Wie auf Wolken schweben Penny Jordan
Julia 1410
17 1/2000
scanned by suzi_kay
1. KAPITEL "Was machst du?" fragte Je...
10 downloads
486 Views
493KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Wie auf Wolken schweben Penny Jordan
Julia 1410
17 1/2000
scanned by suzi_kay
1. KAPITEL "Was machst du?" fragte Jenneth Dalton erstaunt. Sie konnte kaum glauben, was ihre älteste und beste Freundin ihr gerade aufgeregt mitgeteilt hatte. "Ich heirate", wiederholte Louise. "Du weißt schon ... Eine Hypothek, Kinder und das Ganze." Jenneth hielt krampfhaft den Telefonhörer fest. "Aber du hast immer geschworen, du würdest niemals heiraten! Du wolltest unabhängig sein und ..." "Da hatte ich George noch nicht kennen gelernt", sagte Louise reuelos. Jenneth wurde fast schwindlig. Ihre ehrgeizige, erfolgsorientierte Freundin heiratete - und ausgerechnet einen Mann namens George! Wenn sie sich jemals hätte vorstellen können, dass Louise heiratete, dann hätte Jenneth an einen Mann mit einem viel exotischeren Namen gedacht. Leise seufzend ignorierte sie, dass ihr Kaffee kalt wurde und sie die Skizzen für das Wandgemälde niemals bis zur Mittagszeit fertig bekommen würde, wenn sie das Gespräch nicht jetzt sofort beendete. "Als wir uns vor zwei Monaten zum Essen getroffen haben, hast du kein Wort davon gesagt." "Weil ich George noch nicht gekannt habe", erwiderte Louise. "Hör zu, Jen, ich möchte, dass du zur Hochzeit kommst. Wir heiraten in drei Wochen zu Hause in der Dorfkirche. George meint, wir können auch ebenso gut mit allem Drum und
Dran feiern, da keiner von uns beiden noch einmal die Gelegenheit haben werde. Ich kann es kaum erwarten, ihn dir vorzustellen. Er muss geschäftlich nach Japan, sonst hätte ich vorgeschlagen, dass wir drei uns vor der Hochzeit noch treffen." "Ich glaube das alles einfach nicht", sagte Jenneth schwach. Louise und sie waren so gut wie zusammen aufgewachsen. Sie hatten im selben Dorf gewohnt, waren zur selben Schule gegangen und hatten später sogar an derselben Universität studiert. Dann war Jenneth mit ihren Eltern und Brüdern in den Norden gezogen und hatte sich ihr kleines Atelier in der Scheune eingerichtet, die zum Haus ihrer Eltern außerhalb von York gehörte, während sich Louise in London einen Job in der Werbebranche gesucht hatte. Das war vor sieben Jahren gewesen. Inzwischen hatte Louise ihre eigene Agentur. Jenneth hatte sich auf Wandgemälde spezialisiert und war in York und der umliegenden Gegend eine sehr gefragte Künstlerin. Außerdem besaß sie einen fünfzigprozentigen Anteil an einer kleinen Galerie in York. Louise und sie hatten niemals völlig den Kontakt verloren, aber es war unmöglich, sich so oft zu treffen, wie sie es beide gern wollten. Jenneth' Eltern waren kurz nach dem Umzug in den Norden bei einem Autounfall umgekommen, und sie hatte die Verantwortung für ihre damals elfjährigen Brüder übernehmen müssen. Manchmal war es wirklich schwer gewesen, doch ihre Eltern hätten gewollt, dass sie zusammenblieben. Dieses Wissen und ihr tief verwurzeltes Pflichtbewusstsein hatten Jenneth geholfen, auch die schlimmsten Zeiten durchzustehen. Die Zwillinge hatten gerade ihr letztes Schuljahr hinter sich gebracht und waren jetzt zwei große blonde Männer, die Jenneth überragten und ihr gegenüber fast überwältigend beschützerisch waren. Louise wusste genau, warum ihre Freundin nicht sofort geantwortet hatte. "Versprich mir, dass du kommst, Jenneth. Die
Hochzeit ist am Samstag in drei Wochen. Ich brauche dich an dem Tag. Ganz im Ernst..." Jenneth hatte die Einladung ablehnen wollen, doch jetzt zögerte sie. Und Louise nutzte ihr Schweigen aus. "Ich habe dir ein Zimmer im 'Feathers' bestellt. Bei uns kann ich dich leider nicht unterbringen, das Haus wird voll von alten Tanten und dergleichen sein. Mom und Dad freuen sich darauf, dich wieder zusehen ..." "Ich weiß nicht, ob ich es schaffe." Jenneth sah aus dem Fenster des Ateliers. Der Garten war sehr groß und machte mehr Arbeit, als sie bewältigen konnte, doch die Zwillinge und sie liebten ihr Zuhause. Alle drei hatten sie nach dem Unfall nicht ausziehen wollen. Aber wenn die Jungen erst auf der Universität waren ... Sie diskutierten seit Weihnachten darüber. Kit und Nick versuchten, ihre Schwester zu überreden, das Haus nicht zu verkaufen. Sie sagte immer wieder, es sei zu groß für sie allein und das Geld aus dem Verkauf sei für beide eine gute Rücklage, wenn sie nach dem Studium in die Welt aufbrechen würden. Jenneth wurde plötzlich starr vor Anspannung, weil sie so vieles sagen wollte und nicht sagen konnte. Zum einen brächte sie die Worte einfach nicht heraus, zum anderen war es ihr zur Gewohnheit geworden, verschwiegen zu sein. Sie war so ganz anders als Louise, die immer offen aussprach, was sie gerade dachte oder fühlte. Das tat sie auch jetzt. "Luke wird nicht auf der Hochzeit sein, falls dich das beunruhigt. Er ist beruflich in den Staaten. Bitte komm." Jenneth spürte eine vertraute panische Angst. Sie wollte sich ihre Würde bewahren und überlegte, was sie sagen sollte. Entweder sie leugnete, dass wichtig war, was sie gerade erfahren hatte. Oder sie gab ihre Zurückhaltung auf und schnitt das Thema an, das sie vor acht Jahren für tabu erklärt hatte, indem
sie es abgelehnt hatte, mit irgend jemand über ihre Gefühle zu sprechen. Besonders mit Lukes Cousine hatte sie nicht reden mögen, auch wenn sie ihre beste Freundin war. "Bitte, Jenneth..." Die quälenden Erinnerungen an Luke kehrten zurück und schienen sie zu verspotten, weil sie so feige war. Jenneth atmete tief ein. "Ja, natürlich. Ich komme." Was hätte sie gesagt, wenn Luke an der Hochzeit teilgenommen hätte? Wäre sie dann überhaupt eingeladen worden? Natürlich hätte Louise mich eingeladen, dachte Jenneth, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. Sie hatte vor ihrer Freundin niemals verbergen können, dass sie sich davor fürchtete, Luke wieder zu sehen, aber Louise wusste nicht, was wirklich passiert war. In den sechs Monaten, die Jenneth mit ihm verlobt gewesen war, hatte Louise im Ausland studiert. Jenneth hatte nur gesagt, Luke und sie hätten beide erkannt, dass die Verlobung ein Fehler gewesen sei, und Louise hatte diese Erklärung akzeptiert. In der ersten Zeit war Jenneth von Selbsthass verzehrt worden, und sie hatte sich die Schuld am Tod ihrer Eltern gegeben, die auch aus Sorge um sie nach York gezogen waren. Aber mit den Jahren war diese besondere Qual verschwunden. Eine andere Qual würde niemals aufhören. Es hatte zu sehr wehgetan, als Luke ihr gesagt hatte, er habe eine andere, die ein Kind von ihm erwarte. Der Schmerz hatte sich tief in ihre Seele eingebrannt. Sie gab sich ruhig und freundlich, war in Wirklichkeit jedoch ein ganz anderer Mensch. Einige Leute hielten sie für reserviert und behaupteten, sie sehe mit ihrem weizenblonden Haar und den unergründlichen grauen Augen aus wie eine Nordländerin und benehme sich entsprechend kalt. Tatsächlich hatte sich Jenneth die gelassene Ausstrahlung mühsam anerzogen. Sie war zurückhaltend und beherrscht, und wer sich davon täuschen ließ und wütend darüber war, auf Distanz gehalten zu werden, verurteilte sie als introvertiert und
gefühllos. Das Gegenteil stimmte. Sie hatte lernen müssen, ihre wahren Gefühle zu verbergen, um sich vor ihrer eigenen Verletzlichkeit zu schützen. Hatte sie sich zuerst nur um ihres Stolzes willen verstellt, war ihr die Unnahbarkeit inzwischen zur zweiten Natur geworden, und nur noch Louise und die Zwillinge konnten Jenneth durchschauen. Im Lauf der Zeit hatte sie gelernt, ihren Kummer zu mäßigen. Erfahrener und älter, sagte sie sich jetzt, dass sie mit einundzwanzig viel zu unreif gewesen sei, die Beziehung zwischen Luke und ihr niemals funktioniert hätte und die Verlobung ohnehin irgendwann gelöst worden wäre. Noch immer verstand sie jedoch nicht, warum sich Luke überhaupt mit ihr verlobt hatte. Acht Jahre älter als Louise und sie, war er ihr wie ein göttergleiches Wesen vorgekommen. Als Teenager war Jenneth in Lukes Gegenwart erst schüchtern, später gehemmt und schließlich wie gebannt. Er ging aufs Internat, dann auf die Universität und hielt danach Vorlesungen im Ausland, aber wenn er in den Ferien nach Hause kam, waren er, Louis«! und sie oft zusammen. Seine Familie lebte schon seit Generationen im Dorf. Sein Vater war der praktische Arzt im Ort, und Lukes Mutter kümmerte sich aktiv um alle Angelegenheiten des Dorfes, obwohl sie an multipler Sklerose litt. Die weichherzige und bei allen beliebte Frau stimmte der Verlobung ihres Sohnes mit Jenneth freundlich zu. Luke liebte seine Mutter sehr und behandelte sie fürsorglich und rücksichtsvoll. Dem Aussehen nach schlug er nach seinem Vater. Wie dieser war er groß und schlank und hatte dichtes dunkles Haar. Louise schockierte Jenneth einmal, indem sie ihr erzählte, der Bruder ihrer Mutter, Lukes Vater, habe den Ruf eines Frauenhelden gehabt, bevor er Lukes Mutter kennen gelernt und geheiratet habe. Sie war eine reiche Erbin gewesen, und Lukes Vater hatte sie trotz des Widerstands ihrer Familie geheiratet.
Jenneth hatte es immer für eine sehr romantische Geschichte gehalten. Jetzt war Lukes Mutter schon lange tot. Sie war zehn Monate nach Lukes Heirat gestorben ... Obwohl niemand sie sehen konnte, neigte Jenneth unwillkürlich den Kopf, so dass ihr Haar nach vorn fiel und das Gesicht verbarg. Immer noch reagierte sie beunruhigend heftig, wenn sie daran dachte, wie Luke ihr sachlich und kühl mitgeteilt hatte, er werde eine andere heiraten, die von ihm schwanger sei. Tausende von jungen Frauen, die glaubten, geliebt zu werden, wurden verlassen und gingen, anders als sie, problemlos eine neue, dauerhafte und weniger zerstörerische Beziehung ein. Jenneth hatte sich oft gescholten, weil sie sich benommen hatte wie eine viktorianische Romanheldin und in das verfallen war, was früher so euphemistisch "Siechtum" genannt wurde. Oh, nach außen hin hatte sie alles richtig gemacht. Sie hörte sich Lukes grausame Enthüllungen an und brach nur ein einziges Mal zusammen, als er ihr von dem Baby erzählte. Ungläubig, schockiert und elend vor Qual, ging sie auf ihn zu und streckte die Hände nach ihm aus, aber er wehrte sie ab. In den folgenden Monaten ließ sich Jenneth nichts anmerken. Sie studierte weiter und gab der feigen Versuchung nicht nach, in den Semesterferien nicht nach Hause zu fahren. Ihren Freundinnen erzählte sie gespielt blasiert von dem Leben, das sie führte, von den Männern, mit denen sie ausging ... Ihre Eltern durchschauten sie jedoch und waren sich wohl darüber im Klaren, wie sehr sie litt und was für eine tiefe Wunde Luke ihrer Weiblichkeit beigebracht hatte. Ihr Vater sagte, er wolle aus Gesundheitsgründen nur noch Teilzeit arbeiten und sie würden nach York ziehen. In der Stadt hatte er seine Kindheit verbracht. Fast weigerte sich Jenneth, mit ihnen zu gehen. Was zeigte, wie sehr sie Luke liebte. Sie hoffte verzweifelt auf ein Wunder, das ihn ihr zurückbringen würde. Noch immer konnte sie nicht
glauben, dass es wirklich vorbei war. Und dann sah sie ihn zusammen mit seiner Frau und dem Kind im Dorf. Er hielt das Baby, während seine Frau mit einem anderen Ehepaar sprach. Jenneth blieb wie angewurzelt stehen, schätzte die Entfernung ab und dachte nur an Flucht. Das Baby hatte wie Luke dunkles Haar. Ein kleines Mädchen, hatte Louise ihr verlegen erzählt. Und die junge Frau war jünger als sie, gut angezogen und wirkte schüchtern. Sie blickte sie an, wusste aber offensichtlich nicht, wer Jenneth war. Und dann nahm sie Luke das Baby ab und sagte: "Komm schon, Liebling. Es wird Zeit, dass wir weitergehen." Todunglücklich hatte Jenneth den längeren Nachhauseweg am Fluss entlang genommen, wo sie früher nach der Schule mit all der Unschuld ihrer Jugend von Luke geträumt hatte. Jetzt, viele Jahre später, fragte sie sich, was wohl geschehen wäre, wenn auch sie damals von Luke schwanger geworden wäre. Unvermittelt schloss sie die Augen. Sie wollte sich nicht daran erinnern, wie leidenschaftlich Luke sie in jenem Sommer geküsst Und liebkost hatte. Sie hatte ihn gebeten aufzuhören und ihm zittrig erklärt, er würde ihr erster Liebhaber sein und sie habe Angst. Er hatte sie deswegen geneckt, doch sie hatte den Eindruck gehabt, dass er erfreut gewesen war, ihr erster Mann zu sein. Wie oft hatte sie sich in den ersten Monaten ohne ihn gefragt, ob alles anders gekommen wäre, wenn sie anders gewesen wäre! Aber wenn er sie wirklich geliebt hätte, dann hätte er die sexuelle Befriedigung, die er bei ihr nicht gefunden hatte, nicht bei dieser Frau gesucht. Trotzdem hatte sein Verrat ihr Selbstbewusstsein als Frau zerstört, und oft verglich sich Jenneth mit einer seelenlosen Puppe. Liebe, Begehren, all die Gefühle, die das Leben anderer Menschen ausfüllten, waren ihr fremd. Natürlich liebte sie die Zwillinge, und sie war gern mit ihren wenigen guten Freunden zusammen, aber sie hatte durch Lukes Zurückweisung so
gelitten, dass sie unfähig war, eine intime Beziehung zu einem Mann einzugehen. Und jetzt heiratete Louise, die immer so emanzipiert gewesen war. Jenneth wusste, dass die meisten ihrer Bekannten und Freunde glaubten, sie sei unverheiratet, weil sie sich für die Zwillinge verantwortlich fühlte. Es war eine bequeme Ausrede, die sie jedoch nicht mehr haben würde, wenn die Jungen erst auf der Universität waren. Nicht, dass die Männer vor ihrer Tür Schlange standen ... Jenneth verzog das Gesicht und dachte an die Männer, die in letzter Zeit mit ihr hatten ausgehen wollen. Colin Ames, der Tierarzt im Dorf, war ein gutherziger, hagerer Mann. Geschieden, suchte er ganz offensichtlich eine Ersatzmutter. Nicht nur für seine drei kleinen Kinder, sondern auch für sich selbst, wie Jenneth argwöhnte. Greg Pilling war fünfunddreißig und galt als Herzensbrecher. Er besaß ein großes Haus am anderen Ende des Dorfes, wohnte jedoch die Woche über in London. Jenneth vermutete, dass er dort mit einer Frau eine Beziehung hatte, die er aus irgendwelchen Gründen geheim halten wollte. Weil sie verheiratet ist? überlegte sie zynisch. Sie kannte noch zwei oder drei andere nette Männer, die sich zweifellos hervorragend als Ehemann und Vater eigneten, aber sie wollte sich mit keinem einlassen. Was Luke getan hatte, war nicht der Grund, warum sie jeder emotionalen Bindung aus dem Weg ging. Entscheidend war, dass er die Macht gehabt hatte, es zu tun. Die Erinnerung an ihre große Verwundbarkeit hielt sie davon ab, irgendeinen Mann zu nah an sich heranzulassen. Natürlich war eine intime Beziehung in den ersten Jahren nach dem Tod ihrer Eltern ohnehin unmöglich gewesen. Die Zwillinge hatten sie zu sehr gebraucht. Aber jetzt waren Kit und Nick erwachsen. Und Louise hat mich ungewollt zu dieser Selbstbeobachtung gedrängt, dachte Jenneth sarkastisch und stand auf. Es war zwecklos, jetzt noch zu versuchen, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.
Sie wünschte, sie hätte nicht zugesagt, an der Hochzeit teilzunehmen. Luke würde nicht kommen, aber bestimmt würden sich einige Gäste erinnern ... Woran? Daran, dass Luke und sie vor acht Jahren sechs Monate lang verlobt gewesen waren, die Verlobung gelöst worden war und er eine andere geheiratet hatte? Na und? Manchmal hatte Jenneth den Verdacht, dass Louise mehr sah, als sie zugab, auch wenn sie damals die Erklärung ihrer Freundin für bare Münze genommen hatte. Es war Louise gewesen, die ihr vor einigen Jahren mitgeteilt hatte, Lukes Frau sei tot. Es hatte als Postskriptum auf einer Geburtstagskarte gestanden. Jenneth hatte eine Woche lang Albträume gehabt, aus denen sie schreiend aufgewacht war. Luke hatte noch immer die Macht gehabt, sie seelisch und körperlich stark zu berühren. Es hatte sie schaudern lassen. In jenem Jahr versuchte Louise, sie zu überreden, Weihnachten bei ihr zu Hause zu verbringen. Weil die Zwillinge sie inständig baten, die Einladung anzunehmen, gab Jenneth schließlich nach. Als sie ankamen, musste sie feststellen, dass Luke zu Besuch bei seiner Tante und seinem Onkel war. Luke hatte denselben Beruf gewählt wie sein Vater, der inzwischen in Amerika lebte, und arbeitete als Facharzt in einem großen Lehrkrankenhaus in London. Jenneth hatte nicht gewusst, dass er aus Kalifornien zurückgekehrt war. Bei seinem Anblick blieb sie wie angewurzelt in der Diele stehen, und die Zwillinge, die hinter ihr gingen, prallten gegen sie. Aber sie hatte sich schnell wieder in der Gewalt und begrüßte Luke mit dem kühlen, distanzierten Lächeln, das sie im Lauf der Zeit perfektioniert hatte. Er hatte seine Tochter bei sich, eine lebhafte Dreijährige, die ihren Vater innig liebte und ihm so ähnlich sah, dass sich Jenneth fühlte, als hätte ihr jemand ein Messer ins Herz gestoßen.
Aus irgendeinem Grund schloss sich Lukes Tochter an Jenneth und die Zwillinge an. Sie folgte ihnen überallhin, und dass sie wie er grüne Augen hatte und sogar wie er lächelte, machte es noch schlimmer. Mit der gleichen stolzen Verachtung, die Luke ihr gegenüber zeigte, wehrte sich Jenneth gegen die Sehnsucht, auf die Annäherungsversuche des Kindes zu reagieren, es hochzuheben und an sich zu drücken. Eines Tages war sie allein mit Angelica im Wohnzimmer und widerstand verzweifelt dem sehr deutlichen Wunsch der Dreijährigen nach weiblicher Zuneigung. Luke kam herein und sah, dass sich Jenneth weigerte, sein Kind anzufassen. Offensichtlich war ihm klar, dass sie damit ihn zurückwies. Er nahm seine Tochter hoch und blickte Jenneth grimmig an. Früher hatte er sie liebevoll und verlangend angeblickt.... Das hatte sie zumindest geglaubt. Es war natürlich nur eine Illusion gewesen. Am Abend nach der Ankunft hatten die Zwillinge Jenneth wegen einer vor kurzem beendeten flüchtigen Beziehung zu einem ihrer Auftraggeber geneckt. Ihr war nicht klar gewesen, dass Luke aus der völlig irrigen Schilderung dieser Beziehung den Schluss gezogen hatte, Christopher Harding und sie seien ein Liebespaar. Als Luke sagte, sie langweile sich doch bestimmt ohne ihren Liebhaber im Haus von Louises Eltern, schaltete Jenneth jedoch sofort und griff seine spitze Bemerkung freudig auf, um ihren Stolz zu stärken. "Es ist ja nur für eine Woche ...", erwiderte sie gespielt gelassen. "Und so lange hältst du es im Bett auch mal ohne ihn aus?" fragte Luke höhnisch. Plötzlich wütend, rächte sich Jenneth unbesonnen. "Christopher und ich sind schon eine ganze Weile zusammen. Er ist oft geschäftlich unterwegs, und dann ..." Und dann komme ich sehr gut ohne ihn zurecht, hatte sie sagen wollen, doch Luke ließ sie nicht ausreden.
"Ersetzt du ihn im Bett durch einen anderen", brachte er ihren Satz zu Ende. "Wie du dich verändert hast! Und ich habe geglaubt ..." Er sprach nicht weiter, weil die Zwillinge ins Wohnzimmer kamen. Nach diesem Vorfall gingen sich Jenneth und Luke aus dem Weg. Luke achtete darauf, dass seine kleine Tochter nicht mehr in Jenneth' Nähe kam. Jenneth sagte sich, sie sei froh, ihm endlich gezeigt zu haben, dass andere Männer sie begehrenswert finden würden. Froh, ihm klargemacht zu haben, dass sie nichts mit ihm und seinem Kind zu tun haben wolle. Endlich hatte sie mit der alten Jenneth gebrochen, die ihn bis zum Wahnsinn geliebt hatte, auch noch, nachdem er ihr bewiesen hatte, dass er sie ganz bestimmt nicht liebte. Und das war das letzte Mal gewesen, dass sie ihn gesehen hatte.
2. KAPITEL Louises Hochzeit rückte näher, und Jenneth bereute immer mehr, zugesagt zu haben. Sie freute sich für ihre Freundin und wünschte ihr und ihrem Mann Glück, und wenn sie nicht gerade in Little Compton heiraten würde, wäre Jenneth frohen Herzens zur Hochzeit gegangen. Sie wollte nicht Leuten begegnen, die sie von früher kannten und wussten, dass sie mit Luke verlobt gewesen war und er dann eine andere geheiratet hatte. Wie Dörfler nun einmal waren, würden sie darauf achten, ob sie einen Trauring trug, und Vermutungen darüber anstellen, warum sie noch nicht verheiratet war. Bei dem Gedanken an die neugierigen und mitleidigen Blicke schauderte Jenneth, doch sie hatte nicht den Mut, Louise anzurufen und abzusagen. Dabei hatte sie ein halbes Dutzend guter Gründe, nicht nach Little Compton zu fahren. Einer davon lag jetzt vor ihr auf dem Schreibtisch. Jenneth sah stirnrunzelnd die Skizzen für das große Wandgemälde an, das die Kinderstation eines Krankenhauses in York verschönern sollte. An den Auftrag war sie durch eine ihrer Kundinnen gekommen, die Geld für die Station gesammelt hatte, deren Einrichtung völlig veraltet und fast unbrauchbar gewesen war. Ein reicher Geschäftsmann aus der Gegend hatte so großzügig gespendet, dass die Abteilung jetzt mit modernen technischen Geräten ausgestattet und sogar noch Geld übrig geblieben war. Jenneth' ehemalige Kundin und Vorsitzende des
Wohltätigkeitskomitees hatte daraufhin energisch erklärt, jetzt würden sie auch noch etwas gegen die tristen, mit Emulsionsfarbe gestrichenen Wände tun. Sie hatte sich an Jenneth gewandt, die den Auftrag begeistert angenommen und gesagt hatte, sie werde deutlich weniger als ihren normalen Preis berechnen. Dafür ließ ihr die Vorsitzende beim Entwurf völlig freie Hand. Das Problem war, Motive auszuwählen, mit denen sie das Interesse von Kindern wecken konnte, die schrecklich litten und in ganz verschiedenem Alter waren. Aber anstatt sich auf die Arbeit zu konzentrieren, machte sich Jenneth Gedanken über Louises Hochzeit, und so blickte sie noch immer stirnrunzelnd die Skizzen an, als die Ateliertür aufging und Kit hereinkam. Er und sein Zwillingsbruder hatten das Abitur hinter sich und konnten jetzt die langen Sommerferien genießen, die gerade angefangen hatten. Mit jedem Tag wurde sich Jenneth von neuem bewusst, dass Kit und Nick jetzt erwachsen waren. Zweifellos waren beide reif und ausgeglichen. Es sich als Verdienst anzurechnen, lehnte Jenneth jedoch bescheiden ab. Sie schrieb es ihren Eltern zu, die bis zu ihrem Tod dafür gesorgt hatten, dass alle drei Kinder in stabilen, liebevollen Verhältnissen aufwuchsen. "Leihst du mir dein Auto?" fragte Kit. "Ich spiele heute Nachmittag bei Chris Harding Tennis, und Nick hat unseres genommen." Jenneth hatte den beiden zum achtzehnten Geburtstag einen ziemlich zerbeulten, aber verkehrssicheren Kleinwagen geschenkt, der in den vergangenen sechs Monaten hervorragende Dienste geleistet hatte. Obwohl sie Zwillinge waren, hatten die Jungen jedoch verschiedene Freundeskreise und Hobbys. Bis jetzt hatte Jenneth die Winke mit dem Zaunpfahl ignoriert, ein weiteres Auto zu kaufen. Durch die Versicherungspolicen hatten sie ein Dach über dem Kopf und
ein kleines Einkommen, das allerdings nicht für Luxusgegenstände reichte. Die musste Jenneth mit dem Geld bezahlen, das ihre Aufträge einbrachten. Kit und Nick waren sich dessen sehr wohl bewusst und winkten ihr gut gelaunt mit dem Zaunpfahl, ohne zu fordern oder sie unter Druck zu setzen. Da sie beide vernünftige Fahrer waren, hatte Jenneth keine Bedenken, ihnen ihr Auto zu leihen, wenn sie es nicht brauchte. Dieses eine Mal schüttelte sie jedoch den Kopf. "Ich muss einige Bilder in die Galerie bringen, und ich habe Eleanor versprochen, es heute Nachmittag zu machen. Wenn du willst, setze ich dich unterwegs ab." "Nur wenn du mich fahren lässt", sagte Kit breit lächelnd. Er und sein Bruder scherzten immer, Jenneth sei als Autofahrerin unberechenbar. Es stimmte, dass sie dazu neigte, mit offenen Augen zu träumen, wenn sie von ihrer Arbeit voll in Anspruch genommen war. Einmal war sie so in Gedanken gewesen, dass sie auf dem schmalen Weg vom Haus zur Straße plötzlich einen Schlenker gemacht hatte und in den Graben gefahren war. Dir nächster Nachbar, ein Farmer, hatte den robusten Kombi mit seinem Traktor zurück auf den Weg gezogen. Kit und Nick spürten, dass es ihrer Schwester widerstrebte, Louises Hochzeit zu besuchen, und ihnen war auch bewusst, dass sie sich sofort in sich selbst zurückzog, wenn Little Compton und seine Bewohner zur Sprache kamen. Beide liebten Jenneth zu sehr, um sie mit Fragen zu bedrängen, aber sie waren neugierig. Nick hatte gewettet, dass sie noch absagen würde. Kit hatte darauf gesetzt, dass sie an der Hochzeit teilnehmen würde. Jetzt wollte er auf der Fahrt zum Haus seines Freundes dafür sorgen, dass er die Wette gewann. Erst vor kurzem hatten die Zwillinge die Köpfe zusammengesteckt und waren zu dem Schluss gekommen, dass sie sich um die Zukunft ihrer Schwester kümmern sollten, bevor sie zum Studium fortgingen.
"Sie muss heiraten", sagte Kit. Nick zog die Augenbrauen hoch. "Chauvinist!" "So meine ich das nicht", erklärte Kit. "Sicher, finanziell kann sie für sich sorgen. Schließlich hat sie lange genug für uns gesorgt. Aber hast du nicht auch manchmal den Eindruck, dass ihr irgendetwas fehlt? Sie braucht einen Ehemann und Kinder." "Damit sie abgelenkt ist und nicht darauf achtet, was wir machen?" fragte Nick breit lächelnd. Charakterlich waren die Zwillinge sehr verschieden, doch dieses eine Mal waren sie einer Meinung: Sie mussten das Leben ihrer Schwester regeln, damit sie nicht allein war, wenn sie auszogen. Also sahen sie sich nach einem geeigneten Ehemann für Jenneth um. Nachdem sie in den Graben gefahren war, machten sie sich die größten Hoffnungen. Ihr Nachbar Tim Soames, ein freundlicher, ruhiger Mann mit breiten Schultern, war ledig, gut situiert und im richtigen Alter. Er half ihnen, indem er mit Jenneth ausging, aber nach einigen Dates und mehreren Besuchen bei ihnen zu Hause kam er plötzlich nicht mehr vorbei. Die Zwillinge hatten sie bedrängt, und Jenneth hatte ihnen gelassen erklärt, sie habe Tim zwar gern, wolle sich jedoch nicht mit ihm einlassen. Das ist das ganze Problem, dachte Kit und warf seiner Schwester einen schnellen Blick zu, als sie sich auf den Beifahrersitz setzte. Sie wollte sich nicht einlassen. Aber sie brauchte einen Mann in ihrem Leben, der sich um sie kümmerte und sie beschützte. In diesem Juni hatten sie perfektes Sommerwetter, was in der Gegend selten vorkam. Wegen der Hitze hatten sie die Fenster offen, und der Fahrtwind zerzauste Jenneth das Haar. Ich sollte es wirklich schneiden lassen, sagte sie sich gereizt, während sie es sich aus dem Gesicht schob. Schulterlanges Haar passte nicht
zu einer neunundzwanzigjährigen Frau. Es war ein lächerliches Festhalten an einer längst vergangenen Jugend. Kit beobachtete sie und dachte an eine eifersüchtige Freundin von Nick, die ihn und Jenneth eines Abends zusammen gesehen hatte und überzeugt gewesen war, dass er sie betrog. Sie hatte nicht glauben wollen, dass Jenneth seine Schwester war. Und es stimmte, dass niemand ihr ansehen konnte, dass sie über zehn Jahre älter als Nick und er war. "Du wirst dir heute Nachmittag in York doch bestimmt ein Outfit für Louises Hochzeit kaufen", sagte er überheblich. "Frauen tun ja nichts lieber, als sich mit Mode zu beschäftigen." Jenneth biss an und erinnerte Kit spöttisch daran, wie er sich vor einigen Monaten beleidigt in sein Zimmer zurückgezogen hatte, nur weil sich Nick seine geschätzten Markenjeans ausgeliehen hatte. Sie ahnte nicht, dass sie bereits Kits Kampf um den Gewinn seiner Wette zum Opfer fiel. Nachdem sie ihn abgesetzt hatte, fuhr sie weiter nach York. Sich ein Kleid für die Hochzeit zu kaufen, hatte sie wirklich nicht im Sinn gehabt, sie räumte jedoch ein, dass die anderen Gäste es als Beleidigung Louises empfinden würden, wenn sie nicht dem Anlass entsprechend angezogen sein würde. Jenneth parkte an der Rückseite des Hauses in der Innenstadt. Ihre Teilhaberin Eleanor Coombes, eine energische Witwe Mitte vierzig mit einer in London lebenden verheirateten Tochter und einer kleinen Enkelin, begrüßte sie herzlich. Es dauerte nicht lange, die Ölgemälde auszuladen. Neben Jenneth' Werken boten sie in der Galerie auch Arbeiten anderer lokaler Künstler an, hauptsächlich Aquarelllandschaften. Eleanors Beitrag zum Geschäft war ein Restaurationsservice. Sie stammte aus einer reichen Familie. Ihren Mann hatte sie in Italien bei einem Kurs in Gemälderestauration kennen gelernt. Während ihrer Ehe hatte sie die Kenntnisse nicht genutzt. Nach dem Tod ihres Mannes war ihr die Zeit in dem großen, einsam gelegenen Haus zwanzig Meilen außerhalb von York lang
geworden. Auf der Party einer gemeinsamen Bekannten war sie Jenneth begegnet. Sie waren Freundinnen geworden, und schließlich hatte Eleanor vorgeschlagen, gemeinsam eine Galerie zu eröffnen. Damit Jenneth genug Zeit zum Malen hatte, führte Eleanor die Geschäfte. Außerdem war sie Jenneth' inoffizielle Agentin. Seit Beginn ihrer Teilhaberschaft bekam Jenneth fast doppelt so viele Aufträge wie früher. "Ist irgendetwas los?" Eleanor bemerkte, dass Jenneth in Gedanken versunken war. Jenneth schüttelte den Kopf. »Nicht direkt ... Meine beste Freundin heiratet am nächsten Wochenende. Sie möchte, dass ich zur Hochzeit komme ..." "Und du hast nichts anzuziehen." Eleanor entging nicht, wie wachsam und niedergeschlagen Jenneth plötzlich aussah, fragte sie jedoch nicht nach dem Grund. Sie hatte im Lauf der Jahre gelernt, Jenneth ihre Privatsphäre zu lassen. Eleanor dachte ähnlich wie die Zwillinge. Ihrer Meinung nach war es eine erschreckende Verschwendung, dass eine so offensichtlich zur Mutter bestimmte junge Frau jeder Beziehung aus dem Weg ging. Eleanor war keine sentimentale Romantikerin. Ihre Ehe war nicht einfach gewesen. Zwanzig Jahre älter als sie, hatte ihr Mann große Ansprüche gestellt. Aber sie hatten sich geliebt und allmählich gelernt, dem anderen die Bedürfnisse und vorgefassten Meinungen nachzusehen. Sie vermisste ihn und trauerte noch immer, obwohl sie schon seit über sieben Jahren Witwe war. Sie hatte einen Freund, der geschieden und durch die Erfahrung mit seiner Frau argwöhnisch und verbittert war. Eleanor war klug und reif genug, um die Beziehung so zu akzeptieren, wie sie war. Sie brauchte und wollte nicht mehr, als John ihr geben konnte. Ihre Unabhängigkeit bedeutete ihr viel, Und sie hatte nicht vor, sich auf eine zweite Ehe mit einem Mann einzulassen, der zwei sehr besitzergreifende und
manchmal aggressive Töchter hatte und dessen Probleme nicht durch guten Sex gelöst werden konnten. Aber Jenneth' Fall lag anders. Sie war zur Mutter geboren. Sollen mich die Feministinnen doch ruhig ins Gebet nehmen, dachte Eleanor. Ihrer Meinung nach zerstörte Jenneth sich selbst, indem sie ihre Bestimmung unterdrückte, und sie gab den Zwillingen von ganzem Herzen Recht: Jenneth sollte heiraten. "In York ist kein Mangel an guten Geschäften", sagte Eleanor und ignorierte, dass sich ihre Freundin anspannte, als wollte sie die Flucht ergreifen. Wovor? fragte sich Eleanor neugierig. "Ich gehe mit, wenn du willst", bot sie an. "Rachel kommt heute Nachmittag. Ich wollte mich mit den Geschäftsbüchern beschäftigen, aber das kann ich immer noch machen." Jenneth wusste, wann sie in die Enge getrieben war. Und sie musste zur Hochzeit. Louise würde gekränkt sein, wenn sie nicht hinfahren würde. Luke würde ja nicht dort sein ... Nicht zum ersten Mal wünschte Jenneth, sie wäre nicht so verletzlich. "Tank ist voll, Reifen und Öl sind überprüft, deine Reisetasche ist auf dem Rücksitz ..." Nick zählte Jeden Punkt an den Fingern ab. Jenneth verdrehte die Augen. Man könnt« meinen, sie sei jünger als die Zwillinge und nicht umgekehrt. Sie trug nicht das Outfit, das sie auf Eleanors Drängen hin gekauft hatte. Stattdessen hatte sie ausreichend Zeit fürs Umziehen im Hotel eingeplant. Es war gerade sieben Uhr am Samstagmorgen. Der Himmel war wolkenlos und in einen Dunst gehüllt, der Hitze verhieß. Ein wunderschöner Junitag ... In Little Compton wachte Louise wahrscheinlich gerade erst auf. Sie hatte Jenneth am Telefon gestanden, ein Brautkleid gekauft zu haben, das alles in den Schatten stelle, was Scarlett O'Hara jemals getragen hatte. "Cremefarben, nicht weiß", hatte sie lachend gesagt.
