Ernst-Wilhelm Händler
Wenn wir sterben
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Ernst-Wilhelm Händler
Wenn wir sterben
scanned by unknown corrected by Y Charlotte erfüllt sich den größten Wunsch: Sie macht sich mit dem Kauf einer mittelständischen Firma selbständig. Christine, genannt Stine, und Bär helfen ihr dabei, doch letztlich sind die beiden Freundinnen Charlottes Ruin. Durch einen raffinierten Schachzug, eine böse Intrige, wird Stine Inhaberin der Firma. Kaum hat sie die Fabrik an sich gerissen, träumt sie einen anderen Traum: Ein Joint venture mit einem multinationalen Konzern soll ihr den Zugang zum Weltmarkt öffnen. Dabei trifft sie auf eine weitere beeindruckende Persönlichkeit, die Topmanagerin Milla: Ein neues Spiel beginnt. ISBN: 3-617-00029-3 Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt GmbH Erscheinungsjahr: 2002 Umschlaggestaltung: Bertsch & Holst unter Verwendung eines Aquarells von Maria Lassnig
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Charlotte erfüllt sich den größten Wunsch. Sie macht sich mit dem Kauf einer mittelständischen Firma selbständig. Christine, genannt Stine, und Bär helfen ihr dabei, doch letztlich sind die beiden Freundinnen Charlottes Ruin. Durch einen raffinierten Schachzug, eine böse Intrige, wird Stine Inhaberin der Firma. Kaum hat sie die Fabrik an sich gerissen, träumt sie einen anderen Traum: Ein Joint venture mit einem multinationalen Konzern soll ihr den Zugang zum Weltmarkt öffnen. Dabei trifft sie auf eine weitere beeindruckende Persönlichkeit, die Topmanagerin Milla: Ein neues Spiel beginnt. Im Mittelpunkt des neuen Romans von Ernst-Wilhelm Händler stehen vier Frauen, wichtige Führungskräfte der Industrie, alle mit Mitte Vierzig auf dem Höhepunkt und gleichzeitig am Scheideweg ihrer beruflichen Karrieren angelangt. Poetisch beispielhaft zeigt Händler im Spannungsraum der vier Karrieren, wie die sich unaufhaltsam vollziehende Globalisierung unser aller Leben beeinflußt. Faszinierend die Beschreibung der Kräfte, die das Diesseits zusammenhalten: die sterile Macht der Banken, die Industrie, die sich selbst produziert, die Gier der Immobilienspekulanten, die diffuse Komplizenschaft von Kunst und Werbung – aber auch die Hoffnung auf Rettung durch Sprache. Es tobt ein erbitterter Kampf um das ökonomische Überleben, der selten sichtbar wird. Die Gesellschaft erzeugt nur noch jene Menschen, die das Funktionieren der Wirtschaft gewährleisten. Der Leser
entscheidet, wer die größere Souveränität bewahrt: diejenigen, die bestimmen, oder diejenigen, über die bestimmt wird. Mit Wenn wir sterben ist etwas radikal Neues entstanden: Wie die Industriegesellschaft sich alles Bestehende unterwirft, so verwandelt der Autor anderes Schreiben, andere Sprachstile seinem Schreiben an. Jede Person im Roman handelt, denkt und fühlt in einer eigenen Sprachwelt. Auf diese Weise ist der vorliegende Roman zugleich eine Enzyklopädie deutschsprachiger Gegenwartsliteratur.
Autor Ernst-Wilhelm Händler, 1953 geboren, lebt in Regensburg und München. In der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen seit 1995 sein Erzählband Stadt mit Häusern, der »Philosophenroman« Kongreß, der »Wirtschaftsroman« Fall und zuletzt der »Architektenroman« Sturm, der von der Kritik als der »wirklichkeitshaltigste Roman der deutschen Gegenwartsliteratur dieses Jahrzehnts« bezeichnet wurde. Ernst-Wilhelm Händler wurde 1999 mit dem ErikReger-Preis ausgezeichnet.
»Wenn es noch Zweifel geben sollte, ob Ökonomie überhaupt literaturfähig sei, dann sind sie hiermit endgültig entkräftet. Die große Leistung dieses Buches, eines der wichtigsten, das in diesem Jahr erschienen ist, liegt in der Fusion von Kunst und Wirtschaft, von Dichtung und bitterer Wahrheit.« Frankfurter Allgemeine Zeitung
INHALT ERSTER TEIL................................................................................. 9 Angel und Drifter können zaubern ............................................ 10 ethel erreicht eine erhöhung der kreditlinie für ihre mutter ....... 16 Drifter hat eine Vision: Stine wird was (You gotta fight for your right to party) ............................................................................. 20 Der Hohe Ton – Bär beobachtet ................................................ 23 Der ganz Hohe Ton … Charlotte liebt ihre neue Fabrik wie einen männlichen Nachkommen ......................................................... 29 Stine bucht einen Ausflug mit Unfall für ihre Konfidentinnen.. 34 egin ist groß und gut. er konzentriert sich aufs wesentliche ...... 37 Charlotte streichelt Egin … ....................................................... 40 ethel küßt egin............................................................................ 47 Stine hat das Gefühl, ohne einen einzigen Boxenstop mit immer neuen Rekordrunden zu altern ................................................... 51 Cool killer I. Rückblick auf einen kostspieligen Takeover........ 55 ZWEITER TEIL ............................................................................ 81 Einen Moment Stille bitte. Charlotte ist müde …...................... 97 der umgedrehte Würstchenverkäufer reißt es raus................... 105 heute ich morgen du charlotte ist furchtbar müde.................... 110 charlotte pflückt die süßen und egin die bitteren träume (advice to parents: explicit content)...................................................... 123 DRITTER TEIL........................................................................... 129 Stine fühlt sich wie ein Ausstellungsstück im Dunkeln........... 153 Seminarvorbereitungen auf dem Lande ................................... 158 veni, vidi, egin ......................................................................... 170 Nun!gehn Sie schon, meine Beste ........................................... 173 SCHATTEN DER VERGANGENHEIT AUS DEN AUFZEICHNUNGEN VON FLEURS VATER ..................... 182 Fleur läßt Bär das Traumhausspiel spielen .............................. 205 Stine geht aus und begegnet dem Geist Bärs ........................... 213 es gelingt ethel nicht die lieblose schmerzensfrau zu geben bär spielt das traumhausspiel zu ende ............................................ 234 VIERTER TEIL........................................................................... 251 Milla fährt aus ihrer Haut. Sie findet Gefallen daran, daß das, was zu empfinden und zu erfühlen ist, nicht von dem üblichen Ich empfunden und erfühlt wird. Stine schlägt Milla ein Joint venture vor............................................................................................ 260 Das Fleisch im Auge des Maklers (Cool killer II) ................... 294
Ethel will jemand anderes sein, während sie Fleur folgt und keinen Gruß erwidert (very explicit content) ........................... 332 Es darf keinen besseren Schalter geben als den Global Breaker ................................................................................................. 341 Jeder Figur ihre Erzählerin, doch wer ist wir? ......................... 358 FÜNFTER TEIL.......................................................................... 369 crucifixa etiam, nur Verkäuferinnen können egin verstehen ... 370 Als Milla aus ihrer Haut gefahren ist, hat sie sich nicht vorgestellt, daß sie sich in einer solchen Haut wiederfinden würde ....................................................................................... 379 Mehr Saft bitte! Stine motiviert ihre Mitarbeiter ..................... 389 milla trifft ethel wer benchmarkt hier wen............................... 408 Egin richtet seinen Seelenstumpf gar nicht ungeschickt auf eine Zukunft in der Sondermülldeponie .......................................... 415 Charlotte und Ethel finden ein Heim in der Sargfabrik ........... 430 Vor Gericht ist immer danach. Wenn da wenigstens Fleisch wäre unter den Talaren, aus Fleisch könnte man Leben herstellen! . 439 Stine soll in der Luft gehen...................................................... 447 Stine treibt lieber Wintersport. Fleur macht ein Video über Stine ................................................................................................. 462 Wenn wir sterben, wogegen tauschen wir unser Leben ein? ... 467
Die Poesie dort suchen, wo sie niemand sonst finden will. Les propriétés des corps sont d’autant moins connues qu’elles sont plus constantes. Paul Valéry, Cahiers Unlike any other type of society, capitalism inevitably and by virtue of the very logic of its civilization creates, educates and subsidizes a vested interest in social unrest. Joseph A. Schumpeter, Capitalism, Socialism and Democracy
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ERSTER TEIL
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Angel und Drifter können zaubern Der hochgewachsene schlanke Farbige in der Polizeiuniform, mit den Handschellen und der Pistole, das ist Angel, einmal hat er sogar geschossen. Oder der Blonde mit dem Dreitagebart und der Sonnenbrille, er wird Drifter genannt – so sollten Männer aussehen! Es geht um Lust! Wir sehen den Tänzern nicht nach wie vorbeifliegenden Flugzeugen. Den eigenen Körper empfinden wir als eine Ansammlung von Knochen, die einfach beieinander liegen. Wir haben uns den Abend verordnet, um genau diese Art von Auflösung zu erfahren. Ist es wirklich die Kleidung, der sich die Tänzer entledigen? Sie steigen aus ihrem Gehäuse, denken wir. Unser Leben lang wollten wir so verführt werden. We are family I got all my sisters with me Unsere Müdigkeit nach dem geschäftigen Hin und Her des Tages ist wie weggeblasen. Mit nachdrücklichem Blick verfolgen wir, was auf der Bühne vor sich geht: Immer wieder verschwinden markante Köpfe, tätowierte Oberarme, spektakuläre Schenkel und flinke gewandte Hände, um an ganz anderen Stellen vorzukommen. Die Tänzer scheinen an mehreren Orten gleichzeitig anwesend zu sein. Die Finger eingespreizt, die Zehen um die beeindruckend spitz zulaufenden, trotzdem völlig ungefährlichen Beine der Barhocker geschwungen, bilden wir vor dem leuchtenden Bartresen, der seinerseits auf wuchtigere Extremitäten angewiesen ist, gütige Systeme von Umschließungen. Dabei stört nicht einmal das kalte blaue Licht hinter der vorgezogenen Ausstanzung aus der Stahlwand, in das der Barmann immer wieder eintaucht 10
und das ihn immer wieder gebiert. Die Nacht ist hinter eine Mauer aus Donner und Blitz geschafft. Gerne würde die Musik die Anwesenden aufstacheln, doch stellt ihre Gebärde tatsächlich eine der Beschwichtigung dar. Don’t touch the dancers. Das Licht der milchweißen Tischlampen bereitet uns darauf vor, in alle Ewigkeit stillzuhalten. Die Tänzer sind den Gästen hinter ihren farbigen Cocktails als Ganzes gegenübergestellt, jeder einzelne ist Teil eines größeren Tänzers. Man muß sie sich ausschneiden. Wer einen Tänzer zu einem Private dance zu sich bestellt, für den ist die Welt nicht abgeschafft, immer noch gültig, aber momentan suspendiert. Die Grenzen des Tuches des Tänzers sind die Grenzen seiner Welt. Der Raum ruft sich und trifft vor Sonnenaufgang mit sich selbst zusammen. Angel und Drifter müssen unaufhörlich zaubern, ihnen wird keine Gelegenheit gelassen, Fond zu spielen. Angel gelingt es gleitend und lautlos, die Welt in einem Tuch zu konzentrieren, bewundernswert sein unendlich sanfter Vollzug, Drifter muß einen unsichtbaren Widerstand überwinden, das geschieht raschelnd, knisternd. Anstelle der Tänzer würden wir uns nicht nur nackt, sondern hautlos fühlen. Wer ist hier für sich? Wir selbst oder die Tänzer? Tugendhafte Strenge wird verlangt von allen Seiten, der Raum reibt sich nur an sich selbst, das ist die Vorschrift. Wir merken, daß wir den Atem anhalten, um besser zu sehen. Wir können doch alles erkennen! Wie unendlich peinlich es wäre, geräuschvoll zu atmen, und es würde sich etwa so anhören, als ob wir stöhnten. Immer wieder allerdings gibt es Gäste, die Taschenlampen mitbringen. Hilflose einzelne, die meinen, ihre Blicke könnten im Licht ihrer Stablampen gezielter durch den gefalteten Raum sausen. Sie verzetteln sich nicht weniger 11
in unwichtigen Details als diejenigen, die sich von den fortgesetzt hereindringenden Zufallslichtblitzen führen lassen. Daß jemand sich traut, die Lächerlichkeit auszuprobieren. Wir ertappen uns dabei, den Aufruhr zu denken. Aber es kommt niemals zu Entgleisungen, man bleibt sich unter dem Tuch fremd, gerade weil man sich darüber so vertraut gibt. Sonst würde sich der an der Bar lehnende Kahlkopf verlagern. Ebenso leise wie ununterdrückbar würde er die größte Entfernung auf die schnellste Weise durchmessen. Und bestimmt nicht ins Stolpern kommen. Das wäre die wahre Entgleisung, instantan würde er an die Luft gesetzt werden, noch vor dem Gast. So jedenfalls präsentiert sich die Direktion. Das Weltenstück ist nie vorbei und auf einmal ganz schnell. Don’t touch the dancers. Plötzlich stimmt es nicht mehr! Wer einen Kuß bekommt, muß nichts befürchten, auch die Tänzer, die Küsse verteilen, brauchen sich nicht zu sorgen. Sie tun es, um mild zu sein, sie tun es, um zu schweben. Ständig in übertriebener Bewegung, sehnen sie sich danach, daß ihre Erscheinungsweise dem Fallen des Schnees gleicht, dicht und sacht möchten sie wirbeln, unaufhörlich fallen wollen sie, ganz viele, immer wieder. Dann wären sie alle unschuldig. Sie sind sowieso unschuldig. Wie gerne würden wir den Kuß mißverstehen! Aber der Kuß hat nichts eröffnet, nichts erschlossen, der Kuß ist eine Abkündigung, keine Ankündigung. Nach dem Kuß wünschen wir uns ein Bett aus Nebel. Man möchte sich nicht eingestehen, daß man den Tänzer nicht mehr sehen will, noch viel weniger möchte man allerdings wahrhaben, daß man ihn nicht mehr sehen soll. Gerade haben wir noch den Aufruhr geträumt, da wollen wir uns schon für immer befrieden. 12
Der Nebel steht nicht still, auch nicht schwankend still, die Fäden der Welt laufen beim Rhythmus der Musik zusammen. Nicht nur die Zungen an den Stahlwänden sind in Bewegung, selbst die Möbel können sich der Entrückung nicht entziehen. Table dancing im Kunstpark Ost. Unter dem stroboskopischen Licht wird alles zum Gegenteil des fallenden Schnees. Die Tänzer sind nicht mehr omnipräsent, sie bilden lediglich noch abzählbare Fortsetzungen in Raum und Zeit. Das muß die Strafe sein für den Kuß, don’t touch the dancers, es regiert eben doch die Gerechtigkeit. Der Nebel, kalt und trocken, verdrängt die Erinnerung an den Kuß, und er bewirkt auch, daß wir zum ersten Mal, wirklich zum allerersten Mal, müde werden. Welt ohne Menschen draußen, wer zu lange bleibt, den wird die Tageskälte fressen. Wir hätten lieber einen warmen feuchten Nebel. Wir hätten eben gerne so vieles, was unvereinbar ist. Wie wäre es als eins der Porträts auf den Stuhllehnen? Doch man ist ja nicht der Architekt. Das Vollkommene aber kommt noch, es steht am Ende. Je später es wird, desto mehr Augenblicke verschwinden. Wir verkürzen die Zeit bis zum absoluten Höhepunkt: House party. Welch ein Gepränge mit zerfransten Jeans, neonfarbigen Slips, Lederwesten auf der nackten Brust und Krawatten um den bloßen Hals. Das rundäugige Hinsehen, verschwunden der Nebel! Das charmante Zurückmustern! Wie bemüht die geliebten Männer, wie launisch-vergeßlich die souveränen Frauen. Hätten wir wirklich gedacht, daß wir am Schluß auf der Bühne tanzen würden? Natürlich haben es die gewußt, die schon einmal hier waren, die anderen haben es vielleicht geahnt und bestimmt gehofft. Allerdings gibt es auch solche, die sich kurz vorher davongestohlen haben, mit lautem Sprechen haben sie auf sich aufmerksam gemacht und sich 13
hinausbewegt, als ob sie ein Päckchen abholen müßten, das gerade für sie abgegeben wurde. Wie schnellt der Tänzer mit dem kleinen Kopf in seinem SupermanKostüm über die Tanzfläche. Wie leuchten die weißen Streifen auf dem orangefarbenen Straßenarbeiter-Overall des Tänzers mit den kurzen Beinen. Wo hat er eigentlich seinen Reisigbesen gelassen. Das völlige Verschwinden eines anderen Tänzers in seinem armanifarbenen Anzug. Nachdem den ganzen Abend lang niemand jemanden berühren durfte – wer erinnert sich noch an die Küsse –, nun unvermittelt die Vermischung auf dem Laufsteg. Wir riskieren’s! Die Tänzer reden nicht mit den Gästen, schon gar nicht mit denjenigen, denen sie einen Kuß gegeben haben. Wie begierig wir plötzlich wieder sind, nein, nicht nach dem, was wir sehen, sondern nach dem, was wir nicht sehen! Wer riskiert was? Dieses Good bye überfordert alle. Zu viele Hände, zu viele Beine, zu viele Arme, zu viele Füße auf der Tanzfläche, aus diesen Schenkeln und Schultern kann man niemals einen Tänzer machen, so wie vorher, das sind keine einleuchtenden Verhältnisse mehr. Und dann doch der Verstoß gegen das höhere Gesetz, der selbst den Porträts auf den Lehnen die Haare zu Berge stehen läßt: Angel und Drifter umarmen einander. Wie ihre Lider flattern, wie ihre Gliedmaßen zucken! Ist das ein durch Musik untermalter Geheimnisaustausch, oder wird hier unverhohlen ein sexueller Streit auf der Bühne ausgefochten? Wie sie sich beständig erregt ins Gesicht fahren! Woher soll man auch wissen, daß da ein Profi, der regelmäßig auftritt, mit einem Ex-Profi, der nur noch sporadisch Engagements eingeht, lediglich ein ausdrucksvolles Fachgespräch führt. Der Kahlkopf an der Bar darf seine Müdigkeit aufklappen und im Raum ausspannen, das ist kein erbitterter Kampf zwischen zwei 14
lange nicht Gesehenen um die größere Geltung, die beiden sind vielmehr ein glaubwürdig versiegeltes Paar aus der Werbebranche, jedoch in räumlicher und zeitlicher Auffächerung. Wir wollen nicht miterleben, wie sich die Tanzfläche leert. Wie es auf einmal absolut hell wird. Das, was jetzt kommt, wollen wir tilgen oder zumindest überspringen. Wir akzeptieren höchstens ein ganz kurzes Intervall der End- oder Anfangsleere zwischen dem Tanz auf dem Laufsteg und dem Moment, in dem wir ungeschützt im Freien stehen und alle Kräfte aufbieten müssen, um dem Tag entgegenzuleben.
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ethel erreicht eine erhöhung der kreditlinie für ihre mutter am anfang stand das preisspiel die ganze firma wurde in gruppen eingeteilt jede gruppe kaufte von den anderen guter und dienstleistungen und verarbeitete sie weiter jede gruppe machte gewinn auf diese weise machte die ganze firma gewinn beim tornadospiel wurde jeder gruppenleiter ohne vorwarnung für drei tage durch seinen stellvertreter oder durch einen mitarbeiter ersetzt der im organigramm unter ihm stand das tornadospiel gab den gruppenleitern gelegenheit über sich selbst über ihre arbeit über ihr leben nachzudenken denn in den drei tagen waren sie zum völligen nichtstun verdammt zugleich ermöglichte es den mitarbeitern einblicke in ablaufe die sie sonst niemals gewonnen hätten und Verständnis dafür zu entwickeln was ihr vorgesetzter leisten mußte das spiel war riskant sehr riskant zum glück passierte nichts weder die firmenprozesse noch die kundenkontakte litten das tornadospiel führte zu einer ungeheuren bewußtseinserweiterung ausflug nach frankfurt zu einer kreditverhandlung die dünne tochter der inhaberin spricht sie ist gerade achtzehn geworden am vormittag geht sie in die schule nachmittags in die firma ihre weit auseinanderstehenden augen blicken den kreditvorstand unverwandt an unsere mitarbeiter sind zufrieden die betriebsteile die wir verkauft haben gehören jetzt anderen wir waren nie brutal oder grausam wir haben das gleiche getan was alle tun nur früher schneller besser für diejenigen die wir zuerst entlassen haben war es am einfachsten eine neue arbeit zu finden wir haben zufriedene und motivierte mitarbeiter die umfragen zeigen 16
daß über neunzig prozent gerne für uns arbeiten wir fordern viel von den mitarbeitern wir sind bereit ständig zu lernen ständig neue ideen zu entwickeln wir haben hochgesteckte ziele wir strengen uns wahnsinnig an wir geben alles was wir haben wir machen geschäfte geschäfte machen macht spaß wenn wir ein gutes geschäft gemacht haben feiern wir dann trinken wir bier essen pizza gehen zum table dancing es gibt nichts interessanteres und aufregenderes als gemeinsam träume zu verwirklichen das gebäude der commerzbank ist das einzige in dem man die fenster öffnen kann es hat keine klimaanlage sondern eine zweite glasfassade zwischen der äußeren und der inneren verglasung zirkuliert die luft so viele kämpfer zwischen den hängenden gärten nur der kreditvorstand ist nicht für umsturz sondern für restauration er wünscht sich daß die mutter reden würde und nicht die tochter die mutter ist groß und ruhig sie hat eine hohe stirn und volle lippen zu der besprechung in der bank trägt sie ein glencheckkostüm sie hat sich die haare hochgesteckt und ein tuch im selben muster wie das kostüm um den kopf gebunden wir wachsen mit unseren aufgaben meine mutter wächst jeden tag ich wachse jeden tag stine wächst jeden tag bär wächst jeden tag bär ist für die unternehmensplanung stine für den vertrieb zuständig es gibt keine grenzen die ideen werden uns nie ausgehen die produkte werden uns nie ausgehen die firma ist ein ungeheuer spannendes laboratorium der kreditvorstand soll die expansion der firma finanzieren er fühlt sich so unfruchtbar in einer aufwallung er könnte gar nicht angeben welchen gefühls wünscht er sich die ganze welt wäre unfruchtbar die wissenschaft die technik die wirtschaft alles würde stagnieren ein zeitalter würde anbrechen in dem es keine firmen mehr geben würde wie voigtländer keine eigentümerfamilien wie charlotte und ihre tochter ethel die bilanzen würden immer die gleichen 17
zahlen ausweisen die letzten veränderungen würden schon jahre zurückliegen es wäre nicht mehr erforderlich immer wieder neue produkte zu entwickeln zu konstruieren auf den markt zu bringen es wäre nicht mehr notwendig ständig geschäftsbereiche zu verkaufen geschäftsbereiche hinzuzukaufen neue geschäftsbereiche zu gründen es wären immer dieselben bilanzen mit immer denselben aktiva und passiva es wären immer dieselben gewinne und bei ganz wenigen immer dieselben verluste aber der kreditvorstand weiß diese vorstellung ist so unwahrscheinlich wie diejenige daß sich eine zerbrochene tasse mit inhalt von selbst wieder zusammensetzt und der inhalt wieder in der tasse ist der kreditvorstand will nicht daß es möglich ist einen vorgesetzten übergangslos durch einen untergebenen zu ersetzen und allen beziehungen zwischen den menschen preise zuzuordnen dabei ist das noch nicht einmal alles das halbierungsspiel besteht darin daß eine arbeitsgruppe einfach halbiert wird die hälfte der mitarbeiter wird aus der gruppe herausgenommen die anderen müssen zusammen die aufgaben erfüllen die vorher die ganze gruppe erledigt hat in den üblichen kostensenkungsprogrammen werden die arbeitsschritte untersucht und in notwendige und überflüssige eingeteilt das führt nur zu geringen einsparungen die leute werden erst einfallsreich wenn sie keine wahl mehr haben wird aus einer arbeitsgruppe von zehn leuten einer herausgenommen und die anderen neun müssen seine arbeit übernehmen ändern sie an der Struktur der arbeitsaufteilung nichts wenn fünf leute herausgenommen werden dann müssen alle ihre arbeit komplett neu organisieren in den abteilungen in denen wir mit dem halbierangsspiel begonnen haben gab es sensationelle ergebnisse in bestimmten endmontagegruppen konnte durch das halbierungsspiel sogar mehr als die hälfte der 18
personen eingespart werden die tochter ist dem kreditvorstand zu radikal er fragt wer diejenige ist die das preisspiel das tornadospiel das halbierungsspiel spielt er möchte sie auf keinen fall kennenlernen aber er glaubt daß sie authentischer ist als die stumme mutter mit der hohen stirn und die unausgesetzt redende tochter mit den breiten wangenknochen vielleicht wissen mutter und tochter daß sie nicht authentisch sind doch solange sie solche bilanzen vorlegen brauchen sie das auch nicht zu sein bär ist es die diese spiele spielt der kreditvorstand sucht trost darin im krieg kein krieger zu sein der posten des vorstandssprechers von voigtländer ist vakant die mutter muß einen neuen sprecher ernennen der kreditvorstand genehmigt die verdoppelung der kreditlinie unter der bedingung daß bär nicht sprecherin wird wir haben die fehlerrate von dreißigtausend fehlem pro eine million operationen auf zehntausend reduziert im nächsten jahr werden wir die fehlerhaften operationen auf tausend senken wir müssen die fehlerrate auf zehn pro eine million herunterbringen charlotte quittiert die zusage indem sie sich eine zigarette anzündet das hat der kreditvorstand nicht erwartet die königin raucht sie ist kräftig gebaut aber sie hat schlanke finger als sie die kaffeetasse in die hand nimmt und die zigarette nicht beiseite legt sondern die tasse mit dem daumen dem ringfinger und dem kleinen finger umschließt und die zigarette zwischen zeigefinger und mittelfinger hält krampft sich das herz des kreditvorstands zusammen das bankgebäude berührt mit seiner sendeantenne den himmel über frankfurt
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Drifter hat eine Vision: Stine wird was (You gotta fight for your right to party) Was bedeuteten bloß die Striche und die Farben auf dem Boden? Ä, Augenbrauen. Augen, so was. Vor dem Empfang: der Mund. Der rote Pfeil, der blaue Pfeil, der gelbe Pfeil: Stirnfalten! Superhell der Flash des Verstehens auf Bärs und Stines Mienen. Man mußte sich die Werbeagentur in Grünwald als ein großes Gesicht vorstellen. Wo waren Angel und Drifter? - Mit ein oder zwei Leuten, die an PCs arbeiteten, anderen, die leise telefonierend auf niedrigen Sofas saßen oder in den Ecken der Konstruktionen aus Plastik, Holz und Filz diskutierten und gestikulierten – ein Stuhl. Eine Arbeitsfläche. Ein Handy. Ein Laptop. KEIN PAPIER. Drifter drehte sich auf seinem Drehstuhl. Angel blätterte in dem neuen Katalog. Drifter erklärte Bär und Stine, jedes Foto sei anders aufgenommen, immer im Stil eines berühmten Modefotografen. Bär dachte, so was Ähnliches könnte man doch auch mit dem Text machen – die Kampagne sollte die Firma 20
darstellen, wie sie wirklich war. Stines Plan war unabdingbar. Die Menschen, die Produkte – das Arbeiten, das Feiern – aber wie war die Firma wirklich? Wie war die Firma. Es ging um Technik. Ach so. Ja, ja. Gut. Angel und Drifter wußten alles über die Firma, denn Drifter hatte die Kampagne entworfen und Angel trat darin auf. Angel und Drifter konnten die Zukunft der Firma vorhersagen. Die Kampagne sollte ja zeigen, wie die Firma wirklich war. Stine trug riesige schwarze Pumps mit verchromten Metallabsätzen, die wie geflochtene Zöpfe aussahen. Angel hatte noch nie solche Schuhe gesehen. Angel zu Stine: Stell dir vor, du wirst Sprecherin. Drifter zu Stine: Später wird dir die Firma gehören. Angel zu Bär: Dir wird nie eine Firma gehören. Aber deine Tochter wird – geil geil geil geil geil geil … Stine hatte vergessen, wie man spricht, sie bewegte sich mechanisch, sie spürte die Verbindung zwischen Angel und Drifter und zwischen sich und Angel und Drifter. Das Gefühl war so toll, daß sie jetzt ihre Zukunft wußte. Daß sie vorhergesagt war. Sie verstand nun die geheimsten 21
Sachen über sich. Niemals würde die Kaskade abreißen – niemals würden die Gedanken aufhören – der Augenblick der Gleichzeitigkeit – die Totale – der Geist allein.
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Der Hohe Ton – Bär beobachtet Eine Stunde oder eine Sekunde war vergangen, seit Bär und Stine die Werbeagentur verlassen hatten. Sie fuhren gemeinsam zurück ins Büro. Das Gesicht Bärs mit den weich über die Schultern fallenden blonden Haaren und der riesigen roten Sonnenbrille spiegelte sich in der Windschutzscheibe. Eigenartig, wie der Rauch der Zigarette Bärs Körper einhüllte. Bär hatte keinen Freund, sie wollte keinen, brauchte keinen. Manchmal ließ sie sich von Geschäftsfreunden einladen, doch war da kein Begehren oder Verlangen, das über die leichten Berührungen hinausgehen wollte, zu denen es zufällig kam. Versuchten die Männer, sich ihr auf die eine oder andere Weise zu nähern, empfand sie das als Mutwillen, oder noch schlimmer: Sie fühlte sich, als ob sie Gegenstand einer Wette wäre. Vielleicht hätte Bär noch einmal eine Beziehung zu einem Mann haben können. Aber es gelang ihr nicht, sich vorzustellen, wie das Einander-Befühlen, das EinanderBetasten, das Sich-aneinander-Reiben, das Sichaneinander-Pressen – wie alles das zuerst ein Erzählen sein konnte. Vielleicht wäre Bär noch einmal einem Mann in die Arme gefallen. Doch erst hätte sie alles erhellt, erst hätte sie alles geklärt. Was für ein Stolz dagegen, wenn sie die Restaurants, in denen sie bekannt war, mit ihrer Tochter aufsuchte! Sie nahm ihrer Tochter den Mantel ab und rückte ihr den Stuhl 23
zurecht, als sei sie der Herr und ihre Tochter die Dame, sie behandelte ihre Tochter, als ob sie ihre Geliebte wäre. Dabei wollte sie nichts anderes, als ihrer Tochter berichten. Ja, einfach nur berichten! Keine bemerkenswerten Geschehnisse, keine bedeutenden Ereignisse, sondern die schlichten Dinge, die täglichen Erlebnisse. Mit Zahlen konnte man doch keine Fabrik lenken. Viele Manager gingen niemals in die Fabrik, sie entdeckten die Möglichkeiten der Fabriken, denen sie vorstanden, nur durch Zufall, in beiläufigen Gesprächen. Bär lief jeden Tag und immer wieder durch die Fabrik – Bär beobachtete. War es ihr nicht möglich, zu ihrer Tochter zu sprechen, gab sie eine Beschreibung im stillen, an sich selber gerichtet – und wie sie schilderte und darstellte, ihrer Tochter oder sich selber, da war es gar nicht mehr sie, die beschrieb, sondern es war das Beobachten selbst, das sich mitteilte. Obwohl von Energien gespeist, die aus ihrem Innersten kamen, war das Beobachten etwas anderes als sie, es war kein Ich, kein Subjekt. Gerne hätte sie gesagt: »Das, was beobachtet, ist mehr als ich.« Bär beobachtete alles neu – am Anfang war sie sich vorgekommen wie eine Besucherin, die weder wußte, warum sie die Besichtigung unternahm, noch, was sie damit erreichen wollte. Der Fabrikleiter überhäufte sie mit Unterlagen, die sie nicht einmal durchblätterte. Statt dessen sprach Bär mit den Mitarbeitern vor Ort. Sie sagte ihnen, sie sollten sie jeden Tag behandeln, als sei sie noch nie dagewesen. Die Einteilung der Anlagen in rote, gelbe und grüne stellte eine einfache Art und Weise der Qualitätssteuerung dar. Die grünen Anlagen hielten immer die vorgeschriebenen Toleranzen ein, bei den gelben Anlagen gab es 24
manchmal Abweichungen, die Fertigungsqualität der roten Anlagen war grundsätzlich mangelhaft. Bär fiel in die Augen, wie viele Personen mit Nacharbeit an den roten Anlagen beschäftigt waren, und sie setzte durch, daß zuerst alle roten und darauf die Mehrheit der gelben Anlagen ersetzt wurden. Zwar bedeutete das hohe Investitionen, aber die Personalkosten sanken beträchtlich. – Jedoch galt es immer, der Versuchung zu vorschnellen Urteilen zu widerstehen. Neben jeder Anlage waren zwei Quadrate markiert, im einen wurden die Vormaterialien gelagert, im anderen das, was die Anlage erzeugte. Sobald eins der Quadrate voll war, stellte der Bediener die Anlage ab und teilte zusammen mit den Bedienern der vor- und nachgeordneten Anlagen die Arbeit neu ein. Dabei wiesen immer dieselben Bodenquadrate besonders viel oder besonders wenig Material auf. Um den Fertigungsfluß zu verstetigen, ließ Bär an einer Stelle die Bodenquadrate kleiner machen, damit an dieser Stelle weniger, an anderen Stellen mehr Material vorhanden wäre. Nur stellte sich heraus, daß die Fertigungslinie die Planzahlen nicht mehr erreichte. Die nachfolgenden Anlagen hatten kurze Prozeß- und lange Rüstzeiten, bei bestimmten Auftragsstrukturen wurde für diese Anlagen der Takt zu kurz, es war nicht genug Vormaterial verfügbar, um die vorhandenen Aufträge zu erfüllen, und das Umrüsten dauerte zu lange. Bär wollte das Beobachten weitergeben, anderen das vermitteln, was sie selbst erlebte. Aber es war gar nicht so einfach, das Beobachten zu lehren. Die anderen hatten vorgefaßte Urteile oder waren nur bereit, sich mit ganz bestimmten Fragestellungen auseinanderzusetzen. Und vor allem: Sie liefen nicht mit Bärs Augen durch die Fabrik. Wenn sie den anderen das Beobachten beibringen wollte, mußte Bär Fragen stellen – sie mußte Beobachtung 25
erzeugen. Sie verkündete, sich über etwas gefreut zu haben, und ihr Gegenüber mußte ausfüllen, worüber sie sich gefreut hatte. Sie behauptete, über etwas traurig gewesen zu sein oder sich über etwas geärgert zu haben, und ihr Gegenüber war gezwungen einzusetzen, worüber sie traurig war, worüber sie sich geärgert hatte. Gab derjenige, der beobachtet hatte, schließlich eine Schilderung, war es ein wenig so, als ob sie selber schilderte! Von hier bedeutete es nur noch einen kleinen Schritt hin zu den Spielen, zum Preisspiel, zum Tornadospiel, zum Halbierungsspiel. Nie sollte ihre Tochter das Erwartete hervorbringen. Bär berichtete ihrer Tochter, wie andere die Erwarteten waren. Bär spielte nicht mit ihrer Tochter, doch erlebte sie, wie ihre Tochter sich verwandelte, als sie sie über ihre Spiele auf dem laufenden hielt, wie ihre Tochter älter, reifer wurde – nicht, weil sie ihre Tochter belehrt hatte, weil sie ihrer Tochter etwas beigebracht hatte –, das Beobachten griff auf ihre Tochter über, Fleur wurde Teil des Beobachtens. Und spielte gleichfalls Spiele. Allein rauchte Bär nie, in Gesellschaft konnte sie jedoch nicht sein, ohne zu rauchen. Als sie gerade eine Zigarette unachtsam aus dem Fenster warf, meldete sich das Autotelefon. Stine schaltete die Freisprechanlage ein. Ihre Sekretärin las den Entwurf einer Presseerklärung vor, in der Charlotte mitteilte, daß sie Stine zur Vorstandssprecherin bestellte. Für einen Augenblick nahm Stine die Hände vom Steuer und wandte sich Bär zu: »Was, können die Werbefritzen tatsächlich die Zukunft voraussagen?« Beide mußten an die zweite Vorhersage denken, daß Stine die Firma gehören würde. Bär nahm wahr, wie Stines Brustkorb sich hob und 26
senkte, sie erkannte, daß für die andere ein kalter, scharf ausgeschnittener Traum begonnen hatte. Es gab Bär einen Stich, daß Stine ihr vorgezogen wurde – dabei hatte sie nie angestrebt, Sprecherin zu werden, geschweige denn Inhaberin. Sie dachte nicht daran, ihrer Tochter Eigentum zu hinterlassen: Ihr Erbe war das Beobachten. Und sie hatte schon lange damit begonnen, dieses Erbe zu übergeben. Stine wie Bär waren fünfundvierzig – ein Übergangsalter. Auch Charlotte war fünfundvierzig. Stine erzählte von ihrem ersten Arbeitstag bei Voigtländer. Der Pförtner sprach sie auf ihren Namen an, Christine Trendelenburg, ob sie eine Nachfahrin des Philosophen sei. Sie war es, aber außer einem Deutschlehrer in der Schule hatte sie nie jemand nach ihrem Vorfahren gefragt. Sie war so verblüfft, daß sie dem Pförtner keine Antwort gab. Der erklärte ihr, der Philosoph Trendelenburg sei Aristoteliker gewesen, ein mächtiger Hochschulpolitiker, und er habe beträchtlichen Einfluß auf Franz von Brentano ausgeübt, er sei weit über die deutschen Grenzen hinaus bekannt gewesen, bis nach Amerika, auch Charles Sanders Peirce zitiere ihn wiederholt. Der Pförtner konnte nicht wissen, daß er sie nun täglich sehen würde. Er grüßte sie jedesmal, als ob er nie mit ihr gesprochen hätte. Sie scheute davor zurück, sich zu erkundigen, warum er so gebildet war. Nichts an ihm gab einen Hinweis, einzig die Art und Weise, wie er grüßte, paßte zu seinem Wissen, er grüßte korrekt, aber niemals bemüht oder unterwürfig, einem Pförtner nicht unangemessen, dennoch so, als ob er sich auf der gleichen Stufe mit ihr befände. Bärs Ex-Mann, der Vater ihrer Tochter, hatte 27
Philosophie studiert. Er hatte einen Band mit Erzählungen veröffentlicht, die um einen Auszug aus seinem philosophischen Tagebuch gruppiert waren. Während die Schranke hochging und der Pförtner wie immer grüßte, begegneten sich die Blicke von Stine und Bär. Stine drang in den Blick Bärs ein. Als sie Bärs Widerstand leicht überwunden hatte, fand sie sich in einem unendlich viel größeren Raum wieder. Ihr wurde bewußt, wie lange Bär sich schon in diesem Raum aufhielt, so viele Male hatte sie diesen Raum durchmessen, daß es ihr in diesem Raum keiner gleichtun konnte. Da schämte Stine sich plötzlich, und sie dachte: Wenn es das Schicksal will, daß mir die Welt gehören soll, dann mag das Schicksal dafür sorgen, daß es ohne mein Zutun geschieht.
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Der ganz Hohe Ton … Charlotte liebt ihre neue Fabrik wie einen männlichen Nachkommen Für Charlotte war die Zeit in der Fabrik im Moos eine andere als außerhalb. Gesellte Charlotte sich den Menschen zu, vergingen die Stunden im Flug, sie konnte sie gar nicht beschreiben, mied sie die Menschen, zogen dieselben Stunden sich träge in die Länge. In der Fabrik dagegen machte es keinen Unterschied, ob sie die Menschen suchte oder ob sie für sich blieb, in der Fabrik ging die Zeit dahin, und unter einem stand sie still. Die Strecken, die man vom Bürogebäude zur eigentlichen Fabrik und vom mannlosen Lager zur Fabrik zurücklegte, waren soviel größer als die eigentliche Fabrik. Von Charlotte in einem Zug gebaut, wollte die Fabrik nicht nur einen Stil, nicht nur äußeres Ansehen, sie wollte Charakter haben. Die verschiedenen Bauten bekundeten eine prekäre Sicherheit, jeder Teil war synkopiert, ein separates Ereignis, jede Differenz willkommen, die Fabrik schien in einer sumptuösen Balance begriffen. Immer würde die Erinnerung an die Errichtung des Fabrikgebäudes in Charlottes Gedächtnis bleiben. Wie Spinnenbeine teilten die Stahlträger den Raum der zukünftigen Fabrikhalle ab. Neben dem Stahlskelett ragte ein Kran unendlich weit in die Höhe. Der Kran befahl den Stahlträgern, sich zu dehnen, sich zu biegen, sich an diesen und jenen Punkten miteinander zu verbinden, um schließlich ruhig zu warten, bis die Außenhaut sich über sie legen würde. Nein, diese Fabrik konnte nicht durchschnittlich 29
sein! Diese Fabrik würde niemals durchschnittlich sein … Wie soll man mit einer jungen Fabrik sprechen, die man in der Mitte seiner Jahre gebaut hat, seiner reifen Jahre sogar? … Was kann eine Fabrik mitteilen, in der noch kein Plan aufging, noch keiner gescheitert ist? … Die Fabrik war stumm, aber sie wollte reden. Dabei wußte die Fabrik immer schon alles, von dem Augenblick an, als sie fertiggestellt war. Die ersten Operationen der Fabrik waren auf eine Weise vollkommen, wie Charlotte es nie wieder erleben würde. Das hatte nichts zu tun mit den Fehlerraten, von denen ihre Tochter in der Bank sprach. Um durchschnittliche Kredite zu bekommen, mußte man durchschnittlich sein. Alle gaben an, sie seien überdurchschnittlich, damit wollten sie nur versichern, daß sie durchschnittlich waren. Begab man sich des Anspruchs, überdurchschnittlich zu sein, bedeutete dies Schwäche, Gleichgültigkeit, ein Vorzeichen wofür? Niemand glaubte einem, wenn man den anderen wirklich voraus war. Das rief nur Unruhe hervor, gab den Leuten einen Anlaß zum Nachdenken, das war nicht nur unnötig, sondern schädlich. Die Fabrik durfte nicht völlig anders sein als alle anderen Fabriken, sie mußte auch etwas Durchschnittliches haben. Sie konnte gar nichts mehr dazulernen, dennoch mußte Bär das Preisspiel, das Tornadospiel und jetzt das Halbierungsspiel mit ihr spielen. Um den äußeren Anschein zu wahren. Nichts war schöner, als die Fabrik von höchster Erwartung erregt zu sehen! Nichts konnte reiner sein als die Art, wie die Fabrik Menschen und Güter ansaugte und wie sie andere Menschen und andere Güter, bessere Menschen und bessere Güter zurückgab. Obwohl sie alles wußte und alles konnte, war die Fabrik nicht fertig gestimmt zur Welt gekommen: 30
Ihre Begabung zur Freude und zum Kummer wuchs unausgesetzt, täglich wurde sie feiner und gröber … Charlotte hatte immer nur eine Tochter gewollt, nie einen Sohn. Doch an die Fabrik mußte sie wie an den Bruder ihrer Tochter denken. Wenn sie einen Sohn geboren hatte, dann hatte ihn kein Mann gezeugt. Hätte ihn ein Mann gezeugt, wäre er noch ein Kind, aber ihr Sohn war gleich, sofort bei der Geburt erwachsen gewesen. Unter Beanspruchung schwankte er nicht, er blieb nicht zurück, er zeigte keine Müdigkeit. Er mußte nichts lernen, er wußte alles, nur konnte er es nicht ausdrücken. Deswegen war er so gierig, eine Geschichte zu erwerben. Mit einer Geschichte würde er auch sprechen können. Charakter war nicht Wissen, Charakter war Geschichte. Wurde die Fabrik erwähnt, gleich in welchem Zusammenhang, war es Charlotte immer, als ob andere ihren Sohn beim Namen riefen. Gerne wäre sie die einzige gewesen, die ihren Sohn bei seinem Namen nannte. Niemandem außer ihr sollte es zukommen, ihren Sohn beim Namen zu rufen. Aber sie hatte ihm ja den Namen nicht gegeben, und sie konnte ihm auch keinen neuen geben. Niemand durfte wissen, daß sie die Fabrik als ihren Sohn betrachtete. Wollte sie selbst es immer wissen? … Sie hatte ein schlechtes Gewissen gegenüber Ethel. Die Fabrik war stärker, wußte mehr, die Fabrik nahm einen so großen Raum in ihrem Leben ein. Sie verbrachte soviel Zeit mit ihrem Sohn, wie sie es mit ihrer Tochter nie tun konnte. Ethel hatte allen Grund, eifersüchtig zu sein … Sie, Charlotte, sollte sich hüten, Vergleiche anzustellen, doch manchmal bot es sich an: Die Fabrik gab gerne, die Fabrik teilte gerne, die Fabrik war freudig und liebenswürdig, die 31
Fabrik war gehorsam und aufmüpfig zugleich. Ethel war gehorsam, aber nicht aufmüpfig, oder aufmüpfig, aber nicht gehorsam, und nicht freudig. Die Fabrik war schöpferischer als Ethel. Kein Wunder, daß Bär und die Fabrik sich so gut verstanden. Bär hatte eine Tochter im selben Alter, vielleicht betrachtete sie die Fabrik auch wie einen Sohn? Dachte Charlotte an die Fabrik als ihren Sohn, bekam Stine in ihren Augen immer etwas Greisinnenhaftes. Obwohl nichts, wirklich nichts an ihr alt war. Stine hatte einen Freund, aber keine Kinder, deshalb konnte sie die Fabrik niemals so lieben, wie Charlotte sie liebte. Charlotte glaubte zu wissen, was sie dazu verführte, Stine für alt zu halten: Die Fabrik war neu, die Verbindungen, die die Fabrik zur Welt unterhielt, sie waren uralt. Stine konnte nur dann die Beherrscherin dieser Beziehungen sein, wenn sie so alt war wie sie. Aber vielleicht wollte Charlotte auch nur die junge und doch schon erwachsene Fabrik in einem einmaligen Recht sehen und machte deswegen Stine alt. Gewöhnlich waren die Menschen in der Produktion konzentriert, in den Büros, in den Labors. Oft fragte sich Charlotte, wie ihr Sohn es litt, daß die Menschen sich auch auf der überdachten Brücke zwischen dem Bürogebäude und der eigentlichen Fabrik aufhielten, oder in der Eingangshalle des Bürogebäudes, durch die Rundumverglasung konnte man die unten spitzen Betonkonusse sehen, auf denen das Bürogebäude ruhte. Charlotte hatte eine Sehnsucht nach Abwesenheit, die sie nicht verleugnen konnte. Zog ihr Sohn auch Abdrücke oder Schatten den Menschen vor? … Wie sollten sie ihn enttäuscht haben, die Menschen, während seiner kurzen Lebensspanne? … Schatten konnten ihren Sohn nicht betrügen und nicht verletzen, doch auch nicht umwerben 32
und liebkosen. Charlotte nahm sich vor, ihren Sohn nicht mit ihrem Sehnen zu belästigen. Warum sollte ihr Sohn die Abwesenheit suchen, wo er gerade auf die Welt gekommen war? … Nein, ihr Sohn wollte keine Abdrücke und keine Schatten, ihr Sohn brauchte das Flimmern wirklicher Menschen in seinem Gesichtsfeld! Im Sommer, als der kupferverkleidete Carport des Lagers die Fabrik wie eine Herdplatte aufheizte, stürzten die Menschen in den Pausen ins Freie, auf die asphaltierten Wege, die glänzten wie Schlangen in der Sonne. Weil die Hölle so unvorsichtig war, Vorschuß zu bezahlen, hatte der Architekt das kreissegmentförmige Bürogebäude mit den schilfgrünen, den honiggelben, den blutroten und den himmelblauen Fenstern an einem dunklen Zylinder aus Beton aufgehängt. Wenn die Hölle einmal die endgültige Abrechnung vornehmen würde, konnte der Büroteil noch lange um den Zylinder rotieren und der Erhitzung trotzen … Das Gebäude, das IT beherbergte, besaß die Form eines zur Hälfte in die Erde eingeschlagenen Keils. Mit Fenstern wie Schießscharten, man sah sie gar nicht von der Seite, berührte es den Kreis des Bürogebäudes wie eine Tangente. Wenn die Erde kochen würde, weil die andern Fabriken sie zerrieben, würde das Gehirn der Fabrik einfach auf der Oberfläche der Erde schwimmen … Die Fabrik brauchte keinen Hüter. Dennoch war Charlotte die Hüterin der Fabrik. Sollte sie begründen, warum sie das war, wollte sie nicht sagen, weil sie als einzige die Fabrik verstanden hatte. Auch Bär und Stine hatten die Fabrik verstanden. Sie drückten nur alles anders aus, aber auch sie wußten, wie Charlotte, daß die Fabrik ein Wesen war, das fühlte und dachte. 33
Stine bucht einen Ausflug mit Unfall für ihre Konfidentinnen Für Sie besteht die Zeit aus zwei Ebenen, auf der einen findet der Wechsel statt, die andere bleibt unverändert und erklärt den Wechsel. Doch, Sie sind gemeint! Sie können nur leben, wenn Sie zwischen Zeitlichem und Ewigem unterscheiden. Sie müssen davon ausgehen, daß sich im unmittelbar Gegebenen immer etwas Geistiges ausdrückt. Am besten natürlich unveränderliche Gesetze, wird Ihnen dieses Bewußtsein zuteil, genießen Sie einen erfüllten Urlaubstag im Universum, aber Prozesse, die Grenzwerten entgegenstreben, und Attraktoren reichen auch schon für ein paar schöne Stunden. Drifters Vision hat Stine aus dieser Zweiteilung der Zeit in den Wandel und das, was für ihn aufkommt, hinausgeworfen, in eine völlig andere Zeit, die Ruhe nur kennt als Anfangs- oder Endpunkt einer Bewegung. Ganz plötzlich, völlig zwecklos, ist die Zukunft da. Stine ist jetzt die Zeit, alles Sein ist für sie Werden. Angel und Dritter haben Stine an einen neuen Kreislauf des Handelns und Zuwiderhandelns angeschlossen, eine völlig andere Natur steht ihr zu Gebot, gänzlich fremdes Blut pulst durch ihren Körper. Stine ist die erste Frau, die sich hinstellt und alles haben will: Glamour, Sex und die eigene Firma. Charlotte ist nicht ein einziges Mal selbst aufgestanden. Man hat sie in die Schule gesteckt, jemand hat sie ins Consulting bugsiert, irgendwer hat ihr den Stempel Management aufgedrückt, und jetzt macht man eine Sondersendung mit ihr als Unternehmenslenkerin. Unmöglich, sie nicht zu lieben, alle müssen es ertragen. 34
Dabei will Charlotte tief in ihrem Inneren nichts anderes als depressiv, alt und fett sein, ihre dünne Tochter muß es ausbaden. Was für ein blödes Achtziger-Jahre-Konzept! Stine kommt auch nicht so schmallippig daher wie Bär, die Inkarnation der Tochter aus gutem Hause. Stine hat sich die Lippen aufspritzen lassen. Stine ist stolz darauf, daß sie nicht kochen kann, sie weiß nicht einmal, wie man die Küche saubermacht. Es gehört nicht zu ihren künstlerischen Zielen zu wissen, wie man Säuglinge wickelt. Handel und Verwandel haben an Christine Trendelenburg Gefallen gefunden! Das ist kein spontaner Einfall, ihr selbst erscheint dieses Wohlgefallen überfällig, sie wird dafür sorgen, daß die weiteren Karrieremöglichkeiten von Charlotte und Bär hinfällig werden. Sie werden in die Schlucht stürzen, mit aufgerissenen Augen und Mündern, mit verdrehten Gliedern. Was sie für ihr Berufsleben gehalten haben, war nur ein von Stine gebuchter Betriebsausflug. Weil sie die besten Plätze im Autobus erklommen haben, werden sie als erste auf den Talgrund zu spritzen. Stine sieht schon vor sich, wie vertraute Körperteile die Abhänge sprenkeln, geknickte Torsi, herausgerissene Gliedmaßen, überall quellen Körperflüssigkeiten. Als Dessert bestellt die Schlucht Köpfe mit zu Berge stehenden Haaren und Augen, bei denen man nur noch das Weiße sieht, als habe eine tiefe Aufregung von ihnen Besitz ergriffen. Keine Sorge! Stine ist mitgefahren, aber nicht mitgestürzt, sie bleibt unzerquetscht und unzerfetzt. Wie eine verspielte Hündin springt sie oben am Rand des Abgrunds hin und her, die Opfer weit umkreisend, schnappt sie in die Luft, legt ihre Pfoten hier- und dorthin, streckt hechelnd die Zunge heraus. Lacht sie? Die Fabrik, so klug und so schön sie ist, hat keinen Einfall, wie der Unfall zu vermeiden 35
wäre. Begreift sie denn nicht, wer sich ihrer bemächtigen will? Sie ist wohl zu sehr damit beschäftigt, die neue Kreditlinie zu strapazieren. Charlotte ist ein wenig arglos, ihr Sohn etwas naiv. Ein schimmernder Käfer auf hohen schnellen Beinen, denkt er nur daran, daß der Feind versuchen könnte, ein Stück von ihm abzubeißen. Niemand kann die Fabrik schlucken, in der Zeit, die der Gegner braucht, um den Mund aufzumachen, breitet sie sich schnurstracks in eine andere Richtung aus. Aber wenn da jemand kommt und mit einem Riesentritt den Käfer auf den Rücken wirft, der liegt dann auf seinem windschlüpfrigen Panzer, und die dünnen Beinchen radeln im Leerlauf? Ein Umfall nach dem Unfall. Angel und Drifter haben Stine Absichten wie Schüttgut vor die Füße geleert. Ja, ja, auf einmal sind diese Strebungen Stines tiefstes, begründetstes Wollen. Wir haben diese Wünsche doch gerade erst überwunden, indem wir die Erde mit Fabriken bedeckt haben, nicht so schön wie die Charlottes. Die großen Ideen sind Kleingeld geworden, die Dinge Menschenteile, die Menschen Gedankenfetzen. Wir konnten nicht klagen, auch ohne diese Wünsche haben wir gut gelebt. Jetzt sind sie wieder da, diese Wünsche, die zugehörigen Menschen werden noch gesucht. Wir müssen es ertragen, daß man den Wünschen die Menschen nimmt und gibt.
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egin ist groß und gut. er konzentriert sich aufs wesentliche ich bin wichtig, für mich und andere, ich habe ein großes ziel, ich treibe täglich sport und bin dabei frei, kraftvoll und selbstbewußt. mein auftreten ist sicher, begeisternd und überzeugend. ich spreche die menschen mit ihren namen an. wenn welche da sind. egin war stammkunde in dem geschäft und kannte alle verkäuferinnen, aber keine zeigte sich. die schwarzen schuhe standen auf displays aus weißem kunststoff, die aussahen wie an körperformen angepaßte sitzbänke. die roten, die gelben und die blauen schuhe waren an einer art fleischerhaken aufgereiht, die segeltuchschuhe in elementen mit bullaugen ausgestellt. entlang der wände hingen an galgen jacken und hosen, als seien es schutzanzüge. ein unlösbares problem, so ein geschäft in der maximilianstraße, hatte egin gedacht, scheiterte an der finanziellen grundausstattung. bis jetzt. angel hatte gesagt, daß stine sprecherin werden würde, und sie war sprecherin. drifter hatte gesagt, daß stine die firma gehören würde, er, egin, brauchte nur charlotte und ihrer verrückten tochter das projekt in magdeburg anzudrehen, es würde sie ruinieren. dann würde stine die firma gehören, und sie konnte sein geschäft in der maximilianstraße finanzieren. das war es. du weißt doch, wie sich die frauen an mich heranmachen, auf den knien rutschen sie zu mir und wollen mir einen blasen. das freut mich für dich, egin, nicht einmal von ihrem schreibtisch aufgeblickt hatte stine, aber ich glaube nicht, daß charlotte auf den knien rutschen wird. und vor dir schon gar nicht. aber ethel! schnappte egin, ich habe den bürotraum in leipzig, die gelegenheit in der fußgängerzone in weimar 37
und das palais in dresden an den mann gebracht. vergiß nicht den träum im grünen in halle. du wirst noch makler des jahres, lächelte stine. vom ledermann zur leitfigur. ich war nie ledermann! erregte sich egin, es war nur eins meiner kostüme. egins mutter war eine hoffnungslose alvin-lee-anhängerin gewesen, ihr leben bestand darin, jedes konzert von ten years after mitzumachen, ganz egal, wo auf der welt. sie gab egin schon lsd, als er acht jahre alt war. egin wechselte immer wieder die schule, jumpte von öffentlichen schulen auf privatinternate und zurück. half in london carlo little mit seinem würstchenstand vor dem wembley-stadion. in einem der internate hatte er angel und drifter kennengelernt, sie verschafften ihm ein engagement als male stripper. egin träumte davon, wie ein rockstar stage diving zu machen. sich kopfüber von der bühne in das publikum zu stürzen, in das auffangnetz tausender ausgebreiteter arme, tausende von händen würden ihn tragen, ihn an allen stellen seines körpers streicheln, eine menschenmenge würde ihn so liebkosen, wie es seine mutter nie getan hatte, egin trat mit angel und drifter in london bei stringfellows auf, stine verbrachte den abend mit geschäftsfreunden dort, angel und drifter stellten ihr egin vor. stine sah, daß egin mit seinem körper für alle gequälten körper dieser welt sprechen wollte, seine Stirn war gespalten, sein herz schlug nicht mehr, das licht um ihn erwärmte ihn nicht. stine war von ihm tief gerührt, sie begriff, daß sein leben einzig darin bestand, sich gegen die politik der lust seiner mutter zu wehren, gegen ihre glamouröse unmoral, gegen alvin lee und ten years after. egin konnte stine nicht überraschen. stine sprach ihn an, und seine stirn war wieder eins und nicht mehr gespalten, stine berührte ihn, und sein herz schlug wieder, ihr blick, von berstender helle, warf ihn um und hob ihn auf. ihr wille wurde sein schmerz, seine schäm ihre lust. niemals 38
hatte ihn jemand so sicher getroffen. es war die äußerste wendung, die sein leben nehmen konnte, plötzlich war er imstande, all das zu entziffern, was nicht seine mutter, was nicht alvin lee und ten years after war. wenn die sonne den morgen sieht, werde ich ethel soweit haben. ethel wird mir glauben, und charlotte wird mir glauben, weil ethel mir glaubt. stine hatte egins kalten körper warm gemacht, aus seinen augen flogen funken wie von einem feuerstein. ich will nicht nur ein geschäft, ich will eine ganze ladenkette. der weiße parka – eigentlich hatte egin nur die schwarzen wildlederschuhe kaufen wollen, entweder die niedrigen mit zwei schnürungen oder die halbhohen mit fünf schnürungen, auf keinen fall die hohen mit sieben schnürungen, aber zu dem weißen parka – die lederschuhe hatten orangefarbene, die segeltuchschuhe weiße gummisohlen. das helle segeltuch schien extrem empfindlich. inzwischen hütete die inhaberin des geschäfts die kasse. es war dienstag morgen, wahrscheinlich telefonierten die Verkäuferinnen, um einen termin beim frisör zu buchen. egin fragte, ob er den parka anprobieren könne, ich bin erfolgreich und selbstbewußt. meine stimme ist tief, fest und gefühlvoll, mein sprechen ist sicher, begeisternd und überzeugend. in dem weißen parka wird mein sprechen noch sicherer, noch begeisternder, noch überzeugender sein. ich nehme den weißen parka und die roten schuhe, mit den roten schuhen hat der weiße parka charisma. ich werde charlotte und ethel den vorbescheid und die kalkulation zeigen. dann fahre ich mit ethel nach magdeburg. in dem weißen parka und den roten schuhen. ich bin ein mensch, der probleme löst. ich liebe mich, und ich liebe die anderen.
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Charlotte streichelt Egin … Charlotte war ein Kleinstadtmädchen, sie hatte die Hotelfachschule besucht und nicht einmal davon geträumt, Karriere zu machen. Nach dem Einstieg als Vorstandsassistentin bei einem Hotelkonzern wechselte sie ins Consulting, zunächst beriet sie Hotels, bald übertrug man ihr auch Projekte aus anderen Bereichen. Rasch zur Partnerin gewählt, blieb sie jedoch nicht etwa Beraterin, sondern wurde Geschäftsführerin und Vorstand in verschiedenen Firmen aus verschiedenen Branchen, bevor sie von der zerstrittenen Familie Voigtländer das Unternehmen erwarb. Als sie aus ihrem Elternhaus auszog, weinte sie viel, aß wenig und schlief fast nicht. Ständig telefonierte sie mit ihren Eltern, ihr Vater bot ihr an, sie jederzeit abzuholen und nach Hause zu bringen, aber diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Nie hatte Charlotte eine Position angestrebt, immer wurde sie vorgeschlagen. Der Vorstand der Hotelkette, für den sie arbeitete, vermittelte ihr das Vorstellungsgespräch bei der Consultingfirma. Die Ernennung zur Partnerin überraschte sie völlig. Der Vorstandssprecher eines Konzerns, den sie beriet, drängte sie dazu, die Geschäftsführung eines Tochterunternehmens zu übernehmen. Der Aufsichtsratsvorsitzende eines anderen Konzerns unterbreitete ihr ein Angebot für einen Vorstandsposten, das sie nicht ablehnen konnte. Ein Personalberater machte sie auf die führungslose Firma Voigtländer aufmerksam und arbeitete den Übernahmeplan aus. Als der Banker die Erhöhung der Kreditlinie bewilligt 40
hatte, war Charlotte zumute gewesen, als sei sie nach einem Grubenunglück aus dem Bergwerk gerettet worden. Alles, was nach dem Besuch in der Bank stattfand, war noch Teil der Rettung, am liebsten hätte sie überhaupt nichts mehr gesagt, tagelang geschwiegen vor ihrer Tochter, vor Bär, vor Stine, vor sich selbst, aus Ehrfurcht gegenüber dem Schicksal, das sie gerettet hatte. Aber sie konnte doch nicht zu ihren Rettern schweigen! Dabei war Charlotte nie verschüttet gewesen. Egin bewunderte Charlotte, sie strahlte eine nervöse Ruhe aus, die er bei keiner anderen Frau erlebt hatte. Charlotte wußte, daß sie schön war, doch konnte sie sich nicht durchringen, zu klären, was es wirklich bedeutete, daß sie schön war. Am Anfang ihrer Karriere hatte sie die Empfindung, sie würde ihre Schönheit verpfänden: Von der Beraterin erwartete man, daß ihre Schönheit die Konzepte, die sie erarbeitete, imprägnierte, als Managerin sollte ihre Erscheinung Businesspläne und Zukunftsprojektionen beglaubigen. Der Gedanke war ihr unerträglich, sie mußte einen Trick anwenden, um den Verstand zu behalten: Sie stellte sich vor, sie sei eine Außerirdische. Und daß sie verrückt sei. Sie brauchte sich nicht darum zu scheren, was die Menschen von ihr dachten, denn sie war ein Monster. Die Erinnerungen an ihre Kindheit, an ihre Jugend, an die Hotelfachschule, all das waren nur eingepflanzte Erinnerungen. In Wirklichkeit war sie erst wenige Wochen alt, aus einem Keim mit unglaublicher Schnelligkeit zu etwas herangewachsen, das so aussah wie ein Mensch, das sich so verhielt wie ein Mensch, das alle Kriterien des Menschlichen erfüllte und dennoch kein Mensch war … Wenn Charlotte mit Stine sprach, glaubte sie immer, zugleich mit Egin zu sprechen, und wenn sie mit Egin sprach, glaubte sie, mit Stine zu sprechen. Stine und Egin 41
schienen ihr von einem dichten, reißfesten Gewebe umschlossen zu sein, das keinen von beiden jemals allein preisgab. Dabei existierte gar kein Grund, warum Egin und Stine sich gegen sie, Charlotte, schützen sollten. Sie, Charlotte, hatte keinen Mann, aber das hieß nicht, daß sie deshalb für die Männer anderer Frauen eine Gefahr darstellte. Vielmehr war Egin gefährlich für die Frauen anderer Männer, und Stine wußte das. Mit allem, was sie im Verlauf ihrer Karriere gemacht hatte, habe sie etwas über sich selbst herausgefunden, erzählte Charlotte Egin. Aber noch nie habe sie soviel und soviel Wichtiges über sich selbst erfahren wie zu der Zeit, als sie mit Stine und Bär die neue Fabrik gebaut habe. Sie komme nicht aus dem Staunen heraus über die Fabrik. So schön sei sie, so kraftvoll, daß man mir ihr ringen, mit ihr kämpfen mochte … Charlottes Anschein war perfekt für alle, außer für Egin, der Lust hatte am Betrügen. Die Frau, die hier sprach, zeigte sich der alltäglichen Durchtriebenheit müde. Egin nahm jeden Zwischenton wahr, und er verfügte über die Gabe, Ungesagtes höher zu bewerten als Gesagtes. Er hörte das Geständnis hinter dem Geplapper und die Rede hinter dem Schweigen. La concretezza del virtuale. In dem Haus aus bläulich schimmerndem Beton am Isarhang, neben Egin gab es noch einen anderen Besucher, den dunkelroten Abendhimmel, hatte Egin keine Beraterin, keinen Vorstand, keine Gesellschafterin vor sich, eine kleine Angestellte sprach zu ihm, unablässig gestreßt, schnell verärgert, verunsichert, verängstigt und sich im Stich gelassen fühlend. Nichts geht vorwärts. Ich weiß ganz genau, was ich tun müßte. Man hat mir diesen riesigen Berg Arbeit vorgesetzt. Ich kann mich nicht aufraffen. Ich fange an, und ich komme nicht weiter. Nur 42
ich kann diesen Berg Arbeit abtragen, niemand sonst. Aber alles ist so schwierig. Für jede Entscheidung gibt es ein Für und ein Wider. Ich komme einfach nicht voran. Charlotte kannte sich selbst kaum, Egin kannte sie besser. Nie fragte man, ob sie ihre Aufgabe erledigt hatte, sondern man half ihr auf die nächste Sprosse der Karriereleiter und stellte ihr dort eine andere Aufgabe. Hatte sie jemals ein Problem gelöst? … Das spielte gar keine Rolle, denn alle verhielten sich so, als habe sie das Problem gelöst. Wenn sie es nicht gelöst hatte, warum gab man ihr dann ein wichtigeres Problem auf? … Aber jetzt war keine wichtigere Aufgabe mehr denkbar. Es gab keine Steigerung mehr, sie befand sich auf der obersten Sprosse der Leiter: Der Erfolg oder der Mißerfolg war allein ihrer. Egin glaubte ihr, wenn sie ihm gestand, sie empfinde es als einen Frevel, nicht alles nach der Fabrik zu benennen, nicht alles mit ihr auszukosten … Ihre Erscheinung verkörperte eine Welt, in der es keine Besorgnisse, keine Ängste, keine Verzweiflung gab, weil es die nicht geben durfte. Nur die Art, wie sie ihre unendlich langen Finger spreizte, drückte Hilflosigkeit aus, Jammer und Wut. Etwas in Charlotte sah alles, was sie tat, als Opfer, das niemals abgegolten war, dem niemals Gerechtigkeit widerfuhr, das niemals auch nur Beachtung fand. Stine und Egin, sie konnten auf dieses Gefühl von Unzulänglichkeit, von Ungenügen und von Schuld bauen, denn dieses Gefühl war unkorrumpierbar. »Meine Projekte sind sexy, gewalttätig und cool.« Neubau betreutes Wohnen und Seniorenpflege mit Arztpraxen, Verkaufsflächen, Dienstleistungen für den täglichen Bedarf und Tiefgaragen. Grundstücksgröße 43
11158 m2, bebaute Fläche (GRZ 0,40) 4482, m2, Geschoßflächen (GFZ 1,59) 17748 m2, Bruttorauminhalt 74876 m3, Tiefgarage, Keller 19478 m3, EG Dienstleistungen und Praxen 16808 m3, erstes bis fünftes OG, Pflege und Wohnen 38590 m3, Nutzflächen netto: Dienstleistungen EG 796 m2, Arztpraxen, Apotheke EG 4466 m2, Pflegebereich 1. OG 44 Doppelzimmer 964 m2, Küche UG 800 m2, Infrastruktur und Nebenräume 1. OG 1026 m2, Pflegebereich 2. OG 54 Doppelzimmer 1188 m2, Infrastruktur und Nebenräume z. OG 602 m2, Seniorenwohnen 3. OG 32 Einzimmerappartements und 4 Doppelzimmerappartements 1580 m2, Seniorenwohnen 4. OG 32 Einzimmer-appartements und 4 Doppelzimmerappartements 1580 m2, Seniorenwohnen 5. OG 28 Einzimmerappartements und 4 Doppelzimmerappartements 1306 m2, Summe 12308 m2. Kein Hochglanzprospekt, kein Expose. Das hieße ja, man hätte es nötig … Nur ein Blatt des Architekten mit den Projektdaten, ein Bauplan mit den Ansichten der Vorderfassade und den Grundrissen der Stockwerke sowie von drei Musterzimmern, Pflegezimmer, Einzimmerappartement, Doppelzimmerappartement. Eine Baubeschreibung. Baupläne und Baubeschreibung entsprechen dem genehmigten Antrag auf Vorbescheid. Und eine Excel-Datei. Gesamtkalkulation Investition Kosten und Mieterträge. Grundstück. Grundstückspreis, Makler, Notar, Grundbuch, Rechtsberatung, Grunderwerbsteuer, Zwischenfinanzierung zwei Jahre DM 5619600. Abbruch, Vorbereitung. Abbruch, Garagen, Entrümpelung Freigelände, Unvorhergesehenes, Zwischenfinanzierung DM 233078. Erschließung, Hausanschlüsse. Öffentliche Erschließung, Anschlußbeiträge, Zwischenfinanzierung DM 1561930. Gebäudekosten. Baukosten betreutes 44
Wohnen und Pflegeheim, Baunebenkosten, Zwischenfinanzierung DM 21164100. Preopening-Kosten, eine Jahresmiete Pflegeheim, DM 2102400. Einrichtungskostenzuschuß DM 3840000. Gesamtkosten Seniorenwohnheim, Pflegeheim DM 27900154. Mietkalkulation. Pflege 192 Betten, DM 30 pro Tag, DM 2102400 pro Jahr. Wohnen 4736 m2, DM 25 pro m2 pro Monat, DM 1420800 pro Jahr. Baukosten Arztpraxen, Baunebenkosten, Zwischenfinanzierung DM 4446742. Mietkalkulation Ärztehaus. 2126 m2, DM 20 pro m2 pro Monat, DM 510240 pro Jahr. Baukosten Läden und Passage, Eingang EG, Baunebenkosten, Zwischenfinanzierung DM 2197342.. Mietkalkulation Läden. 1220 m2, DM 40 pro m2 pro Monat, DM 585600 pro Jahr. Bau- und Baunebenkosten Tiefgarage, Keller, Küche UG, Zwischenfinanzierung DM 4331646. Mietkalkulation Tiefgarage und Keller. Gesamtmiete Tiefgarage und Keller DM 232128 pro Jahr. Gesamtkosten Außenanlagen DM 376880. Gesamtinvestitionskosten einschließlich Mehrwertsteuer DM 50532060. Gesamtmieteinnahmen pro Jahr DM 4851168. Bruttorendite 9,60 %. Die Abschreibungsmöglichkeiten nur beiläufig erwähnen. Egin würde sein Geschäft in der Maximilianstraße bekommen, wenn Charlotte sich auf das Projekt einließ … Charlotte war mutlos und verzagt, sofort war Mißtrauen in ihr aufgestiegen. Doch durfte sie sich keine Blöße geben. Alle erwarteten von ihr, daß sie sich ehrgeizig und karrieresüchtig zeigte. Das war das Verführerische an Egins Vorschlag: Er bot die Möglichkeit, eine weitere 45
Sprosse der Leiter zu nehmen. Diesmal würde sie nicht mehr befördert werden, diesmal würde sie sich selbst befördern. Charlotte setzte sich hinter Egin auf den Rand des Sofas und streichelte sein Haar. »Keine Zeit für eine neue Freundin?« Sie drehte seinen Kopf zu sich hin und blickte ihm in die Augen. »Frauen bleiben mein kleines Problem …« Charlotte stellte sich vor, Egin sei unendlich viel älter als sie, die sie sich erst seit ein paar Wochen auf der Erde aufhielt. Egin entzog sich Charlotte, er fragte sie: »Wo würdest du jetzt, in dieser Sekunde, gerne sein?« Charlotte zündete sich eine Zigarette an und stellte sich aufrecht vor die auf dem Boden ausgebreiteten Baupläne. »Jetzt, in dieser Sekunde, würde ich gerne eine Expedition zum Nordpol machen.« »Mit wem würdest du zum Nordpol wandern?« wollte Egin wissen. Charlotte öffnete die raumhohen Fenster, um das Haus für die Stille zugänglich zu machen, die zwischen dem hohen Gras am Hang über dem Haus wartete. Sie hoffte, daß die Stille sich zu ihr und Egin hinbegeben würde. Egin schoß der Gedanke durch den Kopf, alle diejenigen, die Charlotte sich als Expeditionspartner vorstellte, könnten vielleicht schon tot sein. Charlotte verschränkte die Arme im Schoß, die Zigarette zwischen dem Zeige- und dem Mittelfinger der linken Hand. Glühende Asche fiel auf den Boden, ein leichter Luftzug wehte sie auf den Bauplan. 46
ethel küßt egin es hatte mit egins abschiedsvorstellung im kunstpark angefangen egin holte ethel auf die bühne er hätte doch zwanzig andere frauen auf die bühne holen können warum gerade ethel sie verstanden sich sofort er nahm sie in die garderobe mit und stellte sie den anderen vor mehr war erst nicht nicht mal ein kuß natürlich hat’s da gefunkt aber egin absolut anständig und ethel kein groupie in der werbeagentur sahen sie sich wieder ethel besprach einen katalog für die firma egin ließ sich eine mailingaktion für seine projekte entwerfen sie gingen zusammen essen egin hatte charlotte versprochen daß er auf ethel aufpassen würde sie redeten stundenlang ethel war die zukunftsministerin der firma sie verfaßte gerade ein visionspapier preisdruck globalisierung die branche voll im umbruch es genügt doch nicht daß man eine fabrik hinstellt einweiht und fertig die leistungsfähigsten strategien konnten ihr und ihrer mutter gerade gut genug sein ethel hatte gerade ein interview für das manager magazin gegeben sie suchte antworten für das neue jahrtausend danach kam sie nicht nach hause sie übernachtete bei egin frage du hast doch nichts mit ihm gehabt antwort da noch nicht ich war total machtlos gegen ihn egin und ethel gehen durch den garten zu ethels atelier alle geschäftsleute sind künstler sie brauchen keine büros ihre begriffe und gedanken wollen künstlerischen verkehr haben das atelier und das wohnhaus waren von innen nach außen gezeichnet nach monatelanger planung hatten die architekten immer noch nicht gewußt wie sie die räume von der umweit abtrennen sollten wie die baukörper aussehen würden ein strahier wirft die schatten von egin und ethel auf die glatte 47
betonwand des ateliers ethel schwingt mit den hüften als ob sie auf dem catwalk ginge ihre wangenknochen klingen es ist ihr egal daß er mehr als doppelt so alt ist wie sie daß er stines mann ist daß er der freund ihrer mutter sein könnte sie steht auf reifere männer sie findet ihn so anziehend er hat so eine wahnsinnsausstrahlung er bewegt sich so anders als andere männer es hat nichts mit dem tanzen zu tun er könnte im rollstuhl sitzen und wäre immer noch hundertmal interessanter als alle anderen männer ihres alters vielleicht fehlte ihr einfach der vater über den ihre mutter nie sprach jetzt als sie an der seite von egin ihr atelier betritt trennt sie sich von ihrem freund ihr freund hat pech gehabt das war’s sowieso nicht mehr die wangenknochen beschallen den ganzen raum noch mehr schlagen die hüften aus gut daß die mutter es akzeptiert hat daß sie sich um das projekt in magdeburg kümmert denkt ethel wie zwei doggen hecheln sie seinem projekt hinterher denkt egin stine denkt stimmt es daß ethel und egin schnitt ich weiß nicht was eine geschäftsfrau ist was ich oder meine mutter sind wir erfinden uns neu jede zeit hat ihre eigenen bedürfnisse ihre eigenen zweckmäßigkeiten jede zeit bringt eine neue art von geschäftsfrau hervor die früheren geschäftsfrauen sind metaphern für mich nicht mehr wenn ethel wußte was geschäft oder strategie waren dann bezeichnete das atelier die illusion darüber was sie wußte egin ist so charmant und so lieb er weiß soviel er weiß ganz genau wie der ärztemix aussehen muß die knarzenden treppenhäuser die abblätternden wände die pochenden dampfheizungen bohren riesenlöcher in das soziale ansehen der herren doktoren die praxen und die laden kann man im pyjama vermieten der betreiber des pflegeheims mietet das gebäude für fünfundzwanzig jahre an fünfundzwanzig jahre das müßte man groß schreiben fünfundzwanzig jahre das müßte man gesperrt schreiben 48
das müßte man allen schreiben den banken den baufirmen den ärzten werden die patienten fünfundzwanzig jahre nicht ausgehen den internisten den röntgenologen den psychiatern den geriatern den urologen den proktologen fünfundzwanzig jahre lang werden die künden in die laden strömen der betreiber ist übrigens der branchenführer fünfundzwanzig jahre das ist länger als eine gewöhnliche ehe aber viel sicherer als eine gewöhnliche ehe fünfundzwanzig jahre ist eine generation fünfundzwanzig jahre ruft egin es ist zum durchdrehen der vorbescheid da nur unbedeutende änderungen an den plänen die gleiche baulinie wie die nachbargebäude zwei durchfahrten man muß um das gebäude herumfahren können breitere treppen die tiefgarage größer das sind die träume die sie miteinander spinnen in diesem moment meint es egin auch so noch macht der kopist keine fehler egin ist glücklich und ethel ist sehr glücklich sie küßt ihn und sie machen richtige plane stimmt es daß er sie heiraten will sie will seine ehe nicht zerstören er ist gar nicht verheiratet doch das sagt er nicht er sagt da gibt es nichts zu zerstören er wird sie heiraten auch wenn alle welt sich aufregen wird ist es zufall ist es kunst sind sie banal oder genial egin soll entscheiden er könnte zündkerzen oder nackte raucherinnen oder zahnoperationen fotografieren oder ein gewaltverbrechen begehen aber er ist für den fünfundzwanzigjährigen mietvertrag egin wünscht ethel hätte ein weißes bärenfell in ihrem atelier sie hätte nur weiße Lackstiefel an und sie würde ihn auf dem weißen bärenfell empfangen ethels atelier ist jetzt ein uhrwerk und die uhr zeigt fünfundzwanzig jahre an wind regen maiandacht litanei eishockey fußball gasthaus begräbnis stall schlafzimmer tauben funk kriegslärm maschinengewehr bomben tieffliegende kampfhubschrauber fremdsprachen kosmisches hintergrundrauschen dicke bertha blasmusik sirenen 49
nebelhörner alphörner hundert glocken böller regen stall luststöhnen balsampappeln friedhofsruhe abkoten furzen zirpen heimchen vögel schneeschmelze viele sänger schrei kreissaal weinen bienen hörbilder feldgrillen urin kalk schweigen ruhe nach dem schneefall konzertsaal wind wind wind und sie waren ein richtiges liebespaar mit allem drum und dran
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Stine hat das Gefühl, ohne einen einzigen Boxenstop mit immer neuen Rekordrunden zu altern Spricht Stine mit Egin über Ethel, kommt sie sich jedesmal vor wie eine ganze Armee von Sittenwächtern. Dabei präsentiert ihr Egin nur die Aufstellung der Unkosten. Jede Geste von ihr wird mißverstanden, keine Regung bleibt übrig, die sich nicht grell in Egins Bewußtsein bohrt. Kannst du ein wenig auf mich aufpassen, damit ich nicht verlorengehe. Sie kann doch nicht gar keine Miene machen! Trotzdem. Als Egin ihr wahrheitsgemäß von seinen Fortschritten bei Ethel berichtet, sagt sie, wie entzückend doch so ein Hausfrauendasein für ein junges Mädchen sein kann, das mit einem älteren Mann verheiratet ist, lieber würde sie als Sträfling in Ketten liegen, und sie verspürt den Antrieb, sich zwischen die Beine zu greifen. Sie tut es nicht, sie will Egin nicht irritieren, für Egin ist Stine Gott, denn sie hat ihn geschaffen. Sie erkannte sofort, da war ein Feuer in ihm, das die Drogen nicht ausgelöscht hatten, ein Eifer, ohne Ziel und ohne Verbindung zu irgend etwas in der Welt. Nach dem Stringfellows sah sie ihn auf einer Cocktailparty wieder. Er lag unter einer Hecke, halb in der Wiese, halb in der Erde, er schien nicht zu atmen. Stine erschrak und hielt ihn für tot. Als sie sich zu ihm hinunterbeugte, schlug er die Augen auf. Alles hat Stine Egin eingehaucht: daß er keine Drogen mehr nimmt, daß ihn das Geld interessiert, daß sie ihn interessiert. Seine Heimat war das Nichts, aber das Nichts kann ihm nicht mehr passieren. Der Rucksack ist jetzt von Prada und nicht mehr von Eastpak. In der 51
Kalkulation für Magdeburg sind alle denkbaren Bosheiten zusammengepfercht, Charlotte kann es sich leisten, viel Geld zu verlieren, aber nicht so viel. O je, Egin greift mit riesigen Torwarthandschuhen nach Charlottes Schatz. Ein Gewitter wird aufziehen, es wird bei einem Blitz bleiben, in seinem Licht kann Charlotte sehen, wie die verschiedenen Äste, die ihre möglichen Wege in die Zukunft darstellen, zerhäckselt werden, bis nur noch kurze Stummel bleiben. Angel und Drifter haben Stine in eine Zeit hineingeworfen, die nicht mehr zwischen sich und ihrem Inhalt unterscheidet, Stine kann nicht mehr neben die Historie treten und alternative Szenarien durchspielen. Nichts hindert sie jedoch, beliebig viele zusätzliche Schleusen zu öffnen, damit der Fluß, der sie davonträgt, noch schneller fließt. Wofür würden Sie sich entscheiden, wenn Sie vor die Wahl gestellt wären, Geld oder Macht? Charlotte hat sich für die Macht entschieden, Stine will das Geld. Weil man sie immer zur Macht hinschob, übersieht Charlotte die Möglichkeiten des Geldes. Stine übt auch gerne Macht aus, nur muß gewährleistet sein, daß sie die Macht wirklich und unbeschränkt innehält, diese Sicherheit kann ihr allein das Geld geben. Stine geht nie in die Sonne, damit ihre Haut nicht frühzeitig altert, sie schminkt sich weiß, als Schutz gegen das Tageslicht. Zum Lesen braucht sie eine Brille, aber die setzt sie nur ungern auf, weil man dann ihre graue Pupillen nicht mehr sieht, die so gut zu ihrer weiß geschminkten Haut passen. Sitzungsvorlagen läßt sie sich in Großdruck erstellen, sonst liest sie nur, wenn sie alleine ist. Sie meidet schwere Mahlzeiten, sie ißt keine Hamburger und trinkt kein Bier. Sie macht jeden Tag eine halbe Stunde Gymnastik vor dem Spiegel. Charlotte hat eine Tochter und die Perspektive, sich mit fünfzig vielleicht um Enkelkinder zu kümmern, Stine hat Egin und Angst davor, mit fünfzig 52
nicht mehr sexy zu sein. Charlotte treibt keinen Sport, sie achtet nicht auf ihre Ernährung, dennoch sieht sie toll aus, wenn sie aus dem Pool auftaucht. Früher sind Charlotte und Stine oft zusammen gereist, sie nahmen immer ein Doppelzimmer. Bei jeder anderen nackten Frau hätte die Zigarette Unruhe und Unaufgeräumtheit signalisiert, aber die nackte Charlotte mit der Zigarette war so überlegen, so majestätisch, daß Stine sich abwenden mußte. Gott sieht Stine nur, weil er allsehend ist, aber in der Ewigkeit widmet er sich Charlotte. Stine sagt zu Egin, sie sollten es sein lassen. Sie zweifelt, ob sie die ist, für die sie sich gehalten hat. Egin ist Stines wesenhaftes Glück zur Gewohnheit geworden, er kommt gar nicht auf den Gedanken, Charlotte könnte unter Pseudonym siegen. Egin läßt sich von dem plötzlichen Auflauf von Gewissensbissen nicht beeindrucken, und er ist auch nicht bereit, den Sponsor für die Entscheidungskämpfe zwischen Argumenten und Gegenargumenten zu spielen. Also gut, Stine behaupte immer von sich, daß sie kindlich und zielstrebig zugleich sei. Wenn sie glaube, daß sie nicht schaffen würden, was sie sich vorgenommen haben, solle sie sich doch gleich in die Badewanne legen und ihre Gummiente im Blut ihrer aufgeschnittenen Pulsadern schwimmen lassen. Stine hat mit Egin einen Klon von sich selbst erzeugt, aber der Klon hat nicht die Narben, die sie sich seither zugezogen hat, und vor allem nicht diejenigen, die sie sich noch zuziehen wird. Stine hat gewußt, daß sie einen Preis bezahlen muß. Weil sie gegen die anderen lebt, weil sie jedoch nicht völlig anders leben kann als die anderen, muß sie deren Handlungen und Verständigungen zumindest als Reflexe immer mitvollziehen. Was bezwecken Stines großporige Gewissensbisse? Das Gewissen als ein 53
chimärischer Vertreter des Überzeitlichen, der Statthalter des Statthalters für das Ewige – alles, nur kein Designer von windschnittigen Kleidungsstücken für das rasende Dasein. Klopft hier die einzig mögliche Rebellion an? Es scheint, nur das Gewissen kann Stine noch aus der Zeit herausziehen, in die sie Angel und Drifter geworfen haben. Oder ist Stines Angst vor dem Älterwerden einfach stärker als alles andere? Und wenn sie zu Egin sagt, was wäre, wenn es uns mißlänge, wird sie für einen Augenblick wieder ganz jung?
