MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 115
Wiener Blut von Michael M. Thurner
WIEN, 8. FEBRUAR 2012 Alle Versuche, ...
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MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 115
Wiener Blut von Michael M. Thurner
WIEN, 8. FEBRUAR 2012 Alle Versuche, den Kometen »Christopher-Floyd« abzuwehren, schlugen fehl. Das Verhängnis kam unaufhaltsam näher. »Büßet eure Sünden!«, schrien die einen, während sie durch die Straßen Wiens zogen und ihre nackten Körper auf archaische Art und Weise mit Dornenruten geißelten. »Jeder ist sich selbst der Nächste«, meinten die anderen, während sie brandschatzten, mordeten und vergewaltigten. »Alles Humbug«, sagten wiederum andere, »schließlich ist dies die Insel der Seligen, und ich hab zu tun. Herr Ober, bitte noch ein Bier!« Langsam wurde es ruhig im Lande; lediglich der AnchorMan des staatlichen österreichischen Fernsehens, der irgendwo in der Tundra Russlands seine Zelte aufgeschlagen hatte, überschlug sich in hysterischen Kommentaren.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich und ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit bevölkern Mutationen die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den Piloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula findet er heraus, dass körperlose Wesen, die Daa'muren, damals mit dem Kometen zur Erde kamen. Sie veränderten die irdische Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist: eine Echse mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Nun drohe n sie zur dominierenden Rasse des Planeten zu werden... Auf der Suche nach Verbündeten versorgen Matt & Co. die Technos in Europa und Russland mit einem Serum, das deren Immunschwäche aufhebt. Selbst der Weltrat, skrupelloser Nachfolger der US-Regierung, tritt der Allianz bei. Bisher weiß man nur wenig über die Pläne der Daa'muren. Besser informiert ist ein Mann, den die Aliens in ihrer Gewalt haben: der irre Professor Dr. Smythe. Er kennt ihre Herkunft, einen glutflüssigen Lava-Planeten, und weiß um ihre Fähigkeiten. Sie streben eine Kooperation mit ihm an. Inzwischen versuchen die Gefährten, die Sippen und Bunker Europas zu einen. Auf den Cyborg Aiko und die Rebellin Honeybutt müssen sie dabei verzichten: Aikos Gehirn wurde geschädigt, und er wird in Amarillo operiert.
Auch der Neo-Barbar Rulfan, Sohn des Prime der Community Salisbury, ist für die Allianz unterwegs. In der Nähe von Köln stößt er dabei auf eine Gruppe Amazonen, nicht ahnend, dass Daa'muren deren Gestalt angenommen haben und ihn mit einem Virus infizieren, der ihn zu ihrem Sklaven macht. Da lässt die Atom- Explosion einer japanischen Rakete, die damals »Christopher-Floyd« treffen sollte, den Kratersee erbeben! Die Detonation auf der Meeresoberfläche offenbart einen überraschenden Effekt: Der Antrieb der Kometen-Raumarche wird für den Bruchteil einer Sekunde reaktiviert! Davon ahnen Matt & Co nichts. Als sie Gerüchten um einen »König im Westen« nachgehen, der eine Armee um sich scharen soll, richtet es Rulfan so ein, dass die Daa'murin Aunaara in Gestalt einer Barbarin an der Expedition teilnimmt. Doch bevor sie zuschlagen kann, wird sie enttarnt und flieht. In Meeraka stirbt Präsident Victor Hymes beim Angriff eines Stoßtrupps, den Miki Takeo geschickt hat. Doch er fällt nicht den Androiden zum Opfer, sondern General Crow, der seinen Posten übernimmt und einen Angriff gegen Takeo führt. Zwar können die Allianz und Aiko das Schlimmste verhindern, doch fällt mächtige Technik in die Hände des Weltrats...
»Die Ruhe und Besonnenheit des österreichischen Volkes hat uns über diese schwere Zeit hinweg getragen«, sagte der Bundeskanzler mit dünner Stimme in einer Stellungnahme. Er saß in einem engen Raum mit grauen Wänden und grauer Decke. Eine rot-weiß-rote Flagge war notdürftig hinter ihm affiziert worden, ein Stahlhelm lag griffbereit. »Ich danke Ihnen für das in die Regierung gesetzte Vertrauen, denn wenn wir alle auf die Opposition gehört hätten...