George war längst nicht der erste Mann in ihrem Leben. Sie war nicht promiskuitiv, hatte aber mehrere Freunde gehabt, von denen sie sich im Guten getrennt hatte. Und nach dem, was sie Jenneth erzählt hatte, bedauerten weder sie noch George diese früheren Beziehungen. Jenneth wollte die Autobahnen wegen der vielen Baustellen meiden. Nach der Berechnung der Zwillinge würde sie spätestens um zwölf Uhr mittags in Little Compton sein. Louise heiratete um drei, und Jenneth hatte versprochen, ihr zu helfen, sich fertig zu machen. Auch würde sie ihr hinterher beim Umziehen helfen, bevor sie und George in die Flitterwochen abfuhren. "Eine inoffizielle Brautjungfer", hatte Louise gesagt. Jenneth war zusammengezuckt, denn früher einmal hatte sie ihre Freundin gebeten, ihr diesen Gefallen zu tun. Die Fährt nach Süden verlief ohne Zwischenfälle, und Jenneth erreichte kurz vor elf die vertraute Gegend östlich von Bath. Auf einem der sanften Hügel, die Little Compton umgaben, hielt sie an und blickte hinunter ins Dorf mit den verstreut stehenden Cottages und dem "Feathers" an einem und der Kirche am anderen Ende der einzigen Hauptstraße. Jenneth gelang es nicht, die Erinnerungen an lange Sommernachmittage mit Luke zu verdrängen. Plötzlich hatte er mehr in ihr gesehen als nur eine Freundin seiner Cousine, und Jenneth war verwirrt und entzückt gewesen. Dort unten, wo sich, von Weiden beschattet, der Fluss durch die Landschaft schlängelte, hatte Luke sie zum ersten Mal geküsst. Sie hatte am ganzen Körper gebebt vor Lust. Luke hatte liebevoll gelacht und sie gefragt, ob sie wisse, was so eine Reaktion "ihm antue. Nur drei Monate später machte er ihr am selben Platz einen Heiratsantrag. Er sagte, ihm sei klar, dass er sie dränge, aber er werde am Ende des Sommers eine Stelle in Kalifornien antreten und wolle ihr Versprechen mitnehmen, auf ihn zu warten.
Nachdem sie ihm atemlos, fast ungläubig ihre Antwort gegeben hatte, zog Luke sie an sich und küsste Jenneth so leidenschaftlich, dass sie ihm nicht widerstehen konnte, als er sie ins Gras unter den Bäumen legte, ihre Bluse aufknöpfte und ihre Brüste erst mit den Händen und dann mit dem Mund liebkoste. Jenneth hätte mit Luke geschlafen, wenn er sie in diesem Moment gedrängt hätte. Doch er tat es nicht, und nach der Bekanntgabe ihrer Verlobung hatte er nur noch wenig Zeit für sie, weil sich der Gesundheitszustand seiner Mutter verschlechterte. Jenneth hatte volles Verständnis dafür gehabt, dass er seiner Mutter den Vorrang gegeben hatte. Energisch verbannte Jenneth die unerwünschten Erinnerungen und fuhr weiter. Die Wirtin des "Feathers" begrüßte Jenneth herzlich und führte sie sofort in ein gemütlich eingerichtetes Mansardenzimmer mit Bad. Aus der Gaube blickte man auf den Hof an der Rückseite der Dorfstraße. "Louise hat gesagt, dieses Zimmer würde Ihnen gefallen", erklärte die Wirtin freundlich. "Ja, danke", erwiderte Jenneth lächelnd. Es war typisch, dass die Frau ihre Freundin beim Vornamen nannte. Vermutlich taten das noch immer alle im Dorf, obwohl Louise nur noch Weihnachten und zu anderen Feiertagen nach Hause kam. Die jetzige Besitzerin hatte das "Feathers" erst übernommen, nachdem Jenneth weggezogen war, und sie war mehr an der Hochzeit als an ihrem Gast interessiert. Angesichts ihrer Gleichgültigkeit ließ Jenneth' Anspannung ein bisschen nach. Die Wirtin ging zurück nach unten, nachdem sie ihr versprochen hatte, ihr einen Salat und eine Kanne Kaffee zu schicken. Wahrscheinlich habe ich die Reaktion der Leute auf mein Erscheinen bei der Hochzeit maßlos aufgebauscht, dachte Jenneth. Diese Erkenntnis beruhigte ihre Nerven noch mehr, und sobald ihr eine schüchterne Serviererin das Mittagessen gebracht hatte, rief Jenneth bei Louises Eltern an.
Louises Mutter nahm ab und beantwortete herzlich Jenneth' zögernde Frage, wie es denn der Braut gehe. Als sie dann mit ihrer Freundin selbst sprach, war Jenneth so weit, ihre Ängste einfach als Einbildung abzutun, und sie erklärte sich bereit, sich sofort umzuziehen und zu kommen. Sie ließ das Auto stehen und nahm den Weg, der hinter den Cottages und dann am Kirchhof entlangführte. Immer schon hatte sie sich darüber gewundert, dass ihre offenherzige, sehr modern denkende Freundin ausgerechnet die Tochter eines Pfarrers war. Es gereichte David Simmonds zur Ehre, dass er niemals versucht hatte, seiner Tochter die eigenen religiösen Überzeugungen aufzuzwingen. Aus Gewohnheit ging Jenneth zur Hintertür des Pfarrhauses und klopfte. David Simmonds öffnete und begrüßte sie herzlich. Seine Frau kam in die Küche geeilt und küsste Jenneth auf die Wange. Wie Lukes Vater und Luke war Louises Mutter groß und dunkelhaarig. Sie behauptete immer, ihre Tochter sei ein Atavismus, und zweifellos sah Louise mit ihrem roten Haar und der hellen Haut weder Mutter noch Vater ähnlich. Jenneth wurde aufgefordert, sofort nach oben in Louises Schlafzimmer zu gehen. Louise saß in einem fast unanständigen Hemd aus cremefarbenem Satin am Toilettentisch, blickte kurzsichtig in den Spiegel und versuchte, sich die Wimpern zu tuschen. "Verdammt!" schimpfte sie, als Jenneth hereinkam. "Lass mich das machen." Jenneth nahm die Bürste und trug geschickt die dunkelgraue Farbe auf. "Was ist aus deinen Kontaktlinsen geworden?" "Ich will nichts riskieren", erwiderte Louise. "Bestimmt fange ich an zu heulen und verliere die Dinger ..." "Du kannst doch deine Brille aufsetzen", sagte Jenneth lachend. Als Schulmädchen hatte Louise die Brille des staatlichen Gesundheitsdienstes tragen müssen. "Du wagst es, davon zu
sprechen ..." Sie sah ihre Freundin drohend an, dann lachte sie mit, stand auf und umarmte Jenneth liebevoll. "O Jen, ich bin so froh, dass du hier bist!" Jenneth erwiderte die Umarmung. Sie fühlte sich ein bisschen schuldig und schämte sich, weil sie feige daran gedacht hatte, ihr Versprechen nicht zu halten. "Ist das nicht lächerlich?" Louise schluchzte auf, als Jenneth sie losließ. "Ich bin so weinerlich und rührselig wie eine Heldin von Jane Austen." "Du kleidest dich zweifellos nicht wie eine", sagte Jenneth und musterte das an der Kleiderschranktür hängende aufreizende Brautkleid, das anscheinend nur den Zweck hatte, die Rundungen ihrer Freundin und die cremefarbenen Strümpfe zu betonen, die sie trug. Louise war überhaupt nicht verlegen. "Gefällt es dir? George hat es ausgesucht." Sie machte Jenneth auf die vielen, mit Satin überzogenen kleinen Knöpfe an der Vorderseite aufmerksam. "Er hat gesagt, er steht die Trauung nur durch, wenn ich das trage." Jenneth revidierte ihre Meinung über den zukünftigen Ehemann ihrer Freundin. Trotz seines Namens war er offensichtlich keineswegs der robuste, nüchterne, langweilige Typ, den sie sich vorgestellt hatte. "Noch eine halbe Stunde, Louise!" rief ihre Mutter die Treppe hoch. Jenneth nahm den sich bauschenden Unterrock aus Seide und Tüll vom Bett, reichte ihn Louise und half ihr dann in die Kreation aus Rohseide und Spitze. Als sie mit dem letzten kleinen Knopf fertig war und Louise betrachtete, traten ihr Tränen in die Augen. "Du siehst... wunderschön aus." Mehr brachte sie nicht heraus, doch es genügte wohl, denn Louise umarmte sie fest. "Verdammt! Wenn ich jetzt weine, verläuft die Wimperntusche ... Jen, du solltest die Braut sein, nicht ich. Du
bist wie gemacht für die Ehe und Kinder." Louise runzelte die Stirn. Jenneth spürte, dass ihre Freundin Luke erwähnen wollte. Sie war erleichtert, als die Tür aufging und Louises Eltern mit einer Flasche Champagner und vier Gläsern hereinkamen. Sie tranken auf die Braut, und dann war es Zeit, in die Kirche zu gehen. Louise hatte sich dafür entschieden, auf dem Hinweg zu laufen. Ihr Vater begleitete sie stolz, und Jenneth hatte den Eindruck, dass alle Dorfbewohner aus ihren Häusern kamen, um Louise Glück zu wünschen. Ihr Patenonkel würde sie zum Altar führen. Er wartete vor der Kirche auf Louise, und ihr Vater, der sie trauen würde, übergab sie seinem Cousin und ging dann hinein. Die meisten Gäste saßen schon auf ihren Plätzen. Jenneth eilte zu einer Bank ganz hinten und beobachtete, wie Louise zum Altar ging. Früher einmal hatte sich Jenneth vorgestellt, wie sie in dieser kleinen, gemütlichen Kirche heiraten würde, die ihr so vertraut war. Sie spürte einen Schmerz, den sie längst für überwunden gehalten hatte. Während sie Tränen wegblinzelte, wurde ihr vage bewusst, dass noch jemand hereingekommen war. Ein kleines Mädchen setzte sich neben sie. Es hatte dunkles Haar, ein elfenhaftes Gesicht und trug ein hübsches Baumwollkleid mit einem Matrosenkragen. Ein Mann folgte dem Mädchen in die Bankreihe, doch Jenneth sah ihn nicht an. Sie blickte starr das Brautpaar an und konzentrierte sich darauf, die Tränen zurückzuhalten. Es war dumm, daran zu denken, dass sie einmal geglaubt hatte, ihre Heirat mit Luke würde in dieser Kirche gesegnet und geweiht werden, in der Mitglieder seiner Familie viele Generationen hindurch geheiratet hatten. Aber sie konnte die Erinnerungen nicht verdrängen. Luke hatte sie hier hereingeführt und ihr den Verlobungsring
geschenkt, einen schmalen Goldreif mit einem von Diamanten eingefassten Saphir. Er hatte ihn ihr an den Finger gesteckt und sie dann zärtlich und keusch geküsst. Sie verzog den Mund, weil sie dieses altmodische Wort verwendete. Doch mit keinem anderen ließ sich beschreiben, wie es in jenem heiligen Moment gewesen war; Jenneth bebte vor Qual. Genau davor hatte sie sich gefürchtet. Nicht vor den neugierigen Blicken der Leute, sondern vor ihren Erinnerungen und dem noch immer verzehrenden Bedürfnis, zu verstehen, warum Luke sie so grausam getäuscht hatte. Warum hatte er sich überhaupt mit ihr verlobt, wenn er die ganze Zeit gewusst hatte, dass er nur eine sexuelle Beziehung wollte? Ihm musste doch klar gewesen sein, dass er sie dazu hätte bringen können, sich ihm hinzugeben. Jetzt liefen ihr die Tränen übers Gesicht, und sie biss sich auf die Lippe, um nicht aufzuschluchzen. Und dann spürte sie plötzlich etwas Weiches an der Hand. "Du kannst mein Taschentuch benutzen, wenn du willst", flüsterte das kleine Mädchen. "Ich habe zwei gekauft, weil Dad gesagt hat, Damen wurden sie bei Hochzeiten immer brauchen", erklärte es so wichtigtuerisch, als müsste jede Äußerung Dads in die Gesetzessammlungen aufgenommen werden. Jenneth liebte Kinder, deshalb konnte sie nicht widerstehen und sah zur Seite. Das Taschentuch war bunt und zerknittert, doch sie nahm es und putzte sich die Nase, während sie und ihre Retterin verschwörerische Blicke wechselten. "Ich wollte Konfetti mitbringen", vertraute ihr das Mädchen an. "Aber Mrs. Mack wollte mir keins kaufen. Sie mag Hochzeiten nicht." Vom am Altar legten Braut und Bräutigam das Gelübde ab. Louises Vater gab den Segen, und über ihnen schwoll die Orgelmusik triumphierend an. Die Kirchentüren wurden geöffnet, so dass die strahlende Junisonne hereinschien. Hoch oben im Turm läuteten die großen Glocken, die im selben Jahr
gegossen worden waren, als St. Paul's aus den Trümmern wieder auferstanden war. Sobald das Licht den hinteren Teil der Kirche durchflutete, wandte Jenneth unwillkürlich den Kopf. Und sah dem Mann direkt ins Gesicht, den sie niemals hatte wieder sehen wollen. "Luke ..." flüsterte sie entsetzt. Er bemerkte, wie blass sie wurde, und blickte sie mit zusammengekniffenen Augen nachdenklich an. An der Hochzeit seiner Cousine teilzunehmen war eine Entscheidung in letzter Minute gewesen. Nicht, dass er den Wunsch gehabt hatte, Louise heiraten zu sehen. Die offensichtliche, aber geduldig ertragene Enttäuschung seiner Tochter hatte ihn veranlasst, doch noch nach Little Compton zu fahren. Wenn ihm nicht überraschend mitgeteilt worden wäre, er habe den Job bekommen, wäre er jetzt auf einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten. So aber hatte er sie nach nur einer Woche abbrechen und zurückkehren müssen. Angelica war entzückt, dass sie während der langen Schulferien doch noch mit ihrem Vater zusammen sein konnte. Noch mehr freute sie sich darüber, dass sie von London nach York ziehen würden. Er hatte gesagt, die Stadt würde ihr sehr gefallen', und da sie bereitwillig akzeptierte, was ihr Vater sagte, konnte sie den Umzug kaum erwarten. Ihre Begeisterung war wohl teilweise auch darauf zurückzuführen, dass ihre Haushälterin nicht mit ihnen nach York ziehen würde. Angelica und Mrs. Mack harmonierten nicht immer gut miteinander. Angelica mochte es nicht, von einer Haushälterin betreut zu werden. Sie wollte eine richtige Mutter haben, so wie andere Mädchen. Die würde sie jedoch nur bekommen, wenn ihr Vater wieder heiratete. Angelica hatte sich in den vergangenen Monaten umgesehen. Er kümmerte sich nicht darum, dem Mangel abzuhelfen« Anscheinend war es ihm gleichgültig ... Einen Moment lang dachte Jenneth wirklich, sie würde ohnmächtig, aber ihr Stolz rettete sie. Verbittert fragte sie sich,
warum sich Luke ausgerechnet diese Bankreihe hatte aussuchen müssen. Und sie verfluchte sich, weil sie Louise geglaubt hatte, dass er nicht zur Hochzeit kommen würde. Braut und Bräutigam kamen den Gang entlang. Angelica bemerkte die starke Spannung zwischen den beiden Erwachsenen nicht. Sie nahm Jenneth' Hand und fragte: "Sieht sie nicht wunderschön aus?" Und dann sprach das kleine Mädchen Louise unwissentlich von jeder Schuld an Lukes Erscheinen frei. "Wir wollten heute nicht kommen, aber Dad müsste aus Amerika zurückkehren, weil er eine neue Stelle hat, und ich habe ihn überredet, mit mir hierher zu fahren." Angelica strahlte vor Freude, während sie das sagte. Jenneth fühlte sich so verletzlich und hilflos, dass es ihr unmöglich war, nicht darauf zu reagieren. "Können wir beim Empfang neben dir sitzen?" fragte Angelica eifrig. "Ich habe keine Mutter, und ich mag es nicht, wie die Leute Dad und mich ansehen, wenn wir allein sitzen." "Angelica, das reicht...", warnte Luke. Tränen schimmerten in den grünen Augen, die Lukes so ähnlich waren. Ich hätte sofort wissen müssen, wer sie ist, dachte Jenneth. Unwillkürlich beschützte sie das Kind. "Nicht ...", sagte sie und erkannte im nächsten Moment schockiert, was sie angerichtet hatte. "Siehst du, Dad!" rief Angelica sofort zufrieden. "Sie hat überhaupt nichts dagegen. Weil du auch allein hier bist, stimmt's? Du trägst keinen Ehering, also bist du nicht verheiratet. Und du willst sicher auch nicht allein sitzen. Es wird Spaß machen!" Sie lächelte Jenneth strahlend an. "Wir können so tun, als wären wir eine richtige Familie." Jenneth wollte sich entsetzt herausreden, doch jetzt waren Louise und George auf gleicher Höhe mit ihnen, und sie stellte verblüfft fest, dass der Mann ihrer Freundin überhaupt nicht wie ein George aussah. Louises glückselige Verwirrung ging ihr verräterisch zu Herzen.
Als Nächstes wurde Jenneth bewusst, dass sie mit den anderen Gästen draußen war und Angelica fast besitzergreifend ihre Hand umklammerte, während sie lebhaft auf sie einredete. Jenneth brachte es einfach nicht fertig, Angelica zurückzuweisen und ihr die Freude zu verderben, indem sie ihr sagte, sie wolle nichts mit ihr zu tun haben. Alle drängten sich um die Neuvermählten, und es dauerte mehrere Minuten, bis sie zu Louise durchkamen. Sobald sie Jenneth und Angelica zusammen sah, weiteten sich Louises Augen vor Entsetzen. "Jenneth, ich versichere dir, ich hatte keine Ahnung ...", sagte sie unsicher. Bevor Jenneth irgendetwas erwidern konnte, verkündete Angelica allen in Hörweite: "Jenneth ist meine Scheinmutter, Tante Louise!" "Angelica ...", warnte Luke. Und Jenneth wurde sich bewusst, dass er dicht hinter ihr stand. Der Schock ließ sie so sichtlich erbeben, dass Louise sie besorgt anblickte. Es kam noch schlimmer, denn jetzt hörte sie Louises Mutter energisch sagen: "Jenneth sieht aus, als würde sie in Ohnmacht fallen. Hilf ihr bitte, Luke." Er legte ihr den Arm um die Taille und führte Jenneth aus dem Gedränge vor dem Portal um das Gebäude herum auf den ruhigen Kirchhof. Zu viele Jahre lang hatte sie von Lukes Berührungen geträumt. Jetzt hielt er sie fest, aber leidenschaftslos. Sie hätte alles darum gegeben, tatsächlich ohnmächtig zu werden und einer Situation zu entkommen, die ihre schrecklichsten Albträume übertraf, doch gerade in diesem Moment passierte es nicht. Sie rückte von ihm ab und war nicht überrascht, dass Luke sie sofort losließ. Ihm musste dies ebenso unangenehm sein wie ihr. Nur empfand er zweifellos nichts als Widerwillen, während
sie von anderen bedrückenden Gefühlen gequält wurde, die sie so gern geleugnet hätte. "Wie kommst du zum Haus?" fragte Luke kühl. Sie war zu überrascht, um zu lügen. "Zu Fuß? Bei dieser Hitze?" Er runzelte die Stirn. Jenneth bemerkte, dass die Jahre nicht spurlos an ihm vorübergegangen waren. Auch wenn nichts jemals seine Männlichkeit schwächen könnte, legten Falten um Mund und Augen nahe, dass sein Leben nicht frei von Leid gewesen war. Das hätte sie freuen sollen, doch stattdessen hatte sie den entsetzlichen, unmöglichen Wunsch, ihn tröstend zu berühren und zum Lächeln zu bringen. Früher hatte ihr alles wehgetan vor Verlangen und Wonne, wenn er gelächelt hatte. "Mein Auto steht gleich um die Ecke. Wir nehmen dich mit..." "Nein!" stieß Jenneth in heller Panik hervor. Ein Schweigen folgte, das von einer fast spürbaren Feindseligkeit durchdrungen war. Vor der Kirche war der Fotograf bei der Arbeit. Jenneth hörte seine Anweisungen und die Gesprächsfetzen nur wie ein entferntes, unaufdringliches Summen, als wären Luke und sie vom Rest der Welt ausgesperrt. "Aber Jenneth, du hast doch versprochen, meine Scheinmutter zu sein ...", sagte Angelica unsicher. Jenneth sah das kleine Mädchen an. Sie wollte es abweisen, erkannte die Verletzlichkeit des Kindes und wusste, dass sie es einfach nicht konnte.
3. KAPITEL Der Rest des Nachmittags war ein Albtraum. Angelica hing wie eine Klette an ihr. Unter anderen Umständen hätte sich Jenneth vielleicht distanzieren und ziemlich herzlos über Lukes Frustration amüsieren können, aber sie setzte ihre ganze Kraft dafür ein, die entsetzliche Tortur einfach nur durchzustehen. Und das, ohne sich anmerken zu lassen, wie sehr sie litt. Sie war sich der neugierigen Blicke der Leute nur allzu bewusst, die miterlebt hatten, wie sie sich in den Mann verliebt hatte, der ihr jetzt an einem der wunderschön geschmückten runden Tische in dem auf dem Rasen des Pfarrhauses errichteten Zelt gegenübersaß. Es war nicht nur der Schock, den ihr Lukes unerwartetes Erscheinen versetzt hatte. Es war nicht nur das Interesse, das sie beide auslösten. Nein, was sie fühlte, ging tiefer und tat so weh, dass sie kaum atmen konnte. Sie stellte sich immer wieder vor, wie es wäre, wenn sie die Zeit zurückdrehen und einfach so tun würden, als würden sie drei zusammengehören. Als wären sie die Familie, die sich Angelica so sehr wünschte, wie sie ihr anvertraut hatte. Diese bittersüßen Gedanken machten Jenneth klar, wie verwundbar sie war, und das Wissen bedrohte sie noch mehr als Lukes Anwesenheit. Nachdem er das köstliche Essen kaum angerührt hatte, stand Luke auf und sagte, er müsse sich bei seinem Onkel und seiner Tante dafür entschuldigen, überraschend doch noch gekommen
zu sein. Jenneth seufzte zittrig vor Erleichterung. Angelica, die sich geweigert hatte, mit ihm zu gehen, lächelte Jenneth herzlich an und betrachtete sie dann nachdenklich. Für die Reden und Trinksprüche kehrte Luke an den Tisch zurück, und sobald der Teil der Feier vorbei war, sagte Jenneth, sie habe Louise versprochen, ihr beim Umziehen zu helfen. Angelica wollte mit ihr gehen, aber Luke verbot es ihr. Erst als Jenneth aufstand und das Zelt verließ, wurde ihr niedergeschlagen bewusst, dass Luke und sie während der ganzen Zeit am Tisch nur wenige Worte gewechselt hatten. Luke hatte es also als ebenso peinlich und bedrückend empfunden wie sie, dass sie zusammensaßen. Das sagte sie zu Louise, sobald sie allein in deren Zimmer waren. Es lag an der Rückseite des Hauses mit Blick auf einen altmodischen Rosengarten. Durch die offene Balkontür wehte der Duft der Bourbon-Rosen herein. Als Teenager hatten sie sich kichernd darüber ausgelassen, dass irgendein romantischer Schwerenöter an den dornigen Rosen nach oben auf den kleinen schmiedeeisernen Balkon klettern könnte, um Louise ein Ständchen zu bringen. Louise sah ihre Freundin nachdenklich an und sagte dann ruhig: "Ich glaube, du irrst dich. Wenn Luke nicht mit dir hätte zusammensitzen wollen, hätte er es schließlich nicht tun müssen." "Angelica hat ihm ja keine Wahl gelassen", erwiderte Jenneth verbittert. Louise lachte leise. "Sie ist anscheinend sehr von dir angetan. Armes Kind. Ich muss zugeben, dass sie mir Leid tut. Luke ist die meiste Zeit nicht da, und seine Haushälterin ist zwar tüchtig, aber nicht gerade warmherzig. Es ist kein Geheimnis in der Familie, dass Angelica überglücklich sein würde, wenn Luke wieder heiraten würde. Weihnachten hat sie zu Mom gesagt, eigentlich wünsche sie sich nur eine richtige Mutter. Luke hat dem Kind ein Fahrrad gekauft..."
"Kein besonders guter Mutterersatz." Jenneth hätte ihre Freundin am liebsten gebeten, ihr diese Dinge nicht zu erzählen. Sie hielt es einfach nicht aus, sich diese vertraulichen Mitteilungen anzuhören. Es machte sie krank, auch nur daran zu denken, dass Luke wieder heiraten könnte. Die Gefühle waren noch so stark wie früher. Und sie hatte geglaubt, sie vor langer Zeit aus ihrem Leben verbannt zu haben! Sich seiner Gegenwart bewusst werden ... Ein Blick in seine Augen ... Mehr war nicht nötig gewesen. Es hatte ihr gezeigt, dass sich nichts geändert hatte, ganz gleich, was sie sich eingeredet hatte. Luke hatte noch immer die Macht, sie zu berühren. Als Jenneth aufsah, bemerkte sie, dass Louise sie mitleidig beobachtete. Jenneth wich ihrem Blick schnell aus, doch ihre Freundin kannte sie schon zu lange und hatte sie zu gern, um zu schweigen. "Du liebst ihn noch, stimmt's?" fragte sie leise. Jenneth schluchzte auf. "O Jen, es tut mir so Leid. Ich hätte es mir denken sollen. Wie du dich all die Jahre geweigert hast, über deine Verlobung zu sprechen. Wie du ihn gemieden hast..." Louise biss sich auf die Lippe. "Dieser Tag muss die reine Hölle für dich gewesen sein." Jenneth schauderte. Wenn sie bereits durch die Hölle gegangen war, dann war dies das Fegefeuer selbst. Sie mochte nicht mit anderen über ihre Gefühle sprechen, nicht einmal mit jemand, der ihr so nahe stand wie Louise. "Dabei fällt mir ein ... Ich wollte früher schon mit dir darüber reden, aber dann habe ich es vergessen. Luke hat mir Weihnachten eine höchst seltsame Frage über dich gestellt." Jenneth war damit beschäftigt, das Brautkleid aufzuknöpfen. Jetzt verkrampfte sie sich. Sie konnte nicht glauben, dass Luke irgendetwas über sie wissen wollte.