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Cool killer I. Rückblick auf einen kostspieligen Takeover Stephan-Hermlin-Straße, ein Klasse-Objekt! Hätte man dreimal verkaufen können. Hermann-Kant-Straße, da kann ich nur gratulieren. Wem? Mir selbst natürlich. War am nächsten Tag weg. Dieter-Noll-Straße, eine Perle, fünf Prozent Provision vom Käufer und noch mal soviel Innenprovision. Und erst das Eckhaus Christa-WolfStraße, habe ich für dreihundertfünfzig gekauft und für achthundertfünfzig verkauft. War kein Risiko. Ich riskiere nämlich nichts, Risiken sollen die anderen eingehen. Der alte Herr wollte unbedingt sofort verkaufen, hatte aber keine Ahnung von den Marktpreisen. Früher war mir oft schlecht, ich weiß auch nicht, warum. Konnte ich dann kotzen, fühlte ich mich sofort besser. Jeden Morgen habe ich mich gewogen. Ich habe immer gedacht, ich bin zu dick. Dabei war ich nie zu dick, das war ein Fimmel. Vom Essensgeruch bekam ich schon Bauchkrämpfe. Ich habe fast nichts mehr gegessen, aber ich fand mich immer noch zu dick. Ich weiß, ich hätte lieber Sport treiben sollen, doch ich konnte mich nie aufraffen. Ich bin und bleibe nun mal völlig unsportlich. Als der Osten aufgemacht wurde, hat mein Leben irgendwie einen Sinn bekommen. Seit es die DDR nicht mehr gibt, bin ich eine Persönlichkeit. Mir ist nie mehr schlecht. Ich wiege mich auch nicht mehr. Jetzt bin ich wirklich zu dick, aber ich kann damit leben. Früher habe ich immer Angst gehabt, ich bin nie draufgekommen, wovor. Jetzt habe ich keine Angst mehr, auch nicht in der Flaute. Die Zeiten sind vorbei, in denen einem die Kunden jeden Dreck aus der Hand gerissen haben. So konnte es ja 55
nicht weitergehen. Eine Anlage fürs Leben. Ihre Kollegen werden’s nicht glauben, Ihre Freunde werden Sie beneiden. In drei Jahren bietet man Ihnen das Doppelte. Wer weiß, vielleicht mache ich Ihnen sogar selber ein Angebot, ich habe schon oft zurückgekauft. Habe ich nie, sagt sich aber gut. Ich habe überhaupt nie viel gekauft, das macht nur Streß. Jetzt kaufe ich bestimmt nichts mehr. Anfang der neunziger Jahre hat man nur Sonderabschreibung gesagt, und weg war der Schrott. Zur Jahrtausendwende heißt das Zauberwort Rendite. Ist eine Frage der Rechnerei, man kann alles hinrechnen. Seit mir nicht mehr schlecht ist, bin ich immer müde. Am liebsten sitze ich in der Küche und gucke auf den Hinterhof. Wer was für Wäsche aufhängt, wer welchen Keller ausräumt. Wer in den Häusern gegenüber auf dem Balkon sitzt. Der müde Makler. Morgens bin ich immer schon ganz früh wach. Dann liege ich da und gucke an die Decke. Wie sich das Morgenlicht an der Decke abzeichnet. Wenn meine Frau merkt, daß ich wach bin, greift sie manchmal nach mir. Sie meint wohl, daß ich immer nur an die Decke gucke, damit ich sie nicht ansehen muß, aber das stimmt gar nicht. Bis jetzt habe ich nie sagen müssen, lieber Gott, mach, daß noch was kommt. Es genügt ja, wenn man weiß, daß man sich seine Wünsche erfüllen kann. Von meiner ersten Provision habe ich mir eine Modelleisenbahn gekauft. Als Kind hätte ich immer gerne eine Modelleisenbahn gehabt. Ich habe mir Gleise, Züge und Bausätze für mehrere Dörfer besorgt. Es dauerte ewig, bis der Bahnhof fertig war, das wurde mir einfach zuviel Arbeit. Ich habe die Gleise zusammengesteckt, den Bahnhof danebengestellt und ein paar Bäume und ein paar Leute und bin ein 56
paarmal mit der Eisenbahn gefahren. Das war’s. Seither habe ich sie nicht mehr angefaßt, sie steht immer noch im Keller. Basteltyp bin ich auch keiner. Ich bin ein glücklicher Mensch. Auch wenn ich vielleicht nicht so aussehe. Ich kann genau das machen, was ich am liebsten mache. Am Küchentisch sitzen und aus dem Fenster gucken oder im Bett liegen und an die Decke gucken. Wer kann das schon? Immer kann ich es auch nicht. Wenn ich es immer könnte, würde mir wahrscheinlich langweilig werden. Eigentlich macht es mir sogar mehr Spaß jetzt, wo es schwieriger geworden ist. Meine fixen Kosten kann ich jederzeit zurückdrehen. Ich habe auch schon überlegt, ob ich die Niederlassung in Magdeburg schließe. Es wäre schade um die Blonde und den Tennislehrer, das sind gute Kräfte. Die Blonde habe ich nach den Beinen ausgesucht. Bei den Besichtigungen muß die Maklerin auf der Treppe vorauslaufen. Am Anfang war die Blonde übereifrig und hatte Stayups an, das sah richtig nuttig aus. Das geht nicht. Ich habe ihr gesagt, sie muß Strumpfhosen anziehen. Sie soll die Kunden ja nicht ins Hotel lotsen. Mein System ist, daß die Kunden gerne mit den Weibern ins Bett gehen würden, sich aber entweder nicht trauen, was zu sagen, oder wenn sie was sagen, rüde abgewiesen werden und ein schlechtes Gewissen kriegen und extra kaufen. Den Tennislehrer habe ich für die Frauen, Tennislehrer können gut mit Frauen. Ich hatte auch mal einen Golfpro, doch der war zu arrogant. Angefangen habe ich mit einem Bodybuilder, ich dachte, für die Frauen muß es was Ähnliches geben wie für die Männer, anstatt langer Beine Muskeln, aber der Mann brachte ja keinen Ton raus. Schultern wie ein Orang-Utan, ein Nacken wie ein Stier, aber stumm wie ein Tiefseefisch. 57
Mit den Frauen von Ärzten und Rechtsanwälten muß man Konversation machen. Tennislehrer können am besten schleimen. Außerdem sind Tennislehrer Schisser, sie machen sich nicht so schnell selbständig. Dann müßten sie auch den ganzen Sommer unterwegs sein, sie haben Angst, daß sich keiner mehr an sie erinnert, wenn sie mal drei Tage hintereinander bei schönem Wetter nicht auf dem Tennisplatz sind. Die Blonde macht sich bestimmt nicht selbständig. Da müßte sie wirklich mit den Kunden ins Bett gehen, das erspare ich ihr. Für die Besichtigung mit Egin und der höheren Tochter konnte ich allerdings weder die Blonde noch den Tennislehrer brauchen. Die Blonde hätte zwar erzählen können, daß sie alle Behörden kennt, wegen der Genehmigungssituation. Doch es bestand die massive Gefahr, daß Egin die Blonde gefallen und er seinen Auftrag vergessen würde, er sollte sich schließlich dem Mädchen widmen. Es hätte auch nichts genützt, wenn das Mädchen auf den Tennislehrer reingefallen wäre. Er kann sie ja nicht bearbeiten, wenn sie wieder zurück ist. Die Gefahr, daß die höhere Tochter auf mich fliegt, besteht nicht. Ich kenne Egin noch aus einer ganz anderen Zeit. Wenn ich überlege, wie er mit schulterlangen Haaren rumgelaufen ist und wie er sich zugedröhnt hat, dabei ist er jetzt so sportlich und so geschäftstüchtig. Hut ab vor der Trendelenburg, daß jemand Egin von dem H runterbringt, hätte ich nie gedacht. Er kam in einem weißen Parka und hatte rote Schuhe an. Themenbedingt, erklärte er. Rote Socken wären doch langweilig. Immer ist man falsch angezogen. Ich habe eine 58
Verabredung mit einem Manager und komme im Business-Anzug, der Manager kreuzt im Freizeitlook mit Jeans und T-shirt auf. Ich weiß ganz genau, daß er das sonst nie macht, aber bei mir ist er Kunde, bei mir kann er sich gehen lassen. Ich habe eine Besichtigung mit einem Zahnarzt, ich ziehe Jeans und ein Polohemd an, der Zahnarzt präsentiert sich im Zweireiher. Sonst trägt er nie Anzug, er hat nur diesen einen, in die Praxis geht er immer mit Bergschuhen. Aber jetzt ist er ja Investor. Die schlimmsten Kunden sind Rechtsanwälte. Bei Managern und Ärzten gibt es noch Wahrscheinlichkeiten, bei Rechtsanwälten ist alles möglich. Jede Art der Freizeitbekleidung. Golfhosen, Tennispullover, einmal hatte ich sogar einen Drachenflieger im Nylonblouson. Ich warte nur drauf, daß einer in Badehosen daherkommt. Frauen sind als Kunden viel einfacher, da braucht man sich nicht soviel Gedanken zu machen. Bei Frauen immer Business-Anzug, egal, wie die Frauen selbst angezogen sind. Meinen Kleiderschrank hasse ich. Den Teil, wo die Anzüge hängen, jedes Fach, jede einzelne, lautlos ausziehbare Schublade. Für meine Lieblingsbeschäftigung muß ich mich ja Gott sei Dank nicht anziehen. Wenn’s nach mir ginge, würde ich auch in Schlafanzug und Morgenmantel aus dem Haus gehen. Graf Dracula tritt auch immer im Morgenmantel auf. Eigentlich ein gutes Bild für das, was Egin und ich mit dem Mädchen vorhaben. Sie ist gerade achtzehn geworden. Als ich sie zum ersten Mal sah, habe ich mir gedacht, im Grunde genommen könnte ich ins Altersheim gehen. Ich habe genug verdient, ich mache mein Büro zu. So blöd war ich ja nicht, mein Geld wieder in Immobilien zu stecken. Ich kaufe doch nicht die Sachen, die ich meinen Kunden andrehe. Ich 59
habe Aktien. Gelobt sei mein Anlageberater. Obwohl er eigentlich ein Rindvieh ist. Ich habe ihm gesagt, er soll mir ein Musterdepot zusammenstellen, das hat er getan. Es ist völlig egal, welche Aktien man hat, wenn es nur alle Sorten sind. Die Kurse sind zwischendurch auch mal kräftig runtergegangen, aber das juckt mich nicht, ich habe rechtzeitig angefangen. Mit Immobilien ist kein Geld mehr zu verdienen, die einzigen, die Geld mit Immobilien verdienen, sind Leute wie ich. Warum soll man nicht schon mit fünfundvierzig betreut wohnen? Vielleicht könnte ich doch den ganzen Tag aus dem Fenster gucken. Das Mädchen war zum ersten Mal drüben. Ich habe sie und Egin in Berlin vom Flughafen abgeholt, dann sind wir zusammen nach Magdeburg gefahren. Egin tat so, als ob wir eine Expedition unternahmen, um einen weißen Fleck auf der Landkarte zu erkunden. Im Tropenwald oder am Polarkreis, durch Eiswüsten oder auf einem Fluß im undurchdringlichen Dschungel. Hier und dort ein Außenposten, ein nicht enden wollender warmer Regen im Dschungel oder Schneestürme, die einem den Atem nehmen. Der Tod greift mit hundert Händen nach uns, aus der Luft, aus dem Wasser, aus Gletscherspalten, aus dem Busch. Unter den Augen von immer wachen Eskimos oder Stammeskriegern. Dabei ist alles voller Autobahnen, Zubringer und Großtankstellen. Man kann sogar durch die Städte fahren, ohne jedesmal in einen Stau zu geraten. Die Kilometerangaben auf den Autokarten stimmen. Es war Raub und Körperverletzung, Mord und Totschlag, von Anfang an, im allergrößten Maßstab. Kein Mensch ist bekehrt worden, gleich im Namen welcher Ideen. Wohin man sah, nur Räuber und Erpresser. Soweit war alles wie immer bei der Eroberung der DDR. Aber dann muß man aufpassen. Wer hat eigentlich wen erobert? 60
Alle sagen, na die, die in das Land eingefallen sind, haben die erobert, die schon da waren. Schwachsinn, das weiß ich besser. Da gab es ein Grundstück, in guter Lage. Da gab es einen Architektenentwurf. Da gab es eine Übersicht über den lokalen Markt. Da gab es ein Projekt. Wohnbau oder gewerblich. Wir kriegen das Ding voll. Es gab gigantische Sonderabschreibungen. Es gab ein Finanzierungsmodell. Macht nichts, wenn wir das Ding nicht ganz vollkriegen oder wenn die Miete etwas geringer ist. Und es gab einen Investor. Einen Eroberer. Die Eroberer waren ja den Eingeborenen geistig so unendlich überlegen, die Eroberer wußten, daß die Erde eine Kugel ist und die Landkarte irgendwann immer wieder dort anfängt, wo sie aufgehört hat. Es kann nie genug Land geben, deswegen muß es immer im Preis steigen. Man kann doch gar nichts falsch machen, wenn man das Grundstück in guter Lage kauft. Weil die Eroberer alle so schlau waren, haben sie alle Grundstücke in guter Lage gekauft. Und weil es so viele Eroberer waren, auch welche in nicht so guter Lage. Die Eroberten haben ihnen da nicht im Wege gestanden. Sie haben ihre Grundstücke gerne verkauft, von einem Grundstück kann man sich nichts runterbeißen. Auf einmal gab es nur noch Projekte, aber keine Mieter und keine Inflation. Ohne Inflation muß man aber mit einem Grundstück was anfangen können. Die Eroberer belogen, betrogen und bestahlen einander, sie droschen aufeinander ein und zerfleischten sich, die Eroberten saßen daneben in der Sonne. Die Eroberer pfählten einander und spießten die Köpfe auf, die Eroberten sahen zu. Die Eroberer machten nicht etwa die Eroberten zu Sklaven, sie gingen untereinander auf Sklavenfang. Die Eroberten blieben freie Menschen. Von dem Kaufpreis für das Grundstück 61
haben sie sich Häuschen im Grünen gebaut und schön aufgepaßt, daß ihnen nicht das gleiche passierte wie den Eroberern. Natürlich stirbt man als moderner Eroberer nicht mehr an Giftpfeilen oder an der Malaria, und man erfriert auch nicht mehr. Man fällt ganz einfach für das öffentliche Leben aus. Die Sache war eine Fehlinvestition, man verkauft die Praxis und verdingt sich bei einem Kollegen als angestellter Arzt oder Rechtsanwalt. Die Firma geht pleite, man findet eine Stelle als Hilfsbuchhalter. In einer anderen Stadt natürlich. So stirbt man zeitgemäß. Man sieht und hört von den Leuten nichts mehr. Ob sie nun im ewigen Else liegen, ob sie zu Schrumpfköpfen verarbeitet oder von wilden Tieren gefressen worden sind oder ob sie aus dem Golfclub ausgetreten sind, weil sie die Mitgliedsgebühr nicht mehr bezahlen konnten, es läuft auf dasselbe hinaus. Die Eroberten haben ihre Häuschen im Grünen. Wer hat hier wen erobert? Das Reden ist übrigens die einzige wirkliche Bestrafung für die Eroberten, so was wie die Prügelstrafe. Denn sagen dürfen die Eroberten nichts. Die Eroberer wissen ja viel besser Bescheid über alles. Beim Reden sind auch die gutmütigsten Eroberer gnadenlos. Völlig harmlose, zurückhaltend gekleidete Menschen mit guten Manieren prügeln auf einmal sinnlos und mit irrwitziger Kraftanstrengung auf die Eroberten ein. Es hat nichts damit zu tun, ob die Eroberer zu Hause was sagen dürfen oder nicht, das ist ein Reflex, der zwischen den Eroberern und den Eroberten abgeht. Die Eroberer müssen sich immer wieder selbst beweisen, daß sie soviel intelligenter 62
und soviel schöner sind als die ewig besoffenen Eskimos beziehungsweise die plattnasigen Neger. Aber als besoffener Eskimo oder als plattnasiger Neger kann man ohne Streß leben. Natürlich gab es auch ein paar schlauere Eroberer. Wie mein Lehrmeister. Den Namen nenne ich lieber nicht. Eigentlich war er Anwalt, einer von der katastrophalen Sorte, damit konnte er kein Geld verdienen. Inzwischen ist er sogar Professor geworden. Er gab sich immer als Society-Anwalt und drehte dann den Leuten seine Objekte an. Alle Mitarbeiter mußten ihn duzen, vor allem natürlich die siebzehnjährigen Lehrmädchen. Er hat sich völlig hoffnungslose Fälle ausgesucht, Häuser und Grundstücke, bei denen von vornherein klar war, daß die Rückübertragung abgelehnt werden würde. Dem Antragsteller gaukelte er vor, er hätte Beziehungen zum Amt für Vermögensfragen und könnte die Rückgabe in allerkürzester Zeit bewerkstelligen. Dem Käufer machte er weis, weil es so ein komplizierter Fall wäre und weil die Rückgabe offiziell nicht sicher wäre, könnte er für ihn einen guten Preis rausholen. Die Innen- und die Außenprovision hat er dann sofort bei Vertragsabschluß kassiert. Doch das war noch lange nicht alles. Ein Zehntel des Kaufpreises mußte der Käufer vorab bezahlen, ein weiteres Zehntel des Kaufpreises war bei Vertragsabschluß als Festgeld zu hinterlegen. Die Hälfte der Anzahlung und die Hälfte der überwiesenen Zinsen gingen an meinen ehemaligen Chef, nur er konnte erreichen, daß das Objekt wirklich zurückgegeben wurde. Er kannte tatsächlich jemanden im Amt für Vermögensfragen, der sorgte dafür, daß die Sache ewig bearbeitet wurde. Noch heute kassiert er die Zinsen aus Dutzenden von Rückgabeansprüchen. In ein paar Fällen wurde die Rückübertragung endgültig abgelehnt. Natürlich 63
dachte der Käufer, daß er alles zurückkriegt, mit Zins und Zinseszins, aber von wegen. Statt des Schecks bekommt er einen Brief vom Rechtsanwalt des Verkäufers: Sehr geehrter Herr Käufer, nach einer gründlichen Unterredung mit meinem Mandanten darf ich Ihnen mitteilen, daß dieser alle Anstrengungen unternimmt, um die Kaufpreisanzahlung zurückzuerstatten. Mein Mandant verfügt jedoch lediglich über eine monatliche Rente in Höhe von DM neunhundertneunundneunzig, er ist mithin nicht in der Lage, Ihrem Forderungsbegehren zu entsprechen. Dank seiner Redlichkeit vermochte er jedoch, seinen Sohn zu veranlassen, daß dieser auf sein Hobby als Großwildjäger verzichtet und die eingesparten Ausgaben für die Jagdexpeditionen der nächsten Jahre seinem Vater zur Verfügung stellt. In Anbetracht der Notlage meines Mandanten bitte ich Sie, sehr geehrter Herr Käufer, auf die Zinsen zu verzichten. Für Ihr Verständnis darf ich mich im voraus herzlich bedanken … Natürlich waren alle Verträge so abgefaßt, daß mein ehemaliger Chef nie was zurückzuzahlen brauchte. Wie viele haben davon geträumt, in sein Büro reinzugehen, die Hosen runterzuziehen und ihm den Hintern zu zeigen. Ich habe keine Tagträume. Meine Frau hat Tagträume. Wir haben keine Quietschis. Sie stellt sich vor, sie besucht mich nach einem Einkaufsbummel. Mein Büro ist x-fach so groß wie mein jetziges. Sie kommt herein, und ich sehe aus wie George Clooney, das ist ein Schauspieler aus einer amerikanischen Ärzteserie. Meine Frau braucht nicht auszusehen wie Claudia Schiffer oder Cindy Crawford. Die könnte man mir nackt auf den Bauch schnallen, Claudia Schiffer mit dem Gesicht nach vorne oder andersrum, Cindy Crawford, na ja. Ich meine, das hat alles nichts mit Sex zu tun. Sondern mit Klamotten und mit 64
Handtaschen und so weiter. Da würde richtiger Sex nur stören. Wahrscheinlich sehen Cindy Crawford und Claudia Schiffer im Original gar nicht so schlecht aus. Jedenfalls kommt meine Frau rein und meine beiden Sekretärinnen stürzen sich auf sie: Bitte hängen Sie den Mantel auf einen Bügel, Frollein Friede, der Anhänger ist nämlich abgerissen. Bitte einen frischen Kaffee, Frollein Gaby. Mein Schreibtisch ist auch x-fach so groß wie in Wirklichkeit, eine Riesenplatte aus Tropenholz. Ich lese ein Fax, das mir gerade reingereicht wurde, und diktiere ein anderes, ich telefoniere gleichzeitig auf vier Leitungen mit einem Käufer, einem Verkäufer, einem Rechtsanwalt und einem Steuerberater, der Notar ist in der Warteschleife, ich tippe was auf meinem Notebook, ich sage, ich rechne irgendwelche Quadratmeter aus, tatsächlich überschlage ich meine Provision, auf dem Bildschirm an der Wand verfolge ich die Kurse der Aktien in meinem Depot, vor mir versinken drei eingeschüchterte Kunden in der türkisfarbenen Ledergarnitur, ich habe ihnen gerade eröffnet, daß sie alle drei das gleiche Objekt kaufen wollen, sie wollen es immer noch kaufen, da gehe ich mit dem Preis noch mal rauf – An dieser Stelle hat meine Frau aufgehört. Als ich sie gefragt habe, wie ihr Tagtraum weiterging, hat sie erst nur gekichert. Ich – oder vielmehr der amerikanische Schauspieler läßt alles stehen und liegen, die Faxe, das Telefon, den Computer, Frollein Gaby und Frollein Friede, die Kunden – ich gehe mit ihr in ein Nebenzimmer und wir küssen uns ganz wahnsinnig. Ich glaube, das Wichtigste war gar nicht, daß mein Büro so groß war und daß die Sekretärinnen so gestylt waren. Oder daß die Sekretärinnen, im Gegensatz zu mir, beim Konjunktiv alles richtig machen. Das Wichtigste war, daß ich am Schreibtisch saß und nicht aus dem Fenster geguckt habe. 65
Da war ich dann automatisch der amerikanische Schauspieler für meine Frau. Sie sagt immer, wenn ich so am Küchentisch sitze und rausgucke, denkt sie, da sitzt ein kleiner Junge. Meine Frau und ich, wir haben eigentlich nie Streit. Bis auf einen Punkt: Sie möchte im Urlaub unbedingt wegfahren. Ich habe dazu nicht die geringste Lust, es reicht mir, daß ich dauernd geschäftlich unterwegs bin. Meine Eltern sind von drüben, ich bin hier geboren. Meine Frau ist drüben geboren, kam schon als Kind rüber. Alle von drüben müssen dauernd verreisen. Beim Schlafengehen sagt meine Frau oft, am nächsten Tag will sie ein neues Leben anfangen, ganz bestimmt. Ich sage darauf, daß mir das alte Leben reicht. Sie sagt dann, daß sie eigentlich gar nicht weiß, wie das neue Leben aussehen soll. Meine Frau ist gar nicht so unzufrieden mit dem alten Leben. Uns geht’s bombe. Meine Frau redet nur so. Ich hatte kurz vorher in der Financial Times ein Interview mit dem Mädchen gelesen. Sie war die jüngste Interviewpartnerin, die sie jemals gehabt hatten. Das brachte mich auf den Gedanken, so zu tun, als wäre sie ein Star. Ich habe sie also mit einem schwarzen Füller hinter dem Ohr begrüßt und gesagt, ich wäre Journalist von einer ganz wichtigen Zeitung. Sie sollte mir die Exklusivrechte an der Story über ihren Besuch hier geben. Der ganze Flughafen wäre schon von Reportern und Fotografen belagert, die würde ich ihr vom Hals halten und ansonsten das schreiben, was sie wollte. Der Gag funktionierte glänzend. Das Mädchen kapierte sofort, daß ich keine blöden Fragen stellen würde, wo Egin doch ein 66
Doppelzimmer gebucht hatte, und daß ich mich nicht bei der nächstbesten Gelegenheit verplappern würde. Egin und sie mußten nicht rumeiern. Sie hat mich erleichtert angestrahlt und gesagt, sie könnte sich ja nicht dagegen wehren. Egin hat ihr grinsend versichert, er würde mich seit etlichen Jahren kennen, ich hätte ein Recht auf die Exklusivstory. Egin fuhr den Mietwagen. Er machte einen Riesenumweg durch ein altes Industrierevier. Das Mädchen sah Fabrikhallen, Fabrikhallen, Fabrikhallen. Alle verlassen, das Gras stand bis zur Unterkante der Fenster, die Dächer bemoost, die ältesten sahen aus wie Kirchen, mit steilen Dächern und Rosetten über den Eingangsportalen, einige waren wie Bürgerhäuser gebaut, ein niedriges Erdgeschoß, die Beletage mit schönen, großen Fenstern, das Dachgeschoß mit schiefen Wänden. Ein Fabrikgebäude hatte klassische Säulenfriese, wir kamen an einer Jugendstilhalle vorbei, mit rundem Dach und Tropfendekor an der Fassade, und wir haben eine Fabrik mit neugotischen Zinnen und Giebeln gesehen, auf denen Lautsprecher befestigt waren. Die Fenster immer blind oder eingeworfen. Bei manchen Hallen kamen Röhren aus dem Mauerwerk und aus den zugemauerten Fenstern raus, es wirkte, als hätte man versucht, die Fabriken künstlich zu beatmen. Alles zugewachsen, aber ohne Leben, über alles die Zeit hinweggegangen, alles nur noch Erinnerung, aber an was? Egin erklärte dem Mädchen nichts. Weder die Gebäude, noch, was für Industrien das gewesen sein konnten. Die Hallen waren ein Rätsel. Ich glaube, das Mädchen hatte auf einmal das Gefühl, man hätte sie betrogen. Dabei wußte sie nicht einmal, um was. Es war eine gigantische Täuschung, die alles umfaßte. Vielleicht war ihre Fabrik gar nicht neu, sie sah nur so aus. Das Mädchen hatte nur 67
einen wackligen Schreibtisch hinter einem blinden Fenster. Die Fabrik war genauso alt wie die Hallen, an denen wir vorbeifuhren. Und es gab keine Computer, sondern die Anweisungen wurden mit Lautsprechern gegeben. Vielleicht gehörte ihrer Mutter die Fabrik gar nicht. Oder es war unwichtig, ob die Fabrik ihr oder jemand anderem gehörte. Wie es unwichtig war, wem die Gebäude hier gehörten. Vielleicht waren die Menschen, die durch ihre Fabrik liefen, gar keine Menschen, ihre Fabrik war genauso leer wie die Hallen hier. Vielleicht verdienten sie gar kein Geld. Vielleicht verdiente niemand Geld. Dieses Gefühl habe ich bei vielen Kunden erlebt: Auf einmal weiß man, wo man herkommt. Auf einmal weiß man, wer man ist. Es ist auch das Gefühl, man könnte noch mal von vorne anfangen, man könnte noch was aufbauen. Plötzlich weiß man, was man machen will und was man nicht machen will. Was das ist, das ist völlig nebensächlich. Egin wußte genau, wie er dieses Gefühl bei dem Mädchen erzeugen konnte. Als das Mädchen – es heißt übrigens Ethel, aber irgendwie kann ich mich an den Namen nicht gewöhnen – eine Pause machen wollte, fuhr Egin einfach auf der Autobahn rechts ran und schaltete die Warnblinkanlage ein. Ich blieb im Auto, Egin und das Mädchen setzten sich auf eine Holzbank mitten in einer Wiese. Sie rauchte mehrere Zigaretten hintereinander. Von der Bank aus hatten die Einwohner des Dorfes wohl früher die Autobahn beobachtet. Das Mädchen hatte ein kurzes Kleidchen und einen etwas längeren Mantel aus demselben Stoff an, große graue Karos auf weißem Untergrund, ein dicker, kratziger Stoff, der Mantel mit großen Revers, wie in den sechziger Jahren. Sie schlug die Beine übereinander und machte einen fürchterlichen 68
Buckel. Egin konnte ihr in den Ausschnitt gucken. Sie hat keine großen Titten, aber ich konnte erkennen, daß sie ganz dunkle Brustwarzen hat. Als sie dann wieder ins Auto stiegen, sagte er, daß es schön wäre, an einem Tag wie diesem mit dem Cabrio zu fahren, offen. Sie fragte ihn, ob er ein Cabrio hätte. Er sagte, er hätte keins, doch ein Cabrio würde ihm gefallen. Sie sagte, daß man sich leicht erkältet, wenn man immer offen fährt. Er sagte, dann muß man eben was aufsetzen, und sie zog eine große ballonartige Kappe aus dem gleichen Stoff hervor wie das Kleid und der Mantel. Da mußten wir alle ganz laut lachen. Danach waren sie beide erleichtert, daß sie nicht soviel miteinander reden mußten. Egin natürlich deswegen, weil er keine Fehler machen konnte. Das Mädchen wußte, daß es eine Inszenierung war, aber sie durchschaute nicht, welche. Es gab ihr Selbstbewußtsein, daß jemand extra für sie ein Stück aufführte. Wie zur Belohnung beugte sie sich immer wieder vor, so daß wir ihr in den Ausschnitt gucken konnten. Als wir uns schließlich Magdeburg näherten, fielen uns die vielen Wassertürme auf. Stahlkonstruktionen, Holzkonstruktionen, gemauerte Türme, Betontürme, jedes Dorf hatte einen anderen. Eine Stahlkugel mit Leiter sah aus wie ein Sioux-Kopf, andere Behälter wirkten wie überdimensionale Handgranaten. Es gab jede Menge Keksdosen auf Stelzen, eckige und runde, mit und ohne Deckel, kein Deckel ohne Griff, manche auch auf Untersetzern, wir haben Kaffeetassen gesehen, mittelalterliche Türme, eine richtige Burg, Fesselballons und Pilze. Bei den gemauerten Wassertürmen kamen aus 69
den unmöglichsten Öffnungen Rohre heraus und führten wieder in den Turm zurück. Ein Turm war von oben bis unten mit Efeu überwuchert. Er hatte ein Fenster, auch das war völlig zugewachsen. Obwohl der Turm so grün war, sah er irgendwie aus wie eine aufrecht stehende Leiche. In der Hotelhalle in Magdeburg lief ich als erstes in zwei Kollegen hinein. Ich flüsterte dem Mädchen und Egin zu, sie müßten jetzt ganz schnell, aber trotzdem unauffällig aufs Zimmer gehen, die Hotelhalle wäre schon wieder voller Presse. Wir drückten uns mit einer Gruppe Japaner in den Lift hinein und rannten dann zum Zimmer, das Mädchen voran. Sie haute hinter mir die Tür zu und sagte kichernd, eigentlich müßte sie mich rausschmeißen, aber das traute sie sich nicht. Sie wäre ja froh, daß sie überhaupt mit Egin Zusammensein könnte. In dem Augenblick klingelte das Telefon. Ich sagte, Egin sollte auf keinen Fall ans Telefon gehen, das wären die anderen Reporter. Wenn er jetzt ans Telefon ginge, wüßten die anderen Reporter Bescheid. Die Typen versuchten ja, auf alle möglichen Arten und Weisen an das Mädchen heranzukommen. Das Telefon klingelte weiter. Als niemand abhob, fing das rote Message-Zeichen neben dem Bett zu blinken an. Egin meinte, jetzt stapelten sich die Nachrichten an der Rezeption. Das Mädchen sagte, sie sollten uns in Ruhe lassen. Sie ging noch mal zur Tür, hängte das Do-not-disturb-Schild raus und die Kette ein. Dann fläzten wir uns in die Sessel. Und tranken die Minibar aus. Alles, was in der Minibar war. Bitter Lemon mit Whisky, Cola mit Wodka, Bier mit Himbeergeist, Red Bull mit Cointreau. Egin war nicht restlos begeistert, wahrscheinlich hatte er vorgehabt, sofort nach der Ankunft kurz mit ihr ins Bett zu gehen und sie auf diese Weise für seine Argumente 70
empfänglich zu machen, das hatte ich ihm nun vermasselt. Ich hatte sie total überrumpelt. Sie konnten nicht sagen, hau ab, laß uns in Ruhe. Ich war Journalist. Ich brauchte meine Story. Sie mußten mit mir kooperieren. Als die Minibar leer war, bin ich zum Fenster gegangen und habe ihnen Magdeburg bei Nacht erklärt. Wegen der Reportermeute konnten wir ja nicht rausgehen. Ich bin alles losgeworden, was ich loswerden wollte. Natürlich habe ich kein Wort über das Grundstück gesagt. Das Mädchen wollte manchmal drauf zu sprechen kommen, ich habe alles abgebogen. Auch Egin war einmal so dämlich, danach zu fragen, ich konnte ihn runterbügeln. Das Prinzip des Journalismus ist, daß man alles weiß. Drunter kann man’s gar nicht machen. Jetzt, ohne Inflation, sieht die Welt anders aus. Früher konnte man alles fremdfinanzieren, die einzige Bedingung war, daß die Mieteinnahmen ausreichten, die Zinsen zu bezahlen. An die Tilgung brauchte man nicht zu denken, denn durch die Inflation stiegen die Objekte automatisch im Wert, wenn man dann noch die richtigen Sachen ausgesucht hatte, deren Preise schneller stiegen als die Inflationsrate, machte man beim Verkauf saftige Gewinne. Jetzt finanzieren die Banken nicht mehr bis zur Halskrause. Egin schaute mich fragend an, denn das Mädchen und ihre Mutter sollten das Projekt doch mit einer hundertprozentigen Fremdfinanzierung durchziehen. Ich machte ein grimmiges Gesicht, und Egin lehnte sich wieder zurück. Das Mädchen legte sich auf das Sofa und stützte sich mit dem Ellbogen auf Egins Oberschenkel ab, in der rechten Hand die unvermeidliche Zigarette. Das Eigenkapital muß größer sein, und überhaupt ist es länger gebunden. Es geht nicht mehr darum zu raten, welche Häuser oder Grundstücke am schnellsten im Wert steigen, 71
sondern darum, sich die Objekte zu sichern, die die höchste Wirtschaftlichkeit aufweisen. Wenn man Eigenkapital investiert, muß die Rendite stimmen. Da haben wir das Zauberwort. Der ganze Immobilienbereich wird einfach professioneller, die Leute spekulieren nicht mehr, wer morgen welches Objekt haben will und wieso, man investiert, weil man aus dem Investment einen regelmäßigen Rückfluß erwartet. Vermietung und Verwaltung werden professioneller, es gibt weniger unseriöse Makler. Ich war Egin dankbar, daß er nicht lachte. Die erhöhten Eigenkapitalanforderungen reinigen den Markt, die kleineren Eigentümer werden genauso vom Markt verschwinden wie Entwickler ohne Kapazitäten. Hier mußte ich aufpassen, daß ich nicht grinste, auf Egins Visitenkarte steht ja Projektentwicklungen. Die großen Gesellschaften managen ihren Bestand professionell. Das können die kleinen Gesellschaften nicht und der einzelne Eigentümer schon gar nicht. Ihm fehlen erstens die Ideen, und zweitens kommt ihn alles zu teuer. Wegen jedem Mist muß er zum Rechtsanwalt rennen, der dann für jeden einzelnen Brief an jeden einzelnen Mieter dicke Gebühren verlangt. Aber das Wichtigere ist, daß er gar nicht wissen kann, wie er sein Objekt optimal auf den Markt ausrichtet. Die Banken sind bei der Ausgabe von Krediten und mit den Konditionen viel vorsichtiger als früher. Sie prüfen nicht mehr nur die Objekte, sondern auch die Eigentümer. Ich blickte Egin an, der langsam verstand, worauf ich hinauswollte. Das Objekt allein sagt gar nichts, insbesondere, wenn es ein gewerbliches Objekt ist. Jetzt fiel bei Egin der Groschen, man konnte es fast hören. Das Mädchen merkte nichts. Die Banken wollen ganz genau wissen, wie der Eigentümer die Immobilie bewirtschaftet. Das Mädchen fragte mich, und was ist mit der Lage? Ich sagte, natürlich ist die Lage wichtig. Aber wenn jemand 72
mit der Lage keine Rendite erwirtschaften kann, dann nützt die ganze Lage nichts. Immer wieder das Zauberwort. Inzwischen hatten wir auch restlos alles aufgefressen, was es an Snacks gab. Nüsse, Schokolade, Salzstangen, Kekse, total durcheinander. Ich blickte zerknirscht auf die leeren Flaschen und die zerrissenen Tüten und fragte kleinlaut, ob wir nicht doch was essen gehen sollten. Das Mädchen widersprach empört, sie könnte das Zimmer nicht verlassen, die Reporter wüßten nun, wo sie wäre, es nützte ja nichts, wenn sie zuerst gehen und Egin dann nachkommen würde, man würde sie immer zusammen erwischen. Ich schlug vor, der Zimmerservice sollte uns noch was zu essen und zu trinken bringen. Das Mädchen warf ein, und was ist, wenn die Reporter dem Zimmerservice Geld gegeben haben und wenn der Mann, der hier reinkommt, von der Bunten ist? Ich rief den Zimmerservice an und schickte das Mädchen ins Bad, Egin machte die Tür zum Schlafzimmer weit auf, so daß man das unbenutzte Bett sehen konnte, und stellte sich hinter die Tür. Der Kellner sah die Zigarettenkippen auf dem Couchtisch, die ausgetrunkenen Flaschen, die Tüten am Boden, auf dem Sofa und auf dem Tisch und konnte sich nicht vorstellen, daß ich diese Unordnung allein angerichtet haben sollte. Jedenfalls brauchte er ziemlich lange, um die leeren Flaschen einzusammeln, er ging vorwurfsvoll in die Knie, um den Abfall unter dem Couchtisch aufzuheben, und seine Miene hellte sich nicht einmal auf, als ich ihm ein größeres Trinkgeld gab. Kaum war die Tür zugefallen, kam das Mädchen aus dem Bad, Egin aus dem Schlafzimmer, und sie fielen sich prustend in die Arme. In der Zwischenzeit hatte sie sich die Haare hochgesteckt, ihr Gesicht sah jetzt schmaler aus, aber ihre Wangenknochen traten noch stärker hervor. Ich 73
sagte ihr, ich wäre mir ganz sicher, daß der Mann ein verkleideter Reporter war, wahrscheinlich von der Gala. Er hätte eine kleine Kamera dabeigehabt, in seinem Kugelschreiber. Ich hätte ganz genau gesehen, daß er den Sofatisch aufnahm, und er hätte den Stift auch in Richtung Schlafzimmer gehalten. Bestimmt hätte er gehofft, auch wenn er selbst dort nichts sah, man würde auf dem Bild was erkennen. Das Mädchen meinte, wir hätten das ganz großartig gemacht, und zündete sich zwei Zigaretten auf einmal an. Egin sagte, er wäre gespannt drauf, was die Bunte und die Gala jetzt für unmögliche Artikel zusammenschmieren würden. Ich hatte dann etwas Mühe, zu meinem Thema zurückzukommen. Ich war ja noch nicht fertig, der Clou fehlte noch. Es geht darum, den Leuten weiszumachen, daß es in Zeiten ohne Inflation, ohne automatische Wertsteigerung also, doch Wertsteigerungen gibt. Wenn man in Immobilien investiert, muß es Wertsteigerungen geben. Alles andere ist totaler Quatsch. Das mit der Rendite ist völliger Blödsinn und reine Heuchelei. Von der Rendite hat noch niemand leben können. Wenn alle heute von Rendite reden, dient das nur der Überbrückung. Und da ist ja was dran: Guckt man sich die Sache über längere Zeit an, hat es auf den Immobilienmärkten immer ein ziemlich regelmäßiges Auf und Ab gegeben. Irgendwann glauben alle, daß es wieder aufwärtsgeht, und dann geht es auch wieder aufwärts. Aber auch wenn es nicht aufwärtsgeht, muß man so tun, als ob es aufwärtsginge. Und solange es nicht wirklich aufwärtsgeht, gibt es das Zauberwort Rendite. Nachdem Egin und das Mädchen sich lange geküßt hatten, konnte ich mein Argument doch noch anbringen. Als er ihr dabei an den Busen faßte, blickte sie mich an. Sie vertrug erstaunlich viel. Trotz des ganzen Unsinns, den 74
wir trieben, trotz ihrer komischen Frisur, trotz der vielen Zigaretten war es ihr richtig peinlich, daß Egin sie vor mir betatschte. Für einen Augenblick kam die höhere Tochter durch. Ich fand das sehr sympathisch, und irgendwie tat sie mir fast leid. Aber ich sagte mir, sie fällt ja nicht rein, sondern ihre Mutter. Sie hat noch das ganze Leben vor sich. Ich schlug dann einen ziemlich autoritären Ton an, und Egin befingerte sie nicht mehr. Ich erzählte, manche Objekte würden eben doch im Preis steigen. Man würde draufkommen, daß bestimmte Immobilien gar nicht die Rendite hätten, von denen man dachte, daß sie sie hätten. Wenn man nämlich richtig rechnet und die ganzen Verwaltungskosten berücksichtigt. Das würde ein Umdenken auslösen, und die Leute würden verstärkt nach solchen Objekten Ausschau halten, die bei geringem Risiko die angegebene Rendite tatsächlich erwirtschafteten, und das ohne aufwendige Verwaltung. Bei diesen Objekten würde es Wertsteigerungen geben. Außerdem würden sich die Investmentfonds auch mit Objekten beschäftigen, die sie früher keines Blickes gewürdigt hätten. Es gibt nicht nur Bürotürme und Einkaufscenter. Was wirklich zählt, ist nur die Rendite, und es ist gleich, ob man die mit Büros, mit Supermärkten, mit Discos oder mit alten Leuten erwirtschaftet. Hier machte ich Schluß. Peinlich war nur, daß Egin mir Beifall klatschte. Er war jetzt sturzbesoffen. Normalerweise trank er nur noch Averna, hier mußte er auf andere Getränke umsteigen, an die er nicht mehr gewöhnt war. Als wir nach meinem Vortrag eine Zeitlang vor uns hin schwiegen, hörte ich Geräusche. Es kam mir so vor, als ob vor der Tür ständig Leute vorbeigingen. Ich hörte ein Schlurfen und ein Scharren wie von Leuten, die schwer 75
trugen, ab und zu bumperte es, als ob jemand unter seiner Last zusammenbrechen und hinfallen würde. Es hörte sich so an, als ob sich ein riesiger Zug von Menschen an der Tür des Hotelzimmers vorbeibewegte. Der Gedanke schoß mir durch den Kopf, die ganzen Leute, die dort nach Mitternacht an unserem Zimmer vorbeigingen, würden eine Expedition zu dem Grundstück unternehmen, das wir morgen dem Mädchen zeigen wollten. Da war mir dann klar, daß auch ich ziemlich besoffen war. Auf einmal fühlte ich mich unsicher. Mein Vortrag war oberschlau gewesen, und ich hatte alles megaraffiniert eingefädelt, doch ich durfte das Mädchen nicht unterschätzen. Das Projekt und das Grundstück, das sie morgen oder heute besichtigen sollte, hatte ich mit keinem Wort erwähnt. Ich spielte den Propheten für die zukünftige Entwicklung des Immobilienmarktes, ich war Motor des Fortschritts, und ich gab den Sendboten der Nächstenliebe. Aber in ihren Augen sah ich, daß sie ganz genau wußte, worauf ich hinauswollte. Wir hatten wieder die ganzen Snacks aufgegessen. Egin murmelte was davon, daß er immer noch Hunger hätte, und das Mädchen wollte noch mal den Zimmerservice rufen. Ein Grundprinzip im Umgang mit den Kunden ist, daß man einen Gag niemals wiederholt. Ich schlug deshalb vor, wir sollten einkaufen gehen. Sie guckten mich beide verständnislos an. Im Hotelshop. Der war doch zu. Natürlich war der zu. Ich hatte mir hier schon mal mitten in der Nacht Zahnbürste und Zahnpasta geholt, weil mein Koffer entgegen den Versprechungen der Lufthansa auch am späten Abend noch nicht angekommen war. Der Nachtportier hat den Schlüssel. Egin wollte Kaviar kaufen. Ich sagte, im Hotelshop würde es auch eine Brautmodenabteilung geben, sie sollte sich ein Brautkleid 76
aussuchen. Da war sie Feuer und Flamme und Egin auch. Sie hielt sich die Hände vor den Busen und sagte, für das Brautkleid brauchte sie aber einen Wonderbra. Ich sagte, im Hotelshop gäbe es bestimmt auch Wonderbras. Dann überlegten wir, wie man die Reporter und Fotografen vor der Tür ablenken könnte, hatten aber keine Idee. Ich sagte, irgendwann müßten die beiden das Hotelzimmer verlassen, wenn nicht heute abend, dann eben morgen früh. Die Reporter würden sie sehen, das ließe sich auf die Dauer nicht vermeiden. Jetzt, mitten in der Nacht, wären es nicht so viele. Wir debattierten eine Weile und kamen zu dem Ergebnis, daß wir es wagen sollten. Ich schärfte ihnen ein, daß sie auf die Fragen der Reporter in keinem Fall Antwort geben dürften, weil ich ja die Exklusivrechte an der Story hätte. Und daß sie auch nicht für die Fotografen posieren sollten. Wir gingen alle ins Bad, bevor wir uns auf den Flur wagten. Egin und ich nahmen das Mädchen in die Mitte, sie zog sich den Mantel über den Kopf, und wir rannten zum Lift. In den Hotelshop sind wir tatsächlich reingekommen. Wonderbras gab’s natürlich keine. Wir haben jede Menge Kaviar gekauft und gleich vor Ort gegessen. Das Mädchen probierte auch ein Brautkleid an. Das Brautkleid war ein großes weißes T-shirt. Sie hat einfach ihr Kleid ausgezogen, außer einem Slip hatte sie nichts drunter, und das weiße T-shirt angezogen. Vor dem Nachtportier. Der hat nichts gesagt, sondern nur geguckt. In dem Brautkleid ging sie dann auf und ab und rannte gegen die Glastür. Ihr ist nichts passiert, aber für mich war es das Kommando, mich abzusetzen. Allein auf meinem Zimmer, wünschte ich wirklich 77
aufrichtig, das Mädchen wäre in Egin verliebt. Das würde es rechtfertigen. Wenn das Mädchen in Egin verliebt war, Egin mußte ja nicht in sie verliebt sein, hatte die Sache einen Sinn. Ehrlich, in diesem Augenblick ging es mir nicht darum, daß ich meine Provision beruhigter einstreichen konnte. Mittags trafen wir uns im Foyer. Das Mädchen trug einen Leopardenmantel und drunter einen Rollkragenpullover, die Tasche war aus dem gleichen Material wie der Mantel. Das Ziel unserer Expedition war ein Gasbehälter. Genauer gesagt, ein Teleskop-Gasbehälter, der noch auf dem Grundstück stand und für dessen Abriß der Veräußerer sorgen mußte. Das Grundstück liegt sehr verkehrsgünstig, das heißt an einer Kreuzung von zwei Ausfallstraßen. Weil man den Gasbehälter schon von weitem sah, konnte ich frühzeitig anfangen, was drüber zu erzählen. Einen TeleskopGasbehälter muß man sich vorstellen, als ob man eine Tasse umdreht und ins Wasser taucht. Das Bassin ist so tief wie der Behälter hoch, je nachdem, ob dem Behälter Gas zugeführt wird oder ob ihm Gas entzogen wird, hebt oder senkt er sich, das Wasser dichtet ihn ab. Der Behälter wird durch ein senkrechtes Führungsgerüst gehalten, an dem er auf- und abwärts gleitet. Er besteht aus mehreren ineinander- und auseinanderschiebbaren zylindrischen Segmenten, die für sich nicht tiefer sein dürfen als das Wasserbassin. Damit können die Gesamthöhe des Gasbehälters und sein Fassungsvermögen wesentlich erhöht werden, ohne daß das Bassin deswegen größer sein muß. Die Tasse ist also gar keine Tasse, sondern ein Fernrohr, ein Teleskop eben. Wird der TeleskopGasbehälter gefüllt, heben sich die Segmente eins nach dem anderen aus dem Wasser heraus, wird er geleert, 78
versinken die Teile nacheinander. Nur das leere Führungsgerüst bleibt sichtbar. Das Mädchen blickte ungeheuer ernst und sprach kein Wort. Sie war beeindruckt. Egin auch, obwohl er das Grundstück nun wirklich kannte. Er hatte den Mund offen. Der Behälter bestand aus drei Segmenten über dem Bassin, das Gerüst wurde von spinnennetzartigen Verstrebungen gehalten, er war noch zur Hälfte gefüllt. Ich beobachtete das Mädchen, ich wollte wissen, was hinter dem Staunen steckte. Freude, Angst, Tapferkeit, Kummer, Enttäuschung, Liebe, Zorn, Zuneigung, Wut -. Sie sah mich an wie die Hohepriesterin vor dem Tempel, ich war der Besucher und sie diejenige, die den heiligen Ort behütete. Sie wußte, warum hier der Gasbehälter war und was an seiner Stelle sein würde. Da habe ich kapiert, daß ich alle die Gefühle, die ich bei ihr gesucht hatte, tatsächlich bei mir selber suchte. Als sie mich so anblickte, war es irgendwie unabweisbar, daß ich zu nichts nütze bin. Okay, ich kann Geld verdienen. Aber ich kann mit dem Geld nichts anfangen. Ich tauge nicht zum Leben. Ich tauge nicht zum Sterben. Ich tauge zu nichts Großem, zu nichts Wichtigem, zu nichts Bedeutendem. Ich bin nur für eins gut: mich immer wieder so zu verhalten, egal ob man es merkt oder nicht, daß ich meine Provision kriege. Natürlich hatte ich die Baupläne dabei, und wir liefen alle möglichen Gebäudelinien ab. Egin stellte mir hunderterlei Fragen, die ich beantworten konnte, weil er sie mir vorher beantwortet hatte. Aber ich war überhaupt nicht bei der Sache. Schließlich kletterte Egin an dem Gerüst hoch, bis ganz nach oben. In dem weißen Parka, 79
mit den roten Schuhen. Das Mädchen guckte abwechselnd mich an und Egin, wie er die Leiter hochstieg. Ich weiß auch nicht, warum, auf einmal stellte ich mir vor, ich würde ihm nachklettern und ihn von hinten packen. Ich würde ihn an den Haaren reißen, ich würde ihn runterziehen und runterstoßen. Die Leiter war durch ein Gitter gesichert, Egin würde wie ein Ball in einem Käfig fallen, sich hier ein Bein und dort einen Arm brechen, immer wieder mit dem Kopf anschlagen, bis er schließlich völlig blutüberströmt am Boden landen würde. Der Parka wäre genauso rot wie die Schuhe. Dann würde ich das Mädchen umarmen und dabei ganz fürchterlich weinen. Ich würde mich zwischen ihren kleinen Brüsten verstecken, ich würde heulen und schluchzen. Das Mädchen würde mich ganz entsetzlich liebhaben, obwohl ich doch gerade Egin die Leiter runtergestoßen hätte. Ich war völlig verwirrt, weil ich solche Sachen sonst nicht denke. Und es war mir alles ganz peinlich.
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ZWEITER TEIL Die Personen: Angel geboren 1972 auf Haiti, die Mutter Ethnologin aus Deutschland, der Vater Einheimischer, steht bei einer Agentur unter Vertrag, die Table dancings in Europa beschickt, und arbeitet als Model, vor allem Werbung für Sportkleidung. Drifter behauptet, Angels Vater sei Voodoo-Priester gewesen. Angel sagt nichts dazu. Drifter Alter nicht bestimmbar, sieht immer gleich jung aus, geboren in München, war früher Male stripper wie Angel, macht Karriere in einer Werbeagentur. Ich geboren 1980, ebenfalls in München, mittelgroß, schlank, halblange dunkelbraune Haare. Meine Mutter ist hellblond, als Kind hatte sie dunkle Haare wie ich und eine auffällige Körperbehaarung, deshalb riefen die Eltern sie Bär. Ich weiß nicht, wie sich der Name erhalten hat, diejenigen, die sie jetzt Bär nennen, haben ihre Eltern nie getroffen. Ort egal. Zeit morgen. Ich heiße Fleur, ich kenne keine andere Zeit als ›morgen‹. Natürlich gibt es Wörter für andere Zeiten, vor allem 81
eins, das klein geschrieben wird und für das steht, was vor ›morgen‹ kommt. Das Wort für das, was vor dem kommt, was vor ›morgen‹ kommt, kann ich aussprechen: gestern. Es ist nicht so wichtig. Aber das Wort für das, was zwischen ›gestern‹ und ›morgen‹ liegt, bringe ich nicht über meine Lippen. Stoße ich in einer Zeitung oder in einem Buch auf das Wort, muß ich aufstehen und ins Freie gehen. Ich blicke hoch zum Himmel und nehme die Bewegung der Erde wahr, wie die Sonne durch das Weltall zieht und wie die Erde um sie kreist, wie sich die Erde um ihre eigene Achse dreht. Dann kehre ich zu meinem Buch, zu meiner Zeitung zurück und lese weiter, ohne meinen Blick auf das Wort zu richten. Angel weiß, daß er das Wort niemals aussprechen darf, die anderen können es nicht wissen. Fällt das Wort in einem Gespräch, bekomme ich einen Schweißausbruch, mein Herz schlägt schnell, mir wird schwindlig. Irgendeinen Vorwand gibt es immer, um aufzustehen, ich hole mir noch etwas zu trinken, ich muß mir die Hände waschen, die Füße vertreten. Ich glaube nicht, daß jemals irgendwer gemerkt hat, warum ich mich wirklich entfernt habe. Angel ist oft wochenlang nicht zu Hause. Ich besitze keinen Führerschein, Drifter fährt mich. Den Zug kann ich nicht mehr nehmen. Einmal passierte es mir, daß das Wort in einer Durchsage auf dem Bahnhof fiel. Gewöhnlich sind die Ansagen standardisiert, doch ein Gleis wurde umgebaut, und die Züge, die sonst auf diesem Gleis ankamen, wurden auf ein anderes umgeleitet. Ich kann immer mit Drifter reden, nur nicht, während er mich fährt. Er kaut dann die ganze Zeit Kaugummi und sagt kein Wort. Ein Reporter, der mich besuchte und den wir vom Bahnhof abholten und wieder zurückbrachten, schrieb, er benehme sich wie ein Schauspieler, dem keine 82
Rollen mehr angeboten werden. Drifter muß mich nicht fahren, aber er fühlt sich verpflichtet, denn die Wohnung, in der ich mit Angel und Drifter wohne, gehört meiner Mutter, und wir zahlen keine Miete. Trotz der lauten Musik schlafe ich immer im Auto ein. Ich bekomme zuwenig Schlaf. Gleich, wann ich ins Bett gehe, ich wache mit der Morgendämmerung auf. Es hat nichts damit zu tun, daß es in meinem Schlafzimmer hell wird, ich wache auch in einem völlig abgedunkelten Zimmer auf. Der Tag hat eben angefangen, und ich möchte, daß er möglichst schnell zu Ende geht, damit der nächste Tag beginnen kann. Seit ich denken kann, mache ich Videos. Ich habe schon früh an Wettbewerben teilgenommen und immer Preise gewonnen, das Video für die documenta wurde fertig, als ich sechzehn war. Ich kann mich nicht erinnern, an irgendeinem Wettbewerb teilgenommen und nichts gewonnen zu haben. In dem Video für die documenta kommt ein Haus am Dorfplatz vor, in dem früher eine Familie aus Belgien wohnte, der Vater war ein ehemaliger Kolonialbeamter, seine Frau eine Häuptlingstochter aus dem Kongo, der gemeinsame Sohn litt an Epilepsie. Er schrie den ganzen Tag. Die Mutter war eine unglaublich schöne Frau, sie trug immer Stammestracht. Der Mann hatte eine schwere Krankheit, doch er behielt seine raumfüllende Stimme. Die Frau und der Sohn gingen immer nur mit dem Mann auf die Straße, er war ihr Sprachrohr. Er magerte bis zum Gerippe ab, sein Gesicht fiel völlig ein, aber seine Stimme blieb stark. Zum Schluß war er so schwach, daß er an einem windigen Tag von einer Böe erfaßt und umgeweht wurde. Die Frau konnte nicht verhindern, daß er mit dem Kopf auf das Pflaster schlug. Man brachte ihn ins Krankenhaus, aber er starb schon auf dem Weg. 83
Die Kritiker schreiben, meine Videos seien um Fundstücke aus der Zukunft inszeniert. Einer behauptete, ich sehe so aus, als könne ich in die Zukunft blicken. Vielleicht liegt es daran, daß meine Augen und meine Augenbrauen nach außen hochgezogen sind. Die Kritiker schreiben auch, meine Videos seien kitschig. Ich kann doch nichts dafür, wenn die Zukunft kitschig ist! Ich interessiere mich nicht für Pop, ich interessiere mich nicht für die Achtundsiebziger-Generation und nicht für die Generation Golf, weder für Neonazis noch für den Holocaust. Mich interessiert nur die Zukunft. Trotzdem strömen die Leute bei den Ausstellungen in die Räume, in denen meine Videos gezeigt werden. Die Leute haben Respekt vor mir, weil sie glauben, daß die Zukunft zu mir kommt, und weil ich noch lebe. Sie sehen, daß die Zukunft sonst nur zu denen kommt, die nicht mehr leben wollen, oder zu denen, die nicht mehr leben können. Die Leute wissen ja nichts von meiner Angst vor dem, was vor ›morgen‹ kommt. Wüßten die Leute davon, sie würden keinen Respekt mehr vor mir haben … Die Wissenschaft behauptet, das, was vor ›morgen‹ kommt, dauert genau drei Sekunden. Der Mensch ist getaktet, man muß immer drei Sekunden warten, bevor die Zukunft losgeht. Den Wissenschaftlern zufolge muß man alle drei Sekunden Abschied von sich nehmen, also sollte man alle drei Sekunden etwas Nettes, Tröstendes zu sich selbst sagen. Mit meinen Videos sage ich etwas Nettes zu den anderen und zu mir selbst. Aber ich bin anders getaktet, ich sage es nicht alle drei Sekunden, deswegen haben meine Videos etwas wirklich Tröstendes. 84
Ich habe Angel im Pi kennengelernt. Er tanzte so gut, ich war völlig hingerissen von ihm. Ich sah ihn so an, wie sich die Leute im Museum meine Videos ansehen. Er tanzte mit mir, und ich geriet in Panik, ich bekam einen trockenen Mund, mir war so, als ob mich jemand würgte. Danach blieb ich einfach auf der Tanzfläche stehen. Ich weiß nicht mehr, wie lange, und ich weiß nicht mehr, was ich machte. Bis er zurückkam und wieder mit mir tanzte. Er fragte mich etwas, ich brachte kein Wort heraus. Er merkte, daß er mich nicht fragen mußte, ich ging auch so mit ihm. Seit ich mich erinnern kann, warte ich. Früher auf meine Mutter, die Stunden später kam, jetzt auf Angel, der Tage und Wochen später kommt. Er ruft mich immer vor seinem Auftritt an. Wir sprechen nicht am Telefon, wir schweigen, Angel und ich. Ruft Angel nicht an, rede ich mit Drifter. Mit Drifter verstand ich mich auf Anhieb, er erzählte mir alles, über Angel, über sich, wir sprachen nächtelang. Eigentlich ist es gleich, ob Angel anruft oder ob ich mit Drifter spreche. Ich liebe Angel, und ich rede mit Drifter. Mit Angel will ich schweigen, mit Drifter will ich reden. Was Drifter ausspricht, ist das, was Angel tut und ist. Seit Angel mich liebt, stört es mich nicht mehr, daß alles an meinem Körper im Gegensatz zueinander steht. Ich habe große Augen und kleine, enganliegende Ohren. Meine Oberlippe ist viel schmaler als meine Unterlippe. Meine Schultern sind breit, dabei habe ich keinen großen Busen. Ich habe schlanke Hüften, aber keine schlanken Oberschenkel. Um die roten Flecken zu überdecken, die ich oft im Gesicht hatte, habe ich mich immer geschminkt, jetzt male 85
ich mir nicht einmal mehr die Lippen an. Seit es Angel in meinem Leben gibt, kommt nichts mehr zwischen mich und meinen Körper. Jetzt traue ich mich auch, in meinen Videos Sachen zu machen, die ich sonst niemals gemacht hätte. Angel ist für mich erschaffen, das weiß ich. Früher hatte ich Angst, ich würde irgendwann einmal nichts mehr in der Zukunft finden, es hätte keinen Sinn mehr, Videos zu machen. Seit ich Angel liebe, bin ich überzeugt, daß ich in alle Ewigkeit Videos machen werde. Die anderen Frauen wollen Angel immer zu sich hin ziehen, andere Männer natürlich auch. Das versuche ich nie. Angel ist der Steuermann, er hat das Gefühl für die richtige Fahrrinne, Drifter ist die Karte, das Logbuch, ich bin der Passagier, die Nutzlast. Es kommt vor, daß Angel eine ganze Woche oder länger zu Hause ist. Dann kann ich mich vor Glück gar nicht fassen. Wir verabreden uns mit niemandem, sehen keine Filme, gehen nicht ins Theater, besuchen keine Ausstellung. Ich weine so viele Tränen, daß kein Taschentuch sie fassen kann. Es ist, als ob das ganze Leben sinnlos wäre. Ich weine, ich entschuldige mich für das Weinen, ich weine noch mehr. Angel schweigt und legt mir die Hand auf das Knie. Ich sage ihm, er soll nicht eifersüchtig sein auf mein Glück und schluchze noch lauter. Aber ich tue auch nichts, um mich zu beruhigen. Ich heule, ich schreie, es ist fast wie Musik. Angel kennt das, daß ich so weine. Er setzt sich hinter mich und faßt mich an beiden Schultern. Manchmal bin ich so dankbar dafür, daß es Angel gibt, daß ich auf dem Boden knie. Das ist keine Geste der Unterwürfigkeit gegenüber Angel, sondern gegenüber dem Schicksal, das uns zusammengebracht hat. 86
Ich kann überhaupt nichts beschreiben. Ich kann keine Natur beschreiben, ich kann keine Menschen beschreiben, ich kann nichts beschreiben, was Menschen gemacht haben oder was Menschen machen. In letzter Zeit nimmt mich meine Mutter häufiger zu Besprechungen mit. Ich brauche nichts zu machen, ich muß nur dabeisein. Ich bin für sie eine Art Orakel. Sie fragt mich etwas, oder sie fragt mich auch nichts. Bär und ich, wir fliegen nach Madrid. Es geht um ein Projekt, das Egin Charlotte vorgeschlagen hat, eine spanische Bank will das Projekt finanzieren. Ich kann nicht einmal diese Fahrt mit Drifter von unserer Wohnung zum Flughafen beschreiben. Ich würde sofort etwas hineinmontieren, ein Fundstück aus der Zukunft, und die Beschreibung wäre verschoben, gebrochen. Egin ist nicht authentisch. Stine hat ihn in das Leben hineinkopiert, er ist eine Charaktermaske, voll und ganz das Werk Stines. Die Figur Egin wartet immer auf sie und will weitergeschrieben werden. Mit Egin ist Stine eine Art Blitzdichterin, sie dreht das, was sie schon geschrieben hat, um sich selbst und flicht einen Zopf daraus, oder sie improvisiert, einfach nur vom Klang der Worte ausgehend. Irgendwie ist Egin auch sehr komisch, ich kann mir vorstellen, daß Stine manchmal wahnsinnig lacht, wenn sie ihrer Figur zusieht. Darauf kommt sonst niemand, die anderen bringen es höchstens soweit, daß sie fragen, ist das vielleicht komisch gemeint? In der Bank tun immer alle so, als spiele nur die Vernunft eine Rolle, als dürfe es überhaupt keinen Raum für Gefühle geben. Dabei gibt es nichts Intimeres, als wenn jemand Geld von jemand anderem zu bekommen hat. Sofort entsteht ein Herr-Knecht-Verhältnis. Wobei ich nie verstanden habe, wer der Herr und wer der Knecht ist. 87
Ist derjenige der Knecht, der sich das Geld leiht, weil er es zurückzahlen muß, oder ist derjenige der Knecht, der das Geld verleiht, weil er es zurückerhalten muß und weil er immer den Anschein verbreiten muß, daß er es auch tatsächlich zurückbekommt? Charlotte hat erst die Gemeinschaft mit Stine gesucht und dann zwischen ihrem und dem Wort Stines unterschieden. Es ist Charlottes Schuld! Mißlingen, ihr und ihrem Geschöpf mißlingen? Egin wird bestimmt nicht hinsehen, der wird das nicht aushalten können. Da ist die Straße zu Ende, Charlotte und die unvermeidliche Ethel fahren auf die Wand zu. Stine muß Geduld haben, soweit ist es ja noch nicht. Aber sie werden die Kurve nicht kratzen können, Charlotte und Ethel, es wird nach quietschenden Bremsen riechen, nach ausgelaufenem Öl, nach verbranntem Fleisch. Wer sich entschließt hinzulangen, wird in etwas Durchgeweichtes greifen, er wird Blut an den Handschuhen und an der Kleidung haben. Die Finanzierungszusage der Bank ist die Geburt des Todes, das muß doch gefeiert werden! Natürlich muß man ein Gebäude erst bauen, ehe man es nicht vermieten kann. Das ist nur noch Formsache! Die Zähne der Partygäste werden aufeinanderschlagen, bis die Augen aus den Höhlen rollen. Alle Kiefer werden mahlen, aber die Seelen bleiben vorerst erhalten. Vielleicht ist auch gar kein Unfall zu feiern, es gibt kein Ende, keine Kollision mit einer Wand, es riecht gar nicht nach verkohltem Fleisch, nur in der Hausmeisterwohnung brutzelt der Hausmeister ein Tofugericht. Charlotte und Ethel treten eine Bergwanderung an. Welcher Dünger bewirkt, daß neben den endlosen Serpentinen immer 88
wieder neue potentielle Betreiber für das Pflegeheim aus dem Boden sprießen? Eine Kehre zitiert die andere, wenn sich der Eigentümer nicht diesen Mieter aufs Brot schmieren kann, dann vielleicht den nächsten, ein Felsabriß verweist auf den anderen, die Konjunktur bleckt weiße gerade Zähne, überall ziehen die Mieten an, nur nicht in Magdeburg. Stürmisch und dunkel ist die Zukunft, aber immer offen und unsicher. Unsere Wanderinnen halten die überregionalen und die regionalen Zeitungen wie Wünschelruten vor sich und stoßen tatsächlich auf eine Wasserader. Sie lesen, daß die Pflegegesetzgebung geändert werden soll. Die Hoffnung kommt aus der Tiefe der Erde und steigt dann gleich ganz weit hoch. Sie schwitzen ihre karierten Wanderhemden durch, rollen ihre Socken herunter, latschen ihre Wanderschuhe ab und wünschen sich, sie hätten Bundhosen angezogen und keine Blue jeans. Sie machen aus Zweibettzimmern Einzelzimmer und aus Einzelzimmern Zweibettzimmer. Die Hoffnung geht ihnen niemals aus, das Licht schon. Sisyphus findet den Schalter nicht, er lauscht im Dunkeln, wie sein Konglomeratfelsen abbröckelt, wenn das so einfach wäre, den Felsen in einem hin- und her zu tragen, er wird sich daran gewöhnen, daß er das jetzt portionsweise machen muß. Das Schicksal fährt sowieso mit Charlotte und Ethel Schlitten, da kann sich Stine großzügig zeigen und die beiden in ein Auto setzen, das nicht auf eine Wand zubraust, sondern eine Pappelallee entlangschleicht. Die Sonne geht nie unter, die Pappelallee nimmt nie ein Ende, solange Charlotte das Projekt in Magdeburg subventionieren kann. Charlotte und Ethel werden spüren, wie die Schatten auf das Auto prallen. Jedes Quartalsergebnis eine Straßensperre, jedesmal muß man Gas geben, um die Sperre zu durchbrechen. Das ist fast noch anstrengender als das Wandern, schließlich kann 89
man langsamer oder schneller laufen, aber auf der Pappelallee darf man in keinem Fall zu weit mit der Geschwindigkeit heruntergehen, sonst ist beim nächsten Schatten Endstation. Tja. Ist Stine böse? Sie kann immer noch ein nervöses Geschöpf geben, das sie nicht ist, und einen Rückzieher machen. Man sollte die Gestehungskosten, die Betriebskosten und die Mietsätze noch einmal überprüfen. Die Sache aufschieben, Charlotte würde ungeheuer erleichtert sein, wie sie es immer ist, wenn ihr eine Entscheidung abgenommen wird, Ethel würde es verkraften können. Man würde damit sogar eine gute Figur bei der Bank machen. Stine weiß, was Gut und Böse ist. Sie kann sich immer noch entschließen, gut zu sein. Das Parkhaus des Madrider Flughafens duckt sich nicht, wie viele andere, aus Angst vor der Volksbewegung in den Lüften, trotzig reckt es sich in den wolkenlosen Hintergrund. Stine muß hier ihren Mietwagen abholen. Es wäre ungeschickt, wenn sie zu früh käme, das sähe so aus, als habe sie ein besonderes Interesse an dem, was zu traktieren ist. Sie verfolgt jetzt, wie sich ein roter VWKäfer zu ihr hochwindet. Der Käfer hätte schon lange in eine der unteren Ebenen kriechen können, offensichtlich will er an die Sonne. Dafür läßt er sich bereitwillig von den glänzenden Klingen des Geländers in Scheiben schneiden. So gerade, so fein sind die Schnitte, daß die Teile des Käfers ohne jeden äußeren Zwang aneinander haften, als ob da gar keine Schnitte wären. Stine ist kein verwöhntes Kind, das die Experimente, die es mit anderen Leben durchführt, nicht mit sich selbst anstellen würde. Während sich Stine jetzt über das Geländer beugt, wird auch ihr Körper von eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Klingen zerteilt, als ob er Rohstoff wäre, für welches Produkt? Halt, nein, Stine muß die Form wahren, wenn das geplante Karriereunternehmen nicht in Angels 90
und Drifters Prophezeiungen hinein implodieren soll. Aber bei Stine sind die Schnitte alles andere als akkurat, die Scheiben, in die sie das Geländer zerschnitten hat, halten ohne pochende und ziehende Nähte nicht zusammen. Ein einziges Wunder, daß nicht überall das Blut herausrinnt. Natürlich ist auch ihr Herz entzweigeschnitten, wenn Stine jetzt von dem Geländer wegtritt, können wir ihren Herzschlag sehen. Der Brustkorb ist geklammert, das Herz genäht, aber die Teile verschieben sich gegeneinander. Das Herz pulst gegen sich selber, der Brustkorb spießt sich selbst auf. Sie können jeden Gedanken denken, kommen Sie! Sie sind von allem abgefallen, was Ihnen teuer und wertvoll war. Sie haben sich entschlossen, böse zu sein. Für einen Augenblick unterdrücken Sie den Zweifel, ob es wirklich Ihr Entschluß war, ob die Verhältnisse Sie dahin geführt haben oder eine Prophezeiung. Sie sind so böse geworden, wie Sie es sich niemals haben ausmalen können. Sie sind in Scheiben geschnitten und wieder zusammengenäht. Vorher haben Sie gehofft, das sei ein Schritt zu einer höheren Erkenntnis, Sie würden etwas über sich und andere erfahren, was Sie sonst nie erfahren hätten. Aber nun haben Sie Angst, daß die Erde, die Sie betreten, und der Himmel, auf den Sie zeigen, ständig ausplappern könnten, was Sie vorhaben! Sie wollten herausfinden, welche Ihre Stellung in der Welt ist. Angel, das Unterhosenmodel, seine Freundin Fleur, das tieftraurige Wunderkind, und Drifter, der Top-Arsch aus der Werbebranche, leben schon dort, wo Sie hinwollen, in der Zukunft. Jedenfalls sagen sie das und schlagen einen ungeheuren Profit daraus, Sie bewundern diese nie klumpende Sicherheit. Vielleicht ist es nur ein Trick: Die drei laufen in magisch schimmernden Trikots und erzählen 91
allen Leuten, daß sie damit besonders schnell sind, aber niemand kommt auf den Gedanken nachzumessen, ob sie tatsächlich schneller rennen. Was Angel und Drifter da in der Werbeagentur gesagt haben, waren es Prophezeiungen, oder war es einfach Chuzpe? Das spielt doch keine Rolle. Sie wissen nicht mehr, als Sie vorher wußten, die Angst ist größer, die Welt kleiner, das Böse in Ihnen riesengroß. Sie fürchten nur eins: daß Ihnen alles, was Sie wirklich wollten, vorenthalten bleibt. Aber auch das ist nichts Neues. Sie haben geahnt, daß Ihnen alles, was Ihnen wirklich etwas bedeutet, unzugänglich bleiben wird, Sie konnten damit leben. Jetzt müssen Sie auf das hinleben, was Ihnen ewig vorenthalten bleiben wird. Wenn Sie meinen, Sie sehen irgend etwas klarer, dann täuschen Sie sich. Die Angst gibt Ihnen allerlei Sinnestäuschungen ein, die Angst selbst ist allerdings keine Täuschung. Wenn es Ihnen gelingt, die Angst von irgend etwas abzuziehen, sich selbst von der Angst abzuziehen, dann sehen Sie ganz deutlich, daß Sie nichts deutlicher sehen, als Sie es vorher gesehen haben. Sie wollten drohen, aber alles droht Ihnen! Sie haben sich weit über das Geländer gebeugt, schaumige Gedanken gluckern aus der Naht über Ihren Augen. Sie meinen, Sie können alles entzweischneiden und dann wieder zusammennähen! Es gibt keine Möglichkeit, das Böse kleiner zu machen, indem Sie sich kleiner machen. Am liebsten möchten Sie ewig an das Geländer gelehnt bleiben, dahinter sieht man die Schnitte nicht. Aber schließlich können Sie nicht Ihr restliches Leben im Parkhaus verbringen. Irgendwann müssen Sie in Ihren Mietwagen steigen. Die Scheiben, in die Ihr Körper geschnitten ist, verschieben sich immer wieder, beim Denken, beim Gehen, beim Fahren, beim Schlafen, beim Träumen. Sie sind ertappt! Sie möchten schwach werden. 92
Es käme Ihnen sehr zupaß, bestimmte Bewegungen nicht ausführen zu können, weil die Muskeln und die Sehnen durchschnitten sind. Nun können Sie gar nicht durchführen, was Sie sich vorgenommen haben! Sie wollten doch jemanden an den Abgrund lotsen und ihn dann hinunterstürzen. Die durchtrennten Nervenbahnen und Gefäße sind mit viel zu groben Stichen zusammengenäht. Das Blut läuft in Sackgassen hinein, aber es bahnt sich andere Straßen, jede Stelle Ihres Körpers wird versorgt, obwohl Sie das gar nicht wünschen. Die Nervenbahnen vermitteln nicht mehr leise surrend, sondern ordinär schnalzend zwischen den verschiedenen Organen, die Sehnen genießen wettergegerbt das Leben im Freien, trotzdem ist da kein Muskel, den Sie nicht regen können. Sie wünschen sich, auch Ihre Seele wäre entzweigeschnitten, und überlegen krampfhaft, wie man es anstellt, eine Seele nicht zusammenzunähen. Dabei ist Ihre Seele kein Pflegeheim, sondern ein FünfSterne-Hotel mit jeglichem Komfort, Sie können auch einen beruhigenden Gedanken fassen. Sehen Sie im Telefonverzeichnis nach, und lassen Sie sich den Gedanken bringen. Am besten, Stine sagt bei der Besprechung in der Bank nur stimmlose Worte, und wenn schon Sätze, dann leichte und nicht ernstgemeinte, wie Schwaden. Bei denen niemand aufhorcht, keiner eingreift. Sie können auch Mut ordern. Den Mut, den Stine braucht, um Charlotte doch nicht in den Abgrund zu stoßen. Das Hotel bietet Zimmerservice rund um die Uhr, Sie können sich auch den anderen Mut in den Salon ihrer Suite servieren lassen, das Böse konsequent und methodisch zu vollziehen. Zu den Unterlagen für die Besprechung gehört eine 93
Computerzeichnung der Fassade des geplanten Gebäudes. Stine rollt das Blatt zusammen und ist in einem runden Innenraum, wo sie aus jedem Fenster beobachtet wird. Sie muß die Vermutungen aus all diesen Fenstern sammeln, bündeln und zurückstrahlen und so verhindern, daß ihre eigenen Absichten erkannt werden. Die Frau, die zum Niederknien schön ist, steht ihr bis zum Hals, aber es genügt nicht, einfach nur Charlottes Bild zu beklecksen. Stine muß aus dem Kleinstadtmädchen mit Hotelfachschule eine ganz andere machen. Dazu begibt sich Stine ausnahmsweise in Egins Vorstellungswelt hinüber. Charlotte, ist das nicht das sportverrückte Model, das immer am frühen Morgen und am späten Abend um die Fabrik herumjoggt? Das Schlagzeug aus dem Walkman drischt um die Wette mit den Knackgeräuschen der zertretenen Äste und Nadeln. Ein weibliches Kraftpaket ohne Adressaten, Wasserski auf dem nahen Baggersee, Skifahren in der Hohen Tatra, Drachensegeln in Friesland, Tauchen und Surfen auf dem Vierwaldstätter See und anstelle von Geschäftsessen Basketball und Volleyball. Diese grelle weibliche Sportwerdung wird quengelig wie ein Baby, wenn sie nicht sofort bekommt, was sie will, ein dummes Blondchen, allerdings sehr groß gewachsen. Was soll man schon von jemandem halten, der um seine Geschäftspartner herumdribbelt und ihnen dann schwitzend erzählt, je besser er spielt, desto mehr findet er über sich selbst heraus? Wenn Charlotte wirklich eine so gute Figur hat, warum zieht sie dann immer Pushup-BHs an! Sie geben reichlich Trinkgeld, deshalb wird der Hörer bei Ihrem Anruf sofort abgenommen, immer steht ein Kellner bereit, der nur darauf wartet, daß er Ihnen einen neuen Gedanken aufs Zimmer bringen kann. Egin befindet sich in einer Notlage, ohne seine Ladenkette. Jemand muß für ihn einen Weg in die Zukunft bahnen, von selbst teilen 94
sich die Wasser nicht. Man muß ihm noch einen Batzen Existenz zuwerfen, sonst wird aus diesem frisch gekneteten Haufen Plastilin nie ein Mensch. Mein Gott, daß die tatsächlich erzielbaren Mieten nicht den kalkulierten entsprechen, das hat es schon milliardenmal gegeben, wenn man jeden bestrafen würde, der irgendwann irgendwem einmal unzutreffende Angaben über die Rendite eines Projekts gemacht hat, dann säße die ganze Immobilienwirtschaft hinter Gittern. Sie schimpfen nicht mit Ihren Gedanken, wenn sie sich manchmal verspätet einstellen, Sie machen auch keine Szene, wenn es nicht der richtige Gedanke ist. Ohne Ihre einschlägigen Pläne wären Sie niemals so einfühlsam gegenüber Gedanken geworden, die mit Ihren Plänen gar nichts zu tun haben. Für einen Augenblick werden Sie so sanftmütig, daß Sie das für eine Erkenntnis halten. Aber Sie kennen Ihre Bestimmung, der Kurzurlaub ist schon vorbei. Sie können nicht ewig in dem Fünf-Sterne-Hotel bleiben, auch wenn es noch so angenehm wäre, Sie müssen aus Ihrer Seele aussteigen. Sie haben das Abreisedatum selber festgesetzt und um den Weckruf gebeten. Sie wollten wissen, was das Diesseits zusammenhält, Sie wollten erfahren, warum man Sie in die Welt geworfen hat, wieso man Sie in welches Verhältnis zu welcher Zukunft gesetzt hat. Sie haben gedacht, Sie können etwas von Stine lernen, die in Scheiben zerschnitten und wieder zusammengenäht ist, dabei haben Sie nur einen Kurzurlaub gewonnen. Sie würden jetzt gerne Stines Schenkel und Waden strammziehen und sehen, wie sie sich windet. Sie möchten in ihrer Nacktheit wühlen, in sie hineinbeißen und ihre Blöße aufschlecken. Am liebsten würden Sie versuchen, in sie einzudringen, denn Sie glauben, daß sich unter dieser Nacktheit etwas ungeheuer Interessantes verbirgt: eine 95
Hand, von der Blut tropft, grelle, nicht hintergehbare Bosheit, ein Tier, das lügt. Es sind keine parallelen Körper, Stines und Charlottes, aber sie sind aufeinander bezogen und das zu Ungunsten Charlottes. Das Böse wird Mut beweisen, alle Lügen werden erfolgreich sein. Die Welt wird zum Sonderpreis über den Tresen gehen.
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Einen Moment Stille bitte. Charlotte ist müde … Die Hauptverwaltung des Banco Santander in Madrid war auf drei klassizistische Bauten aufgeteilt. Als Charlotte die Sicherheitskontrolle des Gebäudes passiert hatte, in dem die Besprechung stattfinden sollte, blieb sie wie versteinert stehen. Niemand hatte sie auf das vorbereitet, was ihr sich darbot: Die Rotunde war soviel größer als alles, was das entkernte Gebäude überhaupt enthalten konnte. Eine Lobby, die ein Segment aus der Rotunde herausschnitt, öffnete sich in ein mit weißem Marmor verkleidetes Basement, in dem sich hohe Bäume über eine riesige Treppe neigten. Am Übergang von der Lobby ins Basement war eine Metallplastik, ein Kreissegment, angebracht. Auch die Treppe hatte in der Höhe, unter der gläsernen Kuppel der Rotunde, eine Entsprechung in Form eines abgestuften steinernen Unterzugs ohne Funktion. Die Rotunde war ein Durchbruch von der Hölle zum Himmel und vom Himmel zur Hölle. Wer sich in der Rotunde aufhielt, für den waren Himmel und Hölle ganz nahe, der konnte zwischen Himmel und Hölle pendeln. Während Charlottes Fabrik auf Betonkonussen und hölzernen Pfosten über der Erde schwebte und alles tat, um sich nicht auf eine Richtung festlegen zu müssen, weder zur Erde noch zum Himmel hin und auch nicht in den zwei Dimensionen zwischen Himmel und Erde, ließ die Rotunde grimmig entschlossen nur zwei mögliche Wege zu, den von der Erde zum Himmel und den vom 97
Himmel zur Erde. Bevor sie die Bank betrat, hatte Charlotte geglaubt, die Fabrik, ihr Sohn, stelle eine Art Mittler zwischen Himmel und Erde dar. Jetzt, in der Rotunde, die als direkte Verbindung zwischen Himmel und Erde geplant und ausgeführt war, erschien ihr der Gedanke der Vermittlung zwischen Himmel und Erde hoffnungslos naiv und romantisch … In dem Maß, in dem durch die Glaskuppel weniger natürliches Licht einfiel, wenn Wolken die Sonne verfinsterten oder wenn die Nacht heraufzog, übernahm ein Beleuchtungssystem die Rolle des Gestirns. Hier gab es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, hier war ewiger Tag. Die künstlich zum Blühen gebrachten Pflanzen im Basement, die Dürre auf den Galerien, das Wabern der Klimaanlage, der kalte Schliff der Steine – das Gebäude kannte keine Jahreszeiten, in ihm herrschte immerwährender Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Charlotte fühlte sich fiebrig, seit mehreren Tagen hatte sie leichte Halsschmerzen, ihr war heiß und kalt zugleich. Als sie mit zögernden Schritten die Treppe hochstieg, brach ihr der Schweiß aus. Sie blieb stehen und hielt ihre nassen Hände vor sich in die Luft. Sie trockneten sofort, Charlotte spürte, wie der Wind ihre Hände aufrauhte und wie ihre Hände rissig wurden. Ihr Sohn lebte im Rhythmus der Tage und Nächte, er gedieh mit dem Wechsel der Jahreszeiten. Ihr Sohn machte niemanden vor der Zeit alt, vielmehr verjüngte er diejenigen, die Umgang mit ihm hatten. So sehr an die Gesellschaft ihres Sohnes gewöhnt, wollte Charlotte eigentlich mit niemand anderem Zusammensein. Die anderen Fabriken, die sie kannte, waren in 98
Charlottes Augen verbraucht, diejenigen, die sie hüteten, debil. Sie ertrug die Nähe Bärs und Stines, ja sogar Egins nur deshalb, weil sie zu wissen glaubte, daß etwas vom Besonderen ihres Sohnes auch von ihnen Besitz ergriffen hatte. Es mußte ein Traum bleiben, das Leben allein mit ihm zu verbringen. Wie er litt, wenn sie nicht da war! Aber dann die Tage mit Freudenseufzern ausgefüllt, wenn sie der Fabrik beim Lernen zusah … Wie schnell sie lernte, wie gut sie lernte, wie schön sie lernte! Alle wesentlichen Fragen stellte sie sich selbst, so hatte es ihr Charlotte beigebracht, von den anderen kamen nur überflüssige Einwürfe. Es war für Charlotte selbstverständlich, daß sie ihrem Sohn vorlas, daß sie ihm etwas vorspielte. Dann legte er sich zwischen Himmel und Erde hin, er streckte sich aus, und Charlotte fand immer einen Winkel oder einen Bogen, in dem sie sich an ihn kuschelte oder er sich an sie, es war nicht zu unterscheiden. Nie hätte ihr Sohn andere Möglichkeiten erwogen, mit dem Himmel und der Erde zu verkehren, als in diesem schwebenden Gleichgewicht. Niemals wäre er auf den Gedanken gekommen, eine direkte Verbindung zwischen Himmel und Erde herzustellen. Man sagt, ein Kind wird zuerst durch andere Kinder verdorben. Sie, Charlotte, brachte die Fabrik und die Banken zusammen. Ohne sie, Charlotte, hätte ihr Kind die anderen Kinder nie kennengelernt. Verdarb sie ihr Kind? Einmal mußte sie ihren Sohn in die Gesellschaft einführen. Auch wenn er sie fragen würde: »Warum liebst du mich nicht mehr?« … Wenn dieses Kind hier ihrem Kind alles erklärt haben würde, es spielte keine Rolle, ob das mit Worten oder auf ganz andere Weise geschah, würde ihr 99
Kind noch so zufrieden sein, zwischen Himmel und Erde zu schweben? »Warum liebst du mich nicht mehr?« – »Ich liebe dich doch, o, ich liebe dich über alles!« Jede Mutter will, daß ihr Kind sich im Wettstreit mit anderen Kindern beweist. Charlotte blickte zu der Glaskuppel hoch. Wie konnte man das Zusammenspiel zwischen Himmel und Erde noch beeinflussen, nachdem man alle Schleusen geöffnet hatte? … Wer konnte mit solchen Kräften umgehen? … Dieses Kind gab nur vor, Himmel und Erde zu beherrschen, in Wirklichkeit war das Kind eine Durchgangsstation. Ihr Kind hielt Himmel und Erde auf Distanz, es balancierte elegant zwischen beiden, es tarierte sie aus. Sie stellte sich eine Katastrophe vor, die Erde bebte, es gab eine Flut oder einen Weltbrand, und sie war sicher, daß ihr Kind sich besser zu helfen wüßte als dieses Kind hier. Die Rotunde des Bankgebäudes sollte zwei Gewalten zähmen, deren Absicht und Richtung man kannte. Doch wenn eine andere Kraft auf die Rotunde einwirken würde, aus einer unvorhergesehenen Richtung, mit einem ungeahnten Ziel, dann würde sie in Panik geraten, heulen und schreien. Geschmeidig und anpassungsfähig, ließe die Fabrik sich nicht beeindrucken, wäre sie von anderen Gewalten bedrängt als denjenigen, zu deren Verwaltung sie gebaut war. Die Rotunde hätte kein Mittel, die Kräfte umzulenken. Die Fluten würden sich um sie herum stauen, das Feuer in sie eindringen. Die Fabrik würde auf den Fluten und auf dem Feuer schwimmen. Sie würde die Kräfte abfedern, ableiten, vielleicht sogar in besonders schlauer Weise eine Kraft mit der anderen abfangen. Die Fabrik konnte ihre Gestalt bewahren, indem sie den Ring eines ihr fremden Kreislaufs schloß. Die Rotunde des Bankgebäudes war unvereinbar mit dem Gedanken eines Kreislaufs, wenn irgendwo sich ein 100
Ring formen würde, er würde sie vernichten. Ihre Fabrik war eine Fabrik für Menschen. Für sie, Charlotte, für Ethel, für Bär, für Stine. Diese Fabrik riß die Menschen aus ihrem zeitgebundenen Erleben heraus. Sie exponierte sie und schloß sie hermetisch von ihrer Lebenswelt ab. Diese Fabrik erzeugte Menschenähnliche. Die geistiger waren als die jetzigen Menschen und die zugleich über größere technische Fähigkeiten verfügten. Die vielleicht sogar poetischer waren: Sie bedienten sich der Technik zum Zwecke der Poesie und zum Zwecke der Poesie der Technik … Aber würden die sublimen Menschenähnlichen auch verzweifelt sein? … Gab es für die Menschenähnlichen einen Trost wie für die, die ihnen vorangegangen waren? … Nur wenn die Menschenähnlichen noch unglücklich sein konnten, wären diejenigen, die ihnen vorangegangen waren, nicht umsonst unglücklich gewesen. Die Menschenähnlichen waren technisch und poetisch zugleich, sie verfügten über genügend und die besten Werkzeuge, jeder einzelne konnte sich unverwechselbar machen. Doch wer so individuell war, daß sich die Charakterfrage nicht mehr stellte, wer nicht mehr um seine Identität zu kämpfen brauchte, mußte der nicht ein starkes Sehnen nach dem Anonymen haben, eine Art Lüsternheit nach dem Namenlosen? … Die Menschenähnlichen würden in den Spiegel schauen und sich selbst vormachen wollen, daß sie sich nicht mehr erkannten. Eine Nacktheit ohne Antlitz, ohne Person, als Gegengewicht zum Unverwechselbaren. Die Menschenähnlichen würden nicht andere, sondern nur sich selbst quälen. Alle Menschenähnlichen würden Künstler sein? … Wo wäre da der Fortschritt? Ethel spielte in der Theatergruppe des Gymnasiums. 101
Von der Reise mit Egin zurückgekommen, hatte sie ihrer Mutter eröffnet, sie wolle eine Schauspielschule besuchen, es sei ihr Traum, Schauspielerin zu werden. Charlotte konnte sie überreden, nicht sofort vom Gymnasium abzugehen. Charlotte hoffte, daß ihre Tochter bis zum Abitur noch auf andere Gedanken kommen würde, wenn nicht, wollte sie ihr vorschlagen, ein Studium aufzunehmen und nebenbei die Schauspielschule zu besuchen. Das taten schließlich viele andere ebenfalls, die sich den Schauspielunterricht verdienen mußten. Ethel hatte ein paar Fotos gemacht, vor allem natürlich von dem Grundstück mit dem riesigen Gasbehälter, aber auch von sich selbst, von Egin und dem Makler, mit dem Egin zusammenarbeitete. Der Makler war immer unscharf und verwaschen. Egin wirkte wie ein Filmstar, wie ein Model oder ein Rockmusiker. Er hatte immer denselben Gesichtsausdruck, gleich, ob er ihrer Tochter das Grundstück mit dem Gasbehälter zeigte oder ob er ihr im Hotel die Baupläne erläuterte. Ihre Tochter sah aus wie ein Groupie. Egin erzählte immer, er habe Stine in London kennengelernt, als er dort als Male stripper auftrat. Charlotte wußte von Drifter, daß Egin zu dieser Zeit noch zusammen mit Carlo Little vor dem Wembley-Stadion Würstchen verkauft hatte. Während seiner Militärzeit trommelte Carlo Little beim Bataillonsdrill auf dem Exerzierplatz. Er mußte den Takt halten und so laut wie möglich spielen. Im Jahr 1961 war er der lauteste Schlagzeuger Großbritanniens und Mitglied der Savages, der Pianist war Nicky Hopkins, der Sänger David »Lord« Sutch. Als die Savages eines Abends im Piccadilly Jazz Club spielten, kamen vier junge Burschen herein. Sie hießen Mick Jagger, Keith Richards, Brian Jones und Ian Stewart … Sie machten ihm Komplimente, er spiele so 102
gut, und sie wollten Tips für ihre Band. Sie hatten lange Haare, einen gepflegten Mittelschichtakzent, und sie waren noch nicht einmal volljährig. In dieser Zeit explodierte die britische Rhythm-and-blues-Szene, auch die vier, die Carlo Little angesprochen hatten, bekamen Auftritte und fragten ihn, ob er in ihrer Band mitspielen wollte. David Sutch und die Savages hatten sich getrennt, Carlo Little hatte nicht viel zu tun und war einverstanden. Nachdem er ein paarmal mit den Jungen aufgetreten war, wollte Brian Jones, daß er bei der Band fest mitmachte. Doch Carlo Little verdiente nur zwei Pfund pro Abend. Die die anderen aufbrachten, indem sie etwas von ihrer Gage dazulegten. Sie bekamen pro Abend zehn Pfund, jeweils zwei Pfund gaben sie vorweg Carlo Little und dem Bassisten, einem Freund von Carlo Little, dann mußte das Benzin für den VW-Bus bezahlt werden, den Rest teilten die Jungen durch vier. Sie wohnten zusammen in Chelsea, die Wohnung war die reinste Müllkippe, auf dem Boden lagen überall Geschirr und Kleidungsstücke herum, sie lebten von Brot und Milch, die sie anderen Leuten von der Wohnungstür wegklauten. Zur selben Zeit gab es jedoch eine Reunion der Band von David Sutch, bei den neu formierten Savages konnte Carlo Little fünf Pfund pro Abend verdienen. Er sagte den Rolling Stones ab und schlug ihnen vor, einen Nachbarn auszuprobieren, den er von früheren Konzerten der Savages kannte, er hieß Charlie Watts. Carlo Little spielte während der sechziger Jahre mit Rod Stewart, Jeff Beck und B. B. King, wurde jedoch nie mehr Mitglied einer festen Band. Er heiratete und hatte Kinder, er war Brotverkäufer, bevor er später die Imbißbude vor dem Wembley-Stadion betrieb. Charlotte mußte ihrer Verliebtheit in ihren Sohn etwas entgegensetzen. 103
Sie mußte andere Söhne haben, die nicht so schön waren wie ihrer, die sie nicht mit lautem Rufen willkommen hießen und mit Tränen verabschiedeten. Söhne, vor denen sie sich scheute und die bei ihr fremdelten. Söhne, an denen etwas unentdeckt und versäumt bleiben würde, die sie gehen lassen würde, und sie wußte nicht warum.
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der umgedrehte Würstchenverkäufer reißt es raus die augen gerade, die augenbrauen gerade, das kinn gerade, der mund gerade, nur die rotblonden haare in unordnung, wie der torwart nach einer genialen parade – das mit den vielen stilen könnt ihr machen, weil es ein monolithisches gegengewicht gibt: das geld. der markt kann sich alles anverwandeln, weil er alles ausdrücken kann. egins stärke war das Ssellungsspiel, er war kein großer flieger. wenn er nicht spielte, gab es zoff, ärger und krampf ohne ende, früher hatte der torwart jahrelang zeit, eine in den strafraum hereinsegelnde flanke abzufangen. wäre er an den schultern nur einen millimeter schmaler gewesen, er hätte nicht gewirkt. heute war das krafttraining unverzichtbar, als er den besprechungsraum in der hauptverwaltung des banco santander betrat, gewaltig. da blieben alle auf distanz. da waren alle gegen ihn. wenn alle für ihn waren, wenn ihm alle zujubelten, fühlte er sich nicht wohl, er provozierte mit absieht. daß sie ihn ablehnten, er brauchte das. der torwart muß fehlerlos sein. zehnmal kann er spektakulär halten, greift er beim elften mal daneben, kritisiert alles den torwart. trifft ein stürmer fünfmal das leere tor nicht, ist das niemals so schlimm, als wenn sich der torwart einmal verschätzt. lustig gemacht hatten sie sich über seinen körperkult. wenn er reinhaute wie ein verrückter, wurde er unbeweglich, das wußte er. gelernt hatte er deswegen, das training zu dosieren. der körper nahm ihm die angst, gab ihm selbstvertrauen. die muskeln geschmeidig und schnell, trotzdem ein panzer sein körper. 105
wörter hin und her. deppengeschwätz. flächenweit. ich mache die bigpoints. alle, die groß waren, machten in den entscheidenden spielen ihre bigpoints. jetzt, wo es an die wirklich großen fleischtöpfe ging, war er hundertprozentig wach. vor hundert jahren, da hatte er sich einmal verletzt. diesmal würde nichts kaputtgehen. sie pfiffen und schrien, als er hinauslief, die aufgeplusterten moorhühner und der moorhahn, doch tatsächlich waren sie betäubt, schläfrig. trunken von der trivialität ihrer aufgäbe, wurden sie unvorsichtig. egin hatte ihr denkvermögen vergiftet mit seinem protzgehabe, der bänker blickte egin so abschätzig an, als habe der ihm erzählt, er würde eine geheime mission durchführen, charlotte schwitzte, ethel hatte die anderen nicht einmal begrüßt, bär nickte zu allem wie ein meißenbuddha, fleur war an der tafel des bänkers von santander anwesend und abwesend zugleich, selbst stine schien nur an die rückreise zu denken. aber er, egin, eröffnete den haß und die hatz. er kam raus mit der bank, die filialräume mieten wollte, nicht mit dem pflegeheim, darüber wollte er gar nicht mehr reden. als er den brief der bank vorlegte, faßte ethel, die ihn gerade noch verachtet hatte, unvermutet zärtlichstes vertrauen zu ihm. streifte den rechten schuh ab, berührte ihn mit den zehen unter dem tisch. jählings brach bär durch. die bank, die mieten wollte, hatte schon eine filiale ganz in der nähe, diesmal versuchte er nicht, blind zu retten, diesmal rutschte er nicht hinein, und alles war kaputt. stumm latschten sie auf dem stadtplan von magdeburg um den teleskopgasbehälter herum, bogen einmal ab und waren schon bei der bestehenden filiale der seedybank, wie der bänker von santander das konkurrenzinstitut benannte, keiner fragte, auf welche weise egin zu dem brief gekommen war, warum die seedybank da noch eine filiale wollte, wo sie schon eine hatte, ein ganz dummer trick. alle warteten auf 106
einen laß-alles-fahren-dahin-blick zu stine. auf der bahre würde er abtransportiert werden. sie badeten in seiner niederlage. nur ethel legte ihre hand auf den brief der seedybank, als ob sie ihn prüfte, berührte dabei egin auch über dem tisch. die seedybank machte ein so außerordentlich gutes geschäft in ihrer bestehenden filiale, daß sie sie vergrößern wollte, jetzt schlug er gnadenlos zurück. aber die filiale konnte nicht vergrößert werden. physische schmerzzufügung. wenn man das gebäude abriß und neu errichtete, die ebenerdige filiale auf mehrere stockwerke verteilte, konnte man trotzdem keine parkplätze zur verfügung stellen. folter. er blickte in die runde, sah demütigende erschöpfung. jetzt würde er die aussagebereitschaft erzwingen. ihr bau sah eine tiefgarage vor. die filiale würde umziehen, zu ihnen. dm 50, sie sollten ihm jemand anderen zeigen, der dm 50 für den laden zahlte, noch dazu mit dieser bonität. ethel wollte egin küssen, denn ihr vertrauen in ihn war irreversibel geworden. ich rufe dich in meiner ungeduld, ließ er seinen durchtrainierten körper sagen, komm, ich will mit dir schlafen. er hustete in die hand, und es klang, als ob er weinte oder lachte, wir können hier aufstehen, dann macht wer anders den reibach, andere guerilla-people, dm 50 für das pack. die seedybank plante keinen umzug, es ging auch ohne parkplätze. aber die seedybank wollte charlotte als kundin. egin hatte im auftrag stines, ohne das wissen charlottes verhandelt. wenn sich die seedybank zu dem projekt in ihrer nachbarschaft erklären würde, könnte sie als hausbank von voigtländer ein neues kapitel in der firmengeschichte schreiben. die seedybank war darauf eingegangen, hatte sich zu den formulierungen verstiegen, über die hier ethels finger strichen. vielleicht dachten sie ja in der zwischenzeit tatsächlich daran, mit ihrer filiale umzuziehen. jetzt aber los, wilde braut. weg vom fenster 107
mit charlotte und mit ethel dazu. egins gedanken umkreisten stine im formationsflug. mach kein theater. es war geschärt, konkurrenzkampf, es ging um millionen, da gab es keine sentimentalitäten. wer was anderes erzählte, log. schizophren die situation für egin, total schizophren. er konnte kämpfen, machen, tun, und er konnte doch gar nichts machen, wenn stine nicht angriff, er durfte doch jetzt den strafraum nicht verlassen. warum kam stine denn nicht über die mittellinie. er konnte doch nicht mit der versicherung anfangen, nichts hätten sie ihm mehr geglaubt, weder die bank noch die versicherung. egin bewunderte charlottes ausstrahlung. sie hatte charisma, war keine blenderin wie andere, wie er. gegen eine spitzenfrau wie charlotte, da ging das mit den psychodingern nicht so einfach. wir hatten uns doch vorgenommen, daß wir sie ausbooten. auch wenn es, menschlich gesehen, noch so brutal ist. gewinnen heißt niemals aufgeben. gewinnen heißt wollen. gewinnen heißt positiv sein. jeden tag sagte er seine leitsätze auf, träumte sogar davon. klang lächerlich, aber wenn es einem schlecht ging, fühlte man sich danach besser, stine lachte immer über seine leitsätze, mal gucken, ob du sie noch zusammenbringst. es war ein fehler, daß stine keine leitsätze hatte, er hatte noch zwei andere leitsätze, daß er die vergessen hatte, seltsam. machte ihn nachdenklich. am liebsten wegfliegen, geschienten träumen, wärme auf der haut spüren, egins augen starrten ins leere, seine ohren horchten ins nichts. das geschöpf, das stine ins leben hineingeschrieben hatte, schrieb sich nicht weiter, jetzt mußte stine eingreifen. bei einer promotion für ein neues produkt war sie mit einem projektanten ins gespräch gekommen, der für eine große versicherung arbeitete, die versicherung brauchte neue büros in magdeburg. es gab büros wie sand am meer in magdeburg. die versicherung 108
wollte in magdeburg nicht investieren. der projektant und der aus der versicherung kannten sich gut. das nachbargrundstück 3000 m2 und zu haben. die versicherung als mieter. der name der versicherung stach den anwesenden ins gesicht, die konditionen, zu denen die versicherung anmieten wollte, wehten unter kostüme und anzüge. nur charlotte sah, wie bär eine fürchterliche grimasse schnitt. auf nach magdeburg, rief der bänker von santander, da ist es schön. er stemmte charlotte hoch und hob sie auf seine schultern, um ihr freien ausblick auf die allgemeine meinung zu geben. ethel jauchzte, jetzt spring. auf ihre fetten hinterbacken wird charlotte fallen, knurrte egin, doch niemand hörte ihn. keiner achtete mehr auf den torwart. egin hätte rülpsen, furzen können oder auf den besprechungstisch onanieren, es hätte der versicherung und der seedybank nichts hinzugetan. selbst wenn die seedybank mietete, stine würde dafür sorgen, daß die versicherung niemals unterschreiben würde, völlig aussichtslos die büros. standen schon viel zu viele viel zu lange leer. werfen wir unsere kleider auf den boden, durchflatterten egins gedanken die distanz zu ethel, die schatten werden von den wänden springen, bis es finster ist. das licht in dem raum erholte sich von der gewalt und dem vergnügen. auf charlotte lag es totenstill, egin tauchte es in einen zitternden kegel. stines gesicht ließ es schneidhart erscheinen. niemals würde stine die ausstrahlung charlottes haben.
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heute ich morgen du charlotte ist furchtbar müde als charlotte am morgen nach der besprechung in madrid aus unruhigen träumen erwachte waren alle ihre glieder steif die arme konnte sie nur in den schultergelenken die beine nur in den hüftgelenken bewegen so schwach war sie daß es ihr nicht gelang den kopf auf den schultern zu halten wie ein ball fiel er ihr vorne und hinten herab da war ein brechreiz als ob sie am abend vorher bis zur besinnungslosigkeit getrunken hätte sie mußte sich an der wand entlanghangeln um ins bad zu kommen dabei stieß sie die nachttischlampe um und wischte ihre tasche samt inhalt vom tisch im bad sank sie auf dem hocker vor dem waschbecken zusammen sie wollte das wasser aufdrehen blieb aber mit dem daumen am wasserhahn hängen und bog den nagel um sie griff nach der zahnbürste und verlor das gleichgewicht fast wäre sie vom stuhl gefallen nachdem sie die halbe tube zahnpasta ausgeleert hatte traf sie mit der zahnbürste zuerst die nase dann das kinn schließlich konnte sie die zahnbürste in den mund führen doch sie rieb nicht die zahne sondern das zahnfleisch der wasserhahn war blutig sie hatte zahnpasta an der nase unter den augen am hals derweil begann ethel mit den vorbereitungen zu ihrem hundertsten geburtstag sie wußte jeder 25ste konnte hundert werden im neunzehnten jahrhundert erreichte nur jeder 300ste europäer dieses alter die meisten hundertjährigen hatten überdurchschnittlich viele soziale kontakte wer viel telefonierte hatte eine höhere lebenserwartung ständig dein na warum in den ohren das handy garantierte ein langes leben ethel vertraute darauf daß in unmittelbarer zukunft die 110
entschlüsselung des telomerasegens gelingen würde das die zellteilung steuerte auf diese weise würde die apoptose der programmierte zelltod gestoppt werden und der körper ewig jung bleiben ethel hatte nie an den weltuntergang geglaubt es ist drei uhr morgens sieh nicht dauernd auf die uhr entspanne dich atme langsam ein atme langsam aus es gibt keine zeit es gibt keine uhr du hast die ganze nacht zu deiner verfügung wenn charlotte nicht so erschöpft wäre könnte sie aufstehen die fenster öffnen und die sterne betrachten wenn sie nicht solche kopfschmerzen hätte könnte sie ins wohnzimmer gehen und musik hören wenn sie nicht so schwach wäre könnte sie das licht anmachen und ein buch lesen wenn sie dazu imstande wäre ihren kopf auf den schultern zu halten könnte sie sich einen film ansehen wenn ihre finger nicht dauernd danebengreifen würden könnte sie die die akten durchgehen die ihr bär dagelassen hat ethel hatte gehört schildkröten können 300 jahre alt werden ethel aß immer sehr langsam muscheln können 200 jahre alt werden ethel zog keine miniröcke an elefanten können 150 jahre alt werden ethel fuhr einen geländewagen um auf die anderen herabzublicken papageien können 100 jahre alt werden ethel redete viel esel konnten 100 jahre alt werden ethel nahm sich vor immer stur zu bleiben ethel hatte gelesen daß herz- und kreislauferkrankungen in deutschland 485 krebs 247 erkrankungen der atmungsorgane vor allem lungenentzündungen 61 und erkrankungen des verdauungstrakts vor allem alkoholbedingte schädigungen der leber und der bauchspeicheldrüse 47 von 1000 todesfällen ausmachen ethels vorbilder waren winston churchill no sports und die queen mom a few decent gin tonics every night ethel trank viel wasser sie verlor zweieinhalb liter täglich durch schweiß und andere ausscheidungen einen liter nahm sie mit der festen 111
nahrung auf also mußte sie mindestens eineinhalb liter pro tag trinken in der nacht schlief charlotte nicht am tag stolperte sie völlig übermüdet über ihre eigenen füße es kostete sie eine unglaubliche kraftanstrengung den bh zu. schließen und den reißverschluß ihres rocks hochzuziehen der aktenkoffer wog unendlich viel sie war schweißgebadet bevor sie nur in ihren wagen stieg wenn sie nicht schwitzte fröstelte es sie probleme bei der zeitlichen abfolge von gedächtnisinhalten räumliche desorganisation schwierigkeiten richtungen anzugeben und einzuhalten schwierigkeiten beim verarbeiten von problemen langsames intellektuelles tempo schwierigkeiten beim verarbeiten visueller und auditiver informationen vergeßlichkeit reizbarkeit geistige verwirrung konzentrationsunfähigkeit beeinträchtigung beim sprechen und oder argumentieren benommenheit sich wie benebelt fühlen probleme beim finden von wörtern ablenkbarkeit schwierigkeiten mehr als eine sache gleichzeitig zu bearbeiten unfähigkeit einfache mathematische operationen auszuführen probleme beim verbalen erinnerungsvermögen motorische probleme störungen beim abstrakten logischen denken sequenzprobleme gedächtniskonsolidierungsschwierigkeiten verzerrte oder verworrene kurzzeitgedächtnisinhalte charlotte rief in der fabrik an um sich nach der maschinenauslastung und den umsätzen zu erkundigen sie stellte sich die frage ob ethel mit egin schlief aber sie fragte sich nicht wie lange sie schon fieber kopfschmerzen muskelschmerzen halsschmerzen ohrenschmerzen Verstopfung schnupfen husten durchfall hatte ethel war gegen das krankenhaus denn sie wußte daß sich 13 von 100 patienten im krankenhaus eine harnwegsinfektion holten und 6 von 100 eine wundinfektion daß 6 von 100 an atemwegsinfekten 112
wie lungenentzündungen erkrankten daß 3 von 100 eine blutvergiftung bekamen und 2 von 100 patienten das krankenhaus mit einer haut- und schleimhautinfektion verließen ethel wußte nicht wie viele patienten sich alle diese infektionen gleichzeitig zuzogen am anfang war die müdigkeit in wellen aufgetreten nur gelegentlich von übelkeit begleitet jetzt war die müdigkeit allgegenwärtig wenn charlotte es morgens ins büro schaffte mußte sie spätestens mittags wieder gehen charlotte und ethel lebten nicht unter hochspannungsmasten es gab keine umspannstation in ihrer nähe keine eisenbahn führte an ihrem grundstück vorbei das nächste kernkraftwerk war weit weg ethel hatte nachgeprüft ob die wasserleitungen etwa aus blei waren sie hatte die teppichböden im schlafzimmer ihrer mutter und in ihrem schlafzimmer entfernen lassen und durch parkett ersetzt in dem gab es bestimmt kein pcb und kein lindan in der luft waren auch keine pilzsporen und kein formaldehyd charlotte hatte sowohl das grundstück mit dem teleskopgasbehälter als auch das angrenzende grundstück gekauft der vorbescheid für das pflegeheim und das bürohaus war nach wenigen wochen erteilt worden die baugenehmigung hatte nicht einmal ein vierteljahr gebraucht der pachtvertrag mit dem betreiber des pflegeheims war unterschrieben die mietverträge mit der bank und der versicherung sollten demnächst unterschrieben werden laut egin ging es nur um formalien weil der betreiber des pflegeheims auf einem möglichst frühen eröffnungstermin bestand war der auftrag bereits an den generalunternehmer vergeben am tag nachdem sie alle bei der bank gewesen waren hatte charlotte zum erstenmal diese entsetzliche müdigkeit und kraftlosigkeit verspürt sie war ihrem sohn untreu gewesen er klagte sie an sie habe ihn verraten belogen verlassen sie schickte sich an ihn wegzugeben was für ein grauenhaftes 113
mißverständnis sie wollte weitere kinder nur haben um sie zu vernachlässigen ihr sohn rächte sich an ihr an ihrer seele ihre seele wollte daß ihr körper versagte ethel hatte nachgeschlagen daß der körper kohlehydrate eiweiße und fette im Verhältnis 55:25:15 benötigt ethel hatte sich angewöhnt nicht wenige große mahlzeiten sondern viele kleine mahlzeiten einzunehmen sie aß obst salat gemüse wenig und dann nur mageres fleisch viel fisch milchprodukte vollwertiges getreide müsli naturreis körnerbrot sie trank ein glas rotwein täglich ethel aß kefir wegen des kalziums wegen der proteine wegen der bvitamine einmal pro woche legte ethel einen vegetarischen tag ein dann aß sie tofu sojasprossen und trank sojamilch sie wußte daß soja lebenswichtige aminosäuren 40 prozent protein 20 prozent öl davon 2 prozent lecithin 34 prozent kohlehydrate und ballaststoffe enthält ethel achtete darauf immer genügend eiweiß zu essen sie wußte daß der tägliche bedarf von circa 70 g in 150 g putenbrust (34 g eiweiß) plus 75g kichererbsen (15 g) plus 60g gouda (16 g) und einem glas milch (7 g) enthalten ist ethel naschte regelmäßig schokolade weil nach einer amerikanischen untersuchung schokoladenesser im schnitt ein jahr länger leben ethel trank jeden tag grünen tee denn er enthält polyphenole charlotte erkannte ihre eigene handschrift nicht wieder es gelang ihr nicht einen vollständigen satz zu schreiben die buchstaben machten auf dem papier was sie wollten eine vorübergehende erscheinung sagte der hausarzt wahrscheinlich handle es sich um eine verschleppte grippe fortwährende oder immer wieder auftretende entkräftende müdigkeit beziehungsweise leichte ermüdbarkeit bei jemandem ohne vorgängige krankheitsgeschichte mit ähnlichen symptomen auch nach ausgedehnter bettruhe verschwindet diese müdigkeit nicht sondern ist derart schwerwiegend daß die 114
durchschnittliche tägliche aktivität des patienten für einen zeitraum von mindestens 6 monaten auf unter 50 prozent seines vor der krankheit bestehenden aktivitätsniveaus reduziert ist andere klinische zustände die ähnliche symptome erzeugen können müssen durch eine gründliche evaluation ausgeschlossen werden müdigkeit chronische müdigkeit chronisches müdigkeitssyndrom zwar könnten viele echte cms-patienten von dieser definition ausgeschlossen werden eine weniger restriktive festlegung würde hingegen eine anzahl patienten ohne cms einschließen vererbung umweit medizinische behandlung lebensweise viral induziert ein zusammenhang mit retroviren zytokin mediiert psycho-neuroimmunulogische störung genetisch prädisponierte individuen cms als opportunistische krankheit wirtresistenz genesung was heißt das quantitative genesung das ehemalige funktionsniveau wiedergewinnen qualitative genesung ein gefühl für ausgewogenheit und kontrolle erwerben ethel glaubte nicht daran daß charlotte im krankenhaus sicher war ethel glaubte nicht an den satz viel hilft viel ethel glaubte nicht daran daß ärzte immer die wahrheit sagten charlotte glaubte nicht daran daß sie keinen arzt brauchte ethel bewegte ihre gliedmaßen wie selbstverständlich sie war nicht dankbar weil alle ihre organe funktionierten charlotte verstand jetzt daß gesundheit ein privileg darstellte daß sie die eintrittskarte zum normalen leben verloren hatte ethel verwendete distel- leinsamensonnenblumen- und olivenöle da sie mehrfach ungesättigte fettsäuren enthalten die den cholesterinspiegel senken ethel wußte die freien radikale im körper verursachen krebs und tragen wesentlich zur alterung bei sie achtete darauf die vitamine a b beta-carotin c e und das spurenelement seien einzunehmen denn diese stoffe wirken als antioxidantien sie sind dazu in der lage giftige 115
nebenprodukte des stoffwechsels und schadstoffe aus der umweit zu neutralisieren ethel ging nicht in die sonne sie mied gegenden in denen die luft verschmutzt war sie trieb keinen sport weil auch der sport die entstehung von freien radikalen fördert ethel achtete darauf genügend spurenelemente zu sich zu nehmen sie befriedigte ihren täglichen bedarf an eisen von 10 bis 18 mg kupfer (2 bis 5 mg) magnesium (220 bis 300 mg) und zink (10 bis 20 mg) mit mineralwasser erbsen nüssen fisch tierleber sie aß vollkornbrot und kartoffeln um sicherzugehen daß sie pro tag niemals weniger als 30 g ballaststoffe zu sich nahm sie trank nie weniger als drei glas milch pro tag außer wenn sie spinat grünkohl oder lauch aß sie wußte daß sie 700 bis 1200 mg kalzium täglich zu sich nehmen sollte aber nicht mehr denn zuviel kalzium ist schädlich ethel bekämpfte die fieberanfälle die muskelanspannung das erbrechen die orientierungslosigkeit die sehstörungen die müdigkeit charlottes mit 2 bis 3 mg vitamin a mit 1,5 mg vitamin b1 und b2 2,5 mg vitamin b6 0,5 mg vitamin b12 mit 3 g vitamin c mit 0,5 bis 1 mg vitamin d mit 10 bis 30 mg vitamin e sie gab ihrer mutter vier zentner kartoffeln sechs kilo gurken fünfzehn kilo bananen dazu dreihundert gramm zwiebeln plus vier dosen pfirsiche plus zwei kilo karotten und zwei kilo weißkohl täglich doch sie kam nicht gegen die krankheit an charlottes mandeln waren in ordnung keine tonsillektomie ihre bauchschmerzen hatten nichts mit dem blinddarm zu tun keine appendektomie charlotte und ethel lebten nicht in einem landstrich mit jodmangel charlottes schilddrüse war nicht vergrößert keine thyreoidektomie charlotte litt auch nicht unter gallensteinen keine cholezystektomie charlotte war kein mann keine prostatektomie je älter die vorfahren desto älter die nachkommen das wichtigste startkapital nach allen untersuchungen über hundertjährige sind die gene 116
keiner von ethels großvätern und keine von ethels großmüttern lebte noch wenn man nur ein kleines startkapital mitbekommen hat muß man es effizient vermehren die meisten hundertjährigen waren ihr leben lang sehr gesellig ethel verabredete sich häufig mit egin um den fortschritt des projekts zu besprechen ethel plante sich bis ins hohe alter immer neuen herausforderungen zu stellen ethel rauchte denn sie wollte locker bleiben und das leben nicht so verbissen sehen ethel nahm zur kenntnis daß die meisten hundertjährigen erstaunlich wenig dafür taten so alt zu werden das festhalten eines buches war für charlotte zu einer schwierigen angelegenheit geworden das hochhalten eines aktenordners zur unmöglichkeit sie las indem sie ein lineal unter die zeile hielt sonst sprangen die buchstaben und wörter vor den augen hin und her kurz nach dem ausbruch ihrer krankheit schickte sich charlotte einmal an eine flugreise zu unternehmen das flugzeug flog nicht vom finger weg die türen des busses gingen auf sie wollte den fuß heben und ihn aufs trittbrett setzen ihr körper gehorchte ihr nicht mehr kein körper gehorchte ihr mehr der bus war lange weg sie stand immer noch vor der tür des warteraums ein klassisches triathlon besteht aus 3,8 km schwimmen 180 km radfahren und 42,2 km laufen charlotte konnte gar nicht beschreiben wie es war in ihrem eigenen körper nicht mehr zu hause zu sein wenn sie frühmorgens ihre augen aufschlug erwachte sie nicht in einem fremden bett in einem fremden zimmer sondern in einem fremden leib ihr körper war ein wesenloses objekt das keine befehle mehr verstand das zehnfache triathlon besteht aus 38 km schwimmen 1800 km fahrrad fahren und 422 km laufen charlotte wußte nicht mehr ob sie wirklich noch charlotte war eigentlich gab es sie gar nicht mehr egin trainierte mit einer läuferin die man gerade bei einem zehnfachen triathlon in mexiko nach 38 km 117
schwimmen 1800 km radfahren und 312 km laufen disqualifiziert hatte sie war quer über das feld gelaufen hatte die strecke abgekürzt ein blackout wegen eines flüssigkeitsmangels eine andere teilnehmerin zeigte sie bei der rennleitung an einer der veranstalter fuhr ihr mit dem fahrrad entgegen und teilte ihr mit daß sie disqualifiziert war nach den bestimmungen hätten drei Schiedsrichter über die disqualifikation entscheiden müssen aber tatsächlich traf ein einzelner die entscheidung der ehemann der bisherigen rekordhalterin wenn sie bis zum schluß gelaufen wäre hätte sie insgesamt 205 stunden gebraucht der rekord der anderen lag bei 249 stunden ethel gab ihrer mutter gelée royale mit dem futtersaft der bienenkönigin vergrößerte sich bei den larven der bienenkönigin das gewicht in nur 6 tagen auf das 3000fache fliegen die man mit gelée royale ernährte steigerten ihre lebenserwartung um 80 prozent ethel rechnete für sie selbst würde eine lebenserwartung von 55 jahren ausreichen um mit gelée royale hundert zu werden sie zog es jedoch vor ihren eigenen körper mit der wurzel der unsterblichkeit ginseng zu verjüngen und damit verdauung blutdruck und schlaf zu regulieren ihren blutfluß machte sie mit knoblauch geschmeidig der auch ihre darmtätigkeit anregte sie aß getrocknete algen die reich an jod kalzium und zellulose sind sie wußte daß man durch jodmangel schneller altert und für krankheiten anfällig wird sie ging davon aus daß ihr körper jeden tag und unter allen umständen 18 mg jod benötigte sie überlegte ob sie ihrer mutter mistelpräparate geben sollte die das immunsystem stärkten sie vertiefte sich in studien die nachwiesen daß melatonin in pillenform bei mäusen und ratten die lebenserwartung um bis zu 20 prozent steigern kann seit ihre mutter nicht mehr ins büro kam trug ethel ihr wichtige vorgänge zu hause vor ethel sprach sehr 118
deutlich wenn sie ihrer mutter etwas erklärte machte sie lange pausen zwischen den sätzen und blickte ihre mutter fragend an ob sie auch wirklich alles verstanden hatte sie ließ den mund offen und fuhr sich mit der zunge die oberen schneidezähne entlang dabei hörte charlotte gar nicht schlecht das gehör war der einzige sinn der nicht gelitten hatte manchmal wünschte sich charlotte sie würde schlechter hören seit ihre mutter nicht mehr ins büro kam trug ethel einen silbernen ohrschmuck in der form von büroklammern einmal hatte sie ein rotes satinkleid an das von zwei schmalen trägem gehalten wurde man konnte die brustwarzen erkennen sogar der etwas erhabene leberfleck über der rechten brüst zeichnete sich als erhöhung ab charlotte war stolz darauf daß sie noch solche schlüsse ziehen konnte sie fand daß ihre tochter mit dem hintern wackelte seit sie selbst nicht mehr ins büro ging dhea happy hundred years arthright noni shark cartilage ginkgo cat’s claw pine bark mit allem was ethel für ihre mutter tat gab sie ihr zu verstehen daß gesundheit eine körperliche und geistige leistung war charlotte trug die verantwortung für ihre krankheit ethels gesundheit war eine frage des persönlichen verdienstes allerdings besaß sie den takt ihrer mutter nicht zu erzählen daß sie mit egin und der triathletin trainierte die man nach 38 km schwimmen 1800 km fahrrad fahren und 312 km laufen in mexiko disqualifiziert hatte ethel war erstaunt über deren gute figur sie hatte keine ausgeprägte taille muskulöse aber proportionierte beine wallendes lockiges haar eine riesengroße nase jedoch fast keinen busen sie war mutter von drei kindern seit zehn jahren profi lebte sie von sponsoren und preisgeldern sie hatte sich von ihrem mann getrennt und ernährte ihre drei kinder allein nach dem zehnfachen triathlon ist schluß für mich ich sehe keinen sinn darin um jeden preis noch extremere leistungen zu 119
bringen mehr als das zehnfache triathlon mache ich nicht hatte sie zu ethel gesagt die triathletin wußte gleich wann sie verloren hatte charlotte ahnte es nur welcher war eigentlich der entscheidende wettkampf gewesen charlotte drehte sich auf den rücken charlotte drehte sich auf den bauch charlotte drehte sich auf die seite charlotte konzentrierte sich auf die fingergelenke charlotte konzentrierte sich auf die handgelenke charlotte konzentrierte sich auf die fußgelenke charlotte konzentrierte sich auf die zehengelenke charlotte zog sich die bettdecke über den kopf charlotte wälzte sich neben die bettdecke doch die Sshlaflosigkeit kannte kein erbarmen die krankheit konnte kein zufall sein die schmerzen keine willkür schicksalsschlag die hand gottes leiden mit sinn für seine sünden büßen seiner bestimmung entsprechen ein neuer mächtiger lebenszweck die melioration des selbst die krankheit ein zeichen ein wort eine kommunikation ein signal man ruft sich über die anderen zu tu etwas für dich ändere dich und du wirst gesund die karriere als nur ein abschnitt auf dem lebensweg 1929 gelang dem amerikanischen astronomen edwin p. hubble der beweis daß sich das all ausdehnt das beobachtbare all bleibt jedoch begrenzt die sterne jenseits dieser grenze können uns nicht leuchten vor zwanzig dreißig jahren war es für junge intelligente leute klar sie wollten karriere machen diesem ziel opferten sie einen großen teil ihrer jugend wenn man charlotte die frage stellte ob sie nochmals den gleichen weg einschlagen würde wäre sie nochmals zwanzig würde sie ohne zu zögern mit ja antworten die trennung von tag und nacht fand wie die scheidung von wasser und land in den ersten tagen der schöpfung statt wer nicht daran glauben will denke sich eine andere geschichte aus charlotte wob ihr eigenes universum damit sie nachts nicht schlafen mußte 120
in der nacht verschwimmen die trennungslinien zwischen innen- und außenweit in afrika ist die nacht so ziemlich das einzige was immer pünktlich kommt wo alle eulen hexen sind ist gefahr im busch gefeit gegen zauberei sind in afrika nur die weisen es sei denn der pfefferkopf geht um führen heißt verantwortung tragen führen heißt vorbild sein entscheidungen fällen und durchsetzen werte die entscheiden wer im privatleben nicht offen und ehrlich ist wird es schwer haben echte freunde zu finden wer im beruf diese eigenschaften vermissen läßt kann vielleicht vorübergehend erfolgreich sein an der spitze herrscht oft dünne luft die zeiten sind vorbei in denen unternehmen jahrelang ihr dasein ohne grundlegende veränderungen fristen konnten ist der platz an der spitze ein platz an der sonne wie kommt man an die spitze wie bleibt man an der spitze wie hält man das rampenlicht aus an der spitze gibt es immer platz denn für spitzenplätze stehen immer zu wenige spitzenleute zur verfügung der steile pfad muß aus eigenem entschluß gewählt werden wer sich durch dritte drängen läßt wird früher oder später zum aussteiger es muß früh klar sein wessen anerkennung denn gesucht wird von 1819 an wurde es schrittweise heller in den städten die straßenbeleuchtung sollte lüge räuberei und irrtum aus den städten verbannen welchen nutzen bringt meine karriere anderen du bist mehr als die rolle die du spielst du bist mehr als die funktion die du ausübst du bist mehr als die karriere die du machst gewiß stolpern manche die treppe hinauf nur zähe persönlichkeiten können sich langfristig behaupten charlotte fürchtete den tod aber sie ersehnte die unendlichkeit die danach kommt galaxie und gnade im dezember 1995 startete bob williams einen bis dahin nicht unternommenen versuch er beschloß die ganze ihm als direktor des space telescope science institute zustehende kostbare beobachtungszeit am hubble-weltraumteleskop 121
für eine einzige aufnähme zusammenzulegen innerhalb von 10 tagen wurde erstmals ein winziges himmelsfeld im bereich des großen baren während insgesamt 152 stunden belichtet das ergebnis war das hubble deep field die bis heute tiefste himmelsaufnahme auf einem winkelausschnitt von 2,5 bogenminuten das entspricht etwa der fläche einer abgemalten bleistiftspitze entdeckten die verblüfften astronomen etwa 3000 galaxien sie stammten aus allen epochen der kosmischen geschichte die ältesten von ihnen die protogalaxien haben ihr licht vor über 10 milliarden jahren losgeschickt wir sehen sie möglicherweise in ihrer geburtsphase 2 bis 3 milliarden jahre nach dem urknall weiter zurück als in die frühzeit der entstehung von galaxien können wir nicht blicken weil da nichts ist was sichtbar wäre für die physik ist das universum heute ein wunderbares großlabor das knickerlebnis als falsches bild wege und umwege lebenswendemarken planung und glaube labyrinth als lebenswegsymbol bilanz des umwegs nach zeiten der unsicherheit kann es auch entlastend sein zu wissen woran man ist
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charlotte pflückt die süßen und egin die bitteren träume (advice to parents: explicit content) während sich ethel und charlotte egins laden in einer nebenstraße der maximilianstraße näherten, hörten sie sirenen. ethel sagte, es brennt wieder, charlotte wunderte sich, wie bei dem strömenden regen ein feuer vor dem geschäft ausbrechen konnte, die polizei hatte die straße abgeriegelt, trotz des regens drängten sich zahlreiche schaulustige an den absperrungen. der gehsteig war aufgerissen, um leitungen zu verlegen. neben dem geschäft waren die von rauchschwaden eingehüllten umrisse eines altmodischen baustellenwagens erkennbar, das feuer hatte nicht auf das geschäft übergegriffen, als folge der hitze war jedoch die schaufensterscheibe geplatzt und die fassade schwarz gefärbt. egin und seine verkäuferinnen hatten sofort damit begonnen, den teil des geschäfts leer zu räumen, vor dem es brannte, die feuerwehrleute hatten den brand bald gelöscht. der regen ging in ein nieseln über, die verkohlten reste des baustellenwagens sanken in sich zusammen. charlotte und ethel boten an, beim umräumen und saubermachen zu helfen, aber egin winkte ab. als die polizisten und der feuerwehrhauptmann nach draußen gingen, um die überreste des wagens zu inspizieren, kam ein mann aus dem haus gegenüber hinzu, der angab, kurz vor ausbruch des feuers beobachtet zu haben, wie eine frau den bauwagen betreten hatte, er habe sich noch gefragt, was die frau dort machte, und den bauwagen nicht aus den augen gelassen. plötzlich seien flammen aus den fenstern und dem dach geschlagen. er habe jedoch nicht gesehen, 123
wie die frau den wagen verlassen habe, die frau sei groß gewesen, schlank, sie habe blue jeans und eine schwarze lederjacke getragen. die blue jeans seien an mehreren stellen eingerissen gewesen. das erstemal hatte es im winter gebrannt. die polizei nahm an, daß obdachlose ein feuer angezündet hatten. damals hatte egin eine frau mit einem am rücken fast in zwei teile zerrissenen schwarzen ledermantel gesehen. dann brach auch im frühling und im sommer feuer aus. egin konnte nicht den ganzen tag den gehsteig vor dem geschäft im auge behalten. bis jetzt hatte es immer nur während der geschäftszeit gebrannt. egin hatte angst, daß es brennen würde, wenn niemand da wäre, der sofort die feuerwehr alarmierte, egin gestand ethel und charlotte, daß er in finanziellen schwierigkeiten war. schon beim letzten brand hatte sich die versicherung geweigert zu zahlen. inzwischen regnete es nicht mehr, doch der himmel blieb bedeckt, charlotte und ethel nahmen egin mit zu sich nach hause, egin wollte ethel heiraten, ethel wartete nur darauf, nach dem neuerlichen feuer blieb ihm gar nichts anderes übrig. mit keinem neuron seines gehirns dachte er daran, daß er dazu stine verlassen mußte, es war ein träum. charlotte wollte ethel und egin auseinanderbringen. sie schickte ethel unter einem vorwand weg und verkündete egin, sie brauche einen privatsekretär. egin sagte, er sei ja schon ihr privatsekretär. charlotte erklärte, ihr privatsekretär müsse sich um viele dinge kümmern. zum beispiel müsse er für ihre freundinnen tanzen. sie legte eine cd ihrer tochter auf, massive attack, und setzte sich auf das sofa, egin zog sich aus und tanzte vor ihr. charlotte wollte von egin wissen, ob er geil sei. egin sagte, er sei geil, charlotte verlangte, er solle sich den schwänz reiben. egin rieb sich den schwänz und tanzte weiter, ob er wirklich geil sei. egin sagte, er sei wirklich geil, dann solle er sich einen finger in den hintern 124
stecken. egin steckte sich einen finger in den hintern und bewegte sich im rhythmus der musik. egin bediente gerade eine gute kundin, als er ans telefon gerufen wurde. die kreditsachbearbeiterin seiner bank. ich weiß, warum sie anrufen. eine französische firma hatte angekündigt, sich bei egins hausbank über seine schlechte zahlungmoral zu beschweren. er hatte wiederholt behauptet, ein scheck sei unterwegs, er müsse jeden tag ankommen. das erstemal war der scheck bei der post verlorengegangen, das zweite mal aus versehen nicht zur post gebracht worden, das dritte mal hatte die anschrift nicht gestimmt. der scheck konnte nicht ankommen, solange egin ihn nicht ausgeschrieben hatte, egin nahm an, daß die firma ihre drohung wahr gemacht und sich tatsächlich bei seiner bank beschwert hatte, die sache mit frankreich ist mir sehr peinlich. ich weiß nicht, wovon sie reden. ich rufe an, weil sie mit den gehältern schon wieder ihr limit überschreiten. ich verstehe nicht. wir benötigen eine grundbuchmäßige absicherung oder eine bürgschaft für den ungedeckten teil des kredits. sonst kann die überweisung nicht ausgeführt werden. ihr limit ist innerhalb von drei monaten zweimal erhöht worden, und sie überschreiten es schon wieder. am freitag um halb zwölf kann ich ihnen keine grundschuld geben. dann können wir die überweisung nicht ausführen. ich verstehe nicht, daß ich mit den gehältern über das limit komme, ich muß mit meiner steuerberaterin sprechen. wie lange sind sie noch zu erreichen. egin brauchte sich die konten nicht noch einmal anzusehen. ihm war eingefallen, daß er einen scheck für eine lieferung von mänteln weggeschickt hatte, den er eigentlich hatte liegenlassen wollen. ein einziger alptraum.
