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FOCUS 19/2005
Sie glucken, klagen, wissen alles besser oder tauchen völlig ab – nervige Elte...
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BILDUNG
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FOCUS 19/2005
Sie glucken, klagen, wissen alles besser oder tauchen völlig ab – nervige Eltern bedeuten für viele Lehrer das eigentliche Problem im Schulalltag
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ine Traube von Müttern wartet ratschend auf den Schulschluss ihrer Schützlinge. Die werden kurz gehätschelt, dann stürzen sich die Frauen auf die Ranzen, reißen Hefte heraus und halten sie sich gegenseitig unter die gerümpften Nasen. „Was hat die denn heute wieder mit euch gemacht?“, wird der Nachwuchs umgehend vernommen – mit überzogener Betonung des Artikels. Und es stört dabei kaum, dass Lehrpersonen als Hofaufsicht in Hörweite stehen. „Abfälliges Reden über uns Lehrer ist an der Tagesordnung“, schildert Eva Schumacher*, 59, Berliner Grundschullehrerin im 37. Dienstjahr, mit ebenso viel Empörung wie Resignation in der Stimme. „Da dürfen wir uns über den Ton der Kinder nicht wundern, die Kleinen bekommen ja mit, wie sich ihre Eltern über uns ausmotzen.“ Dazu passt, dass „Mütter oder Väter mit ihren Kindern auf dem Schulhof
grußlos an uns vorbeistolzieren“, wie es Schumachers Kollegen in einem bürgerlichen Viertel im Westen der Hauptstadt beklagen. Und dass sich Erziehungsberechtigte zu „Elternstammtischen verabreden, die sich als eine Art außerschulische Opposition verstehen“. Dort würden sie das aus Medien und Büchern erworbene pädagogische Wissen nonchalant mit Hochschulstudium und Berufserfahrung der Lehrer gleichstellen – mindestens. „Viele Eltern glauben, sie könnten uns erklären, wie Schule funktioniert“, so Schumacher, „obwohl sie wenig über den Stoff, meist nichts über Didaktik und erst recht nichts über den Umgang mit Kindern in Klassenstärke wissen.“ Marotten, Intrigen und Attacken von Eltern treiben viele der knapp 900 000 Lehrer in Deutschland zur Weißglut oder zur Verzweiflung. Die Liste der bizarren Aktivitäten, die Lehrer an Eltern hassen, ist endlos, die daraus resultie-
*Name von der Redaktion geändert
EIN THEMA FÜR VIELE
DOPPELT BESETZT
• EINE FRAGE DES TEMPERAMENTS Jeder der Erziehungsberechtigten ist eine eigene Persönlichkeit. Der eine Vater tritt aggressiv auf, der nächste weiß alles besser, der dritte interessiert sich nicht. Die eine Mutter lamentiert schnell über die Anforderungen, die andere weicht der Tochter nicht von der Seite. Lehrer sein wäre so schön, wenn nur die Eltern nicht wären, seufzt so mancher Pädagoge.
Composing: N. Mayer
Foto: M. Ley/FOCUS-Magazin
3,0 Mio.
ein Schulkind
2,6 Mio.
zwei Schulkinder Quelle: Infratest
• ELTERN UND KIND Hinter jedem Schüler stehen Eltern, mit denen sich der Lehrer nach Unterrichtsschluss auseinander setzen muss.
Haushalte mit Schulkindern in Deutschland
drei Schulkinder vier Schulkinder und mehr
600 000 100 000
NACHGEZÄHLT In 6,3 Millionen Familien leben Schulkinder. Insgesamt gibt es in Deutschland 39,1 Millionen Haushalte
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FAMILIENERSATZ Marina Umlauff, 51, Rektorin der Grundschule Mühlenredder in Reinbek (Schleswig-Holstein) • VERUNSICHERUNG „Ich sehe eine große Hilflosigkeit in Bezug auf Erziehungsfragen. Die Eltern sind stark verunsichert und finden Erziehung offenbar häufig auch zu anstrengend.“ • RATSCHLÄGE „Wir müssen Rituale, die es in den Familien nicht mehr gibt, wie gemeinsames Essen, Zuhören, Abwarten, in der Schule neu einüben.“
LIEBER NICHT MITEINANDER REDEN Ein „erschreckendes Ergebnis“ konstatierte Regina Pötke, Geschäftsführerin der Stiftung Bildungspakt Bayern, die die Elternarbeit wissenschaftlich untersuchen ließ. Kontaktverhalten von Lehrern und Eltern in Prozent Lehrer
36,8
Quelle: Stiftung Bildungspakt Bayern
1,95
Eltern 45,7
74,1 17,5
Wie oft Eltern Lehrer ansprechen (1 = durchschnittliche Häufigkeit) 1,41 1
15,6 10,3
kontaktunwillige beschränken sich auf Sprechstunden und Elternabende
kontaktunwillige suchen nur selten Kontakt zur Schule
reservierte Traditionelle Formen der Elternarbeit stehen im Mittelpunkt.