"Gehen wir an die Balkontür", schlug Louise vor. "Bei der Hitze hier drin kann man ja kaum atmen." Jenneth ging mit ihr und half Louise aus dem Kleid. "Niemand kann uns sehen", sagte Louise. "Dad hat allen verboten, sich in die Nähe seiner kostbaren Rosen zu begeben. Wo war ich? Weihnachten. Ich bin in der Küche gewesen und habe die Geschirrspülmaschine gefüllt. Luke ist hereingekommen und hat eine höhnische Bemerkung über die Anzahl und Kondition deiner Liebhaber gemacht. Und dann hat er gefragt, ob es wahrscheinlich sei, dass du dich irgendwann herablassen würdest, einen von ihnen zu heiraten." Als Jenneth nichts sagte, umfasste Louise die Schultern ihrer Freundin und zwang sie, ihren Blick zu erwidern. "Jen, wir beide wissen, dass du nicht einen einzigen Liebhaber hast, geschweige denn eine endlose Prozession von ihnen." Ein langes, peinliches Schweigen folgte. "Hast du Luke das gesagt?" fragte Jenneth schließlich. "Nein", versicherte ihr Louise. "Aber ich muss zugeben, dass ich zu gern gewusst hätte, woher er einen so falschen Eindruck von dir hatte." Ein weiteres langes Schweigen folgte, dann sagte Jenneth: "Ich habe den Eindruck erweckt. In dem Jahr, in dem wir die Weihnachtstage bei euch verbracht haben und Luke mit Angelica auch gekommen ist. Mom und Dad sind noch nicht lange tot gewesen, und ich habe mich wohl besonders verwundbar gefühlt. Und dann Luke mit Angelica zu sehen und daran erinnert zu werden ..." Jenneth biss sich auf die Lippe. Als sie sich wieder in der Gewalt hatte, erzählte sie ruhig weiter: "Luke hat etwas missverstanden, was die Zwillinge gesagt hatten. Er hat geglaubt, ich hätte eine sexuelle Beziehung zu einem Mann. In Wirklichkeit war Christopher nur ein guter Freund. Luke hat schneidende Bemerkungen darüber gemacht. Wie sehr ich mich verändert hätte ..." Sie zuckte die Schultern. "Ich habe ihn glauben lassen, er habe Recht. Ich habe ihn sogar
in seiner Überzeugung bestärkt. Aus Stolz, nehme ich an. Er sollte nicht denken, ich sei noch immer dasselbe dumme Kind, das verrückt nach ihm gewesen ist." "Na, zweifellos hast du ihn sehr erfolgreich getäuscht", meinte Louise trocken. "Seltsam ... Luke ist schon immer fast beunruhigend scharfsichtig gewesen. Ich hätte gedacht, er würde dich durchschauen, besonders da ..." "Es so offensichtlich ist, dass ich keine sexuelle Anziehungskraft habe", beendete Jenneth den Satz. "Besonders da Ihr beide euch so nahe gestanden hattet, wollte ich sagen", wies Louise sie sanft zurecht. "'Hattet'. Darauf kommt 0s an. Aber das gehört ja sowieso alles der Vergangenheit an und ist jetzt völlig unwichtig." "Nicht wenn du ihn noch liebst. Und das tust du, erinnerst du dich?" Jenneth biss sich auf die Lippe. Sie hatte schreckliche Angst davor, völlig zusammenzubrechen. "Na schön, Louise. Ich liebe ihn noch. Und ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie er zu mir gekommen ist und gesagt hat, er löse unsere Verlobung, weil er eine andere habe und sie ein Kind von ihm erwarte." "Es tut mir so Leid." Louise blickte sie reumütig an. "Ich bin wirklich blind gewesen, stimmt's? O Jen, ich ..." Jenneth konnte nicht mehr ertragen und hinderte ihre Freundin daran, das Thema weiterzuverfolgen. "Sieh auf die Uhr. Du musst rechtzeitig am Flughafen sein." Sie entfernten sich beide von der offenen Balkontür, und Jenneth nahm das Kleid vom Bügel, das Louise auf der Reise tragen wollte. Keine von ihnen hatte den Schatten des Mannes bemerkt, der regungslos direkt unter dem kleinen Balkon gestanden hatte. Luke war mit Angelica in den Rosengarten gegangen, weil er ein ernstes Wort mit ihr hatte reden wollen. Sie brachte Jenneth und ihn in Verlegenheit, indem sie sich so an Jenneth anschloss. Aber manchmal konnte ihn Angelica um den kleinen Finger
wickeln. Sie hatte sofort zu weinen angefangen und sich wütend und stolz losgerissen. Seine Schuldgefühle waren noch größer geworden, und er hatte sie gehen lassen. Er hatte nicht im Garten bleiben wollen, doch der Klang der vertrauten Stimme hatte ihn angezogen. Und dann, als ihm bewusst geworden war, was Jenneth da sagte ... Angelica wartete argwöhnisch auf ihren Vater. Zu ihrem Erstaunen kam er lächelnd zu ihr, zerzauste ihr das Haar und fragte, ob sie inzwischen an Konfetti gekommen sei. Zögernd verriet sie ihm, Jenneth habe ihr versprochen, ihres mit ihr zu teilen. Sie erwartete, dass er verärgert die Stirn runzeln würde, aber sein Lächeln wurde breiter. "Dann sollten wir zusehen, dass wir Jenneth finden, damit sie ihr Versprechen halten kann", erwiderte er vergnügt. Alle Hochzeitsgäste versammelten sich vor dem Haus, um das jungvermählte Ehepaar zu verabschieden. Jenneth hoffte, Luke in dem Gedränge meiden zu können. Es brachte sie völlig aus der Fassung, dass er plötzlich neben ihr auftauchte und unbefangen sagte: "Angelica hat mir erzählt, du wolltest dein Konfetti mit ihr teilen." Er hob seine Tochter hoch und stellte sich in die Lücke, die sie hinterlassen hatte. Während Jenneth dem kleinen Mädchen die Schachtel Konfetti anbot, betrachtete Luke sie eingehend, und sie hielt den Atem an. Sie hatte ihren Hut abgesetzt, und der Wind zerzauste ihr das Haar. Luke streckte die Hand aus und schob es ihr aus dem Gesicht. Die vertraute Geste ließ Jenneth erstarren. Ihre Reaktion war so deutlich, dass Luke einen Moment mit den Fingerspitzen ihre Wange berührte. Es kam ihr vor, als wollte er sie trösten, und Jenneth wich schockiert zurück. Angelica blickte verwirrt von ihrer neuen Freundin zu ihrem Vater. Sie spürte die knisternde Spannung zwischen den beiden Erwachsenen, war jedoch zu jung, um zu verstehen, was vorging. Und dann wurde sie abgelenkt, weil Louise und George
aus dem Haus kamen und sich lachend darauf vorbereiteten, durch das Spalier aus Verwandten und Freunden bis zur Gartenpforte zu laufen. "Da sind sie!" sagte Angelica aufgeregt zu Jenneth und griff in die Schachtel. Im folgenden Durcheinander konnte Jenneth beiseite treten und einen sicheren Abstand zwischen Luke und sich bringen. Louise erreichte sie und blieb stehen. Sie umarmte sie liebevoll und drückte ihr ein in Seidenpapier gewickeltes kleines Päckchen in die Hand. "Ein inoffizielles Dankeschön für meine inoffizielle Brautjungfer", flüsterte sie ihr mit einem boshaften Lächeln zu, das Jenneth erst später verstand. "Halt dich bereit, Taufpatin zu werden ..." Jenneth blickte sie überrascht an. "Noch nicht, Dummkopf", sagte Louise lachend. "Aber bald, wie wir beide hoffen." Und dann ging sie weiter und stieg mit ihrem Mann ins Auto. Jenneth wartete, bis es außer Sicht war. Noch immer waren Luke und Angelica neben ihr. "Ich bin froh, dass du noch hier bist!" Louises Mutter kam auf sie zu. "Ich weiß, dass du im ,Feathers' übernachtest. Wir haben hier heute Abend ein zwangloses Beisammensein und hätten dich gern dabei." Jenneth schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie konnte die Qual keine Minute länger ertragen. Lukes Berührung hatte Erinnerungen geweckt, die ihr Herz noch immer rasend schnell klopfen ließen. "Ich kann nicht, tut mir Leid", schwindelte sie. "Ich habe den Jungen versprochen, sie anzurufen. Außerdem ist es eine Familienangelegenheit..." Sie konnte Louises Mutter nicht ansehen, während sie weitere wirre Ausreden gebrauchte, und sie war sich nur allzu bewusst, dass ihre Flucht Aufsehen erregte. Mrs. Craven, die Wirtin des "Feathers", war überrascht, dass Jenneth schon so früh zurück war. Sie hätte sie gebeten, ihr alles
über die Hochzeit zu erzählen, aber sie hätten im Restaurant sehr viel zu tun, erklärte sie. Immerhin sei sie vorhin schnell hinausgeschlüpft und habe das Brautpaar aus der Kirche kommen sehen. "Sie haben mit Luke zusammengestanden. Seine Tochter ist ein echtes Original, stimmt's? Traurig, dass ihre Mutter so früh gestorben ist..." Bevor Mrs. Craven noch mehr sagen konnte, kam eine genervte Serviererin in die Halle und verkündete, bei der Tischreservierung sei anscheinend irgendetwas durcheinander geraten. Die Wirtin musste zurück ins Restaurant, und Jenneth ging erleichtert nach oben in ihr Zimmer. Sie lehnte sich erschöpft ans Fenster und blickte hinaus. Draußen schien noch immer die Sonne und warf lange Schatten über den Hof. Jenneth fühlte sich, als würde sie Migräne bekommen. Ihr fiel ein, dass sie den ganzen Tag kaum etwas gegessen hatte. Auch jetzt schauderte sie allein bei dem Gedanken an Essen. Das erinnerte sie daran, wie gefährlich sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert hatte, nachdem Luke die Verlobung gelöst hatte. Sie hatte so stark abgenommen, dass ihre Eltern ernsthaft besorgt gewesen waren. Davor war sie ein bisschen mollig gewesen. Sie hatte nach einiger Zeit angefangen, wieder normal zu essen, aber ihr früheres Gewicht nicht erreicht. Jetzt wurde sie von vielen Leuten um ihre schlanke Figur beneidet. Im Zimmer war es heiß und stickig. Jenneth öffnete die Gaube und atmete dankbar die frische Luft ein. Sie hatte unwillkürlich zu tief geatmet, als Luke neben ihr gestanden hatte. Ihr war sofort bewusst geworden, wie erschreckend vertraut ihr sein Körper war. Trotz des angenehm kühlen Abendwinds wurde sie von Hitze durchflutet... Jenneth wollte nicht so empfinden. Sie blickte starr auf ihre Hände und bemerkte erst jetzt, dass sie noch immer krampfhaft Louises Geschenk festhielt. Einen Moment lang betrachtete sie es ausdruckslos, dann ging sie zum Bett und packte es aus.
Eine mit einem Seidenband verschlossene Schachtel kam zum Vorschein. Sie trug den Namen eines sehr exklusiven Londoner Geschäfts, den Jenneth aus Modezeitschriften kannte. Als sie den Deckel abhob und sah, was Louise ihr geschenkt hatte, rang sie schockiert nach Atem. Noch nie hatte sie so ein Nachthemd besessen. Und sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemals Gelegenheit haben würde, so eins zu tragen. Sie nahm es heraus und blickte es starr an. Das graue Seidennachthemd war bodenlang und durchgeknöpft. Die kleinen Knöpfe waren mit Satin überzogen. Das Oberteil war aus Seide und Spitze und hatte schmale Träger. Jenneth erkannte, dass das Nachthemd diagonal geschnitten war. Es würde sich an den Körper schmiegen und jede Rundung betonen. Warum hatte Louise ausgerechnet ihr so etwas gekauft? Ihre Freundin wusste doch, dass sie wahrscheinlich niemals Gelegenheit haben würde, es zu tragen. Plötzlich rasend vor Kummer und Wut, knüllte Jenneth das Nachthemd zusammen und warf es durchs Zimmer, dann ließ sie sich aufs Bett fallen und weinte wie ein zorniges Kind. Eine Frau in meinem Alter sollte wissen, was Tränen anrichten, dachte Jenneth eine halbe Stunde später, während sie ihr geschwollenes Gesicht und die rot geweinten Augen betrachtete. Das Schlafzimmer, das ihr wie ein Zufluchtsort erschienen war, als sie vor Luke und den Erinnerungen davongelaufen war, die sein Anblick heraufbeschworen hatte, kam ihr jetzt bedrückend eng vor. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war erst kurz nach acht... Sollte sie einfach abreisen? Sie könnte in vier oder fünf Stunden zu Hause sein. Aber sie wusste, dass sie nicht wirklich fahrtüchtig war. Der traumatische Tag hatte sie arg mitgenommen.
Dank Luke saß sie jetzt allein in ihrem Hotelzimmer, anstatt die Vergangenheit zu vergessen und mit Louises Familie die Hochzeit ihrer Freundin zu feiern, Aber wie hätte sie den Abend mit ihnen durchstehen sollen, wenn sie sich doch Lukes und seiner noch immer erschreckend starken Wirkung auf sie unerträglich bewusst war? Hinter den Dächern der Hofgebäude konnte Jenneth gerade noch den Fluss erkennen. Spontan zog sie das teure Seidenkleid und die dazu passende Leinenjacke aus, die sie sich für die Hochzeit gekauft hatte. In den Sachen, die sie auf der Fahrt getragen hatte, Jeans und Baumwolltop, verließ sie das "Feathers" unbemerkt durch die Hintertür, die auf den Hof führte. Im Dorf war es still, als sie zum Fluss ging, wofür Jenneth dankbar war. An York gefiel ihr besonders, dass sie auch dort an einem Fluss wohnten. Vom Haus ihrer Eltern konnte man die Ouse sehen, und als die Zwillinge noch Teenager gewesen waren, hatten sie drei so manchen schönen Sonntagnachmittag mit Angeln verbracht. Jenneth blieb plötzlich stehen. Unwillkürlich war ihr eingefallen, dass Luke ihr das Angeln beigebracht hatte. Er hatte Geduld und Gründlichkeit gezeigt, und sie vermutete, dass er aufgrund dieser Eigenschaften so außergewöhnlich gut in seinem Beruf war. Louise hatte ihr erzählt, er sei ein hervorragender Chirurg geworden. Luke, Luke, Luke ... Jeder ihrer Sinne war den ganzen Tag über von ihm erfüllt gewesen, sogar schon, bevor sie ihn in der Kirche gesehen hatte. Fast rannte sie weiter zum Fluss, als wollte sie vor ihren eigenen Gedanken davonlaufen. Sie hatte geglaubt, das friedlich fließende Wasser würde sie beruhigen, doch das war ein Irrtum gewesen. Der Anblick eines
Liebespaares unter dem vertrauten Baldachin der Weiden weckte zu viele herzzerreißende Erinnerungen. Früher einmal hatten Luke und sie so eng umschlungen dort gestanden. Er hatte sie geküsst, und sie hatte seine Küsse naiv und verlangend erwidert, seinen Versprechungen geglaubt und gedacht, das ganze Glück dieser Welt gehöre ihnen. Aber es war alles nur eine Illusion gewesen. Nichts war ihr geblieben. Luke hatte zumindest seine Tochter, auch wenn er seine Frau verloren hatte. Der Schmerz wurde stärker, und Jenneth wusste, dass einige Wunden niemals heilten. Ein Blick in die grünen Augen, die Angelica von Luke geerbt hatte, und sie war vor Neid auf die Frau vergangen, die sein Kind bekommen hatte. Das Kind, das er früher einmal ihr versprochen hatte.
4. KAPITEL Jenneth hatte darum gebeten, um sieben geweckt zu werden, weil sie früh abreisen wollte. Als es klopfte, war sie schon wach. Sie frühstückte auf dem Zimmer und vermied es geflissentlich, aus dem Fenster zum Fluss zu blicken. Danach packte sie ihre Reisetasche. Gerade fertig, hörte sie erneut ein Klopfen. Fast sofort darauf ging die Tür auf, und Luke kam herein. Jenneth war so überwältigt, dass sie nur dastehen und ihn anblicken konnte. Wie sie lässig in Jeans und T-Shirt gekleidet, sah er so sehr wie der Luke aus, den sie in Erinnerung behalten hatte, dass es ungeheure Willenskraft erforderte, nicht die Hände nach ihm auszustrecken. Er nahm in sich auf, dass sie wie erstarrt war, und einen Moment lang verrieten seine Augen Mitleid. Das half Jenneth, ihren Schock zu überwinden. Wie konnte er es wagen, sie zu bemitleiden? Wie konnte er es wagen, einfach in ihr Zimmer zu kommen, als würde ...? "Ich bin froh, dass ich dich noch erwische", sagte Luke unbefangen. "Angelica hatte Angst, du würdest abreisen, bevor sie sich von dir verabschiedet hat." "Du hast Angelica um diese Zeit morgens hierher gebracht?" "Wir wohnen hier im Hotel. Es ist schade, dass du gestern Abend nicht mit uns essen konntest..."
Sein Blick ließ ihr Herz schneller schlagen. Sie blinzelte heftig, denn sie fürchtete, sich einzubilden, den Luke vor sich zu haben, den sie früher gekannt hatte. Aber als sie ihn wieder ansah, blickte er sie noch immer sanft und herzlich an, und jetzt verzog er sogar den Mund zu dem wehmütigen, humorvollen Lächeln, an das sie sich so gut erinnerte. "Jenneth, ich möchte dir etwas mitteilen ..." Sie runzelte verständnislos die Stirn. "O verdammt, sieh mich nicht so an", sagte Luke unsicher. Gerade als Jenneth die verräterische Röte ins Gesicht stieg, kam Angelica herein. "Ist sie noch hier, Dad?" Jenneth nahm ihre Reisetasche, erwiderte den Kuss, den ihr das kleine Mädchen so enthusiastisch gab, und flüchtete, solange sie noch dazu fähig war. "Ich habe mir so gewünscht, dass sie noch ein bisschen länger bleiben kann. Ich wollte ihr doch erzählen, dass wir nach York ziehen", klagte Angelica. "Sie wohnt nämlich dort." "Ich weiß", sagte Luke geistesabwesend. Ihm war das Stück graue Seide auf dem Boden aufgefallen. Er ging hin und hob es auf. Während er es prüfend betrachtete, begann er zu lächeln. "Was ist das?" fragte Angelica neugierig. "Ein Nachthemd. Jenneth' Nachthemd", erwiderte Luke belustigt. Er nahm seine kleine Tochter hoch. "Wir könnten am nächsten Wochenende nach York fahren und es ihr zurückbringen. Was hältst du davon?" Angelica enttäuschte ihn nicht und reagierte so begeistert, dass er lachte. Nicht daran gewöhnt, ihren Vater so ungehemmt lachen zu hören, sah sie ihn unsicher an. Jenneth kam mittags zu Hause an und stellte fest, dass die Zwillinge mit einem großen Sonntagsessen auf sie warteten. Ihr wurde fast schlecht, als sie das Roastbeef roch. Sich an den Tisch zu setzen und zu essen war das Allerletzte, was sie jetzt wollte. Sie hätte sich lieber in ihr Atelier geflüchtet und wäre
dort geblieben, bis sie sich so weit in der Gewalt hatte, dass sie dem Rest der Welt gegenübertreten konnte. Völlig unvorbereitet Luke zu sehen hatte alle alten Wunden wieder geöffnet. So kühl und gleichgültig wie in der Kirche hatte er sie auch angeblickt, als er ihr gesagt hatte, er müsse, die Verlobung lösen. Dann hatte er von dem Baby gesprochen, und in dem Moment hatte sie die Fassung verloren und ungläubig gerufen, das könne nicht sein Ernst sein. Luke war blass geworden und hatte die Lippen zusammengepresst. Sie war auf ihn zugegangen, und er hatte so fest ihre Handgelenke gepackt und sie abgewehrt, dass sie aufgeschrien hatte vor Schmerz. Aber der Schmerz war nichts gewesen im Vergleich zu dem anderen, tieferen, den ihr Luke zugefügt hatte. Und den habe ich niemals wirklich überwunden, gestand sich Jenneth ein, während sie sich ein Lächeln abrang und die Zwillinge dafür lobte, dass sie sich so große Mühe gemacht hatten. Jenneth setzte sich und ließ sich ein Glas Wein einschenken, das sie eigentlich nicht wollte. Jetzt sei sogar Louise verheiratet und sie noch immer nicht, neckte Kit sie und machte eine ironische Bemerkung über seine und Nicks Aussichten, sie unter die Haube zu bringen und loszuwerden, bevor sie auf die Universität gingen. Es war ein Schock gewesen, in der Kirche zu sehen, wie emotionslos Luke sie beobachtete, denn es hatte ihr klargemacht, wie verwundbar sie als Frau war. Und während Kit redete und Nick den Braten schnitt, erkannte Jenneth, dass für sie eine ernsthafte, zur Heirat führende Beziehung undenkbar war, weil Luke ihr Selbstvertrauen zerstört hatte, und sie glaubte, dass sie es nicht wert war, geliebt zu werden. Anstatt Luke zu hassen, hatte sie den Hass gegen sich selbst gerichtet. Ihr schauderte, und Kit und Nick sahen sich beunruhigt an. Die Zwillinge wussten, dass Jenneth einmal eine kurze Zeit lang mit Louises Cousin verlobt gewesen war, kannten jedoch nicht
den wahren Grund für das Ende der Beziehung. Sie hatten angenommen, die Verlobung sei im gegenseitigen Einvernehmen gelöst worden. Jetzt fragten sich beide, was auf Louises Hochzeit passiert war. Jenneth sah auf und bemerkte, dass ihre Brüder besorgte Blicke wechselten. Daran gewöhnt, für die Jungen verantwortlich zu sein und sie zu beschützen, versuchte sie sofort, ihre Qual vor ihnen zu verbergen. Schnell lächelte sie und begann über die Hochzeit zu sprechen. Sie erzählte, wie überrascht sie gewesen sei, weil Louises Mann überhaupt nicht so sei, wie man sich einen George vorstelle. Louise und ihre Eltern ließen grüßen, sagte sie. Wenn möglich, wollten Louise und George später im Jahr zu Besuch kommen. Tatsächlich redete Jenneth das ganze Mittagessen hindurch, doch sie erwähnte nicht ein einziges Mal Luke. Sie verhaspelte sich nur, als sie beschrieb, wie Angelica ihr das Taschentuch geliehen hatte. Danach hatte das kleine Mädchen angefangen, sich an sie anzuschließen ... Bei der Erinnerung an die Stunden nach der Trauung biss sich Jenneth auf die Lippe. Nick und Kit beobachteten ihre Schwester ängstlich. Nach dem Mittagessen sagte sich Jenneth, sie habe sich lange genug in Selbstmitleid ergangen. Luke hatte sie kaltherzig wegen einer anderen verlassen. Wenn sie sich von so einem Mann völlig aus der Fassung bringen ließ, dann war sie dumm und hatte es verdient, zu leiden. Energisch verbannte sie ihn und die Hochzeit aus ihren Gedanken und erinnerte die Zwillinge daran, dass sie noch immer eine Entscheidung über das Haus treffen müssten. "Wir haben es schon besprochen", sagte Kit. "Und wir wollen nicht verkaufen. Dies ist unser Zuhause, Jen. Okay, wir gehen zum Studium fort. Aber wir werden zurückkommen." "Ihr könntet das Geld aus dem Verkauf gut gebrauchen", erwiderte Jenneth. Beide schüttelten den Kopf.
"Wenn das Geld wirklich knapp ist, kannst du doch einen Untermieter aufnehmen", schlug Nick vor. Er warf seinem Bruder einen Blick zu, bevor er sagte: "Ein neuer Lehrer an der Schule sucht eine Unterkunft. Mr. Alderson ..." Jenneth durchschaute inzwischen die Schachzüge ihrer Brüder, wenn sie sich als Ehestifter betätigten. Und sie hatte schon vor Jahren gelernt, dass man bei den Zwillingen nur etwas erreichte, wenn man Klartext redete. "Hört zu, ihr beiden! Wenn ich auf der Suche nach einem Mann wäre, könnte ich mir sehr gut selbst einen besorgen." Nach deinen bisherigen Erfahrungen zu urteilen, lügst du! spottete eine innere Stimme, aber Jenneth ignorierte sie. "Warum tust du es dann nicht?" fragte Kit sarkastisch. Als er ihre Miene sah, stand er auf und legte ihr unbeholfen den Arm um die Schultern. "Es geht doch nicht darum, dass wir dich loswerden wollen. Wir meinen nur, dass du nicht allein sein solltest. Manche Menschen müssen verheiratet sein." Er fand es schwierig, zum Ausdruck zu bringen, was er und sein Zwillingsbruder intuitiv wussten. "Du bist nicht wie Louise ..." "Danke!" sagte Jenneth zittrig. "Dann bin ich also eine unselbstständige Frau, die nicht existieren kann, ohne sich an einen großen, starken Mann anzulehnen?" Nick lachte. Seine Schwester war viel selbstständiger als er oder Kit, was praktische Dinge betraf, aber emotional ... Sie war dazu bestimmt, zu lieben und geliebt zu werden. Die Zwillinge waren jedoch zu jung, um in Worte fassen zu können, was sie meinten. "Vielleicht wäre es wirklich gut, einen Untermieter aufzunehmen", sagte Jenneth. "Dann hätte ich ein bisschen Gesellschaft, wenn ihr erst fort seid. Sollte ich den Vorschlag aufgreifen, kann ich mir diesen Untermieter jedoch durchaus selbst suchen. Ich weiß, ihr meint es gut, aber bitte versucht, mich zu verstehen ... Ich bin glücklich und möchte an meinem Leben nichts ändern."
Nachdem sie das Geschirr abgeräumt hatten und Jenneth in ihr Atelier gegangen war, blickte Kit seinen Bruder trübsinnig an, und Nick sagte trotzig: "Ganz gleich, was sie behauptet, sie ist nicht glücklich." Die Zwillinge waren nicht die Einzigen, die so dachten. Am folgenden Mittwoch fragte Eleanor interessiert, wie es auf der Hochzeit gewesen sei. Jenneth reagierte so kühl und wenig mitteilsam, dass Eleanor sie nachdenklich ansah und das Thema wechselte. "Hast du schon das Neueste aus dem Krankenhaus gehört?" Jenneth schüttelte den Kopf. "Du weißt ja, dass Harry Philips in den Ruhestand treten musste." Harry Philips war der Chefarzt des Krankhauses gewesen, in dem Jenneth das Wandgemälde malen sollte. Fünf Jahre vor der Pensionierung hatte er Anfang des Jahres einen Herzinfarkt gehabt und vergeblich gehofft, sich völlig zu erholen und zurück an die Arbeit gehen zu können. "Nächste Woche kommt der Mann, der seine Stelle übernimmt. Er soll noch ziemlich jung sein, ein echter Erfolgsmensch. Es geht sogar das Gerücht, er sei für den Job überqualifiziert." Jenneth lächelte flüchtig. Der neue Chefarzt interessierte sie nicht. Leider wurde sie durch Eleanors Beschreibung an Luke erinnert, und sie fragte sich verbittert, ob er wohl wusste, was für ein Chaos er in ihr verursacht hatte. Sie war um drei Uhr morgens mit seinem Namen auf den Lippen und tränenüberströmtem Gesicht aus einem Traum aufgewacht, der ihr nur Hoffnungslosigkeit und Schmerz gebracht hatte. Und während sie Herr ihrer Verzweiflung zu werden versucht hatte, war ihr wieder eingefallen, wie Luke sie in ihrem Hotelzimmer angesehen hatte. Bebend versuchte Jenneth, die Vision zu verdrängen. Eleanor sah ihr an, wie sehr sie litt. Und sie war entsetzt darüber, wie
stark ihre Freundin abgenommen hatte. Sie hätte sie gern gefragt, was los war, kannte Jenneth jedoch zu gut, um das zu tun. Eine direkte Frage, und sie würde sich völlig in sich selbst zurückziehen und überhaupt nichts mehr sagen. Warum Jenneth die Männer so auf Distanz hielt, wusste Eleanor nicht, aber sie hatte ihre Vermutungen. Und sie verfluchte das andere Geschlecht, als sie wieder allein war und ihr Freund anrief und die Verabredung für den Abend absagte. Sarkastisch überlegte sie, ob die Frauen nicht ein glücklicheres Leben führen würden, wenn sie Hermaphroditen wären und nicht eine Hälfte eines Ganzen, dessen Vervollständigung so viel Kummer bereitete. Am nächsten Morgen hatte Jenneth einen Termin bei einer möglichen Auftraggeberin, die vor kurzem nach Yorkshire gezogen war und Interesse an einem Wandgemälde für das Zimmer ihrer kleinen Tochter hatte. Jenneth fuhr aus der Stadt und in das fruchtbare Tal der Ouse. Die Schönheit ihrer Umgebung war jedoch nicht Balsam für ihre Seele. Wenn sie doch nur das Wochenende und Luke aus ihren Gedanken verbannen könnte! Auf halbem Weg hielt Jenneth am Straßenrand und schaltete den Motor aus. Es war sinnlos, die Wahrheit verdrängen zu wollen, die sie in Louises Zimmer schon ausgesprochen hatte. Sie liebte Luke noch immer. Es dauerte lange, bis sie in der Lage war weiterzufahren. Zum Glück hatte sie noch Zeit. Die potenzielle Auftraggeberin entpuppte sich als sympathische und sehr freundliche Frau Anfang dreißig. Sie erzählte ihr niedergeschlagen, ihre Tochter und sie hätten sich bereits darüber gestritten, wie das Wandgemälde aussehen solle. An solche Probleme war Jenneth gewöhnt. Ihre im Verlauf der Jahre erworbene Routine trat in den Vordergrund und half ihr, vorübergehend zu vergessen, dass sich nichts geändert hatte und sie in vielerlei Hinsicht noch immer das zwanzigjährige
Mädchen war, das so eifrig und leidenschaftlich geliebt hatte. Und sie konnte jetzt ebenso wenig wie damals damit fertig werden, dass Luke sie nicht gewollt hatte. Jenneth lächelte verständnisvoll und schlug der Auftraggeberin so taktvoll wie möglich vor, ihre Tochter zu fragen, was genau sie sich wünsche. Sie hatte gelernt, dass ein Kompromiss zwischen den Vorstellungen von Eltern und Kindern normalerweise am besten funktionierte. Mary Andrews eilte erleichtert nach draußen und rief ihre Tochter ins Haus. Das finster blickende Mädchen sah Angelica überhaupt nicht ähnlich, war jedoch ungefähr in ihrem Alter, und allein das brachte die Qualen zurück, die Jenneth erlitten hatte. Ebenso schlimm wie Lukes Zurückweisung war das Wissen gewesen, dass eine andere ein Kind von ihm bekam. Emma Andrews verkündete wichtigtuerisch, Was sie wollte. Jenneth machte sich Notizen und taktvolle, behutsame Vorschläge, denen Emma widerwillig und ihre Mutter erleichtert zustimmte. Jenneth versprach, so bald wie möglich Skizzen vorzulegen, und verabschiedete sich. Aus bitterer Erfahrung wusste sie, dass sie mit dem Kummer nur fertig werden würde, wenn sie bis zur Erschöpfung arbeitete. Die Zwillinge und Eleanor beobachteten Jenneth besorgt. Sie wussten, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, konnten aber die Schutzmauer nicht durchbrechen, die Jenneth um sich errichtet hatte. Am Samstag sagte sie, ein freier Tag komme nicht in Frage, da sie zu viel zu tun habe. Trotz der Proteste ihrer Brüder fuhr sie schon um neun Uhr morgens zum Krankenhaus. Sie hatte inzwischen einige Ideen für das Wandgemälde, das sie auf der Kinderstation malen sollte. An diesem Vormittag wollte sie sich dort umsehen und überprüfen, ob sich ihre Vorstellungen verwirklichen ließen.
Für eine Wand hatte sie ein Cartoon im Sinn, das Kinder zeigte, denen von Ärzten und Schwestern geholfen wurde. Die Oberschwester war eine ruhige, freundliche Frau Mitte zwanzig, die offensichtlich sehr viel zu tun hatte. Jenneth entschuldigte sich dafür, sie zu stören, doch sie winkte ab und sagte, was dem Wohl ihrer Patienten diene, sei niemals Zeitverschwendung. Jenneth beschrieb ihr das Cartoon, das sie plante, und erklärte, dass sie für die anderen Wände traditionelle Darstellungen verwenden wolle. Was ihre Aufgabe schwierig mache, sei das unterschiedliche Alter der Kinder. Die Besprechung dauerte länger, als Jenneth erwartet hatte, und sie verließ das Krankenhaus erst nach zwölf. Die Hitzewelle nahm kein Ende, Jenneth wurde von einem Kabriofahrer überholt, der bei offenem Verdeck den kühlen Fahrtwind genießen konnte. Neidisch seufzend blickte sie dem Wagen nach. Sie hatte jetzt genug Material, um mit den Entwürfen anzufangen, und sie war in Gedanken schon bei der Arbeit, während sie den furchigen Feldweg entlangfuhr und vor dem Haus anhielt. Es war nur eine Meile vom Dorf entfernt, aber weil es von der Hauptstraße zurückgesetzt war, wirkte es abgelegener, als es tatsächlich war. Auf dem Vorhof stand ein offensichtlich funkelnagelneuer schiefergrauer Jaguar, und Jenneth sah ihn ein bisschen sehnsüchtig an, während sie den Motor ihres alten Kombis ausschaltete und ausstieg. Wahrscheinlich gehörte er den Eltern von einem Freund der Zwillinge. Sie würde so ein teures, verlockendes Auto nur ungern einem Achtzehnjährigen leihen. Bei dem schönen Wetter saßen die Zwillinge und ihr Freund wahrscheinlich draußen. Sie ging zur Hintertür, aber im Garten war niemand. Mitten auf dem halb gemähten Rasen stand der Rasenmäher.
In der Küche stellte sie fest, dass die Kaffeekanne leer war. Jenneth verzog das Gesicht und nahm sie von der Warmhalteplatte. Sie hörte die Wohnzimmertür aufgehen und Kit sagen: "Jen ist zurück. Wir sollten ihr wohl besser die gute Nachricht mitteilen..." Die Zwillinge kamen in die Küche. Dicht hinter ihnen folgten Luke und Angelica. Jenneth sah über die Köpfe ihrer Brüder hinweg ungläubig Luke an und ließ die Glaskanne fallen. Sie zersplitterte auf dem harten Fliesenboden. Luke hier? Warum? Was wollte er? Blind für Jenneth' Anspannung, lief Angelica auf sie zu, um sie zu begrüßen. Jenneth riss den Blick von Luke los und verhinderte, dass das kleine Mädchen auf das zerbrochene Glas trat. Kit hatte schon einen Handfeger geholt und fegte die Scherben auf. Während er sie nachsichtig wegen ihrer Ungeschicklichkeit schalt und Angelica auf sie einredete, sah Jenneth wieder Luke an. Er stand noch immer regungslos in der Türöffnung. Seine Miene war unergründlich. "Du hast Lukes Neuigkeit überhaupt nicht erwähnt, Jen ..." Lukes Neuigkeit ... Jenneth blickte Nick an, ohne sein Gesicht wirklich wahrzunehmen. Die Realität schien ihr zu entgleiten. Es war, als wäre sie nicht bei vollem Bewusstsein. Angelica zappelte in ihren Armen und sagte vorwurfsvoll: "Ich wollte es dir am vergangenen Wochenende erzählen, aber du bist ja so schnell abgereist..." Die Zwillinge erklärten ihr irgendetwas, und Jenneth versuchte, sich darauf zu konzentrieren, doch all ihre Sinne waren von Luke erfüllt. Ihr Herz schlug viel zu schnell, und sie atmete flach, während sie gegen die Auswirkungen des Schocks ankämpfte.
Und dann sagte Luke höflich und gelassen: "Es tut mir Leid, dass wir dich so überrumpeln. Tante Caroline meinte, du könntest vielleicht helfen, und ich hielt es für das Beste, herzukommen und persönlich mit dir zu sprechen ..." Tante Caroline? Was hatte Louises Mutter damit zu tun? Jenneth blickte ihn verwirrt an. "Eine bessere Lösung hätten wir nicht finden können, Jen", mischte sich Kit eifrig ein. "Luke zieht hierher, weil er einen Job im 'Memorial Hospital' angenommen hat. Er fängt nächste Woche dort an, und er und Angelica müssen irgendwo wohnen, bis er ein Haus gefunden hat. Louises Mutter hat ihm vorgeschlagen, uns zu fragen. Und natürlich haben wir ihm gesagt, es sei kein Problem, ihn und Angelica bei uns unterzubringen. Schließlich haben wir jede Menge Zimmer. Und da du die meiste Zeit zu Hause bist, kannst du auf Angelica aufpassen." Kit lächelte Luke an. "Erst diese Woche haben wir darüber gesprochen, dass Jen Untermieter aufnehmen sollte, wenn wir zum Studium fortgehen. Nick und ich ziehen nicht weit weg, aber uns gefällt der Gedanke nicht, dass sie allein hier wohnt." Jenneth musste sich dringend setzen. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. Luke war unverfroren hierher gekommen und hatte die Zwillinge irgendwie davon überzeugt, dass sie, Jenneth, nichts dagegen hätte, ihn und Angelica bei ihnen wohnen zu lassen. "Natürlich müssen wir das Finanzielle regeln", sagte Luke ruhig. Dann sah er Kit an. "Eure Schwester ist berufstätig, und es wäre wohl kaum fair, ihm die Verantwortung für meine Tochter aufzubürden." "Ach, das macht Jen nichts aus", versicherte ihm Nick unbeschwert. "Sie liebt Kinder, Wir sagen ihr ständig, sie sollte heiraten und ein halbes Dutzend bekommen ..."