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egin blickte in das Schaufenster seines geschlossenen geschäfts wir würden es an deiner stelle nicht fertigbringen, auch nur an dem geschäft vorbeizufahren wer seid ihr später warum sprecht ihr zu mir wir haben immer geträumt. wir haben uns gefragt, ob wir angst haben müssen in unseren träumen. wir haben uns gesagt, es hängt davon ab, ob wir einen unterschied zwischen träum und wirklichkeit feststellen. können wir nicht angeben, ob wir in einem traum sind, wenn wir in einem träum sind, müssen wir angst haben. unterscheiden sich die handlungen, die ereignisse oder die personen des traums sehr von denjenigen der wirklichkeit, können wir leicht angeben, ob wir in einem traum sind oder nicht, brauchen wir keine angst zu haben vielleicht erinnert ihr euch im traum nicht an die wirklichkeit, so wie ihr euch in der wirklichkeit nicht an den träum entsinnt wir haben gemerkt, daß wir bestimmte träume herbeiführen können. daß wir unsere träume lenken können. in träumen, die keine große nähe zur wirklichkeit hatten, haben wir dinge getan, die uns angst machten und für die wir uns schuldig fühlten. wir sind mit der schuld und der angst fertiggeworden. wir haben im träum personen getroffen und ereignisse stattfinden lassen, die ereignissen und personen der wirklichkeit immer ähnlicher wurden. wir haben dinge getan, die uns große angst- und schuldgefühle verursachten. auch die haben wir überwunden. wir haben gelernt, zwischen traum und wirklichkeit hin- und herzuwechseln ihr habt angst und schrecken trainiert. da müßt ihr doch verstehen, warum es mir nichts ausmacht, zu meinem geschlossenen geschäft zu gehen sind die angst- und schuldgefühle im traum auch bestimmt dieselben wie in der wirklichkeit die angst ist dieselbe und die schuld
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egin hatte seine steuerberaterin gebeten, sie solle den konkurs des geschäfts anmelden. danach hatte er sich mit der maklerin getroffen, die ihm das ladenlokal für das zweite geschäft vermieten wollte, er hatte die details eines mietvertrags verhandelt, den er nie unterschreiben würde, das zweite geschäft wollte er mit einer anderen bank finanzieren, die andere bank hatte noch keine bilanzen gesehen. die zuständige kreditsachbearbeiterin war fallschirmspringerin. es interessiert mich ungeheuer, was sie in ihrem geschäft machen. die fallschirmspringerin lächelte unausgesetzt. die zahlen sind ja nur eine seite des geschäfts. ich möchte immer möglichst viel über die menschen erfahren, die dahinterstehen. egin lächelte zurück. ich habe mir ihr geschäft angesehen. sie verkaufen, ä, historische kollektionen. ich verkaufe keine mode. ich verkaufe eine andere vergangenheit. das müssen sie mir erklären. die teile sind nach entwürfen gearbeitet, die nicht in serie gingen. ich habe keine teile, die es schon immer gibt. und auch keine neuanfertigungen. ich habe nur teile, die es nie gegeben hat. diese geschäftsidee hat erfolg. sonst wäre ich nicht hier, sonst brauchten sie kein zweites ladengeschäft. es gibt kunden, denen einfach die sachen gefallen, die ich anbiete, dann gibt es kunden, die sich, wie sie und ich, originale aus der zeit nicht leisten können, die aber nicht lauter kopien um sich haben wollen. meine lieblingskunden sind natürlich diejenigen, die sogar das geld für die originale hätten, die aber das ganz andere möchten. die künden, die wirklich eine andere vergangenheit wollen. die fallschirmspringerin nahm ein formular zur hand. wie hoch ist der investitionsbedarf. die fallschirmspringerin würde das geschäft geschlossen finden. sie würde es noch einmal versuchen, sie würde das geschäft wieder geschlossen finden. weil sie nicht über egins privatadresse verfügte, würde sie sich bei seiner 127
steuerberaterin erkundigen, die die verbindung hergestellt hatte, sie würde annehmen, daß egin versuchte, das geschäft mit einem kredit für ein angebliches zweites geschäft zu retten. die steuerberaterin würde ihr sagen, daß egin mit ihr verhandelt hatte, als das geschäft bereits unwiederbringlich verloren war.
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DRITTER TEIL Daran gemessen, worauf es wirklich ankommt, ist der Preis zu hoch. – Doch worauf kommt es wirklich an? Früher hatte Bär gedacht, der Feind, das seien die ungeschriebenen Gesetze. Teamwork an der Spitze, das Ringen um die beste Lösung – eine Utopie. Aber es spielte sich auch nicht so ab, daß man über dem Tisch freundlich zueinander war und sich unter dem Tisch ans Schienbein trat. Das Entscheidende war, daß nicht gesprochen wurde – höchstens Andeutungen wurden gemacht, keiner bekämpfte offen den anderen –, nie konnte man jemanden zur Rede stellen. Natürlich gab es Geschäftsordnungen, Satzungen, Organigramme. Doch kein Organigramm spiegelte die wahren Machtverhältnisse wider. Die Satzung sagte einem nicht, wo man hingehen mußte, um eine bestimmte Entscheidung durchzusetzen, die Geschäftsordnung drückte nicht aus, wer mit wem konnte und wer mit wem nicht. Die ungeschriebenen Gesetze erlaubten keinen Stolz auf eine erbrachte Leistung, keine Trauer über ein gescheitertes Vorhaben, keinen Zorn über ein unnötig gescheitertes Vorhaben, sie sahen keine wirkliche Zuneigung zu Menschen, Dingen und Ideen vor. War Bär einmal froh, verlor sie sofort die Freude, denn die ungeschriebenen Gesetze verboten es, die Freude zu zeigen. Die ungeschriebenen Gesetze nahmen allen Gefühlen die Echtheit, raubten ihnen jede Daseinsberechtigung. Allgegenwärtig der Feind, allgegenwärtig die 129
ungeschriebenen Gesetze – Bär war ganz sicher, daß die ungeschriebenen Gesetze der Feind waren. Sie wollte die ungeschriebenen Gesetze beschwichtigen, indem sie sie bei allem, was sie dachte und machte, streng einhielt. Doch es versöhnte die ungeschriebenen Gesetze nicht, daß Bär sich unterwarf. Bär blieb nur noch eine Möglichkeit: Sie mußte den ungeschriebenen Gesetzen den Krieg erklären. Damals war sie so jung gewesen, es konnte ihr gleich sein, ob ihr Vertrag verlängert werden würde oder nicht, sie nahm keine Rücksichten auf Ränge und Namen. Der Feind durfte sich nicht alles gefallen lassen, der Feind mußte etwas unternehmen! Bär wartete darauf, daß er zurückschlagen würde, sie selbst umstoßen, niedertreten würde, was sie erreicht hatte. Aber niemand rächte sich an ihr! Alles ging gut. Das zeigte: Die ungeschriebenen Gesetze waren nicht der Feind. Noch nie vorher war sie so erfolgreich und so glücklich gewesen wie zu der Zeit, als sie sich um die ungeschriebenen Gesetze nicht kümmerte. Damals hatte sie geglaubt, wirklich Einfluß zu haben. Sogar anmaßend war sie geworden – sie hatte sich gerechtfertigt, gute Leute neigten eben zur Überheblichkeit. Später hatte Bär für einen weltumspannenden Konzern gearbeitet und die fünf Erdteile bereist. Sie traf so viele verschiedene Menschen, die völlig andere Überzeugungen als sie besaßen. Obwohl ihr die unterschiedlichen Auffassungen der Menschen vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Lebenswege gerechtfertigt erschienen, konnte sie sich nicht vorstellen, jemals wirklich zu verstehen, daß die Menschen so verschiedene Werte haben konnten. Mit Erschrecken stellte sie fest, daß sie auf einmal dazu neigte, die ihr gestellten Aufgaben nur noch zu verwalten. Sie wartete darauf, daß sich von selbst Lösungen 130
herausbildeten, die sie dann unter allgemeiner Zustimmung umsetzen konnte. Da war kein Bedürfnis mehr, gegen den Strom zu schwimmen, sie wollte sich nur noch von dem in seiner Ergebnislosigkeit so seltsam harmonischen Miteinander der vielen verschiedenen Menschen mit den vielen verschiedenen Anschauungen forttragen lassen. Bär hatte Charlotte kennengelernt, als sie den Konzern beriet, für den Bär arbeitete. Charlotte war sich ihrer Sache sicher. Aber nie wählte sie die Pose der Überlegenheit. Sie sprach und sie schrieb nicht im Tonfall und Stil derjenigen, die alles wußte. Eigentümlich dabei, wie sie Bär immer zu fragen schien, ob sie, Bär, mit der Art, das Problem zu gliedern, mit der vorgeschlagenen Reihenfolge, die Teilprobleme abzuarbeiten, mit den ausgedachten Lösungsansätzen einverstanden sein konnte – trug Charlotte vor, dann schien sich alles, was sie sagte, nur an Bär zu richten. Und es erschien Bär, als sei das, was Charlotte sagte, für alle anderen neu, nur für sie, Bär, nicht. Bär war verwirrt, denn sie wußte nicht, was Charlotte von ihr erwartete, lediglich Bestätigung für das, was sie sagte und tat, oder auch Kritik? Einmal widersprach Bär Charlotte bei einer Präsentation, sie zeigte einen völlig anderen Weg auf als denjenigen, den Charlotte bis dahin hatte gehen wollen. Charlotte zog sich nicht zurück. Sie versuchte auch nicht, den Widerspruch herunterzuspielen, im Gegenteil, sie gab sich nicht nur so, sondern sie war augenscheinlich freudig erregt über Bärs Widerspruch. So begeistert war sie, als habe sie selbst etwas vollbracht – sie, Bär, hatte es gewagt, die Lehrerin zu verbessern –, dabei wartete die Lehrerin nur darauf, verbessert zu werden! Als Charlotte sich selbständig machte, ging Bär mit ihr. Wie Charlotte, wie auch Stine verzichtete sie auf die ganz 131
große Karriere. Im Vergleich zu ihr war Stine viel härter, viel rücksichtsloser. Charlotte brauchte eine Stine, die Erwählte gleichwohl war sie, Bär. Doch auf Dauer ertrug es Bär nicht, erwählt zu sein. Sie entzog sich Charlotte, ohne zu wissen warum. Sie kam ihren Pflichten nach und nicht nur das, Charlotte mußte den Eindruck haben, daß sie ihr nahestand wie eh und je. Aber innerlich wehrte sich Bär gegen diese Nähe. Der Feind wollte nicht, daß sie erwählt war, der Feind vergönnte es ihr nicht. Der Feind besaß keinen Körper und kein Gesicht. Er leistete Bärs Anweisungen keinen Widerstand, er diskutierte sie nicht oder verhinderte gar ihre Ausführung. Sobald Bär jedoch eine Entscheidung traf, war er neben ihr. Der Feind rührte sie nicht an. Alles, was er tat, ließ sich so begreifen, als ob er sie einfach begleiten wollte, als handle es sich um eine freundschaftliche Überwachung, ja um ein liebevolles Umsorgen – während er in Wahrheit nur darauf abzielte, Bär in die Ecke zu drängen. Der Feind nahm völlig den Rhythmus Bärs an. Beschleunigte oder verlangsamte Bär ihr Tempo, bewegte auch er sich schneller oder langsamer. Bär konnte ihm nie in die Augen schauen. Brach Bär eine Tätigkeit jäh ab und gab sie sich einer anderen hin, vollzog der Feind den Wechsel ebenso unvermittelt nach. Niemals ließ der Feind sich überlisten. Indem er sich ihr nie in den Weg stellte, versperrte er ihr jeden Weg. Der Feind hieß – nein, so einfach war es nicht. Der Feind hatte Gestalt und Gesicht, doch die Gestalt war unerwartet, und der Gesichter waren viele. Es wäre zu einfach gewesen, den Feind »Versagen« zu nennen. Das Versagen war lediglich eine Projektion der Gestalt des Feindes auf sich selbst. Es hatte alles sehr viel mit Versagen zu tun, dennoch war es nicht das Versagen allein. Der Feind – das 132
war eine bestimmte Konstellation der Beziehungen zwischen ihr, Bär, und den anderen. Zu der gar kein objektives Versagen gehörte, sondern lediglich eine andere Wahrnehmung. In der sie versagte. Ein Schüler versagt nicht, solange kein Lehrer zusieht. Zwar hatte Charlotte Bär nie nach ihrer Meinung zu Magdeburg befragt, jedoch gehofft, Bär würde von sich aus etwas sagen. Bär wußte, was Charlotte von ihr erwartete, trotzdem schwieg sie. Da staute sich etwas auf, bei Bär und bei Charlotte, nichts für die anderen Sichtbares, Merkbares. Der Feind nahm es mit großer Befriedigung wahr, und er schaukelte Bärs und Charlottes Gefühle weiter hoch. Die Spannung hatte sich bei der Besprechung in Madrid entladen. Der Höhepunkt war eigentlich keiner gewesen, denn niemand hatte ihn bemerkt – nicht einmal Charlotte war sich danach sicher, ob es wirklich geschehen war oder ob sie sich nicht etwas eingebildet hatte, ob sie nicht für einen Augenblick in einen Traum abgeglitten war und nun den Traum mit der Wirklichkeit verwechselte. Egin ging noch einmal Punkt für Punkt die Kalkulation durch. Der Banker war überzeugt. Egin machte eine kleine Pause. Charlotte sah zu Bär hinüber. Niemand sonst beachtete Bär. Da schnitt Bär ihre Grimasse. Vorher und nachher hörte sie ruhig und unbeteiligt zu. Bär wußte selbst nicht, warum sie die Grimasse zog. – Später legte sie es sich so zurecht, daß sie Charlotte doch noch abraten wollte. Die Würfel waren gefallen, Magdeburg schien so gut wie verabschiedet, da blieb ihr nur noch diese Möglichkeit, ihren Widerspruch auszudrücken. Ihre Grimasse sollte eine Hilfe für Charlotte sein. Aber sie hatte Charlotte mit der Grimasse ins Herz getroffen. Am Tag danach befiel Charlotte die verhängnisvolle Schwäche. Ihre Krankheit, die mit 133
leichtem Unwohlsein und geringem Fieber begonnen hatte, mündete wie ein Fluß, der immer breiter wurde, in einen allumfassenden Erschöpfungszustand. Namenloses Erschrecken, als Bär ein paar Tage später der kranken Charlotte gegenübertrat. Charlotte war zu schwach, um zu sprechen. Sie blickte Bär nur kurz an und sah ihr nur ganz kurz in die Augen. Ethel hatte Bär gebeten, Charlotte zu Hause aufzusuchen. Es kam Bär so vor, als habe ihre Tochter auf der Straße, in einem Geschäft eine Fremde gesehen und als habe sie die Fremde für ihre Mutter gehalten – Bär fühlte sich zugleich als die Fremde, die ihre Tochter unberechtigterweise für ihre Mutter hielt, und als die Mutter, die von ihrer Tochter plötzlich nicht mehr wiedererkannt wurde. Der Blick ihrer Tochter durch die Augen Charlottes beschrieb den Feind Bärs anhand seiner Wirkungen. Als Bär der kranken Charlotte gegenüberstand, wurde ihr klar, daß sie mit der Erklärung für ihre Grimasse nur die Oberfläche gestreift hatte. Die Grimasse hatte keine Warnung bedeutet, und Charlotte hatte sie auch nicht als eine solche aufgefaßt, die Grimasse war ein Menetekel gewesen. Mit der Grimasse hatte Bär gesagt: »Ich weiß, daß es schlecht enden wird. Ich will es nicht verhindern.« Bär wollte Charlotte eben nicht vor dem bewahren, was Stine und Egin mit ihr vorhatten – vielmehr besagte die Grimasse, daß Bär sich Stine und Egin angeschlossen hatte. Charlotte hatte sofort verstanden und war deswegen erstarrt, Bär hatte erst nachher verstanden. Von dem Augenblick, als sie die Grimasse zog, war Bär nicht mehr erwählt, sie würde es nie wieder sein. Bär zahlte einen hohen Preis dafür, daß sie nicht mehr die Erwählte sein wollte: Charlotte mied Besprechungen, an denen sie, Bär, teilnahm, weil sie die Grimasse geschnitten hatte. Charlotte blickte sie nicht mehr an, weil 134
sie die Grimasse geschnitten hatte. Charlotte wollte von ihren Spielen nichts mehr wissen, weil sie die Grimasse geschnitten hatte. Schließlich nahm die Erschöpfung überhand, und Charlotte konnte nicht mehr ins Büro kommen. Weil sie, Bär, die Grimasse geschnitten hatte. Charlotte war versteinert, denn sie hatte Bärs wahres Gesicht gesehen. Alles andere war Verstellung gewesen, die Begeisterung, mit der sie zusammengearbeitet hatten, bloß vorgetäuscht, das Preisspiel, das Tornadospiel, das Halbierungsspiel – sie, Bär, wirklich eine Spielerin, eine Schwindlerin, eine Heuchlerin, eine Verräterin! Bär und Stine waren gewissermaßen die Klasse von Charlotte gewesen, ohne die Lehrerin löste sich der Klassenverband auf. Mit einemmal hatte Bär keine Schulfreundin mehr, nur eine finstere große Schwester. Gegen deren Blick sie sich nicht wehren konnte. Eine Zeitlang dachte Bär, der Blick Stines sei leer und verwirrt, doch dann erkannte sie: Diese Augen stellten eine Meßvorrichtung dar. Die keine lokalen Berge und Täler aufzeichnete, sondern nur den globalen Trend festhielt. Der Blick Stines bedeutete gar keine Feindschaft, jedenfalls so lange nicht, wie Stine sich noch nicht endgültig etabliert hatte. Freilich hatten die Messungen zum Ergebnis, daß Bär nicht diejenige war, als die sie sich gab. Bär verstellte sich, und Stine wußte nicht warum – oder Bär verstellte sich so sehr, daß nicht einmal sie selbst wußte, was sich hinter der Verstellung verbarg. Im Verlauf des Halbierungsspiels kam es zu einem Engpaß in der Vorfertigung, so daß eine wichtige Auslandsbestellung nicht rechtzeitig ausgeliefert werden konnte, ein großer Kunde sprang ab. Der Produktionsvorstand hätte den Engpaß ausgleichen können, aber er ritt Bär bewußt hinein. 135
Daraufhin brach Stine das Halbierungsspiel ab und gab Bär die Anweisung, statt dessen ein neues Vergütungssystem zu entwickeln. Stine mußte wissen, wie sehr Bär dieses Denken gegen den Strich ging. Es war nicht zu übersehen und dem Ergebnis ihrer Bemühungen anzumerken, wie wenig sie sich mit dieser Aufgabe anfreunden konnte. Sie hatte nicht damit gerechnet, die sofortige und ungeteilte Zustimmung zu ihrer Vorlage zu finden, doch auch nicht mit dem, was sie tatsächlich erntete: einen Vortrag über Legenden. Eine Belehrung und einen Verweis mit Relegationsandrohung, um im Bild zu bleiben. In Gegenwart des Produktions-, des Finanz- und des Personalvorstandes. »Löhne und Gehälter sind gleich Arbeitskosten. – Falsch. – Löhne und Gehälter werden für Zeiteinheiten bezahlt, während derer Arbeiter und Angestellte ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen. In die Arbeitskosten geht das Ergebnis der Arbeit ein. Wenn ein deutscher Fabrikarbeiter mit Nebenkosten in der Stunde fünfundsiebzig Mark kostet, ein Arbeiter in Thailand nur sieben Mark fünfzig, wenn jedoch in Thailand zehn Arbeiter notwendig sind, um dasselbe zu produzieren, was in Deutschland ein Arbeiter produziert, dann ist mit der Verlagerung der Produktion nach Thailand nichts gewonnen. Die Arbeitskosten lassen sich verringern, indem man Löhne und Gehälter senkt. – Falsch. Die Arbeitskosten lassen sich nur dann durch Lohn- und Gehaltskürzungen verringern, wenn die Produktivität gleichbleibt. Das ist nicht zu erwarten. Werden die Löhne gesenkt, verlassen gute Arbeiter das Werk. Werden die Gehälter gekürzt, suchen gute Angestellte sich eine neue Tätigkeit. Die Firma verliert Know-how, die Arbeitsproduktivität wird geringer. In der Summe sinken die Arbeitskosten nicht, sondern sie steigen. Der einzige 136
wirklich erfolgversprechende Weg, die Arbeitskosten zu senken, besteht in der Durchführung von Maßnahmen, die die Produktivität erhöhen.« Genau solche Maßnahmen waren ja Bärs Domäne gewesen! »Löhne und Gehälter bilden einen beträchtlichen Teil der Gesamtkosten. – Richtig und trotzdem falsch. – Wegen des hohen Automatisierungsgrades macht die Lohnund Gehaltssumme nicht mehr als fünfzehn Prozent des Umsatzes aus, im Einkauf liegt ein ungleich größeres Rationalisierungspotential. Niedrige Arbeitskosten stellen im Wettbewerb eine wichtige Waffe dar. – Falsch, ganz falsch. – Was nützen die niedrigen Kosten, wenn das Produkt vom Kunden nicht akzeptiert wird. Der wichtigste Wettbewerbsvorteil besteht im Produkt, in seiner Qualität, in seiner Verfügbarkeit, im Service, vielleicht auch noch in der Art seiner Produktion. Vergütungsanreize für den einzelnen steigern die Leistung. – Falsch.« Stine reichte Bär einen Artikel über den Tisch, der ausführte, daß Vergütungsanreize für den einzelnen die Leistung untergruben, und zwar die des einzelnen wie des Unternehmens insgesamt. Sie verleiteten zu kriecherischem und liebedienerischem Verhalten und führten zum Aufbau von Beziehungsgeflechten, die mit dem Unternehmenszweck nichts zu tun hätten. Alle strebten nur noch danach, die Kennzahlen zu erreichen. Natürlich arbeiteten die Menschen für Geld. Natürlich arbeiteten die Menschen nicht für Geld. Arbeite sie, Bär, etwa für Geld? – Die Menschen und auch sie, Stine und Bär, arbeiteten, um einen Sinn in ihr Leben zu bringen. Wer nur an Löhne und Gehälter denke, versuche nichts anderes, als die Mitarbeiter zu bestechen. Bär hatte tatsächlich einen Fehler begangen – gerade sie hätte an ein teamorientiertes Vergütungssystem denken müssen! Bei gutem Willen wäre der Fehler nicht nur zu 137
beheben gewesen, Stine hätte dafür sorgen können, daß er gegenstandslos geworden wäre. Sie hätte nur zu sagen brauchen, sie hätten sich mißverstanden, und das Thema das nächste Mal erneut auf die Agenda setzen müssen. In Bär stiegen Scham und Empörung auf, aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie traute sich nicht, aufzubegehren und ihrem Zorn freien Lauf zu lassen, sie führte die Anweisungen Stines aus, auch wenn Stine eigentlich gar kein Recht hatte, ihr Anweisungen zu geben. Bär achtete darauf, daß ihre Vorlagen noch sorgfältiger ausgearbeitet, ihre Maßnahmen noch besser begründet waren. Stine wußte, daß Bär keiner Grausamkeit fähig war und sich gegen nichts und niemanden zur Wehr setzte. Mit dem Preisspiel, mit dem Tornadospiel und mit dem Halbierungsspiel hatte sie das Unternehmen auf den Weg der Seligkeit gebracht – und nun erlaubte Stine nicht, daß sie es erlöste. Niemand hatte Bär beaufsichtigt. Alles war ein Miteinander gewesen. Nebensätze hatten ausgereicht, um Wichtiges von Bedeutungslosem zu sondern, Gesten genügt, um verschworene Ziele anzustreben, mit kaum merkbaren Winken hatte man sich bedeutsam verständigt. Jetzt mußten für jede Besprechung, an der Bär teilnahm, eine Tagesordnung aufgestellt und lückenlose Protokolle angefertigt werden. Stine diskutierte nicht mehr, sondern erteilte Befehle. Die Fabrik wurde Bär fremd – ihr, die doch die Fabrik kannte wie niemand sonst! Bär stimmte nicht mehr mit sich selbst überein. Die Mitarbeiter bemerkten, wie sie sich veränderte. Dieser Umschwung gab Stine im nachhinein recht, bestätigte ihren Blick, ihre Messungen. Stine brach das Halbierungsspiel ab, und Bär verlor ihren Platz. Sie fand auch keinen neuen. Unfähig, andere zu schikanieren, drangsalierte sie die Mitarbeiter allein durch 138
ihre Anwesenheit. Der Zorn in ihr bewirkte, daß sie ihre Aufgaben besonders schnell erledigte. Während sie vorher oft für sich gewesen war, hielt sie sich jetzt häufig bei den anderen auf. Sie vertrieb niemanden, doch verleidete sie manchem die Arbeit durch ihre Anwesenheit. Kam sie zu einer Besprechung hinzu oder sah sie sich einen Produktionsprozeß an, wurde es schnell ungemütlich. Selbst wenn sie nur dabeistand und zuhörte oder sich schweigend Notizen machte, befiel alle anderen eine Fahrigkeit, die sie dazu verleitete, Fehler zu machen. Die Mitarbeiter sehnten sich danach, daß Stine anwesend wäre, denn ihre Autorität lenkte von dem stummen Vorwurf ab, den Bär allen anderen und auch sich selbst machte. Seltsamkeit, daß Bär die Seelenruhe der Mitarbeiter bedrohte und Stine den Schutz von dieser Bedrohung verkörperte! Alles spielte Stine in die Hände. Der Feind sammelte sich, unabweisbar, unzerstörbar. Während Charlotte schwach wurde, ertappte Bär sich bei dem Wunsch, sie wäre schwach geworden. Sie würde ins Büro kommen, auch wenn sie sich tragen lassen müßte. Sie würde einfach nur dabeisitzen, genauso still, wie sie jetzt dabeisaß. Gerade weil sie über keine Macht mehr verfügte, irgend etwas zu fördern oder zu verhindern, würden die anderen ihre sämtlichen Maßnahmen und Projekte vor ihr ausbreiten. Sie würde die anderen nur anblicken, und ihr Blick würde sagen, sie sollten sich noch viel mehr Maßnahmen, noch viel mehr Projekte ausdenken. Wenn sie schwach wäre, stellte sie sich vor, würde sie wirklich Stines Kreise stören – so könnte sie den Feind an seinem Aufmarsch hindern. Wie wünschte sich Bär, nur noch mild und nachsichtig zu sein! Bärs Projekte bestanden nur mehr aus dem Ansteigen und Abfallen von Kennzahlen, ohne daß diesen Zahlen 139
etwas entsprach. Sie wußte keine Namen mehr für ihre Ziele, nur Überschriften und leere Anpreisungen. – Ihren Maßnahmen fehlte jeglicher Hallraum. – Doch, da vibrierte etwas, aber es war nicht das ersehnte große Schwingen, sondern willkürliche Teile vereinigten sich zur Nachahmung eines solchen. Das Ganze hätte langsam und weit ausholen sollen, die einzelnen Teile machten sich lächerlich, wenn sie dasselbe versuchten. Es gab keinen Takt beim Vorrücken in die Zukunft, nur einen Ton, als ob man anhob. Der Unternehmensplan, die Rechenwerke, sie bildeten keine Gesamtsumme. Aber Bär hörte auch keine inneren Stimmen der Teile – keine Erzählung, niemandem vorzutragen, kein Lied, niemandem zu singen. Nur noch vage Erinnerung an eine mittlerweile fast unvorstellbare Einheit. Bär hoffte, betete, alles möge seinen Platz noch wissen, alles möge an seinen Platz zurückkehren. Die Einheit sollte wieder wahrnehmbar, erzählbar werden, das Bewußtsein würde zurückkehren, benannt, bestimmt, das Zurückdenken kein Rückwärtsdenken, sondern ein Plan für die Zukunft, die Erinnerung ein Projekt – die Einheit sollte sich in einem großen, nachhaltigen, mächtig schwingenden Takt offenbaren. Jetzt entsann sich Bär daran, wie sie einmal den Personalvorstand vertreten hatte. Der alte Personalvorstand hatte einen Herzinfarkt gehabt, der neue war schon gefunden, stand jedoch noch nicht zur Verfügung. Bär hatte nichts an den Prozessen geändert, jedoch eine Neuerung eingeführt: Sie erließ Richtlinien für den Entlassungsfall, die sie selbst formulierte. Die trugen die Überschrift »Fairness in jedem Fall«. Oder »In jedem Fall Fairness« – sie wußte es nicht mehr. Begonnen hatte sie, die Entlassung eines Mitarbeiters sei für das Unternehmen eine schmerzliche Sache. – Sie hatte nicht geschrieben, für die Beteiligten, sie hatte nicht 140
geschrieben, für den Betroffenen. – Die Vorgesetzten müßten das Bestreben haben, daß die Trennung sauber vonstatten ging. Weder das Betriebsklima noch der gute Ruf des Unternehmens durften beeinträchtigt werden. – Sie hatte nicht niedergelegt, daß der oder die Betroffene seinen Lebensplan ändern mußte oder daß der oder die Betroffene litt. – Die Richtlinien behaupteten, für den Betroffenen stehe die Frage der Existenzsicherung im Vordergrund. An erster Stelle stehe der Erhalt des Einkommens, an zweiter Stelle das Finden einer neuen Anstellung. Der Betroffene dürfe das Selbstvertrauen nicht verlieren. Sie hatte geschrieben, ein Vorgesetzter handle nicht fair, wenn er jemanden nicht möglichst früh davon unterrichtete, daß sein Job in Gefahr sei, und wenn er ihm nicht die Gründe dafür angebe. Sie hatte nicht verlangt, daß der Vorgesetzte seinen Untergebenen zu einem Zeitpunkt ansprechen sollte, zu dem aus der Sicht des Vorgesetzten für den Betroffenen noch alle Möglichkeiten gegeben waren, seinen Posten zu behalten. Damals wie jetzt war sie sich bewußt, daß die Leistungen eines Managers um so weniger nachprüfbar waren, je höher in der Hierarchie er angesiedelt war. Die Tätigkeit eines Sachbearbeiters konnte man in irgendeiner Form messen, die Arbeit eines Managers auf der mittleren Ebene bewerten, diejenige eines Geschäftsführers oder Vorstands konnte man nur einschätzen. Je höher ein Manager aufstieg, desto allgemeiner wurden die Ziele und desto unklarer die Maßstäbe, ob er die Ziele erreicht hatte. Sie war soweit gegangen zu schreiben, es sei die Pflicht jedes Vorgesetzten, die Trennung von dem Mitarbeiter makellos zu gestalten – sie wußte nicht mehr, ob sie das Wort makellos in Anführungszeichen gesetzt hatte oder nicht. Wenn sie es mit Anführungszeichen versehen hatte, erschien ihr das jetzt als eine um so größere Ironie. Zuerst, 141
so forderten die Richtlinien, müsse sich der Vorgesetzte umfassend über die Situation des Betroffenen unterrichten, ob er gesundheitliche Probleme habe, ob er Kinder habe, ob der Partner verdiene, ob der Betroffene Kinder in Ausbildung finanzieren müsse, ob er sich nicht vielleicht gerade ein Haus gebaut hatte, das abzuzahlen war. Je größer die Probleme auf einem oder mehreren dieser Felder, desto ungestümer werde der Betroffene reagieren. Sie hatte deshalb empfohlen, das Gespräch mit den Leistungen zu beginnen, die der Betroffene erbracht hatte. Und betont, jeder Vorgesetzte, der einen Entlassungsvorschlag machte, müsse mit Störungen des Geschäftsablaufs rechnen, alles andere sei Augenwischerei. Solche Störungen seien um so wahrscheinlicher und ihr Ausmaß um so größer, je bekannter und je beliebter der Betroffene sei. Dann hatte sie gefordert, daß der Vorgesetzte im Verfolgen seines Ziels konsequent sein solle. Die einmal beschlossene Trennung müsse möglichst schnell vollzogen werden, keine Prozedur dürfe verzögert werden. Es solle so schnell wie möglich ein Zustand der Normalität wiederhergestellt werden. Der Vorgesetzte dürfe keine Unentschlossenheit zeigen, wenn ein Vorgesetzter die Trennung hinauszögere, liege immer der Verdacht nahe, daß das Wissen und das Können des Betroffenen doch gebraucht würden und daß der Trennungsentschluß nur Ausdruck einer persönlichen Fehde sei. Die Richtlinien mahnten alle Vertreter des Unternehmens, dafür zu sorgen, daß der Entlassene sein Gesicht wahren konnte – Der Feind zwang sie dazu, Bilanz zu ziehen. Es war so demütigend. Der Feind hatte die Berichtsperiode und den Stichtag festgelegt. Was hatte sie in ihrem Berufsleben wirklich angestrebt? – Sie gab sich die Antwort: Einfluß und Unabhängigkeit. Bär hatte 142
eine Vorstellung vom guten Manager als einer bestimmten Kombination aus fachlichen und Charakterlichen Eigenschaften. Obwohl sie diese Idealvorstellung nirgendwo verwirklicht sah, strebte sie danach, ihr möglichst nahe zu kommen. Diejenigen, die die Voraussetzung mitbrachten, diese Vorstellung mit Leben zu erfüllen, konnten niemals ganz nach oben kommen, denn die Vorstellung setzte voraus, daß sie sich nicht verbiegen ließen. Jemand, der die Politik beherrschte, überlebte allemal die zehn oder zwölf Jahre, die sich von seiner Bestellung vom Vorstand bis zu seiner Pensionierung erstreckten. War er gegenüber den richtigen Leuten in der richtigen Art unterwürfig oder widerborstig und hatte er zudem mit einem oder mehreren eine gemeinsame Leiche im Keller, war ihm auch der Sitz im Aufsichtsrat sicher. Große Unternehmen waren wie Riesentanker, die den einmal eingeschlagenen Kurs einhielten – gleich, wohin er führte, gleich, wer den Kurs vorgegeben hatte. Bär war Charlotte gefolgt, weil sie geglaubt hatte, in Charlottes Firma den ihr gemäßen Einfluß auszuüben und die ihr gemäße Unabhängigkeit zu finden. In Charlottes Firma sollten die an der Spitze nicht nur glauben, sie seien die Besten, sie sollten wirklich die Besten sein – sie, Bär, hatte sich für brillant gehalten! Aber jetzt hatte sie jeden Einfluß verloren. Der Produktionsvorstand konterkarierte ihre Spiele. Der Personalvorstand zensierte ihre Vorschläge zum Vergütungssystem. Der Finanzvorstand strich die Investitionen, die notwendig waren, um die Arbeitsproduktivität auf herkömmliche Weise zu erhöhen. Ihr Verhältnis zu Stine unterschied sich nicht von dem eines Sachbearbeiters zu seinem unmittelbaren Vorgesetzten. Bärs einzige Unabhängigkeit bestand darin zu gehen. 143
Auf eine bedrückende, beängstigende Weise hinterließ das Fehlen von Charlotte keine Lücke: Stine hatte übergangslos Charlottes Rolle übernommen – nur sie, Bär, hatte bemerkt, daß Stine die Rolle völlig anders ausfüllte. Trotzdem – Bärs Feind, das war nicht der Produktionsvorstand, der Finanzvorstand oder der Personalvorstand und auch nicht Stine. Der Feind, das war auch nicht ihr, Bärs, Versagen allein. Sie hatte hell geleuchtet und sich dann von ihrem Weg abbringen lassen. Dabei gab es nichts in ihr, das versagen wollte, davon hatte sie sich überzeugt. Sie war kein Glühwürmchen, das man einmal anblasen mußte, und es flog in eine ganz andere Richtung! Nein, das Versagen stellte eine bestimmte Konstellation von Aufgaben und Charakteren dar, die irgendwie ins Leben gekommen war. Und alles, was Bär unternahm, um diese Konstellation zu zerstören, machte die Konstellation noch solider, noch stabiler, mit jeder Handlung, die der Bekämpfung dieser Konstellation dienen sollte, führte Bär ihr mehr Energie zu und machte sie noch mächtiger. Als Bär sehr jung gewesen war, hatte man sie manchmal nach den Gründen für ihren Erfolg gefragt. – Damals hatte sie überlegen geantwortet, sie finde es seltsam, daß ausgerechnet sie Erfolg habe, sie sei ein offener Typ, ihr falle häufig ein, dummes Zeug zu machen, obwohl sie glaube, daß das eine Seite sei, die sie besser nicht zeigen solle. Natürlich hatte sich das dumme Zeug, das sie machte, in engen Grenzen gehalten. Tatsächlich hatte sie geglaubt, der Grund für ihren Erfolg sei ihr Instinkt. Der sie leitete, solche Projekte anzugehen und solche Positionen anzustreben, mit und auf denen sie Erfolg haben würde, und alles das zu meiden, was als Mißerfolg enden könnte. Sie hatte betont, daß sie aus Irrwegen gelernt habe und 144
daß gescheiterte Projekte ihr am meisten geholfen hätten. Dabei war sie nie Irrwege gegangen, und ihre Projekte waren nie wirklich gescheitert, sonst wäre sie nicht aufgestiegen. Bär hatte ihren Stolz dareingesetzt, alles zu verhindern, was ihre Tochter an ein Erwerbsleben wie ihres heranführte. Ihre Tochter wuchs in der Freiheit auf, sich nicht um Geld kümmern zu müssen. Dennoch hatte Bär geglaubt, daß sie nicht für Geld arbeitete. Sie arbeitete für Geld – das war jetzt unabweisbar. Einen anderen Grund, sich Stine unterzuordnen, gab es nicht. Wäre sie nur ein paar Jahre älter, die Bilanz wäre eindeutig: Der Preis war zu hoch, wenn man ihn daran maß, worauf es wirklich ankam. Als sie jung gewesen war, hatte sie immer gesagt, sie bereue gar nichts. – Und jetzt? Es hatte seltene, kostbare Momente gegeben, die sie nicht missen mochte – wie denjenigen, als sie das Halbierungsspiel in der Fließfertigung spielte. Sie hatte durchgesetzt, daß aus einer Gruppe von fünfundzwanzig Arbeitern dreizehn weiterarbeiteten und zwölf zusahen. Tatsächlich konnten die dreizehn Arbeiter das Montageband nicht länger als eine Stunde am Laufen halten, die Aufgabe schien unlösbar. Aber Bär gab ihnen Zeit, sich zu beraten. Sie versuchten es noch einmal, und sie schafften es, das Band deutlich länger als eine Stunde laufen zu lassen. Sie beratschlagten erneut. Bär schirmte die Abteilung gegen jeden Druck von außen ab, im Verlauf mehrerer Tage gelang es der Gruppe schließlich, das Band bis zu vier Stunden lang zu betreiben. Schließlich einigte man sich auf einen Kompromiß: Den dreizehn Mann am Band wurden drei andere zugeordnet, die auf Abruf bereitstanden, sie arbeiteten in einer anderen Abteilung an Einzelarbeitsplätzen im Rahmen einer Vorratsfertigung, die jederzeit unterbrochen werden 145
konnte. Bevor die dreizehn Mann das Band anhalten mußten, gaben sie den anderen Bescheid, sie sollten ihnen helfen. Auf diese Weise war es tatsächlich möglich, das Band mit im Mittel nicht mehr als fünfzehn Leuten zu betreiben. Als die dreizehn Mitarbeiter das Montageband einen halben Tag lang am Laufen hielten und Bär Charlotte berichten konnte, daß der Personalaufwand für die Fließfertigung sich annähernd halbieren würde – da hatte Bär sich gefühlt, als ob etwas sie an einen anderen Ort versetzt hätte. Sie hatte sich in der Halle umgeblickt, als sei sie wirklich noch nie dort gewesen, als halte sie sich in einer Landschaft auf, die ihr tatsächlich völlig fremd war. Alle Fabriktore standen offen, und ein warmer, stetiger Wind wehte durch die Halle – ein verläßlicher Wind, der sie daran erinnerte, daß sie in ihren Träumen fliegen konnte. Der Wind bedeutete kein Versprechen, sondern die Einlösung eines Versprechens, er hieß sie auf der Welt willkommen. Die Welt bedankte sich, daß Bär ihr Gesetz anerkannt und durchgeführt hatte, zum Besten der Welt. Sie fühlte sich wie neugeboren – und die Welt sicherte ihr zu, daß sie ständig wiedergeboren würde, wenn sie weiter ihr Gesetz förderte. Der Wind weihte sie, zugleich versuchte er, sie etwas zu lehren: Ihr Denken und ihr Handeln sollten stetiger sein. Ihre Entscheidungen und Maßnahmen dürften niemals die Eingebungen von Augenblicken darstellen. Der Wind flüsterte ihr zu, sie solle ihren Schritt verlangsamen. Sie solle innehalten. Es mache nichts, wenn sie sich einmal im Kreis drehe. Sie solle sich regelmäßig umblicken. Nach sich selber. Nachdem sie das Montageband vier Stunden betrieben hatten, waren die Arbeiter erschöpft und mußten sich ausruhen. Als sie danach wieder an das Band gingen, um von vorne anzufangen, griff der warme, beständige Wind 146
auch ihnen sanft unter die Achseln und half ihnen, das Band bis zum Ende der Schicht am Laufen zu halten. Immer trug Bär kürzere Röcke, als der Komment im Management es zuließ. Ihre Fesseln waren nicht so dünn, ihre Waden nicht so sportlich, wie sie sich gewünscht hätte, ihre Knie waren ein wenig rund, wie Babyknie. Weil ihre Beine nicht so perfekt waren, wie sie es selbst gerne gehabt hätte, wirkten ihre kurzen Röcke jedoch nie frivol. An dem Nachmittag hatte sie so lange gestanden, bis ihr die Beine weh taten. Da tat sie etwas, was keine andere Frau in ihrer Position gewagt hätte: Sie nahm einen schmalen Karton, stellte ihn hochkant auf und setzte sich rittlings darauf. Sich mit beiden Händen zwischen den Beinen abstützend, sah sie den Arbeitern weiter zu. Wenn man sie in diesem Augenblick gefragt hätte, was ihre Devise für das Leben sei, hätte sie geantwortet: »Ich will für alles offen sein und zugleich unschuldig bleiben.« Die verglaste Holzbrücke, die die Produktion und das Lager mit den Büros verband, war der verstörendste Teil der Fabrik. Die schrägen Stützen erzeugten den Eindruck, als würde die Brücke jeden Augenblick wie eine Reihe von Dominosteinen oder wie ein Kartenhaus fallen. Die Brücke bedeutete eine Geste am Ende des Spiels des Fabrikbaus, sie zog das Resümee, daß sich Einfachheit und Kompliziertheit, Anschauung und Wirklichkeit, Funktion und Wahrheit, Armut und Luxus nicht widersprechen mußten. Seit Charlotte von der Schwäche befallen war, hatte Bär Stine nicht mehr getroffen, ohne daß ein Dritter dabeigewesen wäre. Jetzt gingen Bär und Stine aufeinander zu, und es war niemand zwischen ihnen, niemand hinter Bär, niemand hinter Stine. Die helle 147
Brücke wurde für Bär zu einem finsteren Stollen. Bär hatte geglaubt, eine größere Anhängerschaft zu besitzen. Sie hatte gehofft, die anderen würden merken, wie ungerecht Stine sie behandelte, und daraus ihre Schlüsse ziehen. Sahen sie denn nicht, wie Stine sie, Bär, verbrauchte und daß auch sie selbst zum raschen Verbrauch bestimmt waren? – Bär hatte die Firma immer als einen lebendigen Organismus betrachtet und gedacht, wenn Stine ihr, Bär, die Hölle heiß machte und sie litt, dann würden auch die anderen den Schmerz spüren, als ob der Schmerz aus einem Körperteil in andere Körperteile ausstrahlen würde. Allerdings tat sie auch nichts, um die Schmerzen weiterzuleiten, sie ließ ihre Enttäuschung und ihre Wut nicht an ihren Untergebenen aus, sie gab die erlittenen Kränkungen nicht weiter. Ihre Tochter verfaßte für jedes neue Video ein Drehbuch. Bär wußte nicht, wie die Drehbücher ihrer Tochter aussahen, ob sie nur den Text enthielten, der dann zu dem Video gesprochen wurde, oder ob sie auch Drehanweisungen umfaßten, und wenn ja, welche. Bär war auf den Gedanken gekommen, ein Drehbuch für ein Video zu verfassen, mit Stine und ihr selbst als Hauptpersonen, in dem es darum ging, daß sie beide wieder zueinanderfanden. Doch Bär brachte keine Szene zu Ende. Die Sätze, die sie aufschrieb, verstümmelten die Tatsachen und erklärten sich unweigerlich selbst für ungültig. Die Unvollständigkeit, das Unvermögen dessen, was sie sagen konnte, würgte sie. Das, was sie nicht sagen durfte, verfolgte sie, hetzte sie. Trotzdem konnte Bär nicht von dem Drehbuch lassen. Das Drehbuch erschien ihr als die einzige Möglichkeit, sich gegen den Feind zu wehren. Immer wieder nahm sie einen neuen Anlauf. 148
Einmal mußte Stine sich mit ihr aussprechen – das natürlich nicht in Gegenwart eines Dritten. Es kam darauf an, die richtige Umgebung zu wählen, die richtige Stimmung zu schaffen, damit sie beide sich unbefangen begegnen konnten. Stine rief sie an und sagte, sie wolle sich mit ihr treffen. Das Verhältnis zwischen ihnen sei angespannt, man solle darüber reden – Wo die Handlung vorher gestolpert und gestrauchelt war, schritt sie jetzt ungezwungen den Pfad eines Drehbuchs entlang, das Bär aus dem Blickwinkel Stines heraus verfaßte! Stine mußte erklären, was sie an Bärs Arbeit unzureichend fand, sie mußte bereit sein, ihre Gefühle auszuschalten. Wenn Stine der Meinung war, daß Bär nicht soviel leistete, wie sie hätte leisten sollen, und wenn sie das begründete, ja, Bär schloß nicht aus, daß sie das konnte, dann mußten sie zu einem gemeinsamen Verständnis für die Ursachen kommen. War Bär nicht mehr dazu fähig, ihre Arbeit allein einzuteilen? War Bär nicht mehr dazu imstande, sich allein Ziele zu setzen? War Bär unfähig, selbst zu beurteilen, ob sie die gesteckten Ziele erreichte oder nicht? Im Falle einer Zielverfehlung herauszufinden, woran es lag? Arbeitete sie unter Druck weniger effektiv? Fehlten Bär doch gewisse Kenntnisse und Fähigkeiten? War vielleicht die Aufgabenteilung dafür verantwortlich, daß das Team insgesamt nicht mehr harmonierte? Hatte Bär bestimmte Aufgaben vernachlässigt und wußte nicht, daß Stine großen Wert darauf legte, daß gerade diese Aufgaben gelöst wurden? Wie wünschte Bär sich und schrieb in ihr Drehbuch, daß Stine sie fragen möge: »Was an meinem Verhalten macht die Situation für dich unbefriedigend?« Oder: »Was im besonderen gibt dir eigentlich das Gefühl, ich würde dich unter Druck setzen?« 149
Bär war dazu fähig, gültige Sätze zu formulieren! Stine sprach ganz offen über ihre Vermutungen, vielleicht machte sie Bär sogar Vorwürfe. Es würde soviel erklären, wenn Stine etwa zu ihr sagen würde, sie, Bär, habe ihre Spiele überschätzt! Bär glaubte nicht, daß sie ihre Spiele überbewertet hatte, doch wenn Stine das äußern würde, dann wäre ihr Verhalten erklärbar. Schließlich beschrieb das Drehbuch die Einigung. Sie und Stine, oder vielmehr Stine und sie kamen überein, welche Ziele sie gemeinsam verfolgen wollten, welche Projekte mit welchem Vorrang angegangen werden sollten und was sie, Bär, dazu beitragen konnte. Stine und sie bestimmten gemeinsam die Maßstäbe, an denen Bär von jetzt ab gemessen werden sollte. Und Stine sagte in Bärs Drehbuch: »Über allem steht bei mir der Wunsch, daß wir beide wieder zusammenarbeiten!« Das Drehbuch ließ keinen Zweifel daran, daß Stine legitim an die Stelle von Charlotte getreten war. Es war nicht der Zweck des Drehbuchs, daß alles so sein sollte wie früher. Eine Irrealität die Annahme, das Drehbuch könnte ihre und Stines Energien so umwandeln, daß sie dem Feind in einer Form zugeführt wurden, die ihn nicht nur schwächte, sondern zerstörte. Es genügte, daß ihre und Stines Energien so umgeleitet wurden, daß sie den Feind nicht mehr stärkten. In wenigen Augenblicken würde Bär sich auf gleicher Höhe mit der ins helle Licht getauchten Stine befinden und ihr ins Antlitz sehen. Das Drehbuch – konnte es Wirklichkeit werden? Würde Bär den finsteren Stollen verlassen? Die Regieanweisungen sahen ein verabredetes Treffen vor – wie konnte eine zufällige Begegnung dazu 150
führen, daß Stine von einem Augenblick auf den anderen offen mit ihr umging? Stine hatte sich niemals geäußert, worin ihrer Meinung nach Bärs Versagen lag – wieso sollte sie es gerade jetzt tun? Warum sollte Stine sich im Vorübergehen entschließen, wieder mit Bär zusammenzuarbeiten? Um Bär wurde es nicht heller, je näher sie Stine kam, je näher Stine ihr kam. Bär würde immer in dem Stollen bleiben und Stine auf der Brücke. Das Drehbuch würde nicht verfilmt werden. Selbst wenn Stine und sie dem Drehbuch folgten – es würde niemals so sein, wie sie sich das vorgestellt hatte! Die Erkenntnis traf Bär wie ein Schlag. Die Sätze aus dem Drehbuch würden Bär nicht retten. Die Stine des Drehbuchs war gar nicht notwendigerweise eine andere Stine! Stine konnte genau die Worte aussprechen, die im Drehbuch standen, sie konnte Bär fragen, was genau ihr das Gefühl gebe, sie, Stine, würde sie unter Druck setzen, was an ihrem Verhalten die Situation für sie unselig mache, doch die Worte wären völlig anders gemeint! Keins der Worte aus dem Drehbuch mußte das bedeuten, was Bär im Sinn gehabt hatte, als sie das Drehbuch verfaßt hatte – das Drehbuch zwang Stine zu keinerlei Gesinnungswandel, im Gegenteil, es erlaubte Stine, ihre Macht nur noch geschickter auszuspielen. Ein unparteiischer Betrachter würde zu Stine hinneigen und nicht zu ihr, Bär. Das Drehbuch sollte ihre und Stines Energien ableiten, so daß der Feind sich nicht mehr davon nähren konnte, statt dessen führte es dem Feind Energie in gebündelter Form zu, so daß er endgültig unzerstörbar wurde. Das Drehbuch bedeutete die gesteigerte, die schlimmste Form der Sprachlosigkeit. »Du hast nun, was dir Angel und Drifter vorhergesagt haben –« Daß sie das Wort an Stine richtete, hatte Stine bestimmt 151
niemals erwartet. Sie, Bär, hatte ein Drehbuch verfaßt, doch die Worte, von denen sie gedacht hatte, es seien ihre Worte, gehörten ihr nicht. Und jetzt, ganz ohne Vorbereitung, hatte sie die richtigen Worte gefunden! Daß sie, Bär, als erste sprach, war der Beginn eines Märchens, die Erfüllung eines langgehegten Traums. Es waren ihre Worte gewesen! Sie schlug das Drehbuch zu. Weitere Worte und Sätze leuchteten, darauf wartend, daß sie, Bär, sie aufgriff. Damit hatte Stine nicht gerechnet, mit diesem Triumph- und Racheblick von Bär, der ihr eben noch unmöglich gewesen wäre – ihr eigentlich immer noch unmöglich war.
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Stine fühlt sich wie ein Ausstellungsstück im Dunkeln Alle Träume griffen nach Stine, aber keiner bekam sie zu fassen. Weil es Bär gab. Schon die Existenz Bärs schnürte Stine die Luft ab, niemals würde sie dazu in der Lage sein, in Gegenwart Bärs frei zu atmen. Solange es Bär gab, würde Stine sich unaufhörlich auf Reisen befinden und mußte immer ihr gesamtes Gepäck selber tragen. Bär zertrümmerte die Gußformen der Menschen und brachte es fertig, daß andere Menschen aus den zerschlagenen Formen herauskrochen, neue Menschen, die viel nützlicher waren als die alten. Es waren Bärs su-per Spiele, die Stine die Pole-position beschert hatten. Bär ließ sterben und sofort wieder auferstehen. Stine spielte auf demselben Brett ein anderes Spiel, aber bei jedem Zug, den Stine machte, mußte sie an Bär denken. Ihre eigene Partie wurde zum Auswärtsspiel, der Gedanke an Bär lahmte sie unendlich. Es kostete Stine ungeheure Kraft, Bär die Mißachtung entgegenzusetzen, vor deren Hintergrund sich Bär als die Versagerin fühlte, die sie nicht war. Beide hatten sie der Zukunft geopfert, trotzdem hatten sie, Stine und Bär, niemals in der Gnade gestanden wie Charlotte. Sie hatten sich immer Ziele setzen müssen, Pläne machen und unausgesetzt kämpfen müssen, um ihre Ziele zu verwirklichen. Charlotte, die die Hotelfachschule besucht hatte, war so mühelos vorangekommen, keine Karriere konnte zielstrebiger sein als diejenige Charlottes, die nie vorgehabt hatte, Karriere zu machen. Nun faltete die Zukunft ihre Fittiche um Charlotte, bald würde sie sie ganz umschließen. Stine war immer bereit gewesen, für die Erreichung eines Ziels alle 153
anderen Ziele hinzugeben, Bär hatte darauf bestanden, mit ihren Spielen jedes Ziel zu erreichen. Die Zukunft konnte Ziele nicht lieben. Warum nahm die Zukunft das Opfer Bärs günstig auf und Stines Opfer ungünstig? Aber die Zukunft erwies Gnade, wem sie gnädig war, und erzeigte dem Barmherzigkeit, dessen sie sich erbarmte. Wer war Stine, um von der Zeit eine Begründung für deren Ungerechtigkeit zu verlangen! Die Bewunderung, die Zuneigung, die Liebe hatte Charlotte mitgenommen, die übriggebliebene Liebelei hatte Bär sich unter den Nagel gerissen. Niemand machte Stine die Spitze streitig, Bär am allerwenigsten. Jetzt, als es keine Über-Stine mehr gab, waren sie und Bär zum ersten Mal wirklich Konkurrentinnen geworden, vor etwas, das viel größer war als die Hierarchie. Stine empörte sich über die Bevorzugung Bärs, sie war entflammt, aber ihr Antlitz fiel nicht. Der Mensch ist das Wesen, das sich an alles gewöhnt, Stine richtete sich auf der Flucht ein und wurde seßhaft in der Vorstufe einer Welt, die keinen Namen tragen wollte. Stine hat den Organisationsdesigner ausgesucht, weil er wie sie an die Regeln glaubt. Für die Produktion, die Finanzen und das Personal sind die Regeln nur nackte dürre Rippen, es kostet Stine unendliche Mühe, die Hände ihrer Vorständler so zu führen, daß sie sich an das Skelett halten und nicht nach etwas anderem grapschen. Sie muß ihnen den Hang zum Überflüssigen nehmen, wie ein Schönheitschirurg Fett absaugt. Wir überlegen, sollen wir das Sofa, auf dem Stine liegt, wirklich Sofa nennen. Eigentlich ist es eher eine Burg, drei Holzwände um einen Kasten mit einer Matratze. Wir lassen uns von dem Haus in Küssnacht am Vierwaldstättersee beeindrucken, das der Organisationsdesigner als Tagungsstätte ausgesucht hat 154
und in dem Stine noch ganz alleine ist. Ein irrlichterndes Licht zerrt wütend an der Oberfläche des Sees, die Bäume am Ufer hopsen in wirren Posen hin und her. Wo der Rigi müde und spitz auf die Wolken trifft, fallen Trümmer eines blauen Himmels auf die Szene. In dem Haus gibt es nur solche scharfkantigen Möbel aus hellem Holz wie das Sofa, die behaupten, es sei richtig, symmetrisch zu sein, es müsse einen guten Grund geben, nicht symmetrisch zu sein. Das Haus ist 1943 errichtet, aber schon vor seiner Umgestaltung 1989 quälte es sich selbst. Es wirft allen anderen Häusern vor, sie respektierten nicht die Würde der Kunst, und es schreit hinaus, die Architekten seien nur Söldner im Dienst unwissender und prahlerischer Bauherren, das Haus hat keine Vorstellung von Rendite. Wenn das Haus tot sein wird, will es zumindest Anstoß zu einem gigantischen Spiel gewesen sein. Da es ihm nicht erlaubt ist, Teil dieses Spiels zu sein, was bleibt ihm, als sich dagegen zu wehren, daß andere Häuser anders portionierte und anders verpackte Seinseinheiten anbieten. Während Stine auf den Organisationsdesigner wartet, kommt ihr der Gedanke, daß der Raum unendlich viele solcher rechtwinkliger Sofas enthält. Das Sofa, auf dem sie sich räkelt, ist nur das eine materialisierte, so wie wir nur ein paar materialisierte Seelen unter unzähligen sind. Es bleibe dahingestellt, ob man aus uns ein Gesamtbewußtsein machen kann, das größer ist als dasjenige, welches sich ergibt, wenn man uns einfach übereinanderstapelt. Ha ha. Wir machen uns unsere eigene Theorie über Stine, hier in Küssnacht am Vierwaldstättersee. Sie läßt ihre Haare wachsen und färbt sie sehr blond, wir fragen sie: Hat sie Angst vor dem Älterwerden? Wir wissen gar nicht, wie wir darauf kommen, daß sie früher kurze schwarze Haare hatte und sich manchmal wie ein Mann zwischen die Beine griff. 155
Stine antwortet uns, sie hat nicht mehr Angst vor dem Älterwerden als jede andere Frau auch. Sie liegt nicht hier auf dem Sofa und sorgt sich, ob sie mit fünfzig noch sexy ist. Sie macht sich keine Gedanken darüber, ob die Autos auch noch langsamer fahren, wenn sie mit fünfzig am Straßenrand steht, nur Hot pants anhat und einen Mann küßt. Auf ihren Körper achtet sie so gut, wie es eben geht, sie legt sich nicht in die Sonne, sie ißt kein Fleisch, keine Süßigkeiten und keine Snacks, sie hat sich vorgenommen, mehr Sport zu treiben. Wir blicken hinaus durch die Fenster auf den Wald und wissen nicht, warum wir den Eindruck haben, daß der Wald näher kommt. Wohl eine optische Täuschung, wahrscheinlich dehnen sich der Fußboden mit den großen quadratischen Granitplatten und die Decke mit den hellen Holzlatten einfach aus. Das Haus hat immer gesagt, es will Raum und Zeit neu erschaffen. In dem Haus gibt es eine andere, vielleicht auch gar keine Zeit. Wir stellen uns vor, daß Stine das sehr gut gefällt. Könnte Stine bewirken, daß die Zeit nicht mehr vergeht, würde sie dann auf die Verwirklichung ihrer Pläne verzichten? Aber sie kann ja nicht immer in Küssnacht bleiben. Wir fühlen uns bestätigt, als Stine hinzufügt, es wird nie soweit kommen, daß sie sich das Gesicht liften läßt. Sie ist, wie sie ist, wir sollen das hinnehmen oder es bleibenlassen. Sie hat Angst davor, einmal nicht mehr wie ein Kind sehen, fühlen und denken zu können. Wir glauben nicht, daß sie wie ein Kind empfindet. Sie erzählt uns, manchmal braucht sie jemanden, der ihr eine Liebeserklärung auf den Anrufbeantworter spricht, der ihr die Tür zum Restaurant aufhält, der sie einfach nur in den Arm nimmt. Wir haben Egin kennengelernt und wundern uns. Stine würde das gar nicht aushalten, sie würde denken, Mist, ich sitze in der Falle. Stine hat früher oft zu 156
Charlotte und Bär gesagt, das beste am Leben seien die Kämpfe, das war allerdings, bevor Stine gegen Charlotte und Bär kämpfte. Die Liebe soll ein großes zauberhaftes Märchen sein, verlangt Stine. Wir fragen uns doch, was an Egin märchenhaft ist. Ihr macht alles Spaß, solange sie den Schlüssel in der Hand hält. Sie will kein Opfer sein, sondern ein Mädchen, das Spaß hat. Manchmal ist sie verletzt und verlassen. Sie wird von Sittenwächtern verfolgt. Sie ist noch nicht soweit, daß sie sich wirklich liften lassen muß, wenn sie jetzt nur mit Hot pants bekleidet und mit ihren langen blonden Haaren am Straßenrand einen Mann küßt, fahren noch alle Autos langsamer.
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Seminarvorbereitungen auf dem Lande Und schreckte auf, als ein Mann in einem leuchtend blauen Overall mit schwarzen Reißverschlüssen und grau gewordenen Drei-Streifen-Schuhen die Tür aufstieß. 256 Kanäle, brüllte er in den Raum, er schob etwas wie eine viereckige Vitrine auf Rädern mit einer Rückenlehne für die daraufsitzende Gestalt vor sich her. Gute Frau, wir müßn anfang. Der Mann hatte kurze Beine, die lange Schritte machten. Muß das ganze leere Kollegium hereinrolln, ehe die Bengl komm. Er trug eine Brille und sah so aus, als sei er der Handlanger dessen, der er war. Was man nich alles tut für die Bengl, um sie auf den Pfad der Tugend zu führn. Seine Augen wirkten unter den Brillengläsern wie Hundsaugen. Vermisse mein Förderband hier, das nächste Mal is aber ein Förderband fällig. Die Gestalt auf der fahrbaren Vitrine trug einen grellroten Trainingsanzug mit dreiviertellangen Armen, neue metallic-graue Sportschuhe mit weißen Sohlen und Socken in einem blau-grünen Schottenmuster, sie hatte die Arme auf die Oberschenkel gelegt und lehnte sich ergeben vor. Der Mann in dem blauen Overall blieb neben dem Sofa stehen und trat mit dem Fuß gegen die Scheibe der Vitrine. In ihr war ein Kabelsalat ausgestellt, dessen Ursprung sich zwischen den Beinen der Gestalt auf der Vitrine befand. Immer wenn sie sich hinters Steuer setzn, krachts, der Mann drehte die fahrbare Vitrine um ihre eigene Achse, sie nehm andern die Vorfahrt, sie werdn von vorn, von hintn oder von der Seite angefahrn, oder sie knalln gegen die Wand eines 158
1000-Tonnen-Blocks. Er schob die Vitrine gegen die Seitenwand des Sofas, die Gestalt kippte vornüber, und der riesige V-Haken in ihrem Kopf machte einen tiefen Kratzer in die Seitenwand des Sofas. Der Mann richtete die Gestalt wieder auf, aber heute habn wirs ja mit ganz andren Dingn zu tun, ganz andre wichtige Aufgabn, heute haltn sie Vorträge. Er streichelte über den Kopf der Gestalt, heute muß du dein Kopf nich hinhaltn, kanns dir ins Fäustchn lachn, das nächstemal bis du wieder dran, das nächste Mal is er!fällig. Möchtn Sie nich auch viertausndmal pro Sekunde?fotografiert werdn, gute Frau, wie ein!Topmodi. Der Mann verschwand, um gleich wieder mit einer grünen Blechkiste voller Hände hereinzustürzen. Er nahm zwei rechte Hände heraus und schlug sie gegeneinander.? Warum machn Sie so was –?warum tun Sie uns das an – ?hörn Sie uns nich –!sagn Sie was –!sagn Sie endlich was – wie könn Sie uns so was!antun. Dabei sitzn sie am Steuer von Autos, ich sage Ihn, handgefertigte Prototypn, das!Exklusivste vom!Exklusivn, un sie u›erdn!viertausendmal fotografiert in der Sekunde. Auf allen 256 Kanälen rauschn sie un klirrn sie un klingln sie un schlagn um sich, na, wenn die Wand näher kommt. Sie sitzn nich immer hinterm Steuer, manchmal auch auf dem Beifahrersitz oder auf dem Rücksitz, meistns sin sie angeschnallt, oft aber nich – Der Mann hielt beide Hände vor das Gesicht und tat so, als fotografiere er Stine. Viertausendmal die Sekunde, 256 Kanäle. Keiner setz sich noch einmal in so ein Auto, um nichts in der Welt käme jemand da noch einmal rein. Er starrte Stine auf den Busen. Un unser Schweign den Rest des gemeinsam Wegs entlang.?Wie oft habn Sie geglaubt, das war das?letzte Mal, er blickte Stine zwischen die Beine. Dunkelheit selber, süßlich Verdorbnes. – Was immer ihn 159
passiert, ob sie mit Schrittgeschwindigkeit oder ob sie mit 50 oder 60 Kilometern aufpralln, bis zur!kleinstn Bewegung, bis zur!minimalstn Körperbeschleunigung, alles wird über Sensorn an Kopf, Brust und Bein exakt aufgezeichnet. Er leckte sich einen Finger, und ausgewertet.?Wohin gehn die 256 Kanäle. In ein Rechner, der!jede Reaktion während des Crashs überwacht und aufzeichnet. Bewegung, Beschleunigung wird in elektrische Impulse umgesetzt, verstärkt, verarbeitet, gefiltert, digitalisiert, übertragn. Die zusätzlichn Erkenntnisse über Scher- und Zugkräfte am Hals, er packte den Haken und schüttelte den Kopf der Puppe auf der Vitrine, der Oberschenkl in zwei Richtung un drei Momentn erfaßt, siebn Meßstelln am Unterschenkl, drei zusätzliche am Fuß, wegn des Airbags und der Gurtstraffer kann sich der Rechner jetzt auf Verletzung im Bereich von Unterschenkl un Fuß konzentriern, er trat gegen die Beine der Puppe. Füße habn, aber nich laufn könn, ja!klar. In jedm is noch einer, der nich rauswill, der nich rauskann, ein Überleister, der nichts leistn darf, der sogar dann noch stumm is, wenn er was sagt, un deshalb komm Sie nich!weiter, gute Frau. Damit wir uns recht verstehn, es wäre ein leichtes, in die Firma zu gehn un das ganze Personal am Schlafittchn zu packn un hochzuhebn, diese Deppn, diese Arschlöcher, die immer alles besser wißn, aber nie was besser könn. Das könn Sie auch habn, gute Frau. Aber sehn Sie, auf die Weise kann man sie nich auf ein andres Niewo hebn, un wenn, dann würde es zu lange dauern. Jeder ein Einsiedler un Schöngeist in Ihrer Firma, un sie vergeßn immer wieder, daß ihr!Job das einzige ist, womit sie ihr ’.Freßn bezahln könn un das von ihm Liebn auch. Stine fühlte sich eigenartig erfrischt. 160
Sie müßn die alte Scheißorganisation abreißn un plattmachn. Der Mann umfaßte mit den Fingern der rechten Hand die zwischen Hals und Schultern offenliegende Wirbelsäule der Puppe. Das Pulscodemodulationssystem is viel schneller als das Frequenzmultiplexsystem, wesentlich präziser, kleiner un leichter, wiegt nur 50 Kilogramm einschließlich Onboardmemory, die Maße sin übrigens 100 mal 22 mal 17, er grinste und griff sich an den Schwanz. Paßt problemlos in den Kofferraum. Kann auch außerhalb der eigentlichn Versuchshalle angewendet werdn. Stine blickte auf die Treppe, die in den nächsten Stock führte. Der Rechner im Auto speichert bis zu 32 Sekundn, das is die x-fache Zeit eines Crashs, außerdem übersteht das Pulscodemodulationssystem einen Aufprall von bis zu 90 Kilometern. Ich bin das neue Crashmodul, ich fahre mit Ihm Leutn ins Gelände, ich sorge dafür, daß sie!zusammenstoßn, daß sie sich!überschlagn, ich sorge dafür, daß die Leute aus sich!raus!wolln un aus sich!raus!könn. Sie kriegn!die Organisation, die Sie habn wolln, gute Frau. Ich werde gar nich soviel redn, meine Burschn sin das Kollegium, wir veranstaltn eine Art Kolloquium, Sie brauchn sich keine Gedankn zu machn, gute Frau, Ihre Leute werdn mein Burschn die Schtorri!abkaufn. Der Mann sah auf die Uhr, jetzt muß ich aber den Rest der Familie holn. Er hastete hinaus und kam mit einem Säugling zurück, der in einem hellrosa Overall mit Kapuze steckte und weiße Kunststoffschuhe ohne Sohlen anhatte. Er trug rote Socken und hatte im Gegensatz zu dem Erwachsenen auf der Vitrine keinen Haken an seinem großen Kopf. Der Mann blickte wieder zur Decke und schmiß das Kind wütend auf den Boden. Sie müßn dicht bei dicht stehn wie die Schauspieler nach dem Ende der Vorführung, die den Beifall erwartn. Er 161
blickte sich im Raum um. Hier könn sie sich nur in die Sofas fläzn. Sieht alles so unentschloßn aus. Unruhe war in ihn gefahren, er kratzte sich am Sack und quetschte seine Eier. Wir müßn Ausschau haltn nach was, wo wir sie aufhäng konn. Wenn ich sie hier drapiere, sehn sie aus wie die Tänzer von Picasso. Die Leute dürfn uns nich entkomm. Die Leute müßn sagn, nu, schau sich einer die Burschn an, so stumm un so dumm, aber drängeln sich vor uns, un dann müßn sie hilfesuchend zu mir aufsehn un natürlich auch zu Ihn, gute Frau.!Hier gehts nich,!hier nich. Hier gibts nur ein Seitencrash, aber wir brauchn den!Frontalcrash. Was wird Bär machen? In einer anderen Firma bekommt sie keinen Vorstandsposten mehr. Für eine Beraterin ist sie zu alt. Und ihre Tochter ist Künstlerin. Die Männer straffen sich, wenn sie Bär sehen. Stine hätte da einen Vorschlag: Warum soll Bär nicht ihre Herzschläge abzählen und in Sichtguthaben verwandeln. Wie sie das Spiel wohl nennen wird? Das Amateurspiel. Das KurzeZeit-Spiel. Das Milieuspiel. Das Finanzielle-Loch-Spiel. Das Mich-hat-damals-das-Rotlichtmilieu-fasziniert-eswar-ein-Ausbruch-aus-der-genormten-bürgerlichen-Weltin-der-Sex-zu-dritt-Sex-mit-einer-Frauundenkbar-warSpiel. Das Plötzlich-steht-mein-Chef-im-Bordell-Spiel – aber sie hat ja keinen Chef mehr, und in ein Bordell wird sie niemals gehen. Bär wollte doch immer auch Verkaufsspiele spielen! Jetzt kann sie sich auf der gesamten Klaviatur des Selbstmarketings betätigen. Jetzt kann Bär ihr eigener Flyer sein, ihre eigene Webseite, ihre eigene Kampagne, ihr eigener Gimmick. Stine blättert in den Folien des Organisationsdesigners, 162
Managing Change for the New Millennium heißt der Titel seines Vortrags. Wo andere dasitzen, heulen und sagen, ab Dreißig bist du in diesem Job nur noch Scheiße, da ist Bär eine beste Adresse. Nicht nur mit Abitur, nicht nur mit Universitätsabschluß, o nein, mit einer richtigen Karriere. Wenn das keine Voraussetzung für guten Sex ist! Wo alle anderen ans Aussteigen denken, steigt Bär ein. Die neue Company ist global, Bär spricht Englisch, Französisch und Spanisch. Die neue Wirtschaft basiert auf dem Unkörperlichen. Na ja, ganz ohne Betatschen kommt man nicht aus, die Unkörperlichkeit wird sich in Grenzen halten. Bär muß das System 2N einsetzen, das System F und vielleicht auch das System A. Ihre Wettbewerbsvorteile sind telecommunication, media, Software, vor allem natürlich Services. She will command the world of hard-on ware, liest Stine. Die neue Company ist mit der Umwelt vernetzt. Bär braucht sich nicht mit Stricken an Bettpfosten fesseln lassen, sie kann die Handschellen von Gucci verlangen. Die neue Company besteht aus Netzwerken und ist Teil von Netzwerken. The new economy will spawn value by means of information relationships, Copyright, entertainment, brands, securities, knowledge. Ob Bär ein Patent auf den spezifischen Einsatz ihrer Systeme bekommt, erscheint zweifelhaft, ein Geschmacksmuster kann sie allemal anmelden. Wissen und Information sind genau das, worin sie ihrer Konkurrenz überlegen ist. The new economy is based on communication. Everybody will become part of the new network economy. Mit jedem muß sich Bär nicht einlassen. In the new economy everything will be linked to everything else. Sie kann das auf die Kommunikation beschränken. In the new economy decentralization, the power of one, bottom up power and control will unleash tremendous new business opportunities. What can be 163
linked, should be linked. Gilt natürlich nur für ein gewisses Niveau. Create real-time knowledge. Bär sollte immer wissen, wann wer interessiert ist. The number of participants in a network determines its value for the members. Bär kann nicht davon leben, die Freundin eines Super-Managers zu sein, es muß schon eine ganze Blase von Super-Managern sein, denen sie die Zeit verschönert. Networks, being built of a certain size, and thus having a critical mass, create a substantial value for all members. Dito. The power of networks eben, Bär wird sich ihr eigenes Network schaffen. Stine braucht kein schlechtes Gewissen zu haben, sie schickt Bär ja nicht in eine Dachgeschoßwohnung mit einem französischen Bett unter einer schrägen Wand, daneben nur eine Zimmerpflanze, die nicht groß werden kann, sie muß nicht in BH und Schlüpfern und Netzstrumpfhosen auf die Kunden warten. Sie wird keine telefonischen Drohungen bekommen, man wird keine Stinkbomben in ihren Hausflur schmeißen und schon gar kein Schutzgeld von ihr erpressen. Wer keine Dachwohnung hat, muß auch kein Rollkommando fürchten. Großer Vorteil der Unkörperlichkeit! Sie ist nicht mehr dem Zwang der Industriewelt unterworfen, create value for less. Wenn sich die Berufshuren beschweren, die Hausfrauenkonkurrenz sei entsetzlich, die hätten keine Ahnung davon, was läuft, die verdürben die Preise und gingen nicht mal zum Gesundheitsamt, braucht sich Bär davon nicht betroffen zu fühlen. Small efforts, small results, large efforts, large results gilt nicht für Bär, sie muß niemanden unten ohne bedienen. Bär arbeitet in einem Winner-takes-the-most-environment. Exponential value increase guaranteed. Sie hat schon länger keinen Freund, im Bett kann bei ihr nicht viel laufen. Sie würde es aus Lust und Liebe machen, der schlimmste Verstoß gegen den Hurenkodex, aber ein ungeheurer Markterfolg. 164
The increasing returns of a network are created and shared by the whole network. Bär wird schon das meiste für sich abschöpfen können. Networks are built on external values. Bär muß weder das Eigentlich-will-ich-aussteigen-Spiel spielen noch das Ans-Aussteigen-habe-ich-früher-oftgedacht-Spiel oder das Vor-allem-wenn-ich-ältereKolleginnen-sehe-Spiel, sie ist ja niemals richtig eingestiegen. Es kann ihr egal sein, welche Spiele die anderen spielen, ob sie das Eigentlich-haben-wir-nixgegen-die-Konkurrenz-Spiel spielen oder das Wie-kannstdu-wieder-in-die-normale-Arbeitswelt-einsteigen-wenndir-Jahre-an-Arbeitslosen-und-Rentenversicherung-fehlenSpiel, das Welchem-Chef-kannst-du-das-erklären-Spiel oder das Du-kriegst-diesen-Job-nicht-mehr-aus-demKopf-wenn-ich-mal-eine-Woche-Urlaub-nehme-braucheich-mindestens-drei-vier-Tage-um-Abstand-zu-gewinnenSpiel. Das Aber-ganz-wirst-du-davon-nie-mehr-frei-Spiel braucht sie auch nicht zu spielen. Und schon gar nicht das Heiraten-aus-Liebe-Spiel. Bär kann das Eigentlich-fühleich-mich-ganz-normal-Spiel spielen. Vielleicht sogar das Wenn-mich-einer-im-Urlaub-am-Pool-nach-meinemBeruf-fragt-dann-sage-ich-ihm-eiskalt-ich-bin-Hure-Spiel. Network economics versus industriell economics. In the new economy innovation is king, prices are of secondary importance, prices are subordinated to innovation. The new economy is built around the principles of the book, record, and film industries. Blockbuster movies, hit records, and bestsellers corner the market. The same principle applies to fashion, accessories, drugs, Computers and Software. Bär würde ein Blockbuster sein auf ihrem Gebiet. Auf der Folie heißt es allerdings auch, but don’t try to predict hits. You’ve got to try a lot ofthings. 165
Im Dachgeschoß des Hauses hat der Organisationsdesigner gefunden, was er suchte, unter dem nicht verkleideten Dachstuhl strecken sich tragfähige Balken von einer Seite zur anderen. Der Organisationsdesigner und Stine haben beschlossen, die Präsentation in diesem Raum stattfinden zu lassen. Der Vater der Kernfamilie hat eine hellgelbe Trainingshose und einen dunkelgelben Sweater an, als einziges Familienmitglied trägt er keine Turnschuhe, sondern klobige braune Lederschuhe mit Gummisohlen und schmalen dunkelbraunen Schnürsenkeln. Als Stine das blaue und violette Rhombenmuster der Socken des Familienvaters sieht, muß sie daran denken, daß ihr Vater ihr in ihrer Jugend erzählt hat, die Schwulen würden sich gegenseitig an ihren lila Socken erkennen. Angel und Drifter tragen nie lila Socken, also sind sie nicht schwul. Der Vater und die Mutter sind mit den Haken aus Edelstahl in ihren Köpfen in die rotlackierten Haken der Seile eingeklinkt, die der Organisationsdesigner um den mittleren Querbalken geschlungen hat. Die Mutter trägt einen ausgebleichten lilafarbenen Trainingsanzug mit dreiviertellangen Armen, dazu graue Turnschuhe mit weißen Sohlen und schwarzweißen Schnürsenkeln. Der Vater hat dicke Knöchel, die Mutter dicke Knie und dicke Waden. Obwohl ihr Gesicht so weiß ist, sind ihre Unterarme dunkel, wie die einer Farbigen. In ihren Armen hält sie den Säugling mit dem rosafarbenen Anzug. Morgen früh ist Schluß mit dem Affentheater! – Ein für allemal! Jetzt spricht Stine. Der Organisationsdesigner läßt sich behandeln wie die Mitglieder seines Lehrerkollegiums. Schluß. Bär muß jetzt verstehen, sie stört. Meine Arbeit. Das geht zu weit. Sie wird mir nicht in die Suppe 166
spucken! – Bär hat jetzt die Wahl. Entweder sie kündigt von sich aus und sofort, oder aber sie bleibt und dann – haben Sie mich verstanden? – Sie stückeln den neuen Organisationsplan zusammen, in dem vorkommt: das alltägliche Dasein-Müssen, aber keine Spiele mehr, vor allem Müdigkeit und Kaffee-Fiebrigkeit, höchstens kurzzeitige Wachheit, nur noch abgebrochene Tage der Freuden. Jeder Satz muß ihr die Haut aufreißen, als würde ein bösartiges Tier nach ihr greifen! – Sie muß sich vor Angst und Schreck vollpissen, wenn sie Ihre Folien sieht und Ihren Vortrag hört! – Ach, wird sie sich an mich wenden, das hast du nie erwähnt … und ich, seltsam, wir haben wirklich nie darüber gesprochen … und Sie, daran sind Sie doch selbst schuld! Ich habe immer nur meine Spiele gespielt, wird Bär sagen. Haben Sie denn gedacht, all das andere geht von selbst? O ja, das habe ich damals gedacht … und dann werden Sie sagen: Es gibt keine Spiele mehr. Spiele sind in der neuen Organisation nicht vorgesehen. Soll heißen, sie ist in der neuen Organisation nicht vorgesehen! – Sie werden die neue Organisation nicht auf einer Folie haben. Sie werden die neue Organisation auf einem Blatt haben. Sie werden sagen, hier, Männer und Frauen! – Aber dann wenden Sie sich an das Lehrerkollegium und nicht an die Männer und Frauen. Hier, was aus der Ferne aussieht wie Briefmarken in einem Album, das ist die neue Organisation! – Keiner wird sagen, man soll die neue Organisation doch an die Wand werfen. Denn alle fürchten sich vor der neuen Organisation. Alle werden die Zähne entblößen und lachen, auch das Lehrerkollegium, das gar keine Zähne hat, lacht mit. Das Lachen wird sich durch den Raum fressen wie die Lichtstrahlen aus den Fenstergauben. Bär wird die Hände hochnehmen, als wolle sie die Hände zwischen dem Lachen wie zwischen Gitterstäben 167
herausstrecken, zu mir hin! – Ringsrum werden alle schweigend zurücktreten, niemand will mit so einer gesehen werden … Der Organisationsdesigner setzt das kleinste Kind neben die Mutter auf eine Schaukel, die er ebenfalls an dem Balken angebracht hat. Die beiden anderen Kinder hängt er neben dem Vater auf. Die Kinder, allesamt in hochgeschlossenen unifarbenen blauen Trainingsanzügen, haben keine Haken im Kopf, dort, wo die Ohren sein sollten, stehen zwei Bolzen hervor, an diesen befestigt der Organisationsdesigner die Seile. Das mittlere Kind trägt weiße Drei-Streifen-Turnschuhe, das kleine und das große Kind farbige Billigturnschuhe mit roten beziehungsweise violetten Sohlen. Die Schnürsenkel der Billigturnschuhe sind viel zu lang. Erinnern Sie sich noch an das leere Rechteck in unserem gemeinsamen Entwurf für das Organigramm? – Sie selbst im Organigramm, und die Leute müssen in alle Ewigkeit Ihre Parolen fressen! – Sie sind der Sieger der Geschichte! – Bärs Spiele werden nur noch als weiße Wölkchen über den Köpfen der Leute schweben. Niemand wird irgendwelche Scham verspüren. Sie sind Gott, die Organisation ist die Schöpfung. Warum sollen Sie nicht in Ihrer Schöpfung mitspielen? – Einzige Bedingung: Bitte schön unterhalb des Auftraggebers. Ihr Vertrag läuft, solange Sie wollen. Machen Sie ihr Rechteck so groß, wie Sie wollen, aber nur unter meinem. Zwischen Ihrem und meinem Rechteck sollte es eine Verbindung geben. Nein, keine künstliche Wirbelsäule, bitte nicht diese Metallwirbel und diese schwarzen Gummibandscheiben wie bei Ihrem Lehrerkollegium. Eher ein Abflußrohr. Verzeihung, das ist unhöflich, stellen Sie sich meinetwegen eine Hebeanlage vor. Wir dürfen keinmal verlieren, einmal verlieren ist zuviel für uns. Ein 168
falscher Ton, eine verkehrte Bewegung, jede Lappalie ist den Leuten Anlaß genug, und sie schlagen los. Sie werden Ihre Organisation niederstampfen und ausrotten und ihre Fackeln zu Bär tragen. Das Lehrerkollegium darf Bär nicht in ihrer Vergangenheit blättern lassen, sonst schmiert sie uns noch mit einem neuen Spiel aus. Das Lehrerkollegium muß sich wie ein riesiger Leib um Bär winden, und daraus müssen Fäuste schlagen, wenn in Bärs Augen nur ein Fünkchen Hoffnung aufblitzt. Bär muß wissen, wenn Sie Ihren Vortrag halten, begegnet sie ihrem Mörder.
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veni, vidi, egin egins wunschträume trommeln auf dem boden der bootskabine, sie schnalzen zwischen den wänden und der decke hin und her. pools und jacuzzis werden los sein, in künstlichen grotten. überall liegen riesige blaue kissen. kleine kühlschränke weisen den weg zu einem großen begehbaren kühlschrank, alle kühlschränke sind mit dietpepsi gefüllt. egin harrt als renaissancefürst auf dem riesigen schinken in der eingangshalle, flankiert von carlo little und charlie watts, beide wie löwen mit großen weißen mahnen. überall drei zentner schwere affen und schwarze papageien, schmale blonde mädchen flippern an automaten, auf denen egin abgebildet ist, in einem seiner schwarzen seidenpyjamas und im roten morgenmantel, er trägt nie etwas anderes. in satinbettwäsche wird er schlafen. dieser mann der besonderlichkeiten kleidet seine träume in gekicher. tagsüber werden große weiße lastwagen voller champagner und kaviar den berg zu egins mansion hinaufdampfen, nachts limousinen mit frischgefönten blonden mädchen in kurzen rocken und freunde, die ihre hemden niemals zuknöpfen. egin braucht sex mit möglichst vielen frauen, er träumt von zwillingen mit langen blonden haaren, mit sonnengebräunter haut, sie sind zwanzig und werden immer mit ihm einschlafen. egins leben hat einen sinn. vielleicht braucht stine auch sex mit möglichst vielen männern. natürlich hätte er noch andere freundinnen außer den zwillingen. stine trägt einen mantel mit vielerlei zauberzeichen, alle bedeuten haß, aber darunter birgt sie ein schluchzen. egin wird zu einem riesenbärtigen feuerradschläger, halte dich fest, wir fliegen, er spannt seine flügel auf, seine augen glänzen, 170
während der nebel besoffen über dem see baumelt. stine windet sich fiepend, sie will nicht fliegen, hat angst zu fallen, ihr gesicht ist verzerrt. was nicht wiedergutzumachen ist, soll man nicht beachten. was getan ist, ist getan. egin quiekt verliebt zu dem hügel hinauf, sein traumhaus juchzt zurück. man muß es nur oft genug tun, man muß mit tausend frauen schlafen. jede der tausend frauen muß romantisch sein, tausend frauen genügen für die romantik, doch es können auch zehntausend sein. beim aufwachen sollte man immer wissen, wer neben einem liegt. was noch nicht heißt, daß man sie alle wiedererkennen muß, wenn man sich später im leben trifft. egin kämpft noch nicht mit dem stachligen dickicht des gewissens, wie sollen es die schatten der vergangenheit fertigbringen, ihn einzuholen. er läßt sich von dem traumhaus auf dem hügel zurufen, vorbei ist vorbei. die ersten drei, vier jahre ist man immer glücklich, wenn man frisch verliebt ist, eine chemische reaktion. dann muß das gehirn schon andere stimuli bekommen. nein, stine und er werden nicht heiraten und vor dem eheberater sitzen. war trotzdem schön. egin will keine fragen mehr hören, er will jung sein, das gefühl haben, am leben zu sein. egin ist nicht süchtig nach sex, sondern nach der perfekten liebe, der gedanke hat ihn das ganze leben umbeint und in die flanken gezwickt. weil er so gerne träumt, ist es ihm egal, was die tausend frauen wirklich von ihm halten, mit denen er ins bett gehen wird. ob sie ihn mögen oder ob sie ihn benutzen, die unterscheidung gehört zum exakt größten schwachsinn, den sich egin vorstellen kann. er wird dafür sorgen, daß sein garten nicht eines tages aussieht wie ein fkk-strand in dänemark, ein bißchen sex, ein bißchen tennis, ein wenig am pool herumdösen, dann wieder sex. sein traumhaus soll auch nicht in updike-land liegen, small talk über die 171
privatschulen der kinder, die hausschlüssel schaukeln in einer schale, man geht mit dem ins bett, dessen schlüssel man gezogen hat. unberührbar ist egin gewesen, unerreichbar, hat sich durch die städte europas vertuscht, hat auf dem fußboden geschlafen und auf riechenden kissen, seine feigheit ist er gewesen. jetzt flattert das gelächter der erkenntnis durch die bootskabine, glück ist das, was nach glück aussieht, nämlich geld, sex, parties und geschäfte. ein bänglicher mensch ist er gewesen, hat sich einschließen lassen, unter dem kirchengestühl übernachtet, sich mit meßwein betrunken. so weit weg sind die häßlichen bilder aus seiner jugend, daß ihm vor rührung tränen in die augen steigen. der vater ein stiller steuerberater, die mutter keine hilfreiche hausfrau, das zuhause ein einziger totenrummel, wenn der vater sich unruhig ans klavier setzte, sang er kirchenlieder. die sonne in der vorstadt war nur dazu da, um die polstergarnituren auszubleichen und die vorhänge gelb zu färben. wo ich bin, bleibe ich nicht, wo ich bleibe, bin ich nicht. ein fremder in einem fremden land, ist egin doch noch heil im leben angekommen. wenn ihm die sonne und die ersten tausend frauen, mit denen er sex gehabt hat, zuviel werden, geht er in die klimatisierte bibliothek seines traumhauses und sieht sich die fotos von stine an, die dort überall in silberrahmen herumstehen. eine so großartige erfindung wie stine wird er nie wieder machen, das weiß er. stine ist die maschine, die alle dinge und alle menschen, die er will, direkt in sein leben hineintransportiert. und der egin im boot auf dem vierwaldstätter see nimmt sich vor, stine ganz fest die hand zu drücken.
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Nun!gehn Sie schon, meine Beste 1. Frage, aus dem Publikum: …? Plenitude drives the new network economy. Plenitude increases the value of the whole network. Plenitude works to open up closed Systems. Plenitude unfolds immense numbers of opportunities. Ich weiß nich, ob ich Ihre Frage verstandn habe. This new law reverses industrial logic. The network economy rewards open Systems. The value of an Innovation, Company or technology grows exponentially. Maximize the opportunities of others. Falls ich die Frage anders verstehn darf, supply goes up as prices go down, supply and demand are no longer driven by resource scarcity and human desire, both are driven by technology. Ich will keine Instanz sein, nein, nich maßgeblich. Build a network, membership / user base as fast as possible, follow the principle of a basic free economic model to build lasting value, earn through additional value, e. g. source code, manuals, support, etc., price for membership, not usage, sell intelligence and innovation. Meine Meinung is nich maßgebnd, ich habe auch gar keine Meinung. Wenn Sie mein, wir lebn in einer großn Zeit – it will no longer be sufficient to maximize the company’s value in the marketplace. In the new economy the primary focus shifts from maximizing the firm’s value to maximizing the network’s value. Wer konnte das auch ahn, technical Standards will become as important as laws. Auf der Schule war ja von ganz andern großn Zeitn die Rede. Information replaces mass, industrial materials will be replaced by nearly weightless hightech know-how. Große Geschehnisse, große Menschn, große Ideen. The 173
riet is built around the smallest common denominator. 2. Frage, aus dem Publikum: …? Nein, über meine Entwicklung möchte ich nichts sagn. The life cycle of innovations, products, and Services is increasingly short-lived. Benchmark breaking and creative destruction are becoming more and more important. Deftne the right playing field. Innovate, don’t imitate. Hüsteln. Size, tradition and incremental technological innovations are the biggest blocks hindering future success. The new economy is rich in startups. The new economy is to be built around partnering concepts. The new competitors will not emerge front the ranks of traditionell competitors. Freundliches Nicken. The new economy operates in spaces, not places. A place is bound by four dimensions, up / down, left / right, forwards l backwards, and time. A space is an electronically created environment, space has unlimited dimensions, people, objects, agents, bits, nodes etc., spaces are not bound by proximity. Wenn allerdings eine Entwicklung anfängt, from value chain to value web, ein Wink ins Publikum, intermediaries will play a significant role in the new network economy. Stine flüstert dem Vortragenden etwas zu.!Gut, wie Sie wünschn, ich will mich etwas verständlicher ausdrückn. Constant Innovation reduces the negative effects of change, change will become a natural element of the new economy, more and more people will become free agents, employed by numerous employers working on an ad hoc basis in project environments. Stine flüstert dem Vortragenden noch etwas zu. The new economic model fosters organizations which strive on few rules and near chaos, enabling them to cope with changes in the game, changes in the rules of the 174
game.?Welche Dinge mich am meistn beeindruckn. Innovation manifests change through new products and Services, new categories of products and Services, new methods to make products and Services, new types of organizations to make products and Services, new industries, new economies. 3. Frage, Tochterbär ist immer dabei: …? Fleur fühlte sich durchaus nicht, als sei sie Teil der New Economy, sondern als sehe sie einen Film aus den fünfziger Jahren. Die Firma ging ins Modehaus, ein neues Organisationskleid bitte, weich und lang! Die Firma drehte sich vor dem Spiegel, sie ging ganz nahe an den Spiegel heran, sie trat zurück bis auf den Korridor und blickte über die Schulter, weil sie wissen wollte, ob das Kleid auch hinten saß. Stundenlang konnte die Firma Kleider anprobieren, mit einer tiefen Befriedigung, entführt in eine prickelnde Zukunft. Währenddessen, so malte sich Fleur aus, lagen Stine und der Organisationsdesigner nebeneinander auf einem Hotelbett, wie ein Paar, das sich zufällig getroffen hatte, und Stine und der Organisationsdesigner rauchten und redeten, über die einzige, die sie stören konnte, über Fleurs Mutter. Sie könn Ihrer Mutter nich helfn. Nich hier, nich jetz. Sie sehn doch, was hier vorgeht. Sie müßn Ihre Mutter beschäftign. Eine Beschäftigung hält Ihre Mutter von Schlimmerm ab. Wir könn Ihre Mutter nich mehr beschäftign. In gewisser Hinsicht is Ihre Mutter zu geschäftig. Die Geschäftigkeit Ihrer Mutter is eine Versuchung. Die Spiele Ihrer Mutter machn die Mitarbeiter besser als sie sin. Wir wolln die Mitarbeiter auch besser machn, aber es gibt eine Grenze. Wenn die überschrittn wird, macht jeder sein Ein-Mann-Betrieb auf. Da bricht ja alles zusamm. Wir wißn, daß wir das lieber nich sagn solltn. Daß wir das für uns behaltn oder 175
eigntlich nur in streng geheim Unterredung äußern solltn. Aber zu Ihn habn wir ja ein andres Verhältnis. Mit Ihn könn wir nett sprechn, Sie machn uns keine Vorwürfe, Ihre persönliche Note is so völlig anders. Ja, wir gehn oft in Kunstausstellung, wir sin auch früher schon oft in Kunstausstellung gegang. Wir setzn uns immer auf den Fußbodn, um Ihre Videos anzuschaun. Manchn habn wir geradezu liegend zugesehn. 4. Frage,?: …? I’m one of those bad things that happen to good people. 5. Frage, Trendelenburg: …? Das 18-Monate-Baby hat ein Gewicht von 11,2 kg, eine Stehhöhe von 81,3 cm un eine Sitzhöhe von 50,5 cm. Das Gewicht des 50%-male-test-dummies entspricht mit 78,15 kg exakt dem Durchschnittsgewicht der männlichn Bevölkerung. 5% aller Erwachsn sin leichter als der 49,98 kg schwere Small-female-dummy, 5% schwerer als der 101,31 kg schwere Large-male-dummy. Ihre Größe un Ihr Gewicht müßn der menschlichn Anatomie entsprechn. Ihr Torso un Ihre Extremitätn bestehn aus Aluminium und Gummi, Ihre Rippen sin aus Kunststoff und Federstahl, Ihre Arm- un Ihre Fußknochn aus Stahlröhrn mit Vinyl. Keine gehässign Bemerkung über Ihre Gelenke un auch nich über Ihre Wirbl, sie sin!voll funktionstauglich.?Habn Sie gehört, was ich Ihn gesagt habe. Sie werdn letztmalig aufgefordert, sich zu entscheidn, ob Sie ein!Frontalcrashdummy oder ein!Seiten-crash-dummy sein wolln!Sagn Sie!überdeutlich, ob Sie sich für die US-Norm oder die Euro-Norm entscheidn wolln. Der Organisationsdesigner schüttelte das rote Seil, so daß der daran aufgehängte gelb gekleidete Dummy kreiselte, er 176
stieß den kleinen blauen Dummy mit den weißen Schuhen nach hinten und zerrte denjenigen in den farbigen Schuhen nach vorne. Er verdrehte die Schaukel des ganz kleinen blauen Dummies und lockerte das Seil, mit dem der violett gekleidete Dummy mit dem Baby auf dem Schoß befestigt war. Alle Dummies kamen in Bewegung, sie schwangen hin und her, vor und zurück. ?Wozu brauchn Sie so komplizierte Gelenke. Ein oder zwei Bewegungsrichtung genügn doch. Warum soll Ihr Körperbau nich einfacher sein als ein normaler menschlicher Körperbau. Hauptsache, sie bleibn immer ein und dieselbn. Sie könn sich an Ihrm Wert berauschn. Ohne Meßglieder kostn Sie DM 50000. Aber Sie habn sich natürlich an die Meßglieder gewöhnt, und da kostn Sie auf einmal DM 120000. Ganz schön!hohe Lebenshaltungskostn falln für Sie an. Die Luft wird dünn, weil Sie so teuer sin. Sie könn sogar mit den Gelenkn knackn, so schön konstruiert sin Sie. Sie fühln sich überlegn. Ihr Job hat was Heimeliges. Sie sin stolz auf die Unverrückbarkeit Ihrer Grundsätze. Sie überstehn jedn Crash unverletzt. Ihre Kinder spieln am Computer rum, aber Sie komm nie auf den Gedankn, daß Software-dummies Sie ersetzn könntn. Nur zur Ergänzung, sagn Sie sich. Sie sin Gigantn des Ausharrns. Daß von den Software-dummies eine Kettenreaktion ausgehn könnte – jetz habn Sie schon Jahre, Jahrzehnte unverletzt überstandn, nie würdn Sie auf die Idee verfalln, daß Sie Opfer eines Kahlschlags werdn könntn. Hey Leute,?wem erzähle ich das eigentlich. Der Organisationsdesigner knuffte wieder seine Familie, alle drehten sich.?Wem erzähle ich das alles eigentlich. Er blickte die Mutter mit dem Säugling an, euch hier, oder nur mir?selber. Er wandte sich an das Publikum, oder?Ihn. Oder rede ich etwa mit? ¾-Verletztn, mit Leutn, die nich sterbn könn.!Mein Sie, das alles interessiert 177
irgendwen da draußn. Ich sage Ihn doch, was Ihr Interesse is, und das heißt,!raus mit Ihn, habn Sie!verstanden, damit wir an der Firma der Zukunft arbeiten könn. Zur Dummy-Familie: Ihr fliegt alle!hochkantig!raus. Für euch gibts!nichts mehr,!kein Bedarf. Zum Publikum: Sie wolln doch nich, daß wir alle 6. Frage: …? Meine Mission, meine Mittlerrolle. Ich vermittle nie, eine undankbare Rolle. Sie habn kein höhern Gesichtspunkt, ich habe auch kein höhern Gesichtspunkt. Man hat mir diesn Auftrag zugemutet. Ich habe keine Mission, ich verwalte doch nur. Eigentlich is es eine Art kulturelle Administration. Verlegenes Husten. Zeichen der Erschöpfung. Bei Männern und Frauen? Bei Bär? Beim Vortragenden? Bei der Familie? Nächste Frage, Frollein Fleur. Nächste Frage. Technology allows us to target ever smaller customer segments. Technology enables newspaper readers to create their own newspaper, their own content built on a joint learning relationship. Technology enables banks to offer custom tailored products and Services. Technology enables airlines and hotels to customize their respective offerings, to tailor their offers to unvoiced needs without you having to ask for it. So ward das Handwerk geboren, aus dem Leichnam der Industrie. Der Organisationsdesigner strich dem Kind auf der Schaukel über den ausgeblichenen Sweater. Das einzige Motiv für die Industrialisierung war das Bestrebn, alles für eure einfachn Gelenke kompatibl zu machn. Ich sehe in euch schon den Funkn der Neugier. In Ihn, er blickt Bär an und danach wie zur Bestätigung Fleur. 178
Der Organisationsdesigner aß die Dummheit, fand Fleur. Viereck, the supplier, Sechseck, create what the customer wants, Sechseck, remember what the customer wants, Sechseck, anticipate what the customer wants, Sechseck, change what the customer wants, Viereck, the consumer, Achteck, create what the customer wants, remember what the customer wants, anticipate what the customer wants, change what the customer wants. The supplier becomes part of the full selling l buying l communication cycle through interactive learning. Bär versuchte, eine Gemeinsamkeit zwischen sich und dem Vortragenden zu finden, dabei konnte es keine Gemeinsamkeit geben, sondern nur Gemeinheit. The customer learns as fast as the Company and vice versa. Learning customer, learning supplier. Learning Bear wurde nicht müde, aus den Folien das Vertraute herauszufiltern. Reverse buying / selling models, das Fadenkreuz der eigenen Existenz von den anderen aufgerichtet. Bear doesn’t become smarter by being connected to collective intelligence. Ab einem gewissen Alter, Bear becomes more loyal, Bear becomes less informed, Bear will never be an expert for your product. Build valid relationship models based on collective smartness, nehm Sie es mir nich übl, aber Sie bring es auch nich halbwegs fertig to connect customers to user groups, to affinity groups, to other customers, to freaks etc. You can’t make customers as smart as the collective intelligence about your products l Services. Mutterbär nervös, doesn’t create relationships built on trust. Involve customers in the creation of your products l Services. Aber tun Sie mir ein Gefalln, identify, pursue and create opportunities, don’t just solve Problems, Ihr Geliebtes, the measure for change will become the number 179
of possibilities generated by the Company, Ihr Gelobtes, optimizing the existing product Services will not be good enough, to do the right things is more important than doing things right. Ein echter Freizeitspaß, nich für diese Familie, create opportunities, unleash innovation and creativity. Keine Todesangst vorm großn Deal. Ignore Problems. Learning by doing. Sie wehrn sich noch gegn das, was Sie längst gewordn sind. Sie wolln nich wahrhabn, was längst schon Ihre Wahrheit is. Build critical mass, wartn Sie ab, auch aus Ihn wird hier bei uns schon noch ein Mensch. New technologies create new desires, value will change as generated by Innovation, Imagination, originality, luck and the dynamo of the new technologies. Das is Ihre Hetzte Chance, Frau.?Begreifn Sie das nich. Wenn Sie mir Ihr Rechteck nich freiwillig aufmachn, werde ich es streichn. Da könn Sie Gift drauf nehm.? Was wolln Sie denn noch für eine Rolle spieln hier. Also meine Liebe,!raus jetzt. Das is doch kein Bunker, mit eim Riegl, den Sie vorschiebn könn. Ihre allerletzte Chance, Frau. Zeign Sie mir jetz die Linie, auf der Sie rausgehn. Die verdammte Linie, Sie solin Sie mir!zeign.?Sehn Sie nich die Linie dort. Sie gehn aus Ihrm Rechteck raus und die Linie entlang ~ ich habe es wohl deutlich gesagt. Ich komme jetz rein. Also, wenn es stimmt und Sie wolln nich, daß ich zu Ihn reinkomme, und Sie wolln raus, aber mit Anstand, da mache ich Ihn ein Vorschlag. Ich bleibe draußn, und Ihre Tochter kommt zu Ihn rein, und dann gehn Sie gemeinsam raus.? Was sagn Sie dazu. Ihre Tochter kommt also rein,?in Ordnung.!Ja. Sagn Sie, daß Sie einverstandn sin, daß Ihre Tochter jetz zu Ihn!reinkommt und Ihn die Linie!zeigt. Es is mir!ernst, mit dem, was ich ebn zu Ihn gesagt habe. Habn Sie mir?zugehört. Ich will!nich, daß hier ein Gemetzl anfängt. Habn Sie mich?verstandn. 180
Ihre Tochter kommt zu Ihn!rein. Ihre!Tochter zeigt Ihn die Linie. Ihre Mutter soll auf die Vergangenheit pißn und hinter sich die Tür ins Schloß werfn. Was für Geschichtn. Das Hundsgemeine war, daß er recht hatte.
