Blutgrätsche Weltmeister-Krimis
grafit
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Alle Rechte vorbehalten. Druck und Bindearbeiten: Clausen & Bosse, Leck ISBN-13: 978-3-89425-314-1 ISBN-10: 3-89425-314-2
Deutschland im Fußballfieber. Die Spannung steigt, und zwar nicht nur auf den Plätzen, sondern auch im Umfeld der zwölf Stadien, in denen die Fußballweltmeisterschaft ausgetragen wird. Oliver Bottini, Horst Eckert, Roger M. Fiedler, Gunter Gerlach, Ralph Gerstenberg, Michael Illner, Andreas Izquierdo, Reinhard Junge, Tatjana Kruse, Krystyna Kuhn, Susanne Mischke, Theo Pointner und Jan Zweyer haben die Austragungsorte auf ihre jeweils ganz eigene Art auf WM-Tauglichkeit getestet. Das Ergebnis sind dreizehn vielfach tödliche Fouls. Dreizehn? Ja, denn eine Stadt hat schon die Qualifikation nicht geschafft… In Düsseldorf findet zwar kein WM-Spiel statt, die Rheinmetropole darf dennoch als Kulisse für die sicherlich brisanteste Story herhalten. Horst Eckert nimmt in der schwarzhumorigen Kurzgeschichte den rheinischen Klüngel in der Kommunalpolitik aufs Korn. Im März musste gar die Premierenlesung in der Düsseldorfer Stadtbibliothek aus politischen Gründen abgesetzt werden, da reale Kommunalpolitiker die kritischen Anspielungen auf die Begleitumstände beim Bau der LTU-Arena anprangern. Nicht nur für fußballbegeisterte Krimifreunde mit viel Humor!
Stadt: Düsseldorf Einwohner: 575.000 Nicht-Austragungsort: LTU-Arena Jahr der Einweihung: 2005 Zuletzt erfolgte Baumaßnahmen: Neubau Kosten: 218 Mio. WM-Sitzplätze: 0 Heimstatt von: Fortuna Düsseldorf Gründung: 1895 Mitglieder: 2.295 Einmal Deutscher Meister: 1933 Bemerkenswert: Die Aluminiumprofile der Fassade haben denselben Durchmesser wie ein Altbierglas.
Horst Eckert
Wege zum Ruhm Bis jetzt war alles nach Plan gelaufen. Die neue Rolle gefiel ihm: Rechtsanwalt Moritz Wagner, Bote des Oberbürgermeisters und Überbringer einer Kündigung, von der bald die ganze Landeshauptstadt sprechen würde. Doch als er vor der imposanten Glasfassade der neuen Multifunktionsarena aus seinem Benz stieg, glaubte Wagner, seinen Augen nicht trauen zu können. Vor den Eingängen hatten sich dubiose Gestalten zusammengerottet, ein paar Dutzend Muskelmänner, die sich in zwei Parteien feindselig belauerten. Kurzhaarschnitt, Springerstiefel, finstere Mienen – als würde jeden Moment ein Bandenkrieg losbrechen. Die Uniformen wiesen sie als Angestellte verschiedener Sicherheitsunternehmen aus. Die Chefs diskutierten lautstark. Im Hintergrund verteilten Handlanger Baseballschläger und
Eisenketten. Ein Kleinbus brachte weitere Männer zur Verstärkung. So weit war es also schon gekommen. Wagner schloss das Auto ab. Auf dem Weg zum Bürotrakt kam er sich vor wie bei einem Spießrutenlauf. Er zog den Kopf ein, klemmte die Mappe mit dem amtlichen Schreiben fest unter seinen Arm, schwenkte mit der Rechten den Personalausweis und rief den Leuten zu, dass er nur ein einfacher Ratsherr der Stadt Düsseldorf sei – unterwegs in neutraler Mission. Die eine Fraktion ließ es sich nicht nehmen, ihn trotzdem zu kontrollieren. Als auch die Gorillas des zweiten Trupps seinen Ausweis sehen wollten und die anderen ihnen das Recht dazu absprachen, kam es zur ersten Rangelei. Mit klopfendem Herzen schlüpfte Wagner durch die Tür. Auf dem Weg nach oben erinnerte er sich an die Pressekonferenz im letzten Monat, als die Eskalation eingeläutet worden war. Er hatte sie bewusst provoziert – ob er bis zuletzt die Kontrolle behalten würde, war ihm ungewiss. Jeder Schritt warf neue Probleme auf, stellte Herausforderungen, auf die ihn weder das Studium der Rechtswissenschaft noch seine zwanzigjährige Berufspraxis als Anwalt vorbereitet hatten. Aber er hatte Gefallen an dem Spiel gefunden. Seit dem Tag vor zwei Wochen…
»Und wir werden doch noch WM-Austragungsort«, hatte Oberbürgermeister Kroll ihm auf dem Weg zum Sitzungssaal zugeraunt. Der kleinwüchsige und kahlköpfige OB reckte siegesgewiss den Daumen nach oben, riss die Tür auf und schaltete beim Anblick der Medienmeute sein berüchtigtes Lächeln ein – jenes Zähnefletschen, welches untrüglich signalisierte, dass mit Dagobert Kroll nicht zu spaßen war.
Wagner bewunderte die Chuzpe des Stadtoberhaupts. Je kritischer die Situation, in die der Verwaltungschef sich und die Stadt manövrierte, desto unbeirrter ritt er seine Attacken gegen Kritiker – als gäbe es kein Gestern und kein Morgen. Kroll eilte zum Podium, packte die Mikrofone und bog sie zu sich herunter. Auf seiner Glatze schimmerte Schweiß. Wagner fand einen Platz in der letzten Reihe neben Astrid Cornelius, der Finanzdezernentin der Stadt, die sich das Schauspiel offenbar ebenfalls nicht entgehen lassen wollte. »Was meinen Sie?«, fragte sie leise. »Wird er den Tag überstehen?« »Keine Sorge«, antwortete Wagner. Er konnte sich zu den wenigen Beratern zählen, auf die der Verwaltungschef hörte, zumindest gelegentlich. Im letzten Herbst hatte Kroll ihn zum ersten Mal um Hilfe gebeten. Schon damals hatte die neue Arena im Norden der Stadt eine Rolle gespielt – rote Zahlen von Anfang an, Gerüchte um Schiebungen und Korruption, die immer wieder dementiert werden mussten. »Das Fernsehen ist auch da«, stellte die Finanzdezernentin fest und ordnete ihre kastanienbraune Frisur. »Weit mehr Presse als sonst. Wenn die Reporter aus Köln kommen, weiß ich schon, was die über uns berichten werden.« Wagner nickte. Nichts Gutes über die Landeshauptstadt und ihre Arena, die an der Stelle des alten Rheinstadions errichtet worden war. Gedacht als Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft – zumindest für einige Monate hätte dies die Betreibergesellschaft, an der die Stadt Anteile hielt, aus den roten Zahlen befördert. Und mit den Pachteinnahmen hätten die Kreditkosten bedient werden können, die der Bau aufgetürmt hatte. Zumindest ein Teil davon. Doch der Zug war längst abgefahren. Auch wenn Kroll notorisch Optimismus versprühte. Wir werden doch noch WMAustragungsort – Unsinn, wusste Wagner. Er war gespannt, ob
sich die auswärtigen Zeitungsleute einlullen lassen würden wie die lokalen Reporter, deren Chefs zu den Golfpartnern des OB zählten oder ihn aus politischen Gründen unterstützten. Cornelius rutschte auf ihrem Sitz hin und her wie ein Schulmädchen, das dringend zur Toilette musste. »Er wird doch nicht schon wieder ein Gutachten präsentieren?« »Doch. Klar, wie immer.« Auf dem Podium kam Kroll gerade zur Sache. Er rückte noch einmal die störrischen Mikrofone zurecht. Wie Wagner es ihm geraten hatte, ging der OB erst gar nicht auf die aktuellen Vorwürfe ein. Die neue Expertise prognostizierte wie die bisherigen eine ausreichend hohe Auslastung der Multifunktionsarena. Das neue Argument lautete, dass Düsseldorfs Fußballclub bei Heimspielen für die nötigen Zuschauermengen sorgen würde, obwohl die Fortuna nach wie vor in der Regionalliga kickte. Die Medienvertreter schienen das zu schlucken. Eins zu null für den Verwaltungschef. Als habe Kroll nicht vor Kurzem noch die drittklassigen Fußballspiele als Hindernis für echte Großevents bezeichnet – mit deren Ausbleiben musste Kroll die Hoffnungen der Stadt eben neu definieren. Und wer von den Pressefritzen ahnte schon, dass der Gutachter mit Krolls Schwester liiert war – der OB hatte höchstpersönlich den Inhalt diktiert. »Wie wirkt sich die Insolvenz des Baukonzerns Werner-Bau aus?«, fragte eine Rundfunktante und kam sich dabei kritisch vor. Wagner wusste, dass dieser Einwand das passende Stichwort für die Nachricht des Tages war. Werner-Bau hatte bislang die Mehrheit gehalten, sowohl an der Arena als auch an der Betreibergesellschaft. Der Konzern als Auftraggeber und ausführendes Unternehmen zugleich – dieser Umstand hatte das Kostenvolumen explodieren lassen, aber die Insolvenz des
maroden Bauriesen nicht verhindern können. Andere Firmen hätten vielleicht seriöser gearbeitet. Aber sie hatten Krolls Bedingungen nicht akzeptiert. »Gar nicht«, erwiderte der OB, ließ die Zähne blitzen und blickte sich triumphierend im Saal um. »Wir haben bereits einen Käufer für die Anteile von Werner-Bau. Es handelt sich um Flemming-Entertainment aus Wuppertal, ein Unternehmen, das auf dem Gebiet des Veranstaltungsmanagements einen tadellosen Ruf besitzt. Flemming wird die mehrheitlichen Anteile sowohl an der Arena als auch an der Betreibergesellschaft übernehmen und damit sämtliche Verbindlichkeiten. Gestern habe ich den Vertrag perfekt gemacht. Flemming wird die Arena ganz in unserem Sinn führen, ohne dass der Stadt irgendwelche Risiken entstehen.« Wagner lehnte sich zufrieden zurück. Die Pressekonferenz verlief nach Fahrplan. Die letzten Zweifel an der Zukunft der Arena schienen ausgeräumt. Wagner selbst hatte den Kontakt zu Flemming hergestellt, seinem alten Freund aus Schulzeiten. Das Zugeständnis an Flemming bestand in einer Stundung der Pacht für die ersten zwölf Monate. Die Stadt hatte ihm also die Arena für ein Jahr geschenkt. Aber das musste man der Öffentlichkeit nicht auf die Nase binden. Dass sich Flemming-Entertainment zuversichtlich gab, ab dem zweiten Jahr Gewinn zu erwirtschaften, hatte selbst Kroll erstaunt. Aber der OB war kein Mann, der sich lange mit Zweifeln aufhielt. Hauptsache, er und die Stadt waren aus dem Schneider. Wagner spürte noch immer einen leichten Kater vom Schampus, mit dem sie den Vertrag begossen hatten. Mit einem Taschentuch tupfte sich Kroll den Schweiß von der Glatze. Er bog die Mikros noch weiter nach unten und malte der Presse in leuchtenden Farben das Bild vom Weltniveau, auf das eine ausgebuchte Arena die Landeshauptstadt endgültig heben würde.
Doch dann kam er wieder mit seiner ominösen Ankündigung: »Außerdem gibt es konkrete Chancen, dass wir doch noch WM-Austragungsstadt werden.« Ein Raunen ging durch den Saal. Immer muss Kroll es übertreiben, dachte Wagner. Auch die Finanzdezernentin in ihrem grauen Hosenanzug wurde wieder nervös. Der Oberbürgermeister erklärte: »Sie wissen um das Hickhack in Hamburg. Die FIFA bleibt bei ihrer Ablehnung der AOL-Arena, denn AOL zählt bekanntlich nicht zu den FIFA-Sponsoren.« Wagner rieb sich die Augen. Er spürte, dass niemand Krolls Optimismus teilte. »Und falls es dort zu einer Lösung kommt, wie in Köln, wo der Name RheinEnergieStadion für die Zeit der WM gestrichen wird?«, fragte ein Reporter des Blitz. Kroll hörte nicht auf, seine Zähne zu zeigen. »Für diesen Fall hat mir Franz Beckenbauer persönlich einen Ausgleich in Form von Länderspielen zugesagt.« Wagner wandte den Blick ab. Er spürte, dass er die Show nicht länger ertrug, und fingerte eine Zigarette aus der Schachtel. Kroll spielte den letzten Trumpf aus. Mit leuchtenden Augen verkündete er: »Und im Dezember wird Paul McCartney mit seiner Band in der Arena auftreten. Flemming-Entertainment hat mir das zugesichert.« Wieder wurden die Zuhörer unruhig, diesmal jedoch aus staunendem Interesse. Finanzdezernentin Cornelius wusste es besser und stöhnte kurz auf. Wagner verließ den Saal. Noch während er das Rathausfoyer durchquerte, zündete er den Glimmstängel an. Er trat ins Freie, inhalierte tief und versuchte, sich zu entspannen. Düsseldorf hatte seinen Ausgleich für die entgangene Weltmeisterschaft längst vom DFB erhalten – das Match gegen
Argentinien zur Arena-Eröffnung und die Vorrunde des Ligapokals im letzten Jahr. Und Paul McCartney hatte einen Dumpingpreis ausgehandelt, um überhaupt in Düsseldorf aufzutreten. Es gab zu viele Arenen in dieser Region. Selbst bei ausverkaufter Spielstätte würde das Konzert ein Verlustgeschäft werden. Wagners Blick fiel auf das Reiterstandbild des Kurfürsten Johann Wilhelm, den die Düsseldorfer Jan Weilern nannten. Laut Sockelinschrift war die mächtige Bronzestatue ein Geschenk dankbarer Bürger. In Wirklichkeit hatte sie der Barockregent selbst in Auftrag gegeben und die Steuern erhöht, um die Kosten stemmen zu können. Eine Farce, dachte Wagner. Und OB Kroll war in der Lage, sie noch zu übertreffen. Nur gut, dass kein Außenstehender alle Machenschaften und Vertragsdetails rund um den Luxuskasten im Düsseldorfer Norden kannte. Wagner musste husten, trat die Zigarette aus und blickte den Medienleuten nach, die das Rathaus verließen. Die Pressekonferenz war vorüber. In diesem Moment schrillte Wagners Handy. Es war der Oberbürgermeister. »Du musst mir helfen«, bellte er. »Was ist los?« »Flemming rief gerade an. Er verlangt Einblick in die Bücher! Das müssen wir um jeden Preis verhindern, verstehst du?« Wagner verstand.
Kroll schnupperte am Cognac und ließ ihn im Glas kreisen. Es war bereits sein dritter. Der kleine Mann versank immer tiefer im Sessel. So hatte Wagner ihn noch nie erlebt. »Am liebsten
würde ich alles hinwerfen«, knurrte der OB leise. »Mich aus dem Staub machen. Brasilien wäre nicht schlecht.« Wagner beendete sein Telefonat und schlug die Gemeindeordnung auf. »Und dein Denkmal?«, erwiderte er. »Die Sockelinschrift der dankbaren Bürger?« »Wovon redest du?« »Hör zu, ich weiß einen Ausweg.« Doch Kroll schien sich nur noch für den Cognac zu interessieren, den er in seinen Schlund kippte. Wagner nahm ihm die Flasche weg und begann zu erklären. Die Stadt besaß das Vorkaufsrecht für sämtliche Anteile der Pleite gegangenen Werner-Bau an der Arena. Wenn sie das Recht wahrnahm, musste sich Flemming mit seiner Rolle als Mehrheitseigner der Betreibergesellschaft begnügen. Und ihr konnte die Stadt als Arenabesitzer im nächsten Schritt den Pachtvertrag kündigen. Einblick in die Bücher – das Thema wäre vom Tisch. »Und die Schulden?«, fragte der OB. »Wenn die Stadt den Mehrzweckklotz übernimmt, muss sie auch für die Baukosten gerade stehen. Die Beseitigung des einen Problems schafft nur ein noch größeres.« »Seit wann stört dich das?« »Unser Koalitionspartner wird das nicht mittragen. Allein kriegen wir das niemals durch.« Aber auch dafür wusste Wagner eine Lösung. Im Hauptausschuss genügten die Stimmen ihrer Partei für eine Mehrheit. Und bei großer Dringlichkeit durfte dieser Ausschuss entscheiden. Bis zur nächsten Ratssitzung würde die Verwaltung Fakten geschaffen haben, der Coup wäre bereits besiegelt. »Alles nur eine Frage des Timings«, sagte Wagner. Mit Schwung stellte Kroll sein leeres Glas ab. »Du bist ein Genie, mein Lieber.«
Auch eine solche Vertraulichkeit hatte der OB ihn noch nie spüren lassen. Wagner vermutete, dass es am Alkohol lag, dass der Verwaltungschef ihn nicht fragte, wie er die Dringlichkeit im Hauptausschuss begründen solle. Und wer statt FlemmingEntertainment die Arena pachten solle, ohne ebenfalls die Bücher studieren zu wollen. Doch er hatte Kroll unterschätzt. Die Zähne zeigend, griff der OB nach dem Telefonhörer und sagte zu Wagner: »Die DProjekt-GmbH wird unser neuer Betreiber. Der Direktor ist einer meiner Golfkumpel. Wir hätten das von Anfang an so machen sollen.« Jetzt war es an Wagner, dem OB Genialität zu attestieren. DProjekt war eine Tochter der Messegesellschaft, die wiederum von der Stadt kontrolliert wurde. Keiner würde Kroll in Zukunft in die Suppe spucken. Nicht die Stadt würde für künftige Verluste aufkommen müssen, sondern eine private Firma. Dass sie letztlich wiederum der öffentlichen Hand gehörte, stand auf einem anderen Blatt. Als Wagner das Büro verließ, war der OB bereits wieder ganz der Alte.
Am übernächsten Donnerstag trat turnusmäßig der Hauptausschuss zusammen. Schon am Morgen hatte sich ein sonniger, ungewöhnlich warmer Wochenausklang angedeutet und Wagners Frau hatte dem Anwalt mit Ideen für eine Gartenparty in den Ohren gelegen, während er in Gedanken die nötigen Schritte in Sachen Arena durchspielte – keine Muße für Freizeitplanung. Unmittelbar nach der Sitzung kutschierte Wagner die Finanzdezernentin zum Notar, um den Arena-Deal perfekt zu machen. Stille im Benz, keiner sagte ein Wort. Es hatte den erwarteten Eklat gegeben.
Wagner schaltete das Autoradio ein. Die Nachrichten machten mit dem Bruch der Düsseldorfer Ratskoalition auf. Die Partei des OB habe die anderen Fraktionen brüskiert und den Kauf der Sportstätten-Anteile durchgesetzt. Nun würde die Stadt auf dem Klotz sitzen und damit auf den Zinslasten, die ein Kredit in Höhe von 218 Millionen Euro nun einmal mit sich brachte. Bauträger Werner-Bau hatte nie eigenes Kapital aufgewandt. »Wann war Ihnen klar, dass es so weit kommen würde?«, wollte Astrid Cornelius wissen, als die Meldung gesendet war. Wagner fragte sich, wie ehrlich er seiner Beifahrerin gegenüber sein durfte. Die Finanzdezernentin war eine alte Parteifreundin. Aber was hieß das schon in Krisenzeiten? Cornelius antwortete selbst: »Ich ahnte es von Anfang an. Werner-Bau stand schon zu Planungsbeginn am Rand der Pleite. Wenn der OB nicht auf dem großen Schiebedach bestanden hätte, hätten uns ganz andere Optionen offen gestanden.« »Sie kennen den Satz vom Kind und dem Brunnen.« »Klar, jetzt lässt sich das nicht mehr rückgängig machen. Aber warum müssen wir Flemming-Entertainment kündigen, keine zwei Wochen nachdem wir den Pachtvertrag unterschrieben haben?« »Weil wir das gerade so beschlossen haben. Sie haben doch gehört, was der OB diesem Wuppertaler Unternehmen vorwirft. Unfähigkeit, Missmanagement…« »Ja, aber das wird teuer.« »Die Arenaverluste?« »Sowieso, davon rede ich gar nicht. Ich meine Flemming. Den kriegen wir nur gegen eine dicke Abfindung aus dem Vertrag.« Darüber hatte Wagner auch schon nachgedacht. Er fragte: »Haben Sie mit dem OB darüber gesprochen?«
»Über die Abfindung? Natürlich.« »Und wie weit würde die Stadt gehen?« Cornelius zögerte. Dann sagte sie: »Hm, ehrlich gesagt, habe ich seit einiger Zeit ein ungutes Gefühl.« »Inwiefern?« »Glauben Sie, dass Kroll noch der Richtige für unsere Stadt ist?« Flemming rein, Flemming raus. Vermeintliche Rettung, Katzenjammer und wieder Licht am Horizont. Kroll, der unverbesserliche Düssel-Napoleon, Hütchenspieler und Lichtgestalt zugleich – die Winkelzüge der letzten Wochen schwirrten Wagner durch den Kopf, als er einen Tag später den Stadtteil Stockum im Norden ansteuerte. In seiner Mappe das entscheidende Schreiben: Der Arenabesitzer kündigte dem Arenabetreiber. Für einen Moment dachte Wagner, wie schön es wäre, tatsächlich die Fußball-WM zu Gast zu haben. Er schalt sich einen Träumer und brachte seinen Mercedes vor dem Koloss aus Beton und Glas zum Stehen. Dann sah er die Bescherung. Wütende Schlägertrupps. Blaue Uniformen, Springerstiefel und finstere Mienen. Ein drohender Bandenkrieg. Jeden Moment würden die Kerle übereinander herfallen… Wagner war froh, als er endlich unbeschadet die Treppe des Bürotrakts emporsteigen konnte. Jürgen Flemming empfing ihn im Chefzimmer. Ein Kerl mit sonnigem Gemüt, auf rätselhafte Weise jung geblieben, vielleicht trieb Flemming Ausdauersport. Die Einrichtung des Raums war noch die gleiche wie zu Zeiten von Werner-Bau. Pläne an der Wand, ein Modell in der Vitrine. Rechner, Monitore, Faxgerät, Kopierer. Nichts hatte sich in den letzten Wochen verändert. Wagner legte den Aktenkoffer auf den Tisch, entnahm den Kündigungsbrief und fragte: »Was zum Teufel ist da unten los?«
Flemming machte ein sorgenvolles Gesicht und rieb sich den Schnurrbart. »Ich habe kein Vertrauen mehr zu FichteSecurity. Der Streit um die Unterlagen, verstehst du? Womöglich stehen die Fichte-Leute unter Krolls Einfluss und warten nur auf eine Gelegenheit, hier die Computer rausschleppen zu können. Ist doch möglich, oder?« »Kroll ist alles zuzutrauen.« »Eben. Deshalb habe ich neue Leute engagiert. Aber das Sportamt, das hier ein paar Büros gemietet hat, will sich weiter von der alten Mannschaft bewachen lassen. Fichte-Security gegen meine Leute, darauf läuft’s hinaus. Und hinter dem Sportamt steckt Kroll.« »Vielleicht kommt uns der Truppenaufmarsch sogar entgegen.« »Wie viel ist die Stadt bereit zu zahlen?« »Drei Millionen. Aber von mir weißt du das nicht.« Flemming lachte und las das Schreiben der Stadt. Er warf es zurück auf den Tisch. »Euer OB hält sich für den Sonnenkönig. Weißt du was? Auf dem Weg hierher fahre ich jedes Mal an einem Bauschild vorbei. Normalerweise heißt es da: Hier baut die Landeshauptstadt Düsseldorf und so weiter. Aber ihr schreibt auf eure Schilder: Hier baut der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Düsseldorf, Dagobert Kroll. Unglaublich, nicht wahr?« Wagner dachte wieder an die Sockelinschrift des JanWellem-Denkmals. »Drei Millionen also«, wiederholte Flemming. »Was meinst du?« Wagner deutete ein Kopfschütteln an. Die Stadt würde deutlich mehr lockermachen müssen. »Einige der alten Mitarbeiter haben übrigens geredet«, berichtete Flemming. »Und ich hab ein paar Unterlagen gefunden. Dateien im Rechner und so. Die Arena stinkt von
oben bis unten. Damit der Rahmen von 218 Millionen für die reinen Baukosten eingehalten werden konnte, musste die alte Betreibergesellschaft den kompletten Innenausbau auf ihre Kappe nehmen. Inklusive des sündhaft teuren Schiebedachs.« »Ich weiß.« »Es wird gemunkelt, dass sich an diesem speziellen Extra ein Planungsbüro gesundgestoßen hat, das einem Vetter eures famosen OB gehört. Die Anforderung für das Dach wurde von der Stadt so formuliert, dass zufällig nur dieses eine Büro infrage kam. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die verschwundenen Belege – wenn die auftauchten, wären sie ein gefundenes Fressen für jeden Korruptionsermittler. Weißt du was?« »Nein.« »Eigentlich gehört das Schiebedach jetzt mir. Was meinst du, wie viel es wert ist?« »Ich glaube nicht, dass du so argumentieren kannst.« »Arena, Baufirma, Stadt, Betreibergesellschaft – alles ist über weitere GmbHs miteinander verflochten. Gegen diese Konstruktion war das Imperium von Leo Kirch nur ein Spielzeugladen. Und kein Vorstand oder Verwaltungsrat, in dem euer Sonnenkönig nicht das Sagen hat. Von der Sparkasse bis zum Fußballclub.« Wagner zuckte mit den Schultern. Von unten schallten Rufe herauf. Flemming drängelte: »Mensch, Moritz, jetzt sag endlich: Wie viel an Abfindung ist für uns drin?« Der Lärm wurde lauter. Wagner öffnete die Tür und peilte die Lage. Er antwortete: »Setz auf Zeit, Jürgen. Pokere noch ein wenig. Das Potenzial der ganzen Farce ist noch nicht ausgereizt. Ich sage nur: die Medien. Spott und Häme gegen die Stadt. Die Eskalation des Wahnsinns.« »Was heißt das konkret?«
»Leg Einspruch gegen die Kündigung ein und kündige deinerseits dem Sportamt. Fristlos und unverzüglich. Und lass deine Gorillas endlich die von Fichte-Security rauswerfen.« »Rauswerfen?«, echote Flemming erstaunt. »Wegen Gefährdung der Sicherheit. Was Kroll kann, kannst du schon lange.« Flemming leckte sich die Lippen. »Du bist genial«, sagte er und griff zum Telefon. »Ich weiß«, antwortete Wagner. Das Blutbad auf dem Gelände der Multifunktionsarena war sogar der überregionalen Presse eine Meldung wert. Fünfundzwanzig Verletzte, einige davon schwer, darunter auch zwei Polizeibeamte, die zum Schlichten herbeigeeilt waren. Erst eine Hundertschaft Bereitschaftsbullen hatte die Schlägerei beenden können. Die Tagesthemen zeigten Bilder eingeschlagener Scheiben und von Blutpfützen auf dem Arenavorplatz sowie Aufnahmen aus dem Krankenhaus. Im O-Ton bezichtigte Jürgen Flemming den Düsseldorfer Oberbürgermeister des Vertragsbruchs. Während der folgenden Tage überschlugen sich die Medien mit Anschuldigungen gegen das »gescheiterte Renommierobjekt« und den »Größenwahn der Stadtverwaltung«. Es wurde eng für OB Kroll. Schließlich trat der Rat der Stadt zusammen. Im Unterschied zum Hauptausschuss besaß Krolls Partei hier nicht die Mehrheit. Erwartungsgemäß stimmte der bisherige Koalitionspartner mit der Opposition gegen den Kauf der Arena-Anteile. Doch der OB gab sich unbeeindruckt und erklärte den Beschluss kurzerhand für ungültig. Am nächsten Tag erwirkte er im Namen der Stadt vor Gericht eine einstweilige Verfügung gegen Flemming-Entertainment, wonach die Firma ihre Büros im Arenagebäude räumen
musste. Die Fronten verhärteten sich weiter – Wagner hatte mit nichts anderem gerechnet. Konzertveranstalter Flemming bestand auf Vertragserfüllung, drohte mit Prozessen sowie der Annullierung des PaulMcCartney-Auftritts. Er hatte erfahren, dass über seinen Vorgänger Werner-Bau Millionensummen an den Fußballclub Fortuna geflossen waren, um dem Regionalligisten auf die Beine zu helfen und ihn in die zweite Liga zu befördern. In weiteren Interviews zog Flemming daraus den Schluss, dass die Arena längst ein profitables Unternehmen wäre, wenn die alte Betreibergesellschaft das Geld vernünftiger investiert hätte. Natürlich war dies reine Spekulation, aber Flemming musste unvermindertes Interesse an der Veranstaltungsstätte demonstrieren, um die Abfindungsansprüche weiter hochzujubeln. Fast wäre er mit seinem Wissen um die SchiebedachSchiebungen zum Staatsanwalt gelaufen. Aber davon konnte Wagner ihn gerade noch abhalten. »Lass uns auf dem Teppich bleiben«, beschwor der Anwalt seinen Schulfreund. »Für die Wahrheit können wir uns nichts kaufen.«
Eine Woche später war das Büro im ersten Stock der Arena bis auf einen nackten Tisch leer geräumt. Kein Drucker, kein Kopierer, nicht einmal mehr das Telefon. Flemming und die Finanzdezernentin der Stadt Düsseldorf beugten sich über das mehrseitige Schriftstück und gingen die einzelnen Punkte der Abfindungsvereinbarung durch. Wagner blickte aus dem Fenster. Draußen luden Umzugspacker Möbel und Bürogeräte in große Lastwagen. Jürgen Flemming ließ alles nach Wuppertal schaffen, was nicht niet- und nagelfest war.
Schließlich setzten Cornelius und Flemming ihre Unterschrift unter das Dokument und besiegelten die Summe – das Zehnfache des ursprünglichen Angebots. Dreißig Millionen Euro. Ein Klacks im Vergleich zu dem, was hier fehlinvestiert und vermurkst worden ist, dachte Wagner und ließ seinen Blick hinüber zur benachbarten Messe schweifen, deren Tochterfirma nun für die Spielstätte zuständig sein würde. Ein Satz des Oberbürgermeisters ging ihm durch den Kopf: Wir hätten das von Anfang an so machen sollen. Wer weiß, wer dann abgesahnt hätte. Die Finanzdezernentin räusperte sich zum Zeichen, dass sie aufbrechen wollte. Wagner verabschiedete sich mit Handschlag und einem verstohlenen Augenzwinkern von seinem Freund. Für den Sommer hatten sie eine Segeltour verabredet – aber das brauchte in Düsseldorfs Politszene niemand zu erfahren. Flemming lächelte immer breiter. Als wolle er sie zusätzlich ärgern, fragte er die Dezernentin: »Stimmt es, dass Ihr Oberbürgermeister ganz plötzlich untergetaucht ist?« Cornelius verweigerte die Antwort. Wagner begleitete sie nach unten und bot ihr an, sie zurück zum Rathaus zu fahren. Er drehte den Zündschlüssel, mit dem Motor sprang das Radio an. Die Meldung, dass Kroll verschwunden war, hatte bereits in die WDR-Nachrichten gefunden. Noch beim ersten Satz beugte sich Cornelius vor und schaltete die Radioanlage aus. Als sie das Stadtzentrum erreichten, brach die Dezernentin das Schweigen. Sie zupfte ihr graues Jackett zurecht und sagte: »Auch wenn letztlich nicht alles hundertprozentig nach Wunsch verlief, sind wir Ihnen doch zu großem Dank verpflichtet, Herr Wagner.«
»Nicht der Rede wert, Frau Cornelius. Man hilft, wo man kann.« »Die Stadt ist aufgrund Ihrer Mithilfe diesen unseriösen Veranstaltungsmanager losgeworden, und das ist die Hauptsache. Düsseldorf kann es sich nicht leisten, den Ruf der Arena zu beschädigen.« Wagner stimmte seiner Beifahrerin zu. Er hielt vor einer roten Ampel, blickte einem Flugzeug hinterher, das am Himmel seine Bahn zog, und dachte an sein Konto in der Schweiz. Seine Hälfte, fünfzehn Millionen. Er hatte seinen Wuppertaler Kumpel nur deshalb in die Betreibergesellschaft geholt, weil er sich sicher gewesen war, dass der Vertrag platzen würde, sobald Flemming Einsicht in die Geschäftsunterlagen der Arena verlangte. Und die Abfindung zu teilen war sein Deal mit dem Schulfreund gewesen. Dass sie so hoch ausfallen würde, hatte Wagner damals nicht geahnt. Seine Beifahrerin fuhr fort: »Was die Partei allerdings maßlos ärgert, ist Krolls Verhalten. Verstehen Sie den Kerl?« »Nein.« »Ich habe mit seiner Frau telefoniert. Angeblich ist auch sie überrascht. Wussten Sie von Krolls Fluchtplänen?« »Er hat mal so etwas angedeutet, aber nie im Leben hätte ich gedacht, dass er es wahr macht.« »Damit lässt er sämtliche Gerüchte wieder aufleben. Wie kann er uns nur so im Stich lassen? Wohin ist er überhaupt geflohen?« »Brasilien, glaube ich.« Cornelius spielte nervös mit einem dicken Ring an ihrer Rechten. »Wird er damit nicht schlafende Hunde wecken? Das wirkt doch wie ein Schuldeingeständnis. Womöglich wird die
Staatsanwaltschaft Lunte riechen und sich für die Arena interessieren!« »Wohl kaum«, antwortete Wagner. »Die halbe Justizbehörde spielt Golf oder Tennis mit Kroll.« Die Dezernentin ließ ein grimmiges Lachen hören. Dann sagte sie: »Die Nachfolgefrage muss jedenfalls so rasch wie möglich geregelt werden.« »Klar.« »Wir haben an Sie gedacht, Herr Wagner.« »Bitte?« Hinter ihnen ertönte ein Hupen. Wagner nahm wahr, dass die Ampel auf Grün geschaltet hatte. Er beschleunigte. Sich am Lenkrad festhaltend, versuchte er, die Neuigkeit zu verdauen. »Ich muss mich erst mit meiner Frau beraten«, sagte er. »Natürlich.« »Und prüfen, wie ich das mit meiner Kanzlei vereinbaren kann.« »Wir sind uns sicher, dass Sie das hinkriegen, Herr Wagner.« Als sie ein paar Minuten später auf dem Kopfsteinpflaster des Marktplatzes hielten, fragte Cornelius: »Spielen Sie ebenfalls Golf? Ich meine… Sie wissen schon. Wie Kroll.« »Nein. Weder Golf noch Tennis.« Die Dezernentin nickte. »Sehr gut. In Zukunft muss unsere Stadt korrekt geführt werden. Keine Mauscheleien, keine Tricksereien. Angesichts der geplanten Großprojekte können wir uns das nicht leisten. Nicht einmal den Anschein davon.« »Das sehe ich genauso.« Sie gaben sich die Hände, fest und entschlossen. Cornelius stieg aus, trippelte am Reiterstandbild des Kurfürsten vorbei und winkte noch einmal, bevor sie im Rathaus verschwand. Moritz Wagner atmete tief durch und blinzelte Jan Weilern zu. Ein stolzer Regent auf hohem Ross. Und eine
Sockelinschrift, die vom Ruhm des Fürsten und der Dankbarkeit seiner Untertanen kündete. In diesem Moment schoss Wagner eine Vision durch den Kopf – seine erste Amtshandlung als Oberbürgermeister dieser großartigen Stadt: ein Anruf bei »Kaiser« Franz Beckenbauer, dem Chef des WM-Organisationskomitees. Wagner legte sich die Argumente zurecht: die Verkehrsanbindung, die Weltoffenheit der Bürger und die kostspieligste Spielstätte der gesamten Region. Der Zug war tatsächlich noch nicht abgefahren. Bis zum Beginn der Spiele ließ sich einiges bewegen. Die unvergessenen Worte seines Vorgängers: Und wir werden doch WM-Austragungsort.
Stadt: Nürnberg Einwohner: 496.000 Austragungsort: Franken-Stadion Jahr der Einweihung: 1928 Zuletzt erfolgte Baumaßnahmen: Umbau Kosten: 56 Mio. WM-Sitzplätze: 36.898 Heimstatt von: 1. FC Nürnberg Gründung: 04.05.1900 Mitglieder: 5.000 Neunmal Deutscher Meister: 1920, 1921, 1924, 1925, 1927, 1936, 1948, 1961, 1968 Bemerkenswert: ein tiefer gelegtes Spielfeld
Oliver Bottini
Die einzig wahre Geschichte Am Ende jubelten sie ihm wieder zu. Siebzig Minuten lang hatte er vergeblich versucht, ins Spiel zu kommen. Hatte Fehlpässe produziert, die Stürmer zu früh geschickt, zu lang gewartet. Er hatte geschrien, geflucht, sich mit dem Schiedsrichter angelegt, die gelbe Karte kassiert. Kurz vor dem Platzverweis gestanden. Dann war ihm der grandiose Pass gelungen, der zum Ausgleich führte. Das zweite Tor schoss er selbst. El Alemán war zurück. Brachte seine Mannschaft ins Achtelfinale. Auf der Pressekonferenz wurde kaum über den Spielverlauf geredet. Die deutschen Journalisten fragten, ob er etwas von Nürnberg gesehen habe. Ob er schon Nürnberger Bratwürste gegessen habe. Ob er sich Nürnberg verbunden fühle. Wie ist es für Sie, in der Stadt Ihres Großvaters zu spielen? Ob er sich
vorstellen könne, nach Deutschland zu wechseln, vielleicht für den 1. FC Nürnberg zu spielen. Den Club. Ja, ja, nach Nürnberg, sagte er, warum nicht, und die deutschen Journalisten lachten zufrieden. Die Journalisten aus der Heimat fragten, was in der siebzigsten Minute geschehen sei. Was war da, Alemán? Siebzig Minuten lang stehen dir zwei riesige Afrikaner auf den Füßen und man hat Angst um dich, um deine Gesundheit, und dann gelingt dir plötzlich dieser Zauberpass, du drehst das Spiel. Was ist da passiert mit dir, in der siebzigsten Minute, Alemán? Was da passiert war? Er hatte keine Ahnung. Nichts war passiert, was sollte passiert sein? Er wollte gerade antworten, da sagte der Trainer, er ist eben ein Kämpfer, er hat die Afrikaner niedergekämpft. El Alemán nickte und dachte, ja, er war ein Kämpfer, er stammte aus einer Familie von Kämpfern. Sein Großvater hatte gegen die Nazis gekämpft, bis er fliehen musste. Sein Vater hatte gegen die Kommunisten gekämpft, bis sie ihn ins Gefängnis warfen. Und er, er kämpfte auf dem Platz. Er stammte aus einer Familie von Kämpfern und gab nie auf. In der siebzigsten Minute hatte er den Kampf gegen die Afrikaner gewonnen, das war passiert. Werden wir jetzt Weltmeister?, fragten die Journalisten aus der Heimat. Ja, ja, sagte er, natürlich werden wir jetzt Weltmeister. Und Deutschland?, fragten die deutschen Journalisten. Die haben auch eine gute Mannschaft, sagte er, die könnten auch Weltmeister werden. Und Brasilien?, rief einer. Ach die, sagte er. Na ja. Die auch. Aber diesmal nicht. Diesmal werden wir Weltmeister. Das reicht jetzt, sagte der Trainer, el Alemán muss ins Bett, wie der gekämpft hat, das kostet Kraft, der braucht seinen Schlaf. Jemand rief, kein Ausflug heute Nacht, Alemán? Er erwiderte, was für ein Ausflug, nein, nein, kein Ausflug, seid
ihr verrückt, ich brauch meinen Schlaf, und der Trainer sagte scherzhaft, der wird sich hüten, der weiß schon, was gut ist für ihn, das weißt du doch, Alemán, oder? Alle lachten und er lachte mit, das wusste er allerdings, und Schlaf gehörte nicht dazu. Die Nacht gehörte dazu, Abenteuer, Frauen, so war er nun einmal, el Alemán, gerade bei Turnieren, wenn sie über Wochen eingesperrt waren, in der Nacht holte er sich die Lust und die Kraft, um auf dem Platz zu kämpfen. In einem Buch über ihn stand, so wie Matrosen in jeder Hafenstadt eine Frau hätten, so habe el Alemán in jeder Fußballstadt eine Frau, und das, dachte er auf der Fahrt ins Mannschaftshotel voller Vorfreude, galt bald auch für diese Stadt, für Nürnberg. Jekaterina, sang er, als er um Mitternacht vor dem Spiegel stand, schöne blonde Jekaterina, Jekaterina aus Nürnberg, schöne deutsche Jekaterina. Jekaterina, sagte Fernando, mit dem er das Zimmer teilte, ist das überhaupt ein deutscher Name, das ist doch kein deutscher Name. Jekaterina, sang er, schöne blonde Jekaterina, ist das ein deutscher Na-a-me? Er wartete noch eine Stunde, dann zog er sich den Schirm der Baseballkappe in die Stirn, schlich durch die leeren Gänge ins Treppenhaus, lief hinunter. Vor dem Personaleingang begegnete er einem Angestellten, der ihn erkannte und ehrfürchtig lächelnd stehen blieb. Er erwiderte das Lächeln. Eines hatte er früh begriffen: Er tat das, was er tat, auch für andere. Er war eine Art Stellvertreter. Für die Armen, die Einsamen, die Normalen. Die Menschen, die nicht so ein Leben führen konnten wie er, nicht so reich, nicht so berühmt, nicht so schön waren wie er. Er lebte, was sie nicht leben konnten. Sie kamen mit, wohin er auch ging. Er dachte, dass Stellvertreter nicht das richtige Wort war. Er war erst dreiundzwanzig und es gab schon Bücher über ihn, da war Stellvertreter das falsche Wort. Er war ein Idol. Ein Idol, das durch den Personaleingang verschwand.
