Maddrax Band 91
Wer explodiert verliert! von Michael M. Thurner
Vor drei Jahren ... Hätte er in seinem Leben nur eine...
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Maddrax Band 91
Wer explodiert verliert! von Michael M. Thurner
Vor drei Jahren ... Hätte er in seinem Leben nur eine Chance, eine einzige Chance! Er konnte schreiben und lesen, hatte reichlich Grips im Kopf, besaß die notwendige Rücksichtslosigkeit und Jaulend brach ein metallenes Ungeheuer durch das Unterholz. Es wirbelte schwere, feuchte Erdklumpen hoch, fegte Sträucher und Bäume beiseite und zermalmte kleinere Felsbrocken in seinem Weg. Mit einem Sprung war Pjotr auf den Beinen. Er zeichnete mit der rechten Hand den Glaubenskreis in die Luft. Dann hechtete er in den trüben Fluss und schwamm um sein Leben, während der Schatten über ihm immer breiter und länger wurde. Der Bug des Fahrzeugs hob sich weit über die letzte Bodenwelle. Noch einmal ließ es ein Röhren wie von einem waidwunden Yakk ertönen – und schlug dann flach ins Wasser.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Asiens werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten ... für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde ... Auf der Suche nach Antworten, was mit der Erde und der Menschheit geschehen ist, taucht die Weltrat-Expedition unter Lynne Crow und Prof. Dr. Smythe in den Kratersee hinab – und scheitert. Auch Matts Gruppe wagt den Vorstoß. Bei der Bergung eines grünen Kometenkristalls wird der Hydrit Mer'ol gefangen. Sein Mentor Quart'ol nimmt Kontakt mit dem Kristall auf. Die Gefährten erfahren, dass das außerirdische Volk der Daa'muren mit dem Kometen auf die Erde kam und seither bestrebt ist, durch fortwährende Mutationen der Tierund Pflanzenwelt eine Lebensform zu erschaffen, in die Milliarden körperloser Geister schlüpfen können. Auch die Degeneration und Reorganisation der Menschheit diente diesem Zweck. Der Wirtskörper steht kurz vor der Vollendung – als Matt in einer Bruthöhle eines der Eier zertritt. Die Außerirdischen prägen ihn als obersten Feind und hetzen ihm ihre Mutanten auf den Hals. Die Freunde fliehen in einem ARET-Panzer. Quart'ol bleibt zurück, um Mer'ol zu befreien.
Dabei stellt er fest, dass Smythe und Lynne von den Daa'muren festgehalten werden. Als der Barbar Pieroo erkrankt, fahren Aiko und Honeybutt mit ihm im Beiwagen des ARET voraus. In der Hafenstadt Nydda trennen sich die Gefährten: Dave und Rulfan fahren auf einem Raddampfer nach Britana, während Matt, Aruula und Mr. Black im ARET den Landweg nehmen. In Perm beginnen sie die russischen Bunker auf ein Bündnis gegen die Daa'muren einzuschwören. Eine wichtige Rolle spielt dabei ein Serum, das nur aus Mr. Blacks Blut gewonnen werden kann und schon dem Weltrat half, die Immunschwäche der Technos zu überwinden. So werden sie in Moskau mit offenen Armen empfangen. Die in der Stadt lebenden Nosfera -mumienhafte Blutsauger – nehmen Kontakt mit Matt Drax auf: Bei einer Prophezeiung haben sie ihn als Sohn der Finsternis erkannt. Was das bedeutet, findet Matt zwar nicht heraus, aber sie helfen ihm, als die Mutantenarmee Moskau erreicht. Die Rettung bringt sein Laser-Phasen-Gewehr: Indem er den Reaktor darin in einem Metrotunnel zur Explosion bringt, löscht Matt den Großteil der Feinde aus. Den Ruhm aber erntet Mr. Black, der oberirdisch die Streitmacht der Verteidiger anführte ...
Mit einer letzten verzweifelten Anstrengung stieß sich Pjotr vorwärts und zog die Beine an. Weg, nur weg von dem metallenen Monstrum! So vieles geschah in diesen wenigen Momenten, dass es der Verstand des Fischers gar nicht richtig verarbeiten konnte. Ein mörderischer Schlag gegen seine Unterschenkel. Eine Welle, ausgelöst von der Wucht des Fahrzeugs, die ihn nach vorne warf. Dann die Sogwirkung, zurück zum Monstrum. Hinab in die Tiefe – und wieder zur Oberfläche, von Panik erfüllt. Verzweifeltes Husten und Wasserspeien. Erneut von der Welle überspült und untergetaucht, erneut der Kampf um Luft zum Atmen. Den Kopf oben halten, oben bleiben ... Und plötzlich ... Ruhe. Es war vorbei – und er lebte. Pjotr ließ sich vom sanften Sog des breiten Flusses abwärts treiben, bis er die Biegung erreichte. Dann kehrte sein Lebenswille zurück, und instinktiv, mechanisch begann er ans Ufer zu schwimmen. Er war mehr als fünfhundert Mannslängen abgetrieben worden, als er endlich wieder Boden unter seinen schmerzenden Füßen spürte. Keuchend, fluchend und gleichzeitig Glaubenskreise zeichnend kletterte er die sanfte Böschung empor und ließ sich erschöpft in den warmen Sand fallen, nahe eines Haufens verrosteter Relikte aus der Alten Zeit. Pjotr fluchte. Was war das für ein ... für ein Ding gewesen? So etwas hatte er noch nie gesehen, und er war schon weit herumgekommen in seinem Leben. Sogar in der großen Stadt, einen ganzen Tagesmarsch entfernt, war er bereits gewesen. Auch motorisierte Fahrzeuge kannte er mindestens ein Dutzend. Aber das? Seine Neugierde erwachte und überwand jegliches Angstgefühl. Schließlich hatte er auch seine Anglerausrüstung
zurücklassen müssen, und ohne sein Handwerkszeug würde sein Leben noch miserabler werden, als es ohnehin schon war. Erneut fluchend, machte sich Pjotr auf den Weg, den kleinen Trampelpfad am Ufer der Weixel entlang. Er war fast unverletzt; lediglich die Hinterseiten seiner Unterschenkel waren großflächig abgeschürft und bluteten. Nach zehn Minuten kam er wieder bei dem monströsen Fahrzeug an. Es erschien ihm jetzt noch gewaltiger als zuvor. Es brummte leise, als ob es nur darauf wartete, wieder in Betrieb genommen zu werden. Ehrfürchtig näherte sich der Fischer dem blechernen Ding und klopfte vorsichtig dagegen ... »Hilfe!« Pjotr fuhr herum und sah sich gehetzt um. »Hilfe!« Die leise Stimme kam von der anderen Seite des Monstrums. Vorsichtig umrundete er das Heck und näherte sich dem Vorderteil, das zu einem guten Teil im Wasser steckte. Eine Tür war geöffnet, und der Oberkörper eines Menschen ragte heraus. Pjotr watete auf ihn zu. Die Kopfhaut des Verletzten war unnatürlich blass, sein Körper steckte in einer weiß schimmernden Hülle. Blut drang aus einem Mundwinkel des Mannes. Er hustete schwer, und das Gesicht verzog sich schmerzverzerrt, während die Augen starr nach oben in den wolkenverhangenen Himmel blickten. »Hilfe ... Basis informieren ... die ... die anderen drinnen ...«, stammelte er wirr und kraftlos, während sich der Brustkorb schwach hob und senkte. Pjotr sah den anderen an und dachte intensiv nach. Helfen, Hilfe holen ... oder ... Er grinste. Er hatte seine ganze Ausrüstung verloren. Doch das aufklappbare Fischermesser, ein Erbstück seines Vaters und dessen Vater, steckte noch in der ausgebeulten Hosentasche. Pjotr zog es heraus und schnitt dem Verletzten die Gurgel
durch. Er riss den Sterbenden mit einem Ruck aus dem Fahrzeug und stieß ihn in den Fluss. Dann kletterte er in den Wagen. Drei weitere blasse, ausgemergelte Menschen lagen drinnen, alle bewusstlos. Drei sorgfältige Schnitte, mit festem Druck von links nach rechts, wie bei einer Foorel, und hinaus mit ihnen ins Wasser, bis vier leblose Körper langsam den weiten Fluss hinab trieben, immer breiter werdende rote Spuren hinter sich her ziehend. Pjotr wischte das Messer an seiner Hose ab und setzte sich zögernd ans Steuer. Die Bedienungen waren ihm fremd. Doch er hatte Zeit. Viel Zeit. Und seit heute hatte er große Pläne.
1. Reise-Impressionen Das Land war verlassen, öd und leer. Bereits seit Tagen wühlte und mühte sich der schwere ARET durch die gottvergessene Gegend. Es ging berg- und talwärts, über nahezu unkenntliche Straßentrassen nach Westen. Immer wieder gab es schwierig zu querende Sumpfgebiete, und mehr als einmal musste Mr. Black all seine Fahrkünste aufbieten und so manchen Fluch unterdrücken, um den sowjetischen Expeditionspanzer in Bewegung und auf Kurs zu halten. Niedrig hängende Nebelschwaden drückten aufs Gemüt. Manchmal durchbrachen in der Ferne riesenhafte Vögel die Wolkendecke, ließen ein schauriges Krächzen hören und verschwanden wieder. Waren es Eluus? Matthew Drax wusste es nicht, und er hatte auch kein Bedürfnis, den riesenhaften, eulenähnlichen Geschöpfen zu begegnen.
Eine Zeitlang folgte ihnen ein Rudel pitbullähnlicher Spikkars. Der wildeste unter ihnen verbiss sich in einen der zehn Plastiflex-Reifen und wurde über hundert Meter mitgeschleift, bevor er unter das Rad geriet. Der Rest des Rudels fiel über die blutigen Reste her, und noch lange nachdem der Nebel die Szenerie überdeckt hatte, konnte man das Jaulen und Knurren der streitenden Tiere hören. Es gab wenige, seltene Momente, in denen ganz plötzlich die Sonne das Land in einen milden Schein tauchte. Dann wurde den drei Menschen an Bord – Matt, Aruula und sogar dem sonst so beherrschten Mr. Black – warm ums Herz. Sie hielten an, stiegen aus und ließen die Strahlen auf ihre Körper einwirken. Endlich – nach Wochen der Flucht – konnten sie dies ohne die Befürchtungtun, dass gnadenlose Verfolger sie einholen würden. Das viele tausend Köpfe umfassende Mutantenheer, das die Daa'muren ihnen nachgeschickt hatte, war in Moskau vernichtend geschlagen worden. Letztlich war es Matthew Drax gewesen, der die monströsen Kreaturen durch die Selbstzerstörung seines LP-Gewehrs vernichtet hatte. Doch weil das unterirdisch in einem alten Metro-Tunnel geschehen war, während oben Mr. Black die Verteidigung der Stadt befehligte, war der Commander bei den anschließenden Festivitäten etwas zu kurz gekommen. Genauer: Man hielt ihn für einen Feigling, der sich auf dem Höhepunkt der Schlacht in die Tunnel verdrückt hatte. Der Running Man dagegen war zum Helden der Russischen Bunkerliga erklärt und gefeiert worden. Nach der kräfteraubenden und lebensgefährlichen Aktion hatte Matt ganz einfach die Energie gefehlt, den Irrtum aufzuklären; warum auch? Sollte die Liga Mr. Black ruhig als »Präsidenten der amerikanischen Untergrundregierung« feiern. Wichtig war jetzt, dass sie nach England kamen, um auch die
dortigen Bunker von der Daa'muren-Gefahr zu informieren und Pläne für eine Gegenwehr zu schmieden. Denn obwohl eines ihrer Werkzeuge vernichtet war, hatten die Außerirdischen, die mit dem Kometen »Christopher-Floyd« zur Erde gekommen waren, nichts von ihrer Gefährlichkeit eingebüßt. Matt und die Anderen wussten, dass die körperlosen Daa'muren nur darauf warteten, einen von ihnen gezüchteten Träger-Organismus zu übernehmen, um ... ... ja, um was zu tun? Die Erde zu unterjochen? Anzunehmen, angesichts ihrer in Millionen zählenden Population. Ihre feindliche Grundhaltung hatten sie zumindest schon bewiesen ... Gewaltsam drängte Matt die düsteren Gedanken zurück. Der Tag war viel zu schön, um ihn sich zu verderben. Dazu war in London noch Zeit genug. Er ließ den Blick über seine Begleiterin schweifen: Aruula, die Barbarin, die so hart und kämpferisch und dann wieder so weich und anschmiegsam sein konnte. Ein Kind ihrer Zeit, geprägt von bitteren und schmerzhaften Erfahrungen. Sie hatte gelernt, den Moment zu genießen und wenig an das Morgen zu denken. Bis sie dem Mann aus der Vergangenheit begegnet war. Es war für Matt ein mühsamer Prozess gewesen, Aruula Begriffe wie Vorausschau, Vorsicht und Planung zu lehren, und manchmal erschien es ihm wie vergeudete Zeit. Wäre es nicht vielmehr seine Aufgabe gewesen, sich an die veränderten Verhältnisse anzupassen? Was trieb ihn dazu anzunehmen, dass ausgerechnet er, der Risikopilot aus der Vergangenheit, irgendetwas verändern zu können in dieser verfluchten, geplagten Welt? Aber seine fast dreieinhalb Jahre dauernde Odyssee durch die dunkle Zukunft der Erde war zu mehr geworden als ein bloßes Abenteuer. Inzwischen ging es um nicht weniger als das Schicksal der Welt.
Matt sah Aruula tief in die braunen Augen mit den grünen Einsprengseln darin und erkannte nicht zum ersten Mal, woraus er seine Kraft und Zuversicht schöpfte. Er umarmte die Frau und küsste sie zärtlich. Mr. Black seufzte, drehte sich dezent um und entfernte sich pfeifend, den Refrain eines Liedes auf den Lippen, das er nicht kannte und das wohl aus dem Erinnerungsschatz seines genetischen Vaters stammen musste. Denn es war unverkennbar die Titelmelodie aus dem Schwarzenegger-Film »King Conan« ... * Zwei Mal kamen sie durch größere Ruinenstädte. Beide boten einen Anblick, den Matthew Drax nur allzu gut kannte. Mr. Black übersetzte mit Hilfe des Bordcomputers die kyrillischen Schriftzeichen auf verrostenden, umgestürzten Tafeln mit »Smolensk« und, zwei Tagesreisen weiter westwärts, »Minsk«. In beiden Städten waren Spuren von Leben zu sehen. Düstere, verzerrt wirkende Gestalten versteckten sich vor ihnen, krochen in Löcher oder schmale Spalten in riesigen Schutthalden und entzogen sich ihren Blicken, bevor man erkennen konnte, ob es sich um Tiere oder Mutanten handelte. »So hat sich zu meiner Zeit niemand die Zukunft vorgestellt«, murmelte Matt erschüttert. »Weiß Gott nicht ...« Aruula und Mr. Black sahen ihn verständnislos an. »Was meinst du?«, fragte seine Gefährtin. »Na, all dieses ... dieses Elend da draußen.« »Ach so«, murmelte Aruula achselzuckend und fuhr fort, ihre schwarzen Haare zu bürsten, während der Chef der Running Men nicht einmal blinzelte. Natürlich: Beide kannten die Welt nicht anders. In diesen Augenblicken war Matthew Drax mehr als fünfhundert Jahre von seinen Begleitern getrennt.
Langsam, ganz allmählich änderte sich das Erscheinungsbild der Landschaft. Spuren zivilisierten Ackerbaus tauchten da und dort auf, und immer öfter sahen sie in der Ferne aufsteigende Rauchsäulen, die von bewohnten und befestigten Gehöften kündeten. Auch die Straße, auf der sie sich bewegten – einmal konnte der ehemalige Pilot die Schrift auf einem grünen Schild als »E 30« entziffern – war stellenweise mit grobem Schotter ausgebessert und vom Pflanzenbewuchs befreit worden. Als ihnen gar ein mit schweren braunen Knollenwurzeln beladenes Yakk-Gespann begegnete, war die Freude groß. Mr. Black gelang es, dank des Universal-Translators dem misstrauischen Bauern im Tausch gegen zwei Erste-HilfePakete ein paar der kartoffelähnlichen Pflanzen und ein Dutzend frischer Eier abzuhandeln. Aruula zauberte aus wenigen Gewürzen und den mehlig-weich gekochten Tofanen ein wunderbares Mahl. An diesem Abend konnte man weit voraus den Lichterschein einer größeren, belebten Stadt sehen. Es musste das ehemalige Warschau sein, das der Bauer als »Waarza« bezeichnet hatte. Willkommen zurück in der Zivilisation, dachte Matt. Oder in dem, was man heutzutage so Zivilisation nennt ...
2. Die Brücke »Auch wenn die Moskawiter nicht mit Sicherheit sagen konnten, ob es in Warschau eine Community gibt, ist es doch unsere Pflicht, danach zu suchen und Kontakt aufzunehmen«, sagte Matt und fuhr mit einem Seitenblick auf Mr. Black fort: »Wir müssen alle vom Ernst der Lage überzeugen und die Serumgewinnung ankurbeln.«
»Was bedeutet, dass ich wieder mal zum Aderlass gebeten werde«, seufzte der Running Man. Nur aus seinem Blut – genetisch auf dem Stand des 21. Jahrhunderts – konnte ein Serum gewonnen werden, das die in fünfhundert Jahren Isolation entstandene Immunschwäche aller Bunkerzivilisationen beendete. »Außerdem sollten wir uns Karten über den weiteren Weg nach Westen beschaffen«, fügte Matt hinzu. »Ab hier werden die Pläne im Bordcomputer lückenhaft.« »Glaubt ihr wirklich, dass wir es schaffen, alle Völker gegen den Feind zu einen?«, fragte Aruula skeptisch. Sie hatte in der Vergangenheit schon zu viele Stammesfehden miterlebt, als dass sie an ein gemeinsames Vorgehen aller Bunkerzivilisationen gegen die Daa'muren glauben konnte. »Wir müssen es zumindest versuchen«, antwortete Matthew. »Und mit dem Serum in der Hinterhand haben wir nicht die schlechtesten Karten.« »Ich bin vor allem dafür, keine wertvolle Zeit zu verlieren«, drängte Mr. Black. »Mein Vorschlag: Wir fahren in die Stadt, erregen Aufmerksamkeit und warten ab, bis die Community uns kontaktiert. Passiert nichts, fahren wir weiter. Kein unnötiges Risiko, keine Missverständnisse wie in Nydda.« Er schauderte noch in der Erinnerung. Matthew blickte kurz zu Aruula. Die nickte stumm. Der direkte Weg entsprach ihrem Naturell. »Dann sind wir uns einig, Mr. Black.« Ein seltener Zustand, denn oft prallten die beiden Führungspersönlichkeiten aufeinander und verzettelten sich in unnütze Dispute. Matt fuhr den ARET an, direkt auf die Stadt zu. Allmählich endete die ländliche Idylle. Die riesigen Tofanenfelder machten den gewohnten staubigen Ruinenwüsten Platz, die nur allmählich von kräftig grüner Vegetation überwachsen wurden.
Doch auch die Ruinenwüste brach abrupt am Ufer eines breiten Flusses ab, der in früheren Zeiten Wisla – oder Weichsel – geheißen hatte. Eine einzige Brücke war zu sehen. Rostig rot gleißte sie in der Sonne, mit mächtigen Stahlseilen an zwei Betonträgern vertrosst. Sie schien in gutem Zustand zu sein. »Sollen wir's riskieren?«, fragte Mr. Black, der sich eine elendiglich miefende Zigarre aus russischen Bunkerbeständen in den Mundwinkel geschoben hatte. Auch so ein »Erbe« seines genetischen Vaters. Matt nickte zögernd, und ruckend fuhr der ARET an. Der russische Expeditionspanzer mit der unsäglichen Bezeichnung Avtarkitsheskji Russkji Ekspeditionnji Tank besaß zwar eine Leichtmetall-Verbundpanzerung, die für seine Länge von fünfzehn Metern ein vergleichsweise geringes Gewicht hatte. Dennoch war die Überquerung der Brücke ein erhebliches Risiko. Am Fuße der Brücke sammelten sich Landbewohner, die aus allen Himmelsrichtungen herbeiströmten, um den einzigen östlichen Zugang zur Stadt passieren zu dürfen. Geschrei und Gefluche waren noch über das leise Wummern des ARET hinweg zu hören, doch als sich der Tank näherte, verstummten alle Gespräche. Ehrfürchtig wichen die meist ärmlich gekleideten Menschen zurück und zogen mit ihren Fingern Kreise in der Luft. Große Kreise, kleine Kreise, eckige und runde Kreise. Ein Wort war aus dem entstehenden leisen Getuschel zu verstehen, das wie »Jonpoola« klang. Plötzlich tönte eine autoritäre, befehlsgewohnte Stimme über den Menschenauflauf. Ein Mann, Gesicht und Hände schmutzig vom Staub, bahnte sich seinen Weg zur Fahrerkabine des ARET. Er brüllte etwas, das Matt für sich als Neu-Polnisch bezeichnete, wobei es von sch's, ch's und tsch's nur so wimmelte. Matt wunderte sich, dass dem Burschen mit
dem ungepflegten Schnauzbart dabei nicht die letzten drei sichtbaren Zähne aus dem Maul flogen. Er öffnete die Seitenluke des ARET einen Spalt. »Stop! Visaa!«, zeterte der Mann und fuchtelte mit seiner verrosteten Schrotflinte herum, dass einem Angst und Bange wurde. Es bedurfte nicht des Translators, um zu verstehen, was er wollte. Leiser fügte der Grenzer hinzu: »Fuusilij?« »Fuusilij?«, wiederholte Matthew. Er und Mr. Black sahen erst sich, dann den Übersetzerkasten fragend an. Aber das Gerät blieb stumm. »Fuusilij! Glugglug!«, schrie der Schnauzbärtige mit rot werdendem Gesicht. »Umgangssprache!«, erkannte Matt. »Er meint Fusel! Schnaps!« Er wandte sich an Mr. Black. »Haben wir noch Voodka an Bord?« »Nicht mehr allzu viel«, antwortete der Running Man und stieß eine Rauchwolke aus. »Ich hab damit meine Füße behandelt. Das Zeug wirkt sehr entspannend.« »Kratzen wir zusammen, was wir noch haben, und geben es dem freundlichen Herrn da draußen«, sagte Matt. Er stieg durch die Schleuse nach hinten in den zweiten Fahrzeugteil, das Labor. Er fand zwei geschlossene, milchigweiße Flaschen, deren Korken schon ziemlich angeätzt wirkten, und kletterte wieder nach vorne, wo Aruula mittlerweile mit bösem Blick nach draußen starrte. Ihre rechte Hand umklammerte fest den Schwertgriff. Kein Wunder: Der ungepflegte Kerl starrte sie lüstern an. Bevor Schlimmeres passieren konnte, reichte Matt die Flaschen durch den Spalt der Luke. Der Schnauzbärtige schulterte seine Flinte und nahm sie in Empfang. Mit einem letzten bedauernden Blick auf Aruula öffnete er einer der Flaschen und nahm einen kräftigen Schluck.
»Skal!«, jubilierte er dann, während die Tränen aus seinen Augen schossen. Er zeigte ein bewunderndes, zahnloses Grinsen, rülpste laut und kurbelte eine monumentale Alarmsirene an. Ein abscheuliches, auf- und abtönendes Jaulen erklang. Blitzartig leerte sich die mehr als einhundert Meter lange Brücke. Binnen dreißig Sekunden war kein Mensch mehr zu sehen. Der Grenzer zeichnete das mysteriöse Kreissymbol in die Luft, klopfte zwei Mal liebevoll auf die Panzerung des Wagens, rief »Jonpoola!« und winkte sie energisch vorwärts. Holpernd setzte sich der ARET in Bewegung, die kurze und steile Anfahrtsrampe hinauf. Im Schritttempo lenkte Black, der im Fahrersitz Platz genommen hatte, den Panzer auf die Brücke. Sie bestand aus Hunderten miteinander verschraubten Stahlplatten, die auf einem bröckeligen Betonfundament lagen und durch mehrere Stahlseile zusätzlich entlastet wurden. Mr. Black pfiff durch die Zahne. »Das Ding hält tatsächlich. Die Seile spannen sich zwar und die Platten drücken durch – aber die Brücke hält.« »Freuen wir uns nicht zu früh. Ich höre erst zu beten auf, wenn wir drüben sind«, murmelte Matt angespannt. Aber Black sollte Recht behalten. Sie erreichten die andere Seite der Brücke ohne Probleme. Wenn es ums Improvisieren ging, waren die Neu-Polen anscheinend ebenso meisterhaft wie ihre Vorfahren. * »Sollen wir eine ... Kontaktaufnahme riskieren?«, fragte der große bleiche Mann mit dem nervösen Augenzucken seinen Adjutanten. »Ich denke schon«, antwortete dieser wortkarg und putzte sich ein imaginäres Staubkörnchen von der Schulter.
»Gut. Verständigen Sie den Solnosc. Es läuft alles wie für solch einen Fall besprochen. Haben wir uns verstanden?« »Zu Befehl.«
3. In der großen Stadt Die Uliza Solnosc, wie die Straße in lateinischen Buchstaben beschildert war, bot genügend Raum zum Manövrieren für den drei Meter breiten Expeditionspanzer. Das Staunen der Warschauer Bürger war groß, aber nicht so, wie es die drei Reisenden erwartet hatten. Überall wurden die rätselhaften Kreissymbole in die Luft gezeichnet, doch dann drehten sich die Waarzaner um und gingen ihren Tagesgeschäften nach. Das Stadtleben war für die Verhältnisse, an die sich Matt mittlerweile gewöhnt hatte, mehr als intakt. Natürlich waren fast alle hier bewaffnet, doch das war in diesen postapokalyptischen Tagen nicht verwunderlich. »Jetzt nach rechts, Mr. Black!«, sagte Matt. »Diese Straße dürfte ins Zentrum führen.« Der Führer der Running Man zögerte kurz, nur um zu beweisen, dass er kein gewöhnlicher Befehlsempfänger war, und lenkte dann in die angegebene Richtung. Es wurde enger. Die niedrigen Häuser, ein Überbleibsel der historischen Substanz, rückten näher. Links und rechts war kaum mehr als eine Handbreit Raum, als sie die schmalste Stelle passiert hatten und vor einer notdürftig gedeckten Kathedrale zum Stehen kamen. Dahinter öffnete sich ein weiter Platz mit vielen Menschen.