reservierte pflegen zurückhaltend Kontakt
aufgeschlossene gehen aktiv auf Eltern zu, rufen sie an, sind an Feedback interessiert
aufgeschlossene suchen regelmäßig Kontakt zu den Lehrern
0,76
Note: eins bis zwei
zwei bis drei
drei bis vier
Leistungsniveau der Kinder
vier
Quelle: Stiftung Bildungspakt Bayern
KONTAKTSCHEU Der überwiegende Teil der Lehrer und der Eltern meidet den Austausch miteinander. Ausgerechnet Eltern leistungsschwacher Kinder scheuen das Gespräch mit dem Pädagogen
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2,38
rende Frust- und Leidensskala nach unten und oben offen. Das Spektrum beginnt beim geradezu krankhaften Überengagement ständig ihre Kinder betüddelnder Mütter. Es reicht bis zum sträflichen Ignorieren schulischer Pflichten durch lustlose oder unfähige Erziehungsberechtigte. Dazwischen liegen, so schildern es Pädagogen, Misstrauen, Anmaßung, Mobbing, Drohungen, Klagen und Einschüchterungsversuche à la „Ich kenne da den Abgeordneten Soundso“. Die Frontstellung an deutschen Schulen ist klar. Auf der einen Seite stehen Eltern, die ihr Kind beschützen wollen und ängstlich seine Zukunftsperspektiven im Blick haben. Auf der anderen Lehrer, die sich immer wieder der Kri-
DER GROSSE TAG Nicht nur am ersten Schultag begleiten Eltern ihre Kinder bis in die Klasse. Viele Mütter mögen den Nachwuchs auch später nicht loslassen
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ELTERNFRUST Rudolf Straub, 61, seit 19 Jahren Schulleiter an der Hauptschule Vilsbiburg (Bayern) • DESINTERESSE „Der Großteil der Eltern zeigt null Aufmerksamkeit für die Schullaufbahn ihrer Kinder. Die Enttäuschung, wenn Sohn oder Tochter keine weiterführende Schule besucht, ist so groß, dass sie sich fortan aus der Erziehung ausklinken.“ • VERTRAUENSBASIS „Eltern sollten den Lehrern eine gerechte und wohlwollende Beurteilung zutrauen.“
tik und den Vorwürfen der Erziehungsberechtigten ausgesetzt sehen. So sterben die Gespräche miteinander ab, und auch berechtigte Einwände verhallen ungehört im Schulflur. Um die Bildungsallianz von Lehrern, Eltern und Schülern steht es schlechter denn je. Nicht nur in Deutschland. Elternarbeit mache die Hauptbelastung der Lehrer in den USA aus, berichtete im Februar das „Time Magazine“ unter Bezug auf eine Studie des Versicherers MetLife. Selbst Pädagogen, die ihren Beruf liebten, bezeichneten den Umgang mit Eltern als „den tückischsten Part ihres Jobs“, zitiert das Magazin die Harvard-Professorin Sara Lawrence-Lightfoot. Die Probleme beginnen schon in der Grundschule – obwohl dort das Verhältnis zwischen Eltern und Lehrern noch recht ausgeglichen ist. Immerhin beteiligen sich Mütter und Väter an dieser ersten Schulstation mit einigem Interesse, besuchen Elternabende und Sprechtage beinahe in Klassenstärke. Laut einer Emnid-Umfrage für die Gothaer Versicherung bezeichneten Ende vergangenen Jahres 18,9 Prozent der Grundschullehrer die Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit mit Eltern als sehr gut – 42,6 Prozent als gut. Unnötigen Stress bescheren Lehrern gerade in besseren Wohngegenden Eltern mit üppigem Zeitbudget. An einer privaten Grundschule in München etwa FOCUS 19/2005
schleppen Väter und Mütter die Ranzen der Kleinen gern bis vor die Klassentür, hängen deren Jacken in den Schrank und helfen beim Schuhewechseln. Dringende Appelle der Schulleitung, sich doch an der Pforte zu verabschieden, stören Eltern nicht weiter. Pädagogen, die bei notorisch überbehütenden Müttern intervenieren, erleben Sonderbares. So wie Martina Holzinger, 46, Lehrerin in der oberbayerischen Kleinstadt Markt Schwaben. Sie forderte die Mutter eines Zweitklässlers auf, ihr Kind nicht bis zur Klassentür zu begleiten, sondern ab der Ampel vor der Schule allein gehen zu lassen. Als es endlich so weit war, fragte sie den Jungen, wie es gewesen sei. Die Antwort war bezeichnend: „Wir haben beide den ganzen Weg geweint.“ Helikopter-Eltern nennen Pädagogen solche Erziehungsberechtigte. Sie schwirren ständig um ihre Kleinen herum, um als dienstbare Geister oder Schutzengel jederzeit eingreifen zu können. Dabei nerven sie durch ständiges Intervenieren („Wahnsinn, dass die schon bis 100 rechnen müssen“) und Inspizieren („In der Pause habe ich keine Aufsicht gesehen“) nicht nur das Schulpersonal. Sie rauben ihren Kindern auch die Erfolgserlebnisse auf dem Weg zur Selbstständigkeit. Überbemutterung ist unerwünscht. Das macht Marina Umlauff, 51, Rektorin der Grundschule Mühlenredder in ReinFotos: R. Frommann, T. Einberger/beide FOCUS-Magazin, Nordpool
bek (Schleswig-Holstein) allzu besorgten Eltern klar, die ihren Nachwuchs noch in der vierten Klasse bis zur Schulbank bringen wollen. Zugleich versucht sie, das Potenzial dieser prinzipiell engagierten Eltern zu nutzen. „Unausgelasteten Mamis bieten wir an, Lesemütter zu werden oder die Schulbücherei zu organisieren“, so Umlauff. Konflikte in der Grundschule sind oft deshalb programmiert, weil der Entwicklungsstand der Kinder zu wünschen übrig lässt. Viele Eltern hören von der Klassenlehrerin zum ersten Mal, dass „mit ihrem Kind etwas nicht stimmt“. Immer mehr Erstklässler haben Sprachdefizite oder Konzentrationsstörungen, sind hyperaktiv oder ganz im Gegenteil in der Motorik stark eingeschränkt, manche können nicht einmal einen Stift richtig halten. In Berlin etwa muss nach Angaben von Ulrich Fegeler, Sprecher des Landesverbands der Kinder- und Jugendärzte Deutschlands, jedes dritte bis vierte Kind von Ergotherapeuten, Logopäden oder Krankengymnasten betreut werden. Die Eltern, die in vielen Fällen eine Mitschuld an den Entwicklungsrückständen tragen, betrachten den Überbringer der schlechten Nachricht schnell als Gegner. „Das hat uns noch niemand gesagt“, bekommen Lehrer empört zu hören. Kunststück, bisher erlebte niemand das Sozial55