Lachend trat er ins Freie. Während er zur Straße lief, dachte er wieder an Jekaterina. Sie hatte ihm Briefe geschrieben, ein kleines schwarz-weißes Foto geschickt. Ich muss Sie in Nürnberg treffen, Enrique, hatte sie auf Englisch geschrieben, ich muss Sie unbedingt treffen, es gibt nichts, das für mich wichtiger ist, als Sie kennen zu lernen. Er hatte das Foto den Mitspielern aus dem Verein gezeigt. Hatte es in seinen Spind gehängt. Macht’s Maul zu, hatte er zu den Mitspielern gesagt. Schöne blonde Jekaterina. Sogar seinem Großvater, der alt und schweigend im Rollstuhl saß, hatte er das Foto von Jekaterina gezeigt. Aber die Frau, die an der Straße gewartet hatte und nun auf ihn zukam, war nicht die Frau auf dem Foto. Sie war nicht blond, sie war nicht schön und sie war mindestens zehn Jahre älter als er. Wut ergriff ihn, so plötzlich wie manchmal auf dem Platz. Dies war nicht Jekaterina. Ich bringe Sie zu ihr, Enrique, sagte die Frau auf Englisch, zu Jekaterina. Aber wo ist sie?, fragte er wütend. Sie wartet in der Nähe auf Sie, sagte die Frau. Und sie kann nicht selbst kommen, um mich abzuholen? Nein, sagte die Frau, das kann sie leider nicht. Jekaterina, schöne blonde Jekaterina, dachte er wütend, als er in das kleine, schmutzige Auto der Frau einstieg. Während der Fahrt sprachen sie nicht. Seine Wut ließ so rasch nach, wie sie gekommen war. Dies war nicht Jekaterina, dachte er, aber es war Nacht und er hatte sein Abenteuer, er fuhr in einem fremden Land mit einer fremden Frau durch eine fremde Stadt, und am Ende der Fahrt würde er die schöne blonde Jekaterina sehen, in Farbe und in Echt, dachte er und lächelte. Um sie herum glitzerten die Lichter der Stadt seines Großvaters. Er sah andere Schwarz-Weiß-Fotos vor sich, die sechzig, siebzig Jahre alt waren, das Nürnberg der Nazis zeigten, das Nürnberg vor dem Krieg, im Krieg, nach dem
Krieg, das zerstörte Nürnberg. Auch das Stadion, in dem er heute gespielt hatte, war auf einem der Fotos seines Großvaters abgebildet. Das Foto war aus der Luft aufgenommen worden, man sah das alte Stadion von oben und viele Kinder und Jugendliche in Uniform, und irgendwo in der Masse, hatte sein Großvater gesagt, sei er selbst als Siebzehnjähriger. Sie waren jetzt in der Altstadt, hielten in einer Straße mit Pflastersteinen. Kommen Sie, Enrique, sagte die Frau und stieg aus und lief in eine dunkle Gasse hinein. Zögernd folgte er ihr. Das laute Klacken ihrer Schritte auf den Pflastersteinen hallte von den Häuserwänden wider. Sie überholten andere Fußgänger, kamen an Kneipen und Lokalen vorbei, aus denen Stimmen und Gelächter nach draußen drangen. In der Ferne hörte er Fan-Gesänge, olé, olé, olé-olé, riefen die Fans, dann riefen sie den Namen seines Landes, dann seinen Namen. Alemán!, riefen sie lauthals, viva el Alemán! Er lachte. Plötzlich war die Stadt nicht mehr fremd. Er schloss zu der Frau auf. Also, wo ist Jekaterina jetzt?, fragte er. Wohin gehen wir? Gleich, sagte die Frau, ohne sich umzudrehen, gleich, Enrique. An der nächsten Kreuzung blieb sie stehen. Sie befanden sich direkt unterhalb einer Burganlage und er dachte, dass dies vielleicht die Burg war, von der sein Großvater erzählt hatte, eine rötliche Burg, die tausend Jahre alt und vom Wohnzimmer seines Großvaters aus in der Ferne zu sehen gewesen war. Er wandte sich der Frau zu. Aber Jekaterina, sagte er, verdammt, wo ist sie, wann treffen wir sie endlich? Gleich, erwiderte die Frau, haben Sie noch einen Moment Geduld, Enrique, bitte. Die Rufe der Fans waren lauter geworden, sie riefen seinen Namen und sein Name hallte von den Wänden der eng beieinander stehenden Häuser wider: Alemán! Viva el Alemán! Sehen Sie dieses Haus, Enrique?, fragte die Frau und deutete auf das Haus, vor dem sie standen und an dessen Ecke
zwei Meter über der Straße eine Skulptur angebracht war, die Madonna mit dem Kind. Er sagte nichts. Natürlich sah er dieses Haus. Hier hat Ernst Willstein gelebt, sagte die Frau und blickte ihn an. Er schüttelte den Kopf, er wusste, wo sein Großvater gelebt hatte, nicht hier, nicht in der Stadt, sein Großvater hatte außerhalb der Stadt gewohnt, sonst hätte er die Burg nicht in der Ferne gesehen, und außerdem, was hatte das alles mit Jekaterina zu tun? Die Wut flammte wieder auf. Sie bringen mich jetzt zu Jekaterina, sagte er schroff, oder ich verschwinde, klar? Die Frau zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück. Nicht Ihr Großvater, Enrique, sagte sie, Ihr Großvater hat außerhalb der Stadt gelebt, nein, hier hat Ernst Willstein… Aber Ernst Willstein ist mein Großvater, rief er. Die Frau schüttelte zaghaft den Kopf. Nein, sein Großvater habe diesen Namen in den letzten Tagen des Krieges angenommen, warum ausgerechnet diesen, wisse sie nicht, vielleicht weil Ernst Willstein zu diesem Zeitpunkt als vermisst gegolten habe, jedenfalls sei Ernst Willstein nicht der richtige Name seines Großvaters, der heiße in Wirklichkeit Heinrich Boden… Er trat einen Schritt auf sie zu und hob vor Wut die Hand, er hatte Lust, die Frau zu schlagen, aber dann tat er es nicht, sagte nur, was erzählen Sie da? Und was hat das alles mit Jekaterina zu tun? Wo ist Jekaterina? Plötzlich begriff er. Jekaterina existierte überhaupt nicht. Die Frau hatte sie erfunden. Er ließ die Hand sinken. Es gibt sie gar nicht, was?, sagte er. Wieder schüttelte die Frau den Kopf, nein, nein, ich meine, doch, stammelte sie, natürlich gibt es sie, ich bringe Sie jetzt zu ihr. Er begann zu lachen. Das war doch alles zu verrückt. Da stand er mit einer fremden Frau in einer fremden Stadt in einem fremden Land und schaffte es nicht, endlich zu Jekaterina zu kommen, obwohl die Frau dauernd sagte, sie bringe ihn gleich zu ihr. Schöne blonde Jekaterina, vielleicht
gibt es dich ja gar nicht. Er zog das Schwarz-Weiß-Foto aus der Tasche. Ein kleines Foto, und weil der ganze Körper darauf hatte passen müssen, war nicht wirklich viel zu erkennen, nur dass die Haare Jekaterinas wohl sehr blond waren und ihr Gesicht sehr, sehr schön und ihr Körper sehr weiblich. Sie hatte etwas Altmodisches an sich, wie sie sich kleidete, wie sie die Haare zu Zöpfen geflochten hatte. Das Altmodische gefiel ihm besonders. Er hielt der Frau das Foto hin. Es gibt sie gar nicht, oder?, wiederholte er. Doch, doch, murmelte die Frau, während sie auf das Foto starrte, ich bringe Sie jetzt zu ihr. In diesem Moment traten die Fans einige Meter entfernt aus einer Gasse, fünf, sechs fröhliche, betrunkene Landsleute mit in den Landesfarben bemalten Gesichtern und Bierflaschen in der Hand. Einer erkannte ihn, zeigte auf ihn und rief seinen Namen. Alle blieben stehen. Alemán!, riefen sie und torkelten begeistert auf ihn zu. Er sah, dass die Frau erschrak, und dann ergriff sie ihn am Arm und zog ihn in eine Seitengasse. Kommen Sie, Enrique, flüsterte sie, es ist so wichtig, bitte, bitte kommen Sie. Sie liefen die Gasse hinauf, bogen erneut ab, dann noch einmal. Er lachte laut auf. Da hatte er sein Abenteuer. Rannte mit einer nicht mehr jungen, nicht sehr hübschen Frau durch diese dunkle, alte Stadt. Die Rufe der Fans, das hallende Getrappel ihrer Schritte verfolgten sie, kamen näher, weil die Frau nicht sehr schnell laufen konnte, nicht einmal das. Aber dann hatten sie ihr Auto erreicht, sprangen hinein, fuhren los. Alemán!, hörte er die Fans schreien, Alemán, ein Bier, trink ein Bier mit uns! Wieder sprachen sie nicht, während sie fuhren. Die Frau war noch immer sehr nervös, und so fuhr sie auch, hastig und nervös, und sie blickte immer wieder in den Rückspiegel, als wäre ein Mörder oder sonst wer hinter ihnen her. Sie passierten ein Stadttor, verließen die Innenstadt. Mittlerweile mochte es zwei Uhr sein und es herrschte kaum noch Verkehr. Heinrich
Boden, ging es ihm durch den Kopf, was denkt die sich da aus, so ein Unsinn, und falls es doch stimmte, war es auch egal. Im Krieg war vieles notwendig, das man im Frieden nicht tat, und vielleicht hatte sein Großvater es für notwendig gehalten, sich einen anderen Namen zu geben, um aus dem Land der Nazis fliehen zu können. Es war eben notwendig, klar?, sagte er zu der Frau, aber sie warf ihm nur einen kurzen Blick zu und erwiderte nichts. Er überlegte, ob sie ihn jetzt wirklich zu Jekaterina brachte, falls es sie gab, und was er tun sollte, falls es sie nicht gab. Was die Frau dann mit ihm vorhatte. Wollte sie ihn entführen? Brachte sie ihn irgendwohin, wo andere warteten, mit deren Hilfe sie ihn entführen wollte? Sein Verein hatte ihn vergangenes Jahr für sechzig Millionen Dollar gekauft, er war einiges wert, man konnte schon etwas verlangen, wenn man das Idol Alemán entführte. Aber er glaubte es nicht. Diese Frau entführte niemanden, dazu war sie viel zu nervös und verängstigt. Sie kamen an einem lang gezogenen Gebäude aus hellem Stein vorbei, einer Art Mauer mit einem Turm in der Mitte. Er erinnerte sich, dass er auch im Mannschaftsbus an der Mauer aus hellem Stein vorbeigekommen war, als sie zum Training und zum Spiel gebracht worden waren. Irgendwo rechts hinter der Mauer lag das Stadion. Fuhren sie dorthin? Trotz der Dunkelheit sah er jetzt die Flutlichtmasten des Stadions, doch die Frau bog nicht nach rechts ab, sondern fuhr geradeaus und bog dann nach links ab. Gleich, Enrique, murmelte sie, gleich. Ja, ja, sagte er, ich weiß, was das heißt, das heißt nie, gleich heißt bei Ihnen nie, das hab ich inzwischen kapiert. Kurz darauf hielten sie. Links von ihnen war ein Schild mit der Aufschrift 1. FC Nürnberg zu sehen, rechts von ihnen begann ein Wald, in den ein breiter Weg führte. Wir müssen jetzt ein Stück durch diesen Wald, sagte die Frau, den Lorenzer Reichswald, wir gehen durch diesen Wald zu einer Wiese und
dort wartet Jekaterina. Durch den Wald!, rief er überrascht. Ja, sagte die Frau, bitte vertrauen Sie mir, es wird Ihnen nichts geschehen, gar nichts. Später bringe ich Sie zum Hotel zurück, aber vorher müssen Sie mich bitte zu Jekaterina begleiten, das ist sehr, sehr wichtig. Und auf der Wiese wartet Jekaterina?, fragte er. Ja, sagte die Frau. Er schüttelte den Kopf, das war doch alles zu verrückt, diese Frau war eine Verrückte. Sie sind doch verrückt, sagte er, wahrscheinlich sind Sie selbst in Wirklichkeit Jekaterina. Die Wut war wieder da und er stellte sich für einen Moment vor, was er mit der Frau machen würde, falls sie ihn belogen hatte, selbst wenn sie zehn Jahre älter war als er und nicht besonders hübsch. Die Frau schüttelte den Kopf und sagte, nein, nein, ich heiße Elena, ich bin Elena. Na schön, entgegnete er, aber was soll das mit Jekaterina, ist das überhaupt ein deutscher Name, das ist doch kein deutscher Name. Es ist ein russischer Name, erwiderte die Frau, wie mein Name, wie Elena. Dann sind Sie und Jekaterina Russinnen? Ja, das sind wir, sagte Elena. Er lachte auf. Schöne blonde Jekaterina, dachte er, schöne russische Jekaterina, war das verrückt. Ich nenne sie Katjuscha, sagte Elena, das ist ein Kosename für Jekaterina. Katjuscha, dachte er. Das gefiel ihm. Das passte zu dem altmodischen, schönen Mädchen auf der Schwarz-Weiß-Fotografie. Wie schwer es ist, zu dir zu kommen, Katjuscha, dachte er, hoffentlich lohnt es sich. Von mir aus, sagte er, gehen wir eben durch den Wald. Danke, Enrique, sagte Elena, und er hörte an ihrer Stimme, dass sie sich freute. Sie folgten dem Weg ein paar Minuten lang. Es war vollkommen dunkel, Laternen gab es nicht in diesem Wald. Sie gingen dicht nebeneinander und er spürte, dass Elena immer ruhiger wurde, je näher sie dem Ziel kamen. Er dagegen wurde nun doch nervös, er war Fußballspieler, er war Spielfelder und Stadien gewöhnt, keine Wälder, er liebte die
Offenheit, die Weite eines Spielfeldes, Wälder liebte er nicht so sehr. Vielleicht ahnte Elena, dass er nervös geworden war, jedenfalls nahm sie seine Hand, und das war ihm nicht unangenehm, eine Frau blieb eine Frau, zumal in der Dunkelheit. Und, ist es noch weit?, fragte er ein paar Minuten später. Nein, wir sind gleich da, da vorne ist es, sehen Sie, da, wo es heller wird. Tatsächlich wurde es etwa hundert Meter vor ihnen ein wenig heller, als endete der Wald dort. Seine Nervosität war mit einem Schlag verflogen und er entzog Elena seine Hand, nur für den Fall, dass die schöne blonde Jekaterina tatsächlich dort vorn wartete. Haben Sie das Spiel gestern Abend gesehen?, fragte er voller Vorfreude. Ja, im Fernsehen, erwiderte Elena, aber ich verstehe nicht viel von Fußball. Ich glaube, erst waren Sie nicht so gut und am Ende waren Sie dann sehr gut, kann man das so sagen? Nein, brummte er, das kann man nicht so sagen, haben Sie denn nicht gesehen, dass mir siebzig Minuten lang zwei riesige Afrikaner auf den Füßen standen? Siebzig Minuten lang musste ich gegen diese riesigen Kerle kämpfen, dann hatte ich sie zermürbt und konnte endlich das Spiel an mich ziehen, vorher war das unmöglich, mit diesen Kerlen auf den Füßen. Oh, sagte Elena, sehen Sie, das habe ich nicht bemerkt, ich verstehe eben sehr wenig von Fußball. Ja, brummte er, das ist allerdings richtig. Vor ihnen öffnete sich eine von Gras bewachsene, vom Mondlicht beschienene Fläche. Sie mochte zwei, drei Spielfelder groß sein, schätzte er. Der Weg führte geradeaus über die Wiese. Zu sehen war niemand. Ein paar Meter weiter blieb Elena stehen und er blieb ebenfalls stehen. Wir sind jetzt da, Enrique, sagte sie sehr ruhig, danke, dass Sie mit mir hierher gekommen sind, hier wartet Katjuscha auf Sie. Sie können sie nicht sehen, aber sie ist hier. Sie ist hier und ich
kann sie nicht sehen, wiederholte er, aber wenn er ehrlich war, dann war er nicht besonders überrascht, mit so etwas hatte er wohl rechnen müssen. Elena nickte. Hier wurde sie zum letzten Mal lebend gesehen, sagte sie, das war vor vierundsechzig Jahren, sie wurde vor vierundsechzig Jahren von hier aus in ein Konzentrationslager gebracht, aber ich habe nicht herausfinden können, in welches. Sie ist nie irgendwo angekommen, Enrique, als wäre sie unterwegs einfach verschwunden, sie steht auf keiner Insassenliste, als hätte sie hier noch existiert und wenige Stunden später nicht mehr. Er sagte eine Weile nichts, dann sagte er, vor vierundsechzig Jahren? Ja, Enrique, sagte Elena, sie war meine Großmutter, Katjuscha war meine Großmutter. Ihre Großmutter, wiederholte er. Dann sagte er, und das Foto, das ist wirklich Jekaterina, aber vor vierundsechzig Jahren? Sie nickte erneut. Er lachte wütend, Jekaterina, die schöne blonde Jekaterina war seit vierundsechzig Jahren tot, er hatte sich von einer Verrückten mit einem vierundsechzig Jahre alten Foto narren lassen, das war ja eine schöne Pleite. Bitte lachen Sie nicht, Enrique, murmelte Elena. Natürlich lache ich, entgegnete er wütend, das ist doch alles wirklich zum Lachen. Es war zum Lachen, zugleich war es, dachte er, wirklich eine Pleite, was sollte er jetzt Fernando erzählen, wie sollte er dem Hotelangestellten unter die Augen treten, für den er ein Idol war? Und was sagte er seinen Vereinskameraden in der Heimat, die genau wie er auf ein vierundsechzig Jahre altes Foto hereingefallen waren? Was für eine Pleite, dachte er und dann rief er, und was soll das alles, was hat das mit mir zu tun, was willst du von mir, du… Bitte beruhigen Sie sich, Enrique, sagte Elena und hob die Hände schützend vor die Brust, ich erzähle Ihnen alles, dann werden Sie verstehen, es ist so wichtig für mich, dass Sie verstehen. Sie sagte, dass diese Wiese ›Russenwiese‹ genannt
werde, weil hier während des Krieges eintausendsechshundert russische Zwangsarbeiter in einem Zeltlager gelebt hatten, und dass Jekaterina eine von ihnen gewesen sei, und einmal, 1942, hätten sich mehr als zweihundert Gefangene mit Hahnenfußpflanzen eingerieben, um eine ansteckende Krankheit vorzutäuschen, die Roscha-Krankheit, damit sie nicht mehr arbeiten müssten und vielleicht nach Hause geschickt würden, nach Russland. Sie hatten eitrige Geschwüre, und deshalb glaubten die Deutschen tatsächlich, dass sie krank wären, und verhängten eine Quarantäne über das Lager und desinfizierten alles. Aber dann kam doch heraus, dass die Krankheit nur vorgetäuscht war, und zur Strafe ließen der Leiter des Lagers und die Gestapo fünf Männer vor den Augen ihrer Landsleute hängen und alle anderen Männer und fünf Frauen in Konzentrationslager bringen, und eine dieser fünf Frauen war Katjuscha, die aber nie in irgendeinem Konzentrationslager eingetroffen war, als hätte sie hier noch existiert und wenige Stunden später nicht mehr, als… Na und?, fiel er ihr ins Wort, was soll das alles, ich verstehe überhaupt nichts, was hab ich mit dieser Geschichte zu tun, was für eine verrückte Geschichte, was für eine Pleite, Sie bringen mich jetzt sofort in die Stadt zurück, klar? Er trat einen Schritt vor, stieß die Frau gegen die Brust. Sie hob wieder die Hände und sagte, gleich, Enrique, gleich fahre ich Sie zurück, hören Sie mir noch eine Minute zu, und dann begann sie, von seinem Großvater zu sprechen, und er lachte wütend, weil er irgendwie fast damit gerechnet hatte, dass sie wieder mit seinem Großvater anfangen würde. Sein Großvater, sagte sie, sei der Lagerleiter gewesen und habe die Hinrichtungen und die Verschickung in die Konzentrationslager angeordnet, er sei damals noch ein junger Mann gewesen, Anfang zwanzig. Sehr jung schon sehr weit oben, erst Fähnleinführer in der Hitlerjugend, später Leiter des Gefangenenlagers, und als
Leiter des Lagers habe er die Hinrichtungen und die Verschickung angeordnet, und das war die Geschichte. Er starrte sie wortlos an. Das also war die Geschichte, Jekaterinas Geschichte, was für eine Pleite. Die Wut war verflogen, er wollte jetzt nur noch weg, weg von der Wiese und dieser Verrückten, weg von dieser verrückten Lügengeschichte. Den Kopf schüttelnd, zerrte er das Foto aus der Hosentasche, zerknüllte es, warf es Elena vor die Füße, und als sie sich bückte, um es aufzuheben, wandte er sich ab und ging zurück Richtung Wald. Elena rief, bitte warten Sie, Enrique, und er hörte, dass sie ihm nachlief, bitte, Enrique, sagte sie, aber er schnitt ihr das Wort ab, sagte, Mensch, halt bloß das Maul, nicht noch mehr von diesen verrückten Geschichten. Und wenn schon, brüllte er dann, und wenn das alles stimmt, es ist mir egal, es hat nichts mit mir zu tun, es ist Vergangenheit, und wenn schon! Bitte, rief Elena, Sie müssen diese Geschichte erzählen, Enrique, Sie sind doch so berühmt, Sie müssen sie erzählen, damit sie nicht vergessen wird und damit mir jemand sagt, wo Katjuscha geblieben ist. Ach, halt endlich das Maul, sagte er wieder und blieb abrupt Stehen, weil die Lust, sie zu schlagen, übermächtig geworden war. Doch Elena sah an ihm vorbei Richtung Wald und sagte, da ist jemand, wer sind Sie? Plötzlich waren sie von mehreren Männern umringt und Elena schrie kurz auf, aber es waren nur die Fans, die ihnen gefolgt sein mussten, und er rief den Fans zu, kommt, feiern wir, trinken wir ein Bier, trinkt ein Bier mit el Alemán! Die Fans antworteten nicht und jetzt wurde ihm bewusst, dass sie auch gar nicht mehr gesungen oder seinen Namen gerufen hatten. In diesem Moment griffen mehrere Hände nach seinen Armen und zogen ihn Richtung Wald. Er wollte sich wehren, doch dann sah ihn einer der beiden Männer, die ihn fortzogen, an, und er erkannte unter der Gesichtsbemalung einen der Leibwächter seines Großvaters
und auch den anderen Mann hatte er im Haus seines Großvaters schon öfter gesehen. Komm, Enrique, wir müssen hier weg, sagte der Leibwächter seines Großvaters auf Spanisch und die beiden Männer begannen zu rennen, und er nickte und rannte mit ihnen. Unmittelbar bevor sie den Wald erreichten, hörte er einen hohen Schrei, dann noch einen. Er drehte sich im Laufen um und sah, dass Elena reglos auf dem Weg lag. Sonst war niemand mehr da. Nicht umdrehen, Enrique, sagte der Leibwächter seines Großvaters, und er nickte wieder und sah nach vorn in die Dunkelheit.
Drei Tage später fand in einer anderen Stadt in einem anderen Teil Deutschlands das letzte Gruppenspiel statt, und weil der Sieger Gruppenerster werden würde, wollten sie das Spiel unbedingt gewinnen. El Alemán trieb seine Mannschaft zu einem hohen Sieg, bereitete das erste Tor vor und schoss das dritte und das vierte selbst. Das eine für seinen Großvater, sagte er hinterher einem Journalisten ins Mikrofon, genauso wie das andere, denn alle seine Tore, rief er, schieße er für ihn, den Großvater, der in diesem Land gegen die Nazis gekämpft habe, bis er habe fliehen müssen, und für ihn, rief er, für den Großvater, werde er nun auch Weltmeister, und dies sei die wahre Geschichte, die einzige Geschichte.
Die Informationen über die so genannte »Russenwiese« stammen aus Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des »Ausländer-Einsatzes« in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches. Verlag J. H. W. Dietz Nachf. Bonn 1985, S. 300.
Stadt: Leipzig Einwohner: 498.000 Austragungsort: Zentralstadion Jahr der Einweihung: 2005 Zuletzt erfolgte Baumaßnahmen: Neubau Kosten: 90,6 Mio. WM-Sitzplätze: 38.898 Heimstatt von: 1. FC Sachsen Leipzig 1990 Gründung: 01.08.1990 Mitglieder: 859 Zweimal DDR-Meister: 1951, 1954 Bemerkenswert: In Leipzig wurde 1900 der Deutsche Fußball-Bund gegründet und Leipzig stellte den ersten Deutschen Meister.
Ralph Gerstenberg
Leipziger Ballerei »Deutschland! Deutschland!«-Sprechchöre hallten durch den Leipziger Hauptbahnhof. Fahnen wurden geschwenkt, Trommeln geschlagen. Einer der Hooligans, die in Wittenberg zugestiegen waren, bekam einen Stoß in den Rücken und knallte mit einer Bierflasche in der Hand auf den Bahnsteig. Veronika Kneist kreischte auf, als Glassplitter und Bier gegen ihre nackten Beine spritzten. »Lassen Sie mich los!«, schrie sie, als der gestrauchelte Fußballanhänger grinsend nach ihrer Wade griff. »‘tschuldigung! Wollte bloß mal nachsehen, ob alles heil geblieben is’.« Einer seiner Fankollegen lachte und rülpste gleichzeitig. Er half seinem Kumpel wieder auf die Beine, dann stimmten beide in diese fürchterlichen Gesänge ein, die Veronika schon
die gesamte Zugfahrt über hatte ertragen müssen und die nun in ihrer kakophonischen Scheußlichkeit die riesige Bahnhofshalle füllten. Hektisch schaute sich Veronika nach Lars-Hendrik um, der in seinem Lukas-Podolski-Trikot unbeteiligt hinter ihr stand und in einer Fußballzeitschrift blätterte, wie er es schon die ganze Fahrt über getan hatte. »Wenn Podolski heute zwei Tore schießt, dann steht er zusammen mit Adriano und van Nistelrooy auf Platz eins der Torschützenliste«, sagte er. »Nimm wenigstens die Ohrhörer raus, wenn du mit mir sprichst.« »Was?« Veronika zog ihrem Sohn die Stöpsel des iPods, den ihm sein Vater geschenkt hatte, aus den Ohren. Lars-Hendrik verdrehte die Augen und schaltete das Gerät aus. Natürlich wusste Veronika, dass er lieber mit ihrem Ex hierher gefahren wäre. Der hatte ja auch die Karten für das Achtelfinale besorgt. Und nun spielte Deutschland gegen Holland, Lars-Hendrik war ganz aus dem Häuschen. Allerdings hatte sein Vater wie üblich im letzten Moment abgesagt. Veronika erkannte schon an der Art, wie er sie am Telefon begrüßte, wenn wieder mal etwas dazwischen gekommen war. »Du, Veronika…«, begann er dann. »Du, Veronika…« Anschließend entstand eine Pause. Zwei, drei Sekunden, in denen Veronikas Blutdruck in die Höhe schoss und sie sich beherrschen musste, die Verbindung nicht sofort zu unterbrechen. »Du, Veronika…«, hatte er auch gestern gesagt. Und nun stand sie mit ihrem Sohn im Leipziger Hauptbahnhof und war froh, dass die singende, saufende Patriotenschar sich langsam verteilte.
Dabei hasste sie Fußball. Dabei hatte sie sich schon auf den kinderfreien Tag in Berlin gefreut. Dabei hatte Eike schon einen Tisch beim Thailänder reserviert. »Du, Mama…«, sagte Lars-Hendrik. »Ich hab totalen Hunger auf einen Big Mäc.«
Ob das wirklich eine gute Idee ist? Diese Frage stellte sich Mirko Last seit Tagen immer wieder. Auch jetzt, während Charlie Schützke den Wagen schräg gegenüber von der Commerzbank im Halteverbot parkte. »Wäre es nicht besser, wenn wir uns einen regulären Parkplatz suchen würden?«, gab Mirko zu bedenken. »So fallen wir nur unnötig auf.« »Quatsch«, sagte Charlie und fuhr rückwärts in eine Lücke. »Du siehst doch, dass alles voll ist. Sollen wir vielleicht ins Parkhaus fahren? Außerdem spielt heute Deutschland gegen Holland. Da haben die andere Sorgen als falsch geparkte Autos. Ein Jammer, dass wir keine Karten für das Spiel haben.« »Wie kannst du jetzt nur an Fußball denken!« »Wieso nicht? Alle denken daran. Sieh sie dir an.« Er zeigte auf die Horden von Fans, die brüllend über den Thomaskirchhof zogen. »Die Stadt ist im Ausnahmezustand. Wirklich schade, dass wir uns nach getaner Arbeit nicht im Stadion das Spiel ansehen können. Das wäre ein krönender Abschluss.« »Was ist das denn?« Charlie hatte die beiden Trikots aus der Plastiktüte gezogen, die Mirko gestern im WM-Shop gekauft hatte. »Stimmt was nicht?« »Das sind Didi-Hamann-Trikots.«
»Na und?« Mirko hatte keine Ahnung, was Charlie schon wieder zu meckern hatte. »Didi Hamann hat während der WM noch nicht ein einziges Mal gespielt.« »Die waren im Angebot.« »Warum wohl?! Weil keiner das Trikot eines Spielers haben will, der die ganze Zeit auf der Bank sitzt. Und wir laufen gleich zu zweit damit rum. Zeig mal die Masken!« Stumm knallte Mirko Charlie die Tüte mit den sündhaft teuren Löwenköpfen auf den Schoß. Natürlich hatte er das Geld dafür auslegen müssen. »In Ordnung«, sagte Charlie, nachdem er die braunen Plüschköpfe begutachtet hatte. »Die ist für dich.« Er reichte Mirko eine Schreckschusspistole und steckte sich selbst ein etwas anderes Modell in die Seitentasche seiner Armeehose. »Ist die echt?«, fragte Mirko und starrte auf Charlies Hosentasche. »Quatsch!«, sagte Charlie. »Los geht’s, umziehen!« Ob das wirklich eine gute Idee ist?
»Stell dich schon mal an«, hatte Lars-Hendriks Mutter gesagt und auf die Schlange gezeigt, die sich quer durch McDonald’s zog. »Ich geh schnell Geld holen.« Das war jetzt schon zehn Minuten her. Lars-Hendrik warf einen Blick auf seine Casio-Uhr, die er zum vierzehnten Geburtstag von seinem Vater bekommen hatte. Normalerweise war auf seine Mutter Verlass. Das hatte sie seinem Vater echt voraus. Dafür hatte der mehr Ahnung von Fußball und erlaubte ihm eine große Cola und zwei Big Mäcs mit Pommes. Es war schon erstaunlich, wie gut McDonald’s überall auf der Welt funktionierte. Selbst während der WM. Ruck, zuck
wurden die vielen Fußballfans mit Cola und Burgern versorgt. Vielleicht noch eine Minute, höchstens zwei, dann würde LarsHendrik an der Reihe sein. Nervös drehte er sich um und hielt Ausschau nach seiner Mutter. Wahrscheinlich telefonierte sie noch mit diesem Eike, der immer dran war, wenn sie plötzlich lächelnd das Zimmer verließ. Manchmal schloss sie sich sogar mit ihrem Handy im Bad ein. Und danach tat sie so, als hätte sie mit ihrer Freundin Sibylle gesprochen. Für wie blöd hielt die ihn eigentlich? Einmal hatte er sich heimlich die Anruferliste ihres Handys angeschaut. Seitdem wusste er, dass der Grund für die Heimlichtuerei und das Lächeln im Gesicht seiner Mutter Eike hieß. Eike! Klingt doch schwul – oder? »Podolski, du hältst den Laden auf!« Eine Männerstimme riss Lars-Hendrik aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und schaute in das schwarz-rot-goldene Gesicht eines Mannes, dessen Bierwampe ein Michael-Ballack-Trikot ausbeulte. Wütend trat Lars-Hendrik zur Seite, holte sein Mobiltelefon heraus – auch ein Geschenk seines Vaters – und wählte die Nummer seiner Mutter. Wehe, wenn jetzt besetzt war!
Veronika Kneist zuckte zusammen, als in ihrer Handtasche die Titelmelodie der Olsenbanden-Filme ertönte, die ihr LarsHendrik heruntergeladen hatte. Sie hielt die Hände hoch und bewegte sich nicht, so wie es ihr die beiden WM-Maskottchen befohlen hatten, die ihre Pistolen auf Bankangestellte und Kunden richteten. Während der größere Plüschlöwe weiter die Kassierer antrieb, so viele Geldscheine wie möglich in zwei Sporttaschen zu stopfen, kam der kleinere auf Veronika zu und verlangte ihre Handtasche. Als sich ihre Hände kurz berührten, zuckte Veronika zusammen. Sie hielt den Atem an. Einen Moment lang traf sich
ihr Blick mit den Augen hinter der Löwenmaske. Sie waren blau – graublau. Das würde sie später der Polizei erzählen, wenn sie jemals Gelegenheit dazu haben sollte. Sie dachte an Lars-Hendrik. Sicher war er es, der gerade versuchte, sie zu erreichen. Sie musste hier unbedingt wieder rauskommen. Wer sollte sich sonst um ihn kümmern? Sein Vater? Mit dem konnte man nicht rechnen. Dem war sein Job wichtiger als sein Sohn – und die vielen Flittchen wahrscheinlich auch. Als der Bankräuber die Tasche öffnete, verstummte das Handy. Nach dem fünften Klingelzeichen meldete sich die Mobilbox. Veronika Kneist war erleichtert. Sie wollte die Banditen nicht noch mehr auf sich aufmerksam machen. Nachher kamen die auf die Idee, sie als Geisel zu nehmen. Das hatte sie oft genug gesehen. Im Fernsehen. Im Kino. Kein Banküberfall ohne Geiselnahme. Aber sie hatte einen Sohn, der in der Schlange bei McDonald’s auf sie wartete. Sollten die beiden Maskottchen doch einen von den Fußballfans als Geisel nehmen, die neben dem Geldautomaten standen. Die hatten bestimmt keine Kinder. Oder den dicken grauhaarigen Mann in dem schwarzen Jackett. Wenn der Kinder hatte, dann waren die sicher schon erwachsen. Oder die aufgetakelte Blondine, die aussah wie eine von den Kurzzeitbekanntschaften ihres Mannes, die manchmal im Auto saßen, wenn er Lars-Hendrik zurückbrachte. Der Bankräuber mit den graublauen Augen hielt noch immer Veronika Kneists Tasche in den Händen. Meine Güte, dachte sie. Er wird mich als Geisel nehmen. Dann krachte ein Schuss.
»Scheiße, es hat geklappt!« Charlie Schützke boxte seinem Kumpel gegen die Schulter, als sie beide, jeder eine
unauffällige Sporttasche über der Schulter, in die RosaLuxemburg-Straße einbogen. Mirko sah ihn nicht an. Seitdem sie aus der Bank raus waren, hatte er kaum ein Wort gesprochen. »He, nun freu dich. Wir haben’s geschafft!« »Was?«, fragte Mirko. »Jemanden umzubringen? Gratuliere!« Meine Güte, dachte Charlie, ist der wieder empfindlich. »Das war ein Unfall, das Ding ist von alleine los gegangen. Ich kann überhaupt nicht schießen. Der hat sich einfach fallen lassen, dieser Banktyp.« »Wir hatten eine klare Abmachung.« Mirko blieb stehen. »Keine Waffen! Keine Gewalt!« Keine Gewalt! Ein Banküberfall war verdammt nochmal keine Montagsdemo. Schon damals hatte Charlie es idiotisch gefunden, »Keine Gewalt!« zu brüllen, während die Stasi auf Demonstranten einprügelte. Deshalb hatte er 89 immer ein Messer dabeigehabt, wenn er demonstrieren gegangen war. Nur für den Fall, dass ein Stasibulle auf die Idee gekommen wäre, sich an ihm zu vergreifen. Aber das erwähnte er jetzt lieber nicht, denn er bemerkte die Ader auf Mirkos Stirn, die immer anschwoll, wenn sein Freund sich zu sehr aufregte. »Komm schon, entspann dich! Lass uns ein Bier trinken! Es ist nicht gesagt, dass ich den Typen überhaupt getroffen habe.« Meine Güte, war Mirko sauer! So sauer hatte ihn Charlie zuletzt gesehen, als sie aus der Firma geflogen waren, in der sie seit der Lehre als Elektriker gearbeitet hatten. Charlie hatte dem Personalchef die Fresse poliert und sich voll laufen lassen, aber Mirko war tagelang mit dieser Ader auf der Stirn herumgerannt und hatte nichts gesagt. »Was hätte ich denn tun sollen? Nachschauen und erste Hilfe leisten?« Angenommen, der Bankangestellte war tatsächlich getroffen worden, dann hatte der Typ selbst Schuld. Warum musste er
unter den Tisch greifen, wo mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Alarmknopf versteckt war? Das kannte man aus Filmen. »Vermutlich habe ich den Mann doch gar nicht getroffen«, versuchte Charlie, seinen Freund zu beruhigen. Aber mit dem Russen, der ihm die Knarre besorgt hatte, würde er noch ein Wörtchen reden. Da hatte man einen winzigen Reflex, weil der Bankmensch Faxen machte, zuckte ein bisschen mit dem Zeigefinger und schon ging das Scheißding los. »Wir hatten eine Abmachung!«, schrie Mirko, als sie seine Wohnung erreicht hatten. Nun packte er Charlie auch noch am Kragen. »Beruhige dich, Mirko!« Vorsichtshalber entfernte Charlie Mirkos Hände von seiner Jacke. Dann setzte er ihn auf einen Küchenstuhl und holte zwei Radeberger aus dem Kühlschrank. »Prost!«, sagte Charlie. »Auf unseren Coup!« Er zeigte auf die Sporttaschen in der Ecke.
Lars-Hendrik bekam einen Schreck, als seine Mutter endlich wieder auftauchte. Ihre Haare waren zerzaust und sie wirkte total panisch, als wäre ihr gerade ein Alien über den Weg gelaufen. Und dann umarmte sie ihn auch noch in aller Öffentlichkeit. »Was ist denn los?«, fragte er und wischte sich Wange und Mund ab. Eklig! »Wo warst du denn die ganze Zeit?« »Ich… nichts… ähh… Hauptsache, ich bin da… ähh, hier… Stimmt’s?« Scheiße, war die krass drauf. Jetzt fing sie auch noch an zu heulen und drückte ihn schon wieder an ihre Brust, obwohl sie wusste, wie sehr er das hasste. »Mama!« Lars-Hendrik befreite sich aus der Umarmung. »Was ist denn passiert? Bist du ausgeraubt worden, oder was?«
Eigentlich hatte das ein Scherz sein sollen. Damit sie lachte und sich beruhigte. Aber sie lachte nicht. Sie nickte nur. Und dann sah Lars-Hendrik auch, was ihr fehlte. Die Handtasche! Wenn seine Mutter nicht darin kramte, hing das Ding in der Regel über ihrer rechten Schulter. Lars-Hendrik spürte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. Er konnte nichts dagegen tun, obwohl das total peinlich war. Er fing an zu flennen wie ein Sechsjähriger, während Fußballfans mit Burgertüten an ihm vorbeiströmten. Er fühlte sich wie an dem Tag, als sein Vater versprochen hatte, mit ihm auf den Weihnachtsmarkt zu gehen, und plötzlich verschwunden war. Einfach weg! Und danach das erste Weihnachten zu zweit. Nur seine Mutter und er. Damals hatte er sich noch geweigert, die Geschenke seines Vaters zu öffnen. Und nun liefen Lars-Hendrik die Tränen übers Gesicht, weil er wusste, was sich in der Tasche seiner Mutter befand. »Die Karten?!« Seine Mutter nickte und drückte ihren Sohn wieder an sich, der daran dachte, dass er nicht dabei sein würde, wenn Lukas Podolski die entscheidenden Tore schoss – die Tore, die ihn in der Torschützenliste auf Platz eins brachten. »Lars«, sagte seine Mutter. Seine Mutter sagte Lars, sein Vater Hendrik. »Lars«, sagte sie und klang auf einmal ganz ruhig. »Lars, gib mir mal dein Handy!«
Charlie war gerade auf dem Klo, als der Soundtrack der Olsenbande ertönte. Auf dem Küchentisch standen drei leere Bierflaschen, von denen Charlie zwei getrunken hatte. Mirko öffnete die Sporttasche, in die er in der Eile auch den Krempel von der blonden Frau gestopft hatte. Er zog das Handy heraus und starrte es an. Die Melodie erinnerte ihn an
Sonntagsmatineevorstellungen für fünfundfünfzig Pfennige und den Geruch von Bohnerwachs in dem alten Kino, das gleich nach der Wende geschlossen worden war. Vielleicht lag es an der Melodie, vielleicht an dem Bier, gewiss war auch die Tatsache nicht ganz unwesentlich, dass Mirko die Frau, der das Telefon gehörte, auf Anhieb sympathisch gewesen war – jedenfalls drückte er, ohne lange darüber nachzudenken, den Verbindungsknopf und hielt das Gerät an sein Ohr. »Hallo?« Eine Frauenstimme. »Hallo? Ich weiß, dass Sie mich hören und dass Sie wissen, wer ich bin. Sie haben graublaue Augen und halten gerade mein Telefon in der Hand. Richtig? Oder sind Sie das andere Maskottchen, der Revolverheld, der in der Bank herumgeballert hat wie ein Irrer?« »Was machst du da?« Charlie war in die Küche zurückgekehrt und zog den Reißverschluss seiner Hose hoch. Mirko antwortete nicht, sondern lauschte der Frauenstimme. »Sie brauchen nichts zu sagen«, sagte sie. »Hauptsache, Sie hören mir zu.« Charlie nahm Mirko das Telefon aus der Hand. »Wer zum Teufel sind Sie? Und was, verdammt, wollen Sie?« Mirko hatte schon immer das Talent seines Freundes bewundert, schnell zur Sache zu kommen. »Aha!« Charlies Stimme verlor ihre Schärfe. »Ich habe auch einen Sohn.« Mit Handzeichen bedeutete er Mirko, dass er ihm die Handtasche reichen sollte. »Ich sag’s dir«, flüsterte er Mirko zu. »Heute ist unser Glückstag.« Dann fischte er zwei Karten für das Achtelfinalspiel im Zentralstadion aus der Tasche.
Das muss der Schock sein, dachte Veronika Kneist und kniff sich in den Oberschenkel. Offenbar war sie zurzeit nicht ganz zurechnungsfähig. Oder wie sollte man sonst erklären, dass sie bereit war, ihren Sohn mit einem Bankräuber zum Fußballspiel gehen zu lassen? Wahrscheinlich war sie genauso durchgeknallt wie der Typ am Telefon. Sie hatte lediglich ihre Handtasche oder wenigstens die Karten zurückhaben wollen, damit Lars-Hendrik sich das Spiel ansehen konnte, auf das er sich schon so gefreut hatte, doch dieser Gangster bestand darauf mitzukommen. Der musste verrückt sein. Fußballverrückt! Wie all die anderen hier, die von überall her ins Stadion strömten. »Da sind sie!«, rief Lars-Hendrik. Das Strahlen im Gesicht ihres Sohnes vertrieb Veronikas Bedenken. Die beiden Männer, die vor der Kneipe in der Nähe des Stadions auf sie warteten, wirkten eigentlich ganz harmlos: um die vierzig, Turnschuhe und T-Shirts, etwas unmoderne Frisuren – unauffällige Typen. »Da ist das gute Stück«, sagte der größere der beiden, der Ballermann, und schwenkte die Tasche wie eine Trophäe hin und her, bevor er sie Veronika gab. »Das ist mein Freund Mirko und ich bin der Charlie.« Und zu Lars-Hendrik: »Du kannst auch Didi zu mir sagen, Lukas!« »Didi?«, fragte Lars-Hendrik. »Didi Hamann.« »Der sitzt doch auf der Ersatzbank.« »Wetten, dass er heute eingewechselt wird und ein Tor schießt?« »Worum?« »Um ‘ne Bratwurst und ‘ne Cola.« Lars-Hendrik warf seiner Mutter einen fragenden Blick zu, dann schlug er ein.
Charlie verlangte einen zweiten, einen »echten Männerhandschlag«. Dann sagte er: »Jetzt lassen wir uns von deiner Mutter den Finderlohn auszahlen und dann geht’s los.« Lukas nickte selig, als Veronika die Eintrittskarten aus der Tasche zog. »Und keinen Unsinn!«, flüsterte ihr Charlie zu und zeigte auf die ausgebeulte Seitentasche seiner Armeehose. Verwirrt blickte Veronika ihrem Sohn nach, wie er, dem Bankräuber nicht von der Seite weichend, im Strom der Fußballfans verschwand. »Wollen wir uns das Spiel da drinnen ansehen?« »Bitte?« Entgeistert starrte Veronika den blau-grauen Banditen an, der schüchtern auf die Kneipe zeigte, vor der sie standen. Ofengemütlich und ursächsisch, stand auf dem Schild im Schaufenster. Und darunter handschriftlich: Bei jedem Tor der deutschen Mannschaft eine Runde Freibier!!! (Elfmeterschießen ausgenommen). »Taschen leeren!«, forderte der Ordner. Ruhig bleiben, dachte Charlie, der große Lust hatte, dem Kerl auf der Stelle Manieren beizubringen. »Geht’s vielleicht ‘n bisschen freundlicher?«, brummte er und kramte Brieftasche, Schlüsselbund, Zigaretten und Feuerzeug heraus. »Keine Zeit, Sie sehen doch, was hier los ist!« Hinter Charlie drängte die Masse zum Sektor A des Zentralstadions. Lars-Hendrik war schon ein paar Schritte vorausgegangen und wartete hinter der Wand aus SecurityLeuten. Charlie packte seinen Krempel wieder ein und wollte ihm folgen. »Moment! Und was ist damit?« Der Ordner zeigte auf die Seitentasche von Charlies Armeehose. »Du bist wohl einer von den ganz Genauen?!« Innerlich fluchend, öffnete Charlie die Tasche und holte das Didi-
Hamann-Trikot heraus, das er heute Nachmittag in der Bank getragen hatte. »Okay, weitergehen!« Charlie dachte an seinen Sohn. Lars-Hendrik müsste ungefähr im selben Alter sein wie Alfons. Wie lange hatte er ihn nicht mehr gesehen? Anderthalb Jahre? Anita hatte ja unbedingt diesen Arsch aus Stuttgart heiraten müssen. Wie hieß der nochmal? »Wie wär’s mit ‘ner Cola und ‘ner Bratwurst?« Lars-Hendrik sah Charlie fragend an. »Und die Wette?« »Scheiß drauf! Sollen wir deshalb verhungern und verdursten?« »Was is ‘n das für ‘n Shirt?«, fragte Lars-Hendrik neugierig, als sie sich in die Schlange vor dem Imbissstand einreihten. »Didi Hamann, ist doch klar!« Charlie breitete das Trikot aus. Lars-Hendrik verdrehte die Augen. »Und warum hast du es nicht angezogen?« »Das mach ich, wenn Didi sein Tor geschossen hat. Erinnerst du dich an Wembley 2000?« Lars-Hendrik schüttelte den Kopf. Und Charlie erklärte ihm, wie Hamann den Ball aus fünfundzwanzig Metern Entfernung im unteren linken Eck versenkt und damit der deutschen Nationalmannschaft zum 1:0-Sieg gegen die Engländer verholfen hatte. Charlie genoss es, wie Lars-Hendrik an seinen Lippen hing. Niemals hätte er es übers Herz gebracht, einen Jungen wie ihn um ein solches Spiel zu bringen. Einen Jungen wie Alfons. »Ein Schuss wie ein Strich, sag ich dir, ganz flach über den nassen Rasen!«
»Erinnern wir uns an das letzte Spiel im alten WembleyStadion…«, kommentierte Johannes B. Kerner die
Einwechslung Didi Hamanns in der 67. Spielminute. Mirko schaute nur hin und wieder zum Fernseher, der im Wandregal hinter dem Tresen stand. Die Kneipe war gut gefüllt, doch der Wirt hatte bislang kein Freibier ausschenken müssen. Es stand noch immer 0:0. Mirko interessierte sich nicht für Fußball. Hatte er noch nie. Die Frau aus der Bank schien das Spiel auch nicht besonders zu fesseln. Sie hieß Veronika, Veronika Kneist. Den Namen hatte Mirko auf dem Ausweis in ihrer Handtasche gelesen. Nicht dass er darin herumgewühlt hätte, aber Charlie meinte, man müsse wissen, mit wem man es zu tun habe. Mirko hätte sich gerne mit ihr unterhalten, aber er wusste nicht, wie und womit er anfangen sollte. Er hatte sie Wiedersehen wollen. Nur deshalb hatte er sich auf Charlies idiotischen Plan eingelassen. Man konnte doch nicht ganz dicht sein, wenn man zu diesem Fußballspiel ging, nachdem man eine Bank ausgeraubt hatte, sich sogar noch mit einem der Opfer traf und in Kauf nahm, dass bald ein Phantombild von ihnen in allen Polizeidienststellen hing! Da konnte Charlie noch so oft sagen, dass sie morgen längst im Flugzeug über die Alpen düsten. Es war und blieb idiotisch – ebenso wie die Tatsache, dass Mirko jetzt nicht wusste, was er sagen sollte. Veronika nippte hin und wieder an ihrem Bier und schaute ins Leere. »Ist dem Mann etwas passiert?«, fragte Mirko schließlich in der 71. Spielminute. »Bitte?« »Dem Mann in der Bank, ist er verletzt worden?« Veronika zuckte mit den Schultern und sah Mirko in die graublauen Augen. »Ich weiß es nicht. Ich hab meine Aussage gemacht und bin zu meinem Sohn gelaufen.«
Mirko wich ihrem Blick aus. Im Fernseher wurde gerade Podolski von einem holländischen Verteidiger an der Strafraumgrenze gefoult. »Haben Sie Kinder?« Mirko schüttelte den Kopf und wünschte sich, diesen Tag zurückspulen und löschen zu können wie ein schlechtes Video. »Warum haben Sie das getan«, fragte Veronika, »die Bank überfallen?« Was sollte Mirko darauf antworten? Dass er Schulden hatte und seit Jahren keinen festen Job? Dass seine Freundin ihn vor die Tür gesetzt hatte? Dass er sturzbetrunken Auto gefahren und in eine Kontrolle geraten war? Dass kein Handwerksmeister in ganz Deutschland einen vierzigjährigen, führerscheinlosen Elektriker einstellen würde? Dass er das Geld brauchte, um abhauen und sich woanders eine Perspektive aufbauen zu können – eine Pension auf Gran Canaria oder eine Bar in Peru? Dass man schließlich nur einmal lebte, wie Charlie immer sagte? »Hamann legt sich den Ball zurecht«, kommentierte Kerner das Spielgeschehen. »Hoffen wir auf eine Wiederholung von Wembley 2000.« »Es war keine gute Idee«, sagte Mirko. »Und der ist drin!!!«, schrie Kerner. »Da ist Charlie«, sagte Mirko. »Und Lars«, ergänzte Veronika.
»Tooor!!!!«, brüllte Lars-Hendrik, so laut er nur konnte. »Tooooooor!!!!« Charlie hatte das Didi-Hamann-Trikot angezogen und schloss Lars-Hendrik in seine Arme. Zusammen hüpften sie im Kreis und winkten der Kamera zu, die auf sie gerichtet war. Es regnete Konfetti und neben ihnen zündete jemand einen Feuerwerkskörper.
Lars-Hendrik war glücklich. Das war mit Abstand der schönste Augenblick seines Lebens – besser als der Kuss von Charlotta im Kino, besser als Herr der Ringe und Star Wars zusammen und sogar besser als Gokart-Fahren und Pizzaessen mit seinem Vater. Dabei hatte Podolski bislang gar kein Tor geschossen und die Holländer bliesen gerade zum Sturmangriff. Noch fünfzehn Minuten, dachte Lars-Hendrik und drückte beide Daumen, als Roy Makaay einen Eckball an den Pfosten köpfte. Noch fünfzehn Minuten! »Deutschland!«, schrien alle um ihn herum. »Deutschland!«, brüllte auch Lars-Hendrik. »Hamann!«, krächzte Charlie dazwischen. »Hamann nicht vergessen!« Dieser Charlie hatte wirklich Ahnung. Der konnte sogar Spiele vorhersagen. So einen hätte Lars-Hendrik gerne zum Freund. Aber wie sollte das gehen? Seine Mutter stand nicht auf Typen wie Charlie. Die mochte Männer, die Eike hießen und schwul waren. Außerdem lebte Charlie in Leipzig. »Achtung, La Ola!«, sagte Charlie. Dann rissen sie simultan die Arme in die Höhe. Endlich kam der Schlusspfiff. Lars-Hendrik hatte Tränen in den Augen, als Charlie ihn in die Arme nahm. In diesem Augenblick war Charlie sein bester Freund. »Hier wird nicht geheult«, sagte Charlie. »Wir sind im Viertelfinale. Oder denkst du an die Bratwurst, die du mir schuldest?« Lars-Hendrik musste lachen, während er weinte. Charlie war lustig.
Veronika war keine Biertrinkerin. Sie schob Mirko ihr Freibier hinüber. Sein Glas war schon leer.
»Danke«, sagte Mirko. »Normalerweise trinke ich nicht so viel.« Seine graublauen Augen waren bereits glasig geworden und seine Zunge schwerer. Immer mehr Leute strömten in die Kneipe, um den Sieg zu feiern. Auf der Straße stauten sich hupende Autos, aus deren Fenstern Deutschlandfahnen geschwenkt wurden. Veronika fühlte sich unwohl unter all den berauschten Männern. Nur dieser Mirko schien mit Fußball ebenso wenig anfangen zu können wie sie selbst. Das gefiel ihr. Und sie gefiel ihm. Schon ein paarmal hatte sie bemerkt, wie er ihrem Blick ausgewichen war. Im Grunde war er ganz sympathisch – wenn man mal davon absah, dass er heute Nachmittag eine Pistole auf sie gerichtet hatte. Ein bisschen schüchtern vielleicht, aber tausendmal angenehmer als dieser Charlie, der sie an ihren Ex erinnerte. Es hatte ihr einen Stich versetzt, als sie Lars-Hendrik und Charlie vor der Kamera herumhüpfen gesehen hatte. Arm in Arm. Als wären sie Vater und Sohn. Im Fernsehen liefen jetzt Nachrichten. Ohne Ton. Niemand achtete darauf. Toter bei Banküberfall, lautete eine Schlagzeile. Veronika erkannte die Filiale der Commerzbank, die rechts neben dem Sprecher zu sehen war. Mirko lächelte Veronika an. Der Alkohol machte ihn mutig. »Mama, hast du das Spiel gesehen? Wir haben gewonnen! Und Charlie hat vorher gewusst, wer das Tor schießt!« LarsHendrik hatte rote Wangen und war völlig überdreht, als er sich zu ihrem Tisch durchgekämpft hatte. Er trug das viel zu große Didi-Hamann-Trikot, in dem sein neuer Freund den Bankangestellten erschossen hatte. »Was hast du denn da an?«, fragte Veronika entsetzt. »Trikottausch!«, antwortete Charlie und breitete grinsend das Podolski-Shirt aus, das Lars-Hendrik von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. »Ich besorg uns mal was zu trinken.«
Charlie bahnte sich einen Weg durch das Gedränge zur Theke. Der Wirt begrüßte ihn mit Handschlag. »Ich muss mal zur Toilette«, sagte Veronika und bemühte sich, Mirkos Lächeln zu erwidern. Witze, die sie nicht verstand, Hände, die nach ihr griffen, Rauchschwaden, die ihr ins Gesicht geblasen wurden – als Veronika die Toilettentür hinter sich zuzog, hatte sie das Gefühl, einen endlosen Weg durch die Hölle gegangen zu sein. Und immer die Angst vor Charlies Hand auf ihrer Schulter. Das Handy steckte in ihrer Tasche und funktionierte. Daran hatten sie also nicht gedacht. Drei Zahlen. Sie atmete tief durch.
Stadt: Köln Einwohner: 1.023.000 Austragungsort: FIFA WM-Stadion Köln (RheinEnergieStadion) Jahr der Einweihung: 1975 Zuletzt erfolgte Baumaßnahmen: Umbau Kosten: 119,5 Mio. WM-Sitzplätze: 40.590 Heimstatt von: 1. FC Köln Gründung: 13.02.1948 Mitglieder: 22.000 Dreimal Deutscher Meister: 1962, 1964, 1978 Bemerkenswert: Die ›Hennes-Cam‹ – Kölns Maskottchen, der Geißbock, steht unter ständiger Beobachtung.
Andreas Izquierdo
Der Mann, der Lukas Podolski das Leben rettete 14. Als der Mann, der Lukas Podolski das Leben rettete, noch nicht der Mann war, der Lukas Podolski das Leben rettete, als er also noch ein Niemand war, verlief sein Leben in einer Art und Weise, dass man sagen konnte, es wäre besser gewesen, er hätte es vorzeitig beendet. Dass er es nicht getan hatte, sprach für seinen unerschütterlichen Optimismus, dass es irgendwann doch besser werden müsse, auch wenn dieser Optimismus durch nichts begründet war. Und so wurde seine einzigartige Rettungstat als solche nicht gewürdigt, weder von Lukas Podolski noch von sonst jemandem, was selbst für ihn, den Großmeister der traurigen Höhepunkte, ein Höhepunkt der besonderen Art darstellte. Dennoch war seine Tat etwas Besonderes, vielleicht das einzig
Besondere in seinem Leben, wenn sie auch missverstanden wurde, so wie er alles missverstand. Um zu verstehen, warum er Lukas Podolskis Leben retten wollte, muss man ihn verstehen, was zugegebenermaßen nicht leicht ist. Aber es ist einen Versuch wert, bevor der Mann zum urbanen Mythos mutiert, der nur noch auf das reduziert wird, was er tat, an den man sich lächelnd erinnert und von dem man so etwas sagt wie: Weißt du noch, dieser Spinner damals? Dieser Typ, der alles versaut hat? Dabei wäre das nicht mal falsch, schließlich hat er alles versaut, aber so leicht ist es eben nicht. Denn der Mann, der Lukas Podolski das Leben rettete, ist schuldig wie unschuldig, böse wie gut, Täter wie Opfer. Er ist… tja, er ist der Mann, der Lukas Podolski das Leben rettete. Und das ist seine Geschichte.