Angelica blickte Jenneth glücklich an. "Ist das nicht das Allerbeste überhaupt? Ich wollte schon am vergangenen Wochenende, dass du meine Scheinmutter bist!" Luke blickte sie amüsiert an, und Jenneth wusste, dass sie hoffnungslos in der Falle saß. Es dauerte fast den ganzen Nachmittag, die Einzelheiten zu besprechen. Luke würde seine Stelle am Ersten des Monats antreten, das war in einer Woche. Er habe keine Ahnung, wie lange er brauchen würde, ein Haus und eine Haushälterin zu finden, die auch als Kindermädchen für Angelica geeignet sei, gab Luke zu und beobachtete dabei Jenneth' Reaktion. Das sei kein Problem, versicherte ihm Kit. Er könne sich so viel Zeit lassen, wie er wolle. Angelica warf Kit einen bewundernden, zufriedenen Blick zu, der Jenneth unerträglich daran erinnerte, wie sie früher Luke angebetet hatte. Während Luke und ihre Brüder Pläne machten und Entscheidungen trafen, fragte sie sich immer wieder, warum in aller Welt, Luke bei ihnen wohnen wollte. Angelica gab ihr unwissentlich die Antwort, indem sie ihr alles über den vergangenen Sonntag erzählte. Luke und Angelica waren offensichtlich noch bis zum Nachmittag in Little Compton geblieben. Und Angelica hatte Louises Mutter erzählt, wie enttäuscht sie sei, weil Jenneth so schnell nach Hause gefahren sei. Daraufhin hatte Louises Mutter zu Luke gesagt, wenn seine Tochter Jenneth schon so lieb gewonnen habe, wäre es doch schön, wenn sie bei Jenneth unterkommen könnten. Wütend und todunglücklich wurde Jenneth klar, dass Luke sie kaltblütig als unbezahltes Kindermädchen für seine Tochter benutzen wollte. Und sie konnte nichts dagegen tun. Die Zwillinge waren zweifellos begeistert. Wenn Luke ins Haus zog, brauchten sie sich keine Sorgen mehr um ihre Schwester zu machen. Für die beiden war Luke einfach nur Louises Cousin. Wahrscheinlich erinnerten sie sich nicht einmal mehr daran,
dass sie mit ihm verlobt gewesen war. Offensichtlich hatten Nick und Kit keine Ahnung, was sie ihr antaten, indem sie Luke einluden, bei ihnen zu wohnen. Jenneth wusste, dass sie Gefahr lief, völlig zusammenzubrechen und sich zu verraten, wenn sie Luke offen ansehen oder mit ihm sprechen würde. Sie könnte es nicht ertragen, ihm zu zeigen, wie verletzlich sie noch immer war, wie weh es noch immer tat, von ihm hintergangen worden zu sein und ihn verloren zu haben. Wie sehr es sie mitnahm, ihn mit Angelica zu sehen. Allein ihn anzublicken weckte ein so verzweifeltes Verlangen in ihr, dass sie das Gefühl hatte, es keinen Moment länger auszuhalten. Sie wollte die Einladung der Zwillinge zurücknehmen und Luke erkennen lassen, was er ihr antat, aber damit würde sie preisgeben, dass sie ihn noch immer liebte. Und das brachte sie einfach nicht fertig. Es war eine ausweglose Situation. Deprimiert sagte Jenneth zu Kit, sie werde Angelica jetzt ihr Zimmer zeigen. Zu ihrem Entsetzen erwiderte er breit lächelnd: "Nicht nötig. Damit sind wir schon durch. Luke nimmt das neben deinem. Es ist das einzige mit einem Doppelbett, und er kann unmöglich in einem der kleinen in den anderen beiden Zimmern schlafen ..." "Und ich habe mir das mit dem seltsamen Fenster ausgesucht", warf Angelica wichtigtuerisch ein. Luke im Zimmer neben ihrem ... Es war das ihrer Eltern gewesen. "Ich muss noch arbeiten", stieß Jenneth hervor. Sie nahm ihr Skizzenbuch und flüchtete in ihr Atelier, bevor jemand widersprechen konnte. Sie machte keinen Versuch, noch zu arbeiten. Das wäre ohnehin zwecklos. Am ganzen Körper zitternd, stand sie am Fenster und blickte starr nach draußen auf die Felder. Der Luke, den sie früher gekannt hatte, war so rücksichtsvoll und einfühlsam gewesen, dass sie sich danach gesehnt hatte, so wie
er zu sein. Und jetzt fügte er ihr völlig gleichgültig so viel Leid zu. Wie hatte er sich nur so verändern können? Die Verlobung zu lösen war eine Sache. Da er sich in eine andere Frau verliebt hatte, war es unvermeidlich gewesen, ihr wehzutun. Nur indem sie sich das immer wieder gesagt hatte, war es ihr überhaupt möglich gewesen, seinen Treuebruch zu akzeptieren. Aber sich jetzt in ihr Leben zu drängen und unverfroren anzunehmen, es würde ihr nichts ausmachen ... Diese gefühllose Missachtung der Bedürfnisse anderer ... Sie hatte ihn niemals wirklich gekannt. Die Erkenntnis hätte sie von den Fesseln ihrer Liebe befreien sollen, doch sie tat es nicht. Gepeinigt von ihren Gefühlen, schauderte Jenneth. Sie hörte die Tür aufgehen und drehte sich um. Als sie Luke hereinkommen sah, zog sie sich in den schattigen Bereich des Ateliers zurück.
5. KAPITEL Einen Moment lang schwiegen sie beide, und dann sagte Luke: "Ich bin dir sehr dankbar, dass du uns ein Dach über dem Kopf anbietest, Jenneth." Seine Doppelzüngigkeit war unverzeihlich, denn er musste wissen, dass sie ihn nicht in ihrem Haus haben wollte. Sie konnte es weder dabei bewenden lassen noch ihrem Herzen Luft machen. "Von mir ist das Angebot nicht gekommen", erwiderte sie deshalb ausdruckslos und hoffte, er würde ihr die Gelegenheit gebendes zurückzunehmen. Er kam auf sie zu und blieb vor dem Fenster stehen. "Licht aus Norden ... ideal für deine Arbeit." Während er sich die Landschaft ansah, glaubte Jenneth plötzlich, seine Miene verrate Bedauern und Reue, aber sie wusste, dass sie nur Gefühle auf ihn übertrug, die er haben sollte. Luke war unfähig, Bedauern oder Reue zu empfinden, und höchstwahrscheinlich hatte er sogar aus seinen Gedanken verbannt, wie sehr er ihr einmal wehgetan hatte. "Angelica hat sich eng an dich angeschlossen", sagte er unvermittelt. Es überraschte Jenneth, wie verletzlich er aussah. Aber andererseits war es nur natürlich, dass er um sein Kind besorgt war. Das Kind der Frau, die er ihr vorgezogen hatte. Jenneth verschloss ihr Herz gegen seine Verwundbarkeit und erwiderte kurz angebunden: "Sie sucht nach einer Ersatzmutter."
"Ja, ich weiß. Du hast bei den Zwillingen hervorragende Arbeit geleistet, Jenneth. Deine Eltern wären stolz auf dich. Und auf die Jungen." . Sie hatte den anderen Qualen standgehalten, die er ihr zugefügt hatte, aber aus irgendeinem Grund war diese letzte zu viel. "Was genau willst du damit sagen, Luke? Dass du mich als geeignetes Kindermädchen für deine Tochter betrachtest? Soll ich mich jetzt geschmeichelt fühlen?" Und bevor er antworten konnte, fuhr sie ihn an: "Ich will dich hier nicht haben! Ich will dich nicht in meinem Leben haben, und ich will dich nicht in meinem Haus haben!" Fast hätte sie einen Moment lang geglaubt, er sehe traurig und verzweifelt aus. Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie spürte, wie sich alles in ihr auflehnte. Dann hatte er sich wieder unter Kontrolle und ignorierte einfach, was sie gesagt hatte. "Oh, bevor ich es vergesse ..." Er öffnete seinen Aktenkoffer. "Das hast du am vergangenen Wochenende im Hotel liegen lassen." Jenneth blickte entsetzt zur Tür. Gerade kam die schlimmste Klatschbase des Dorfes ins Atelier, und ihr fiel ein, dass sie versprochen hatte, Ramsch für einen Wohltätigkeitsbasar herauszusuchen. Da Luke mit dem Rücken zur Tür stand, hatte er keine Ahnung, dass jemand mithörte und alles genau beobachtete. Er holte das graue Seidennachthemd aus dem Aktenkoffer und ließ es durch die Finger gleiten. "Ich habe es in deinem Zimmer auf dem Boden gefunden, nachdem du weg warst." Luke warf es ihr zu, aber Jenneth wich zurück, anstatt es zu fangen. Sie sah, dass die Augen ihrer unerwünschten Besucherin berechnend funkelten. Binnen Tagen würden alle Dorfbewohner die Geschichte passend ausgeschmückt und interpretiert erfahren haben. "Tut mir Leid, wenn ich störe, Jenneth. Aber Sie haben mir Ramsch versprochen."
Unter anderen Umständen hätte Jenneth vielleicht über den finsteren Blick lachen können, den Luke der älteren Frau zuwarf. Aber Laura Gosford betrachtete sowohl ihn als auch das Nachthemd mit solcher Wonne, dass sieh Jenneth ganz elend fühlte. Sie war in Versuchung, das Nachthemd aufzuheben und es der Klatschbase als Ramsch mitzugeben, doch die Vernunft siegte. Sie entschuldigte sich bei Luke und ging mit Mrs. Gosford zur Garage. Die Zwillinge und Angelica waren enttäuscht, als Luke sagte, er und Angelica würden das Wochenende bei einem Kollegen und seiner Frau verbringen. Jenneth war erleichtert und hoffte verzweifelt, dass Luke schnell ein Haus finden würde. Weil es sich so gehörte und sie wusste, dass die Zwillinge und Angelica sie beobachteten, begleitete sie Luke zum Auto, Er erklärte ihr freundlich, er würde schon Mitte der Woche einziehen, denn er wolle das schöne Wetter ausnutzen und Angelica die Gegend zeigen, bevor er im Krankenhaus anfangen müsse. Jenneth lächelte nur starr. Sie war von ihrer eigenen Qual völlig in Anspruch genommen und bemerkte überhaupt nicht, wie niedergeschlagen Luke aussah, als sie seinen Versuch scheitern ließ, die Kluft zwischen ihnen zu überbrücken. Hat er vorgehabt, sich mit einem Kuss auf die Wange zu verabschieden? fragte sich Jenneth verzweifelt. Mit dem gleichen keuschen Kuss, den sie ihn bei vielen Anlässen in der Vergangenheit seiner Tante und Louise hatte geben sehen? "Wir wollen dich nicht länger aufhalten", sagte Luke. Seine Stimme klang plötzlich hart und kühl. "Es ist Samstag, und du hast heute Abend zweifellos etwas vor. Du versetzt mich in Erstaunen, Jenneth ..." Sein spöttischer Blick ließ sie zusammenzucken. "Als du mir klargemacht hast, du hättest den Sittenkodex der sexuellen Revolution übernommen und würdest eine
ununterbrochene Folge von Liebhabern einer langweiligen festen Beziehung vorziehen, habe ich gedacht, du würdest nur Abwehrmaßnahmen ergreifen. Aber hier haben wir dich, neunundzwanzig, noch immer Single, noch immer nicht gewillt, dich auf einen deiner vielen Freunde festzulegen." Luke öffnete Angelica die Autotür, dann drehte er sich wieder zu Jenneth um und sagte: "Unglaublich. Nach so vielen sexuellen Erfahrungen strahlst du noch immer dieselbe jungfräuliche Schüchternheit aus wie früher. Ich bedauere, dass ich nicht dein erster Liebhaber gewesen bin." Luke sprach so leise, dass nur Jenneth ihn hören konnte. Eine innere Stimme warnte sie davor, sich zu rächen. Der Preis der Vergeltung würde zu hoch sein. Aber sie hatte keine Lust, vorsichtig zu sein. "Ich bedauere, dass ich so dumm gewesen bin, auf einen Lügner und Betrüger hereinzufallen", stieß sie wütend und stolz hervor. Und dann konnte sie der übermächtigen Versuchung nicht widerstehen, seiner abscheulichen Selbstgefälligkeit einen kräftigen Dämpfer zu verpassen, und sagte scharf: "Ich würde lieber sterben, als dich zum Liebhaber zu haben." Vorübergehend fühlte sich Jenneth wie befreit, weil sie Gefühle abreagiert hatte, die sie zu lange unterdrückt hatte. Sie warf Luke noch einen verächtlichen Blick zu und ging davon. Schaudernd hörte sie sein leises Lachen hinter sich. Natürlich waren die Zwillinge den Rest des Wochenendes ganz erfüllt von dem günstigen Zufall, durch den, wie sie glaubten, sowohl ihre als auch Lukes Probleme hervorragend gelöst waren. "Dich allein zu lassen hätte uns wirklich beunruhigt", sagte Kit beim Abendessen am Sonntag zum x-ten Mal. "Aber jetzt, mit Luke hier ..." Jenneth biss die Zähne zusammen. Sie hatte Nick und Kit so lange die Eltern ersetzt, dass es einfach undenkbar war, den
Jungen die Wahrheit zu erzählen und ihre Illusionen zu zerstören. Kit und Nick beobachteten, wie ihre Schwester im Essen herumstocherte, und wechselten schuldbewusste, verschwörerische Blicke. Als die beiden später an diesem Abend allein waren, vertraute Kit seinem Zwillingsbruder an, er habe Jenneth' Elend nur ertragen können, weil er überzeugt sei, dass Luke das Richtige tue. "Es hat sie ziemlich schwer getroffen, stimmt's? Aber Luke hat Recht. Wenn er ihr einfach gesagt hätte, das mit der anderen sei ein Fehler gewesen und er habe im Grunde immer nur sie gewollt, hätte sie ihm nicht geglaubt." "Nein ... Ich hatte keine Ahnung, dass Luke sie damals wegen einer anderen fallen lassen hat." "Er hatte keine große Wahl, wenn sie schwanger war. Er musste wohl das Anständige tun und sie heiraten." "Bringt einen zum Nachdenken, stimmt's?" fragte Nick. Ein langes Schweigen folgte. "Nur gut, dass Luke Gelegenheit hatte, uns alles zu erzählen, bevor Jen nach Hause gekommen ist", sagte Kit schließlich. "Ich hatte Angst, sie würde ihm zu verstehen geben, er könne nicht bleiben. Aber da wir ihn schon eingeladen hatten, bei uns einzuziehen, mochte sie das zum Glück wohl nicht tun." "Glaubst du, sie liebt ihn noch?" Kit lächelte seinen Zwillingsbruder spöttisch an. "Bist du blind?" Schon immer war Nick der weichherzigere von ihnen gewesen. Er fühlte sich offensichtlich ein bisschen unbehaglich, weil sie sich von Luke hatten überreden lassen, sich mit ihm gegen Jenneth zu verschwören. Er wollte, dass sie ihn wieder in ihr Leben ließ, und sie sollten ihm dabei helfen. "Das wird nicht einfach", hatte Luke unverblümt gesagt. "Jenneth hat jeden Grund, mich zu hassen." Und dann hatte er den Zwillingen kühl und sachlich erzählt, was er getan hatte.
"Warum sollten wir dir glauben, dass du sie jetzt zurückhaben willst?" fragte Kit ebenso unverblümt. "Ich habe eure Schwester damals geliebt, und ich liebe sie immer noch." Mehr sagte Luke nicht, doch seltsamerweise genügte es. Es war Nick, der daran dachte, Luke zu fragen, was genau er von Jenneth wolle. "Ich will sie heiraten", erwiderte er ohne Zögern. Dann lächelte er sarkastisch. "Und ich denke, das wird leichter zu erreichen sein, als ihr Vertrauen zurückzugewinnen. Also muss die Heirat wohl zuerst kommen." Darüber wunderten sich Nick und Kit, da Luke nicht heruntergespielt hatte, wie groß Jenneth' Groll und Misstrauen sein mussten. Wie wollte er sie dazu bringen, ihn zu heiraten, wenn sie - wie er selbst zugab - ihn nicht mochte? "Ich sehe da Möglichkeiten", hatte er geheimnisvoll auf Kits Frage geantwortet. Und dann war Angelica hereingeplatzt und hatte wissen wollen, wann Jenneth endlich zurückkommen werde. "Luke wird ihr doch wohl nicht wehtun?" fragte Nick unsicher. Sein Zwillingsbruder warf ihm einen zynischen Blick zu. "Noch mehr, als er es schon getan hat, meinst du?" Jenneth war zu beschäftigt, um irgendetwas Ungewöhnliches am Benehmen ihrer Brüder festzustellen. Lukes und Angelicas Einzug bedeutete zusätzliche Arbeit im Haus. Als hätte sie nicht schon genug zu tun! Am Dienstagnachmittag kam Nick ins Atelier und sah das Nachthemd auf dem Boden liegen. Er hob es auf, betrachtete es prüfend und blickte dann mit hochgezogenen Augenbrauen seine Schwester an. "Louise hat es mir geschenkt. Als Dankeschön für die inoffizielle Brautjungfer", kam Jenneth der Frage ihres Bruders zuvor.
"Nicht gerade dein Stil, stimmt's?" Aus irgendeinem Grund tat Nicks Offenheit weh. Sogar ihre Brüder erkannten anscheinend, dass sie keine sexuelle Anziehungskraft besaß. "Warum liegt das Ding in deinem Atelier auf dem Boden?" fragte Nick neugierig. "Ich habe es in Little Compton im Hotel zurückgelassen. Luke hat es mitgebracht und mir hier gegeben, und dann habe ich es einfach vergessen." Jenneth wandte ihrem Bruder den Rücken zu, damit er nicht sah, dass sie rot wurde. Wahrscheinlich hatte Laura Gosford schon alle Einzelheiten der interessanten Szene weitergegeben. Wenn erst einmal alle im Dorf Bescheid wussten, würden auch die Zwillinge davon hören. Nick jetzt anzuschwindeln würde dann noch peinlicher sein, als ihm jetzt gleich zu sagen, dass Luke ihr das Nachthemd gebracht hatte. Der Teufel sollte Luke holen! Und Louise auch. Jenneth war sicher, dass niemand auf falsche Gedanken gekommen wäre, wenn es um eins ihrer normalen, schlichten Baumwollnachthemden gegangen wäre. Wütend drehte sie sich wieder um. Nick lächelte breit. "Du brauchst nicht verlegen zu sein, Jen", neckte er sie. "Wir sind jetzt alle erwachsen. Wenn du und Luke etwas miteinander habt..." "Haben wir nicht! Bitte deute ihm gegenüber nichts dergleichen an. Nicht einmal zum Scherz. Es wäre ... peinlich für uns beide." "Du meinst, weil ihr früher einmal verlobt gewesen seid? Aber das ist doch Jahre her", rief Nick fröhlich. Dann sah er ihren Gesichtsausdruck. "Okay, ich werde nichts sagen. Aber du musst doch zugeben, dass es sehr verdächtig ist. Woher wusste Luke denn überhaupt, dass dieses Nachthemd dir gehört? Wieso hast du es überhaupt zurückgelassen?"
Jenneth war dankbar, dass in diesem Moment das Telefon klingelte. Sie nahm ab und winkte Nick energisch, hinauszugehen, während am anderen Ende der Leitung Eleanor klagte, ihr Freund sei geschäftlich verreist und sie langweile sich. "Ich habe beschlossen, mit einer Dinnerparty ein bisschen Schwung in mein Leben zu bringen. Natürlich möchte ich, dass du kommst. Aber ich will auch das Rezept für die leckere Obstsoße, die du immer machst." Die Dinnerparty war am Samstag, Jenneth sagte, sie könne kommen, und nannte dann die Zutaten für die Soße. Früher oder später würde sie Eleanor von Luke erzählen müssen. Jenneth biss sich auf die Lippe. Manchmal war ihre Freundin viel zu scharfsichtig. Sie hoffte nur, es würde ihr gelingen, Eleanor davon zu überzeugen, dass Luke nichts weiter als ein alter Freund der Familie war. Er und Angelica würden am nächsten Morgen kommen. Unter anderen Umständen hätte sich Jenneth darauf gefreut, Angelica im Haus zu haben. Aber Luke würde dabei sein und kühl und distanziert ihre Verletzlichkeit zur Kenntnis nehmen, während sie seine Tochter lieb gewann. Allein bei dem Gedanken daran wünschte sie, Angelica wäre eins dieser empörend verzogenen Kinder, denen gegenüber sie mühelos reserviert sein könnte. Da Luke seine Tochter zweifellos liebte, wunderte sich Jenneth darüber, dass er die Gefahr für Angelica nicht erkannte. Was, wenn sich das kleine Mädchen noch enger an sie anschließen würde? Wieder auszuziehen würde es unglücklich machen. Es war liebenswert, wie offen Angelica ihre Gefühle zeigte und sich wünschte, ihr Vater würde heiraten und ihr eine Mutter besorgen. Natürlich war sie noch sehr klein gewesen, gerade zweieinhalb, als ihre leibliche Mutter gestorben war. Und sie wusste, dass ihr Vater sie liebte. Offensichtlich empfand sie
weder Eifersucht noch Groll bei dem Gedanken, ihren Vater mit jemand zu teilen. Vielleicht weil sie annahm, dass Luke eine zweite Ehe nur eingehen würde, damit ihr sehnlichster Wunsch erfüllt wurde und sie eine Mutter bekam. Würde Luke wieder heiraten? Eine junge Frau wie Angelicas Mutter, die ihm gewachsen war und ihn sexuell befriedigen konnte? Ich war zu naiv und konnte es nicht, dachte Jenneth grimmig. Wie dumm sie gewesen war! Sie hatte es allein schon erregend gefunden, Lukes Hand auf ihrer Haut zu spüren. Und sie hatte angenommen, dass er ebenso heftig auf ihre Berührungen reagiert hatte. In Wirklichkeit... Jenneth atmete tief ein und stellte sich der Wahrheit: Luke hatte sie niemals richtig begehrt. Was er ihr gezeigt hatte, war nur nachgeahmte Leidenschaft gewesen. Echte hatte er für eine andere Frau empfunden. Aber das musste ihm klar gewesen sein, bevor er ihr den Heiratsantrag gemacht hatte. Warum hatte er sich mit ihr verlobt? Aus Eitelkeit? Langeweile? Früher hätte Jenneth behauptet, so oberflächlich könnte Luke niemals sein. Doch er selbst hatte ihr bewiesen, wie sehr sie sich in seinem Charakter geirrt hatte. Jetzt wusste sie, wie er wirklich war. Also warum liebte sie ihn noch immer? Warum reagierte sie noch immer so leidenschaftlich auf ihn, wie sie es mit einundzwanzig getan hatte? Jenneth hatte ihre Termine absichtlich so geplant, dass sie nicht zu Hause sein würde, wenn Luke ankam. "Da ihr ihn eingeladen habt, könnt ihr auch eure Zeit opfern und ihn begrüßen", sagte sie energisch zu den Zwillingen. Auf dem Heimweg waren die Straßen leer. Die Hauptverkehrszeit war lange vorbei. Jenneth hoffte verzweifelt, dass irgendetwas Lukes Einzug verhindert hatte.
So viel Glück hatte sie jedoch nicht. Auf der Auffahrt stand sein grauer Jaguar. Und Angelica wartete vor dem Haus auf sie. Niedergeschlagen erwiderte Jenneth die Umarmung des kleinen Mädchens. Sie war einfach nicht fähig, das Kind zurückzuweisen. Weil sie wusste, wie es war, zurückgewiesen zu werden? "Dad kocht unser Abendessen", sagte Angelica. "Ich bin am Verhungern, du nicht auch? Ich warte schon eine Ewigkeit auf dich. Ich wollte, dass du mit uns in meine neue Schule gehst, aber Dad hat mir erklärt, wie viel du zu tun hast. Die Lehrerin weiß trotzdem, dass du meine Scheinmutter bist. Ich habe ihr von dir erzählt. Und von Kit und Nick. Ich hätte gern Brüder." Jenneth war zu erschöpft, um irgendetwas zu erwidern. Wie sie verblüfft feststellte, hatte Angelica die Wahrheit gesagt. Luke bereitete tatsächlich das Essen zu. Ein appetitlicher Duft nach Gewürzen erfüllte die Küche und machte Jenneth bewusst, dass sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte. "Gut, du bist zurück." Luke blieb mit dem Rücken zu ihr am Herd stehen. "Wir haben nachgesehen, wann du deinen letzten Termin hast, und uns gedacht, dass du ungefähr um diese Zeit zu Hause sein wirst. Ich hoffe, du magst noch immer Lasagne." Jenneth war sprachlos. Grimmig fragte sie sich, welcher von den Zwillingen ihm ihren Terminkalender gegeben hatte. "Es war nicht nötig, auf mich zu warten", sagte sie schließlich kurz angebunden. Jetzt drehte sich Luke um. "Ohne dich hätte es nicht geschmeckt." Sie spürte, dass sie rot wurde vor Wut und Verlegenheit. "Leider hast du deine Zeit verschwendet. Ich gehe heute Abend aus", erwiderte sie spontan. Einen Moment lang dachte sie tatsächlich, er würde ihr auf den Kopf zusagen, dass sie log. Angelica zupfte an ihrem Ärmel. "Kannst du wirklich nicht mit uns essen?" fragte sie flehend.
Wenn Luke seine Tochter instruiert hätte, dann hätte er es nicht besser machen können! räumte Jenneth ein. Sie ärgerte sich darüber, dass er seelenruhig erwartete, sie würde ihn in ihrem Haus und Leben akzeptieren, als hätte es all die Jahre voller Qual und Kummer niemals gegeben. Gleichzeitig widerstrebte es ihr, dem kleinen Mädchen wehzutun, das sie so bittend ansah. Luke legte den Löffel hin, kam zu ihnen und hob Angelica hoch. "Du hast Jenneth gehört, Angie. Sie hat heute Abend schon etwas anderes vor." Er blickte sie anklagend an, und Jenneth fragte sich hilflos, warum sie ein schlechtes Gewissen hatte, obwohl er doch der Schuldige war. Sie hatte überhaupt keine Lust, noch einmal wegzufahren, aber jetzt hatte sie keine andere Wahl mehr. Also ging sie nach oben, duschte, zog ein leichtes Seidenkleid an und schminkte sich. Unten warteten Nick und Kit auf sie und fragten, wohin sie gehe und mit wem. "Ich esse mit einem Auftraggeber zu Abend", erwiderte sie. "Du brauchst unsere Gefühle nicht zu schonen, Jenneth", sagte Luke hinter ihr kurz angebunden. Sie drehte sich um und blickte ihn wütend an. "Bei einem Geschäftsessen würdest du nicht so ein Kleid tragen, und außerdem ..." Kit und Nick sahen sich an und verschwanden blitzschnell. "Und außerdem haben mir die Zwillinge schon erzählt, dass du dich abends niemals mit Auftraggebern triffst." Es stimmte. Das Prinzip hatte sie sich auferlegt, als die beiden noch jünger waren, und irgendwie war es dabei geblieben. Jenneth biss sich ärgerlich auf die Lippe. "Bringst du ihn nachher mit?" "Wen?" fragte Jenneth verwirrt.
"Den Mann, mit dem du ausgehst, natürlich." Luke zuckte die Schultern. Sie ließ den Blick unklugerweise über seine breite Brust gleiten und erinnerte sich an einen heißen Sonntagnachmittag am Flussufer. Luke hatte sein Hemd ausgezogen, und es war unerwartet verlockend gewesen, seine gebräunte Haut zu berühren. Er hatte über ihre Schüchternheit gelacht, ihre Hände genommen und sie an seinen Körper gedrückt... "Schließlich sind wir beide erwachsen", sprach Luke weiter. "Und wenn ich mich rar machen soll, brauchst du es nur zu sagen. Die Zwillinge haben anscheinend inzwischen akzeptiert, dass du ein erfülltes Sexleben hast. Aber ich vermute, am Anfang hattest du Schwierigkeiten deswegen. Irgendwann wird Angelica anfangen, unangenehme Fragen zu stellen, und ich muss zugeben, ich fürchte mich vor dem Moment. Jungen sind wahrscheinlich zehn Mal schlimmer, und mit Kit und Nick muss es besonders schlimm gewesen sein. Sie sind dir gegenüber so beschützerisch ..." Jenneth sah Luke ungläubig an. "Wenn du damit andeuten willst, dass ich Männer mit nach Hause bringe und hier mit ihnen schlafe ..." Sie verstummte, denn gerade noch rechtzeitig wurde ihr bewusst, dass sie Gefahr lief, sich zu verraten. "Oh, du findest es einfacher, zu ihnen zu gehen. Ja, das hat etwas für sich." Luke lachte leise. "Du wirst mir wohl viele nützliche Tipps geben können. Bleibst du die ganze Nacht weg, oder...?" "Nein!" sagte Jenneth wütend. "Also wenn ich eine sexuelle Beziehung habe, verbringe ich gern die ganze Nacht mit meiner Partnerin, allerdings gebe ich zu, dass ich in diesen Dingen ein bisschen altmodisch bin. Und meine Erfahrungen bleiben wahrscheinlich sehr hinter deinen zurück."
"Das bezweifle ich", sagte Jenneth mit zusammengebissenen Zähnen. Was in aller Welt sollte sie den ganzen Abend mit sich anfangen? Und wo sollte sie hinfahren? Sie fuhr zur Galerie und rief von dort Eleanor an. Erleichtert erfuhr sie, dass ihre Freundin den Abend allein verbrachte und sich sehr freute, Gesellschaft zu bekommen. "Das sieht dir gar nicht ähnlich." Eleanor öffnete ihr lächelnd die Tür. "Normalerweise kann dich doch abends nichts von zu Hause wegbringen." Jenneth wurde rot und presste die Lippen zusammen. "Ist irgendetwas los?" "Ich habe zu Hause einige Probleme", gab Jenneth zu. Sie wusste, dass sie unmöglich so tun konnte, als wäre alles in Ordnung. "Mit den Zwillingen?" fragte Eleanor erstaunt. Jenneth folgte ihr ins Wohnzimmer und setzte sich. Plötzlich musste sie unbedingt jemandem ihr Herz ausschütten, und ihrer Freundin konnte sie vertrauen. Angespannt, aber ruhig erzählte sie kurz von ihrer Verlobung mit Luke und seiner Heirat mit einer anderen. Dann berichtete sie, wie er völlig überraschend nach York gekommen war und die Zwillinge ihn eingeladen hatten, bei ihnen zu wohnen. "Du lieber Himmel!" rief Eleanor. "In Anbetracht dessen, dass er dir wegen einer anderen den Laufpass gegeben hat, hätte ich gedacht, du wärst die Letzte, bei der er wohnen möchte." Jenneth zuckte frustriert die Schultern. "Er tut so, als wäre nichts geschehen und wir wären einfach alte Freunde." "Warum sagst du ihm nicht energisch, er solle verschwinden?" "Ich kann nicht", flüsterte Jenneth heiser. Eleanor seufzte leise. "Ah, jetzt verstehe ich. Während er die Sache längst vergessen hat, ist sie für dich noch immer schmerzlich und verletzend."
"Ja", gab Jenneth zu. "Und ich habe Angst davor, gegen ihn anzugehen. Weil ich dann vielleicht irgendetwas sage oder tue, was ihm verrät, wie ich mich fühle." "Und wie fühlst du dich?" fragte Eleanor. Jenneth verzog das Gesicht. "So wie vor zehn Jahren, als mir klar geworden ist, dass ich ihn liebe." "Und du fürchtest, dass er das erraten wird? Wenn er die ganze Sache behandelt, als wäre sie niemals passiert, dann kann er ja wohl nicht scharfsinnig genug sein, um auf so etwas zu kommen, stimmt's?" Jenneth schüttelte den Kopf. "Luke ist sehr scharfsinnig und intelligent." Sie bemerkte nicht, dass Eleanor ihr einen nachdenklichen Blick zuwarf. "Ich kann dir eins meiner Gästezimmer als Asyl anbieten", sagte Eleanor humorvoll. "Mir fällt keine andere Möglichkeit ein, dir zu helfen." "Das geht nicht", erwiderte Jenneth frustriert. "Luke glaubt schon, dass ich den Abend mit meinem Liebhaber verbringe. Wenn ich hier bleibe, wird er den Zwillingen wahrscheinlich erzählen, ich würde bei meinem Freund übernachten." Sie schauderte. "Ich sollte der Hüter ihrer Moral sein und nicht umgekehrt, aber ..." "Ja, aber!" sagte Eleanor trocken. "Männer regen sich wahnsinnig auf, wenn ein Mann es wagt, ihre Mutter oder Schwestern als sexuell verfügbar zu betrachten, obwohl sie doch genau das bei der Mutter oder Schwester eines anderen Mannes tun." Jenneth lachte. "Schon besser "." Eleanor stand auf. "Hast du schon daran gedacht, Luke einfach zu fragen, warum er sich wieder in dein Leben drängt? Du behauptest, er sei ein scharfsinniger, intelligenter Mann. Ihm muss klar sein, wie sehr er dich verletzt hat. Warum ist er trotzdem bei dir eingezogen? Damit hat er sich bewusst in eine Situation gebracht, um die fast jeder Mann einen
großen Bogen machen würde. Im Grunde sind alle Männer Feiglinge. Sie möchten nicht an jene Gelegenheiten erinnert werden, bei denen sie sich überhaupt nicht gentlemanlike benommen haben." "Aus seiner Sicht hat er wohl das Richtige getan", sagte Jenneth müde. "Schließlich hat sie ein Kind von ihm erwartet." "Ein Kind, das gezeugt wurde, während er mit dir verlobt war." Eleanor sah ihre Freundin besorgt an, dann fragte sie nachdenklich: "Könnte es nicht sein, dass er bereut, was er getan hat? Dass er sich danach sehnt, eine zweite Chance zu bekommen?" Sofort machte sich Jenneth Hoffnungen, die dann jedoch ebenso schnell wieder verschwanden. "Nein." "Du wirst die Wahrheit nur herausfinden, indem du ihn fragst", sagte Eleanor und war beunruhigt, als der normalerweise so sanfte Blick ihrer Freundin hart und bitter wurde. "Luke hat mich damals angelogen", erwiderte Jenneth angespannt. "Warum sollte er jetzt ehrlich sein? Wie dem auch sei, ich glaube, er sieht mich nur als bequeme ,Irgendeine', die Angelica für ihn betreut, bis er Ordnung in sein Leben gebracht hat." Eleanor zog die Augenbrauen hoch. "Du hast mir doch erzählt, er liebe seine Tochter." "Ja, das tut er", bestätigte Jenneth. "Warum?" "Weil dann unlogisch ist, was du sagst, meine Liebe. Ein scharfsinniger und intelligenter Mann würde sein geliebtes Kind doch keinesfalls einer Frau anvertrauen, die allen Grund hat, ihn zu bestrafen und leiden zu lassen. Und durch sein Kind kann sie das am besten erreichen." "Oh, aber so etwas könnte ich niemals tun!" protestierte Jenneth. Eleanor lächelte grimmig. "Nein. Pass auf, Jenneth. Ich vermute, er kennt dich besser, als du glaubst."