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SCHATTEN DER VERGANGENHEIT AUS DEN AUFZEICHNUNGEN VON FLEURS VATER 1.1.1991 Ich verstehe doch alles. Ich verstehe den Dichter, der Leser brüskierte, wenn sie ihn nach seinem Bild erkannten, der jedoch einflußreichen Literaten ein Exemplar von Whoroscope mit Widmung gab. Ich weiß, warum der Philosoph nach dem Tractatus lehrte und schrieb, aber nichts veröffentlichte. Ich würde den Maler nicht verstehen, wenn er nicht mit dem Intellektuellen gebrochen hätte, nachdem dieser seinen Unfall von der Place des Pyramides an die Place d’Italie, aus der Stadt des Malers in das Nichts des existentialistischen Universums verlegt hatte. Ich verstehe nicht, wie jemand auf den Gedanken kommen kann, die Werke des Philosophen als Ergebnis seiner Homosexualität zu sehen, über die er nicht reden wollte. Als ob seine Philosophie aus dem Schweigen über seine Homosexualität gemacht wäre. Ich verstehe die Exegetin, die auf den Knopf drücken würde, der das Privatleben des Philosophen endgültig zum Verschwinden bringen könnte, sie versteht den Philosophen. Aber auch der Intellektuelle glaubt, den Maler zu verstehen, warum soll er den Unfall nicht an die Place d’Italie verlegen, für die er schon immer eine Vorliebe gehabt hat, und irgendwie kann ich mir vorstellen, daß der Intellektuelle den Maler doch versteht, auch wenn er ihn ganz falsch versteht – 182
3.1. Beim Geburtstagsempfang in der Gran Baita für den Aufsichtsratsvorsitzenden des Konzerns, für den Bär jetzt arbeitet, habe ich den Deutschlandchef der Firm kennengelernt. Ich durfte ihn sofort Hermann nennen. Ihr Wachstum sei durch die Verfügbarkeit brauchbarer Mitarbeiter begrenzt. Sie stellten sehr hohe Anforderungen an die jungen Berater. Voraussetzung für die Einladung zum Erstinterview sei ein ausgezeichneter Hochschulabschluß. Die Fachrichtung des Abschlusses spiele keine Rolle, entscheidend sei nicht vorhandenes Wissen, vielmehr die Fähigkeit, sich in kürzester Zeit neues Wissen anzueignen und es anzuwenden. Darüber hinaus solle der Berater eine Ausstrahlung haben, die am besten durch den Begriff Dedication to clients beschrieben werde. Zur fachlichen Kompetenz müsse sich die Bereitschaft gesellen, das Privatleben absolut hintanzustellen. Diese Eigenschaften seien testbar. Sie hätten Fallbeispiele entwickelt, die sie mit den in die engere Wahl genommenen Bewerbern in mehreren Interviews durchgingen. Dabei bekomme man ein Gefühl dafür, ob der Bewerber kreative Problemlösungen packe, man könne sagen, ob man mit dem Kandidaten gern in einem Team zusammenarbeiten würde oder nicht. Berater seien oft gezwungen, monatelang irgendwo vor Ort zu sitzen und jeden Tag und jeden Abend auf engstem Raum zusammenzuleben. Da müsse die Chemistry stimmen, sonst gehe gar nichts. Was die Firm von anderen Beratungsgesellschaften unterscheide, sei das gemeinsame Selbstverständnis. Die Shared values. Dazu gehöre auch, 183
daß sie Spaß an dem Ganzen hätten. Wenn er keinen Spaß hätte, würde er seinen schwierigen Job nicht machen. So Hermann. Er fährt einen roten Porsche Carrera. 6.1. Ich lebe gerne immer wieder an anderen Orten in Hotels, Boarding houses und möblierten Appartements. Ich bin keine gestandene Führungskraft, die die Mitarbeiter mit Härte auf einen anderen Kurs bringt. Ich bin kein kontaktfreudiger Macher, der die Mitarbeiter motiviert. So daß sie etwas tun, was sie ohne mich nie tun würden. Ich habe keine ausgeprägten Stärken und keine besonderen Vorlieben, weder für Entwicklung, Konstruktion oder Produktion noch für Marketing, Finanzen oder Controlling. Ich bin auf keine Branche festgelegt, ich bin ein Mädchen für alles. Meine Verträge laufen je nach Aufgabe einige Monate, aber auch ein Jahr und mehr. Am Anfang sind meist sechs oder auch sieben Arbeitstage in der Woche notwendig, gegen Ende genügen häufig zwei oder drei. Was mir die Vorbereitung und den Einstieg in die nächste Aufgabe ermöglicht. Häufig arbeite ich parallel. Ich bin kein Berater. Ich fange da an, wo die Berater aufhören. Oft baue ich auf einer Studie auf, die die Firm angefertigt hat. Ich setze das um, was davon zu gebrauchen ist. Oder ich mache etwas ganz anderes. Ich schreibe keine Berichte, ich verfasse keine Exposes, meine Berichterstattung geschieht ausschließlich mündlich (ich schreibe nie auch nur einen Entwurf für einen Aktenvermerk oder einen Geschäftsbrief). Es spielt keine Rolle, wer das Protokoll führt, ich achte nicht darauf, welche Teile meines Vortrags festgehalten werden und 184
welche nicht. Wenn ich gefragt werde – ich werde jedesmal gefragt –, warum ich nur unter der Bedingung arbeite, daß ich keine schriftlichen Berichte verfassen muß, antworte ich, es genüge, daß diejenigen, die mich empfehlen, Berichte anfertigen. Ich vermeide es, meine Tätigkeit als Sanierungstätigkeit zu bezeichnen. Wobei Sanierung nicht unbedingt finanzielle Sanierung bedeuten muß. Es gibt finanziell gesunde Unternehmen, deren kaufmännische und beziehungsweise oder technische Organisation sanierungsbedürftig ist. (Manager auf Zeit werden nach Tagessätzen bezahlt, demnach kommt es vor, daß ein finanziell gesundes Unternehmen nach der Sanierung der technischen und beziehungsweise oder der kaufmännischen Organisation finanziell nicht mehr gesund ist. In diesem Fall wäre das Unternehmen naturgemäß ohne die technisch-organisatorische Sanierung schon viel eher in den Zustand geraten, der den unvorhergesehenen Einsatz weiterer finanzieller Mittel notwendig macht. Aber das ist eine andere Geschichte.) Meistens stelle ich es so dar, daß ich einspringe. Ein Vorstand oder ein Geschäftsführer fällt plötzlich aus, und es steht weder im Unternehmen jemand bereit, noch kann kurzfristig jemand von außerhalb gewonnen werden, dem zugetraut wird, die Stelle auszufüllen. Ein Patriarch tritt ab, und der oder die Nachfolger, der oder die dazu ausersehen sind, die Geschäfte des Patriarchen weiterzuführen, bedürfen noch eines Zeitraums der Einarbeitung, während dessen es unklug wäre, sie mit der vollen Verantwortung zu belasten. Ein Gremium kann sich nicht auf einen dauerhaften Nachfolger für einen Geschäftsführer oder einen Vorstand einigen, zugleich gibt es aber Entwicklungen, die ein rasches und entschlossenes Handeln auf der offenen Stelle erfordern. 185
7.1. Ein Informant eines Geheimdienstes, der eine Beobachtungsaufgabe und einen finanziellen Vorteil hat. Ein Spitzel, der auf eine bestimmte Person oder eine bestimmte Gruppe von Personen angesetzt ist und sie ausspähen soll. Von so jemandem erwartet man, daß er Berichte schreibt. 12.1. Zufriedenheit ist definiert als der Zustand, der genau dann eintritt, wenn alle Pläne erfüllt werden. Sind Pläne nicht erfüllt, muß jemand etwas ändern, um diese Pläne zu erfüllen, sind alle Pläne erfüllt, darf niemand etwas ändern. Wiederholt sich dieselbe auslösende Bedingung, wiederholt sich das Verhalten. In der Mechanik ist das Gleichgewicht ein Zustand, in dem ein System aus Teilchen, aus ihren Bahnen in Raum und Zeit, aus ihren Massen und aus bestimmten Kräften ein regelmäßiges räumliches und zeitliches Verhalten zeigt, das sich nicht verändert, solange keine weiteren Kräfte von außen einwirken. Im Zustand der Planerfüllung heben sich die Kräfte auf, die das System von einem regelmäßigen räumlichen und zeitlichen Verhalten abhalten könnten. Die gleichbleibenden Verhaltensdispositionen erzeugen eine funktionale Abhängigkeit der endogenen von den exogenen Variablen, die Werte der Variablen hängen von den Werten der Daten ab. Planerfüllung bedeutet: Die geplante Größe stimmt mit der entsprechenden verwirklichten Größe überein. Planerfüllung bedeutet auch, daß der einzelne davon Kenntnis erlangt, daß sein Plan erfüllt ist.
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13.1. Ist die Erfüllung des Gesamtplans einer Gruppe notwendig an die Erfüllung der Einzelpläne der Mitglieder der Gruppe gebunden? Einmal wird der Gesamtplan nur dann als erfüllt angesehen, wenn die entsprechenden Einzelpläne ausnahmslos erfüllt werden, ein andermal wird auf diese Bedingung verzichtet und Nichterfüllung bei Einzelplänen zugelassen. Es liegt nahe, die Auffassung zu vertreten, die Bedingung, daß alle Einzelpläne erfüllt sein müssen, sei zu einschränkend, um wirklichkeitsnah zu sein. Soll der Gesamtplan erfüllt sein, ohne daß die Einzelpläne lückenlos erfüllt sind, dann müssen sich die nicht erfüllten Einzelpläne gegenseitig aufheben, damit der Gesamtplan erfüllt wird. Die Voraussetzungen, die ein solches Zusammenspiel ermöglichen, sind jedoch mindestens so einschränkend wie die Bedingung, daß alle Einzelpläne erfüllt sein müssen. Von größerer Wirklichkeitsnähe kann deshalb nicht gesprochen werden. Ein rekursives Modell beschreibt den genauen Zeitpfad der Handlungen und damit die Abstände, die zwischen ihnen liegen, insbesondere die Zeitpfade der Anpassungsvorgänge. Es ist jedoch unmöglich, alle Entscheidungen und deren Verknüpfungen zu berücksichtigen, weil erstens die nötigen Daten nicht vorliegen und weil zweitens die Anzahl der Gleichungen zu groß würde. Deshalb verwendet man in der Regel interdependente Modelle: Jedesmal, wenn eine Anzahl von aufeinanderfolgenden Handlungen eine Zeitspanne umfaßt, die im Vergleich zur Einheitsperiode klein ist, behandelt man den Sachverhalt so, als ob eine gleichzeitige vielschichtige Abhängigkeit bestünde. Man legt die zukünftigen Werte der exogenen Variablen fest und errechnet mit Hilfe des Modells die zukünftigen Werte der endogenen Variablen. Die Vorhersagen sind 187
natürlich nur so zuverlässig, wie die exogenen Variablen richtig berechnet worden sind, außerdem ist immer vorausgesetzt, daß kein Strukturbruch auftritt, daß das für die Vergangenheit geltende Modell auch in der Zukunft gültig bleibt. Zwei Strukturen desselben Modells sind äquivalent, wenn sie die gleiche Wahrscheinlichkeitsverteilung der abhängigen Variablen zur Folge haben. In diesem Fall gehorchen die Daten, die beobachteten Zeitreihen, zwei verschiedenen Gesetzmäßigkeiten, den beiden verschiedenen Strukturen, zwischen denen man keine Entscheidung treffen kann. In der Regel wird die Identifikation eines Modells erst durch die Annahme von A-priori-Restriktionen für die Gleichungen möglich. Der einfachste Fall einer A-priori-Restriktion liegt vor, wenn eine Variable nicht in allen Gleichungen vorkommt. Während die jeweiligen A-priori-Restriktionen für die einzelnen Gleichungen des Modells durchaus ihre Berechtigung besitzen, führt jedoch die Summe der Apriori-Restriktionen im Gesamtmodell häufig zu widersprüchlichen Ergebnissen – deshalb Modelle, die keine der üblichen A-priori-Restriktionen aufweisen. Alle Variablen sind endogen, es wird angenommen, daß grundsätzlich alles von allem abhängt. 21.1. Wenn wir am Wochenende in der üblichen Gruppe Ski laufen, ist Hermann immer dabei. 3.2. Die Theorie der rationalen Erwartungen geht davon aus, daß der einzelne die ihm zur Verfügung stehende Information bestmöglich nützt: Er minimiert den bedingten Erwartungswert des Vorhersagefehlers in bezug 188
auf die ihm zur Verfügung stehende Information. Im Gleichgewicht der rationalen Erwartungen formt der einzelne seine Erwartungen gemäß einer bestimmten Vorhersagefunktion. Unabdingbare Voraussetzung für die Formulierung der Vorhersagefunktion des einzelnen ist dabei die Kenntnis der Durchschnittsmeinung der anderen für alle Zeitabschnitte. Die Theorie der rationalen Erwartungen sagt aus, daß der einzelne im Gleichgewicht eine richtige Vorhersagefunktion gebildet hat. Die Theorie der rationalen Erwartungen sagt jedoch nichts darüber aus, wie er diese Vorhersagefunktion gebildet hat: Die Vorhersagefunktion des Gleichgewichts der rationalen Erwartungen ist definiert durch die Bedingung, daß der einzelne die Parameter des Gleichgewichtszustands vorausgesagt hat, der tatsächlich eingetreten ist. Wie erlangt der einzelne das Wissen, das in der Wahrscheinlichkeitsverteilung besteht, die seine Mutmaßungen über die Zukunft ausdrückt? – Wie bildet der einzelne eine Vorhersagefunktion, die die Kenntnis der Durchschnittsmeinung der anderen für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft voraussetzt? – Ein Weg für den einzelnen besteht darin, selbst die anderen zu beobachten. Dazu muß natürlich die Voraussetzung aufgegeben werden, daß der einzelne überhaupt keinen Einfluß auf andere ausübt. Er muß zumindest lokal auf andere Einfluß ausüben, sonst könnte er keine aussagefähigen Beobachtungen machen. Die Schwierigkeit dieses Wegs ist, daß der einzelne höchstens lokal beobachten darf, um global zu beobachten, müßte er global Einfluß nehmen. Da der einzelne aber nur lokal beobachten kann, bleibt ihm das Wissen unzugänglich, von dem vorausgesetzt wird, es sei für ihn verfügbar. Ein anderer Weg führt über eine Einrichtung, die die Einzelwesen beobachtet, Wissen über sie anhäuft und ihnen dieses Wissen dann zugänglich 189
macht. Diese Einrichtung kann jedoch, ohne die Einzelwesen zu beeinflussen, nur die Vergangenheit zuverlässig abbilden. Will sie die Zukunft vorhersagen, darf sie nicht mehr abseits stehen, sie muß Einfluß auf die Einzelwesen nehmen, um die Beobachtungen zu machen, aufgrund derer sie ihre Vorhersage formuliert. Damit würde sie jedoch eine Rolle spielen, die ebenfalls dem Geist einer Theorie zuwiderliefe, die erklären will, wie eine große Anzahl von Einzelwesen, die eigenständig zueinander in Widerspruch stehende Ziele verfolgen, ein stabiles Muster von Handlungen erzeugt. – Ein Beobachter will das Verhalten eines Beobachteten vollständig vorhersagen. Dem Beobachter bietet sich eine Wahl zwischen drei Möglichkeiten: Er kann so vorgehen, daß er keinen Einfluß auf den Beobachteten ausübt, daß er schwachen Einfluß auf den Beobachteten ausübt oder daß er starken Einfluß auf den Beobachteten ausübt. Andersherum gilt immer, daß der Beobachtete auf den Beobachter starken Einfluß ausübt – ohne daß der Beobachtete dessen gewahr werden muß: Bereits kleinste Unterschiede des Verhaltens in der Gegenwart im Vergleich zu dem in der Vergangenheit können Ausdruck einer Änderung der Verhaltensdispositionen sein. Eine solche Änderung der Verhaltensdispositionen hat jedoch möglicherweise große Unterschiede des zukünftigen Verhaltens im Vergleich zum gegenwärtigen Verhalten zur Folge. Der Beobachter ist damit Verstärker der beobachteten Verhaltensänderungen, das Verstärken kleiner beobachteter Verhaltensänderungen zu großen Vorhersageänderungen bedeutet aber nichts anderes, als daß der Beobachtete starken Einfluß auf den Beobachter ausübt. – Zu Möglichkeit eins. Da die Beobachtung dem Beobachteten verborgen bleibt, ist ausgeschlossen, daß der Beobachtete sein Verhalten wegen der Beobachtung 190
ändert und daß deshalb auch der Beobachter seine Vorhersage ändern muß. Ein verborgener Beobachter erfährt jedoch nicht genug, um eine vollständige Vorhersage des Verhaltens des Beobachteten formulieren zu können. – Zu Möglichkeit zwei, die schwache Beeinflussung des Beobachteten durch den Beobachter voraussetzt, dabei jedoch die schwache Beeinflussung für die Gewinnung der Vorhersage völlig vernachlässigt. Wenn der Beobachtete ohne den Einfluß des Beobachters das nächste Mal unter gegebenen äußeren Bedingungen auf eine Weise gehandelt hätte, so wird er jetzt, bei gegebenem Einfluß des Beobachters, vielleicht auf eine andere handeln. Der Einfluß des Beobachters bedingt, daß der Beobachtete in einigen Fällen seine Verhaltensdispositionen ändert. Dazu kommt, daß der Beobachter auch bei schwachem Einfluß nicht genug erfährt. Der Beobachter kann sich nicht überall einschleichen, um herauszufinden, wie sich der Beobachtete unter welchen äußeren Bedingungen verhält. Das müßte er aber, wenn er das zukünftige Verhalten des Beobachteten vollständig vorhersagen will. – Zu Möglichkeit drei. Die starke Beeinflussung ist wechselseitig, der Beobachter spielt, nach Voraussetzung, die Rolle eines Verstärkers. Um die vollständige Vorhersage des Verhaltens des Beobachteten zu formulieren, muß der Beobachter sowohl seinen Einfluß auf den Beobachter als auch dessen Einfluß auf ihn sowie die sich daraus ergebenden Wechselbeziehungen berücksichtigen. Der Beobachter könnte daran denken, das Verhalten eines Systems vorherzusagen, das aus dem Beobachteten und dem Teil des Beobachters, der mit dem Beobachteten in Wechselwirkung steht, gebildet wird. 191
Was aber keine Lösung ist, weil sich für die Vorhersage des Verhaltens dieses neuen Systems dieselbe Schwierigkeit ergibt wie für die Vorhersage des Verhaltens des Beobachteten. Nach Voraussetzung ist es nicht möglich, daß der Beobachter keinen Einfluß auf dieses System ausübt, denn ein Teil von ihm ist ja ein Teil des Systems, und er selbst besteht nicht aus zwei nicht miteinander in Beziehung stehenden Teilen. Übt er schwachen Einfluß auf das System aus, dann ist die Vorhersage in dem Maß ungenau, in dem dieser Einfluß vernachlässigt wird. Übt er starken Einfluß aus, dann ergibt sich wieder die Anfangsschwierigkeit. Der Beobachter kann also nicht das Verhalten des Systems aus dem Beobachteten und dem Teil von ihm, der mit dem Beobachteten in Verbindung steht, vorhersagen. Die andere Möglichkeit, bei starkem wechselseitigem Einfluß das Verhalten des Beobachteten vorherzusagen, hat zur Bedingung, daß der Beobachter sein eigenes Verhalten vorhersagt. Ist er dazu imstande, dann kann er die äußeren Bedingungen vorhersagen, denen der Beobachtete unterworfen sein wird, und er könnte bei Kenntnis von dessen Verhaltensdispositionen eine vollständige Vorhersage des Verhaltens des Beobachteten formulieren. Kann ein Mensch sein eigenes zukünftiges Verhalten formulieren. Kann ein Mensch sein eigenes zukünftiges Verhalten vorhersagen? – Er müßte einerseits seine eigenen zukünftigen Verhaltensdispositionen und andererseits die äußeren Bedingungen, denen er unterworfen sein wird, kennen. Voraussetzung dafür ist, daß er sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart seiner Umwelt sowie seine eigene Vergangenheit und Gegenwart vollständig kennt. Diese Voraussetzung ist jedoch nicht 192
erfüllbar. Vollständige Kenntnis der eigenen Vergangenheit und Gegenwart bedeutet auch Information über die Selbstinformation. Die Information muß sich also selbst darstellen, das ist bei endlicher Information nicht möglich. 9.2. Wenn etwas eine Metapher ist, dann steht es für etwas, aber es ist nicht dessen Stellvertreter, so daß das, wofür es steht, das Ursprüngliche wäre, die Metapher das Abgeleitete, und das Abgeleitete ersetzte das Ursprüngliche im gegebenen Zusammenhang. Eine Metapher ersetzt nicht. Eine Metapher ist immer das Ursprüngliche. 10.2. Es gibt keinen ursprünglichen Text. Weil es zu viele ursprüngliche Texte gibt. 11.2 Man kann auch auf die Rede vom ursprünglichen Text verzichten und statt dessen den Hinweis auf die prinzipielle Nennung aller Verweise zwischen allen Texten geben. Ein naives Entschuldungsmanöver: Die Gesamtzahl der Verweise soll genau die Aufgaben erfüllen, die der ursprüngliche Text erfüllen sollte. Die so beschriebene Anzahl von Verweisen stellt dann einfach nur eine andere Normalform des ursprünglichen Texts dar. 12.2. Würden Metaphern tatsächlich das ersetzen, wofür sie 193
stehen, niemand würde die Zeit wahrnehmen. 19.2. Früher bereitete sich jeder in seiner eigenen Weise auf den Tod vor. Jetzt sitzen alle in LC-Sesseln und Wassily chairs, wenn sie darüber nachdenken, wie es zu ihrem ersten Kreislaufkollaps kam. Und sie lesen domus, das einzig Vollkommene auf dieser Welt. Das offizielle Organ des Todes, das zeigt, wie man sich beispielhaft auf ihn und in ihm einrichtet. Wobei offen bleibt, ob die Urheber der Stücke, die heute als Musterbeispiele guter Gestaltung gelten, diese Hilfestellung auch tatsächlich beabsichtigten. Auf Bildern aus der Zeit sehen LC-Sessel viel gemütlicher aus als die heutigen Modelle. Wer sich hineinsetzte, brachte die Polster in Unordnung. Was heute nicht mehr möglich ist, weil die Polster viel härter sind. In einer gestalteten Wohnung oder in einem gestalteten Haus kann man nicht wohnen. Schon Josef Hoffmann und die Wiener Werkstätte haben nicht für die den jeweiligen Hofrat oder die jeweilige Primarswitwe kennzeichnende einmalige Kombination aus Vorlieben und Abneigungen entworfen. Sie haben für diejenigen gearbeitet, die jetzt die Monographien über sie schreiben. In einem gestalteten Haus kann man sich höchstens aufhalten. Aber die Dinge machen einem immer wieder zum Vorwurf, daß man ihren Gleichklang stört. Wenn man sich doch darin aufhält oder gar darin wohnt: eine ausgezeichnete Einstimmung auf die wenig bedeutende Rolle, die man nach dem Tod spielen wird. 23.2. Der Ordensbruder von gestern ist heute Workaholic in der Firma. Im Grunde sind die Ordensregeln nur mäßig 194
profaniert worden. Die Arbeit ist nicht Mittel, die Überlastung nicht ungewollte, aber in Kauf genommene Folge, sondern Zweck. Der Beweis dafür, daß es nicht das Ergebnis der Tätigkeit ist, auf das es ankommt, ist die Tatsache, daß diejenigen, die mit den Ergebnissen zufrieden sein können, dies durchaus nicht zum Anlaß nehmen, ihrer Überlastung gegenzusteuern. Sondern diese vorantreiben. Der Drei-Stunden-Schlaf auf der Couch im Büro ist doppelt nützlich: Übernächtigt kann man die Vorstellung des Todes viel besser verdrängen. Zugleich nutzt man die Gelegenheit, sich mit der unermüdlichen Anwendung wissenschaftlicher Verfahren und beziehungsweise oder mit der unermüdlichen Behauptung, man wende wissenschaftliche Verfahren an – jede Hypothese soll so begründet sein wie der Satz »Alle Menschen sind sterblich« –, nachhaltig bei ihm einzuschmeicheln. Man hofft, mit der Verbindung von beruflicher Arbeitswut und privater Gestaltungssucht bei Hein ganz besonders gute Karten zu haben. – Um einen empfindsamen deutschen Philosophen dieses Jahrhunderts zu variieren: Die eigene Unabhängigkeit vom Tod ist ein Luxus, den einzig der Tod abwirft. Das Leben ist das Unwahre – unsere Anbetung der Begründung mit Verweis auf Erfahrung macht es dazu. Ich habe Bär aus dem Gebet des Dakers zitiert: Verfluchen bitte soll er die, die mich bedauern, und segnen jeden, der mich in Bedrängnis bringt, anhören jeden, der dem Spott mich überliefern will, und den ermuntern, der mir nach dem Leben trachtet. Und wer den Stein, auf dem ich mich einst bette, mir stiehlt, der soll der Erste Mann im Lande sein.
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Wenn ich dann also sterbe, gesetzlos, vogelfrei, soll man wie einen Lumpen meine Leiche liegen lassen, und wer die Straßenhunde scharf macht auf mein Herz, der, Vater, soll von dir die Ruhmeskrone kriegen, wer aber meine Stirn als erster steinigt, bitte, dem verleih in deiner Gnade, Herr, das ewge Leben! 27.2. Es kommt auf den Zeitpfad der klugen und der schönen Spiele an, nicht auf den Zeitpfad aller regelgerechten Spiele. Man muß untersuchen, wie die klugen Spiele und die schönen Spiele entstehen. Man muß das Verhältnis der klugen und der schönen Spiele zu den guten Spielen klären. Man darf nicht erwarten, daß die guten Spiele immer kluge oder schöne Spiele sind, aber man sollte sich auch nicht sträuben, wenn sich die Einsicht aufdrängt, daß ein kluges oder ein schönes Spiel zugleich ein gutes Spiel ist. 1.3. Ich fuhr bereits am Donnerstag – einen Tag eher, als ich angekündigt hatte –, traf jedoch erst gegen Mitternacht in Wolkenstein ein, weil ich wegen eines Felsrutsches am Brenner über vier Stunden im Stau stand. Bär war nicht im Hotel. Sie hatte Fleur gesagt, sie schaue im Medel vorbei. Ich zog mich um und begab mich dorthin. Meine Frau lasse mir ausrichten, sie sei mit Freunden gegangen. Der Barmann gab mir die Adresse eines Hauses unterhalb der Dantercepies. Das Hausmädchen sprach nur italienisch, sie ließ mich hinein, ohne daß ich etwas erklären mußte. Im Wohnzimmer saßen sechs oder sieben Paare am Kaminfeuer. Ich fragte nach Hermann. Man bot mir einen 196
Drink an und forderte mich zum Bleiben auf, aber niemand kannte den Chef der Firm. Ich versuchte, mich mit einer Italienerin zu unterhalten, die ohne Begleitung war. Nach einer halben Stunde verabschiedete ich mich. Bär war immer noch nicht im Hotel. Ich legte mich nieder, ohne schlafen zu können. Um vier Uhr ging die Tür. Ich fragte sie, wo sie herkomme. Sie zögerte einen Augenblick und sagte dann, nachdem im Medel nichts los gewesen sei, hätten sie Freunde besucht, sie habe doch die Adresse hinterlassen. Freunde von Hermann. Ja. Ich erzählte ihr, daß ich das Haus unterhalb der Dantercepies aufgesucht hatte und daß niemand dort Hermann kannte. Wann ich dagewesen sei. Ich sagte, gegen ein Uhr. Sie sagte, sie sei sicher gerade aus dem Raum gegangen, um sich frisch zu machen. Ich sagte, dann hätte ich doch Hermann treffen müssen. Ob ich auch in der Küche gewesen sei, sie erinnere sich, daß er Hunger gehabt habe. Nein. Ich fragte sie, warum niemand Hermann kannte. Sie sagte, er reise sowieso gerade ab. 1.4. Am Ostersamstag bekam Bär mittags auf der Sasslonch plötzlich starke Rückenschmerzen. Sie fuhr nach St. Ulrich ab und kehrte ins Hotel zurück, Fleur und ich blieben auf der Piste. Als wir nachmittags zurückkamen, lag Bär im Bett. Abends hatten wir eine Einladung, Bär sagte, ich solle allein gehen. Vom Bad aus sah ich einen roten Carrera, der vor dem Hotel in der zweiten Reihe parkte. Ich wußte sofort, daß ich mich jetzt nicht mehr beherrschen konnte. Ich ging auf die Straße. Es war Hermanns Carrera, in der Dämmerung unbeleuchtet und leer. Als ich mich von dem Wagen abwandte, wäre ich fast 197
in Hermann hineingelaufen. Er mußte vor dem Hotel auf und ab gegangen sein. Er grüßte mich mit einem spöttischen Lächeln. Ich fragte ihn, was er hier suche. Er antwortete, er gehe hier spazieren, wobei er den Stummel seiner abgerauchten Zigarette ziemlich nahe an mir vorbei auf die Straße schnippte. Ich fragte ihn, ob er auf Bär warte. Er grinst unverschämt und sagte, er sei mir keine Auskunft schuldig. An die Einzelheiten des darauffolgenden Wortwechsels kann ich mich nicht mehr erinnern. Bis ich ihm schließlich eine Ohrfeige gab. Worauf er mich wortlos am linken Arm packte und ihn mir umdrehte. Dann setzte er sich in seinen Wagen und fuhr davon. Vor Schmerzen verlor ich fast die Besinnung, ich mußte mich flach auf die Straße legen. Nach einiger Zeit – es war fast eine Viertelstunde – raffte ich mich auf und ging ins Hotel zurück. Ich erzählte, ich hätte etwas aus meinem Wagen holen wollen, sei aber in der Dunkelheit auf der Straße unglücklich gestürzt. Bär begriff sofort, was geschehen war. Sie sagte jedoch nichts. Sie sagte auch nichts, als sie mich ins Krankenhaus brachte. – Die Nacht war mühsam, ich konnte erst nach der Einnahme von starken Medikamenten schlafen. Gestern, am Ostersonntag, wurde dann der gebrochene Arm in Gips gelegt. Bär bleibt einen Tag länger, um mich morgen abzuholen. 21.4. Vielleicht schreibe ich keine Berichte, weil ich die Angst habe: Wenn ich einmal etwas schreibe, was über meine Aufgaben geht, kann ich nichts mehr schreiben, was nicht über meine Aufgaben geht.
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1.5. Die Nachtschwester im Krankenhaus in Innsbruck war eine Medizinstudentin, die nicht wußte, ob sie Gynäkologin oder Psychiaterin werden wollte. Sie erzählte mir von einem Artikel, auf den sie durch Zufall gestoßen war. Bereits 1989 habe ein japanischer Wissenschaftler, Yosinori Kuwabara, ein Experiment beschrieben, das er an einer Ziege durchgeführt hatte: Der Ziegenfetus wurde am 120. Schwangerschaftstag (das entspricht beim Menschen der 20.-24 Woche) explantiert und bis zum Ende der Schwangerschaft in einem Gummi-Uterus »ausgetragen«. Der Gummi-Uterus war mit künstlichem Fruchtwasser gefüllt, der Fetus wurde über einen Katheter in der Nabelschnur mit Blut ernährt, das mit Sauerstoff und Nährstoffen angereichert und recycelt wurde. Da der 42 Liter fassende Gummi-Uterus mehr Bewegung zuließ als der Bauch der Ziege, hätte der Fetus zuviel Sauerstoff aufgenommen und zuviel Fruchtwasser geschluckt, um dies zu verhindern, wurde er sediert. Nachdem die Technik an Ziegen verfeinert wurde, möchten Kuwabara und seine Kollegen (Mark Hansen und Peter Moore, Departement of Gynaecology and Obstetrics, University College London) das Verfahren auf den Menschen übertragen, um extreme Frühgeburten und Feten zu behandeln. Kuwabara strebt an, Feten ab der 16. Schwangerschaftswoche im Gummi-Uterus heranreifen zu lassen. Die Studentin hatte, wie sie sich ausdrückte, lediglich zwei Ethik-Artikel zu dem Thema gefunden (M. L. Lupton, University of Natal, Pietermaritzburg, Südafrika). Lupton sehe folgende Anwendungen für den künstlichen Uterus: 1) Extreme Frühgeburtlichkeit 2) Fetales Alkoholsyndrom 3) Abtreibung 4) Verletzte Mütter. In seinem zweiten Artikel schreibe er, daß in der Familie 199
der Zukunft Schwangerschaften nicht mehr vorkommen müssen. Es sei immer wieder faszinierend, wie sich ein Kosmos von Informationen öffne, wenn man sich erst auf der richtigen Spur befinde. 18.5. Ich werde zugänglich sein. Während der ersten Gespräche werde ich häufig weinen. Ich will nach Hause. Ich verstehe nicht, warum man mich nicht nach Hause läßt. Ich habe nichts Böses getan. Ich bin verzweifelt. Ich will nicht mehr leben. Ich muß immer ans Sterben denken. Ich habe Magenbeschwerden. Mir ist schwindlig, irgend etwas ist mit meinem Kopf. Ich will heim. Ich werde leise sprechen, mit beschleunigtem Sprachfluß, beeinträchtigt durch Stottern und Poltern. Mein Mienenspiel ist lebhaft, häufig stimmen jedoch Erlebnisinhalt und Gefühlsausdruck nicht überein. Im Verlauf der Gespräche fasse ich zunehmend Vertrauen. Ich öffne mich weiter und gebe zu erkennen, daß ich die Gespräche wünsche. Meine Sprachstörung tritt in den Hintergrund. Ich werde zunehmend sachlicher, ich jammere und weine nur noch selten. Ich werde eine Intelligenz aus dem Normbereich zeigen. Ich werde bewußtseinsklar sein, jedoch Auffassungsstörungen haben. Ich weiß die Bedeutung mancher Worte nicht. Mein Gedankengang ist zum Teil umständlich, zum Teil eingeengt, ich neige zum Grübeln. Gedankenabrisse fallen auf. 200
Ich bin nicht mißtrauisch, jedoch zeige ich mich ängstlich um meinen Körper besorgt. Ich äußere die Befürchtung, krank zu werden. Ich werde von Zwangshandlungen und von Zwangsgedanken berichten, und daß ich Stimmen höre. Ich werde rastlos sein, ängstlich, innerlich unruhig, klagsam. Ich werde jedoch nicht aggressiv und auch nicht spürbar selbstmordgefährdet sein. 19.5. Ich werde freundlich, ja gewinnend sein. Um von den entstehenden Beurteilungen einen immer größeren Abstand zu wahren. Ohne sie offiziell zur Kenntnis zu nehmen, mich nur auf Meinungen und Überzeugungen meiner Gesprächspartner beziehend. Ihr Ziel ist es, das Funktionieren einer Maschine aufzuzeigen. Daten zur Beschreibung der Maschine sind: meine Aufzeichnungen, wie sie vorliegen, meine Äußerungen, wie sie überbracht sind, meine Lebens- und Leidensumstände, die ersteren, wie sie vorliegen, die letzteren, wie sie überbracht sind. Vermittels der Aufzeichnungen bilden sie sich eine Vorstellung von der Maschine und suchen dann nach Wirkungsketten, die von einem Lebensumstand über einen Maschinenzustand zu den Aufzeichnungen führen. Wenn in den Aufzeichnungen geschielt wird, suchen sie nach Schielenden in den Lebensumständen, wenn in den Aufzeichnungen gehinkt wird, fahnden sie nach Knochenbrüchen in den Leidensumständen. Heraus kommt, auch wenn die Wirkungsketten tatsächlich anspruchsvoller sind, immer eine Maschine, für die ich kein Verständnis aufbringen kann. Zu jedem Zeitpunkt hatte ich eine unendliche Anzahl von 201
Möglichkeiten zu ganz anderen Aufzeichnungen, die die Maschine, die sie konstruiert haben, ad absurdum geführt hätten. Mit welchem Gedankengang ich ihren Fähigkeiten schon zuviel der Ehre antue. Denn ich setze voraus, es ist ihnen tatsächlich gelungen, eine Maschine zu konstruieren, aber es ist ihnen ja gar nicht gelungen. Sie schildern viele Schul- und Berufserlebnisse, und sie beschreiben viele Krankheiten. Sie erwecken nur den Eindruck, notwendige und hinreichende Bedingungen für die Aufzeichnungen zu nennen, tatsächlich geben sie lediglich jede Menge hinreichender Bedingungen an, aus denen man sich die richtigen auswählen darf. Ich hätte wissen müssen, was herauskommt. Ich habe gewußt, was herauskommt. Warum habe ich sie dann ermutigt. Ich hätte sie entmutigen können, dann hätten sich andere ans Werk gemacht. Ich habe mir etwas von ihnen versprochen. Was an ihrem Bild ist es, wovon ich nicht wollte, daß es –? Sie sind so sorgfältig vorgegangen, sie schildern nur solche Ereignisse, die von mehreren Menschen unabhängig voneinander berichtet wurden, und sie werden aus ihren Entwürfen die Ereignisse tilgen, die auf Widerspruch bei Betroffenen gestoßen sind. Hätten sie die Sachverhalte weglassen oder anders schildern sollen, die mir nicht gefallen, wobei ich mich nie äußerte, welche Sachverhalte mir nicht gefallen, sie hätten sie erahnen müssen. Sie haben sich so bemüht. Sie hätten also ein falsches Bild zeichnen sollen. Ist das Bild, das sie zeichnen, richtig, wie aufgebracht wäre ich dann erst über das falsche Bild gewesen. Bestreite ich nicht gerade nach ihrem Bild, daß es richtig ist, aber ich unternehme keinen Versuch, es richtigzustellen, weil ich sehe, die Maschine, die sie sich ausgedacht haben, ist mir nicht gänzlich unähnlich, weil die Art und Weise, wie die Maschine zu 202
verbessern wäre, das ungeliebte Maschinendasein nur um so unabweisbarer aufzeigen würde. Sie rechnen, das Bild, das sie malen, kann sich nicht so sehr vom wirklichen Gegenstand desselben unterscheiden, wie dieser behauptet, denn der Gegenstand lehnt das Bild genau nach dem Bild ab. Der Vorwurf ist nicht, daß sie gewisse Episoden zunächst für die Wahrheit nehmen, sondern daß sie die Episoden nach meiner raren Einmischung wieder streichen. Obwohl ich sonst immer den Eindruck erwecke, ihre Beurteilungen seien mir gleich, halte ich mich hier nicht an meine Vorsätze und gebe einen Hinweis. Kommen sie nicht darauf, daß ich vielleicht noch andere Hinweise gebe. Ich wende mich von ihnen ab, weil ich sehe, meine Hinweise ändern eine vorgefaßte Meinung nicht. Habe ich sie mir deshalb ausgesucht, weil ich wußte, sie würden ein Bild von mir entwerfen, mit dem ich einerseits würde leben können, das mir andererseits mit ihrer vorausgesehenen Unwilligkeit oder Unfähigkeit, meinen Fingerzeigen nachzugehen, den erwünschten nachvollziehbaren Grund für eine Ablehnung liefern würde? 20.5. Ich werde bestätigen, daß Menschen, die mir zunächst großartig erschienen, mich oft später enttäuschten, ich fühlte mich meistens einsam, ich hätte Mühe, mich an Dinge zu erinnern, es sei schwer für mich, Entscheidungen zu treffen, manchmal hätte ich das Gefühl, auseinanderzufallen, daß mich die Mitmenschen wie eine Sache behandelten, häufig kämen mir Dinge in den Kopf, die ich nicht loswerden kann, ich hätte das Gefühl, das Leben ist hoffnungslos, ich hätte keine Achtung vor mir 203
selbst, ich gewänne schwer Freunde, ich hätte keinen wirklichen Freund, ich hätte Angst, etwas wird mit meiner Gesundheit geschehen, meine Familie wäre ohne mich besser dran und daß niemand mich liebte. Ich werde angeben, mich stören beim Hören ständig Nebengeräusche, die ich früher nicht beachtet habe, ich höre alles vermischt und verstehe nichts, wenn mehrere sprechen, meine Glieder bewegen sich manchmal, als ob sie nicht zu mir gehörten, ich muß mich auch bei Kleinigkeiten übermäßig konzentrieren, oft hangele ich mich von Wort zu Wort und erfasse das Ganze nicht, ich ziehe mich von den Mitmenschen zurück, weil es mich so anstrengt, Gesprächen zu folgen, und ich muß mich manchmal völlig zurückziehen und ganz ruhig verhalten, damit ich mein Gleichgewicht wiederfinde. 21.5. Vielleicht schreibe ich über Dinge, die niemals zu Aufgaben werden können, weil ich nichts von dem, was meine Aufgaben ausmacht, wirklich verstehe oder verstehen will.
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Fleur läßt Bär das Traumhausspiel spielen Understand the playing field, maybe a former boy scout camp. Zero-base approach, the quiet areas of the house are arranged around the first floor foyer, bedrooms occupying each corner, bathrooms, closets, and storage spaces create a noise buffer between the bedrooms. Understand the operational and value drivers, to take full advantage of the wooded sight create a glass box to house the living, kitchen and dining areas, place them on the second floor, set new rules of the game, access is by a ladder-like stairway. Alle Bestandteile von Bärs Welt sind noch da, aber in einer völlig anderen Zusammensetzung, so, wie sie sie noch nie gesehen hat. Sie ballt die Fäuste, hält die Arme vor das Gesicht und ruft nein, nein, nein, nein. Ihr Kopf ist so groß, ein Riesenrad geht in ihren Kopf hinein, sie sitzt in einer Gondel, sie sitzt in allen Gondeln und schreit heraus nein, nein, nein, nein. Clean sheet approach. Question everything. Forget what we are doing today. Any questions are allowed. Ewig wird die Stimme des Organisationsdesigners in Bärs Kopf hallen, ewig werden die Folien des Organisationsdesigners an ihre Schädeldecke geworfen werden. Understand the business model. !Baun Sie sich doch ein Haus mit Ihrer Abfindung. Das Preisspiel, das Tornadospiel, das Halbierungsspiel – Vergangenheit. Jetzt: das Traumhausspiel. Es is nich auszuhaltn, aber es muß weitergehn. Strategy driven resource allocation. 205
High innovation rate, mix internal / external know-how. Bär muß die Augen aufmachen, sonst wird sie nie aufhören, nein, nein, nein, nein zu rufen. Aus dem Glaskasten sieht sie ein anderes Haus, sein Grundriß wird von zwei Kreisen gebildet, der äußere umschließt den inneren, die beiden Kreise haben nicht denselben Mittelpunkt, sind jedoch nur leicht gegeneinander verschoben. Ein Kopf um den Kopf ist das Haus und noch ein Kopf um den Kopf. Sie kann es sich aussuchen, wie sie die Räume nutzt, vielleicht den Zylinder in der Mitte als Studio und den Ring darum herum für das tägliche Leben. Which Strategie position is attainable? Which market Situation is the basis for our Strategie thoughts? Growth markets, saturated markets, oligopoly. On which point of the experience curve are the competitors? How can I change the rules of the game completely? What would happen if … Fleur muß Mutter und Vater spielen. Fleur sagt zu Bär, steh auf, set the Standard. Bär sagt, ich kann nicht, bitte verzeih mir. Fleur sagt, warum denkst du immer noch an Charlotte und an Stine, create something new. Bär sagt, Stine ist auf Charlotte gefolgt, und sie hat mich verfolgt. Fleur sagt, es ist egal, was die anderen glauben, du mußt selber glauben, be copied instead of copying others. Bär fragt, ich? Fleur sagt, Charlotte gibt es nicht mehr, nicht die Charlotte, die du kennst, und Stine gibt es für dich nicht mehr. Bär sagt, was gibt es dann für mich. Fleur sagt, Systematic management of the innovation cycle. Bär sagt, wie soll ich das fertigbringen. Fleur sagt, revolutionize processes. Bär sagt, es ist nur eine Pause, 206
mehr nicht. Fleur sagt, es ist keine Pause, nicht mehr. Fleur ist furchtbar, Fleur sagt, Action orientation. Bär sagt, ich nicht. Fleur sagt, Technology. Bär sagt, dann will ich nicht mehr sein. Fleur sagt, wir alle müssen sein, auch du. Bär sagt, schläfere mich ein, sorg für mein Ende. Fleur sagt, mach eine Pause, rede nicht. Atme regelmäßig, atme tief, es geht, siehst du, es geht. Das Grundstück ist lang und schmal, obwohl es daneben kein Strandbad, keinen Campingplatz, keine Bahntrasse und keine Straße gibt. Eine überdimensionale Hand greift vom Ufer in den See. Aus Stein und Beton ist das Haus, manche Teile sind mit Stahl verkleidet. Eine Kreatur zwischen Gott und dem Menschen hat ihre Hand auf die Erde gelegt, an den Rand des Sees. Der Demiurg. Der alleinige Deuter der Wahrheit ist auch der Hüter der großen Geheimnisse des Bauens. Er versteckt sein Tagebuch nicht, doch er verschlüsselt die Eintragungen. Vor dem Betrachter entstehen Felsen aus Metall und gemauerte Hügel, immer wieder öffnet sich die Erde, aus den Rissen und Spalten greift etwas nach oben. Schwebesteine bewachen die Hügel, eine Brunnenspirale windet sich ins Erdinnere. Fleur hat sofort begriffen, daß das Haus aus den vier Elementen gemacht ist. Das Wasser des Sees bildet die treibende Kraft hinter allem. Das Gedächtnis des Demiurgen hat die Erde zur abstrakten Form der Erinnerung an Berge idealisiert. Solche sind die Felsfenster: Licht und Luft treten nur durch Abstände zwischen einem Volumen und dem nächsten ein, alle Steine sind völlig intakt. Da ist auch das Feuer einer Rakete, die gerade abhebt, in Wirklichkeit ein Gefäß zum Sammeln von Regenwasser. Die Hand des Demiurgen greift nach Bär, schützt sie. Du weinst ja, Fleur. Du hast mich zum Weinen gebracht, 207
Bär. Fleur, ich soll mich selbst überleben, damit die anderen mich überleben. Bär, ich hasse Stine, ich hasse auch Charlotte, die Frau in den Kissen. Fleur, du kannst nicht hassen. Bär, niemand kann hassen. Nein, Fleur, die anderen können hassen. Fleur, ich habe ein Traumhaus. Es steht an einer unbewohnten Meeresküste, zwischen hellen Sanddünen und dunklen Büschen. Eine große Holzterrasse hat es, auf ihr liegen riesige Steine, die das Haus beschweren, damit es nicht wegfliegt. Immer näher rücken die Dünen heran, die Scheiben sind aus dickem Glas, sie halten den Dünen stand, aber der Sand wird durch die Zwischenräume dringen. Erst wird der Sand den Boden und dann die Möbel bedecken. Bär, soll der Sand dein Traumhaus begaben? Fleur, es wird niemals ganz zugedeckt sein, im oberen Teil kann man immer leben. Bär, wie ist der Himmel über deinem Traumhaus? Es gibt nur weiße Wolken, sie ziehen dahin wie die Zwischenräume zwischen den Zeilen eines Buches. Außer dem Haus ist da nur noch die Stromleitung. Die Masten sind genauso weiß wie die Wolken, und die Drähte glänzen, Fleur. Bär und Fleur sind lange in Bärs Traumhaus herumgegangen. Bär gähnt, ich glaube, ich schlafe ein. Sie räuspert sich, tut mir leid. Fleur lächelt ihre Mutter an. Hast du nicht genug geschlafen? Hast du zu viele Drinks gehabt? Bär schlägt die Augen nieder, ja, zu viele Drinks, es ist alles ein bißchen viel. Fleur spricht lauter, darf ich dir versichern, daß du supersexy aussiehst, oder langweilt dich das? Bär unterdrückt ein Gähnen, nein, das langweilt mich nicht, danke. Fleur spricht noch lauter, Sex ist nie langweilig, oder doch? Bär antwortet müde, alle bestehen darauf, daß ich eine Femme fatale bin. Wie interessant. 208
Mit deinem Sexappeal reißt du die Männer in den Abgrund. Du bist zu sexy, die Männer müssen dafür büßen. Fleur redet jetzt wieder mit gewöhnlicher Lautstärke. Hat das wirklich etwas mit mir zu tun? Bär ist nicht überzeugt. Warum soll ein Mann wegen mir unglücklich werden, ich spiele nur meine Spiele. Fleur lächelt gequält. Was ist es, das die Männer so verrückt nach dir macht? Bär murmelt, Männer wollen nur das eine, Männer wollen Frauen … Fleur widerspricht, die Männer wollen dich. Der Produktionsvorstand machte sich zum Hampelmann, der Finanzvorstand und der Personalvorstand hätten sich fast geprügelt. Was hast du denn mit ihnen angestellt? Keine Ahnung, Bär zuckt mit den Schultern. Ich versuche, die Männer zu beobachten. Ich versuche, auswendig zu lernen, was sie sagen. Communicate urgency of change. Organize change management teams. Develop visions and strategies. Communicate visions of change. Implement activities. Enable fast visible results. Consolidate profits and further change. Implant new thinking and acting. Die Männer treiben das seit zweitausend, nein seit hunderttausend Jahren. Es macht ja auch Spaß. Aber ich kann ihre Spiele nicht spielen. Bär schüttelt den Kopf, no customer acquisition, no customer retention, no product / Service / process innovation, no product / Service / process maintenance. Innovation does happen by chance, innovation should not be managed systematically. No operational implementation, no concepts, no strategies, no performance goals, no innovation principles, no skills of any Company, no mission. Fleur fragt mit einem schiefen Lächeln, muß man die Männer vor dir warnen? Bär ist so müde, wahrscheinlich schon, denn meine Spiele sind anders. Fleur holt Luft, deine Spiele sind unglaublich sexy. Deine Spiele haben das gewisse Etwas. Deine Spiele 209
sind Superspiele. Too hot to handle, ist das meine Schicksalsrolle? Bär macht eine Pause. Ich möchte die widersprüchliche Rolle, ich möchte widersprüchliche Spiele spielen. Wo du auftauchst, werden widersprüchliche Spiele gespielt, versichert Fleur. Bär hat Mühe, die Augen offen zu halten. Vielleicht habe ich mich bei Charlotte angesteckt. Du bist jetzt frei, du bist unabhängig. Fleur schnippt mit den Fingern, du könntest zwei Liebhaber haben. Bär schüttelt den Kopf, nein, das wünsche ich mir nicht. Fleur gibt sich enttäuscht, aber du bist doch so weiblich. Bär widerspricht, ich mache mir nicht die ganze Zeit Gedanken über meine Haare, über meine Fingernägel, über das Makeup. Ich bin nie lange im Bad. Jetzt kann ich sowieso den ganzen Tag im Morgenmantel rumlaufen. Ich brauche niemanden. Ich kann selbständig einkaufen, ich kann allein kochen und abspülen, ich kann selber Briefe schreiben und EMails versenden, ich kann meine Tickets selber buchen. Fleur fragt ihre Mutter, auf welchen Teil ihres Körpers sie besonders stolz sei. Wie aus der Pistole geschossen antwortet sie, auf ihre Augen. Fleur fragt nach, welche ihrer körperlichen Vorzüge sie wie eine Waffe einsetze. Ihr Lachen, antwortet ihre Mutter, wenn sie ausgeschlafen sei. Fleur sagt ihrer Mutter, daß sie tolle Zähne habe, und fragt sie, warum ihre Hände eigentlich so klein seien. Bär hat Angst zu ersticken, seit man ihr den Abfindungsvertrag vorgelegt hat. Sie muß reden. Sie muß mit sich selbst reden, mit ihrer Tochter, mit allen, mit niemandem, damit ihr Leben noch einmal an ihr vorbeizieht, damit sie ihr Leben noch einmal auskosten kann und damit sie ihrer Tochter zurufen kann, -. Fleur fragt, was ist dir lieber, die spindeldürre Vorstandsvorsitzende, die sich nicht 210
schminkt und die mit fünfundfünfzig schon so viele Falten hat wie ein alter Indianer, oder der fette Aufsichtsratsvorsitzende mit der Zigarre, dem Drink und dem Blumenstrauß. Bär gibt sich sicher, ich würde immer lügen, Entschuldigung, ich bin eine verheiratete Frau. Ich würde niemals den Fehler machen, den Drink anzunehmen. Fleur möchte von ihrer Mutter wissen, welchen Nagellack sie für den sexiesten hält. Sie antwortet, Rot am Tag, Schwarz in der Nacht. Fleur sagt ihrer Mutter, daß ihre Stimme so sexy sei. Ihre Mutter gibt zurück, das sei Fake sexiness. Männer seien einfach gestrickt. Fleur fragt ihre Mutter, ob sie gern küsse. Sie könne sich vorstellen, daß ihre Mutter eine wilde, eine gefährliche Küsserin sei. Ihre Mutter gibt zu, daß sie gern küßt, aber nur gute Küsser. Als ihre Tochter wissen will, was einen guten von einem schlechten Küsser unterscheidet, flüstert sie, Fleurs Vater sei ein schlechter Küsser gewesen. Er habe sich immer an ihrer Zunge festgesaugt. Fleur überlegt, ob sie aus dem Dialog mit Bär ein Video machen soll. – Es ist zum Ersticken. Face a great challenge: creative destruction to bring about change. Avoid getting trapped by the daily complexities and details of your respective businesses. Scout for the new, the unexpected, strive for opportunities and innovations. Have the courage to challenge existing power bases and norms. Take personal initiative to go beyond defined boundaries. Motivate yourself and others. Care about how people are treated and why they are unable to perform. Stay undercover. Have a sense of humour about yourself and your Situation. Car ramp, janitor’s house, patio, guest room, laundry, mobile platform, front door, kitchen, wine cellar, media room, summer dining room, patio, living room, winter dining 211
room, office, mobile museum, children’s bedrooms, patio, void, walkway, parents’ bathroom, parents’ bedrooms, terrace, Fleur will, daß ihre Mutter ins Gefängnis kommt, damit sie daraus ausbricht, doch ihre Mutter will nicht ausbrechen, Fleur ruft ihrer Mutter zu, choose trust over invulnerability, choose conflict over harmony, choose clarity over certainty, choose accountability over popularity, choose results over Status, ihre Mutter ruft zurück: flieh, flieh, flieh!
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Stine geht aus und begegnet dem Geist Bärs Das Streifenmuster der Sessel schneidet Stines Körper der Länge nach durch. Eine exakt gezogene Linie, in der Mitte zwischen ihren Augen, die Nase lang, in der Mitte ihres Mundes, genau in der Mitte zwischen ihren Brüsten, natürlich durch den Nabel, in der Mitte ihrer Scheide, teilt ihren Körper in zwei Hälften. Müssen alle Besucher entzweigeschnitten werden, weil der neue Kongreßsaal des Deutschen Museums so groß ist und nur auf diese Weise eine entsprechende Belegung nachgewiesen werden kann? Stine hat noch nie einen Konzertsaal gesehen, in dem die Gänge fast so groß sind wie die Blöcke mit den Sitzreihen. Die Sitze sind so breit und so hoch wie in der First Class im Flugzeug, mit gepolsterten Armlehnen, das ist kein Auditorium, sondern ein Sanatorium. Aber warum sind die Sitze mit dem Stoff überzogen, aus dem man früher die Kleidung von KZ-Insassen geschneidert hat? Stine fehlt der rechte Fuß, das rechte Bein, die rechte Schamlippe, die rechte Brust, das rechte Ohr, das rechte Auge, das Herz schlägt wie sonst, die Leber fehlt, so kurz kann man das wohl überleben. Es fließt kein Blut heraus, da ist eine Glasscheibe, die den Schnitt dicht abschließt, wie viele andere Körperflüssigkeiten könnten noch herausrinnen und tun es auch nicht. Stine nimmt das Programmheft in die linke Hand und blättert ungeschickt darin, sie hat ja keinen rechten Arm mehr, geschweige denn eine rechte Hand. Gerne würde sie ihren offenstehenden Körper bedecken. Muß denn jeder sehen, wie ihre Gefäße pulsieren, wie sich ihre Gedärme bewegen, wie ihre Nerven feuern? Das Programmheft 213
würde sie kleiden, aber mit einer Hand kann sie es nicht zerreißen. Sie müßte es auf den Boden legen, mit dem linken Fuß draufsteigen und mit der linken Hand daran ziehen, aber das würde erst recht die Aufmerksamkeit auf sie lenken. Alle würden sehen, was in ihrem Kopf vorgeht, ihr Gehirn liegt ja ebenfalls frei. Außerdem würde die Druckerschwärze abfärben, die Bilder aus dem Programmheft würden zu Schleiern auf ihrer Lunge werden, die Buchstaben würden sich in ihr Gehirn winden. Na so was, während Egin die Brust herausdrückt, den Bauch einzieht, die Schultern gerade hält und der Musik folgt, wird er größer, und Stine hat auf einmal eine Ahnung, warum die Konzerthalle so large gestaltet ist: Hier werden die Musikliebhaber abgefüllt, prallvoll mit Musik sollen sie aufstehen, aber platzen erst außerhalb des Konzertgebäudes, deswegen die Abstände zwischen den Sitzen, damit niemand sich quetsche, deswegen auch die Polsterung, damit niemand sich verletze. Alle saugen sich mit dem symphonischen Werk voll. Egin schwillt besonders dort an, wo er Gelenke hat, Stine verfolgt, wie sich die Fingergelenke und vor allem das Kiefergelenk ausbeulen, die dicken Knie und die dicken Ellbogen kann sie nicht sehen, sondern nur ahnen. Die Produktion wächst im Fleisch, ihre Hände sind auf einmal kugelrund, ihr Gesicht ist so feist, ihr Nacken so drall, die Knochen bleiben unverändert, aber auf ihnen sprießt es, wie Stine hinsieht. Das Personal hat die Hände im Schoß verschränkt, während es zuhört, geht seine Körpermitte auf wie Teig, seine Hüften werden größer und sein Gemächt so groß, daß man es sich kaum vorstellen kann. Ausgerechnet Stine ist nur noch eine halbe Portion. Wird schon werden. Stines Gehirn, die übriggebliebene Seite, wird durchblutet, der übriggebliebene Arm und das übriggebliebene Bein ebenfalls, das übriggebliebene Auge 214
sowieso, und auch die linke Brust und die linke Schamlippe. Während die Tonkunst aufheult, umstrickt Stines Blick denjenigen Egins. Der strauchelt, aber nicht in das übriggebliebene Auge hinein, sondern er taumelt zwischen dem linken Auge, das sie hat, und dem rechten Auge, das sie nicht mehr hat, hin und her. Egin sieht gar nicht, daß sie nur noch eine Hälfte ist! Stine würde Egin diesen Blick am liebsten um die Ohren hauen. Die einzige Kümmernis, die nicht größer wird, sind die Finanzen, dafür stieben ihre Haare wild durcheinander. Nicht, daß die Haare zu ihr herüberwachsen und sie kitzeln. Die Hände der Produktion sind schon so groß geworden, daß sie gar nicht mehr weiß, wohin damit. Wenn die Produktion sie an der rechten Hüfte fassen will, und merkt, daß da gar keine Hüfte mehr ist, wo die Produktion dann hingreifen könnte! Da bietet sich Stine lieber der Musik an. Aber die teilt sich vor Stine auf und vereinigt sich nicht mit Stine, sondern hinter Stine mit sich selbst. Der Dirigent und das Orchester drehen an allen Schrauben, nur nicht an denjenigen Stines. Sie hätten alle Freiheit, aber sie verschmähen Stine. Die Männer wollen doch die Frauen am liebsten weit aufgespreizt, überlegt Stine. Allerdings möglichst auf dem Rücken liegend, gerne auch kniend, so daß sie sie umkippen können. Die Männer möchten immer die Frauen auseinandernehmen und aus nächster Nähe in sie hineinschauen! Noch weiter kann Stine die Beine nicht spreizen, offener kann sie wirklich nicht sein, was will sie denn noch, die Musik, so ist noch nie eine Frau präpariert worden, mehr kriegt sie nie wieder zu sehen, wahrscheinlich ist die Musik andersrum. Stines Seele wollte heraus, um sich umzuschauen. Vielleicht ist die andere Körperhälfte nicht verschwunden, sondern woanders noch existent? Und die Seele weiß, wo die 215
andere Hälfte ist, und sie kann den Körper wieder ganz machen? Die Musik ist gar nicht vom anderen Ufer, sie klopft nur erst Stines Seele weich, wann kommt es schon einmal vor, daß sie eine Seele außerhalb eines Kopfes studieren kann. Jetzt schlägt sie gegen Stines Kinn, sie hebt ihr die Brust aus und dreht ihr die Schamlippe um. Die Musik schwillt und sticht, sie will in Stine hineinkriechen und überall hinkommen, aber Stine möchte nicht, daß die Musik in ihr herumstochert und ihr die Eingeweide auslutscht. Wenn jemand in ihr herumwühlt, dann sie selbst, und sie dreht der Musik ihre linke, intakte Seite zu. Stines linke Brustwarze wird auf einmal steinhart, was ist mit der anderen Brustwarze, irgendwo anders? Vielleicht beißt jemand in die andere Brustwarze hinein, und deswegen wird diese hier so hart? Ihre linke Schamlippe ist ein wenig angeschwollen, ob die rechte Schamlippe, ganz woanders, auch anschwillt? Wenn die Musik nicht eine so zotige Seele hätte und wenn deren Seele ihre eigene nicht so gehaut hätte, dann würde Stine ja das Fleisch der Musik über sich fallen lassen. Sie stellt sich vor, wie es wäre, wenn die Musik ihren halbierten Körper abschließen und ihre Innereien daran hindern würde, in die Außenwelt vorzuquellen, wenn die Staccati und Ritardandi die inneren Organe in ihren Körper zurückdrücken würden. Aber die Musik hat mittlerweile etwas anderes zu tun. Bald wird das Ende des Symphoniekonzerts serviert. Jetzt müssen die Akkorde erwartungsvoll hochgestimmt werden, damit der Applaus allen in die Glieder fährt, wenn die Musik nicht mehr da ist. Egin, die Produktion und das Personal sind zu mehrfacher Größe angeschwollen, es tut ihnen nicht weh. Was ist eigentlich mit den Knochen, sind sie doch mitgewachsen oder sind sie vielleicht unter dem aufgequollenen Fleisch geborsten? Das Haar der Finanzen 216
hängt in Stines Gesichtsfeld hinein. Die Produktion, die Finanzen und das Personal haben keine Blicke für die aufgeklappte Stine, obwohl sie ihre Vorgesetzte ist, wie können sie es wagen, sich so vollzusaugen mit etwas, was nicht sie, Stine, ist! Ihre Untergebenen strotzen vor Mißachtung. Stine greift sich unter ihrem Kostüm an die linke Brust. Dann tastet sie nach ihrem Nabel. Zuerst traut sie sich nicht, die Hand weiter nach rechts zu schieben. Schließlich langt sie auch über den Nabel hinaus, tatsächlich ist sie dort nackt, und viel gründlicher, als wenn sie nur nicht bekleidet wäre. Tropft da nicht doch etwas herunter, von den Rändern der Scheibe, die das Präparat abschließt? Als ob ihr Gehirn, ihre Gedärme und die anderen Organe einen feuchten Willkommensgruß entbieten würden? Alle sind mit ihrer eigenen Aufgequollenheit befaßt, niemand beachtet Stine. Ich kann nicht sagen, daß ich überrascht war, als mir der Organisationsdesigner sagte, ich müsse gehen. Ich hatte damit gerechnet, das von dir selbst zu hören, doch du hast es vorgezogen, nichts zu sagen. Als ich bei meiner Ankunft in Küssnacht das Programm für das Seminar sah, dachte ich zuerst, alle meine Befürchtungen seien Hirngespinste. Mit der Präsentation des Organisationsdesigners zerstoben meine Hoffnungen schnell. Er sagte, der wahre Grund, warum ich gehen müsse, sei meine Unfähigkeit, mein Ressort professionell zu führen – ich habe nie ein Ressort gehabt, wir haben meine Tätigkeit einvernehmlich Unternehmensplanung genannt, um ihr irgendeinen Namen zu geben. Der niederträchtigste Vorwurf ist zweifellos der, ich verstünde nichts von der Produktion – ich habe eher große Zweifel, ob du wirklich alles verstanden hast, was mit der Produktion zusammenhängt. Eigentlich kann ich über 217
diesen Vorwurf nur lachen, aber ich muß entsetzt sein. Ich erinnere nur an unsere Auseinandersetzungen über die richtige Meßgröße für die Leistung. Vergegenwärtige ich mir die Leistung, sehe ich die Menschen, die Maschinen und die Produkte, doch nie sehe ich Zahlen. Schwer zu erklären, dennoch wage ich den Versuch: Es ist nicht die Aufgabe des internen Ergebnisses, Ursachen, Wirkungen, Aufeinanderwirkungen abzubilden – das interne Ergebnis sollte das In-der-Ruhe-Lassen der einen Einflußgröße gegenüber der anderen, das gegenseitige Sein-Lassen der verschiedenen Ursachen beschreiben, das ihr Zusammenwirken in der Fabrik bildet –, das interne Ergebnis Berechnen muß bedeuten Gutheißen, muß bedeuten Festhalten. Nachdem Charlotte krank geworden war, hast du mir schriftlich zum Geburtstag gratuliert, du hast geschlossen, »mit einer Umarmung, Deine Stine«. Bereits unsere allererste Begegnung habe ich in schlechter Erinnerung. Ich dachte, wir würden ein Gespräch haben, aber nichts davon, du bliebst kühl und abweisend. Später entstanden dann Gespräche, allein das erste gab den Ton vor. Immer lagst du auf der Lauer. Immer ging es dir zuerst um dein Bild. Du wolltest in der Zeitung und in Magazinen lesen, was für eine große Managerin du bist, und hast dich an meinen Artikeln gestört. Du machtest mir den Vorwurf, daß ich meine Methoden ausplauderte – wenn ich nicht imstande war, mein Ressort professionell zu führen, dann hätte ich doch ruhig meine Methoden ausplaudern können! Du ertrugst es nicht, daß ich in wissenschaftlichen Zeitschriften schrieb, während du im Lokalteil der Zeitung erwähnt wurdest. Du hattest Angst, daß die Leute von mir lernten, denn ich war begeistert, und du wußtest, die Leute lernen von jedem, der begeistert ist. Von Anfang an hast du an Charlottes Stuhl gesägt. Es begann mit dem 218
Visionspapier, das Ethel nach deiner Anleitung formulierte. Den Kerngebieten der Firma hast du keine Chance gegeben und deshalb die Erschließung neuer Geschäftsfelder gefordert. Dein Hintergedanke war: Mit neuen Geschäftsgebieten wäre Charlotte überfordert. Der Inhalt des Visionspapiers war völlig zweitrangig, es sollte Beunruhigung erzeugen, es sollte Charlotte angst machen – das Visionspapier zeichnete auch den Ausflug nach Magdeburg vor. Ich habe dich völlig anders erlebt, als du dich in der Öffentlichkeit darstellst. Du bist nicht die rationale, kontrollierte Managerin. Du erweckst den Eindruck, du ließest andere sprechen, du seiest eine gute Zuhörerin – der Anschein trügt. Du machst einen Zeitplan, der den Besprechungsteilnehmern verborgen bleibt, den jedoch derjenige deutlich zu spüren bekommt, der sich häufiger zu Wort meldet oder länger vorträgt. Selbst wenn es um Entscheidungen geht, die sehr weitreichende Folgen haben, darf keiner länger als fünfzehn Minuten reden. Merkst du, daß jemand anderer Meinung ist, oder widerspricht dir doch einmal jemand, entziehst du dich einfach, du verkürzt die Dauer der Besprechungen, du vergibst Termine in zwei, drei Wochen. Deine eindringlichen Reden, die du so gerne drucken und versenden läßt, haben keineswegs dazu geführt, daß eine neue Kultur entstanden ist. Im Gegenteil, die Leute ziehen sich immer mehr in sich selbst zurück. – Ich gebe zu, daß ich in dieser Zeit ungewöhnlich viel Gedächtniserforschung und damit Gewissenserforschung betreibe. Nie habe ich mir vorstellen können, daß mein Teil einmal das Leiden sein würde. Immer habe ich geglaubt, der Lauf der Zeit bedeutet einfach die Erweiterung meines Lebens. Ich habe gedacht, ich werde freier, Stück um Stück. Ich 219
wollte hinaus in die Welt, und nichts stellte sich mir entgegen. In gewisser Hinsicht bin ich erst jetzt wirklich heraus in der Welt. Mein Verhängnis besteht darin, daß mir das Handeln nicht selbstverständlich ist, vor allem nicht das Handeln zusammen mit anderen. Zum Handeln brauche ich jedesmal einen Ruck. Ich kann nichts, und ich bin fundamental unsicher. Ich war zu unauffällig, ich habe zu wenig angetastet, gewisse Dinge habe ich einfach nur aufgerauht. Ich bin wirklich eine gute Zuhörerin. Würde ich bedauern, könnte ich die Wirklichkeit behalten. Doch will ich nicht bedauern. Ich gebe dir recht, obwohl du mir Unrecht tust, aber dein Urteil nehme ich nicht an. Ich will nicht verurteilt werden, obwohl meine Tochter glaubt, ich brauchte, zumindest einmal in meinem Leben, eine Verurteilung. Ich halte mich nicht für einzigartig. Allerdings denke ich zeitweise, daß die Begeisterung, die ich in mir spüre, wenn ich meine Spiele spiele, etwas Einzigartiges ist. Nie habe ich innegehalten, ich habe keine Erschöpfung an mich herangelassen, denn nur die Erschöpfung hätte es mir ermöglicht, endlich zu bestimmen, vielleicht auch zu träumen, festzusetzen, wer ich bin. Ich mag Vorwände benutzen, doch glaube ich nicht, daß ich von Vorwänden lebe. Ich habe keine Begabung, mir fehlt es an fast allem, aber ich frage immer, und ich frage freudig. Ich habe den Reflex gehabt, von Dingen, die nicht in meine Spiele paßten, einfach wegzuschauen. Deswegen habe ich viele Entwicklungen nicht wahrgenommen, die sich angebahnt haben, besonders die, welche mich nun selbst betreffen. Ich kann keine Großzahlen wahrnehmen, nur kleine Gruppen und auch in Gruppen nur einzelne. Nie mochte ich es leiden, daß man mir bei der Arbeit zuschaute, also habe ich mir Arbeiten gesucht, bei denen man mir nicht zuschauen 220
konnte. Ich habe in Randzonen überdauert und den anderen zugesehen, niemand kam auf den Gedanken, mir zuzusehen. Belehrung kann ich nicht vertragen, deswegen belehre ich andere nicht. Nicht meine Spiele bringen den Leuten etwas bei, sondern sie selbst bringen sich etwas bei. Ich bin auch keine Forscherin. Ich sehe diese und jene Zusammengehörigkeit. Das, was ich eigentlich weiß, kann ich nicht äußern. Doch ist es auch nicht so, daß ich von etwas erfüllt wäre, das ich nicht äußern kann. Ich verabscheue diejenigen, die ihr Wissen erzählen. Das Sprechen, so, wie alle anderen sprechen, ist für mich nicht natürlich. In mir ist ein anderes Sprechen als euer Sprechen, als dein Sprechen. Manchmal wird mir das Sprechen zur Qual, das war schon immer so. Vielleicht spiele ich auch deswegen meine Spiele, weil ich in meinen Spielen nebenbei sprechen kann. Eine Verfehlung, daß ich auf ein Recht gepocht habe, das ich zwar hatte, auf das ich jedoch nach meinen eigenen Maßstäben nicht pochen durfte. Ich war nie wirklich in dem Organigramm. Ich hatte nur von Charlotte die Bevollmächtigung, meine Spiele zu spielen. Meine Spiele lassen sich nicht durch Graphen fassen. Ich habe keine Gabe zur Herausforderin, trete ich als eine solche an, werde ich kleinlich und persönlich. Meine Spiele finden immer zu gleichen Teilen in der Vergangenheit und in der Zukunft statt, sie sind jeweils Rückschau und Vorschau, Rückzug und Weitermarsch zugleich. Nie hat mir der Erfolg geholfen. Ich bin jemand, der nach einem Erfolg sofort zurückschreckt und wegzuckt – ich versäume meinen eigenen Erfolg. Ich kann nur begeistert von mir erzählen, wenn ich von mir wie von einer anderen erzähle. Immer glaube ich, daß ich alles, was ich tue oder lasse, begründen muß. Aber die Gründe werden schon dadurch falsch, daß ich sie ausspreche. 221
Meine Spiele sind richtig, aber meine Begründungen sind falsch. Nur mit meinen Spielen kann ich richtig begründen, nur meine Spiele können mich richtig begründen. Ich habe Phantasie, doch ist meine Phantasie nicht zielgerichtet. Du hast mich genötigt, mich zu erklären. Du weißt, daß ich nur erklären kann, indem ich zerstöre. Weil du mich zwingst, mich zu erklären, zerstörst du mich. Ich bin sprachlos geboren, sprachlos aufgewachsen, sprachlos geblieben. Wenn ich spreche, dann kommt eine Stimme aus mir heraus, die nicht die meine ist. Das weißt du. – Das Präparat Stine, ein Wunder, wie sie sich auf einem Bein so zügig fortbewegen kann, ist mit ihrer Eskorte in die keimfreie Höhle eines Sushi-Restaurants im Glockenbachviertel geglitten. Stine fehlt die Hälfte, aber niemand registriert es! Ihr könnte auch alles fehlen, und es würde genausowenig auffallen! Das wäre doch ein Platz, um sich wiederzuvereinigen, vielleicht ist die zweite Hälfte ja gar nicht so weit weg. Wenn es Stine gelingt, die andere Hälfte wiederzufinden, wird sie unverletzlich sein. Aber irgend jemand ist mit sich übereingekommen, daß er Stine nur offen brauchen kann. Eine schmalere Taille, kleinere Brüste, schmalere Schenkel, und warum nicht überhaupt nur eine Brust, eine Schamlippe, ein Arm, ein Bein, ein Auge? Weniger ist mehr! Das Präparat Stine lehnt an dem Raumteiler aus Milchglas, Glas sehnt sich nach Glas. Stines Mund ist gespitzt und abgeschnitten, die anderen können die überzählige Brust, die überzählige Schamlippe, das überzählige Bein, den überzähligen Arm, das überzählige Ohr, das überzählige Auge behalten. Die Sushi-Höhle hat nicht die andere Hälfte Stines, sondern den Geist Bärs springen lassen. Ein Haufen Volk am Tisch, und auf 222
Stines Platz sitzt Bär, Stine sagt das auch noch. Der Stuhl ist leer, strömt es aus dem Personal heraus, schließlich hat es den Abfindungsvertrag aufgesetzt. Egin versucht, die ganz andersartigen Stimmungen der ganz Anwesenden und Stines miteinander zu verstricken, er öffnet sich rückhaltlos, Stine sei oft und seit ihrer Jugend so gewesen – wie lange kennt er Stine eigentlich? Ein Anfall nach dem Einfall. Die anderen schnappen mit offenen Mündern nach geeigneten Gedanken, sie sollen Stine nicht beachten. Warum sie ein solches Gesicht macht? Was für ein Gesicht soll sie schon machen, mit einem Auge, einem halben Mund, einem Nasenloch und einem Ohr! Da ist nur ein leerer Stuhl, was kann ein leerer Stuhl sagen, warum starrt Stine den leeren Stuhl an? So wahr Stine hier ist, dabei ist sie nur halb hier, besteht sie darauf, daß Bär ständig zu ihr spricht. Ich habe noch Träume. Ich glaube, in meinen Träumen habe ich das am wenigsten illusionäre Bild meines Lebens. Lehne ich meine Träume ab, weil sie mir keine Illusion geben? Immer wieder ist Glück in mir, doch nimmt es keine Form an, und es erzeugt keine anderen Formen. Ich bin glücklich über reine Tatsachen, aber ich kann nie begründen, warum ich in diesem Augenblick über diese Tatsache glücklich bin. Das meiste, an das ich mich jetzt erinnere, steht still, ist bewegungslos. Du weißt, daß ich außerhalb meiner Spiele mein Maß verliere. Dann gibt es für mich keinen Raum und keine Zeit mehr. Lege ich Strecken in Zeit und Raum zurück, sind es Zwischenstrecken ohne räumliche oder zeitliche Ausdehnung. Jetzt sitze ich aufrecht vor der Leere, vor dir, 223
wie eine Schülerin vor der Lehrerin. Ich sehnte mich nach einer kindlichen Frau als Freundin, es kam ein kindlicher Mann. Ich habe mir vorgemacht, daß wir, Charlotte, du und ich, eine zarte Gesellschaft bilden, über der eine Wolke wacht und die vom Himmel beschützt wird. Ich habe gedacht, wenn wir drei arbeiten, ist immer nur Sonntag. Der Lichtbogen, der sich zum Himmel spannte, er sollte uns segnen. Ich habe mich wie deine Schwester gefühlt, ich hätte mir nicht vorstellen können, die Schwester eines Bruders zu sein. Wir haben uns oft im Vorbeigehen verständigt, ich habe geglaubt, in dir wäre dann die gleiche innere Belustigung wie in mir gewesen, ich habe gedacht, wir wären so miteinander vertraut geworden. Eine gefährliche Träumerin bin ich, weil ich den Alltag an der Wirklichkeit meiner Träume messe. Die bestimmenden und entscheidenden Wahrheiten sind für mich meine Traumalltage. Ich bin keine Schweigerin, doch wurde ich immer angezogen von Schweigern und dem Schweigen. Du wußtest das, die Art und Weise, wie du mich durch Schweigen und Unzugänglichkeit verdammst, hat verhindert, daß ich mich von dir trennen konnte. Seit jeher habe ich nicht nur die Hoffnung, sondern die Gewißheit gehabt, eine Frau würde mich von meinem Ehrgeiz erlösen. Du hast mich davon erlöst. Hast du mich verraten, oder hast du mich verleugnet? Du willst als eine allein angesehen werden. Vielleicht hast du mich nur verraten, um mich zu verleugnen. Ich habe lange Zeit weder entschieden ja! noch nein! sagen können. Auf einmal kann ich es. Seit du mich erlöst hast, bin ich immer gleich, sehe immer gleich aus, denke immer gleich, bin alt und jung zugleich. Für mich gibt es kein Früher mehr, für mich gibt es nur noch das Jetzt. Ich habe aufgehört, gegen mich selber zu sein. Die Welt ist leer, aber ich habe die Empfindung, es wird etwas ankommen, die Welt wird sich 224
zuerst mit meinen Ahnungen bevölkern und später so, wie ich sie vermute. Beneidest du mich, Stine? Vielleicht kommt alles daher, weil du dich einmal hast kränken lassen müssen und dir daraufhin vorgenommen hast, einen abgesonderten Bereich in der Welt zu schaffen, in dem du zu meinen anfingst. Ich habe dich in deinem abgesonderten Bereich belauscht, was du meintest, war eine Fabel, ich dachte nicht, daß es da ein Band zur Wirklichkeit geben könnte. Ich habe gespürt, daß du mich loswerden wolltest, doch habe ich es für eine märchenhafte Lüge gehalten, die mich in der Wirklichkeit vor dem bewahren würde, was im Märchen geschah. Meine Kindheit bestand aus einer Stummheit, die oft verlegen war, verlegen bin ich geblieben, stumm nicht, es frommte dir, daß ich verlegen war und nicht mehr stumm sein konnte. Ich spüre, wie du mir immer fremder wirst, und ich spüre auch, daß das recht so ist. Ich habe oft die verwirrte Fremde gespielt, weil ich befürchtete, sonst gar nichts zu sein. Jetzt bin ich eine klare Fremde. Ich bin zu jedem Kampf bereit, aber es muß ein würdiger Kampf sein. Ich bin ein ordentlicher Mensch, doch hasse ich Ordnungshüter. Wie den Organisationsdesigner. Das war ein unwürdiger Kampf. Meine Arbeit besteht aus Betrachten, betrachtend werde ich weiterarbeiten. Und auf dem Betrachteten aufbauen. Wenn ich glücklich bin, dann bin ich tonlos glücklich. Ich rede soviel, also bin ich nicht glücklich. Gestern war ich nur still, heute bin ich gesellschaftsfähig in der Trauer. Ich kann von mir lediglich reden auf dem Umweg über meine Arbeit. Ich messe meine Liebe zur Welt an den gelungenen und den mißlungenen Spielen. Welches ist mein Prüfmaß, wenn ich nicht spielen kann? Gerade habe ich das Gefühl, die Welt von früher regnet mir in leichten Tropfen in das Gesicht und auf die Hände. 225
Es ist ungehörig, ins Ungewisse, ins Namenlose zu gehen. Ich muß ein Ziel, einen Ort angeben, wo ich hinziehen will, doch will ich nicht lügen, man würde dahinterkommen, daß ich mich eigentlich nur irgendwohin bewege. Früher war es noch wichtig, eine Position einzunehmen. Merkwürdig, daß die Vergangenheit nicht bei mir bleibt. Euer Organigramm ist richtig, ich verliere mich aus eurer Gemeinschaft. Vielleicht werde ich dir, Stine, eines Tages dankbar sein, daß du mir die Heimatlosigkeit vererbt hast. Eine Landschaft mit dunstigen Ebenen und Hügeln und Tälern ohne Ende zieht an mir vorbei, bewohnt von immensen Völkern, von Myriaden von Stämmen, düsteren Nomadenmassen, getrieben von öffentlichen Leidenschaften wie von Naturkatastrophen, heimgesucht von privaten Obsessionen wie von Epidemien. Während ich in dieser Landschaft Ernsthaftigkeit, Gewicht, Gesetze, Denkmäler, Vollkommenheit und Ewigkeit suche, gelingt es dir, Stine, in Unsicherheit, Zweideutigkeit, Spannung, in Sammlung, im Schweigen, in der Leere aufzugehen. Deine metaphysischen Träume gelten nicht Klöstern im Wald. Du schwebst sanft über den Kacheln von Untergrundbahnen, unter den Metalldecken von Flughäfen, du verweilst in riesigen Hotellobbies, du gleitest durch endlose, stille Korridore, du windest dich um sanfte 100-Stockwerk-Aufzüge herum. Aber nie habe ich jemanden gekannt, der sich nicht auch selbst bestrafte, indem er andere bestrafte. Einst war ich in meinen Träumen die Heldin. Dann war ich Statistin. Später nur noch Zuschauerin. Als Zuschauerin habe ich meine Schuldlosigkeit entdeckt. Früher war ich nichts, wenn mich nicht jemand entdeckte. Jetzt stehe ich nicht mehr unter dem Zwang, mich zu messen. Meine Tochter sagt für mich, daß ich im Elend bin. Also brauche ich das 226
selber nicht mehr zu sagen. Auffällig, daß ich an mir die Trauer vermisse, doch nicht zum ersten Mal. Ich behaupte ja nicht, daß ich Verdienste habe, ich behaupte nur, daß ich bei der Sache geblieben bin. Alles, was mir zustößt, spielt jetzt und in einer Zeit, die alle Zeiten sind. Deine Geschichte wird mit dem enden, was du selbst sagen wirst, mit deinen eigenen Worten. Ich werde meine Geschichte mit den Worten enden lassen, die andere gesagt haben. Dir, Stine, bleibt nur die scheußlichste aller Empfindungen: alles richtig gemacht zu haben. Du bist im Feld des Richtigen, du bist selbst das Richtige. Aber diese Empfindung ist verbunden mit Todesangst. Du mußt wissen, Stine, sobald du deine ganze Macht entfaltest, und du hast damit begonnen, stehst du an der Pforte des Todes. Ich lege jetzt meine Hände zum Abschied auf deine Stirn. Ich muß die Fremde nicht mehr spielen. Die orangefarbene Kugel mit dem Loch in der Mitte, ein Eisenring verhindert, daß sie wegkullert, tastet sich an Stines Bein hoch, an ihrem Arm entlang. Der Sessel wischt eine Probe von Stine in sich hinein. Weg! hat Stine gerufen, nachdem der Geist Bärs ihre Stirn berührt hat, Bär sollte vom Erdboden verschwinden, jetzt zieht der Stine in sich hinein. Wie oft will Bär noch erscheinen, ohne dazusein? Und ihre Selbstrechtfertigungen wie Milchschnitten verteilen? Der Ventilator an der Decke schickt Wind auf das Präparat, plötzlich spürt Stine jede einzelne Berührung ihres Inneren mit der Glasscheibe, sie ist mit der Glasscheibe gut Freund gewesen, aber so kalt war die Glasscheibe noch nie, Stine zweifelt, ob die Freundschaft wohl solche Temperaturunterschiede überstehen wird. Bär hat ein Rachelied gesungen, die Dinge, Menschen und Ideen in Stines Umkreis sollten aufblühen, damit sie sich 227
ihr, Stine, in den Weg stellen können. Die Produktion läßt es sich nicht nehmen, ihre Gedanken außerhalb ihrer selbst flattern zu lassen, hinaus aus dem Kröpf und hinein in den Kopf, es toben die wildesten Umdrehungen und die steilsten Kippungen. Die Männer müssen nichts gebären, was funktioniert, warum sollen sie dann ein Bewußtsein haben, ihrer selbst oder irgendeines anderen Zustands? Sie müssen kein Leben geben und es dann auch noch langsam formen. Sie brauchen doch nur Nummern vorzuführen! Es genügt, wenn sie sich mit der linken Hand von oben unter dem rechten Ohr kratzen, niemand Ernsthafter nimmt daran Anteil. Die Produktion sehnt sich nach einer exakten Wissenschaft von komplexen Systemen, die sich mit der Dynamik und dem Auftauchen von Ordnung beschäftigt. Sie haßt Metaphern, sie mag keine Konkurrenz und keine Konflikte, sie kennt keine Anpassung und keinen Fortschritt. Die Produktion ist so frei und bittet in ihrer Halle zum Tanz. Es gibt kein Ziel, pinselt die Produktion in die Luft, es gibt keinen Zweck, schade, daß man keine Inschriften in die Luft meißeln kann, es gibt keinen Richtungssinn und keinen Richtungspfeil, alles ein Tanz durch den Raum der möglichen Tänze, die Welt ein großer Kindergarten, in dem die möglichen Formen von Produkten und von Menschen eingeübt werden. Wie die Ideen aufblühen, hastdunichtgesehen, aber die von Stine blühen mit. Auf einmal, so erscheint es ihr, sind alle menschlichen Erfindungen und Techniken nur dazu da, um sie als halbe Stine, als Präparat zu konservieren. Alle Wissenschaft und Technologie der Welt hat nur den einen Zweck, daß Stine als Hälfte weiterlebt, mit einem Auge, einem Bein, einem Ohr, einem Arm, mit einer Brust. Die anderen sehen das nicht, aber die anderen sind ja noch ganz. Natürlich gibt es einen Fortschritt! Der Fortschritt hat aus ihr einen halben 228
Menschen gemacht, der denken kann wie ein ganzer, und der halbe Mensch kann noch dazu besichtigt werden. Wozu denn alles doppelt? Sie ist jetzt raumsparend und gedankensparend in einer feindlichen Welt. Ihre Variante verkörpert die beste Anpassung an das Fundamentalgesetz der Geschichte, die Ökonomie. Kann keiner sagen, die menschlichen Errungenschaften suchten das Leben in der falschen Richtung und erreichten stets das Gegenteil, ja, die Steigerung dessen, was sie eigentlich bekämpfen wollen. Jeder Mensch macht sein Inneres für den anderen sichtbar, da kommt Vertrauen auf zwischen den Menschen. Eine Gegenbewegung zur Zersplitterung, daß jeder in den anderen hineinblicken kann. Das Anbieten des eigenen Inneren als Selbstschutz und Abschreckung, wenn ich im neuen Jahr noch einen Wunsch frei habe, dann wünsche ich mir, daß du auch mit mir gutmütig bist. Die Menschen werden eins mit sich und ihrem Bild, das Menschliche wird nicht mehr atomisiert. Alle sollen so werden wie Stine! Für einen Moment verbreitet sie die gute Stimmung, die man von ihr erwartet. Sie trinkt ihr Glas in einem Zug aus und will es sofort wieder vollgeschenkt haben, sie kleistert Wünsche von Liebe und Gesundheit an alle Anwesenden, sie trinkt auf die Zukunft und auf ihre allerliebste Freundin Bär, sie wollte, sie wäre hier. Vielleicht hat die Produktion doch gemerkt, daß Stine nur noch hälftig ist. Wieder eine neue Form ausprobiert, Hauptsache im Kindergarten brodelt das Leben, ein solches Treiben aber auch. Die Frage ist, wie gelangt man wirklich zu etwas anderem? Die übliche Antwort lautet, es müssen sich einfach nur genügend Bedürfnisse und Herstellungsmöglichkeiten aufstauen, damit etwas Neues entsteht. Das ist eine plausible Hypothese, die Produktion schwenkt die Unterlippe, bloß hat niemand gezeigt, wie 229
sie wirklich funktioniert. Weil die Herstellungsmöglichkeiten und die Bedürfnisse die Formen der Produkte verändern, nimmt man an, sie seien auch ihre Ursache. Aber damit hat man nicht erklärt, wie die Form überhaupt entsteht, um das zu begreifen, braucht man so etwas wie eine physikalische Theorie vom Ursprung des Universums. Die Produktion gibt jetzt den Blick auf ihren inneren Sternenhimmel frei, jovial entströmt ihr die Behauptung, daß jedes Produkt ein eigenes Wesen hat und eine bestimmte Art von Ordnung ausdrückt, die tief in seinem Sein verankert ist. Grundsätzlich sind alle Produkte gleichwertig. Auch wenn immer Konflikt und Konkurrenz betont werden – es ist keineswegs so, daß nur das bessere Produkt überlebt, viele Produkte, die es gibt, sind in keiner Weise denjenigen überlegen, die es nicht mehr gibt. Es ist keine Frage des Besser-als, enthüllt die Produktion, sondern entscheidend ist, ob ein Produkt einen Platz findet, um es selbst zu sein. Deswegen ist die Entwicklung der Produkte ein Tanz, der nirgendwohin führt, sondern nur den Raum der Möglichkeiten erkundet. Die Worte der Produktion schweben in der Luft und kommen gar nicht bei Stine an. Sie blickt an sich selbst herunter, dort, wo die Glasscheibe auf ihre Haut trifft, ist die Haut jetzt gerötet. Sind einzelne Gefäße geplatzt, weil die Sesselanalyse doch nicht so schonend war? Was ist denn mit dem Ergebnis, wird es in die Welt hinausposaunt, oder will der Stuhl die Messung für sich behalten? Die Bär ist erst vor ein paar Tagen eröffnet worden, vielleicht brauchen die Sessel nur einfach etwas länger für die Analyse, sie müssen eben noch üben. Das Personal zieht die Theorie der Produktion auseinander, dabei macht es Töne, die Finanzen ziehen die Theorie zusammen, das gibt andere Töne. Die Produktion kann keinen Möglich230
keitsraum beschreiben, das ist eine Art nachzudenken, die nicht funktioniert. Es nützt nichts, wenn die Produktion nur darauf verweist, nicht jede Abwandlung einer vorhandenen Form sei möglich, da ist sie wieder nur bei den geplanten Veränderungen gelandet. Die Produktion sagt den stolzen Erfindern, ihr habt die Produkte nicht erfunden, ihr habt sie nur entdeckt, sie waren immer schon da. Die Welt ist einfach voller Attraktoren, und die Zustände der Welt bewegen sich automatisch zu diesen Attraktoren hin! Das meint die Produktion doch nicht ernst. Eigentlich hat niemand etwas gegen die Produktion, nur will keiner die Bastelarbeiten haben, die sie in ihrem Hobbyraum anfertigt. Völlig losgelöst saust die Produktion jetzt durch den interstellaren Raum, es ist an Egin, die Bremsraketen zu zünden, schließlich braucht Stine die Produktion noch. Aber Egin hat schlechte Laune, am Abend zuvor wurde er nicht ins Suite 15 hineingelassen, das ist eine Disco, die er manchmal mit Ethel besucht hat, er war zu alt, der eine Türsteher sagte zum anderen, jetzt kommen sie schon zum Sterben zu uns. Egin läßt die Theorie der Produktion im Weltenäther Weiterbrettern und nagelt statt dessen ihre äußere Erscheinung in der Q-Bar im Stadtteil Haidhausen auf dem Planeten Terra fest, er beginnt schon mal mit dem Zwischenraum zwischen den kurzen Socken und den hochgeschobenen Hosenbeinen. Es gibt kurze Socken, läßt Egin sich vernehmen, und es gibt lange Socken, leider gibt es keinen Attraktor, der Männer nur noch lange Socken tragen läßt. Worin liegt der innere Wert eines behaarten Männerbeins? fragt Egin polemisch in die Runde und fügt hinzu, ein nacktes Männerbein wird nur noch von einem offenen Hemd übertroffen. Daß Egin sich aber auch so danebenbenimmt! Genügen die bärigen Wahnvorstellungen Stines nicht schon? Egins Blick heftet sich an den Unterleib der Produktion, der richtige Attraktor für die 231
Krawattenspitze ist die Gürtelschnalle, die Krawatte hat direkt oberhalb davon zu enden, alles andere beleidigt das Auge. Dekretiert Egin. Und daß maßgeschneiderte Krawatten schleunigst populärer werden sollten, um diese Grausamkeit zu beenden. Die Beleidigungsmaschine Egin arbeitet in einem vorbestimmten Rhythmus, gerne wäre die Produktion ihr entgangen, aber sie gelangt nicht von der Stelle, immer wieder holt sie aufs neue Schwung, um wenigstens mit den Füßen auf den Boden zu kommen, die Voraussetzung für ein Fortlaufen. Alle erwarten, daß sich der Blick Egins nun in die höheren Regionen begibt, aber sie täuschen sich, Egin steht auf, um besonders wirkungsvoll ganz nach unten zu sehen, auf die Sportschuhe, die die Produktion zu ihrem Anzug trägt. Früher habe man sich, wenn man zur Arbeit ging, besonders vornehm gekleidet, schließlich wollte man seine Arbeit genießen, und man wußte, man würde bei der Arbeit intelligente Menschen treffen, mit denen man ein intelligentes Gespräch führen konnte. Man nenne Sportschuhe bequem, manchmal werde auch angeführt, daß jemand Plattfüße habe oder Bogenfüße, für die Betroffenen seien Sportschuhe gesünder, ihn, Egin, verstörten Sportschuhe, er nenne Sportschuhe im Dienst unsittlich. Stine sieht, wie etwas vor ihrer glatten Zukunft lodert, und Egin, ausgerechnet Egin, facht das Feuer an! Jemand müßte Ironie in Pulverform ins Feuer schütten, um es zu löschen! Nach den Füßen und dem Schritt will Egin nun den Torso der Produktion auf die Goldwaage legen und für zu schwer befinden. Er behauptet, es bedeutet eine ungeheure Kränkung für ihn, wenn jemand, wie die Produktion jetzt, Anzug, Hemd und Krawatte in derselben Farbe trägt. Er kann das nicht auf die leichte Schulter nehmen, auch wenn die Produktion vielleicht behaupte, 232
das sei ein Statement. Diese völlige Mißachtung aller Ideen von Accessoires und Farbabstimmung! Er, Egin, ist noch nie um die Produktion herumgegangen, wahrscheinlich ist hinten alles offen, und die Produktion nimmt bei Bedarf ihr Hemd nebst Krawatte ab wie eine Attrappe. Wenn alle Produkte nur noch grau sind, fällt kein Produkt mehr auf. Ihm, Egin, fällt durchaus etwas auf bei der Produktion: nämlich nichts, absolut nichts. So. Jetzt wissen alle, sie bilden nur ein Zwischenlager für die Ambitionen von Egin und Stine. Wenn Egin und Stine ihre Ziele erreichen, dann stellen sie, die Angestellten, möglicherweise eine sehr gefährliche Ware dar, die schleunigst entsorgt werden muß. Die Gedanken der Kandidaten für die Dekontamination hoppeln auf Stine zu und wollen durch ihren roten Rand hindurchspringen wie die Tiere im Zirkus durch den brennenden Reifen. Jetzt ist Stine froh über die kühle Glasplatte, wenn die sie nicht so gut verschließen würde, wer weiß, was alles in hineingreifen, in ihr herumwühlen und sich vielleicht einzelne Eingeweide herausholen würde.