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WERTEVERLUST Helmut Seidl, 54, leitet seit vier Jahren das Elsa-Brändström-Gymnasium in München-Pasing. • TÜV-MENTALITÄT „Manche geben ihre Kinder in der fünften Klasse ab und erwarten, dass am Ende die Plakette ‚Abitur‘ draufklebt.“ • ABWERTUNG „Es ist fatal, wenn Eltern signalisieren, Schule sei nicht wichtig. Dazu gehört, dass Lehrstoff als unwesentlich deklariert wird oder dass die Familie vor Ferienbeginn in den Urlaub startet.“
und Lernverhalten der Kleinen in der Schule. Den Pädagogen, die es beurteilen können, wird erst einmal misstraut. So reden die sich den Mund in Fransen. „Schließlich können wir die Kinder doch nicht weiterwursteln lassen, nur um die Mütter nicht zu irritieren“, argumentiert Eva Schumacher, „die Kleinen brauchen schließlich Förderung.“ Was Lehrer zur Verzweiflung treibt, ist die Erkenntnis, dass vielen Eltern der Mut oder die Fähigkeit zur Erziehung fehlt. „Die sitzen an Sprechtagen vor mir und fragen weinend, was sie mit ihren Kindern denn tun sollen“, berichtet Anett Demming*, 49, Grundschullehrerin im beschaulichen Münsterland (Nordrhein-Westfalen). Diese Mütter „erwarten dann von mir Rezepte oder bitten darum, dass wir Lehrer die Erziehung übernehmen“. Die mangelnde Erziehungskompetenz – der Bonner Neuropädiater HansGeorg Schlack bezeichnet „das allgemeine erzieherische Unvermögen der Familien“ als neue „Volkskrankheit“ – müssen Lehrer schon bei Erstklässlern ausbaden. Berliner Pädagogen schildern, der Nachwuchs quittiere erste energische Aufforderungen zu kollektiven Übungen schon mal mit wütenden Blicken. Dazu fallen dann ungezogene Äußerungen von „Wieso denn?“ über „Das mach ich nicht“ bis hin zu einem nicht zu überbietenden „Fick dich“ – in der ersten Klasse, wohlgemerkt.
„Kindern fällt es heute schwer, Regeln zu akzeptieren“, weiß die Reinbeker Rektorin Umlauff. Jede Kleinigkeit müsse „ausdiskutiert werden“, zugleich könnten viele Kinder aber schlecht zuhören und kaum abwarten, bis sie an der Reihe seien. „Offenbar vermitteln viele Eltern ihren Kindern diese Gesprächskultur nicht“, so Umlauff, „einigen ist Erziehung zu anstrengend.“ Deshalb erarbeitet die Schulleiterin derzeit eine Broschüre mit Ratschlägen. Inge
BEDINGT ZUFRIEDEN Unterschiede in der Elternzufriedenheit nach Schulform zufriedene Eltern in Prozent alle Klassen Klassen sieben bis zehn
62 45
Grundschule
42
Hauptschule
47 45
49
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44
Real- übergreifende Gymnaschule Schulformen sium
NUR DIE HÄLFTE MAG ES, WIE ES IST Die Zustimmung zur Schule sinkt bis zur 9./10. Klasse kontinuierlich ab. Besonders in der Kritik: die Hauptschulen
Hirschmann, 53, Rektorin der HeinrichZille-Grundschule in Berlin-Kreuzberg, versucht, den vielen sprachlosen Migranten in ihrer Elternschaft das Thema Erziehung in einem regelmäßig stattfindenden Elterncafé näher zu bringen. Angesichts der dramatischen Defizite plant sie nun sogar eine Elternschule. Als Lehrerschreck entpuppen sich viele Eltern vor allem, wenn es um Einstufungen oder Empfehlungen für weiterführende Schulen geht. „Der Selektionsdruck ist ungeheuer hoch“, schildert Karin Beer, Leiterin der Grundschule an der Würm in Stockdorf bei München. Sie unterrichtet seit 34 Jahren dritte und vierte Klassen, Jahrgänge, die „viele Kollegen abgeben, weil sie den Druck nicht mehr aushalten“. Der wird, gerade in Bayern, durch strenge Notenvorgaben für den Übertritt ins Gymnasium erzeugt, aber auch durch übermäßig ehrgeizige Eltern. Beer erzählt von einem Kind, dass vor ihr auf die Knie fiel und flehte: „Geben Sie mir bitte keine Vier, ich brauche eine Zwei, sonst ist mein Papi enttäuscht.“ Ein Albtraum auch für Lehrer, denn sie wissen um die Angst der Kinder. „Schaffen sie den Übertritt ins Gymnasium nicht, fühlen sie sich nicht mehr geliebt“, so Beer. Enttäuschte Eltern, so die bittere Erkenntnis vieler Lehrer, lassen ihre Sprösslinge gnadenlos fallen. Wenn das Kind den Übertritt ins Gymnasium verpatzt hat, „klinken sich
Quelle: Infratest
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Foto: A. Griesch/FOCUS-Magazin
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Die Entdeckung des Resonanzbodens Die städtische Wilhelm-Busch-Realschule in München wagte ein Experiment: Lehrer und Eltern gaben die festgefahrene
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ine kleine Korrektur verbesserte die gesamte Atmosphäre. „Vor ein paar Jahren haben wir den Elternabend umgestaltet“, erinnert sich Renate Harder, seit 13 Jahren Lehrerin an der städtischen Wilhelm-BuschRealschule in München-Perlach (720 Schüler). Die Väter und Mütter quetschten sich nicht in die Pennälerbänke, sie gruppierten sich im Kreis, hefteten sich Namensschilder an den Pulli und diskutierten, was eine gute Schule ausmache.