"Nicht gut genug, um zu wissen, dass meine Nächte nicht mit einer endlosen Reihe verschiedener Liebhaber ausgefüllt sind", erwiderte Jenneth gespielt heiter. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war erst elf. Sie wagte nicht, vor eins nach Hause zu kommen. "Was hältst du davon, wenn ich zwei Stunden an den Geschäftsbüchern arbeite?" fragte sie Eleanor.
6. KAPITEL Um Viertel vor zwei parkte Jenneth ihr Auto zwischen dem Kleinwagen der Zwillinge und Lukes Jaguar. Sie war geistig und körperlich erschöpft und hatte Kopfschmerzen, nachdem sie zwei Stunden lang über Zahlenreihen gebrütet hatte. Außerdem war sie unglaublich gereizt. Immer war es ihr gelungen, sich von allem zu distanzieren, was einer emotionalen Reaktion nahe kam. Jetzt hatte ihr Abwehrmechanismus sie anscheinend völlig im Stich gelassen. Müde ging sie ins Haus. Sie wollte nur noch ins Bett und am liebsten darin bleiben, bis ihr ungebetener Gast wieder weg war. Verärgert sah sie, dass in der Küche Licht brannte. Sie hatte den Zwillingen schon so oft gesagt, sie sollten keinen Strom verschwenden! Manchmal war sie sich im Lauf der Jahre schockiert bewusst geworden, dass sie im selben Ton wie ihre Eltern sprach, wenn sie mit ihren Brüdern schimpfte. "Ach, da bist du ja. Gut. Ich habe mich gerade gefragt, ob du es dir vielleicht anders überlegt hast und doch bei deinem Freund geblieben bist ..." Jenneth erstarrte und blickte ungläubig Luke an, der in dem bequemen, wenn auch abgenutzten Sessel neben dem Herd saß. Auf dem Küchentisch lag ein Buch. Sie konnte den Titel umgekehrt nicht lesen, doch es sah aus wie ein Lehrbuch.
Groll und Frustration wurden übermächtig, und Jenneth sagte scharf: "Du bist nicht mein Aufpasser, Luke! Es geht dich nichts an, ob ich die ganze Nacht wegbleibe oder nicht. Und es ist einfach nur lächerlich, dich hier in der Küche auf die Lauer zu legen und auf mich zu warten, als wäre ich ein dummer Teenager, der nicht sein eigenes Leben führen kann ..." Luke stand langsam auf. "Ich bin ganz deiner Meinung." Das brachte Jenneth zum Schweigen. Ihre Wut verschwand, und an ihre Stelle trat Argwohn. "Die Zwillinge haben sich Sorgen gemacht", erklärte Luke. Er warf ihr einen wissenden Blick zu, der sie schaudern ließ. "Die beiden haben es ungewöhnlich und deshalb beängstigend gefunden, dass du so lange wegbleibst. Ich wollte sie beruhigen und habe angeboten, auf dich zu warten und mich zu vergewissern, dass du heil und gesund angekommen bist, bevor ich ins Bett gehe." Jenneth hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Sie war sich seiner Herausforderung nur allzu bewusst und blickte ihn finster an. Es war kein Zufall gewesen, dass er das Erstaunen ihrer Brüder erwähnt hatte. Ahnte er, dass sie gelogen und den Abend nicht mit einem Liebhaber verbracht hatte? Es war ein demütigender Gedanke. "Hattest du einen netten Abend?" fragte Luke liebenswürdig. Jenneth sah ihn misstrauisch an, aber seine Miene war ausdruckslos. "Sehr nett, danke", erwiderte sie steif. Er kam spöttisch lächelnd auf sie zu. "Ach Jenneth, wie knauserig du bist. Wenn ich dein Liebhaber wäre und du würdest einen Abend mit mir so wenig begeistert beschreiben, wäre ich sehr enttäuscht. Wirst du ihn wieder sehen?" Obwohl sie wachsam war, wurde sie von dieser gefährlichen Frage überrumpelt. Sie zuckte zusammen. "Ja, wir essen am Samstag zusammen zu Abend", schwindelte sie verzweifelt.
Zum Glück hatte sie Eleanors Dinnerparty und würde sich nicht überlegen müssen, wie sie einen weiteren langen Abend außer Haus herumbringen sollte. Jenneth wandte sich niedergeschlagen von ihrem Peiniger ab und ging zur Tür. Irgendwie war Luke jedoch vor ihr dort und versperrte ihr den Weg. "Ich möchte ins Bett", protestierte sie scharf. Es machte sie nervös, wie Luke den Blick über ihren Körper gleiten ließ. Fast so, als würde er sich darauf freuen, ein lange ersehntes Geschenk auszupacken. "Arme Jenneth", spottete Luke. "Irgendetwas sagt mir, dass dein Abend kein Erfolg war. Vielleicht hilft dies ..." Und bevor sie reagieren konnte, hatte er sie schon an die Wand gedrängt und stützte sich daran ab, so dass Jenneth in seinen ausgestreckten Armen gefangen war. Sie hätte niemals gedacht, dass er so etwas tun würde. Weil es so unerwartet kam, war sie einen Moment lang völlig verwirrt. Und als sie ihre fünf Sinne wieder beisammen hatte und sich wehren wollte, ließ er schon den Mund über ihre Wange zum Ohr gleiten. "Das hast du früher gern gehabt, erinnerst du dich?" flüsterte Luke. "Aber natürlich möchtest du heutzutage raffinierter erregt werden." Er zog Jenneth an sich und küsste sie. Sein Kuss war unerwartet sanft und so verführerisch, dass er gefährliche Erinnerungen an die Vergangenheit wachrief und Jenneth den Mund öffnete, bevor sie überhaupt wusste, was geschah. Selbst als sie Luke zufrieden aufstöhnen hörte, registrierte sie nicht wirklich, was vorging. Es war alles so völlig unglaublich. Er küsste sie langsam und zärtlich und brachte sie dazu, hemmungslos auf ihn zu reagieren. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass sie noch so fühlen konnte. In seinen Armen zu
sein und von ihm berührt und geküsst zu werden, weckte nach so vielen Jahren noch immer dieselben Empfindungen in ihr wie früher. Sie spürte seine Erregung und schmiegte sich unwillkürlich an ihn. Luke sagte leise irgendetwas und küsste sie wieder, leidenschaftlicher und fordernder diesmal. Dann schob er ihr das Kleid von den Schultern und liebkoste ihre Brüste. Hitze durchflutete Jenneth. Es war, als hätte ihre Haut Feuer gefangen. Sie wollte, dass er weitermachte und die ungesagten Versprechen erfüllte, die er ihr vor so langer Zeit gegeben hatte. Damals hatten ihr seine Berührungen in Aussicht gestellt, dass er ihr eine unvorstellbare Lust zeigen würde ... Nur hatte er diese Lust mit einer anderen geteilt. Sofort verschwand Jenneth' Erregung. Luke spürte, dass sie sich zurückzog, und sah auf. "Ich weiß wirklich nicht, was das soll ...", begann Jenneth unsicher. "Nein?" fragte er spöttisch. "Ich dachte, das sei völlig klar. Besonders einer so erfahrenen Frau wie dir. Ich habe versucht, dich zu befriedigen, nachdem dein Liebhaber das ja offensichtlich nicht geschafft hat." Und plötzlich lächelte er so grausam, dass es ihr den Atem raubte. "Wenn ich es mir recht überlege, war das kein kluger Entschluss", sprach Luke weiter, "Und wie das bei Almosen eben ist, hat es auch nichts eingebracht." Almosen ... Jenneth hatte das Gefühl, dass ihre Beine nachgaben. Brennender Schmerz und Hass durchfluteten sie, und sie sehnte sich danach, ihm eine gleichgültige, zynische Antwort zu geben und ihn ebenso zu verletzen, wie er sie verletzt hatte. Aber sie wusste überhaupt nichts zu sagen. Sie riss die Küchentür auf und ging zittrig nach oben in ihr Schlafzimmer.
Luke blieb einen Moment reglos stehen, dann ging er das medizinische Lehrbuch holen, das er auf dem Tisch hatte liegen lassen. Seine Kollegen waren völlig überrascht gewesen, als er angekündigt hatte, er werde sich um den Job in York bewerben. Keiner von ihnen hatte verstanden, warum er sich in einem zwar hervorragenden, aber relativ unbekannten Lehrkrankenhaus verstecken wollte, wenn er doch in den besten und berühmtesten Kliniken der Welt arbeiten könnte. Sie hatten ihn für verrückt gehalten und es ihm gesagt. Jetzt überlegte Luke, ob sie Recht gehabt hatten. Jenneth' Sexualität so herauszufordern war idiotisch gewesen. Ihre anfängliche Reaktion hatte ihm die süßeste Lust seit Jahren bereitet, aber es war eine flüchtige Lust gewesen. Sie hatte einen Schmerz zurückgelassen, der ihn grausam daran erinnerte, dass trotz seiner Intelligenz und Bildung manchmal immer noch sein Körper seinen Verstand besiegte. Luke griff nach dem Buch und fluchte leise, weil ihm die Hand zitterte. Ungeduld und Verlangen hatten ihm in dieser Nacht nur wenige tröstliche Momente und dann die Erkenntnis gebracht, dass er Jenneth jetzt wahrscheinlich völlig hinter ihre Schutzmauer getrieben hatte. Während er das Licht ausschaltete, überlegte er, wo Jenneth wohl wirklich den Abend verbracht hatte. Vielleicht würde es notwendig sein... Luke verzog das Gesicht. Ihm musste ja nicht gefallen, was er tat. Wie viel einfacher wäre es, einfach zu ihr zu gehen und ihr die Wahrheit zu sagen. Aber er wusste, was passieren würde. Jenneth wurde ihn anhören und ihn dann sehr kühl und energisch wegschicken. Nein, das war nicht die Lösung ... Wenn er Erfolg haben wollte, musste er die Schlacht innerhalb ihres Schutzwalls führen und nicht von außen.
"Ist das hier Unkraut?" fragte Angelica wichtigtuerisch und hielt Vogelmiere hoch. Jenneth nickte. Sie musste einfach darüber lächeln, wie vertieft das kleine Mädchen in ihre Aufgabe war. Die Zwillinge neckten sie ständig, weil sich Angelica so eng an sie angeschlossen hatte. Sie hätten ja schon immer gesagt, sie hätte jung heiraten und mindestens ein halbes Dutzend Kinder bekommen müssen. Jenneth hatte ihre Brüder energisch aufgefordert, damit aufzuhören, denn sie war sich bewusst, dass Angelicas Anhänglichkeit ein ernstes Problem werden könnte. Sie durfte nicht zulassen, dass Angelica emotional von ihr abhängig wurde. Das wäre vom moralischen Standpunkt aus falsch. Abgewiesen zu werden könnte bei dem Kind allerdings ebenso tiefe seelische Narben hinterlassen. Deshalb reagierte Jenneth liebevoll auf den Wunsch des Mädchens nach Aufmerksamkeit, ermutigte es jedoch nicht, ein Vertrauensverhältnis zu ihr aufzubauen. Das würde Angelica bei der unvermeidlichen Trennung nur Leid bringen. Die lang anhaltende Hitzewelle hatte sich verheerend auf den Garten ausgewirkt, deshalb gönnte sich Jenneth einen wohlverdienten freien Nachmittag und jätete mit Angelica Unkraut. "Ich will nicht, dass ihr heute Abend beide nicht da seid", vertraute ihr Angelica arglos an. "Ich mag Nick und Kit gern, aber dich und Dad liebe ich am meisten." Jenneth war gerührt. Sie wollte Angelica davor warnen, sie zu lieben. Sie wollte ihr sagen, wie gefährlich es sein könnte. Doch sie wusste, dass ein so kleines Mädchen das nicht verstehen würde. "Dad geht mit Freunden aus. Und du?" Jenneth zögerte. Es war eine Sache, im Eifer des Gefechts Luke anzuschwindeln, aber eine völlig andere, Angelica und die Zwillinge zu belügen. "Mit einem Freund", erwiderte sie vage
und lenkte das Kind ab, indem sie es auf eine große Stelle Unkraut aufmerksam machte. Kit und Nick waren Tennis spielen gegangen, und Luke war im Krankenhaus, obwohl es Samstag war und er seine neue Stelle erst in der nächsten Woche antrat. Bestimmt ist er ein guter Chirurg, dachte Jenneth. Er besaß die nötige innere Distanz. Seine Mutter wäre so stolz auf ihn. Ihr fielen Gespräche mit Luke über seine Ambitionen und den sich ständig verschlechternden Gesundheitszustand seiner Mutter ein. Er war unglaublich frustriert gewesen, weil er ihr nicht hatte helfen können. Sie war eine sehr warmherzige Frau gewesen, die ihre Krankheit und die Schmerzen tapfer verharmlost hatte. Lukes Vater war dagegen ein schwieriger, ziemlich labiler Mann, der die Krankheit nur im Hinblick darauf gesehen hatte, wie sie sich auf sein Leben auswirkte. Die Beziehung zwischen Luke und seinem Vater war gespannt gewesen. Luke hatte oft Verabredungen mit ihr abgesagt, weil sein Vater unterwegs gewesen war und er seine Mutter nicht hatte allein lassen wollen. Die Ehe von Lukes Eltern konnte nicht glücklich gewesen sein, aber seiner Mutter war niemals etwas anzumerken gewesen. Trotzdem war im Dorf über das Verhalten des Arztes seiner Frau gegenüber getuschelt worden. Die Leute hatten ihre Tapferkeit bewundert und sie wegen der Schwächen ihres Mannes bedauert. Jenneth hatte Luke einmal zögernd gefragt, warum seine Eltern zusammenbleiben würden, obwohl sie doch offensichtlich nicht glücklich seien. "Meine Mutter liebt ihn", hatte er verbittert gesagt. Damals war sie zu jung und naiv gewesen und hatte nicht genau gewusst, was das bedeutete. Jetzt verstand sie, was für eine Last eine solche Liebe nicht nur für seine Mutter, sondern auch für Luke gewesen sein musste.
Rückblickend erkannte Jenneth auch, dass er sich bemüht hatte, das Märchen von der glücklichen Ehe seiner Eltern aufrechtzuerhalten, um seine Mutter zu schützen. Kein Kind sollte damit belastet werden, für das Glück seiner Eltern verantwortlich zu sein ... Jenneth seufzte. Sie war wütend auf sich, weil sie Mitleid mit Luke hatte. Eleanors Dinnerparty sollte um halb neun anfangen, aber Jenneth hatte versprochen, früher zu kommen und zu helfen. Um halb sieben war sie fertig. Sie trug ein neues Kleid. Eleanor hatte sie dazu überredet, dieses auch zu kaufen, als sie zusammen das Outfit für Louises Hochzeit ausgesucht hatten. Es war ein kurzärmeliges schwarzweißes Seidenkleid mit einem bogenförmigen Ausschnitt, den Jenneth für dezent hielt. Ihr war nicht bewusst, wie verführerisch der Schnitt der Schulterpartie war. Der Plisseerock war im Stil der zwanziger Jahre von der Hüfte ab ausgestellt und darüber sehr eng. Angelica spielte mit den Zwillingen Domino. Als Jenneth nach unten kam, betrachtete die Kleine sie bewundernd und rief sehnsüchtig: "Ich möchte so gern, dass du meine richtige Mutter und nicht nur meine Scheinmutter bist." Und dann stand, sie auf, schmiegte sich an Jenneth und barg das Gesicht in ihrem Kleid. Jenneth bemerkte nicht, dass ihre Brüder viel sagende Blicke wechselten. Sie sah auch nicht Luke ins Zimmer kommen. Erst als er das kleine Mädchen scharf ermahnte, ihr Kleid nicht zu ruinieren, wurde sie auf ihn aufmerksam. Sie warf ihm einen kühlen, missbilligenden Blick zu und legte beschützerisch die Arme um Angelica. "Keine Sorge, Schatz, du hast keinen Schaden angerichtet." Lukes Hemd stand am Kragen offen. Die Ärmel waren hochgekrempelt. Jenneth fiel plötzlich auf, wie müde er aussah. Während sie ihn mit zusammengekniffenen Augen beobachtete, wurde ihr verräterisch schwindlig. Sie war sich seiner Nähe überwältigend deutlich bewusst.
Schnell machte sich Jenneth von Angelica frei. "Ich muss los." Sie nahm ihre Handtasche, eilte zur Tür und blieb nur noch einmal stehen, um die Zwillinge an ihre Verantwortung für Angelica zu erinnern. Nick lächelte breit. "Keine Angst. Wir sorgen dafür, dass das Kind um acht im Bett ist." Als Angelica ihn finster anblickte, zerzauste er ihr lachend das Haar und hob sie schwungvoll hoch, und sie kreischte vor Begeisterung. Eleanor war eine hervorragende Gastgeberin. Wer bei ihr zum Abendessen eingeladen war, beneidete sie um ihre Kochkünste, und sie verstand es auch, die Gästeliste so geschickt zusammenzustellen, dass sich die Leute angeregt unterhielten und gut amüsierten. "Wer kommt denn heute Abend?" fragte Jenneth, während sie zusammen den eleganten Mahagonitisch deckten. "Die Allisons ..." Sie waren alte Freunde von Eleanor und kannten Jenneth gut. "Und Adrian Barbary." Eleanor bemerkte den vernichtenden Blick ihrer Freundin und lächelte. "Ich versichere dir, ich will dich nicht mit ihm verkuppeln. Was kann ich denn dafür, wenn der arme Mann in dich verliebt ist?" Jenneth wurde rot, und Eleanor lachte. Sie gingen in die Küche und kümmerten sich um das Essen. "Ich habe ihn wirklich nicht deinetwegen eingeladen. Schließlich weiß ich, dass ich nur meine Zeit verschwenden würde. Adrian tut mir einfach Leid. Er ist seit dem Tod seiner Mutter so allein ..." Eleanor ignorierte Jenneth' finstere Miene geflissentlich und leckte ein bisschen Lachsmousse von ihrem Finger, bevor sie die leere Schüssel in die Geschirrspülmaschine stellte. "Wer noch? Bill und Mary Seddons ..." Sie verzog das Gesicht. "Mary hat mich heute Morgen angerufen und gefragt, ob sie noch jemand mitbringen dürften. Einen Kollegen von Bill."
Bill Seddons war Mitglied des Gemeinderats. Jenneth mochte sowohl ihn als auch seine Frau. "Wie steht's zu Hause?" fragte Eleanor plötzlich leise und beobachtete ihre Freundin aufmerksam. "Nicht so gut", gab Jenneth zu. Es klingelte, und während Eleanor die Gäste hereinließ, ging Jenneth in den Wintergarten, den Eleanor nach dem Tod ihres Mannes hatte anbauen lassen. Beide Doppeltüren standen offen, so dass ein willkommener Luftzug herrschte. An den Wintergarten schloss sich eine sehr schön angelegte gepflasterte Terrasse an, von der Wege in den Garten führten. Der schwere Duft der an der Hauswand emporwachsenden altmodischen Bourbon-Rosen wehte von der Terrasse herein. Jenneth hörte Schritte und die Stimmen von Adrian Barbary und der Allisons. Sie rang sich ein Lächeln ab und ging zu den anderen. Zehn Minuten später klingelte es wieder. Eleanor schenkte ihren Gästen gerade Drinks ein. "In so einem Moment vermisse ich einen Ehemann am meisten. Würdest du bitte hier für mich weitermachen, während ich öffnen gehe?" bat sie Jenneth. Jenneth hatte Adrian ein Glas eisgekühlte Weißweinschorle gegeben und schenkte sich selbst eins ein, als Eleanor mit Mary, Bill und seinem Kollegen zurückkehrte. Lächelnd drehte sich Jenneth um und sah ungläubig und entsetzt Luke zwischen Mary und Bill stehen. Luke erwiderte Jenneth' Blick, und Eleanor wollte ihn nichts ahnend ihrer Freundin vorstellen. "Nicht nötig, Jenneth und ich kennen uns schon", unterbrach er Eleanor betont locker. "Tatsächlich wohne ich zur Zeit bei ihr." Einen Moment lang sagte niemand etwas. Es war das typische Schweigen, das immer dann eintrat, wenn die Leute zu gute Manieren hatten, um auszusprechen, was sie wirklich dachten oder fühlten. In diesem Fall waren alle sichtlich
überrascht. Adrian war außerdem verärgert, und er konnte sich schließlich nicht zurückhalten. "Stimmt das etwa, Jenneth?" fragte er und blickte Luke misstrauisch an. Adrian war das Produkt der sehr engstirnigen Erziehung seiner Mutter, und zu Jenneth' Groll gegen Luke kam jetzt noch Wut über Adrians unverhohlenes Missfallen. "Luke ist ein alter Freund der Familie", erklärte sie mit zusammengebissenen Zähnen. "Er und seine Tochter wohnen bei uns; bis er ein passendes Haus gefunden hat." Alle außer Eleanor nahmen es für bare Münze. Die Allisons beschützten Jenneth unwissentlich, indem sie Luke nach seiner neuen Stellung fragten. Eleanor hatte Mitleid mit ihrer Freundin und bat sie, ihr in der Küche zu helfen. Auf Eleanors Dinnerpartys ging es immer zwanglos zu, und keiner der Gäste hatte etwas dagegen, sich selbst überlassen zu werden. Jenneth bemerkte jedoch, dass Luke ihr einen scharfen Blick zuwarf, als sie flüchtete. "Das ist er also!" sagte Eleanor, sobald sie in der Küche waren. "Nein, sieh mich nicht so an. Ich schwöre dir, ich hatte keine Ahnung, wer er ist. Mary hat nur gefragt, ob sie einen Kollegen von Bill mitbringen dürften, und ich habe Ja gesagt." Jenneth' Anspannung ließ ein bisschen nach. "Ich bin so nervös, seit Luke aufgetaucht ist, ich werde noch verrückt." "Selbst auf die Gefahr hin, dich noch verrückter zu machen: Für einen Mann, der dich vor acht Jahren wegen einer anderen sitzen lassen hat, verhält er sich dir gegenüber ein bisschen zu besitzergreifend." "Wie kannst du das sagen?" fragte Jenneth. "Du kennst ihn gerade einmal fünf Minuten." "Lange genug, um seine Körpersprache zu interpretieren", versicherte ihr Eleanor. "Glaub mir, er hat Adrian ganz eindeutig signalisiert, die Hände von dir zu lassen."
Jenneth hörte nicht mehr zu. Jetzt, da der erste Schock überwunden war, quälte sie etwas anderes. "Angeblich habe ich heute Abend ein Datei" "Wenn er danach fragt, behauptest du einfach, du hättest es dir anders überlegt", schlug Eleanor gelassen vor. Jenneth dachte, Eleanor würde ihre Probleme nicht ernst nehmen, doch Eleanor hatte gesehen, wie zielstrebig und besitzergreifend Luke ihre Freundin angesehen hatte. Sie war überzeugt, dass ihm Jenneth nicht so gleichgültig war, wie sie anscheinend glaubte. Das Essen war eine Tortur. Luke nahm Adrian geschickt ins Kreuzverhör und deckte auf, dass Jenneth überhaupt keine Beziehung zu dem anderen Mann hatte. Danach wandte sich Luke ihr zu und sagte täuschend unbefangen: "Ich war ja ziemlich überrascht, dich heute Abend hier zu treffen, Jenneth. Ich dachte, du hättest eine Verabredung zum Essen ä deux ..." Jenneth blickte ihn starr an. Sie wusste, dass sie rot wurde vor Verlegenheit und Qual. Natürlich fiel ihr keine Antwort ein. Es war, als würde in ihrem Kopf völlige Leere herrschen. Zu ihrem Erstaunen kam ihr Eleanor zu Hilfe. "Hatte sie, aber ich habe sie gebeten, ihr Date abzusagen und mir bei dieser Dinnerparty zu helfen." Luke zog die Augenbrauen hoch. "Das ist wahre Freundschaft! Nicht viele Frauen würden auf einen Abend mit ihrem aktuellen Liebhaber verzichten, um einer Freundin zu helfen." Jenneth' Röte nahm noch zu. Die anderen fünf Gäste am Tisch sahen sie neugierig an. Zweifellos fragen sie sich, wer dieser legendäre Mann ist! dachte sie bitter. Wieder kam ihr Eleanor zu Hilfe. "Sie sind nicht auf der Höhe der Zeit, Luke. Heutzutage legen Frauen viel mehr Wert auf Freundschaften."
Nach dem Essen flüchtete Jenneth in den Garten. Zumindest war es jetzt nicht mehr nötig, die halbe Nacht wegzubleiben, nur damit Luke glaubte, sie sei mit ihrem Liebhaber zusammen. Eleanor war sehr stolz auf ihren Garten, der im Stil von Gertrude Jekyll gestaltet war. Sie wäre entsetzt gewesen, wenn sie gesehen hätte, wie Jenneth geistesabwesend die Blütenblätter einer weißen Rose abriss. "Du überraschst mich immer wieder, Jenneth", sagte Luke plötzlich leise hinter ihr. "Nur um Eleanor zu helfen, verzichtest du auf viele kostbare Stunden mit deinem Liebhaber. Wo ist er übrigens?" Jenneth biss sich auf die Lippe. Warum hörte Luke nicht auf, sie zu quälen? Er wusste doch offensichtlich, dass sie ihn angelogen hatte. Wütend auf sich, weil sie ihm ermöglicht hatte, sie in eine so peinliche und demütigende Lage zu bringen, ließ sie die Blütenblätter fallen und drehte sich um. "In Ordnung, Luke. Ich gebe es zu. Ich habe dich angelogen. Der Liebhaber existiert nicht." Sie blickte starr an Luke vorbei in die hereinbrechende Dunkelheit, während sie mühsam hervorstieß: "Zufrieden? Du hast mich als Opfer ausersehen, mich gejagt und in die Falle gelockt." Ihr Stolz machte sie erhaben über ihre Verlegenheit, und sie sah Luke erbittert an. "Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest..." Er ließ sie vorbei und blickte ihr resigniert nach. "Großartig. Das hast du echt gut hinbekommen!" verspottete er sich voller Selbstverachtung, sobald Jenneth außer Sicht war. Er bückte sich, hob einige Blütenblätter auf und zerdrückte sie, so dass ihr berauschender Duft freigesetzt wurde. "Zufrieden ..." Er verzog das Gesicht und fragte sich, ob Jenneth wohl wusste, was für eine mächtige Waffe sie gegen ihn in der Hand hatte. Dann ließ er die Blütenblätter fallen und ging langsam zurück ins Haus.
Eleanor fand ihre Freundin in der Küche und beobachtete einige Minuten lang, wie Jenneth wütend das Geschirr abwusch, das nicht mehr in die Spülmaschine gepasst hatte. "Er hat ja eine ganz schöne Wirkung auf dich." "Er quält mich absichtlich!" brauste Jenneth auf. "Ich habe ihm die Wahrheit gesagt. Vielleicht ist er jetzt zufrieden", erklärte sie mürrisch und trank das Glas Weißweinschorle aus, das sie sich eingeschenkt hatte, als sie aus dem Garten wieder hereingekommen war. Nach der Konfrontation mit Luke war sie erhitzt, und die Schorle war herrlich erfrischend. "Davon hast du schon vier", warnte Eleanor sie. "Und dazu den Bordeaux beim Essen." Der Bordeaux war ausgezeichnet gewesen. Eleanors verstorbener Ehemann hatte einen kleinen Weinkeller angelegt. Er war ein passionierter Weinkenner gewesen, und sie fühlte sich jedes Mal ein bisschen schuldig, wenn sie eine seiner sehr geschätzten Flaschen öffnete. "Ist mir gleich", erwiderte Jenneth verwegen. "Tatsächlich werde ich noch ein Glas trinken." Sie ging zum Kühlschrank, um einen frischen Krug herauszunehmen. Fast erwartete sie, daran gehindert zu werden, doch sie hörte Eleanor nur leise "Ist jetzt sowieso schon zu spät" sagen. In diesem Moment prägte sich ihr die Bemerkung jedoch nicht ein. Sie hatte als Teenager auf die harte Tour gelernt, dass sie keinen Alkohol vertrug, und trank normalerweise kaum etwas. Aber sie war so wütend darüber, dass Luke sie dazu bringen konnte, sich vor ihm zu demütigen, dass für andere Gedanken kein Platz war. "Kannst du mir helfen, den Eiskaffee und die Gläser in den Wintergarten zu tragen?" fragte Eleanor ihre unglücklich aussehende Freundin zweifelnd. "Natürlich", versicherte ihr Jenneth. Der Eiskaffee enthielt ein bisschen von Eleanors bestem Brandy und ihre selbst gemachte Eiscreme.
Durch die offene Doppeltür wehte der warme Abendwind in den Wintergarten und erfüllte die Luft mit Gartendüften. Jenneth rechtfertigte ihr zweites Glas Eiskaffee, indem sie erklärte, die Hitze mache sie durstig. "Irgend jemand hat eindeutig eine höchst ungewöhnliche Wirkung auf dich", flüsterte ihr Eleanor zu, als sie an ihr vorbeiging. Jenneth würde bei ihr übernachten müssen. Sie konnte keinesfalls mehr Auto fahren. Jenneth nahm begeistert den Likör an, den sie ihr anbot, und Eleanor bemerkte, dass Luke ihr einen scharfen, missbilligenden Blick zuwarf. Ohne für Unruhe zu sorgen, hatte er sich geschickt seinem Gespräch mit Bill und Mary entzogen und einen Platz gesucht, von dem aus er Jenneth beobachten konnte. Während sie aus Angst um ihr Kristall grimmig lächelnd Jenneth' Angebot ablehnte, die leeren Gläser einzusammeln und in die Küche zu tragen, fragte sich Eleanor mitleidig, wie sich Jenneth wohl am nächsten Morgen fühlen würde. Sie hatte ihre Freundin noch nie mehr als ein Glas trinken sehen. Um ein Uhr standen Bill und Mary auf und verabschiedeten sich. Die Allisons und Adrian schlössen sich ihnen an. Jenneth wollte aufstehen und den anderen zur Haustür folgen, hatte jedoch das Gefühl, als würde sich der Fliesenboden im Wintergarten bewegen. Nachdem sie eine Weile finster die Fliesen angesehen hatte, ohne dass sie zu schwanken aufhörten, sank sie verwirrt zurück in den Rohrsessel. "Eine weise Entscheidung." Jenneth hörte die vertraute Stimme neben sich, wandte den Kopf und blickte Luke böse an. "Geh weg!" sagte sie mürrisch. Aber er lächelte sie an und ging vor ihr in die Hocke, so dass seine Augen fast auf gleicher Höhe mit ihren waren. "Als ich dich zuletzt so habe schmollen sehen, bist du zehn Jahre alt gewesen."
"Ich schmolle nicht", widersprach Jenneth, dann flüsterte sie unsicher: "Ich wünschte, du würdest weggehen. Du machst mich schwindlig ..." Sie wusste nicht, wie viel ihr Blick verriet. "Jenneth ...", sagte Luke rau. Es klang so sinnlich und leidenschaftlich, dass sie den Atem anhielt. "Jenneth, ich glaube, ich bringe dich besser nach oben in mein Gästezimmer..." Sie hatten beide nicht gehört, dass Eleanor in den Wintergarten gekommen war. Jenneth drehte sich erschrocken zu ihr um, und durch die schnelle Bewegung wurde der Schwindel noch stärker. "Ich nehme Jenneth mit." Luke richtete sich auf. Trotz der betäubenden Wirkung des Weins hatte Jenneth ihren Selbsterhaltungstrieb bewahrt. "Ich kann selbst nach Hause fahren." "Nein!" protestierten Luke und Eleanor einstimmig. Jenneth runzelte verwirrt die Stirn. "Sie ist bei mir sicher aufgehoben", sagte Luke ruhig. "Davon bin ich überzeugt", erwiderte Eleanor trocken. "Aber werde ich noch vor ihr sicher sein, wenn sie begreift, was ich sie habe tun lassen?" Luke lachte. "Wir holen ihr Auto morgen Vormittag ab, okay?" Sein energischer Ton machte Eleanor klar, dass er Jenneth nötigenfalls einfach kidnappen würde. "Normalerweise trinkt sie so gut wie überhaupt nichts", verteidigte sie ihre Freundin. Luke sah plötzlich seltsam verletzlich und traurig aus. "Ich weiß", sagte er leise, und dann beugte er sich über Jenneth. "Los, Jen. Zeit, dass wir gehen." Belustigt beobachtete Eleanor, wie Jenneth unsicher aufstand und sich von Luke zur Tür führen ließ.
