HELEN HUMPHREYS
WENN DER HIMMEL UNS KÜSST Roman
Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle
Kiepenheuer & Witsch
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HELEN HUMPHREYS
WENN DER HIMMEL UNS KÜSST Roman
Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle
Kiepenheuer & Witsch
1. Auflage 1999 Titel der Originalausgabe: Leaving Earth Copyright © 1997 by Helen Humphreys Deutsch von Susanne Aeckerle Copyright © 1999 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung Barbara Thoben, Köln Umschlagfoto © National Aviation Museum of Canada Druck und Bindearbeiten: Graphischer Großbetrieb Pößneck, Pößneck ISBN 3-462-02789-1
Grace O’Gorman, die Fliegerin aus Helen Humphreys Debütroman Wenn der Himmel uns küßt, liebt ihre Moth, einen Doppeldecker mit zwei Sitzen und offenem Cockpit, über alles. Die Geschichte spielt sich in den dreißiger Jahren ab: Sie und ihr Flugzeug haben zusammen die Welt mit Stunts, Langstreckenflügen im Alleingang und anderen rekordbrechenden Reisen in Staunen versetzt. Hoch droben in den Lüften fühlt sich die glamouröse Air Ace-Grace zu Hause, ganz im Gegensatz zu ihrem Leben auf Erden, das sie mit ihrem Ehemann in Toronto führt. Zum einen aus diesem Grund, zum anderen aufgrund ihres Wettbewerbsdenkens und ihrer Affinität zum Ruhm nimmt sie sich vor, den Weltrekord im Ausdauerfliegen zu brechen. Sie tut sich mit einer jungen Fliegerin, Willa Briggs, zusammen, um im August 1933 Toronto 25 Tage lang zu umkreisen. In knapper Form, aber doch auf herzliche Art und Weise, rollt Humphreys das Leben des sich in der Luft befindenden Paares auf. Sie beschwört die körperlichen Qualen herauf, die der Regen, das Zusammengepferchtsein auf engstem Raum und die Erschöpfung dem Körper zufügen und beschreibt sehr anschaulich die Einzelheiten dieser Erschöpfungszustände. Aber außer den Beschreibungen von körperlicher Unbehaglichkeit ist da noch emotionales Leid und freudige Erregung, die Willa widerfahren. Dem schreibt die Erzählerin außergewöhnliche Bedeutung zu. Zur Selbsterkenntnis zwingende Einsamkeit kommt vor, und noch ist Willa unberührt von der Freude über ein eingeschränktes Leben in der Luft mit Grace, in die sie sich verliebt. Im
Getöse des Windes entwickeln Grace und Willa eine poetische Zeichensprache. Um diese und um die Erfahrung in der Luft drehen sich Willas Hochs und Tiefs. Den Flug der Moth verfolgt auch die elfjährige Maddy, deren Vater und deren jüdische Mutter auf den Toronto Islands in einem Vergnügungspark arbeiten, der schon bessere Zeiten gesehen hat. Maddy verehrt Grace und verbringt deswegen ihre Tage im August damit, die Bahnen des umherkreisenden Doppeldeckers zu verfolgen. Währenddessen bangen ihre Eltern angesichts der Depression um ihren Job und müssen zusehen, wie antisemitische Tendenzen immer mehr Einzug halten. Von der Erde und aus der Luft formt Humphreys eine anregende Geschichte über menschliche Vergänglichkeit und menschliche Möglichkeiten zu einer Zeit, als es bei der Luftfahrt noch um Ruhm ging und der Zweite Weltkrieg nicht weit entfernt war. In diesem Buch breitet sich Angst aus, während zur selben Zeit eine enge Freundschaft heranwächst.
FÜR ALLE FRAUEN, DIE FLIEGEN
DAS FLUGZEUG SPULT SICH wie von einer Rolle blauer Seide ab, stichelt eine selbstbewußte Schleife in den Himmel. Willa steht am Hangar, als die Moth donnernd mit Vollgas über ihren Kopf hinwegschießt. Die einsame Gestalt im hinteren Cockpit winkt, während die Maschine tief über das Flugfeld am Hafen fliegt und dann einen fast senkrechten Aufstieg beginnt. Höher und höher auf einer geraden Linie. Wie mit dem Lineal gezogen, als sei sie eine Harfensaite und das Flugzeug eine aufsteigende Note. Am Ende des Aufstiegs verharrt das Flugzeug, gleitet einen Moment wie schwerelos durch die Bläue und fällt dann zur Erde. Hammerhead. Willa wendet sich dem Mann neben ihr zu, als die Moth den Sturzflug beendet und mit gedrosseltem Gas langsam über den Hangar und auf die Inseln zufliegt. Eine dünne Rauchwolke kräuselt sich hinter der Maschine. »Ihre Frau?« Jack läßt die Zigarettenkippe zu Boden fallen und drückt sie mit der Stiefelspitze aus. »Ja«, sagt er. »Das ist meine Frau.«
MADDY RENNT ÜBER DIE SANDBANK, im Schatten des Flugzeuges. Lärm wie von rasselndem Kies in einer Holzschüssel. Die Unterseite der Tragflächen, der dunkelblaue Flugzeugrumpf. Die Moth. Ihr Atem kommt stoßweise im Rhythmus ihrer rennenden Füße. Der See neben ihr ist ein dünnes blaues Band, das sich eng um die Bäume am Ufer windet. Das Flugzeug geht über der Insel in eine langsame Linkskurve, und Maddy kann die offenen Cockpits sehen, die behelmte Pilotin, die sich vornübergebeugt mit in die Kurve legt. Sie bleibt stehen. Das Flugzeug über ihr nimmt Tempo auf, fliegt über sie hinweg. Flügel schrammen gegen den flachen Himmel. Maddy reißt ihre dünnen Armchen hoch. »Grace O’Gorman«, brüllt sie in das heisere Dröhnen der Maschine. »Komm zurück.«
DER SANDSACK BEGINNT ZU SCHWINGEN, als die Faust ihn trifft, sich zurückzieht, wieder zuschlägt, rechts über links, die Boxhandschuhe verschwommene Flecken im schwachen Licht. Sepiafarben fällt die Sonne durch die staubigen Fenster des Hangars. Linker Haken, rechter Schwinger. Ausatmen. Als sich die Tür öffnet, quillt das dahinter gestaute Licht ein, so daß Willa, Schweiß in den Augen, die Frau erst sieht, nachdem sie den Zementboden überquert hat und vor ihr steht. »Willa Briggs?« Willas Hände fallen herab. Ihr Atem in der stillen Luft. Ein Quietschen ertönt, als der schwere Sack an seiner Kette aus schwingt. »Ich bin…« »Ich weiß, wer Sie sind«, sagt Willa. »Grace O’Gorman.« Sie sagen es beide gleichzeitig, und der Name hallt hinauf bis zu den stählernen Dachsparren. Grace O’Gorman trägt ihre übliche Fliegerkluft: Reithosen und Stiefel, langer Ledermantel, Lederhandschuhe. Die aus Stoff gefertigte Fliegerkappe und die Schutzbrille hält sie in der Hand. Sie ist kleiner, als Willa angenommen hatte, aber sie hat sie vorher auch noch nie von nahem gesehen, nur im Cockpit ihres Flugzeugs oder weit entfernt auf einer Bühne. Die berühmte Pilotin Grace O’Gorman, die knapp über die Köpfe des Publikums hinwegschießt, ihre blaue Moth auf die linke Tragfläche stellt und mit dem Dorn an der Flügelspitze das weiße Taschentuch aufspießt, das sorgfältig auf dem Feld ausgebreitet liegt. Die weiße Fahne der Kapitulation am blauen Himmel. »Gehen Sie ein Stück mit mir?« fragt Grace, und Willa zieht ihre Boxhandschuhe aus, wischt sich mit dem Ärmel über das
Gesicht und folgt ihr durch den leeren Hangar, in dem nur ein defekter Curtiss-Doppeldecker steht. Draußen geht die Sonne über dem See und den Inseln unter. Die Luft ist warm und riecht nach Benzin. »Mein Mann hat mir erzählt, daß Sie hier wohnen«, sagt Grace, während sie über das asphaltierte Vorfeld gehen, weg vom Hangar und der kleinen Ansammlung von Gebäuden. »Eine andere Wohnung kann ich mir nicht leisten«, erwidert Willa. »Ich habe nicht genug Schüler.« »Kriegen Sie denn nicht die Frauen?« fragt Grace. »Die Mädchen, deren Väter den potentiellen Charme männlicher Fluglehrer befürchten?« Schweigen. »Haben Sie so nicht Jack kennengelernt?« fragt Willa zurück. Grace dreht sich zu ihr um und lächelt sie an, und Willa sieht das beredte Senken eines Flügels, das weiße Blitzen der Zustimmung. Sie gehen über das Vorfeld, zwischen Flugzeugen, festgezurrt an einbetonierten Stahlringen, die Seile wie Litzen zwischen den Tragflächen und dem Boden. Grace O’Gormans blaue Moth steht nahe des Lake Ontario, am Ende der Rollbahn. »Wie sind Sie reingekommen?« fragt Willa. »Vom See her«, erwidert Grace. »Um gegen den Wind zu landen. Er bläst direkt aus Norden.« Trotzdem, denkt Willa, dürfte das kein Problem gewesen sein. Grace hat ihr Flugzeug nur wenige Meter vom Wasser entfernt aufgesetzt, was bedeutet, daß sie knapp über den Wellenkämmen eingeflogen ist. Es wäre so viel leichter gewesen, über Land runter zu gehen. Um den kleinen Flughafen herum ist das Land eben und unbebaut. Da ist nichts, was einem in den Weg kommen könnte. »Wissen Sie von meinem Flug?« fragt Grace und verlangsamt den Schritt, als sie sich ihrem Flugzeug nähern.
»Die ganze Welt weiß von Ihrem Flug«, sagt Willa. Die berühmte Grace O’Gorman und Sally Tate, die fünfundzwanzig Tage ohne Unterbrechung über dem Hafen von Toronto kreisen werden. Auftanken in der Luft. Den Dauerflugrekord brechen. Und am Eröffnungstag auf dem Gelände der Kanadischen Nationalausstellung, der C.N.E. landen, um vor dem Automobilpavillon zum Ausstellungsstück zu werden. Sie haben Grace’ Flugzeug erreicht. Auch das scheint kleiner zu sein, als Willa es in Erinnerung hat. Moth DH6OT. Doppeldecker. Dunkelblau. Schulflugzeug mit zwei offenen, hintereinanderliegenden Cockpits. Zwei Steuereinrichtungen, zwei Paar Flügel. Grace legt ihre behandschuhte Hand auf die obere Tragfläche. Eine beruhigende Geste, und Willa ist sich nicht sicher, wem sie gilt – Grace oder dem Flugzeug selbst. »Sally Tate ist gestern bei einer Flugschau abgestürzt. Hat sich das Handgelenk gebrochen. Sie mußte mir absagen.« Mit dem Finger malt Grace ein unsichtbares Wort auf die glänzende Tragfläche der Moth. Sie blickt auf ihre Hand, schaut Willa nicht an. »Ich habe Sie fliegen sehen«, sagt sie. »Letztes Jahr bei dem Treffen in Montreal.« Willa, die kein eigenes Flugzeug besitzt, hatte sich eins von einem Mitglied des Torontoer Aeroclubs geliehen. Sie hatte beim Wettfliegen nicht gut abgeschnitten. Zumindest keinen Platz erreicht, der zählte. »Sie waren ein bißchen schwerfällig«, gibt Grace zu. »Aber Sie wissen, daß Luft flüssig ist. Sie ritten auf ihr wie auf Wellen.« Grace dreht sich um und schaut Willa an. »Sie wußten, was Sie mit ihr machen müssen.« Willa erinnert sich nur an die Demütigung, als siebte von elf Frauen gelandet zu sein. Sie hatte die Kurven zu weit genommen. Zu vorsichtig. Hatte Angst gehabt, etwas an dem geborgten Flugzeug zu beschädigen.
»Ich bin bei der Landung durchgesackt.« Sie erinnert sich an die peinliche Reihe flacher Hopser, die sie über die Landebahn hinausschießen ließen. »Das ist mir egal«, sagt Grace. »Ich möchte, daß Sie Sally Tates Platz einnehmen. Fünfundzwanzig Tage im Kreis fliegen. Mit mir.«
JACK SCHLIESST DIE HAUSTÜR und geht durch den hallenden Flur in die Küche. Als er sich die Hände wäscht, hört er über sich das Knarren der Fußbodenbretter. Er trocknet sich die Hände am Vorhang über der Spüle ab, fährt sich mit den Fingern durchs Haar, geht zurück in den Flur und ruft nach oben. »Grace.« »Hallo, Robson.« Sie schaut über das Geländer zu ihm hinunter. »Ich bin einen Tag früher zurückgekommen. Sally hat sich das Handgelenk gebrochen.« Jack weiß das. Fred hat es ihm am Nachmittag erzählt. Du bist aus dem Schneider. Die Tate hat sich verletzt. Mit dieser Neuigkeit war er heimgefahren, hatte es wie ein weiches Kissen vor sich herschweben und sich gelegentlich dagegen fallen lassen, um das angenehme Gefühl der Erleichterung zu spüren. Grace legt den Kopf auf ihre Hände am Geländer. »Oh, Robson«, sagt sie. »Ich bin so müde. Wie geht es dir?« »Hab den ganzen Nachmittag an der Curtiss gearbeitet«, sagt er. »Die Tragflächen sind ziemlich im Eimer.« »Flugstunden?« »Nur zwei.« Jack lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand. »Wer kann sich Flugstunden leisten, wenn Männer in Arbeitslagern zwanzig Cents am Tag verdienen, um Löcher auszuheben und sie wieder zuzuschütten.« Grace fährt mit der Hand an den Geländerstäben entlang. »Komm, Robson«, sagt sie. »Komm rauf und leg dich ein bißchen zu mir.« Es ist heiß hier oben, die Sonne hat den ganzen Tag auf das Dach gebrannt. Das Bett steht am offenen Fenster, aber draußen hängt die Luft muffig und still wie ein alter Vorhang.
Jack zieht Hemd und Schuhe aus, legt sich neben seine Frau, lauscht auf das Rauschen und Rumpeln unten auf der Straße. So nehme ich die Welt wahr, denkt er. Er sieht sie am liebsten von oben, aus fünfhundert Metern Höhe, wenn die Erde nur noch aus kleinen Farbflecken besteht. Aber wenn er unten ist, auf dem Boden, nimmt er seine Welt durch Geräusche wahr. Das Quietschen und Schurren der Straßenbahnen, das Brummen des Verkehrs. Das lange, dumpfe Jaulen der Nebelhörner an der Bucht. Eine vollkommene Kombination, denkt er, als etwas unter dem Fenster vorbeiklappert. Die Geräusche der Erde zu hören, aber über ihr zu sein. Grace läßt sich mit geschlossenen Augen an seine Schulter sinken. »Ich hab gestern eine Fluglehrerkollegin von dir kennengelernt«, sagt sie schläfrig. »Gestern?« Mit einer raschen Drehung wendet Jack sich ihr zu. »Du bist schon gestern zurückgekommen?« »Bin rüber nach Whitby geflogen, nachdem ich mit Willa Briggs gesprochen hatte. Ich wollte, daß sich Alex die Moth noch mal anschaut. Hab bei Sally übernachtet. Bin heute zurückgeflogen.« Grace öffnet die Augen. »Es gibt noch eine Menge zu tun, bevor ich Dienstag losfliege.« »Willa Briggs? Sally…« Jack merkt, wie er die Luft anhält, und stößt sie mit einem Geräusch hervor, das an ein Schluchzen erinnert. Sie liegen auf der Seite und schauen sich an. Grace berührt seine Wange, fährt dann sanft mit der Hand über sein Schlüsselbein. »Brich ihn erneut, Robson«, flüstert sie. »Laß mir den Rekord für ein oder zwei Wochen, dann flieg los und hol ihn dir zurück.« Draußen zischen Reifen über das Straßenpflaster. Einen Moment später hört Jack, wie der Regen auf das Dach zu trommeln beginnt. Er schaut Grace an. Air Ace Grace, das Fliegerass. Wie soll er ihr sagen, daß sie zuviel von ihm
erwartet, daß er längst nicht so fähig ist, wie sie denkt. Er ist kein Naturtalent. Er kann nicht jedes fahr einen Rekord aufstellen wie sie. Der achtzehntägige Dauerflug ist die einzig wirkliche Leistung in seiner Fliegerkarriere. Und er ist jetzt vierzig, zu alt, um einen ganzen Monat am Himmel zu hängen. »Wirst du mir trotzdem helfen?« flüstert Grace. Jack sieht die Frage in ihren dunkelblauen, in der Dämmerung fast violett schimmernden Augen. »Versprochen ist versprochen«, sagt er. Grace hatte das Tankflugzeug geflogen, als er und Munro letztes Jahr den Dauerflugrekord aufgestellt hatten. Es ist recht und billig, daß er das gleiche für sie tut. Aber es ist eben nicht recht und billig. Sein ganzes Fliegerleben war harte Arbeit gewesen, Anstrengung, die an seiner Kraft und seinem Selbstvertrauen zehrte und ihm bei jedem Flug etwas weniger davon zurückließ. Air Ace Grace konnte so tief fliegen, daß einem das Herz aussetzte. Sie konnte mit verbundenen Augen fliegen, vierzig Rollen hintereinander machen, das schwarze Tuch fest um die Augen. »Warum machst du das?« fragt er. Grace nimmt die Hand von seiner Brust, dreht sich auf den Rücken. Schweißtropfen stehen auf ihrer Oberlippe, und der Regen prasselt aufs Dach. Eine Strähne ihres roten Haars klebt an ihrer Wange. »Weil ich«, sagt sie ruhig, »diesen Rekord aufstellen kann, Robson. Ich kann einen Strich quer durch den Monat August 1933 machen. Einen perfekten Strich am Himmel.«
MADDY WARTET DRAUSSEN auf ihren Vater. Es ist früher Morgen, die Sonne steht flach über dem See, wirft dünne Lichtstreifen auf das Gras. Sie lehnt an der hölzernen Seitenwand des Hauses, pult die abblätternde gelbe Farbe mit dem Daumennagel ab. Vor ihr liegt eine offene Grasfläche mit ein paar Bäumen. Dahinter beginnen die frisch zementierten Bahnen des neuen und leeren Flugplatzes, die bis zu der kleinen, hölzernen, auf Pfählen stehenden Leuchtbake am Rande der westlichen Durchfahrt reichen. Die westliche Durchfahrt, dieser schmale Wasserstreifen zwischen den Inseln und dem Festland, ist der Grund, warum der neue Flugplatz bisher unbenutzt geblieben ist. Es gibt keine Möglichkeit, über den Kanal zu kommen. Passagiere und Piloten müßten den ganzen Weg über die westliche Sandbank, durch den Vergnügungspark bis zur Fährenanlegestelle von Hanlan’s Point bewältigen. Eine ziemliche Strecke. Daher steht der neue Flugplatz jetzt seit über einem Jahr leer, und alle benutzen nach wie vor den kleinen Lufthafen auf dem Festland am Ende der Scott Street. Finster betrachtet Maddy die riesige, glatte Zementfläche. Was nützt es, im letzten Haus auf der Sandbank zu wohnen, mit einer tollen Aussicht auf den Flugplatz, wenn es da nichts zu sehen gibt? Mit einem leisen Knall fällt die Haustür zu. Maddy saust um die Ecke und fällt in Gleichschritt mit Fram, während sie die schmale Straße hinuntergehen. Sie greift nach seiner Hand, schwingt sie in sanften Bögen auf und ab, geht mit ihm den vertrauten Weg an den Häusern der Sandbank entlang, hinunter zur Hauptinsel und weiter nach Hanlan’s Point und dem Vergnügungspark. Die Inseln von Toronto bilden die Form einer Mondsichel, ein natürlicher Wellenbrecher vor dem Hafen, mit der
westlichen Sandbank an der einen und Ward’s Island an der anderen Spitze. Dazwischen, in das Halbrund eingebettet, liegen Centre Island, Mugg’s Island, Olympic Island und Sunfish Island, alle miteinander und mit dem Festland durch Brücken verbunden. Ein paar kleine namenlose Inseln gehören ebenfalls zu diesem Archipel, genau wie die Halbinsel Hanlan’s Point, die wie ein Daumen aus der schmalen Handfläche der westlichen Sandbank hervorragt. In früheren Zeiten hatten die indianischen Ureinwohner ihre Lager auf der östlichen Seite der Inseln aufgeschlagen. Während des 19. Jahrhunderts kamen Stadtbewohner in Booten herüber, um hier den Sommer in Zelten und kleinen Hütten zu verbringen. Allmählich entstand eine Art Zeltstadt, und die Fähren verkehrten regelmäßig. Im Jahre 1933 gibt es ein solches Sommerlager nur noch auf Ward’s Island, und von den etwa hundert Familien, die das ganze Jahr auf den Inseln leben, besitzen die meisten kleine Holzhäuser und wohnen auf Centre Island, Hanlan’s Point oder der westlichen Sandbank. Sowohl auf Hanlan’s Point als auch auf Ward’s Island gibt es Lebensmittelläden, aber die Anwohner verlassen sich lieber auf das reichhaltige Angebot in der Manitou Road auf Centre Island. Dort gibt es einen Schlachter, Lebensmittelgeschäfte, eine Bank, Drugstores, Milchbars und Restaurants – einschließlich des teuren, eleganten Pierson Hotels und des billigeren Honey Dew, wo man Hamburger und Würstchen bekommt. Maddy und Fram gehen die schmale, westliche Sandbank hinunter, vorbei an einer Reihe von Häusern, von denen manche nach Osten, manche westlich nach Hamilton ausgerichtet sind. Jedes Haus befindet sich in exakt gleichem Abstand zum nächsten. Jedes ist in einer anderen Farbe gestrichen, so daß für Maddy manchmal, wenn sie in rasendem Tempo mit dem Fahrrad an ihnen vorbeisaust, all die Kleckse
von Rosa und Blau und Gelb wie die Farbwirbel am Boden eines Kaleidoskops aussehen. Fram summt vor sich hin, und Maddy lauscht, versucht zu erraten, was er da summt. Manchmal singen sie zusammen auf dem Weg zur Arbeit Schlager, die sie aus Miros neuem Radioapparat gelernt haben. ›»Stormy Weather‹?« rät Maddy, und ihr Vater lacht und drückt ihre Hand. Am liebsten hat Maddy die Schlager, die der britischen Pilotin Amy Johnson gewidmet sind. Amy Johnson ist 1930 allein mit dem Flugzeug von England nach Australien geflogen. Maddy tänzelt im Rhythmus von »Queen of the Air« durch den Straßenstaub, bis sie stolpert und Fram sie hart am Arm zerren muß, damit sie nicht fällt. Sie kommen nach Hanlan’s Point, gehen die Lake Shore Avenue entlang, vorbei an den Holzhäusern und der Kirche, über das kurze Gras des Parks. Sie sind die einzigen Menschen, die schon so früh unterwegs sind. Sonst gibt es nur ein paar Eichhörnchen. Ein Hund, der zwischen den Bäumen umherläuft. Das Hügelchen hinauf, von dem man den ersten Blick auf den Vergnügungspark hat: den Pavillon mit dem Getränkestand und das Varietetheater. Den Autoscooter und die Schiffschaukel, den Flitterwochenexpreß, die Rollschuhbahn. Das kleine Holzhaus von Miro, dem »König aller fetten Babys«. Maddy hat den Vergnügungspark am liebsten, wenn noch niemand da ist. Ein paar Schausteller, die, wie ihr Vater, nach dem Rechten sehen und Reparaturarbeiten durchführen. Enten und Möwen, die Popcorn aus dem Staub picken. Kein Krach und Maschinengerumpel. Keine Jahrmarktschreier. Keine rempelnden und kreischenden Menschenmengen, obwohl in diesem Sommer weniger Besucher da waren als je zuvor. Zuerst war es der neue Vergnügungspark auf dem Festland in
Sunnyside Beach, der den Zustrom nach Hanlan’s Point abebben ließ. Dann war auch noch das Baseballteam, die Maple Leafs, abtrünnig geworden und vom Sportstadion auf der Halbinsel in ein neues Stadion auf der Stadtseite der westlichen Durchfahrt gezogen. In den letzten paar Jahren sind längst nicht mehr so viele Menschen hergekommen, was zur Folge hat, daß auch viele Schausteller abgewandert sind. Ned, das tauchende Pferd, ist weg. Genau wie die Drahtseilartisten und die Riesenschiffschaukel. Hamburgs große spektakuläre Wasserschau ist nicht mehr so groß und auch nicht mehr spektakulär, obwohl Rose immer noch ihre beliebten Matinees und Abendvorstellungen als »Die Dame, die sich unter Wasser entkleidet« gibt. Wenn Maddy und Fram jetzt über das Gelände des Vergnügungsparks zur Fährenanlegestelle gehen, kommen sie an vielen Lücken zwischen den Schaubuden und den Karussells vorbei, die es früher nicht gab. Die restlichen Buden stehen wie Inseln im dicken, braunen Staub. Selbst die von ihrer Mutter mit den glitzernden Sternen und dem Mond an der Außenwand und den schwungvollen Worten »Wahrsagen fünfundzwanzig Cents« über der Tür sieht schäbig und heruntergekommen aus. Früher stand sie in einer ganzen Reihe von Buden, zwischen einer Schießbude auf der einen und einem Gewichtratespiel auf der anderen Seite. Jetzt unterstreicht sie die Leere, und der aufgenagelte Sternenhimmel blinkt im Sonnenlicht. Den ganzen Sommer über arbeiten Maddys Eltern im Vergnügungspark. Fram betreut das Karussell vom frühen Morgen bis elf Uhr abends. Del kommt erst mittags in ihre Wahrsagerbude. Niemand möchte sich frühmorgens die Zukunft voraussagen lassen, und Del verdient am meisten nach Sonnenuntergang, wenn die Dunkelheit in den Menschen die Bereitschaft weckt, schwierige Fragen zu stellen. Im Winter, wenn Maddy wieder auf dem Festland zur Schule geht,
übernehmen Fram und Del Gelegenheitsarbeiten, um durchzukommen. Aber letzten Winter, als die Wirtschaftskrise auf dem Höhepunkt und über dreißig Prozent der Stadtbevölkerung arbeitslos war, konnten sie beide nichts finden. Keine Näharbeiten für Del. Keine gelegentlichen Maschinenreparaturen für Fram. Maddy erinnert sich, daß es tagelang nur Suppe aus getrockneten Bohnen gab und Dosentomaten statt frischem Obst und Gemüse. Und dazu das ständige Gejammer, daß es nicht reichte. Frams Karussell steht zwischen der Achterbahn und der Fährenanlegestelle. Davon führen zu beiden Seiten hölzerne Stege am Ufer entlang. Das Karussell ist überdacht und steht halb auf dem Land, halb auf tief in den Morast versenkten Pfählen über dem Wasser. Das Dach ist rot. Die Seiten sind offen, und wenn sich das Karussell sehr schnell dreht, meint man immer, gleich würde jemand von den bemalten Holzpferden hinaus in das dreckige Wasser der Bucht fliegen. Maddy besteigt ihr Lieblingspferd, ein großes schwarzes mit gefletschten Zähnen, die weiß im strahlend roten Gaumen blitzen. Fram dreht den Schlüssel im Schaltkasten und schiebt den Hebel, der das Karussell in Gang setzt, ein wenig vor, worauf die Plattform mit den Pferden sich langsam in Bewegung setzt, während er Ölkanne und Lappen aus einer verschlossenen Holzkiste holt. So ist es jeden Morgen im Sommer. Maddy reitet den feurigen Rappen, während ihr Vater die Lager ölt und die Metallsteigbügel an den echten Ledersätteln poliert. Wie eine träge Welle bewegt sich das Karussell durch die stille Morgenluft. »Maddy. Nimm die Zügel zusammen.« Fram hält Schritt mit ihr und den auf ihrem Gestänge über dem Wasser auf und ab gleitenden Pferden. Er ist als Junge in Schottland geritten, und manchmal gibt er seiner Tochter Unterricht auf den steifen
Holzpferden, die für alle Ewigkeit im Kreis galoppieren müssen. Am frühen Morgen stellt er nie die Musik an, und man hört nur das Knarren der Zahnräder, das leise Zischen, wenn die Pferde an ihren Stangen heruntergleiten. »Stell dich ein bißchen auf die Fußballen.« Fram tippt Maddys Ferse mit der Tülle der Ölkanne an, und sie hebt sich aus dem glatten Sattel. »Ich kipp gleich um«, sagt sie und greift nach seiner Schulter, um sich festzuhalten. »Das ist kein Stuhl«, sagt Fram. Er kneift die Augen gegen das scharf über das Wasser einfallende Licht zusammen. »Du reitest durch zerklüftetes Gelände. Dein Pferd…« »Amelia«, sagt Maddy. »Dein Pferd Amelia«, fährt Fram fort, »ist unsicher auf dem losen Geröll. Vorsichtig bahnt es sich den Weg, damit es sich nicht verletzt.« »Wenn es sich ein Bein bricht, muß ich es erschießen«, ruft Maddy fröhlich. »Laß nur«, sagt Fram. »Dein Pferd darf sich nicht das Bein brechen, es ist alles, was du hast. Wie willst du sonst auf die Jagd gehen und deine Kleinen versorgen?« Hart reißt Maddy an Amelias Zügel. »Ich will keine Kinder«, sagt sie. »Du erzählst das ganz falsch. Ich bin auf einem Ritt über meinen Besitz. Nur um mir anzuschauen, was ich alles habe. Ich hab jede Menge zu essen. Ich hab«, sagt sie mit Nachdruck, »Orangen.« Fram seufzt. Die Hand seiner Tochter brennt auf seiner Schulter. Draußen gleiten bereits Boote über den glitzernden See. »Wessen Geschichte ist das?« fragt er. Maddy grinst ihn vom Rücken ihres Holzpferdes an. »Meine«, sagt sie, ohne zu zögern.
WILLA NIMMT DIE LINKE HAND ans Kinn zurück und läßt sie gegen Simons Boxhandschuh knallen. Zieht sie wieder zurück, läßt sie vorschnellen, den Körper seitlich gedreht, so daß ihr Arm eine gerade Linie mit der Schulter bildet. »Beweg die Füße«, sagt Simon. »Schau, so.« Er duckt sich etwas und bewegt sich blitzschnell über den Zementboden des Hangars, wobei seine linke Faust immer wieder wie der Kopf einer angreifenden Schlange vorschießt. »Hacke, dann Zeh, dann Arm. Dein Schlag sollte nur wenig langsamer sein als deine Füße.« Willa wischt sich mit dem Arm über die Stirn, schiebt sich vorwärts, versucht Simon nachzuahmen, versagt. »Tut mir leid«, sagt sie. Es ist heiß im Hangar. Die Luft so stickig wie das Innere eines Daunenkissens. »Laß uns eine Pause machen«, sagt Simon. Willa zieht ihre Boxhandschuhe aus und trinkt in großen Schlucken Wasser aus einer Thermosflasche. Die schwarze Farbe der Handschuhe hat auf ihre Hände abgefärbt. »Vielleicht können wir mit deinem Unterricht beginnen«, sagt sie. »Wenn ich von dem Dauerflug zurück bin. Im September.« Simon wippt auf den Hacken, streckt die Arme seitlich aus. »Der fliegende Boxer«, sagt er. »Könnte nicht schaden. Vielleicht bringt mir das Glück und hilft mir, ein paar Kämpfe zu gewinnen.« »Du gewinnst doch fast immer«, sagt Willa und zitiert eine kürzlich gelesene Zeitungsschlagzeile. ›»Simon Kahane, die schnellsten Fäuste der Stadt‹.« »Erstaunlich, daß da nicht jüdische Fäuste stand.« Simon streift seine Handschuhe ab. »Weißt du, wie sie meinen Kampf gegen O’Brien angekündigt haben?«
Willa reicht ihm die Thermosflasche, und er schüttet sich das restliche Wasser über den Kopf. »Der Itzig gegen den Iren«, sagt Simon. »Letzte Woche war’s der böse Jude gegen den Italiener. Na gut«, sagt er, »ich werde ihrem dämlichen Rassenkrieg Zunder geben. Ich laß mir von meiner Schwester Del einen Davidstern auf meine Shorts nähen. Genau wie Max Baer.« Im Juni hatte der jüdische Boxer Max Baer den deutschen Boxer Max Schmeling besiegt. Baer hatte durch technischen K.o. in der zehnten Runde gewonnen. Er hatte mit einem Davidstern an der Hose geboxt. »So was passiert mir auch«, sagt Willa. »›Das schwache Geschlecht im ersten Puderquasten-Luftkampf.‹« »›Zwei Mädchen kreisen über den Inseln von Toronto‹«, zitiert Simon. »›Können sie fünfundzwanzig Tage durchhalten?‹« Willa übt ihren Jab mit bloßen Fäusten an dem schweren Sandsack. »Die große Frage«, sagt sie und bewegt sich vor und zurück, Hacken-Zehen und zurück, Hacken-Zehen und zurück, »ist, ob wir dort oben Lippenstift tragen werden oder nicht.« Simon grinst. »Und, werdet ihr?« »Nein.« Willa folgt ihrer Linken mit der Rechten und schlägt dann einen befriedigenden linken Haken. »Ganz gewiß nicht.« Simon beobachtet, wie sie den schweren Sack bearbeitet. Sie hat Kraft und Ausdauer, diese Willa Briggs. Muß nur an ihrer Schnelligkeit arbeiten. »Da oben wird das Schlimmste der beengte Platz sein«, sagt er. »Du könntest zur Lockerung ein paar Boxübungen machen. Besonders seitwärts, um den Oberkörper von der Taille aus zu drehen.« Er macht es ihr vor, verteilt seitliche Hiebe, wobei er den Oberkörper nach rechts und links dreht. Willa hat viel über die fehlende Bewegungsfreiheit nachgedacht, die im Flugzeug auf sie zukommt. Sie hat sich
überlegt, welche Art von Übungen in dem kleinen Cockpit der Moth wohl möglich sind. Einige Boxtechniken werden ihren Schultern und Armen guttun, aber am meisten Sorgen macht sie sich um ihre Beine. Wenn sie die Maschine fliegt, werden die Beine wegen der Pedale der Seitenruder ein wenig zu tun bekommen, aber ansonsten werden sie nur unbeweglich im Rumpf stecken und von Tag zu Tag schwächer werden. Es hat noch zu wenige Dauerflüge gegeben, als daß man jemand fragen könnte, wie die Bedingungen sind, wenn man so lange in der Luft ist. Da ist nur Jack Robson, Grace O’Gormans Ehemann und derjenige, dessen Rekord sie brechen wollen. An diesem Morgen hatte sich Willa ins hintere Cockpit des defekten Curtiss-Doppeldeckers gesetzt, alle möglichen Verrenkungen mit ihrem Körper gemacht und sich vorzustellen versucht, welches Maß an Unbequemlichkeit sie im nächsten Monat wird ertragen müssen. »Können sie fünfundzwanzig Tage lang durchhalten?« Willa ist sich nicht so sicher. Sie zweifelt nicht an ihrer beider Flugfähigkeit (zumindest nicht an der von Grace) oder an der Mechanik des Flugzeugs. Ihre Sorge gilt dem Teil ihrer selbst, der während des Fluges so gut wie überflüssig wird – den erdverhafteten Beinen mit ihrer Erinnerung an das Gehen, ihrer blinden Hingabe an die Schwerkraft.
WILLA BLEIBT EINEN MOMENT vor Grace’ Haus stehen. Ihr Atem geht rasch, und sie möchte ihre Nervosität in den Griff bekommen, bevor sie an die Haustür klopft. Es ist früher Abend. Eine warme Brise bewegt die Blätter des Baumes gleich hinter dem hölzernen Gartentor. Eine Linde. Willa nimmt den Abendgeruch von Blumen wahr. Rosen. Bis auf drei Jungs, die weiter unten auf der Straße lärmend mit einem Stock und einer Blechdose spielen, ist die Straße leer. Das Rappeln und Scheppern, wenn der Stock die Dose trifft. Gelächter und rennende Füße. Das Haus von Grace ist so gewöhnlich. Backsteine und Fenster. Auf der linken Seite ein identisches angebaut. Ein Arbeiterhaus, flüstert die kritische Stimme von Willas Mutter in ihrem Kopf. Kommt aus einem Arbeiterhaus. Sicher jack arbeitet stundenweise auf dem Flughafen als Fluglehrer und bekommt, genau wie Willa, nur einen Hungerlohn, aber Air Ace Grace müßte reich sein. All die Rennen, die sie gewonnen, die Rekorde, die sie aufgestellt hat. Willa bemüht sich, nicht enttäuscht zu sein von dem Haus, aber sie hatte mit einem schickeren gerechnet. Marmor und indische Teppiche. Ein Konzertflügel mit einem glänzenden schwarzen Deckel, in dem man sich spiegeln kann. Grace öffnet erst nach dem dritten Klopfen die Tür, als käme sie von weit außerhalb der Begrenzungen des kleinen Hauses. Sie sieht müde aus, hält die Tür auf und winkt Willa ohne ein Wort herein. Nirgends brennt ein Licht, und Willa stolpert hinter Grace her ins Wohnzimmer, voller Angst, daß sie etwas umstoßen oder gegen eine Wand laufen könnte. Selbst in der Dunkelheit des Raumes kann Willa die silbrig schimmernden Trophäen auf dem Kaminsims sehen Pokale und Statuen von Frauen mit erhobenen Armen. Silberkränze aus nie verwelkenden Blumen.
»Sind das alles Ihre?« Die etwas dümmlich klingende Frage rutscht ihr heraus, bevor sie es verhindern kann. Grace schaut hinüber zum Kamin. »Ach, die«, sagt sie unbestimmt. »Ein bißchen Blech, das ich hier und da aufgesammelt habe. Eistee?« Sie wartet die Antwort nicht ab, sondern verläßt den Raum. Willa, die nicht weiß, ob sie im dunklen Wohnzimmer bleiben oder ihr in die Küche folgen soll, zögert einen Augenblick lang und trottet dann durch den schmalen Flur hinter Grace her. »Was machen Sie denn hier?« fragt Grace und dreht sich erstaunt zur Küchentür. »Na gut, daran muß ich mich wohl gewöhnen. Das wird immerhin fünfundzwanzig Tage lang so sein. Kommen Sie.« Sie nehmen den Krug mit Eistee und die Gläser, treten durch den Kücheneingang in den Garten und setzen sich auf die kleine gepflasterte Terrasse nahe am Haus. Grace zündet mehrere Kerzen auf dem Tisch an, der zwischen ihnen steht. Hinter der orangefarbenen Lichtpfütze kann Willa die Umrisse von Büschen, die geneigten Köpfe der Blumen sehen. Sie schweigen beide. »Gut«, sagt Grace dann. »Genug der Freundlichkeiten. Ich wollte Sie über die Fallschirme aufklären.« »Was für Fallschirme?« fragt Willa. Sie nimmt ihr Glas Eistee mit einer zu hastigen Bewegung vom Tisch und verschüttet etwas auf ihre gute Hose. »Keine Fallschirme«, sagt Grace fest. »Ich will das Gewicht so gering wie möglich halten. Wir haben allein schon wegen des übergroßen Treibstofftanks Probleme.« »Probleme?« »Na ja, nicht direkt Probleme. Nur nahe dran. Der Abgrund ist sichtbar.« Willa meint, Grace lächeln zu sehen, aber sie kann es im Kerzenlicht nicht genau erkennen. Keine Fallschirme. Was ist,
wenn da oben irgendwas passiert und sie das Flugzeug verlassen müssen? Willas Hände beginnen zu zittern. Vorsichtig stellt sie das Glas ab, befürchtet, daß es ihr sonst aus der Hand rutschen könnte. Grace beugt sich über die Kerzen nach vorne. Ihre bleiche Haut glänzt im Licht. »Wenn ich einen Rekord aufstellen will, tue ich alles, was dafür nötig ist. Bisher gab’s noch keine Fehlschläge.« Für Willa, deren wenige Versuche bei Wettflügen bisher fehlgeschlagen sind, liegt Grace’ Selbstvertrauen so weit außerhalb ihres eigenen Erfahrungsbereichs, daß ihr nichts anderes übrig bleibt, als ihr zu glauben. »Okay«, sagt sie und meint damit die Fallschirme. Grace macht eine flatternde Bewegung mit der Hand. Die Kerzen flackern. »Wie ein Engel«, sagt sie. »Ich kann fliegen wie ein Engel.« Willa fällt die Schlagzeile ein, die sie mal gelesen hat: »Grace O’Gorman fliegt wie ein Engel.« »Okay«, wiederholt sie. »Fay Weston dachte letztes Jahr beim Überlandflug, sie hätte mich geschlagen.« Grace läßt ihren Arm sinken und schaut Willa durchdringend an. »Aber ich hab sie auf den letzten hundert Kilometern ausgetrickst und dann das Rennen gewonnen. Bin über den Wolken geflogen, damit sie nichts von mir mitbekam, bis es zu spät war.« »Sie gewinnen doch immer«, sagt Willa. »Das klingt so einfach«, erwidert Grace. Sorgfältig mustert sie Willa. »Wie alt sind Sie?« »Dreiundzwanzig.« »Als ich in Ihrem Alter war, mußte ich darum betteln, mit hinaufgenommen zu werden. Niemand war dazu bereit, außer Jack Robson. Ein weiblicher Pilot! Unmöglich. Und schauen
Sie jetzt, zehn Jahre später, wie luftverrückt alle Welt ist. Wie leicht es für Sie gewesen ist, Pilotin zu werden.« »Es ist nicht leicht für mich gewesen«, sagt Willa. »Na gut«, schränkt Grace ein. »Nicht leicht, aber möglich.« Willa trinkt einen Schluck Eistee. Das Eis ist geschmolzen, und der Tee schmeckt wäßrig. »Früher habe ich Ihre Bilder aus Zeitschriften ausgeschnitten«, sagt sie. »Als ich jünger war. Ich habe ein Album angelegt.« »Und, haben Sie es noch?« Willa mag nicht zugeben, daß sie es noch hat und, schlimmer, genau weiß, wo es ist – im Regal unter dem Fenster in ihrer Hütte. »Kann sein, daß ich es irgendwo verstaut habe«, sagt sie beiläufig. Grace lächelt. »Ich fühle mich geschmeichelt. Nach diesem Flug werden Sie noch viele Bilder mehr in Ihr kleines Album einkleben können.« Sie hält inne. »Waren es gute Fotos von mir? Die Sie da ausgeschnitten haben?« Wieder spürt Willa ihre Nervosität, wünscht, sie hätte das Album nie erwähnt. Sie scheint Grace zu amüsieren und ist sich nicht sicher, wieso. »Kann mich nicht erinnern«, sagt sie. »Auf vielen war vor allem das Flugzeug zu sehen.« »Die gute alte Moth«, sagt Grace mit ehrlicher Zuneigung. »Das wird ein weiterer Rekord für dieses Flugzeug sein. Es macht Ihnen doch nichts aus, oder?« »Was soll mir nichts ausmachen?« »Die Moth zu nehmen. Sie ist das Flugzeug, das ich stets benutze. Sie gehört mir.« »Es macht mir nichts aus«, sagt Willa. Und das tut es auch nicht. »Ich mag offene Cockpits. Man hat kein richtiges Fluggefühl, wenn man in einer geschlossenen Kabine sitzt.« »Gut.« Grace klingt erfreut. »Tut mir leid wegen der Fall schirme. Ich hoffe, das macht Sie nicht nervös. Aber sie sind
einfach so sperrig. Und es ist viel besser, einen großen Treibstofftank zu haben. Nicht so oft auftanken zu müssen.« »Jack«, sagt Willa. »Was?« »Jack fliegt das Tankflugzeug, oder? Und es ist Jacks Rekord, den wir zu brechen versuchen.« »Es ist Jacks Rekord. Noch.« Grace’ Stimme klingt jetzt sehr hart. Willa erinnert sich, von jemandem gehört zu haben, daß es niemandem erlaubt ist, Grace O’Gorman auszustechen. Daß sie die Leute gern auf ihre Plätze verweist. Und der Platz der anderen ist immer ein ganzes Stück hinter dem ihren. Meiner auch, denkt Willa, das betrifft auch mich. Aus dem Haus kommt ein schlurfendes Geräusch, und beim Umdrehen sieht Willa Jack von hinten erleuchtet in der Küchentür stehen. »Da seid ihr«, sagt er. »Hallo, Robson.« Grace schaut zu ihrem am Türrahmen lehnenden Mann. »Sie erklärt Ihnen wohl, was Sie tun müssen«, sagt Jack zu Willa. »Was sie mitbringen muß«, sagt Grace fest. »Aha.« Jack bleibt noch einen Moment stehen. Niemand sagt etwas. Ein leiser Wind streicht über Willas Gesicht. Sie kann die Blumen in der Dunkelheit riechen. Nachtrosen. Das auch nicht mehr, denkt sie. Da oben im Flugzeug wird sie keinen Geruch der Erde wahrnehmen. Nichts von dem tiefen, lehmigen Geruch des Sommers. Willa kann sich vorstellen, daß alles fort ist, was sie mit der Welt verbindet. Kann diese Szene hier ohne sich und die anderen sehen. Leere Stühle. Den dunklen Garten. Und weiter oben den Dachfirst, das dicke Band der Straße mit den Häuserklötzen zu beiden Seiten. Und schließlich einen Ort,
wo nur noch das kalte Licht des Himmels herrscht, die schwarze Scheibe der Nacht. »Haben Sie irgendwelche Fragen an mich?« Erschreckt schaut Willa auf Grace sieht sie über die Kerzen hinweg an. Jack ist verschwunden. »Fragen Sie mich, was Sie wollen.« Willa kommt es so vor, als sei dies etwas, worauf sie ihr ganzes Leben gewartet hat. Fragen Sie mich, was Sie wollen. Was ist es, was sie wissen muß? Irgendwo schreit eine Katze. Oder ein Baby. Willa spürt, wie sie wieder über den Garten hinaufschwebt, über das helle, glitzernde Kerzenlicht, über Grace’ Kopf. Wir sind bereits woanders, denkt sie. Was uns hier festhält, hat uns losgelassen. Sie muß nur von Grace wissen, wie man zurückkommt. Nachdem Willa gegangen ist, bringt Jack zwei Bier mit nach draußen und reicht eines davon Grace. Er setzt sich ihr gegenüber. »Und?« fragt er. Grace seufzt. »Ach, Robson. Sie ist so jung, daß sie ein Album über meine Flüge angelegt hat.« Jack stößt ein schnaubendes Lachen aus. »Grace, Grace. Willa Briggs ist jung.« Er meint unerfahren, und Grace weiß das. »Aber sie wird’s schon hinkriegen«, sagt sie beiläufig. »Und was ist, wenn sie es vermasselt? Wenn sie die körperliche Anspannung nicht erträgt, es nicht aushalten kann, so lange in der Luft zu bleiben? Was ist, wenn sie runter will?« »Das wird nicht passieren.« Grace stellt ihre Bierflasche auf den Tisch. »Ich kann sie dazu bringen, oben zu bleiben.« »Wie denn?« »Mir wird schon was einfallen.«
»Tja, viel Glück, Mädchen.« Jack lehnt sich auf dem Stuhl zurück, atmet den schweren Moschusgeruch des Gartens ein. »Ich sehe da nur eine junge Pilotin, die es dir recht machen will. Für wie viele Tage wird das ausreichen?«
»SETZ DICH NICHT DA DRAUF. Falls du Schmieröl an deiner Montur hast, will ich nicht, daß du es über das ganze Sofa verteilst.« Willa, die sich gerade in die Kissen sinken lassen wollte, kommt unbeholfen wieder hoch. »Mutter. Das sind meine guten Sachen.« Mrs. Briggs klatscht ein Zierdeckchen auf den Mahagonibeistelltisch neben ihrer Tochter. »Nur hier drauf. Du stellst deine Tasse nur hier drauf.« Der Tee ist noch nicht mal eingegossen. Die Kanne schwitzt unter einem Teewärmer auf dem Tablett. Zwei Porzellantassen mit Untertassen. Weidenmuster. Mrs. Briggs zupft Willa am Ärmel. »Laß mich dir ein Handtuch holen.« »Ein Handtuch?« »Zum Unterlegen auf das Sofa.« Ihre Mutter hastet aus dem Zimmer, als würde es brennen. Willa beißt die Zähne zusammen und widersteht dem Drang, die Teekanne mit einem gezielten Tritt quer durch das makellose Wohnzimmer zu befördern. Zierdeckchen, denkt sie bitter. Zierdeckchen unter der Jadeuhr auf dem Kaminsims, unter den Porzellanfigürchen. Zierdeckchen unter den Kristallaschenbechern und den leeren Bonbonschalen. Zierdeckchen nur so, zum Anschauen. Sogar Zierdeckchen unter anderen Zierdeckchen. Das kleine, vollgestopfte Haus ist ein Zierdeckchen-Museum. Alle von ihrer Mutter gemacht. Tage und Nächte sorgsamer, winziger Stiche, während sie im Ohrensessel unter der hellen Lampe saß. Mrs. Briggs kommt wieder ins Zimmer getrippelt, in der Hand das »Hundehandtuch«, wie Willa erkennt, das einst dazu benutzt wurde, die zarten, dreckverschmierten Pfoten von Mr.
