Guillaume de la Croix Wie Tom Cruise mein Leben stahl
Zu diesem Buch Es ist ein ganz normaler Mittwochabend, als Guillaume de la Croix den gemeinen Diebstahl entdeckt. Er schaltet den Fernseher ein und sieht Tom Cruise in einem Interview. Es überkommt ihn wie ein Blitz. Die Stimme, der Blick, die Gesten, all das scheint ihm auf einmal so seltsam vertraut. Dieser Mann, dieser weltweit vergötterte Schauspieler, das ist er! Wie konnte das geschehen? Wie konnte sich ein anderer seiner Seele, seines Körpers, seiner Vergangenheit bemächtigen? Er denkt an all die Millionen, an die drei Golden Globes, an die vielen Nächte mit Nicole … Guillaume de la Croix beschließt, vor Gericht zu gehen und sich in einem weltweit aufsehenerregenden Prozeß zurückzuholen, was ihm gehört. – Ein schräger, komischer, böser Roman über Starkult und Berühmtheitswahn! Guillaume de la Croix, geboren 1969, lebt in Paris. Als kreativer Kopf einer großen Werbeagentur erdachte er vielbeachtete Kampagnen, zum Beispiel für Kookaï oder Citroën. Seine Buchidee begeisterte unter anderem seinen ehemaligen Kollegen Frédéric Beigbeder derart, daß dieser sich sofort für die Veröffentlichung einsetzte und dem Roman in Frankreich zu Kultstatus verhalf. In seiner Freizeit träumt Guillaume de la Croix davon, Filmstar zu sein – und von Frauen, die Nicole, Penelope oder Katie heißen.
Guillaume de la Croix
Wie Tom Cruise mein Leben stahl Roman Aus dem Französischen von Gaby Wurster
Piper München Zürich
FSC Dieses Taschenbuch wurde auf FSC-zertifiziertem Papier gedruckt. FSC (Forest Stewardship Council) ist eine nichtstaatliche, gemeinnützige Organisation, die sich für eine ökologische und sozialverantwortliche Nutzung der Wälder unserer Erde einsetzt (vgl. Logo auf der Umschlagrückseite). Ungekürzte Taschenbuchausgabe April 2007 © 2004 Éditions Flammarion, Paris Titel der französischen Originalausgabe: »Tom Cruise m’a volé ma vie« © der deutschsprachigen Ausgabe: 2006 Piper Verlag GmbH, München Umschlag/Bildredaktion: Büro Hamburg Heike Dehning, Charlotte Wippermann, Alke Bücking, Daniel Barthmann Umschlagabbildung: Patrik Giardino/Corbis Autorenfoto: Philippe Matsas/Opale Papier: Munken Print von Arctic Paper Munkedals AB, Schweden Satz: Filmsatz Schröter, München Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-492-24946-1 www.piper.de
Ich danke allen Wörtern, die so freundlich waren, in diesem Buch zu erscheinen; alle anderen können mir gestohlen bleiben.
Was mir gehört, werde ich mir nehmen. Tom Cruise alias Frank Mackey in Magnolia. Ich weiß, daß ich privilegiert bin. Mein Leben ist von den Göttern gesegnet. Jeden Morgen beim Aufwachen mache ich mir klar, daß ich unbeschreibliches Glück habe. […] Star zu sein ist der schönste Beruf der Welt. Tom Cruise
1 Du sollst zittern, kleiner Tom. Ich kenne das schreckliche Geheimnis, das du hinter deinem legendären Ultrabright-Lächeln und deiner fetten Sonnenbrille verbirgst. Ich weiß noch nicht, wie du es geschafft hast, aber denk nur nicht, daß du so einfach davonkommst, du Mistkerl. Du bist schuldig, und du wirst bestraft werden. Heute steht dein Name für Ruhm und Geld, morgen aber ruft er nur noch Wut und Ekel hervor. Man streicht ihn von allen Plakaten und aus allen Vorspannen der Filme, in denen du mitgespielt hast. Selbst deinen Bronzestern am Hollywood Boulevard wird man herausreißen. Was für ein Niedergang! Was für ein tragisches Ende für einen Mann wie dich, der vor Geld und Berühmtheit nur so zum Himmel stinkt! Am Anfang großer Vermögen und großer Erfolge stehe die Unaufrichtigkeit, heißt es oft. Es wird viel Unsinn erzählt, aber ich kann bestätigen, daß in diesem konkreten Fall Gaunerei und Hochstapelei für die Bekanntheit und den Reichtum von Tom Cruise Pate standen. Du hast alle Leute, die auf diesem Planeten leben, zum Narren gehalten. Schande über dich! Erst letztes Jahr habe ich den niederträchtigen Diebstahl entdeckt, dessen Opfer ich in jeder Sekunde meines Lebens bin. An einem ganz normalen Mittwoch, als ich nach Hause kam. Automatisch mache ich den Fernseher an und sehe Tom Cruise in der Promo für Minority Report, als er auf die so vorhersehbaren wie dummen Fragen einer jungen Journalistin von Canal+ antwortet. Was hat Ihnen am Drehbuch gefallen? Wie lange hat der Dreh gedauert? Warum sind Sie so schön? Wieviel ist zwei mal zwei? Ich will gerade weiterzappen – da habe ich plötzlich einen Flash. Eine Offenbarung. Das Timbre der Stimme, das Leuchten im Blick, die Mimik, die langsamen, 8
selbstsicheren Gesten – alles erscheint mir mit einemmal so vertraut. Ich gehe ganz nahe an den Fernseher heran, um mich zu vergewissern. Jetzt bin ich sicher. Dieser Mann, dieser Schauspieler, den Millionen von Menschen auf der ganzen Welt anhimmeln, dieser Mann bin ich! Ja, ich! Eine schreckliche Gewißheit. Sofort bekomme ich Angst, daß diese wahnwitzige Entdeckung, dieser Elektroschock, eine irreversible Gehirnschädigung bei mir verursachen könnte. Doch nichts dergleichen geschieht. Alles in Ordnung. Ich bin bekloppt, aber noch bei Bewußtsein, noch am Leben. Unten auf dem Bildschirm erscheint der Name des Schauspielers – für den Fall, daß heute abend irgendwo in Frankreich ein aufgetauter Winterschläfer zum ersten Mal das weltweit bekannte Gesicht sieht. Tom Cruise, Tom Cruise, CRUISE. DE LA CROIX. Schlagartig wird mir klar, daß die beiden Namen eine offensichtliche Verwandtschaft aufweisen und eine gemeinsame Wurzel haben, soviel ist sicher (später am Abend bekomme ich Gewißheit, daß Cruise und de la Croix vom lateinischen crux abgeleitet sind). Verdammt. All die Jahre hatte ich es vor der Nase, und ich habe nichts gesehen, keinen Verdacht geschöpft. Wahnsinn, daß das Gehirn im Bruchteil einer Sekunde sein Sehvermögen wiedererlangen kann! Aber wie ist das möglich? Wie konnte sich jemand meiner Seele und meines Körpers sowie meiner Vergangenheit, meiner Gegenwart und meiner Zukunft, ja, meines ganzen Lebens bemächtigen? Wie kommt es, daß ich bislang nichts gemerkt habe? Für einen Moment knie ich reglos vor dem Fernseher, völlig baff über die Unverfrorenheit dieses verführerischen Kriminellen. Doch was kann ich jetzt tun? Canal+ anrufen und Tom Cruise ans Telefon holen lassen? Noch heute abend in sein
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Hotel gehen und versuchen, ihn zu treffen? Um ihm was zu sagen? »Hallo, Mr. Cruise, geben Sie mir mein Leben zurück!« Ohne eine Antwort auf all diese Fragen beschließe ich, schlafen zu gehen. Die Nacht ist weder eine gute noch eine schlechte Ratgeberin, sie läßt mich einfach fallen; am nächsten Morgen bin ich genauso ratlos wie am Abend zuvor. Und seitdem hat sich nichts geändert. Ein Tag folgt auf den anderen, ein Tag ist wie der andere – Verwirrung bei Tagesanbruch, Wut am Nachmittag und Depression am Abend. Ich hatte keine Lust oder vielmehr nicht den Mut, mich jemandem anzuvertrauen. Ich vermied lieber ein »Ja, klar, und mein Leben hat mir die Königin von England gestohlen!« Diese Situation wird für mich von Tag zu Tag unerträglicher. Und absurder. Ich muß regelmäßig Voici und Paris-Match kaufen, um mich über die Ereignisse in meinem eigenen Leben auf dem laufenden zu halten. Ich bin verblüfft von den vielen Fotos, auf denen dieser Schauspieler so selbstgefällig lächelt – glücklich und stolz, daß er ich ist. Denn wenn ich glaube, was man sich so erzählt, ist es nicht schlecht, Tom Cruise zu sein. Doch vergiß nicht, mein lieber Tom: Alles, was du besitzt, gehört mir. Ausnahmslos. Dein Aussehen, dein Charisma, dein Sexappeal – all das ist mein Eigentum. Dein Vermögen ist in Wirklichkeit meines. Du hockst seit zwanzig Jahren auf meinem Goldhaufen, auf meinem Reibach. Du lebst wie ein Prinz in meiner Tausendfünfhundert-Quadratmeter-Villa, und jedes kleine Steinchen auf dem Weg, der zur Haustür führt, jedes Blümchen und jeder Grashalm, die im Park sprießen, gehören mir. Darf ich dich daran erinnern, daß du jeden Morgen in meinen Pool tauchst und dich anschließend auf den antiken Terrakottafliesen meiner Terrasse sonnst? Die Satinlaken, in die du dich bettest, gehören mir. Die Badewanne aus rosa Marmor, in der du dich stundenlang aalst, gehört mir! Die Klobrille aus massivem Gold, auf die du deinen kleinen Sexsymbol-Hintern plazierst, gehört auch mir! Du furzt in 10
meine Alpaka-Anzüge, du schwitzt in meinen Lobbs zu dreitausend Dollar das Paar! Du fläzt im Fond meines Bentley und schläfst an Bord meines Privatjets, dessen Unterhalt mich, nebenbei bemerkt, ein kleines Vermögen kostet. Ganz zu schweigen von meinen drei Golden Globes (schlimm genug, daß du das mit dem Oscar verbockt hast!), die du stolz auf den Kaminsims in meinem Salon gestellt hast. Du hast mir nämlich auch den Ruhm gestohlen, die Huldigungen, eine kurze Schwanzlutscherei hier, eine kleine Vögelei dort. Und all die gemeinsamen Nächte mit Nicole? Und die Nächte mit Penélope? Offenbar hat keine deiner Frauen diesen ungeheuerlichen Schwindel je durchschaut. Du hast mir wirklich alles geklaut. Ich denke auch an all die Filme, die dir die Zuneigung eines großen Publikums und eine praktisch unumschränkte Macht in der Stadt der Engel und des Kinos eintrugen. Doch um offen zu sein – du scheinst nicht darauf zu bestehen, nur in Meisterwerken mitzuwirken. Ich habe mich nämlich in Geboren am 4. Juli ziemlich gelangweilt, in Jerry Maguire – Spiel des Lebens hast du mich angeödet und in Mission Impossible enttäuscht. Deine künstlerischen Entscheidungen sind zwar in Frage zu stellen, aber dafür kann man dir bei Frauen einen besseren Geschmack zuerkennen: Nicole, Penélope, und wenn man dann auch noch Michelle Pfeiffer, Cameron Diaz und Madonna hinzuzählt, wie gewisse Gerüchte besagen, ist das einwandfrei. Man kann nicht behaupten, daß du in deinem sexuellen Leben etwas verpaßt hättest, du Arsch. Doch gut, ich will den Mann, der mir diese Bettgeschichten mit einigen der schönsten Frauen Hollywoods vermasselt hat, nun gewiß nicht länger beglückwünschen. Mein Masochismus hat Grenzen. Neulich habe ich eine düstere Rechnung aufgestellt. Du hast mir schon vierzehntausendsechshundertachtundneunzig Tage meines Lebens gestohlen. Ich war wirklich ärgerlich. Doch 11
muß ich mich deshalb damit abfinden und ein normales, fast mönchisches Leben führen, gelenkt von einem Schicksal, das jeglicher Phantasie entbehrt? Verdammt mich dieses infame Verbrechen dazu, einem vorgezeichneten Weg ohne überraschende Wendungen zu folgen, an einer Jagd ohne Schatz teilzunehmen, einfach so, ohne mich dagegen zu wehren? Nein, ich kann mich nicht dazu durchringen, mich an die Zeilen dieses mittelmäßigen, sterbenslangweiligen Drehbuchs zu halten. Der Körper und die Existenz des Guillaume de la Croix kommen mir nicht zupaß. Gott hatte mir einen Platz in der Ersten Klasse reserviert, und durch die größte nur erdenkliche Gaunerei sitze ich in einem Billigflieger. Das ist eine ungeheuerliche Ungerechtigkeit. Doch du kannst mir aufs Wort glauben, Tom: Ich lasse dir das nicht durchgehen. In deinen Handlinien kann man mein Leben lesen, nicht deines. Zu welcher Strafe kann man einen Mann verurteilen, der einem anderen die Existenz gestohlen hat? Nur Gott allein weiß das, denn die Rechtsprechung der Menschen sieht so etwas nicht vor. Doch glaub ja nicht, du würdest deiner verdienten Strafe entgehen. Mit deiner Zukunft hast du dich tödlich überworfen. Von ihr darfst du nichts Gutes erwarten. Im Grunde denke ich, daß du ein Mann bist, der wirklich zu bedauern ist. Hier ein Rat: Öffne meinen Kühlschrank, nimm, was dir schmeckt, bitte den Koch, dir einen schönen Hummer zu grillen, geh in den Keller und entkorke einen meiner besten Bordeauxweine. Genieß noch schnell all diesen beispiellosen Luxus und diese enorme Berühmtheit. Denn ich sage dir eins: Du verlebst gerade die letzten Augenblicke im Paradies.
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2 Ich habe die Fähigkeit, mich unsichtbar zu machen. Das Problem ist, daß ich diesen Trick nicht in seiner Vollkommenheit beherrsche. Ich bin in der Unsichtbarkeit gefangen; deswegen weiß seit meiner Geburt niemand, daß ich existiere. Und ich bin bei weitem nicht der einzige auf der Welt, der solch ein Pech hat. Milliarden Menschen leben Tag für Tag in totaler Unsichtbarkeit. Doch manchmal geschieht ein Wunder, beispielsweise in Form einer sportlichen Glanzleistung, einer Meldung in Vermischte Nachrichten oder in Form der öffentlichen Anerkennung eines künstlerischen Talents. Diese eher seltenen Ereignisse bewirken eine sofortige Veränderung in der Molekularstruktur der betreffenden Person, die plötzlich die bewundernden und oft neidischen Blicke aller anderen auf sich zieht. Dennoch ist dieses Phänomen die Ausnahme. Wie bei so vielen anderen unsichtbaren Wesen sind die objektiven Nachweise für meine Präsenz auf der Erde im Grunde sehr dürftig. Wenige Zeugen, wenige Fakten und folglich auch wenige Beweise. Ich existiere, aber gerade mal so lala. Freilich gibt es eine Geburtsurkunde auf dem Bezirksrathaus des 14. Arrondissements von Paris, datiert auf den 20. April 1968. Natürlich erzählt meine Mutter jedem, der es hören will, daß ihr Sohn der Schönste und Klügste sei. Wenn man noch ein bißchen weiter nachforscht, kann man auch Strom- und Telefonrechnungen auf meinen Namen finden. Doch all das ist weder sehr beweiskräftig noch sehr überzeugend. Insgesamt wissen weniger als tausend Menschen, daß ich vorübergehend auf dieser Erde weile. Das sind nun nicht gerade viele. Für etwas mehr als neunundneunzig Komma 13
neunundneunzig Prozent der Bevölkerung dieses Planeten bin ich ein Niemand. Das ist gewissermaßen Sein und Nichtsein zugleich. In meinem Viertel kennt man mich nicht, nicht mal in meinem Wohnhaus. Außerdem bin ich zutiefst davon überzeugt, daß ich bei der letzten Volkszählung 1999 vergessen wurde. Folglich behaupte ich, daß der Innenminister falsche Zahlen veröffentlich hat. Ich bin froh, daß ich sie in diesem Buch korrigieren und der grausamen Erniedrigung ein Ende setzen kann, die ich seitdem erdulden muß. Im März 1999 zählte Frankreich nicht achtundfünfzig Millionen fünfhundertzwanzigtausendsechshundertachtundachtzig Einwohner, wie fälschlich bekanntgegeben wurde, sondern achtundfünfzig Millionen fünfhundertzwanzigtausendsechshundertneunundachtzig. Um der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen, gibt es keine Verjährungsfrist. Doch meine Wut hat schon nachgelassen. Ich bin realistisch genug, um einzusehen, daß dieser Fehler fast unvermeidbar war. Zur Zeit ist die Bedeutungslosigkeit meines Lebens nur mit der einer Fliege zu vergleichen. Gut, ich bin eine Fliege, die eine schöne Kindheit hatte, die den Weg entzückender Fliegenweibchen kreuzte, die ein paar gute Fliegenfreunde und in ihrem Fliegenleben ein sehr gutes Auskommen hat. Aber wer achtet schon auf eine Fliege? Dort, wohin ich gehe, bemerkt mich keiner. Man zerquetscht mich hinten im Aufzug, die Autos halten nicht an, wenn ich über die Straße gehe, die Kellner im Restaurant vergessen mich. Dabei dürfte eine Fliege von mehr als hundert Kilo doch beileibe nicht unbeachtet bleiben. Soviel zu meinen täglichen Großtaten. Meine ganze Existenz ist der Anonymität gewidmet: Morgens stehe ich inkognito auf, ich frühstücke inkognito, ich putze mir inkognito die Zähne, ich gehe inkognito arbeiten, abends komme ich inkognito nach Hause, ich vögle inkognito, ich schlafe inkognito … Ich bin irgendwer, der Mensch X, ein 14
Durchschnittstyp, der Mann von der Straße, der Erstbeste, ein ganz normaler Sterblicher. Ich bin der Unbekannte, der auf der Straße einer gut desodorierten Frau Blumen schenkt, ich bin der Fremde im Zug. Sehr wahrscheinlich ist der unbekannte Soldat, der unter dem Arc de Triomphe begraben ist, mein Urgroßvater. Man muß nämlich dazusagen, daß meine Familie noch nie mit Bekanntheit gesegnet war. Nehmen wir beispielsweise meine Eltern. Selbstverständlich kenne ich meine Eltern, doch gleichsam ist es wahr, daß ich das Kind eines unbekannten Vaters und einer unbekannten Mutter bin. Wer hier auf dieser Erde François und Danielle de la Croix kennt, soll die Hand heben! Offensichtlich sind diese Leute nicht sehr zahlreich. Wenn man mich fragt, wie ich heiße, habe ich manchmal eine Erinnerungslücke. Doch ich habe eine gute Entschuldigung: Es ist nicht leicht, sich den Namen eines Unbekannten zu merken. Noch nie ist jemand auf die Idee gekommen, mich zu fragen, ob Guillaume de la Croix mein richtiger Name sei. Wenn man nicht gerade Herr Möse oder Frau Penis heißt, hat man als Unbekannter im allgemeinen keinen Grund, seinen Namen zu ändern. Folglich: Ja, ich lebe unter meinem richtigen Familiennamen. Und ich habe die Rock- und Kinostars im Verdacht, unter meinem Namen zu reservieren, wenn sie heimlich in einem Hotel absteigen wollen. Ich stehe nicht im Who’s Who. Dafür stehe ich im Telefonbuch, in diesem Who’s Nobody, wo die Namen all derer verzeichnet sind, die in der Gesellschaft nicht zählen. Auf diesen Seiten kann mich jeder finden, doch offenbar sucht mich gar keiner. Daher hatte ich auch noch nie das Bedürfnis, mir eine Geheimnummer zuzulegen. Wer mich anruft, hat sich zwangsläufig verwählt. Auf meinem Anrufbeantworter sagt meine Stimme, daß ihr bei einem Unbekannten gelandet seid und vor dem Piepton wieder auflegen könnt. Doch es gibt noch 15
Peinlicheres: Auf meine Post folgen nie Antwortschreiben. Meine Briefe sind zwar unterzeichnet, bleiben aber dennoch anonym. Nun habe ich keinen Zweifel mehr: Ich bin der aussichtsreichste Anwärter auf den Weltmeistertitel des vollkommensten Unbekannten des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Leider werde ich nie erfahren, ob ich gewonnen habe. Die Ironie will, daß man den Namen des Siegers aufgrund seiner völligen Anonymität nicht kennt. Und was soll ich über die Medien sagen, die mich seit meiner Geburt übersehen? Ich muß ihren Boykott hinnehmen, etwas anderes bleibt mir nicht übrig. Schon vor langer Zeit habe ich begriffen, daß die Chefs aller Sender der Welt beschlossen haben, mir den Zugang zu ihren Studios zu verwehren. Und es ist genauso offensichtlich, daß kein Nachrichtensprecher, kein Fernsehmoderator meinen Namen jemals erwähnen wird. David Letterman hat nie einen einzigen Witz über mich gemacht. Nie hat man mich in eine Sendung eingeladen, damit ich meine Meinung zu diesem oder jenem Thema zum besten gebe oder damit ich ganz einfach von mir spreche. Denn ich bin eigentlich ziemlich süß. Warum habe ich nicht auch das Recht, im Fernsehen irgendeinen Blödsinn zu verzapfen? Warum bleibt dieses Vergnügen immer denselben vorbehalten? Das ist doch echt ungerecht, oder? Vor allem weil man zugestehen muß, daß sich jeder wie ein Star aufführen kann. Im großen und ganzen genügt es, zwei Dutzend Sätze auswendig zu lernen und sie vor dem erstbesten Journalisten aufzusagen: »Die Atmosphäre beim Dreh war wirklich klasse.« »Nach dem Dreh habe ich mehrere Monate gebraucht, um mich endgültig von der Person zu lösen, die ich in diesem Film darstelle.« »Ich wollte schon lange mit Chabrol / Berri / Tavernier / Rappenau … arbeiten.« 16
»Gerade komme ich von den Champs-Élysées. Alles in Ordnung, ich bin beruhigt – der Film ist bereits ein Erfolg.« »Mein letzter Film hatte nicht den Erfolg, den er verdiente. Dennoch ist er ein Meisterwerk.« »Glauben Sie ja nicht, daß ich jemals zu Galas gehe!« »Noch nie habe ich einen Fuß nach Saint-Tropez gesetzt!« »Sie werden es nicht glauben, aber die Kritiken über mich und meine Filme lese ich nie.« »Tut mir leid, über mein Privatleben erfahren Sie nichts.« »Nein, nein, ich habe nie geheuchelt, um berühmt zu werden.« »Ich verklage grundsätzlich alle Zeitschriften, die über mich berichten.« »Gut, ich hätte dem Paparazzo nicht die Fresse einschlagen sollen, aber ich war wirklich auf hundertachtzig.« »In Wahrheit habe ich dem Titelbild von Paris-Match zusammen mit meiner Frau und meinen Kindern nur zugestimmt, damit mich die Journalisten und die Paparazzi endlich in Ruhe lassen.« »Ich wäre nicht unglücklich, wenn meine Karriere morgen früh zu Ende wäre. Wissen Sie, Reichtum und Berühmtheit sind zwei große Bürden.« »Nein, nicht meinen ersten Fernsehauftritt …! Arthur, ich flehe dich an, nicht diese Bilder! Sei ein Freund!« (Lachen.) »Es ist wirklich schrecklich, in den Acht-Uhr-Nachrichten aller Welt sagen zu müssen, daß ich kein Aids habe.« Wie ihr seht, bin ich durchaus bereit, im Fernsehen aufzutreten. Doch nichts zu machen. Es ist nun einmal so, daß die einzige Kamera, die sich für mich interessiert, den Eingang meiner Bank überwacht, ob ich will oder nicht. In der Anonymität zu leben bringt mich jeden Tag ein bißchen mehr um. Was für ein Horror, oder eher, was für ein Elend, aus dem Haus zu gehen und auf der Straße nicht von Hunderten Leuten erkannt zu werden! Nach mir dreht sich 17
keine Frau um und flüstert ihrer Freundin meinen Namen ins Ohr. Ich hatte noch nie das Vergnügen, mich mit einer Perücke oder einem Hut ausstaffieren zu müssen, um inkognito im Supermarkt oder im Sex-Shop unten an der Ecke einzukaufen. Meine Beziehungen spielen sich in totaler Gleichgültigkeit der Paparazzi ab. Ich tauche nicht in der Nomenklatura der bekanntesten Leute dieses Landes auf. Ich wurde noch nie für einen Ehren-César oder den Prix Goncourt vorgeschlagen. Fakt ist nun mal, daß sich die großen und übrigens auch die kleinen Marken nicht überschlagen, um mich dazu zu bewegen, in ihren Werbespots mitzuwirken. Mein Körper ist nicht Gegenstand einer Versicherungspolice über eine Summe von mehreren Millionen Dollar. Meine Unterschrift hat keinerlei Wert, es sei denn auf einem Scheck. Mein Fanclub hat keine Mitglieder, abgesehen davon gibt es gar keinen. Wenn das so weitergeht, löst mein Hinscheiden in zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren weder eine Welle der Verzweiflung noch eine Massenhysterie aus, und man kann darauf wetten, daß der französische und der amerikanische Präsident keine Staatstrauer ausrufen werden. Ich will diese Statistenrolle als einer unter sechs Milliarden Menschen nicht mehr spielen. Heute bin ich nur ein Schatten. Ein Schatten hat kein Gesicht. Schlimmer noch: Ich bin der Schatten eines Mannes, der nicht existiert. Ich hasse meine Anonymität.
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3 Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, warum ich ein neues Kapitel begonnen habe, nachdem das vorhergehende noch gar nicht zu Ende war. Ich bitte euch, diesen dicken Anfängerfehler gütigst zu entschuldigen, und verspreche, daß sich das nicht wiederholen wird. Ich fahre also dort fort, wo ich Stehengeblieben bin. Ich hasse meine Anonymität. Ich bin Herr Jedermann, obwohl ich doch davon träume, Herr Jeder-liebt-mich zu sein. Mein einziger Ehrgeiz im Leben ist, eine ruhmvolle Karriere zu machen, Kohle und Glamour zu haben. Der Glamour ist sicherlich nicht der Schlüssel zum Glück, aber er ist verdammt geil. Auch ich träume davon, in einer hollywoodmäßigen Villa in Hollywood zu leben, niemals rechnen zu müssen, wieviel ein Baguette kostet und wieviel ein Metro-Ticket, und meine Familie mindestens bis ins fünfundzwanzigste Jahrhundert vor jeder Not zu bewahren. Auch ich will den Sommer in Saint-Tropez oder in Miami verbringen, König auf allen Festen sein, halbnackt auf den Tischen der Discos tanzen, jeden mit Champagner zu fünfhundert Dollar oder Euro die Flasche abfüllen, ständig meinen Arsch zeigen und in weniger als zwei Stunden eine Flasche Wodka leeren. Morgens fahre ich dann wieder in meine Villa zurück, im Fond einer Stretch-Limo liegend, den Kopf zwischen den Brüsten eines jungen lateinamerikanischen Starlets und die Hand im Gucci-Slip eines schwedischen Topmodels, das plus-minus achtzehn Jahre alt ist (Was spielt das schon für eine Rolle?); ich lasse mich in Gesellschaft dieser beiden göttlichen Geschöpfe in mein Bett fallen, peitsche ihren Arsch mit meinem Schwanz und überziehe schließlich ihre Zunge mit meinem Saft. Ich träume von Sorglosigkeit, von 19
Ausschweifungen und Dekadenz. Ich hab’s echt satt, jeden Abend fernzusehen und Chips zu knabbern. Wie viele Menschen auf dieser Erde führen ein glücklicheres Leben als ich? Das ist eine total blöde Frage, stimmt, aber sie kommt mir unablässig in den Sinn. Logischerweise kann darauf niemand eine Antwort geben. Dennoch habe ich mir eine bescheidene Vorstellung davon gemacht. Wenn man fünf Kriterien heranzieht – Gesundheitszustand, finanzielle Situation, Zukunftsperspektive, das Glück, das Familie und Freunde einem bescheren, den Grad an Freiheit und Sicherheit, den das Land bietet, in dem man lebt –, stehen jeden Morgen schätzungsweise drei, vier Millionen Menschen mit einem breiteren Lächeln auf als ich. Drei, vier Millionen von sechs Milliarden sind eine beachtliche Anzahl. Doch ehrlich: Wie viele Menschen können sich rühmen, ein schöneres Leben zu führen als Tom Cruise? Nicht mehr als hundert, allerhöchstens. Wie also reagiert jemand, dem bewußt wird, daß sein Lebensaufenthalt unter solch günstigen Bedingungen verläuft? Ich habe keine Ahnung, auch wenn ich in den Augen vieler vielleicht als Glückspilz dastehe. Ich würde eher sagen, daß ich unter einem guten, jedoch sehr kleinen Stern geboren bin. Mit vierunddreißig Jahren habe ich zwar schon alles abgehakt, was normalerweise das Glück eines Menschen auf dieser Welt ausmacht, doch deshalb muß man noch lange keine Freudensprünge machen. All dies ist für mich nur das lebenswichtige Minimum und ganz sicher nicht das Ziel, das ich mir gesetzt habe. Es ist ganz einfach: Den Mann, der ich zu sein träumte, kotzt der Typ, der ich geworden bin, tagtäglich an. Jede neue Kerze auf meinem Geburtstagskuchen erinnert mich an die Versprechen, die ich mir mit fünfzehn Jahren gegeben und nicht gehalten habe. Nicht mal auf sein eigenes Wort kann man sich verlassen; das ist erbärmlich.
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Gott allein weiß, wie oft ich davon geträumt habe, dieses kleine, x-beliebige und unnütze Leben einem anderen unterzujubeln wie ein altes Heftpflaster, das man loswerden will und es irgendeinem, den man auf der Straße trifft, an die Jacke klebt. Meine Vergangenheit ist schal, meine Gegenwart fade. Mein Leben langweilt mich. Mein Leben langweilt sich. Doch ich kann mich nicht mal beklagen. Nach meinen Berechnungen gibt es fünf Milliarden und neunhundertsechsundneunzig Millionen Menschen, die liebend gern mit mir tauschen wurden. Ich müßte eigentlich ständig auf Holz klopfen und hoffen, daß dieses Glück bis zum Ende meiner Tage anhält. Doch ich bin nicht abergläubisch. Und ich hänge auch nicht besonders an diesem trostlosen Alltag. Darum mache ich Camping im Leben. Eher etwas Provisorisches denn Solides, als wollte ich mir jede Option auf eine rasche Veränderung von einem Tag auf den anderen erhalten – keine Kinder, keine großen Kredite, keine Karrierepläne … Für mich ist nichts wichtiger als dieses Gefühl der Freiheit. Von meiner Familie und ein paar Freunden abgesehen könnte ich mich sofort von meinem heutigen Leben verabschieden, von meiner Freundin, meinem Job, meiner Wohnung, meinen Möbeln, meinen Klamotten, meinem Wagen, meinen Wertsachen, meinen kleinen Gewohnheiten, von Paris, von Frankreich. Jeden Morgen frage ich mich, ob dieser Tag nun endlich der Tag ist, an dem mein Leben richtig beginnt. Denn ich habe immer das gräßliche Gefühl, im Wartesaal meiner eigenen Existenz zu sitzen. Der Bauch meiner Mutter hat mich vor vierunddreißig Jahren ausgetrieben, doch ich bin immer noch nicht geboren. A star is not born, so könnte ich den ersten Teil meines Lebens zusammenfassen. Zufällig ist diese Wanderung durch die Wüste bald zu Ende. Seit kurzem weiß ich, was die Zukunft für mich bereithält. Stunde um Stunde, Minute um Minute, Sekunde um Sekunde. Fast so, als wäre ich aus purem Zufall in den Regalen Gottes 21
auf das Buch meines Lebens gestoßen und hätte alle Seiten xerokopiert. Mich erwartet ein ganz außergewöhnliches Schicksal. Zugegeben, diese Gewißheit gibt Anlaß zum Lächeln, zum Lachen gar. Aller Wahrscheinlichkeit nach haltet ihr mich für einen Traumtänzer, für einen armen Tropf oder für ein kleines angeberisches Arschloch. Nur zu, denkt, was ihr wollt. Ich weiß nur, daß ihr in nicht allzu ferner Zukunft zwischen den Bezeichnungen »Hyperstar« und »lebender Gott« wankt, wenn ihr über mich sprecht. Selbst Marie, das Mädchen, das heute das Bett mit mir teilt, weiß von nichts. Sie ist meilenweit davon entfernt, sich vorzustellen, daß sie in Kürze, wenn ich der meistfotografierte Mann der Welt bin, aus meinem Leben verschwindet. Auch weiß sie nicht, daß mein Name auf einem Plakat bald den Erfolg eines Filmes garantiert. Doch ich versetze mich für einen Augenblick an ihre Stelle. Wie könnte sie ahnen, was mir bald widerfahren wird? Daß sie nicht jeden Abend in den Armen eines Idols oder eines Helden einschläft ist das mindeste, was man sagen kann. Was ich ihr in den fünf Jahren, in denen sie mit mir das Leben teilt, von mir offenbart habe, ist nicht dafür geschaffen, den geringsten Verdacht zu wecken. Ich habe ihr nie etwas vorgemacht, sie nie fasziniert oder verzaubert. Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, in mir etwas anderes zu sehen als einen sympathischen Kerl, allerdings ohne jede Ausstrahlung. Dennoch ist es eine unstrittige Tatsache: In mir schlummert wahrlich ein Star, auch wenn ich zugeben muß, daß er im Moment tief und fest schläft.
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Ich kann nichts anderes, als der größte Star der Welt zu sein. Playboy, September 2009
Ich wette, daß es unmöglich ist, auf dieser Erde eine einzige Person zu finden, die weder meinen Namen noch mein Gesicht kennt. Ich bin berühmter als Coca Cola, das berühmter ist als die Beatles, die wiederum berühmter waren als Jesus Christus! Good Morning America, ABC, 29. Oktober 2012
Ich habe zwei cruces über meinem Bett – das Kreuz Jesu und ein Foto mit einer Widmung von Guillaume de la Croix. Papst Johannes Paul III. am 6. Mai 2011 gegenüber der italienischen Presse
Das Leben mit einem Star wie mir zu teilen muß ein wahrer Alptraum sein. Manchmal versuche ich mir vorzustellen, was Jennifer empfindet, wenn sie in einer Illustrierten eine Umfrage liest, die enthüllt, daß neunundneunzig Prozent aller Frauen auf dieser Welt davon träumen, mir – ihrem Kerl – einen zu blasen. Der Spiegel, 22. April 2009
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4 Ich habe wenig Hoffnung, daß man bald das Gen findet, das an der Schüchternheit schuld ist. Gehemmt und verlegen muß es sich in einer Ecke verbergen und bei dem Gedanken zittern, ein allzu neugieriger Forscher könne es eines Tages entdecken. Schade, denn ich leide von klein auf an dieser schrecklichen Anomalie, die meine Qualitäten trübt und mich vor allen Dingen daran hindert, ich selbst zu sein. Zu leben versetzt mich nicht in meinen Normalzustand. »Ich bin schüchtern, aber ich tue etwas dagegen«, sagte Pierre Richard. »Ich bin schüchtern und tue etwas dagegen, aber es hilft nichts«, würde ich sagen. Ich habe sogar das schmerzhafte Gefühl, daß meine Krankheit von Tag zu Tag schlimmer wird. Mit meiner Concierge zu sprechen kommt mir manchmal wie eine unlösbare Aufgabe vor. Ein schüchterner Mensch hat nicht nur Angst vor anderen, er hat auch und gerade Angst vor sich selbst. Angst zu erröten, zu zittern, zu stammeln, ohnmächtig zu werden oder sich in die Hosen zu machen. Schon beim bloßen Kontakt mit Menschen bin ich wahnsinnig aufgeregt. Beklommen warte ich auf den Moment, und er kommt immer, da mein Körper diese blöde Angst verrät. Ich spüre live den gleichen Druck wie ein Sprecher der AchtUhr-Nachrichten. Jedesmal, wenn ich mich gezwungen sehe, etwas mitzuteilen, leuchtet ein Lämpchen auf und zeigt die Fernsehübertragung meiner Worte und Gesten an. Ich bin auf Sendung, auf Mondovision, die ganze Welt sieht mich und wartet auf die Antwort, die ich der Frau gebe, die mich auf der Straße nach dem Weg fragt. Selbstbehauptung ist ein Kampf, den ich tagtäglich verliere. Ich bin abwechselnd stumm vor Erstaunen, Bewunderung oder Entsetzen, und so gehöre ich zu den Leuten, die ständig darum ringen müssen, nicht vor ihrem 24
Gegenüber zu verschwinden. Aber wäre das nicht die beste Lösung: wahrlich zu verschwinden? Woanders zu sein ist auf jeden Fall weniger peinlich, als vor einem menschlichen Wesen zu stehen. Mein Leben setzt sich aus einer langen Reihe von Prüfungen zusammen, bei denen ich mir nicht mal die Durchschnittsnote gebe. Jedes Wort, das ich sage, jede Handlung, so harmlos sie auch sein mag, wird Gegenstand einer zynischen Beurteilung ohne jede Nachsicht. Habe ich gestammelt? Hält man mich für einen Trottel? Wurde meine Meinung gehört und respektiert? Das unumstößliche Urteil: Ich war mal wieder mies. Es ist Selbstherabsetzung unter ständiger Kontrolle. Ein schüchterner Mensch erinnert sich immer an das letzte Mal, als er sich lächerlich gemacht hat, und das war vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden! Im Schriftlichen war ich immer begabter als im Mündlichen. Doch ich muß nun lernen, in der Öffentlichkeit zu sprechen, mich zu zeigen, Leute in meinen Bann und die Kameraobjektive auf mich zu ziehen. Es geht nicht anders. Ein Schauspieler, der im Schriftlichen besser ist als im Mündlichen, ist leider nicht karrieretauglich.
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5 Meine Stimmung hängt unmittelbar von meinem Hosenknopf ab. Das ist ganz einfach: Wenn ich es am Morgen schaffe, ihn zuzumachen, verspricht dies einen schönen und fröhlichen Tag. Doch wenn es mir nicht gelingt, sollte ich mich besser auf nichts einlassen. Ohne Umschweife gebe ich zu, was Obelix um keinen Preis wahrhaben will: Ich bin nicht rundlich – ich bin fett. Ich habe fünfzehn bis zwanzig Kilo zuviel. Wenn ihr euch eine Vorstellung von meiner schweren Bürde machen wollt, dann hebt mal kurz eine Kiste Mineralwasser hoch. So. Außer daß es in meinem Fall Öl ist. Offengestanden sind die Zahlen, die ich angebe, nur geschätzt, meine Personenwaage wiegt nämlich seit Jahren keine Person mehr. Ich verspüre nicht einmal die perverse Neugier, das genaue Gewicht meines Über-Ichs zu erfahren. Ein kleines Paradoxon, denn es gibt schließlich nichts Narzißtischeres, als fett zu werden. Ja, ja, immer, wenn ich esse, produziere ich ein wenig mehr von mir selbst! Ein Kilo mehr ist ein Kilo mehr meines Selbst. Ein Glücksfall für die Mädchen, die ich bislang kennengelernt habe. Ich bin ein Dauersonderangebot: zwanzig Prozent Guillaume gratis dazu! So ein Schnäppchen läßt man sich nicht entgehen. Dennoch könnte man nicht behaupten, daß ich diesbezüglich einen Komplex hätte. Ich denke sogar, daß mir diese zwanzig Kilo Übergewicht nicht allzu schlecht stehen. Alles in allem bin ich ein schöner Fetter. Und ich träume nicht davon, die Figur eines Bodybuilders oder eines Models zu haben, denn logischerweise habe ich die: Versteckt unter diesem Fett ist sie geschützt vor jeder weiblichen Hysterie und allem männlichen Neid. Ich verrate euch ein Geheimnis: Meine Fettleibigkeit ist 26
selbstgewählt, eine immerwährende Freude. Nein, war nur ein Witz! Falls jemand Interesse hat, mache ich ihm umgehend Platz in dieser weiten Haut. Sobald ich aus dem Haus gehe, fährt mir ein Lieferwagen mit einem großen Schild »Schwertransport« voraus. Bestimmte Brücken und Landstraßen mit empfindlichem Belag sind für mich gesperrt. Die Präfektur von Paris hat mich gezwungen, den LKWFührerschein zu machen, damit ich meinen Käfer fahren darf. Ich überlaste Aufzüge und störe ihre Funktion. Die Federn meiner Matratze winseln jede Nacht um Gnade. Ich kann nur mit schwerem Schritt gehen und hinterlasse Spuren im trockenen Asphalt. Immer, wenn ich einen Fuß ins Wasser setze, steigt der Meeresspiegel. Ich kann mich nur bei BallonFabrikanten einkleiden. Wenn mich IKEA-Leute zufällig fragen würden, ob ich die Strapazierfähigkeit ihrer Möbel teste, müßte ich diese Bitte wegen dieses verdammten gesundheitlichen Problems zwangsläufig ausschlagen. Sooft wie ich den Kühlschrank öffne, habe ich zwölf Monate im Jahr eine Angina am Hals! Doch diese Unannehmlichkeiten sind nichts im Vergleich zu den täglichen Aggressionen, denen ich ausgesetzt bin, sogar in meiner eigenen Wohnung. Ihr könnt euch nicht vorstellen, welche Bosheit sich in einem Spiegel verbirgt. Immer wenn ich an einem vorbeigehe, beleidigt er mich. »Du bist echt der fetteste Typ!« reibt mir beispielsweise jeden Morgen mein Spiegel unter die Nase, mein schöner Badezimmerspiegel. Der im Wohnzimmer hält sich für oberwitzig und hat mir nur zwei Spiegelbilder zu bieten – einen Elefanten und ein fettes Schwein. Und dann kichert er auch noch! Wenn das keine Grausamkeit ist, dann weiß ich auch nicht … Demütigungen, Spott – sie genießen es in vollen Zügen. Die größten Unverschämtheiten, die ich je über mich hören mußte, haben mir die Spiegel ins Gesicht gesagt.