Frontstellung auf und gingen aufeinander zu. Das Kultusministerium prämierte den erstaunlichen Erfolg.
gen, Gewaltprävention oder Essstörungen. Arbeitskreise beschäftigen sich mit allem, was Eltern bewegt. Selbstverständlich sitzen Mütter in den pädagogischen Konferenzen, tagen mit der Schulentwicklungsgruppe und gehören zum Jahrgangsstufenteam. Ein Lehrer-Eltern-Fest markiert den Schuljahresbeginn – Kontaktpflege in lockerer Atmosphäre. Zusätzliche Veranstaltungen und veränderte Gremienbesetzung allein reichen
alle Beteiligten. „Wir werden gehört, fühlen uns verstanden, und jedes Gespräch findet Resonanz“, lobt Elternbeiratsvorsitzende Irene Geiger, die sich zuvor an zwei anderen Schulen engagierte und vom Teamgeist in Perlach begeistert ist. „Hier sind alle Eltern aktiv, nicht nur die Beiratsmitglieder“, beobachtet sie. Die Fähigkeiten von weit über 1000 Erwachsenen stehen zur Verfügung. „Das ermöglicht manches, was sonst nicht möglich wäre“, weiß Kon-
AKTIV DABEI Schüler der städtischen WilhelmBusch-Realschule München beim Basketballspiel in der Pause
AN EINEM STRANG Lehrer und Eltern begreifen die Erziehung und Ausbildung der Kinder als partnerschaftliche Aufgabe
Zum ersten Mal entwickelte sich bei einer solchen Pflichtzusammenkunft ein Gespräch. Statt sich mit heruntergeklapptem Visier zu bekriegen, tauschten Lehrer und Eltern ihre Ideen über Erziehung, Bildung und Verantwortung aus. Eine Revolution im Umgang miteinander, der in Perlach seither „interaktive Elternarbeit“ heißt. „Das Sich-Öffnen, der Dialog sind uns wichtig“, skizziert Konrektorin Ursula Leis die grobe Linie. So bietet die Schule Informationsveranstaltungen zu Themen wie Dro-
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nicht. Die Lehrer wagten sich heraus aus der Rüstung der distanzierten Autoritätsperson. „Wir wenden uns dem Schüler zu“, erläutert Mathelehrerin Harder die neue Position. „Ein enger Kontakt zum Elternhaus gehört unbedingt dazu.“ Das neue Rollenverständnis birgt Unwägbarkeiten. „Wir sind als Person stärker gefordert und werden angreifbarer“, weiß Sportlehrerin Hilde Brandt. Ein Risiko, das durch gegenseitiges Vertrauen aufgewogen wird. Zufrieden mit dem neuen Kurs scheinen
Fotos: W. Heider-Sawall/FOCUS-Magazin (2)
rektorin Leis. Zufrieden war auch das Kultusministerium und verlieh der Schule im vergangenen Jahr einen Preis wegen ihrer innovativen Elternarbeit. Die Schüler profitieren. Der intensive Kontakt zwischen Schule und Elternhaus lässt manche Schwierigkeit gar nicht zum Problem wachsen. Das partnerschaftliche Miteinander der Erwachsenen lässt die Kinder Zutrauen fassen und stärkt das Gemeinschaftsgefühl. Sogar die Feste seien besser geworden, seit alle mitmachen.
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„Ein Miteinander anstreben“ Die wichtigsten Regeln für ein gelungenes Lehrer-ElternGespräch, erarbeitet von Psychoanalytiker Kurt Singer
• ZUHÖREN FÖRDERT DAS GESPRÄCH Die Sicht des Lehrers auf das Kind wahrnehmen und die eigene ElternSicht erklären • SICH GUT VORBEREITEN Notizen machen über das, was man besprechen möchte. Das Kind in die Vorbereitungen einbeziehen • DIE CHANCE ZUR VERSTÄNDIGUNG GEBEN Nicht das Feindbild Lehrer aufbauen, nicht nach einem Schuldigen suchen. Besser versuchen, die Perspektive aller Beteiligten zu berücksichtigen • DIE ANGST DES LEHRERS BEDENKEN Trotz eigener Ängste in die Sprechstunde gehen. Bedenken, dass auch Lehrer Ängste vor Eltern haben. Das Anliegen in nicht aggressiver Form vorbringen • AUCH ÜBER DAS „KIND“ SPRECHEN Über Vorzüge, Neigungen, Freunde, den Kummer und die Hilfsbedürftigkeit des Kindes reden, nicht ausschließlich die Schulleistungen thematisieren • LEHRER BRAUCHEN EIN GUTES WORT Berichten, wenn das Kind etwas Freundliches aus der Schule erzählte, vom Unterrichtsthema begeistert war oder Lernfortschritte erzielte
Gerhard Brähler, 65, Direktor des Gymnasiums Taunusschule im hessischen Königstein
• KEIN GENERALANGRIFF Schildern, wie z. B. die taktlose Behandlung des Lehrers auf das Kind gewirkt hat, nicht generell pädagogische Unfähigkeit vorwerfen
• NOTENKRIEG „Die Eltern sind heute viel selbstbewusster als vor 30 Jahren. Sie fordern offensiv ihre Rechte ein, oft mit Anwalt.“
• WÜNSCHE VORTRAGEN, NICHT BELEHREN Nicht formulieren, was der Lehrer tun soll, sondern was sich verändern soll
• KLAGERITUAL „Bei jedem Zeugnistermin sind wir mit drei oder vier juristischen Klagen konfrontiert.“
• KEINE ÜBERZEUGUNGSMACHTKÄMPFE Die Grundhaltung, dass man eine Übereinkunft erreichen möchte, ist wichtiger als Recht-haben-Wollen. Einspruch sollte argumentativ und, wo möglich, mit Handlungsvorschlägen verknüpft sein, nicht persönlich angreifend. • DAS GESPRÄCH IN DIE HAND NEHMEN Nicht dem Lehrer das Gespräch überlassen, nicht nur reagieren, sondern eigene Themen und Fragen einbringen • SCHULDZUWEISUNG VERMEIDEN Keine Vorwürfe aussprechen, aber die eigenen Ansichten verdeutlichen • VERSTÄNDIGUNGSPROZESS Nicht alle Differenzen können ausgeräumt werden. Wenn das Gespräch so endet, dass es weitergeführt werden kann, haben Lehrer und Eltern viel erreicht.