Dass Mr. Black stoppte, hatte einen Grund – in Form eines rauchenden, stinkenden Monstrums mit metallener Ramme, von der eine unbedarft gemalte Teufelsfigur herabgrinste. Die Ramme zielte genau gegen die Frontschnauze des ARET. »Festhalten!«, schrie Mr. Black und trat das Gaspedal wieder durch. Gleichzeitig schlug er das Lenkrad kräftig ein, sodass das Fahrzeug einen heftigen Satz nach rechts machte. Im nächsten Moment knallte die Teufelsfratze in die Flanke des ARET, zwischen die zweite und dritte Achse. Die Wucht des Angriffs ließ die Wandung des Expeditionspanzers wie eine dumpfe Glocke tönen und den Wagen fast einen Meter zur Seite rucken. Der Motor erstarb. Aruula und Matt purzelten übereinander, während sich Mr. Black am Lenkrad festklammerte. Dann herrschte Ruhe, nur unterbrochen vom leisen Zischen der Kühlaggregate. Black nutzte die Schrecksekunde, betätigte den Lukenöffner und sprang hinaus. Als er auf der Straße landete, hatte er schon den Driller in der Hand, nahm breitbeinig Aufstellung und zielte auf das Frontfenster des monströsen Fahrzeugs, dessen Motor ebenfalls verstummt war. »Raus da!«, brüllte er. »Mit erhobenen Händen!« Aruula und Matthew rappelten sich mühsam hoch, sammelten Driller und Schwert ein und folgten Mr. Black. Die wenigen Bürger, die den Zusammenstoß beachtet hatten, ignorierten die Auseinandersetzung und gingen unbeeindruckt ihres Weges. Eine angsterfüllte Stimme erklang aus dem Inneren des anderen Wagens: »Was will der? Wo is der Solnosc? Der Typ macht uns die Karr kaputt!« Matt stutzte. Obwohl der Translator im ARET verblieben war, konnte er die Stimme verstehen! »Der Bursche spricht Deutsch!«, verkündete er verblüfft. Und wandte sich nun selbst mit lauter Stimme an die fremde Besatzung: »Raus mit euch!«, rief er im gleichen Idiom. »Und keine Sperenzchen! Wir
wollen mit euch reden!« Bei »Sperenzchen« musste er grinsen. Einige Slangausdrücke waren ihm tatsächlich im Gedächtnis haften geblieben. Er hatte die deutsche Sprache auf seiner langjährigen Stationierung in Berlin fast akzentfrei gelernt; nur in den letzten Jahren war es etwas eingerostet. »Wir komm schon, mach nich son Wind!«, erklang wieder die dünne Stimme, diesmal etwas mutiger. Eine Flügeltüre des Fahrzeugs mit der Ramme schwang quietschend nach oben. Ein kleines Männlein, dürr und mit schmalem Mausgesicht, trat heraus, gefolgt von einem monströsen Weib, das seinen Körper nahezu komplett mit Tüchern umwickelt hatte. Nur die Augen blieben frei. »Hier simmer! Was soll da Ärger? Wir ham uns an die Regeln gehalten«, empörte sich die Jammergestalt. »Bis zwölf Stunden vorm GePe is alles erlaubt. Un dann sowieso. Nichwaa, meine Henne?« Die Frau nickte. »Du vestehst mich doch, Blonder?« Matt nickte, während er noch versuchte, mit der grauenhaften Aussprache klarzukommen. »Alls in Ordnung bei euch?«, fuhr Mausgesicht fort. »War nix Persönliches, aber hier faan zu viele Gegner rum. Wolln schließlich gewinn. Nichwaa, meine Henne?« Er wartete das Nicken seines Weibes nicht ab und plapperte weiter: »Ihr kennt die Regeln nich, wa? Macht nix! Is schnell erklärt ...« Dazu sollte er nicht mehr kommen. Plötzlich tauchten zwei große hagere Männer mit dunklen Sonnenbrillen auf. Matt und Black verständigten sich mit Blicken, die Waffen vorerst nicht einzusetzen. Diese Art von Aufmerksamkeit lag nicht in ihrem Interesse. Erst einmal wollten sie hören, was die Herren zu sagen hatten. Um Angehörige einer Bunkergemeinschaft handelte es sich ganz offensichtlich nicht. Irgendwas war hier in Warschau im Gange, und es konnte nicht schaden herausfinden, was das war.
Einer der beiden Brillenträger sprach Matt in der Landessprache an. Der Amerikaner bemühte sich redlich, ihn zu verstehen, doch ohne Translator scheiterte er kläglich. Daraufhin bedeuteten ihm die Männer energisch, ihnen zu folgen. Matt blickte ratlos zu Aruula und Mr. Black. »Was denn?«, fiel Mausgesicht ein. »Will beim GePe mitfaan und vasteht kein Poolisch? Passma auf, Blonder, der Solnosc, der Chef vons Ganzen, will euch sehn. Is 'ne große Ehre. Ich machn Vorschlag: Ich und meine Henne komm mit und übasetzen dir, und du und dein Freund vergessn den klein Unfall. Okee?« Matt überlegte kurz. Natürlich wäre es am einfachsten gewesen, einen der Translatoren mitzunehmen, die Moskau ihnen überlassen hatte – andererseits hatte er mit dem schwindsüchtigen Deutschen und seiner Matrone zwei Ortsund Regelkundige an der Hand, die ihm bei Verhandlungen noch nützlich sein konnten. Manchmal war es einfach besser, sich unwissend zu stellen; das ließ mehr Raum zum Improvisieren. Und auch Aruula musste dabei sein. Mit ihren telepathischen Fähigkeiten – die sie selbst als Lauschen bezeichnete – wäre sie eine wertvolle Hilfe, um festzustellen, ob sein Gegenüber es ehrlich meinte. Matthew übersetzte, was der kleine Deutsche gesagt hatte, während die beiden Männer mit den Sonnenbrillen ungeduldig wurden. Sie waren es sichtlich nicht gewohnt, dass man sie warten ließ. »Sie bleiben am besten hier, Mr. Black«, schloss Matt. »Ich denke, dass wir bereits genug Aufsehen erregt haben. Wenn die hiesigen Bunkerleute auftauchen, sollte jemand beim ARET sein und die Gespräche aufnehmen. Aruula und ich werden diesem Solnosc einen Besuch abstatten.«
Black nickte knapp. Matt hatte sich schon gedacht, dass der Running Man diesen Part gern übernehmen würde; so konnte er sich gleich ins rechte Licht setzen. »Okee, so machen wir's.« Matt bedeutete dem kleinen Mann aus »Doyzland«, die man es jetzt nannte, und seiner Walküre, sich ihm anzuschließen. Aruula ging hinter den dreien her, das Schwert noch immer in der Rechten. Matt drehte sich zu ihr um und grinste. »Wäre es dir Recht, wenn ich dich auch ›meine Henne‹ nenne?«, fragte er. »Wenn dir deine Männlichkeit was wert ist, dann denk nicht einmal dran«, kam die unterkühlte Antwort. * Das Mausgesicht hieß Jeens und plapperte unaufhörlich unnötiges Zeugs in einem schrecklichen Deutsch. Mara, seine Henne, schwieg die ganze Zeit. »Diese Frau ist irgendwie sonderbar«, sagte Aruula in einem unbeobachteten Augenblick. »Sie denkt in ganz anderen Bahnen als du und ich.« »Ist sie gefährlich?«, flüsterte Matt zurück. »Nein. Zumindest glaube ich das nicht.« An den dicht an dicht stehenden Häusern brach sich immer wieder das Echo von aufheulenden Motoren. Da und dort hing der dunkle Hauch eines Ölnebels in der Luft. Der Deutsche hatte von einem »GePe« gesprochen, das hier stattfinden sollte. Ein Rennen? Versammelten sich in Warschau Fahrer aus der weiten Umgebung, um daran teilzunehmen? Wenn das stimmte, war die Chance, dass der ARET von der hiesigen Community entdeckt wurde, wohl doch nicht so groß. Nicht unter Dutzenden ähnlicher Karossen, die sich in der Stadt auf das Rennen vorbereiteten. Als die sechs Menschen hinter der dachlosen, im altgotischen Stil errichteten Kirche zu einem verfallenen Schlossbau
abbogen, ertönte ein dumpfer Explosionsknall. Da ihre Begleiter aber völlig unbeeindruckt blieben, tippte Matt auf eine Fehlzündung. »... der Solnosc is der Führer hier in Waarza, und alle folgn ihm ... fast alle. Nichwa, meine Henne?«, redete Jeens munter weiter. Dann wurde er abrupt um zwei Oktaven leiser. »Un jetzt müssmer ruhig sein. Der Solnosc mags nich, wenn zu viel geplappert wird.« Matt hob dankend den Blick zum Himmel. Zwei Wachen in zerschlissenen Uniformen standen links und rechts eines monumentalen Portals. Sie ließen die kleine Gruppe nach einem kurzen Kontrollblick passieren. Lediglich Aruula wurde näher in Augenschein genommen – aus ganz offensichtlichen Gründen. Dass die Barbarin dabei nicht angetatscht wurde, war auch alles. Sie beherrschte sich meisterhaft; die Wachen kamen unverletzt davon. Es ging durch einen verwilderten Garten, der hauptsächlich mit riesenhaften, blutrot getupften Rosensträuchern bewachsen war, die betörend dufteten. Zwei Statuen und mehrere granitene Büsten waren fast vollends von Dornenranken überdeckt und gaben dem Hof den Anschein eines verwunschenen Märchengartens. Die sommerliche Sonne stand hoch am Himmel und heizte die stehende Luft auf. Die Gebäudetrakte links und rechts von ihnen schienen weitestgehend zerstört, doch das wuchtige, zweistöckige Hauptgebäude vor ihnen war in gutem Zustand. Klirr!, machte es, und eine Flasche, die durch ein Fenster im ersten Stock geflogen kam, zerbarst vor ihren Füßen. Unbeeindruckt stiegen die beiden bebrillten Männer über die Scherben. »Ich glaub, der Solnosc hat heut gute Laune, nichwa, meine Henne?«, flüsterte Jeens ehrfürchtig. »Hat nich mal auf die Köpf von seine Wache gezielt.«
Es ging marmorne Treppen hoch, dann durch hallende Gänge, von deren Decken der feuchte Verputz bröckelte. Eine schroffe, heisere Stimme erklang hinter einer schweren Pforte. Wieder standen zwei Wachen davor. Mara, Jeens, Matt und Aruula wurden erneut untersucht. Die Barbarin musste ihr Schwert abgeben, Matt seinen Driller. Beiden war nicht wohl dabei, aber es ließ sich nicht vermeiden. Welcher Fürst ließ schon bewaffnete Fremde an sich heran? Matt sicherte den Driller sorgfältig, bevor er ihn den Wachen übergab. Die Pforte öffnete sich. Ein kleiner rundlicher Mann saß in einem wuchtigen Sessel. Er hatte die Beine leger auf den Eichentisch vor sich gelegt. Glänzende wache Schweinsäuglein blickten unter einer wirren Haar- und Barttracht hervor. Der Solnosc rülpste ungeniert zur Begrüßung und strich sich eine fettige Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann begann er mit sonorer Stimme eine mehrminütige Ansprache, von der Matthew kein einziges Wort verstand. Fragend sah er Jeens an. »S'is alles okee«, übersetzte der Deutsche zwanglos. »Herzlich Willkomm und so, bau mit deim Auto kein Scheiß in Waarza, und viel Glück beim GePe. Fades Gelaber halt, wie's bei Landesfürsten so üblich is.« Der Solnosc sagte noch etwas, stand auf und blickte Matt forschend an. Er war einen knappen Kopf kleiner als der Amerikaner. Der wilde Bartwuchs machte es unmöglich, sein genaues Alter zu schätzen. Es mochte zwischen vierzig und fünfzig Jahren liegen. »Er meint, er kennt da 'nen Typen, den du unbedingt kennlernen musst. Du sollst mitkommen. Deine Schnalle, ich und meine Henne solln hier wartn.« Matthew war froh darüber, dass Aruula mit dem Begriff »Schnalle« nichts anfangen konnte. Ein Zweikampf im Zimmer des Solnosc hätte ihnen nur Schwierigkeiten eingebracht.
»Warte hier«, sagte er zu seiner Begleiterin und folgte dem poolischen Staatsoberhaupt, das soeben eine Laus aus seinem Barthaar zog und zerdrückte. Es ging durch eine Seitentür in ein getäfeltes Nebenzimmer. Die Wachen blieben respektvoll zurück und schlossen hinter ihnen ab. Der Solnosc drückte auf die Oberkante einer Holztäfelung. Leise schob sich ein Teil der Verkleidung beiseite, und eine enge, unbeleuchtete Wendeltreppe wurde sichtbar. Matt war die Sache suspekt. Was, in Orguudoos Namen, sollte er hier mit dem Solnosc? Und wer auch immer der Geheimnisvolle war, den er treffen sollte – er konnte ohnedies kein Wort verstehen! Jetzt hätte er doch einen der Translatoren brauchen können. Seufzend folgte Matt dem kleinen Mann. Es ging in die Dunkelheit hinab. Matt tastete sich an einer metallenen Wandreling entlang und orientierte sich zusätzlich am lauten Schnaufen des Solnosc. Zwei, dann drei Windungen hatten sie zurückgelegt, als sich allmählich ein Lichtschein ausbreitete. Die Treppe mündete in einen geraden Gang. Dreißig Meter voraus brannte elektrisches Licht! Matts Sinne waren plötzlich hellwach. Minutenlang ging es den Gang geradeaus, immer leicht bergab. Sie mussten längst unterhalb der Erdoberfläche sein. Da und dort tropfte Wasser von der grob behauenen Decke. Schließlich endete der Gang vor einem runden, drei Meter hohen Stahltor. Ein Mann stand davor. Er trug einen silbernen Schutzanzug mit dem aufgenähten Symbol der ehemals polnischen Souveränität: einem roten unter einem weißen Querbalken. Sein von einem zerkratzten Plastikhelm umrahmtes Gesicht war unnatürlich blass. Er hielt eine Waffe unbekannter Bauweise in der Hand. Es gab tatsächlich eine Bunkergemeinschaft im ehemaligen Warschau, und Matt hatte sie auf Anhieb gefunden.
* Mr. Black hatte Jeens' Rammfahrzeug zwischenzeitlich zur Seite geschoben und dabei seine Muskeln in der Sonne spielen lassen. Sollte bis dato irgendein Strauchdieb auf die Idee gekommen sein, in dem Hünen ein Opfer zu sehen, war er mittlerweile wohl anderer Ansicht. Der Schaden an der Seitenflanke des ARET war vergleichsweise gering. Lediglich eine leichte Delle und abgeprellter Lack kündeten von dem Unfall. Mr. Black knurrte zufrieden, zündete die inzwischen erloschene Zigarre neu an und lehnte sich lässig gegen die Seitenluke. Geschäftige Menschen in einfachen, aber guten Gewändern füllten nach und nach die Straßen. Händler boten an Ständen in der Mitte des großen Platzes lautstark ihre Waren feil. Obst und Gemüse gab es da, Lederwaren, Schuhe und Haushaltsgüter. In der Auslage eines kleinen Geschäftes sah Black sogar eine kleine Auswahl an Büchern! Der Wohlstand in Waarza war weitaus größer als in den meisten Ländern, die der Running Man bislang bereist hatte. Ein motorisiertes Fahrzeug quetschte sich zwischen den eng stehenden Ständen hindurch und hinterließ eine rußige und schweflige Wolke. Saftige Flüche begleiteten das ... Ding. Mr. Black fehlten die Worte, die es beschreiben konnten. »Dagegen ist ein Basilisk geradezu überirdisch schön«, brummte er. Die eckige, verrostete Schnauze stammte ganz offensichtlich von einem Jahrhunderte alten Geländewagen. Darauf war der Lauf eines schweren Geschützes angebracht, der bedrohlich hin und her schwenkte. Als Kimme diente ein silberner MercedesStern. Unterschiedlich lange Stahlspitzen waren durch die Frontbleche getrieben worden und ragten gefährlich seitwärts über.
Der Mittelteil des Fahrzeugs sah aus wie ein bunter Flickenteppich. Die einzelnen Teile klapperten, schepperten und rieben aneinander. Sie waren nur ein oder zwei Mal pro Platte verschraubt und bewegten sich hin und her, wie die Teile eines überdimensionalen Schuppenpanzers. Fenster oder Einstieg waren nicht zu erkennen. Dahinter thronte etwas, das für Mr. Black wie ein kleiner Getreidesilo aussah. Aus einem Ofenrohr, das darüber aufragte, drang jener schwere Rauch, der den Marktplatz langsam verdunkelte. Und nicht nur aus dem Rohr krochen schwärzliche Schwaden. Der offensichtlich mit Kohle befeuerte Antriebsteil leckte an allen Ecken und Enden. Eine gewaltige Fehlzündung, so laut wie ein Kanonenböller, versetzte die Menschen auf dem Marktplatz endgültig in Aufruhr, und Mr. Blacks Hand fuhr instinktiv zum Driller. Eine Wolke, schwarz wie die Sünde, folgte und verdunkelte die Sonne vollends. Ein homerisches Gelächter ertönte aus dem Fahrzeuginneren, und schließlich der Schrei: »Jonpoola!« Dann war der Zauber vorbei. * Drei weitere Fahrzeuge waren über den Marktplatz gerumpelt, bevor Matthew Drax, Aruula und die beiden Deutschen zurückkehrten: ein Yakk-Sechsspänner, dessen wilde Tiere kaum zu zügeln waren, ein leise schnurrendes Elektrofahrzeug, das die Form eines Eies hatte und unbestimmte Bedrohlichkeit ausstrahlte, und eine kastenförmige Zugmaschine, voll gepanzert und – dem Geruch nach – offensichtlich mit Alkohol betrieben. Die austretenden Dämpfe des Antriebs lockten eine ganze Schar Menschen hinter sich her, sodass die Straßenhändler, die ihre Felle davonschwimmen sahen, noch lauter als sonst fluchten.
»Wie der Rattenfänger von Hameln!«, grinste Matt, als er zu Mr. Black trat. »Wie bitte?« »Nur ein Vergleich mit der ... alten Zeit«, sagte der Pilot wehmütig. Mühsam brachte er seine Gedanken zurück in die Gegenwart. »Ich hatte Kontakt mit einem Mitglied der Community von Waarza.« »Das ging aber rasch!« Mr. Black kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Der Solnosc agiert als Verbindungsmann. Ich konnte mit Händen und Füßen einen ersten Kontakt herstellen. Näheres werden wir wohl diese Nacht erfahren. Wir sind für heute offizielle Gäste des poolischen ... hm ... Präsidenten und sollen den ARET in den Hof seines Palastes bringen.« »Hatten Sie den Eindruck, dass man den Typen trauen kann?« Bei allem, was ihnen auf dem Weg hierher widerfahren war, hatten sie allen Grund, einer Community gegenüber misstrauisch zu sein. Aber das gehörte zum Risiko, wenn sie eine Allianz gegen die Daa'muren schmieden wollten. Matt verzog das Gesicht. »Sie haben mich nicht gleich gelyncht, das ist doch schon mal ein Anfang«, meinte er sarkastisch. »Heute Nacht sehen wir weiter ...«
4. Im Bunker Sie parkten den ARET in dem »verwunschenen Garten« innerhalb der Schlossmauern und gingen zu Fuß weiter. Das Königsschloss, wie es auch mehr als fünfhundert Jahre nach Kristofluu noch genannt wurde, war Heimstätte des Sejms, des poolischen Parlaments.
Natürlich war dies eine Farce, denn die Macht der Regierungsgewalt reichte kaum bis über die Stadtgrenzen Waarzas hinaus. Die meist Bürger und »Abgeordneten«, die hier lautstark über Regelungen diskutierten, die hauptsächlich ihnen selbst zum Nutzen gereichten, waren bessere Straßenräuber. Dennoch war es dieser gewisse Hauch von Normalität, der Matt faszinierte. »Improvisirn, das hamse immer schon können, die Poolen«, meinte Jeens dazu. »Ausm Wagenheber 'ne Kurbelwelle schnitzen und aus 'nem Fahrrad 'n Trecker.« Matt konnte nicht umhin, beeindruckt zu sein. Die Poolen hatten sich in bewundernswerter Weise durch die dunklen Jahrhunderte gewurstelt und dennoch eine Form der Ordnung aufrechterhalten. Das war mehr als die meisten Völker Europas vollbracht hatten. Die heutige Sitzung des Sejms artete zu Ehren der Gäste in ein fürchterliches Trinkgelage aus. Noch fürchterlicherer als sonst, wusste Jeens zu berichten, der ebenfalls zugegen war. Dabei hätten die drei Gefährten seine Dienste gar nicht mehr benötigt; jeder von ihnen trug mittlerweile einen UniversalTranslator am Gürtel. »Ich komm ausm miesen Nest nahe bei Stedtl, jawohl«, lallte der Deutsche, »'s gibt 'n Haufen Menschen im Land, mindestens hunnert... hunnerttausend. Groß Städte, klein Städte. Kraka, Posna, Dansk, Breslaa, Kungsberch, Blin und Lodsch, jawohl! Verteufelt viel Menschen, is verdammt noch mal fast kein Platz mehr im Land. Un in allen Städten leben Poolen. Poolen wie ich. Burps! Na ja, eigentlich gehör ich nich dazu, bin ein Le... Lechio... Lechionär. Aber wenn ich Jonpoola werd, dann gehört Poolen mir, jawohl! Nichwa, meine Henne?« Jonpoola ... diesen Begriff hatte Matthew schon mehrmals gehört. Er sah sich um. Aruula saß rechts neben ihm und nippte an einem Humpen gegorenen Brabeelensafts. Mr. Black hockte
zu seiner Linken, griff sich ab und zu einen kleinen Happen gebratenen Fleisches und blickte ansonsten nur verächtlich in die Runde, die aus vielleicht fünfzig Männern und Frauen bestand. Er war kein Freund von Disziplinlosigkeit und Völlerei. Der riesige, durch kunstvolle Holzintarsien und Schnitzereien geprägte Sejm-Saal verwandelte sich langsam in ein Tollhaus, proportional zur vertilgten Menge Alkohol. »Jonpoola – was ist das?«, fragte Matt den Deutschen. »Das weißunich? Wo kommste her? Ausm sagenhaftn Meeraka, von hinter den sieben Bergen oder wie?« Jeens spuckte den Knorpel eines gebratenen Flügels aus und stach das Essmesser energisch in den zierlichen Tisch vor ihm, ein hochglanzpoliertes Prunkstück des französischen Rokoko. Matt zuckte zusammen. »Der was den GePe gewinnt, wird neuer Jonpoola, un damit hater Waarza und die andern Städte in der Tasche.« Jeens zeichnete mit fettigen Fingern einen wackeligen Kreis in die Luft. »Und der GePe is ...« Matthew hatte keine Ohren mehr für den Betrunkenen, denn Mr. Black tippte ihm und Aruula auf die Schultern. Gegenüber, vielleicht zehn Meter entfernt, gab ihnen der erstaunlich nüchterne Solnosc ein Zeichen, ihm zu folgen. Matt schlug Jeens ermutigend auf den Rücken, und der erzählte weiter, ohne zu merken, dass sich die drei Gäste unauffällig vom Gelage entfernten. Erholsame Ruhe umgab sie in einem Nebenzimmer. Sie folgten ihrem Gastgeber, der sie immer weiter weg von der politischen Tagung führte. Nach kurzer Zeit gelangten sie in den bereits bekannten, holzgetäfelten Raum mit dem geheimen Abgang. Der Solnosc drückte Matt eine rußige Fackel in die Hand, entzündete sie und murmelte etwas, das wohl »Viel Glück« heißen sollte.
Der Pilot schritt vorsichtig die Treppe hinab, die anderen beiden folgten ihm. Gleich darauf erlosch hinter und über ihnen der matte Lichtschein. * Die zweite Kontaktaufnahme mit den Bunkerleuten gestaltete sich dank der Translatoren mühelos. Nicht, dass die drei ausgemergelten und blassen Gestalten mit den grimmigen Gesichtern viel gesagt hätten. In ihre luftdichten Anzüge verpackt, eskortierten sie Matt, Aruula und Mr. Black durch menschenleere, klinisch saubere Gänge, die von kalt strahlenden Neonröhren ausgeleuchtet wurden. Die Gefährten wurden in eine Art Schleuse geführt und aufgefordert, ihre Waffen in Plexiglasbehälter zu legen. Mr. Black wollte sich zunächst nicht fügen, sah dann aber ein, dass ein Mindestmaß an Diplomatie nicht schaden konnte. Ihre drei Begleiter spielten weiterhin die großen Schweiger und unterzogen die drei wortlos einer gründlichen Dekontaminierung. Nach einem kräftigen Wasserstrahl wurden sie mit flüssigem – und stinkendem – Desinfektionsmittel besprüht. Jetzt war es Aruula, die allmählich die Geduld verlor. »Wofür halten die uns?!«, blaffte sie. »Für Vieh?« »Bleib cool«, besänftige Matthew seine Gefährtin. »Die Bunkerleute müssen sich vor Bakterien und Viren schützen. Du weißt schon, diese kleinen Tierchen, die in unseren Körpern leben.« »Ja, ja, schon klar. Aber müssen sie sie unbedingt mit diesem stinkenden Zeug in die Flucht schlagen?« Matt seufzte innerlich, während Mr. Black verhalten grinste. Endlich kam die mühselige Prozedur zu einem Ende. Wenige Momente später traten zwei weitere Männer in Schutzanzügen durch die Schleuse. Der eine war groß und hager, mit tiefen
und rot geäderten Narben, die seine Wangen durchzogen. Der andere war klein und dicklich. Er hielt die Lippen zu zwei schmalen Streifen zusammengepresst. Beide hatten nur wenige dünne Haarsträhnen auf den Köpfen. »Ich habe gehört, Sie sprechen Deutsch?«, fragte der größere der beiden, und Matt nickte. »Sie können sich aber auch gern in Poolisch mit uns unterhalten«, sagte er gleichzeitig in seiner Muttersprache – und nur wenige Sekunden später kam die Übersetzung aus dem kleinen Metallkasten, den er am Gürtel trug. Die Technos waren verblüfft; offensichtlich hatten sie diese Erfindung der Bunkerliga noch nie gesehen. »Das ist ja ganz erstaunlich«, sagte der Narbige, und der Translator übersetzte in lupenreines Englisch. »Ein Geschenk der Russischen Bunkerliga«, erklärte Matt. »Wir können Ihnen gern ein Gerät zum Nachbau überlassen. Aber das ist nicht das einzige Geschenk, das wir Ihnen bringen – und bestimmt nicht das Wichtigste.« Der Narbige zog die Augenbrauen hoch – zumindest hätte er es getan, wenn er Brauen gehabt hätte. »Ich bin General Andrzej Koslowski, der Leiter dieser Bunkerkolonie, und dies ist mein Adjutant, Major Igor Kubica«, stellte er sich und seinen Begleiter vor. »Ich merke, man hat uns nicht zu viel versprochen, Genosse ... äh ...« »Drax. Commander Matthew Drax«, half Matt aus. »Meine Begleiterin hier heißt Aruula, und dieser Gentleman«, er wies auf Black, »ist der Präsident der amerikanischen Untergrundregierung, Mr. Black.« Die Technos waren beeindruckt. »Es ist schon einige hundert Jahre her, seit unsere Vorfahren letztmalig Kontakt zu intelligenten Menschen hatten«, sagte General Koslowski nicht ohne eine Spur von Bitterkeit. »Ich freue mich aufrichtig, dass ...« Er stockte und schwankte leicht, wollte sich an die Schläfe greifen. Doch die Helmschale war ihm im Weg.
Dem Techno war sichtlich schwindlig, und er tastete sich mit zitternden Fingern vorwärts zu einem Plastikstuhl. Der Adjutant nahm die Schwäche seines Vorgesetzten regungslos zur Kenntnis. Er räusperte sich lediglich. General Koslowski ließ sich in den Stuhl fallen und stützte den schwer gewordenen Kopf zwischen seine Hände. »Entschuldigen Sie, die Aufregung ... Es gibt Tausende Fragen, die wir an Sie haben, wie Sie sich wohl vorstellen können. Doch sagen Sie mir zuerst nur eines: Wie ist es, frische Luft zu atmen und den Wind auf der Haut zu spüren?« * Fünfhundert Jahre Isolation, fünfhundert Jahre sterile Sauberkeit in einer unterirdischen Betonwüste. Endlose, erdrückende Gänge, winzige, nüchtern ausgestattete Zimmereinheiten. Immer dieselben Wege, die zurückzulegen waren. Tausendfach gesiebte, antiseptisch riechende Luft. Permanent brummende Ventilatoren. Immer die gleichen wenigen Gesichter. Klaustrophobie, Schizophrenie, Paranoia, Pigmentstörungen und Haarausfall waren noch die harmloseren Folgen der endlosen Isolation. Eine deutliche Immunschwäche gegen jedwede Form von Krankheitserregern die schlimmeren. Die Bunkermenschen hatten zwar das vermeintliche Ende der Zivilisation im Jahre 2012 unterirdisch überstanden. Doch ihr Fluch nach fünfhundert Jahren hieß, nie wieder frische Luft atmen zu dürfen. Sie liefen sonst Gefahr, binnen weniger Minuten an der kleinsten Infektion elendiglich zugrunde zu gehen. »... und deshalb sind wir hier. Wir bieten Ihnen ein Serum an, mit dem Sie Ihr Immunsystem regenerieren und den Bunker verlassen können«, schloss Matthew Drax. Schweigen war die Folge.