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Vor einiger Zeit habe ich beschlossen, ihre Provokationen zu ignorieren. Verachtung ist oft die wirkungsvollste Reaktion. Sollen sie doch sagen oder zeigen, was sie wollen, sie können mir gestohlen bleiben! Sicherlich wäre es die einfachste Lösung, sie aus meiner Wohnung zu verbannen und sie auf den Gehweg zu stellen, damit sie auf einen anderen losgehen. Doch momentan ertrage ich lieber noch ihre sadistische Härte. Masochismus? Ich glaube nicht. Eher die Obsession, zu leben. Es ist mir egal, ob man Gutes oder Schlechtes über mich sagt, solange man überhaupt über mich spricht. Bis zu dem Tag, da ich von ihrem Sarkasmus wirklich die Nase voll habe und einen von beiden kurz und klein schlage. Ich bin fett, dennoch verdiene ich Achtung. Was glauben die eigentlich? Daß sie sich jahrelang über mich lustig machen können, ohne Repressalien fürchten zu müssen? Wer einen Spiegel zerschlägt, hat sieben Jahre Pech, sagt man. Sieben Jahre Pech soll der haben, der mir auf den Geist geht. Aber hallo! Ich sehe schon, ich schweife ab, aber ihr müßt auch versuchen, mich zu verstehen. Wie kann ich cool bleiben angesichts dieses Burschen, der ungestraft mit meinem Körper durch die Welt spaziert und ihn ständig in Filmen und in allen Illustrierten herzeigt? Ihr müßt zugeben, das ist echt hart. Er besetzt meinen Körper, anders kann man es nicht sagen – während bei mir die Kilos den Körper besetzen, den ich nun mal geerbt habe. Denn wenn es einen gibt, der keine Gewichtsprobleme kennt, dann ist es ganz offensichtlich Tom Cruise. Die Schwerkraft kann ihm so gut wie egal sein. Wenn er auf eine Waage steigt, erntet er Applaus und Hochrufe. Meiner Meinung nach dürfte er nicht schwer sein, dieses Schwergewicht der Kassenknüller. Schätzungsweise siebzig Kilo, wenn er tropfnaß ist. Die Eifersüchtigsten unter uns Männern werden nun sagen: Das stinkt verdächtig nach Sport, für so eine Figur muß man mindestens zwei Stunden am Tag 28
joggen und Gewicht heben. Jedenfalls sind alle neidisch auf das Resultat – ein leichter, perfekter Körper, eine Figur mit null Prozent Fett und ohne Zuckerzusatz. Die Perfektion eines Mannes. Ganz sicher ziehen die griechischen Statuen in den Museen den Bauch ein, wenn Tom vorbeikommt. Sein athletischer Körper teilt die Luft, während mein Körper die Luft aufwirbelt. So einer Figur beraubt, bestohlen zu sein ist eine Hölle, die ich niemandem wünsche. Wenn ich Tom Cruise auf der Straße auf einem Plakat sehe, hätte ich manchmal große Lust, den Passanten aus vollem Hals zuzubrüllen: »Auf ihn, faßt den Dieb, zu Hilfe, er hat mir, dem erotischsten Mann der Welt, den Körper gestohlen!« Aber wozu sollte das gut sein? Niemand würde meinen Ruf verstehen. Nein, ich habe keine Wahl, dieses Unglück muß ich für mich behalten. Ich muß – für kurze Zeit noch – in dieser Körperhülle gefangenbleiben, die definitiv mehr von einem Elefanten als von einem Menschen hat.
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6 Ecstasy, Crack, Speed, Kodein, Opium, Morphine, PCP, LSD 25, Kath, Angel Dust, Poppers, Marihuana, Shit, Red Hairs, Orange Crush, Northern Light, Pakalolo, Sensimilla, Brown Sugar, White Horse, Yellow Sunshine, Panoramix Double Face, Green Dragon, Buddha Rose, Fenproporex retard, Tango and Cash, Ice, Temgesic, Dinintel, Mantadex, Desernil, Ketamin. Koks natürlich nicht zu vergessen. Für die nächsten Jahre habe ich meinen Einkaufszettel schon geschrieben. Und das ist bei weitem kein Scherz. Ich habe sehr wohl die Absicht, meinen Körper allen Erfahrungen auszusetzen, die diese Substanzen versprechen. Schließlich ist es mein gutes Recht, das Risiko einzugehen und lieber bedröhnt als blöd zu sterben, oder? Ich habe es wirklich langsam satt; satt, der nette fette Junge mit den roten Backen zu sein, Mamas Liebling, der ideale vernünftige Schwiegersohn. Bin ich in Sachen Dope noch jungfräulich, dann auch auf anderen Gebieten. Ich bin ein Ausbund der Tugend, in fast allem noch unbeleckt – ich sniffe nicht, ich spritze nicht, ich rauche nicht einmal und trinke nicht, ich gehe nie in den Puff, ich bin kein Swinger, ich treibe keinen Gruppensex, ich mache keinen Fistfuck, ich habe mir noch nie eine Ratte in den Arsch gestopft, ich habe noch nie einen Jungen gevögelt und noch nie eine Frau ausgepeitscht. Sagt ihr mir: Ist mein Leben nicht stinklangweilig? Jeden Morgen beim Aufstehen der gleiche Jammer: Nie ist meine Zunge pelzig, nie dröhnt mir der Kopf, die Nacht hat keinerlei Narben und Bisse auf meinem Körper hinterlassen, mein Blick ist immer zu klar und das Weiß meiner Augen zu weiß. Wirklich eine Schande. Doch vertraut mir – wenn ich erst einmal in Hollywood bin, tue ich alles, um die verlorene 30
Zeit nachzuholen und all die Freuden zu genießen, die ich mir schon so lange versage. Und was macht es schon, wenn ich für einige Monate oder auch einige Jahre dem Klischee des stinkreichen Stars entspreche: vierundzwanzig Stunden am Tag breit und total sexsüchtig. Auf jeden Fall gefällt es dem Publikum, wenn es einem schlechtgeht. Der Teufel kann schon mal anfangen zu sparen. Die Seele des reichsten und berühmtesten Mannes der Welt steht bald zum Verkauf.
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7 Seit zehn Jahren essen Alex und ich täglich zusammen Mittag. Daß es uns in diesen zehn Jahren noch nie an Gesprächsthemen mangelte, ist wirklich ungewöhnlich. Autos, Motorräder, Kino, Fernsehen, Geld, Politik und natürlich unser Job, die Werbung, sind regelmäßig auf der Tagesordnung. Sport interessiert uns nur mäßig, und aus Respekt vor unseren besseren Hälften vermeiden wir es, über Frauen zu sprechen. Unsere Beziehung basiert auf dem wunderbaren Hang zum Widerspruch (ich bin sicher, daß Alex auch in diesem Punkt anderer Meinung ist). Wir können uns zum Beispiel stunden-, ja, tagelang über das Design eines neuen Wagens oder über das letzte Feature eines Fernsehmoderators streiten. Doch wir kennen uns gut genug und wissen, daß wir uns eher spielerisch denn aus echter Uneinigkeit täglich in diese unbeschreiblichen Hahnenkämpfe stürzen. In Wahrheit sind wir uns in vielen Dingen einig. Aber gut, Alex, ich bleibe dabei, daß Der Pate II besser ist als Der Pate I und der Jaguar XK8 zehnmal eleganter als der Porsche 996 … Nur wenige Menschen können verstehen, welch ein Fest das Mittagessen für uns ist. Wir sind wie Hunde, die beim Fressen bellen. Die Wahl des Restaurants kann an manchen Tagen eine gute Stunde dauern. Für uns ist Essen eine ernsthafte Angelegenheit! Doch ich würde lügen, wenn ich sagte, daß uns das, was auf dem Teller ist, wichtiger ist als das Drumherum. Wir haben die Schwäche, von Zeit zu Zeit einen angesagten Freßtempel wie das Hôtel Costes oder das L’Avenue aufzusuchen. Das macht uns Spaß, wenngleich man sagen muß, daß die Brüder Costes mehr von Innenarchitektur verstehen als vom Kochen. Die Gäste kommen jedenfalls nicht wirklich, um sich zu nähren. Solche Restaurants sind 32
Vergnügungsparks, man geht hin, um Promis zu sehen. Im übrigen glaube ich zu wissen, daß das Management dieser Lokale jenen Gästen ihr Geld zurückerstattet, die nicht das Glück hatten, neben einer einigermaßen bekannten Person zu sitzen. Doch um Promis zu treffen, muß man nicht unbedingt in angesagte Lokale gehen. Vor etwa einem Jahr gingen Alex und ich in die Brasserie La Lorraine an der Place des Ternes, um eine gute Schlachtplatte zu essen. Mir gefällt der antiquierte Charme dieser Brasserie und ihrer Gäste, und ich glaube, genau das mißfällt Alex. Doch da er mein Freund ist und ich ihm auch keine Wahl lasse, schleife ich ihn hin und wieder dorthin. Wir folgen einer reizenden jungen Dame an unseren Tisch, da sehe ich fünf Meter weiter zu meiner Rechten Johnny Hallyday und seine Frau, die in Gesellschaft von zwei weiteren Personen zu Mittag essen. Während ich auf der Bank hinten Platz nehme (ich war an jenem Tag schneller als Alex), zeige ich meinem Freund mit einem vielsagenden Blick den großen Star, der wenige Tische entfernt sitzt. Da merken wir, daß die Augen aller Gäste auf Johnny gerichtet sind. Er ist natürlich nicht der erste Star, den ich in natura sehe, aber komischerweise merke ich, daß auch ich von der Anwesenheit dieses Mannes im Restaurant genauso fasziniert bin wie alle anderen. Als uns die Kellnerin die üppige Schlachtplatte bringt, kommt mir eine Frage in den Sinn: Und wenn ich Johnny Hallyday nun hier in diesem Restaurant töte – werde ich dann auch berühmt? Ich frage Alex umgehend, wie er darüber denkt. Für ihn steht die Antwort zweifelsfrei fest: Noch vor Einbruch der Nacht würden alle Franzosen meinen Namen und mein Gesicht kennen. Nicht schlecht, aber ich müßte mich damit abfinden, daß meine plötzliche Berühmtheit die Grenzen Frankreichs nicht überschreiten würde. Und das nur, weil sich Johnny und seine Wahnsinnsstimme in fast vierzig Jahren Karriere nie dauerhaft in einem anderen Land durchsetzen 33
konnten. Nein, zwanzig Jahre Gefängnis abzusitzen, um lediglich in Frankreich und vielleicht in Belgien bekannt zu sein, dazu bin ich zu ehrgeizig. Kurze Zeit später verlassen Johnny und seine Laeticia die Brasserie und steigen in eine schwarze S-Klasse. Echt ein ziemlich dicker Wagen für so einen kleinen Star. Wenn man darüber nachdenkt, sind in der Tat zahlreiche Mörder in die Geschichte eingegangen. Heinrich IV. wurde Sie wissen schon von wem erdolcht, Marat von der fanatischen Charlotte im Bad erstochen; die ganze Welt kennt den Namen des Kennedy-Mörders und sogar den des Kennedy-MörderMörders (Jack Ruby für die Jüngsten unter euch). Wer in Frankreich hat Mörder wie Landru, Petiot oder Patrick Henry vergessen? Niemand. Dabei haben sie es sich nicht leichtgemacht und sind das Risiko eingegangen, in der Namenlosigkeit zu verbleiben, indem sie Namenlose töteten. Das Glück hat es ihnen dennoch ermöglicht, daß ihre Namen der Nachwelt erhalten blieben. Man erinnert sich auch, daß Claude François von der Électricité de France umgebracht wurde und daß sie auf Gainsbourg zu zweit losgehen mußten: Philip Morris und Johnny Walker. Ein Verbrechen zieht mitunter große Berühmtheit nach sich. Doch nehmen wir einmal an, ich wollte hoch hinaus – wen müßte ich am Anfang dieses Jahrtausends töten, um mit Sicherheit bei den sechs Milliarden Menschen auf dieser Erde bekannt zu werden? Alex und ich überlegen eine Weile, bevor wir ein paar Namen nennen, die uns einfallen. Den Papst? Bush? Michael Jackson? Bin Laden? Die Königin von England? Letzten Endes eine Handvoll Frauen und Männer, bei denen es übrigens nur wenig wahrscheinlich ist, daß ich ihnen eines Tages in meinen Stammlokalen begegne. Die Agentur, bei der ich angestellt bin, liegt nicht weit von den Fernsehsendern Canal+, TF1 und France Television entfernt. Man sieht in den Restaurants des Viertels also nicht 34
selten mehr oder weniger große Fernsehstars. Nach unserem Essen in der Brasserie konnten wir es uns tagelang nicht verkneifen, immer wieder in unser hinterlistiges Spiel einzusteigen. Wir streiften auch die Frage, eine bekannte Schauspielerin oder Sängerin zu vergewaltigen, verwarfen den Gedanken jedoch schnell. Die Grenzen des Humors sind nicht bestimmbar. Tod und selbst Mord gehören zu den Themen, über die man in unserer Gesellschaft lachen kann, keinesfalls aber über eine Vergewaltigung. Inzwischen habe ich meine Mordgelüste abgelegt. Ich kann nun einem Fernsehstar in einem Restaurant begegnen, ohne daran zu denken, ihn zu töten, ihn zu vergewaltigen oder um seine Hand anzuhalten. Er kann in Ruhe essen, ich will ihm nun nichts Böses mehr.
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Bei meinem ersten Besuch in Los Angeles – das war 1997 – habe ich meinen Namen auf einen kleinen Zettel geschrieben und ihn auf einen Stern am Hollywood Boulevard geklebt. Hollywood Reporter, April 2005
Ich habe nun doch die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen, die mir die Regierung schon so lange anbietet. Franzose zu sein ist schön. Aber ich hatte genug davon, in der zweiten Liga zu spielen. Studio Magazine, September 2010
Amerikaner zu werden war meine Entscheidung. Ich lebe ja acht Monate im Jahr in Kalifornien. Und wenn es dann noch dazu beiträgt, die Vereinigten Staaten in der Welt bekannt zu machen, um so besser! Diario de Noticias, 16. Oktober 2010
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8 Der iMac auf dem Tisch hinter mir summt ziemlich laut, aber ich habe nicht den Nerv, aufzustehen und ihn auszuschalten. Ehrlich gesagt, kriegt mich heute abend nichts mehr von meinem Sofa herunter. Ich bin erschöpft von einem langen Arbeitstag und habe nicht einmal mehr die Kraft, über die zwerchfellerschütternden Repliken von Woody Allen in Broadway Danny Rose zu lachen, der im Fernsehen läuft. Gerade habe ich meine Levi’s aufgeknöpft, um die Pizza von Pizza Hut und die Cola besser zu verdauen, die mir ein sympathischer junger Mann geliefert hat. Lieber hätte ich mir einen Big Mac und Fritten reingezogen, aber es ist heute einfach viel zu kalt, um vor die Tür zu gehen. Ich stelle meine New Balances – die stinken wie die Pest – vom Sofa und von meiner Nase weg und ziehe ein altes RalphLauren-Sweatshirt über; es riecht gut nach dem Calvin-KleinParfüm, das ich hin und wieder benutze. Auf meiner Nike-Uhr ist es nun 23 Uhr 43, und ich beschließe, schlafen zu gehen. Nachdem ich mir die Zähne mit einem Klecks Colgate geputzt habe, schlüpfe ich unter die Decke und küsse zärtlich Marie, die den letzten John Irving liest. Ich stopfe mir ein Kissen unter den Kopf und weise sie darauf hin, daß wir seit drei Jahren nicht mehr im Eurodisney waren. Sie will aber nicht reden und wünscht mir eine gute Nacht, ohne von ihrem Buch aufzusehen. Ich schlafe ein, während ich mir vorstelle, am Steuer eines großen schwarzlackierten Jeeps mit Vierradantrieb zu sitzen, der mir heute morgen vor der GAP-Boutique an den Champs-Élysées aufgefallen ist … A-me-ri-ka, A-me-ri-ka, ich will es ha-ben, und ich wer-de es ha-ben! 37
Offen gesagt, momentan hat eher Amerika mich. Ich bin der lebende Beweis für den amerikanischen Imperialismus. An manchen Tagen verdiene ich fast einen Anruf des USPräsidenten, der mich dazu beglückwünscht, die Wirtschaft seines Landes mit soviel Eifer und Loyalität zu unterstützen. A-me-ri-ka, A-me-ri-ka, ich will es ha-ben, und ich wer-de es ha-ben! Amerika macht mich träumen – nicht aber die Amerikaner, die aus dem Kapitalismus eine Religion, aus dem Individualismus eine Tugend und aus dem elektrischen Stuhl eine Lösung gemacht haben. Nein, das Amerika, das mich träumen macht, ist das Amerika, das die Welt unterhält, das Publikum in dunklen Sälen betört. Gut, das Kino wurde nicht in Hollywood geboren, aber wie jeder gute Immigrant, der den Atlantik zu Anfang des letzten Jahrhunderts überquerte, bekam es gleich bei seiner Ankunft die amerikanische Staatsbürgerschaft. Und gut, das Kino, das dort drüben gemacht wird, ist nicht immer das intelligenteste und auch nicht das raffinierteste der Welt, doch ob man will oder nicht: Es ist eben das Kino, dem wir oft den Vorzug geben. A-me-ri-ka, A-me-ri-ka, ich will es ha-ben, und ich wer-de es ha-ben! Los Angeles, Stadt der Engel. Das stimmt, wenn man in Betracht zieht, daß Engel größenwahnsinnig, habgierig, neidisch, egozentrisch, heuchlerisch, zugedröhnt, besessen und Möchtegerns sind. Mitunter hatte ich Gelegenheit, mit Engeln zu arbeiten, und ich muß zugeben, daß meine Beziehungen zu ihnen nicht immer göttlich waren. So werde ich beispielsweise nie die unerträgliche Arroganz vergessen, die vor ein paar Jahren ein berühmter HollywoodRegisseur (dessen Namen ich lieber verschweige) an den Tag legte. Wir waren seit über einer Stunde völlig uneins über das 38
Casting in dem geplanten Werbefilm, da brachte er mir gegenüber extrem drohend und – wie ich dazusagen muß – absolut nicht im Scherz ein letztes unsägliches Argument vor: »Hör mal, Guillaume, erinnere dich daran, wer den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat. Wart das ihr, oder waren das wir? Also, hier wird gemacht, was ich sage, verdammt!« Ich traute meinen Ohren nicht. Doch der bestürzte Blick meiner Kollegen im Raum bestätigte mir, daß ich nicht geträumt hatte. Drei Wochen später wurde der Film unter der Leitung eines anderen Regisseurs gedreht; ich habe es mir zur unumstößlichen Regel gemacht, niemals mit Arschlöchern zu arbeiten, so talentiert sie auch sein mögen. A-me-ri-ka, A-me-ri-ka, ich will es ha-ben, und ich wer-de es ha-ben! Vor zwei Jahren stieß ich beim Surfen im Internet auf die offizielle Site des Hollywood Sign, auf die berühmten riesigen Buchstaben, die auf dem Hügel über Los Angeles prangen. Zu meiner großen Überraschung entdeckte ich, daß die Stadt nicht einen einzigen Dollar ihres kommunalen Etats in die Instandhaltung und Vermarktung des Monuments steckt. Nur eine vom Staat Kalifornien anerkannte nicht-profitorientierte Organisation (ja, ja, so etwas gibt es in den USA) setzt auf die Großzügigkeit der Öffentlichkeit und der Internet-Nutzer, um das Überleben dieses gigantischen Sehtests zu sichern. Wie alle Welt weiß, fehlt in Hollywood das Geld … Ich fühlte mich ganz persönlich betroffen von dieser großen Sache und beschloß, hundert Dollar an diese Vereinigung zu schicken, und ich muß sagen, als ich der langen Liste der großzügigen Spender für das Hollywood Sign (Eastwood, Redford, Hanks, Wilder, De Palma …) meinen Namen hinzufügte, hatte ich das etwas lächerliche, aber dennoch berauschende Gefühl, endlich zur legendären Familie des amerikanischen Kinos zu gehören. Hundert Dollar, das klingt nicht nach viel, doch damit kann man ausreichend Farbe kaufen, »Acrylfarbe für außen«, um 39
den Querbalken des Buchstabens H oder einen Teil der drei O im Wort Hollywood wieder strahlend weiß zu streichen. Ihr dürft also kurz an mich denken, wenn ihr das nächste Mal nach Los Angeles reist und an diesem wunderbaren Symbol vorbeifahrt, das zum Teil auf meine Kosten instandgehalten wird. Vielleicht haben diese hundert Dollar in Wirklichkeit auch dazu gedient, für eine knappe halbe Stunde die nächtliche Beleuchtung zu bezahlen. Ich kann mir keinen schöneren Nutzen meiner Spende erträumen. Stellt euch das vor: Mir ist es zu verdanken, daß Hollywood für einige Minuten erstrahlte. A-me-ri-ka, A-me-ri-ka, ich will es ha-ben, und ich wer-de es ha-ben! Geduld, Geduld … Mein tolles Charisma und mein unverschämter Erfolg machen aus mir bald die größte Legende der Filmkunst. König von Hollywood – gebt zu, daß es erbärmlichere Schicksale auf dieser Erde zu erfüllen gibt. Heute macht mich Amerika träumen. Morgen mache ich Amerika träumen.
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Geschirrspülen ist eine Hausarbeit, die mich noch nie angeödet hat. Im Gegenteil, ich mache es gern. In Wahrheit ist es fast ein Hobby! Die Hände ins Wasser und in den Schaum zu tauchen, einem Stapel schmutziger Teller oder einer Backplatte wieder zu Schönheit zu verhelfen ist eine Herausforderung, der ich mich immer wieder gern stelle. Eines der leidenschaftlichen Bekenntnisse, die ich gegenüber der Zeitschrift ELLE USA im Januar 2012 äußere.
Ich habe keinen einzigen Spiegel bei mir zu Hause. Wenn ich Lust habe, mein Gesicht zu sehen, nehme ich aufs Geratewohl eine Zeitschrift und betrachte die Titelseite. Celebrity Profile, El, 11. Oktober 2015
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9 Wenn ihr Verleger oder Chefredakteure eines Boulevardblattes seid, habe ich ausgezeichnete Neuigkeiten für euch. Das ist höchste Zeit, werdet ihr sagen. Ich weiß, wie sehr euer Berufsstand in den letzten Jahren gelitten hat. Es fing damit an, daß ihr Prinzessin Diana verloren habt. Von einem Tag auf den anderen waren die Schlagzeilen eurer Zeitschriften verwaist. Untröstlich. Letzten Endes wurden nicht nur Lady Di und ihre Freunde am dreizehnten Pfeiler des Pont-de-l’Alma-Tunnels zermalmt, sondern auch eure Verkaufszahlen. Durch die Untersuchung des Unfallhergangs konntet ihr noch ein paar Wochen länger eine gute Figur machen, aber gebt zu, daß euch das Hinscheiden der Prinzessin, die goldene Eier legte, fast an den Bettelstab brachte. Zum Glück hattet ihr noch Darling Junior, John John Kennedy. Sein Liebes- und Berufsleben war vielversprechend. Doch wieder ein harter Schlag für euch. Eure Chancen, bei den Lesern wieder zu punkten, verflüchtigten sich in dem Moment, da sein Flugzeug vor Martha’s Vineyard an der Ostküste der Vereinigten Staaten abstürzte. Und die Pechsträhne war damit noch nicht vorbei. Brad Pitt kam – zumindest vorübergehend – unter die Haube, Madonna ebenfalls. DiCaprio ist nicht mehr der Star, der er einmal war, und Pamela Anderson wechselt auch nicht mehr sooft die Kerle. Die kleinen Geheimnisse aus dem Leben von Jennifer Lopez, Bruce Willis oder Julia Roberts interessieren niemanden. Es ist eine Tatsache, daß ihr niemanden gefunden habt, der das Zeug hätte, die Massen wieder zu begeistern. Eine Katastrophe! Ich frage mich, wie ihr es in den letzten vier Jahren geschafft habt, überhaupt ein bißchen Papier zu verkaufen.
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Doch beruhigt euch, die Sauregurkenzeit ist fast vorbei. Geduld, Geduld … In ein paar Monaten habt ihr wieder Erfolg und das dazugehörige Lächeln auf dem Gesicht. Wie ich dessen so sicher sein kann? Ach, ganz einfach, weil ich euer Retter bin! Ja, ich! Mein unglaublicher Erfolg ist auch der eure. Mein Gesicht auf den Titelseiten eurer Zeitschriften ist für die nächsten zwanzig Jahre eure Lebensversicherung. Je mehr ihr über mich sprecht, desto mehr verkauft ihr – das garantiere ich euch. Ihr werdet schon sehen, daß ihr mein Gesicht auf den Titelseiten eurer Illustrierten bringen werdet – Boulevardblatt hin oder her –, und sei es auch nur, um euren Lesern zu erklären, daß mein Gesicht auf den Titelseiten eurer Illustrierten die Weltpresse gerettet hat. Manche Leute vermachen ihren toten Körper der Wissenschaft. Ich vermache meinen lebenden Körper der Presse. Doch damit wir uns richtig verstehen – ich will keine bevorzugte Behandlung. Ich will die Totaloperation. Erschafft mir ein Leben. Schenkt mir das Leben. Bringt beispielsweise alle Gerüchte über mich in Umlauf. Ihr dürft auf keinen Fall zögern. Sagt, daß ich in Wirklichkeit ein Außerirdischer wäre, der im kanadischen Busch unter Wölfen aufgewachsen ist. Sagt, daß ich zwei Schwänze hätte. Sagt auch, daß ich ein unverbesserlicher Trinker wäre, ein brutaler Macho, ein Scheißdrogi und ein begeisterter Anhänger der Zoophilie … Schreibt die Interviews mit mir und mit meinen Putzfrauen vollständig um. Schnüffelt, entstellt, übertreibt, lügt, dichtet hinzu, enthüllt, verfälscht, vermischt, verdächtigt, vermutet. Macht auf Humor, Tragik, auch Niedertracht. Erfindet für mich Beziehungen, Kummer, Freuden, Gesundheits- und Geldprobleme, Sorgen, Feinde. Und fälscht vor allem die Fotos. Retuschiert sie, macht daraus wüste Montagen, kopiert mein Gesicht in Bilder von Pornodarstellern in voller Aktion … Vergeßt vor allem nicht, eure Leser träumen zu machen. 43
Träumen zu machen ist von öffentlichem Nutzen. Überschätzt mein Vermögen, sprecht von meinen fünfzehn Villen und meinen achtzig Luxuskarossen, erzählt, daß mein Tagesablauf oft aus Helikopter – Casino – Vögeln besteht. Los, los, nur zu … Von Zeit zu Zeit versuchen gewisse Promis, uns weiszumachen, der Ruhm hätte ihr Leben zerstört, und nun gingen sie an schrecklichem Seelenleid zugrunde. »Die Paparazzi verfolgen mich ständig, nie kann ich mir in Ruhe eine Line Koks reinziehen!« »Würden Sie, verehrter Herr, ein Leben wie meines führen wollen, depriviert von Privatleben?« Diese Taktlosigkeit und die lächerlichen provokanten Erklärungen haben mich schon immer angewidert. Meiner Meinung nach hat ein Star kein Recht, sich über die schwierigen Folgen seiner Berühmtheit zu beklagen. Aber man hat von einem Star ja auch noch nie verlangt, durch Intelligenz zu glänzen. Ich habe jedenfalls mit all diesem Blödsinn nichts zu tun. Macht mich zum Liebling eurer Klatschblätter, und ich setze mich mit den angeblich existentiellen Problemen auseinander, die das mit sich bringt. Ich glaube im Gegenteil, es würde mich wirklich umbrinigen, in den nächsten Jahren nicht auf euren Seiten zu erscheinen. Ich träume schon so lange davon, euch wegen der »Angriffe auf meine Privatsphäre« und der »Verletzung des Persönlichkeitsrechts« den Prozeß zu machen. Ich möchte auch die Paparazzi beruhigen, die zur Zeit so deprimiert sind. Lächelt, meine Herren, ihr werdet euch eine goldene Nase verdienen. Laßt euch nicht mehr als Punching Ball für diese patzigen Stars benutzen. Sucht euch eine willigere Beute. Bald wird zur Jagd geblasen, und ich verspreche euch: Ich bin das ideale Wild. Ich begnüge mich damit, ganz einfach mein Leben zu leben, und überlasse es euch, einen unscharfen Fotoroman daraus zu machen. Genießt 44
es in vollen Zügen. Spioniert mich den ganzen Tag lang aus, bedrängt mich. Richtet die stärksten Teleobjektive auf mich. Erklärt mich zur Beute und schießt drauflos. Ich will, daß es um mich herum nur so kracht. Und habt bitte vor nichts Respekt. Haltet euch nicht zurück. Versteckt euch wochenlang vor meinem Haus, landet mit dem Fallschirm auf meiner Terrasse, tarnt euch als Baum, kriecht in meinem Park über den Rasen, folgt mir in Restaurants auf die Toilette und schiebt eure Kamera unter der Tür durch, um mich auf der Kloschüssel zu erwischen, wühlt in meinen Mülleimern und enthüllt der ganzen Welt meine Lieblingskeksmarke und den Namen meiner Antihämorrhoidensalbe. Macht einfach euren Job, aber macht ihn gut. Dreist und phantasievoll. Selbstverständlich gibt es niemals eine Komplizenschaft zwischen uns – keine gestellten Szenen, keine gestellten Fotos. Die Öffentlichkeit würde es sofort merken und es mißbilligen. Und wenn ich es satt habe, unter ständiger Beobachtung zu stehen, lasse ich es euch wissen. Doch ich warne euch lieber gleich: Wenn ihr euch dann weigert, eure Teleobjektive zu senken, werde ich überaus ärgerlich und sehe mich gezwungen, die Dienste berüchtigter Personen in Anspruch zu nehmen, die euch mit allen Mitteln die Lust austreiben, mich zu belästigen. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt. Unterdessen, Paparazzi aller Länder, vereinigt euch. Und haltet euch bereit. Prüft eure Ausrüstung, reinigt eure Objektive, füllt alle Taschen mit Filmen. Bald beginnt das Spektakel meines Lebens, und ich habe euch schon alle Plätze in der ersten Reihe reserviert.
