke im Internet ab. Wer heute die junge Generation mobilisieren will, muss nicht nur die richtigen Inhalte haben. Erforderlich ist ästhetische, technologische und kommunikative Kompetenz. Muss man sich die Kampagnen der Zukunft nicht eher schwarmartig vorstellen, als flexible Mobilisierung von Verschiedenen für ein bestimmtes Anliegen? Aber auch so etwas braucht natürlich einen Kern, der organisieren kann. Björn Böhning: Die Doppelstrategie ist und bleibt eine wichtige, auch über die Zeit bewahrte strategische Grundlage der Linken in der SPD. Auch bei den Jusos haben wir dies mit konkreten Projekten zu unterlegen versucht, sei es beim Thema »Bahn für alle«, beim bereits angesprochenen Jugendgewerkschaftsrat oder beim Versuch, auch mit jungen Kulturschaffenden oder WissenschaftlerInnen und Wissenschaftlern in den Dialog zu kommen. Leider war Letzteres besonders schwierig, weil hier einfach häufig Berührungsängste bestanden und das Verständnis für andere Mentalitäten fehlte. Richtig ist aber auch, dass in meiner Vorsitzzeit der Fokus auf der Auseinandersetzung um die Zukunft sozialdemokratischer Politik lag. Es hat einfach viel Kraft gebunden, beispielsweise beim Thema Sozialreformen Verbesserungen im Sinne der jüngeren arbeitenden Bevölkerung zu erreichen. Das war gleichzeitig aber auch wichtig, um als Ansprech- und Bündnispartner bei sozialen Bewegungen oder Gewerkschaften nicht an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Dass wir diesen Charakter retten konnten – trotz sicher-
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lich bestehender Vorbehalte –, erscheint mir doch ein wirklicher Erfolg der letzten Jahrzehnte. Es war aber nicht nur die soziale Frage, die bei uns im Mittelpunkt stand. Wir haben die soziale immer als Wirtschafts- und soziale Frage verstanden. Im Zuge dessen haben wir oft über die Struktur des modernen, finanzgetriebenen Kapitalismus diskutiert und dessen Auswirkung auf die soziale Situation der Beschäftigten thematisiert. Damals sind wir dafür verlacht oder belächelt worden. Heute, in der Finanzmarktkrise, sehen wir, dass unsere Kritik richtig und notwendig war. Deshalb ist und bleibt es für die Jusos wichtig, Teil der globalisierungskritischen Bewegung zu sein. Franziska Drohsel: Es ist eine objektive Schwierigkeit, auf der einen Seite grundsätzliche Kritik zu üben, zeitgemäß und nicht oberflächlich zu sein und gleichzeitig praktische Politik zu machen. Theoriedebatten dürfen nicht elitär sein. Sie müssen aber dennoch genau sein. Eine politische Praxis ohne die grundsätzliche Kritik wird zufällig und beliebig. Das ist ein schwieriger Spagat, bei dem weder Aktion um der Aktion willen noch Hinterzimmergemeckere ohne Bezug zu aktuellen Auseinandersetzungen herauskommen darf. Und im Idealfall sollte es so sein, dass die grundsätzliche Kritik für die Leute vor Ort auch so etwas wie eine Richtschnur ist, eine Art Koordinatensystem. Über ein solches Koordinatensystem, wonach sich die Positionen nach links oder rechts ausdifferenzieren, muss man sich im Verband verständigen. Ansonsten rutscht es in Beliebigkeit ab und es wird zufällig, ob die Leute dann für Mindestlohn oder Onlinedurchsuchung sind oder nicht. Die Verständigung über ein Koordinatensystem war auch ein Ziel, das wir mit der Diskussion um die Thesen verfolgt haben. Andreas Nahles: Was ich bei den Jusos gelernt habe, und das habe ich immer sehr geschätzt: Die Jusos sind auch für mich ein persön-
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liches Bildungsprojekt gewesen, von Anfang an. Sich erst einmal mit der Oberfläche nicht zufriedenzugeben. Die Antworten, die präsentiert werden, zu hinterfragen. Überhaupt Kritik zu lernen. Dinge einmal zu hinterfragen, und zwar grundsätzlich. Das habe ich nicht in der Schule gelernt. Ich komme aus Rheinland-Pfalz, aus einer kleinen schwarzen Gegend. Das habe ich bei den Jusos gelernt. Zum Beispiel Medienkampagnen zu durchschauen, die Frage nach den Interessen dahinter zu stellen. Das ist eine grundsätzliche systemkritische Frage. Und das habe ich nicht von zu Hause mitbekommen. Diese Frage nach den Interessen dahinter führt dann zu der Frage, ob man sich ein Paralleluniversum vorstellen kann. Worum es mir aber geht, ist die Frage »Paralleluniversum – und was mache ich damit?«. Wir hatten eine bestehende, nicht positive sozialistische Gesellschaft, da sind wir uns alle einig. Ein Vorbild war der real existierende Sozialismus nicht. Aber kann man sich eine bessere Gesellschaft jenseits der jetzt gegebenen vorstellen, die Menschenwürde, Chancengleichheit und im Grunde genommen auch globale Gerechtigkeit denken und leben kann? Wenn man die Hoffnung aufgibt, hat man, so habe ich es immer empfunden, keinen Grund mehr, sich Sozialist zu nennen. Ich finde, das ist eines der Motive, warum ich manchmal auch bereit bin, einen Kompromiss zu machen, der mir langfristig klug erscheint, um bestimmte Interessen am Ende durchzusetzen. Wenn ich diese Vision von der besseren Gesellschaft nicht hätte, dann würde ich persönlich wohl nicht durchgehalten haben. Ich habe viel bei den Jusos mitgenommen, aber auch viel einstecken müssen. Das geht, glaube ich, allen so, zumindest allen, die einmal Juso-Bundesvorsitzende geworden sind. Als persönlich sehr hart habe ich meine Zeit empfunden. Angriffe von erbitterter Schärfe aus dem eigenen Laden. Puh. [lacht] Dennoch, was ich mitgenommen hatte als Vorsitzende: Ich habe die Jusos als Schule der kritischen Vernunft erlebt!
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Benny Mikfeld: Vor jeder internen Theoriedebatte macht es Sinn, des ollen Marx 11. These über Feuerbach zehnmal still für sich aufzusagen: die Philosophen haben die Welt eben immer mal wieder verschieden interpretiert, es komme darauf an, sie zu verändern. Theoretische Einsichten sollen Menschen neue Horizonte eröffnen, sie sollen ihnen Werkzeug sein, sich den Alltag begreifbar zu machen. Die Linke innerhalb und außerhalb der SPD braucht aus meiner Sicht nicht weniger theoretische Analysen, sondern bessere. Nötig ist vor allem eine populäre Kritik des modernen Kapitalismus, die Zusammenhänge und Interessen offenlegt. Was auch fehlt, ist eine hegemoniale Strategie, ein Verständnis von politischen Diskursen. Dazu ist es immer auch erforderlich, die progressiven Potenziale des jeweiligen Kapitalismus zu identifizieren und für sich zu gewinnen. Das kommt mir im Übrigen auch in den aktuellen, von Franziska vorgelegten Thesen zu kurz. Überwindung des Kapitalismus – schön und gut, aber wir brauchen zunächst einmal eine Vorstellung von einer sozialen und demokratischen Perspektive für das nächste Jahrzehnt. Doch wir führen dieses Gespräch, während die Welt von einer Finanzkrise erschüttert ist. Die Menschen sind wieder bereit, die aktuelle Ausprägung des Kapitalismus kritisch zu hinterfragen. Das kann eine Chance für die Renaissance linker Ideen bedeuten. Und die Suche nach Einsichten über die Zusammenhänge des Kapitalismus wird auch zunehmen. Hier haben die Jusos eine ganz wichtige Aufgabe, einer neuen Generation von politisch Aktiven das theoretische Rüstzeug zu vermitteln. Björn Böhning: Ich denke, alle hier versammelten Generationen haben immer wieder auch durch den Anstoß theoretischer und strategischer Debatten die Fortentwicklung der Juso-Programmatik und die Schulung der handelnden Genossinnen und Genossen betrieben. Die bewusste Provokation zielte dabei natürlich auch darauf, Argumente neu zu schärfen oder tradierte Argumente infrage
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zu stellen. Das war natürlich immer auch Bildungsprogramm; Andrea hat es angesprochen. Es hat aber den Verband auch am Leben gehalten. Es muss nur aufgepasst werden, dass an Debatten oder Positionen dabei nicht verbissen festgehalten wird. Die Umlagefinanzierung ist so ein Beispiel, die ich richtig und notwendig finde. Aber zu meinen, dass allein der stete, meist wortgleiche Beschluss für eine Umlagefinanzierung den Azubis politisch schon hilft, da habe ich immer ein Fragezeichen gesetzt. Oder auch die Frage, ob wir jetzt im »flexiblen«, »finanzgetriebenen« oder »modernen« Kapitalismus leben und ob dieser wirklich »neu« oder nicht doch »althergebracht« ist, das waren mir zu viele ritualisierte Debatten. Aber auch sie haben weitergeführt. Denn wo, wenn nicht bei den Jusos, wurde diese Kritik der internationalen Finanzmärkte und die Analyse ihrer Struktur vorangetrieben und in die sozialdemokratische Debatte eingespeist? Die Partei müsste uns eigentlich heute noch dankbar dafür sein. [lacht] Den Widerspruch zwischen politischem Alltagshandeln und langfristigen Zielen haben wir, glaube ich, alle am eigenen Leib zu spüren bekommen. Das ist doch heute auch nicht anders. Oft fragen wir uns: Welches sind die richtigen Koordinaten? Sind wir noch auf dem linken Weg? Bringt das tägliche Berliner Medienspiel eigentlich langfristig etwas? Das Wichtigste bei den Jusos finde ich, dass sie es sind, die Begriffe und Ideen wie Emanzipation, Aufklärung, Feminismus oder Antikapitalismus immer wieder neu besetzen und diskutieren, dass sie das Ziel des demokratischen Sozialismus nicht aus den Augen verlieren. Und dass sie dies auch dann tun, wenn es öffentlich gerade einmal nicht sexy ist, dieses Vokabular zu benutzen. Das war gerade zu Zeiten der Agenda 2010 nicht besonders einfach. Da hat es auch in der SPD eine Bewegung gegeben, die ihre Modernität und ihre ZeitgeistSexyness in Abgrenzung zu vermeintlich überholten Begriffen der »alten« Sozialdemokratie definiert hat. Dabei wurden wichtige ideenpolitische Wurzeln der SPD anderen Parteien überlassen, mit fatalen Konsequenzen. Wenn heute Sigmar Gabriel wie-
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der über die emanzipatorische Linke Bücher schreibt, zeigt dies, dass es auch hier eine positive Entwicklung, nach einigen rhetorischen Entgleisungen, gegeben hat. Ich begrüße dies sehr, denn nur eine in gesellschaftlichen Debatten verankerte, eine theoretisch fundierte und an historischen Begrifflichkeiten anknüpfende Sozialdemokratie hat die Chance, auch im 21. Jahrhundert wirkungsmächtig zu sein. Niels Annen: Wenn ich über die harten Zeiten der innerparteilichen Auseinandersetzung um die Agenda 2010 nachdenke, dann muss ich sagen, dass wir – im krassen Gegensatz zur öffentlichen Darstellung – die Pragmatiker und nicht die Ideologen gewesen sind. Ich habe mich neulich in der Fraktion daran erinnert, als wir die verfehlte Zinspolitik der EZB kritisiert haben. In der Finanzkrise standen auf einmal die neoliberalen Ideologen am Rande. Vergleichbare Erfahrungen haben die Jusos in den letzten Jahren häufig gemacht. Das heißt nicht, dass wir uns nicht auch klar ideologisch verortet hätten oder dass wir keine Diskussionen über die Frage »Was heißt eigentlich demokratischer Sozialismus heute?« geführt hätten. Das haben wir sogar sehr konkret gemacht. Zum Beispiel in der Programmdiskussion. Leider haben wir es bis heute immer noch mit viel zu vielen Leuten zu tun, die die Agenda 2010 zu einem Bekenntnis überhöhen und denen es wichtiger ist, in der bürgerlichen Presse als Visionär, als mutig und durchsetzungsstark dazustehen, als an die Interessen der SPD insgesamt zu denken. Andrea Nahles: Gegen die eigene Partei! Niels Annen: Immer gegen die eigene Partei. Anstatt mit den eigenen Leuten darüber zu diskutieren, was notwendig und was durchsetzbar ist. Die Frage nach der Durchsetzbarkeit für eine sozialdemokratische Regierungspartei ist ja legitim. Wir haben uns nie Illusionen gemacht, dass man alleine durch die Regierungs-
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macht die Macht hat, die Gesellschaft zu verändern. Das kann ein Element sein, muss es aber nicht. Was bedeutet es eigentlich für Sozialisten, in der SPD Politik zu machen? Welche Bedeutung haben wir, welche Bedeutung geben wir der Partei? Ich glaube, dass das viele von uns bisher auch intuitiv beantwortet haben. Für mich zum Beispiel war es auch in den schlimmsten Situationen nie eine Option, aus unserer Partei auszutreten. Ich erlebe das in der täglichen Auseinandersetzung, da werden viele Fehler gemacht, und dann geht auch das eine oder andere in die falsche Richtung, aber ohne die SPD gibt es keine fortschrittliche Entwicklung in diesem Land, davon bin ich nach wie vor überzeugt. Dafür brauchen wir aber eine starke SPD. Und dafür haben Andrea, Benny, Björn und ich gekämpft und tust du es jetzt, Franziska. Vielleicht haben wir eben doch ein besonderes Verhältnis zu dieser Partei, denn in den letzten Jahren waren es immer diejenigen, die als Abweichler, Querulanten und sonst was beschimpft wurden, die sich für einen integrativen Kurs und ein starkes sozialdemokratisches Zentrum eingesetzt haben. Eine weitere Frage in den Diskussionen mit der Partei, die uns Jusos schon damals beschäftigte, drehte sich um die Bedeutung des Attributs Volkspartei. Damals hatten wir den Eindruck, dass ein Teil der Führung der SPD kein großes Problem damit hatte, den Charakter als Volkspartei aufzugeben. Entsprechende Teile der SPD schienen der täglichen mühsamen Auseinandersetzung, bei der die Jusos eine zentrale Rolle spielten, entgehen zu wollen. Dies hat sicherlich auch dazu geführt, dass man sich nicht bemüht hat, um Mitglieder zu kämpfen. Andrea Nahles: Ich kann mich erinnern, Niels, dass wir sehr oft alle über die Frage geredet haben, wie können wir die Volkspartei als Volkspartei erhalten. Es ist ein Leitmotiv, das wir nie öffentlich gemacht haben, aber intensiv diskutiert haben wir es intern schon.
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Björn Böhning: Das mit der Volkspartei ist absolut richtig. Wir waren als SPD-Linke auch als Jusos durchaus immer bereit, im Sinne der Verantwortung für die gesamte linke Volkspartei unsere Positionen zu überdenken. Heute sehen wir, dass nicht alle dies in der SPD so sehen. Das Zentrum, das Verständnis für den Charakter einer Volkspartei oder die Bereitschaft zur Übernahme von gesamtparteilicher Verantwortung sind brüchig geworden. Dies stellt uns, stellt auch die Jusos vor neue Herausforderungen. Dies gilt auch für die Linke in der SPD insgesamt. Wir wussten schon als Jusos, dass mit dem Erstarken einer neuen, sozialpolitisch und -populistisch orientierten Kraft im Parteienspektrum sich für uns die Frage nach der Daseinsberechtigung in der Sozialdemokratie stellt. Durch immer wieder neue Konzepte und Debatten – Stichworte Bürgerversicherung, Erwerbstätigenversicherung, Arbeitsversicherung, Kritik an den Finanzmärkten – haben wir es bisher immer wieder geschafft, diese Berechtigung zu unterlegen. Aber das ist ein steter neuer Kampf, der nicht vorbei ist. Erst recht nicht, wenn es immer wieder neu darum geht, die nächste Generation für linke Politik in der Sozialdemokratie zu begeistern. Franziska Drohsel: Vielen Dank an euch alle für das Gespräch.
Für eine moderne Linke Johano Strasser
Ich beginne mit einigen Vorbemerkungen, die für die meisten linken Sozialdemokraten wahrscheinlich Selbstverständlichkeiten sind. Wer es heute unternimmt, die Sozialdemokratie wieder zu einer pointiert linken Reformpartei zu machen, sollte von vornherein deutlich zum Ausdruck bringen, dass es nicht darum gehen kann, die lange Geschichte sektiererischer Besserwisserei, des intellektuellen Avantgardedünkels und der Spaltungen fortzusetzen, unter der die Arbeiterbewegung seit ihren Anfängen gelitten hat. Wenn sich heute die Linke in der SPD bei den Jungsozialisten und darüber hinaus wieder rührt, so gewiss nicht, weil sie der Ansicht wäre, mithilfe einer ihr verfügbaren allein selig machenden Theorie die Welt aus den Angeln heben zu können, um sie alsdann als ein für allemal erlöst wieder zusammenzufügen. Wir wissen, dass es eine solche geschichtsmächtige Großtheorie nicht gibt, dass wir vielmehr darauf angewiesen sind, uns immer wieder neu der veränderten Realität zu stellen und von Fall zu Fall nach probaten Lösungen für die Probleme zu suchen. Linke in der SPD sind nicht eine elitäre Avantgarde, die – in den Worten des Kommunistischen Manifests – den Massen »die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung« voraushat. Sie vertrauen vielmehr darauf, dass die richtigen Konzepte am ehesten aus der freien Dis-
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kussion möglichst aller Parteimitglieder und aus dem vorurteilsfreien Gespräch mit den Betroffenen erwachsen. Deshalb fördern sie in allen Gremien der Partei die inhaltliche Diskussion und den argumentativen Streit und setzen sich für die Öffnung der Partei zur Gesellschaft hin ein. Es geht nicht um Fraktionierung, um das Knüpfen von Seilschaften, schon lange nicht um geschickte Karriereplanung und Postenschacher. Vielmehr sollte die Linke für sich in Anspruch nehmen, stets das Gesamtinteresse der Partei im Auge zu behalten und dafür einzutreten, dass die praktische Politik sich an der Grundsatzprogrammatik orientiert. Das Ziel, das uns leiten sollte, ist, aus der Sozialdemokratie wieder einen lebendigen Organismus zu machen, in dem offen und freimütig diskutiert und nach demokratischer Willensbildung solidarisch gehandelt wird. Nur so kann die Sozialdemokratie auch wieder für junge Leute und Intellektuelle attraktiv werden. Auch das gilt es vorweg zu betonen: Nach den historischen Verirrungen des Leninismus und erst recht nach der Katastrophe des Stalinismus kann eine ernst zu nehmende Linke heute nur eine Bewegung sein, die sich vom Universalismus der Freiheit lenken lässt. Die Linke in der Sozialdemokratie stellt sich ohne Vorbehalte in die freiheitliche Tradition des Westens, nicht um bei dem im Kapitalismus bisher erreichten Maß der Freiheit stehen zu bleiben, sondern um nach Möglichkeit darüber hinauszugelangen. Werfen wir einen Blick auf diese Tradition: Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein war von Freiheit so gut wie immer nur im Plural die Rede. Freiheiten waren im Grunde Privilegien: des Adels, der Zünfte, der reichsfreien Städte, die gegen die Zentralgewalt absolutistischer Staaten verteidigt werden mussten. Erst im 18. Jahrhundert wird Freiheit zum Singular: als Sammelbegriff von Rechten, die im Prinzip für alle Menschen gelten. Hier liegt das große historische Verdienst der Aufklärung und des politischen Liberalismus. Die Arbeiterbewegung knüpft in dieser Hinsicht durchaus an den politischen Liberalismus an, fragt aber darüber hinaus nach
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den Realbedingungen universeller Freiheit. Die Pointe der Arbeiterbewegung gegenüber dem politischen Liberalismus besteht darin, dass sie den Blick auf die sozialen und kulturellen Voraussetzungen lenkt, die erfüllt sein müssen, damit alle Menschen von ihren Freiheitsrechten tatsächlich konkreten Gebrauch machen können. Wo Menschen all ihre Zeit und Kraft aufwenden müssen, um ihre bloße Lebensfristung sicherzustellen, bleibt die Proklamation der Meinungsfreiheit weitgehend folgenlos. Wo Menschen de facto keinen Zugang zu Bildung und Informationen haben, können sie in aller Regel auch Partizipationsrechte nicht wirklich wahrnehmen. Bis heute besteht die Besonderheit des sozialdemokratischen Freiheitsverständnisses darin, dass es nicht nur, wie in der liberalen Tradition, universell gedacht ist, sondern auch die Verpflichtung enthält, die gesellschaftlichen Bedingungen zu schaffen und zu erhalten, unter denen möglichst alle Menschen von ihren Freiheitsrechten Gebrauch machen können. Die Grundwerte des demokratischen Sozialismus – Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – bilden für uns auch deshalb einen unaufhebbaren Zusammenhang, weil nur so das Ziel der gleichen Freiheit für alle erreichbar ist. Wir wissen, dass die SPD sich heute in einer schwierigen Lage befindet. Die Umbrüche der letzten zwei Jahrzehnte stellen sie vor die Aufgabe, ihre Programmatik und Pragmatik neu zu justieren. Das ist nicht von heute auf morgen zu leisten, und dass es dabei auch zu Fehlentscheidungen, Irritationen und Rückschlägen kommen kann, ja, nahezu unvermeidlich kommt, ist uns aus der eigenen Geschichte vertraut. In ihrer 140-jährigen Geschichte stand die Sozialdemokratie schon mehrmals an einem Scheideweg. Und selten wurde eine solche Situation ohne harte innerparteiliche Auseinandersetzungen und Fraktionskämpfe bewältigt. Manchmal kam es sogar zu massenhaften Austritten von Mitgliedern und zur Gründung neuer Parteien aus der Substanz der Sozialdemokratie.
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Im Wilhelminischen Reich musste die SPD sich entscheiden, ob sie das Parlament nur als Agitationsbühne zur Vorbereitung der Revolution nutzen oder trotz der äußerst beschränkten demokratischen Befugnisse der Volksvertretung parlamentarische und gewerkschaftliche Kleinarbeit leisten wollte. Sie entschied sich für den letzteren Weg und wurde darüber so stark, dass Bismarck sie verbieten ließ, was sie schließlich aber nur noch stärker machte. Als am Ende des Ersten Weltkriegs in Deutschland die Revolution ausbrach und der Kaiser außer Landes floh, musste die Sozialdemokratie sich entscheiden, ob sie eine kommunistische Minderheitendiktatur zulassen oder eine auf dem Mehrheitsprinzip basierende parlamentarische Demokratie errichten wollte. Sie entschied sich für Letzteres, obwohl sich bald zeigte, dass der ersten deutschen Demokratie die Kraft und Entschlossenheit fehlte, mit ihren Todfeinden fertigzuwerden. Sie bezahlte diese Politik mit der Abspaltung der USPD, die allerdings nicht von langer Dauer war. Die Sozialdemokraten blieben auch dann bei ihrer Entscheidung für den demokratisch-parlamentarischen Weg, als die bürgerlichen Parteien Hitlers Ermächtigungsgesetz und damit der Abschaffung der Demokratie zustimmten. Als die deutschen Sozialdemokraten sich vor 50 Jahren in Bad Godesberg ein neues Programm gaben, war wieder eine Grundsatzentscheidung zu treffen. Sie trennten sich von traditionellem ideologischem Ballast, der schon lange keine praktische politische Bedeutung mehr hatte: Die verbliebenen Reste des ehrwürdigen Klassenkampfvokabulars wurden getilgt, Programmpunkte wie die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien und die Einführung der Planwirtschaft endgültig ad acta gelegt. Die SPD präsentierte sich als moderne Arbeitnehmerpartei mit einem unverkrampften Verhältnis zur pluralistischen Demokratie und zur Marktwirtschaft. Das Godesberger Programm markierte den Anfang der bisher erfolgreichsten Phase in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Zuerst in der großen, dann in der sozial-liberalen
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oalition bestimmte die Partei fünfzehn Jahre lang die GeschiK cke der Bundesrepublik mit. Dann wechselte die FDP die Fronten und Helmut Kohl wurde Bundeskanzler. Er blieb es sechzehn Jahre lang. Die SPD schien verbraucht zu sein, ohne Ideen und ohne Machtwillen. Nicht wenige glaubten damals an das von Ralf Dahrendorf ausgerufene »Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts«. In dieser Situation tat die SPD, was sie immer tat, wenn sie in einer Krise steckte: Sie überarbeitete ihr Programm. Das Ergebnis war eine in vieler Hinsicht gelungene Modernisierung des Godesberger Programms, die mit der Erweiterung des Arbeitsbegriffs, einer veränderten sozialpolitischen Konzeption und der Integration ökologischer und feministischer Themen auf der Höhe der Zeit zu sein schien. Freilich war der Zeitpunkt der Verabschiedung denkbar unglücklich. Der Epochenbruch des Jahres 1989 setzte ganz andere Themen obenan auf die politische Tagesordnung. Die SPD brauchte eine Weile, um sich auf die abermals veränderte Lage einzustellen. Die Konservativen erklärten sich zum Sieger der Geschichte, und einige Jahre lang sah es so aus, als sei die Sozialdemokratie außerstande, ihre Lähmung zu überwinden. Aber dann siegte Tony Blair in Großbritannien, Lionel Jospin in Frankreich, und in Deutschland errang das Duo Schröder/Lafontaine bei den Bundestagswahlen am 27. September 1998 einen fulminanten Sieg. Auf einmal war wieder alles ganz anders. »EUROPA WIRD ROT« titelte die Boulevardpresse. Offenbar war das sozialdemokratische Jahrhundert doch noch nicht zu Ende. Allein dieser kurze Überblick über weit mehr als hundert Jahre SPD zeigt, dass man gut daran tut, voreiligen Pauschalurteilen über Zustand und Zukunft der Sozialdemokratie zu misstrauen. Die Geschichte ist offen, und die Offenheit der Geschichte ist Chance und Bürde zugleich. Denn auch das lässt sich aus der Geschichte lernen, dass es in hohem Maße von uns, den Mitgliedern, abhängt, ob die Partei eine Zukunft hat und wie diese aussieht.