Tippet abzuwischen, dem schon vor langer Zeit verstorbenen Pudel ihrer Mutter. »So ist es viel besser«, sagt Mrs. Briggs und glättet das Handtuch über den Sofakissen. »Jetzt kannst du dich gemütlich zurücklehnen, und ich gieße uns eine schöne Tasse Tee ein. Ich bin sicher, daß du seit deinem letzten Besuch keine ordentliche Tasse Tee mehr getrunken hast. Wann war das noch? Das letzte Mal, daß du hier warst, um deine Mutter zu besuchen? Kann es etwa schon einen ganzen Monat her sein, obwohl du versprochen hast, jede Woche vorbeizukommen? Mein Gott, wie schnell die Zeit vergeht, nicht wahr?« »Um Himmels willen«, sagt Willa grob. »Ich bin durchaus in der Lage, mir selbst so eine dämliche Tasse Tee zu machen.« Ein kurzes Schweigen entsteht. Willa spürt das rauhe Handtuch durch ihre dünne Hose. »Tja«, sagt Mrs. Briggs schließlich. »Damit war ja zu rechnen, wo du jetzt auf diesem Flughafen wohnst. Daß dir solche Unflätigkeiten über die Lippen kommen.« »Die Lippen der Äbtissin«, murmelt Willa. »Was hast du gesagt?« »Nichts.« Willa bewegt sich unbehaglich auf dem Handtuch. Es nützt nichts, etwas zu ihrer Verteidigung zu sagen. Sie weiß, daß es keinen Sinn hat. »Hör zu, Mutter«, sagt sie. »Ich wollte dir sagen, daß ich für eine kleine Weile nicht vorbeikommen kann. Genauer gesagt, den ganzen nächsten Monat. Verstehst du, ich…« Sie hält inne, fängt noch mal an. »Erinnerst du dich an die Pilotin, die letztes Jahr den Höhenrekord aufgestellt hat? Grace O’Gorman?« Mrs. Briggs nimmt den bestickten Teewärmer von der Steingutkanne. »Die verrückte Frau mit dem Eis im Gesicht, als man sie wieder runterbrachte?« Das stimmt nicht ganz. Grace, die einen gefütterten, ledernen »Teddybäranzug« trug, war mit ihrer Maschine direkt bis auf
zehntausend Meter gestiegen, eine Höhe, in der die Kälte sie derart lähmte, daß sie kaum die Steuerung des Flugzeuges bedienen konnte, eine Höhe, in der sie durch Sauerstoffverlust verwirrt und geschwächt wurde und die Luft zu dünn war für den Motor der Moth. Als sie in die dicke, suppige Luft am Boden zurückkam und man ihren steifen Körper in dem gefütterten Anzug aus dem Flugzeug zog, hatte sie Erfrierungen an Nase und Wangen. »Kein Eis, Mutter. Erfrierungen.« »Paß jetzt auf!« Mrs. Briggs reicht Willa eine Tasse Tee. »Du weißt, wie ungeschickt du mit solchen Sachen bist.« Willa übergeht die Bemerkung, nimmt die Tasse entgegen und stellt sie vorsichtig auf das Zierdeckchen. »Grace O’Gorman will dieses Jahr einen Dauerflugrekord aufstellen. Ein fünfundzwanzig Tage dauernder Flug immer rund um den Hafen. Auftanken in der Luft. Sie hat mich gebeten, mit ihr zu fliegen, und ich habe zugesagt.« »Was habe ich nur getan, daß du mich so haßt, mir so etwas anzutun?« Mit der Serviette tupft sich Mrs. Briggs Tränen ab, die noch gar nicht fließen. »Ich habe nichts weiter getan, als dich anständig zu erziehen. Welch undankbare Aufgabe. Eine arme Witwe, der alles genommen wurde.« »Du bist keine Witwe«, sagt Willa. »Ich könnte ebensogut eine sein«, schnappt ihre Mutter. Sie wartet nicht mehr auf Tränen, legt ihre Serviette ordentlich gefaltet wieder in den Schoß zurück. »Grace O’Gorman ist berühmt«, sagt Willa. »Wenn der Flug erfolgreich ist, wenn wir den Rekord aufstellen, hebt das meinen Ruf als Pilotin. Bringt mich beruflich weiter.« »Du hast keinen Beruf«, sagt ihre Mutter. »Nur eine zwanghafte Besessenheit. Eine Krankheit.«
Willa greift nach ihrer Tasse, schlürft absichtlich laut, sieht die Mißbilligung im Gesicht ihrer Mutter. »Die Sache ist abgemacht«, sagt sie. »Ich fliege mit.« »Wenn sie so berühmt ist, diese Grace O’Gorman, warum hat sie dann dich gebeten, mit ihr zu fliegen?« »Ich bin als Ersatz eingesprungen.« »Natürlich, als Ersatz.« Willa knallt Tasse und Untertasse auf den mit Zierdeckchen vollgelegten Tisch. Laß das, denkt sie. Erzähl’s ihr nur und geh. Spiel dieses Spiel nicht mit. »Ihre eigentliche Partnerin hat sich das Handgelenk gebrochen. Es gibt nicht so viele Frauen, die einen Pilotenschein haben. Ich stand zur Verfügung.« Mrs. Briggs schweigt einen Moment lang. Willa hört das gleichmäßige Ticken der Uhr auf dem Kaminsims hinter ihr. »Fünfundzwanzig Tage?« sagt ihre Mutter. »Fünfundzwanzig Tage.« »Tja, dann solltest du besser mal raufgehen und nach meinem Schlafzimmerfenster sehen. Es klemmt schon wieder. Ich könnte glatt ersticken, bis du geruhst, dich hier wieder blicken zu lassen.« Willa steht im oberen Flur. Hier stammt sie her – von dieser Frau, aus diesem Haus. Das ist der Flur, in dem sie nicht Ball spielen, den kleinen Gummiball noch nicht mal über die gebohnerten Dielenbretter rollen lassen durfte. Da drüben ist ihr Zimmer, in dem sie nachts wachlag und auf das Schnarchen ihrer Mutter im Nebenzimmer lauschte. Ihr Zimmer, das immer kalt war, wenn auch nicht so kalt wie das Badezimmer, in dem stets das Fenster offen bleiben mußte, Sommer und Winter, wegen der Bakterien. Bakterien und Krankheitserreger. Willa weiß mehr über sie, kennt sie besser als die Namen der Blumen oder der Länder dieser Erde. Ihre Mutter hat ihr beigebracht, stets die Zimmerdecke mit einem
feuchten Mop abzuwischen, bei der Hausarbeit Handschuhe zu tragen, den Leuten fest die Hand zu schütteln. Vorzugeben, nie jemanden geliebt zu haben, so zu tun, als seien die anderen tot oder könnten jeden Tag sterben. Nie zu sagen, was man meint. Nicht zu wissen, was man fühlt. Nicht zu fühlen. Willa streckt die Hand aus und berührt die Wand. »Leb wohl«, sagt sie. Ihre Stimme klingt dumpf in der stillen Luft.
DEL SCHIEBT DEN SCHWEREN VORHANG an der Tür der Wahrsagerbude beiseite und betritt das dunkle Innere. Eine Kerze brennt auf dem kleinen, bedeckten Tisch, läßt die Kristallkugel aufblitzen. Eine Frau mit einem Tuch um den Kopf mischt Karten. Sie schaut hoch, als das Tageslicht kurz am Eingang vorbeisickert. »Hallo, Del.« Simon setzt sich auf den Stuhl ihr gegenüber. »Wie läuft das Geschäft?« Er greift in die Jackentasche. »Ich hab uns auf dem Weg hierher zwei Sandwiches gekauft. Mit Käse.« Del streckt die Hand über das dunkelblaue Tischtuch mit den aufgenähten Silbermonden und nimmt das in Papier gewickelte Päckchen entgegen. »Danke«, sagt sie. »Wenn ich esse, hab ich zumindest was zu tun.« Simon wühlt in der anderen Tasche, zieht eine Gazebinde heraus, läßt sie vor seiner Schwester auf den Tisch fallen. »Die Binde von O’Briens Hand«, sagt er. »Hab sie mir geschnappt, als er gestern nach dem Training geduscht hat.« Del stupst sie mit dem Finger an. »Ich will keine verschwitzte, stinkige Bandage in der Hand halten«, sagt sie. »Mehr war nicht möglich, Del«, sagt Simon. »Ich kann ihm ja nicht seinen Ring oder seinen Mantel klauen.« Eine Weile kauen sie schweigend. Simon rutscht auf dem Stuhl herum. Dünne Lichtstreifen stehlen sich durch die Wandbretter hinter seiner Schwester herein. »Komm schon, Del«, bittet er. »Der Kampf ist diese Woche.« Del seufzt und greift, das Sandwich noch in der rechten Hand, mit der linken nach dem Gazehäufchen. Sie drückt es zusammen, schließt die Augen. Das Tuten der Fähre dringt über die Bucht, und nahe der Bude kreischt eine Möwe. »Der Mann ist nicht glücklich«, sagt Del. »Er ist voller Reue und
bedauert vieles, was er getan hat. Eine Menge Dinge, die passiert sind, als er jung war.« »Der Kampf«, wirft Simon ungeduldig ein. »Was ist mit dem Kampf?« Del senkt den Kopf über die zusammengeknüllte Bandage. »Er ist nicht soweit. Er besitzt nicht das Selbstvertrauen, dich zu schlagen. Da ist etwas…« Plötzlich schaut sie zu Simon auf. »Weich. Er ist weich. Du mußt seinen Körper treffen. Den Bauch und die Rippen. Geh immer wieder auf ihn los. Du wirst ihn schnell müde machen. Er kann die Schläge nicht aushalten.« Simon schlägt so fest auf die Tischplatte, daß die Kristallkugel aus ihrer Halterung springt und in seinen Schoß rollt. Er hält sie fest, erhebt sich und geht zur Tür. Wirft sie Del zu, die sie auffängt. »Danke«, sagt er, die Hand an dem rauhen Material des Vorhangs. »Mittwoch«, sagt Del. »Machst du das Abendessen für Maddy, bringst sie nach Hause?« Ihr Bruder winkt bejahend mit der Hand und schlägt den Vorhang zurück, als sei er ein Cape, das man über die Schulter schwingt. Nachdem er verschwunden ist, schaut Del auf den nun wieder ruhig hängenden Vorhang am Eingang, senkt dann den Blick auf den Tisch und wischt langsam die Krümel auf den festgestampften Lehmboden der Wahrsagerbude.
Simon entdeckt Maddy drüben an der Fährenanlegestelle. Sie steht am Rande der hölzernen Uferpromenade, lehnt sich gegen das Geländer und schaut zwei Männern beim Angeln zu. Sie konzentriert sich so auf die Angelschnüre, daß sie Simon nicht bemerkt. Er muß sie anstupsen, damit sie ihn beachtet.
»Hör zu«, sagt er. »Ich hol dich Mittwochabend ab. Sei um sieben bei der Bude deiner Mutter.« Maddy wirft ihm einen finsteren Blick zu. »Ich kann allein nach Hause gehen«, sagt sie. »Das mach ich jeden Tag.« »Donnerstag ist mein Kampf«, sagt Simon. »Ich übernachte Mittwoch bei euch.« Er nimmt seine Boxstellung ein und boxt sie spielerisch in die Schulter. »Mein großer Kampf.« Maddy ruckt zurück, und Simon richtet sich auf. »Deine Mutter will, daß ich dich abhole. Dir dein Abendessen mache.« Beinahe hätte er hinzugefügt, ich kann doch nichts dafür, hält sich aber gerade noch zurück. Maddy war früher so ein nettes Kind. Er war gern mit ihr zusammen. Sie hörte ihm zu, stellte ihm Fragen, boxte mit ihm. Jetzt ist er nicht mehr ihr Held. Er ist durch all diese Königinnen der Luft ersetzt worden. »He«, sagt er, als ihm plötzlich etwas einfällt. »Dieser Dauerflug von Grace O’Gorman findet ohne Sally Tate statt. Sie hat sich was gebrochen.« »Was?« Maddy wirbelt zu ihm herum. »Woher weißt du das?« »Weil ich«, sagt Simon, lehnt sich über das Geländer und schaut hinunter auf das braune Wasser, das gegen das Holz schwappt, »mit einer jungen Pilotin vom Flughafen Boxunterricht gegen Flugstunden tausche. Willa Briggs. Sie wird die neue Sally Tate sein.« »Nimm mich mit zum Unterricht«, bittet Maddy. »Laß sie mich sehen. Ich hab kein Foto von ihr. Ich muß sie mir ansehen.« Sie greift nach seinem Ärmel, aber er schüttelt sie ab. »Du hast deine Chance verpaßt«, sagt er. »Heute war für eine Weile der letzte Unterricht. Morgen fliegen sie los.« Er setzt sich in Bewegung, dreht sich nach ein paar Schritten um.
»Mittwoch«, sagt er streng, »bist du um sieben vor der Bude deiner Mutter. Ich hol dich dann, und ich will nicht warten müssen. Ich muß mich auf einen wichtigen Kampf vorbereiten, weißt du.«
GRACE UND JACK SIND auf dem Flughafen, in dem kleinen Büro an der Rückseite des Hangars. Grace hockt auf der Ecke des großen, hölzernen Schreibtisches, hinter dem Jack sitzt. Sie hat ihren Overall an, stützt ein Klemmbrett mit dem Knie ab. Das eine Bein hat sie über das andere geschlagen und wippt mit dem Fuß. »Das Mädchen wird heute abend bei dem Essen nicht dabeisein«, sagt sie. »Die vom Almanac, die die Versorgung organisiert. Sie kann nicht vor Dienstag kommen. Sie braucht eine der Hütten, von der aus sie die Organisation durchführen kann. Das ist schon geklärt.« Sie nimmt das oberste Blatt vom Klemmbrett und reicht es ihrem Mann. »Gib ihr diese Liste. Da steht alles drauf, was ich gerne esse. Was ich haben will, wenn ich da oben bin.« Jack nimmt die Liste und überfliegt sie. »Was ist mit Willa Briggs? Hast du sie gefragt, was sie essen will?« »Ach, Willa Briggs wird mit allem zufrieden sein«, erwidert Grace. »Sag dem Almanac-Büdel, daß ich keinen Schinken esse. Niemals. In keiner Form. Du weißt, daß ich Schinken verabscheue.« Jack seufzt und legt die Liste auf den Schreibtisch. Er lehnt sich zurück. »Die zahlen für das Ganze, richtig?« »Für Essen und Treibstoff«, antwortet Grace. »Alles andere muß ich aus eigener Tasche bezahlen. Den Treibstoff für das Flugzeug, das du benutzen wirst. Den Lohn für den Mann, der dir beim Abwurf der Essenspakete hilft. Das hast du doch alles in die Wege geleitet, oder? Ich muß diesen Rekord aufstellen, damit ich das alles bezahlen kann. Keinem ist klar, wie teuer die Sache ist. Wie pleite ich bin. Aber wenn ich gut fliege und alles klappt, sollte ich danach eine Menge Sponsorengelder bekommen.«
»Du hättest noch einen Langstreckenflug machen können«, sagt Jack. »Ich wollte zu Hause bleiben.« »Einen Geschwindigkeitsrekord.« »Den hab ich doch gerade aufgestellt.« Jack schüttelt den Kopf. »Grace, der hier gehört mir.« »Tja, dann brich ihn eben wieder«, sagt sie ungeduldig. Dann sieht sie seinen Gesichtsausdruck. »Robson, ich kann es schaffen, darum tue ich es. Das hat nichts mit dir zu tun.« Aber natürlich hat es das, denkt Jack. Nur wird sie das nie zugeben. Sie muß besser sein als alle anderen, selbst als ihr eigener Mann, der ihr das alles beigebracht hat. Doch wenn ich wirklich ehrlich bin, denkt Jack, ist sie besser als wir alle, als alle anderen. Und das ist einer der Gründe, wenn er das auch nicht oft zugibt, warum er sie liebt. Sie ist das, was er nicht sein kann, was er gern sein würde. »Komm«, sagt er und erhebt sich. »Wir kommen noch zu spät zu dem großen Ereignis. Wir müssen nach Hause und uns umziehen.« »Immer diese Hetze«, sagt Grace. »Sally hat mir Geld gegeben, damit ich mir die Zukunft voraussagen lasse, bevor wir abfliegen. Soll mir Glück bringen. In Hanlan’s Point soll es eine gute Wahrsagerin geben. Aber es ist immer alles so hektisch vor einem Flug.« Sie greift nach Jacks ausgestreckter Hand, und er zieht sie hoch. Gemeinsam gehen sie durch den Hangar, in dem ihre Schritte widerhallen. »Ein bißchen wie in einer Kirche, findest du nicht?« meint Jack. »Das Echo. Wie der Klang gar nicht aufhören will, an den Wänden abprallt und erneut beginnt.« »Ich will dich nicht verletzen«, sagt Grace. »Das weiß ich.« Jack drückt ihre Hand. »In meinen besseren Momenten weiß ich das.«
Sie hätte jeden haben können, diese Grace O’Gorman, aber sie hat ihren Fluglehrer gewählt. Sie hat ihn gewählt. Er weiß, daß manche Leute meinen, sie hätte ihn nur geheiratet, weil sie ständigen Zugang zu seinem Wissen und seiner Erfahrung, zu den Flugzeugen und den Einrichtungen des Flughafens haben wollte. Aber den hätte er ihr sowieso gewährt. An seinen besseren Tagen weiß Jack, daß Grace ihn braucht, seine Beständigkeit und seinen gesunden Menschenverstand braucht, daß sie mit jemandem Zusammensein möchte, der sie schon kannte, lange bevor sie Air Ace Grace wurde, die Berühmtheit. Und er weiß, daß sie nicht gemein und bösartig ist, daß sie seinen Rekord tatsächlich nur brechen will, weil es der einzige ist, den sie noch nicht hat. Aber er empfindet es trotzdem als Betrug. Und Jack wünscht sich beinahe, er hätte genau so reagiert wie alle anderen, als die junge Stenotypistin nach Flugstunden gefragt hatte, daß auch er gesagt hätte: »Nein, ich kann Ihnen das Fliegen nicht beibringen. Das ist nichts für Frauen.« Sie gehen durch den Hangar nach draußen. Der Mond steht über dem See. Es tut gut, jetzt genau hier zu sein, denkt Jack. Hier unten, auf dem Boden. Die festgezurrten Flugzeuge vor ihnen werfen dunkle, ungleichmäßige Schatten. Hinter ihnen erhebt sich der Hangar wie ein großer Klotz. Jack legt den Arm um seine Frau. Sie hält immer noch das Klemmbrett fest, er kann es in ihrer Hand fühlen. »An was denkst du?« fragt er. »An den Flug.« Sie wendet ihm das Gesicht zu, sieht seine Enttäuschung. Mit leiser Stimme sagt sie: »Oh, Robson. Was wolltest du denn von mir hören?«
DAS ABSCHIEDSESSEN FÜR GRACE wird in einem schicken Hotel in der Innenstadt gegeben, das Jack noch nie betreten hat. Es fällt ihm schwer, das glitzernde Innere des Hotels mit den Männern auf der Straße in Einklang zu bringen, die Pappschilder mit der Aufschrift »Arbeite für Essen« tragen. Aber er geht trotzdem hinein. Grace’ Flug wird vom Adventure Girl Almanac gesponsert, einer beliebten Zeitschrift für junge Frauen, die illustrierte Geschichten über weibliche Heldentaten veröffentlicht. Auf dem Rumpf der Moth wird der Schriftzug Adventure Girl aufgemalt werden, bevor sie abhebt und zur kreisenden, fliegenden Werbung für die Zeitschrift wird. Als Gegenleistung für die Kosten von Verpflegung und Treibstoff und der Angestellten der Zeitschrift, die auf dem Flugplatz für Grace und Willa kochen, den Nachschub und den Abwurf der Verpflegung organisieren wird, hat Grace zugestimmt, daß der Almanac über den Flug berichtet. Sie haben die Exklusivrechte für die Geschichte und werden ihr und den anderen bemerkenswerten Großtaten von Air Ace Grace nach Beendigung des Dauerfluges eine ganze Ausgabe widmen. Das Essen findet in kleinem Kreise statt. Mr. Dalton, Herausgeber des Almanac, ist da, dann Maud Spencer, die Reporterin, und Ned Stockwell, der Illustrator. Des weiteren Mr. Daltons Sekretärin, die nur als Mary vorgestellt wird, und Stadtrat Piper aus dem Rathaus. Jack hat das Gefühl, daß er eigentlich nicht eingeladen war und Grace ihn ungeachtet dessen einfach mitgebracht hat. »Wo ist Willa Briggs?« fragt er Grace, als sie in den Speisesaal geführt werden. »Wo ist Willa Briggs?« sagt Grace zu Mr. Dalton.
»Wer?« Mr. Dalton hält Grace’ Ellbogen mit festem Griff umschlossen, als wäre sie nicht in der Lage, sich durch die Hindernisse aus Tischen und Stühlen einen Weg zu bahnen. Sie könnte hindurchfliegen, denkt Jack. Grace bleibt stehen. Ein Teil der Gesellschaft ist schon dabei, die Plätze einzunehmen. Die restlichen ein oder zwei bleiben hinter Grace ebenfalls stehen. »Willa Briggs«, sagt sie. »Die andere Frau, die fünfundzwanzig Tage mit mir da oben im Flugzeug sein wird. Ihr Leben riskiert.« Mr. Dalton tritt unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und sucht nach seiner Sekretärin, aber die sitzt bereits am Tisch. »Äh«, sagt er. »Das muß ein Versehen sein. Wir, äh, wußten, daß Sie einen Ersatz für Sally besorgen würden, aber wir wußten nicht, wer es ist.« Grace ist davon nicht beeindruckt. »Sie hätten fragen können«, sagt sie. Einen irrwitzigen Moment lang ist Jack versucht, sich anzubieten, Willa Briggs zu suchen und herzubringen. Alles, nur damit er hier rauskommt, weg von diesen Leuten. Aber Willa Briggs würde sich hier unwohl fühlen, denkt er. Genauso unwohl wie er bei all diesen höflichen Lügen. Sein Impuls, Willa zu suchen, weicht der Erleichterung, daß sie nicht hier ist, daß ihr dieses Essen, dieses ganze Theater erspart bleibt. Der Tisch, an dem sie sitzen, ist groß und rund. Grace sitzt zwischen Mr. Dalton und Stadtrat Piper. Jack, auf der anderen Seite des Tisches, sitzt neben Ned, dem Illustrator, und Mary, der Sekretärin. Die Reporterin Maud Spencer hat ihren Platz zwischen Stadtrat Piper und Ned. Getränke werden bestellt und serviert. Man versucht es mit höflichem Geplauder, läßt es und versucht es erneut. Jack bemerkt, daß Ned irgendwas auf eine Papierserviette zeichnet.
»Ein Vogel zu sein«, sagt Stadtrat Piper aufgeregt. »Über die Köpfe erdgebundener Wesen zu gleiten. Die Freiheit zu schmecken.« »Was wir schmecken werden«, sagt Grace, »sind eher Auspuffgase.« Jack sieht, daß Ned Grace skizziert. Ein paar rasche Striche für ihr Gesicht. Die Linie vom Hals zu den Schultern, die Jack so gut kennt. »Aber das Emporschwingen«, blubbert Stadtrat Piper, der sich nicht so ohne weiteres von dem Bild der Flügel trennen will, »hat doch bestimmt etwas damit zu tun, daß diese Kreaturen Federn haben.« Maud Spencer schwenkt ihren Scotch in kleinen, engen Kreisen im Glas. »Vielleicht«, sagt sie, »ist für Vögel das Fliegen nicht anders als für uns das Gehen.« »Tja, wozu dann das Ganze«, murmelt Mary mit solcher Bitterkeit, daß sich alle umwenden und sie anschauen. Sie senkt den Kopf und beschäftigt sich intensiv mit der Speisekarte. Niemand hat eine Antwort darauf. »Ich hoffe«, meint Mr. Dalton, nachdem er seinen ihm angeborenen Charme wiedergefunden hat, »ich hoffe, daß Grace uns allen die Chance geben wird, selbst zu sehen, wie es über den Wolken ist.« Rundflüge. Jack weiß, wie wenig Grace es leiden kann, Leute auf Rundflüge mitzunehmen, besonders in einem Flugzeug mit Doppelsteuerung. Es passiert so leicht, daß jemand, begeistert von dem Gefühl, in der Luft zu sein, verwegen wird und sehen will, was passiert, wenn er den Steuerknüppel bewegt, auf einen Knopf drückt oder einen Schalter umlegt. Grace lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. »Natürlich«, sagt sie, »würde es mir eine Freude sein, Rundflüge zu veranstalten,
sobald der Dauerflug beendet ist. Aber Sie sollten sich der Gefahr bewußt sein.« »Gefahr?« Stadtrat Piper beugt sich vor. Alle beugen sich vor, selbst Ned, der versucht, Grace’ Hände zu zeichnen, während sie in Bewegung sind. Jack fällt eines der Titelbilder von dem Stapel der Adventure Girl Almanacs ein, die man Grace zum Durchschauen geschickt hatte. Ein hübsch gezeichnetes Farbbild eines Berggipfels. Drei Gestalten kurz unterhalb des Gipfels, mit Bergstöcken in der Hand und schweren Rucksäcken auf dem Rücken. Die Schlagzeile in Rot quer über der Bergspitze: LAWINENGEFAHR! Weder er noch Grace hatten daraufhin die dazugehörige Geschichte gelesen. »Flugzeuge stürzen oft ab«, sagt Grace unverblümt. »Jede Pilotin muß im Laufe ihrer Karriere mit mehr als einem Absturz rechnen. Sie kann dabei umkommen oder auch nicht. Ich habe selbst einige unfreiwillige Landungen hinnehmen müssen und mehrere Flugzeuge zu Bruch geflogen.« Und bist immer lebend davongekommen, denkt Jack. »Letztes Jahr«, fährt Grace fort, »hat eine Frau, die ich kenne, eine Pilotin, einen Mann während eines örtlichen Jahrmarkts mit auf einen Rundflug genommen. Auf diese Weise, mit Rundflügen, hat sie ihre Fliegerei finanziert. Eine Moth, wie meine. Sie flog in geringer Höhe über den See zum Jahrmarkt zurück, und der Mann, ein ziemlich dicker Herr, wollte sich das Wasser genauer ansehen. Er lehnte sich in dem Moment seitlich aus dem Cockpit, als sie eine leichte Kurve in die gleiche Richtung flog. Die Tragfläche des Flugzeugs kippte durch das zusätzliche Gewicht weg, und die Flügelspitze geriet ins Wasser. Die Moth rollte auf den Rücken. Die Pilotin verlor das Bewußtsein, und da sie in ihre Sicherheitsgurte geschnallt war und kopfüber im Wasser hing, ertrank sie. Der Passagier war nicht angeschnallt. Man nimmt an, daß er die Anschnallgurte während des Fluges geöffnet hatte. Er flog
hinaus, als das Flugzeug sich überschlug. Aber er starb trotzdem. An Herzversagen aufgrund des Schocks der Bruchlandung.« Alle schweigen, während sie über das Gesagte nachdenken. »Hätte sie sich und den Mann nicht retten können?« fragt Maud leise. Jack fällt ein anderes Titelblatt von einem Adventure Girl Almanac ein: MÄDCHEN RETTET STADT VOR FEUERSBRUNST! »Hätte sie ihn nicht warnen können?« »Es gibt keine Warnung«, erwidert Grace. »Man denkt nicht daran, daß es einem passiert, sonst würde man am Boden bleiben.« Jack erkennt, wie wahr das ist, schaut von seinem Drink auf und begegnet dem Blick seiner Frau. Sie lächelt, und plötzlich verzeiht er ihr alles. Stadtrat Piper wendet sich an Grace. »Ich bin nicht dick«, sagt er triumphierend.
GRACE GEHT ÜBER DAS zementierte Vorfeld des Flughafens zu ihrer festgezurrten Maschine, der letzten in einer Reihe von Flugzeugen, nahe am See. Es ist früher Abend, nur noch wenige Stunden, bevor der Dauerflug beginnt. Angeblich ist Grace hier, um die Moth noch mal zu überprüfen. Zumindest hat sie das zu Jack gesagt, bevor sie das Haus verließ. Die Sonne ist noch nicht untergegangen, steht tief am westlichen Horizont hinter den Inseln. Der Himmel ist in ein blasses Rosa getaucht. Die gleiche Farbe wie die Rosen in meinem Garten, denkt Grace. Sie steht neben den Tragflächen der Moth, hebt die Hand und läßt sie am Rand der oberen entlanggleiten. Außer ihr ist niemand sonst auf dem Flugfeld. Niemand von der Presse, mit dem sie reden muß. Kein zufälliger Passant, der sie höflich nach dem Flug fragt und um ein Autogramm bittet. »Nur du und ich, meine Alte«, sagt Grace zu dem Flugzeug, geht um den Rumpf herum und lehnt sich gegen das Metall am vorderen Cockpit. »Nur wir beide, so wie immer.« Sie ist den ganzen Tag nervös gewesen, ein bißchen neben sich. Konnte nicht stillsitzen, sich auf nichts konzentrieren. Jetzt wird sie allmählich ruhiger, fühlt sich wieder normal. Wenn die Moth nicht bereits für den folgenden Tag aufgetankt wäre, würde sie auf der Stelle eine Spritztour machen. Über die Inseln fliegen und die Route prüfen. Vielleicht rüber nach Hamilton flitzen und im Dunklen zurückkommen, den Lichtern entlang der Küste folgen. Es wäre so ein gutes Gefühl, wieder allein dort oben am Himmel zu sein. Niemand versteht, wie das ist. Sally. Vielleicht Willa Briggs, denkt sie, öffnet die Türklappe zum vorderen Cockpit, tritt auf die Laufplanke der unteren Tragfläche und klettert hinauf. Tja, das werden wir bald wissen. Sie mag es Jack gegenüber nicht zugeben, aber sie macht sich Sorgen wegen Willas Unerfahrenheit. Sie hatte so
wenig Zeit gehabt, einen Ersatz zu finden, wenn der Flug pünktlich starten sollte, daß ihr keine andere Wahl geblieben war. Sie wird Willa bemuttern müssen, worauf sie sich ganz und gar nicht freut. Die Hauptsache ist, die junge Pilotin wach und funktionsfähig zu halten, damit sie keine Fehler macht und keinen Absturz provoziert. Grace zieht die Türklappe hoch. Seltsam, in einem stillen, stehenden Flugzeug zu sitzen. Fliegen ist alles, was sie je gewollt hat, und wie sehr sie sich auch bemüht, sie empfindet alles andere nur als armseligen Ersatz dafür, hoch oben am Himmel zu sein. Sie war nicht ganz aufrichtig zu Jack. Grace will den Dauerflug auch deshalb versuchen, weil sie erfahren möchte, wie es ist, so lange da oben zu sein, wie lange sie es da oben aushalten kann. Wenn sie dort am glücklichsten und am meisten sie selbst ist, wie wird es dann sein, fast einen ganzen Monat lang nonstop zu fliegen? Wird sie das Leben am Boden mit anderen Augen betrachten? Wird sie es vermissen? Oder wird es ihr nur bestätigen, was sie insgeheim bereits weiß, daß sie dazu bestimmt ist, oben, hoch oben, über der Erde zu leben. Es gibt Zeiten, wenn Grace mit verbundenen Augen oder auf dem Rücken fliegt, wo sie alles nur rein gefühlsmäßig macht. Instinkt und Können. Und es hat Jahre gedauert, ihr ganzes Leben, die vielen Feinheiten zu lernen. Sie braucht keine Instrumente. Vom Lauschen auf das Flugzeug hat sie gelernt, wie es fliegt. Das Singen des Windes in den Spanndrähten, wie sie die Geschwindigkeit von der Tonhöhe des Zirrens ableiten kann. Je intensiver sie etwas tut, desto tiefer ist es in ihr verankert. Sie hat die Nase der Moth vermutlich lausende Male durch Zurückziehen des Steuerknüppels hochgezogen, und das Gefühl des Steuerknüppels in ihrer Hand, der kurze Weg, den er zurücklegt, ist ihr so vertraut, daß er ihr jetzt in Fleisch und Blut übergegangen ist und ihr Körper automatisch darauf
reagiert. Der Bewegungsspielraum des Steuerknüppels ist genau der Abstand, den sie unbewußt einhält, wenn sie mit anderen spricht. Das Gefühl des Steuerknüppels in ihrer Hand, der Druck, den sie ausübt, um ihre Hand zurückzuziehen, ist der gleiche Druck, den sie anwendet, wenn sie Jacks Haut berührt, ihre Hand über seinen nackten Rücken gleiten läßt. Es fällt ihr schwer, jemandem davon zu erzählen, verständlich zu machen, daß sie das Flugzeug nicht wirklich fliegt. Das Flugzeug fliegt sie. Als Grace aus der Moth klettert, ist es vollkommen dunkel. Die Lichter vom Vergnügungspark auf Hanlan’s Point blinken herüber. Sie ist versucht, die nächste Fähre zu nehmen und hinüber zu fahren. Die Karussells auszuprobieren. Sich ihre Zukunft wahrsagen zu lassen. Aber nein, sie wendet sich vom See ab und geht zu ihrem neben dem Hangar geparkten Auto. Sie muß nach Hause fahren und sich etwas Nettes für Jack ausdenken, damit er nicht enttäuscht von ihr ist. Damit er seine Aufgaben, das Flugzeug in der Luft aufzutanken und die Essenspakete abzuwerfen, gut und zuverlässig ausführt. All die kleinen Tricks und Zugeständnisse, denkt sie und schaut noch einmal zur Moth zurück. Nur damit mir gestattet ist, die Gaben zu nutzen, die die Vorsehung mir verliehen hat.
WILLA SITZT IN IHRER HÜTTE hinter dem Hangar in der Badewanne und denkt an all die Dinge, auf die sie während der nächsten fünfundzwanzig Tage verzichten muß. Bäder zum Beispiel. Obwohl Grace gesagt hat, sie können sich mit medizinischem Alkohol waschen. Die Beine ausstrecken, denkt sie und schaut hinunter auf ihre im Wasser lang ausgestreckten Beine. Man kann sich in einem Doppeldecker hinstellen, aber die Rückströmung vom Propeller ist so stark, daß die Gefahr besteht, über Bord gezogen zu werden. Sie ist ein bißchen nervös wegen Grace’ Entscheidung, keine Fallschirme mitzunehmen. Aber es ist schließlich ihre Show, und Willa hat keine der Entscheidungen, was sie auf den Flug mitnehmen dürfen und was nicht, in Frage gestellt, zumindest nicht laut. Sie hat die Liste der zulässigen Dinge auswendig gelernt. Ein Overall, zwei langärmlige weiße Hemden, eine Reithose, ein Schal, Mantel, Fliegerkappe, zwei Schutzbrillen (eine getönt, eine ungetönt), Handschuhe, ein Minimum an Unterwäsche und Socken, Stiefel. Dazu Ölzeug, falls es regnet. Außer einer Zahnbürste und Gesichtscreme als Sonnenschutz ist das alles an persönlichem Gepäck. Die Moth ist mit Leinwandhauben ausgestattet worden, die flach auf dem Rumpf liegen, wenn sie nicht in Gebrauch sind und bei schlechtem Wetter hoch und über die Köpfe der Pilotinnen gezogen werden können. Sonst sind sie gegen die Elemente nur durch die kleine, bis in Nasenhöhe reichende Windschutzscheibe vor jedem Cockpit geschützt. Der Dauerflug hängt ganz vom erfolgreichen Auftanken und Abwerfen der Essenspakete ab. Ein zweiter Pilot vom Flughafen wird mit Jack Robson im Tankflugzeug aufsteigen und den Sack mit Vorräten, Nahrungsmitteln und Wasser angebunden an den Tankschlauch hinunterlassen. Das wird der gefährlichste Teil des Fluges sein. Der Tank befindet sich im
Mittelteil der oberen Tragflächen, direkt über dem vorderen Cockpit, daher wird Grace diejenige sein, die nach dem Tankschlauch hangeln muß. Dazu ist von Willa und Jack stetiges Formationsfliegen erforderlich, um alles unter Kontrolle zu behalten. Jack. Willa seift sich die Zehen ein. Sie kann sich nicht vorstellen, was er empfinden mag. Nichts Erfreuliches, da möchte sie wetten. Sie hat nicht viel mit Jack Robson zu tun gehabt, aber ihr gefällt das wenige, was sie von ihm weiß. Ausdauernd bei der Arbeit. Ein geduldiger Fluglehrer. Verläßlich. Tja, sie hofft, daß er für die Dauer dieses Fluges verläßlich bleibt. Die Situation beunruhigt sie. Ohne Emotionen wird es nicht ablaufen, und genau dort fangen Probleme gern an, in dieser sich ständig verändernden Spanne zwischen Emotion und Aktion. Grace. Nach wie vor fällt es ihr schwer zu glauben, daß Grace O’Gorman, Heldin des Himmels, Willa gebeten hat, ihr beim Brechen des Rekordes zu helfen. Willa hat nie davon zu träumen gewagt, Grace je kennenzulernen, ganz zu schweigen davon, fünfundzwanzig Tage mit ihr als einzige Begleitung zu fliegen. Eine gleichzeitig beängstigende und erhebende Aussicht. Ein Traum, den sie sich nicht zugestanden hat, ist trotzdem wahr geworden. Nach dem Bad räumt Willa ein bißchen in ihrer Hütte auf, stellt Bücher zurück ins Regal, hebt Kleidungsstücke vom Boden auf, faltet sie ordentlich zusammen und legt sie in die Schubladen. Sie macht sich etwas Suppe warm, ißt sie aus dem Topf, steht am Fenster und schaut zu, wie die Sonne hinter den Inseln versinkt. Wie wird es sein, hoch oben am Himmel zu leben? Wie wird es sein, immer und immer wieder über diesem vertrauten Stück Erde zu kreisen?
Damit Dauerflüge gültig sind, muß auf dem gleichen Platz gestartet und gelandet werden, und die Maschine muß während des Versuchs sichtbar bleiben. Aus diesem Grund werden alle Dauerflüge im Kreis geflogen. Außerdem muß ein Barograph mitgeführt werden, ein Instrument, das unzulässige Landungen durch die Fluktuation des Luftdrucks aufzeichnet. Ohne dieses Gerät wird der Flug nicht offiziell anerkannt und der entsprechende Luftfahrtrekord nicht vermerkt. Sie werden genau auf ihre Höhe achten müssen. Bei einem vor kurzem in Kalifornien erfolgten Versuch ist es zu Beschwerden der örtlichen Anwohnerschaft gekommen, weil das Flugzeug beim Kreisen über den Häusern so viel Lärm machte. Vierhundertfünfzig Meter oder höher, denkt Willa und leckt die Suppe vom Löffel. Eine Höhe, bei der es schwerfällt, noch einzelne Menschen zu erkennen. Gebäude sind sichtbar, Bäume auch, aber Form und Bewegung des menschlichen Körpers existieren in dieser Höhe nicht mehr. Keine Menschen. Noch etwas, das sie vermissen wird. Nur Grace als Gesellschaft, und keine Möglichkeit, richtig miteinander zu reden, weil der Lärm viel zu groß sein wird. Sie werden sich schriftlich verständigen müssen. Grace hat in ihrer Manie, das Gewicht so niedrig wie möglich zu halten, kein Sprechrohr zugelassen. Kein Sprechrohr. Keine Fallschirme. Willa geht plötzlich auf, daß sie keine Ahnung hat, wie Grace O’Gorman wirklich ist, abgesehen von dem, was man über die berühmte Fliegerin allgemein weiß. Was ist, wenn Willa feststellt, daß sie Grace nicht mag? Was ist, wenn sie sich da oben befindet, in einer Höhe, wo menschliches Leben am Boden unsichtbar ist, und die einzige Gefährtin sich als große Enttäuschung erweist? Willa fröstelt, obwohl es kein bißchen kalt in ihrer Hütte ist. Sie kann die Einsamkeit erahnen, die auf sie zukommt.
Plötzlich wird ihr völlig bewußt, was sie da vor hat. Sie begibt sich ins Exil, hoch oben am leeren, dunklen Himmel. Sie verläßt die Erde.
UM SECHS UHR FRÜH AM DIENSTAG, den 1. August 1933, hebt die überladene Moth DH6OT mit Grace O’Gorman am Steuer schwerfällig in den wolkenverhangenen Himmel ab. Eine kleine Gruppe hat sich zu ihrer Verabschiedung eingefunden, dünner Beifall klingt auf, als sich das Flugzeug am Ende der Startbahn schwankend und widerstrebend über die Wellen erhebt. Vorher sind noch die erforderlichen Zeitungsfotos von Willa und Grace in ihren Overalls neben dem Adventure-Girl-Logo gemacht worden. Willa und Grace, die mit breitem Lächeln aus den Cockpits der stehenden Moth winken. Grace mit frisch aufgetragenem Lippenstift. Dunkelrot. Ein Reporter fragt sie sogar nach der Farbe. Sie lacht und witzelt mit ihm. »Himmelsstürmerin«, sagt sie. Willa und Grace haben sich dazu entschlossen, den Hafen von Toronto gegen den Uhrzeigersinn zu umkreisen. Flugzeugpropeller drehen sich stets in einer Richtung, wodurch das Flugzeug entweder nach rechts oder links zieht. Indem sie gegen den Uhrzeigersinn fliegen, folgen sie der natürlichen Neigung der Moth zum Linksdrall. Erst einmal in der Luft, kann es ihnen gar nicht schnell genug gehen, eine bestimmte Routine einzurichten. Grace fängt die Maschine bei vierhundertfünfzig Meter Höhe und hundertdreißig Kilometer pro Stunde ab und geht in eine langsame Kurve über dem östlichen Teil der Bucht. Willa notiert die exakte Abflugzeit und den Zeitplan für den Tag im Logbuch – Ablösung beim Fliegen alle drei Stunden, Auftanken alle acht Stunden. Sie mißt auch die Zeit, die sie für die erste volle Runde über der Stadt brauchen, C.N.E. Inseln, See, industrielles Hafengebiet, Stadt. Zehn Minuten. Einen kurzen Moment lang überlegt sie, ob sie ausrechnen soll, wie viele Runden sie in fünfundzwanzig Tagen fliegen werden,
läßt es aber dann sein. Es wäre zu überwältigend, das genau zu wissen. Sie haben nicht den besten Tag für den Beginn ihres Vorhabens erwischt. Die Luft ist dick und feucht. Die Temperatur beträgt bereits an die dreißig Grad und soll noch bis über vierzig steigen. Unter dreihundert Meter Höhe weht ein böiger Wind. Die Wellen in der Bucht haben weiße Schaumkronen. Es riecht nach Regen. Da Grace die erste Schicht fliegt, hat Willa Gelegenheit, sich mit ihrer Umgebung vertraut zu machen. Ihr Cockpit ist durch einen fünfundzwanzig Zentimeter breiten Streifen des Rumpfs vom vorderen getrennt. Grace sitzt ihr so nahe, daß Willa ihr auf die Schulter tippen oder sie unter dem Sitz treten kann. Sie läßt ihre Arme auf den Seiten des Cockpits ruhen und spürt, wie der Luftstrom des Propellers gegen ihre Schultern und den oberen Teil ihres Kopfes drückt, der nicht durch die Windschutzscheibe geschützt ist. Auf diese Weise kommt es zu Ermüdungen, weil sich die Muskeln des Körpers stets gegen die Kraft des Luftschraubenstrahls spannen und es keine Möglichkeit gibt, dem Druck auszuweichen. Von der Hüfte aufwärts ist Willas Cockpit durchaus geräumig. Sie kann die Rumpfwände mit angewinkelten Ellbogen berühren, aber es ist Platz genug, die Arme in der Luft auszustrecken. Sie packt die Seitenwände, drückt nach unten, stemmt sich hoch. So hoch über den gepolsterten Sitz, wie es ihre Anschnallgurte erlauben, dann läßt sie sich wieder herabsinken. Direkt vor Willa befindet sich das Instrumentenbrett mit seinen halbmondförmig angeordneten Meßinstrumenten – Öltemperatur, Drehzahlmesser, Höhenmesser, Geschwindigkeitsmesser, Öldruck. Der Gashebel befindet sich auf der linken Seite des Rumpfes über dem Trimmhebel. Ein Kompaß ist vor dem Instrumentenbrett auf dem Boden
angebracht. Den Steuerknüppel hat sie zwischen den Beinen. Um die Pedale der Seitenruder zu bedienen, muß sie die Füße in zwei voneinander getrennte Schächte unter dem Instrumentenbrett stecken. Willa probiert verschiedene Sitzhaltungen aus. Die Knie angezogen, so daß die Füße zu beiden Seiten des Steuerknüppels fest aufstehen. Beide Beine zu einer Seite des Knüppels, den Körper schräg im Cockpit, in den Gurten verdreht und gegen die eine Seitenwand gelehnt. Sie öffnet die Gurte. Steht auf. Die mit einhundertsechzig Stundenkilometer auf sie zuströmende Luft nimmt ihr den Atem, bringt sie zum Schwanken. Die Schutzbrille wird gegen ihre Augen gedrückt, der Kinnriemen der Fliegerkappe schlägt gegen ihren Hals. Sie streckt die Arme seitlich aus und wird prompt in den Sitz zurückgeworfen. Grace, die von Willas Herumgehampel scheinbar nichts mitkriegt, bringt das Flugzeug über die Stadt. Willa schließt ihre Gurte und schaut hinunter. Vom hinteren Cockpit hat man den besseren Blick nach unten. Das vordere Cockpit sitzt wie ein Nest zwischen den Tragflächen. Aus der Luft gesehen besteht die Stadt nur aus Formen. Der Lokomotivschuppen am Bahnhof gleicht einem Hufeisen, die Anlegestellen der Fähren und Dampfschiffe sehen wie Klaviertasten aus. Das Baseballstadion der Maple Leafs gleicht einem flachen Eßteller. Die Schornsteine der Fabriken und Raffinerien ragen wie Strohhalme empor. Gebäude sind Quadrate oder Rechtecke, die stählernen Dächer der Lagerhäuser am Hafen glitzern wie Metallzähne in einem Maul aus Beton. Eisenbahnschienen verlaufen wie schlampig genähte Stiche durch den unteren Teil der Stadt. Die Motoren- und Windgeräusche werden von einem hohen Jaulen überlagert. Luft peitscht gegen die Verspannung: gegen die Gitterträger, von denen aus Drähte und Flügelstiele eine
Reihe von Dreiecken bilden, die die Tragflächen miteinander und mit dem Rumpf des Flugzeugs verbinden. Willa holt Block und Bleistift aus der Tasche unter dem Instrumentenbrett. Schreibt etwas auf und reicht es Grace. Okay? Grace gibt das vorher vereinbarte Zeichen, damit Willa das Steuer übernimmt: Ein Arm in die Luft gestreckt. Willa steuert das Flugzeug sacht über die Inseln, und Grace gibt ihr den Zettel zurück. Es kommt einem alles so klein vor. Adventure Girls erstes Auftanken in der Luft verläuft erfolgreich. Kurz nach zwei steigt ein Flugzeug vom Flughafen auf und paßt sich dem Tempo der Moth an. Sie fliegen eine Weile, testen die Balance aus, kreisen und kurven im Tandem. Ein Leinwandsack und ein Gummischlauch werden aus der offenen Tür des Eindeckers hinuntergelassen. Jack fliegt das Tankflugzeug in gleichmäßigem Tempo. Willa fliegt die Moth in gleichmäßigem Tempo. Grace fuchtelt in der Luft herum, hangelt nach der treibenden Fracht, hievt sie herein. Sie bindet den Sack los, zieht ihn zu sich und befestigt das Seil, an dem er hing, an einem Metallring auf dem Rumpfstück zwischen den Cockpits. Stehend öffnet sie den Treibstofftank, läßt die Metallkappe am Ende ihrer Befestigungskette herabbaumeln und führt den Schlauch in den leer klingenden Tank ein. Die Moth ist mit einem Einhundertfünfzig-Liter-Tank zwischen den oberen Tragflächen ausgestattet worden, wo sich normalerweise ein Fünfundsiebzig-Liter-Tank befindet. Außerdem sind noch drei Fünfzehn-Liter-Kanister an den Seiten des vorderen Cockpits verstaut, die Grace mit einer Handpumpe in den Haupttank umpumpen kann, wenn der so gut wie leer ist. Die Handpumpe wird auch dazu benutzt, Öl durch eine fest installierte Zuflußleitung in die Ölkammer im unteren Motorengehäuse zu pumpen. Abhängig von
Fluggeschwindigkeit, Wind und Wetter reichen die einhundertfünfundneunzig Liter Treibstoff für acht bis neun Flugstunden. Um kein Risiko einzugehen, haben Grace und Willa mit Jack vereinbart, daß er alle acht Stunden zum Auftanken kommt. Der Treibstofftank wiegt, wenn er voll ist, an die fünfhundert Pfund, und Willa achtet darauf, den Steuerknüppel ein wenig hochzuziehen, damit die Nase oben bleibt, während das zunehmende Gewicht den Auftrieb verringert, den die Moth mit leerem Tank hatte. Sie überfliegen die östliche Durchfahrt und die schwarzen Kohlenhalden am Hafen. Grace schraubt den Tankverschluß wieder zu und winkt mit der Hand, damit das Tankflugzeug den Schlauch hochzieht. Nachdem der Stutzen von der oberen Tragfläche weggeschwenkt ist, öffnet sie den Leindwandsack und nimmt den Inhalt heraus. Drei volle Treibstoffkanister und ein in ein Tuch gewickeltes Essenspaket. Sie stapelt die leeren Kanister in den Sack, verstaut die vollen an den Seiten ihres Cockpits und gibt das Zeichen zum Hochziehen des Sacks. Der Eindecker entfernt sich aus dem Orbit der Moth und fliegt in einer scharfem Kurve zur Stadt zurück. Willa schaut auf die Uhr. Der ganze Auftankvorgang hat weniger als fünfzehn Minuten gedauert. Grace ist damit beschäftigt, die Treibstoffkanister am Rumpf zu vertäuen. Sie hat während des Auftankens hauptsächlich gestanden, und Willa weiß, wieviel Kraft es kostet, sich gegen den Luftschraubenstrahl zu stemmen und das Gleichgewicht zu halten. Wie wird das erst nach einer längeren Flugzeit sein, wenn ihre Körper müde und schwach sind? Grace wird sich irgendwie am Flugzeug festbinden müssen. Willa denkt an ihren Fallschirm, dieses eckige, kompakte Paket, das zu Hause neben ihrem Bett liegt.
Grace, die rückwärts auf dem Sitz kniet, sich mit dem Essenspaket abmüht und versucht, nicht mit den Füßen an den Steuerknüppel zu kommen, schaut plötzlich zu Willa auf und lächelt. Für das Auftanken hat sie die Schutzbrille abgenommen, und die Druckstellen von den Rändern liegen wie Schatten um ihre Augen. Ihr vor kurzem aufgetragener Lippenstift glänzt rot. Willa lächelt zurück. Sie ist überrascht, wie emotional sie reagiert, merkt, wie isoliert sie war, als sie von Grace nur die Fliegerkappe und die Schultern im Overall sehen konnte. Und Grace hat nur die freiliegenden Zylinder, den Auspuff und die Kabel des Motors, auf die sie schauen kann. Sie muß ebenfalls froh sein, mich zu sehen, denkt Willa. Wir sind hier in die Luft hinaufgeworfen worden, wie ein schimmerndes Bukett, und haben nun nur noch einander. Willa betrachtet Grace und sieht in ihr zum ersten Mal nicht das Zeitschriftenfoto oder die Schlagzeile, sondern jemanden, der wie Willa ist. Jemand, den man erreichen kann. Schön, dich zu sehen, kritzelt sie, den Zettel unbeholfen mit dem Handgelenk gegen den Oberschenkel gedrückt, während sie mit der einen Hand schreibt und der anderen steuert. Dich auch.
Die Hitze nimmt mit der Abenddämmerung ab. Aufgrund ihrer Höhe ist es hier oben einige Grade kühler, aber die Temperatur ist laut Willas kleinem Thermometer immer noch an die vierzig Grad. Sie haben Käsesandwiches und Äpfel gegessen und die Apfelbutzen ins Wasser vor der nördlichen Inselküste geworfen. Willa hat in den weißen Emaillenachttopf gepinkelt, ihn rasch über die Bordwand ausgekippt und mit Desinfektionsmittel ausgespült. Das Pinkeln ist schwierig,
wenn man einen Overall trägt, und Willa beschließt, ab morgen die praktischere Kombination aus Hemd und Reithose anzuziehen. Es ist fünf Uhr nachmittags. Sie sind seit elf Stunden in der Luft, und Willa fühlt sich bereits ganz taub vor Müdigkeit. Sie verringert die Höhe um einhundertfünfzig Meter und weitet die Runde aus, um etwas Abwechslung zu haben. Fliegt über den Zweimastschoner Lyman M. Davis, verankert vor Sunnyside Beach, wo er darauf wartet, am langen Feiertagswochenende im August ein Freudenfeuer zu werden und in Rauch und Asche aufzugehen. Er ist der letzte Schoner der Großen Seen, an die fünfundzwanzig Meter lang, mit einem Bugspriet, der den Bug bis zum Horizont auszudehnen scheint. Willa teilt die allgemeine Begeisterung für das Abfackeln alter Schiffe nicht. Aus dreihundert Meter Höhe scheint mit der Lyman M. Davis alles in Ordnung zu sein. Warum läßt man das Schiff nicht weitersegeln? Willa glaubt daran, daß Schiffe und Flugzeuge schwache Spuren derjenigen mit sich tragen, die auf ihnen gesegelt oder in ihnen geflogen sind. Erinnerungen, die in den Rumpf, die Segel und Tragflächen eingebrannt sind. Ein Teil von jedem, der je die Reling berührt hat oder in die Wanten geklettert ist. Das sollte respektiert und nicht als Feiertagsvergnügen abgefackelt werden. Willa hat die Runde der Moth erweitert und ist auch deswegen tiefer hinabgegangen, um zu sehen, ob sie irgendwas von dem Frauen-Baseballspiel mitkriegen kann, das um acht Uhr abends in Sunnyside beginnt. Ihre Lieblingsmannschaft, die Supremes, wird gegen die Lakesides spielen. Sie hat Freundinnen bei den Supremes. Von ihrem Aussichtspunkt in der Luft kann sie den großen, reich verzierten, steinernen Sunnyside-Badepavillon sehen, die Überreste der Wasserkraftsockel, die perfekte Symmetrie des Spielfeldes.