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Während der Promotion eines Films gebe ich weltweit zwischen drei- und vierhundert Interviews. Wenn ich dann eines Tages zu allen Journalisten das gleiche sage, bin ich wohl verrückt geworden! Paris-Match, Juni 2011 People Magazine, Juni 2011 The Daily Telegraph, Juli 2011 Corriere della Sera, Juli 2011 Times of India, Juli 2011
Es stört Sie doch nicht, wenn ich das Band einschalte und im Playback auf Ihre Fragen antworte? Wenige Minuten vor einem Interview mit dem texanischen Sender KXAS am 30. April 2014
Jetzt haben wir genug von mir gesprochen, Oprah; reden wir nun über Sie! Hat Ihnen mein letzter Film gefallen? »Oprah Winfrey Show«, ABC, 3. April 2008
Journalisten, die sich für originell halten, fragen mich immer: »Welche Frage stellt man Ihnen am häufigsten?« Genau diese! The Australian, 29. November 2009
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10 Guillaume Durand soll die traurige Aufgabe zufallen, mich zum ersten Mal im Fernsehen zu interviewen. Wirklich schade, daß es ihn trifft, denn ich mag ihn eigentlich ganz gern. Ich nutze also dieses Buch, um mich bei ihm aufrichtig für dieses ungewollte, aber rundum eingeplante Fiasko zu entschuldigen. Ich entdeckte Guillaume Durand zur gleichen Zeit wie alle anderen, nämlich 1990/91, als er die Zügel der Acht-UhrNachrichten auf dem Berlusconi-Sender La Cinq in der Hand hielt. Diese Energie, dieser Enthusiasmus, dieser Realitätssinn! Er vermittelte den Eindruck, daß sich der Golfkrieg direkt in seinem Studio abspielte (seine Frisur hat sich übrigens nie wieder ganz von der berühmten Operation »Wüstensturm« erholt). Die Zuschauer hatten einen redegewandten, lockeren Sprecher vor sich, der, wenn auch ein bißchen reißerisch, so doch auf alle Fälle weit von den Worthülsen entfernt war, die in Journalistenschulen am Fließband produziert werden. Gut, man mußte sich an seine verbalen Ticks gewöhnen, an sein wiederholtes »Wie soll ich sagen?«, an sein »Entschuldigen Sie diese Ausdrucksweise« und an die längsten »Ähs« des Nachdenkens in der kurzen Geschichte des Fernsehens, die mich heute – so muß ich zugeben – weitaus mehr amüsieren als nerven. Ich erinnere mich, daß ich Durand und seiner kleinen Familie während einer Ferienwoche in einem Hotel in Courchevel begegnete. Das war im März oder April 1999, ich weiß es nicht mehr genau. Er hatte gerade erfahren, daß seine Sendung »Nulle part ailleurs – Nirgendwo anders« von nun an »Va voir ailleurs – Sieh dich woanders um« heißen würde, und ich war dort, um den Dreh eines Werbespots mit der hinreißenden Claudia Schiffer zu koordinieren. Zum Aperitif 47
hing er allein mit einem Glas in der Hand in der großen Lobby im Erdgeschoß herum und schielte aus den Augenwinkeln neidisch auf unsere kleine Truppe voller Leben und Lachen. Seine Rehabilitation im Fernsehen erwies sich als schwierig, und die kleinen Scherze, die wir hin und wieder machten, konnten ihm das Lächeln auch nicht dauerhaft aufs Gesicht zurückzaubern. Heute, fünf Jahre später, hat Durand wirklich keinen Grund mehr, sich um seine Zukunft zu sorgen. Die literarische Sendung »Campus«, die er seit drei Staffeln auf France 2 moderiert, gewann schließlich die Gunst seines Berufsstandes und der Öffentlichkeit. Der Moderator ist wieder in Mode. Und zwar so sehr, daß der Sender sich im Herbst 2006 entschließen wird, voll auf ihn zu setzen und ihm die Moderation einer großen Sensationssendung zur Primetime zu übertragen. »La petite Bête«, so der Name der Sendung, die jeden Montag um 20 Uhr 50 live ausgestrahlt wird und »den Franzosen das enthüllt, was man ihnen normalerweise vorenthält«. Ein Riesenprogramm! Fünf Tage vor der ersten Sendung wird mich Florence Agnel, die Produzentin der Sendung, auf meinem Handy anrufen: »Ich kontaktiere Sie, weil Guillaume Durand und ich Sie für nächste Woche unbedingt ins Studio einladen wollen …« »Das ist nett, aber …« »Ich weiß, daß Sie bislang an Ihrer Entscheidung festgehalten haben, kein Interview zu dem Prozeß zu geben, den Sie gegen Tom Cruise anstrengen, aber ich erlaube mir, darauf zu bestehen. Die ganze Welt stellt sich Fragen und hätte gern Antworten.« »…« »Guillaume, sind Sie noch dran?« »Ja, ja, ich höre.«
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»Offenbar haben Sie die Einladungen zu den Nachrichtensendungen bei TF1 und France 2 abgelehnt …« »Sie sind gut informiert.« »Ich denke, Sie hatten Ihre Gründe, dort abzusagen. Fünf Minuten hätten sicher nicht gereicht, Ihren Schritt und Ihre Beweggründe im einzelnen darzulegen … Wir bieten Ihnen zwanzig Minuten in unserer Sendung, um sich ausführlich zu erklären. Was halten Sie davon?« »Ich weiß nicht …« »Zwanzig Minuten in einer Sendung um 20 Uhr 50, das ist eine einmalige Gelegenheit. Zwischen fünf und sieben Millionen Zuschauer sind zugeschaltet; das ist enorm!« »Das ist enorm«, wiederhole ich, weil mir nichts anderes einfällt. »Selbstverständlich sprechen Sie mit Durand die Fragen ab, auf die Sie antworten wollen, das ist klar.« Am Ende erliege ich ihrem Enthusiasmus, aber ich sage ihr auch klipp und klar: »Einverstanden. Hören Sie, ich komme in Ihre Sendung, aber ich behalte mir das Recht vor, auf Durands Fragen nur mit Ja oder Nein zu antworten.« Die Produzentin ist im siebten Himmel. »Kein Problem. Wie Sie wollen. Hauptsache, Sie sind da, und die Zuschauer können Sie kennenlernen. Danke für Ihr Vertrauen, ich verspreche Ihnen, Sie werden Ihre Entscheidung nicht bereuen … bla bla bla …« Am Ende des Telefonats überkommt mich eine irrsinnige Aufregung. Ich rufe sie gleich zurück und sage, daß ich diese Sendung auf keinen Fall machen kann: Hören Sie, Madame, ich bin schon unfähig, vor einem kleinen Publikum zwei Worte aneinanderzureihen – sagen Sie mir also, wie ich noch mehr Worte vor fünf Millionen Menschen auf die Reihe kriegen soll. Soll ich Ihnen sagen, was Guillaume kurz vor dem Interview sagen wird? Danke, daß Sie dem verlegensten Menschen der 49
Welt einen so herzlichen Empfang hier im Studio bereitet haben! Nein, das geht auf keinen Fall. Danke, daß Sie an mich gedacht haben, aber ich kann nicht kommen. Seien Sie mir bitte nicht böse … Doch ich gebe den Gedanken, sie anzurufen, schnell wieder auf. Begossene Pudel lernen manchmal, sich abzutrocknen. Tag X, Stunde X-1. Der Abend beginnt wie erwartet. Unter den schlimmsten Bedingungen. Nachdem ich die zahlreichen Versuche meines Rasiermessers, mir die Kehle durchzuschneiden, überlebt habe, entstelle ich mich noch ein bißchen mehr, indem ich mit meinen dicken Fingern alle Pickel ausdrücke, die an diesem Tag auf meiner Stirn und auf meinem Kinn gesprossen sind. Meine Gesichtshaut diente mir schon immer als Kalender, in dem sich alle großen Rendezvous meines Lebens erhaben in Rot eintragen. Bevor ich das Badezimmer verlasse, werfe ich noch einen kurzen Blick auf meine neue Frisur und werde mir schließlich der Tragödie bewußt. Was für ein Schwachsinn, daß ich heute morgen zum Friseur gegangen bin! Wie ein frisch getrimmter Pudel. Ich trete doch heute abend nicht in einer Tiersendung auf! Gleich darauf versuche ich im Schlafzimmer, die Hose meines brandneuen Anzugs zuzumachen, und stehe kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Wie konnte ich in achtundvierzig Stunden so viel zunehmen? Gewissermaßen mit Tränen in den Augen finde ich mich damit ab und lasse den Knopf und die obere Hälfte des Reißverschlusses offen, damit mein Bauch atmen kann. Erst eine Viertelstunde später, wenn ich dann mein Jackett anziehe, finde ich mein Lächeln wieder und danke den weiten dunklen Stoffbahnen, daß sie dieses schändliche Geheimnis kaschieren. Marie, auch sie völlig aus dem Häuschen, streckt den Kopf ins Zimmer. 50
»Und du willst wirklich nicht, daß ich dich begleite?« »Wir haben das doch besprochen. Siehst du nicht, wie gestreßt ich bin? Wir würden uns auf dem Weg nur streiten.« Marie besteht nicht weiter darauf. »Wann mußt du im Studio sein?« »Um 20 Uhr, glaube ich. Du kannst auf dem Schreiben im Flur nachsehen.« Freundlich erweist sie mir diesen kleinen Dienst. »Ja, um 20 Uhr. Und weißt du, wie spät es jetzt ist?« Am Ton ihrer Stimme wird mir klar, daß gleich etwas Schlimmes kommt. »Es ist 20 Uhr 13, mein Schatz!« »Verdammte Scheiße!« Vierzehn Minuten später – laut der Telefonistin in der Taxizentrale fünf Minuten – werfe ich mich auf den Rücksitz eines grauen Peugeot 406 und gebe dem Fahrer die Adresse des Studios in Boulogne-Billancourt. Um 20 Uhr 56, nach einem kurzen Aufenthalt in der Maske, renne ich ins Studio und begrüße schnell Guillaume Durand, seine Redakteure und die anderen Gäste der Sendung, die schon um den großen Mattglastisch versammelt sind. Er deutet auf einen Stuhl und kann es sich nicht verkneifen, meine Verspätung mit dem Scheißsatz zu kommentieren: »Wir dachten schon, Sie kämen nicht!« Ich antworte mit einem schüchternen »Ich auch« und nehme auf meinem schmalen Stuhl Platz. »In einer Minute auf Sendung!« brüllt der Regisseur, der in einem kleinen Kabuff weit entfernt vom Studio hockt. Stille wird gefordert. Durand fährt sich ein letztes Mal mit der Hand durchs Haar, um sicherzugehen, daß es auch richtig zerzaust ist. Mit schrecklich zugeschnürter Kehle verschlucke ich mich an meiner Spucke, was einen peinlichen Husten hervorruft. Doch wenn die junge Assistentin dann mit dem Countdown beginnt, ist alles wieder in Ordnung. 51
Zehn Sekunden … neun … acht … Ich habe nicht den Nerv, die letzten Sekunden laut mitzuzählen wie an Silvester. Was mache ich eigentlich hier? … Scheißegal, ich stehe auf und verkrümle mich … Diese Sendung sieht sowieso niemand an … Ich hätte wirklich abnehmen sollen … Scheiße, mich juckt es am Arsch! … Wie heiße ich noch mal? … Ach ja, Guillaume de la Croix … Mama, ich will sterben! Trotz der dicken Schicht Make-up erröte ich plötzlich und zeige damit allen Leuten im Studio an, daß die Sendung begonnen hat. Nach einem resoluten, strahlenden »Guten Abend« enthüllt Durand den Zuschauern die Themen der Sendung und stellt seine Gäste und Mitarbeiter vor, die um ihn versammelt sind. Ich spüre, wie sich die Kameras auf mich richten, wenn der Moderator meinen Namen nennt. Mit aller Kraft beschwöre ich ein Lächeln herauf, das leider nicht kommen will. Als verlangte man von einem zum Tode Verurteilten bei seiner Hinrichtung ein bißchen Heiterkeit. Die Sendung beginnt mit einem stahlharten Duell zwischen Durand und meinem rechten Nachbarn, dem unverwüstlichen Bernard Tapie. Äußerst schlechtgelaunt verkündet der ExPräsident von Olympique Marseille und Ex-Alles-und-Jedes unter anderem sein großes Comeback in der Politik. Der Moderator kann sich keine schönere Sensation für seine erste Sendung erträumen. Um 21 Uhr 36 ist das Gespräch der beiden zu Ende. Dann dreht sich Durand zu mir, ohne ein Wort zu sagen. Tusch, um den Themenwechsel anzukündigen. Meine Hände und mein Gesicht stehen buchstäblich unter Wasser. Aufgeregt, eingezwängt in meinem zu kleinen Anzug und gebraten in der drückenden Hitze der Scheinwerfer, erscheine ich so durchnäßt wie Johnny Hallyday am Ende eines Konzerts auf Sendung. Welch ein Horror! Bei Herzversagen weder ein Atemgerät noch einen Defibrillator in Reichweite, denke ich sofort. Anlegen! Feuer! 52
»Guillaume de la Croix, guten Abend noch einmal!« sagt der Moderator nach einem unschicklichen Räuspern zu mir. »Danke, daß Sie hier sind, hier bei uns im Studio. Äh … zuallererst eine Frage, die sich alle stellen … und die mir auf den Nägeln brennt: Beschuldigen Sie Tom Cruise wirklich, Ihnen Ihr Leben gestohlen zu haben?« Die Frage trifft mich wie ein Kopfschuß. Mein Geist nutzt meine Panik aus und verläßt mich schnöde. Ein wenig entnervt von meinem Schweigen, wiederholt der Hausherr die Frage. »Ja, wir würden einfach gern wissen, ob es Ihnen ernst damit ist, das verhätschelte Hollywood-Kind Tom Cruise zu verklagen, an Ihrer Stelle das Leben zu führen, das Ihnen vorbehalten war.« Der Moderator erhält als einzige Antwort von mir einen epileptischen Anfall. Das Lampenfieber und der Streß tragen an diesem Abend den Sieg davon. Mit einemmal fällt mein Leib mit einem dumpfen Knall zu Boden und beginnt unter dem verdutzten Blick des Studiopublikums und der Fernsehzuschauer zu zucken. Stellt euch diese Schande vor! Ein Kerl von über hundert Kilo fällt vom Stuhl, wenn man ihm eine einfache Frage stellt. Durand, auch er nun von starkem Zittern befallen, ruft den Regisseur zu Hilfe. »Philippe … äh, vielleicht wäre es besser … die Sendung zu unterbrechen und … äh … nach einer kurzen Pause wieder zu unseren Zuschauern zu schalten …« Die Regie gibt leider kein Lebenszeichen. Normalerweise machen sich Verwirrung und alles Ungeplante immer ganz gut im Fernsehen, doch in diesem Fall glauben die Zuschauer, die genau in diesem Moment auf France 2 zappen, daß sie auf ein beschissenes Remake von Der Exorzist gestoßen sind. Eine Kamera verfolgt den beherzten Einsatz einer Zuschauerin im Publikum, die mich reflexartig auf den Boden drückt, um zu verhindern, daß ich 53
mich mit meinem fahrigen und wilden Gefuchtel am Ende noch verletze. Eine andere, diskretere Kamera beschert den fünf Millionen Franzosen, die sicherlich vergnügt vor ihren Geräten sitzen, eine Großaufnahme meines Bauchs, der über meine aufgeknöpfte Hose quillt. Zum Glück macht ein Werbeblock diesem erbärmlichen Anblick ein Ende. Fünf Minuten später, wenn die Sendung wieder live ausgestrahlt wird, ist mein Körper aus dem Studio verschwunden, und im Publikum und bei den Gästen ist wieder Ruhe eingekehrt. Vor einer Kamera stehend, die Hände in den Taschen und die Haare zerzauster denn je, beruhigt Guillaume Durand zuerst die Zuschauer in bezug auf meinen Gesundheitszustand und kündigt mich dann als erneuten Gast bei einer der nächsten Sendungen an. Die Franzosen werden sich noch lange an meinen ersten Fernsehauftritt erinnern. Trotz meiner nachweislichen Unpäßlichkeit werde ich da sein, werde vor den Kameras auf meinem Stuhl sitzen (zumindest am Anfang), und ich verspreche euch, daß sich alles so abspielen wird, wie ich es gerade geschildert habe.
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11 Die Wahl fallt schließlich auf einen Ford Taurus. Circa zwölftausend Dollar, fünfhunderttausend verkaufte Wagen pro Jahr. Sozusagen das Auto des Durchschnittsamerikaners, von Mr. und Mrs. Everybody. Keine Angabe, kein Theater. Genau das, was wir suchen. Auf dem Beifahrersitz – der Assistent fährt – dreht sich Benton dann zu mir um und gibt mir letzte Anweisungen. »Der Prozeß beginnt, sobald Sie diese Wagentür aufmachen. Denken Sie immer daran, daß es nicht nur einen Richter gibt. In diesem Fall ist die ganze Welt Richter. Die Welt wird Sie beobachten, analysieren. Und die Welt muß das Gesicht eines Opfers sehen!« »Aber das bin ich doch.« »Das weiß ich, aber die Menschen da draußen wissen es nicht! Verbergen Sie jedes Gefühl außer Ihrem Schmerz. Seien Sie betrübt. Ein bißchen Theater, das ist alles. Hören Sie nicht auf das, was die Leute sagen, geben Sie keine Erklärungen ab. Vergessen Sie nie, daß man einen Prozeß auch außerhalb des Gerichtsgebäudes gewinnt.« Wir fahren mit gezügelter Geschwindigkeit durch die Center Street. Dennoch rasen die Hausnummern für meinen Geschmack ein wenig zu schnell vorbei. Plötzlich kommen wir vor Nummer 60, Center Street an; das ist die Adresse des Supreme Court Building in New York. Bei dem Menschenmeer vor dem Gebäude bekomme ich Angst. Benton spürt es sofort. »Keine Sorge, alles wird gutgehen.« »Und wenn wir den Hintereingang nehmen? Durch die Küche?«
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»Tut mir leid, Guillaume, in einem Gerichtsgebäude gibt es keine Küche. Und es gibt auch keinen anderen Eingang.« »Keinen anderen Eingang? Sicher?« Der Ford bremst. Ich lege meine Hand auf den kalten Türgriff. Mein Anwalt dreht sich ein letztes Mal zu mir um und macht mir mit den richtigen Worten ein bißchen Mut. »Ihr erstes Leben ist hier zu Ende, da draußen erwartet Sie ein zweites.« Jedenfalls ist es jetzt zu spät für einen Rückzieher. Ich hole tief Luft und steige aus dem Wagen, entschlossener denn je, mein Schicksal zu meistern. Eine eindrucksvolle Szenerie. Vor mir steigt eine Freitreppe an, gesäumt von Millionen Menschen, die mich beschimpfen und offen feindselige Transparente schwenken: »Hau ab, du kleiner Arschficker von einem Franzosen!« – »Du träumst von Hollywood, aber du kommst ins Gefängnis!« – »Guillaume de la Croix = Anti-Cruise = Anti-Amerikaner!« – »Frankreich soll sich bei den Vereinigten Staaten entschuldigen!« – »Tom Cruise ist unschuldig, fahr zur Hölle!« – »Auf dich wartet ein Leben im Gefängnis!« – »Mir hat Madonna das Leben gestohlen, aber ich halte die Klappe!« Benton macht mir ein Zeichen, das Empfangskomitee zu ignorieren und weiterzugehen. Der Aufstieg über die Treppen des Gerichtsgebäudes erinnert an die Filmfestspiele von Cannes: die spannungsgeladene Atmosphäre großer Tage. Einige Polizisten versuchen eher schlecht als recht, diese Leute am Rande der Hysterie hinter den Absperrungen zu halten. Oben an der Treppe heißt mich nicht der Präsident des Filmfestivals willkommen, sondern ein Schwarm von Mikrophonen, die die Worte des infamen Gauners aufnehmen wollen. Mein Anwalt verjagt sie wirksam mit einer ausladenden Armbewegung. Ich nutze den Moment, drehe
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mich um und betrachte diese kindliche und dennoch freudig erregte Meute. Vor dem Building brüllen Massen von Fotografen von allen Seiten meinen Namen, damit mein Blick ihre Objektive kreuzt. »Guillaume, bitte!« »Guillaume, hier!« Auf keinen Fall lächeln, denke ich. Du mußt diesem Drang um jeden Preis widerstehen, selbst wenn all die Aufregung und all dieser Wahnsinn dich dazu einladen. Erinnere dich, du bist ein einfacher Soldat und mußt den Befehlen von Hauptmann Benton Folge leisten. Beiß die Zähne zusammen, verdammt! Ich kann wahrlich nicht behaupten, daß ich mein erstes Bad in der Menge genieße. Schließlich betreten wir das Gerichtsgebäude und bahnen uns erfolgreich einen Weg durch die überfüllten Korridore. Eisiges Schweigen empfängt uns im brechend vollen Verhandlungssaal. Mein einziger Trost geht von den lächelnden Gesichtern meiner Eltern aus, die ich unter den Anwesenden entdecke. Wir setzten uns gerade auf unsere Plätze, als Tom Cruise und seine Schwadron Anwälte unter Applaus den Saal betreten. Der letzte Applaus, denke ich in einem Anflug von Sarkasmus. Als erstes fällt mir bei Tom Cruise auf, wie klein er ist. Ich überrage den größten Star der Welt leicht um zwei Köpfe. Man tröstet sich, so gut man kann … Der Schauspieler hat Johnnie Cochran mit seiner Verteidigung beauftragt. Jeder in den Vereinigten Staaten kennt Johnnie Cochran. Cochran, der Star der Anwaltskammer, der Mann, der 1995 die Meisterleistung vollbrachte, für O. J. Simpson einen Freispruch zu erringen. Im Reich des amerikanischen Plädoyers gibt es keine bessere Visitenkarte. Beobachter aller Couleur sind da einer Meinung: Ein Anwalt, der einen Schuldigen vor dem elektrischen Stuhl rettet, wird wohl keine Schwierigkeiten haben, einen Unschuldigen vor 57
dem Gefängnis zu bewahren. »Cochran wird aus Jack Benton und seinem kleinen Scheißfranzosen Hackfleisch machen!« titelt die Washington Post am Morgen des Prozesses. Kaum sitzt Tom Cruise, wendet er sich zu uns um. Ich halte seinem verächtlichen Blick mit einer solchen Unverfrorenheit stand, daß er aufgibt und die Augen niederschlägt. Eins zu null für mich. Die zehn Geschworenen betreten nun den Saal. Ohne sich auch nur im geringsten um das Protokoll zu scheren, verlassen sie ihre Bank, gehen direkt zu dem Star und bitten ihn um Autogramme. Die Wärter drängen sie sanft zurück. Eine Geschworene kommt auf mich zu. Die junge Frau, ziemlich süß übrigens, reicht mir einen Stift und einen kleinen Notizblock. Ein historischer Augenblick – mein erstes Autogramm. Mit Bentons Einverständnis setze ich meine Unterschrift auf ein Blatt und gebe den Block mit einem breiten Lächeln an seine Besitzerin zurück. Scheiße, ich sollte doch nicht lächeln! Ich habe Bentons Anweisungen zuwidergehandelt. Und wenn schon – was passiert ist, ist eben passiert. Die junge Frau betrachtet kurz das Autogramm und reißt es dann akribisch in kleine Stücke, die sie über unsere Köpfe rieseln läßt. Ein Wärter nimmt sie am Arm und bringt sie mit festem Griff zu ihrem Platz zurück. Eins zu eins. Plötzlich spielt ein Gerichtsdiener den Conférencier. Seine laute, tiefe Stimme verordnet Schweigen im Saal. »Fall Nr. 772225, Guillaume de la Croix gegen Tom Cruise. Meine Damen und Herren, erheben Sie sich. Die Sitzung ist eröffnet unter dem Vorsitz des ehrenwerten Richters Phil Rosenshine.« Während wir aufstehen, kommt der Richter eiligen Schritts in den Saal, geht geradewegs zu einem schäbigen Ledersessel hinter der Richterbank und plaziert sein massiges Gestell.
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In eindrucksvollem Schweigen setzen sich alle wieder. Kein Raunen, kein Hüsteln, nicht einmal das Klacken eines Absatzes auf dem Parkett stört diesen feierlichen Augenblick. Die Ruhe vor dem Sturm … Am Morgen des 8. Dezember 2006 beginnt dann mit einigen Minuten Verspätung der unglaublichste Prozeß der Weltgeschichte.
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12 Man sagt, Amerika sei das Land der Freiheit. Vor allem ist es das Land der Freiheit, gegen jeden Beliebigen vor Gericht zu ziehen. Denn, zugegeben, die Prozeßakte, die dieser Verhandlung zugrunde liegt, ist dünn. Sehr dünn. Dennoch braucht es nicht viel, um Tom Cruise vorzuladen, damit er vor Gericht ein paar Fragen beantwortet. Diesen ersten Sieg verdanke ich zum großen Teil dem Können und der Hartnäckigkeit meines Anwalts Jack Benton. Wir lernen uns im Juni 2006 kennen. Auf den Rat eines guten Freundes, an den ich mich wende, telefoniere ich eines Abends und vereinbare einen Termin mit dem Chef der Kanzlei Benton, Fish & Partner. Nach den Worten meines Kumpels die beste Kanzlei in New York. Also in der ganzen Welt. Drei Wochen später überquere ich den Atlantik und erzähle Benton die ganze Geschichte. Liegt es daran, daß ihm meine Nase gefällt? Daß ihn meine Verzweiflung anrührt? Jedenfalls ist Benton sofort von meiner Aufrichtigkeit überzeugt. »Die Anschuldigung, die Sie gegen Mr. Cruise erheben, verdienen eine Überprüfung. Ich glaube, Ihre Aussage ist hinreichend, um den Rechtsweg zu beschreiten. Auf einem so außerordentlichen Gebiet gibt es natürlich keine Präzedenzfälle … Ich weiß nicht, wohin uns diese Angelegenheit führen wird, aber sie interessiert mich. Ich biete Ihnen also alle Möglichkeiten von Benton, Fish & Partner an, um Ihnen dabei zu helfen, das Leben zurückzubekommen, das dieser Mann Ihnen gestohlen hat.« Mein Leben minus zehn Prozent. Denn auf diese Summe beläuft sich das Anwaltshonorar im Falle eines Sieges. Auf einen Schlag zehn Prozent von Tom Cruises Vermögen – das entspricht dem Bruttosozialprodukt von Portugal oder 60
Dänemark. Doch ich widersetze mich dieser finanziellen Bedingung nicht. »Sorgen Sie dafür, daß diese himmelschreiende Ungerechtigkeit aus der Welt geschafft wird, und ich unterschreibe jeden Scheck, den Sie wollen, Mr. Benton.« »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht. Ich verheimliche Ihnen nicht, daß es ein schwieriger Kampf wird, aber er ist nicht von vornherein verloren«, versichert mir Benton am Ende unseres Gesprächs. Dennoch muß man erst mal einen Richter finden, der Tom Cruise vorlädt. Nachdem Jack Benton die Liste der New Yorker Richter lange studiert hat, trifft er sich mit Phil Rosenshine. Der Anwalt begründet seine Wahl ganz einfach: »Er steht knapp zwei Jahre vor der Pensionierung. Er hat nichts mehr zu verlieren. Außerdem kenne ich ihn ein wenig. Der Gedanke, im Rampenlicht zu stehen, wird ihm nicht mißfallen. Ich bin sogar sicher, daß es ihm Spaß macht!« Einige Tage später empfängt der Richter meinen Anwalt und hört ihn aufmerksam an. Und lediglich aufgrund der Mutmaßungen, die Benton vorbringt, beschließt der Richter, ohne sich überhaupt mit der gegnerischen Partei ins Benehmen zu setzen, Mr. Cruise wegen »Unterschlagung und böswilliger Aneignung fremden Lebens« vorzuladen – eine kapitale Anschuldigung, die der Richter bei dieser Gelegenheit erfindet. Ein Unbekannter, der einen der größten Hollywood-Stars beschuldigt, ihm das Leben gestohlen zu haben, ist ein Skandal, der die ganze Welt mitreißt und natürlich die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zieht. Trotz des heftigen Einspruchs von Cruises Anwalt gestattet es Richter Rosenshine, daß drei Fernsehkameras in seinem Gerichtssaal aufgebaut werden. Die Verhandlung wird live auf allen Sendern der Welt übertragen. Täglich folgen mehr als eine Milliarde Menschen fasziniert dem Rechtsstreit gegen die Nummer eins von Hollywood. 61
Seine Unschuld steht natürlich außer Zweifel. Das Volksund Mediengericht hat bereits sein Urteil gefällt: Freispruch für Tom Cruise und zweihundertfünfzig Jahre Zuchthaus für den »französischen Bastard«. Noch ein schlechtes Omen: Die Buchmacher in England und Japan räumen mir nur eine Gewinnchance von sechshunderttausend zu eins ein. Anders gesagt: aufgerundet eine Verlustchance von hundert Prozent. O je, o je! Trotz der großen Zuversicht, die Benton verbreitet, erscheint eine Niederlage schon vor Beginn des Matchs unabwendbar. Der gegnerischen Mannschaft steht bereits der Sieg ins Gesicht geschrieben. Und der Schiedsrichter bekundet sogleich seine Präferenz: Während der Darlegung der Fakten zieht Richter Rosenshine ohne Skrupel eine kleine Digitalkamera aus der Tasche seiner Robe und macht ein paar Bilder von dem Schauspieler, der ihm bei dieser Gelegenheit sein hübschestes Lächeln schenkt; eine letzte Bestätigung – so eine vonnöten war – des enormen Sympathiekapitals, dessen sich der Star in den Schranken dieses Gerichts erfreut. Noch am selben Nachmittag werden die ersten Zeugen gehört. Benton ist ein sehr fähiger Mann. Es kann das Gericht überreden, mich erst kurz vor den Plädoyers als letzten Zeugen vorzusehen. Ein Punkt für uns. Gegen 14 Uhr 30 wird Margaret Lewis aufgerufen. Die Zuschauer können sich ein Kichern nicht verkneifen, als sie sehen, wie sich die Frau mit den langen lockigen Haaren erhebt und langsam durch den Saal zum Zeugenstand geht. Diese Reaktion überrascht mich nicht wirklich, denn – bei allem, was recht ist – Margaret Lewis’ Erscheinen vor Gericht kommt auch mir unnötig, wenn nicht gar grotesk vor. Immer noch von seiner guten Idee überzeugt, nähert Benton sich ihr mit entschlossenem Schritt. »Mrs. Lewis, ohne Gefahr zu laufen, sich zu irren, kann man behaupten, daß Sie die berühmteste Astrologin der Vereinigten 62
Staaten sind. Sie werden regelmäßig von den Medien eingeladen, zahlreiche Persönlichkeiten fragen Sie wöchentlich um Rat, Ihre Bücher sind Bestseller. Seit zwanzig Jahren erfreuen Sie sich in der Öffentlichkeit also eines ausgezeichneten Rufs …« Erster Einspruch von Johnnie Cochran. »Euer Ehren, darf ich Mr. Benton daran erinnern, daß er nicht hier ist, um Mrs. Lewis’ Lebenslauf darzulegen, und noch viel weniger, um ihr Publicity zu verschaffen!« Der Richter läßt den Einspruch der Verteidigung zu und bittet meinen Anwalt, seine Fragen vorzubringen. »Dazu wollte ich gerade kommen, Euer Ehren, aber ich hielt es für nötig, den Geschworenen die Zeugin vorzustellen. Mrs. Lewis’ Karriere …« »Stellen Sie Ihre Fragen!« verlangt Rosenshine ungeduldig. »Mrs. Lewis, auf meine Bitte hin haben Sie die Horoskope von Guillaume de la Croix und Tom Cruise erstellt. Beginnen wir mit Mr. de la Croix, wenn Sie so freundlich sein wollen. Welche Tendenzen zeichnen sich aufgrund Ihrer Analyse ab?« »Wenn man das astrologische Profil von Mr. de la Croix betrachtet, fällt sofort die besondere Stellung der Planeten bei seiner Geburt ins Auge. Diese Konstellation ist wirklich einzigartig, ja, außergewöhnlich. Diesem Mann ist eine große Zukunft beschieden. Die Sterne sind eindeutig.« »Können Sie das genauer erklären?« »Beispielsweise deutet der Mond im Wassermann ganz klar auf eine Prädestination zur Entschlossenheit hin, auf einen enormen Machtwillen. Die Position der Sonne zeigt übermäßigen Stolz und eine große Kraft, auf andere Menschen Faszination auszuüben. Man kann sagen, daß diese so besonderen Konfigurationen eindeutige Hinweise auf Reichtum und Berühmtheit sind. Nicht zu vergessen Jupiter im zehnten Haus – eines der glücklichsten Vorzeichen überhaupt. Alles ist sehr deutlich. Auch spielt Glück eine maßgebliche 63
Rolle in seinem Schicksal. Zusammenfassend kann man sagen, daß dieses Horoskop das eines bekannten, sehr bekannten Künstlers ist, eines Präsidenten oder – warum nicht? – eines Königs!« Genau in diesem Moment stelle ich mir vor, wie sich Hunderte Millionen Menschen vor dem Bildschirm vor Lachen biegen. »Das Horoskop eines bekannten, sehr bekannten Künstlers, eines Präsidenten oder – warum nicht? – eines Königs!« Mensch, Benton, komm mit dieser Verrückten bloß schnell zum Schluß! Ein Prozeß wird auch außerhalb des Gerichtsgebäudes gewonnen – aber ich erinnere dich daran, daß er vor allem im Gebäude gewonnen wird! Nach einigen vorhersehbaren Einsprüchen des Anwalts der Verteidigung schreitet Mrs. Lewis mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen zur astrologischen Analyse des Beklagten: »Ich hoffe zunächst einmal, Mr. Cruise ist mir nicht böse, daß ich so streng und so entschieden bin. Doch wenn die Sterne ihr Geheimnis preisgeben, muß man ihnen mit Demut und ohne Bitterkeit lauschen.« Der Schauspieler schenkt der Astrologin, die ihre Überlegungen fortsetzt, ein spöttisches Lächeln. »In diesem Horoskop fällt sofort eine sehr starke Dissonanz zwischen Neptun und Mars auf. Das ist offen gestanden nicht gut.« »Was wollen Sie damit sagen?« fragt Benton. »Ich will damit sagen, daß ein eingehendes Studium dieses Horoskops zahlreiche negative Punkte zutage bringt.« »Welche?« Margaret Lewis macht eine Kunstpause, bevor sie antwortet: »Mangelnder beruflicher und sozialer Ehrgeiz, fehlender Kampfgeist, ausgeprägter Pessimismus.« Ihre Stimme wird eine Spur leiser, um vertraulicher zu klingen:
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»Mars im fünften Haus ist ein sicheres Zeichen für eine farblose Existenz ohne jedes Profil. Der Mond im Schützen zeigt starkes Minderwertigkeitsgefühl und großen Gehorsam. Solche Menschen sind im allgemeinen gute Untergebene. Oder die zweite Riege, wenn Sie so wollen. Andere Aspekte des Sternzeichens verhindern beispielsweise jede Wirkung auf seine Zeitgenossen …« »Wirkung?« fragt Benton nach. »Berühmtheit, wenn das verständlicher ist. Mit so einer ungünstigen Sternenkarte kann Tom Cruise keinesfalls der Star geworden sein, der er nun ist. Das ist unmöglich!« Wie kann man soviel Unsinn mit soviel Ernst verzapfen? Das frage ich mich nach Mrs. Lewis’ Aussage wirklich, auch wenn ich zugeben muß, daß das ziemlich fies ist, denn schließlich will die Frau mir helfen. Leider erweist uns das kleine Gutachten der Astrologin keinen Dienst. Gar keinen. Ihre Ausführungen überzeugen niemanden, darüber hinaus reizt sie das Gericht und die Verteidigung. Cochran erhebt sich und schreitet zur Gegenbefragung. Sein Ton ist äußerst streng. »Ich habe Ihnen mit größter Aufmerksamkeit zugehört, Mrs. Lewis, und ich muß sagen, daß ich mir auf die Zunge beißen mußte, um nicht zu lachen. Mit der größten Selbstsicherheit und einem netten Lächeln haben Sie gerade vor Gericht behauptet, daß Mr. de la Croix ein König sein sollte und Mr. Cruise ein Loser, einer aus der ›zweiten Riege‹, nach Ihren Worten. Ist das so?« »Zusammengefaßt: ja«, bestätigt die Astrologin. Cochran kostet es in vollen Zügen aus: »Haben Sie mit der gleichen Selbstsicherheit im Januar 1995 behauptet, daß Bill Clinton noch vor dem Sommer desselben Jahres ermordet werden würde? Haben Sie mit der gleichen Selbstsicherheit 1997, zwei Monate vor Prinzessin Dianas Tod, verkündet, daß sie im April 2002 wieder heiraten 65
würde? Ich möchte dem Gericht und den Geschworenen ebenfalls in Erinnerung rufen, daß Mrs. Lewis auch vorausgesagt hat, daß sich Arnold Schwarzenegger im März 1999 einem chirurgischen Eingriff zur Geschlechtsumwandlung unterziehen würde. Und daß Steven Spielberg von echten Außerirdischen aus seinem Haus in Los Angeles entführt werden würde. Ich habe noch zwei Dutzend weitere Beispiele auf dem Blatt dort drüben auf meinem Tisch. Soll ich es holen, Mrs. Lewis?« Das Lächeln, das die Astrologin seit Beginn ihres Auftritts vor Gericht zur Schau trägt, verflüchtigt sich. Benton protestiert heftig, aber es ändert nichts. Der Richter läßt zu, daß der Verriß weitergeht. »Prominenten wird immer dieses und jenes vorausgesagt«, sagt Cochran zu der Zeugin. »Das ist aufregend! Aber was davon hat sich bewahrheitet, Mrs. Lewis? Gar nichts! Das ist die Antwort. Warum sollten wir also Ihren neuesten Hirngespinsten Glauben schenken? Sie wissen, daß es bei einer Zeugenaussage etwas gibt, das genauso verdammenswert ist wie die Lüge: der Unsinn! Hat der Anwalt der gegnerischen Partei die Absicht, noch weitere Komiker in den Zeugenstand zu rufen? In diesem Fall wäre es sinnvoll, am Saaleingang eine Kasse aufzustellen und die Zuschauer dafür bezahlen zu lassen, der Fortsetzung des Spektakels beizuwohnen!« Hochzufrieden mit sich, nimmt Cochran unter Hochrufen wieder Platz. Trotz dieses schmählichen Fehlschlags ruft Benton am nächsten Tag unerschütterlich Susan Sullivan auf, ihre Aussage vor Gericht zu machen. Die Journalistin der Wochenzeitschrift Entertainment Weekly schildert ihr Zusammentreffen mit dem Star im Dezember 1998. »Ich war an diesem Tag mit Tom Cruise im Hotel Bel-Air für ein exakt achtminütiges Interview verabredet. Um 18 Uhr 30 suchte mich der Presseattaché im Foyer auf und brachte 66
mich zur Tür der Suite des Schauspielers. Ich muß zugeben, daß ich völlig gelähmt war bei der Vorstellung, den Superstar zum ersten Mal zu treffen … Ich nahm also all meinen Mut zusammen und trat ein. Im ersten Zimmer war niemand. Ich ging ins zweite Zimmer, und da sah ich Tom Cruise in einem Sessel sitzen und … weinen. Sie können sich meine Verlegenheit vorstellen! Ich wich also zurück und wollte den Raum verlassen, doch er blickte zu mir auf. Er machte mir ein Zeichen, mich auf das Sofa neben seinem Sessel zu setzen …« Sichtlich gestreßt und atemlos hält die Journalistin inne. Der Anwalt beugt sich wohlwollend zu ihr hinunter: »Ihre Erregung ist völlig verständlich, Mrs. Sullivan. Wir haben Zeit.« Sie schluckt und nickt. »Es geht schon wieder.« »Wie hat sich das Gespräch daraufhin entwickelt?« »Ich setzte mich also auf das Sofa, und er hörte erst einmal auf zu weinen. Er entschuldigte sich, daß er mich in diesem Zustand empfing. Dann sagte er zwei, drei Minuten gar nichts … Er wirkte gedankenverloren. Ich hatte das Gefühl, in diesem Raum überflüssig zu sein, und sagte ihm, daß ich nun gehen wolle und wir uns an einem anderen Tag wiedertreffen könnten.« »Wie hat er reagiert?« »Völlig unerwartet. Er sah mich an und sagte wortwörtlich: ›Gehen Sie bitte nicht! Lassen Sie mich nicht mit mir selbst allein!‹ Dann fing er wieder an zu weinen.« »Was taten Sie dann?« will Benton wissen. »Ich konnte ihn nicht in diesem Zustand zurücklassen«, bekennt die Journalistin, und ihre Stimme bebt vor Gefühlsregung. »Er war kurz vor dem Zusammenbruch, ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich reichte ihm ein Taschentuch, mit dem er sich ein wenig die Augen trocknete … Er fing an zu phantasieren, er schimpfte sich einen Gauner, 67
ein Monster … Auch einen Dieb. Dann packte er mich am Arm und sagte: ›Alles, was ich habe, verdiene ich nicht, ich verdiene es nicht, Tom Cruise zu sein!‹« Im Saal wird es unruhig, doch Benton läßt sich davon nicht beeindrucken. »Was geschah dann?« »Schließlich hat er sich beruhigt. Er stand auf und verschwand kurz im Bad, um sich ein wenig frisch zu machen. Als er zurückkam, schenkte er mir ein strahlendes Lächeln und bat mich, in meiner Zeitschrift nicht über diesen Vorfall zu berichten. Und ich hielt mich daran.« »Ich würde gern Ihre Meinung zu einem Punkt hören, Mrs. Sullivan: Denken Sie, daß dieser Tränenausbruch, dieser Anfall von Depression – nennen Sie es, wie Sie wollen – in Zusammenhang mit seiner damaligen Frau Nicole oder seiner Familie stand?« Der Anwalt des Stars springt vom Stuhl auf. »Einspruch, Euer Ehren! Mrs. Sullivan kann auf diese Frage nicht antworten. Sie kennt Mr. Cruise nicht persönlich und kann folglich auch keine Mutmaßungen in dieser Hinsicht anstellen!« Richter Rosenshine gestattet der Zeugin dennoch fortzufahren. Mrs. Sullivan überlegt kurz und antwortet: »Er erwähnte zu keinem Zeitpunkt den Namen seiner Frau, auch nicht die seiner Kinder … Nein, ich denke nicht, daß es sich um ein Eheproblem oder um ein Problem in der Familie handelte. Es schien gravierender zu sein, auf jeden Fall sehr intim, sein Innerstes betreffend … Ein Kampf gegen alte Dämonen …« Die Verteidigung verzichtet darauf, die Zeugin zu befragen. Eine etwas grobe Taktik, oft aber lohnend, um die Glaubwürdigkeit eines Zeugen herabzusetzen. Am Morgen des nächsten Tages ist Alberto Gaziani, ein freier Fotograf aus Italien, an der Reihe, sich vor Gericht zu 68
äußern. Seine Fistelstimme kontrastiert mit seiner massigen Erscheinung. »An jenem Tag wurde ich gegen Mittag informiert, daß die Familie Cruise am Nachmittag in Venedig landen würde. Ich sprang also in ein Flugzeug und versteckte mich vor dem Hotel, in dem sie absteigen sollten. Bingo! Gegen 17 Uhr kam Tom Cruise mit seiner Frau und seinen beiden Kindern an, zwei Stunden später gingen sie aus. Ich folgte ihnen den ganzen Abend über durch die Stadt. Unweit der Rialto-Brücke entdeckte mich Tom Cruise und rannte auf mich zu.« »Was haben Sie gemacht?« fragt Benton. »Pah, ich habe die Beine in die Hand genommen, was meinen Sie wohl? Aber er hat mich schnell eingeholt. Er wollte mir einen Faustschlag versetzen, aber zum Glück hat er mich verfehlt. In seinen Filmen ist Tom Cruise ein besserer Boxer!« Gazianis Kommentar löst indigniertes Raunen im Saal aus. Benton fragt gleich darauf: »Hatten Sie mit einer solchen Reaktion gerechnet?« »Natürlich nicht! Er war wirklich sehr wütend, wissen Sie. Er hat mir die Kamera aus der Hand gerissen und den Film aus dem Gehäuse gezogen.« Der Fotograf hält kurz inne und zeigt dabei das Unbehagen eines Mannes, der es nicht gewohnt ist, Anzüge zu tragen. Langsam schiebt er seine Finger zwischen Hemdkragen und Hals und fährt mit seinem Bericht fort: »Dann hat er mich an eine Mauer gedrückt. Er durchsuchte meine Taschen und nahm alle meine Filme an sich. Dazu hatte er kein Recht … Er kam mit dem Mund ganz dicht an mein Ohr und flüsterte, damit die Umstehenden es nicht hören konnten …« »Was hat er gesagt, Mr. Gaziani?« »Das war ziemlich seltsam … ›Lassen Sie mich in Ruhe, ich bin nicht der, für den Sie mich halten! Wenn Sie wüßten, wer
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ich wirklich bin, würden Sie mich nicht verfolgen.‹ Ich verstand kein Wort von dem, was er da sagte.« »Hat er noch etwas hinzugefügt?« »Ja, ja, bevor er wegging, sah er mir in die Augen, als wolle er mir angst machen, und sagte dann – ich erinnere mich noch sehr gut: ›Der, den Sie für einen Star halten, ist in Wahrheit ein Hochstapler.‹« Johnnie Cochran braucht keine zwei Minuten, um diese »total zusammenphantasierte« Zeugenaussage aus allen Gedächtnissen zu löschen. »Werter Herr, ein solches Talent zum Fabulieren und Inszenieren würde Ihnen an einem andern Ort die Bewunderung des Publikums eintragen. Leider befinden wir uns hier innerhalb der Schranken des Gerichts. Und innerhalb dieser Schranken ist keine Fiktion erlaubt. Nur die Wahrheit hat hier das Recht, sich Gehör zu verschaffen.« Ich stelle fest, daß die Aussage eines Paparazzo so wenig Gewicht hat wie die eines Ganoven oder eines Politikers. Am fünften Prozeßtag wird Tom Cruise in den Zeugenstand gerufen. Seine Aussage wird von den Medien als der Höhepunkt des Spektakels angekündigt und in den Wohnzimmern der ganzen Welt mit Spannung erwartet. Der Schauspieler sieht phantastisch aus: gleichmäßig, aber diskret gebräunt, die Haare tadellos gelackt, gebleachte Zähne, die Haut von Mitessern gereinigt, sorgfältig gezupfte Augenbrauen. Sicherlich hat er an die Millionen von Fernsehzuschauern gedacht – und das lohnt wahrlich einen Besuch im Kosmetiksalon. Im Zeugenstand macht er Angaben zu seiner Person. Sein richtiger Name: Thomas Cruise Mapother IV., geboren 1962, Adresse: 2002 Mulholland Drive, Beverly Hills. Eine Hand auf der Bibel und die andere Hand erhoben, schwört der Lügner dann, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. 70
Benton betritt die Bühne. »Mr. Cruise, wissen Sie, warum Sie hier vor diesem Gericht gehört werden?« Der Schauspieler wundert sich fast über die Frage. »Ja. Man beschuldigt mich, ein Schicksal gestohlen zu haben.« »Mr. Cruise, wenn Sie nun ein Geständnis ablegen, können wir sehr viel Zeit sparen. Wir hören.« Die Unverfrorenheit meines Anwalts überrascht alle, mich eingeschlossen. Da Tom dieser Provokation nichts entgegenzusetzen hat, eilt ihm Johnnie Cochran sogleich zu Hilfe. »Ich protestiere, Euer Ehren! Der Anwalt der Anklage hat kein Recht …« Offensichtlich hat Rosenshine einen schlechten Tag, und er fällt ihm trocken ins Wort: »Schon gut, schon gut! Ich bin einverstanden, Mr. Cochran. Mr. Benton, würden Sie nun mit Ihrer Befragung fortfahren, sonst sehe ich mich gezwungen, die Anhörung von Mr. Cruise zu beenden.« Der Anwalt entschuldigt sich höflichst beim Richter und wendet sich wieder dem Schauspieler zu: »Mr. Cruise, wer beschuldigt Sie?« »Dieser Mann da.« »Haben Sie ein Problem damit, seinen Namen auszusprechen?« »Nein, er heißt Guillaume de la Croix.« »Kennen Sie ihn?« »Nein. Kennt ihn überhaupt jemand?« Gelächter im Saal. Der vorsitzende Richter ruft den Schauspieler zur Ordnung: »Bitte, Sir, beantworten Sie einfach die Fragen, ohne Witze zu machen.« Benton fährt fort: »Erinnern Sie sich, im Dezember 1998 Susan Sullivan getroffen zu haben, eine Journalistin des Entertainment Weekly?« 71
»Ja, ich erinnere mich sehr gut. Mrs. Sullivan war die letzte, die mich an diesem Tag interviewt hat.« »Stimmt es, daß Sie während dieses Gesprächs in Tränen ausgebrochen sind?« »Das stimmt überhaupt nicht!« gibt Cruise ein wenig zu nervös zurück. »Sie hat hierselbst ausgesagt, daß Sie geweint haben und vor ihren Augen zusammengebrochen sind. Ist das wahr?« Der Schauspieler antwortet lediglich mit einem Achselzucken. Benton nimmt ein Blatt vom Tisch und liest laut vor: »›Alles, was ich habe, verdiene ich nicht, ich verdiene es nicht, Tom Cruise zu sein! Ich bin ein Monster, ein Gauner, ein Dieb!‹ Haben Sie diese Worte im Beisein von Mrs. Sullivan ausgesprochen, ja oder nein?« »Natürlich nicht! Diese Worte habe ich nie gesagt! Weder im Beisein von Mrs. Sullivan noch im Beisein einer anderen Person.« »Vielleicht vor einem Spiegel?« wendet Benton boshaft ein. Tom Cruise wirft ihm einen giftigen Blick zu. Schockiert von diesem Angriff bekundet die Öffentlichkeit lautstark ihre Unzufriedenheit. Doch entgegen allen Erwartungen schweigen Rosenshine und Cochran. Der Anwalt fährt also fort: »In einem Interview in der Zeitschrift ELLE USA im September 1999 haben Sie erklärt: ›Meine Existenz birgt Geheimnisse, auf die die Welt nicht gefaßt ist.‹ Können Sie uns den Sinn dieses Satzes erläutern: ›Meine Existenz birgt Geheimnisse, auf die die Welt nicht gefaßt ist‹?« »Ich habe keine Ahnung!« »Mit Verlaub, aber Ihre Antwort verwundert mich.« »Ich kann keine Erklärung liefern für etwas, das ich nicht gesagt habe, Mr. Benton. Als ich den Artikel las und sah, daß man diesen Satz ans Ende meines Interviews gestellt hatte, rief ich umgehend die Journalistin an, mit der ich mich getroffen 72
hatte. Es tat ihr furchtbar leid, sie hat sich zehnmal entschuldigt. Sie sagte, sie könne absolut nichts dafür, sie verstehe überhaupt nicht, was da vor Drucklegung der Zeitschrift passiert sei … Sie versprach mir, Nachforschungen anzustellen …« »Hat sie Ihnen später eine Erklärung für diesen Vorfall gegeben?« »Nein, nie.« Benton dreht sich zu den Geschworenen um und spielt den Erstaunten: »Das ist eigenartig, finden Sie nicht? Ein Satz rutscht ganz von allein in einen Text, und niemand weiß, woher er kommt!« »Ich bin ganz Ihrer Meinung – es ist eigenartig«, gesteht Tom Cruise mit einigem Unbehagen zu. Der Anwalt räuspert sich und geht zu einem anderen Thema über: »Miranda Fernandez, Ihre ehemalige Zugehfrau, behauptet, Sie würden regelmäßig von akuter Geistesschwäche befallen. Sie hat hierselbst, in diesem Zeugenstand, ausgesagt, daß Sie manchmal splitternackt durchs Haus laufen, brüllen und den Kopf gegen die Wand schlagen. Können Sie das bestätigen?« »Ich mußte Mrs. Fernandez letztes Jahr entlassen«, sagt der Schauspieler mit ziemlich zufriedener Miene. »Sie hatte damals gegenüber der Los Angeles Times behauptet, ich wäre kokainsüchtig, obwohl ich niemals Drogen nehme. Lügner werden immer rückfällig, das sollten Sie eigentlich wissen, Mr. Benton.« »Sind Sie ganz sicher, daß Sie keine hochschädlichen chemischen Substanzen konsumieren? Ihr Arzt, John Carter, hat unseren Ermittlern anvertraut, daß er wegen Ihrer Abhängigkeit von bestimmten Präparaten äußerst beunruhigt gewesen sei. Laut seinen Angaben nehmen Sie an manchen Tagen bis zu siebzehn Tabletten Vazepam und überschreiten damit die normalerweise indizierte Dosis um ein Vierfaches. 73
Ich rufe dem Gericht und den Geschworenen in Erinnerung, daß Vazepam ein starkes Antidepressivum ist.« »Haben Sie eigentlich eine Vorstellung von dem Streß, dem ein Star wie ich ausgesetzt ist, Mr. Benton?« Cruises Arroganz entgeht niemandem. Zusammengepreßte Kiefer, finsterer Blick, die Hände zu Fäusten geballt – ganz offensichtlich gefällt dem Schauspieler dieses Thema ganz und gar nicht. Benton legt mit gesenktem Kopf los; er glaubt, endlich einem seriösen Hinweis zu folgen: »Bei seiner Aussage deutete Doktor Carter an, daß Sie unter starken psychischen Störungen litten. Er fügte hinzu – ich zitiere: ›Etwas Schwerwiegendes beeinträchtigt sein Leben, aber ich weiß nicht, was es ist.‹ Können Sie uns weiterhelfen?« Der Schauspieler holt tief Luft. »Ich habe absolut keine Ahnung, was er damit sagen will. Aber Sie wissen ja: Ein Arzt sieht überall Kranke.« »Ein Arzt sieht überall Kranke«, »Lügner werden immer rückfällig.« Binnen nur fünf Minuten hat der Schauspieler zu seiner Verteidigung zwei Bemerkungen von seltener Tiefgründigkeit hervorgebracht. Allerdings habe ich den Verdacht, daß diese blöden Klischees die tollste Wirkung bei den Geschworenen und bei der Milliarde Fernsehzuschauer zeitigen, die bereit sind, egal welchen Unsinn und egal welches Wort aus seinem Mund zu beklatschen. Benton jedoch läßt die Wade des Schauspielers nicht so leicht los: »Mr. Cruise, warum nehmen Sie bis zu siebzehn Vazepam am Tag? Sie haben auf diese Frage immer noch nicht geantwortet.« Cruise rutscht auf seinem Stuhl herum, als wäre er plötzlich von Hämorrhoiden befallen. »Ich glaube nicht, daß wir hier sind, um meine kleinen Gesundheitsprobleme zu erörtern.« »Doch, doch, Mr. Cruise, das interessiert uns.« 74
Die Beharrlichkeit des Anwalts regt den Star so auf, daß er fast die Beherrschung verliert. »Hören Sie, ich sehe absolut keinen Zusammenhang mit unserer Sache. Ich frage Sie ja auch nicht, wie es um Ihre Leber bestellt ist, Mr. Benton!« Der Richter ruft ihn ein zweites Mal zur Ordnung: »Strapazieren Sie bitte nicht die Geduld des Gerichts!« Cochran greift ein: »Mein Mandant hat sich ungeschickt ausgedrückt, das gebe ich zu, Euer Ehren, aber Sie müssen zugestehen, daß in der Tat kein Zusammenhang zwischen den mutmaßlichen Gesundheitsproblemen von Mr. Cruise und diesem Fall zu erkennen ist. Es sei denn, Mr. Benton insinuiert, alle Kranke seien Diebe und Mörder!« Ein neuer Schlag ins Wasser für meinen Anwalt. Wenn das noch einmal passiert, wird dieser blöde Rosenshine der Verteidigung recht geben. Man kann nicht einmal sagen, daß nun der Wind zu unseren Ungunsten weht, denn offen gestanden tat er das seit Beginn der Verhandlung. Doch Benton läßt sich nicht verunsichern und geht unverzagt wieder zum Angriff über: »Warum hat Guillaume de la Croix Ihrer Meinung nach Klage gegen Sie erhoben?« »Ich verstehe Ihre Frage nicht.« »Nun, was sind Ihrer Ansicht nach die Gründe, die diesen Mann veranlaßt haben, Sie des Lebensdiebstahls zu bezichtigen?« Der Schauspieler fährt sich mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen, bevor er antwortet: »Es gibt wohl zahlreiche Gründe: Geld, Neid, Verzweiflung, äh … Was noch? Opportunismus … Von sich reden machen … All das, denke ich.« »Sie vergessen einen Grund, Mr. Cruise: Ihre Schuld! Was, wenn Guillaume de la Croix die Wahrheit sagt? Wenn er einfach nur erleben will, daß Sie verurteilt werden, um endlich sein ihm zustehendes Leben zurückzubekommen?« 75
Tom Cruise setzt eine spöttische Miene auf. »Gibt es irgend jemanden in diesem Saal, der noch nicht begriffen hat, was Mr. de la Croix will? Alle Welt weiß, daß Mr. de la Croix ein Lügner ist, der hofft, den Jackpot zu knacken, indem er mich angreift! Möchten Sie mir vielleicht noch eine ernsthafte Frage stellen, Mr. Benton?« Bentons Miene verdüstert sich. Sein letzter Angriff gleicht einem Scheingefecht. »Sie leugnen also vor diesem Gericht beharrlich Ihre Schuld?« Äußerst selbstsicher und mit einem Kichern sagt der Schauspieler: »Haben Sie einen Beweis – einen einzigen Beweis –, der es Ihnen erlaubt, mich zu beschuldigen? Hat Guillaume de la Croix einen Beweis für das, was er hier vorbringt, ja oder nein?« Der Anwalt schlägt den Blick nieder und setzt sich verdrossen an seinen Tisch. Die Niederlage ist vernichtend. »Die Sache ist geritzt.« Zweifellos denken das die Anwälte der Verteidigung am Ende dieser Zeugenvernehmung. Doch aufgepaßt! Benton hat noch nicht das letzte Wort gesprochen. Bei der Wiederaufnahme der Verhandlung am frühen Nachmittag steht er auf und sagt mit ruhiger und sicherer Stimme: »Nun rufe ich jemanden in den Zeugenstand, der sich nur alle zweitausend Jahre zu Wort meldet. Ich bitte Sie … Gott anzuhören.« Schallendes Gelächter ertönt im ganzen Saal. Der Richter fordert nicht einmal Ruhe. Cochran erhebt sich erheitert. »Euer Ehren, dieser Zeuge ist nicht auf der Liste, doch wenn Er Sich zeigt, sind wir neugierig zu hören, was Er zu sagen hat.« »Hier ist Er!« verkündet mein Anwalt mit unverhohlener Genugtuung.
