ShortBooks „Wissen ist Macht“
Wer war Jack the Ripper? Porträt eines Killers von Patricia Cornwell Gebundene Ausgabe: 4...
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ShortBooks „Wissen ist Macht“
Wer war Jack the Ripper? Porträt eines Killers von Patricia Cornwell Gebundene Ausgabe: 415 Seiten Verlag: Hoffmann und Campe Erscheinungsjahr: 2002 ISBN: 3-455-09365-5 Preis: 22,90 €
Hauptaussagen “Als ich die etwa 250 Ripper-Briefe... las..., formte sich für mich nach und nach ein entsetzliches Bild: das eines wütenden, gehässigen und listigen Kindes, das einen brillanten und hochtalentierten Erwachsenen beherrscht und vollkommen unter Kontrolle hat. Jack the Ripper fühlte sich nur mächtig, wenn er Menschen abschlachtete und die Autoritäten quälte, und er ist damit über 114 Jahre davongekommen.”
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Walter Richard Sickert, erfolgloser Schauspieler und berühmter Maler, stand gern im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Er schlüpfte gern in unterschiedliche Rollen, war charmant, brillant, doch es gab nur eine Person, die ihn wirklich interessierte: er selbst.
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Walter Sickert galt als Frauenheld, doch er hasste die Frauen, hatte Angst vor ihnen. Er war mit einer Mißbildung des Penis geboren, die ihn möglicherweise impotent machte.
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Jack the Ripper spielte mit der Polizei, verhöhnte sie in zahlreichen schriftlichen Mitteilungen und fühlte sich ihr überlegen. Auch von Sickert weiß man, dass er sich seinen Mitmenschen grundsätzlich überlegen fühlte.
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Jack the Ripper begann 1888 zu morden und wurde nach dem Mord an Mary Kelly totgeschwiegen. Der Serientäter hörte gewiß nicht auf zu morden, doch offensichtlich hatte sich sein gewalttätiger psychopathischer Trieb abgeschwächt.
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Es gibt verblüffende Übereinstimmungen zwischen dem, was man über das Aussehen und die Wunden der Opfer von Jack the Ripper weiß, und den Bildern, die Walter Sickert später malte. Sickerts Frauendarstellungen wirken ausgesprochen gewalttätig.
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Mit den heutigen Kenntnissen hätte man den Ripper überführen können. Auf Sickert fiel zu Lebzeiten kein Verdacht.
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Rezension “Walter Sickert war gewiß nicht der erste Psychopath, der ... die Welt verhöhnte, sich lustig machte, glaubte, er sei klüger als alle anderen und käme mit seinen Morden ungeschoren davon, doch vielleicht war er der originellste und kreativste Mörder, den es je gab.“
Ein faszinierendes Buch, das Patricia Cornwell da geschrieben hat. Natürlich stellt man sich nach der Lektüre die Frage, ob man ihren Theorien Glauben schenken mag oder ob sie nicht einen sehr einseitigen Blickwinkel einnimmt. Es wird zweifellos weiterhin Theorien geben, wer der Mörder gewesen sein könnte. Doch Patricia Cornwell kennt immerhin die Materie, sie weiß, worüber sie schreibt, hat in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern zahllose Untersuchungen und Analysen angestellt. So zeichnet sie nicht nur ein überzeugendes Bild von einem Psychopathen, sondern gibt zugleich Einblick in die Geschichte der Polizeiarbeit und in die gesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit. Nachteilig ist nur, dass sie allzu großzügig mit der Chronologie der Ereignisse jongliert, so dass man ihr und den Geschehnissen nicht ohne Mühe zu folgen vermag. Und der empfindsame Leser ist gut beraten, die Phantasie beim Nachvollziehen der beschriebenen Szenarien nicht allzu lebhaft spielen zu lassen.
ShortBook “Niemand ist mehr da, den man anklagen und verurteilen könnte. Jack the Ripper und alle, die ihn gekannt haben, sind seit Jahrzehnten tot. Doch es gibt keine Verjährungsfrist für Mord, und die Ripper-Opfer haben einen Anspruch auf Gerechtigkeit.”