IM DIALOG Monatliches LehrerEltern-Gespräch an der Heinrich-von-StephanOberschule in Berlin
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KLAGEWUT
viele Eltern aus der Erziehung einfach aus“, hat Rudolf Straub, 61, Leiter der Hauptschule Vilsbiburg (Bayern), beobachtet. „Das ist die größte Ungerechtigkeit, die sie ihren Kindern antun können“, schimpft Straub. Eine Mutter, für deren Sohn es vorerst nur für die Hauptschule reichte, habe ihm unter Tränen vorgejammert: „Die Nachbarn sind jetzt so ekelhaft zu uns.“ Hauptschullehrer geben vielen Eltern schlechte Noten. 10,3 Prozent bezeichneten die Kooperation in der Gothaer-Umfrage als „ausreichend“, 9,9 Prozent als „mangelhaft“ und 2,7 Prozent als „ungenügend“. Ruth Rebohle, 50, Lehrerin an einer Hauptschule in Steinfurt (Nordrhein-Westfalen), verdeutlicht das Missverhältnis mit anderen Zahlen. Zu Elternabenden begrüßt sie schon mal nur ein Elternpaar oder nur drei Mütter. „An Sprechtagen erscheinen oft gerade jene Eltern nicht, für deren Kinder es wichtig wäre“, so die Lehrerin mit 20 Jahren Berufserfahrung, „vermutlich weil sie ein ungutes Gefühl oder kein Interesse haben.“ Und weil viele nicht wüssten, wie sie sich bei ihren Kindern durchsetzen sollen. Zu Elternseminaren hat Uwe Duske, 62, Leiter der Nikolaus-August-OttoOberschule in Berlin-Steglitz, Mütter und Väter seiner Schützlinge vergattert. Zehn Abende büffelt dort eine Elternschaft, „die das Kerngeschäft der Erziehung nicht mehr beherrscht“ –
Fotos: M. Thelen/FOCUS-Magazin, Joker
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ABSPRACHE NÖTIG Martina Holzinger, 46, Grundschullehrerin in Markt Schwaben (Bayern) bei einer Aktion „Gesundes Pausenbrot“ • AUTORITÄTSVERLUST „Wir kauern in Igelstellung. Viele Eltern nehmen uns nicht ernst und trauen uns nicht zu, dass wir ihr Kind angemessen beurteilen können.“ • ABSICHERUNG „Um Kritik vorzubeugen, sprechen wir Klassenlehrerinnen uns ab, nehmen zeitgleich den Stoff durch und verabreden die Benotung bei Tests.“
das Geflecht von klaren Anweisungen, Konsequenzen und Strafen. „Viele Eltern trauen sich nicht, sie reden nur, ohne dass etwas passiert“, so Duskes Erfahrung, „aber so können Kinder keine Disziplin lernen.“ Bittere Folge für den Hauptschulbetrieb: In den ersten beiden Klassen muss viel Zeit für Erziehung investiert werden. Enttäuscht und traumatisiert sind viele Pädagogen, die sich an Hauptschulen in sozialen Brennpunkten engagieren. Dort sind Familien, die seit Generationen von staatlicher Stütze leben, schwerlich in der Lage, ihren Kindern in schulischen Belangen zu helfen und sie zu motivieren. „Als Lehrerin begegnet man erschreckenden Kinderschicksalen“, berichtet Uta Wessels*, 44, die an einer Brennpunktschule in Trier (Rheinland-Pfalz) unterrichtete. „Die Kinder wachsen in versifften Wohnungen auf, werden vernachlässigt, missbraucht“, schildert sie ihre Erfahrungen von Hausbesuchen und Interventionen bei Behörden. Versuche, einzelne Kinder gezielt zu fördern, erwiesen sich häufig als „vergebliche Liebesmüh“, weil Familien die detailliert abgesprochene Mitarbeit verweigerten. „Auf solche Eltern“, so Wessels, „kriegt man schon Hass.“ Der Kampf mit gleichgültigen Eltern kostet Lehrer Energie, Nerven und Zeit. Dietmar Bronder, 57, Leiter einer Hauptschule im Duisburger Norden, lehnt Forderungen nach Hausbesuchen seiner PäFOCUS 19/2005
dagogen bei Problemfamilien vehement ab. „Solche Tätigkeiten halten den Lehrer von seinem Kerngeschäft, dem Unterrichten, ab“, argumentiert Bronder und fordert, dass preiswertere Kräfte, etwa von Jugendämtern, bei kritischen Familien nach dem Rechten sehen sollten. Zu drastischen Maßnahmen gegen bildungsferne Familien, die sich kaum oder gar nicht mit ihrem Nachwuchs beschäftigen, rät der Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen. Der Präsident der Freien Universität (FU) Berlin schätzt deren Anteil auf 40 Prozent. „Wir müssen die Kinder aus diesen Familien rausholen, früher einschulen, in Ganztagsschulen unterbringen und auch in den Ferien und am Samstag unterrichten“, so Lenzen. Gleichwohl lässt der Bildungsforscher keinen Zweifel daran zu, dass „Eltern mit ihren Kindern üben und zu Elternabenden erscheinen müssen“. Krankhafter Ehrgeiz und mangelnde Einsicht vieler Eltern lähmen zunehmend die Gymnasien. Das Abitur muss her, egal, wie, lautet oft das Credo. Und so melden beratungsresistente Eltern in Bundesländern, wo ihr Wille entscheidend ist, ihre Kinder trotz Hauptschulempfehlung am Gymnasium an. „Die wenigsten lassen sich umstimmen“, berichtet Petra Becker*, 44, stellvertretende Rektorin eines Gymnasiums bei Mannheim. „Die wollen vom vielfältigen Bildungsangebot anderer weiter-
Foto: M. Ley/FOCUS-Magazin