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Innerhalb von Sekunden erscheint Gott vor dem Richterstuhl. Übermäßige Scheu? Kein künstlerisches Gespür? Budgetprobleme? Die Inszenierung dieser Erscheinung – ohne gleißendes Licht, ohne ohrenbetäubende Musik und auf das strikte Minimum reduziert – erweist sich fast als enttäuschend. Dennoch stehen wir einfach sprachlos vor dem wichtigsten Ereignis der Menschheitsgeschichte. Wie die Künstler in den letzten fünfzig Jahrhunderten Gott auch immer dargestellt haben – man muß zwangsläufig feststellen, daß ausnahmslos alle total schiefgewickelt waren. Der Allmächtige ist in Wirklichkeit ein Wrack, ein heruntergekommener Mittfünfziger, dessen Gesamterscheinung und Faltengesicht eher Ekel als Mitleid hervorrufen. Zum Glück hat Er nicht alle Menschen nach Seinem Bilde erschaffen, sonst wären wir wirklich alle äußerst abstoßend. Fassungsloser denn je lädt Richter Rosenshine den Schöpfer ein, zu seiner Linken Platz zu nehmen. Gott mag vielleicht auch Zigarrenraucher sein, auf jeden Fall aber ist Er Trinker. Unter dem starren Blick der Zuschauer wankt Er in den Zeugenstand und stürzt fast zu Boden, als Er auf das niedrige Podest steigt. Dann läßt Er Sich auf den Stuhl fallen, wie um uns armselige Kreaturen daran zu gemahnen, daß wir das enorme Gewicht sind, das Er auf Seinen Schultern trägt. Ein Gerichtsdiener tritt vor Ihn und stellt Ihm mit großer Mühe die üblichen Fragen. Die Kehle des kleinen Mannes ist offenbar wie zugeschnürt, so daß die Worte nur schwerlich herauskommen. »Können Sie Angaben zu Ihrer Identität machen?« »Pah … Gott«, antwortet Gott. »Adresse?« »Irgendwo da oben, über euren Köpfen«, sagt Er und hebt den Blick zum Himmel. »Alter?« 77
»Ich habe nach einer Million Jahren aufgehört zu zählen.« Einige Leute kommentieren diesen guten Witz mit übertrieben lautem Lachen – sicherlich um das überdimensionierte Ego des Allmächtigen nicht zu kränken. »Beruf?« »Künstler…« Wohl eher ein gemarterter Künstler, denke ich. Dann kommt der Moment, den Zeugen zu vereidigen. Immer noch starr vor Ehrfurcht, hält der Gerichtsdiener Ihm schüchtern die Bibel hin. »Soll ich dir vielleicht eine Widmung hineinschreiben?« Hier und da wieder Lacher im Saal. Mit einem diskreten Handzeichen befiehlt Rosenshine dem Gerichtsdiener, das Buch unverzüglich wegzulegen und mit dieser Provokation aufzuhören. Man kann Gott beileibe nicht verdächtigen, ein Lügner zu sein. Vielleicht ein Versager, aber sicherlich kein Lügner … »Der Zeuge gehört Ihnen!« verkündet der Richter, erfreut darüber, daß er die heiße Kartoffel an Benton weiterreichen kann. »Wir fühlen uns sehr geehrt, daß Sie hier sind«, sagt der Anwalt höflich. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schwierig es war, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Wir setzten ein Schreiben an den Papst auf, ein weiteres an den Großrabbiner von New York City, eines an den Dalai Lama und auch an den Großimam von Kairo. Könnten Sie uns zunächst sagen, welcher dieser Briefe Sie erreicht hat?« Alle hängen an den Lippen des Schöpfers. Leider bricht Richter Rosenshine, der wieder ein wenig Mut gefaßt hat, das erwartungsvolle Schweigen: »Ihre Neugier ist fehl am Platz. Und unangebracht. Mr. Benton, ich fordere Sie auf, sich an die Sache und ausschließlich an die Sache zu halten!«
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Bentons Gesicht verbirgt weder seine Enttäuschung noch seinen Ärger. Aber dem Anwalt bleibt nichts anderes übrig, als dieser Anweisung Folge zu leisten und einen Rückzieher zu machen. »Ich entschuldige mich, Euer Ehren, ich bin abgeschweift, Sie haben recht. Kommen wir nun auf unseren Fall zurück …« Er wendet sich dem Großen Baumeister des Universums zu, der schlapp im Sessel hängt. »Guillaume de la Croix, den Sie dort drüben sehen, beschuldigt Tom Cruise, ihm seine Existenz gestohlen zu haben. Wir würden gern Ihre Version der Dinge hören …« »Du willst sagen: die Wahrheit.« Benton wird sich schlagartig seines groben Fehlers bewußt. »Ich bitte um Entschuldigung.« Doch Gott gerät in Wut. »Ihr Scheißerdenbewohner! Langsam seid ihr mir echt lästig! Mit den anderen läuft alles gut, aber mit euch habe ich nur Ärger, nichts als Ärger … Unglaublich! Wenn ihr wüßtet, wie mir eure Scheißspezies zum Hals heraushängt!« Ein Engel fliegt durch den Saal. Sichtlich zufrieden mit Seinem kleinen Überraschungseffekt setzt Gott Sich auf. »Was Guillaume de la Croix behauptet, ist völlig richtig. Mehr habe ich nicht zu sagen.« Das geht mir runter wie Öl. Benton wagt eine weitere Frage: »Hätten Sie die Güte, uns zu erklären, wie das geschehen konnte? Wir würden gern mehr darüber erfahren.« Der Weltenherrscher runzelt die Stirn. »Die Person, die vorgibt, Tom Cruise zu sein, ist in Wahrheit ein Hochstapler. Dieser Mann hat sich arglistig eines Lebens bemächtigt, das ihm nicht bestimmt war.« Sein Ellbogen scheuert an der Armlehne des Sessels. Es ist lustig festzustellen, daß der Alkohol diejenigen, die ihn mißbrauchen, immer zu den gleichen Gesten zwingt. 79
»Ich will nicht ins Detail gehen«, seufzt Er. »Ihr sollt nur wissen, daß diese verderbte Seele am Tag ihrer Ankunft auf Erden Besitz von einer Lebenslinie ergriffen hat, die einem anderen zugedacht war. Das Problem ist, daß ich nichts gemerkt habe. Kurz gesagt: Ich habe Mist gebaut, das gebe ich zu. Dennoch muß ich mich nicht für eine kurze Zerstreutheit entschuldigen. Schließlich bin ich hier ja nicht angeklagt, oder?« Gott bietet dem Richter mit ernstem Blick die Stirn, der sich in seiner Rolle offensichtlich sehr unwohl fühlt. Dann richtet Gott einen anklagenden Finger auf den armen Schauspieler: »Jemanden seines Lebens zu berauben ist ein schweres Verbrechen! Du hast meine Unachtsamkeit ausgenutzt, um das Undenkbare zu begehen. Du hast dich dem göttlichen Willen widersetzt. Für wen hältst du dich, Ungläubiger, daß du so handeln konntest?« Man hört kurz eine Fliege summen, bevor sie sich entscheidet, sich irgendwo hinzusetzen, sicherlich aus Angst, von göttlicher Hand zermalmt zu werden. Die Messe ist gelesen (wenn man so sagen darf). Tom Cruise denkt sicherlich, daß die Stunde des Jüngsten Gerichts gekommen sei, und sinkt auf den Tisch nieder. Der arme Mann wird gerade vom Allmächtigen persönlich gekreuzigt. »Dieser Diebstahl war eine große Versuchung«, fährt das Ewige Wrack mit leiserer Stimme fort. »Doch das ist keine Entschuldigung. Er verdient auf jeden Fall eine Strafe. Das Maß zu bestimmen überlasse ich euch. Ich verzichte schon seit langem darauf, selbst auf der Erde Recht zu sprechen, ich lasse euch lieber allein miteinander klarkommen, das ist lustiger.« Er kann Sich ein dünnes sarkastisches Lächeln nicht verkneifen, das alle Anwesenden mit Unbehagen erfüllt. Einige Sekunden verstreichen, bevor Er wieder das Wort ergreift: »Ich bin erschöpft und würde jetzt gern nach Hause gehen.« 80
Rosenshine wird sich wohl kaum dagegen aussprechen. »Wir wollen Sie natürlich nicht länger aufhalten. Sicherlich haben Sie tausend andere Dinge zu tun. Im Namen aller danke ich Ihnen, daß Sie gekommen sind und Licht in diese Sache gebracht haben.« »Auf bald, Mr. Rosenshine.« Das Gesicht des armes Richters verzieht sich für den Bruchteil einer Sekunde. Der listige Tonfall, der diese letzten Worte begleitet, ist unmißverständlich. Niemals hat jemand auf grausamere Art und Weise erfahren, daß seine Tage gezählt sind. Gott erhebt Sich eher schlecht als recht aus dem Sessel und bewegt Sich in die Saalmitte. Unsere Blicke kreuzen sich, und die Überbleibsel meiner guten Kinderstube halten mich dazu an, Ihm mit einem leichten Nicken für Seine Aussage zu danken. Zeigt er auch nur die geringste Rührung oder die kleinste Reue darüber, daß Er bei der Arbeit versagt hat? Den Teufel tut Er. Er bleibt unerschütterlich. Dabei bestätigt dieser Prozeß, was wir schon lange vermuten: Irren ist nicht nur menschlich, es ist auch göttlich. Doch das werde ich Ihm bei Gott nicht sagen. Ich lege nämlich keinen Wert darauf, Richter Rosenshine im Grab zuvorzukommen. Manchen anderen fehlt es an diesem Tag jedoch nicht an Mut. Einige Männer und Frauen im Saal erheben sich und wenden sich direkt an den Großen Trinker: »Sagen Sie uns: Gibt es ein Paradies?« »Wieso gibt es soviel Elend auf der Welt?« »Ist Elvis Presley wirklich tot?« »Fängt nach dem irdischen Leben das wirkliche Leben an?« »Wie ist die Handy-Nummer von Kylie Minogue?« Der Allmächtige bleibt unwirsch und schenkt diesen, wenngleich essentiellen Fragen keine Beachtung. Er zieht es vor, all diesen Rüpeln den Rücken zuzukehren, und verschwindet ohne Worte. 81
Diese spektakuläre neue Wendung läßt uns sprachlos zurück. Erst nach ein paar langen Sekunden kommen wir wieder zu uns. Tom Cruise findet als erster die Sprache wieder. Mitten im Saal wirft er sich auf die Knie, gefolgt von drei Kameralinsen, die vor Ungeduld geifern. »Ich bin unschuldig, ich schwöre es! Gott ist ein Lügner, glauben Sie Ihm nicht. Ich bin dessen, was man mir vorwirft, nicht schuldig! Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.« Nun wendet er sich an mich: »Das kannst du mir nicht antun! Dieses Leben ist mein Leben, du hast kein Recht, es mir zu nehmen! Ich bitte dich, Guillaume, was soll denn aus mir werden?« Das Schluchzen hallt in diesem so stillen und aufmerksam lauschenden Saal wider. Nie war der Schauspieler so gut. Leider belohnt kein Applaus diese bemerkenswerte Vorstellung. Im Gegenteil, sein ungeheuerlicher Starrsinn und seine Weigerung zu gestehen lösen noch ein bißchen mehr Entsetzen und Irritation beim Publikum aus. Ich erhebe mich langsam und stelle mich neben Tom vor den Richter. Seine tränennassen blauen Augen flehen mich an, ihm zu verzeihen. Er richtet sich auf und wirft sich in meine Arme. Die Anwesenden und die Fernsehzuschauer auf der ganzen Welt wohnen der Schlußszene dieser erschütternden Tragödie live bei. Der Richter beraumt eine Sitzungsunterbrechung von einigen Minuten ein. Eine weise Entscheidung, denn wir haben alle eine kleine Verschnaufpause nötig. Ich ziehe Benton in ein leeres Zimmer im Gerichtsgebäude. »Jack, ich habe bekommen, was ich wollte. Die ganze Welt weiß nun, daß Cruise schuldig ist. Doch ich will ihn nicht völlig zerstören …« »Worauf wollen Sie hinaus?«
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»Die Schande und der Verlust der Ehre sind schon eine schwere Strafe … Jack, warum soll ich länger darum herumreden – ich will Tom seinen Namen, sein Haus am Mulholland Drive und ausreichend Geld lassen, damit er bis zum Ende seiner Tage sorglos leben kann. Ich glaube, es ist besser so … Jedenfalls glaube ich, daß ich mich damit besser fühle. Gehen Sie zum Richter und zu Cochran und schlagen Sie ihnen diese Übereinkunft vor.« Zu meiner großen Überraschung versucht Benton nicht, mir meine Entscheidung auszureden. Es ist wirklich besser so. Nicht nur, daß sich diese Übereinkunft zwischen den beiden Parteien, die eine Stunde später unterschrieben wird, für den Schauspieler als geradezu wundersam erweist, darüber hinaus erlaubt sie auch dem Anwalt der Verteidigung, sein Gesicht zu wahren. Noch am selben Abend rühmt sich Cochran in den Medien schamlos, seine große Überzeugungskraft in die Waagschale geworfen zu haben, »um seinem Mandanten ein Leben auf der Straße zu ersparen«. Na und? Eine kleine Lüge oder eine kleine Gemeinheit haben einer großen Karriere noch nie geschadet. Entthront und von allen verlassen, geht Tom Cruise durch eine Seitentür aus dem Gerichtsgebäude. Es gibt nämlich durchaus eine Seitentür in diesem Gebäude, um klammheimlich kommen und gehen zu können. Benton hat mich am ersten Tag im Auto also angeschwindelt. Tom Cruise erlebt demnach nicht, welch unglaublichen Triumph mir die Menschenmenge vor dem Gerichtsgebäude zuteil werden läßt. In einer knappen Woche haben wir die Rollen getauscht. Der Held wurde zum Gauner, der Gauner zum Helden. Mein zweites Bad in der Menge wäscht meine Ehre rein, die seit drei Monaten durch Angriffe und Beleidigungen besudelt war. Und nichts wird mich daran hindern, diese Erlösung zu genießen, von der ich so oft geträumt habe und die am Ende vom Himmel fällt. Nicht 83
einmal die Journalisten, die mich bedrängen, um brühwarm zu erfahren, wie ich mich fühle. An meiner Seite frohlocken meine Eltern beim Anblick all dieser Leute, die mich beglückwünschen und mir zujubeln. Wir halten uns an den Händen und steigen unter Beifall und Hochrufen langsam und stolz die breite Treppe hinunter. Ein Happy-End, wie es nur Amerikaner erfinden können. Am 12. Dezember 2006, mit sechsunddreißig Jahren, sieben Monaten, zweiundzwanzig Tagen und achtzehn Stunden beginnt endlich mein Leben.
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Mein Leben wird jeden Tag weltweit in allen Zeitschriften ausgebreitet. Wenn ihr euch ein kleines Album zusammenstellen wollt, lade ich euch ein, in der Reihenfolge ihres Erscheinens die Fotos auszuschneiden, die mit den Bildlegenden korrespondieren, und sie an den dafür vorgesehenen Stellen einzukleben.
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In Begleitung meines Anwalts Jack Benton beim Verlassen des Gerichtsgebäudes in New York (12. Dezember 2006).
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Auf Arnold Schwarzeneggers Schultern bei ihm zu Hause in Malibu (August 2007).
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Vor dem Weißen Haus neben Georg W. Bush, der nicht merkt, daß ich ihm hinter dem Kopf Hasenohren mache (19. März 2008).
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Tim, Pam, Tom (Robbins, Anderson, Hanks) und ich am Strand von Santa Monica (September 2008).
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Stehend vor Papst Johannes Paul III., der spontan auf die Knie fällt und meinen Ring küßt (Dezember 2008).
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Hand in Hand mit George Michael in Lederkluft in den Straßen von Miami (Februar 2009).
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Portofino im Juli 2009 (die Brust in meinem Mund ist die von Britney Spears).
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Auf der Spitze der Monumentalstatue der Schönheit, die gegenüber der Freiheitsstatue in New York nach meinem Bild errichtet wurde (August 2010).
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Mein Hund Visconti, den das Hinterteil der Urenkelin von Lassie nicht losläßt (April 2011).
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Jennifer und ich, umgeben von unseren drei Kindern (von links nach rechts: Chaplin, Wayne und Brando) an einem unserer Zweitwohnsitze (hier das Schloß von Versailles); (Foto: Annie Leibowitz, April 2013).
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Standfoto aus einer Raubkopie des Videos von meinen Spielchen mit Elizabeth Taylor (82); (Mai 2014).
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Mein Grabmal auf dem Mount Lee am Fuße der berühmten Buchstaben HOLLYWOOD in Los Angeles (Foto undatiert).
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Heute bin ich steinreich, die Mädchen finden mich supersexy, man sagt, ich habe großes Talent … Alle Welt liebt mich! Nennen Sie mir also einen einzigen Grund, warum ich der schüchterne Mann bleiben sollte, der ich früher einmal war. Guida TV, 9. August 2006
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13 »Werter Doktor, befreien Sie mich von all diesem Speck, der meinen Körper umgibt, und ich mache aus Ihnen einen reichen Mann … Ach, Sie sind schon reich? … Gut, dann mache ich Sie noch reicher. Und vergessen Sie nicht, mein Fett den hungernden Völkern Afrikas zukommen zu lassen.« Schon am ersten Tag, da ich mich in Kalifornien niederlasse, folge ich den Sirenenrufen der Schönheitschirurgie. Nur zehn Minuten nach der Landung unseres Flugszeugs in L. A. bitte ich Dino, unseren Chauffeur, mich umgehend zum besten plastischen Chirurgen der Stadt zu bringen. Eine Stunde später begutachtet Doktor Charles Hennings die Größe der Baustelle. Er wirkt nicht entmutigt. Im Gegenteil, Hennings verrät eine leichte Erregung, nicht nur beim Anblick meines nackten Körpers, sondern vor allem bei der enormen Herausforderung, der er sich stellen muß. Für den nächsten Tag wird ein Termin vereinbart, um meinen Lebenstraum zu erfüllen: Fettabsaugen rundum. Zu Anfang wird der Eingriff auf vier Stunden angesetzt, am Ende dauert er eine ganze Woche. Sieben Tage befehle ich dem Chirurgen unablässig, alles Fett aus meinem Körper zu entfernen, die kleinste adipöse Zelle in meinen Schenkeln, meinen Waden, meinem Hintern, meinen Armen, meinem Bauch – nicht zu vergessen an meinem Doppelkinn – aufzuspüren und zu verhaften. Am lustigsten ist, daß Hennings nach der Operation – sicherlich die längste in der Geschichte der Medizin – fast genauso viele Kilo verloren hat wie ich. Ich nutze diesen medizinischen Marathon, um auch eine Reduzierung des Brustumfangs zu ordern. Eine äußerst seltene Anfrage. Vor allem in Kalifornien, wo Patienten, die eine Brustverkleinerung wünschen, nicht gerade 99
zahlreich sind. Diese fast neuartige Operation verlangt sehr viel mehr Fingerspitzengefühl als eine einfache Liposuktion am Bauch oder Hintern, und sie wird ein großer Erfolg – und für mich eine große Erleichterung. Denn ich habe es ehrlich satt, seit meinem zwölften Lebensjahr Größe 115C mit mir rumzutragen. Das ist eine schwere Last – im eigentlichen wie im übertragenen Sinn. In unserer Gesellschaft hat ein Mann mit einer größeren Oberweite als Pamela Anderson keine Chance, ernst genommen zu werden. Die Schönheitschirurgie erweist mir also den größten Dienst. Und den schönsten – bedenkt man die Reaktionen der Krankenschwestern in den Korridoren, als ich die PacificWaves-Klinik verlasse. Doktor Hennings hat seine Arbeit offensichtlich gut gemacht und sich seine sechshunderttausend Dollar Honorar wahrlich verdient. In Hollywood gibt es etwas Schlimmeres, als Krebs zu haben oder HIV-positiv zu sein: das Alter. Das Alter ist wirklich die schrecklichste Krankheit, und vor allem ist es eine Schande. Das Altern zu verzögern hat für alle Welt Priorität bekommen. In Hollywood ist man mehr als anderswo davon überzeugt, daß das Lifting die Zukunft des Mannes und der Frau ist. Und was macht es schon, wenn die Methode noch nicht gänzlich ausgereift ist und man jedesmal mit einem Fantomas-Kopf aus dem Operationssaal kommt? Der gesellschaftliche Druck ist groß, und man munkelt, gewisse Patienten wachten trotz Narkose mitten in der Operation auf und flehten den Doktor an zu straffen, zu straffen, ihre Haut noch ein bißchen mehr zu straffen. Ein Jahrhundert nach den Cowboys sind die kalifornischen Schönheitschirurgen die größten Helden des Westens. Und Sie können davon ausgehen, daß es ihnen bei hunderttausend Schauspielern und Schauspielerinnen im Staat sicherlich nicht an Arbeit fehlt. Die Zauberer mit dem Skalpell sind in der Lage, einer verbrauchten, müden und gealterten Diva in einer knappen 100
Stunde eine zweite Jugend zu schenken. Im Mekka des Kinos und des Fernsehens kennt jeder die Regel auswendig: Je mehr Falten man im Gesicht hat, desto weniger Zeilen hat das Drehbuch, das man bekommt. Die Zukunft wird noch brutaler: Vom 1. Februar 2008 an sind Falten ganz einfach verboten. Schönheitsoperationen werden in die Verfassung des Staates Kalifornien aufgenommen und sind für jedermann obligatorisch. Natürlich mit Ausnahme der Armen. §32,7 besagt klipp und klar: »Jeder Kalifornier und jede Kalifornierin ist gehalten, den Blicken der anderen die perfekte Figur darzubieten […] In keinem Fall kann für einen häßlichen, ungefälligen Körper oder für dessen schlechten Zustand eine Schuld der Natur anerkannt werden.« Und § 32,11 präzisiert: »Gott hat ein großes Werk vollbracht, es ist die Aufgabe der Chirurgen, diesem den letzten Schliff zu geben.« Konkret heißt das: Alle Menschen über fünfzehn mit Wohnsitz im Staat Kalifornien müssen sich alle zwei Jahre einer »plastischen Kontrolle« unterziehen. Dabei handelt es sich um einen Pflichttermin, bei dem ein plastischer Chirurg die Figur und die Harmonie der Gesichtszüge genauestens untersucht, die Regelmäßigkeit und das Weiß der Zähne kontrolliert und wachsam auf das Erscheinen der kleinsten Falte achtet. Bei der Feststellung der geringsten Anomalie wird dem Patienten mitgeteilt, daß er unter Androhung einer schweren Geldbuße und dem Verbot, auf kalifornischem Boden zu arbeiten, innerhalb von zwei Monaten »Operationen zur ästhetischen Verbesserung« einzuleiten habe, natürlich auf eigene Kosten. Jeder Bürger muß zu jeder Zeit in der Lage sein, der Polizei auf Verlangen die offizielle Bescheinigung vorzulegen, die beweist, daß die »plastische Kontrolle« ordnungsgemäß von einem staatlich anerkannten Chirurgen durchgeführt wurde. Zuwiderhandlungen sind selbstverständlich nicht häufig. Durch die Angst, daß man 101
arbeitslos wird oder – schlimmer noch – daß die Leute auf der Straße mit dem Finger auf einen zeigen, reduzieren sich Verstöße gegen dieses Gesetz auf ein paar wenige pro Jahr. Das Schicksal, das den Kalifornierinnen vorbehalten ist, ist besonders empörend. Die Gesetze – von Männern verfaßt und mehr als nur misogyn – legen die Altersgrenze für eine berufstätige Frau auf einunddreißig Jahre fest. Es wird ihr »dringend empfohlen, ihre Jugend zu nutzen, um ein Vermögen zu machen oder einen reichen Mann zu heiraten«. Zwischen dreißig und fünfundvierzig Jahren verlieren Frauen also das Recht zu arbeiten, aber auch das Recht, »jüngere Personen anzusprechen« oder »Männer zu belästigen mit der Absicht, diese zu verführen«. Man verlangt von ihnen außerdem, »nicht darauf zu beharren, körperliche Trümpfe auszuspielen, die sich mit den Jahren zwangsläufig verändert haben«, »keine enganliegende, kurze, durchscheinende Kleidung zu tragen« und »sich an öffentlichen Plätzen (Strände, Badeanstalten …) nicht mehr im Badeanzug zu zeigen, wo sie in diesem Aufzug gesehen werden könnten«. Haben sie die Fünfundvierzig überschritten, sind sie beispielsweise »verpflichtet, zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zu Hause zu bleiben, um keine Kinder und zartbesaiteten Menschen zu erschrecken«. Bei Schauspielerinnen ist das Gesetz noch strenger: Am Tag nach ihrem dreißigsten Geburtstag müssen sie ihre Arbeitserlaubnis zurückgeben, die Schlüssel ihrer Villa ihrem Agenten überlassen und den Staat binnen achtundvierzig Stunden verlassen. Es ist ihnen unter Androhung sofortiger Haft wegen »übermäßiger Häßlichkeit« verboten, hier alt zu werden. Entgegen allen Erwartungen wird Amerika, das man oft für das Vaterland des fanatischen Liberalismus hält, der glühendste Anhänger des sozialen Fortschritts. Die Gewerkschaften in Frankreich sind stolz darauf, daß sie eine Festsetzung des Rentenalters auf sechzig Jahre erreicht haben. In Hollywood 102
wird es in Bälde bei dreißig Jahren liegen. Gibt es etwas Besseres?