Hundert Jahre sind vergangen, seit der geheimnisvolle Mörder, der sich selbst Jack the Ripper nannte, seine grauenhaften Sexualverbrechen beging. Die Erinnerungen daran sind verblasst, Furcht, Wut und Mitleid sind vergangen. Jack the Ripper ist heute Stoff für spannende Krimis, für Mystery-Wochenenden, Spiele und sogenannte “Ripper-Walks” auf Spuren des Killers durch London. In Filmen sorgt er für Spezialeffekte, indem Fluten von dem fließen können, wonach es ihn am meisten verlangte: Blut. Doch die Morde, die er begangen hat, sind Wirklichkeit. Man ist es den Opfern schuldig, dass man immer wieder versucht hat, das Rätsel um ihn zu lösen. Jetzt ist es – bei allen Zweifeln, die sich ab und zu melden – gelungen, das Geheimnis zu lüften. Walter Richard Sickert, Schauspieler und Maler Walter Richard Sickert, geboren am 31. Mai 1860 in München als Sohn des dänischen Malers Oswald Adalbert Sickert und der englischen Irin Eleanor Louisa Morvia Henry, “Nelly” genannt, war ein Mann von blendendem Aussehen und durchdringendem Verstand. Man hätte ihn schön nennen können, wenn sein Mund sich nicht immer wieder zu einem harten, grausam wirkenden Strich zusammengezogen hätte. Er hatte sich zunächst erfolglos als Schauspieler versucht. Dann wurde er Maler und Kupferstecher und erlernte sein Handwerk bei James McNeill Whistler und Edgar Degas. Er beherrschte mehrere Sprachen und liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. Er las viel, ganz besonders Zeitungen, Klatschblätter und Zeitschriften, nach denen er geradezu süchtig war. Politik, Wirtschaft oder Kriege interessierten ihn nicht, seine Aufmerksamkeit wurde nur von Dingen erregt, die in Zusammenhang mit seiner Person standen. Er las über die neuesten Vergnügungen, er las Kunstkritiken, Kriminalberichte und vor allem Leserbriefe, ganz besonders die, die er selbst – meist unter Pseudonym – geschrieben hatte und mit denen er die Redaktionen förmlich überschüttete. Er hatte ein phänomenales Gedächtnis und liebte es, Dinnergäste mit Aufführungen langer Passagen aus Operetten und Theaterstücken zu unterhalten, für die er sich eigens kostümierte und die er fehlerlos dabot. Auf der Bühne war Sickert kein besonderer Schauspieler gewesen, im Leben war er es wohl. Er verstand es, die Stimme zu verstellen, sich perfekt zu schminken und er war berüchtigt dafür, dass er mit einer Vielzahl von Bärten, Haartrachten und durch bizarre Kostümierungen ständig sein Aussehen veränderte.
Wer war Jack the Ripper?
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“Egal, ob man ihn gut oder nur von flüchtigen Begegnungen kannte, man akzeptierte, dass Sickert zu sein bedeutete, das >Chamäleon<, der >Poseur< zu sein.”
Sickert und die Frauen Eine seiner bevorzugten Rollen war die des Schürzenjägers. Auf der Bühne galt er als unwiderstehlicher Typ, doch in der Realität war er von Frauen abhängig und hasste sie. Für ihn waren Frauen geistig minderwertig und nutzlos, solange sie nicht für ihn sorgten und sich manipulieren ließen. Im viktorianischen England stand er mit dieser Meinung nicht allein. Frauen gehörten einer niederen Ordnung an, waren nicht fähig zu rationalem, abstraktem Denken und lediglich zur Erhaltung der Gattung bestimmt. Das Zentrum ihres Universums war die Gebärmutter, und der monatliche Menstruationszyklus löste stets heftige Gefühlsstürme, wilde Lust, Hysterie und Wahnsinn bei ihnen aus. Für Walter Sickert waren sie gefährlich. Denn Sickert war mit einer Missbildung des Penis geboren