führender Schulen gar nichts wissen.“ Die Folge: Schüler und Schulen sind schnell überfordert. Das Interesse an der Schule schwindet auch bei Gymnasialeltern rasch, spätestens in der Oberstufe. In der GothaerUmfrage benoten 6,4 Prozent der Lehrer in den Klassen elf bis 13 Mütter und Väter im imaginären Fach Kooperation mit „ungenügend“. 5,1 Prozent halten die Eltern-Leistung für „mangelhaft“, 10,6 Prozent für „ausreichend“. „Eltern geben ihre Sprösslinge hier ab und erwarten, dass am Ende die Plakette ,Abitur‘ draufklebt“, beklagt Helmut Seidl, 54, Leiter des Elsa-BrändströmGymnasiums in München-Pasing. Solche Eltern proklamierten, der Lehrstoff sei unwichtig, nur der Abschluss zähle. Christof Beitz, 63, Gymnasialdirektor in Neubiberg (Bayern), bemängelt „gerade in wohlbestallten Kreisen die Anspruchshaltung, das Gymnasium habe das Abitur zu liefern“. Und wehe, wenn nicht. Dann bemühen Eltern selbst in aussichtslosen Situationen die Justiz. So klagte in Greifswald die Familie eines Jungen, der das Probehalbjahr verpatzt hatte und das Gymnasium verlassen musste. Bei zweimal „mangelhaft“ und sechs weiteren „ausreichend“ hatte die Schule keine Chance für den Jungen gesehen. Das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern bestätigte die Entscheidung im März 2004 in letzter Instanz. 59
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ELTERNSCHULE Inge Hirschmann, 53, Rektorin der HeinrichZille-Grundschule in Berlin-Kreuzberg • SOZIALARBEIT „Wir wünschen uns Sozialpädagogen auch für die Elternarbeit. Wir müssen die Eltern bei der Erziehung unterstützen.“ • ERZIEHUNGSKURS „In unserem Projekt Elternschule sprechen wir mit den türkischen Müttern und Vätern über Erziehungsfragen. Wir sagen ihnen zum Beispiel, dass sie ihre Jungen nicht so verwöhnen sollen.“
„Eltern begreifen die Notengebung als Zuteilung von Lebenschancen“, beobachtet Gerhard Brähler, 65, Direktor des Gymnasiums Taunusschule in Königstein (Hessen). Deshalb kämpften sie „immer öfter mit Hilfe eines Anwalts um die Noten ihrer Kinder“. Formelle Einsprüche nähmen besonders bei Nichtversetzungen zu, bei jedem Zeugnistermin registriert Brähler drei bis vier Klagen. Die seien „meist ohne Substanz“, aber der Papierkram koste Zeit und Nerven. „Vierteljuristen müssen wir schon sein“, so Brählers Fazit. Ein dickes Fell ist ebenso vonnöten. Weil zwischen den Fronten häufig Sprachlosigkeit waltet, erreicht Kritik die Pädagogen oft über Dritte – die Schulleitung oder die Schulaufsicht. Für Lehrer können diese Angriffe hinter ihrem Rücken gravierende Nachteile bedeuten, etwa wenn Beschwerden in die Regelbeurteilung der Pädagogen einfließen und die Beförderung blockieren – ein Grund, weshalb viele Pauker den Konflikt mit Eltern ängstlich meiden. Schon bei Kleinigkeiten sind manche Erziehungsberechtigte bereit, Pädagogen durch Mobbing zu demontieren. So beschuldigten Eltern eine 55-jährige Studienrätin im gepflegten Berlin-Kladow gegenüber der Schulaufsicht, sie hätte bei einer Klassenfahrt am Lagerfeuer die Schnapsflasche kreisen lassen. Auslöser: Die Tochter hatte in der neunten Klasse für eine Mathearbeit nur eine 60
Zwei bekommen, weil ein Lösungsweg nicht nachvollziehbar war. Problematisch können allzu aufsässige Eltern auch für die eigenen Kinder werden. Nicht ohne Grund mahnt der Vilsbiburger Schulleiter Rudolf Straub sein Kollegium regelmäßig, „dass Kinder wegen des unverschämten Auftretens ihrer Eltern keine Nachteile erleiden dürfen“. An der privaten Klosterschule Schäftlarn im Landkreis München zeigte man sich weniger zimperlich. Nachdem sich Eltern über Mittagessen, Nachmittagsbetreuung und Schulbusverkehr beschwert hatten, kündigte Schulleiter Pater Martin Ruf im Juli 2004 sechs Gymnasiasten die Schulverträge. Begründung: „Ton und Stil“ der Elternkritik „haben uns nicht gefallen“. Politiker appellieren gern ans Engagement der Familien. „Wir brauchen Eltern, die ihre Kinder zur Wissbegierde erziehen“, mahnte Bundespräsident Horst Köhler. Weil immer mehr Eltern in Sachen Erziehung „verunsichert und überfragt“ seien, plädiert Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD) jetzt für „Angebote, die Kinder und Eltern einbinden“. Nach englischem Vorbild schweben Schmidt „Häuser des Kindes“ vor. „Dort finden sozial schwache Familien Kinderbetreuung, Erziehungsberatung, Sprachförderung, aber auch Hilfen zur Weiterbildung unter einem Dach“, so Schmidts Vision. Foto: D. Gust/FOCUS-Magazin
Zurück zur Familie. „Die Grundlagen für erfolgreiches Lernen werden nicht in der Schule, sondern im Elternhaus gelegt“, propagiert Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands. In seinem „Plädoyer für eine umfassende Erziehungsoffensive“ argumentiert der Leiter des Robert-KochGymnasiums in Deggendorf (Bayern) in der jüngsten Ausgabe der Verbandszeitschrift „Profil“, dass „unsere größten nicht genutzten Bildungsressourcen in den Familien schlummern – und nicht in Schulreformen“. Zugleich wettert er über Eltern, die sich „von Lehrern nichts sagen lassen“, sich für den Bildungserfolg ihrer Kinder „nur marginal interessieren, aber gleichzeitig das Abitur für selbstverständlich halten“. Die größten Schwierigkeiten haben Lehrer nicht selten mit Eltern, die selbst Lehrer sind. Exemplarisch der Fall zweier Pädagogen – sie Lehrerin, er Unidozent –, die ihren Sohn für zu schlecht bewertet hielten. Sie beschwerten sich zuletzt so massiv und ausfällig, dass der Direktor anordnete, die Eltern dürften sich nur noch schriftlich an den Lehrer wenden. Die Eltern klagten gegen die Schutzmaßnahme – demnächst entscheidet das Oberverwaltungsgericht Koblenz in letzter Instanz über den Fall. ULRIKE PLEWNIA/ROBERTVERNIER/ SUSANNE WITTLICH FOCUS 19/2005