13. Seine frühesten Erinnerungen waren die an ein nettes Kinderzimmer, dessen Tür verschlossen war und die demzufolge unüberwindlich zwischen ihm und seiner Mutter stand. Der Glaube eines Kindes an seine Mutter ist grenzenlos, sodass er auch am dritten Tag unbeantworteter Rufe keinen Verdacht schöpfte, seine Mutter könne womöglich nicht zurückkehren. Aber es war nicht sie, die die Tür öffnete, sondern ein uniformierter Polizist, der beherzt gegen die Klinke trat und ihn befreite. Natürlich war es nicht so, dass seine Mutter ihn nicht mochte, sie mochte ihn sogar sehr, nur dass sie jemand anderen noch lieber mochte, und der wiederum mochte den Jungen nicht. Er kam ins Heim. Um ihm sein Schicksal zu erleichtern und um – natürlich nach bestem Wissen und Gewissen – die Sehnsucht nach
seiner Mutter zu lindern, erklärte man sie kurzerhand für gestorben. Tatsächlich wusste man nichts über den Aufenthalt seiner Mutter, denn sie tauchte weder im Heim noch bei den Behörden auf. Sie blieb schlicht verschwunden. Und das war so gut wie tot. Was man nicht bedacht hatte, war, dass es kein Grab oder einen anderen Ort gab, an dem sich der Junge von ihr hätte verabschieden können. So blieben dem Jungen, der später einmal Lukas Podolskis Leben retten würde, nur das blasse Foto einer blonden, zierlichen Frau mit einem kleinen Leberfleck über der Oberlippe und eine stille Sehnsucht nach ihrem Lächeln.
12. Sein Leben begann also nicht sehr glücklich. Und die Möglichkeiten, sein Leben zu verbessern, waren begrenzt, die Möglichkeiten, sein Leben zu verschlechtern, dagegen nicht. Für einen Jungen, dessen innere Haltung einer quälend aufund absteigenden Tonfolge glich, die sich in besonderem Maße nach einem großen, finalen Schlussakkord sehnte, bedeutete dies zunächst einmal, dass er keinen Anschluss fand, weil er sich zu sehr darum bemühte, Anschluss zu finden. In einer genormten Welt war er wie ein Stecker, für den es keine Dose gab. Der seelischen Not folgte eine schier endlose Reihe von Kinderkrankheiten, die es dem Jungen erschwerten, motorische Fähigkeiten zu entwickeln. Letztlich war es so, dass sein Körper auf fast schon komische Weise nicht den Befehlen seines Gehirns Folge leisten wollte. Er war kaum in der Lage, einen Ball zu fangen. Wenn er lief, stellte er die Füße nach außen und beugte nur wenig die Knie, sodass es den Anschein
hatte, als wäre er vollkommen steif. Seine Arme waren zu lang, die Beine zu dick, der Körper pummelig und die Wangen ständig gerötet. Nicht einmal das dunkelblonde Haar schien ihm gehorchen zu wollen, verweigerte sich dick und störrisch jeder Frisur. Unter Außenseitern war er der Außenseiter.
11. Bis zu seinem achten Lebensjahr waren ihm so wenige Erfolgserlebnisse beschieden, dass er wie Treibgut vom Strom der Zeit vorangetrieben wurde, ohne Ziele, ohne Perspektive, letztlich sogar ohne Wünsche. Für jemanden, der regelmäßig zusehen musste, wie andere Kinder, auch ältere, Anschluss in neuen Familien fanden, empfahl es sich, ohne Erwartungen durchs Leben zu gehen. Hoffnung konnte schmerzhaft sein, vor allem wenn man welche hegte. Der Junge arrangierte sich also mit seinem Schicksal. Aber das Schicksal arrangierte sich nicht mit ihm. Denn ein neues Kind kam ins Heim. Ein ganz besonderes Kind. Fluch und Segen in einem und letztlich dafür verantwortlich, dass der Junge, der später einmal Lukas Podolski das Leben retten würde, Lukas Podolski das Leben rettete. Schon vom ersten Tag an ließ John-Patrick keinen Zweifel daran, dass er im Übermaß besaß, was unserem jungen Helden fehlte. Man vertraute ihm, obwohl er kein Vertrauen verdiente, folgte ihm, obwohl die Richtung falsch war, liebte ihn, obwohl er sich nur selbst liebte. Er war in allem das perfekte Gegenstück zu dem Jungen, der Lukas Podolski das Leben retten würde: charmant, zielstrebig, gewinnend. Doch hinter dem perfekten Blendwerk lauerte ein grausamer Geist: boshaft, verschlagen, hinterhältig. Da jedoch weder
Bosheit, Verschlagenheit noch Hinterhältigkeit mit JohnPatrick in Verbindung gebracht werden durften, brauchte es den perfekten Blitzableiter. Jemanden, der für all die Hässlichkeiten stand. Jemanden, der dringend einen Freund brauchte.
10. Es begann an einem ganz normalen Tag in dem Moment, als die Kapitäne ihre Mannschaften für das tägliche Fußballspiel nominierten. John-Patrick war innerhalb kürzester Zeit zum Kapitän aufgestiegen, nicht nur weil er der beste Fußballer aller Heimkinder war, sondern auch weil sich ihm alle anderen willig unterordneten. Wie üblich wurde gelost, wer mit der Auswahl der eigenen Mannschaft beginnen durfte, dann wurden abwechselnd die Spieler benannt, die ins jeweilige Team aufrückten. Selbstverständlich folgte die Wahl der Spieler nicht nach Sympathie, sondern bemaß sich an den fußballerischen Fähigkeiten: die besten zuerst – die schlechtesten zuletzt. Für den Jungen, der später Lukas Podolski das Leben retten sollte, eine sich ständig wiederholende Demütigung, da er immer zuletzt gewählt wurde, manchmal sogar nur die Dreingabe war, um Ungerechtigkeiten bei der Spielstärke durch bloße Überzahl auszugleichen. Mit John-Patrick endete dies, denn zur Überraschung aller wählte er unseren Freund als Ersten aus. Seine Wahl stiftete solche Verwirrung, dass der Junge die Wahl reflexartig ablehnte. Es war ihm peinlich, vorn zu stehen, vor den anderen, den besseren. Er wollte zurück ins letzte Glied. Dort, wo er nach seiner festen Überzeugung auch hingehörte. Dort, wo er sich auskannte.
Dort, wo sein Platz war. Aber John-Patrick beharrte auf seiner Wahl. Und Kraft seiner Autorität setzte er nicht nur seinen Willen durch, sondern bestätigte auch den neuen Rang seines neuen ›Freundes‹ in den nächsten Tagen. Der Junge, der später einmal Lukas Podolskis Leben retten würde, rückte auf.
9. Kleine Gesten können Großes bewirken. Sie können ein Leben verändern, selbst wenn man die Absicht, die dahintersteckt, missversteht. Der anfänglichen Verwirrung folgte nach und nach der Glaube an die neue Position im sozialen Gefüge, ähnlich einem Kind, das Laufen lernt und jeden Tag mehr auf die eigenen Schritte vertraut. Was der Junge, der später Lukas Podolski das Leben retten würde, nicht bemerkte oder vielleicht auch nicht bemerken wollte, war, dass es keine Rolle spielte, ob er an sich glaubte oder nicht, denn die anderen dachten nach wie vor dasselbe, nämlich dass er unter allen Verlierern der größte war. Einstweilen jedenfalls genoss er sein neues Leben, denn er wurde so etwas wie ein persönlicher Sekretär John-Patricks: ein Eingeweihter und Vertrauter – ganz nah am Zentrum des Geschehens. Aber alles hatte seinen Preis, und John-Patrick erwies sich als seltsamer Freund: launisch, wankelmütig, großzügig und herrisch. Ohne sich dessen bewusst zu werden, wurde aus dem Jungen, den keiner wahrgenommen hatte, einer, den jeder hasste: John-Patricks Axt. Das Prinzip dafür war denkbar einfach, wenn es auch ein gewisses Maß an schauspielerischem Talent erforderte. Eine von zwei Begabungen, auf die sich John-Patrick stets verlassen
konnte. Sobald er witterte, dass ihm jemand nützlich sein konnte, erschlich er sich dessen Vertrauen, saugte ihn förmlich aus und überließ die Reste dem Jungen mit der Axt. Ihm blieb es vorbehalten, jemanden von John-Patrick fern zu halten, ihm eindringlich klar zu machen, dass er »bei Hofe« nicht mehr erwünscht sei. Erwischte der Geschasste dann zufällig JohnPatrick allein, so fiel der aus allen Wolken, versicherte, dass es keine Probleme zwischen ihnen gäbe und dass – und hier sind wir am entscheidenden Punkt – sein Adlatus wohl aus Eifersucht ein wenig überreagiert habe. Dieses Prinzip wurde schon mal variiert, aber die Quintessenz war immer dieselbe: John-Patrick war das Opfer, der Junge, der später Lukas Podolski das Leben retten würde, der Täter. Ein Prinzip, das im Übrigen auch geschlechterübergreifend funktionierte. Denn mit dem Anbrechen der Pubertät wurde aus dem niedlichen, gewinnenden Jungen John-Patrick ein gut aussehender, charismatischer Teenager, der jedes Mädchen verführte, das ihm über den Weg lief. Natürlich hatten die hübscheren Vorrang, es sei denn, jemand anderer hatte sich in ein Mädchen verliebt. Dann war es gleich, wie unscheinbar oder unattraktiv es war, John-Patrick setzte alles daran, es zu besitzen. Hatte er sein Ziel erreicht, war es Zeit für den Jungen mit der Axt: Er ging hin und brach dem Mädchen das Herz.
8. Als die beiden Jungen fünfzehn Jahre alt waren, öffnete ihnen das Schicksal eine Tür, von der sie nie gedacht hätten, dass sie sich einem Heimkind je öffnen würde. Und das war JohnPatricks zweiter großen Begabung geschuldet: dem Fußballspiel.
War er schon als kleiner Junge der beste Kicker unter mittelmäßig begabten gewesen, entfaltete sich sein Spiel mit dem Heranwachsen in einer Güte, dass selbst dem Laien nicht verborgen blieb, dass sich hier ein außergewöhnliches Talent Bahn brach. Ein Umstand, auf den auch die Späher der großen Clubs aufmerksam wurden. Ihrem Werben widerstand das Heim zunächst aus Fürsorgepflicht, doch schließlich gab die Leitung John-Patrick die Erlaubnis, sich einen Verein zu suchen, der für Aufsicht und Schulbildung garantierte. Zur Überraschung aller bestand John-Patrick darauf, den Jungen, der später einmal Lukas Podolski das Leben retten sollte, mit sich zu nehmen. Der hatte im Gegensatz zu JohnPatrick kein Talent für das Spiel, war aber wegen seiner körperlichen Größe möglicherweise als Torwart zu gebrauchen, sodass alle Vereine mit der Absicht zustimmten, John-Patricks ungelenken Freund in irgendeinem Amateurteam zu entsorgen. Hier ging es ausschließlich um Talent. JohnPatrick wusste das. Der Einzige, der das nicht wusste, war unser naiver Freund, dem das Interesse der Proficlubs zu Kopf stieg und der sich deswegen noch grässlicher als üblich benahm. Seine Beliebtheitswerte erreichten einen absoluten Tiefpunkt, während die John-Patricks in schwindelnde Höhen schnellten. Beim Abschiedsspiel gegen die Mittelrheinauswahl wollte es John-Patrick allen Heimbewohnern nochmal zeigen. Unbändig in seiner Kraft und Spielfreude wirbelte er durch das Mittelfeld. Er nahm es mit jedem auf und gewann; war einfach überall, glänzte mit unwiderstehlichen Dribblings, Sprints, Kopfbällen und Schüssen. Niemand konnte ihn aufhalten. Niemand außer dem Jungen, der später einmal Lukas Podolski das Leben retten würde. Er stand im Tor und spürte diesen Stich im Herzen, den er schon früher verspürt hatte, wenn ihm ein anderes Kind vorgezogen worden war, diesen
Stich, der ihm zuflüsterte, dass er nichts wert war, dass ihn niemand liebte, dass niemand für ihn da war. War er nicht auch ausgewählt worden? Hatte nicht auch er Jubel verdient? Wenigstens ein bisschen? Im nächsten Moment sah er seine Chance gekommen. Einer der Gegner war durch die Verteidigung gebrochen und stürmte ihm jetzt entgegen. Und nur ein Mannschaftskamerad folgte: John-Patrick. Ohne jegliches Gefühl für Abstände und die Spielsituation stürmte unser Freund aus seinem Tor, den beiden entgegen, die, vertieft in den Zweikampf, den großen, plumpen Kerl nicht beachteten. Schon flog er durch die Luft, um im nächsten Moment wie ein Geschoss in die wertvollen Beine einzuschlagen. John-Patricks rechtes Knie wurde sofort taub. Ein scharfer Schmerz jagte in seinen Kopf, seine Welt drehte sich. Dann wurde alles schwarz.
7. Für John-Patrick bedeutete es das Ende der Karriere. Sein Knie war derartig zerstört, dass er keinen Leistungssport mehr ausüben konnte. Nur für einen Moment überlegten die Clubvertreter, ob sie John-Patrick von einem Spezialisten operieren lassen sollten, doch dann winkten sie ab: ein Comeback war zu ungewiss und stand in keinem Verhältnis zu den Kosten. Sie ließen ihn fallen. Über unseren Freund brach jetzt zusammen, was er selbst errichtet hatte: Eine Welle des Hasses bäumte sich aus dem Meer der Unzufriedenen auf und rollte grollend auf einen einsamen Strand, auf dem er – unfähig auch nur einen Finger zu rühren – ganz allein stand. Die Betreuer hatten alle Hände voll zu tun, ihn zu isolieren und vor den Übergriffen der
anderen zu schützen. Er hatte nicht nur ihren charismatischen Anführer gefällt und dessen Karriere ruiniert, sie nicht nur beleidigt und wie Dreck behandelt, er hatte ihnen vor allem die Hoffnung genommen, dass es einen Weg heraus gab. Eine Chance auf ein Leben in Reichtum und Glück. Auch John-Patrick verzieh seinem Freund nicht. Und so nahm er dem Jungen, der später einmal Lukas Podolskis Leben retten würde, alles, was er hatte. Alles, was ihm wichtig war. Etwas, was den Jungen an ein nettes Kinderzimmer erinnerte, als seine Welt noch in Ordnung gewesen war. An eine blonde, zierliche Frau mit einem kleinen Leberfleck über der Oberlippe und an seine Sehnsucht nach ihrem Lächeln. Daran, dass ihn jemand gemocht hatte, wenn es auch jemand anderes gegeben hatte, den sie lieber gemocht hatte. Es war nur ein Foto. Es war mehr als ein Foto. John-Patrick stahl es.
6. Für einen Moment glaubte der Junge seinen Augen nicht, als er die kleine Metallschachtel öffnete, in dem er das Foto seiner Mutter aufbewahrt hatte: Sie war leer. Er durchsuchte seinen Schrank, riss seine Kleidung heraus, fiel auf die Knie, suchte den Boden ab, rupfte die Matratze vom Bett: nichts. Er hyperventilierte, wurde hysterisch, sodass sein Blick keinen Halt mehr fand, er einen Stuhl nicht mehr als Stuhl, einen Tisch nicht mehr als Tisch und ein Zimmer nicht mehr als Zimmer erkannte. Hätte es einen ungünstigeren Moment geben können, ihm zu begegnen? Hätte es einen ungünstigeren Moment geben können, ihm zu sagen, dass man ihn verachtete? Wäre es glimpflicher aus gegangen, wenn der
andere kräftiger gewesen wäre? Jemand, der eine weniger scharfe Zunge besaß als der kleine Richard? Was gesagt wurde und was er überhaupt davon verstanden hatte, ließ sich im Nachhinein nicht mehr rekonstruieren, aber für Richard hatte es furchtbare Folgen. Der Junge, der später Lukas Podolski das Leben retten würde, fiel über den kleinen Richard her, und wenn die beiden nicht rechtzeitig entdeckt worden wären, hätte er ihn wohl totgeschlagen. In der darauf folgenden Untersuchung rächte es sich, die Axt eines anderen gewesen zu sein. Es rächte sich, dass ihn jeder hasste, es rächte sich, dass er die Karriere eines großen Talents zerstört hatte, dass seine Bewegungen plump und linkisch waren, dass seine Haare störrisch und seine Wangen ständig gerötet waren. Seine Akte bekam einen neuen Vermerk: Potenziell gewalttätig und emotional verwahrlost. Er verbrachte seine letzten drei Jahre in einem Heim für Schwererziehbare. Hier lernte er zu lügen und zu betrügen, zu stehlen und zu bedrohen. Aber man brachte ihm Respekt entgegen, denn ihm eilte der Ruf voraus, mal einen umgebracht zu haben.
5. Sechs Jahre waren seit dem unglückseligen Spiel vergangen, als der nun erwachsene Mann, der Lukas Podolski das Leben retten würde, in einer heruntergekommenen Kneipe ein zierliches Mädchen mit blonden Haaren und einem kleinen Leberfleck über der Oberlippe traf und sich Hals über Kopf in es verliebte. Vielleicht hätten ihm ein paar Dinge auffallen müssen, vielleicht hätte er sich unter anderen Umständen gefragt, was sie in einem miesen Laden wie diesem zu suchen hatte und warum sie die Initiative ergriff und ihn ansprach, der
dort traurig an der Theke saß und in sein Glas starrte. Vielleicht hätte er eine Chance gehabt, ihr zu entgehen, wenn sie sich nicht eines bestimmten Musters bedient hätte, das einzige, gegen das er wehrlos war. Sie sagte: Hallo, und es war ihm, als hätte er ein Leben lang auf sie gewartet. Sie verließen die Kneipe und auch das Leben, das er bis dahin geführt hatte. Jetzt, da es sie gab, sah er seine Umwelt so, wie sie war: schäbig, dreckig, roh. Er begann, auf seine Kleidung zu achten, und kaufte ihr Blumen. Er wollte alles richtig machen, wollte sie lieben, beschützen und auf Händen tragen. Er verehrte sie so sehr, dass er es nicht wagte, mit ihr zu schlafen, und war schon glücklich, wenn sie sich nachts an ihn kuschelte. Sie verstanden sich ohne Worte, aber gleichzeitig schien etwas zwischen ihnen zu stehen. Etwas, was sie zu bedrücken schien. Und als er endlich den Mut aufbrachte, sie danach zu fragen, antwortete sie ihm, dass es ihm am rechten Glauben fehle.
4. Der Vorwurf war ebenso überraschend wie wahr, denn es fehlte ihm tatsächlich am rechten Glauben, weil es ihm an jedweder Form des Glaubens fehlte. Doch ihr zuliebe wollte er den rechten Glauben lernen, ihr zuliebe hätte er alles getan. Sie war sehr glücklich über seine Entscheidung und versprach, dass ihn der rechte Glauben wie ein gleißendes Licht durchdringen würde. Er würde wie sie und zusammen wären sie eins. Sie nahm ihn mit zu dem Mann, der auch ihr den Weg gezeigt hatte. Dem Mann, der ihrem geheimen Bund vorstand und der auf alle seine Fragen Antwort wusste.
Sie trafen sich nachts, in einem alten, unbewohnten Haus am Rhein. Hasan al Atwa kam durch das Halbdunkel auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Er sagte: Hallo, und es war ihm, als hätte es die letzten sechs Jahre nie gegeben, denn Hasan al Atwa war niemand anderes als John-Patrick. Ebenso sprachlos wie verlegen hielt er John-Patricks Hand, bis der mit einem gewinnenden Lächeln den Moment durchbrach und seinen alten Freund herzlich umarmte. So herzlich, als hätten sie sich nie getrennt, als hätte es nie einen Unfall gegeben, als wäre die Verbindung zwischen beiden nie gerissen. Hier war er: sein einziger Freund. Es gab viel zu erzählen, denn offenbar hatte John-Patrick einen Weg gefunden, seinem Unglück Positives abzugewinnen, während der Mann, der Lukas Podolskis Leben retten würde, immer noch ein Verlierer war. John-Patrick hingegen war Hasan al Atwa geworden und nur ein leichtes Hinken verriet, dass er immer noch derselbe war. Von seinem Charisma hatte John-Patrick nichts eingebüßt, lebendig und mitreißend schilderte er seinen Ausweg aus dem Labyrinth des Selbstmitleids und der Hoffnungslosigkeit. Er war selbst ein Suchender gewesen, doch dann fand er Gott. Er lernte, ein besserer Mann zu sein, und indem er einen neuen Namen annahm, trennte er sich von seiner Vergangenheit und den Dingen, die ihn bis dahin beherrscht hatten. Hasan al Atwa beschrieb die Welt, wie er sie sah: die Gottlosigkeit, die Armut, die Hoffnungslosigkeit, die Richtungslosigkeit und die Dekadenz, die sie beherrschte. Und er fand in dem leichtgläubigen jungen Mann einen dankbaren Zuhörer. Denn das, was al Atwa sagte, war wahr. Niemand wusste das besser als er selbst, denn niemand hatte Hoffnungslosigkeit, Richtungslosigkeit, Ungerechtigkeit so
nah gespürt. Was lag da näher, als dieser Welt den Krieg zu erklären? Es lag so nahe, dass al Atwa nicht einmal selbst den Vorschlag dazu machen musste: Der Mann, der Lukas Podolski das Leben retten würde, kam allein drauf. Und ohne es zu bemerken, war er wieder John-Patricks Axt geworden.
3. Ein paar Monate vor dem Eröffnungsspiel zur Fußballweltmeisterschaft 2006 nahm Hasan al Atwa seinen alten Freund beiseite. Sie betraten einen kargen Raum, in dem nur ein Tisch stand. Und auf dessen Platte eine alte Holzkiste. Al Atwa wies ihm, sie zu öffnen, und so griff er hinein und hielt zu seiner Überraschung einen Fußball in seinen Händen. Lächelnd strich sich John-Patrick über den sorgsam gestutzten Bart. Er sagte: Das, mein Freund, ist unser Schicksal. Dieser eine Ball, dieser besondere, einzigartige Ball war ein Meisterwerk der terroristischen Bedrohung, denn zwischen Blase und Außenhaut war eine feine Schicht Sprengstoff eingezogen, versehen mit einem winzigen Fernzünder. Verglichen mit anderen Bomben verfügte der Ball über eine geringe Sprengkraft, aber für ein Blutbad war er auch nicht konzipiert worden. Seine Wirkung sollte eher symbolischer Natur sein: Vor den Augen der ganzen Welt würde er einen, vielleicht zwei Männer töten. Nicht irgendwelche Männer, sondern berühmte Fußballer, die alle kannten. Und deren Tod, live übertragen in jedes Wohnzimmer der Erde, wog mehr als die der vielen tausend Nobodys, deren gewaltsames Ableben schon längst niemanden mehr interessierte.
Alles, was jetzt noch fehlte, war der Mann, der mithilfe dieses Balles ein Zeichen setzte. Die Welt der Ungerechtigkeit brauchte einen Helden und unser leichtgläubiger Freund sollte dieser Held sein. Voller Stolz auf das in ihn gesetzte Vertrauen stimmte der Mann, der Lukas Podolski das Leben retten sollte, begeistert zu. Noch in derselben Nacht belohnte ihn das Mädchen mit den blonden Haaren und dem kleinen Leberfleck über der Oberlippe. Für unseren Freund war es mehr als die bloße Vereinigung von Mann und Frau. Es war wie die Heimkehr zu einem geliebten Menschen, den man so sehr vermisst hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, in die richtige Richtung abgebogen zu sein, und in gewisser Weise war er das auch. Nur nicht so, wie er dachte. Denn mochte es in seiner Welt auch Zufälle geben, in al Atwas Welt gab es sie nicht.
2. Drei Auserwählte begleiteten den Mann, der Lukas Podolski das Leben retten sollte, auf seiner Mission: John-Patrick, das blonde Mädchen und ein weiterer Bruder, der für unseren Helden einspringen sollte, falls der sein Ziel nicht erreichte. Vier im Kampf gegen einen übermächtigen Gegner, der über eine schier unüberwindliche Maschinerie aus Information, verdeckten Ermittlern und Polizei verfügte. Doch wie in allen gigantischen Maschinerien lag deren Schwäche im Detail: Man war vorbereitet auf einen Anschlag von außen – niemand rechnete mit einem Anschlag von innen. Was nutzte es, ein Stadion nach Bomben abzusuchen, den Luftraum gegen Flugobjekte zu sichern, die Besucher auf Waffen zu
kontrollieren, wenn die Waffe, nach der man suchte, schon längst im Stadion war? Die Spiele begannen. John-Patrick trat seinen Job als Balljunge an, das Mädchen mit den blonden Haaren und dem kleinen Leberfleck über der Oberlippe war als Ordnerin tätig und der Mann, der Lukas Podolski das Leben retten würde, bekam zusammen mit seinem Mitbruder Karten für das Endspiel: in der vordersten Reihe, auf Höhe des Sechzehnmeterraums. Wie John-Patrick diese Dinge organisiert hatte, ob er vielleicht alte Kontakte zu dem Club geknüpft hatte, der ihn mal zum Profi hatte ausbilden wollen, oder ob es eine höhere Ebene über JohnPatricks Gruppe gab, die über die nötigen Verbindungen verfügte, wusste der Mann nicht. Und John-Patrick verriet es ihm auch nicht. John-Patrick und das Mädchen mit den blonden Haaren und dem kleinen Leberfleck über der Oberlippe waren von Beginn an im Einsatz. Der Mann, der Lukas Podolski das Leben retten würde, verzehrte sich nach ihr, vor allem wenn sie aufgrund der Entfernung zur Basis über Nacht wegblieb. Aber sie berichtete ihm über jeden ihrer Einsätze und über die Routine, die sich langsam einschlich. Sogar darüber, dass sie – als Ordnerin – John-Patrick hatte anpfeifen müssen, sich nicht auf einen der Spielbälle zu setzen. Sie lachten beide sehr.
1. Endlich war der Tag des Endspiels gekommen. Die Begeisterung grenzte an Hysterie, denn die deutsche Mannschaft hatte den Heimvorteil nutzen können und nun schaute die ganze Welt auf ein grünes Rechteck, auf dem
zweiundzwanzig Männer um die wertvollste Trophäe kämpfen, die der Fußball zu vergeben hatte. Auch für al Atwas Gruppe war alles perfekt gelaufen, ohne Probleme tauschte John-Patrick den Ball aus, das Mädchen mit den blonden Haaren hielt ihm als Ordnerin den Rücken frei und unser Freund nahm seinem Platz in vorderster Reihe ein. Sein Zünder war als Radio getarnt, über einen Knopf im Ohr war er mit seinem geliebten Mädchen verbunden. Ein menschliches Bedürfnis ließ ihn kurz vor dem Anpfiff nochmal aufstehen und so sah er John-Patrick und sein Mädchen im Gespräch. Sie tauschten so zärtliche Blicke aus, dass er wie betäubt dastand. Taumelnd wankte er zu seinem Platz zurück und hörte weder die tosende Menge noch verfolgte er das Spiel, das jetzt begonnen hatte. Wie hatte er nur glauben können, dass sich sein Leben endlich zum Guten gewendet hatte? Wie hatte nur glauben können, dass sie sich in jemanden wie ihn verliebt hatte? Wie hatte er nur glauben können, dass er ein Held sein würde? Er war ein Nichts. Eine Stimme meldete sich in seinem Ohr: Der Ball war im Spiel. Die Stimme des Mädchens, die ihm jetzt so fremd schien, befahl ihm zu zünden. Aber er rührte sich nicht. Der Ball wurde auf der gegenüberliegenden Seite ins Aus geschlagen und durch einen anderen ersetzt. Die Stimme in seinem Ohr fluchte. Plötzlich stand das Mädchen vor ihm und fragte, was los sei. Als er nicht antwortete, riss sie ihm wütend das Radio aus der Hand und gab es seinem Mitbruder. Das Spiel ging in die zweite Hälfte. Keiner der Mannschaften gelang es, ein Tor zu schießen. Währenddessen suchte John-Patrick fieberhaft nach dem präparierten Ball und irgendwie gelang es ihm tatsächlich, den richtigen Ball wieder in die Hände zu bekommen.
Kurz vor Schluss der regulären Spielzeit bekam John-Patrick seine Chance: Ein Ball flog ins Aus und er warf den präparierten aufs Spielfeld. Teilnahmslos hatte unser Held das Geschehen verfolgt, doch jetzt ging ein Ruck durch seinen Körper: Jemand würde sterben. Aber es würde kein Unschuldiger sein, sondern er selbst. Er stürmte auf das Spielfeld. In derselben Sekunde nutzte Lukas Podolski eine Lücke und durchbrach die gegnerische Abwehr. Die Menschen im Stadion sprangen auf. Lukas Podolski lief allein auf das Tor zu. Jemand nestelte nervös am Radio und suchte den Zündknopf. Schon näherte sich Podolski dem Strafraum, nahm Maß für den Schuss, der das Spiel entscheiden würde. Im nächsten Augenblick riss ihn ein großer Kerl von den Beinen und warf sich auf den Spielball. Ein Radioknopf wurde gedrückt. Eine Explosion. Die Menschen im Stadion schrien entsetzt auf.
0. Der Mann, der Lukas Podolski das Leben hatte retten wollen, lag immer noch auf dem Rasen und hielt den Ball fest umklammert. Er spürte keinen Schmerz, fühlte keine Wunde, fand kein Blut: Er lebte. Und er hatte gerade das alles entscheidende Tor zum Weltmeisterschaftstitel verhindert. Er stand auf und sah flüchtende Menschen in der Ostkurve. Die Spieler verließen eilig den Platz, während Ordner, Polizisten und Sanitäter das Spielfeld stürmten. Kommandos gingen im Tosen der Zuschauer unter.
Ein Polizist stand plötzlich neben ihm und legte ihm Handschellen an. Er fragte: »Was ist passiert?« Der Polizist zuckte mit den Schultern: Es hatte wohl einen der Balljungen erwischt. Offenbar hatte der auf einer Bombe gesessen und war somit in den Genuss eines finalen Freifluges durch das Olympiastadion gekommen. Der Mann, der Lukas Podolski das Leben hatte retten wollen, spürte plötzlich einen eigenartigen Frieden in sich. Sein Leben lang hatte er sich nach einem Schlussakkord gesehnt, etwas, was seine innere Qual beendete, etwas, was ihn zur Ruhe kommen lassen würde. Jetzt endlich war es so weit: Er hatte alles versaut. Aber er fühlte sich endlich frei.
Stadt: Hannover Einwohner: 516.000 Austragungsort: FIFA WM-Stadion Hannover (AWD-Arena) Jahr der Einweihung: 1954 Zuletzt erfolgte Baumaßnahmen: Umbau Kosten: 64 Mio. WM-Sitzplätze: 39.297 Heimstatt von: Hannover 96 Gründung: 12.04.1896 Mitglieder: 3.400 Zweimal Deutscher Meister: 1938, 1954 Bemerkenswert: Zwei Turmfalkenpärchen mussten sich nach dem Abriss der alten Flutlichtmasten neue Nistplätze suchen.
Susanne Mischke
Dabei sein ist alles Noch fünf Minuten, elf Bieter, 401,50 Euro. Das war günstig für ein Vorrundenspiel. Sicher lag es an der Uhrzeit. Wer zockte schon nachts um zwei um eine Eintrittskarte? Man musste verrückt sein. Dazu kam das Risiko, bei der Stichprobe erwischt zu werden. Geld weg, und man blieb mit hängenden Ohren vor dem Stadion stehen. Vier Minuten, 415 Euro. Wer zahlte solche Preise? Er jedenfalls nicht. Schon die Dauerkarte für Hannover 96 riss jedes Jahr ein Loch in die Kasse. Und jedes Jahr forderte Hilde, er solle sich die Spiele gefälligst beim Nachbarn auf Premiere anschauen. Hilde hatte keine Ahnung. Weder vom Fußball noch von seiner Gefühlslage. Ein Fußballspiel war für ihn der Inbegriff von Leidenschaft, ein knapp zwei Stunden anhaltender Orgasmus mit fünf Tagen Prolog in der Presse. Verglichen
damit bescherte ihm das so genannte richtige Leben nur noch wenig Erotik. Natürlich konnte er das Hilde so nicht erklären, und auch nicht, was es für ihn bedeutete, ein WM-Spiel im Stadion zu erleben. 1974 war er dabei gewesen. Damals hatten die Stadien noch anständige Namen gehabt. So wie das Niedersachsenstadion. Der Name AWD-Arena wollte ihm partout nicht über die Lippen. Es war ein Skandal, dass Stadien, quasi Kultstätten, in denen so etwas Erdiges, Geradliniges wie Fußball zelebriert wurde, neuerdings nach Banken, Versicherungen, Finanzdienstleistern und Softwareprovidern benannt wurden. Es würde ihn nicht wundern, wenn es demnächst irgendwo ein eBay-Stadion geben würde. Apropos… Nur aus Neugier, wie die Sache ausgehen würde, klickte er auf aktualisieren. Der Bildschirm baute sich neu auf. 435 Euro, zwölf Bieter. Ein Wahnsinn. Er hatte alles versucht, um an zwei Karten zu gelangen. Als der Verkauf über das Internet losging, war er Punkt Mitternacht an den Computer gestürzt. Vergeblich. Nicht ein Ticket für eines der Vorrundenspiele hatte er bekommen. Er hatte an von Fromberg geschrieben, den neuen Clubchef von Hannover 96, hatte seine Vereinstreue mit Fakten unterlegt: Schon als Knirps war er im Eilenriedestadion unter den Zuschauern gewesen, seit 1986 war er Vereinsmitglied, fünfzehn Jahre Dauerkarten-Abonnent, ebenso lange im Fanclub aktiv. Er konnte die Namen der Aufstiegself von 1964 aufsagen wie das Vaterunser – Dierßen, Bandura, Siemensmeyer, Keller, Reimann, Rodekamp, Schatzschneider… All die Jahre hatte er zu den Roten gehalten. Auch in der zweiten Liga. Immerhin hatte man ihm geantwortet. Dem Vorstand seien, was die Ticketvergabe für das FIFA WM-Stadion Hannover
anginge, die Hände gebunden. Für den Verkauf sei allein die FIFA zuständig. Man bedauere daher sehr… und so weiter. Das Schreiben an den Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg brachte ein ähnliches Ergebnis. Die Welt war nicht gerecht. Sonst wäre nicht Georg, dieses Arschloch, über »Beziehungen«, wie er kryptisch verlauten ließ, an ein Sponsorenticket gekommen. Noch eine Minute beim Stand von 439 Euro und dreizehn Bietern. Von fremden Mächten beherrscht, bewegte sich plötzlich die Hand mit der Maus und zog den Cursor zum Kästchen bieten. Sein Puls raste. Vierzig Sekunden. Ich sitze hier und kann nicht anders! Dreißig Sekunden. Wenn Hilde das erfährt, lässt sie sich scheiden. Zwanzig. Es gibt viele Frauen in Deutschland, aber für dich nur noch diese eine WM. Fünfzehn Sekunden. Der Schweiß brach ihm aus. Er tippte 450,00 in das Kästchen. Ein Mausklick und ab damit. Quälend langsam baute sich eine neue Seite auf. Verdammt, er musste ja noch das Gebot bestätigen! Ganz ruhig. Es wird reichen, es wird reichen… Er brachte den Cursor in Position. Der Zeigefinger an der Maustaste zuckte wie ein Rennpferd in der Startbox. Noch zehn Sekunden. Mach schon, du lahme Kiste… Was war das?! Plötzlich eine schwarze Fläche, das schiere Nichts, der Urknall. Gleichzeitig ein schmerzhafter Schlag auf seine rechte Hand, die noch immer die Maus umkrallte. Er fuhr herum. In die Bettdecke gewickelt stand Hilde hinter ihm. Eine antike Rachegöttin mit einem Stecker in der Hand.
»Achim, du wolltest nicht etwa gerade ein Schwarzmarktticket für 450 Euro ersteigern, während du mir erzählst, dass wir uns diesen Sommer nicht einmal die Pension an der Nordsee leisten können?«, fragte sie gefährlich leise. »Nein«, sagte er und rieb sich die Knöchel seiner Hand, auf die sie mit dem Stecker gehauen hatte. Wenn sie das nur mal lassen könnte, ihm auf die Finger zu schlagen wie einem Kleinkind. Dasselbe tat sie, wenn er – was selten genug vorkam – ihr mal an den Busen fassen wollte. »Hab nur mal so reingeschaut«, grummelte er. Sie warf ihm einen scharfen Blick zu und wies darauf hin, dass sie in nächster Zeit die Kontobewegungen im Auge behalten würde. Dann verschwand sie, lautlos und barfuß, wie sie gekommen war. Achim stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und verbarg das Gesicht in seinen Händen. So blieb er lange sitzen, vor sich den toten Bildschirm.
Es war Juni. Die Vorrundenspiele hatten begonnen. Achim fuhr oft zwei Schichten hintereinander. Arbeit lenkt vom Kummer ab, hoffte er, doch das Gegenteil war der Fall: Ständig beförderte er Menschen, die zu den WM-Spielen anreisten. Menschen, die Tickets hatten und obendrein das Bedürfnis, ihm dieses mitzuteilen. Wissen Sie, wir sind gar keine Fußballfans, meine Frau hat sich nur zum Spaß um Tickets beworben… Achim war einer der wenigen Fahrer mit eigenem Taxi. Kein Lohnsklave, ein freier Unternehmer. Allerdings war es ein täglicher, harter Kampf gegen die übermächtige Konkurrenz. Zurzeit musste sich Achim noch dazu mindestens einmal täglich anhören, wie sich Hallo-Taxi-Georg in der Warteschlange vor dem Bahnhof oder dem Flughafen mit
seiner Karte für das Spiel Schweiz gegen Südkorea brüstete, als handele es sich dabei um das Bundesverdienstkreuz. »Wisst ihr, dass die Tickets einen GPS-Funkchip tragen? Das LKA kann genau orten, ob der Inhaber an seinem Platz sitzt, am Bierstand steht oder auf dem Klo ist«, verkündete Georg und setzte mit wichtiger Miene hinzu: »Security.« »Dann wird das LKA also mitkriegen, dass du es an der Prostata hast«, sagte Achim. »Neidhammel«, antwortete Georg und grinste selbstgefällig. Security. Um ins Stadion zu gelangen, hatte sich Achim sogar bei Protec als Ordner beworben. Man hatte ihn mit seinen zweiundfünfzig Jahren für zu alt befunden. Deutlich zu alt, hatten sie geschrieben. Sonst ein freundlicher Mensch, wurde Achim von Tag zu Tag wortkarger und reizbarer. Am Vortag des Achtelfinalspiels schwor er sich: Wenn Georg heute wieder von seinem Ticket anfängt, dann hau ich ihm ein paar aufs Maul. Aber sie trafen sich an diesem Tag nicht mehr. Ein Herr im Trenchcoat und mit einer Reisetasche stieg am Flughafen Langenhagen in Achims Taxi. Sofort machte sich ein aufdringlicher Duft im Wageninneren breit. Der will garantiert zu den Nutten, so wie der riecht, vermutete Achim. Folgerichtig gab der Mann ein Hotel im Steintorviertel als Fahrtziel an. »Im Moment herrscht sicher das reine Chaos auf den Straßen«, meinte der Mann. Er gehörte offenbar zu jenen, die Schweigen nicht ertragen konnten und lieber Unsinn faselten. »Nein, gar nicht«, antwortete Achim. »In Hannover ist man das gewohnt. Zur Expo war an manchen Tagen noch mehr los. Und wenn hier erst die Cebit ist…« »Dann wimmelt es nur so von Japsen, was?«
Achim nickte. Er fuhr die Asiaten gerne, sie waren stets höflich. Außerdem waren zur Cebit die Taiwanesen in der Überzahl, nicht die »Japsen«. »Wo kommen Sie her?« »Aus Paderborn.« Dazu schwieg Achim. Das Steintorviertel war belebt. Auch hier herrschte seit Beginn der WM Hochkonjunktur. Achim bemerkte neben der üblichen Besatzung etliche ihm unbekannte junge Damen. Die Stammhuren kannte Achim alle. Mit einigen verband ihn ein lockeres Joint-Venture-Abkommen. Eine Karamellbraune mit ausladenden Hüften und einer Zopfperücke, wie man sie in den umliegenden Afrikaläden kaufen konnte, winkte ihm zu. Sie nannte sich Molly. Sie stammte aus Brasilien, machte aber gerne auf französisch, in Wort und Tat. Und sie war ein Fußballfan. Mehr noch: »Fußball ist Religion«, pflegte sie zu sagen. Sie hat völlig Recht, fand Achim und dachte dabei an die Pilgerfahrten zu den Auswärtsspielen, die Reliquien in Form von Pokalen und Vereinsfahnen. Und jagte einem nicht schon das Ritual des Einlaufs der Spieler ehrfürchtige Schauder über den Rücken? Das Abfeiern der Fangesänge mit der Hand auf dem Herzen, das Deklamieren der Spielernamen, das tausendstimmige Ausrufen eines Torschützen, was waren das anderes als Hymnen und Gebete? Sicher träumte mancher Priester von so viel Inbrunst in seiner Kirche. Die zweite Karte – wenn er welche bekommen hätte – hätte er Molly gegeben. Er hätte ihre Hand mit den langen, wild bemalten Fingernägeln gehalten, hätte sie bei der La Ola aus dem Sitz gerissen und in der Pause mit Bier und Bratwurst versorgt. Nach dem Spiel hätte sie ihm bestimmt ihre Dankbarkeit aufs Angenehmste erwiesen. Daraus wurde nun leider nichts.
Unwillkürlich hatte Achim das Tempo gedrosselt. Sein Fahrgast ließ die Blicke schweifen. »Mann, hier wird ja so einiges an Frischfleisch geboten«, stellte er fest. Molly war stehen geblieben. »Interesse? Ich kann einen Rabatt aushandeln«, bot Achim an. »Doch nicht mit so einer schwarzen Drecksnutte! Da holt man sich ja weiß der Teufel was!« Achim zuckte bedauernd die Achseln in Richtung der Asphaltheldin und gab wieder Gas. Das Hotel kam in Sicht. Zum Glück würde er diesen engstirnigen Provinzler gleich absetzen. Er hielt auf dem Hof hinter dem Hotel, kassierte und schaltete die Taxileuchte aus. Für heute reichte es ihm. Er stieg aus, um dem Fahrgast die Reisetasche zu reichen. Als er sie anhob, platzte sie auf wie eine Pflaume im Backofen, der Inhalt verteilte sich im Kofferraum. »Können Sie nicht aufpassen, Herrgott?« Achim wollte schon antworten, dass er Kunze hieß, nicht Herrgott, aber da saugte sich sein Blick an etwas fest. Ein WM-Ticket. Er erkannte es sofort. Unschuldig lag es da, dezent illuminiert von der Kofferraumleuchte. Mit hektischen Bewegungen sammelte der Mann seine Habseligkeiten ein. Darunter befanden sich ein paar DVDs, deren Cover auf Streifen hindeuteten, wie sie für gewöhnlich in Bahnhofsnähe gezeigt wurden. Achim schickte sich an, dem Cineasten zur Hand zu gehen. Gut, vielleicht wollte er auch nur ein einziges Mal ein WM-Ticket in die Finger bekommen. Doch da geriet der Mann vollends in Rage. »Nehmen Sie Ihre Pfoten weg!«, bellte er und schlug Achim auf die Finger. Achim wich zurück. Er rieb sich die Hand. In seinem Kopf brannte eine Sicherung durch.
Der Herr war gerade fertig mit Einsammeln, als die Kante des Kofferraumdeckels auf seinen Schädel krachte. Augenblicklich fiel der Mann in sich zusammen, glitt an der Stoßstange herab und blieb vor Achims Füßen liegen wie ein alter Teppich. Für den Taxifahrer war es eine Kleinigkeit, den erschlafften Körper in den Kofferraum zu hieven. Er schloss die Klappe und blickte sich um. Kein Mensch war zu sehen. Achim stieg ein und jagte den alten Benz vom Hof. Ohne Plan, nur seinem Fluchtinstinkt gehorchend, drückte er das Gaspedal durch. Erst beim Anblick der Polizeiwache an der Herrschelstraße setzte sein Denken wieder ein. Er ging vom Gas. Bloß jetzt nicht auffallen. Er fuhr aus der Innenstadt hinaus, am Maschsee entlang in Richtung Süden. Auf dem leeren Parkplatz eines Supermarktes hielt er an. Langsam und mit gemischten Gefühlen öffnete er den Kofferraum. Was, wenn der nun wirklich tot war? Was, wenn er nicht tot war? Der Mann rührte sich nicht. Achim tastete nach der Halsschlagader. Kein Puls. Tot. So sicher, wie ein Ball rund ist. Seltsam, dachte Achim. Wie einfach es gewesen war. Die Reisetasche lag in der Ecke des Kofferraums. Das Ticket steckte in der Außentasche, neben der Brieftasche. Achim nahm es heraus und barg es im Handschuhfach, als könnte es ihm sein Besitzer im letzten Augenblick noch entreißen. Du bist wie ein Junkie! Ein Fußball-Junkie, der für seine Droge tötet. Er musste jetzt unbedingt eine rauchen. Beim Rauchen konnte er besser nachdenken. Gegen sein Fahrzeug gelehnt, stand er da, qualmte und nahm dabei die Brieftasche des Toten auseinander. Die zweihundert Euro Bargeld steckte er ein. So, so. Das wäre dann also ein Raubmord…
Unsinn. Wem nützt es, wenn ich die Kohle wegwerfe? Der Personalausweis wies den Mann als Olaf Glien aus; deutscher Staatsbürger, geboren am 4.10.1960 in Hamm/Westfalen, wohnhaft in Paderborn. Ein unschuldiger, ahnungsloser Mann aus der katholischen Provinz, der die niedersächsische Landeshauptstadt in bester Absicht besucht hat. Du warst der erste Mensch, den er hier traf, und du hast ihn getötet! Achim betrachtete das Foto. Würde der Ausweis einer Stichprobe vor dem Stadion standhalten? Der Mann hatte helles Haar, aber viel weniger als Achim. Wenn er sich eine partielle Glatze scheren und den Rest färben würde? Nein, es war sinnlos. Dieser Mann hatte ein glattes, plattes Mondgesicht, Achims Gesicht war hager, mit schroffen Falten um Mund und Augen. Und hatte er im Moment nicht ganz andere Sorgen? Was, wenn ihn hinter dem Hotel doch jemand gesehen hatte, vielleicht von einem der Fenster aus? Vielleicht ging seine Autonummer gerade per Funk an alle Streifenwagen. Vielleicht wartete zu Hause, vor dem Ricklinger Reihenhäuschen, schon die Polizei auf ihn, oder die Kripo, das SEK… So eine Blamage vor der Nachbarschaft würde ihm Hilde niemals verzeihen. Und selbst wenn das alles nicht der Fall war, so blieb die Sorge Nummer eins aller Mörder: Wohin mit der Leiche? Sollte er sie kurzerhand hier ausladen und hinter den Glascontainern ablegen? Oder passte sie in den Sammelcontainer für Altkleider? Die wurden ja oft wochenlang nicht geleert. Nein, es war zu gefährlich. Womöglich beobachtete ihn irgendein Penner im Gebüsch und dann hatte er den Salat. Noch etwas galt es zu bedenken: Wenn man die Leiche fand, würde das Bild des Toten in der Zeitung erscheinen. Vielleicht erinnerte sich dann ein Kollege, dass der Mann bei ihm
eingestiegen war. Oder Molly erkannte den Mann wieder, der sie aus seinem Taxi angestarrt hatte. Zwar redeten Nutten im Allgemeinen nicht gern mit der Polizei, aber darauf wollte er sich in diesem Fall nicht verlassen. Achim trat die Zigarette aus. Morgen. Morgen würde er in aller Ruhe einen Plan schmieden. So etwas musste mit kühlem Kopf angegangen werden.
Zu Hause führte ihn sein Weg direkt zum Kühlschrank. Er verbrachte eine halbe Stunde am Küchentisch mit seinem Freund Gorbatschow. Danach ging er ins Bett. Die Nacht wollte kein Ende nehmen. Lag es an Hildes leisem Schnarchen, an der Angst, als Totschläger entlarvt zu werden, waren es Gewissensbisse, die ihn wach hielten – oder die Vorfreude auf das Spiel? Morgen Abend, frohlockte er, morgen Abend würde er mit dem Ticket zum Spiel gehen. Schweizer gegen Koreaner im FIFA WM-Stadion Hannover. Er würde dabei sein! Mit diesen Gedanken schlief er endlich ein. Er träumte von Moorleichen, Scheintoten in Kofferräumen und BILDSchlagzeilen: Mord an Paderborner – Hannover 96 verstößt langjähriges Clubmitglied. »Achim!« Zwischen Albtraum und Erwachen hörte er Hildes geschäftige Schritte im Flur und ihr krächzendes »Achim!«, das ihn stets an einen Graupapagei denken ließ. »Achim! Wo ist der Autoschlüssel?« Autoschlüssel? Auto… Die Erinnerung an die gestrigen Geschehnisse traf ihn wie ein Kinnhaken. Er sprang aus dem Bett, dass ihm schwindelig wurde, und fuhr in die Hosen. Gott sei Dank, der Schlüssel befand sich in der Hosentasche. Er zog sich fertig an und ging die Treppe hinunter. Es war halb zwölf.
»Guten Morgen, Hildeschatz.« »Morgen ist gut. Ich dachte schon, du stehst gar nicht mehr auf. Gib mir mal den Autoschlüssel, ich möchte noch zu Aldi, bevor du losfährst.« »Das kann ich doch machen.« »Du?!« »Ich nehme mir heute frei. Hab genug geschuftet die letzten Wochen.« »Ist was?« »Warum soll was sein? Ich kann mich doch auch mal im Haushalt engagieren.« Hilde ließ ein misstrauisches Knurren hören. »Ich schreibe dir eine Liste. Zieh dich erst mal vernünftig an, dein Hemd stinkt. Und rasier dich.« Vorsichtshalber nahm er die Wagenschlüssel mit unter die Dusche. Während der Strahl auf ihn niederprasselte, überlegte er. Sollte er die Leiche im Wald vergraben, irgendwo ganz weit weg von hier? Nein, nicht irgendwo. In der Nähe von Paderborn. Falls man den Kerl doch finden sollte, würde die Polizei den Mörder in seinem heimischen Umfeld suchen. Schließlich waren laut Statistik die meisten Morde Beziehungstaten. Er beglückwünschte sich im Stillen zu dieser Idee. Allerdings würde er es heute nicht mehr schaffen, das zu erledigen, denn am Abend war ja das Spiel… »Wann fährst du mit deinen Kumpeln in die Stadt?«, fragte Hilde kurze Zeit später. Sie stellte die Warmhaltekanne mit dem vor Stunden zubereiteten Kaffee auf den Küchentisch. »So gegen sechs. Wir treffen uns vor der Großleinwand am Waterlooplatz.« Das Lügen klappte schon ganz gut. »Der Rasen muss noch gemäht werden«, sagte Hilde. »Georg braucht seinen Rasenmäher gelegentlich selbst wieder. Unserer ist ja immer noch nicht repariert«, fügte sie spitz hinzu.