worden. Durch drei Operationen war er wahrscheinlich verstümmelt und möglicherweise impotent. Die Opfer von Jack the Ripper waren in auffälliger Weise oft unansehnlich, nicht mehr ganz jung und entweder zu dünn oder zu dick. Walter Sickert bevorzugte Modelle, die entweder fettleibig oder extrem dünn waren, je abstoßender, desto besser. Frauen mit attraktiven Körpern langweilten ihn. Vielleicht wollte er aber auch nur Fleisch um sich haben, das er nicht begehrte. Sickerts Eltern Walter repräsentierte die dritte Generation von Künstlern in seiner Familie. Sein Großvater hatte als Maler die Unterstützung des dänischen Königs gewonnen. Sein Vater war zwar talentiert, konnte sich jedoch nie einen Namen machen und auch seinen Lebensunterhalt nicht durch seine Kunst bestreiten. Er scheint ständig unterwegs gewesen zu sein, lange Spaziergänge gemacht und sich in Pubs aufgehalten zu haben, wo er gegen die Obrigkeit wetterte. Walter kann sein Hass auf die Polizei nicht entgangen sein. Worte, die Oswald Sickert verwendete, weisen auffällige Parallelen zu Jack the Rippers Verhöhnungen der Polizei auf. Walters Mutter Nelly war die uneheliche Tochter einer irischen Tänzerin – und damit gesellschaftlich gezeichnet. Unehelich oder als Kind eines unehelichen Elternteils geboren zu sein war ein schreckliches Stigma. Eine Frau, die ein Kind aus einer außerehelichen Beziehung zur Welt brachte, litt für die Gesellschaft unter demselben genetischen Defekt wie eine Prostituierte. Diese Störung war ein ansteckendes “Blutgift” und wurde angeblich von Generation zu Generation weitervererbt. Walter Sickert wurde mit einer Fistel am Penis geboren und musste schon in seinen ersten fünf Lebensjahren die Qualen und Demütigungen dreier fürchterlicher Operationen über sich ergehen lassen. Er verspürte zweifellos eine gewaltige Wut über den unmoralischen Lebenswandel seiner Großmutter. Sickerts Kindheit Es ist denkbar, dass Sickerts Geschlecht bei seiner Geburt nicht klar zu erkennen war. Ohne Geburtsurkunde und Taufschein ist nicht ersichtlich, wann er den Namen Walter Richard erhielt. Seine Behinderung war so schwerwiegend, dass seine Tante ihn und die Familie für eine dritte Operation nach London holte. Eingriffe dieser Art können Kastrationsängste hervorrufen. Vielleicht war eine Teilamputation nötig, unter Umständen waren Erektionen schmerzhaft oder unmöglich. Als Sickert heranwuchs, war er, nach Aussagen seiner Schwester, ein liebenswürdiger, aber auch streitsüchtiger Junge, dem es nicht schwer fiel, Freunde zu gewinnen, der aber sofort das Interesse verlor, wenn die Freunde ihm nicht mehr von Nutzen waren. Er war schlau und manipulierte die Menschen mit seinem Charme, wobei er jede Rücksicht vermissen ließ und seine Freunde und Geschwister gelegentlich gern demütigte. Schon früh verspürte Sickert den Drang zu malen und zu modellieren. Allerdings verraten bereits die ersten Zeichnungen nicht nur Talent, sondern auch einen verstörten, gewalttätigen Geist. Man erkennt kämpfende
Wer war Jack the Ripper?
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Soldaten und dämonische Geschöpfe, Menschen werden bei lebendigem Leib gekocht, Jungfrauen entführt und Frauen erstochen.
“Einem Psychopathen ist jedes Mittel recht, sein grausiges Vorhaben in die Tat umzusetzen. Vertrauen zu erwecken, bevor man den Mord begeht, gehört zum Drehbuch des Psychopathen, und das verlangt schauspielerische Fähigkeiten, egal, ob der Täter jemals auf der Bühne gestanden hat oder nicht.”