« Ein Donnerrollen übertönte jeglichen weiteren Kommentar. Der Donner brachte Sturmluft, feuchte und heiße Luft, so heiß, dass man zu ersticken drohte, und so stark, dass man sich festhalten musste. Dann folgte der kurze Hagelstoß, und dann der Funkenflug, und dann die Erdstöße, und dann die Explosionen, und dann... ... schlug eines der Teilstücke »Christopher-Floyds«, die von den Langstreckenraketen abgesprengt worden waren, südlich von Wien ein. Hunderttausende Menschen starben durch den Primärimpakt und die Druckwelle binnen weniger Augenblicke. Das Trümmerstück prallte bei der Stadt Baden auf die Erde, just an der dünnsten Stelle des Wiener Beckens, der Thermenlinie. Mineralhaltiges heißes Wasser fauchte vielerorts aus dem Untergrund und löschte etliche der Brände. Die Erdkruste hingegen riss weiter ein, von Norden nach Süden, so leicht wie das Glas einer Fensterscheibe. Ein Dorf nach dem anderen versackte und verschwand in dem breiter werdenden Riss, der sich verästelte und nunmehr auch nach Osten hin ausbreitete. Erst die Ausläufer der voralpinen Gebirgsstöcke stoppten eine weitere Ausbreitung des Höllenschlundes. Es war in der Tat ein Höllenschlund – denn nach dem Wasser kam das Feuer. Erst kroch es zaghaft hoch, um den geeignetsten Weg durch die mannigfaltigen Verästelungen des Risses zu finden. Da und dort quoll ein Lavabatzen empor, setzte ein halbes Dutzend noch nicht abbezahlter
Einfamilienhäuser in Brand und zog sich wieder zurück, suchte weiter. Die Kruste war mancherorts schwer zu durchbrechen, und das erkaltende Magma bildete rasch eine weitere Schicht gegen das brodelnde, erwachende Ungetüm, das durch »Christopher-Floyd« geweckt worden war. Fast schien es so, als würde es gestoppt werden, als wäre Mutter Natur gnädig und würde diese Geißel im Zaum halten. Doch das Feuer war zu mächtig geworden; es drängte hoch, suchte gierig nach einem Kanal, den es empor strömen konnte. Und schlussendlich fand es seine Erlösung. Fünf Kilometer vor der südlichen Stadtgrenze Wiens geschah es. Durch einen breiten, vertikalen Kanal aus dem tiefen Inneren der Erde durchbrach das Feuer einen Lavapfropfen, gelangte an die Erdoberfläche, spie mehrere hundert Meter hohe Glutfontänen aus und überschwemmte Stadt und Land mit seinen Feuerlohen. Jahrzehntelang würden die Feuerfluten arbeiten und das Becken in eine apokalyptische Höllenlandschaft umformen, deren Dämpfe und Gase kaum ein Lebewesen ertragen konnte. Fünfhundert Meter hoch würde der Berg anwachsen. Immer wieder würde er in den dunklen Zeitaltern, die von Asche, Kälte und Dunkelheit geprägt waren, ausbrechen und ein Fanal des Schreckens bilden für die wenigen armseligen menschlichen Kreaturen, die zu ihrem Unglück den Einschlag des Kometen überlebt hatten. Aus »Christopher-Floyd« würde Kristofluu werden, aus dem Wiener Becken Wudans Feuerfelder, aus dem Vulkan Orguudoos Schlund – und aus der teilweise von Lava überbackenen Trümmerstadt Weean.
Weean, Sommer 2511 »Hü, Petr! Schneller, Hojc!«, feuerte Kahagee seine Gäule an. Die beiden Haflaas* kümmerten sich nicht weiter um Peitsche und geschriene Befehle. Zu dick war ihre Haut, zu ausgeprägt ihre Gleichmütigkeit. Mit schwerem Schritt zogen sie den Karren weiter, über die Kuppe des Hügels hinweg. Die Triste Straße führte kerzengerade hinab in den Süden. In unmittelbarer Nähe erhob sich Orguudoos Schlund. Um seinen Gipfel, der im Nebel kaum zu erkennen war, verdichteten sich giftige Dämpfe zu gelben Schwaden, so wie an den meisten Tagen des Jahres. Es war unsicheres Land, das vor ihm lag. Rechts der Fuß des Vulkans, links das zerrissene und unwirkliche Land. Lediglich die Straße und ein schmaler Streifen nebenher boten eine gewisse Sicherheit. »Und – wird er heute kommen?«, fragte er ohne zu grüßen die Alte, die hier seit Jahr und Tag auf ihren Mann wartete. Tagaus, tagein erklomm sie den Hügel und sponn ihr Garn neben dem hochragenden Sandstein- Relikt, dessen Sinn heutzutage niemand mehr verstand. »Wer weiß, wer weiß«, antwortete sie mürrisch, ohne ihn anzublicken. Niemand sah ihm gerne in die Augen. Schließlich war er der Heshaa der Fineberer, die den Süden Weeans als ihre Heimat – und ihren Besitz – betrachteten. »Hast du deinen Zehnt bereits beglichen?«, fragte er lauernd die Alte. Er wusste nicht einmal ihren Namen. Doch wozu auch? »Diesen Mond, so wie jeden Mond«, entgegnete sie ruhig. »Brr!«, sagte Kahagee zu den Haflaas und zog fest an den Zügeln. Unwillig blieben sie stehen. »Dann wollen wir mal sehen.« Er holte sein Buch hervor, gebunden in wertvolles *
Pferderasse, von Haflingern abstammend: Aasfresser, vorstehende Reißzähne, verwachsene Köpfe, wuchtiger Körperbau