Willa schreibt eine Notiz für Grace, die mit dem Fliegen dran ist, wenn das Spiel beginnt. Baseball? Die Supremes spielen. Halt uns auf niedriger Höhe. Sie bekommen keine Möglichkeit, etwas von dem Spiel zu sehen. Bis um acht sind dicke Wolken aufgezogen. In dreihundert Meter Höhe ist der Wind nur minimal, aber da unten schlagen die Wellen hoch, haben gewaltige Schaumkronen. In den zehnminütigen Intervallen, in denen sie sich einem vermutlich am Ende der Bathurst Street gelegenen Teil der Kaimauer nähern, ihn überfliegen und wieder verlassen, sehen sie, wie ein großes Segelboot immer wieder gegen die Betonwand geworfen wird. Als Grace tiefer hinabgeht, können sie die Leute erkennen, die sich an die Takelage klammern und wie winzige Puppen herumgeschleudert werden, als das Heck unter Wasser gerät und das Boot zu sinken beginnt. Da ist ein Kind oben am Mast.
MIRO, DER KÖNIG ALLER FETTEN BABYS, sitzt nackt in seiner kleinen Badewanne, das Wasser bis zur Taille. Maddy, die auf dem Rand der Porzellanwanne hockt, seift ihn grob ein. Sie läßt die Seife an seinen Fettrollen entlanggleiten, schiebt sie manchmal in eine Falte, kneift die Haut darüber zusammen, so daß das Seifenstück durch den verborgenen Tunnel schießt und unter der Achselhöhle wieder herausglipscht. »Nicht so grob«, sagt Miro, während sich Maddy über seinen Nacken hermacht, als wolle sie ihn wegschrubben. Maddy kümmert sich nicht darum. »Du bist ein Baby«, sagt sie schließlich. »Du kannst dich noch gar nicht beschweren.« Miro ist kein echtes Baby. Er ist ein siebenundzwanzig Jahre alter Zwerg, der täglich von Mittag bis Mitternacht in einem Schaukasten vor seinem winzigen Haus sitzt, mit einer Windel bekleidet und einer Rassel in der Hand. Die Leute können ans Glas klopfen, worauf er sich ein bißchen herumrollt, um zu zeigen, wie fett er ist und wie schwer ihm jede Bewegung fällt. Letzteres stimmt. Es ist schwer für Miro, sich zu bewegen, und zweimal pro Woche bezahlt er Maddy zehn Cents, damit sie ihn wäscht. Eine Vereinbarung, die sie geheimhalten. Erzähl’s nicht deinen Eltern. Nur für den Fall. Maddy wäscht Miro ganz gerne. Sie ist viel größer als er und kann ihn daher tyrannisieren. Sie mag seinen dicken Körper. Manchmal experimentiert sie mit unterschiedlichen Methoden. Einmal hat sie ihn von oben bis unten mit Seegras abgerieben und es dekorativ um seinen Hals gehängt, als sei er ein fettes Stück Treibgut. Ein anderes Mal hat sie seinen Rücken mit Schlamm beschmiert. Wenn sie auch in diesen Dingen die Abwechslung liebt, so hat Maddy doch strenge Regeln für andere Teile des Rituals aufgestellt. Hinterher darf sie Radio hören, und das, solange sie will. Sie wird sofort nach jedem
Bad bezahlt, und zwar mit einem Dirne, nicht mit zwei Nickel oder zehn Pennies. Und sie wäscht den König aller fetten Babys nicht zwischen den Beinen, egal, wie hilflos er sie darum bittet. »Wasch das selbst«, sagt sie. »Es ist häßlich, und ich denke nicht dran, das zu berühren.« Wenn er zuviel Theater macht, haut sie ihn, bis er still ist. Heute machen Miros fleischige Fettrollen Maddy kein Vergnügen. Sie wartet nur darauf, das Bad beenden und Radio hören zu können. Sie muß wissen, wie die Pilotinnen die erste Nacht überstanden haben. Gestern hat sie lange wach im Bett gelegen und angestrengt auf das ferne Dröhnen des Motors gelauscht. An ihrer Schlafzimmerwand, nahe dem Kissen, hat sie ein Farbfoto von Grace O’Gorman aus einer Zeitschrift aufgehängt. »Du tust mir weh«, jammert Miro und packt sie plötzlich am Handgelenk, als sie seinen Brustkorb einseift. »Hör auf.« Er ist heute erstaunlich stark, aber trotzdem kann sich Maddy mit Leichtigkeit befreien. »Ich bin sowieso fertig«, sagt sie, nimmt einen Stieltopf vom Boden und schöpft Wasser über ihn. »Dann hilf mir raus«, sagt Miro. »Aber vorsichtig.« Maddy hievt ihn hoch, lehnt sich zurück, um das Gleichgewicht zu halten, und zieht an seinen weichen Armen. »Laß das.« Miro scheint kurz davor, in Tränen auszubrechen. Maddy rubbelt ihn, jetzt sanfter, mit dem Handtuch ab. Sie will nicht, daß er losheult und Theater macht. Nichts darf sie davon abhalten, Radio zu hören. »Wenn du brav bist«, sagt sie, »puder ich dich ein.« Miro setzt sich in den speziell für ihn angefertigten Miniatursessel neben dem hölzernen Radioapparat. Maddy stellt sich hinter ihn, streut eine feine Wolke von Babypuder auf seine Schultern und seinen Rücken und verreibt ihn geistesabwesend auf seiner schwabbeligen Haut.
Das Radio knistert, während die Röhren warm werden. Elektrizität, die an den Drähten entlangkriecht. Die Babypuderwolke macht das Atmen schwer. Miro hat zu husten begonnen, wobei sein ganzer Körper wabbelt. Maddy stellt die Puderdose auf das Radio. »Hör auf zu husten«, sagt sie, hat plötzlich freundliche Gefühle für ihn, beugt sich vor und küßt ihn fest auf den kahlgeschorenen Kopf. Die Radionachrichten beginnen unglaublicherweise mit anderen Dingen. Weitere Statistiken über Arbeitslose. Das gestrige Sinken eines Segelboots an der Kaimauer und die Rettung der Besatzung – sieben Männer, fünf Frauen und ein Kind, die man aus dem Wrack ziehen konnte. Neueste Rekordtemperaturen der Hitzewelle. Schließlich, fast am Ende der Nachrichten, als Maddy schon so aufgeregt ist, daß sie hin und her stapft, kommt etwas über ihre kostbaren Pilotinnen. Sie kreisen weiter, und es geht ihnen gut, nachdem sie den ersten Tag des Auftankens in der Luft hinter sich gebracht hatten. Scheinen bester Stimmung zu sein. »Wie langweilig«, sagt Miro. »Fünfundzwanzig Tage lang den eigenen Schwanz zu jagen.« Maddy beugt sich über ihn, den Kopf vornüber und das Gesicht direkt vor dem seinen. »Sie können dich sehen«, sagt sie. »Sie schauen vom Himmel herab und wissen, wer du bist. Sie wissen, daß du böse gewesen bist.« Miro seufzt. »Oh Gott«, sagt er. »Stell was mit Gesang ein.«
DER ZWEITE TAG IN DER LUFT ist ganz anders als der erste. Zum einen ist es viel kühler, nur einundzwanzig Grad um acht Uhr morgens, während es gestern um die gleiche Zeit bereits achtundzwanzig gewesen waren. Willa und Grace tragen ihre ledernen Fliegerjacken und Handschuhe, um sich vor der Morgenkühle zu schützen, während sie eine Kurve über den von Nebelschleiern bedeckten See fliegen und unter ihnen alles ganz still ist. Es ist, als wäre niemand dort unten, schreibt Willa zuerst ins Logbuch und dann auf einen Zettel, den sie Grace reicht. Willa kuschelt sich in die Wärme ihrer Jacke und trinkt den letzten Kaffee aus der Thermosflasche vom Auftanken und Essenspaket-Abwerfen um sechs Uhr früh. Sie fühlt sich ein bißchen steif, aber sonst nicht so schlimm, wie sie erwartet hatte. Zum Schlafen sind sie nicht viel gekommen, da ihre Körper sich noch nicht an die dreistündigen Schichtwechsel gewöhnt haben und sich weigern, augenblicklich mitzumachen und in den kurzen, zugeteilten Zeitperioden gleich tief zu schlafen. Willa denkt an das gesunkene Segelboot, als sie über die Kaimauer fliegen, das Wasser unter weißen Nebelbänken verborgen. Sie hatten wieder steigen müssen, um gestern abend dem Wind zu entkommen, und daher nicht gesehen, was mit den Menschen an Bord passiert war. Grace hat Jack heute morgen eine Nachricht mitgeschickt und danach gefragt, also bekommen sie vielleicht um zwei Uhr eine Antwort. Willa ist dankbar für das Tageslicht und einen Tag mit blauem Himmel und Sonne. Nachts zu fliegen, nur mit den beiden kleinen Navigationslichtern an den Flügelspitzen und dem Glitzern des Mondes, ist eine sehr einsame Angelegenheit. Manchmal, wenn der Mond hinter die Wolken trat oder sie zu hoch über die verschwommenen
Lichtrückstände der Stadt gestiegen waren, hatte Willa kaum noch die Umrisse von Grace im vorderen Cockpit ausmachen können. Sie hatten sich Taschenlampen um den Hals gehängt, um die Instrumente ablesen und sich gegenseitig Nachrichten schreiben zu können. Willa wühlt in ihrer Jackentasche, liest einiges von dem nach, was Grace ihr vergangene Nacht mitgeteilt hat. Halt das Flugzeug ruhig, ich muß Öl nachpumpen. Schlaf noch eine Stunde, wenn du willst. Mir geht’s gut. Der Mond ist ein verrückter Kerl. Willa lächelt. Die letzte Nachricht gefällt ihr. Um vier Uhr nachts weitergereicht, als das Mondlicht in manischen Zickzackkursen über die Wellenkämme glitt. Die Moth hat sich in den ersten vierundzwanzig Stunden des Nonstopflugs vorbildlich verhalten. Das gleichmäßige Dröhnen des Motors ist ein Rhythmus, der Willa jetzt in Fleisch und Blut übergangen ist. Sie haben weniger Öl verbraucht, als sie erwartet hatten, und das Pumpensystem für die Übertragung von Treibstoff und Öl in ihre jeweiligen Tanks funktioniert reibungslos. Grace’ Mechaniker Alex hat derart gute Arbeit beim Justieren der Spanndrähte geleistet, daß der Steuerknüppel mit den Fingerspitzen bedient werden kann. Selbst die Korrektur des rechten Seitenruders, eine notorische Schwachstelle bei der linkslastigen Moth, muß auf Grund der gegen den Uhrzeigersinn verlaufenden Flugrichtung nur minimal eingesetzt werden. Das einzige, womit sie immer noch Schwierigkeit haben, ist die unterschiedliche Handhabung des Flugzeugs, wenn es vollgetankt und wenn es leer ist. Die Moth war nicht dazu gedacht, ein solches Treibstoffgewicht zu tragen, wie sie es ihr aufgezwungen haben, und daher machen sie die zusätzlichen fünfundsiebzig Liter auf den oberen Tragflächen ziemlich toplastig. Sie müssen darauf achten, daß sie bei vollgetanktem Flugzeug nur
langsame Kurven fliegen. Keine scharfen Steigungswinkel, weil sich sonst die Maschine auf den Kopf stellen könnte. Willa ist froh, daß Grace die Moth meist direkt nach dem Auftanken fliegt. Sie selbst kommt mit dem Flugzeug am besten zurecht, wenn es so gut wie leer ist, wenn es hüpft und wie ein Heliumballon hochsteigt. Die Sonne hat das Flugzeug erreicht. Willa greift hinter sich in das Fach im Rumpf, wo sie ihre Sachen verstaut hat. Sie muß ihre Schutzbrille gegen die getönte austauschen und sich Creme ins Gesicht schmieren. Gestern hat sie einen Sonnenbrand bekommen – als sie in den kleinen Spiegel schaute, den sie offiziell für Notsignale dabei haben, in Wahrheit aber, damit Grace ihren Lippenstift auftragen kann, war sie erschreckt über die Rötung ihrer Haut gewesen. An Tagen wie diesen, wenn der Himmel wolkenlos ist, sich wie eine umgedrehte blaue Schüssel über der flachen Erde wölbt, müssen sie sich vor der Sonne in acht nehmen. Willa zieht die Handschuhe aus, reibt sich ausgiebig ein und hält das Töpfchen dann nach vorne. Grace hat ihre eigene Creme, verstaut bei ihren Sachen im Gepäckfach vor sich, aber es ist einfacher für sie, sich aus dem von Willa hingehaltenen Töpfchen zu bedienen. Grace nickt, als sie mit dem Einreiben fertig ist, und Willa schraubt das Töpfchen zu, schiebt es zurück unter ihre Sachen. Sie streckt die Arme hoch, spürt die Wärme der Sonne durch ihre Jacke. Sie ist überrascht, wie gut sie sich fühlt. Diese Leichtigkeit. Dieses wie Bläschen in ihr hochsteigende Glücksgefühl. So lange wie jetzt war sie noch nie ununterbrochen in der Luft, und ihr Gefühl fürs Fliegen scheint in den letzten vierundzwanzig Stunden weit über alle Erwartungen hinausgewachsen zu sein, die sie je für ihre Berufung, ihr fliegerisches Talent hatte. Sie ist für das Fliegen geboren, so einfach ist das.
Ich finde es herrlich. Und Grace schreibt zurück: Das kommt daher, weil du ein Naturtalent bist. Was ist das, fragt sich Willa. Sie weiß, daß sie sich am wohlsten fühlt, ganz sie selbst, wenn sie in einem Flugzeug sitzt. Sie weiß, daß sie dann auch das Flugzeug ist, das Fliegen zu ihren Sinnen gehört wie Sehen oder Fühlen. Es treibt sie vorwärts, läßt sie erglühen, nur noch aus Nerven und Adrenalin bestehen, das Herz heiß und wild pochend im Rumpf der Rippen. Wenn einen das zum Naturtalent macht, zur Fliegerin, was ist dann Grace O’Gorman, die ein Flugzeug mit soviel Fingerspitzengefühl, soviel Einfühlungsvermögen fliegt, daß ihre Fähigkeit von den Zuschauern Besitz ergreift und alles andere – den schönen Tag, ihr Leben – unvollkommen erscheinen läßt? Als was würdest du dich bezeichnen? Willa hält Grace den Zettel hin und streift dabei das steife Leder ihrer Jacke, fühlt, wie es sich in der Sonne erwärmt hat. Ich weiß es nicht. Willa läßt sich zurücksinken, lehnt ihren Kopf gegen das Lederpolster am hinteren Cockpitrand. Sie betrachtet die losen Strähnchen von Grace’ rotem Haar, die sich in ihrem Nacken kringeln. Sie sieht, wie die Sonne mit einem Lichtfinger an der Hinterkante der oberen Tragflächen entlangfährt. Grace’ Hand schnappt nach hinten, hält Willa ein Stück Papier hin. Finde du eine Bezeichnung für mich.
AN IHREM ZWEITEN TAG in der Luft fallen Willa am stärksten die Farben der Welt unter dem Flugzeug auf. Die schwarzen Kohlenhalden am Hafen, eine kleine Bergkette von so tiefem Schwarz, daß sie aus den sie umgebenden Farben von Wasser und Land herausfällt und das Gegenteil von dem wird, was sie ist – ein Loch, in dem Schwärze in Schwärze fällt. Ein Abgrund, der das Auge hinabzieht. Wenn sich Willa nicht gerade vertraute Gebäude und Wahrzeichen herauspickt, sieht die Stadt wie eine Ansammlung lose verstreuter, vielfarbiger Backsteine aus. Aufgehäuft auf dunklen Rechtecken bloßer Erde. Schutt, die Stadt sieht wie Schutt aus, wie etwas Umgeworfenes, Eingestürztes. Straßen blitzen wie Flüsse in dem sich verändernden Licht auf. Rauch kringelt sich wie Buchstaben von den Bleistiftstummeln der Fabrikschlote hoch. Die Inseln bewahren mit ihrer Sichel, ihrer C-Kurve die Form der Bucht. Bäume bilden einen grünen Streifen. Lagunen und Teiche wirken wie aus dem Land herausgeschnitten. Der Strand ist wie nacktes Fleisch, von dem sich die Haut aus Gras und Bäumen zurückgezogen hat. Die Dächer der Inselhäuser, kleine farbige Perlen. Die Bootsmasten im Becken des Yachtclubs, steif und stachelig wie die Borsten einer Bürste. Der Vergnügungspark wie das Aufblitzen eines Metallreißverschlusses, wenn sie über Hanlan’s Point fliegen. Und das Grün in so vielen Variationen. Aber am meisten beeindruckt Willa das Wasser. Die unendlichen Schattierungen, die das Blau hier ein wenig ins Grau übergehen lassen, dort ein wenig ins Grün. Die hellere Aureole um das tiefere Dunkel des Landes. Die Schattenringe
unter dem Wasser, alte Molen oder versunkene Schiffe. Das tiefe, tiefe Blau in der Mitte des Sees, Schicht um Schicht aufeinandergehäuft und von einem so weit unten liegenden Ort ausgehend, daß er matt glüht, als sei unter Wasser ein Licht angelassen worden. Ein versunkener Stern.
Kurz vor zwei bringt Willa die Moth tiefer herunter, schaut, ob das Tankflugzeug schon zum Start bereit ist. Sie fliegen über die Stadt. Willa kann das Wort Lufthafen lesen, das auf das Dach des Hangars gemalt ist, und sieht den Eindecker auf den See zurollen. Bei der Treibstoffübertragung geht alles glatt. Grace, die allmählich geschickter darin wird, den Schlauch zu handhaben, beendet das Auftanken schneller als gewöhnlich. Die leeren Kanister werden hochgezogen, die vollen sind sicher verstaut. Außer dem Essenspaket ist noch eine Zeitung im Transportsack. Keine Antwort von Jack auf Grace’ Brief. Grace winkt zum Flugzeug hinauf, erhält aber keine Reaktion. Der Treibstoffschlauch wird eingezogen. Das Tankflugzeug sinkt unter ihnen außer Sichtweite. Willa legt an Höhe zu, um gegen die Schwere der überladenen Moth anzukämpfen. Das Essenspaket ungeöffnet im Schoß, liest Grace die Titelseite der Zeitung. Sie dreht sich in ihrem Sitz um, hält die Seite flach auf das Metall zwischen den Cockpits gedrückt, damit Willa lesen kann, auf was sie deutet – auf ein Foto der Moth, die über den Inseln kreist. »Fliegerinnen überstehen die erste Nacht in der Luft.« Unter dem Foto beginnt ein Artikel. Willa richtet das Flugzeug aus, liest den Text. »›Wir sind müde und langweilen uns‹, sagt Willa Briggs, eine der beiden mutigen Pilotinnen, in einer Nachricht, die sie gestern an Jack Robson im
Tankflugzeug hochschickte. ›Aber wir sind entschlossen weiterzumachen.‹« Weiter kommt Willa nicht. Grace hat die Zeitung weggerissen, bevor Willa lesen kann, was sie angeblich noch alles gesagt haben soll. Ihr wird plötzlich eiskalt. Was geht da vor? Die einzige Nachricht, die sie Jack geschickt haben, war die von Grace heute morgen um sechs, in der sie sich nach dem Schicksal der gesunkenen Yacht erkundigte. Nichts von Willa. Überhaupt nichts. Grace fährt auf ihrem Sitz herum, die blauen Augen funkelnd vor Wut, und hält Willa einen Zettel hin. Dieser Schweinehund.
MADDY LIEGT OBEN in ihrem kleinen Zimmer im Bett und hört, wie sich ihre Eltern und Simon unten in der Küche unterhalten. Das Licht von unten kriecht die Treppe hinauf und erhellt die Wand über ihrem Kopf mit fahlem Schein. Sie hebt und senkt den Arm zu einem Schattenflügel, als das ferne Dröhnen von Grace O’Gormans Flugzeug über ihr ertönt und wieder verklingt. In der engen Küche sitzen Fram und Del am Tisch. Simon stapft zwischen der Spüle und der Hintertür auf und ab und liest von der Titelseite der Zeitung vor, die er mit der Hand umklammert hält. ›»Es ist ein Gebot Gottes, die Juden zu vernichten, Nazis fordern öffentlich Pogrome… Juden sind keine Menschen, wird verkündet, sondern giftige Schlangen…‹« Simon knallt Der Yiddisher Zhurnal auf die Arbeitsplatte und versenkt die Hände in den Hosentaschen. »Das passiert da drüben mit diesem neuen Kanzler Hitler. Selbsternannter Mann des Volkes. Jüdische Geschäfte werden geschlossen. Ärzten wird das Praktizieren verboten. Bücher von Juden werden verbrannt. Und jetzt…« Simon lehnt sich gegen den Spülstein. »Jetzt haben wir den Hakenkreuz-Verein in Toronto, der Hakenkreuze an das Bootshaus des Kanuclubs schmiert, der in seinen blauen Hemden und Hosen mit dem dämlichen Hakenkreuzabzeichen die Strandpromenade auf und ab marschiert – in ganzen Trupps. ›Helft uns, die Juden loszuwerden. Haltet die Strände sauber.‹« Er wippt gegen den Spülstein zurück, die Arme über der Brust verschränkt, das Haar an der Stirn schweißfeucht. Del gießt sich und Fram Tee nach, streicht sich mit der Hand über den Nacken. »Nicht nur an den Stränden, Simon«, sagt sie. Sie schaut ihren Bruder an, denkt, wie vertraut er ihr ist, das hagere Gesicht, die Art, wie er sich gegen den Spülstein lehnt. In gewisser Weise vertrauter als ihr Mann, mit dem sie
seit fünfzehn Jahren verheiratet ist. Sie kann sich nicht an eine Zeit vor Simon erinnern. »Das gleiche passiert hier auch. Juden ist es nicht gestattet, auf Ward’s Island zu wohnen oder zu zelten. All diese Schilder mit der Aufschrift ›Nur für Nichtjuden‹ an den schicken Hotels und den Yachtclubs. Aber das ist noch harmlos im Vergleich zu Europa. Mutter hat einen Brief von den beiden Onkeln bekommen. Sie versuchen, das Land zu verlassen.« Del nimmt die Hand von ihrem Nacken und greift nach dem Teebecher. »Man munkelt, daß Leute grundlos verhaftet werden. Eingesperrt werden.« »Zum Teufel noch mal«, ereifert sich Fram über seinem Tee. »Harmlos! Del, hältst du etwa Fatty Bennetts Rückführpolitik für harmlos? Leute aus den Arbeitslagern dorthin zurückzuschicken, wo sie herkommen, Juden nach Europa auszuweisen. Nach Deutschland. Zu Hitler.« Fram senkt die Stimme, aber oben in ihrem Zimmer kann Maddy ihn so deutlich hören, als stünde er neben ihrem Bett. »Wird es damit enden, Juden einzusperren?« sagt er und schaut von seiner Frau zu seinem Schwager. »Jüdische Geschäfte zu boykottieren? Juden daran zu hindern, Nichtjuden zu heiraten? Die Leute verlassen das Land, weil sie fürchten, daß noch Schlimmeres kommen wird.« Maddy drückt ihr Gesicht gegen das an die Wand gepinnte Foto von Grace O’Gorman. Ihre heiße Wange gegen Grace’ kühle, kühle Papierhaut. Sie wartet darauf, daß das Geräusch der Moth die Stimme ihres Vaters übertönt, aber die Maschine ist noch zu weit weg, um sie hören zu können. Maddy schließt die Augen, drückt sich fest gegen die schimmernden, glatten Lippen der berühmten Pilotin. »Warte nicht zu lange«, flüstert sie. »Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
AM DRITTEN ABEND IST Willas Euphorie der ersten beiden Tage verflogen. An ihre Stelle sind die praktischeren Gefühle des Unbehagens getreten. Es ist kälter geworden. Nur noch einundzwanzig Grad am Mittag und jetzt, zu Beginn des Abends, um die sechzehn herum. Graue Wolken bedecken den Horizont. Willas Körper ist ganz steif vor Kälte. Selbst mit Jacke, Schal und Handschuhen, die sie über Hemd und Reithose trägt, sind ihre Arme schwer und lahm. Jeden Tag hat sie ihre Übungen gemacht, sich daran gehalten, was ihr Simon Kahane über das Lockern der Muskeln beigebracht hat, aber heute helfen die seitlichen Boxhiebe und die Beinübungen überhaupt nicht. Sie kämpft nicht nur gegen die Kälte an, sondern gegen alles. Mit jeder Runde, die sie über den Hafen fliegen, steigert sich Willas Unbehagen. Ihr ist kalt, und sie ist müde, kann nur während Grace’ Schicht von Mitternacht bis drei Uhr morgens richtig schlafen. Sie möchte ihre Beine ausstrecken, eine heiße Mahlzeit zu sich nehmen. Sie sehnt sich nach einem Bad. Jeden Tag wäscht sie sich das Gesicht und den Hals mit medizinischem Alkohol, weil durch die Auspuffgase alles so dreckig wird, und gestern hat sie sich sogar unter den Achselhöhlen und zwischen den Brüsten abgerieben. Aber es ist kein richtiges Waschen. Sie will ihre Badewanne – heißes Wasser, die Beine träge über den Porzellanrand gehängt. Selbst die kleinsten Verrichtungen sind anstrengend. Sogar das Zähneputzen ist kompliziert. Zuerst muß sie in ihrem Gepäckfach nach Zahnbürste und Zahnpasta suchen. Die Zahnpasta aufzutragen macht keine Probleme, auch nicht das Schrubben der Zähne. Sie spült den Mund mit Wasser aus einer Flasche aus, die neben ihrem Sitz steht. Doch um auszuspucken, muß Willa sich tief aus dem Flugzeug hinauslehnen, damit die Zahnpastareste an der Bordwand
vorbeifallen und ihr nicht zurück in die Haare fliegen, wie es am ersten Tag passiert ist, als sie nur ihren Kopf hinausgehalten und den Mund geöffnet hat. Falls Grace nicht mitbekommt, was Willa gerade macht (was ihr beim Fliegen oft passiert), und genau dann in eine steilere Kurve geht, wenn sich Willa zum Ausspucken aus dem Flugzeug hängt, läuft Willa Gefahr, mit dem Mund voll Pfefferminzzahnpasta aus ihrem Cockpit katapultiert zu werden. Sie will raus aus dem Flugzeug. Vom vielen Sitzen ist sie ganz wund. Sie hat Verstopfung und Rückenschmerzen. Ihre Beine werden taub, wenn sie die Seitenruderpedale bedienen muß. Beim Krach des Motors, der ihren Kopf erfüllt wie ein Bienenschwarm, fällt ihr das Denken schwer. Grace und Willa haben beide aufgehört, ihre Anschnallgurte zu tragen. Gurte sind eine gute Idee, wenn man nur fliegt, sind aber furchtbar unpraktisch, wenn es ums Auftanken oder Pinkeln oder Umziehen oder Zähneputzen geht. Und jetzt, kurz nach acht Uhr abends am Donnerstag, dem 3. August, beginnt es zu regnen. Grace fliegt die letzte Stunde ihrer Abendschicht. Die Sonne ist vor zwanzig Minuten untergegangen, aber die Wolken spenden so viel Licht, daß man etwas sehen kann. Als sie die ersten Tropfen auf ihrem Gesicht spürt, dreht sich Willa in ihrem Sitz um, schnallt die Segeltuchhaube vom Rumpf und zieht sie über ihrem Kopf hoch. Die Haube ist durch gebogene Bambusstäbe verstärkt, und deren Enden müssen in kleine Metallhalterungen gesteckt werden, die im Abstand von zwanzig Zentimetern an der Außenseite der Cockpittüren angebracht sind. Vorne reicht die Haube nicht ganz bis zur Windschutzscheibe herab; durch den etwa dreißig Zentimeter breiten Spalt dringt der Luftschraubenstrahl ein, und die dürftige Haube wird fast heruntergerissen. Mit der
einen Hand hält Willa das Segeltuch fest und tippt mit der anderen Grace auf die Schulter, um ihr zu signalisieren, daß sie die Haube hochklappen soll, während Willa das Flugzeug fliegt. Die Hauben, speziell für sie von einem Angestellten des Adventure Girl Almanac entworfen, funktionieren nicht sonderlich gut. Da sich das Flugzeug mit über einhundert Stundenkilometern vorwärts bewegt, wird der Regen schräg über die Windschutzscheibe hereingetrieben, und Willa ist innerhalb weniger Minuten durchnäßt. Als sie versucht, in ihr Ölzeug zu schlüpfen, läßt sie die Haube kurz los, und sie wird vom Flugzeug weggerissen und verschwindet hinter ihr im Wirbel des Sturms. Grace, die durch die Tragflächen etwas geschützter ist, gelingt es, ihre Haube mit einer Hand festzuhalten, während sie den Steuerknüppel mit der anderen Hand bedient. Als sich Willa endlich in ihr Ölzeug gekämpft hat, ist sie durch und durch naß. Wasser läuft ihr aus der vollgesogenen Kappe den Hals und den Rücken hinunter. Ihre Schutzbrille ist vom Regen verschmiert, und sie kann nichts sehen. Nur ihre Füße, die in den Ruderschächten rechts und links von Grace’ Sitz stecken, sind noch trocken. Willa zerrt sich Schutzbrille und Kappe herunter und wirft beides zu Boden. Sie versucht, sich unter der Windschutzscheibe zusammenzuducken, aber der Steuerknüppel ist im Weg. Donner rollt über das Flugzeug hinweg. Blitze, denkt Willa. Was ist, wenn die Moth vom Blitz getroffen wird? Mit dem rechten Fuß tritt sie gegen Grace’ Sitz, weil sie Grace unter der Haube nicht sehen kann und in Panik gerät. Wer steuert das Flugzeug? Was ist, wenn der Motor zu naß wird und aussetzt, wenn das beruhigende
Dröhnen des Motors aufhört, das Willa vorhin noch verflucht hat, an dem sie jetzt aber mit jeder Faser ihres Körpers hängt? Eine Hand schiebt sich unter Grace’ Haube durch. Willa entnimmt ihr ein feuchtes Stück Papier. Sie gehört dir. Was gehört mir? denkt Willa. Der Regen läßt das kleine Flugzeug hin und her schwanken, strömt von der Hinterkante der oberen Tragflächen in einem Schleier herunter. Die Moth sackt nach Backbord ab. Es dauert einen Moment, bis Willa merkt, daß niemand das Flugzeug steuert.
Beim Auftanken um 22 Uhr geht alles schief. Der Eindecker schafft es nicht, synchron mit der Moth zu fliegen. Grace’ Segeltuchhaube wird weggerissen, als sie den Schlauch zu packen versucht, der immer wieder außer Reichweite schwingt, während das Tankflugzeug ein ums andere Mal seine Position korrigiert. Als es ihr schließlich gelingt, den Schlauch mit beiden Händen zu umklammern, wird sie halb aus dem Cockpit gerissen, weil das andere Flugzeug plötzlich steigt. Willa glaubt, Jack wolle ihr Grace wegnehmen, und zieht die Nase der Moth so abrupt hoch, daß Grace ins Cockpit zurückfällt. Auch das Füllen des Tanks läuft nicht gut. Es scheint den beiden Flugzeugen nicht möglich, die gleiche Geschwindigkeit zu halten, und zweimal wird der Schlauch aus dem Einfüllstutzen gerissen und bespritzt Grace und das vordere Cockpit mit Treibstoff. Willa, die kaum etwas sehen kann, muß versuchen, das Flugzeug ganz ruhig und gleichmäßig zu fliegen, während Grace sich verzweifelt an den wild hin und her schwingenden Schlauch krallt. Voll wird der Flügeltank auf diese Weise nicht, und Willa kann nur hoffen, daß Jack seinen Tankanzeiger überprüft, wenn er zum Flughafen
zurückkommt, bemerkt, daß die Tankfüllung nicht vollständig war, und zum nächsten Auftanken entsprechend früher aufsteigt. Keine Notiz, kein Wort von Jack. Grace verstaut die Treibstoffkanister, wickelt das Essenspaket aus und findet darin nur eine Thermosflasche mit Suppe, ein paar Kekse, ein paar getrocknete Datteln. Sie kniet sich rückwärts auf den Sitz, schraubt die Thermosflasche auf. Grace ist vollkommen durchnäßt. Sie hat keine Zeit gehabt, ihr Ölzeug anzuziehen. Die Kleider kleben ihr am Leib. Die durchweichte, eng an ihren Kopf geklatschte Kappe läßt sie kahl aussehen. Blitze zucken durch den Nachthimmel, durch die Wolken. Willa steuert das Flugzeug, und Grace füttert sie mit heißer Tomatensuppe, während sie in ihrer Endlosschleife über die Stadt, über das Wasser, über die Inseln gleiten. Willa mit offenem Mund, die dicke Suppe auf ihrer Zunge warm und salzig wie Blut. Der Treibstoffgeruch, der von Grace’ Haut ausgeht. Um 5.09 Uhr bei Sonnenaufgang hat der Sturm sich endlich ausgetobt. Willa sieht, wie er abzieht, nach Westen über den Himmel jagt, sich einen anderen Küstenstreifen vornimmt. Der Himmel verändert sich ständig, denkt sie. Launische Wetterwechsel, das Aufblitzen von Tag und Nacht und Tag, Mond, kein Mond. Die schimmernden kleinen Einstiche der Sterne. Grace schläft unter ihrem Ölzeug, den Kopf an den leise vibrierenden Flugzeugrumpf gelehnt. Sie hat ihre Kappe abgesetzt, und Willa sieht, wie ihr rotes Haar allmählich im wiederkehrenden Sonnenschein trocknet. Die Erleichterung bei der aufkommenden Helligkeit und das Ende des Regens haben Willa ruhiger gemacht. Sie bewegt den Steuerknüppel mit den Fingerspitzen, berührt kaum den lederbezogenen Stahl. Sie
beobachtet den Sonnenaufgang. Sie beobachtet Grace beim Schlafen. Erst eine halbe Stunde später, als Willa unten das Tankflugzeug über die Asphaltpiste rollen sieht und nach einem Stück Papier und einem Bleistift sucht, um sich bei Jack über die erfundenen Zitate zu beschweren, entdeckt sie das wahre Ausmaß dessen, was der Sturm letzte Nacht angerichtet hat. Papier. Die Notizblöcke, das Logbuch, die Zeitung – alles hin, alles nur noch ein durchweichter, matschiger Brei. Die Bleistifte einfach weg, aus dem Flugzeug gespült vom Regen, oder vom Bocken der Maschine nach hinten ans Heck gerollt, wo sie nicht mehr erreichbar sind. Noch wissen Willa und Grace nicht, daß das Regenwasser in der Bilge des Rumpfes herumgeschwappt ist, hinten Willas Sachen durchnäßt hat, wenn das Flugzeug stieg, vorne die von Grace, wenn sich die Flugzeugnase senkte. Alles ist naß, aber das läßt sich trocknen, außer dem Papier. Das Papier war vielleicht das Wichtigste, was sie mitgenommen haben. Willa hat sich daran gewöhnt, nicht zu sprechen, sich schriftlich mit Grace zu unterhalten. Der Eindecker schraubt sich zu ihnen hoch. Grace schläft im vorderen Cockpit, den Kopf seitlich verdreht, die Wange auf dem Metallstreifen, der die beiden Cockpits voneinander trennt. Willa setzt ihre Suche nach trockenem Papier, nach einem glücklicherweise geretteten Bleistift fort. Wie kann ich dich jetzt erreichen?
»HALT DIE ZÜGEL MIT DER LINKEN«, sagt Fram. »Laß sie nicht durchhängen.« Heute morgen lernt Maddy, wie man das schwarze Karussellpferd korrekt besteigt. Den linken Fuß im Steigbügel, stößt sie sich mit dem rechten ab, beide Hände am Sattelknopf. »Hast du den Sattelgurt überprüft?« fragt Fram von der anderen Seite des Pferdes. »Du willst doch nicht, daß er verrutscht, oder?« Maddy wirft ihm einen finsteren Blick zu. Ihre Beine tun weh. »Dad. Der ist angeklebt.« »Ja, schon, das weiß ich.« Fram legt die Hand auf den abgenutzten Ledersattel, tätschelt ihn sanft. Es ist kühl heute morgen. Ein frösteliger Wind streicht vom See her durch das Karussell. Fram seufzt, sein Atem flach im scharfen Wind. »Schau her, so geht das.« Er schwingt sich auf das vordere Pferd mit einer einzigen fließenden Bewegung vom Boden in den Sattel. Während er in perfekter Reithaltung dasitzt, gelingt es Maddy, sich bäuchlings an dem schwarzen Pferd hochzuziehen und in den Sattel zu rutschen. »Dad?« sagt Maddy, weil er so still ist, nichts sagt, nur auf den See hinausschaut. Er wirkt genauso hölzern und steif wie der Braune, den er reitet. Fram steigt von seinem Pferd und stellt das Karussell an. »Dann wollen wir mal eine Runde drehen.« Im Laufen springt er wieder auf, das Pferd gleitet rasch auf und ab, während er ein Weilchen nebenherläuft und sich dann, beinahe geschmeidig, vom Boden in die Steigbügel und in den Sattel schwingt. Nur ein kleines Stolpern, ein kleines Zögern. »Ich galoppiere über die Heide, mit dir zusammen…« beginnt Maddy, aber ihr Vater hebt die Hand, und sie verstummt. Sie kann sein Gesicht nicht sehen und von seinem geraden, durchgedrückten Rücken nicht ablesen, was er denkt,
aber sie folgt trotzdem seiner Aufforderung. Schweigend reiten sie auf den bemalten Pferden ein ums andere Mal im Kreis. Hinaus über das Wasser, zurück aufs Land. Der Motor des Karussells dröhnt, der Wind streicht mit hohem Pfeifen an ihnen vorbei. In der Luft liegt der metallische Geruch von totem Fisch und Seegras. Einmal drückt ihr Vater die Schenkel ganz fest gegen die Flanken des Pferdes, als könne er damit die ewige Kreisfahrt durchbrechen, mit dem Braunen durch den Vergnügungspark und hinaus auf die grünen Wiesen von Hanlan’s Point galoppieren. Trotz allem, was er ihr über seine Jugend in Schottland erzählt hat, die rauhen Ritte über die Moore, kann Maddy es sich nicht vorstellen. Sie sieht nur diesen Mann, ihren Vater, wie er jetzt ist, wie er schweigend auf dem bemalten, leblosen Pferd am Strand der westlichen Sandbank im Kreis reitet. Wie er steif dasitzt, sich in gleichmäßigen, gemessenen Bewegungen aus dem Sattel hebt und wieder herabsenkt. Ein Holzpferd würde ein hübsches Geräusch auf den Bohlen der Strandpromenade machen, denkt sie. Ein Holzpferd müßte schwimmen können. Sie stellt sich vor, wie sie auf ihren Pferden wegtreiben, hinaus in die Mitte des Sees. Nur sie beide. Sie könnten auf einer unbewohnten Insel landen, sich ein kleines Haus aus Treibholz, Ästen und Zweigen bauen. Zum Abendessen, Frühstück und Mittag gäbe es Fisch. Maddy mag Fisch nicht besonders gerne, aber sie würde lernen, könnte lernen, ihn zu mögen. Es wäre gut, mit ihrem Vater weit weg zu sein, weg von ihrer Mutter und dem, was sie ist, dem, was niemand leiden kann. Weg von dem, was Maddy nicht sein will. Das Gehänsel der Bell-Zwillinge, Tag für Tag, den ganzen Heimweg von der Schule dieses Frühjahr.
Judenmädchen. Dreckiges kleines Judenmädchen. Maddy reitet hinter ihrem Vater, hält die Zügel mit festem Griff, aber nicht zu straft. Genau wie er es ihr beigebracht hat.
MADDY FÄHRT MIT DEM FAHRRAD zur Blockhouse Bay auf Hanlan’s Point. Hanlan ist eine Halbinsel – auf der westlichen Seite liegt die Regattastrecke und die westliche Sandbank, östlich von der Spitze die Blockhouse Bay, ein schmaler Wasserarm zwischen Hanlan’s Point und Mugg’s Island. Am Ende der Bucht, wo Ausläufer sich wie Fühler nach Mugg’s Island und einigen kleinen, namenlosen Inseln ausstrecken, liegt das Wrack eines alten, hölzernen Lastkahns. Nicht weit vom Ufer entfernt, auf einer Sandbank, das Ruderhaus dem Wasser zugeneigt. Maddy schiebt das Fahrrad hinter die Büsche, krempelt die Hosenbeine hoch und watet hinaus zum Lastkahn. Der Schiffsrumpf ist fast vollständig weggefault, und die Reste sind mit Sand und Schlamm überzogen. Maddy hangelt sich über die Bordwand hinauf, benutzt die zerbrochenen Planken zum Abstützen und klettert auf das schräg abfallende Deck. Um die Inseln herum gibt es genug Schiffswracks. Die meisten werden im Sommer als Wochenendunterhaltung abgefackelt, aber der Lastkahn, auf dem Maddy steht, liegt dafür schon zu lange hier. Er ist tief in den Sand eingesunken, und die paar Decksplanken und Bretter des Ruderhauses würden nur ein enttäuschendes Freudenfeuer abgeben. Maddy drückt die schiefe, nur noch an einem Scharnier hängende Tür des Ruderhauses auf. Betreten verboten ist in weißer Farbe draußen an die Tür gemalt. Drinnen gibt es einen hohen Stuhl vor einer Steuerkonsole, einen am Boden angebrachten Schalthebel, ein leeres Bett, das einst als Koje gedient hatte. (Maddy hat die Matratze rausgeschmissen, weil sie voller Mäusenester war.) Ein paar alte Treibstoffkanister und Tabakdosen stehen auf dem Boden, Glas von den zerbrochenen Scheiben liegt herum. Die einzige heile Scheibe befindet sich über der Steuerkonsole. Maddy zieht sich auf den
Stuhl hinauf und schaut aus dem Fenster über die Bucht hinaus zum offenen Wasser des Hafens. Der Lastkahn ist auf Grund gelaufen und gesunken, als er von den Inseln wegfuhr, unterwegs zu einem unbekannten Ziel. Sie legt einen Schalter am Instrumentenbrett um, überprüft ihre Meßinstrumente. »Sie fliegt wie ein Vogel, Grace«, sagt sie. Mit beiden Füßen tritt sie gegen den Schalthebel und schafft es, ihn um eine Kerbe vorwärts zu schieben. »Ich hab mehr Gas gegeben«, sagt sie. »Wir können höher steigen.« Plötzlich prallt etwas gegen das Heck des Lastkahns. Stimmen sind zu hören. Jungenstimmen. »Nur ein altes Wrack.« »Komm schon.« Noch ein Anprall, dann klettert jemand den Schiffsrumpf hinauf an Bord. Maddy läßt sich aus ihrem Stuhl gleiten, schiebt rasch die Tür zu und stemmt sich fest dagegen. Jemand drückt von außen. »Abgeschlossen.« Wieder wird von außen gedrückt, diesmal mit mehr Kraft. Maddy stemmt sich mit dem Rücken gegen das dünne Holzbrett, bohrt die Hacken in den Boden des Ruderhauses. Die Tür gibt ein bißchen nach, hält aber. »Da drin ist sowieso nichts«, sagt eine Stimme. »Schau. Alles kaputt.« Aus den Augenwinkeln sieht Maddy zwei Gesichter, die durch das heile Fenster über der Steuerkonsole lugen. Die gegen die Tür gepreßte Maddy übersehen sie. Maddy bewegt sich nicht, hält den Atem an, bis sie hört, wie sie von Bord klettern, wie ihr Boot beim Einsteigen gegen die Bordwand prallt. Als sie sich sicher ist, daß sie verschwunden sind, kriecht sie aus dem Ruderhaus und huscht geduckt zum Heck des Lastkahns.
Zwei Jungs in einem Kanu. Maddy kann den Namen des Bootes lesen – Sunfish Island Camp. Das Camp der Arbeiterjungen. Jedes Jahr im August wird auf Sunfish Island ein Feriencamp für die Arbeiterjungen aus der Stadt eingerichtet. Fischen, Zelten, Bootfahren für Jungen, die vorher kaum die Möglichkeit hatten, Freizeitvergnügungen kennenzulernen. Die Inselbewohner sind wenig begeistert von diesem Camp. Die Arbeiterjungen haben den Ruf, ziemlich wild zu sein. Maddy ist vor ihnen gewarnt worden, genau wie jedes andere Kind auf den Inseln. Es gibt jede Menge Geschichten darüber, was die Arbeiterjungen bisher alles angestellt haben. Whisky haben sie getrunken und das Badehaus in Brand gesteckt. Katzen mit Pfeil und Bogen geschossen und sie gehäutet (und sie dann, so lautet eine Version, sogar gegessen). Boote im Yachtclub losgemacht und sie auf den See treiben lassen. Ob die Arbeiterjungen diese Dinge nun tatsächlich getan haben oder nicht, alle sind sich einig, daß sie durchaus dazu fähig wären. Es ist nur eine Frage der Zeit. Maddy sieht den Jungen nach, bis sie hinter Mugg’s Island verschwunden sind. Sie atmet schnell und flach, wie ein Stein, der über das Wasser hüpft. »Puh, Grace«, flüstert sie. »Wir werden das Flugzeug abschließen müssen.« Maddy fährt mit dem Fahrrad am Nordufer der Hauptinsel entlang. Sie folgt der Moth. Jedesmal, wenn die Maschine über ihren Kopf hinwegfliegt, tritt sie mit aller Kraft in die Pedale, will so lange wie möglich unter dem Flugzeug bleiben, den Kopf fast auf gleicher Höhe mit dem Lenker, die Beine wie wild strampelnd, während das Fahrrad durch die plötzliche Beschleunigung hin und her schwankt. Das Dröhnen des Flugzeugs erfüllt die Luft. Vögel schwirren über den Sand, über den Treibholzsaum des Strandes.
Während sie darauf wartet, daß die Moth sie auf ihrer nächsten Runde wieder überfliegt, übt Maddy, mit dem Fahrrad im Kreis zu fahren, ohne den Lenker zu berühren, die Arme seitlich ausgestreckt wie die steifen Besenstielarme einer Vogelscheuche. Es beruhigt sie, sich vorzustellen, das Flugzeug zu sein, hoch da oben am leeren Himmel, weit weg, wo niemand sie kriegen kann.
MADDY SITZT NEBEN IHREM VATER in der Mutual Street Arena. Um sie herum brüllen heisere Männerkehlen den beiden elfjährigen Jungs im Ring Beschimpfungen und Ermutigungen zu. Maddy ißt Popcorn aus einer Tüte und schaut mehr auf die brüllende Menge als auf die fernen, von Zigarettenrauch eingehüllten Jungs. Fram sitzt steif und gerade auf dem Stuhl neben ihr. Er brüllt nicht, hat ein sauberes Hemd an, und trägt seine Ausgehfrisur – das Haar glatt und schimmernd zurückgekämmt. Maddy hat nicht viel übrig für die Mutual Street Arena. Sie findet Boxkämpfe im Palais Royal viel schöner. All die feinen, schick angezogenen Leute, die den Boxern Geld zuwerfen, um sie anzufeuern. Wenn man nahe genug am Ring sitzt, kann man einige von den Münzen auffangen, die vom Segeltuchboden abprallen und durch die Seile zurückfallen. Einmal ist Maddy mit fünfzig Cents aus dem Palais Royal nach Hause gekommen. Selbst die großen, neuen Maple Leaf Gardens sind ihr lieber als diese schmuddlige, stinkende Schuhschachtel. Ich mußte ja mitgehen, denkt sie grimmig. Ihre Mutter arbeitet bis Mitternacht. Niemand, der auf sie aufpassen kann. Warum ihre Eltern soviel Angst haben, was abends und nachts passieren könnte, ist ihr unbegreiflich. Sie ist den ganzen Tag allein, und sie scheinen sich deswegen keine Sorgen zu machen. Kaum wird es aber dunkel, meinen sie, sie müßten Maddy um Jahre jünger machen. Dunkelheit ist doch nur umgekrempeltes Licht, denkt Maddy. Warum sollte man sich davor fürchten? »Ich hätte bei Jim bleiben können«, sagt sie. Jim ist der Mann, den Fram gebeten hat, heute abend für ihn beim Karussell einzuspringen. »Das hab ich schon früher getan. Oder bei Miro. Oder Rose. Oder Crocker.« Sie zählt alle Leute
im Vergnügungspark auf, die sich schon bei der einen oder anderen Gelegenheit um sie gekümmert haben. Fram schaut sie abwesend an, als wäre ihm eben erst wieder eingefallen, daß er sie mitgenommen hat. »Du siehst deinem Onkel doch gern beim Boxen zu.« »Tu ich nicht«, sagt Maddy. »Vielleicht, als ich zehn war.« Sie denkt an das Geld, das sie einheimsen könnte, wenn sie im Palais Royal wären. »Vielleicht manchmal. Aber nicht«, sagt sie nachdrücklich, »heute.« Fram hört nicht zu. Steif sitzt er da und schaut zu, wie der Junge in der blauen Hose den Jungen in der weißen Hose gegen die Seile drückt. Der Lärm der Menge nimmt zu, als der Junge in Weiß langsam seitlich auf die Matte gleitet und bewegungslos daliegt, während der Schiedsrichter mit der flachen Hand auf das Segeltuch neben seinem Kopf schlägt und ihn auszählt. »Feigling«, sagt Maddy leise. Als sie sich noch fürs Boxen interessierte – bevor Grace O’Gorman in ihr Herz flog und sich dort einnistete –, hatte Simon ihr einiges beigebracht. Sie mustert den Jungen in den blauen Shorts, so dürr und knochig, und denkt, daß sie ihn ohne weiteres k.o. schlagen könnte. Ein guter linker Haken würde dieses schlaffe, schlaksige Segelohr glatt umwerfen, und ihrer ist nicht von schlechten Eltern. Sie hat ihn an Bäumen geübt, die Hände mit Lumpen bandagiert. Maddy stellt sich vor, wie der Junge in den blauen Shorts zu Boden geht, wie ein gefällter Baum. Auf den Waldboden kracht. Simons Kampf ist der letzte des Abends. Der Hauptkampf. Kid Kahane gegen Slugger O’Brien. Der Itzig gegen den Iren. Als sie in den Ring kommen, springt die Menge auf und tobt vor Begeisterung. Maddy sieht die ganze erste Runde nur durch die schmalen Dreiecke, die entstehen, wenn Männer Seite an Seite stehen.