Ungläubiges Schweigen. Matt spürte förmlich die Mischung aus banger Hoffnung und Misstrauen, das ihm die beiden Männer entgegenbrachten. Der Adjutant, Major Kubica, schien eine Wand aus Kälte zwischen sich und den drei Reisenden aufzubauen. »Sie reden von einem Angebot, Commander Drax«, entgegnete Koslowski mit mühsam unterdrückter Erregung. »Die Handelsbeziehungen zu den Primitiven auf der Oberfläche haben uns gelehrt, dass man heutzutage nichts umsonst bekommt. Wir müssen froh sein, im derzeitigen Solnosc einen halbwegs vernünftigen Menschen gefunden zu haben, der uns zumindest nicht über die Maßen betrügt. Darum sind wir bemüht, ihn in diesem Intrigentheater, dem Sejm, an der Macht zu halten. Er beliefert uns dafür mehr oder weniger regelmäßig mit notwendigen Rohstoffen und dürftigen Informationen.« Er seufzte tief. »Nun kommen Sie und bieten uns an, diesem unwürdigen Dahinvegetieren im Bunker ein Ende zu bereiten. Doch was ist der Preis für Ihre Hilfe, Commander?« Matthew Drax war bestürzt vom Fatalismus, der aus Koslowskis Worten sprach. Was mussten diese Menschen durchgemacht haben in ihrer selbstgewählten Isolation? Er zögerte so lange mit einer Antwort, dass Mr. Black an seiner Stelle das Wort ergriff. »Der Preis beträgt nicht weniger als die Bereitschaft, für den Rest der Menschheit zu kämpfen, General«, sagte er mit fester Stimme. »Und notfalls für sie zu sterben.« Nach diesen Worten herrschte atemlose Stille. »Erklären Sie mir das«, bat Andrzej Koslowski dann. Und das taten sie. Gemeinsam. Besonders Aruulas Beschreibung der Mutanten vom Kratersee fiel äußerst bildhaft aus, sodass nicht nur den Technos ein Schauer über den Rücken lief. Mr. Black konnte es sich natürlich wieder nicht verkneifen, auf den Weltrat in Washington einzugehen und
dessen Machenschaften ebenso deutlich hervorzuheben, wie es Matt mit der Bedrohung durch die Außerirdischen tat. »... sie nennen sich selbst Daa'muren und sind als körperlose Wesen in grün schimmernden Kristallen mit dem Kometen zur Erde gelangt«, schloss Matt. »So weit wir in Erfahrung bringen konnten, wollen sie in eine durch unzählige Mutationen gezüchtete Rasse schlüpfen und die Erde für diese Spezies urbar machen. Menschen haben in diesen Plänen keinen Platz. Wenn wir uns ihnen nicht frühzeitig entgegen stellen, wird es, so fürchte ich, auf die totale Vernichtung der Menschheit hinauslaufen.« Danach herrschte wieder Stille. Der Bunkerchef und sein Begleiter waren mit der Situation offensichtlich überfordert. Sie benötigten wohl mehr Zeit, um die Informationen, die auf sie herab geprasselt waren, zu verarbeiten. »Um nochmals auf das Serum zurückzukommen ...« Es war das erste Mal, dass der Adjutant, Major Kubica, mit schnarrender Stimme das Wort ergriff. »Sie behaupten, dass die US-Regierung dadurch ihre Immunschwäche überwunden hat?« Matt wandte sich an ihn. »Wie Mr. Black bereits ausführte, wuchs er im Weltrat-Bunker auf. Damals hat man ...« Matt unterbrach sich, als Mr. Black seine Schulter berührte. »Das erzähle ich wohl besser selbst«, sagte der Hüne. Matt nickte. »Der Bunker in Washington litt damals unter der gleichen Immunschwäche wie sämtliche Techno-Kolonien, die seit Jahrhunderten in Isolation leben«, setzte Black neu an. »Es dauerte lange, bis die Wissenschaftler einen Plan entwickelten, dem ich mein Leben verdanke. Sie verwendeten tiefgefrorenes Genmaterial aus dem Jahr 2017, um einen Klon zu schaffen – Gene des letzten offiziellen US-Präsidenten.«
»Und dieser Klon ... sind Siel« Kubica schien es nicht glauben zu wollen. »So ist es«, bestätigte Black. »Es gab noch einen zweiten Klon, den des damaligen Vizepräsidenten, doch Mr. White, wie man ihn nannte, kam durch die Machenschaften der WCA ums Leben ...« Für eine Sekunde schien vor Blacks innerem Auge die Vergangenheit lebendig zu werden, dann hatte er sich wieder im Griff und erklärte nüchtern: »Der Vorteil der Reproduktion war, dass Mr. White und ich genetisch den Menschen vor der Katastrophe entsprechen. Also unbelastet von der CF-Strahlung und mit voll intaktem Immunsystem. Aus unserem Blut wurde das Serum entwickelt.« »Eine kühne Behauptung, die sie wohl nicht beweisen können«, fiel ihm Kubica forsch ins Wort. »Nun«, erwiderte Matthew betont gelassen, »der Nachweis ist nicht weiter schwierig. Ich gehe davon aus, dass auch Sie über eine hochmoderne medizinisch-technische Ausstattung verfügen.« Er wartete das Nicken der beiden Soldaten nicht ab und fuhr fort: »Es reicht, wenn Ihre Ärzte Mr. Black einen halben Liter Blut abzapfen. Nach der herkömmlichen Ruhezeit von acht, neun Stunden und der Kontraktion des Blutkuchens können Sie zentrifugieren und abpipettieren.« Er grinste innerlich, als er die Fachbegriffe herunter leierte, die er sich im Moskauer Bunker angeeignet hatte. »Sie erhalten von uns zusätzlich eine Formel, mit der Sie das Serum aus dem Blut extrahieren können. Die gewonnene Menge dürfte für etwa fünfhundert Personen reichen. Bis sich das Immunsystem erholt und genügend Abwehrstoffe produziert hat, wird es natürlich einige Tage dauern. So viel Geduld werden Sie aufbringen müssen.« »Und dafür erwarten Sie ... was?«, brach es aus dem Adjutanten hervor. Der Lautsprecher des Translators verzerrte seine Stimme.
»Wie Mr. Black bereits andeutete: Unterstützung bei der wahrscheinlichen Konfrontation mit den Daa'muren. Zusammenarbeit mit allen anderen Bunkerstützpunkten weltweit. Und eine Kooperation mit den ›Barbaren‹ an der Oberfläche.« Matt blickte zu Aruula, die mit ihren telepathischen Sinnen die Stimmung im Raum erfassen konnte. »Zusammenarbeit weltweit?« General Koslowski lachte trocken auf. »Wir haben in all den Jahren nicht einmal Kontakt zu Moskau oder einer anderen Bunkerzivilisation herstellen können! Wie sollen wir da ...?« »Auch das ist kein Problem«, unterbrach ihn Mr. Black. »Wir stellen Ihnen ein Funkgerät zur Verfügung, das den Kontakt ermöglicht.« »Weltweit?«, fragte Koslowski ungläubig nach. »Es benutzt die Internationale Raumstation im Orbit als Relaisstation«, erklärte Matt. »Damit umgeht es die dicht über der Erdoberfläche liegende CF-Strahlung.« »Das Problem ist«, fügte Black hinzu, »dass die WCA dieses Gerät ursprünglich entwickelt hat und die Gespräche abhören könnte. Daher hat Moskau einen Zerhacker eingebaut, dessen Code nur den Mitgliedern der Allianz gegen die Daa'muren bekannt sein wird.« »Wird sich dieser ... Weltrat denn nicht an der Allianz beteiligen?«, fragte Major Kubica – und traf damit einen Punkt, über den sich Matt Drax schon seit längerem den Kopf zerbrach. Eigentlich war es unabdingbar, den Weltrat in die Verteidigung mit einzubeziehen. Andererseits wären Präsident Victor Hymes und General Arthur Crow die denkbar schlechtesten Verbündeten, die er sich vorstellen konnte. »Nun ... wir werden sehen«, erwiderte er deshalb zurückhaltend. Koslowski und Kubica blickten sich lange an. Dann sagte der General förmlich: »Sie haben uns mit Ihren Schilderungen und
Ihrem Appell beeindruckt. Auch wenn wir uns über die Bedrohung durch Außerirdische -«, schon wie er das Wort betonte, machte deutlich, dass er diesen Punkt ihres Berichtes wohl eher für Science Fiction hielt, »- noch näher informieren müssen.« Er stand langsam auf. »Auch um diese neue Situation unserer Bevölkerung nahezubringen, benötigen wir etwas Zeit. Fünfhundert Jahre der Isolation können nicht einfach mit ein paar Worten beiseite gewischt werden. Eine Öffnung nach oben bedeutet völlige Umstellung und Neuorientierung.« »Dafür haben wir vollstes Verständnis«, sagte Matt. »Ich bitte Sie nur, mit der Produktion des Serums unverzüglich zu beginnen. Wir wollen so bald als möglich weiter reisen.« General Koslowski blickte seinen Adjutanten an. »Dann werden wir uns jetzt mit dem Bunkerrat besprechen. Unsere medizinische Abteilung wird vorab informiert und bereitet alles vor. Bis dahin bitte ich Sie, sich als unsere Gäste zu betrachten. Man wird Ihnen ein isoliertes Quartier zuweisen, damit Sie sich auch weiterhin ohne Schutzanzüge bewegen können. Bitte warten Sie hier.« Damit war alles gesagt. Die beiden Bunker-Leute verließen nach einer militärischen Ehrenbezeugung das Labor. »Trauen Sie den Fremden?«, fragte General Koslowski seinen Adjutanten, als sich die Schleuse zum Besprechungsraum geschlossen hatte. »Er ist Amerikaner, und dieser angebliche Präsident Black ebenso. Sie wissen, was für ein ambivalentes Bild die alten Datenspeicher von diesem Volk zeichnen.« »Mag sein. Aber ich spüre Ehrlichkeit in seinen Worten, und wenn es wirklich zutrifft, was er über das Serum sagt ...« »Gute Betrüger wirken immer ehrlich.« »Was halten Sie davon, wenn wir seine Redlichkeit testen?« »Wie wollen Sie das anstellen?«, schnarrte Major Kubica. »Nun, wir bitten ihn, unser ... Problem an der Oberfläche zu lösen. Schließlich will er, dass wir uns mit den Primitiven
versöhnen, da wäre es nur recht und billig. Zwischenzeitlich können wir die Blutentnahme bei Mr. Black durchführen und mit der Herstellung des Serums beginnen.« »Selbst wenn er über das Serum die Wahrheit gesagt hat. Selbst wenn er unser Problem mit dem Jonpoola in Ordnung brächte – und auch noch überlebte –, ich traue ihm nicht über den Weg. Die Geschichtsdateien -« »Die Geschichtsdateien! Pah!« Der General seufzte tief. »Mein lieber Major, Sie sind schwergradig paranoid.« Kubica lächelte schief. »Mit Verlaub, General: Sind wir das hier unten nicht alle?«
5. Die Entscheidung Ihre Räumlichkeiten waren nüchtern und kahl, die Getränke fade und geschmacklos. Aus den Duschen drang lediglich heißer Dampf, und Matt weigerte sich darüber nachzudenken, aus was die fasrigen, rosaroten Seifen bestanden. Bei allem, was sie in ihrem von der Restbevölkerung abgetrennten Quartier taten, waren immer zwei Technos in ihren Schutzanzügen dabei. Wenigstens zogen sie sich zurück, als Nachtruhe angesagt war. Trotzdem wollte die sonst nicht gerade prüde Aruula unter diesen Bedingungen nicht zu Matt ins harte Bett schlüpfen. »Vor fünfhundert Jahren zahlten die Menschen Geld dafür, um in Bunker Eingesperrte beim Sex beobachten zu können«, flüsterte der Commander mit gespielter Entrüstung. »Das kannst du deinem großen Bruder erzählen«, zitierte die Barbarin ein Sprichwort ihrer Heimat. »Wer sich so etwas freiwillig antut, gehört an die Taratzen verfüttert.« Sprachs, drehte sich um und begann leise zu schnarchen.
Es konnten nur wenige Stunden vergangen sein, als sie durch plötzlich aufflammendes Licht aus dem Schlaf gerissen wurden. Ein Techno stellte sich in die Eingangsschleuse und schnarrte lautstark: »Los, mitkommen!« Aruula war von einer Sekunde zur nächsten wach. Sie hatte in ihren Kleidern geschlafen – also in Fellschurz und LederOberteil. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett, noch bevor die Übersetzung des Universal-Translators verklungen war, erreichte den Mann im Schutzanzug und griff ihm kräftig zwischen die Beine. Ein hoher Schmerzlaut ertönte unter dem Helm. »Ein Barbar hat bessere Manieren als du!«, zischte sie mit gefährlich leiser Stimme in der Sprache der Wandernden Völker. »Wir sind Gäste hier, und das Gastrecht ist heilig. Verstanden?« Der Mann wimmerte nur. Körperliche Schmerzen schienen ihm fremd zu sein. Aruula verstärkte den Druck noch. »Ob du verstanden hast?!« Jetzt erst hatte der Translator auf die Barbarensprache umgeschaltet und lieferte die polische Übersetzung. Dann gab er die Antwort des Technos wieder: »Ja, hohe Frau, natürlich! Es ... es tut mir Leid.« »Na also, geht doch.« Aruula ließ ihn los. »Dann sag deinen Herren, wir kommen in wenigen Minuten.« Der Mann entfernte sich mit vielen tiefen Bücklingen. Er hatte nicht den Mut, geschweige denn die Kraft, Aruula anzusehen. »War das nicht ein wenig übertrieben?«, murmelte Matthew schläfrig. Er drehte sich nochmals zur Seite. »Wehret den Anfängen«, tat Mr. Black eine Weisheit kund. »Sonst glauben die Wachen noch, dass sie es mit irgendwelchen Versuchsobjekten zu tun hätten.« Er gähnte herzhaft und schwang sich aus dem Bett. »Ahh – nichts ist so
gut wie eine harte Matratze in einem kühlen Schlafzimmer«, schwärmte er und begann mit jenem intensiven Gymnastikzirkel, den er nahezu jeden Tag pflegte. Bizeps, Trizeps und Quadrizeps hüpften vergnügt um die Wette. Aruula schenkte ihm einen anerkennenden Blick, wie Matt ärgerlich bemerkte. Er rollte weit weniger elegant aus dem Bett und absolvierte zwanzig tiefe Liegestütze. Danach blieb er keuchend auf dem Bauch liegen und verwünschte seine verletzte Eitelkeit, während Mr. Black die selbe Übung mit der linken Hand auf ausgestreckten Fingern absolvierte. Fünfzig Mal. »Hört auf, herumzualbern«, sagte Aruula grinsend. »Ich glaube, man wartet schon ungeduldig auf uns.« Sie hatte Recht. Es wurde Zeit, sich der poolischen Bunkerbevölkerung zu stellen. * »Was garantiert uns, dass dieses Serum nicht ein hinterhältiger Trick der Kapitalisten ist, um unseren Bunker zu entvölkern?«, klang eine Frage auf. Sie kam von einem hageren Bunkermann, der einer Mumie nicht unähnlich sah. Wahrscheinlich hatte er sein ganzes Leben lang sowjetische Propagandawerke aus den Zeiten des kalten Krieges konsumiert. Matt seufzte. Sollte die neue Verständigung an uralten Feindschaften scheitern? Warum mussten immer die falschen Dinge die Jahrhunderte überdauern? Er, Aruula und Mr. Black waren in einen Schleusenraum geführt worden, an dessen Längsfront eine Panzerglasscheibe den Blick in einen größeren Saal freigab. Eine Menge Leute waren dort auf einer metallenen Tribüne versammelt. Sechzig, siebzig, vielleicht auch mehr.
Das Zimmer, in dem sich Matt und seine Begleiter aufhielten, war luftdicht abgeschlossen. Die Männer, Frauen und Kinder nebenan benötigten daher keine Schutzanzüge. Sie wirkten allesamt blass, ungesund und ausgemergelt. Keine Lebenskraft schien in ihren Körpern zu stecken. Besonders die Kinder blickten stumpf und resigniert zu Boden. Sie sind bereits alt geboren, dachte Matthew schaudernd. Er antwortete mit kräftiger Stimme: »Das sind alte Ressentiments, die in der neuen Zeit keine Rolle mehr spielen!« Ein Translator, an das Lautsprechersystem angeschlossen, übertrug seine Worte in den Saal. »Wir kommen in Freundschaft und hoffen auf eine Allianz gegen eine Bedrohung von außen. Wenn Sie Zweifel haben, nehmen Sie Kontakt zur Russischen Bunkerliga auf, dort wird man meine Worte bestätigen. Die Bunker in Perm und Moskau wurden bereits mit unserem Serum versorgt.« Murmeln brandete auf, Unruhe entstand. Der Translator war überfordert; so viele Stimmen konnte er nicht übersetzen. Erregt diskutierten die Menschen miteinander und stürmten auf den General und seinen Adjutanten ein. Man konnte erkennen, dass sich zwei unterschiedlich große Gruppen bildeten. Die eine, hauptsächlich aus Männern in Uniform bestehend, argumentierte mit wenigen Worten und mit sichtbar befehlsgewohntem Ton. Die andere, meist Frauen und ältere Leute, redete weitaus weitschweifiger und hektischer auf die Soldaten ein. Es war deutlich zu sehen, wer hier das Sagen hatte – und wer die Auseinandersetzung gewinnen würde. Matt ging nach vorn zur Scheibe. Er beobachtete die Kinder, die sichtlich kaum verstanden, worüber sich die Erwachsenen so aufregten. Sie spielten ungelenk mit alten, abgegriffenen Spielsachen. Viele Verhaltensstörungen, durch die permanente Isolation verursacht, wurden offensichtlich.
Ein Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt, mit schmutzigblondem, wirren Haar, sah von ihren Bauklötzen hoch und ging auf Matthew zu. Sie legte eine Hand auf die Scheibe, und der Mann aus der Vergangenheit ging in die Hocke und machte auf seiner Seite das Gleiche. Zwei Zentimeter Glas trennten sie – und dennoch ein ganzes Universum. Das Mädchen bewegte den Mund, sagte etwas. Und ein Wunder geschah. Die heftigen Diskussionen hörten abrupt auf, und alle blickten zur Glasscheibe hin. Das Mädchen sagte wieder etwas. Leise, kaum dass sie ihre Lippen bewegte. Bewegung entstand dort, wo die Menschen am heftigsten miteinander gestritten hatten. Der alte General stieg die wenigen Stufen der Tribüne hinab, kniete sich zu dem Mädchen und redete ruhig auf es ein. Wieder murmelte sie ein paar Worte. Sie nahm währenddessen ihre kleine Hand nicht von der Scheibe. General Koslowski stand auf, blickte Matt aus wenigen Zentimetern Entfernung forschend in die Augen. Dann: »Commander Drax, meine Enkelin lässt ausrichten, dass sie mit Ihnen und Ihrer bunt bemalten Freundin im Gras und unter der Sonne spielen will.« Eine Pause entstand, in der nicht nur dem General die Tränen in die Augen stiegen. »Ich glaube schon seit langem, dass Jola mehr gesunden Menschenverstand als wir alten Narren hier besitzt. Wir sollten ihr den Wunsch erfüllen.« Jubel brandete auf, dem sich fast alle anschlossen. Lediglich eine kleine Gruppe grau gekleideter Militärs zog ein finsteres Gesicht, allen voran Major Kubica. Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, fuhr der General fort: »Wir haben allerdings noch eine Forderung ... nein, eine Bitte an Sie und ihre Begleiterin.«
Matt hockte nach wie vor am Boden und sah dem Mädchen namens Jola tief in die hellblauen Augen. Sie hatte keine Ahnung, was sie mit ihren einfachen Worten bewirkt hatte. Die Worte eines Kindes, dachte er tief beeindruckt. »Nämlich?«, fragte er in Richtung des Generals. »Es geht um den Jonpoola. Und um eine große Gefahr, die Sie für uns beseitigen könnten.« * »Der Solnosc«, erklärte General Koslowski, »ist der weltliche Führer der Poolen. Auch wenn sein direkter Machtbereich kaum über Waarza hinausgeht, so hat er doch einigen Einfluss auf hiesige Entscheidungen. Andere Stadtstaaten wie Kraka, Lodsch oder Kungsberch halten ihre Kleinreiche genauso frei von marodierenden Banden wie der Solnosc Waarza.« General Koslowski trank einen Schluck Wasser. Sie unterhielten sich weiterhin durch die dicke Glasplatte getrennt. So musste keine der beiden Parteien die lästigen Schutzanzüge tragen. Die Menschenmenge hatte den Saal allerdings räumen müssen. Der General fuhr fort: »Der derzeitige Solnosc ist nicht immer ein angenehmer Zeitgenosse, und er regiert mit eiserner Hand. So wie viele seiner Vorgänger haben wir auch ihn über unsere Existenz informiert. Es ist seit mehr als neunzig Jahren ein gewagtes Spiel. Ohne ständigen Nachschub an Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs wären wir verloren; die Wiederaufbearbeitungsanlage ist längst überlastet. Aber damit machen wir uns abhängig von der Oberwelt, auf der wir uns nur in fragilen Schutzanzügen bewegen können.« Koslowski seufzte. »Indem wir den Solnosc mit unserer überlegenen Technik unterstützen, halten wir die Stadt stabil und sorgen für Fortschritt. Leider gibt es eine zweite Macht im Staat, die sich diesem Fortschritt entgegen stemmt. Aus der
tiefen Gläubigkeit des Volkes hat sich ein pseudo-religiöser Kult entwickelt, der eine seltsame Verbindung mit der Vernarrtheit des Volkes für Fahrzeuge aller Art eingegangen ist. Im dunklen Zeitalter ist so der ›Jonpoola‹ entstanden – der geistliche Führer der Stadt und des Landes. Er ist es auch, der jedes Jahr dieses unselige Rennen initiiert.« Matt hatte während der Geschichte gedankenverloren genickt. Vieles von dem, was Koslowski sagte, kam ihm bekannt vor, so wie die Vorliebe der Polen für Automobile ... und auch der Name des geistlichen Führers. Jonpoola – das klang wie eine Verschmelzung aus »John-Paul II.«, dem Papst aus Polen, und dem Landesnamen selbst. Man hatte Karol Wojtyla noch über seinen Tod hinaus wie einen Heiligen verehrt, vor allem in seiner Heimat. Gut möglich, dass diese Verehrung die Zeiten überdauert hatte und nun eine Art von neuem Papst bezeichnete, der nicht mehr in Rom residierte, sondern hier in Polen. »Ist der Kreis, den die Leute in die Luft zeichnen, das Symbol dieses Glaubens?«, fragte Aruula. »Ganz richtig«, entgegnete der General, sichtlich erstaunt, eine solche Frage von einer »Barbarin« zu hören. »Doch eigentlich ist es nicht einfach ein Kreis, sondern ein Rad.« »Und was hat das alles mit dem Gefallen zu tun, um den Sie uns bitten?«, mischte sich Mr. Black ein. »Nun, wie gesagt«, fuhr Koslowski fort, »jedes Jahr findet dieses Autorennen durch Waarza und Umgebung statt, und dabei wird ein neuer Jonpoola gekürt. Die Menschen an der Oberfläche nennen diesen etwas merkwürdigen Wahlvorgang ›Großer Preis von Waarza‹, oder kurz ›GePe‹.« Natürlich: Grand Prix – GP! Jetzt wurde Matt klar, was ihm der kleine Deutsche namens Jeens die ganze Zeit hatte erklären wollen. »Verstehe ich richtig: Sie wollen, dass wir für Ihren Bunker zum Rennen antreten?«, blaffte Mr. Black.
»Nicht Sie persönlich, Präsident«, erwiderte General Koslowski sanft. »Ihre Begleiter. Und auch nicht für den Bunker, sondern für bessere Beziehungen zwischen uns und den Oberflächenbewohnern. Commander Drax und die Barbarin -« »Ich heiße Aruula!« »- äh, ja: Commander Drax und Aruula werden für den Solnosc fahren. Auch ihm ist der jetzige Jonpoola ein Dorn im Auge, ein dahergelaufener Irrer aus Kraka, der schon seit mehreren Jahren mit einem gestohlenen Fahrzeug gewinnt. Seine Macht müssen wir brechen, oder es wird keine Einigung geben.« Er wandte sich an Matt: »Sie müssen verstehen, Commander Drax. Was gut für den Solnosc ist, ist auch gut für Ihre Ziele. Wenn es stimmt, was Sie über den ARET erzählten, haben sie beste Chancen zu gewinnen. Der Sieger erhält neben den Fahrzeugen der Verlierer auch noch die Achtung und ungeteilte Zuneigung des poolischen Volkes.« Das klang eigentlich zu schön, um wahr zu sein. Matt hatte seine Erfahrungen mit Bunker-Communities gemacht, und meist waren es schlechte gewesen. In solch beengten Lebensräumen ging es vor allem um die Führerschaft. Es war die alte Zwickmühle: Wenn er ablehnte, würde das Bündnis nicht zustande kommen. Wenn er zusagte, ging er das Risiko ein, dass Koslowski & Co. mit der neu gewonnenen Macht ihr eigenes Süppchen kochten. Er konnte nur darauf bauen, dass den Warschauer Technos die Bedrohung durch die Daa'muren bewusst wurde – woran er eigentlich nicht zweifelte, wenn man erst mit Moskau kooperierte. Also ... »Okay. Wir nehmen an dem Rennen teil. Natürlich ohne Gewinngarantie.« Und jetzt, da er es ausgesprochen hatte, regte sich auch schon die Abenteuerlust in ihm. Eine postapokalyptisches Autorennen – das kannte er bisher nur aus den »Mad Max«-
Filmen. Ein Teil von ihm – der Teil, der nie so richtig erwachsen wurde und das Risiko liebte – freute sich schon darauf, das Gaspedal des ARET bis zum Anschlag durchzutreten. Der andere, vernünftige Teil indes heulte auf und raufte sich die imaginären Haare ...