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es gelingt ethel nicht die lieblose schmerzensfrau zu geben bär spielt das traumhausspiel zu ende ethel geht es danke gut seit wann geht es ethel gut immer schon ethel glaubt daß das bei allen menschen so ist ethel glaubt daß es allen menschen immer schon gutgeht manchmal fühlt sie sich gut manchmal weniger gut es gibt gute und weniger gute tage jetzt sind das gute tage einige tage sind ziemlich okay besonders gut geht es ihr wenn sie mit menschen zusammen ist die ihr etwas bedeuten es macht sie glücklich wenn sie mit ihrer mutter zusammen ist und ihr helfen kann ethel läßt sich vom controlling prognosemodelle für die entwicklung der immobilienpreise und der mieten erklären das controlling spricht von theoretischen kausalhypothesen oder anderen regelmäßigkeiten aufgrund derer man ausgehend von historischen beobachtungen auf die zukünftigen veränderungen der prognosevariablen schließen kann das controlling sagt am besten sichert man sich gegen alle denkbaren entwicklungen ab indem man davon ausgeht daß daten über die vergangenheit keinerlei information über die zukunft enthalten das controlling setzt voraus daß die marktteilnehmer rationale erwartungen haben ethel fühlt sich eingeschlossen ihre mutter hat rationale erwartungen gehabt der banker hat rationale erwartungen gehabt egin hat rationale erwartungen gehabt stine hat bestimmt rationale erwartungen gehabt wenn alle rationale erwartungen haben wenn die markte also effizient sind dann sind die veränderungsraten der immobilienpreise und die veränderungsraten der mieten reine zufallsgrößen das nennt man dann random-walk-prozesse übersetzt bedeutet 234
es man kann anstelle mühevoller prognoseverfahren ebensogut eine münze werfen da ist ethel altmodisch die kennzahlen die sie immer in der zeitung verfolgt entwickeln sich entlang relativ stabiler wachstumspfade dem controlling bleibt nichts übrig als ihr beizupflichten zahlreiche kenngrößen zeigen ein sogenanntes meanreversion-verhalten sie tendieren zyklisch gegen einen langfristigen mittelwert das wäre nicht der fall wenn es sich wirklich um random-walk-prozesse handeln würde das controlling erläutert ethel den begriff des transmissionsriemens den sie nicht versteht und das überbeziehungsweise unterschießen von preisen aufgrund unterschiedlicher anpassungsgeschwindigkeiten in verbundenen markten das sie versteht sie weiß wie lange es dauert eine baugenehmigung zu bekommen und ein gebäude zu bauen gibt es nur ein paar mieter mehr als flächen vorhanden sind steigen die mieten ganz enorm das controlling traut sich nicht zu sagen daß ethels erwartungen nicht rational waren daß es kein vernünftiges deckungsportfolio für magdeburg gibt daß ethel und ihre mutter magdeburg nie hätten anfassen sollen das controlling ist überzeugt kurzfristige veränderungen von mieten und immobilienpreisen verhalten sich fast wie reine zufallsprozesse eine mittel- oder langfristige vorhersage von mieten und immobilienpreisen ist jedoch grundsätzlich möglich was ethel sonst noch glücklich macht sind nachtflüge am liebsten landet sie am morgen jede stadt sieht schön aus im morgengrauen wunderschön sie liebt strande über alles dort ist sie am glücklichsten sie nimmt sich vor auf irgendeine insel zu fliegen sie weiß nur noch nicht auf welche in letzter zeit war ethel nicht sehr glücklich sie war in london in einer klinik auf entzug alle interessieren sich dafür aber sie will darüber nicht sprechen das geht niemanden etwas an sie ist freiwillig dort 235
hingegangen man hat ihr geholfen jetzt ist sie wieder draußen und guter dinge stine hat allen erzählt daß ethel nach exzessen mit drogen und nach wilden parties gar nicht mehr anders konnte als in eine klinik zu gehen ethel will nicht sagen was alle hören wollen sie würde niemals behaupten daß sie keine drogen genommen hat sie hat drogen genommen sie will sich dafür nicht rechtfertigen jeder nimmt drogen fast alle menschen die sie kennt nehmen drogen früher flog sie oft nach ibiza oder mallorca wenn sie einen break brauchte kaum war sie zurück ging ihr altes leben wieder los parties und alles was damit zusammenhing sie war es gewohnt irgendwann kam ein punkt an dem ihr alles zuviel wurde alle erwarteten von ihr daß sie die entscheidungen traf die ihre mutter getroffen hatte sie war gefangen einsam isoliert ihre freunde und freundinnen konnten ihr nicht helfen nur sie selbst konnte sich helfen sie mußte es mit sich selbst ausmachen so konnte es nicht mehr weitergehen sie wußte urlaub würde nicht mehr reichen da checkte sie in der klinik ein der entzug war ein erfolg der aufenthalt in der klinik half ihr wirklich jetzt will sie nicht mehr so oft ausgehen sie ist ruhiger geworden sie denkt daran in zehn jahren eine familie zu haben mit zwei oder drei kindern sie raucht mehr als früher doch sie will nicht daß man merkt daß sie soviel raucht sie zündet sich die Zigarette immer fast im schoß an im restaurant hält sie die zigarette unter den tisch als ob sie in new york wäre wo das rauchen in restaurants verboten ist nur im flugzeug verspürt sie keinen drang zu rauchen es stört sie nicht daß alle flüge mittlerweile nur noch nichtraucherflüge sind ethel weiß daß die grundsätzlich möglichen mittel- und langfristigen prognosen nichts damit zu tun haben ob die bank und die Versicherung die als mieter vorgesehen sind wirklich mieter werden oder nicht in letzter zeit sieht ethel in magazinen und zeitungen 236
immer häufiger bilder von angel sie bewundert fleurs freund sie wäre selbst gerne model nicht aus dem grund aus dem alle anderen mädchen model sein wollen sie will gar nicht berühmt werden allerdings kann sie sich vorstellen die berühmtheit in kauf zu nehmen ihre arbeit hätte nichts mit ihrem leben zu tun sie würde ihren körper ausstellen aber was dabei zu sehen wäre würde nichts von ihr selbst zeigen wenn eine fotografie von ihr gemacht wird dann wird nicht sie fotografiert dann wird nicht jemand abgebildet sondern etwas das die stylisten die frisöre die makeup-artisten der fotograf gemacht haben wer nur ein bild von ihr sieht hat nichts verstanden null auch wenn man sie völlig nackt fotografieren würde es hätte überhaupt nichts mit ihr zu tun solange der stylist der frisör der makeup-artist der fotograf da sind muß sie sich nicht fragen wer sie ist die leute würden alles von ihr bekommen nur nicht sie selbst sie müßte nur ihren körper hergeben aber nicht ihr ganzes leben ein model kann nichts über seine arbeit erzählen als model spürt sie was der fotograf will jedenfalls glaubt sie daß ein gutes model das spüren muß sie muß sich bedingungslos auf die wünsche der anderen hin öffnen sie muß sich bedingungslos preisgeben sie muß sich vergessen um das wunschbild zu werden das den anderen vorschwebt sie trug eine riesige schwarze sonnenbrille mit nach außen hochgezogenen gläsern ihr gesicht war voller sie erzählte egin sie wolle sich die haare in einem lavendelton färben lassen sie hatte es riskiert ihren flug nicht zu erreichen denn sie war mit dem taxi nicht direkt von der klinik nach heathrow gefahren sondern hatte bei harrod’s lavendelfarbige kissen und lavendelparfüm gekauft leider gab es bei harrod’s kein lavendelbadewasser sie fragte egin ob er ein lavendelfarbiges telefonmodell kenne ethel 237
hatte in der klinik zugenommen egin tat so als ob sie eine dicke frau wäre er erzählte ihr seitdem er sich für frauen interessierte mochte er immer die dickeren das komme daher weil er als kind selbst dick gewesen sei er sei sehr schüchtern gewesen und habe sich immer mädchen ausgesucht die noch dicker waren als er die konnten ihn nicht hänseln mit der zeit hätten ihm dann dicke frauen wirklich gefallen später als er die dünnen hätte kriegen können wollte er keine dünnen mehr ethel spielte die dicke frau sie behauptete als elfjährige habe sie einen richtig großen busen gehabt schrecklich sei das gewesen er sei gewachsen und gewachsen aber sie sei immer mit männern zusammengewesen die ihre figur mochten heute habe sie bh-größe hundert und finde ihren busen toll am wohlsten fühle sie sich in afrika weil da dicke frauen als attraktiv gelten egin sagte sie gefalle ihm jetzt viel besser nicht nur weil sie dicker sei sondern weil sie sich wohl fühle so wie sie sei das mache ihren erotischen reiz aus sie fragte ihn ob seine mutter auch einen großen busen gehabt habe er antwortete ja aber erst im alter das habe ihn nicht beeinflußt er sei auch kein fetischist oder so er lasse sich von äußerlichkeiten nicht blenden ihre Schönheit komme von innen sie strahle etwas aus außerdem sei sie trotz ihrer fülle sehr beweglich sie sagte na ja manche Stellungen gingen leider nicht mit ihr natürlich habe sie ihre phantasien aber schließlich könne sie nicht erwarten daß jemand sie wie ein bauarbeiter durchs zimmer trage egin sagte er werde sie durchs zimmer tragen wie ein bauarbeiter das werde er für sie tun ethel sagte er sei ein großer charmeur egin sagte ihm gefalle ihr körper er finde ihn sehr ästhetisch dicke frauen seien größere genießer ethel verriet am anfang habe sie nicht verstehen können daß jemand sie erotisch fand sie habe wirklich probleme damit gehabt sie habe gedacht das sei pervers heute wisse 238
sie daß es nicht so sei egin sagte nur wenige männer gäben offen zu daß sie dicke frauen mögen manche suchten sich eine dicke frau fürs bett und eine schlanke zum vorzeigen egin fand das inkonsequent ethel sagte sie kriege wahnsinnig viel bestätigung weil sie einen so großen busen habe aber nicht nur von männern sondern auch von frauen die ihr sagten daß das so toll sei egin war viel zu spät am flughafen gewesen um ethel abzuholen doch das flugzeug hatte noch größere verspätung gehabt egin war nie mehr pünktlich weil er nicht aus dem badezimmer herauskam er konnte nicht aufhören sich zu kämmen die haare wollten einfach nicht so fallen wie er es wollte wenn der scheitel nicht an der richtigen stelle war konnte er das haus nicht verlassen sein herz fing an zu rasen der schweiß brach ihm aus sofort hatte er unerträgliches kopfweh auf kundentermine breitete sich egin vor indem er aus den aktenordnern diejenigen schriftstücke und notizen herausnahm von denen er glaubte daß sie für den termin wichtig sein würden er konnte sich nicht durchringen einfach die aktenordner mitzunehmen wenn ein stichwort fiel wollte er sofort das entsprechende schriftstück herausziehen also mußte er vorher alle schriftstücke durchgehen und sie entsprechend sortieren er richtete den apparat jeweils am abend vor dem termin her bis er aus dem haus ging kamen ihm jedoch regelmäßig neue fragen in den kopf so daß er den apparat erneut durchsah schriftstücke aussonderte und wieder in die akten einordnete um andere schriftstücke aus den akten herauszunehmen und dem apparat hinzuzufügen er verließ das haus in völliger erschöpfung egin sah echt scheiße aus er hatte keine zuversicht mehr er hatte das gefühl nichts mehr unter kontrolle zu haben das leben erschien ihm als eine einzige folge von rückschlägen er glaubte nicht mehr daß sich die dinge am schluß zum guten wenden würden 239
ihm fehlte die grundüberzeugung daß die welt und das leben ein sinnvolles ganzes bilden stine nahm wahr daß egins flexibilität und seine kreativität eingeschränkt waren daß sich fehlentscheidungen mehrten sie bekam mit wie seine Verhaltensweisen im umgang mit anderen menschen inadäquat wurden stine mußte mehr in ihre beziehung zu egin investieren die prämisse durfte nicht sein egin ist ersetzbar sondern egin war als kapital zu betrachten das bewahrt werden sollte stine nahm sich vor egin mehr entfaltungsmöglichkeiten zu geben und ihn mehr zu unterstützen er sollte seine ladenkette bekommen mit dem probelauf eines geschäfts würde er wieder sinn erleben und ein eigenes wertesystem aufbauen können man mußte das zwischenmenschliche lebensfeld aktivieren stine wollte wieder öfter mit egin schlafen egin hätte jede strafe angenommen trotzdem lebte er in der vorstellung nicht für seine eigentliche tat bestraft zu werden nichts was stine unternahm verhalf ihm dazu seine geschichte sowie seine tat zu formulieren seine beweggründe zu verstehen er hatte nur die ahnung daß alles anders war als alle dachten egin war nicht dazu in der lage ein gefühl der schuld oder ein gefühl der reue zu entwickeln ethel sah daß er sich in einem schockzustand befand sie wollte nett und niedlich zu ihm sein und sagte ihm sie liebe die liebe weil sie sie nicht definieren könne und weil sie glaube daß niemand anderer sie definieren könne die liebe existiere jenseits der geistigen fähigkeiten und lasse den geist als nutzlos erscheinen ihr verstand sage nein nein nein doch ihr herz sage ja ja ja die liebe mache angst weil sie die möglichkeit eines anderen lebens aufzeige und weil das bedeute daß man das jetzige leben aufgeben müsse sie sagte sie glaube nicht an die liebe auf den ersten blick bei ihr dauere es viel länger sie brauche dieses o-nein-nicht-dieser-typ-gefühl es müsse sie umhauen und von ihr besitz ergreifen mit dem 240
langsamen warmwerden könne sie nichts anfangen die gegensätze könnten ihr gar nicht groß genug sein ethel erzählte egin daß siddharta von hermann hesse ihr leben verändert hatte als sie vierzehn war ihre mutter war ihr großes vorbild gewesen plötzlich erfuhr sie daß das leben nicht in festen bahnen verlaufen mußte und daß gott nicht außerhalb ihrer selbst sondern in ihr existierte egin verstand nicht ob sie nun für die liebe auf den ersten blick war oder für das gegenteil dabei wollte ethel gar kein süßer fratz sein ethel wollte gehässig berechnend und knauserig sein gerne hätte sie mehr geschäftsgeist gehabt sie beneidete menschen die höflichkeit und fairness im soll ihres gewinn- und Verlustkontos verbuchten sie wollte lüstern und politisch unkorrekt sein wenn sie es fertigbringen würde in einer beziehung zu leben würden eigene eskapaden nicht zu buche schlagen dafür würde sie jegliche annäherung ihres freunds oder ehemanns an andere mit wohlerwogener gemeinheit ahnden sie würde es in kauf nehmen daß der vitale kern hinter der fassade abstarb absolut bar jeder leidenschaft würde es ihr genügen gegenstand erotischer spielereien von zufallsbekanntschaften zu werden als gegengewicht zu ihren unlauteren geschäftlichen transaktionen würde sie sich den künsten öffnen an die stelle ihrer eigenen unbefindlichkeit würde sie befindlichkeiten setzen die sie in den großen kunstwerken fand sie würde mit gott hadern der das leiden nicht nur zuließ sondern förderte sie würde zetern daß liebe und vergebung in der welt keinen platz mehr hätten und genau wissen wie blasphemisch sie wäre niemand sollte ihr mildernde umstände zugestehen alles würde sie tun um sich den widerwillen all derer zu sichern an deren schicksalen sie jetzt anteil nahm anstatt ihre eigene widerliche heldin zu sein tröstete sie egin sie schlief sogar mit ihm und sie half fleur das traumhaus von 241
bär zu bauen am rand einer kleinen Stadt nicht weit von empoli in einer unattraktiven landschaft ohne besonderen charakter die bekannten bilder der toskanischen landschaft und ihrer schönheit waren weitergezogen und das haus zufällig dort angekommen es sah aus wie aus einem baukasten zusammengesetzt der die phantasie eines kindes anregen sollte ein würfel mit platten aus pietra d’istria verkleidet deren verlauf die fenster und türöffnungen diktierte hinzugezählte und abgezogene volumina ergaben ein spiel von reliefs und basreliefs die pergola vor dem eßzimmer wirkte wie ein unvorhergesehener auswuchs die veranda aus stein schien sich auf die pergola aus holz zu stützen hier hatte sich die logik des bauens umgekehrt das rote dach schien über dem haus zu schweben die innenräume sammelten sich um die lobby die vom erdgeschoß bis unter das dach hochreichte alle räume waren von oben beleuchtet es gab in dem haus keine schatten die räume repräsentierten eine skala vom gemütlichen bis zum radikal unhäuslichen das innere und das äußere des hauses hatten sich gefunden und beschlossen zusammenzuleben doch man wollte einander ständig überraschen jeder erzählte dem anderen seine anekdoten das haus gab den funktionen autonomie und erkannte zugleich die freiheit der formen an es trennte zwecke von bedeutungen keine rede davon daß form und funktion einander reflektieren sollten die funktion des hauses bestand darin daß bär das haus nicht benutzte bär wollte überall sein nur nicht in diesem haus sie war reif für die insel die ethel eigentlich für sich selbst ausgesucht hatte was bär alles auf die insel mitnehmen wollte angelhaken angelleine aspirin batterien ein bettuch eine hängematte ein Jagdmesser jod einen kanister mit wasser zwei karotten drei orangen und eine zitrone kerzen und eine laterne moskitocreme ein moskitonetz ein pfund reis 242
sonnenschutzmilch eine schnür ein schweizer armeemesser streichhölzer eine taschenlampe wasserfilter eine zeitplane notizbücher und bleistifte eine kamera und filme nicht mitnehmen auf die insel wollte bär zahnbürste toilettenpapier spiegel seife musik kissen kamm haarbürste handtuch bücher aber dann entschloß sie sich doch noch eine zweite kamera mitzunehmen damit sie sich selbst beim fotografieren fotografieren konnte
montag ein wundervoller tag um den schreibtisch aufzuräumen die fragen die jetzt noch unbeantwortet sind kann bär nicht mehr beantworten ihr flugzeug fliegt am abend sie hat schon alles gepackt bär wird auf eine insel reisen auf der es keine menschen gibt sie wird auf der insel allein und für niemanden zu erreichen sein aber vorher muß sie noch ein dutzend anrufe tätigen
dienstag bär fliegt von miami nach belize dort wird sie am flughafen abgeholt im hafen liegt schon ein highspeedboat bereit es bringt sie zu dem Segelschiff das sie auf ihrer insel absetzen soll die see ist rauh sie fahren am rand einer schwarzen wolkenfront entlang die für bär aussieht wie ein hurricane das boot wirft sich auf die wellen richtet sich auf schießt hoch und kracht wieder gegen die wellen bär ist froh als sie endlich das Segelschiff sieht
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mittwoch in der nacht schläft bär auf deck sie muß sich zusammenrollen das schiff schaukelt so daß sie sonst immer von einer seite auf die andere fallen würde ein gewitterregen durchnäßt sie bis auf die knochen ehe sie überhaupt auf den gedanken kommen kann schütz zu suchen die nässe der wind und die feuchte meeresluft machen ihr nichts aus sie geht nur kurz unter deck zieht sich aus trocknet sich ab und legt sich dann in eine decke eingewickelt wieder hin als sie mit der morgendämmerung aufwacht ankert das schiff bereits vor der insel der stürm ist vorbei der kapitän läßt das beiboot zu wasser ein matrose rudert mit bär und ihrer ausrüstung zu der insel bärs insel ist nicht einmal hundert meter lang und höchstens fünfundzwanzig meter breit wenn überhaupt sie liegt irgendwo in der karibik kokospalmen wachsen auf ihr und wilde blumen mit ihrem großen Jagdmesser schneidet bär einige tiefhängende palmenzweige ab um sie in den sand zu stecken bär ist sehr vorsichtig mit dem messer dafür schneidet sie sich mit der schnür die sie um die palmenzweige wickeln will ziemlich tief in die finger nachdem sie die zeitplane über das gerüst gelegt hat gräbt sie die ecken tiefer ein und befestigt sie zusätzlich mit besonders schweren palmwedeln schließlich spannt sie ihre hängematte zwischen zwei palmen auf die schnür ist so lang daß sie den rest als wäscheleine benutzen kann fertig ist ihr traumhaus samt gartenpavillon jetzt kann sie sich ausruhen bär glaubt daß die grundlegenden fragen beantwortet sind
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donnerstag bär geht schwimmen und begegnet dabei einem schwarzen hai er ist nicht sehr groß sie weiß nicht ob schwarze haie immer so klein sind er tut ihr nichts und sie tut ihm nichts sie versucht feuer zu machen auf der insel gibt es etwas treibholz sonst nur trockene palmenblätter und rindenstücke die von den bäumen heruntergefallen sind das holz brennt nicht gut es qualmt furchtbar sie will sich reis mit kokosnußmilch kochen dazu muß sie die früchte dutzende male auf wurzelstrünke schlagen um sie von ihrer schale zu befreien ehe sie mit dem schweizer armeemesser ein loch in die nuß stechen kann sie hätte nicht gedacht daß es stunden dauert reis mit kokosmilch zu kochen der reis schmeckt ihr dann allerdings so gut wie ihr noch nie reis geschmeckt hat die sonne geht unter sie schwimmt so lange im meer bis es dunkel ist in der nacht regnet es wind kommt auf alle himmel die irgendwer in dieser nacht irgendwo auf der welt sieht ziehen über ihre insel hinweg
freitag bär hat keinen einzigen gegenstand auf die insel mitgenommen an dem ihr herz wirklich hängt sie vermißt die dinge nicht aber sie weiß nur daß sie die dinge auf der insel nicht braucht lange wird sie ja nicht auf der insel bleiben einen gegenstand hätte sie gerne sie hat einfach nicht daran gedacht einen spiegel mitzunehmen wenn sie hustet oder sich schneuzt überrascht sie jedesmal das geräusch es ist schon lange her daß sie ein wort gesprochen hat sie führt keine selbstgespräche sie denkt daß sie bald selbstgespräche führen wird die knochen tun 245
ihr weh sie hat jede menge blutergüsse vor allem an den hüften ihre haut ist an mehreren stellen wund normalerweise schläft sie auf dem bauch das kann sie hier nicht immer wieder dreht sie sich unwillkürlich auf den bauch und dann vor schmerzen auf den rücken sie hat geglaubt auf der insel würden ihre gedanken hin und her springen ständig würde sie etwas neues beschäftigen doch die insel ist gar nicht das ganz andere die insel ist auch nur ein spiel erst hat bär noch die bermudas angehabt nun ist sie den ganzen tag völlig nackt wie wohl sie sich fühlt wenn sie nackt ist gott sei dank gibt es keine mucken auf der insel keine kollegen keine nachbarn nur vögel fische krebse ameisen manchmal zieht ein boot vorbei aber ganz weit draußen sie ist also nicht ganz allein sie hat kein handy und kein funkgerät wenn sie sich bemerkbar machen will kann sie das sie muß nur ein größeres feuer entfachen und rauchzeichen geben sie legt sich in das warme wasser es ist so klar daß sie zig meter weit die fische und den meeresboden sehen kann bär hat gedacht sie würde sich klein und unbedeutend fühlen auf der einsamen insel doch das ist nicht der fall irgendwie hat sie das gefühl daß sie die insel in besitz genommen hat bär hat erwartet daß sie allein auf der insel demütig werden würde stine hat sie gedemütigt sie wollte eins draufsetzen und noch demütiger sein statt dessen spielt sie das inselspiel ganz egal was sie gedacht hat das inselspiel wird ein ergebnis haben das inselspiel wird bär ermöglichen sich in einer welt ohne charlotte und stine zu orientieren danach wird bär besser funktionieren als vorher weil die fortschritte so enorm waren haben sich die leute an den gedanken gewöhnt der fortschritt sei endlos der fortschritt wurde in einer winzigen zeitspanne verwirklicht die leute glauben an den unendlichen fortschritt weil sie sich so besser fühlen bär ist überzeugt daß die zeitspanne jetzt an 246
ihr ende gekommen ist was soll man denn machen wenn man alles weiß was man wissen kann
samstag die nacht ist unglaublich ruhig kein luftzug alles ist scharf und klar keine wölke am himmel bär legt die gegenstände die sie mitgenommen hat immer in der gleichen reihenfolge neben sich damit sie sie sofort bei der hand hat wenn es dunkel ist aber es wird nicht dunkel sie kann im sternenlicht sehen wie am tag natürlich muß die erde eine kugel sein wenn die erde flach wäre müßte man ja die nächste insel sehen auch wenn sie ganz weit weg ist mittlerweile brennt auch das feuer besser ohne wind gibt es keinen qualm und das feuer verströmt mehr hitze bär ist nicht schmutzig sie ist sauber die salzschicht aus dem meer hüllt sie ein es ist als würde sie eine art schutzanzug tragen sie vermißt den spiegel nicht mehr im gegenteil sie fühlt sich frei weil sie nicht ständig kontrollieren kann wie sie aussieht im laufe der nacht wird es immer heller dabei geht die sonne noch lange nicht auf bär hat geglaubt irgendwann fängt sie zu weinen an doch sie muß nicht weinen kein heulendes elend aber auch keine große erleichterung nach dem weinen sie fühlt sich nicht einmal einsam bär hat gedacht daß sie für die natur dankbarkeit empfinden würde so schön die natur auch ist das wirklich anziehende ist diese klarheit es gibt kein zwielicht
sonntag der aufenthalt auf der insel neigt sich seinem ende entgegen bär ist unruhig und kann nicht schlafen vielleicht 247
sollte sie doch dankbar sein und es ist ihr schlechtes gewissen das sich meldet zombies gibt es der voodoopriester verabreicht dem opfer ein pulver das unter anderem auch getrockneten kugelfisch enthält der in der karibik beheimatete kugelfisch ist giftig er enthält tetrodotoxin das opfer fällt ins koma die atmung und der puls werden äußerst flach das opfer scheint klinisch tot zu sein der voodoo-priester beerdigt das opfer später grabt er es wieder aus und gibt ihm eine halluzinogene paste so kommt das opfer wieder ins leben zurück den auf diese weise entstandenen zombie verkauft der voodoopriester als arbeitskraft an zuckerplantagen der tetrodotoxin-gehalt im zombiepulver fällt natürlich unterschiedlich aus der voodoo-priester kann fehler in der dosierung des gifts leicht überspielen ist die dosis zu hoch und stirbt das opfer handelt es sich um einen ratschluß gottes ist die dosierung zu gering wiederholt der voodoo-priester die prozedur so lange bis das opfer schließlich ins koma fällt ein zombie wird nur derjenige der an zombies glaubt ob sie existieren oder nicht der beste schütz gegen zombies besteht darin nicht an sie zu glauben bär liegt lange so da
montag in der nacht frischt der wind auf es kommt zu einem sturzregen das geräusch das der regen auf der zeitplane macht klingt als wäre es mit dem computer erzeugt bär kriecht aus ihrem traumhaus heraus sie kann überhaupt nichts sehen nicht einmal das meer kann sie erkennen ihr tun immer noch alle knochen weh aber sie hat sich an die harte unterläge gewöhnt es ist tatsächlich ein wenig so als wäre sie begraben sie fühlt sich wohl dabei sie steckt ihren kopf noch einmal hinaus und sieht jetzt den mond hinter 248
dem regenvorhang der himmel ist also nicht ganz bedeckt vielleicht hat eine wölke ihre insel gesucht oder ihre insel hat eine wölke gesucht und sie haben sich gefunden wie kommt so ein zwerg von planet wie die erde zu einem mond vor urzeiten muß ein gigantischer vagabundierender asteroid auf die damals noch flüssige erdkugel geprallt sein der eisenhaltige asteroid hat den heutigen mond aus unserem planeten herausgerissen erst der mond macht leben auf der erde möglich denn er hält die drehachse der erde stabil auf ihrem neigungswinkel von 23° ohne den mond würde die erde im raum taumeln eine seite der erde wäre immer der sonne zugewandt die andere immer von ihr abgewandt das wäre der tod oder die unmöglichkeit allen lebens denn die in der weltraumkälte verbleibende halbkugel würde binnen tagen vereisen an der tag- und nachtgrenze würde es zu enormen turbulenzen kommen bis schließlich die atmosphäre verdampft wäre so hat der mars seine gashülle verloren das paar erde-mond stellt eine absolute einzigartigkeit dar ein hinweis darauf daß wir vielleicht doch im universum allein sind bär ist ein großer zufall
dienstag das segelschiff hat bär abgeholt sie trinkt eiskaltes bier und ißt nudeln mit hummer sie hat sich noch nicht geduscht sie fühlt sich so als sei sie immer noch auf der insel die gegenstände die sie auf die insel mitnahm hat sie dort gelassen vielleicht sammelt der kapitän die dinge ein bevor er jemand anderen auf der insel absetzt ihr traumhaus hat die nachte durchgehalten die sie auf der insel verbracht hat sie hat sich lange überlegt wo und wie sie ihre notizen machen würde sitzend hockend oder in der 249
hängematte sie hat eine doppelwand aus palmwedeln gebaut um das notizbuch geschützt aufzubewahren da liegt es immer noch und es steht nichts drin weil sie gar keine notizen gemacht hat vielleicht muß der kapitän auch überhaupt nichts einsammeln vielleicht gibt es ab und zu einmal einen stürm und der weht dann bärs traumhaus von der insel herunter und alles was sie auf die insel mitgebracht hat
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VIERTER TEIL … – dafür wurde Stine als allererste ins Museum eingelassen. Ein paar Sekunden lang war Stine die einzige Person, die den Models gegenüberstand. Fünfzehn Models in schwarz-roten Bikinis und Stilettos und fünf nackte Models, die nur die straßbesetzten Schuhe anhatten. Das war kraß. Die Gucci-Bikinis und die Gucci-Schuhe schimmerten toll. Stine wollte dem Model vor ihr in die Augen sehen, aber es blickte weg. Sie versuchte, einem anderen in die Augen zu sehen – Stine fiel ein, daß sie unbedingt mit den Models sprechen wollte. »Sind die Schuhe bequem?« »Gefällt’s Ihnen?« »Hassen Sie die Zuschauer?« Sie ging herum und suchte die Künstlerin. Die Künstlerin antwortete ultrahöflich, nein. Es ist verboten. Stine ärgerte sich, daß sie nicht ihr Gucci-Kostüm angezogen hatte, vielleicht hätte die Künstlerin dann 251
Vertrauen gefaßt. Oder war das Teil der Performance? »Nach fünfundzwanzig Jahren Feminismus!« Ein Kritiker stürmte aus dem Raum. »Brutal süß!« Ein Künstler. »Aber jetzt muß ich an meine Arbeit.« »Nakedchicks! Great!« Während sich die geladenen Gäste zuprosteten, schmolz die Show wie eine Skulptur aus Eis. Zwei Nackte, Zwillinge, schwankten. Bei einer anderen löste sich der Absatz vom Schuh. Mehrere setzten sich auf den Boden. Hinter Stine flüsterte jemand, die Models seien vorher beim besten Friseur der Stadt gewesen, der sich um die Schamhaare gekümmert habe. - Alle Models hatten dasselbe beigefarbene Body-makeup aufgetragen – THE ARTIST VIEWS HER LIVE MATERIAL AS PURE-LY VISUAL: NO ACCENTS ON THE WOMEN’S PER-SONALITIES OR ORIGIN, NOR IS ANY EMPHASIS ON FEMINITY INTENDED. Trotzdem waren die Frauen schön, ihre Schuhe, ihre Gesichter, ihre Bikinis, ihre Posen. das inzestuöse Spiel von Wiederholung und Variation die Unheimlichkeit eines Fast-Mimikry Nacktheit als eine Form von Kleidung Sexualität als Gegenteil von Intimität Jemand, der 252
stillsteht, ist niemals völlig bewegungslos. - Die Körperfresser haben das Museum erobert – einer sagte, gut, gut, gut, ein anderer wiederholte das direkt, gut, gut, gut. Rubbernecking und Networking. Jemand rief ja und lachte. »Hallo Stine, süßes hübsches Bärchen!« O ja – wow – hm – du – Stine hatte vergessen, wo sie hinsollte, sie wußte nicht mehr, was, wo, wie, wann, warum. Die rettende Idee: sich auf den Boden setzen, wie die Models. Angel und Drifter redeten, fragten, schauten. Bär war nicht eingeladen, Drifter redete wie immer. NUMBER ONE AND NUMBER TWO Found stuffed animals and string (gelber Bär und brauner Affe) … – erschloß der Laufstall das Reich der kollektiven Erinnerung, der tiefen Gefühle und der unstillbaren Erwartungen. Trotz seiner minimalistischen Struktur verkörperte das Werk eine Flut von kunsthistorischen Referenzen ebenso wie ein komplexes Gewebe von unverwechselbar persönlichen Zeichen. Der disparate Spielraum der Assoziationen, die der Künstler und der Zuschauer dem essentiell banalen Objekt zuschrieben – es gab so wahnsinnig viel gute Kunst aus 253
den achtziger Jahren, vor allem natürlich Objekte, Installationen, Tafelbilder, die ganzen Entwicklungslinien, Richtungen, kaum stand man vor einem Kunstwerk, saugte man sofort seine extrem hochinteressante Aussage an. Irgendwie war der Laufstall viel zu hoch, und die Stäbe waren viel zu dick. Die Mutter des Künstlers auf einem Krankenbett. In einem weiten weißen Rock und einer Bluse ohne Knöpfe. Der Weg zur Decke durch zehn an der Wand befestigte Kästen aus rostfreiem Stahl und rosa Plexiglas versperrt. »Hast du das Geschenkpaket mit den Därmen und dem Magen und der Leber und der Milz gesehen?« Schon schön – schön Die Wahrheit war: Die jetzige Schaltergeneration war am Ende, die Beziehungen zu den Kunden zerrüttet, langjährige Verträge schleppten sich mühsam dahin, tiefe Löcher hatten sich in Umsätze und Erträge eingefressen. »Zustand des Zerfalls.« »Überall muß man vom neuen Schalter sprechen.« Der neue Schalter mußte legendär werden. Ein Mythos. Erhaben. Unglaublich. Die Wiederauferstehung, vorweggenommen. Die Epiphanie. Jede konkrete Wahrnehmung der Realität unterminiert – es geht an die Wurzeln des Selbst – des Betrachters – gebongt. »Was kostet –« Ja, so war das. 254
Begrüßung durch die sechziger Jahre. Ich weiß ja, daß ihr mich blöd findet, sagte das auf die Leinwand kopierte Foto eines Selbstmörders, der vom Dach eines Hochhauses sprang, aber – da wollten auch die Fünfziger nicht zurückstehen. Zwei Figuren in einem schwarzen Ausschnitt vor einem schwarzen Hintergrund ein Gesicht: Hallo! ein zweites Gesicht: Hallo! ein Arm: Wir sollten jetzt mal so langsam – die sechziger Jahre: Hört auf, bitte! ein dunkelblaues Quadrat ein hellblaues Quadrat um das dunkelblaue Quadrat ein grünes Quadrat um das hellblaue Quadrat ein gelbes Quadrat um das grüne Quadrat ein orangefarbenes Quadrat um das gelbe Quadrat ein rotes Quadrat um das orangefarbene Quadrat ein orangefarbenes Quadrat um das rote Quadrat ein gelbes Quadrat um das orangefarbene Quadrat ein grünes Quadrat um das gelbe Quadrat ein hellblaues Quadrat um das grüne Quadrat ein dunkelblaues Quadrat um das hellblaue Quadrat (eine eckige Zielscheibe) SINGLE ORANGE CAR CRASH - Aber noch viel absurder und kaputter – VIERWALDSTÄTTER SEE »Wenn ein Produkt ein Klassiker werden soll, dann muß es ein Design haben, das nicht irgendwelchen passierenden Moden gehorcht, sondern es muß das fitteste sein, um die Funktion auszuführen, die das Produkt bieten soll.« O je. Ja! Und nun? »Also ein Designprodukt ist nicht wie Architektur, die 255
viel langsamer alt wird, es muß tragbar, persönlich und vertraulich sein, mit guten technischen Eigenschaften, es muß die spezifischen Qualitäten eines professionellen Produkts widerspiegeln, und natürlich sollte es auch versteckt werden können, wenn es nicht in Gebrauch ist, um die Intimität einer persönlichen, privaten Besitzhaftigkeit widerzuspiegeln.« Drifter wischte sich die Nase. Man kann über ein Produkt sagen, was man will, dachte er, alles wirkt sofort pervers, sektiererhaft. Schön anzuschauen, die Kunst der Neunziger, diese farbigen Punkte auf weißem Grund. I want to spend the rest of my life everywhere, with everyone, one to one, always, forever, now CONSTIPATOR BLOCK: SHIM BOLUS – Otto shaft – (transverse) TFE squat HEMORRHOIDAL DISTRACTOR (2) cast large pearl-tapioka, teflon, socks, and thermal gel packs Wie verführerisch und rätselhaft zwingend athletische Paraphernalien und metabolisch transformative Substanzen sich vereinigten: Tapioka war ein basisches Kohlehydrat und Teflon ein Polymer, das Chirurgen für Implantate verwendeten. Die Perlen bestanden aus Sekretschichten um einen Fremdkörper, die Gelpackungen waren Vehikel, um Hitze zu übertragen. Alle diese Elemente verkörperten gleichermaßen einen Kampf wie ein Potential für eine Zustandsänderung, eine metabolische, physikalische oder genetische Transformation, die sowohl das Technische als auch das Menschliche transzendierte. Schön wunderschön
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»Es gibt so viele Produkte, die nicht mehr hergestellt werden, doch ihr Bild bleibt und beeinflußt neue Entwürfe. In der kollektiven Ikonographie sind immer Relikte präsent, auf der anderen Seite gibt es Produkte auf dem Markt, die unerbittlich verfallen.« Stine: Die Kampagne, die Kampagne bitte. … – rannte Stine gegen eine Holzliege mit einem fußballgroßen Loch in Gesäßhöhe, darunter stand ein Plastikeimer, ein hängender zweiter Plastikeimer ersetzte die Klistierflasche, die Einlaufspritze lag auf der Liege. Es war diese Sorte von kompromißloser, antiästhetischer, nach Pisse, Scheiße, Sperma, Blut und verdorbenem Leben stinkender Bescheidenheitskunst. In der Installation mit den überdimensionalen Duftspendern hatte Stine entsetzliche Angst davor, daß ihr Körper sich als eine Maschine entlarven würde, die nichts anderes als Abfall produzierte, sich abnutzte und starb. Mein Gott, Stine hatte ein echtes Problem, mit Scheiße umzugehen. Der Interviewer: Warum benutzt du eigentlich immer diese verdammten Stofftiere? Der Künstler: Das Stofftier ist ein beschädigtes und verkrüppeltes Ideal, von Erwachsenen auf Kinder projiziert, der Inbegriff der Person als Ware und der erpreßten Emotionen. Der Interviewer: Gehen dir junge Menschen eigentlich auf die Nerven, weil sie deine Kunst cool finden? Der Künstler: Egal, was sie tun, ich finde es gut, wenn Menschen sich auf das Ende vorbereiten.
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Was Stine wirklich bewunderte: Geld, aber richtig viel Geld. Nicht nur so viel Geld, wie sie jetzt hatte oder bald haben würde. Ein paar Millionen oder zig Millionen waren kein Geld. Wenn man es sich leisten konnte, das Geld zu verachten: Erst das war wirklich Geld. Das andere Neidfeld: die Kunst. »Sie nicht.« Sie: Wieso? Die Show: Nur so. »Sie kennen mich doch gar nicht.« »Doch.« »Woher?« »Sie stehen direkt vor mir.« Stine konnte sehen, wie sich der Motorraum verformte, wie sich der Rahmen der Fahrertür nach außen bog. Es war kein Schrottauto, sondern jeder Teil war in Glasfaser nachgegossen und mit einem grauen Primer bemalt. Drifter: Was du in die Kampagne für den neuen Schalter einbringen mußt: dein generelles Desinteresse am Zusammensein mit eigenen Kindern dein generelles Desinteresse am Zusammensein mit dem Lebenspartner dein generelles Desinteresse am Urlaubmachen dein generelles Desinteresse am Sexhaben dein generelles Desinteresse am Zusammensein mit Freunden dein generelles Desinteresse am Selber-Autofahren dein generelles Desinteresse am Hobby-Ausüben dein generelles Desinteresse am Musikhören dein generelles Desinteresse am In-Ruhe-Nachdenken dein generelles Desinteresse am Lesen dein generelles Desinteresse an Essen und Trinken dein generelles Desinteresse an 258
Schlafen und Dösen dein generelles Desinteresse am Sporttreiben dein generelles Desinteresse am Einkaufsbummel-Machen dein generelles Desinteresse am Im-Haushalt-Arbeiten dein generelles Desinteresse am Gottesdienstbesuch dein generelles Desinteresse am ImKino-Filme-Sehen dein generelles Desinteresse am Fernsehen Fast verliebte sich Stine in die überlebensgroße Businessfrau aus Kunststoff in dem roten Kostüm. Schämten sich Angel und Drifter, weil auch ihnen dieses erstarrte Universum gefiel, in dem niemand mehr zwischen echten und Glasaugen, zwischen Unfallautos und nachgemachten Unfallautos, zwischen richtigem und falschem Schamhaar, zwischen Leben und Tod unterscheiden konnte? Das wirklich Neue ist nicht vorhersehbar, für niemanden, auch nicht für einen Artdirector. O! Stinchen, Stinchen, Stinchen … Das Haus der kompromittiert.
Deutschen
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Kunst
ist
vital,
aber
Milla fährt aus ihrer Haut. Sie findet Gefallen daran, daß das, was zu empfinden und zu erfühlen ist, nicht von dem üblichen Ich empfunden und erfühlt wird. Stine schlägt Milla ein Joint venture vor Irgendwie muß ich derart aus meiner Haut gefahren sein, daß ich denke, ich stehe neben mir selbst. Fragen helfen einem zu denken, mir stellt niemand Fragen, aber ich kann ja jetzt meiner Nachbarin Fragen stellen. Ich versuche zu verstehen, in welcher Beziehung sie zu ihrer Umwelt steht. Außerdem interessiert mich natürlich ihr gegenwärtiger Geisteszustand. Was meine Nachbarin denkt, kommt mir wichtiger vor, als wenn ich es selber denken würde. Genauso erscheint es mir wichtiger, was ich über meine Nachbarin denke, als wenn ich es umweglos über mich selbst denken würde. Ich finde es durchaus nicht sonderbar, daß ich über mich selbst wie über eine andere denken kann. Ich habe mir über die anderen immer Gedanken gemacht, deswegen kann ich mir auch über meine Nachbarin, die ich selber bin, Gedanken machen. Allerdings muß ich zugeben, daß ich mir über mich selbst niemals so viele Gedanken gemacht habe wie jetzt. Woher das wohl kommt, daß ich über mich auf einmal wie über eine neutrale Person nachdenke? Irgendwie habe ich mich von mir selbst befreit, und ich bin mir jetzt auf eine andere Art wichtig als vorher. Denke ich. 260
Meine Nachbarin kommt zu einem Messestand, der aussieht, als habe man einen Knoten in eine Stahlplatte gemacht. Als sie jünger war, hätte sie dazu gesagt, das können wir auch. Geht sie nur einmal an dem Stand vorbei, passiert nichts. Merken ihre Mitarbeiter, daß sie ihre Schritte öfter zu dem Stand lenkt, werden sie dasselbe tun und jede, auch die nebensächlichste ihrer Bemerkungen darüber speichern. Verbreitet sie sich anerkennend über den Stand, werden die Mitarbeiter nicht das Haar in der Suppe suchen, äußert sie sich abfällig, werden sie den Stand gleichfalls bekritteln. Sie kommen in Schwierigkeiten, falls meine Nachbarin etwas von sich gibt, was sie nicht einordnen können. Dann werden sie nicht nur keine Fragen stellen, sie werden überhaupt versuchen, das Thema zu vermeiden, weil es für sie Unsicherheit bedeutet. Erkundigt sich meine Nachbarin ohne weiteren Kommentar nach dem Architekten des Messestands, werden sie ihr eine Aktennotiz vorlegen, mit einer Schätzung, was der Architekt für den Messestand verlangt hat, und mit einem Vergleich, was die Designabteilung des Konzerns verrechnen würde. Natürlich kann man in eine Stahlplatte keinen Knoten machen. Der Korpus des Messestands wird von Stahlträgern aufgespannt, die mit dünnen Blechen verkleidet sind. Habe ich, ohne daß ich es bemerkt hätte, die Gedanken von mir selbst abgewandt und mich, indem ich mich meiner Nachbarin zuwandte, mit jemandem beschäftigt, der weniger mit mir zu tun hat, als ich glaubte? Aber ich habe den unwiderlegbaren Eindruck, daß ich mich mehr um mich kümmern will, als ich es vorher wollte. Bin ich wirklich aus meiner Haut gefahren, um mich selbst zu besichtigen, oder hat vielleicht das Leben eine Milla außerhalb ihrer selbst gezeichnet? 261
Meine Gedanken und die Gedanken meiner Nachbarin halten einen ziemlichen Abstand voneinander. Das finde ich gut, soweit ich sehe, findet das auch meine Nachbarin gut. Wir sind uns völlig einig, unser beider Gedanken sollten keinen zu vertrauten Umgang miteinander pflegen. Unsere Gedanken sollten sich gegeneinander nicht alles erlauben. Es ist für uns beide besser, daß sie sich den Respekt voreinander erhalten, dann können wir uns, jede für sich, besser in die ihr gemäße Richtung entwickeln. Ich habe das Gefühl, der Körper meiner Nachbarin ist müde und träge und ihr Geist ist ganz eng mit ihrem Körper verbunden. Meine Nachbarin meint gerade einmal wieder, daß nichts die Mühe wirklich lohnt. Das Leben kommt ihr wie ein großes Masturbieren vor, mit dem man einfach nicht aufhören kann. Die Leute suchen nur nach Alibis, das Warum, das sie finden, ist niemals authentisch. Man kann sich nur ablenken, indem man einfach lebt. An dieser Stelle frage ich meine Nachbarin, ob sie denn nicht mit dem zufrieden ist, was sie erreicht hat? Meine Nachbarin antwortet mir, daß sie sich das niemals fragt. Sie macht einfach weiter. Ich frage meine Nachbarin doch, ob es denn gar nichts gibt, wovon sie denkt, daß sie es noch tun muß. Ihre Antwort zeigt, wie verschieden unsere Gedanken sind und wie gut es ist, daß sie Abstand voneinander halten: Trotz allem gefällt ihr ihre Tätigkeit, sie kann Möglichkeiten verwirklichen, die sie früher nur denken konnte. Behandle die anderen wie dich selbst. Eine durchaus vernünftige Maxime, aber der Umgang mit einem selbst fällt nicht leicht. Hielten die Leute mehr Abstand von sich selbst, sie würden sich auch gegenüber anderen ganz anders verhalten, sie hätten vor anderen mehr Respekt. Wie ich mich so betrachte – betrachte ich mich wirklich selbst, oder besichtige ich vielleicht nur eine Erinnerung 262
an meine Person? Aber diese Trennung würde sich nicht aufrechterhalten lassen, wäre ich nicht tatsächlich aus meiner Haut gefahren. Sonst gäbe es auch keinen Grund, warum sie nicht ich sein sollte und ich nicht sie. Dann wäre es viel naheliegender, daß die Erinnerung an meine Person von mir nichts übriglassen würde oder daß ich von der Erinnerung meiner Person nichts übriglassen würde. Wenn es uns zwei gibt, meine Nachbarin und mich, dann kann es uns beide nur geben, weil ich das will. Obwohl es gar nicht so einfach ist, auch mich kostet es ja eine Überwindung, gehen Sie mal neben sich selbst her! Meine Nachbarin und ich, wir haben unsere Gedanken ausgetauscht, ohne uns dabei anzusprechen. Diese Klippe haben wir sorgfältig umschifft. Natürlich ist die Kommunikation eine andere, als wenn man nicht auseinander hervorgegangen ist. Trotzdem bin ich der Meinung, wir sollten uns direkt ansprechen. Es ist mir gleich, ob ich meine Nachbarin anrede oder ob sie mich anredet, ob die Gedanken meiner Nachbarin mich anreden oder meine Gedanken meine Nachbarin, ob sich hier sozusagen Komplexe von Gedanken anreden oder ausgereifte Persönlichkeiten. Für diesen Umgang bietet sich zuerst das Du an, nachdem schon die eine aus der anderen hervorgegangen ist, aber da das alles eine Sache der freien Entscheidung darstellt, sollte man auch die Vorteile abwägen, die ein Umgang per Sie bietet. In Frankreich reden heute noch in manchen Familien die Kinder die Eltern mit Sie an, und in dem riesengroßen traditionsreichen Konzern, in dem meine Nachbarin Bereichsvorstand ist, bleibt man grundsätzlich beim Sie, von der Lehrzeit bis zur Pensionierung. Ich finde jedenfalls, es ist ein sehr schönes Bild, wenn sich Gedanken siezen. Gedanken werden oft zu schnell miteinander vertraut. Was noch nicht heißt, daß sie in die 263
gleiche Richtung gehen müssen, im Gegenteil, auch Feindschaften zwischen Gedanken können etwas ungeheuer Vertrautes haben. Wahrscheinlich wären viele Gedanken klarer und manche Argumentationen wirkungsvoller, würden die Gedanken immer nur per Sie miteinander verkehren. Eine Auseinandersetzung, die per Sie geführt wird, ist einfach respektvoller, sachlicher, wogegen das Du viel eher zum Streit verleitet, aber nicht zum edlen Wettstreit, sondern zur Streiterei, zur Kleinlichkeit. Gedanken können nur auf der Du-Ebene miteinander zanken. Andererseits kann aber das Sie dazu führen, daß manche Gedanken aus Rücksicht nicht mitgeteilt oder aus vorauseilender Schamhaftigkeit gar nicht erst gedacht werden. Das Sie mag schöner sein, aber das Du ist kreativer. Deswegen nimmt es auch den Streit in Kauf. Außerdem sind wir nicht beide beim Konzern angestellt. Ich stehe ja in keiner sonstigen Beziehung zum Konzern, ich bin kein Kunde, ich bin kein Lieferant, und Beraterin bin ich auch keine. Probieren wir es doch einmal mit dem Du. Wie gefällt dir dein Messestand? frage ich dich. Der Stand ist nach dem Vorbild eines afrikanischen Dorfes gestaltet. Folgt man der Linie der weißen Steine, kommt man an jeder Hütte, an jedem Platz, an jedem Turm genau einmal vorbei, auf allen anderen Wegen, das haben die Mathematiker ausgerechnet, verpaßt man ein Ausstellungsstück oder begegnet ihm zweimal. Die Objekte, die hier gezeigt werden, stellen allerdings weder Götter noch Sterbliche dar. Es sind Schaltgeräte, Leistungsschalter, Überlastrelais. Und die neuen 264
Sanftstarter, im großen Turm zu besichtigen, weil sie Abmessungen haben, die sie zu den kleinsten ihrer Art auf dem Markt machen. Die Hybridtechnik der Sanftstarter stellt sicher, daß keine hohen Verlustleistungen auftreten, nach erfolgtem Motorhochlauf werden die Leistungshalbleiter mit einem integrierten Bypass-Schütz überbrückt. Die Vitrinen mit den Sanftstartern sind verspiegelt, man erkennt, daß an der Unterseite der Starter einschnappbare Lüfter angebracht werden können, die eine hohe Schalthäufigkeit der Geräte und einen Betrieb in beliebiger Einbaulage ermöglichen. Du sagst, du bist mit dem Messestand von D’Wolf zufrieden. Du bist die Erfinderin von Totally Integrated Automation. Vor drei Jahren hast du das Baby auf die Welt gebracht, heute ist es erwachsen. Quantensprünge werden schnell erwachsen. Totally Integrated Automation steht für Durchgängigkeit bei der Projektierung und Programmierung, bei der Datenhaltung sowie bei der Kommunikation für alle beteiligten Komponenten eines Automatisierungsverbands. Totally Integrated Automation vereinfacht die Planung und Inbetriebnahme von Automatisierungsanlagen außerordentlich. Mit Totally Integrated Automation kommt der Anwender für jede Komponente schneller zu leistungsfähigen Lösungen, er ist unabhängig vom Hersteller, und er kann verschiedene Systemtechniken wie SPS, PC oder SPS im PC miteinander verknüpfen. Bei komplexen Automatisierungsprojekten konnten die Anwender mit Totally Integrated Automation bis zu fünfzig Prozent der Engineering-Kosten einsparen, das bedeutete eine Verringerung der Gesamtkosten bis zu fünfundzwanzig Prozent. Ob Leitsystem, ob PC, ob SPS, Antriebe oder Peripherie, kein Produkt kommt mehr ohne diese 265
Eigenschaft aus, wenn es auf dem Markt eine Rolle spielen soll. Dabei nehmen Anzahl und Vielfalt der Komponenten, die zu Totally Integrated Automation gehören, ständig zu. Sämtliche drehzahlveränderbaren Antriebe sind mittlerweile Bestandteile von Totally Integrated Automation. Früher spiegelte die Bedieneroberfläche der Software die Struktur des Fertigungssystems wider, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Komponenten wurden lediglich als eine Art Dekoration abgebildet. Vor alten Anlagen fragt man sich heute, wie es möglich war, die verschiedenartigen und nicht aufeinander abgestimmten Komponenten zusammenzuspannen und wie diese Anlagen überhaupt laufen. Du hast mit Totally Integrated Automation eine neue Sprache eingeführt. Totally Integrated Automation hat die Grenzen zwischen Automatisierungs- und Antriebstechnik genauso wie diejenigen zwischen Fertigungs- und Verfahrenstechnik aufgehoben. Die Benutzeroberfläche hat sich die früher unabhängigen technischen Komponenten unterworfen. Totally Integrated Automation ermöglicht, daß ein Fertigungssystem sich selbst ausdrücken kann, in diesem Sinne ist Totally Integrated Automation tatsächlich eine Art klassisches Projekt. Während wir beide brav den weißen Steinen durch dein Dorf folgen, erzählst du, daß in den letzten Jahren das Marketing eine ungeheure Macht bekommen hat. Das Marketing entscheidet, nicht die Entwicklung, nicht die Konstruktion, nicht die Produktion, nicht die Logistik und nicht einmal die Finanzen. Es verkauft sich, oder es verkauft sich nicht. Du entwarfst eine Marketing-Konzeption, gingst damit zu deinem Vorgesetzten, der fand sie in Ordnung. Dann 266
kam erst der Vorgesetzte deines Vorgesetzten zu dir, und darauf dessen Vorgesetzter. Eines Tages gab es in dem gesamten Bereich keinen Vorgesetzten mehr, der noch zu dir kommen konnte. Du hast den Erfolg nicht gesucht, hast einfach nur deinen Job gemacht. Du hast deinen Platz gefunden. Aber du glaubst, man sollte einmal ganz anders anfangen. Du denkst gar nicht an Silicon Valley und an Garagen-Firmen, du weißt, die Mechanismen dort unterscheiden sich nicht wirklich von denjenigen im Konzern. Sie wollen auch nur D’Wolf werden. Nachdem sie es geworden sind, werden die Turnschuhe ausgezogen oder sie werden extra nicht ausgezogen. Man müßte auf ganz andere Art und Weise Produkte entwickeln. Das Ziel müßte nicht der Erfolg der Industrie sein, so fängt es an, deswegen kannst du so nicht anfangen, das Ziel müßte sein, den Menschen Möglichkeiten aufzuzeigen, ihnen Vorschläge zu machen. Du stellst dir vor, daß es da Welten von Produkten gibt, die auch produziert werden könnten und auf die niemand kommt … Du fragst dich, warum sagst du nicht Ich, du kannst doch Ich sagen, du brauchst nicht meinen Mund, du kannst doch selbst reden. Ich habe den Eindruck, es ist dir sehr lieb, daß wir uns anreden. Du erlebst, daß sich Gefühle und Empfindungen besser beschreiben lassen und vor allem, daß sie sich besser entfalten, wenn sie dir gewissermaßen unterschoben werden von mir, die ich ja nun keine Fremde bin, sondern aus dir hervorgegangen. Du bist zwar aus deiner Haut gefahren, aber du hast sie nicht leer zurückgelassen, du bist und bleibst das, was du immer warst. Aber die Tatsache, daß ich aus dir entstanden bin, stattet mich natürlich mit einer besonderen Kenntnis aus. Vielleicht war es Taktik, daß du aus deiner Haut gefahren bist, um mich in die Position zu bringen, dich jetzt das empfinden und erfühlen zu lassen, was du aus 267
irgendeinem Grund vorher nicht erfühlen, empfinden konntest. Als du dir zum ersten Mal überlegt hast, wie es wäre, aus deiner Haut zu fahren und dann neben dir selbst zu stehen, hast du geglaubt, das könne nur der Anfang sein und es würde nötig werden, daß du und diejenige, die aus deiner Haut gefahren ist, daß wir beide uns zunächst einmal in ganz entgegengesetzte Richtungen bewegen und so weit voneinander entfernen müßten, bis wir uns gar nicht mehr sehen würden. Vielleicht auch Reisen machen, die eine hierhin, die andere dorthin, am besten auf zwei verschiedene Kontinente. Aber dann haben wir darauf verzichtet, einen größeren räumlichen oder zeitlichen Abstand zwischen das Aus-der-Haut-fahren und die Wiederbegegnung zu legen. Du fühlst dich verschlafen, damit hast du nicht gerechnet. Du hast gedacht, wenn du aus deiner Haut gefahren bist, müßtest du dich fühlen wie nach einem Workout, aber nicht, als ob du gerade geschlafen hättest oder jetzt unbedingt schlafen müßtest. Deine Gliedmaßen kommen dir schwammig vor, dabei müßten sie sich doch eigentlich eher wie Hüllen anfühlen, schlaff vielleicht, aber nicht aufgedunsen. Du spürst jede Bewegung. Du horchst in dich hinein und bemerkst eine Leere, die dir beweist, daß du doch aus deiner Haut gefahren bist. Vielleicht kommt dieses Schwammigkeitsgefühl ja daher, daß du weniger Knochen hast als vorher. Es kann doch nicht folgenlos sein, daß du aus deiner Haut gefahren bist, das konntest du nicht erwarten. Irgend etwas muß fehlen! Die Welt ist dir immer so groß vorgekommen, aber seit du aus deiner Haut gefahren bist, hast du auf einmal den Eindruck, die Welt ist nur ein Zimmer. Wie bringt man eine Ausstellungsfläche von 30000 m2 in einem Zimmer 268
unter? Die Dächer der Messehalle sehen übrigens aus wie Meereswellen. Was hat Hannover mit dem Meer zu schaffen? Dein erster Termin auf der Messe war ein Fernsehauftritt mit einem Soziologen. Da war die Welt wirklich ein Zimmer, und du warst ganz allein in der Welt. Der Soziologe hatte viele Bücher verfaßt, schrieb im Feuilleton einer großen Tageszeitung, war Berater für die bedeutende wissenschaftliche Reihe des nach eigenen Angaben bedeutendsten literarischen Verlags in Deutschland. Er hatte keine Ahnung, welchem Bereich du vorstehst, und er konnte sich unter deinen Produkten nicht das geringste vorstellen. Du verkörpertest den Kostenmythos, du wußtest gar nicht, wie du dazu kamst, darunter verstand der Soziologe eine ansteckende Krankheit, die in der Überzeugung besteht, daß nur eine radikale Senkung der Arbeitslöhne aus dem Jammertal der Arbeitslosigkeit herausführt. Er unterstellte dir, daß du es nicht als Problem empfändest, wenn Menschen, die tagsüber für sieben Mark pro Stunde arbeiten, nachts in Pappkartons schlafen. Dabei hattest du nur gesagt, daß es in den USA immer mehr Arbeitsplätze gibt, während es in Europa immer weniger werden. Der Soziologe wußte ganz genau, was Wirtschaftswachstum bedeutet, nämlich nicht mehr den Abbau von Arbeitslosigkeit, sondern den Abbau von Arbeitsplätzen, weil immer weniger gut ausgebildete, global austauschbare Menschen immer mehr Leistungen erbringen können. Deine Gewinnspannen wachsen nur dadurch, daß du dem Staat Arbeitsplätze und Steuerleistungen entziehst und die Kosten der Arbeitslosigkeit anderen aufbürdest. Du löst den Wertekern der Arbeitsgesellschaft auf, du zerbrichst ein historisches Bündnis zwischen Kapitalismus, Sozialstaat und Demokratie! Erwerbsarbeit, so die Empörungsmaschine, begründet stets nicht nur die private, 269
sondern auch die politische Existenz. Es geht gar nicht mehr um die Millionen von Arbeitslosen, um den Sozialstaat, um die Verhinderung von Armut, um Gerechtigkeit, es geht um uns alle … Du hast eingewendet, die Statistiken, die die Maschine zitiert hat, stimmen nicht, in den USA entstehen nicht nur schlechtbezahlte Jobs, aber die Maschine pflügte darüber hinweg. Du hast vorgebracht, in den USA habe jeder die Chance, zum Beispiel eine Software-Firma zu gründen und innerhalb von ein paar Wochen Millionär zu werden oder innerhalb von ein paar Jahren Milliardär. In den USA wird die Ungleichheit akzeptiert, weil jedermann glaubt, er schafft es, und wenn nicht er selbst, dann in Person seiner Kinder. Mir kannst du ruhig zugeben, daß du über die Konsequenzen deines Menschenbilds noch gar nicht nachgedacht hast! Ausgerechnet die US-Amerikaner sollen allesamt Musilsche Möglichkeitsmenschen sein – was habe ich davon, wenn die Wirklichkeit beschließt, es in meinem Fall bei der Möglichkeit zu belassen? Selbst wenn meine Kinder reich werden – wir beide haben keine Kinder, und wir kriegen auch keine mehr –, welchen Unterschied macht es für mich, wenn ich arm sterbe? Nach der Aufzeichnung hattest du den Eindruck, völlig untergegangen zu sein. Sonst bringst du es immer fertig, ganz egal, welche Fragen dir gestellt werden, deine Produkte und deinen Bereich in den Vordergrund zu schieben. Diesmal hast du es nicht einmal versucht. Irgendwie hast du alles so formuliert, daß es unglaublich bourgeois klang, dabei war es doch so progressiv gemeint. Du ärgerst dich immer noch über deine Begriffsstutzigkeit. Die Empörungsmaschine hat das Messestudio mit frisch gestärktem Selbstbewußtsein verlassen, sicherlich fragt sie sich jetzt, warum sie nur Universitätsprofessor ist und du 270
Bereichsvorstand, vielleicht wird sich die Empörungsmaschine jetzt um Industriekontakte bemühen, in dem sicheren Bewußtsein, der Industrie etwas geben zu können. Viele fühlen sich zu vielem berufen, das kennst du von den Beratern, einmal hat der Deutschlandchef der Firm höchstpersönlich eine Studie überwacht, die du in Auftrag gegeben hattest. Du durftest ihn von Anfang an Hermann nennen. Er übersetzte in seiner Freizeit Shakespeare, weil er angeblich nicht mehr als drei Stunden Schlaf pro Nacht brauchte. Er konnte es nicht verstehen, daß man ihn nicht anrief und zum Vorstandssprecher von Daimler machte, das vertraute er dir tatsächlich an. Du hast die strategische Beratung der Firm nicht mehr in Anspruch genommen, nachdem du beim Friseur in einer Illustrierten gelesen hattest, daß er bei seiner Scheidung die Hälfte seines Vermögens abgeben mußte, weil er mit seiner Frau keine Gütertrennung vereinbart hatte. Mit deinem Gesicht kann keine mithalten. Was für ein Blick ist das? Keine andere hat diesen Augenausdruck. Man denkt, du blickst immer in die Ferne, aber man ahnt zugleich, dir entgeht keine Regung deines Gegenüber. Um dich und an dir ist nichts von dieser Hetze, in die alle anderen eingehüllt sind wie in einen unerklärlichen Nebel. Im Büro gehst du manchmal zum Fenster, nimmst die Arme ganz weit hoch und lehnst dich minutenlang so an die Scheibe. Mußt du über ein eiliges Problem nachdenken, legst du dich mit dem Rücken auf das Sofa, stützt den Kopf auf den Ellbogen ab und streckst die Beine von dir. Und gibst Anweisung, keine Besucher vorzulassen und keine Anrufe durchzustellen. Bei der Arbeit rauchst du niemals. Die Leute ahnen nicht, daß du im Sommer oft, nur mit dem Slip bekleidet, auf die Terrasse deiner Wohnung am Englischen Garten 271
gehst und dort rauchst. Du hockst auf den Fersen, streichst deine langen braunen Haare zurück und bläst den Rauch durch das Geländer. Manchmal legst du dich auch auf den Boden. Du hast das Gefühl, wenn du mit dem Rücken auf dem Boden liegst, ziehen die Wolken schneller. Dann folgst du ihnen mit deinem Blick, und du kannst besonders gut nachdenken. Du brauchst kein Makeup. Die meisten Leute kommen gar nicht darauf, daß du lediglich einen hellen Lippenstift benutzt. Diejenigen, die es vermuten, sind sich niemals sicher, sie überlegen hin und her, hat sie sich geschminkt oder nicht, und wie sie rätseln, können sie sich nicht wehren gegen deinen Blick, der sie nicht ansieht, aber auch nichts anderes. Du redest nie schnell und nie laut. Läuft eine Besprechung gut, sagst du immer weniger und sprichst immer leiser. Du besitzt nur ein Schmuckstück, einen Goldring mit einem zentimetergroßen würfelförmigen Aufsatz und einem flachen Jadestein, die Jade schimmert geheimnisvoll. Du ziehst den Ring ab und nimmst ihn von einer Hand in die andere, dabei blickst du in eine ganz andere Richtung als in die desjenigen, der gerade spricht. Deine Mitarbeiter wissen, es ist ein gutes Zeichen, wenn du mit deinem Ring spielst. Man sagt dir oft, du seist so kreativ. Das hörst du gar nicht gern! Du sagst, Kreativität ist ein Begriff, der von den Werbeleuten erfunden wurde, um Geschäft zu machen. Die Industrie produziert und muß verkaufen. Die Leute müssen davon überzeugt werden, daß sie mit den Produkten der Industrie ein besseres Leben führen. Natürlich hat Totally Integrated Automation das Leben in den Fabriken erleichtert, aber bis vor drei Jahren ging es auch ohne. Das System, um die Leute zu überzeugen, ist 272
die Werbung, und im Grunde genommen besteht die Werbung darin, die Leute zu betrügen. Da kannst du richtig wütend werden. Wieso kreativ? fragst du, ich bin eine Idiotin! Du weißt nur, das verkauft sich, das verkauft sich nicht. Das heißt nicht, daß du etwas über die Zukunft weißt. Die Zukunft ist nur eine Interpretation, sagst du. Du verdienst viel Geld, mehr, als du jemals gedacht hättest. Aber dir liegt nichts daran. Du gibst ziemlich viel für das Essen aus, weil du immer ins Restaurant gehst, in deinem Kühlschrank ist wirklich nur Orangensaft. Dich interessieren Autos nicht, du hast keine große Wohnung, dein Geld hast du einfach auf der Bank. Du würdest gerne Bilder sammeln, aber dafür fehlt dir die Zeit, schließlich kannst du nicht einfach in die nächstbeste Galerie gehen und dort ein paar Bilder kaufen, erst müßtest du in sehr viele Galerien gehen und sehr viele Ausstellungen ansehen. Aber du überlegst, ob du dir nicht eine Hasselblad kaufen und versuchen sollst, anspruchsvolle Fotografien zu machen. Du hast keine Kinder, du willst keine Kinder. Du könntest nicht sagen, warum. Du bist Mitte Vierzig, so wie alle anderen auch, aber deine beiden Stellvertreter sind Mitte Zwanzig. Eine klasse PR für den Konzern, unser Führungspersonal ist jünger als das der Turnschuhfirmen! Deine Stellvertreterin hat sogar schon einmal Model gespielt, man hat ihr die Augen ganz schwarz geschminkt, die Haare standen wirr nach allen Seiten weg, und sie preßte die neuesten Schaltgeräte gegen ihren Busen. Dazwischen war allerdings noch ein schwarzer Rollkragenpullover. Alle fanden das Foto gut. Technische Firmen sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren! Weil Giovanna und Marco in diesem Alter schon stellvertretende Bereichsvorstände sind, haben sie 273
natürlich glänzende Zukunftsaussichten, sie bekommen ständig Anrufe von Headhuntern. Du wirst dir wieder Stellvertreter aussuchen, die genauso jung sind wie sie. Die Welt ist ein Zimmer für dich. Du bist Bereichsvorstand, aber du weißt ganz genau, daß du keine Kandidatin für den Zentralvorstand bist. Mit deinem Bereich bist du Umsatzmilliardärin und Marktführerin, wohin könntest du gehen? Der Zentralvorstand redet dir nicht in deine Geschäfte hinein, in einer kleineren Firma müßtest du Dinge tun, die du im Konzern schon lange nicht mehr tun mußt. Seit ich dich beobachte, neigst du ein wenig zu Ausschweifungen, zu Gedanken und Betrachtungen, die du dir früher nicht erlaubt hättest. Ich weiß nicht, ob du erwartest, daß ich dich bremse. Das will ich nicht. Ich bin die Zuschauerin, die Zuhörerin, die dir vorher gefehlt hat, und vielleicht erlaubst du dir diese Ausschweifungen gar nicht, sondern genießt sie? Du denkst viel über den Tod nach. Ich weiß das, niemand anderer weiß es. Du hast keine Angst zu sterben, das ist es nicht, aber dir drängt sich immer stärker ins Bewußtsein, wie provisorisch unsere Existenz ist. Seit du Vorstand geworden bist, hebst du alle Bilanzen auf, zu Hause in deinem Bücherregal. Auch wenn es während des Jahres drunter und drüber geht, am Ende des Jahres legst du immer eine ordentliche Bilanz vor. Aber du hast auch erkannt, daß das nichts nützt. Du mußt an Babylon und Ninive denken, von denen nicht ein Stein übriggeblieben ist. Ergebnis macht frei, dein Ausspruch ist ein geflügeltes Wort geworden. Dein Bereich ist immer unter den ertragsstärksten. Du bist so frei! Deine Pensionierung ist unendlich weit weg, du wirst noch zwanzig Jahre arbeiten. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie es ist, nicht jeden 274
Tag ins Büro zu gehen? Du hoffst, daß du bei der Arbeit sterben wirst. Ist Dir eigentlich klar, daß du damit hoffst, daß du früh sterben wirst? Frechheit! Wie kommt diese Firma in mein Zimmer! Du überschlägst die Anteile an den verschiedenen Märkten, auf denen D’Wolf und Voigtländer Wettbewerber sind. Ihr Messestand dürfte nicht einmal halb so groß sein wie deiner! Aber er ist genauso groß. Die Vitrinen und Ausstellungsgegenstände sind mit am Boden und an der Decke verankerten, straff gespannten Stahlseilen und Kunststoffschnüren befestigt. Alles auf diesem Messestand scheint zu schweben. Die Muster und die Displayelemente fliegen aufeinander zu, weichen einander aus, gleiten aneinander vorbei und kommen auf den Besucher zu. Man denkt für einen Augenblick, man befindet sich in einer Gespenstergeschichte, in der alle sonst leblosen Dinge beseelt sind und ein Eigenleben führen. Gerade beginnt die Vorführung auf der Bildschirmwand, niemand achtet auf dich, wie du dich unter die Zuschauer mischst. Das Video beginnt mit einer Fahrt durch eine Fertigungshalle. Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, was in dieser Fabrik produziert wird. Die Fabrik ist lichtdurchflutet, die neuen Böden glänzen. Genau wie in deinen Werken sind die beweglichen Teile orangefarben angestrichen, Wege, Treppen und Leitern blau, Absperrungen, die das Betreten von bestimmten Fertigungsinseln verhindern, sind gelb markiert. Übrigens hängen in dieser Fabrik sehr viele Uhren. In der riesigen Halle gibt es keine Brandschutzmauern, wenn du genau hinsiehst, kannst du die Auslässe der Sprinkleranlage erkennen. Die Bilder der hellen, sauberen, menschenleeren 275
Fabrik wechseln sich ab mit alten Schwarzweißbildern von dunklen Fabrikhallen mit blinden Fenstern und Hunderten von Frauen in Kitteln und Männern mit Mützen, alle haben die gleiche Frisur, alle hocken auf Stühlen, alle montieren etwas, man sieht nicht, was. Danach werden virtuelle Gebäude gezeigt, Computeranimationen, zum Beispiel ein geheimnisvoller Bau mit vier roten Türmen, die einen Flachbau bewachen, auf den eckigen Türmen sind spitze goldene Kegel angebracht, der Flachbau und die Türme haben keine Fenster, die goldenen Kegel leuchten von innen heraus. Ein anderes Gebäude hat verglaste Arkaden, durch die man jedoch nicht hindurchsehen kann. Ein weiteres Gebäude ist aus einzelnen Quadern zusammengefügt, die sich um einen gelben Turm gruppieren. Der Turm hat keinen Eingang, aus einer Wand tritt eine Frau. Sie ist ganz anders als du, sie ist extravagant. Sie hat volle, dunkelrote Lippen, die großen grauen Pupillen passen zu dem großen roten Mund. Die Augen sind schwarz umrandet, das kann die Pupillen nicht größer machen. Sie muß das gleiche Alter haben wie du, aber in einer anderen Einstellung siehst du, daß sie die Beine eines ganz jungen Mädchens hat. Ihre Schultern sind breit und gerade. Beim Sprechen neigt sie den Kopf nach vorne. Als sie nach unten blickt, bemerkst du, daß ihre Lider grau geschminkt sind, genau im Ton ihrer Pupillen. Ihre Stimme ist tiefer, als man zu dem Gesicht und der Figur vermuten würde. Sie hat mittellange, dunkelbraune Haare, ihre Haut ist fast weiß. Wie sie dich aus der Bildschirmwand heraus ansieht, kannst du dich ihr nicht entziehen. Sie wirkt unglaublich selbstbewußt, du bewunderst sie grenzenlos! Du möchtest sie nackt sehen – du würdest gerne wissen, ob ihre Brustwarzen rot sind oder ob sie mit der weißen Haut verschwimmen. Warum 276
interessiert dich das eigentlich? Die Frau ist seit einem Jahr Vorstandssprecherin von Voigtländer. Früher kam immer die Inhaberin zu dir auf den Messestand, eine große Frau, ruhig wie du, die Frau aus dem Video begleitete sie. Die Inhaberin leidet am chronischen Müdigkeitssyndrom, und es ist keine Besserung in Sicht, die Sprecherin hat das alleinige Kommando. Jetzt wird die Sprecherin interviewt. Sie wird gefragt, warum sie sich fragen läßt. Sie antwortet, daß sie früher selbst Interviews gemacht hat. Das kann nicht sein, sie war schließlich keine Journalistin. Du mußt etwas falsch verstanden haben. Dann erzählt sie etwas von einem Blackout, und auf einmal ist die Bildwand dunkel. Du wendest dich nicht ab, es geht auch tatsächlich weiter. Auf der Bildwand erscheint ein quadratisches Mosaik aus quadratischen Steinen mit roten, gelben, schwarzen, hell- und dunkelblauen Dreiecken und Schlangenlinien, es sieht ein bißchen so aus wie die Architektur, die vorhin gezeigt wurde. Es geht immer noch um den Blackout und darum, daß man auch im Falle eines Blackouts kommunizieren muß. Dann wird die Sprecherin zu ihrer Karriere befragt. Ein etwas seltsames Video, denkst du, aber andererseits ist sie eine so attraktive Frau, da macht es durchaus Sinn, wenn sie nicht nur über ihre Produkte, sondern auch über sich selbst spricht. Sie erklärt, alle Schritte ihrer Karriere seien jeweils Antworten auf bestimmte persönliche und kulturelle Situationen gewesen, jeder Punkt ihrer Karriere war mit einer ganz präzisen Formel verbunden, die einem bestimmten Gedanken entsprach, und ihre Karriere bestand darin, diese Gedanken und diese Formeln durchzusetzen. Noch in dem Augenblick, in dem sie das sagt, erscheint auf der Bildwand eine Strichzeichnung, es ist ganz deutlich ihre Frisur, ihre Nase, es sind ihre Augen, 277
sie ist als Harlekin verkleidet. Nur einzelne Farbfelder des Harlekinkostüms sind bemalt. Dann wird eine Lagerhalle eingeblendet. Der Harlekin sagt dazu, seine Produkte, die in Regalen mit gläsernen Böden und gläsernen Rückwänden untergebracht sind, dienen wie alle Technik guten und schlechten Zwecken. Dann spricht er von der Macht der Projektanten und davon, daß es nicht einfach ist, als Hersteller Ideen durchzusetzen, an die man glaubt. Macht hat zwei Gesichter. Man kann Macht dazu benutzen, moralisch wertvolle Ziele zu verfolgen, in der Hoffnung, daß die entsprechenden Werte von den anderen akzeptiert werden, aber natürlich drückt sich die Macht auch in einem bestimmten Jargon aus, der nur dazu dient, sie zu erhalten. Christine, manche sagen, du führst deine Firma diktatorisch … Du hast gar nicht mitbekommen, daß der Interviewer vom Sie zum Du gewechselt hat. Jetzt erfaßt die Kamera sie von oben, sie sitzt auf einer Treppe, in der rechten Hand hält sie ein Glas, sie stützt den rechten Ellbogen auf den rechten Oberschenkel, der linke Unterarm liegt auf den Knien, und sie sagt, das fragst du mich? Ich denke nicht. Ich weiß es nicht. Ich kann dir darauf nicht antworten. Der Interviewer redet dann etwas von ihrem Einfluß auf die Branche, der über ihre Marktanteile hinausgehe. Sie erwidert, sie mag keine starken Worte. Sie macht ihren Job. Sie nimmt einen Schluck aus dem Glas, blickt mit großen Augen hoch und sagt, das Wort Diktator paßt gar nicht zu mir. In der Branche heißt es, du hättest das Ansehen der Branche beschädigt. Jetzt hörst und siehst du sehr gespannt zu, für eine Promotion stellt der Interviewer erstaunliche Fragen. Sie sagt, es kann schon sein, daß sie der Branche Schaden zugefügt hat, aber die Branche interessiert sie nicht, sie interessiert nur die Beziehung zwischen ihr und ihren Kunden. Die Kunden haben ein Recht darauf, daß sie 278
genau die Produkte anbietet, die die Kunden haben wollen. Schließlich ist sie keine Hohepriesterin von Produkten, die die Branche schon seit grauer Vorzeit herstellt. Sie habe nichts anderes gesagt, als daß CIM, die durchgängige computerintegrierte Fertigung, ein Irrweg sei, daß ein einziger Computer nicht eine ganze Fertigung steuern könne, daß die Komponenten dezentral geregelt werden müßten und daß sich die Fertigung bis zu einem gewissen Grad selber steuern müsse. CIM sei zu aufwendig und zu teuer gewesen, es fehlten die Standards, die unterschiedlichen Systeme waren nicht durchgängig, jede Implementierung von CIM erforderte eine neue Integrationsleistung, das führte zu starren Lösungen und trieb die Kosten in die Höhe. Die Entwicklung habe ihr recht gegeben, seit der Profibus als Standard eingeführt wurde, würden immer mehr intelligente Sensoren, Aktoren, Schaltgeräte und Antriebe angeboten. Die Bildwand zeigt ein Mosaik aus hell- und dunkelblauen, violetten und grauen Steinen, sie sind zu farblich einheitlichen größeren Quadraten angeordnet, jedoch diffundieren jeweils ein paar dunklere Steine in das nächste hellere Farbfeld hinein. Dann wird der Kopf der Sprecherin elektronisch verfremdet. Auf einmal trägt sie eine altmodische Brille mit einem schwarzen Gestell und fast runden Gläsern. Das rechte Brillenglas und das rechte Auge sind jetzt in einem orangefarbenen Kreis, der das Auge vergrößert, hinter dem Kreis erscheint wieder die Fertigungshalle, die schon vorher zu sehen war. Das Bild der Fertigungshalle und das Gesicht überlagern sich gegenseitig. Diesmal ist die Halle mit einem Fischauge aufgenommen. Unter dem Kopf der Sprecherin tauchen Schaltschränke auf, Niederspannungsschaltgeräte bewegen sich zu dem orangefarben markierten Auge hin, Schalter 279
für höhere Stromstärken schweben über dem Kopf. Du denkst an ein Heiligenbild, dessen Augen dem Betrachter überallhin folgen. Die Frau mit der weißen Haut spricht jetzt, ohne den Mund zu bewegen. Sie sagt, daß ihr die Kunst, Labyrinthe und Wälder gefallen. Du weißt nicht, was das mit ihren Produkten zu tun haben soll. Der Interviewer scheint sich das Gleiche zu denken, jedenfalls fragt er sie, was Automation für sie wirklich bedeutet. Sie antwortet, Automation sei ein relatives Faktum und man müsse darüber auch mit Ironie sprechen. Allein aus der Rhetorik ergebe sich noch keine gute Automatisierungskonzeption, aber auch nicht aus Forschungsprogrammen der Universitäten oder aus dem Minimalismus der Praxis. Wenn es überhaupt eine Diktatur gebe, dann sei es die Diktatur des Minimalismus. Aber tatsächlich seien die Aufgaben der Praxis barock. Die Sprecherin von Voigtländer fasziniert dich, weil sie so völlig anders ist als du selbst. Du hättest geantwortet, für dich bedeutet Automation die Entwicklung offener verteilter Anlagenkonzepte, bei denen Teilaufgaben auf unterschiedlichen Plattformen wie SPS, PC oder Antrieben reibungslos zusammenarbeiten, du hättest die Verschiebung von der Hard- zur Software herausgestellt, daß Client-Server-Modelle als Organisationskonzept auf dem Vormarsch sind, du hättest über die Standards wie OPC, COM oder DCOM gesprochen … Sie spricht von New Age. Als der Denkweise, die eine Verbindung zwischen verschiedenen Maschinenkulturen herstellen könne. Die individuellen Sensibilitäten der Anlagekomponenten würden erkannt und berücksichtigt, ihre spezifischen Möglichkeiten besser ausgenützt, so daß der Verbund mehr leisten könne. New Age stehe auch für etwas Archaisches, daß die Fertigungsaufgabe nicht mehr aufgeteilt, sondern vom Endergebnis her betrachtet werde, 280
daß sie als Einheit aufgefaßt werde. New Age bedeute die Entwicklung einer anderen Wahrnehmung und des Bewußtseins, daß es unmöglich ist, Fakten vorherzusehen. Ihr Kopf und die Fertigungshalle lösen sich auf. Sie steht auf der Straße, vor einer Mauer mit einem schwarzen Schaukasten voller Schwarzweißbilder, Autos mit französischen Kennzeichen fahren vorbei. Sie hat ein kurzes schwarzes Kleid an und trägt eine schwarze Sonnenbrille mit riesengroßen quadratischen Gläsern. Sie sagt, es bereitet ihr große Schwierigkeiten, sich vorzustellen, wie ihre eigene Zukunft aussehen wird. Allerdings glaubt sie, daß sie eine bestimmte fundamentale Stabilität besitzt. Die Persönlichkeit verändert sich, aber die entscheidenden Worte sind immer nur drei oder vier, und alles spielt sich um diese Schlüsselworte herum ab. Sie sei immer eine Projektmanagerin gewesen, deswegen mußte sie dazu kommen, auch das Leben als Projekt zu sehen. Sie würde gerne malen, um ihre Gefühle auszudrücken. Sie würde nur figurativ malen, die Art von Poesie und von Gefühlen, die sie vermitteln möchte, könnte sie nicht abstrakt ausdrücken. Sie sagt, sie hat an so vielen Fronten gearbeitet, mit ungeheurer Energie, dabei hat sie viel Energie verloren. Sie möchte die Welt gerne auf irgendeine Weise kleiner machen, sie zusammendrücken, vielleicht auf ein mal zwei Meter. – Kommt dir das nicht bekannt vor? Das Bild der Sprecherin verschwindet, auf der Bildwand erscheint erst ein gezeichneter Turm, dann ein zentralsymmetrisches Mosaik in Braun, Orange, Grau und Weiß, es hat die Form eines Doppelkreuzes. Danach wird ein großes rundes Bild aus zwei konzentrischen Kreisen gezeigt, mit Dreiecken und Rosetten im äußeren Kreis, von den schwarzen Punkten in der Mitte gehen rote, violette und grüne Zungen weg, Vs und Ts, schließlich Us 281
und andere, sanskritartige Symbole bilden den inneren Kreis. Ein weiteres, ebenfalls rundes Bild hat eine stilisierte Figur als Mittelpunkt, mit sehr breiten Schultern, der Kopf ist zur Seite geneigt, mit schmalen, unglaublich biegsamen Armen und ebensolchen Beinen, darum herum ein violetter, ein gelber, ein grüner Kreis, Schlangenmuster, Herzen, Flammen und Schmetterlingsflügel. Andere Bilder sind asymmetrisch, aber bestimmte Muster wie züngelnde Flammen, stilisierte Blätter, angedeutete Blüten, Abdrücke von Mündern und bestimmte Buchstaben kehren immer wieder. Die Bilder sind nicht computergeneriert, sondern mit der Hand gemalt. Während die Bilder gezeigt werden, jedes Bild ist sekundenlang zu sehen, erklärt die Sprecherin, daß sie einen Mikrochip unter der Haut hat, der alles für sie regelt. Wenn sie in die Firma fährt, geht die Schranke automatisch hoch, verläßt sie das Auto, verriegelt es sich automatisch. Wenn sie ihr Büro betritt, geht das Licht an und der Computer schaltet sich ein. Natürlich fühlt sie sich wie ein Roboter, deswegen muß sie sich ihrer Gefühle versichern, deswegen würde sie so gerne malen. Der Interviewer fragt sie, ob sie optimistisch oder pessimistisch ist. Sie sagt, sie ist lange pessimistisch gewesen. Aber an einem bestimmten Punkt hat sie sich entschlossen, optimistisch zu sein. Du fragst dich, an welchem? – Dann wird ein Büro gezeigt, das kann nicht ihr Büro sein. Das Fenster ist zwanzig Meter breit und zehn Meter hoch, man sieht die Skyline einer nordamerikanischen Stadt. Übergangslos passiert sie eine mittelalterliche Brücke in einer modernen Stadt, in der es jedoch keine Hochhäuser gibt, über dem Fluß fliegen viele kleine Flugzeuge. Die nächste Einstellung entdeckt sie auf einer Fußgängerbrücke, die zwei neogotische Hochhäuser 282
verbindet, die Brücke führt über eine Straße mit Dutzenden von Fahrspuren. Sie steht auf der kuppelartigen Spitze eines Hochhauses, sie läuft auf einer anderen Fußgängerbrücke, die zwei riesige Wohnkomplexe verbindet, auf deren verschiedenen Ebenen wachsen mächtige Bäume. Sie arbeitet an einem Montageband, sie wartet eine moderne Fertigungslinie, sie sitzt im Cockpit einer Magnetschwebebahn, man sieht sie in einer hochgelegenen Etage eines Hochhauses, dessen Spitze gerade explodiert, sie macht Konversation mit einem Vielzweckroboter, sie sitzt in einem Büro, wie du es noch nie gesehen hast: Die Arbeitsplätze sind wie auf Balkons an der Innenwand eines Zylinders angeordnet. Sie manipuliert einen Vielzweckroboter, sie betritt ein kreisförmiges Büro mit einem kreisförmigen Schreibtisch, aus dem ein Bildschirm gewissermaßen herauswächst. Die Frau mit der weißen Haut nimmt an einer Sitzung teil, die in einer Höhle stattfindet, sie ist die einzige Frau, die Männer haben alle schulterlange Haare und Bärte. Sie bereitet sich in einem Space shuttle auf den Start vor, sie fliegt in einem Hubschrauber über eine Stadt, in der es keine einzelnen Häuser mehr gibt, die Stadt ist ein einziges riesiges Haus, die Fenster sind durch unendlich viele Lichtpunkte angedeutet. Sie spricht zu einer Menschenansammlung in einem Raum mit lauter großen Röhren an der Decke. In der nächsten Einstellung hat sie blond gefärbte Haare, sie wird in der U-Bahn von Männern in grauen Anzügen angegriffen, nur ein Mann in einer Lederjacke hilft ihr, von irgendwoher zischt ein Dampfstrahl über den Boden. Sie entsteigt in einem Bergwerk einem Elektrowagen, in dem Bergwerk arbeiten nur Frauen. Sie sitzt am Steuerpult im Überwachungsraum eines Hochhauses, sie geht an einem riesigen verschneiten Christbaum vorbei, sie blickt von einer Bohrinsel auf das 283
Meer hinaus, die Wellen scheinen von allen Seiten auf die Plattform zuzulaufen. Dann sitzt sie angeschnallt auf einem Pilotenstuhl in einer Kapsel, die gerade geschlossen wird. Die Stimme aus dem Off sagt, daß sie in eine Zeitmaschine eingestiegen ist. Die Kapsel öffnet sich in einer Stadt, in der es keinen rollenden Verkehr mehr gibt, zwischen den Häusern schweben unendlich viele große und kleine Gleiter. Sie steigt wieder in die Zeitmaschine ein … Und sitzt dir auf deinem Messestand gegenüber. Ihr Anblick berührt dich wie eine kühle Hand auf deiner Stirn. Solange du dem Video zusahst, war dein Kopf irgendwie eingepackt, jetzt, wo du sie in Fleisch und Blut vor dir hast, wird er ausgewickelt. Je länger du sie anblickst, desto mehr klart alles um dich herum auf. Es gibt keine langen Vorreden, wenn es sie gibt, hörst du ihnen nicht zu. Sie möchte ein Joint venture für einen Global Breaker mit dir gründen, als Aufgalopp sollt ihr zusammen den SkyDome in Toronto umrüsten. Der SkyDome ist das erste und einzige Stadion in der Welt mit einem voll verschiebbaren Dach. In den Wintermonaten bleibt das Dach immer geschlossen, von Mai bis Oktober wird es je nach Witterung geöffnet. Das Spielfeld ist so groß, daß darauf acht Jumbo jets bequem geparkt werden könnten. Drei verfahrbare Panels auf insgesamt sechsundsiebzig schienengeführten Fahrgestellen werden über eine Strecke von fünfzig beziehungsweise hundert Metern teleskopartig ineinandergeschoben. Das vordere Panel wird auf einer Kreisbahn um hundertachtzig Grad gedreht und schiebt sich in den freien Raum zwischen dem kleinen stationären Panel am Ende des Stadions und den beiden anderen beweglichen Panels. Die längsfahrenden Panels 284
überspannen zweihundert Meter von einer Seitenwand zur anderen. Wegen der Gleichlaufabweichungen der Fahrgestelle auf den schmalen Wänden können die Panels nur nacheinander bewegt werden. Darüber hinaus erzwingt die Statik des Sky-Dome, daß das Panel bei einer Abweichung von mehr als fünfzig Millimetern jäh stoppt, was zu hohen Erschütterungen führt. Es dauert über zwanzig Minuten, bis der Deckel auf dem Dom sitzt, das ist den Betreibern zu lange. Das Dachsystem soll modernisiert werden, das Öffnen und Schließen des Daches mit einer präziseren Steuerung der Panelbewegung beschleunigt werden, ohne die Sicherheit der Menschen im Stadion zu gefährden. Die maximale Schließzeit soll nicht mehr als sieben Minuten betragen. Du bist überrascht, daß Voigtländer den Auftrag für die Umrüstung des SkyDome bekommen hat, du hattest überlegt, bei der Ausschreibung mitzumachen, aber deine kanadische Landesgesellschaft hat dir abgeraten, ein europäischer Bieter würde den Auftrag niemals bekommen. Der Vorschlag zu dem Joint venture trifft dich völlig unvorbereitet, du weißt überhaupt nicht, wie du darüber denken sollst. Du möchtest der Sprecherin von Voigtländer keine falschen Signale geben. Du fragst sie, ob sie wirklich einen Mikrochip unter der Haut eingepflanzt hat. Sie lacht und sagt dann, daß sie nicht einmal ein Handy hat. Du sagst ungläubig: Wie bitte? Aber sie bekräftigt, Handys sind wirklich das Letzte, sie würde sich blöd vorkommen, wenn sie eins hätte, man wird durch ein Handy kontrolliert, das mag sie nicht. Sie braucht ihre Freiheit! Dann erzählt sie dir, daß sie am liebsten in der 285
Badewanne liegt, natürlich ganz alleine, wenn ihr Freund nicht zu Hause ist. Sie knipst das Licht aus und hört Musik in der Badewanne. Sie ist gerne im Dunkeln und träumt vor sich hin, sie braucht das, auf diese Weise schaltet sie die Außenwelt ab. Du sagst mit einem spöttischen Unterton, das hättest du nicht geglaubt, nachdem du ihr Video auf ihrem Messestand gesehen hast. Sie sagt, manchmal sei es nicht einfach, im Rampenlicht zu stehen, und daß es überhaupt sehr mühevoll gewesen sei, das Video zu machen. Sie mußte mit wahnsinnig vielen Leuten sprechen, aus der Werbeagentur, mit dem Regisseur, den Kameraleuten und den Beleuchtern, aus dem Studio für die Special effects. Sie erinnert sich besonders an den ersten Tag, sie habe ihren Freund angerufen, der habe sie einfach abgeholt, das sei ihre letzte Rettung gewesen. Aber sie sagt auch, daß so etwas selten vorkomme, eigentlich mag sie es nicht, wenn ihr Freund bei ihrer Arbeit dabei ist. Sie verschränkt die Arme über dem Bauch, unmittelbar unter ihren Brüsten, das macht ihre Brüste größer, und sie blickt nicht dich an, sondern nach oben, als ob sie gerade von einem Visagisten geschminkt würde. Sicherlich hat sie einmal gesehen, wie du auf diese Weise die Arme unter den Brüsten verschränkt hast, aber woher weiß sie, daß du oft am Wochenende stundenlang im Dunkeln in der Badewanne sitzt und Musik hörst? Zu jedem Gedanken, den du hast, hat sie einen Gedanken, der, ganz wie sie es benötigt, leichter, schwerer oder gleich schwer ist wie dein Gedanke. Sie kann jeden deiner Gedanken aufwiegen, so daß euer beider Gedanken in einer vollkommenen Schwebe bleiben. Die Möglichkeit eines solchen Gleichgewichts zwischen zwei Menschen beeindruckt dich über die Maßen. Du willst dieses Gleichgewicht testen und fragst sie ganz 286
direkt, wie ihr Freund mit ihrer Arbeit zurechtkommt, mit ihrer Verantwortung und so weiter. Sie sagt, am Anfang war ihm ihr Beruf nicht ganz geheuer, er hatte Angst um sie, daß man ihr weh tun würde, aber er weiß auch, daß sie auf sich aufpassen kann, sie hat sowieso viel Glück gehabt mit ihrem Freund. Er steht für sie an erster Stelle, er ist der einzige Mensch, den sie wirklich braucht, wenn alles schiefgeht, kann sie jederzeit mit ihm Zusammensein, dann ist trotzdem alles wie vorher. Sie sagt, sie sei nicht berechnend, sie sei zurückhaltender, als sie aussehe. Sie mag unkomplizierte Menschen, keine perfekten Menschen, Menschen, die ihre Gefühle zeigen können, sie kann Menschen nicht leiden, die ihre Gefühle nicht zeigen können. Woher weiß sie, daß du deine Gefühle zeigen kannst? – Sie sagt, sie mag Menschen nicht, die ihr dauernd Komplimente machen. Komplimente vergißt sie sofort, aber sie merkt sich Kritik. An Kritik kann sie sich immer erinnern. Berechtigte Kritik nimmt sie sich zu Herzen. Es ist so schwierig, Menschen zu finden, mit denen sie sich versteht, sie ist soviel unterwegs. Jetzt bist du erst recht ratlos. Du hast das Gefühl, daß sie Macht über dich hat. Sie kann wählen, ob sie dir als Lichtgestalt auf der Bildwand entgegentritt oder in Fleisch und Blut hier auf deinem Messestand. Sie will dir etwas verheimlichen, das spürst du ganz genau. Du hast keine Ahnung, um was es sich handeln könnte. Du möchtest keine Rätsel um dich, du willst nicht mit Rätseln verhandeln, und du willst mit Rätseln keine Joint ventures gründen, aber du kannst dich nicht wehren. Du fragst sie, ob es einmal einen Punkt gab, an dem sie zurückwollte. Eigentlich weißt du selber nicht so richtig, wie du das gemeint hast. Dennoch hat sie verstanden, sie 287
sagt ganz locker, zum Glück nicht, sie mag ihren Beruf. Ehrlich gesagt, früher hat sie nie gewußt, was eine Managerin machen muß, sie hat sich sogar ein bißchen geschämt, weil sie so gar nichts wußte. Dann hat sie schnell begriffen, was die Leute von ihr verlangten, und das macht sie einfach. Wenn ich mich jetzt nicht einmische, stellst du ihr immer weitere Fragen über ihr Privatleben. Das ist unprofessionell, hörst du! Du brauchst ja nichts zu dem Joint venture zu sagen. Aber du mußt sie jetzt nach dem SkyDome fragen, sonst verlernst du deinen Beruf noch ganz! Die Panels werden von Starkstrom-Hochleistungsantrieben mit zweiundsiebzig Motoren bewegt, die insgesamt siebenhundertsechzig PS haben. Die Motoren müssen über Profibus-D P und AS-Interface laufend miteinander kommunizieren, damit die Antriebe bei Problemen sofort auf Leerlauf schalten können. Es darf keine jähen Stops mehr geben, die Panels sollen sanft und erschütterungsfrei zum Stehen kommen, die Bediener müssen jederzeit über den genauen Stand der Panelbewegung und insbesondere über die Positionen der Fahrgestelle im Bild sein. Du schlägst vor, Sensoren in den Seitenwänden und an den beweglichen Teilen zu installieren, die witterungsbedingte Gebäudebewegungen und Schwankungen aufgrund der Fahrbewegungen messen, Stine nickt zustimmend. Wegaufnehmer an den Fahrgestellen und intelligente Positionierbaugruppen in den Steuerungen sollten für eine präzise Gleichlaufkorrektur der Antriebe sorgen. Als Leitund Visualisierungssystem schlägst du ein SCADA-Paket mit WinCC vor, das auch die gesamte Datenhaltung der Anlage übernehmen soll. Du hältst schon wieder den Zeitpunkt für gekommen, sie etwas Persönliches zu fragen. Woher sie ihre Selbstsicherheit nimmt. Sie schaltet 288
sanft und erschütterungsfrei vom Sky-Dome auf sich selbst um. Sie glaubt nicht, daß sie extrem selbstsicher ist, eher würde sie sagen, sie fühlt sich wohl in ihrer Haut. Du sagst, das ist kein Wunder bei ihrem Erfolg. Was willst du denn damit ausdrücken? Ihre Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen, der Erfolg vergeht auch einmal, man kann nicht ein ganzes Leben lang nur erfolgreich sein, es muß auch andere Dinge geben, auf die man sich stützen kann. Du würdest gerne wissen, auf welche Dinge man sich stützen kann, wenn der Erfolg nicht mehr da ist, aber es kommt nicht zu einem Gespräch über diese Dinge. Sie fühlt sich so wohl in ihrer Haut, daß auch Auftritte wie in dem Video für sie kein Problem sind. Sie macht fast alles, wenn sie nicht vulgär sein muß und ihre Intimität bewahren kann. Sie würde niemals alles von sich zeigen. Das Video sei eine bewußte Entscheidung gewesen, und außerdem sei es ja von Leuten gemacht, die etwas von ihrem Geschäft verstehen. Sie fügt lächelnd hinzu, sie glaubt nicht, daß sie unglücklich sein wird, wenn sie mit achtzig diese Bilder von sich anschauen wird. Geld interessiert sie nicht. Sie hat eine Kreditkarte, das genügt ihr. Sie kauft nie so viel ein, daß sie ihr Kartenlimit überzieht. Es ist genau wie mit dem Handy, eigentlich braucht sie das Geld nicht. Aber dann sagt sie auch, daß sie das, was sie jetzt sagt, nicht sagen sollte, denn natürlich helfe Geld, Träume zu verwirklichen … Auf einmal ist sie geschäftig und gedankenlos. Sie stochert mit dem rechten Zeigefinger auf der Glasplatte des Tisches herum wie auf einem Kleincomputer, der nur mit einem Zahnstocher zu bedienen ist. Sie müssen sich irren, ich habe nicht über meine Träume gesprochen! Ich habe mit jemand anderem über meine Träume gesprochen, aber nicht mit Ihnen. Ich würde überhaupt nie mit 289
jemandem über meine Träume sprechen, auch nicht mit jemand anderem. Wenn jemand anderer statt Ihrer zu mir kommen sollte, dem würde ich erst recht nichts über meine Träume erzählen! Da muß etwas Anderweitiges passiert sein, Sie müssen es verwechseln. Du denkst, nein, nichts Anderweitiges, es ist nicht deine Art, Träume mit etwas anderem zu verwechseln. Du weißt, was ein Traum ist und was keiner ist. Du weißt auch, welche Scherereien es auslöst, über seine Träume zu sprechen, deswegen hast du dich ja gewundert, daß sie über ihre Träume gesprochen hat. Über Träume kann man nicht einfach hinweggehen, Träume sind etwas Endgültiges. Jedenfalls glaubt sie nach wie vor nicht im geringsten, daß sie dir von ihren Träumen erzählt hat, sie wüßte gar nicht wozu, warum, es liegt ihr so fern, dir von ihren Träumen zu erzählen. Natürlich will sie dir nicht unterschieben, daß du die Unwahrheit sprichst, nichts liege ihr ferner. Vielleicht hat irgend jemand anderer dir seine Träume erzählt, wie sonst kämst du auf die Behauptung, sie hätte dir ihre Träume erzählt. Es handelt sich gar nicht um sie, sondern um jemand ganz anderen. Sie hält es für ausgeschlossen, für völlig unmöglich, daß sie anderen Leuten ihre Träume erzählt. Ihre Träume sind für andere Leute nicht immer nur behaglich, ihre Träume sind für andere Leute unbequem, sie kann von anderen nicht verlangen, dergleichen auf sich zu nehmen. Ihre Träume sind kompliziert, o ja, soviel kann sie verraten, sehr kompliziert. Falls sie den Beschluß fassen würde, jemandem ihre Träume zu erzählen, dann würde das für sie zermürbende Vorbereitungsarbeiten bedeuten. Sie hat schon selbst Angst davor, sich im Einzelheitengestrüpp zu verheddern. Sie hat Besseres zu tun und viel zuwenig Zeit dazu, ihre Träume zu erzählen. Jetzt stochert sie auch in der Luft herum, versehentlich 290
oder absichtlich neben der Tastatur. Ihrer Meinung nach geht irgend jemand herum und erzählt, daß sie diese und jene Träume hat. Vielleicht hat jemand anderer dir seine Träume erzählt, zu einem Zeitpunkt, als du glaubtest, daß du dich mit ihr treffen würdest, und dann hast du dich gar nicht mit ihr getroffen, sondern mit jemand anderem, und der hat dir seine Träume erzählt. Das kann doch leicht sein, hier auf der Messe. Irgendwer anderer hat diese Träume. Das wäre nicht einmal ein Zufall, weil auch sonst hier auf der Messe die Leute ständig ihre Träume erzählen … Dieser Gedankenfluß paßt doch gar nicht zu ihr, so hat sie vorher nicht gesprochen, weder in dem Video noch, seit sie dir gegenübersitzt, und so würde sie auch nicht denken. Das sind nicht ihre Träume, das sind alles nur deine Träume! Du hättest zu gerne gehört, daß sie eine Familie haben will und ein Zuhause, daß sie Kinder haben und welche adoptieren will. Eine gänzlich unkorrekte Unterschiebung. Du hättest auch gerne gehört, daß sie noch einen anderen Traum hat, aber über den sagt sie nur soviel, daß sie ihn nicht verrät. Und: Den Traum kann man nicht mit Geld kaufen. – Sie hat ihren Freund, in wen sollte sie sich sonst verlieben wollen … Das war die beste Möglichkeit und zugleich die einzige. Sie wird nie wieder über ihre Träume reden, ihr werdet nie wieder über deine Träume reden. Sie spricht schon lange wieder vom SkyDome. Daß die Dachsteuerung auch die neuntausend Glühbirnen und die siebenhundertsechsundsiebzig Flutlichtstrahler sowie die Klimatisierung regeln soll, der SkyDome hat übrigens den Stromverbrauch einer Stadt von etwa fünfzigtausend Einwohnern. Die begehbaren Schaltschränke sind in mitfahrenden Containern zwischen den Panels untergebracht, alle Strom- und Signalleitungen werden über riesige Kabeltrommeln mitgeführt. Du mußt ihr jetzt 291
sagen, daß sich die Gleichlaufpräzision deiner neuen Steuerungen hervorragend bewährt hat. Daß es überhaupt keine Notstops mehr geben wird. Mit deiner neuen Steuerung kannst du alle Anforderungen an die Dachbeziehungsweise Klimatisierungs- und Beleuchtungsfunktionen nicht nur zuverlässiger, sondern auch schneller erfüllen. Aber deine Gedanken fliegen wie Papierfetzchen hoch und flattern herum. Du siehst ihnen ungläubig zu, wie sie darauf warten, von dir benannt zu werden, ehe sie sich wieder absetzen. Es wäre schön, wenn sie sich in Zitronenfalter verwandeln würden, die sich zu Schwärmen ordnen. Manche Gedanken sind Gelegenheiten, manche Absichten, manche Meinungen, manche schweigen und bleiben Geheimnisse, einige Gedanken wenden sich dir zu, andere kehren sich von dir ab. Sind deine Gedanken immer schon wie unbeschriftete Zettel um dich herum geflogen, und du siehst das erst, seit du aus deiner Haut gefahren bist? Und ich habe deine Wahrnehmung darauf gelenkt, wie disparat deine Gedanken in Wirklichkeit sind? Kurzfristig überlegst du, ob es etwas nützt, deine Gedanken anzublaffen. Sie werden aufflattern, aber nicht wie Zitronenfalter, die Unordnung wird nur noch größer werden. Du siehst auch, daß du keine großen Gedanken hast, keine ungeheuren Gedanken, nur unfertige Gedanken. Es sind ja nicht einmal Blätter, geschweige denn ganze Akten. Papierfetzchen als Gedanken sind doch eine ehrverletzende Angelegenheit, werden diese Gedanken vernichtet und vertilgt, ist das eigentlich ein Gnadenakt, eine Art generelle Amnestie. Jemand erbarmt sich total. Du wendest dich von mir ab, willst dich von mir entfernen. 292
Du hättest nicht geglaubt, daß ich soviel denken würde, nachdem ich aus deiner Haut gefahren bin. Am Anfang hat es dir gefallen, aber jetzt wird es anstrengend. Wenn ich noch mehr denke, könnte es sein, daß du deinen Pflichten nicht mehr nachkommen kannst. Der Konzern denkt nicht. Die im Konzern denken auch nicht, deswegen denke ich. Denke ich. Mittlerweile sprecht ihr über das Joint venture, du zeigst dich interessiert. Die Entscheidung kannst du nicht alleine treffen, der Zentralvorstand muß das Projekt genehmigen. Das weiße Rätsel mit den grauen Augen strahlt vor Freude ob dieser Auskunft, und dann redest du es mit Stine an und es dich mit Milla. Du bestehst darauf, daß man während der Vorüberlegungen engsten Kontakt hält, damit kein Gedanke verlorengeht. Stine schlägt vor, sofort eine Arbeitsgruppe zu gründen, du wirst Giovanna und Marco zu ihr schicken. Ich für meinen Teil werde jetzt deinem Wunsch entsprechen und mich von dir entfernen. Da die Welt ein Zimmer ist, kann ich nicht einfach aus dem Zimmer herausgehen. Aber hier auf der Messe findet sich bestimmt ein Stand, auf dem ich mich verstecken kann. Du wirst mich nicht mehr sehen, trotzdem wirst du wissen, daß ich da bin. In dem Zimmer, das die Welt ist.