Fram hilft oft in Simons Ecke, aber heute hat Simon zwei Freunde aus seiner Straßengang dabei, die zwischen den Runden mit ihm reden, ihm das Gesicht mit einem Tuch abwischen und ihm Wasser einflößen. »Warum schlägt er die ganze Zeit so tief?« wundert sich Fram, die Hände auf den Knien. Sein Oberkörper zuckt hin und her, damit er zwischen den anderen hindurch den Kampf beobachten kann. »Weil Ma es ihm gesagt hat«, zischt Maddy. Simon hat ihr am Mittwoch, als er sie nach Hause gebracht und ihr dieses widerliche Bohnenzeug zum Abendessen gemacht hat, erzählt, was ihm Del über O’Brien gesagt hatte. Weich. Keine Kraft im Bauch. Fram schaut besorgt zu Maddy. »Ich wünschte, deine Mutter würde das nicht tun.« Fram hätte es lieber gesehen, wenn seine Frau ihre Hellseherei nur bei Fremden anwenden würde, in ihrer Bude auf Hanlan’s Point. Fünfundzwanzig Cents, um einer alten Frau zu erzählen, daß sie bald Anlaß zu einer Reise haben oder daß sich ihr Mann von seiner Krankheit erholen wird. So funktionierte das, wenn man eine Wahrsagerin war, die nicht über tatsächliche prophetische Gaben verfügte, sondern nur über eine gute Vorstellungskraft und ein rasches Einfühlungsvermögen. Aber Del war tatsächlich mehr, sah Lichtblitze aus einer Welt jenseits des Vergnügungsparks. Sie hatte Maddy mal erzählt, das sei, als nähme man aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr, etwas, das man nicht als Gestalt oder Form erkennen könne, doch man lerne, auf die Gestik zu reagieren. Maddy hatte Augenschmerzen davon bekommen, rumzulaufen und aus den Augenwinkeln zu schauen. Del konnte Ereignisse voraussagen. Besonders Todesfälle. Sie ist gut bei langfristigen Vorhersagen. Simons Freunde kamen zu ihr, um sie zu fragen, auf wen sie bei
Wetten setzen sollten. Sie ist gut darin, Simon zu sagen, wie er seine Kämpfe gewinnen kann. Maddy empfand Dels Ratschläge für Simon als Betrug. Wenn ihre Mutter ihm nicht helfen würde, wäre er vielleicht nicht so erfolgreich, würde nicht ständig gewinnen. Allerdings machte sie Simon den Vorwurf, daß er überhaupt fragte, nicht ihrer Mutter, weil sie darauf einging. Fragen zu stellen ist schlimmer, fand sie. Das hatte etwas von Habgier. O’Brien war, trotz Dels Vorhersage, ein härterer Gegner, als Simon erwartet hatte. Auch wenn er einen Hagel von Körperschlägen einstecken mußte, rächte er sich durch Schläge gegen Simons Kopf, brachte ihm eine häßliche Platzwunde über dem linken Auge bei. Ob es nun an Dels Vorhersage oder an Simons Jugend lag, Kid Kahane wurde Gewinner durch technischen K.o. Sie warten auf Simon vor den Umkleideräumen, Maddy plötzlich müde und an ihren Vater gelehnt, während Fram ihr über das Haar streicht, seine Hand groß und schwer wie ein Ochsenfrosch auf ihrem Kopf. Um sie herum der Rauch und das Gedränge der Männer, die die Arena verlassen. Aufgerollte Hemdsärmel, Hüte, die breiten und geröteten Gesichtern Luft zufächeln. Maddy schließt die Augen und denkt an die schlanke Grace O’Gorman. Ihr makelloses weißes Hemd und die Reithosen. Ihre auf Hochglanz polierten Stiefel. Das leuchtende, leuchtende Rot ihrer Lippen und ihrer Haare. Sie fühlt sich von den starken Armen der Pilotin hochgehoben und an ihre Schulter gedrückt fortgetragen. Das Erbeben der Tragflächen. Die kühle Nachtluft. Simon lehnt sich mit geschlossenen Augen auf dem Küchenstuhl zurück, während Del den Schnitt über seinem Auge behandelt, die blutige Schwellung vorsichtig mit einem
Wattebausch abtupft. Es ist nach Mitternacht, und sie sind als einzige im Haus noch wach. »Er hat dir ganz schön zugesetzt, dieser Ire«, sagt sie. »War doch nicht so ein Weichling, wie ich dachte.« Simon zuckt, als sie die Haut zusammendrückt. Von draußen, vor der Fliegengittertür, hört man das stete Tropfen des Regens. Untermalt von dem fernen Schwappen des Sees gegen die Sandbank. »Ich hab ihn mürbe gemacht«, sagt er. »Genau wie du mir gesagt hast. Hab ihm die Linke so oft unter die Rippen gerammt, daß sie in der vierten Runde Matsch waren.« Simon atmet tief ein und langsam wieder aus. »Deine Hände fühlen sich gut an«, sagt er. »Kühl.« Del schneidet ein Stück Gaze ab und durchtrennt damit gleichzeitig die Fäden, die ihre Gedanken an diese Küche binden. »Hör mal«, sagt sie. In der Ferne dröhnt ein Flugzeugmotor. »Das sind diese Frauen. Drei Tage haben sie jetzt hinter sich.« »Willa Briggs«, sagt Simon. »Das ist die, der ich Boxunterricht gebe. Die mir das Fliegen beibringen will.« Er öffnet die Augen, sieht, wie die Bandage auf seine Stirn gelegt wird. »Maddy würde mich wieder mögen, wenn ich Pilot wäre.« Es ist mehr eine Frage als eine Feststellung. Del drückt sanft gegen seinen Kopf, während sie die Gaze festklebt. »Maddy ändert dauernd ihre Meinung«, sagt sie. »Momentan sind es diese Pilotinnen. Nächstes Jahr wird es was anderes sein. Versuch nicht, mit ihr Schritt zu halten.« Ein Wusch kalter Luft strömt in die Küche. Simon riecht die Industrieabgase aus den Schornsteinen der Stadt. »Aber es fehlt mir, nicht mehr Maddys Held zu sein«, sagt er. Del läßt ihre Hand noch auf seinem Kopf ruhen. Sie lauscht auf das über ihnen kreisende Flugzeug, dessen Brummen das Rauschen des Regens übertönt. »Simon«, sagt sie. »Glaubst
du, sie können uns sehen? Es ist schon spät. Wir sind bestimmt das einzige Haus auf der Sandbank, in dem noch Licht brennt.« Sie geht hinüber zur hölzernen Fliegengittertür, und er folgt ihr. Hinter dem strömenden Regen ist nur Dunkelheit. Sie schauen beide zum Himmel. »Da«, sagt Del, und Simon sieht, hoch über ihnen, einen Stern, der sich bewegt, das winzige Aufblitzen des Navigationslichtes, als das Flugzeug über das Haus fliegt.
JACK BRINGT WILLA UND GRACE keine trockene Kleidung. Zusammen mit dem Essenspaket schickt er ihnen am vierten Tag eine Seite aus der Morgenzeitung. Die nächste erfundene Geschichte über den Flug des Adventure Girl. Grace ist offensichtlich wütend, knallt Willa regelrecht die Zeitung hin. FLIEGERINNEN
LASSEN
SICH
DURCH
REGEN
NICHT
ENTMUTIGEN
Laut Jack Robson, Ehemann von Grace O’Gorman und Pilot des Tankflugzeugs, haben die beiden Fliegerinnen den Sturm, der letzte Nacht über die Stadt hinwegfegte, bestens überstanden. Von der Nässe geschützt durch die speziell für sie entworfenen Regenhauben am Flugzeug, verbrachten Willa und Grace die Zeit damit, heiße Suppe zu trinken und das spektakuläre Gewitter über dem See zu beobachten. »Wir haben es gemütlich und trocken«, schrieb Willa Briggs an Jack. »Alles läuft glatt.« So gut wie alles in der Moth ist vom Regen durchnäßt. Der vierte Tag ist sonnig, nicht zu heiß, aber doch warm genug, um ihre nassen Sachen zu trocknen. Willa und Grace verbringen den Tag nur mit ihrem Ölzeug bekleidet, ihre Hemden, Hosen und die Unterwäsche sind über die verschiedensten Teile der Verspannung drapiert. Die beiden Drähte rechts und links am Flugzeug, die von den oberen Tragflächen bis hinab zum Rumpf unter dem vorderen Cockpit führen, eignen sich bestens als Wäscheleine. Sie steigen auf fünfzehnhundert Meter, damit niemand am Boden ihre Wäsche für ein Notsignal hält. Es ist ein trübseliger Tag. Ohne Papier und Bleistift gibt es keinen Austausch zwischen den Cockpits. Verbunden mit dem durch die größere Höhe hervorgerufenen Unvermögen, Einzelheiten am Boden auszumachen, ist der vierte Tag so viel
schwerer zu ertragen. Willa ist erstaunt, wie sehr ihr das Schreiben an Grace fehlt. Jetzt, wo es keine Möglichkeit gibt, etwas zu sagen, merkt sie, daß sie viel zu sagen hätte. Die einzige Sprachstafette, die sie am vierten Tag aneinander weiterreichen, ist das Signal, sich beim Fliegen abzulösen: Ein Arm in die Luft gestreckt. Als Grace am Ende ihrer Schicht um drei Uhr nachmittags dieses Zeichen gibt, spürt Willa, wie ihr die Kehle eng wird. Den ganzen Tag lang nur den Rücken von Grace O’Gorman, die entschwundene Erde. Willas Gedanken beginnen in ihrem Kopf aufeinanderzuprallen, panisch nach einem Ausgang zu suchen. Sie fürchtet, daß sie vielleicht einen Teil ihrer Vernunft, ihres Verstandes verliert. Daß ihre Gefühle vielleicht von dem Wind, der die ganze Zeit mit hundertsechzig Kilometer pro Stunde auf sie einpeitscht, zerfetzt werden. Es gibt Untersuchungen von Piloten, medizinische Studien, die den Unterschied zwischen der Wahrnehmung in der Luft und der Wahrnehmung am Boden aufzeigen. Willa erinnert sich an ein paar Einzelheiten aus einem Artikel, den sie über Luftfahrtmedizin gelesen hat. Die Sehfähigkeit ist in der Luft weniger exakt als am Boden. Je größer der Abstand zwischen Flugzeug und Erde, desto langsamer scheint sich das Flugzeug zu bewegen. Der Pilot verliert jedes Gefühl für die Anziehungskraft der Erde, überträgt seine Bodenverbundenheit auf das Flugzeug selbst. Ist es das, was gerade passiert? fragt sich Willa. Hat das Fehlen der Erdanziehungskraft auch andere erdgebundene Realitäten verändert? Gefühle, die an die gewichtige Ordnung der Welt dort unten gewöhnt sind, könnten hier oben, in fünfzehnhundert Meter Höhe, ins Trudeln geraten. Eine Rolle machen. Einen Looping. Willa schaut auf Grace’ erhobenen Arm, und ihr Herz bleibt an zwei Worten hängen. Rette mich.
Sie möchte mit Grace darüber reden, möchte wissen, ob das Durcheinander der Gefühle, das sie empfindet, nur auf sie zutrifft. Aber es bleibt nur die Möglichkeit, Grace auf die Schulter zu tippen, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen, ihr klarzumachen, was sie meint. Sonst nichts, um sich ihr verständlich zu machen. Aus dieser Höhe sieht die Welt flach aus, wie mit einer Patina überzogen. Der grünliche Bronzeton des Wassers, ölig von der Sonne. Die Flecken auf dem See rund um die Inseln. Die Inseln, geformt wie ein Bumerang, dunkel und bereit, in den Himmel geschleudert zu werden. Fliegen heißt, die richtige Stellung am Himmel einnehmen. Den Angelpunkt am Horizont zu finden, wo Himmel und Erde zusammentreffen, und das Flugzeug in diese Kerbe, diese Spur, einzufügen. In fünfzehnhundert Meter Höhe wölbt sich die große Leere des Himmels herab und trifft in einer dünnen Horizontlinie auf den See. Fliegen wird an einer Distanz bemessen, die sich nicht messen läßt. Das Flugzeug bewegt sich auf einen Horizont zu, den es nie erreichen kann, eine Linie, die sich in immer gleichem Abstand entfernt. Es ist nicht nur die Schwerkraft, denkt Willa, und steuert die Moth direkt auf diese scharf abgesetzte Linie zwischen Wasser und Himmel zu. Es ist eine Frage des Standorts. Es geht darum, wo man sich befindet und wie man das einschätzt. Fliegen ist Stillstand. Das Flugzeug bewegt sich vorwärts, die Erde zieht sich zurück, und man selbst bleibt stets am gleichen Ort. Am Abend sind ihre Sachen trocken, und sie können wieder tiefer hinabgehen. Eine Stunde lang fliegen sie in geringer Höhe über dem Hafen. Willa ist ganz versessen auf Einzelheiten und richtet ihren Blick begierig auf die gedrungenen Rundungen der Öltanks nahe der östlichen Durchfahrt und den orangefarbenen Algensaum um die Inseln.
Sie beobachtet eine Kohlenschute, die sich langsam durch die Fahrrinne bewegt und über ein Förderband entladen wird, Nachschub für das schwarze Gebirge, das dem Hafengebiet mit seinen sanft geschwungenen Hügeln eine seltsame Eleganz verleiht. Sie fliegen in Richtung Stadt und sehen, wie einer der Ausflugsdampfer, die zwischen Toronto und den Niagarafällen verkehren, zu seiner abendlichen Tanzfahrt vom Kai losmacht. Bei Sunnyside sehen sie den großen, hölzernen Schoner vor Anker liegen und auf seine unmittelbar bevorstehende Verbrennung warten. Sie sehen den Beginn eines Baseballspiels, Willas geliebte Supremes gegen die Mannschaft von Humber Bay. Der Ball ist ein kleiner weißer Punkt, der das Spielfeld wie eine hastig geheftete Naht zerteilt. Als die Farben der Erde von der Dunkelheit verschluckt werden, erlischt auch Willas Bedürfnis, mit Grace zu kommunizieren. Sie fliegen über die Inseln. Um Mitternacht sind nur noch der Mond und der rötliche Lichtschein der Stadt zu sehen. Das aufblitzende grüne Licht von der Leuchtbake an der westlichen Durchfahrt. Das stetig brennende rote Licht der Leuchtbake an der östlichen Durchfahrt. Das jeweils acht Sekunden lang rotierende Licht vom Gibraltar-Leuchtturm auf den Inseln. Licht, das wie ein bleicher Arm auf dem Wasser liegt, sich ausstreckt und verlischt. Sich ausstreckt. Und verlischt.
DEL DREHT LANGSAM die Karten um. Die junge Frau ihr gegenüber, die Hände nervös im Schoß verschränkt, beugt sich vor, um die Abfolge der aufgedeckten Herzen und Piks zu betrachten. »Bevor wir anfangen«, sagt Del und deckt die letzte Karte auf, »könnten Sie mir etwas von Ihnen geben, das ich in der Hand halten kann? Etwas, das Sie schon lange besitzen?« Bereitwillig nimmt die Frau einen Granatring ab und reicht ihn Del über den Tisch. »Der hat meiner Mutter gehört«, sagt sie. »Ich trage ihn, seit sie gestorben ist.« Ihr Blick ist auf Del geheftet. Geisterhaft huscht das Kerzenlicht über das Gesicht der Wahrsagerin. »Sie starb, als ich drei Jahre alt war.« Del hält den Ring in ihrer Faust, drückt ihn. Der Ring ist noch warm von der Hand der jungen Frau. Die Leute, die die Wahrsagerbude betreten, sind beeindruckt von den Karten, der Kristallkugel, den Kerzen. Sie erwarten, so etwas vorzufinden. Doch sie wissen nicht, daß das alles nur Fassade ist. Del kann in die Zeitkurve sehen, die von der Vergangenheit zur Zukunft führt. Aber nur, wenn sie etwas in Händen hält, einen persönlichen Gegenstand, der sie, wie ein Bluthund, auf die Spur der ihr gegenübersitzenden Person führt. Die Prophezeiungen sind in den feinen Fäden eines Schals, dem abgenutzten Leder einer Geldbörse verborgen. Heute nacht liegt die Zukunft in einem glatten goldenen Halbrund, einem dunkelroten Stein. »Sie sind verliebt«, sagt Del. »Nein.« Sie zögert. Etwas streift den Rand ihres inneren Blickfeldes. »Sie wären gern verliebt, aber der Mann, den Sie sich ausgesucht haben, will Sie nicht.« Die junge Frau stößt die Luft aus wie ein zusammensackender Ballon, sinkt zurück. »Warum?« fragt sie leise.
Del schließt die Augen, konzentriert sich auf den Ring in ihrer Hand. Sie sieht einen Mann, zwei Männer. Sie sieht ein Wäldchen. Den Nachthimmel. Der wichtigste Punkt bei der Wahrsagerei ist nicht nur, was man sagt, sondern auch wie man es sagt. Für manche Dinge sind die Menschen aufnahmebereit, für andere nicht. Del versucht ihren Kunden stets solche Dinge zu sagen, die nicht zu weit außerhalb ihre Begreifens liegen, damit sie darauf zutaumeln können. Wenn es keine Verbindung gibt, keinen roten Faden zwischen dem Vorhergesagten und der momentanen Situation, dann findet keine Entwicklung zu einem Verständnis für das statt, was vor ihnen liegt. Es kommt ihnen zu abgetrennt, zu fern von ihnen selbst vor, und sie werden es nicht glauben. Die Schwierigkeit für Del liegt nicht darin, die Kunden wissen zu lassen, was kommen wird, sondern herauszufinden, wieviel sie bereits auf einer unterbewußten Ebene wissen, und dann das, was sie zu sagen hat, ihrer Kenntnis der Situation anzupassen. Del hört die Musik und das mechanische Ächzen der Karussells, das von draußen hereindringt. Sie hört, wie jemand Erdnüsse anpreist, und dahinter das sausende Rasseln der Achterbahn, die auf ihren Schienen nach unten schießt. Kreischende Mädchen. »Was wissen Sie von diesem Jungen?« fragt Del. Die junge Frau beugt sich wieder vor, die Hände im Schoß immer noch fest umklammert. »Er ist freundlich und liebenswürdig«, sagt sie. »Er sieht gut aus und ist manchmal ziemlich draufgängerisch.« Sie lächelt über etwas, das ihr gerade einfällt. »Nein«, sagt Del. »Was wissen Sie von ihm?« Von draußen dringt das Geräusch trampelnder Füße herein. Jemand rennt an der Bude vorbei.
»Er arbeitet auf den Docks«, sagt das Mädchen langsam, nicht sicher, was die Wahrsagerin von ihr hören will. »Er ist sehr stark. Er ist an einem Montag geboren. Er tanzt gern die ganze Nacht durch.« »Er führt zwei Leben«, sagt Del. Sie tippt mit dem Finger auf eine der vor ihr liegenden Karten. »Schauen Sie«, sagt sie. »Diese hier liegt verkehrt herum. Der Mann, den Sie lieben, hat ein Geheimnis.« »Was für ein Geheimnis?« fragt die junge Frau. Del schließt ihre Hand fest um den Ring. Warum wird Hellseherei als Gabe betrachtet, fragt sie sich. Es ist keine. Was sie zu sagen hat, wird diese Frau nicht trösten. Die Wahrheit ist so oft nichts als ein weiterer Schmerz. »Er umgibt sich lieber mit seinesgleichen«, sagt sie vorsichtig. Einen Moment lang hält sie inne, lauscht auf das dumpfe Tuten der Fähre, die vom Kai ablegt. »In jeder Beziehung«, sagt sie. »Er ist lieber mit Männern zusammen.«
Um Mitternacht geht Del durch den verlassenen Vergnügungspark, die warme Nachtluft weich auf ihrer Haut. Die vielen Menschen sind verschwunden. Ihr Mann und ihre Tochter liegen zu Hause im Bett. Nur das Brummen des Flugzeugs mit den beiden Pilotinnen hoch über den Inseln, sonst wirkt die Welt wie ausgestorben. Del raucht eine Zigarette und geht langsam hinüber zur großen spektakulären Wasserschau. Früher war hier mehr los, denkt sie, während sie unter dem blau gestrichenen Torbogen hindurchgeht. Da gab es noch die hohe Holzplattform für Ned, das tauchende Pferd. Jetzt sind nur noch das große Aquarium mit den seltsamen Fischen, die Modellschiffe und das Innenbecken übrig, in dem sich Rose unter Wasser ein kleidet.
Drinnen in der Schwimmhalle ist die Luft feucht. Del setzt sich auf die leere Tribüne und schaut zu, wie ihre Freundin das Wasser mit ihrem Körper gestaltet. Rose übt ihr Synchronschwimmen nach der letzten Vorstellung, wenn sich die Massen der johlenden, lärmenden Männer verzogen haben. Genau wie Del zieht sie die Stille der Nacht vor, macht sie sich dort unten im dunklen Becken zu eigen. Delphin, Speerfisch, Schwertfisch, das langsame Drehen des Wasserrades. Del erkennt die Figuren, sitzt gern hier oben nahe den Dachsparren und beobachtet das Wasserkaleidoskop. Catalina, Barracuda, Flamingo, Reiher. Der amerikanische Eiffelturm. Rose’ Körper so glatt und geschmeidig wie Quecksilber. Sie taucht und dreht sich, teilt das Wasser und wirbelt in die unsichtbare Tiefe hinab, ohne daß sich die Wasseroberfläche kräuselt. Sie ist flüssig, denkt Del, zündet sich eine weitere Zigarette an und sieht dem Rauch nach, der über die Dachsparren streicht wie über hölzerne Harfensaiten. Sie ist Wasser. Nein, denkt Del, sie ist das, was Wasser sein möchte. Rose ist berühmt für ihr Schwimmen. Ihre ballettartige Unterwasser-Stripshow verzaubert die Menge zweimal am Tag. All die Männer, die kommen, um nacktes Fleisch zu sehen, sind erstaunt über die Eleganz, die Anmut, mit der sich Rose’ Körper im Wasser bewegt. Über die unerwarteten Dinge, die sie empfinden. Manchmal kommen die Männer zurück, bringen ihre Freundinnen und Ehefrauen mit, sagen: »Du mußt diese Lady schwimmen sehen.« Rose führt mit ihren Figuren ganze Szenarien im Becken vor. Unterschiedliche Kostüme für unterschiedliche Geschichten. Das WesternKostüm mit den Revolvern, in dem Rose aus dem Wasser aufsteigt, zwei triefende Colts schwingt und einen Stetson trägt. Rose ist in allem gut, was mit Schwimmen zu tun hat. Jedes Jahr gewinnt sie das zum Auftakt der C.N.E. stattfindende
Marathonschwimmen der Frauen über zehn Meilen. Sie hält auch den Rekord für die meisten Siege in Folge. Drei. Außerdem ist sie eine hervorragende Springerin, besonders im Turmspringen, und nimmt oft an Wettbewerben teil. Als es noch das tauchende Pferd in der großen spektakulären Wasserschau gab, ritt sie es und blieb stets fest im Sattel, während sie die fünfundzwanzig Meter vom Turm in den See hinabfielen. Del erinnert sich an die Erregung, die sie jedesmal empfand, wenn das weiße Pferd die Rampe zum Turm hinaufgaloppierte, gelenkt von Rose im Badeanzug, die mit der einen Hand winkte und mit der anderen die Zügel hielt. Jedesmal die Angst, daß das Pferd im letzten Augenblick scheuen und sie abwerfen würde. Jedesmal winkte sie auf dem ganzen Weg nach unten. »Hallo«, sagt Rose. Sie ist zum Rand des Beckens geschwommen. Mondlicht, das durch die hoch oben an den Hallenwänden angebrachten Fenster sickert, wird von ihrer weißen Badekappe reflektiert. »Ich hab dich dort oben gar nicht gesehen.« Del klettert über die Klappstühle hinunter an den Beckenrand. »Wollte deine Konzentration nicht stören«, sagt sie. »Wieso Konzentration?« Rose lacht, nimmt die Badekappe ab, schüttelt ihr langes dunkles Haar aus. »Konzentration hat was mit Stillstand zu tun. Schachspieler konzentrieren sich.« Sie legt ihren Kopf auf den hölzernen Beckenrand, bleibt mit dem Körper im Wasser, paddelt auf dem Rücken. »Del«, sagt sie. »Wenn der Mond im richtigen Winkel steht, strömt das Licht manchmal direkt durch die Fenster herein und flutet über die Oberfläche des Beckens. Ich kann durch das Mondlicht schwimmen und so tun, als sei ich im Meer.« Del setzt sich neben das Becken und lehnt sich auf die Hände zurück. Sie schließt die Augen, hört das Wasser gegen den
Beckenrand schwappen, spürt die Feuchtigkeit auf der Haut. »Hast du schon Nachricht von deinen Eltern?« fragt sie, öffnet die Augen und spürt, daß sie beinahe eingeschlafen wäre, erinnert sich daran, warum sie hergekommen ist. Das Holz fühlt sich so gut unter ihren Händen an. »Meine Mutter hat einen Brief von den beiden Onkeln bekommen. Sie versuchen, das Land zu verlassen.« Sie hält inne. »Fram glaubt, Hitler hätte es auf die Juden abgesehen.« »Fram hat recht«, sagt Rose. Sie paddelt heftig mit den Füßen, und das Wasser schäumt um sie auf. »Die Deutschen haben das Geschäft meines Vaters geschlossen, und danach habe ich nichts mehr gehört. All meine Briefe kommen ungeöffnet zurück. All meine Fragen immer noch zusammengefaltet im Umschlag.« »Rose«, sagt Del. »Es wird ihnen schon nichts passiert sein.« »Du bist die Wahrsagerin«, sagt Rose, stößt sich vom Beckenrand ab und läßt sich ins tiefere Wasser treiben. Sie rollt sich herum, ihre Beine schießen hoch in die Luft, und sie verschwindet in der dunklen Mitte des Beckens.
AM SAMSTAG, DEN 5. AUGUST, ist die Welt unter der Moth voller Geschäftigkeit. Das lange Wochenende mit dem freien Montag hat begonnen, Tage, an denen selbst in dieser schwierigen Wirtschaftslage gefeiert wird. Auf Hanlan’s Point wird es am Montag zwei große Bühnenshows mit vierundzwanzig verschiedenen Künstlern geben. Montana Frank und seine Scharfschützen treten täglich in Sunnyside auf. Die Menschen strömen an die Strände, in die Parks und auf die Fähren. Vom Flugzeug aus kann Willa sehen, daß die Stadt zum Stillstand gekommen ist, weil alles an diesem warmen Tag ins Freie drängt. Am Lakeshore zieht sich ein blauschwarzer Striemen geparkter Autos entlang, die bleiche Sandhaut von Sunnyside ist mit einem Stoppelbart aus Menschen bedeckt. Es ist elf Uhr morgens und bereits fünfundzwanzig Grad. Willa hofft, daß die Temperatur nicht wieder so hoch steigt wie während der Hitzewelle Ende Juli. Sie fand die Kühle angenehmer. Nachts in ihre Lederjacke gekuschelt. Das frischere, klarere Strahlen der Sterne. Sie neigt das Flugzeug nach links über die Inseln, denkt, wie einfach links geworden ist, wie die Maschine von selbst dorthin gleitet. Es erscheint ihr unvorstellbar, je wieder eine rechte Kurve zu fliegen. Und nicht nur zu fliegen, denkt sie. Links ist die Richtung, in die es auch ihren Körper automatisch zieht. Als sie über den Regattakurs auf der Westseite von Hanlan’s Point fliegt, sieht Willa die Ruderboote wie Wasserflöhe über das Wasser huschen. Rudern ist ein beliebter Sport in der Stadt und zieht viele Zuschauer an. Rudern und Boxen. Die kleineren, mehr den Amateuren vorbehaltenen Wettläufe an diesem Wochenende sind eine Vorbereitung auf die große Drei-Meilen-Regatta am 1. September. Einer-Ruderer. Der Australier Bob Pearce gegen den amtierenden Weltmeister aus
England, Ted Phelps. Dann wird der Hafen schwarz vor Menschen sein, denkt sie und korrigiert die Moth etwas mit dem linken Seitenruder, um den aus Osten kommenden Wind auszugleichen. Die ganze Stadt wartet seit Wochen gespannt auf diese Regatta. Heute beneidet Willa die Menschen an den Stränden, die Menschen, die in den Parks auf den Inseln picknicken, die einfachen Freuden des normalen Lebens – Spazierengehen und Reden. Fünf Tage in der Luft, und ihre Beine fühlen sich an, als hätten sie vergessen, wie man sich am Boden bewegt. Fünf Tage in der Luft, und keine Möglichkeit, mit der Fluggefährtin zu kommunizieren. Es ist das Reden, das ihr am meisten fehlt. Sie hoffen nicht mehr darauf, daß Jack ihren dringenden Wunsch nach Schreibmaterial errät. Für Willa ist es offensichtlich, daß Jack nur seine eigenen verdrehten Absichten verfolgt und vorhat, sie beide zu verraten. Fast jeden Tag gibt es neue Zeitungsartikel über sie, Dinge, die sie angeblich gesagt und getan haben, wobei nichts den Tatsachen entspricht. Nach dem ersten Artikel hatte Willa befürchtet, daß Jack nicht mehr zum Auftanken kommen würde, aber inzwischen ist ihr klargeworden, daß die Anwesenheit der Mitarbeiterin vom Adventure Girl ihn davon abhält. Sie werden weiterhin Treibstoff und Essenspakete bekommen. Doch alles andere ist unsicher. Willa denkt, daß Grace bestimmt darunter leidet und wütend ist, aber sie hat keine Möglichkeit, das herauszufinden. Sie sind jetzt nur noch eine Verlängerung ihrer Maschine. Sie fliegen das Flugzeug. Sie essen und entleeren sich und schlafen für kurze Zeit. Ihre Verbindung zu allem Menschlichen schwindet rasch. Trotzdem empfindet Willa ein gewisses Mitgefühl für Jack Robson und seine Entschlossenheit, sich an die einzige fliegerische Leistung seiner Karriere zu klammern. Wer wäre er denn ohne diesen Rekord? Ein alternder
Fluglehrer auf einem provisorischen Flugplatz. Nichts Großartiges im Zeitalter großartiger Flugabenteuer. Die Fahrrinne ist mit Kohlenschuten verstopft. Massen kleiner weißer Segel schaukeln und wiegen sich im Hafenbecken. Sie fliegen tiefer als gewöhnlich, um mehr von dem zu sehen, was sich da unten tut. Das gibt ihnen etwas zu tun, etwas, auf das sie ihre Aufmerksamkeit richten können. Willa mißt außerdem Lufttemperatur und Rundenzeiten, obwohl beides (über die einfache Neugier hinaus) sinnlos scheint, da es kein Logbuch mehr gibt, in das sie die Ergebnisse und Beobachtungen eintragen kann. Keine Aufzeichnungen über den Flug, der einen Rekord brechen soll, außer den erfundenen Zeitungsartikeln von Jack. Grace fliegt die Schicht von zwölf bis drei Uhr nachmittags, und Willa widmet sich ihrer täglichen Alkoholwäsche, knöpft ihre Bluse auf, um ihren Oberkörper abzutupfen, zieht die Knie an, damit sie die Stiefel ausziehen und ihre Füße abreiben kann. Der Alkohol trocknet ihre Haut aus. Der Luftschraubenstrahl trocknet ihre Haut aus. Die herabbrennende Sonne trocknet ihre Haut aus. Sie verbringt viel Zeit damit, sich einzucremen. All das nur, damit sich ihr Körper nicht noch schlechter fühlt. Sehr wenig von ihrer Körperpflege trägt dazu bei, daß sich ihr Körper besser fühlt. Selbst ihre notdürftigen Turnübungen sind nur noch eine Vorbeugungsmaßnahme gegen Muskelkrämpfe, keine belebenden und erfrischenden physischen Aktivitäten zur Stimulierung von Körper und Geist. Simon Kahane wäre nicht zufrieden mit ihren schwächlichen, halbherzigen Boxhieben über die hinteren Cockpittüren. Boxen. Das Geräusch von Fäusten, die gegen einen schweren Sandsack klatschen. Der muffige, beißende Geruch der Sporthalle. Das einzige, was sie von ihrem Vater in Erinnerung
hat. Bevor er sie verließ, obwohl ihre Mutter es nie so nennen würde. Sie pflegt zu sagen, dein Vater konnte nicht bleiben, als sei er fortgerufen worden, sei zu spät dran gewesen für eine Verabredung, würde zurückkommen. Als Simon Kahane zu ihr kam, um Flugstunden zu nehmen, hatte es Willa als richtig empfunden, sich von ihm Boxunterricht im Austausch gegen Flugunterricht geben zu lassen. So wie ihr das Fliegen wie eine Selbstverständlichkeit vorgekommen war, als sie zum ersten Mal ein Flugzeug über sich gesehen hatte, an der Hand ihrer Mutter, den Kopf weit in den Nacken zurückgelegt. Damals hatte sie gedacht, was ist das? Warum bin ich hier unten? Jetzt führt das Boxen, ebenso wie das Fliegen, zu weiterem verbitterten Schweigen, wenn sie Sonntag nachmittags ihre Mutter besucht. Das einzige Kind. Die große Enttäuschung. Genau wie dein Vater. Nachdem sie aufgetankt und Hühnerbeine und Kartoffelsalat zum Lunch gegessen haben und Willa wieder mit Fliegen dran ist, dreht sich Grace in ihrem Sitz um und schaut ihre Partnerin an. Das haben sie sich in den letzten anderthalb Tagen angewöhnt. Selbst wenn sie nicht miteinander reden oder einander schreiben können, ist es schon eine Erleichterung und ein Trost, einander anzusehen. Grace trägt frischen Lippenstift auf, bürstet ihr Haar. Sie hat aufgehört, tagsüber die Fliegerkappe zu tragen – nur nachts gegen die Kälte –, und ihr rotes Haar ist ständig zerzaust. Willa steuert und beobachtet Grace, die sich in dem kleinen Notspiegel betrachtet. Sie sieht gut aus, denkt Willa. Ich würde ihr das sagen, wenn ich könnte. Grace könnte sich über das Rumpfstück lehnen und in Willas Ohr brüllen. Wenigstens ein paar Sätze, bevor die Anstrengung, so laut zu brüllen, und die unbequeme, gefährliche Stellung Grace ermüden würde. Aber das ist es
nicht wert. Nicht jetzt, wo alles relativ glatt läuft. Sie müssen mit ihren Kräften haushalten. Schon jetzt kann Willa erkennen, daß das Pumpen aus den tragbaren Treibstoffkanistern Grace stark ermüdet. Diese anstrengende Art der Kommunikation sparen sie sich für den Notfall auf, wenn es Probleme gibt, wenn etwas schiefgeht. Grace legt den Spiegel weg und starrt Willa an. Willa starrt zurück. Das Flugzeug legt sich von selbst in die Linkskurve über der östlichen Durchfahrt. Grace breitet die Arme nach beiden Seiten aus. So weit sie kann. Was macht sie da? denkt Willa. Die Moth gleitet nach links über die Stadt. Grace beugt sich mit ausgestreckten Armen etwas nach links, um die Kurve anzudeuten. Flugzeug. Willa nickt, als Zeichen, daß sie versteht. Grace dreht ihre Handgelenke, die Daumen nach oben. Ihre Arme sind immer noch ausgestreckt. Steigen. Sie dreht die Handgelenke mit den Daumen nach unten. Sinken. Sie dreht die Arme nach links, dann nach rechts. Kurve. Willa nickt und nickt. Die Worte hüpfen und knistern in der Luft zwischen den Cockpits. Grace deutet auf sich, tippt mit dem rechten Zeigefinger gegen ihr Brustbein. Ich. Sie deutet auf ihre Lippen, rot und ölig glänzend vom Lippenstift. Kuß? denkt Willa. Sie schüttelt verwirrt den Kopf.
Grace öffnet und schließt den Mund, macht mit den Lippen Sprechbewegungen. Willa nickt. Grace streckt die Hand aus und berührt sanft Willas Wange. Wange. Lippen. Brust. Körper. Mund. Körper. Ich werde mit dir reden.
Sie verlieren jedes Zeitgefühl. Willa fliegt immer weiter, fliegt Grace’ Frühabendschicht, ohne daß sie es merken. Sie wirft beim Fliegen kaum einen Blick nach unten. Hält automatisch den Kurs, mit den Fingerspitzen, Resultat ständiger Wiederholung. Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt Grace. Grace, die mit untergeschlagenen Beinen verkehrt herum auf ihrem Sitz hockt und eine Sprache aus der Luft formt. Über die Teile und Funktionen des Flugzeuges hinaus wird es schwieriger, Bedeutungen zu übermitteln. Sie halten sich lange mit jedem Wort auf, wiederholen es bis zum Überdruß, bevor sie sich einem neuen zuwenden. Oft muß Grace zwischen den erdachten Zeichen eine Weile nachdenken, muß sich überlegen, was sie sagen will und wie sie es am besten darstellen kann. Langsam bauen sie einen elementaren Wortschatz auf. Erde: Linker Arm ausgestreckt, die Handfläche nach oben. Wasser: Eine wellenförmige Bewegung mit der rechten Hand wie eine kriechende Schlange. Himmel: Das Zeichen für Erde, wobei die rechte Hand einen unsichtbaren Bogen über der ausgestreckten Handfläche der linken beschreibt. Wind: Rasches Bewegen der Finger der rechten Hand vor dem Körper, die Handfläche nach unten. Das Zappeln der Finger in der Luft symbolisiert das Wehen des Windes.
Regen: Beide Hände über dem Kopf, die zuckenden Finger gegen das Haar gerichtet, um Regentropfen anzudeuten. Kleidungsstücke und Körperteile werden durch direktes Zeigen bezeichnet. Für Essen deutet Grace zuerst auf ihren offenen Mund und versucht dann pantomimisch, spezielle Nahrungsmittel darzustellen. Daumen und Zeigefinger zum Oval eines Eies geschlossen. Ein imaginäres Hühnerbein mit der Faust gepackt und abgeknabbert. Kaffee dargestellt als Pusten und dann langsames Trinken aus einem Becher. Bis die Dunkelheit sie einfängt und Grace’ Hände zu verschwimmen beginnen, machen sie weiter mit dem Beschreiben und Identifizieren, mit dem Benennen von Dingen. Das ist kein Reden im gewöhnlichen Sinne, denkt Willa, als Grace sich schließlich in ihrem Cockpit umgedreht und die Steuerung der Moth übernommen hat. Wir lernen, auf eine andere Art zu reden.
MADDY FÄHRT MIT DEM FAHRRAD unter der Moth her. Heute fliegt das Flugzeug tief, und sie kann die weißen Hemden der Pilotinnen und ihr vom Wind zerzaustes Haar sehen. Sie fährt die hölzerne Strandpromenade am Nordufer der Inseln entlang, und das Holz knackt unter ihren Rädern. Den ganzen Weg bis zur östlichen Durchfahrt und dann zurück bis zum Anfang von Hanlan’s Point. Auf dem Hinweg und auf dem Rückweg fliegt das Flugzeug je einmal über sie hinweg. Sie legt den Kopf zurück, schaut hinauf, breitet die Arme aus, die Handflächen nach unten. Es ist Sonntag, früh am Morgen, und die Strandpromenade liegt verlassen da. Die meisten Inselbewohner schlafen noch oder machen sich zum Kirchgang fertig. Ihr Vater, denkt sie, zieht sich genau in diesem Moment wahrscheinlich seinen einzigen guten Anzug an und poliert seine alten schwarzen Schuhe. Maddy ist froh, daß sie nicht zur Kirche gehen muß. Das ist das einzig Gute daran, die Tochter ihrer Mutter, jüdisch zu sein. Ihr ist jede religiöse Erziehung erspart geblieben. Del hält einige der jüdischen Rituale und Feiertage ein, hauptsächlich ihren Eltern zuliebe, läßt sich aber in keiner Weise durch irgendeinen Glauben oder eine Doktrin leiten. Trotzdem lehnt sie es strikt ab, daß Fram seine Tochter mit in die presbyterianische Kirche nimmt und sie als Christin erzieht. Maddy ist das nur recht, da sie keinerlei Interesse an irgendeinem Gott außer der allmächtigen Grace O’Gorman hat. Maddy erreicht die östliche Durchfahrt und ruht einen Moment aus, die Beine über der Stange ihres schwarzen Fahrrades gespreizt, die Füße flach auf der hölzernen Strandpromenade. Auf der anderen Seite der schmalen Wasserstraße stehen die Leuchtbaken mit ihrem ständig brennenden roten Licht. Dahinter die schwarzen Berge der Kohlenhalden. Sie überprüft die Position der Moth. Die
Maschine zieht gerade eine Kurve über der Stadt, ein langgezogener Fleck im blassen Morgenhimmel. Manchmal, frühmorgens, wenn alles auf den Inseln noch ruhig ist, kann Maddy die schwachen, fernen Geräusche der Stadt vernehmen, wie etwas, das man unter Wasser hört. Das gedämpfte Läuten einer Kirchenglocke. Das weit entfernte Schrillen der Dampfpfeife einer Lokomotive. Jetzt, während sie über die östliche Durchfahrt zum Hafengelände hinüberschaut, hört sie nur das schwache Brummen des Flugzeugs. Maddy fährt zurück nach Hanlan’s Point, der See zu ihrer Linken, der Hauptteil der Inseln zu ihrer Rechten. Das Holz murmelt ein langsames Gebet unter ihren Gummireifen. Als sie an Sunfish Island vorbeikommt, sieht sie die Moth auf sich zufliegen, ein dunkler Doppelstrich über den Bäumen. Das Flugzeug kommt näher, und sie sieht, wie etwas aus dem Cockpit fliegt, durch die Luft wirbelt und kaum dreißig Meter von ihr entfernt auf den Holzplanken der Strandpromenade landet. Wie der Blitz fährt Maddy darauf zu. Die Moth fliegt über ihren Kopf hinweg und dröhnend weiter nach Osten. Ein Apfelbutzen. Schimmernd weiß auf den braunen Planken. Zum größten Teil gegessen, aber immer noch mit einigem Fruchtfleisch an den Enden. Maddy hockt sich daneben. Der Stengel ist noch dran. Ein Kern lugt vorwitzig aus dem Kerngehäuse. Weiter unten ist ein rosa Fleck. Lippenstift. Vorsichtig hebt Maddy den Apfelbutzen hoch und dreht ihn um. Sie führt ihn an die Lippen, küßt ihn und läßt ihn dann in die rechte Hosentasche gleiten. Maddy liegt auf dem Bauch im Gras hinter einem Gebüsch auf Sunfish Island. Hundert Meter entfernt von ihrem Versteck stehen die Schlafzelte des Lagers der Arbeiterjungen. Niemand ist draußen, aus den Zelten dringt kein Geräusch. Verkohlte
Holzscheite liegen in der großen Feuerstelle in der Mitte der im Halbkreis aufgebauten Zelte. Schlafen wahrscheinlich noch alle, denkt Maddy. Sie ist sich ziemlich sicher, daß die Arbeiterjungen nicht zur Kirche gehen müssen. Zu früh für die kleinen Feiglinge, denkt sie grimmig und zieht ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der Gesäßtasche ihrer Hose. Sie breitet es flach auf dem noch taufeuchten Gras vor ihr aus und liest es zum vierten Mal, seit Miro es aus der gestrigen Zeitung ausgeschnitten und es Fram für sie mitgegeben hat.
FÜNF TAGE, UND ES GEHT WEITER Die Pilotinnen kreisen jetzt seit fünf vollen Tagen über unserer schönen Stadt und zeigen keine Anzeichen von Ermüdung. Sie sind etwa 720 Runden über den Hafen geflogen und haben schätzungsweise noch 2880 vor sich, bevor sie am 25. August auf der C.N.E. landen. »Wir sind so an das Geräusch ihres Flugzeuges gewöhnt«, sagt einer der Anwohner, »daß wir uns gar nicht mehr die Mühe machen, hochzuschauen, wenn sie über uns hinwegfliegen.« Schritte sind aus dem Camp zu hören. Rasch schaut Maddy auf und erblickt einen Jungen im Pyjama, der sich direkt vor ihrem Versteck seitlich auf einen im Gras liegenden Baumstamm setzt. Er hält etwas in der Hand, beugt sich über den Gegenstand, rückt etwas zurecht, bewegt etwas. Es ist ein Flugzeug. Ein Modellflugzeug. Eine winzige, hölzerne Moth. Maddy hält den Atem an und schaut zu, wie der Junge die oberen Tragflächen nach vorne schiebt, so daß sie über die unteren hinausragen. »Zu weit«, platzt sie heraus, bevor sie sich zurückhalten kann. Der Junge schrickt zusammen, will aufstehen, sinkt aber wieder zurück, als er sieht, wer da redet. »Was machst du da?« sagt er und starrt sie an. »Was machst du da?« erwidert Maddy streng. Sie richtet sich auf, geht zu ihm und tippt mit dem Finger auf sein Holzflugzeug. »Du hast die oberen Tragflächen zu weit nach vorne verschoben. Bei einer richtigen Moth«, sagt sie von oben herab, »befinden sich die oberen Tragflächen nur 8,9 Zentimeter vor den unteren.« Der Junge sieht sie fragend an. »Woher weißt du das?« fragt er. Maddy reckt die Brust vor. »Ich weiß alles über Moths«, sagt sie. »Damit kenne ich mich total aus.« Sie sieht sich diesen
braunhaarigen Jungen in seinem roten Pyjama genauer an. Er könnte einer der Jungs sein, die neulich auf ihr Boot-Flugzeug geklettert sind. Einer dieser neugierigen, herumschnüffelnden, rempelnden, kletternden, schubsenden Jungs, die versucht haben, in ihr Geheimversteck einzudringen. »Wenn du nicht weißt, wie es geht«, sagt sie, »dann solltest du es lassen.« »Ich nehme an einem Wettbewerb teil«, sagt der Junge. »Also muß ich alles genau richtig hinkriegen.« »Was für ein Wettbewerb?« »Der C.N.E.-Modellflugzeug-Wettbewerb«, sagt der Junge. »Ich muß mein Flugzeug vor dem Zwanzigsten einreichen. Ich habe immer morgens daran gearbeitet, bevor die anderen aufstehen.« Maddy hat bisher nichts von einem ModellflugzeugWettbewerb auf der C.N.E. gehört. Vielleicht hat sie noch genug Zeit, eine perfekte Moth zu bauen, deren obere Tragflächen 8,9 Zentimeter über die unteren hinausragen. »Wo muß ich mich da anmelden?« fragt sie eifrig. »Anmelden?« Der Junge schaut sie an, als hätte sie etwas völlig Unverständliches gesagt. »Oh«, sagt er schließlich, »das ist nur für Jungs.« »Nur Jungs?« Maddy kann es nicht glauben. »Bist du sicher?« »Natürlich bin ich sicher.« Der Junge steht auf. Er ist mindestens einen Kopf größer als sie. Größer und kräftiger. Sie tritt ein bißchen zurück. »Der Wettbewerb ist nur für Jungs, und dieses Lager ist auch nur für Jungs.« Er geht weg, dreht sich aber noch mal um, als er bei der Feuerstelle angekommen ist. »Aber ich werde das überprüfen«, sagt er, »was du über die Tragflächen gesagt hast.« Maddy sieht ihm nach, bis er im Zelt verschwunden ist. Sie schlurft mit den Füßen durchs Gras und hat klatschnasse Schuhe, als sie schließlich bei ihrem Fahrrad ankommt.
Langsam fährt sie von Sunfish Island weg, zurück über die Strandpromenade nach Hanlan’s Point. Die Bretter knarren wie ein stotternder Motor unter ihren Reifen. Der Schatten des Flugzeuges gleitet über sie hinweg. Sie schaut nicht auf.
WILLA UND GRACE VERBRINGEN den größten Teil des nächsten Tages mit der Arbeit an ihrer neu erfundenen Sprache. Fliegen ist etwas geworden, das im Hintergrund geschieht, ganz automatisch und kaum bemerkt, wie das Atmen. Das Flugzeug scheint zu wissen, was es zu tun hat, ohne daß sie ihm viel Aufmerksamkeit widmen. Grace sitzt mit dem Gesicht zu Willa, während sie durch den blauen Himmel gleiten, die Sonne mal rechts, mal links, warm auf ihren Rücken. Es war noch recht leicht, Ausdrücke für Dinge, die ihnen bereits vertraut sind, zu erfinden und zu übermitteln, die Bewegungen des Flugzeuges, Erde, Wasser und Wind. Aber um über das einfache Identifizieren von Dingen hinaus zu einer Art von Dialog, einer Art von Unterhaltung zu gelangen, brauchen sie nicht nur Zeichen für Dinge, sondern ein Konzept für Abstrakta. Das erweist sich als schwieriger, als Willa es sich vorgestellt hatte. Während sie in ihrem Cockpit sitzt und die wie wild mit den Händen gestikulierende Grace beobachtet, empfindet sie das alles als ein eher verzweifeltes Partyspiel. Zwei Worte – vier Silben klingt wie… Schließlich kommen sie auf ein Fragewort. Beide Hände ausgestreckt, die Handflächen nach oben, ein Zucken mit den Schultern und ein fragender Ausdruck im Gesicht. Was? Diese eine Frage kann ebenfalls für alle anderen Fragewörter benutzt werden – was steht für warum, wann, welcher, wer, wie und wo. Was Ort? Was du? Was tun? An diesem zweiten Tag geht die Vermittlung neuer Zeichen schon viel reibungsloser vonstatten. Grace verbindet ein neues Zeichen stets mit einem, das sie bereits gelernt haben. Ein Wort, das mit Erde zu tun hat, mit Wasser, mit Himmel. Ein Wort, das zu einer Körperfunktion gehört. Dann versucht sie
ein Zeichen zu erfinden, das etwas von der Wortbedeutung als Pantomime enthält. Die über dem Kopf zuckenden Finger für das Fallen des Regens. Das Auf und Ab der Wellen. Dann, nachdem sie alles getan hat, um das zu übersetzen, was sie sagen will, wartet sie darauf, daß Willa es richtig errät. Je komplexer die Wörter werden, desto schwerer ist es für Willa. Damit sie einen abstrakten Ausdruck wie Zeit aus dem Schwingen und Biegen von Grace’ Händen herauslesen kann, muß sie es so sehen, wie Grace es sehen würde, sich in ihr Denken einfühlen. Je komplizierter die Zeichen werden, desto mehr muß Willa sich anstrengen, desto mehr muß sie sich auf das besinnen, was sie über die Frau vor ihr im Flugzeug weiß. Sie erlernt eine Möglichkeit des Kommunizierens, aber sie lernt auch, wie Grace denkt. Sie merkt, daß die Extravaganz, die sie stets mit Grace O’Gorman assoziiert hat, nicht existiert. Grace geht methodisch bei ihrer Zeichensprache vor, detailliert, sich offenbar sowohl bewußt, was sie aussagen will, als auch, wie sie sich verständlich macht. Sie scheint dabei an Willa zu denken, und Willa, die es nicht gewöhnt ist, daß man ihr positive Beachtung schenkt, wird bei dieser Art von Freundlichkeit fast schwindlig. Willa hat Zeit oft damit angedeutet, daß sie auf ihre Uhr tippt, aber jetzt haben sie eine Gebärde dafür, ein aus der Luft gestaltetes Zeichen. Grace macht als erstes die Geste für Tag – ihre geschlossene rechte Faust, die einen Bogen von Ost nach West macht, was den Lauf der Sonne über den Himmel symbolisiert – und läßt dann ihre Faust um den hochgereckten linken Zeigefinger kreisen. Die Sonne, die einen feststehenden, statischen Gegenstand umkreist, vielleicht einen Baum. Grace macht dieses Zeichen, und Willa denkt, wie absolut richtig es ist. Zeit als Bewegung und als Stillstand. Die starre Eleganz des Statischen. Ein Schatten, der sich über den Baum legt und allmählich den Boden bedeckt. Die kreisende Bewegung, die
gleichzeitig an einen um den Finger gewundenen Faden erinnert. Zum ersten Mal erkennt Willa, daß sie nicht nur einen Ersatz für Wörter schaffen, sondern etwas anderes, etwas Besseres als Wörter. Es gefällt ihr, daß Sprache nun etwas ist, was mit den Händen und den Augen geschieht, nicht mit den Ohren. Es gefällt ihr, daß Worte Raum einnehmen. Eine physische Präsenz. Das Wort als Körper. Nachdem Willa und Grace ein Wort für Zeit gefunden haben, sind sie in der Lage, weitere Abstrakta auszudrücken. Grace, die sich bewußt ist, daß sie Willas totale Aufmerksamkeit hat und daß Willa auf die Zeichensprache reagiert, strengt sich jetzt ernstlich an. Sie ist zufällig auf etwas gestoßen, das den Flug erträglich, ihn möglich machen wird. Wenn sie es schafft, Willa weiterhin für diese Sprache zu interessieren, dann wird Willa ihrer offensichtlichen Erschöpfung nicht nachgeben. Grace überlegt sich weitere Begriffe zu dem Wort Zeit. Die Vergangenheit oder Geschichte ist Zurückzeit, wobei Grace zuerst die Gebärde für Zeit macht und dann hinter sich deutet. Die Zukunft ist Vorauszeit, Grace deutet nach vorne. Gedächtnis oder Erinnerung ist Kopfzeit, Grace tippt sich an die Stirn, nachdem sie das Zeichen für Zeit gemacht hat. Es gibt Tagzeit und Nichttagzeit für Nacht (Grace schüttelt den Kopf für Nein vor dem Zeichen für Tag). Es gibt Nicht Tag Sonne für Mond. Es gibt Morgen und Nachmittag, Grace’ Sonnenfaust in verschiedenen Positionen am Himmel, um die entsprechende Zeit anzudeuten. Das Abstraktum Zeit eröffnet ihnen mehr Möglichkeiten als alle anderen Wörter, die sie bisher gelernt haben. Erst an diesem zweiten Tag, als die Grundmuster ihrer Zeichensprache feststehen, erkennt Willa die Rollenverteilung, die sie sich mit ihrer neugeschaffenen Sprache zugewiesen und akzeptiert haben. Grace macht die Zeichen, und Willa reagiert. Durch die Anordnung im Flugzeug, die
hintereinanderliegenden Cockpits, ist Grace diejenige, die redet, während Willa fliegt. Wenn Grace fliegt, gibt es keine Kommunikation. Es bedeutet auch, daß Willa nur knappe Antworten geben kann, weil sie stets die eine Hand am Steuerknüppel lassen muß. Je komplexer ihre Sprache wird, desto gründlicher ist Willa von der Teilnahme ausgeschlossen. Grace wird bald fähig sein, ganze Sätze in Zeichensprache auszudrücken, während Willa nur ab und zu ein Wort einwerfen kann. Und auch nur Wörter, für die man nur eine Hand braucht. Im Laufe des Tages wird Willa immer stärker klar, daß es bei ihrer Zeichensprache hauptsächlich um eine einseitige Unterhaltung von Grace mit Willa geht.