Achim verzichtete auf den Hinweis, dass es nicht seine Schuld war, wenn die Firma das Ersatzteil nicht lieferte, und verschluckte auch die Bemerkung, dass er es nicht schätzte, wenn Hilde den Rasenmäher von Georg auslieh. »Ja, Schatz. Mach ich alles«, sagte er und lächelte. »Was gibt es denn zu grinsen?«, fragte Hilde argwöhnisch. »Nichts«, sagte Achim, dem gerade eine Idee gekommen war. Er schnappte sich Hildes Liste, kaufte ein und mähte in Windeseile den Rasen. Um sechs lud er den Rasenmäher auf die Rückbank des Mercedes und startete den Motor. An einem Kiosk, der nur ein paar Ecken entfernt lag, hielt er an. Das Warten zerrte an seinen Nerven. Aber er wollte sicher sein, dass Georg schon fort war, wenn er den Rasenmäher zurückbrachte. Zwei Bier und vier Zigaretten später fuhr er weiter. Viertel vor sieben. Jetzt war Georg sicher schon längst unterwegs zum Stadion. Das Spiel begann um neun, aber wegen der umfangreichen Sicherheitskontrollen war es besser, zeitig da zu sein. Georg wohnte nur wenige Kilometer von Achim entfernt, im Stadtteil Oberricklingen. Die Straßen der Siedlung waren nach Unkraut benannt. Sie hießen Am Ginsterbusch, Am Holunder und An der Dornenhecke. Georg lebte allein. Seine Frau, mit der Hilde befreundet gewesen war, hätte ihn vor vier Jahren verlassen. Wegen seiner Weibergeschichten. Manchmal beneidete Achim Georg. Nicht um die Weibergeschichten, nur um das Verlassenwordensein. Er bog in die Einfahrt des Fünfzigerjahre-Häuschens und hielt vor dem Blechtor der Garage. Vorsichtshalber drückte er die Klingel an der Haustür, aber erwartungsgemäß rührte sich nichts. Zuerst lud Achim den Rasenmäher aus, das Gerät, das sein Hiersein notfalls rechtfertigen würde.
Georg hatte die Garage nicht abgeschlossen und Achim stellte den Rasenmäher neben Georgs tiefergelegte Angeberkarre. An der Wand hingen diverse Gartenwerkzeuge ordentlich aufgereiht, in der Ecke stand die Schubkarre. Georg und sein Mustergarten, dachte Achim verächtlich. Um nirgends Fingerabdrücke zu hinterlassen, zog er Georgs Gartenhandschuhe über. Dann sah er sich prüfend um. Eine drei Meter hohe Thujenhecke umgab das Grundstück fast vollständig. Nur für die Einfahrt war eine Lücke gelassen worden. Aber da schützte ihn sein Wagen vor neugierigen Blicken. Nur Georg selbst hätte ihn vom ersten Stock des Hauses aus beobachten können. Aber der war ja nicht da. Achim öffnete den Kofferraum. Ein Geruch nach faulendem Obst schlug ihm entgegen. Wirklich ekelhaft, dieses Rasierwasser! Das Umladen des Toten gestaltete sich schwierig, denn die Leichenstarre hatte eingesetzt. Als Achim den steifen Ostwestfalen mit Schwung aus dem Kofferraum in die Schubkarre befördern wollte, gab es einen Ruck, der Körper rutschte ihm aus den Armen, er verlor das Gleichgewicht und landete bäuchlings auf der Brust des Toten. Ihm war, als hätte dieser dabei einen lauten Seufzer von sich gegeben. Von Grausen erfüllt, rappelte Achim sich auf. Der Trenchcoat des Mannes war schuld an dem Malheur, er hatte sich in der Anhängerkupplung verhakt. Achim machte ihn los und hob die sperrige Leiche auf die Schubkarre. Er hielt einen Moment inne und wischte sich über die schweißnasse Stirn. Jetzt musste der Tote nur noch um das Haus herum in den hinteren Teil des Gartens gekarrt werden, wo sein kühles Grab auf ihn wartete. »He, Achim! Was machst du da?« Von der Haustür her näherte sich Georg mit weit ausgreifenden Schritten. Schon stand er vor ihm, die Augen
schmal wie Messerrücken. Er schaute auf Achims Hände, die in seinen roten Gartenhandschuhen steckten. »Ich? Ich habe dir den Rasenmäher zurückgebracht«, sagte Achim und versuchte, Georg die Sicht auf die Schubkarre zu verstellen. »Was machst du eigentlich hier? Warum bist du noch nicht beim Spiel?« Georg sah nicht aus, als sei er auf dem Sprung. Er trug sein farbenfrohes Ballonseiden-Outfit, das gute Stück für den Fernsehabend. »Du hast gar kein Ticket!«, dämmerte es Achim. »Du hast die ganze Zeit gelogen, du mickriger Angeber!« Aber Georg ging nicht darauf ein. Mit einer Armbewegung schob er Achim zur Seite. Seine Augen erlangten schlagartig Teetassengröße, als sein Blick auf die Schubkarre fiel. Was blieb Achim anderes übrig, als den Spaten zu ergreifen und das Blatt gegen Georgs Schädel zu schmettern, dreimal, viermal, bis der zähe Hund endlich in die Knie ging, die Augen verdrehte und liegen blieb wie ein nasser Sack? Das war reine Notwehr, sagte sich Achim und war selbst erstaunt über seine Ruhe. Er empfand keine Reue. Eher Befriedigung. Ein Mord oder zwei, das machte offenbar keinen großen Unterschied. Und wo eine Leiche ihre letzte Ruhe fand, da war auch Platz für zwei. »ACHIM?!« Den blutigen Spaten noch immer in der Hand, sah sich Achim plötzlich seiner Gattin Hilde gegenüber. Innerhalb weniger Zehntelsekunden griffen in seinem Hirn diverse Erkenntnisse ineinander wie Zahnräder. Georg hatte gar kein Ticket. Hilde glaubte, er, Achim, sei längst mit den Kumpeln in der Stadt. Hilde war bei Georg.
Hilde war eine Spur zu grell geschminkt, roch nach einem törichten Parfüm und trug ein weit ausgeschnittenes Sommerkleid, das er noch nie an ihr gesehen hatte. Verstört starrte sie an Achim vorbei auf die beiden Leichen. Ein stummer Schrei riss ihr Gesicht auseinander. Aber sie würde nicht lange stumm bleiben, das war Achim völlig klar. Dreimal knirschte die Schubkarre über den Kiesweg und beförderte unter den gleichmütigen Blicken zweier Gartenzwerge im Vereinsdress von Hannover 96 ihre Last ans Ziel. Dann war der Schlamassel beseitigt. Den Spaten und die Aktentasche des Paderborners würde er morgen in die Leine werfen. Achim schaute auf die Uhr. Himmel, schon halb acht. Höchste Zeit, dass er in die Gänge kam, sonst schaffte er es nicht pünktlich bis zum Anpfiff. Er parkte den Wagen ein paar Straßen weiter und stieg in die Stadtbahn zum Stadion. Eine fröhlich feiernde Meute umfing ihn. Er fühlte sich wohl und geborgen. Die Droge Fußball begann zu wirken. Ballack, Kahn, Kuranyi und Mertesacker würden in nächster Zeit ordentlich zunehmen. Ebenso Poldi und Schweini, die zwei Neuen, und der alte Franz sowieso. Kois waren schließlich auch nur Karpfen. Und Karpfen waren Allesfresser.
Stadt: Kaiserslautern Einwohner: 99.000 Austragungsort: Fritz-Walter-Stadion Jahr der Einweihung: 1920 Zuletzt erfolgte Baumaßnahmen: Erweiterung Kosten: 48,3 Mio. WM-Sitzplätze: 41.513 Heimstatt von: 1. FC Kaiserslautern Gründung: 02.06.1900 Mitglieder: 10.500 Viermal Deutscher Meister: 1951, 1953, 1991, 1998 Bemerkenswert: Der ›Walk of Fan‹ – wer will, kann einen Stein mit individueller Gravur erstehen und sich verewigen lassen.
Theo Pointner
Krawalle in Kaiserslautern Ja, Euer Ehren, ich habe verstanden, was mir zur Last gelegt wird. Ich will auch gar nicht leugnen, begangen zu haben, was die Staatsanwaltschaft gerade vorgetragen hat, aber für alles gibt es einen Grund. Einen sehr guten Grund sogar. Ich will nicht behaupten, ich könne nichts dafür, aber um das, was passiert ist, richtig beurteilen zu können, müssen Sie, Euer Ehren, die ganze Geschichte hören. Danach werden Sie verstehen, warum ich heute hier vor Ihnen stehe. Es begann alles im letzten Juni, an einem wunderschönen Sommertag. Ich komme gerade nach Hause, habe den Fuß noch nicht ganz in der Tür, da klingelt das Telefon. Meine Lektorin meldet sich am anderen Ende der Leitung und nach einigen Höflichkeiten fragt sie, ob ich mich an einer Anthologie beteiligen wolle, die der Verlag anlässlich der anstehenden Fußball-WM herauszugeben beabsichtige.
Gezahlt werde das übliche Honorar, man werde sich auch darüber hinaus um eine Lesung vor Ort bemühen… Nun, ich wollte schon immer mal nach Kaiserslautern. Als gebürtiger Bochumer kann ich natürlich meine Zuneigung zum dort beheimateten VfL nicht verhehlen, aber die Roten Teufel waren mir danach immer die sympathischste Mannschaft. Vor allem wegen des legendären Spiels von 1973, als die Lauterer den Bayern nach einem 1:4-Rückstand in der sechzigsten Minute noch mit 7:4 die Lederhosen auszogen… Das muss den Pfälzern erst einmal jemand nachmachen. Hocherfreut sage ich zu, kann ich so doch sogar eine Tradition pflegen, denn immerhin habe ich bereits zwei Fußballkrimis geschrieben. Der Vertrag wird unterzeichnet und ich beginne mit den Recherchen, tauche ab in die Historie dieser Stadt, grabe mich durch die Geschichte der Fußballweltmeisterschaft von 1954es ist doch nahe liegend, eine Geschichte zu schreiben, die sich um die Helden von Bern rankt. Immerhin bestand das Gerüst der Mannschaft ja aus Spielern des 1. FC Kaiserlautern: die Walter-Brüder, Horst Eckel, Werner Liebrich, Werner Kohlmeyer… Welcher Fußballfan schnalzt nicht heute noch bei diesen Namen mit der Zunge? Damals musste Sepp Herberger viel Schelte hinnehmen, als er die Lauterer Spieler benannte, hatten sie doch im Finale der Deutschen Meisterschaft sang- und klanglos mit 1:5 gegen Hannover 96 verloren. Aber der Erfolg gab dem ›Chef‹ Recht. Bald ist eine Idee im Kopf, das Schreiben eine wahre Wonne, pünktlich reiche ich eine Geschichte ein, meine Lektorin jauchzt vor Freude, mein Verleger hat Tränen des Stolzes in den Augen… Es hätte alles so schön sein können. Doch da gibt es ja noch diese vermaledeite Lesung. Euer Ehren, verstehen Sie mich nicht falsch, ich freue mich auf jede Lesung, auf die Möglichkeit, meine Geschichten einem
interessierten Publikum vorzutragen, in Kontakt zu meinen Fans zu treten… Ja, ich gebe zu, auch die Aussicht, ein Honorar zu erhalten, trägt zu meiner Freude bei. Zunächst aber ahne ich nichts Böses, die Anthologie geht in Druck, der Verkauf verläuft sehr zufriedenstellend, einige Kritiken heben sogar wohlwollend meine Geschichte hervor. Und dann bekomme ich den Termin für die Lesung mitgeteilt, zusammen mit einem Abriss des geplanten Programms. Ich bin begeistert. Der Organisator hat ein tolles Programm auf die Beine gestellt, man plant einen bunten Abend kurz vor Beginn der WM. Ein Programmpunkt ist natürlich meine Lesung, daneben sollen die FCK-Fans Gelegenheit bekommen, ihre schönsten Schlachtgesänge vortragen zu können, weiterhin ist ein Interview mit einem ehemaligen Lauterer Nationalspieler geplant. Eine Funk-Rock-Band soll für die musikalische Untermalung sorgen, die Moderation liegt in den Händen eines bekannten Kabarettisten. Voller Vorfreude fahre ich also gestern los, ich wähle extra eine Route abseits der Autobahn, damit ich so viel wie möglich von der schönen Pfälzer Landschaft zu sehen bekomme. Am Nachmittag erreiche ich dann die alte Barbarossastadt, mache einen Bummel durch die schöne Altstadt, statte dem legendären Betzenberg einen Besuch ab – schon allein der Anblick der monströsen Stadionschüssel macht mir klar, warum die hier anreisenden Gastmannschaften bereits vor dem Anpfiff den Schneid verlieren –, bewundere anschließend die Ausstellung der Pfalzgalerie und kehre später in einem kleinen, urigen Lokal ein. Am Abend erscheine ich zum vereinbarten Zeitpunkt im Pfalztheater, in dessen Hauptfoyer die Veranstaltung stattfinden soll. Irritiert nehme ich einige Fahrzeuge wahr, die unmittelbar vor dem Eingang parken und mit dem Schriftzug
Canal 2 geschmückt sind. Tief greifende Gedanken mache ich mir allerdings nicht. Die Vorbereitungen sind in vollem Gange, ich bahne mir durch ein geschäftiges Gedränge einen Weg, wobei ich den Zettel mit dem Namen meines Ansprechpartners krampfhaft in den Händen halte. Ich sehe mich um, natürlich habe ich nicht mit einem Empfangskomitee gerechnet, aber ein Hinweisschild, wohin sich die Akteure des Abends wenden sollen, wäre schön gewesen. Schließlich frage ich die einzige Person, die nicht ständig hin und her rennt, ob sie mir weiterhelfen kann. Die Person ist ein magersüchtiger, kunstvoll frisierter Endzwanziger. Bekleidet mit einer abenteuerlich geschnittenen Kniebundhose, einem weißen Sakko aus reiner Seide, einem weinroten, gerüschten Hemd und einem dazu passenden Schal, der den spindeldürren Hals verdeckt, starrt er mich unwillig an. »Was war das?«, fragt er von oben herab. »Ich möchte gerne wissen, wo ich Herrn Kratowski finde«, wiederhole ich artig. »Und warum?«, sagt er gelangweilt. »Ich soll hier lesen.« Einen Moment sieht mich der Dürre verständnislos an, dann begreift er endlich. Doch statt zu antworten, wendet er sich ab, hebt den rechten Arm und schnippt mit den Fingern. »Hol mal einer den Herrn Organisator. Der Krimifuzzi ist da.« Überrascht sehe ich mich um. Krimifuzzi? Wen meint dieser Lümmel? Vor, hinter und neben mir herrscht immer noch reges Treiben, also meint er mit dieser despektierlichen Anrede wohl mich. Gerade will sich meine Stimme zu einem höflichen, aber entschiedenen Protest erheben, da ist der Gerüschte plötzlich verschwunden. Meine Pulsfrequenz hat sich noch nicht wieder beruhigt, da landet eine Hand auf meiner Schulter. Ein grauhaariger,
fülliger Mann, der die sprichwörtliche Gemütlichkeit des gebürtigen Pfälzers verkörpert, gesellt sich zu mir. »Kratowski, schön, dass Sie da sind. Haben Sie gut hergefunden?« »Ja«, antworte ich, immer noch ein wenig verärgert. »Nur der Empfang war nicht ganz so, wie ich erwartet habe.« Kratowski winkt ab, greift meinen Ellbogen und zieht mich mit sich. »Bei uns liegen die Nerven ein wenig blank. Canal 2 hat sich kurzfristig entschlossen, die Veranstaltung heute Abend aufzuzeichnen. Und das versetzt eben alle in helle Aufregung.« Was höre ich da? Canal 2, von den Einschaltquoten her der meistgesehene Fernsehsender Deutschlands, zeichnet meine Lesung auf? Strahlt sie vor einem Millionenpublikum aus? Vielleicht noch mit einem kurzen Interview mit mir? Mein Kreislauf setzt kurzfristig aus. Einen Moment sehe ich meine nächste Zukunft vor mir liegen, endlich der lang ersehnte Durchbruch, explosionsartig ansteigende Verkaufszahlen meiner Bücher, Scharen von weiblichen Fans, die sich bei den Lesungen um die Plätze in der ersten Reihe prügeln… Kratowski scheint meine Gedanken zu erraten, in seinen Augen zeigt sich ein feuchter Schimmer. Anscheinend ist er stolz, diesem erhabenen Moment beiwohnen zu dürfen. Bedächtig greift er in die Innentasche seiner Jacke, zieht einen Bogen Papier hervor und drückt ihn mir in die Hand. »Der Ablaufplan«, erklärt er. »Sie werden sehen, wir haben ein bisschen was am Programm geändert.« Gönnerhaft nehme ich ihm das Blatt aus der Hand und werfe einen desinteressierten Blick auf die Zeilen. Sekundenbruchteile später stockt mir der Atem. »Was soll denn das?«, stottere ich. »Wer will denn so etwas sehen? Geschweige denn im Fernsehen übertragen?«
Kratowski richtet seinen Blick zur Decke und seufzt hörbar durch. »Kulturaspekt«, nuschelt er undeutlich. »Es tut mir leid, aber wir hatten keinen Einfluss auf die Programmgestaltung.« Meine jüngste Zukunftsvision schwärzt sich wie ein defekter Bildschirm. Was, um alles in der Welt, hat Kulturaspekt mit Fußball zu tun? Und was soll ich hier? Meine Krimis passen so wenig in dieses Kulturmagazin wie Guido Westerwelle in einen deutschen Durchschnittspuff! »Das ist nicht Ihr Ernst«, bringe ich mühsam hervor. »Das interessiert doch keinen Menschen. Haben Sie überhaupt eine Karte für heute Abend verkauft?« Der Mann windet sich. »Ah, ja, doch, wir sind ausverkauft. Wenn das Fernsehen kommt, kommen auch die Zuschauer. Wir mussten uns sogar etwas einfallen lassen, um die Eintrittskarten gerecht zu vergeben.« »Und?«, frage ich. Nach Kratowskis Tonfall hat die Sache einen Haken. »Nun ja, wir haben uns an der Verkaufspraxis für die Karten der WM-Spiele orientiert. Ein Käufer musste seinen Personalausweis vorzeigen, ein makelloses polizeiliches Führungszeugnis vorweisen können und außerdem Besitzer eines Theaterabonnements sein. Ersatzweise reichte auch ein selbst geschriebener Aufsatz über die exemplarische Relevanz des Kubismus für die zunehmende Abstraktion in der Gesellschaft…« »Und… und was soll ich dann hier?« Kratowski schnappt nach Luft, er steht genauso wie ich kurz vor einem Herzinfarkt. »Es tut mir leid. Hören Sie, ich kann nichts dafür, wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir die Veranstaltung wie ursprünglich geplant durchgezogen. Da vorne ist die Garderobe für die Künstler, trinken Sie einen Kaffee und kommen Sie zur Ruhe. In einer Viertelstunde beginnt der Einlass.«
Damit bugsiert er mich sanft zu der nächstgelegenen Tür und macht sich dann aus dem Staub. Einsam und verloren lehne ich mich an eine Wand und studiere noch einmal ungläubig das Programm. Statt der angekündigten FCK-Fans, die ihre Schlachtgesänge zum Besten geben sollten, tritt nun eine deutsch-ungarische Pantomimengruppe auf, die das Finale von 1954 nachspielen will. Anstelle des avisierten ehemaligen Nationalspielers wird ein Lyriker zum Vortrag kommen, der extra für diesen Abend Fußballgedichte verfasst hat. Und die Funk-Rock-Truppe ersetzt ein Soundperformance-Künstler. Mit einem unguten Gefühl betrete ich die Garderobe, in der mich der nächste Schock erwartet. Nun, zunächst bin ich allerdings positiv überrascht, die Räumlichkeiten sind großzügig und gemütlich eingerichtet, auf einem langen Tisch stehen Platten mit Schnittchen, Obst und Getränken. Aber auch hier tummeln sich zu viele Menschen, eine Horde bleich geschminkter Männer in Retro-Trikots der deutschen und ungarischen Nationalmannschaften von 1954 belegt jeden vorhandenen Sitzplatz, vor den drei Schminkspiegeln hat sich jeweils ein weibliches Wesen niedergelassen. Ich will meinen Blick bereits wieder abwenden, als ich eine der Elfen genauer fokussiere. Okay, mit Make-up spart heutzutage ja niemand mehr, aber ich meine, unter der zentimeterdicken Cremeschicht einen Bartansatz zu entdecken. Und das protzig gefüllte Dekolletee der Dame kontrastiert zu der deutlich erkennbaren Ausbuchtung in der Leistengegend des eng geschnittenen Kleides. Mir ist die Luft zu stickig, fluchtartig verlasse ich die Garderobenräume und eile zum Ausgang. Am liebsten würde ich mich in meinen Wagen setzen, Vollgas geben und nach Hause fahren. Aber einerseits müsste ich dann eine Konventionalstrafe zahlen, andererseits pflege ich mich an den altbekannten Satz zu halten: The show must go on!
Auf dem Vorplatz des Theaters ist inzwischen die Hölle los. Die Besucher drängen sich vor dem Absperrband, ich sehe ausnahmslos gut gekleidete und distinguiert wirkende Menschen, die in ihrer Vorfreude auf das Event mein bereits etwas verwaschenes T-Shirt mit dem Logo der Criminale 2005 abfällig mustern. Ein flüchtiger Blick auf die Nummernschilder der abgestellten Autos zeigt mir, dass höchstens der Parkplatzwächter aus Kaiserslautern kommt. Sozusagen ein Lauterer Auswärtsspiel im eigenen Stadion… Hinter der Menge der Wartenden erhebt sich lauter Krawall. Die ursprünglich eingeplante Truppe FCK-Fans, der man wohl vergessen hat abzusagen, liefert sich eine heftige Auseinandersetzung mit dem Sicherheitsdienst und Kräften der Polizei. Als die ersten beiden Wasserwerfer heranrollen und ihre Spritzpistolen ausrichten, geben die Fans auf. Mürrisch und lautstarke Verwünschungen ausstoßend, geben sie das Terrain frei. Fassungslos verziehe ich mich an die Seite des Theatergebäudes, mit zitternden Fingern krame ich eine Zigarette aus der verknautschten Hardbox und zünde sie an. Bis heute hat eine geballte Ladung Nikotin immer geholfen, wenn ich meinen Adrenalinspiegel herunterfahren wollte; jetzt bleibt die erhoffte Wirkung aus. Ich bin nicht der Einzige, der vor Beginn der Veranstaltung noch Frischluft braucht, ein Schwarz tragender älterer Herr streift sinnierend durch das Gelände, seine Schritte führen ihn zu einem Grünstreifen in der Nähe des Turms, an dessen oberen Ende sich das langsam weichende Sonnenlicht spiegelt. Wenn ich mich nicht täusche, ist vorhin bei meinem Eintreffen dieses Areal der Hundestaffel der Polizei als Toilette zugewiesen worden. Von den Hinterlassenschaften unbeeindruckt, nähert sich der Herr dem Stückchen Natur, zupft ein noch feucht schimmerndes Gänseblümchen aus der
Erde, hält es sich unter die Nase und holt tief Luft. Während er erhaben ausatmet, entdeckt er mich, beginnt schelmisch zu grinsen und rollt ein wenig mit den Augen. »Inspirierend«, haucht er mir erklärend zu. Aha, das ist also der Fußballlyriker… Ich schnippe die halb gerauchte Zigarette zur Seite. Nun hat der Einlass begonnen, ich rausche an der Schlange der Besucher vorbei und dränge mich wieder in die Garderobe. Die nachgemachten Fußballer haben die Sitzgelegenheiten geräumt, die Elfen stärken sich gerade mit den letzten Resten der Käseschnittchen, während ein unförmiges männliches Etwas, das mir bisher entgangen ist, seine Augen nicht von dem Hintern der Elfe mit dem Dekolletee lösen kann. Anscheinend sind seine glasbausteinartigen Brillengläser noch nicht dick genug, denn von der ungewöhnlich gestalteten Leistengegend hat er offensichtlich noch nichts bemerkt. Plötzlich steht der Gerüschte in der Tür, die Kniebundhose hat er gegen eine nachtschwarze Smokinghose getauscht, ansonsten ist sein Outfit unverändert. Er gönnt allen Anwesenden ein hartes Lächeln und erklärt, dass es in fünfzehn Minuten losgehe. Die zweieinhalb Elfen nicken mit vollen Backen, der Unförmige atmet nervös durch. »Was für eine tolle Sache, dass wir dabei sein dürfen, was?«, fragt er mich unvermittelt. »Ansichtssache«, gebe ich zurück. »Weißt du, was das für einer ist?« »Wer?« »Der Typ mit dem Rüschenhemd.« »Den kennst du nicht?«, erhalte ich zur Antwort. »Nee.« »Das ist Cassian von Bödefeld. Hat in Hamburg Akzente mit seinem experimentellen Theater gesetzt. Wir haben uns mal
auf einer Vernissage in Winsen an der Luhe getroffen, deshalb hat er mich heute eingeladen.« Einen Moment versuche ich, auf einer imaginären Deutschlandkarte Winsen an der Luhe zu finden, gebe aber nach wenigen Sekunden auf. »Und was macht der hier?«, frage ich stattdessen. »Der arbeitet neuerdings für Canal 2, er ist der kommende Star in der Kulturszene.« »Aha. Was präsentierst denn du heute Abend?« »Ich bin der Soundperformancekünstler.« Jetzt bin ich beruhigt, dann kann ja nichts mehr schief gehen. Seufzend ergebe ich mich in mein Schicksal und packe meine Bücher aus. Vielleicht kann ich meine Lesung ja noch retten, indem ich andere Szenen als die, die ich sonst zu lesen pflege, heraussuche. Aber leider habe ich so etwas wie Krawehl, Krawehl von Loriot oder Zwei Hühner auf dem Weg nach Vorgestern wie Reinhard Mey nie geschrieben. Euer Ehren, bis hierhin ist das ja alles nur ein schaler Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte. Die Garderobenglocke scheucht uns auf und die Veranstaltung beginnt, ich verdrücke mich in eine Ecke des Zuschauerraumes. Selbst meine schlimmsten Befürchtungen sind in Anbetracht dessen, was sich anschließend darbietet, zu tiefgestapelt. Cassian von Bödefeld eröffnet den Abend mit einigen philosophischen Betrachtungen über die Wechselwirkungen von Kultur und Fußball im Allgemeinen und in Kaiserslautern im Speziellen und gibt dann den Befehl, den Vorhang, der einen Teil des Foyers verdeckt, zu öffnen. Einige lang gezogene Ohs und Ahs belohnen die Aktion. Fleißige Helfer haben einen etwa zehn mal zehn Meter großen Kunstrasenteppich ausgerollt, auf dem sich, neben zwei Miniaturfußballtoren, unzählige Instrumente befinden. Auf
einer kleinen Empore sind drei Mikrofonständer platziert, an der Seite der Empore steht ein mit Fußballleder überzogener Sessel. Neben dem Sessel entdecke ich ein kleines Stativ, auf dem, in Bronze gegossen, eine Nachbildung des Spielballs des Finales von 1954 ruht. Ob des Chaos wirkt das Ding völlig verloren. Ein geheimes Kommando lässt die Jungs in den RetroTrikots das Spielfeld stürmen, sie stürzen sich auf die Instrumente und legen los. Hohes Gericht, ich höre gerne Musik, die nicht dem Mainstream entspricht, aber so etwas wie das, was ich gestern Abend zu hören bekommen habe, tut körperlich weh. Nicht allein wegen der Lautstärke, nein, sogar Gruppen wie Motörhead oder die Stones können da nicht mithalten, es liegt eher an dem, was gespielt wird. Gekrönt wird die Darbietung durch das Gekreische der zweieinhalb Elfen. Und ich habe vergessen zu erwähnen, dass die Truppe in Echtzeit spielt, also über eine komplette Halbzeit von fünfundvierzig Minuten. Ich bin schon vor dem ersten Textbeitrag völlig erledigt. Nach dem schallenden Inferno tritt der Lyriker auf. Ich habe noch so ein schrilles Pfeifen im Ohr, sodass ich nur die Hälfte verstehe, aber angesichts solcher Zeilen wie: »Graue Großstadt / gar nicht glücklich / bin ich / das Schwarz-Weiß des Balles / getrieben von Füßen / besänftigt Taubheit«, verpasse ich wohl auch nichts. Euer Ehren, der Kerl steht eine gute Dreiviertelstunde auf der Bühne – und wissen Sie was? Das Publikum johlt, je länger er vorträgt. Er bekommt sogar Szenenapplaus, so als hätten die Roten Teufel wie 1973 gegen die Bayern innerhalb einer halben Stunde sechs Tore geschossen. Ich weiß immer weniger, was ich davon halten soll. Und es wird alles noch schlimmer. Dieser Cassian kommt trunken vor Begeisterung auf die Bühne, herzt und drückt den
Blümchenkiffer, als habe dieser gerade den Literaturnobelpreis erhalten. Und während der Lyriker unter nicht enden wollendem Applaus von der Bühne abtritt, kündigt Cassian voller Stolz eine Entdeckung an, die er selbst gemacht habe, ein Juwel am Himmel der Kleinkunst. Gleich darauf wankt das Mensch gewordene Gummibärchen auf die Empore, schnappt sich das Mikro und – stöhnt, grunzt, krächzt und jault aus den Boxen, dass ich schon erschrocken zum Handy greifen will, um den Notarzt zu rufen. Entweder hat der arme Junge da vorne eine hörbar gemachte Verstopfung oder er leidet an einem Oberschenkelhalsbruch in Kombination mit einem geplatzten Hirntumor. Aber niemand sonst macht sich Sorgen. Das Publikum lauscht zunächst andächtig, bewegt dann allmählich die Glieder zu den akustischen Ausscheidungen des Darbietenden, schaukelt sich immer mehr hoch, bis es zu ersten jubelnden Zwischenrufen kommt. Das Männchen gibt alles, das Publikum stachelt ihn an, er wirbelt über die Bühne, als hätte ihm Hans-Peter Briegel seine Stollen in die Wade gerammt. In den ersten Reihen werden zwei Frauen vor Entzückung ohnmächtig. Endlich hat der Geräuschemacher ein Einsehen und beendet, wie er betont, das Aufwärmlied. Strahlend kündigt er das nächste Werk an, eine Komposition, eigens für diesen Abend geschaffen: das Fußballalphabet. Während ich darüber rätsele, was er damit meint, pumpt sich der Künstler voll Luft, umklammert mit beiden Händen das Mikro, schaut bedeutungsschwanger in die Runde seiner Fans und beginnt: Ballala – A (Pause), Ballala – B (Pause), BallalaC… Euer Ehren, um es abzukürzen, er bringt es bis zum Z. Sie müssen doch nun langsam verstehen, dass passiert ist, was passierte, oder?
»Was hat das mit Fußball zu tun?«, krächze ich entgeistert, aber in dem Tumult versteht mich niemand. Zum Glück verlässt das Gummibärchen schon zehn weitere Minuten später die Bühne. Nach Ablaufplan folgt nun meine Lesung, aber Cassians schneidende Ansage kündigt stattdessen die zweite Halbzeit des Finales von 1954 an. Mir ist inzwischen alles egal, von meinen Freunden und Bekannten sieht keiner Kulturaspekt, von meinen Fans mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch niemand. Aber vielleicht bewirkt so ein kurzer Dreh einer öffentlichrechtlichen Sendeanstalt ja doch etwas, vielleicht gewinne ich wenigstens zwei, drei neue Leser. Fünfundvierzig Minuten plus Nachspielzeit lang lasse ich die Trompeten von Jericho über mich ergehen, dann dröhnt plötzlich die Stimme des legendären Herbert Zimmermann aus den Lautsprechern: »Aus, aus, das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister…« Das Publikum ist inzwischen ruhiger geworden, anscheinend hat sie die geballte Ladung Kultur ähnlich geschafft wie mich. Seufzend greife ich zu meinen Büchern, um meinerseits die Empore zu betreten, Cassian rüstet sich bereits zur Ansage… Doch was ist das? Die Kameramänner schalten ihre Arbeitsgeräte aus, ziehen die Kabel aus den Steckern und nehmen die Kopfhörer von den Ohren. Was soll das? Mein Auftritt steht doch noch bevor. Die sollen gefälligst mal auf den Ablaufplan schauen! »Liebes Publikum, ich bedanke mich im Namen aller Mitwirkenden für Ihre Aufmerksamkeit und Ihren Enthusiasmus«, höre ich Cassian nun reden. »Haben Sie noch einen wunderschönen Abend bei unserem Champagnerempfang, kommen Sie gut nach Hause. Und während Sie in aller Ruhe Ihre Plätze verlassen, unterhält
Sie… äh… na ja, liest für Sie jemand eine Krimikurzgeschichte. Vielen Dank.« Euer Ehren, an dem Punkt ist bei mir wohl eine Sicherung durchgebrannt, wirklich erinnern kann ich mich an die Einzelheiten nicht. Ich muss mir diesen in Bronze gegossenen Ball von der Empore geschnappt und Cassian eine Kopfballvorlage gegeben haben. Und nach den Ereignissen des Abends und dieser Demütigung ist es aus meiner Sicht egal, ob ich das einmal oder, wie die Polizei und die Zeugen behaupten, dreiundvierzig Mal gemacht habe. Tot war er schon beim ersten, spätestens beim dritten oder vierten Schlag. Was meinen Sie, Euer Ehren? Ob ich meine Tat bedaure? Aber natürlich, ich bin überzeugter Pazifist, schon den Wehrdienst hab ich verweigert. Ich hätte selbst nie vermutet-, dass ich zu so etwas fähig bin. Was? Sie sagen, ich werde im Gefängnis genug Zeit haben, um über mein Gewaltpotenzial nachzudenken? Ich könne ja für meine Mithäftlinge ab und zu mal eine Lesung veranstalten? Meinetwegen, solange die nicht wieder für das Fernsehen aufgezeichnet wird.
Stadt: Hamburg Einwohner: 1.737.000 Austragungsort: FIFA WM-Stadion Hamburg (AOL-Arena) Jahr der Einweihung: 2000 Zuletzt erfolgte Baumaßnahmen: Neubau Kosten: 97 Mio. WM-Sitzplätze: 45.442 Heimstatt von: HSV Gründung: geht zurück bis in das Jahr 1887 Mitglieder: 30.466 Sechsmal Deutscher Meister: 1923, 1928, 1960, 1979, 1982, 1983 Bemerkenswert: Charly Dörfels Toupet in Deutschlands modernstem Fußballmuseum
Gunter Gerlach
Chancengleichheit »Wir bevorzugen die weiche Lösung. Sie sollen Wehner gegenüber nur argumentieren – aber natürlich mit Ihrem speziellen Nachdruck.« Die Stimme am Telefon klebt die Worte aneinander, lässt ihnen keinen Raum. Bevor mich ein Anruf in Hamburg erreicht, geht er einmal um die ganze Erde. Ich habe ein eigenes Weiterleitungssystem. Das können sich nur die Spitzenkräfte in meiner Branche leisten. Der Mann hat seinen Namen nicht genannt, aber ich kenne die Stimme. Ich habe ihn im Fernsehen gesehen. Er bekommt beim Sprechen die Zähne nicht auseinander. Und er sitzt in dem Gremium, das über das neue Regelwerk im Fußball entscheidet. »Es steht sechs zu fünf für die neuen Regeln. Wir brauchen wenigstens ein Patt, damit sich nichts ändert.«
Ich weiß, um was es geht. Dieser Wehner hat die neuen Ideen für den Fußballverband formuliert. Die Vereine sollen je nach Tabellenstand mit unterschiedlich vielen Spielern auflaufen. Im unteren Drittel können dreizehn Spieler erlaubt sein. Die mittleren Vereine dürfen mit zwölf und die Spitzenvereine mit – wie bisher – elf Feldspielern antreten. Leistungsausgleich hat Wehner das genannt. Herstellung von Chancengleichheit. Aber solche Absurditäten gab es nicht mal zu Lenins Zeiten in der Sowjetunion, geschweige denn im revolutionären Frankreich. »Hat Wehner einen Nachfolger im Gremium?«, frage ich. »Ja, das wäre einer von unserer Seite, aber bitte, wir wollen nur, dass Sie mit Wehner diskutieren.« »Klar, schon gut. Verstehe vollkommen. Wo wohnt dieser Wehner?« »Am Stadtrand von Hamburg.« Ich zucke zusammen. Weiß mein Auftraggeber, dass ich mich in Hamburg aufhalte? Doch dann sagt er: »Ich hoffe, Sie können innerhalb weniger Tage dort sein.« Er nennt mir die Details. Ich wiederhole sie, anschließend lege ich auf und wische mit einem saugfähigen Tuch den Telefonhörer trocken. Nach solchen Telefonaten muss ich das immer tun. Wegen meiner Hände. Sie schwitzen zu sehr. Ich bin der Weihnachtsmann. Mit angeklebtem Bart, künstlicher Nase, großer Sonnenbrille und Geschenkpaket fange ich Wehners siebenjährigen Sohn vor der Schule ab. Wehners Frau kommt oft zu spät oder schickt jemanden, ihn abzuholen. Seit sie von ihrem Mann getrennt lebt, arbeitet sie vormittags in einem Büro. Der kleine Lazarus folgt mir und klettert in mein Auto. Ich erkläre ihm, seine Mutter sei bereits auf einer Geburtstagsparty und ich solle ihn hinbringen. In meinem Paket ist ein Käfig und darin eine kleine braune Maus. Das überzeugt und lenkt den Jungen von mir und dem Fahrtweg ab.
»Bist du gut in der Schule?«, frage ich. »Klar«, sagt er. »Ich bin der Beste.« Wegen meiner Hände habe ich mein Lenkrad mit Schaumstoff bezogen. Der Schweiß kann daher während der Fahrt nicht auf meine Hosenbeine tropfen. Ich fahre Richtung Barsbüttel, aufs Land. »Und was willst du mal werden?« »Fußballspieler.« »Und wie viele Spieler sollten deiner Meinung nach in einer Mannschaft sein?« Ich drehe mich zu ihm um. Er lässt seinen Blick nicht von der kleinen braunen Maus, steckt einen Finger durch die Gitterstäbe. »Ist mir egal«, sagt er. »Ich bin der Beste.« »Fair geht vor«, sage ich. Wir lachen beide. Der Junge gefällt mir. Immer kommt es auf die Leistung und Durchsetzungsfähigkeit eines einzelnen Spielers an. Individualität statt Solidarität. Es gibt nur Gegner. Diese Haltung ist es, die den Ball ins Tor bringt. Sonst kann man gleich zum Synchronschwimmen gehen. Wir lassen die Stadtgrenze hinter uns. Die ersten Felder sind zu sehen. Ich biege in einen Weg ein, der zu einer Scheune führt. »Warst du schon mal in so einer Scheune?« Die Maus knabbert an seinem Zeigefinger. Er antwortet nicht. »Ich zeige dir die mal von innen«, sage ich. »Da gibt’s noch mehr von den niedlichen Mäusen.« Ich parke hinter der Scheune und öffne dem Jungen die Autotür. In meinen Handflächen steht das Wasser. Hätte es für meinen Beruf eine Eignungsprüfung gegeben, ich wäre aufgrund meiner Schweißausbrüche abgelehnt worden. Aber ich habe es geschafft, bin trotz der nassen Hände einer der
Besten in meinem Fach geworden. Ich bin der Beweis, dass nur der Wille des Einzelnen die Menschheit voranbringt.
Ich warte, bis Wehner am Abend allein im Haus ist, schleiche mich in den großen Garten. Durch die Eingangstür kommt man nicht rein. Ketten und Riegel. Ich versuche es an der Kellertür mit einem Elektropicker. Damit geht fast jedes Sicherheitsschloss auf. Pech, als sich die Tür öffnen lässt, spüre ich, dass ein stummer Alarm ausgelöst wird. Ich habe ein Gefühl für solche Installationen. Kommt durch die feuchten Hände. Das Klicken des Relais fährt wie ein winziger Stromschlag in die Sehnen meiner Arme. Der Schlüssel für die Kellertür hängt an der Wand direkt daneben. Ich nehme ihn mit und gehe zurück zum Haupteingang. Ich sehe auf die Uhr. Was werden die Leute vom Sicherheitsdienst dem Mann erzählt haben? Wie lange wird es dauern, bis sie kommen? Sieben Minuten scheint mir die richtige Zeit zu sein. Nach fünf Minuten klingle ich. »Sicherheitsdienst«, brülle ich durch die geschlossene Tür. »Ihr Alarm wurde ausgelöst.« Wehner öffnet mir. »Gut, dass Sie kommen. Ich glaube, es ist jemand im Keller.« Im Fernsehen hatte er die Mimik einer Katze. Jetzt ist sein Gesicht ein Stück Käse. Seine Hände zittern. »Ihr Codewort?«, frage ich. »Elfmeter.« »Gehen Sie ins obere Stockwerk und schließen Sie sich im Schlafzimmer ein. Ich erledige das.« Wie ein Anfänger wickle ich meine Pistole aus der Jackentasche. Sie unterstreicht meine Worte. Wehner springt die Treppe hinauf.
Ich hänge meine Jacke an die Garderobe, ziehe die Schuhe und Socken aus, knöpfe das Hemd und die Hose auf und lasse einen Hemdzipfel aus dem Hosenschlitz gucken. Dann reibe ich meinen Hals, bis er rot wie der eines Truthahns ist. Ich überprüfe mein Aussehen im großen Spiegel in der Eingangshalle. Im Wohnzimmer verstecke ich die Pistole hinter dem Vorhang auf der Fensterbank. Ich nehme Wehners gefülltes Rotweinglas in die Hand und warte auf das nächste Klingeln. Es erfolgt nach wenigen Sekunden. »Das ist mein Kollege«, rufe ich nach oben. Der Schweiß tropft vom Fuß des Weinglases. Ich öffne die Haustür. »Sicherheitsdienst«, sagt der Mann. »Gut, dass Sie kommen. Ich glaube, ich habe aus Versehen im Keller die Alarmanlage ausgelöst. Es hat mich so durcheinander gebracht, dass ich nicht mal mehr Ihre Nummer fand, um den Fehlalarm zu melden.« Er guckt auf meine nackten Füße, kann den Blick kaum wenden. Dann sieht er meine geöffnete Hose, den Hemdzipfel, den roten Hals. Er glaubt mir sofort, dass ich der Bewohner dieses Hauses bin. Ich führe ihn nach unten, erkläre, dass ich versehentlich die Kellertür geöffnet habe, ohne vorher die Anlage zu deaktivieren. »Wo ist der Schlüssel?« Ich ziehe ihn aus der Hosentasche. Er nimmt ihn und schließt die Tür wieder ab, rüttelt noch an den Kellerfenstern. Erst jetzt fragt er mich nach dem Codewort. »Elfmeter.« Er stellt die Alarmanlage zurück und meldet sich bei seiner Zentrale. Schließlich schreibt er mir noch die Notrufnummer auf und will wieder gehen. Ich biete ihm ein Glas Rotwein an. Auf den Schreck. Er lehnt ab. Er ist im Dienst. »Interessieren Sie sich für Fußball?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf. »Nicht. Das gibt’s doch gar nicht. Ich hätte Ihnen sonst ein paar Freikarten für den HSV geschickt.« Ich gebe ihm meine Hand zum Abschied. Er schüttelt sie mit hochgezogener Lippe, nimmt die Nässe als Ausdruck meiner Angst. Mit einem fallenden Schweißtropfen wandert sein Blick nach unten. Was ihm später zuerst in den Sinn kommen wird, sind meine nackten Füße. Niemand hat so verkrüppelte Zehen wie ich. Ich musste immer die Schuhe meines älteren Bruders auftragen. Sie waren mir zu klein.
»Meine Name ist Robert Adenauer«, stelle ich mich Wehner vor. Ich grinse. Berühmte Namen haben große Glaubwürdigkeit. »Ich bin mit dem Alten tatsächlich verwandt, aber über mehrere Ecken«, behaupte ich. Wehner forscht in meinem Gesicht nach Ähnlichkeit. »Der Name hat mir bis heute nichts genützt«, ergänze ich. »Ich musste mir alles selbst erarbeiten.« Das ist meine Eröffnung der Diskussion mit ihm. Ich habe ihm gesagt, dass ich aus Sicherheitsgründen noch ein paar Minuten im Haus bleibe. Er setzt sich im Wohnzimmer wieder in seinen Sessel, greift nach seinem Rotwein, bemerkt den feuchten Fuß des Glases. Ich habe vergessen, ihn abzuwischen. »Möchten Sie auch?«, fragt er und hebt das Glas. »Bin im Dienst«, sage ich. Ich warte darauf, dass er meine Spucke trinkt. Denn ich habe in das Glas gerotzt. Ich glaube, wenn ich ihn dazu bringe, meine Sekrete zu trinken, habe ich ihn in meiner Gewalt. Es ist eine naive Magie, aber sie funktioniert oft.
Er betrachtet das Glas, hält es gegen das Licht einer Stehlampe. »Es war ein Fehlalarm«, versuche ich, ihn von der Untersuchung seines Glases abzulenken. »Das kommt bei älteren Anlagen und hoher Luftfeuchtigkeit und Kondenswasser mal vor.« Meine Erklärung für die Nässe am Glas. »Fußballspieler arbeiten bei so einer Witterung ja auch nicht mit Höchstleistung.« Zurück zur Diskussion. Er trinkt nicht, sondern zieht die Brauen hoch. Er lehnt sich in seinem tiefen Sessel zurück und setzt das Glas wieder auf einem kleinen Beistelltisch ab. Genau auf den im Mosaik eingearbeiteten goldenen Fußball. Allmählich erinnert sein Gesicht wieder an die Mimik eines Katers. »Na ja, ich weiß, wer Sie sind«, erkläre ich. »Ich habe Sie schon im Fernsehen gesehen. Sie wissen schon: elf, zwölf und dreizehn Spieler und so.« Er nimmt das Glas wieder auf. »Ach, die neuen Regeln«, schnurrt er. Er atmet tief. Es köchelt in seiner Kehle. Er hustet es ab, greift erneut zum Glas und trinkt endlich. Er spült den Mund mit dem Wein. Sein Adamsapfel wartet auf den Schluck. Dann springt er hoch und runter. Jetzt habe ich leichtes Spiel. »Dazu wird es ja nicht kommen.« Ich ziele mit meinem Zeigefinger auf seine Brust. »Nein?« »Schon allein, weil der Fußball ein Abbild unserer Gesellschaft ist.« »Ach ja. Ist er das?« »Jeder Spieler muss die Merkmale des Solisten mit sich tragen. Muss Individualist sein. Nicht die Mannschaftsleistung entscheidet, sondern das Solo im entscheidenden Moment.«
»Und das ist ein Abbild unserer Gesellschaft?«, fragt Wehner und trinkt einen weiteren Schluck. Ich bin mir nicht sicher, ob seine Frage Ironie ist. Er lächelt und trinkt das Glas aus. »Ich verstehe«, sagt er. »Wer Hilfe braucht, hat schon verloren. So meinen Sie das doch?« Meine Spucke in seinem Körper wirkt nicht. »Wir lassen ja schließlich auch keine einbeinigen Fußballspieler zu«, sage ich. Er steht auf, sieht mir ins Gesicht. »Keine schlechte Idee.« Er hebt die Rotweinflasche. Für einen Moment denke ich, er will damit zuschlagen, aber dann schenkt er sich das Glas wieder voll. »Und was ist, wenn es nicht genug Spitzenfußballer gibt, um achtzehn gleichwertige Mannschaften in einer Liga zu bilden?« Er schiebt die Lippen vor wie für einen Kuss. »Der Starke siegt. Darwin und so.« Er fragt, ob ich wirklich keinen Wein will und ob ich tatsächlich Adenauer heiße. Ich setze mich, lasse mir jetzt ein Glas einschenken. »Ihr Sohn«, sage ich. »Lazarus?« »Ich hab ihn.« Ich betrachte meine Handflächen, wische sie an der gepolsterten Sessellehne trocken, bevor ich nach dem Glas greife. Es könnte mir aus der Hand rutschen.
Ich habe ihm erlaubt, seine Exfrau anzurufen. Lazarus ist weg, hat sie gesagt. Sie war schon bei der Polizei. Er schließt die Augen. »Kinder gehören zu den Schwachen. Die haben bei Ihnen wohl keine Chance.« »Die wissen, dass sie schwach sind. Und Fußball«, sage ich, »Fußball spielen die auch.«
Er schüttelt den Kopf. Er schweigt lange, will wahrscheinlich Lebenszeit gewinnen. Dann erzählt er eine Geschichte von einer Segelregatta, die regelmäßig in einer kleinen Stadt oben im Norden durchgeführt wird. Jeder kann mit seinem Boot mitmachen. Aber weil jeder eine andere Art von Schiff mit mehr oder weniger Segelfläche besitzt, dürfen die langsameren Schiffe zuerst starten. Die jeweils schnelleren dann mit entsprechendem Abstand. Er formuliert Sätze immer wieder neu und anders. »Ist das nicht das beste Ziel?«, fragt er mich. »Gemeinsam anzukommen?« Ich gehe zum Fenster, trockne meine Hände an den geblümten Vorhängen. Ich nehme meine Waffe von der Fensterbank und entsichere sie. »Segeln können die nur, weil es Wind gibt«, erkläre ich, die Pistole in meiner Hand. »Der nützliche Wind entsteht durch Unterschiede, in Temperatur und Luftdruck zum Beispiel. Die Unterschiede machen es. Oben und unten.« Ich betrachte meine Füße. Meine Zehen entwirren sich nicht. Wehner wartet auf meinen Blick, hält das Weinglas in die Schusslinie. Wenn er jetzt das Richtige sagt, gehe ich.