SCHLECHT BETREUT Zufriedenheit der Eltern mit der Schule im Hinblick auf folgende Punkte zufriedene Eltern in Prozent 9. und 10. Klasse 76
ob Ihr Kind viel in der Schule lernt
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wie gut die Lehrer sind wie sie die Kreativität Ihres Kindes fördert Betreuung während Pausen/Freistunden
ELTERN-PROTEST äußert sich eher selten, wie hier in Saarbrücken, auf der Straße
33 60 30 53 23
Quelle: Infratest
1. und 2. Klasse
GRÖSSTES DEFIZIT Die Betreuung während der Pausen und Freistunden
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in Jahr war die Klassenlehrerin meines Sohnes wegen eines psychischen Leidens krankgeschrieben. Wie kann so etwas sein?“, ärgert sich die Berliner Zahnärztin Andrea Pabst, 43. Die Selbstständige – zwei Tage habe sie in ihrem Berufsleben gefehlt – echauffiert sich über eine derart laxe Arbeitseinstellung. An den Lehrern ihrer drei Kinder hat sie noch viel mehr auszusetzen. Ein Beispiel: Ihr neunjähriger Sohn kassierte jüngst zwei Sechsen im Fach Kunst, weil er die Hausaufgaben zweimal vergessen hatte. „Sind Lehrer nicht in der Lage, Eltern so etwas mitzuteilen?“, schimpft die Medizinerin und schrieb einen gepfefferten Brief. Selbst Pädagogen reiben sich an den Lehrern ihrer Sprösslinge auf. „Ich habe es satt, dass mein Ruf unter einigen faulen Kollegen leidet“, schimpft Roland Huber* und ereifert sich über die Englischlehrerin seines Sohnes (zehnte Klasse), die sich nicht an den Lehrplan halte, im ersten Halbjahr nur zwei Lektionen durchgenommen habe, die Schüler die Namen der deutschen Bundesländer abschreiben ließ und den angeblichen Unterricht „mit moralisierenden Erklärungen“ garniere. „Schlimm“, empört sich der pädagogisch gebildete Vater, „schlimm und ärgerlich.“ Vorwürfe prasseln auf die Lehrerschaft herab. Eine kürzlich veröffentlichte repräsentative Befragung über „Erfolgreiche und misslingende Eltern-
arbeit“ an bayerischen Schulen zeigt, dass 36,8 Prozent der Lehrer als notorisch kontaktunwillig, weitere 45,7 Prozent als reserviert gelten. Der Autor Werner Sacher von der Universität Erlangen stellt als „alarmierendes Ergebnis“ fest, dass nur ein Sechstel als aufgeschlossen zu bezeichnen seien (s. Grafik S. 54). Eltern fordern Rechte. Laut der Studie möchten sie mehr über Unterrichtsgestaltung und Schullaufbahnfragen mitreden, aber auch über Erziehung sprechen. Die Umfrage zeigte auch, dass Elternarbeit in der vierten Klasse besonders intensiv ist – also kurz vor der Weichenstellung für die weiterführenden Schulen. Anschließend sinkt die Mitwirkung rapide ab.
Was Eltern an Lehrern nervt, zeigt auch die Infratest-Umfrage „Schule aus der Sicht von Eltern“. So halten mehr als die Hälfte der 10 000 Befragten die jeweilige Schulleitung für nicht engagiert genug. Unzufrieden äußern sich die meisten über „Hilfe und Konfliktlösung bei Problemen“. Defizite sehen Eltern sowohl bei der Förderung schwacher als auch starker Schüler. Die Möglichkeit der eigenen Partizipation kommt ihnen zu kurz: Etwa die Hälfte ist mit ihrer „Mitwirkung in Schulangelegenheiten“ nicht zufrieden. Dieter Lenzen, Präsident der Freien Universität Berlin, mokiert sich über das Arbeitsethos der deutschen Lehrer. „Bei geistiger Arbeit ist das Denken in Stunden und Minuten absurd“,
AB AUF DIE INSEL Alexandra von BülowSteinbeis vermittelt deutsche Schüler an englische Internate. Sie bemerkt ein stark zunehmendes Interesse an den britischen Privatschulen
*Name von der Redaktion geändert
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FOCUS 19/2005
Fotos: A. Griesch/FOCUS-Magazin, action press
Umfragen belegen die Unzufriedenheit der Eltern. Sie kritisieren Lehrer als kontaktunwillig und wünschen sich mehr Einfluss
DEUTSCHLAND
WENIG INFORMATIV
INTERVIEW
„Wie zufrieden sind Sie mit der Schule im Hinblick auf folgende Punkte?“ zufriedene Eltern in Prozent ob Ihr Kind gerne die Schule besucht
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wie der Ruf der Schule ist
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den Anteil von ausländischen und deutschen Kindern
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Quelle: Infratest
das Schulklima wie informativ die Elternabende, -sprechstunden sind Sicherheit vor Gewalt und Drogen in der Schule wie gut und gepflegt das Schulgebäude ist wie engagiert die Schulleitung ist die Offenheit und Eigendarstellung der Schule nach außen Mitwirkung der Eltern an Schulangelegenheiten Hilfe und Konfliktlösung bei Problemen der Schüler
Der Bundeselternrat (BER) verlangt von den Schulen mehr Mitwirkung auch in pädagogischen Fragen.