6. Zurück an der Oberfläche Mr. Black wurde in die medizinische Abteilung geführt. Auf ihn warteten endlose Testreihen und in weiterer Folge die ausschlaggebende Blutabnahme zur Gewinnung des Serums. Das war eben der Preis für seine Einzigartigkeit. Matt und Aruula stiegen derweil unter den misstrauischen Blicken einer Eskorte hinauf an die Oberfläche. Der Solnosc erwartete sie bereits und geleitete sie zum ARET, der unberührt im »verwunschenen Garten« stand. Die Blicke der Technos wurden noch misstrauischer; sie schienen jederzeit damit zu rechnen, dass ein Attentäter sie überfiel und ihre Anzüge aufschlitzte. Matt sprach das Codewort in ein Mikrofon in der Außenwandung des Panzers, worauf eine der Seitenschleusen ausklappte. Er übergab der Eskorte einen Speicherkristall mit allen Erkenntnissen über das Serum und eines der ISSFunkgeräte und wies einen begleitenden Techniker in dessen Benutzung ein. Der Zerhacker war aktiviert und würde dafür sorgen, dass der Weltrat die Kontaktaufnahme mit Moskau nicht mithören konnte. Die Technos zogen sich ohne ein Wort des Dankes zurück; nur der Techniker nickte Matthew zum Abschied knapp zu. Als
Matt und Aruula zum Schlosstor gingen, ertönte eine wohl bekannte Stimme: »Na, Rausch ausgeschlafn, müdes Pack?« Jeens kam ihnen entgegen, seine »Henne«, die ihn stützen musste, im Schlepptau. Unrasiert, stinkend und mit blutunterlaufenen Augen blieb er vor Matt und Aruula stehen und grinste schief. »War 'ne heiße Nacht, nichwa? Musste meine Henne vor nem stockbesoffnen Dansker retten, der ihr anne Wäsche wollt. Aber nich mit mir, hab ihm eins übergebratn ...« Matt wollte den Deutschen schon abwimmeln, da kam ihm eine Idee. Er schaltete den Translator ab und sein Sprachzentrum auf Deutsch um. »Jeens, mein Guter, du kommst gerade recht. Du kannst uns einen großen Gefallen tun.« »Gefalln?« Der Deutsche schien ehrlich entsetzt. »Wasn Gefalln?« »Nichts Großartiges«, beschwichtigte Matt. »Erzähl uns ein bisschen was über den GePe.« »Na, wenns mehr nich is, meinetwegen.« Jeens klatschte seiner Henne auf den breiten Hintern. »Was willste wissen?« »Ganz einfach: Wie lauten die Regeln?« »'s gibt keine.« »Bitte?« »Wir faan von A nach D ... nee, B. Wer als Erster da is, hat gewonnen und is neuer Jonpoola. Dazwischen is alles erlaubt. Un wer explodiert, verliert.« Argwöhnisch betrachtete Matt den Kleinen. »Wie definierst du ›alles‹?« »Boah, du kennst aba vornehme Wörter. Na, alles heißt alles. Rammen, Schusswaffn, Bomben, Fallgruben, Bremsleitungen kappen un so weita. Dein Auto muss als erstes über die Ziellinie, der Rest is egal.« Matthews schlimmste Befürchtungen wurden wahr. Dies war kein Rennen, bei dem der Schnellste und Geschickteste siegen
würde. Brutalität, Rücksichtslosigkeit und Verschlagenheit waren die Attribute, die den Ausschlag geben konnten. Die Bunkermenschen hatten ihn zwar nicht direkt belogen, was den GePe betraf – aber auch nicht alles gesagt. Aruula und er setzten wieder mal für fremde Leute ihr Leben aufs Spiel. Außerdem fragte sich Matt, wo die Kerle all die modernen Waffen her hatten. Aber wer Motoren bauen konnte, war vermutlich auch im Bau anderer »Feinmechanik« geübt. »Und der regierende Jonpoola, wie schätzt du den ein?«, fragte Matt nach. »Ein waares Monster mit 'nem Bastard von Fahrzeug«. Jeens' Augen leuchteten vor Bewunderung. »Hat die letzten drei Jahre problemlos gewonn un mindestens fünfzehn Gegner aufm Gewissen. Aba diesma werd ich's ihm besorgen. Mit Kalle schieb ich den Schweinehund in die Hölle, jawoll!« »Kalle?« »So heißt unsre Ramme. Kalle die Ramme.« Matt wusste nicht, ob er weinen oder lachen sollte. »Ist dein ... Kalle seit unserem Zusammentreffen nicht ein klein wenig deformiert?«, fragte er. Der Kleine zuckte jäh zusammen. »Ach du heil'ger Shiit! Hab ich doch glatt vagessn. Meine Henne, jetz musst du ran. Ich habs im Kreuz, du weißt.« Er drehte sich weg, schob die Frau vor sich her und trippelte in Richtung der Wachen. Kurz vor dem Ausgang drehte er sich nochmals um und rief: »Blonder, bis heut Abend zur Letzten Ölung am Hauptplatz simmer Freunde. Aber morgn – morgn putz ich dich wech, so wie alle andern, die im Weg sin. Ich werd neuer Jonpoola, un niemand kann mich dran hindern.« So lächerlich der kleine Mann auch sonst wirkte – die Ernsthaftigkeit, mit der er drohte, ließ Matt frösteln. *
Auf dem Weg in die Stadt musste Matt seiner Gefährtin das Gespräch mit dem Deutschen nachträglich übersetzen. Dann machte er einen Vorschlag: »Was hältst du davon, wenn wir uns bis heute Abend unters Volk mischen und ein paar Eindrücke sammeln? Vielleicht lernen wir die Poolen ein wenig besser verstehen. Es könnte uns beim Rennen von Nutzen sein.« Aruula nickte zustimmend, runzelte aber gleichzeitig die ebenmäßigen Brauen. »Dir liegt noch etwas auf der Seele«, traf sie ins Schwarze. »Nun ja ...« Matt zögerte. »Du könntest ein bisschen herumlauschen, ob wir ... äh ... ich sage nicht, dass wir schummeln sollten, aber es würde bestimmt helfen, die Fahrer besser einzuschätzen, wenn wir ... na ja, mehr über sie wüssten«, druckste er herum. Aruula lachte amüsiert. »Du machst dir Sorgen, ich könnte dagegen sein? Bei Wendoo, dem Gott der Jagd – warum sollte ein Jäger nicht sein Wild studieren?« So konnte man es natürlich auch sehen. Matt vergaß immer wieder, dass Aruula in ganz anderen Relationen dachte als er. Und sportliches Fairplay war bei einem Rennen ohne Regeln ohnehin nicht angesagt. Sie erreichten das Zentrum Waarzas und tauchten in das pulsierende Leben der polnischen Hauptstadt ein. Der Eindruck einer zivilisatorischen Hochkultur der Erde – zumindest aus postapokalyptischer Warte betrachtet – verstärkte sich, je näher sie den engen, verwinkelten Gassen der Altstadt kamen. Nach all den Monaten in wilden, barbarischen Ländern war es ein Vergnügen, gemütlich dahin zu schlendern und den Krämern und Kaufleuten bei ihrer Arbeit zuzusehen. Die Vielfalt an Obst, Gemüse und Gewürzen war beeindruckend. Selbst die sanitären Zustände – ein wichtiges Maß für die Bedeutung einer Kultur, wie Matt meinte – waren annehmbar. Laut schreiende Abtrittanbieter versprachen den Passanten,
hinter ihren weiten Mänteln große und kleine Geschäfte in Kübel verrichten zu dürfen, während sie ausreichend mit Tratsch versorgt wurden. Gegen einen geringen Obolus, natürlich. Matt und Aruula sahen Bader und Barbiere, Korkschneider, die Pantoffeln aus der Baumrinde von Eichen anboten, Färber und Gerber mit dunklen Armen, Bogner, Blechschmiede, einen Zunfttrupp kohlrabenschwarzer Kohlebergarbeiter, einen Spielzeugmacher, vorbeihuschende Dienstboten – und ein Dutzend oder mehr Menschen, die sich mit Fahrzeugen aller Art beschäftigten. Kutschen, Karren, Sänften, Fahrräder, Motorräder, Autos, Dreiräder – kurzum: Alles, was sich fortbewegen ließ, wurde in diesen Werkstätten gepflegt, gereinigt und repariert. General Koslowski hatte Recht gehabt: Die Poolen waren vernarrt in ihre Fahrzeuge. Wer etwas auf sich hielt, ging nicht per pedes, sondern fuhr oder ließ sich tragen. »Sie sind sehr stolz auf ihre Stadt«, bestätigte Aruula, die das bunte Treiben auf ihre Lauschsinne wirken ließ, diesen Eindruck. »Sie sind offen für das Neue. Sie spüren, dass es aufwärts geht. Es herrscht eine – wie würdest du sagen? – eine Aufbruchsstimmung, und jeder will etwas dazu leisten. Sie träumen von einem großpoolischen Reich. Sie wollen die Barbaren im Süden und Westen mit ihren technischen Fähigkeiten überrennen.« »Befrieden oder überrennen?«, unterbrach Matt. »Niederwalzen wäre wohl das richtige Wort. Niederwalzen, töten, unterjochen. Das Übliche halt.« Matthew Drax seufzte. Die Hoffnung, die er in eine beispielgebende, utopische Gesellschaft der Poolen gesetzt hatte, zerstob binnen Sekundenbruchteilen vor seinen Augen. Die Bunkergemeinschaft hatte noch viel Arbeit mit den Bewohnern Waarzas vor sich. Vor allem in Bereichen der Moral.
»Was siehst du sonst noch?« »Neben dieser Hoffnung auf eine schöne Zukunft fühle ich tiefe Ehrfurcht vor dem Jonpoola. Er vereint religiöse Gefühle mit dem Glauben an Fortschritt. Die Autos, mit denen die Rennen gefahren werden, sind ein Symbol dafür.« Sie schüttelte den Kopf. »Dabei weiß doch jeder, dass allein Wudan unser Schicksal lenkt!« »Ich glaube nicht, dass Wudan ...«, setzte Matt gedankenlos an, verstummte gleich wieder – aber zu spät. Aruula blieb entrüstet stehen. »Maddrax, ich liebe dich und werde immer zu dir stehen. Aber erzähle mir nichts von Göttern! Du verstehst davon nichts. Diese Menschen hier sind verloren, wenn sie ihre unsterblichen Seelen an einen ›Jonpoola‹ verkaufen. Glooris de disuu!« Matthew Drax gab sich geschlagen. Er wusste, wann er zu schweigen hatte. Die Stimmung in den Straßen wurde zusehends ausgelassener. Die Bevölkerung Waarzas fieberte dem GePe entgegen, der am nächsten Tag bei Morgendämmerung beginnen sollte. Immer wieder hörte man das Röhren lauter Motoren durch die Gassen hallen. Fahrzeuge, die den wirrsten Phantasien entsprungen schienen, fuhren, hüpften und klapperten über grob gepflasterte Straßen und Wege. »Ich glaube, es wird Zeit, dass wir uns auf den Rückweg machen«, sagte Matt. »Ich möchte den ARET noch einmal komplett durchchecken.« Aruula nickte. Sie wirkte müde. Kein Wunder; sie hatte ihre mentalen Fühler unentwegt nach allen Richtungen ausgestreckt, um so viele Informationen und Eindrücke zu sammeln wie möglich. Matt merkte, dass sie dringend eine Ruhepause benötigte, um ihre Gedanken zu sortieren.
Nach kurzer Zeit waren sie zurück beim Schloss. Die Wachen ließen sie anstandslos passieren. Sie standen unter dem Schutz des Solnosc und würden in seinem Namen am Rennen teilnehmen. Aruula begab sich sofort durch die Heckschleuse ins Innere des ARET, während Matt den Expeditionspanzer musterte. Das Standardfahrzeug der Russischen Bunkerliga war fünfzehn Meter lang und drei Meter breit. Ein abgeschirmter, atomarer Fusionskern sorgte für ausreichend Energie; so konnte ihnen während des Rennens nicht »der Sprit ausgehen«. Die Gliederung in Cockpit, Labor mit Triebwerkseinheit und Ruheraum hatte sich während der Reise bewährt. Die drei Teile waren durch Schleusen mit der Möglichkeit zur Notabschottung verbunden. Die Spracherkennung sorgte dafür, dass keine ungebetenen Gäste in den ARET eindringen konnten. Die Frontscheibe bestand aus Panzerglas, ebenso wie die Dachluken im Laborbereich. Sämtliche Sichtfenster ließen sich mit Stahlklappen schließen, und über die Frontscheibe konnte Matt per Hydraulik eine Beschussklappe absenken. Die genaue Motorleistung war dem Commander nicht bekannt, Geschwindigkeiten bis zu siebzig Stundenkilometer auf geraden Strecken waren aber problemlos möglich, im Schwimm-Modus bis zu zwanzig. Jede der drei Achsen ließ sich getrennt von den anderen lenken. Theoretisch gab es kein Hindernis bis zu einer Steigung von sechzig Grad, das der ARET nicht überwinden konnte. Der Panzer war für wissenschaftliche Expeditionen der Bunkerliga ausgerüstet und hatte daher Abzüge in der Offensivbewaffnung zu verzeichnen. Matt zweifelte aber daran, dass die anderen Teilnehmer des GePe dem Energiewerfer auf der Drehlafette etwas entgegenhalten konnten. Dieser lähmte binnen weniger Sekunden das zerebrale Nervensystem. Für alle Fälle gab es auch noch ein paar
Überraschungen an Bord, wie zum Beispiel die Nebelwurfanlagen links und rechts des Fahrzeug-Mittelteils. Matt beendete seinen Rundgang. Die Sonne verschwand langsam hinter dem Palast. Langgezogene Schreie möwenartiger Tiere, die in der nahen Weixel nach Nahrung suchten, waren die einzigen Geräusche – ab und zu unterbrochen von einer zerschellenden Flasche aus der Zimmerflucht des Solnosc. Am Abend – Matt und Aruula unterhielten sich gerade an zwei der Plastiflex-Reifen gelehnt über die Eindrücke, die die Barbarin in der Stadt aufgeschnappt hatte – ertönte wieder die wohl bekannte Stimme: »Na, Blonder, alles klaa?« Jeens! Matt und Aruula rappelten sich hoch, als der Deutsche auf sie zu kam, seine wuchtige Gefährtin im Schlepptau. »Wie isses?«, fuhr Jeens fort und wedelte mit einer vollen Flasche herum. »Gehter mit zur Letzten Ölung auf’n Hauptplatz? Unnerwegs könn mer'n Schluck auf unsre Freundschaft trinken. Du, ich, die Schnepfe mit de dicken Dinger un meine Henne! Einverstanden?« Matt blieb eine Antwort erst mal schuldig – er wunderte sich, dass Aruula in Sachen Schnepfe und dicke Dinger nicht aus der Haut fuhr. Warum, das erfuhr er, als sie sich zu ihm herüber beugte. »Er hat irgendwas vor!«, warnte sie ihn flüsternd. »Mit der Flasche stimmt was nicht; er denkt ganz intensiv daran!« Matthew entschloss sich zu einem Schuss ins Blaue. »Wir haben uns vorhin ein wenig in der Stadt umgehört«, sagte er leichthin. »Da soll es einen ganz raffinierten Hund geben, der mit jedermann auf gut Freund macht und flaschenweise Abführmittel, Schlaftrunk und auch bösere Sachen an ahnungslose Konkurrenten verteilt.« »So'n Schurke!«, empörte sich Jeens und kratzte sich die unrasierten Wangen.
»Er soll Deutscher – Doyzer! – sein, wurde mir erzählt.« »Oh.« Jeens wurde blass. »Dann ... äh, müsst ich ihn eigentlich kenn; laufen nich so viele Landsleute hier rum ...« Matthew grinste kalt und kniff die Augen zusammen. »Soll ich mal den Inhalt deiner Flasche untersuchen? Wir haben ein bestens ausgestattetes Labor an Bord. Momentan betrachte ich dich noch als netten Kerl, der mir geholfen hat. Aber wenn sich herausstellt, dass du uns übers Ohr hauen willst ...« Er ließ die Drohung unausgesprochen. Jeens wurde um noch eine Nuance blasser. Dann prustete er los: »Ach was solls, lassmer die Pulle beiseite, am Hauptplatz gibts ohnehin die volle Dröhnung.« Er warf die Flasche beiseite. Klirrend zerbrach sie an der Hauswand. »Freunde?«, fragte Jeens. Ein leichtes, ängstliches Flackern war in seinen Augen. Matt zögerte. »Freunde«, antwortete er schließlich. »Aber erwarte nicht, dass ich dir den Rücken zudrehe.« »Ey, du bist okee, Blonder! Nichwa, meine Henne? Wenn ich gewinn, wirste Vize-Jonpoola und darfst mer die Füß waschn!« Und Matt fragte sich, ob der Deutsche noch weitere Teufeleien in petto hatte ...
7. Die Letzte Ölung Das Licht vieler traniger Fackeln leuchtete den Weg zum Hauptplatz aus. Dort brannte ein riesiges Feuer, das mit Reisigbündeln gefüttert wurde. »Tolle Stimmung, wa?« grölte Jeens. Er winkte fröhlich zwei Männern zu, die ihn misstrauisch beobachteten. »Frühere Kollegas«, sagte er. »Die könn mir nich verzeihn, dass ich sie im Rennen geschlagn hab.«
»Ich glaube, die wollen dir eher ein paar miese Tricks nicht verzeihen«, meinte Matt. Jeens tat überrascht. »Nur weil ihnen die Beine fehln? Abers war'n fairer Kampf. Hätt sie auch ganz wegpustn könn mitter Panzafaust!« »Jeens, tu mir einen Gefallen, und geh ab jetzt immer zwei Schritte vor mir.« »Aba Mattie, ich hab dir doch vasprochn, dass ich vorm Rennen nix mach! Bei da Ehre meiner Henne, ich schwörs!« »Zwei Schritte!« »Aba ...« »Zwei Schritte!« »Na gut, na gut! Misstrauisch wie 'ne Wisaau ... Da will ma freundlich sein, und dann das! Na gut, dann geh ich eben einen lüpfen!« Jeens zog Mara mit sich und stampfte davon, ohne sich nochmals umzudrehen. Sie verschwanden in der Menschenmenge. Das Letzte, was Matt von dem Deutschen sah, war, wie er einem ahnungslosen Bürger geschickt die Geldkatze vom Gürtel schnitt. »Endlich sind wir die beiden los«, seufzte er, wandte sich an Aruula – und musste überrascht feststellen, dass sie sich mit einem der Umstehenden unterhielt. Er unterbrach sie nicht, sondern wartete, bis sie sich ihm wieder zuwandte. »Das war ein Ittalyer«, sagte sie. »Ich hatte gehört, dass er sich in die Sprache der Wandernden Völker unterhielt, und ihn auf das Rennen angesprochen.« Matt verzog anerkennend die Mundwinkel. »Gut mitgedacht. Und, was hast du erfahren?« »Also«, die Barbarin wies nach rechts, »die Kirche da nennt man Jonkathedral. Dort sind morgen Start und Ziel des Rennens. Hinter dem großen Feuer wird in den nächsten Stunden eine Tribüne aufgebaut. Da sitzen die wichtigen
Männer der Stadt. Stell dir vor: Die zahlen sogar für den Unsinn!« »Unglaublich«, sagte Matt grinsend. »Hast du herausgefunden, wie viele Fahrzeuge am Start sind?« »Der Ittalyer – Gioorgo – wusste es nicht genau. Zwei, drei Dutzend werden es wohl sein. Man rechnet damit, dass sich einige erst im Morgengrauen anmelden werden, um ihre Stärken nicht zu früh zu verraten.« Unruhe entstand auf dem Platz, der mittlerweile gut gefüllt war. Einzelne Schreie ertönten. Jubel brandete an mehreren Stellen auf und erfasste schließlich die gesamte Menge, die sicherlich mehr als zweitausend Menschen zählte. Matt konnte nichts erkennen; die Menge nahm ihm die Sicht. Aruula reagierte schnell und erklomm einen rostigen Laternenmast direkt neben ihr. »Der Jonpoola kommt!«, rief sie zu Matt hinunter. »Die Leute sind ganz aus dem Häuschen und wollen ihm das Gewand küssen.« Ein Schrei, mächtiger als alles andere zuvor, erklang wie aus einer Lunge. »Was passiert denn jetzt? Ist er gestorben?« »Nein.« Die Barbarin reckte zusätzlich den Kopf. »Bäh, ist das widerlich!« »Was ist los, jetzt sag schon!« »Der Jonpoola hat sich hingekniet und über den Boden geschleckt ...!« * Jonpoola Pjotr der Siebente, das hörte sich schon gut an. Respekt, Ehrfurcht und auch Angst war in den Augen der Menschen zu lesen. Er sah sie an, diese Herdenviecher. Diese gesichtslose Masse. Stinkend, geifernd und brüllend jubelten sie ihm zu. Er besaß nur Verachtung für sie. Einst hatte auch er zu ihnen gehört, aber nun ...
Bereitwillig machten sie ihm und Kadenaalin Maksi das Spalier. Der Nachhall einer Ehrengarbe, abgefeuert mit einem blechern klingenden Maschinengewehr von einem nahen Balkon, begleitete ihn auf dem Weg zum Podest. Ab und zu blieb er stehen, tätschelte einer der entzückenden Töchter Waarzas die Wange – oder den Hintern. Immer wieder klangen Jubelrufe auf, immer wieder wurde ihm ehrfürchtig die Hand gereicht. Pjotr war auf dem Weg zum Gipfel der Macht! Er drehte sich um und sagte zu Maksi: »Diesmal ist es so weit! Sobald wir gewonnen haben, holen wir den Solnosc vom Thron. Der alte Straßenräuber hat viel zu viel Einfluss auf die Leute. Die Macht gehört in eine Hand, und das ist meine.« »Und was ist mit mir, Meister?«, flüsterte Maksi zurück. Sie war um fast einen Kopf kleiner als der hagere, kahlköpfige Jonpoola, zog das linke Bein schleifend nach und hatte ein pechschwarzes Glasauge. Pjotr hatte sie in den Straßen Krakas aufgelesen. Maksi war ihm wegen ihrer Bösartigkeit und Durchtriebenheit aufgefallen. Sie war schlichtweg die ideale Beifahrerin für den diesjährigen GePe. Bereits seit einigen Monaten erledigte sie still und leise die üblichen Meuchelmorde, die in der hohen Politik so Usus waren. Sie hatte sich die Erhebung in den Kadenaalsstand mehr als verdient. »Du bekommst auch deine Happen ab, meine Schöne. Wäre dir Dansk für den Anfang Recht?« »Haben die schöne Männer dort?«, fragte Maksi, während sie gemessenen Schrittes weiter auf das Podest zugingen. Die Kadenaalin hatte einen etwas ausgefallenen Geschmack, was ihre Bettgefährten betraf. Und einen ungeheuren Verschleiß. Pjotr hatte nie nachgefragt, wo all ihre Liebhaber hin verschwanden. Als Jonpoola musste er sich um andere Dinge kümmern.
Sie erreichten das Podest. Die vier fetten Eunuchen, die Rosenblätter vor ihnen streuten, wichen zur Seite und knieten sich ehrfürchtig hin. Einer hüstelte dezent, kaum hörbar in der tumultartigen Erregung, die die Menschenmasse erfasste. »Scheiße, hab ich nicht gesagt, dass ich nur gesundes Personal brauchen kann?!«, rief Pjotr verärgert. Er zog seinen Revolver und schoss dem Eunuchen eine Kugel in den Kopf. Die Menschen erstarrten. Kurz. Und jubelten anschließend umso kräftiger. »Vivat! Hoch! Hurra! Es lebe der Jonpoola!« Pjotr hatte es gewusst. Eine kleine Geste, und sie würden ihm aus der Hand fressen. Lediglich der Solnosc, der ihn bereits auf dem Podest erwartete, blickte böse. »Hältst du es für notwendig, deine Macht derart zu demonstrieren?«, sagte er, nachdem er ihm den rituellen Kuss auf die Finger der rechten Hand gehaucht hatte. »Die Menschen lieben mich, und sie brauchen kleine Hinweise, um an diese Liebe erinnert zu werden«, antwortete Pjotr und lächelte dabei strahlend ins Publikum. Es war ein Schauspiel, eine Farce. Doch die Leute wollten es so. »Darf ich dir meine Kadenaalin vorstellen?«, säuselte der Jonpoola. »Ich hatte zwar noch nicht die Ehre«, sagte der Solnosc finster, »aber ich machte schon Bekanntschaft mit einigen ihrer ... Angestellten. Seitdem habe ich eine ellenlange Narbe am linken Schulterblatt und muss die Schmerzen mit Schnaps betäuben. Erinnere mich daran, dass ich euch nachher, bei der Privataudienz, die Köpfe dieser Meuchelmörder überreiche. In bestem Salz eingepökelt.« »Lächeln, immer nur lächeln«, murmelte Pjotr. Er griff nach der Hand des weltlichen Führers und riss sie in die Höhe, was die Jubelstürme der Zuseher nochmals verstärkte. »Ich
betrachte es als meine Aufgabe, die Schmerzen der Menschen im Diesseits zu lindern. Soll ich dir die deinen für immer ... nehmen?« »Noch bin ich an der Macht. Noch gehorchen mir meine Leute.« Sie umarmten sich und küssten sich auf die Wangen. »Dank der geheimnisvollen Unterstützung, die du erfährst, ich weiß«, fuhr Pjotr zwischen zwei feuchten Schmatzern fort. »Das Volk rätselt, woher du all die Maschinen und das Wissen hast, mit dem du Waarza in den letzten Jahren zum Blühen brachtest. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sich das Geheimnis ... unter deinem Palast verbirgt?« Er spürte, wie sich der Solnosc versteifte. Seine Informanten hatten also gut gearbeitet! »Ich würde dich und deine Leute gerne auffordern, danach zu suchen. Mein Palast steht dir jederzeit offen. Du solltest allerdings ausreichend Bewaffnung mitbringen.« Sie hielten sich kräftig an den Armen und blickten sich tief in die Augen. »Ich glaube nicht, dass dies notwendig sein wird. Wenn ich den GePe gewonnen habe, werden mich die Leute«, – er vollführte eine segnende Geste über die Menge –, »in den Palast tragen.« »Dass du dich nur nicht täuschst, Fischer Pjotr.« Der Jonpoola schluckte hart. Er wurde nur ungern an seine einfache Herkunft erinnert. »Was willst du damit sagen?« Sie gingen nebeneinander auf dem wackeligen Podest nach hinten, dem Zeremoniell folgend. »Ich will damit sagen, dass ich dieses Jahr einen eigenen Favoriten aufgestellt habe, der für mich das Rennen fahren und in meinem Namen den Sieg erringen wird.« »Meinst du einen deiner Vasallen? Meine Kadenaalin hat ein Dossier über jeden Einzelnen von ihnen. Ein Wort von mir, und dein Mann ist Geschichte.«
»Nein«, sagte der Solnosc ruhig. »Es ist jemand von außerhalb. Ein Reisender mit seinem Weib. Ich werde dir die beiden heute noch vorstellen.« Der Jonpoola richtete einen bösen Seitenblick auf seine Kadenaalin, die sich sichtlich unwohl fühlte. Es gab also doch noch eine Unbekannte in seinen Plänen. Pjotr wartete, bis sich der Solnosc in den schweren Ledersessel, das Zeichen seiner weltlichen Herrschaft, gesetzt hatte. Dann trat er wieder vor an den Rand des Podiums und begann seine Segenslitanei. Sie handelte wie immer von Eroberungsplänen und einer schönen neuen Welt. Und schließlich vom GePe. Dieser Teil der Litanei wurde seit jeher »Urbi et Audi« genannt. Dann schrie er: »Es ist die Nacht vor der Entscheidung! Die Nacht vor der Wahl meines Nachfolgers, der ich hoffe selbst zu sein!« Gelächter klang auf. »All die tapferen Frauen und Männer, die morgen zum GePe antreten, haben das Recht auf eine letzte Nacht der Vergnügungen. Entsagt ihnen nichts, gebt ihnen alles, was sie wollen. Und ich meine alles!« Wieder Gelächter. »Und hiermit erkläre ich sie für eröffnet, die Letzte Ölung.« Pjotr zog den Revolver und schoss drei Mal in die Luft. Die Menge tobte. * Zwei Stunden später verliefen sich die Menschen oder taumelten volltrunken nach Hause. Lediglich die Honoratioren der Stadt Waarza, die Teilnehmer am Rennen und diejenigen, die sich aus eigener Kraft nicht mehr erheben konnten, blieben über.