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Jennifer und mir war es bestimmt, zusammenzutreffen. Sie suchte einen schönen, berühmten und leidlich reichen Mann, der sie endgültig vor der Arbeit bewahrt und aus ihrem Leben ein Illustriertenmärchen macht. Und ich suchte eine sehr schöne Frau, keine Nervensäge, keine Hysterische und keine Intellektuelle, sondern ganz einfach eine Hypersexbombe mit funktionierenden Eierstöcken, die mir die schönsten Kinder der Welt schenken sollte. Vanity Fair, Dezember 2006
Jennifer und ich sind immer noch nicht verheiratet. Seit neun Jahren können sich unsere Anwälte nicht auf den Ehevertrag einigen. Chicago Tribune, 4. Januar 2016
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14 8. Februar 2007, 9 Uhr. Das Telefonklingeln reißt mich aus einem sehr angenehmen Traum, der natürlich nicht ganz so schön ist wie mein neues Leben in Hollywood. Eine energische Stimme am anderen Ende der Leitung: »Hallo, hier ist Steven.« »Steven wer?« »Na, Spielberg!« entgegnet mein Gesprächspartner einigermaßen überrascht. Endlich! denke ich. Seit langem erwarte ich deinen Anruf, du Arschgeige! Aber in den letzten fünfunddreißig Jahren hattest du sicherlich Besseres zu tun. Und ich, ich habe heute Besseres zu tun! »Steven Spielberg? Ich kenne keinen Steven Spielberg. Sie müssen sich verwählt haben.« Er glaubt natürlich, es handle sich um einen Scherz. »Ja, ja. Wie geht’s?« »Wen wollen Sie denn sprechen?« frage ich scharf. »Guillaume de la Croix natürlich! Hör auf, mich zum Narren zu halten!« Ich übe meine kleine Rache weiter. »Ich bin Guillaume de la Croix, und ich sage Ihnen, daß ich Sie nicht kenne.« »Komm schon, Guillaume, ich bin’s – Steven Spielberg! Der Regisseur. Indiana Jones, Oscar Schindler … Das bin ich!« »Ja, wer denn jetzt?« Am erstaunlichsten ist, daß mir mein billiger Scherz Genugtuung verschafft – dem Regisseur eher weniger. Er wird ungeduldig. »Was soll denn das? Auf was willst du …?« Ich lasse ihm keine Zeit, seinen Satz zu beenden. 105
»Sagen Sie, haben Sie nichts anderes zu tun, als Leute zu belästigen?« »Aber Guillaume …« »Nennen Sie mich nicht bei meinem Vornamen! Das gestatte ich Ihnen nicht. Suchen Sie sich einen anderen, mit dem Sie Ihre Telefonspäßchen machen können.« »Ich träume wohl!« »Lassen Sie mich in Frieden!« Ich beende das Gespräch. Welch ein Vergnügen, sich hin und wieder wie ein Vollidiot aufzuführen! Einige Sekunden später ein weiterer Anruf. Die Stimme ist mir nun fast schon vertraut. »Hallo Guillaume?« »Ja, wer ist da?« »Spielberg«, sagt er empört. »Ach, hallo Steven.« Er ist ein wenig verunsichert von meinem freundlichen Gruß, fordert aber dennoch entschlossen eine Erklärung: »Sag mal, hatte ich da gerade dich am Apparat?« Die Unschuld selbst antwortet ihm: »Nein, nein, ich komme gerade vom Pool. Warum?« »Da war so ein Typ, vor einer Minute, der hatte deine Stimme und hat mich einfach abgewürgt!« »Hast du gesagt, wer du bist?« »Ja, klar.« »Na, so was! Man muß schon wirklich aufgeblasen sein, um Steven Spielberg am Telefon abzuwürgen! Oder echt bekloppt. Hier hat das Telefon jedenfalls nicht geklingelt. Du hast dich wohl verwählt und bist auf einen Scherzkeks gestoßen.« »Wahrscheinlich …« Offenbar schenkt der Regisseur dieser Darstellung der Fakten mitnichten Glauben; er scheint es sich mit mir aber auch nicht verderben zu wollen. Ich nutze die Gesprächspause
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und wechsle das Thema. »Was verschafft mir die Ehre deines Anrufs?« Spielberg entspannt sich. »Ich freue mich, endlich mit dem Mann plaudern zu können, über den in Hollywood gerade jeder spricht.« Und das ist noch nicht das Ende, mein Junge! denke ich. Er fährt fort: »Ich habe gehört, du triffst viele Leute und bekommst Dutzende von Drehbüchern …« »Hunderte gar«, korrigiere ich nicht ohne Dünkel. »Daß du schauspielern willst, ist eine ausgezeichnete Nachricht für uns alle hier … und für das Kino. Ich habe wie alle Leute deinen Prozeß im Fernsehen verfolgt, und du machst dich auf dem Bildschirm echt gut.« Wie schön, wenn einem Steven Spielberg persönlich in den Arsch kriecht! »Das ist nett«, sage ich bescheiden. »Ich wollte fragen, ob du am Wochenende ein, zwei Stunden Zeit für mich hättest, dann könnten wir eine Sache besprechen, die ich gerade plane …« »12 Uhr 30 im Spago?« »Gut, bis dann.« Ich komme etwa eine Viertelstunde früher ins Restaurant. Der Mann, der vor dreißig Jahren beschlossen hat, sich eine Schirmmütze auf den Kopf tackern zu lassen, ist schon da und schlürft eine Cola light. (Coca Cola France hat mir eine große Summe geboten, wenn ich den Namen des Getränks in diesem Buch erwähne. Ich habe angenommen. Warum soll es eigentlich nur im Kino Product placement geben und nicht in der Literatur?) Nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln – in Los Angeles sind sie umfangreich – versucht der Regisseur von Der weiße Hai einen Überraschungsangriff: »Guillaume, du mußt alles canceln, woran du gerade bist. Ich hab’ was für dich!« 107
Ich bin neugierig auf die Fortsetzung und lasse für einige Augenblicke meinen Ceasar’s Salad mit Huhn stehen. Es wird eine schwierige Geburt: »Nun ja, ich plane einen neuen Film, ein sehr anspruchsvolles Projekt … wenn nicht gar zu ambitioniert … Seit fünfundzwanzig Jahren denke ich darüber nach … Ein gewagtes Thema, aber ich möchte das Risiko auf mich nehmen … Heute fühle ich mich bereit dazu … Zweieinhalb Stunden, um das Leben eines sehr bekannten Mannes zu erzählen … Ich bewundere ihn, du bewunderst ihn, jeder bewundert ihn … ein Genie …« »Warte – du willst doch nicht sagen, daß du einen Film über mich planst?« »Nein, nein, so verrückt bin ich dann doch nicht, daß ich mich an einer solchen Legende vergreife!« sagt er lachend. Ich lache auch und fahre fort: »Also, sag mir, Steven, wer ist es, dieses Genie!« »Na, rate mal! Wer könnte mich deiner Meinung nach so sehr interessieren?« Ich denke laut nach, ohne wirklich in das Spiel einzusteigen. »Nun, ein sehr bekannter Mann, sagst du … Bei dir muß man auf alles gefaßt sein. Ich habe keine Ahnung. Vielleicht der Weihnachtsmann?« »Nein.« »Ich hab’s: Gott!« »Nein, nein, ganz kalt! Du mußt unter den HollywoodLegenden suchen.« »Micky Maus?« »Du nimmst mich nicht ernst!« »Doch, doch, aber ich komm’ nicht drauf. Sag schon, wer es ist!« Nachdem er ein Stück Brot gegessen, sein Besteck neben den Teller gelegt, mit der Hand ruhig über die Serviette gestrichen und ein paar Krümel beseitigt hat, gewährt er mir schließlich eine Antwort. »Alfred Hitchcock.« 108
Steven hat es verstanden, die Spannung zu steigern, bevor er mir den Namen des Meisters der Spannung offenbart. Welch ein Talent! Er starrt mich ziemlich aufgeregt an und wartet auf meine Reaktion. Sie entspricht seinen Erwartungen. »Bravo, Steven! Wirklich eine tolle Idee! Der größte lebende Regisseur will dem größten verstorbenen Regisseur seine Ehre erweisen – das … das ist das aufregendste Projekt seit zwanzig, dreißig Jahren in Hollywood!« Das ernstgemeinte Kompliment läßt den Regisseur von Die Farbe Lila bis zu den Ohren erröten. Nun sagt er sich sicherlich, wie schön es ist, wenn einem Guillaume de la Croix in den Arsch kriecht … »Na, letzten Endes ist der Held deines neuen Films wieder ein Dinosaurier!« merke ich an. Dieser Scherz ringt ihm ein Lächeln ab. Nach einem erfrischenden Schluck Cola light (zweites Product placement) hat er dennoch das Bedürfnis zu erklären: »Ich würde mir natürlich wünschen, daß du den großen Alfred spielst.« Nur für den Fall, daß ich geglaubt hätte, ich solle Grace Kelly oder einen der Vögel des gleichnamigen Films darstellen. Ich bin sehr geschmeichelt von diesem Angebot und kann nur sagen: »Wo muß ich unterschreiben?« Im weiteren Gespräch vertraut mir Spielberg an, daß er Hitchcock kennengelernt habe, ohne daß dieser es wußte. Alles in allem wahrlich eine Begegnung der dritten Art (das ist ein bißchen einfallslos, gebe ich zu). Im Juli 1971, Steven ist vierundzwanzig Jahre alt, schleicht er sich heimlich auf ein Set der Universal Studios und beobachtet Hitchcock bei der Regie zu dem Film, der sein vorletzter sein sollte, Frenzie. In einer Ecke der Halle versteckt und gut vor Blicken geschützt, verfolgt der junge Spielberg mit größter Aufmerksamkeit jede 109
noch so kleine Geste des großen Meisters, der mit fast zweiundsiebzig Jahren schon mit einem Bein im Grab steht. »Eine faszinierende Erfahrung, die sich mir für immer eingeprägt hat«, sagt mein neuer Freund. »Die größte Lektion in Sachen Kino, von der man nur träumen kann«, fügt er hinzu. Ich glaube ihm ohne weiteres. Der Kaffee wird serviert, und die Gefühlssequenz ist damit beendet. Mit unverhohlener Befriedigung sagt mir Steven dann die Liste meiner Partner auf. »Der Abspann wird die spektakulärste Filmszene!« Das ist keineswegs ein Scherz. Ohne Zweifel die glänzendste Besetzung seit Der längste Tag. Und hier ist sie ganz exklusiv für euch: Alfred Hitchcock Cary Grant Tippi Hedren Gregory Peck James Stewart Grace Kelly Anthony Perkins David O. Selznick Darryl F. Zanuck Alma Hitchcock
Guillaume de la Croix Tom Hanks Nicole Kidman George Clooney Johnny Depp Gwyneth Paltrow Jim Carrey Jack Nicholson Robert De Niro Jodie Foster
Nicht zu vergessen die nicht weniger außergewöhnlichen Kurzauftritte von Kevin Spacey, Russel Crowe und Michael Douglas. Die größten Stars der Jahrtausendwende haben schon eingewilligt, die größten Stars der fünfziger Jahre darzustellen. Und um ehrlich zu sein, steigert die Aussicht, mit so begabten Künstlern zu arbeiten, meine Begeisterung noch ein wenig mehr.
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Der Regisseur sagt mir zu, mir am Nachmittag die letzte Fassung des Drehbuchs zukommen zu lassen, und ich verspreche, ihn anzurufen, sobald ich es gelesen habe. Kurz darauf verabschieden wir uns und sind beide erfreut, endlich die Bekanntschaft des anderen gemacht zu haben. Das Drehbuch kommt gegen 16 Uhr 30 in meinem Büro an und wird in weniger als einer Stunde verschlungen. Von den ersten Seiten an bin ich gebannt. Ein gewagter Erzählstil, aber in Perfektion, intelligente Dialoge, eine ausgesprochen subtile Darstellung der verschiedenen Seiten des genialen Regisseurs; die beiden Drehbuchautoren Andrew Vaughan und Sam Goldmann haben unstrittig gute, sehr gute Arbeit geleistet. Genauer gesagt, das Drehbuch zu Hitchcock ist fast vollkommen. Eine Szene stört mich allerdings ein wenig, denn sie vermittelt den Eindruck, daß Alfred ernsthaft mit dem Gedanken spielte, Frau und Kinder zu verlassen und ein neues Leben mit Tippi Hedren zu beginnen, der Hauptdarstellerin des legendären Films Die Vögel. Eine Vermutung, die sich auf keine mündliche oder schriftliche Aussage stützt. Im Gegenteil, alles deutet darauf hin, daß Hitchcock sein ganzes Leben lang eine unvergängliche Liebe für seine Frau Alma empfand. Wie versprochen, rufe ich Spielberg am Abend an. Er nimmt beim ersten Klingeln ab. Ich würde ihm gern einen neuen Streich spielen, doch um es mir nicht mit ihm zu verscherzen, sehe ich davon ab. Sein erstes Wort ist nicht »Hallo!«, sondern »Und?«. Ungeduldiger geht’s kaum. Ich halte ihn nicht unnötig hin und teile ihm meine tiefempfundene Begeisterung für das Drehbuch mit. Bei dieser guten Neuigkeit platzt er vor Freude. Ich halte den Hörer von meinem Ohr weg, damit dieser Glücksmoment nicht mein Trommelfell schädigt. Offen gestanden bin ich genauso aufgeregt wie er bei dem Gedanken, die Vorbereitungen des Films in Angriff zu nehmen. Spielberg kann es sich nicht verkneifen, schon von Planung, Set und Maske zu sprechen. Er rät mir auch, wie ich 111
mich der Rolle des eindrucksvollen Regisseurs am besten nähern solle. Ich höre ihm sehr aufmerksam zu. Doch ich versäume es nicht, ihm meine Vorbehalte gegenüber der Schilderung der Beziehung zwischen Hitchcock und Hedren im Drehbuch mitzuteilen. Will er mir einen Gefallen tun, oder ist er wirklich überzeugt? Jedenfalls gibt er zu, daß er das gleiche Unbehagen empfindet. Wir vereinbaren ein Treffen für die kommenden Wochen, um die Sache mit den beiden Drehbuchautoren zu besprechen. Das Telefonat dauert noch eine gute Stunde, bis Frau Spielberg ihren Mann unterbricht und ihn bittet, sich von den Essensgästen wenigstens noch zu verabschieden. Kurz darauf unterschreibe ich meinen Vertrag mit DreamWorks. Geld ist zu keinem Zeitpunkt ein Thema zwischen Spielberg und mir. Wir überlassen es unseren Agenten und Anwälten, sich gegenseitig zu massakrieren und mit größtem Ernst die Summe festzusetzen, die nötig ist, daß ich es auf mich nehme, während der viermonatigen Drehzeit in aller Frühe aufzustehen. Am Ende bekomme ich für diesen Spielfilm die höchste Gage in der Geschichte des Kinos: sechzig Millionen Dollar – ohne die sieben Prozent Tantiemen mitzurechnen, die der Film außerhalb Amerikas einspielt. Die Zeitschrift Variety will wissen, wie ich zu dieser Rekordsumme stehe, und ich sage ungeniert: »Wissen Sie, Hitchcock ist ein so außergewöhnliches Projekt, daß ich auch umsonst mitgemacht hätte.« Eine Äußerung, die einige Ohnmachtsanfälle bei den Financiers der Gesellschaft nach sich zieht, weil sie dumm genug sind, sie ernst zu nehmen. Trotz der fünf Stunden Maske täglich, die meine Verwandlung in den guten alten Alfred erfordert, behalte ich den Dreh in ausgezeichneter Erinnerung. Während der 112
fünfzehn Arbeitswochen sorgt der Regisseur für eine gute Atmosphäre am Set. Und es gelingt ihm ganz wunderbar. Trotz der unglaublichen Anzahl an Stars pro Quadratmeter gibt es insgesamt nicht sehr viele Spannungen und Streitereien unter diesen Egomanen. In nur wenigen Tagen werden Tom Hanks und ich unzertrennlich. Tom ist ein Typ, den man schon mag, bevor man ihn kennt. Als ich ihm zum ersten Mal die Hand gebe, habe ich das Gefühl, einen langjährigen Freund zu begrüßen. Das nennt man die Magie des Kinos. Stars muß man nicht persönlich kennen, damit sie zu Freunden werden. Man spricht ihnen im allgemeinen die gleichen Qualitäten zu wie den oft sympathischen, netten Menschen, die sie auf der Leinwand darstellen. Niemand ist vor seiner eigenen Naivität gefeit! Im Fall Tom Hanks werde ich nicht enttäuscht. Seine Freundlichkeit und seine Bescheidenheit sind echt. Da wir den gleichen Humor haben und zahlreiche Ansichten in bezug auf den Beruf und das Leben überhaupt teilen, nutzen wir die gemeinsame Zeit und entwickeln eine Freundschaft, die ich schon längst für ihn empfunden habe. Auch meine Bekanntschaft mit George Clooney wird ganz wunderbar. Zweifellos der coolste Schauspieler Hollywoods. Selbstverständlich nach mir. Kaum zu glauben, aber der Bursche zeigt sich völlig unempfindlich gegenüber Streß. Meist in Shorts und mit einem alten T-Shirt bekleidet, debattiert er mit den Technikern und den unbeschäftigten Statisten endlos über irgendwelche Basketballspiele. Und wenn Spielberg ihn ans Set ruft, braucht er, mit der Uhr am Arm, keine fünf Minuten, um sich zu duschen, abzutrocknen, sein Kostüm anzuziehen, sich zu frisieren, zu schminken, vor die Kulissen zu treten und sich zu konzentrieren. Eine verblüffende Leistung. Doch dieses Verhalten an der Grenze zur Lässigkeit hindert George nicht daran, sich äußerst erfinderisch zu zeigen und 113
immer wieder Vorschläge zu machen, die eine Überlegung wert sind. So erinnert er den Regisseur zum Beispiel an seine Verpflichtung, die Hitchcocksche Tradition zu respektieren und für ein paar Sekunden in seinem eigenen Film zu erscheinen. Eine gute Idee, und Spielberg ärgert sich, daß er nicht selbst darauf gekommen ist. Johnny Depp, ein zurückhaltender und fleißiger Schauspieler, hält sich unseren Unterhaltungen und Scherzen meistens fern. Er zieht die Stille seiner Garderobe vor, um sich zu konzentrieren und ständig seinen Text zu wiederholen. Doch in den seltenen Momenten in seiner Gesellschaft entdecke ich einen angenehmen, genialen Menschen. Seine Gelehrsamkeit, ohne jede Pedanterie, verlangt mir Respekt ab. Unsere sympathische Crew bekommt für einige Tage Verstärkung von Robert De Niro und Jack Nicholson – beide groß in Form; in einer Szene stellen sie zwei der größten Nabobs dar, die Hollywood in den vierziger und fünfziger Jahren gesehen hat: David O. Selznick und Darryl F. Zanuck. Die Ruhe, die der Erste Regieassistent einfordert, ist normalerweise schwierig herzustellen, weil wir soviel herumalbern. Zum Glück verliert Spielberg nie die Geduld und wartet lächelnd, bis wir zur Aufnahme bereit sind. Stevens Gelassenheit fasziniert mich jeden Tag mehr. Nie wirkt er ratlos, überlastet oder deprimiert. Das einzige Mal, daß ich ihn beim Dreh tatsächlich zögerlich erlebe, ist bei der Entscheidung zwischen einem Thunfisch- und einem Hühnchensandwich in der Mittagspause. Jodie Foster bringt die Professionalität des Regisseurs prima auf den Punkt: »Steven hat seinen Film so gut vorbereitet, daß er auch von seinem Bett aus telefonisch Regie führen und nebenher Illustrierte lesen könnte.« Ich wiederhole ihre Bemerkung übrigens in einem Dutzend Interviews und schreibe sie natürlich mir selbst zu. Über den denkwürdigen Abend des 30. Juli 2007, als der Abschluß der Dreharbeiten gefeiert wird, erzähle ich lieber 114
nichts. Der Bericht würde nichts Rühmliches zu meinem Mythos und zu dem meiner Freunde beitragen. Der Leser sollte mir übrigens dankbar sein – es gibt nichts Nervtötenderes als einen Kerl, der sich unbedingt in allen Einzelheiten über eine Sauferei auslassen will. Ende August lädt Spielberg die ersten zehn Namen des Abspanns ein und zeigt den Film in seiner so gut wie endgültigen Fassung. »Genial«, »toll«, »verblüffend« sind die drei meistwiederholten Adjektive, als die Lichter zwei Stunden und dreiunddreißig Minuten später wieder angehen. Dem Regisseur ist die schwierige Gratwanderung gelungen, das Leben einer weltberühmten Person zu schildern und ihr Bild zu zeichnen, ohne in diese widerliche Nachsicht und diese unerträgliche Gefühlsduselei zu verfallen, die für biographische Filme so typisch sind. Wir sparen auch nicht mit Komplimenten und drücken Spielberg unsere Freude und vor allem unseren Stolz darüber aus, daß wir bei diesem tollen Abenteuer dabeisein durften. »Ein absolutes Meisterwerk!« So Nicholson und Foster. »Der beste Film seit mindestens zehn Jahren!« laut Robert De Niro und mir; »seit mindestens zwanzig Jahren«, Kidman und Paltrow. »Das ist der schönste Film, den ich in meinem ganzen Leben gesehen habe, und ich spiele auch noch mit!« erklärt George Clooney mit Tränen in den Augen. Als wir aus dem Vorführraum kommen, prognostiziert ihm Tom Hanks fünf Golden Globes und sechs Academy Awards. Die Ausbeute ist dann jedoch noch üppiger: sechs Golden Globes und neun Academy Awards. »Alfred Hitchcock selbst hat zu seinen Lebzeiten nicht so viele Auszeichnungen bekommen«, schreibt die Los Angeles Times am Tag nach der Oscar-Verleihung. Der Film läuft im Dezember 2007 in den USA und in Kanada an und hält sich zwanzig Wochen in den Charts auf Platz eins. Etwas nie Dagewesenes! Mit einem 115
Einspielergebnis von fünfhundertfünfundsiebzig Millionen Dollar in Amerika und etwa achthundertdreizehn Millionen in der übrigen Welt ist Hitchcock gleich nach Titanic der zweitgrößte Erfolg aller Zeiten. Man muß also bis zum folgenden Jahr darauf warten, daß der Dampfer vom ersten Rang vertrieben wird. Der Eisberg, an dem der Kassenschlager von James Cameron schließlich zerschellt, ist mein zweiter Film. Eine tolle Leistung, die die Presse nur allzugern aufgreift. »Guillaume versenkt Titanic«, titelt beispielsweise der Hollywood Reporter. Der Film spielt Milliarden ein und schlägt alle Rekorde. Der größte Erfolg der Filmgeschichte. Sein Titel: MOON.
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Ich habe den Regisseur gebeten, sich noch einmal an den Schneidetisch zu setzen. Man sieht in diesem Film ja nur mich! New York Times, 18. Juli 2009, anläßlich des Films Der 11. September von James Cameron.
Irgendwann sagte ich mir: Für wen hält sich dieser Trottel? Was hat er im Leben erreicht, um so mit mir zu reden? Ich konnte einfach nicht anders, ich bedachte ihn mit allen erdenklichen Schimpfwörtern! Und ich kann Ihnen sagen, daß er sich in die Hosen gemacht hat, dieser bescheuerte Scorsese! Le Journal du Cinéma, Canal+, 5. März 2010
Nun, ich bin der talentierteste Regisseur, mit dem ich je arbeiten durfte. Und Gott allein weiß, wie verwöhnt ich bin! Am 14. Mai 2014 in Cannes bei der Pressekonferenz zu Vererbte Sterilität, dem einzigen Film, bei dem ich Regie führte.
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15 Von MOON höre ich zum ersten Mal aus dem Mund von George Lucas. Ende Dezember 2007 lädt der Schöpfer von Krieg der Sterne uns, Jennifer und mich, zu einer EwoksSuprise-Party auf seine Ranch bei San Francisco ein. Überall schwirren Hunderte von Zwergen herum, verkleidet als knuddelige Kreaturen aus einer der Episoden der ersten Trilogie. Angesichts dieser Inszenierung fühlen wir uns gleich ziemlich unbehaglich. Nach einer halben Stunde, als wir uns schon allmählich verabschieden wollen, nimmt mich Lucas am Arm und führt mich zum Pool. Er ist ein wenig beschwipst und will mit mir unbedingt über MOON sprechen, ein Drehbuch von Robert Zemeckis, dem Regisseur von Zurück in die Zukunft, Forrest Gump, Contact, Cast Away – Verschollen. Eine gute Viertelstunde lang befleißigt er sich, mir zu erzählen, was er an dem Projekt schlecht findet. »Robert hat es mir geschickt, ich soll ihm meine Meinung sagen. Gut, meiner Ansicht nach ist diese ganze Geschichte völlig bescheuert. Wenn man das liest, hat man den Eindruck, Forrest Gump persönlich hat es geschrieben. Jedenfalls habe ich mich nicht gescheut, ihm zu sagen, daß seine Idee absolut schwachsinnig ist.« Verwundert über seine heftigen Worte, bitte ich ihn, mir die Handlung in groben Zügen zu schildern. Doch Lucas tut es so widerwillig, daß ich nicht gleich in der Lage bin, ein wie auch immer geartetes Urteil über MOON abzugeben. Ich muß bis zum nächsten Morgen warten, bis sich in meinem Geist all die ätzenden Kommentare meines Freundes George verflüchtigt haben, um mir über die hervorragende Qualität des Drehbuchs klarzuwerden. Ich widerstehe der Lust nicht, euch den Anfang der Handlung zusammenzufassen: 118
Ende des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts wird der Mond von einer Kolonie Männern und Frauen bewohnt, die beschlossen haben, der Überbevölkerung auf der Erde und deren Konsequenzen zu entfliehen. Durch einen blutigen Staatstreich ruft sich Wade Armstrong – ein Nachkomme von Neil Armstrong, dem Mann, der als erster den Fuß auf den Mond gesetzt hat – zum »Obersten Führer der Neuen Welt« aus und erklärt sogleich die Unabhängigkeit des kleinen grauen Himmelskörpers. Um seine Entschlossenheit und die Schlagkraft seiner neuen Armee unter Beweis zu stellen, zögert Armstrong nicht, die Erde zu bombardieren, und er legt etliche Metropolen in Schutt und Asche. Der Präsident der Wiedervereinigten Staaten der Erde, ein Amerikaner natürlich, zieht massiven Sanktionen, die zu viele unschuldige Opfer fordern würden, einen gezielten effizienten Militärschlag vor und beauftragt den jungen Offizier Ryan Sax damit, sich mit einer kleinen Kampftruppe auf den Mond zu begeben und Armstrong und dessen Generäle außer Gefecht zu setzen, koste es, was es wolle. Doch die Mission verläuft nicht wie geplant, und das Spezialkommando wird gleich nach der Mondlandung gefangengenommen. Zum Glück hat Sax übernatürliche Kräfte, die ihn und die anderen schnell retten … Kaum drei Wochen nach der Party bei Lucas willige ich ein, die Hauptrolle zu spielen, Ryan Sax. Doch kommen wir wieder auf die Tage kurz vor der Vertragsunterzeichnung zurück. In den ersten Stunden des Jahres 2008 ruft mich Robert Zemeckis an. Er begrüßt mich ganz ungezwungen, als wären wir alte Freunde. Diese Vertrautheit ist im Show-Biz an der Tagesordnung, doch ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt. Erst wünscht er mir fröhlich ein gutes neues Jahr und gute Gesundheit, dann fragt er nach Jennifer und unseren Kindern, die er noch nie getroffen hat. Nach meinen sehr ausweichenden 119
Antworten verrät er mir endlich den genauen Grund seines Anrufs: »Können wir morgen zusammen zu Mittag essen?« »Morgen mittag?« wiederhole ich und überlege. »Ich glaube, da bin ich mit Michael Jackson zum Essen verabredet; aber ich sage ab. Seine nicht vorhandene Nase verdirbt mir eh immer den Appetit! Also, morgen mittag, kein Problem.« »Ausgezeichnet!« freut sich Zemeckis. »Nimm dir ein bißchen Zeit, ich habe dir viel zu erzählen.« »Du machst es ja spannend! Willst du mir nicht sagen, um was es geht?« frage ich und denke natürlich an MOON. »Worum wird es schon gehen, Guillaume? Natürlich übers Filmemachen. Wir sind in Hollywood, und hier werden Filme produziert, keine Rasenmäher.« Daß er mich für einen Trottel hält, gefällt mir nicht, aber ich beschließe, darüber hinwegzusehen, denn im Grunde finde ich es gut, daß er am Telefon nicht darüber spricht. Das ist völlig okay. Wir wünschen uns gegenseitig noch einmal ein gutes neues Jahr und legen auf. Am 2. Januar, gegen halb eins, begebe ich mich ins Venice, 1820 Washington Street, wo Zemeckis sein Büro hat. Ich sehe einen roten Ferrari Maranello vor einem kleinen Ziegelsteinbau. An der Tür aus dunklem Holz klingle ich. Robert bricht ein Gespräch auf dem Handy ab und öffnet mir persönlich die Tür, ein breites Willkommenslächeln auf dem Gesicht. Er schüttelt mir kräftig die Hand und fordert mich auf, ihm auf die Terrasse im zweiten Stock zu folgen. Dort oben blicke ich in das Gesicht des glücklichen Besitzers des schönen italienischen Autos: Leonardo DiCaprio. Überraschung! Der junge Schauspieler ist auch zum Essen eingeladen, ist aber nicht erstaunt, mich zu sehen. Offensichtlich wurde er von meinem Kommen in Kenntnis gesetzt. Zemeckis stellt uns vor, was angesichts unserer enormen Berühmtheit völlig unnötig ist. Wer würde denn auf die Idee kommen, Superman und Batman einander vorzustellen? 120
»Ich hoffe, dieser kleine unvorgesehene Umstand verärgert dich nicht«, sagt Robert ein wenig besorgt zu mir. »Aber nein«, gebe ich zurück und drücke Leonardos Hand. »Bist du zufrieden mit deinem Maranello?« »Ich bin begeistert! Er ist toll! Ein Ferrari V12 – ich glaube, etwas Besseres gibt es nicht.« »Wenn ich daran denke, daß ich einen habe und nie fahre …« »Wie denn das?« fragt DiCaprio. »Ach, weißt du, das ist wie die Hemden und Pullover, die man im Schrank hat und nie anzieht.« »Verstehe. Ich habe vor zwei Jahren einen Helikopter gekauft und bin noch nie damit geflogen.« »So ist das in Hollywood! Kaum versucht man, ein wenig aufzuschneiden, ist immer einer da, der noch eins drauflegt!« Zemeckis macht dieser Unterhaltung zweier angeberischer Arschlöcher ein Ende, indem er uns zu Tisch bittet. Er verliert nicht sehr viel Zeit und kommt bald zum Thema. Fast eine Stunde lang erzählt er uns in allen Einzelheiten die Geschichte von MOON, die er sich mit seinem alten Kompagnon Bob Gale ausgedacht hat. Robert entpuppt sich als ein unübertroffener Erzähler; sein Vortrag ist an den richtigen Stellen witzig, spannend oder ernst, so daß Leo und ich seine tolle Performance am Ende des langen Monologs mit Beifall würdigen. Das Drehbuch, echt originell in der Stoffentwicklung und von einer unglaublichen Raffinesse im Plot, begeistert mich wirklich – was ich Robert auch sage. Leonardo ist ebenfalls von der Geschichte fasziniert und verkündet, daß er bereits zugesagt hat, die Rolle des Separatistenführers Armstrong zu übernehmen. DiCaprio als blutrünstiges Monster – das klingt unstrittig nach einer großartigen Idee. Doch es gibt noch eine andere große Überraschung: Harrison Ford hat einige Tage zuvor eingewilligt, den Präsidenten des Erdenvolks zu spielen, 121
der in der Mitte des Films von Armstrong und seinen Männern bei einem spektakulären Attentat ermordet wird. »Der Film wird nicht ohne mich gedreht!« Mit diesem, zugegeben, ziemlich schwachsinnigen Satz tue ich meinen Entschluß kund, bei dem Abenteuer mitzuwirken. Komischerweise fällt Zemeckis nicht vor Freude vom Stuhl. Sein Gesicht wird sogar sehr ernst. Er wünscht meine Einwilligung in einem Punkt, bevor er sein Glück zum Ausdruck bringt. Damit es nicht gestellt wirkt und vor allem die entsprechende Wirkung erzielt, legt er unbedingten Wert darauf, daß das grauenvolle finale Duell zwischen Leo und mir vierhundert Kilometer über dem Pazifik ohne Spezialeffekte gedreht wird. Er schlägt uns in der Tat vor, in eine Rakete zu steigen und die Szene im Weltraum zu drehen – ungelogen. DiCaprio, der zu dieser Reise offensichtlich schon sein Okay gegeben hat, bittet mich mit seinem Blick, es ihm gleichzutun. »Ein Knaller!« sage ich, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. »Genial!« ruft Leonardo sogleich aus. Zemeckis springt vom Stuhl auf. »Fuck! Fuck! Fuck! Wir werden diesen Scheißfilm drehen! Ich war sicher, ihr würdet ja sagen, alle beide. Danke! Danke! Ich liebe euch!« Mit glückstrahlenden Augen deutet er mit dem Finger auf mich: »Soll ich dir was sagen, Guillaume? Diese Rolle wird die wichtigste in deiner Karriere, das kannst du mir glauben.« Er soll recht behalten. Am Ende des Essens dreht sich das Gespräch eine Weile um George Lucas und dessen äußerst negative Kritik an MOON. Zemeckis hält mit seiner Meinung nicht hinterm Berg. »Es ist normal, daß der Alte ausflippt. Er hat gesehen, daß die Geschichte genial ist und seinen Krieg der Sterne als ›Muppets im Weltraum‹ erscheinen läßt. Darüber hinaus weiß er, daß mit 122
DiCaprio, Ford und dir als Hauptdarsteller im selben Film jeder lebende Mensch auf Erden alles tun würde, um diese Schlacht, dieses Gemetzel auf der Leinwand mitzuerleben. Selbst wenn es ein Riesenquatsch ist. Der Erfolg ist sicher.« Und ohne Mitleid fügt der Regisseur hinzu: »Die Zeiten von George Lucas sind vorbei. Das denkt in Hollywood jeder. Der Arme ist am Ende.« In der Hauptstadt des Kinos muß man für einen Nachruf nicht erst klinisch tot sein. Schließlich ist nur noch eine Sache zu regeln: die Geldfrage. Eine Woche nach unserem Gespräch legen Zemeckis und sein Koproduzent Paul Zentz den Verantwortlichen von Universal die endgültige Kostenaufstellung vor, die sich auf etwa vierhundert Millionen Dollar beläuft; das ist doppelt so hoch wie das Budget von Titanic, bislang Rekordhalter. Trotz der garantierten enormen Einnahmen weigert sich die Gesellschaft zu unterschreiben. »Wir sind bereit, den Film zu produzieren, aber die Grenze von dreihundert Millionen Dollar werden wir nicht überschreiten.« Das ist das letzte Mal, daß man mich mit dem Etat eines Films nervt, in dem ich mitspiele. (Zur Information: Die Gesamteinnahmen von MOON werden sich weltweit auf fünf Milliarden und dreihundert Millionen Dollar belaufen!) Robert bestellt die drei Hauptdarsteller seines Films zu einem Krisengespräch ein und erläutert die Lage. Nachdem die Optionen, einen anderen Geldgeber zu suchen (Zemeckis ist treu) und die letzte Szene im Studio zu drehen und nicht im Weltraum (Zemeckis ist stur), ausgeschlossen werden, gibt es für uns nur eine Lösung: unsere vier Gagen rein erlösabhängig zu gestalten. Grob gesagt, wir drehen den Film gratis, sollte er sich als Flop herausstellen. Sollte er mehr als dreihundert Millionen Dollar einspielen, teilen wir im Gegenzug fünfundsechzig Prozent des Gewinns durch vier. Diese 123
Überlegung erhält die Zustimmung der Anwesenden. Da wir vor allem an der künstlerischen Seite des Projekts interessiert sind, wollen wir nicht das Risiko auf uns nehmen, daß alles wegen einer schnöden Geldgeschichte kippt. Und außerdem haben wir alle vier so viel Moos, daß wir das Abenteuer »alles oder nichts« eingehen wollen. Unnötig zu sagen, daß die Verantwortlichen der Studios hocherfreut sind, wenn wir ihnen unseren Vorschlag unterbreiten. »Meine Herren, diese Haltung ehrt Sie«, sagt sogar einer in einem kurzärmligen hellrosa Hemd. Ja, ja, überschlag dich nicht, du kleines Arschloch, denke ich sofort. Nur weil du nichts in der Hose hast, machen wir den großen Reibach! Am 3. März um 10 Uhr 39 unterzeichnen wir den Vertrag im Büro von Ron Meyer, dem Präsidenten von Universal; er begrüßt uns und will natürlich mit uns vor den Fotografen posieren. Die Nachricht von der Weltraumfahrt DiCaprios, Zemeckis’, Darius Kondjis – eines der besten Kameramänner der Welt – und meiner Wenigkeit ist der größte Werbecoup aller Zeiten für einen Spielfilm. Die Begeisterung, die dieses Ereignis auslöst, ist in der Geschichte des Kinos und der Menschheit noch nie dagewesen. Leonardo, Harrison und ich werden mit tausend Bitten um ein Interview und Anfragen aller Art bestürmt, eine ähnliche Hysterie haben wir noch nie erlebt. Die Zeitungsberichte, die Fernsehsendungen, die Internetseiten, die T-Shirts und all die Kinkerlitzchen, die unser Film nach sich zieht, zählen wir gar nicht mehr. »Die Leute stehen schon jetzt Schlange vor den Kinos!« scherzt selbst Ron Meyer ein Jahr vor dem Start von MOON. Um Indiskretionen und Gerüchte auf ein Minimum zu reduzieren, gehen die Dreharbeiten unter größter Geheimhaltung vonstatten. So sind zum Beispiel die Drehbücher auf nicht fotografierbarem und nicht fotokopierbarem Papier gedruckt und numeriert, und es werden 124
nur vierzehn Exemplare verteilt. Die drei Hauptdarsteller, die vier wichtigsten Nebendarsteller, der Kameramann, das Scriptgirl, der Cutter, der Executive Producer, der Co-Drehbuchautor Bob Gale, Ron Meyer und natürlich der Regisseur erhalten je ein Exemplar, das sie immer und unter allen Umständen bei sich tragen müssen. Nach meinem Geschmack sind diese Vorsichtsmaßnahmen ein wenig überzogen, wenn auch nicht unnütz, damit nichts ins Internet oder zur Presse durchsickert. Zemeckis ruft Lucas an – neben diesen vierzehn Personen der einzige, der die Geschichte kennt – und bittet ihn, gegenüber den Medien strikte Diskretion zu wahren. Der Vater von Krieg der Sterne hat größtes Verständnis dafür, daß die Produktion eines vom Publikum so sehnlich erwarteten Films völlig abgeschottet werden muß. Trotz seiner Empörung über die ungeheuere Publicity um MOON sichert er Zemeckis sein Schweigen zu und wünscht ihm als guter Verlierer sogar einen schönen Dreh. Die Leute von der NASA sind von dem Projekt begeistert und verhalten sich gegenüber der Crew äußerst kooperativ. Sie sparen weder Zeit noch Kraft, um dieser großen kinematographischen Premiere zum Erfolg zu verhelfen. Auch wir sind verblüfft, um nicht zu sagen geschmeichelt von der Hilfsbereitschaft der Astronauten, die für die Weltraumbehörde arbeiten. Ausnahmslos alle bieten sich freiwillig an, diese Mission auszuführen. Für die gerechte Auswahl hat Robert die Idee, das Los entscheiden zu lassen; es fällt schließlich Jeffrey Ashby und Terrence Wilcutt zu, die Raumfähre Discovery zu steuern, die die NASA uns zur Verfügung stellen wird. In mehreren Monumentalfilmen wurde schon versucht, das Training darzustellen, das »normale« Leute absolvieren müssen, bevor sie an Bord einer Rakete reisen. In Armageddon beispielsweise müssen Bruce Willis und seine Freunde eine ganze Reihe von anstrengenden körperlichen Übungen auf sich nehmen. Das gleiche gilt für die Opis in den Space Cowboys 125
von Clint Eastwood. Die Wirklichkeit aber sieht ganz anders aus. In den drei Wochen, die wir in Cap Canaveral verbringen, wird uns keine sportliche Ertüchtigung abverlangt. Wir müssen uns lediglich einer kleinen medizinischen Untersuchung unterziehen. Alle meine Kameraden bestehen diesen Routinetest mit gut oder sehr gut. Ich habe weniger Glück und werde sofort zum vorrangigen Gegenstand ärztlicher Besorgnis. Mein etwas erhöhter Blutdruck und meine Höhenangst sprechen nicht zu meinen Gunsten. Im Laufe einer ziemlich lebhaften Unterredung zwischen den Verantwortlichen des Weltraumflugs und denen der Filmproduktion wird mein Fall lang und breit studiert und diskutiert. Die Docs winden sich und geben weder eine positive noch eine negative Einschätzung ab. »Er ist nicht besonders gefährdet, aber man muß mit allem rechnen!« Unter dem Druck von Universal beschließt der Versicherer, die amerikanische Weltraumbehörde jeder finanziellen und juristischen Verantwortung zu entheben, sollte dem größten Star des einundzwanzigsten Jahrhunderts etwas zustoßen. Die Leitung der NASA fürchtet, dennoch von der ganzen Welt beschuldigt zu werden, wenn ein Unglück geschieht, und bittet sich achtundvierzig Stunden Bedenkzeit aus. Dann gibt sie schließlich zähneknirschend grünes Licht für meinen Abflug. Der Start der Raumfähre wird auf Donnerstag, den 11. Juli, punkt 16 Uhr festgesetzt. Den Nachmittag davor verbringe ich mit meiner Familie und meinen Freunden. Jennifer hat mir von Anfang an ihren Segen für dieses Abenteuer gegeben und wirkt nicht übermäßig beunruhigt. Man muß sagen, daß unsere lebhaft tollenden Zwillinge wie ein starkes Antidepressivum auf sie wirken. Meine Eltern wiederum tragen schon Trauer um ihren Sohn und sind sicher, ihn binnen Stunden zu verlieren. Mein Vater ist bei weitem der Nervösere der beiden. Am Ende 126
des Tages versucht seine Frau ein wenig unbeholfen, die Situation zu relativieren: »Also wirklich, François – ich riskiere mein Leben um ein Zehnfaches, wenn ich dich ans Steuer lasse, als Guillaume, wenn er auf Millionen Litern flüssigem Wasserstoff und Sauerstoff sitzt!« Doch ihm steht nicht der Sinn nach Scherzen, und schon gar nicht danach, sich zu streiten. Er zuckt nur irritiert mit den Schultern, weil diese Rabenmutter ihren Sohn in den Tod ziehen läßt. Die Verabschiedung – für meine Eltern ein Lebewohl – spielt sich tags darauf um 13 Uhr vor den Filmkameras, Mikrophonen und Fotoapparaten der ganzen Welt ab. Dennoch verdirbt mir dieser Mangel an Privatsphäre nicht wirklich die letzten Momente, die ich mit meinen Lieben verbringe. Ich küsse meine süße Jenny ab, wir umarmen uns lange, bevor Wayne und Brando die Aufmerksamkeit ihres Vaters beanspruchen und uns trennen. Einige Augenblicke später fällt mir meine Mutter in die Arme. Ich brauche gut und gern fünf Minuten, um mich aus diesem mächtigen Schraubstock zu befreien. Danach begegne ich dem besorgten Blick meines Vaters, der mir dennoch ein freundliches Lächeln gewährt. Dann ist mein Bruder an der Reihe, mir eine gute Reise zu wünschen. »Sieh gut nach, ob du auch deine Rückfahrkarte in der Tasche hast. Sonst bist du aufgeschmissen, wenn du zurückkommen willst!« Mein herzallerliebstes Brüderchen! Anschließend umarme ich den Rest der Familie und meine Freunde, die extra aus diesem Anlaß aus allen vier Himmelsrichtungen gekommen sind. Mein Hund Visconti, der normalerweise sehr lebhaft ist, sitzt ruhig auf seinem Hintern, als wäre er sich der Feierlichkeit des Augenblicks bewußt. Ich hebe ihn hoch und drücke meine Lippen liebevoll auf seine kleine Schnauze. Ein Geschenk für die unzähligen Fotografen, die diesen zärtlichen Moment 127
unsterblich machen. Weltweit hat die Presse ihren Aufmacher für den kommenden Tag. Ich werfe meinen Reisegefährten einen Blick zu. Bei Leonardo und seiner geliebten Kylie Minogue winden sich heftig die Zungen. Darius, der Kameramann, versucht, eine gute Figur zu machen, aber seine große Nervosität verrät seine Gefühle. Und Robert Zemeckis sitzt schon im Bus und hat es sichtlich eilig, in diese Rakete zu steigen, die in der Ferne in den Himmel ragt, und sich endlich an die Arbeit zu machen. Um 14 Uhr 30 treffen wir im Inneren der Raumfähre unsere beiden Piloten. Keineswegs zu Scherzen aufgelegte Techniker schnallen uns nicht gerade behutsam auf sehr unbequeme Sitze. Der elektrische Stuhl dürfte sich auch nicht anders anfühlen. Und um 16 Uhr 0 Minuten und 0 Sekunden reißt sich die Zweitausend-Tonnen-Raumfähre schließlich vom Boden los und beginnt ihren unaufhaltsamen Aufstieg in den Himmel über Florida. Ich habe große Schwierigkeiten, euch die genauen körperlichen Empfindungen bei so einem Start zu schildern. Nur ein Mensch, der achtunddreißig Tonnen Gewicht auf seinem Körper überlebt hat, könnte sich vorstellen, was wir durchmachen. ine Viertelstunde später ist es besser. Der Schub ist weniger spürbar, und langsam erholen wir uns. Erste Feststellung: Keiner von uns wurde ohnmächtig. Aber Leo, Darius und ich haben die Windeln in unserem Overall vollgemacht. Dieses Eingeständnis entreißt uns das erste Lachen, und wir begreifen, daß im All kein Platz ist für Schamgefühle. Die Raumfähre begibt sich auf ihre Kreisbahn, als gehörte sie ganz natürlich dorthin. Endlich können wir uns abschnallen, und wir erleben, wie der größte Menschheitstraum Wirklichkeit wird: zu fliegen. Das erstaunlichste Merkmal der Schwerelosigkeit ist, daß sie jeden Erwachsenen wieder zum Kind werden läßt.