Die Nicht Tag Sonne geht um 19 Uhr 56 am Abend auf. Voll wie in der Nacht zuvor, ein gewölbtes, milchiges Auge am dunklen Himmel. Bei solchem Mondlicht ist es fast so hell wie am Tage. Die Welt unter dem Flugzeug schimmert wie irisierende Fischschuppen. Willa ist dankbar für das Mondlicht. Es macht das Auftanken um zehn Uhr soviel einfacher. Auch wenn der Eindecker mit einer starken Lampe herunterleuchtet, ist es an bedeckten Tagen schwierig, den Schlauch zu sehen, ihn in den Tank einzuführen. Schwierig, die Moth der exakten Geschwindigkeit von Jacks Flugzeug anzupassen. Heute nacht legt sich das Mondlicht wie ein feiner Schleier, ein dünner Belag über die beiden Flugzeuge, den Gummischlauch, das schwankende weiße Leinwandbündel. Heute nacht holt Grace die Fracht beim ersten Versuch ein, bindet den Sack los. Das Mondlicht bricht sich am schimmernden Metall der Treibstoffkanister, Lichtfinger gleiten über den Rumpf.
Im Sack befinden sich diesmal neben dem Abendessen, das aus Baked Beans, Brötchen, Äpfeln, getrockneten Datteln und der üblichen Thermosflasche mit Kaffee besteht, auch saubere Hemden und Unterwäsche. Wie umsichtig von der Angestellten des Adventure Girl, denkt Willa. Sie kann sich nicht vorstellen, daß Jack auch nur einen Gedanken an ihre Unterwäsche verschwendet. Willa ist erschöpft, eine Müdigkeit, die sich schon beinahe klebrig anfühlt. Es fällt ihr schwer, die Arme zu heben, den Kopf aufrecht zu halten. Sie ißt und fühlt sich ein bißchen besser. Kuschelt sich in die weiche Wärme ihrer Jacke. Trinkt Kaffee und betrachtet die Sterne. Alles ist so hell, so strahlend heute nacht. Die Sterne wie Perlen am Nachthimmel. Sie ist so müde und kann doch nicht schlafen. Am Anfang des Fluges konnte Willa zwischen Wachen und Schlafen unterscheiden. Wachsein war der unangenehme, unbequeme Teil des Tages, an dem man aufmerksam und einsatzbereit sein mußte. Schlafen war wie völlige Bewußtlosigkeit, keine Träume, kein Erinnern bis zum Aufwachen. Es gab einen Unterschied. Es fühlte sich unterschiedlich an. Jetzt merkt Willa, daß sie sich in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen befindet, und das anfängliche Unbehagen ist verschwunden, aber sie hat auch die Fähigkeit verloren, zwischen den körperlichen Zuständen richtig zu unterscheiden. Alles ist erträglich flach geworden, und um irgend etwas zu empfinden, müssen die Bedingungen schon extrem sein. Sie bemerkt das Unbehagen nicht mehr, aber sie kann immer noch Schmerz empfinden. Willa weiß, daß das, was sie durchmacht, mit ihrem jetzt seit sechs Tagen währenden Flug zu tun hat. Sie hat viele Geschichten über lange Land- oder Seereisen gehört, auf denen Leute durch den Streß, dem ihr Körper ausgesetzt war, verrückt wurden. Die
Gefahr, bis zum Extrem zu gehen, bestand darin, daß man manchmal den Rückweg nicht mehr finden konnte. Willa denkt an ihre kleine Hütte beim Flughafen, stellt sich die Möbel vor, die Bücher auf den Regalen. Sie will sich an ihr Leben auf der Erde erinnern, aber es scheint so weit weg. Hier oben ist sie dem Himmel näher als der Erde. Sie trinkt ihren Kaffee aus, schraubt den Becher wieder auf die Thermosflasche. Dann beugt sie sich vor und zieht den Kragen von Grace’ Lederjacke herunter, damit sie an ihren Nacken herankommt. Mit dem rechten Zeigefinger schreibt sie langsam Wörter auf Grace’ Haut. Laß mich nicht verrückt werden. Der Mond ist bleich und riesig. Die Sterne funkeln so hell, daß es beinahe weh tut.
AM MONTAG PASSIERT ETWAS mit dem Flugzeug. Zu einem Zeitpunkt, wo Willa das Vibrieren des Motors schon in Fleisch und Blut übergegangen ist und die Moth ihr so solide und fest wie der Erdboden erscheint, wird allzu deutlich, daß die Mechanik des Flugzeuges überaus empfindlich ist. Es ist nur eine Kleinigkeit. Ein Stift. Ein Gabelstift, der sich unten am Steuerknüppel gelöst hat, und plötzlich hat Willa keine Kontrolle mehr über das Flugzeug. Der Steuerknüppel wird schlaff in ihrer Hand, und als Willa nach unten schaut, sieht sie den Stahlstift unter ihren Sitz rollen. Einen Moment lang behält die Moth ihren Horizontalflug noch bei, aber als sie in die Kurve über der Stadt gehen soll, fliegt sie geradeaus weiter. Willa beugt sich vor und brüllt Grace ins Ohr. »Ich kann sie nicht mehr steuern.« Ihre Stimme fühlt sich seltsam an, klingt knarrend wie eine rostige Türangel. »Der Gabelstift hat sich gelöst.« Grace nickt und zieht die Moth scharf nach links, zurück zum Wasser. Willa greift unter ihren Sitz, kann aber das winzige Metallstück nicht ertasten. Sie hofft, daß es nicht bis ins Heck gerollt ist. So ein kleines Ding, und es bewirkt so viel. Natürlich haben sie keinen Ersatz dabei. Sie haben nur sehr wenig Ersatzteile an Bord. Dafür ist Jack da – um all ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Was für ein perfektes System, denkt Willa sarkastisch, bemüht, nicht in Panik zu geraten. Sie verdreht ihren Körper im Cockpit, bis ihr Kopf am Boden ist und ihre Beine über der Backbordtür baumeln. Sie tastet mit den Händen herum, findet nichts, stößt sich den Kopf am Steuerknüppel. »Scheiße«, murmelt sie, noch immer mit dem Kopf nach unten, und stellt sich vor, von einem Filmungeheuer gefressen
zu werden, während ihre Beine ein dramatisches Ballett in der Luft vollführen. Sie schiebt sich wieder in eine aufrechte Position, fühlt sich ein bißchen schwindlig und beugt sich erneut zu Grace vor. »Er ist unter dem Sitz.« Ihre Kehle ist bereits rauh von der Brüllerei. »Er muß rausrollen.« Grace nickt und zieht den Steuerknüppel ganz zurück, hebt die Nase der Moth zu einem steilen Steigflug. Sie passieren sechshundert, dann neunhundert und erreichen zwölfhundert Meter. Dann geht Grace abrupt in den Sturzflug, und Willa, die auf diesen steilen Winkel nicht vorbereitet ist, wird nach vorn gegen die kleine Windschutzscheibe geworfen und stößt sich wieder den Kopf. Es ist fast Mittag, und der Tank ist relativ leer. Bei dem geringen Gewicht ist Grace in der Lage, einige der für sie typischen akrobatischen Manöver auszuführen. Sie fliegt im Sturzflug auf das Wasser zu, reißt die Maschine dann hoch und läßt das Flugzeug hin und her wackeln. Der Gabelstift ist jetzt zu sehen und rollt vor und zurück, an der gebogenen Seite des Cockpitrumpfs entlang. Willa gelingt es schließlich, ihn zu packen, als er an ihren rechten Fuß rollt. Rasch hält sie Grace den Stift vors Gesicht, um ihr zu zeigen, daß sie mit den Kunststückchen aufhören kann. Aber Grace hört nicht auf. Sie schießt wieder hinauf, überzieht das Flugzeug und gleitet seitwärts durch den grauen Himmel. Willa schnallt eilig die Gurte fest, falls Grace vergessen sollte, daß sie nicht angeschnallt sind, und die Maschine trudeln läßt oder Loopings macht. Willa hält den Gabelstift fest in der Faust, wartet darauf, daß Grace wieder normal fliegt und ihr ermöglicht, den Stift zurück an seinen Platz zu stecken. Sie hat sich nie viel aus Kunstfliegerei gemacht, und es geht ihr ein bißchen auf die
Nerven, in einem Flugzeug zu sitzen, das so wackelt und bockt. Sie ist wütend auf Grace, weil die meint, ihre Flugkünste vorführen zu müssen. Willa ist mehr für eine geruhsame Flugweise. Ihr liegt nur daran, in der Luft zu sein, nicht sie mit den Tragflächen zu zerhacken. Ihr Traum ist es, eine Anstellung zu bekommen, die ihr erlaubt, den ganzen Tag, jeden Tag in der Luft zu sein. Nette, gleichmäßige Fliegerei, bei der sie Leute oder Postsäcke befördert. Unterschiedliche Landschaften, auf die man hinabschauen kann, unterschiedliche Wetterbedingungen, mit denen man klarkommen muß. Nichts von diesem Winden des Flugzeugs um Luftsäulen. Aber sie weiß, das entspricht nicht Grace’ Vorstellung vom Fliegen – Kunstflug oder Rekorde. Bevor Grace so berühmt wurde, war sie ein »Barnstormer«, eine von Ort zu Ort fliegende Wanderpilotin, die auf Ackern landete und ihre Flugakrobatik der örtlichen Bevölkerung für einen kleinen Obolus vorführte. Man behauptete, sie sei immer mit einem Abendkleid als einzigem Gepäck geflogen, um stilvoll gekleidet zu sein, falls man sie zum Essen einlud. Grace läßt die Moth auf normale Flughöhe zurücksinken, und nachdem Willa sich hinabgebückt und den Gabelstift unten im Steuerknüppel befestigt hat, übernimmt sie das Steuer und bringt die Maschine wieder auf ihre langsame Runde über Stadt, Wasser, Inseln. Grace dreht sich auf ihrem Sitz um. Ihr Gesicht glüht. Sie berührt ihre Lippen, die Brust über ihrem Herzen und öffnet die Finger ihrer Faust, als wollten sie etwas freilassen und hinauf zur Sonne schicken. Ich fühl mich gut. Als Willa sieht, wie glücklich Grace ist, kann sie ihr nicht mehr böse sein. Für einen Feiertag ist das Wetter nicht gerade erfreulich. Bedeckt, mit wütenden Regenschauern, kleine Füße, die vom Himmel herabtrampeln. Es ist feucht und schwül, die
Feuchtigkeit kriecht überall hinein. Willa fühlt sich den ganzen Tag naß und klebrig, entweder vom Regen oder vom Schweiß. Das lange Feiertagswochenende ist der Höhepunkt des Sommers. Die Menschen wollen sich unbedingt vergnügen. Willa und Grace sehen die vollbeladenen Fähren über die Bucht hin und her fahren. Tausende kommen auf die Inseln, um sich die zusätzlichen Bühnenshows anzusehen, Karussell zu fahren und sich im Vergnügungspark zu amüsieren. Willa ist froh, daß die Inseln von dem Feiertag profitieren. Die Inseln waren ihr stets lieber gewesen als Sunnyside (bis auf die Baseballspiele der Frauen auf dem Spielfeld nahe dem Badepavillon von Sunnyside). Als sie klein war, hatte ihr Vater sie mit in den Vergnügungspark auf Hanlan’s Point genommen. Dann hatten sie auf den oberen Rängen des alten Maple-Leaf-Stadions gesessen und zugeschaut, wie die Männer ihre Rennruderboote über die Regattastrecke jagten und die Ruder das Wasser hinter den Booten zu dünnen, perlenden Schleppen aufschäumten. Sie fliegen über Sunnyside, und Willa sieht Menschen auf den Decks der Lyman M. Davis. Sie weiß aus den Zeitungen, die Jack ihnen runterschickt, daß es Proteste wegen der Verbrennung dieses letzen Schoners der Großen Seen gegeben hat und daß ein Aufschub gewährt wurde und das Schiff solange zur Besichtigung freigegeben ist. Kein Versprechen, daß es nicht letztlich doch angezündet wird, aber das Bedürfnis nach einem Festtagsfeuer soll erst einmal mit einem alten hölzernen Dampfer vor Center Island befriedigt werden. Später am Abend, als die Sonne untergegangen ist und der Mond schwach hinter den Wolken leuchtet, sehen sie Feuer von unten auflodern. Willa fliegt tiefer, und sie spüren den Aufwind von dem brennenden Schiff, versengter Atem, der die Unterseite des Rumpfes erhitzt, so daß sie die Wärme unter ihren Füßen spüren können. Es ist so heiß im Flugzeug, daß sie
nur ihre weißen Hemden und die Reithosen tragen. Keine Jacken. Sie verkleinert die Runde und kreist um das Freudenfeuer. Willa zieht die Moth etwas höher, als sich der Aufwind auf die Steuerung auswirkt. Einzelne Menschen können sie nicht ausmachen, aber sie sehen das glatte Orange der Bäume am Ufer, die von dem brennenden Dampfer beleuchtet werden. Funken fliegen auf, als Teile des Schiffes zusammenkrachen, Holz, das auf Holz fällt, Flammen, die neue Muster in die Luft zeichnen. Klebriger Schweiß läuft Willa über das Gesicht. Sie wischt sich die Stirn mit dem Arm ab, schreibt Buchstaben auf Grace’ Nacken. Feuer und Wasser faszinieren die Menschen. Das Freudenfeuer, die Ausflugsdampfer, die zweimal täglich zu den Niagarafällen fahren. Das verschlungene Spitzenmuster auf der Oberfläche eines Sees, wenn ein Sommersturm hinüberbraust. Es ist, denkt Willa, als könnten wir uns nichts stärkeres als Wasser und Feuer vorstellen. Sie geben uns eine Antwort auf etwas, wovon wir die Frage vergessen haben. Die Flammen wirken riesig, scheinen hochzuschießen und Willas Kehle von innen zu versengen. Die Zunge klebt ihr am Gaumen. Ihre Nasenlöcher sind wie ausgebrannt. Du fliegst so, wie das brennt schreibt sie, und Grace streckt nach dem letzten ihre Hand nach hinten und hält Willas fest. Wieder fliegen sie über die Flammen, die Moth surrt über die Glut, die Flügel flehend der feurigen Erde zugeneigt.
MADDY HILFT MIRO BEIM ANZIEHEN, zwängt seine Fleischmassen in die Enge eines blauweißen Matrosenanzuges. Hose. Hemd mit Messingknöpfen und einem großen Kragen. Kecke Mütze mit einer nautischen blauen Schleife als Verzierung. Es ist Schwerstarbeit, und sie schwitzen beide vor Anstrengung. Aus dem Radio ertönt knisternd und knackend »Boulevard of Broken Dreams«. »Viel zu heiß für diesen Matrosenanzug«, grummelt Miro, als Maddy versucht, die blaue Baumwollhose bis zur Hüfte hochzuzerren. »Du bist fetter geworden«, sagt sie anklagend. Miro, in der Mitte seines winzigen Wohnzimmers, beginnt durch Maddys Anstrengungen zu schwanken. »Ich muß fett sein«, erwidert er. »Das ist mein Job.« »Fett«, preßt Maddy zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »aber nicht fetter.« Sie müht sich noch ein wenig ab und bricht dann auf dem Fußboden zusammen, liegt flach auf dem Rücken, die Arme über dem Kopf ausgestreckt. Miro hat das Matrosenhemd an; sein feister Brustkorb scheint die Messingknöpfe mit den Ankern drauf absprengen zu wollen. Doch die Hose ist erst bis zu den Oberschenkeln heraufgezogen. Seine weiße Unterwäsche leuchtet wie ein riesiger Verband um die Mitte seines Körpers. Er watschelt ein paar Schritte vorwärts, wird aber durch die Hose behindert. »Maddy«, sagt er, »ich hab keine Lust mehr zu stehen. Du kannst mich doch nicht so lassen.« Maddy schaut vom Boden zu ihm auf. »Du bist fetter geworden«, sagt sie. »Das ist nicht mein Problem.« Sie blickt zu der mit Spinnweben behangenen Decke des kleinen Häuschens hinauf. »Außerdem«, sagt sie, »tue ich es aus reiner Freundlichkeit.«
Miro schnaubt. »Du redest wie eine Sozialarbeiterin«, sagt er. »Freundlichkeit, daß ich nicht lache.« Mit einem Ruck kommt Maddy auf die Knie hoch, beugt sich vor und beißt ihn durch die weiße Baumwollunterwäsche fest in den Po. Miro quietscht und fällt fast um. Maddy springt auf und fängt seinen Fall mit ihrem Körper ab, hält ihn fest. Sie halten sich umklammert. »Du quälst mich«, sagt Miro an Maddy Schulter. »Weil’s mir Spaß macht«, erwidert sie sanft, bevor sie ihn aus ihrer Umarmung entläßt.
Miro liegt in seinem Matrosenanzug auf Kissen gebettet in einem riesigen Kinderwagen mit fransenbehangenem Verdeck und Holzschildern mit der Aufschrift »Der König aller fetten Babys« auf beiden Seiten. Vorne am Wagen ist eine kleine Büchse zum Einwerfen von Münzen angebracht. Fram schiebt Miro, und Maddy geht neben ihrem Vater her, während sie den korpulenten Zwerg durch den Vergnügungspark rollen. Weil Feiertag ist, sind auch noch am Abend viele Leute unterwegs. Mehr, als sie seit langer Zeit auf Hanlan’s Point gesehen haben. Die Luft ist von Stimmenlärm, dem Rumpeln der Karussells und dem Krachen der Gewehrschüsse an den Schießbuden erfüllt, wo die Männer um Blumenvasen und Puppen mit Schlafaugen schießen. Fram hat das Karussell in der Obhut seines Helfers Jim gelassen und will sich zusammen mit seiner Familie und Miro die große Bühnenshow im Pavillon ansehen. Er schiebt den Kinderwagen zu Dels Wahrsagerbude. »Schau mal, ob deine Mutter mitkommen will«, sagt er zu Maddy, die um die Bude herumrennt und am Vorhang lauscht, ob sie Stimmen hören kann. Nichts. Sie drückt den schweren
Vorhang zur Seite und betritt das dunkle Innere der Bude. Ihre Mutter, die eine Zigarette raucht, senkt die Hand rasch unter den Tisch, um sie zu verbergen, lacht aber erleichtert auf, als sie sieht, wer im Eingang steht. »Du bist es nur«, sagt sie. Maddy geht hinüber zum Tisch mit der Kristallkugel und den Spielkarten. Die Kerzenflamme gerät durch ihre Bewegungen ins Flackern. »Dad möchte wissen, ob du zu der großen Show im Pavillon mitkommst.« »Ach«, sagt Del. »Ich mach mir nicht so viel aus Dudelsäcken wie dein Vater. Ich glaube nicht, daß ich im Augenblick dem Ruf der Highlands folgen kann. Lieber arbeite ich noch ein bißchen – es läuft recht gut heute abend – und treffe euch dann später beim Freudenfeuer. Einverstanden?« Sie greift über den Tisch und berührt ihre Tochter am Arm. Maddy läßt es nur kurz zu, bevor sie den Arm wegzieht. »Hast du etwas gegen Schotten?« fragt sie. Del läßt ihre Zigarette auf den Lehmboden fallen und drückt sie mit dem Fuß aus. »Nein«, sagt sie langsam. »Natürlich nicht. Ich bin schließlich mit Fram verheiratet, oder?« »Ich finde, Leute aus verschiedenen Ländern sollten nicht heiraten«, sagt Maddy. »Das kann nicht dein Ernst sein«, erwiderte Del scharf. »Es gäbe dich nicht, wenn Fram und ich so gedacht hätten.« »Ich bin keine Jüdin«, sagt Maddy und läßt ihre Hand über die glatte Oberfläche der Kristallkugel gleiten. »Ich bin Kanadierin.« »Geh und sag deinem Vater, daß wir uns später treffen«, sagt Del. »Kannst du die Pilotinnen sehen?« fragt Maddy, die Hand immer noch über der Kristallkugel.
»Nein.« Dels Stimme ist sanft und gleichmäßig. »Du weißt doch, wie ich arbeite. Ich muß Dinge berühren, bevor ich etwas sehen kann. Nun lauf, Maddy.« Sie schauen sich über den unordentlichen Tisch in der kleine dunklen Bude hinweg an. Del schenkt ihr ein schwaches, bedauerndes Lächeln. »Du magst zwar keine Jüdin sein«, sagt sie, »aber ich bin diejenige, der du ähnelst.«
Fram, ganz aufgeregt wegen des schottischen Dudelsackspielers, benützt Miros Kinderwagen als Rammbock, um einen Platz nahe der Bühne zu bekommen. Miro schüttelt seine Rassel wie ein Wilder, damit die Leute aus dem Weg gehen. Als der Dudelsackspieler endlich auftritt, hat Maddy die Show schon gründlich satt. Sie hat Sänger und Jongleure und einen Hund gesehen, der eine Menge Kunststücke kann. Es gelingt ihr noch nicht mal, so zu tun, als sei sie begeistert, als der Dudelsackspieler mit seinen traurigen Weisen beginnt. Auch Miro langweilt sich, beugt sich über die Seite des Kinderwagens und flüstert Maddy zu: »Klingt wie ‘ne Kuh mit Verstopfung.« Fram ist jedoch völlig hingerissen. »Wunderschön«, sagt er beim ersten langen Aufjaulen des Dudelsacks. Er lehnt sich an den Griff des Kinderwagens, murmelt Komplimente, während ihm Tränen über die Wangen laufen. Es ist ein bißchen peinlich. Maddy ist froh, daß es im Pavillon ziemlich dunkel ist und die anderen Leute nicht sehen können, was für ein sentimentaler Idiot ihr Vater ist. »Sechs Kühe mit Verstopfung«, wispert sie Miro verschwörerisch zu. »Und ein Elefant mit Dünnpfiff.«
Maddy steht mit ihrer Mutter am Rand von Mugg’s Island und sieht zu, wie der alte Holzdampfer in Flammen aufgeht. Er verbrennt schnell, Funken fliegen durch die Luft, und die Flammen klettern auf unsichtbaren Leitern in den Nachthimmel. Fram bringt Miro nach Hause und wird beim Zurückkommen nur noch die Asche auf dem mondbeschienenen See sehen. Der Strand der Insel ist überfüllt. Maddy wird ständig angerempelt und mit Ellbogen gestoßen. Die Menge ist rüpelhaft, brüllt und pfeift, während das alte Schiff knisternd und knackend seinem Ende zugeht. Ein paar Männer reichen eine Flasche herum. Andere reißen Äste von den Bäumen und schleudern sie hinaus in die Flammen. Bäume schwanken und erzittern unter dem Ansturm, Äste brechen, Blätter rascheln über Maddys Kopf. Ein brüllender Mann wird von drei anderen Männern zum See gezerrt und hineingeworfen. Einer der Verfolger springt seinem Opfer nach, und sie ringen miteinander im schlammigen Wasser. »Mir gefällt es nicht, wie diese Stadt sich daran weidet, Dinge brennen zu sehen«, sagt Del. Maddy antwortet nicht, teilt aber im stillen Dels Meinung. Das alte Schiff tut ihr leid, und sie sorgt sich um ihren Lastkahn in der Blockhouse Bay. Könnten diese Schiffe denn nicht wieder flottgemacht werden? Sie sind alt, aber einige, so wie dieses hier, schwimmen immer noch. Könnten sie nicht wieder benutzt werden? Über dem Gebrüll der Menge und dem Knacken des Feuers hört Maddy das dünne Krächzen des Flugzeuges. Sie schaut nach oben und sieht die Moth durch den dunklen Himmel flattern und das Feuer umkreisen.
SIMON GEHT ZIELSTREBIG über den Zementboden auf das metallische Klirren am anderen Ende des Hangars zu. Nach all den Wochen, in denen er Willa Boxunterricht gegeben hat, kennt er sich auf dem Flughafen aus. Als er an dem Sandsack vorbeikommt, der an einer Kette hängt, versetzt er der Luft einen Hieb. Nur einen einzigen. »Sind Sie Jack Robson?« fragt er den Mann, der über einen beschädigten Doppeldecker gebeugt ist und mit einem Schraubenschlüssel arbeitet. Der Mann schaut hoch, legt den Schraubenschlüssel vorsichtig auf die untere Tragfläche, wischt sich die Hände an der Hose ab. »Ja?« sagt er. »Das ist für Sie.« Simon reicht ihm einen weißen Briefumschlag. »Also, nicht direkt für Sie. Für Air Ace Grace. Ihre Frau.« »Meine Frau«, wiederholt Jack schleppend. »Ein Brief«, sagt Simon. »Von meiner Nichte Maddy. Sie ist ein großer Fan von diesem Dauerflug, von Ihrer Frau. Wir hatten gehofft, daß Sie den Brief mit raufnehmen könnten, wenn Sie das nächste Mal zum Auftanken fliegen.« Simon ist überrascht, wie alt Jack Robson aussieht. Er hatte erwartet, daß Air Ace Grace mit einem jungen, schicken Bezwinger der Lüfte verheiratet ist, nicht mit diesem abgetakelten Fluglehrer. »Ich bin Simon Kahane«, sagt er. »Ich habe Willa Briggs das Boxen beigebracht. Genau da drüben.« Er deutet auf den großen, schweren Sandsack. »Der Boxer«, erwidert Jack, ohne in die Richtung zu schauen, in die Simon deutet. »Ja, ich habe Sie kämpfen sehen. Hab Geld auf Sie gesetzt.« »Haben Sie was gewonnen?«
Jack hört das dünne, blecherne Surren der Moth am Himmel über dem Hangar. »Kann mich nicht erinnern«, sagt er. »Oh.« Simon ist enttäuscht. Er bleibt noch eine Weile stehen, wartet darauf, daß Jack etwas hinzufügt. »Na gut«, sagt er schließlich. »Ich habe Maddy versprochen, daß ich den Brief vorbeibringe. Sie hat die ganze letzte Nacht damit verbracht, ihn zu schrieben.« Er dreht sich um und geht langsam durch den Hangar zurück, bleibt wieder stehen, als er sich etwas vom Flugzeug entfernt hat. »Wie viele Tage sind sie jetzt schon da oben?« »Acht«, murmelt Jack, der bewegungslos neben dem Flugzeug steht. »Alle Achtung!« sagt Simon. Er grinst, versetzt der Luft noch ein paar Boxhiebe und geht zurück zur Tür, zurück in die Morgensonne. Jack blickt auf den Umschlag in seiner Hand. »Für Grace O’Gorman« steht in holpriger Kinderschrift auf der Vorderseite. Langsam zerknüllt er den Brief, geht zielstrebig auf die Abfalltonne zu und wirft ihn hinein. Jack sitzt in der Kabine des Eindeckers. Er hat ihn von der Halterung auf dem Asphalt losgebunden, hat Quer- und Seitenruder überprüft. Gleich wird er den Motor anlassen und das Flugzeug über die Startbahn und hinauf in den Himmel bringen. Der letzte Moment, um die Geräusche der Erde zu hören, bevor das Dröhnen des Motors alles andere auslöscht. Draußen zwitschern die Vögel, gelegentlich kreischt eine Möwe. Im Flugzeug ist das Rumoren von Fred zu hören, der im Frachtraum hinter Jacks Sitz den Leinwandsack mit den Vorräten für das Adventure Girl vertäut. Jack wünscht sich, er könnte in diesem Augenblick vor dem Flug verharren. Dieser Moment, wenn die Vorstellung des Fluges, die Erwartung, gleich in der Luft zu sein, mit dem
alltäglichen Rhythmus der Erde vereint ist. So könnte er alles auf einmal haben. Er rollt mit dem Eindecker die Startbahn hinunter, zieht ihn hoch in den blauen Himmel und fliegt auf die Moth zu. Er hat den Eindruck, daß sie müde werden. In den letzen zwei Tagen haben sie sehr sprunghaft ihre Höhe verändert, sind manchmal nahe der Himmelskuppel geflogen und manchmal nur hundertfünfzig Meter über dem Boden. Er weiß, daß ein Bedürfnis nach Extremen oder dem Gefühl des Extremen normalerweise ein Anzeichen für Müdigkeit und Erschöpfung ist. Jack bringt sein Flugzeug über die Moth und kreist mit ihnen über die Inseln. Beim Hinunterschauen kann er Willa im hinteren Cockpit sehen und Grace, die bereits vorne ihre Position zum Einholen des Sackes eingenommen hat, halb stehend, gegen die Tragflächen gestemmt. Von hier oben läßt sich nichts über sie sagen. Sie trägt ihr übliches weißes, langärmliges Hemd, hat ihre Kappe nicht auf, aber braune Lederhandschuhe übergestreift. Er kann ihr Gesicht nicht erkennen, die Falten auf der Stirn, die Erschöpfung, die wie ein Schatten unter ihren Augen liegt. Sie schaut nicht hoch. Von hier aus gesehen könnte sie irgend jemand sein. Nicht seine Frau, definitiv nicht seine Frau. »Es geht los«, brüllt Fred hinter ihm, und die Kabinentür öffnet sich, der Sack fällt zu Grace hinunter. Sie müht sich damit ab, ihn ins Flugzeug zu zerren. Jack sieht, wie sie ihn losbindet, den Schlauch in den Einfüllstutzen des Flügeltanks laviert. Fred öffnet das Ventil des großen Kabinentanks, läßt den Treibstoff durch den schwarzen Gummischlauch hinunterlaufen. Jack ist nur durch diesen langen, baumelnden Gummi schlauch mit seiner Frau verbunden.
Als das Auftanken beendet ist und Fred den Schlauch mit dem Leinwandsack voll leerer Kanister als Anker wieder einholt, beobachtet Jack, wie Grace den Lunch aus kaltem Huhn und Kartoffelsalat auspackt. Er sieht, wie sie eine Zeitung aus dem Bündel mit sauberer Wäsche zieht. Was halten sie von dem, was er getan hat? Er weiß, daß Grace es nicht leiden kann, falsch zitiert zu werden, sich immer um die Presse bemüht, damit die sie gut behandelt. Es muß sie wütend machen, diese erfundenen Geschichten zu lesen. Aber sie schaut immer noch nicht hoch. Weder aus Wut, noch aus Dankbarkeit oder Liebe. Er ist nur ein Teil dieses notwendigen Prozesses des Auftankens ihres Flugzeugs, ein Teil dessen, das es ihr ermöglicht, weitere acht Stunden im Kreis zu fliegen, dem Brechen seines Rekordes acht Stunden näher zu kommen. Jack kennt keinen vernünftigen Grund, warum er diese Artikel über Grace und Willa schreibt. Er hat dem Gefühl keinen Namen gegeben, obwohl er das alles empfunden hat – Eifersucht, Neid, Frustration, Wut, Einsamkeit. Das einzige, was er sich selbst eingesteht, ist sein Verlangen nach einer Reaktion von Grace. Er will, daß sie hochschaut, die Faust gegen ihn schüttelt. Etwas tut, ihm zeigt, daß er Eindruck auf sie gemacht hat. Daß sie ihn bemerkt hat. Aber aus dem Adventure Girl kommt keine Reaktion. Fred zieht den Leinwandsack herein und schließt die Frachtraumtür. Der Lärm der um die Öffnung wirbelnden Luft hört plötzlich auf, und alles wirkt totenstill. »Alles drin«, sagt Fred. Jack hört, wie Fred den Schlauch aufrollt und oben auf den großen Treibstofftank legt. Das Offnen des Leinwandsacks überläßt er Jack – falls eine private Nachricht von seiner Frau mit eingepackt sein sollte Fred wäre überrascht, denkt Jack, wenn er wüßte, daß es keine Nachrichten gibt, daß Grace sich noch nicht mal herabläßt, ihm zu schreiben.
Jack schaut ein letztes Mal hinunter, bevor er sein Flugzeug aus der Anziehungskraft der Moth hinauslenkt. Die Tragflächen. Die Umrisse von Willa im hinteren Cockpit. Der Schriftzug Adventure Girl auf der Seite des Rumpfes. Kaum sichtbar zwischen den Spanndrähten und Flügelstielen seine Frau, die so alltägliche Dinge tut wie ein kaltes, gebratenes Hühnerbein zu essen und sein Leben zu zerstören.
Jack sitzt am Tisch des Aufenthaltsraums auf dem Flughafen und versucht, sich Zitate von Grace und Willa für den morgigen Artikel auszudenken. Obwohl er alle Zeitungsausschnitte über Grace gelesen hat und den Stil der Veröffentlichungen kennt, fällt es ihm zunehmend schwerer, sich etwas einfallen zu lassen. Was sie durchmachen, wird ihm immer ferner. Er kramt in seiner Erinnerung an seinen eigenen Dauerflug, aber die Einzelheiten fallen ihm nicht mehr ein. Nur noch die großen, elementaren Gefühle sind da – Müdigkeit, Langeweile, Routine. Alle Details sind darin untergegangen. Grace. Er ist sich nicht mal sicher, ob er sich richtig an sie erinnern kann. Hier kennt er zwar Einzelheiten – sie mag Toast zum Frühstück, ein Nickerchen am Nachmittag. Aber es gelingt ihm nicht, sie zu einem ganzen Bild zusammenzusetzen. Wer ist Grace O’Gorman? Jack kann nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er das weiß, ob er es je gewußt hat. Sie redet nicht viel über sich. Nur darüber, was sie vorhat, über ihre Aktivitäten. Nichts über das, was sie denkt. Jack legt den Kopf auf die Arme. Er vermißt es, neben ihr zu schlafen. Den morgendlichen Geruch ihrer Haut. Das Geräusch ihres Atems. Er vermißt ihre leichte Art, mit ihm zu reden, ihn nie zu depressiv werden zu lassen. Sie war seine Heldin, weil
er es selbst nicht schaffte, denkt er, den Kopf nahe am kalten Metall des Tisches. Jetzt, wo sie weg ist, gelingt es ihm nicht mehr, ihrer Vorstellung von ihm gerecht zu werden. Er ist wieder zu jemandem geworden, den er selbst nicht erkennt. Jemand, der seine Frau jeden Tag neu erfindet. Jemand, der glaubt, daß sie nicht auf die Erde zurückkommen wird. Nicht zurückkommen wird, um ihn zu retten. FLUG UNTER SCHMERZEN Der auf fünfundzwanzig Tage angesetzte Dauerflug von Grace O’Gorman und Willa Briggs über Toronto mußte letzte Nacht beinahe abgebrochen werden, als Grace O’Gorman eine akute Blinddarmreizung bekam und das Flugzeug nicht mehr steuern konnte. Sie lag zusammengekrümmt in ihrem Cockpit, während die unerfahrenere Willa Briggs versuchte, ihrer Partnerin beizustehen und gleichzeitig die Moth DH6OT in gleichmäßigen Runden über dem Hafen zu fliegen. »Eine Weile sah es übel aus«, schrieb eine erschöpfte Willa in einer Notiz an Jack Robson im Auftankflugzeug. »Aber wir haben durchgehalten.« Vermutlich war Grace O’Gorman den größten Teil der Nacht bewußtlos, scheint sich aber heute morgen wieder vollkommen erholt zu haben. »Wir machen weiter«, sagt sie. Was für tapfere Mädels! Willa hat ihren Spaß an dem heutigen Artikel, muß sich erst klarmachen, das sind ja wir. Ihr gefällt das Drama der Blinddarmreizung, sie stellt sich vor, wie Grace in einer anmutigen Pose ohnmächtig daliegt, den Kopf schlaff auf dem Flugzeugrumpf, während sie, Willa, die fiebrige Stirn der Patientin mit einem feuchten Tuch abtupft. Jacks Geschichte
hat durchaus etwas Anziehendes. Grace schlägt jedoch ein Kreuzzeichen über ihrem Herzen, nachdem sie den Artikel gelesen hat, um zu zeigen, wie sehr ihr das mißfällt, was er tut, wie wenig sie es leiden kann, als die Schwache dargestellt zu werden. Und Willa weiß, daß Grace es nicht ertragen könnte, von jemand anderem umsorgt zu werden. Sie begreift, warum Jack Grace als die Kranke darstellt – er weiß ebenfalls Bescheid. Willa trinkt ihren Morgenkaffee, während Grace das Flugzeug fliegt. Sie sieht zu, wie die Sonne langsam über dem Horizont aufsteigt, sich über das blaue Wasserquadrat ergießt. Sie mag Sonnenaufgänge, wird ihrer Schönheit nie müde. Der Morgen ist ihr die liebste Zeit des Tages, die einzige, in der sie sich frisch und wach fühlt. Willa schält eine Orange, wirft die spiralförmige Schale über die Bordwand. Neun Tage. Sie macht eine Bestandsaufnahme ihrer Körpers, wie sie es jeden Morgen tut. Die Haut – ein bißchen trocken und sonnenverbrannt in ihrem Gesicht und an den Händen, aber ziemlich schmerzfrei. Die Beine – steif und manchmal taub. Trotz ihrer Übungen, bei denen sie die Knie an die Brust zieht und dann wieder unter dem Rumpf ausstreckt, wirken die Muskeln verkümmert und schlapp. Die Füße – ebenfalls manchmal taub von der Arbeit an den Seitenruderpedalen und nachts oft kalt, selbst mit zwei Paar Socken. Der Hintern – wund vom langen Sitzen. Der Nacken – heute morgen in Ordnung, aber oft so verspannt, daß sie jeden Tag Kopfschmerzen hat. Es gibt keine bequeme Schlafstellung, und ihr Kopf liegt meist verdreht über der Hinterseite ihres Cockpits auf dem vibrierenden Metall des Rumpfes. Die Augen – trocken vom ständigen Strom des Luftschraubenstrahls und müde von der Sonne. Sowohl Willa wie auch Grace haben aufgehört, ständig ihre Schutzbrillen zu tragen, weil der Druck gegen die Augenhöhlen zu schmerzhaft
wurde. Willa trägt manchmal ihre getönte Brille, nur um die Sonne abzuhalten. Der Rücken – verspannt, aber nicht allzu schlimm. Arme und Hände in Ordnung und funktionsfähig. Ihr Appetit ist gut, und ihr schmecken alle Mahlzeiten, auch wenn Hosen und Hemden an ihr schlackern und sie glaubt, abgenommen zu haben. Sie könnte ein Bad gebrauchen oder eine Möglichkeit, sich besser zu waschen. Der Alkohol, mit dem sie sich abreiben trocknet die Haut aus. Sie könnte einen Spaziergang und ein mehrgängiges Menü und einen guten Nachtschlaf gebrauchen, aber ihr Verlangen nach diesen Dingen ist nicht übermächtig. Wenn sie nichts davon jemals wieder bekäme, wäre das zwar ein Verlust, aber sie würde nicht darum trauern. In der Luft zu leben bedeutet ihr so viel mehr als der Gedanke an saubere Kleidung. Willa fragt sich manchmal, ob jemand am Boden an sie denkt. Vielleicht ihre Mutter, die sich Sorgen macht, daß Willa abstürzen und sterben könnte und wieviel die Beerdigung kosten würde. Vielleicht die anderen Fluglehrer auf dem Flughafen, die darüber spekulieren, wie es ihr wohl nach so langer Zeit im Äther gehen mag. Jetzt, wo sie sich so hoch über ihrem bisherigen Leben befindet, kommt es Willa so klein vor, so unbedeutend. Sie verbringt normalerweise die meiste Zeit auf dem Flugplatz, geduldet von den Männern, aber aus ihrer ungezwungenen Kameradschaft ausgeschlossen. Einmal in der Woche besucht sie ihre Mutter, fährt mit der Straßenbahn ans östliche Ende der Stadt und verbringt einen meist unerfreulichen Nachmittag mit ihr. Zu den Schulfreunden hat sie keinen Kontakt mehr. Willa wird klar, daß es da unten eigentlich keinen gibt, der sie wirklich liebt. Willa und Grace fragen einander nie, wie es der anderen geht. Sie nehmen es als selbstverständlich hin, daß sie beide dasselbe erleben, die gleichen Gefühle haben und die gleichen Reaktionen auf ihre Umgebung zeigen. Worüber sie in Grace’
fließender Zeichensprache und Willas Fingerschreiben reden, hat nichts mit dem zu tun, wie es ihnen geht, sondern wer sie sind. Grace erzählt Willa, wieviel ihr erster Flug ihr bedeutet hat, weil sie sich jetzt, wo sie in der Luft sind, wieder viel besser an diese Gefühle erinnert. Willa hat gestern abend Grace auf die Haut geschrieben, wie sie zum ersten Mal allein aufgestiegen ist und sich verflogen hat. Auf einem Acker landen und den Farmer fragen mußte, wo sie war. Kein Kompaß, weil sie gemeint hatte, sich von oben an der Landschaft orientieren zu können. Die ersten Geschichten, die Willa und Grace einander erzählen, sind Fliegergeschichten. Die ersten Dinge, die sie einander mitteilen wollen, haben mit Flugzeugen zu tun.
Beim Auftanken um zwei Uhr nachmittags geht alles schief. Es ist ein klarer Tag mit wenig Wind, aber die beiden Flugzeuge scheinen nicht in der Lage zu sein, zusammenzubleiben. Beim ersten Mal verfehlt Grace den Leinwandsack, und Willa muß in den Sturzflug gehen, damit der Sack nicht gegen die Tragflächen prallt. Dann kommt das Tankflugzeug zu dicht an das Adventure Girl heran, schwebt nur knappe fünf Meter darüber, so nahe, daß beim Abkippen einer Flügelspitze ein Teil des kleineren Doppeldeckers abrasiert werden würde. Als es Grace endlich gelingt, den Schlauch in den Einfüllstutzen des leeren Flügeltanks zu manövrieren, dreht das Tankflugzeug den Treibstoffzufluß nicht schnell genug ab, worauf der Tank überläuft und Benzin auf Grace’ Gesicht und Brust schwappt. Sie muß ihre Augen mit einer ganzen Flasche Trinkwasser ausspülen und ein frisches Hemd anziehen. Die ganze Sache ist von Anfang bis Ende eine einzige Tortur und macht ihnen bewußt, wieviel Glück sie bisher bei den Auftankmanövern hatten und wie leicht es zu einer Katastrophe kommen kann.
Grace pumpt Öl in das Kurbelgehäuse, wie sie es nach jedem Auftanken tut, und kümmert sich dann um ihr benzingetränktes Hemd, spült es gründlich aus und hängt es zum Trocknen mit Haarklammern an die Windschutzscheibe. Sie spült ihr rotes Haar mit Wasser aus. Sie fliegen in geringer Höhe über den Hafen, mit Willa am Steuer. Die Sonne senkt sich bereits in ihrem Lauf. Vom See unter ihnen steigt ein Möwenschwarm auf. Willa kann die große Fabrik von Crosse & Blackwell an der Ecke von Bathurst und Fleet sehen, daneben das Gebäude der Tip Top Tailors, mit dem Namen in großen Lettern auf dem Dach. Als sie über die Fahrrinne an der östlichen Seite des Hafens fliegen, sieht Willa eine lange Menschenschlange in einer SKurve vor der Dominion Boxboard-Fabrik. Männer auf Arbeitssuche. Aus der Luft gesehen sind sie nur eine Schlangenlinie, die der nackten Erde um das große Backsteingebäude Form gibt. Sie kann ihre Gesichter nicht sehen, den Ausdruck, der ihr bei arbeitslosen Männer so vertraut geworden ist, eine Mischung aus Resignation, Wut und ein bißchen Hoffnung. Die Hoffnung ist es, die Willa stets den Kopf abwenden und sich für ihren Job auf dem Flughafen schuldig fühlen läßt, für die Tatsache, daß sich nur Leute mit Geld Flugstunden leisten können. Verglichen mit der täglichen Demütigung und dem Leid der Familien, die keine Arbeit und kein Geld haben, scheint Fliegen eine frivole Extravaganz zu sein. Aber Menschen wie Grace O’Gorman waren nie beliebter als jetzt, im bisher schlimmsten Jahr der Wirtschaftskrise. Je trostloser die Dinge werden, desto mehr scheinen die Menschen an individuelle Erfolge glauben zu wollen, und desto mehr wird es als etwas Erstrebenswertes angepriesen.
Willa schaut hinunter auf die Schlange der Männer vor der Fabrik und weiß, daß trotz all ihres Mitgefühls der wahre Abstand zwischen ihrer Welt und der dieser Männer in der aufragenden Luftsäule zwischen dem Flugzeug und dem Boden besteht.
DIE FRAU AUF DER ANDEREN SEITE des Tisches sitzt kerzengerade, bewegungslos. Es sind immer die Frauen, denkt Del, nimmt den Schal, den ihr die Kundin gegeben hat, in beide Hände und drückt ihn zusammen. Immer die Frauen, die die Zukunft wissen wollen. Del betrachtet den grimmigen Ausdruck im Gesicht der Frau, die Lippen zusammengekniffen wie eine unebene Narbe. Nein, denkt sie, Frauen wollen wissen, was mit ihnen geschehen wird. Welche schlimmen Dinge ihnen zustoßen werden. Manchmal fürchtet sich Del vor dem, was sie tut. Sie spürt, was von ihr erwartet wird, spürt es über den kleinen Tisch auf sie einströmen, die enge Bude erfüllen. Sag es. Mach, daß es einen Sinn ergibt. Sag es einfach. Und manchmal, an Tagen, an denen das Wissen um die Zukunft kein Trost ist, formuliert sie das, was sie sieht, nach den Wünschen der Kundschaft. Sie will sie nicht noch mehr belasten. Del weiß, daß die Menschen, die zu ihr kommen, vom Schicksal erwarten, daß es in ihr Leben eingreift und alles verändert. Glückliche Menschen wollen nichts von der Zukunft wissen. Del drückt den Schal der Frau und schließt die Augen. Eine Kerze flackert in einem verdunkelten Raum. Schwach erkennt sie den Rand von einem Bett bei einem Fenster. »Jemand in Ihrer Familie ist krank«, sagt sie, die Augen immer noch geschlossen. Sie hört, wie die Frau ihr gegenüber scharf einatmet. »Meine Schwester«, stößt sie mit leisem Zischen hervor. Del wickelt den Schal um ihre Faust, denkt flüchtig an Simon und wie er seine Hände vor einem Kampf umwickelt, Lage um Lage weißer, spitzenartiger Gaze. Keine Möglichkeit, der Frau in beschönigenden Worten zu sagen, was sie sieht. »Sie werden um etwas gebeten«, sagt sie. »Von Ihrer Schwester. Sie
müssen etwas entscheiden, das fast unmöglich zu entscheiden ist.« Stille. Die Frau hat die Frage nicht gestellt, die alle stellen. Del schaut auf. »Denken Sie darüber nach, womit Sie leben können«, sagt sie. »Danach.« Sag es. Vergib ihr. Rette sie. Draußen vor der Holzbude das Geräusch der Karussells wie Perlen auf einem Draht, einem Abakus. Die Frau greift nach ihrem Schal, ihre Hände zittern über der Kerze. »Sie hat mich bereits gebeten«, sagt sie. »Ihr beim Sterben zu helfen, bevor sie so krank wird, daß sie nicht mehr klar denken kann.« »Was haben Sie gesagt?« »Ich sagte, ich würde herkommen und Sie fragen.« Nachdem die Frau gegangen ist, geht Del nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen. Sie wirft das brennende Streichholz zu Boden und atmet dankbar den berauschenden Tabakrauch ein. Ihre Hände zittern. Manchmal fällt es ihr so schwer, der Erwartung gerecht zu werden, das Leben anderer Menschen in Ordnung zu bringen, es von sich selbst zu erwarten. Sie geht um die Bude herum. Ein Mann steht da und raucht. Er schaut zu ihr herüber und wendet dann den Blick ab. »Wollen Sie sich die Zukunft voraussagen lassen?« Del erkennt die Nervosität. »Ja, vielleicht.« Er schaut sie wieder an, und sie sieht die Falten um seine Augen, das energische Kinn. Du warst mal ein gutaussehender Mann, denkt sie. »Sie sehen müde aus«, sagt er. »Sie auch.« Sie lächeln beide. Das Flugzeug mit den beiden Pilotinnen fliegt über sie hinweg, und sie blicken bei dem Geräusch nach oben, sehen sich dann wieder an. »Rauchen Sie erst zu Ende«, sagt er. »Ich kann warten.«
Jack und Del sitzen sich in der Bude gegenüber. Del hält Jacks Geldbeutel, das Leder glatt und warm in ihrer Hand. »Sie werden irgendwo hingehen«, sagt sie. »Tatsächlich?« Jack klingt so überrascht, daß Del einen Moment lang denkt, sie hätte sich geirrt. Fest drückt sie den Geldbeutel. »Ja«, sagt sie. »Sie gehen weg. An einen Ort, an dem Sie noch nie waren.« Sie hält inne. Hitze durchströmt sie, und ihr wird ein wenig übel. »Ich sehe Sie mit einer Art Hut.« »Ein Hut?« Jack begreift nicht, was diese Frau da sagt. Es scheint nichts mit ihm zu tun zu haben. Was ist denn so Mysteriöses an einem Hut? Vielleicht hätte er nicht kommen sollen. »Ich habe jede Menge Hüte«, sagt er. »Nein, nein.« Del konzentriert sich auf das, was sie vor ihrem inneren Auge sieht. »Eine Mütze. Ein Mantel. Es ist eine Uniform. Sie sind Soldat, aber nicht auf dem Boden, Sie sind Pilot.« »Ich bin Pilot.« Jack beugt sich vor und packt Del am Arm. Er spürt jetzt etwas, das er sonst nur bei Grace empfindet, daß sie weiß, wie er gerettet werden kann, weiß, was er tun soll. Grace. »Tut mir leid«, sagt er. »Ist schon in Ordnung«, erwidert Del. »Ist schon in Ordnung.« Sie hat etwas gesehen, das sie mit Angst erfüllt, und sie weiß nicht, wie sie ignorieren, zurückdrängen und vergessen kann, daß sie es aus seinem Schlafzustand geweckt hat. »Es wird Krieg geben«, sagt sie. »Einen Krieg, der alles verändern wird.« »Und ich ziehe in diesen Krieg.« Jack hat sich jetzt beinahe damit abgefunden. Es wirkt fast erleichternd, daß er etwas eigenes tun wird, etwas, bei dem es nicht um Grace geht. »Das werden Sie.« Seine Hand liegt immer noch auf Dels Arm, und sie spürt seine Finger auf ihrer Haut. Sie wartet
darauf, daß er die Frage stellt, die zwischen ihnen im Raum steht, aber er tut es nicht. Und komme ich zurück?