Kamaulerleder und schwarz gegerbt. Bedeutungsvoll schlug er es auf, blätterte wie suchend darin umher, ignorierte geflissentlich eine Reihe von Eintragungen, die sie betrafen, und meinte dann: »Nach meinen Aufzeichnungen hast du vor zwei Monden das letzte Mal bezahlt, Alte!« Sie stoppte den gleichmäßigen Tritt am Spinnrad und blickte ihn nun doch an. Die von einem groben Tuch gebändigten Haare waren silbergrau, ihre Augen hell. Viele tiefe Falten hatten sich wind- und wetterbedingt in den Gesichtszügen einquartiert. Sie mochte einmal eine hübsche Frau gewesen sein, vor vielen Jahren. Doch heute war sie nur noch eine alte Vettel, zu nichts mehr von Nutzen, als mit ihren gichtigen Fingern ein oder zwei Wollbündel pro Tag zu spinnen. »Du lügst, Heshaa!«, sagte sie ruhig. »Ich begleiche immer pünktlich meine Schulden.« »Sei vorsichtig mit deinen Worten, Alte! Du kennst meine Befugnisse. Ich halte dein Leben in meiner Hand.« »Ja!«, lachte sie bitter. »Und du hast zwei Schergen dabei, die mir auf dein Geheiß hin den Schädel spalten würden. Aber du kannst mich nicht schrecken, Heshaa. Nicht mehr. Ich bin für Angst zu alt geworden.« Sie log nicht, er sah es ihr an. Seine kleinen Spielchen, mit denen er sich ab und zu – nein, eigentlich fast immer! – ein paar Kupferstücke zusätzlich verdiente, verfingen bei der Alten nicht. Es ärgerte ihn. Er wusste nur zu gut, dass sie als heilkundige und weise Frau bewundert wurde. Viele der armseligen Gestalten, die in Wudans Feuerfeldern hausten, kamen hierher und erhofften sich Rat. Es gab keine offizielle Handhabe für Kahagee, die Spenden, die sie dafür erhielt, einzuschätzen und den Zehnt einzutreiben. Nun gut. Wenn sie keine Angst vor ihm hatte... es gab auch andere Möglichkeiten, sich Respekt zu verschaffen. Mit spitzen Fingern klappte er das Finanzbuch zu und deutete mit einer
knappen Geste einem seiner beiden Begleiter, zu ihm aufzurücken. »Ja?«, fragte der Mann, hustete und spuckte aus. Die schlechte Luft, die hier so dick war, dass man sie fast schneiden konnte, plagte fast alle Bewohner des südlichen Weean. Kahagee beugte sich zu seiner Seite und flüsterte ihm ins Ohr. Dann schnalzte er mit der Zunge, ließ die Peitsche knallen und bracht e die beiden Haflaas mühselig dazu, sich bergab zu bewegen. Nur wenige Momente später hörte er das Singen schartiger Schwerter und trockenes Knacksen, gefolgt vom lauten Wehklagen der alten Frau. Nun, Kahagee hatte ihr nichts getan, und er hatte auch nicht s gesehen, so wie es der guten alten Heshaa-Tradition entsprach. Er hatte lediglich Sorge getragen, dass ihr Spinnrad nicht mehr richtig funktionierte und ein paar Finger gebrochen waren. Die Alte würde nie mehr für ihren Unterhalt sorgen können. Der Zehnt-Entgang, diese paar Krümel, waren zu verschmerzen. Er hingegen hatte die fröhliche Gewissheit, sie in den sicheren Hungertod getrieben zu haben. Mit den milden Gaben, die sie für ihre wunderlichen Ratschläge erhalten hatte, war es wohl vorbei. Wer würde schon einer Wunderheilerin Glauben schenken, die zum Krüppel geschlagen worden war? Kahagee kramte nochmals sein Finanzbuch hervor, suchte die pedantisch geführten Eintragungen über die Alte und zog einen dicken schwarzen Schlussstrich. Er setzte sein Kürze l und fügte, so wie es seit jeher Usus unter den Heshaas war, hinzu: »In die Frühpension geschickt«.
Orguudoos Schlund machte sich wieder einmal bemerkbar.
Mehr als drei Wochen lang war er ruhig geblieben, hatte nur ab und an ein paar Schwefelwolken gerülpst und Asche gespuckt. Doch jetzt... Kahagee spürte feine Vibrationen unter seinen ledernen Stiefeln. Die leichten Bodenstöße kündeten von möglichen Eruptionen. War dies der Vorbote für weitaus schlimmere Geschehnisse, so wie sie alle zehn, fünfzehn Jahre über Weean hereinbrachen? »Haltet die Haflaas im Zaum«, herrschte er seine beiden bewaffneten Begleiter an. Hastig nahm er dem alten Kamaulerhirten Franc vor dessen Hüttenverschlag den mageren Beutel mit dem Zehnt ab. Gegen seine Gewohnheit zählte Kahagee die Kupfermünzen nicht nach. Er wollte so rasch wie möglich wieder festen Boden unter die Füße bekommen. Die Menschen am Rande von Wudans Feuerfeldern mochten den Zornesausbrüchen der Götter mit Gleichmut begegnen; er hingegen hatte keine Lust, von einer plötzlich aufklaffenden Erdspalte verschluckt zu werden. »Ich komme wieder, wenn die Summe nicht stimmt!«, drohte er dem alten Hirten und eilte zurück zum Karren. Er kletterte auf den Bock und ließ die Peitsche auf die krummen Rücken der Haflaas knallen. »Auf, ihr hässlichen Ungetüme! Bewegt euch! Zurück zur Straße!« Widerwillig schnaufend gehorchten die Tiere. Sie hatten spürbar Angst und wollten nicht zurück auf die Triste Straße, die nahe am Vulkan vorbei führte. Die Erdkruste stöhnte und platzte auf. Platten schoben sich übereinander, links von ihm, nur wenige hundert Meter entfernt. Gelbrotes, flüssiges Gestein drang blubbernd hervor. Ein Schwall heißer Luft wehte über den Heshaa hinweg. »He, kommt zurück!«, brüllte Kahagee seinen Begleitern hinterhe r, deren Frekkeuscher mit weiten Sprüngen das Weite suchten. »Ihr verlausten Hurenböcke, na woads, wann i eich darrwisch!« Unwillkürlich fiel er in Weeaner Dialekt, den er sonst so sehr verachtete.