Sickert als Psychopath Durch seine Arroganz, seine Gefühllosigkeit und seine Fähigkeit, andere zu manipulieren weist Sickert sich als typischer Psychopath aus. Psychopathen kennen keine Schuldgefühle, keine Reue und kein Gewissen. Sie sind oft charismatisch und überdurchschnittlich intelligent, aber unfähig, Liebe zu empfinden. Zeigen sie Gefühl, so geschieht es meist aus reiner Berechnung. Sie gehorchen nur ihren Trieben. Sie handeln ohne Angst vor den Folgen, das Leid, das sie verursachen, kümmert sie nicht. Kein Leben gilt ihnen etwas außer ihrem eigenen. Psychopathen sind unheilbar und können nicht resozialisiert werden. Sie kennen nur eine Furcht: erwischt zu werden. Auch wenn sie die Autoritäten verhöhnen, werden sie alle Register ziehen, um nicht in ihre Fänge zu geraten. Die Morde Jack the Ripper war ein Spieler. Er machte sich über die Polizei lustig, schickte unzählige Briefe und Mitteilungen, in denen er sie beschimpfte und verspottete und sich darüber amüsierte, dass er nicht zu fassen sei. Die einzige Enttäuschung dürfte dabei gewesen sein, dass er nicht auf ebenbürtige Gegner stieß. Die meisten Menschen seien dumm und langweilig, äußerte Walter Sickert oft. Mit den heutigen Mitteln wäre er wohl zu überführen gewesen, doch damals war man noch nicht so weit, man kannte keine DNA-Analysen, nicht die wissenschaftlichen Methoden, die man heute anwendet. Zudem hielt man die Briefe für Fälschungen von kranken Persönlichkeiten, die der Polizei eins auswischen wollten. Erst vor kurzem wurde festgestellt, dass das, was man immer für Tier- oder Menschenblut auf den Ripper-Briefen gehalten hatte, Siena- oder Sepiatinte ist, wie sie Maler verwenden, häufig aufgetragen mit dem Pinsel eines Künstlers. Es gibt Übereinstimmungen zwischen dem Briefpapier, das Jack the Ripper in seinen Briefen benutzte, und dem privaten Briefpapier von Walter Sickert – eine Art Papier, die eher selten im privaten Gebrauch zu finden ist. Leider wurde die Aufklärung damals ausgesprochen stümperhaft durchgeführt, viele Unterlagen, die wichtige Hinweise hätten geben können, sind verschlampt worden. Unter Experten wird darüber gestritten, wann der Ripper mit dem Morden angefangen und wann er aufgehört hat. Einige durchschnittene Kehlen wurden möglicherweise als Selbstmorde abgetan, obwohl sie das Werk des Mörders waren. Es ist jedoch kaum anzunehmen, dass er nur so ab und zu einige Frauen aus dem East End umgebracht hat. Mit dem ersten Mord wurde vermutlich etwas in Gang gesetzt, was ihn dazu trieb, immer weiter zu morden. Und er wollte, dass die Welt von seinen Verbrechen erfuhr.
„Die Sprache der Stille ist schwer zu erfassen, aber die Toten lügen nicht. Sie mögen schwer zu verstehen sein, und wir können sie falsch interpretieren oder erst finden, wenn ihre Nachrichten bereits zu verschwinden beginnen. Doch wenn sie noch etwas zu sagen haben, ist ihre Wahrhaftigkeit unbeeinträchtigt.“ „Ha ha ha! , schrieb Wer war Jack the Ripper?
Martha Tabran Am 6. August 1888 begann Jack the Ripper seine Gewaltphantasien in die Tat umzusetzen. Martha Tabran war etwa 40 Jahre alt und ihr Mann hatte sie wegen ihrer Trunksucht verlassen. Sie war eine der “Unglücklichen”, eine Hure aus dem verwahrlosten Londoner East End. Ihre Kollegin Pearly Poll sah sie zum letzten Mal gegen 23.45 Uhr zusammen mit einem Gefreiten, mit dem sie bereits den Abend verbracht hatte. Zwei Stunden und fünfzehn Minuten später sah Police Constable Barrett einen Soldaten auf der Straße unweit der Stelle, an der sich Pearly Poll von ihrer Kollegin getrennt hatte. Möglicherweise stand Martha zu dem Zeitpunkt noch irgendwo in der Nähe und wartete ab, dass der Polizist vorüber ging. Gegen 3.30 Uhr wurde ihre Leiche von einem Droschkenkutscher gefunden, getötet von 39 Stichen in der Lunge, im Herzen und im Genitalbereich. Offenbar hatte der Täter völlig die Kontrolle verloren und war in einen Blutrausch verfallen. Die Tatsache, dass er ein Messer mit scharfer Klinge © Copyright 2003 GoNamic GmbH