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In knapp zwei Minuten reduziert sich das Durchschnittsalter der sechs Astronauten auf acht Jahre. Einer drückt seine Nase ans Bullauge und ruft seine Spielkameraden. Der Anblick dieses weiß-blauen Planeten, der sich majestätisch um sich selbst dreht, raubt uns vor lauter Schönheit die Sinne. Beim Dröhnen der Elektrik unserer Raumfähre meinen wir sogar, den Motor zu hören, der diese Rotation bewirkt. Der der Erde überdrüssige Mensch sollte um jeden Preis (immerhin zwanzig Millionen Dollar) eine Reise ins All planen. Unsere Besichtigungstour findet jäh ein Ende, als Robert von seinem Kameramann das detaillierte Storyboard der Szene verlangt, die gedreht werden soll. Schließlich sind wir ja zum Arbeiten hier und nicht als Touristen. In der Kabine proben Leo und ich unter dem aufmerksamen Blick des Regisseurs ein letztes Mal die Hiebe, die wir uns draußen verpassen müssen. Zemeckis hat nichts auszusetzen. Er bittet uns also, unsere Raumanzüge anzulegen und uns in die Druckschleuse zu begeben. Dieser Weltraumspaziergang wird für mich ein wahres Martyrium. Als ich unzählige Kilometer unter meinen Füßen das Kap der Guten Hoffnung sehe, erfaßt mich sofort ein Schwindel, der sogleich in Panik ausartet. Leonardo und Darius sind in einem ähnlichen Zustand und klammern sich über zehn Minuten lang an die Raumfähre, bevor sie dann frei im Raum schweben. Unterdessen wedelt Robert, glücklich wie ein Fisch im Wasser, mit den Armen und winkt den Bewohnern unserer Erde zu. Drei Kameras sind für diese Szene vorgesehen. Die erste bedient Darius, die zweite Jeffrey, einer unserer Piloten, und Zemeckis die dritte. DiCaprio und ich begeben uns also in Position und warten das Okay des Regisseurs ab, um in Aktion zu treten. Der blöde Robert, den unsere Angst völlig kaltläßt, verlangt von uns, die Szene viermal zu wiederholen. Doch er tut eigentlich ganz gut daran, denn die letzte Aufnahme wird 129
bei weitem die beste. Nach einem vierzigminütigen Kraftakt kehren wir, fast am Ende unserer Sauerstoffreserven, wieder ins sichere Innere des Raumschiffs zurück. Begeistert von den Rushes, die er gleich auf einem Digitalbildschirm ansieht, hebt der Regisseur die rechte Hand, in die wir zum Zeichen des Sieges nacheinander einschlagen. In Zeitlupe natürlich – der Schwerkraft wegen. Wir haben uns eine gute Mahlzeit verdient und lassen uns einen flüssigen Hamburger sowie eine surrealistische dehydrierte Mousse au Chocolat schmecken. Nach fünf Stunden unruhigen Schlafs treten wir unseren Rückflug zur Erde an. Die Rückreise verläuft übrigens ruhiger als die Hinreise. Am Samstag, dem 13. Juli 2006, setzen uns Jeffrey und Terrence um 10 Uhr 15 sanft auf festem Boden ab. Mit einem kleinen Stich im Herzen verlassen wir die Discovery und werden uns des außergewöhnlichen Privilegs, eine Weltraumreise unternommen zu haben, noch ein bißchen bewußter. Plötzlich fällt mir etwas auf: In diesen zwei Tagen hat keiner von uns unter der Enge und dem großen Gedränge gelitten. Das ist wirklich verwunderlich bei Leuten, die sich nur in riesigen Limousinen fortbewegen und in Häusern mit mindestens dreißig Zimmern wohnen. Peter Moore, der Präsident der NASA, Ron Meyer und Harrison Ford, der freundlicherweise von seiner Ranch in Wyoming hergekommen ist, begrüßen uns auf dem Rollfeld. Unser Gespräch ist zum Glück nur kurz, denn ein Sanitäter fordert uns auf, unverzüglich in den Krankenwagen zu steigen. Mehr als hundert Meter von uns entfernt werden die unzähligen Journalisten hinter Stahlbarrieren wütend, weil sie unsere ersten Eindrücke nicht erfahren. Wir winken ihnen dennoch zu und zeigen mit einem breiten Lächeln an, daß unsere Mission erfolgreich war. Nach achtundvierzig langen Stunden unter medizinischer Beobachtung dürfen Leonardo, Robert, Darius und ich endlich 130
wieder unser normales Leben führen. Wieder zu Hause rufe ich gleich meinen Agenten Mike Spadolini an und bitte ihn, mir bis zum Ende der Dreharbeiten Mitte Oktober alle Interviews und öffentlichen Auftritte zu ersparen. Die ungeheuerliche Aufregung der vergangenen Wochen hat mich extrem erschöpft. Letztendlich waren die zwei Tage im All die ruhigste Zeit meines neuen Lebens. Eine Woche später treffe ich mich wieder mit meinen Freunden in den Universal Studios und drehe weiter. Die dreiwöchigen Dreharbeiten mit Harrison Ford erscheinen mir – leider – viel zu kurz. Mit über fünfundsechzig Jahren strahlt dieser Mann noch immer die ruhige Kraft aus, die unweigerlich jeden einschüchtert. Ich muß dazu sagen, daß man Indiana Jones und Han Solo nicht so einfach das Stichwort gibt, ohne ein wenig Furcht zu verspüren. Zum Glück machen seine Unkompliziertheit und seine große Bescheidenheit unsere Zusammenarbeit angenehm und unproblematisch. Die Szenen werden ohne den geringsten Verzug und ohne den kleinsten Zwischenfall abgedreht. Die Schlußklappe fällt sogar eine Kalenderwoche früher als geplant. Zemeckis erwartet diesen letzten Tag ungeduldig, um sich dann ein wenig zu entspannen. Anders als seinen Freund Spielberg überkommen ihn, der ständig angespannt ist, während dieser vier Monate denkwürdige und oft ungerechtfertigte Wutausbrüche, die er an seinen Assistenten oder den armen Technikern ausläßt. Doch die Crew ist nicht besonders nachtragend; sie weiß ja, welchem Druck der Regisseur bei den Dreharbeiten ausgesetzt ist, und so übergibt sie ihm bei einer kleinen Party am Set einen echten Mondstein von achtundvierzig Gramm, den die NASA und die amerikanische Regierung ausnahmsweise rausrücken. Ein Wahnsinnsgeschenk von unschätzbarem Wert, das diesen Mann, der eigentlich gar nicht so ruppig ist, ein paar Tränen der Rührung kostet.
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Endlich kommt die Urlaubszeit. Jennifer hat die gute Idee, die ganze Insel Moustique zu mieten und Will Smith mit seiner kleinen Familie einzuladen. Diese zwei erholsamen Wochen werden noch schöner als gedacht. Die Kinder verstehen sich prächtig und spielen die meiste Zeit am Strand. Auch die Erwachsenen verstehen sich prächtig und spielen die meiste Zeit in ihren Schlafzimmern. In jenem Jahr lernen wir zwei Paare endlich die Freuden des Partnertauschs kennen. Besser spät als nie.
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Mehrere Fotografen haben mir ein Vermögen geboten, damit ich nackt vor ihren Kameras posiere … Ich habe kategorisch abgelehnt. Was sollen denn meine Kinder denken, wenn sie in einigen Jahren den Schwanz ihres Vaters in alten Illustrierten entdecken? Prawda, 4. Dezember 2007
Ich habe nicht mit Jodie Foster geschlafen. Wissen Sie, eigentlich hat noch kein Mann mit Jodie Foster geschlafen. Late Show with David Letterman, ABC, 17. November 2009
Ich könnte täglich ein Dutzend Prozesse wegen sexueller Belästigung anstrengen. In Hollywood gibt es unglaublich viele Schlampen, die alles tun würden, um mit einem berühmten Schwanz zu schlafen! Libération, 25. September 2011
Ich habe genug davon, als Sexsymbol gehandelt zu werden. Sie sollten mich mal kurz nach dem Aufwachen sehen – da sehe ich aus wie Brad Pitt! BBC News, 27. März 2009
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16 Das größte Sexsymbol des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist im Moment ein Bursche mit zwanzig Kilo Übergewicht, der sich in seiner Haut nicht wohl fühlt, der schüchtern ist und oft einen farblosen Teint hat. Die Welt muß warten, ich bin noch nicht bereit. Doch glaubt mir, bald geschieht das Wunder. Es ist nur eine Frage von Monaten. »The sexiest man alive« schreiben von 2006 an die größten amerikanischen Zeitungen. Ein Titel, den ich nach übereinstimmender Meinung zu Recht trage und den ich fast zwei Jahrzehnte lang behalten werde. Am 11. Oktober 2007 faßt das Time Magazine auf der Titelseite zusammen, welch ungeheure Wirkung ich auf das andere Geschlecht habe: »Guillaume de la Croix, Viagra für Frauen«. Junge Mädchen auf der ganzen Welt müssen nur meinen Namen lesen oder meinem Blick in einer Zeitung begegnen, und ihnen laufen Freudentränen in die knappen Slips. In ihren Zimmern eingeschlossen, den Schlüssel zweimal umgedreht und erregt von meinem Gesicht, das überall an den Wänden klebt, lassen sie ihre Hände über ihre vorpubertären Körper gleiten und entdecken die süße Wollust der Masturbation. Gleichzeitig schreien ihre großen Schwestern und ihre Mütter beim Orgasmus dem ärmlichen Ersatz, den sie reiten, meinen Namen ins Gesicht. Auf den fünf Kontinenten kommen wöchentlich Frauen zu Tausenden in Theatersälen oder Stadien zusammen und erzählen nacheinander ihre neuesten erotischen Träume ins Mikro, bei denen natürlich ich die Hauptrolle spiele. Diese überaus schamlosen, aber oft auch lustigen Bekenntnisse lassen mich nicht kalt. Welcher andere Mann kann von sich schon stolz behaupten, der Mehrzahl der Erdenbewohnerinnen wieder zu höchster Lust verholfen zu haben? 134
Diese wahre sexuelle Revolution bringt ein paar Schurken auf gewisse Ideen. So machen zwei Brüder aus Miami ein Vermögen, indem sie über fünfzehn Millionen Exemplare ihres »Guillaume Vibro« verkaufen. Dieser Plastik…, pardon, Silikonschwanz weist die Besonderheit einer Eichel auf, die eine getreue Miniatur meines Kopfes darstellt. Sehr viele Frauen (auch einige Männer) behaupten, nicht mehr darauf verzichten zu können und ihn bis zu fünf-, sechsmal am Tag zu benutzen. Doch es gibt noch erstaunlichere Dinge. Mit großem Werbeaufwand bringt eine schwedische Firma weltweit einen Kaugummi mit einem ganz besonderen Geschmack auf den Markt – dem Geschmack meines Spermas. Die Verantwortlichen für diesen geschmacklosen Scherz (laut den Frauen ist er das mitnichten) rühmen sich, dank der Ratschläge junger Mädchen, die die wertvolle Flüssigkeit im Fond meiner Stretch-Limo oder bei einer Party in meiner Villa angeblich schon im Mund hatten, ein künstliches Aroma entwickelt zu haben, das genauso schmeckt wie meine Sahne. Unbenommen ein geniales Marketing. Diese Kaugummis werden überall auf der Welt verkauft und erzielen einen beträchtlichen Erfolg bei jungen Mädchen. Millionen kauen sie täglich und träumen dabei, mich zu lutschen. »Worauf wartet ihr noch? Nehmt ihn endlich in den Mund!« So der Werbetext. Im folgenden Jahr kommen Mundspray und Zahnpasta auf den Markt. Wieder zwei Verkaufsschlager. Aus Neugier probiere ich das Spray aus und koste bei dieser Gelegenheit mein eigenes Sperma – salzig, ein bißchen herb, auf jeden Fall wenig erfrischend. Offen gestanden abscheulich. Aber was soll’s? Gute Verkäufer können den Leuten andrehen, was sie wollen. Im Juli 2009 behauptet die Tageszeitung USA Today, jede dritte Frau auf der Welt habe sich meinen Namen, meinen Vornamen, meine Initialen oder mein Porträt auf eine intime Stelle ihres Körpers tätowieren lassen. Die Zahl erscheint mir 135
ein wenig hoch, wenngleich ich jeden Morgen Tausende Bilder von Brüsten, Ärschen und Mösen mit der entsprechenden Widmung zugeschickt bekomme. Diese Liebeserklärungen empfinde ich wirklich und wahrhaftig als die Krönung meiner Karriere. Und ich gebe zu, daß ich einen Ständer bekomme wie ein Stier, wenn ich diese geilen Bilder betrachte. Entgegen aller Erwartungen trägt mir diese Hysterie, die alles befällt, was auf dieser Erde einen Rock trägt, nicht den Argwohn und noch weniger die Feindschaft der Männer ein. Fast alle Männer, die Männer lieben, lieben auch mich. Mein süßes Gesichtchen und mein makelloser Körper machen sie verrückt. Die Heteros wiederum erklären mich genausowenig zum Staatsfeind Nummer eins. Sie sehen in mir im Gegenteil ein Vorbild, ein Ziel, das es zu erreichen gilt. Die sexuelle Anziehungskraft, die ich ausübe, fasziniert sie um so mehr, je ausgiebiger mir die Frauen und die Schwulen der ganzen Welt zu Füßen liegen. Dabei tue ich nichts weiter, als ich selbst zu sein. Egal, wo auf dieser Welt ich mich befinde – es gibt im Umkreis von fünfzig Metern immer ein wunderbares Mädchen, das auf der Stelle meine Sexsklavin würde. Adieu Kleenex, adieu Zewa Wisch und Weg – hallo Fräulein-dein-Name-istmir-egal-zieh-dich-aus-und-geh-auf-die-Knie. Wichsen ist doch ein Vergnügen für Arme! Die mächtigsten und berühmtesten Männern können sich glücklich schätzen, sie kennen die verzweifelte Einsamkeit der Masturbation nicht mehr. Ist es denn nicht viel aufregender, in den Mund oder in den Arsch eines Topmodels zu spritzen als in die, wenn auch sehr weiche, Zellulose eines Papiertaschentuchs? Es gibt keinen Grund, sich über die permanente sexuelle Verfügbarkeit zu empören, derer ich mich in naher Zukunft erfreue. Die Partnerin einer Stunde oder einer Nacht teilt einen besonderen, einen außergewöhnlichen Augenblick mit ihrem Idol. Das ist unbezahlbar. Und natürlich vertraue ich darauf, 136
daß sich die Gerissensten unter ihnen mit diesem Abenteuer ohne Zukunft ein bißchen Berühmtheit verschaffen. Die Skandalpresse ist versessen auf die mehr oder weniger phantastischen Berichte dieser Frauen, die für kurze Zeit einem Star als lebendige aufblasbare Gummipuppe dienten. Ein Bündel grüner Scheine gegen heiße, feuchte Enthüllungen. Man sagt, Geld stinke nicht, doch in bestimmten Fällen stinkt es wirklich verdammt nach dem Kaugummi, der meinen Namen trägt. »Guillaume ist der Vater meines Kindes!« Das behauptet jeden Morgen eine andere Frau im Fernsehen oder in der Zeitung. Und jeden Morgen blickt mich Jennifer fragend an, um sich zu vergewissern, daß ich die moralische Vereinbarung, die uns jeden Zeugungsakt außerhalb unserer Paarbeziehung verbietet, nicht mit Füßen getreten habe. Meine Untreue ist legendär. Ihre übrigens auch, aber wir haben Regeln, die wir nicht übertreten dürfen. Alles in allem sind wir ein modernes Paar. Problematisch ist, daß sich diese Frauen nicht mit Behauptungen begnügen. Getrieben von Anwälten, oft zwielichtig und auf der Jagd nach Berühmtheit, gehen sie fast alle rechtlich gegen mich vor, um meine Vaterschaft zu beweisen. Jährlich hoffen Hunderte Frauen darauf, von einem – sehr hypothetischen – Fehler in einem Gentest zu profitieren und den Jackpot zu knacken. Zum Glück können meine Anwälte bei den amerikanischen Gerichten und bei den Gerichten zahlreicher anderer Länder durchsetzen, daß diese Fälle nur in Beverly Hills verhandelt werden. Sie können beweisen, daß es ihrem Mandanten körperlich nicht möglich ist, vor all den Gerichten zu erscheinen, die ihn fast überall auf der Welt anhören wollen. Diese außerordentliche Genehmigung ist jedoch längst nicht genug. Die Richter der Stadt bitten mich wöchentlich zwischen zehn und zwanzig Stunden in den Verhandlungssaal. An einem 137
Weekend in meinem Haus in Aspen vertraue ich Tom Hanks an, daß ich die Nase voll habe von diesen Anschuldigungen: »An manchen Tagen habe ich wirklich Lust, mir die Eier abschneiden zu lassen! Vielleicht ist das ja am Ende die einzige Lösung. Weißt du, ich bitte einen Chirurgen, mir die Testikel zu entfernen, dann gehe ich gleich zum Fernsehen und zeige der ganzen Welt, daß ich operiert bin, und basta! Dann muß ich mir diesen ganzen Unsinn nie wieder anhören.« Tom traut seinen Ohren nicht. »Was redest du denn da? Ich hoffe, du meinst das nicht ernst. Überleg doch mal, was die armen Erdenbewohner denken würden, wenn sie erfahren, daß ihr Superstar keine Hoden mehr hat! Ein Mythos muß Eier haben, sonst kann man nicht von ihm träumen!« Er hat recht. Der potenteste Star der Welt darf nicht impotent sein. »Warum engagierst du eigentlich keinen Doppelgänger, der für dich zu all diesen Vorladungen geht?« Ein genialer Vorschlag, dessen Realisierung ich auf der Stelle in Angriff nehme. Schon in der folgenden Woche findet unter größter Geheimhaltung in Los Angeles ein Casting statt, bei dem mein Doppelgänger ausgewählt werden soll. Das Glück ist auf meiner Seite, denn meine Mitarbeiter finden einen Mann, der mir wie aus dem Gesicht geschnitten ist; darüber hinaus ist er ein ausgezeichneter Schauspieler. Nach der Unterzeichnung zahlreicher Geheimhaltungsklauseln und natürlich der Vereinbarung einer ansehnlichen Vergütung wird Michael Winsley also mein »Gerichtsdouble«. Dieser Mann wird über zwanzig Jahre in meinen Diensten stehen und ist für mich schlicht und ergreifend ein Engel, der vom Himmel gefallen ist, denn dank ihm verschwinden die Richter für immer aus meinem Leben. Ich weiß nicht genau, zu wie vielen Vaterschaftstests mich das Gericht von Beverly Hills nötigt. Tausend vielleicht? 138
Zweitausend? Jedenfalls sind sie allesamt negativ und beweisen, daß diese geldgierigen und sicherlich verzweifelten Frauen lügen. Meine Treue in Sachen Zeugungsakt gerät also niemals in Zweifel. In all den Jahren gewöhnt sich Jennifer schließlich an die täglichen Unterstellungen und amüsiert sich sogar darüber. So bringt sie wenige Tage nach der Geburt unseren Jüngsten, Chaplin, einige Milliarden Menschen zum Lachen, indem sie erklärt: »Ich freue mich, Ihnen das hundertsiebenundzwanzigste Kind des Jahres von Guillaume de la Croix präsentieren zu dürfen.« Einen Monat später stellt sie bei einem Interview auf CBS noch einmal ihren beachtlichen Humor unter Beweis: »Wissen Sie, wie man in allen Sprachen der Welt ›Papa‹ sagt? Guillaume!« Kann man sich denn eine schönere und geistreichere Frau als Mutter seiner Kinder erträumen?
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Ich bin ein wahrer Liebhaber von Frauen, Dollars und Oscars. People in the News, 30. November 2012
Grundgütiger, ich muß zugeben, es ist für mich wirklich keine Kleinigkeit, vor Ihnen allen zu stehen. Es ist beeindruckend. Jetzt verstehe ich besser, unter welchem Streß der Rektor des Colleges von Beverly Hills beim Elternabend steht. Bei der neunundsiebzigsten Oscar-Verleihung, 2. April 2007
Giorgio, deine Anzüge sind wirklich Scheiße! Machst du jetzt auf Wegwerfkleidung, oder was? Bei der dreiundachtzigsten Oscar-Verleihung, 28. März 2011
Ich schlafe nachts zehn Stunden. Das gibt den anderen Schauspielern viel Zeit, ihrerseits Erfolg zu haben. The Irish News, 12. Februar 2009
Es stimmt, daß ich bei der Arbeit sehr duldsam bin. Doch das ist nichts im Vergleich zu der Duldsamkeit, die die ganze Welt mir entgegenbringt. […] Nie wurde einem Ego so geschmeichelt wie meinem. Les Inrockuptibles, 3. September 2008 140
Wenn die Natur den Menschen zwei Hände gegeben hat, dann sicherlich, um mir zu applaudieren. La Repubblica, 19. Mai 2011
All die Auszeichnungen, die ich bekomme, machen mich zum lebenden Denkmal. Mins Pao Daily News, 18. Januar 2014
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17 Wer das Tor meines Anwesens zum ersten Mal durchschreitet, traut seinen Augen nicht. Fast überall im Park, auf dem Rasen, unter den hundertjährigen Bäumen, neben den Rosensträuchern, auf der Terrasse stehen kleine Goldstatuetten. Sie sind leicht zu erkennen und verursachen bei den Besuchern häufig große Irritation und manchmal auch Gereiztheit. »Na und?« sage ich eines Tages zu Michael Douglas und seiner nervtötenden Gattin, die beide schockiert sind. »Es gibt Leute, die ihren Garten mit ordinären Gipsfiguren schmücken. Warum soll ich also nicht das Recht haben, meine Oscars aufzustellen?« Und ich schließe meine Rede mit einem »Und es ist mir scheißegal, ob es euch gefällt oder nicht«. Das Ehepaar Douglas entschuldigt sich auf der Stelle für die Kritik an meiner Gartenzwergsammlung und läßt sich sogar herab, ihr einen gewissen Charme zuzugestehen. Es ist nicht leicht, in meiner Gegenwart zu seiner Meinung zu stehen. Um ganz genau zu sein, teilen nicht alle meine Oscars das gleiche Schicksal. Eine Statue wird gar von meinem Sohn gerettet und nicht von den Schneideblättern des Rasenmähers bedroht oder vom täglichen Pipi meines Hundes Visconti besprengt. Mein wunderbarer und einfallsreicher Chaplin überrascht mich eines Morgens mit einer Idee: »Papa, warum ersetzt du die geflügelte Dame auf der Motorhaube denn nicht durch einen deiner Zwerge?« Eine Woche später ziert ein funkelnder Oscar so arrogant wie auch lächerlich meine Kühlerhaube. Wie ihr wißt, kann man seinen Kindern nichts abschlagen. Rekorde sind dazu da, gebrochen zu werden. Vor allem in Hollywood. Ich bin dazu geschaffen, einen nach dem anderen zu übertreffen. In der jüngeren Geschichte des Kinos hat kein 142
Schauspieler und keine Schauspielerin mehr als zwei Oscars bekommen. Ich gewinne im Lauf meiner Karriere mehrere Dutzend. Mindestens einen pro Jahr, außer natürlich im Jahr 2012, als mir aufgrund der Aussetzung der vierundachtzigsten Oscar-Verleihung wegen des Krieges zwischen den Vereinigten Staaten und China die berühmte Statuette vorenthalten bleibt. Schade, denn durch meine sagenhafte Rolle als stummer und einäugiger Krüppel ohne Beine in dem Film Unlucky Luke habe ich mir diese hochrangige Auszeichnung mehr denn je verdient. Im April 2007 habe ich zum erstenmal das Vergnügen und die Freude, auf der Bühne des Kodak Theatre, der offiziellen Oscar-Verleihungsstätte, meinen Preis entgegenzunehmen. Nie war ich gerührter. Man muß wissen, daß der Academy Award in meinen Augen die größte Würde ist, die einem Menschen verliehen werden kann. Nicht zu vergleichen mit dem erbärmlichen Nobelpreis, einer kläglichen Goldmedaille bei den Olympischen Spielen oder damit, in die Ehrenlegion aufgenommen zu werden wie jeder erstbeste. Kurz nach dieser Krönung teilt mir ein Journalist hinter den Kulissen mit, daß die Akademie die Möglichkeit sondiert habe, mir für mein Lebenswerk einen Preis zu verleihen. Schon nach meinem ersten Film! Wie er sagt, habe man die Idee jedoch verworfen, nachdem einige Mitglieder zu Recht auf die Lächerlichkeit einer solchen Aktion hingewiesen hätten. Ein Gerücht, das sich jedoch niemals bestätigt. Die Verleihungen folgen aufeinander, eine ist wie die andere. Vom dritten Jahr an skandiert das Publikum im Saal meinen Namen, bevor noch der Umschlag geöffnet wird. Und es ist überhaupt keine Überraschung mehr, daß ich jedesmal unter Beifall und Gelächter über das, was man einen Running Gag nennt, den Oscar für die beste männliche Hauptrolle bekomme. Als letzter Beweis meiner ungeheuren Popularität machen es sich zwei Milliarden Fernsehzuschauer jedes Jahr 143
vor dem Bildschirm zur Angewohnheit, sich wie ein Mann zu erheben und mir die Ehre unglaublicher Standing Ovations in ihren Wohnzimmern zu erweisen. Schon jetzt laufen mir Schauder über den Rücken. Die Verleihung meines Preises wird ein Markstein in der Zeit, ein so beliebtes und fröhliches Ritual wie ein Nationalfeiertag oder das Weihnachtsfest. Die siebenundachtzigste Verleihung geht als etwas Besonderes in die Annalen ein. In jenem Jahr kommt es zu einem außergewöhnlichen Ereignis. So aufgewühlt wie auch beeindruckt von meiner Darstellung eines Transsexuellen in dem Film Born Again von Steven Soderbergh, beschließt das Exekutivkomitee der Akademie, seinen fünftausendsechshundert Mitgliedern meinen Namen zum Votum für die beste weibliche Hauptrolle vorzuschlagen. Eine originelle und auch gewagte Idee, die vom ganzen Berufsstand begrüßt wird und die Journalisten von Los Angeles nach hinten umfallen läßt, denn sie sind es wahrlich nicht gewohnt, daß diese ehrwürdige Institution in ihren künstlerischen Entscheidungen Antikonformismus an den Tag legt. Am 29. März 2015 bin ich also der erste männliche Schauspieler, der den Oscar für die beste weibliche Hauptrolle bekommt (obwohl es ja noch immer Zweifel über das Geschlecht von Bette Davis gibt), und ich schlage somit Jodie Foster, Britney Spears, Claudia Schiffer und Anna Kournikova aus dem Rennen, die auch für die hohe Auszeichnung nominiert sind. Von den fünf Schauspielerinnen, die miteinander konkurrieren (diese Lotterie-Schauspieler, wie der Schauspieler Jean-Pierre Marielle einmal sagte), ist der-/diejenige, der/die gewinnt und schließlich auf die Bühne tritt, der/die Geschmeicheltste, aber auch der-/diejenige in der blödesten Situation. Er/sie muß das schwierigste Vorsprechen seiner/ihrer Karriere meistern, und der Erfolg ist, ehrlich gesagt, selten mit von der Partie. Katastrophen und Patzer live sind zahlreich und oft sehr witzig. Da gibt es Gewinner, die ihre Rede nicht 144
vorbereitet haben und plötzlich vor Milliarden Fernsehzuschauern merken, daß man eine Improvisation nicht improvisieren kann. Dann gibt es solche, die in Wahrheit noch kleiner sind als die Statuette, die sie bekommen haben. Es gibt solche, die nachweislich den ganzen Abend noch nicht in einen Spiegel geblickt haben. Solche, die man aus perverser Neugier ehrt: Man will sehen, wie sich ein fünfundachtzigjähriges ehemaliges Sexsymbol auf die Bühne schleppt. Solche, die tatsächlich fragen, warum sie gewonnen haben, ohne zu ahnen, daß sich die ganze Welt die gleiche Frage stellt. Solche, die auf der Oscar-Bühne besser heulen als in ihren Filmen. Solche, denen man applaudiert, um sich in dem überklimatisierten Saal aufzuwärmen. Solche, deren Namen man am Ende der Show schon wieder vergessen hat. Solche, die Gott danken, obwohl Er nicht einmal ein Hollywood-Produzent ist. Solche, die in zwei Jahren zwanzig Jahre gealtert sind. Und nicht zu vergessen solche, die man nur um des Vergnügens willen zur Verleihung einlädt, weil man mal wieder sehen will, daß sie die Auszeichnung nicht bekommen. Lustig ist auch, daß die Personen, die am wenigsten ans Rampenlicht gewöhnt sind wie Regisseure, Cutter oder die Verantwortlichen für die Spezialeffekte, oft besser auf der Bühne zurechtkommen als die talentiertesten Schauspieler. Doch nach dem Vorbild von Tom Hanks, Whoopi Goldberg und Robin Williams bleibe ich zum Glück von diesem Dilemma verschont. Meine Reden garantieren sogar den Erfolg sämtlicher Veranstaltungen. Pfiffig, vergnüglich und nicht zu lang, finden sie immer viel Beifall. Um den Überraschungseffekt nicht zu verderben, enthülle ich heute ihren Inhalt nicht. Ich verrate nur, daß ich mich für ihre Vorbereitung der Hilfe von Sophie Marceau bediene. Angesichts dieser jährlichen Krönung mit Oscars darf ich natürlich die anderen Auszeichnungen nicht vergessen, die ich fast überall auf der Welt bekomme. Die Kinoindustrie und das 145
Publikum versäumen es nie, meine Arbeit zu würdigen und mir gefällig zu sein. So gehe ich in keinem Jahr leer aus: Golden Globe im Januar für die beste männliche Hauptrolle, im Februar César und Silberner Bär in Berlin, Screen Actors Guild Award und Academy Award im März, Darstellerpreis in Cannes im Mai, MTV Movie Award im Juni und Darstellerpreis bei der Mostra in Venedig im September. Ein richtiger Streber. Aus Sachzwang ist der Satz »And the winner is … Guillaume de la Croix!« jährlich einer der meistgesprochenen Sätze im Fernsehen. An dieser Stelle des Buches würde ich gern an all die Schauspieler in Amerika und anderswo denken, die schon an ihrer Karriere basteln oder vorhaben, bald in den Beruf einzusteigen: Die kommenden Jahrzehnte werden für sie schrecklich undankbar sein. Gezwungenermaßen stehen diese Künstler im Schatten meines Erfolgs, und so genial sie auch sein mögen, sie werden jeden Tag ein bißchen mehr unter dem grausamen Mangel an Anerkennung ihrer Arbeit leiden. Ich, der ich nichts dafür kann, daß mich das Publikum und die Cineasten vergöttern werden, möchte mich dennoch ohne Umschweife und aufrichtig bei ihnen entschuldigen. Sie sollen auch wissen, daß ich mich niemals von dieser Lawine von Ehrbezeugungen werde täuschen lassen – Talent mißt sich nämlich nicht in der Anzahl der Medaillen, die man bekommt. Überdies werde ich mich nie für den besten Schauspieler der Welt halten. Nein, dazu bin ich viel zu bescheiden (mein Agent organisiert für mich regelmäßig Trainingskurse in Bescheidenheit). Ich möchte den angehenden Schauspielern nur jetzt schon viel Kraft wünschen.
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Neulich bittet mich ein Mann auf der Straße um ein Autogramm, aber er hat weder Stift noch Papier. Ich auch nicht. Damit er dennoch ein Andenken an unser Zusammentreffen hat, schlage ich ihm richtig eins in die Fresse. Er war begeistert! MTV News Now, 12. Oktober 2010
Auf den amerikanischen Internet-Auktions-Sites wird mein Autogramm für circa sechseinhalb Millionen Dollar gehandelt. Doch meine Fans dürfen sich beruhigen – ich unterschreibe auch weiterhin gratis. Télérama, September 2008
Ich will mein Gesicht nicht auf einer Briefmarke sehen. Ich treffe auch so auf genügend Speichellecker. Meet the Press, NBC, 2. Februar 2007
Meine Popularität ist so groß, daß man die Tochter des Briefträgers einer meiner Gärtner, der seit zwei Jahren nicht einmal mehr bei mir arbeitet, um ein Autogramm bittet. Newsweek, April 2021
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18 Man ist erst dann wirklich ein Star, wenn der Name, der aller Welt auf der Zunge liegt, auch über alle Lippen kommt. Letzten Endes kann man sagen, daß die Berühmtheit nicht einmal einen Zentimeter von der Bekanntheit entfernt ist. Im Frühjahr 2007 schafft meine Person diesen kleinen Übergang. Mein Sieg im Prozeß gegen Tom Cruise sowie meine zahlreichen Fernsehauftritte machen mich den Augen und Ohren von Milliarden Menschen vertraut. Die Berühmtheit ist lediglich ein Nagel, in den ein Name eingraviert ist und den die Medien den Leuten in den Kopf hämmern. Es ist also ganz normal, daß ich Gesprächsthema auf Pausenhöfen, vor Kaffeemaschinen in Büros, in Zeitungen, Fernsehsendungen, beim Friseur, im Taxi, im Internet-Chat, in Beichtstühlen und Jugendzimmern bin – unumgänglich selbst im Bett des Präsidenten der Vereinigten Staaten und seiner Frau. Der Erfolg meiner Filme steigert diese unglaubliche Begeisterung noch. Mein Vorname ist so beliebt, daß er täglich Tausenden von Neugeborenen gegeben wird. Die Guillaume Changs, die Guillaume Lopez, die Guillaume Schmidts und die Guillaume Jacksons kann man auf Geburtsstationen und Schulen gar nicht mehr zählen. Für Lehrer ist das praktisch: »Guillaume an die Tafel!« – und alle Jungs in der Klasse springen gleichzeitig auf. Im Gegensatz dazu wird der Vorname des schändlichen Cruise aus einleuchtenden Gründen gemieden. Seit der Verkündung seiner Schuld fällt Tom schlagartig auf den dritten Rang der Liste unmöglicher Namen, direkt hinter Adolf und Judas. Sehr schnell taucht mein Name auch auf Straßenkarten und auf den Plänen zahlreicher Städte und Dörfer auf. Fast überall 148
auf der Erde werden Guillaume-de-la-Croix-Schulen, Guillaume-de-la-Croix-Brücken, Guillaume-de-la-CroixBoulevards, Guillaume-de-la-Croix-Parks, Guillaume-de-laCroix-Hospitäler und -Einkaufszentren eingeweiht, nicht zu vergessen die GDLC-Flughäfen. Guillaume-de-la-Croix-Wege und Guillaume-de-la-Croix-Gassen gibt es jedoch nur wenige, denn die Bürgermeister finden es fehl am Platz, ja, gar unwürdig, ganz normale Nebenstraßen nach mir zu benennen. In manchen Ländern baut man auch Guillaume-de-la-CroixStadien. Da lache ich schon jetzt, denn der einzige Sport, den ich regelmäßig treibe, endet immer mit einer schönen Ejakulation. Die europäische Weltraumbehörde beschließt im Frühjahr 2009, den Namen Ariane aufzugeben und ihre Raketen nach mir zu benennen, sicherlich um meinem unaufhaltsamen Aufstieg im Showbusineß oder – warum nicht? – der mutmaßlichen Größe meines besten Stücks Ehre zu zollen. Einige Monate später hält ein weltweit renommiertes Wissenschaftskomitee eine wahrlich surrealistische Pressekonferenz im New Yorker Waldorf-Astoria ab. »Ihre Anziehungskraft ist vergleichbar, ihr Strahlen gleich groß, ihre Existenz genauso überlebenswichtig für die Menschen. Folglich sind wir alle, die wir heute hier anwesend sind, zutiefst davon überzeugt, daß es in vieler Hinsicht angemessen und ehrenvoll wäre, dem größten Stern unseres Sonnensystems den Vornamen des größten Stars des Universums zu geben.« Angesichts meiner kategorischen Weigerung, eines Tages die Sonne Guillaume nennen zu müssen, besteht das Komitee nicht weiter darauf und läßt seine Pläne, die zwar schmeichelhaft, aber auch – und das muß gesagt sein – dumm wie die Nacht sind, schnell wieder fallen. In Deutschland bringt ein junger Bundestagsabgeordneter einen Gesetzesentwurf mit meinem Namen ein, der an den Hauptverkehrsadern ein Plakatierungsverbot für Poster mit 149
meinem Gesicht vorsieht. Seine Argumentation liegt auf der Hand: Er gibt mir ganz einfach die Schuld am Anstieg der Verkehrsunfälle in seinem Land. »Man kann die Briefe gar nicht mehr zählen«, erklärt er seinen Kollegen im Parlament, »die bei den Versicherungsgesellschaften eingehen und mit folgenden Worten beginnen: Ich habe gar nicht gesehen, wie das Auto vor mir gebremst hat, weil ich das Plakat des letzten Guillaume-de-la-Croix-Films angeschaut habe …« Das Gesetz wird jedoch nie ratifiziert. Eine Untersuchung, die von einem anderen Abgeordneten durchgeführt wird, beweist unstrittig, daß es aufgrund dieser Werbeplakate zwar einen beachtlichen Anstieg kleinerer Unfälle gibt (oft einfache Auffahrunfälle ohne Personenschäden), paradoxerweise aber auch eine signifikante Verringerung der Geschwindigkeit bei Fahrern, die sich für ebendiese Plakate interessieren. Alles in allem mehr Blechschäden, aber weniger Tote. Zahlreiche Regierungen beobachten das gleiche Phänomen in ihren Ländern und beschließen – natürlich mit meinem Einverständnis –, an Autobahnen und Schnellstraßen riesige Fotos von mir aufstzuellen. So unglaublich es auch scheint: Diese Initiative, die meinen Namen trägt, zeitigt sehr überzeugende Ergebnisse. So wie das ABS oder der Airbag liefert mein Lächeln eine der wichtigsten Grundlagen für die Verbesserung der Verkehrssicherheit. »Er ist der einzige Schauspieler, der in der Wirklichkeit mehr Leben rettet als im Film.« Ich gebe zu, diese Erklärung, die der Verkehrsminister der Vereinigten Staaten eines Morgens im Fernsehen abgibt, vergrößert noch meinen Stolz, für das Wohl der Menschheit zu wirken. Meine ungeheuerliche Popularität wird auch in den Dienst der Bedürftigen gestellt. Jedes Jahr gestatte ich es ein paar gemeinnützigen Organisationen, meinen Namen und mein Bild zu nutzen, um Spenden zu sammeln oder dafür zu sorgen, daß die sozialen und humanitären Programme endlich verwirklicht 150
werden. Oft bemängelt man den Opportunismus gewisser Stars, die mitten in der Promo für eine CD oder einen Film ihr Gewissen entdecken und an Benefiz-Shows teilnehmen. Ich jedoch bin zu keinem Zeitpunkt die Zielscheibe derartiger Angriffe. Man wirft doch dem größten Glückspilz der Welt nicht vor, sein unvermeidliches Schuldgefühl durch grenzenlose Aufopferung zu verdrängen. Ich spare wirklich weder Zeit noch Geld, um jenen zu helfen, die es am nötigsten haben. Leider reicht aber selbst das nicht, um den Hunger in der Welt endgültig zu beseitigen. Das liegt nicht in meiner Hand und wird das größte Scheitern meines Lebens sein.