Seine Flüche verhallten ungehört. Die beiden Feiglinge waren dahin. Seine Haflaas waren nur mit Müh und Not zu kontrollieren. Hätte er doch nur andere, gehorsamere Tiere! »Schneller, verdammt! Findet ihr denn nicht den Weg, ihr Blindschleichen?« Immer wieder ließ er mit aller Kraft die Peitsche niedersausen und hielt damit die beiden Zugtiere mühsam auf Kurs. Kreatürlicher Instinkt befahl den Haflaas, in die dem Lavaausbruch entgegengesetzte Richtung zu fliehen. In das von verborgenen Rissen durchzogene und unbewirtschaftete Land, in dem sie keinen Steinwurf weit kommen würden. Sie mussten unbedingt auf der Straße bleiben! Die aus der Erdoberfläche gesprengten Platten hoben sich hoch und höher, falteten sich mit hässlichem Geräusch in den Himmel. Neue glutrote Risse entstanden und zerfurchten den geplagten Untergrund. Kahagee schwitzte. Er schwitzte wegen der Hitze, wegen der Kraft, die er einsetzte, um die Zugtiere vorwärts zu peitschen, und wegen der Angst. Binnen weniger Minuten war eine zehn Meter hohe Blase am Fuß von Orguudoos Schlund entstanden, unter der es arbeitete und rumorte. Träge Flüssigkeit drang hervor. Sie jagte seinen Karren, leckte gierig nach den hölzernen Rädern. Die Haflaas wieherten verzweifelt. Sie wandten ihre hässlichen Köpfe nach links und rechts, spürten wohl die Hitze zu ihren Füßen. Ihre Augen wollten schier aus den Höhlen springen vor Angst. »Rascher! Macht schon!« Wieder schlug der Heshaa mit der Peitsche auf sie ein. Hoch aufgerichtet stand er nun auf dem Kutscherbock; erste blutrote Striemen wurden auf den muskulösen Rücken der Tiere sichtbar. Die Hitze leckte nach den Haflaas. Die Lava fuhr ihnen über die Hornzehen, sodass sie verzweifelt aufschrien. Sie waren
nicht mehr zu halten, brachen nach rechts hin aus, einem sicheren Unglück in den tiefen Erdspalten entgegen... Das Grollen endete. So plötzlich, wie sich Orguudoo gemeldet hatte, so plötzlich erlosch auch sein Interesse wieder. »Hoo!«, brüllte Kahagee und fuhr den Haflaas heftig in die Zügel. Niemals hätte er sie stoppen können, wenn die Tiere nicht selbst gespürt hätten, dass es vorbei war. Doch so blieben sie stehen und begannen ruhig am kargen Gras zu kauen. Kahagee warf sich erschöpft zurück und wischte den Schweiß von der Stirn. Er drehte sich um. Ein kleiner Hügel war entstanden. Seine Flanken erkalteten langsam. Das rote und gelbe Leuchten der Feuerglut erlosch langsam. Lediglich ein grüner Schimmer blieb. Ein grüner Schimmer?
Mut war keinesfalls eine der Charakterstärken Kahagees. Doch Gier war eine Triebkraft, die alle anderen Beweggründe überwog. Langsam näherte er sich dem grün leuchtenden Hügel. Ein letzter Rest von Vorsicht bewog ihn, seine Schritte genauestens abzuwägen. Das Feuer konnte jederzeit wieder aus der Erde hervorbrechen und ihn verschlingen. Das grüne Leuchten – es ist ein Schatz!, dachte er. Mein Schatz! Er konnte es spüren. Zitternd öffnete und schloss er die Finger, griff über imaginäre Reichtümer. Sein Puls schlug so heftig, dass er ihn am Hals pochen spürte. Dies war ein Schatz, den ihm die Götter schenken wollten. Er war ein Sohn der Hohen Mächte, das wusste er nun.
(Was ist ein Schatz?), hörte Kahagee erstmals in seinem Leben die kühle Stimme in seinem Geist. (Und wo ist meine symbiotische Einheit?) Du bist mein Schatz, antwortete der Heshaa lautlos, ohne weiter über die Konsequenzen nachzudenken. Das alles beherrschende Grün füllte seinen Geist aus und ließ keinen Platz mehr für andere Gedanken. Ich werde für dich sorgen; vergiss diese symbiotische Einheit. Der Daa'mure schwieg, während sich Kahagee dem neu entstandenen Hügel immer weiter näherte. Da war er, sein Schatz. Vielleicht lag er schon seit Generationen bereit für ihn, wartend auf diesen einen magischen Moment, da er vorbeikommen würde. Eine halbe Körpergröße war er lang, kristallin und wunderschön. Das grüne Leuchten musste direkt aus seinem Inneren stammen. Schwarzrot gebackenes Vulkangestein lag ringsum. Der Schatz hatte die Hülle, die ihn verborgen gehalten hatte, gesprengt. Mit sanften Fingern fuhr Kahagee an den Kanten des Kristalls entlang. Es war nicht nur die äußere Schönheit, die ihn faszinierte. Die Berührung entfachte eine Leidenschaft, eine Gier für den Geist, der darin ruhte. Mein Schatz... Der Heshaa packte die Basis des Kristalls und zog ihn zu sich hoch. Er stemmte das Gewicht, als wäre es ein Federkissen und nicht ein mannsschwerer Brocken, den er schleppen musste. Er bemerkte weder das Blut, das aus den aufgeplatzten Fingerkuppen strömte, noch die Abdrücke der Kanten, die sich in seine Haut prägten. Er sah nur den hellen, grün leuchtenden Geist namens Elge'leq'thein, der ihm entgegen strahlte...