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der Ripper. >Um die Wahrheit zu sagen, Ihr solltet mir dankbar sein, dass ich dieses Geschmeiß vernichte, denn es ist zehnmal schlimmer als Männer.<“
oder einen Dolch mit sich führte, lässt auf einen vorsätzlichen Mord schließen. Jemanden zu erstechen ist ein sehr persönlicher Angriff, da es Körperkontakt voraussetzt. Es ist kaum anzunehmen, dass Martha Tabran ihren Mörder kannte. Doch offensichtlich hatte sie eine sehr persönliche Reaktion bei ihm provoziert. Die Stiche in den Genitalbereich weisen auf eine sexuelle Komponente hin. Martha Tabrans Tod fand kein großes Echo in der Presse und bei der Polizei. Noch fürchtete niemand den Angriff einer bösen Macht, die London heimsuchte. Der Soldat wurde nie identifiziert. Es ist durchaus denkbar, dass der Mörder sich als Soldat verkleidet haben könnte, ein Umstand, der wenig Beachtung fand. Dass Gewalttäter Verkleidungen tragen, ist nicht ungewöhnlich. Und es würde ganz einfach erklären, wieso der Ripper stets unbemerkt entkommen konnte. Walter Sickert zählte zu den sogenannten “Gentleman Slummers”, die sich in den Slums herumtrieben auf der Suche nach dem Kick. Er hatte die Angewohnheit, mehrere geheime “Ateliers” gleichzeitig zu mieten und oft tage- oder wochenlang zu verschwinden, ohne jemanden wissen zu lassen, wo er war. Er verkehrte in heruntergekommenen Bars und Variétés, kannte sich aus in den verrufenen Vierteln. Er gehörte einer Gesellschaftsschicht an, die über jeden Verdacht erhaben war und besaß die Gabe, sich in die unterschiedlichsten Charaktere verwandeln zu können. Mary Ann Nichols Auch Mary Ann Nichols, 42 Jahre alt, lebte als Prostituierte. Mann und Kinder hatte sie ebenfalls aufgrund ihrer Trunk- und Streitsucht verloren. Als sie in der Nacht des 29. August 1888 zum letzten Mal lebend gesehen wurde, war sie betrunken. In den frühen Morgenstunden fand ein Fuhrmann die leblose Frau, der die Kehle durchgeschnitten und der Kopf fast abgetrennt worden war. Auch sie hatte Stiche in den Unterleib erhalten. Noch waren keine Organe entfernt worden, noch hatte der Mörder keine Trophäen mitgenommen, an denen er seine sexuellen Phantasien entzünden konnte. Doch der Ripper, der „Schlitzer“, hatte zum ersten Mal geschlitzt und mußte nun wohl erst einmal herausfinden, ob er noch mehr wollte. Auf einer Ambulanz wurde die Leiche in die nahe gelegene Leichenhalle des Whitechapel-Armenhauses gebracht. Der Mörder beobachtete den diensthabenden Constable möglicherweise dabei, wie er den schweren Handkarren die Straße hinaufzog. Psychopathen lieben es, an den Tatort zurückzukehren und sich gegebenenfalls in die Ermittlungen einzumischen. Walter Sickert zeichnete ausschließlich, was er gesehen hatte. Er malte einen Handkarren, der genauso aussah wie die Ambulanzen der Polizei. Mary Ann Nichols‘ Augen waren weit geöffnet, als sie entdeckt wurde. Um 1903 zeichnete Sickert die Skizze einer Frau mit weit offenen, starrenden Augen, die eine undefinierbare Linie um ihre Kehle hat. Auf vielen Zeichnungen von Sickert sieht man entblößte Hälse mit schwarzen Linien, die an durchschnittene Kehlen oder Enthauptungen denken lassen.
„Ein Künstler, der ein Bild zerstört, das er hassen gelernt hat, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Mörder, der das Gesicht seines Opfers zerstört. Die Zerstörung könnte das Bemühen sein, ein Objekt aus der Welt zu schaffen, das dem MaWer war Jack the Ripper?