7. KAPITEL "Komm schon, Jen. Wir sind zu Hause." Zu Hause ... Wie wundervoll das klang. Allein schon diese tiefe männliche Stimme zu hören war eine Wonne. Aber eigentlich fühlte sie sich herrlich wohl, wo sie jetzt war. So sicher und warm. "Los, Jen. Wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder du steigst aus dem Auto und läufst, oder ich trage dich." Jetzt kam die Stimme von der anderen Seite, und kühle Luft traf sie. Jenneth öffnete widerwillig die Augen und runzelte die Stirn, als ihr vage bewusst wurde, dass sie in einem fremden Auto saß. Plötzlich ein bisschen ängstlich, blickte sie vorsichtig zur Seite. Erleichterung durchflutete sie, als sie den Mann sah, der sich ins Auto beugte. Es war Luke. Sie brauchte keine Angst zu haben. Überhaupt keine. Unwillkürlich streckte sie ihm die Arme entgegen und sagte verträumt: "Trag mich, Luke." Zu verwirrt, um seinen Gesichtsausdruck in diesem Moment zu deuten, seufzte sie nur glücklich und schmiegte sich an ihn, sobald Luke sie vom Beifahrersitz hob. Sie schloss die Augen und wünschte ärgerlich, sie wäre nicht ganz so benommen. Luke musste sie absetzen, damit er die Haustür aufschließen konnte. Als er Jenneth wieder hochhob und hineintrug, stellte er
dankbar fest, dass alles still war. Seine Schuldgefühle würden noch größer werden, wenn die Zwillinge ihre Schwester in diesem Zustand sehen und ihn anklagend anblicken würden. Auf dem Weg zur Treppe sagte Jenneth, sie wolle einen Drink. Luke verstärkte seinen Griff grimmig und ging schnell nach oben, froh, dass die Sommernacht relativ heil war und er keine Lampen einschalten musste. Die Tür von Jenneth' Zimmer stand halb offen. Luke achtete darauf, dass er sie mit der Schulter leise hinter sich zudrückte, bevor er Jenneth zum Bett trug. Er legte sie vorsichtig hin und blickte seufzend auf sie hinunter. Sonst war sie auf der Hut, wann immer er in der Nähe war. Jetzt, im Schlaf, sah sie so jung aus. Kaum älter, als sie mit einundzwanzig ausgesehen hatte. Er schob ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, spürte ihre zarte Haut an den Fingerspitzen und hielt den Atem an. Wie kam es, dass er sich noch so gut an ihre Haut erinnerte und so stark darauf reagierte? Jenneth war noch angezogen, und Luke überlegte, was er tun sollte. Eine innere Stimme ermahnte ihn, sie so zu lassen, wie sie war. Aber er war sicher, dass sie verschlafen würde. Und höchstwahrscheinlich würden ihre Brüder irgendwann neugierig nachsehen, wo sie so lange blieb. Luke wusste, wie empfindsam Jenneth war. Er konnte sich gut vorstellen, wie unangenehm es ihr wäre, wenn Kit und Nick in ihr Zimmer kommen und sie noch ganz angezogen vorfinden würden. Ihnen würde klar sein, dass sie zu viel getrunken hatte. Vorsichtig setzte sich Luke auf die Bettkante, drehte Jenneth behutsam herum und streckte die Hand nach dem Reißverschluss aus. Dann zögerte er. Noch sehr viel unangenehmer wäre es Jenneth, Von ihm ausgezogen worden zu sein. Während er darüber nachdachte, rührte sie sich und flüsterte irgendetwas im Schlaf. Energisch sagte sich Luke, er tue es zu ihrem Besten.
Er öffnete den Reißverschluss des Kleides und stellte fest, dass er nicht vergessen hatte, was er während der ersten Jahre seiner Ausbildung zum Arzt gelernt hatte. Noch immer konnte er rasch und sicher jemand ausziehen. Wieder war er unschlüssig. Und entschied sich für einen Kompromiss. Er zog ihr den BH aus, ließ ihr aber den Slip. Luke lächelte selbstironisch. Er hatte diesen Slip in einem Stapel sauberer Wäsche gesehen, die Jenneth aus dem Garten hereingeholt hatte. In dem Moment war es nur ein Stück Stoff gewesen. Wie war es möglich, dass sich das Kleidungsstück an ihrem Körper in etwas unglaublich Reizvolles und Verführerisches verwandelt hatte? Sie drehte sich plötzlich auf den Bauch, und Luke ließ den Blick über ihren Rücken und den Po bis zu den langen, schlanken Beinen gleiten. Luke wurde bewusst, was mit ihm passierte. Er atmete tief ein und stand auf. So viel zur inneren Distanz, dachte er traurig, während er Jenneth' Kleid und BH nahm und auf einen Sessel legte. Anscheinend hatte sie noch nicht fest geschlafen und die Bewegung der Matratze gespürt, als er sich zurückgezogen hatte. Bevor er das Zimmer verlassen konnte, wachte sie auf und sah ihn an. "Du bist wirklich da", sagte sie stirnrunzelnd. "Aber das ist unmöglich. Du bist in meinem Traum." Sie kniff sich in den Arm und blickte dann finster auf die schmerzende Stelle. Vielleicht war es dumm, aber Luke ging zurück zum Bett. "Jenneth, schlaf weiter. Es ist spät, und morgen früh ..." "Wirst du verschwunden sein", beendete sie den Satz. "Genau wie an jedem anderen Morgen." Sie betrachtete wieder Luke, und in ihren Augen schimmerten unvergessene Tränen. "Verlass mich nicht. Bleib dieses eine Mal bei mir. Bitte ..." Sie streckte ihm die Arme entgegen.
Er wusste, dass er ihr ruhig und vernünftig erklären sollte, warum er unmöglich tun konnte, worum sie ihn bat. Wenn ihr am Morgen unglücklicherweise wieder einfallen würde, was sie jetzt, beschwipst und enthemmt, zu ihm sagte, würde sie sich entsetzlich fühlen. Seine Verantwortung ihr und sich selbst gegenüber verlangte, dass er ihren flehenden Blick ignorierte und so schnell und leise hinausging, wie er konnte. Zwischen ihm und dieser Verantwortung stand jedoch die quälende Erinnerung, die ihn acht Jahre lang verfolgt hatte. Die quälende Erinnerung an eine junge Frau, die zu stolz war, um ihm zu zeigen, was er ihr antat. Luke ging noch einen Schritt näher. Und dann noch einen. Mit großen Augen beobachtete Jenneth ihn. Sie hatte diesen Traum schon so oft gehabt, aber zum ersten Mal war er so real. So real, dass es tatsächlich wehtat, wenn sie sich 'kniff. Sie konnte sogar den Duft der Rosen riechen, der durch das offene Fenster hereinwehte. Und sie hörte Luke schwer atmen. Er nahm ihre Hände und hinderte Jenneth daran, ihm nahe zu kommen. Sie runzelte verwirrt die Stirn. Das stimmte nicht. In ihrem Traum zog Luke sie immer an sich und berührte und küsste sie so drängend, dass sie von Hitze durchflutet wurde. Und noch etwas war anders. Er sprach mit ihr. So leise, dass sie sich anstrengen musste, um ihn zu verstehen. Er redete von Reue und sagte, dies sei weder der richtige Zeitpunkt noch der geeignete Ort. Luke küsste nur den Puls an ihrem Handgelenk. Es war eine zärtliche, unerotische Liebkosung, die Jenneth zur Verzweiflung brachte. Er ließ sie schnell los und ging zur Tür. Das tat er in ihrem Traum niemals. Normalerweise drückte Luke sie erregt an sich und flüsterte, wie sehr er sich nach ihr sehne und sie brauche.
Jenneth stieg aus dem Bett und rief heiser seinen Namen. Sobald sie stand, wurde ihr schwindlig. Er drehte sich um, sah sie schwanken und kehrte zu ihr zurück. Rasch legte er ihr die Hand auf den Rücken und stützte Jenneth. Ihre Verwirrung wurde noch größer, als sie Stoff und nicht seinen nackten Körper an ihrem spürte. "Es ist in Ordnung, Jenneth", sagte Luke. Unfähig, sich davon abzuhalten, neigte er den Kopf und küsste sie sanft auf den Mund. Hier hätte es enden müssen. Luke hatte wirklich vor, damit aufzuhören. Aber sie bewegte sich, und plötzlich wurde ihm klar, dass er ihre Brust berührte. Er hörte Jenneth leise aufstöhnen. "Verdammt, tu mir das nicht an", flüsterte er. Er durfte nicht ... Er wagte nicht, mit ihr zu schlafen, während sie beschwipst war. Dennoch war die Versuchung unerträglich groß, auszunutzen, was das Schicksal ihm anbot. Nicht weil er unbedingt ihren Körper in Besitz nehmen wollte, sondern weil es eine so gute Gelegenheit war, Jenneth in die gewünschte Situation zu manövrieren. Unvermittelt gab Jenneth ihre Passivität auf. Sie schmiegte sich an ihn und liebkoste mit der Zunge seinen geschlossenen Mund. Jenneth' ungewollt provozierende Bewegungen machten Luke den Druck ihrer Brüste und Hüften an seinem Körper bewusst. Es war entsetzlich schwer, Jenneth nicht an sich zu pressen und sie seine Erregung spüren zu lassen. Sie küsste ihn verführerisch und klagte dann plötzlich verärgert: "Das ist überhaupt nicht wie in meinem Traum. Du machst nichts von dem, was ich mir wünsche ..." Luke war sich darüber im Klaren, dass er sich wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit verfluchen würde, konnte sich jedoch nicht zurückhalten. "Was soll ich denn tun?" fragte er angespannt.
Einen Moment lang glaubte er, sie hätte begriffen, was vorging. Sie zog sich zurück, und er ließ sie los. Einerseits hoffte er, dass sie völlig wach geworden war, andererseits ... Nein, darüber wollte er lieber nicht nachdenken. Sie sah starr in die Dunkelheit, und er erkannte, dass sie Realität und Traum noch immer nicht unterscheiden konnte. Er wusste, dass er gehen sollte. Aber die Versuchung war zu groß, nachdem er so viele Jahre ohne sie und mit einer Lüge hatte leben müssen. Jenneth warf ihm einen teils kühnen, teils schüchternen Blick zu. "Du weißt schon ...", flüsterte sie heiser. "Nein. Du musst es mir sagen oder zeigen", erwiderte Luke. Es schien ein vernünftiger Vorschlag zu sein, deshalb rückte sie wieder näher an ihn heran. "Zuerst musst du mich küssen. Richtig, meine ich. Du hast es fast nie getan", erklärte sie traurig. Also hatte sie es gewusst. Er hatte sich oft gefragt... Aber er hatte ihren Eltern versprochen, ihr Vertrauen nicht zu missbrauchen. Er streichelte mit dem Daumen zärtlich ihren Mund und spürte, wie ihre Lippen verräterisch zitterten. Wirklich gefährlich kann es nicht werden, sagte sich Luke. Die jahrelang geübte Zurückhaltung würde verhindern, dass er die Beherrschung verlor. Aber er hatte vergessen, dass Jenneth eine Frau und kein junges Mädchen mehr war. Sobald er sie in den Armen hielt und küsste, wurde er von Empfindungen überwältigt. Zwischen Küssen, während sie ihm das Hemd auszog, fragte er sie, was er noch tun solle. Sie flüsterte es ihm leise zu, und er umfasste ihre Brüste. Er spürte das rasende Klopfen ihres Herzens, hob Jenneth hoch und setzte sie auf die Bettkante, dann kniete er vor ihr nieder und streichelte sie. Schließlich zog er eine Hand langsam weg und küsste zärtlich ihre Brust. Als er aufsah, waren die ehrfürchtige Scheu und das Verlangen in
Jenneth' Blick so berauschend, dass seine Zärtlichkeit einem schmerzenden Begehren wich. "Und dies?" fragte er rau. "Soll ich dies auch tun, Jenneth?" Er nahm eine harte Spitze in den Mund, und Jenneth' Reaktion ließ ihn erschauern. Sie umklammerte seine Schultern, bog sich ihm entgegen und schrie leise auf vor Lust. "Nicht", sagte er heiser. "Du darfst keinen Lärm machen. Diesmal nicht..." Doch sie hörte ihn nicht wirklich. Sie bebte am ganzen Körper. Eine unkontrollierbare Sehnsucht pulsierte in ihr, und sie war blind vor Erregung. "Jenneth ...", flüsterte Luke stöhnend. Er dachte daran, wie er sie befriedigen wollte und warum er es nicht durfte. Es wäre so einfach, sie jetzt zu nehmen. Während er sie an sich drückte und hin- und hergerissen war zwischen seinem Verlangen und dem, was er tun musste, ging plötzlich die Tür auf. Angelica kam herein und sagte mürrisch: "Jenneth, ich kann Dad nicht finden. Ich habe Bauchweh ..." Sie blieb wie angewurzelt stehen und blickte mit großen Augen von ihrem Vater zu Jenneth. "Warum schmust du mit Jenneth?" fragte sie argwöhnisch. Das Gesicht an Lukes Hals gebettet, wurde Jenneth unvermittelt bewusst, dass sie nicht allein waren. Sie sah auf und versuchte, sich auf Angelica zu konzentrieren, aber Alkohol und Verwirrung trübten noch immer ihre Wahrnehmung. "Jenneth hat nichts an", sagte das kleine Mädchen vorwurfsvoll. Luke wusste, dass er das neugierige Kind niemals zum Schweigen bringen würde. Anstatt weiter gegen das Schicksal zu kämpfen, ergriff er die Gelegenheit, die sich ihm bot. "Jenneth und ich werden heiraten." Jenneth hörte es und blickte ihn starr an. In ihrem Traum fanden seltsame, unvorhergesehene Ereignisse statt, die sie noch mehr durcheinander brachten und nervös machten.
"Wird sie dann meine richtige Mutter?" fragte Angelica. Luke nickte, und sie stieß einen Freudenschrei aus. Er legte Jenneth hin und deckte sie zu. Sie protestierte, dass dies überhaupt nicht wie ihr Traum sei, aber er ignorierte es und sagte energisch zu Angelica: "Jenneth muss jetzt schlafen. Und ich will wissen, was du gegessen hast, mein Mädchen." Jenneth wachte mit heftigen Kopfschmerzen auf, die es ihr unmöglich machten, sich zu rühren. Noch schlimmer wurden sie durch das strahlende Sonnenlicht, das zum Fenster hereinschien. Stöhnend schloss sie die Augen wieder. "Wach auf, Jenneth!" hörte sie Angelica aufgeregt rufen. "Ich will mit dir darüber reden, dass du meine richtige Mutter wirst!" Es rief eine wirre Folge von Erinnerungen wach. Jenneth öffnete die Augen und setzte sich ohne Rücksicht auf ihre Kopfschmerzen kerzengerade auf. Im nächsten Moment wurde ihr klar, dass sie so gut wie nackt war, und sie glitt ebenso schnell wieder unter die Bettdecke, Schaudernd hoffte sie, dass keine der beunruhigenden Erinnerungen an die vergangene Nacht irgendetwas mit der Realität zu tun hatte. Jenneth wollte Angelica gerade erklären, wie unwahrscheinlich es sei, dass sie jemals ihre richtige Mutter werden würde, als sie die Tür aufgehen hörte. "Du sollst Jenneth doch nicht stören, Angelica!" "Aber sie ist jetzt wach!" protestierte das kleine Mädchen. Jenneth Wandte den Kopf und stöhnte. "Klassisches Katersymptom", sagte Luke fröhlich und kam herein. "Keine Sorge. Du wirst dich bald wieder wie ein Mensch fühlen." Die Zwillinge folgten Luke ins Zimmer. "Na? Wie geht es der zukünftigen Braut heute Morgen?" fragte Nick. Jenneth blickte verstört von ihrem breit lächelnden Bruder zu Luke, der keine Miene verzog. Gewisse Einzelheiten kamen Jenneth unvermittelt wieder ins Gedächtnis.
"Ich habe es als Erste gewusst!" verkündete Angelica wichtigtuerisch. "Weil ich hereingekommen bin und gesehen habe, wie Dad dich geküsst hat. Und du hast nichts angehabt, und Dad hat kein Hemd getragen ..." Jenneth schauderte vor Selbstekel. "Verschwindet alle zusammen!" rief sie heiser und zog sich die Bettdecke über den Kopf. Sie hörte Nick lachen und dann Kit sagen: "Jetzt ist es zu spät, Schwester ... Ich furchte, du musst Luke zu einem ehrbaren Mann machen. Er hat uns alles erklärt." Was hat er ihnen erklärt? fragte sie sich verbittert. Und warum in aller Welt hatte er Angelica gegenüber behauptet, sie werde ihre Mutter? Sie schob sich die Decke vom Gesicht und sah ihre Brüder argwöhnisch an. "Ihr heiratet!" rief Kit begeistert. Jenneth wollte ihm klarmachen, dass er sich irrte, doch Luke ließ sie nicht zu Wort kommen. "Ich habe es für das Beste gehalten, ihnen die gute Nachricht gleich mitzuteilen, Liebling. Besonders, da Angelica vor mir am Frühstückstisch gewesen ist. Als ich nach unten gekommen bin, hatte sie deine Brüder schon damit erfreut." Jenneth wusste, dass sie etwas sagen musste. Aber sie hatte rasende Kopfschmerzen und war einfach nicht im Stande, den Zwillingen zu erklären, dass Luke keinen Grund hatte, sie zu heiraten, auch wenn Angelica sie so gut wie nackt in seinen Armen vorgefunden hatte. Wütend, verzweifelt und verwirrt sah sie Luke an und erkannte, dass er nicht die Absicht hatte, ihr zu helfen. Eine Hand auf Angelicas Schulter, lächelte er Jenneth gelassen an. "Duschen, Frühstück und ein Rundgang durch den Garten, dann wirst du dich viel besser fühlen. Aber da es anscheinend dein erster Kater ist, werden wir dich zuerst ein bisschen verwöhnen und dir eine Tasse Tee bringen."
Er forderte die Zwillinge auf hinauszugehen und folgte ihnen mit Angelica. Jenneth blieb es überlassen, unglücklich über ihr dummes Benehmen zu grübeln. Sie wurde abwechselnd rot und blass, während sie sich nur allzu deutlich daran erinnerte, was sie gesagt und getan hatte. Eine Tasse Tee ... Jenneth nutzte die kurze Atempause, um in ihr Badezimmer zu gehen und die Tür hinter sich abzuschließen. Sie verstand nicht, warum Luke weiter so tat, als würden sie heiraten. Warum machte er der Farce nicht ein Ende? Die Situation ließ sich doch bestimmt anders erklären. Und wie? Soll Luke allen erzählen, dass du ihn verführt hast? fragte eine innere Stimme spöttisch. Jenneth lehnte sich deprimiert an die Badezimmertür. Wut und Demütigung ließen sie in Tränen ausbrechen. Wie hatte sie das nur tun können? Wie hatte sie sich so verraten können? Und warum hatte Luke es zugelassen? Warum hatte er sie nicht davon abgehalten? Er musste sich darüber im Klaren gewesen sein ... Er musste gewusst haben ... Er war zweifellos fähig gewesen, sie daran zu hindern. Also warum hatte er es nicht getan?
8. KAPITEL Trotz des großen viktorianischen Hauses und des großen Gartens war es außergewöhnlich schwierig, den anderen aus dem Weg zu gehen. Schließlich suchte Jenneth verbittert in ihrem Atelier Zuflucht. Und zum ersten Mal benutzte sie das Schild mit der Aufschrift "Zutritt verboten!", das ihr die Zwillinge vor einigen Jahren zu Weihnachten geschenkt hatten. Während sie es an die Tür hängte, bückte sie nervös über die Schulter. Sie fürchtete, die Zwillinge und Angelica könnten sie wieder aufgespürt haben und angelaufen kommen, bevor sie im Atelier verschwunden war. Hilflos wütete sie gegen Luke, der zweifellos für dieses ganze Fiasko verantwortlich war. Warum hatte er es überhaupt für nötig gehalten, sie in ihr Schlafzimmer zu begleiten? Jenneth zog die Hand von der alten Eichentür zurück, als hätte sie sich am Holz verbrannt. Rot vor Scham ging sie wieder hinein und schloss die Tür hinter sich. Im Geist sah sie vor sich, wie Luke sie hochhob und die Treppe hinauftrug. Sie wünschte, es wäre möglich, die Erinnerung daran auszulöschen. Ihr schauderte, und sie stieß einen leisen Klagelaut aus. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Sie wusste doch, dass sie mit Alkohol vorsichtig sein musste. Hektisch überlegte sie, ob sie vielleicht während der Dinnerparty irgendetwas Peinliches gesagt oder getan hatte. Aber in ihrem Gedächtnis war nur Lukes Ankunft haften geblieben.
Es war seine Schuld, dass sie so viel getrunken hatte. Sie hatte keine andere Möglichkeit gesehen, sich vor ihm zu retten. Schöne Rettung! dachte Jenneth selbstironisch. Noch immer verstand sie nicht, warum er angekündigt hatte, dass sie heiraten würden. Widerwillig erinnerte sie sich an Angelicas übersprudelnde Freude. Sobald sie nach unten gekommen war, hatte das Kind sie umarmt, aufgeregt über Hochzeiten und Brautjungfern geplappert und immer wieder davon gesprochen, dass es bald eine richtige Mutter haben würde. Die Zwillinge hatten sich auch gefreut. Verbittert kam Jenneth zu der Überzeugung, dass ihre Brüder erleichtert waren, die Verantwortung für sie auf Luke abladen zu können. Sie hörte eine Autotür zuschlagen und ging neugierig zum Fenster. Es gelang ihr nicht, rechtzeitig zurückzuweichen und sich zu verstecken. Ihre Besucherin hatte sie entdeckt und winkte begeistert. Jenneth seufzte. Meg Lawson war eine Plaudertasche und eine fast so große Klatschbase wie Laura Gosford, allerdings hatte ihr Interesse am Leben der Leute nichts Böswilliges. Sie war im Dorf beliebt und arbeitete unermüdlich für mehrere wohltätige Einrichtungen. Wahrscheinlich sammelte sie gerade wieder für eine von ihnen. Jenneth öffnete widerstrebend die Tür. Jetzt, da Meg sie gesehen hatte, konnte sie sich wohl kaum noch länger im Atelier verbarrikadieren. Meg strahlte sie an und blieb stehen, um Atem zu holen. Als Jenneth auf sie zuging, kamen plötzlich Luke und Angelica aus dem Haus. "Da ist sie, Dad!" rief Angelica triumphierend. Sie ließ Lukes Hand los und rannte zu Jenneth. "Ich habe gehört, dass Sie Gäste haben." Meg blickte von Jenneth zu Angelica und dann zu Luke, der seiner Tochter langsam folgte.
Jenneth hatte keine andere Wahl, als dazustehen und sich ein unglückliches Lächeln abzuringen. Meg fragte das kleine Mädchen nach seinem Namen, und Jenneth wandte ihre Aufmerksamkeit unwillkürlich Luke zu. Er lächelte sie an. Unter anderen Umständen hätte sie es vielleicht für ein mitleidiges Lächeln gehalten. "Und Jenneth wird meine neue Mutter, weil sie und Dad heiraten!" sagte Angelica stolz. Jenneth erstarrte und warf Luke einen Hilfe suchenden Blick zu, denn sie begriff sofort das volle Ausmaß der Katastrophe, die Angelica gerade ausgelöst hatte. Ihre Nachbarin sah begeistert aus. Eine so saftige Klatschgeschichte mit nach Hause nehmen zu können ist ja auch ein Grund zur Freude, dachte Jenneth bitter. "Jenneth, meine Liebe, wie aufregend!" schwärmte Meg. "Kennen Sie sich schon lange?" Luke antwortete ihr, jedoch nicht so, wie Jenneth gehofft hatte. Anstatt zu widerrufen, was Angelica gesagt hatte, legte er einen Arm um sie und den anderen um Jenneth und erwiderte betont locker: "Fast unser ganzes Leben lang." Und dann lächelte er sie an, und ihre Augen wurden groß. Ungläubig fragte sie sich, wie er es fertig brachte, sie so verliebt anzublicken. Obwohl es doch nur gespielt war, sah er aus, als wäre er völlig vernarrt in sie. Bevor sie ihn daran hindern konnte, nahm er ihre Hand, zog sie an die Lippen und küsste ihre Handfläche. Jenneth reagierte sofort heftig auf ihn. Ihr Herz schien zu rasen, Hitze durchflutete ihren Körper und stieg ihr ins Gesicht. "Ach wie romantisch!" Meg seufzte. "Wann soll denn die Hochzeit sein?" Wieder antwortete Luke. "So bald wie möglich. Tatsächlich wollen Jenneth und ich morgen den Pfarrer besuchen."
"Sie heiraten hier im Dorf? Das ist aber schön! Tja, ich will Sie nicht aufhalten. Sicher haben Sie viel zu tun ..." Jenneth bekam keine Gelegenheit, Lukes ungeheuerliche Lügen zu dementieren. Anscheinend hatte Meg Lawson vergessen, warum sie eigentlich gekommen war. Sie rannte fast zu ihrem Auto. Weil Angelica dabei war, beherrschte sich Jenneth mühsam. "Ist dir klar, dass bis zur Teestunde alle im Dorf wissen werden, was du ihr erzählt hast?" Luke zuckte lächelnd die Schultern. "Dann brauche ich keine Anzeige in die Lokalzeitung zu setzen. Da ich bald Ehemann sein werde, muss ich an diese kleinen Einsparmöglichkeiten denken." Du lieber Himmel, was wollte er ihr antun? Er sah die ganze Sache so gelassen. So gleichgültig. Nein. Nicht gleichgültig. Fassungslos wurde Jenneth bewusst, dass er sich benahm, als würde er sich freuen. Wie konnte sich Luke nur freuen? Er hatte ihr den Laufpass gegeben ... die Verlobung gelöst... Blindlings wandte sich Jenneth ab und flüchtete in ihr Atelier. Angelica blickte ihr wehmütig nach. "Geh zurück ins Haus, Angie", sagte Luke ruhig. "Ich möchte mit Jenneth reden." Dass er ihr gefolgt war, merkte Jenneth erst, als sie sich umdrehte und die Tür schließen wollte. Ihr Herz klopfte wie verrückt vor Wut und anderen hoffnungslosen und unerwünschten Gefühlen, die sie wieder in das erwartungsvolle junge Mädchen verwandelten, das sie früher einmal gewesen war. "Wie konntest du so etwas machen?" fragte sie bebend. "Warum hast du zu Meg Lawson gesagt, dass wir heiraten?" "Weil wir es tun", erwiderte Luke gelassen. Jenneth wollte widersprechen, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen.
"Hast du wirklich geglaubt, wir hätten nach der vergangenen Nacht noch eine andere Wahl?" fragte er grimmig. Es war, als hätte er eine schon empfindliche Stelle mit der Peitsche geschlagen. Der Schmerz war so heftig, dass Jenneth zusammenzuckte. "Das hätte erklärt werden können." Sie war unfähig, Luke anzusehen. "Ach ja? Wie?" fragte er scharf. "Ich hatte zu viel getrunken", sagte sie verzweifelt. "Und deshalb bist du nicht verantwortlich für das, was du getan hast? Wäre es dir wirklich lieber gewesen, wenn ich den Zwillingen die Erklärung gegeben hätte?" Sein Sarkasmus tat weh. Jenneth biss sich niedergeschlagen auf die Lippe. "Sie sind dir gegenüber sehr beschützerisch", sagte Luke ausdruckslos. "Und sie sind sehr stolz auf dich. Kannst du dir vorstellen, was ihnen die Wahrheit antun würde? Ihre Schwester hatte so viel getrunken, dass sie ..." "Nicht!" rief sie und schlug die Hände vors Gesicht. "Nicht." Ihr Stolz war gebrochen, und sie war schutzlos. Sie hasste Luke, weil er sie so sah. Sie hasste sich selbst, weil sie zuließ, dass er sie so sah. Schon zum zweiten Mal. Schaudernd dachte sie daran, wie sie die Fassung verloren hatte, als er ihr gesagt hatte, seine Freundin erwarte ein Kind von ihm. Ihr war übel, und es hatte nichts mit dem Alkohol zu tun. Sie fühlte sich vor Anspannung elend. "Meinst du im Ernst, ich hatte eine andere Wahl?" fragte Luke vernichtend. "Ich muss an Angelica denken. Es ist nicht einfach für einen Mann, allein eine Tochter großzuziehen. Meine ist sehr verwundbar und leicht zu beeinflussen, was es besonders schwierig macht. Wie Kit und Nick neigt Angelica dazu, dich aufs Podest zu erheben ..." "Mich?" Jenneth ließ die Hände sinken und blickte Luke ungläubig an.
"Seit wir hier sind, kommt in jedem Satz von ihr ,Jenneth sagt...' vor." "Und wer ist dafür verantwortlich?" fragte Jenneth scharf. Sie ärgerte sich darüber, dass er ihr noch mehr Schuldgefühle machte. "Ich habe dich nicht eingeladen, hier einzuziehen." "Nein", sagte er gleichgültig. "Aber die Zwillinge haben es getan, und in gewisser Hinsicht ist ihre Verletzlichkeit ebenso groß wie Angelicas." Er beobachtete Jenneth, während er seine Worte wirken ließ. Jenneth wusste, dass er Recht hatte. Wenn er die Einladung abgelehnt hätte, wären die Zwillinge gekränkt gewesen und hätten sich zurückgewiesen gefühlt. "Der berühmte Amateurpsychologe, stimmt's?" Es machte sie wütend, dass er amüsiert sein konnte, während sie nur Verzweiflung und Qual empfand. "Also? Was schlägst du vor?" fragte sie grimmig. "Wir müssen ihnen irgendwie erklären; dass wir nicht heiraten." Ein langes Schweigen folgte. "Nicht unbedingt", meinte Luke schließlich vorsichtig. Er ging zum Fenster und blickte in den Garten. "Ich denke, es wäre sehr gut, wenn wir wirklich heiraten würden." "Wie bitte?" Jenneth traute ihren Ohren nicht. "Was soll das, Luke?" fragte sie steif. "Du hast vor acht Jahren unmissverständlich klargemacht, dass du mich nicht als Ehefrau willst." "Das war vor acht Jahren." Er drehte sich um. "Ich weiß nicht, was für ein Spiel du mit mir treibst...", begann Jenneth schwach. "Kein Spiel", unterbrach er sie. "Wir heiraten, verstanden?" Heiraten ... Sein Blick ließ sie starr werden. "Du hattest das von Anfang an vor, stimmt's? Aber warum? Du willst mich nicht, auch wenn Angelica mich gern als ihre ..." Jenneth wurde blass. "Jetzt begreife ich! Deshalb! Du heiratest mich, weil sich Angelica eine Mutter wünscht. Nein, Luke. Das tue ich nicht!"
sagte sie verzweifelt, so von der gerade gewonnenen Erkenntnis in Anspruch genommen, dass sie nicht bemerkte, wie niedergeschlagen er aussah. "Du wirst es tun", erwiderte er kurz angebunden. "Du hast keine andere Wahl. Überleg doch mal, Jenneth. Wir sind zu weit gegangen und können jetzt nicht mehr zurück. Alle Dorfbewohner wissen, dass ich hier bei dir wohne. Und wahrscheinlich haben sie schon alle möglichen Schlussfolgerungen gezogen. Gestern hat im Postamt eine Frau hinter mir in der Schlange ihrer Freundin zugeflüstert, ich sei der Mann, der bei dir im Haus lebe. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Freunde der Zwillinge anfangen, anzügliche Bemerkungen über unsere Beziehung zu machen. Das wird ihnen nicht gefallen, stimmt's? Durch dein Verhalten hast du ihnen einen bestimmten Moralkodex vermittelt. Auch wenn er nicht zeitgemäß sein mag, würden es beide nicht gut aufnehmen, andere darüber reden zu hören, dass wir nur eine flüchtige Affäre haben. Und wir müssen an Angelica denken. Sie hat sich emotional schon eng an dich angeschlossen." Luke sah Jenneth an und sagte dann leise: "Sie braucht dich in ihrem Leben." Jenneth hasste ihn dafür, dass er ihr das antat. Was ist mit meinen Bedürfnissen? hätte sie ihn am liebsten angeschrien. Hatte sie nicht das Recht, einen Mann zu heiraten, der sie liebte? Der sie um ihrer selbst willen und nicht nur als Mutter für seine Tochter wollte? Sie machte einen letzten verzweifelten Versuch, ihre Freiheit zu behalten. "Ich will dich nicht heiraten, Luke. Ich habe einen anderen ... mehrere andere ..." "Lüg mich nicht an", sagte er spöttisch. "Wir beide wissen, dass Klatsch über uns beide die Zwillinge gerade deswegen verletzen würde, weil du niemals Liebhaber gehabt hast." Er schwieg einen Moment lang und ließ seine Worte wirken. Der Schock war so heftig, dass Jenneth kreidebleich wurde und schwankte.