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Wie ist die Lage heute? Den einst mächtigen Ostblock gibt es nicht mehr. Europa ist dabei, wieder ein Ganzes zu werden, und zugleich hat sich zum ersten Mal ein Weltmarkt im strikten Sinn des Wortes herausgebildet. Zwei Jahrzehnte marktradikaler Experimente liegen hinter uns. Sie haben neue Fakten geschaffen, die wir nicht einfach ignorieren können, sie haben aber auch gezeigt, dass der Markt, wenn er nicht politisch reguliert und eingehegt wird, zur Spaltung der Gesellschaft und zur Schwächung der Demokratie, in Teilen der Welt sogar zur Zerstörung aller staatlichen Ordnung führt. Wo aber Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geschwächt oder zerstört werden, hat die große Mehrheit der Menschen kaum noch Chancen, sich gegen die Willkür der Stärkeren zu schützen, fallen schließlich alle sozialstaatlichen Sicherungen weg, die verhindern, dass Menschen im Alter, bei Krankheit oder bei Arbeitslosigkeit ins Bodenlose stürzen. Im Marktstaat, wie ihn die Neoliberalen empfehlen, wird alles zur Ware: Kultur, Bildung, Absicherung gegen Krankheit und Arbeitslosigkeit, Altersvorsorge, Schutz vor Verbrechen und Gewalt. Wenn aber alles zur Ware wird, läuft dies darauf hinaus, dass die Spaltung der Gesellschaft vertieft wird, weil die ohnehin Begünstigten sich Kultur, Bildung und Sicherheit leisten können und andere nicht. Darum muss jede Linke heute entschlossen gegen die Privatisierungswut der Neoliberalen eintreten und die Rehabilitierung des öffentlichen Sektors betreiben. Zwei Jahrzehnte marktradikaler Experimente haben überall auf der Welt, auch bei uns in Deutschland, die Kluft zwischen Arm und Reich weiter aufgerissen und eine neue Unterschicht geschaffen, für die wir den keimfreien Begriff des Prekariats erfunden haben. Eine Linke, die für gleiche Lebenschancen für alle eintritt, muss angesichts dieser Entwicklung alle Maßnahmen unterstützen, die eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums fördern, und sich besonders um die Lebenschancen des unteren Fünftels der Gesellschaft kümmern. Sie darf sich, wenn sie mehr-
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heitsfähig sein will, allerdings nicht als ausschließliche Vertreterin der Unterschicht begreifen, sondern muss zur Überwindung der gefährlichen Spaltung der Gesellschaft auf ein breiteres Bündnis setzen, für das Kennzeichnungen wie »linke Mitte« oder »solidarische Mitte« vielleicht so falsch nicht sind. Eine moderne Linke muss aber bei den notwendigen Korrekturen der Martkverteilung darauf achten, das Funktionieren der Marktwirtschaft nicht grundsätzlich infrage zu stellen. Denn auch das ist eine Lehre der Geschichte, die eine moderne Linke sich zu Herzen zu nehmen hat: In hochkomplexen Gesellschaften wie den unsrigen ist der Markt als Instrument der Feinsteuerung der Wirtschaft durch nichts zu ersetzen. Andererseits – und das ist in den letzten zwei Jahrzehnten eben auch deutlich geworden – wäre es grundfalsch, alle Lebensbereiche der Marktlogik zu unterwerfen. Und zwar, weil Sozialdemokraten gegen jede Form des Totalitarismus sind. Wenn alles politisch ist und nichts mehr privat sein darf, ist eine Gesellschaft totalitär. Wenn alles und alle religiösen Geboten unterworfen werden wie in den heute wieder grassierenden Fundamentalismen, läuft dies auch auf eine totalitäre Gesellschaft hinaus. Wenn aber die Logik des Marktes alle Lebensbereiche durchdringt, wenn die Menschen nur noch als Produzenten und Konsumenten vorgesehen sind, dann ist auch dies im Kern ein totalitäres Gesellschaftskonzept. Eine moderne Linke steht für die Einhegung des Marktes durch demokratische Willensbildung und sozialstaatliche Logik und für die Ergänzung des Marktsektors durch einen leistungsfähigen öffentlichen Sektor. Natürlich nützt es nichts, sich die Welt einfach anders zu wünschen, als sie ist. Auch Linke können die Zwänge, unter denen die Politik heute operiert, nicht ignorieren. Aber sozialdemokratische Politik darf nicht, wie es in letzter Zeit in Deutschland zuweilen den Anschein hatte, auf Anpassung, auf sogenannte Standortpolitik reduziert werden. Es wäre verheerend für die Sozialdemokratie, wenn das, was unter den gegenwärtigen Machtbedingungen allenfalls möglich erscheint oder was im neoliberalen Klima für
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möglich erachtet wird, zum Inbegriff des für uns Wünschenswerten erklärt würde. Wir wissen, dass die Bedingungen für eine anspruchsvolle sozialdemokratische Politik heute nicht eben günstig sind. Aber gerade deswegen muss es unser Ziel sein, die Bedingungen Schritt für Schritt so zu verändern, dass eine anspruchsvolle sozialdemokratische Politik wieder mit Aussicht auf Erfolg betrieben werden kann. Um die Handlungsfähigkeit des Staates zu erhöhen, muss auch und gerade die Linke sich für die Konsolidierung der Staatsfinanzen einsetzen, sich für den Umbau, aber gegen den Abbau des Sozialstaats erklären. Hier liegt eine klare Trennungslinie zum verantwortungslosen Populismus etwa der Linkspartei. Aber wir sollten auch entschieden für eine gerechtere Besteuerung und für die Einführung allgemeiner Mindestlöhne eintreten, wo es sie nicht gibt. Vor allem aber sollten wir der energischste Anwalt einer europäischen Integration sein, die aus einem freien Markt eine funktionierende sozialstaatliche Demokratie macht. Viele Probleme, die sich uns stellen, sind auf der nationalen Ebene nicht oder nicht zufriedenstellend lösbar. Die Europäische Union als politischer Aktionsraum wird immer wichtiger. Die Linke sollte meiner Meinung nach entschieden alle Maßnahmen unterstützen, die die Handlungsfähigkeit der sich herausbildenden europäischen Mehrebenendemokratie erhöhen. Damit die Brüsseler Bürokratie nicht mehr vordringlich neoliberale Freihandelsinteressen exekutiert, sondern dem Mehrheitswillen der Menschen Europas unterworfen wird. Damit das Kapital nicht länger die Länder Europas gegeneinander ausspielen kann. Was wir in Europa brauchen, ist eine Harmonisierung der Besteuerung und die Einigung auf ein Mindestniveau sozialer Sicherung, eine abgestimmte europäische Außenpolitik – auch um ein Gegengewicht gegen die zurzeit höchst abenteuerliche Politik der USA zu bilden –, eine europäische Energie-, Infrastruktur- und Industriepolitik und vor allem strenge europaweit gültige Maßstäbe für ökologisches Wirtschaften. Wir brauchen all dies, weil wir auf die-
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sen und auf anderen Feldern im nationalen Rahmen an Grenzen der politischen Gestaltungsfähigkeit gelangen. Seit den frühen 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts ist das Bewusstsein für die Gefährdungen der natürlichen Lebensbasis gewaltig angewachsen. Dennoch haben auf fast allen Gebieten die Zerstörungen der Umwelt weiter zugenommen. Der Klimawandel mit schon jetzt klar erkennbaren desaströsen Folgen macht eine ökologische Wende im Wirtschaften und im Lebensstil unverzichtbar. Wer verhindern will, dass in großen Teilen Afrikas die Menschen ihre ohnehin prekäre Ernährungsbasis verlieren, dass Naturkatastrophen und Kriege um die versiegenden Rohstoffquellen immer mehr Opfer und Kosten verursachen, dass die Folgekosten des wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Fortschritts schließlich seine positiven Wirkungen bei Weitem übersteigen, wer künftigen Generationen die Chance zu einem Leben nach eigenen Vorstellungen erhalten möchte, muss jetzt handeln, muss entschlossen handeln. Unseren Kindern und Enkeln die gewaltigen Gefahren der Kernenergie und der damit verbundenen ungelösten Entsorgungsfrage aufzubürden ist unverantwortlich. Darum muss die Linke in der SPD ohne Wenn und Aber am Ausstieg aus der Atomtechnologie festhalten und den Umstieg auf regenerierbare Energien betreiben. Die ökologische Frage, das zeigt sich immer deutlicher, ist auch eine soziale Frage. Auch deshalb muss jede moderne Linke eine ökologische Linke sein. Es ist eine traurige Tatsache, dass die Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation im Ganzen nicht friedlicher geworden ist. Alte, lange zugeschüttet geglaubte Konflikte sind wieder aufgebrochen, neue sind hinzugekommen, in Afrika sind ganze Staaten zerfallen und zur Beute von Warlords und ihrer kapitalistischen Hintermänner geworden, der internationale Terrorismus hat sich zu einer weltweiten Bedrohung entwickelt, und die allein verbliebene Supermacht USA hat sich in den letzten Jahren der gefährlichen Illusion hingegeben, mittels ökonomischen Drucks und militärischer
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Mittel ohne Rücksicht auf die UNO und ihre europäischen Verbündeten die Welt nach ihren einseitigen Vorstellungen befrieden zu können. Die Linke in der SPD muss angesichts der labilen gegenwärtigen Weltlage auf eine aktivere Rolle Europas und eine Stärkung der Vereinten Nationen setzen. Das Ziel hat letztlich zu sein, ein globales Gewaltmonopol unter der Ägide der UNO durchzusetzen. Nur so ist eine dauerhafte neue Weltordnung des Rechts möglich. Das heißt für die Linke zugleich, dass sie – auch wenn das vielen, die wie ich in der pazifistischen Tradition aufgewachsen sind, schwerfällt – Frieden schaffende und Frieden sichernde Maßnahmen der UNO, selbst wenn sie militärische Gewalt implizieren, unterstützen muss. Wir können nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, dass angesichts des gegenwärtigen Zustands der Welt, angesichts der Tatsache, dass das Kapital sich den ganzen Globus erschlossen hat, während die Möglichkeiten der rechtlichen und politischen Kontrolle hinterherhinken und wir bisher nicht einmal in der EU eine funktionierende Demokratie zustande gebracht haben, dass unter solchen Bedingungen eine Politik, die sich an den Grundwerten der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität orientiert, machtmäßig nicht mit ausreichender Konsequenz durchzusetzen ist. Es mag schon sein, dass man, um Schlimmeres zu verhüten, vieles von dem tun muss, was man zurzeit eben nur meint tun zu können, und wenn man wie zurzeit in einer Großen Koalition zusammen mit dem politischen Hauptgegner regiert, sind weitere Abstriche vom eigenen Programm wohl unvermeidlich. Aber wenn dies schon so ist, dann sollte man zumindest die Zwänge offenlegen, unter denen man operiert, und die Kräfte benennen, die eine gerechtere und humanere Politik verhindern, und sollte nicht den Anschein erwecken, dies und nichts anderes sei genau das, was Sozialdemokraten wollten. Die Sozialdemokratie muss beides tun: Sie muss den gegebenen engen Spielraum pragmatisch nutzen und eine Strategie entwickeln, die geeignet ist, die Machtlage zugunsten der Reformkräfte zu verändern; sie muss heute an-
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gesichts der Übermacht des Kapitals Schlimmeres verhüten und alles daran setzen, weltweit, aber vor allem in Europa, Bedingungen zu schaffen, unter denen eine Politik im Sinne der sozialdemokratischen Grundwerte im vollen Sinn wieder möglich ist. Die Diskussion darüber, wie diese Bedingungen geschaffen werden können, wird bisher in der SPD kaum geführt. Sie wird aber mit Aussicht auf Erfolg nur geführt werden, wenn die Linke sie forciert – nicht um jene anzuklagen, die unter den gegenwärtigen Bedingungen Kompromisse machen müssen, sondern um deutlich zu machen, dass Sozialdemokraten nicht nur den Status quo verwalten, sondern die Welt verändern wollen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die SPD nur dann wieder an Attraktion gewinnen wird, wenn sie einerseits die Kärrnerarbeit des Regierens auf sich nimmt und zugleich eine weit über den gegenwärtigen Zustand hinausreichende Vision entwickelt. Das Hamburger Programm ist auch unter diesem Aspekt durchaus ein erster Schritt in die richtige Richtung. Es könnte den Parteimitgliedern Orientierung geben – wenn sie denn gelegentlich hineinschauten. Ich selbst rege allerdings an, noch etwas kühner vorauszudenken. Wie ist die Ausgangslage? Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit waren die objektiven, die wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen für die Befreiung der Arbeit, für die Angleichung der Lebenschancen, für die Überwindung von Hunger und Elend, für die nachhaltige Organisation des Stoffwechsels von Mensch und Natur so groß wie heute. Zugleich aber wächst die Gefahr, dass ein außer Rand und Band geratener globaler Finanzmarkt, eine abermals gesteigerte Ausbeutung von Mensch und Natur, dass Hungerkatastrophen und mörderische Kriege um schwindende Ressourcen die Welt in den Abgrund stürzen. Die alte von Hegel auf Marx überkommene geschichtsmetaphysische Überzeugung, dass der Gang der Geschichte selbst, seiner inneren Logik folgend, auf die große Befreiung programmiert sei, kann
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Hoffnung nicht mehr nähren. Spätestens seit dem 6. August 1945, dem Tag, an dem die erste Atombombe abgeworfen wurde, wissen wir, dass die Geschichte auch in der kollektiven Auslöschung der Menschheit enden könnte. Wenn wir aber nicht mehr mit der Universalgeschichte paktieren können, müssen wir selbst Bilder einer lebenswerten Zukunft entwerfen. Hierzu einige skizzenhafte Anregungen: Freiheit, das scheint die Geschichte zu belegen, ist auf Dauer nur in materiell relativ generösen Verhältnissen möglich, in denen es (nach Ronald Inglehart) zu einer »allmählichen Verlagerung von den Überlebens- zu den Selbstartikulationswerten« kommt. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass das, was als ausreichend für ein gutes Leben angesehen wird, je nach dem kulturellen Kontext und den dominierenden Werten historisch variabel ist. Die Frage nach der Zukunft des Fortschritts ist damit zugleich die Frage danach, wie die Reichtumsvoraussetzungen einer Kultur der Freiheit auf Dauer gestellt werden können. Da das herkömmliche System der wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Fortschrittsproduktion mit den ökologischen Bedingungen auf unserem Planeten ganz offensichtlich nicht vereinbar ist und daher nachhaltigen Wohlstand nicht herzustellen vermag, brauchen wir – zunächst in den reichen Gesellschaften der Nordhalbkugel, schließlich aber überall auf der Welt – einen neuen Typus der Reichtumsproduktion und ein verändertes Wohlstandsmodell. Ihre wichtigsten Merkmale sollten nach meiner Meinung sein: 1. Drastisch erhöhte Energie- und Stoffeffizienz; mittelfristig die Energiewende zur Sonne, das heißt zu den regenerierbaren Primärenergien. 2. Wo immer möglich, Schäden vermeiden, statt nachträglich Schäden zu kompensieren. Vorbeugen ist tatsächlich besser als heilen. 3. Statt immer mehr Güter und Dienstleistungen pro Kopf der Bevölkerung, statt ständig beschleunigter (Produkt-)Innova-
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tion Nutzung der Rationalisierungsgewinne zur Schaffung von mehr frei verfügbarer Zeit für alle. Sinnvoller Wohlstand wird in Zukunft zu einem erheblichen Teil Zeitwohlstand sein. 4. Wesentlicher Bestandteil eines zukünftigen Wohlstands sind verlässlich vorgehaltene öffentliche Güter (zum Beispiel Bildung, Gesundheit, Sicherheit, Kultur etc.) Die Rehabilitierung des öffentlichen Sektors ist integraler Bestandteil jedes nachhaltigen Fortschrittskonzepts. 5. Wohlstand kann sowohl durch Erwerbsarbeit als auch durch freie Tätigkeit geschaffen werden. Auch darum ist die Aktivierung der Zivilgesellschaft eine richtige Orientierung. Im Übrigen sind Spiel und Muße, kollektive Feste und Meditation, Freundschaft und Liebe wichtigere Quellen menschlichen Glücks als bloßer Warenkonsum. Die Spielräume hierfür lassen sich durch die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeiten (siehe oben!) erheblich erweitern. Auf einer solchermaßen veränderten materiellen Basis bliebe als zentrale Fortschrittsaufgabe bestehen: die Schaffung gleicher Freiheit für alle – auch durch die Umverteilung von Macht, Besitz und Einkommen. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass gerade die Linke eine zukunftsträchtige Vision von Arbeit und Leben entwickelt. Ansatzpunkte dafür kann man gerade auch in den Umbrüchen der Arbeitswelt entdecken, die uns heute so viel zu schaffen machen. Nur ein Hinweis: Die digitale Revolution eröffnet bisher nicht da gewesene Möglichkeiten der Rationalisierung und Automation – in der industriellen Produktion, bei den Sachdienstleistungen, sogar im Sektor der sogenannten geistigen Arbeit. Im Gegensatz zu früher sind die digital inspirierten Prozessinnovationen heute zumeist energie- und materialsparend und daher auch ökologisch sinnvoll. Auch wenn zunächst noch die Verlagerung von Produktion und Dienstleistungen in Billiglohnländer nicht unerhebliche Probleme verursacht, werden Rationalisierung und Automation
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sich schließlich auch dort durchsetzen. Vermutlich werden auf lange Sicht – jedenfalls im Marktsektor – alle Arbeiten automatisiert, in denen die Arbeitsvollzüge vollständig definiert und berechnet werden können (bis auf einen kleinen Rest für die Liebhaber gediegener Hand- und Kopfarbeit). Übrig bleibt dann als von Menschen zu verrichtende Arbeit vor allem das, was nicht automatisiert werden kann: leitende und beratende Tätigkeiten in Wirtschaft und Verwaltung, Marketing und Werbung, handwerkliche Arbeiten, künstlerische Produktion, personenbezogene Dienstleistungen, Erfinden, Planen, Entwickeln, Warten, Kommunizieren, Motivieren, Lernprozesse organisieren, schöpferisch sein, mit Menschen umgehen, sich kümmern, trösten, pflegen – alles das, was Maschinen nun einmal nicht können. Alle diese Tätigkeiten sind ihrer Natur nach personalintensiv, nicht geeignet für Rationalisierung und Automation. Die Ersetzung des Lehrers durch den Computer, der Pflegerin durch den Monitor ist keine Rationalisierung, sondern Unsinn. Die üblichen neoliberal inspirierten Einsparstrategien führen hier nicht zu mehr Effizienz, sondern zur Minderung oder zur Pervertierung der Leistung. Weil Rationalisierung im üblichen Sinn hier nicht greift, gelten diese Tätigkeiten heute als übermäßig kostspielig. In unserem System tragen sie, eben weil sie personalintensiv sind, darüber hinaus proportional weitaus mehr zur Finanzierung der sozialen Leistungen bei als der hoch rationalisierte Sektor. Denn die Sozialabgaben berechnen sich nach der Zahl der Beschäftigten beziehungsweise nach der Lohnsumme, nicht nach der Wertschöpfung. Der Teil der Arbeit, der auch in Zukunft von Menschen zu verrichten sein wird, ist heute schlicht nicht wettbewerbsfähig, jedenfalls wenn es darum geht, wer sich durch Steigerung der Arbeitsund Kapitalproduktivität welchen Anteil an den gesellschaftlich erarbeiteten Finanzmitteln sichert. Rationalisierung und Automation im Maschinensektor und wachsender Kostendruck im Sektor menschlicher Arbeit lassen – wenn alles so bleibt, wie es ist – trotz
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der trügerischen Entspannung, die uns heute vermeldet wird, die Arbeitslosigkeit weiter steigen. Es gibt nur einen Ausweg: Die steuer- und finanzpolitische Privilegierung des Maschinensektors muss beendet, die Wertschöpfung in diesem Sektor mehr als bisher zur Finanzierung jener Aufgaben herangezogen werden, die nur mit menschlicher Arbeit geleistet werden können. Nur so können die Finanzmittel aufgebracht werden, ohne die die gesellschaftlich notwendige menschliche Arbeit nicht erledigt werden kann; nur so kann durch Investitionen in Gesundheit, Pflege, Bildung und Forschung der große und wachsende Bedarf an personenbezogenen Dienstleistungen gedeckt werden; nur so kann auch die wachsende Binnennachfrage entstehen, die auch der Maschinensektor braucht, um seine Produkte abzusetzen. Statt weiter den kruden Fortschrittsvorstellungen des 19. Jahrhunderts zu folgen und an der Privilegierung der Maschinenarbeit festzuhalten, sollten wir die geradezu utopischen Möglichkeiten nutzen, die Rationalisierung und Automation eröffnen. Einmal ergeben sich bisher nicht für möglich gehaltene Chancen der Entlastung von fremdbestimmter und belastender Arbeit und der Mehrung frei verfügbarer Zeit für alle, und zum anderen ist der Typus der Arbeit, der lebensnotwendig ist und nicht wegrationalisiert werden kann, in der Regel menschlich anspruchsvoller: Er eröffnet zumeist größere Möglichkeiten der Sinnstiftung und bietet somit intrinsische Gratifikationen, die weit über das hinausgehen, was die klassische Industrie- und Büroarbeit gemeinhin zu bieten hatte. Eine wirklich moderne, an den Bedürfnissen der Menschen und nicht an der Kapitalverwertung orientierte Dienstleistungsgesellschaft könnte befriedigende und humane Arbeitsmöglichkeiten für alle bieten, und zwar auch für die, die nicht die höheren Weihen des Bildungssystems erhalten haben. Die hier angedeutete Vision schließt an die Utopie der Befreiung der Arbeit an, die die Marxschen Frühschriften durchzieht, eine Utopie, die über die bloße Befreiung von der Arbeit mittels Arbeits-
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zeitverkürzung, die freilich dazugehört, hinausgeht. Die Linke in der SPD sollte zusammen mit den Gewerkschaften das, was in den 70er Jahren unter der Überschrift Humanisierung der Arbeit und in den 80ern in der Perspektive einer arbeitnehmerorientierten Zeitsouveränität diskutiert wurde, bezogen auf die Bedingungen der postfordistischen und postindustriellen Arbeitswelt heute weiterentwickeln und dieses Feld nicht denen überlassen, die nur die Verwertungsinteressen des Kapitals im Auge haben. Neue kommunikations-, organisations- und produktionstechnische Verfahren eröffnen heute – jedenfalls im Prinzip – ungeahnte Möglichkeiten, die Arbeitswelt nach den Lebensansprüchen der Arbeitenden zu gestalten. Geschichtsmächtige und die Politik belebende Visionen und auf ihnen fußende politische Projekte fallen freilich nicht vom Himmel. Sie können nur aus der kritischen und fantasievollen Auseinandersetzung mit der Realität und dem ihr innewohnenden Potenzial erwachsen. Auch darum ist die Bildungs- und Kulturarbeit in der Partei von so großer Bedeutung. Nur wenn es gelingt, die Menschen wieder dazu zu bringen, dass sie sich ihrer Arbeitsund Lebenswelt mit klarem Blick und mit kreativer Fantasie annehmen, nur wenn die Nachfolgeorganisationen der Arbeiterbewegung wieder Kulturbewegungen werden, können sie ihre noch keineswegs erledigte historische Mission erfüllen. Kann man solche Fragen in der SPD von heute überhaupt diskutieren? Wo? In welchem OV? Bei den Jusos? Dort wohl noch am ehesten. In der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, in der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen? In welchem Unterbezirk, in welchem Bezirk, in welchem Landesverband? Ist ein Bundesparteitag denkbar, der weniger Inszenierung, dafür mehr inhaltliche Diskussion bietet? Oder sind wir inzwischen eine Partei der Politikprofis geworden, die mit den Mitgliedern nur über die Medien kommunizieren? Sind wir gar inzwischen eine Partei der Karrieristen und Opportunisten, die ihr Mäntelchen in jeden Wind hängen, der sie persön-
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lich vorwärtszubringen verspricht? Ich hoffe es nicht. Ich glaube, dass die SPD nur als Mitgliederpartei, als diskutierende und fantasievoll und realistisch zugleich handelnde Programmpartei eine Chance hat, die Politik dieses Landes und darüber hinaus die Gestalt des zukünftigen Europas zu prägen. Die Stärke der SPD in ihren besten Zeiten war die große Zahl engagierter und informierter Mitglieder, die, auch wenn die Medien mehrheitlich aufseiten der Gegner waren, die sozialdemokratische Botschaft zu vermitteln wussten. Natürlich ist auch mir klar, dass wir in einer Mediengesellschaft leben, in der die Parteiund Gewerkschaftspostille und das Gespräch mit dem Kassierer nicht mehr ausreichen, um sozialdemokratische Vorstellungen in die Köpfe der Menschen zu pflanzen. Aber auch BILD, BamS und Glotze sind nicht genug – vor allen Dingen dann nicht, wenn es darauf ankommt, Mehrheiten für nicht immer einfache Veränderungsprojekte zu gewinnen. An vielen Stellen in der SPD regt sich wieder ein demokratischer Geist der solidarischen Kritik und des Widerspruchs, wird wieder über den Kurs der Partei diskutiert, nehmen die Mitglieder wieder in die eigenen Hände und Köpfe, was sie allzu lange »denen da oben« überlassen hatten. Es darf in Zukunft nicht mehr passieren, dass duckmäuserische Delegierte auf Parteitagen ohne Widerspruch Dinge beschließen, die sie für falsch halten, und sich, kaum dass sie wieder zu Hause sind, von ihren eigenen Beschlüssen feige distanzieren. Wer möchte, dass Parteitagsbeschlüsse von den Mitgliedern, auch von denen, die anderer Meinung sind, mitgetragen werden, der muss dafür sorgen, dass alle Argumente dafür und dagegen unverkürzt in die Diskussion eingebracht werden können. Mit Manipulation und Erpressung, mit selbstherrlichem »Basta!« – das sei den neunmalklugen Hintergrundregisseuren gesagt – ist die notwendige Bindungskraft von Beschlüssen nicht herzustellen. Ich begrüße es, dass sich vielerorts die Linke in der SPD wieder rührt. Ich verspreche mir davon eine Belebung der Partei, eine Be-
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lebung, die wir dringend brauchen, wenn dieses Land, wenn dieses Europa seine wachsenden Probleme lösen will. Jeder, der sich politisch engagiert, sollte sich allerdings darauf gefasst machen, dass ihm Erfolge nicht in den Schoß fallen. Politik ist Arbeit, über weite Strecken jenes berühmte »Bohren dicker Bretter«, zu dem sowohl Augenmaß als auch Leidenschaft vonnöten sind. Und manchmal, auch das wissen wir, wird der Ertrag all unserer Anstrengungen verdammt gering ausfallen. Aber Politik kann auch Spaß machen, weil es allemal lustvoller und wohl auch gesünder ist, sich einzumischen, selbst mitzugestalten, als sich von fremden Kräften wie ein Bauer auf dem Schachbrett herumschieben zu lassen. Und wenn wir Menschen zum Mitmachen ermuntern wollen, ist es sicherlich nicht die schlechteste Idee, sich diese Lust an der politischen Gestaltung auch anmerken zu lassen. Ich wünsche mir eine Linke in der SPD, die frei von Dogmatismus, aber prinzipientreu die Politik der Partei mitgestaltet, die keinem Streit aus dem Wege geht, wo er von der Sache her notwendig ist, sich zugleich aber solidarisch verhält, wenn das Interesse der Partei und des Landes es erfordern, die angesichts der Größe der Probleme und der Stärke der Gegner nicht verzagt, sondern mit einem Wort Ernst Blochs »ins Gelingen verliebt« bleibt, und die über alle Mühen des politischen Ringens nicht vergisst, dass das Leben mehr ist als Politik, dass wir uns politisch in der Sozialdemokratie engagieren, um möglichst allen Menschen die Chance zu eröffnen, sich in allen Facetten ihrer Existenz, eben auch in den politikfernen und unpolitischen, frei entfalten zu können.
Programmatische Fantasie – Moderner Sozialismus Anmerkungen zu den neuen Juso-Thesen Uwe Kremer
Bei der Vorlage der »Thesen zu jungsozialistischer Politik – Für eine Linke der Zukunft« handelt es sich um einen bemerkenswerten Vorgang, den man ein klein wenig als »historisch« bezeichnen kann. Denn mit seinem klaren Bekenntnis zu einer kapitalismuskritischen und sozialistischen Grundsatzposition stellt sich der Verband erneut in die Tradition der sogenannten Linkswende des Jahres 1969. Das sind immerhin fast 40 Jahre Kontinuität, ohne die die heutige Linke in der SPD nicht denkbar wäre. Man sollte übrigens hinzufügen, dass die Jusos auch eine Vielzahl von linken Persönlichkeiten hervorbrachten, die teilweise bei den Grünen, insbesondere aber in der heutigen Linkspartei eine wichtige Rolle spielen. Jedenfalls hat es – bei Lektüre des Papiers, angesichts des Selbstbewusstseins an der heutigen Juso-Spitze und mit Blick auf die juso-historisch ungewöhnlich breite Rückendeckung im Verband – schon etwas außerordentlich Beruhigendes, dass diese Kontinuität auch für die nächsten Jahre gesichert zu sein scheint. Hierin drückt sich wohl auch – unabhängig von Parteiorientierungen – eine Tendenz in Teilen der nachwachsenden Generation aus: Jenseits eines eher punktuellen und diffusen gesellschaftskritischen Engagements ist wieder ein verstärktes Interesse an grundlegenderen Auseinandersetzungen mit den herrschenden Verhältnissen – und ergo auch an der Marxschen Theorie – zu verzeichnen. Es ist gut, dass dies auch die Sozialdemokratie erreicht
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hat. Es ist insbesondere auch gut für eine SPD-Linke, die in den heutigen Gemengelagen ein so klägliches Dokument wie das neue SPD-Grundsatzprogramm schon als Erfolg verarbeiten muss.
Projekt Moderner Sozialismus – ein kurzer Rückblick Zunächst möchte ich mich ein wenig auf den eigenen Werdegang beziehen – als Juso, der 1972 mit 16 Jahren gleich in die SPD eingetreten war, sich später in der marxistisch orientierten »JusoLinken« (auch als »Stamokap-Gruppierung« bezeichnet) betätigte und den es in der zweiten Hälfte der 80er Jahre dann in den JusoBundesvorstand verschlug. In dieser Zeit fand ein grundsätzlicher programmatischer Paradigmenwechsel statt, der insbesondere in den »53 Thesen des Projekts Moderner Sozialismus« aus dem Jahre 1989 seinen Ausdruck fand. Auf diese Thesen nimmt ja auch das gegenwärtige Juso-Dokument in der These 5 explizit und an vielen anderen Stellen schlaglichtartig Bezug. Während in den 70er Jahren der aktuelle Kapitalismus noch vorrangig als politisch-ökonomische Beziehung zwischen Staat und Großkonzernen galt, die sozialistische Alternative als instrumentell-institutionelles Set aus öffentlicher Gesamtplanung und Vergesellschaftung der Großkonzerne angesehen wurde und man ihre wesentliche Trägerschaft in den Massenorganisationen der Arbeiterbewegung verortete, kam es in den 80er Jahren – bis hin zu den »53 Thesen« – zu deutlichen theoretischen und konzeptionellen Verschiebungen. Der in die Krise geratene bisherige Kapitalismus wurde nun auch als »Fordismus« analysiert – verkürzt: als ein Regime der Massenproduktion und des Massenkonsums, abgesichert durch technischen Fortschritt und Sozialstaat. Da auch die politischen Kräfte insgesamt und die Arbeiterbewegung und die sozialistischen Alternativen »fordistisch« geprägt waren, gerieten sie – vermittelt über die Änderung von Bedürfnisstrukturen, Lebensbeziehungen und Milieus – gleich mit in die Krise. Die Linke werde sich
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nur behaupten können, wenn sie auf den »post-fordistischen« Kapitalismus auch eine »post-fordistische« Antwort finde, so unsere Auffassung. Dabei waren wir noch von der vergeblichen Hoffnung geprägt, dass es zu einer Verbindung zwischen dieser Bewegung im »Westen« und einer sozialistischen Erneuerung im »Osten« Europas kommen könnte. Aber zunächst einmal war die zweite Hälfte der 80er Jahre in mehrerlei Hinsicht durch eine Neusortierung sozialer Bewegungen gekennzeichnet: • Der Kampf um die 35-Stunden-Woche und die Verkürzung der täglichen Arbeitszeit nahm die damaligen Diskussionen um die »Zukunft der Arbeit«, das Ringen um die Veränderung der Geschlechterverhältnisse und die auf persönliche Selbstverwirklichung orientierten Bedürfnisstrukturen auf. • Der »vorsorgende Sozialstaat« wurde schon damals propagiert – allerdings nicht etwa im Sinne der Agenda-2010-»Reformen«, sondern als Um- und Ausbaukonzept, das insbesondere jungen Frauen selbstbestimmte Lebenswege eröffnet (bei uns dann in der Losung der »biografischen Selbstbestimmung« zugespitzt). • In der Ökologie kam es zum Übergang von der »AKW-nein-Haltung« zu Konzepten des ökologisch-solidarischen Umbaus der Industriegesellschaft, einer Politik »ausgewählter Wachstumsfelder« und darauf ausgerichteter Zukunftsinvestitionen und Rahmenplanungen (aus dieser Zeit stammt auch der solarwirtschaftliche Ansatz). • Dies wurde auch von wachsenden Teilen der Gewerkschaften mitgetragen, die die »Zukunft der Arbeit« auch in Verbindung mit deren Nutzen für Umwelt und Lebensweise diskutierten (sichtbar etwa an den damaligen Kongressen der IG Metall zur Zukunft der Verkehrswirtschaft). Jenseits von historischen Gesetzmäßigkeiten, Weltlagen, Parteilogiken und Politikmechanismen wurde hierbei auch unser
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eigenes »subjektives Bedürfnis nach Sozialismus« thematisiert. »Anders arbeiten – anders leben« war ein Motto, das die Verbandsdiskussion in der zweiten Hälfte der 80er Jahre stark prägte. Unsere »53 Thesen« waren da nur eine stark sozialistisch ausgerichtete Facette. Bedeutsamer war sicherlich das ebenfalls 1989 verabschiedete Berliner Grundsatzprogramm der SPD, in dessen Gestaltung die verschiedenen linken Strömungen der SPD maßgeblich zusammenwirkten und das in vielerlei Hinsicht aktueller und zukunftsweisender war als das heute geltende Programm. Man versuchte zwar, diese Diskurse in den 90er Jahren bei den Jusos, in der spw – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft und im sogenannten Crossover-Projekt von linken Grünen, sozialistischen SPD-Linken und PDS-Reformern fortzuführen. Allerdings gingen die gesellschaftlichen wie auch innerparteilichen Ansätze einer »post-fordistischen« linken oder sogar sozialistischen Alternative im Laufe der 90er Jahre allmählich unter – angesichts des Zusammenbruchs des sowjetischen Systems (der auch dessen sozialistische Kritiker in Mitleidenschaft zog), angesichts der zunehmenden Bedeutung von reinen Abwehrkämpfen und Bestandssicherungen (spürbar vor allem in den Gewerkschaften) und angesichts einer zweiten neoliberalen Offensive, in der Teile nunmehr der internationalen Sozialdemokratie eine maßgebliche Rolle spielten. Aber ich denke, dass viele der Ende der 80er Jahre formulierten Gedanken und Stoßrichtungen erst noch zur Geltung zu bringen sind und dass die neuen Juso-Thesen dazu einen aktuellen und eigenständigen Beitrag leisten.
Zwei Vergesellschaftungslogiken Es zeichnet den »Geist« der Thesen insbesondere aus, dass darin wieder das Spannungsverhältnis thematisiert wird, das zwischen einer Perspektive jenseits des Kapitalismus und dem Leben und Arbeiten im »Hier und Jetzt« besteht – und zwar nicht nur als ein
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allgemein-politisches Spannungsverhältnis, sondern als eines, das auch und gerade die einzelne Person betrifft (These 14 und die abschließende These 63). Denn dies ist eine Grundvoraussetzung für jedwede intellektuelle und politische Produktivität von Sozialistinnen und Sozialisten. Umso mehr will ich mich im Rahmen dieses kurzen Diskussionsbeitrages der Bearbeitung dieses Spannungsverhältnisses in den neuen Thesen etwas ausführlicher und kritisch widmen. Denn die Autorinnen und Autoren kritisieren in der These 6 die Juso-Linken von Anfang der 90er Jahre, die sich – vor dem Hintergrund der damaligen »53 Thesen des Projekts Moderner Sozialismus« – zur Aufgabe gesetzt hatten, »in den ökonomischen, sozial-kulturellen und politischen Verhältnissen der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft die Grundlagen für einen entwickelten Sozialismus so weit wie möglich auszubauen«. Denn: »In dieser Vorstellung verwischten sich die grundlegenden Unterschiede zwischen kapitalistischer und sozialistischer Gesellschaft.« In den neuen Thesen wird hingegen die »Totalität« des Kapitalismus betont, der mit seiner ihm innewohnenden Logik und Dynamik alle menschlichen Lebensbereiche und Beziehungen durchziehe und auch seine Gegnerschaft determiniere (These 9). Daran anknüpfend ist man in These 30 dann der Meinung, »dass wirkliche Solidarität, Gleichheit und Freiheit nur jenseits des Kapitalismus Realität werden können«. Meines Erachtens handelt es sich hierbei um eine sehr schematische, politisch wenig orientierende Sichtweise der Dinge. Ich bin nicht der Meinung, dass der Sozialismus jenseits irgendeines Zaunes beziehungsweise im Jenseits auf uns wartet, sondern – durchaus im Marxschen Sinne – dass eine Gesellschaftsformation erst dann untergeht, wenn sich in ihrem Schoß die Elemente der neuen Gesellschaft schon entwickelt haben. So koexistiert der Kapitalismus mit seiner zweifellos dominanten Verwertungslogik mit einer anderen Vergesellschaftungslogik, nämlich der Logik einer solidarisch assoziierten und planvoll haushaltenden Ökonomie.