»Wer ist die Frau mit den aufgemalten Streifen am Körper?«, fragte der Jonpoola und beugte sich zur Kadenaalin vor. »Sie möchte ich heute Nacht naher kennen lernen. Bring sie her zu mir!« »Ich würde dir nicht raten, es bei ihr zu versuchen«, mischte sich der Solnosc ein. »Ist dir noch immer nicht bewusst, dass ich alles bekomme, was ich will?« Pjotr lächelte, doch seine Augen blieben kalt. »Ich wäre mir nicht zu sicher. Sie und ihr männlicher Begleiter – der große Blonde rechts neben ihr – sind meine Kandidaten für den GePe. Sie stehen unter meinem persönlichen Schutz.« »Interessant. Und dennoch lächerlich! Du weißt, was dein Schutz gegen das Wort des Jonpoola wert ist.« Der Solnosc lächelte und nahm einen tiefen Schluck aus seiner Flasche. »Nun – ich möchte so sagen: Die beiden können sich ihrer Haut selbst erwehren. Ich werde sie dir vorstellen. Und dann werden wir ja sehen, ob du die Frau in dein Bett bekommst.« Pjotr wurde unsicher. Der Solnosc sprach voll Selbstbewusstsein, das seinen Grund haben musste. Oder bluffte er nur? Der Jonpoola blickte zu Maksi, der Kadenaalin. Die hatte nur noch Augen für den großen blonden Mann. Ihre stumpfe Gier überdeckte sichtlich alles Denken. Pjotr stieß sie an die Schulter und befahl: »Bring mir die beiden her. Egal wie!« »Darf ich ihn haben, Meister? Darf ich ihn für meine Sammlung behalten?« »Meinetwegen. Nach dem Rennen kannst du mit ihm machen, was du willst.« »Machenmachenmachen. Schöne Sachen machen.« Die Kadenaalin eilte davon. Nun gut, musste Pjotr zugeben, manchmal brach ein etwas übertriebener Sendungseifer aus seiner Gehilfin hervor. Doch
es war schwer, Personal zu finden, das sich zum Psychopathen eignete und dennoch alle Sinne beisammen hatte. Die kleine Frau mit dem rubinroten Umhang kam herangestürmt, redete wild gestikulierend auf Matthew ein, dass der Translator kaum mit dem Übersetzen nachkam, und versuchte ihn schließlich mit sich zu ziehen. Matt hatte nur »mitkommen«, »haben wollen« »kennen lernen« und – wenn er seinen Ohren trauen durfte – »vögeln« verstanden, durchsetzt mit einem Dutzend »Jonpoola«. Ärgerlich riss er sich los. Er hatte das widerliche Weibsstück zusammen mit dem Jonpoola auf der Bühne gesehen. Eine Narbe, die quer über das linke Auge führte, verunstaltete ihr Gesicht. Und dann dieses unheimliche starre Glasauge, in das unbeholfen ein Totenkopf geritzt war ... Matt spürte kein gesteigertes Interesse, sich der Frau anzuschließen. »Na, da haste aba'n Fang gemacht«, sagte Jeens, der gerade angestolpert kam. Links stützte ihn eine blonde Schönheit, rechts eine schwarzhaarige, und Mara, seine Henne, schlurfte wie immer hinterdrein. »Gleich die erste Frau im Staate, Hut ab. Aba nimm dich in Acht, man nenntse nicht umsonst ›Witwenmacherin‹.« »Spar dir die Scherze. Ich habe nicht vor, sie näher kennen zu lernen.« »Hoppla, dass sollteste dir gut überlegen. Der Jonpoola hatse geschickt, das könnt Ärger gebn.« »Hm.« Ansonsten gab Matt ja nicht viel auf Jeens' Meinung, aber in diesem Falle hatte er vermutlich Recht. Den geistlichen Führer eines Volkes zu brüskieren kam nirgendwo gut an. »Na dann«, sagte er missmutig und wandte sich an Aruula. »Der Jonpoola ruft, also sollten wir ihm unsere Aufwartung machen. Aber bitte, Aruula: Lass dich unter keinen Umständen provozieren. Unsere Stunde schlägt morgen beim Rennen.«
Die Barbarin wollte etwas erwidern, ließ es dann aber doch bleiben. Matt verlangte viel von ihr. Selbstbeherrschung war nicht unbedingt eine ihrer Tugenden. Als sie losgingen, befreite sich Jeens aus den Armen der beiden Schönheiten und lief hinterdrein. »Wart doch, Mattie! Nimm mich mit! Ich will dem Jonpoola auch meine Aufwartung machen!« Pjotr sah ihnen entgegen und bewunderte den selbstbewussten, aufrechten Gang der dunkelhaarigen Schönheit. Ihre Brüste wippten aufregend unter einem knappen Lederteil hoch und nieder. Am meisten faszinierten den Jonpoola aber die blauen und dunkelgrünen Streifen, die ihren Körper verzierten. Wie Blitze, die mit jeder Bewegung hin und her zucken!, dachte er. Ich muss diese Frau haben – koste es, was es wolle! Der blonde Mann wirkte respekteinflößend. Er strahlte etwas Unbestimmtes aus. Eine Mischung aus beherrschter Kraft, Intelligenz, Selbstbewusstsein – und mehr Erfahrung, als man einem Mann seines Alters zutrauen würde. Er durfte ihn beim Rennen nicht unterschätzen. Und hinter ihm ... »Jeens! Schön, dich auch dieses Jahr am Start zu sehen! Und wieder mit einer neuen Begleiterin. Warum verbirgst du ihre Schönheit unter diesen Tüchern?« »Damitte davon nich geblendet wirst, euer Ehren. Ich will ja morgen ehrlich siegn, wie's meine Art is, jawohl.« »Jeens, Jeens«, seufzte Pjotr, »die Trauben hängen einfach zu hoch für dich. Sei froh, dass du die letzten – wie viele waren es, vier? – Rennen überlebt hast. Andererseits«, fuhr er fort, »muss man vor so viel Hartnäckigkeit den Hut ziehen. Solltest du auch dieses Jahr durchkommen, würde ich dir gerne einen Platz in meinem Beraterstab anbieten.« »Is ja verdammt viel Ehre, mein Jonpoola, doch für einen, der jetzt schon so gut wie tot is, muss ich nich unbedingt arbeitn. Morgen gibts nur ein Sieger, und der heißt Jeens.«
»Nun, Hochmut kommt vor den Fall. Würdest du mir deine Freunde vorstellen?« »Wenn ich den Blick von Euer Hochwürden richtich deute, willste als erstes was über die Schnalle wissn. Heißt Aruula, is verdammt flink mitm Schwert, und ihre sonstigen Qualitäten ...« Bevor sich der Deutsche um Kopf und Kragen redete, trat Matthew vor. Er deutete eine Verbeugung an und sagte: »Ich spreche zwar Ihre Sprache nicht, ehrenwerter Jonpoola, aber mit diesem Gerät hier«, er klopfte auf den Translator an seinem Gürtel, »können wir uns trotzdem unterhalten. Mein Name ist Matthew Drax; man nennt mich auch Maddrax. Und dies hier ist Aruula, meine Gefährtin.« Der Jonpoola lauschte der Übersetzung und verzog entzückt das Gesicht. »Ein Technickram, der Jeens überflüssig macht! Wahrlich ein Segen!« Der Deutsche grummelte etwas Umgangssprachliches in seine Bartstoppeln, das der Translator nicht übersetzen konnte. Vielleicht war das auch ganz gut so. Der Jonpoola zeigte wenig Interesse an Matthew Drax. Zu sehr zog ihn der Anblick der Frau in seinen Bann. Ohne den Blick von ihr zu wenden fragte er Matt: »Sagt, verkauft Ihr mir diese ... Aruula? Sie könnte ein leuchtendes Juwel in meinem Harem werden, und mit Juwelen will ich Euch bezahlen.« Auf vieles war der Commander gefasst gewesen, aber nicht auf so ein »großzügiges« Angebot. Der Mann in der schmutzigweißen Robe grinste dabei unverschämt in Aruulas Richtung. Doch die kannte diese Art von Blicken und ließ sie eiskalt an sich abprallen. Nun hieß es vorsichtig zu taktieren. Der Kerl war so hinterlistig wie ein Gejagudoo. Matt blickte zum Solnosc, der knapp neben dem Jonpoola saß und sich gespannt vorbeugte. Seine Männer nestelten nervös an verschiedensten Waffen.
Eine unachtsame Bewegung, ein falsches Wort, und hier würden Köpfe rollen. Mehr als zwanzig Wachen der weltlichen Regierung standen ebenso vielen Männern des Jonpoolas gegenüber. Und mittendrin Aruula und er. Matt räusperte sich und setzte zu einer diplomatischen Glanzleistung an. »Ich weiß das Angebot zu würdigen, und es beschämt mich, nicht darauf eingehen zu können«, antwortete er so laut, dass möglichst viele es hören konnte. »Meine Frau und ich befinden uns auf Pilgerfahrt durch ganz Poolen und haben ein Keuschheitsgelübde abgelegt. Sollten wir es brechen, käme die ewige Verdammnis über uns. Ihr als geistliches Oberhaupt habt dafür gewiss Verständnis.« Der blonde Mann hatte ihn mit seinen eigenen Waffen geschlagen: mit dem Glauben der Menschen! Als Jonpoola konnte er es nicht wagen, das Gelübde einer Frau in aller Öffentlichkeit zu verletzen. Pjotr ballte die Hände zu Fäusten. Schließlich sagte er laut und formell: »Ich achte den frommen Wunsch von Maddrax und Aruula und verzichte darauf, die Frau in Besitz zu nehmen. Die Götter Laada, Schkoda und Datschja seien mit euch.« Er zeichnete würdevoll den rituellen Glaubenskreis in die Luft – und fügte leise, nur für Jeens' Ohren bestimmt hinzu: »Sag deinem raffinierten Freund, dass er es bereuen wird, sich gegen mich gestellt zu haben. Ich werde die Frau nach dem Rennen besitzen, während sein Kopf in den Staub rollen wird. Und für dich, mein lieber Freund, gilt das Angebot für eine Zusammenarbeit nicht mehr. Ab morgen, nach dem Rennen, bist du vogelfrei.«
8. Der Start
Trotz der frühen Morgenstunde war der Platz bereits wieder voll von Menschen, ebenso wie die steil aufragende Holztribüne. Ehrfürchtig hatten Tausende Hände die Hülle des ARET getätschelt und danach die rituellen Glaubenskreise in die Luft gezeichnet, während sich der Expeditions-Panzer seinen Weg durch die Menge gebahnt hatte. Knapp dreißig Fahrzeuge waren bereits auf dem Hauptplatz versammelt. Matt sah das Ramm-Mobil von Jeens wieder, den eiförmigen Elektrowagen und das mit Stahlspitzen besetzte Fahrzeug, von denen ihm Mr. Black schon erzählt hatte – ein dampfbetriebenes Etwas mit seitlichem Ausleger, auf dem ein bis an die Zähne bewaffneter Mann saß. Ein verrotteter Doppeldecker-Bus, der tatsächlich noch verwaschene Tafeln mit seiner Linienführung trug, zwei Buggies mit riesigen Ballonreifen und die Kutsche mit den sechs zornig grunzenden Yakks waren genauso dabei wie ein protziges Tribike, eine alkoholbetriebene Zugmaschine, die hellen Dunst ausstieß, und ein monströses Beiwagen-Motorrad, in dessen Heck ein Kohleofen installiert war. Der Beiwagen-Pilot war mit einer Schaufel und zwei Zentnersäcken Briketts bewaffnet. Ein alter Ami-Schlitten, genauer gesagt: ein 1961er Camacho mit Pritsche, der zwei Büsten Stalins statt Frontstoßdämpfern hatte, stand zwischen einer Sänfte mit vier gepanzerten Trägern und einem orangefarbenen, bestialisch miefenden Müllwagen. Matt konnte über den Zustand der Fahrzeuge nur staunen: Während anderenorts verrostete Autoleichen auf Halde lagen, hatten die Poolen es geschafft, einen beeindruckenden Fuhrpark auf die Beine zu stellen. »Er kommt! Der Jonpoola kommt!« Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Neuigkeit. Raunen, Flüstern und HurraRufe schwollen zu einem einzigen Jubelschrei an. Laute Musik
ertönte, »Highway to Hell«. Woher Abspielgerät und Tonträger stammten, mochte Orguudoo wissen. Da bog das Fahrzeug auch schon um die Ecke. Zwei schmale Lichtkegel durchbohrten das matte Dämmerlicht. Das laute Klackern von Metallplatten tönte über den Platz. Auf der Schnauze konnte Matt mühsam die mit dunkelroter Farbe – oder gar verkrustetem Blut – geschriebenen Buchstaben »Paapamobil« erkennen. Es war ... »... ein Panzer! Ein vermaledeiter Panzer! Mit Geschützlamette, mindestens Zweihundert-Millimeter-Rohre, dreihundertsechzig Grad drehbar.« Matt fluchte unbeherrscht. General Koslowski und sein Adjutant hatten ihm ein wesentliches Detail verschwiegen: Der Jonpoola war mit einem Gefährt unterwegs, das der Technik seines ARET ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen war. Zumindest was die OffensivBewaffnung betraf. Und der Antrieb? Matt konnte keinen Rußausstoß erkennen. Wenn das Ding aus Bunkerbeständen stammte, verfügte es vermutlich über einen Atomreaktor wie der ARET auch. Matthew blieb keine Zeit, sich auf die geänderte Situation einzustellen. Der Jonpoola beschleunigte unter dem Geschrei der Zuseher nahezu aus dem Stand und zerfetzte mit den Reifen das Kopfsteinpflaster. Seine Stimme tönte aus den Lautsprechern. Mit martialisch klingenden Sprüchen heizte er die Stimmung weiter an. Ein Gong ertönte, und Ruhe kehrte ein. Männer in zitronengelben Uniformen liefen zwischen den Teilnehmern hin und her. Sie verteilten Zettel mit der bislang geheim gehaltenen Streckenführung. Matt schnappte sich einen und studierte ihn kurz. Es gab fünf Kontrollpunkte, die man passieren musste, und drei rote Kreuze, die Sonderprüfungen markierten. Die Kilometerangaben sagten ihm, dass die Fahrtzeit wohl um die zehn, elf Stunden betragen wurde.
Matt spürte die Nervosität wachsen. Auch Aruula neben ihm stieg von einem Fuß auf den anderen. Jeens tauchte plötzlich wie aus dem Nichts neben ihnen auf, seine Henne im Schlepptau. »Mattie, ich wünsch dir und da Schnepfe alles Gute im Rennen, jawohl. Un ich mein's ernst. Wird mir vadammt Leid tun, euch rauszuschmeissn. Wenn sich's vermeidn lässt, werd ich euch nich töten. Is dasn Wort?« Zögernd griff Matt zur angebotenen Hand – doch Aruula fuhr dazwischen und schob ihm grob den Arm beiseite. »Hast du in den Jahren hier noch immer nichts gelernt?«, fauchte sie. »Trau keinem, auch nicht deinem Freund!« Sie packte Jeens' Handgelenk und verdrehte es um einhundertachtzig Grad. Ein Ring mit nach innen gekehrter Spitze wurde sichtbar. »Du verdammter ...«, knirschte Matt. »Soll ich ihm die Hand abschlagen?«, fragte Aruula wie beiläufig und verstärkte ihren Griff noch. Die Drohung war zwar ein Bluff, aber auf Jeens hatte sie eine desolate Wirkung. »Wie? Was?«, stammelte er. »Aber Schnep- äh, Schönste der Schönen, das kannste nich tun! Ich ... ich brauch meine Hand zum Faarn!« »Lass ihn laufen«, sagte Matt ruhig. »Aber beim nächsten Mal darfst du mit ihm machen, was du willst.« Aruula löste ihren Griff, drehte Jeens' Gesicht zu sich – und verpasste dem kleinen Mann einen Schlag unters Kinn, der ihn wie einen nassen Sack zu Boden schickte. Ringsherum erklang Gelächter. Auch unter den Gesichtstüchern von Mara, der Henne, ertönte ein gurgelndes, amüsiertes Geräusch. Benommen rappelte sich Jeens wieder hoch und fuhr sich über die blutende Unterlippe. »Mann, hast du'n Schlag drauf! Komm, Mara, wir geh'n. Mit so brutalen Menschen will ich nix zu tun ham, jawohl!« Sprachs, rümpfte die Nase und wankte beleidigt davon.
Matt küsste Aruula auf die Stirn. »Danke«, sagte er. »Wenn ich dich nicht hätte ...« »... wärst du damals im Eis erfroren oder von Taratzen gefressen worden«, beendete sie den Satz und grinste breit. »Du kannst mir also gar nicht dankbar genug sein.« * »... reddy ... go!«, ertönte das Startsignal durch den Solnosc. Fahrer und Begleiter liefen von einer weiß gekalkten Linie auf ihre Vehikel zu. »Lemaan-Start« nannte man dieses Prozedere, und es war angeraten, sich dabei eher Zeit zu lassen. Nicht selten war einem übereifrigen Starter, der die Konkurrenten rund um sich herum vergessen hatte, kaltblütig in den Rücken geschossen worden. Nach allen Seiten sichernd, eilten auch Matt und Aruula zu ihrem ARET. Für das Rennen hatten sie ihre Waffen – Driller und Schwert – zurück erhalten. Sie hielten beide gezückt. Skrupel, Gewalt anzuwenden, durfte man in dieser heißen Phase nicht haben. Das Geräusch eines startenden Motors erklang, bald gefolgt von einem zweiten und dritten. Dann war die Hölle los. Die verschiedensten Abgase überzogen den Platz mit schwefligen und rußigen Wolken. Matt und Aruula hatten den Panzer gerade durch die Heckschleuse betreten, als draußen eine mächtige Explosion ertönte. Und gleich darauf noch eine. Schwere Trümmer trafen die Außenhülle. Matt schloss die schwere Luke. Das Rufen und Schreien verletzter Menschen blieb hinter ihnen zurück. Das Rennen hatte begonnen. *
Helden des Rennens, Teil 1 »Ja, natürlich ist der Trick mit den Handgranaten nicht neu. Aber immer wieder erfrischend wirksam. Hat auch alles gut geklappt. Als der Jonpoola im Paapamobil kurz vor dem Rennen um die Ecke gebogen ist, hat niemand auf mich geachtet. Ich hatte vierzig, fünfzig Sekunden Zeit. Also ab durch die Mitte, unter eins der Autos gekrochen. Handgranate raus, mit einer Schnur unten um die Lenkachse binden, den Abzugsring im Pflaster festhaken. Wenn das Ding anfährt, löst sich der Ring – und Wumm! Mann, hab ich einen Schädel gehabt von der Letzten Ölung. Jedes Mal beim Bücken und wieder Aufstehen hat's mir einen Stich zwischen die Augen versetzt. Richtig blind war ich. Aber da musste ich durch. Ein Auto, zwanzig Sekunden vergangen. Zweites Auto, fünfunddreißig Sekunden weg. Eines ging sich noch aus. Rasch runtertauchen – ich hab fast nichts gesehen, Mann, und übel war mir auch noch. Ich hab das Ei blind angehängt, und gerade als der große Auftritt des Jonpoola vorbei war, bin ich wieder hoch. Drei Konkurrenten weniger, dachte ich mir, und bin unauffällig zum Startplatz zurück geschlendert. Ein guter Start ist die halbe Miete, glaub mir. Und dann ist es losgegangen. Ich war recht flott bei meinem Buggy, ich wollte ja nicht von den herumfliegenden Trümmern erschlagen werden. Reinsteigen, anschnallen. Bumms hat's gemacht, und gleich noch Mal Bumms. Zwei Explosionen, Blechteile sind herumgeflogen. Kann schon sein, dass es dabei noch ein paar andere Jungs erwischt hat. Aber das ist Berufsrisiko, nicht wahr? Der dritte Böller kam nicht. Wahrscheinlich ein Blindgänger, dachte ich mir. So was kommt vor, dachte ich mir. Also bin ich
losgefahren. So an siebter, achter Stelle hab ich mich auf den Weg gemacht. Dann hat's doch noch Bumms gemacht, und zwar genau unter meinem Arsch. Ich muss so besoffen und blind gewesen sein, dass ich nicht merkte, dass ich die Handgranate unter mein eigenes Auto gehängt habe. Na ja, ist halt Berufsrisiko. Sag mal: Hat man meine Beine und mein linkes Ohr schon gefunden?«
9. Das Rennen Commander Matthew Drax reihte sich in der Mitte des Feldes in die Zweierkolonne ein. Geschwindigkeit war nicht unbedingt das Ausschlaggebende bei diesem Rennen. Viel mehr kam es auf Geschick und Bewaffnung an. Es waren letztlich nur rund zwanzig Fahrzeuge, die den Hauptplatz in der Altstadt verließen. Drei Autos waren explodiert, und mehrere Menschen wälzten sich verletzt auf dem Boden. Sie waren entweder von Heckenschützen oder herumfliegenden Splittern getroffen worden. Das Paapamobil bog zu den Klängen von »Who wants to live forever?« direkt neben Matt auf die bereits bekannte Uliza Solnosc. Maksi, die Kadenaalin, kletterte geschickt auf dem Geschützrohr des Panzers hin und her. Sie montierte eine Glocke, so groß wie ihr Kopf, und bewegte sich wie die Freundin des Glöckners von Notre Dame. Matt hielt den schweren, fünfzehn Meter langen ARET ruhig auf Kurs. Wenn er dem sogenannten »Roodbuk« – dem Straßenbuch – vertrauen konnte, hatten sie eine Stunde relativ
ruhiger Fahrt Richtung Südosten vor sich, bis sie Schloss Wilanow erreichen würden. Er hatte von dem barocken Prachtbau gehört – vor Kristofluu, natürlich. Wie würde das Schloss heute aussehen? Matt blickte durch das Seitenfenster. Maksi war im Inneren des Tanks verschwunden und hatte die große Dachluke verschlossen. Das Geschützrohr des Paapamobils schwenkte in Fahrtrichtung, pendelte kurz hin und her – und dann löste sich eine Granate in einer rotgelben Stichflamme. Sie schlug an der Spitze des Feldes ein. Dunkler Rauch und eine riesige Staubwolke verbargen kurzfristig, was sich darunter abspielte. Die Kolonne kam zum Stillstand. »Verdammt, hört das denn nie auf?«, fluchte Matt. »Fünf Jahrhunderte sind vergangen, und die Musik ist noch immer dieselbe!« »Der Stärkste überlebt. Das war wohl zu allen Zeiten so«, meinte Aruula lakonisch. Sie hatte sich auf dem Beifahrersitz nach vorn gebeugt und blickte aus dem schmalen Sichtfenster. »Und warum stecken ausgerechnet wir beide mal wieder mittendrin in der ... im Wakudamist?« »Um etwas zu bewegen«, sagte Aruula ernst. »Denk an das kleine Mädchen, diese Jola. Denk an die Bunkerkinder – und daran, dass sie es besser machen könnten.« Sie hatte Recht, natürlich. Sie musste einfach Recht haben. Die einzige Chance für eine bessere Zukunft war eine Zusammenarbeit der Bevölkerung mit den Technos. Und die Entmachtung des amtierenden Jonpoola. Der Staub legte sich langsam. Zwei zerstörte Fahrzeuge kamen zum Vorschein. Eine brennende Gestalt taumelte davon und fiel schließlich kopfüber zu Boden. Alle Motoren erstarben. Bis auf den des Paapamobils. Der Jonpoola scherte aus der Kolonne und fuhr über die noch brennenden Wracks. Die
Glocke auf dem Geschützrohr baumelte hin und her, während Pjotr die Führung übernahm. * Helden des Rennens, Teil 2 »Warum ich mit einem Yakk-Gespann am GePe teilgenommen habe? Ach, das ganze neumodische Zeugs benötigt doch Treibstoff bis zum Abwinken. Gas, Kohle, Spiritus oder sogar den guten Fusel. Eine unverantwortliche Verschwendung, so was. Wenn meine Yakk-Ochsen müde werden, führe ich sie an den Straßenrand. Sie fressen ein wenig Gras, und es geht munter weiter. Meine Tiere waren außerdem die schnellsten und stärksten im ganzen Umland. Seit mehr als zehn Jahren bereitete ich sie auf den GePe vor. Ob ich mit den poolischen Traditionen nicht vertraut bin? Natürlich weiß ich vom Ritual, anderen Fahrzeugbesitzern die Reifen zu stehlen. Ist ja auch kein Problem, hab ich gehört. Wijeslav stiehlt sie Sigmund, Sigmund stiehlt sie Adam, Adam stiehlt sie Wijeslav, und alle sind wieder glücklich. Aber dass manche Idioten auf die Idee kommen, meinen Yakks vor dem Rennen die Beine wegzuhacken und mitzunehmen, nur weil's dem Ritual entspricht – das werd ich nie verstehen. Verdammte Scheiße, das!« * Wenn die anderen Fahrer ebenso erschüttert waren wie Matt, so zeigten sie es nicht. Nach einer kurzen Schrecksekunde starteten sie wieder ihre Maschinen und verfolgten das
Paapamobil, das, eine hohe Staubwolke hinter sich her ziehend, über der nächsten Kuppe verschwand. Jeens hatte neben den glosenden Trümmern kurz angehalten und die verkohlten Leichname begutachtet. Er hatte bedauernd mit den Schultern in Richtung Matt gezuckt und war weitergefahren. Matt dagegen hatte beschlossen, erst mal das Schlusslicht zu spielen. Bevor er weiter fuhr, hatte er mit General Koslowski noch ein Hühnchen zu rupfen ... Er griff zum Headset des Funkgeräts und ließ die HF/VHFAntenne hydraulisch ausfahren. Ein paar kleinere Justierungen, und er sendete auf der verabredeten Wellenlänge. »Commander Drax an Waarza-Bunker, bitte kommen!« Kurzes Schweigen, dann: »Mr. Black an Commander Drax, ich höre Sie klar und deutlich! Bitte kommen.« »Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte Matt misstrauisch. »Alles okay. Ich werde hier wie ein rohes Ei behandelt. Und wie ein Held noch obendrein. Was glauben Sie, wie oft ich mit den Kindern hier schon Huckepack spielen musste.« »Dann geht es Ihnen besser als uns.« Kurz und prägnant schilderte der Commander den bisherigen Ablauf des Rennens. Es knackste in der Verbindung. Schließlich war ein kurzer Wortwechsel zu vernehmen. »Mr. Black? Sind sie noch da?« »Ähm ... nein. Hier spricht Major Kubica. Ich konnte nicht umhin, Ihr Gespräch mit anzuhören.« »Dann sind Sie ja informiert. Und können uns gewiss erklären -«, er legte Rasierklingenschärfe in seine Stimme, »warum wir erst beim Start erfahren haben, dass der Jonpoola mit Bunker-Technologie unterwegs ist. Die Bewaffnung und der offensichtlich atomare Antrieb seines Fahrzeugs sind für mich schlagende Beweise. Ich hätte nicht übel Lust, das Rennen abzubrechen, Mr. Black aufzunehmen und zu verschwinden. Ich zweifle sehr daran, dass die
Moralvorstellungen in Ihrem Bunker es wert sind, Sie in unsere taktischen Überlegungen einzubeziehen.« »Machen Sie sich nicht lächerlich, Commander Drax!«, kam die harsche Antwort des Majors. »Es gibt doch gar kein ›uns‹. Sie sind eine Gruppe von Einzelgängern, die mit einer hanebüchenen Geschichte Einfluss zu gewinnen versucht. Ohne Beweise für die Existenz der Daa'muren können Sie uns viel erzählen. Ist es verwunderlich, wenn General Koslowski und ich glauben, dass es Ihnen schlicht und einfach um Macht geht?« »Sprechen Sie tatsächlich für den General und die ganze Bunker-Community ... oder in Wirklichkeit nur für eine kleine Minderheit von Soldaten, die liebend gerne den Status Quo beibehalten möchte?« Matts Stimme war gefährlich leise geworden. »Ich möchte mit dem General verhandeln, und nicht mit einen Offizier untergeordneten Ranges!« Das saß. Für Sekunden herrschte Ruhe. Schließlich: »Der General schwächelt zur Zeit und ist ... nicht abkömmlich. Sie werden wohl oder übel mit mir verhandeln müssen.« »Dann werde ich ...« »Ich werde Ihnen sagen, was Sie machen werden!«, ließ Kubica endgültig die Maske fallen. »Sie werden diesen stinkenden, barbarischen Jonpoola im Rennen besiegen und damit seinen Panzer in Besitz nehmen! Anschließend werden Sie das Fahrzeug an uns rückführen. Sollten Sie sich weigern, werden wir uns überlegen müssen, was wir mit Ihrem muskulösen Freund, Mr. Black, anfangen. Sollte das noch nicht genug ... Anreiz sein, meinem Befehl zu folgen, darf ich Ihnen mitteilen, dass der Panzer des Jonpoola tatsächlich mit einem Atomreaktor ausgestattet ist. Und zwar mit einem hochempfindlichen Prototypen aus eigener Produktion. Das Fahrzeug ist bei einer Testfahrt vor drei Jahren aus unbekannten Gründen verloren gegangen. Unsere Experten
sagen, dass die Kontroll- und Austauschfrist für die Reaktorstäbe seit mehr als einem halben Jahr überschritten ist. Jede Überlastung des Motors könnte zur Kernschmelze führen, und das verdammte Ding würde halb Poolen in eine radioaktiv strahlende Wüste verwandeln. Beweisen Sie also Ihre hohen moralischen Wertvorstellungen und erledigen Sie Ihren Job. Kubica, Ende.« Matt blickte Aruula entgeistert an. Jetzt war es an ihm, die Worte des Adjutanten zu verdauen. Sie saßen tiefer in der Klemme als vermutet. Die Fraktion um Kubica hatte Mr. Black in ihrer Gewalt, und gleichzeitig machte die Gefahr eines Reaktorunfalls jede Gegenaktion hinfällig. »Wir müssen das Rennen gewinnen«, sagte er schließlich mühsam beherrscht. »Komme, was wolle.« Er fuhr den ARET wieder an und machte sich an die Verfolgung des restlichen Feldes. Es dauerte keine zwanzig Minuten, bis sie die ersten Fahrzeuge einholten. Es ging durch die Beton- und Steinwüste der ehemaligen Außenbezirke Waarzas. Das einstmals hochverbaute Gelände war von der Vegetation zurückerobert worden. Da und dort waren kleine, kümmerliche Siedlungen zu erkennen. Das Feld der Fahrer hatte sich aufgefächert, um dem Jonpoola so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Sein Panzer brachte es auf geschätzte fünfzig Stundenkilometer. Es gab mit Sicherheit einige Vehikel, die schneller fahren und ihn mit ein wenig Geschick auf Parallelstrecken zum Etappenziel sogar überholen konnten. Den ARET eingeschlossen. Die Kontrollpunkte galten als neutrale Zonen, in denen keine Gewaltakte erlaubt waren. Doch danach, im Abschnitt der ersten Sonderprüfung, wenn das Feld wieder enger zusammenrückte, würde es ernst werden. Nach mehr als vierzig Minuten halsbrecherischer Fahrt kam das Schloss Wilanow in Sicht. Matt und Aruula hatten viel
verlorene Zeit aufgeholt. Mit den großvolumigen Plastiflexreifen waren sie über Hindernisse gefahren, denen andere Teilnehmer mit Sicherheit hatten ausweichen müssen. Selbst der Jonpoola mit seinem Paapamobil. Etwas, das einem kreisrunden Bombentrichter ähnelte, war der Anlaufpunkt zur ersten Kontrolle. Ein schwer bewaffneter Trupp des Solnosc stand bereit. Die Männer pinselten den Teilnehmern, die passierten, einen langen, knallgrünen Strich auf die Fahrzeugschnauze. Als Matt in den Trichter hinabfuhr, sah er Jeens in seinem Ramm-Auto keine dreihundert Meter voraus dahinrasen, knapp hinter dem Paapamobil. »Das ist doch Wahnsinn!«, sagte Aruula atemlos. »Ein einziges Geschoss des Jonpoola, und er geht zu seinen Göttern!« »Nein, nein«, murmelte Matt. »Er macht das sehr geschickt. Er ist so nahe dran, dass er sich im toten Winkel des Bordgeschützes befindet. Und das Paapamobil räumt ihm alle Hindernisse beiseite. Aber irgendwann wird er aus dem Windschatten raus müssen. Und dann kann ich nur hoffen, dass er noch ein paar Tricks in petto hat.« Einer der Solnosc-Männer pinselte den grünen Strich auf die Front des ARET und deutete ihnen wild gestikulierend, wo sie hinfahren sollten. »Das glaub ich einfach nicht«, sagte Matt schließlich, »die Sonderprüfung geht quer durch Schloss Wilanow!« * Helden des Rennens, Teil 3 »Der Glykoolzusatz hat's echt gebracht, Mann! TofanenFusel allein hat nicht so einen tollen Verbrennungswert, außerdem ist er ziemlich teuer.