Luke streckte die Hand aus, um ihr zu helfen, aber sie wehrte ihn völlig verstört ab. "Ich würde lieber nicht daran denken, inwieweit ich die Verantwortung dafür trage, doch das lässt mein Gewissen nicht zu. Jenneth..." Sie wurde starr vor Entsetzen. Wenn er mich jetzt anfasst, sterbe ich! dachte sie. Gerade als er nach ihr griff, ging die Tür auf. Kit kam herein, sah sie beide zusammen und lächelte breit. "Hier bist du! Louise ist am Telefon. Ich habe ihr gesagt, dass ihr heiratet. Du sollst sofort kommen und mit ihr sprechen ..." Das darf einfach nicht wahr sein! dachte Jenneth todunglücklich. Es würde sich alles als ein grauenhafter Albtraum erweisen. Es musste. Die Vorstellung, Luke zu heiraten ... tatsächlich Seine Frau zu werden ... Er berührte ihren Arm, und sie zuckte zusammen. "Jenneth ruft sie zurück." Nachdem Kit gegangen war, sagte Luke leise: "Es wird nicht so schlimm sein, Jenneth, ich verspreche es dir." Bevor sie ihn daran hindern konnte, zog er sie an sich, hielt sie so sanft wie ein Kind und wiegte sie tröstend in den Armen. Und während sie vor Entsetzen und Angst am ganzen Körper zitterte, flüsterte er immer wieder, alles werde gut werden und sie solle sich keine Sorgen machen. Danach wurde Jenneth von einer lähmenden Resignation überwältigt, die so weit ging, dass sie die Glückwünsche der Leute vage lächelnd entgegennahm, anstatt die Nachricht über ihre Heirat zu dementieren. Jenneth war so apathisch, dass sie nicht einmal darüber erschrocken war, wie schnell Luke heiraten wollte. Sie sagte nur Nein, als er ankündigte, sie würden in der Kirche heiraten. "Doch!" Sie versuchte zu widersprechen, aber er setzte sich über ihre Proteste hinweg. Es überraschte sie, wie heftig er reagierte,
umso mehr, da sie wusste, dass er und seine erste Frau standesamtlich getraut worden waren. Es war, als hätten sich alle ihr nahe stehenden Menschen gegen sie verschworen und wollten die Wahrheit einfach nicht erkennen. Sogar Eleanor stürzte sich voller Begeisterung und Elan in die Hochzeitsvorbereitungen und war taub gegenüber ihren Beteuerungen, sie könne Luke nicht heiraten. "Du liebst ihn", tat Eleanor ihre Klagen energisch ab. Sie meinte wohl, das genüge. Jenneth wusste, dass es nicht genügte. Sie hatte das Gefühl, dass die ganze Welt uneins mit ihr war und sich nichts daran ändern würde, ganz gleich, was sie sagte oder tat. Sie wollte vernünftig mit Luke reden, aber sie sah ihn fast nie. Er hatte seine neue Stelle im Krankenhaus angetreten und schien zwanzig Stunden am Tag zu arbeiten. Ihre Arbeit, aus der sie früher Trost geschöpft hatte, richtete sich wie ein Verräter gegen sie. Eines Tages stellte Jenneth fest, dass sie Lukes Gesichtszüge auf ein Wandgemälde für einen Auftraggeber gemalt hatte. Sie legte den Pinsel hin und räumte verzweifelt ein, dass es keinen Ausweg gab. Das lag nicht so sehr an Luke als vielmehr an ihr selbst. Sie saß in der Falle, weil sie anderen nicht wehtun konnte, besonders nicht einem so verletzlichen Kind wie Lukes Tochter. Angelica war begeistert, dass sie ihre Mutter wurde. Strahlend vor Glück folgte sie ihr wie ihr eigener Schatten und redete pausenlos über die Hochzeit. Jenneth brachte es einfach nicht fertig, das Glück des kleinen Mädchens zu zerstören. Am meisten überwältigte sie, dass niemand, nicht einmal Louise, überrascht war, dass sie und Luke heirateten. Louises Mutter hatte sie angerufen und gesagt, die ganze Familie sei entzückt. Sie wollten alle zur Hochzeit kommen, und Jenneth geriet in Panik. So weit hatte sie überhaupt nicht gedacht. Sie hatte sich nur gewünscht, eines Morgens aufzuwachen und
festzustellen, dass die ganze Sache nur ein Albtraum gewesen war. Eleanor versicherte ihr gelassen, sie habe alles unter Kontrolle. "Du brauchst nichts weiter zu tun, als dir ein Brautkleid zu kaufen." Ein Brautkleid! Früher einmal hatte Jenneth von dem Kleid geträumt, das sie tragen würde, wenn sie Luke heiratete. Jetzt schauderte sie allein bei dem Gedanken daran. Ein so großer Aufwand, nur weil Luke anmaßend entschieden hatte, dass sie eine gute Ersatzmutter für Angelica abgeben würde! Warum musste sie diese Farce durchstehen, die das Heilige und Besondere einer kirchlichen Trauung zerstörte? Jenneth wollte ihn eben das fragen, aber sie war niemals allein mit ihm. Und so bekam sie auch keine Gelegenheit, ihm all die Gründe zu nennen, warum sie nicht heiraten konnten. Sie dachte an den demütigenden Moment, als er gesagt hatte, er wisse, dass sie keine Liebhaber gehabt habe. Jetzt war es zu spät, sich über dieses Versäumnis zu ärgern. Unbehaglich überlegte sie, was für eine Ehe Luke wohl führen wollte. Sei nicht albern! tat sie ihre Befürchtungen sofort ab. Er begehrte sie nicht, das war offensichtlich. Und eine Erleichterung. Wenn sie ihn schon heiraten musste, war es unbedingt nötig, einen letzten Rest Selbstachtung zu behalten. Und sie würde keine mehr haben, wenn Luke mit ihr schlafen wollte. Sie hatte bereits gelernt, dass ihre Selbstbeherrschung den Gefühlen nicht gewachsen war, die sie verhexten, sobald er sie berührte. Ihr schauderte, und sie versuchte, die aufsteigende Panik zu ignorieren. Nur noch zwei Tage. Jenneth hatte kein Brautkleid gekauft. Eleanor hatte sich bemüht, sie zu überreden, doch sie war hart geblieben. Kein Brautkleid, kein Brautschmuck, nichts. "In was willst du dann heiraten?" hatte Eleanor gefragt. Jenneth hatte die Schultern gezuckt und bitter erwidert: "In Sack und Asche zu gehen ist wohl am passendsten."
Ihre Freundin war einfach darüber hinweggegangen. Ebenso beachteten alle anderen ihre Versuche nicht, ihnen klarzumachen, wie wenig sie diese Heirat wollte. Luke und sie würden weiter in dem Haus wohnen, das ihr, Kit und Nick gemeinsam gehörte. Er würde die Zwillinge auszahlen. Das Geld sollte für sie angelegt werden. Während er das mit ihnen besprach, hatte er ihnen versichert, sie könnten das Haus trotzdem immer als ihr Heim betrachten. Wie er es gesagt hatte, war für Jenneth so verletzend gewesen, dass ihr vor Schmerz die Tränen gekommen waren. Wenn Luke so viel Rücksicht auf die Gefühle der Zwillinge nahm, wie konnte, er dann ihre nur so missachten? Warum ignorierte er dann bewusst grausam ihr Bedürfnis, erlöst zu werden von dieser abscheulichen Parodie auf alles, was eine Heirat sein sollte? Warum? Weil ihm ihre Gefühle gleichgültig waren. Er brauchte sie als Mutter für Angelica. Alles andere interessierte ihn nicht. Jenneth wusste, wie sehr er seine Tochter liebte. Sie beneidete das kleine Mädchen um diese Liebe und empfand dabei dieselbe Qual wie damals, als sie ihn an Angelicas Mutter verloren hatte. Angelica erwähnte ihre Mutter niemals. Sie war bei ihrem Tod wohl noch zu klein gewesen, um sich wirklich an sie zu erinnern. Und Luke sprach selten mit ihr über seine verstorbene Frau. Das überraschte Jenneth, denn ihr kam es fast so vor, als wollte er, dass Angelica ihre Mutter vergaß. Weil er seine kostbaren Erinnerungen nicht teilen wollte? Das passte nicht zu der Sensibilität, die er anderen Menschen gegenüber zeigte. Nur mir gegenüber nicht, dachte Jenneth verbittert. Das Telefon klingelte. Sie ignorierte es und ging tiefer in den Garten. Sie versteckte sich vor der Welt. In Wirklichkeit sehnte sie sich danach, sich vor Luke verstecken zu können.
Gerettet zu werden. Das wünschte sie sich. Aber außer in ihren Träumen war eine Rettung unmöglich.
9. KAPITEL "Wach auf, Jenneth! Es ist ein wunderschöner sonniger Tag, und Tante Eleanor hat dir ein besonderes Frühstück gemacht..." Resigniert öffnete Jenneth die Augen. Selbst jetzt, am schlimmsten Tag ihres Lebens, war sie unfähig, Angelica die Freude zu verderben. Es war wirklich ein schöner Morgen. Der Himmel war wolkenlos blau, und der milchige Dunstschleier am Horizont kündigte Hitze an. Eleanor war über Nacht geblieben. Sie hatte in den vergangenen Tagen einen organisatorischen Kraftakt vollbracht, der Jenneth den Atem geraubt hatte. Ihre Freundin stellte das Frühstückstablett ab, auf dem ein Glas frisch ausgepresster Orangensaft und ein Teller mit Toastscheiben standen, eine Schale Cornflakes, eine Flasche Champagner und eine Vase mit Rosen aus dem Garten, die noch taunass waren und moschusartig dufteten. "Die Rosen sind von Dad", erzählte Angelica aufgeregt. "Wir haben sie heute Morgen zusammen gepflückt. Er kann dich ja erst in der Kirche sehen, und sie sollen dir sagen, dass er an dich denkt." Jenneth blickte die Blumen starr an und blinzelte Tränen weg. Schon einmal hatte ihr Luke taufrische Rosen gepflückt. An dem Morgen, nachdem er ihr den Heiratsantrag gemacht hatte.
Sie waren ihr von ihrer Mutter zusammen mit einem besonderen Frühstück nach oben gebracht worden. Wie anders es an diesem Tag war ... "Der ist auch von Luke." Eleanor zeigte auf den Champagner und lachte leise. "Aber du darfst nur ein einziges Glas trinken. Ich hatte den Eindruck, dass Luke ihn dir am liebsten selbst gebracht hätte." Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, glaubte sie, dass Luke viel mehr im Sinn gehabt hatte, als Champagner zu trinken. Wie kommt es, dass bei Hochzeiten sogar normalerweise vernünftige Menschen nicht mehr logisch denken können? fragte sich Jenneth müde. Eleanor wusste, dass Luke ihre Freundin nicht liebte, und trotzdem stand sie naiv lächelnd da und deutete an, er sei ein feuriger, ungeduldiger Liebhaber und müsse davon abgehalten werden, in ihr Schlafzimmer einzudringen und leidenschaftlich mit ihr zu schlafen. Geräusche aus dem Garten rissen Jenneth aus ihren Gedanken. "Was ist das?" fragte sie argwöhnisch. "Ach, das sind nur die Leute, die das Zelt aufbauen", erwiderte Eleanor so gleichgültig, als wäre die Sache nicht der Rede wert. Aber Jenneth hatte ihr ausdrücklich gesagt, sie wolle keinen aufwendigen Empfang. Sie sehe keinen Sinn darin, ein Ereignis zu feiern, das in Wirklichkeit eine Entweihung all dessen sei, was es sein sollte. "Welches Zelt?" brauste sie auf. Sie sprang aus dem Bett und rannte zum Fenster. Draußen auf dem Rasen war das gestreifte Zelt schon fast fertig aufgebaut. Jenneth warf Eleanor einen anklagenden Blick zu. "Die Leute müssen etwas zu essen bekommen", erklärte Eleanor. "Besonders diejenigen, die einen weiten Weg haben." Louise und George, Louises Eltern und zwei alte Tanten von Luke kamen zur Hochzeit.
"Jenneth, was ist denn?" fragte Angelica besorgt. "Dir gefällt das Zelt doch, stimmt's? Ich habe die Farbe ausgesucht. Sie passt zu ..." Angelica verstummte, wurde rot und biss sich auf die Lippe, als Eleanor warnend den Kopf schüttelte. Überwältigt von tiefen Schuldgefühlen, bemerkte Jenneth nicht, was zwischen den beiden vorging. "Natürlich gefällt es mir", log sie. "Es ist eine wundervolle Überraschung." Eleanor verbarg ihre Belustigung und ihr Mitleid, indem sie Jenneth energisch drängte, zurück ins Bett zu gehen und zu frühstücken. Schließlich gab Jenneth nach, trank den Saft und aß eine halbe Scheibe Toast. Die Trauung würde um drei Uhr stattfinden. Luke hatte in Eleanors Haus geschlafen und sich damit an den Brauch gehalten, nach dem Braut und Bräutigam die Nacht vor der Hochzeit nicht unter demselben Dach verbringen sollten. Unten klingelte es. "Oh, das sind die Leute vom Partyservice", sagte Eleanor unbefangen, "Partyservice?" fragte Jenneth misstrauisch. "Welcher Partyservice?" Aber es war schon zu spät. Eleanor eilte bereits hinaus. Jenneth hatte das Gefühl, von der Strömung eines Flusses mitgerissen zu werden, ob sie es wollte oder nicht. Der Vormittag verging erstaunlich schnell. So gut wie eingekerkert und bewacht von Angelica, kochte Jenneth oben in ihrem Schlafzimmer vor Wut, während es unten ununterbrochen klingelte. Als Eleanor angeboten hatte, die Hochzeit zu organisieren, hatte Jenneth teilnahmslos zugestimmt. Sie hätte es sich niemals träumen lassen, dass so etwas dabei herauskommen würde! Wann immer sie verkündete, sie würde jetzt aufstehen, erschien wie durch ein Wunder ihre Freundin und bestand darauf, dass sie im Bett blieb.
Um zwölf verkündete Eleanor, sie würde gleich jemand mit dem Mittagessen nach oben schicken. "Solange es nicht Luke ist", sagte Jenneth bitter, was Angelica aus irgendeinem Grund so lustig fand, dass sie einen Lachkrampf bekam. Um halb eins ging die Tür auf. "Was, noch immer im Bett? Du bist ja noch schlimmer, als ich es war!" Jenneth blickte völlig verblüfft Louise an, die eine große Pappschachtel trug. "Ich wette, du hast schon gefürchtet, ich würde es vielleicht nicht schaffen." Louise legte lachend die Schachtel auf den Boden. "Aber hier sind wir, heil und gesund." Sie sah Angelica an. "Deins ist in deinem Zimmer, Schatz. Ab mit dir! Eleanor wird dir damit helfen, während Jenneth und ich über Frauengeheimnisse reden ..." Jenneth betrachtete argwöhnisch ihre Freundin und dann die Pappschachtel. Plötzlich quälte sie eine böse Vorahnung. "Was ist da drin?" fragte sie schwach. Louise zog die Augenbrauen hoch. "Dein Kleid natürlich. Ich muss sagen, ich bin ein bisschen überrascht gewesen, als Luke angerufen und mir gesagt hat, welches du möchtest, aber er hat mir erklärt, wie viel du zu tun hast. Ist das Wandgemälde inzwischen fertig?" Welches Wandgemälde? Louise kniete sich hin und nahm den Deckel der Schachtel ab. "Es müsste perfekt sitzen. Ich habe noch nie im Leben ein so romantisches Brautkleid gesehen wie dieses ..." Jenneth blickte starr auf den Rücken ihrer Freundin, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Als hätte ihr ein sechster Sinn verraten, was los war, drehte sich Louise um. "He, komm schon", sagte sie leise. Sie richtete sich auf, ging zum Bett und umarmte Jenneth. "Ich weiß, wie du dich fühlst: Dir ist die Kehle wie zugeschnürt vor Aufregung,
und du bist seelisch so aus dem Gleichgewicht, wie es normalerweise nur Teenager sind." Jenneth schüttelte den Kopf. "Ich will Luke nicht heiraten", flüsterte sie heiser. "Ich kann ihn nicht heiraten!" Zu ihrem Entsetzen lachte Louise nur. "Sei doch nicht albern", schalt sie. "Selbstverständlich willst du Luke heiraten. Du liebst ihn, und er liebt dich." Nein, tut er nicht! wollte Jenneth sagen, aber in diesem Moment klopfte jemand an die Tür. "Das wird unser Mittagessen sein." Louise lächelte ihre Freundin beruhigend an und stand auf. Zwei Stunden später ging Jenneth mit Nick zu ihrer Rechten und Kit zu ihrer Linken den Gang entlang zum Altar, unfähig, auch nur im Entferntesten zu glauben, was mit ihr geschah. Sie trug das unmöglich schöne Brautkleid aus Seide und Spitze, das Luke anscheinend für sie ausgesucht hatte. In der kleinen Dorfkirche war jede Bankreihe voll besetzt. Überall waren Blumen, deren Duft die Luft erfüllte. Hinter Jenneth ging Angelica, strahlend vor Freude und stolz auf ihre Rolle als einzige Brautjungfer. Dir aprikosenfarbenes Kleid passte perfekt zu ihrem dunklen Haar. Der Gottesdienst war schlicht und eindrucksvoll. Als Luke ihr den Ring an den Finger steckte, dachte Jenneth einen Moment lang, ihm würde die Hand ebenso zittern wie ihr. Aber sie hatte kaum Zeit, die Beobachtung zu erfassen, und vergaß sie wieder, sobald die Orgelmusik anschwoll und die Glocken zu läuten begannen. Die Ereignisse nach der Trauung nahm Jenneth nur verschwommen war. Auf dem Empfang war sie wie eine Marionette, deren Bewegungen von anderen diktiert wurden. Ihr blieben lediglich bekannte Gesichter und Gesprächsfetzen in Erinnerung. Willenlos ließ sie Reden, Glückwünsche, Umarmungen und Küsse über sich ergehen. Und dann berührte Eleanor ihren Arm und sagte, es sei Zeit, dass sie sich umziehe.
Sie hatte sich in eine Fremde verwandelt... Lukes Frau. Seltsam. Früher einmal hatte sie sich danach gesehnt, den Mantel der Ehe zu tragen, jetzt scheuerte er ihre Haut wund und tat weh. Widerspruchslos ließ sie sich nach oben führen. Ihr Schlafzimmer war aufgeräumt. Louise und Angelica warteten schon auf sie. Auf dem Bett stand ein unbekannter kleiner Koffer. Eleanor ließ den Deckel zuschnappen. "Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas vergessen haben. Luke hat nicht verraten, wohin er mit dir fährt, aber er hat uns gesagt, was wir einpacken sollen." Louise forderte Jenneth auf, sich umzudrehen, und öffnete den Reißverschluss des Brautkleides. Ein hübsches schwarzweißes Seidenkleid hing an der Kleiderschranktür. Louise ignorierte Jenneth' Proteste, zog ihr BH und Slip aus und reichte ihr einen seidenen Body, dessen Schnitt und Stil so aufreizend waren, dass Jenneth sofort sagte: "Den kann ich nicht tragen!" "Entweder den oder nichts", erwiderte Louise fröhlich. Weil es viel einfacher war nachzugeben, zog Jenneth den Body an und dann das Kleid. In aller Eile wurde sie nach unten geführt, wo Luke auf sie wartete, gelassen und irgendwie sehr einschüchternd. Während sie zum Auto gingen, geriet Jenneth in Panik. Sie drehte sich um und sagte schnell: "Angelica ... die Zwillinge ..." "Alles erledigt", versicherte ihr Luke. "Eleanor bleibt hier und passt auf. Wir werden nicht lange weg sein." Jenneth schauderte sichtlich. Es würde auf jeden Fall zu lange sein. Warum tat Luke das? Weil sein Stolz es verlangte? Damit es nicht hieß, er habe sie nur Angelicas wegen geheiratet? Weil es von ihm erwartet wurde? Zu erschöpft, um sich dafür zu interessieren, ärgerte sich Jenneth nur darüber, dass es sein musste.
Irgendwie saß sie plötzlich auf dem Beifahrersitz, und sie fuhren los. Zu spät wurde ihr klar, dass sie sich nach hinten hätte setzen sollen. Dort hätte sie zumindest ein bisschen Ruhe und Zeit gehabt, um sich mit ihrer neuen Rolle abzufinden. Sie fühlte sich wie zerschlagen und brachte nicht die Energie auf, Luke zu fragen, wohin sie fuhren und - wichtiger noch warum sie überhaupt verreisten. Wenn schon die Hochzeit eine Farce gewesen war, dann waren es diese unnötigen Flitterwochen umso mehr. Einige Meilen außerhalb des Dorfes hielt Luke an. Jenneth saß apathisch da und blickte erst zur Seite, als sie hörte, dass er den Sicherheitsgurt löste. Er zog ein vertrautes, mit Leder überzogenes Etui aus der Innentasche seiner Jacke und öffnete es. Jenneth blieb fast das Herz stehen. Auf dem Samt lag der Verlobungsring, den Luke ihr damals geschenkt hatte. Sie hatte ihn zurückgeschickt, weil sie nicht im Stande gewesen war, den Anblick zu ertragen. Wie hatte Luke ihn nur behalten können? Und, noch schlimmer, wie konnte er ihn nur jetzt hervorholen? Er musste doch wissen, was er ihr antat, wenn er ihr den Ring zeigte, den sie einmal für ein Symbol ihrer Liebe gehalten hatte. Offensichtlich wusste er es nicht, denn er nahm ihre Hand und sagte langsam: "Der Ring sollte wieder dorthin, wo er hingehört, meinst du nicht auch?" Als er ihn ihr an den Finger steckte, wollte Jenneth ihn ohrfeigen, ihn anschreien und den Ring abziehen und wegschleudern. Aber sie wusste, dass sie sich dem Schmerz nicht hingeben durfte, den sie in diesem Moment fühlte. Dann würde sie völlig die Beherrschung verlieren. Sie wurde starr vor Abscheu und Verbitterung. "Nimm ihn weg!" sagte sie scharf. "Ich werde ihn nicht tragen!" Luke sah sie an. Ein Nerv zuckte an seiner Schläfe. "Jenneth.".." "Nimm ihn weg!"
"Nein", sagte er kurz angebunden und ließ den Motor an. Jenneth wollte den Ring loswerden, aber sie schaffte es einfach nicht. Je heftiger sie zerrte, desto mehr schwoll der Finger an, und am Ende musste sie sich bebend vor Wut geschlagen geben. Danach sprachen sie kein Wort mehr. Sie fuhren nach Nordwesten, in die Yorkshire Dales. Am frühen Abend bog Luke am Ende eines kleinen malerischen Dorfs von der Hauptstraße in einen schmalen Feldweg ab. Auf einem Schild stand: "Overdale House". Das Haus lag hinter Rhododendronbüschen versteckt. Im Tal unterhalb des Wegs schlängelte sich ein Fluss durch die Landschaft. Schließlich kam das Haus in Sicht, und es sah aus, als würden seine Mauern die Farbe der untergehenden Sonne absorbieren. Es war in ein gedämpftes rosafarbenes Licht getaucht. Ein idyllischer Platz für ein Hotel, dachte Jenneth. Sie vermutete, dass es früher einmal ein Privathaus gewesen war. Gartenanlagen mit ausgedehnten Rasenflächen fielen sanft ab ins Tal und luden zu Spaziergängen ein. Sobald Luke anhielt und ausstieg, wurde die Eingangstür geöffnet, und ein Mann kam aufs Auto zu. "Mr. Rathby? Ihre Suite ist bereit, Sir. Soll ich Ihr Gepäck nach oben bringen?" Jenneth war beeindruckt. Wenn Gäste so aufmerksam behandelt und mit Namen begrüßt wurden, hatte das Hotel wahrscheinlich nur wenige Zimmer. Es sah aus, als wäre es nicht nur diskret, sondern auch sehr teuer. Wie hatte Luke davon erfahren? Und warum hatte er es ausgewählt? Es strahlte Frieden und Ruhe aus. Hier würden sie ungestört sein, und sie hatte geglaubt, dass Luke das am meisten vermeiden wollte. Dies ist ein Hotel für Liebespaare, dachte sie bitter und ignorierte ihn, als er die Hand ausstreckte, um ihr aus dem Auto zu helfen. Innen war das Haus ebenso schön wie von außen, und unter anderen Umständen hätte Jenneth die elegante und dennoch
behagliche Atmosphäre der holzgetäfelten Halle zu schätzen gewusst. Eine freundliche Empfangsdame hieß sie beide willkommen. "Leider haben wir keinen Fahrstuhl", sagte sie entschuldigend. "Ihre Suite ist im zweiten Stock." Die Treppe führte auf eine ehemalige Spielmannsgalerie, doch Jenneth achtete kaum auf die historischen Details. Sie betrachtete nur flüchtig das große Fenster. Es war in Blei gefasst, und die Buntglasscheiben zeigten verschiedene Wappenschilder. Normalerweise wäre sie fasziniert gewesen, aber sie war so angespannt, dass sie für nichts Interesse hatte. Als Luke ihr etwas über die Geschichte des Hauses zu erzählen begann, sah Jenneth absichtlich weg. Sie war fest entschlossen, ihn zu ignorieren. Er hatte bekommen, was er wollte: eine Mutter für Angelica. Es war Jenneth unerklärlich, warum er eine Hochzeitsreise für nötig gehalten hatte. Beide würden sie durchs Fegefeuer gehen. Er, weil ihn diese Farce an seine erste Heirat, seine erste Frau und seine ersten Flitterwochen erinnern musste. Sie, weil ihr noch deutlicher gemacht wurde, dass er sie nicht liebte. Nur sechs Türen gingen vom Flur im zweiten Stock ab. Luke blieb vor einer von ihnen stehen, schloss auf und ließ Jenneth den Vortritt. Der Raum war im Zeitstil des Hauses eingerichtet. Eine Suite, hatte die junge Frau an der Rezeption gesagt, und Jenneth hatte sich ein kleines, langweiliges Wohn- und zwei Schlafzimmer vorgestellt. Stattdessen stand sie jetzt in einem großen, eleganten Salon mit zwei bequemen Sofas, einem Sekretär, einem Schrank, in dem vermutlich ein Fernsehgerät untergebracht war, und einem ovalen Esstisch für vier Personen. Bei den Stoffen waren die Farben Blau und Gelb vorherrschend. Sonnenlicht schien durch die offene Balkontür. Es klopfte, und Luke ließ einen Mann herein, der ihre Koffer brachte.
"Soll ich sie ins Schlafzimmer stellen, Sir?" Luke nickte. Erst nachdem er dem Mann ein Trinkgeld gegeben und die Tür geschlossen hatte, wurde Jenneth bewusst, was "ins Schlafzimmer" möglicherweise bedeutete. "Duschen und. dann Abendessen, denke ich. Es sei denn, du möchtest dir zuerst die Hotelanlage ansehen ...", sagte Luke höflich. Jenneth blickte ihn unsicher an. Sie musste es falsch verstanden haben. Er hatte bestimmt nicht nur ein Schlafzimmer bestellt. Ihre Panik war unnötig. "Ich werde auspacken gehen. Wie lange bleiben wir?" "Leider nur zwei Tage. Ich kann mir im Moment nicht lange freinehmen, Ein Kollege im Krankenhaus hat mir dieses Hotel empfohlen. Der Küchenchef soll fantastisch sein, und die Auswahl an Freizeitbeschäftigungen ist groß: Reiten, Angeln, Tennis, Wandern und Golf. Ich dachte, wir essen heute Abend hier oben. Dann können wir uns beide in Ruhe an unseren neuen Familienstand gewöhnen." Er lächelte sie ein bisschen verlegen an. Es zerriss ihr das Herz und ließ sie glauben, dass er tatsächlich so zu tun wagte, als wäre dies ebenso neu für ihn wie für sie. Und deshalb sagte sie scharf: "Du musst dich ja wohl nicht erst groß an etwas gewöhnen. Schließlich hast du nicht zum ersten Mal geheiratet." Jenneth wandte Luke den Rücken zu und blinzelte die Tränen weg, die sie zu verraten drohten. Was war nur in sie gefahren? Warum hatte sie so eine dumme Bemerkung gemacht? "Jenneth..." Sie erstarrte, als sie seine Hände auf den Schultern spürte. Schnell ging sie von ihm weg. "Ich werde auspacken", sagte sie kühl. Auf halbem Weg zu der Tür, die der Zimmerservice hinter sich wieder geschlossen hatte, blieb sie unschlüssig stehen und drehte sich zu Luke um. "Welches ist mein Zimmer?" Ein Schweigen folgte.
Luke sah sie nachdenklich an, bevor er ruhig erwiderte: "Normalerweise teilen sich Braut und Bräutigam in der Hochzeitsnacht ein Zimmer." "Du hast eine Suite mit nur einem Schlafzimmer reserviert?" fragte sie ungläubig. Dann flüsterte sie: "Warum? Aus Konvention? Schließlich wissen wir doch beide, dass du ..." Unerklärlicherweise brachte sie die entscheidenden Worte nicht heraus. Warum war es so schwer, die Wahrheit auszusprechen? Luke hatte anscheinend kein Problem damit. "Was wissen wir beide, Jenneth? Was wolltest du sagen? Dass ich dich nicht begehre?" Er kam langsam auf sie zu und blickte sie grüblerisch an. "Kannst du wirklich so blind sein?" Im nächsten Moment war er bei ihr und zog sie an sich, bevor sie ihn daran hindern konnte. Während er sie küsste, ließ er die Hände schnell und ungeduldig über ihren Körper gleiten. Luke presste sie an sich, und Jenneth spürte seine Erregung. Sie erregte ihn? Unmöglich. Aber der Beweis war da. "Wir vergessen Auspacken und Abendessen, ja?" flüsterte er an ihrem Mund. Sie bekam keine Gelegenheit, den Vorschlag abzulehnen. Luke hob sie hoch, trug sie ins Schlafzimmer und stieß mit dem Fuß die Tür hinter sich zu. Es war in denselben Farben wie der Salon eingerichtet. Schwere Stores hielten das Sonnenlicht ab. In der Luft hing der Geruch der Blüten, Kräuter und Gewürze in einem Dufttopf. Sobald Luke sie aufs Bett legte, wollte Jenneth ihn auffordern, sie in Ruhe zu lassen. Aber sie konnte nicht, weil er sie ungestüm, fast wild küsste. Er hatte völlig die Beherrschung verloren, und seine Stimme klang rau und fremd, als er ihr immer wieder sagte, er begehre sie, er sehne sich nach ihr und brauche sie so sehr.
Es gelang ihr nicht, ihn davon abzuhalten, den Reißverschluss ihres Kleides zu öffnen, und es ihr von den Schultern zu schieben. Luke berührte ihre Brüste, und Jenneth erschauerte erwartungsvoll, denn sie erinnerte sich an die Lust, die er ihr schon bereitet hatte. Dies war verrückt. Unmöglich und völlig verkehrt. Aber während sie sich bemühte, an dem Wissen festzuhalten, durchfluteten sie unkontrollierbare Empfindungen. Ihr Körper verriet sie, obwohl sie verzweifelt zu leugnen versuchte, was mit ihr geschah. Unwillkürlich bog sie sich seinen Händen entgegen. Es war falsch. Wie konnte es falsch sein, wenn es sich doch so richtig anfühlte? Wenn sie sich doch so sehr nach Luke sehnte? Er begehrte sie so, wie sie es sich immer erträumt hatte. Hatte sie nicht das Recht, sich zu nehmen, was ihr angeboten wurde? "Fass mich an, Jenneth. Ich will deine Hände spüren ... deinen Mund ...", flüsterte Luke drängend. Berauscht von seinem Verlangen und ihrem eigenen, tat sie sofort, was er forderte. Er hatte das Jackett schon abgelegt, und sie knöpfte ungeduldig sein Hemd auf. Sie kam nicht weit, denn er fing an, ihren Hals zu liebkosen und mit den Daumen rhythmisch ihre Brustspitzen zu Streichern, so dass sie unter der dünnen Seide des Bodys hart wurden. Luke setzte sich auf und zog Jenneth mit hoch. Er blickte sie unverwandt an, während er sich schnell von seinen Sachen befreite. Sie spürte, dass ihr ein Träger von der Schulter gerutscht war. Bevor sie ihn wieder hochschieben konnte, hatte Luke die entblößte Brustspitze gesehen. Er berührte sie, und dann nahm er sie in den Mund. Jenneth war nicht vorbereitet auf die heftige Leidenschaft, die es in ihr weckte. Die Empfindungen waren so stark, dass sie aufstöhnte. Der Laut ließ Luke fast rasend werden. Jenneth hatte
ihn früher schon begehrt und sexuelles Verlangen kennen gelernt. Aber dies ... Sie hatte niemals so etwas erlebt und hätte niemals erwartet, ihn auch von Verlangen überwältigt zu sehen. Fast zwanghaft küsste er sie überall. Er streichelte, erforschte und erregte sie, bis sie nicht einmal mehr daran dachte, ihm zu widerstehen. Während er langsam den Body hinunterschob, folgte Luke der Bewegung seiner Hände mit dem Mund. Schließlich liebkoste er mit der Zunge ihren Bauch, und Jenneth wand sich verzweifelt auf dem Bett. Aller Hemmungen und Selbstbeherrschung beraubt, rief sie aus, sie könne nicht länger ertragen, was er mit ihr mache. Sie werde vor Verlangen vergehen. Ihre Bitten hielten ihn jedoch nicht auf. Als sie nackt und wehrlos dalag und ihn mit großen Augen ansah, nahm Luke ihre Hände und sagte ihr, wie sie ihn berühren sollte. Sein Blick verriet dasselbe schmerzliche Verlangen, das Luke ihr angesehen haben musste. Er erschauerte und bebte, während sie ihn eifrig streichelte und mit dem Mund liebkoste. Unvermittelt umfasste Luke ihre Hüften, ließ eine Hand tiefer gleiten und begann sie zu erforschen, bis Jenneth es vor Sehnsucht nach ihm nicht mehr aushalten konnte. Sie musste ihn fühlen, brauchte es so dringend, dass nichts anderes eine Rolle spielte. Dann spürte sie ihn und schluchzte auf vor Erleichterung. Sie passte sich ihm an, so dass der Schmerz schnell verging und sie ihn so besitzen konnte, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Ungestüme Leidenschaft trieb sie beide immer weiter, bis Jenneth aufschrie. Luke bewegte sich ein letztes Mal, und die Lust wurde so groß, dass Jenneth nicht recht glauben konnte, was mit ihr geschah. Entzückt hörte sie ihn aufstöhnen, und beide erschauerten durch den Widerhall der Empfindungen. "Jenneth ..." Widerwillig öffnete sie die Augen und blickte Luke an.