Weean, 2516 »Ich hasse Weean, und ich hasse die Weeaner«, brummte Kridi. Er zog mit den sogenannten Löffelzügeln heftig an den empfindlichen Ohren der beiden Mulas* und zwang sie so, die hölzerne Brücke zu begehen. »Warum, Meister?« Caai, der junge und baumlange Lehrling, saß an seiner rechten Seite. »Sie sind ein rechthaberisches Barbarenvolk, untereinander zerstritten, und betrachten sich dennoch als den Nabel der Welt.« »Tut denn das nicht jeder?«, fragte der Junge mit überrasche nder Aufgeklärtheit. Er nuschelte, denn er war soeben bei seiner Lieblingsbeschäftigung. Ähnlich einem Kamauler aß er alles in ungeheuren Mengen – und wurde dennoch um kein Gramm fetter. Nur immer länger. »Natürlich«, antwortete Kridi. »Aber andere Völker haben ein Recht, stolz auf ihre Leistungen zu sein. Sie leben nicht in Schutthöhlen, und sie murksen sich nicht gegenseitig wegen Kleinigkeiten ab. Vorwärts, ihr Langohren!« Die schweren hölzernen Bohlen knarrten unter den Tritten der Zugtiere. Nichts hatte sich in den letzten sechs Jahren geändert. Er war mit seinen Begleitern wieder einmal auf die langgezogene Insel inmitten der Duuna geleitet worden, weitab des Stadtzentrums. Was hatte er diesen vier lächerlichen Stadtfürsten und deren großsprecherischen Bonzen gepredigt, sie mögen doch endlich größere Flächen der Stadt vom Schutt befreien, um Platz für Neues zu schaffen! Mehr Platz bedeutete mehr Menschen,
*
Maultiere, die mittels eingeknipster Zügel über die langen empfindlichen Ohren gesteuert werden; zottelige, störrische Pflanzenfresser mit kurzen Beine, vorstehenden Oberzähnen und einem langen elastischen Schwanz
mehr Menschen bedeuteten höhere Sicherheit, mehr Einkommen und damit auch mehr Steuern. Waren tatsächlich schon wieder ein halbes Dutzend Jahre vergangen, seitdem er diesen entlegensten Ort, den die Merkantoren bereisten, das letzte Mal gesehen hatte? Die Mulas taten die letzten Schritte über die Brücke und Kridi spürte die Anspannung von sich abfallen. So etwas wie ein Gefühl von Sicherheit erfasste ihn. Er ließ den Wagen nach links ausscheren und beobachtete, wie sich das Gefolge, zwanzig Wagen insgesamt, auf der Insel sammelte. »Bildet dort vorne eine Wagenburg!«, rief er über die Versammelten hinweg. Er deutete auf eine freie Fläche auf dem meist dicht bewaldeten, aber ebenen Gelände. »Caai wird euch die Plätze zuweisen!« Er nahm dem Jungen die Reste des gestrigen Tofanen-Boonar-Eintopfs weg und stupste ihn vom Wagen. »Sollen wir das große Händlerzelt aufbauen?«, fragte sein Lehrling schmatzend. »Morgen erst, mein Junge. Heute ist es bereits zu spät. Wir begnügen wir uns mit den Reisezelten.« »Schade«, sagte Caai enttäuscht und machte sich an die Arbeit. Kridi indes löste das Geschirr von den beiden stämmigen Mulas und ließ sie frei grasen. Sie würden Essek dem Leittier folgen, sich noch in der Nacht zu einer Herde finden und am nächsten Morgen wieder bereitwillig einfangen lassen. Dann eilte er zum Wagen der Frauen, wo er seine Angebetete wusste. Die Wehen standen kurz bevor. Der Quacksalber und eine Amme wichen keinen Moment von ihrer Seite. So sehr er das Ungeborene bereits liebte – er fluchte bei dem Gedanken, dass es hier, in der Wildnis zur Welt kommen würde. Fernab von den zivilisierten östlichen Ländern. Fernab von den heimatlichen türkischen Steppen mit ihren
immergrünen Gräsern, den imponierend hochragenden mektep, den Horten des Wissens und den unvergesslichen landschaftlichen Schönheiten, die ihnen Kristo ve Floyy überlassen hatte. Er seufzte laut. Wann würde er die Heimat wohl wiedersehen?