Del sitzt auf dem Holzrand und schaut zu, wie Rose durch das Becken gleitet, kennt nach all der Zeit die Namen der Figuren, die Rose im Wasser ausführt. Kippe. Torpedo. Wasserlaufen. Der Mond schwappt über die dunkle Oberfläche. Dels Zigarette glüht wie ein vergessener Wunsch in der feuchten, spät-nächtlichen Luft. »Hallo«, sagt Rose und stemmt sich aus dem Becken hoch, setzt sich neben Del und läßt die Beine im Wasser baumeln. Leise brummt ein Flugzeug über sie hinweg. Rose strampelt ein bißchen mit den Füßen. »Ich überlege, ob ich die beiden Mädels dort oben am Himmel in meine Show einbaue.« Sie lehnt sich auf den Ellbogen zurück. Del nimmt den kühlen, metallischen Geruch von Roses Haut wahr. »Ich könnte den Sprungturm benutzen«, sagt Rose mit zurückgelegtem Kopf. »Wie ein Flugzeug im Sturzflug hinabspringen. Gekleidet wie eine Pilotin. Diese Fliegerkappen haben mir schon immer gefallen.« Sie sieht Del an. »Das könnten wir beiden dort oben sein, du und ich.« Del lächelt. »Du könntest keine neun Tage stillsitzen«, sagt sie. »Luft ist Wasser«, sagt Rose. Das leere Gebäude nimmt ihre Worte auf und wirft sie von Wand zu Wand hinauf zu den Dachsparren. Sie reden, und ihre Worte hängen in der Luft. »Ich würde mich wie eine Pilotin anziehen«, fährt Rose fort, »aber wie ein Flugzeug verhalten. Schau zu. Ich hab mir schon was ausgedacht.« Sie läßt sich wieder ins Wasser hinunter und stößt sich sanft vom Beckenrand ab.
Del raucht ihre Zigarette und schaut zu, wie die Freundin im Wasser ihre Geschichte erzählt. Sie ist immer noch erschüttert von ihrem Gespräch mit dem Piloten, von dem Gedanken an das Entsetzen eines weiteren Krieges. Aber draußen ist, zumindest für den Augenblick, die Welt ruhig, und sie schläft. Nur die beiden Mädchen dort oben in ihrem Flugzeug, Wächterinnen des Nachthimmels. Sie findet Trost bei der Vorstellung, daß sie kreisend die Erde bewachen. Sie findet Trost in dem Wasserballett, das Rose im Becken vollführt. Pendel. Propeller. Trudeln.
Als Del nach Hause kommt, ist Fram noch wach, sitzt mit einem Bier am Küchentisch. Im Haus ist es still. Del gießt sich ein Glas Wasser ein, küßt ihren Mann auf den Scheitel, als sie hinter ihm vorbeigeht, und setzt sich auf den Stuhl neben ihn. Sie möchte ihm erzählen, was sie gesehen hat, als der Pilot in ihrer Bude war, aber sie weiß, daß es nur das bestätigt, dessen er sich bereits so sicher ist, und sie kann es nicht tun, kann nicht zulassen, daß er recht hat. Er würde nur die ganze Zeit darüber reden wollen, und sie müßte sich immer und immer wieder vorstellen, was sie sich nicht vorstellen will, wovor sie sich fürchtet. »Hallo«, sagt sie. »War viel los bei den Pferden?« »Eigentlich nicht.« Fram nimmt einen Schluck Bier, stellt die Flasche zurück auf den Holztisch. Wassertropfen haben sich am Glas gebildet. »Da sind noch Bohnen, wenn du welche willst.« »Kein Hunger.« Del fährt die Gravierung an der Außenseite ihres Glases mit dem Finger nach. »War Simon hier? Er wollte
heute bei mir vorbeikommen. Wollte wissen, was mit dem deutschen Jungen ist, gegen den er als nächstes antritt.« »Er sollte sich nicht mit den Deutschen anlegen«, sagt Fram. »Und du solltest ihm nicht sagen, wie er kämpfen muß. Das geht dich nichts an.« »Es geht dich nichts an«, erwidert Del. »Simon und ich haben das schon immer gemacht. Das einzige, wozu meine Wahrsagerei heutzutage noch gut ist.« Fram leert die Bierflasche, steht auf und stellt sie auf die Arbeitsplatte. Er lehnt sich dagegen, schaut aus dem kleinen Fenster über der Spüle. Del bleibt hinter ihm am Tisch sitzen. »Gibt schon Ärger genug mit diesem Hakenkreuz-Verein«, sagt er. »Simon sollte nicht gegen einen Deutschen kämpfen. Das ist nicht gut.« Del hört das Flugzeug in geringer Höhe über dem Haus. Es fliegt nach Süden über die Sandbank. Sie denkt an Rose. Das könnten wir beide dort oben sein, du und ich. »Simon kann auf sich selbst aufpassen.« »Er sollte keinen Ärger machen.« »Fram, hör auf damit.« Del dreht sich zu ihm um, aber er schaut immer noch aus dem Fenster, lehnt sich schwer gegen die Arbeitsplatte. »Hätte nie herkommen sollen«, sagt er leise. »In dieses Land mit seiner Wirtschaftskrise und den vielen Arbeitslosen.« »Du hast Arbeit«, sagt Del. »Für wie lange noch? Jetzt, wo Sunnyside in Betrieb ist, wie lange wird es da Hanlan’s Point noch geben? In diesem Teil der Stadt ist nicht genug Platz für zwei Vergnügungsparks.« »Tja«, sagt Del, »warum bist du dann hergekommen?« Sie hat immer nur an einem Ort gelebt, in dieser Stadt, und kann Frams nostalgische Sehnsucht nach einem Land, das er vor fünfzehn Jahren verlassen hat, nicht ganz nachempfinden.
Fram dreht sich um und sieht seine Frau an. »Ich dachte, daß es hier besser wäre«, sagt er. »Ist das nicht der Grund, warum die Leute überhaupt auswandern? Weil sie denken, daß es woanders besser ist als dort, wo sie sind.« »Und ist es das nicht?« Del meint sich und Maddy, ihr Heim, das Leben, das sie sich zusammen aufgebaut haben. »Ich bin mir nicht sicher«, erwidert er. »Ich bin mir nicht sicher, daß es so ist.«
SIE ENTDECKEN DIE HAKENKREUZE am nächsten Morgen um 6 Uhr 30, als sie tief über Sunnyside fliegen, um zu beobachten, wie sich der Schoner an seinem Anker wiegt. Willa ist am Steuer, während sich Grace eine Apfelsine aus dem Frühstückssack schält. Zuerst ist sich Willa nicht sicher, was das kleine schwarze Zeichen auf dem alten Betonsockel bedeutet, den Überresten eines Hochspannungsmastes im Wasser östlich vom Baseballstadion der Frauen. Bei der nächsten Runde über den Hafen drückt sie die Nase des Flugzeugs nach unten und erkennt nicht nur eines, sondern fünf aufgemalte Hakenkreuze – das erste auf dem Sockel, das sie schon zuvor gesehen hat, und vier weitere auf einem anderen Sockel südwestlich des Badepavillons. Die Betonsockel sind pyramidenförmig und, wie sich Willa von Strandbesuchen erinnert, über vier Meter hoch. An ihrer Spitze tragen sie immer noch die Stahlstangen, die die Masten mit dem Rest der Konstruktion verbanden; die Metallstangen sehen wie Kerzen auf einem Kuchen aus. Wenn die Sockel über vier Meter hoch sind, müssen die aufgemalten Hakenkreuze fast einen Meter groß sein. Willa tippt Grace auf die Schulter, deutet nach unten. Sie kreisen noch zweimal über die Betonsockel, fliegen jedesmal tiefer. Aber es sind keine weiteren Kreuze zu entdecken. Um diese Zeit des Tages ist der Strand leer. Es ist nichts zu sehen, keine weiteren Zeichen oder Worte auf den Wänden des Pavillons oder der Bordwand der Lyman M. Davis. Nichts Geschriebenes und nichts, das im Sand liegt. Der Sunnyside-Vergnügungspark ist bis Mitternacht geöffnet, also müssen die Schmierereien danach passiert sein. Im dunklen Herzen der Nacht, wenn die Welt unter ihnen ihr und Grace gehört, wie Willa bisher gedacht hat, wenn die letzten sternfunkelnden Scheinwerfer über den Lakeshore Drive nach
Hause gefahren sind und die schwarze, flache Stadt sich in die Obhut des über ihr wachenden Himmels begeben hat. In die Obhut des Flugzeugs. Zu denken, daß jemand, während sie ihre Runden durch die Wolken drehten und die schlafende Erde bewachten, in einem Boot oder im flachen Wasser stehend die Nazi-Symbole mit sorgfältigen Pinselstrichen in symmetrischer Anordnung auf die beiden Betonsockel gemalt hat! Grace, die sich auf ihrem Sitz umgedreht hat, macht das Zeichen für blau – das Wort Wasser, gefolgt von dem für Farbe, beide Fäuste geschlossen, Handflächen nach oben, die Fäuste öffnen sich zu gespreizten Fingern, wobei sich die kleinen Finger an den Spitzen berühren. Dann greift sie nach hinten, zieht fest an Willas Kragen. Blauhemden. Der Hakenkreuz-Verein. Willa hat im Juli in der Zeitung von uniformierten kanadischen Nazis gelesen, die am anderen Ende der Stadt am Strand patrouillierten. Sie erinnert sich sogar an eine Rekrutierungsanzeige für den Hakenkreuz-Verein, in der damit geprahlt wurde, daß er landesweit bereits achtzigtausend Mitglieder hätte. Von Simon Kahane weiß sie, welche Wirkung diese Nazis auf die jüdische Bevölkerung von Toronto haben, und sie weiß ebenfalls, daß das Chromabzeichen, das die Vereinsmitglieder tragen, mehr als ein Pfund Butter oder zehn Pfund Kartoffeln kostet. Was wird geschehen, denkt Willa, wenn die Stadt aufwacht und die Bürger diesen Vandalismus entdecken? Sie kann sich nur die Reaktion und die Schlagzeilen in der Zeitung vorstellen. »Hakenkreuze in Sunnyside«. Sie denkt an Simon, ballt ihre Hand zur Faust, genau wie er es ihr beigebracht hat.
Mitten am Tag, ihrem zehnten in der Luft, nach dem Auftanken um 14 Uhr, bekommen sie Motorprobleme. Grace fliegt die letzten fünfzehn Minuten ihrer Schicht, als der Motor eine Fehlzündung hat. Sie sind so an das stetige, vibrierende Dröhnen der Moth gewöhnt, daß eine Unterbrechung dieses Rhythmus ihre Herzen ebenfalls aussetzen läßt. Willa klammert sich beim Husten des Motors erschreckt an die Seiten ihres Cockpits. Einen entsetzlichen Augenblick lang gibt er überhaupt kein Geräusch von sich, und es ist nur das Jaulen des Windes in den Spanndrähten zu hören. Grace schiebt den Gashebel vor, und die Moth erwacht stotternd und spuckend wieder zum Leben. Zündkerze. Der Motor scheint wieder auf allen Zylindern zu laufen, aber wenn eine Zündkerze durchbrennt, könnte es nur eine Frage der Zeit sein, bevor einer der Zylinder vollkommen ausfällt. Wenn das passiert, haben sie ernsthafte Schwierigkeiten. Ein toter Zylinder verbrennt das Öl und den Treibstoff nicht, die in ihn einfließen, sondern spuckt alles aus, und der Propeller schleudert es in ihre Gesichter. Bei einem Eindecker wäre das eine unangenehme Sache, weil es die Windschutzscheibe verschmiert und die Sicht behindert, aber in einem Doppeldecker mit offenen Cockpits ist es äußerst gefährlich. Sie haben nichts, womit sie sich davor schützen können, und da der Motor der Moth offen und gleich hinter dem Propeller liegt, wären sie direkte Zielscheiben, falls er plötzlich beschließt, sie zu besprühen. Sollte der Zylinder tatsächlich ausfallen, bliebe ihnen nichts anderes übrig, als zu landen und den Flug abzubrechen. Und das passiert, nachdem Willa endlich aufgehört hat, davon zu träumen, daß der Motor aussetzt. Mit dem Kopf gegen den Rumpf gelehnt einschläft und entsetzt mit der Gewißheit aus dem Schlaf hochschreckt, daß der Motor nicht
mehr läuft. Der Augenblick, der nötig ist, um die Stille, die sie zu hören meint, in das ununterbrochene, heisere Dröhnen des voll funktionierenden Motors zu übertragen. Willa übernimmt um 15 Uhr das Steuer und fliegt die Moth behutsam entlang ihrer Bahn am Horizont. Sie ist naßgeschwitzt vom Schrecken, der sie ergriffen hat, als der Motor aussetzte. Sie schaut auf den Rücken von Grace O’Gorman. Dreh dich um, denkt sie, und Grace tut es. Sie starren einander über das schmale Metallstück an, das dünne Blech des Rumpfes, das sie in der Luft hält. Laß es nicht enden, denkt Willa, die Augen auf Grace gerichtet. Beide sind sich des leichten Stotterns im endlosen Monolog des Motors nur allzu bewußt. Ich will nicht landen. Nachts erleben sie einen plötzlichen und unerwarteten Meteoritenschauer. Feuer am Himmel. Funken, die über die dunkle Herdstelle sprühen. Ein Lichtbogen wölbt sich vor der Nase der Moth, und Willa schreibt auf Grace’ Rücken. Sterne sind gleichzeitig heiß und kalt. Licht ist eine Nachricht. Tagsüber haben sie die abgehackte Zeichensprache von Grace, in die Luft gemalte Funktionen und Formen. Nachts genießt Willa die Subtilität des geschriebenen Wortes. Wenn sie es langsam genug macht, kann sie alles sagen. All die Artikel und die Füllwörter. Eine Pause zwischen den Wörtern, um das Ende eines Satzes oder Gedankens anzuzeigen, einen Punkt zu setzen. Was für ein Gefühl des Luxus, einen ganzen Satz zu haben, fähig zu sein, sich vollständig auszudrücken, plötzlich den Wert all der kleinen Worte zu erkennen, damit Sprache nicht stotternd und ruckhaft ist wie ein Motor, dem ein Zylinder fehlt. Willa möchte am liebsten und und und auf die warme Haut von Grace’ Rücken schreiben. Die hoffnungsvollen Bögen.
Wie sie sich wölben, genau wie das Licht am Himmel, ein Pfad, der zwischen zwei Punkten tanzt, eine Verbindung herstellt, der sagt, ja, diese Dinge können miteinander verbunden werden.
DER NÄCHSTE TAG IST warm und bedeckt, es sieht nach Regen aus, ohne daß er kommt. Zum Frühstück gibt es Obst und Maisbrot und einen Zeitungsartikel von Jack. Willa liest ihn begierig, während sie ihren Kaffee trinkt. PILOTINNEN IN SCHWIERIGKEITEN Grace O’Gorman und Willa Briggs, die beiden jungen Frauen, die mit ihrem Rundflug über dem Hafen von Toronto den Dauerflugrekord brechen wollen, wären letzte Nacht beinahe abgestürzt, als Grace das Bewußtsein verlor, während sie am Steuer saß. Sie sackte nach vorn über den Steuerknüppel, und das Flugzeug raste in tödlichem Sturzflug auf das kalte Grab des Lake Ontario zu. Willa klemmt sich die Zeitung zwischen die Knie und gießt sich Kaffee aus ihrer Thermosflasche nach. Wird sie wieder die Retterin sein? Jacks Artikel werden allmählich besser als ihre eigenen Phantasien. Sie liest weiter. Nur das rasche und beherzte Eingreifen von Willa Briggs rettete die Mädels vor dem sicheren Tod. Willa reckte sich von ihrem Sitz im hinteren Cockpit vor, und es gelang ihr mit einer Kraft, die der Verzweiflung entsprang, Grace vom Steuerknüppel wegzuziehen und das Steuer der Moth zu übernehmen. Gut gemacht, denkt Willa. Ihr gefällt die Stelle mit der Kraft, die der Verzweiflung entsprang. Jack wird richtig lyrisch.
Grace O’Gorman scheint sich ein weiteres Mal vollkommen erholt zu haben und führt den Vorfall auf ihre Schwäche nach der plötzlichen Blinddarmreizung zurück.
Natürlich muß es ihr am Ende des Artikels wieder besser gehen, sonst würden die Leute am Boden sich vielleicht Sorgen machen und etwas unternehmen, um die Fakten zu überprüfen, sich von der Unversehrtheit der Pilotinnen zu überzeugen. Willa wedelt mit der Zeitung vor Grace’ Gesicht, aber die schüttelt nur den Kopf. Grace weigert sich, die Artikel zu lesen, seitdem sie zu einem unberechenbaren, kränkelnden Opfer geworden ist. Sie kann nicht damit umgehen, daß ihr übermenschliches Bild in der Öffentlichkeit Schaden nimmt. Er kann nicht so weitermachen, schreibt Willa Grace auf den Rücken, aber Grace schüttelt nur wieder den Kopf. Doch, er kann.
Unten auf dem Gelände der C.N.E. flattert es weiß, und Willa und Grace engen ihre Runden ein und verringern die Höhe um hundertfünfzig Meter, damit sie sehen können, was da geschieht. Zelte. Hunderte von weißen Zelten, die neben den Dufferin Gates aufgeschlagen werden. Die Zelte sind alle gleich, rund mit spitzem Dach. Soldaten? Willa kann sich nicht vorstellen, warum Soldaten auf der Kanadischen Nationalausstellung Zelte aufschlagen sollten, wo es doch Kasernen nur ein Stück die Straße hinunter gibt. Vielleicht Soldaten aus den Vereinigten Staaten oder von Übersee, die zu Besuch sind? Willas Vater war Soldat im Weltkrieg, und sie erinnert sich, daß er ihr erzählt hat, die C.N.E. sei der Schauplatz enormer Truppendemobilisierung nach dem Krieg gewesen. Heute ist eine Menge los auf dem C.N.E.-Gelände, und Willa und Grace beziehen es in ihre Runden mit ein, damit sie beobachten können, wie Holzbuden am mittleren Durchgangsweg errichtet werden und die Menschen
herumwimmeln. Obwohl die Ausstellung erst am 25. August eröffnet wird, nutzen Händler und Schausteller die Wochen davor, um ihre Stände aufzubauen und ihre Vorführungen einzuüben. Willa gefallen die majestätischen Gebäude der C.N.E. die geflügelten Statuen auf den Princes Gates am Haupteingang des Geländes. Sie erkennt viele der Gebäude aus der Luft – den Pferdepalast, den Automobilpavillon, die Kunstgalerie, das Kolosseum, die Gartenschau und das Handwerkshaus. Selbst einige der kleineren sind an ihrer Form zu erkennen. Das T des Frauengebäudes, das L des Hauses der Industrie und Fertigung und das langgestreckte I von Mother’s Rest. Die C.N.E, ist eine gewaltige Ansammlung von Gebäuden und Straßen, die sich über eine Länge von zweieinhalb Kilometern von den Princes Gates an der Fleet Street bis zu den Dominion Gates am anderen Ende des Geländes erstrecken. Nach Süden hin grenzt das Ausstellungsgelände direkt an den See, nur durch den zweihundert Meter breiten Boulevard Drive vom Wasser getrennt. Die Regattastrecke, neben dem Marathonschwimmen eine der beliebtesten Einrichtungen der C.N.E. führt an der Straße entlang und kann von den weiten Rasenflächen vor den stattlichen Ausstellungsgebäuden aus Stein und Glas aus gut eingesehen werden. Auf dem Boulevard Drive sollen Willa und Grace am 25. August, dem Eröffnungstag der C.N.E. mit der Moth landen. Willa hat es immer gefallen, daß die C.N.E. den Eindruck einer eigenen Stadt vermittelt, selbständig und autark. Das Netzwerk der Straßen auf dem Gelände, alle mit Namen und Straßenschildern – Dominion Street, Hutton Road, BadenPowell. Die Unterschiedlichkeit der Gebäude, vom alten Siedler-Blockhaus über die Steinpyramide, die den Standort des französischen Forts Rouille markiert, bis zu dem modernen
Haus für Hunde und Katzen. Alles, was man sich nur vorstellen kann, ist auf dem Gelände der C.N.E. zu finden. Sie fliegen über das riesige Oval mit der Haupttribüne und der Rennbahn, wo sich 1917 die berühmte amerikanische Pilotin Ruth Law mit ihrem Doppeldecker ein Rennen gegen ein von Gaston Chevrolet gefahrenes Auto lieferte. Das Auto gewann. Jetzt wird jedes Jahr ein anderes »Riesenspektakel« im Inneren des gewaltigen Ovals aufgeführt. In diesem August ist es Montezuma – die dramatische Eroberung Mexikos durch die Spanier, mit einem großen, extra erbauten Palast und einem Feuerwerk als Finale. Willa hat die Werbeplakate dafür gesehen. Sie weiß, daß die kleinen Erhebungen in der Mitte der Rennbahn künstliche Berge sind, die von den Schauspielern auf ihrer Suche nach Tanz und Kampf mit Begeisterung erstürmt werden sollen. Am Morgen des 11. August gibt es keine Menschenopfer oder marodierende Spanier, nur Drahtseilakrobaten, die für die Nachmittagsvorstellung vor der Tribüne proben, sechs auf einem Drahtseil, das Willa von oben nicht einmal sehen kann. Von hier sieht es aus, als ob die Sechs sich nur vorsichtig in der Luft bewegen. Um das Rund der Rennbahn ziehen zwei Pferde einen Wagen. Zu schade, denkt Willa, daß sie schon gelandet sein werden, bevor Montezuma beginnt. Es wäre aufregend gewesen, durch das Feuerwerk zu fliegen. All die Farben und Lichtformen um das Flugzeug herum explodieren zu sehen. Willa beobachtet das geschäftige Treiben auf dem schmalen Straßenstreifen neben der großen Arena, sieht, wie Gerüste und Bretter das Grau der Straße in Karussells und Losbuden verwandeln. Wenn der Motor des Flugzeugs nicht so laut wäre, könnte sie bestimmt auch das Klopfen von tausend Hämmern, das rauhe Kreischen von tausend Sägen hören.
Es ist erstaunlich, daß weiterhin so viele Menschen zu der Ausstellung kommen, und das 1933, dem angeblich schlimmsten Jahr der Wirtschaftskrise. Letztes Jahr hatte die Besucherzahl zugenommen, und dasselbe wird für dieses Jahr vorausgesagt. Menschen ohne Arbeit kommen, um ihr bißchen Geld für eine Fahrt mit dem Riesenrad oder ein Konzert im Musikpavillon auszugeben. Und warum auch nicht, denkt Willa. Wenn sie nicht einen so dramatischen Auftritt bei der Ausstellung hätte und zum Eröffnungsereignis bestimmt wäre, dann würde auch sie sich mit allen anderen vor den Princes Gates anstellen. Sie würde Hot Dogs essen, das Gewicht der Dickmadam erraten und bei der Schweineprämierung zusehen. Sie würde in das »Kleinste Zuhause der Welt« der Zwerge schauen und Schlange stehen, um einen Blick auf die »Riesige Menschenfresser-Krake« zu werfen. Sie würde für einen Tag in der geschützten, glücklichen, illusionären Stadt der C.N.E. leben. Aus der Luft wirken die Geschäftigkeit der Leute und die soliden Blöcke der Gebäude tröstlich. Sie überfliegen die Bauarbeiten am Mittelweg, und einige Leute schauen sogar hoch und winken ihnen zu. Tiefer, schreibt Willa, und Grace gleitet über die Kupferkuppel des Regierungsgebäudes von Ontario, über das schräg abfallende Dach der Holztribüne. Sie fliegen über zwei Frauen weg, die an zwei Trapezen aufeinander zuschwingen. Sie lassen sich vorwärts schnellen, Arme und Handgelenke steif ausgestreckt, die Körper in der Luft verhakt. Sie fliegen über den Springbrunnen, die Schienen und Rangiergleise am Nordende des Geländes. Sie fliegen über die fünf Gewächshäuser an den Dominion Gates. Der Rosengarten ist ein blutroter Fleck. Aus der Luft wirkt er wie ein einziger scharlachroter Knopf an einem grünen Hemd.
MADDY SIEHT DEN JUNGEN über die hölzerne Strandpromenade auf Ward’s Island zugehen. Der gleiche Junge, mit dem sie neulich im Camp der Arbeiterjungen gesprochen hat. Sie umkreist ihn mit ihrem Fahrrad, bemerkt, daß er das Modellflugzeug im Arm hält und beim Gehen nach unten schaut, damit er nicht stolpert. »Wo gehst du hin?« fragt Maddy und umkreist ihn erneut. Sie entdeckt die sorgfältig aufgemalte Kennung auf der oberen Tragfläche der Moth. Der Junge sieht auf. »Ach«, sagt er, »du bist’s.« »Wo gehst du hin?« Maddy fährt einen weiten Kreis um ihn. Es quietscht, wenn die Pedalen sich um die Achse drehen. Über ihnen der Flügelschlag der Möwen. »Aufs Festland. Zur Ausstellung. Ich bringe mein Flugzeug für den Wettbewerb hin.« Der Junge schaut sie erneut an, diesmal länger. »Weißt du«, sagt er, »du hattest recht wegen der Tragflächen. Acht Komma neun Zentimeter.« »Natürlich hatte ich recht.« Der Junge senkt den Kopf, und Maddy spürt, wie sie rot wird. Sie redet mit ihm wie mit Miro, und sie weiß, daß das nicht gut ist. Sie war schon so lange nicht mehr mit anderen Kinder zusammen, daß sie vergessen hat, wie man mit ihnen spricht, welche Worte man benutzt. Das konnte sie nie sehr gut. In der Schule fürchten sich die meisten vor ihrem Grimm, und die, die sich nicht fürchten, mögen sie nicht, weil sie jüdisch ist. Sie hat keine Freunde in ihrem Alter, tut zwar immer so, als würde ihr das nichts ausmachen, aber an diesem Morgen, während sie neben dem Jungen herradelt, sehnt sie sich schmerzlich nach Gesellschaft. »Kann ich mitkommen?« fragt sie.
Der Junge bleibt stehen, und sie springt ab, um ihr Fahrrad anzuhalten. Sie sehen sich an. »Ich werde dir nicht im Weg sein«, sagt sie. »Was ist mit deinen Eltern?« »Die arbeiten tagsüber. Manchmal macht mir Onkel Simon was Ekliges zum Abendessen, aber heute muß er trainieren.« »Trainieren?« »Für seinen morgigen Kampf. Er ist Boxer.« »Simon Kahane?« In den Augen des Jungen flackert Interesse auf. »Der ist dein Onkel? Er ist mein Lieblingsboxer.« Maddy spürt, wie ihre alte Selbstsicherheit zurückkehrt. »Ich kann dir jede Menge Geschichten über seine Kämpfe erzählen«, sagt sie. »Ich geh fast zu jedem. Ich kann dir tolle Sachen erzählen«, sagt sie. »Auf der Fährenüberfahrt.« Maddy steht neben dem Jungen, der Sidney heißt, auf dem Deck der Fähre. Sie lehnt sich über die hölzerne Reling und schaut zu, wie das Wasser am Schiffsbug vorbeirauscht und weiße Kräuselfalten auf dem blauen, öligen See hinterläßt. Die Anlegestelle von Ward’s Island sinkt langsam achteraus zurück. Die Achterbahn von Hanlan’s Point ist im Westen kaum noch zu sehen, ein alter, verrosteter Haufen. Sie wendet sich Sidney zu, der immer noch das zerbrechliche Flugzeugmodell im Arm hält. »Als was arbeitest du?« fragt sie. »Laufbursche«, erwidert er kurz angebunden. »In einer Druckerei. Schau.« Er streckt die Hand aus, und Maddy sieht die schwarzen Linien in seiner Hand, voller Dreck. »Druckerschwärze«, sagt er. »Geht nicht so leicht ab.« Maddy ist neidisch auf seine Hände. Sie wäre auch gern ein Arbeiterjunge. Dann könnte sie auf dem provisorischen Flughafen arbeiten und Grace O’Gormans Flugzeug warten. All die Spanndrähte festzurren, den Motor genau richtig
einstellen. Perfekt, würde Grace schnurren, wenn sie ins Cockpit kletterte. »Magst du Flugzeuge?« fragt sie Sidney. »Ich bastel gerne«, antwortet er. »Was, ist mir egal. Erzähl mir von Kid Kahane.« Sie legen am Bay-Street-Kai an und fahren mit der Straßenbahn zum Ausstellungsgelände. Maddy findet das alles sehr aufregend, auch wenn sie die Fahrt hin und zurück einiges von ihrem Miro-Waschgeld kostet. Im Sommer verläßt sie die Inseln nicht oft. Am Labour Day im September werden ihre Eltern mit ihr zur C.N.E. gehen. Aus beruflichen Gründen, sagen sie immer, damit sie sich die neuesten Monstrositäten und Geschicklichkeitsspiele ansehen können, die sich vielleicht im nächsten Jahr für Hanlan’s Point übernehmen lassen. Wenn sie Glück hat, darf sie mit dem Riesenrad fahren, so hoch hinauf, daß es wie Fliegen ist, und am höchsten Punkt dann all die winzigen Leute dort unten und der See, der sich wie eine blaue Stoffbahn nach Süden erstreckt. Sie werden Popcorn essen und sich durch die Menge zum MarathonSchwimmen der Frauen durchkämpfen, um Rose fettbeschmiert und siegreich nach zehn Meilen aus dem Wasser steigen zu sehen. Dieses Jahr wird sie versuchen, ihren vierten Sieg in Folge zu erringen, ein neuer Rekord in der Geschichte des Marathon-Schwimmwettkampfes der C.N.E. Maddy war noch nie auf der Ausstellung, bevor sie offiziell eröffnet wurde. Es hat etwas Befreiendes, zwischen den großen Säulen der Princes Gates hindurchzuschlendern, ohne Eintritt zu bezahlen. Der Flugzeugmodell-Wettbewerb findet im Automobilpavillon statt, direkt hinter dem Tor. Sie geht mit Sidney hinein und wartet auf ihn, während er einen Mann an einem Tisch fragt, wo er hingehen muß. Maddy gefallen diese großen Gebäude auf der C.N.E. Nach den kümmerlichen Holzhäusern auf den Inseln kommen sie ihr
wie Paläste vor. Sie legt den Kopf in den Nacken, dreht sich um ihre eigene Achse und schaut zu der hohen Decke hinauf, wobei ihr ein bißchen schwindelig wird. »Was machst du da?« Sidney steht mit gerunzelten Brauen neben ihr. Sie merkt, daß er es jetzt, wo sie auf den C.N.E. sind, bereut, sie mitgenommen zu haben. Maddy hat ein Gespür dafür, wenn sie unerwünscht ist. »Nichts«, sagt sie, den Tränen nahe. »Gar nichts.« Sidney füllt einen Anmeldebogen aus und läßt seine Moth bei dem Mann am Tisch. Maddy liest über seine Schulter Teile des Bogens mit, bis er sich umdreht und sie anfunkelt. »Die Modelle müssen nicht flugfähig sein.« Feiglinge, denkt sie. Jungs wissen nichts von richtigen Flugzeugen. Wissen nichts vom Fliegen. Sie lehnt sich an eine Wand und sieht eine Reihe von Jungen mit Modellflugzeugen den Automobilpavillon betreten. Sie kennt die Modelle. Jenny. Waco. Curtiss Robin. Sie kennt die Flügelspannweiten und die Schwanzsporne. Sie weiß, ob die Kennung an der richtigen Stelle aufgemalt ist. Sie weiß das alles. Sie lehnt sich an die kalte Steinwand und pult mit ihren dreckigen Fingernägeln an einem Stück abblätternder Farbe herum. Nur für Jungen. Sie weiß ohne den geringsten Zweifel, daß es keinen Jungen auf der Welt gibt, der ein besseres Flugzeug bauen kann als sie. Dreckige, stinkende, verrottete Feiglinge. Sidney hat seinen Anmeldebogen ausgefüllt, und sie geht mit ihm zurück nach draußen. Sie kann ihn noch nicht mal anschauen, so sehr haßt sie ihn, konzentriert sich statt dessen auf die Bäume, die den Grand Boulevard vor dem Automobilpavillon säumen. Alle gleich groß. Einer hat ein Vogelnest im oberen Geäst. Sie stellt sich vor, welches Schicksal die Brut wohl im Frühjahr ereilt hat.
Tot, denkt sie bitter. Wahrscheinlich von einem riesigen, gemeinen Tier aufgefressen. »Hör mal«, sagt Sidney. »Ich geh rüber zu den Dufferin Gates. Da ist ein Pfadfinderlager für Jungs, und ich hab Freunde da.« »Jungs«, sagt Maddy, als würde sie auf den Boden spucken. »Achttausend«, sagt Sidney. »Gäste der C.N.E. Aus dem ganzen Land.« Er entfernt sich von ihr. »Findest du allein zurück?« Maddy wünscht sich, sie hätte einen großen Speer. Sie würde ihn damit auf der Stelle durchbohren. »Ich bin schon viel öfter mit der Fähre gefahren als du«, schnaubt sie. Sidney zuckt mit den Schultern. »Okay«, sagt er und geht über den Rasen vor dem Elektrotechnikgebäude davon. Maddy schaut ihm nach, bis er verschwunden ist. Er dreht sich nicht um, nicht ein einziges Mal. Sie wandert durch das Ausstellungsgelände, über den Mittelweg, an dem die Männer ihre Buden zusammenhämmern, Reihen blinkender Nägel zwischen den Zähnen. Sie kommt an den bemalten Vorderfronten des »Messerwerfenden Schimpansen« und des »Tellerballancierenden Jongleurs« vorbei. Schließlich klettert sie auf die leeren Reihen der Tribüne und sieht den Akrobaten beim Trainieren ihrer Trapeznummer zu. Eine Frau fliegt durch die Luft auf eine andere zu, die mit dem Kopf nach unten an ihrem Trapez hängt. Die Fliegende hat ihre Arme wie Flügel ausgebreitet. Grace O’Gormans Moth gleitet über das Himmelsstück am Rand des Tribünendaches. Die beiden Frauen verhaken sich ineinander, und sie schwingen in der Luft vor und zurück. Maddy kauert sich auf dem Holzsitz zusammen, ihre Schluchzer übertönt vom Dröhnen des Flugzeuges.
KATASTROPHENNACHT – DAUERFLUG WIEDER IN GEFAHR Die Pilotinnen erlebten einen weiteren Rückschlag bei ihrem Versuch, einen neuen Weltrekord im Dauerfliegen aufzustellen. Am elften Tag ihres Versuches fiel die Pilotin Grace O’Gorman über Bord und hing, nur durch ihren Anschnallgurt gehalten, der sich um ihren Fußknöchel gewickelt hatte, kopfüber in der Luft. Das Unglück ereignete sich, als das Auftankflugzeug, geflogen von Grace O’Gormans Ehemann Jack, einen Sack mit Treibstoffkanistern und Nahrungsmitteln herabließ. Der Sack wurde von einer plötzlichen Windbö erfaßte, prallte gegen die berühmte Fliegerin und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie fiel aus der Moth, wobei sich ihr Fuß zum Glück in ihrem Gurt verfing, als sie mit dem Kopf voran über die Bordwand kippte. Willa Briggs konnte nur entsetzt zusehen, wie ihre Partnerin in die Tiefe stürzte. Blitzschnell sprang Willa auf, lehnte sich aus dem nun steuerlosen Flugzeug hinaus und brachte es fertig, Grace am Fußgelenk zu packen und sie langsam wieder in Sicherheit zu ziehen. Selbst an so flugbegeisterten Mädels wie Grace und Willa gehen diese gefährlichen Ereignisse nicht spurlos vorbei. »Wir sind ein bißchen nervös bei dem Gedanken, was als nächstes passieren könnte«, sagte eine erschöpfte Willa Briggs. Klar sind wir nervös, denkt Willa. Da kannst du drauf wetten. Sie stopft die Zeitung neben ihren Sitz und hofft, daß ihre Mutter die Artikel nicht liest, hofft dann, daß sie es doch tut. Willa geht auf, daß Jack etwas vorhaben könnte. Was ist, wenn diese erfundenen Geschichten, die immer dramatischer werden, nur die Vorbereitung für eine Sabotage sind? Was ist, wenn er etwas ausbrütet, das ihren Flug tatsächlich beendet?
Sie sind so völlig davon abhängig, daß er alle acht Stunden zum Auftanken der Moth kommt, und befinden sich daher ganz in seiner Hand. Falls er plant, sie zu sabotieren, können sie nur wenig dagegen unternehmen. Willa hat Jack nie für so berechnend gehalten, daß er fähig wäre, sie massiv anzugreifen. Sie hatte gemeint, die fiktiven Zeitungsmeldungen seien aus einem Gefühl von Ohnmacht entstanden und nicht Teil einer sorgfältig geplanten Strategie. Was ist, wenn sie sich hinsichtlich seiner Motive irrt? Wenn sie ihn als mögliche Bedrohung unterschätzt hat? Willa betrachtet den Rücken von Grace. Kann sie dieser Frau sagen, daß sie fürchtet, ihr Mann sei darauf aus, ihnen Schaden zuzufügen? Kann sie Grace sagen, daß sie meint, Jack würde sie verraten? Welche Worte kann sie auf Grace’ Nacken schreiben, die sie nicht zusammenzucken und von ihr wegrücken lassen?
Der Motor der Moth hat immer noch Fehlzündungen, aber es wird nicht schlimmer. Er setzt nicht wieder aus. Sie hören nur das stetige Klopfen des nicht gleichmäßig arbeitenden Zylinders. Willa und Grace verbringen den zwölften Tag in der Luft damit, weitere Gebärden für ihre Zeichensprache zu erfinden. Es regnet ein bißchen, und der Himmel ist bedeckt. Sie haben vorsichtshalber ihr Ölzeug angezogen. Grace hockt verkehrt herum auf ihrem Sitz, das Gesicht Willa zugewandt, und malt Wörter in die Luft. Sie verfügen über eine Menge einfacher beschreibender Wörter, verspüren aber das Bedürfnis, über das bloße Beschreiben einzelner Dinge hinauszugehen. Grace beginnt, Wörter zu kombinieren, um aus der Verbindung ein anderes
Wort zu schaffen. Sie macht das Zeichen für Farbe und malt dann mit dem Zeigefinger ein unsichtbares R in die Luft. Rot. Erneut das Zeichen für Farbe, diesmal gefolgt von einem G. Gelb. Sie streckt beide Hände vor sich aus, die Handflächen nach oben, und bewegt sie auf und ab wie Waagschalen, das Zeichen für ist gleich. Willa braucht einen Moment, den Gedankensprung nachzuvollziehen, aber nachdem sie kapiert hat, was Grace da tut, nimmt ihr Verstand das neue Wort begierig auf. Rot plus Gelb ist gleich Orange. Grace probiert noch weitere Farbkombinationen aus und geht dann zu schwierigeren Zusammensetzungen über. Flugzeug plus Schiff ist gleich…
Willa hatte gedacht, die verbindende Kategorie für Flugzeug und Schiff sei Fahrzeug, aber jemand anderer könnte genau so leicht denken, damit sei Transport oder Mechanisches oder sogar Dinge, die nicht an Land sind gemeint. Grace hat vielleicht noch nicht mal Fahrzeug gemeint, als sie die Zeichen für Flugzeug und Schiff machte. Was geschieht in der Spanne zwischen dem, was gemeint ist, und dem, was verstanden wird? Wenn alles klar und verständlich ist, wie es war, als Willa und Grace in einzelnen, bekannten Bilder kommunizierten, gibt es dann weniger mitzuteilen? Ist es die Spannung zwischen der von der einen Person beabsichtigten und der von der anderen vernommenen Bedeutung, die Menschen veranlaßt, miteinander zu reden? Grace macht nun die Zeichen für zwei Wörter, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, zusammengenommen jedoch auf ein neues Wort hindeuten – eine Antwort auf das Rätsel,
das sie darstellen. Die Kombination von Nacht und Flügel ergibt Fledermaus, aus Himmel und Lippe läßt sich auf Horizont schließen. Das ist eine Möglichkeit, Bedeutung herzustellen, ohne den Gegenstand tatsächlich zu benennen. Sprache als sichtbares Echo. Jedes Wort um so lebendiger, da es durch andere Wörter gereist ist, um zu seiner Bedeutung zu gelangen. Eine aus der Dunkelheit gleitende Fledermaus mit Engelsflügeln. Eine sichtbare Resonanz zu schaffen geschieht weder in gesprochener noch in geschriebener Sprache, und Willa wird erst jetzt klar, was für ein Manko das ist. Ihr geht auf, daß sie, wenn sie nicht sehen könnte, auch nicht fähig wäre zu sprechen.
Der wolkenverhangene Tag geht in eine wolkenverhangene Nacht über. Keine Sterne und kein Mond schimmern am Himmel. Sie kreisen über dem Hafen, schauen hinab auf die Lichter der Stadt, die Sterne der Erde. Es ist eine ruhige Nacht, kaum Wind, und sie ziehen langsam auf ihrer ausgefahrenen Bahn durch die Nacht. Gegen Mitternacht drosselt Willa die Geschwindigkeit auf siebzig Kilometer pro Stunde. Das Motorengeräusch verändert sich, und in dem Moment, den ihr Gehör braucht, um sich an den neuen Klang zu gewöhnen, hört sie nur die vollkommenen Harfentöne des Windes in den Spanndrähten. Als sie über die Stadt kommen und nach Westen über die C.N.E. fliegen, blitzt plötzlich ein heller Strahl von unten auf, schießt zu ihnen in den Himmel hinauf und formt große, leuchtende Muster in der Luft. Erst nach einigen Sekunden erkennt Willa, was sie darstellen. Buchstaben, Wörter. Ein Lichttelegramm.
HALLO MÄDELS – FLIEGT WEITER. Willa blinzelt, versetzt sich einen Klaps auf die Wange, blinzelt erneut. Es ist immer noch da. Unglaublicherweise stehen da Wörter am Himmel. Sie knufft Grace in den Rücken, und Grace greift nach hinten, packt Willas Hand. Sie sieht es auch. Willa ist nicht verrückt geworden. Sie zerrt ihre Taschenlampe heraus, die an der Schnur um ihren Hals hängt, und leuchtet nach unten in die Dunkelheit über den C.N.E. Der Lichtstrahl dringt nur bis ans Ende der Tragfläche. HALLO MÄDELS – FLIEGT WEITER. Was passiert da unten auf der Erde? Welche Irren haben die Herrschaft über den Planeten übernommen? Wie können Buchstaben, die jeder über einen Meter groß sind, plötzlich auftauchen und still im Äther hängen? Was geht da vor? Willa läßt die Taschenlampe fallen, die hart auf ihrem Brustbein aufprallt. Sie steuert das Flugzeug hinaus zu den Inseln, und das große Leuchtzeichen liegt für eine Minute hinter ihnen. Als sie wieder nach links schwenken und Willa über den Hafen zur C.N.E. schaut, ist es verschwunden. Keine Formen in der Dunkelheit. Kein Lichtalphabet.
AM SONNTAG, DEN 13. AUGUST, regnet es den ganzen Tag. Ein unbarmherziger Regen, und Willa ist davon überzeugt, daß er sie viel härter trifft als auf der Erde, weil sie den Wolken so nahe sind. Sie verbringen den Tag in ihrem Ölzeug und tragen darunter soviel wie möglich – um warm zu bleiben und die Sachen trocken zu halten. Willa kommt sich vor, als trüge sie einen mindestens 130 Pfund schweren Taucheranzug, genau so einen wie die junge Miss Owens, die Ende des Monats ins Wasser der Bucht hinabtauchen wird, um »zu sehen, wie der Grund des Sees aussieht«. Nach dem Auftanken um sechs Uhr früh steigen sie auf zwölfhundert Meter, und Willa findet es erholsam, nicht auf die Welt unter dem Flugzeug schauen zu müssen. Alles da unten ist immer weniger von Interesse für sie, besonders jetzt, wo es vom Nebel verhangen ist. Willa versucht ihren Kaffee zu trinken, ohne daß Regen hineinläuft, aber das ist unmöglich. Der Regen füllt die Tasse ihrer Thermosflasche. Er pladdert auf das Frühstücksbrot und verwandelt es in einen matschigen Teigklumpen. Der Regen rinnt ihr über Haare und Gesicht, dringt am Hals in das Ölzeug ein, läuft in dünnen Rinnsalen über ihre Brust und ihren Rücken. Der Regen durchweicht ihre Lederhandschuhe, und wenn sie die Handschuhe auszieht, werden ihre Hände braun verfärbt sein. Der Regen erschwert die Sicht. Durch die Vorwärtsbewegung des Flugzeugs schlägt er ihr schräg ins Gesicht und sticht auf ihrer Haut. Der Regen hört nicht auf. Das Auftanken um 14 Uhr ist schwierig. Zweimal senkt sich das Bündel zu Grace herab, ohne daß sie es packen kann, und prallt gegen die obere Tragfläche, bevor Jacks Flugzeug es wieder hochzieht. Als es Grace dann gelingt, hat sie Probleme, den Sack aufzuschnüren, weil ihre Finger vom Regen klamm
und steif sind, und schließlich schneidet sie die dünne Schnur um den Leinwandbeutel einfach durch. Willa wünschte, sie wären beim Auftanken zu dritt. So viele sind nötig – zwei, um mit dem Schlauch und den Treibstoffkanistern fertigzuwerden, während die dritte das Flugzeug fliegt. Sie sieht, wie sich Grace abmüht, beim Einführen des Schlauchs in den Flügeltank das Gleichgewicht zu halten. Wenn sie nun über Bord geweht würde, könnte Willa sie rechtzeitig packen? Nein, denkt sie. Ich bin nicht so wie in Jacks Geschichten. Ich könnte Grace nicht retten. Sie hält die Moth so ruhig wie möglich. Der Regen schmeckt wie Metall in ihrem Mund. Das schlechte Wetter hält bis kurz vor dem Morgengrauen an. Erst nach einigen Augenblicken merkt Willa, daß es nicht mehr regnet. Sie hat sich so an die ständige Nässe auf ihrem Gesicht gewöhnt, daß sie, als ihr schließlich das Fehlen des ununterbrochenen Geprassels auf ihren Körper auffällt, nicht weiß, ob nur Momente oder bereits Stunden vergangen sind. Grace hat sich zu einem gelben Ball im vorderen Cockpit zusammengerollt, schläft in der unbequemen Lage, in der sie zu schlafen gelernt haben. Willa steuert die Nase des Flugzeugs in die rote Scheibe, die sich aus dem See erhebt, als ob sie ihr helfen könnte, schneller hoch genug zu steigen, damit Wärme in ihre kalten, kalten Knochen dringt. Es ist kurz nach fünf Uhr morgens, die Welt unter ihnen noch dunkel, eingehüllt in graues Zwielicht und Schatten. Der Zündkerzenstecker hat in der Feuchtigkeit Strom abgegeben, und der Motor ist von einer Aureole umgeben. Elmsfeuer. Gutes altes Flugzeug, denkt Willa. Nicht einmal bei all dem Regen hat es sie im Stich gelassen. Wasser ist eine Gefahr für einen freiliegenden Motor wie dem der Moth; der Zündmagnet könnte naß werden und einen Kurzschluß im Motor verursachen. Wasser und Elektrizität sind keine gute Mischung. Willa betrachtet die Aureole. Man könnte beinahe
glauben, daß sich die Moth ihrer beiden Insassinnen bewußt ist – nicht auf menschliche Weise, aber sich irgendwie bewußt, wer sie sind und was sie machen. Als ob das Flugzeug wüßte, wie wichtig es ist, daß alles glatt läuft. Zwei Wochen, denkt Willa. Heute ist der vierzehnte Tag. Zwei Wochen in der Luft. Bald muß sie Grace wecken, damit sie für das Auftanken um sechs Uhr bereit sind. Es ist, als würden sie ihre Zeit daran bemessen, den Tag sauber in drei Teile zwischen den Auftankrunden zerlegen. Willa betrachtet Grace’ runde Schultern, den nach vorne gesackten Kopf. Grace. Ich möchte für immer mit dir hier oben bleiben. Zwei Wochen, und Willa meint, daß es ihr besser denn je geht. Natürlich hat sie Schwierigkeiten, sich daran zu erinnern, wie es ihr vor ein paar Tagen ging, aber darüber macht sie sich keine Sorgen. Sie ist nicht mehr so müde, obwohl ihr etwas sagt, daß sie müder ist denn je und ihr momentaner Zustand, diese nervöse Hochstimmung, nur eine Reaktion auf die Erschöpfung sein kann. Aber das ist in Ordnung. Das redet sie sich ständig ein. Es ist in Ordnung, daß ihre Füße dauernd taub sind. Es ist in Ordnung, daß sie in letzter Zeit keinen Appetit mehr hat. Es ist in Ordnung, daß sie zweimal etwas gesehen hat, wo nichts war – andere Flugzeuge, die aus der Dunkelheit auf sie zukamen. Es ist in Ordnung. Sie wirft diese vier Worte in ihrem Kopf herum, fängt sie auf, wirft sie hoch, fängt sie auf, wirft sie wieder hoch. Mit jeder Umrundung des Hafens scheint das Flugzeug die rote Sonne ein bißchen höher aus dem Wasser zu ziehen. Grace schläft weiter. Die Sonne schwingt einen blutigen Arm über das Wasser. Willa schaut auf ihre Hand am Steuerknüppel, die schmale Biegung des Handgelenks, das flache Grinsen der Knöchel.
Meine Hand weiß von allein, was sie zu tun hat, denkt sie. Die Hand dreht sich langsam, um der Anziehung des nördlichen Himmels zu folgen. Hier entlang. Dort entlang. Meridianer Verführer. Kompaß der Knochen.