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Dies dürfte Marx auch gemeint haben, als er im 19. Jahrhundert die Verkürzung des Arbeitstages als Sieg der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse über die des Kapitals bezeichnete und er in der wissenschaftlich-technischen Revolutionierung des Produktionsprozesses den Aufstieg des Arbeiters zum Wächter und Regulator dieses Prozesses angelegt sah. So stand auch der Sozialstaat des 20. Jahrhunderts zumindest in seinen entwickelten Ausprägungen, in denen er riesige Anteile des gesellschaftlichen Reichtums der kapitalistischen Verwertungslogik entzog und in eigene Dienstleistungs- und Versorgungsstrukturen einspeiste, für eine andere, nämlich gemeinschaftliche Vergesellschaftungslogik. Er war einerseits mit einer Produktivkraftentwicklung verbunden, die Massenproduktion und Massenkonsum – den »Fordismus« – ermöglichte. Andererseits war er starken Massenorganisationen der Arbeiterbewegung geschuldet, die in einigen Ländern auch ihren Einfluss in der industriellen Ökonomie selbst geltend machen konnten (in den Strukturen der Mitbestimmung wie auch in verstaatlichten Sektoren). Hierbei zeigte sich aber, dass sich diese Logik der »Gemeinschaftlichkeit« nicht nur als demokratische Selbstbestimmung, sondern auch als bürokratisch-korporatistische »Massenverwaltung« artikulieren ließ und sie auch in erheblichem Maße mit der Akzeptanz der Natur und Lebensräume zerstörenden Seiten des »Fordismus« einherging. Die Behauptung des »Modernen Sozialismus« (in Nachfolge der »53 Thesen«) ist nun die, • dass es auch im 21. Jahrhundert erforderlich und möglich ist, eine gemeinschaftliche Vergesellschaftungslogik schon im Rahmen der kapitalistisch dominierten Gesellschaftsformation zur Geltung zu bringen, • dass sie sich durch eine wesentlich stärkere demokratisch-selbstbestimmende, eher netzwerkartig aufgebaute, ökologische und hinsichtlich der Lebensräume plurale Ausprägung auszeichnen wird und
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• dass hierfür technologische und sozial-kulturelle Tendenzen der nunmehr »post-fordistischen« Produktivkraftentwicklung offensiv in Anspruch genommen werden können. Die Neuformierung des Sozialstaates im Sinne der »biografischen Selbstbestimmung« (hierfür unter anderem zentral: die »Arbeitsversicherung«), der ökologische Umbau der Energiewirtschaft im Sinne der vorliegenden solarwirtschaftlichen Konzeptionen und der systematische Ausbau einer neuen Gemeinwirtschaft beziehungsweise »solidarischen Ökonomie« in den Regionen – um nur drei Beispiele zu nennen – sind in diesem Sinne zeitgemäßer Ausdruck einer alternativen Vergesellschaftungslogik.
Strukturreformen in sozialistischer Perspektive Zwischen »kommunal verwalteten Schwimmbädern« und »besetzten Häusern mit Volksküche« (These 9) und dem Sozialismus »jenseits des Kapitalismus« gibt es also meines Erachtens die Möglichkeit und die Notwendigkeit, grundlegende Strukturreformen in Angriff zu nehmen, in denen der moderne Sozialismus sichtbar wird. Obwohl beziehungsweise gerade weil die Thesen teilweise sehr fundamental daherkommen, fallen sie aber in diesem Zwischenraum sehr zaghaft und defensiv aus. Deutlich wird dies insbesondere an der These 28: Sie trägt immerhin den Titel »Sozialistische Wirtschaftspolitik«. Der damit verbundene Anspruch, auch für die Wirtschaft sozialistische Alternativen zu denken, kann zunächst nicht deutlich genug unterstrichen werden. Denn in den vergangenen Jahren hat sich in der Linken die Neigung breitgemacht, die Wirtschaft mit dem Kapitalismus zu identifizieren und »das Soziale« vor »der Wirtschaft« schützen zu wollen. Dieser Neigung geben die Jusos nicht nach. Aber: Die in These 28 formulierten Vorstellungen zur »sozialistischen Wirtschaftspolitik« sind im Kern auf keynesianische Instru-
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mente der Fiskal- und Geldpolitik reduziert, und die sind ja nun wirklich nicht genuin sozialistisch (doch sind sie zweifellos sehr kompatibel mit einer alternativen Vergesellschaftungslogik!). Ansonsten werden dort viele Elemente stichwortartig und eher beiläufig erwähnt, die Arbeitsversicherung ebenso wie der öffentliche Beschäftigungssektor, aber ihr »sozialistisches Potenzial« wird nicht ausgespielt. Die »Demokratisierung der Wirtschaft« erschöpft sich in einem Halbsatz zum »Ausbau öffentlicher Beschäftigung und alternativer Wirtschaftsformen«, über welche man dann aber gar nichts mehr erfährt. Die Grundrichtung der Thesen 60 bis 62 zur Ökologie ist unbedingt zu unterstützen, natürlich insbesondere mit Blick auf die Inanspruchnahme des technischen Fortschritts und die Forderung nach einer Kontrolle der gesellschaftlichen Infrastruktur. Aber man kann noch einen Schritt weitergehen, als dies die Thesen tun. Ich bin der Meinung, dass vor allem mit der Solartechnologie eine technologische Basis existiert, die nicht nur in hohem Maße kompatibel ist mit den Prinzipien einer solidarischen Energie- und Umweltpolitik, sondern mit einem solidarischen und sozialistischen Wirtschaften überhaupt: Eine moderne sozialistische Ökonomie wird eine Solarwirtschaft sein. Das heißt, es geht nicht mehr um eine ökologische »Fachpolitik« (beziehungsweise »Ökologiepolitik«), sondern um das Szenario der künftigen Ökonomie. Dabei denke ich, dass die Diskussionen und Initiativen, die sich unter der Losung der »solidarischen Ökonomie« entwickelt haben, in stärkerem Maße Eingang in die Programmatik der Jusos und letztendlich natürlich auch in die der SPD finden sollten. Sachlich und strategisch wichtig wäre es, dies mit der Neuaufstellung der Kommunalwirtschaft zu verknüpfen und die regionale Kooperation mit mittelständischen Sektoren des Handwerks und des Dienstleistungsgewerbes zu suchen. Natürlich käme es darauf an, sich nicht auf Insellösungen zu beschränken und dadurch das Terrain der »Großökonomie« der kapitalistischen Verwertungslogik zu überlassen, sondern eine
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Verbindung zu den makroökonomischen Regulationsmechanismen zu schaffen. Die Reform beziehungsweise Neuentwicklung derartiger Mechanismen steht ja spätestens mit der großen Finanzkrise und ihren realwirtschaftlichen Wirkungen auf der Tagesordnung. Auch und gerade in den aktuellen Diskussionen und Entwicklungen sind Potenziale und Elemente einer sozialistischen Perspektive aufzuspüren und zu entwickeln. Dies gilt für die öffentliche Kontrolle und Neujustierung des Bankensektors, insbesondere aber auch für die Möglichkeiten, die staatliche und öffentlich regulierte Investitionsfonds für die wirtschaftliche Realisierung gesellschaftlich vorgegebener Ziele bieten. Wir müssen uns also wieder Fragen der öffentlichen Steuerung von wirtschaftlichen Prozessen und damit auch der Verfügungsgewalt und der Eigentumsverhältnisse in der Wirtschaft zuwenden. Allerdings – auch mit Blick auf die Juso-Positionen der 70er und 80er Jahre – muss man das frühere Zutrauen in Instrumente und Institutionen, administrative und juristische Regulierungen relativieren. Ökonomie ist – viel stärker als in klassischen marxistischen Argumentationen – auch und gerade als eine kulturelle Veranstaltung, also unter dem Blickwinkel von Wirtschafts- und Unternehmenskulturen zu sehen. Wenn man so will, gibt es einen »sozial-ökonomischen Kulturkampf«, der mit Anschauungen, Mentalitäten und Haltungen zu tun hat und der auch vor dem öffentlichen Sektor nicht haltmachen sollte. Die Frage, wie man wirtschaften, arbeiten und leben möchte, kommt vor der Frage nach Instrumenten, Gesetzen und Eigentumstiteln. Soweit es um die Thematisierung von Ausgrenzung und Armut und um Verteilungsgerechtigkeit geht, haben sich die Fronten in diesem Kulturkampf schon in erfreulicher Weise verschoben. Aber die sozialistische Perspektive lässt sich nicht aus einer Opferrolle heraus entwickeln, sondern muss Menschen in ihrer Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft ansprechen. »Leistungsfähigkeit« und »Leistungsbereitschaft« sind viel zu lange missbraucht worden, um Menschen im Sinne einer neoliberalen Arbeitsmarkt-
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politik zuzurichten. Hier geht es um einen anderen Sinn, wie ihn Richard Sennett in seiner Kultur des neuen Kapitalismus formuliert hat: Es geht darum, die Menschen als »Werktätige« anzusprechen, die Dinge um ihrer selbst willen beziehungsweise um eines gesellschaftlichen Zweckes willen gut machen wollen und deswegen zur »solidarischen Ökonomie«, zur Linken und zum Sozialismus finden.
Projekt Moderner Sozialismus – ein Blick nach vorn Zu Beginn der Juso-Thesen (These 2) heißt es: »Den demokratischen Sozialismus zu erreichen ist eine dauernde Aufgabe. Ihn exakt zu definieren ist unmöglich.« Man lehnt es ab, »eine Vision bis ins kleinste Detail aus den heutigen Verhältnissen heraus zu beschreiben«. Dies ist alles richtig. Aber es geht auch nicht um das Detail, sondern um die Grundzüge und die Richtung eines modernen Sozialismusverständnisses – und über die erfährt man in den Thesen noch zu wenig. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass es nach den Erfahrungen mit den Sozialismen des 20. Jahrhunderts, also insbesondere mit dem sozialdemokratischen Sozialstaatsmodell (in Verbindung mit einer dominierenden kapitalistischen Produktionsweise) und natürlich mit dem Sozialismus sowjetischen Typs unumgänglich ist, sich mit alternativen Mechanismen des sozialen Zusammenlebens und insbesondere mit alternativen ökonomischen Mechanismen zu beschäftigen und dies auf dem Niveau der Chancen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu tun. Dies gilt umso mehr, als es infolge der Finanzkrise zu enormen Verschiebungen in den gesellschaftlichen, kulturellen, wissenschaftlichen und politischen Diskursen kommt, die bei der Erstellung der Juso-Thesen in diesem Ausmaß gar nicht absehbar waren. Wir erleben den Zusammenbruch der neoliberalen Doktrin. Dessen Tempo sollte aber zu denken geben, denn es handelt sich zugleich um die Neuformierung des bürgerlichen Lagers. Gleichwohl: Die
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Renaissance öffentlicher Regulierung, staatlicher Intervention und Gemeinwohlorientierung öffnet auch das Feld für sozialistische Optionen. Es geht darum, diese Öffnung zu nutzen, die Gräben der sozialen Verteidigungskämpfe zu verlassen und in die Formulierung gesellschaftlicher Alternativen einzusteigen. Dies kann aber in der Tat nicht alleine am Reißbrett passieren, obwohl das Denken in Modellen meines Erachtens dazugehört. Entscheidend ist die Verbindung mit allen realen Punkten, an denen die Vergesellschaftungslogiken aufeinanderprallen, etwa in der Auseinandersetzung um den kommunalen Wirtschaftssektor, in der gesellschaftlichen Regulierung von Stoff- und Energieströmen oder im Umbau des Gesundheitswesens und übergreifend natürlich im Finanzsektor selbst. An diesen und anderen Punkten lässt sich wieder die programmatische Fantasie entwickeln, die meines Erachtens das aktuelle SPD-Programm (im Unterschied zu ihrem Vorgänger) vermissen lässt. In diesem Sinne unterstütze ich die Aussage: »Die Diskussion darüber, wie eine Gesellschaft anders aussehen kann, sehen wir als Teil unseres Kampfes« (These 2). Die Juso-Thesen sind ein gelungener Aufschlag, mit dem diese Diskussion wieder eröffnet worden ist.
Die Wirtschaftskrise und die Erklärungskraft der Marxschen Ökonomiekritik Michael Heinrich
Das kapitalistische Finanzsystem erlebte im Jahr 2008 die schwerste Krise seit 1929. Allerorten wird nun über das Ende des Neoliberalismus spekuliert. In der Tat haben diejenigen ein gewaltiges Erklärungsproblem, die jahrelang gepredigt haben, dass Märkte, wenn sie nur flexibel und genügend dereguliert seien, stets die besten Ergebnisse liefern würden, sodass man möglichst alles dem Markt überlassen sollte: Staatsbetriebe und bislang öffentlich erbrachte Dienstleistungen wurden in der vergangenen Dekade in großem Umfang privatisiert, kommunale Wohnungsbestände verkauft, bei der Altersrente sollte wie bei der Gesundheitsversorgung »mehr Markt« für »mehr Effizienz« sorgen.1 Radikal dereguliert wurden in den letzten 35 Jahren vor allem die Finanzmärkte. Sie gehören heute zu den freiesten Märkten, die es gibt – und sie haben den größten Crash seit langem produziert, einen Crash, der auch noch erhebliche Auswirkungen auf den Rest der Wirtschaft haben dürfte.
Die gegenwärtige Krise Der Neoliberalismus, der Ende der 70er Jahre seinen Siegeszug begann, setzte sich in den 90er Jahren bis weit in die Sozialdemokra1 Vgl. zu den Folgen der Privatisierung in Deutschland: Rügemer (2008).
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tie hinein durch, die nicht nur in Deutschland so gern »modern« und bloß nicht »traditionalistisch« sein wollte. Jetzt erweist sich der neoliberale Umbau von Staat und Gesellschaft als riesiges Gesellschaftsexperiment, das – gemessen an seinen Versprechungen – grandios gescheitert ist. Für die Kosten dieses misslungenen Experiments wird die breite Masse der wenig bis mittelmäßig verdienenden Steuerzahler aufkommen müssen. Eine der Hinterlassenschaften des Neoliberalismus ist nämlich eine Steuerpolitik, die Unternehmenssteuern und Spitzensteuersätze kräftig gesenkt, indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer (die für alle Haushalte unabhängig von ihrem Einkommen gleich hoch ist) aber erhöht hat. Diese Steuerpolitik, die im Endeffekt die Steuerlast von »oben« nach »unten« umverteilte, wurde in Deutschland von der schwarzgelben Kohl-Regierung begonnen, von der rot-grünen Regierung unter Schröder kräftig vorangetrieben und von der momentan regierenden Großen Koalition weiter fortgesetzt. Als Antwort auf die Krise wird jetzt eine stärkere Regulierung der Märkte gefordert. Unterstellt wird, dass die Krise vor allem durch die Gier der Manager und die riskanten Geschäfte der Banken verursacht wurde. Diesen Übertreibungen will man einen Riegel vorschieben. In Deutschland wird diese Position von der Großen Koalition bis zur Linkspartei und globalisierungskritischen Organisationen wie Attac weitgehend geteilt. Doch sollte man sich daran erinnern, dass Gewinnmaximierung das Ziel eines jeden kapitalistischen Unternehmens ist. Den maximal möglichen Profit anzustreben ist keine Spezialität von gierigen Bankern, sondern das normale Geschäftsgebaren im Kapitalismus. Auch »Spekulation« ist keineswegs auf den Finanzmarkt beschränkt. Kapitalistischer Produktion haftet immer ein spekulatives Moment an, auch wenn dort die spekulativen Ausschläge geringer und die Zeithorizonte länger sind als auf dem Finanzmarkt. Aber die Erwartung, dass das vom eigenen Unternehmen produzierte Angebot auf eine ausreichende Nachfrage stößt, dass sich das eigene Produkt gegen die Produkte der Konkurrenz durchsetzen kann, ist genauso spe-
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kulativ und kann sich als genauso falsch herausstellen wie die Erwartung steigender Börsenkurse. Bei der gegenwärtigen Krise handelt es sich nicht nur um ein Resultat des Neoliberalismus, es geht nicht bloß um »Auswüchse« und »Übertreibungen«. Der Neoliberalismus ist eine besonders aggressive und umfassende Form, den Kapitalismus zu propagieren und in ökonomische und politische Praxis umzusetzen. Die gegenwärtige Krise wurde durch die neoliberale Praxis sicher verstärkt; diese Krise verdankt sich aber letzten Endes den krisenhaften Mechanismen, die der kapitalistischen Produktionsweise immanent sind. Es ist daher nicht nur über den Neoliberalismus zu diskutieren, sondern über den Kapitalismus. Stellen wir aber den Kapitalismus grundsätzlich auf den Prüfstand, dann müssen wir uns mit Marx auseinandersetzen. Egal, was man im Einzelnen von der Marxschen Theorie halten mag, eine umfassendere Analyse und Kritik des Kapitalismus wird man kaum finden. Und tatsächlich hat das Interesse an Marx bereits erheblich zugenommen. Dieses neu erwachte Interesse für die Marxsche Theorie zeichnete sich schon seit Ende der 90er Jahre ab und hat sich angesichts der Finanzkrise weiter verstärkt. Was ist dran an der Marxschen Theorie?
Die Marxsche Ökonomiekritik Vorab eine Klarstellung: Es geht im Folgenden nicht um den Marx des Marxismus-Leninismus. Dieser doppelte Ismus hat die Marxsche Kritik in eine phrasenhafte, angeblich alles erklärende Weltanschauung verwandelt, die in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten als Rechtfertigungsideologie eines äußerst repressiven Herrschaftssystems herhalten musste. Es geht hier aber auch nicht um einen »offenen«, »undogmatischen« oder sonst wie adjektivierten Marxismus, der diesem traditionellen Weltanschauungsmarxismus entgegengestellt werden soll. Der Marxsche Ausruf »Je
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ne suis pas Marxiste« (MEW Bd. 35, S. 388) ist mehr als nur ein Bonmot. Nicht um die Begründung eines umfassenden Ismus ging es Marx, sondern um die wissenschaftliche Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse, und zwar in praktischer, diese Verhältnisse umwälzender Absicht. Marx betrachtete sein Kapital als einen der »wissenschaftliche[n] Versuche zur Revolutionierung einer Wissenschaft« (MEW Bd. 30, S. 640). Diese Wissenschaft, die politische Ökonomie, ist aber nicht irgendeine Wissenschaft, sondern sie ist zentral für das Verständnis wie auch für das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft. »Kritik der politischen Ökonomie« (dies der Untertitel des Kapital) schließt somit die Kritik der von dieser Wissenschaft untersuchten gesellschaftlichen Verhältnisse mit ein. Daher konnte Marx in einem anderen Brief schreiben, dass das Kapital das »furchtbarste missile sei, das den Bürgern (Grundeigentümer eingeschlossen) noch an den Kopf geschleudert worden ist« (MEW Bd. 31, S. 541). Die Marxsche Kritik jenseits der verschiedenen Ismen ist allerdings kein einheitliches Gebilde. Marx war ein reflektierender und permanent lernender Kopf, der im Unterschied zu vielen seiner späteren Anhänger stets bereit war, eigene Auffassungen und bereits erreichte Ergebnisse immer wieder infrage zu stellen. Er war begierig darauf, Neues zu erfahren. In den 1870er Jahren lernte er sogar noch Russisch, nur um Quellen zur Ökonomie Russlands studieren zu können. Den lebenslangen Lernprozess von Marx müssen wir einkalkulieren, wenn wir mit seinen Untersuchungen sinnvoll umgehen und sie nicht nur als Zitatensteinbruch benutzen wollen. Marx’ früheste Ökonomiekritik aus dem Jahr 1844 war noch philosophisch begründet: Der Kapitalismus stelle eine Entfremdung vom »menschlichen Wesen« dar. Bereits ein Jahr später kritisierte Marx jedoch diese Wesensphilosophie ganz grundsätzlich. In der von ihm und Engels gemeinsam verfassten Deutschen Ideologie (1845) ging es darum, wie er später schrieb, »mit unserm ehemaligen philosophischen Gewissen abzurechnen« (MEW Bd. 13, S. 10). Vorstellungen von einem »Wesen des Menschen«, das als
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Maßstab der Gesellschaftskritik dienen könnte, wurden als philosophische Abstraktionen kritisiert. Nie wieder bezog sich Marx in den folgenden Jahren auf ein solches Wesen, und nur noch ganz selten und unspezifisch war von »entfremdeten« Verhältnissen die Rede. Den kritisierten philosophischen Abstraktionen wurde die »wirkliche«, empirisch orientierte Wissenschaft entgegengesetzt. Diese Wissenschaft fand Marx zunächst bei bürgerlichen Ökonomen und Historikern. Als er sich 1847 kritisch mit dem französischen Sozialisten Proudhon auseinandersetzte, stellte er diesem die politische Ökonomie David Ricardos entgegen, des wichtigsten Vertreters der »klassischen politischen Ökonomie«, den er in den höchsten Tönen lobte. Zu dieser Zeit kritisierte Marx lediglich, dass Ricardo die Gesetze des Kapitalismus für ewig statt für nur vorübergehend gültig auffasse. Die Art und Weise, wie Ricardo Wert, Geld und Kapital analysierte, wurde von Marx aber nicht kritisiert. Eine grundlegende »Kritik der politischen Ökonomie« hat Marx in dieser Periode noch nicht formuliert. Er betreibt vielmehr eine kritische Anwendung der von der politischen Ökonomie erreichten Ergebnisse. Das gilt auch für das 1848 veröffentlichte Kommunistische Manifest. Es ist zwar ein nach wie vor beeindruckendes Dokument, doch handelt es sich keineswegs um eine Kurzfassung der späteren Ökonomiekritik. Erst nach seiner erzwungenen Emigration nach London im Jahr 1849, wo er mit seinen ökonomischen Studien wieder von vorne beginnt, kommt Marx zu jener substanziellen Ökonomiekritik, die bereits die Grundkategorien der politischen Ökonomie infrage stellt. Ab 1857 entstehen dann mit den Grundrissen und den Theorien über den Mehrwert jene Manuskripte, die schließlich zum Kapital hinführen, dessen erster Band 1867 erscheint. Angesichts dieses weit zurückliegenden Erscheinungsjahres ist allerdings die Frage berechtigt, was uns diese Analyse heute noch zu sagen hat. Nicht selten wird die Marxsche Ökonomiekritik mit Hinweis auf ihr Alter verabschiedet: Sie sei vielleicht für den englischen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts ganz zutreffend gewesen,
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doch heute habe sich so viel geändert, dass wir mit Marx kaum noch etwas anfangen könnten, ist häufig zu hören – insbesondere von Leuten, die sich offensichtlich die Mühe gespart haben, Das Kapital tatsächlich zu lesen.2 Der Anspruch, den Marx an seine eigene Untersuchung stellte, beschränkte sich jedenfalls nicht auf die Analyse des englischen Kapitalismus seiner Zeit. Im Gegenteil, Marx betonte im Vorwort, dass ihm England nur als »Hauptillustration« für seine »theoretische Entwicklung« dient (MEW Bd. 23, S. 12). Wie Marx bei einer Rückschau am Ende des dritten Bandes festhält, zielt diese theoretische Entwicklung darauf ab, »die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt, darzustellen« (MEW Bd. 25, S. 839). Marx will das »Kapitalistische« am Kapitalismus darstellen, das, was den Kapitalismus zum Kapitalismus macht. Insofern ihm das gelungen ist, sind seine Analysen auch noch heute von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Kapitalismus.3 Der Kapitalismus existiert aber nirgendwo lediglich als jener »ideale Durchschnitt«, den Marx im Kapital analysiert. Er ist immer historisch eingebettet, er vollzieht sich stets innerhalb bestimmter gesellschaftlicher und politischer Formen, im Rahmen von bestimmten Traditionen, einem bestimmten Stand der gesellschaftlichen Kämpfe und Klassenauseinandersetzungen. Dies alles ist zu berücksichtigen, wenn eine konkrete kapitalistische 2 Zuweilen treibt diese mit viel Selbstbewusstsein vorgetragene Unwissenheit bizarre Blüten. So verkündet Helmut Höge in der taz vom 29.10.2008, dass das Marxsche Kapital nicht zum Begreifen der gegenwärtigen Finanzmarktkrise tauge, da es sich bloß mit der Warenanalyse beschäftigen würde. Bereits aus dem Inhaltsverzeichnis hätte man entnehmen können, dass Das Kapital auch etwas zu seinem im Titel genannten Gegenstand zu sagen hat, im dritten Band sogar enorm viel zu Banken und zur Börse. Doch dazu hätte man das kritisierte Buch zumindest aufschlagen müssen. 3 Selbstverständlich muss kritisch geprüft werden, inwieweit ihm dies gelungen ist. So ist beispielsweise Marx’ Fixierung auf die Notwendigkeit der Existenz einer Geldware höchst problematisch, ebenso wie seine unzureichenden Versuche, das »Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate« zu begründen (vgl. dazu Heinrich 2006 und 2008).
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Gesellschaft untersucht wird. Die Grundlagen für eine solche Untersuchung finden wir aber in der Marxschen Ökonomiekritik, die weit mehr umfasst als nur eine (fach)ökonomische Theorie.
Wert und Kapital Bereits die Marxsche Werttheorie ist nicht einfach eine Erklärung der Preisrelationen der Waren, sie untersucht vielmehr, wie die in der Warenproduktion privat verausgabten Arbeiten im Tausch zu Bestandteilen der »gesellschaftlichen Gesamtarbeit« werden. Es geht bereits auf dieser ganz allgemeinen Ebene um die Art und Weise der »Vergesellschaftung« in kapitalistischen Gesellschaften: Es handelt sich um eine Vergesellschaftung, die nicht auf den unmittelbaren Beziehungen der Produzenten beruht, sondern die »sachlich« vermittelt wird. Es sind die Produkte, die als Waren in einem gesellschaftlichen Verhältnis stehen. Damit drücken sich dann auch die gesellschaftlichen Beziehungen der Produzenten (zum Beispiel für andere eine nützliche Arbeit zu verrichten) als sachliche Eigenschaften dieser Produkte aus (sie werden zu »Wertgegenständen«). Diese spezifisch gesellschaftliche Sachlichkeit setzt sich den Einzelnen gegenüber als anonyme sachliche Gewalt durch (vom Wertcharakter meines Produkts hängt mein ökonomisches Überleben ab). Damit ist bereits eine wichtige Differenz zu allen vorkapitalistischen Produktionsweisen benannt: Die kapitalistische Produktionsweise beruht nicht mehr auf persönlichen Herrschaftsverhältnissen (der Sklave ist Eigentum eines Herrn, von diesem ist er persönlich abhängig), sondern auf sachlichen, anonymen Herrschaftsverhältnissen, die von den einzelnen Marktakteuren als quasi natürliche Sachzwänge aufgefasst werden – was nur der spezifischen Form dieser Ökonomie geschuldet ist, wird als unveränderliches Gesetz einer jeden Ökonomie aufgefasst und von der herrschenden ökonomischen Theorie auch genau so präsentiert.
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Die Marxsche Kapitaltheorie hebt hervor, dass Kapitalverwertung, die Produktion des Mehrwerts, auf der Ausbeutung der Arbeitskräfte beruht, doch formuliert sie dieses Ergebnis nicht wie die Autoren vor Marx als moralische Kritik am Kapitalismus. Ganz im Gegenteil, Marx zeigt detailliert, dass sich Ausbeutung und Äquivalententausch nicht widersprechen, sondern entsprechen. Die Lohnabhängigen verkaufen dem Kapital nicht Arbeit, sondern ihre Arbeitskraft, ihre Fähigkeit zu arbeiten. Der »Wert der Ware Arbeitskraft« ist durch jene Kosten bestimmt, die zu ihrer (nicht nur individuellen, sondern familiären) Reproduktion notwendig sind. Sichert der Lohn diese Reproduktion, dann wurde der Wert der Arbeitskraft bezahlt, wobei aber das, was als »normales« Maß der Reproduktion gilt, stets umkämpft ist. Führt die kapitalistische Anwendung der Arbeitskraft im Betrieb zu einer Wertschöpfung, die größer ist als der Wert der Arbeitskraft selbst, dann geht dieser Überschuss nach der Logik des Warentausches die Arbeiter und Arbeiterinnen nichts mehr an, denn sie haben ja den Gegenwert der von ihnen getauschten Ware erhalten. Der Überschuss verbleibt als Mehrwert beim Kapitalisten. Wenn Marx die Aneignung des Mehrwerts durch den Kapitalisten »Ausbeutung« nennt, will er das nicht als moralische Kritik, sondern als Feststellung eines objektiven Sachverhalts verstanden wissen. Die Arbeitskraft ist nur Mittel der Kapitalverwertung und wird auch als solches Mittel behandelt und in jeder Hinsicht »vernutzt«, woran auch ein zeitweise steigender Lebensstandard nichts ändert. Für die Kapitalverwertung gibt es keine immanente Grenze. Die einzelnen Kapitalisten versuchen, diese Verwertung beständig zu steigern, nicht weil sie von grenzenloser Gier besessen wären (obgleich das durchaus vorkommen mag), sondern weil das einzelne Kapital nur dann im Konkurrenzkampf mit den anderen Kapitalen bestehen kann, wenn die eigene Profitabilität beständig gesteigert wird. Dabei sind die Methoden zur Steigerung der Profitabilität – Ausdehnung der Arbeitszeit, Steigerung von Produktivität und Intensität der Arbeit, Ökonomisierung des Einsatzes der Pro-
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duktionsmittel – zugleich ein Prozess der Zerstörung von Arbeitskraft und Natur. Die Marxsche Kapitalismuskritik besteht nicht in dem Nachweis, dass der Kapitalismus irgendwelche moralischen Normen verletzt, sondern dass der Kapitalismus so überaus destruktiv für die Arbeitskraft ist – nicht als Ausnahme, sondern als Regel. Gegen die Gültigkeit der Marxschen Theorie wird oft eingewandt, dass sich der Industriekapitalismus schon längst verändert habe. Dass die am weitesten entwickelten Länder doch schon längst auf dem Weg zur »Dienstleistungsgesellschaft« oder neuerdings zur »Wissensgesellschaft« seien, wo nicht mehr die materiellen Produkte, sondern die immateriellen (Dienstleistungen, Wissen und so weiter) die entscheidende Rolle spielen würden. Die Marxsche Analyse des kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozesses ist aber nicht auf die Existenz bestimmter Produkte oder bestimmter Produktionsverfahren begrenzt. Es geht ihm nicht um den stofflichen Inhalt der Produktion, sondern um deren gesellschaftliche Form: Er untersucht die dem Profitmaximierungsprinzip unterworfene Produktion und die daraus resultierenden Konflikte und Kämpfe.4 Und um Profitmaximierung geht es auch in der Dienstleistungs- und Wissensökonomie.
Klassen Das Kapitalverhältnis beruht auf der Existenz unterschiedlicher Klassen: einer Klasse von Kapitalisten, die über die Produktionsmittel verfügt (aber nicht notwendigerweise in jedem Fall deren Eigentümer ist), steht eine Klasse von Menschen gegenüber, die 4 Die Marxsche Ökonomiekritik liefert zwar grundlegende Erklärungen für eine Reihe von überaus wichtigen gesellschaftlichen Konflikten, für das Verständnis von asymmetrischen Geschlechterverhältnissen, patriarchalen Herrschaftsverhältnissen und Rassismus, deren Existenz nicht einfach auf die kapitalistische Produktionsweise reduzierbar ist, sind jedoch weitere theoretische Anstrengungen erforderlich.