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Das Fleisch im Auge des Maklers (Cool killer II) Keine Ahnung, wie lange ich schon vor dem Laden stehe. Die Fensterrahmen sind so morsch, daß man die Scheiben mit den Fingern rauspulen kann, an der Wetterseite ist nicht nur keine Farbe, sondern auch kein Putz mehr dran. Soviel regnet es hier gar nicht, aber das Dorf liegt am tiefsten Punkt des Tals und hat nur im Sommer Sonne. Das Haus war eigentlich ein Wohnhaus, es ist zum Geschäftshaus umgebaut worden, weil daneben die einzige Fußgängerbrücke über den Bach führt. Zentrale, verkehrsgünstige Lage. Was sie so lange da drin machen, die beiden von D’Wolf mit Dobroschke, weiß ich nicht. Ich bin nicht mit reingegangen, ich kaue meine Mentos lieber draußen. Um das Haus kann es nicht gehen, so blöd ist Dobroschke nicht, daß er ihnen den Keller und den Dachboden zeigt, wahrscheinlich erörtert er ihnen seine Geschäftskonzeption. Da muß ich nicht unbedingt zuhören. Ich verkaufe ihnen nur die Läden. Ich habe ja schon viel erlebt, aber das ist der Höhepunkt. Heute kann man jeden killen, wenn man ihm die richtige Immobilie anhängt. In diesem Sinne bin ich ein Auftragskiller, ich muß schließlich auch leben. Aktien kann man schnell wieder loswerden und den Verlust begrenzen, aber versuchen Sie das mal mit einer Immobilie! Ich verstehe noch, wenn die Leute auf Hochglanzprospekte reinfallen, auf das, was ihnen die Bankfritzen oder die Drücker erzählen, Traumrendite, Sonderabschreibung und so. Das macht wenigstens was her. Obwohl der Absatz von dem Zeug schwer eingebrochen ist, weil die Fonds fast alle pleite gehen. Im Augenblick gibt es zu viele alternde Film294
und Fernsehstars mit Krähenfüßen und Hängetitten, die in der Zeitung jammern, daß sie ihr ganzes Vermögen verloren haben, eine Million Mark in den Sand gesetzt, man denkt doch, daß die mehr bekommen für den Schrott, den sie abliefern müssen. Das hier, das ist der absolute Höhepunkt, ich hätte nie gedacht, daß es klappt, aber Egin hat gesagt, versuchen wir’s einfach mal. Dieser Dobroschke schmeißt immer die Betriebsfeste bei der Trendelenburg, dann kommt er mit seiner Frau und mit seiner dicken Tochter und mit seinem noch dickeren Sohn, und sie grillen, was das Zeug hält. Die Würste sind unglaublich fett, aber sie schmecken unheimlich gut. Er hat eine Wurstfabrik. Ein altes Haus, in dem auch mal ein Laden drin war, da werden die Viecher geschlachtet und verwurstet. Er macht das mit einer sogenannten Kooperative, war natürlich früher eine LPG. In dem Haus, vor dem ich stehe, war übrigens ein HO drin. Er ist der Geschäftsführer der Kooperative, die anderen habe ich nie kennengelernt, ich weiß nur eins: Er bescheißt sie alle gnadenlos. Dobroschke hat der Trendelenburg schon länger den Floh ins Ohr gesetzt, daß er eine Ladenkette aufmachen will. Die Wurst soll die Leute anlocken, und wenn die Leute schon mal wegen der Wurst im Geschäft stehen, kaufen sie auch andere Sachen. Er stellt sich das landesweit vor, neubundeslandweit. Das Wurstgeschäft, das er in seinem Ort hat, ist tatsächlich überlaufen, die Leute prügeln sich fast um die Wurst. Ich hasse Fett, eigentlich esse ich am liebsten gar kein Fleisch, aber seine Wurst schmeckt mir trotzdem, ist eben keine Industriewurst. Er sucht Finanziers für die Immobilien, dann pachtet er die Läden an und will neben der Miete noch eine Umsatzprovision zahlen. Mir ist schleierhaft, wie das funktionieren soll. Hier hat man vor jedem größeren Ort einen Super295
markt auf die grüne Wiese gesetzt. In den kleinen Läden hat er keine Auswahl, und mit den Preisen der Großen kann er nicht mithalten. Bei den Handelsriesen ist doch alles bis auf den Pfennig genau kalkuliert, und hinterher sind die Renditen minimal. Man muß direkt bei den Herstellern kaufen, nicht im Großhandel, und logischerweise kriegt man nur gute Konditionen, wenn man riesige Mengen ordert. Als die Trendelenburg mich wegen des Firmengeländes für das Joint venture mit den beiden von D’Wolf herübergeschickt hat, ist ihr die Geschichte wieder eingefallen, ich sollte den beiden Dobroschke mal vorstellen. Sie heißen übrigens Giovanna und Marco. Ich glaube es immer noch nicht, aber sie sind Feuer und Flamme, sie meinen echt, sie haben eine Marktlücke entdeckt! Dobroschke ist zu großer Form aufgelaufen. Sie wollen wirklich das ganze Land mit ihren Läden überziehen. Natürlich habe ich angeboten, ihnen überall die Ladenlokale zu besorgen. In den Großstädten wollen sie in 1a-Lagen gehen. Wo die viele Wurst herkommen soll, weiß ich nicht. Wenn sie in dem Häuschen von Dobroschke weiterproduzieren, schmeckt die Wurst zwar gut, aber es ist zu wenig Wurst. Wenn sie eine richtige Fabrik bauen, haben sie zwar genug Wurst, nur schmeckt die dann wie woanders auch, und der Witz ist weg. Ist aber nicht mein Problem. So was von einer Powerfrau wie Giovanna habe ich noch nie gesehen. Wir übernachten nur in Hotels, die Fitnessräume haben. Sie braucht Stair master, LifecycleFahrrad, Brett und Stufen für Step aerobic. In einem Hotel mußten sie extra Gewichte für sie besorgen. Einmal bin ich mit ihr in den Fitnessraum gegangen. Sie ließ sich schon am Abend vorher den Schlüssel geben, um fünf Uhr früh war keiner auch nur in der Nähe des Fitnessraums. Sie hat dunkelblonde Haare und eine ziemlich große Nase, 296
aber etwas schmale Lippen. Ihre Beine sind phänomenal, aber man muß auf kräftige Beine stehen. Sie jammert darüber, daß sie keine Taille hat, alles kann man eben nicht haben. Sie wiegt dreiundsechzig Kilo bei eins dreiundsiebzig, irgendwie wirkt sie größer, ihr Anteil Bodyfat liegt bei zwölf Prozent. Das ist sehr niedrig, man kann nur hundert Pfund wiegen, aber dreißig Prozent Bodyfat haben, dann fühlt man sich an wie Pudding. Eine Zeitlang habe ich sogar Kniebeugen gegen meinen Bauch gemacht, sie erklärte mir, daß Fett nur verschwindet, indem man Kalorien verbrennt, und daß sich Muskeln nur bilden, indem man gegen Widerstand arbeitet. Sie zeigte mir ein paar Übungen am Brett, aber das habe ich keine zehn Minuten ausgehalten, ich wurde hochrot im Gesicht, und der Schweiß lief mir nur so runter. Sie sagte, ich hätte überhaupt keine Kondition, da hat sie völlig recht. Das würde allerdings auch jemand checken, der sich nicht so auskennt in diesen Dingen. Dann habe ich zugesehen, wie sie mit den Gewichten arbeitete. Und ich habe sie erzählen lassen, so wie ich meine Kunden immer erzählen lasse. Schlank sein genügt nicht, auf das Toning kommt es an. Der Körper muß durchgearbeitet sein, an den entscheidenden Stellen wie den Schultern oder den Schenkeln müssen die richtigen Muskeln herausgearbeitet sein. Bodybuilding verabscheut sie, nie würde sie irgendwelche Medikamente nehmen oder gar dopen, es geht ja um die Gesundheit. Sport senkt Krankheitsrisiken. Wer fit ist, leistet mehr. Erst habe ich gedacht, eine Fünfundzwanzigjährige als Stellvertretender Bereichsvorstand, wie soll das gehen, nachdem ich sie gesehen hatte, war mir klar, daß sie mit ihrer Power wirklich alle anderen aus dem Feld schlägt. Zu Hause hat sie ein Laufband, am Wochenende geht sie Bergsteigen, 297
im Urlaub macht sie Strandläufe. Fühlt sie sich besonders gut in Form, trägt sie beim Step aerobic eine Weste mit Gewichten. Natürlich trinkt sie überhaupt nichts, ein Glas Sekt am Geburtstag, ein Glas Sekt zu Sylvester, nie Wein oder Bier. Das sind völlig überflüssige Kalorien, wer gerne trinkt, muß auf was anderes verzichten. Sie möchte anderen Leuten Wurst verkaufen, aber sie selbst ißt kein Fleisch, sie hat eine richtige Phobie vor Fett. Sie sagt, ohne richtige Ernährung nützt das ganze Fitnessprogramm nichts. Sie will ihren Job noch ziemlich lange machen, und der ist anstrengend. Was sie tut, um sich fit zu halten, ist meiner Ansicht nach viel anstrengender. Am liebsten mag sie Fisch, gut, daß es in dem Hotel gestern ein SushiRestaurant gab, da hat sie richtig reingehauen. Ansonsten ißt sie vorzugsweise Nudeln. Schokolade haßt sie. Richtig dick bin ich gar nicht, aber ich glaube, sie würde kotzen, wenn sie mich anlangen müßte. Sie hatte eine graue Hose an, die aussah wie eine Herrenunterhose, und ein enges weißes Top. Mich hat es übrigens herzlich wenig gestört, daß ihre Taille nicht so toll ist, ich habe mehr auf die Titten geguckt. Als sie dann endlich auch schwitzte, konnte ich ihre Brustwarzen sehen. Es wirkte so, als ob auch in ihren Titten Muskeln wären, das kann natürlich nicht sein. Im übrigen diente die hohe Hose dazu, die fehlende Taille zu camouflieren. Das Zeug, das sie durchschwitzt, sucht sie wahrscheinlich mit dem gleichen Einsatz aus, mit dem sie ihre Übungen absolviert. Je mehr sie schwitzte, desto geiler fand ich sie. Ich habe mich dann auf das Fahrrad gesetzt und ein bißchen getreten, um mich abzulenken, natürlich bin ich gleich wieder böse ins Keuchen gekommen. Schließlich fiel mir nichts besseres ein, als sie nach ihrem Freund zu fragen, aber da ist sie ausgewichen, und zwar so, daß ich wirklich nicht weiß, ob sie einen hat. Vielleicht steht sie mehr auf 298
Frauen. Als ich da so auf meinem Fahrrad saß und strampelte, mußte ich an meine Frau denken. Ich meine, im Bett funktioniert immer noch alles ganz gut, da kann ich mich nicht beschweren, aber irgendwie geht sie mir in letzter Zeit auf den Wecker. Sie will ständig ausgehen. Im Restaurant braucht sie ewig, bis sie sich was ausgesucht hat, und dann fragt sie so blöd nach. Sie möchte sich mit den Bedienungen unterhalten, aber die Bedienungen möchten sich nicht mit ihr unterhalten. Sind die Bohnen nicht so warm wie das Fleisch oder ist das Fleisch mehr durch, als sie wollte, wird sie ziemlich unangenehm. Neulich hat sie in einem französischen Restaurant den Koch kommen lassen, der mußte ihr ein Rezept aufschreiben. Sie versuchte, mit dem Koch zu flirten, der ging zu allem Überfluß darauf ein, ich fand seine Späße eher peinlich, wahrscheinlich kam er sonst nie aus der Küche raus. Ich muß immer an die schweißnassen Titten denken, war ja wohl Absicht. Hätte sie gewollt, daß man die Titten nicht sieht, hätte sie sich was schwarzes Dickes anziehen können oder einen Sport-BH drunter. Geilomat. Giovanna erzählte mir auch, daß es jetzt Fitnesstrainer und trainerinnen gibt, die bei Bedarf ins Haus kommen, ich habe überlegt, ob ich meiner Frau nicht so einen spendieren soll. Vielleicht läßt sie mich nach dem Training eher in Ruhe, dann kann ich besser aus dem Fenster gucken. Oder sie wird noch anstrengender. Aber sie wird sofort sagen, ich bin dir wohl nicht mehr recht. Oder, ich bin nicht so jung wie das Flittchen, mit dem du schläfst, sie meint meine Assistentin in Magdeburg, dabei habe ich mit der gar nichts. Ich war meiner Frau überhaupt noch nie untreu. Manchmal hätte ich schon Lust dazu, aber mich nimmt ja 299
keine, so wie ich aussehe, und zu Nutten möchte ich nicht gehen, das kann ich mir irgendwie nicht vorstellen, das ist sicher ekelhaft und unappetitlich. So was wie Giovanna, darauf würde ich fliegen. Sie ist irgendwie so sauber. Da kann man überall hinfassen. Auch als sie schwitzte, roch sie überhaupt nicht. Natürlich ging sie danach sofort unter die Dusche und anschließend noch schwimmen. Ich bin ebenfalls geschwommen. Sie sah übrigens auch mit ganz nassen Haaren ganz gut aus. Ich bin ein bißchen getaucht, das ist so ungefähr das einzige, was ich kann. Da war sie beeindruckt, das hatte sie nicht erwartet. Vielleicht sollte ich mal mit meiner Frau schwimmen gehen, im Schwimmbad kann man immer andere Weiber angucken. Nur habe ich eigentlich keine Lust, schwimmen zu gehen. Früher habe ich mir über solche Sachen nie Gedanken gemacht, ich habe das irgendwie akzeptiert mit meiner Frau. Ich habe wohl geglaubt, wenn ich unbedingt will, finde ich schon noch jemanden. Aber jetzt, nachdem ich mit Giovanna im Fitnessraum war, ist mir klargeworden, daß ich garantiert niemanden mehr finde, den ich anfassen kann und der sich von mir anfassen läßt. Ich kann das ja so gut verstehen, daß sie kotzen müßte, wenn sie mich berühren müßte. Ich müßte auch kotzen, wenn ich die Nutten anlangen würde, die ich auf der Straße sehe. Der andere, Marco, ist ein seltsamer Typ. Alle sagen, er ist auch noch keine dreißig, dabei hat er schlohweißes Haar und graue Augenbrauen. Sein Kopf ist riesengroß, er hat breite Schultern, aber ziemlich kurze Beine. Er trägt immer nur dunkle Anzüge und weiße Hemden. Wegen dem großen Kopf fällt es gar nicht auf, daß er so klein und mickrig ist. Er sagt nie was, außer er wird gefragt. Ich frage ihn nicht. Bei ihm konnte ich mir überhaupt nicht 300
vorstellen, daß er auf den Unsinn mit den Wurstgeschäften reinfällt. Was halte ich mich darüber auf, wo ich ihnen die ganzen Ladenlokale besorgen soll. Ich finde es lässig, daß ich nicht selbst fahren muß. Wir haben einen Riesenbenz mit Chauffeur, die beiden sind ja dienstlich unterwegs. Ich kann so schön rausgucken und an alles mögliche denken. In welchen Orten ich nie wohnen könnte, wo ich wohnen könnte, in welchen Orten ich vielleicht doch ganz gern wohnen würde. Ich überlege auch, was ich so kaufen muß. Ob ich mir vielleicht neue Hemden besorgen soll, meine Hemden haben alle schon abgestoßene Manschetten, außerdem habe ich zwei Krawatten bekleckert. Ich gehe so ungern einkaufen. Am schlimmsten sind neue Schuhe. Ich habe so breite Füße, ich muß die Schuhe immer länger nehmen, und dann rutsche ich drin rum. Deshalb trage ich meine Schuhe immer so lange, bis sie auseinanderfallen. Manchmal denke ich sogar an meine Frau, was sie wohl gerade macht. Heute hat Giovanna ein fleischfarbenes Designerkostüm an. Ich habe sie ja in dem knappen weißen Top gesehen und weiß, wie breit ihre Schultern sind, trotzdem habe ich mich erkundigt, ob das Kostüm Schulterpolster hat. Sie hat nein gesagt und war geschmeichelt. Und hinzugefügt, daß sie natürlich ständig an ihren Schultermuskeln arbeitet. Auch im Auto macht sie immer irgendwelche Übungen mit den Armen und den Beinen. Dann habe ich sie doch gefragt, ob ihr das ewige Training nicht auf den Keks geht. Ich glaube, so habe ich mich noch nie für eine Kundin interessiert. Sie erklärte mir, der Trick besteht darin, Abwechslung hineinzubringen, zum Beispiel macht sie an einem Tag erst fünfzehn Minuten Langlaufsimulation, dann fünfzehn Minuten Laufband und fünfzehn Minuten auf dem Fahrrad, danach Bodenübungen, am nächsten Tag 301
Step aerobic und Gewichte, am darauffolgenden Tag joggt sie durch den Wald. Das Intervalltraining verhindert auch, daß sich der Körper an eine Übung gewöhnt. Wer immer nur joggt, ist beim Bergsteigen ein Totalversager. Sie warnte mich, manche Fitnesstrainer wären Scharlatane. Sie kannte mal einen, der hundert Mark für fünfzehn Minuten verlangte, er hatte die Masche, eine einzige Übung immer zu wiederholen, das ist natürlich der allergrößte Blödsinn. Einseitige Belastung ist nicht nur nicht gesundheitsfördernd, sie kann sogar schädlich sein. Egin arbeitete eine Zeitlang mit diesem Fitnesstrainer. Das mit Egin war schon ziemlich heftig. Danach mußte ich meine ganze Intelligenz zusammenkratzen, um von der Situation abzulenken. Ich habe sie auch gefragt, ob es nicht weniger anstrengende Wege gibt, um besser auszusehen, ich dachte da an Schönheitsoperationen. Sie sagte, man kann das Fett absaugen oder wegschneiden lassen, es kommt immer wieder, das sind alles nur kurzfristige Lösungen. Die Leute sind leicht zu verführen, man muß ihnen nur was versprechen, wofür sie sich nicht anstrengen müssen. Es geht ja nicht allein um das Aussehen, man kriegt ein Gefühl vom Macht, wenn man seinen Körper kontrolliert. Ich kann gar nichts kontrollieren und meine Muskeln schon überhaupt nicht, aber ich will auch keine Macht haben, vielleicht liegt es daran. Das Pflegeheim und das Bürogebäude sind jetzt fertig, und das Mädchen und ihre Mutter haben keine Mieter. Überhaupt keine. Der Betreiber für das Pflegeheim ist aus dem Vertrag ausgestiegen, und die Versicherung braucht jetzt doch keine Büros. Die Bankfiliale zieht sowieso nicht um. 302
Erst habe ich gedacht, es ging Egin nur um die Provision. Ich habe sieben Komma fünf Prozent für das Grundstück bekommen und Egin zwei Komma fünf unter der Hand von mir. Jetzt ist mir alles klargeworden: Sie hatten nur eine Zwischenfinanzierung, die stellt die Bank fällig. Die Mutter des Mädchens haftet mit ihrem gesamten Vermögen und muß die Firma verkaufen. An die Trendelenburg. Kapiert, warum man ihrer Chefin unbedingt Magdeburg andrehen mußte. Was mir nicht klar ist: Wieso man die beiden hier in die Wurstbranche treiben muß. Egin kriegt zwar wieder Provision, diesmal heißt es zwei Drittel für ihn und ein Drittel für mich, trotzdem habe ich das Gefühl, daß das irgendwie wieder nicht der Hauptzweck der Angelegenheit ist … Egin ist schon länger komisch. Erst hat er bei Kundenterminen alles mitgeschrieben. Das macht einen saublöden Eindruck, wenn ein Makler, oder was immer er sein will, dauernd herumkritzelt. Schließlich kann man erwarten, daß er sich die wichtigsten Dinge merkt und nachher zu Papier bringt. Ein Makler ist doch kein Lehrer, der mit zwanzig Seiten winzig klein Geschriebenem zum Rechtsanwalt kommt und ihm die zwanzig Seiten runterbetet und noch zwei Stunden Erläuterungen dazu. Dann hat er mich noch nach den Terminen angerufen und nach Einzelheiten gefragt, die er nicht aufgeschrieben hatte und an die er sich nicht so genau erinnern konnte. Ich habe nur gelacht, aber er fand das gar nicht lustig, er meinte es völlig ernst. Für die Vorbesprechung der Wurstladengeschichte kam er zu mir ins Büro. Der Laden hier und noch ein paar andere gehören einem ehemaligen Spielzeugfabrikanten, er hat sie von meinem Lehrmeister. Egin hatte ihn wegen 303
der Daten für die Exposes angeschrieben. Als er zwischendurch mal aufs Klo ging, habe ich in dem Schriftwechsel geblättert. Ich habe gedacht, mich laust der Affe, als ich die Briefe sah: Er hatte sie ganz fürchterlich bearbeitet. Auf jedem an Egin gerichteten Brief war das, was er für die wichtigen Informationen hielt, mit einem Textmarker hervorgehoben. Die besonders wichtigen Sätze waren zusätzlich mit einem Rotstift unterstrichen und die ganz, ganz wichtigen Worte noch mal am Rand mit einem Ausrufezeichen gekennzeichnet. Der Spielwarenfabrikant hatte die Häuser unmittelbar nach der Wende von der HO-Nachfolgeorganisation gekauft, super Lage und so weiter, er wollte sie an einen westlichen Wettbewerber weiterverkaufen, mit einem Riesengewinn. Totaler Quatsch natürlich das Ganze. Er versucht schon ewig, die Läden loszuwerden. In den letzten Briefen waren fast alle Informationen wichtig, viel zu viele sehr wichtig und jede Menge ungeheuer wichtig. Egin wollte nichts übersehen, dabei kann man in unserem Geschäft nur überleben, wenn man ständig die richtigen Dinge übersieht. Die Briefe waren nur noch ein Meer von gelben Markierungen, roten Unterstreichungen und mittlerweile auch mehrfarbigen Ausrufezeichen. Mir fiel ein, daß Egin schon vorher wegen Überweisungen, die mit unseren Provisionen zusammenhingen, Zirkus gemacht hatte, er rief mich dreimal an wegen der Bankverbindung eines Kunden, ob die Bankleitzahl stimmte, ob die Kontonummer stimmte, ob der Name des Kunden auch richtig geschrieben war. Da ging mir auch auf, warum ich in letzter Zeit überhaupt nichts Schriftliches mehr von ihm bekommen habe. Die Sache mit den Wurstläden ist nur eine Sonderlocke. Wir sollten Grundstücke für das Joint venture besichtigen und nicht das Land auf der Suche nach Immobilien für die 304
Wurstläden abfahren. Die beiden Grundstücke, die ich ihnen gezeigt habe, sind riesig, aber sie wollen ja den Weltmarkt erobern, die Trendelenburg und die Chefin von Giovanna und Marco. Jedenfalls sind geplant: hunderttausend Quadratmeter überdachte Fläche, zwanzigtausend Quadratmeter Parkplätze und noch einmal hunderttausend Quadratmeter Grünflächen. Die Fabrik soll wie ein Amphitheater aussehen. Ob sich die Trendelenburg da nicht übernimmt? So eine Fabrik paßt zu dem Konzern von Giovanna und Marco, aber nicht zur Firma von der Trendelenburg. Jedenfalls waren Giovanna und Marco mit dem Gelände sehr zufrieden, über einen Zubringer ist man sofort auf der Autobahn und über eine Schnellstraße gleich in der Innenstadt. Von mir aus können sie planen, was sie wollen, Hauptsache, ich kriege meine Provision. Im Konzern dauert wohl alles etwas länger, sie haben auch so lange gebraucht, um sich die Grundstücke anzusehen. Derweil habe ich mich neben das Auto auf den Boden gesetzt und das Hemd ausgezogen. Es war so heiß, ich wollte ein bißchen braun werden. Mir war klar, daß mir das bei Giovanna nicht viel nützen würde. Solange ich nicht die richtigen Muskeln an der richtigen Stelle habe. Als ich mit nacktem Oberkörper neben dem Auto in der Wiese saß, habe ich leise gesungen. Ich fühlte mich ein bißchen wie ein Indianer, und ich habe den Geldregen herbeigesungen. Eine so riesengroße Provision wie für das Betriebsgelände habe ich überhaupt noch nie bekommen. Obwohl ich eigentlich gar nicht weiß, was ich mit dem vielen Geld soll: Ich habe alles, was ich brauche. Aus dem Fenster gucken kann ich auch ohne die Provision. Vielleicht sollte ich unsere Wohnung renovieren lassen, da würde ich bei meiner Frau Punkte sammeln. 305
Ich weiß nicht, ob man wirklich über die Zukunft nachdenken sollte. Es wird dann alles gleich so kompliziert. Ich meine, es ist ziemlich vermessen, die Zukunft vorhersehen zu wollen. Ich glaube auch, die in den großen Firmen tun alle nur so, als ob sie das könnten. Bestätigt sich wirklich einmal eine Vorhersage, dann nicht deshalb, weil jemand was so schlau vorhergesagt hat. Das geht ganz anders. Wenn alle sich was vornehmen und das Ganze paßt irgendwie zusammen, dann kommt es auch so. Komisch ist nur, daß diejenigen, die tatsächlich die Zukunft machen, es nie gewesen sein wollen. Sie zeigen immer auf die Werbeleute. Und tun so, als wären die Werbeleute die Zauberer, die Hexen. Gilt auch für das Joint venture. Ohne das Okay von den Werbefritzen wird aus der Sache nichts, hat mir Giovanna erzählt. Manchmal habe ich den Eindruck, in den großen Firmen wissen sie überhaupt nicht, was in der Welt vorgeht. Aber vielleicht ist es ja besser so für sie. Wenn sie zu viele Informationen von außen berücksichtigen, macht jeder was anderes, sie müssen sich doch alle dasselbe vornehmen, damit es auch so kommt. Würde allzugern wissen, wie sie beim Bumsen ist. Wenn sie doch was mit Männern am Hut hat. Ob es da auch ein Programm gibt? Sie kann doch nicht einfach tun, was ihr einfällt. Im Grunde genommen kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie sie jemanden küßt. Sie hat überall so viele Muskeln, daß das eigentlich in Beißen ausarten muß. Vampire sind ja immer so bleich und so hager, weil sie das Sonnenlicht meiden müssen. Ein muskulöser, braungebrannter Vampir, das wäre doch mal was anderes! Ich meine, was hat man davon, wenn man von einem Jüngling oder einer Frau geküßt wird, die so bleich sind, daß man dauernd Angst haben muß, sie zerbröselt jeden 306
Moment. Wie komme ich eigentlich auf Vampire? Ich bin so schwabbelig, quasi Gelee, Bodyfat über fünfzig Prozent, und sie ist so körperbewußt, daß sie über jeden Kubikzentimeter ihres Körpers Bescheid weiß, wie der gerade beieinander ist – da soll ich keine Angst haben! Ich glaube nicht, daß sie einem den Schwanz lutscht, das ist irgendwie zu kindisch. Aber daß man ihn ihr reinsteckt, paßt auch nicht zu ihr. Andersrum vielleicht: Sie zieht sich die Männer rein, und das Ganze ist genauso eine Übung wie mit dem Brett oder auf dem Laufband. Es ist immer gut, wenn die Frau etwas außer Atem kommt dabei. Das kann ihr ja nicht passieren. Aber die Frau muß dem Mann schon zeigen, daß sie was spürt. Sonst wird der Mann schnell nervös. Wie macht sie das? Quieken würde ihr Image ruinieren. Stöhnen wirkt so aufgesetzt. Vielleicht Schreien. Oder sie atmet einfach ganz kurz, wie abgehackt. Das würde zu ihr passen. Eigentlich könnte ich auf die ganze Provision verzichten, wenn ich dafür mit ihr – Zurück von ihrer Besichtigungstour, befahl Giovanna Egin, schnell was zum Schreiben rauszuholen, und sie diktierte ihm eine ganze Latte Fragen. Die Fabrik sollte dorthin kommen, es ging darum, welches von den beiden Grundstücken geeigneter wäre. Unter anderem wollte sie auch wissen, wer die Voreigentümer waren und ob Rückübertragungsansprüche geltend gemacht werden. Für das eine Grundstück wurden Anträge gestellt, über die noch nicht entschieden ist, für das andere sind bis jetzt keine angemeldet. Die zwei Grundstücke waren früher im Besitz von Eigentümergemeinschaften, einige Namen standen bei beiden Flurnummern im Grundbuch. Ich weiß nicht, für welche ehemaligen Eigentümer die Anträge auf Rückübertragung gestellt wurden. Wer das Grundstück kaufen will, für das bis jetzt keine Ansprüche angemeldet sind, sollte sich in jedem Fall mit den Namen befassen. 307
Giovanna fragte Egin auch gleich nach einem Notar, der sich in diesen Dingen besonders auskennt. Natürlich will die Gemeinde die Fabrik unbedingt haben, egal, auf welchem Grundstück. Giovanna fragte nicht, was die Gemeinde für das Grundstück vorgesehen hat, das sie nicht nehmen würden. Eine Müllverbrennungsanlage. Egin wurde verdammt nervös. Ständig drückte er die Kugelschreibermine raus und rein. Nachdem er drei oder vier Punkte aufgenommen hatte, bat er Giovanna, langsamer zu sprechen. Andauernd strich er durch, was er gerade geschrieben hatte, und ich kriegte mit, wie er manche Worte leise buchstabierte. Schließlich bat er Giovanna um eine Pause. Das brachte sie auf den Gedanken, was zu ändern. Sie konnte sich total genau an jeden Punkt erinnern, den sie ihm angesagt hatte. Ein paar Punkte wollte sie streichen, andere wollte sie anders haben. Es wurde immer komplizierter. Egin kam endgültig nicht mehr nach, er wurde käseweiß, und er fing an zu schwitzen, wie früher, wenn er auf Drogen war und keine bekam. Dann mußte Giovanna unterbrechen, weil ihr Handy klingelte. Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte Egins Handy. Er ging zum Telefonieren um das Auto herum. Wir fanden es alle sehr höflich, daß er uns mit seinem Telefongespräch nicht belästigen wollte. Das Problem war nur, er kam nicht wieder. Er mußte auf den Hügel gegangen sein und auf der anderen Seite runter. Ich rief ihn auf seinem Handy an, und er ging auch sofort ran. Ich fragte ihn, wo er denn bliebe, und fuhr ihn an, er solle sofort zurückkommen, aber er sagte nur, er käme nicht. Keine Erklärung, keine Ausrede, kein gar nichts. Das konnte ich den anderen natürlich nicht erzählen, ich 308
habe ihnen vorgeflunkert, er hätte eine Runde im Gelände gedreht und sich dabei den Knöchel verstaucht, er konnte nicht mehr zu uns zurückhumpeln, glücklicherweise war er in der Nähe des Autobahnzubringers, dort hätte ihn jemand mitgenommen und zum Arzt gebracht. So unwahrscheinlich ist die Geschichte gar nicht gewesen, jedenfalls wahrscheinlicher, als daß Egin einfach durchdreht, weil er ein Diktat nicht schafft. Das Ganze war schon extrem peinlich. Wenn jemand, der ein riesengroßes Fabrikgelände vermitteln will, sich auf einmal mir nichts dir nichts davonmacht. Ich bin jedenfalls cool geblieben, obwohl ich natürlich Schiß gehabt habe vor Giovanna, die doch so für Disziplin ist. Danach sind wir in einem chinesischen Restaurant auf dem Dorf gelandet. Das war mir auch peinlich, wo die beiden dauernd in China und Hongkong sind und wissen, wie chinesische Küche wirklich schmeckt, aber wir fanden nichts besseres. Es ging dann so einigermaßen, mal von dieser schrecklichen Chinarestaurant-Musik abgesehen. Jedenfalls haben sie sich über das Essen nicht beschwert. Ich kenne es nicht anders. Die beiden sind so jung. Natürlich ist ihnen alles versüßt, weil sie in ihrem Alter schon so hohe Posten haben. Der Witz vom Konzern ist, daß man insgesamt nicht soviel arbeiten muß, dafür aber dauernd. Man hat eine sichere Anstellung und so weiter, es ist eine Art Beamtentum, aber man darf nie wirklich eine Pause einlegen. Ich könnte mir das für mich überhaupt nicht vorstellen. Also, ich kann gar nichts anderes machen als was Freiberufliches, wo ich auch mal tagelang aus dem Fenster gucken kann. Ich habe kein Talent zu was anderem außer Makeln, aber ich will auch gar nichts anderes machen. Viele Leute möchten ja Stars sein, Schauspieler oder Maler oder Schriftsteller. Ich habe 309
überhaupt kein Talent, ganz dumm bin ich trotzdem nicht, denn ich weiß immerhin, daß ich kein Talent habe. Dafür, daß ich kein Talent habe, komme ich ziemlich gut durchs Leben, wahrscheinlich besser als manche, die ein Talent haben. Schließlich habe ich doch nachgebohrt, wie das so ist, im Konzern zu arbeiten. Komischerweise ist dann Marco auf einmal redselig geworden, vielleicht wegen des Biers. Giovanna ist Südtirolerin, sie spricht genauso gut Deutsch wie Italienisch, Marco ist ein richtiger Italiener, der Vater hat auch schon beim Konzern gearbeitet, allerdings auf einer ganz anderen Position, an der Maschine. Marco ist eigentlich kein Blubberbla-Typ, aber als er einmal ins Reden kam, war das wie eine Art Regierungserklärung. Er sagte, daß er glücklich wäre, weil er für den Konzern arbeiten darf, da kamen sogar die Worte Würde und Ehre vor, ich kriege das gar nicht mehr auf die Reihe, und er hat was von einer Mission erzählt, das hängt mit dieser totalen Automatisierung zusammen, die unser Leben verändern soll. Daß sie mein Leben verändern wird, kann ich mir nicht vorstellen, aber mich interessieren ja diese elektrischen und elektronischen Dinge nicht. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, daß er nicht so gut Deutsch spricht. Das Seltsame war, es klang eigentlich gar nicht so sehr nach Reklame, es war nicht so gestylt und nicht so glatt, es hörte sich wirklich irgendwie mehr philosophisch oder politisch oder vielleicht sogar religiös an. Sicherheitshalber habe ich das Gespräch dann wieder auf die Wurstläden zurückgebracht. Und ganz dezent angemerkt, daß die Wurstbranche doch von der Automatisierungsbranche ziemlich weit weg ist. Da kamen sie mir mit Beispielen: Marco hat einen Freund in Italien, der ebenfalls Ingenieur ist, sie haben zusammen 310
studiert, er hat einen Mercato del Sandwich aufgemacht. In Italien geht Fast food nicht besonders, da gibt’s die vielen Bars, und überhaupt essen die Leute viel besser, denen kann man nicht jeden Mist vorsetzen wie bei uns. In Mailand und Turin haben sie nicht viel Zeit zum Essen, der Freund macht Sandwiches der gehobenen Art, ganz frisch sind sie und ganz kühl, was in Italien besonders wichtig ist. Jedenfalls hat er schon hundert Leute und verkauft täglich zwischen fünfzehn- und zwanzigtausend Stück. Ein anderer Freund wollte eigentlich eine Schwulendisco eröffnen nach dem Studium, daraus wurde nichts, jetzt verkauft er Socken mit ganz besonderen Motiven, ich habe es nicht genau kapiert, jedenfalls hat er eine Kette von Sockenläden. Seit neuestem führt er auch Damenstrumpfhosen in seinen Läden. Dann haben sich noch zwei Kollegen aus der Werbeabteilung mit einem Call center selbständig gemacht, es ging um Hotlines für die Betreuung von bestimmten Produkten. Eigentlich wollten sie ja beim Konzern bleiben, dann haben sie auch andere Kunden akquiriert, die Firma wurde immer größer, irgendwann haben sie dem Konzern ade gesagt. Als später rauskam, daß sie sich selber die Aufträge gegeben hatten, haben sie vom Konzern keine mehr gekriegt, aber das war auch gar nicht mehr nötig. Jetzt arbeiten sie für Versicherungen und für Beate Uhse, und sie gehen an die Börse. Ich habe mir gedacht, vielleicht wollen Giovanna und Marco Dobroschkes Würste den Konzernkantinen andrehen, das habe ich lieber nicht gesagt, sondern Giovanna gefragt, ob sie nicht was aus ihrer Fitnesssache machen kann. Ein Schuß ins Schwarze, ihr großes Vorbild ist Jane Fonda mit der Fitnessranch, obwohl ich irgendwo gelesen habe, daß sie die Fitnessranch gar nicht mehr hat. Es muß ja keine Ranch sein, es könnten doch Studios sein und Videos, ein Franchise-System. Natürlich weiß sie 311
auch, daß sie keine berühmte Filmschauspielerin ist und daß ihr Vater kein berühmter Filmschauspieler war, deswegen will sie die Wurstgeschäfte aufmachen. Sie sind so beschissen jung, die beiden. Sie meinen wohl, es geht immer so weiter. Irgendwie haben sie gar keinen Begriff davon, daß sie so jung sind. Was eigentlich auch wieder komisch ist: Sie sehen doch jeden Tag die verknitterten und verwitterten Gesichter unter fünfzig und über fünfzig, die weit unter ihnen auf der Karriereleiter hängengeblieben sind. Sie müßten es doch besser wissen als andere, sie haben doch ständig mit diesen enttäuschten Hoffnungen, mit diesen zerplatzten Träumen zu tun. Jeder, der in den Konzern eingetreten ist, hat mal gedacht, er wird Chef vons Janze. Aber sie sind selbstverständlich die großen Ausnahmen. Und dann sind sie ja wirklich noch so jung, daß sie meinen, sie können immer noch ein anderes Leben anfangen, für sie ist der Konzern ja nicht das, was er für die anderen ist, das restliche Leben vor der Pensionierung. Sie haben keine Übung in Niederlagen. Sie meinen, wenn sie sich einmal eine Niederlage holen, dann lernen sie daraus. Wie können sie wissen, was sich wiederholt, daß sich eigentlich alles wiederholt? Bei ihnen hat sich ja noch nicht viel wiederholt. Sie machen Karriere und wissen gar nicht, wer da Karriere macht. Sie denken ganz ernsthaft, daß das Leben einen Sinn hat. Daß es Menschen gibt, die von Brücken runterspringen, die sich die Adern aufschneiden, und zwar richtig, die sich vor die U-Bahn werfen, so was werden sie nie verstehen. Wer einmal merkt, daß das Leben keinen Sinn mehr hat, merkt auch automatisch, daß das Leben nie einen Sinn gehabt hat. Sie haben mir noch was über Dobroschke erzählt, was 312
ich wirklich nicht wußte. Er hat letztes Jahr in Mannheim den großen Leberwurstpreis bekommen. Vierzig Sorten hat er der Jury vorgelegt, unter anderem Walnußleberwurst, Kräuterleberwurst und Sahneleberwurst nach einem Rezept, das angeblich aus dem achtzehnten Jahrhundert stammt. Die Wurst ist mit Vanille, Kardamom und Muskat gewürzt, er ist dafür Weltmeister geworden und hat einen riesengroßen Pokal bekommen. Jetzt kann ich wirklich nichts mehr gegen die Wurstkette sagen. Weltmeister ist schließlich Weltmeister. Und ein Leberwurstweltmeister ist natürlich was ganz Besonderes. Sie haben ja noch soviel Zeit, die beiden. Obwohl die Zeit eigentlich nichts mit der Uhr oder mit dem Kalender zu tun hat. Manchmal komme ich nicht dazu, länger aus dem Fenster zu gucken als eine halbe Stunde, da ist eine halbe Stunde im Nu vorbei. Dreißig Minuten sind was ganz anderes als eine halbe Stunde. Steht in einem Expose, daß man dreißig Minuten zum Zentrum braucht, dann ist damit bestimmt nicht gemeint, daß man dreißig Minuten zu Fuß geht. Dreißig Minuten in einem Expose bedeuten ein öffentliches Verkehrsmittel in der Stoßzeit, allerdings ohne die vielen Leute zur Stoßzeit, oder mit dem Auto nachts, wenn die Ampeln abgeschaltet sind. Dreißig Minuten sind immer länger als eine halbe Stunde. Eine halbe Stunde kann auch wahnsinnig lang sein, wenn man zum Beispiel jemanden unbedingt sprechen will und immer wieder anruft. Da kann eine halbe Stunde länger dauern als ein Jahr. Überhaupt sind Jahre eigentlich gar nicht so interessant. Jahrzehnte sind zuviel Zeit, deswegen kann man damit nichts anfangen. Monate 313
können lang sein, am längsten sind wohl Tage. Für das Mädchen und ihre Mutter müssen die Tage ziemlich lang geworden sein. Für die Monate und die Jahre ließ ihnen die Bank keine Zeit mehr. Ich kenne das von meinem Lehrmeister Messerschmitt – jetzt habe ich den Namen doch ausgeplaudert. Egal. Wollte er dem Kunden ein Objekt aufschwatzen, war er Tag und Nacht erreichbar, er hat jedes andere Gespräch sofort unterbrochen und jeden Termin akzeptiert. Nachdem der Kunde zugeschlagen hatte, machte er sich schon etwas rarer. Dann hatte er so viele Objekte oder einen Großkunden, der ihn die ganze Zeit in Beschlag nahm. Die Mieten gehen runter, kein Problem, ist nur temporär, die Preise für die Objekte, die gehen nicht runter, kein Grund zur Beunruhigung. Gerade hat er wieder ein Objekt zwei Straßen weiter verkauft, ob der Käufer nicht noch das Objekt drei Straßen weiter mitnehmen will. Der Käufer überlegt ernsthaft, will aber dann nicht. Außerdem hat er einen neuen Mieter an der Angel, der bereit ist, eine höhere Miete zu zahlen, allerdings auch schon das nächste Gespräch auf dem anderen Apparat. Der Käufer beschwert sich nicht, daß das Gespräch so kurz ist, er möchte es sich nicht mit demjenigen verscherzen, der ihm den neuen Mieter bringt. Aus dem ins Auge gefaßten neuen Mieter wird nichts, aber es gibt einen anderen Kandidaten. Der Kunde überlegt, ob er das Objekt verkaufen soll, nur traut er sich nicht, es zu sagen. Als er schließlich doch damit rausrückt, gibt es wundersamerweise sofort einen Interessenten, dem Kunden fällt ein Stein vom Herzen. Doch irgendwie dauert es so lange, bis ein Besichtigungstermin zustande kommt. Auf einmal war dann Besichtigung, ohne daß der Kunde vorher davon erfahren hat, der Interessent hat abgesagt, aber es gibt einen anderen Interessenten. 314
Diesmal fällt dem Kunden kein Stein mehr vom Herzen, erleichtert ist er trotzdem. Der neue Interessent besichtigt das Objekt sofort, hat jedoch hunderttausend Fragen. Die alle erst beantwortet werden müssen, das braucht Zeit. Irgendwann einmal, der Kunde bekommt gar nicht mit, wann, sagt auch der zweite Interessent endgültig ab. Aus dem neuen Mieter ist gleichfalls nichts geworden. Inzwischen hat der Kunde kapiert, daß er das Objekt auf normalem Weg nur für die Hälfte des Preises verkaufen kann, den er seinerzeit bezahlt hat. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Ist die Bonität des Kunden schlecht, macht die Bank Schluß. Ist die Bonität gut, kann er laufend Geld zuschießen, und alles geht so weiter wie vorher. Der Kunde ist zwar sauer auf denjenigen, der ihm das Objekt angedreht hat, der macht ihm dennoch weiterhin erfolgreich weis, daß es noch eine Chance gibt, das Objekt zu dem ursprünglichen Preis zu verkaufen. Gerade hat er nämlich das Objekt nebenan zu einem Superpreis verkauft, er hat dem Interessenten auch das Objekt des Kunden gezeigt, der Interessent hat lange gezögert, sich dann leider für das andere Objekt entschieden. Aber es hat sich schon wieder jemand gemeldet, der auch interessiert ist … Und so weiter. Im übrigen steigen die Mieten wieder. Nur blöd, daß der Kunde nichts davon hat, denn er bekommt den Mieter, den er jetzt drin hat, nicht raus. Die Mieten erhöhen kann er auch nicht. Und so weiter. Lange Tage werden das gewesen sein für das Mädchen und ihre Mutter. In Wirklichkeit hat es natürlich gar nicht so lange gedauert: Bei einem Komplex für siebzig Millionen, der völlig leer steht, kriegen die Banken ganz schnell kalte Füße. Ich habe nie mit Egin darüber gesprochen, aber ich kann mir lebhaft vorstellen, wie es war. Das hat er wirklich geschickt eingefädelt, hätten sie 315
nur das Pflegeheim gebaut, die Banken hätten vielleicht zugewartet. Jetzt sind sie das Bürohaus und das Pflegeheim los, das Mädchen und ihre Mutter, und die Firma auch. Jetzt haben sie alle Zeit der Welt. Wer nicht raucht, lebt acht Jahre länger, sagt Giovanna. Gott sei Dank rauche ich nicht, sondern kaue Bonbons. Leider kann sie nicht angeben, wieviel länger jemand lebt, der fit ist. Daß es da keine aussagekräftigen wissenschaftlichen Untersuchungen gibt. Aber vielleicht gibt es solche Untersuchungen, und sie kommen zu dem Ergebnis, daß man gar nicht länger lebt, obwohl man fit ist. Darüber reden natürlich die Fitnessanhänger nicht besonders gerne. Was soll die ganze Quälerei, wenn man dann nicht mal länger lebt! Und es schon genügt, nicht zu rauchen. Das Mädchen und ihre Mutter geben das Rauchen bestimmt nicht mehr auf. Was sollen sie auch acht Jahre länger leben ohne ihre Firma. Eigentlich schade, daß sie den schönen alten Gasbehälter abgerissen haben, hätten sie ihn stehengelassen, wäre ihnen das nicht passiert. Aber es hätte sich bestimmt ein anderes Objekt gefunden, Egin und Stine hätten sich die Firma genauso unter den Nagel gerissen. Gut, daß ich das alles vorher nicht wußte, so habe ich ein reines Gewissen. Allerdings muß ich zugeben: Hätte ich es gewußt, ich hätte auch nicht anders gehandelt. Schließlich kann ich nichts dafür, daß jemand was baut, was man nicht vermieten kann. Ich habe ihnen ja nicht zu dem Bau geraten, ich habe ihnen nur das Grundstück vermittelt. Ich würde jetzt gerne reingehen. Aber das würde blöd wirken, dann hätte ich sie gleich begleiten können. Ich muß weiter hier draußen stehenbleiben. Nichts sagen, ins Auto steigen und einfach wegfahren, nach Hause fahren, 316
woandershin fahren, sinnlos in die Gegend fahren – das war’s. Auf einmal sehe ich das, was Egin gemacht hat, in einem anderen Licht. Doch ich habe ja Disziplin. Wenn ich jetzt abhaue, was mir dann an Provisionen durch die Lappen gehen würde! Die Läden sind nur ein Erinnerungsposten im Vergleich zu der Provision für das Fabrikgelände. Das ist mein Fitnesstraining: immer wieder dableiben. In dieser Beziehung bin ich wirklich fit. Vielleicht sollte ich doch mal wieder in den Urlaub fahren. Meine Frau verreist ja öfters, mit irgendwelchen Freundinnen. Ich habe in meinem Leben nur einmal Urlaub gemacht, das war vor zehn Jahren auf Mallorca. Meine Frau konnte mich breitschlagen, weil ich mich dort auf dem Immobilienmarkt umsehen wollte. Es ging schon damit los, daß die Leute klatschten, als der Pilot aufgesetzt hatte. Ich fliege ja nicht oft, aber man muß schon ganz schön dämlich sein, um Beifall zu klatschen, wenn der Pilot landet, was soll er denn sonst machen. Als wir ausstiegen, war das Wetter ganz komisch. Keine Sonne, aber auch keine Wolken, es war nicht hell, es war nicht dunkel, und über die Landebahn wirbelten Zeitungsfetzen. Danach haben wir vierzehn Tage lang nur noch blauen Himmel ohne Wolken gesehen. Mir ist noch nie was so auf den Senkel gegangen. Unser Hotel war ein Wolkenkratzer in irgendeiner Cala im Süden. Das Foyer strotzte vor Dreck, die Beleuchtung flackerte ständig, man wurde ganz nervös davon. Wir bekamen ein ebenerdiges Zimmer zugewiesen. Nach hinten. Direkt neben einer Kompressoranlage. Die Einrichtung bestand aus einem Bett, einem Schrank, einem Tisch und zwei Stühlen, alles Resopalmöbel, die Matratzen waren nicht überzogen. Wir hätten uns schon 317
damals ein viel teureres Hotel leisten können, aber das wollten wir beide nicht. Als ich mich doch beschwerte, durften wir in ein anderes Zimmer umziehen, ziemlich weit oben, aber auch nach hinten. In den Zimmern gab es nicht einmal Lampen, man hatte sich das Geld gespart und einfach die nackten Fassungen der Neonröhren an die Decke genagelt. Am Meer kriegten wir Liegestühle in der fünften Reihe, ganz schön weit vorne bei zwanzig Reihen. Der Strand war mit lauter kleinen braunen Bällchen übersät, sie waren nicht schmierig, sondern eher trocken, fast wie Holz, aber ausgesehen haben sie wie Scheiße. Irgend jemand sagte, das wären Ölrückstände aus den Tankern, die da vorbeifahren würden, ich weiß nicht, ob das stimmte. Ich habe den ganzen Tag in die Sonne geguckt. Das kann ich, mit zusammengekniffenen Lidern. Erst habe ich viel getrunken, da habe ich nur noch geschwitzt, dann habe ich das mit dem Trinken seinlassen. Ich wollte auch nicht so aussehen wie die Skandinavier. Wir Deutschen sind ja schon schlimm im Ausland, die sind noch schlimmer. Überall zogen Horden von krebsroten hellblonden Dänen oder Schweden oder Norwegern herum, immer mit dem Bier in der Hand und schon am frühen Morgen total besoffen. Der Ort war bodenlos häßlich, lauter winzige, weiß gestrichene Häuschen, am Strand Wolkenkratzer, damit man von den Schlumpf-Häuschen aus das Meer nicht sah. Fast alles war in deutscher Hand: Wohin man blickte, deutsche Bierbars, deutsche Fotoläden, deutsche Gemäldegalerien, überhaupt jede Menge Künstlerexistenzen und natürlich deutsche Makler. Zwei- oder dreimal bin ich in irgendwelche Immobilienbüros gegangen und habe mir die Fotos an der Wand angeguckt, ohne was zu fragen. Mich brauchten die da wirklich nicht auch noch. 318
Abends gab’s immer das gleiche Fest mit Animation am Pool. Ich hatte schon befürchtet, daß ich irgendwann bei den idiotischen Spielen mitmachen müßte, dann entdeckte meine Frau Bekannte, denen schloß sie sich an. Ich habe mich an die Palmenbar gesetzt und so vor mich hin gesüffelt. Einmal wurde ich Zeuge einer dramatischen Szene. Ein Ehepaar geriet sich in die Haare, es ging um die beste Freundin der Ehefrau und ums Federballspielen. Wie ich der Diskussion entnahm, lagen sie den ganzen Tag zu dritt am Strand, der Ehemann wollte unbedingt Federball spielen, die Ehefrau war eher unsportlich und hatte keine Lust, ihre Freundin dafür um so mehr. Da man an einem Strand mit zwanzig Reihen Liegestühlen nicht Federball spielen kann, ging der Ehemann mit der Freundin irgendwo ins Hinterland, und sie haben dort Federball gespielt. Und nicht nur das, jedenfalls wollte die Ehefrau am nächsten Tag abreisen, sie schrie ihren Mann an, dann kannst du den ganzen Tag Federball spielen, von früh bis abends, und nachts meinetwegen auch noch. Der Mann wollte nicht, daß seine Frau nach Hause flog, und die Freundin stritt alles ab. Darauf greinte die Frau ihre Freundin an, ich hab’s ja geahnt, daß du mir das antust, wenn sie’s geahnt hat, warum hat sie dann die Freundin mitgenommen. Dann wollte die Ehefrau dem Ehemann doch ganz gerne glauben, daß nicht soviel gewesen war, sie sinnierte laut nach, der Ehemann wäre eigentlich nicht der Typ der Freundin, die bevorzugte sonst mehr Softies, der Ehemann war Automechaniker. Die Freundin pflichtete der Ehefrau bei, aber dann gab sie zum besten, sie hätte neulich gelesen, das würde auch vom weiblichen Zyklus abhängen. Sie war übrigens MTA. Man hätte herausgefunden, daß Frauen in der Phase des Eisprungs maskulinere Männer 319
bevorzugten, wogegen sie in anderen Phasen eher zu feminineren Männern neigten. Frauen, die die Pille nahmen, zeigten übrigens keine besonderen Vorlieben, sie selbst nahm die Pille nicht. Als der Mann das mit dem Eisprung gehört hatte, trank er sein Bierglas ganz schnell aus und sagte erst mal eine Zeitlang gar nichts. Die Ehefrau fing wieder an zu zetern, und jetzt machte sich die superschlaue MTA einen Spaß daraus, das Ganze auch noch aus biologischer Sicht zu erläutern. Sie hatte übrigens eine ziemlich sportliche Figur, wenn ich es mir recht überlege, sah sie ein bißchen aus wie Giovanna, vielleicht komme ich auch deswegen jetzt auf die Geschichte. Jedenfalls sagte sie, Frauen, die Vielmännerei betrieben, würden von der Evolution begünstigt, zur Befruchtung müßte die Frau einen besonders maskulinen Partner wählen, dann wären die Kinder genetisch gesund und widerstandsfähig, bei der Aufzucht wäre jedoch ein femininer Mann viel hilfreicher. Da erinnerte sich die Ehefrau auf einmal, daß sie ganz genau gesehen hatte, wie der Ehemann mit ihrer besten Freundin Federball gespielt hatte, und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Der Mann verschwand mit der Drohung, er würde in ein Einzelzimmer ziehen. Als der Ehemann weg war, hatte ich Angst, nun würden die beiden Frauen aneinandergeraten. Erst sagten sie eine Zeitlang gar nichts, dann waren sie auf einmal ein Herz und eine Seele. Die Ehefrau wollte nicht mehr nach Hause fliegen. Sie hoffte, daß ihr Mann kein anderes Zimmer bekommen hatte, sie wollte ihn im Schlaf anzünden oder mit dem Stuhl erschlagen. Die Freundin gab zu bedenken, daß die Stühle hier nicht viel aushielten. Darauf überlegte die Ehefrau laut, sie könnte ihren Mann auch mit einer von seinen grausam häßlichen Krawatten erdrosseln. Die Freundin meinte, warum sie beide den Ehemann denn 320
nicht mit bloßen Händen erwürgten, darauf kicherten sie fürchterlich. Und blickten zu mir herüber. Soviel häßlicher als der Ehemann war ich auch nicht. Die Freundin schlug vor, man sollte den Ehemann in einen Käfig sperren und daneben einen Fernseher aufstellen, auf dem Fernseher laufen mit höllischer Lautstärke abwechselnd Sportübertragungen und Bierreklame, aber nicht etwa ein Formel-1-Rennen, ein Tennismatch oder ein Fußballspiel, das an den richtigen Stellen von Werbung unterbrochen ist, sondern Fußball, Tennis und Formel 1 durcheinander, man sieht nur den Schuß, aber nicht, ob es ein Tor ist, der Tennisball fliegt die Linie entlang, aber man kann nicht erkennen, ob er ins Aus geht oder nicht, ein Rennfahrer will den anderen überholen, und es wird nicht gezeigt, ob ihm das gelingt. Die beiden hatten Tränen in den Augen vor Lachen. Sie wußten, daß ich sowieso alles mitbekommen hatte, da habe ich sie auf einen Drink eingeladen. Ich weiß gar nicht mehr, worüber ich mich mit ihnen unterhalten habe. Plötzlich war die Freundin weg, die Ehefrau blieb mir erhalten. Eigentlich war sie ganz nett, nur hatte sie so ein gräßliches Blumenhemd an, es sah aus wie der Bezug eines Liegepolsters. Ich war ziemlich betrunken und hatte irgendwie das Gefühl, sie beschützen zu müssen. Sie hat mir echt zugehört, als ich ihr erzählt habe, was ich so mache. Wenn ich das erzähle, klingt es viel großartiger, als es ist. Sie hielt mich für einen richtigen Immobilienhai, obwohl ich ihr gesagt habe, daß ich nur Makler bin. Sonst haben immer alle was gegen Makler, was ich auch gut verstehen kann. Wer bewundert schon einen Makler? Meine Frau jedenfalls nicht. Der Ehefrau des Automechanikers war es schließlich zu laut in der Bar, sie wollte ein bißchen mit mir Spazierengehen. 321
Wir nahmen beide unsere Cocktailgläser mit, in der Hotelanlage liefen alle mit den Gläsern herum. Urplötzlich wurde sie ganz ernst und sagte, daß ihr Leben ohne ihren Mann in eine ganz andere Richtung gelaufen wäre. Mich interessierte dieser Seelenmüll nicht, aber ich hatte schon die anderen Sachen mit angehört, da konnte ich nicht mehr aus. Sie erzählte mir, daß ihr jetzt bewußt würde, wie sehr sie und ihr Mann sich auseinandergelebt hätten und daß sie in den Urlaub gefahren wären, weil sie gehofft hätten, danach würde alles besser sein. Doch sie hätte gemerkt, daß sie und ihr Mann sich nichts mehr zu sagen hätten, er nervte sie nur noch. Sie redete auch was von Tagen mit Hitler, da habe ich ihr widersprochen, so megafies wäre er nun auch nicht. Dann sagte sie, daß sie am liebsten alles hinschmeißen und ein anderes Leben anfangen wollte. Wir gingen hinter dem Hotel zwischen den Bungalows spazieren, und ich habe aus Spaß gesagt, daß es aber zum Federballspielen zu dunkel wäre. Ich hatte das wirklich nur als Witz gemeint. Sie blieb stehen, stellte ihr Glas weg und nahm mir mein Glas aus der Hand. Dann sah sie mich mit ganz großen Augen an, legte mir die Arme um die Schultern und fing an, mich zu küssen. Auf einmal waren meine Hände in ihrem Ausschnitt. Aber sie hatte so kleine Brüste, irgendwie habe ich nicht so richtig gewußt, was ich damit machen soll. Sie hat dafür ziemlich genau gewußt, was sie in meiner Hose machen wollte. Dazu hat sie andauernd geredet, von einem gemeinsamen Leben, daß sie nie mehr einsam sein wollte und daß sie jemanden nur für sich alleine haben wollte. Ich habe gedacht, das kann nicht wahr sein, wir kennen uns doch erst seit einer halben Stunde! Ich wäre bestimmt anders als andere Männer, das hätte sie gleich gemerkt, ich 322
sollte keine Angst haben. Hatte ich natürlich erst recht. Man kann doch nicht mit jemandem, den man gerade ein paar Minuten kennt, sofort was anfangen und gleich von einem gemeinsamen Leben reden! Da fiel mir ein, daß sie ja verheiratet war und ich auch, so schnell würde das auf keinen Fall gehen. Wir standen im Halbdunkel, sie hat gefummelt, und ich habe gefummelt, aber irgendwie war es nicht das, was ich mir gewünscht habe. Nach einiger Zeit nahm sie die Hand aus meiner Hose, ich dachte schon, jetzt fängt sie zu heulen an, aber sie war ganz heiter, sie sagte, sie müßte nur mal dringend wohin, gleich käme sie wieder. Wie sie so davonging, mit ihren langen blonden Haaren, da war ich auf einmal ein bißchen in sie verliebt. Fast wollte ich ihr nachlaufen und sie noch mal anfassen. Über eine halbe Stunde habe ich auf sie gewartet, aber sie kam nicht mehr. Danach wollte ich auf keinen Fall zu der Meute zurück, zu dem beknackten Fest. Bei den Bungalows gab es noch einen zweiten Pool, an dem war kein Mensch. Ich setzte mich hin, zog die Schuhe aus, krempelte die Hosen hoch und ließ meine Beine im Wasser baumeln. Ich guckte abwechselnd in den Pool und in den Sternenhimmel. Der Pool war von unten beleuchtet, es wehte ein ganz leichter Wind, der machte ganz kleine Wellen, da konnte ich stundenlang zusehen. Eigentlich war der Pool interessanter als der Sternenhimmel. Auf einmal machte es platsch neben mir. Erst war ich furchterlich erschrocken, ich wußte auch nicht warum, ich dachte an Selbstmord, was der größte Blödsinn ist, wenn man sich umbringen will, springt man nicht in einen Pool, sondern schwimmt ins Meer hinaus. Ein nackter Junge, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt, gab mir eine Vorstellung. Er tauchte ganz tief, bis zum Grund des Pools, und schoß dann hoch. Er machte Rollen im Wasser 323
und drehte sich um seine eigene Achse. Die UnterwasserBeleuchtung hatte einen ganz seltsamen Effekt, der Körper des Jungen sah aus, als wäre er aus Marmor, aber der Marmor bewegte sich. Nach einiger Zeit merkte ich, wie begriffsstutzig ich gewesen war: Der Junge war kein Junge, sondern ein Mädchen, das machte einen Spagat und wackelte mit dem Oberkörper, wenn man genau hinsah, erkannte man die Ansätze von Brüsten. Gerne hätte ich mit ihr geredet, aber sie kam immer nur ganz kurz an die Wasseroberfläche. Langsam wurde sie müde, am Schluß schwamm sie in einer Art Embryostellung, sie zog das eine Bein an den Körper an, streckte das andere aus und beugte den Kopf nach vorne, da konnte man nun ganz genau erkennen, daß sie kein Junge war, und auch die Brüste sah man besser. Dann war sie plötzlich weg, und das einzige, was noch im Schwimmbecken plätscherte, waren meine Füße. Ich habe noch ziemlich lange in den Pool geguckt. Darauf bin ich doch in den Ort gegangen, obwohl er mich so anekelte. Ich setzte mich in ein Café an einem kleinen Platz und kam mir irgendwie so vor, als wäre ich geflohen. Dabei sind die Frauen vor mir geflohen, erst meine Frau, dann die Automechanikerehefrau, dann das Mädchen aus dem Pool. Ich trank mehrere Espressos, davon wurde ich so wach, daß ich den Kellner nach einem Nachtclub fragte. Ich habe wirklich einen Nachtclub gemeint, irgendwas mit Tanzen und so, er beschrieb mir den Weg. Der Laden war ein Puff. Im Innenhof waren ein paar Korbstühle aufgestellt, auf dem überdachten Gang vor den Zimmern lungerten die Nutten rum. Sollten jedenfalls rumlungern, ich war der einzige Gast, und es ging auch nur eine Nutte hin und her. Die mir allerdings den Atem verschlagen hat. Sie war 324
unheimlich groß, viel größer als ich, sie hatte einen roten Slip an, kann auch eine rote Bikinihose gewesen sein, und ein rotes T-shirt, natürlich keinen BH drunter. Dazu trug sie hochhackige goldene Schuhe. Das Ganze wirkte nicht ordinär, so kann man auch am Strand Spazierengehen. Sie hatte lange schwarze Haare und ziemlich dunkel geschminkte Augen, die Fingernägel waren blau lackiert. Von außen konnte man den Puff gar nicht als solchen erkennen, aber innen war alles rot angemalt, sie lief in der roten Hose und dem roten T-shirt vor der roten Wand hin und her und war trotzdem nicht ordinär. Sie machte mich nicht an, obwohl ich der einzige Gast war, aber sie tat auch nicht so, als würde sie mich nicht zur Kenntnis nehmen, ich hätte nie gedacht, daß es Nutten gibt, die so hübsch sind. Ich hätte ihr stundenlang zusehen können. Einmal blieb sie kurz stehen, machte die Beine etwas breit, legte die Arme an die Hüften und blickte in meine Richtung. Ich konnte überhaupt nichts machen. Wahrscheinlich hatte ich Angst, wenn ich sie ansprechen würde, dann würde sich diese überirdische Erscheinung in etwas ganz anderes verwandeln, dann wäre sie eben doch eine gewöhnliche Nutte, und alles wäre zerstört. Sie sah einfach phantastisch aus. Später fiel mir übrigens ein, daß sie keine Geräusche machte, sie hatte ziemlich hohe Absätze, man hätte es doch hören müssen, wie sie über den Steinboden lief. Irgendwann mußte ich gehen, die Gelegenheit ergab sich, als eine Horde lärmender Wikinger eintraf. Ich stand sofort auf und blickte nicht mehr zurück, ich wollte mir gar nicht vorstellen, was dann passierte. Diesmal bin wirklich ich geflohen. Hundsnacht. Im Hotel gab mir der Portier einen Zettel, auf dem mir meine Frau in ziemlich krakeliger Schrift mitteilte, daß sie mit ihren Freunden noch eine Party im Bungalow Nummer soundso feierte, ich sollte doch nachkommen. 325
Auf alles hatte ich Lust, nur nicht auf eine Party, aber ich wollte auch nicht alleine auf das scheußliche Hotelzimmer gehen. Also suchte ich den Bungalow und fand ihn. Beziehungsweise ich glaubte, ich hätte ihn gefunden. Ich gehe in den Bungalow rein, und da findet glatt eine Orgie statt. Keine Übertreibung, in jedem Zimmer liegt irgendwer mit irgendwem auf irgendwem oder unter irgendwem. Im nachhinein habe ich mich über mich selber gewundert, daß ich nicht gleich wieder rausgegangen bin, nachdem ich schon im Vorraum zwei nackte Pärchen gesehen hatte. Ich war ja hundertprozentig davon überzeugt, daß das der Bungalow war, in dem meine Frau mit ihren Freunden feierte. Wie sich später rausstellte, hatte ich mir einfach die Nummer falsch gemerkt, meine Frau war in einem ganz anderen Bungalow. Niemand störte sich dran, daß ich da so durchlief. Irgendwie kam ich mir in dem Bungalow ganz fürchterlich alleine vor. Auf einmal war mir so, als wäre ich immer nur alleine gewesen, als hätte ich nie mit jemandem zusammengelebt. Und ich hatte plötzlich Angst, für immer alleine zu bleiben. Ich hatte auch auf einmal überhaupt keine Ansprüche mehr, ich wollte nur jemanden, mit dem ich reden konnte, und der dann nicht davonlief, wie die Automechanikerehefrau. Es mußte ja nicht jemand sein, der jung und schön wäre, nur einfach jemand, der immer da wäre, wenn ich ihn brauchte. So alleine bin ich überhaupt noch nie gewesen wie in dem Bungalow, in dem es jeder mit jedem trieb. Ich bin dann genauso rausgegangen, wie ich reingegangen bin, keiner nahm Notiz von mir. Ich kann 326
mich gar nicht mehr daran erinnern, wie die Leute aussahen. So genau hingeguckt habe ich aber auch nicht. Auf dem Weg zum Hotel habe ich darüber nachgedacht, warum ich eigentlich mit meiner Frau zusammen bin. Da ist mir dann überhaupt nichts eingefallen, ja wirklich, überhaupt nichts. Ich meine, es hätte doch auch sein können, daß man auf ein paar Gründe kommt, warum man früher mit seiner Frau Zusammensein wollte, und diese Gründe gelten jetzt nicht mehr. Nein, mir ist tatsächlich rein gar nichts eingefallen. Das war wie ein Schock. Dabei bin ich nicht so scharf auf andere Frauen, sonst hätte ich wohl das Angebot der Automechanikerehefrau angenommen oder die Nutte vor der roten Wand angesprochen oder zumindest einen Scherz gemacht mit dem Mädchen im Pool. Warum meine Frau mit mir zusammen ist, das weiß ich genausowenig. Obwohl, einen Grund gibt es natürlich schon, mit mir zusammenzusein: Ich verdiene ganz gut. Das ist sicherlich das Attraktivste an mir, was soll ich mir da Illusionen machen. Es wäre nicht richtig zu sagen, daß ich völlig kalt war oder daß mir alles völlig gleichgültig war. In dem Augenblick, als ich darüber nachgedacht habe, warum ich mit meiner Frau zusammen bin, habe ich durchaus zärtliche Gefühle für sie gehabt. Nein, mir fiel nur einfach kein Grund ein, warum ich mit ihr Zusammensein wollte. Ich war dann irgendwie sehr traurig und habe mir ganz fest einen Grund gewünscht, warum ich mit meiner Frau Zusammensein sollte, aber da kam kein Grund vom Himmel runter. Wahrscheinlich mache ich deswegen nie Urlaub, damit nicht solche Dinge rauskommen. Daß man gar nicht weiß, warum man mit jemandem zusammen ist, daß man aber auch nicht mit jemand anderem Zusammensein will und 327
daß man auch nicht weiß, was man sonst tun soll. Ich hatte mich zu früh über den Automechaniker mit seiner Ehefrau und ihrer Freundin amüsiert. Als ich auf das Zimmer kam, stand meine Frau nackt vor dem Spiegel. Ich war richtig froh, daß sie schon da war, ich erinnere mich noch ganz genau, sie war gerade dabei, mit beiden Händen einen Ohrring abzunehmen. Sie hatte sich Strähnen machen lassen und die Haare hochgesteckt an dem Abend, rechts und links neben ihrem Gesicht hingen Locken herunter, mit der Frisur wirkte sie viel jünger. Ich legte ihr die Hand auf den Rücken und auf die Schulter. Und versuchte, sie auf den Nacken zu küssen. Sie hörte nicht auf, mit beiden Händen an ihrem Ohr herumzufummeln. Ich wollte sie küssen und habe sie schließlich rumgedreht. Sie ließ sich auch küssen, aber dabei hat sie ein Hohlkreuz gemacht und zur Seite gesehen. Dann habe ich ihr erzählt, wie ich im falschen Bungalow nach ihr gesucht hatte und was in dem Bungalow passierte. Sie fragte mich, ob die nackten Leute, die es da miteinander getrieben hätten, schön gewesen wären, eine komische Frage. Ich habe ihr gesagt, daß ich nicht so genau hingeguckt habe. Dann fragte sie mich, ob ich bei der Orgie in dem Bungalow an den Tod gedacht hätte, eine noch komischere Frage. Ich sagte, ich wüßte nicht, warum ich dabei an den Tod hätte denken sollen. Sie sagte, weil es soviel mit dem Tod zu tun hat. Ich glaube, meine Frau hat Angst vor dem Tod. Ich habe das nie verstanden. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Warum sollte ich, dann müßte ich ja auch jeden Tag Angst haben einzuschlafen. Wenn ich wirklich nicht mehr aufwache, bekommt eben jemand anderer meine Provision. Das ist der einzige Unterschied. Die Provision 328
bleibt dieselbe. Das mit der Angst vor dem Tod muß man wohl auch biologisch sehen. Dazu brauche ich die schlaue MTA nicht, das kann ich mir selber zusammenreimen. Wenn irgendwelche intelligenten Wesen eine völlig übertriebene Angst vor dem Tod haben, dann werden sie ihren ganzen Gehirnschmalz darauf verwenden, ihm gar nicht erst ins Gesicht zu sehen, oder, falls sich das doch nicht vermeiden läßt, ihm in letzter Minute noch ein Schnippchen zu schlagen. Irgendwann werden sie vom Leben eingeholt und müssen sterben, aber bestimmt später, als wenn sie nicht so gestört wären. Schließlich sagte meine Frau, bis jetzt wäre sie mir nicht untreu gewesen, aber ich sollte mich nicht darauf verlassen, daß sie mir nie untreu sein würde. Ob ich mich noch daran erinnerte, wie ich sie zur Eröffnung eines Hotels in Berlin mitgenommen hätte. Ich hatte das Grundstück für das Hotel vermittelt und zur Eröffnung auch eine kleine Ansprache gehalten. Danach ging ich mit den Vorständen des Hotelkonzerns an die Bar und ließ sie allein in der Lobby zurück. Da hätte sie einen Russen kennengelernt, der ganz jung schon General war, dann in die USA auswanderte und bei einem Ministerium in Washington arbeitete. Sie hätte sich noch nie mit einem Menschen so gut verstanden wie mit dem Russen. Er hatte eine deutsche Großmutter und sprach perfekt deutsch. Er hätte ihr alles über sich erzählt. Sie hätten nur zwei oder drei Drinks miteinander genommen. Sie hätte ihm ebenfalls alles über sich erzählt. Noch heute würde sie sich fragen, warum sie nicht sofort mit ihm auf sein Zimmer gegangen wäre und mit ihm geschlafen hätte. Und nicht nur das. Sie hätte sich gut vorstellen können, am nächsten Tag mit ihm nach Amerika zu fliegen. Sie hätten dann nicht einmal die 329
Adressen ausgetauscht. Ich sollte mich nicht so sicher fühlen. Seither sind wir nicht mehr gemeinsam in den Urlaub gefahren, meine Frau und ich. Es ist besser, ich verzichte auf Urlaub. Man sieht ja, was dabei rauskommt. Ich weiß jetzt, was ich mache: Ich höre mit dem Denken auf, jawoll! Warum sollen Giovanna und Marco nicht mit Dobroschke die Wurstläden aufmachen? Ist mir so was von egal, wie das endet. Solange ich die Provision für die Ladenlokale kassiere. Ich werde sagen, daß ich über die ganze Sache nachgedacht habe und daß ich da einen Riesenbedarf sehe und daß das eine super Idee ist und daß man natürlich aus dem Leberwurstweltmeister marketingmäßig was machen kann. Ich werde ihnen so viele Ladenlokale vermitteln, wie sie wollen. Ist nicht mein Problem, ob Dobroschke sie bescheißt oder nicht. Natürlich wird er sie bescheißen. Ich weiß, wie es endet. Die Läden werden gehen, wegen der Wurst. Aber die beiden können sich ja nicht hinter die Ladentheke stellen, Dobroschke wird jede Menge schwarz verkaufen und den beiden vorrechnen, daß die Kosten höher sind als die Einnahmen. Dann wird er jemanden aus dem Hut zaubern, der die Läden übernimmt, für einen Bruchteil dessen, was sie gekostet haben, die beiden werden das Schadensbegrenzung nennen. Der Retter ist natürlich ein Strohmann von Dobroschke. Von dem Augenblick an, in dem die beiden draußen sind, werden die Läden saftige Gewinne machen. Meine Mentos sind auch alle. Ich sollte mich besser auf was Zuckerfreies verlegen. Jetzt gehe ich aber rein! Ich freue mich schon wieder auf zu Hause. Wenn meine Frau da ist, erzähle ich ihr die Geschichte mit den Wurstläden, wie sich die beiden Yuppies von dem 330
Leberwurstweltmeister einwickeln lassen. Wie toll die Sache mit den Wurstläden ist, jedenfalls für mich, weil ich die Provision kriege. Wenn meine Frau nicht da ist, ziehe ich mich erst mal aus und setze mich aufs Bett. Dann brauche ich nicht zu erzählen, was ich Sinnvolles tue. Dann gucke ich ganz sinnlos auf die Wand oder aus dem Fenster. Warum muß das unbedingt einen Sinn haben, was man tut? Warum muß denn alles einen Sinn haben? Warum muß man immer so schlau sein und so aktiv? Man kann doch auch anders glücklich werden. Ich bin jedenfalls überhaupt nicht unglücklich, wenn ich aus dem Fenster gucke oder die Wand anstarre.
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Ethel will jemand anderes sein, während sie Fleur folgt und keinen Gruß erwidert (very explicit content) Auf der obersten Aussichtsplattform des Sendeturms blieb Fleur für sich, ohne daß sie sich eigens hätte absondern müssen. Ihr Blick nahm die Menschen wahr, die ihr begegneten, jedoch konnte keiner sie ablenken. Unauffällig gerade dadurch, daß sie sich von den anderen abhob, nahm sie lediglich Anteil an dem, was ihr entsprach. Bemerkten die anderen das leichte Schwanken des Turms, hielten sie inne und stellten sich breitbeinig auf, als ob sie mit der Straßenbahn fahren würden. Fleur wirkte so gelassen, als stehe es in ihrer Macht, jede Katastrophe, die den Sendeturm treffen konnte, abzuwenden. Würde der Schaft des Turms brechen oder würden die Stahlseile reißen, die ihn hielten, dann kostete es sie nur eine Handbewegung, um alle wieder sicher zur Erde hinunterzubringen – ja, womöglich war sie sogar dazu imstande, die Katastrophe rückgängig zu machen, als ob sie nie geschehen wäre: allein mit einem Blinzeln ihrer Augen. Jeder, der Ethel nur anblickte, konnte sie aus der Bahn bringen. – Einmal wollte sie eine Schönheit sein, deren einziges Talent darin bestand, sich gewinnend anzuziehen und verführerisch auszusehen. Es spielte keine Rolle, welche Art von Schönheit das war, doch mußte es eine Schönheit sein, die aus dem Rahmen fiel. Ihr Freund sollte gänzlich unbedeutend sein, ein völliger Versager, ein Mann, der weder gut aussah noch Charme hatte. Aber weil 332
er ihr Freund war, wurde er zu einer Persönlichkeit mit ungeheurer Intensität. Ein andermal wollte sie nur älter sein, nicht genial, dafür fleißig und gründlich. Niemals lief sie irgendwelchen Moden nach. Sie wollte als eine Frau in Erinnerung behalten werden, die kein Fake war. Fleur hatte unter den Gästen der Einweihungsfeier für den neuen Sendeturm in Barcelona jemanden getroffen, den sie kannte. Sie sprach, ohne dabei ihren Blick von der Landschaft abzuwenden. Diese Unterhaltung hatte einen Bann gebrochen, kaum war das erste Pingpongspiel beendet, begann schon das nächste. Sonderbarkeit, daß Fleur auf einmal eine Art Instanz war und alle das Bedürfnis hatten, ihr ein Anliegen vorzutragen, als könne sie etwas bewirken an höherer Stelle. Immer neue schienen nachzurücken und ihre Sache Fleur vorzutragen. Alles wollte Ethel sein, nur keine Instanz. Ihr Freund wußte nicht, was er an ihr hatte. Er nannte sie Das Ding. Manchmal kam sie sehr spät nach Hause, auf ihren hohen Absätzen schwankend, als Schmuck trug sie alte Goldmünzen, und ihr Atem roch nach ein oder zwei oder drei Margaritas. Er bewunderte ihre strahlende Erscheinung und ihre Vollkommenheit – dann brach er in ein schallendes Gelächter aus. Die Liebe war längst vergangen. Wenn er nur dabeigewesen wäre, wie sie in der Fußgängerzone die Jungen getroffen hatte! Auf einmal fand sie sich inmitten einer Meute von zehn- bis zwölfjährigen Jungen wieder. Alle kicherten, einer prustete los, Sie sind so schön! Die Jungen sahen ihr beharrlich auf den Busen und folgten ihr. So lange, bis sie schließlich rief, okay Leute, das sind meine Titten! Sie hob ihr T-shirt nicht zu lange an, aber auch nicht zu kurz. Ihre Stimme war nicht zu laut, aber auch nicht zu leise. 333
Hast du eine Zigarette, fragte Ethel. Ich möchte damit anfangen, mir Löcher in den Handrücken zu brennen. Meistens sagen die Leute nicht, warum sie sich etwas antun. Oder sie sagen etwas ganz anderes, weil sie nicht wollen, daß man den tatsächlichen Grund erfährt. Ich will nur noch ein kurzes Leben führen, ein ganz kurzes Leben, es soll nicht länger dauern als ein paar Tage. Vielleicht werde ich noch schnell jemanden heiraten, aber kurz danach werde ich an einer Kinderkrankheit sterben. Ich will nicht mehr geistreich sein, und ich will keinen Humor mehr haben, ich will einfach nur tapfer sein und darauf warten, daß mich das Leben besiegt. in dem großen apartmenthaus am ocean drive in hallandale vierundzwanzig kilometer nördlich von miami wurde jede woche eine house party veranstaltet der eintritt kostete fünf dollar beglich man die miete für das apartment in bar wurde die identität beim einchecken nicht überprüft ethel mußte bösartig bis in die wurzeln sein wenn egin spürte daß sie noch habsüchtiger und noch machtgieriger war als stine würde er seine hand von stine abziehen und ihr beispringen sie mußte feig sein fest nur im bösen in der heimtücke sie verrechnete sich und gab eine höhere nutzfläche an das würde die kurzfristigen vermietungsschwierigkeiten nicht beheben aber den langfristigen ertragswert erhöhen sie nannte noch ein paar mietinteressenten und eine andere bank würde die zinsen kreditieren sie zweigte mittel von voigtländer ab legte das geld langfristig an und präsentierte es als eigenkapital einer neuen firma soviel geld haben wir auf der bank die neue firma kaufte das objekt zu einem überhöhten preis von der alten die damit einen gewinn erzielte der makler der das grundstück vermittelt hatte bot noch andere objekte an ein 334
ehemaliges ministerium in berlin in dem man sowohl büroräume wie eigentumswohnungen ausweisen konnte ein luxushotel in hamburg an dem auch eine hotelkette interessiert war eine einkaufsgalerie in frankfurt ein hotel in leipzig eins in wiesbaden und ein palais in münchen in dem man luxusbüroräume anbieten konnte was bedeutete schon ein objekt magdeburg war doch nur ein versuchsballon kam der nicht vom boden weg versuchte man es einfach mit dem nächstgrößeren die gewinne aus den größeren operationen würden die verluste aus den kleineren leicht abdecken sie hatten ja gerade erst angefangen warum sollte ausgerechnet das allererste objekt ein volltreffer sein und nicht erst das zweite oder das dritte oder das ministerium in berlin das hotel in hamburg die einkaufsgalerie in frankfurt die hotels in leipzig und wiesbaden das palais in münchen gaben ihr und ihrer mutter alle zeit der welt um den absprung vorzubereiten sie würden nach liechtenstein gehen oder in den iran auf die philippinen nach dubai nach fuerteventura in die karibik nach paraguay nach marbella in die Schweiz oder nach florida das klima tat ihrer mutter gut dort hatten sie schon mehrere urlaube verbracht vom letzten waren sie erst seit ein paar tagen zurück sie färbten sich die haare und gaben sich als französinnen aus sie erzählte daß ihre mutter schwer krank war die leute hatten mitleid und stellten keine fragen sie mieteten ein de-luxe-apartment und verlängerten von monat zu monat sie sagte einfach meiner mutter geht es noch nicht so gut sie möchte noch hierbleiben den schönsten blick über den atiantik boten die de-luxe-suiten im obersten geschoß mit zwei schlafzimmern und zwei bädern während der hochsaison im winter kostete eine de-luxe-suite dreitausendsiebenhundert dollar im monat im hochsommer sank die miete auf zweitausend dollar verglichen mit den hotelpreisen konnte man bei den 335
mieten eigentlich nicht von luxus sprechen es war sehr schwierig in die de-luxe-suiten zu kommen die meisten gaste waren stammgäste die immer zu denselben zeiten dieselben suiten belegten viele der einheiten gehörten exilkubanern ethel hatte am empfang nach dem kaufpreis für die apartments gefragt etwa drei- bis vierhunderttausend dollar was die suiten kosteten wußte sie nicht sie ließen es sich an nichts fehlen genug bargeld hatten sie ja dabei sie zahlten immer sofort und gaben gute trinkgelder nachdem die gaste des apartmenthauses fast ausschließlich alte leute waren ging es am pool äußerst ruhig und gesittet zu angenehm auch daß man das apartment nicht mit reinigungsservice mieten mußte natürlich wollten sie nicht daß jemand anderer zu ihrem apartment zugang hatte wenn ihnen die polizei auf die spur kam würden sich die polizisten zuerst als reinigungskräfte verkleiden bei ihrem probeurlaub waren die house parties gar nicht die tortur gewesen die ethel erwartet hatte damit die enkel auch ihre großeitern besuchten hatte man sogar rapper engagiert irgendwann würde das zurückgezogene leben zu ende sein sie würden bestimmt keinen widerstand leisten ethel wollte von einem polizisten verhaftet werden der aussah wie fleurs freund angel Während die beiden Kinder der Toten auf den Lift warteten, fragte Fleur Ethel, wirst du jetzt die Leute mehr oder weniger duzen. Es wird zuviel geduzt auf der Welt, Ethel war auf einmal sehr bestimmt, ich werde niemanden mehr duzen. Auch mich nicht, fragte Fleur. Ethel schüttelte den Kopf, auch dich nicht. Du kannst ja jetzt alles werden, Fleur sah Ethel nicht an. Und was ist dein Traumberuf? Ethel antwortete, sie habe sich immer vorgestellt, auf einem Sportplatz zu wohnen oder ganz nahe dran, als 336
Sportlehrerin oder auch als Platzwart, so könne sie immer sofort Sport treiben und solange sie wolle. Ob sie vielleicht gerne Dirigentin werden möchte. Ethel dachte nach und sagte nein, keine Dirigentin, sondern Pianistin, ihre Mutter wäre allerdings gerne Dirigentin gewesen. Ob sie ein Tagebuch führe, wollte Fleur wissen. Ethel führte kein Tagebuch. Aber sie wünschte sich, daß sie Tagebuch geführt hätte, dann könnte sie alles nachvollziehen, dann wüßte sie, wie alles gekommen war. Fleur warf ein, sie könne doch in ihrem neuen Leben Tagebuch führen. Ethel zuckte mit den Schultern. Welche Freunde hast du noch. Nur dich. Trinkst du noch, fragte Fleur. Ethel blickte an Fleur vorbei. Möchtest du nicht kotzen, fragte Fleur. Ethel gab zurück, es ist ja keiner da, der es wegmachen würde, ich müßte es selber wegmachen. Warum bleibst du nicht einfach zu Hause, Fleurs Frage war keine Frage. Fernsehen allein reicht nicht, das solltest du doch wissen, Ethels Antwort war keine Antwort. Aus dem Dialog mit Ethel würde Fleur bestimmt kein Video machen. Das Leben hilft mir nicht, also kannst du mir auch nicht heifen, Ethel wandte Fleur den Rücken zu. Was ist Leben, fragte Fleur. Ist Sich-betrügen-Lassen leichter als Betrügen, Fleur legte ihre Hände auf Ethels Schultern. Auf alle Fälle, man betrügt die Menschen, weil man die Menschen haßt, ich glaube, daß es so schlimm ist, bei manchen ist es angeboren. Ethel neigte den Kopf zur Seite, so daß er auf der Hand Fleurs zu liegen kam, werden die Leute über mich tuscheln. Natürlich werden sie über dich tuscheln. Wenn du älter wirst, soll das langsam gehen, erst bekommst du wenige weiße Haare, dann wirst du grau und schließlich weiß, oder möchtest du plötzlich, auf einmal weiß sein. Ethel 337
flüsterte, ich möchte ganz schnell weiß werden, am besten von einem Tag auf den anderen, ich werde mir die Haare wieder lang wachsen lassen und mir einen Mittelscheitel zulegen, weiße Haare und junge Haut sehen ungeheuer sexy aus. Fleur mußte an den Brief des Biennale-Kurators denken, den sie am Morgen erhalten hatte und den sie bei sich trug. Liebe Fleur, einige Ländervertreter haben Anstoß am Text deines neuen Videos genommen. Könntest du, zur Vermeidung überflüssiger Polemik (Pornographievorwurf etc.), das Video noch einmal überarbeiten? Die Passagen, um die es geht, sind folgende: … Das sagte dann auch mein zweiter Mann, da war ich immer noch stolz, denn ich dachte, das hast du von Onkel unverständlich gelernt, bis ich merkte, das sagen überhaupt alle Männer, wenn man ihren Schwanz in den Mund nimmt. Jemand wie ich, der es wirklich kann, fühlt sich dadurch ziemlich abgewertet, ich meine, es ist wirklich nicht nett, jemandem wie mir dasselbe zu sagen wie einer bibbernden Kunsthistorikerin, die einmal den Schwanz ihres Angebeteten in den Mund nimmt und die größte Angst hat, was ist, wenn’s jetzt losgeht … … Sagen kann ich sowieso nichts, einen Schwanz habe ich immer im Mund. Ein geiles Mampfen, ich kriege regelrecht einen Brechreiz, weil der von dem Jüngeren so lang und so dick ist, und das Geräusch, wie der Sack von dem Älteren gegen meine Arschbacken klatscht, während er mir ihn in die Möse stößt. Als ich einen Augenblick doch einmal keinen Schwanz im Mund habe, stöhne ich, los fickt mich, rammelt mich zu Kleinholz. Aber ich 338
brauche keine Angst zu haben, daß die beiden Schwänze davonlaufen. Sie tun wie ihnen geheißen, der mit dem Tshirt stößt wie ein Preßlufthammer, den anderen habe ich fast im Magen, und beide kommen zugleich, der eine in der Fotze, der andere im Mund … … Und dann würde ich wissen, warum der Wald unverständlich hieß. Denn ich würde plötzlich spüren, wie in meinem Hintern ein Ast wächst. Deswegen hatte ich also mit beiden Händen die Arschbacken auseinanderziehen sollen. Ich würde sagen, da gehört er aber nicht rein und daß es weh tun würde, aber ich würde keine Chance haben in meiner Position als Teilzeitkraft. Er würde sich den Schwanz mit irgendwas eingeschmiert haben, trotzdem würde ich das Gefühl haben, als ob es mir die Eingeweide zerreißt. Er würde ihn mir jedenfalls bis zum Anschlag reinstecken und dann stoßen, daß der Stein unter uns wackeln würde … … Jeder steckte seinen Schwanz irgendwann in meine Fotze, drei trauten sich auch in meinen Arsch, was keine so großen Schwierigkeiten bereitete, er war durch den Ersteinsatz gut geweitet, irgendeinen Schwanz hatte ich immer im Mund, sie haben an meinen Titten rumgemacht, sie haben mir zwei Schwänze in den Mund gesteckt, und natürlich haben sie auch probiert, mir zwei in die Fotze zu stecken. Das ging so lange, bis ich überall wund wurde, ich habe ihnen gesagt, daß sie jetzt doch abspritzen sollten. Es war wirklich ein Spermabad. Die in mir keinen Platz hatten, bediente ich mit den Händen, ich bearbeitete sie so, daß sie sich gegenseitig vollspritzten. Mir lief der Saft aus 339
allen Löchern, ich klebte von oben bis unten. Einer fummelte sogar an meiner Nase herum, als ob er mir den Saft auch noch in die Nasenlöcher pumpen wollte … … Mein Problem ist nicht, daß ich mich nach der Fickerei grundsätzlich schlecht fühle. Es sind nicht die Sauereien, die mir zusetzen. Es ist die Unausweichlichkeit. Mein Leben besteht doch noch aus anderen Dingen. Das heißt nicht, daß ich keine Lust mehr hätte. Aber insgesamt ist es ein einziger unmenschlicher Zwang, von dem ich loskommen möchte. Obwohl ich natürlich zugeben muß, nach allem, was ich erlebt habe, könnte ich mit Hausfrauensex nicht mehr viel anfangen. Dann besser ganz ohne Männer … Im Aufzug erklärte ein Video, der Turm sei insgesamt zweihundertachtundachtzig Meter hoch, während der Durchmesser des Schaftes viereinhalb Meter betrage. Dieses Video wollte niemand zensieren!
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Es darf keinen besseren Schalter geben als den Global Breaker Der Leiter deiner US-amerikanischen Landesgesellschaft hat gekündigt. Geschmackloserweise hat er dir eine Broschüre der Firma geschickt, deren Geschäftsführer er jetzt ist. Die Wüstenmetropole Phoenix in Arizona. Das Heim der Untoten. Bilder von den Bigfoot dewars, knapp drei Meter hohen Thermosbehältern aus Metall auf Rollen, darin ein Tiefkühlbad aus flüssigem Stickstoff. Die Aufbewahrung eines ganzen Menschen kostet 120000 Dollar, die Behandlung des abgetrennten Schädels 50000 Dollar. Wer stirbt schon gerne endgültig, irgendwann kommt der Durchbruch der Medizin zum ewigen Leben. Zehn Minuten, nachdem die Durchblutung des Gehirns aussetzt, beginnen die chemischen Reaktionen, in deren Folge die Zellen absterben. Haben ihn die Krankenhausärzte aufgegeben, wird der Patient in eine eisgefüllte Plastikwanne gelegt. Ein Arzt von Alcor, so heißt die Gesellschaft, zu der dein Mitarbeiter gegangen ist, nimmt einen Luftröhrenschnitt vor und schließt den Patienten an eine Herz-Lungen-Maschine an. Die Herz-Lungen-Maschine preßt den Brustkorb rhythmisch zusammen, durch einen Tubus in dem Luftröhrenschnitt wird Sauerstoff in die Lungen geblasen. Eine externe Pumpe hält den Blutkreislauf in Gang, dem leblosen Körper wird nun noch eine Nährlösung zugeführt. Dann ersetzt der Arzt das Eigenblut durch eine Flüssigkeit, die man üblicherweise zur Konservierung von Spenderorganen für Transplantationen benutzt. Nach vier Stunden ist der Flüssigkeitsaustausch beendet. Jetzt liegt die Körpertemperatur bei 2 °C, der Patient reist in einer 341
metallenen Kiste auf Trockeneis nach Phoenix. Organspenden wie Herz und Nieren halten sich auf diese Weise achtzehn bis vierundzwanzig Stunden frisch. Im Hauptquartier von Alcor öffnen Fachkräfte die Brust des Patienten, legen einen Bypass an und kappen die Verbindung zur Lunge, um einen effektiveren Kreislauf vom Herzen zum Gehirn zu etablieren. Sie tauschen das Organkonservierungsmittel gegen das Frostschutzmittel Glycerin aus. Eine Stunde nach Beginn der Glycerinzufuhr wird ein Guckloch in den Schädel des Patienten gebohrt, um die Trockenlegung der Zellen zu verfolgen. Durch die Öffnung kann man beobachten, wie sich das Gehirn vom Schädel zurückzieht. Der erneute Flüssigkeitsaustausch dauert etwa fünf Stunden, schließlich klafft zwischen Schädeldecke und Gehirn ein Abstand von etwa zwei bis drei Zentimetern. Danach wird, je nach Bezahlung, entweder der Kopf vom Körper getrennt, zwischen dem sechsten und siebten Halswirbel, und der offene Nacken mit einer Art Hautklammer zusammengeheftet, oder die Brust wird wieder zugenäht, der Körper in eine Plastikplane eingewickelt und in ein Silikonöl-Trockeneisbad getaucht. In etwa sechsunddreißig Stunden kühlt der Körper auf -97 °C ab. Dann wird er in einen Plastikschlafsack gehüllt und Zentimeter für Zentimeter in ein Stickstoffbad gesenkt. Nach zwei Wochen ist die Endlagertemperatur von -196 °C erreicht. Bei dieser Temperatur gibt es keine chemischen Reaktionen und somit keine biologischen Abläufe mehr. Wenn die Stunde der Wiederauferstehung gekommen ist, beginnt die Rekonstruktion des Gehirns und des Körpers. Die Temperatur des Körpers wird auf -130 °C angehoben, Trillionen von Nanobots, zellgroßer BioRoboter, räumen die Blutbahnen von Eis frei, bis neue 342
Kühlflüssigkeit zirkulieren kann. Andere Nanobots beseitigen die Gefrierschäden an den Zellen. Die Roboter entnehmen auch DNA-Proben, aus ihnen wird die Erbsubstanz rekonstruiert. Reparaturenzyme setzen nach Zellanalysen die Reprogrammierung der DNA in Gang … Du pfefferst die Broschüre in den Papierkorb neben dem Wagenstandanzeiger. Da bist du altmodisch: Du fliegst nicht gern, fährst lieber Zug. Welcher ist der Wagen, in dem du einen Platz reserviert hast? Aber du willst gar nicht sofort zu deinem Platz. Du nimmst dir die Zeit, durch den ganzen Zug hindurchzugehen. Auf diese Weise kannst du noch einmal alle Phasen deiner Entscheidung überprüfen. Du mußt ja nicht im reservierten Abteil Platz nehmen, vielleicht ist dir ein anderes Abteil lieber. Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich das Herz zum Herzen findet. Das strategische Ziel heißt Global Breaker. Ein Schalter, der alles bisher Bekannte in den Schatten stellt: ein Schalter, der offen ist, ein Schalter, der lernt, ein Schalter, der wirklich kommunizieren kann. Der reservierte Wagen befindet sich an der Spitze des Zugs, hinter der Lokomotive. Also gehst du erst einmal auf dem Bahnsteig parallel zum Zug ganz nach hinten, um dann in den letzten Wagen einzusteigen, in den Wagen des strategischen Entscheids. Warum entwickelst du den Global Breaker nicht allein, fertigst ihn nicht allein und bringst ihn nicht allein auf den Markt? Das erste Abteil, an dem du vorbeikommst, ist der Zeitvorteil. Während der Verhandlungen hat sich herausgestellt, daß deine Partnerin mit der Entwicklung für den Global Breaker schon viel weiter ist als du. Schnell zum zweiten Abteil. Du bist mit deinem Schalterprogramm Marktführer in Europa, deine Partnerin 343
ist mit ihrem Schalterprogramm im nichteuropäischen Ausland stark. Bei der gemeinsamen Fertigung und Vermarktung des Global Breaker ergeben sich Synergieeffekte, die ermöglichen einen gemeinsamen Marktanteil, der weit über die Summe der jetzigen Marktanteile hinausgeht. Das nächste Abteil ist die Risikominimierung, bei der Zusammenarbeit von zwei renommierten Entwicklungsabteilungen muß einfach etwas herauskommen. Das folgende Abteil, der Marktzutritt, ist dir besonders sympathisch. Über die Vertriebsauslässe deiner Partnerin erhältst du auch für andere Produkte Zugang zu Abnehmern, die noch keine Kunden von dir sind. Jetzt begegnet dir der Fahrdienstleiter. Du wunderst dich, warum er nicht auf dem Bahnsteig zur Spitze des Zugs läuft, sondern wie du durch die Wagen geht. Er kommt dir entgegen, er hat seine Signalkelle dabei und schaut dich prüfend an. Aber dann macht er dir höflich Platz. Du hast gar nicht gleich gemerkt, daß du schon im nächsten Wagen bist, so scharf hat dich der Fahrdienstleiter angeschaut. Im Weitergehen hast du das Gefühl, sein Blick bleibt an deinem Hinterkopf kleben. Du hast ein schlechtes Gewissen, weil du nicht ganz so systematisch vorgehst, wie du glauben machen willst. Du hättest nicht unbedingt im allerletzten Wagen des Zugs beginnen müssen, du hättest in einen der hinteren Wagen einsteigen, durch ein, zwei Wagen hindurchgehen und wieder aussteigen können, um schließlich bequem auf dem Bahnsteig zur Spitze des Zugs zu gelangen. Das tust du nicht, dazu bist du viel zu gewissenhaft. Aber du hast das Gefühl, der Fahrdienstleiter merkt ganz genau, daß du trotzdem schummelst. Auf der Stufe des strategischen Entscheids hast du von 344
vornherein nur die Jumelage mit Stine im Kopf gehabt. Und auch jetzt, bei der Ausgestaltung der Beziehungen, weißt du schon vorher, welche Tätigkeiten verknüpft werden sollen. Du hast dich für ein Zusammengehen mit einem Wettbewerber entschieden. Dabei sind natürlich auch ganz andere Bündnisse denkbar. Du könntest die Entwicklungsarbeiten für den Global Breaker vergeben. Du brauchst den Global Breaker nicht einmal selbst zu fertigen, du müßtest dir nur genügend Einfluß auf denjenigen sichern, der ihn in deinem Auftrag herstellt, damit er nicht auch für deine Wettbewerber tätig wird. Ihr habt auch eine andere Form der Zusammenarbeit diskutiert, die eine sollte fertigen, die andere vermarkten, entwickelt hätte man gemeinsam, aber darauf wollte sich Stine nicht einlassen, selbst wenn sie die Produktion übernommen hätte, dann wärst du ihr einziger Abnehmer gewesen. Ihr habt euch darauf geeinigt, daß jeder die Hälfte des neuen Unternehmens gehört. Bei unterschiedlicher Meinung gibt es also ein Patt. Damit muß Stine sehr zufrieden sein, denn sie ist die kleinere. Für dich ist es ungewöhnlich, nicht alleine zu bestimmen. Es bedurfte einer gewissen Überredungskunst, den Zentralvorstand zu überzeugen, üblicherweise geht der Konzern nur im Ausland Joint ventures ein, bei denen er nicht die Mehrheit hat. Du mußtest die Wahrheit sagen, daß die Position deiner Partnerin so gut ist, weil sie mit ihrem Global Breaker bestimmt eher fertig wäre als du, dann hättest du gewaltig das Nachsehen. Weil sie jedoch nicht über genügend Kapital verfügt, um die Produktion optimal zu gestalten, ist es vernünftiger für sie, dich ins Boot zu holen. Außerdem ist die Vertriebsorganisation des Konzerns im nichteuropäischen Ausland viel schwächer 345
als diejenige deiner Partnerin, du hast keinen Einfluß auf die Aufmarschordnung der Landesgesellschaften, das ist Sache des Zentralvorstands. Als du gerade den nächsten Wagen betrittst, gibt es ein Rucken, und du mußt dich festhalten. Offensichtlich ist ein weiterer Wagen angehängt worden. Du wirst unwirsch. Was, bitte, kann sich denn noch vor den strategischen Entscheid schieben? Die Zugfahrt ist ja schlimmer als die Erstellung der Vorlage für den Zentralvorstand! Dann kommt dir der Kontrolleur entgegen. Er blickt dich an, als ob er dich jetzt schon nach deiner Fahrkarte fragen würde. Dabei ist der Zug noch nicht einmal losgefahren, du könntest ja ein Angehöriger sein, der jemanden in den Zug bringt oder der sich den Zug einfach nur ansieht. Du kannst immer noch vor Abfahrt des Zugs aussteigen. Aus dem Wagen der Wahl des Partners. Der Sprecher des Zentralvorstands fragte dich, ob du zu Stine Vertrauen hast. Du hattest dich darauf vorbereitet, daß er wie gewöhnlich bei Adam und Eva anfängt, du hättest ihm gar nicht zugetraut, daß er die Hauptschwierigkeit sofort auf den Punkt bringen würde. Später fragte er nach dem strategischen Fit. Du hast gesagt, es ist eine eindeutige Win-win-Situation, da blickte er dich mißbilligend an, er mag Anglizismen nur, wenn er sie selbst verwendet. Du hast ausgeführt, daß die Geschäftspläne äußerst harmonisch sind und daß die gleiche Harmonie für die strategischen Zielsetzungen der beiden Seiten gilt, überraschenderweise stimmen auch die Planungshorizonte in hohem Maße überein. Schließlich hielt er einen Vortrag über den kulturellen Fit. Du und Stine, ihr müßt ein System von gemeinsamen Werten, Führungsstilen und Kulturen erstellen. So viele Möglichkeiten gibt es nicht. Die bisherigen Kulturen der 346
Partner existieren in dem neuen Unternehmen nebeneinander fort. Stines Mitarbeiter sind flexibler, dafür sind deine Mitarbeiter gründlicher. Die Kulturen werden verschmolzen. Natürlich würde man sich wünschen, daß die vorteilhaften Elemente aus beiden Kulturen zu einer neuen einheitlichen Kultur zusammenfinden. Die Kultur eines der beiden Partner setzt sich durch. Eigentlich hoffst du, daß sich Stines Kultur durchsetzt, das neue Unternehmen soll flexibler und schneller sein, in dem neuen Unternehmen soll die Hierarchie an Bedeutung verlieren – das darfst du gerade denken! Giovanna und Marco denken es wahrscheinlich auch. Dem Sprecher des Zentralvorstands hast du mit einem überzeugenden Augenaufschlag gesagt, du stehst dafür ein, daß sich eure Kultur durchsetzt. Er mahnte dich, natürlich gebe es auch den Fall, daß jeder versucht, seine Kultur durchzusetzen, man einigt sich nicht, und am Ende ist die Sache dann nicht mehr steuerbar. Du konntest ihn beruhigen. Während die Fabrik noch im Bau ist, werden in einem Team Geschäftsprozesse simuliert, so könnt ihr sehen, ob es funktioniert. Wenn es nicht funktioniert, müssen personelle Konsequenzen gezogen werden. Eine Großfamilie mit ziemlich viel Gepäck kommt dir entgegen, an der du nicht vorbeikannst. Aber du bist gar nicht böse, nicht sofort in den Wagen Management weitergehen zu können, sondern vor einem Abteil des Wagens Wahl des Partners warten zu müssen, bis die Großfamilie an dir vorbeigezogen ist. Einmal brachte Stine ihren Freund mit. Er war jünger als sie, du wußtest lediglich, daß er in der Immobilienbranche arbeitet. Während des Abendessens stand er immer wieder auf und ging zur Toilette. Du nahmst an, er habe eine Magenverstimmung. Aber als du ebenfalls einmal zur 347
Toilette gingst, die Türen zwischen der Damen- und der Herrentoilette standen offen, bekamst du mit, daß er nur aufgestanden war, um sich die Hände zu waschen. Er hatte einen Waschzwang. Weil der Koch das Menü umstellen mußte, brachte der Kellner während des Essens erneut allen die Speisekarten. Stines Freund legte die Speisekarten auf Stoß übereinander. Du und Stine, ihr habt euch über Einzelheiten des Joint venture unterhalten und euch dabei Notizen gemacht. Ihr Freund ordnete auch ihre Unterlagen, er stapelte die Blätter randbündig, nachdem er sie vorher glattgestrichen hatte, und legte das Lineal und im rechten Winkel den Kugelschreiber Stines darauf, so daß sie ein sauberes T ergaben. Zu fortgeschrittener Stunde entnahmst du einer nebensächlichen Bemerkung, daß Giovanna und Marco mit Stines Freund nicht nur die Grundstücke für das Joint venture besichtigt hatten. Sie wollten Immobilien kaufen, die er ihnen vermittelte. Es berührte dich seltsam, daß dir Giovanna und Marco überhaupt nichts von ihren privaten Plänen erzählt hatten. Als dich der Sprecher des Zentralvorstands fragte, ob du Stine vertraust, mußtest du an diesen Abend mit Stine und ihrem Freund denken. Du hattest als Immobilienentwickler einen oberflächlichen, unverbindlich freundlichen Menschen erwartet. Eins von den üblichen Immobilienarschlöchern. Dieser sah genauso aus und kleidete sich auch genauso, aber er sagte fast nichts, sondern war von lauter Zwängen befallen, die außer dir niemand zur Kenntnis nahm. Irgendwie hattest du das Gefühl, daß die Situation jeden Moment umschlagen konnte. Man geht gemeinsam aus, man ist unheimlich gut Freund, sich in allem völlig einig. Bis auf eine Kleinigkeit. An dieser Kleinigkeit entzündet sich eine 348
hitzige Diskussion, man hat etwas getrunken, eben wollte man noch untergehakt aus dem Lokal schwanken, statt dessen wirft man sich auf einmal Dinge an den Kopf, die man sonst nicht einmal zu denken wagt. Du hast dem Sprecher des Zentralvorstands keine Antwort gegeben, als er dich nach deinem Vertrauen zu Stine fragte. Du hast ihn so angesehen, daß er die Frage für beantwortet hielt. Aber tatsächlich hast du dir die Frage nicht einmal selbst beantwortet. Jetzt bist du in dem Wagen Management angelangt. Kaum hast du ihn betreten, mußt du schon wieder warten, denn da werden gleich gegenüber dem ersten Abteil Koffer durch das Fenster gereicht. Dir erscheint das als eine ziemlich überflüssige und rätselhafte Mühe. Man könnte doch einfach mit den Koffern einsteigen und sie durch den Gang tragen, zumal sie alle ins erste Abteil kommen! Aber nein, da stemmt jemand Koffer für Koffer hoch, und jemand anderer nimmt sie in verkrampfter Haltung im Fenster entgegen. Das muß eine ganze Ausrüstung sein, nur weißt du nicht, wofür. Du hättest zu der Vertragsunterschrift auch fliegen können, oder du hättest dich chauffieren lassen können. Aber du wolltest unbedingt den Zug nehmen. Du wolltest die Möglichkeit haben, jederzeit auszusteigen, bevor der Zug abfährt, und auch noch später, bei jedem Halt. Aus Vielfalt soll Einheit werden. Du mußt zugeben, daß du nicht wirklich weißt, welche Einheit. Du hast das Gefühl, Stine und du, ihr habt euch von irgend etwas abgespalten, und ihr zerspaltet euch weiter, gerade weil ihr das Joint venture eingeht. Je mehr ihr euch auf das Joint venture konzentriert, desto mehr treibt ihr, Stine und du, auseinander, desto mehr zerfallt ihr. Ihr werdet immer 349
egoistischer, euer gesamtes Tun und Lassen bekommt einen rücksichtslosen Zug. Wie können eure Mitarbeiter zueinanderfinden, wenn da kein Mittelpunkt ist? Sowohl Stine als auch du, beide wollt ihr die Einheit, aber ihr geht am Grund eurer Uneinigkeit vorbei und versucht, das Problem durch Management zu lösen. Tatsächlich stellt das Joint venture eine Form der organisierten Gewalt zwischen euch dar … Du denkst, hoffentlich dauert’s nicht mehr lange bis zur Abfahrt! Die nächsten Abteile sind die Begrenzung des Risikos für den Fall, daß das strategische Bündnis scheitert, die Einschränkung des Partners in bezug auf weitere strategische Bündnisse und die Beteiligung am Wachstumspotential des Partners, an diesen Abteilen gehst du sehr schnell vorbei. Du hast angenommen, du kannst den Wagen Management ungeschoren durchqueren, weil alle Abteile dort für Giovanna und Marco reserviert sind. Aber dann siehst du das Abteil Lebenszyklus, und du hältst inne. Natürlich kann man den Lebenszyklus von Produkten auch auf die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen übertragen. Am Anfang bilden Zuversicht und Begeisterung die Grundlage für das Bündnis, es gibt keinen Gegenstand, über den man sich nicht einig würde. Ist dann der Vertrag unterschrieben und wird er umgesetzt, holt der Alltag die Partner ein, erste sachliche und menschliche Probleme treten auf. Die Konflikte müssen nicht notwendigerweise unerfreuliche Auswirkungen haben, bestimmte Spannungen können sich als durchaus leistungsfördernd erweisen. Vielleicht haben die Partner doch ganz unterschiedliche Vorstellungen von der Zusammenarbeit gehabt, die sich nun in unterschiedlichen Auffassungen zu Sachfragen äußern. Die Widersprüche müssen durch Krisenmanagement eliminiert werden, sonst ist dem Joint venture kein Erfolg beschieden … Ihr seid 350
von der Zeit abgefallen, Stine und du, das ist es. Ihr wollt eure eigene Zeit machen. In dem Joint venture sollen die Produkte nicht ständig verbessert oder unablässig neue Produkte entwickelt werden, das Joint venture soll den perfekten Schalter produzieren. Es darf keinen besseren Schalter geben als den Global Breaker. Ihr wollt die Zeit an ein Ende bringen. Vielleicht ist es nicht nur für dich und für Stine, sondern für uns alle ein Segen, wenn es keine Zeit mehr gibt! Aber die Zeit, die wir alle kennen, wehrt sich dagegen, daß sie zunichte gemacht werden soll. Ihr wollt euch selbst an die Stelle der Zeit setzen, doch tatsächlich nimmt das Joint venture die Stelle der Zeit ein, dieses verschlungene Geflecht von Unsicherheit, Angst, Abwehr, Mißtrauen, Auflehnung und Eigenmächtigkeit. Eine seltsame Evolution, die scheinbar darauf abzielt, daß alles wieder so sein soll wie vor ihrem Beginn! Wirst du unterschreiben? Würde man heute noch Burgen bauen, sie sähen so aus wie dieses Leipziger Bürohaus. Aus dem Gebäude wird man bestimmt nicht herausgelassen, ohne das erledigt zu haben, wozu man sich dort verabredet hat. Gerade willst du die grünen Inschriften auf dem weißen Marmorboden des Innenhofes lesen, da kommt dir Stine entgegen. Sie hat ein hochgeschlossenes Wollkleid mit Dreiviertelärmeln an, das schmal und körperbetont geschnitten ist. Ihre Haare sind zurückgekämmt, sie hat einen weißlichen Lippenstift aufgelegt, die Augen sind schwarz ummalt. Während sie dich begrüßt, hält sie den Kopf leicht geneigt. Sie wirkt überlegen, aber nicht anmaßend. Wirst du unterschreiben? Wer fragt hier wen? Du fragst dich. Aber wer fragt wirklich wen? Seit du aus deiner 351
Haut gefahren bist, stellst du zum ersten Mal diese Frage. Fragst du dich selbst, fragt diejenige, die aus deiner Haut gefahren ist, oder fragt diejenige, aus deren Haut du gefahren bist? Du antwortest ja, natürlich wirst du unterschreiben, was denn sonst. Aber wer antwortet dir? Also, du wirst tatsächlich unterschreiben. Dabei bist du nicht hundertprozentig überzeugt. Mit dir ist es immer das gleiche, nichts zu machen! Wer antwortet dir jetzt nicht? Die, aus deren Haut du gefahren bist, oder die aus deiner Haut gefahren ist? Schließlich gehen wir ja alle zusammen zum Notar! Du, du und Stine. Du hast den Stuhl so gedreht, daß er fast seitlich zum Tisch steht, und die Beine übereinandergeschlagen, du blickst auf den Palisandertisch und auf die Palisanderverkleidung der Wand. Es soll so wirken, als ob du den anderen eigentlich den Rücken zuwenden würdest. Als ob du gar nicht am Tisch sitzt. Natürlich hast du einen BH unter der Bluse an. In der Schule hast du immer die Schultern vorgebeugt, damit man deine großen Brüste nicht sehen sollte. Deine Mutter war deshalb sogar mit dir beim Arzt, der hat dir nur gesagt, halten Sie sich gerade, Sie müssen sich nicht schämen. Jetzt hältst du dich nicht nur gerade, du streckst den Brustkorb vor. Du mußt Stine etwas entgegensetzen. Zu deiner Befriedigung stellst du fest, daß Stine beim Notar nicht um Längen gewinnt. Der Notar sieht euch abwechselnd an, du hast den Eindruck, er denkt darüber nach, für welche von euch beiden er sich entscheiden würde, wenn er die Wahl hätte. Mit Genugtuung registrierst du, daß er es nicht weiß. Sicherlich gefällt es ihm, daß Stine so schlank und so elegant ist, aber dir guckt er immer wieder auf den Busen. Du gewinnst deine Sicherheit zurück, wirst ruhiger und gelassener. 352
Du darfst keinesfalls unterschreiben, verstehst du! Was mache ich denn jetzt schon wieder falsch? fragst du zurück, dir kann man’s wohl nie recht machen! Es wird unterschrieben! Nein! widersprichst du dir ganz heftig, du wirst nicht unterschreiben! Und du wirst doch unterschreiben, setzt du dagegen, du wirst es selbst sehen, mit deinen eigenen Augen! Giovanna und Marco haben für die beiden in Frage kommenden Grundstücke die Voreigentümer ermittelt. Beide Grundstücke waren früher zum Teil in jüdischem Besitz. Giovanna und Marco rieten zu dem Grundstück, für das Rückübertragungsansprüche gestellt wurden, über die sollte entschieden werden, bevor das Joint venture rechtskräftig würde, du hast das Grundstück vorgezogen, für das noch keine Rückübertragungsansprüche gestellt sind. Im Vertrag stehen falsche Flurnummern. Während der Notar hinausgeht, um die Entwürfe auszubessern, unterhältst du dich mit Stine über die neue Fabrik. Du glaubst es nicht, Stine singt das Hohelied der Wissenschaft! Die Produktion soll mit Statistical Quality Control und mit einer neuen Fertigungskostenrechnung beginnen. Stine sieht SQC keineswegs nur als ein Instrument der Produktionssteuerung, baut man eine Fabrik auf der grünen Wiese, sollten sich die Strukturen von vornherein nach SQC richten. SQC ist eine rigorose wissenschaftliche Methode, um herauszubekommen, mit welcher Qualität und Produktivität bei einem Produktionsverfahren zu rechnen ist. Außerdem zeigt SQC Fehlfunktionen und ihre Ursachen sofort an, das geht schon mit kleinen Stichproben. SQC verknüpft Information mit Verantwortung. Die Einheit der neuen Kostenrechnung, die Stine einführen will, ist die Zeit … 353
Es gibt keine variablen Kosten. Die Kosten für eine gegebene Zeitspanne stehen fest. Das gilt nicht nur für die Personalkosten, sondern auch für die Materialkosten. In den herkömmlichen Kostenrechnungsverfahren verursachen Bestände an Fertigerzeugnissen keine Kosten, weil keine Produktion mehr stattfindet. In der neuen Fertigungskostenrechnung stellen diese Bestände kein Vermögen, sondern Kosten dar. Denn sie binden teures Kapital und verbrauchen wertvolle Zeit. Die einzig variable Größe und zugleich die einzig beeinflußbare Größe ist die Zeit, die ein gegebener Ablauf beansprucht. Du kannst nicht so tun, als ob du unterschreiben würdest, und dann tatsächlich nicht unterschreiben. Du kannst entweder unterschreiben oder nicht unterschreiben. Gib zu, du hast Angst, daß ihr, du und Stine, an eurer neuen Zeit erkranken und zugrunde gehen werdet. Auch andere haben sich schon aus der gewöhnlichen Zeit ausgeklinkt und ihre Menschlichkeit durchaus nicht eingebüßt, wogegen diejenigen, die die gewöhnliche Zeit anerkennen, sich verhuscht durchs Leben mogeln und aus lauter Angst zu keinem eigenständigen Gedanken fähig sind. Welche Zeit meinst du eigentlich? Das bringt dich in die Defensive. Du fragst dich rhetorisch zurück, ja was für eine Zeit soll ich denn meinen. Du verlangst von dir, streng dich doch bitte an. Du hältst dir entgegen, man muß unterscheiden zwischen der Zeit und der Vorstellung von der Zeit. Es gibt eine Zeit, die hinter allen Anschauungen steht und der alles seinen Ursprung verdankt. Es hat eine Zeit gegeben, die war, als noch nichts war. 354
Das sagst du! widersprichst du dir ganz vehement. Wenn es nichts gibt, dann gibt es auch keine Zeit mehr! Die Zeit ist entstanden wie alles andere. Als es noch keine Gegenstände gab, gab es auch keine Zeit. Die Zeit ist genauso notwendig oder nicht notwendig wie alles andere. Wenn keine Gegenstände mehr existieren, dann existiert auch die Zeit nicht mehr. Du beschwichtigst dich, du hast ja die Abschaffung der Zeit noch nicht unterschrieben. Siehst du diesen Stift hier? fragst du dich darauf. Mit diesem Stift wird unterschrieben! Und du erklärst dir, daß du in die Zeit zurückwillst, die war, als noch nichts war. Wirst du unterschreiben? Alle Dinge, auch deine eigene Existenz, sind durch und durch zufällig. Alles ist beliebig. Aber da gähnt kein Abgrund, enthüllt sich kein Nichts. Du hast keine unendliche Angst, wovor denn. Du bist im Beliebigen geborgen. Du könntest mit jemand anderem zusammengehen. Aber du willst das Joint venture mit jemandem, dem du nicht vertraust. In diesem Moment erhebt sich ein leidenschaftlicher Wille in dir, das durchzuführen, was ihr geplant habt. So kannst du dich selbst begründen! Steckt nicht doch ein wenig Angst dahinter, eine neue Zeit einführen zu wollen, wie die Zeit sein zu wollen? Nein, dein Dasein ist keine unendliche Last, deine Freiheit kein verhängnisvoller Fluch. Dein Leben wird durchaus nicht jederzeit vom Tod bedroht. Du mußt gar nicht vor dir selber fliehen! Dieses Dasein ist doch so gut wie jedes andere. Da ist kein Untergrund, in dem etwas lauert, die Negation, das Nichtsein. Alles sagt, daß eine Zeit möglich ist, die regiert, und vielleicht ist das eure Zeit, deine und Stines! Ihr seid das, was die anderen aus euch gemacht haben. Warum könnt ihr nicht das sein, was ihr aus euch selber macht? Warum könnt ihr nicht beides zugleich sein? Ihr seid doch dazu fähig, den 355
Charakter der Zufälligkeit, der Willkür und des Ekels zu überwinden! Es ist gleich, wessen Hauch euch belebt hat, wessen Hand euch aufgeholfen hat. Ihr könnt andere beleben. Ihr könnt anderen aufhelfen. Ihr seid ein zuverlässiger Grund für das Dasein anderer. Ihr könnt unveräußerliche Wesensgestalten, ja sogar Würde züchten. Ihr werdet anderen das Gefühl geben, daß sie vorhanden sind, daß sie sich nicht bloß selbst einbilden, auch wenn ihr euch tatsächlich die anderen einbildet. Ihr gebt anderen die Möglichkeit, sich in ihrer Existenz zu Hause zu fühlen. Ihr helft anderen, die Angst zu überwinden, die ihr selber habt! Ihr schafft Geborgenheit! Es liegt an euch zu entscheiden, ob ihr Zentrum sein wollt! Wird Stine unterschreiben? Du fühlst dich erleichtert, gelöst, befreit. Bist glücklich, weil alles gutgegangen ist. Fast könntest du in deine Haut zurückfahren. Aber der Gedanke kommt nur für einen Augenblick auf. Erst muß das Joint venture produzieren, SQC funktionieren und die neue Kostenrechnung. Die neue Zeit muß installiert und etabliert sein. Dann kannst du vielleicht in deine Haut zurückkehren. Du blickst aus dem Fenster des anfahrenden Zugs. Eine so sorglose Reise hast du schon lange nicht mehr gemacht, denkst du. Stine winkt dir zu, du winkst zurück. Fast möchtest du dich bedanken bei Stine, daß du ihr nicht vertrauen kannst. Ohne das Mißtrauen in sie hättest du keine neue Zeit eingeführt. Stine winkt dir erneut zu. Sie bleibt nicht zurück! Sie begleitet dich, wie die Landschaft das Zugfenster, wie Straßen, wie Strommasten und Stromleitungen, wie Flußläufe und Bergzüge. Das ist schon der erste Zipfel der Zeit, die ihr erschaffen wollt. Ein kleiner Ausschnitt aus der Gleichzeitigkeit. Kein Abschiedsgruß, ein Willkommensgruß. 356
Vielleicht erlaubt die neue Zeit dir ja, zugleich aus deiner Haut zu fahren und wieder in deine Haut zurückzukehren, beides zur selben Zeit zu sein, außerhalb deiner Haut und innerhalb deiner Haut. Außerhalb deiner selbst und in dir selbst. Das ist doch eine Perspektive, dafür lohnt es sich doch zu arbeiten!