"Du weißt doch, warum ich dich geheiratet habe, stimmt's?" fragte er rau. Sofort wurde ihr bewusst, was sie getan hatte. Es war, als würde sich ihr Herz in Eis verwandeln. "Ja", sagte sie kurz angebunden. Bevor sie sich noch weiter verraten konnte, wandte sie Luke den Rücken zu. "Was gerade passiert ist, musste ja wohl sein. Ohne das wäre unsere Ehe nicht gültig, richtig? Aber ich möchte klarstellen, dass es nie wieder vorkommen wird!" Luke bewegte sich, und sie hatte Angst, er würde sie berühren. Er musste doch wissen, dass sie es nur aus Stolz sagte. Sie konnte verstehen, warum er es für nötig gehalten hatte, ihr die Frage zu stellen. Nachdem sie so zügellos auf ihn reagiert hatte, fürchtete er wahrscheinlich, dass sie seine Beweggründe missverstanden hatte. Für Männer war es anders. Sie empfanden sexuelles Verlangen auch ohne emotionale Bindung. Vermutlich würde er mich sogar ganz gern benutzen, wenn ihm danach ist! dachte Jenneth bitter. Nur sollte sie dabei niemals vergessen, dass er nicht daran interessiert war, sich gefühlsmäßig mit ihr einzulassen. "Jenneth..." "Ich möchte nicht darüber sprechen, Luke! Du hast mich in diese Ehe gedrängt. Ich wollte sie nicht, und ich will sie noch immer nicht!" An wen hatte er gedacht, während er sie genommen hatte? An Angelicas Mutter? Ihr Stolz hielt Jenneth davon ab, ihn das zu fragen. "Du wolltest mit mir schlafen", erinnerte Luke sie. Er hörte sich an, als hätte sie ihm wehgetan oder ihn beleidigt. Als würde es ihm auch schwer fallen, sich zu beherrschen. Aber das war unmöglich. "Ich bin fast dreißig Jahre alt", sagte sie und versuchte, sich von dem zu distanzieren, was sie fühlte und was sie tun musste. "Du hast mich erregt, ich habe reagiert." Sie ging mit einem Schulterzucken darüber hinweg. "Das bedeutet nicht, dass ich es
noch einmal erleben möchte. Es wäre wohl besser, wenn du dir ein anderes Zimmer nehmen würdest." "Ich verstehe ... Wenn du so darüber denkst ..." "Ja, das tue ich", log Jenneth kurz angebunden.
10. KAPITEL Sie lebten seit sechs Wochen zusammen. Jenneth hatte den Kampf um getrennte Schlafzimmer nicht gewonnen. Kühl hatte Luke sie darauf hingewiesen, dass die Zwillinge und Angelica dann Fragen stellen würden. Er hielt jedoch strikt sein Versprechen, sie nicht anzurühren. Er hatte es ihr am ersten Abend ihrer Flitterwochen gegeben. Jenneth hatte zu ihm gesagt, sie würde eher auf dem Hotelparkplatz schlafen, als das Bett mit ihm zu teilen. Er hatte ihre Forderung, eine Ehe ohne Sex zu führen, sofort akzeptiert. Was nach Jenneth' Meinung nur bestätigte, dass sein vorher gezeigtes Begehren nicht wirklich ihr gegolten hatte. Eines Morgens ging sie nach oben, um Angelica zu wecken. Das kleine Mädchen war schon wach und klagte, es fühle sich nicht wohl. Jenneth erwischte Luke gerade noch, bevor er das Haus verließ. Sie teilte ihm die Symptome mit, und er sagte stirnrunzelnd, er werde nach oben gehen und sich Angelica ansehen. Besorgt wartete Jenneth unten auf sein Urteil. Wenn er erst einmal fort war, würde er nicht vor dem späten Abend zurückkehren. Den Zwillingen und Angelica hatten sie es damit erklärt, dass er im Krankenhaus sehr viel zu tun habe. Jenneth hoffte verzweifelt, die glückliche Ehefrau zumindest noch so
lange überzeugend spielen zu können, bis die Zwillinge ihr Studium begannen. "Ihr scheint nichts zu fehlen", meinte Luke, als er wieder nach unten kam. Jenneth bemerkte, dass er müde aussah. Älter. Weil er bereute, was er getan hatte? "Wahrscheinlich sind es nur die Nachwirkungen von zu viel Aufregung und Eiscreme gestern auf der Geburtstagsparty." Er lächelte sie an, und Jenneth hätte sein Lächeln fast erwidert. Sie unterdrückte die Regung und drehte sich schnell um. Sie durfte niemals vergessen, warum er sie geheiratet hatte, oder sich zu der Annahme verleiten lassen, dass die Entfremdung zwischen ihnen der Grund dafür war, dass er manchmal so traurig aussah. Die Zwillinge waren schon sehr früh weggefahren. Sie wollten einige Tage mit Freunden zelten. Deshalb war es nicht notwendig, das übliche morgendliche Theater aufzuführen und sich mit einem Kuss auf die Wange liebevoll von Luke zu verabschieden. "Jenneth..." Es klang so resigniert, dass sie stehen blieb und ihr Entschluss ins Wanken geriet, ihn möglichst kühl und emotionslos zu behandeln. Aber dann klingelte das Telefon, und während sie abnehmen ging, hörte sie, wie die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel. Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, sah sie nach Angelica. Das kleine Mädchen war lustlos und reizbar, krank schien es jedoch nicht zu sein. Jenneth überredete es, sich anzuziehen und mit ihr in den Garten zu gehen, weil sie meinte, frische Luft würde dem Kind gut tun. Am Mittag fühlte sich Angelica schlechter und nicht besser. Jenneth "packte sie ins Auto und fuhr mit ihr zum ortsansässigen Arzt. Wahrscheinlich machte sie sich unnötig Sorgen, aber sie wollte sich vergewissern, dass es nichts Ernstes war.
Dr. Hartwell hatte den Zwillingen durch alle Kinderkrankheiten geholfen. Jenneth schilderte ihm Angelicas Symptome und wartete darauf, dass er sie freundlich als völlig belanglos abtun würde. Stattdessen runzelte er die Stirn und fragte, wo Angelica in letzter Zeit gewesen sei und mit wem. Nachdem er das kleine Mädchen untersucht hatte, sagte er leise zu Jenneth: "Ich bin mir nicht sicher, es besteht jedoch die Möglichkeit, dass es Meningitis ist. In der Gemeinde ist es zu einem kleinen Ausbruch der Krankheit gekommen ..." Er sah, wie erschrocken Jenneth war, und versuchte schnell, sie zu beruhigen. "Wenn es Meningitis ist, dann in einem sehr frühen Stadium. Ich möchte Angelica ins Krankenhaus einweisen, damit einige Tests durchgeführt werden können. Es wird das ,York Memorial' sein. Ich rufe jetzt sofort an." "Luke ... Ihr Vater arbeitet dort", sagte Jenneth zittrig. "Er ist der Chefarzt." . "Können Sie sie hinbringen?" fragte Dr. Hartwell. Sie nickte. Elend vor Angst, betrachtete sie Angelicas gerötetes kleines Gesicht. Sie hatte angeregt, dass Angelica mit anderen Kindern ihres Alters zusammen sein sollte. Sie hatte im Dorf herumgefragt und dafür gesorgt, dass Angelica zu einigen Geburtstagspartys eingeladen wurde. Während Dr. Hartwell telefonierte, stellte sich Jenneth vor, wie Luke darauf reagieren würde, dass sie der Verantwortung für sein Kind nicht nachgekommen war. "Ihr Mann ist der Chefarzt, sagten Sie ... Möchten Sie, dass er verständigt wird?" Jenneth schüttelte den Kopf. Das musste sie selbst tun. Sie versicherte Dr. Hartwell, dass sie die Fahrt zum Krankenhaus bewältigen würde. Er gab ihr eine Wolldecke, und Jenneth machte es Angelica auf dem Rücksitz so bequem wie möglich.
Zwei Mal während der Fahrt nach York musste sich Angelica übergeben, und als endlich das "Memorial" in Sicht kam, hatte Jenneth vor Angst feuchte Hände und Kopfschmerzen. Sie dankte dem Schicksal, dass sie durch ihre Arbeit an dem Wandgemälde genau wusste, an welcher Seite des Gebäudes der Eingang zur Kinderstation lag. Sobald sie hineinging, wurde sie jedoch von einer Schwester angehalten, die ihr Angelica abnahm. "Tut mir Leid. Sie muss erst einmal isoliert werden, bis wir einige Tests durchgeführt haben und genau wissen, was los ist." Angelica öffnete die Augen und sagte heiser: "Mein Kopf tut weh. Ich will zu meinem Dad. Ich will zu Jenneth ..." Die Krankenschwester blickte über die Schulter und lächelte Jenneth beruhigend an. "Herzzerreißend, stimmt's? Aber keine Sorge. Wir kümmern uns gut um sie." Sie ging auf eine Tür zu, an der stand: "Zutritt verboten". Jenneth lief verzweifelt hinter der Schwester her. "Kann ich mitgehen? Ich hatte noch keine Zeit, Angelica zu erklären, warum sie ins Krankenhaus muss." "Nicht jetzt. Es würde uns nur aufhalten. Sie können sie sehen, nachdem wir die Tests durchgeführt haben. Versuchen Sie, ruhig zu bleiben. Ich weiß, dass es nicht einfach ist. Ich habe selbst zwei. Wenn Sie den linken Flur entlanggehen, kommen Sie zu einem Warteraum." Jenneth drückte Angelicas Hand. "Du wirst bald wieder gesund sein." Das kleine Mädchen schien es nicht zu hören. Die Schwester drückte die Pendeltür auf und verschwand. Jenneth blieb noch einen Moment lang stehen, dann ging sie blindlings den Flur entlang. Sie bog mehrere Male ab und hatte irgendwann das Gefühl, schon meilenweit gelaufen zu sein. Den von der Schwester erwähnten Warteraum fand sie nicht. Sie bog um die nächste Ecke und sah, dass der Flur mit einer Doppeltür endete, auf der "Privat" stand.
Während Jenneth apathisch dastand, ging die Tür plötzlich auf, und Luke kam zusammen mit zwei anderen Männern heraus. Er sprach mit einem von ihnen, verstummte jedoch, als er Jenneth sah. "Jenneth?" fragte er scharf. Sie blickte ihn verständnislos an, und er eilte zu ihr und legte ihr die Hände auf die Schultern. "Jenneth, was ist passiert?" Er hatte schon viel zu oft mit Menschen zu tun gehabt, die einen Schock hatten, und erkannte die Symptome sofort. "Einer der .Zwillinge?" Sie schüttelte den Kopf. Lukes Berührung gab ihr Kraft, und sie war dankbar, dass er da war. "Angelica", sagte sie zittrig. Sie spürte, wie der Druck seiner Finger stärker wurde. "Ihr ist es immer schlechter gegangen. Ich bin in der Mittagszeit mit ihr zur Praxis gefahren. Dr. Hartwell meint, es könnte Meningitis sein. Sie wollen einige Tests machen ..." "O nein!" rief Luke entsetzt. Unwillkürlich hob sie die Hand und berührte ihn tröstend. "Dr. Hartwell hat gesagt, wenn es Meningitis sei, dann in einem frühen Stadium." Die beiden Männer standen noch immer am Ende des Flurs. Jetzt kam der ältere zu ihnen. "Luke, ich gehe jetzt sowieso auf die Station. Ich werde feststellen, was los ist." Der Arzt war unfähig, sein Mitleid zu verbergen. Das machte Jenneth mehr Angst als alles andere. Ihr Herz fing an zu hämmern vor Panik. Es hatte sie irgendwie beruhigt, dass sich Dr. Hartwell und die Schwester auf der Kinderstation nicht aus der Fassung hatten bringen lassen. Anscheinend war Dr. Hartwell doch der Ansicht gewesen, Angelica sei nicht schwer krank. Deshalb hatte Jenneth daran glauben können, dass alles gut werden würde. Aber jetzt sah sie Luke und seinem Kollegen an, wie schlimm es möglicherweise war. "Die Henderson-Operation, Sir ... Wollen Sie sie absagen?" fragte der jüngere Mann respektvoll.
Luke ließ Jenneth los und blickte auf seine Hände. Sie zitterten kaum merklich. "Nein, wir dürfen nicht warten", erwiderte er dann kurz angebunden. "Sein Zustand ist so schon kritisch genug. Wenn wir nicht heute operieren, könnte sein Blutdruck fallen. Es würde vielleicht Tage dauern, ihn wieder hochzubekommen. Tage, die Mr. Henderson sich nicht leisten kann. Geben Sie mir fünf Minuten." Die beiden Männer gingen davon, und Luke umfasste Jenneth' Arme. "Ich weiß, dass ich dich nicht erst bitten muss, bei Angelica zu bleiben", sagte er heiser. "Ich möchte auch in ihrer Nähe sein, doch ich kann nicht. Noch nicht." "Ich darf zu ihr, wenn sie mit den Tests fertig sind. Ich habe nach einem Warteraum gesucht." Sie runzelte verwirrt die Stirn. "Stattdessen habe ich dich gefunden ..." Der Schock riss die Schranken aus Verbitterung und Qual ein. Tränen traten ihr in die Augen, und sie legte den Kopf an Lukes Schulter. "Es ist meine Schuld. Wahrscheinlich hat sie sich die Krankheit auf der Geburtstagsparty geholt. O Luke, es tut mir so Leid!" "Nicht... Gib nicht dir die Schuld, Jenneth." Es war unglaublich, aber er zog sie an sich und streichelte ihr tröstend das Haar. "Ich muss gehen ..." Er ließ sie widerstrebend los. "Ich zeige dir den Weg zurück zur Kinderstation. Dieses Gebäude ist wie ein Labyrinth." Jenneth hatte keine Ahnung, wie lange sie in dem Warteraum saß. Er hatte keine Fenster, und sie verlor jedes Zeitgefühl. Sie empfand nur ein lähmendes Gefühl der Nutzlosigkeit, weil sie nichts für Angelica tun konnte, außer um ihre Genesung zu beten. Als die Schwester sie schließlich abholen kam, wollte Jenneth aufstehen und schaffte es nicht. "Ist schon in Ordnung", hörte sie die Schwester wie aus weiter Ferne sagen. "Bleiben Sie einen Moment lang ganz still sitzen. Sie sind ohnmächtig geworden. Es wird gleich besser."
"Angelica ...", flüsterte Jenneth verzweifelt. "Wie ...?" "Ihrer Tochter geht es bald wieder gut", versicherte ihr die Schwester herzlich. "Wir sind fast sicher, dass es nicht Meningitis ist. Entweder hatte sie eine schlimme Lebensmittelvergiftung, oder sie hat etwas gegessen, gegen das sie allergisch ist. Hat sie irgendwelche Nahrungsmittelallergien?" Jenneth runzelte die Stirn. Der Schwindel verschwand, doch jetzt fühlte sie sich vor Erleichterung benommen. "Soweit ich weiß, nicht." Die andere Frau warf ihr einen seltsamen Blick zu. Jenneth bemerkte es nicht. "Wann kann ich Angelica mit nach Hause nehmen?" "Nicht sofort. Wir würden sie gern über Nacht hier behalten, nur um ganz sicherzugehen. Wenn Sie wollen, können Sie sie jetzt besuchen." Wenn sie wollte ... Angelica war ganz allein in einem Zimmer mit mehreren Betten. Sie sah erschreckend klein und zart aus. "Mir geht's jetzt viel besser." Sie lächelte schwach. Jenneth setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. "Wäre es möglich, meinen Mann wissen zu lassen, dass sie bald wieder ganz gesund ist?" "Während er operiert, darf er nicht gestört werden, aber ich denke, Dr. Clarke wird ihm eine Nachricht 'durchpiepsen'." Um sechs Uhr stand endgültig fest, dass Angelica tatsächlich eine schlimme Lebensmittelvergiftung gehabt hatte. "Was wahrscheinlich bedeutet, dass sie nicht das einzige Opfer ist", sagte die Schwester seufzend zu Jenneth. "Wir behalten sie trotzdem über Nacht hier. Nur vorsichtshalber." "Kann ich bleiben?" fragte Jenneth bittend. Die Schwester zögerte. Dann drehte sie sich zur Tür um. "O Dr. Rathby, Sie wollen Ihre kleine Tochter sehen. Es geht ihr
jetzt viel besser. Sie schläft. Ihre Frau hat gerade gefragt, ob sie bleiben könne." Luke war all seiner Vitalität beraubt. Nicht einmal die Nachricht über Angelica schien ihn zu interessieren. Unwillkürlich stand Jenneth auf und ging zu ihm. Besorgt berührte sie flüchtig seine Hand. "Was ist los?" fragte sie und blickte ängstlich Angelica an. Wusste er mehr als die Schwester? Hatte man ihm die Wahrheit gesagt? "Es ist nicht Angelica", erwiderte er kurz angebunden. Die Schwester war taktvoll zur anderen Seite des Raums gegangen. "Was ist es dann?" drängte Jenneth. Luke sah sie an, und sie erkannte, dass er völlig verzweifelt war. Und plötzlich wusste sie Bescheid. "Die Operation ..." "Ist gut verlaufen, aber mein Patient ist gestorben. Sein Herz hat die Belastung einfach nicht ausgehalten. Noch nicht einmal vierzig Jahre alt. Verdammt!" brauste Luke auf. "Ich habe gerade mit seiner Frau sprechen müssen." Jenneth blickte von der friedlich schlafenden Angelica zu Luke und traf eine Entscheidung, die auf Liebe und Mitgefühl gegründet war. "Ich bringe dich nach Hause", sagte sie energisch. "Komm mit." An der Tür drehte sie sich um. "Wenn Angelica aufwacht und nach uns fragt..." "Ich glaube, sie wird bis morgen früh durchschlafen." Die Schwester lächelte beruhigend. "Und wenn nicht, sorgen wir schon dafür, dass es ihr gut geht." Jenneth ließ ihr Auto stehen und nahm Lukes. Es erschreckte sie mehr, als sie es ihm zeigen wollte, wie deprimiert er zusammengesunken auf dem Beifahrersitz saß. Zu Hause angekommen, führte sie ihn ins Wohnzimmer und machte Feuer im Kamin. Es war nicht kalt, doch die Flammen boten einen Trost, den Luke jetzt brauchte.
Während er auf dem Sofa saß und starr ins Feuer blickte, machte Jenneth in der Küche ein Omelett, das groß genug für sie beide war. Anstatt Kaffee zu kochen, wie sie es vorgehabt hatte, nahm sie spontan eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank. Sie lud alles auf einen Servierwagen und schob ihn ins Wohnzimmer, wo sie Luke genau so vorfand, wie sie ihn zurückgelassen hatte: in sich zusammengesunken und regungslos. Er wandte den Kopf und verzog das Gesicht, als er den Servierwagen sah. "Ich möchte nichts." "Ich auch nicht", erwiderte Jenneth ruhig, "aber ich esse jetzt etwas, und du tust es ebenfalls." Er lächelte kaum merklich, und seine Augen funkelten flüchtig. "Willst du mich dazu zwingen?" "Wenn es nötig ist", sagte sie kühl und ignorierte, dass sein Blick ihr Herz schneller klopfen ließ. War es nicht. Luke nahm seinen Teller und aß das Omelett. Dann deutete er auf die Weinflasche. "Wem soll der gut tun? Dir oder mir?" fragte er sarkastisch. "Mir", gab Jenneth offen zu, während Luke ihnen einschenkte. "Ich glaube nicht, dass ich noch einmal so einen Tag wie heute durchstehen könnte." Luke hatte viel mehr durchgemacht als sie. Er hatte einen Patienten verloren, den er operiert hatte, während ihm bewusst gewesen war, dass seine Tochter möglicherweise lebensgefährlich erkrankt war. Intuitiv wusste Jenneth plötzlich, dass Luke ein Mann war, der seine Bedürfnisse hinter diejenigen anderer Menschen zurückstellte. "Ich hatte solche Angst", gestand sie. "Ich liebe Angelica von ganzem Herzen, aber sie ist dein Kind, und ..." "Nein, ist sie nicht." Ein langes Schweigen folgte. Luke trank auf einen Zug seinen Wein aus und stellte das Glas auf den Servierwagen, dann blickte er starr vor sich hin.
"Was sagst du da?" fragte Jenneth zittrig. "Angelica ..." "Ist nicht meine Tochter." Luke stand schwerfällig auf. "O verdammt, so wollte ich dir das nicht mitteilen. Ich hatte alles geplant: Flitterwochen, wir beide ganz für uns allein, ein ruhiges Abendessen, bei dem wir uns entspannen und über die Vergangenheit sprechen können ... Doch alles ist anders gekommen. In dem Moment, als ich dich berührt habe und mir dein verwunderter Blick verraten hat, dass du nicht glaubst, was mit mir passiert, habe ich die ganze Sache vermasselt. Plötzlich war nur noch Wichtig, dich in meinen Armen zu halten und mit dir zu schlafen. Das habe ich auch vermasselt, stimmt's? Während ich hingerissen war vor Freude darüber, dass wir endlich zusammen sein konnten, warst du alles andere als begeistert. Du willst meine Liebe überhaupt nicht..." "Deine Liebe?" Jenneth stand auf. "Du hast mir niemals deine Liebe geschenkt, Luke. Ich habe nur deinen Körper bekommen. Dein Verlangen. Ich weiß, dass du mich nur geheiratet hast, weil du eine Mutter für Angelica wolltest." "Was?" Luke sah Jenneth ungläubig an. "Was zum Teufel redest du denn da? Dass ich dich geheiratet habe, hat doch nichts mit Angelica zu tun. Ich habe dich geheiratet, weil ich dich liebe, und das weißt du. Ich habe dich gefragt, nachdem wir miteinander geschlafen hatten, und du hast Ja gesagt." Jenneth blickte ihn starr an. "Aber ich dachte ..." Sie biss sich auf die Lippe. "Du kannst mich nicht lieben, Luke", flüsterte sie unsicher. "Du hast mir den Laufpass gegeben, weil du dich in deine spätere Frau verliebt hattest..." "Nein!" brauste er auf. Er nahm Jenneth' Hand und legte sie an sein heftig schlagendes Herz. "Fühlt sich das an, als würde ich dich nicht lieben?" fragte er scharf. Und dann zog er Jenneth fest an sich, ließ sie seine Erregung spüren und beobachtete, wie sie rot wurde. "Und das?" fragte er grimmig. "O Jenneth, du Dummchen. Natürlich liebe ich dich. Ich habe dich immer geliebt. Warum habe ich wohl so die Beherrschung verloren?"
Jenneth konnte ihn nicht ansehen. "Ich wusste nicht ... Ich dachte..." "Du dachtest, es sei immer so?" spottete er. "Na ja, ist es wohl, wenn sich ein Mann so nach einer Frau sehnt, wie ich mich nach dir sehne. Und das eine Mal mit dir hat nicht genügt. Ich bin seitdem jede Nacht aufgewacht vor Verlangen nach dir." "Du hast unsere Verlobung gelöst und eine andere Frau geheiratet!" "Ich weiß. Komm, wir setzen uns, und ich erzähle dir alles." Zögernd setzte sich Jenneth. Seine Liebeserklärung passte nicht mit dem zusammen, was in der Vergangenheit geschehen war, und das verunsicherte sie. "Angelica ist das Kind meines Vaters. In dem Sommer, in dem wir uns verlobt haben, hatte er eine Affäre mit einer seiner Patientinnen." Jenneth rang schockiert nach Atem. "Ja, mein Vater war ein sehr schwacher und zügelloser Mann", sagte Luke und verzog das Gesicht. "Ich habe ihn weder gern gehabt noch respektiert, aber meine Mutter hat ihn abgöttisch geliebt. Er war das Fundament ihrer ganzen Welt. Als er zu mir kam und mir erzählte, er habe eine Patientin geschwängert - ein junges Mädchen, deren Eltern drohen würden, die Sache publik zu machen -, konnte ich nur daran denken, was das für meine Mutter bedeuten würde. Mein Vater hatte vorher schon Affären gehabt, und meiner Mutter war es jedes Mal gelungen, an ihrem Stolz und Glauben festzuhalten. Aber damals war sie stärker gewesen und noch nicht so krank. Ich wusste, es würde sie umbringen, wenn bekannt werden würde, was mein Vater getan hatte. Er wusste es auch, doch er wollte sich selbst und nicht sie schützen. Bevor er zu mir kam, hatte er vergeblich versucht, das Mädchen zu einer Abtreibung zu überreden. Die Eltern waren sehr religiös und konservativ. Ihre Tochter sollte einen Mann und das Enkelkind einen Vater haben. Irgendeinen", sagte Luke
bitter. "Mein Vater bat mich zu helfen. Ich erklärte ihm, ich würde dich lieben und sei mit dir verlobt. Und selbst wenn ich frei wäre, würde Gwen wohl kaum einwilligen, mich zu heiraten. Doch ich irrte mich. Sie war sehr gefügig und für ihr Alter sehr naiv. Trotz des Drängens meines Vaters hatte sie sich geweigert, abtreiben zu lassen, und das hatte sie all ihre Kraft gekostet. Als ich ihr zum ersten Mal begegnete, war sie ängstlich und niedergeschlagen. Gwens Eltern drohten, meinen Vater bloßzustellen, meine Mutter starb langsam vor meinen Augen und hatte höchstens noch zwölf Monate zu leben ... Sie hatte es nicht verdient, in diesen zwölf Monaten ein Trauma durchzumachen. Ich saß in der Falle, und es gab keinen Ausweg ..." Luke nahm Jenneth' Hand und betrachtete ihre Handfläche, unfähig, Jenneth' Blick zu erwidern. "Ich habe wie ein idealistischer Dummkopf gehandelt und es bitter bereut. Gwen war eine Last, die ich nicht tragen wollte. Ich habe meiner Mutter zuliebe mein Glück geopfert. Das war meine Entscheidung und ein Leid, das ich mir selbst zugefügt habe. Aber ich habe auch dein Glück geopfert, Jenneth, und dazu hatte ich kein Recht. Ich war jung und zu überheblich und dachte, ich wüsste, was das Beste sei. Ich habe Gwen geheiratet und bin mit ihr in die Vereinigten Staaten gegangen. Du würdest mich bald vergessen und einen anderen finden, habe ich mir gesagt und mich in so viel Selbstmitleid ergangen, dass ich fast darin ertrunken bin. Meinen Vater hatte ich schwören lassen, meiner Mutter zur Seite zu stehen und ihr die letzten Monate so schön wie möglich zu machen. Sie hatte meine Begründung für die Heirat mit Gwen anscheinend akzeptiert, doch manchmal habe ich mich später gefragt ... Wahrscheinlich dachte sie, ich sei Gwen sexuell verfallen und müsse die Konsequenzen tragen. Den
wahren Grund für die Hochzeit ahnte sie ganz sicher nicht, aber sie wüsste, dass ich dich liebe. Was ich getan habe, war verrückt. Hinterher habe ich eingesehen, dass ich mich an die Gesundheitsbehörde hätte wenden sollen. Dort hätte ich von Leuten Hilfe bekommen, die besser mit so einer Situation umgehen können. Sobald Gwen klar wurde, dass ich nicht der Fels in der Brandung war, an den sie sich klammern konnte, dass ich achtzehn Stunden am Tag arbeitete, um dich zu vergessen, und unsere Ehe getrennte Schlafzimmer und getrennte Leben bedeutete, sah sie sich nach einem anderen Mann um, an den sie sich klammern konnte. Und sie fand einen. Angelica war achtzehn Monate alt, als Gwen sagte, sie wolle mich verlassen. Ich war erleichtert. Meine Mutter war inzwischen gestorben, und ich dachte sofort daran, zurück nach England zu gehen und dir alles zu erzählen. Aber dann kam Gwen bei einem Autounfall ums Leben, und als ich schließlich zurückkehrte, musste ich feststellen, dass ich dir gleichgültig bin und du andere Interessen ... andere Männer hast." Luke verzog den Mund. Voller Mitleid und Reue dachte Jenneth an jene Weihnachten, als sie Luke so unerwartet wieder gesehen hatte und er sie scheinbar mit seinem Kind, dem Beweis seiner Liebe zu einer anderen Frau, verhöhnt hatte. "Ich war eifersüchtig", gab sie zu. "Ich wollte dich und Angelica hassen, doch ich konnte es nicht." Ihr fehlten die Worte, um ihm zu sagen, wie ihr ums Herz war. Was er getan hatte, war so charakteristisch für ihn. Wenn sie älter und erfahrener gewesen wäre, hätte sie wohl geahnt, dass irgendetwas an der Sache nicht stimmte. "Du hättest es mir erklären können." Es klang nicht vorwurfsvoll, aber ihr Blick verriet, wie viel Leid sie durchgemacht hatte. Luke schüttelte den Kopf. "Nicht ohne dich zu bitten, auf mich zu warten und dich etwas versprechen zu lassen, auf das ich kein Anrecht hatte. Ich wollte dich richtig freigeben,
Jenneth. Oder zumindest habe ich mir eingeredet, dass ich es wollte. Ich habe egoistisch nur mich selbst bemitleidet. Wir haben beide unsere Wunden, und ich muss immer daran denken, dass ich dir deine zugefügt habe, während ich mir meine selbst beigebracht habe. Ich dachte, du würdest mich vergessen und einen anderen finden." "Ich konnte nicht", sagte Jenneth leise. "Hast du meinetwegen mit keinem Mann geschlafen?" Die Frage klang anmaßend, doch Jenneth spürte Lukes tiefe Not und Qual. "Ja", gestand sie. "Ich wollte, dass du mein Liebhaber bist. Nur du." Er erschauerte und sagte rau: "In jenem Jahr, als wir beide Weihnachten bei Louises Eltern verbracht haben, war ich in der verzweifelten Hoffnung nach Little Compton gekommen, dich irgendwie zurückgewinnen zu können. Aber du hattest kein Interesse an mir und anscheinend Beziehungen zu anderen Männern. Es war, als wäre mir der Todesstoß versetzt worden. Ich habe mir gesagt, ich hätte kein Recht, eifersüchtig zu sein und dich zu kritisieren, und dann habe ich erkannt, dass es mit meinem Edelmut nicht weit her war. Ich habe es gehasst, dich verloren zu haben, und Höllenqualen gelitten. Und selbst danach konnte ich mich nicht davon abhalten, Louise und ihre Eltern ständig auszufragen und jede kleine Information über dich zu sammeln. Obwohl ich Karriere gemacht hatte, kam es mir so vor, als wäre alles in meinem Leben schief gegangen. Ich hatte die Frau verloren, die ich liebte, und ich fühlte mich für Gwens Tod verantwortlich. Wenn sie mich nicht geheiratet hätte ..." "Wir haben alle einen freien Willen", erinnerte Jenneth ihn liebevoll. Luke zog ihre Hand an die Lippen und küsste sie. "Ja, aber ich habe dir das Recht genommen, deinen zu benutzen, als ich unsere Verlobung gelöst habe, ohne dir die Wahrheit zu sagen. Ich konnte mich nicht damit abfinden, dich verloren zu haben. Schließlich habe ich der Verlockung nachgegeben und den Job
in York angenommen. Ein letzter verzweifelter Versuch, zurück in dein Leben zu kommen. Und dann habe ich unter Louises Balkon gestanden und dich sagen hören, dass du mich noch immer liebst. Du hast jedoch so gequält und verbittert geklungen, dass ich nicht einfach nach oben in Louises Zimmer rennen und dir gestehen konnte, dass ich dich auch liebe. Du hattest mir gegenüber so viele Schranken errichtet, und das aus gutem Grund. Ich musste eine Kampagne planen ... Ich dachte, wenn ich erst wieder zu deinem Leben gehöre, bekomme ich irgendwann eine faire Chance, angehört zu werden. Und dann wollte ich dir die Wahrheit erzählen. Was in der Nacht nach der Party bei Eleanor passiert ist, war nicht Teil des Plans. Das Problem war, dass ich mir so große Mühe gegeben hatte, dir zu widerstehen. Als Angelica hereingekommen ist und uns gesehen hat, war die Versuchung zu groß, die günstige Gelegenheit zu nutzen. Ich hatte einfach keine Widerstandskraft mehr. Ich weiß, dass du mich noch liebst", sagte Luke unsicher. "Aber kannst du mir verzeihen, Jenneth? Kannst du mich wieder in dein Leben lassen?" Sie atmete tief ein. "Ja! Ich verstehe, warum du es getan hast. Und es war richtig. Deine arme Mutter!" "Können wir die Vergangenheit hinter uns lassen und noch einmal von vorn anfangen? Wollen wir auf der Grundlage unserer Liebe eine Beziehung voller Vertrauen und Wahrheit aufbauen, Jenneth?" "Ja!" Ihr Herz klopfte wie verrückt. "O Jenneth!" Luke zog sie aufstöhnend an sich. "Ich habe mich so nach dir gesehnt." "Liebe mich", flüsterte sie. "Liebe mich jetzt für all die Jahre, die du nicht bei mir gewesen bist." Während er ihrer Bitte nachkam, hörte Jenneth ihn immer wieder sagen, er liebe sie, bis die Worte durch ihr Blut strömten
wie der Pulsschlag des Lebens selbst und sie sich Luke vertrauensvoll und freudig hingab.
-ENDE