Ich fahre zurück zu der Scheune und verzichte auf den Bart und die künstliche Nase. Der Junge liegt still in seinen Fesseln. Ich rufe ihn. Er rührt sich nicht. Die Dosis des Beruhigungsmittels war zu hoch. Ich befreie ihn von dem Strick und seinem Knebel. Leblos hängt er in meinen Armen. Ich nehme ihn über die Schulter. Ein Stück Fleisch. An der Böschung eines Grabens lege ich ihn ab. Ich ohrfeige ihn, aber er kommt nicht zu sich. Ich hole seine Schultasche, platziere sie neben ihm. Ich fühle nach seinem Puls. Da ist noch ein schwaches Pochen. Dann rufe ich den
Rettungsdienst an. Sie kommen mit einem Hubschrauber und einem Notarzt. Ich habe wohl bei der Schilderung seines Zustandes übertrieben. Ein Polizist befragt mich. »Ich hab ihn hier beim Spazierengehen gefunden.« Ich breite die Arme aus. Die kühle Morgenluft ist gut für meine Hände. »Mehr kann ich nicht sagen.« Ein Arzt beatmet den Jungen mit Sauerstoff. »Er wird es schaffen«, sagt er. Ich hebe die Schultasche hoch. »Er heißt Lazarus.« Ich zeige auf den Namen, der unter der Abbildung eines Fußballs steht. Ein Schweißtropfen fällt auf die Tasche, perlt ab und rollt über den Stoff. Das Gerede von der Chancengleichheit wird der Junge nicht mehr hören. »Er wird mal ein berühmter Fußballspieler. Der Beste«, sage ich.
Stadt: Frankfurt am Main Einwohner: 657.000 Austragungsort: FIFA WM-Stadion Frankfurt (Commerzbank-Arena) Jahr der Einweihung: 2005 Zuletzt erfolgte Baumaßnahmen: Neubau Kosten: 188 Mio. WM-Sitzplätze: 43.324 Heimstatt von: Eintracht Frankfurt Gründung: geht zurück bis in das Jahr 1899 Mitglieder: 7.000 Einmal Deutscher Meister: 1959 Bemerkenswert: Die innovative Dachkonstruktion macht die Arena zum ›größten Cabrio der Welt‹. (Eigenwerbung)
Krystyna Kuhn
La Ola Maria, Maria. Ihr Vorname könnte schön sein, wäre der Nachname nicht so gewöhnlich. Der Taxifahrer hebt den Rollstuhl aus dem Kofferraum, bevor die roten Stiefel endgültig im Matsch versinken. »Helfen?«, stottert er. Ein ungewohntes Wort in Marias Ohren. Es sollte aus ihrem Mund kommen, nicht aus seinem. Sie verneint, klappt routiniert den Rollstuhl auf und setzt sich hinein. Fürsorglich breitet der Taxifahrer die alte Wolldecke über die Knie. Er wundert sich nicht. Offenbar kommt ihm nichts an Maria seltsam vor, denn er befindet sich in einem Land, wo alles
seltsam scheint. Seit er in Frankfurt lebt, hat er akzeptiert, dass er auf dem Weg ins Paradies durch die Vorhölle muss.
»Fußball«, hatte Maria mit der lauten Pflegerinnenstimme erklärt. »Verstehen Sie? Fußballweltmeisterschaft. Deutschland gegen… Keine Ahnung. Ich interessiere mich nicht für Fußball. Und Sie, Frau Sienkiewicz? Mögen Sie Fußball?« Der Fernsehapparat lief wie immer bei wichtigen Ereignissen. Das war so am 11. September, bei der TsunamiKatastrophe, bei den Hochzeiten im norwegischen, spanischen, dänischen Königshaus, als der Papst starb und gleich darauf Deutschland Papst wurde. Welche Gefühle auch immer die Geschehnisse auf dem Fernsehschirm bei den Heimbewohnern weckten, in jedem Fall war das Pflegepersonal stets umfassend über das Weltgeschehen informiert. Und das war nicht das Schlechteste. Hatte Maria doch in letzter Zeit das Gefühl, wie die Patienten in eine Welt abzudriften, in der Päpste oder Hochzeiten keinen Sinn mehr machten. Aber auch gar keinen. Sie wollte Frau Sienkiewicz aus Zimmer 4 gerade den nächsten Löffel zwischen die Zähne schieben, als diese plötzlich wie auch die anderen Heimbewohner die Nationalhymne anstimmte. Geduldig wartete Maria, bis der schwache Chor, der im Frankfurter Dialekt von Einigkeit und Recht und »de Freiheit« sang, zum Ende gekommen war, bevor sie Frau Sienkiewicz mit dem grünen Waschlappen den Mund abwischte. Niemand von den alten Leuten verstand, was auf dem Bildschirm vor sich ging. Die Hälfte von ihnen dachte, das Fußballspiel fände in ihrem Wohnzimmer statt. Und die Hälfte von der Hälfte glaubte, jemanden aus seinem früheren Leben zu erkennen, wie Frau Sienkiewicz, die jetzt auf den hessischen
Ministerpräsidenten deutete: »Da de Herbert, der is’ auch dabei.« »Ja«, antwortete Maria automatisch. »Ihr Mann ist auch dabei.« »Heut’ Abend«, murmelte Frau Sienkiewicz mit zahnlosem Mund, »kommt er. Da muss ich noch viel vorbereite.« »Ja, dann machen Sie mal«, meinte Maria, obwohl Herbert Frau Sienkiewicz noch nie besucht hatte, weil er schon seit zwanzig Jahren auf dem Frankfurter Hauptfriedhof lag. Maria war mit der Pflege eines Schwerstkranken aufgewachsen. Im Vergleich dazu war es ein Kinderspiel, Frau Sienkiewicz Jogurt einzuflößen und ihr nach jedem Löffel den Mund abzuwischen. Für Fußball hatte Maria nichts übrig, und als die alte Dame in einem plötzlichen Erkenntnisschub feststellte: »Tor«, und alle im Stadion in Jubel ausbrachen, richtete sie ihren Blick nur aufgrund eines Reflexes auf den Bildschirm. Die verwirrten alten Leute starrten mit ihr. Starrten wie immer, einfach weil sich etwas bewegte. Aber Maria erstarrte aus einem anderen Grund. Sie vergaß Frau Sienkiewicz, die sich die Lippen leckte, das untrügliche Zeichen, dass sie noch mehr Jogurt wollte. Im ersten Moment sah Maria nur einen Spieler, der auf die Knie fiel. Dann erkannte sie, dass sein Blick direkt in die Kamera gerichtet war, auf das Fernsehpublikum, auf sie, und ein unerwartet schöner Mund berührte erst die Fingerspitzen, um sie ihr anschließend entgegenzustrecken. Um ihn herum grölte das Publikum »We are the champions«, Frau Sienkiewicz die Nationalhymne, doch Maria sah nur ihn. In ständiger Wiederholung traf er ins Tor, fiel er auf die Knie, küsste die Fingerspitzen, streckte ihr die Hände entgegen. Und der Kommentator nannte seinen Namen.
Die nächste Stunde kommt Maria lediglich langsam voran. Nicht nur wegen der Menschenschlange, die sich weit über die Otto-Fleck-Schneise erstreckt. Ihr Rollstuhl bleibt immer wieder im aufgeweichten Kiesweg und den riesigen Pfützen stecken. Maria liebt Western und John Wayne. Nein. Sie liebt ihn nicht mehr. Erst dieser Weg heute führt sie zur Liebe. Und zur Liebe gehört die Angst. Ihre Angst ist die gleiche wie die der Siedler, die befürchteten, der Planwagen könne in der Mitte des Flusses untergehen, weil die Pferde scheu werden vom Geheul der Eingeborenen. Hier sind die Eingeborenen Fans, die Fußballlieder grölen und sich Büchsenbier in den Rachen kippen, das sie am anderen Ufer wieder loswerden müssen. Im Wald, der einst dem Stadion seinen Namen gab, pinkeln die männlichen Fußballtruppen in Reih und Glied unter den Augen der Sheriffs, die das nicht kümmert hier in der Wildnis. »Cuidado, Cuidado.« Ihr Rollstuhl wird von hinten gepackt. »Rápido. Rápido.« Der dunkelhäutige Mann trägt grüne Streifen im Gesicht. Heute ist Portugiesisch zwar die Sprache der Feinde, aber sie ist immer noch schön. Und Marias Hand greift nach der elektrischen Steuerung, um langsam im großen Treck Richtung Commerzbank-Arena zu rollen, das einst Waldstadion hieß und jetzt – Maria kann es lesen – FIFA WM-Stadion Frankfurt am Main. Die neue Arena könnte genauso gut ein Raumschiff sein, das auf dem Sportfeld gelandet ist. Und eines seiner Besatzungsmitglieder wird sie retten. Bei dem schleichenden Tempo verliert sie sich in die Tagträume, die sie die letzte Zeit überfallen, aber aus denen die Menschenmenge sie sofort wieder reißt.
»Erbarme, olé. Die Deutsche komme.« Fest beißt sie die Zähne zusammen wie als Kind, wenn sie sich etwas sehr wünschte und Hoffnung und Enttäuschung – Ober- und Unterkiefer – sich so fest aufeinander pressten, dass sie sich erst Stunden später wieder voneinander lösten.
Maria ließ sich allzu leicht überreden, Dienste von Kollegen zu übernehmen. Ihre dritte Nachtschicht hintereinander. Sie hatte nur zwei Stunden, um zehn Leute für die Nacht vorzubereiten, ER hatte nur eineinhalb Stunden, um ein Spiel zu gewinnen. Verliebt. Verliebt. Seit der Massenkarambolage, als auf der A 66 FrankfurtWiesbaden bei starkem Regenfall ein Bolzen am vorausfahrenden Wagen brach und durch die Windschutzscheibe wie ein Geschoss die Stirn ihres Vaters traf, hatte Maria nicht mehr viel vom Leben erwartet. Die Altenheimumgebung tat ein Übriges. Ihre Haut wurde faltig, die Haare gingen aus. Die Eintönigkeit legte sich wie ein Sargdeckel auf sie. Die Gleichgültigkeit schlug tagaus, tagein zu jeder vollen Stunde Alarm, sodass es leicht war, den Verstand zu verlieren. Verliebt. Verliebt. Vielleicht würde aus dieser Liebe nie Realität werden. Sie hatte sich in ein Bild verliebt, einen Namen, eine Illusion, eine Fata Morgana. Aber wenigstens war sie verliebt und hätte Verständnis haben sollen. Frau Sienkiewicz saß auf dem Bett, zupfte schamhaft an dem kurzen Nachthemd und leckte sich immer wieder die Lippen. Neben ihr Karl Schuhmacher, ehemaliger Uhrmacher, unverheiratet, mit eigenem Geschäft in der Berger Straße, in Unterhose und Krawatte. Den Arm fest um Frau Sienkiewiczs’
Schulter geschlungen, den Mund an ihren Lippen, die Hand zwischen ihren Beinen. Während die alte Frau dachte, Herbert sei gekommen, legte Herr Schuhmacher mit einem verwegenen Grinsen den Finger an seinen Mund, als er Maria sah. Es war das erste Mal, dass Maria so etwas passierte. Sie war wie gelähmt. Nicht so sehr aus Scham. Vielmehr erschütterte sie die Erkenntnis, dass sogar ein fünfundachtzigjähriger Mann sich nahm, was er wollte. Während an ihr, Maria, das Leben vorbeiging. Als sei sie für die Liebe unsichtbar. Und plötzlich dachte sie wieder an IHN. Und dann an sich selbst.
Immer wieder treten Fußballfans an den Rand, um Maria Platz zu machen. Achtzig Prozent der Leute tragen schwarzrotgoldene Streifen im Gesicht. Die Fans der Brasilianer werden zweihundert Meter weiter zu einem anderen Eingang geleitet. Gleich ist Maria an der Reihe. Sie hält das Ticket fest in der Hand. Eine Sicherheitsbeamtin schiebt das Drehkreuz zur Seite. Sie bückt sich und tastet sie am ganzen Körper ab. Maria weiß, dass es der jungen Frau unangenehm ist. Als fürchte sie, sich an ihrer Behinderung anzustecken. Und sie macht sich nicht die Mühe, nach dem Personalausweis zu fragen. Schließlich hängt ein gefälschter Behindertenausweis um Marias Hals. Ausgestellt auf Karla Schuhmacher. Bei der neuen Arena handelt es sich um eines der modernsten Stadien in Deutschland. Sechsundzwanzigtausend Quadratmeter, sieben Stockwerke, vierundsiebzig Logen, zweitausend Business-Seats, der Videowürfel mit einem Gewicht von dreißig Tonnen. Und das Highlight: Das Dach lässt sich bei Regen verschließen. Wie ein Cabrio. Das größte Stahl-Seil-Membran-Innendach der Welt. All dies steht in dem
Prospekt, den Maria in der Hand hält. Sie hat sich vorbereitet. Hat den Plan des Stadions im Kopf. Die Sicherheitsbeamtin winkt einem der Sanitäter, die überall herumstehen, und der sie nun die Rampe hoch zu den neu geschaffenen Rollstuhlplätzen schiebt. »Das hätten Sie auch einfacher habbe können«, erklärt er. »Des ist einfach super in dem neuen Stadion. Da können Sie mit dem Auto in die Tiefgarage fahren, dann mit dem Aufzug direkt nach obbe und schon sind Sie an dem Behindertenplatz.« Sie nickt dankbar, verschweigt aber, dass sie nicht in der Lage ist, sich an das Steuer eines Autos zu setzen, weil sie Angst vor der Windschutzscheibe hat. Dennoch – alle sind so nett zu ihr. Maria ist das nicht gewohnt.
Der Schock kam gleich am nächsten Morgen, als sie erfuhr, dass alle Tickets bereits ausverkauft waren. Den Vorschlag des jungen Mannes aus dem FIFA-Callcenter ignorierte Maria. »Eine große Leinwand auf der Mitte des Mains in der Höhe des Eisernen Stegs«, versuchte er, sie zu überreden. »Zwei große Tribünen zu beiden Ufern. Ein Open-Air-Stadion in Mainhattan. Kostenlos.« Die Preise auf dem Schwarzmarkt hatten sich bei tausend Euro eingependelt. »Sie müssen mir einen Gefallen tun«, sagte sie zu Karl Schuhmacher und hielt ihm den Becher hin, damit er seine Zähne dort deponierte. »Wie denn, was denn?« »Sie müssen einen Antrag stellen.« »Wollen Sie etwa noch mehr Pflegegeld? Das Sie in die Tasch’ stecken können? Wollen Sie mich erpressen?«
Warum, dachte sie, ist der Blick alter Menschen immer lauernd? Weil sie keine Zähne mehr im Mund haben? Weil dann der obere Teil des Gesichtes nach unten rutscht? Doch sie sagte: »Ich muss unbedingt in die Commerzbank-Arena.« »Kenn ich net.« »Das Fußballstadion.« »In Frankfurt gibt’s nur ein Stadion, des heißt Waldstadion. Des weiß ich genau.« »Aber jetzt heißt es Commerzbank-Arena.« »Commerzbank-Arena. Des ist ein Name?« »Ja, dort findet das Spiel statt – Deutschland gegen Brasilien.« »Brasilien? Gegen die Indianer hat die Eintracht sowieso keine Chance.« »Nicht die Eintracht. Ein Länderspiel. DeutschlandBrasilien. Weltmeisterschaft.« »Die habbe keine Chance.« »Aber ich muss dorthin.« »Und?« »Nun, ich habe erfahren, dass es noch Plätze gibt. Für Senioren und Rollstuhlfahrer. Die hat die Commerzbank der Frankfurter Altenhilfe gestiftet, verstehen Sie.« Und nach kurzem Zögern fügte Maria hinzu: »Da sind ein paar abgesprungen.« »Abgesprungen?«, fragte er nach. »Sie meine wohl, über den Jordan gegange oder besser: übern Main.« »Wie auch immer, ich habe da angerufen und die sagen, da werden immer wieder Tickets frei.« »Ich hasse Fußball. Eine rohe Sportart. Kein Sinn für Feinmechanik.« Herr Schuhmacher drohte, in seine Welt abzudriften, in seine eigenen Vorstellungen. Das Privileg der Alten. Sie konnten
einfach aus Gesprächen fliehen, wenn sie keine Lust mehr hatten. »Hören Sie zu! Sie sollen ja gar nicht hingehen.« »Nein?« »Nein.« »Warum sollte ich das dann tun?« »Weil ich sonst die Heimleiterin darüber informieren muss, dass Sie Frau Sienkiewicz belästigen.« »Belästigen, belästigen«, sagte Herr Schuhmacher. »Aus dem Alter sind wir ja wohl raus. Schließlich sind wir erwachsen, oder?« Er überlegte und dann sah Maria das Lächeln, mit dem es ihm immer wieder gelang, das Pflegepersonal zu becircen. Für eine Zigarre auf dem Balkon, eine Extraportion Torte, ein Bier am Abend, zehn Minuten länger in Frau Sienkiewiczs’ Zimmer. Dieses Lächeln, mit dem er das Leben auf die leichte Schulter nahm und sie schikanierte. »Warum net«, sagte er. »Das gefällt mir. Des hätte ich Ihnen gar net zugetraut. Sie wirken immer so… apathisch. Doch erzählen Sie mir net, dass es der Fußball ist, der Sie interessiert.« »Nein«, sagte Maria. »Es ist wegen IHM.« Herr Schuhmacher nickte. Das war ein Grund, den er verstand, und er rief in der Frankfurter Altenhilfe an. Seine Stimme zitterte perfekt, als er sagte: »Mein letzter Wunsch. Ich bin jetzt fünfundachtzig. Hab nimmer lang. Krebs. Prostata. Aber einmal noch in des neue Waldstadion zur Weltmeisterschaft, des war mein Traum, noch einmal in die…« Maria hielt den Atem an. O Gott, er würde doch den Namen seines Sponsors korrekt aussprechen? »Commerzbank-Arena«, sagte Karl Schuhmacher.
Noch sind die La-Ola-Wellen im Stadion lediglich kleine Hurrikans, die vereinzelt über die Sitzreihen laufen. Erst als die Spieler einmarschieren, schwappen schwarz-rot-goldene Farbwellen über alle Tribünen. Maria wünscht, sie wäre neun Jahre alt und könnte an SEINER Hand ins Stadion laufen. Auf dem Videowürfel, der wie ein Heißluftballon über dem Spielfeld schwebt, erscheint die Mannschaftsaufstellung der Brasilianer. Dann die Deutschlands. Der Stadionsprecher nennt die Vornamen der einzelnen Spieler, das Publikum skandiert die Nachnamen. Doch der Name, auf den Maria gewartet hat, fällt nicht. Ihr Blick mustert die Reihe der Spieler… sie sieht IHN nicht… ER ist nicht dabei. Sie zittert. Vor Wut. Die hat sich während der letzten Tage und Stunden immer wieder eingestellt und den Platz der alten Hoffnungslosigkeit eingenommen. Maria hat die Presse, die Berichterstattung im Fernsehen aufmerksam verfolgt. Der Bundestrainer, der sich nie von den Medien beeinflussen lässt, handelt diesmal in deren Sinn. ER sei nicht in Topform. ER habe nicht die Nerven für die Brasilianer. ER sei ein Risikofaktor. Neben Maria hockt ein alter Mann in einem zweitklassigen Rollstuhl. Ihm fehlt der rechte Arm, weshalb er die linke Hand beim Singen der Nationalhymne an die Schläfe legt. Auf dem Boden vor ihm stehen eine Thermoskanne und eine Trompete. Sie sitzen eng beieinander. Könnten sich an der Hand halten. Er hat einen langen Fanschal, einen schmuddeligen Fetzen Deutschland, um den Hals geschlungen. Immer wieder fallen die Enden auf Marias Rollstuhl. Sie sieht sofort, dass er zu fest gebunden ist. Entweder er hat es selbst gemacht oder das Pflegepersonal ist nicht geschult.
Und dann sieht sie IHN. Er steht vor der Ersatzbank. Sie hebt das Opernglas von Frau Sienkiewicz. Wie immer schaut er völlig unbewegt, bis auf das leichte Lächeln – ein Lächeln wie das von John Wayne. Oder von Bruce Willis. Nur in Echt.
An dem Tag, als Frau Sienkiewicz verstarb, Herberts Bild an ihr Herz gedrückt, kam das Ticket für das Spiel mit der Post. Der Arzt stellte plötzliches Herzversagen fest und der Brief war an Herrn Karl Schuhmacher adressiert. Als Maria am Abend in sein Zimmer kam, um ihn zu waschen, hielt er den Briefumschlag in der Hand, blinkte ihr damit zu. »Die Bedingungen«, sagte er und zog das Obergebiss aus dem Mund, »haben sich geändert.« »Welche Bedingungen?« »Frau Sienkiewicz ist tot. Aber Sie könne es abkaufen.« »Abkaufen? Sie haben keinen Cent dafür bezahlt. Das Ticket hat die Commerzbank gestiftet.« »Man kann alles verkaufen, was ein anderer habbe will. Was glauben Sie, wie viel Originalschwarzwalduhren ich verkauft habe, direkt aus Asien importiert.« »Was wollen Sie denn dafür?« »Angebot und Nachfrage.« Maria wusste, dass sie wahnsinnig war. Doch andere Leute haben Träume von geringerer Bedeutung als den Wunsch, einmal in seinem Leben seiner großen Liebe von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. »Tausend Euro«, sagte sie. »Das ist der Preis auf dem Schwarzmarkt.« »Ihnen verbrennt ja die Liebe des Hirn«, lachte Herr Schuhmacher. »Ich bin doch nicht der Schwarzmarkt. Ich verkauf nur exklusive Sache. Und die Liebe ist das Exklusivste von allem. Die kostet.«
Gleich nach dem Anpfiff beginnt es zu regnen. Kaum jemand wagt den Blick nach oben. Was ganz Frankfurt seit einem Jahr fürchtet, die anderen Stadien voller Schadenfreude hoffen – wird es wieder eintreten? Dass die Mechanik des Daches nicht funktioniert, dass Wassermassen sich auf den Rasen ergießen, das Spiel gefährden? Der Regen prasselt auf das Spielfeld. Die Brasilianer machen Tempo. Immer im Takt der Trommeln. Der Druck auf das deutsche Tor wächst. Maria hatte in den letzten Tagen verstärkt Fußballberichte gelesen und sich Spiele angeschaut. Sie dürfen nicht verlieren. Die Spieler nicht, Deutschland nicht, sie nicht. »Des fängt ja gut an«, sagt der Mann neben Maria und nimmt einen langen Schluck aus der Thermoskanne. Er rülpst. Stößt mit der Luft Alkohol aus. Als Ronaldinho Gaucho das deutsche Tor stürmt, tanzen die Brasilianer im Rhythmus ihrer zahlreichen südamerikanischen Standardtänze. »Erbarme olé«, schreit jemand ins Megafon. Die Menge antwortet: »Die Deutsche komme.« Tausende von Händen, zu Fäusten geballt, gehen nach vorn. »Huuuth«, stöhnt das Publikum. Doch Robert Huth schlittert über den feuchten Boden. Kahn wirft sich zur Seite, Gaucho rutscht nach dem Schuss direkt in seine rechte Flanke. Unaufhörlich prasselt der Regen, doch das Dach der Arena schließt sich nicht. Und es scheint den sonnenverwöhnten Brasilianern nichts auszumachen. Ihre La-Ola-Welle auf der Ostkurve ist perfekt. »Scheißregen. Scheißdach. Scheißbrasilianer.« Der Mann neben Maria reißt den einen Arm hoch.
Maria ist kalt und für ihren Geschmack zeigt der Mann eindeutig zu viel Gefühl. Verzweifelt blickt sie nach oben, in der Hoffnung, der Himmel werde sich verschließen, doch nur graue Wolken sind durch die großen Scheiben hinter den obersten Rängen zu sehen, als in der zwölften Minute das erste Tor der Brasilianer fällt. Ihre Hand zittert, als sie mit dem Fernglas SEIN Gesicht sucht. Es gleich findet. Sein Entsetzen sieht, während brasilianische Fans die Gastfreundschaft brechen und die Osttribüne in ein gelb-grünes Meer von Fahnen verwandeln. Maria hasst Grün, und das nicht erst seit heute. Plastiklaken, Waschlappen, grüne Galle in Bettpfannen. Das zerstörte Auto ihres Vaters. »Das glaube ich net. Das gibt’s ja net! Diese brasilianische Pottsau. Ja, wo war er denn, der Huth?«, sagt der Mann neben ihr, die Thermoskanne an den Lippen. Das Gesicht gerötet. »Der is viel zu jung. Und der Kahn zu alt.« Er nimmt erneut einen langen Schluck, bevor er rülpst. Der Mann zeigt auch zu viel an Körperreaktionen. Dennoch, sie muss mit jemandem sprechen, irgendjemandem, und nennt ihrem Nachbarn, der immer noch vor sich hin schimpft, SEINEN Namen.
Zwei Tage vor dem Spiel saß Karl Schuhmacher in der Unterhose vor Maria auf dem Bett. Sie wusch die haarigen dürren Oberschenkel mit dem grünen Waschlappen, als er sagte: »Des mit dem Ticket, das können Sie vergessen.« »Wie vergessen?« »Ich sehe mir des Spiel selbst an.« An seinem Mund hing ein Rest grüner Soße vom Abendessen und ein bisschen Eigelb, das sich mit dem Speichel vermischte, der unaufhörlich aus seinem Mund lief. Wie ein Wasserhahn, der leckte.
Maria wischte den Fleck weg. Es ging ganz automatisch. Sie reichte ihm die Tabletten. »Ich werde es gut verstecken«, sagte er, als er bereits im Bett lag. »Man weiß ja nie, mit welchen Leuten man es zu tun hat.« Maria schwieg beharrlich. Zwischen ihnen war alles gesagt.
»Was? Was habbe Sie gesagt?«, lallt Marias Rollstuhlnachbar. Immer wieder dreht er den Kopf und jedes Mal wehen die Enden des Deutschlandschals in ihr Gesicht. Sie wiederholt SEINEN Namen. Doch wider Erwarten erntet sie Unverständnis. »Der doch nicht. Den braucht keiner«, sagt er. »Sie haben ja keine Ahnung. Diese Pfeife. Der soll da was machen? Sie sind ja irre.« Er lacht, vergisst sie und lässt seine Trompete sinken, um zu stöhnen, als Ronaldinho, der Gaucho, den Ball wieder in seinen Besitz bringt. Sie schaut durch das Fernglas zu IHM hinüber Richtung Haupttribüne. Sie täuscht sich nicht. ER ist größer als die anderen. Schmaler gebaut. Vor allem in den Hüften. Und jetzt erhebt ER sich. Geht in die Knie. Kreist mit dem Oberkörper. ER bewegt sich auch anders. Leichter, anmutiger. So wie das Dach versagt, läuft auch das Spiel nicht. Schwer wie Blei rollt der Ball über das Spielfeld. Der Regen scheint Gräben gezogen zu haben, in denen die Lederkugel schwimmt. Egal! Egal was dort unten passiert! Eines wird sie nicht zulassen, dass jemand so über IHN spricht.
»Da unten ist das Spiel«, sagt ihr Nachbar. »Nicht dort drüben. Sie habbe es wohl nicht nur mit den Beinen, sondern auch mit den Augen.« Wieder schlägt ihr Deutschland in Gestalt eines Schals ins Gesicht. Maria wischt ihn weg, doch der Mann wendet wie beim Tennis den Kopf hin und her und Maria macht dem Flattern ein Ende, indem sie fest zupackt. Wundert sich über den Widerstand und dass ihr ein Krächzen antwortet. Die einzige Hand greift zum Hals und versucht, ihn zu befreien. Wieder krächzt der Mann. Das klingt wie ein falscher Ton aus seiner Trompete. Maria muss lachen. Auch über seine Pupillen. Sie springen in den Augen ziellos hin und her wie der Ball unten auf dem Rasen. Beides ist kein schöner Anblick. Aber es ist ja auch kein schönes Spiel, fünf Minuten vor der Halbzeitpause.
Immer wenn Herr Schuhmacher nachts aufwachte, gönnte er sich einen Schluck Wasser aus dem Zahnputzbecher, in dem sein Gebiss lagerte. Natürlich versuchte das Pflegepersonal beständig, das zu verhindern. Sie hatten ihm ein Glas Wasser daneben gestellt, doch er rührte es nicht an. Sie hatten den Zahnputzbecher weggestellt, aber Herr Schuhmacher stand im Dunkeln auf, um ihn zu holen. Tatsache war, dass das nächtliche Herumwandern gefährlicher war, als Kukident in Wasser gelöst zu trinken. Als die Mannschaft nach der Pause auf dem Rasen erscheint, ist ER wieder nicht dabei. Die Zuschauer erheben sich. »Erbarme, olé.« Die nächste La-Ola-Welle. »Wir Deutsche komme!«
Nur Maria bleibt beharrlich sitzen. Und auch ihr Nachbar rührt sich nicht. Die Trompete hängt neben dem Rollstuhl. Wieder bläst der Wind ihr das Schalende ins Gesicht. Energisch knotet Maria es an den Rädern des Rollstuhls fest. Sie kann sich nicht freuen, dass der Ball zunehmend in deutscher Hand bleibt. Dass plötzlich die Pässe funktionieren, das Zuspiel. Die Rasseln auf der Westtribüne sind jetzt lauter als die brasilianischen Trommeln. »Wunder gibt es immer wieder«, singen die Fans. Je besser es läuft, desto geringer scheint die Chance, dass ER der Retter ist. Unaufhörlich hält Maria das Opernglas auf die Ersatzbank gerichtet. Es sind Podolski und Schweinsteiger, die das brasilianische Tor stürmen. Nicht ER. Das Publikum ruft ihre Namen. Nicht SEINEN. Der Ball wechselt die Seiten, bis Podolski ihn nicht mehr loslässt. Ihn behält. Ihn behält. Und schießt. Die Menschen springen auf. 1:1. Das Grün der Brasilianer in der Nordkurve verblasst. Und es wird passieren. ER erhebt sich, zieht sich aus, legt die Trainingshose zur Seite, rückt den Bund der kurzen Sporthose zurecht. ER läuft sich warm. SEINE Hüften kreisen. Die Miene wie immer unbewegt und tiefgründig. Es ist nicht Gleichgültigkeit, nicht Hoffnungslosigkeit. Es ist das überlegene Zucken in John Waynes Wangenmuskeln. Der alle Kräfte nur auf ein Ziel konzentriert. Darauf zu siegen.
Als Karl Schuhmacher nachts aufwachte – Maria malte es sich gerne aus –, tastete seine zittrige Hand nach oben. Sie hatte den Becher direkt an den Rand des Tisches geschoben. Er musste nur hineingreifen, sein Gebiss herausholen und es in der Hand halten, während er trank. Wie er es immer tat. Und am Ende fielen die künstlichen Zähne wieder in den Becher. Sein Kopf sank zurück auf das Kissen. Als Maria um Mitternacht nach ihm schaute, füllte sie Wasser in einen frischen Becher, warf eine neue Kukidenttablette hinein und sah zu, wie das Wasser zwischen den falschen Zähnen sprudelte. Der Kopf ihres Nachbarn ist auf die Rückenlehne des Rollstuhls gesunken. Egal. Der Stadionsprecher kündigt einen Spielerwechsel an. Und dann endlich betritt ER den Rasen. ER hebt die Hand und das Publikum jubelt ihm zu. Die Westkurve skandiert SEINEN Namen. Diesen Namen, den sie, Maria, wagt, jetzt zum ersten Mal laut zu rufen, schließlich zu schreien. Niemand achtet auf sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben kann sie singen, schreien, fluchen, drohend die Faust recken. Wie alle anderen. La-Ola-Wellen wogen durch das Publikum. Nacheinander springen die Zuschauer auf, reißen die Arme in die Höhe, setzen sich wieder. Zeitversetzt folgen die Nachbarn im nächsten Abschnitt der Tribüne. Osttribüne, Gegentribüne, Westtribüne, Haupttribüne. Die Welle schwappt immer wieder durch das Stadion. Niemand kann sich dem entziehen. Auch Maria nicht. Das Grün der Brasilianer welkt. Plötzlich taucht ER aus dem Nichts auf. Direkt angestrahlt vom Scheinwerfer der Flutlichtanlage.
ER ist vorbereitet, als der Pass von Ballack kommt. Acht Minuten vor Spielende. Maria reißt dem Nachbarn die Trompete aus der Hand. Sein Kopf rutscht zur Seite, sein Blick ist der gleiche wie der der Sienkiewicz. Maria nimmt einen Schluck aus seiner Thermoskanne. Der Apfelwein schmeckt gut wie lange nicht mehr. Hoffnung ist die Basis aller Vorsehung. Alle Bewegungen sind harmonisch, als ER springt. Blitzschnell trifft SEIN Kopf den Ball, der knapp unterhalb der Torlatte ins Netz geht. 2:1 für Deutschland. ER wirft Kusshände – ohne Zweifel – in ihre Richtung. 1:0 für sie. Die Emotionen im Stadion sind so geladen, dass die Energie ausreicht, um das Dach endlich zu schließen. Lautlos entfaltet es sich unter den staunenden Augen der deutschen Fans zu einem Kunstwerk aus durchscheinenden Bienenwaben. Und wenn Maria die Augen schließt, ist sie allein mit IHM unter diesem Schutzdach. Die beiden einzigen Menschen in einer riesigen Raumstation. Bruce Willis lächelt.
Der sofort herbeigerufene Arzt diagnostizierte plötzlichen Herztod und machte das ungewöhnlich heiße Wetter in Frankfurt dafür verantwortlich. Sagte etwas vom niedrigen Wasserstand des Mains. Von Rasensprengern, die den neuen Rasen im Weltmeister Stadion am Leben erhalten sollten, und dass sie es bei Herrn Schuhmacher eben nicht geschafft hätten. »Wie schade«, meinte er im Gehen, »wollte er sich doch heute das Spiel ansehen. Einen Tag länger und es hätte sich abgekühlt.«
Das Spiel ist entschieden. Sie schaut auf die Uhr. Sie beobachtet, wie sich die Sicherheitskräfte in Richtung der Ausgänge bewegen. Sie konzentrieren sich auf die Fans der Westtribüne, die die Fahnen jetzt schwingen wie mittelalterliche Standarten. Nach dem Spiel werden sich die Spieler unten vor der Commerzbankwerbung verbeugen. So hat Maria es im Fernsehen gesehen. Noch eine Minute. Ganz automatisch zieht Maria Schuhe und Strümpfe aus. Niemand achtet auf sie, als sie die Wolldecke beiseite schiebt und sich aus dem Rollstuhl erhebt. Die Lücke befindet sich zwischen den Werbeblöcken von Mainova und HR3. Sie sieht sich springen, als ER auf ihrer Höhe ist. Auf dem nassen Rasen rutschen ihr die Beine weg, doch wie durch ein Wunder fängt sie sich und läuft und läuft. Niemand hat mit ihr gerechnet. Nicht die Sicherheitskräfte, nicht die Zuschauer, nicht die Spieler. ER nicht und sie am allerwenigsten. Das Publikum tobt und jubelt ihr zu. Sie bewegt sich im Takt der La-Ola-Welle. Wie gut, ihren Körper an SEINEN zu pressen! Ihre Brust spürt SEIN Herz klopfen. Ihre Hüften finden SEINE. Ihre nackten Beine werden feucht von SEINEM Schweiß. Sie küsst IHN. Genau in dem Moment ertönt der Abschlusspfiff.
Das Ticket war nicht schwer zu finden. Es befand sich in der Originalschwarzwalduhr made in Japan, die über Karl
Schuhmachers Bett hing. Die Uhr zeigte an, dass die Zeit abgelaufen war. Sein Spiel war zu Ende.
Marias Bild ist auf den Titelseiten aller großen Tageszeitungen. Sie zeigt es Frau Maier, dem Neuzugang von Zimmer 4. Ihre Schlagzeile ist größer, fetter als die des armamputierten Mannes, der infolge übermäßigen Alkoholkonsums an seinem Fanschal erstickt ist. Er ist offenbar nicht mehr in der Lage gewesen, den Schal zu lösen, der sich in den Rädern seines Rollstuhls verknotet hatte. Der Fall löst eine Diskussion über die Sicherheitskontrollen aus. Aber dies spielt für Maria keine Rolle. Das Einzige: Sie bereut, dass nur ihre Beine nackt gewesen sind. »Das bin ich«, erklärt sie Frau Maier. »Ich heiße Maria! Maria Kuranyi! Ein schöner Name, oder?«
Stadt: Gelsenkirchen Einwohner: 272.000 Austragungsort: FIFA WM-Stadion Gelsenkirchen (VELTINS-Arena) Jahr der Einweihung: 2001 Zuletzt erfolgte Baumaßnahmen: Neubau Kosten: 192 Mio. WM-Sitzplätze: 48.426 Heimstatt von: FC Schalke 04 Gründung: 1904 Mitglieder: 50.543 Siebenmal Deutscher Meister: 1934, 1935, 1937, 1939, 1940, 1942, 1958 Bemerkenswert: eine 5 km lange Bierpipeline
Jan Zweyer
Goleo, Pille, Pils und Schalke Schiebers Plan war einfach erste Sahne! Ich war stolz darauf, dass er mich gefragt hatte, ob ich mitmachen wollte. Und ob ich wollte! Mit Karl Schieber würde ich jedes Ding drehen. Schieber war im Knast nur ›Oberlehrer‹ genannt worden, weil er seine Nase in jeder freien Minute in irgendwelche Bücher steckte. Während wir anderen in die Glotze guckten, las Schieber. Immer. Ich konnte das nicht. Von Zeit zu Zeit ein Artikel in der BILD, das war es auch schon. Bücher waren mir zu anstrengend. Außerdem vergaß ich, nachdem ich zwanzig Seiten gelesen hatte, schon wieder, worum es in den ersten zehn Seiten ging. Aber der Oberlehrer war da eben anders. Deshalb bewunderten ihn auch die meisten und ließen ihn in Ruhe, obwohl er nur ein abgebrochener Meter war. Na ja, ein wenig war das allerdings auch mein Verdienst, weil ich dem
Ersten, der dem Oberlehrer an die Wäsche wollte, gründlich Bescheid gesagt hatte. Im Anschluss an die Woche in der Krankenabteilung entschuldigte sich der Kerl beim Oberlehrer. Und danach war dann Ruhe. Der Oberlehrer hatte wegen irgendwelcher Geldsachen, die nicht so gut gelaufen waren, zwei Jahre aufgebrummt bekommen. Ich saß wegen einer blöden Schlägerei, bei der einer meiner Gegner unglücklich in mein Messer gefallen und verblutet war, schon ein paar Jährchen länger. Aber wir beide sind im Herbst letzten Jahres entlassen worden. Ich Ende September, der Oberlehrer drei Wochen später. Zunächst war jeder von uns seine eigenen Wege gegangen. Ich bin zurück nach Hannover und arbeitete als Türsteher für eine Stripbar. Ein Scheißjob. Aber was sollte ich machen? Glücklicherweise war Anfang März ganz unerwartet Schiebers Anruf gekommen. Natürlich sagte ich sofort zu. Und später erklärte mir der Oberlehrer in der kleinen Wohnung in GelsenkirchenErle, die uns ein Kumpel aus dem Knast für einige Zeit überlassen hatte, seinen Plan. »Eines der Viertelfinalspiele bei der WM findet am 1. Juli auf Schalke statt. Da sind wir am Ball.« »Wie meinste denn das?«, fragte ich zurück. »Nur im übertragenen Sinn«, antwortete der Oberlehrer. »Versteh ich nich.« Der Oberlehrer seufzte. »Ich habe das nur so dahergesagt. Als Beispiel, verstehst du?« Ich nickte, obwohl mir nicht ganz klar war, worauf er hinauswollte. »Gut. Und jetzt pass auf. Einen Tag vor dem Spiel wird von der Brauerei das Bier angeliefert.« »Veltins?«
»Genau. Um die dreißigtausend Liter. Die bringen das in einem großen Tankwagen aus dem Sauerland und befüllen damit die Tanks in der Arena.« »Woher weißte denn das?« »Steht im Internet.« »Ach so. Natürlich.« So genau wusste ich nicht, was das Internet war, aber wenn der Oberlehrer damit klarkam, ging das schon in Ordnung. »Und das schnappen wir uns.« »Das Bier?« Ich stellte mir dreißigtausend Liter vor und fragte den Oberlehrer, wie lange es dauern würde, das Zeug in Pullen abzufüllen, um es verkaufen zu können. »Wir wollen das Bier nicht verkaufen«, erklärte er mir. »Nicht? Und warum klauen wir es dann?« »Wir geben es ja wieder zurück.« Ich kratzte mich am Kopf. Langsam wurde mir der Plan zu kompliziert. Er tippte mit seinem Zeigefinger an meine Stirn. »Natürlich erst nachdem wir das Lösegeld kassiert haben. Alles klar?« Es dauerte einen Moment, bis ich kapierte. »Logo«, strahlte ich ihn an. »Was, meinste, kriegen wir für die…« Ich rechnete nach. Das dauerte etwas. »Sechzigtausend Pullen?« Der Oberlehrer verdrehte die Augen. »Wir schnappen uns den Tankwagen. Mit dem Bier. Dann rufen wir in der Arena an, verlangen das Lösegeld, nehmen die Knete in Empfang und weg sind wir. Ich denke, wir können so um die zweihunderttausend fordern. Davon bekommst du ein und ich zwei Drittel. Schließlich stammen die Idee und der Plan von mir. Einverstanden?« Ich versuchte nachzurechnen. »Geht klar. Wie hoch ist mein Anteil?« »Sagte ich doch. Ein Drittel.« »Nee, ich meine in Geld.«
»Ach so.« Er grinste. »Etwa fünfundsechzigtausend.« Mir kam ein Gedanke. »Was ist, wenn die nicht zahlen?« »Die zahlen, verlass dich drauf.« »Können die nicht einfach neues Bier liefern?«, beharrte ich auf meiner Meinung. »Quatsch. Zum einen ist im Juli Sommer. Wird immer mehr Bier getrunken als sonst. Und dann ist noch WM. Halb Deutschland sitzt vor den Fernsehgeräten, guckt Fußball und trinkt Bier. Kannst du dir Fußball ohne Bier vorstellen?« Ich schüttelte den Kopf. Das war im Knast das Schlimmste gewesen. Bundesliga ohne eine Flasche Bier. »Siehste. Veltins hat nicht so viel auf Lager, glaub mir.« »Und eine andere Brauerei? Was ist, wenn die zum Beispiel auf Bitburger umsteigen?« »In der VELTINS-Arena? Nie im Leben.« Das leuchtete mir ein. Trotzdem war ich noch nicht ganz überzeugt. »Aber die Leute könnten doch auch Mineralwasser trinken?« Mein Kumpel stöhnte auf. »Stell dir doch diese Blamage vor. Die Welt zu Gast bei Freunden. Und dann gibt’s kein Bier. Deutschland wird doch, international betrachtet, eigentlich nur mit Bier in Verbindung gebracht. Und dann findet ein WMViertelfinale sozusagen trocken statt. Im Heimatland des Hopfensaftes. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Und denen Rudi Assauers. Schalke ohne Veltins. Undenkbar.« Vor allem sein Hinweis auf den Schalker Manager beseitigte jeden meiner Zweifel. »Verstehe.« »Na endlich.« Er stand auf und ging in Richtung Küche. »Möchtest du auch einen Kaffee?« »Ein Bier wäre mir jetzt lieber«, erwiderte ich. »Das viele Reden darüber macht einem den Mund ziemlich trocken.« »Haben wir nicht.« »Na gut. Dann eben Kaffee.«
Als der Oberlehrer zurückkam, fragte er mich: »Kennst du eigentlich Goleo?« Den hatte ich schon oft im Fernsehen gesehen. »Du meinst den WM-Löwen?« »Genau. Dann weißt du auch, wer Pille ist?« »Der sprechende Ball.« »Richtig. So werden wir uns nennen. Goleo und Pille.« »Versteh ich nicht.« Schieber sah mich an und schüttelte besorgt den Kopf. »Ich erkläre es dir. Wenn wir den Tankwagen gestoppt haben, müssen wir Fahrer und Beifahrer überwältigen.« »Kein Problem«, sagte ich. Im Überwältigen war ich schon immer klasse gewesen. »Sagst du. Ich möchte nicht, dass jemand zu Schaden kommt. Wir bedrohen sie mit den Waffen…« »Welche Waffen?« »Die ich noch besorgen werde. Dann zwingen wir sie zum Aussteigen, fesseln und knebeln sie und verstauen sie in unserem Lieferwagen.« Beim besten Willen konnte ich mich nicht daran erinnern, dass wir einen Lieferwagen hatten. Das sagte ich auch. Der Oberlehrer brauste auf. »Herrgott, lass Hirn regnen!«, schrie er, sprang auf und tobte um mich herum. »Den werden wir uns ebenfalls noch beschaffen. Das ist doch kein Problem. Einer allein kann doch nicht so blöd sein. Ich weiß wirklich nicht, ob du der richtige Partner für mich bist, verdammt nochmal!« Da ich aber der richtige Partner sein wollte und weil ich etwas beleidigt war, beschloss ich, die nächste Zeit den Mund zu halten und nur zu antworten, wenn mich der Oberlehrer direkt ansprach. »Damit sie uns nicht wiedererkennen können, ziehen wir Kostüme an. Die von Goleo und Pille. Während der WM
rennen wahrscheinlich Hunderte von selbst ernannten Goleos und Pilles durch Deutschland. Da fallen wir nicht besonders auf. Wir besorgen einen Löwenkopf aus dem Kostümverleih. Den setzt du dir auf. Und ich bastele mir aus einem KunststoffFußball eine Maske, die ich tragen werde. Eine gute Tarnung.« »Warum muss ich den Löwenkopf tragen? Dann ist Sommer und es ist bestimmt ziemlich warm darunter. Ich schwitze sehr leicht.« »Weil du größer bist als ich. Schließlich ist Goleo über zwei Meter. Es geht nicht anders. Ich bin Pille, du Goleo. Und so werden wir uns auch gegenseitig ansprechen. Hast du das verstanden?« Ich nickte. Eigentlich wollte ich immer noch lieber Pille sein. »Okay. Also lass es uns üben. Du bist ab jetzt Goleo, ich Pille. Alles klar?« »Natürlich«, antwortete ich ungehalten. Schiebers Tonfall gefiel mir nicht besonders. »Wer bin ich?« »Der Ober… äh, Pille.« Kinderkram, so was, dachte ich. Warum konnten wir die Fahrer nicht einfach umlegen? Dann bräuchten wir keinen Karneval im Sommer zu veranstalten und uns an neue Namen zu gewöhnen. Wäre sicher einfacher. Aber vermutlich wusste der Oberlehrer, was er tat. Und es war immer gut, jemanden zu haben, der einem sagte, was man selbst zu tun hatte. So kam man einfacher durchs Leben. »Sehr schön. Wir verladen die Fahrer also in den Lieferwagen. Den nimmst du, ich steuere den Tankwagen. Wir fahren dann zu einer alten Lagerhalle in Schalke, für die ein Freund von mir, sagen wir, die Schlüssel hat. Dort parken wir die Kisten. Und dann rufe ich im Stadion an und handele das Lösegeld für das Bier aus. Die Fahrer gibt es umsonst dazu. Sozusagen als Bonuszahlung.« Der Oberlehrer grinste breit. »Einen geeigneten Ort für die Geldübergabe muss ich noch
auskundschaften. Du stehst Schmiere, ich nehme die Moneten in Empfang. Im Gegenzug gibt’s für die Arena die Adresse von der Lagerhalle. Und dann ab durch die Mitte. Na, was sagst du?« Ich war wirklich schwer beeindruckt. »Ein toller Plan, Oberlehrer…« »Pille!« »Was?« »Ich heiße Pille!« Er schlug mir mit der flachen Hand kräftig vor die Stirn. »Du heißt Oberlehrer!«, brüllte ich und sprang nun auch auf. »Aber eigentlich heißt du Schieber.« Manchmal konnte ich störrisch sein wie ein Esel. Vor allem wenn ich bei einem Fehler ertappt worden war. Der Oberlehrer lenkte ein: »Beruhige dich. Du hast Recht. Aber wir hatten etwas anderes vereinbart.« »Ich habe überhaupt nichts vereinbart«, maulte ich. »Es reicht, dass wir diese blöden Namen benutzen, wenn wir den Tanker klauen. Mir reicht es, verstehst du. Und fass mich bloß nie mehr an. Du bist Oberlehrer. Oder Schieber. Aber nicht Pille. Und ich bin nicht Goleo.« Der Oberlehrer hob entschuldigend beide Hände. »Ist ja gut. Bitte setz dich wieder.« Besänftigt ließ ich mich zurück in den Sessel fallen. »Nie mehr anfassen.« »Versprochen. Für heute sind wir ja auch fast fertig. Am Samstag hat Schalke ein Heimspiel. Wir fahren am Freitag früh zum Stadion und dort suchen wir uns jeweils einen Beobachtungsposten, von dem aus wir einen möglichst guten Überblick über die Anfahrtswege haben. Wenn einer von uns den Tankwagen von Veltins ausmacht, gibt er dem anderen über Handy Bescheid. Wenn der Lkw das Stadion wieder verlässt, werden wir ihn verfolgen, um die Fahrtroute
auszubaldowern. Und jetzt komm. Wir gehen ein Bier trinken.« Hundemüde fuhr ich mit dem Oberlehrer um kurz nach sechs zur VELTINS-Arena. Wir parkten den Wagen in der Nähe der Trainingsplätze und stiegen aus. Es nieselte leicht und die Aprilkälte kroch unter meine Jacke. Mich fröstelte. »Los, komm«, meinte mein Kumpel und zog mich am Arm. »Es gibt an jeder Ecke der Arena einen Tunnel. Einen davon muss der Tanker benutzen. Zwei liegen östlich der Arena, haben aber keinen direkten Zugang zur Hauptstraße. Daher vermute ich, dass der Bierlaster einen der beiden westlichen Tunnel benutzt. Er kommt also entweder über die KurtSchumacher-Straße und den Arena-Ring oder über die WillyBrandt-Allee und den Berni-Klodt-Weg.« »Ich weiß nicht, wo das ist«, gab ich wahrheitsgemäß zu. »Macht nichts. Zeig ich dir«, antwortete mein Partner. Wir marschierten Richtung Stadion. Nach einigen Minuten blieb der Oberlehrer stehen und deutete auf einen Tunnel, der mit schweren Gittertoren verschlossen war. »Das ist der Tunnel Nummer zwei. Der Lkw kommt entweder da vorne über den Parkplatz oder über den Weg dort links. Okay?« Ich nickte. »Ich suche mir einen Beobachtungsposten weiter südlich, um den anderen Tunnel im Auge zu behalten.« Er machte Anstalten, mich allein zu lassen. »Was soll ich denn nun genau machen?«, erkundigte ich mich und zündete eine Zigarette an. Schieber stöhnte. »Das haben wir doch alles schon zigmal besprochen. Du postierst dich am besten dort hinten bei den Büschen. Da bist du kaum zu entdecken, hast aber alles im Blick. Wenn der Lkw kommt, rufst du mich über Handy an. Dann holen wir den Wagen, um dem Tanklastzug zu folgen.«
»Was ist, wenn der Lkw wieder rausfährt, bevor wir im Auto sitzen?«, wollte ich wissen. »Mach dir keine Sorgen. Der hat Tausende Liter Bier im Tank. Das Auspumpen dauert bestimmt eine Stunde. Wir haben also massig Zeit.« Das leuchtete mir ein. »Dein Handyakku ist geladen?«, wollte Schieber wissen. »Natürlich«, antwortete ich ein wenig beleidigt. »Gut.« Mein Knastbruder drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit. Zwei Stunden später wurde es langsam hell. Glücklicherweise hatte der Nieselregen aufgehört, aber ich war bis auf die Knochen durchgefroren. Ungeduldig sah ich alle paar Minuten auf die Uhr und beobachtete den Sekundenzeiger, wie er qualvoll langsam seine Runden drehte. Schließlich vertrieb ich mir die Zeit damit, die auf dem Handy einprogrammierten Spiele auszuprobieren, bis nach einiger Zeit der Akku mit einem Piepsen seinen Geist aufgab. Dumm gelaufen. Ich hatte das Telefon wohl doch etwas zu früh vom Ladegerät genommen. Unruhig stampfte ich von einem Fuß auf den anderen und knabberte an meinen Fingernägeln. Was sollte ich jetzt machen? Schieber suchen? Sicher käme dann genau in diesem Moment der Tankwagen und ich würde ihn verpassen. Das würde Schieber bestimmt nicht gefallen. Noch bevor ich einen Entschluss fassen konnte, rief jemand leise meinen Namen. Der Oberlehrer! Ich trat aus den Büschen hervor. »Du Idiot hast dein Handy ausgeschaltet«, schimpfte mein Partner, als er mich zu Gesicht bekam. »Ich konnte dich nicht erreichen.« »Hab ich nicht«, rechtfertigte ich mich. »Der Akku war plötzlich leer.«
»Du hast mir doch versichert, dass das verdammte Ding geladen ist.« Ich zog es vor zu verschweigen, dass ich mir mit Spielen die Zeit vertrieben hatte. »Vielleicht ist das Teil ja kaputt«, antwortete ich und versuchte dann, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. »Ist der Tankwagen aufgetaucht?« »Ja. Und gleich fahren wir ihm nach.« Wir mussten tatsächlich noch über zwei Stunden warten, bis der Veltins-Tanker das Stadiongelände wieder verließ. Dann folgten der Oberlehrer und ich dem Wagen am Ruhr-Zoo vorbei bis zum Emscherschnellweg, auf dem der Lkw den Weg in Richtung Dortmund einschlug. »Das ist also seine Route.« Befriedigt stoppte der Oberlehrer das Auto am Straßenrand und lehnte sich zurück. »Höchstwahrscheinlich fährt der Fahrer immer diese Strecke. Aber sicherheitshalber werde ich das am übernächsten Wochenende überprüfen.« »Warum erst in zwei Wochen? Warum nicht schon in der nächsten Woche…« »Da spielt Schalke auswärts.« Er schüttelte den Kopf, fügte dem aber nichts mehr hinzu. »Ach ja, stimmt.« Darauf hätte ich wirklich selbst kommen können.