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darauf angewiesen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Dieses Klassenverhältnis wird durch den kapitalistischen Produktionsprozess reproduziert: Am Ende diese Prozesses verfügen die Kapitalisten über das um den Mehrwert vermehrte Kapital, während die Klasse der Arbeiter und Arbeiterinnen erneut gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Zwischen diesen beiden Hauptklassen stehen verschiedene (alte und neue) Mittelklassen. Diese rein strukturelle Klassenanalyse, die Marx im Kapital noch erheblich verfeinert, ist jedoch nicht zu verwechseln mit einer Beschreibung der konkreten sozialen Existenz der Klassen. Ein Kapitalismus ohne diese strukturell bestimmten Klassen ist eine Unmöglichkeit. Was häufig als »Verschwinden der Klassen« bezeichnet wurde, war lediglich das Verschwinden einer spezifisch historischen Gestalt dieser Klassen. Dass ein Großteil der Arbeiterklasse in Arbeitervierteln wohnt, in Arbeitersportvereinen trainiert, die Gewerkschaften unterstützt und Arbeiterparteien wählt, war nur eine vorübergehende historische Erscheinungsform dieser Klasse. Dass diese Gestalt weitgehend verschwunden ist, heißt nicht, dass die Klasse verschwunden ist. Auch der Besitz von ein paar Aktien verändert noch nicht die (strukturelle) Klassenposition, denn er entbindet keineswegs vom Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft. Ähnlich sieht es bei den kleinen »selbstständigen« Freelancern aus (Journalisten, Programmierern etc.). Sie gehören aufgrund dieser prekären Selbstständigkeit noch längst nicht zu den Mittelklassen. Faktisch verkaufen die meisten dieser kleinen Selbstständigen ihre Arbeitskraft lediglich unter schlechteren Bedingungen als die sozialversicherten Lohnarbeiter. Dass es einen Kapitalismus ohne Klassen nicht geben kann, heißt aber nicht, dass die Klassen jeweils einheitliche Interessen oder gar ein einheitliches Klassenbewusstsein hätten (oder sich auch nur auf dem Weg dahin befinden würden). Die Klassen sind sowohl sozialstrukturell als auch kulturell und von ihren Alltagserfahrungen her vielfach fragmentiert, sodass es zu ganz unterschiedlichen Interessen- und Bündniskonstellationen kommen kann. Auch die heutigen »Volks-
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parteien« sprechen nicht einfach ganze Klassen an, sondern beziehen sich jeweils auf ein bestimmtes Bündel von Schichten und Fraktionen verschiedener Klassen. In den zum Kongress »Für eine Linke der Zukunft« vorgelegten Thesen des Juso-Bundesvorstands »Was ist links?« wurde der rot-grünen Regierungspolitik angekreidet, sie sei von der falschen Vorstellung ausgegangen, »die alte Klassengesellschaft habe sich überlebt. Die sozialen Gegensätze wurden stattdessen als Ergebnis unterschiedlicher Leistungsbereitschaft interpretiert. Folgerichtig bestand die politische Aufgabe darin, Arbeitslose zu ›aktivieren‹ und, wenn es sein musste, eben auch durch Sanktionen zur Aufnahme niedrig entlohnter Arbeit zu animieren« (These 16). Die rot-grüne Politik verdankt sich aber keineswegs einem Missverständnis über den Klassencharakter des Kapitalismus, sie war vielmehr Ausdruck einer bestimmten Klassenpolitik, die auf bestimmte Klassenfraktionen zielte. Die rot-grüne Politik bediente die Interessen der Mittelklassen, der besser verdienenden Schichten der Arbeiterklasse und der Unternehmen, sie alle profitieren von den Steuersenkungen für »Besserverdienende« und der Einrichtung eines »Niedriglohnsektors«, der nicht nur den Unternehmen billige Arbeitskräfte, sondern den Mittelklassen auch billige »haushaltsnahe Dienstleistungen« verschaffte. Auf die Unterklassen, das heißt diejenigen, die schon mehr oder weniger aus dem kapitalistischen Produktionsprozess herausgefallen sind, und diejenigen, die unter besonders schlechten Bedingungen (noch) beschäftigt sind, wurde durch Hartz IV zusätzlicher Druck ausgeübt, um sie dauerhaft in schlecht bezahlte und prekäre Arbeit hineinzupressen. Die Erfinder der Agenda-Politik wussten durchaus, dass wir in einer Klassengesellschaft leben.
Kapitalistische Entwicklung und Krisen Seit der Durchsetzung des modernen, die gesamte Produktion erfassenden Kapitalismus treten immer wieder Wirtschaftskri-
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sen auf.5 Während vorkapitalistische Krisen auf einem Mangel (meistens an Lebensmitteln) beruhten, sind kapitalistische Krisen durch Überfluss an Waren, Kapital und Arbeitskräften bei gleichzeitig steigender Armut gekennzeichnet: Die Waren sind nicht mit Profit zu verkaufen, das Kapital kann sich nicht verwerten und die Arbeitskräfte finden keine Beschäftigung, weil sie als Mittel der Kapitalverwertung nicht benötigt werden. Die neoklassische Theorie führt solche Krisen auf Störungen »von außen« zurück: steigende Rohstoffpreise, zu starke Gewerkschaften, die zu hohe Löhne durchsetzen, oder eine zu stark in den Markt eingreifende Wirtschaftspolitik des Staates sei an der Krise schuld. Der kapitalistische Markt dagegen sei prinzipiell krisenfrei, was in den neoklassischen Modellwelten durch außerordentlich weitgehende Abstraktionen von den wirklichen Verhältnissen »bewiesen« wird. Demgegenüber sieht der Keynesianismus zwar, dass Arbeitslosigkeit eine notwendige und keineswegs nur zufällige Konsequenz der kapitalistischen Produktionsweise ist, geht aber davon aus, dass durch eine »richtige« Wirtschaftspolitik die Konjunktur so gesteuert werden kann, dass Krisen und Arbeitslosigkeit weitgehend vermieden werden können. Lediglich Marx konstatiert die Unvermeidlichkeit kapitalistischer Krisen. Marx hebt hervor, dass die kapitalistische Entwicklung gleichzeitig expansive und kontraktive Tendenzen hervorbringt. Die Produktivkräfte werden immer weiter entwickelt, was zur Ausdehnung der Produktion führt, gleichzeitig wird aber die Nachfrage systematisch beschränkt. Jedes Unternehmen versucht, sowohl die Löhne als auch die Zahl der Beschäftigten möglichst niedrig zu halten, was die Konsumtion der Arbeiterklasse immer wieder eng begrenzt. Die Investitionsnachfrage nach Produktionsmitteln orientiert sich am Vergleich zwischen den erwarteten Profitraten in der Produktion und den Renditen auf den Finanzmärkten. Sind 5 Eine theoretisch reflektierte Einführung in die Entwicklung des modernen Kapitalismus gibt Conert (2002).
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die Finanzmarktgewinne höher, wird zunehmend in jenes, von Marx ausführlich analysierte »fiktive Kapital« (Aktien, Anleihen, Derivate etc.) investiert. Aufgrund dieser widersprüchlichen Tendenzen wird immer wieder ein Punkt eintreten, an dem es für das wachsende Angebot keine ausreichende Nachfrage mehr gibt, sodass es zur Überproduktion von Waren und zur Überakkumulation von Kapital kommt, wobei dieser Prozess in der Regel von einer Überspekulation auf dem Finanzmarkt begleitet ist. Krisen sind aber nicht nur das notwendige Resultat der kapitalistischen Entwicklung, sie sind auch die einzige Möglichkeit, die Blockaden der kapitalistischen Entwicklung aufzulösen. So destruktiv die Krisen für die Mehrheit der lohnabhängigen Bevölkerung und auch für viele Einzelkapitale sind, so produktiv sind sie für das kapitalistische System als Ganzes. In den kleinen zyklischen Krisen, die alle sieben bis elf Jahre stattfinden, erfolgen die Korrekturen in kleinem Maßstab, »falsch« investiertes Kapital wird entwertet, die Lohnentwicklung durch steigende Arbeitslosigkeit gedämpft, sodass sich die Verwertungsmöglichkeiten verbessern. In den großen überzyklischen Krisen kommt es zwar auch zur massenhaften Entwertung von Kapital und steigender Arbeitslosigkeit, doch geht es hier vor allem um eine Veränderung der kapitalistischen »Regulationsweise«, das heißt, es verändern sich die ökonomischen und politischen Bedingungen der Konkurrenz der Kapitale, die Gewichtung der einzelnen Sektoren, die institutionelle Struktur der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit. So setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg der sowohl national wie auch international relativ stark regulierte »Fordismus« durch, der Massenproduktion, Massenkonsumtion und Produktivkraftsteigerung mittels »Taylorisierung« (Zerlegung und Intensivierung) der Arbeitsprozesse miteinander verbunden hat – was für die Arbeitskräfte besonders belastend ist. Aus der Krise des Fordismus, die in den 70er Jahren manifest wurde, ging ein dereguliertes postfordistisch-neoliberales System hervor, das sich in den 90er Jahren zu einem globalen Konkurrenzkapitalismus entwickelte,
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der auf einer starken Internationalisierung sowohl der Produktion wie der Finanzmärkte beruht. Im Moment erleben wir den Anfang der Krise dieses globalen Konkurrenzkapitalismus. Eine Linke, die verstehen will, was hier passiert, wird ohne die Marxsche Ökonomiekritik nicht auskommen.
Literatur Conert, Hansgeorg (2002): Vom Handelskapital zur Globalisierung. Entwicklung und Kritik der kapitalistischen Ökonomie, 2. Aufl., Münster: Westfälisches Dampfboot. Heinrich, Michael (2006): Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, 4. Aufl., Münster: Westfälisches Dampfboot. Heinrich, Michael (2008): Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, 6. Aufl., Stuttgart: Schmetterling Verlag. Höge, Helmut (2008): »Über Kapital-Schulung« in: taz vom 29.10.2008, S. 23. Juso-Bundesvorstand (2008): Was ist links?, Thesen zum Kongress »Für eine Linke der Zukunft«, Berlin 7./8. Juni 2008. Marx, Karl (1859): Zur Kritik der politischen Ökonomie. Erstes Heft, Marx Engels Werke (MEW) Bd. 13, Berlin: Dietz-Verlag. Marx, Karl (1867–94): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, 3 Bände, Marx Engels Werke (MEW) Bde. 23–25, Berlin: Dietz-Verlag. Rügemer, Werner (2008): Privatisierung in Deutschland: Eine Bilanz, Münster: Westfälisches Dampfboot.
Der organisierte Aufschub Über den Konservatismus der institutionalisierten Linken Jennifer Stange
Die Sozialdemokratie Deutschlands war über Jahrzehnte hinweg Sinnbild kompromissbereiter Bemühungen um das kleinere Übel auf nationalem Terrain und für das Lavieren zwischen »Reformismus« und »revolutionärem Sozialismus«. Derlei Debatten erübrigten sich spätestens mit der Agenda-2010-SPD unter Schröder genauso schnell, wie auch ihre Wählerschaft, das traditionelle sozialdemokratische Milieu, verschwand. Die Frage, was links ist, wurde zugunsten der vollkommenen Unterwerfung unter die Realität der kapitalistischen Erscheinungsebene suspendiert. Verwendet man den Begriff »links« politisch in seiner relationalen Bedeutung, lässt sich die jungsozialistische Politik ohne Weiteres links der Mutterpartei SPD verorten, sofern die Jusos programmatisch entschlossen und betont an der Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus durch den »demokratischen Sozialismus« festhalten. Anders als die SPD wähnen sich die Jusos offenbar immer noch im Spagat zwischen dem elementaren Auftrag, die Verbesserung realer Lebensbedingungen anzustreben, und dem Zwang, dem System, das diese Verhältnisse erst hervorbringt, zuzuarbeiten. Um zu erkennen, dass dieser Konflikt nicht neu ist, reicht ein Blick in die Geschichte der deutschen ArbeiterInnenbewegung, die sich – ausgehend von der verkürzten und bewegungsorientierten Rezeption der Marxschen Lehre über die Stationen diverser, durch Städtena-
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men symbolisierter Programme – mehrheitlich immer für die reformistische, systemimmanente Variante entschieden hat. So sehr dieser Reformismus bekanntermaßen zu kritisieren ist, muss man sich im Spagat realpolitischer Erwägungen nach wie vor an der Frage messen lassen, welchem der beiden Pole man letztlich zuarbeitet. Zugegeben wiederholt sich diese Frage in immer neuen Variationen, und es bleibt unklar, wie man zwischen den Kategorien »Sollen« und »Sein« nicht bei den immer gleichen Alternativen – Utopismus oder Opportunismus, Romantizismus oder Konservatismus, nutzloser Wahnsinn oder Kollaboration mit der vorgefundenen Welt – landen soll.
Wert der Veränderung Wahrscheinlich würde keine Beobachterin und kein Beobachter des politischen Tagesgeschäfts auf die Idee kommen, die Überwindung des Bestehenden Hand in Hand mit der SPD überhaupt als diskussionswürdig zu erachten. Schließlich scheint es ein offenes Geheimnis, dass die Idee des »demokratischen Sozialismus« spätestens seit der Maxime der Agenda 2010 »Fördern und fordern« und den damit einhergehenden Programmen wohl nur noch aus Gründen der Nostalgie in den Grundsätzen der Partei erhalten bleibt und nicht ernsthaft Stoff innerparteilicher Auseinandersetzungen ist. Nun ist es offensichtlich das selbst gewählte Schicksal der Juso-Anhängerschaft, kategorisch dem Bekenntnis beizupflichten, dass es »ohne die SPD keine progressive Politik geben wird«1, was wiederum all diejenigen in eine analytisch-praktische Dauerkrise stürzen müsste, die vorgeben, an der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse interessiert zu sein. Jenseits dessen halten die JungsozialistInnen jedoch stoisch an der »Doppelstrategie« fest: durch reformpolitisches Eingreifen die Grundlagen des 1 Siehe Seite 36, These 15.
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Sozialismus ausbauen zu können. Gerade indem sie aber versuchen, ihre größte Schwäche – nämlich den Verlust einer nennenswerten Basis für klassisch sozialdemokratische Positionen sowohl innerhalb der eigenen Partei als auch bei den Wählerinnen – zu kaschieren, stellen sie diese aus. Gerade weil so getan wird, als wüsste man noch, »welche Kämpfe man im Bestehenden mit den zur Verfügung stehenden politischen Mitteln gewinnen kann«, demontieren sie im selben Atemzug das selbst attestierte Bewusstsein um die »Beschränktheit des Handlungsrahmens«2. Sollte ein Bewusstsein, das vorgibt, im Hier und Jetzt zu stehen, unter den gegebenen Voraussetzungen nicht zum Eingeständnis der eigenen Manövrierunfähigkeit in der Lage sein? Die glaubhafte Konstruktion einer Utopie setzt zumindest ab einem bestimmten Punkt die Verneinung der Wirklichkeit voraus. Die SPD macht vor allem glaubhaft, dass es ihr eben nicht um die Überwindung des Kapitalverhältnisses geht, während die Jusos die Chance verpasst haben, sich aufgrund der krassen Widersprüche, in die das traditionelle sozialdemokratische Wertesystem nicht erst seit der Agenda 2010 geraten ist, von der Zwangsidentität mit der SPD zu lösen. Stattdessen wirft man dem propagierten Wunsch nach absoluter Veränderung indirekt weiter vor, nur Negation und gar nicht konstruktiv zu sein, weil ja die Utopie – das ist nun einmal ihr Wesen – im Hier und Jetzt nichts auszurichten vermag. Letztlich taugt die Unterscheidung zwischen destruktiver und konstruktiver Arbeit jedoch nur, um die Differenz zwischen Veränderungen auszudrücken, die man für schädlich oder für nützlich hält. Bei den Jusos versteht man aber unter Kapitalismus einen ungerechten Geld-, Güterverteilungs- und Partizipationsmodus. Man versucht, die materielle, soziale und politische Besserstellung der Arbeiterklasse und mittlerweile auch der Frauen, Ausländer und so weiter zu erkämpfen und macht letztlich aus dem strategischen Weg das Ziel. 2 Siehe Seite 35, These 14.
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Gewünschte Anknüpfungspunkte an die außerparlamentarische linke Bewegung bieten sich in diesem Kontext vor allem bei den no globals. Auch hier möchte man den Staat gegen unkontrollierte Finanzmärkte aufrufen und geht dabei erstens von einer Trennung von Staat und Kapital und zweitens von einer Entgegensetzung von Finanzkapital und Realkapital aus. Beide Perspektiven reproduzieren sich aus oberflächlichen Erscheinungen des Kapitalverhältnisses, und somit ist es auch nicht verwunderlich, dass die Kritik an politischen Untiefen und beinahe zwangsläufig antisemitischen und antiamerikanischen Ressentiments in der bunten Mischung der »Weiteres« jedes Mal aufs Neue im Spektakel der G8-Gipfel untergeht.3 Im Zentrum steht der Sturm auf die »Herrschenden«, die Protagonisten der kapitalistischen Globalisierung; und als Wegbereiter des Neoliberalismus stehen vor allem die USA als politischer und militärischer Hegemon der Weltpolitik unter Beschuss. Eine gewisse Anzahl unbestimmter Losungen, die in ihrer vagen Gestalt so allgemeingültig sind, dass sie eigentlich in der politischen Zwecklosigkeit verenden müssten, verbindet sich – hier liegt die Gefahr dieser Bewegung – mit der Einseitigkeit ihrer Kritik, welche gleichzeitig den eigenen politischen Standpunkt verdunkelt. Mit vergleichbaren theoretischpraktischen Problemlagen sind auch die Jusos konfrontiert. Selbst wenn man sich die Mühe macht, die Kritik an einer verkürzten Kapitalismuskritik und damit einhergehenden antisemitischen und antiamerikanischen Ressentiments zu kolportieren, bleibt das Herzstück ihrer Politik eine staatsinterventionistische Praxis und eben nicht die Überwindung des Kapitalismus. Ich sage dies nicht, weil ich der Meinung bin, man müsse in jeder beliebigen historischen Situation für extreme Kampfformen eintreten, oder weil es nicht legitim wäre, sich darum zu bemühen, seine eigene Klientel zu einer gesellschaftlichen pressure group zu formieren, sondern 3 Phase 2 Leipzig, »Die Weitersos. Einleitung zum Schwerpunkt«, Phase 2.23. Frühjahr 2007, S. 4–6.
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weil das Konzept der Wohlfahrtsstaatlichkeit im oppositionellen Diskurs des gesellschaftlichen Mainstreams immer mehr zum Fluchtpunkt eines konservativen Gemeinschaftsgefühls und nationaler Identität wird.
Kümmern statt kämpfen Wenn heute vom »Erstarken der Linken«4 gesprochen wird, bezieht man sich auf die gemeinsame Nachfolgepartei von WASG und PDS, die gegenwärtig erfolgreich die Agenda der Linken auf parteipolitischer und parlamentarischer Ebene bestimmt. Ihre Forderungen nach einem Mindestlohn, nach Korrekturen an Hartz IV, nach sicheren Renten stützen sich ebenso wie die populistische Forderung nach Kürzungen von Managergehältern auf die Vorstellung vom Staat als Schutz- und Sicherungsinstanz. Die Linke als »Sorger« und »Kümmerer« möchte die Institutionen nicht zerschlagen, die Vergangenheit nicht überwinden, sondern die Wohlfahrtsstaatlichkeit retten und konservieren. Das Problem dabei ist nicht etwa das Bestehen auf den vom System zu ertrotzenden Leistungen, sondern die Form der Artikulation der sozialen Frage. In der Partei »Die Linke« befasst man sich beinahe ausschließlich mit Fragen der sozialen Ordnung und Verwaltung der deutschen Gesellschaft – und offenbar kommt nur dem Staat die Aufgabe der sozialen Fürsorge zu, während menschenfreundliche und die Beziehung von Menschen emanzipierende Aspekte kaum eine Rolle spielen. Die Kritik an der steigenden Verantwortung des Einzelnen, die sich gegenüber der individualistischen, wettbewerbszentrierten Gesellschaft positioniert, bedient sich breit geteilter Ideologeme: vom autoritären Staat bis zur betonten Wertschätzung der ehrlichen Arbeit des »kleinen Mannes«. Damit steht 4 Franz Walter: »Die neue Linke ist alt«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.11.2008.
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sie im Verdacht, einer kollektivistischen Auffassung Vorschub zu leisten, die notwendigerweise an nationalen Anwartschaften orientiert ist und sich aus historischen Gründen in Deutschland verbietet. Die geografisch und sozial verkürzte Formulierung der sozialen Frage war in Deutschland nie ein randständiges Phänomen, sondern ist notwendigerweise offen für ziellos mäandernde Protesthaltungen, die sich aus sozioökonomischen Konflikten wie beispielsweise der Finanzkrise – wenn sie erst einmal den deutschen Mittelstand erreichen – herausbilden. Dass NPD und DVU die stärksten Konkurrenten der Linkspartei im Osten sind, werden VertreterInnen der sogenannten Mitte ganz schlau in gängigen Mustern der Extremismustheorie erklären wollen und dabei verkennen, dass die inhaltliche Schnittmenge zwischen der Linkspartei und traditionsbewussten Deutschen größer ist, als es der Anhängerschaft von CDU und CSU lieb sein kann. Einerseits teilen traditionsverwurzelte Schichten Deutschlands – über das klassisch sozialdemokratische Milieu hinaus – die mittlerweile konservative Liebe zur paternalistischen Wohlfahrtsstaatlichkeit, andererseits steht die Wählerschaft der Linkspartei der Erweiterung der EU ebenso skeptisch gegenüber wie die AnhängerInnen der Unionsparteien. Die Angst vor Überfremdung deckt sich in diesem Fall wunderbar mit protektionistischen Forderungen nach staatlichen Absicherungen des deutschen Arbeitsmarktes. Wenn ein Großteil der Bevölkerung das Versagen der Banker, zu hohe Managergehälter und die stetige Vergrößerung des Wohlstandsgrabens beklagt, dann wird »Die Linke« als Partei dezidierter Wohlfahrtsstaatlichkeit mehr und mehr zu einem Synonym eines alten Wertesystem und damit zum deutschen Normalfall. Die antisozialistische Rhetorik der gefühlten gesellschaftlichen Mitte kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass »Die Linke« nicht einfach nur der klassischen Sozialdemokratie den Rang abgelaufen hat, sondern ganz selbstverständlich auch Mitte-rechtsVorstellungen einer deutschen »Solidargemeinschaft« adaptiert
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und absorbiert. In Hinblick auf die Entstehung dieser Partei verwundert dies kaum. Sie unterscheidet sich markant von anderen linkssozialistischen Parteibildungen, die im Gegensatz zur Linkspartei zumindest irgendwann einmal aus progressiven Kämpfen der Arbeiterklasse hervorgegangen sind. Die Linkspartei war nie progressiv, und genauso wenig wie die restliche parlamentarische Linke kann sie gegenwärtig glaubhaft vermitteln, dass es ihr um die Aufhebung jener Zustände ginge, in denen die Möglichkeit der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse von den sozialen Verhältnissen verhindert wird. Der politische Auftritt der Linkspartei firmiert unter der unausgesprochenen Losung »Kümmern statt kämpfen«, die Sozialkritik erschöpft sich weitestgehend in dem Ruf nach dem starken Staat und entspricht damit wahrscheinlich vorherrschenden Bedürfnissen sozial benachteiligter und mittelständischer Bevölkerungsgruppen.
Werteverfall Offenbar hat die Bezeichnung »links« nach zwei Jahrhunderten Tradition einen eher universellen Charakter angenommen: Sie ist nicht nur zum Slogan geworden und verdeckt eine Unzahl innerer Widersprüche, sondern steht ohne weitere Ergänzungen im Verdacht, mitunter im Trüben antisemitischer, nationalistischer, rassistischer und antiamerikanischer Ressentiments zu fischen. Niemand tritt heute gegen positiv klingende Losungen wie »Freiheit«, »Gleichheit« und »Gerechtigkeit« an, und desto eher können diese gezwungenermaßen auch von rechten und nationalsozialistischen Bewegungen in Dienst genommen werden. Es gibt kaum einen Begriff im Vokabular der Linken, mittels dessen man ohne Bezugnahme auf bestimmte Bewegungen, Programme und Einstellungen klar den Verlauf der Grenze bezeichnen könnte zwischen der Linken und der Rechten im politischen Kräfteverhältnis der Gesellschaft als Ganzem. Mittlerweile ist die NPD in der Nor-
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malität der politischen Debatte angelangt, und selbstverständlich echauffieren sich VertreterInnen aller Parteien darüber. Das Problem bleibt aber bestehen, dass man bis in die Kreise linksliberaler Parteien hinein kaum in der Lage ist, sich inhaltlich von der Programmatik der Nazis zu distanzieren. Dies gilt vor allem, wenn es darum geht, ein sozialeres Deutschland zu fordern und sich der weit verbreiteten Sehnsucht nach einer durch nationale Zugehörigkeit garantierten sozialen Sicherheit zu öffnen. Nicht ohne Grund tut man sich auch fernab des Alltagsgeschäfts von Parteien und Gewerkschaften in der antideutsch geprägten radikalen Linken schwer damit, einen Zugang zur sozialen Frage zu finden. Und selbst wenn es ein subjektives Interesse an der Vergesellschaftung der Produktionsmittel gäbe, wonach es im Konkreten sowieso nicht aussieht, wäre noch daran zu zweifeln, ob das zugrunde liegende geistige Leben eine Kopie jenes viel beschworenen emanzipativen Bewusstseins sein oder werden könnte. Das Missverhältnis zwischen der Analyse von Zuständen und den grundsätzlichen Strategien zu ihrer Veränderung ist seither Gegenstand versprengter Debatten darüber, ob vom Klassenkampf – sofern sich noch von Klassen sprechen lässt – überhaupt Emanzipatorisches erwartet werden kann, wer das traditionelle revolutionäre Subjekt ersetzen sollte und wie – wenn nicht durch eine Massenbewegung – Revolte, Aufstand und Revolution möglich werden könnte.
Globalisierung, Hegemonie und Alternativen Ulrich Brand
Programmatische Thesen eines politisch wichtigen, aber auch in sich heterogenen Verbandes wie den Jusos sollen orientierend wirken und Diskussionen anstoßen. So verstehe ich die Einladung zum Kommentar dieser Thesen und unterstreiche einige Aspekte, die meines Erachtens einer intensiveren analytischen und strategischen Auseinandersetzung bedürfen. Da ich den Entstehungsprozess der Thesen nicht verfolgt habe und entsprechende Kompromissformulierungen strittiger Punkte sich nicht direkt erschließen, nehme ich an manchen Stellen eher Eindrücke auf, die sich beim Lesen einstellen. Insgesamt gefällt mir an den »Thesen zu jungsozialistischer Politik« gut, dass die Jusos von einer notwendig großen Offenheit bei gesellschaftlichen Visionen ausgehen, gleichsam einen gemeinsamen Suchprozess für emanzipatorische Veränderungen im Verband, in der Partei und darüber hinaus vorantreiben wollen. Die normative Orientierung an einer Überwindung kapitalistischer Vergesellschaftung, weil damit soziale Gerechtigkeit nicht realisiert werden kann, halte ich für so plausibel wie unterstützenswert. Die scharfe Kritik an der SPD ist ebenso angebracht (ich schreibe diese Zeilen in den Tagen der Demontage von Kurt Beck als Parteivorsitzendem und möglichem Kanzlerkandidaten) wie die Betonung, dass soziale Bewegungen eine wichtige Rolle bei emanzipatorischen Veränderungen spielen.
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Die folgenden Überlegungen setzen an dem selbst formulierten Anspruch einer »schonungslosen Analyse« an (These 14), um einige Ambivalenzen herauszuarbeiten, die für die Strategieentwicklung bedeutend sind. Dies geschieht nicht in der Absicht, aus einer analytisch-wissenschaftlichen Perspektive Unzulänglichkeiten zu »entlarven«, sondern um die Strategiefähigkeit eines politischen Verbandes mit emanzipatorischem Anspruch zu stärken. Zunächst möchte ich einige allgemeine Bemerkungen zu den Thesen machen, dann einen mir wichtigen Aspekt, nämlich die Ökologieproblematik, kurz ansprechen und – der Einladung zu diesem Artikel entsprechend – im Hauptteil meines Beitrags auf das Thema Globalisierung eingehen.1 Aber auch die anderen Bemerkungen haben meines Erachtens viel mit den aktuellen, globalisierungsvermittelten Transformationsprozessen zu tun.
Erstens In den Thesen wird völlig verständlich und richtigerweise die »Doppelstrategie« der Jusos formuliert, das heißt sich einerseits innerhalb der SPD zu engagieren und dort die linken Kräfte zu stärken und andererseits in sozialen Bewegungen aktiv zu sein. Die Selbstkritik, dass sich die Jusos in den letzten Jahren zu sehr auf Parteipolitik konzentriert und die Kooperation zu den progressiven sozialen Bewegungen vernachlässigt hätten, hängt al1 Andere Aspekte, die mir beim Lesen auffielen: Die Thesen sind ungleichgewichtig strukturiert, was wohl den Diskussionsstand innerhalb der Jusos widerspiegelt. Zu Feminismus, Antisemitismus und Antimilitarismus werden plausible Thesen hinsichtlich Analyse, eigener Perspektive und Strategien formuliert (wenngleich nicht immer in diesem Dreischritt). Notwendig ambivalent, aber zu kurz abgehandelt, bleibt das Verhältnis zur Linkspartei. Es wird angedeutet, dass die Schröder-SPD ihr wichtige Felder überlassen hat. In der Tat ist die Linkspartei seit 2005 die »strukturelle Sozialdemokratie«, und damit sollten sich die Jusos intensiv und auch programmatisch in ihren Konsequenzen für linke sozialdemokratische Politik innerhalb der SPD auseinandersetzen.