DEL GEHT DURCH DEN VERGNÜGUNGSPARK. Der Abend ist kühl, der gestrige Sturm hat eine Menge Kaltluft gebracht. Sie zieht den Pullover enger um sich zusammen, als sie an Miros Häuschen vorbeikommt. Das Licht brennt. Miro hat Schlafstörungen, das weiß sie. Er bleibt auf und hört Radio, liest Abenteuerjahrbücher für Jungen. Geschichten von Bergbesteigungen und einsamen Ozeanüberquerungen. Geschichten vom Fliegen. Felsen. Wasser. Luft. Del hört das Flugzeug, schaut hinauf, kann aber nichts sehen. Es hört sich heute höher an, weiter weg. Sternenlicht tröpfelt vom Himmel herab. Über der C.N.E. ist in großen, leuchtenden Buchstaben der Gruß an die Pilotinnen zu sehen. WIR GRÜSSEN EUCH MÄDELS. Ein Skyrogramm. Eine britische Erfindung, importiert für die Ausstellung und mit diesen nächtlichen Botschaften an die Pilotinnen getestet. Alle Welt ist begeistert von diesem Skyrogramm. Eine revolutionäre Idee, Buchstaben auf einen riesigen angeseilten Ballon zu projizieren, der über dem Gelände der C.N.E. schwebt. Selbst die Inselbewohner interessieren sich dafür. Endlich mal etwas, das auf dem Festland passiert, an dem sie tatsächlich teilhaben können. Del wünscht sich nur, sie hätten Grace O’Gorman und Willa Briggs etwas Vernünftigeres zu sagen. Etwas, das für sie von Interesse sein könnte. Vielleicht fliegen sie so hoch, um diesen geistlosen Grüßen zu entfliehen. Der Wind pfeift durch die Holzverstrebung der Schiffschaukel, und Del eilt auf den Schutz ihrer Bude zu. Noch eine Stunde, dann wird sie nach Hause gehen. Es ist nicht viel los im Vergnügungspark, zu kalt für eine Fahrt über
die Bucht. Auch Fram hat kaum zu tun. Als sie ging, war niemand auf dem Karussell, nur Maddy, die auf ihrem Pferd Runde um Runde ritt, und Fram, der ihr zuschaute. Im Inneren der kleinen Bude ist es wärmer; der Vorhang am Eingang hält die Zugluft ab. Del zündet zwei Kerzen an und läßt sich hinter dem Tisch nieder. Sie bindet sich ihr »Zigeunertuch« um den Kopf, und als sie es gerade im Nacken verknotet, betritt jemand die Bude. Ein junger Mann. Er grinst sie an und setzt sich auf den Stuhl, wartet nicht ab, bis sie ihn dazu auffordert. Selbstsicher, denkt Del. Sie senkt ihre Hände, legt sie auf den Tisch. »Wollen Sie sich die Zukunft voraussagen lassen?« fragt sie. Der Mann beugt sich über den Tisch, immer noch grinsend, und bringt sein Gesicht ganz nahe an das ihre heran. Del stockt der Atem. »Nein«, sagt er. »Ich sag dir die Zukunft voraus, du Judensau.« Er springt plötzlich auf, stößt den Tisch um und packt sie bei den Schultern. Del kann das Trampeln von Füßen hinter der Budenwand hören, als sie von dem Mann durch den Vorhang nach draußen gezerrt wird. Sie haben die Bude umstellt. Junge Männer in blauen Hemden. Der HakenkreuzVerein. »Hier ist sie«, sagt der Mann, der sie rausgezerrt hat. »Seine Schwester.« Er wirft sie in die Arme eines der Blauhemden, und sie wird von einem zum anderen rund um die Bude gestoßen. Sie gehen grob mit ihr um, schubsen sie rücksichtslos herum. Einer schlägt ihr mit dem Handrücken ins Gesicht, und Del spürt, wie sich klebriges Blut in ihrem Mund sammelt. »Sag deinem Bruder, er hätte den Kampf gegen Peter Reiter nicht gewinnen sollen«, sagt der Mann, der sie geschlagen hat. Da begreift Del, um was es hier geht. Simon hat Samstag
abend gegen einen Deutschen gewonnen, hat ihn ordentlich vermöbelt, hat den blonden Jungen in der dritten Runde blutend in die Seile geschickt. Del wird immer schneller im Kreis der Männer herumgestoßen. Verschwommen sieht sie die erhobenen Hände, das flache blaue Meer ihrer Hemden. Satzfetzen dringen an ihr Ohr. »Achte auf die Zeichen.« »Gerechte Strafe.« Sie fällt, und jemand tritt ihr in den Bauch. Sie krümmt sich vor Schmerz, wartet auf weitere Tritte. Aber als sie die Augen öffnet, sieht sie, daß sich die Männer von ihr abgewandt haben. Sie haben sich um die Bude versammelt, und Del riecht das Streichholz, bevor sie es sieht, kriecht auf dem Bauch ein paar Meter weg und bricht dann wieder zusammen. Ihre Bude ist umgestoßen. Flammen flackern auf. Werden größer. Die Männer brüllen etwas, das sie nicht verstehen kann. Sie treten gegen das dünne, brennende Holz der Bude. Vom Boden aus kann Del ihre auf Hochglanz polierten Stiefel sehen, die sich im Feuerschein heben und senken. Sie sieht das orangefarbene Glühen in den Blechsternen und im Mond, die außen an die Bude genagelt sind. Und während sie blutend auf dem kalten Boden liegt, sieht sie hoch oben am Himmel die angestrahlten Worte über der C.N.E. WIR GRÜSSEN EUCH MÄDELS. Maddy entdeckt die Flammen, als sie an Miros Haus vorbeigeht. Irgendwas brennt mitten im Vergnügungspark. Gewöhnlich werden die Freudenfeuer näher am Wasser entzündet, nicht zwischen Häusern und Buden. Außerdem finden sie sonst immer am Wochenende statt. Sie rennt weiter, bleibt dann mit einem Ruck stehen. Sie sieht die Männer im Kreis um das Feuer stehen, ihre Gesichter vom Ruß
verschmiert. Sie erkennt die Form dessen, was da brennt: ein Rechteck. Etwas blinkt wie ein Stern durch die Dunkelheit. Maddy öffnet den Mund, aber es kommt nichts heraus. Sie sieht die Umrisse eines Menschen, der am Boden liegt, ein bißchen entfernt von den Männern. Es ist ihre Mutter. Del liegt auf der Seite, die Knie an die Brust gezogen. Einen Arm hat sie schützend um ihren Kopf gelegt. Sie bewegt sich nicht. Maddys Herz pocht schmerzhaft gegen ihre Rippen, wie ein Tier, das sich gegen die Stangen seines Käfigs wirft. Von hoch oben kommt das schwache Brummen der Moth. Das Geräusch dringt zu Maddy durch, und sie dreht sich um und rennt unter dem tröstenden, vertrauten Dröhnen des Flugzeugs zu ihrem Vater.
DER WIND BEUTELT DIE MOTH. Den ganzen Tag über ist der Wind so stark, daß Willa sehen kann, wie er die Tragflächen rüttelt und die Spanndrähte wie Bogensehnen zurückgezogen werden. Sie findet Wind schlimmer als Regen, schlimmer als alles andere. All der Krach, das Brüllen um ihren Kopf, die Kraft des Luftschraubenstrahls, der sie wie eine Hand ständig wegdrückt. Wie der Wind in hohlen Vokalen stöhnt, als wolle er etwas sagen, das er aber nie ganz herausbringt. Dieser Krach ist es, der sie am liebsten über Bord in den See springen ließe, um die schreckliche Kakophonie der Beinahe-Stimmen auszulöschen. Zumindest ist es wärmer als gestern, und der Wind jagt ihr keine Kälteschauer über den Rücken. Zumindest das. Willa kauert sich hinter ihrer kleinen Windschutzscheibe zusammen. Es ist der fünfzehnte Tag. Grace fliegt das Flugzeug. Sie haben gerade das Auftanken um 14 Uhr hinter sich, bei dem Grace der Tankschlauch aus der Hand gerissen, sie mit Benzin bespritzt und einer der leeren Kanister über die Bordwand geweht wurde. Grace hat noch eine halbe Stunde zu fliegen. Willa krümmt sich um den Steuerknüppel, spürt, wie er sich leicht nach links bewegt, als Grace über das Hafengelände einschwenkt. Fest preßt Willa die Hände auf die Ohren. So ist es besser. Sie mag den Druck des Steuerknüppels gegen ihren Bauch, während Grace das Flugzeug steuert. Es ist, als würde Grace sie nach links über die Silhouette der Stadt ziehen, als würde Grace sie steuern. Auf dem Boden des Cockpits liegen Orangenschalen, und ein Bleistiftstummel rollt über das dreckige Blech. Aus der Zeit, als wir noch schrieben, denkt Willa. Sie hebt ihn auf und betrachtet ihn neugierig, als sei er ein Millionen Jahre altes Fossil oder ein Gesteinsbrocken aus dem Weltall. Bleistift.
Holz, die Bleimine an der Spitze abgerundet. Vielleicht sechs Zentimeter lang. Sie drückt die Spitze gegen ihre Wange, läßt die Zunge von innen darübergleiten. Der Bleistift macht ihre Wange konkav, wölbt sie nach innen. Neben Willas Kopf, zwischen den Sitz und die Innenwand des Cockpits gestopft, Hegt der neueste Zeitungsartikel von Jack. Willa hat ihn noch nicht gelesen, hat heute keine Lust auf die ihr zugeschriebenen Heldentaten. Immer noch in ihrer Fötushaltung zieht sie die Zeitung heraus und legt sie auf den Boden des Cockpits. Mit dem Bleistift malt sie ein paar zögernde Linien auf das Zeitungspapier. Sie haben einander Notizen geschrieben, daran erinnert sie sich, aber sie weiß nicht mehr, was sie darin mitgeteilt haben. Seltsam, wieder einen Bleistift in der Hand zu halten. Wenn sie jetzt miteinander reden, ist es direkt, nicht mittels Papier und Bleistift über eine Distanz hinweg. Es geschieht auf der Haut, in der Luft, ihre Körper signalisieren und reagieren. Das ist Reden, und das Verlangen gilt jetzt dieser neuen Ausdrucksweise, einer Sprache, die im Körper lebt. Grace. Der Steuerknüppel drückt gegen ihre Rippen, und der Atem entweicht ihr. Das, was sie Grace sagen möchte, ist etwas, vor dem sie sich fürchtet. Fürchtet, daß Grace, wenn sie es ihr auf die warme Haut schreibt, vor den Worten zurückzucken wird. Es ist das Einfachste und gleichzeitig Komplizierteste, was sie je zu jemand anderem hat sagen wollen, und je länger sie es nicht sagt, desto mehr pocht es gegen die Innenseite ihres Schädels und will hinaus. Willa malt mit dem Bleistift dicke, sich wiederholende Bögen auf den unbedruckten Rand über dem neuesten Adventure GirlArtikel, der neuesten Lüge von Jack. Ich liebe dich.
Es erschreckt sie, die weiche graue Bleistiftzeile deutlich und lesbar über dem schwarzen Druck des Artikels stehen zu sehen. »ADVENTURE GIRLS« BEGINNEN DRITTE WOCHE IN DER LUFT. Ich liebe dich. Willa fügt ein Wort unter der Zeile hinzu. Grace. Sie schaut vom Boden des Cockpits auf, sieht das Instrumentenbrett und darüber die gebogene Windschutzscheibe, sieht einen Arm in die Luft ragen. Sie ist mit dem Fliegen dran. Rasch zieht sie sich im Sitz hoch, steckt ihre Beine in die Ruderschächte und ergreift den Steuerknüppel mit der rechten Hand. In der Linken hält sie immer noch die Zeitung. Grace, die den Druck auf ihrem Steuerknüppel spürt, läßt ihn los und dreht sich auf dem Sitz um. Ihre blauen Augen sind trübe vor Müdigkeit, aber selbst müde sieht sie noch fabelhaft aus, denkt Willa. Grace lächelt, und es ist, als ob dieses Lächeln Willas linken Arm nach oben zieht und sie die Zeitung über das Rumpfstück zwischen den beiden Cockpits strecken läßt. Der Wind zerrt daran, will ihr das dünne Papier aus der Hand reißen. Grace schaut nicht darauf. Sie lächelt Willa an, und Willa lächelt zurück, und das Flugzeug fliegt von allein über die Inseln. Und plötzlich erkennt Willa an dem Schatten in Grace’ Augen, dem Schwirren der Spanndrähte, durch die der Wind seine Finger gleiten läßt, daß Grace nicht so empfindet wie sie. Grace liebt sie nicht. Unter dem unbarmherzigen Stampfen des Windes und des Motors kann Willa das Herz in ihrer Brust schlagen hören. Sie öffnet die linke Hand, und die Zeitung fliegt nach hinten über das Heck des Flugzeugs und verschwindet.
MADDY STEHT NEBEN DEM BETT ihrer Mutter. Die Nachmittagssonne strömt durch das Fenster, und Stäubchen tanzen in der Luft über der Bettdecke, unter der Del liegt, gestützt von Kissen. Unten hört Maddy das Klappern und Hantieren ihres Vaters, der das Abendessen macht – Schränke, die geöffnet und geschlossen, Töpfe, die aus Regalen genommen werden. Sie steht vollkommen still, wünscht sich aus diesem Zimmer fort, schaut über die bleichen Hände ihrer Mutter auf der Bettdecke zu den Stäubchen, die in dem durch das Fenster einfallenden Licht tanzen. Del hat sich nichts gebrochen, hat nur Prellungen davongetragen. Fram war mit Maddy zur Bude zurückgerannt, hatte ihre Hand die ganze Zeit fest umklammert und kein Wort gesagt. Als sie hinkamen, waren die Blauhemden schon verschwunden, andere Schausteller löschten das Feuer und kümmerten sich um Del. Die Bude war vollkommen zerstört, nur noch verkohlte Bretter und Asche. Del hat sich nichts gebrochen. Der Arzt kam und drückte an ihr herum. Er seufzte viel, hob und senkte ihre Arme. Sie antwortete mit ja und eigentlich nicht und nur, wenn ich mich so bewege auf sein Pieksen und seine Fragen. Del hat nicht geweint. Ein Polizist kam und nahm ihre Aussage auf. Sie sahen alle gleich aus, wegen der Uniform. Er fuhr mit der Zunge über seine Lippen und blätterte eine Seite in seinem schwarzen Notizbuch um. Ich weiß nicht, wie groß sie waren. Er blieb nicht so lange wie der Arzt. Die Knöpfe seiner Jacke glänzten. Del liegt im Bett, wie schon seit fast einem Tag. Fram hat Jim gebeten, sich um das Karussell zu kümmern, damit er bei ihr bleiben kann. Den ganzen Tag hat er wahrscheinlich herumgewirtschaftet, hat ihr Sachen gebracht und sie gefragt, wie es ihr geht. Maddy war seit dem frühen Morgen mit dem
Fahrrad unterwegs, aber jetzt, wo sie zurück ist, hat Fram sie gezwungen, nach oben zu gehen. Deine Mutter hat nach dir gefragt. Geh rauf zu ihr. Del lächelt zu Maddy auf. Ihr Haar hebt sich so dunkel vom gebleichten Weiß des Kissens ab. »Hallo«, sagt sie, und Maddy spürt, wie sich ihre Kehle zuschnürt. Sie ballt die Hände zu Fäusten. Del klopft aufs Bett neben sich. »Komm, setz dich zu mir.« Maddy schüttelt den Kopf. Von unten ist das Klappern eines Topfes zu hören, der auf den Herd gestellt wird. »Was kocht dein Vater denn zum Abendessen?« »Weiß nicht.« »Mir geht’s gut«, sagt Del. »Nichts gebrochen. Ich bin morgen oder übermorgen wieder auf den Beinen. Die Bettruhe ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Sie haben mich nicht verletzt. Es war mehr der Schock als alles andere.« Du lügst, denkt Maddy. Sie hat ihrer Mutter nicht erzählt, daß sie dort war, daß sie das Feuer und die Männer und Del auf dem Boden liegen gesehen hat. Die Sonne, die durch das Fenster hereinscheint, läßt Del geisterhaft, läßt sie krank aussehen. »Warum hast du es nicht gewußt?« fragt Maddy. »Warum konntest du deine eigene Zukunft nicht voraussehen?« Del schaut auf ihre Hände auf der Bettdecke. Die linke hat einen langen Kratzer auf dem Handrücken. Von einem Ring, denkt sie. Einer muß einen Ring getragen haben. Auf der Wange hat sie den gleichen Kratzer von dem Schlag mit dem Handrücken ins Gesicht. Sie erinnert sich an den Mann, der in ihre Bude kam. Wie selbstsicher er schien. Aber das war auch alles. Selbstsicher. Sie hatte keine der anderen Ahnungen gehabt, die sie sonst gewöhnlich bei Kunden hat, kein Abbiegen an einer dunklen
Ecke in ihrem Kopf oder der Anblick einer Szene in einem Zimmer. Keine Frau, die von Mann zu Mann gestoßen wurde. Kein Feuer und kein Geschmack von Blut und Angst in ihrem Mund. Der junge Mann war selbstsicher, das ist alles, was sie weiß. »Bei mir funktioniert das nicht«, sagt sie. »Die Zukunft, meine ich. Die kann ich nur für andere Leute sehen.«
Maddy sitzt am Küchentisch. Ihr Vater schöpft Suppe auf den Teller, der vor ihr steht. Labbrig aussehende Brühe mit armseligen Möhren- und Zwiebelstückchen, fettigen Kartoffeln. »Niemand ißt im Sommer Suppe«, sagt sie, greift nach ihrem Löffel und rührt das Zeug in ihrem Teller um, damit es einen Strudel gibt. »Wir schon«, erwidert Fram. Er sitzt ihr gegenüber und schlürft lautstark die Brühe von seinem Löffel. Maddy stellt sich vor, wie ihre Mutter im Schlafzimmer die Suppe ißt, vorsichtig die Gemüsestücke über ihre geschwollenen Lippen löffelt und versucht, nicht auf die Bettdecke zu kleckern. »Ich geh nicht wieder da rauf«, sagt sie. »Zu ihr.« Fram legt den Löffel hin. Der Blick, den er Maddy über seinen Teller zuwirft, läßt sie fast zusammenzucken. »Hör auf, deiner Mutter die Schuld zu geben«, sagt er. »Ich weiß, daß du durcheinander bist, aber was da passiert ist, das ist ihr passiert. Es geschah aus Haß und Dummheit.« »Weil sie jüdisch ist«, sagt Maddy, voller Wut. »Sie haben sie zusammengeschlagen, weil sie eine dreckige Jüdin ist. Sie haben das kleine Häuschen niedergebrannt.« Sie spürt, wie ihr Tränen in die Augen steigen, wischt sie ungestüm mit der
Hand weg, bevor sie auf den Tisch fallen können, bevor Fram sieht, daß sie weint. »Mädchen«, sagt Fram, jetzt sanfter, »wenn irgend jemand Schuld hat, dann ist es Simon. Sie wollten den deutschen Jungen rächen, gegen den er am Samstag gekämpft hat. Deine Mutter war eine Möglichkeit, an Simon heranzukommen.« »Weil sie jüdisch ist«, wiederholt Maddy, ihre Stimme ein heiseres Flüstern in der Stille des Raumes. »Gib es zu, Dad. Lüg mich nicht an. Ich war da, und ich hab gesehen, was sie getan haben. Ich war da.« Frams Stimme ist so gleichmäßig wie das tiefe Brummen des Nebelhorns draußen auf der Bucht. »Ja«, sagt er. »Weil sie jüdisch ist.«
»HALLO, DEL.« Del öffnet die Augen. Rose sitzt auf ihrer Bettkante. Im weichen Zwielicht, das durchs Fenster einfällt, scheint sie schwach zu leuchten. Steif aufgerichtet sitzt sie auf der Matratze wie auf einem hochlehnigen Stuhl. Unbehaglich, denkt Del. An Land ist sie unsicher. Meerjungfrau. »Rose«, sagt sie. »Ich habe dich nicht reinkommen hören.« »Ich hab gerade Pause«, sagt Rose. Sie hebt ihr Bein ein wenig, damit Del die Reithose und die Stiefel sehen kann, die sie trägt. »Pilotin«, sagt sie. »Die Leute sind ganz verrückt danach. Meine Matinee war ausverkauft.« Del lächelt, und ihr Gesicht schmerzt. »Propeller«, sagt sie. Rose lächelt zurück. »Trudeln.« Ein leichter Wind vom offenen Fenster her bläht Roses bauschiges weißes Hemd auf. Del kann sich nicht erinnern, wann sie ihre Freundin das letzte Mal voll bekleidet gesehen hat. Sie sieht älter aus, als sie im Wasser wirkt. So alt wie ich, denkt Del. Fünfunddreißig. »Du siehst gut aus«, sagt sie, was nicht stimmt, und der Wind, der über die Falten der Bettdecke streicht, scheint ihr Atem zu sein, der sich von ihrem Körper gelöst hat. »Du nicht«, sagt Rose. Sie lachen, und die Spannung ist gewichen. »Jetzt mal im Ernst.« Rose beugt sich vor, legt ihre Hand auf Dels Schulter. »Ich hab’s von einem Mann erfahren, der ganz aufgeregt war. Weißt du, was er sagte?« Del schüttelt den Kopf. »›Sie haben eine Jüdin verprügelt. Sie haben sich eine Jüdin geschnappt.‹« Rose stößt sich von Dels Schulter ab wie von der Wand, bevor sie in die sichere Dunkelheit des Beckens gleitet. »Das warst du.«
»Das war ich«, bestätigt Del. »Und ich habe nichts unternommen.« »Du wußtest es nicht.« »Und du auch nicht.« »Ich kann nicht«, sagt Del. »Ich kann mein eigenes Leben nicht voraussehen. So ist das nun mal in meinem Gewerbe.« »Tja«, sagt Rose, »das ist nicht sehr hilfreich, oder?« Del hat das schon oft selbst gedacht. Und die Wahrheit ist, denkt sie, während sie sich zu einer bequemeren Lage in den Kissen hochschiebt, die Wahrheit ist, daß sie nicht wahrsagen würde, wenn sie es nicht könnte. Sie tut es, weil sie es kann, wie alles in ihrem Leben. Manchmal ist es schwierig, zwischen dem, was man möchte, und dem, was man haben kann, zu unterscheiden. »Und«, sagt Rose, »zusätzlich zu dem Schreck wegen dir habe ich endlich von meiner Mutter gehört.« Sie zieht einen Brief aus der Brusttasche und hält ihn Del hin. »Sie hat schreckliche Angst. Mein Vater ist abgeholt worden. Inhaftiert. Sie weiß nicht, was da vorgeht. Man läßt sie nicht zu ihm, und sie ist völlig hilflos, wenn er ihr nicht sagt, was zu tun ist.« Rose fährt sich mit der Hand durchs Haar, wendet sich dem Fenster zu, dem Geräusch des Flugzeugs in der Luft. »Ich dachte, ich sollte besser hinfahren und sehen, was da los ist. Es klingt, als sei er verhaftet worden, aber ohne daß man ihm etwas zur Last legt. Oder sie sagen es meiner Mutter nicht. Oder sie hat es falsch verstanden. Wie auch immer.« Rose dreht sich wieder zu Del um. »Er ist ein alter Mann. Es gibt sonst niemanden, der fahren kann. Ich dachte aber, daß ich bis nach dem Wettschwimmen warte. Es ist ja nicht mehr lange bis dahin, und ich muß einfach meine Chance auf den vierten Sieg in Folge wahrnehmen. Egoistisch, ich weiß, aber ich will diesen
Rekord. Ich will in die Geschichte eingehen. Aber danach kann ich gleich abreisen. Sogar schon am nächsten Tag.« Del hält den Brief in der Hand, nimmt ihn nicht aus dem Umschlag. Sie spürt eine Hitze, die in ihre Haut dringt. Sie sieht einen im Schatten verborgenen Rand, eine Wand, einen Raum. Eine Art Schlafsaal. »Fahr nicht«, sagt sie. Das ist es, denkt sie. Ganz egal, wie sehr sie sich auch manchmal davon abwenden möchte, sie kann es nicht. Das ist es, wozu sie bestimmt ist. Um diejenigen zu retten, die sie liebt. »Du wirst das Marathonschwimmen gewinnen. Das ist in Ordnung, aber geh nicht zurück nach Deutschland.« Rose schaut ihre Freundin skeptisch an. »Versuch das nicht mit mir, Del«, sagt sie. »Ich bin keine deiner besorgten Witwen.« »Oh nein«, sagt Del. »Ich muß dir angst machen. Damit du nicht fährst.« »Del.« Das ist keine Frage oder Bitte, aber so, wie sie es sagt, liegt ein bißchen von beidem darin. Auch Furcht. Auch Tadel. »Du darfst nicht fahren«, sagt Del. »Du mußt mir glauben.« »Muß ich nicht«, erwidert Rose. Sie rutscht auf der Bettkante hin und her. Die Matratze knarrt, Vogelgezwitscher dringt von draußen herein. »Du verlangst von mir, mich zu entscheiden.« »Nein, tu ich nicht«, sagt Del. »Ich bitte dich nur, mir zu vertrauen.« Sie läßt den Brief fallen und greift nach Roses Händen. Sie kann das Schwimmbecken auf Roses Haut riechen. »Rose«, sagt sie. »Ich bin es, die mit dir redet. Ich.«
WÄHREND DES AUFTANKENS um sechs Uhr morgens am sechzehnten Tag passiert ein Unfall. Es ist eben hell geworden, und Grace steht im Cockpit, wartet darauf, den Leinwandsack zu fangen, der aus der offenen Kabinentür des Eindeckers fällt. Das ist immer der nervenaufreibendste Moment, direkt vor dem Kontakt, bevor Seil und Schlauch eine Linie zwischen den beiden Flugzeugen bilden und sie miteinander verbinden. Willa fliegt nach Gefühl, hält den Blick ständig auf die Unterseite des Auftankflugzeugs gerichtet, versucht, ihre Geschwindigkeit und Höhe seinen Bewegungen anzupassen. Jeden Tag scheint es schwerer zu werden, dieses Himmelsmuster präzise auszuführen. Grace, die in ihrem Cockpit steht, hat gerade die Arme ausgestreckt, um das Bündel entgegenzunehmen, als ein plötzlicher Windstoß die Moth zur Seite drückt. Grace gelingt es, das Gleichgewicht zu halten, indem sie sich am Flügeltank festhält, aber weil sie jetzt die Hände nicht mehr frei hat, prallt das Bündel gegen das Flugzeug und reißt einen Teil der oberen Tragfläche auf. Grace kann den Sack irgendwie packen, bevor er die Flügelbespannung vollkommen zerreißt, aber der Schaden ist passiert. Während Grace die Treibstoffkanister auspackt und den Schlauch in den Einfüllstutzen des Tanks steckt, beobachtet Willa, wie der Wind an dem Riß zerrt und ihn vergrößert. Es sieht nicht so aus, als sei eine Strebe gebrochen, aber etwas muß geschehen, sonst reißt die Bespannung vollkommen ab und die Tragfläche wird zu stark beschädigt, um noch richtig zu funktionieren. Willa schätzt die Entfernung vom Rumpf zur Schadstelle ab. Sie befindet sich ziemlich nahe am Flügeltank, also könnte es möglich sein, auf der unteren Tragfläche zu stehen, dort, wo sie in den Rumpf übergeht, sich hochzurecken und vorzubeugen und so den Riß zu erreichen. Zu ihrer Ausrüstung
gehört eine Dose flüssiger Klebstoff. Er ist im Gepäckfach hinter Willas Sitz verstaut. Sie könnte eines ihrer Hemden als Reparaturmaterial verwenden, da sie bestimmt keine Leinwand oder anderes Flickzeug dabeihaben. Bis das Auftanken erledigt ist, hat Willa einen Plan entwickelt, wie sie an den Riß in der Tragfläche herankommt. Jack, der oben im Eindecker nichts gemerkt hat, oder den es nicht kümmert, was passiert ist, zieht den Gummischlauch ein, und sein Flugzeug verläßt die Moth – das Paarungsritual ist vollendet. Nachdem Grace wieder sitzt, die Treibstoffkanister verstaut und Öl in den Motor gepumpt hat, tippt Willa ihr auf die Schulter, um sie auf sich aufmerksam zu machen und ihr zu bedeuten, daß sie sich umdrehen soll. Sie zeigt auf den sich rapide vergrößernden Riß in der oberen Tragfläche, das im Luftschraubenstrahl flatternde Bespannungsmaterial. Sie deutet auf sich, macht eine Bewegung, als würde sie mit einem Malerpinsel Farbe auftragen. Grace nickt. Sie sieht erschöpft aus. Jedes Auftanken scheint sie mehr zu ermüden. Obwohl ihre Flugschicht direkt nach dem Auftanken beginnen soll, muß Willa sie oft noch eine Stunde schlafen lassen, damit sie wieder zu Kräften kommt. Grace schaut Willa streng an, deutet über die Bordwand nach unten und packt dann den Rand ihres Cockpits mit beiden Händen. Der Weg nach unten ist weit. Sei vorsichtig. Willa reißt die Ärmel von ihrem Ersatzhemd ab. Den einen stopft sie hinter ihren Sitz. Den anderen will sie als Pinsel benutzen und schiebt ihn sich, zusammen mit dem übrigen Stoff, vorne in das Hemd, das sie trägt. Die Klebstoffdose liegt unter ihrem Kleiderbündel. Sie hebelt den Deckel mit einer Gabel auf. Da sie die Dose in der einen Hand halten muß, kann sie sich nur mit der anderen am Flugzeug festhalten. Sie steht
auf. Grace drosselt die Geschwindigkeit. Der Wind ist nicht so schlimm wie am Tag zuvor, aber böig, was ihn gefährlicher macht. Willa öffnet die Backbordtür ihres Cockpits und läßt sie nach unten gegen den Rumpf fallen. Sie ergreift mit der linken Hand die Tragflächenhinterkante des oberen Flügels und tastet mit dem Fuß nach der Laufplanke auf der unteren Tragfläche. Noch ist sie halb im Flugzeug und halb draußen. Sie fliegen über Wasser, und sie kann die weißen Schaumkronen der Wellen sehen. Ihre Beine sind wie aus Gummi. Sie zieht sich auf die Tragfläche, hakt ihr rechtes Bein um die Spanndrähte, damit sie nicht abgleitet. Der Wind rüttelt an ihrem Körper. Als Tragflächenakrobatin wäre ich völlig ungeeignet, denkt Willa und wirft einen raschen Blick auf Grace, die neben ihr im Flugzeug sitzt. Grace schaut auf den Horizont, beide Hände fest am Steuerknüppel. Willa stellt die Klebstoffbüchse auf die obere Tragfläche und greift nach den Stoffstücken, die sie sich vorne ins Hemd gestopft hat. Vorsichtig zieht sie sie heraus, breitet das große Stück über das ausgezackte Loch und tunkt das kleinere in die Büchse. Das Zeug ist extrem klebrig, und innerhalb von Sekunden ist ihre Hand mit Klebstoff bedeckt und hängt an ihrem improvisierten Pinsel fest. Sie schmiert die Flüssigkeit auf das Hemdstück, verklebt es mit der glatten, unbeschädigten Bespannung der Tragfläche. Es wird zwar nicht hübsch aussehen, aber wenn sie jeden Zentimeter des Stoffes beschmiert, sollte es halten. Kleber und Stoff, denkt Willa, während sie die dickflüssige Substanz über das Loch schmiert. Alles, was uns in der Luft hält, ist ein bißchen Kleber und Stoff, noch fragiler als der menschliche Körper selbst. Grace faßt mit der Hand nach Willas Bein, als sie mit dem Flicken des Flügels fertig ist, und lenkt ihren Fuß zurück ins hintere Cockpit. Willas rechte Hand klebt an der Büchse, so daß sie sich keine Sorgen machen muß, sie versehentlich fallen
zu lassen, während sie sich behutsam wieder in Sicherheit bringt. Ihr rechtes Bein gibt unter ihr nach, als es den Cockpitboden erreicht, und sie fällt schwer auf ihren Sitz, bringt das Flugzeug zum Wackeln. Etwas von dem Klebstoff ist auf ihren Arm gelaufen, und sie wird den Rest des Tages damit verbringen, ihn abzupulen. Das Zeug riecht und verhält sich ähnlich wie Nagellack und muß von der Haut gepult werden, wenn es hart wird. Geschafft. Willa zieht die Cockpittür hoch und verschließt sie sorgfältig. Sie zittert am ganzen Leib, die Beine so stark, daß ihre Hacken auf den Cockpitboden trommeln. Mit einem Blick nach oben vergewissert sie sich, daß die obere Tragfläche immer noch eine Tragfläche ist, sich nicht aufribbelt wie ein Pullover, aus dem sich ein Faden gelöst hat. Ihr Körper fühlt sich an, als ob tausend kleine Feuer in ihm brennen. Grace gibt ihr mit hochgerecktem Daumen zu verstehen, das alles bestens ist. Sie fliegen in geringer Höhe über der Stadt. Willa bricht in Tränen aus.
SIMON NIMMT SEINER SCHWESTER den Eisbeutel ab und legt ihn neben sich aufs Bett. »Noch einmal«, sagt er. »Nur noch zehn Minuten.« Del hebt die Hand und kneift sich in die Wange. »Mein Gesicht ist schon ganz taub, Simon. Taubheit fühlt sich schlimmer an als blaue Flecken.« »Schwellungen«, korrigiert Simon. »Blutergüsse und Schwellungen.« »Was auch immer«, erwidert Del ungeduldig. »Die Sache geht mir auf die Nerven. Ich kann hier nicht den ganzen Tag sitzen und ein Handtuch voll Eis auf all die Stellen meines Körpers drücken, die wehtun.« »Warum nicht?« fragt Simon. Für ihn ist es das Einfachste der Welt. Sein Leben ist in drei miteinander verbundene Abschnitte aufgeteilt – Vorbereitung auf einen Kampf, der Kampf selbst, die Erholung nach dem Kampf. Alles drei befriedigende Vollzeitbeschäftigungen. »Du bist auf dem Wege der Besserung.« »Ich langweile mich«, sagt Del. »Dabei hab ich so viel zu tun. Meine Existenz ist in Flammen aufgegangen. Meine Tochter spricht nicht mit mir. Als bettlägerige Kranke kann ich nichts in Ordnung bringen.« »Du bist sehr ungeduldig«, sagt Simon. »Ich dachte, das hättest du hinter dir.« »Ach, halt die Klappe«, sagt Del. Sie hört, was sich in der Welt außerhalb des Hauses tut, und das macht sie ruhelos. Menschen, die über die Sandbank laufen. Das Schwappen der Wellen gegen den Strand. Über dem Haus das blecherne Jaulen des Flugzeuges, das die beiden Pilotinnen immer rund um die Bucht trägt. »Wo ist Maddy?« fragt sie.
»Keine Ahnung.« Simon steht auf und tritt ans Fenster, schaut hinaus, den Rücken Del zugewandt. »Ich kann sie nicht sehen. Irgendwo mit dem Fahrrad unterwegs, nehme ich an. Wie gewöhnlich.« »Ich wünschte, sie würde mit mir sprechen«, sagt Del. »Sie gibt mir die Schuld daran, daß ich verletzt worden bin, weißt du.« »Wieso denn das?« fragt Simon. Er dreht sich nicht um, schaut weiter aus dem Fenster. »Willst du, daß ich die Jungs für dich finde, Del?« »Die Jungs?« »Die Blauhemden. Die dich zusammengeschlagen haben.« »Nein. Nicht noch mehr Ärger. Ich will nur meine Ruhe haben. Simon?« Als sie seinen Namen ausspricht, wendet er sich vom Fenster ab. »Komm her und bring die Sache mit dem Eis zu Ende. Dann hätte ich gern eine Kanne Tee und vielleicht was zu essen. Du könntest mir ein Sandwich machen.«
Simon sieht Maddy mit dem Fahrrad die Straße heraufkommen, als er das Haus verläßt. Er geht ihr entgegen, und sie schießt auf ihn zu, bremst nur wenige Zentimeter vor ihm scharf ab. Mit über der Stange gespreizten Beinen springt sie vom Rad. »Wo warst du?« fragt Simon ungeduldig. »Wo ich war?« Maddy schaut ihn ungläubig an. »Warum sollte ich dir das sagen?« »Weil«, sagt Simon mit leiser Stimme, damit Del ihn von ihrem Zimmer aus nicht hört, »deine Mutter sich Sorgen macht. Warum bist du nicht oben bei ihr und leistest ihr Gesellschaft?«
»Muß ich nicht«, sagt Maddy. »Sie ist ganz durcheinander«, sagt Simon. »Sie braucht dich.« Maddy platzt fast damit heraus, daß sie dort war, die Männer und das Feuer, ihre am Boden liegende Mutter gesehen hat, daß sie solche Angst hatte, ihre Mutter sei tot, und wenn die Männer sie entdeckten, sie ebenfalls töten würden. Judenmädchen. Und jetzt ist es, als sei ihre Mutter tatsächlich tot. Maddy kann ihr nicht nahe kommen, diese Nacht dreht und dreht sich in ihrem Kopf, drängt Del immer weiter von ihr fort. Und sie erinnert sich an das, was ihr Vater gesagt hat, daß es auch Simons Schuld ist, weil er den Kampf gegen den Deutschen gewonnen hat. »Du kannst mir nichts befehlen«, sagt sie wütend. Simon packt den Lenker ihres Fahrrades und schüttelt es ein bißchen. »Ich gehöre zu deiner Familie. Ich bin Teil deiner Abstammung, und eines Tages, Maddy Stewart, vielleicht wenn du erwachsen bist, wirst du dich dabei erwischen, daß du Dinge sagst, wie sie dein Vater jetzt sagt, oder daß du dich wie deine Mutter bewegst. Oder du wachst mit geballten Fäusten aus einem Traum auf und wirst dich daran erinnern, wie man eine Verteidigung durchbricht und von unten einen rechten Haken schlägt.« Simon beugt sich vor, sein Gesicht dicht vor ihrem. »Und dann wirst du an mich denken, Maddy Stewart. Du wirst es nicht verhindern können. Du wirst an mich denken.« Maddy schleicht die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, aber sie ist nicht leise oder schnell genug. Als sie auf dem Flur vor ihrem Zimmer ankommt, hört sie die zögernde Stimme ihrer Mutter. »Bist du das, Maddy?« Von dort, wo sie steht, kann Maddy durch die offene Tür ins Schlafzimmer ihrer Eltern sehen, auf den unteren Teil des Bettes, die Beine ihrer Mutter, die wie Treibholz unter der
Decke liegen. Hinter dem Bett ist das Fenster, die Vorhänge wehen ins Zimmer wie ein weißes Taschentuch, das in der Not geschwenkt wird. Maddy öffnet die Tür zu ihrem Zimmer, schlüpft hinein und schließt sie hinter sich. Im Gegensatz zum Zimmer ihrer Eltern ist ihres dunkel und unordentlich, die Vorhänge des einzigen Fensters ständig zugezogen. Sie watet durch die Kleider und Holzstücke am Boden, das verbogene Fahrrad und die Buggyräder – Strandgut, das sie gefunden hat. Neben ihrem Bett steht ein kleiner Tisch, und sie beugt sich darüber, zieht etwas aus der Tasche und legt es in einen Kasten, der auf dem Tisch liegt. Ein alter Setzkasten, das hölzerne Innere in viele kleine Fächer unterteilt. Einige Fächer sind gefüllt, andere leer. Die Fächer, in denen etwas liegt, sind mit Zetteln versehen, auf denen mit Bleistift sorgfältig eine Zahl notiert ist. Nummer zehn ist ein alter Bolzen, Nummer fünf ein verschimmelter Apfelbutzen. Maddy hat ein Stück Hühnerknochen auf den Papierschnipsel mit der Nummer siebzehn gelegt. Der Holzkasten ist ein Kalender aus Sachen aus dem Adventure Girl. 17. August – Hühnerknochen von einer ihrer Mahlzeiten in der Luft. Der Kalender weist einige Lücken auf, Tage, an denen Maddy nichts finden konnte, das möglicherweise aus dem Flugzeug gefallen oder geworfen worden war. Tage ohne Archäologie. Maddy berührt jedes der Objekte in ihrem Museumskasten. Nachdem sie das letzte, den Hühnerknochen, berührt hat, führt sie die Finger an die Lippen und küßt sie. Dann läßt sie sich auf ihr Bett fallen, drückt ihr Gesicht an das Starfoto von Grace O’Gorman an der Wand neben ihrem Kopfkissen. Ein Schauer durchläuft sie, als sich das kühle, glänzende Papier des Fotos so köstlich gegen ihre warme Haut drückt. »Warum bist du nicht meine Mutter?« fragt sie.
WILLA SCHAUT ÜBER die Bordwand nach unten, wo die Wellen ihre schwungvolle Kalligraphie auf den Strand der Inseln malen. Der flache Sand ist mit Treibholz und schwarzen, beweglichen Punkten getüpfelt, wahrscheinlich Menschen. Die kleine Welt, denkt Willa. So kommt ihr das da unten jetzt vor. Weit weg und erfüllt mit Miniaturaktivitäten, die ihr immer weniger verständlich werden. Was machen sie da auf der Erde, fragt sie sich, während die Moth eine unsichtbare Kurve über die östliche Durchfahrt zieht. Was kann das Interesse der Menschen derart fesseln, daß sie da unten bleiben wollen? Erinnerst du dich an dein Leben? schreibt sie auf den warmen Rücken von Grace O’Gorman, malt sorgfältig die Buchstaben auf den von der Sonne beschienenen schmutzigweißen Hemdstoff. Grace gibt Willa das Zeichen, das Steuer zu übernehmen, dreht sich um und antwortet ihr in Zeichensprache. Die Worte flattern im Zwielicht wie die Flügel eines langsam fliegenden Vogels. Das hier ist mein Leben. Sie übernimmt wieder, und Willa lehnt sich im Sitz zurück, den Kopf an den gepolsterten Lederrand des Cockpits gelegt. Wenn es die Anziehungskraft nicht gäbe, denkt sie, würde niemand auf der Erde bleiben. Von hier oben sieht man die Erde aus der richtigen Perspektive, klein und fern. Wunderschön, ja, aber so viele Einzelteile, daß sich die Menschen auf nichts richtig konzentrieren können. Sie können ihr eigenes Leben nicht sehen. Sie können die Form dessen, worauf sie leben, nicht erkennen – den Rippenbogen der Sandbank, das Gesprenkel der Inseln. Willa muß pinkeln. Die Unbeholfenheit, mit der sie zu Beginn ihre Hose bis zu den Knien herunterzog und den Emailletopf unterschob, ist inzwischen gewichen und zu einer
Selbstverständlichkeit geworden. Am unangenehmsten ist immer noch das Ausschütten über die Bordwand, da der Wind ihr manchmal die Urintropfen wieder ins Gesicht weht. Heute geht jedoch alles gut. Sie spült den Nachttopf mit Desinfektionsmittel aus und verstaut ihn neben ihrem Sitz. Wenn Grace pinkeln muß, reicht sie den Topf hin und wieder an Willa zurück, damit die ihn ausleert. Unter dem vorderen Cockpit sind die Tragflächen und die Drähte; von dort aus ist es schwerer, etwas ungehindert auszuschütten. All die natürlichen Handlungen in der Luft, die zum Leben dazugehören, sind zu einer alltäglichen Routine geworden, haben ihre ursprüngliche Form auf der Erde verloren. Willa fällt es schwer, sich daran zu erinnern, daß ihr jemals so etwas wie Kochen Spaß gemacht haben könnte. Was sollte sie denn kochen wollen? Hier ißt sie einfach das, was im Leinwandsack zu ihnen heruntergelassen wird. An manchen Tagen hat sie mehr Appetit als an anderen, und der Vorgang des Essens ist oft aufregender als das Essen selbst, aber es ist nicht mit Mühe oder Nachdenken verbunden, und das ist auch nicht erforderlich. Die Mahlzeit wird heruntergelassen und ausgepackt und aufgeteilt und gegessen. Ganz einfach. Vieles von dem, was die Menschen auf der Erde tun, scheint reine Zeitverschwendung. Bis zu ihrem Tod, denkt Willa, füllen sie ihre Tage mit sinnlosen Ritualen und einem falschen Gefühl von ihrer eigenen Wichtigkeit. Der Welt ist das gleichgültig, denkt sie plötzlich. Der Welt, in der wir leben und der wir unser Leben widmen, sind wir völlig egal. Sie fliegen in einer Höhe von siebenhundertfünfzig Metern. Willa merkt, daß sie nicht mehr auf den Höhenmesser und die Geschwindigkeitsanzeige schauen muß. Sie weiß mit einer Genauigkeit von etwa dreißig Metern, in welcher Höhe sie sich befinden, und kann, fast auf den Kilometer genau, sagen, wie schnell sie fliegen. Sie spürt die Moth jetzt, als wäre sie ihre
eigene Haut – jeder Windhauch, jedes Pochen des Motors wird wahrgenommen, gespürt, bemessen, jede Veränderung im Rhythmus bemerkt und beurteilt. Ein leichtes Rütteln der Tragflächen in einer Windbö, und Willa spürt, wie ihr das Herz in der Brust erzittert. Durch den ständigen Aufenthalt im Freien in diesen vielen Tagen hat Willa eine Menge darüber gelernt, wie die Elemente mit dem menschlichen Körper umgehen. Sie kennt das gleichgültige Brennen der Sonne, weiß, daß die Beharrlichkeit des Regens sie manchmal fast zum Weinen bringt. Sie weiß, daß sich der Köper morgens zwischen drei und fünf in eine Höhle verkriecht und, falls er zum Wachsein gezwungen wird, in einer betäubten Starre funktioniert. Gegen fünf Uhr, wenn die Sonne aufgegangen ist, fühlt sich der Körper wieder wach und einsatzfähig an. Sie weiß, daß eine teilweise Erschöpfung fast schmerzt, aber daß vollkommene Erschöpfung beruhigend und friedvoll wirkt. Sie hat den gemessenen Gang der Sonne entlang ihres Bogens verfolgt und den dramatischeren, weniger vorhersehbaren Aufgang des aufgeblähten oder ausgehungerten Mondes beobachtet. Sie hat die Sterne und das ungeschickte Tasten des Windes auf ihrem nach oben gerichteten Gesicht gespürt. Sie hat den Geschmack von schlechtem Wetter im Mund gehabt. Sie hat einen Mantel aus Hitze getragen und unter dem Peitschen des Sturmes gelitten. Strafe, Belohnung. Dieses kommt, und jenes geht. Launischer, unbeständiger Himmel. Es ist gegen sieben Uhr abends. Willa erkennt es daran, wie die Sonne ihre Tentakel einzieht, sich dem Horizont zuneigt. In weniger als einer Stunde wird sie hinter dem Wasser verschwunden sein. Kein Wunder, daß die Menschen an den Rand der Welt glaubten. An eine flache Erdscheibe.
Von der Landschaft Grace O’Gormans bekommt sie nie genug – der weiche Hügel ihres Kopfes, der Bergkamm ihrer Schultern. Sie bekommt nie genug davon, über Muskeln und Knochen zu gleiten, wenn sie auf Grace’ Rücken schreibt. Das Gefühl der Haut, wie sich die Worte einbrennen, die aus ihren Händen tropfen. Aber sag es ihr nicht, denkt sie. Sag nichts von Liebe. Sei vorsichtig. Willa hat keine Ahnung, wieviel Grace bereits von dem spürt, was Willa fühlt. Genau wie Willa das Flugzeug als Teil ihres Körpers empfindet, genauso spürt sie Grace, könnte manchmal schwören, daß sie das Ausstoßen und Einziehen ihres Atems spürt. Grace ist zusammen mit Willa im Flugzeug, daher muß Grace Ähnliches empfinden. Das ist die Voraussetzung für Willas Theorie, diese sichere, unbestreitbare Tatsache des gemeinsamen Erlebens, die ihr Vertrauen gibt. Wenn sie verrückt wird, dann wird auch Grace verrückt, aber Grace scheint nicht verrückt zu sein, also ist Willa es vielleicht auch nicht. Es gibt Fragen, die Willa ihrer Partnerin stellen kann. Einfachere Fragen. Ist dir kalt? Sieht das nicht sehr weit weg aus? Und es gibt Fragen, die traut sie sich eben nicht zu stellen. Könntest du mich lieben? Aber vielleicht erlebt Grace den Flug anders. Sehr viel anders? Ein bißchen? Wie läßt sich der Grad an Individualität einstufen? Erlebt Grace die Dinge in einer anderen Reihenfolge? Die Farben und Formen dessen, was dort unten zu sehen ist, müssen doch sicherlich für sie beide gleich sein. Aber vielleicht sehen sie tatsächlich unterschiedliche Dinge. Vielleicht erfindet jeder die Welt, um sie jemand anderem beschreiben zu können. Siehst du die Kohlenhalden?
Ja. Siehst du die dunkle Schlickzunge der Fahrrinne? Ja. Kannst du mich spüren? Ja.
ES IST ABEND. Del und Fram sitzen am Küchentisch in ihrem Haus, die Suppenteller unberührt vor sich. Del hat ihre normale Kleidung an, trägt nicht mehr das Krankennachthemd und hat beide Beine auf einen Stuhl gelegt. Das Fenster ist offen, und man hört den See beruhigend an das Ufer der Sandbank schwappen. Simon steht an die Arbeitsplatte gelehnt und erzählt seine Geschichte. »Gestern abend war’s. Fing als einfaches Baseballspiel an. Dachte, ich geh mal rüber in die Pits und schau zu, wie die Jungs spielen. Jüdisches Team gegen eine Mannschaft der Gojim, das übliche. War ziemlich heiß gestern, ihr erinnert euch, aber es kühlte gegen Abend gerade ein wenig ab, und der Christie-Pit-Park ist ja wie eine riesige Schüssel. Da unten ist’s immer ein bißchen kühler. Gemischtes Publikum. Junge Kerle, die ich aus der Nachbarschaft kenne – Juden und Italiener, die Gojim alle zusammen auf einem Haufen, als fürchteten sie sich davor, neben einem Juden zu sitzen, falls das ansteckend sein sollte. Eine Seuche, sagen sie das nicht von uns in Europa? Na gut, am Anfang passierte nicht viel. Ein paar Bemerkungen, drei Kerle, die dieses Lied singen. Das Judenlied. Zur Melodie von ›Home on the Range‹. Ich kann nicht gut singen, aber es geht etwa so: Oh, zeig mir das Land, wo’s nur Arier gibt Wo kein Jude sich rumlaufen traut Wo der Arier frei wie der Himmel nur sei Und die Juden für uns vogelfrei. Ich weiß, ich weiß, ziemlich beschissenes Zeug. Und noch nicht mal gut nachgedichtet, zweimal frei hintereinander. Sind die denn so beschränkt, daß ihnen nichts Besseres einfällt?