Nachts »Schweig still, Sohn einer Hure, sonst wirst du deine Heimat nie mehr wiedersehen«, flüsterte die barbarische Stimme. Kridi war sofort hellwach, doch er wagte nicht sich zu bewegen. Er spürte eine schartige Klinge, die über seinen Adamsapfel kratzte. Er öffnete die Augen und blickte starr geradeaus. Durch den Spalt, den zweifellos ein Schwert in das Zeltleinen geschlagen hatte, sah er vorbeihuschende Gestalten, die die Nachtfeuer mieden. Sie schalteten eine Wache nach der anderen aus, schnitten ihnen erbarmungslos die Kehlen durch. Ab und zu drangen erstickte, gurgelnde Geräusche an sein Ohr. Doch keiner der Schlafenden bemerkte etwas. Zu vorsichtig handelten die Meuchler. Zornig, mit Tränen in den Augen, ballte Kridi die Hände zu Fäusten. Er war machtlos. Seine Frau und – bei allen Göttern! – sein ungeborenes Baby der Willkür blutdürstiger Barbaren überlassen... Ein Pfiff ertönte. »Gut gemacht!«, sagte die Stimme hinter ihm, nunmehr mit voller Lautstärke. Ein nasales, hochnäsig klingendes Organ. »All deine Wachen und Krieger sind ausgeschaltet, Merkantor. Befiehl deinen Dienern und Weibern, dass sie sich für den
Aufbruch bereitmachen sollen. Wir haben keine Zeit zu verlieren!« Kridi wurde von kräftigen Armen hochgezogen. Neben ihm taumelte Caai in die Höhe. Eine breite, blutende Wunde zog sich über seine rechte Wange. Der junge Narr hatte sich wohl gewehrt und sich ein Andenken eingehandelt! Er konnte froh sein, dass er noch lebte. Mehrere grobschlächtige, stumpf blickende Gestalten bevölkerten das Reisezelt. Im Hintergrund, außerhalb des Lichterscheins ihrer Bettfunzel, stand ein weiterer. Ein schlanker Mann. »Was wollt ihr von uns?«, fragte Kridi ihn. Er konnte den offensichtlichen Befehlshaber der Banditen nicht erkennen, doch dessen Stimme kam ihm vage bekannt vor. »Ich will dein Wissen, Merkantor!«, zischte der Mann und trat ins Licht. »Und zwar ohne dass ich dafür zahlen muss.« »Ich... kenne dich!«, sagte Kridi und wurde blass. »Falsch!«, antwortete der Fineberer, dessen Augen grün funkelten. »Du wirst mich erst richtig kennen lernen!«
Am Kratersee, Teil 1 Ora'sol'guudo betrachtete den Encephalorobotowitsch* mit seinen beiden neuen Sehorganen. Die ontologisch- mentale Substanz eines Primärrassenvertreters namens Nikaati'rostow war in den anorganischen Strukturen verankert worden. Genauer gesagt: das Hirn des ehemaligen Nikaati'rostow. Nüchtern analysierte *
russische Entwicklung, die nahezu Unsterblichkeit garantiert: das Gehirn eines Menschen auf einem Robot-Körper; einzig das aufgezogene plastinierte Gesicht des Toten ist individuell
der Sol die Bauweise des Wesens, das dem eines Primärrassenvertreters entfernt ähnlich sah. Ora'sol'guudo erkannte auf Anhieb in dem Wirrwarr aus Blech- und Kunststoffplatten, Gestängen, Schrauben, Lamellen, Federn, Nieten und Scheiben mehr als sieben mal sieben Ansatzpunkte zu einer möglichen substanziellen Verbesserung des Wesens. »Sie sind in einem mentalen Zustand, der als fehlerhaft und schadensanfällig zu betrachten ist«, sagte er mit jener tiefen Stimme, die er seit mehreren Stunden nutzte. Die Reste biologischer Substanz des Encephalorobotowitsch, die von einem partiell transparenten Kopfgefäß umfasst wurden, waren bleich und welk. Sie wurden von einer trüben Flüssigkeit umspült. Nikaati'rostow bewegte eben diesen »Kopf« nach oben und unten. Ein Nicken. Also eine Bestätigung seiner Aussage. »Wenn Sie fragen, ob es mir schlecht geht, so ist die Antwort: Ja.« Warum nickte der Encephalorobotowitsch und antwortete gleichzeitig mit »Ja«? Hoben sich zwei positive Antworten auf? War dies jene Form von Aussage bei den Primärrassenvertretern, die man als Zynismus zu verstehen hatte? Oder war es schlichtweg so, dass der OrganischAnorganische in seinem Denken zu primitiv war, um seinen Gemütszustand mit einer einzigen sparsamen Gestik zu beschreiben? Ora'sol'guudo machte eine geistige Notiz. Er musste diese Menschen noch genauer beobachten, um ihr Verhalten imitieren zu können. »Würde es Ihr Befinden verbessern, wenn wir Annehmlichkeiten für Sie beschafften, Nikaati'rostow?« Gleichzeitig griff der Sol nach der ontologisch- mentalen Substanz seines Gegenübers. Er spürte Myriaden von elektrischen Entladungen, die von einem Nervenknoten zum
nächsten sprangen, filterte die für ihn notwendigen Denkzentralen heraus und übte leichten Druck aus. Langsam, unmerklich schlich er sich in das Denken des Gegenübers und beeinflusste es. Eine leichte Übung für einen Sol... »Genug!«, brüllte der Encephalorobotowitsch und wich zwei Schritte zurück. Die Bewegungen seiner Kunstglieder waren unkontrolliert, doch er fiel nicht. »Ich weiß, was Sie vorhaben, Sie... Bestie!« Abwehrende Gedanken bildeten eine Art Wall rund um das geistige Zentrum des Organisch-Anorganischen. Die Schutzmauer war nicht sonderlich stabil, ganz im Gegenteil: Das verteidigende Nervengeflecht wirkte in etwa so fragil wie die Küstenlandschaft ringsum mit all ihren karstigen Riffen, Buchten und tiefen Höhle n. Der Encephalorobotowitsch war angreifbar und verletzlich. Keine ernsthafte Herausforderung für ihn, den Sol. Doch eine zweite Linie stand hinter dieser hingebungsvollen und dennoch lächerlichen Verteidigungsbereitschaft. Wie sollte er es bloß benennen, dieses zweite Bollwerk, das gegen eine sinnvolle Beeinflussung von seiner Seite errichtet war? Ja, richtig. Das Wort hieß: Wahnsinn. Geistige Entrückung in einen Zustand, der Ora'sol'guudos Wunsch nach mehr Wissen diametral gegenüber stand. Doch was interessierte den Sol die psychische Gesundheit eines Primärrassenvertreters? Zumal das Wesen ohnehin nur noch aus diesem geringen Rest biologischer Substanz bestand... (Est'sil'bowaan!), rief er auf telepathischer Ebene. (Ja?) Der Sil, der bislang gute Arbeit geleistet hatte, rührte sich augenblicklich. (Ich wünsche, dass Nikaati'rostows ontologisch-mentale Substanz erforscht wird. Nehmt ihm alles Wissen.) (Selbst auf die Gefahr hin, dass...) (Selbst auf die Gefahr der Aurenschmelze hin, ja.) Ora'sol'guudo wandte sich von dem Mischwesen ab. Andere
Daa'muren würden sich um es kümmern. Er hatte wichtigere Dinge zu erledigen.