Globalisierung, Hegemonie und Alternativen 183
lerdings nicht nur mit Prioritäten des Engagements zusammen, sondern liegt meines Erachtens an der den Thesen eher impliziten gesellschaftspolitischen Grundierung der Doppelstrategie selbst. Denn es wird an vielen Stellen deutlich, dass die Thesen zwar eine hegemoniepolitische und -strategische Intention haben, dann jedoch vielfach lediglich kritisch-parteipolitisch bleiben. Was meine ich damit? Gesellschaftliche Hegemonie im Sinne Antonio Gramscis bedeutet einen Prozess, in dem sich über komplexe und machtförmige Mechanismen soziale Kompromisse, Konsense und Herrschaft herstellen. Das heißt, die Zustimmung der Beherrschten zu den politischen, ökonomischen und kulturellen Verhältnissen ist ein wesentlicher Bestandteil bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft. Diese Konsense und die Zustimmung hinsichtlich grundlegender gesellschaftlicher Entwicklungen muss es nicht immer geben, aber sie sind förderlich für bürgerliche Herrschaft, diese wird produktiver und friktionsloser. Damit werden gleichsam »Korridore« für mögliche politische, ökonomische und kulturelle Entwicklungen geschaffen, wird festgelegt, was im politischen Streit als »vernünftig« und »machbar« gilt. Es werden die berühmten »Sachzwänge« geschaffen und gerechtfertigt. Die Formen gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen wie Tarifverhandlungen, öffentlicher Streit, Wahlen und anderes werden von den maßgeblich Beteiligten akzeptiert. Hegemonie bedeutet also nicht, dass alle allem zustimmen, wohl aber, dass die Konflikte nicht an den Grundlagen von Herrschaft rühren und die Art der Konfliktaustragung weitgehend akzeptiert wird. Genau dies war in Westdeutschland in den 70er Jahren angesichts relevanter Opposition innerhalb der Gewerkschaften, Studierendenprotesten und neuen sozialen Bewegungen nicht der Fall. Die bis dahin bestehenden Kompromisse wurden aber auch von »oben«, nämlich von starken Fraktionen der Kapitalseite aufgekündigt. Letztere setzten auf neoliberale Strategien. Hinsichtlich der Juso-Thesen deutet sich eine emanzipatorische (gegen-)hegemoniepolitische Perspektive etwa in der Kritik der ge-
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sellschaftlich breit durchgesetzten Orientierung »es gibt keine Alternative«, bei der Analyse kapitalistischer (Klassen-)Herrschaft, im Abschnitt zu Staat, der Kritik von Nationalismus und Standortnationalismus an. An anderen Stellen dominiert eher eine Perspektive, in der es um Partei- und staatliche Politik im engeren Sinne geht, ohne deren gesellschaftliche Voraussetzungen explizit zu reflektieren. Hier werden »Akzentverschiebungen« staatlicher Politik angestrebt (Thesen 12 und 14). Die kritisch-parteipolitische Perspektive deutet sich etwa in der These an, dass das Ziel der Jusos sei, »eine linke Politik mit einer linken Parlamentsmehrheit durchzusetzen«. Zu diskutieren wäre, ob die den Thesen zugrunde liegenden Annahmen nicht doch einem eher traditionellen Politikverständnis entsprechen, nämlich: »Politik« wird über Parteien und Staat gemacht, soziale Bewegungen können das gerne unterstützen. (Gegen-)hegemonialpolitische Perspektiven samt ihrem breiteren Politikbegriff bleiben eher implizit. Um das an zwei Beispielen zu verdeutlichen: Entsprechend spielen in den Thesen zwei Bereiche kaum eine beziehungsweise überhaupt keine Rolle, die für Bewegungen und eine (gegen-)hegemonialpolitische Perspektive wichtig sind. Erstens die Kämpfe um Deutungsmacht (das taucht nur am Anfang kurz auf) und – wenn man so will – um ideologische Vorherrschaft, die in den Thesen grob unterschätzt werden. Was waren die Mechanismen und Interessen der Durchsetzung neoliberaler Weltbilder? Inwieweit werden sie innerhalb der Gesellschaft als hegemoniale Subjektivierung produktiv – und damit für die Mehrheits-SPD plausibel? Noch überraschender ist zweitens, dass die Frage der sich transformierenden Öffentlichkeit hin zu Kommerzialisierung und Entpolitisierung und damit das sich verändernde Terrain politischer Auseinandersetzung samt strategischen Implikationen völlig außen vor bleibt. Das betrifft auch die Bedeutung und die Probleme einer kritischen Öffentlichkeit. Im Endeffekt wird eine Perspektive gestärkt, die über eine stärkere Linksorientierung der
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SPD gesellschaftliche Verhältnisse progressiv und perspektivisch nicht-kapitalistisch gestaltet. Analytisch sind die Thesen damit eher kritisch-institutionalistisch ausgerichtet. Deshalb spielt auch die Transformation der Öffentlichkeit keine Rolle, denn Parteien und vor allem ihre Talkshow-geeigneten Köpfe haben damit offenbar kein Problem. In den emanzipatorischen sozialen Bewegungen ist demgegenüber analytisch eine hegemoniepolitische und strategisch eine gegenhegemoniale Perspektive vorherrschend. Entsprechend verstehen sich soziale Bewegungen nicht nur als »Ein-Punkt-Bewegungen« (obwohl die Fixierung auf ein Thema durchaus gefährlich sein kann), sondern es soll eine Perspektive gestärkt werden, dass Gesellschaft sich über sehr vielfältige Konflikte und Alternativen verändert. Ob das immer gelingt, ist eine andere Frage, aber die Orientierung ist damit nicht »weniger« politisch. Denn sie widerspricht nicht notwendig einer »gesamtgesellschaftlichen Emanzipation«, sondern erkennt an, dass innerhalb des emanzipatorischen Spektrums arbeitsteilige Vorgehensweisen sinnvoll sind. Das hängt mit der Ausdifferenzierung von Interessen, Expertise, Kampagnenfähigkeit und anderem zusammen. Dazu kommt ein in den emanzipatorischen Bewegungen weit verbreitetes Politikverständnis, das im Staat und in den meisten Parteien eher herrschaftliche Instanzen mit wenig Spielraum für emanzipatorische Politik sieht. Die Parteiform selbst droht emanzipatorische Themen und Interessen – in einem bestimmten Modus der Repräsentation und der Vermittlung – in den Staat zu pressen (zu besichtigen an den Grünen und der vorherrschenden Thematisierung der Umweltpolitik). Das wird als Teil des Problems progressiver Gesellschaftsveränderung gesehen. Eine hegemonietheoretische und hegemoniepolitische Perspektive verweist darauf, dass die tief verankerten rassistischen, wohlstandschauvinistischen, patriarchalen, die Natur ausbeutenden und anderen breit geteilten gesellschaftlichen Orientierungen nicht nur auf die staatliche Ebene verschoben werden.
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Damit wird Parteipolitik nicht unwichtig (insbesondere eine andere Bildungspolitik, in der ja derzeit der Standortnationalismus und der Ökonomismus stark vorangetrieben werden, bleibt zentral), aber doch in einen breiteren Kontext gestellt. Aus einer solchen Perspektive wäre das Ziel der Jusos, dass »die progressiven Kräfte sich wieder in der SPD sammeln« (These 15), dann weniger umfassend. Natürlich sollen sich linke Kräfte dort auch sammeln, aber eben auch anderweitig. Und es müsste dann auch diskutiert werden, wie sich Parteien und Staat heute verändern. Denn auf eine Auseinandersetzung mit Parteien wird weitgehend verzichtet, und die Analyse des Staates bleibt, wie ich unten noch zeige, ambivalent. Umgekehrt: In der Tat haben Bewegungen immer wieder ein Problem der Vermittlung ihrer Anliegen in das politisch-institutionelle System wie auch in die breite Öffentlichkeit. Hier sind Parteien in dem Vorteil, dass sie qua Konstitution eine breitere Perspektive einnehmen und in den Medien viel stärker beachtet werden. Und aktuell zeigt sich das an der Linkspartei, von der die meisten linken politischen Impulse hierzulande ausgehen. Politisch notwendig und in programmatischen Thesen unumgänglich ist meines Erachtens, die »Doppelstrategie« unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen konkreter zu machen: Wo liegen Möglichkeiten und Grenzen verschiedener emanzipatorischer Strategien auf der inhaltlichen und organisatorischen Ebene? Da gibt es Unterschiede zwischen Parteien und Bewegungen, NGOs und kritischer Medienarbeit in Bereichen wie Umwelt-, Geschlechter-, Migrations- oder Wirtschaftspolitik. Das muss in solch notwendig knappen Thesen nicht alles ausgeführt werden, sollte aber als Problemhorizont formuliert und dann exemplarisch gezeigt werden. Denn es geht ja neben der Kritik aktueller Entwicklungen um Selbstverständigung, Verständigung mit anderen und um die Motivierung von Menschen, sich politisch zu engagieren und Alternativen voranzutreiben.
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Zweitens Es ist es dringend notwendig, Fragen sozialer und globaler Gerechtigkeit – soziale Gerechtigkeit ist eines, wenn nicht das zentrale Leitbild von Juso-Politik (These 16) – mit den vorherrschenden Formen der Naturaneignung zu verbinden. Ein wirklicher Schwachpunkt und weit hinter der kritischen Diskussion zurückbleibend ist jedoch das Ökologiekapitel. Die Grundaussagen sind richtig: Es gibt keine einfache Lösung, und die Umweltzerstörung hängt mit kapitalistischen Strukturprinzipien zusammen. Soziale und wirtschaftliche Verteilungsspielräume werden unter den gegebenen Bedingungen auch auf Kosten der Natur ermöglicht, und eine Perspektive, die auf eine vermeintlich »ursprüngliche« Lebensweise setzt, ist nicht per se emanzipatorisch. Trotz des Eingeständnisses, dass wir auf viele Fragen noch keine Antwort haben, dominiert dann doch eine Perspektive der ökologischen Modernisierung, die auf aufgeklärten technischen Fortschritt setzt und Entwicklung weltweit nicht behindern soll. Das übergeht nicht nur eine lange politische Diskussion um die Ausrichtung von »Entwicklung«, das heißt ihre politischen, ökonomischen, kulturellen und natürlich-materiellen Implikationen. Es werden die Dimensionen sozialer Herrschaft, welche der naturzerstörerischen eingeschrieben sind, nicht berücksichtigt. Beim Thema Ungleichheiten (These 13) taucht die Aneignung der Natur nicht auf. Wenn das aber nicht geschieht, dann bleibt man in der Dichotomie soziale Frage und Wohlstand für viele/alle einerseits und ausbeuterische Naturaneignung andererseits hängen. Die kritisch-emanzipatorische Debatte, die derzeit heftig geführt wird, nimmt den Zusammenhang sozialer und ökologischer Fragen systematischer in den Blick und fokussiert die gesellschaftlichen Naturverhältnisse und das Problem der Naturbeherrschung. Es sind die Formen an verwertungorientierter Produktion, der machtförmigen Setzung von Produktionsnormen, aber auch
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von Massenproduktion und -konsum und die damit verbundenen Interessen. Es ist die Subjektivierung von Menschen, die Natur als auszubeutende Ressource zu sehen und so weiter. Damit gerät in den Blick, dass staatliche Wirtschafts-, Finanz-, Energie- und andere Politik zutiefst mit der ökologischen Krise verquickt sind und »Umweltpolitik« viel stärker dort betrieben wird als im zuständigen Ressort oder im Parlamentsausschuss. Hier werden Fragen der Hegemonie, das heißt tief in der Gesellschaft verankerter Orientierungen und Praktiken, besonders deutlich und sie können nicht nur politisch-institutionell angegangen werden – wenngleich staatliche Politik natürlich auch hier wichtig bleibt. Die Frage ist aber, welche. Eines der schwierigsten Unterfangen für eine emanzipatorische Politik in den kapitalistischen Metropolen besteht darin, die »imperialen« Konsense und Lebensweisen aufzubrechen und zu verändern, das heißt die Tatsache, dass gesellschaftliche Konsense und Reichtümer aufgrund der vorteilhaften Stellung in der internationalen Arbeitsteilung erreicht werden. Ich betone das deswegen, da seit zwei Jahren die Bedingungen einer emanzipatorischen sozial-ökologischen Diskussion und Praxis meines Erachtens durchaus gegeben sind. Da sollten sich die Jusos einklinken. Denn über eine kritische Wendung der Umweltproblematik können sehr viele gesellschaftliche Probleme und Perspektiven in den Blick geraten: Fragen der Demokratie und des Eigentums, von Öffentlichkeit, Bildung und Subjektivierung, der Rolle staatlicher Politik auf verschiedenen Ebenen, die tief verankerte und scheinbar alternativlose Wettbewerbsorientierung.
Drittens Ich komme zum eigentlichen Thema des angefragten Kommentars, nämlich zur Globalisierung, obwohl auch die bisherigen Bemerkungen viel damit zu tun haben. Die Globalisierung wird – neben
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der Veränderung der Arbeit und der sozialen Polarisierung – als Teil von Kapitel 1 zu den gegenwärtigen Entwicklungen des Kapitalismus aufgenommen. Die Annahme lautet, dass der Kapitalismus dynamisch und veränderungsfähig sei, was ermögliche, den neoliberalen Kapitalismus als qualitativ neue Phase in den Blick zu bekommen. Ein zentrales Element emanzipatorischer Politik sei die Tatsache, dass sich die neoliberalen Versprechen – freier Zugang zum Markt für alle – nicht erfüllt hätten, was immer offensichtlicher werde. Insgesamt ist der Abschnitt etwas unpräzise. Die erste Bemerkung – das neoliberale Versprechen sei der freie Zugang zum Markt für alle versus zunehmende innergesellschaftliche und internationale Ungleichheit – ist unsystematisch. Das Versprechen stärkerer Märkte, das könnte präzisiert werden, war verbunden mit dem Versprechen einer »productive revolution« (Ronald Reagan) und deren anschließender Verallgemeinerung, das heißt das angenommene gesellschaftliche »Durchsickern« des Wohlstands von »oben nach unten« (sog. trickle down). Das war ja lange Zeit ein Element neoliberaler Hegemonie. Die dann folgenden Ausführungen zu den sinkenden Transportkosten, zur Welthandelsorganisation, zur wachsenden Bedeutung von Bildung, Infrastruktur, Lohnkosten und Subventionen als Standortfaktoren sind wichtig, die Punkte werden aber nur genannt. Zu präzisieren wäre hier: Die sich vertiefende internationale Arbeitsteilung bedeutet nicht per se eine zunehmende Bedeutung von Bildung und Lohnkosten, sondern in einigen Ländern werden natürliche Rohstoffe wieder wichtiger (Russland, Brasilien und andere; das wird weiter vorne auch kurz erwähnt). Es folgen wichtige Bemerkungen zur Rolle der Finanzmärkte (These 23), die ebenfalls etwas allgemein bleiben (und in der aktuellen Krise einer aktuelleren Bestimmung bedürften). Hier sollte eine Position dazu entwickelt werden, ob es sich bei deren Entwicklung um einen Teil der Krise des Fordismus, um ein neues neoliberales Krisenmoment oder um eine Stabilisierung des globalen Kapita-
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lismus handelt und worin das jeweils genau besteht. Die Positionen werden ja vertreten, haben sehr unterschiedliche politische Implikationen und gewinnen vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen an Bedeutung. Man hat den Eindruck, dass erst im Abschnitt zur Konkurrenz der Staaten (These 24) das Terrain für strategische Überlegungen bereitet wird. Die Argumentation ist hier unentschieden. Die Thesen sind von zwei Staatsbegriffen durchzogen, obwohl am Anfang ein deutlich kritisches Staatsverständnis skizziert wird. Die Unklarheit bezieht sich auf die Einschätzung der internationalen Ebene von Politik und Ökonomie. Drückt Globalisierung gleichsam »von außen« auf die weitgehend nationalstaatlich verfassten Gesellschaften und »zwingt« insbesondere den Staat zur Anpassung? (These 22) Oder wird mit dem Globalisierungsbegriff eine qualitativ neue Phase kapitalistischer Entwicklung benannt, in der die internationale Dimension ökonomischer, politischer und kultureller Strukturen und Prozesse wichtiger wird? Ich betone das, selbst wenn irgendwie beides gemeint ist, weil es strategische Implikationen hat. Die Schröder-SPD hat ja mehr oder weniger einen Sachzwang Globalisierung gesetzt. Wenn es Probleme oder Krisen gibt, dann muss irgendwie »die Globalisierung« re-reguliert werden per Staat und per internationaler zwischenstaatlicher Kooperation (These 25). Insbesondere im Abschnitt zur Globalisierung wird die Re-Regulierung ökonomischer Veränderungen vorgeschlagen. Der Staat wird dann irgendwie doch zum neutralen Akteur, der sich der Probleme annimmt und in seiner Wirtschaftspolitik weitgehend keynesianisch ausgerichtet bleibt (These 28). Demgegenüber würde ich den Jusos und anderen progressiven Akteuren eine Art kritischer Regulierungsperspektive vorschlagen, die sich teilweise andeutet (der Begriff des Wettbewerbsstaates wird verwendet, die theoretischen Überlegungen zu Beginn). Es geht durchaus um staatliche Politik, doch diese setzt nicht ein, um ökonomische Globalisierung nun zu regulieren, sondern sie
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findet permanent statt. Aber eben als neoliberale Regulierung, auf der internationalen Ebene institutionalisiert als EU, WTO und IWF. Die Globalisierung ist von Anfang an ein ökonomischer, kultureller und eben auch politisch-institutioneller Prozess. Eine gründliche Diskussion der Transformation des Staates – gerade in der aktuellen Diskussion – ist daher notwendig. Wenn etwa aus einer kritischen Perspektive (These 12) die Handlungsfähigkeit des Staates eng mit der Interessenorganisation der herrschenden Klassen zusammenhängt, das heißt mit einem hegemonie- und strategiefähigen Block an der Macht, dann impliziert das eine sorgfältige Klassenanalyse, um die globalisierungsvermittelten Transformationen zu begreifen. Denn die herrschenden Klassen sind in sich zutiefst gespalten (These 10), und es ist die Aufgabe von ihnen, ihren Intellektuellen und Verbänden, aber eben auch des Staates, sich zu organisieren. Wichtig ist die Aussage, dass der Staat »Kern dieses neuen Systems mehrerer Ebenen« bleibt (These 24). Allerdings würde ich den Staat nicht nur als Nationalstaat verstehen, sondern neben dem lokalen Staat auch seine Internationalisierung konstatieren. Die EU ist ein eigenes Staatsgebilde, aber auch die WTO oder die Weltbank sind Staatsapparate. Sie hängen zwar stark von ihren Mitgliedern ab, gewinnen aber auch eine gewisse Autonomie. Das hat enorme strategische Implikationen für Parteien und emanzipatorische Politik insgesamt, denn der Nationalstaat – wenngleich weiterhin wichtig – ist nur noch ein Terrain, auf dem sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse materiell verdichten. Es wird immer wieder angedeutet, dass es sich um eine Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse handelt. Aber was bedeutet das für staatliche Politik und für linke Partei- und Bewegungspolitik? Auf welchen räumlichen Ebenen institutionalisieren sich die Verschiebungen? Überraschenderweise wird jedoch im Abschnitt zu den aktuellen Entwicklungen nicht auf die Transformation des Parteiensystems eingegangen (sondern lediglich weiter vorne erfolgen Einschätzungen zur aktuellen Ausrichtung der fünf relevanten
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Parteien in Deutschland). Was können politische Parteien unter postfordistischen, europäisierten und globalisierten Verhältnissen noch bewirken – insbesondere linke sozialdemokratische Parteien? Hier machen es sich umgekehrt linke soziale Bewegungen oft zu einfach, indem sie alle Parteien über einen Kamm scheren und sich umgekehrt auch kaum für parteistrategische Fragen interessieren. Eine letzte, methodische Anmerkung zum Thema Globalisierung, die ich aus Platzgründen nicht ausführe. Die Thesen sind – außer zu Beginn, wo es um die historischen Orientierungen innerhalb der Jusos geht – seltsam erfahrungslos hinsichtlich der Alternativen. Neben den notwendig groben Analysen der aktuellen Entwicklungen wird bei der Skizze notwendiger Veränderungen kaum auf aktuelle Erfahrungen aus Kämpfen verwiesen. Das widerspricht etwas der anfangs postulierten Offenheit und dem zu Beginn von Kapitel 1 zitierten Satz von Rosa Luxemburg, dass wir »mitten in der Geschichte, mitten im Kampf lernen, wie wir kämpfen müssen …«. Mein Vorschlag lautet daher, sich in weiteren Diskussionen – vielleicht sind programmatische Thesen nicht der Ort – viel stärker auf bestehende Alternativen und alternative Diskussionen zu beziehen.2
Viertens Ich komme am Ende zu einer strategischen Reflexion. Was noch zu implizit bleibt (lediglich im Abschnitt zu Finanzmärkten kurz angesprochen) und in den kritischen Globalisierungsanalysen in2 Die Jusos bekennen, dass sie international(istisch) sind (These 50 und einige andere), dennoch erfolgen dazu wenige Ausführungen, und die Analyse sowie Strategien bleiben weitgehend auf Deutschland beziehungsweise deutsche Politik beschränkt, ergänzt um Bemerkungen zur EU (These 58). Das hängt mit der Parteiorientierung zusammen, denn Parteien agieren als Teil nationalstaatlicher Systeme notwendig auf dieser Ebene. Das wird auch durch die EU kaum verändert.
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zwischen breit geteilt wird: Bei Globalisierung handelt es sich um eine Strategie zur Überwindung der Krise des Fordismus, das heißt der institutionellen und normativen Strukturen des Nachkriegskapitalismus. Neoliberale Strategien haben vor allem dazu beigetragen, die fordistischen Kompromisse (insbesondere zwischen Lohnarbeit und Kapital) zu zerstören. Umstritten ist, ob neoliberale Politiken dazu führ(t)en, neue Kompromisse zu bilden. Wenn das geteilt wird, sollte im Jahr 2008 eine Reflexion von meines Erachtens enormer politischer Bedeutung angestellt werden: nämlich hinsichtlich der Folgen der Legitimations- und teilweisen Funktionskrise neoliberal-imperialer Globalisierung. Eine »schonungslose Analyse« müsste fragen, inwieweit der Neoliberalismus noch hegemonial ist und was die entsprechenden Mechanismen politischer, ökonomischer und kultureller Hegemonie sind. Was sind in den – in sich heterogenen und komplex aufeinander bezogenen – Bereichen des Staates, der Ökonomie, der Kultur, der Subjektivierung die Kontinuitäten und Brüche? Wo liegen die Widersprüche der neoliberalen und imperialen Konstellation, die brüchig und politisiert und aktuell von rechts bis links »postneoliberal« bearbeitet werden, das heißt zentrale strategische Elemente erhalten und andere verändern? Eine gegenhegemoniale Perspektive würde ein Thema ins Zentrum stellen, das in den Thesen stark unterbelichtet ist: nämlich das der Demokratie – obwohl das Leitbild des demokratischen Sozialismus anfangs als zentral erachtet wird. Inwiefern hat sich die repräsentative Demokratie zu einer Art technokratischer Verwaltung von vermeintlichen Sachzwängen entwickelt, was als Post-Demokratie bezeichnet werden kann? Inwieweit kann in diesem Sinne gar von Post-Politik gesprochen werden? Die wichtigen Fragen werden derzeit kaum in den Formen der repräsentativen Demokratie bearbeitet (das schreibe ich in einem Österreich, in dem der braune Populismus enorm erfolgreich ist). Was sind die Dimensionen einer Re-Politisierung und Re-Demokratisierung, zumal auf internationaler Ebene?
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Hier fehlt eine politisch pointierte Ausrichtung, die zu Debatten anregt. Parteien und ihre Jugendverbände bündeln Interessen und Diskussionen. Insofern sind sie politische Intellektuelle innerhalb der gesellschaftlichen und politischen Arbeitsteilung. Daher lohnt die Entwicklung solcher Thesen und deren anschließende Diskussion. Sie sind Bestandteil emanzipatorischer Suchprozesse der notwendigen und wünschenswerten tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen. Daher ist die programmatische Initiative der Jusos sehr zu begrüßen.
Subjektive Bedrohung oder ökonomistische Orientierungen? Warum soziale Desintegration Abwertung befördert Anna Klein und Wilhelm Heitmeyer
Soziale Desintegration steht in Deutschland wieder auf der Tagesordnung. Dabei geht es insbesondere um die Frage nach der hinreichenden Teilhabe aller Personen(-gruppen) am ökonomischen System und dem damit eng in Verbindung stehenden Bildungssystem.1 Nahezu wöchentlich erscheinen Studien, die eine rasant wachsende Einkommensungleichheit (Förster 2008), die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse und sinkende Reallöhne in den unteren Einkommensgruppen (Kalina/Weinkopf 2008) oder ungleiche Bildungschancen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008) feststellen. Diese Entwicklung schlägt sich auch in sozialwissenschaftlichen Analysen nieder. Wurde dort in den 90er Jahren der Schwerpunkt auf horizontale Ungleichheitskonzepte gelegt, so geht es jetzt wieder vermehrt um vertikale Ungleichheit. Desintegrationsbedrohungen betreffen dabei nicht etwa nur einen kleinen Teil der Bevölkerung, sondern auch die Mittelschicht (Burzan 2008). Es gibt verschiedene Perspektiven, von denen aus soziale Des1 Dies ist nur eine Dimension, in der Desintegration stattfinden kann, sie wird in der hier zugrunde liegenden Theorie Sozialer Desintegration (TSD) als individuell-funktionale Systemintegration bezeichnet. Wegen ihrer gesellschaftlichen Relevanz konzentrieren wir uns in den folgenden Analysen auf diese Dimension. Daneben beschreibt die Theorie die Dimension der kommunikativ-interaktiven Sozialintegration, in der es um gerechte Partizipationschancen und gesellschaftlichen Ausgleich geht, sowie die Dimension der kulturell-expressiven Sozialintegration, die die Einbindung im sozialen Nahraum betrifft (Anhut/Heitmeyer 2000).
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integration problematisiert werden kann. Aus einer moralphilosophischen Perspektive heraus wäre beispielsweise nach verletzten Gerechtigkeitsprinzipien zu fragen. Negative Folgen sind auch aus volkswirtschaftlicher Sicht zu erwarten, weil Personen beispielsweise arbeitslos sind oder keine hinreichenden Ausbildungsmöglichkeiten haben. Aus dieser Perspektive geht es um die »Verschwendung von Humankapital«. Eine weitere Sicht problematisiert soziale Desintegration hinsichtlich ihrer Folgen für die (politische) Partizipation, da vielfach gezeigt werden konnte, dass Personen aus unteren sozialen Schichten sich seltener beteiligen (zum Beispiel Geißler 1996). Hier geht es also um die negativen Auswirkungen sozialer Desintegration auf die Demokratie. Auch wir stellen im Folgenden die Frage nach der Bedeutung sozialer Desintegration für die Demokratie, allerdings geht es uns weniger um politische Partizipation als um die Folgen für das soziale Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft. Wie gehen Personen, die sich von sozialem Abstieg bedroht sehen, mit ihren Mitmenschen um? Wie solidarisch können Menschen sein, die sich um ihre eigene Teilhabe in der Gesellschaft sorgen müssen, und mit wie viel Rücksicht und Respekt begegnen sie ihren Mitmenschen? Diese Fragen gewinnen umso mehr an Relevanz, da sich die bundesdeutsche Gesellschaft immer stärker pluralisiert hat (zum Beispiel im Hinblick auf Lebensstil, Religion, ethnische Herkunft oder eben auch soziale Lagen). Inwieweit die Mitglieder dieser Gesellschaft in der Lage sind, dieser Heterogenität mit Akzeptanz und auch einem gewissen Maß an wechselseitiger Anerkennung zu begegnen, wird unseres Erachtens eine der wichtigsten Zukunftsfragen sein. Wir werden dazu zunächst aufzeigen, wie sich die subjektive Wahrnehmung der eigenen sozialen Situation in der bundesdeutschen Bevölkerung seit 2002 verändert hat.2 Danach wird zu ana2 Alle nachfolgenden Analysen basieren auf den seit 2002 im Rahmen des Projekts »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« jährlich durchgeführten repräsentativen Bevölkerungssurveys. Das Projekt wird gefördert von einem Stiftungskonsortium unter Federführung der VolkswagenStiftung.
Subjektive Bedrohung oder ökonomische Orientierungen? 197
lysieren sein, ob Personen, die sich als desintegriert betrachten, schwachen Gruppen abwertender gegenüberstehen als andere. Wir wollen dann die Zusammenhänge von Desintegration und Ökonomisierung beleuchten. Was hat die wachsende soziale Desintegration in Deutschland mit einem autoritären Kapitalismus zu tun, und dringen ökonomistische Einstellungen auch in die Köpfe der Menschen ein? Und wenn ja, bei wem finden sich solche Einstellungen, die Effizienz und Nützlichkeitserwägungen in den Vordergrund stellen? Abschließend fragen wir nach den Zusammenhängen von ökonomistischen Einstellungen und der Abwertung schwacher Gruppen.
Subjektive Desintegrationsbedrohung: Die Entwicklung Menschen handeln auf Grundlage ihrer Wahrnehmungen. Deshalb gehen wir davon aus, dass besonders die subjektive Einschätzung der eigenen Desintegrationsbedrohung negative Folgen für das Zusammenleben hat. Die objektive Situation von Personen muss nicht zwangsläufig mit ihrer subjektiven Einschätzung übereinstimmen. Allerdings sind die Zusammenhänge recht hoch. Unsere Daten zeigen, dass die objektive soziale Lage (ProKopf-Einkommen, höchster Bildungsabschluss, Berufsprestige) hoch korreliert mit der Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Lage (r = –,34) und der Angst vor Arbeitslosigkeit (r = –,19). Schwächer damit verknüpft ist hingegen die Einschätzung der eigenen Zukunftsaussichten (r = –,09). Unsere Daten zeigen, dass sich die Situation auch im Bewusstsein der Menschen in Deutschland seit 2002 verschärft hat. Im Vergleich zum Jahr 2002 werden die eigene wirtschaftliche Lage und die persönlichen Aussichten für die Zukunft im Jahr 2008 signifikant schlechter eingeschätzt, die Sorgen und Ängste vor Arbeitslosigkeit haben zugenommen, wenngleich die persönliche Situation im Jahr 2006 noch negativer gesehen wurde.
198 Was ist heute links? 2,6
2002
2004
2006
2008
2,4 2,2 2 1,8 1,6 1,4 1,2 1
Schlechte eigene wirtschaftliche Lage
Ängste und Sorgen vor Arbeitslosigkeit
Negative Zukunftsaussichten
Abbildung 1: Entwicklung der Wahrnehmung eigener Desintegration/ Desintegrationsbedrohung in der Bevölkerung (Mittelwerte, GMF-Survey 2002–2008)
Abwertung schwacher Gruppen als Folge sozialer Desintegration Soziale Desintegration kann, wie eingangs erwähnt, für verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche negative Konsequenzen haben. Wir konzentrieren uns hier auf die Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben und stellen die Frage, ob sich soziale Desintegrationsängste beziehungsweise -erfahrungen negativ auf die Akzeptanz von Gleichwertigkeit gesellschaftlicher Gruppen auswirken. Im Anschluss an Theorien, die den sozialen Status beziehungsweise den Verlust von Status als Einflussfaktor für Vorurteile und Rassismus hervorheben (Blumer 1958; Bobo/Hutchings 1996; Anhut/Heitmeyer 2000), gehen wir davon aus, dass die Bedrohung der eigenen Position die Abwertung schwacher Gruppen begünstigt. Der eigene soziale Status ist dabei relativ, er wird erst im sozialen Vergleich definiert. Allerdings erscheint es wahrscheinlich, dass
Subjektive Bedrohung oder ökonomische Orientierungen? 199
dies insbesondere solche schwachen Gruppen betrifft, die auch als Konkurrenten um Statuspositionen wahrgenommen werden. Dies gilt zuallererst für die Gruppe der Ausländer, denn fremdenfeindliche Einstellungen werden häufig im Zuge von Konkurrenzlogiken begründet. »Die vermeintliche Überforderung der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion wird auf die Existenz und Ansprüche von Ausländern zurückgeführt« (Bischoff/Müller 2004, S. 17). Wir unterscheiden im Folgenden zwei Aspekte sozialer Desintegration und prüfen ihren Zusammenhang mit feindseligen Mentalitäten gegenüber schwachen Gruppen. Erstens berücksichtigen wir die objektive Soziallage der Person (gemessen an Pro-KopfEinkommen, höchstem Bildungsabschluss und Berufsprestige), zweitens prüfen wir, ob die subjektive Desintegrationsbedrohung (gemessen an der Angst vor Arbeitslosigkeit und der Einschätzung der individuellen Zukunftsaussichten) einen Einfluss auf abwertende Einstellungen hat. Konkurrenz Fremdenfeindlichkeit Modell Objektive soziale Lage
Abwertung von Obdachlosen
Abwertung von Langzeitarbeitslosen
1
2
1
2
1
2
–,38
–,34
–,20
–,19
–,28
–,27
Subjektive Desintegrations bedrohung (Angst vor Arbeitslosigkeit und negative Zukunftsaussichten) R²
Ausgrenzung (stehen außerhalb der Konkurrenz)
,14
,14
,16
n. s.
,04
,04
n. s.