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Meine Sicherheit bereitet mir wirklich Kopfzerbrechen, doch ich versuche, so gut es geht, meine Umgebung keiner Gefahr auszusetzen. Gehe ich zum Beispiel in ein Restaurant oder in die Disco, lade ich grundsätzlich alle anderen Gäste ein. Auf diese Weise will ich ihnen dafür danken, daß sie meinetwegen ihr Leben riskieren. Yomituri Shimbum (japanische Tageszeitung), 13. Oktober 2008
Gestern nachmittag hat mir Michael Bloomberg, der Bürgermeister von New York, einen lustigen Vorschlag gemacht. Er hat sich bereit erklärt, für vierundzwanzig Stunden alle Touristen und Bewohner aus ganz Manhattan zu evakuieren, damit ich mit meiner kleinen Familie in aller Ruhe und in aller Sicherheit durch die Straßen der Stadt spazieren kann. Aber ich glaube, ich werde absagen. Wir haben mit den Kindern unter diesen Bedingungen Rom besucht, und es war offen gestanden ein bißchen deprimierend. Tonight Show with Jay Leno, NBC, 3. Mai 2009
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19 In manchen Ländern zwingen mich meine Sicherheitsleute ohne Wenn und Aber, vierundzwanzig Stunden am Tag eine kugelsichere Weste zu tragen, auch wenn ich Lust bekommen sollte, in einen Pool zu springen. (Versucht mal, mit fünfzehn Kilo Stahl am Oberkörper zu schwimmen, ihr werdet sehen, wie toll das ist!) Star zu sein ist zweifellos der schönste, aber auch der gefährlichste Beruf überhaupt. Selbst ein Feuerwehrmann oder ein Formel-1-Fahrer riskiert sein Leben nicht in dem Maße. Die Dreistigkeit und die Phantasie, die gewisse Leute entwickeln, um mich zu treffen, zu berühren, kennt keine Grenzen. Gar nicht zu reden von jenen, die mich verabscheuen und nur von einer Sache träumen: mich vor ihren Augen sterben zu sehen. In Zukunft bin ich für jeden Dahergelaufenen auf der Jagd nach blitzartiger Bekanntheit der Mann, den man umlegen muß. Ich ziehe so viele Verrückte an, daß ich irgendwann glaube, keinen einzigen seelisch Gesunden unter meinen Fans zu haben. Nur zur Information: Im Laufe meines Leben werden über siebzig Mordversuche auf mich verübt. Alle schlagen wie durch ein Wunder fehl. Dennoch jagen diese wiederholten Anschläge meinen gar so durchtrainierten Bodyguards und natürlich mir selbst Angst und Schrecken ein. Urteilt selbst: Sie versuchen, mich in einen Bottich mit schnellbindendem Gießharz zu werfen; mich in ein Hacksteak zu verwandeln, indem sie mir eine Granate in den Hintern stopfen; mich mit starken Säuren aller Art zu entstellen; mich in einem chinesischen Restaurant zu vergiften (es stellt sich jedoch heraus, daß es keine Absicht war). Ohne viel Phantasie an den Tag zu legen, schießt man in Dallas auf mich (die Kugel tötet einen Passanten namens 153
Oswald – echt wahr). Ein polnischer Ingenieur lenkt eine Rakete, abgeschossen aus Rußland, um und läßt sie auf mein Haus krachen, das zufällig gerade unbewohnt ist. Es wird zur lästigen Angewohnheit, daß man jeden Sommer mit einer Bazooka auf die Yacht feuert, auf der ich ein paar Tage Urlaub mache. Mit knapper Not entkomme ich einer zwanzig Tonnen schweren Dampfmaschine, die aus meinem brandneuen Jaguar einen großen Pfannkuchen macht. Man versucht, mich in New York auf offener Straße zu ermorden, indem man das Empire State Buildung über mir einstürzen läßt. Ein texanischer Bauarbeiter wird von der Polizei in der Kabine seines Krans niedergeschlagen, kurz bevor er mit meinem Körper, der an einem Stahlseil hängt, Jojo spielen kann. Bei einem Dreh bietet mir ein junger Statist freundlich ein paar M&Ms an, die ich geistesgegenwärtig ablehne – in Wahrheit sind es Zyankalipillen mit Schokoüberzug. Drei völlig besoffene Typen kleben mich in Los Angeles mit Superklebstoff an einen der riesigen HOLLYWOODBuchstaben, doch sie kommen nicht dazu, den Scheiterhaufen unter meinen Füßen anzuzünden. Nach einer Liebesnacht versuchen mich eine Miss Brasilien und die Vize-Miss mit der Kordel eines Stringtangas brutal zu erdrosseln. In einer Disco stürzt sich eine völlig hysterische Frau auf mich und versucht, ihre Hand und eine Klinge in meine Hose zu schieben, um mir den Penis abzuschneiden, der zum Glück von einer TitanUnterhose geschützt ist. In die Rubrik »Anschläge mit gefährlichen Tieren« fällt der eines Trupps Geisteskranker, die im Pool meiner Villa einen Hai aussetzen und hoffen, daß ich hineinspringe, ohne den Hai zu bemerken. Ich verbringe zwölf Minuten im Bauch einer Riesenanakonda, die ein Irrer in Rio de Janeiro in mein Hotelzimmer schmuggelt. Ständig sind meine Schränke, Kommoden, Autos und Jets von handtellergroßen Spinnen und fürchterlichen Pythons 154
bevölkert. Ich lerne, alles und jeden zu fürchten. Kaum setze ich einen Fuß auf die Skipiste, gehen Lawinen ab. Das Schaumbad in meinem Hotel ist oft mit Salzsäure angereichert, und selbstverständlich bekomme ich jährlich kiloweise Anthrax-Briefe und Dutzende Briefbomben. Ihr könnt euch vorstellen, wie erleichtert ich bin, wenn mir Noël Godin, der Erfinder der Zuckerwerk-Attentate, erfolgreich eine Sahnetorte ins Gesicht schleudert: Lieber bin ich die Zielscheibe eines Witzbolds als die eines weiteren Psychopathen.
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Cruise ist wirklich selbst schuld. Er hat sein Schicksal verdient. Noch nie hat jemand soviel Schande über die Menschheit gebracht. […] Wenn man sich eines solchen Verbrechens schuldig gemacht hat, muß man den Blick der anderen und vor allem den eigenen Blick ertragen können. Ich will nicht sehen, was er sieht, wenn er in den Spiegel schaut. Zu dem Journalisten Dan Rather, CBS, 24. Oktober 2006
Ich will nicht mit Tom Cruise sprechen. Wie jedem anderen ist auch mir völlig gleichgültig, was aus ihm wird. The New Yorker, Januar 2009
Manchmal bekomme ich Lust, bei ihm [Tom Cruise] zu klingeln und ihn um Verzeihung zu bitten. Was er mir verzeihen soll? Ich weiß es nicht … Aber dieser Mann muß so verstört sein, daß ich mir manchmal Vorwürfe mache. Sie merken, wie unsinnig das ist! So können auch diejenigen Gewissensbisse bekommen, die sich nichts vorzuwerfen haben. BILD, 9. September 2011
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20 Ich hege zwar eine tiefempfundene Sympathie für den Menschen an sich, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn auch schätze. Man muß nur den Fernseher anschalten, um sich des kollektiven Versagens bewußt zu werden, für das wir allesamt verantwortlich sind. Mit einer irritierenden Ruhe und einem irritierenden Lächeln verkünden uns die Nachrichten allabendlich, daß sich die Spezies Mensch wieder ein bißchen weiter von ihrem Traum entfernt hat, eine zivilisierte Welt zu schaffen. Ich frage mich ernsthaft, wie Tausende von Menschen so beharrlich diesem düsteren und erbärmlichen Fortsetzungsroman folgen können, der sich Geschichte der Menschheit nennt. Mir hingegen kommen jedesmal die Tränen, wenn ich die Nachrichten aus dieser unserer Welt höre. Dennoch halte ich mich nicht für einen Misanthropen. Ich empfinde weder Haß noch Ekel für meinesgleichen. Nein, es handelt sich eher um Momente großer Desillusionierung und fehlgeschlagenen Optimismus. Bis zum heutigen Tag hat mir der Mensch noch nicht genügend Beweise für seine Klugheit und Weisheit geliefert, daß ich wirklich an ihn glauben könnte. Zu oft bedrückt und enttäuscht er mich. Daher spiele ich schlicht und ergreifend mit dem Gedanken, Abstand von meiner eigenen Art zu halten. Und um dies zu erreichen, gibt es in meinen Augen nur eine einzige Lösung: reich sein. Steinreich. Glücklicherweise garantiert mir dies meine Zukunft. In wenigen Monaten beschließe ich also, mich in einen Elfenbeinturm abzusetzen, mich zu verbarrikadieren und nur mit ganz wenigen Menschen zu verkehren. Freilich kann ich nicht allen Arschlöchern, die auf dieser Erde leben, aus dem Weg gehen, aber ich möchte den Umgang mit ihnen doch erheblich reduzieren. 157
Mein Leben ist dergestalt organisiert, daß ich völlig von der Realität und den aktuellen tragischen und schlimmen Ereignissen abgeschnitten bin. Jeden Morgen bekommt ein Mitarbeiter den Auftrag, die zahlreichen Tageszeitungen und Illustrierten, die in der Villa ankommen, zu kontrollieren und sie von allen Artikeln zu säubern, die mich demoralisieren könnten. Auch das Fernsehprogramm wird strengstens überwacht. Alle meine Fernsehgeräte sind mit einem elektronischen Apparat ausgerüstet, der in einer Tausendstelsekunde die schlechten Nachrichten erkennt und automatisch zu einem anderen Sender schaltet. Bei den Dreharbeiten zu meinen Filmen wird über jeden, der die geheiligte Regel »No bad news« mißachtet, eine Geldstrafe von zehntausend Dollar verhängt. In meiner Gegenwart darf über kein deprimierendes Nachrichtenthema gesprochen und schon gar nicht mit mir diskutiert werden. Den Journalisten, die ich treffe, ist es offiziell untersagt, mich zu ebendiesen schlimmen Themen zu befragen. Meine Familie und meine Freunde unterliegen natürlich keinen Zwängen. Doch aus Liebe zu mir respektieren sie meinen Willen, mich dieser leidenden Welt zu entziehen, und wahren mir gegenüber Stillschweigen über deren Niedergang. Diese Vorsichtsmaßnahmen mögen überzogen, ja, gar absurd erscheinen, doch ich kann mir eine Fortsetzung meines Lebensaufenthaltes auf dieser Welt und dessen Ende nur mehr unter diesen Bedingungen vorstellen. Das ist der Preis meines Überlebens. Soviel ist gewiß. Um glücklich zu leben, muß man sich versteckt halten. Und reich, blind und taub sein.
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Bei den Dreharbeiten zu Der 11. September fand einer meiner Mitarbeiter ein Gitter im Abflußrohr der Toilette, als er meine Garderobe gründlich durchsuchte. Ermittlungen ergaben nun, daß dieser so geniale wie abstoßende Einbau das Werk eines Fans war, der um jeden Preis »etwas von mir« besitzen wollte. Reizend! The Observer, 25. März 2012
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21 Von Beginn des Jahres 2007 an bekomme ich sehr viele Briefe von Friseuren, die mich bitten, bei ihnen die Haare schneiden zu lassen. Zuerst frage ich mich, ob ich zu einer neuen Schwulenikone geworden bin, doch bald finde ich den wahren Grund für diese Anfragen heraus: Durch einen einzigen Besuch Guillaume de la Croix’ in seinem Salon könnte der Besitzer ein Vermögen machen, denn er müßte nur meine kostbaren Haare zusammenkehren und sie an den meistbietenden Bewunderer verkaufen. Doch leider lasse ich ausschließlich die Schere des meisterhaften Alessandro Albano an mein Haar, des besten Coiffeurs von Hollywood. Aus Vorsicht werden die Haare, die der Maestro abgeschnittenen hat, von einem meiner treuesten Mitarbeiter aufgesammelt und umgehend in meiner privaten Müllverbrennungsanlage entsorgt. Ich muß zugeben, daß ich mich nicht mehr von dieser Anlage trennen könnte. Sie ist bedeutend praktischer und sicherer als ein Mülleimer und bei weitem die schlagkräftigste Waffe gegen Begehrlichkeiten aller Art. Ein Must-have für einen Star, der dieser Bezeichnung würdig ist. Zusätzlich beauftrage ich eine vertrauenswürdige Person, nach meiner Abreise jede Spur meines Aufenthalts in einem Hotel zu tilgen. Um nichts in der Welt will ich, daß die Laken, die mich für eine Nacht umfangen haben, von einem gerissenen Verkäufer in »phantastische Schweißtücher, auf denen noch das Antlitz des Guillaume de la Croix zu sehen ist«, verwandelt werden oder daß eine einfache Seife zu einem einzigartigen Stück wird, dem »das sagenhafte Glück widerfahren ist, den nackten Leib des größten Stars der Welt zu kosen«. Eine meiner wichtigsten Bestrebungen ist es also, soweit wie möglich den Handel mit Gegenständen zu unterbinden, die 160
mir im Leben untergekommen sind. Doch es gelingt mir bei weitem nicht hundertprozentig. So wird zum Beispiel eine Mücke gefangen, nachdem sie mich in einer Suite des Hotels Pierre in New York gestochen hat, und bei Sotheby’s in London zur Auktion angeboten. Durch entsprechende Analysen gestützt, bestätigt ein kanadischer Biologe, daß das Blut in dem Insekt wirklich mein Blut ist. Beginnend bei fünfzehntausend Dollar steigen die Gebote bis zu der spektakulären Summe von hundertsiebzigtausend Dollar, die ein reicher japanischer Geschäftsmann ohne mit der Wimper zu zucken springen läßt. Trotz allem überkommt mich in schwachen Momenten manchmal die Lust, mich meinen Bewunderern gegenüber großzügig zu zeigen und ihnen ein tolles Geschenk zu machen. Dann lasse ich die Fenster meiner Stretch-Limo herunter und spucke meinen Kaugummi auf eine dieser Personen, die es nicht fassen kann, daß sie so ein Schweineglück hat. Niemand – außer mir natürlich – kann sich bis zu dieser Stunde die unglaubliche Freude vorstellen, die dieses kleine Nichts denjenigen verschafft, die davon am Auge oder am Ohr getroffen werden. Es erscheint zwar eingebildet, so etwas zu behaupten, aber es ist dennoch die Wahrheit: Es ist für mich ein Leichtes, das Leben all dieser Leute zu prägen und manchmal gar für immer zu verändern.
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Um nichts auf dieser Welt wollte ich mein Leben gegen ein anderes eintauschen. Dazu fühle ich mich im Schoße Hollywoods viel zu wohl. San Francisco Chronicle, 1. Februar 2008
Es ist verblüffend, wie egozentrisch die Leute sind. Sie verbringen ihre Zeit damit, meinen Nabel zu beschauen! El Informador, Januar 2014
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22 Sich immer im besten Licht zeigen. Selbst bei schlechtem Licht. Darauf achten, immer lustig, klug, nett, geschminkt, geschniegelt und gebügelt zu sein. Niemanden zu enttäuschen, denn wenn ein Star enttäuscht, stirbt er ein wenig. Den kleinsten Fehltritt vermeiden. Und sich vor allem nie seine seelische Verfassung anmerken lassen. Sich nie öffentlich beklagen – das habe ich mir aus Anstand geschworen. Ein Star muß ständig nach Glück und Erfolg aussehen. An manch einem Morgen habe ich keine Lust aufzustehen, will den Leuten nicht gegenübertreten, die mich mit Kußmund und gezücktem Stift erwarten. Das Zirkustier hat es satt, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr die Welt zum Träumen zu bringen. Ich werde des Glamours wahrlich überdrüssig. Zu viele Blitzlichter, zu viele hysterische Fans, zu viele Autogramme. Dann habe ich nur noch den Wunsch, aus meiner eigenen Gesellschaft zu verschwinden, Urlaub von mir selbst zu machen, habe ich Lust, auf den Pausenknopf zu drücken und mich all diesem Druck und dieser riesigen Maskerade zu entziehen. Müde davon, ich selbst zu sein, träume ich manchmal, für ein paar Stunden, ein paar Tage oder – warum nicht? – für immer ein anderer zu sein. Der absurde, unsinnige Drang, alles hinzuschmeißen und das Kostüm eines Gottes auf Erden endgültig an den Nagel zu hängen. Zugegeben, mehrmals im Jahr ist die Versuchung groß, mein Bild kurz und klein zu schlagen, es vor der ganzen fassungslosen Welt in die Luft zu sprengen. Mich live im Fernsehen danebenzubenehmen, alle Welt zu beschimpfen, ordinäre, rassistische und unentschuldbare Reden zu halten, (wieder) dreißig Kilo zuzunehmen und mich nie mehr zu waschen. Ekel und Zurückweisung zu provozieren. Mit dem 163
Meißel das Denkmal zu zerstören, das ich geworden bin. Doch um ehrlich zu sein, habe ich dazu nie den Mumm und auch keine dauerhafte Lust. Hollywood ist eine Aladin-Lampe, die ich berühre und die mir alle meine Wünsche erfüllt. Doch ich merke schnell, daß es nicht immer schön ist, seine Träume Wirklichkeit werden zu sehen. Es ist ein komisches Gefühl, am Ende der Lebenserfahrung angekommen zu sein. Nichts verwundert, nichts berührt mich mehr. Alles wird Routine. Man gewöhnt sich an alles. Selbst an das Außergewöhnliche. Mein Erfolg schafft auch Leere um mich herum. Ich muß vor allen Leuten auf der Hut sein, ich höre auf niemanden mehr (klar, denn ich habe ja immer recht). Ich werde die Leute einschüchtern, schockieren, übergehen. Ob ich will oder nicht, ich verbringe meine Zeit damit, Gräben zwischen mir und den anderen zu ziehen. So verschont die Einsamkeit selbst jene nicht, die mitten in der tobenden Menge leben. Man ist allein wie ein König hoch oben auf seinem Sockel. Ein Sockel – das ist ein ganz kleines Podest und rundherum die Leere. Sich halten, sich halten, nicht fallen, seinen Platz keinem anderen überlassen. An der Spitze gibt es nur einen einzigen Platz, und der gehört mir. Unermüdlich beobachte ich meine Konkurrenten und bin darauf gefaßt, ihnen auf die Finger zu treten, sollten sie versuchen, sich auf meine Höhe zu ziehen. Diesen Neidern schenke ich nichts, all diesen Elenden, die mich immer nur aus dem Herzen der Öffentlichkeit ausstoßen wollen. Es macht mich verrückt, so geliebt zu werden. Nichts ist dauerhaft genug, um der Bewunderung zu widerstehen, die Milliarden Menschen mir entgegenbringen. Geld macht einsam, Berühmtheit ist eine Zwangsjacke. Aus der Nähe betrachtet, glaube ich kaum, daß ich glücklicher bin als zuvor. Nur reicher. Der Glamour erlaubt es, eine Zeitlang nicht über den Sinn des Lebens nachzudenken. Berühmtheit ist eine goldene Ausweglosigkeit, eine Gucci164
Sackgasse. Manchmal komme ich sogar zu dem Schluß, daß ich dem inneren Exil nur entkommen kann, wenn ich von meinem hohen Roß steige und wieder ein ganz normaler Sterblicher werde. Doch allein dieser Gedanke läßt mir jedesmal das Blut in den Adern gefrieren. Wieder ein Namenloser werden! Was für ein Grauen! Lieber sterbe ich.
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Seit zehn Jahren scheiße ich Hummer und pisse Château Pétrus. Dateline, NBC, 8. Januar 2014
Amerika hat das Geld nicht erfunden, sondern den Zaster. Die Vulgarität, mit der die Leute hier ihren Erfolg zeigen, kennt keine Grenzen. Wenn man in Hollywood reich ist, muß man das auch sehen. Und ich bin da keine Ausnahme von der Regel. Alles, was ich bei mir zu Hause berühre, wird nicht zu Gold – es ist schon Gold! Le Figaro Magazine, 21. Februar 2007
Meiner Ansicht nach mißt sich der Erfolg eines Menschen nicht in Millionen, sondern in Milliarden. Money Magazine, Juni 2012
Ich wünsche niemanden, so reich zu sein wie ich. Es ist grauenvoll! Je mehr ich im Leben verdiene, desto mehr Leben verliere ich … Aber was rede ich manchmal nur für einen Blödsinn! Vogue USA, März 2009
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23 Das Leben wird aus mir niemals einen Mann von Welt machen. Seit meiner Ankunft in L. A. bringt mir der Postbote täglich über hundert Einladungen zu eleganten Cocktail-Partys oder großen gesellschaftlichen Anlässen. Es ist faszinierend zu sehen, wie einem die Tatsache, bekannt zu sein, auf einmal die Türen öffnet. Da ich nicht allen Einladungen nachkommen kann, treffe ich eine gründliche Auswahl und lasse mich jährlich nur bei einem Dutzend Empfängen sehen. Das allerdings ist immer noch zu viel, denn es gibt nur wenige Prüfungen auf dieser irdischen Welt, die so lästig und ermüdend sind. Von gesellschaftlichen Verpflichtungen können nur die träumen, die noch nie welche hatten. Der gesunde Menschenverstand rät mir oft, diese Orte auf der Stelle zu verlassen, aber eine leise teuflische Stimme hält mich immer wieder an, zu bleiben und das erbarmungswürdige Theater der Society-Leute zu betrachten. Jedoch läßt mein soziologisches Interesse im Lauf der Zeit nach. Auf Dauer fehlt mir die nötige Portion Zynismus und Masochismus, um meine Abende umgeben von Volldeppen zu verbringen. Denn was ist ein Society-Mensch, wenn nicht einer, der die Gesellschaft derer schätzt, die ihn nicht ausstehen können? Lediglich die Audienz bei der Königin von England im Londoner Buckingham Palace im November 2008 behalte ich in angenehmer Erinnerung. Nachdem Elizabeth eine gute Stunde um mich herumgeschlichen ist und es nicht gewagt hat, mich anzusprechen, findet sie in zwei Gläsern Sherry, die sie schnell hinunterkippt, ausreichend Mut, endlich zu mir zu kommen. Ich grüße sie respektvoll und danke ihr für die freundliche Einladung. Die arme Frau ist ganz eingeschüchtert, auf der Stelle verliert sie die Fassung und bringt kein Wort 167
heraus. Ich schenke ihr ein schönes Lächeln, damit sie sich ein wenig entspannt, doch es ändert nichts. Sie zittert am ganzen Leib. Die Situation ist fast peinlich. Ich raffe mich also auf, nehme sie am Arm und führe sie aus der Sichtweite der anderen Gäste. Die wenigen Schritte an meiner Seite geben ihr wieder ein bißchen Sicherheit. Am Büffet angelangt, holt sie aus ihrer kleinen apfelgrünen Handtasche Zettel und Stift. »Würden Sie mir ein Autogramm geben, Monsieur de la Croix? Für meinen Enkel William«, sagt sie. Sie will mich wohl für dumm verkaufen. »Aber mit Vergnügen« entgegne ich und schreite gleich zur Tat. Ihr Gesicht verfärbt sich auf einen Schlag von Rosa zu Tiefrot. Dieser so rührende wie auch spektakuläre Anblick geht einer neuen Bitte um einige Sekunden voraus, und auch diese entspricht nur wenig der Etikette: »Guillaume, darf ich Sie küssen?« Wie könnte ich der Königin von England diesen Gefallen abschlagen? Während ich mich also zu ihr hinunterbeuge und ihren sehnlichsten Wunsch erfülle, wird sie fast ohnmächtig. Ich nehme sie in die Arme, und dabei kommt sie wieder zu ihren royalen Sinnen. Der Herrscherin ist es peinlich, daß sie sich aufgeführt hat wie ein kleines Mädchen; sie verläßt sofort den Saal, allerdings wirft sie dem Mann, der an all diesen Emotionen schuld ist, noch einen letzten Blick zu. Ich kann euch sagen, daß ich Elizabeths kleine Schwäche für mich richtig süß finde! »Also wenn du dir die Königin von England genehmigst – Respekt, Junge!« brüllt jemand im Saal. Totenstille. Wie alle Gäste traue auch ich meinen Ohren nicht. Kein Zweifel, wer der Schuldige ist: Robbie Williams hat ein breites Lächeln auf den Lippen und ist vollauf zufrieden mit der Wirkung, die er erzielt hat. Meine ebenfalls anwesenden Freunde Paul McCartney und Elton John haben 168
auch nichts Besseres zu tun, als die Provokation noch weiterzutreiben. Regelrecht entfesselt, steigen sie auf Stühle und schreien alles hinaus, was ihnen in den Sinn kommt: »Erheben wir das Glas auf den, der Königin Elizabeth endlich entjungfert! … Du hast echt Glück, Guillaume – mit achtzig sollen sie am heißesten sein! … In Amerika heißt es überall, du wärst der Vögel-König. Klar, daß eine richtige Königin Lust hast, sich selbst davon zu überzeugen …« Der blanke Neid, sage ich euch! Der Abend, der so gediegen begann, geht bis zum frühen Morgen weiter, und wir vier – Elton, Paul, Robbie und ich – stranden sturzbesoffen vor dem Buckingham Palace. Dieser Idiot von Robbie besteht darauf, daß wir die berühmte Wachablösung so getreu wie möglich nachspielen. Unsere kläglichen Versuche ziehen sich über eine Stunde lang unter dem starren Blick der Horse Guards hin; sie wissen nicht, wie sie auf diese Superstars reagieren sollen, die offensichtlich jede Kontrolle über ihren Körper und ihren Geist verloren haben. Da ich am selben Abend zur Einweihung meines Restaurants Igitt erwartet werde, verlasse ich London am frühen Nachmittag, leider jedoch ohne meine schreckliche Migräne zurückzulassen. Durchgefeierte und durchzechte Nächte entsprechen nicht mehr ganz meinem Alter. Ich lege mich in meinem Jet aufs Sofa und schlafe bald ein. Mein Geist läßt seiner Phantasie freien Lauf und spielt mir einen schlechten Streich – er schildert, wie meine Liebesnacht mit Elizabeth hätte aussehen können … … Im Audienzsaal hätte die Königin meine Hand genommen, sie hätte die Reaktion der anderen zweihundert Geladenen ignoriert und mich in ihre Gemächer geführt. Kaum in ihrem Schlafgemach angekommen, hätten wir uns vor ihrem Bett gierig geküßt. Sie hätte mir das Hemd vom Leib gerissen, ich hätte mit ihrem Hüfthalter gekämpft; sie hätte mir die Hose heruntergeschoben, ich hätte ihr die alten Marks & Spencer169
Kniestrümpfe ausgezogen, die ihre rundlichen, behaarten kurzen Beine bedecken; sie hätte mir mit der Hand durchs Haar gestrichen, ich hätte meine Lippen auf ihren runzligen Hals und ihre schlaffen Arme gedrückt. Splitternackt wären wir in das riesige Himmelbett geschlüpft. Sie hätte mich angefleht, es ihr wild zu besorgen. Ich hätte sie gefragt: »Babette, Schätzchen, stört es dich, wenn ich deine Krone aufsetze, während ich dich von hinten nehme?« »Davon habe ich schon lange geträumt!« hätte sie geantwortet, die unschätzbare Reliquie vom Nachttisch genommen und sie mir auf den Kopf gesetzt. Wir wären in Stellung gegangen. Auf dem Höhepunkt der Erregung hätte Elizabeth mein Zepter in die Hand genommen und es in ihren Privatpalast geführt … Zum Glück ist der Alptraum genau in diesem Moment vorbei. Ein Luftloch weckt mich und bringt mich in die bedeutend erfreulichere Realität zurück. Als ich die Wolken durch die Fenster meines Flugzeugs sehe, bin ich mit einemmal ganz froh, dort zu sein, auf dem Sofa über dem Atlantik, und nicht in einem Bett, wo ich die x-te postkoitale Zigarette mit der unersättlichen Herrscherin teilen muß.
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Unser Abend bei den Bushs im Weißen Haus war katastrophal. […] Laura Bush kann es nicht ertragen, daß Jennifer bei den Amerikanern als die wahre First Lady gilt, und war ihr gegenüber sehr aggressiv. Ich bin während des Essens aufgestanden, habe Jennifer an der Hand genommen, und wir haben uns verkrümelt, ohne uns zu verabschieden. […] Der Bewohner des Oval Office ist ein unsäglicher Dickkopf. Er soll aber nicht vergessen, daß er nur zur Miete wohnt, in einem Haus, das halb so groß ist wie unseres … MNBC, 17. Juni 2008
Als ich jung war, habe ich davon geträumt, Präsident der Vereinigten Staaten zu sein. Damals hatte ich wirklich noch keinen Ehrgeiz! The Sunday Times, 12. Juli 2011
Ich, Präsident der Vereinigten Staaten? Rufen Sie meinen Agenten an, um zu erfahren, wann ich disponibel bin. Aber wenn ich mich recht entsinne, glaube ich kaum, daß ich in den nächsten vier Jahren Zeit habe. Inside Politics, CNN, 4. Mai 2011
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24 Nach dem eher mittelmäßigen Dinner begeben wir vier uns ins Oval Office mit den bequemen Sofas. Bei Eisenkrauttee für die Damen, Digestiv und Zigarren für die Herren verspricht dieser Abend unter Freunden einen friedlichen und freundlichen Ausklang. Doch überraschend sorge ich für eine Abkühlung der Atmosphäre. »Hillary, Bill, wie lange kennen wir uns nun schon? Acht Jahre? Neun?« »Neun«, sagt Hillary. »Meint ihr nicht, es wäre an der Zeit, uns das Geheimnis zu enthüllen … dieses große Geheimnis, das ihr mit einigen Amtskollegen im Ausland teilt?« Die Clintons tun kurz so, als verstünden sie nicht. Aber ich kenne sie gut genug, um die Verlegenheit in ihren ausweichenden Blicken und ihrem verkrampften Lächeln zu sehen. Jennifer weiß ganz genau, worauf ich hinaus will. Ich muß dazusagen, daß ich ihr seit Jahren mit meiner tollen Theorie auf den Wecker falle. Ich bin tatsächlich seit langem überzeugt, daß die Präsidenten der großen Weltmächte über eine Information verfügen, die so tragisch ist, daß man sie unbedingt und unter allen Umständen vor allen lebenden Menschen auf dieser Erde geheimhalten muß. Der Ernst und die Trauer, die sich alle Staatschefs als grundlegende Charakterzüge angeeignet haben, hat mich schon immer frappiert. Diese Leichenbittermienen, die sie überall aufsetzen, wo sie auch sind, können doch nur in der Schwierigkeit ihrer Mission begründet sein. Doch was ist das für ein Geheimnis, das eine so schwere Bürde ist? Betrifft es die Zukunft der
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Menschheit? Oder, im Gegenteil, ihre Vergangenheit? Ist die Spezies Mensch in großer Gefahr? Sicher ist, daß die Clintons an diesem Abend nicht ins Bett gehen werden, bevor sie nicht auf meine Fragen geantwortet haben. Ich werde nicht lockerlassen. »Wir haben immer in großer Offenheit und ohne Tabus über alles gesprochen. Ich glaube, heute, nach neun Jahren Bekanntschaft – Freundschaft kann man schon sagen –, können wir uns unumschränkt vertrauen … Also, sagt mir, was ich nur zur Hälfte weiß. Zieht mich, zieht uns ins Vertrauen. Ich bitte euch nicht um einen Gefallen – es handelt sich um so etwas wie einen Freundschaftsbeweis!« Ich habe es gesagt: Ich lasse nicht locker. Dennoch ist es erstaunlich, daß meine Beharrlichkeit belohnt wird. Die Präsidentin und der Expräsident sehen sich eine Weile wortlos an, und der eine liest im Blick des anderen die Erlaubnis zu sprechen. Bill steht auf, vergewissert sich, daß auch alle Türen des Oval Office geschlossen sind, und nimmt wieder auf dem beigefarbenen Sofa Platz. Er holt tief Luft und nimmt uns mit ernster, fast feierlicher Stimme den Schwur ab, »diese Information von größter Wichtigkeit, die nur etwa fünfzig Menschen auf der Welt bekannt ist«, niemals zu verraten. Als unser Freund zehn Minuten später wieder schweigt, kann Jennifer die Tränen nicht zurückhalten. Sie nimmt meine Hand und drückt sie mit einer Kraft, die ich gar nicht von ihr kenne. Meine Reaktion ist ein wenig gemessener, aber auch ich bin sprachlos. Ich gebe zu, diese erschreckende Offenbarung untergräbt für einige Augenblicke sogar den Optimismus des glücklichsten Menschen der Welt. Die Clintons sind untröstlich und überschlagen sich mit Entschuldigungen. Ich aber gebe mir die Schuld. »Es war mein Fehler, ich habe den Abend verdorben, weil ich das Gespräch auf dieses Thema gebracht habe. Ihr könnt 173
nichts dafür, im Gegenteil – vielen Dank für das Vertrauen, daß ihr uns entgegenbringt.« Hillary setzt sich liebevoll neben Jennifer und versucht, sie zu trösten. Aber nichts zu machen. Meine bessere Hälfte kann sich nicht beruhigen, und ich muß sie ins Hotel bringen. Jennifer braucht ganze fünf Tage, um dieses Dinner zu verdauen, fünf Tage, um ihre Lebenslust und ihr schönes Lächeln wiederzufinden. Das Versprechen, das ich an diesem Tag gebe, hindert mich natürlich daran, in diesem Buch etwas zu verraten. Nur ein Rat: Genießt jede Sekunde eures Lebens. Gesteht den Menschen, die euch wichtig sind, vorbehaltlos eure Liebe, verschwendet keine Zeit und auch keine Energie mit negativen Gedanken, seid fröhlich, singt, tanzt, liebt euch. Mehr kann ich nicht sagen. Leider!