Annie Chapman Kurz nach Mary Ann Nichols Beerdigung wurde die nächste Frauenleiche mit beinahe abgetrenntem Kopf aufgefunden. Annie Chapman war 47 Jahre alt geworden, und die Tage vor ihrem Tod waren durch Krankenhausaufenthalte, wenig Nahrung und viel Alkohol gekennzeichnet. Annie Chapman wurde in den frühen Morgenstunden in einem Hinterhof gefunden. Etwa eine Stunde zuvor hatte dort noch jemand seine Stiefel repariert und nichts bemerkt. Ihr war der Unterleib aufgeschnitten und die Gedärme herausgenommen worden. Es wurde lange Zeit angenommen, dass der Killer über medizinische Kenntnisse verfügen müßte, um so vorzugehen. Das ist jedoch kaum der Fall, zumal man genug Lektüre erwerben konnte, um sich ein paar Grundkenntnisse anzueignen. „Haben Sie den Teufel © Copyright 2003 GoNamic GmbH
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ler Frustration und Wut bereitet hat.“
gesehen – Wenn nicht, zahlen Sie einen Penny & treten Sie ein“ schrieb der Ripper am 10. Oktober. Mag sein, dass der Mörder Annie Chapman vor der Tat beobachtet hatte. Das „Spannen“ ist häufig eine Art Vorspiel für den Lustmörder. Walter Sickerts Wesen symbolisiert sich am besten in seinen Augen. Er beobachtete, verfolgte mit Blicken. Er war ein Voyeur. Seine Bilder zeigen, dass er Menschen von hinten beobachtete. Er konnte sie sehen, sie ihn aber nicht. Dies Verhalten ist typisch für das organisierte Vorgehen von Psychopathen. Zu dem, was sie sehen, kommen Phantasien, Bilder vergangener Verbrechen. Wenn die Spannung unerträglich wird, müssen sie morden. Beim Anblick des sterbenden Opfers löst sich die Spannung vorübergehend, bis sie sich ein neues Opfer suchen müssen.
„Sexuelle Macht empfand Sickert nur, wenn er andere beherrschen und ihren Tod bewirken konnte. Vermutlich hat er keine Gewissensbisse verspürt, aber er muss gehasst haben, was er nicht besitzen und was er nicht sein knnte.“
Elizabeth Stride und Catherine Eddows Weitere Morde geschahen, so wie der an Jane Boatmoor in der Grafschaft Durham, doch die Polizei stellte keinerlei Verbindung zu Jack the Ripper her. Am 29. September traf es zunächst Elizabeth Stride, eine gebürtige Schwedin, die bessere Tage gesehen hatte. Um 0.35 Uhr sah Constable William Smith sie zum letzten Mal. 25 Minuten später fand ein Gemüsehändler die Frau mit durchschnittener Kehle. Der Mörder war offensichtlich überrascht worden. Doch er ließ sich wohl Zeit, den Tatort endgültig zu verlassen, denn eine Frau bemerkte einen jungen Mann, der eine glänzende schwarze Tasche trug, eine Gladstone-Tasche, wie auch Sickert eine besaß. Nur kurze Zeit darauf wurde die 43jährige Catherine Eddows getötet. Sie war keine Hure, doch verdiente sie sich möglicherweise ein bißchen Geld dazu. Der Mörder kann nicht mehr als eine Viertelstunde gebraucht haben, um das Opfer zu verstümmeln und auch das Gesicht fast bis zur Unkenntlichkeit zu verunstalten. Der Mord fand quasi unter den Augen eines am Tatort wohnenden Polizisten und eines diensthabenden Wachmanns statt, die beide nichts gehört hatten. Zwischen 1903 und 1904 malte Sickert eine Prostituierte, deren Porträt er mit malerischen Akzenten versah, die stark an die Verstümmelung von Catherine Eddows‘ Gesicht erinnern. Er malte sie mit zurückgeworfenem Kopf, schreckensstarrem Gesicht und einer engen weißen Halskette, dort, wo er Catherine Eddows eine klaffende Wunde an der Kehle zugefügt hatte. Eskalation Jetzt wurden die Tatorte zu Jahrmärkten. Zeitungsjungen riefen Sonderausgaben aus, Nachbarn verkauften Eintrittskarten, Händler kamen mit ihren Karren. Jack the Ripper brauchte das Rampenlicht der Öffentlichkeit. Verschwand er allzu lange, bereitete ihm das große Probleme. Er mußte einfach im Mittelpunkt des Interesses stehen und sich deshalb immer wieder in Erinnerung rufen. In seinen Briefen scheint er eine persönliche Beziehung zu seinen Gegnern zu entwickeln – nicht ungewöhnlich für einen