In den letzten Wochen und Monaten hatte sich vieles geändert für Matt. Die Bedrohung der Menschen hatte einerseits einen Namen – und auch eine Art Gesicht erhalten. »Daa'muren«, murmelte er und hustete verhalten. Aruula neben ihm schlief tief und fest. Seither formierten sie den Widerstand gegen diesen Gegner. Widerstand, der selbst räumliche, moralische und ethische Grenzen zwischen den Machtblöcken dieser postapokalyptischen Erde zu überwinden schien. Landesgrenzen hatten im Staub vergangener Jahrhunderte längst ihren Sinn verloren. Heute zählte nur noch das Überleben in einer menschenfeindlichen Welt – und die Bekämpfung des unheimlichen Gegners, der seine Kräfte rund um den Kratersee sammelte. Queen Victoria und die englischen Communities standen in vorderster Front in ihrer Unterstützung für den nahenden Krieg. Aber selbst der Weltrat im fernen Meeraka zog mit – was Matt persönlich erstaunte. Vor allen Dingen General Arthur Crow schien die außerirdische Bedrohung regelrecht geläutert zu haben. Trotzdem traute er den Halunken von der WCA nicht. Schon gar nicht, seit Crow nach Präsident Hymes' tragischem Tod selbst an der Spitze der Regierung stand. Und erst recht nicht, seit er, kaum im Amt, einen Angriff auf Miki Takeos Enklave in El'ay befohlen hatte, um die technischen Errungenschaften des Androiden einzusacken. Nur eine schnelle Intervention der restlichen Allianz hatte seinen
Vormarsch gestoppt. Früh genug? Das konnte niemand hier beurteilen... Wo würden die Daa'muren zuschlagen? Was hatten sie vor? Unruhig wälzte sich Matt zur Seite. Er zog die dünne, aber wärmende Decke über seinen nackten Rücken. Auch die Reisen, die ihn quer durch Europa führten, hatten eine neue Qualität erreicht. War er früher – ähnlich wie bei einer Schnitzeljagd – den Ereignissen hinterher gelaufen und hatte dabei lediglich dürftige Informationen gesammelt, so besaß er heute eine Basis in London, von der aus er Hinweise sammelte, auswertete und dann entschied, wohin er sein Augenmerk richten würde. Dabei war seine Rolle eigentlich der Führung der Allianz untergeordnet. In Euree übten Queen Victoria und die Oktaviate von London und Salisbury diese Funktion aus, unterstützt von sämtlichen verbündeten Bunkervorständen, Häuptlingen und Staatsfürsten. Ruland, Meeraka, Nipoo und diverse eigenständige Völker wie die Nosfera oder Hydriten – und auch die Cyborgs und Androiden aus Amarillo und El'ay – bildeten eigene Machtblöcke, koordinierten ihr Vorgehen aber mit London. Matt stand quasi zwischen allen Stühlen – oder vielmehr, er saß darauf. Der Mann aus der Vergangenheit war sozusagen das Bindeglied der alliierten Blöcke. Bei seinen Reisen hatte er fast überall Freunde oder Verbündete gefunden. Sogar das menschenscheue Meeresvolk der Hydriten betrachtete ihn als Freund. Und nicht zuletzt kannte kaum jemand die Daa'muren so gut wie er. Mit diesem Rückhalt konnte er innerhalb der Allianz selbst entscheiden, welche Aufgabe er für dringlich hielt. Dafür stand ihm ein Team zur Seite, bestehend aus der Kommandantin und Pilotin Captain Selina McDuncan, dem Aufklärer Corporal Andrew Farmer und dem Navigator Corporal Steve Bolton. Ihr ursprünglicher Pilot Lieutenant
Peter Shaw lag im Hospital der Londoner Community. Ein verrückter Nosfera hatte ihm in Mailand mit einem ElektroSchocker eine grässliche Wunde im Gesicht beigebracht und sein rechtes Auge zerstört. Noch vor wenigen Wochen hatte Matthew Drax vorgehabt, Rom einen neuerlichen Besuch abzustatten und die dortige Bevölkerung über die Daa'muren zu informieren. Ein einziger dürftiger Hinweis hatte ihn jedoch dazu bewogen, stattdessen nach Wien – oder Weean, wie es heutzutage hieß – zu reisen. »Ein grünes Leuchten hängt über der Stadt«, wiederholte Matt leise die Worte eines verhörten Kriegstatters. Er setzte sich auf und nahm einen Schluck Wasser. Der EWAT schlingerte. Eine leichte Turbulenz. Kein Grund zur Besorgnis. Selina ist eine ausgezeichnete Pilotin. Was mochten die Daa'muren in der ehemaligen österreichischen Bundeshauptstadt für Teufeleien aushecken? Nur wegen des guten Weines würden sie wohl kaum ihre Zelte dort aufschlagen. Er hustete und kratzte sich nervös an Brust und Oberarmen. »Es reicht!«, sagte Aruula plötzlich zornig. Sie stand mit einer fließenden Bewegung auf, riss die Decke an sich und ging zum hintersten Segment des EWATs. »Ich... ich dachte, du schläfst?« »Das habe ich auch. Aber was nützt der tiefste Schlaf, wenn sich nebenan jemand wie ein Kamauler in der Suhle hin und her wälzt? Wenn du mich suchst – ich schlafe da hinten weiter.« Und weg war sie. Matt seufzte und warf sich zurück ins Bett. Aruula hatte Recht. Er zermarterte seinen Kopf, suchte nach Lösungen für die Vielzahl an Problemen und beschäftigte sich ständig mit der schweren Last, die er auf seinen Schultern fühlte. Und darüber vernachlässigte er Aruula.