,08
,08
Anmerkung: Die angegebenen Koeffizienten sind Beta-Koeffizienten. n. s. steht für »nicht signifikant«. Sobel-Test zur Signifikanz des indirekten Effekts von Soziallage über subjektive Desintegrationsbedrohung auf Fremdenfeindlichkeit: z = 5,05, indirekter Effekt = ,03 Tabelle 1: Lineares Regressionsmodell zum Einfluss objektiver und subjektiver Desintegration auf die Abwertung verschiedener schwacher Gruppen
200 Was ist heute links?
Das Regressionsmodell zeigt, dass die subjektiv wahrgenommene Desintegrationsbedrohung zwar einen Effekt auf Fremdenfeindlichkeit hat, also im Hinblick auf eine Gruppe, die im Kampf um ökonomische Ressourcen relevant erscheint. Bei Gruppen, die nicht um Statuspositionen konkurrieren, wie etwa Langzeitarbeitslose und Obdachlose, ist der Effekt der subjektiven Statusbedrohung, wie erwartet, nicht vorhanden. Die These, dass Personen aus den unteren sozialen Lagen sich vom sozialen Abstieg bedroht fühlen und deshalb solche Gruppen abwerten, die mit ihnen konkurrieren könnten, kann jedoch kaum bestätigt werden. Zwar zeigt sich ein Effekt der subjektiven Bedrohung auf Fremdenfeindlichkeit, dieser besteht jedoch nahezu unabhängig von der objektiven sozialen Lage. Das heißt, subjektive Abstiegsbedrohung steht in Verbindung mit Fremdenfeindlichkeit, sie kann aber nicht erklären, warum in den unteren sozialen Lagen häufiger fremdenfeindlichen Aussagen zugestimmt wird. Die Abwertung aller drei schwachen Gruppen steht jedoch in Zusammenhang mit der objektiven sozialen Lage. Auch im Falle der Fremdenfeindlichkeit wird der Effekt der objektiven sozialen Lage nicht über die subjektive Statusbedrohung vermittelt. Die Stärke der Effekte der objektiven sozialen Lage bleibt auch unter Einbeziehung der subjektiven Bedrohung nahezu stabil. Es muss also einen anderen Mechanismus geben, der erklärt, warum die objektive soziale Lage abwertende Einstellungen vorhersagt. Viele Publikationen können zeigen, dass insbesondere der Bildungsgrad die Ausformung von Vorurteilen bestimmt. Warum dies so ist, konnte bisher nur zum Teil geklärt werden. Es wurden hier beispielsweise die größere Sensibilität gegenüber gesellschaftlichen Tabus bei höher Gebildeten wie auch eine erhöhte kognitive Komplexität und gesteigerte Empathiefähigkeit diskutiert (vgl. Heyder 2003). Wir untersuchen im Folgenden einen anderen Faktor, der die Zusammenhänge zwischen Soziallage und Abwertung in den Kontext neuerer gesellschaftlicher Entwicklungen stellt, die als Ökonomisierung des Sozialen bezeichnet werden können.
Subjektive Bedrohung oder ökonomische Orientierungen? 201
Ökonomistische Einstellungen: Ellbogenmentalitäten in der Unterschicht? Soziale Desintegration muss heute auch im Kontext ökonomischer Globalisierung und der neoliberalen Politik der vergangenen Jahre gesehen werden. Einerseits ist der Bereich der Politik von Autonomie- und Souveränitätseinbußen gegenüber der international operierenden Ökonomie betroffen (vgl. zum Beispiel Sassen 1999, Held 2002), andererseits dringen ökonomische Logiken in alle gesellschaftlichen Bereiche vor. So konstatiert Habermas bereits 1982, dass die »ökonomischen und (…) administrativen Imperative (…) immer weitere Lebensbereiche monetarisieren und bürokratisieren, immer weitere Beziehungen in Waren und in Objekte der Verwaltung verwandeln« (Habermas 1982, S. 1060). Messner und Rosenfeld sehen hier drei Mechanismen der Verdrängung von nicht-ökonomischen Logiken aus den gesellschaftlichen Institutionen: 1) Die Abwertung nicht-ökonomischer institutioneller Funktionen, wenn zum Beispiel die nicht ökonomischen Funktionen von Schule wie Wissenserwerb oder persönliche Weiterentwicklung abgewertet werden; 2) die Anpassung der nicht-ökonomischen Institutionen an ökonomische Anforderungen, zum Beispiel wenn das Familienleben entsprechend ökonomischen Notwendigkeiten geregelt werden muss; sowie 3) die Durchdringung nicht-ökonomischer Institutionen mit ökonomischen Normen, wenn zum Beispiel Konkurrenzprinzipien durch Benotungssysteme im Schulalltag präsent sind (Messner/Rosenfeld 2001, S. 70 ff.). Im Zuge dieser Dominanz der Ökonomie, deren Logik auf alle gesellschaftlichen Bereiche übergreift und deren Eigenlogiken abwertet, spricht Heitmeyer (2001) auch von »autoritärem Kapitalismus«. Die Durchdringung der Gesellschaft mit ökonomischen Prinzipen hat auch Auswirkungen auf die Subjekte. Dies hat Richard Sennett im Hinblick auf die Flexibilisierung und Bindungslosigkeit beschrieben (1998). Ökonomische Imperative bestimmen zu-
202 Was ist heute links?
nehmend die Lebenswelt der Subjekte, und diese entwickeln daran ausgerichtete Selbststeuerungsmechanismen, um in einer ökonomisch dominierten Gesellschaft bestehen zu können. Regierung erfolgt immer stärker durch die Subjekte selbst. »Entscheidend ist die Durchsetzung einer ›autonomen‹ Subjektivität als gesellschaftliches Leitbild, wobei die eingeklagte Selbstverantwortung in der Ausrichtung des eigenen Lebens an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen liegt« (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, S. 30). Ausgehend von dieser Perspektive nehmen wir an, dass sich ein ökonomistisches Denken auch in den Köpfen der Menschen wiederfindet. Die Verinnerlichung von ökonomischen Imperativen bezeichnen wir im Folgenden als ökonomistische Einstellungen, da sie nicht mehr im eigentlichen Sinne ökonomisch – das heißt auf Effizienz und Effektivität innerhalb des ökonomischen Bereichs – ausgerichtet sind, sondern auf andere gesellschaftliche Bereiche, wie zum Beispiel soziale Beziehungen, transferiert werden. Heitmeyer/Endrikat (2008) konnten für das Jahr 2007 die Verbreitung ökonomistischer Einstellungen bereits zeigen. Auch im Jahr 2008 stimmen 31 Prozent der Deutschen der Aussage, »Menschen, die wenig nützlich sind, kann sich keine Gesellschaft leisten«, zu, ebenfalls knapp ein Drittel vertritt die Ansicht, »Menschliche Fehler können wir uns nicht mehr leisten«, und genauso viele Personen meinen »Wir nehmen in unserer Gesellschaft zu viel Rücksicht auf Versager«. Erstaunlich erschien uns der empirische Befund aus dem Jahr 2007, dass ökonomistische Einstellungen verstärkt in der untersten sozialen Lage anzutreffen sind. Dieses Ergebnis ließ sich jedoch im Jahr 2008 replizieren. Es zeigen sich erhebliche signifikante Unterschiede zwischen Personen aus verschiedenen sozialen Lagen hinsichtlich der Verbreitung ökonomistischer Einstellungen. Warum ökonomistische Einstellungen in den unteren sozialen Lagen so verbreitet sind, bedarf der Klärung. Einerseits könnte
Subjektive Bedrohung oder ökonomische Orientierungen? 203
1,81
gehobene Soziallage (5)
2,02
(4)
2,07
mittlere Soziallage (3) (2)
2,3 2,41
untere Soziallage (1) 1
1,2
1,4
1,6
1,8
2
2,2
2,4
2,6
Abbildung 2: Verbreitung ökonomistischer Einstellungen nach Soziallage (Mittelwerte, Skala 1–4, GMF-Survey 2008)
man annehmen, dass gerade Personen in gehobenen Positionen in ihrem beruflichen Alltag eher mit ökonomistischen Bewertungsmaßstäben konfrontiert sind und diese dann auch auf andere Bereiche übertragen. Andererseits ist es denkbar, dass gerade Personen, die sich um ihre Existenz sorgen müssen, keine andere Wahl haben, als ökonomistische Einstellungen zu verinnerlichen. Diese Menschen können sich möglicherweise tatsächlich keine »menschlichen Fehler« leisten, um ihren Arbeitsplatz nicht zu verlieren.
Ökonomistisches Denken als Vermittler zwischen Desintegration und Abwertung? Zuvor haben wir analysiert, ob der Zusammenhang zwischen objektiver Benachteiligung und der Abwertung schwacher Gruppen durch die subjektive Abstiegsbedrohung erklärt werden kann. Dies war kaum der Fall. Nachdem wir zeigen konnten, dass ökonomistische Einstellungen in den unteren sozialen Lagen verbreiteter sind, besteht Grund zu der Annahme, dass es eben diese ökonomistischen Einstellungen sind, die erklären, warum Personen aus den unteren Sozial-
204 Was ist heute links?
lagen eher zur Abwertung schwacher Gruppen neigen. Ob dies tatsächlich der Fall ist, zeigt die folgende Regressionsanalyse, die den Einfluss der objektiven sozialen Lage sowie den Einfluss ökonomistischer Einstellungen auf abwertende Einstellungen gegenüber verschiedenen schwachen Gruppen testet. Konkurrenz Fremdenfeindlichkeit Modell Objektive soziale Lage
Abwertung von Obdachlosen
Abwertung von Langzeitarbeitslosen
1
2
1
2
1
2
–,38
–,28
–,20
–,09
–,28
–,18
Ökonomistische Einstellung R²
Ausgegrenzte (stehen außerhalb der Konkurrenz)
,35 ,14
,25
,42 ,04
,20
,36 ,08
,20
Anmerkung: Die angegebenen Koeffizienten sind Beta-Koeffizienten. SobelTest zur Signifikanz des indirekten Effekts von Soziallage über subjektive Desintegrationsbedrohung auf Fremdenfeindlichkeit: z = 9,33; indirekter Effekt = ,09; Abwertung von Langzeitarbeitslosen: z = 9,45; indirekter Effekt = ,10; Abwertung von Obdachlosen: z = 9,86; indirekter Effekt = ,11. Tabelle 2: Lineares Regressionsmodell zum Einfluss der objektiven sozialen Lage und ökonomistischer Einstellungen auf abwertende Einstellungen gegenüber verschiedenen schwachen Gruppen
Das Modell zeigt wiederum den Einfluss der sozialen Lage: Je niedriger diese, desto häufiger werden abwertende Einstellungen gegenüber den drei hier analysierten Gruppen unterstützt. Im Modell 2 wurde auch der Einfluss ökonomistischer Einstellungen auf Abwertung berücksichtigt. Es zeigt sich, dass ökonomistische Einstellungen einen hohen Zusammenhang mit abwertenden Einstellungen aufweisen. Außerdem zeigt sich, dass der Einfluss der sozialen Lage durch die Berücksichtigung ökonomistischer Einstellungen deutlich sinkt. Der Effekt der sozialen Lage auf abwertende Einstellungen gegenüber schwachen Gruppen wird über die ökonomistischen Einstellungen erklärt.
Subjektive Bedrohung oder ökonomische Orientierungen? 205
Wir können also folgern, dass die unteren sozialen Lagen deshalb mit abwertenden Einstellungen gegenüber schwachen Gruppen in Verbindung stehen, weil diese Personen stärker zu ökonomistischen Einstellungen neigen. Allerdings scheint es noch andere Mechanismen zu geben, die den Zusammenhang von Soziallage und abwertenden Einstellungen erklären können, da die Soziallage auch im Modell 2 unter Berücksichtigung der ökonomistischen Einstellungen einen signifikanten Effekt behält. Anderen Personen mit Nachsicht und Respekt – unabhängig von deren gesellschaftlichem Nutzen – zu begegnen ist möglicherweise ein moralischer Luxus, den sich Personen in gesicherten sozialen Lagen eher leisten können. Denn sie sind nicht darauf angewiesen, ihr Leben an die Ansprüche von Leiharbeitsfirmen anzupassen oder sich bei der Arbeitsplatzsuche den Anforderungen der Unternehmen unterzuordnen. Wer hingegen sein eigenes Leben stark an den Nutzenkalkülen der Wirtschaft ausrichten muss, um die kleinsten Chancen im Existenzkampf zu ergreifen, der hat möglicherweise weniger Verständnis für andere, die dies nicht tun. »Marktförmige Steuerungsmechanismen generieren offenkundig einen Zwang zum Selbstzwang, der tendenziell auf die gesamte Persönlichkeit ausstrahlt. In unterschiedlicher Weise bringt dieser Modus der Selbstzuschreibung in allen Zonen der Arbeitsgesellschaft Formen der Überanpassung hervor, die – wenn auch nicht zwangsläufig – in rechtspopulistische Orientierungen einmünden können.« (Dörre 2006, S. 13)
Schlussbetrachtung: Jenseits des Ökonomismus Wir haben gefragt, warum soziale Desintegration im ökonomischen Bereich mit abwertenden Einstellungen gegenüber schwachen Gruppen zusammenhängt. Die These, dass Personen aus den unteren sozialen Lagen sich durch mögliche statuskonkurrierende Gruppen (wie Migranten) besonders bedroht fühlen und
206 Was ist heute links?
deshalb zur Abwertung neigen, konnten wir nicht bestätigen. Die gefühlte Bedrohung hatte vielmehr über alle sozialen Lagen hinweg einen verstärkenden Effekt auf fremdenfeindliche Einstellungen. In einer zweiten Analyse haben wir untersucht, ob der Zusammenhang zwischen sozialer Lage und abwertenden Einstellungen durch die in den unteren sozialen Lagen weiter verbreiteten ökonomistischen Einstellungen erklärt werden kann. Diese Annahme konnte bestätigt werden. Personen aus den unteren sozialen Lagen äußern häufiger ökonomistische Einstellungen und neigen auch deshalb stärker zur Abwertung schwacher Gruppen. Weitere Faktoren, die den Zusammenhang zwischen sozialer Lage und abwertenden Einstellungen beleuchten, sind noch zu identifizieren. Unsere Ergebnisse sind ein Zeichen für die Durchdringung der Gesellschaft mit ökonomistischen Logiken. Desintegrationsbedrohte und sozial Schwache nehmen ökonomistische Werthaltungen an, um in der Marktgesellschaft bestehen zu können. Dies hat schlimme Folgen für schwache Gruppen. Was bedeuten diese Ergebnisse für die Frage, was heute links ist? Linke Politik kann heute bedeuten, für gesellschaftliche Institutionen einzutreten, die jenseits ökonomischer Verwertungslogiken ihre Geltung beanspruchen können. Dazu gehört sowohl der Bereich politischer Beteiligung, in dem die Beteiligung aller gewährleistet sein muss – und damit auch der Maßstab ein anderer ist als ökonomischer Logiken –, als auch der private Bereich, in dem das soziale Zusammenleben sich ebenfalls an anderen als ökonomischen Maßstäben ausrichten sollte. Soziale Desintegration setzt Menschen unter Druck und führt dazu, dass sie ihre privaten Freiräume unter das Diktat ökonomistischer Kalkulationen stellen (müssen) und diese Logiken gegebenenfalls sogar verinnerlichen. Im Sinne Walzers (1992) muss linke Politik dafür eintreten, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Sphären jeweils ihre eigenen Maßstäbe geltend machen können.
Subjektive Bedrohung oder ökonomische Orientierungen? 207
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208 Was ist heute links?
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Das Ziel ist gute Arbeit Michael Sommer
Es ist für die Jugendorganisation der SPD immer wieder eine Pflichtaufgabe, ihr politisches Selbstverständnis auf die Höhe der Zeit zu bringen. So ist es zu begrüßen, dass die Jusos in 63 Thesen ihre Sicht auf »eine Linke der Zukunft« umreißen. These 11 ist dabei aus gewerkschaftlicher Sicht zentral: »Die konkrete Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse ist … Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen …« Zwar wird das breite Themenfeld Arbeit in weiteren Thesen und Unterkapiteln behandelt, allerdings kommt es insgesamt doch etwas zu kurz, denn die Gestaltung der Arbeit sollte im Mittelpunkt einer Aufgabenbestimmung für eine »Linke der Zukunft« stehen. Gewerkschaften sind tagtäglich in den Betrieben, bei Tarifverhandlungen und im politischen Prozess mit diesen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen beschäftigt und können sich schon deshalb nicht auf theoretische Diskussionen beschränken. Die Realitäten der Arbeitswelt und die Sorgen der arbeitenden Menschen erlauben es der Gewerkschaftsarbeit nicht, sich auf bloße Kapitalismuskritik zu beschränken. Vielmehr sind Gewerkschaften aufgefordert, als Anwälte für Arbeit und soziale Gerechtigkeit kurz- und langfristige Strategien zu verfolgen, die den Menschen in konkreten Situationen Hilfe und Schutz bieten. Die JungsozialistInnen sollen sich dabei einbringen – wenn möglich durch eigene Gewerkschaftsmitgliedschaft und persönliches Engagement.
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Die Arbeitsbedingungen der ArbeitnehmerInnen zu verbessern ist eine permanente Aufgabe der Gewerkschaften. Aber wohl auch einer fortschrittlichen politischen Partei wie der Sozialdemokratie: nicht weil es um ein Schönwetterprogramm geht oder es sich gut für Sonntagsreden eignet. Es ist auch keine rein moralische Frage, sich für die Herstellung und den Erhalt der Würde der arbeitenden Menschen einzusetzen. Vielmehr stellt die Gestaltung der Arbeitsbedingungen eine immanente Existenzfrage dar, für das einzelne Individuum genauso wie für die Gesellschaft. Die Qualität der Arbeit in Deutschland entscheidet über die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Wirtschaftsstandorts. Im Interesse der Beschäftigten liegt es, aus Gründen der eigenen Arbeitsplatzsicherung die Zukunft sichernde Arbeitsbedingungen aktiv einzufordern. Es stimmt nicht, dass alles, was Arbeit schafft, per se sozial ist. Die Gewerkschaften sind Triebkraft des Anspruchs auf gute Arbeit und arbeiten dafür auf betrieblicher, tariflicher und politischer Ebene. Die Arbeitswelt verändert sich ständig. Sie ist gegenwärtig geprägt von fünf Haupttrends: 1. Die Wirtschaft basiert auf Informations- und Kommunikationstechnologien: Damit gehen grundlegende Veränderungen der Produktionsstrukturen und der Erwerbsarbeit einher. 2. Europäisierung und Globalisierung: Standortkonkurrenz durch Exit-Optionen der Unternehmen, Druck auf die hiesigen Ar beitsbeziehungen durch weltweite Arbeitsteilung. 3. Der Finanzmarkt dominiert die Produktionsbedingungen: Der Shareholder-Value fordert kurzfristige Gewinnmargen in der »Realwirtschaft« durch Kostensenkungsprogramme. 4. Rückzug der Nationalstaatlichkeit: Transnationale Unternehmen entkoppeln wirtschaftliche Prozesse von demokratisch legitimierten Institutionen, damit geht ein Verlust nationalstaatlicher Regulierungsoptionen und eine Krise des sozialen Ausgleichs in Westeuropa einher.
Das Ziel ist gute Arbeit 211
5. Der demografische Wandel bedeutet die Herausforderung, die alternde Erwerbsbevölkerung durch Qualifizierung und Gesundheitsprävention abzusichern. Zu diesen fünf Haupttrends gesellen sich zwei weitere Phänomene, die die deutschen Arbeitsbeziehungen prägen: Die deutsche Wirtschaft wandelt sich von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft, gleichzeitig wurde der Arbeitsmarkt von der Politik massiv dereguliert. Des Weiteren ist hier die Tarifsystematik zu erwähnen: Ein Rückgang der Tarifbindung von Betrieben bei gleichzeitiger größerer Betriebsnähe der Tarifpolitik durch Öffnung über Tarifklauseln ist zu verzeichnen. Diese technologischen, organisatorischen und lohnpolitischen Flexibilisierungsprozesse der letzten 20 Jahre haben die deutschen Arbeitsbeziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern stark verändert. Viele Betriebe wurden restrukturiert und Abläufe rationalisiert, Tausende Stellen abgebaut oder verlagert. Insgesamt sind heute die Beschäftigten mit massiver Arbeitsverdichtung und damit einhergehendem Druck und Stress konfrontiert. Zugleich gab es deutliche Realeinkommensverluste für ArbeitnehmerInnen, und die Einkommensverteilung wurde ungleicher und ungerechter. Demgegenüber sind die Gewinne der Unternehmen und die Vermögenseinkommen geradezu explodiert. Während Deutschlands Mitte schrumpft, legen Topverdiener zu. Es muss niemanden wundern, wenn 38 Prozent der Deutschen sagen, sie hätten ihren Glauben an die soziale Marktwirtschaft verloren. Drei Viertel aller Deutschen machen sich Sorgen um ihre wirtschaftliche Zukunft. Innovative Arbeitspolitik, so wie sie Gewerkschaften, die SPD und viele Arbeitsforscher verstehen, setzt in dieser Situation auf selbstbewusste Konzepte statt auf Kurzfriststrategien zur Gewinnmaximierung der Unternehmen. Auch erfordert sie eine Abkehr vom Mythos, die Deregulierung des Arbeitsmarktes oder
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der Lohnverzicht der Beschäftigten würde die deutsche Wirtschaft zukunftsfester machen. Das Konzept der »Guten Arbeit« ist der Kristallisationspunkt im Zentrum der Auseinandersetzung um die Zukunft der Gestaltung der Existenzgrundlage von Millionen Beschäftigten. Die politische Mindestlohndebatte und die Tarifauseinandersetzungen erreichen die Öffentlichkeit durch mediale Meinungsmacher nur gefiltert. Der Arbeitsalltag der Beschäftigten und die Qualität der Arbeit werden dabei kaum transparent. Der DGB publiziert deshalb seit Herbst 2007 den Index »Gute Arbeit«, einen repräsentativen bundesweiten Vergleich der Qualität der Arbeit aus Arbeitnehmersicht. Der »Gute-Arbeit«-Index findet große gesellschaftliche Beachtung. Das lässt sich auf die gesetzten Schwerpunkte zurückführen: Einerseits bietet der Index einen Einblick in die reale Arbeitswelt der Beschäftigten, andererseits markiert er die Notwendigkeit, aus den individuellen Erfahrungen des Einzelnen eine politische, gesamtgesellschaftliche Gestaltungsaufgabe zu machen. Die Herausforderung liegt darin, in den Köpfen der politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger die Bedeutung der Qualität der Arbeit zu manifestieren und sie zu motivieren, Verbesserungen zu initiieren. Soziale Gerechtigkeit im Sinne angemessenen Einkommens, weniger psychischer und physischer Belastungen, relativer Sicherheit und beruflicher Entwicklungschancen ist herstellbar. Allerdings nur, wenn Manager nicht nur verbal eingestehen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das wichtigste Kapital eines Unternehmens sind, sondern dieses Bekenntnis auch real umsetzen. Den Beschäftigten selbst sind auf diesem Weg dringend mehr Einfluss-, Qualifizierungs- und Entwicklungsmöglichkeiten einzuräumen als bisher. Die Befunde der wissenschaftlichen Analyse sind ernüchternd: Zwar sind 68 Prozent der Beschäftigten in Deutschland stolz auf ihre Arbeit – häufig oder immer –, doch nur 12 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland werden als umfassend positiv beschrieben. 54 Prozent liegen im Mittelfeld. Mehr als ein Drittel der Arbeits-
Das Ziel ist gute Arbeit 213
plätze, nämlich 34 Prozent, müssen als mangelhaft beschrieben werden. Die Qualität der Arbeit bleibt also deutlich hinter den Anforderungen an »Gute Arbeit« zurück. Der DGB-Index zeigt erhebliche Defizite und ein großes Verbesserungspotenzial auf, sowohl in der Arbeitsorganisation und der Unternehmenskultur als auch in der Zukunftssicherheit und der Einkommenshöhe. Aufschlussreich ist der Zusammenhang zwischen realer Einkommenshöhe der Beschäftigten und der Qualität der Arbeitsbeziehungen: Die »Schlechtestbezahlten« haben ihre Tätigkeit unter den schlechtesten Arbeitsbedingungen auszuführen. Bezieherinnen und Bezieher niedriger Einkommen berichten deutlich öfter als Besserbezahlte von großen gesundheitlichen Belastungen, respektlosem Umgang, schlechter Führungsqualität und einem Mangel an Aufstiegschancen: ein weiterer Beleg für die schlechten Bedingungen im Niedriglohnsektor. Auffällig ist auch, in welch geringem Maße Weiterbildung und Weiterqualifizierung in den Betrieben gefördert werden. Zwei Drittel der Beschäftigten sagen aus, sie hätten von ihren Vorsetzten keine oder kaum Qualifizierungsangebote bekommen. Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Rente mit 67 Jahren zeigt der DGB-Index zum Thema »zukünftige Arbeitsfähigkeit« ernüchternde Ergebnisse. Nur jeder zweite Beschäftigte geht davon aus, dass er seine Tätigkeit unter den derzeitigen Arbeitsbedingungen bis zum Rentenalter ausüben kann. Im Vergleich von guter zu schlechter Arbeit wird dies noch deutlicher: 73 Prozent der Beschäftigten mit guter Arbeit rechnen mit dem Erhalt ihrer Arbeitsfähigkeit bis ins Rentenalter. Dagegen erwarten nur 27 Prozent der Beschäftigten mit schlechter Arbeit, dass sie den gegenwärtigen Belastungen bis zum Eintritt ins Rentenalter standhalten werden. Dieses Ergebnis bestärkt den DGB, sein Engagement gegen die Rente mit 67 Jahren weiterzuführen. Eine Sonderauswertung aus dem DGB-Index hat deutlich gemacht, dass sich junge Menschen überdurchschnittlich oft in unsicheren Arbeitsverhältnissen befinden – selbst wenn sie gut aus-
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gebildet sind. Befristete Arbeitsverträge, Minijobs, Leiharbeit und Teilzeitarbeit prägen in Deutschland den Berufseinstieg vieler: Jeder zweite Beschäftigte unter 30 Jahren hatte in seiner vergleichsweise kurzen Karriere mindestens einen befristeten Arbeitsvertrag. Auch sind die unter 30-Jährigen überdurchschnittlich oft als Leiharbeiter tätig. Nicht selten treffen mehrere Unsicherheiten zusammen: das befristete Arbeitsverhältnis, die Leiharbeit und ein geringes Einkommen. Gut jeder Dritte der jüngeren Beschäftigten verdient weniger als 1 500 Euro im Monat, obwohl er einer Vollzeitarbeit nachgeht. Entgegen der Behauptung, dass gerade junge Leute ein Arbeitsnomadentum attraktiv fänden, wünschen sich 95 Prozent der unter 30-Jährigen einen sicheren Arbeitsplatz. Aus dem DGB-Index ist weiterhin ablesbar: Ob eine Arbeit gut oder schlecht beurteilt wird, hängt aber weniger mit der Tätigkeit und der Aufgabe zusammen als vielmehr mit der Gestaltung der Arbeitsbedingungen. Anders gesagt: Für jede Tätigkeit lassen sich Bedingungen schaffen, durch die sie zu einer guten Arbeit wird. Eine wesentliche politische Schlussfolgerung des DGB aus dem Index »Gute Arbeit« ist daher, eine breite gesellschaftliche Debatte zu initiieren, um die Arbeitsbedingungen am Wirtschaftsstandort Deutschland zu sichern und zu verbessern. Die SPD hat inzwischen den Begriff »Gute Arbeit« für ihre eigene Positionierung übernommen. So besteht die Hoffnung, in dieser Frage einen verlässlichen Bündnispartner und Fürsprecher in künftigen konkreten Gesetzgebungsprozessen zu haben. Was die Parteien im deutschen Spektrum mit »Guter Arbeit« meinen, wird von den Gewerkschaften mit Interesse verfolgt. Worthülsen zur Befriedung sozialer Auseinandersetzungen oder gar Versuche einer Umdeutung des Begriffs und seiner Inhalte werden dabei nicht zu akzeptieren sein. Denn es geht um viel: Die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist entscheidend im Wettbewerb um die besseren Produkte und Dienstleistungen. Will man einen Vorsprung im Markt erhalten beziehungsweise erreichen, muss im Zentrum der Bemü-
Das Ziel ist gute Arbeit 215
hungen stehen, wie die Qualität der Arbeit verbessert werden kann. Entscheidend wird sein, inwieweit die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereit sind, Motivation, Kreativität und ihre besonderen Fähigkeiten in ihre Arbeit einzubringen. Das funktioniert besser, wenn die Rahmenbedingungen stimmen, also wenn man für die erbrachte Leistung mit gerechter Entlohnung, einem sicheren Arbeitsplatz und Anerkennung rechnen kann. Befragt man die Beschäftigten, was sie konkret von ihrem Arbeitsplatz erwarten, hört man den Wunsch nach gesellschaftlicher Nützlichkeit und solidarischer Organisation. Soziale Gerechtigkeit und Qualität der Arbeit gehören zusammen, wenn man von menschenwürdig gestalteter Arbeit spricht. An der Spitze stehen materielle Existenzsicherung, verlässliche, anständige Einkommen, sichere Arbeitsplätze, ein unbefristetes Arbeitsverhältnis, regelmäßige Einkommenssteigerungen. Die Gewerkschaften fordern seit langem Mindestlöhne – mindestens 7,50 Euro pro Stunde. Tarifliche Regelungen haben den Vorzug, aber wenn wegen zu geringer Tarifbindung keine Regelung zustande kommt, muss eine gesetzliche Lösung greifen. Hungerlöhne oder staatliche Lohnsubventionierung für unanständige Unternehmen durch Aufstocken von Hartz IV sind damit vom Tisch. Der DGB-Index »Gute Arbeit« zeigt: Im Niedriglohnbereich herrschen die schlechtesten Arbeitsbedingungen, die Qualität der Arbeit ist dort mangelhaft. Damit muss Schluss sein! Und auch mit dem Vorurteil, Niedrigentlohnte hätten durch ihre Minderqualifikation eine Teilschuld an ihrer Lage. Das stimmt nicht! Knapp zwei Drittel der im Niedriglohnbereich Beschäftigten können eine abgeschlossene Ausbildung vorweisen. Sinnstiftung und Erfüllung durch Arbeit spielen nach existenzsichernder Arbeit eine fast genauso große Rolle. Damit verbunden soll Arbeit aber auch abwechslungsreich und vielseitig sein. Die Beschäftigten wollen stolz auf die eigene Arbeit sein. Ein weiteres wichtiges Kriterium: Der Mensch ist ein soziales Wesen. Achtung durch Kolleginnen und Kollegen, aber genauso durch Vorgesetzte
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ist ein wichtiger Motivationsfaktor. Die Beschäftigten wünschen sich keine Anordnungen, sondern mitgestaltete Arbeit, bei der auch ihre Meinung zählt. Einflussnahme auf die Arbeitsweise, auf das Arbeitstempo und die -menge zu haben, sich auf eine Aufgabe konzentrieren zu können und Mitspracherechte zu haben, wenn es um die Gestaltung des eigenen Arbeitsplatzes geht, das sind Merkmale eines hohen Einfluss- und Handlungsspielraums. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wollen sich und ihren Arbeitsprozess entwickeln können. Dazu gehören nicht nur die individuellen Aufstiegsperspektiven, sondern auch die Beteiligung an betrieblichen und produktionsbezogenen Innovationsprozessen. Die Beschäftigten wollen an beruflichen Prozessen teilhaben und verantwortungsvolle Arbeitsaufgaben wahrnehmen. Mitbestimmung ist deshalb zentral für gute Arbeit. Dazu gehört auch, dass Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten sichergestellt und ausgebaut werden. Arbeit darf nicht krank machen. Der Schutz der Gesundheit, namentlich der betriebliche Gesundheitsschutz, ist den Beschäftigten sehr wichtig. Dabei geht es nicht nur um den Wunsch, unmittelbar weniger körperlichen oder psychischen Belastungen ausgesetzt zu sein. Die Menschen schauen beängstigt in die Statistiken und damit in eine ungewisse individuelle Zukunft: Schon heute gehen nur 20 Prozent der Beschäftigten in die Altersrente, viel mehr scheiden aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig aus. Das muss sich ändern. Altersgerechte – alternsgerechte – Arbeitsplätze, Prävention von Gesundheitsrisiken und flexible Übergänge vom Erwerbsleben in die Rente sind nötig. Moderne Arbeitsplatzgestaltung heißt auch, mit der demografischen Zusammensetzung der Beschäftigten im Betrieb zu agieren. Dem allseits befürchteten Fachkräftemangel können Unternehmen durch viele durchdachte Gesundheits- und Arbeitsorganisationsstrategien entgegenwirken. Gute Arbeit schließt Altersarmut aus. Die Beschäftigten müssen damit rechnen können, dass sich ein Leben voller Arbeit und
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Mühe lohnt. Wer ein Leben lang gearbeitet hat, muss in Würde in Rente gehen können. Nur gute Löhne versprechen auch gute Renten, dies hat für den Durchschnittsverdiener, der derzeit von Rentenkürzungen und Unsicherheiten am Arbeitsmarkt bedroht ist, ebenso zu gelten. Beschäftigung zweiter Klasse, so wie die Leiharbeit sie derzeit in den meisten Fällen darstellt, ist keine gute Arbeit. Der Missbrauch der Unternehmen von Leiharbeit muss gestoppt werden. Es muss vom ersten Arbeitstag an klar sein: gleiches Geld für gleiche Arbeit, Übernahmemöglichkeiten müssen erfüllt werden, Mitbestimmungsrechte haben zu gelten. Zu guter Letzt: Arbeit muss Freiräume ermöglichen. Menschen, die außerhalb ihrer Arbeit keine Kraft und Energie mehr zum Leben haben, können andere wichtige gesellschaftliche Aufgaben nicht mehr wahrnehmen. Neben der Arbeit muss genügend Zeit bleiben für Familienarbeit, ehrenamtliche Arbeit, persönliche Hobbys, soziale und politische Interessen. Sonst wird die Gesellschaft, in der wir leben, nicht mehr lebenswert sein. Diesen Anspruch gilt es arbeitsrechtlich und sozial abzusichern. Flexible Arbeitsorganisation muss verbunden sein mit sozialen Garantien für die Beschäftigten. Bezug genommen auf die fünf oben beschriebenen Haupttrends und die Entwicklungen des deutschen Arbeitsmarkt- und Tarifsystems, sind die gewerkschaftlichen Ansprüche an »Gute Arbeit« Richtungsweiser für eine weitreichende Umgestaltung des gegenwärtigen Wirtschaftssystems. Dass die Gewerkschaften dies nicht alleine bewerkstelligen können, liegt auf der Hand. Die Herausforderung, für und mit den Menschen um bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, ist gerade jetzt groß und vonnöten, denn bislang wurde der Markt für sakrosankt erklärt. In einer global vernetzten Welt, in der der Marktwert oft vor dem gesellschaftlichen Nutzen oder sogar vor menschlicher Existenz gehandelt wird, ist es umso wichtiger, Gegenkräfte zu entwickeln. Gut, dass die JungsozialistInnen dazu gehören wollen.