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Man wirft mir vor, das europäische Kino vernichtet zu haben. Man wirft meinen Filmen vor, die Intelligenz der Zuschauer zu beleidigen, und man wirft mir vor, meine Rollen ausschließlich nach der Gage zu wählen, die mir die Produzenten anbieten. Man wirft mir vor, die Karriere von Al Pacino, Robert De Niro, Bruce Willis und Mel Gibson zerstört und alle vier in den Selbstmord getrieben zu haben. Man wirft mir auch vor, auf Scorsese geschossen und Ben Affleck angefahren zu haben, der nun im Rollstuhl sitzt. Man wirft mir vor, die schönsten Frauen Hollywoods vernascht und den Rapper Eminem im wahrsten Sinne des Wortes in den Arsch gefickt zu haben. Manche werfen mir auch vor, Liz Taylors Leichnam in den zwei Tagen nach ihrem Tod geschändet zu haben. Man wirft mir vor, fünfhundert Gramm Koks am Tag zu ziehen und der größte Marihuanakonsument in ganz Kalifornien zu sein. Man wirft mir vor, mit einem Maschinengewehr und Handgranaten unterm Kopfkissen zu schlafen. Und man wirft mir auch noch vor, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten angst zu machen und heimlich das Weiße Haus zu regieren. Nun gut, ich sage es euch ein für allemal: Das ist alles völlig korrekt! Washington Post, 16. März 2015
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25 Eines schönen Morgens bitte ich meinen Chauffeur, mich zu Tom Cruises Domizil zu fahren. Seit ewigen Zeiten hat niemand, kein Mensch, den Schauspieler gesehen. Als ich dort ankomme, fällt mir zuerst der erbärmliche Zustand des Parks seiner Villa auf – völlig vernachlässigt. Hohes Gras und Efeu haben alles überwuchert, und das Laub wurde seit langem nicht mehr zusammengerecht. Trotz der Ungastlichkeit des Orts klingle ich entschlossen am Tor des großen Herrenhauses aus dunklem Stein. Nach einer langen Wartezeit öffnet ein eleganter älterer Herr die Tür, ganz in Schwarz gekleidet und sichtlich erstaunt über einen Besucher. »Ich möchte bitte zu Tom Cruise. Ich nehme an, Sie wissen, wer ich bin.« »Ja, natürlich, Sir. Ich werde nachsehen, ob er … abkömmlich ist.« Ganz offensichtlich hatte der Mann das Wort »präsentabel« auf den Lippen. Er bittet mich herein und läßt mich eine Weile in der Eingangshalle allein. Jegliches Leben scheint aus diesem Haus gewichen zu sein. Nichts strahlt Fröhlichkeit aus. Selbst die Möbel wirken deprimiert. Der Butler kommt langsamen Schritts zu mir zurück und bittet mich, ihm in den ersten Stock zu folgen. »Hier«, sagt er und öffnet eine große Tür am Ende des Korridors. Ich trete in ein trostloses, in Halbdunkel getauchtes Zimmer. Einige Meter vor mir mache ich die Umrisse eines Mannes in einem großen Ohrensessel aus. Ich nähere mich und habe den Eindruck zu stören. 176
»Tom?« Keine Antwort. »Tom, ich bin’s – Guillaume …« Jetzt sehe ich ihn besser. Der Schauspieler wirkt verwahrlost. Mit den langen Haaren, dem struppigen Bart und den dreckigen Fingernägeln ist er nur mehr der tragische Schatten des Sexsymbols, das er einige Jahre zuvor noch war. »Warum bist du gekommen?« fragt er mit trauriger Stimme. »Ich weiß nicht …« Um ehrlich zu sein: Ich suche nach Worten, und er hilft mir, sie zu finden. »Ich nehme an, aus einer perversen Neugier heraus …« »Vielleicht«, räume ich ein wenig verlegen ein. »Du kannst zufrieden sein – du hast gesehen, was du sehen wolltest!« Da ich nicht antworte, fährt er fort: »Weißt du, was für mich am schwersten, am unerträglichsten ist?« »Nein.« »Noch am Leben zu sein! Ich bin ein Paria, ein Mann zuviel auf dieser Erde. Was habe ich Gott nur angetan, daß er so böse auf mich ist?« »Das weißt du sehr gut, Tom.« »Nein, das ist nicht wahr.« Er zieht ein Stück Stoff aus der Tasche und schneuzt sich lautstark, bevor er weiterspricht. »Viele Leute auf der Welt halten dich für den Sohn Gottes, für den neuen Messias …« »Das habe ich auch schon gehört.« »Und mich hält man für den Sohn des Teufels.« Ich setzte mich ihm gegenüber; ich kann ihm nicht widersprechen. »Ich verstehe das nicht«, sagt er. »Mick Jagger, Madonna, Donald Trump – auch sie standen wegen Schicksalsraub vor Gericht. Doch Gott ist nicht in den Zeugenstand getreten, um 177
die Anklage zu untermauern. Warum also bei mir? Ich bin kein Dieb … Ich bin unschuldig. Unschuldig! Doch was zählt mein Wort gegen das Wort Gottes?« Mein Schweigen treibt ihn dazu weiterzusprechen. »Weißt du, daß dein Vater, der Große Schöpfer, mir den Freitod verweigert? Ich habe alles getan, um mein Leben zu beenden, aber nichts hat funktioniert – Messer, selbst die geschliffensten, wollen meine Haut nicht durchschneiden; das Gas strömt nicht mehr, kaum daß ich den Gashahn aufdrehe; ich schlucke Dutzende von Pillen, aber sie wirken nicht … Ich bin dazu verdammt, auf dieser Welt zu bleiben und meine Strafe abzusitzen. Zu sehen, wie du strahlst, zu sehen, wie du mein Leben lebst. Ich ertrage meine Anonymität nicht, Guillaume …« »Auch ich habe sie zuvor nicht ertragen«, gebe ich zu. Nach einer kleinen Pause sieht er mir in die Augen. »Bist du wenigstens glücklich?« »Ich glaube ja.« »Macht dich dein heutiges Leben glücklicher?« »Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht.« »Langeweile?« »Vielleicht …« »Ich kann mich erinnern«, seufzt er. Eine Träne rinnt ihm über die Wange. Er wischt sie mit der Hand weg und richtet den Blick zum Fenster, das hinter schweren Vorhängen verborgen ist. »Ich ertrage dieses Leben nicht mehr … diesen goldenen Käfig … diese Kerkereinsamkeit mitten in Beverly Hills. Ich bin müde, und ich wünsche mir, daß alles schnellstmöglich vorbei ist. Hilf mir.« »Was erwartest du von mir?« »Gott und du, ihr habt nur halbe Arbeit geleistet, nun müßt ihr sie zu Ende bringen.« Dieses Ansuchen verursacht mir einen leichten Schwindel. 178
»Verlang das nicht von mir. Gott wird sich dir sowieso wieder in den Weg stellen.« »Ganz sicher nicht. Er hat dir die Macht gegeben, dich meiner zu entledigen.« Ich, der ich mir vorgenommen habe, unter allen Umständen meinen Humor nicht zu verlieren, habe genau in diesem Moment überhaupt keine Lust zu lachen. »Komm her.« Eher unschlüssig erhebe ich mich und stelle mich hinter seinen Sessel. »Tu jetzt, was du tun mußt«, sagt er entschlossen. »Willst du das wirklich?« »Es ist meine Entscheidung, niemand wird dir böse sein. Ich bitte dich lediglich um einen Gefallen.« Nach kurzer Überlegung lege ich meine Hände um seinen Hals und drücke ein paar Sekunden lang fest zu. Tom wehrt sich nicht. Nur die Kraft seiner Verzweiflung kann diesen völligen und erstaunlichen Mangel an Überlebenswillen erklären. Tom Cruises Leben geht unter meinen Händen zu Ende. Ich mußte es tun, kein anderer, sage ich mir, um die leisen Zweifel zu vertreiben, die mich langsam überkommen. Ich öffne die Tür und suche in dem großen Haus den Butler. In der Küche finde ich ihn. »Mr. Cruise ist etwas zugestoßen.« Diese Nachricht ruft bei dem alten Mann weder Erstaunen noch Panik hervor. »Soll ich die Polizei rufen?« fragt er ruhig. »Stören Sie sie wegen dieser Kleinigkeit lieber nicht. Auf Ermittlungen legt niemand Wert. Man wird sich nicht einmal auf den Weg hierher machen, um seinen Tod festzustellen. Kümmern Sie sich um den Leichnam und schenken Sie ihm einen Grabstein mit seinem Namen.« »Und das Haus? Seine Sachen?«
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»Geben Sie alles an ein Waisenhaus. Dann war sein Leben wenigstens zu etwas nütze.« Wir kehren in das Zimmer zurück. Tom sieht so aus, als wäre er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen in seinem Sessel eingeschlafen. Der Butler zieht die Vorhänge zurück und öffnet das Fenster. Das Licht, das in den Raum fällt, bietet mir einen ganz unerwarteten Anblick. Dutzende von Poster und Fotos von mir bedecken jeden Quadratzentimeter der Wände. Gerade habe ich einem meiner größten Fans das Leben genommen.
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26 Am selben Tag gehe ich um 16 Uhr 15 in die Küche; ich schäme mich ein wenig, weil ich keine zwei Stunden nach dem Mittagessen schon wieder einen Imbiß einnehme. Aber um vier Uhr nimmt man die wichtigste Mahlzeit des Tages zu sich. Das sagen nicht die Ernährungsspezialisten, sondern ich sage das! Ich habe regelmäßig einen schrecklichen Alptraum: Ich öffne den Kühlschrank, und er ist völlig leer. Leider hört dieser böse Traum auch nicht auf, als ich in Hollywood lebe. Bekanntlich wächst mit dem Reichtum die Angst vor Mangel. Zum Glück achtet mein Koch Mario, der auch für die Einkäufe zuständig ist, darauf, daß sich eine solche Katastrophe niemals ereignet. Im übrigen verfügt er über telepathische Fähigkeiten und ahnt meistens, was ich mir gerade wünsche. So hat er mehrmals im Jahr die ausgezeichnete Idee, bei dem renommierten Maison du Chocolat in Paris einige der feinsten Kreationen zu bestellen – Brésilien, Andalousie, Gounod, Pleyel, Bornéo … Der Expreßversand in hermetisch verschlossenen Kisten, die bei vier Grad Celsius transportiert werden, macht aus diesen Kuchen bei ihrer Ankunft in Hollywood die teuersten Leckerbissen der Welt. Ein völlig ungewollter Snobismus. Doch wie sollte man es anders machen? In den USA hat die Konditorenkunst mehr mit dem Maurerhandwerk zu tun als mit Gastronomie. Diese festen, trockenen, mächtigen pies, tarts und cakes dürften meiner Meinung nach die Haupttodesursache im Land sein. Mit der Gewißheit, dort mein Glück zu finden, mache ich also die Tür des wundervollen gekühlten Sesam-öffne-dich auf. Bingo! Ein Bornéo erwartet mich artig in seinem schönen braunen Karton. Einige Augenblicke später sitze ich bequem in einem großen Ledersessel vor meinem Schreibtisch, und mir 181
läuft das Wasser im Mund zusammen, während ich diese sechshundert Kalorien in Galarobe betrachte. Wer den Bornéo kreiert hat, verdient mehr als nur meine Hochachtung. Er verdient es, mit Gold und Ehre überschüttet zu werden. Ruhm sei dir, dem großen Genie der kulinarischen Chemie! Kaum zu glauben, aber der Kuchen führt bei mir zu einer leichten Erektion. Ich lege meine Hand auf die Hose, um dieses so unverhoffte Phänomen zu prüfen. Sobald ich mich sattgesehen habe, schreite ich zu den wichtigen Dingen. Der Löffel drückt sich in dieses Meisterwerk der Patisserie und durchdringt in Zeitlupe die sechs alternierenden Schichten von dunkler Crème Ganache, weißer Mousse au Chocolat und schmelzendem Mandelbiscuit. Mit nachgerade religiöser Ehrfurcht führe ich ein paar Gramm dieses kostbaren Guts an meinen Mund, das im Schmelzen sogleich den G-Punkt meiner Zunge findet. Ich bin ein Glückskind! Fast zehn Minuten lang schließe ich die Augen, um besser zu spüren, wie meine Zunge ihren herrlichen Orgasmus genießt. Sind dann Bornéo und ich nur mehr eins, lege ich den Löffel auf den Teller und stelle diesen auf den Schreibtisch. Dann nehme ich die San-Pellegrino-Flasche, die vor mir steht, gieße mir ein großes Glas ein und trinke es mit kleinen Schlucken; dabei komme ich wieder zu mir. Wenn man einen Moment von solcher Intensität, von einem solchen Zauber erlebt hat, kann man sterben. Das widerfährt mir dann übrigens auch. Als letztes spüre ich kaltes Eisen auf meiner Schläfe. Ein lauter Knall dröhnt durchs ganze Haus, als eine Neun-Millimeter-Kugel mein Gehirn durchschlägt. Mein Körper wird hochgerissen und fällt schwer zu Boden. Als ich aufs Parkett schlage, läßt meine Hand den Revolver los, der gerade einen Strich unter meine Existenz gezogen hat. Wenige Stunden, nachdem er demjenigen das Leben aushauchte, der ihm das seine gestohlen hatte, hat sich der 182
größte Star der Welt entschieden, den Abgang zu machen, und eine untröstliche Welt zurückgelassen.
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27 Mein zukünftiges Leben hält für mich kein Geheimnis mehr bereit. Ich kenne nun das genaue Datum meines eigenen Todes. Am verwunderlichsten ist, daß ich kein Schwindelgefühl dabei empfinde, keine Furcht, kein Unbehagen. Im Gegenteil, dieses Wissen verschafft mir eine beträchtliche Heiterkeit, die es mir erlaubt, der Zukunft voller Vertrauen und leichten Herzens entgegenzusehen. Gestattet mir, Stillschweigen über das Datum zu wahren. Nicht daß ich unbedingt sterben und die ganze Welt damit erschüttern will, aber ich möchte wirklich jede Art der Dramatisierung und Theatralisierung meines Todes vor meinem Tod vermeiden. Stellt euch nur für einen kurzen Moment die Verstörung und die Aufregung vor, die alle meine Lieben und alle meine Fans Tag um Tag überkommen würde, je mehr wir uns diesem denkwürdigen Datum näherten. Wie könnte ich Milliarden von so schrecklich hilflosen Menschen solche Qualen zufügen? Wie könnten sie mit diesem Damoklesschwert leben, dessen Herabsinken auf ihre Köpfe so unausweichlich und so genau vorprogrammiert wäre? Ich würde mein Leben gern leben, ohne jeden Tag größer werdende Trauer auf den Gesichtern zu sehen. Und es wäre euch genauso unerträglich wie mir, auf allen Fernsehsendern der Welt, in den Schlagzeilen aller Zeitungen, im Radio, im Internet ständig die Jahre, Monate, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden zu verfolgen, die mir noch zu leben bleiben. Glaubt mir, mein Schweigen ist die beste Lösung. Doch macht euch unterdessen keine Sorgen – wenn der Tag kommt und ich plötzlich abtrete, werdet ihr umgehend benachrichtigt.
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Der Schuß aus meinem Revolver wird der Auftakt für unzählige Kommentare und Würdigungen aus aller Welt sein. Hier eine Auswahl an Zitaten:
Gerade eben haben wir von Guillaume de la Croix’ Tod erfahren. Laut der Eilmeldung soll er sich mit drei Kopfschüssen in seinem Haus das Leben genommen haben. CNBC News, 17 Uhr 16 Morgen herrscht im ganzen Land schönes Wetter, aber ich bezweifle, daß das auch nur einen von Ihnen interessiert. Kenneth Brady von der Wetterredaktion auf Channel 4 am Abend meines Hinscheidens Apocalypse Day! Prompter auf CNN, 18 Uhr 01 Apocalypse Now! Prompter auf CBS News, 18 Uhr 16 The Day the World ended! (Der Tag, an dem die Welt aufhörte, sich zu drehen!) Schlagzeile der New York Times am Tag danach Wir brauchen jetzt viel Kraft, um diese Tragödie durchzustehen. Ein jeder muß in sich selbst einen Grund finden, in einer Welt ohne Guillaume weiterzuleben. […] Die 185
Traumatisierung, die dieser Tod verursacht hat, ist enorm. Jeder Amerikaner, jeder Erdenbewohner ist heute in Trauer, daher habe ich die Anweisung gegeben, das Weiße Haus schon heute abend schwarz verputzen zu lassen. Auszug aus der Ansprache des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Al Gore jr., am selben Abend Ich habe Angst, daß die Sonne nicht die Kraft haben könnte, morgen früh aufzugehen. Der Dalai Lama Ich hätte nicht gedacht, daß der Tod eines Amerikaners mich so erschüttern könnte. Sadam Hussein Die ganze Welt wird ihn als einen netten, lustigen und unerschütterlich friedliebenden Mann in Erinnerung behalten. Ich hoffe von ganzen Herzen, ich hinterlasse das gleiche Andenken. General Gaddafi Heute morgen bei der Eröffnung der Wall Street nach dem Tod von Guillaume de la Croix stieg die Aktie von KimberleyClark, Eigentümer der Marke Kleenex, um fast achtundsiebzig Prozent … NBC Ich bin sicher, mein eigener Tod wird mich sehr viel weniger erschüttern. 186
Woody Allen Seit vierzig Jahren bin ich daran gewöhnt, daß andere vor mir sterben. Abbé Pierre Der Ort, in dem er den Sommer verbrachte, wurde sofort bei allen Leuten die angesagte Location. Hoffentlich ist das beim Ziel seiner letzten Reise nicht auch der Fall. Salman Rushdie Er war mein bester Freund! John Travolta Der beste Freund, den man haben konnte! Julia Roberts Er war mein einziger Freund, der älter war als zwölf Jahre. Michael Jackson Gestern noch hat er sich über meinen dicken Hintern lustig gemacht. Das ist so traurig! Jennifer Lopez Ich bin die letzte Person, die mit ihm telefoniert hat. Britney Spears
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Nein, das war ich! Madonna Meine Mutter lügt! Ich war’s, Punkt, Ende! Lourdes Ciccone, Madonnas Tochter Sein Tod hat mich k. o. geschlagen. Mike Tyson ------Der Pantomime Marceau jr. Ich kann nicht aufhören zu heulen wie ein Schloßhund. Sylvester Stallone Hollywood ist gestern um 16 Uhr 48 gestorben. Steven Spielberg The show must go on. Arnold Schwarzenegger Meiner Meinung nach ist er nicht tot. Man darf nicht vergessen, daß er der beste Schauspieler der Welt ist. Jack Nicholson
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Alle Welt fragt sich, warum er sich das Leben genommen hat. Doch die Antwort ist einfach: Nehmt einen Vogel – cui-cui, alles läuft gut für ihn. Dann ist eines Tages Schluß, er hört auf zu fliegen und fällt ins Meer. Aber er kann nicht schwimmen wie sein Vetter, der Fisch. Der Fisch macht alles im Wasser – er schwimmt, er schläft, er macht Liebe im Wasser, er macht Pipi im Wasser. Doch kommen wir auf unseren Vogel zurück: Das Meer ist kalt, es ist voller Wasser, voller H2O. Ich fahre fort: Unser Vogel sinkt und sinkt, er breitet die Flügel aus und beginnt, im Wasser zu fliegen. Das ist der Sinn des Lebens, seine ureigene Wahrheit … Seht ihr, sein spirit im Inneren seines Körpers stirbt, bevor er sich überhaupt seiner persönlichen Philosophie bewußt wird. Geht’s? Könnt ihr mir folgen? Oder ist es zu kompliziert? In Wahrheit weiß ich, daß Guillaume, my friend, ein Vogel war, der davon träumte, ein Fischvogel zu sein. Versteht ihr jetzt? Jean-Claude Van Damme Wenn man tot ist, lebt man nicht mehr. Sophie Marceau Nun, wenn er sich in den Fuß geschossen hätte, wären wir jetzt nicht hier. Pamela Anderson Diese Kugel gehört auf den elektrischen Stuhl. Eminem Ich habe erfahren, daß Donald Trump zwei Millionen Dollar für die Kugel geboten hat, die Guillaumes Tod herbeiführte. 189
Das ist unverschämt! Sie ist mehr wert! Ich biete vier Millionen. Bill Gates, Gründer von Microsoft Ich biete acht Millionen! Richard Branson, Gründer von Virgin Zwölf Millionen sind das Minimum. Der Sultan von Brunei Unter einer republikanischen Regierung wäre es nie zu dieser Tragödie gekommen! George Bush jr.jr. Ich bin gegen jede Globalisierung, auch gegen die Globalisierung der Trauer. Diese ganze Welt, die denselben Mann beweint, schockiert und empört mich gar. José Bové, Bauernaktivist und Globalisierungskritiker Laut einem Sprecher der Familie findet Guillaumes Begräbnis am nächsten Montag am Fuße des berühmten Hollywood Sign am Mount Lee in Los Angeles statt. Guillaume kann sich keinen schöneren Grabstein gewünscht haben. Sophia Scotto, Rai Uno Morgen um 12 Uhr Greenwich-Zeit steht die Erde zu Ehren von Guillaume de la Croix für eine Minute still. Patrick Poivre d’Arvor, TF1 190
Niemand muß sich für seine Tränen schämen. Aber vergeßt nicht, viel zu trinken! Weltweite Werbekampagne von Evian zwei Tage nach meinem Hinscheiden. Im Grunde kann man die Geschichte der Menschheit in zwei lauten Geräuschen zusammenfassen: einem Urknall und einem Schuß. Umberto Eco Wenn der größte Stern am Himmel verlöscht, Wird der Schmerz für lange Zeit sein schwarzes Tuch über die Erde breiten; Von Ost nach West, von Nord nach Süd werden sich Männer und Frauen Zu Millionen in Brunnen verwandeln und vergessen, ihre Hunde auszuführen. Nostradamus 1555
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28 Berühmt zu werden hat mir eigentlich keinerlei Arbeit und auch keinerlei Opfer abverlangt. Viele Leute mögen das ungerecht finden, da sie sich doch so abrackern, um sich einen Namen zu machen. Ich habe wahrlich keine mageren Jahre, keinen einzigen Moment des Zweifels und der Erniedrigung kennengelernt. Ich war keiner dieser Barkeeper oder Poolreiniger in Los Angeles, die am Eingang der Stadt ein Ticket gezogen haben und geduldig und oft auch vergebens darauf warten, daß ihre Nummer aufgerufen wird. Ich mußte nicht unter den Fenstern der Plattenfirmen singen, um sie davon zu überzeugen, daß ich der größte Sänger bin. Ich mußte mich auch nicht für »Loft Story« bewerben und davon träumen, ein neuer Steevy zu werden. Niemand hat mich gezwungen, knallenge rosa T-Shirts zu tragen, mir die Haare platinblond zu färben, und ich mußte mich auch nicht von einem alten schweißtriefenden Produzenten vögeln lassen (Gott sei es gedankt). Dennoch leben wir in einer merkwürdigen Zeit. Jeder Mensch auf Erden, ob Frau oder Mann, von sieben bis siebzig, hat nur eins im Kopf: reich und berühmt zu werden. Ganz sicher ist in erster Linie das Fernsehen an diesem kollektiven Wahn schuld. In den letzten Jahren hat das Fernsehen uns erklärt, es wiedergekäut und uns überzeugt, daß es nichts Sensationelleres und nichts Geileres gäbe, als einen Aufkleber auf der Stirn zu tragen »War im Fernsehen«. Die Berühmtheit wurde zum einmaligen Erfolgsmodell erhoben. Natürlich richtet das auch viel Schaden an. Langsam, aber sicher produziert unsere medienüberschwemmte Gesellschaft eine ganze Generation, die im Stargeschäft durchgefallen und vom Ruhm frustriert ist. Es gibt ein paar Auserwählte, zu denen ich 192
glücklicherweise gehöre, und es gibt all jene, die ständig zu Castings und zum Vorsingen rennen und sich schon auf einem Plakat sehen, das leider nie gedruckt wird. Ihr glaubt millionenfach, ihr hättet Talent, und ihr seid überzeugt, ihr hättet eine echte Chance, aus eurer Anonymität auszubrechen, selbst die Häßlichen, die Zwerge, die Pummel, die Verklemmten, die schlechten Badewannensänger, die wahrlich tragischen Schauspieler. Ein Rat, falls ihr zu einer dieser Kategorien gehört: Verschwendet nicht eure Zeit und vor allem nicht die der anderen. Danke, daß ihr nach Hause geht; man wird euch nie anrufen. Und ihr anderen, die ihr eine Chance kriegt – beschreit ihn nicht, euren Sieg. Voller Illusionen und Blauäugigkeit schlagt ihr eine Karriere ein, von der euch zu wünschen ist, daß sie lang und strahlend sei, aber wißt ihr eigentlich wirklich, was euch erwartet? Ihr träumt von Berühmtheit, von Anerkennung, von eurem Namen in aller Munde, aber kommt von eurer kleinen Wolke herunter. Für kurze Zeit erlebt ihr sicherlich schöne Momente voller Zauber. Und danach? Habt ihr an die anstrengende und grausame Rückkehr in die Anonymität gedacht? Alle Profis des Standes sagen es: »Das Härteste an diesem Beruf ist, ihn lange auszuüben.« Viele Psychologen, Ärzte und Dealer zählen zu ihrem Patienten- und Kundenkreis Leute, die das Licht kennengelernt haben und es nicht ertragen, ins Dunkel zurückzufallen. Dieses Licht, das sie als Wohltat empfanden, ist in Wahrheit eine Droge. Wenn es einmal auf euch gerichtet war, könnt ihr nicht mehr darauf verzichten. Ihr möchtet sogar glauben, daß die Sonne nur ein weiterer Scheinwerfer ist, der eure Nichtigkeit beleuchtet. Und es gibt nichts Schlimmeres, als zu spüren, wie sich der Lichtkegel von euch abwendet und plötzlich einen anderen, Jüngeren, Schöneren anstrahlt. Nur wenige Stars entkommen dem endgültigen Verlöschen des Rampenlichts. Zählt also nicht zu sehr darauf, eine dieser Ausnahmen zu sein, die die Regel bestätigen. Das Vergessen 193
und die Gleichgültigkeit sind die beiden ersten Spatenstiche, mit denen euer Grab ausgehoben wird. Das Drehbuch ist immer das gleiche. Eines schönen Tages steht ihr auf und merkt schlagartig, daß ihr niemals ein Comeback schaffen könnt. In einem lichten Moment seht ihr der Wahrheit ins Gesicht – von euren drei letzten Songs haben sich insgesamt nur drei Exemplare verkauft. Ihr seid nicht mal aus der Mode gekommen – es gibt euch einfach gar nicht mehr. Von Has-beens seid ihr zu Has-never-beens geworden. Außerdem zweifelt ihr langsam daran, überhaupt je berühmt gewesen zu sein. Aber ihr seid nicht verrückt. Ihr habt in den vier Monaten eurer Karriere wirklich fast eine Million Platten verkauft. Man wollte euch in Belgien, in der Schweiz und in Kanada hören. Das war die schöne Zeit, in der ihr bis zu dreißigtausend Francs pro Auftritt verdient habt. Dave war euer Freund, François Valéry auch. Ihr habt sogar mit Jane Manson geflirtet. Sie hat es immer geleugnet, aber es ist wahr. JeanJacques Goldman himself hat euch in den Gängen von Michel Druckers Studio gegrüßt – die Krönung. Vier Monate lang wart ihr eine unumgängliche Persönlichkeit des französischen Schlagers. Vier Monate – das ist doch was! Erinnert euch, daß die Mädchen in jenem Sommer verrückt nach eurem kleinen, molligen Körper waren. Jeden Abend habt ihr ein aufreizendes, sexy Geschöpf mit nach Hause genommen, bei dem man davon träumt, ihm ein Kind durch den Mund zu machen. Das war genial. Euer Gesicht war der wirksamste Passierschein in überfüllte Lokale und eine Einladung, die für alle angesagten Events in Paris und Sant-Trop’ galt. Ihr bekamt das hübscheste Lächeln und die größte Aufmerksamkeit. In ganz Frankreich hattet ihr vor Schwangeren, Behinderten und alten Menschen den Vortritt bei Sitzgelegenheiten an öffentlichen und privaten Orten. In Restaurants jagte man manchmal mit Gewalt Leute von einem guten Tisch, um ihn für euch einzudecken. Es war euch ein wenig peinlich, aber ihr konntet ja schließlich nicht 194
neben der Toilettentür essen. Doch diese gesegnete Zeit, da ihr wie die Könige lebtet, ist nun endgültig vorbei. Heute geht es euch dreckig. Das Telefon klingelt nicht mehr. Ihr habt die Anschlüsse geprüft und euren letzten Kumpel gebeten anzurufen, um euch zu vergewissern, daß die Leitung nicht gestört ist. Ihr müßt euch damit abfinden, daß das Show-Biz euren Namen aus seinem Adreßbuch gestrichen hat. Ihr seid jetzt im Aus. Ein Aus, das eure Nachrichten vom Anrufbeantworter eurer Freunde löscht. Ihr seid gegrillt und völlig verbrannt. Und als wäre das nicht genug, verläßt euch auch noch eure Frau und will wieder ihren Mädchennamen annehmen. So eine Schlampe! Sogar der Hund ist euch davongelaufen. Seit Monaten habt ihr keine Nachricht von eurem Agenten. Ihr ruft zwar bei ein paar Musikproduzenten an, doch als einzige Disc wird euch die Musikschleife im Telefon offeriert. Die Ferien verbringt ihr nicht mehr in SaintTropez, sondern in Saint-Nazaire, wo ihr für den Sommer ein Zimmer gegenüber der Werft mietet. Seit Jahren will das Fernsehen nichts mehr von euch wissen, seit Jahren sind Scheinwerfer, Kameras und Mikros auf andere gerichtet. Doch ihr habt es noch immer nicht verdaut. Mit Tränen in den Augen könnt ihr ständig nur an diese sagenhafte Zeit zurückdenken. Permanent hattet ihr Sendungen und Interviews. Überall und zu jeder Zeit wart ihr zu sehen. Die Primetime vermißt ihr am meisten. Die Atmosphäre hinter den Kulissen, das Lampenfieber vor der Live-Schaltung, zehn Millionen Fernsehzuschauer. Gefühle, wie ihr sie noch nie im Leben hattet. Dann hat man von einem Tag auf den anderen beschlossen, daß ihr nicht mehr zur besten Sendezeit taugt. Von da an ging es rasend schnell bergab. Ihr seid noch ein paarmal im Frühstücksfernsehen aufgetreten, aber niemand ist euretwegen aufgestanden. Das letzte Mal hat man euch dann als kleinen Act bei einer Spendengala gesehen – aus einem kleinen Provinznest zugeschaltet. Seitdem nichts mehr. Nicht 195
einmal eine kleine Einladung ins Kabelfernsehen. Nachdem ihr eine große Zeit beim Fernsehen hattet, hat das Fernsehen euch nun rausgeschmissen wie ein Stück Dreck. Dennoch habt ihr heute noch die Befriedigung, an über siebzig Sendungen teilgenommen zu haben. Gigantisch! Das Problem ist nur, daß keiner dieser Fernsehauftritte den Zuschauern im Gedächtnis geblieben ist. Ihr wurdet nie bei einer Live-Sendung Opfer einer technischen Panne, ihr wurdet auch nicht laut ausgelacht, was dann in den Klamauksendungen am Jahresende endlos wiederholt worden wäre. Ihr hattet einfach kein Glück. Eines schönen Morgens spricht euch die Concierge mit einem breiten Lächeln im Hauseingang an und sagt, daß euer Name letzten Samstag im Fernsehen erwähnt wurde. Einen kurzen Augenblick träumt ihr schon von eurer Rückkehr ins Rampenlicht. Doch dann verkündet sie, daß ihr die Antwort auf die Achtzigtausend-Euro-Frage in einer Quizsendung wart. Doch so ein Pech – der Kandidat hatte euren Namen vollständig vergessen und hat verloren. »Ihretwegen!« spöttelt die blöde Hauswartin gleich. Wie können die Leute so vergeßlich sein? Das bleibt ein Mysterium für euch. Unerwünscht im Fernsehen, seid ihr auch schnell bei Zeitungen und Illustrierten nicht mehr angesagt. In nur wenigen Wochen verschlägt es euch von den Titelseiten in die Rubrik »Kochen«, wohin ihr Rezepte für »Hühnchen baskisch« oder Schokoladentorte eingeschickt habt. Es dauert nun nicht mehr lange, und euer Foto erscheint auf den letzten Seite von Télé 7 Jours in einer Werbung, und die Bildunterschrift legt euch in den Mund, welches Glück euch der »Magnetit« brachte, als er so »elegant« um euren Hals hing. Welch eine Ironie des Schicksals! Euer Glück bezeugen zu müssen, obwohl es euch doch schon vor einer Ewigkeit verlassen hat! In Wahrheit seid ihr nämlich ruiniert. Der Fiskus fordert von euch mehrere hunderttausend Euro, und ihr seid gezwungen, jede Arbeit 196
anzunehmen, um die Summe aufzubringen. Im vergangenen Jahr habt ihr beispielsweise in bretonischen Supermärkten an idealer Stelle zwischen Tiefkühlware und Höschenwindeln euer künstlerisches Talent vorgeführt. Wie in euren glorreichen Tagen hattet ihr ein Mikro in der Hand, allerdings nur um den Kunden zu verkünden, daß dieser köstliche Rosé nur zwei Euro achtzig kostet, Mesdames, Messieurs, lassen Sie sich dieses Sonderangebot nicht entgehen, es gilt nur heute! Als ihr dann über alle Lautsprecher des Geschäfts eine alte Dame beschimpft habt, die euch mit einem ehemaligen Wettermoderator auf FR3 verwechselt hat, war eure Karriere als Verkäufer ein für allemal vorbei. Heute ist euch klar, daß ihr besser Kinder bekommen hättet. Wer wird denn eure Schulden bezahlen? Und wer wird euch bis zum Ende eurer Tage unterhalten? Zum Glück werdet ihr früh sterben. An einem tristen Wintertag wird euer Wellpappesarg im strömenden Regen in ein Grab abseits der anderen Gräber auf dem Friedhof von Saint-Nazaire abgelegt. Zu eurem Glück gibt es keine kommunalen Massengräber mehr, denn sonst wärt ihr dort gelandet. Keine zehn Personen sind bei der Trauerfeier zugegen. Nicht einmal der Schatten eines Schauspielers oder eines Sängers. Michel Drucker, euer Lieblingsfernsehmoderator, hat sich nicht einmal verpflichtet gefühlt, eurer Frau oder eurer Concierge eine Kondolenzkarte zu schicken und sein Beileid auszusprechen. Doch man darf ihnen nicht böse sein; sie dachten, ihr wärt schon lange tot. Übrigens, nur ein Nachruf, linkisch auf ein altes Holzbrett gekritzelt, faßt eure letzten Jahre hinter den Schranken des Vergessens zusammen: »Das Show Business hat ihn vor acht Jahren begraben. Heute ist er gestorben.« Pensionierte Berühmtheiten sterben zweimal, so ist das. Zum ersten Mal hören sie auf zu existieren, wenn sie aus dem Scheinwerferlicht treten, zum zweiten Mal sterben sie, wenn das Sonnenlicht endgültig für sie erlischt. 197
Dann kommt ihr in den Himmel. Das dauert eine Weile, denn ihr müßt die Treppe nehmen; der Aufzug ist für Menschen reserviert, die auf dem Höhepunkt ihres Ruhms verschieden sind. Nachdem ihr drei Stunden in einem dunklen Gang Schlange gestanden habt, tretet ihr vor Gott, der euch mit schallender Stimme bittet: »Nenne mir bitte deinen Namen.« Ein letzter Dolchstoß, bevor ihr dann für alle Ewigkeit im Billigparadies der Namenlosen und Nichtskönner herumirrt.
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29 Meine Geliebte, ich habe beschlossen, am schönsten Tag meines Lebens aus diesem zu scheiden. Das mag komisch klingen, doch es ist die schlichte Wahrheit. Ich bin bereit, Dich in wenigen Minuten zu verlassen, während ich mich nie so glücklich, nie so heiter gefühlt habe wie heute. Ich muß zugeben, daß mir das Leben selten Grund zur Klage gab. Es hat mir gehorcht, mich gesegnet, angebetet, verwöhnt, verdorben, protegiert, geschützt und unsterblich gemacht. Leider sehe ich nun das Ende dieser Sonderbehandlung kommen. Am Horizont zeichnen sich besorgniserregende Wolken ab, und ich habe Angst vor dem Sturm, den sie ankündigen. Der unheimliche Countdown hat begonnen, und ich lebe in der Angst, von einem Augenblick auf den anderen aus dem Paradies vertrieben zu werden, in dem ich schon so lange lebe. Ich bin nicht dazu geschaffen, Fehlschläge, schlechte Kritiken und noch viel weniger die Entrühmtheit auszuhalten. Ich weigere mich, meinen Platz an der Sonne aufzugeben und nicht mehr immer und überall in den Augen der Welt zu existieren. Es tut mir leid, Jenny, aber meine Zukunft endet hier. So grausam und egoistisch ein Selbstmord auch sein mag, er schien mir doch immer eine zutiefst vernünftige Tat zu sein. Lieber sterben als überleben. Für viele Leute ist das Ende des Tunnels das Ende eines Revolverlaufs. Auch für mich. Man muß es klar sehen: Meine Zukunft stinkt vor Reue, vor Tristesse und Vergessen. Das Leben bis zum Ende zu leben verlangt mehr Mut, als ich habe. Ein schändlicher, feiger Deserteur, der noch vor dem Beginn der Schlacht davonrennt – im Grunde bin ich genau das. Wozu sollte es auch gut sein zu 199
kämpfen? Aus dieser Prüfung geht keiner als Sieger hervor. Das Leben ist eine Schlampe, die einen am Ende immer verrät und einem eine Kugel in den Rücken jagt. Warum soll man dem Leben also nicht den Gefallen tun und die Arbeit selbst machen? Ich konnte nicht gehen, ohne Dir Lebwohl zu sagen. Du verdienst Besseres als nur einen Brief auf Deinem Kopfkissen, aber eine bessere Idee, Dich noch ein letztes Mal zu umarmen und Dir meine grauenvolle Entscheidung mitzuteilen, hatte ich leider nicht. Freilich wäre ich es Dir schuldig, hier zu bleiben, aber wie Du jetzt verstehst, habe ich nicht mehr die Kraft, unseren gemeinsamen Weg fortzusetzen. Entschuldigungen nützen nichts, wenn man anderen Menschen so große Qualen bereitet. Ich bin ein Dreckskerl. Also trockne Deine Tränen. Um Dreckskerle weint man nicht! Ich kann es kaum erwarten, das Leben an Deiner Seite vor meinen Augen vorbeiziehen zu sehen. Wunderbare Aussichten! Ich wünsche allen Menschen, daß sie auch so einen gelungenen Film sehen dürfen, wenn sie diese Welt verlassen. Zum letztenmal Deine Augen zu sehen, Deinen Mund, Deine Wangen, Deine Hände – ein schöneres Andenken, das ich dorthin mitnehme, wohin ich nun gehe, kann ich mir nicht erträumen. Ich liebe Dich, ich liebe Dich, ich liebe Dich! Grüß die Kinder und die ganze Welt von mir. Guillaume PS: Der Safe hinter dem Van Gogh im Salon geht mit dem kleinen Schlüssel auf, den Du hinter der Picasso-Vase neben dem Modigliani findest.
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Ich bin sicherlich das Beste, was Milliarden Menschen in ihrem Leben passiert ist. The Guardian, April 2013
Ich weiß nicht, ob ich mein Leben erfolgreich lebe. Dafür weiß ich aber, daß ich Millionen Menschen helfe, das ihre erfolgreich zu leben. L.A. Weekly, 28. Oktober 2008
»Wenn es ein Paradies gibt, was wünschen Sie sich dann, das Gott Ihnen bei der Ankunft sagt?« »Ich habe alle Ihre Filme gesehen.« In der TV-Serie Inside the Actors Studio, Bravo TV, 19. Januar 2017
»Wenn es ein Paradies gibt, was wünschen Sie sich dann, das Gott Ihnen bei der Ankunft sagt?« »Da kommt ja endlich die Ablösung!« Rolling Stone, März 2011
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30 Die Sonne fällt auf meine Lider. Ich öffne ganz langsam die Augen und liege mitten in einer Blumenwiese. Das Paradies hält also keine Überraschung bereit, so wie man es in diesen phantasielosen amerikanischen Filmen so läppisch zeigt. Während ich mich auf meinen Hintern setze, erscheint der Schöpfer vor mir. Seit unserem letzten Treffen hat Er sich kaum verändert. Vielleicht wirkt Er ein bißchen weniger müde oder einfach weniger betrunken. »Guillaume de la Croix, da bist du ja endlich!« Bevor Er weiterspricht, erhebe ich mich zum Zeichen des Respekts. »Hat dir dein Leben gefallen?« »Es war nicht schlecht. Danke.« »Ich bin fast neidisch geworden«, spöttelt Er. Ich lächle ein wenig verlegen. »Die Gerechtigkeit wurde wiederhergestellt. Ich danke Ihnen, daß Sie sich gezeigt haben …« »Hör endlich auf, mir zu danken! In Wahrheit habe ich nämlich gelogen. Tom Cruise hat dir dein Leben nicht gestohlen«, fährt mir der Allmächtige schonungslos über den Mund. Ich traue meinen Ohren nicht. »Sie belieben zu scherzen?« frage ich vorsichtig. Als Antwort dreht Er den Kopf langsam von rechts nach links. Mir platzt fast das Gehirn. Dann hat Tom Cruise also die Wahrheit gesagt! Der Mann, dem ich das Leben gestohlen, den ich ins Elend gestürzt, den ich mit meinen eigenen Händen getötet habe, dieser Mann war also unschuldig.
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»Aber warum haben Sie gelogen? Warum sind Sie über diesen Mann hergefallen? Was hatte er Ihnen getan?« Er macht eine Kunstpause, um größere Wirkung zu erzielen. »Nichts. Aber diese Scientologen konnte ich noch nie ausstehen!« Ein fieses Lächeln kräuselt Seine Lippen. Ich schließe kurz die Augen, um den Schlag zu verdauen. Als ich sie wieder öffne, ist Gott verschwunden. »Willkommen im Paradies!« rufen mir dann hübsche junge Nymphen, die aus dem Nichts kommen, zu und streicheln mit ihren sanften, geschickten Händen meinen nackten Oberkörper. Ehrlich gesagt, bin ich nicht so ganz bei der Sache.
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Meine vollständige Autobiographie mit dem Titel Ich werde oft mit Gott verwechselt wird im Januar 2018 weltweit erscheinen. Vergeßt nicht, schon heute ein Exemplar bei eurem Buchhändler zu bestellen.
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ABSPANN Ich danke der Frau, die ich liebe, dafür, daß sie Lust hat, ihr Leben mit einem Mann zu teilen, der niemals Tom Cruise sein wird. Ich danke dem kleinen Noé, der mich immer so ansieht, als wäre ich Tom Cruise. Ich danke Frédéric Beigbeder dafür, daß er lesen kann. Ich danke Frédéric Temin dafür, daß er mein Freund ist. Ich danke Éric Galmard, daß er zehn Jahre auf meinen Dank gewartet hat. Ich danke Jacques Séguéla (im Kino darf man nie vergessen, Claude Berri zu danken; in der Werbung ist es Jacques Séguéla). Ich danke Jean-Paul Enthoven für seine Ermutigungen. Ich danke Pierre Scipion und Jessica Nelson für ihre wertvollen Tips. Ich danke den Brüdern Lumière (sie wissen wofür). Ich danke Warner, Columbia, Miramax, DreamWorks und auch Paramount dafür, daß sie die Filmrechte an diesem Roman so teuer einkaufen. Ich danke Tom Cruise für die gute Idee, sich selbst in dem Film zu spielen, der nach der Vorlage dieses Romans gedreht wird. Ich danke Steven Spielberg dafür, daß er mich nie vor 11 Uhr morgens anruft. Ich danke euch, daß ihr den Wasserhahn zudreht, während ihr euch die Zähne putzt. Ich danke euch, daß ihr dieses Buch (wenn es euch nicht gefallen hat) in den Altpapiercontainer werft. Special thanks to Hillary and Bill Clinton.
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