Natürlich hat der Motor ganz schön geklopft, und die Ventile haben geklappert wie die Glieder meiner Großmutter auf dem Sterbebett. Aber die Beschleunigung von unten heraus – Wahnsinn! Leider war die Abdichtung der Maschiin nie ganz hundertprozentig. Als ich volle Kanne losgedüst bin, ganz an der Spitze des Feldes, hat sich meine Fahrerkabine rasant mit Fusel-Dampf gefüllt. Ich hab noch versucht, die Luft anzuhalten, aber darin war ich noch nie gut. Als ich am nächsten Morgen in einem metertiefen Graben aufgewacht bin, hatte ich einen Mordskater, von dem ich noch meinen Kindeskindern erzählen werde. Ja, es stimmt, ich hab eine Fusel-Fabrik aufgemacht. Pfeif auf den Jonpoola-Titel. Ich werd lieber auf anständige Art und Weise reich und bringe den Glykool-Verschnitt unters Volk. Gefährlich? Blödsinn! Wer das Saufen nicht verträgt, solls bleiben lassen.«
10. Die Sonderprüfung Mannsgroße, barock gestaltete Figuren und Teile davon standen und lagen im Park herum. Sie bildeten Hindernisse, die Matt alles fahrerische Können abverlangten. Zwei tätowierte Glatzköpfe in einem Tribike wollten überholen und fuhren in ihrer Ignoranz über einen kleinen Barockengel. Die darunter deponierte Tellermine zersiebte ihr Fahrzeug. Von nun an blieb Matthew peinlich genau auf dem abgesteckten Parcours. Es ging eine flache Treppe hinauf und durch eine riesige Flügeltür in einen Seitentrakt. Die Spuren des Paapamobils
waren im Lichtkegel ihres Fahrzeugs nicht zu übersehen. Irgendetwas Feuchtes schien darin zu glänzen ... »Verdammt, was ist das?«, fluchte Matt im nächsten Moment. Er verlor die Kontrolle über den ARET. Er war in einen Ölsee geraten, mindestens zwanzig Meter lang. Egal, in welche Richtung er auch lenkte, der Expeditionspanzer machte was er wollte. Immer wieder eckte das Fahrzeug an, riss Büsten und Säulen, Bilder und verrottete Wandgobelins mit sich. Wenn er nur nicht verkantete – und schon war es passiert. Mit einem mörderischen Ruck, der Matt und Aruula weit nach vorne in die Sicherheitsgurte drückte, kamen sie zum Stillstand. Der Bug war zwischen zwei Säulen eingeklemmt, während das Heck nach links weggebrochen und sich mit aller Wucht in die gegenüberliegende Mauer gebohrt hatte. Das fünfzehn Meter lange Fahrzeug lag quer über den Gang und konnte weder vor noch zurück. »Alles in Ordnung?«, fragte Matt. Aruula schüttelte benommen den Kopf. »Ja ... ich bin okee, nichts passiert. Was war das?« »Ein Ölfilm auf dem Boden. Ganz schön hinterhältig. Ich frage mich, ob das zur Prüfung gehört oder ob der Jonpoola Öl verspritzt hat.« Matt schnallte sich ab, öffnete die Luke auf seiner Seite und schlüpfte ins Freie. Vorsichtig glitt er hinab und machte ein paar unsichere Schritte auf dem glitschigen Ölfilm. »Sieht schlecht aus«, rief er Aruula zu. »Die Schnauze ist eingekeilt. Hinten sind wir nahezu durch das Mauerwerk gebrochen und stecken fest ...« Ein Mordskrach ertönte. Der Fahrer des Doppeldecker-Busses, der die Sonderprüfung kurz nach ihnen in Angriff genommen hatte, war mit voller Wucht durch die weite Flügeltür gerast – ohne allerdings zu bedenken, dass sein Gefährt einen guten Meter höher war als
die Türfassung. Nun kam er in einer Wolke aus Mauersteinen, Kalk und Tapetenresten heran gerauscht. Ein Teil seines Daches war vor die Motorhaube gerutscht, schmirgelte über den Boden und ließ Funken sprühen. Matt unterdrückte einen Fluch und kletterte, so gut es mit den öligen Stiefeln ging, hoch zur Seitenluke. Er hechtete hinein und schloss luftdicht ab. Keine Sekunde zu früh. Plötzlich stand alles rings um ihr Fahrzeug in Flammen. Im ARET waren sie zwar sicher – aber wenn das Feuer erst die Plastiflex-Reifen zerstörte, saßen sie endgültig fest. Das Problem löste sich von selbst, als der Omnibus heran war und fast ungebremst den hinten Teil des Panzers traf. Der Ruck wirbelte Matt und Aruula haltlos durch die Kabine – doch als sie sich aufrappelten, hatten sie nach vorn wieder freie Sicht. Der Bus hatte sie aus der Klemme befreit! Mit einem Sprung war Matt im Pilotensessel, startete den Motor und gab Gas. Die Plastiflex-Räder waren unter der großen Hitze weich geworden, aber noch nicht verformt. Der Ölfilm hingegen schien nahezu verbrannt. Das Feuer dehnte sich schnell auf Vorhänge und Teppiche in unmittelbarer Umgebung aus und entwickelte eine große Rauchwirkung. Matt knüppelte den ARET vorwärts. Er fuhr blind; der schwarze Rauch machte es unmöglich, noch etwas zu erkennen. Dann endlich rollte der Panzer, an der rechten Wand entlang schrammend, aus der Feuerfalle. Matt stoppte in sicherem Abstand und schaltete den kleinen Monitor in den Armaturen auf rückwärtige Sicht um. Der Bus war nicht zu sehen. Hinter ihnen tobte eine Flammenhölle. Er konnte nichts mehr für den oder die Fahrer tun. Und alle nachfolgenden Fahrzeuge würden sich einen
anderen Weg suchen oder das Ende des Feuers abwarten müssen. »Das war verdammt knapp«, murmelte Aruula. »Ich setze es auf Kubicas Liste«, knurrte Matt. »Wenn das hier vorbei ist, werde ich sie mit ihm Punkt für Punkt abhaken.« Die Art, wie er dabei die Faust bewegte, ließ auf eine spezielle Art von »Haken« schließen. Die wilde Fahrt durch das Prunkschloss ging weiter. Matt musste mehrmals mit dem ARET zurück- und neu ansetzen, um die engen Kurven von einem Prunksaal zum nächsten zu bewältigen. Zahllose Kunstschätze zerbröselten unter den Reifen der vandalierenden Fahrzeuge. Die ehemalige Sommerresidenz des Königs Jan Sobieski wurde Stück für Stück zerlegt. Der zweite große Seitenflügel, der im zwanzigsten Jahrhundert ein Plakatmuseum beherbergt hatte, stand bereits in Flammen, während sie ihn passierten. Der schwere schwarze Rauch erforderte immer wieder blinde Navigation. Zwei Menschen mit schreckgeweiteten Augen taumelten ihnen aus den Schwaden entgegen. Matt konnte gerade noch ausweichen und sah, wie die beiden sich durch ein Seitenfenster in Sicherheit brachten. Ihr kleines Kettenfahrzeug war frontal in einen Springbrunnen gerast. Die Ausfahrt am Ende des Seitenflügels war von einem breiten Fahrzeug noch weiter vergrößert worden. Wahrscheinlich war das Paapamobil mit voller Wucht durchgebrochen – und im Gegensatz zu dem Doppeldeckerbus ohne größere Schäden. Matthew lenkte auch den ARET ins Freie. Auf der Wiesenfläche vor dem Prachtbau – dem ehemaligen Prachtbau – hielt er den Panzer an, stellte den Motor ab und blickte zurück. Qualm und Rauch drangen aus allen Öffnungen des Gebäudes; das Giebeldach hatte ebenfalls Feuer gefangen und brannte lichterloh. Ein Quietschen und ein Ächzen war zu
hören. Ab und zu, wenn wieder eine Säule oder ein Trägerbalken in sich zusammenbrach, erklang ein hässliches Krachen. Zwei ... nein, drei schwarz angesengte Gestalten taumelten aus dem Seitenflügel. Die Männer des Solnosc eilten herbei und leisteten Erste Hilfe. Das Schloss starb, und es nahm mehrere Menschen mit sich. »Da kommt keiner mehr durch«, sagte Matt mit Bestimmtheit. »Wenn ich richtig gezählt habe, dürften mit uns noch ein knappes Dutzend Fahrzeuge im Rennen sein.« »Und wir sind wieder mal die Letzten«, seufzte Aruula. »Keine Sorge, das Rennen ist noch lang.« Matt bleckte die Zähne. »Und jetzt geht es erst richtig los ...« * Helden des Rennens, Teil 4 »Woher ich den Schienenflitzer ohne Schienen habe? Aus einem verschütteten U-Bahn-Schacht. Damit hat man früher mal die Strecken abgefahren und nach Schadstellen gesucht. Mein Großvater hat das Ding gefunden und begonnen, es auszugraben. Mein Vater hat es endlich freibekommen und den Rest seines Lebens damit zugebracht, es an die Oberfläche zu schaffen. Mein Bruder und ich reinigten den Flitzer und brachten die Maschiin in Schwung. Ist'n frisierter Zehn-LiterMotor mit mörderischem Dampf. Die Gleisräder mussten wir natürlich gegen Reifen austauschen. War alles zusammen also ein Haufen Arbeit. Aber wir dachten, es lohnt sich, um beim GePe mal teilnehmen zu können. Na ja, natürlich liegt der Schienenflitzer in den Kurven nicht allzu toll. Dafür ist er aber kaum zu stoppen, wenn er mal in Schwung gekommen ist.
Okee, die Strecke durch die noble Hütte lag nicht ganz auf unserer Linie, und das sogar wörtlich, ha ha! Viel zu viele Kurven. Also sind wir immer geradeaus; nicht umsonst ist die Nase unseres Flitzers stahlverstärkt. Die Treppe rauf war kein Problem, und durch die ersten drei, vier Mauern kamen wir auch ganz gut durch. Woher sollte ich wissen, dass diese Bude einen Innenhof hat? Na ja, jetzt liegt der Flitzer etwas verknautscht ein Stockwerk tiefer, und mein Bruder liegt drunter. Macht nichts. In dem U-Bahn-Schacht gibts noch 'ne alte Tramway. Wenn ich mich anständig ins Zeug lege, kann bereits mein Enkel beim GePe wieder mitfahren.« * Die nächsten Stunden führten die Teilnehmer in weitem Bogen vom Südosten Waarzas in den öden Süden, dann weiter, über kaum erkennbare Straßen und Wege in den wieder stärker besiedelten Westen und schließlich in den einstmals industriellen Norden. Eindreiviertel Millionen Menschen hatten früher in der Metropole gelebt. Heute, fünfhundert Jahre nach der großen Katastrophe, mochten es vielleicht noch fünfzehntausend sein. Das Feld wurde weiter reduziert. Ein dampfgetriebenes Gefährt tauchte nicht mehr aus dem Dschungelteil einer Sonderprüfung auf, und die Luftkammern eines propellerbetriebenen Hovercrafts wurden von langen Stahlstiften zerfetzt, die aus dem Boden ragten. Das Fahrzeug entschwand in unkontrollierter Fahrt in der Ferne. Der Jonpoola und Maksi landeten zwei gezielte Treffer an Fahrzeugen, die ihnen zu nahe kamen – zwei weitere kaltblütige Morde auf dem tiefroten Konto des gewissenlosen Duos. Matt war nahe genug dran, um über den Zoom einer
Außenkamera die jubelnde Kadenaalin zu beobachten, die auf dem Geschützrohr begeistert auf und ab hüpfte. Nur als sich Jeens mit seinem Rammgefährt aus dem Windschatten des Paapamobils lösen musste, weil er eine starke Steigung nicht bewältigte, ging – eben wegen der Steigung – der Schuss daneben. Der Deutsche blieb nun wieder in gehörigem Respektabstand zum Jonpoola. Auch Matthew Drax machte sich Sorgen um sein Fahrzeug. Die Software des ARET zeigte ungewohnte Ausfälle. Immer wieder tanzten bunte Schlieren über die Bildschirme, die die Außenumgebung erfassten. Auch der Thermograph zeigte unerklärliche Fehlfunktionen. Der linke hintere Plastiflexreifen hatte sich unter der extremen Hitzebelastung im Schloss Wilanow verformt. Der russische Expeditionspanzer zog beständig auf eine Seite. Kein Zweifel, der ARET war angeschlagen. »Du bist beunruhigt?«, fragte Aruula, die die Zeichen richtig deutete. »Nicht mehr als sonst«, antwortete Matt grimmig. Was in dieser Welt und Zeit nicht ganz die gleiche Bedeutung besaß wie in seinem früheren Leben. Vor ihnen, keinen Kilometer entfernt, wartete der letzte Kontrollpunkt. Man würde ihnen einen weiteren Farbstreifen auf die Kühlerhaube pinseln, und dann ging es in die heiße Phase. * Die Vorstadt hatte einmal Lomianki geheißen. Heute war sie versumpfter Grund nahe der Weichsel, überwuchert und überwachsen von Schlingpflanzen, Heimat mutierter Kriechtiere und stechwütiger Insekten. Ein Vorwärtskommen war nur mit geringem Tempo möglich, die Sicht auf wenige Meter beschränkt.
Sieben Fahrzeuge hatten vor dem ARET sieben verschiedene Spuren gezogen. Es war das ideale Gelände für ein Überholmanöver. Der Jonpoola, als Führender in den Wald vorgedrungen, war zwar aufgrund der Kraft des Paapamobils in der Lage, die Vegetation einfach niederzuwalzen, doch das Gewicht des Fahrzeugs geriet ihm mit Sicherheit zum Nachteil. Der Panzer musste sich behutsam über feste Landbrücken vortasten. Das eiförmige Elektromobil, das leichteste Fahrzeug im reduzierten Feld, war auf seinen schmalen Ballonreifen wahrscheinlich am schnellsten über den feuchten Untergrund geglitten. »Ziehen wir eine eigene Spur oder folgen wir einer der anderen?«, fragte Aruula, als Matt unschlüssig anhielt. »Der ARET ist nicht leichter als der Panzer des Jonpoola«, überlegte Matt laut. »Das Sicherste wäre es also, ihm zu folgen und erst nach dem Sumpf die Entscheidung zu suchen. Wenn wir aber auf Risiko fahren, könnten wir ihn und vielleicht auch noch einige andere Teilnehmer überholen.« Er studierte das Roodbuk. »Laut Plan geht es nach dem Waldstück nur noch zwanzig Kilometer durch eine Trümmerwüste, bevor wir zurück nach Waarza kommen.« »Also?« Aruula blickte ihn an. Matt gab sich einen Ruck. »Wir riskieren es. Wir versuchen zu überholen. Halten wir uns an diese Spur.« Er kannte das Profil der Reifen, das sich tief in die feuchte Erde gedrückt hatte. Er war Jeens' Spur. Bereits zwei Kilometer voraus wartete der Deutsche, lässig an einen Baumstumpf gelehnt, mitten im Dschungel. Er rauchte etwas, das wie eine Zigarre aussah. Matt hielt den ARET an. Doch bevor er die Seitenluke öffnete, wandte er sich an Aruula. Vorsicht war auch hier die Mutter der Porzellankiste. »Ist das eine Falle?«, fragte er seine Gefährtin. »Kannst du etwas erlauschen?«
Aruula konzentrierte sich auf Jeens und schüttelte dann zögerlich den Kopf. »Nein ... jedenfalls denkt er nicht direkt daran. Er freut sich nur auf ... etwas, das gleich passieren wird.« »Aber was das ist ...?« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht zu erkennen.« Matt seufzte und öffnete die Luke. »Hast du Probleme?«, rief er dem Deutschen zu. »Nö, aber ich kenn wen, der grad welehe bekommt, jawohl! Heißt Jonpoola und isn fieses kleines Arschloch.« Jeens schlenderte heran, baute sich vor der Seitenluke auf und sah zu Matt hoch. »Willste 'ne Paffe? Vertreibt Ungeziefer un Stechmücken.« Trotz des allgegenwärtigen Sirrens in der Luft lehnte Matt dankend ab. Der angebliche »gute Tropfen« und der giftige Dornenring waren ihm noch zu gut in Erinnerung. Vielleicht hatte der Deutsche ja auch den Überraschungseffekt einer explodierenden Zigarre für sich entdeckt. Jeens verzog das Gesicht. »Weißt eben nich, was gut is.« Bei dem Gestank, den sein Glimmstängel verbreitete, wagte Matt das zu bezweifeln: Es roch weniger nach Tabak als nach verbranntem Gummi. »Woher willst du wissen, dass der Jonpoola in Schwierigkeiten steckt?«, fragte er den schwindsüchtigen Deutschen. »Hab ihm Mara auf ‚n Hals gehetzt.« »Deine Frau? Bist du wahnsinnig?« Matthew war fassungslos. »Willst du, dass er sie abknallt?!« »Och, unterschätz meine Henne nich. Die haut ihm 'n paar fette selbstgebastelte Sprengkapseln aufs noble Haupt, jawohl. Diesmal entkommt er nich!« Jeens sprach mit solcher Zuversicht, dass Matt Angst und Bange wurde. Andererseits, wie sollte die – zugegebenermaßen
robuste – Frau überhaupt nahe genug an das Paapamobil herankommen, um es in die Luft sprengen? »Wieso bist du dir sicher, dass sie das schafft?«, ließ sich Aruula vernehmen. Sie war hinter ihn an die Lukenöffnung getreten. »Habse doch extra dafür gekauft«, tat Jeens kund, als wäre es das Normalste von der Welt. »Und ihr vasprochen, dass ich sie freilass, wenn wir ins Ziel komm und ich Jonpoola wird. Und glaubt mir, die hat Sachn aufm Kasten ...« Matt sträubten sich die Nackenhaare. Obwohl er noch immer Zweifel hatte – allein die Möglichkeit, dass es ihr gelingen konnte, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. »Jeens, du musst sie sofort zurückrufen!«, sagte er eindringlich. »Wir schweben alle in Lebensgefahr.« »Ach nö, die Kracher, die ich ihr mitgegebn hab, sprengn grad mal'n ordentliches Loch in das Paapamobil. Zwanzig Mannslängen entfernt kannste schon ganz bequem übaleben. Vielleicht wirste taub, abasonst ...« »Ich beschwöre dich«, bekräftigte Matt. »Hol sie sofort zurück! Der Motor des Paapamobils ist ein schrottreifer Atomreaktor, und wenn der hochgeht, bleibt von diesem Dschungel und der Hälfte Poolens nicht viel übrig!« »Atomraktor?«, fragte Jeens ahnungslos. »Wasn das?« Matt schickte ein Stoßgebet zum Himmel. »Das ist ... äh, verdammt, wie erklär ich dir das ...?« Aruula kam ihm zur Hilfe. »Wie Kristofluu, nur etwas kleiner«, sagte sie. Nun, das war vielleicht gelinde übertrieben, hatte aber Erfolg: Jeens Gesichtsfarbe verblasste. »Ach du heiliger Schiit! Die ganze Chose, so mit Feuer, Sturm und Wudans Zorn?« »Und als Zugabe eine Strahlung, die die Überlebenden noch Jahre später tötet«, fügte Matt hinzu. »Ja, verdammt. Pfeif jetzt endlich deine Mara zurück!«
»Woher weißte ...? Ach, egal.« Jeens kramte eine kleine Trillerpfeife hervor und blies drei Mal kräftig hinein. Kein Ton war zu hören. Wenn sie nicht defekt war, musste es sich um ultrahohe Töne handeln. »Jetzt könnmer nur noch wartn«, sagte Jeens. »Entweder machts Bumms und wir treffn uns alle in Ethera wieder, oda sie kommt gleich, meine Henne.« Jeens hatte tatsächlich die Ruhe weg. Er lehnte sich an einen Baumstumpf und zerquetschte genüsslich schwarze, fingergroße Ameisen, die eine ihrer Straßen entlang marschierten. Eine Minute verging, dann zwei. Matt und Aruula waren mittlerweile aus dem ARET gestiegen. Es hatte sie nicht mehr im Inneren des Wagens gehalten. Aruula stand mit gezückter Klinge da – als würde ein Schwert ihr gegen die Explosion etwas nutzen. Genauso gut hätte sie sich eine Zeitung über den Kopf halten können ... Plötzlich wurde es ruhig. Das Raschein, Summen und Zirpen rund um sie verstummte. Matthew legte eine Hand auf den Kolben seines Drillers und drehte sich sichernd nach allen Seiten um. Jeens hingegen zerdrückte unbeeindruckt Ameisen. Sein Zeigefinger war mittlerweile blutrot. Ein großer Schatten verdunkelte das karge Sonnenlicht, das bis zum Boden vordrang. Ein unheimliches Geräusch, nahe an der Grenze zur Wahrnehmung, ertönte. Matt reagierte blitzschnell, warf sich zu Boden und riss den Driller hoch – während Mara elegant landete und die Flügel eng an den Körper zog. Ihr weißbraunes Federkleid verbarg den nackten, zarten Körper und gab ihm jenes voluminöse Aussehen, das sie sonst, mit ihren Tüchern bedeckt, zeigte. Jeens sagte: »Darf ich euch vorstelln: Mara, die Harpyie. Meine Henne.« *
Der Deutsche nahm dem hübschen geflügelten Wesen drei Sprengkörper aus der Hand und steckte sie vorsichtig in seine verschlissene Jackentasche. »Na, das is ja nochma gut gegangen.« Matthew rappelte sich von Boden hoch und steckte den Driller ein. Er hatte schon viele Mutationen auf dieser neuen Erde gesehen, doch diese hier ... Jeens hatte sie eine Harpyie genannt, ein mythologisches Wesen. Aber das war sie nicht wirklich ... oder? »Hat'n Schweinegeld in Schernobiel gekostet, meine Mara«, fuhr der Deutsche fröhlich fort. »Sie soll sogar Eier legen können, aba ich brauchse als Flugkünstlerin, um ... na, is ja egal. Hat mir schon manchen Dienst erwiesen. Un im Bett isse auch 'ne Künstlerin. Nur die Flügel sin ab und zu im Weg.« Matt sah sich das Wesen genauer an. Jetzt, da ihr Geheimnis aufgedeckt war, zeigte sie keine Scham mehr und breitete die Flügel ganz natürlich aus. Sie hatte einen absolut menschenähnlichen Körperbau mit weiblichen Rundungen. Feingliedrige, unnatürlich biegsame Finger bewegten sich nervös hin und her. Mit jeder Bewegung flüsterte das Federkleid mit, das, am Handrücken beginnend, angewachsen war. Maras Kopf war zart, etwas kleiner als der eines Menschen. Die Nase hingegen sprang raubvogelartig hervor, ohne dem Gesicht seine exotische Attraktivität zu nehmen. »Verstehst du mich?«, fragte Aruula leise. Mara nickte. Sie antwortete mit hoher, piepsender Stimme: »Natürlich. Ich bin doch kein Tier! Ich verstehe sogar den schrecklichen Akzent meines Herrn!« »Nur nich frech wern, meine Hübsche, sonst schläfste wieder im Hühnerstall auf 'ner Stange«, mischte sich Jeens ein und grinste frech.