Feminismus, neue Männer und die Machtfrage Henny Engels und Meredith Haaf im Gespräch mit Katie Baldschun und Sonja Pellin
Henny Engels, Geschäftsführerin des Frauenrates, und Meredith Haaf, Mitautorin des Buches Wir Alphamädchen. Warum Feminismus das Leben schöner macht diskutieren mit Katie Baldschun und Sonja Pellin in Berlin über Feminismus, neue Männer und die Machtfrage, die zu stellen längst überfällig ist. Katie Baldschun: Ich glaube, wir vier sagen alle von uns selbst, dass wir Feministinnen sind. Doch einerseits scheint fast jeder heute in der Debatte etwas anderes darunter zu verstehen, und andererseits sind die Motivationen, warum man/frau FeministIn ist, ganz unterschiedlich. Wie seid Ihr zum Feminismus gekommen? Henny Engels: Ich kann von mir sagen, dass ich eigentlich erst spät zum Feminismus kam. Sozialisiert als Mädchen unter fünf Brüdern war Durchsetzungsstärke nie ein Problem für mich. Auch in meiner Arbeit beim BDKJ war für mich Frausein gar kein Thema. Bis zur Diskussion um eine Bundesvorsitzende Anfang der 80er. Die konnten wir nämlich nicht finden beziehungsweise bei einigen, die wir uns vorstellen konnten, gab es heftige Debatten. Die gab es bei Männern in der Form nie. Als dann bei einem ersten aus diesem Anlass durchgeführten Treffen der Frauen aus der Hauptversammlung eine Kollegin mir sagte: »Kein Wunder, dass du nie die Frauenfrage stellst, du bist ja auch der gefürchtetste Mann in
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unseren Reihen«, da fing das Nachdenken an. Später habe ich mich dann in der katholischen Frauenverbandsarbeit engagiert, einen anderen Blick auf Gleichstellung entwickelt, und nun bin ich beim Deutschen Frauenrat. Katie Baldschun: Mit den Brüdern erging es mir ähnlich. Deswegen war es für mich auch zunächst normal, bei den Jusos nur mit Jungs zu tun zu haben und zu diskutieren. Bis sich dann irgendwann die Frage stellte: »Warum sitzen denn da eigentlich nur Männer …?« Heute würde ich mich auch als überzeugte Feministin bezeichnen. Meredith Haaf: Bei mir hat sich der Feminismus über die Arbeit in und Beschäftigung mit den Medien in mein Denken eingeschlichen. Ich habe immer mal wieder über Sex- und Geschlechterthemen geschrieben und daher viel über das Verhältnis der Geschlechter nachgedacht. Und als politisch denkender Mensch ist man dann schnell bei Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten. Mit meinen Kolleginnen haben wir viel über die Darstellung und die Rolle der Frauen in Medien, Kultur, Politik nachgedacht und diskutiert. Und je mehr ich gelesen habe, vor allem auch aktuelle US-amerikanische Netzmedien, desto deutlicher wurde mir, dass ich eigentlich auch Feministin bin, obwohl ich früher nie gedacht hätte, dass ich das mal von mir sagen würde. Henny Engels: Man kann schon sagen, dass es mir irgendwann wie Schuppen von den Augen fiel. Heute bin ich überzeugte Feministin. Allerdings habe ich Probleme mit einigen, auch prominenten Vertreterinnen, so zum Beispiel mit Alice Schwarzer … Meredith Haaf: Man darf eben nicht den Fehler machen, sich auf dieses eingefahrene Repräsentationsschema einzulassen. Aktuell sehe ich als eines der größten Probleme die mangelnde Handlungsbereitschaft unter Frauen und den fehlenden Willen, sich in
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irgendeiner Form zu der Sache zu bekennen. Das wird dann ganz oft damit begründet, dass man sich nicht mit Feministin A oder Feministin B und was sie so sage oder tue identifizieren kann. Da läuft etwas schief, denn es soll gar nicht um Identifikation mit Personen gehen, sondern um Gerechtigkeit. Natürlich ist es schön, wenn man eine Frau, die das macht, cool findet und sagt: »Ja, so will ich das auch machen!« Aber es sollte nicht die Grundvoraussetzung sein. Diese Art von Personen-Kult, wie er im Emma-Umfeld praktiziert wird, das lehne ich ab. Das ist tödlich. Henny Engels: Mein Problem beginnt dann, wenn Femistinnen so gar keine anderen »Göttinnen« neben sich dulden und wenn sie – wie Alice Schwarzer – munter die Argumentationsmuster wechseln, um eine bestimmte Position voranzutreiben. In einer wirklich schon lange zurückliegenden Diskussion habe ich das bei A. Schwarzer beobachtet: Bei der Frage, ob es im Zusammenhang mit der Möglichkeit der »Retortenbabys« auch die Gefahr der Übernahme einer Leihmutterschaft durch Frauen aufgrund von Armut gebe, betonte sie, dass diese Frauen ja selbst entscheiden könnten – bei der Bekämpfung der Pornografie spielte aber das Argument, dass auch hier die Frauen selbst entscheiden könnten, ob sie sich als Fotoobjekt zur Verfügung stellen wollten, keine Rolle. Sonja Pellin: Meredith, du vertrittst ja mit deinen Mitautorinnen diesbezüglich auch eine offenere Argumentation … Meredith Haaf: Ja, stimmt. Für mich gibt es zwei große Probleme der Pornografie: Erstens, wenn die Produktion unter miserablen Bedingungen oder Zwang stattfindet. Zweitens, die teilweise Verrohung und Verzerrung der sexuellen Wahrnehmung, die durch Überkonsum ausgelöst wird. Das kann man dem Genre aber nicht zur Last legen und das ist auch meiner Ansicht nach kein frauenspezifisches Thema, da hat sich die gesamte Gesellschaft zu kümmern.
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Sonja Pellin: Bei den Jusos haben wir die Beschlusslage, dass wir Prostitution voll legalisieren wollen. Und an der Kampagne gegen Zwangsprostitution haben wir uns sehr engagiert mit dem Frauenrat beteiligt. Henny Engels: Ich will nicht die Prostitution schönreden; das wollte auch der Frauenrat nicht. Wenn Frauen in einer Notlage sind und sie etwas tun müssen, was sie nicht wollen, dann muss die Gesellschaft ihnen Möglichkeiten aufzeigen und verschaffen, auf anderen Wegen aus der Notlage herauszukommen. Aber: Es gibt Frauen, die wollen als Prostituierte arbeiten – diese Entscheidung sollte dann ebenfalls respektiert und alles getan werden, dass sie dieser Tätigkeit geschützt nachgehen können, wie es das Prostitutionsgesetz, wenn auch noch nicht ausreichend, gewährleistet. Wir sollten Frauen nicht die Mündigkeit absprechen, wenn sie eine Entscheidung treffen, die wir nicht nachvollziehen können. Katie Baldschun: Um Mündigkeit geht es uns ja auch gerade beim Feminismus. Um mehr Freiheit, für Frauen und für Männer; um eine freiere Gesellschaft insgesamt. Dennoch wird Feministinnen oft vorgeworfen, besonders den Differenzfeministinnen, dass sie so tun, als wären Frauen die besseren Menschen. Henny Engels: Die Behauptung, Frauen hätten aufgrund biologischer Gegebenheiten besondere Eigenschaften, halte ich für absoluten Quatsch. Frauen sind aufgrund sich hartnäckig haltender Rollenbilder anders sozialisiert als Männer, aber sie sind nicht per se bessere Menschen. Wurde die Bundeswehr durch Frauen humaner? Das glaube ich nicht. Meredith Haaf: Das glauben aber auch die wenigsten Feministinnen. Dieser Vorwurf ist doch ein Ablenkungsmanöver, Entschuldigung. Das ist eine ganz billige Strategie. Es gibt meines Wissens nur sehr, sehr wenige Frauen, die denken, sie seien qua Doppel-X-
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Chromosom irgendwie qualitativ überlegen. Eine von denen ist übrigens Eva Herman. Katie Baldschun: Feministin zu sein, das ist für mich zum einen eine individuelle Betrachtungsweise, aber auch eine gemeinsame Haltung mit Gleichgesinnten. Meredith Haaf: Ja, genau. Deswegen gibt es auch so viel Streit unter Feministinnen, weil sich das Individuelle und das Gemeinsame oft nicht gut vereinbaren lassen. Es geht ja so oft auch um Privates, um Beziehungen und Lebensentwürfe, kein Wunder, dass es da schwer ist, sich zu einigen. Henny Engels: Ich sehe auch, dass Feministin zu sein beides ist. Manche Situationen stellen sich für Frauen einfach anders dar als für Männer. Das ist die individuell kollektive Sicht der Frauen. Allerdings hilft eine individuelle Analyse à la »Das ist so, weil ich Frau bin« hier nicht weiter. Auch nicht, wenn jede weiter nach ihrer Fasson handelt. Katie Baldschun: Die Alphamädchen verstehe ich an vielen Stellen so, dass sie eher diesen individuellen Ansatz verfolgen: ich kann, ich will, ich mache. Ist der Vorwurf berechtigt, oder fordert ihr auch gemeinsames Handeln ein? Meredith Haaf: Wenn du das Buch gelesen hast, kennst du auch die vielen Stellen, an denen wir Solidarität und gemeinsames Handeln und Dialog fordern. Wir sehen ja den Hyperindividualismus eher als Problem denn als Lösung – das gilt übrigens zumindest meiner Ansicht nach auch nicht nur für Feminismus. Aber das Buch will jungen Frauen auch ein bisschen Mut machen und sie animieren. Wir leben heute nun mal in einem gesellschaftlichen Klima, in dem man sich zunächst als Individuum sieht. Andererseits hat man uns ja auch vorgeworfen, wir würden auf unverschämte Art
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alle jungen Frauen mit eingemeinden – also, ich kann da langsam nur noch den Kopf schütteln. Henny Engels: Ich habe euch auch eher so verstanden, dass ihr über eure Erlebnisse und eure Schlussfolgerungen daraus berichtet. Hier müsste frau jetzt weiter gehen. Denn so bewegt sich noch nichts. Momentan sieht das mir mehr danach aus, dass ein paar junge, gut ausgebildete Frauen engagierte Bücher schreiben. Was völlig aus dem Blick gerät, sind all diejenigen Frauen, die zum Beispiel einen Mittelschulabschluss haben, eine Ausbildung gemacht haben. Für die wären die Alphamädchen-Probleme wahrscheinlich nur Luxusprobleme. Also: Sowohl der individuelle Ansatz als auch die eingeschränkte Perspektive tragen dazu bei, dass es derzeit eben keine Bewegung wie in den 60ern und 70ern ist. Meredith Haaf: Hm, also zu den »Erlebnissen, aus denen Schlüsse gefolgert werden« – da kann ich einfach nicht zustimmen. Das war das andere Buch … unser Buch argumentiert eher mit Daten, Studien und den logischen Schlüssen, die wir daraus ziehen. Gewiss fließen da auch persönliche Erfahrungen ein, aber uns ist auch schon vorgeworfen worden, zu unpersönlich zu argumentieren. Ich finde es zwar einerseits berechtigt, zu sagen, dass unsere Perspektive in dem Buch eingeschränkt ist. Aber wir stehen auch dazu, und zwar mit der Begründung, dass wir uns es nicht anmaßen wollen, über Dinge zu schreiben, mit denen wir keine Erfahrung hatten. Und ich denke auch, dass es berechtigt ist, zunächst einmal aus einer ganz bestimmten Perspektive heraus das Themenfeld zu ergründen – denn wir stehen zwar innerhalb einer Tradition, aber in unserem eigenständigen feministischen Ansatz doch auch ganz am Anfang. Sonja Pellin: Was müsste sich denn tun, damit es zur Bewegung wird? Gründe genug, weiterhin gegen die Verhältnisse aufzustehen, gibt es ja genug.
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Henny Engels: Ja, da würde ich zustimmen. Für mich wäre ein Anfang, immer auch die Geschlechterperspektive mitzudenken, und dies auch von der verfassten Politik zwingend zu verlangen. Nehmen wir die Gesundheitspolitik: 80 Prozent der derzeit auf dem Markt befindlichen Medikamente wurden an Männern mittleren Alters getestet. Mit anderen Worten: Die Nebenwirkungen bei Frauen sind weitgehend unbekannt. Dennoch wird die Verweigerung einer verordneten Therapie auch mit solchen Medikamenten gegebenenfalls als Nichtmitwirkung gewertet und sanktioniert. Das ist ein Skandal. Und auch andere Fragen oder auch Menschenrechte sind nicht geschlechtsneutral. Angewandter Feminismus fängt für mich da an, wo diese Erkenntnis tatsächlich greift und die Umsetzung als selbstverständlich gilt. Dabei ist im Sinne des Gender Mainstreaming natürlich auch immer die Situation von Männern in den Blick zu nehmen. Dieses Konzept ist aber auf Dauer nur tragfähig, wenn die Männer sich auch an der Bewegung beteiligen, wenn wir also zur Frauenbewegung auch eine Männerbewegung bekämen. Meredith Haaf: Ich denke auch, dass feministische Politik ein bisschen aus der Frauennische heraus muss. Andererseits ist es auch wichtig, Räume und Situationen zu schaffen, in denen sich Frauen als politische Wesen erst mal untereinander begegnen. So weit sind wir noch nicht, dass wir das abschaffen. Was die Männerbewegung angeht: ja, klar. Nur leider sind die aktuellen Männerrechtler nicht für mehr Gleichberechtigung der Geschlechter, sondern bemühen sich eher um eine Art Rollback. Henny Engels: Nun ist ja in den letzten Jahren einiges geschehen, weil Frauen sich mit der gegebenen Situation nicht mehr abfinden, sondern weitergehende Rechte einfordern. Das führt auch dazu, dass insbesondere junge Männer völlig verunsichert sind: aufgrund des veränderten Verhaltens ihrer Altersgenossinnen und aufgrund fehlender Rollenvorbilder.
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Katie Baldschun: Offenbar ist der Druck bei den Männern aber noch nicht groß genug … In den Thesen formulieren die Jusos noch einmal grundsätzlich: Wir verknüpfen Kapitalismus mit Patriarchat, stellen also mit der Frauenfrage auch die Frage nach dem wirtschaftlichen Systems. Inwiefern spielt das aus eurer Sicht eine Rolle? Meredith Haaf: Sagen wir es so: Kein wirtschaftliches System hat die Techniken und Strategien von Exklusion und letztlich auch Ausbeutung so differenziert wie der Kapitalismus. Insofern ist es sicher richtig, diese Verknüpfung zu bilden – aber ich bin nicht sicher, ob es die einzig richtige Vorgehensweise ist. Und ich denke nicht, dass zum Beispiel eine sozialistische Alternative per se gerechter oder besser für alle wäre. Henny Engels: Der Frauenrat setzt sich aus vielen, ganz unterschiedlich orientierten Verbänden zusammen. Mit anderen Worten: Er ist nicht der Zusammenschluss linker Feministinnen. Auf die Frage kann ich also nur persönlich antworten: Ich halte es da mit Maria Mies, die Kapitalismus und Patriarchat zusammengedacht hat. Und da ist ja auch einiges dran. Wenn ich mich recht erinnere, sagt sie in ihrem Buch Patriarchat und Kapital, die Hausfrauen seien die Kolonie des kleinen weißen Mannes. Vielleicht ein bisschen pointiert ausgedrückt, aber in der Tendenz wohl richtig. Als Beleg mag die Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt gelten, wo es nur mühsam gelingt, sie aus der Rolle der Reservearmee herauszubringen, und wo Entgeltdifferenzen aufgrund des Geschlechts nach wie vor an der Tagesordnung sind. Nur sollten wir uns nicht vormachen, dass dieser Widerspruch im real existierenden Sozialismus gelöst war. Nach meinem Kenntnisstand jedenfalls hat sich auch dort die geschlechterhierarchische Arbeitsteilung im privaten Bereich fortgesetzt. Sonja Pellin: Wo wir gerade beim privaten Bereich sind. Wir Jusos verlieren den gerne aus dem Blick. Zwar haben wir auch dafür ge-
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kämpft, dass Gewalt in der Ehe beispielsweise bestraft wird. Aber es geht ja noch viel weiter. Die ganzen alltäglichen Rituale in Familie und Partnerschaft zeigen, dass es noch viel Arbeit sein wird, Gleichberechtigung durchzusetzen. Das fand ich bei den Alphamädchen beeindruckend, da ihr euch sehr dem privaten Bereich widmet. Meredith Haaf: Das Private ist eben der Bereich, in dem Frauen am einfachsten Anknüpfungspunkte und Gemeinsamkeiten entdecken können. Es gibt ja die bekannte Losung, dass das Private politisch sei. Mir kommt es so vor, als hätten viele übersehen, dass es daraus auch einen Umkehrschluss zu ziehen gilt: Nämlich, dass man die politische Gleichheit auch im Privaten verwirklichen muss, weil sie sonst in sich zusammenfällt. Henny Engels: Ja; man muss unbedingt den privaten Bereich im Blick haben. Ein System, das beide Bereiche im Sinne der Gleichstellung optimal gelöst hat, ist leider noch nicht erfunden. Katie Baldschun: Wir Jusos gehen davon aus, dass sich solch ein System erst demokratisch entwickeln wird. Ausgangspunkt für unseren Kampf im Hier und Jetzt ist – und damit begründen wir auch viele unserer politischen Forderungen –, dass Frauen und Männer gleich sind, also gleiche Rechte haben. Henny Engels: Das sehe ich genauso. Denn es hat sich auch gezeigt, und das weiß ich aus eigener Erfahrung, dass die Unterschiede zwischen Frauen oft größer sind als die zwischen Frauen und Männern. Herrad Schenk beschreibt in Die feministische Herausforderung insgesamt drei Strategien unterschiedlicher Strömungen der Frauenbewegung: die »Gleichberechtigungsstrategie«, die Strategie »Ausbau der Frauensubkultur« und die »Strategie der individuellen Veränderung« mit der Frauenbewegung als Bezugsgruppe. Ich persönlich glaube, dass die letztere Strategie die erfolgreichste
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sein könnte: Ein Rückzug mag gut tun, verändert aber vermutlich nicht viel – eine Gleichberechtigungsstrategie im Sinne von »Was die können, können und wollen wir auch« ist allein vermutlich ziemlich anstrengend. Individuell auf Veränderung hin zu arbeiten und dabei eine Gruppe von Unterstützerinnen zu haben, ist vermutlich deshalb eine gelungene Mischung der beiden anderen Strategien, mit einigen Abschwächungen vielleicht, dafür aber für die einzelnen Aktiven erträglicher. Katie Baldschun: Das ist ja genau der Punkt der gemeinsamen Haltung. Damit hätte man zumindest teilweise schon einmal diese Gefahr gebannt. Schließt sich die Frage an nach der Strategie: Wie können wir Macht und Einfluss umverteilen? Henny Engels: Naja, wenn es um die Umverteilung von Macht geht, habt ihr den Frauenrat auf eurer Seite. Gerade zum Beispiel im privatwirtschaftlichen Bereich. Wir brauchen ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft. Die 2001 abgeschlossene Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der Deutschen Wirtschaft bringt uns nun wirklich nicht weiter. Solange es keine gesetzliche Verpflichtung gibt, verbunden mit der Androhung von Sanktionen bei Nichteinhaltung, wird sich nichts entscheidend bewegen, jedenfalls nicht in einem absehbaren Zeitraum. Zur Strategie kann ich mich nur wiederholen: Wir müssen anders hinschauen, müssen gegen Ungleichgewichte angehen und hier Frauen wie auch Männer fördern, und wir müssen Unterstützerstrukturen schaffen. Wenn ich bei den Jusos wäre, würde ich mich der Idee eines Teilnehmers eures Kongresses anschließen und den Antrag auf Einrichtung einer AG sozialdemokratischer Männer stellen. Meredith Haaf: Ich sehe das ähnlich wie Henny. Ich glaube, dass es eine Frauenquote für die Privatwirtschaft geben muss und eine Männerquote für soziale Berufe. Es braucht auch verstärkt Jungs-
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bildung an den Schulen, zur Gewaltprävention und zum Abbau von Stereotypen. Es muss aber auch eine gezielte Förderung dahingehend stattfinden, dass sich Jungs in die Bereiche der Mädchen trauen, genauso wie Mädchen dazu angehalten werden, das zu tun, was Jungs tun – es darf keinen Bewertungsunterschied geben, was sogenannte weibliche und männliche Tätigkeiten und Eigenschaften betrifft. Katie Baldschun: Ziel muss es ja sein, alle zusammenzubringen, also nicht nur Frauen und Männer, wenn man in den Kategorien denkt, sondern auch die alte Frauenbewegung, die lifestylemäßige Frauenbewegung und so weiter. Wir müssen uns, denke ich, auch anderer als der herkömmlichen Mittel bedienen. Bücher und Internetblogs sind ein Teil davon. Wenn es gelingen würde, diese verschiedenen Inseln zusammenzubringen, wäre uns doch schon mal viel geholfen. Meredith Haaf: Kultur ist ohnehin für jede Emanzipationsbewegung mindestens genauso wichtig wie Politik. Das muss sich in der Sprache, der Ikonografie, der medialen Repräsentation und so weiter ja auch niederschlagen, denn die wirken ja auch gesellschaftlich. Henny Engels: Nun sind ja Bücher über Frauen, Frauenbewegung, das, was Frauen bewegt, keine neue Erfindung. Aber – und das unterscheidet die neueren – sie haben es selten bis nie in die Bestsellerlisten geschafft. Gleichwohl bleibt natürlich die Frage, was die neueren tatsächlich bewirken … Sonja Pellin: Eine Freundin von mir hat auf meine Empfehlung hin Wir Alphamädchen gelesen und fragte mich dann, ob man wirklich aus jeder kleinen privaten Sache ein großes Problem machen müsse. Ist das vielleicht eine generelle Schwierigkeit, dass in der feministischen Debatte viele Dinge überdramatisiert wirken?
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Henny Engels: Man kann gar nichts überdramatisieren, weil die Situation ja dramatisch ist. 60 Jahre lang, seit Verabschiedung des Grundgesetzes mit seinem Artikel 3, hat sich zwar viel, aber wenig Entscheidendes getan. Die große Hektik bricht jetzt aus, weil keine Kinder mehr zur Welt gebracht werden. Nun kann das Drama plötzlich nicht genug betont werden. Meine Frage an jemanden, der von Überdramatisierung spricht, ist aber vor allem: Wie wäre denn der Stand der Gleichstellung »entdramatisiert« beschrieben – dass Frauen bessere Abschlüsse machen, aber danach im akademischen Mittelbau oder dem mittleren Management landen? Es ist zwar mittlerweile politisch korrekt zu sagen, dass Frauen selbstverständlich studieren und Abschlüsse machen. Aber in Wahrheit denken doch immer noch viele, »muss das denn wirklich sein, dass Frauen alles können und dürfen?« Und diesen Gedanken gibt es bei Frauen und Männern, Linken und Rechten. Katie Baldschun: Die Gegenwehr gegen den Feminismus ist ja auch überall präsent. Henny Engels: Klar. Erst neulich haben sich Katholiken in der Welt geäußert, dass Gender Mainstreaming die Homosexualität und die Kinderfeindlichkeit fördert, also alle Übel der Welt verschuldet. Das macht deutlich, was da abgeht und welche Ängste herrschen. Katie Baldschun: Oder das Ringen um den Machterhalt? Henny Engels: Es ist wohl beides. Das Weltbild verrutscht; das und die Erfahrung, Macht zu verlieren, schürt auch Angst. Sonja Pellin: Feminismus bedeutet für uns auch immer, die Machtfrage zu stellen. Ein Ansatz der Alphamädchen ist es ja auch, wieder mehr die »Weiblichkeit« selbstbewusst in den Vordergrund zu stellen: Minirock und rote Fingernägel sind okay, weil Frauen sie freiwillig tragen. Kann es gelingen, so zugleich die Machtfrage zu stellen?
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Henny Engels: Wer das versucht, bedient das Klischee: Mein Argument ist nicht stark genug, also benutze ich den Augenaufschlag. Sonja Pellin: Und das geht nach hinten los? Henny Engels: Ja. Und es ist würdelos. Meredith Haaf: Mit Verlaub, aber hier werden gerade zwei Sachen absolut vermischt. Es ist das eine, bewusst optische oder sexuelle Reize einzusetzen, um voranzukommen – was außerhalb von bestimmten Branchen oder Lebensbereichen ohnehin nicht funktioniert. Das andere ist, sich als Frau die Freiheit zu nehmen, zu sagen: Ich bin Feministin, ich setze mich für meine Belange ein und, ja, ich trage einen kurzen Rock, weil es bequem ist und mir gut steht. Ich sehe wirklich nicht, was daran würdelos sein soll. Mir persönlich macht es Spaß, mir die Nägel zu lackieren. Aber kein Mensch würde mir wegen meiner Nägel einen Job geben. Das ist doch absoluter Unsinn. Katie Baldschun: Wenn ich Meredith’ Gedanken weiterspinne: Ist es, das zu tragen, was man will, nicht auch ein Zeichen neuen Selbstbewusstseins? Henny Engels: Ich würde es trennen. Dass Frauen entscheiden und entscheiden dürfen, was sie anziehen, ist das eine. Das andere ist, es als Waffe einzusetzen. Katie Baldschun: Kann man es denn trennen? Wenn man sich zum Beispiel in bestimmter Kleidung auf politischem, beruflichem oder sonstwie öffentlichem Parkett bewegt, ist dann die Verknüpfung nicht automatisch da? Henny Engels: Trennen müssen es sowohl diejenigen, die es betrachten, als auch diejenigen, die es nutzen. Wenn ich weiß, dass ein Mann das Denken vom Kopf in andere Körperteile verlegt
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wegen meines Ausschnitts, dann verzichte ich auf den Ausschnitt und trage Rollkragen. Immer wenn ich Kleidung oder meinen Körper als Instrument nutze, besteht die Gefahr, dass das Klischee weiterhin gegen mich angewendet wird. Sonja Pellin: Eine Frage, die zum Schluss überleitet: Wann wird der Kampf der Feministinnen erfolgreich gewesen sein, wann haben wir gesiegt? Meredith Haaf: Wenn keine Frau mehr zu hören bekommt: »Tja, du musst halt selber entscheiden, ob du lieber Kinder oder eine Karriere machen willst.« Wenn nicht mehr mit Titten und Ärschen für Produkte geworben wird, die nichts mit Titten und Ärschen zu tun haben. Wenn wir nicht mehr das Gefühl haben, solche Gespräche führen zu müssen. Wenn Frauen sich nicht vor der Gesellschaft für alles rechtfertigen müssen, als Frauen – sei es, wie und wann sie Kinder erziehen, sei es, dass sie ehrgeizig oder geldhungrig sind. Henny Engels: Es ist dann zu Ende, wenn auch eine Frau, die Fehler macht, auf einem Leitungsposten sitzen und bleiben kann – vorher nicht. Nicht, solange Frauen besser sein müssen und dies auch noch nachweisen sollen. Das Zweite ist: Wenn es in Grundlagenpapieren von Parteien und Organisationen kein eigenes Frauenkapitel mehr gibt. Oder wenn, dann ein Frauen- und Männerkapitel. Katie Baldschun: Für uns war es ein wichtiger Erfolg, im SPD-Grundsatzprogramm ein eigenes Gleichstellungskapitel zu erstreiten, denn wir finden: Solange keine faktische Gleichstellung erreicht ist, brauchen wir ein solches Kapitel, um zu sagen, wie es ist. Henny Engels: Mein Kompromiss wäre: In jedes einzelne Kapitel gehört ein Abschnitt zur Perspektive der Frauen. Solange es das nicht gibt, muss man ein Frauenkapitel beginnen mit dem Hinweis, dass es eigentlich kein eigenes geben dürfte.
Für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – weltweit Heidemarie Wieczorek-Zeul
Die Sozialdemokratie ist ihrem Wesen nach immer und überall eine international ausgerichtete Wertegemeinschaft gewesen. Die Ziele Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als Grundwerte der deutschen und europäischen Sozialdemokratie sind in Zeiten der Globalisierung wichtiger denn je. Deshalb bin ich überzeugt, dass die sozial gerechte Ausgestaltung der Globalisierung eine Kernaufgabe der internationalen Politik der Sozialdemokratie ist. Im Bereich der internationalen Beziehungen und der Entwicklungspolitik wird die Frage, was solidarische Politik bedeutet, sehr deutlich.