Wie auch immer, ich sitz nur da, beachte die Kerle gar nicht, rede mit meinen Freunden. Und es ist alles in Ordnung. Schöner Abend für ein Spiel. Und es ist ein gutes Spiel. Aber wir verlieren, das jüdische Team verliert. Und jetzt kommt das, was ich nicht verstehe. Wir haben das Spiel verloren, warum müssen sie sich dann noch aufregen? Es ging los, als alle den Park verließen, den steilen Grashang der Senke zur Straße hinaufgingen. Eine Gruppe junger Gojim fing an, uns zu beschimpfen, dann kletterten sie aufs Dach vom Clubhaus und entrollten ein großes Banner mit einem aufgemalten Hakenkreuz. Die Polizei hat es später in einer Garage in der Nachbarschaft gefunden. Ein Bettlaken. Ein Bettlaken mit einem aufgemalten Hakenkreuz. Mehr war nicht nötig. Die Juden, die den Park verließen, rannten zurück zum Clubhaus, um sich die Nazijungs zu schnappen. Die Baseballmannschaften wurden auch hineingezogen, weil sie das Spielfeld noch nicht verlassen hatten. Jeder ging auf jeden los. Ein Krawall. Es stimmt, was in der Zeitung steht, es war ein Krawall. Gebrüll und Durcheinander, Gerenne und Geschubse. Männer, die hinter anderen Männern herrannten. Irgendwann hatte ich mehr Angst, niedergetrampelt zu werden, als Prügel abzubekommen. Hat gut zwei Stunden gedauert, glaube ich. Verteilte sich dann auf kleinere Straßenkämpfe. Die Polizei kam. Keiner, den ich kenne, ist ernsthaft verletzt worden, nur ein paar blaue Flecke und aufgeplatzte Lippen. Lockere Zähne. Vielleicht hat’s welche von den anderen schlimmer erwischt, aber die Jungs, die ich kennen, sind sowieso fast alle Boxer oder gehören zu Straßengangs. Die wissen, was sie tun müssen, um sich zu schützen. Ich? Ich hab zwei Jungs, die auf mich losgegangen sind, eine verpaßt, aber vor allem hab ich gesehen, daß ich da wegkam. Ich war nicht wütend, schätze, das war der Unterschied. Ich
hab gesehen, wie sie das Nazizeichen ausgerollt haben, aber es hat mir nicht soviel ausgemacht wie den anderen. Ich weiß nicht warum, aber ich fand es einfach nur blöd. Ich war nicht darauf vorbereitet, wütend zu werden. Ich wollte nicht kämpfen. Hat mich zu sehr an meine Arbeit erinnert, an meine Boxkämpfe. Ich wollte mir nur das Spiel ansehen und den Abend genießen. Wollte mit meinen Freunden auf der Tribüne sitzen.«
MADDY BEREITET MIROS BAD VOR. Sie macht Wasser in vier Töpfen auf dem Herd heiß, trägt jeden Topf mit einem Tuch um die Henkel gewickelt zu der Porzellanbadewanne und schüttet das Wasser hinein. Dann fügt sie kaltes Wasser aus einem Eimer hinzu, füllt ihn am Küchenausguß wieder auf, pumpt Wasser mit der auf der Arbeitsplatte verschraubten Handpumpe nach. Sie schleppt den Eimer zurück ins Badezimmer. Wasser schwappt auf den Boden, als ihr das schwere Ding gegen die Beine prallt. Mit dem Finger rührt sie das Badewasser um, will fühlen, ob es die richtige Temperatur hat. Miro ist bei der Arbeit, ausgestellt in seinem Wohnzimmer. Das Erkerfenster dient als Schaukasten. Hinter dem Alkoven ist eine Decke aufgehängt, damit die Leute nicht direkt in sein Wohnzimmer schauen können. Wenn er sich ausstellt, rollt er sich auf ein paar großen Kissen herum, schüttelt seine Rassel und nuckelt an einer Riesenflasche, die manchmal mit Whisky und Milch gefüllt ist, manchmal nur mit Milch. Wenn es warm ist, trägt er nur eine Windel. Für kühleres Wetter hat er verschiedene Garnituren – einen Matrosenanzug, einen einteiligen Badeanzug, ein weißes Taufkleid. Das Taufkleid verwirrt manche Leute, sie denken dann, er sei ein Mädchen, das ein Kleid trägt. Heute hat Miro nur die Windel an, liegt in seinen Kissen und stupst lustlos einen Wasserball mit den Zehen. Als Maddy ihn zu seinem Bad ruft, wartet er, bis niemand mehr sein häßliches Gesicht gegen die Scheibe drückt, rollt sich von den Kissen und stellt ein »Bin gleich zurück«-Schild ins Fenster. »Der reinste gottverdammte Zoo«, murmelt er, während er ins Badezimmer watschelt. »Klopfen ans Fenster, als wär’s ein Affenhaus.« Er steht still, läßt sich von Maddy die Windel abnehmen – die in Wirklichkeit eine Tischdecke ist – und
wartet, bis sie sie zusammengefaltet über die Lehne eines Holzstuhls neben dem Klo gehängt hat. »Und geizig sind sie auch noch«, fügt er hinzu, hebt ein Bein langsam über den Badewannenrand, stützt sich auf Maddy, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. »Kein Münzenklappern heute in der Büchse.« »Vielleicht haben sie dich satt, weil du dich nie veränderst«, sagt Maddy und schiebt ihn über den Wannenrand ins Wasser. »Du bleibst immer ein Baby. Du wirst nie groß.« »Als ob das möglich wäre«, sagt Miro. »Sie erwarten, daß der König aller fetten Babys zu einem gewaltigen Riesen heranwächst. Das ist nur logisch. Kein verkümmerter Zwerg, der genauso groß ist wie das fette Baby. Unmöglich.« Er lehnt sich zurück, und das Wasser schwappt gegen die Insel seines Bauches. »Maddy«, sagt er. »Der Trick ist, nicht an der falschen Stelle zu beginnen. Wäschst du mir den Kopf? Ich hab’s gern, wenn du fest rubbelst.« »In Ordnung.« Maddy sitzt auf dem Wannenrand und beugt sich vor, um besser an Miros kahlen Kopf zu kommen. Beim Einseifen spürt sie die kleinen Stoppel seines nachwachsenden Haars. Damit er wie ein Baby aussieht, muß sich Miro fast täglich den Kopf rasieren. »Das tut gut«, sagt er mit geschlossenen Augen, während Maddy ihm kräftig den Kopf einseift. Sie macht Schaum, zieht zwei Striche hindurch, wischt sie weg und malt ein großes A auf Miros Schädel. »Spürst du das?« »Ja.« »Was ist es?« »Der Buchstabe A.« Maddy verteilt den Schaum wieder gleichmäßig und schreibt dann sorgfältig ein Wort auf Miros Kopf.
»Spürst du das?« »Grace«, sagt er, immer noch mit geschlossenen Augen. »Ah, deine Traumfrau. Grace O’Gorman, Königin des Himmels. Immer noch da oben?« Maddy fährt den seifigen Namen mit dem Finger nach, ritzt ihn tiefer in den Schaum ein. »Ich glaube, sie ist vielleicht meine Mutter«, sagt sie. »Deine Mutter?« Miro öffnet die Augen. »Du hast doch schon eine Mutter. Was willst du mit zwei Müttern?« »Na ja«, sagt Maddy, nicht sicher, ob sie es ihm sagen soll, aber es gibt niemand sonst, dem sie es erzählen kann, und den ganzen Tag will dieses Wissen schon aus ihr herausplatzen. »Ich hab was gefunden.« Sie stützt sich mit einer Hand auf Miros Kopf ab und zieht mit der anderen ein Stück Papier aus der Tasche. »Vor einer Weile hab ich an Grace O’Gorman geschrieben, und jetzt hat sie geantwortet. Ich hab’s auf der Sandbank gefunden, auf der Straße. Fast direkt vor unserem Haus.« Sie entfaltet das Papier, schüttelt es aus und hält es Miro vor die Augen. »Das ist eine Zeitung«, sagt er. »Nein, schau.« Maddy schüttelt es vor seiner Nase. »Da steht was mit Bleistift drauf. Eine Nachricht.« Sie liest sie vor. »›Ich liebe dich‹, unterschrieben mit ›Grace‹. Warum würde sie mir das sagen, wenn es nicht stimmt?« »Schon ein bißchen seltsam«, gibt Miro zu. »Aber das macht sie noch nicht zu deiner Mutter.« Wieder schüttelt Maddy die Zeitung. Sie fühlt, wie ihr das Herz in der Brust klopft. »Verstehst du denn nicht«, sagt sie. »Sie konnte ja nicht ›Mutter‹ schreiben, weil ich dann nicht wüßte, von wem sie ist. Sie mußte mit ihrem Namen unter schreiben.« Miro schweigt einen Moment.
»Maddy«, sagt er, »was ist mit deiner anderen Mutter? Del. Die, bei der du lebst.« Maddy faltet das Papier zusammen, mit einer Hand. »Sie paßt nur auf mich auf«, sagt sie und schiebt das Papier zurück in die Hosentasche. »Bis Grace bereit ist, mich abzuholen und mit nach Hause zu nehmen, in mein wirkliches Leben.« Miro hebt die Hand aus dem Wasser zu Maddys Gesicht. Sanft zieht er eine Linie um die Außenkante ihres Gesichts – Stirn, Wange, Kinn, Wange, Stirn. Er legt ihr seinen feuchten Finger auf die Lippen, und sie läßt es geschehen. »Oh, Maddy«, sagt er leise. Sie saugt an seinem Finger. Das Wasser schmeckt seifig. Der Finger schmeckt süß.
GRACE SCHLÄFT AM NÄCHSTEN MORGEN am Steuer ein. Sie sackt nach vorn, ihr Körper halb über dem Steuerknüppel, halb gegen die Seite des Cockpits gelehnt. Willa braucht all ihre Kraft, um das Flugzeug aus einem selbstmörderischen Sturzflug abzufangen. Genau wie in Jacks Geschichten, denkt sie, die eine Hand an Grace’ Kragen, die andere am Steuerknüppel. Wie hieß die Zeile noch, die ihr gefallen hatte? »Eine Kraft, die der Verzweiflung entsprang.« Sie haben kein Zeichen für Entschuldigung, also kann Grace nur mit den Schultern zucken und müde lächeln. Sie sieht erschöpft aus. Willa beugt sich vor und schreibt etwas auf ihre Wange. Geht es dir gut? Wieder zuckt Grace die Schultern, nickt zustimmend. Um eine weitere Katastrophe zu vermeiden, vermindern sie die Flugschichten von drei auf eine Stunde. Jetzt gibt es keinen richtigen Schlaf mehr. Nur noch ein Dösen, aber eine Stunde Fliegen ist nicht so anstrengend wie drei. Es scheint zu funktionieren, obwohl Willa davon überzeugt ist, daß sie das Flugzeug manchmal schlafend fliegt. Die Einstundenschichten verringern ebenfalls den Unterschied zwischen der bewußten und der unbewußten Welt. Alles rutscht zusammen zu einem verschwommenen Ort des Halbwachens, ein Zustand, dem sich der Schlaf aus zwei Richtungen nähert – ein Hinabtauchen und Wiederaufsteigen. Wenn sie fliegt, versucht Willa etwas zu finden, auf das sie sich konzentrieren kann, damit sie wach bleibt. Während einer Runde konzentriert sie sich auf das Wasser unter dem Flugzeug. Zwei Rennruderer huschen spinnengleich über die Regattastrecke, zu beiden Seiten von ganzen Kanu-Rudeln begleitet. Training für das große Drei-Meilen-Rennen am 1. September, denkt sie. Jedermann in der Stadt hat Geld darauf
gesetzt. Willa hat vor, mit allen anderen die Tribüne zu stürmen, will zuschauen, wie die Boote über die glatte Oberfläche des Sees gleiten. Sie wird ein bißchen Geld auf den Sieg von Bob Pearce setzen. Bei einer weiteren Umkreisung des Hafens betrachtet sie die hochaufragenden Mastspitzen der Lyman M. Davis. Wie schön wäre es, wieder Segel daran zu sehen, mitzuerleben, wie der große hölzerne Schoner sich von seinem Ankerplatz entfernt. Bemerkt er es? fragt sie sich. Spürt er den Unterschied zwischen dem Verharren an einer Stelle und dem Stampfen durch die aufgewühlte See? Die Moth hustet einmal kurz, und Willa wird aus ihren Überlegungen gerissen. Der Motor bockt ein weiteres Mal und setzt dann in regelmäßigen Abständen aus. Wieder funktioniert die Zündung nicht richtig, und diesmal korrigiert sie sich nicht von allein. Der Zylinder steht kurz vor dem Ausbrennen. Das könnte recht schnell gehen – innerhalb eines Tages, aber es könnte auch bis zum Ende des Fluges dauern. So lange er nur Fehlzündungen hat und nicht total ausfällt. Grace dreht sich in ihrem Sitz um, macht das Zeichen für Flugzeug, dann das für runter. Willa nickt, ich weiß. Sie nimmt Gas weg, reduziert die Geschwindigkeit. Das Ticken vorne in der Moth geht weiter. Sie schiebt den Gashebel wieder vor, erhöht die Geschwindigkeit. Immer noch da. Offensichtlich geht es nicht weg. Noch etwas, das der Liste »abwarten und Tee trinken« hinzugefügt werden muß. Abwarten, ob Jack sie im Endstadium des Fluges sabotiert. Abwarten, ob sie durch den Schlafmangel verrückt werden. Abwarten, ob ihre Körper den Dienst verweigern oder vergessen, wie sie zu funktionieren haben. Abwarten, ob der Zylinder ausfällt und sie landen müssen. Jede Runde, die sie um den Hafen ziehen, scheint ihrem Leben eine weitere Komplikation hinzuzufügen.
Willa weiß nicht mehr, wie viele Tage sie in der Luft verbracht haben. Sie ist zu sehr damit beschäftigt, sich um mögliche Gefahren zu sorgen, und kann nicht sagen, ob Donnerstag oder Freitag ist. Sie versucht sich zu merken, wie viele Tage sie bereits geflogen sind, aber sie meint, unterwegs vielleicht einen verloren zu haben, und ist sich nicht mehr sicher, ob es achtzehn, siebzehn oder neunzehn Tage sind. Wie viele Tage? schreibt sie auf Grace’ Rücken, nachdem ihre Einstundenschicht zu Ende ist. Grace hält ihre Hand viermal hoch – dreimal mit allen Fingern ausgestreckt, einmal mit dreien. Achtzehn. Willa ist nicht davon überzeugt, daß man sich auf Grace’ Zeitgefühl mehr verlassen kann als auf das ihre. Sonst hat sie sich am Datum der Zeitungen orientiert, die Jack ihnen runterschickt, aber er hat es seit ein paar Tagen nicht mehr getan, und jetzt weiß sie nicht mehr, wann das letzte Mal war. Was ist, wenn sie nicht mehr wissen, wann sie landen müssen? Der heutige Tag, welcher es auch sein mag, ist warm und bedeckt. Ein bißchen Wind aus Norden, nichts, was Ärger oder Unbequemlichkeiten verursachen oder den Treibstoffverbrauch beeinflussen könnte. Das Auftanken läuft glatt. Zum Lunch essen sie Käsesandwiches und einen Apfel als Nachtisch und werfen gleichzeitig die Apfelbutzen nach unten. Am Nachmittag bekommt Willa Bauchschmerzen. Ihr erster Gedanke ist, daß Jack das Essen vergiftet hat und sie nun von dem Käsesandwich sterben muß, das ihr so gut geschmeckt hat. Als sie nicht stirbt, ist sie bereit, andere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, und beschließt, daß sie wahrscheinlich ihre Tage bekommt. Sie meint, das letzte Mal ihre Tage direkt vor dem Abflug gehabt zu haben, ist sich aber nicht sicher. Nichts, was vor dem Flug, auf der Erde passiert ist, läßt sich noch mit Bestimmtheit sagen. Ihre Erinnerung an jenes Leben ist
lückenhaft. Als sie eben davon überzeugt ist, ihre Tage zu bekommen, lassen die Schmerzen nach, und sie merkt, daß es genausogut Blähungen hätten sein können, keine Krämpfe. Warum kann sie nicht mehr erkennen, was mit ihrem Körper passiert? Ergeht es ihr wie dem Schoner, der nicht auf die gleiche Weise existiert, nicht er selbst ist, wenn er sich nicht bewegt? Fühlst du dich krank? fragt sie Grace, und Grace schüttelt den Kopf. Sehe ich gesund aus? Grace dreht sich um, eine Hand nach wie vor am Steuerknüppel. Ja. Grace streckt die Hand aus und tätschelt Willas Wange, um sie zu beruhigen, dreht sich dann um und fliegt weiter. Als Willa das Steuer wieder übernimmt, kehrt sie zu ihrer neuen Konzentrationsmethode zurück, heftet ihren Blick auf das, was sie überfliegen. Sie betrachtet die Dächer der Gebäude auf der C.N.E. Sie schaut sich den Schiffsverkehr im Hafen an, versucht zu erkennen, welche Fracht aus welchem Schiff gelöscht wird. Sie beobachtet die Menschen am Strand von Sunnyside, kleine Punkte auf dem Sand und im Flachwasser. Sie betrachtet die schwarzen Autodächer auf der Straße. Sie versucht, nicht einzuschlafen. Sie versucht, nicht einzuschlafen. Sie versucht, nicht einzuschlafen. Sie… versucht… nicht…
»ACH GLAUBE, ICH HÄTTE diesmal gern eine Tür«, sagt Del, während sie um die auf dem Boden aufgeschichteten Bretter geht. »Eine, die man richtig öffnen und schließen kann. Und verriegeln.« Fram hockt sich zurück auf die Fersen, den Hammer in der Hand. »Können wir machen«, sagt er. »Dann mußt du abends nicht mehr all deinen Krimskrams in die Metallkiste schließen, die du in der Bude hast.« »Krimskrams.« Del tritt hinter ihn und knufft ihn leicht auf den Kopf. »Paß bloß auf, Fram Stewart, sonst sag ich dir die Zukunft voraus.« Fram grinst. »Das hier ist meine Zukunft«, sagt er, hebt den Hammer und schlägt einen weiteren Nagel ein. Maddy beobachtet ihre Eltern vom Karussell aus, sitzt auf dem Rücken ihres Lieblingspferdes Amelia. Das Karussell steht still, zu früh am Tag, es in Betrieb zu nehmen. Fram und Del bauen eine neue Wahrsagerbude, damit Del zum Wochenende ihre Arbeit wieder aufnehmen kann. Morgen ist Samstag, und da ist auf Hanlan’s Point gewöhnlich am meisten los. Um für das Wochenende gerüstet zu sein, mußte Del neue Karten und Kerzen kaufen. Die Kristallkugel wurde aus dem Feuer gerettet, ein bißchen verrußt, aber das wolkige Glas wird nur zu ihrem Mysterium beitragen, wird ein Vorteil sein. Maddy ist gebeten worden, beim Bau zu helfen. Ihr ist angeboten worden, die Blechsterne und den Mond anzunageln, die Fram aus einem Stück Ofenrohr geschnitten hat, aber sie hat sich geweigert, irgendwas mit der neuen Wahrsagerbude zu tun zu haben. Sie sitzt auf ihrem Holzpferd und denkt an das Feuer, wie die Blechsterne in der Dunkelheit blitzten, wie eine Geheimsprache, denkt an die bewegungslose Gestalt von Del auf dem Boden. Sie versteht nicht, warum sie das noch mal
riskieren wollen. Die Männer im Kreis. Die Flammen. Der Geruch des brennenden Holzes. Maddy ist davon überzeugt, daß der neuen Bude dasselbe Schicksal bevorsteht wie alten. Und was ist, wenn es diesmal Del noch viel schlimmer ergeht? Die Männer, die sie zusammengeschlagen haben, sind nie gefaßt worden. Sie könnten zurückkommen. Maddy glaubt ihren Eltern und Simon nicht, wenn sie sagen, daß es vorbei ist, daß es eine einmalige Sache war wegen Simons Kampf. Sie glaubt ihnen nicht, wenn sie ihr versichern, daß es keinen Grund für eine Wiederholung gibt. Maddy weiß es besser. Sie sehen der Wahrheit nicht ins Gesicht. Für Maddy ist das ganz einfach. Del wurde geschlagen, weil sie Jüdin ist. Sie ist immer noch Jüdin. Die Männer wurden nicht gefaßt. Sie könnten zurückkommen. Maddy hält jetzt immer wieder nach ihnen Ausschau. Fährt in der Abenddämmerung auf ihrem Fahrrad herum, überprüft, wer in Hanlan’s Point von der Fähre steigt. Jemand muß doch aufpassen, was passiert, und wenn ihre Eltern so dämlich sind, dann liegt es an ihr, den nächsten Überfall zu verhindern. »He, Maddy«, ruft Del zum Karussell hinüber. »Komm und hilf uns mit den Wänden.« Maddy drückt ihre Beine fest um Amelias Mitte. »Nein«, brüllt sie zurück. »Komm hierher«, befiehlt Fram. Del berührt ihn am Arm. »Laß sie«, sagt sie. Sie bitten sie nicht noch einmal. Maddy schaut zu, wie sie zwei Wände am Boden zusammennageln und sie dann aufrichten, um eine dritte zu befestigen. Das Holz ist sauber und neu. Fram kennt jemand in einem Sägewerk und hat das Holz gegen Arbeit eingetauscht, hat eine der Motorsägen repariert. »Nur vom besten«, hat er zu Del gesagt, als er und Simon die Bretter von der Fähre schleppten. »Diesmal machen wir es richtig.«
Maddy betrachtet ihre Eltern und denkt, daß sie unmöglich zu ihnen gehören kann, zu keinem von beiden. Sie sehen nicht wie Menschen aus, die eine zwölfjährige Tochter haben. Maddy hat sie nie für jung gehalten, aber heute im weichen Frühlicht sehen sie so aus. Ihre Bewegungen haben eine Flinkheit, und sie gehen spielerisch miteinander um. Ein Gefühl von Einsamkeit überkommt sie. Vielleicht ist ihr Vater noch nicht mal ihr Vater. Seit dem Feuer ist etwas Neues zwischen ihnen. Eine Leichtigkeit. Maddy erinnert sich an Frams Reaktion in der Nacht des Feuers. Wie er vom Karussell gerannt ist, und den ganzen Weg nach Hause war sein Gesicht bewegungslos wie eine Maske, um nicht zu weinen. Wie er sich um Del gekümmert hat, als sie oben im Bett lag – ihr das Essen und was zu lesen gebracht, die ganze Zeit leise und sanft mit ihr geredet hat. Maddy hat sogar gesehen, daß sie sich küssen, nicht nur einmal, sondern zweimal, und dauernd lehnen sie sich aneinander, als könnten sie sonst das Gleichgewicht verlieren. Je mehr sie sie anstarrt, desto fremder werden sie ihr. Dämlich, denkt Maddy in der sicheren Höhe von Amelias Rücken. Sie sind dämlich geworden. Sie hatte erwartet, daß Fram sich weigern würde, sie wieder als Wahrsagerin arbeiten zu lassen, nach dem, was mit Del passiert ist. Aber auch in diesem Punkt waren sie sich einig. Statt Del davon abzuhalten, von vorne zu beginnen, ermutigte er sie. Es gab keine Diskussionen, sondern lediglich eine Übereinkunft, die Bude wieder aufzubauen. Und sie hatten es Maddy erst gesagt, nachdem Fram das neue Holz gebracht hatte, als wären sie sicher, daß sie genauso empfindet wie sie. Maddy beugt sich vor und schlingt ihre Arme um den kalten, harten Hals des Pferdes. Ich gehöre nicht zu euch, denkt sie und hört in dem Moment das Flugzeug, in dem ihre richtige Mutter sitzt, über das Karussell hinwegfliegen. Es klingt
anders, das Motorengeräusch hat sich verändert. Sie lauscht aufmerksam, als die Moth nach Süden über die Inseln fliegt. Fram und Del haben die dritte Wand befestigt. Momentan sieht das Ganze mehr wie eine Packkiste aus, nicht wie ein kleines Haus. Mich verschicken, denkt Maddy. Das würden sie am liebsten tun. Mich wegschicken, damit sie die ganze Zeit so glücklich sein können.
IN DIESER NACHT KOMMT ein Sturm auf. Regen wird vom Wind in ihre Gesichter geschaufelt, Lichtskelette tanzen auf dem dunklen Wasser. Sie fliegen in niedriger Höhe, um dem Stechen des Regens auf der Haut zu entgehen. Nächtlichen Regen kann Willa am wenigsten leiden. Er behindert die Sicht, bringt Ungemütlichkeit, Kälte und die Trübseligkeit, in der alles umschließenden Dunkelheit völlig durchnäßt zu werden. Grace und Willa wechseln sich immer noch stündlich beim Fliegen ab, aber als der Sturm um zwei Uhr morgens losbricht, kommen beide für den Rest der Nacht nicht mehr zur Ruhe. Willa schlüpft in ihre Jacke, macht all die nötigen Verrenkungen, um in ihr Ölzeug zu kommen, und duckt sich gegen den Regen im Cockpit zusammen. Sie trägt weder Schutzbrille noch Fliegerkappe. Obwohl die Brille gegen den Regen schützt, ist es schwer, etwas damit zu sehen, und die Kappe legt sich, wenn sie naß ist, wie ein Gipsverband um ihren Kopf. Dieser Sturm, der zwar weniger Regen bringt als vor ein paar Tagen, kommt ihr trotzdem schlimmer vor. Das liegt an dem Winkel, in dem der Regen einfällt, stellt Willa fest. Er kommt direkt über den Motor hinein wie eine scharfe, schneidende Klinge. Der Propeller verlangsamt den Ansturm zwar etwas, aber nicht genug, um wirklich etwas zu bewirken. Alles okay? schreibt Willa auf Grace’ Nacken. Für sie muß es doppelt so schlimm sein dort vorne im Flugzeug. Grace nickt zustimmend. Kurz vor der Morgendämmerung, als nur noch ein feiner Sprühregen fällt, stirbt der Motor ab. Willa ist am Steuer, fliegt über den See von Sunnyside her auf die Inseln zu. Alles passiert so schnell, so langsam. Das Motorengeräusch verändert sich plötzlich, die Luft, die am Rumpf
entlangstreicht, und es dauert einen Moment, bis sie erkennt, was in der Geräuschkulisse fehlt. Sie spürt es körperlich, ein harter Schlag in den Magen, der ihr den Atem nimmt. Sie nimmt Gas weg, schiebt den Gashebel wieder vor. Nichts. Die Propellerblätter drehen sich träge, hängen schlaff in der Luft. Die Moth, die nur dreihundertsechzig Meter hoch fliegt, verliert an Höhe. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, bis Willa sich klarmacht, daß das Flugzeug landen muß. Im Gleitflug zum Flughafen zurückzukommen, dafür ist keine Zeit. Sie kann bereits die wellige Oberfläche des Sees erkennen. Die Bäume auf den Inseln befinden sich schon in gleicher Höhe mit dem Flugzeug. Sie muß die Moth geradeaus fliegen, vermeiden, daß sie ins Trudeln gerät und abstürzt. Willa kann nicht glauben, was passiert; langsam steigt Panik in ihr auf. Plötzlich bietet der Steuerknüppel ihr Widerstand. Grace hat das Steuer übernommen. Die Querruder sind unten, die Landeklappen ausgestellt, um die Geschwindigkeit des Flugzeugs zu drosseln. Grace hält auf den Strand der westlichen Sandbank zu. Er sieht leer aus bis auf eine kleine Menge ineinander verhakten Treibholzes oben an der Baumlinie. Willas Körper ist steif, starre Hände umklammern den Cockpitrand. Der Zündmagnet, denkt sie. Ist wahrscheinlich vom Regen naß geworden und hat einen Kurzschluß verursacht, und die ganze Zeit haben wir uns Sorgen um den Zylinder gemacht. Sie hört das Pfeifen des Windes in den Spanndrähten, sieht vor sich Grace’ Hinterkopf, sieht das näherkommende Wasser, das langsame Drehen des Propellers, der nichts mehr ausrichtet. Grace gleitet tief über den See. Sie streichen über das Wasser, und Willa merkt, daß sie zu tief sind. Ohne nachzudenken greift sie nach dem Steuerknüppel, zieht ihn zurück, um die Nase des Flugzeugs zu heben und den Gleitflug zu verlängern, damit sie es bis an den Strand schaffen. Die
Sonne befleckt den Sand gerade mit dem ersten Licht. Willa spürt, wie der Rumpf über das Wasser schrammt. Sie umklammert immer noch den Steuerknüppel, als sie in den See krachen.
Zuerst hat sie das Gefühl, daß sie treiben. Das Flugzeug schwimmt auf dem Wasser, sie spürt, wie die Wellen gegen die Hülle schwappen. Sie schüttelt den Kopf. Die Moth befindet sich parallel zum Strand. Sie muß sich gedreht haben, als sie ins Wasser stürzte, und ist jetzt nach Süden ausgerichtet. Die Nase ist oben, fast über dem Wasser, also muß der Schwanz zuerst aufgeprallt sein. Willa schaut nach hinten, wo ein Gewirr aus Drähten und der Achtersteven unter der Wasseroberfläche zu sehen sind. Der Rumpf hinter ihrem Cockpit ist halb unter Wasser. Die Tragflächen scheinen verbogen, aber noch intakt. Die Spanndrähte sind gerissen und baumeln von den oberen Tragflächen wie Fäden, die aus einem Mantel gezogen wurden. Um sie herum herrscht eine unglaubliche Stille. Nichts tut weh. Grace. Sie ist nach vorne über den Steuerknüppel gesunken und bewegt sich nicht, als Willa sie an der Schulter packt. Grace. Willa öffnet den Mund, um ihren Namen zu sagen, aber es kommt nichts raus. Sie versucht es erneut. Ihr Mund öffnet und schließt sich wortlos. Vom Ufer her kommt das Zwitschern eines Vogels. Die Morgendämmerung hat begonnen. Willa versucht, ihre Backbordtür zu öffnen, aber sie hat sich verklemmt. Sie zieht sich hoch, hält sich an der oberen Tragfläche fest und klettert schwankend aus dem Cockpit auf
die untere Tragfläche. Dann greift sie in Grace’ Cockpit und zerrt sie vom Steuerknüppel weg. Grace kippt zur Seite, und Willa sieht das Blut auf ihrem Gesicht, den Schnitt über dem linken Auge. Sie schöpft Wasser aus dem See und spritzt es Grace ins Gesicht. Grace öffnet die Augen, schaut Willa an und macht den Mund auf. Kein Ton kommt heraus. Willa hebt den Arm und wischt etwas von dem Blut mit ihrem Ärmel ab. Grace sieht benommen aus, öffnet wieder den Mund, schließt ihn. Kein Wort. Langsam läßt sich Willa von der Tragfläche ins Wasser hinab. Sie müssen vom Flugzeug weg, bevor es sinkt. Sie streckt das Bein aus. Streckt es aus und kommt auf dem Boden auf. Das Flugzeug treibt nicht, es steckt im Sand. Das Ufer scheint hier sehr flach abzufallen. Sie sind im Flachwasser, das Willa nur bis knapp übers Knie reicht. Sie watet ein bißchen herum, um sicherzugehen, daß sie nicht auf einer Sandbank aufgesetzt haben, daß es bis zum Ufer so flach bleibt. Ihre Beine fühlen sich vom Körper getrennt an, beinahe, als wären sie nicht da. Sie muß nach unten schauen, muß sich versichern, daß sie sich immer noch vorwärts bewegt, ihr die Beine nicht weggeknickt sind und sie zusammengebrochen ist. Sie watet zurück zur Moth und zieht an Grace’ Arm. Grace ist halb unter dem vorderen Teil des Flugzeugs verschwunden, zerrt an etwas in ihrem Gepäckfach. Sie holt einen schwarzen Kasten heraus. Der Barograph. Willa hat überhaupt nicht daran gedacht, den Barograph zu bergen. Ohne ihn gibt es keine offizielle Aufzeichnung des Fluges. Ohne ihn wissen sie nicht, wie lange sie in der Luft waren und ob sie den Rekord gebrochen haben. Grace verstaut
den Barograph sorgfältig in ihrem Leinwandrucksack und reicht ihn Willa. Grace hat ebenfalls Schwierigkeiten, sich aufrecht zu halten, fällt zweimal auf ihren Sitz zurück und muß halb aus dem Cockpit gezogen werden. Auch ihr wollen die Beine nicht gehorchen, und die beiden Fliegerinnen stolpern langsam durch das Wasser auf den Strand zu, Grace mit dem Arm um Willas Schultern. Sie stützt sich auf die jüngere Frau, wird mitgezogen. Willa trägt den Rucksack mit dem Barograph auf dem Rücken. Ein Flügelschwirren erfüllt die Luft, als sich ein Vogelschwarm aus den Bäumen hebt. Willa schaut auf und sieht ein Mädchen am Rand des Wassers stehen. Sie streckt ihnen die Hände entgegen, als wäre ihr Stolpern durchs Wasser eine Art Taufe, als hätte sie die Hände zu einem Segen erhoben. »Ich habe auf euch gewartet«, sagt sie.
FRAM UND DEL SITZEN am Küchentisch, als sich die Tür öffnet und Maddy, die sie noch im Bett glaubten, gefolgt von zwei Frauen eintritt. »Das sind die Pilotinnen«, sagt sie, als die Frauen zur Tür hereinwanken. »Sie reden nicht.« Die Pilotinnen sind in glattes, glänzendes Gelb gekleidet. Regen, denkt Del langsam. Es hat geregnet. Sie und Fram erheben sich gleichzeitig und überlassen den Frauen ihre Stühle. Del riecht die ungewaschene Haut der einen, die auf ihrem Stuhl niedersinkt. Eine von ihnen ist verletzt, hat einen Schnitt auf der Stirn. Beide haben die eingesunkenen Augen von Soldaten. Maddy steht an der Arbeitsplatte. »Wasch sie«, sagt sie, und Del denkt, Regen. Blut. Sie befeuchtet ein Handtuch am Spülstein und beugt sich über die mit der Kopfwunde. »Schon gut«, sagt sie, als die Frau vor ihrer Berührung zurückzuckt. »Ich will das hier nur säubern. Sehen, wie schlimm es ist. Das ist nur Wasser, das ich benutze.« Sanft wäscht sie die Stirn der Frau ab, und die Frau schließt die Augen. »Wo kommen Sie her?« fragt Fram, an die Unverletzte gewandt. »Sollen wir Sachen aus Ihrem Flugzeug bergen? Soll ich irgendwas tun?« fragt er zweifelnd. »Sie reden nicht«, sagt Maddy. Ihre Augen schießen Blitze, und Fram fühlt sich völlig hilflos mit diesen beiden abgestürzten Frauen in seiner Küche und einer Tochter, die als einzige zu wissen scheint, was sie wollen. »Wo hast du sie gefunden?« fragt er sie. Maddy hat den Blick auf Del und die verletzte Pilotin gerichtet. »Sie sind abgestürzt«, sagt sie. »Ich bin aufgewacht, weil ich ihr Flugzeug nicht mehr hörte, und hab nach ihnen gesucht. Sie sind direkt vor der Sandbank abgestürzt.«
Fram schaut aus dem kleinen Küchenfenster, als könne er von dort das Flugzeug sehen. Er sieht nur die Sonne, die auf das verdorrte Gras neben der Straße scheint. »Wir müssen sie aufs Festland bringen«, sagt er. »Ihre Leute werden sich Sorgen um sie machen.« Maddy wippt auf den Hacken vor und zurück. »Nein«, sagt sie. »Sie gehören mir. Sie sind meinetwegen gekommen.« Die Frau, die von Del versorgt wird, öffnet die Augen und schaut Maddy an. Sie scheint etwas sagen zu wollen, hält aber inne, bevor ihr ein Wort über die Lippen kommen kann. Sie gestikuliert mit der Hand, und die andere Pilotin versucht aufzustehen. »Warum reden sie nicht?« fragt Fram. Diese Frauen machen ihn nervös. Ihre Gesichter sind schmutzig und von der Sonne verbrannt. Ihr Haar ist verfilzt, und sie haben eine Wildheit an sich, die sie unnatürlich, unmenschlich wirken läßt. Maddy antwortet ihm nicht. »Jemand muß sich Ihre Wunde anschauen«, sagt Del zu der Frau, über die sie sich beugt. »Ich kann die Blutung nicht stoppen. Maddy.« Sie schaut hinüber zu ihrer Tochter an der Spüle. »Geh nach oben und hol mir noch ein Handtuch.« Maddy zögert, greift dann hinunter nach der Hand der unverletzten Pilotin. »Du kommst mit mir«, sagt sie. »Ich muß dir was zeigen.« Die Frau kommt schwankend auf die Füße und folgt dem Mädchen langsam nach oben. Maddys Zimmer ist so dunkel wie immer. Die Pilotin stolpert über etwas auf dem Boden und fällt beinahe. Maddy reißt den Vorhang auf. Licht strömt ins Zimmer. Sie zieht die Pilotin zu ihrem Bett, zu dem kleinen Tisch neben dem Bett. »Hier«, sagt sie. »Schau. Das gehört euch.« Willa sieht nach unten auf einen hölzernen Kasten, der mit Dingen gefüllt ist, die wie Abfall aussehen – ein Apfelbutzen,
ein Stück Metall, eine alte Zeitung. Das Licht läßt etwas an der Wand aufblitzen, und sie sieht, daß es ein Foto ist. Grace. Sie muß zurück zu Grace. Sie muß Grace in die Stadt bringen. »Nein, warte«, sagt das Mädchen, als Willa zur Tür schlurft und die Treppe hinuntertaumelt. Maddy steht in ihrem Zimmer, lauscht fast automatisch nach dem Flugzeug und hört statt dessen von unten die Stimme ihres Vaters. »Wir bringen Sie zur Fähre.« »Nein«, schreit sie auf, stürzt die Treppe hinunter und kracht unten gegen die Wand. Alle schauen auf. »Wo ist das Handtuch, Maddy?« fragt Del. Dann tritt Stille ein, und alle schauen weg.
MADDY GEHT ZWISCHEN Grace und Willa durch den Vergnügungspark zur Fährenanlegestelle von Hanlan’s Point. Del und Fram folgen auf Maddys eindringliche Bitte in etwa sechs Meter Abstand. Grace drückt mit der einen Hand das Tuch gegen die Stirn, Maddy hält die andere, führt sie zur Fähre. Willa trägt den Rucksack. Sie gehen langsam durch den verlassenen Park, kommen an den Erfrischungspavillons, an Miros kleinem Häuschen vorbei. An Dels neuer Bude, wo die Blechsterne wie schimmernde Münzen in der Morgensonne glitzern. Am Karussell mit den im vollen Galopp erstarrten Holzpferden, Schaumflocken vor den Mäulern. »Du bist meinetwegen gekommen, nicht wahr?« sagt Maddy zu Grace, aber die Pilotin antwortet ihr nicht und schaut sie auch nicht an. Die Fähre wartet unten am Kai. Maddy geht mit ihnen an Bord. Grace O’Gorman läßt Maddys Hand fallen und wendet sich ab, ihre Augen so leer wie die der Karussellpferde. »Bist du nicht meinetwegen gekommen?« fragt Maddy, mehr und mehr im unklaren wegen Grace’ Absichten. Die berühmte Pilotin Grace O’Gorman schaut sie verärgert an und wedelt mit der Hand, um Maddy von Bord zu scheuchen. »Du hast den Rekord gebrochen«, sagt Maddy verzweifelt, und Grace dreht sich wieder zu ihr um und lächelt schwach. »Neunzehn Tage«, sagt Maddy. Sie bleibt noch einen Moment stehen, wartet darauf, daß Grace sie an sich zieht, etwas sagt, sie wieder anlächelt. Willa Briggs ist eingeschlafen, den Kopf gegen die hölzerne Reling gelehnt, den Rucksack in der Armbeuge. Grace O’Gorman schiebt das blutige Tuch an ihrer Stirn ein wenig zur Seite, winkt Maddy erneut weg und scheint sie dann
vollkommen zu vergessen, den Blick über das Wasser auf die Häuser der Stadt gerichtet. Die Fähre tutet. »Maddy«, ruft Del vom Kai. Maddy bewegt sich nicht. Sie betrachtet Grace O’Gorman. Diese Grace hat nie etwas für sie empfunden, ist nicht gekommen, um sie zu retten. Die Grace, auf die Maddy gewartet hat, existiert nicht oder ist noch immer da draußen, kreist irgendwo da oben. Hier steht Maddy, an diesem Augusttag, auf dem soliden Stahldeck der Fähre. Hinter ihr sind die Inseln. Die frühmorgendliche Sonne, die flüsternden, raschelnden Bäume, das ist wirklich. Ihre Eltern, die am Kai auf sie warten. Hier kommt sie her, das gehört zu ihr. »Maddy«, ruft Del erneut. Und Maddy wendet sich von Grace ab und kehrt heim, geht auf die Stimme ihrer Mutter zu.
FRAM UND DEL STEHEN am Ende des Kais und beobachten Maddy auf der Fähre bei den Pilotinnen. »Fram«, sagt Del leise. »Als ich ihr die Stirn abgewaschen habe, dieser berühmten Grace, hab ich etwas gespürt.« Del sieht zu Boden, wo der Wind ein Stück Papier vor sich herweht. »Sie hätte bei dem Absturz umkommen sollen.« »Was?« Fram dreht sich zu ihr um, stößt die Frage hervor. »Grace O’Gorman hätte bei dem Absturz umkommen sollen«, wiederholt Del fest. »Ihre Zeit war abgelaufen. Ich hab es gespürt.« »Aber es ist nicht geschehen«, sagt Fram. »Nein.« Del schaut zu den beiden zusammengesunkenen Pilotinnen auf der Fähre, zwei gelbe Punkte am dicken Band der Reling. »Sie ist nicht gestorben, weil zwei Menschen sie brauchten. Zwei Menschen haben sie am Leben gehalten, weil sie sie brauchten.« »Maddy«, sagt Fram leise und betrachtet die steife Silhouette seiner Tochter. »Aber man kann das Schicksal nicht betrügen«, sagt Del. »Diesmal waren Maddy und die andere Pilotin da. Das nächste Mal werden sie es nicht sein.« »Das nächste Mal?« Del betrachtet die beiden Gestalten im gelben Ölzeug, bis sie im Sonnenlicht verschwimmen. »Was heute geschehen sollte, wird trotzdem geschehen. Der nächste Flug von Grace O’Gorman wird ihr letzter sein.« Sie schweigen. Die Fährmannschaft macht sich bereit, die schweren Taue einzuholen. »Maddy«, ruft Del.
GRACE SCHAUT AUF DAS TUCH. Nicht mehr so viel Blut. Das Bluten scheint aufgehört zu haben. Sie drückt das Tuch wieder gegen die Stirn. Oben im Ruderhaus sieht sie einen der Fährleute aufgeregt mit einem anderen reden. Sie schauen hinunter zu ihr und Willa. Einer zeigt mit dem Finger. Das ist es, denkt Grace. Der Moment ist da, bevor wir erkannt werden, der Moment, bevor wir wirklich wieder auf der Erde sind. Sie tastet in ihrer Hemdtasche nach dem Lippenstift. Bald werden sie von einer Menschenmenge und Fotografen umgeben sein, von Reportern, die sinnlose Fragen stellen. »Sind Sie enttäuscht wegen des Absturzes?« Nein. Falls das merkwürdige kleine Mädchen recht hatte, die Kleine, die sie gefunden hat, dann haben sie den Rekord gebrochen. Haben einen perfekten Strich über den Himmel gezogen. »Nur darauf kommt es an«, wird Grace zu den Blitzlichtern und idiotisch grinsenden Mündern sagen. Wir haben es geschafft. Und dann wird es wieder losgehen. Die Verehrung. Die Briefe von Kindern, die fliegen wollen, wenn sie groß sind, und die Briefe von Erwachsenen, die es wollten, aber nicht getan haben. Grace O’Gorman lebt den Traum der anderen, damit sie keine Träume haben müssen. Und dann muß sie sich auf den nächsten Flug vorbereiten. Den nächsten Rekord. Vielleicht ein Solo-Langstreckenflug. Fay Weston wird nächsten Monat versuchen, den von Grace aufgestellten Rekord zu brechen. Wenn Grace den richtigen Zeitpunkt abpaßt, kann sie den Rekord einen Tag, nachdem Weston ihn gebrochen hat, wieder zurückholen. Sie muß dafür sorgen, daß ihr Name in den Zeitungen bleibt, damit sie weiterfliegen kann. Und dann muß sie Jack vergeben, sowohl öffentlich als auch privat – wenn vielleicht auch nicht sofort. Aber sie kann ihm
nicht ewig vorwerfen, daß er sie enttäuscht hat. Er kann nichts dafür. Das ist kein Egoismus, es ist die Wahrheit – niemand kann es mit Grace O’Gorman aufnehmen. Nur wenn sich Menschen in sie verlieben, kann sie sicher sein, daß sie es mit ihr aufnehmen. Dann geben sie sich Mühe und sind in der Lage, ihren hohen Ansprüchen vorübergehend gerecht zu werden. Und in wen haben sie sich denn überhaupt verliebt? In Air Ace Grace, die Königin der Lüfte, das Bild, das sie geschaffen und sich erkauft haben. Und du auch, denkt Grace mit einem Blick auf die schlafende Willa. Auch du hast dich in mich verliebt. In das Bild. Ich hab dich dazu gebracht. Der Wind streicht über das Deck, und der Hauch auf ihrem Gesicht tröstet Grace. Ein Gefühl, als wäre sie wieder im Flugzeug. Ihre arme alte Moth, ins Wasser getaumelt, aus dem sie nicht wieder hochkommt. Man wird sie raushieven müssen. Keine leichte Aufgabe, diese Bergung. Der Motor muß trockengelegt werden. Es wird Zeitungsund Zeitschriftenbilder vom Flugzeug geben, dort im Wasser, sie werden den Augenblick des Aufpralls nachstellen. Adventure Girl. Wenigstens kann sie jetzt den dämlichen Schriftzug vom Rumpf abmachen. »Erinnern Sie sich an den Absturz?« werden sie fragen. Nein. Dann fällt es Grace plötzlich wieder ein. Die Überraschung, die sie empfand, als Willa sich über ihre Beurteilung der Lage hinwegsetzte und das Steuer wieder an sich riß. Niemand macht so etwas mit mir. Sie erinnert sich an das laute Geräusch der Stille und Willas Gesicht am falschen Platz. »Hat Willa Sie gerettet?« Nein.
Grace hebt die Hand, um das Tuch an ihrer Stirn zu verschieben, und ihre Finger fangen den Wind ein, malen eine Form in die Luft, ein Wort. Feuer. Nun, ja. Vielleicht hat sie mich gerettet. Aber nicht, weil ich sie dazu gebracht habe, mich zu lieben. So zu fliegen. Wir haben geredet. Da oben gab es mehr zu sagen, weil wir es nicht sagen konnten. Es gab Tage, an denen ich ihr nur ein neues Wort schenken wollte. Nur das. Nur eins. Und sie verstand, was ich meinte. Ich habe nichts dazugetan. Himmel. Erde. Vergiß mich nicht. Ich vergesse dich nicht. Grace holt die Worte aus der Luft, mit beiden Händen, das Tuch im Schoß. Die Gesten haben eine Weite, eine Fülle, die für sie nur mit dem Fliegen vergleichbar sind. »Können Sie uns erzählen, wie es für Sie war?« Ja. Kann ich. Vergiß mich nicht. Aber ich werde es nicht tun. Nicht vor den Blitzlichtern. Das ist etwas, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Grace greift hinüber und schüttelt Willa sanft an den Schultern. »Wach auf, Willa Briggs«, sagt sie. »Ich muß dir was erzählen.«
NACHWORT
In den frühen 30er Jahren wurden in Nordamerika die Großtaten einzelner Menschen als eine Möglichkeit, der Wirtschaftskrise zu entfliehen, unterstützt. Man setzte sich besonders für die Luftfahrt ein, und Piloten wurden nach der Vollbringung besonderer Leistungen am Boden oft von Tausenden begeisterter Anhänger empfangen. Die Beliebtheit des Flugsports nahm ständig zu und schloß sowohl Männer als auch Frauen ein. Trotz der Neuartigkeit des Phänomens wurden Pilotinnen, die Rekorde aufstellten, wie etwa Louise Thaden, Ruth Nichols und Bobbi Trout (ganz zu schweigen von Amelia Earhart), wie echte Heldinnen von ihren Zeitgenossen gefeiert. Wenn der Himmel uns küßt ist eine fiktive Geschichte, aber die historischen Einzelheiten wie die Flugzeuge, die Mechanik und Besonderheiten der Luftfahrt der 30er Jahre basieren auf Tatsachen. Die meisten Ereignisse und Vorfälle, die in dieser Geschichte erzählt werden, sind historisch belegte Begebenheiten, die sich im August 1933 in Toronto ereignet haben. Die erwähnten Orte hat es gegeben – den Lufthafen, die C.N.E. den Vergnügungspark auf Hanlan’s Point. Die in diesem Buch dargestellte Zeichensprache lehnt sich an die Gebärdensprache nordamerikanischer Indianer und an die klösterliche Zeichensprache an.
Der Flug in Wenn der Himmel uns küßt ist dem der amerikanischen Pilotinnen Frances Harreil Marsalis und Helen Richey nachempfunden, die vom 20. bis 30. Dezember 1933
mit ihrer Curtiss Thrush über Miami, Florida flogen und einen nationalen Dauerflugrekord aufstellten. Ein Jahr nach diesem Flug kam Frances Marsalis, eine bekannte Flugakrobatin, bei einem Solo-Flugrennen in Dayton, Ohio um, ein Rennen, das Helen Richey weiterführte und gewann. 1935 wurde Helen Richey als erste Pilotin bei einer kommerziellen Luftfahrtgesellschaft eingestellt, aber noch im gleichen Jahr aufgrund der Proteste weniger erfahrener männlicher Pilotenkollegen gezwungen, ihren Posten aufzugeben. Sie erwarb später eine Fluglehrerlizenz und war die erste Frau, die Militärpiloten ausbildete. Nach dem Krieg und der Rückkehr vieler Piloten aus Übersee gelang es ihr nicht mehr, Arbeit in der Luftfahrt zu finden, und 1947 beging Helen Richey im Alter von 38 Jahren Selbstmord. Frauen wie Marsalis und Richey sind heute größtenteils vergessen, ihre Leistungen in die legendäre Figur Amelia Earharts eingeflossen. Ich habe einige technische Details des Fluges von Marsalis und Richey übernommen, dabei aber nicht versucht, den Frauen selbst nachzuerzählen. Ich kann nur hoffen, daß es mir in Wenn der Himmel uns küsst gelungen ist, das Gefühl des Fliegens als wirkliche Leidenschaft und Berufung, das diese und andere frühe Pilotinnen erfüllte, darzustellen.
DANKSAGUNG
Ich danke folgenden Institutionen und Personen für ihre Hilfe bei den Recherchen zu diesem Buch: den Ninety-Nines, der International Organization of Women Pilots; Michael Moir von den Toronto Harbour Commission Archives; den City of Toronto Archives; Linda Cobon von den C.N.E. Records and Archives; dem Canadian Warplane Heritage Museum; dem International Women’s Air & Space Museum; Environment Canada. Für ihre Großzügigkeit und Unterstützung möchte ich mich besonders beim Toronto Island Airport Flight Center, de Havilland Inc. und dem National Aviation Museum in Ottawa bedanken. Danke für die finanzielle Unterstützung des Ontario Arts Council und des Toronto Arts Council, die ich während der Arbeit an diesem Buch erhielt. Für die Unterstützung, den technischen Rat, die redaktionellen Vorschläge und dafür, daß sie mir zuhörten, während ich unablässig von der Luftfahrt der 30er Jahre erzählte, danke ich Mary Louise Adams, Elise Levin, Su Rynard John Kalbhenn, John Barton, Carol Maylon, Catherine Vernon, Matthew Fairbrass und Amy Willard Cross. Mein besonderer Dank gilt Frances Hanna. Bei Phyllis Bruce bedanke ich mich für ihre Sorgfalt und ihren Scharfsinn beim Lektorieren. Einen ganz besonderen Dank schuldet Wenn der Himmel uns küßt der amerikanischen Pilotin Bobbi Trout, die, neben all ihren vielen Leistungen, die beneidenswerte Ehre hatte, als erste Pilotin eine ganze Nacht durchzufliegen. Ich bin dankbar
für ihre Unterstützung und ihren Rat beim Schreiben dieses Buches, aber am dankbarsten bin ich für ihre anhaltende Freundschaft.