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Jeder Figur ihre Erzählerin, doch wer ist wir? Wir befinden uns auf halber Strecke zwischen dem Boden des Sees und den Wolken, wir stützen die Ellbogen auf die Wolkendecke ab, allerdings müssen wir die Arme etwas auseinanderziehen, wir wollen uns ja nicht selber die Sicht verstellen. Es ist Mittag inzwischen, der See steht still zwischen den Bergen. Ganz aus der Ferne hört man die Geräusche der im flachen Land Zurückgebliebenen, eine Risikoversicherung, daß es noch etwas anderes gibt als das Doppelporträt, über das wir uns beugen. Verlangt irgend etwas nach einem unterhaltsamen Auftritt, damit die Szene unsere Aufmerksamkeit länger in Anspruch nehmen soll? Einstweilen fesselt uns die unbewegte Gegenwart. Was könnte uns besser gefallen, als uns den unsichtbaren Strömungen des Sees zu überlassen und unsere Blicke um das Porträt von Angel und Drifter herum treiben zu lassen! Man kann nicht beides zugleich sein, Schlafender und Wächter, doch können wir versuchen, erst den einen und dann den anderen Part zu spielen, jeweils mit voller Konzentration, niemand schreibt uns vor, wie lange wir welches Geschäft betreiben sollen. Da gibt es nichts zu fragen, Angel ist ein Manipulator, er hat sich die Hände schmutzig gemacht, um die Dinge und sich selbst einer Katharsis zuzuführen. Uralt und neu die Haltung des Mannes, der eins sein will mit seinem Porträt, uralt und ganz neu die Haltung des Mannes, der in seinem Porträt leben will, dessen poetische Erfindungsgabe ihn nicht nur mit Drifter vereinigt, sondern dazu auch noch Fleur rettet. Ein Wundertier, die Wohnung von Angel und Drifter. Sie hat ihr eigenes Verhältnis zu den Elementen, der See 358
schrumpft unter ihr und der Himmel über ihr nicht weniger. Nichts kann sie in eine endgültige äußere Form bannen, wir können uns sogar vorstellen, daß sie mit sich selbst über Kreuz kommt – zum Beispiel legt sich das Eßzimmer mit der auf den Boden gemalten Fruchtschale über das Schlafzimmer mit den Köpfen von Angel und Drifter, oder die beiden auf den Pfeil aufgespießten Erdbeeren, der Pfeil zielt auf Drifters Gesicht, nicht zum Unmut Angels, in jedem Fall zum Wohlgefallen Drifters, die Erdbeeren plumpsen in die Fruchtschale. Vielleicht haben wir sogar erwartet, daß die Wohnung einknickt wie ein Zollstock, während wir uns über sie beugen, aber den Gefallen tut sie uns nicht, sie spielt nur mit ihren Gelenken. Die Ikonographie der Wohnung erzeugt eine Art von Unerreichbarkeit, mit der wir nicht gerechnet haben. Tatsächlich ermessen wir erst jetzt, wie sicher sich Angel und Drifter fühlen dürfen, unverhüllt und einsehbar für eine neugierige Welt, jedoch abgeriegelt gegenüber unseren auf- und abziehenden Gefühlen. Ein Filter gegen das Gesetzlose, bestimmt kein Opfer die Wohnung. Wir vertiefen uns in Bücher, aber nicht in diejenigen aus den Regalen, sondern in die auf dem Boden des Bibliothekszimmers gezeichneten, in das braune Buch mit dem Titel Tutto, in das rote, es heißt Il Meglio, in das blaue Che und das gelbe Meriti. Ein Schreckensstich, als wir uns plötzlich selber im Wohnzimmer sehen. Es ist so, als wären wir schon dagewesen! Wir haben ein rotes und ein ganz rotes Gesicht, ein weißes, ein graues und ein braunes. Das graue Gesicht ist etwas verstört, das weiße wirkt verlassen, das rote sieht wohlgenährt aus, das ganz rote, als ob uns heiß wäre, das dezent gebräunte Gesicht dient mehr der Abrundung, als Beweis und Triumph der Stätte, 359
daß sie unser Kommen vorhergesehen und es schon festgehalten hat, lange bevor wir tatsächlich eingetroffen sind. Jetzt t sollten wir aber doch einmal nach Angel und Drifter suchen. Wir grübeln, im Schatten welcher Motive sie sich aufhaalten. Wollen sie, daß ihre sämtlichen Gewohnheiten ahnbar sind, oder hat die nervöse Nacktheit ihrer alltäglichen Lebensumstände zum Ziel, daß die von uns stets vermuteten schlimmen Laster Angels und Drifters im Schatten des lächerlichen DeutungsWettrennens in unseren Köpfen eine l besonders anstrengungslose Existenz führen können? Ein v wenig befremdet sind wir schon darüber, daß Angel und Drifter uns das Gefühl geben, sie hätten sich in ihrer Wohnnung verflüchtigt wie ein feiner Sommerregen in dem anschhließenden Dunst. Mit der Präsenz Fleurs haben wir sowieso nicht gerechnet. Im fünfzehnten Jahrhundert bestellte man sich einen Porträtmaler. Heute gibt es Alternativen zum Tafelbild, und sie heiße:en nicht nur Fotografie. Uns kommt der Gedanke, daß es keine Kopien dieser Wohnung gibt. Wir haben noch nie etwas Ähnliches gesehen, und wir werden nie wieder etwas Ähnliches sehen, das wissen wir. Die Wohnung fragt rhetorisch, wie sollen sich denn Personen ausdrücken, die extrem frei, extrem neugierig und extrem rezent sind? Wir werden belehrt, hier sind nicht Farben auf den Boden aufgebbracht und fixiert worden, nein, Angel hat flüssigen Kunstoff ausgegossen, auf den Knien, immer von der Wand zum Ausgang hin, nach zehn Minuten ist der Kunststoff fest, nach vierundzwanzig Stunden ausgehärtet. Zehn Minuten und dann eine kleine Ewigkeit, Fehler inklusive, all the best that you deserve. Die Wohnung erscheint uns als die frivole Affäre der Bewohner mit einem bestimmten Abschnitt ihres Lebens. 360
Uns gefällt der Gedanke des kunststoffgewordenen Irrtums. Zugleich halten wir dagegen, daß Menschen sich verändern, daß sie sich entwickeln. Wir äußern den Verdacht, da sei jemand in etwas hineingestolpert, was nach zehn Minuten für ihn die Ewigkeit war. In einer unerwartet leidenschaftlichen Aufwallung bekommen wir zurückgesagt, wenn jemand offen und neugierig ist, dann sei das eine Konstante! Wir dulden die Erklärung nicht nur, wir genießen sie und werden gewahr, daß wir wohl geschielt haben, als wir von Erdbeeren im Schlafzimmer gesprochen haben, Früchte gehören ins Eßzimmer. Was wir für Erdbeeren gehalten haben, sind zwei riesengroße Herzen, da hätten wir früher draufkommen sollen. Dabei waren wir so nahe dran. – Amors Pfeil und Erdbeeren! – Aber alles wird gut. Wir erkennen einen funktionierenden Kreislauf aus der Wohnung, ihrer Ausstattung und ihren Bewohnern. Wenn man den Spiegel im Eingangsbereich nach vorne biegt, federt er zurück und vibriert. Die einzelnen Teile des Spiegels sind in eine Silikonmasse eingegossen, niemals wären wir auf den Gedanken gekommen, daß ein Spiegel geschmeidig sein könnte. Auch die Türen der Hängeschränke sind biegsam, die überall herumstehenden Vasen sind Membranen, die nur hart werden, wenn sie mit Wasser gefüllt sind. Da ist auch ein Tisch aus alten gepreßten Kleidungsstücken, vielleicht mit der Bluse der Mutter, vielleicht mit dem Schuh des Vaters. Wir setzen unsere Brillen ab und kneifen die Augen zusammen. Ohne Brille erblicken wir tatsächlich denjenigen Protagonisten des Doppelporträts, der zugleich sein Urheber ist, Angel. Er lehnt mit dem Rücken an der Tür zum Schlafzimmer und verdeckt genau einen menschlichen Umriß. Nachdem wir Angel identifiziert haben, kommen wir uns 361
mehr oder weniger als bürokratische Müßiggängerinnen vor. Da können wir auch gleich unser Lebensziel restlos vollstrecken und die am meisten gefürchtete Frage überhaupt stellen. Warum er Model ist. Angel fängt an, mit dem Ballen der rechten Hand über die Ebenen und Rundungen seines Körpers zu fahren und sagt dabei, er hält die Frage durchaus für eine inspirierende, was aber nicht heißt, daß er sie auch beantworten will. Wir wollen ihn ja nicht ausforschen, wir hätten nur gerne eine kleine Intuition! Vielleicht weil er zufrieden ist mit der Weichheit und der Glätte seiner Haut, sagt Angel dann überraschend, in jedem Bild und in jedem Clip gibt es Gut und Böse. Freund und Feind. Vorspiel und Klimax. Spannung und Erlösung. Pointe. Von sich aus tendiert jedes Bild dazu, bloß Einzelheiten zu sein, Anblick, Gefühl, Anziehendes und Bedrängendes, aufmerksamkeitsheischend und effektvoll. Als Model vermittelt er ein professionelles Erlebnis. Er macht ein vieldeutiges, undeutliches, unübersichtliches, unlogisches Bild zu einem schlüssigen Bild. – Männer wollen immer erklären, was sie tun, darauf kann man sich verlassen. Wir möchten Angels Berufsgefühl nicht zu sehr dämpfen, indessen können wir auch nicht sagen, daß wir ihm glauben. Die Wirklichkeit in eine Reihenfolge zu bringen, kann das sein Ernst sein? Eine solche Vorstellung vom Modeln haben wir noch nie gehabt! Wir haben an Zillionen von Bildern höchstens unseren ausgeklügelten Unzusammenhang mit der Welt überprüft und selbstverständlich erhärtet, keine erreichbare Versuchung haben wir ausgelassen, über Clips nicht nachzudenken. 362
Die Verbote der Moderne, kein Plot, keine lineare Handlung … kann es sein, daß wir eine ziemlich abgelegene Provinz geworden sind, und wir haben niemals probiert, aus ihr herauszukommen? Jetzt begreifen wir, das Modeln ist für Angel Freude und Heimat, es nützt ihm als Droge und Medizin. Wir entdecken, daß das Modeln vor dem Chaos beschützen kann. Wir näherten uns Angel mit Besessenheit und Absicht, nunmehr haben wir das Gefühl einer fernen Übereinstimmung. Auch wir können unserem Leben Sinn geben! Wenn wir nicht mehr die Frage stellen, welche Wirklichkeit ein Bild oder ein Clip abbildet. Ein wenig schämen wir uns dafür, daß es in unserer Gedankenwelt von Superhelden und Idolen wimmelt, von Fetischen, von Mythisierungen und von Supermodels. Wir wollten das Heft in die Hand nehmen und aus Angel einen scharf umrissenen Charakter, einen heldenhaften Sanftmütigen, eine beispielhafte Legende machen. Doch verstehen wir nun, Angel will eigentlich ein Nichts sein, leicht und ohne Umrisse, niemand soll ihn identifizieren können, eine Existenz, die, wenn sie überhaupt wahrnehmbar ist, völlig anstrengungslos wahrnehmbar sein soll. Während er im Lauf seiner Karriere in immer größeren Anzeigen und auf immer größeren Plakatwänden vorkommt, entzieht er sich immer mehr und vollendet damit zugleich unser überirdisches Bild von ihm. Wir schließen die Augen und trösten uns, die Sucht nach Superhelden wird wohl immer lebendig sein. Als wir die Augen wieder öffnen, lächelt Angel uns an, wie einer, der viel erlebt hat, sich aber darüber lieber ausschweigen will. Das erinnert uns an etwas. Ausarbeiten Austarieren Ausloten Aushecken 363
ausg’schamt. Von einem Ritter ohne Fehl und Tadel kann nun wirklich nicht die Rede sein. Sie haben doch mitbekommen, wie Angel, aber natürlich nicht er allein, sondern mit Drifter zusammen, wie die beiden Stine in eine Intrige per Einflüsterung verwickelt haben. Sie haben doch gesehen und gehört, wie hier eine Geschichte in die Welt infiltriert wurde, eine Hypothese zunächst, eine reine Fiktion, nichts anderes als ein Hirngespinst, aber diese Geschichte hat Macht über ihre Opfer gewonnen, und wir sind alle Zeugen, wie dieses Hirngespinst Wirklichkeit schafft, Handlungen erzeugt, sich weiter entfaltet, mit verhängnisvollen Folgen für Charlotte, für Bär, für wen noch? Eben noch ein sanftmütiger Verschwinder, soll Angel nun Zeichen für etwas Schreckliches sein, für etwas Unabänderliches, und wir müssen erkennen, daß Angel nicht nur dem Leben Stines, sondern auch unserem Leben einen Prägestempel aufsetzt! Angel hat eine nüchterne Karrierevorhersage gemacht und damit Stines Phantasie auf die Fährte gesetzt. Er hat Stine die Erfüllung nicht versprochen, sondern garantiert, ihr aber zugleich den Weg zu dem in Aussicht gestellten Karriereziel als märchenhaft unmöglich geschildert, deswegen rast Stine so. Daß sich die Wirklichkeit als derartig nachgiebig erweist. Stine ist die Vollstreckerin von was, von wem? Wir haben uns schon ziemlich lange über Angel gebeugt, jetzt würden wir uns doch gerne strecken und in eine bequemere Stellung kommen. Da ist es uns sehr willkommen, daß auf einmal etwas Flaumiges um uns ist, etwas Flauschiges, das auf uns heruntergesackt ist und in das wir eingebettet sind. Ein sternenloser Himmel, eine mittelpunktlose Nacht befiehlt unseren Blicken, entzieht 364
uns Angel, es gibt nichts mehr, worüber wir uns beugen könnten, keinen Angel und kein Bild von Angel mehr. Als wir jung waren, sind wir nicht aus einem fahrenden Zug gestürzt und gegen einen Stapel Betonschwellen geprallt – wir haben vielmehr gemodelt. Zugegeben, die Rolle als Fräulein im schicken Kostümchen auf hohen Absätzen ist uns überhaupt nicht dubios vorgekommen, und wir haben uns auch keine Gedanken darüber gemacht, ob sie mit dem Anspruch vereinbar war, eine emanzipierte Frau zu sein. Wir erinnern uns an die Neugierde, mit der wir zum Vorstellungsgespräch gingen, als wäre es gestern gewesen. Die wichtigste Aufgabe, so wurden wir belehrt, sei das Lächeln. Ein Statement, das wir mit selbigem quittierten, was uns das Engagement auf der größten Industriemesse der Welt eintrug. So fanden wir uns in maßgeschneiderten Kostümen wieder, mit einem Lippenstift, der unser Lächeln betonte, auf Absätzen, die nicht ganz so hoch waren, wie wir befürchtet hatten. Eine Mittlerrolle spielten wir, einerseits sollten wir den Kontakt zwischen Mensch und Produkt herstellen, andererseits das Überhandnehmen von Emotionen verhindern. Unsere Aufgabe bestand darin, das Zusammentreffen zwischen den Begehrenden und den begehrten Objekten demonstrativ in gewissen Grenzen zu halten. Das einladende Lächeln, die kurzen Röcke, die hohen Absätze waren nicht etwa als sexistische Attribute konzipiert, mit denen spröde Technik vermenschlicht werden sollte – nein, sie wurden als moralische Eigenschaften präsentiert, die das all zu hemmungslose Ausleben der Technikpassion von Seiten der Standbesucher kanalisierten. Wir dachten, man hätte uns als Anziehungsobjekte engagiert, dabei fungierten wir als 365
Anstandsdamen. Kundschafterinnen sind wir, die sich verkleiden, die sich befreit haben vom Komment der Kompositionen von Individuen, die die diskutierbaren Vergnügungen individueller Betrachtbarkeit hinter sich gelassen haben. Was für uns heraussprang, als wir gemodelt haben, waren bestimmte, in Sicherheit gebrachte Momente, in denen wir das Gefühl hatten, einmal sei es uns gelungen, unsere ganze Existenz in einen zweckmäßigen Gegenstand zu gießen. Zum Modeln taugen wir nicht mehr. Aber wir könnten uns ja malen, vielleicht in Wasserfarben, und auf den Buchumschlag setzen! Kundschafterinnen sind wir, während wir modeln, während wir ohne Punkt und Komma sprechen oder während wir schweigen, während wir beobachten oder während wir in Bildern erzählen, ganz weiß geschminkt, genauso wie an einem Sommermorgen nackt auf dem Boden der Terrasse, und wir wollen herausfinden, wohin die Wolken ziehen. Was wäre, wenn sich alles ewig wiederholte? Geschenkt, daß wir diesen Gedanken nicht zum ersten Mal denken. Würde Stine noch einmal in genau dieselbe Situation geraten und sich in ihr völlig gleich wie beim ersten Mal verhalten, sie wäre nicht in der Lage, das zu bemerken. Stellt sie hingegen fest, daß die Situation, in der sie sich befindet, eine Wiederholung ist, dann unterscheidet sich die Wiederholung ja dadurch vom Wiederholten, daß sie zusätzlich als Wiederholung erkannt ist, also wäre es keine Wiederholung. Für uns, die wir gerne träumerisch dahingleiten oder schläferisch davonschießen würden, die wir jedoch tatsächlich mit diesen Gedanken in die Schwärze hinein zerfasern und zerfallen, für uns, denen die eigenen Umrißlinien abhanden gekommen sind, ist fast jede Erinnerung erleichternd im Augenblick, so spielerisch töricht in allen Tatsachen sie auch zu sein scheint. Jedes 366
Hinweisschild wird von uns dankbar begrüßt. Wir sind es, die von einer Geschichte infiltriert werden wollen, wir möchten, daß der Bereich des Fiktionalen Macht über uns gewinnt und sich handlungserzeugend, realitätsschaffend weiter entfaltet! Mit allen verhängnisvollen Schritten. Für unser Bewußtsein bedeutet das die Wiederkehr des Gleichen, besagt sie auch dem gleichen Selbst in Wirklichkeit nichts. In diesen Augenblicken verrieseln wir stumm und unbemerkt, niemand nimmt davon Notiz, wenn es uns nicht mehr gibt in der Welt, wird man unser Fehlen überhaupt bemerken? Wir wären so froh, wenn etwas an den Rundungen und Ebenen unserer Körper entlangstreichen würde. Wir können der Wirklichkeit nicht das geringste über dasjenige hinaus zufügen, was wir durch unsere Gedanken besitzen. Angel will auf den sichtbaren Horizont nicht verzichten, für uns tut es ein Horizont auf halber Strecke. Wir müssen auf Angel nicht mehr eifersüchtig sein. Stine wird immer wieder getäuscht und täuscht, kann man da Angel noch einen Vorwurf machen? Wer führt hier eigentlich wen hinters Licht. Wir müssen auf nichts mehr hinweisen, wir sehen zu, was sich immer wieder vor unseren Augen abspielt, und wir gewinnen eine ungeheure Befriedigung daraus, daß unser Zusehen der Wirklichkeit nichts hinzuaddiert und nichts von ihr subtrahiert. Es ist uns egal, ob die Welt tauglich oder untauglich ist. Von uns aus kann die Welt ihr Leben in Gestalt der verschiedensten Bilder und Clips zubringen. Wir wissen, daß kein Augenblick des Lebens mit sich abgetan ist, sondern daß wir ihn unzählige Male so erleben können wie jetzt. Die Brille, mit der wir die Bedeutsamkeiten jeder Handlung erkennen, ist die Wiederholung. Die Bilder Angels haben unsere Neugier erregt, sind an uns vorbeigezogen, sie werden wieder unsere Neugier erregen und wieder an uns vorbeiziehen. 367
Wir fahren mit unseren Fingern den Mund nach, wir haben so weiche Lippen. Wir lächeln. Wir wollen, daß sich der Sternenhimmel anzündet, und das tut er auf Kommando. Wir sind mit unseren Gedanken über den Horizont hinaus. Unsere Moral sei die Vornehmheit, unser Pathos die Distanz. Jemand, der so der eigenen Auflösung in Gedanken zusieht wie wir, braucht nicht mehr neidisch zu sein auf die Konturen eines Angel, auf seine bei allen Licht-Verhältnissen attraktiven Porträts, auf seine Gebrauchsgegenstand gewordene Geisteswelt. Wir funkeln über seiner Wohnung mit den Sternen, wir nehmen als Gedanken wunderlichen und bedeutsamen Anteil an weiteren Aufbrüchen. Warum sollen wir Angel nicht die Illusion lassen, daß unser Bild mit ihm schlüssiger wird. Wir sind ja auch Models, seine Bilder werden zu unseren, unsere Bilder werden zu seinen. Wiederkehrend.
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FÜNFTER TEIL
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crucifixa etiam, nur Verkäuferinnen können egin verstehen kein staubkorn auf dem glatten holzboden, aus den ecken konnte man essen, ort fürs lebensende. von der brücke hatte egin deutlich ganz unten den sportlichen älteren herrn auf dem rennrad gesehen, der vorsichtig den schmalen pfad zwischen den pfeilern entlangfuhr, ach fleißig, wie die stahlträger den schmalen laden auseinanderzwangen, egin konnte auch die vier fipsigen grablichter erkennen im nassen gras, verloschen, daneben, das war kinderbriefpapier, da stand was drauf. nicht einpennen, sagte egin zum controlling, das mit ihm aufbrach, wohin immer er wollte, fahrt zu geschäften, spaziergang über die großhesseloher brücke, auf der anderen seite des flusses ein großes grablicht, dicker blumenstrauß, ein in folie eingeschlagener brief. hätte egin aus dieser entfernung lesen können, er hätte gelesen: lieber unleserlich, du wirst immer in unseren herzen bleiben. in einer klarsichthülle fragte jemand, warum. jedes wort eine anklage, jeder zwischenraum ebenfalls, egin wußte nicht mehr, was er wo hervorheben sollte, wie er was markieren sollte in dem businessplan für seine ladenkette, da ging er lieber durch neueröffnete geschäfte joggen. immer anfahrt über großhesselohe. stine wußte, wieso sie egin nicht allein aus dem haus ließ. verflucht und verraten, zwar zeigten die griffe der taschen schön abwechselnd einmal nach rechts, einmal nach links, aber sie standen hier am rand des regals und dort ganz hinten. verloren und verkauft, mit den runden schuhen angefangen und den spitzen aufgehört, ganz egal, welche färbe sie hatten. 1877 war der erste von der brücke heruntergesprungen, bis zum tage zählte die 370
polizeistatistik 286 tote. die brücke wurde in einer reihe genannt mit der golden gate bridge in san francisco und der clifton suspension bridge nahe dem englischen bristol. in den zwanziger jahren verschmähten die engländer ihre eigene brücke und kamen hierher, besonders die londoner, es dauerte, bis man unten war. was, wenn man auf einmal nicht mehr stillhalten will? wenn man noch einmal darüber nachdenken will? wenn man auf einmal noch ganz viel erleben will? wenn man auf einmal noch ganz viel sehen will? wenn man auf einmal noch ganz viel ficken will? wenn man einmal noch ganz lange bei ihr liegen will, zum trösten? kein knall, auch kein schnalzen. es hörte sich an, als würde man eine melone werfen, aus dem vierten, fünften stock, es patschte richtig. das controlling hatte der Verkäuferin erzählt, daß egin jemand war, der eine ladenkette aufmachte und führungskräfte dafür rekrutierte, das gesicht der verkäuferin trug den ausdruck unterhalb von wonne und oberhalb von lust, das geschäft wird schöner mit jedem tag, man weiß nicht, was noch werden mag. aus der höhe abstürzen, ein für alle male, das spektakuläre happy end, der schlußpunkt, der clou, die pointe. weiß zu weiß, schwarz zu schwarz. only the good die young. das leben ist der schlaf, der tod ist das erwachen. nicht mehr dem gekläff der erwartungen nachlaufen. man müßte eine patrouille an der brücke einrichten, dachte das controlling, die brücke tag und nacht bewachen. sobald jemand langsam ging, stürzte sich die patrouille auf ihn. damit der besitzer des kiosks an der liegewiese keine körperteile mehr mit besen und schaufei zusammenfegen mußte, egin biß mit krachenden zahnen aufeinander und grinste seine patrouille an. wenn er nicht von dieser brücke sprang, dann eben von einer anderen. unten war noch nicht eingeräumt, egin fläzte sich in den sessel an der treppe und glotzte auf die leeren vitrinen. über ihm kreisten die 371
anmutungen des controllings. hör mal, das mußt du doch einsehen, denk dir nichts aus, das tun wir für dich, verrückt oder verrückt, such dir was aus, aber mach los und entscheide dich, du kannst doch jetzt nicht die nerven verlieren, keiner will dich linken, wir machen das alles nur für dich hier, dabei warst du doch vorher so spitz auf die boutiquen. warum schaust du so drein. warum siehst du so doof aus. während das controlling überlegte, egin auszutauschen, gegen was, gegen wen, wie wird der nächste aussehen, egin kannte es schon, programmierte oben jemand die beleuchtung. egin erhob sich aus seinem sessel und begleitete den choral des lichts. stellte sich vor die vitrine gegenüber, trat langsam zurück in die mitte des raums, schlurfte zur anderen vitrine, trabte zur treppe hin, dem licht zurufend, triff mich, triff mich, sprang auf den sessel an der treppe und legte die hände an die scheibe vor der treppe, spreizte die beine, als ob ihn jemand nach waffen durchsuchte, das controlling spuckte zahlen und fakten wie flächendeckendes artilleriefeuer aus. jede kolonne eine salve, jede erläuterung eine granate. aber auch egin war bewaffnet, mit geschichten darüber, wie der aussatz an ihm zehrte, das hatte das controlling nicht erwartet. egin führte die hand an den kopf und rieb sein rechtes auge, als wolle er es aus seinem gesicht wischen. eines tages fiel das auge aus meinem kopf raus, das loch wurde zugenäht. egin blickte an sich hinunter, das linke bein war hell beleuchtet, das rechte im dunkeln, damals, als auch mein rechtes bein abgesägt wurde, er streckte beide arme vor, so daß die arme im lichtkegel waren, die hände außerhalb. erst hatte ich weiße flecken und blasen auf der haut, carlo little war’s egal, ich mußte flaschen aufmachen und die messer waschen, in die finger geschnitten habe ich mir und mich gewundert, daß es nicht mehr heilte, die zeit verging, die finger fielen ab, carlo 372
little hat mir einfach nur eiswürfel gegeben, ich bin alt geworden, bis ich endlich ins krankenhaus kam, dort lag ich eineinhalb jahre, man hat mir das verweste fleisch amputiert, mir tabletten gegeben und mich nach deutschland zurückgeschickt, in deutschland habe ich eine blinde frau getroffen, ich habe sie geheiratet und bin zu ihr gezogen. allein war ich frei. jetzt muß ich abends zu hause sein. wo ich mich angesteckt habe, weiß ich nicht, vielleicht habe ich einen kranken berührt, vielleicht hat mich einer angehustet, damals, als ich nach england kam. sieben war ich, als mein gesicht zum erstenmal anschwoll, zehn war ich, als die haut an meinem oberkörper faulig zu werden begann. von da an hörte ich nur noch das wort weg. meine mutter sagte weg. meine schwester sagte weg. meine zweite schwester sagte weg. mein vater sagte weg. meine brüder sagten weg. die nachbarn sagten weg. die lehrer sagten weg. einen käfig bauten sie mir, ganz weit weg vom haus. das essen stellten sie neben den käfig. meine mutter sagte, komm ja nicht zurück zum haus. da bin ich selbst fortgegangen. nachts schlief ich auf der straße, tagsüber verkaufte ich shit und h. unter den downlights sah egins gesicht so zart aus, so durchscheinend, so glatt. ein stammkunde überredete mich schließlich, mich behandeln zu lassen, er mochte mein löwengesicht. er erklärte mir, du bist nicht schuld, deine vorfahren sind auch nicht schuld, es stimmt nicht, wenn geschrieben steht, daß deine geschwüre zeichen der sünde sind, es ist wie ein schnupfen, nur schlimmer, ich habe es geglaubt und mich behandeln lassen. was soll ich über diese welt sagen. ich möchte kein schwarzes schaf sein. das controlling glaubte ihm. aber schon nicht mehr, als er fortfuhr, wenn ich eine schöne frau sehe, habe ich schmerzen. weil ich in ihrer schönheit meinen körper sehe. egin hob den linken arm hoch, bis seine linke hand unter dem 373
scheinwerfer aussah wie eine vogelkralle, du bist stinkender müll, hat carlo little zu mir gesagt, als ich nicht mehr arbeiten konnte, heute trage ich das haar kurz und helle hemden, egin knöpfte die oberen knöpfe seines hemds auf, damit man seine goldene kette sah, und hielt den rechten arm hoch, denn er trug seine goldene uhr rechts. einmal wollten mich zwei schwule vergewaltigen. ich habe ihnen meine hand entgegengestreckt, die vogelkralle, und mein gesicht gezeigt, das löwengesicht. mit der hand bin ich in mein auge gefahren, dahin, wo kein auge mehr war, auf einem bein bin ich ihnen entgegengehumpelt und habe auf das andere bein gezeigt, das sie mir abgesägt haben, und auf meinen armstumpf. und ich habe zu ihnen gesagt, kommt doch her, kommt her, mögt ihr verfaultes fleisch. da sind sie weggelaufen und nie mehr zurückgekommen. das controlling dachte, was ist das eigentlich, ein mensch? ihr wollt einen plastikmann aus mir machen, schrie egin und setzte sich mit gestreckten beinen auf den boden. die interferenzen des lichts erzeugten helle und dunkle streifen auf seinen beinen. ihr wickelt mich in plastikfolie ein, damit ihr mich irgendwo hinbringen könnt. aber irgend jemand muß mich wieder auspacken, wer schneidet mir die 33 langen maden aus meinen beinen, die mir das leben gerettet haben, denn sie fressen den eiter und das faulige fleisch? egin nahm einen dicken orangefarbenen filzstift, stieg auf den sessel und schrieb an die scheibe: wer fleißig ist wie eine biene und arbeitet wie ein pferd, wer spart wie das eichhörnchen und abends müde ist wie ein hund, der sollte mal zu tierarzt gehen, vielleicht ist er ein esel. wir wollen dich schützen, sagte das controlling. kann jeder sagen, bellte egin. mensch, mann, sagte das controlling. ein büromensch möchte ich sein. immer die gleichen grauen anzüge, immer die gleichen weißen hemden, immer die gleichen krawatten in immer den gleichen 374
mustern. aber ich will keine schwarzen schuhe tragen, sondern hellbraune, wie die italiener. lacht mich ruhig aus, dann werde ich eben nach italien ziehen. auf dem weg zur arbeit werde ich an euch vorbeigehen, und ihr habt kein auge mehr, ihr habt nur noch einen armstumpf, euch fehlt ein bein. ihr habt löwengesichter, eure hände sind vogelkrallen, aber es nützt euch nichts. ich steige hoch, ich habe allen bailast abgeworfen, ich spiele mit den wölken. ihr besteht nur noch aus knochen, kein fleisch mehr drauf, aber die knochen sind zu schwer, ihr bleibt an die erde gefesselt. wenn ich auf dem weg zu meiner büroarbeit an euch vorbeigehe, werde ich euch ein paar münzen zuschmeißen. vielleicht sogar einen schein. was ist der mensch? ein häufen fleisch, in geld eingewickelt? das controlling sprach zu sich selbst. stine hatte egins seele gestreichelt, zu ihr geflüstert, bis sie gezuckt hatte, für einen moment hatte er seine zukunft geliebt, zitternd, doch dann hatte stine seiner seele die kleider heruntergerissen, sie in eine form gerammt. egin hatte die prüfung bestanden, das komplott gegen charlotte war abgelaufen wie am schnürchen, es ging, es ging. aber egin war nur noch ein zwang, kein mensch mehr, stine hatte das aus ihm gemacht, aus charlotte eine amorphe masse, aus ethel eine stumme sprechanlage, aus bär gebrochenes blei, aus fleur dünnes glas, aus marco eine salzsäule, aus giovanna hänschen klein, niemand konnte fliehen. wenn er tot war, würde er stine kaufen und verkaufen, anstatt daß stine ihn kaufte und verkaufte, vor dem geschäft spürte egin die oberfläche der erde durch die sohlen hindurch. steinig und staubbedeckt war sie, an einigen stellen lag der staub zentimeter-, an anderen meterhoch. keine geräusche gab es und keine färben, egin hatte keine bodenhaftung mehr, flog fast. er machte einen gigantischen satz zum auto. weil er als erster auf der erde diesen sprung getan hatte, 375
summte er im auto vor sich hin, alles war so einfach nach diesem sprung. wie ein übermütiges kind im planschbecken hopste egin zum nächsten laden. im grellen sonnenlicht glaubte er, daß er selbst die erde hierher mitgebracht hatte, egin konnte die sterne sehen, sie waren umgeben von der schwärzesten schwärze, die man sich vorstellen konnte, und die unendlichkeit von zeit und raum. die buchhändlerin hatte sommersprossen auf dem dekolleté und dem gesicht und breite hüften. bist eine ganz allein, nestelte er an ihr. ja, jammer, fiepte sie. das ist gut, zupfte er, fragte sie nach ihrem namen. sie sagte ihn und, hör auf, dich zu wehren, doch er wehrte sich gar nicht. bist so schlau, schwester, fingerte er. das controlling war noch grauer als die umgebung und außerdem verdünnt. egin behauptete, daß er bei pac-man in die letzte runde gekommen war, und die buchhändlerin glaubte ihm. dann wollte er ihr sein leben erklären, bis das controlling sagen würde, let’s get this motherfucker out of here. bist auch einer ganz allein, sagte die buchhändlerin zu egin. hältst mich für krank, gab egin sich trotzig. dich nicht, bist harmlos, wärmte ihn die buchhändlerin. mensch, hüte dich, was du sagst. und zum controlling, das egin aus der buchhandlung hinausbugsieren wollte, du Bist nicht gefragt! egin versuchte, sich wieder in sein rechtfertigungsgefummel zu flüchten. das controlling hatte angst vor stine, denn es war für die siege und niederlagen egins verantwortlich. es glaubte, daß egin die buchhändlerin niedergewirbelt hatte, daß sie unter seiner zerschmetterung zusammengebrochen war, doch tatsächlich hatten sich hier zwei zerstörtheiten getroffen. die buchhändlerin konnte keine feste nahrung zu sich nehmen. ernährte sich mit hilfe einer blaubeigen plastikpumpe marke flexiflo. schob sich den schlauch durch die speiseröhre in den magen und pumpte gelblichweißen schleim hinein. hatte fünf katzen, 376
die mit ihren krallen die tapeten von den wänden rissen und milch aus einem blechnapf tranken. als sie vor ungefähr zehn jahren aufwachte, klebten ihre hände an der bettdecke, sie dachte, sie habe nasenbluten. im Bad sah sie die wunden auf ihren handrücken und auf ihren handinnenflächen. ein andermal war sie im garten, als ihr freund ihr zurief, dein kopf blutet. mitten im sommer strömte das blut, als habe man ihr eine dornenkrone aufs haupt gesetzt. manchmal tat sich auch an einer körperseite eine wunde auf, dort, wo der kriegsknechte einer mit dem speer die haut öffnete, und alsbald ging blut und wasser heraus. so war das mit der buchhändlerin. sie war ohne vater aufgewachsen. die mutter erzog sie katholisch, doch nicht streng katholisch. sie glaubte sich zu erinnern, daß sie schon als kind ständig wehe hände und fuße gehabt hatte, damals sagte man ihr, das seien wachstumsschmerzen. ihr freund war universitätsdozent und fünfzehn jahre älter als sie. sie hatten sich sehr geliebt, jetzt konnte sie sich nicht einmal mehr an seinen nachnamen erinnern. vor drei Jahren kam er vom basketballspielen nach hause, brach vor der haustür zusammen und starb. seitdem lebte sie allein. die buchhandlung machte früh auf und war offen bis in die nacht hinein. sie war nicht gern zu hause, nur zum essen. als sie einmal nirgendwo blutete, hatte die buchhändlerin wegen ihrer magenprobleme einen arzt aufgesucht, der sagte ihr, die magenbeschwerden seien durch eine frühe kindheitserkrankung des nervengeflechts im verdauungstrakt verursacht. vielleicht sei es eine autoimmunreaktion, die zu den wundöffnungen führe. sie behandelten die buchhändlerin, als sei sie aussätzig. eine betschwester wollte ihr immer die hände küssen, das war noch schlimmer, nur die katzen und die künden waren ihr geblieben. sie unterhielt sich nie mit anderen menschen, nur mit den künden. auf dem linken handrücken der buchhändlerin sah 377
egin über der zum mittelfinger führenden sehne eine knopfgroße erhebung, die leicht gerötet war. sonst nichts. keine narben, keine verwachsungen. zum letzten mal hätten sich ihre hände und füße vor weihnachten geöffnet, eineinhalb tage lang. jetzt spürte die buchhändlerin wieder ein kribbeln. so fange es immer an. manchmal tropfe das blut dann plötzlich wie aus einer tiefen wunde auf den teppich. manchmal würden auch nur ein paar rote pünktchen durch die haut quellen. die buchhändlerin sagte zu egin, er gehe so, als ob für ihn die erdanziehungskraft nicht gelte, sie selbst gehe wie auf nageln und glasscherben, jede bewegung bereite ihr schmerzen. sie wollte so leicht gehen wie egin. egin sagte, es werde nie so sein, daß sie zu hause bleiben und sich um die aufgeschlagenen knie der kinder kümmern müsse, daß er kalte kriege führen und sie für die öffentlichkeit immer seine strahlende, tapfere frau spielen müsse, er werde sich immer genug zeit für sie nehmen, und wollte die buchhändlerin küssen. die buchhändlerin ließ sich von egin küssen. das controlling wußte nicht, ob egin blind oder klug war. es geht ums leben, sagte egin, um unser leben. und das controlling hatte für einen augenblick den weg zurück vergessen.
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Als Milla aus ihrer Haut gefahren ist, hat sie sich nicht vorgestellt, daß sie sich in einer solchen Haut wiederfinden würde Haben wir uns heute überhaupt ordentlich begrüßt? Bist du schon dazu gekommen, dich zu fragen, wie es dir geht? Also, du fragst dich, wie geht es dir heute? Am liebsten würdest du dir antworten, ganz gut, wie üblich. Aber du weißt, das wäre eine Ausflucht. Statt dessen fragst du zurück, sind wir auch alle vollzählig anwesend? Die Frage ist nicht nur pro forma. Fehlt eine. Es fehlt keine. Du bist vollständig anwesend. Jetzt kannst du dir Auskunft geben, in welcher Laune du bist. Du hast die Taschen voller Geld. Die Bilanz des letzen Jahres ist im gleichen Ausmaß gegenüber der des Vorjahres verbessert, wie die des Vorjahres gegenüber der des Vorvorjahres verbessert war. Aber deine Seele ist nicht von Sommerwetter erfüllt. Du ertappst dich dabei hochzurechnen, wie sich die Bilanz des laufenden Jahres im Vergleich zu der des letzten Jahres verbessern wird. Und du kommst auf das gleiche Verhältnis. Du bist frei, so frei. Giovanna und Marco haben dir etwas gestanden, ein fehlgeschlagenes Privatgeschäft. Eigentlich nur ein Investment, denn Privatgeschäfte darf ein Angestellter des Konzerns ja nicht machen. Du hast dich nicht für die Einzelheiten interessiert. Jeder, der so jung ist wie die beiden, meint, er kann ein Unternehmen von Null aufbauen. Sie haben eine Ladenkette gegründet, der Freund Stines hat ihnen die Immobilien vermittelt. Du hast 379
dich sehr gewundert, als Zeitungsleserin weißt du, daß man im Handel viel Geld braucht, um etwas zu bewegen, man kann nicht einfach ein paar Geschäfte aufmachen und dann sehen, wie sie laufen. Die beiden hatten wohl eine besondere Geschäftsidee, ein Leberwurstweltmeister sollte das Zugpferd sein. Jedenfalls haben sie jede Menge Geld verloren, für ihre Verhältnisse. Du hast ihnen gestattet, daß sie eine Weile vom Zwölfstundentag Abstand nehmen und sich auf Dienst nach Vorschrift beschränken, um in der restlichen Zeit ihre persönlichen Verhältnisse zu ordnen. Bei der Verwaltung ihres Privatvermögens haben schon viele kluge Mitarbeiter sehr unklug gehandelt, das ist nichts Neues. Sie hätten dir bereitwillig die Einzelheiten ihres persönlichen Desasters erzählt, du hast ihnen klargemacht, daß du die gar nicht kennen willst. Jetzt haben sie verstanden, daß man über Mißerfolge nicht spricht. Das mußten sie erst lernen, sie hatten ja keine vorher. Wer keinen Erfolg hat, soll gefälligst den Mund halten. Du blickst in den Spiegel. Du bist stolz darauf, daß du keine Falten hast und keine Tränensäcke. Vor allem keine Falten um den Mund herum. Aber vielleicht ist es ein Irrtum anzunehmen, man würde nicht alt, nur weil man keine Falten hat? Beispiele von Leuten in deiner Bekanntschaft fallen dir ein, die auch keine Falten haben, die alt sind und die auch alt aussehen. Ja, wo ist das Alter dann? würdest du dich gerne fragen. Bitte zeigen Sie mir doch das Alter! Du bist doch per du mit dir! Fang an, sagst du dir. Definiere es doch endlich. Was ist das Alter? Kann man es hören? fragst du dich. Du gibst zurück, ich bin doch keine Geigerin, die sich jetzt die 380
Geige unter das Gesicht klemmt und loszufiedeln beginnt, auf Kommando, und einen langgestreckten, weit ausgestrichenen Ton spielt als Antwort auf die Frage nach dem Alter. Trotzdem wünscht du dir auf einmal, du könntest wirklich Geige spielen. Kein Solo, ein Kammermusikstück, das wäre eine schöne Ablenkung. Was ist das Alter. Kann man es sehen? fragst du dich. Du und du, ihr seid euch jetzt einig, das Alter ist kein Thema für eine Darbietung zwischen euch. Das Alter muß etwas mit der Form zu tun haben. Du möchtest gerne sagen, das Alter bedeutet eine ausgeprägtere, eine deutlichere Form deines Gesichts. Natürlich merkst du sofort, das würde heißen, daß dein Gesicht früher eine weniger ausgeprägte, eine undeutlichere Form besessen haben muß. Eine andere Form? fragst du dich. Nun, zum Beispiel, daß früher die Knochen weniger stark hervortraten. Du hattest immer ein eher schmales Gesicht, es ist nicht breiter geworden. Blickst du in den Spiegel, hast du allerdings den Eindruck, dein Kopf ist im Laufe der Zeit größer geworden. Kann ein Erwachsenenkopf größer werden? Wenn das Alter nichts Sichtbares ist, sondern doch ein Ton? Jeder Mensch hat nur einen Ton. Hast du einmal bei einem Komödienautor gelesen. Du fragst dich, ob jeder Mensch nicht nur ein Ton ist. Das Alter wäre dann: Wie weit ist dieser Ton gediehen? Wenn der Mensch ein langgezogener und weit ausgestrichener Ton ist, dann weiß der erfahrene Musiker, an welchem Punkt der Ton ist, ob er gerade erst angefangen hat oder ob er sich schon dem Ende nähert. Wärst du blind, denkst du dir, du wärst hundertprozentig davon überzeugt, daß das Alter einzig und allein eine Frage des Aussehens ist. Da du nicht Geige spielen kannst, meinst du, daß das Alter die Eigenschaft eines Tons ist. 381
Nein, nein, so kannst du es nicht erklären. Warum überhaupt diese Gedanken? Du und Stine, ihr habt gewissermaßen einen Zug ganz für euch allein gemietet. Du liebst doch das Zugfahren. Die Gegenstände, die ganz nahe am Gleis sind und die schnell vorüberziehen, das sind die operativen Vorgänge. Die taktischen Überlegungen sind wie Dörfer, an denen der Zug vorbeifährt, man sieht sie schon von weitem, man kann sich auf sie einstellen, es dauert seine Zeit, bis sie vorbeigezogen sind. Die Gebirgszüge in der Ferne oder die Flüsse, die parallel zum Geleise laufen, die für lange Zeit kaum die Gestalt ändern, das sind die strategischen Fragestellungen. Nicht, daß ihr frei und unbeschwert durch das Land reisen würdet, das kann heutzutage niemand mehr. Aber ihr seid ausgestattet mit allem, was dazu notwendig ist, um dort anzukommen, wo ihr ankommen wollt. Die Reiseroute ist eindeutig festgelegt, warum sollte man Umwege machen oder gar zurückfahren. Woher kommt dann dieses Gefühl, daß der Zug jeden Moment anfängt, kreuz und quer zu fahren? Gib zu, du wartest nur darauf, daß plötzlich irgendein Konflikt auftaucht, eine Diskrepanz, ein grundsätzliches Problem, von dem ihr nicht wißt, wie ihr es überwinden sollt. Ihr blickt aus dem Zugfenster, und die eine sieht Berge, die andere Täler. Die eine behauptet, Wind fällt vom Himmel auf die Erde, die andere, der Wind erhebt sich von der Erde in den Himmel. Und schon streitet man sich über die richtige Methode der Windmessung oder über die richtige Methode der Landschaftsvermessung. Dabei gibt es bis jetzt noch nicht die geringste Notwendigkeit, eure Gelassenheit und eure Geduld auf die Probe zu stellen. Du hast dich so an das Joint venture gewöhnt, würdest du es überhaupt merken, wenn der Zug einfach anhalten 382
würde? Fährt der Zug, oder fährt er nicht? Für einen Augenblick wird dir ein wenig unheimlich. Du sagst dir, das mußt du doch wissen, ob der Zug fährt oder nicht. Man spürt doch am Boden, wie die Räder rollen und poltern. Aber es könnte natürlich auch sein, daß einfach nur die Gleise unter dem Zug durchgezogen werden, dabei rollen und poltern die Räder genauso. Allerdings muß dann jemand auch die ganze Landschaft an dem Zug vorbeischieben. Und was ist mit dem Fahrtwind? Nun ja, den Fahrtwind könnte man auch künstlich erzeugen. Fährt der Zug, oder fährt er nicht? Bei der nächsten Sitzung mit Stine geht es um das Managementsystem. Irgendwie sind Giovanna und Marco in ihrer Vorlage diesmal nicht auf den Punkt gekommen, ihr Dienst nach Vorschrift hinterläßt Spuren. Sie stellen viele Fragen und geben wenige Antworten. Jetzt scheint es dir tatsächlich so, als ob sich der Lichtmast neben dem Zug gar nicht mehr bewegt. Und die Schranke auch nicht. Jetzt hast du wirklich das Gefühl, der Zug steht. Aber aussteigen wirst du auf keinen Fall, sondern du willst, daß der Zug bald wieder anfährt und möglichst schnell wieder seine Reisegeschwindigkeit erreicht. Andererseits könntest du dich jetzt, wo es ziemlich wahrscheinlich ist, daß der Zug steht, doch einmal hinauslehnen. In dem Zug sind nämlich überall Schilder angebracht: »Nicht hinauslehnen«. Die Schilder stammen von dir, bei Stine gibt es solche Schilder nicht. Jetzt hättest du einmal die Chance, gegen Gesetze zu verstoßen, die du selbst aufgestellt hast. Dir bleibt gar nichts anderes übrig, als dich hinauszulehnen. Du kannst dich doch nicht einfach zurücklehnen und deinen Kopf auf das weiße Tuch über der Kopfstütze 383
legen, wenn Giovanna und Marco die nächste Sitzung so schlecht vorbereitet haben. Je mehr du dich mit der Vorlage befaßt, desto sicherer bist du, daß der Zug jetzt wirklich steht. Du kannst sogar die Knoten im Stacheldraht auf der Wiese gegenüber zählen. Das vorgeschlagene Controllingsystem ist ein schlechter Kompromiß zwischen zwei ganz verschiedenen Absichten, der laufenden Klärung und Bestimmung strategischer Ziele auf der einen Seite, es ist also an eine Art Meilensteinsystem gedacht, auf der anderen Seite soll das Controllingsystem auch den operativen Vollzug überwachen. Beim Thema Personal haben Giovanna und Marco bessere Arbeit geleistet. Sie haben ein Raster mit wünschenswerten Eigenschaften für die Mitarbeiter entworfen, die für das Joint venture in Frage kommen. Elemente dieses Rasters sind tradierte Werte, Lernbereitschaft, Konflikt- und Konsensfähigkeit, innovatives Denken, kooperative Führungsfähigkeit. Dann haben sie sogar richtige Tugenden definiert, wie Demut, Risikobereitschaft, Integrität, Sensibilität, Geduld und Neugier, außerdem noch interkulturelle Kompetenz. Gemäß diesen Eigenschaften haben sie ein Screening vorgenommen, damit stehen die Mitarbeiter, die du für das Joint venture zur Verfügung stellen willst, eigentlich fest. Jetzt fährt der Zug wieder, oder die Gleise werden unter dem Zug hindurchgezogen und die Landschaft wird am Zug vorbeigeschoben. Über das Anreizsystem haben sich Giovanna und Marco keine großen Gedanken gemacht. Das stört dich nicht, denn das Anreizsystem ist sowieso Verhandlungssache. Das Anreizsystem muß vor allem berücksichtigen, daß das Joint venture ein Risiko für diejenigen darstellt, die sich darauf einlassen. Giovanna und Marco sehen übrigens für sich persönlich keine Zukunft bei dem Joint venture. 384
Ursprünglich wolltest du nicht, daß sich die beiden dafür interessieren, aber seit der Sache mit der Ladenkette denkst du etwas anders. In jedem Fall mußt du deinen Mitarbeitern garantieren, daß sie bei einem eventuellen Scheitern des Joint venture zu dir zurückkommen können. Als du heute morgen ins Badezimmer gingst, fiel der Strom aus. Du stehst immer auf, bevor es hell wird. Du machst kein großes Aufheben davon, ob es gut ist für deine Haut oder nicht, daß du so wenig schläfst. Du verharrtest reglos vor dem Spiegel, bis sich deine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Ein schwacher Lichtschein fiel von der Straßenbeleuchtung in das Badfenster herein. Du hattest den Gedanken, daß du einer Feuersbrunst entronnen warst, denn dein Körper war der hellste Gegenstand im Spiegel. Du warst in einem Feuer gewesen, aber die Flammen hatten dich nicht angegriffen, nicht einmal deine langen Haare hatten sie angesengt und auch nicht deine Augenbrauen. Dein Körper glänzte noch, als ob er sich in dem Feuer aufgeladen hätte und nun Licht und Wärme abstrahlte. Du hast ein Radio im Badezimmer stehen, die Antenne warf einen Schatten, es sah so aus, als würde sich eine dünne, fahle Narbe über eine Gesichtshälfte und über den Hals herunterziehen, die auf der Schulter weiterging und am Oberarm auslief. War es ein Schnitt? War es eine Verbrennung? Als du aus deiner Haut gefahren bist, hast du dir keine großen Gedanken darüber gemacht, ob du einfach in eine andere Haut geschlüpft bist oder ob es vielleicht sogar ganz ohne Haut geht. Heute morgen im Badezimmer, während des Stromausfalls, ist dir klargeworden, daß du nicht ohne Haut auskommst. Du bist in eine Haut gefahren, in der du gezeichnet warst. Obwohl auch dieser Körper weich und weiblich war, bot er einen unheimlichen 385
Anblick. Als würdest du mit gemarterten Zügen, im Halbschatten, mit einer namenlosen königlichen Würde ewig stehenbleiben. Mit unendlicher Kraft und mit unnachgiebigem Willen hast du aus dem Spiegel geblickt, furchtlos, vorwärts, geradeaus. Da hast du dir vorgenommen, genauso unbeweglich stehenzubleiben, wenn du mit deinen Untergebenen sprichst. Später gehst du dann hin und her, mit einem Element der Schwerfälligkeit, das überhaupt nicht zu deiner jugendlichen Erscheinung paßt. Diese Schwerfälligkeit ist kein Zeichen eines Verfalls oder einer Verzweiflung, sie steht für eine undurchsichtige, legendäre Verschlossenheit. Die Untergebenen sollen merken, daß du in eine andere Haut geschlüpft bist. Zuerst stehst du still, aufrecht, die Füße wie am Boden festgenagelt, dann gehst du langsam im Raum auf und ab, das sieht so aus, als würdest du Vorbereitungen treffen, für etwas, das sie nicht verstehen, von dem sie aber ahnen, daß es wichtig ist für dich und für sie. Das Joint venture mit Stine ist ein Kopfbahnhof, in den der Zug ganz langsam einfährt und schließlich fast ohne Ruck zum Halten kommt. Die Frau mit der Narbe nimmt nur Züge, die an Durchgangsbahnhöfen halten. Niemals einen Zug, der in einem Kopfbahnhof endet. Die Frau mit der Narbe stellt die Weichen anders, ohne jemandem davon zu erzählen. Sie leitet den Zug auf ein anderes Gleis um. Irgendwann einmal wird es Stine schlagartig klarwerden, daß der Zug nie in einem Kopfbahnhof ankommt. Aber dann ist es schon zu spät, dann kann sie die Weichen nicht mehr anders stellen. 386
Die Frau mit der Narbe hat dich gefragt, warum du es abgelehnt hast, dich mit den allfälligen Einzelheiten zu befassen, als dir Giovanna und Marco ihr fehlgeschlagenes Privatgeschäft gebeichtet haben. Du hast pikiert geantwortet, dich interessiert grundsätzlich nicht, was deine Mitarbeiter in ihrer Freizeit machen und was für Nebengeschäfte sie tätigen oder nicht. Die Frau mit der Narbe hat dich belehrt, daß es da doch eine Verbindung gibt. Wer hat denn Giovanna und Marco angestiftet zu dieser Ladenkette? Von wem war die Idee mit dem Leberwurstweltmeister? Die Frau mit der Narbe brauchte gar nichts weiter zu sagen. Ist das eine Rechtfertigung, oder ist das keine Rechtfertigung, den Zug umzuleiten? Gib es zu: Würde es dir gelingen, dich erst des Joint venture und dann Stines Firma zu bemächtigen – das wäre ein Coup, den dir niemand zutraut! Du könntest doch noch Zentralvorstand werden! Morgen wird die bronzene Frau mit der gertengleichen, bläulichweißen Narbe vor deinem Schreibtisch stehen. In deinem Büro wird der Winter anbrechen. Auf deinem Schreibtisch sind so viele Memos, so viele Protokolle, so viele Briefe wie noch nie. Über deine Workstation, über dein Notebook flimmern Texte. Die bronzene Frau nimmt einen Stapel Blätter von deinem Schreibtisch, hält ihn vor sich und läßt dann die Blätter bis auf eins zu Boden fallen. Die bronzene Frau gibt das Blatt Giovanna, die es in den Overhead-Projektor legt. Marco liest die angestrichene Passage vor. Der Grundbuchauszug enthält keine Angaben über eine Eigentümerkette nach dem 30.01.1933. Der Notar hat darauf hingewiesen, daß aufgrund der für den Grundbesitz im Bereich der ehemaligen DDR bestehenden gesetzlichen Vorschriften in solchen Fällen nicht ausgeschlossen 387
werden kann, daß Rückerstattungsansprüche früherer Eigentümer angemeldet sein könnten und gegebenenfalls zu einem Restitutionsanspruch führen könnten. Stine hat das Grundstück gekauft und sich verpflichtet, die Fabrik zu errichten. Das Joint venture erwirbt von Stine sofort den Teil des Grundstücks, der zunächst nicht bebaut wird, und später die fertige Fabrik. Die Passage ist aus dem Vertrag, mit dem das Joint venture den unbebauten Teil des Grundstücks erwirbt. Giovanna und Marco haben, entsprechend deiner Anweisung, die Nachfahren der Eigentümer vor dem 30.01.1933 ausfindig gemacht. Die bronzene Frau befiehlt ihnen, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen und sie bei der Anmeldung ihrer Ansprüche zu beraten.
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Mehr Saft bitte! Stine motiviert ihre Mitarbeiter Stine hatte ein dünnes Benzinrinnsal ausgegossen, das zu einer Bombe hinführte. Warum kratzten die Produktion, die Finanzen und das Personal so im Sand herum, daß das Benzin zu ihr zurückfloß? Als ob sie nicht die Bombe anzünden, sondern Stine anstecken wollten? Die Argumente summten Stine entgegen, anstatt von ihr wegzuflitzen. Das war doch nicht der Zweck der Vorstandssitzung! Jeder Gedanke Stines wurde zu einer Brezel verdreht. Kein Anreiz-System und kein Controlling würde Stine in die Schranken weisen, ihr technisches Know-how würde ihr fix das Alleinerziehungsrecht für die gemeinsame Tochter eintragen. Mit dieser Zukunft sollten sie sich vollsaugen, das Personal, die Finanzen und die Produktion, dann konnte Stine sie auswinden, wie sie es brauchte. Tausendmal hatte Stine erzählt, daß das Risiko der Errichtung der Fabrik beherrschbar war. Wie von einer Wand kam es immer wieder zurück, es sei doch gar nicht nötig gewesen, dieses Risiko zu tragen. Was hatte sie auf einmal so hart gemacht, die immer so knetbar gewesen waren? Mit der Bauträgerschaft für die Fabrik würde Stine sicheren Gewinn machen, aus dem konnte sie Egins Ladenkette finanzieren. Wie Ameisen krabbelten die Einlassungen der Finanzen um Stine herum, für das Nachbargrundstück seien Anträge auf Rückübertragung gestellt, auch für das Betriebsgelände könnten welche angemeldet werden, die Eigentümergemeinschaften der beiden Grundstücke hätten sich überschnitten, wenn Stine die Deadline für die Fertigstellung der Fabrik nicht einhielt, durfte Milla von dem Joint venture zurücktreten, 389
Stine würde auf einer Produktionsstätte sitzenbleiben, die sie niemals auslasten könnte. Der Notar hatte den Kaufpreis für das Betriebsgelände fällig gestellt, Stine hatte ihn überwiesen. Der sofort zu bebauende Teil war ausgemessen, den Kaufpreis für den unbebaut bleibenden Teil würde das Joint venture dieser Tage überweisen. Nichts stand einem pünktlichen Baubeginn entgegen. Also. Die Mitarbeiter konnten zwar versuchen, vor Stine herumzuzündeln, aber so einfach war es nicht, die Bombe zu ihr herüberzuschleppen! Auch wenn es ihnen gelingen würde, Stines Kleider in Brand zu stecken, sie würde das Feuer löschen, und die Bombe würde, wie vorgesehen, Milla pulverisieren. Keine Angst, Stine rutschte nicht unter den Bildrand. Denn das, was sie nun offenbarte, hätte Tote aufwecken können. Den angeschwollensten Wunsch von allen, nämlich daß Egin verschwinden möge. Die ewigen Fesseln, mit denen das Weibliche angekettet war, jetzt wollte Stine sie sprengen. Ja, das männliche Volle! Die Produktion, die Finanzen und das Personal, wie erstarrt waren sie zunächst, aber schließlich entdeckten sie, daß Stines Wüten den Seelendreck, in dem sie alle herumwateten, trocknen ließ. Um so begieriger hörten sie zu, um so sinnhaftigere Zwischenfragen stellten sie. Als wollten sie den Augenblick verewigen, in dem Stine Egins Körper und Seele zugleich umstürzte. Auf einmal sprach Stine über Egin wie eine Krankenschwester über einen Patienten, um den sie sich freiwillig nie kümmern würde. Hätte sie ihn doch nicht in die Geschäfte hineingezogen, die ihr zuhörten wußten, welche Art Geschäfte das waren. In einem anderen Leben wäre seine Seele nicht so bar geworden. Zum Shopping jeden Tag in der Maximilianstraße hätte es doch immer gereicht, Verabredungen mit Freunden, Einladungen, 390
Discobesuche, so hätte er seine Zeit verbringen sollen. Sie, Stine, hätte es auch ertragen, wenn er sich irgendeine Gänseliesel genommen hätte und mit ihr seine fehlgeschlagenen Unternehmungen besprochen hätte, der hätte er dann sagen können, das Versagen starrt dir ins Gesicht. Sie wußte nicht, ob ihn der anfängliche Erfolg oder der schlußendliche Mißerfolg in den Schoß des Wahns getrieben hatte. Ein eigenartiges Geschöpf, der Mann: So ein kleines Licht und spreizt sich so weit, aber selber leben kann er nicht. Na, was denn, auch Stine war mit Geschichten gerüstet. Egins Verschwinden würde einen süßlichen Hauch ausströmen. Als letztes war er in einer Kunstbuchhandlung gewesen, dort hatte er noch jemanden getroffen, der ihn kannte, danach wurde er nicht mehr gesehen. Zunächst unternahm sie nichts. Es hätte ja sein können, daß ihn Gedanken durchtosten, die es ihm nicht erlaubten, sich zu melden. Nach ein paar Tagen schaltete sie die Polizei ein und Privatdetektive, die erschraken sich alle erst einmal über Egins frühere Drogenkarriere. Und suchten überall dort, wo sich Egin schon seit zehn Jahren nicht mehr hatte blicken lassen. Die Sache würde durch die Spalten der Yellow press gehen, man würde Egin überall erkennen, als Stricher auf Ibiza, bei einem Bordellbesuch oder im Pink Palace in Honolulu, das war gar kein Bordell. Einer würde sogar schreiben, am Tag, an dem Egin verschwunden war, sei im Englischen Garten am Eisbach ein Schwan aus dem Nichts erschienen. Stine würde dafür sorgen, daß die Leute wußten, wieviel Geld sie für die Suche nach Egin ausgab. Es würde ein Gerücht kursieren, er habe sich umgebracht, weil er seine Geliebte nicht heiraten konnte, dieses Gerücht wäre für Stine die wichtigste Beilage zu seinem Verschwinden. Er hatte es 391
nicht gewagt, Stine zu verlassen. Ein anderes Gerücht würde besagen, er sei mit seiner Geliebten in ein Bergdorf in den Anden geflüchtet. Manche würden allerdings behaupten, Stine habe ihn verschwinden lassen, weil sie seiner überdrüssig war. Wie hätte sie das machen sollen? In der Nachtschicht erst Egin mit dem Spaten erschlagen und dann im Garten eigenhändig ein Grab ausheben? Egins Ausschluß aus dem Lebensparadies erfolgt durch die Hüterin des Lebensparadieses persönlich, aber doch nicht so, das können wir bezeugen. Sein Verschwinden würde nie geklärt werden. Vielleicht taucht er doch noch einmal auf, weit abseits von Stines glattem Weg in die Zukunft. Man hat ihn überfallen und bewußtlos geschlagen. Er wurde in einen Hauseingang gedrängt, aber genau in dem Augenblick, in dem der oder die Räuber sich seiner Brieftasche bemächtigen wollten, ergoß sich eine Partie von Schülern in das Treppenhaus, und die Räuber mußten von dannen ziehen. Er wacht in einer Gefängniszelle auf und randaliert sofort, schließlich ist er das Opfer eines Überfalls. Wieso liegt er in einer Zelle. Warum, zum Teufel, hat man ihn eingesperrt und nicht die Diebe. Aber der Polizist erzählt ihm etwas ganz anderes: Kollegen hätten ihn aus einem Güterwagen geholt, wo er schlief. Er habe sich nicht festnehmen lassen wollen, da bekam er einen Schlag mit dem Gummiknüppel über den Kopf. Egin schreit und protestiert, aber dann fällt sein Blick auf eine herumliegende Zeitung. Die trägt das Datum 2020. Und im Spiegel sieht Egin nicht das gepflegte Gesicht eines Dreißigjährigen, der Sport treibt, sondern das Gesicht eines Landstreichers mit verklebten, dreckigen weißen Haaren, der sich vor einem Monat zum letzten Mal rasiert hat. Egin hat keine Ahnung, wo und wie er die letzten fünfundzwanzig Jahre verbracht hat. 392
Pretty Flamingo! Er kann sich ja noch einmal bei der Hüterin des Lebensparadieses vorstellen. Ob die akzeptieren wird, daß die unsterbliche Seele Egins in einen Landstreicher gefahren ist? Wir glauben nicht, daß nach fünfundzwanzig Jahren für Egin noch Platz im Kartell von Stines Leben sein wird, egal. Vielleicht stand Egins Sportwagen gar nicht in einem Parkhaus, sondern man benachrichtigte Stine, daß der Wagen in einem Kalksteinbruch in den Bergen gefunden worden war. Die vorderen Räder ragten über die Klippe hinaus, der Wagen war im Gebüsch hängengeblieben, viel hat nicht gefehlt, und er wäre samt Fahrer im Steinbruch zerschellt. Auf dem Sitz lag der offene Aktenkoffer Egins, sonst weit und breit keine Spur von ihm. In diesem Fall würde Stine natürlich den Polizisten sagen, daß Egin überarbeitet gewesen sei, wohl einen Nervenzusammenbruch gehabt habe. Ein wichtiges Geschäft, mit dessen Gelingen er ganz fest gerechnet habe, sei geplatzt. Außerdem hätten sie am Tag vor seinem Verschwinden noch über einen Zeitungsartikel gesprochen, in dem ein Mord und ein Selbstmord vorkamen. Man durchkämmte die gesamte Umgebung des Steinbruchs, man fand nichts und niemanden. Schließlich wird Egin doch entdeckt, aber auf eine völlig schlappe Art und Weise, in einem nicht weit entfernten Alpenkurort erkennt ein Gast in dem Zeitungsfoto des Vermißten seinen Tennispartner wieder. Niemand ist überraschter von der Entdeckung Egins als der selbst, denn er weiß nicht, wer er ist. Er ist zu Fuß in dem Alpenkurort angekommen, mit einem Bündel Bargeld in der Tasche. Die Brieftasche mit den Kreditkarten und den Ausweisen hat er im Auto zurückgelassen. Er spielt mit den anderen Gästen Tennis, Golf und schwimmt, aber er hat alles vergessen, was vor dem Unfall im Steinbruch 393
war. Natürlich würde diese Episode Egins Unterhaltungswert ungeheuer erhöhen. Wer kann schon so was erzählen, von sich selbst, der nicht er selbst war? Wer kann sich schon nicht an sich selbst erinnern? Ein geheimer Wunschtraum! Wir möchten auch gerne aus der Sintflut unserer Erinnerungen befreit werden! Wann immer Stine die Möglichkeit einer Amnesie erwägt, zieht eine wohlige Einbildung über unsere Gesichter. Einmal das Gedächtnis und die eigene Geschichte zerstäubt zu bekommen, mit Vollendung jemand anderer sein, ein neuer Geist in einem neuen Körper. Einmal die Keksdose aufmachen und sie dann auch wirklich offen lassen! Na, wir können uns nicht vorstellen, daß Egin sein Leben wirklich auf einer Klippe riskiert. Aber Felsen könnten bei seiner Zukunftsplanung durchaus eine Rolle spielen: Ein Schemel, ein Strohsack und eine Decke, etwas Geschirr, ein Besteck, eine Werkzeugkiste, ein Ofen mit Herdplatte, mit Holz zu befeuern, keine Rechnung von den Stadtwerken, keine Fernseh- und Rundfunkgebühren, keine Kreditkartenabrechnungen, keine Grundsteuer, keine Rechnungen eines Sicherheitsdienstes. Egin kann alle Daueraufträge stornieren. Die Vollendung des Lebens in einer Felsenhöhle! Da muß seine Seele keinen Spagat mehr machen, da wird er alle Gespenster los. Sein Ordnungswahn darf allerdings nicht gänzlich dran glauben, er kann damit Geld verdienen, in einer Drogentherapie hat er einmal das Korbflechten gelernt. Aus Weiden- und Fichtenwurzeln und Haselruten macht er kleine und große Körbe und Behältnisse, die er in den Nachbardörfern anbietet. Nicht den Bauern, die wollen nur noch Plastik, sondern den Touristen im Dorf. Er ernährt sich von Brot und Geräuchertem, aus einem nahe gelegenen Bauernhof bekommt er Milch. 394
Ein- bis zweimal im Jahr läßt er sich die Haare schneiden und den Bart abrasieren. Von dem Erlös seiner Körbe kann er sich Kaffee kaufen. Mit der Zeit wird er selber nicht mehr so genau wissen, warum er in dieser Felsenhöhle haust. Den einen wird er erzählen, es sei wegen einer unglücklichen Liebschaft, den anderen wird er sagen, es habe einen Streit gegeben zwischen ihm und seinen Eltern. Seine Seele ist Stine davongeflogen, aber leider auch ihm selbst. Sein Körper ist nur eine ausgekratzte Hülse, doch die wird lang noch ihren Dienst tun. Die Ferienmenschen sind begeistert von Egin, sie machen Ausflüge zu seiner Höhle und lassen sich mit ihm fotografieren, dafür schenken sie ihm Dosenwurst und Dosenmilch. Stine wird ihn nicht vergessen, denn Bekannte von ihr werden ihr Fotos zeigen, auf denen ihre Kinder zusammen mit dem Höhlenmenschen abgebildet sind. Es wird Zeitungsartikel geben, sogar im Fernsehen wird er auftreten. Niemand wird eine Verbindung vom Höhlenmenschen zu Egin herstellen. In jedem Bericht hat er ein anderes Vorleben. Einmal ist er Immobilienmakler gewesen. Er hat eine Industriefirma geführt. In London hat er in einer Popgruppe Schlagzeug gespielt. Kommen Sie, es sollte mehr Menschen geben nach diesem Bild! Alle werden immer wieder betonen, daß er kein Menschenfeind ist, sondern daß er seine Mitmenschen liebt. Eines Tages wird es sogar einen richtigen Kinofilm über ihn geben, einen Weihnachtsfilm. Im Film ist die Höhle natürlich viel größer und viel luxuriöser und die Landschaft viel schneebedeckter. Er selbst kommt darin vor! Im Nachspann wird ein Interview mit ihm gezeigt, dann gefriert das Bild und wird zum Hintergrund für die Aufzählung der Darsteller. In dem Interview erklärt er, daß er tatsächlich an das Christkind glaubt. Im Film hat man gesehen, wie ihm ein paar Kinder ein 395
Weihnachtsgeschenk bringen wollten, sie trafen ihn nicht an und legten das Geschenk vor seine Höhle. Dann begann es zu schneien. Als Egin in seine Höhle zurückkam, konnte er das Geschenk nicht sehen, denn es war schon schneebedeckt. Die Kinder hatten das Geschenk mit vergoldeten Nüssen geschmückt, ein Eichhörnchen auf der Suche nach Futter scharrte an der Stelle, wo das Paket lag, den Schnee weg, so entdeckte Egin das Geschenk doch noch. An dem Geschenk war ein Kärtchen befestigt, auf dem stand geschrieben, vom lieben Christkind. Deswegen glaubte Egin wirklich, daß das Geschenk vom Christkind oder vielleicht von seinen Engeln gebracht wurde. Wenn der Film in den Kinos gelaufen sein wird, wird Egin jedes Weihnachten Geschenke vom Christkind bekommen, so viele, daß es für ihn gar nicht zum Sagen sein wird. Cara, carissima Milla! Spürst du sie auch, die Freuden des Tages? Zwanzig Grad um zwölf Uhr mittags im August, schwerelos der Himmel, so klar die Straßen, als ob der Atem eines höheren Wesens sie durchwehen würde! Die Aura des gemeinsamen Lebens war schon um uns seit langer Zeit. Mit übervollem Herzen habe ich die Pressemitteilung zum Baubeginn diktiert. Das Gute zeigt jetzt sein Gesicht. Der Markt hat seine düstere Seite verloren, er ist zu einem Theater der Sanftheit geworden. Hektische Anfragen der Presse, in diesen Zeiten des Umbruchs kann sich nichts verborgen halten. Abends wird der Ministerpräsident im Fernsehen erklären, wie wichtig für sein Land unsere Familie und ihr Kind ist und daß wir unser Kind so erziehen sollen, daß es niemals Alkohol oder Drogen anrührt. Du warst die Königin im pastellfarben gestrichenen Wartesaal Gottes. In dieses Eldorado bin ich eingebrochen und habe dir dein Leben 396
zurückgegeben. Du wirst die begehrteste Frau in der ganzen Branche sein. Who is next, werden die Magazine fragen, Success by design, werden sie titeln, sie meinen die Steuerung des Lebens nach Maß und Entwurf, nach Plan und Bestellung. Die Welt erwartet Skandale. Dein Leben, Milla, paßt nicht zur allgemeinen Endzeitstimmung. Du bringst es fertig, aus deiner Karriere eine Legende zu machen. Man kann das nicht einfach dem Alter oder der Intelligenz überlassen. Du hast das Rezept gefunden, aber zur Realisierung brauchst du mich. Milla ist tot! Es lebe Milla! Ich erspare dir das Totsein. Ich gebe dir das Leben. Ein Leben, das du niemals hättest ohne mich. Wie geschmiert glitten Stines Augäpfel von der Produktion zu den Finanzen, von den Finanzen zum Personal und vom Personal zurück zur Produktion. Niemals würde Stines Seelensumpf die Produktion, die Finanzen und das Personal freigeben. Ich bin der Bräutigam, du bist die Braut, Milla! Im Augenblick sind wir Zwischenwesen. Trotzdem, unser Kind kommt nicht unter Donner, Blitz und Erdeschwanken zur Welt, es braucht auch kein Schlangenzüngeln, kein Lanzenstechen und kein Gebeineknacken. Du wirst die brillanteste und glamouröseste Managerin der Branche sein! Ich gebe dir nicht nur das Leben. Ich erspare dir das Altern. Ich bewahre dich vor dem trägen Fluß der Würde. Später wird es dir gleich sein, wer es gewesen ist. Ob ich es war oder eine andere Hure. Du achtest mich nämlich genauso wie andere Menschen und wie alle anderen Huren, denn deine Produkte sind immer auch für Menschen wie mich gemacht. Täter und Opfer finden sich, denkst du. Und natürlich hast du recht damit. Deinen Mitarbeitern predigst du, daß die Zeit der Überdeutlichkeit, der Verschwendung, der Sorglosigkeit vorbei ist. Du wirkst wie eine Klosterschwester, aber mich hast du zur Sünde eingeladen. 397
Du rufst allen zu, du seist unberührbar, aber du willst, daß ich dich umarme. Du willst es mit einem strafenden und verzeihenden Gesicht zugleich. Täter und Opfer haben sich gefunden, doch anders, als du denkst. Die Rollen sind anders verteilt. Du verkörperst die Vergangenheit, eine Welt, die schon zitiert wird, obwohl sie noch gegenwärtig ist. Du bewunderst die Projektanten und Anwender, die deine Produkte verwenden, wegen ihres Geschmacks. Das ist ohne Neid oder Zynismus, am liebsten würdest du deine Ideen und Produkte verschenken. Du weißt gar nicht, wie dekadent du bist! Du machst keinen Unterschied zwischen echt und unecht, solange echt technisch fortschrittlich und gut designt ist. Deine Epigonen, Giovanna und Marco, können ihr großes Talent nicht nutzen, denn sie finden sich zwischen der Romantik des technischen Designs und den Perversionen des Marketings nicht zurecht. Du plagiierst und zitierst, aber du machst aus jedem Produkt ein neues. Du vermillast jedes Produkt. Und immer kommt ein OriginalMillaprodukt heraus. Alles trägt deine Handschrift, kündet von deiner Schönheit. Dein Genie blickt mich, blickt meine Mitarbeiter, blickt unsere Kunden aus allen deinen Produkten an. Es gibt kein Entrinnen. Manchmal erstarren wir vor Schreck, wenn wir eins deiner neuen Produkte untersuchen: technisches Design bis zum Overkill! Die Produkte der anderen feiern das nicht Vorhandene. Sie wollen unter technischem Komfort nicht das strukturierte Überangebot, sondern die leere Distanz verstehen. Das ist niemals dein Spiel. Deine Produkte schreien: Schau mich an! Beschäftige dich mit mir! Benutze mich! Manipuliere mich! Amüsiere dich mit mir! Deine Entwürfe sind zuweilen vulgär und hemmungslos, aber jedes deiner Produkte ist perfekt. Deine Produkte sind niemals jung, 398
auch wenn sie gerade auf den Markt gekommen sind. Denn jung können nur Produkte sein, die noch nicht ausgereift, die unfertig sind. Wer deine Produkte verwendet, ist erfahren, dominant oder sogar exhibitionistisch. Die Produktion, die Finanzen und das Personal kamen sich vor wie Sittlichkeitsverbrecher, die nicht mehr missetätig werden, nur noch endlos schauen wollten auf Stines Lebens- und Liebesbund mit Milla. Sie mußten die Wollen und die Garne für das Hochzeitskleid beibringen, für die Erstausstattung des Kinds und auch gleich für das Heranwachsende, dafür bekamen sie Stücke aus der Zukunftstorte ab, die Stine buk. Später, wenn die Täterund die Opferrolle verkehrt sein werden, dann wird man dein verborgenes privates Leben ausleuchten. Sie werden herausfinden wollen, was dazu geführt hat, daß nach der Geburt unseres gemeinsamen Kinds dein Stern auf einmal nicht mehr so rein glitzert. Dein Licht war zu hell. Du hast unendlich mehr für die Befreiung der Produkte von der reinen Zweckmäßigkeit getan, als du dir vorstellen kannst. Wer deine Produkte verwendet, ist in eine Falle hineingetappt. Er spiegelt sich darin und merkt gar nicht, daß du einen anderen Menschen aus ihm gemacht hast. Einen Menschen jenseits jeglicher Eindeutigkeit. Nützlichkeit und Nicht-Nützlichkeit, das sind bei dir einfach nur Unterkategorien von etwas Größerem, von Unbekümmertheit im Umgang mit den Dingen, einer Art heidnischer Lebensfreude. Du hast den Traum deiner Jugend verwirklicht. Aber um zu sehen, daß du ihn verwirklicht hast, mußt du daraus erwachen. Wären die Gehirnwindungen von Stines Herrenpartie nur so tief, wie ihre Falten aneinandergelegt lang sind. Nein danke, ausgerechnet das Personal hat die Haut von Siebzig bis Achtzigjährigen. Es raucht zuviel, welchen Exzessen 399
es sich sonst noch hingibt, davon kann sich Stine keine Vorstellung machen. Was man bei den Finanzen für Sommersprossen halten könnte, sind tatsächlich schwere UV-Schäden, Stine weiß, daß man diese Flecken aktinische Keratosen nennt, ein Vorstadium von Hautkrebs. Die vielen Falten um den Mund und um die Augen sind ebenfalls Folgen der Sonneneinstrahlung, warum müssen sich die Finanzen auch immer wieder ungeschützt in die Sonne begeben. Stine fragt sich, ob ihre Mitarbeiter nicht doch zuviel Freizeit haben. Der Bursche ist nicht mehr der, der er einmal war, sagt die Mutter der Produktion, wer schnell abnimmt, verliert sein Unterhautfettgewebe. Daß die Haut aber auch dermaßen eingefallen ist. Die Augen der Produktion sehen entzündet aus, entweder sie liest zuviel, oder sie schläft zuwenig. Könnte es sein, daß die Augen von jemandem, der viel liest, genauso aussehen wie die Augen von jemandem, der viel fernsieht? Als Produkt von Milla hätte die Produktion nie die Qualitätskontrolle passiert, Milla hätte dafür gesorgt, daß sie sich Eigenfett in das Unterhautfettgewebe einspritzen läßt. Könnt ihr die Zukunft nicht mit einem etwas eifrigeren Zielwerfen angehen? Mutti gönnt euch Urlaub von ihren Begierden. Müssen denn eure eigenen Begierden so kraftlos herunterbaumeln? Jetzt seid ihr dran! Stine überlegt, die Wünsche der Produktion, der Finanzen und des Personals etwas naß zu spritzen, aber sie läßt das dann doch sein, sie ist froh, daß ihr eigener Seelenmüll mittlerweile getrocknet ist. Stine hat rotgeränderte Augen, die Ober- und Unterlider sind schlecht durchblutet, es könnte sich auch um eine chronische Entzündung handeln. Stine besitzt keine genetische Anlage zu Falten, die ausgeprägten Falten zwischen Nasenflügel und Mundwinkel könnten für 400
Magenprobleme sprechen. Die feinen Falten an der sogenannten Sonnenterrasse rund um die Augen sind zweifellos auch die Folgen von Sonnenschäden. Sie stören nicht, man sieht sie kaum, früher hat Stine mehr Freizeit gehabt, als sie jetzt zugibt. Aber da sind ein, zwei Falten über der Oberlippe. Vor diesen Falten hat Stine Angst. Als sie sie zum ersten Mal im Spiegel sah, fühlte sie sich alt. So alt, wie sie es niemals jemand anderem gegenüber zugeben würde. Sie weiß auch, wie das heißt, wenn es weitergeht: Tabakbeutelmund. Der vor allem auf Frauen wie Stine wartet, die einen so großen Mund und so volle Lippen haben. Können wir sagen, wenn Stine in die Falten ihrer Untergebenen blickt, weiß sie, daß sie selbst niemals nur natürlich leben und glücklich sein kann, indem sie auf eine Zeit hinlebt, die sie nicht selbst gestaltet hat? Können wir sagen, sie weiß auch, daß sie zur Unnatur verderben wird, weil sie sich gegenüber jeder anderen Zeit verschließt? Doch, sie merkt, daß ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche, ihre Leidenschaften, ihre Sehnsüchte, ihre Hoffnungen, ihre Sorgen maßlos werden, sich ihres Sinnes entleeren und die Zeiten aller anderen zerstören und zersetzen. Das, was sie nur sich selbst erfüllen kann, will sie an sich selbst vorbei erleben, in anderen Menschen, zum Beispiel in Egin. Wir erleben, daß Stine verkrüppelt ist, daß Stine leidet, daß Stine sich durch ihre Selbstüberforderung zerstören wird. Wir erkennen überdeutlich, daß Stine alles, was sie an den Zeiten der anderen verneinte, dennoch ihrer Bestimmung gemäß in ihrer eigenen Zeit suchen und ersetzen muß. Wir sehen natürlich die Ohnmacht, den Selbsthaß und den Lebensekel Stines, ihre Verzweiflung. Sieht sie sie selbst auch? Brüllen sollten wir vor Angst, statt dessen verfolgen wir ungerührt, wie Stine vor dem Abgrund des Nichts hantiert. Bewußtsein und Freiheit sind in ihrem Denken 401
verloren, denn sie könnten nur von einem Vertrauen in eine Zeit, die nicht die ihre ist, gegeben sein. Gelingt es Stine, ihre Wünsche so weit abschwellen zu lassen, daß ihre Zeit wenigstens oberflächlich so aussieht, als wäre es nicht nur ihre Zeit? Wir sehen zu, in welche Hölle sich Stines Dasein verwandelt, das durch den tödlichen Zwang beherrscht wird, ihre Zeit eins mit allen anderen Zeiten zu machen. Wir verfolgen, wie Stine trotzdem Berechtigung und Anerkennung sucht, bei denjenigen, die sie ihr nicht verwehren können, und müssen uns ein Lachen herausschneiden. Wer soll sich hier seiner Nichtigkeit und Armseligkeit schämen, Stine oder wir? Nicht nur wir, auch das Personal, die Finanzen und die Produktion merken, daß Stines Zeit an jeder Stelle, an der sie sich von den anderen Zeiten löst, eine nie versiegende Quelle von Schmerz, von Zerstörung und von Vergeblichkeit für sie bedeutet. Wenn Stine ihre eigene Zeit leben will, dann muß sie sich alle Attribute aneignen, die die anderen Zeiten auch auszeichnen. Dieser Aneignungsversuch ist die eigentliche Anmaßung. Die Zeiten, die nicht ihre Zeiten sind, haben ihren Grund in sich selbst, sind für sich. Aber Stines Zeit hat ihren Grund niemals in sich selbst. Immer wieder muß sie den Preis bezahlen für den Eintritt in ihre eigene Zeit. Ihre eigene Zeit ist nicht notwendig, ihre eigene Zeit ist beschämend zufällig, und sie kann diese Zufälligkeit niemals abschütteln. Sie kann die Frage nicht leugnen, wie denn ihre Zeit in die Welt gekommen ist. Weil Stine immer und überall tätig ist, weil sie unablässig wirkt, weil ihre Befähigung außer Frage steht, muß sie immer schlagender beweisen, daß es ohne sie nicht geht. Sie geht immer größere Verpflichtungen ein, sie nimmt sich immer mehr vor, leistet immer mehr. Sie hat doch auch Schuldgefühle und macht sich doch 402
selbst Vorwürfe! Aber alles dient nur dem unsinnigen Ziel zu vertuschen, daß auch ihre Zeit nur über die anderen Zeiten ins Leben gekommen ist. In den Zeiten der anderen passieren nie Fehler. Im Vergleich mit ihrer Zeit sind die Zeiten der anderen vollkommen. Sie muß erbarmungslos sein gegenüber jedem Anzeichen von Schwäche und Versagen, das sie an sich selbst feststellt, denn es würde wieder die Berechtigung ihrer eigenen Zeit bestreiten, sie muß notwendig die Maßstäbe anlegen, deren mindere Version die Zwangsneurose Egins bedeutet. Die Produktion, die Finanzen und das Personal haben schon verstanden, daß Stine sie im Grunde genommen um Gnade anfleht. Sie sollen Stine eine Rechtfertigung für ihr Sein geben, aber Stine wird immer wissen, daß diese Rechtfertigung nur geborgt ist. Tausendmal kann Stine den anderen ihre Freiheit zu Füßen legen und um ihre Unterstützung werben, die anderen werden ihr keinen Halt, keinen Sinn und keine Festigkeit geben. Sie verurteilt nur sich selbst zur Hysterie, zu einer sichtbar erfolglosen, enttäuschenden und demütigenden Suche nach einem anderen Menschen, der so sein müßte wie sie und den es doch ohne Selbstbetrug niemals geben kann. Die anderen Zeiten sind eifersüchtig auf Stines Zeit, das weiß Stine. Die anderen Zeiten werden es sich nicht bieten lassen, daß Stines Zeit sie ersetzt. Sie werden nicht einmal darauf eingehen, daß Stine ihnen ihre eigene Zeit nur zur Seite stellt. In manchen Augenblicken fragt sich Stine, ob ihre eigene Zeit nicht der Abfall schlechthin ist. Sokrates sagt bei Plato, es sei besser, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun, wir sehen, wie Stine anderen Unrecht tut, aber wir sehen auch, wie Stine sich selbst Unrecht tut. Sie stiftet Unfrieden, weil sie mit sich selbst in Unfrieden lebt. Wir sehen, daß Stine andere versehrt und unterdrückt, weil sie selbst bereits versehrt und unterdrückt ist. Stine hat es 403
geschafft, auch uns einzuspannen, wir haben unser Blut in ihre Zukunft gepumpt. Tabakbeutelmund, wie lächerlich! Stine hat noch einmal die Maschine ihrer Jugend angeworfen. Leben, leben, leben! ruft sie, wir haben ihr dasselbe gespendet. Obwohl noch ein wenig benommen, weil wir soviel Körperflüssigkeit abgezweigt haben, begreifen wir auf einmal, daß Stine keine Virtuosin ist, sie übt nur ständig, viel mehr als alle anderen. Jetzt verstehen wir, warum Stine nie einen Blick zurückwirft. Wir sind diejenigen, die zurückblicken. Wie steht es eigentlich um unsere Gesichter? Wir reden uns ein, wir hätten eine Haut wie mit siebzehn. Wir haben uns immer vorgesehen, nie waren wir zu lange in der Sonne. Eigentlich muß man uns ein Kompliment machen, aber auch wir werden am Mund irgendwann steile Fältchen kriegen. An den Augen wird ebenfalls etwas kommen. Vielleicht sind die Falten auch schon da, und wir schminken uns nur so gut. In unseren Gesichtern ist schon eine ganze Menge passiert, aber nicht überall. Eigentlich haben wir ziemlich unebene Gesichter, sie sind nur von der Schminke ausgeglichen. Die Stirnpartie ist straff, aber am Hals fällt alles zusammen. Die Hautfarbe ist unwirklich, zu jugendlich für unser Alter. Hat Stine wirklich nur ihren eigenen Seelenmist ausgekippt? Wir haben von einer Südseeinsel namens Oloa gehört, deren Einwohner die Hälfte ihrer Zeit mit Baden und dem Eincremen ihrer Haut verbringen, um sie frisch zu erhalten. Die Eingeborenen tun alles gegen Häßlichkeit und gegen das Älterwerden. Häßliche Babies werden nicht gefüttert, man läßt sie verhungern. Gegen das Älterwerden gehen die Insulaner radikal vor: Jeder gibt zu seinem vierzigsten Geburtstag ein großes Fest und nimmt anschließend Gift. Geht es 404
Stine tatsächlich um Macht und um Geld, oder steckt nicht etwas anderes dahinter? Die Produktion, die Finanzen und das Personal, haben sie nicht vielleicht besser als wir erfaßt, daß sie zusammen der Therapeut sind und das Ganze eine Art Therapie für Stine? Vielleicht will Stine ja tatsächlich, daß die Benzinspur zu ihr selbst zurückführt. Vielleicht hat Stines Herrenpartie besser als wir begriffen, daß Stine gar nicht anders kann, als sich unter dem Druck ihrer Angst und im Bannkreis der fehlenden Rechtfertigung ihres Tuns selbst zugrunde zu richten. Welche sind nun die kleinen Lichter, wir oder die Produktion, die Finanzen und das Personal? Wir sehen Stine in einer Krise, aber die drei waren schon viel weiter: Sie haben das Ende der Utopie Stines vor sich gehabt. Sie haben es formuliert, sind dann allerdings zurückgeschreckt. Sie haben die Illusionen verloren, die wir noch hartnäckig hegen. Wir haben immer geglaubt, daß uns Stine etwas vermitteln kann. Nun müssen wir uns fragen, ob wir Stine nicht als Projektionsfläche mißbraucht haben. Sicher haben wir im Hinterkopf gehabt, eigentlich ist Stine banal, langweilig. Oder vielleicht hermetisch. Aber das sind lauter Selbstwidersprüche, wäre Stine banal und langweilig, hätte sie sich schon von selbst erledigt, wäre sie hermetisch, wir hätten sie gar nicht so beschreiben können, wie wir das getan haben. Wir haben immer gedacht, indem wir Stine zusehen, können wir dabei etwas lernen. Haben wir damit nicht nur unsere eigenen betrogenen Hoffnungen ausgestellt? Wir haben gemeint, Stine auf die Weise, wie wir sie beschreiben, realistisch zu beschreiben. Wenn wir jetzt sehen, wie die anderen sie sehen, dann müssen wir uns fragen, ob wir nicht einen kategorialen Irrtum begangen haben. Stine ist für uns ein wichtiger Bezugspunkt. Wahrscheinlich der wichtigste überhaupt, Stine hält uns zusammen. War Stine, 405
ist Stine eine Utopie? Wir haben vorausgesetzt, daß Stine mitteilbar sei. Ist diese Mitteilbarkeit nicht auch eine Utopie? Und Stines Herrenpartie hat schon lange erkannt, daß es eine ist. Natürlich zeigt sie uns auch, daß die Grenzen zwischen high und low permanent in Frage gestellt werden müssen. Wir hätten nicht gedacht, daß wir uns gegen die Produktion, die Finanzen und das Personal aufbäumen müssen. So gesehen, bezieht unsere Darstellung von Stine ihre besondere Wichtigkeit gar nicht einmal aus der ästhetischen Betrachtung, sie wird fast zum Politikum. Zur Utopie Stine gehört die Vorstellung, es gebe Bereiche jenseits desjenigen, in dem Stine und Milla Konkurrentinnen sind, in denen sie anders zusammenleben können, als ihnen das unter der Herrschaft der Fabriken und der Grundstücke möglich ist. Die Utopie Stine besteht für uns wohl auch darin, daß Stine in ihrer Radikalität ein Bild dafür ist, das uns zu diesen Bereichen hinführen soll. Voraussetzung dafür wäre allerdings, daß es Stine in irgendeiner Form gelänge, ihre eigene Zeit gegen die anderen Zeiten zu setzen, die Anstrengung allein kann nicht ausreichen. Um wirklich etwas von Stine zu lernen, das sehen wir jetzt mit einem gewissen Schrecken, müssen wir mitmachen, müssen wir Komplizinnen Stines sein. Aber eigentlich wollen wir doch gar nicht, daß Stine Erfolg hat! Das können wir nicht vertreten. Auch da sind uns die Produktion, die Finanzen und das Personal voraus. Wir sollten nicht auf sie herabsehen, weil sie sich noch einmal haben umdrehen lassen, wir wissen doch gar nicht, was sie tatsächlich denken. Wir können gar nicht unterscheiden, ob Stine sie tatsächlich rumgekriegt hat oder ob sie nur so tun. Wir sollten uns mehr mit uns selbst beschäftigen und weniger mit Stine. Wir wollen enger zusammenrücken und besser zusammenhalten, warum müssen wir das mit Stines 406
Verhalten, mit Stines Geschichte rechtfertigen? Wenn wir Stine vereinnahmen und sie zum Spielball unserer Willens- und Absichtsbekundungen machen, dann zahlen wir einen Preis, der viel höher ist, als wir gedacht haben. Ist eine von allen Verpflichtungen entbundene Stine zur Bedeutungslosigkeit verdammt? Die Frage trifft uns wie ein Faustschlag. Denn eins wird uns jetzt klar: Die Krise Stines ist vor allem eine Krise der Vorstellungen, die wir von Stine haben. Wir haben uns über das unappetitliche Geräusch aufgehalten, mit dem Stine in ihrem Seelenmorast herumgewatet ist, wir haben Mitleid gehabt mit der Produktion, den Finanzen und dem Personal, diesen Umkleidekabinen mit Selbstöffnungsautomatik für Stines Seele. Was machen wir? Wir staksen hilflos zwischen unseren Dörr-Wünschen herum, die wir auch noch für Herzensangelegenheiten halten, und unsere Seelen sondern knarzende Fürbitten ab, wir wissen nicht einmal, an wen!