Zwei Wochen später nahm der Tankwagen tatsächlich denselben Weg. Also suchten wir nun nach einem geeigneten Platz, wo wir unser Vorhaben in die Tat umsetzen konnten. Auf der Straße, die nach Wanne-Eickel abging, wurden wir fündig. Der Oberlehrer würde in einem Auto am Bahnübergang warten und den Verkehr beobachten, der von der Autobahn kam. Einige hundert Meter hinter dem Bahnübergang wurde die Straße recht schmal. Versteckt hinter
einer hohen Hecke sollte ich in einer Abzweigung den Lieferwagen parken, um dann, sobald Schieber telefonisch das Kommando gab, vorzufahren und die Straße abzusperren. Der Oberlehrer würde dem Tankwagen folgen und der Rest war dann ein Kinderspiel. An diesem Abend versoffen wir einen Teil unserer zukünftigen Beute und verabredeten uns zur Planung der letzten Details für den 28. Juni. Bis dahin würde jeder von uns seine eigenen Wege gehen.
Zum vereinbarten Termin fand ich mich wieder in der Wohnung in Gelsenkirchen-Erle ein. Mein Kollege erwartete mich bereits an der Tür. Über den Kopf gezogen, trug er einen zurechtgeschnittenen Plastikfußball, der über die Ohren, hinten bis zum Kragen und vorn bis zur Nasenwurzel reichte. Schmale Sehschlitze ermöglichten es dem Träger, etwas erkennen zu können. Ein Lederband hielt den Kopfschmuck in Position. »Na, wie sehe ich aus?«, fragte Schieber mich, als ich die Eingangstür hinter mir geschlossen hatte. »Wie jemand, der sich einen Plastikfußball über den Kopf gezogen hat«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. Er schien eine andere Antwort erwartet zu haben. »Erkennt man mich unter der Maske?« »Ich schon.« »Darum geht es doch nicht. Würde mich jemand anderes erkennen?« »Woher soll ich das wissen?«, fragte ich zurück und griff zu der Flasche Bier, die noch ungeöffnet auf dem Tisch stand. »Für mich?« Der Oberlehrer nickte. »Stell dir Folgendes vor: Du würdest mich nicht kennen und…«
»Aber ich kenn dich doch.« Schieber riss sich den Fußball vom Kopf und schmiss ihn auf den Boden. »Du kapierst aber auch gar nichts!«, brüllte er. »Du sollst doch einfach nur so tun, als ob du mich nicht kennst.« »Okay. Deshalb musst du nicht so schreien.« Ich öffnete die Flasche, setzte an und nahm einen tiefen Schluck. »Und?« Er zog den Fußball wieder über. »Was, und?« »Erkennst du mich?« »Natürlich nicht. Du hast mir doch selbst gesagt, dass ich dich nicht kennen soll. Also tue ich das auch nicht. Du bist jetzt Pille, nicht mehr Schieber. Zufrieden?« Langsam ging mir der Oberlehrer auf den Geist. Immer diese Belehrungen! Mein Partner nahm den Ball vom Kopf und holte aus der Zimmerecke einen Löwenkopf hervor. »Jetzt du.« »Muss das sein? Hier ist es so schon ziemlich warm.« Er streckte mir das Teil entgegen. »Mach schon.« Widerwillig stülpte ich mir die Maske über den Kopf. Sie stank nach Schweiß und Gummi. Die Löwenmähne hing vor meinen Augen. Ich konnte kaum etwas sehen. Jedes Mal wenn ich atmete, saugte ich das Stück eines Gummilappens mit an, was mir die Luft nahm. Mir wurde schrecklich heiß. »So erkennt dich kein Mensch, Goleo«, meinte Pille befriedigt. »Eine klasse Tarnung.« »Ich sehe nichts und mir bleibt die Luft weg«, stammelte ich. »Das kriegen wir schon hin, warte ab.« »Ich will nicht abwarten«, stöhnte ich und zog Goleo von meinem Kopf. »Ein Scheißplan ist das.« Der Oberlehrer griff sich die Maske. »Was stört dich?« Ich erklärte es ihm. Er kramte eine Schere aus dem Schrank und schnippelte an dem Gummizeug herum. Nun war zwar die Löwenschnauze
weg und an ihrer Stelle prangte ein großes Loch, aber als ich den Kopf nun übergestreift hatte, konnte ich ungestört atmen. Nur warm war es unter dem Teil immer noch. Und außerdem sah Goleo ohne Mund noch bescheuerter aus als vorher. »So geht es«, räumte ich ein. »Aber ist die Maskerade wirklich nötig?« »Ja«, sagte Schieber in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Der 30. Juni versprach ein heißer Tag zu werden. In der Nacht zuvor hatte es sich nicht richtig abgekühlt und das Thermometer zeigte schon morgens um fünf Uhr zweiundzwanzig Grad an. Wir holten den Lieferwagen aus seinem Versteck und Schieber deutete auf die Wumme, die er sich unter das Hemd in den Gürtel gesteckt hatte. »Das ist ‘ne Attrappe.« »Die Marke kenn ich nicht. Was hat die für ein Kaliber?« Der Oberlehrer lächelte gequält und reichte mir den Schlüssel für den Lieferwagen. »Dann eben nicht«, murmelte ich verärgert, öffnete die Fahrertür und stellte eine Plastiktüte mit gekühlten Bierflaschen auf den Beifahrersitz. Marschverpflegung. »Warte.« Mein Kumpel trat neben mich und griff in seine Jackentasche. »Hier. Ein Handy. Garantiert voll aufgeladen. Steck es ein und lass das Teil in Ruhe. Ich melde mich, sobald der Tanklaster bei mir vorbei ist.« »Geht klar«, brummte ich und stieg ein. »Und noch was. Denk daran: Du bist Goleo, ich Pille.« »Ja, ja«, winkte ich ab. Dann fuhr ich los.
Um halb sechs hatte ich die Stelle in der Nähe des Eisenbahnübergangs erreicht. Kurz darauf klingelte das Telefon.
»Hier Pille«, hörte ich Schieber. »Bist du in Position?« »Wo soll ich denn sonst sein?«, fragte ich zurück. »Dann ist es gut.« Pille unterbrach das Gespräch. Ich schaltete das Radio an, rauchte, wartete, rauchte wieder. Etwa dreißig Minuten später meldete sich der Oberlehrer erneut. »Der Tanker ist in drei Minuten bei dir. Los!« Ich schaltete das Radio wieder aus, zog die Löwenmaske über, startete den Motor und fuhr bis zur Einmündung, von der aus ich die Straße übersehen konnte. Unmittelbar darauf hörte ich das lauter werdende Brummen eines Dieselmotors. Dann sah ich schon einen Lkw um die Kurve biegen. Allerdings handelte es sich nicht um einen Veltins-Tankwagen. Bitburger stand in großen Buchstaben auf der Karre. Und: Bitte ein Bit. Ich zögerte. Meine Gedanken rasten. Dann hatte ich es: Mein Partner hatte ganz klar gesagt, dass in der VELTINS-Arena nur Veltins ausgeschenkt wurde. Ohne jeden Zweifel. Und das dort war ein Bitburger-Wagen. Eindeutig die falsche Brauerei. Wir wollten Veltins, nicht Bitburger. Der Laster von Veltins folgte bestimmt dahinter. Ich grinste befriedigt. Was war ich doch für ein clever Kerlchen. So leicht machte ich keinen Fehler. Ich nicht. Der Tankzug von Bitburger rauschte an meinem Standort vorbei. Ich sah gespannt die Straße hinunter. Gleich würde unsere Zukunft anrollen. Dreißigtausend Liter Zukunft. Doch statt der Zukunft bremste Schieber mit quietschenden Reifen neben dem Lieferwagen. Pille immer noch über dem Kopf, sprang er aus dem Golf und riss die Fahrertür meines Wagens auf. »Bist du von allen Sinnen verlassen!«, schrie er. »Warum hast du den Tanker nicht gestoppt?« »Welchen Tanker?« »Der gerade hier vorbeigefahren ist.«
»Hier ist kein Veltins-Tankwagen vorbeigefahren«, stellte ich klar. »Heute Morgen nicht!« »Natürlich nicht. Aber der von Bitburger!« »Wieso Bitburger? Du hast gesagt, wir klauen Veltins.« »Was bist du nur für ein Idiot! Während der Weltmeisterschaft wird in den Stadien nur Bitburger ausgeschenkt, kein anderes Bier. Und es ist doch völlig egal, ob Veltins oder Bitburger!« »Das sagst du jetzt.« Der Oberlehrer zog die Wumme aus der Tasche und schlug damit mehrmals gegen meine Stirn. »Wie kann ein Einzelner nur so bescheuert sein!«, schrie er. Dann warf er die Attrappe auf den Boden. »Du kannst von Glück sagen, dass die Knarre nicht echt ist. Sonst würde ich…« Er griff mit beiden Händen mein Shirt, schüttelte mich und geiferte: »Die Chance meines Lebens. Und ich lasse mich mit einem Volltrottel ein!« In mir kochte es. Ich war kein Volltrottel – er war der Volltrottel! Wer hatte denn die ganze Zeit nur von Veltins gequatscht? Was konnte ich dafür, dass in der VELTINSArena plötzlich Bitburger getrunken wurde? Wer sollte sich da noch auskennen? Außerdem: Hatte ich ihm nicht gesagt, dass er mich nie wieder anfassen sollte? Schieber nahm sich Pille vom Kopf und riss mir Goleo vom Gesicht. »Sieh mich an!«, brüllte er. »Ich will nur noch einmal in deine blöde Visage gucken. Nur noch einmal!« Voller Hass holte der Oberlehrer aus und ohrfeigte mich. Das war zu viel. In mir brannte eine Sicherung durch. Ich tastete zur Tüte, in der ich die Bierflaschen verstaut hatte, zog eine der Pullen heraus und schlug mit aller Kraft zu. Schieber stöhnte. Sein Blick wurde glasig. Er ließ Goleo los und fiel wie in Zeitlupe nach hinten. Blut vermischte sich mit Bier. Ich sah nach unten.
Neben meinem Expartner lag auf dem Asphalt eine große Scherbe mit dem Flaschenetikett. Irgendwann erfrischt es jeden, las ich. Frisches Veltins. Genau, dachte ich mir. Irgendwann erwischt es jeden.
Stadt: München Einwohner: 1.281.000 Austragungsort: FIFA WM-Stadion München (Allianz Arena) Jahr der Einweihung: 2005 Zuletzt erfolgte Baumaßnahmen: Neubau Kosten: 280 Mio. WM-Sitzplätze: 59.416 Heimstatt von: 1. FC Bayern München, gegründet 27.02.1900, 100.000 Vereinsmitglieder neunzehnmal Deutscher Meister: zuletzt 2005 Heimstatt von: TSV 1860 München, gegründet 17.05.1860, 20.637 Mitglieder einmal Deutscher Meister: 1966 Bemerkenswert: Europas größtes Parkhaus mit 9.800 Plätzen
Roger M. Fiedler
Seitenstiche oder die Sache mit den Fingernägeln Die Luft hockt dumpf und warm auf der Stadt wie eine riesige brütende Henne. Sie stinkt nach Bier und ranzigem Fett. Es ist früh am Abend, für die Jahreszeit zu warm und zu staubig. Überall, wo ein Grashalm steht, räuchert ein Grill. Es geht auf das Oktoberfest zu. In meinem Rücken leises Klirren von Presslufthämmern. Auf dem Wiesengelände werden die Verankerungen für die Festzelte in den Boden getrieben. Das Klirren könnte auch in meinem Kopf sein. Seit einer Stunde laufe ich um den ehemaligen Schlachthof herum und zähle Pflastersteine. Die Vergangenheit geht mir durch den Kopf, ein Rapsbauer namens Wernländer. Vor dreißig Jahren hat die Stadt ihm eine Straße durch sein Feld gebaut. Drei Quadratmeter Acker lagen hinterher auf der falschen Seite und waren damit unbrauchbar geworden. Sie
hatten keine Verbindung mehr mit dem Rest von Wernländers Besitz. Auch die Straße ist mittlerweile unbrauchbar geworden, Wernländer lebt längst nicht mehr und das ganze Areal wird gerade einer neuen Bestimmung zugeführt. Aber dieser kleine Bürokratenstreich hat sich durch die Zeiten gerettet. Ein schmales Dreieck aus Raps. Ich versuche mir vorzustellen, wie der Gott der Futterpflanze seinen Dreiquadratmeterfluch in den Himmel schreit. Nie soll an dieser Stelle… und damit gebe ich es auf. Fast zwei Stunden schon. Das reicht für einen Freundschaftsdienst. Der Jemand, den ich treffen sollte, scheint sein Interesse am Kampf um aufgegebene Parzellen verloren zu haben. Damit sind wir schon zwei, denke ich. Und das ist, grob skizziert, die Fehleinschätzung dieses Tages. Ich gehe zum Baldeplatz rüber. Er liegt direkt an der Isar, wo sie unter der Wittelsbacherbrücke hindurchfließt, einen Steinwurf aufwärts der Museumsinsel. Hier ist es etwas kühler. Mächtige Regenfälle in den Bergen haben den sonst so zahmen Fluss in einen reißenden Strom verwandelt. Die Isar gurgelt sich mit Gewalt unter den Brückenpfeilern hindurch und saugt schmatzend an ihren Fundamenten. Einzelne Sonnenbadende sind trotz Flut und fortgeschrittener Stunde auf den schmalen Resten der Kiesstrände zu sehen, bis die Dämmerung ihre Schemen zu verwischen beginnt. Diesen Moment hat er sich ausgesucht. Er nutzt den Schatten der Platanen, erwischt mich in einem unaufmerksamen Moment und befördert mich um ein Haar über die Steinbrüstung. Nur einige Pfunde, die ich in den letzten Monaten angesetzt habe, retten mich vor der gurgelnden Gewalt unter uns. Nach einem heftigen Gerangel gibt der Unbekannte seinen Plan auf und macht sich in Richtung der kleinen Gässchen vom Glockenbachviertel davon. Mit Mühe kann ich ihm folgen. Er hat mir, wie es scheint, eine Verletzung im hinteren, unteren
Brustbereich beigebracht. Ich weiß nicht, was es ist. Es tut nicht direkt weh, aber von dort breitet sich ein lähmendes Gefühl über die Lunge aus, das mich beim Atmen behindert. Ich kann dem Angreifer nicht folgen. Schon in der Baaderstraße muss ich ihn mit großem Vorsprung ziehen lassen. Die Straße wird immer länger. Ich schleppe mich zum Isartorplatz und krabbele in eine S-Bahn. Der nunmehr stechende Schmerz lässt mich unter mein Hemd fassen und dort eine kleine blutende Öffnung ertasten. Es ist ein tiefer Stich von einem angespitzten Draht. Ich kenne die Methode. Sie ist alt und sicher. Sie hinterlässt keine Spuren. Der Stich nimmt einem genau die Kraft, die man am nächsten Stauwehr bräuchte, um aus dem Wasser zu kommen. Die Kälte schließt die Wunde. Man gibt eine prächtige Wasserleiche ab. Ich fühle mich benommen. Eskaliert, denke ich, die Sache ist eskaliert. Dabei hat es ganz harmlos begonnen, vor fünf Jahren, und zwar mit einer Zeitungsannonce im Fröttmaninger Boten. Dort war vom Tod eines Bienenzüchters die Rede. Er hatte sich, so hatte es dort geheißen, durch unermüdliche Arbeit um den Fortbestand des Fröttmaninger Rapshonigs verdient gemacht. Provinzzeitungen zu lesen ist nicht meine Art von Sport, und so hätte ich diese Anzeige nie wahrgenommen, wäre es nicht Gert Reitzsch gewesen, ein alter Spezi, der mir den Zeitungsausschnitt unter die Nase hielt, ein zerfleddertes, in eine MW-Klarsichthülle gefaltetes Stück Papier, aus dem mir drei gemarkerte Worte entgegenleuchteten: Tod, Bienenzüchter, Fröttmaning. »Ich bin reich«, sagte er: ra-i-ch!, und winkte mit seinem Fahrschein in ein neues Leben. Jetzt, mit dem beißenden Schmerz im Rücken, kommt mir sein Gesichtsausdruck wieder in den Sinn. Schwer zu vergessen, was in der Mimik von Menschen wohnt, wenn sie solche Parolen ausspucken, es leuchtet darin eine Art von
Schwachsinn auf, etwa so, als seien sie sich selbst bewusst, dass sie gerade ihren Verstand verschenken für die kurze Illusion des schnellen Glücks. Gert Reitzsch war neben seiner Haupttätigkeit als Loser, Kiffer und Surfer, der er, seit ich ihn kenne, mit wahrer Hingabe nachging, durch den Tod des Onkels und Bienenzüchters nun also auch ein Erbe geworden. Erbe von drei Quadratmetern Land, wie ich später erfuhr, nämlich genau den drei Quadratmetern, die die Straße aus Wernländers Feld geschnitten hatte. Der hatte nämlich die drei Quadratmeter Behördenstreich, da er sie nicht bewirtschaften konnte, per Vertrag dem Bienenzüchter überlassen, damit der dort seine Körbe aufstellen und direkt neben dem Neubausträßchen leicht warten konnte. Ein Glas Bienenhonig pro Jahr soll der Kaufpreis gewesen sein. Dreihunderttausend Euro pro Quadratmeter war Reitzschs Vorstellung vom gegenwärtigen Wert seines Erbes, denn die Stadt hatte sich in der Zwischenzeit entschlossen, exakt an der Biegung dieses Sträßchens die neue Arena zur WM zu erbauen, ein gigantisches Fußballstadion, um die Massen zu beherbergen, denen das 72er Olympiastadion zu klein geworden ist. Die Investoren haben alle nötigen Grundstücke gekauft, dabei die drei Quadratmeter vergessen, und die öffentliche Hand hat ein bereits nachgeschobenes Enteignungsverfahren durch einen Formfehler verbockt. Damit hockte mein Freund Reitzsch, und darum sein schwachsinniges Lächeln, auf einem Freifahrschein in seine von Drogen umnebelte Zukunft. Er musste nur, und hier liegt wohl der Haken an der Sache, die Stadt, die Betreiber, zwei Bundesligavereine, die Bauherren, die Baufirmen, den Freistaat und die Fußballwelt ein wenig unter Druck setzen, dann würden sie schon kuschen. Ich habe für mich selbst den Begriff der latenten Aussichtslosigkeit geprägt. Er findet immer dann Anwendung, wenn ein Plan gut, lange und in allen Einzelheiten durchdacht
wurde, ohne dabei auch nur entfernt die Realität zu streifen. Ich wickele mir mein T-Shirt um den Rücken und knote es vorn fest zu. Einigen meiner Mitreisenden scheint es nicht zu gefallen, dass sich jemand in der S-Bahn entkleidet. Aber das Blut hört auf zu sickern. Dann schiebe ich meine Arme wieder in die Lederjacke und gleiche nun aufs Haar den Pennern von der Münchner Freiheit. Achtzig Prozent meiner Aufträge sind latent aussichtslos und mindestens die Hälfte davon aberwitzig interessant. In vielen Fällen haben sie mit plötzlichem Reichtum zu tun, den jemand erwartet, um für ein erfolgloses Leben entschädigt zu werden. Man kann sich kaum der inneren Dynamik der Hoffnung verschließen, wie sie Träumer um Träumer auf ihren verschlungenen Gedankenwegen am Nasenring zu einem abstrusen Ziel hinführt: Geld, Glück, Liebe, Macht, Ansehen durch ein Fingerschnippen des Zufalls. Das alles scheint Menschen wie Reitzsch höchst plausibel. Jeder hegt die Illusion, die Dinge würden irgendwann einmal besser. Das ist wohl auch der Grund, warum sich so wenige selbst das Leben nehmen. Aber Reitzschs Art ist etwas Besonderes. Sie ist schon fast philosophisch. Ich krame mein Handy aus der Tasche und wähle seine Nummer. Dadurch erfahre ich, dass mein Freund, der mich gerade um ein Haar meine linke Niere gekostet hätte, der mich heute Morgen bat, noch ein einziges Mal bei einem Treffen für ihn einzuspringen, auf Kuba weilt, um dort zu surfen. Freundschaftsdienst! Der kleine Scheißer! Er schlägt vor, den Stich als einen Unfall zu betrachten, der mit unserer Sache nicht in Zusammenhang steht. »Unserer?«, schreie ich ins Telefon und wieder fallen mir böse Blicke anderer Fahrgäste zu. Ich mäßige meine Stimme, aber das nutzt nichts, denn die Leitung ist schon tot. Mit Grausen denke ich an unseren Auftritt in der Staatskanzlei zurück, zu dem Reitzsch mich überreden konnte,
weil ich damals noch keinen blassen Schimmer von seinem Anliegen hatte. Er hatte mich als alten Freund gebeten, mit der Zeitungsannonce in der Hand, ihn zu einem kurzen informativen Gespräch zu begleiten. Meine einzige Aufgabe sollte sein, wie ein Rechtsanwalt zu wirken, um seine, Reitzschs, Position zu stärken. Das war am Anfang, als die Planungen zum Stadionbau gerade begonnen hatten. Noch niemand wusste so recht, was die da draußen vorhatten, aber Reitzsch hatte bereits einen Termin. Wir kamen wegen eines Plattens an meiner Vespa eine gute halbe Stunde zu spät, saßen schmutztriefend und abgekämpft dem Planungsreferenten gegenüber, einem Ehrgeizling ersten Ranges, engem Vertrauten der Machtgewaltigen und Prinz, wenn nicht Kronprinz der Freistaatdynastie, und waren beeindruckt. Geleckt und gewichst vom Scheitel bis zur Sohle thronte Dr. Dr. Braitlechner machtvoll auf seinem Polsterstuhl uns gegenüber in der Regierungskantine, blickte auf uns seltsame Gestalten herab wie auf einen Fleck auf dem Tischtuch und fragte, was wir denn nun wollten von ihm. Und mein Freund Reitzsch, der mir kurz zuvor gesagt hatte, er bräuchte jemanden, der aussieht wie ein Rechtsanwalt, einen Statisten sozusagen, stellte mich als Kompagnon vor, griff zu dem Bier, das er seinem Image und der frühen Tageszeit schuldig zu sein meinte, gurgelte so viel davon runter, wie er gerade noch bei sich behalten konnte, stieß ein Bäuerchen in die Luft und nannte seine Summe. Braitlechner wurde bleich, ich wurde bleich, die Tischdecke wurde bleich. Dann holten wir Luft und uns allen dreien fehlten die Worte, Dr. Dr. Braitlechner, der Tischdecke und mir. Ich ging zum Klo, um mir das Gesicht zu waschen, und kam erst wieder, als der Referent schon gegangen war. Es war nicht missverständlich, als ich meinem Freund Reitzsch sagte, dass ich von jetzt ab aus der Sache raus sei. »Von jetzt ab« war zwar nicht
missverständlich, aber leider ein Irrtum, wie ich heute einsehen muss. »Die Sache ist gut gelaufen«, meinte Reitzsch damals, unverbesserlicher Optimist und zudem sturzbetrunken, moserte was von falschen Freunden und versäumte nicht, sich noch zwei Flaschen Augustiner für den Weg mitzunehmen. Unseren geplatzten Scooterreifen wuchtete er auf den Ausstellungstisch zwischen die Modelle der Architekturbüros für die geplante Arena, zerschmetterte dabei einen Haufen kleiner Bäumchen, Miniaturfußgänger und Modelllaternen. Später, bei der Abstimmung über die Entwürfe, doch das nur nebenbei, entschied sich die Jury tatsächlich für unseren Reifen; offensichtlich waren die anderen Entwürfe weitaus einfallsloser als Gert Reitzsch im Suff, und so haben sie das Ding mittlerweile gebaut, in Form eines riesigen in der Landschaft liegenden alten Vespapneus. Ich bin müde. Mir fallen die Augen zu. Der Stich scheint ziemlich tief zu sein. Es gibt nur einen Weg raus aus der Sache. Wenn ich diesen Unsinn überleben will, muss ich ihn beenden. Es ist spät, aber nicht zu spät, denke ich. Die S-Bahn hält an der Donnersbergerbrücke. Ich wuchte mich mit Mühe von der Sitzbank und hebele die Tür auf. Draußen auf dem Bahnsteig erst mal eine kurze Orientierung. Die Treppe in die Gegenrichtung würde zu einer echten Herausforderung. Ich entscheide mich für den direkten Weg über die Gleise. Bei der Anstrengung dämmert mir, wie heftig der Stich war. Ich lasse mich runterfallen, rappele mich mühsam wieder auf und stolpere über Schienen und Schwellen. Auf der anderen Seite helfen mir beflissene Fahrgäste auf den Bahnsteig hoch. Mindestens drei von ihnen fragen mich unabhängig voneinander, ob ich verrückt sei. Dreimal antworte ich mit einem deutlichen Ja. Dann fährt die S-Bahn ein und ich kann meine Reise fortsetzen. Halb bewusstlos allerdings. Es gibt
Momente, in denen ich in Morpheus’ Arme wegzusacken drohe, es gibt Momente, in denen ich vergesse, dass ich in der S-Bahn bin. Irgendwie schaffe ich trotzdem meinen Weg, ich weiß nicht wie, doch schließlich stehe ich vor der Staatskanzlei und fahre wie ein Analphabet einen unbekannten Satz mit dem Finger die Fensterreihen der Staatsregierung ab: eins-zweidrei-fünfundsiebzig-sieben-undachtzig: Ja, er ist da. Ich falle Braitlechner sozusagen mitsamt der Tür ins Büro. Oben.
»Ein Knicks!«, erläutere ich, das hätte mit der Hochachtung vor seinem Amt zu tun, hieve mich wieder hoch und lasse mich in den teuersten der vier Besuchersessel fallen. Einige Minuten lang sagt keiner von uns was. Es wird offensichtlich auch nicht viel gedacht. Wir glotzen beide den jeweils anderen an und fragen uns, was gerade mit uns passiert. Ich für meinen Teil blute dabei Dr. Dr. Braitlechner den Sessel voll. Und das ist meine Absicht. Ich will einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Das habe ich allerdings schon bei unserem ersten Besuch. Fünf Jahre mag die Sache mit dem Vespareifen nun schon her sein, trotzdem spricht mich der Baureferent sofort mit Namen an: »Herr Gorski! Sie überraschen mich.« Ich freue mich, dass ich keine großen Erklärungen brauchen werde, um ihm mein Anliegen zu schildern. Adam und Eva, die Bienen, das Amt, die Straße, drei Quadratmeter Fröttmaninger Rapsheide, Erbe, Grundstücksspekulation und deren Folgen. Das alles werde ich dank Braitlechners phänomenalem Gedächtnis nicht aufzuzählen brauchen, und so komme ich gleich zur Sache: »Ich habe mit diesem ganzen verdammten Schmarrn nichts zu schaffen. Deshalb bin ich hier. Das wollte ich Ihnen sagen. Nichts! Ich habe nichts damit zu schaffen.«
»Ah«, sagt er, »ich nämlich auch nicht mehr.« Braitlechner sinkt offenkundig ermüdet von der Angelegenheit, die nicht meine und nicht seine ist, in seinen Chefsessel zurück. »Das Stadion ist fertig gestellt, eingeweiht und übergeben. Was kann also das Planungsreferat noch für Sie tun?« »Was?«, wiederholt Braitlechner, als ich weiterhin schweige. Hat er etwa keine Ahnung? Ich blicke ihn an und begreife, dass dieser Referent sehr wohl Bescheid weiß über das, was in seiner Stadt vor sich geht. Über den denkwürdigen Rollerreifen, Reitzschs aus der Karibik ferngesteuerte Attacken und das, was mir heute Nachmittag – sagen wir: unterlaufen ist. »Sie wissen nicht, was ich meine?«, sage ich und bringe meinen Oberkörper in eine andere Position, um sicherzustellen, dass das Lederpolster, auf dem ich sitze, endgültig ruiniert sein wird, wenn ich den Raum verlasse. »Es scheint, als hege jemand einen Groll gegen mich. Was meinen Sie, wer könnte das sein?« »Ich habe keinen Schimmer, wovon Sie da sprechen«, sagt Braitlechner, blickt durch mich durch in die Dunkelheit der Nacht hinaus und schweigt so intensiv, dass ich den Herzschlag in der Wunde pochen höre wie vorher die Hämmer der Bavaria. »Wirklich, ich weiß nichts von Ihren Problemen.« Ich sehe ihn an. Spannung knistert in der Luft. Jeder von uns eine elektrische Platine. Bei mir summen die Gedanken, bei ihm arbeiten die Hände. Ich sehe genau hin und entdecke meine Rettung. Dieser hochrangige Beamte hat einen seltsamen Tick: Er kann den Schmutz unter seinem Fingernagel nicht ertragen. Dabei ist nicht die Rede von dem, was einen Gärtner ziert, sondern von einem unsichtbaren Schleier, den die Maniküre nur entfernen könnte, würde sie zur Totalamputation greifen. Und auch nach der Entfernung von zwanzig Nagelbetten wäre er latent noch da, denn diese Art
von Phobie wird in der Kindheit gesetzt. Der Phantomschmerz des Schmutzigseins. Braitlechner versucht fortwährend, Schmutz unter seinem Fingernagel zu entfernen, der nicht da ist. Das tut er schon die ganze Zeit sehr unauffällig und ich erinnere mich wieder, das auch damals bei unserem ersten Treffen bemerkt zu haben. Zeig ihm die Instrumente, rät Torquemada und mir rutscht die Bemerkung raus, Recht und Gesetz scherten ihn offensichtlich nicht das Schwarze unter seinem Fingernagel. Im Snooker nennen sie so was shot to nothing. Schuss ins Blaue. »Das Schwarze?« Ein unkontrollierbarer Zwang zerrt an seiner Halsmuskulatur und die Würde seines Amtes hält dagegen, das Ganze in einer fast spastischen Übertreibung, dass ich denke, jetzt reißen die Sehnen, und endlich lassen Amt und Würde nach und der mächtige Mann examiniert sorgfältig die Fingernägel. Eine Zwangshandlung erster Güte, durch zwei Worte ausgelöst: Fingernagel, Schmutz. Nichts da. Alles sauber. Alles? Zum zweiten Mal ein Schub unkontrollierter Kontrollsucht und schließlich kurze Ruhe bis zum dritten Anlauf. »Ich werde mich…«, dann mehrmaliges, schnelles Kratzen und Wischen unter den Nägeln, das alles in ein unaufmerksam unterhaltenes Gespräch gestreut, »… nicht dazu drängen lassen, mich mit Ihren Problemen zu…«, eine absurde Vorstellung eines schmerzhaft verzerrten Geistes vor kleinem Publikum, »… beschäftigen, Herr Gorski, Sie haben schließlich…« Während er spricht, durchblättere ich im Sinn das Lexikon der sinn- und sachverwandten Wörter, alles, was mit schmutzigen Fingernägeln zu tun hat, notiere ich mir in Gedanken. Im Schmutz wühlen, im Boden scharren, an Problemen kratzen, sich die Finger schmutzig machen, mit lehmigen Händen die Scholle kneten, wie Ton auf der Scheibe,
ein tönerner Riese, mit beiden Händen im Dreck, die Fingernägel blutig… Und dann werfe ich ihm Satz um Satz aus diesem Fundus an den Kopf, mit dem Dreck im Nagelbett fange ich an, denn so fühle man sich in meiner Situation, wie ein Fremdkörper, den jemand zu entfernen versuche und der sich nicht entfernen lässt – ein Splitter unter dem Nagel. Schon die ersten Sätze schlagen ein wie Drakes Breitseiten in die spanische Armada. Und dann lasse ich Braitlechner nicht mehr zu Wort kommen und bete die ganze Liste runter, bis er wimmernd hinter seinem Schreibtisch hockt, beide Hände zu Fäusten geballt, nur um dem Drang zu widerstehen, sich jetzt gleich die Fingernägel auszureißen. Das war’s, mein Freund! Es ist eine stille Kapitulation. Eine kurze Gedankenpause, dann sprudelt es wie die Toilettenspülung aus ihm heraus: Sie hätten sich damals in ihren Beratungen, und davon habe es viele gegeben auf mittlerer Ebene, ausgiebig eine Meinung gebildet. Sogar ein Psychologe hätte damals assistiert und der habe darauf bestanden, ein Mann wie Reitzsch könne unmöglich hinter einer so perfiden Grundstücksspekulation stecken, wie sie da inszeniert worden sei, ein Gorski allerdings. Ich hätte eine gewisse Bekanntheit in diesen Dingen. Aber er, Braitlechner, habe mit der Sache nun wirklich nichts mehr zu tun. »Wir sind raus aus der Angelegenheit. Endgültig. Außer dem Chef, der ist noch immer Vorsitzender, aber der ist nie über diese Angelegenheit informiert gewesen.« »Der Ministerpräsident?« »Ja, aber der weiß nichts.« Das überzeugt mich. Ich stehe auf bei seinen Worten und gebe ihm Gelegenheit, die Verschmutzung seines-meines Sessels zu betrachten. Es sieht garstiger aus, als ich dachte.
Das Leder ist ruiniert. Es ist getränkt mit roter Suppe. Ich gehe hinüber zum zweiten Besuchersessel und mache dort weiter. »Entschuldigen Sie!«, sagt Braitlechner und hebt sich nun auch aus seinem Sessel. »Das habe ich ja nicht gewusst. Dass die Dinge in der Tat so aus dem Ruder…« »Schon gut«, antworte ich, »ich auch nicht.« Er geht zum Fenster. »Wissen Sie überhaupt, was da draußen läuft?« Er unterstreicht das »da draußen« mit einer energischen Kopfbewegung in Richtung Fröttmaning und Stadion. Beide Hände hält er zu einem Knäuel, sich selbst umklammernd, vor dem Bauch. Keine Rede mehr davon, dass »alles vorbei« sei. Dass er nichts wisse. Nein. »Die Baufirmen wurden allesamt nur unter Vorbehalt bezahlt, manche konnten sich die teuren Ausfallversicherungen nicht leisten. Es gab Pleiten.« »Das alles wegen Reitzschs drei Quadratmetern?« Ich überlege noch, ob ich darauf hinweisen soll, dass dieser Unsinn mit einer öffentlichen Baumaßnahme vor dreißig Jahren ausgelöst worden war und dass damals eine simple Verschiebung einer bedeutungslosen Kleinstraße alles bereinigt hätte. Aber der Amtsschimmel, den will ich nicht wecken um diese Zeit. »So ist es. Firmenpleiten, Entlassungen. Das alles wegen Ihrer drei Quadratmeter.« Jetzt raste ich aus. Ich schreie. Mir alles. Von der. Seele. »Es – sind – nicht – meine – drei – Quadratmeter!! Ich habe mit dem ganzen Mist nichts zu schaffen!« Danach herrscht Stille. Lang und blutig. Reitzsch, dieser kleine hinterhältige Scheißer, wie immer schon hatte er es geschafft, einen Puffer zwischen sein Portmonee und das der Geschädigten zu schieben, und dieser Puffer war gegen meinen Willen ich. »Reitzsch sitzt in der Karibik den Ausgang der Entscheidung aus und ich habe ein drittes Luftloch in der Lunge.«
Dann erfolgt ein absurder kleiner Zwischendialog. »Luftloch?« »Ein spitzer Draht«, erkläre ich. »Haben Sie was für die Sitze?« »Mein Gott!«, als habe sein Gehirn erst jetzt die Färbung des Sesselleders mit einem medizinischen Sachverhalt in Verbindung gebracht. Ich betrachte seine Hände, die sich noch immer unabhängig von seinem Willen mit sich selbst beschäftigen, und begreife: Das hat er. Er hat noch nicht kapiert, dass mir jemand ein Loch in den Rücken gerammt hat. Um uns die Zeit zu vertreiben, bis es so weit ist mit seinem Groschen, erzähle ich was von den Methoden untergegangener Ostblockgeheimdienste. »Löcher in Menschen zu pieken ist nicht so alltäglich, wie man vielleicht meinen möchte. Solide Handarbeit. Wie diese Sessel. Beherrscht heut kaum noch wer.« »Karoiskystahl«, sackt es schließlich aus Braitlechner. »Eine Edelstahlfirma aus Rumänien, die für uns alle Absperrungen und Geländer errichtet. Sie stehen vor der Pleite.« Meine Augenbrauen heben und senken sich. »Es stand mal in einem Gespräch der Verdacht im Raum, dass es sich um eine Seilschaft des ehemaligen rumänischen Inlandsgeheimdienstes handelt. Soll ich Ihnen was sagen?«, setzt er an und ich winke ab. Ich sehe es in seinem Gesicht, wie in einer Verhandlungsrunde zwischen Bauinvestoren und Gläubigerfirmen eine Bemerkung fällt über einen offenen Rechtsstreit und jemand den Namen des Querulanten nennt. Wie vielleicht sogar der Psychologe mit seinem Gutachten zitiert wird, ein Reitzsch sei zu derartig subtilen Erpressungen nicht fähig, doch da sei dieser andere… Gorski heiße der. Und wegen dem gibt’s kein Geld. Klar, dass ein strebsamer Problemlöser im Planungsausschuss diese Bemerkung nicht unabsichtlich hat fallen lassen. Er
wusste, dass die Rumänen ihr Finanzproblem und damit das Problem Reitzsch und Gorski auf ihre Weise lösen würden. Directoratul General al Sigurantel Poporolul, DGSP. So heißt der Geheimdienst. Oder ich habe es schlichtweg geträumt, denn mein Kopf liegt immer wieder auf meinen Schultern, abwechselnd links und rechts. Wenn der Geheimdienst aber einen Namen hat, dann ist er aller Wahrscheinlichkeit auch real und dann wird der Stich nicht der letzte sein, und das ist für die Zukunft schlecht. So weit, denke ich, so gut. Und dann versuche ich, es in Worte zu fassen. Denn Braitlechner telefoniert mit einem Krankenhaus. Unpraktisch veranlagt, wie das alle politischen Entscheidungsträger sind, muss er sich umständlich erklären lassen, dass wir mobile notärztliche Dienste haben, die man dreistellig anwählen kann, entweder über die Feuerwehr oder die Polizei, 110, 112. Ich muss einschreiten. »Bitte«, sage ich, »wir müssen das Problem lösen.« »Wie?« »Ich will mich nicht zusammenflicken lassen, damit es mir zwei Wochen später jemand endgültig besorgt.« »Ja«, sagt er, er sei ja auch für das Nachhaltige. Schon immer gewesen. Ich wünschte, ich hätte noch Kraft im Arm. Dann hätte ich ihm seine Nachhaltigkeit anschaulich vermittelt. Seitlich am Kinn. Aber die Kraft reicht nicht. Ich fasele stattdessen etwas von Nagelbettentzündungen, die man aufbohren müsse, um sie auseitern zu lassen. Damit sind wir beiden wieder auf Augenhöhe. Es hat was von einem Boxkampf, was wir da machen. Zu fortgeschrittener Stunde in Braitlechners Planungsbüro. Braitlechner jedenfalls hält seine Hände zu Fäusten geballt und fragt mich über diese Deckung, was er denn um Himmels willen »noch« tun solle.
Ich hebe meinen Blick mühsam zur Uhr. In der S-Bahn hat es fünf Millisekunden gedauert, um den Plan zu fassen. Aber mir wird langsam die Zunge schwer. »Parkplatz«, sage ich, das Wort kommt aus meinem Mund wie Kieselsteine unterschiedlicher Größe. Braitlechner schüttelt den Kopf: »Was?« Reitzsch hat, wie wir deutlich sehen, die Fähigkeit, seine Interessen aus der Ferne wahrzunehmen. Er weiß weiträumig den Gefahren aus dem Weg zu gehen, die er sät. Deshalb war er mit Sicherheit nie auf oder in der Nähe der Baustelle, an der neuen Arena oder sogar darin. Reitzsch hat keine Ahnung von Katasterplänen und weiß ganz sicher nicht einmal, wo seine drei Quadratmeter genau liegen. Am linken Pfosten stadteinwärts, um das hier nachzuschicken, doch das wird er nie erfahren, denn als ich meinen Satz zu Ende gelallt habe, klingelt es allmählich auch bei Braitlechner. »Sie ssollten«, rate ich, »seine Fodehrung in voller Höhe anerkennn und ihm die drei Kudrahtmeter als Eintum überlassen.« Dann geht mir erst mal der Saft aus. Reitzsch, du hast dich immer sauber aus allem herausgehalten. Jetzt tritt das Pferd nach hinten aus. Im Reden lege ich meinen Kopf auf die Sessellehne und schließe nur für einen Moment die Augen. Als ich sie wieder öffne, sind wir zu dritt im Raum. Eine Taschenlampe leuchtet mir in die Pupille. Ich versuche immer noch, im Sprechen ein klares Bild zu vermitteln von dem, was… Moment, denke ich unterwegs, was war noch dein Plan? Dann gehen zwei Blechtüren geräuschvoll zu, ich lege den Kopf zur Seite und sehe durch das Fenster des Notarztwagens Braitlechner mit zuversichtlich in die Breite gehenden Mundwinkeln. Er hebt seinen Daumen zum Zeichen, dass alles in Ordnung kommt, und während sich der Notarztwagen in Bewegung setzt, fällt sein Blick auf seinen Daumen. Das
Letzte, was ich von ihm sehen kann, ist, dass er sich den Fingernagel säubert. Es gibt ja an bayerischen Beamten einiges zu meckern, aber in der Umsetzung tückischer Pläne sind sie nicht zu schlagen. Nur eine Woche später wird Reitzsch in Varadero auf Kuba mit diversen Drogen erwischt. Sein Pass ist unglücklicherweise abgelaufen, wie sich bei dieser Gelegenheit herausstellt. Das Auslieferungsverfahren zieht sich genau einen Tag länger hin, als seine Einspruchsfrist gegen die vertragliche Vereinbarung mit der Arenabetreibergesellschaft gedauert hätte. An dem Tag, als ich mit einem kleinen Pflaster auf dem Rücken das Krankenhaus verlasse, wird sie rechtsgültig, diese Vereinbarung, derzufolge einer der zehntausend Parkplätze der Arena in Reitzschs erbliches Eigentum übergeht. Weil der Parkplatz jedoch mehr als drei Quadratmeter hat, steht im mittleren Bereich ein Blumenkübel. Ich fahre raus, um ihn mir anzugucken. Es ist der zwölfte in der dritten Reihe von links direkt neben der Hauptzufahrt zur so genannten Esplanade. Mein Roller, nebenbei, findet auf Reitzschs Erbe gerade so Platz. Nachdem ich einmal die Strecke vor die Tore Münchens bewältigt habe, kann ich glücklicherweise auch meine eigene kleine Rechnung begleichen. Und zwar mithilfe eines aus dem Feuerwehrkästchen im Erdgeschoss vom Krankenhaus entwendeten Hydrantenschlüssels. Der Rumäne ist nämlich gerade im Parkhaus der Arena mit dem Schweißen der Außenbrüstung beschäftigt, als ich auf meiner Besichtigungstour bin. Unaufmerksam, wie Bauarbeiter bei den letzten Arbeiten an einem vollendeten Meisterwerk so sind, scheint er das Wasser nicht zu bemerken, das sich um ihn sammelt. Das Wasser aus dem undichten Hydranten, wie es später heißen wird, das sich kubikmeterweise über die Etage
ergießt und diesen für den Schweißer so fatalen Kurzschluss hervorruft. »Scheint«, sage ich, weil der Mann mit der Vorliebe für spitzen Draht es dann später doch bemerkt, als ihn ein derber elektrischer Schlag niederstreckt. Ziemlich heftig, wie er sich aufbäumt, das muss ich schon sagen. Auch dass seine Arbeitsgenehmigung längst abgelaufen ist, muss dem Rumänen entgangen sein. Vom Krankenhaus schaffen sie ihn direkt zum Flugzeug. Am Tag seines Abflugs stehe ich am Flughafen und winke freundlich. In meiner Tasche stecken zwei Freikarten für die gesamte WM. Die beiden Sitzplätze, aber das mag purer Zufall sein, sind diejenigen, die am weitesten entfernt von der Loge des Ministerpräsidenten liegen, diagonal gegenüber. Vielleicht gehe ich trotzdem mal auf ein Würstchen rauf, wenn es so weit ist.