54 53 53 49 49 48 47 40
MANGEL AN TRANSPARENZ Beinahe die Hälfte der Mütter und Väter ist unzufrieden mit Elternabenden und Sprechstunden
findet der Erziehungswissenschaftler. Selbstverständlich sei die Schule ein Dienstleistungsbetrieb, daher müssten Lehrer für Eltern „nachmittags oder abends erreichbar sein“. Als Vater reagierte Lenzen auf die Macken des Schulsystems – er schickte seine Söhne auf Privatschulen. Das teils zerrüttete Verhältnis zwischen Lehrern und Eltern hat viele Ursachen, eine liegt in der Ausbildung der Lehrer. Reiner Lehberger, dreifacher Vater und Erziehungswissenschaftler an der Universität Hamburg, beklagt, dass Lehramtskandidaten während des Studiums „ungenügend auf die Zusammenarbeit mit Eltern vorbereitet werden“. Inzwischen springen immerhin Schulämter mit speziellen Fortbildungen zur Elternarbeit in die Bresche. Attraktive Alternativen zum deutschen Schulsystem und zum heimischen Lehrertypus fand Alexandra von Bülow-Steinbeis in Großbritannien. Die ehemalige Lehrerin vermittelt für deutsche Schüler Plätze in privaten Internaten auf der Insel. Dort sind die Klassen klein (höchstens zehn Schüler), und die Pädagogen wohnen auf dem Campus. Sie verstünden sich dort als „Trainer und nicht als Richter wie in Deutschland“, so von Bülow-Steinbeis. Das exklusive Lernen hat seinen Preis: in England zwischen 21 000 und 40 000 Euro pro Jahr. 64
„Dumm gehalten“
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wie Lehrer für Sie als Eltern ansprechbar sind
FOCUS: Sind Eltern so schrecklich, wie Lehrer oft behaupten? Steinert: Nein, aber es ist in der Tat so, dass großes Misstrauen zwischen ihnen und den Lehrern besteht. Es fehlt an Gesprächen zwischen Lehrern, Eltern und Kindern. Im Kindergarten gibt es den Dialog noch, in der Grundschule nimmt er ab, spätestens in der weiterführenden Schule ist die Kommunikation verstummt. FOCUS: Wie kommt es dazu? Steinert: Das fängt mit dem ersten Elternabend an: Da zwängen sich die Eltern hinter die Erstklässlerbänke und nehmen wiederum die Rolle der Schüler ein. Sie werden informiert, welche Hefte sie kaufen dürfen. Fragen sie jedoch, nach welchem Konzept das Lesen erlernt werde, wimmeln die Lehrer sie ab. Da zeigt sich das hierarchische Gefälle – bei pädagogischen Fragen hält man die Eltern dumm. FOCUS: Warum traktieren Eltern die Schulen mit Klagen? Steinert: Die Crux liegt in unserer Notenversessenheit. Ich vertrete einen reformpädagogischen Ansatz und halte daher Noten bis zur vierten Klasse für kontraproduktiv. Sinnvoller wären genaue Lernstandsberichte für jedes einzelne Kind. Wir sollten uns an den skandinavischen Ländern orientieren.
ENGAGIERT Wilfried Steinert, 55, ist seit 2004 Chef des BER. • LEHRER UND VATER Steinert leitet die Waldhofschule, eine integrative Grundschule in Templin (Brandenburg). Dort richtete er ein Elternzimmer mit Schreibtisch und Computer ein – als deutliches Kooperationsangebot. Der Theologe hat vier eigene und acht Pflegekinder.
Foto: C&M Fragasso
Da steht die Entwicklung jedes einzelnen Kindes im Vordergrund, in Schweden etwa werden bis zur achten Klasse keine Noten erteilt. FOCUS: Eltern greifen sogar zu Tricks wie angeblicher Legasthenie, um für ihre Kinder Vorteile herauszuhandeln . . . Steinert: Es wird heutzutage jeder Strohhalm ergriffen, um bessere Noten zu bekommen. Leider lassen Eltern oft den Respekt vor den Lehrpersonen vermissen. FOCUS: Machen Super-Mamis den Lehrern das Leben schwer? Steinert: Das mag es geben, aber daraus sollten Schulen positive Kraft ziehen. Es ist doch gut, wenn Eltern mittun wollen. Sie wollen das Beste für ihr Kind und stellen daher Ansprüche. Lehrer müssen endlich lernen, sich damit auseinander zu setzen. Sie müssen aber auch mit extrem ehrgeizigen Eltern Klartext über die angeblichen Talente von deren Kindern reden dürfen. FOCUS: Sind die Lehrer damit überfordert? Steinert: Gespräche über schwierige Schüler führen sie nicht nebenbei. Dafür bräuchten wir Sozialarbeiter und Psychologen. Für 5000 Schüler steht nur ein Schulpsychologe zur Verfügung. ULRIKE PLEWNIA