Blitzartig fuhr Aruula herum und donnerte ihm die flache Hand an die Schläfe. Der Deutsche fiel um wie ein Sack. »Kein Mensch sollte einen anderen Menschen für sich in Besitz nehmen! Und schon gar nicht ein Mann eine Frau!«, fauchte sie, doch der Bewusstlose hörte sie nicht mehr. Matt fand in allmählich die Realität zurück. Er hatte, fasziniert von der Harpyie, das Rennen für Minuten komplett verdrängt. »Wir müssen weiter!«, rief er Aruula zu und wollte sich schon der Luke zuwenden, als sein Blick auf Jeens' Rammauto fiel. Ein Grinsen flog über sein Gesicht. »Okay, ist vielleicht nicht ganz fair – aber Strafe muss sein.« Er eilte zum Cockpit des abenteuerlichen Gefährts, zog den primitiven Zündschlüssel ab und schleuderte ihn in weitem Bogen ins Sumpfgelände. Dann wandte er sich an Mara. »Du bist dein eigener Herr, so wie Aruula es sagte. Du kannst Jeens liegen lassen und wegfliegen, oder du kannst ihm helfen, sobald er wieder zu sich kommt. Für uns ist momentan nur wichtig, dass wir den Jonpoola überholen und eine Katastrophe verhindern.« Mara nickte. Was in ihr vorging, war an ihrer Miene nicht abzulesen. Matt und Aruula enterten den Panzer. Die Luke schloss sich, dann rollte der ARET mit aufheulendem Motor davon. * Es ist so leicht wie Angeln, dachte Pjotr. Man hängt die Schnur in klares Wasser, das man weitflächig übersehen kann, legt einen Köder aus und bleibt selbst möglichst ruhig. Dann beißen sie, die Fische. Maksi hatte das Tarnkappen-Netz, das Radar- und Wärmesuchstrahlen absorbierte, über das Paapamobil gebreitet. Sie waren damit durch den anderen Panzer nicht mehr zu orten.
Der Jonpoola dankte seinen Eltern einmal mehr, dass sie ihm einst die Kunst des Lesens und Schreibens beigebracht hatten. Die Monate des Studiums der Fahrzeug-Dokumentation hatten sich bezahlt gemacht. Nur das Elektromobil war schneller als sie durch den Wald gewesen. Doch der Fahrer hatte kurz danach in seiner Nervosität einen schweren Fahrfehler begangen und war ausgeschieden. Ein Tribike und ein orangefarbener, ehemaliger Müllwagen waren Opfer der Granaten des Paapamobils geworden. Ein mit Stahlspitzen besetztes Etwas hatte Pjotr schon im Sumpfgebiet niedergewalzt. Damit blieben nur noch vier Fahrzeuge. Und eines – wahrscheinlich mit dem gefährlichsten Gegner – fiel ihm vor die Füße wie eine reife Frucht. Besser gesagt wie eine Foorel, die den Köder schluckte. Pjotr rieb sich die Hände. Er hatte geahnt, dass dieser Maddrax nicht einfach vorbeifahren konnte, wenn seine Hilfe gefordert war. Das würde ihm nun zum Verhängnis werden!
11. Finale Der feucht-morastige Untergrund endete allmählich und machte der erwarteten Betonwüste Platz. Schwere Platten, die sich übereinander geschoben hatten und das Gelände unübersichtlich machten, wechselten sich mit sandigen, verödeten Ebenen ab – ein regelrechtes Labyrinth. Gebäude, die möglicherweise hier einmal gestanden hatten, waren vollends zerfallen. Der ARET quälte sich durch die letzten grünen Vegetationsinseln.
»Was zeigt das Radar?«, fragte Matt zu Aruula, die über die Ortung gebeugt saß. »Weit und breit nichts zu sehen ... doch, halt! Zwei Speerwürfe voraus steht ein Fahrzeug. Halt dich ein wenig mehr links.« Matt verkniff sich die Frage, warum seine Freundin noch immer die metrischen Angaben in archaische »Speerwürfe« umrechnete. In dieser Hinsicht konnte sie wohl einfach nicht aus ihrer Haut. Die unterschiedlich hohen Steinquader stellten selbst für den Expeditionspanzer eine Herausforderung dar. Nur mühsam bahnte sich Matt einen Weg zum angegebenen Zielpunkt. Es war das Elektromobil, das von einem schrägen Betonblock nahezu vier Meter auf sandigen Untergrund hinabgestürzt war. Die Eiform war kaum mehr zu erkennen. Wie ein verquirlter Dotter lagen die Überreste des Fahrzeugs auf dem Boden verteilt. Der Motor schnurrte noch leise. Ein Mann und eine Frau lagen halb verdeckt unter den Trümmern. Sie hatten das Rennen verloren. Und das Leben, wie Matt und Aruula feststellten, als sie ausstiegen, um Erste Hilfe zu leisten. »Dieses ganze Rennen ist ein einziges Schlachtfest«, knirschte Matt mit zusammengebissenen Zähnen. »Wie pervers muss man eigentlich sein, um sich da noch als Gewinner zu fühlen?« In der Tat hatte dieser GePe mehr mit römischen Zirkusspielen zu tun als mit einem Grand-Prix-Rennen. Es war, als hätte der Jonpoola die Frage gehört und gäbe nun Antwort. Plötzlich war die Hölle los: Eine Granate schlug wenige Meter seitlich von Matt und Aruula ein. Die Druckwelle hob sie von den Füßen. Losgesprengte Steinsplitter schossen sirrend durch die Luft. Die Bodendecke kam spürbar ins Wanken. Ein paar niedrige Büsche standen übergangslos in lichterlohen Flammen.
Die Stille nach dem Einschlag – oder vielmehr das Taubheitsgefühl in ihren Ohren – war fast schmerzhaft zu spüren. Aruula ächzte und stemmte sich hoch. Beine und Oberarme wiesen Abschürfungen auf. Auch Matt war schnell wieder auf den Beinen. »Der Jonpoola!«, brüllte er, noch halb benommen, gegen seine Taubheit an. »Zurück in den ARET!« Ob Aruula ihn gehört hatte, war ohne Belang; sie war schon von sich aus auf den Weg in die einzige halbwegs sichere Deckung. Sie schlüpften beide durch die Luke. Ein weiterer Einschlag, nur noch vier, fünf Meter entfernt. Wucht und Druckwelle hoben die Hinterachse des Expeditionspanzers mehr als einen halben Meter in die Höhe. »Und los!«, feuerte sich der Commander selbst an. Rückwärtsgang rein, nach links einschlagen, mit aller Gewalt und Beschleunigung vorne weg, raus aus der Reichweite des gegnerischen Fahrzeugs. »Wieso war der Scheißkerl auf dem Radar nicht zu sehen?!«, wetterte Matt. »Er muss eine Art Tarnung haben!« Eine weitere Granate schlug ein, weit hinter ihnen. Aber noch waren sie nicht außer Gefahr. Wenn sie nicht schnell einen fahrbaren Weg durch die Gesteinswüste fanden und ausreichend Distanz zwischen sich und dem Jonpoola brachten, würde er sie über kurz oder lang einholen. Nur zu leicht konnten sie in einer Sackgasse enden, eingerahmt von hochragenden Blöcken. Dann wäre es aus mit ihnen. Nun ging es nicht mehr um Tempo und Geschicklichkeit, sondern nur noch um Glück. »Verdammte Kreatur, du hast sie verfehlt! Zwei Mal!« Erbarmungslos schlug Pjotr mit einem Lederriemen auf die Kadenaalin ein. »Das Tarnnetz war schuld, Meister! Es behindert auch unsere Zielortung! Gnade!«
* Der Jonpoola hielt widerwillig inne. Sie mussten diesem Maddrax und seiner vollbusigen Freundin so rasch wie möglich hinterher, sonst war alles verloren. Zwei der restlichen drei Autos waren ziemlich dicht dran und konnten ihnen auch noch gefährlich werden: Jeens, der kleine Deutsche, und ein hochpolierter Straßenschlitten, der zwei steinerne Büsten eines schnauzbärtigen Mannes als Rammböcke vorgebunden hatte. Pjotr sah ein, dass ihm Fehler unterlaufen waren. Die Erfolge der letzten Jahre hatten ihn überheblich gemacht. Er hätte das Fahrerfeld schon wesentlich früher reduzieren müssen. Doch es hatte ihm gefallen, dieses kleine Spiel mit der Angst. Ein wenig Unruhe erzeugen, ein paar Granaten abschießen, um die Gegner anschließend wieder näher an sich herankommen zu lassen ... Er war zu übermütig, zu nachlässig geworden. »Raus mit dir, du Kreatur«, herrschte er Maksi an. »Hol das Netz ein! Und dann jagen wir das Wild, bis es in der Falle sitzt! Ich kenne mich bestens aus im Labyrinth und gehe jede Wette ein, dass die den Weg nicht sofort finden. Und dann haben wir sie!« * »Wohin jetzt?« Matt sah angestrengt nach vorne. Die Sandsenke, durch die sie sich seit mehreren Minuten bewegten, wurde knapp voraus von großen Betonquadern, die früher einmal Bestandteil einer Vorortsiedlung gewesen sein mochten, in zwei Hälften geteilt. Er stoppte den ARET. Es war nicht zu erkennen, ob der Weg links oder rechts der Quader schnelleres Vorwärtskommen garantierte – oder in
einer Sackgasse endete. In zwei, drei Kilometern Entfernung fassten zudem gewaltige Steinfelder die Senke ein. Wenn sie den falschen Weg nahmen und keine Ausfahrt fanden ... Im nächsten Moment krachte es infernalisch. Vierzig, fünfzig Meter hinter ihnen schlug eine weitere Granate eine tiefe Kerbe in den Boden. Erde und Staub spritzten meterweit hoch und nahmen jegliche Sicht nach hinten. Der Jonpoola war nahezu auf Schussweite heran. Matt musste sich für eine Seite entscheiden. Sofort. »Links. Ich nehme die linke Seite«, murmelte er und fuhr an. »Warte!«, schreckte Aruula hoch. »Jetzt ist keine Zeit mehr, um -« »Es ist Mara! Die Harpyie. Ich kann sie spüren. Sie fliegt über uns und zeigt uns den Weg. Fahr nach ... rechts.« »Bist du sicher, dass sie nicht von Jeens beeinflusst wird? Dem Schweinepriester traue ich alles zu. Vor allem nach meinem ... hm, Schlüsseltrick.« »Nein. Ich spüre ihre Gedanken klar und deutlich. Sie ist aus freien Stücken hier.« »Gut ... also nach rechts!« Matt lenkte den Panzer in diese Richtung. Eine neuerliche Explosion. Wesentlich näher, dort, wo Matt den ARET ursprünglich hatte hinlenken wollen. Der Jonpoola schoss sich ein. »Wir feuern mit allem, was wir haben«, rief Pjotr nach draußen. »Hast du mich verstanden, Maksi? Verfeuere alles, was das Rohr hergibt. Selbst wenn wir unsere ganze Munition verbrauchen.« »Ja, Meister.« Die Kadenaalin kletterte affenartig auf dem Geschützstand herum. »Sag mal, Meister, hat es eine Bedeutung, dass diese Anzeigen hier langsam ins Rote wandern?«
»Was gehen mich ein paar dumme Anzeigen an?«, herrschte Pjotr sie an. »Darum kümmern wir uns, wenn wir im Ziel sind. Jetzt drück aufs Knöpfchen, Maksi!« »Jawohl, Meister.« Mara flog beständig vor ihnen her und zeigte den richtigen Weg durch das Labyrinth. Und doch gelang es Matt nicht, den Jonpoola abzuschütteln. Die beiden Fahrzeuge bewegten sich wie Schachfiguren auf einem riesigen Brett aus Steinquadern. Sie rauschten metertiefe Klüfte hinab und kletterten wenig später mühsam wieder an einem weiteren Brocken hoch. Matthew leistete Schwerarbeit mit dem Allradantrieb und quälte das Getriebe. Die Stadt war nah. Vielleicht noch drei Kilometer, dann waren sie zwischen den Häusern – und in Sicherheit. Der Jonpoola würde es nicht wagen, dort weitere Granaten abzufeuern. Wieder schlug ein Geschoss in unmittelbarer Nähe ein, wieder ertönte betäubender Lärm. Das Heck wurde von der Druckwelle angehoben. Anzeigen fielen aus. »Ist nur eine Frage der Zeit, dass uns dieser Irre erwischt«, presste Matt zwischen den Zähnen hervor. »Mara übermittelt mir etwas«, unterbrach Aruula die Schwarzmalerei ihres Begleiters. Sie saß in ihrer typischen Lauschhaltung auf dem Beifahrersitz, die Beine angezogen und den Kopf zwischen den Knien. »Ich sehe in ihren Gedanken, dass hinter der nächsten Quader Schicht ein Kanal kommt, an dessen Oberkante wir entlangfahren sollen. Dort können wir Tempo machen und den Jonpoola abhängen. Ein Stück voraus führt eine Brücke über den Kanal. Sobald wir sie überquert haben, sind wir in Sicherheit ... denkt sie.« »Wollen wir's hoffen«, sagte Matt. Zentimeterweise trieb er den ARET den Stein hinauf, geriet in Schräglage, fiel zurück, setzte nochmals an. Diesmal griffen die Reifen. Mit Schwung brachte er das Gefährt nach oben.
Mara hatte sie perfekt geleitet. Vor ihnen fiel eine Schräge fünf Meter in ein ausgetrocknetes Kanalbett ab. Entlang der Kante des Kanals war ein ausreichend breiter Fahrstreifen, der zu einer Holzbrücke führte, keine dreihundert Meter voraus. »Endlich haben wir mal ein bisschen Glück«, knurrte Matt. »... und viel Hilfe von oben«, ergänzte Aruula. Es waren ihre letzten Worte vor dem großen Knall. Die Granate schlug im hinteren Teil des ARET ein. Der Panzer erbebte, die LeichtmetallVerbundpanzerung knirschte. Computer stellten Funken sprühend ihren Dienst ein. Feuer brach aus, während der ARET langsam, wie in Zeitlupe, in den Kanal hinabrutschte und heftig unten aufprallte. Dann herrschte Ruhe. »Ich habe getroffen, Meister! Ich hab tatsächlich getroffen!« Maksi hüpfte begeistert auf ihrem Sitz auf und ab. Sie bemerkte gar nicht, dass sie sich den Kopf mit jedem Sprung an der niedrigen Decke anschlug. »Wurde auch Zeit.« Mit grimmiger Freude registrierte der Jonpoola, dass der Expeditionspanzer langsam in eine Grube hinabglitt, die von ihrem Standort aus nicht einzusehen war. In aller Ruhe lenkte Pjotr das Paapamobil über die Steinplatten. Er musste nicht hetzen. Der einzige Konkurrent vor ihnen war ausgeschaltet, und hinter ihnen war weit und breit noch kein Verfolger zu sehen. Vielleicht waren die restlichen Rivalen sogar im Urwald gescheitert. Pjotr ließ das Paapamobil die letzte Anhöhe hochklettern und hielt an. Unter ihm brannte das Fahrzeug des Gegners. Schwarze Rauchwolken verdeckten jegliche Sicht. Von den beiden Menschen war nichts zu sehen. Er hatte gewonnen. Gewonnen! »Machen die vielen roten Lämpchen wirklich nichts?«, fragte Maksi ängstlich und deutete auf die Anzeigen.
»Von welchen Lämpchen redest du da ständig?! Es ist ...« Das Geräusch einer Explosion erklang, ein Stück voraus. »Maksi! Hast du aufs Knöpfchen gedrückt?« »Nein, Meister.« * Der Aufprall stauchte Matt schmerzhaft im harten Sitz zusammen, doch er blieb bei Bewusstsein. Aruula – nicht angeschnallt – wurde nach vorn geschleudert, prallte innen gegen die Frontscheibe und zog sich einige blaue Flecken zu. Im hinteren Teil des Panzers knisterte es; Bandgeruch wehte heran. »Bist du okay?«, rief Matt, während er mit beiden Händen den Leerlauf einlegte. Aruula rollte sich vom Armaturenbrett. Sie hielt sich die geprellte Hüfte. »Es ... geht schon. Ich hab Schlimmeres überstanden.« »Dann geh nach hinten und lösch das Feuer! Rasch!«, befahl Matt. Gleichzeitig setzte er die Nebelwurfanlagen links und rechts des ARET ein, um mit dichtem schweren Qualm die Umgebung zu verdunkeln. In heiklen Momenten wie diesen, wenn andere Menschen sich bereits ihrem Schicksal ergaben, funktionierte sein Verstand am allerbesten. »Was hast du vor?«, fragte Aruula. Sie hatte sich den Feuerlöscher gegriffen und hielt in der Schleuse zum Mittelteil des Fahrzeugs inne. »Ich werde dem Jonpoola eine Nuss zu knacken geben, an der er sich die Zähne ausbeißt«, antwortete Matt und ließ die Seitenluke aufschwingen. Gottseidank – die Mechanik funktionierte noch. Im Hinausgleiten griff er nach dem Driller, löste sich im Schutz des Rauchs vom ARET und lief mit lockeren Schritten davon. Bis knapp vor die Brücke.
Matt spürte die ergonomisch gestylte Waffe – eine Entwicklung des Weltrats – in seiner Hand. Er visierte die Mitte der Brücke an. Ein gedämpfter Knall ertönte, als er abdrückte. Das gerade mal einen Zentimeter lange Explosivgeschoss traf den Mittelteil der Konstruktion. Matt hatte gut gezielt. Er erwischte einen tragenden Brückenteil. Das Holz zerstob in einem Feuerball und Myriaden von Splittern. Die Beschädigung reichte, um eine Kettenreaktion auszulösen, die einen Teil der Brücke einstürzen ließ. Befriedigt trabte Matt zum ARET zurück. Wenn er den Panzer jetzt noch einmal in Bewegung brachte, hatten sie eine letzte Chance ... * »Dieser Schweinehund lebt noch! Und nicht nur das: Er hat die Brücke gesprengt! Das ist nicht fair!« Der Jonpoola heulte vor Wut. »Der soll mich kennen lernen. Die nächste Granate schieß ich ihm direkt in den Hintern!« Doch so sehr er sich auch abmühte: Er schaffte es nicht, den Geschützlauf hinab in das Becken zu richten. Er konnte den Geschützwinkel nur parallel zum Horizont setzen. Tiefer war nicht möglich. Lästerlich fluchend nahm Seine Heiligkeit das Roodbuk zur Hand, blätterte hastig darin. »Da! Zweieinhalb Kilometer weiter südwestlich ist die nächste Brücke. Ein Umweg, aber die beste Möglichkeit.« Er überlegte kurz. »Maksi, ich fahre allein. Du steigst aus und kümmerst dich um die beiden dort unten. Sie dürfen ihren Panzer nicht mehr flottbekommen. Hast du mich verstanden?« »Ja, Meister! Ich werde sie beseitigen.« Sie zögerte. »Wenn der blonde Mann tot ist ... darf ich ihn dann trotzdem behalten?«
Der Jonpoola nickte resignierend. Wie gesagt: Sie war eine ausgezeichnete Meuchelmörderin. Aber ihren Geschmack, was Männer betraf, würde er nie verstehen. * Helden des Rennens, Teil 5 »Dieses Jahr geht aber auch alles schief! Dabei hatte ich mich erstklassig vorbereitet, mit doyzer Gründlichkeit sozusagen. Mein schmuckes Gefährt mit Kalle, der Ramme, aufgebrezelt, Mara als Überflieger für das Steinlabyrinth gekauft – an der Stelle hab ich mich letztes Jahr so verfranst, dass ich erst am nächsten Morgen im Ziel war –, und mir den schlauen Kopf zerbrochen, wie ich die anderen noch vor dem Start aus dem Rennen werfe. Hat alles nichts genutzt. Und warum? Weil dieser Maddrax und seine Schnalle aufgetaucht sind und mir Knüppel zwischen die Reifen geworfen haben! Erst fallen sie auf keinen einzigen Trick herein, dann schaffen sie die Prüfungen mit links ... und als Krönung setzt der Kerl meiner Henne Flausen in den Kopf und schmeißt meinen Zündschlüssel in den Sumpf! Hab eine halbe Stunde gebraucht, das Ding wiederzufinden. Und Mara? Seit Stunden ist sie weg; keine Ahnung, was sie treibt. Hoffentlich ist sie wieder hier, bevor ich das Labyrinth erreiche. Hab keine Lust, mich wieder zu verfahren. Na ja, zwei Dinge sind ganz okay bei all dem Scheiß. Erstens das mit diesem ... diesem Atomraktor im Paapamobil; nicht auszudenken, wenn das Ding wirklich hochgegangen war. Und zweitens: Wenn Maddrax weiterhin so einen Dusel hat, verpatzt er dem Jonpoola tatsächlich noch den Sieg. War gern dabei, wenn dem Arschloch die Kinnlade runterfällt.
Blöd nur, dass es so laufen wird wie letztes Jahr und die Jahre davor: Alle schlagen sich die Köpfe ein, und am Ende gewinnt Pjotr. Er hat einfach die bessere Maschiin, dagegen kommt auch Maddrax' Schleuder nicht an. Und die schmutzigeren Tricks sowieso. Aber nächstes Jahr; nächstes Jahr werd ich ihn kriegen! So wahr ich Jeens heiße! ... Scheiße, Mara, komm zu mir zurück!« * Der künstliche Nebel hielt sich hartnäckig in dem schmalen Kanalbecken. Als er in die Schwaden zurückkehrte, verlor Matt binnen weniger Sekunden jegliche Orientierung. Wo war der ARET? Er konnte seine Hand nicht vor den Augen sehen. Matt zwang sich, blind geradeaus zu gehen. Sobald er an den steil nach oben ansteigenden Rand stieß, konnte er sich orientieren. Was war das? Matt spürte einen Windhauch, als ob jemand hinterrücks nach ihm geschlagen und ihn nur knapp verfehlt hätte. Ein kurzer Schrei, eine Art Gurgeln ertönte. Aus welcher Richtung? Er blieb geduckt stehen und hielt den Atem an. Nichts mehr zu hören. Verdammt! Da war etwas im Nebel; er konnte es geradezu spüren – nur eben nicht sehen. Noch vorsichtiger als vorhin tastete sich Matt weiter. Gegen einen Gegner hatte er nur dann eine Chance, wenn er aus den Schwaden hinauskam oder den ARET erreichte. Nach wenigen Schritten stieß er tatsächlich an den Rand des Kanalbeckens. Von hier aus war es leicht. Nach einer weiteren Minute erreichte er den ARET. Beziehungsweise das, was davon übrig war.
Er fand die beiden fast leeren Rauchbomben und warf sie so weit wie möglich weg. Ätzender Geruch nach verbranntem Plastik kam ihm aus der Seitenluke entgegen. »Aruula?«, rief er in den Panzer hinein. »Ist alles klar? Hast du den Brand unter Kontrolle?« Keine Antwort. Verdammt! Was immer da draußen herumschlich – hatte es den ARET schon vorher gefunden und Aruula ...? Nein, daran wollte er nicht mal denken. Matt schwang sich ins Cockpit und durchsuchte die Segmente. Aruula war nicht im Wagen. Mit einem immer mulmigeren Gefühl streckte Matt den Kopf aus der Luke. Draußen verzog sich der Nebel nur langsam. »Aruula!«, brach es aus dem Commander hervor; seine Stimme zitterte leicht. »Wo steckst du?!« »Hier, gleich neben dir«, ertönte Aruulas ruhige Stimme seitlich unter ihm. Sie stand neben der Flanke des ARET, das Schwert in der Hand. »Warum schreist du denn so?« Matt musste seinen Schrecken erst verdauen. »Wo warst du? Warum gibst du keine Antwort?« »Ich hatte noch was zu erledigen.« Mit einem ölverschmierten Tuch wischte sie Blut von ihrem Bihänder. Matt verstand. Das Ding im Nebel. Aruula musste es mit ihrem Lauschsinn gespürt haben. Daher also vorhin der Schrei: Sie hatte ihm wieder einmal das Leben gerettet. »Was war es? Irgendein Tier? Eine Mutation?«, erkundigte er sich. »Weder, noch. Es war das widerliche Weibsstück des Jonpoola, diese Maksi. Sie wollte dir auflauern und dich hinterrücks abschlachten.« Aruula betrachtete die nun wieder saubere Klinge ihres Schwertes. »Ich bin ihr zuvorgekommen. Wir können weiterfahren.« Matt schauderte. Es gab Momente, da war ihm Aruula geradezu unheimlich. Den Wert eines Lebens zum Beispiel
schätzte sie ganz anders ein als ein »zivilisierter Mensch«. Für sie galt das Motto »Auge um Auge, Zahn um Zahn« – ganz besonders wenn es sich um Taratzenzähne handelte. Doch anders ließ sich in dieser Zukunftswelt auch kaum überleben ... Sie stiegen ein, und Matt checkte jene Instrumente, die noch intakt waren. Einige Anzeigen flackerten nach dem Neustart der Software wieder auf, andere blieben tot. Die Hinterachse war beschädigt und blockierte. Doch die Kraft der vorderen sechs Räder reichte aus, um den ARET mit knapp zwanzig Stundenkilometern vorwärts zu ziehen. Blieb nur ein Problem ... »Wie kommen wir hier raus?«, fragte Aruula, nachdem sie die Nebelsuppe hinter sich gelassen hatten. »Mit der Seilwinde«, entgegnete Matt. »Seilwinde?« »In der Transportbucht liegt eine gut eingeölte Kabeltrommel, die man am Bug des ARET einsetzen kann«, erklärte Matt. »Ich hatte mich über die seltsame Form der Frontpartie gewundert, nachgeforscht und eine Halterung entdeckt. Das Kabel ist nur deswegen nicht ständig eingehängt, um es vor Dreck und Nässe zu schützen. – Hilf mir mal ...« Gemeinsam hoben sie die Trommel mit dem Stahlseil aus der seitlich zu öffnenden Transportbucht des ARET und schleppten sie zur Fahrzeugschnauze. Nachdem die Winde eingerastet war, nahm Matt den Karabinerhaken und zog das Seil hinter sich her. Keuchend kletterte er den Anstieg zur anderen Seite des Kanals hoch. Mehrmals rutschte er ab, doch schließlich konnte er sich an Wurzeln und Efeuranken nach oben ziehen. Ein einzelner monumentaler Stahlträger ragte wie ein mahnender Finger keine fünfzehn Meter vom Kanalrand entfernt aus dem Boden. Matt überprüfte ihn auf seine Standfestigkeit, umschlang ihn mit dem Seil und ließ den Karabiner einschnappen.