Stadt: Dortmund Einwohner: 586.000 Austragungsort: FIFA WM-Stadion Dortmund (SIGNAL IDUNA PARK) Jahr der Einweihung: 1974 Zuletzt erfolgte Baumaßnahmen: Modernisierung Kosten: 45,5 Mio. WM-Sitzplätze: 60.285 Heimstatt von: BVB 09 Gründung: 19.12.1909 Mitglieder: 24.343 Sechsmal Deutscher Meister: 1956, 1957, 1963, 1995, 1996, 2002 Bemerkenswert: Deutschlands größtes Fußballstadion mit Europas größter Stehplatztribüne
Reinhard Junge
Countdown in Dortmund »Scheiß Schalke!«, stöhnte Polizeihauptmeister Lusebrink. Von Neid erfüllt stierte er auf die Menschenströme, die sich an ihm vorbei durch die Absperrgitter schoben und über die Strobelallee in Richtung Stadion wälzten. »Und ich hatte eine Karte!« Sein Fahrer Haggeney seufzte und setzte sich etwas bequemer auf den Kotflügel seines silber-grünen Vectra. Der Kühler des Wagens sackte einen halben Meter tiefer und das geschundene Blech ächzte. Dem Kantigen war das egal. Genauso egal war ihm diese dämliche WM, die ihm mit Urlaubssperre und Bereitschaftsdiensten einen Supersommer vermasselte. »Ist das nicht schrecklich, Kalla? Nun sag doch etwas!« Haggeney sagte nichts. Das Jammern seines Streifenführers
ging ihm am meisten auf den Sack. Haggeney war Polizist und Taubenvatta – mehr interessierte ihn nicht. Diese schwarzen Wunderknaben, die an diesem Nachmittag in Dortmund auftraten, könnten bei ihm auf dem Hof spielen – er würde die Fenster schließen und sich auf die Couch legen, um WDR 4 zu hören. »Ich versteh dich nich, Kalla«, machte Lusebrink unbeeindruckt weiter und riss mit den Zähnen eine neue Packung Gummibärchen auf. »Das muss dich doch auch aufregen. Nur weil plötzlich tausend Mann mehr in Gelsenkirchen antreten müssen…« »Ja, Mann, ist Scheiße, aber so ist der Dienst. Und ob ich wie sonst in Hattingen auf die Ruhr gucke oder in Dortmund auf diese Bekloppten – jede Minute bringt mich näher an die Rente.« »Rente? Du? Mit achtundvierzig?« Lusebrink baute sich vor seinem langjährigen Gefährten auf und bohrte ihm einen Zeigefinger in die Brust. »Komm erst mal in meine Jahre, dann darfst du das Wort wieder ungestraft aus sprechen!« Blödmann, dachte Haggeney. Der ist gerade mal zehn Jahre älter. Besänftigend fragte er: »Und was redest du dauernd von Schalke? Was ist da eigentlich passiert?« Lusebrink fasste sich an die Stirn: »Nicht aufgepasst in der Dienstbesprechung, was?« Er rückte näher an seinen Kumpel heran und sah sich sichernd um, bevor er fortfuhr: »Terrorgefahr. Gestern hat irgendeine Moslembruderschaft einen Anschlag auf die Arena angekündigt. Weil da Bier ausgeschenkt wird, während irgendeine Mannschaft aus, äh, weiß ich nicht, also so ‘nem Moslemland spielt. Und damit die Sache nicht so einfach ist, hat die Gelsenkirchener Ultraszene randaliert. Sie wollen Bier, aber nicht diese Eifel-Jauche, die die FIFA ausschenken lässt,
sondern ihre Veltins-Pisse. Die spinnen, diese Schalker. Machen immer noch Randale…« Aufmerksam blickte er sich um, ob nicht irgendein Terrorist in der Nähe war. Dann verriet er seinem Kumpel: »Auf jeden Fall haben die Kollegen in Gelsenkirchen noch tausend Mann Verstärkung bekommen. Damit da schnellstens wieder Ruhe im Schacht ist.« »Is doch vernünftig.« »Aber wir haben die Arschkarte gezogen und stehen uns hier die Beine in den Bauch. Und das nur, weil diese königsblauen Idioten mal wieder nix geregelt kriegen.« Versonnen starrte Lusebrink einer dunkelhäutigen jungen Frau nach, die eine bunte Nationalfahne mit etlichen grünen und schwarzen Streifen durch die Stadt trug. Wenn er Terrorist wäre, würde er eine Sprengladung in einer Fahnenstange ins Stadion schmuggeln lassen – von genau solch einer Sexbombe, der alle nur auf die Milchkannen und nicht auf die Hände starrten. »Wir müssen aufpassen. Damit diese Randalierer nicht nach Dortmund ausweichen. Undenkbar, wenn in Schalke Ruhe ist und hier der Himmel einstürzt. Dann kannze die Borussia endgültig vergessen…« Von diesem Vortrag erschöpft, musste er rund zwanzig Gummibärchen nachladen. Als er wieder sprechen konnte, nuschelte er: »Und ich arme Sau musste meine Karte verkaufen.« »Kein Grund zum Heulen«, grinste Haggeney. »Du hast doch den dreifachen Preis erzielt.« »Und der Ärger? Die Laufereien? Der Zeitaufwand? Mann, die Karten sind personengebunden. Ich musste die extra beim DFB umschreiben lassen. Auf den Käufer. Der musste versichern, dass er dafür nur den normalen Preis gezahlt hat.«
»Is das nich Meineid oder so?«, fragte Haggeney. »Dat is doch strafbar!« »Wenn die uns dazu zwingen? Die Leute beim Fußballverband sind schlimmer als die Bürokraten bei uns im Sozialamt.« Lusebrink atmete tief durch und beobachtete wieder die Leute, die an ihnen vorbeizogen. Wie Terroristen sahen die eigentlich nicht aus. Im Gegenteil: Sie wirkten ausgesprochen friedlich und schienen sich richtig auf das Spiel zu freuen. Und auf Gonzaga, den Star der Qualifikationsspiele. Er hatte für sein kleines Land die meisten Tore geschossen. Alle erwarteten, dass der Bursche heute ein richtiges Schützenfest abzog. »Ich habe immer Pech bei der WM. 74 war ich zwar im Stadion, aber da spielte die falsche Mannschaft.« Haggeney versuchte nachzurechnen, ob Lusebrink damals schon gelebt haben konnte, aber ohne Zettel war diese Aufgabe einfach zu schwierig. »Ich wollte Beckenbauer und seine Truppe auf Schalke gegen Argentinien sehen. Stattdessen spielten da die Zonis.« »Zonis – bei der WM?« »Jau, ein einziges Mal harn sie’s geschafft. Ausgerechnet bei uns in Deutschland. Damals hat uns doch dieser Sparwasser auf den zweiten Gruppenplatz gebombt. Darum spielten Müller und Breitner statt in Gelsenkirchen plötzlich in Düsseldorf. Und für das Spiel hasse auf einmal keine Karte mehr bekommen. Zumindest nich als Normalverdiener.« Eine laute Fanfare schreckte Lusebrink aus seinen bösen Erinnerungen. Erschrocken blickte er auf. Aber statt eines Vierzigtonners schob sich die glitzernde Front eines schweren BMW ungeduldig zwischen die Fußgänger. Wie war der Typ bis hierher gekommen? Aus Angst vor Autobomben durfte an
diesem Nachmittag kein Privatwagen so nahe ans Stadion heran. Der Streifenführer drückte sein Kreuz durch und stellte sich der Bayern-Schleuder mitten in den Weg. Das musste der neue 7er sein. Dieses Angeberauto, das Lusebrink sich als ehrlicher Bulle nicht mal in der Spielzeugversion von Siku oder Matchbox leisten konnte. Na warte, Bursche! Die Stoßstange des Wagens rückte bis auf zehn Zentimeter an Lusebrinks Schienbeine heran. Erneut ertönte die Fanfare, dann schob sich eine Hand aus dem Fahrerfenster in die Luft und schwenkte einen bunten Ausweis: »Herr Wachtmeister!« Angesichts dieser Standardsituation kam auch Haggeney wieder in Bewegung. Die Faust am Holster näherte er sich der Luxuskarosse und schob die Hand mit dem Ausweis beiseite: »Polizeihauptmeister! Mein Streifenführer ist Hauptmeister!« »Gut, Herr General!«, bölkte es aus dem Wagen zurück. »Aber jetzt seien Sie so gut und schieben den Dicken da mal aus dem Weg. Ich muss noch vor Spielbeginn im Stadion sein.« »Welchen Dicken meinen Sie?« Die Hand aus dem Wagen deutete auf Lusebrink, der noch immer vor der Stoßstange parkte, die Hände in den Hosentaschen versteckt und zwischen den mächtigen Kiefern eine Ladung Gummibärchen zermatschend. So stand er da, fett wie eine Pommesbude und unbeweglich wie die Chinesische Mauer. »Komm, mach schon! Räum den Fettkloß vom Asphalt!« »Gustav«, schrie Haggeney. »Dieser Mensch hat mich gerade geduzt und dich Fettkloß genannt…« Fettkloß? Lusebrink starrte auf die glitzernde Frontscheibe des BMW. Von dem Gesicht dahinter war wegen des Gegenlichts kaum etwas zu erkennen. Aber das ständige
Aufheulen des Motors unterstrich, dass der Typ eine kleine Lektion verdient hatte. Lusebrink zog eines dieser rot-weißen Sperrgitter heran und knallte es direkt vor der Schnauze des BMW aufs Pflaster. Dann setzte er auch seine Füße in Bewegung und trat neben seinen Fahrer. Warf noch eine Portion Gummitiere ein und senkte anschließend ein wenig den mächtigen Schädel, um in das Innere des Wagens gucken zu können. Als er den Mann hinter dem Steuer erkannte, fielen ihm fast die Eier ab. Könnes! Dieser Manager aus München, der jedem echten Fußballfreund im Ruhrpott so verhasst war wie einem jungen Priester das Zölibat. Und der riss hier seine Klappe auf? »Junger Mann«, sagte Lusebrink betont leise. »Erstens dürfen Sie mit dem Auto sowieso nicht hier durch. Und zweitens…« Die Hand im Fenster winkte wieder mit dem bunten Papier: »Falls du dich nicht auskennst, mein Freund, ich bin Muli Kön…« Lusebrink nahm den Papierfetzen an sich und steckte ihn ungelesen in die Brusttasche seines Sommerhemds: »Und wenn Sie Putin persönlich wären!« Einen Augenblick lang herrschte ein gefährliches Schweigen. Dann meldete sich Haggeney zu Wort: »Gustav, so geht das nicht. Der Mann hat wirklich eine Sondererlaubnis. Der muss hier durch. Da können wir doch nicht… Ich meine… Wir als Freund und Helfer… Was soll die Presse sagen… Und überhaupt…« Der Hauptmeister sah seinen Fahrer an, als hätte dieser plötzlich seine Hautfarbe gewechselt: »Hömma, der hat dich geduzt und mich Fettkloß genannt. Stimmt doch, oder?« Haggeney nickte: Daran konnte er sich noch erinnern. »Also, und das ist Beamtenbeleidigung. Ein Offizialdelikt. Wir dürfen den gar nicht laufen lassen. Wir müssen ihn anzeigen. Sonst machen wir uns strafbar.«
Haggeney schluckte und dachte offensichtlich nach, während der Mann hinter dem Steuer auf seine Uhr tippte: »Mann, ich muss pünktlich da sein. Habe vor dem Spiel noch einen wichtigen Termin.« »Verstehe!« Lusebrink beugte sich noch tiefer zum Wagenfenster hinab. »Also stimmt es, was die BILD-Zeitung schreibt? Gonzaga?« Der Manager nickte und klopfte wie zum Beweis auf den Aktenkoffer, der auf dem Beifahrersitz ruhte: »Alles drin! Vertrag in drei Durchschriften, das Handgeld, der Vereinsausweis, ein Trikot mit der richtigen Rückennummer…« Au, Scheiße, dachte Lusebrink. Mit Gonzaga werden die auch die nächsten fünf Meisterschaften holen. Und Borussia guckt wieder in die Röhre. Könnes schien zu merken, dass es in dem Polizisten arbeitete. Plötzlich stieg er aus seiner Kiste und trat ganz dicht an Lusebrink heran: »Herr Hauptmeister, ich habe das gerade nicht so gemeint. Es war die Erregung. Aber verstehen Sie, es geht um einen Millionendeal. Wenn ich nicht früh genug da bin, dann kommt mir der FC Chelsea zuvor.« Lusebrink zog sich einen halben Schritt zurück. Der BayernMann stank nach Parfüm wie eine ganze Drogerie. Dabei hatten echte Männer nach Schweiß zu riechen. »Es tut mir außerordentlich leid, wenn ich Sie beleidigt habe«, fuhr Könnes fort und schloss körperlich erneut zu Lusebrink auf. »Bitte, nehmen Sie doch meine aufrichtige Entschuldigung entgegen. Und dann reden wir wie ganz vernünftige Menschen miteinander.« Er streckte die Hand aus und Lusebrink griff unwillkürlich zu. Überrascht spürte er, dass dabei ein Stück Papier aus Bayern nach Westfalen befördert wurde. Ein heißer Schauer strömte durch Lusebrinks Körper. Was er nun in der Flosse
hielt, war garantiert nicht die Mannschaftsaufstellung des FC Bayern. »Nun«, sagte er und räusperte sich. »Is schon klar, Herr Könnes. Ich verstehe Sie vollkommen.« Gekonnt legte der Hauptmeister seine Stirn in Falten. Der Typ sollte bloß nicht glauben, dass er so schnell umzustimmen war. »Aber hier darf ich Sie wirklich nicht…« Haggeney schien instinktiv zu spüren, dass ein Geschäft zu machen war, und wechselte die Taktik: »Sie können hier wirklich nicht durch. Vorschrift ist Vorschrift. Befehl ist Befehl. Wenn hier ein Auto durchkommt, sind wir unseren Job los.« »Guter Mann«, sagte Könnes und ergriff Haggeneys Unterarm. »Wenn wir hier keinen Aufstand machen, bekommt keiner mit, dass Sie ein wenig großzügig waren.« »Aber…« Ein Ellenbogenstoß in die Rippen unterbrach ihn. Lusebrink sah seinen Partner eindringlich an und meinte: »Kalla, der Mann will heute Fußballgeschichte schreiben. Wir sollten ihm dabei nicht im Wege stehen – Herr Könnes, ich kenne da einen Schleichweg.« »Du?«, fragte Haggeney. »Du kennst dich in Do…« »Klar, Mann!«, fuhr ihm Lusebrink über den Mund und wandte sich wieder an den BMW-Piloten: »Wir schaukeln das Ding. Aber das geht nicht mit diesem Wagen und nicht auf diesem Weg. Vielleicht fahren Sie einfach da drüben rein und parken die Kiste. Dann nehmen wir unseren…« Der Manager zögerte einen Augenblick und sah sich suchend um. Das Stadion war schon in Sichtweite – aber kein Vorgesetzter, der diese Idioten zur Raison rufen konnte. Also ergab er sich in sein Schicksal: »In Ordnung. Aber machen Sie ein wenig dalli.«
Lusebrink machte. Höchstpersönlich dirigierte er den Manager durch den Menschenstrom zu einer abgesperrten Grundstückseinfahrt, schob ein Gitter beiseite und ließ den Mann vor dem Clubhaus des Dortmunder Reitervereins parken: »Ist schon in Ordnung. Da schleppt Sie keiner weg!« Während der Bayern-Manager seinen Wagen umsetzte, kontrollierte Lusebrink unauffällig, was da noch immer in seiner feuchten Hand klebte. Als er sah, um was es sich handelte, sprang ihm fast eine Herzklappe ab: ein hellroter Schein, auf dem eine Eins und eine Null prangten. Für zehn Euro wollte dieser Arsch ihn kaufen? Unauffällig schob er das Geld in seine Hosentasche und sah zu, wie Könnes sich seinen Geldkoffer schnappte und auf den Streifenwagen zulief. Haggeney saß bereits hinter dem Steuer und schickte sich an zu wenden, doch sein Streifenführer legte ihm die Hand auf die Schulter. Gleichzeitig suchte er im Rückspiegel Blickkontakt zu ihrem Fahrgast: »Zunächst müssen wir einen kleinen Umweg fahren.« Der Mann auf der Rückbank wurde blass: »In einer Stunde ist Spielbeginn. Ich muss meinen Mann vorher treffen. Nach dem Warmlaufen…« »Kein Problem. Wird alles klappen. Nur…« »Gar nix mit ›nur‹!«, bestimmte Könnes. »Das sind doch Fisimatenten. Ich habe schon genug Zeit verplempert. Sie bringen mich jetzt bis direkt vor den Eingang des Stadions und setzen mich dort ab. Sonst…« »Sonst?« Lusebrink fuhr herum, milderte aber sofort seinen Ton und redete auf Könnes ein wie auf einen störrischen Esel: »Mann, wir wollen Ihnen doch wirklich helfen. Aber selbst wir dürfen ohne Erlaubnis nicht zum Stadion fahren.« »Mit einem Zivilisten erst recht nicht«, warf Haggeney ein, der um seinen Anteil an der Prämie fürchtete.
»Genau!« Lusebrink nickte. »Aber, wie gesagt, ich kenne einen Schleichweg, auf dem wir durchkommen…« Resigniert sah der Mann auf dem Rücksitz zu, wie Haggeney den Wagen wendete und ihn gegen den Strom der Fußballfreunde in Richtung Innenstadt lenkte. Kaum hatten sie die Stadionzufahrt verlassen, standen sie in einem Stau, der keinen Anfang und kein Ende hatte. Den Ausfall der stadionnahen Parkplätze und Hochgaragen konnten auch die eigens für die WM umgebauten Straßen nicht mehr verkraften. »Haben Sie kein Blaulicht?« Haggeney nickte und streckte seine Faust willig zum Schalter aus, doch Lusebrink stoppte ihn: »Sorry, Herr Könnes. Ich würde ja gerne das Blaulicht nehmen. Aber wir dürfen das nur einschalten, wenn Gefahr im Verzug ist. Und die Kollegen reißen uns in Fetzen, wenn wir hier falschen Alarm auslösen…« Verunsichert blickte Haggeney seinen Streifenführer an, aber der verstellte seine Rückenlehne ungerührt in eine so starke Schräglage, als wollte er in dem Fahrzeug übernachten. »Mann Gottes!«, keuchte der Mann auf dem Rücksitz. »Wir haben nur noch fünfzig Minuten bis zum Anpfiff!« Lusebrink hob seinen fleischigen Unterarm und warf einen Blick auf das Zifferblatt seines Chronometers: »Zweiundfünfzig. Gonzaga dürfte jetzt beim Warmlaufen sein. Da kämen Sie sowieso nicht an ihn heran. Und in zehn Minuten sind wir an der nächsten Kreuzung, da löst sich dieser Stau ganz von alleine auf…« Wie zum Beweis kam im selben Augenblick etwas Bewegung in die Fahrzeugschlange und Haggeney gab vorsichtig Gas. Zwanzig, dreißig Meter rollte der Wagen vorwärts, aber als sie die Unterführung der Bundesstraße 1 erreicht hatten, stand wieder alles still.
»Wunderbar«, sagte Lusebrink und lockerte den Sitz seines Koppels. »Wenigstens sind wir für ein paar Minuten aus dieser Scheißsonne raus!« Könnes kommentierte dieses Statement mit einem lauten Stöhnen und heftete seinen Blick auf die Fahrzeuguhr. Seine Lippen bewegten sich, als zählte er die Sekunden mit. Genau zwei Minuten nach dem ersten Zwischenspurt ging der nächste Ruck durch die Fahrzeugschlange. Diesmal kamen sie sogar rund fünfzig Meter weiter, standen aber wieder im gleißenden Sonnenlicht. Die modernen Bürogebäude auf der rechten Seite warfen ihre Schatten zur falschen Seite und die hohen Bäume des Südwestfriedhofes linker Hand waren viel zu weit weg, um das Fahrzeug schützen zu können. Lusebrink ließ das Fenster auf der Beifahrerseite hinab und schob seinen Ellbogen nach draußen, aber diese Maßnahme brachte auch keine Erleichterung. »Sehen Sie«, sagte Lusebrink und deutete nach vorn. »Ich sag doch, an der nächsten Ampel geht’s schneller…« Flankiert von einigen gesichtslosen Wohnblöcken näherten sie sich nun wirklich der nächsten Kreuzung. »Na also«, meldete sich Haggeney. »Sie haben immer noch vierzig Minuten, bis es los geht!« Die Ampel sprang auf Rot, und als der Wagen stand, wurde Könnes aktiv. Verzweifelt rüttelte er an der Türklinke, aber nichts tat sich. Da rutschte er nach links hinüber und versuchte dort sein Glück. Vor Wut und Enttäuschung keuchend blieb er ein paar Augenblicke liegen. Dann rappelte er sich auf und rüttelte an Lusebrinks Schulter: »Was ist das denn? Ich bin hier eingesperrt? Das ist Freiheits…« »Quatsch«, grunzte die Pommesbude. »Das ist nur die Kindersicherung. Sie verstehen – wir wollen Sie doch nicht verlieren!« Er deutete mit seinem Kopf nach vorn: »Geradeaus
klappt es leider doch nicht. Aber das macht nichts. Wenn wir links runterfahren…« »Aber da geht’s doch gar nicht zum Stadion!«, schrie Muli Könnes. »Solche Flaschen wie Sie…« »Mann!«, brüllte Lusebrink. »Sie gehen mir auf den Geist! Wir reißen uns den Arsch auf, um Ihnen zu helfen, und Sie…« »Aber in einer halben Stunde ist Anpfiff! Und ob ich den Mann in der Pause erwische…« Während Haggeney den Wagen in Richtung Stadtmitte rollen ließ, versenkte der Fahrgast seine Hand in den Tiefen seiner schicken Sommerjacke. Sekunden später beförderte er ein Mobiltelefon ans Tageslicht und klappte es auf. Da wurde Lusebrink ernsthaft böse. Erstaunlich beweglich beugte sich der Dicke nach hinten, pflückte dem Mann das Teil aus der Hand und steckte es selbst ein. »Mann!«, jaulte der Entführte. »Wenn mir der Vertrag mit Gonzaga entgeht…« »Wissen Sie«, meinte Lusebrink und würzte seine Stimme mit den ersten Anzeichen von Ungeduld: »Von mir aus können Sie auch mit Gonzo oder Gorgonzola verhandeln. Ist mir schnurzegal. Ich muss mich nämlich an meine Vorschriften halten!« »Ich scheiße auf Ihre Vorschriften!«, brüllte Könnes. »Ich will zum Stadion, und zwar sofort. Und wenn Sie nicht auf der Stelle parieren, dann…« »Herr Könnes, wollen Sie uns schon wieder drohen? Das funktioniert vielleicht in Bayern – aber nicht in Deutschland. – Los, Kalla! Die Sache ist klar. Der Mann bedroht und beleidigt uns und versucht auch noch, uns zu bestechen. Wir fahren zum Präsidium!« »Wie bitte? Sie spinnen doch!« »Fahr, Kalla. Und pass genau auf, was er sagt. Jedes falsche Wort kostet ihn drei Tausender.« Er wandte sich um. »Hier
oben sind die Richter nämlich ganz empfindlich, wenn wir beleidigt werden.« »Sie Pfeife! Sie verhindern ein Millionengeschäft!« »Und Sie behindern die Polizeiarbeit! Was, meinen Sie, hat wohl Vorrang?« »Ich werde Sie anzeigen!« »Können Sie. Gleich, auf dem Präsidium. Wenn wir die Anzeige gegen Sie unter Dach und Fach haben.« Inzwischen waren sie in ein Altbauviertel abgetaucht und kamen einige hundert Meter gut voran. Die imposante Kreuzkirche und ein Tapetenladen flogen geradezu an dem Streifenwagen vorbei, bis Haggeney erneut auf die Bremse treten musste. Erst zwei Grünphasen später erreichten sie die Hohe Straße, die nach Süden führte und sie dem Polizeipräsidium näher bringen würde. »Ich will hier raus!«, forderte Könnes. »Geht nicht. Genießen Sie lieber die Aussicht. Wir sind auf Dortmunds Fußballboulevard!« Die einst schmucklose Ausfallstraße hatte sich in den letzten Jahren tatsächlich in etwas verwandelt, was die Dortmunder Verwaltung für eine Prachtstraße hielt. Von den Innenstadthotels bis zum Stadion erinnerte jetzt alles an den Lieblingssport der Dortmunder. Dem sonst so strengen Kämmerer war nichts zu teuer gewesen, um den Gästen die Illusion einer florierenden Weltstadt vorzugaukeln. Aber bei dem Mann aus München schien dieser Trick nicht zu wirken. »Ich werde mich über Sie beschweren«, flüsterte er. »Man wird Sie in das schlimmste Kaff von Nordrhein-Westfalen versetzen.« Lusebrink lachte: »Da sind wir sowieso schon gelandet. Mit uns kann’s höchstens wieder aufwärts gehen.« Er deutete auf den roten Ziegelsteinbau, dem sich der Wagen näherte: »Das da ist das Dortmunder Polizeipräsidium. Die
Kollegen werden sich freuen, unsere Anzeige gegen Sie aufnehmen zu dürfen.« Genau neunzehn Minuten vor Spielbeginn wälzte sich der Polizeihauptmeister aus dem Wagen und öffnete Könnes die Tür. Kaum stand der Mann im Freien, drehte Lusebrink ihn um und ließ ihn den Adler machen. Sorgsam suchte Haggeney den Manager nach Waffen und Rauschgift ab und legte ihm anschließend Handschellen an: »Damit Sie nicht auf dumme Gedanken kommen.« Könnes stöhnte. Im Stadion begann gleich das Spiel und er hatte Gonzaga noch nicht zu Gesicht bekommen. Seine Mission war gescheitert: an ein paar dusseligen Polizisten, die sich in ihrer Ehre gekränkt fühlten. Und das ihm! In Bayern hätte man diese Burschen an die Zugspitze genagelt. Mühsam zwängte er sich zwischen den Beamten durch die Drehtür und sah fasziniert auf die Pförtnerloge: Der Mann hinter dem Panzerglas hatte sich einen Fernseher mitgebracht und die Augen auf den kleinen Bildschirm geheftet. Auch der Manager konnte sehen, was gerade einen knappen Kilometer von ihnen entfernt passierte: Die beiden Mannschaften bauten sich zum Abspiel der Nationalhymnen auf. Könnes heulte auf, als die Schwarze Perle in einer Nahaufnahme direkt in die Kamera lächelte. »Ein wunderbarer Spieler«, sagte Lusebrink. »Na ja, wenn Sie keine Sperenzchen machen, schaffen Sie es vielleicht zur Pause. Ich werde mich bei den Kollegen für Sie einsetzen.« Die Augen des Managers zeigten nur noch blanken Hass. Lusebrink grinste und wandte sich an den Pförtner: »Wo ist eure Wache?« Der Mann deutete stumm nach rechts und blickte wieder auf den Bildschirm. Die Polizisten stiefelten los und zogen ihr Opfer hinter sich her.
In der Wache empfing man sie ohne Begeisterung. Auch hier lief eine Flimmerkiste und niemand hatte Lust, die Personalien eines Randalierers aufzunehmen. Schon gar nicht, wenn das berüchtigte Duo aus Hattingen ihn anlieferte. Doch dann erkannte man den Mann. »Spinnt ihr? Das ist doch Könnes!« »Behauptet er«, sagte Lusebrink, knallte den Geldkoffer des Managers auf den Tresen und studierte das Namensschild auf der Brust des Dortmunder Kollegen. »Aber das müssen wir erst mal überprüfen. Auf jeden Fall wollte er verbotswidrig bis vors Stadion fahren. Dann hat er uns beleidigt und auch noch versucht, mich zu bestechen. Hier ist der Schein. Seine Fingerabdrücke müssten noch drauf sein. Gib dir Mühe, Meier IV!« Meier IV schickte einen genervten Blick zum Himmel und warf seinen Computer an: »Hätte das nicht Zeit bis morgen gehabt?« »Gerne«, sagte Lusebrink. »Du kannst ihn auch über Nacht wegschließen. Aber das wird seinem Anwalt gar nicht gefallen.« Meyers Antwort ging im Gebrüll seiner Kollegen unter: »Tor! Mann, hasse das gesehen? Vier Leute ausgetanzt und dann den Torwart vernascht! Rattenscharf! Schade, dass der demnächst…« Seufzend wandte der Mann am Computer seine Aufmerksamkeit wieder dem einzigen Zivilisten im Wachraum zu: »Also, Sie heißen?« Nur mühsam quetschte Könnes seinen Namen, sein Geburtsdatum und die aktuelle Adresse über die Lippen, während seine Augen immer wieder zu dem Fernsehschirm hinüberschweiften. Der Polizist am Rechner tippte die Angaben schneller ein, als Lusebrink gucken konnte. »Mann, wo hasse das denn gelernt?«
»Lehrgang«, grinste der Mann. »Ich habe bei den Polizeimeisterschaften von NRW den ersten Platz geholt.« Lusebrink hatte gar nicht gewusst, dass es auch Meisterschaften im Erfassen von Personalien gab, und so erzählte Meier IV in aller Ausführlichkeit, wie er diesen heißen Kampf vor drei Kolleginnen gewonnen hatte. Noch bevor er damit fertig war, schoss Gonzaga sein zweites Tor. »So, Herr Könnes. Können Sie sich ausweisen?« »Klar«, sagte der. »Meine Brieftasche befindet sich in meiner linken Innentasche. Aber leider…« Anklagend hielt er seine immer noch gefesselten Hände hoch. »In Ordnung«, nickte Lusebrink und suchte in seinen Taschen nach dem Schlüssel. Die Prozedur dauerte drei Minuten und der Manager verging vor Ungeduld. Dann rieb er seine steif gewordenen Handgelenke und fischte die Brieftasche heraus. »Moment!« Während er in seinen zahlreichen Bank- und Kreditkarten wühlte, wurde er immer hektischer. Schließlich gestand er: »Nichts. Ich weiß nicht, wo…« »Ts, ts, ts«, machte Lusebrink und sah wieder zu dem Fernseher hinüber, doch Könnes klappte seinen Geldkoffer auf und kramte in einem der schmalen Fächer, die unter dem Deckel hingen. »Hier, das ist doch Beweis genug!« Brüllendes Gelächter war die Antwort: »Glauben Sie ernsthaft, wir erkennen den Ausweis eines Münchener Kickervereins als Ersatz für ein amtliches Dokument an?« Hektisch packte Könnes nun den gesamten Inhalt seines Köfferchens auf die Theke: das Bayern-Trikot, eine Dokumentenmappe und ein paar Stapel Fünfhundert-EuroScheine. »Was wird das denn?«, fragte Lusebrink. »Irgendwo muss mein Ausweis doch…«
Der Dortmunder Kollege hatte seinen Lachanfall überwunden und wurde wieder sachlich: »Schon gut, es geht auch anders. In Bayern sammeln sie doch schon die geometrischen Daten für den Anti-Terror-Ausweis. Herr Könnes, wenn Sie mal herumkommen und Ihre Finger auf diesen Scanner pressen…« Wieder vergingen fünf Minuten, dann flutschten die Daten auf dem Breitbandkabel in den Süden. Während sie auf die Antwort warteten, setzten sich Lusebrink und Haggeney schräg hinter den Manager: So konnten sie jeden Fluchtversuch ihres Gefangenen unterbinden und weiterhin der Schwarzen Perle beim Zaubern auf die Füße sehen. Noch vor der Halbzeit versenkte der Mann den Ball zum dritten Mal im Netz. Erneut brandete auf der Wache Jubel auf: »Unglaublich. Ein echter Hattrick. Ein Genie!« Kaum waren die Hymnen der Bewunderung verklungen, meldeten sich die Bayern bei den Dortmunder Polizisten: Der Besitzer der Prints, versicherten sie, war wirklich Muli Könnes. »Dann kann ich ja gehen!« »So einfach ist das nicht«, sagte der Dortmunder Beamte und wandte sich an seine Gäste aus Hattingen: »Also, was habt ihr ihm vorzuwerfen?« Haggeney holte Luft, aber da packte Lusebrink seinen Arm: »Still. Guck mal!« Auf dem Fernseher tauchte Gonzaga auf, in Großaufnahme, ein Mikrofon vor dem verschwitzten Gesicht. Artig bedankte er sich für die Glückwünsche des Reporters und nahm die nächste Frage entgegen: »Wie gefällt Ihnen dieses Stadion?« Seine Antwort wurde simultan übersetzt: »Wunderbar. Ein großartiger Platz, ein fantastisches Publikum. Ich freue mich schon sehr darauf, demnächst hier wieder zu spielen.« Der Brust des Managers entfuhr ein Ächzen. Wie gelähmt sah er, wie neben der Schwarzen Perle der Dortmunder
Vereinspräsident auftauchte, ein gelbes Trikot ausgebreitet in der Hand. Auf ihm leuchtete der Name Gonzaga: »Wir haben vor dem Spiel einen Drei-Jahres-Vertrag unterschrieben. Ab dem 1. August ist Gonzaga Borusse.« Könnes sackte auf einem Stuhl zusammen und Meier IV nahm Lusebrink an die Seite: »Hömma, das gibt einen Riesenärger. Warum hast du den Kerl nun wirklich mitgeschleppt?« »Deswegen!«, sagte Lusebrink und deutete auf den Fernseher, der noch immer von Gonzagas Porträt ausgefüllt wurde. »Mein Vatta hat mich am Tag nach meiner Geburt als Vereinsmitglied beim BVB eintragen lassen. Meinsse, ich guck seelenruhig zu, wie uns so ein Bayer den besten Fußballer der Welt wegschnappt.« Stöhnend packte sich Meier IV an die Stirn: »Denkste etwa, die geben dir Vermittlungsprovision? Ich schwör’s dir, die Bayern werden deine Auslieferung verlangen. Und dann kannze dein Leben lang Schnee schippen!« Während Lusebrink abschätzte, wie realistisch diese Vorhersage war, wandte Maier IV sich mit einem breiten Lächeln Muli Könnes zu: »Kommen Sie, ich helfe Ihnen. Dann können Sie zumindest noch die zweite Halbzeit sehen!« Entgeistert starrte Könnes ihn an. Alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen. »So einfach geht das nicht! Jetzt kommt meine Anzeige! Ich gehe erst, wenn ihr diese Pfeife da festnehmt!« »Herr Könnes!«, mahnte der Dortmunder und begann, den Inhalt des Koffers einzusammeln und ihn wieder an seinem Platz zu verstauen. »Beruhigen Sie sich. Wir sind bereit, den Vorfall zu vergessen. Und bringen Sie sogar auf dem schnellsten Weg ins Stadion. Damit Sie…« Meier IV stockte plötzlich und blickte verwundert auf den Packen Euroscheine, den er gerade in dem Köfferchen
versenkt hatte. Vorsichtig strich er mit einem Finger darüber, zog einen Schein heraus und hielt ihn gegen das Licht, nahm einen zweiten, öffnete dann den nächsten Stapel, einen dritten… Atemlos verfolgten Lusebrink und Haggeney diese Aktion. Und als ihr Kollege seine Augen kalt auf Könnes richtete, stellten sie sich instinktiv dicht hinter den Besitzer all der schönen Scheine. »Herr Könnes, ich glaube, Sie schaffen es doch nicht mehr zum Stadion«, sagte der Kollege. »Das sind Blüten.« »Wie bitte?« »Falschgeld. Aus dem Farbkopierer. Und Sie wollten damit einen Millionendeal einfädeln?« Er winkte zwei einheimische Kollegen heran: »Abführen!« Noch immer sprachlos sah Lusebrink zu, wie zwei Beamte den Mann aus Bayern zum Ausgang schleppten. In Minuten hatte sich der Großkotz in ein Wrack verwandelt, das keinen Schritt mehr allein gehen konnte. »Glückwunsch«, sagte der Dortmunder Kollege endlich. »Da habt ihr einen echten Volltreffer gelandet.« »Reiner Zufall«, wehrte Lusebrink bescheiden ab. »Ich hätte im Traum nicht daran gedacht, dass der hier mit Falschgeld anrückt.« »Egal«, sagte Meier IV. »Damit sind die Bayern erledigt. Und wie ich den Dortmunder Vorstand kenne, bekommt ihr beide eine Tribünenkarte auf Lebenszeit!«
Stadt: Stuttgart Einwohner: 590.000 Austragungsort: Gottlieb-Daimler-Stadion Jahr der Einweihung: 1933 Zuletzt erfolgte Baumaßnahmen: Modernisierung Kosten: 51,5 Mio. WM-Sitzplätze: 47.757 Heimstatt von: VFB Stuttgart Gründung: 09.09.1893 Mitglieder: 30.210 Viermal Deutscher Meister: 1950, 1952, 1984, 1992 Bemerkenswert: Ein neuer Zugang ermöglicht die kreuzungsfreie Zuführung der Gästefans.
Tatjana Kruse
Die Einsamkeit der Kehrwochenfrau nach dem Anpfiff »Verräterschwein!« Siggi Pfleiderer pöbelte, wie immer beim Anblick von Felix Magath, der dem VfB schnöde den Rücken gekehrt hatte und pokalgeil zu den Bayern übergelaufen war. Okay, seitdem war eine Menge Wasser den Neckar hinuntergeflossen, aber Treulosigkeit verjährt nicht! Auch wenn der Name Kevin Kuranyi fiel, kam Siggi die Galle hoch – ausgerechnet zu Schalke wechseln! Es gab Dinge, die tat man einfach nicht – auch nicht für Geld. Nicht mal für viel Geld. Siggi war immer der festen Überzeugung gewesen, dass man den VfB, so wie er war, als Nationalmannschaft aufstellen sollte, und jeder, der den Verein verließ, kehrte somit höchst unpatriotisch auch Deutschland den Rücken.
Bärbel Pfleiderer stellte den Korkuntersetzer unter Siggis Dinkelacker-Flasche. Die Mitgliedschaft im ältesten der zweihundertfünfundsechzig offiziellen VfB-Clubs war seit der Gründung in ununterbrochener Erbfolge immer auf den ältesten Pfleiderersohn übergegangen, so auch auf ihren Mann Siggi, und da war es Ehrensache, nur Produkte von VfBSponsoren zu kaufen: Sie tranken Dinkelacker-Bier oder Ensinger-Sprudel, flogen mit Hapagfly in Urlaub, hatten überall Weru-Fenster einsetzen lassen, erstanden ihre Klamotten im Ausverkauf in der Billigabteilung von Breuninger und hörten im Radio ausschließlich SWR1. Bärbel Pfleiderer war Fußball egal. Auf Anfrage hätte sie auch behauptet, die Übertragungen der Champions League würden im ZDF laufen. Aus reiner Gewohnheit hauchte sie einen Kuss auf Siggis zunehmend rückläufigen Haaransatz. Ihre Ehe machte derzeit eine schwierige Phase durch, um nicht zu sagen: eine echte Krise, aber irgendwo in einem Winkel ihres bluthochdruckgequälten Herzens liebte sie ihren Siggi immer noch, auch wenn er, falls er zufällig eine Fliege verschlucken sollte, mehr Hirn im Bauch als im Kopf hätte. »Jogurtfuzzi!«, donnerte Siggi, als Giovanni Trapattoni ins Bild kam. Ihr Mann hatte es dem VfB-Vorstand nie verziehen, diesem »Was-erlauben-Strunz«-Südländer mit seiner »Ich habe fertig«-Einstellung einen Zweijahresvertrag als Trainer angeboten zu haben. Dabei war es ihm auch egal, dass der ›Maestro‹ im Laufe seiner Trainerkarriere neunzehn Titel hatte erringen können. Echte Kerle warben nicht für Milchprodukte! Siggi sah die VfB-Spieler schon als Milchbubis verunglimpft. »Für zwei Millionen!«, haderte er beim Anblick Trapattonis jedes Mal mit dem Schicksal, denn was Trapattonis Finanzberater zu italienischen Freudenlauten veranlasste, würde sich zweifelsohne auf die Eintrittspreise ins Stadion niederschlagen. Seit Siggi arbeitslos geworden war – »Nur
vorübergehend! Ich habe da was Tolles in Aussicht«, erklärte er seit nunmehr dreiundzwanzig Monaten –, war Kicken live out und Fußball in der Glotze in, obwohl die Pfleiderers in Sichtweite des Gustav-Daimler-Stadions wohnten. Manchmal, wenn ihn darüber der große Frust überkam, verschwand Siggi wortlos zum Aggressionsabbau nach draußen. Tauchte er dann Stunden später wieder zu Hause auf, wirkte er gelöst und locker. Bärbel arbeitete halbtags als Verkäuferin in einem Übergröße-Dessousladen im Königsbau, direkt am Stuttgarter Schlossplatz. Sie verband »Fußball« immer mit jenem denkwürdigen Tag, als die Schotten dank Billigfliegern zu Hunderten in der schwäbischen Metropole eingefallen waren, um ihren Kilt-Kickern im Spiel gegen den VfB moralische Rückendeckung zu geben. Eigentlich waren diese Schotten ja ganz reizend, selbst mit all den Hektolitern Bier, die statt Blut in ihren Adern flossen. Aber aufgrund einer Fehleinschätzung der Stadtverwaltung gab es nicht genügend Dixie-Toiletten zur notwendigen Bölkstoffentsorgung. Irgendwie hatte es sich bei den Schotten herumgesprochen, dass der zentral gelegene Königsbau mit seinem überdachten Innengang als Ersatzklo ideal geeignet war: Privatsphäre, Ambiente und reichlich Mauerwerk, auf das man hübsche Muster urinieren konnte. Der Gestank war selbst Wochen später noch durchdringend gewesen. Seitdem erwachte in Bärbel schon bei der Erwähnung des Wortes »Fußball« eine eklige olfaktorische Erinnerung. Aber Siggis Leben war nun mal der Fußball. Dank der Lektüre eines Pseudopsychoselbsthilfeartikels in einer Frauenzeitschrift verstand Bärbel nur zu gut, dass Siggi sich als Arbeitsloser wertlos fühlte und ein Terrain gesucht hatte, auf dem er sich behaupten konnte. Im Fußball war er fündig geworden.
Bärbel seufzte. »Der Beckenbauer macht doch auch Jogurtwerbung. Und Handywerbung. Und Stromwerbung. Und den Beckenbauer magst du doch«, wagte sie leichtsinnigerweise einzuwerfen, während sie das Ikea-Regal abstaubte. »Und vielleicht bringt der Trapattoni den VfB ja wieder ›auf Trap‹.« Sie grinste selbstgefällig. Wortspiele lagen ihr. Siggi grunzte. Dann blähte er die Backen auf. Bärbel wusste, was jetzt kam. »Du hast doch keine Ahnung! Der Kaiser ist fleischgewordener Fußball. So wie der Olli Kahn. Die beiden sind lebende Legenden. Ihr einziger Makel ist, dass sie nicht zum VfB gehören. Der Beckenbauer wird uns zusammen mit Klinsi und Kahn zur Weltmeisterschaft führen! Denk an meine Worte!« Dass Siggi Jürgen Klinsmann verehrte, fand Bärbel in Ordnung. Der war ja auch ein solider Bäckerssohn aus Stuttgart-Botnang. Also einer von ihnen, der es geschafft hatte. Aber Oliver Kahn war ihre Lieblingshassfigur. Die eigene Ehefrau während ihrer Schwangerschaft mit einer Partymaus zu betrügen (noch dazu mit einer bayrischen), das war für die bodenständig schwäbische Bärbel die Todsünde schlechthin. Oliver Kahn und sein Seelenverwandter Boris Becker: Am liebsten hätte Bärbel ausgespuckt, aber der Boden war frisch gebohnert. »Ich finde, die sollten den Kahn durch Timo Hildebrand ersetzen!«, echauffierte sie sich folglich. Der Timo war ein Netter, fand sie, der hatte im VfB-Jahrbuch als Hobby sogar ›Lesen‹ angegeben. Man stelle sich vor: gut aussehend, durchtrainiert und belesen! Bärbel warf einen wehmütigen Blick auf Siggis Wampe unter dem Netzhemd und polierte die Regalbretter fester.
»Mein Gott, da muss es doch ein Gesetz dagegen geben, dass Frauen beim Fußball mitreden dürfen!«, mokierte sich Siggi genervt. Sie funkelten sich wütend an wie Stier und Torero. In Bärbels Schürzentasche befanden sich noch die Zahnstocher für die Wurst-mit-Gurke-Schnittchen, daher fühlte sie sich machttechnisch gesehen im Vorteil. Wenn er ihr jetzt auch nur mit einer einzigen weiteren Silbe blöd kam, würde sie nicht zögern, ihm einen Zahnstocher in den Stiernacken zu rammen! Da klingelte es. »Der Ecki«, konstatierte Siggi das Offensichtliche. Immer eine Sekunde vor Beginn jeder Live-Fußballübertragung klingelte Ecki bei ihnen. Pünktlich wie ein Handwerker aus dem Maurergewerbe, nur wesentlich zuverlässiger. »Was gibt’s zu essen, Hop Sing?«, begrüßte er Bärbel augenzwinkernd an der Tür. Ecki alias Jürgen Eckermann aus dem ersten Stock war ein bulliger Ein-Meter-siebzig-Mann mit viel schwarzem Haar – nicht auf dem Kopf, der war kahl rasiert, aber auf der Brust. Er trug stets weit aufgeknöpfte Hawaiihemden, um seine Matte, die sich dschungelartig bis in den Schritt fortzukräuseln versprach, auch ordentlich zur Geltung zu bringen. Gerüchten zufolge hatte er früher mal wegen eines Gewaltdelikts in Stammheim eingesessen (Bärbel war natürlich zu gut erzogen, um ihn direkt danach zu fragen), mittlerweile arbeitete er als Großtierpfleger in der Wilhelma, war ebenfalls Fußballfan und seit Siggis erzwungener Dauerhäuslichkeit sein intimster Männerfreund. Er fraß sich bei den Pfleiderers durch, aber dafür revanchierte er sich regelmäßig mit edlen Elektrogeräten. »Das können wir unmöglich annehmen, das ist viel zu teuer«, hatten die Pfleiderers anfangs noch abgewehrt.
»Ach was, ist Havarieware… vom Laster gefallen«, pflegte Ecki treuherzig zu antworten, obwohl die Teile – zu Bärbels Verwunderung – allesamt absolut schrammenlos waren. »Bei euch kommt das Zeug viel besser zur Geltung.« Außerdem mussten die Pfleiderers nicht mit Überraschungsbesuchen der Staatsmacht rechnen, aber das sprach der Ecki nicht aus. Seit der Großbildfernseher mit Dolby-Surround-Sound das Wohnzimmer der Pfleiderers zierte, war zumindest Siggis Widerstand gebrochen. Bärbel ließ ihren dubiosen Nachbarn ein, bedachte auch ihn – ganz die perfekte Gastgeberin – mit einem Bier und einem Korkuntersetzer, stellte lecker Schnittchen bereit und machte sich dann mit Schrubber, Eimer und der Zwei-LiterSparpackung Bodenreiniger in Richtung Treppenhaus auf. Die Pfleiderers und Ecki wohnten direkt hinter dem Parkplatz des Mineralbads Berg in einem schmalen, weißen Jugendstilhaus, das – ebenso wie die drei angrenzenden Gebäude – einem Frankfurter Investor gehörte, der die Häuser bewusst verkommen ließ. Die meisten Mieter hatten angesichts maroder Wasser- und Stromleitungen, Schimmel an den Wänden und gefährlich bröckelnder Fassaden aufgegeben. Ihre Wohnungen waren nicht wieder vermietet worden. Bärbel stellte sich oft vor, wie sich dieser Hesse in einem Frankfurter Hochhausklotz hämisch die Hände rieb. Wieso war es Ausländern wie ihm überhaupt erlaubt, im Schwabenland Eigentum zu erwerben? Sobald er alle Mieter hinausgeekelt hatte, würde er die Häuser aufwändig restaurieren und zu horrenden Preisen stockwerksweise als Eigentumswohnungen verkaufen. Innenstadtnah, stadtparknah, nahezu perfekt. In ihrem Haus hielten nur sie und Ecki noch trutzig die Stellung. Ecki war allen Veränderungen abhold; ihn würde man mit den Füßen voran hinaustragen müssen. Und Siggi und Bärbel
fehlte das Geld, um sich einen Umzug in ein gepflegteres Domizil leisten zu können. Das war jedoch kein Grund, die Kehrwoche schleifen zu lassen, fand Bärbel und streifte die Einmalhandschuhe über. »Jetzt geht’s lo-os, jetzt geht’s lo-os!«, dröhnte es beschwingt aus dem zweiten Stock. Bärbel seufzte neuerlich. Es gab untrügliche Anzeichen, wenn in Stuttgart der Cannstatter Wasen oder wahlweise ein großes Fußballspiel stattfand: die zahllosen dampfenden Lachen mit Erbrochenem in den Stadtbahnen und S-Bahnen und großräumig verteilt um das Stadion. Ein Dorn im Auge aller Einheimischen, die zwar sonst gern dem alljährlichen Motto von Stuttgarts Oberbürgermeister Schuster »Let’s putz« folgten, sich aber nicht berufen fühlten, die Kotze reingeschmeckter EventTouristen aufzuscheuern. Folglich war das ein enormer Kostenfaktor für die Stuttgarter Verkehrsbetriebe, was in letzter Instanz auch wieder zu erhöhten Ticketpreisen führte. Das nun war Siggi egal, aber Bärbel ärgerte sich schwarz darüber. Wer sich in der Stadt auskannte, mied während Wasen und Fußball den öffentlichen Nahverkehr. Und wer diesen Ereignissen trotzdem beiwohnen wollte, parkte als Kenner der Stadt in ausgesuchten Cannstatter Ecken und Winkeln. Oder hinter den Mineralbädern. Aber auch viele, die sich nicht auskannten, versuchten es mit dieser Methode. »He, wie weit ist es von hier bis zum Fußballstadion?«, rief eine gesichtslose Stimme aus einem heruntergekurbelten Wagenfenster. Bärbel hatte den dunklen VW Passat aus den Augenwinkeln schon vorher wahrgenommen, drehte sich aber auch jetzt nicht um. Nicht einmal ein »Grüß Gott« oder ein »Entschuldigen Sie bitte«. Typisch zugereister Fußballfan. Unhöflichkeit kam für
Bärbel gleich nach Uringeruch! Sie sprühte Kraftreiniger auf die Briefkästen. »Hallo, Sie!« Auch noch hartnäckig, dieser Auswärtige, den sie sofort am fehlenden Stuttgarter Honoratiorenschwäbisch erkannt hatte. Wahrscheinlich einer aus Heilbronn. Oder Pforzheim. So nicht. Nicht mit ihr. Bärbel zückte das Putztuch aus ihrer Jeanstasche und wienerte vehement die Klingeln. Der Passat fuhr weiter. Wenn der es im Einbahnstraßengewirr noch rechtzeitig bis zum Stadion schaffte, würde sie sich ab sofort mit Kaltwachs epilieren. Auf den drei Stellplätzen, die zu den leeren Wohnungen im Erd- und Dachgeschoss gehörten, standen bereits Autos mit fremden Kennzeichen: SHA, WN und BB. Keine Frage, wohin es die Halter dieser Fahrzeuge gezogen hatte. Von fern hörte man den Stadionsprecher. Und die Möwen über dem Neckar. Über ihr im zweiten Stock grölte es aus zwei Männerkehlen beseelt: »Anpfiff!« »Verzeihung, wenn ich hier langgehe, komme ich dann zum Stadion?« Noch so ein Nachzügler, aber wenigstens höflich. Bärbel drehte sich um. Ein Anfangzwanziger im Fan-T-Shirt der Gastmannschaft. Mutiger Junge, sich ganz allein zu Fuß durch eingefleischtes VfB-Gebiet zu trauen. Wo doch seit Wochen immer wieder Fußballfans spurlos verschwanden. Die Stuttgarter Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten berichteten täglich darüber, auch wenn die Polizei mit keinen neuen Erkenntnissen aufwarten konnte. Außer dass bei jedem Heimspiel ein neuer Name auf der Vermisstenliste auftauchte. In den SWR1-Nachrichten wurden schon Warnungen durchgegeben, man solle keinesfalls allein zum Stadion laufen. Sehr peinlich für die Saubermannstadt am Neckar.