Psychopathen. Er bildet sich ein, eine Beziehung zu ihren Opfern zu haben, und verbündet sich beim Katz-und-Maus-Spiel mit seinen Gegnern. Er will seine Gegner beeindrucken. Auf seine eigene perverse Weise will er geliebt werden. Der Ripper kündigte an, nun auch junge Burschen umbringen zu wollen, und in der nächsten Zeit fielen mehrere Jungen grausamen Morden zum Opfer, so wie der siebenjährige John Gill aus Bradford. Er trug ein Stück Hemdstoff um den Hals, so wie alle Opfer des Rippers ein Tuch oder einen Schal oder ähnliches trugen. Die Kehle wurde durchtrennt, nicht aber das Halstuch. Sickert pflegte ein rotes Halstuch zu tragen gleich dem Straftäter bei der Hinrichtung, der zu erkennen geben will, dass er nie-
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manden verraten hat. Dieses Halstuch war sein Talisman. Seine Haushälterin machte einen großen Bogen um das Tuch, wenn sie es irgendwo fand. Mary Jeanette Kelly Der schlimmste Mord stand noch bevor. Mary Jeanette Kelly war jung und hübsch und hatte eine bessere Ausbildung als andere Unglückliche. Sie wurde am 8. November zwischen 19.30 Uhr und 19.45 Uhr von ihrem Partner zum letzten Mal lebend gesehen. Eine Nachbarin wurde in der Nacht von ihrer Katze geweckt und meinte einen Schrei gehört zu haben, der sich jedoch nicht wiederholte. Man fand Mary Jeanette Kellys entsetzlich verstümmelte Überreste am nächsten Morgen. Sie sah aus, als wäre sie von einem Zug überfahren worden. Offenbar hatte sie gesehen, was auf sie zukam. Ende des Schreckens? Die Presse verstummte fast augenblicklich. Es gingen zwar immer noch Briefe ein, diese wurden aber nicht mehr abgedruckt. Jack the Ripper fand kaum noch Erwähnung in den Zeitschriften. Es fanden weitere Morde statt, die auf denselben Täter schließen ließen, doch wurden die aktuellen Verbrechen nicht mehr mit dem Schlitzer in Verbindung gebracht. Es gab ihn nicht mehr. Vielleicht hatte es ihn nie gegeben. Er hat nicht aufgehört zu morden, aber er verblasste allmählich zu einem Albtraum der Vergangenheit. In den 1890ern weilte Walter Sickert in Frankreich und Italien und kehrte um 1906 nach England zurück. Jetzt malte er seine gewalttätigsten Bilder, was er vorher niemals hätte riskieren können, ohne sich verdächtig zu machen. Am 11. September 1907 wurde Emily Dimmock in ihrem Bett daheim in Camden Town erstochen. Walter Sickert fertigte offenbar ganz offiziell Skizzen der ermordeten Frau an und malte ein Bild mit dem Titel „Camden Town Murder“. Der Mord war so arrangiert, als wäre es ein Raubmord. Es gab kein Wiederaufleben der Ripper-Panik. Nach dem Tod von Emily Dimmock schien Walter Sickert unter Verfolgungswahn und Depressionen zu leiden. Viele Maler machten Skizzen von menschlichen Körperteilen, um nach neuen Darstellungsmöglichkeiten zu suchen. Wenn man jedoch Sickerts wohlgehütete Zeichnungen genauer betrachtet, dann fällt einem auf, dass weibliche Gliedmaßen stets ohne Leben sind, dass sie abgehackt und verstümmelt wirken. Sie fanden nie Verwendung in seinen Studien, Pastellzeichnungen, Radierungen oder Gemälden. Männliche Körperteile stellte er ganz anders dar. Die Skizzen der weiblichen Torsi, Köpfe und Gliedmaßen entspringen einer gewalttätigen Phantasie. Walter Sickert starb 1942 friedlich im Alter von 81 Jahren in seinem Bett in Bathampton, Somerset.
Zur Autorin Patricia Cornwell arbeitete als Kriminalreporterin, ist Computerspezialistin und war sechs Jahre lang beim Virginia Chief Medical Examiner’s Office tätig. Sie volontierte bei der Polizei und ist mehrfach preisgekrönte Thrillerautorin. Sie lebt in Greenwich, Connecticut. In der Danksagung an ihr Team schreibt Patricia Cornwell: “Ich erweise denen die Ehre, die mir vorangegangen sind in dem Bemühen, Jack the Ripper zu fassen. Er ist gefasst. Zusammen haben wir es geschafft.” Mehr unter www.patriciacornwell.com
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