Dann rutschte er die Böschung wieder hinab, setzte sich hinters Lenkrad und aktivierte die elektrische Seilwinde. Langsam, ganz langsam ging es den Hang hinauf. Die Geschwindigkeit konnte man in Zentimetern pro Sekunde messen. Nach einer schier unendlichen Zeitspanne kippte der ARET endlich über den Rand. Sie fuhren weiter. Von Verfolgern war noch nichts zu sehen. Der Jonpoola musste die nächste Brücke in zweieinhalb Kilometern Entfernung genommen haben. Das war knapper als es Matt recht sein konnte. Hoffentlich ging sich der Vorsprung aus ... Kurz vor der Stadt machte es lautstark »Klonk«, und die Hinterachse war weg. Von da an zuckelten sie mit Schrittgeschwindigkeit dem Ziel entgegen – und Matt blickte immer häufiger auf den Bildschirm der rückwärts gerichteten Kamera. Das übertragene Bild zeigte viel Straße und nur einen schmalem Streifen Himmel; das Heck schleifte schwer über den Boden und zog in der beginnenden Dämmerung einen weithin leuchtenden Funkenschlag hinter sich her. Die Vibrationen unter ihren Steißbeinen waren mörderisch. Würde ihr Vorsprung vor dem Jonpoola trotzdem groß genug sein, um sich in die Stadt zu retten? Eine andere Frage hatte Matt schon für sich beantwortet: Es war unwahrscheinlich, dass man den ARET wieder instand setzen konnte. Die Beschädigungen hatten ein Maß erreicht, das selbst die Bunker-Ingenieure überfordern würde. Falls sie bei ihrer Rückkehr überhaupt noch Hilfe zu erwarten hatten. Nach wie vor war ungeklärt, ob die Drohung und Blacks Geiselnahme auf das Konto von Kubica ging oder der gesamten Bunkerführung anzulasten war. »Geschafft«, flüsterte Matt erleichtert, als er in die erste der engen Gassen einbog. Aruula drückte ihm bestärkend die Hand. Ein weiteres Abenteuer war überstanden. Links und
rechts standen die Waarzaner dicht gedrängt Spalier und jubelten den beiden begeistert zu. Es ging über eine kleine Brücke auf die Barbakane zu, dem ellipsoiden Vorbau eines mittelalterlichen Tors. Die massive steinerne Befestigungsanlage aus dem sechzehnten Jahrhundert hatte die Zeit nach Kristofluu wesentlich besser überstanden als die meisten Bauten der Neuzeit. Der Neuzeit, der ich entstamme, verbesserte sich Matt. Er hatte die Luke auf der Fahrerseite geöffnet, ließ frische Luft herein und winkte mit der Linken den fröhlichen, ausgelassenen Menschen zu. Die Granate explodierte rechts vom ARET und riss zwei Dutzend Menschen oder mehr in den Tod. Innerhalb einer Sekunde brach Panik aus. Matt hatte Mühe, das Panzerfahrzeug in der Spur zu halten. »Ich glaub's nicht! Orguudoo muss seinen Geist gefressen haben!«, fluchte Aruula fassungslos. Matt beschäftigte momentan weniger der mentale Zustand des Jonpoola – denn vom wem sonst sollte das Geschoss stammen? –, sondern die Frage des eigenen Überlebens. Der Antrieb des ARET setzte aus. Immer wieder. Wahrscheinlich hatte ein Granatsplitter die Kardanwelle in Mitleidenschaft gezogen. Ein weiteres Explosionsgeschoss des Jonpoola, diesmal schlechter gezielt, legte den Großteil der Barbakane in Trümmer und begrub weitere Menschen unter sich. Hilflos musste Matt der Tragödie zusehen. Wenn er auch das Ziel des Angriffs war – aufhalten konnte er ihn nicht. Er hatte nur die Hoffnung, dass der Jonpoola das Feuer einstellte, wenn der ARET die Ziellinie überquert hatte. Doch würde der Irre seine Niederlage überhaupt akzeptieren? Matt knüppelte den Expeditionspanzer weiter vorwärts und scheuchte laut hupend die Menschen von den Straßen.
Noch eine enge Kurve, noch eine kurze Gerade – wieder ein Geschoss, das weit über sie hinweg flog und ein Haus in Trümmer legte –, dann erreichten sie den Hauptplatz, vollgestopft mit Menschen, die alle dem Sieger zujubeln wollten. Die Zuschauertribüne, Transparente, Freudenfeuer, und die mit weißem Talkum gezogene Ziellinie, keine zwanzig Meter voraus. In dem Moment, als Matt sich fragte, ob er den ARET nicht besser dem Jonpoola als Opfer dargeboten hätte, anstatt auf den belebten Platz einzubiegen, versagte der Antrieb endgültig. Der Motor heulte lautstark auf, konnte aber seine Kraft nicht mehr auf die Räder übertragen. Es war zum Verzweifeln. Nur fünf Meter vor dem Ziel blieben sie stehen. Und die Zeit lief ab. Der Jonpoola bog hinter ihnen auf den Platz ein und richtete das Geschütz auf sie aus. Raus hier! Während Aruula mit einem Hechtsprung durch die offene Luke nach draußen hechtete und sich geschickt auf dem Pflaster abrollte, durchzuckte es Matt wie ein Blitz. Er verhielt mitten in der Bewegung, mit der er aus der Öffnung gleiten wollte. Der Reaktor des ARET! Zwar war die Anlage moderner und weitaus besser gewartet als die des Paapamobils, aber ob sie einen direkten Treffer überstand ... ? Es wäre eine Ironie des Schicksals gewesen, wenn am Ende nicht der Atomreaktor des Jonpoola, sondern der eigene den Untergang Waarzas besiegelt hätte. Obwohl ihm keine Zeit blieb, sprang Matthew Drax zu den Konsolen im hinteren Teil des Cockpits, zerschlug eine Glasabdeckung und betätigte die Notabschaltung des Reaktorkerns. Mit einem letzten Brummen erstarb jegliche Aktivität im ARET.
Eine Granate raste auf den Expeditionspanzer zu, schoss über ihn hinweg und schlug in die voll besetzte Tribüne ein. Wie eine Streichholzkonstruktion stürzte sie in sich zusammen. Chaos brach aus. Blutende, weinende, orientierungslose Menschen rannten kreuz und quer. Bevor er durch die Lukenöffnung glitt, spähte Matt nach hinten. Der Geschützlauf des Paapamobils schien wie der Finger eines Dämons genau auf ihn zu deuten. »Raus!«, brüllte Aruula. Er sprang, federte ab, rannte zu ihr und weiter. Rings um sie herum waren Menschen auf der Flucht. Sie alle wussten, was gleich passieren würde. Sie kamen acht, neun Schritte weit. Dann traf und durchschlug die letzte Granate die rückwärtige Luke des ARET, explodierte im hintersten Segment und sprengte es auseinander. Große und kleine Metallteile wirbelte durch die Luft. Aruula und Matt lagen flach auf dem Boden. Die Explosion und das Prasseln der Bruchstücke verklangen. Dann herrschte Totenstille. Nein, nicht ganz. Das Paapamobil fuhr wieder an und überquerte die Ziellinie. * »Gequirlte Taratzenkacke!«, schrie Pjotr und lachte irr. »Ich habe gewonnen. Niemand kann mir den Sieg nehmen!« »Dass du dich nur nicht täuschst«, erwiderte der Solnosc ruhig. »Sieh doch, was dein letzter Treffer bewirkt hat.« Er deutete auf den vorderen Teil des ARET, einen verrußten Kasten mit zerplatzten Scheiben, der rauchend auf dem Hauptplatz lag. Die Explosion hatte Cockpit und Laborsegment nach vorn katapultiert – hinter die Ziellinie.
»Ich habe gewonnen! Ich bin der Sieger!«, brüllte Pjotr und öffnete freudenstrahlend den Ausstieg seines Panzers. »Würdigt euren Jonpoola, preiset und lobet ihn! Pjotr der Siebente hat es auch dieses Jahr geschafft!« Die Menschen – seine Herde – kamen langsam näher. Ein paar von ihnen humpelten, andere bluteten. Einige bewegten sich überhaupt nicht mehr und lagen nur noch mit verdrehten Gliedern auf dem Platz herum. »Ich habe gewonnen!«, schrie Pjotr wieder. »Setzt gefälligst zu Jubelgesängen an!« Der Solnosc trat an ihn heran. Ein Turban, unter dem Blut hervorsickerte, zierte sein Haupt. »Diesmal hast du es zu weit getrieben, Pjotr«, sagte er laut. »Der Wahn ist endgültig über dich gekommen.« »Mach dich nicht lächerlich, du unbedeutender, schnapsnasiger Kretin. Das Volk ist mein Zeuge, dass ich als Erster über die Linie gefahren bin ...« »Das Volk, wie du es nennst, hat vor allem gesehen, wie wenig Wert du den Menschen beimisst. Siehst du denn nicht all die Toten?« »Hier ging es um den Sieg, da ist jedes Mittel recht! Sagen dies nicht die Regeln?« »Alles hat eine Grenze, ehemaliger Jonpoola. Die deinige hast du weit überschritten. Diese Menschen werden nie vergessen, was du ihren Freunden und Angehörigen angetan hast.« * Matt und Aruula stützten sich gegenseitig und betrachteten das Schauspiel. Der Translator an Matts Gürtel, funktionierte noch; so konnten sie hören, was gesprochen – beziehungsweise gegeifert wurde.
»Betrug!«, schrie der Jonpoola ein paar Mal, bis man ihm einen Stofffetzen ins Maul stopfte. Ein paar aufgebrachte Männer hoben den hageren Mann vom Paapamobil herunter, rissen ihm die Kleider vom Leib und stellten ihn nackt auf das weithin sichtbare Podest. Es dauerte nur wenige Minuten, bis eine Tonne herbeigeschafft wurde. Der Solnosc persönlich tunkte einen breiten Pinsel hinein und bestrich den Jonpoola mit dampfendem schwarzen Pech. Auch die Federn waren verdächtig schnell bei der Hand. Offensichtlich war man auf dieses Schauspiel bestens vorbereitet. Die johlende Menge trug den Geteerten und Gefederten bäuchlings auf einem primitiven Haltegestell und unter Schmährufen aus der Stadt. Sein Schicksal war besiegelt. Auch wenn er die qualvolle Prozedur überlebte, das Pech mühsam abzuschaben, das die Atmung seiner Haut verhinderte – als Geächteter hatte er in Poolen keine Chance mehr, auf einen grünen Zweig zu kommen. Der Solnosc würde dafür sorgen, dass sich seine Schandtaten rasch herumsprachen. Ebenso leidenschaftlich, wie sie gerade gehasst hatten, wandten sich die Bewohner Waarzas Matt und Aruula zu und ließen sie hochleben. Man gab den halb tauben und völlig erschöpften Siegern zu essen und zu trinken, klopfte ihnen ein ums andere Mal auf die Schultern und sprach, nein schrie auf sie ein. Die Leute hatten einen neuen Jonpoola. Dachten sie.
12. Im Schloss des Solnosc
Man geleitete Matt und Aruula im Triumphzug zum Schloss. Trotz seiner Erschöpfung hatte Matthew dafür gesorgt, dass alle noch verwertbaren Ausrüstungsgegenstände – Translatoren, ISS-Funkgeräte, Waffen, Kleidung, Karten und so weiter – aus dem zerstörten ARET geborgen wurden. Aruula hatte ein Auge auf die Kiste, in der sich nun ihre ganze Habe befand. Der Mann aus der Vergangenheit und seine Begleiterin atmeten auf, als der Trubel und die Menschenmenge hinter den Schlosstoren zurückblieben. Aber es war noch keine Zeit auszuruhen. Im Gegenteil würden die nächsten Minuten darüber entscheiden, ob ihre Mission letztlich glückte. Das Treffen mit dem Solnosc und den Bunkerleuten stand bevor. Hatten sich die Machtverhältnisse während des Rennens verschoben? Stand nun Major Kubica an der Spitze der Community? Und war somit Mr. Black noch immer sein Gefangener und Druckmittel? Matt atmete auf, als sie in den Thronsaal traten und neben dem kleinen fülligen Solnosc nur General Andrzej Koslowski mit einigen Wachen sahen. Von seinem Adjutanten fehlte jede Spur. Ein gutes Zeichen? »Ich habe das Rennen für Sie gewonnen, General«, sagte Matthew Drax. »Nun bin ich wohl der neue Jonpoola und Eigentümer Ihres abhanden gekommenen Panzerfahrzeugs. – Über das Sie mich auch schon vor dem Rennen hätten aufklären können!«, fügte er grimmig hinzu. Der General machte einen zerknirschten Eindruck unter dem Kugelhelm. »Das war, ähm, Major Kubicas Idee«, sagte er so kleinlaut, wie es sein Rang zuließ. »Überhaupt hatte mein Adjutant einige ... Einfälle, die nicht die Zustimmung der Bunkerführung fanden. Ich habe daraus die Konsequenz gezogen und ihn liq-, äh, aus seinem Amt entfernt. Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass er einen Putsch plante. Als er
versuchte, Ihren Präsidenten in seine Gewalt zu bringen, wurde er des Hochverrats überführt.« »Und Mr. Black ...?« »Ihm ist nichts passiert«, beeilte sich Koslowski zu versichern. »Und die Herstellung des Serums haben wir inzwischen auch abgeschlossen. Ihrer Weiterfahrt steht also nichts im Wege.« »Nachdem die Machtverhältnisse geklärt sind!«, meldete sich der Solnosc zu Wort, der bislang der Unterhaltung schweigend gefolgt war. »Sie müssen eine Rede halten, Maddrax, und das Volk auf die neue Allianz einschwören.« Matt nickte nur zu ihm hin; etwas anderes lag ihm momentan mehr am Herzen. »Weiterfahrt mit was?«, fragte er an General Koslowskis Adresse. »Bei dem Vorhaben, Ihnen den gestohlenen Panzer zu beschaffen, hat es den ARET zerlegt.« »Das, äh, ist sehr bedauerlich.« Der General bemühte sich um Anteilnahme. »Leider war unser Panzer ein Experimentalmodell – weitere existieren nicht. Wir mussten ihn übrigens aus dem Verkehr ziehen. Die Hülle des Reaktors war undicht geworden; es trat bereits Strahlung aus. Eine paar Tage später und der Kern wäre geschmolzen! Nicht auszudenken ... Ich kann Ihnen also keinen gleichwertigen Ersatz anbieten. Aber ich bin mir sicher, dass der Solnosc Ihnen und Ihren Freunden gern drei dressierte Flugandronen zur Verfügung stellt.« »Hmph«, machte Matt enttäuscht. Er hatte an die chitingepanzerten Riesenameisen keine besonders guten Erinnerungen. Er assoziierte sie hauptsächlich mit einem Absturz in den Alpen und mit gewissenlosen Sklavenhändlern, denen er im Südwesten Britanas in die Hände gefallen war. Doch was sollte er machen? Es war besser, auf den Rücken der flugfähigen Tiere weiter Richtung Westen zu reisen, als per pedes.
»Um noch einmal auf die Rede zurückzukommen ...«, setzte der Solnosc an. »Genau, die Rede«, unterbrach ihn Matt – und wandte sich wiederum an Koslowski. Es war an der Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen. »So wie ich es sehe, habe ich als neuer Jonpoola als Einziger die Macht, Bunkerleute und Bevölkerung friedlich zu einen. Richtig?« »Nun ... äh, ja, so kann man es ...« »Okay. Und Sie stimmen mir weiterhin zu, dass bislang meine Freunde und ich es waren, die Ihrer Community in vielerlei Hinsicht geholfen haben. Die Funkgeräte für den Kontakt nach Moskau und zur Allianz. Die Translatoren zur besseren Verständigung. Die Rückführung Ihres Panzers, bevor es zur Katastrophe kam. Und nicht zuletzt das Serum, mit dem Sie endlich die Immunschwäche überwinden und hinaus ins Freie können.« Der General wirkte leicht überfahren. Er nickte bloß. »Gut. Dann erlauben Sie, dass ich nun eine einzige Forderung stelle. Danach können Sie und der Solnosc sich die Macht teilen und das Land zu neuer Blüte führen.« Die, Brauen des Generals zogen sich zusammen. »Ich fordere im Gegenzug eine verbindliche Zusage«, sagte Matt, »dass Sie, die Bunkerbesatzung, und die poolische Bevölkerung zusammenarbeiten werden und uns im Kampf gegen die Daa'muren unterstützen.« Matt wusste nicht, was Koslowski erwartet hatte; diese Bedingung jedenfalls schien ihm keine Probleme zu bereiten, denn seine Miene erhellte sich wieder. Matthew Drax streckte ihm die Hand hin. »Schlagen Sie ein – auf eine neue Zukunft und eine starke Allianz.« Und nacheinander schüttelte er General Koslowski und dem Solnosc die Hände. *
Noch am selben Abend trat US Air Force Commander Matthew Drax vor »sein« Volk. Es war eine ganz neue Erfahrung für ihn, als geistiges Oberhaupt eines ganzen Landes zu gelten – zumal er den Titel nur einem mit viel Glück gewonnenen Rennen verdankte. Doch er hatte nicht vor, die seltene Ehre länger als nötig auszukosten. Er hatte sogar die hundert Jungfrauen abgelehnt, die man ihm zum Amtsantritt kredenzen wollte. Eine unüberschaubare Menschenmenge hatte sich im Hof des Schlosses und weit darüber hinaus versammelt, als Matt vor das Mikrofon trat. Die Technos hatten die Anlage aufgebaut und so konfiguriert, dass sie direkt an den Universal-Translator angekoppelt war. Wer nicht gerade auf Lippensynchronität achtete, musste den Eindruck haben, dass der blonde Fremde Poolisch sprach. »Volk von Waarza, Volk von Poolen«, begann Matt seine Rede, die er zusammen mit dem Solnosc entworfen hatte. »Ich bin euer neuer Jonpoola ...« Minutenlanger Jubel unterbrach ihn, und alle Gesten, wieder Ruhe einkehren zu lassen, scheiterten. Die Menschen waren wirklich über alle Maßen erleichtert, nicht mehr unter der Herrschaft Pjotr des Siebenten zu stehen. Endlich verebbten die Hochrufe, und Matt konnte fortfahren. »Ja, ich habe den GePe gewonnen und bin damit euer Jonpoola – aber die Mission, die ich zu erfüllen habe, macht es mir unmöglich zu bleiben.« Bevor das aufkommende Murren seine Stimme übertönen konnte, legt er schnell ein Reizwort nach, das die Menge wieder verstummen ließ: »Eine große Gefahr kommt auf Poolen zu – und auf den Rest der Welt! Eine Gefahr, die von Osten herannaht, von dem Kratersee, den Kristofluu einst in die Erde grub!« Und dann erzählte er von den Daa'muren und deren Plan, in neuen Körpern die Menschheit zu verdrängen. Ringsum wurde
es immer stiller; die Menschen sahen sich entsetzt und ungläubig an. Matts Ausführungen ließen sie schaudern. Dies war die beste Gelegenheit, den letzten Punkt auf seiner Liste abzuhaken, eine revolutionäre Neuerung um die Rolle des Jonpoola. »Wie ich schon sagte«, fuhr er fort, »erlaubt es mir meine Mission nicht, in Waarza zu residieren. Ich habe mich daher kraft meines Amtes entschlossen, die Macht des Jonpoola und die der weltlichen Führung zu einen. Der Solnosc ...« Er wandte sich halb um und winkte den kleinen rundlichen Mann mit den glänzenden Schweinsäuglein heran. Wenigstens hatte man ihm die wirre Haar- und Barttracht gestutzt, sodass er ganz passabel aussah. »Der Solnosc wird beide Ämter in sich vereinen, und das ...«, Matt legte eine kurze rhetorische Pause ein, um die Wichtigkeit des Augenblicks zu unterstreichen, »... mit der Unterstützung und Hilfe einer Zivilisation, die lange Zeit verborgen unter eurer Stadt lebte. Manche werden die Legenden von den Unterirdischen in ihren silbernen Anzügen schon gehört haben. Diese Legenden sind wahr!« Diesmal dauerte es fast zehn Minuten, bis sich die Aufregung gelegt hatte und Matt weitersprechen konnte. Ihm war durchaus bewusst, dass er der Bevölkerung einen Kulturschock verpasste – aber es gab keine andere Möglichkeit. Er musste die Macht des Jonpoola nutzen, um die Veränderungen hier und jetzt einzuführen. »Die Bunkerleute, wie sie sich nennen, arbeiten schon seit geraumer Zeit zu euer aller Wohl mit dem Solnosc zusammen«, nahm Matt den Faden wieder auf. »Von ihnen stammen auch viele Teile, die ihr für eure Automobile verwendet habt. Aber sie waren unter der Erde gefangen, weil sie auf der Oberfläche krank geworden wären. Auf meiner Mission habe ich ihnen nun eine Medizin gebracht, mit der sie aus der Tiefe herauf ans Licht kommen können. Sie werden
euch Wohlstand und Fortschritt bringen, und gemeinsam könnt ihr eine Allianz gegen die Außerirdischen schmieden!« Für zwei, drei Sekunden herrschte Stille. Dann klang ein einzelnes Klatschen auf. Und eine weitere Sekunde später brach ein Jubelsturm los, der diesmal gar nicht mehr enden wollte ... * Zwei Tage später Sie standen auf dem von Sonne überfluteten Schlosshof: Matt, Aruula, Mr. Black, der Solnosc, General Andrzej Koslowski und dessen neuer Adjutant, ein hagerer Jüngling mit Brille und Allerweltsgesicht. Matthew Drax schüttelte dem alten Mann die Hand. »Passen Sie gut auf sich auf, General.« »Ich weiß, was Sie meinen, Commander. Doch keine Sorge – ich fühle mich stark genug, dem Drängen der jüngeren Offiziere noch einige Jahre standzuhalten. Dann, so hoffe ich, wird eine neue Generation ans Ruder kommen, für die das Leben im Bunker nur noch ein schlechter Traum sein wird.« Die Stimme des Generals wurde nicht mehr durch einen Anzuglautsprecher verzerrt. Er trug eine graue Uniform, in deren Brusttasche ein Serumsbeutel steckte. Der Schutzanzug war für ihn Vergangenheit. Aruula legte Matt eine Hand auf die Schulter. »Eben werden die Andronen gebracht«, sagte sie. Matt drehte sich um. Tatsächlich kamen einige Männer durch das Tor, die große Flugameisen an Zügeln führten. Der Solnosc eilte gleich zu ihnen hin, um Anweisungen zu erteilen. »Bevor Sie gehen«, lenkte Koslowski Matts Aufmerksamkeit wieder auf sich, »habe ich noch eine kleine Überraschung für Sie und Ihre Freundin.« Er machte eine Handbewegung zum Eingang des Gebäudes hin.
Dort löste sich eine kleine Gestalt im plumpen Schutzanzug aus den Schatten und lief zu der kleinen Gruppe herüber. Es war Jola, die Enkelin des Generals. »Sie wollte unbedingt, dass Sie dabei sind, wenn sie zum ersten Mal den Wind und die Sonne auf ihrer Haut spürt«, sagte der alte Mann. »Ist sie denn schon so weit?«, erkundigte sich Aruula. Der General nickte. »Sie war eine der Ersten, die das Serum erhielten. Außerdem ist hier beim Schloss die Infektionsgefahr gering. Bis wir uns ohne Schutz unter das Volk wagen, warten wir lieber noch einige Tage ab.« Jola sagte etwas, und der Translator an Matts Gürtel übersetzte. »Hilfst du mir hier raus?« Matt ließ sich auf ein Knie hinab. »Na dann komm mal her, meine Kleine.« Er öffnete den Bajonettverschluss des Schutzanzuges. Zischend entwich die sterile Luft. Dann nahm er ihr den Helm ab. Ungeduldig rannte Jola los und sog die frische Luft in ihre Lungen. »He, ich war noch nicht fertig!«, lachte Matt und versuchte, sie einzufangen. Doch das kleine Mädchen drehte übermütige Pirouetten, raste wie ein Derwisch über die verwilderten Wege, an betäubend duftenden Rosensträuchern vorbei. Mit spitzen Freudenschreien zeigte sie auf die Sonne, die hoch über dem Innenhof stand. Matt gab es auf, sie fangen zu wollen. »Es ist wie ein Wunder«, sagte der General gerührt. »Als ob sich uns ein Paradies öffnet.« »Vergessen Sie nicht, dass in diesem Paradies eine Schlange lauert«, warf Mr. Black ein, und die unbekümmerte Stimmung verflog im Nu. Matt räusperte sich und sah den Running Man strafend an. Mr. Black hob unschuldig die Schultern. Was kann ich für die Wahrheit?
»Er hat Recht«, sagte General Andrzej Koslowski. »Noch heute werden wir ein Treffen mit Moskau vereinbaren, um weitere Schritte zu besprechen. Ihnen dreien wünsche ich viel Glück auf Ihrer Mission. Wer weiß, ob und wann wir uns wiedersehen.« Sie gaben sich die Hände. Ein Blick zu den Andronen hinüber zeigte Matt, dass ihre Ausrüstung inzwischen auf die Rücken der Tiere verladen war. »Okay, Leute, auf geht's. Nächster Zwischenstopp: Berlin.« Er und Aruula verabschiedeten sich noch herzlich von der kleinen Jola. Dann kletterten sie auf die Riesenameisen, die sie weiter Richtung Westen tragen würden. * Helden des Rennens, Teil 6 »Ich war der Sieger des Rennens, ich habe als Erster die Ziellinie überquert. Hört mir zu, mein Volk, meine Untertanen! Ich, Pjotr der Siebente aus Kraka, bin das legitime Oberhaupt dieses Mistlandes, das sich Poolen nennt. Oh, vielen Dank für das Almosen, mein Herr. Wartet nur ab – nächstes Jahr fahre ich wieder mit, ich baue schon an einem neuen Paapamobil. Momentan ist es nur ein Modell aus Yakk-Dung, aber ich werde mit meiner eigenen Hand ein Fahrzeug schaffen, das das Land noch nicht gesehen hat. Vielen Dank für das Kupferstück, mein Herr. Warum sich meine Haut ablöst und woher diese Ekzeme kommen, wollt Ihr wissen? Keine Ahnung. Irgendwann hat die Haut zu jucken begonnen, und ich habe Blut gespuckt – aber keine Angst: Einen Jonpoola kann man nicht töten.«
ENDE
Piraten im Nordmeer von Ronald M. Hahn
David McKenzie und Rulfan von Coellen hätten ausreichend Gelegenheit gehabt, die Freuden der Seefahrt zu genießen – wären sie nicht vor einer gewaltigen Mutanten-Armee auf der Flucht. Ihr Auftrag ist es, mit dem Raddampfer »Genosse Troozki« die britanischen Inseln zu erreichen, um die dortige Community zu warnen. Dieses Ziel rückt in weite Ferne, als Rulfan eines Nachts das Ruder verlassen vorfindet, kurz bevor der Dampfer in eine Nebelwand eintaucht und der Steuermann mit einem Messer auf ihn losgeht. Den letzten Zweifel, dass hier etwas nicht stimmt, beseitigt dann ein riesiger Katamaran, dessen zwei Buge die Form von Totenköpfen haben. Und auf den die »Genosse Troozki« in voller Fahrt zuhält ...