Na, vielleicht war dieser junge Mann von Mutter Natur mit Furchtlosigkeit ausgestattet worden. Oder er war Analphabet, der auch nie Radio hörte und im Fernsehen nur DSF und Eurosport anschaute, dachte Bärbel. Sie nickte ihm auffordernd zu. »Gleich da vorn zwischen den Häusern durch, dann sehen Sie schon die Brücke. Die Bundesstraße müssen Sie illegal überqueren, aber wenn Sie einigermaßen flott zu Fuß sind, schaffen Sie das schon.« Er nickte und ging weiter. Danke hätte er ja wenigstens sagen können. Bärbel blickte ihm finster nach, während sie das Trottoir bis zur Hausecke gründlich fegte. In Bezug auf Hygiene und Ordnung konnte ihr niemand das Wasser reichen. Selbst der Rasen in ihrem Vorgarten sah aus, als sei er in Schutzfolie eingeschweißt. Aus dem Nebengebäude trat in diesem Moment Fräulein Doktor Adelheid Freund, eine vertrocknete Gymnasiallehrerin im Ruhestand mit einem schnurgeraden Mund wie ein rostiges Scharnier, nur mit einem Brecheisen zu öffnen. »Grüß Gott, Frau Pfleiderer«, grüßte sie in dezidiertem Hochdeutsch. »Wieder ein äußerst unangenehm umtriebiger Tag, nicht wahr?« Bärbel nickte ihr zu. Fräulein Doktor Freund – auf diese Anrede legte sie höchsten Wert – missfiel der Auftrieb von Menschen und Kraftfahrzeugen anlässlich der großen Fußballspiele. Sie hatte die ›Initiative gegen den WM-Terror e. V.‹ ins Leben gerufen, gemeinsam mit ihren Freundinnen Alwine und Margarethe, ebenfalls altjüngferlichen Gymnasiallehrerinnen a. D. Ihre in mühsamer Fußarbeit erstellte und erkleckliche einundsechzig Adressen umfassende Unterschriftenliste fußballfeindlicher Anwohner lag der Stadtverwaltung vor, die sich bislang jedoch noch zu keiner Antwort bequemt hatte.
Bärbel konnte die Argumentation der greisen Fräuleins gut verstehen. König Fußball bedrohte schließlich auch ihre Ehe. Und sie war gezwungen, sich ihre Lieblingsfrauenserien in der Küche im kleinformatigen Schwarz-Weiß-Fernseher reinzuziehen, während sie Häppchennachschlag für Siggi und Ecki zubereitete und sich selbst eine halbe Schachtel Pralinen aus der Conditorei Klaiber gönnte. »Machen Sie Ihren Spaziergang doch zur Villa Berg. Da sind Sie bestimmt ungestört«, rief Bärbel Fräulein Doktor Freund zu. Die rückte sich nur stumm den Blumenhut auf der blaugrauen Dauerwelle zurecht und trippelte dem jungen Fußballfan hinterher. Seit ihr Waldi vor nunmehr zwei Jahren das Zeitliche gesegnet hatte und, laut Fräulein Doktor Freund, im Dackelhimmel auf sie wartete, scheute sie sich vor Spaziergängen. Fürchtete sie doch, sekündlich von einem perversen Sexualstraftäter in die Büsche gezogen zu werden. Eine Gefahr, vor der man auch als Achtzigjährige nicht die Augen verschließen durfte. Zur Sicherheit ging sie nie ohne Kartoffelstampfer aus dem Haus, dessen Griff aus ihrer Handtasche ragte und der so schwer war, dass sie alle zehn Schritte anhalten, die Tasche absetzen und nach Luft schnappen musste. Bärbel leerte den Seifenlaugeneimer in den Gulli und stieg die Treppe nach oben. Früher hatte sie immer den vollen Eimer hochgetragen, aber seit sie zu Weihnachten von ihrer studierten Freundin Sabine einen Gutschein für das schicke Fitnessstudio hinter dem Hauptbahnhof bekommen hatte und dort regelmäßig an den Geräten Krafttraining betrieb, waren diese Alltagsübungen passe. Im Wohnzimmer saß nur Ecki vor der Glotze. »Ist Siggi im Bad?« »Nee, ist zur Tanke. Bier holen.«
Komisch, das hatte sie gar nicht mitbekommen. Ob er zur Hintertür raus war? »Riecht es hier nach Zigarettenrauch?« Bärbel schnüffelte misstrauisch. Ecki sah zur Decke hoch, als ob ihm der Rauchmelder darauf eine Antwort geben könnte. Als der schwieg, zuckte Ecki nur mit den Schultern und widmete sich wieder der Halbzeitwerbung. Bärbel zückte die Flasche mit dem Raumspray und feuerte wahllos auf die Polstermöbel. Sie sah aus dem Fenster. Hinter dem Busch zur Parkplatzeinfahrt stand ein jugendlicher Hooligan, in der Linken eine Bierflasche, die Rechte im Schritt. Bärbel meinte, es strullern zu hören. Am liebsten hätte sie das Raumspray nach ihm geworfen. Stattdessen ging sie in die Küche und warf sich gleich drei Pralinen auf einmal in den Mund. Dann stand sie auf und zog ihren Sommermantel über. Sie wusste, was sie zu tun hatte.
Über der Skyline von Benztown graute ein neuer Morgen. Jürgen Eckermann alias Ecki hatte die Löwen mit großen Fleischbrocken gefüttert und anschließend ihr Gehege gesäubert. Während seiner Frühstückspause las er die BILDZeitung. Angesichts der reißerischen Schlagzeile FanSchlachter hat wieder zugeschlagen!, schüttelte er den Kopf und biss in sein Leberkäsweckle, kurz LKW. Ein paar Kilometer weiter schlug im selben Moment Bärbel Pfleiderer die Beine in der aufgebügelten Feinstrumpfhose übereinander. Sie und ihr Mann Siggi saßen in den riesigen Lederfauteuils in der Praxis von Doktor Äckerle, Gatte ihrer besten Freundin Sabine und anerkannter Paartherapeut. Er
hatte sich gestern, als sie bei ihm vorgesprochen hatte, spontan bereit erklärt, sie und Siggi noch irgendwie dazwischenzuquetschen. Bärbel hielt es einfach nicht mehr aus. Seit Siggi arbeitslos war, ähnelte er in nichts mehr dem Mann, den sie einmal geliebt hatte. Und es lag nicht am Fußball. Männer wollen beschäftigt sein, da eignete sich nichts besser als sauberer Sport. Die Einsamkeit der Kehrwochenfrau nach dem Anpfiff? Unsinn. Sie war nicht einsam, sie war genervt. Weil Siggi offenbar wieder anfing zu rauchen. Wenn sie an den Gilb in ihren Vorhängen auch nur dachte, bekam sie Würgereiz! Siggi saß missmutig neben ihr. Er wusste, dass sie Probleme hatten, aber sein Intimstes vor diesem studierten Schnösel auszubreiten, ging ihm ja so was von total gegen den Strich. Er brauchte keine Therapie, er schob keinen Frust. Sein Leben war voll in Ordnung. Was er wirklich dringend brauchte, war nur eine Zigarette. In exakt dieser Sekunde wickelte Fräulein Doktor Adelheid Freund wiederum ein paar Kilometer weiter den strubbeligen, leicht eingedellten Männerkopf liebevoll in die zweite Schicht Tiefkühlbeutel – Außen Toppits, innen Geschmack! – und legte das Päckchen zu den vielen anderen in ihrer Gefriertruhe. Das Leben in all seiner Grausamkeit hatte ihre Lippen zu einem verbitterten Strich reduziert, aber nun kräuselten sich die Mundwinkel in zarter Freude nach oben. Wieder so ein krätziger Fußballfetischist weniger! »Jetzt ist die Truhe voll«, sagte sie zufrieden zu Dackel Waldi, der für die Ewigkeit präpariert vom Küchenregal aus mit blauen Glasaugen auf sie herabschaute. »Wir brauchen eine neue. Gut, dass die Möllers ihre Tiefkühltruhe beim Auszug im Keller haben stehen lassen. Ich werde ein Verlängerungskabel besorgen und sie wieder in Betrieb nehmen. Gell, du Guter?«
Waldi lächelte. Fräulein Doktor Freund nickte milde. Der nette Herr Pfleiderer, der diese Unmenschen kraftvoll erschlug, seine vorbildliche Ehefrau, die die obligatorischen Flecken porentief rein wegwischte, und dieser entzückende Herr Eckermann, der die sperrigen Extremitäten bei der Arbeit entsorgte. Ja, sie konnte sich glücklich schätzen. Fräulein Doktor Freund seufzte wohlig auf. »Es geht doch nichts über eine gut funktionierende schwäbische Nachbarschaft!«
Stadt: Berlin Einwohner: 3.387.000 Austragungsort: Olympiastadion Jahr der Einweihung: 1936 Zuletzt erfolgte Baumaßnahmen: Umbau Kosten: 242 Mio. WM-Sitzplätze: 66.021 Heimstatt von: Hertha BSC Gründung: 25.07.1892 Mitglieder: 12.711 Zweimal Deutscher Meister: 1930, 1931 Bemerkenswert: dreizehn ›Skyboxen‹ – Logenplätze direkt unter dem Dach
Michael Miner
Radikale Maßnahmen: Das Vorspiel »Prost, du alter Suffkopp!«, wünschte der Flaschenöffner gut gelaunt, als Saunabetreiber Joachim Tinius sein drittes Sternburg-Export öffnete. »Du hast jut reden«, schmollte Tinius, den die Einsamkeit manchmal fast umbrachte, weshalb er gern einen über den Durst trank. Den sprechenden Flaschenöffner hatte er auf einem Bauernmarkt an der Ostsee gekauft, Anneliese den geflochtenen Korb, den er für seine Gänge zur Getränkequelle benutzte. Immer wenn Tinius die braunen Sternburg-Flaschen mit den minimalistischen Etiketten in diesen Korb legte, musste er an seine Frau denken. Anneliese war seit vier Jahren tot. Krankenhausinfektion. Ein versoffener Arzt hatte sich seine Flossen nicht ordentlich gewaschen und deshalb lag Anneliese jetzt auf dem Georgen-Parochial-Friedhof.
Nach der Auszahlung der Lebensversicherung hatte sich Tinius die Sauna in der Hansa-Straße eingerichtet. Der Laden lief gut; Tinius hatte sein Auskommen. Aber seine Frau fehlte ihm. Irgendwann hatte er angefangen, mit seinem Flaschenöffner zu reden. Natürlich nur, wenn er allein war. Wie an diesem Nachmittag. Der Saunabetreiber hockte auf seinem Balkon, von dem aus er das Stadion im Blick hatte. Der 1. FC Vorwärts Orankesee trainierte. Früher hatte sich Tinius nicht sonderlich für Fußball interessiert. Seit Annelieses Tod nahm er jedoch lebhaften Anteil am Schicksal des mäßig erfolgreichen Vereins, der vor seiner Haustür kickte. Die Spieler tauchten gelegentlich in seiner Sauna auf. Manchmal kam auch der Trainer zum Schwitzen. »Das Problem mit der Truppe ist die Motivation«, hatte er bei seinem letzten Saunagang erklärt, während Tinius einen Aufguss machte. »Das Problem mit die Truppe is die Motivation«, erläuterte Tinius seinem Flaschenöffner, den Blick auf die trainierenden Bezirksligisten gerichtet. »Achter Tabellenplatz! Det könn wa ja wohl bessa! Aber dieset Motivationsproblem! Am Ende landen wa noch inne Kreislija! Im Jahr der Fußball-WM! Armet Deutschland!« Der Saunabetreiber nuckelte an seinem Sternburg-Export und registrierte, dass er das Personalpronomen ›wir‹ gebraucht hatte, als er von ›seinem‹ Verein sprach. In einem Anfall von Klarsichtigkeit erkannte er, dass ihm der Klub in den letzten Jahren mehr und mehr zum Familienersatz geworden war. Kein Wunder. Er war einsam. Erst vierundvierzig und schon Witwer! Pfusch und Inkompetenz, wohin man blickte. Kunstfehler, Pleiten, Pannen, Rückrufaktionen, Raumschiffe, die vom Himmel fallen! Und wer hatte unter dem Chaos zu leiden? Der kleine Mann! Anneliese könnte noch leben!
Joachims blaue Augen, von Natur aus ein wenig wässrig, schimmerten plötzlich noch feuchter. Er stürzte sein Bier hinunter und öffnete die nächste Flasche. »Prost, du alter Suffkopp!«, sagte sein Flaschenöffner.
Abends zappte Tinius ein bisschen herum. Bei einer Dokumentation über die Maya-Kultur blieb er hängen. Tempelruinen, Pyramiden, Paläste, Observatorien. Dann schwenkte die Kamera den riesigen Ballspielplatz von Chichén Itzá ab: 166 Meter lang, 68 Meter breit! »Na, kieke mal«, wandte sich der Saunawart an seinen Flaschenöffner, »die alten Indios warn och schon Kicker. Nur war die Pille damals noch aus Volljummi!« Er stellte den Ton ein wenig lauter. »Wichtige Spiele«, so informierte ein Sprecher das Publikum, »hatten den Charakter eines rituellen Events. Sie konnten den Wettstreit zwischen den himmlischen Göttern und den Herren der Unterwelt symbolisieren, wobei der Ball die Sonne verkörperte. Es kam vor, dass nach dem Spiel die unterlegene Mannschaft den Göttern geopfert wurde.« Tinius klappte der Unterkiefer herunter. Hatte er sich da gerade verhört? Die Mannschaft, die das Spiel verlor, wurde ›den Göttern geopfert‹? Das war ja mal ‘ne Maßnahme! So ein Maya-Trainer dürfte wenig Probleme gehabt haben, sein Team zu motivieren. »Det kannste wissen«, erklärte Tinius seinem Flaschenöffner, »wenn et nach der Niederlage ohne viel Federlesen heißt: Rübe ab!, da jibt man sich schon mal ‘n bisschen Mühe!« Vor seinem geistigen Auge verfrachtete Tinius die Spieler des 1. FC Vorwärts Orankesee in einen Flieger nach Mittelamerika. Kurz darauf tummelten sich die Burschen schon mitten im Dschungel – auf dem Ballspielplatz von
Chichén Itzá. Ein hakennasiger Maya-Priester in vollem Ornat eröffnete das Match der Himmelsgötter: die mit dem Flugzeug angereisten Berliner in blauen Hosen und weißen Trikots gegen die Herren der neunschichtigen Unterwelt – rauflustig aussehende Indios mit Lendenschurzen und Knieschützern. Deutsche Nationalhymne (Blühe deutsches Vaterland), Maya-Nationalhymne (Blühe schönes Mayaland). Anpfiff. Tinius öffnete eine weitere Flasche Sternburg und zog aus dem Gerstenbräu die Inspiration für eine kleine Fußballreportage:
Ein überdurchschnittlich gut motivierter 1. FC Vorwärts geht nach wenigen Spielminuten gegen den 1. FC Chichén Itzá in Führung – nach Kopfballtor von Kapitän Ronnie Möller. Möller scheint endlich mal zu alter Form aufzulaufen, nachdem er bei den letzten Partien gegen den MSV Normannia 08 und den BFC Viktoria 89 II eher schwächelte. Eins zu null für das Team Himmelsgötter! Der Priester an der Anzeigetafel setzt einen schwarzen Punkt (= 1) unter ein Sonnen-Symbol; unter dem Totenschädel (Team Unterwelt) steht weiterhin eine Muschel (= 0). Das Publikum tobt! Leichte Verwirrung bei den Maya-Kickern, Auszeit, ein formschwacher Spieler wird zur Hinrichtung zur Seite geführt und dort mit einem Obsidianschwert enthauptet. Anstoß von der Mittellinie. Ronnie Möllers Mannen kämpfen wie die Löwen, sie geben ihr Bestes – wie seinerzeit beim legendären 7:0 gegen den DJK Roland Borsigwalde.
Tinius tankte einen Schluck Sternburg-Export und spulte die Fußballreportage in seinem Kopf weiter ab:
Der FC Chichén Itzá fängt sich das nächste Tor, die Dezimierung der Spieler durch den ambulanten Scharfrichter wird fortgesetzt. Allmähliche Feldüberlegenheit der Deutschen aufgrund der unklugen Opferungstaktik des Maya-Trainers, die unübersehbare Lücken in den Indio-Kader reißt. Ein Blick aufs Thermometer: 40 Grad im Schatten! Kapitän Ronnie Möller zeigt erste Formschwächen – die Folge des Alkoholmissbrauchs im Flieger (sechs Dosen Bier und Whiskey). Erstes Gegentor. Die Muschel unter dem TotenkopfLogo auf der Anzeigetafel weicht einem fetten schwarzen Punkt. Klares Patt zur Halbzeitpause. Auftritt der Cheerleader: appetitliche Teenager in handgewebten Bikinis. Ein Indio-Orchester spielt auf Tonpfeifen flotte Weisen. Ronnie Möller schwitzt deutsches Pils aus allen Feuchtigkeitsdepots und staucht seine Mannschaft zusammen. Betroffenheit, schwindender Glaube an den Sieg. Anpfiff zur zweiten Halbzeit. 42 (!) Grad im Schatten. Allmählich gewinnen die hitzebeständigen Spieler des 1. FC Chichén Itzá die Oberhand. Am Ende unterliegen die Berliner mit 2:9, was unter dem Strich noch schmachvoller ist als die historische Niederlage gegen den BSV Al-Dersimspor. Das Publikum applaudiert dem verdienten Sieger. Die Bungalows, die für die deutsche Mannschaft im nahe gelegenen Mayaland Hotel gebucht waren, werden komplett storniert. Der 1. FC Vorwärts Orankesee tritt geschlossen zur Hinrichtung an.
Tinius lächelte verträumt. Er schaltete den Fernseher aus und ließ den Film in seinem Kopf noch einmal ablaufen. Er spielte ihn sich vor dem Einschlafen erneut vor und unzählige weitere Male an den darauf folgenden Tagen.
Zwei Wochen später tauchte Ronnie Möller in der Sauna auf. »Hallo, Achim, du alte Dampfnudel«, begrüßte der FCVorwärts-Kapitän den Schwitzbadbetreiber. »Jo-achim«, sagte Tinius eisig, mit Betonung auf der ersten Silbe seines Vornamens. »Jo-achim?«, erkundigte sich Ronnie. Er war in Begleitung – zwei Groupies flankierten ihn. »Ick heiße Jo-achim!«, insistierte Tinius. »So viel Zeit muss sein!« »Gib mir mal drei Spindschlüssel, Jo-achim-so-viel-Zeitmuss-sein!«, frotzelte der Fußballer. Seine Begleiterinnen kicherten. Tinius fand, dass der Bursche ziemlich kess auftrat – gemessen an der Tatsache, dass seine Mannschaft am Vortag ein 3:1 gegen den FC Internationale kassiert hatte. Woher nahm dieser junge Mensch sein Selbstbewusstsein? Aus seinen Leistungen auf dem Rasen konnte es sich nicht speisen. Auch als Mannschaftskapitän war Möller nicht gerade ein Alexander. Sein Charisma war eher das eines Julius Cäsar – wie er dem Saunawart aus dem Asterix-Trickfilm entgegengetreten war. Was die beiden jungen Damen nicht daran hinderte, Ronnie anzuhimmeln. Verträumt lauschten sie den prahlerischen Spielberichten des nackten Maulhelden, der eine laue Saison gnadenlos zu einem Triumphzug umlog. Tinius klangen die Ohren, wenn er den Schwitzkasten betrat, um einen Aufguss zu machen. Ein Blick auf Möllers Begleiterinnen war nicht zu vermeiden – gut gebaute junge Dinger, mit einem delikaten Schweißfilm überzogen wie Spritzkuchen mit Zuckerguss. Tinius mochte ihre Gesichter nicht. Sie waren hübsch, aber gewöhnlich. Mit den Jahren würden sie einen Stich ins Ordinäre kriegen. Genau
genommen hatten sie diesen Stich bereits – da half auch der Reiz der Jugend nicht. Von teuren Kosmetika und anderem Schi-Schi ganz zu schweigen. Tinius dachte daran, wie er Annelieses erste Falten entdeckt hatte und wie ihm klar geworden war, dass Alter und Zeit diesem geliebten Gesicht niemals den Zauber nehmen würden. Aber Anneliese war jung gestorben und er würde niemals Gelegenheit haben, ihr zu sagen, dass er sie trotz ihrer Falten liebte. Der Saunawart war ins Träumen geraten. Trugbilder und Erinnerungen stiegen zwischen den Dämpfen seines Aufgusses empor. Tinius bemerkte nicht, dass sich sein geistesabwesender Blick auf einen seiner weiblichen Gäste richtete – genauer auf deren gut definierten glutens maximus. Erst als er ein Kichern vernahm, kam er wieder zu sich. Ihm wurde bewusst, was er da auf dem Radar hatte – eine Arschbacke! Eilig wandte er sich ab. Als er die Sauna verließ, hörte er das Wort »Spanner« – aus dem Mund Ronnie Möllers. Dann begann der Fußballhalbgott damit zu prahlen, dass er WMTickets hatte. Alles klar, dachte Tinius, diese Pfeife hat natürlich WMKarten. Niemand (!) hat WM-Karten, jedenfalls keiner von uns Normalsterblichen. Aber Ronnie Möller, der Mann, der gerade den 1. FC Vorwärts Orankesee in den Untergang führt, hat WM-Tickets! Was ist das für eine Welt? Dies war natürlich eine rhetorische Frage, die sich Saunawart Tinius längst beantwortet hatte. Es war eine Welt, in der schlecht motivierte Minderleister wie Möller das große Wort führten. Eine Welt, in der inkompetente, gemeingefährliche und kriminelle Knallköppe, die nicht einmal ein Krankenhaus sauber halten konnten, den Rahm abschöpften.
»Wohin man kiekt: Raffkes und Anjeber, Blender und Koofmichs!«, konstatierte Tinius zähneknirschend. Drei Spiele in Folge hatte der 1. FC Vorwärts Orankesee mittlerweile vergeigt. Eine tapfere Mannschaft, motivierte Spieler, aber ein mieser Kapitän! So was bringt einen Verein schon mal in gefährliche Nähe zum Abstieg. Und da liegt dieser Gockel und erzählt den beiden Hühnern seine Lügengeschichten!, dachte der Saunawart, während er Möller im Ruhebereich einen Fruchtcocktail mit Sonnenhütchen servierte. »Prost, du alter Suffkopp!«, tönte sein Flaschenöffner, als sich Tinius am späten Abend in seiner Wohnung ein Sternburg gönnte. Tinius ignorierte die abgedroschene Floskel und begab sich in sein Schlafzimmer. Auf der Spiegelkommode stand das Schmuckkästchen. Er öffnete es und liebkoste Annelieses bescheidene Schätze. Eine Kette erregte seine Aufmerksamkeit. Eine Kette aus Schneeobsidian – auf Hochglanz polierte flache schwarze Steine, die von weißen Wölkchen besiedelt waren. Tinius verfiel ins Grübeln. Hatte er nicht unlängst gehört, dass die Indios Obsidian für die Herstellung von Messern und Schwertern benutzt hatten? Eben jener Schwerter, mit denen nach wichtigen Spielen die Verlierermannschaften hingerichtet worden waren? Der frisch gebackene Experte für präkolumbianische Ballspiele bat seine Anneliese in Gedanken um Verzeihung und zerbrach dann eines der Obsidianblättchen. Er fuhr mit der Bruchkante über einen Handballen. Der Stein war rasiermesserscharf. Ein kecker Blutstropfen lugte aus dem Einschnitt hervor. In diesem Augenblick hatte Joachim Tinius eine Vision. Die Zukunft stand deutlich und konturiert vor ihm – wie das
Panorama einer Maya-Stadt an einem klaren, sonnigen Tag. Tinius wusste, dass er ein Schwert fertigen würde. Ein Obsidianschwert – elegant geschwungen, dem Tastsinn gefällig und vortrefflich geeignet für… radikale Maßnahmen! Am nächsten Tag suchte der Saunawart auf dem gigantischen Flohmarkt in der Berliner Straße Ersatzteile für seine Sauna. Er fand nichts Verwertbares, aber da es anfing zu regnen, kaufte er von einem Syrer einen Schirm. Der Orientale bot ihm einen handgearbeiteten Schach- und Backgammontisch mit Perlmuttintarsien an. Tinius überlegte eine Weile, ob das Tischchen den Ruheraum seiner Sauna schmücken würde. Als er hörte, dass es vierhundert Euro kosten sollte, lehnte er höflich ab. Danach flanierte er versonnen durch den Platzregen. Er ließ den S-Bahnhof Pankow hinter sich, gelangte zu einem Internetcafe, betrat es und zahlte zwei Euro für eine Stunde Surfzeit. Seine Recherchen ergaben, dass das Obsidianschwert der Azteken Macuahuitl hieß, aus geschnitztem Eichenholz bestand und an beiden Seiten mit dreieckigen Obsidiansplittern besetzt war, die mit einem Harz befestigt worden waren. Anscheinend handelte es sich um eine effektive Waffe. Ein Augenzeuge aus Cortez’ Zeiten berichtete, mit einem Macuahuitl könne man einen ungerüsteten Mann tranchieren wie mit einem Stahlschwert. Ein Azteke wurde erwähnt, der mit seiner Waffe einen Pferdenacken durchtrennt hatte. Ein anderer wütender Krieger hatte einen spanischen Koch der Länge nach gespalten, von der Schulter bis auf den Sattelknauf seines Maultiers. Was Tinius dem Indio nicht verübeln konnte. Vor ein paar Wochen hatte er in einem spanischen Restaurant Spanferkel gegessen und war nicht zufrieden gewesen. Laut Berichten aus dem Umfeld der Conquistadoren hatten viele indianische Krieger ein Macuahuitl besessen. Einfache Soldaten führten schmucklose Waffen, Offiziere und Generäle
reich verzierte. Tinius dachte eine Weile nach und fand schließlich, als einfachem Saunawart im Range eines Gefreiten der Reserve stünde ihm ein schlichtes Obsidianschwert ohne Schi-Schi am besten zu Gesicht. Tinius verließ das Internetcafe mit einer Blaupause für seine Hiebwaffe im Kopf. Schräg gegenüber gab es einen Bastelladen, in dem er Epoxidharzkleber erwarb. Danach steuerte er neuerlich den Flohmarkt an, auf dem er vergebens nach einem geeigneten Stück Eichenholz stöberte. Schließlich fiel ihm ein, dass sein Ehebett, dessen eine Hälfte seit Langem verwaist war, aus massiver Eiche bestand; das gute Stück war ein Erbstück von Annelieses Eltern. Tinius war plötzlich sehr aufgeregt. Er leistete sich den Luxus eines Taxis von Pankow nach Weißensee. Zwanzig Minuten später stand er mit klopfendem Herzen in seinem Schlafzimmer. Er hatte es nachgerechnet: 7.239 Nächte hatte er in diesem Bett mit Anneliese verbracht. Einundzwanzig Ehejahre plus fünfundvierzig Tage und Nächte, minus 441 gemeinsame Urlaubs- und Reisetage (Ostsee, Fichtelgebirge, Ungarn), minus zweimal zwei Wochen für Annelieses Kur- und Schulungsaufenthalte, minus zwei Nächte, die er nach einem Ehekrach auf der Couch schlafen musste. 7.239 Nächte. Tinius fühlte, wie ihm ein Kloß in den Hals stieg. Er zwang sich zur Konzentration auf seine Aufgabe. Das Bett verfügte über eine Schulterstütze, an der man lehnen konnte, wenn man ein Kreuzworträtsel löste oder ein ›Lotterfrühstück‹ einnahm, was Anneliese immer mit großem Vergnügen getan hatte (»Wer nie sein Brot im Bette aß, weiß nicht, wie Krümel pieken!«). Eine sanft geschwungene handbreite Leiste verlief zwischen den beiden Bettpfosten an der Stirnseite. Tinius holte das nötige Werkzeug und demontierte die Leiste. Das Bett stand auch danach noch wie ein Fels in der Brandung – ein
schweres deutsches Eichenmöbel aus den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Tinius sägte die Holzleiste auf hundertzwanzig Zentimeter Länge herunter. Er setzte sich an den Küchentisch, klemmte sich das Brett unter die linke Achsel, legte es mit der schmalen Seite über ein Knie und begann, den Griff zu schnitzen. Die Späne fielen auf eine ausgebreitete Sportillustrierte, die sich über Deutschlands WM-Chancen ausließ. Tinius entschloss sich, sein Macuahuitl als Zweihänder auszuführen; fünfunddreißig Zentimeter Grifflänge erschienen ihm angemessen. Er ließ einen Knauf stehen, damit ihm das Gerät im Ernstfall nicht wie ein Fisch aus den schwitzenden Händen flutschte. Als Jungspund hatte er seinen Fahrradlenker mit Isolierband umwickelt, um die Grifffestigkeit zu erhöhen. Also her mit dem Isoband! Anschließend lag das Schwert wirklich gut in der Hand. Tinius führte einen Probeschlag aus, der knapp an der Küchenlampe vorbeiging. Dann widmete er sich der Herstellung der Schneide. Das Brett besaß an seiner schmalen Seite bereits eine daumennageltiefe Nut. Tinius legte Annelieses Schneeobsidiankette vor sich auf den Küchentisch. Im Zuge seiner Recherchen hatte er erfahren, dass es sich bei Obsidian nicht um ein Gestein handelte, sondern um vulkanisches Glas. Eigentlich war es schade um Annelieses schöne Kette. Tinius überlegte eine Weile, ob er die Schneide seines Schwertes nicht mit etwas anderem bestücken sollte – etwa mit den Scherben einer Flasche Sternburg-Export. Er verwarf den Gedanken. Stattdessen machte er sich ein Fläschchen auf. »Prost, du alter Suffkopp!«, trötete der sprechende Flaschenöffner gut gelaunt. Die nächsten zwei Stunden brachte Tinius damit zu, zersplitterten Obsidian mittels Epoxidharz in der Nut zu befestigen. Eine Tätigkeit, die ihm eine grimmige
Befriedigung verschaffte. Zwei Wochen, beschloss er, zwei Wochen gebe ich dem Möller noch. Wenn dieser Schwachmat seine Mannschaft bis dahin nicht auf Erfolgskurs gebracht hat, veranstalte ich das Gegenteil von einer Incentivemaßnahme. Nach getaner Arbeit legte Tinius sein Macuahuitl zum Trocknen auf den Balkon. Es war eine warme Frühlingsnacht. Das bescheidene Stadion des 1. FC Vorwärts Orankesee schwamm in silbernem Mondlicht. Tinius warf einen letzten verliebten Blick auf sein Schwert, dann räumte er das Werkzeug und die Bastelabfälle weg. Kurz darauf sah seine Waffenschmiede wieder aus wie eine ganz normale traurige Singleküche.
Vierzehn Tage später begannen Spieler und Anhänger des 1. FC Vorwärts hinter vorgehaltener Hand die Möglichkeit eines Abstiegs zu diskutieren. Auslöser der Debatte waren Niederlagen gegen zwei Mannschaften aus dem unteren Tabellenviertel. Der Verein hatte sein All-Time-Low, der Defätismus des Kaders war mit Händen zu greifen. An eine Absetzung des Mannschaftskapitäns schien dennoch niemand zu denken. Tinius forcierte seine Vorbereitungen für Möllers Notschlachtung. Er erstand ein Spanferkel, hängte es nach Mitternacht in die Dusche seiner Sauna und testete sein Macuahuitl an dem Kadaver. Das Schwert durchschnitt pfeifend die Luft, kurz darauf klatschte die untere Ferkelhälfte auf die Fliesen.
»Na, Achim, du alte Hundelunge«, grüßte Möller bei seinem nächsten Saunabesuch plump-vertraulich. Diesmal kam er allein. Seine Laune war nur gespielt gut. Er hatte einen Kater.
»Ick heiße Jo-achim!«, entgegnete Tinius eisig. »So viel Zeit muss sein!« Der Fußballer runzelte die Stirn, schnappte sich kommentarlos seinen Spindschlüssel und ging ab. Im Schwitzkasten studierte Tinius die Anatomie des Mannschaftskapitäns. Möller hatte einen weit ausrasierten Nacken mit Muskeln wie ein Opferstier. Er döste vor sich hin, an den Folgen seiner leichten Alkoholvergiftung laborierend. Tinius ging in den Umkleideraum. Er öffnete Möllers Spind mit seinem Zweitschlüssel und schnappte sich den Schlüsselbund des Kapitäns. Der Saunawart warf sich in seinen Honda. In der Nähe vom S-Bahnhof Hohenschönhausen gab es einen Schlüsseldienst. Tinius ließ Möllers Haus- und Wohnungsschlüssel kopieren. Während er wartete, fiel sein Blick auf ein Schundblatt mit Massenauflage. Eine Schlagzeile trompetete: Diabetiker: falsches Bein amputiert! Dem Bericht war zu entnehmen, dass der Lapsus dem Chefarzt eines renommierten Berliner Klinikums unterlaufen war. Der Vorfall war Wasser auf Tinius’ Mühlen: »Wat soll man denn noch allet machen?«, empörte er sich vernehmlich. »Seine Beene beschriften, bevor man in’ O-Peeh jeht? Nach dem Motto: Richtijet Been – falschet Been?« Der Schlüsseldienstmensch nickte zustimmend und händigte Tinius Kopien und Originale aus. Tinius zahlte, kaufte en passant bei einem Bäcker das größte Baguette, das zu bekommen war, und fuhr zurück an seinen Arbeitsplatz. Fünf Minuten später lagen Möllers Schlüssel wieder in dessen Spind.
Am Abend schloss Joachim Tinius seine Sauna zur gewohnten Zeit. Während er die Alarmanlage aktivierte, spürte er, wie
eine gewisse Erregung in ihm aufstieg. Es war ein angenehmes Gefühl.
Ronnie Möller residierte in einem protzigen, aber charakterlosen Einfamilienhaus auf der Margaretenhöhe. Es war weit nach Mitternacht, als Tinius dort anlangte. Er streifte Latexhandschuhe über und schloss die Haustür auf. Das Macuahuitl steckte mit seiner unteren Hälfte in einer Packpapiertüte, über die obere Hälfte hatte Tinius das Baguette gestülpt. Er hatte keine Probleme, ungehört in das Haus zu gelangen, denn aus dem Wohnzimmer drang laute Musik. Am Spiegel neben der Garderobe klebten Möllers WM-Tickets, ganz vorn das Billett für das Eröffnungsspiel in München. Tinius steckte die Tickets ein. Der Mannschaftskapitän des 1. FC Vorwärts Orankesee saß vor dem Fernseher und sah sich eine Opernaufführung mit Anna Netrebko an. Was Tinius überraschte. Sollte dieser Banause womöglich so etwas wie einen menschlichen Kern besitzen? Wenn sich ihm der Zauber dieses engelsgleichen Wesens erschloss – konnte er dann wirklich ein durch und durch verdorbener Mensch sein? Tinius überlegte allen Ernstes, ob er nicht den Rückzug antreten sollte, als er bemerkte, dass sich der Fußballer im Schritt frottierte… Tinius war nachgerade erleichtert. Er hatte sich in Möller nicht getäuscht! Grimmig lächelnd schlich er in die Küche seines Opfers. Dort entdeckte er die Reste einer Pizza, die er in den Ofen schob. Dann stellte er die Temperatur auf 275 Grad. Keine fünf Minuten später registrierte Ronnie Möller den Geruch verbrennenden Käses. Als er die Küche betrat, entdeckte er zunächst ein Baguette, das er nicht gekauft hatte, und dann einen Besucher, den er nicht eingeladen hatte. Der Mann hielt einen Gegenstand in seinen erhobenen Händen, der
Ronnie Möller an das Sperrholzschwert erinnerte, das er als Knabe bei Ritterspielen geführt hatte. Der Eindringling kam ihm bekannt vor. »Achim?«, fragte Möller verblüfft. »Jo-achim!«, belehrte ihn Tinius freundlich. »So viel Zeit muss sein!«
Am nächsten Tag erschien Ronnie Möller nicht zum Training. Er fehlte unentschuldigt. Nach vergeblichen Anrufen machte sich der erboste Trainer auf den Weg zu Möllers Domizil. Die Eingangstür war angelehnt, aus dem Haus drang ein merkwürdiger Geruch. Außerdem lief der Fernseher – ziemlich laut. Eine halbe Stunde später wimmelte es auf dem Grundstück von Polizei. Leiter der Ermittlungen war Kriminalhauptkommissar Lars Krahnepuhl vom LKA 11, ein zur Fülligkeit neigender Mittvierziger mit ungenügendem Schweißmanagement. Krahnepuhl besichtigte den Toten, der eine seitliche, sehr tiefe und stark klaffende Halswunde hatte, die von einer schartigen Machete oder einem Säbel stammen konnte. Auf die Brust des Leichnams hatte der Täter eine Tabelle der 2. Bezirksliga geheftet, der man entnehmen konnte, dass Ronnie Möllers Mannschaft, der 1. FC Vorwärts Orankesee, vom Abstieg in die Kreisliga bedroht war. Bei der Sektion des Leichnams in der Rechtsmedizin wurde in der Halswunde ein daumennagelgroßes Stück Schneeobsidian gefunden. Dem Fragment haftete eine klebrige Substanz an, die nach einer intensiven gaschromatografischen Untersuchung zweifelsfrei als Baguetteteig identifiziert wurde. Staatsanwaltschaft und Polizei konnten sich auf beides keinen Reim machen. Aufgrund der Analyse der Spurenelemente sowie der Isotopenzusammensetzung wurde als Herkunftsort
des Obsidians das in Ungarn gelegene Tokajer Gebirge ermittelt. Produzent des Baguetteteigs war eine Großbäckerei in der Nähe von Berlin, die täglich zweihundert Supermärkte und Verkaufsstellen belieferte. Da der Täter keine weiteren Spuren hinterlassen hatte und auch Anwohnerbefragungen keine Hinweise auf seine Identität erbrachten, blieb der Tod des Ronnie Möller ungeklärt. Es hielt sich jedoch das Gerücht, ein wütender FC-Vorwärts-Fan habe den Mannschaftskapitän für sein notorisches Versagen abgestraft. Die überlebenden Angehörigen des Kaders zeigten sich beeindruckt. Die Motivation stieg. Bis zum Ende der Saison eroberte sich der 1. FC Vorwärts Orankesee einen mittleren Tabellenplatz zurück. Saunawart Tinius bedauerte seinen rabiaten Schritt keine Sekunde lang. Der Erfolg gab ihm Recht. Im Übrigen hegte er nicht die geringste Sorge, dass ihn die Polizei finden würde. Er hatte einen inkompetenten Mannschaftskapitän aus dem Verkehr gezogen. Einen (!) von unzähligen Blendern und Versagern, die Deutschland tagtäglich an den Rand des Untergangs brachten. Irgendwie lag es in der Logik der Sache, dass der Mordfall Ronnie Möller von Personal untersucht wurde, das dem Mordopfer in puncto Unfähigkeit absolut ebenbürtig war. Am Vorabend des WM-Eröffnungsspiels packte Tinius seine Reisetasche. Er war traurig, dass Anneliese nicht mit von der Partie war. Nach München wäre sie gerne mal gefahren, auch wenn sie die Bolzerei nicht die Bohne interessiert hätte. Im Bett trank Tinius noch ein Fläschchen Sternburg-Export. Möllers WM-Tickets lagen auf dem Nachttisch. Der Saunawart freute sich auf den nächsten Tag. »Ihr Jungs spielt morjen besser mal een verdammt anständjen Fußball!«, feuerte er die deutsche Nationalelf an. »Det wäre in eurem ureijensten Interesse!«
Tinius meinte es ernst. Verdammt ernst. Sein Macuahuitl schlummerte unter Annelieses Matratze.
Oliver Bottini Horst Eckert Roger M. Fiedler Gunter Gerlach Ralph Gerstenberg Michael Illner Andreas Izquierdo Reinhard Junge Tatjana Kruse Krystyna Kuhn Susanne Mischke Theo Pointner Jan Zweyer
Die Mannschaft Oliver Bottini, 1965 in Nürnberg geboren, studierte in München Neue Deutsche Literatur, Italianistik und Markt- und Werbepsychologie. Er lebt als Autor und freier Redakteur mit seiner Frau in München, besucht aber regelmäßig die Verwandtschaft in der alten Heimat Franken. 1999 erhielt er ein Literaturstipendium der Stadt München, 2005 für sein Krimidebüt Mord im Zeichen des Zen (Scherz Verlag) den Deutschen Krimi Preis. Im Frühjahr 2006 erscheint sein zweiter Kriminalroman, Im Sommer der Mörder. Oliver Bottini spielte seit seiner Kindheit Fußball (bevorzugt Rechtsaußen oder rechtes Mittelfeld), bis er sich vor einigen Jahren auf die Kampfkunst Kung-Fu konzentrierte, die für einen Mann im reiferen Alter erheblich gesünder ist… Auf die WM 2006 freut er sich seit der WM 2002 riesig.
Horst Eckert, geb. 1959 in Weiden/Oberpfalz, studierte in Erlangen und Berlin Politische Wissenschaften. Er arbeitete als Fernsehjournalist u. a. für die Tagesschau und das RTLNachtjournal. Heute lebt er in Düsseldorf als freier Autor. Für Aufgepuscht aus seiner Romanreihe um die Ermittler der Düsseldorfer Polizei erhielt er 1998 den ›Marlowe‹, für Die Zwillingsfalle 2001 den ›Glauser‹. Zuletzt erschien von ihm 617 Grad Celsius (2005). Eckert ist nicht nur Fußballfan, sondern auch -spieler, zwar in keiner weltmeisterlichen Mannschaft, aber in einer einmaligen: dem FC Criminale, einer reinen Krimiautorenmannschaft. www.horst-eckert.de Roger M. Fiedler, 1961 geboren in Castrop-Rauxel, lebt heute als Schriftsteller im Westerwald. Der Autor hat ein Faible für große Dörfer. Daher die Liebe zu München, wo er sieben Jahre auf einem Kaffeehausstuhl sitzend verbrachte, nachdem er vorher sieben Jahre in Saarbrücken auf einem Kaffeehausstuhl sitzend verbracht hatte. Aus den dabei gewonnenen Eindrücken entstand die Figur des Münchner Privatermittlers Gorski, dessen drei Romane mit dem Deutschen Krimi Preis und dem ›Marlowe‹ der Ulmer Chandlergesellschaft ausgezeichnet worden sind. Fußball ist ein Spiel, bei dem zweiundzwanzig Menschen auf einen kleinen Ledergegenstand eintreten. So viel immerhin ist ihm bekannt. Gunter Gerlach, geboren in Leipzig, lebt in Hamburg. Da ungeeignet zum Profifußballer, entschließt er sich zum Studium der Kunst. Da ungeeignet für die Malerei, beginnt er mit dem Schreiben. Ergebnis: Regionalliga, kaum Eigentore. Auf dem Regal zehn Pokale von Literaturmeisterschaften. Mit verschiedenen Künstler- und Autorengruppen im Abseits, zuletzt mit der Gruppe um das ›Hamburger Dogma‹
(puristische Schreibregeln). Aktuelle Bücher: Der Haifischmann, Rotbuch Verlag, und Ich bin nicht, YedermannVerlag. www.gunter-gerlach.de Ralph Gerstenberg, geboren 1964 in Berlin, nach dem Abitur Arbeit als Buchhändler, Kleindarsteller und Journalist, Studium der Neueren Deutschen Literatur, Kultur- und Theaterwissenschaft, seit 1997 freiberufliche Tätigkeit als Autor und Journalist. Im Grafit Verlag sind von ihm die Kriminalromane Grimm und Lachmund, Ganzheitlich sterben, Hart am Rand und Das Kreuz von Krähnack erschienen. Den Kickern der deutschen Nationalelf zu einem Sieg und damit zum Einzug ins Viertelfinale zu verhelfen, kostete Gerstenberg im Übrigen viel Überwindung. Eigentlich sind ihm hohe Niederlagen von Ballack & Co. viel lieber… Michael Illner, Jahrgang 1962, schreibt seit 1992 Drehbücher, Krimis und Kurzgeschichten. Fußball findet er interessant, die Aufmerksamkeit für Sportler – ebenso wie für Musik- und Filmstars – reichlich übertrieben. Der Berliner vertritt die Ansicht, die Öffentlichkeit sollte sich eher mit bemerkenswerten Autorenpersönlichkeiten wie Salman Rushdie oder Sue-Ellen Welfonder befassen. Zusammen mit seinem langjährigen Co-Autor Leo P. Ard hat Illner für den Grafit Verlag zwei Krimis verfasst: Flotter Dreier und Gemischtes Doppel (Deutscher Krimi Preis). Darüber hinaus hat der Autor Credits für über dreißig TV-Filme und einhundertsiebzig Serienepisoden, u. a. Balko (RTL), Polizeiruf 110 und Tatort (ARD), Stubbe – von Fall zu Fall (ZDF) geschrieben. Für das Drehbuch für den Polizeiruf Totes Gleis erhielt er zusammen mit seinem Co-Autor Leo P. Ard den Grimme Preis mit Gold.
Andreas Izquierdo wurde 1968 in Euskirchen geboren. Er lebt in Köln und ist als Drehbuchautor tätig. 1995 erschien sein erster Kriminalroman mit dem Provinzjournalisten Jupp Schmitz’ Der Saumord. Es folgten Das Doppeldings (1996), Jede Menge Seife (1997) und Schlaflos in Dörresheim (2000). Izquierdo spielte fünfzehn Jahre völlig erfolglos in der Kreisliga Fußball, bis sich ein Eifler Verteidiger endlich erbarmte und ihn vom Platz grätschte. Nun spielt er völlig erfolglos Golf. www.izquierdo.de Reinhard Junge, geb. 1946 in Dortmund, lebt jetzt in Bochum und unterrichtet seit 1979 Deutsch, Russisch und Latein in Wattenscheid. Gemeinsam mit Leo P. Ard schrieb er die ersten fünf Bände der erfolgreichen Krimi-Reihe um das Ekel von Datteln, die er als Soloautor mit den Abenteuern um das Video-Team PEGASUS weiterführt. Zuletzt erschien von ihm Glatzenschnitt (2002). – Fußball hat er nie im Verein gespielt, aber die großen Erfolge von Borussia Dortmund erhellten auch seine Schülerjahre. Den ›Übertritt‹ zum VfL Bochum in den Siebzigern hat er nur dank seiner robusten Natur gut überstanden. Und Bayern München mochte er noch nie… www.reinhard-junge.de Tatjana Kruse, Jahrgang 1960, ist nicht wirklich eine Freundin des runden Leders, aber auch kein schwäbischer Putzteufel und ihre Tiefkühltruhe ist absolut menschenfleischfrei – versprochen! Sie startete im Jahr 2000 ihre eigene Krimireihe um Die Wuchtbrumme, der sie 2001 Achtung: Wuchtbrumme und 2002 Die Wuchtbrumme kehrt
zurück folgen ließ, Wuchtbrummenalarm gab. www.TatjanaKruse.de
bis
es
schließlich
2003
Krystyna Kuhn, geboren 1960 in Würzburg, studierte Slavistik, Germanistik und Kunstgeschichte in Würzburg, Göttingen und Krakau. Anschließend war sie Leiterin der Handbuchredaktion eines mittelständischen Softwareunternehmens. Seit 1995 lebt sie als freie Herausgeberin, Dozentin und Autorin unweit von Frankfurt am Main. Nachdem sie bereits durch mehrere Kurzgeschichten auf sich aufmerksam gemacht hatte, erschien 2001 mit Fische können schweigen (Kabel) ihr erster Kriminalroman, gefolgt von Die vierte Tochter (Piper 2003) und Engelshaar (Piper 2005). Alle drei Romane spielen in Frankfurt. Kuhns Verhältnis zum Fußball wurde entscheidend geprägt durch drei Jahre aktiven Vereinsfußball. Position: Verteidigung rechts außen. Die Weltmeisterschaft 2006 erwartet sie mit allzu großer Hoffnung. Der letzte Besuch in der Commerzbank-Arena liegt fünf Monate zurück. Susanne Mischke wurde im schroffen Allgäu geboren, dem idealen Ort, um einen Knacks fürs Leben zu bekommen. Sie nahm einen Umweg über Berlin und die Computerbranche, ehe sie sich öffentlich zu ihrer Mordlust bekannte. Lebt inzwischen in der Nähe von Hannover in einem Haus mit schalldichten Kellerräumen. Im Januar 2005 erschien ihr zehnter Roman Wölfe und Lämmer. Ihr Verhältnis zum Fußball: Normalerweise flammt ihre Fußballleidenschaft nur bei großen Turnieren wie WM oder EM auf. Aber seit Giovanni Trappatoni wieder in der deutschen Bundesliga mitmischt, sieht die Sache anders aus… www.susanne.mischke.de
Theo Pointner, geboren am 1964 in Bochum, hier auch Schulbesuch und Abitur, 2003 ausgewandert nach Essen. Nach dem Zivildienst eine kaufmännische Ausbildung und Studium der Betriebswirtschaften. 1992 erschien sein Kriminalromandebüt Tore, Punkte, Doppelmord; es folgten Scheinheilige Samariter (1994), Einer nach dem andern (1997), Rechts-Außen (1998),… und du bist weg! (1999), Ein Tropfen Blut (2001), Rosenmunds Tod (2002) und Der Dominoeffekt (2005). Sagte 1998 in Rechts-Außen das erbärmliche Abschneiden der deutschen Nationalmannschaft bei der WM in Frankreich voraus, hält sich daher geflissentlich mit Tipps jedweder Art für die WM 2006 zurück. www.theopointner.de Jan Zweyer, geboren 1953 in Frankfurt am Main, wuchs in Bad Oeynhausen auf. Er arbeitet für ein internationales Industrieunternehmen in NRW und lebt heute mit Frau und Hund in Herne. 1998 erschien sein erster Kriminalroman Glück auf, Glück ab; ihm folgten sechs weitere Romane, in denen der leicht chaotische Anwalt Rainer Esch agiert. Außerdem ermittelt in Zweyers Auftrag der Versicherungsdetektiv Jean Büsing (Glänzender Tod und Als der Himmel verschwand). Im Übrigen interessiert sich Zweyer weit mehr für Schalke 04 als für die Kicker der Nationalmannschaft. www.jan-zweyer.de