Eine solidarische Gesellschaft – Globalisierung gerecht gestalten So wie soziale Teilhabe nur in einer solidarischen Gesellschaft möglich ist, ist es notwendig, international auf dem Wege der Kooperation die Fragen der Gegenwart und der Zukunft anzugehen, denn Frieden und Sicherheit können nur durch eine gerechtere Weltordnung nachhaltig gesichert werden. Diese Erkenntnis ist durch die voranschreitende Globalisierung, die das internationale Beziehungsgeflecht engmaschiger werden lässt, nur deutlicher greifbar geworden. Neu ist sie nicht, schon gar nicht für uns So-
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zialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Sozialdemokratische Politik heißt, dazu beizutragen, dass es eine gerechte Gestaltung der Globalisierung gibt, dass die weltweite Armut beseitigt wird und dass Ressourcennutzung nachhaltig erfolgt. Die Globalisierung gestalten kann nur, wer klare Wertvorstellungen jenseits des Wirtschaftlichen hat. Wir wollen die Globalisierung sozialer Gerechtigkeit und nicht die Globalisierung von Sozialdumping. Anders ausgedrückt: Wir wollen ein »race to the top« und kein »race to the bottom«. Deshalb ist nach wie vor richtig, was Willy Brandt formuliert hat: »Solidarität ist das Bindeglied zwischen Freiheit und Gerechtigkeit.«
Wir müssen an den Millenniumszielen festhalten Es ist und bleibt eine sozialdemokratische Selbstverständlichkeit, dass solidarischer Internationalismus ein Gebot des menschlichen Miteinanders ist. Deshalb ist es ja gerade so wichtig, auch im Bereich der Millenniumsentwicklungsziele engagiert zu bleiben und die Anstrengungen zu erhöhen. Bereits auf halber Strecke ein Scheitern zu attestieren zeugt mir von zu wenig Tatendrang. Hier müssen wir gemeinsam mehr leisten und die reichen Länder in die Pflicht nehmen. Die internationale Gemeinschaft hat acht Gebote für die gerechte Gestaltung der Welt aufgestellt; an diesen Geboten wollen und müssen wir festhalten. In den Entwicklungsländern spüre ich die großen Erwartungen der Menschen, denen die internationale Gemeinschaft gerecht zu werden hat. Hier müssen wir unsere Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir die Millenniumsentwicklungsziele erreichen können. Jetzt gilt es, unsere Anstrengungen zu bündeln und eine globale Entwicklungspartnerschaft wahr werden zu lassen. In den letzten zehn Jahren, in denen ich als Bundesministerin für die Entwicklungspolitik verantwortlich bin, haben wir große
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Erfolge erzielt: So ist es durch die Entschuldung der ärmsten hoch verschuldeten Entwicklungsländer heute möglich, dass 29 Millionen Kinder zusätzlich zur Schule gehen können. In der bisherigen Bilanz der Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele gibt es aber nicht nur Licht, sondern auch Schatten. Weltweit konnten enorme Fortschritte in der Armutsbekämpfung gemacht werden, insbesondere in Südostasien. Subsahara-Afrika ist dagegen die Region, die noch am weitesten davon entfernt ist, die Millenniumsentwicklungsziele zu erreichen. Dennoch weist Subsahara-Afrika rund 6,8 Prozent Wirtschaftswachstum im Jahr 2007 auf, hat die staatlichen Einnahmen seit 2001 auf über 185 Milliarden US-Dollar verdreifacht und zeigt zunehmend einen starken politischen Willen, Eigenverantwortung zu übernehmen und die eigene Entwicklung stärker als bisher voranzutreiben. Erfolge gibt es auch im Gesundheitsbereich: In Ruanda und Kenia beispielsweise wurde die Kindersterblichkeit durch Malaria um ca. zwei Drittel gesenkt. Gerade im Bereich der Kinder- und Müttersterblichkeit dürfen wir jedoch nicht nachlassen, denn 500 000 Frauen sterben pro Jahr während ihrer Schwangerschaft oder bei der Geburt. Sie könnten bei angemessener medizinischer Versorgung noch leben! Auch die Anstrengungen zur Erreichung des dritten Zieles müssen gesteigert werden: Die Gleichberechtigung der Geschlechter stellt in vielen Fällen eine Voraussetzung und eine Brücke zur Erreichung anderer Ziele dar. Vor allem geht es um die Chance des sexuellen Selbstbestimmungsrechts der Frauen.
Wir müssen zu unseren Zusagen stehen Diese Beispiele zeigen, dass ein engagiertes Vorgehen die unverzichtbare Basis für die Erreichung der Ziele ist. Hierbei brauchen die Entwicklungsländer jedoch auch weiterhin die Unterstützung der Industrieländer. Es ist deshalb konsequent und richtig, dass
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wir die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (ODA1) in einem Stufenplan bis 2010 auf 0,51 Prozent und bis 2015 auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens erhöhen werden. Beim G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm wurde zudem die Zusage von Gleneagels bestätigt, die Entwicklungsleistungen für Afrika bis 2010 gegenüber 2004 zu verdoppeln. Zur Finanzierung müssen auch weiterhin höhere Haushaltsmittel bereitgestellt, Schulden erlassen und innovative Finanzierungsmechanismen entwickelt werden. Das Charakteristische von innovativen Instrumenten ist, dass sie langfristig stabile und für die Entwicklungsländer berechenbare Zahlungsströme generieren – möglichst unabhängig von der jeweiligen Haushaltssituation der Geberländer, die oft zu großen Schwankungen geführt hat. Ferner sind innovative Finanzierungsinstrumente vor allem bei globalen Problemen, wie zum Beispiel Pandemien oder Klimawandel, besonders geeignet. Es bleibt dabei: Globale Aufgaben müssen global finanziert werden. Die Erfahrungen mit der Entschuldungsinitiative für hoch verschuldete arme Länder (HIPIC), die 1999 maßgeblich von der SPD-geführten Bundesregierung initiiert wurde, haben gezeigt, dass ein Schuldenerlass arme Länder wirksam dabei unterstützen kann, Armut zu bekämpfen, indem die so frei werdenden Mittel in Bildung, Gesundheit oder Umweltschutz investiert werden können. Ein weiteres Beispiel für innovative Mechanismen ist die Versteigerung von Emissionsrechten. Beginnend mit dem Jahr 2008 werden in Deutschland 8,8 Prozent der Emissionszertifikate aus dem europäischen Emissionshandelssystem versteigert beziehungsweise verkauft. Diese Maßnahme ist ein Beitrag zur Erreichung der ambitionierten Klimaziele, die sich Deutschland und Europa gesetzt haben. Gleichzeitig ist es ein erster Schritt, die Kos1 Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (englisch: Official Development Assist ance, ODA) werden die Mittel genannt, die DAC-Länder (also die Mitgliedsländer des Entwicklungshilfeausschusses der OECD) Entwicklungsländern direkt oder durch internationale Organisationen für Entwicklungsvorhaben zur Verfügung stellen.
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ten der Verschmutzung konkret werden zu lassen, unter denen die Entwicklungsländer besonders leiden. Ein Teil der Einnahmen, 120 Millionen Euro für 2008, wird in Maßnahmen des internationalen Klimaschutzes in Entwicklungsländern investiert. In den Folgejahren sollen 100 Prozent auktioniert werden. Ich werbe dafür, dass dieses Beispiel Schule macht. Die Entwicklungsländer tragen nur zu einem geringen Teil zum weltweiten Ausstoß von Klimagasen bei. Die Folgen treffen sie jedoch bereits jetzt überproportional stark. Erneuerbare Energien und Verbesserungen der Energieeffizienz eröffnen viel größere Chancen, gerade auch in Entwicklungsländern – und für arme Bevölkerungsgruppen. Deshalb müssen wir sie dabei unterstützen, zum einen Maßnahmen zu ergreifen, um die Folgen des Klimawandels besser zu bewältigen. Zum anderen benötigen sie unsere Unterstützung bei einer nachhaltigen Umwelt- und Energiepolitik, die auch die Bedürfnisse folgender Generationen berücksichtigt. Ein weiteres Beispiel für innovative Finanzierungsinstrumente ist eine internationale Devisentransaktionssteuer. Bei dieser geht es darum, Finanzströme, hinter denen so gut wie keine realwirtschaftlichen Vorgänge stehen, zur Finanzierung der Entwicklung mit heranzuziehen. Finanzmittel in Höhe von 20 US-Dollar pro Kopf der Weltbevölkerung würden ausreichen, um alle Millenniumsentwicklungsziele zu erreichen. Demgegenüber stehen 187 US-Dollar pro Kopf, die weltweit für Rüstung ausgegeben werden. Hier ist eine Umgewichtung notwendig, denn: Entwicklungspolitik ist auch die kostengünstigste Friedenspolitik. Neben der Steigerung der Quantität der Mittel in der Entwicklungszusammenarbeit benötigen wir jedoch auch eine Verbesserung der Qualität des Mitteleinsatzes. Wenn die Qualität der Zusammenarbeit steigt, können wir mehr Menschen besser helfen. Ich setze mich deshalb dafür ein, dass die Wirksamkeit der Hilfe weiter verbessert wird. Dazu müssen die Geber die Transparenz in ihrer Zusammenarbeit deutlich verbessern und die Koordinie-
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rung weiter ausbauen. Und auch die Entwicklungsländer müssen ihre Politik transparenter gestalten, die Rechte von Parlamenten, Rechnungshöfen und der Zivilgesellschaft stärken und die Korruption konsequent bekämpfen. Quantität und Qualität gehören in der Entwicklungszusammenarbeit eng zusammen. Wir brauchen international mehr Mittel im Kampf gegen Armut, Hunger und Kindersterblichkeit. Aber die geleistete Hilfe muss noch besser koordiniert und abgestimmt werden. Zu Hause müssen wir im Sinne von Generationengerechtigkeit den deutschen Sozialstaat modernisieren, damit die Errungenschaften, die wir auch und gerade sozialdemokratischen Vorreiterinnen und Vorreitern verdanken, gesichert werden können. In der internationalen Politik bedeutet dies, dass wir bei der Frage, in welcher Welt wir leben möchten, immer auch fragen: Welche Welt werden wir nachfolgenden Generationen hinterlassen? Dabei müssen wir über den Tellerrand schauen und über den Tag hinaus denken. Globalisierung gerecht zu gestalten bedeutet auch, die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland und international zu schützen. Wenn wir von Arbeitnehmerrechten sprechen, so ist die Durchsetzung der sogenannten Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO ganz zentral. Der Kampf für eine menschenwürdige Arbeit ist ein historischer Auftrag an uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Deshalb setzen wir uns auch international für die Vereinigungsfreiheit, die Abschaffung der Zwangsarbeit, die Abschaffung der Kinderarbeit und die Nichtdiskriminierung am Arbeitsplatz ein. Wenn es uns gelingt, den Kernarbeitsnormen weltweit Geltung zu verschaffen, dann haben wir einen wichtigen Beitrag zur Globalisierung sozialer Gerechtigkeit geleistet. Das decent-work-Konzept der ILO ist ein wichtiger Ansatz, um auch im Bereich der Beschäftigung Solidarität in der Globalisierung zu verwirklichen.
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Die Pflicht, Schwächere zu schützen Selbstverständlich ist der Antimilitarismus eine sozialdemokratische Tradition. Die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie ist eine Geschichte der überzeugten Friedenspolitik. Willy Brandts Ostpolitik war geprägt von der Überzeugung, dass Entspannung der einzige nachhaltige Weg zu einer Aufweichung der verhärteten Fronten im Kalten Krieg sein konnte. Seine Arbeit als Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission zeigt die Überzeugung, dass Entwicklungspolitik die Friedenspolitik des 21. Jahrhunderts ist und bleiben muss. Die Ergebnisse und Schlussfolgerungen, die der Abschlussbericht »Das Überleben sichern« dokumentiert, waren 1980 ein Meilenstein in der Entwicklungspolitik. Willy Brandt hat dies in seinem Vorwort treffend formuliert: »Unser Bericht gründet sich auf das wohl einfachste gemeinsame Interesse: Dass die Menschheit überleben will und – wie man hinzufügen könnte – auch die moralische Pflicht zum Überleben hat. Dies wirft nicht nur die klassischen Fragen nach Krieg und Frieden auf, sondern schließt auch ein, wie man den Hunger in der Welt besiegt, wie man das Massenelend überwindet und die herausfordernden Ungleichheiten in den Lebensbedingungen zwischen Reichen und Armen. Auf einen einfachen Nenner gebracht: Dieser Bericht handelt vom Frieden.« Gewaltsame Konflikte sind der Entwicklungsfeind Nummer eins und gefährden die Zukunft der Menschen. Die Pflicht, Schwächere zu schützen, führt jedoch in konkreten Situationen unter Umständen zur Notwendigkeit, robust einzuschreiten. Auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat eine solche »Responsibility to Protect« bestätigt. Wir können nicht die Augen davor verschließen, dass wir manchmal ohne militärische Hilfe keine humanitäre Hilfe leisten können. Wenn Staaten ihre Schutzverpflichtungen gegenüber der eigenen Bevölkerung massiv verletzen, können Zwangsmaßnahmen der internationalen Gemeinschaft bis hin zu Polizei- und Militärmissionen
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unvermeidbar werden, um den Flüchtlingen, den Hungernden, den von Verfolgung und Völkermord Bedrohten zu helfen. Gerade für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist dies ein historischer Auftrag. Genozid, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit können niemals nur die inneren Angelegenheiten eines einzelnen Staates sein. Die Fortentwicklung des Völkerrechts im Rahmen der Vereinten Nationen hin zu einem Verständnis von human security, das den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt der Bemühungen um Frieden und Sicherheit stellt, ist eine dringende Angelegenheit und muss weiterhin unterstützt werden. Mein eigener Lernprozess resultiert aus den Erfahrungen mit der Gewalt in Sierra Leone Ende der 90er Jahre: Dort mussten UN-Truppen Verbrecherbanden daran hindern, die Menschen zu terrorisieren oder mit »Blutdiamanten« schmutzige Geschäfte zu machen. Ich fordere deshalb heute mitunter schneller den Einsatz der Bundeswehr, als es der Verteidigungsminister tut. »Links« heißt nicht, sich herauszuhalten, sondern sich unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder Herkunft für die Verwirklichung von Menschenrechten einzusetzen. Ich bin der Meinung, dass die Entscheidung 2001, sich im Rahmen eines Mandates der Vereinten Nationen an der Internationalen Schutztruppe für Afghanistan (ISAF) zu beteiligen, richtig war und bleibt. Ich habe diese Unterstützung im Dezember 2001 der afghanischen Bevölkerung gegenüber auch ausgedrückt, und an diese Unterstützung fühle ich mich gebunden. Wir sehen Entwicklungserfolge in Afghanistan. Diese Erfolge schaffen den Boden, in dem Eigenverantwortung Wurzeln schlagen kann, doch wären sie ohne den Schutz von ISAF nicht möglich. Der zivile Wiederaufbau ist Voraussetzung für den Erfolg Afghanistans, und ISAF ist Voraussetzung für den Erfolg des Wiederaufbaus. Wichtig bei jedem militärischen Einsatz ist jedoch, dass dies stets im Rahmen eines politischen, diplomatischen, wirtschaftlichen, entwicklungspolitischen und kulturellen Konzeptes geschieht. Die SPD hat klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass wir
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den Einsatz militärischer Mittel nur als Ultima Ratio sehen, weil wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten unserer Politik einen umfassenden Sicherheitsbegriff zugrunde legen: Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit, Demokratie, soziale, wirtschaftliche, kulturelle und nachhaltige Entwicklung sind die Grundlage und die Voraussetzung für menschliche Sicherheit. Deshalb sage ich ausdrücklich: Prävention hat immer Vorrang! Gerade bei der Frage, wie wir Gewaltausbrüche in sogenannten failing states verhindern können, müssen wir uns immer auch die Frage stellen, wie wir den Aufbau und die Stärkung legitimer und effizienter Institutionen in Staat und Zivilgesellschaft fördern können. Es geht um die Verwirklichung und Sicherung von Menschenrechten. Und: Angriffskriegen à la Irak wird die SPD niemals zustimmen. Gleichzeitig brauchen wir international neue Anstrengungen, um Abrüstung voranzubringen. Ich sehe mit großer Sorge, dass die Tendenz eher hin zu höheren Rüstungsausgaben geht. Dem muss entschieden entgegengewirkt werden. Wir benötigen eine umfassende atomare Abrüstung – das gilt auch für die atomaren Mächte selbst. Der Durchbruch bei der internationalen Konferenz zur Ächtung von Streubomben in Dublin im Juni 2008 war ein wichtiger Erfolg. Die tödliche Wirkung dieser perversen Waffen richtet sich vor allem gegen die Zivilbevölkerung und erschwert den zivilen Wiederaufbau. Deshalb war es ein längst überfälliger Schritt, den die 109 Unterzeichnerstaaten gemacht haben, indem sie sich verpflichtet haben, ihre Bestände zu vernichten.
Entwicklungsländer befinden sich in einer vierfachen Krise Die Entwicklungsländer sind in vielen Fällen von einer vierfachen Krise betroffen. Die hohen Preissteigerungen für Lebensmittel haben dazu geführt, dass aktuell die Gefahr besteht, dass
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100 Millionen Menschen zusätzlich in Armut abrutschen. Wenn sich die Preise für Grundnahrungsmittel innerhalb weniger Monate um ein Vielfaches erhöhen, dann bedarf es keiner weiteren Erklärung, was dies für jemanden bedeutet, der von weniger als einem US-Dollar am Tag leben muss. Viele Entwicklungsländer waren bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Nettoexporteure von Lebensmitteln. Heute sind viele Entwicklungsländer gezwungen, Lebensmittel zu importieren, um die Versorgung der eigenen Bevölkerung sicherzustellen. Daran tragen die reichen Industrieländer eine erhebliche Mitschuld: Durch ihre direkten und indirekten Subventionen wurden ihre Nahrungsmittelexporte künstlich verbilligt. Billige Importe aus Industrieländern überschwemmen die Märkte im Süden und verzerren die dortigen Preise, da in ihrer Folge die Preise auf den lokalen Märkten in vielen Entwicklungsländern auf ein extrem niedriges Niveau gefallen sind. Die Folgen waren, dass die einheimische Landwirtschaft bei dieser Preiskonkurrenz selbst bei geringen Löhnen nicht mehr mithalten konnte. Investitionen in die Landwirtschaft lohnten sich nicht mehr, und die Förderung der Landwirtschaft wurde hintangestellt. Um hier gegenzusteuern, haben wir beschlossen, wieder verstärkt Investitionen in die ländliche Entwicklung zu fördern. Neben der schnellen Hilfe für notleidende Menschen, die wir beispielsweise über das Welternährungsprogramm leisten, geht es auch darum, langfristig angelegte strukturelle Unterstützung zu verwirklichen. So helfen wir dabei, soziale Sicherungssysteme aufzubauen, um das Armutsrisiko zu senken. Die Genossenschaftsproduktion wird unterstützt und auch die Agrarforschung muss eine größere Bedeutung gewinnen. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt die Frage nach Agrartreibstoffen. Deshalb muss die Förderpolitik bei Agrartreibstoffen auf den Prüfstand gestellt werden: Wir brauchen eine Reduzierung der Beimischungspflicht, und wir müssen Nachhaltigkeitskriterien und internationale Zertifizierungssysteme entwickeln.
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Es muss klar sein: Das Menschenrecht auf Nahrung geht dem Bedürfnis nach Mobilität vor. Die zweite Krise, der sich besonders Entwicklungsländer ausgesetzt sehen, ist die enorme Preissteigerung bei Öl. So mussten die Entwicklungsländer im Jahr 2007 50 Milliarden US-Dollar zusätzlich für die Begleichung ihrer Ölrechnungen zahlen. Kein Land dieser Welt hat ein Interesse daran, dass ganze Volkswirtschaften scheitern, weil sie Energierechnungen nicht mehr bezahlen können oder Hungerrevolten zu Destabilisierungen führen. Die internationale Finanzkrise ist der dritte Faktor, der die Entwicklung armer Länder gefährdet. Ich warne eindringlich davor, dass sich insbesondere die Industriestaaten angesichts der Aufgaben, die die Finanzkrise hervorgebracht hat, auf eine »Jederist-sich-selbst-der-Nächste«-Politik zurückziehen. Es müssen jetzt neue internationale Standards für die internationalen Finanzmärkte gesetzt und Transparenz geschaffen werden. Intransparenz und fehlende Aufsicht, gepaart mit Profitgier, haben dazu geführt, dass die Welt sich heute in der schlimmsten Finanzkrise seit 1929 befindet. Es gilt nun zunächst, die Menschen in Europa und den USA, aber gerade auch in den Entwicklungsländern vor den unmittelbaren Folgen der Krise zu schützen. Gleichzeitig brauchen wir schnellstmöglich internationale Regeln, die solche Krisen für die Zukunft verhindern. Wir brauchen deshalb so etwas wie einen Global New Deal für das 21. Jahrhundert. Sozialer Ausgleich und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und wirtschaftliche Nachhaltigkeit müssen durch eine entsprechende globale Zusammenarbeit beziehungsweise durch internationale Institutionen gewährleistet werden. Wir brauchen eine Reform und Weiterentwicklung dessen, was wir heute als »Global Governance« bezeichnen. Hierzu gehören zwingend die Reform der internationalen Finanzarchitektur, die Fortschreibung der Agenda rund um die Millenniumsentwicklungsziele, die Festschreibung einer verbindlichen Entwicklungsfinanzierung (ODA-Stufenpläne), ein neuer Anlauf, um die Entwicklungsländer unabhängig von den Gesamt-
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beratungen der WTO zu entlasten, und die UN-Klimaverhandlungen. Nur wenn es gelingt, zwischen diesen Prozessen Kohärenz herzustellen, können wir wirkliche Fortschritte erreichen. In der globalen Welt brauchen wir globale Regelungsmechanismen, damit der globale Kapitalismus sozial und ökologisch gebändigt wird. In diesem Kontext engagiere ich mich besonders für die Schaffung eines Global Councils, in dem alle Regionen der Welt hochrangig vertreten sein sollten und in dem zentrale soziale und wirtschaftspolitische Fragen diskutiert und entschieden werden. Schließlich ist insbesondere durch die Klimaerwärmung bewusst geworden, dass viele Umweltprobleme grenzüberschreitenden Charakter haben. Die wirtschaftliche Entwicklung war in der Vergangenheit mit einer Ausbeutung von natürlichen Ressourcen und einer zunehmenden Belastung unserer natürlichen Umwelt verbunden. Gerade die Entwicklungsländer leiden unter den Folgen des Klimawandels. Die Industriestaaten haben eine besondere Verpflichtung, zur Begrenzung des Klimawandels beizutragen.
Frauen stärken Die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an allen relevanten gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen ist für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gleichzeitig eine Selbstverständlichkeit und ein Auftrag. Dies gilt genauso im internationalen Rahmen. Die Situation von Frauen weltweit und der Kampf für Gleichberechtigung haben mich während meiner ganzen politischen Karriere begleitet, ob als Juso-Vorsitzende, Europaabgeordnete oder stellvertretende Parteivorsitzende. Dabei habe ich selbst oft als Frau »politisches Neuland« betreten, mein Mandat genutzt, Netzwerke aufgebaut und Weggefährtinnen gewonnen. Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern ist ein fundamentales Menschenrecht und eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Gleichwohl ist der
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Kampf um Gleichberechtigung noch lange nicht ausgefochten. Die Realität ist heute immer noch bitter: Die Lebens- und Berufschancen zwischen Frauen und Männern sind nach wie vor extrem ungleich verteilt. Frauen besitzen nur 1 Prozent des gesamten Vermögens weltweit, und 70 Prozent der extrem armen Menschen sind Frauen. Im südlichen Afrika sind ca. 60 Prozent aller AIDS-Infizierten weiblich. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind weltweit 130 Millionen Frauen Opfer von Genitalverstümmelung, und jährlich kommen weitere 3 Millionen hinzu. Frauen tragen in vielen Ländern die Hauptverantwortung für ihre Familien, für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ihrer Gesellschaften. Die gleichberechtigte Beteiligung von Frauen ist also auch ökonomisch geboten. Studien der Weltbank zeigen: Gleichberechtigung von Frauen und Männern bringt Wirtschaftswachstum. Wo Frauen nicht ausreichend beteiligt sind, sinken Wachstumsraten; dagegen korreliert eine hohe Beteiligung von Frauen mit höheren Wachstumsraten. Die Weltbank stellt diesen Aspekt in den Mittelpunkt ihres Gender Action Plan. An dieser Initiative beteiligte ich mich persönlich als Schirmfrau, weil ich fest davon überzeugt bin, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter und die aktive Teilhabe von Frauen am öffentlichen und auch gerade am wirtschaftlichen Leben Schlüssel für nachhaltige Entwicklung ist. Auch in Deutschland und Europa sind wir noch nicht am Ziel angelangt. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist insbesondere für Frauen noch immer schwierig, und Frauen erhalten noch immer nicht die gleiche Bezahlung für die gleiche Arbeit. Damit muss Schluss sein. Auch das ist Teil unseres internationalen Engagements.
Für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – weltweit Die Verwirklichung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität weltweit bleibt die historische Aufgabe der Sozialdemokratie. Wir
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wollen eine friedlichere Welt schaffen. Wir wollen eine gerechtere Welt schaffen. Hierzu braucht es Engagement, Überzeugung und Mut. In diesem Sinne fordere ich uns alle auf, nicht nachzulassen dabei, die Eine Welt zu bauen.
Die BeiträgerInnen
Niels Annen ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages, wo er im Auswärtigen Ausschuss und im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe die Außenpolitik der SPD-Fraktion mitbestimmt. Seit 2001 ist Niels Annen gewähltes Mitglied im SPD-Parteivorstand und war von 2001 bis 2004 Bundesvorsitzender der JungsozialistInnen. Katie Baldschun, Richterin, ist seit 2007 stellvertretende JusoBundesvorsitzende und Europabeauftragte des SPD-Unterbezirks Unna. Im Juso-Bundesverband ist sie zuständig für die Themen Öffentliche Daseinsvorsorge und Gleichstellung. Sie hat unter anderem an der Initiative für ein neues Gleichstellungskapitel im SPD-Grundsatzprogramm mitgewirkt. Björn Böhning ist seit 2004 Mitglied im SPD-Parteivorstand und war von 2004 bis 2007 Juso-Bundesvorsitzender. Er ist seit 2008 Sprecher der SPD-Linken. Hauptberuflich leitet Björn Böhning seit 2007 den Planungsstab in der Senatskanzlei des Landes Berlin. Der Politikwissenschaftler lebt mit seiner Frau in Berlin und kandidiert im Wahlkreis Prenzlauer Berg-Ost, Friedrichshain und Kreuzberg für den Bundestag. Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik an der Universi-
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tät Wien, war von 1985–1993 (zur Zeit der grundgesetzlichen Asylrechtsänderung) SPD-Mitglied und zeitweise bei den Jusos aktiv. Seit den 1990er Jahren ist er in der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) und seit 2001 im wissenschaftlichen Beirat von Attac tätig. Er ist Autor des Buches Gegen-Hegemonie. Perspektiven globalisierungskritischer Strategien (Hamburg 2005), zusammen mit Bettina Lösch und Stefan Thimmel Herausgeber des ABC der Alternativen (Hamburg 2007) und Mitherausgeber des Schwerpunktes zu »Postneoliberalismus« der Zeitschrift Development Dialogue (mit Nicola Sekler, Uppsala 2009). Franziska Drohsel, Jahrgang 1980, ist seit November 2007 Bundesvorsitzende der Jusos. Sie promoviert derzeit in Öffentlichem Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin, an der sie auch wissenschaftliche Mitarbeiterin ist. Henny Engels, geboren 1949, machte eine Ausbildung zur Buchhändlerin und studierte Politikwissenschaften, Soziologie und katholische Theologie. Von 1976 bis 1982 war sie Diözesanvorsitzende des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) im Erzbistum Köln und von 1982 bis 1984 stellvertretende Bundesvorsitzende des BDKJ. Von 1989 bis 2001 war sie Verbandsreferentin bei der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschland. Seit 2001 ist sie Geschäftsführerin des Deutschen Frauenrats. Meredith Haaf, Jahrgang 1983, studierte der Geschichte und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Arbeitet als freie Autorin und ist mit Susanne Klingner und Barbara Streidl Verfasserin des Buches Wir Alphamädchen. Warum Feminismus das Leben schöner macht. Außerdem ist sie Mitbetreiberin von www.maedchenmannschaft.net, das 2008 mit dem Bestof-Blogs-Jurypreis für das beste deutsche Weblog ausgezeichnet wurde.
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Michael Heinrich ist Politikwissenschaftler in Berlin, Mitglied in der Redaktion von PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Entwicklung des globalen Kapitalismus und die Marxsche Ökonomiekritik. Jüngste Buchveröffentlichung: Wie das Marxsche Kapital lesen? (Stuttgart, Schmetterling Verlag 2008). Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer, Jahrgang 1945, ist Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. Dipl.-Päd. Anna Klein, Jahrgang 1979, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. Dr. Uwe Kremer, Bochum, Jahrgang 1956; Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler; Projektleitungen und Geschäftführungen mit Schwerpunkten in der Regionalökonomie, Technologiepolitik und Gesundheitswirtschaft; Mitglied der SPD seit 1972, Juso-Bundesvorstand 1984 bis 1990, Mitautor der »53 Thesen des Projekts Moderner Sozialismus« (1989), Mitherausgeber der Zeitschrift spw. Benjamin Mikfeld leitet seit 2008 die Abteilung Politik und Analysen beim SPD-Parteivorstand. Vor seiner hauptamtlichen Beschäftigung für den Parteivorstand war Benjamin Mikfeld von 1995 bis 2003 gewähltes Mitglied dieses Gremiums. Der Sozialwissenschaftler Benjamin Mikfeld war von 1999 bis 2001 Juso-Bundesvorsitzender. Franz Müntefering ist seit 2008 SPD-Parteivorsitzender. Bereits von 2004 bis 2005 hatte er dieses Amt inne. Der gelernte Industriekaufmann war von 2005 bis 2007 Vizekanzler sowie Bundesminister für Arbeit und Soziales. Von 1998 bis 1999 war er Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Von 1999 bis 2002
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war Franz Müntefering Generalsekretär der SPD und von 1995 bis 1998 deren Bundesgeschäftsführer. Seit 1998 ist Müntefering erneut Mitglied des Deutschen Bundestages, er war es bereits von 1975 bis 1992. Andrea Nahles ist seit 2007 stellvertretende SPD-Parteivorsitzende. Mitglied des Deutschen Bundestages war sie in der Zeit von 1998 bis 2002 und ist es erneut seit 2005. In der SPD-Fraktion ist sie Sprecherin für Arbeit und Soziales. Die Literaturwissenschaftlerin Andrea Nahles war von 1995 bis 1999 Juso-Bundesvorsitzende. Sonja Pellin, Jahrgang 1979, stellvertretende Bundesvorsitzende der Jusos seit 2007, betreut neben den Bereichen Gute Arbeit und Politische Bildung auch den Bereich Gleichstellung. Sie arbeitet als Lehrerin in Bonn. Michael Sommer ist seit Mai 2002 Bundesvorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Der »studierte Malocher« wurde in der Postgewerkschaft groß und war maßgeblich an der Gründung von ver.di beteiligt. Seine Arbeitsschwerpunkte hat der DGB-Vorsitzende in den Bereichen Grundsatzfragen, Öffentlichkeitsarbeit sowie internationale und europäische Gewerkschaftspolitik. Im November 2006 wurde Michael Sommer zum stellvertretenden Präsidenten des neu gegründeten Internationalen Gewerkschaftsbundes IGB gewählt. Jennifer Stange, Magister in Philosophie und Geschichte, ist Teilnehmerin des Bauhaus Kollegs in Dessau und Redakteurin der Zeitschrift Phase 2. Sie lebt in Leipzig. Prof. Dr. Johano Strasser ist ein deutscher Schriftsteller, Politologe und Publizist. In den 70er Jahren engagierte er sich bei den Jungsozialisten und war von 1970 bis 1975 stellvertretender Bundesvorsitzender. Seit 1975 ist er Mitglied der Grundwertekommission der
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SPD. Von 1995 bis 2002 war er Generalsekretär des deutschen PENClubs, dessen Präsident er seit 2002 ist. Heidemarie Wieczorek-Zeul war nach dem Studium in Frankfurt fast zehn Jahre lang als Lehrerin tätig. Von 1974 bis 1977 war sie die Bundesvorsitzende der Jungsozialisten. In den 80er Jahren wurde sie Mitglied des SPD-Parteivorstandes und des Präsidiums. Von 1993 bis 2005 war sie stellvertretende Vorsitzende der SPD. 1979 wechselte Heidemarie Wieczorek-Zeul auf die europäische Ebene und wurde Mitglied des Europäischen Parlaments. Seit 1987 ist sie Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 1998 Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.