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milla trifft ethel wer benchmarkt hier wen ethel zog den kopf ein und streckte die fauste vor wie eine boxerin sie verteidigte die weiße rampe ganz allein milla hatte das lager schon von weitem gesehen ein blauer kubus einen halben meter über einem rechteckigen kiesfeld in dem lager bei klagenfurt wurde nichts mehr gelagert es gehörte noch ihrer mutter milla hatte sich dafür interessiert weil sie ethel kennenlernen wollte ethel hatte sich die haare zurückgekämmt sie trug einen cowboyhut und ein t-shirt mit dem aufdruck barbie is a slut vor dem blauen block erzählte sie milla egin sei einmal ihr bester freund gewesen aber dann habe er mist gebaut und sei verrückt geworden jetzt habe sie zwei freundeskreise ein paar eingespielte mädchen mit denen sie den ganzen tag dasitzen und über gott und die welt reden könne dann gebe es da noch ein paar jungs mit denen sie spaß habe trotz der sache mit egin habe sie das gefühl daß jungs ehrlicher seien als mädchen wenn jungs was sagten dann meinten sie das auch so bei mädchen müsse man die worte und das ganze verhalten auseinandernehmen und völlig neu zusammensetzen sonst komme man nie drauf was gemeint sei oft sei das gegenteil von dem gemeint was gesagt werde wenn ein mädchen gar nichts zu einem sage heiße das vielleicht sogar sie mag einen erst recht milla wollte rauskriegen wie das gewesen war mit stine und charlotte doch ethel sagte nur es sei wirklich schwer gewesen für ihre mutter und daß es ein riesengroßer unterschied sei ob man es direkt miterlebt habe oder ob man nun im nachhinein versuche sich klarzumachen wie es passiert sei man denkt wir sind freunde weil wir gar nichts andres sein können alles ist klar 408
und einfach dann trifft einer eine entscheidung und plötzlich steht man voreinander man erkennt sich kaum wieder man weiß nichts mehr anzufangen miteinander sie merke daß jemand ihr freund oder ihre freundin werde wenn die person gleich denke wie sie wenn sie ihre eigenen gedanken weiterbringe was freunde zusammenhalte sei der gemeinsame träum ethel hatte von dem joint venture in der zeitung gelesen sie fragte milla ob sie und stine jetzt dicke freundinnen seien ethel nahm den cowboyhut ab ihre haare sahen richtig fettig aus das konnte kein gel sein sie hatte ausgeprägte stirnwülste ihre wangenknochen waren wie vs ihre augen waren wie vs ihre nase war wie ein v ihr mund war wie ein v ihr kinn war wie ein v ihr ganzes gesicht war wie ein v milla dachte vielleicht konnte sie was aus ethel rausholen wenn sie sie provozierte sie sagte ja sie und stine seien jetzt dicke freundinnen sie sehnten sich nach den gleichen dingen obwohl ihr leben mickrig und blöd sei hätten sie sich nicht aufgegeben obwohl sie scheißjobs hätten wollten sie giganten werden sie träumten davon daß sie die größten seien sie und stine zusammen seien sie unschlagbar ethel wollte von milla wissen ob sie und stine sich immer sagten was in ihnen vorgehe milla erklärte das tolle an ihrer freundschaft sei daß sie das gerade nicht tun würden daß sie sich gerade nicht aussprächen sie erzählten sich überhaupt nichts von dem joint venture sie kicherten einfach nur am telefon mehr sei auch nicht notwendig das joint venture lerne von selbst milla konnte tatsächlich mit stine gut schweigen doch nur weil sie überzeugt war mit stine etwas zu bereden könnte vielleicht die hölle sein wann lernt eine firma fragte ethel wenn sie das was sie macht besser macht wenn sie mehr darüber weiß was sie macht oder wenn ein größeres einvernehmen herrscht darüber was die firma weiß lernt eine firma wenn sie ihre handlungsmöglichkeiten erweitert obwohl sie noch gar 409
nicht anders handelt lernt eine firma wenn sie erfahrungen aus der vergangenheit in den alltäglichen prozessen berücksichtigt oder ist das lernen ein vorgang des aufspürens und korrigierens von fehlem man muß lernblöcke formen sagte ethel zu milla plan do check act beharren auf fakten statt auf vermutungen einsatz statistischer hilfsmittel um daten zusammenzufassen und widerspräche zu erkennen zeitreihen pareto-kurven korrelationen und ursache-wirkungs-diagramme sorgfalt und genauigkeit zählen beim lernen besonders woher wissen wir daß das richtig ist nahe dran ist nicht genug wenn es um wirkliches lernen geht man muß von den augenscheinlichen symptomen zu den verborgenen ursachen vorstoßen man muß nach absicherungen suchen sonst wird man ein opfer altbekannter tatsachen und nachlässiger begründungen das problem erkennen und herausgreifen umsetzung und bewertung der vereinbarten plane welcher weg ist der beste vielfalt von zu erkennenden ursachen was wollen wir ändern wirksamkeit der vereinbarten lösung erkennen von anschlußproblemen falls vorhanden erkennen eines handlungsbedarfes hauptursachen erkannt und verifiziert die geeignete lösung auswählen und planen die lösung in die tat umsetzen was hindert uns den gewünschten zustand zu erreichen das problem analysieren fülle von problemen die eine betrachtung verdienen einvernehmen über die zur bewertung der lösung verwendeten kriterien feststellung eines problems nachdem über den gewünschten zustand einvernehmen besteht maßstäbe bestimmen um die wirksamkeit der lösung zu kontrollieren gehen wir genau nach plan vor umsetzung der vereinbarten eventualpläne falls erforderlich realisierung der lösung wie gut hat es geklappt bestätigung daß das problem gelöst ist oder sich einvernehmlich anschließenden problemen zuwenden den 410
erfolg der lösung bewerten vielzahl von kriterien um mögliche lösungen zu bewerten auflistung der lösungen wie könnten wir die veränderung bewirken vielfalt von ideen wie das problem zu lösen wäre vielzahl von ideen wie sich die gewählte lösung umsetzen und bewerten läßt dokumentation und rangordnung der hauptursachen beschreibung des gewünschten zustands in klarer diktion ethel sagte auch man müsse sich seine freunde schon genau ansehen es sei ganz schön hart herauszufinden daß sie andere wertvorstellungen hätten als man selber noch härter sei es sich verpflichtet zu fühlen in einer freundschaft und der andere oder die andere fühle sich auf einmal gar nicht mehr verpflichtet milla wollte ethel weiter provozieren sie behauptete manchmal gehe es ihr total scheiße und sie sei total am ende dann rufe sie stine an und sie träfen sich die untergebenen redeten über das joint venture sie und stine redeten gar nicht nach ein paar minuten fühle sie sich viel besser das joint venture sei eine riesige seifenblase sobald sie mit stine in diese seifenblase hineingehe fühle sie sich besser aber sie müsse auch zugeben daß sie ganz genau wisse wenn sie fest gegen die seifenblase treten würde dann würde sie platzen und sie wäre auf einmal wieder ganz allein es gibt nichts schmerzhafteres als jemanden zu verlieren mit dem zusammen man überragend war philosophierte ethel sie hat in der liebe immer nur freundschaft gesucht sie hat freundschaft immer für was besseres gehalten als liebe eine freundin kann wie eine familie sein ein freund kann wie eine familie sein freunde können wie eine familie sein man macht mehr oder weniger zusammen und man ist nicht zu kleinlich bei der liebe gibt es immer diese besitzansprüche aber auch bei einer freundschaft kommt irgendwann ein besitzanspruch warf milla ein milla und ethel waren sich einig daß ihnen sex nicht so wichtig war wie freundschaft ethel fragte milla ob 411
sie das lager anmieten wolle milla fragte zurück wann ethel ihren ersten freund gehabt hatte ethel erzählte in der fünften klasse vielleicht mit elf sie seien immer im englischen garten spazierengegangen sie hätten gezählt wie oft leute aufeinander losgegangen seien jogger und hundehalter weil sich die hundeleine quer über den weg spannte oder weil ein hund mitlief und hochsprang und schnappte oder radfahrer und fußgänger wenn radfahrer fußgänger umfuhren oder radfahrer und radfahrer wenn radfahrer sich gegenseitig umfuhren an manchen tagen hätten sie einen streit nach dem anderen gesehen an anderen tagen sei überhaupt nichts passiert da hätten sie sich dann irgendwann geküßt ethel fragte milla ob nicht vielleicht das joint venture als mieter für das lager hier in kärnten in frage komme milla sagte sie hätte gerne mehrere freundinnen wie stine mit denen würde sie dann kreuz und quer auf dem bett oder auf dem sofa liegen und schokolade essen milla hatte keine aufgespritzten lippen ihre lippen sahen so aus wie aufgespritzte lippen aussehen sollen was sie jedoch nie tun aufgespritzte lippen sehen immer nach aufgespritzten lippen aus ethel begriff daß milla sich mit ihr getroffen hatte um sie auszuhorchen ethel war jetzt wütend und zornig und trotzig und beleidigt und enttäuscht und weinerlich die sonne war untergegangen in der nacht wurde der raum zwischen dem kiesfeld und dem gebäude angestrahlt so daß es aussah als ob der kubus in der luft schwebte ethel sagte milla daß sie und charlotte sich die villa und das atelier nicht mehr leisten könnten sie müßten in eine wohnung ziehen milla wollte das einstürzen von ethels und charlottes welt von der mitte her verlangsamen ethel brauche vor allem die richtige einstellung zum geld geld ist nicht schmutzig geld verdirbt nicht den charakter milla behauptete sie streichle gerne ihren goldring und daß sie dafür gesorgt habe daß der wachhund auf dem 412
firmengelände money hieß milla riet ethel ständig einen tausendmarkschein bei sich zu führen so könne sie lernen sich mit geld wohl zu fühlen bis jetzt hatte sich ethel nur mit den dingen wohl gefühlt die ihr das geld ihrer mutter gekauft hatte ethel müsse sich daran gewöhnen sich mit dem geld wohl zu fühlen und nicht sofort an die dinge zu denken die man sich damit kaufen könne ethel sagte sie habe aber angst den tausender zu verlieren oder ihn für was auszugeben das sie gar nicht haben wolle milla erklärte genau darum gehe es diese ängste abzulegen sie müsse ihre persönlichkeit entwickeln achtzig prozent aller lottomillionäre hätten in zwei jahren ihr geld verpulvert und fünf prozent sogar selbstmord begangen ohne persönlichkeit gehe gar nichts milla fragte ethel wie lange sie schlafe sie wartete nicht ab bis ethel antwortete mehr als vier stunden schlaf pro nacht seien viel zuviel wer weniger schlafe habe mehr zeit zum lesen ethel sollte ein erfolgsjournal führen darin sollte ethel jeden tag mindestens fünf dinge notieren die ihr gut gelungen seien das müsse nichts großes sein ihre mitarbeiter führten traumalben da klebten sie dann bilder von ihren traumhäusern von ihren traumautos von ihren traummotorrädern von ihren traumfrauen und traummännern ein milla sagte nicht ob auch alle ihren traummann ihre traumfrau ihr traummotorrad ihr traumauto bekamen sie riet ethel zur vorsieht im umgang mit ihren freunden entweder man hat ziele oder man hat freunde ethel sollte sich unbedingt an die zweiundsiebzigstundenregel halten alles was man sich vornimmt muß man innerhalb von zweiundsiebzig stunden in angriff nehmen sonst wird mit wahrscheinlichkeit eins nichts draus dann kam milla ethel mit zahlen in ethel keimte die hoffnung auf daß milla auch zu der wahrscheinlichkeitszahl kommen würde mit der sie oder das joint venture das lager anmieten würde wer vom 413
achtzehnten bis zum fünfundsechzigsten lebensjahr eine mark pro tag spart und mit zwölf prozent anlegt ist millionär ethel war schon einmal millionärin sie wollte nicht erst mit fünfundsechzig wieder millionärin sein milla fuhr fort wer jeden monat siebentausendfünfhundert mark zu fünfzehn prozent anlegt der braucht nur sieben jahre um millionär zu sein im falle ethels um wieder millionärin zu sein als ob milla gedanken lesen konnte sagte sie ethel solle sich nicht verschulden wer schulden macht hat sich die belohnung schon vorweggenommen und kann sich nicht mehr motivieren ausgeben muß weh tun ethel sollte ihre kreditkarte zerschneiden nur wer spart wird millionär nur wer spart wird wieder millionär ethel sollte nicht erst am ende des monats das weglegen was übrigbleibt sondern am monatsanfang zehn prozent ihrer einkünfte auf ein extrakonto einzahlen und dann in aktien anlegen das ergibt eine durchschnittliche rendite von zwölf prozent ethel wagte es sich in millas gegenwart eine zigarette anzuzünden sie wäre nie drauf gekommen daß milla ebenfalls rauchte ethel blies rauchringe die waren so groß wie die goldenen knöpfe von millas hosenanzug sie meinte sie könne alles mögliche werden theoretisch jedenfalls schauspielerin filmemacherin rapperin oder fashion designerin aber es gebe überall so einen wahnsinnigen leistungsdruck und sie sehe so viele durchgeknallte in ihrem alter milla sagte wenn man erwachsen werde sei es schwierig die kleinen ziele nicht aus den augen zu lassen erst solle man das naheliegende gut machen bevor man nach den sternen greife milla sagte auch daß sie das lager mieten wolle und die miete war so hoch daß ethel noch vor dem ablauf von sieben jahren wieder millionärin werden würde wenn sie das beherzigte was milla ihr geraten hatte
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Egin richtet seinen Seelenstumpf gar nicht ungeschickt auf eine Zukunft in der Sondermülldeponie Egin trägt alle Todesarten huckepack mit sich herum. Gut so. Stine hätte jetzt gerne, daß er sie testet wie Sportgeräte. Egin will mit Tabletten aus dem Leben scheiden. Egin schießt mit einem Vorderlader auf sich selbst. Egin will beichten, daß es ein abgekartetes Spiel war, daß er falsche Angaben gemacht hat, falsche Wertansätze eingestellt hat, falsche Unterlagen geliefert hat, daß er es gewesen ist, der Charlotte ein Projekt verkauft hat, das keins war. Egin nimmt eine Geisel und verlangt nach einem Pfarrer, die Polizei erschießt ihn, bevor der Pfarrer am Tatort eintrifft, autsch. Egin stülpt einen Schlauch über den Auspuff und leitet die Gase in sein Auto. Egin überfällt ein Schmuckgeschäft, fuchtelt mit einer Schreckschußpistole herum, der Besitzer erschießt ihn. Egin magert von achtundsiebzig auf einundfünfzig Kilo ab, er wird psychiatriert, die Fachleute finden keine Erklärung für seinen Zustand. So, so. Egin flieht nach Südfrankreich, er lebt von Essensresten aus Mülltonnen, schläft unter Brücken und in Parks und fotografiert mit einer billigen Kamera immer wieder den Papstpalast von Avignon. Egin klettert auf einer wackeligen Leiter an einem Gebäude der neuen Fabrik hoch und fällt herunter, er bricht sich die Hand und das Rückgrat. Er übergießt sich mit Benzin und zündet sich an. Er läßt einen Abschiedsbrief zurück. Es ist ein Blatt, auf dem steht nur, der Horror, der Horror. Fertig. Die Rhythmen, die aus Millas Zukunft in Stines Gegenwart 415
hineinwischen, heißen Flexible Fertigungsmethoden, Zunehmende Angebotsvielfalt und Hohe Lieferbereitschaft, sie übertönen die ängstlich verstummenden alten Melodien Niedrige Lohnkosten, Große Produktionsmengen und Fokussierung. Milla fordert von Stine einen Wirbelsturm von Entscheidungen ein. Die Einrichtung der Fabrik darf sich nicht an verfahrenstechnischen Schwerpunkten orientieren, die Produktion soll vom Produkt her gegliedert sein, um die Bearbeitungs- und Transportzeiten der Teile zu minimieren, müssen die Fertigungslinien für die Halbfabrikate und das Endprodukt so nah wie nur möglich beieinanderliegen, es darf keine Notwendigkeit entstehen, Teilebestände auf- und abzubauen, die Produktionsentscheidungen werden dezentral vor Ort getroffen, es gibt keine zentrale Fertigungssteuerung und Materialbedarfsplanung, wenn die Fertigung einmal begonnen hat, müssen die Bearbeitungsvorgänge automatisch ablaufen, ohne daß weitere Planungsschritte dazwischengeschaltet sind. Ist Milla der Köder für Stine, oder ist Stine der Köder für Milla? Milla will die Verkäufer mit den Produktionsplanern kurzschließen, die neue Fabrik soll mit kleinsten Bestellmengen arbeiten. Milla fordert eine Win-Strategie, kein Versuch der Koexistenz mit den Konkurrenten, sondern direkter Angriff, frontales Vorgehen mit Preissenkungen und Bereitstellung von riesigen Kapazitäten, kein Überraschungsmoment, nicht darauf setzen, daß die Konkurrenten die gegen sie gerichtete Strategie nicht erkennen, sondern darauf, daß sie sich nicht wehren, weil sie nichts entgegenzusetzen haben. Die Fabrik soll die überlegene Ressource sein, nach dem Plan Millas soll es nur etwa fünf Jahre dauern, bis fünfundsiebzig Prozent der entsprechenden Großhändler die Produkte vom Joint 416
venture anstatt der eingefahrenen Lieferanten beziehen werden. Die radikale Expansionsstrategie ist zwar kostspielig und gefährlich, verspricht aber den höchsten Gewinn. Die Rhythmen von Millas Zukunft lassen Stines Zukunft derart stark vibrieren, daß sie über kurz oder lang aus den Fugen gehen muß. So wie früher stirbt man nicht mehr! Gleich über welche Todesart Egin abstimmt, jedesmal ergibt sich eine große Mehrheit dagegen und eine ebenso große Mehrheit für Shopping. Dinge faszinieren Egin weit mehr als Menschen, er verliebt sich viel eher in Dinge als in Menschen. Weil er sich leer fühlt, läßt er sich von Dingen mit Gefühlen anfüllen. Ist er schließlich von Gefühlen erfüllt, gibt er seine Gefühle weiter, das nennt Egin Ökonomie. Dabei stellt er immer wieder fest, daß er Dinge einkauft, für die er überhaupt keinen Bedarf hat. Doch gerade das absolut Nutzlose bereitet ihm einen besonderen Spaß. Soviel Erläuterung will Stine gar nicht haben. Aber sie hat nun so lange vor dem Kino gestanden, jetzt muß sie sich den Film auch ansehen. Egin denkt oft über Leute nach, die keine Probleme haben, die heiraten, Kinder kriegen und glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben. Und alles ist ganz wunderbar, auch wenn immer wieder jemand stirbt, denn die Kinder leben ja weiter und die Kindeskinder und die Kindeskindeskinderkinder. Jetzt hat Egin allerdings herausgefunden, daß es solche Leute gar nicht gibt. Sollte es sie doch geben, kommt das aufs gleiche heraus, als gäbe es sie gar nicht, denn sie sind schlecht gekleidet und schlecht eingerichtet. Aha: Stine hofft, daß Egin die vielen Todesarten, die er mit sich herumschleppt, zu schwer werden, so daß er vielleicht doch einmal eine ausprobiert, um nie mehr irgend etwas schleppen zu müssen. Was für eine schwärmerische Gesinnungsgemeinschaft sie doch einmal mit Egin 417
verbunden hat, im nachhinein kommt sie sich vor wie ein halbes Kind, aber jetzt ist sie eineinhalb Kinder, und Egin ist ein Viertelkind. Er sagt auch solche Dinge wie: Daß es gar nicht so sehr auf den Besitz ankommt, vielmehr auf den Schein des Besitzes, und den kann man auch mit weniger Aufwand erzeugen. Bei seinen Einkaufstouren zermartert er sich immer wieder den Kopf, ob er wirklich Designerkleidung kaufen soll. Einmal kommt er nach Hause und stellt fest, daß die Menschen einander überhaupt nur noch über die Schuhe wahrnehmen, ein andermal findet er, daß die Menschen sich nur noch nach der Frisur beurteilen. Manchmal sagt Egin auch so kluge Dinge wie: Eigentlich sind Zahnärzte die einzig erfolgreichen Schönheitschirurgen. Wo hat er das nur her, daß er seinem Kummer Ausdruck verleihen kann? Über Sex sagt Egin gar nichts mehr, weil man über Sex nicht redet. Egin betont, daß der Mensch das Recht hat, über den eigenen Körper zu verfügen. Egin erklärt, er geht einkaufen, weil er eine Verpflichtung gegenüber anderen Menschen spürt, sich so herzurichten, daß die anderen Menschen ihn genießen können, zugleich verkündet er auch, daß ihn schöne Menschen jetzt viel weniger interessieren als Leute, die gut reden können. Er bewundert Leute, die etwas tun. Er bewundert Stine, aber er bewundert auch Milla, darauf hat Stine nur gewartet. Alle fummeln an ihrem Nervenkostüm herum, wer kriegt es zuerst auf? Egin sagt, schöne Menschen sind einfach nur. Es wird nicht besser, wenn er hinzufügt, daß jeder Mensch schön ist, daß es Menschen gibt, die als Babies wunderschön sind und als Pubertierende häßlich und die dann als Greise wieder schön werden. Es gibt Menschen, die sind furchtbar dick, aber sie besitzen schöne Hände. Daß es Frauen gibt, mit krummen Beinen und viel zu dicken Hintern, die aber wunderschöne Brüste besitzen, 418
oder daß eine Frau gar keine Brüste besitzt, aber einen wunderschönen Hintern hat, interessiert Stine wirklich nicht mehr. Wenn Egin behauptet, man könne an vielen Menschen etwas finden, das schön ist, eigentlich habe fast jeder Mensch einen Punkt, an dem er sehr schön ist, dann ist das das Schreckliche, der schlechte Traum für Stine. Geld als Geld interessiert Stine nicht, der Sinn des Gelds ist sein Gebrauch, die Möglichkeit, fast alles zu tun, fast alles zu lassen. Kann Stine eine Brücke machen, die die Gegenwart mit dieser glatten, leeren Zukunft verbindet? Egin hat jetzt ständig Hautprobleme, obwohl er soviel Sport treibt. Keine Pickel, das wäre nicht so schlimm, Pickel kommen und gehen, sondern Hautirritationen, Egin hat immer wieder große rote Flecken im Gesicht. Stine hat ihm einen Hautarzt empfohlen, er will einfach nicht hingehen. Auf einmal sagt Egin, was man von sich selber denke, sei viel wichtiger als das, was man für die anderen darstelle. Er behauptet, er habe viel mehr Achtung vor der Selbsteinschätzung der Menschen als vor ihrem tatsächlichen Erscheinungsbild. Er kenne eine Frau, die schaue im Spiegel immer nur auf ihr Gesicht, sie blicke nie tiefer an sich herunter als bis zu ihren Schultern, sie wiege über einhundert Kilo, das nehme sie gar nicht wahr, sie sehe einfach immer nur ihr wunderschönes Gesicht. Die Frau sei davon überzeugt, daß sie eine Schönheit sei, das gebe ihren Bewegungen eine ungeheure Eleganz, so sei sie tatsächlich eine Schönheit. Ach nein. Stines Körper zieht sich wie eine Sehne in die Länge, zur Zukunft hin. Sie sagt denjenigen, die Egin kennen, daß die Menschen heute viel länger lebten als früher, was dazu führe, daß bei manchen Menschen die Jugend einfach viel länger dauere. Früher hat Egin seine Gefühle immer verborgen, jetzt zeigt er sie immer. Verschlägt er beim Tennisspielen einen Ball, schreit er seinen Ärger aus sich heraus, verschlägt 419
der Gegner einen Ball, klatscht Egin Beifall. Stine wundert sich, daß er überhaupt noch jemanden findet, der mit ihm Tennis spielt. Gelingt es ihm bei einem seiner seltenen Streifzüge durch seine Akten wieder nicht, sie richtig zu ordnen, weint er. Eigentlich weint er immer, wenn er sich mit dem beschäftigt, was einmal seine Arbeit war. Beim Einkaufen lacht er immer. Er freut sich wie ein Kind, wenn er Geld ausgibt, er hat Stine abgeküßt, als sie neulich sein Kreditkartenlimit erhöht hat. Manchmal bekommt er noch Anrufe, die mit vergangenen Geschäften zusammenhängen, er bescheidet den Anrufern, sie sollen ihm einen Brief schreiben, den bearbeitet er dann auf seine bewährte Weise. Natürlich kommt er niemals über den ersten Absatz hinaus. Nach dem obligatorischen Weinkrampf geht er wieder einkaufen oder Tennisspielen. Weil er soviel weint, trägt er immer eine Sonnenbrille, auch dann, wenn er mit Sonnenbrille kaum noch etwas sieht. Er hat eine Sammlung von Sonnenbrillen zusammengetragen, eigentlich gibt es keine Sonnenbrillenrnarke, die er nicht hat. Manchmal möchte er nach den USA auswandern, weil es nur dort Geschäfte gibt, die wirklich alle Ray-Ban-Modelle vorrätig haben. Er hat herausgefunden, daß viele Leute ständig auf ihren großen Augenblick warten. Auch er habe immer zu den Großen, Reichen und Mächtigen gehören wollen. Aber das Warten sei quälend, es lohne sich nicht. Ist der Augenblick gekommen, muß man in Bestform sein. Wartet man zu lange, verpaßt man den richtigen Moment und kann seine Persönlichkeit nicht ausspielen. Egin will gar nicht mehr erfolgreich sein, er möchte gar nicht mehr bewundert werden, er sehnt sich nach Wohlbefinden, nach Geborgenheit. Er sagt, es gibt kein besseres Gefühl als die psychische Gesundheit. Den Plan mit der Ladenkette erwähnt er gar nicht mehr. Er ist überzeugt, jeder Mensch 420
hat entweder Depressionsgene oder Wohlfühlgene geerbt, und glaubt allen Ernstes, daß er mehr Wohlfühlgene als Depressionsgene geerbt hat. Seit sich Stine mit Angel und Drifter in der Kunstausstellung getroffen hat, geht sie öfter in Museen und Ausstellungen. Stine will sich nur allerneueste Kunst ansehen, Egin findet neue Kunst langweilig. Stine versucht, ihn zu überzeugen, es dauere einige Zeit, bis einen neue Kunst genauso berühre wie alte. Egin fragt sie, ob man wirklich immer auseinanderhalten könne, was neue Kunst sei und was schon nicht mehr. Es hat keinen Sinn, mit Egin zuviel über Kunst zu reden, und schon gar nicht mit Stine. Wenn Egin besonders viel geweint hat, läßt sich Stine manchmal von ihm abholen. Sie ist oft zu Geschäftsessen in Hotelrestaurants verabredet, dann wartet Egin in der Hotelhalle, und Stine läßt ihn mit Namen ausrufen. Das hebt sein Selbstbewußtsein. Niemand kommt auf den Gedanken, daß er psychische Probleme haben könnte. Sein Hausarzt hat ihm gesagt, er sei kerngesund. Er selbst sagt, er sei sehr ausgeglichen, was ihn belaste, seien lediglich die Probleme der anderen, er müsse aufpassen, daß er nicht unversehens selbst von Problemen heimgesucht werde. Die Probleme der anderen, das seien Keime, die überspringen könnten … Die Ehepartner zweifeln an der Dauerhaftigkeit ihrer Verbindung, diese Zweifel schlagen sich in einer Verringerung ehespezifischer Investitionen nieder. Na, sag’s endlich, also: Dadurch steigt das Scheidungsrisiko. Stine hat gute Lust, mit Egin Zwergenwerfen zu spielen, aber sie kann den Gedanken nicht ertragen, daß Egin in ihre Zukunft hineinschlittert, wenn sie ihn von sich schleudert. Es könnte doch sein, daß sich irgendeiner von Egins Körperteilen unversehens abtrennt und aufstellt, 421
einmal Millas Mahlstrom entronnen, möchte Stine nicht ausgerechnet über Egins Kopf oder über einen ganz anderen Teil von ihm stolpern. Ach so, zwar sind Stine und Egin gar nicht richtig verheiratet, aber sie sind einander so lange nachgereist, daß Stine gemäß der Auskunft ihres Rechtsanwalts bei der Entsorgung Egins eheähnliche Maßstäbe anlegen muß. Am liebsten würde sie Egin in einem Pfahlbau unterbringen, er hat so viele Phobien, man könnte ihm doch auch Höhenangst antrainieren. Weil die Pfahlbauzeit schon lange vorbei ist, will sie Egin in einen Technopark entsorgen. Stine und Egin haben arbeitsteilig produziert, ein derartiges Unternehmen hat nur dann Zukunft, wenn das Ausmaß der ehespezifischen Investitionen ein bestimmtes Niveau erreicht. Aber der Lümmel hat ja nie daran gedacht, daß er auch Pflichten hat. Was hat er statt dessen getan? Er hat seinen Geschmack verfeinert. Kein einziges seiner Projekte hat sich für den gelohnt, der es erworben hat, das macht Stine ihm jetzt auch noch zum Vorwurf! Hinfort wird Stine die Zinsen des gemeinsamen Erlebniskapitals allein konsumieren. Egin stehen die Haare zu Berge, als er die Deponie besichtigt, auf der er endgelagert werden soll. Es ist ein großes Low-cost-Gebäude, da ist es sehr schwierig, die Qualität des Finishs zu gewährleisten. Das Gebäude besitzt die Stärke und die Schönheit der Normalität. Eigentlich sollte es ein wunderschöner Abend werden, Stine hatte sich vorgenommen, zu quatschen, zu lachen und zu trinken. Dann wollte sie Egin in ihre Arme nehmen, ihm einen dicken Abschiedskuß geben und strahlen, bis zum nächsten Mal, ich freue mich schon! Alle sollten meinen, hier verabschiede sich ein Paar. Stine wollte, daß Egin ihr erhalten blieb, jedenfalls sagte 422
sie das, es ging darum, Liebe in Freundschaft zu verwandeln, Stine wollte sich unbedingt mit Egin hinterher noch verstehen, er war ihr doch so vertraut, mit ihm konnte sie über alles reden. Früher hätte sie mit ihm auch über den Brief des Notars an das Joint venture geredet. Sehr geehrte Damen, nachdem nun endlich die notwendigen Löschungsbewilligungen vorliegen, wollte ich, wie besprochen, jetzt den Kaufpreis fällig stellen. Dabei habe ich festgestellt, daß noch immer nicht die Genehmigung nach der Grundstücksverkehrsordnung vorliegt. Ich verweise hierzu auf mein Schreiben vom unwichtig, mit dem ich Ihnen eine Kopie des Bescheids der Stadt wichtig übermittelt habe, wonach das Verfahren ausgesetzt sei. Schon seinerzeit hatte ich Sie gebeten, mir die Genehmigungsbescheide zu den Vorurkunden des Notars wichtig in unwichtig zu übermitteln. Ich habe nunmehr bei der Stadt wichtig nachgefragt, warum denn die Genehmigung immer noch nicht erteilt wurde. Ich habe die Auskunft erhalten, daß dem Kaufvertrag, mit dem Frau Trendelenburg den Grundbesitz erworben hat, keine Genehmigung erteilt werden konnte, da es sich bei dem Grundstück um ehemaliges jüdisches Vermögen handle und die Rückerstattungsanträge noch nicht endgültig entschieden seien. Dieser Sachverhalt müßte Ihnen bekannt sein, nachdem das Grundstücksverkehrsamt der Stadt wichtig zuletzt am sehr wichtig noch einmal Herrn Notar wichtig in unwichtig über diesen Sachstand unterrichtet hat. Ich kann also derzeit den Kaufpreis für das genannte Objekt nicht fällig stellen. Was ist los mit meiner Partnerin, hat Milla nur lässig gefragt, hat sie nicht aufgepaßt? Stine hatte nicht aufgepaßt. Aber hätte es etwas genützt, da aufzupassen? Ein deutscher Notar macht keine Fehler! Stine hatte den Kaufpreis für ein Grundstück bezahlt, das ihr nicht gehörte, sie hatte ein Grundstück 423
weiterverkauft, das ihr nicht gehörte, und sie errichtete eine Fabrik auf einem Grundstück, das ihr nicht gehörte! Nach dem Telefongespräch mit Stine hat Milla sämtliche Treffen sämtlicher Arbeitsgruppen abgesagt, natürlich mit einer Begründung, die nichts mit dem Brief zu tun hat: Sie habe überraschend die Konzernrevision im Haus. Die Heilung dieses Fehlers war etwas wichtiger als der wunderschöne Abend mit Egin. Sei gegrüßt in der Würde deiner verstümmelten Seele, sagt die Deponie zu Egin. Hier wird alles aufbewahrt, was in anderen Bürobauten keine Autorität genießt. Hier treten alle unter dem Kreuzfahrerzeichen an. Alles ist voller rettender Ritter, die sich selbst retten wollen, man könnte meinen, eine Armada ist hier beheimatet. Alle sind tot oder sehr schwer verletzt, aber es gibt keine Ärzte, jeder leuchtet und klopft am anderen herum. Trotzdem heult und kreischt niemand, die Opfer kichern nur. Hier reißen alle die Augen auf und blicken ganz tief in den Brunnen hinunter, der ihr Morgen darstellt, hier fließt aus jedem Existenzgründer das Geld heraus wie ein Nasenbluten, das er nicht stoppen kann. Aber das ist ja nicht dein Problem, schmeichelt die Deponie Egin, du reitest auf einem Schlauch, aus dem Geld in deine Bude spritzt. Na dann, solange nicht jemand, der am liebsten Zug fährt, den Hahn zudreht. Würden wir Egin fragen, ob er Hoffnung auf Versöhnung hat, er würde es nicht wissen. Eigentlich finden wir gar keine Ressentiments bei ihm, es macht den Eindruck, als wären Eifersucht oder Rachegefühle auf dem kurzen Weg zur Deponie einfach heruntergefallen und liegengeblieben. Es könnte uns den Abend verderben, wenn wir uns wirklich Rechenschaft darüber ablegen, wie schnell das geht! In schöner, heiterer Überzeugung geht Egin auf die Schmeichelei der Deponie 424
ein und poliert ihr Selbstbewußtsein und ihr Selbstverständnis. Egin setzt tatsächlich auf ein zukünftiges selbständiges Sein. Er erklärt der Deponie, sie braucht eine Dramaturgie. Seine Dramaturgie ist der Verzicht. Ach was. Höchstens eine einzelne Vase oder ein einzelnes Objekt, das der Deponie Freude machen könnte, schön ausgeleuchtet vor der nackten Wand. Egin will nicht dekorieren. Überall hängt heute irgend etwas. Unverzichtbar sind für ihn dagegen Blumen. Egin verspricht, nicht zu viele Sachen herumstehen zu lassen. Die Deponie freut sich darüber, daß er Ecken nutzen und künstliche Nischen einrichten möchte, indem er eine zweite Wand einzieht. Lieber will er etwas Raum opfern und dafür das Auge beruhigen. Aha: Er ist der Überzeugung, daß Fensterrahmen nicht immer weiß sein müssen, und denkt daran, die Fensterinnenseiten grau zu streichen, das gibt eine größere Tiefenwirkung. Er fände es besser, wenn die Rahmen der Fensterscheiben schmaler wären, aber da ist nichts zu machen, er sagt lieber nichts, er möchte die Deponie nicht verstimmen. Zumal es auch noch ein anderes Problem gibt, er würde raumhohe Türen vorziehen, doch dafür müßte er überall das Mauerwerk über den Türen herausbrechen lassen. Über die Fassade will er sich nicht beschweren, mit den diorgrauen Eternitplatten hat der Architekt nichts falsch gemacht. Egin wird ganz bestimmt keinen Gast fragen, was er trinken will, er möchte eine Bar wie aus der First Class Lounge einer Fluggesellschaft installieren, der Gast soll sich selber bedienen. Egin haßt Vorhänge. Aber mit nackten Fenstern kann niemand leben. Und vor dem Technopark ist keine Südsee, sondern nur wieder der Technopark selbst. Na ja, Egin wird graue Faltrollos anbringen lassen. Gott sei Dank ist die Einheit groß genug, daß er sie in einen Raum für die Schönheit und die 425
Selbstversenkung und in einen anderen für das tägliche Leben zweiteilen kann. Im täglichen Leben muß man alle Dinge in Griffweite haben, doch wie kann man sich in einem Raum entspannen, in dem das Telefon klingelt, das Fax summt, der Computer pfeift, der Drucker rattert? Die Deponie ist Egin unendlich dankbar, wenn er ihr verkündet, er wird sich auf keinen Fall für weiße Wände entscheiden. Egin erklärt der Deponie, Weiß sei ein Alibi für Phantasielosigkeit, jeder könne die richtige Farbe wählen, wenn er sich genügend intensiv damit beschäftige. Er hat sich noch keine abschließenden Gedanken gemacht. Er tendiert zu Blau, weil er sich mit Blau Tag und Nacht wohl fühlt, allerdings muß er noch einmal ganz genau seinen Kleiderschrank durchsehen, welche Farbe seine Lieblingskleidungsstücke haben, denn das ist meistens auch die richtige Farbe für die Wände. Gut, gut, Egin beruhigt die Deponie, daß Weiß auch eine sehr schöne Farbe sein kann, denn mit dem Tageslicht und mit dem Schatten verändert sich das Weiß ja bis hin zum dunklen Grau. Weiße Wände wirken gut mit Pflanzen oder Objekten. Die meisten Leute begehen den Fehler, zu viele Möbel an die Wände zu stellen, das stört den Schattenfall und damit die Gesamtwirkung. Egin ist kein Sammlertyp, der bestimmte Dinge ständig um sich haben muß. Für Bücher muß er eine eigene Lösung schaffen, er kann die Bücher nicht dort gebrauchen, wo er sich entspannt, doch auch nicht in dem Raum, in dem er seine Post bearbeitet, wenn Egin Bücher sieht, muß er sie ständig zählen und unablässig neu ordnen. Es wird schon schwierig genug sein, die Akten einzuräumen, das wird ihn tagelang beschäftigen. Also bitte, Egin gibt jetzt auch zu: Er will es ein bißchen gemütlich haben. Er erläutert der Deponie, daß er sich dazu erst selbst kennenlernen muß. Jeder Mensch versteht etwas anderes unter Gemütlichkeit. Das 426
sind für jeden Menschen andere Farben, andere Materialien, andere Grundrisse. Die Deponie lauscht aufmerksam, die anderen Entsorgten erklären ihr gar nichts. Bis auf den Computerspezialisten mit der Bauernstube, der hat ihr beschieden, er kennt niemanden, der sich in einer Bauernstube nicht wohl fühlt. Natürlich weiß die Deponie, daß Egin nicht der Typ für Bauernstuben ist. Doch, es ist soweit: Auch Technoparks träumen. Die Deponie hat einmal ein Bild eines japanischen Gartens gesehen, so was könnte sie sich für sich selbst vorstellen. Die Küche soll nicht größer sein als eine Bordküche im Flugzeug, Egin kocht nur Kaffee und Tee. Er nimmt sich fest vor, die Räume nicht zu hart auszuleuchten, das würde sie verengen. Er denkt an Lampen in den Ecken, denn da gibt es die interessantesten Schatten, und natürlich auch an Bodenstrahler, die gebündeltes Licht an die Decke werfen, das dann ganz weich zurückgestrahlt wird. Die Deponie wird sich wundern, wie groß sie innen sein kann! Jawohl. Man kläre den Umgang mit Sexualität. Stine hat Egin ganz klar gesagt, daß sie nicht mehr mit ihm schlafen möchte. Sie selbst kann sich gar nicht vorstellen, daß bei ihr noch einmal erotische Gefühle auftreten könnten. Dazu würden wir gerne etwas von Egin wissen, aber Egin weiß nichts. Zehntausende von Sofas gibt es auf dem Markt, und Egin will eine Liege aufstellen. Damit rechnet Stine nicht! Egin hat klare Vorstellungen, wo die Liege hingehört, leider befinden sich unmittelbar gegenüber mehrere Steckdosen. Egin sagt der Deponie, daß er es haßt, Wände aufzumeißeln, er will ihr das nur einmal und nie wieder antun. Er wird alle Leitungen, die in der Wand laufen, entfernen lassen, die Leitungen werden in etwas größeren Sockelleisten geführt, wenn er dann noch etwas verändern möchte, braucht er nur die Leiste abzuschrauben und kann 427
dahinter ein neues Kabel einziehen. Die Deponie hat übrigens gemerkt, daß Egin die vielen Türen nicht gefallen, sie bemerkt ganz schüchtern, an einigen Stellen seien gar keine Türen notwendig. Egin ist dankbar für den Hinweis, tatsächlich kann man einige Türen samt Türrahmen herausnehmen. Schön. Weil sich Egin gegenüber der Deponie so weit öffnet, traut sich die zu fragen, ob er nicht ein Möbel mitbringen will, an dem Erinnerungen hängen, ein Möbel mit Geschichte sozusagen. Keine Lust. Egin dekretiert, solche Möbel müssen leider draußenbleiben. Er erklärt der Deponie, daß Menschen sich verändern und immer ihre Familiengeschichte uminterpretieren wollen. Die Deponie denkt, deswegen muß man doch nicht alle Stücke gleich ausrangieren, manche könnte man auffrischen. Nach außen hin wünscht sich die Deponie einen japanischen Garten, doch ganz tief drinnen hätte sie gerne eine Sitzgruppe mit Hussen, im Sommer weiß, im Herbst sollten es wärmere Töne sein, und einen Barockspiegel, es muß kein großer sein. Egin verspricht, zwischen Decke und Wand eine Deckenleiste anzubringen. Ohne Leiste beißt sich das Deckenweiß mit der Wandfarbe. Und er gibt sein Ehrenwort, daß er der Deponie Rauhputz ersparen wird, Rauhputz ist eine entsetzliche Unart, rauhe Decken schlucken zuviel Licht. Großes Kopfzerbrechen bereitet Egin der Boden. Er weiß noch nicht, ob er einen glatten Kunststoffboden nehmen wird oder doch einen Teppichboden. Die Wolle wird immer spröder, früher hielt ein guter Teppichboden fünfzehn Jahre, heute muß man den Teppichboden schon nach drei Jahren erneuern. Egin nimmt sich vor, nach einem Container, einer Art Tonne zu suchen, mit Schubladen oder ohne Schubladen, auf Rollen vielleicht. Dort will er alle Gegenstände und alle Gedanken verstauen, in die er keine Ordnung 428
hineinbringen kann, die heile Welt, das Leben. Auf diese Weise kann sich sein privates Chaos nicht mehr ausdehnen. In einem besonders willensstarken Moment, jedenfalls stellt er sich das so vor, wirft er den Schlüssel aus dem Fenster, und die Vergangenheit ist endgültig ausgesperrt. Man ist so leicht Exgeliebter oder Exgeliebte! Und doch ist das Exlieben so schwierig. Der Technopark nimmt sich ganz fest vor, ein anderer zu werden. Mit dem Dunst, der sich vom Himmel auf seinen Scheiben niederschlägt, bekommt er vielleicht einmal ein Gesicht. Die Luftringe, die ihn umgeben, begreifen, daß der Technopark genauso unruhig ist wie Egin.
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Charlotte und Ethel finden ein Heim in der Sargfabrik Sie wohnen in der Sargfabrik, Ethel und ihre Mutter. Die Wohnanlage heißt wirklich so. Ja, ja, du weißt schon, die Wiener und ihre Affäre mit dem Tod. Es muß etwas dransein, wenn man immer wieder sagt, daß das Leben in Wien nur ein Ziel hat: eine schöne Leiche. Diejenigen, die hier wohnen, scheinen das überhaupt nicht makaber zu finden. Vielleicht ist es sogar eine befreiende Erfahrung? Man ist schon dort, wo viele andere noch hinwollen … Du hattest ein altes Fabrikgebäude erwartet, das umgewidmet und umgestaltet wurde. Aber von der Sargfabrik ist nur ein großer Schornstein übriggeblieben, unten sechseckig, sich dann leicht verjüngend, oben rund. Als du so neben dem Schornstein vor dem Dämmerungshimmel stehst, sieht die Anlage aus, als habe hier jemand eckige Seifenblasen in die Luft gestellt, drei oder vier Stockwerke hoch. Die Häuser sind orangefarben angestrichen und gelb ausgeleuchtet, die Außentreppen in grünes Licht getaucht. Du nimmst wahr, daß sich das Orange je nach Beleuchtung sehr verändert, manchmal sieht es aus wie Terracotta, an einigen Stellen wird es zu einem glimmenden Rot, an anderen zu einem Reklameorange. Alle Fenster reichen bis zum Boden. Die Balkons aus Beton sind an der Seite mit Plexiglas verkleidet. Es wirkt, als könne man sie nach Bedarf herausschieben und hineinziehen. Kennst du eine andere Wohnanlage, die so heimelig ist? Wenn du dir die Fassaden ganz genau ansiehst, fällt dir allerdings eins auf: Hoch können die Räume nicht sein. Du 430
schätzt die Raumhöhe auf zwei Meter fünfundzwanzig. Jetzt brauchst du dich wirklich nicht mehr zu fragen, warum die Wohnanlage Sargfabrik heißt, in einem Sarg muß man sich schließlich auch nach der Decke strecken. Mit deiner Besprechung bist du eher fertig geworden, als du dachtest. Du wolltest dir unbedingt ansehen, wo Ethel und ihre Mutter gelandet sind, der Taxifahrer, der dich zum Flughafen bringt, kann warten. Während du im Halbdunkel stehst, stellst du dir vor, daß die Bewohner gar nicht die Treppen nehmen, sondern an den Fassaden hochklettern und sich von einem Balkon zum nächsten hangeln. Sie schlagen Purzelbäume auf den Balkons und hüpfen so lange, bis die Balkons schaukeln. Und sie unterhalten sich schnatternd von Balkon zu Balkon. Fast hättest du selbst zumindest Parterreakrobatik gemacht, als dir Giovanna und Marco berichteten, daß sie die Voreigentümer des Fabrikgeländes nicht nur ermittelt, sondern auch angeschrieben hatten. Die Nachfahren der Eigentümer vor dem 30.01.1933 nahmen das Interesse an dem Grundstück zum Anlaß, von sich aus, ganz ohne Beratung von seiten Giovannas und Marcos, Ansprüche anzumelden. Bevor Stine das Grundstück erwarb! Du fielst aus allen Wolken, oder besser gesagt: Du kehrtest in den siebten Himmel zurück, als Stine das Grundstück unbehelligt erwerben konnte. Ein deutscher Notar macht keine Fehler! hast du gedacht. Im Taxi hast du deine Post bearbeitet, dabei war auch eine Kopie der Schadensersatzklage Stines gegen den Notar. Du hast Stine aus dem Taxi heraus angerufen. Daß ein deutscher Notar einen solchen Fehler macht! hast du gesagt. Stine hat dir erklärt, die Klage sei nur eine Vorsichts431
maßnahme. Natürlich liege ihr nichts daran, den Kaufpreis zurückzubekommen, vielmehr wolle sie erreichen, daß sich der Notar und der Grundstückseigentümer anstrengen, den Fehler zu heilen. Sie zieht den Bau durch, für einen Baustop sieht sie keinen Anlaß. Kann man eine Fabrik in Betrieb nehmen auf einem Grundstück, das einem nicht gehört? Die Zukunft findet dich bildschön und extrem sinnlich! Du fragst dich, ob du Vorteile hast, weil du so schön bist. Du antwortest dir, du findest gar nicht, daß du so schön bist. Wenn du in einen Spiegel blickst, denkst du nicht darüber nach, ob du hübsch genug bist, sondern ob du menschlich in Ordnung bist. Du fragst dich, ob du aufgrund deiner Schönheit mehr geliebt wirst. Du weißt, daß das so ist, aber du kannst es dir nicht zugeben. Du sagst dir vielmehr, wenn du verliebt bist, verlierst du die Kontrolle, und du lachst dich an. Du fragst nach, ob denn die Schönheit in der Liebe gar nichts nützt. Da antwortest du, nach ein paar Minuten ist es doch egal, dann spielt das Aussehen keine so große Rolle mehr. Und außerdem sagt dir niemand, daß du schön bist, fügst du hinzu. Ein wenig spürst du schon die Blicke, trotzdem denkst du immer, das ist bei allen Frauen so. Du hast gelernt, die Blicke zu ignorieren. Du sagst, du würdest wirklich niemals auf den Gedanken kommen, daß jemand so sein soll wie du, denn du hast eine Zahnlücke, deine Brüste sind zu groß, und überhaupt bist du sehr rund. Du fragst dich, ob du lieber ein Junge geworden wärst. Du gibst dir zur Antwort, daß du immer ein Kind bleiben wolltest. Daß du schockiert warst, dich als Frau zu sehen. Es ist verführerisch, daß du über dich ganz so wie über eine andere denken kannst. Dadurch kommst du dir wichtiger und bedeutender vor, als wenn du unmittelbar über dich selbst nachdenken würdest. Du staunst, wie 432
wichtig du dir geworden bist. Du hast die Gedanken von dir abgekehrt und einer anderen zugewendet, die auch wieder du ist. Kannst du über die andere noch nachdenken, wenn die andere nicht mehr du ist, sondern wirklich eine andere? Du sagst dir, daß du ja nie ganz sicher sein kannst, ob du es wirklich bist. Wie du dich jetzt siehst. Vielleicht betrachtest du doch nicht dich, sondern eine Erinnerung an deine oder ein Überbleibsel von deiner Person. Du sagst dir, es stimmt einfach nicht, daß du Erfolg hast, nur weil du sexy bist. Schönheit ist doch vergänglich. Du hast dich nie auf deine Schönheit verlassen. Du hast immer versucht, etwas aufzubauen. Du willst eine haltbare Schönheit sein. Du fragst dich, ob du froh bist, fünfundvierzig zu sein … Du überlegst, was wohl Stine auf die Frage antworten würde, wie es ist, fünfundvierzig zu sein. Stine würde sagen, es ist zwar toll, aber auch schwer, fünfundvierzig zu sein. Sie würde sagen, man entdeckt, daß es viele Sachen gibt, die einfach nicht stimmen. Und sie würde sagen, man ist immer auf der Suche, aber trotzdem festigt man sich, und das ist das Gute daran, fünfundvierzig zu sein … Da hakst nach, wie es für dich ist, fünfundvierzig zu sein. Du gibst zu, daß du Angst hast, dich in deinen Gefühlen zu täuschen. Was hat dir Stine getan. Warum mußt ausgerechnet du als Zeitpolizeioberbesen vor ihrer Zukunft kehren? Du weist darauf hin, daß die Gestalt und die Wesensart von Stine die Einbildungskraft sehr anregen können. Sie ist so weiß geschminkt, und ihr großer Mund ist so rot. Auf der Messe war Stine immer schon von weitester Weite zu erkennen. Weil sie das Makeup so dick auftrug, bildeten sich auf ihrer Stirn senkrechte Linien. Die Falten waren gar nicht tief, aber sie wirkten wie 433
Furchen, sie waren unglaublich dekorativ. Einmal hatte sie ein ärmelloses Kleid an, du warst gespannt auf ihre Körperhaut. Die Haut an ihren Armen war ebenfalls fast weiß, sie kam dir gestreift, gefleckt und marmoriert vor, ohne daß es jedoch ungesund ausgesehen hätte. Sie trug weiße Strümpfe, mit den weißen Beinen und den weißen Armen wirkte Stines Mund noch größer. Du sahst in ihren Lippen niemals Sinnlichkeit und Wollust, sondern Bösartigkeit und Tücke. Stines Mund kann alles verschlingen – dich, deine Zukunft. Giovanna und Marco und deren Unschuld hat er ja schon verschlungen. Das weiße Gesicht von Stine ist dir nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Etwas Unfaßbares scheint in diesem Weiß verborgen zu sein. Du denkst an den weißen Elefanten und an den weißen Albatros, da hast du keine Angst. Aber dann fallen dir auch der weiße Bär im Eismeer und der weiße Hai in den Tropen ein. Was macht ihren Schrecken aus? Der fühllose, gerichtete Blick aus der gestaltlosen Einöde des Körpers. Stines Augen sind so weiß wie ihre Gesichtshaut – und jetzt erkennst du, woher das Grauen kommt: Wenn sie dich anblickt, ist es immer so, als ob dich das ganze Gesicht anblicken würde. Stine sieht nicht nur mit den Pupillen aus den weißen Augäpfeln heraus, sondern mit allen anderen Teilen ihres Gesichts, mit ihrer Stirn, mit ihrer Nase, mit ihren Backen, mit ihren Ohren, mit ihrem Kinn, mit ihrer ganzen Gesichtsfläche blickt sie dich an und bannt dich. Es ist so, als ob Stine einen höheren Grad des Sehens beherrschte. Dein geisterhaftes Staunen und deine bleiche Furcht spiegeln sich auf ihrem Gesicht, machen es noch einmal weißer und lassen es noch einmal beeindruckender blicken. Nach deinem Treffen mit Stine auf der Messe hast du dir einmal an einem Sonntagvormittag das Gesicht so weiß geschminkt wie sie. Du hast auch deine Lippen blutrot 434
angemalt. Aber deinem Gesicht ging völlig die seltsame Hoheit ab, die mit der Erscheinung Stines verknüpft ist. Du hast die Haare hochgekämmt oder zurückgebunden, es machte keinen Unterschied. Deine Augen und dein Mund sind etwas kleiner als die Augen und der Mund von Stine, daran lag es nicht. Es würde sich auch nichts ändern, wären deine Augäpfel so weiß wie die von Stine. Du bist viel hübscher als Stine, doch mit der weißen Schminke sahst du aus wie eine häßliche und abstoßende Mißgeburt. Dein weißes Gesicht hatte etwas von der Blässe einer Toten. Wogegen nichts lebendiger sein kann als Stines weißes Gesicht mit den Falten, die keine Falten sind. Stine bringt alle Seelen mit Gewalt in Verwirrung, ihr Gesicht ist seltsam und bedrohlich, es kann alles steigern, was die Menschen in Schrecken versetzt. Dein Gesicht war wesenlos, einem Gespenst gleich schienst du in eine milchweiße Wolke gehüllt. Stines Gesicht ist von der Alpfarbe einer Gottlosigkeit überzogen, vor der nur sie selbst nicht zurückschreckt, über deinem Gesicht lag eine trübselige und bedeutungslose Leere, eine universale Farblosigkeit. Das Weiß auf deinem Gesicht wirkte, als ob sich hier eine Hure geschminkt hätte, um den Tod und das Verderben in ihrem Inneren zu überdecken. Du hast die Schminke vollständig entfernt und dich noch einmal dezenter weiß geschminkt. Da sahst du aus wie ein halsstarriges Mädchen, das sich und die Welt gerne in ein unendlich großes weißes Leichentuch hüllen würde. Dabei ist Stines weißes Gesicht beileibe keine Maske. Ihre Stirn weicht, was man von vorne nicht wahrnimmt, über den Augen nach hinten zurück. Die Nase ist etwas dem Gesicht völlig Äußerliches, von der Seite wirkt es, als gehöre die Nase gar nicht zu dem Gesicht dazu. Die Augen stehen weit auseinander, fast ist es so, als würden sie seitwärts liegen. Auch die Ohren sind weiter hinten am 435
Kopf, als man es erwartet. Stines Unterlippe sieht immer aus, als wäre sie gegen etwas gepreßt, ganz egal, ob sie den Mund offen oder geschlossen hält. Irgendwie hast du den Eindruck, da seien gar keine Knochen. Du denkst, daß Stine gar keine Knochen braucht, ihr Gesicht behält trotzdem seine Form. Weil sie keine Knochen hat, kann sie ihren Kopf mit grenzenloser Geschmeidigkeit bewegen. Sie waren so sicher gewesen in ihren Entscheidungen, Giovanna und Marco, sie hatten den Weg nach ganz oben eingeschlagen. Etwas war um sie gewesen, als ob sie auserwählt wären. Aber jetzt ist der Glanz in ihren Augen erloschen. Das sind nicht mehr die Augen, die in ihrem Leben noch nie eine Niederlage gesehen haben. Du verstehst nicht, warum das geschehen ist, warum Stine dafür gesorgt hat, daß deine beiden besten Mitarbeiter Schiffbruch erlitten. Es wäre doch dem Erfolg des Joint venture viel förderlicher gewesen, wenn sie deine Mitarbeiter stark gemacht und gegenüber ihr freundlich gestimmt hätte. Du sagst dir, das kann doch nicht sein, nur wegen der Provision für ihren Freund. Du fühlst dich wie ein Krüppel: Man hat dir Giovanna und Marco amputiert. Alles, was die Ruhe der Dinge stört, alles, was dich quälen könnte, alles, was dich wahnsinnig machen könnte, alles, wovon du am liebsten willst, daß es das gar nicht gebe, jede Strategie, die nicht zu einer Winwin-Situation führt, jeder Hintersinn im Leben, jede Gemeinheit, jedes Übel, all das, was dich dein ganzes Leben lang dazu gebracht hat und dein restliches Leben dazu bringen wird, für D’Wolf zu arbeiten, alles, was dich davon abgehalten hat, jemals einen anderen Lebensweg in Betracht zu ziehen – alles das ist nun sichtbar verkörpert und erfolgversprechend angreifbar geworden in Stine. Du 436
siehst Stine als die monomanische Verkörperung von allen tückischen Mächten an, die ein Mensch mit tiefem Gemüt an sich zehren fühlt. Du hast doch gar nie Wut und Haß gefühlt! sagst du dir. Wie kommst du nur auf den Gedanken, alle Wut und allen Haß, den je irgendein Mensch seit Anbeginn bis heute empfunden hat, auf Stine abzuladen? Du erschrickst richtig vor dir selber. Du hast deinen Gefühlen die Erlaubnis erteilt zu demonstrieren. Aber jetzt ist eine Dauerdemonstration mit schlimmsten Ausschreitungen daraus geworden! Du fragst dich, ob dein Glück wirklich davon abhängt, daß du Voigtländer beherrschst. Du gibst dir die Antwort, das Glück liegt bei einem selbst und daß du von niemandem abhängig sein möchtest. Du mahnst dich, wenn man jemanden haßt, dann hat derjenige, den man haßt, Macht über einen. Du erwiderst dir, du möchtest weder, daß jemand Macht über dich besitzt, noch daß du selbst Macht über jemanden besitzt. Du glaubst nicht, daß das Glück so funktioniert. Jetzt bist du dir ausgewichen. Ja, ja, gib es nur zu, du möchtest ein ganz klein wenig wahnsinnig werden. Das soll natürlich nicht bedeuten, daß du zu toben anfängst, daß du so rast, daß man dich in eine Zwangsjacke stecken muß. Nein, du wirst besonders gefaßt sein. Vielleicht wird deine Miene ein wenig bleicher sein als sonst. Du erteilst besonders ruhig Anordnungen und Befehle, und du rast auch nicht etwa in deinem Inneren. Das hast du gar nicht nötig. Du fragst dich, was wohl aus Stine werden wird und aus ihrem Freund. Ob sie sich ebenfalls eine Wohnung in der Sargfabrik nehmen, wie Charlotte und Ethel? Dort gibt es übrigens auch ein Kaffeehaus, einen Kindergarten, eine Wäscherei und sogar ein Türkisches Bad. Aber soweit ist es ja noch nicht. Zuerst erläßt du eine Anweisung, die nur an dich selber gerichtet ist: Du verlangst von dir, 437
mißtrauisch zu sein gegenüber dir selbst und gegenüber dieser Zukunft, die sich hier bei dir anbiedert. Weil sie auf einmal gar so große Töne spuckt. Würde einer deiner Kollegen ahnen, welche Gedanken du tatsächlich hegst, man würde dir sehr schnell das Steuer aus der Hand reißen. Was du da vorhast, entspricht nun wirklich nicht dem Stil des Hauses!
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Vor Gericht ist immer danach. Wenn da wenigstens Fleisch wäre unter den Talaren, aus Fleisch könnte man Leben herstellen! Das Ideal, dem die Gegenseite nachstrebt, besteht darin, künstlich einen Menschen herzustellen, der so aussieht wie Stine, der die gleichen Haare hat, die gleiche Haut, dieselbe Schminke auf der Haut, der aber über keinen Pfennig Geld mehr verfügt. Die Anwälte des fehlerhaften Notars haben nächtelang über Schriftsätzen gerungen, um die Stine, die es noch gibt, zu vergiften, zu schinden, aufzuschlitzen, zu zertrampeln, zu zerquetschen, zu verbrennen. Alle Wissenschaft, alle Technik, alle Kunst sind aufgeboten, so daß sich Stine schon freuen kann auf Haare, die so elektrisch sind, daß sie Wunderkerzen Konkurrenz machen können, auf Ohren, die ihren nicht einmal ähnlich sehen, auf Augen, die aussehen wie gewendete und bemalte Kopfhaut, auf Lippen, die mit teigiger Knochenmasse gefüllt sind, und auf eine Körperhaut, die aussieht, als sei sie das Ergebnis einer Lagerauflösung, als wären in ihr Knochen und Knorpel, Brillen, Zähne, Koffer und Puppen zermahlen, ohne daß ihr das jedoch Elastizität geben würde. Pfui Teufel. Die Gegenseite muß keine Erklärungen abgeben, ob es ethisch zulässig ist, eine künstliche Stine herzustellen, ohne einen Pfennig Geld. Die Gegenseite beschäftigt sich nicht einmal mit Stine, solange die Kammer den Saal noch nicht betreten hat. Ihr Gespräch klappert über andere Mandanten und Kontrahenten dahin, denen nur ein klein wenig Unrecht 439
getan wurde. Alle haben einen Mittelwert. Stines Anwälte, die Anwälte der Gegenseite, die Richter. In dem Joint venture beträgt der Mittelwert für die außertariflichen Angestellten 254693,71, der für die gehobenen Angestellten 156984,16 und derjenige für die normalen Angestellten 94937,41. Auch Facharbeiter, Helfer und Vorarbeiter haben Mittelwerte. Die Facharbeiter 83890,62., die Helfer 69916,47, die Vorarbeiter 96777,75. Alle Angestellten haben ebenfalls einen Mittelwert, nämlich 142.786,05, alle Arbeiter gleichfalls, 80975,00. Natürlich hat auch die gesamte Firma einen Mittelwert, nämlich 100401,33. Nur Stines Mittelwert soll 0 sein. Da braucht Stine gleich gar keinen Mittelwert mehr zu haben. Sie erhielt den Einschreibebrief von Milla mit der Kündigung des Joint venture, als sie gerade über der Personalplanung saß. Milla in handschriftlicher Zufügung: Es ist so schade, wo wir doch ein so eingespieltes Team sind! Aber die Mitarbeiter sind ein tönernes Heer, und die Fabrik ist aus Staub gemacht, wenn sie auf einem Grundstück errichtet ist, das keiner Mutter und keiner Tochter gehört. Dabei scharrt ein gigantischer Umsatz für die Produkte der neuen Fabrik in den Startlöchern! Doch es gibt eine Elementarkraft, die zerrt an der Mitgift der Tochter. Solange die Fabrik nicht auf ihrem eigenen Grund und Boden steht, wird diese keineswegs übernatürliche Kraft alles Geld von den gemeinsamen Konten absaugen, bis nichts mehr da ist, da will Milla lieber erst gar keine gemeinsamen Konten eröffnen, sie ist ja nur die kleine Angestellte einer großen Firma, die es sich nicht leisten kann, sich einen Finger zu verbrennen, nicht mal eine Fingerkuppe. Natürlich kann sich Stine allein soviel Firmenstaub, soviel Menschenstaub nicht leisten. Milla wünscht dem, was aus dem Joint venture geworden ist, den allerbesten Erfolg, 440
nur ist es eben kein Joint venture mehr, sondern nur noch ein Venture. Ja, ja, nun wird sich der Geist der Gerechtigkeit auf Stine werfen! Aber in den Augen der Kammer spiegelt sich kein Leben: Da geht kein Licht an oder aus. Das Hohe Gericht in den schwarzen Talaren wirkt wie die Schwarzweiß-Reproduktion eines Bildes, das das Museum ausgeliehen hat. Zunächst versieht die Kammer alles einmal mit Aufschriften. Der fehlerhafte Notar übrigens ist immer noch nicht da, er wird wohl auch nicht mehr kommen. Der Gesichtsausdruck des Berichterstatters drückt aus, es ist genug Gerechtigkeit für euch alle da, wir werden euch schon einschenken! Als der Vorsitzende zu reden anfängt, legt sich ein Pfeifton über den Gerichtssaal. Stine kann keinen Satz, kein Wort verstehen. Alle anderen begrüßen den Pfeifton freudig. Nicht nur die gegnerische Partei, auch ihre eigenen Anwälte geben sich als beflissene Anhänger des Pfeiftons, das muß der Schlüssel zum Gewinnen sein, diese Störung schön zu finden! Die Gegenseite betrachtet Stine, als sei sie bereits das Kunstprodukt, das sie noch erzeugen möchte, allerdings springen da noch gewisse Eigenschaften an dem Produkt herum, die müssen unbedingt fixiert werden. Am Boden des Gerichtssaals sind Natursteine in unregelmäßiger Form verlegt, viele Steine sind locker und verschoben, manche haben endgültig keinen Halt mehr und liegen schon auf den anderen, noch ein paar Verhandlungen, und es sieht hier aus, als ob man den Bodenbelag mit dem Preßlufthammer abgelöst hätte. Saugen Sie die Gerechtigkeit an, und fühlen Sie, wie die Gerechtigkeit durch die Lunge in den Bauchraum gelangt! Dann lassen Sie die Gerechtigkeit langsam ausströmen. Ihre Bauchdecke senkt sich. Die Anspannung wird geringer. Die schlechten Gedanken werden weniger. Versuchen Sie, vor sich zu 441
sehen, wie Sie der Gerechtigkeit ihren Lauf lassen und wie Sie damit alles wegschieben, was Sie belastet. Saugen Sie die Ungerechtigkeit an, und spüren Sie, wie die Ungerechtigkeit Sie ausfüllt! Halten Sie nach mehr Ungerechtigkeit Ausschau! Lassen Sie die Ungerechtigkeit ebenfalls wieder ausströmen. Verhalten Sie sich ganz ruhig. Lassen Sie der Ungerechtigkeit ihren Lauf, und Verzweiflung und Bitternis geben nach. Nehmen Sie ruhig und gleichmäßig Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit auf. Spüren Sie die Energie von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in sich. Lassen Sie ganz bewußt Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sich abwechseln, und Sie empfinden eine wohltuende Ruhe in sich – Also nein, nicht noch einmal: Es soll doch was bleiben von uns. Wir stellen uns vor, wir gehen in einer fernen Zukunft über eine Sommerwiese, über die lauter Zeitkapseln verstreut sind. Alle sind aus Metall, die einfachen sehen aus wie bessere Konservendosen, aber es gibt auch Profikapseln mit Fünfhundertjahresgarantie, aus Edelstahl, garantiert rostfrei, scharfkantig, sechshundert Kilo wiegend und einen Meter fünfzig im Quadrat. Wir riechen den angenehmen Duft der Zeitkapseln und spüren die Wärme, die sie gespeichert haben. Wir bleiben stehen und genießen den Anblick. Vielleicht können wir uns irgendwo hinsetzen, denn wir möchten den Augenblick in uns aufnehmen. Da erblicken wir eine besondere Kapsel. Sie ist groß, rechteckig und steht, als einzige von allen, aufrecht. Es muß eine sehr alte Kapsel sein. Eigentlich sieht sie mehr aus wie ein Stein. Aber das ist nicht möglich. Wir spüren, daß nichts diese Kapsel erschüttern kann. Kein Zeitbeben kann sie umwerfen. Sie strahlt Kraft und Stärke aus. Wir gehen auf die Kapsel zu, wir fühlen uns magisch von ihr angezogen. Die Kapsel ist ganz fest in der Vergangenheit verwurzelt. Wir 442
haben das Gefühl, diese Zeitkapsel würde auch das Ende der Welt überleben. In ihr gibt es bestimmt kein Recycling-Papier, keine Druckertinte, keine Büroklammern und keine Plastikhüllen, die verrotten und verblassen und alles, womit sie in Berührung kommen, zersetzen. Wir lehnen uns an die Kapsel an und spüren, wie ihre Kraft in unsere Körper fließt. In der Gegenwart ist sie hart, aber den Äonen, so glauben wir, gibt sie nach. Wenn alle Zeiten vorbeigezogen sein werden, dann wird die Kapsel immer noch dasein. Wir sind wie die Zeitkapsel. Wir sind fest in der Vergangenheit verankert, aber wir sind voller Spannung und Spannkraft. Nichts kann uns umwerfen. Wir sind stark und unserer Sache sicher. In dieser Gewißheit lösen wir uns von der Kapsel. Jetzt können wir uns im Gerichtssaal der Gegenwart bewegen wie auf der Sommerwiese in der fernen Zukunft. Es mußte der Klägerin klargeworden sein, daß die Mitteilung vom sehr wichtig fehlerhaft war. Die Klägerin wußte, daß für das Nachbargrundstück ein Rückübertragungsverfahren lief, und sie wußte, daß es für frühere Eigentümer angestrengt war, die auch Voreigentümer des Streitgegenstandliehen Grundstücks waren. Trotzdem hat sie sich nicht erkundigt, was es mit der Grundstücksverkehrsgenehmigung bezüglich des streitgegenständlichen Grundstücks auf sich hat. Diese Unterlassung läßt den behaupteten Amtshaftungsanspruch gegen den Beklagten entfallen. In jedem Fall ist von einem überwiegenden Mitverschuldensbeitrag der Klägerin auszugehen. Wie sinnlos ist es, wenn jemand, wie Stine, mit dem Finger in etwas hineinbohrt, was ihm als widersprüchlich erscheint. Mit welcher Verve das Gerechtigkeitssystem von den Eingeweihten verteidigt wird, als ob es noch so zart und so blutig wäre ein Neugeborenes! Die Geburt der Gerechtig443
keit ist hier verwirklicht als großes Tamtam, das die Eingeweihten jedesmal wieder aufs neue selig zu machen scheint. Ein eiliges Vorübergehen ohne genau hinzuschauen, vielleicht hätte das den gleichen Effekt wie das, was Stines Anwälte jetzt probieren. Stine ist irritiert, weil sie ihre Argumente alle so abschicken, als ob sie sie weder morgen noch sonst irgendwann wieder brauchen würden. Ihre Einwendungen kommen als liebe Gäste zum Gericht, dabei hätte Stine gern, daß sie sich vor dem Häuschen des Notars drängen und an dessen Tür poltern. Ihre Anwälte reden so, als müßten sie jeden Satz einzeln aus der Gepäckaufbewahrung holen. Stine würde ihnen gerne dabei helfen, aber es sieht doch blöd aus, wenn eine Frau soviel schleppt! Die Klägerin ist Fabrikantin und keine Grundstückshändlerin. Die entsprechenden Verträge wurden von ihren Beratern gefertigt beziehungsweise geprüft. Mit der Abwicklung hat sich die Klägerin nicht näher auseinandergesetzt. Die Kammer ist die Überschrift für die gerissenen Platten am Boden des Saals. Am liebsten würde Stine den Notar und was er getan hat und alle Argumente der Gegenseite in einen Schraubstock spannen und dann zudrehen, aber so ein Aussehen will hier niemand sehen. Stines einzige Chance besteht darin, daß die Überschrift doch lebt, daß sie hochspritzt wie Wasser oder prasselt wie Feuer im Kamin. Aber Stines Anwälte fangen kein Leben ein mit ihrem Hampeln. Die Leute, die sich hierher geflüchtet haben und überall Botschaften hinterlassen haben, daß sie im restlichen Leben nicht mehr erhältlich sind, sie sind schon so verschollen, wie Stine verschollen sein wird. Ihre Körper ähneln Kegeln, über die eine viel zu trockene Haut gespannt ist. Weil die Kegel selber so oft umfallen, wollen sie gerne sehen, wie es Stine erst dreht und dann 444
hinwichst, die Kegel wollen mit der Kugel spielen. Haben sich die Mumien vielleicht den Gerechtigkeitsapparat ausgesucht, weil es dort so kühl ist wie in einem Talgrund und weil sie sich dort besser halten? Es nützt Stine gar nichts, daß ab und zu über sie gesprochen wird. Wird Stine doch einmal wohlwollend erwähnt, kommt sie sich vor, als sei sie endgültig begraben und könne nie wieder auferstehen. Ihre Anwälte breiten aus, daß Stine sich von Umständen, Zufällen und oberflächlichen Interessen hat hin und her treiben lassen, vom Mensch zum Recht, vom Recht zum Menschen. Man weiß gar nicht mehr, wer hier welche Zettel auf welche Tüten klebt, Stine ist keine Heilige, Stine ist eine Mitläuferin, wie Millionen mitgelaufen sind, Teil eines Mitläufermarathons. Wer fragt schon beim Notar etwas nach! Wir sind es doch gewöhnt, als Kunden den Launen des Allerhöchsten Notars preisgegeben zu sein! Aber Stine hat einfach zu breite Schultern, außerdem sitzt sie so breitbeinig da, als ob sie sportlich wäre, dabei ist sie es gar nicht. Sieht so jemand aus, dem Unrecht geschieht? LÜGNERin! So jemand merkt doch, daß etwas nicht stimmt! So jemand vertraut doch keinem Notar! Verliert so jemand den Prozeß, tut es ihm nichts. O weh. Kaum sind sie ausgesprochen, versickern die Argumente von Stines Anwälten zwischen den Steinen am Boden des Gerichtssaals. Die Kammer will verhindern, daß sich der Notar in einen verwunschenen Richter verwandelt und davongeweht wird, alles kann sie sich eher vorstellen als die Wahrheit, daß ein deutscher Notar Fehler gemacht hat. Die Gegenseite ruht sich im Schatten der herausgebrochenen Steine aus wie Pflanzen. Stine darf einfach nicht mehr den ständig mit ihren Papieren raschelnden Rechtsanwälten vertrauen, sie sollte sich ihren Kamm nehmen und darauf blasen! Vielleicht würde sie 445
das in den Augen der Gerechtigkeit bedürftiger machen. So viele Steine am Boden, die man alle auf Stine werfen kann. Und Stine darf nicht zurückwerfen! Einen Spiegel hätte Stine mitnehmen sollen, könnte sich die Überschrift im Spiegel sehen, vielleicht würde sie das dazu bringen zu leben. Einmal Urlaub von Tod und Verwesung! Ob man sich daran gewöhnen könnte, aus dem eigenen Schatten herauszutreten? Einmal im Leben sich selbst über den Kopf wachsen!
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Stine soll in der Luft gehen Würdest du eigentlich mit dir selber ein Joint venture gründen? Ein Huhn schlägt einem Schwein ein Joint venture vor. Das Schwein fragt das Huhn, was sie denn gemeinsam produzieren wollen. Das Huhn antwortet: Ham and eggs. Vom Markt beeindruckt, verfällt das Schwein in ein langes Nachdenken. Bis es schließlich einen wichtigen Gedanken faßt: Aber das würde ja bedeuten, daß ich geschlachtet werde, und dir geht es besser als je zuvor! Das Huhn erwidert ungerührt, was meinst du denn, worin sonst der Sinn eines Joint venture besteht? Du gehst Joint ventures natürlich nur als Huhn ein, aber wenn du mit dir selbst ein Joint venture vereinbarst, dann bist du auch das Schwein. In dem Joint venture mit Stine bist du ein Schwein, weil du das Huhn bist. Stine dachte natürlich auch, sie sei das Huhn. Am Anfang habt ihr beide geglaubt, ihr seid das Huhn. Kann man vielleicht sogar sagen, ihr wart beide das Huhn? Aber du bleibst es, und Stine wird das Schwein. Dabei war Stine hundertprozentig davon überzeugt, das Huhn zu sein. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, kein Schwein zu sein. Wenn du ein Joint venture mit dir selbst eingehst, kann dir nicht zustoßen, was Stine passiert ist. Du bist das Huhn, und du bleibst das Huhn. Aus dem Huhn kann nicht das Schwein werden. Aber du bist auch das Schwein und bleibst es. 447
Bist du die richtige Partnerin für dich selbst? Seit du aus deiner Haut fuhrst, hast du feststellen können, daß sowohl du als auch du, daß ihr beide neuen Ideen und neuen Werten gegenüber aufgeschlossen seid. Dabei plant ihr beide gründlich, ihr haltet nichts davon, Risiken einzugehen. Eure Führungsstile unterscheiden sich ebenfalls nicht sehr voneinander. Liegt eine derartige Ähnlichkeit vor, führt sie üblicherweise dazu, daß sich die Wertsysteme schnell angleichen. Die gemeinsamen Werte sorgen dafür, daß du dich nicht dauernd mit dir abstimmen mußt. Doch, du willst ein Joint venture mit dir selber gründen. Vielleicht wolltest du das schon länger. Bist du möglicherweise auch deshalb aus deiner Haut gefahren, um mit dir selbst einvernehmlicher zu leben, als das vorher möglich war? Für das Joint venture mit dir selbst solltest du ein Managementsystem wählen, welches voraussetzt, daß du dich nicht über jede einzelne operative Maßnahme mit dir einigen mußt. Du willst kurze Entscheidungswege und kurze Entscheidungszeiten. Es ist besser, wenn weder du noch du, wenn sich keine von euch beiden in das operative Geschäft einmischt. Über die Strategie muß man sich aber einig sein. Du mußt einen Strategieausschuß mit dir selbst einrichten. Der Ausschuß sollte paritätisch besetzt sein. Alle strategischen Überlegungen, die im Zusammenhang mit dem Joint venture stehen, müssen gründlich diskutiert werden. Du nimmst dir fest vor, daß du nicht dominierst, daß du nichts machst, was zu deinen Lasten geht. Es wäre schließlich Gift für die Zusammenarbeit mit dir, wenn es zu Entscheidungen kommt, die gegen dein Interesse sind. 448
Stines Klage ist unbegründet, Schadensersatzansprüche gegen den Beklagten stehen ihr nicht zu. Stine hätte sich nicht blind auf die Information des Notars verlassen dürfen, es hätte ihr auffallen müssen, daß diese Fälligkeitsbestätigung nicht richtig sein kann. Ja, ja, wie du aus deiner Haut fährst, kommst du glatt zum Geheimnis der Erkenntnis von Gut und Böse! Für Stine hat das dramatischere Folgen als für dich. Das Joint venture, du und du, ihr drei werdet leben, wogegen Stine sterben wird. So gehört beides zusammen, Geburt und Tod. Keins kann ohne das andere sein. Man stelle sich einmal vor, wohin das führen würde, wenn es nur Win-winSituationen gäbe. Das Universum ist ja groß, aber so groß kann es gar nicht sein, so schnell kann es sich gar nicht ausdehnen, daß es nur Gewinner beherbergen könnte. Stine hat durch ihr eigenes Verhalten die Ursache für den ihr entstandenen Schaden gesetzt, das wurde im Namen des Volkes festgestellt. Warum hat Stine diesen Fehler gemacht? Es lag an deiner magnetischen persönlichen Anziehungskraft, an deiner Begeisterung für die Aufgabe, an deiner Glaubwürdigkeit, daran, daß du deine eigenen Fähigkeiten so gut entfalten konntest, an deiner Selbstsicherheit und an deiner inneren Ruhe, an deiner Konzentrationsfähigkeit, an deiner Verhandlungsstärke, an deiner Motivationsfähigkeit, an deiner Fähigkeit, richtig mit Menschen umzugehen, an deiner Zielklarheit, an deinem Charme, an deiner Tatkraft und deiner Energie, an deiner Entscheidungsfreude, an deinem Vorbild, an deiner ganzen Einstellung … Die Vorteile, die du hast, wenn du von dir in der Du-Form sprichst, sind wirklich immens. Du siehst dich nicht nur von außen, immer bist du auch mehrere. Wer weiß, welche 449
Wendung die Ereignisse genommen hätten, wenn Stine auch auf den Gedanken gekommen wäre, aus ihrer Haut zu fahren. Ein anderer großer Vorteil der Du-Form besteht darin, daß nie das Gefühl aufkommt, Erinnerungen zu besichtigen. Als du von dir noch in der Ich-Form sprachst, war dein Leben wie ein Museum, in dem der Direktor und die Kuratoren immer dieselben blieben, in dem immer dieselben Bilder hingen und in das immer dieselben Besucher zu immer denselben Tageszeiten hineintröpfelten. Seit du von dir in der Du-Form sprichst, hat dich die Endlosschleife freigegeben. Was heißt denn schon du! Was heißt denn schon ich! wiegelst du ab. Und gibst zu bedenken, ein Grund, du anstatt ich zu sagen, besteht darin, daß du dir nicht ganz sicher bist, wie du deine Gefühle und deine Empfindungen zuordnen sollst, wem du sie zuordnen sollst. Ob du sie wirklich dir zuordnen sollst, oder ob du sie nicht doch lieber dir zuordnen sollst. Aber du erwiderst dir, seit du nur noch von dir sprichst, bist du nicht mehr so bedeutend. Du kannst deine Gefühle und Empfindungen sehr wohl dir oder dir zuordnen, und zwar in vollem Ausmaß und ohne Schwierigkeiten. Na, siehst du. Auf einmal durchfährt dich der Gedanke, daß du dich eigentlich auch hättest umbringen können. Diesen Gedanken hast du wirklich noch nie gedacht. Wenn du siehst, wie sich andere Leute an das Umbringen ganz langsam herantasten müssen, erst werden sie ein bißchen verrückt und dann immer mehr, weil sie sich nur im Zustand der Verrücktheit wirklich und endlich umbringen können. Wie sie sich überwinden müssen, um auch nur von einer Brücke zu springen. Du bist nicht verrückt geworden, du bist einfach aus deiner Haut gefahren. Das war’s. Clever gemacht. Für 450
viele ist es ein langer Weg, bis sie den Unterschied verwischen, ob sie noch leben oder ob sie nicht mehr leben. Du lebst noch, und sogar zu mehreren! Du und du, ihr lebt beide! Du klopfst dir auf die Schulter. Jetzt bist du dir ziemlich sicher, daß du an deinem Zustand nichts mehr ändern willst. Du könntest wieder in deine Haut zurückschlüpfen, aber das willst du gar nicht. Am liebsten würdest du noch sehr lange mit dir so weiterreden wie jetzt, doch ihr werdet wohl bald von Stine unterbrochen werden. Eigentlich wolltest du dich gar nicht mit ihr treffen, schon gar nicht auf dem Fabrikgelände, aber sie hat dir so in den Ohren gelegen, daß du dich einfach nicht wehren konntest. Die Müllverbrennungsanlage auf dem Nachbargrundstück, das ihr auch hättet nehmen können, sieht aus wie eine Kathedrale. Das Kirchenschiff ist bereits fertiggestellt, dort kann man schon beten. Der Kirchturm ist noch nicht ganz soweit: Die beiden silbrig glänzenden Kamine stehen zwar, aber das Stahlskelett, in dem sie geführt werden, muß noch verkleidet werden. Zweihundertfünfzigtausend Tonnen Abfall sollen hier pro Jahr verbrannt werden. Heute geht es darum, wer die beste und schönste Fabrik hat, vielleicht wird man morgen mit Müllverbrennungsanlagen wetteifern. Wer kann das, was hergestellt wird, am schnellsten wieder vernichten? Weiß man’s. Die Projektanten haben versprochen, daß die Luft, die aus den Kaminen herauskommt, sauberer sein soll als die Luft jetzt. Die Anlage ist unter anderem auch eine Fabrik, sie versorgt einen Stadtteil mit Strom. Natürlich lieferst du die Steuerung. Du solltest bei der Konzernplanung anregen, daß man sich mit dieser Technologie beschäftigt, 451
wenn man solche Anlagen in Serie erstellen würde, hätte man enorme Kostenvorteile. Stine trägt ein ganz kurzes, schulterfreies Kleid. Es ist so weiß wie die Wand, vor der du stehst. Du hast sie gar nicht kommen gehört. Ihre Haare sind rötlich gefärbt, sie hat sich eine Dauerwelle machen lassen. Ihre Frisur sieht aus, als sei sie etwas in Unordnung, aber das ist natürlich Absicht. Sie hat wirklich eine Figur wie eine Zwanzigjährige. Wenn Stine doch eine Tochter hat? schießt es dir durch den Kopf, und das ist Stines Tochter? Dann seid ihr nicht mehr in der Mehrheit, du und du! Sicherlich ist es nur der Widerschein der letzten Sonnenstrahlen, vielleicht ein Gel oder ein Spray: Es sieht so aus, als ob Stine ein Diadem trägt oder ein Krönchen. Alle blickt ihr auf das Nachbargrundstück. Stine meint, die Anlage ist ein riesiger künstlicher Käfer, der sich von Müll ernährt. Die anderen Gebäude, das sind die kleinen Helfer des großen Käfers. Hier ist das Wäghaus, in dem die Laster mit dem Müll gewogen werden, dort die Mühle, wo die Metalle und die mineralischen Rückstände aus dem Verbrennungsprozeß zu Pulver gemahlen werden. Dann gibt es noch das Gebäude, in dem das Wasser aus dem Dampf auskondensiert, die Pumpstation mit den drei riesigen Pumpen für das Feuerlöschsystem und natürlich ein Bürogebäude. Die Sonne ist untergegangen, es wird nun langsam dunkel. Der Himmel ist so graublau wie die Asphaltfläche um die Anlage herum. Du denkst, die Asphaltfläche könnte ein Meerbusen sein. Und daß dieses kleine Binnenmeer in das große Himmelsmeer übergeht. Der rote Lippenstift, 452
das weiße Makeup, das weiße Kleid, die weißen Schultern, die weißen Arme, die weißen Beine Stines – einmal hast du von einem Südseestamm gelesen, der die Seebestattung praktiziert. Ein toter Krieger wird erst einbalsamiert und dann in sein Kanu gelegt. Er soll wegtreiben, zu den Sternen, zu anderen Inseln, wo ein neues Leben auf ihn wartet. Stine hat dich um das Treffen gebeten, weil sie noch nicht in das Kanu gelegt werden möchte. Dabei ist sie schon einbalsamiert. Sie möchte noch nicht zu den Sternen, zu anderen Inseln. Wer immer nur zum Himmel hochblickt, bekommt nicht mehr mit, was sich auf der Erde tut. Als du deinen Blick nach unten richtest, siehst du, daß Stine Turnschuhe anhat, schwarze Segeltuchschuhe mit dicken weißen Sohlen und breiten weißen Schnürsenkeln. Stine erläutert dir ungefragt, sie muß doch die Produkte verwenden, die ihr Freund verkauft. Er ist dabei, eine Ladenkette aufzumachen, in der er Turnschuhe vertreibt, die er nach eigenen Entwürfen im Fernen Osten herstellen läßt. Du weißt von Giovanna und Marco, daß ihr Freund verrückt geworden ist. Du weißt nicht, was er jetzt tut, aber du bist sicher, daß er keine Schuhe entwirft und keine Läden eröffnet. Sie gibt dir einen Flyer, auf dem ein Geschäft abgebildet ist. Als Display-Elemente dienen L-förmige Holzwände mit Zwischenräumen zwischen den Brettern, an den Wänden sind bis in Schulterhöhe jeweils versetzt Blöcke angebracht, auf denen die Schuhe stehen, unten werden die Schuhe auf ovalen Platten präsentiert, die von Metallstäben gehalten werden. Die Stellwände sind eine einfache, aber zweckmäßige Lösung. 453
Nachdem Stine den Flyer verteilt hat, entrollt sie ihr Plakat. Es ist groß und schön und suggestiv. Sie selbst kommt auf dem Plakat nicht vor. Aber es ist natürlich so gestaltet, daß sie gut dazu paßt, in ihrem weißen Kleid, in ihren schwarzen Turnschuhen. Du bist ebenfalls nicht auf dem Plakat abgebildet. Irgendwie hast du allerdings das Gefühl, daß etwas im Hintergrund auf dich anspielt. Stine kann nichts dafür, daß der Notar einen Fehler gemacht hat. Auch wenn das vom Gericht anders gesehen wird. Sie ist guter Dinge, den Einspruchseinlegern die Einsprüche abzukaufen, es geht den Einspruchseinlegern ja nur um Geld, und das werden sie bekommen. Wenn sie das Grundstück in ihrem Eigentum hat, kann sie es in das Joint venture einbringen. Die Prognosen haben sich seither nur verbessert, Stine kann die Zahlen bis auf zwei Nachkommastellen genau aufsagen. Warum soll man woanders graben, nachdem man hier auf eine Goldader gestoßen ist? In diesem Augenblick fliegen drei Abfangjäger in einer Dreiecksformation ganz tief über das Gelände. Sie scheinen auf die Kamine der Müllverbrennungsanlage zuzuhalten. Unverzeihlich, daß die nicht beleuchtet sind. In den fernen Klang der Düsenjäger getaucht, denkst du, das ist aber ein anständiger Beruf, Pilot zu sein. Man riskiert immer zuerst das eigene Leben. Du könntest doch den Pilotenschein machen. Ihr könntet den Pilotenschein machen, du und du, dann könntet ihr ebenfalls das Synchronfliegen üben. Während der Zeit, die Stine braucht, um die Rechtsverhältnisse bezüglich des Grundstücks zu klären, flattern die Chancen des Joint venture wie Schmetterlingsschwärme leise davon. Die Verzögerung ist nicht gutzumachen. Behauptest du. Dummerweise habt ihr 454
ja alles angekündigt, was ihr vorgehabt habt. Ihr habt ein riesiges Programm in die Luft gestellt, und jetzt kommt nichts. Die Konkurrenten sahen sich schon einem verzehrenden Feuer ausgesetzt und merken jetzt, daß es nur ein wenig leuchtet und daß da nichts ist, was sie auch nur ansengen könnte. Ihr habt euch lächerlich gemacht. Selbst wenn morgen die Grundstückssituation geklärt wäre, es würde nichts mehr nützen. Die Banken werden Stine drängen, sich nach einem Partner umzusehen. Du wirst dafür sorgen, daß alle wegblicken. Darauf werden die Banken Stine zwingen zu verkaufen. Natürlich wirst du nicht nur das ehemalige Joint venture kaufen wollen, sondern die ganze Firma. Den Kaufpreis muß Stine zur Tilgung ihrer Schulden aufwenden. Oder es gibt keinen Kaufpreis, und du übernimmst die Schulden. Für Stine wird nichts übrigbleiben. Du erklärst, wenn es darum geht, ein Investment zu tätigen oder nicht zu tätigen, meidest du das Menschliche. Begegnet es dir doch, rottest du es in dir und bei anderen aus. Jawohl, du möchtest unmenschlich sein. Denn was in diesem Zusammenhang immer als menschlich bezeichnet wird, das sind nur eingeübte Rollen, täglich ausgeübte Schauspielereien, ein Sammelbegriff für eingeschliffene Gewohnheiten. Das Konzept ist überlebt, behauptest du. Du willst nicht das Ende des Menschlichen oder des Menschen verkünden, du möchtest nur den konventionellen Menschen austilgen, um für einen anderen Menschen Platz zu machen. Das übliche Menschliche ist nur etwas Mechanisches, Maschinelles, das sind Liebes- und Haßimpulse, die blind von den Körpern in die Köpfe und 455
von den Köpfen in die Körper schießen. Aus dem Menschen kann man nur in einem Gewaltstreich einen besseren Menschen machen, indem man zuerst einen nichtigen Menschen schafft. Überhaupt wird erst in dem Ausmaß, in dem sich das Nichts seinen Weg bahnt, die Zwangsrolle des gewöhnlichen Menschlichen sichtbar. Dabei wolltest du gar nicht soviel reden. Die Sache ist jetzt sehr persönlich geworden. Stine und du, ihr habt beide das Gefühl, daß ihr euch gegenübertretet wie die Heerführer in einer mittelalterlichen Schlacht. Nach großem Gemetzel und vielen Toten bei den Gemeinen stoßen schließlich die Anführer aufeinander, die nur voneinander gehört, sich aber noch nie gesehen haben. Der eine fragt den anderen, wie sein Name ist, der andere sagt, der erste wird sich fürchten, wenn er seinen Namen hört, und dann nennt er tatsächlich seinen Namen. Und der erste sagt, daß der Teufel keinen Namen aussprechen könnte, der seinen Ohren verhaßter wäre. Jedenfalls hast du jetzt deinen Namen genannt. Mehr Feindschaft hast du dir noch nie zugezogen als von Seiten Stines, der du den ewigen Frauenbund abgeschlagen hast. Du hättest etwas so ungemein Respektables an dir, das sei wirklich gut gespielt. Du würdest dich so verhalten, als ob du ihr genau das antust, was du ihr schuldetest. Das hat sie fein herausbekommen, denkst du dir. Aber tatsächlich würdest du eine ungeheure, schreckliche Täuschung auf ihre Kosten betreiben. Deine Künstlichkeit sei keine Künstlichkeit, dein Rollenspiel sei kein Rollenspiel. Deine vorgebliche Künstlichkeit sei letztlich nur die mutwillige und böse Verlängerung der Wirklichkeit. Am Anfang habe sie nicht begriffen, worauf du hinauswolltest, als du vorschlugst, das Joint venture anders zu beginnen: 456
zunächst in vorhandenen Fabriken Teile herzustellen, sie gemeinsam zu vertreiben, sie später gemeinsam zu montieren, um sie erst am Schluß in einer neuen Fabrik gemeinsam zu produzieren. Jetzt glaubt sie zu wissen, alles, was geschehen ist, sei eine Montage von dir. Deine Ausarbeitungen, deine Konzepte, deine Pläne wimmelten nur so von fremden, von imitierten Stimmen. Es gebe auch eine gewisse Komik dabei, den Notar, der Fehler macht. Dabei mache ein Notar doch keine Fehler. Aber die Komik diene nur dazu, den Schrecken zu tarnen. In deiner Firma würdest du dich als Berufshumoristin geben. Aber deine Stimmungsumschwünge und deine Schaumschlägereien machten niemand heiter. Pein und Peinlichkeit. Was sie noch nicht begriffen habe, sei der Motor hinter dem Ganzen. Es müsse doch einen Antrieb hinter deinem Montieren geben. Eine Lust. Aber sie habe noch nie so etwas wie Lust an dir bemerkt. Du wirkst so sinnlich, genau das sei die allergrößte Irreführung. Als sie dich zum ersten Mal sah, habe sie gedacht, was du alles mit deinen großen Brüsten anstellen könntest. Du stelltest den Skandal in Aussicht, aber es komme nie dazu. Du seist eine Virtuosin des Paradoxes, darin bestehe das Geheimnis deiner Karriere. Jeder, der mit dir zu tun habe, glaube an dich, und er glaube nicht an dich. Deine Wahrheiten irritierten genauso wie deine Lügen. Du würdest dich permanent spalten und dich dann gegenseitig denunzieren. Wenn du redetest, würdest du immer nur Texte ohne Rollen von dir geben. Das verführe natürlich jeden, der dir zuhöre, auch sie selbst sei verführt worden, Regietheater zu machen. Jeder glaube, es gebe eine große, eine exzeptionelle Aufführung, wenn er sich deiner Montagen bediene. Fünfundzwanzig nackte Millas sagen immer wieder denselben Text auf, in genau dem Rhythmus und in 457
genau der Lautstärke, in der er es will … Wer redet aus Stine? Wieso weiß Stine mehr als du? Aber warum nützt ihr das nichts? Du magst das Theater nicht, aber du erinnerst dich gerne daran, wie du als Kind im Zirkus warst. Du bist die Zirkusdirektorin, Stine ist die Artistin. Du sagst ihr, sie muß in der Luft gehen. Ganz weit oben, ganz entfernt von allen anderen. Man kann nicht verlangen, daß man immer auf einem festen Untergrund geht. Dafür kann sie auch nicht mehr ausrutschen auf ihrem Weg in die Zukunft. Sie muß es nur wagen. Warum sollte ihr das nicht gelingen? Du sagst ihr, daß sie sich selbst vertrauen muß, ihren Fähigkeiten. Wenn sie das tut, bleibt ihr Fuß ordentlich in der Luft stecken, und zwar in der bestimmten, vorausberechneten Höhe. Dann kann sie auch den zweiten Fuß nachziehen, mit dem wird sie genauso Halt finden. So wird sie schon einmal wissen, ob der Luftpfad, den sie geht, ein gleichmäßig ebener, ein absteigender oder ein aufsteigender ist. Aus der Weite wirkt das ja sehr schön, wie jemand in den Himmel geht. Sie darf sich durch die vielen Leute, die sie beobachten, nicht nervös machen lassen. Von unten sieht das auch gar nicht so sehr nach Gehen oder Laufen aus, sondern wie ein ungeheuer leichtes, attraktives Schweben. Sie wird das mit Grazie machen, da bist du dir ganz sicher. Vielleicht schwankt sie ein wenig dabei, aber sie wird niemals stapfen oder zockeln in der Luft. Nein, sie braucht doch keine Angst zu haben! Natürlich muß sie wissen, daß da kein Fangnetz ist. Das Fangnetz kann sich höchstens ihre blühende Phantasie knüpfen oder auch ihr Freund Egin. Sie sollte aufpassen, daß sie nicht doch in ein größeres Schwanken gerät, falls sich einmal zwei Winde ungünstig kreuzen, das will niemand sehen. Aber sie ist den Wind gewöhnt, der Wind 458
ist ihr schon in die Haare gefahren, er hat ihr sogar ein Krönchen aufgesetzt. Stine braucht nicht zu zittern, es wird schon schiefgehen. Der Spaziergang in dem Lichtgewölbe wird in Ordnung gehen. Vielleicht gibt es ja da oben nicht nur Luft, vielleicht ist da der allumfassende Äther, wer weiß das. Vielleicht geht man ja in der Luft überhaupt viel sicherer, als man sich das vorstellt. Welch ein Privileg für Stine, das herauszufinden. Die Luft hat Muster, die muß Stine erkunden. Du bist schon ganz gespannt auf diese Luftmuster. Hat die Luft ein Karomuster oder ist sie liniert? Ist sie doch uni, oder weist sie sogar ein Fischgrätmuster auf? Du kannst dir niemanden vorstellen, der freier und lockerer, der frischer und leichter, der heiterer in der Luft geht als Stine. Alle werden begeistert sein von ihr, Beifall wird aufbrausen, es wird eine wahre Ovation geben. Da muß sie direkt aufpassen, daß sie der Beifall nicht umwirft. Es wird eine glanzvolle Vorführung werden, du bist dir hundertprozentig sicher. Eine eindrucksvolle Angelegenheit, daß jemand, der so fest auf der Erde verhaftet war wie Stine, nun auf einmal in der Luft geht. Viele der Zuschauer und der Beifallsklatscher werden über den Sinn und Zweck ihrer Darstellung diskutieren. Man wird nach der darunterliegenden Bedeutung der Vorführung suchen, nach deren Ursachen und Wirkungen. Die Symbolik ist überhaupt noch nicht zu Ende gedacht. Wer traut sich schon, in der Luft zu gehen? Eigentlich ist es ja leichter hinaufzukommen als herunterzufinden. Natürlich besteht die Gefahr, daß sich Stine da oben in der Luft verirrt, zwischen den Wolken, in den Strahlengängen. Sie muß einfach in derselben Richtung immer weiterwandern. Bestimmt kommt sie 459
dann dorthin, wo die Luft übersichtlicher ist, und sie findet wieder festen Boden unter den Füßen. Vielleicht ragt da einmal ein Hochhaus oder ein Sendeturm in den Himmel hinein, und sie kann in das höchste Treppenhaus einsteigen oder mit dem Lift abwärts fahren. Und am Erdboden wieder von vorne anfangen. Du sagst auch, daß du auf sie wartest! Du meinst das wirklich so, wie du es sagst. Aber Stine will nicht durch die Luft gehen. Sie möchte nicht vor der Welt zur Schau gestellt und von ihr angegafft werden. Sie wird sich dir nicht ergeben, sagt sie. Nein, sie will kämpfen. Und sie sagt, verdammt sei diejenige, die zuerst »halt, genug!« ruft! Nur, daß es nichts mehr gibt, worum sie kämpfen könnte. Stine muß in der Luft gehen, will sie nicht gleich abstürzen. Der Abend ist von einer leuchtenden Frische. Stines weiße Haut flimmert. Der Mond steht am Himmel wie der Brennpunkt eines Hohlspiegels. Stine ist dazu prädestiniert, in der Luft spazierenzugehen. Du murmelst etwas wie: Daß irgend jemand dir diese Karten in die Hände gesteckt hat und verlangt, daß du genau diese Partie spielst und keine andere. Du könntest nie in der Luft gehen. Weder du noch du. Du könntest noch so oft aus deiner Haut fahren, nie käme jemand heraus, der dazu imstande wäre, in der Luft zu gehen. Du sagst Stine noch, daß sie sich nicht erschießen soll, nur weil es so schön knallt. Und sie soll aus lauter Freude auch besser nicht in die Luft schießen, sie braucht die Luft noch, um darauf zu gehen. 460
Ihre Lider sind jetzt halb geschlossen, und ihr wildes Gesicht ist erstarrt. Es ist, als ob sie dich fragt, wo bin ich? Kannst du mir einen Wink geben, wo ich sein werde? Oder kannst du mir sagen, wo jemand anders sich an meiner Stelle befindet? Du mußt doch sehen, wo ich war. Sie möchte gerne, daß du ihr irgendeinen Anhaltspunkt, irgendeinen Tip gibst. Aber das kannst du nicht. Du bist froh, endlich wegzukommen. Du sagst Stine nicht auf Wiedersehen oder so etwas. Schlagartig wendest du dich von ihr ab. Die Geschichte mit Stine hängt dir zum Hals heraus. Weg mit dir, fort. Ja, ja, sagst du. Du würdest die Müllverbrennungsanlage gerne noch einmal nach ihrer endgültigen Fertigstellung besichtigen und beobachten, wie der Kathedralenkäfer seine Arbeit aufnimmt. Er wird das pünktlich tun, im Gegensatz zu der Fabrik nebenan. Wenn die ihre Arbeit pünktlich aufnehmen würde, würde dir das ja nichts nützen. Und du stellst dir vor, wie Stine in der Luft geht, über den großen und den kleinen Käfern. Stine geht sicher majestätisch und elegant. Du wirst der Konzernplanung sagen, daß eure Käfer, eure Müllverbrennungsanlagen allen, aber wirklich allen Müll verarbeiten müssen, der auf der Erde produziert wird. Es geht nicht darum, nur Kartoffelschalen, Plastikabfälle oder Elektronikschrott zu verbrennen. Nein, die großen Käfer sollen die Oberfläche der Erde reinigen. Sie müssen auch in der Lage sein, Fabriken und Geschäfte zu verschlingen und in Luft zu verwandeln, die viel reiner ist als die Luft jetzt.
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Stine treibt lieber Wintersport. Fleur macht ein Video über Stine Die Leute auf der Terrasse aßen alle Würstchen. Ein Mann warf seine Skier laut auf den Rand der Terrasse. Ging noch lauter zu einem Liegestuhl. Küßte seine Freundin. Sie hatte das T-shirt ausgezogen, es lag über ihrer Brust. Eine ältere Dame verteilte Anstecknadeln. Für zwanzigjährige Treue zu St. Christina. Zum Hotel Monte Pana. Der Hoteldirektor hatte Fleurs letztes Video gesehen. Auf der Biennale in Venedig. Er sei ein Tanzbär oder ein Psychiater. Oder beides. Sein Hotel sei ein Irrenhaus. Gerade habe er die Rettung rufen müssen, weil sich eine Frau die Vagina zerschnitten habe. Es sei ihm viel lieber, wenn die Leute schön vögeln gingen. Fleur fühlte sich geborgen. Unter dem weit vorkragenden Dach. Mit den kräftigen Strebebalken. »Was wollen Sie eigentlich von mir wissen?« fragte der Hoteldirektor. Fleur hatte ihm den Titel des neuen Videos genannt. I don’t know anyone who wished on bis deathbed that he had spent more time at the office. Ein Zitat aus dem Buch eines australischen Philosophen über das Gute Leben. Fleur hatte den Pförtner von Stines früherer Firma interviewt. Um etwas über Stine zu erfahren. Es stellte sich heraus, daß der Pförtner Philosoph war. Fleur fragte ihn, warum er Pförtner sei. Das Subjekt werde nicht mehr durch Überwachen und Strafen erzeugt. Das Subjekt sei jetzt das Ergebnis eines Optimierungskalküls. Ursprünglich hatte der Pförtner vorgehabt, eine Genealogie des ökonomischen Subjekts zu verfassen. Aber er ziehe den Anachronismus vor. Deswegen sei er 462
Pförtner geworden. Oder bestand der Anachronismus darin, eine Genealogie des ökonomischen Subjekts zu schreiben? Fleur wußte es nicht mehr. Sie hatte nicht weiter nach Stine gefragt. Sie konnte nicht den Titel und den philosophischen Pförtner verwenden. Der Titel war ihr wichtiger. Sie würde den Pförtner weglassen. Fleur hatte das Gefühl, sie hatte schon tausend Videos gemacht. Sie wollte keinen Pas de deux mit Stine. Nicht balzen. Nicht auftrumpfen. Nicht klammern. Ein Mann hatte ihr gemailt, in ihren Videos erteile sie den Menschen erst eine schallende Ohrfeige, dann ziehe sie ihnen die Faust übers Nasenbein. Sie entwickelte sich eben weiter. Ihre Videos mußten nicht wahr sein. Die Wahrheit lag bestimmt nicht in der Mitte. Die Wahrheit lag drum herum. Alle Menschen sind glücklich, nur wissen es viele nicht. Deswegen war Fleur erst zufrieden, wenn jemand sich ihr als ein völlig glücklicher Mensch präsentierte. Seit einiger Zeit lief sie in der Wohnung immer mit Ohropax herum. Machte die Augen zu. Stellte sich alles vor. Prüfte dann, ob das, was sie sich vorgestellt hatte, mit dem übereinstimmte, was sie sah. Wenn sie die Augen wieder aufmachte. Sie steuerte immer auf die Erschöpfung zu. Die abgründigsten und lustigsten Szenen kamen kurz vor der Erschöpfung. Ihre Videos waren immer Ekelarbeit. Die Bilder waren schließlich keine Aufzeichnungen. Die Texte keine abgeschriebenen Tonbänder. Sie nahm alles auseinander. Setzte alles neu zusammen. Der Schnitt kam ihr vor wie Leichenfledderei. Fleur konnte Stine nirgendwo auf der Terrasse entdecken. Fleur blickte durch die Fenster in den Speisesaal hinein. Alle Tische gedeckt. Aber kein Mensch. Die Bar ein messingbeschlagenes Halbrund. Wie um den ganzen Raum zu verstellen, direkt davor eine riesige runde Säule. An dem Tisch vor der Säule endlich Stine. Völlig 463
entspannt. »Hotel Seegrube in Innsbruck. Sporthotel Edelweiß in Murren. Pension Briol in Dreikirchen, Hotel Alpenhof in Pertisau. Hotel Berghof in Seefeld. Hotel Drei Zinnen in Moos bei Sexten. Pension Bergheim in Berwang. Hotel Mariabrunn in Innsbruck. Hotel Hochfirst in Obergurgel. Pension Gstrein in Vent. Gasthof Maria Flora, Sellajoch.« Stine war weiß geschminkt. Aber ihr Gesicht war voll. Sie kenne die Hotels von früher. Sie erstelle ihnen Konzepte, wie sie zu mehr Gästen kommen könnten. Sie berate nur alte Wintersporthotels. Mit Tradition. In bester Lage. Erst seit dem Fiasko könne sie ein Leben führen, das noch zähle. Alles vorher sei nur Unterhaltung gewesen. Geldverdienen. Dahergerede. Die milde Heiterkeit, die Stine umgab. Fleur konnte sie fast mit Händen greifen. Wie gelassen sich Stine in ihr Schicksal ergeben hatte. Sie strömte einen Zauber aus. Noch nie hatte sich Fleur von ihr so angezogen gefühlt. Sie hieß nicht mehr Stine, erklärte sie Fleur. Sie hieß Linda. Karen. Olga. Lucy. Angelique. Myka. Iris. Jen. Eva. Desiree und Candice. Kiara. Christie. Elizabeth. Jo. Cordelia. Stacy. Sarah. Vesna. Audrey. Carmel. Ulla. Joanne. Ismar. Lydia. Morgan. Gemma. Mebrak. Ruth. Seiina. Sorcha. Sian. Kirsty. Pieta. Marisa. Madeleine. Natalia. Charity. Samantha. Lia. Marcella. Amy. Anja. Olivia. Melissa. Anka. Camilla. Geraldine. Thelma. Zora. Agatha. Rebecca. Caroline. Cläre. Courtney. Kathryn. Jaimee. Josephine. Shakira. Xapa. 464
Nicole. Phoebe. Alice. Taren. Amit. Ulia. Alexandra. Raquel. Katy. Jan. Liane. Chrystelle. Marianne. Hanli. Annie. Lauren. Dusty. Luci. Tanja. Sheriee. Carolyn. Jade. Louise. Summer. Christen. Helle. Susan. Christina. Sara. Jane. Erica. Sylvia. Inna. Debra. Tania. Lisa. Andrea. Liliana. Zuzana. Sonia. Carly. Micky. Nina. Dea. Ali. Pipsa. Gisele. Kim. Anne. Deborah. Krista. Danielle. Zoe. Domenique. Mathilde. Denise. Ana. Leona. Lorato. Nicolette. Victoria. Danie. Kara. Debbie. Esther. Nikki und Teena. Vicky. Natasha. Susanna. Abby. Lea. Mak. Tina. Claire. Hannah. Laura. Jenny. Karyn. Elika. Philippa. Louise. Sandra. Kelly. Madeline. Eva. Rachael. Toni. Rosie. Sophie. Kina. Tasmin. Melody. Charlotte. Maddy. Denise. Saskia. Adnana. Yuka. Ellie. Gillie. Shona. Kerry. Luciana. Annabel. Michelle. Malin. Yuko. Spela. Eve. Haley. Lindsey. Paige. Essi. Kate. Nadine. Irmina. Katja. Fiona. Rachel. Shalom. Cressy. Florence. George. Marieke. Juliet. Shona. Miele. Nina. Alex. Collette. Emma. Helen. Leah. Sanna. Julliette. Galitte. Romilly. Carla. Celine. Jennine. Corrie. Alissa. Teresa. Emily. Molly. Lori. Goya. Viola. Nichole. Eliza. Magdalena. Willa. China. Rika. Marisa. Barbara. Maria Carla. Verity. Claudelle. 465
Katie. Shannon. Heather. Katherine. Natalie. Annasophie. Kaaren. Inga. Saimi. Bracha. Monica. Thérésa. Lanie. Björg. Sian. Maryke. Jennifer. Lena. Anouk. Audrey. Faye. Kirsten. Colette. Lidia. Astrid. Ivana. Mieke. Kamilla. Glenna. Martina. Corina. Alin. Mareike. Silvana. Lotta. Lara. Cressy. Paula. Lisa. Gloria. Heidi. Deman. Alison. Helene. Jeisa. Carly. Yasmin. Leila. Saffron. Catherine. Lori. Francis. Elisabet. Amanda. Kari-Anne. Zoya. Lucie. Ross Mariane. Cheyenne. Caitlin. Maki. Luka. Daniela. Clara. Rosemary. Dagmar. Myriam. Sanna und Mika. Deidre. Lyndall. Erin. Violetta. Cherrie. Sarah Louise. Rhea. Naomi. Devon. Tuuli. Chloe. Zanetta. Keira. Kitty. Lynsey. Stephanie. Lucia. Leigh. Lorraine. Nicola. Candice. Ray. Shaundra. Genevieve. Penny. Zainab. Janine. Sabrina. Kamila.
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Wenn wir sterben, wogegen tauschen wir unser Leben ein? »Die Erinnerung betrügt einen gerne«, sagte Stine. »Ich war gehemmt. Ich war unsicher. Ich hatte keinen Mut. Die Leute haben mich gefragt: Christine, haben Sie auch Mut zur Niederlage?« Ich habe geantwortet, »ich kann Versagen nicht verkraften. Dazu tut es zu weh.« Sie ist so wandlungsfähig, dachte Fleur. Sie kann sich in eine klassische Skulptur verwandeln oder in ein billiges Flittchen. »Ich bin nie wirklich destruktiv gewesen. Ich wollte nie jemand anderem schaden. Aber ich hatte immer nur Freunde wie Egin, die sich letztlich für den selbstzerstörerischen Weg entschieden haben. Jetzt himmele ich keine Leute mehr an, die mit ihren Ängsten kokettieren. Mit allem, was schlecht für sie ist. Und immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand rennen.« Welche Möglichkeiten gab es für Stine, aus einem unerträglichen Leben und Überleben etwas zu machen? Aus absurden Geschehnissen eine Struktur herauszudestillieren? Aus sich selbst eine Figur zu machen? Was blieb da zum Weiterleben? Offenbar nur die Rückkehr in das Fiasko. Die Wiederholung. War das ein zweites Leben? Oder war es der Tod? Sie war ihr eigenes Alter ego. Hatte sich selbst als Nothelferin für dieses zweite Leben eingesetzt. Wenn sie im Sommer Gletscherhotels beriet, war das ein Alptraum? Oder ein Wahrtraum? Sie hatte keinen Anlauf gebraucht für dieses zweite Leben oder für den Tod. War sie glücklich? Oder war es eine Traumerzählung? Was wollte Stine? Ihre Karriere in freien Paraphrasen fortschreiben? Oder verfremdete sie einfach nur ihre eigene Existenz ins Allegorische? Da war niemand außer 467
Fleur, der die Kamera führte. Über ihrem Kopf keine himmlische Bruderschaft von Deutern. Es gab keine Kriterien. Auch keinen subjektiven Faktor der Kritik. Der Gedanke, Stine in einem Video darzustellen. Fleurs Video sollte eine Reaktion auf die Irritation sein, die dieser Gedanke hervorrief. Fleur wollte kein Video über Stine machen. Fleur wollte ein Video über ein Video über Stine machen. Fleur wollte vorführen, wie Stine darauf bestand, aus sich selbst und nur aus sich selbst verstanden zu werden. Keine Verweise, die Stine als Statthalterin einer Welt außerhalb ihrer selbst deuten würden. Es gab keinen Begriff, der dem entsprach, was Stine erlebt hatte. In Fleurs Video sollte Stines Unfaßbarkeit aufgehoben werden. Oder zumindest wollte Fleur Stines Unfaßbarkeit vergessen machen. Fleur wußte: Die Idee der Ähnlichkeit reichte nicht aus, um die charakteristische Beziehung zwischen dem Video und Stine auszudrücken. Sie würde die Bilder mit dem Dargestellten, das Dargestellte mit den Bildern vermischen. Die Zeitebenen Gestern und -. Morgen und Übermorgen. Ja, sogar Stine und Milla würde sie miteinander vermischen. Vor allem Stine und Milla. Fleur hatte auch Milla interviewt. Während des Gesprächs wurde ein Anruf zu Milla durchgestellt. Ein Mitarbeiter von Millas Niederlassung in den USA war zu einer anderen Firma gewechselt und wollte nun wieder zu Milla zurück. Sie sagte ihm brüsk ab. Danach erklärte sie Fleur, der Mann arbeite für eine Firma, die Menschen tiefgekühlt für die Ewigkeit aufbewahre. In der Wüste. Die Firma hieß Alcor. Im Foyer des Hotels war ein fein gearbeitetes Modell des Hotels ausgestellt. Auf einem schneebedeckten Berg. Die erste Szene des Videos würde dieses Modell zeigen. Sie konnte das Modell so beleuchten, daß die Szene schwarzweiß aussah. Jedes Video über Stine hatte 468
mehr Eigenschaften mit einem Video über Milla gemeinsam als mit Stine selbst. Konnte man die Verschwommenheit des Bilds, das man sich von einem Menschen machte, in die Unscharfe eines Videos übersetzen? In die Ungenauigkeit eines Videos? Es schien Fleur, nein. Nach dem Modell würde Stine kommen. In dem weißen Kleid. Das sie beim letzten Treffen mit Milla getragen hatte. Milla hatte davon erzählt. Alle hatten davon erzählt. Fleur würde Stine mit einem weißen Schriftband auftreten lassen. Mit blauen Rändern. Ein Band, wie es die Siegerin eines Beauty pageant umgehängt bekam. In der ersten Einstellung würde man die Aufschrift nicht lesen können. Aber in der nächsten. Man würde einen Firmennamen erkennen: Nicht Miss Voigtländer. Auch nicht Miss D’Wolf. Miss Alcor. Draußen begann es zu flankerln.
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