Es musste ihm endlich gelingen, einen Teil der Verantwortung abzugeben! Ob es Mister Black, der drüben in Moskau das Kommando führte, genauso erging? Auch wenn er den dunkelblonden Hünen durchaus mochte, war Matt froh über die Entfernung, die zwischen ihnen lag. Sie waren nun mal beide Alpha-Tiere und hatten sich schon öfters in den Haaren gelegen. »Störe ich, Commander?« Matthew zuckte zusammen. Selina McDuncan, der Captain der Londoner Bunker-Community, war leise an sein Bett getreten. »Keineswegs, Selina.« Matt richtete sich erneut auf. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht und spürte gleichzeitig den forschenden Blick der Frau, der über seinen nackten Oberkörper glitt. Er ignorierte ihn geflissentlich. »Was gibt es Neues, Captain?« »Wir nähern uns Weean«, sagte sie. »Der Stadtrand müsste gemäß des ISS-Kartenmaterials in einer halben Stunde Flugzeit vor uns auftauchen.« »War der Flug ruhig?« Die Frau fuhr sich müde über das Gesicht. »Keine besonderen Vorkommnisse«, sagte sie mechanisch, wie es ihrer militärischen Ausbildung entsprach. »Wie macht sich Steve?«, fragte Matt. Steve Bolton hatte früher schon Einsätze mit ihnen absolviert, daher hatten sie auf ihn zurückgegriffen, um nach Peter Shaws Ausfall die Besatzung aufzustocken. »Alles okay mit ihm«, antwortete Selina. »Er hat InfrarotFotos für eine spätere Auswertung geschossen, wie gewöhnlich. Dort unten im Voralpengebiet gibt es kaum Anzeichen menschlichen Lebens. Das Flachland ist öd und menschenleer.« Matt blickte auf die Uhr. Es war sechs Uhr morgens. Kurz vor Sonnenaufgang. »Na gut«, sagte er seufzend. »Dann gehen
wir's an. Schlafen kann ich ohnehin nicht mehr.« Er warf einen bedauernden Blick nach hinten zum letztem Segment und stand auf. Ein neuer Tag brach an, und wie gewöhnlich würde er haufenweise Überraschungen mit sich bringen.
»Ist das etwa die Donau?«, fragte Selina McDuncan. Sie deutete hinab auf das nahezu dreihundert Meter breite, aber sehr flache Gewässer, das von Westen kommend Richtung Stadt floss. Im Hintergrund, von einigen vorgelagerten Hügeln verdeckt, erahnte Matt den Vulkan, der Wien im Vergleich zu den alten Londoner Karten ein neues Erscheinungsbild gab. Dunkle gelbliche Wolken schwebten über dem Süden der Trümmerstadt. »Sir?«, unterbrach Selina seine Überlegungen und wiederholte die Frage: »Ist das die Donau?« »Nein«, antwortete Matt. Auch er war irritiert – das riesige breite Gewässer dort unten hatte nichts mehr gemein mit dem harmlosen Bach auf ihren alten Karten und Fotos. Er blätterte in den Londoner Aufzeichnungen. »Das ist der Wien-Fluss. Die Bachbett-Regulierungen sind wahrscheinlich längst weggebrochen. Momentan führt der Strom wohl Hochwasser.« Es gab viele kleine Inseln darin, umgeben und umrandet von urtümlichen Auwäldern. Da und dort standen einsame Gehöfte mit ein wenig urbarem Land, meist in Hanglage und dicht an die Hügel des Wienerwaldes gepresst. »Dort ist eine Mühle«, sagte Corporal Steve Bolton und zeigte mit dem Finger auf einen Hof, der auf einem der Plasmamonitore sichtbar wurde. Ein riesiges Holzrad bewegte sich behäbig und schaufelte Wasser. Matt musterte den Navigator. Bolton war ein schweigsamer junger Bursche von etwa fünfundzwanzig Jahren, ungefähr so
groß wie er, aber schmaler gebaut. Seine erst spärlich nachgewachsenen Haare waren dunkelbraun. Matt hatte bislang den besten Eindruck von Bolton. Er war aufgeweckt und fähig zu selbständigem Handeln. Lediglich General Yoshiro, der alte Wadenbeißer, der immer und überall nach Fehlern suchte außer bei sich selbst, hatte in der Akte des Corporals kleinere Schwächen angemerkt. »Eitel, manchmal zu strebsam und einige Male durch Eigenwilligkeiten im Dienst aufgefallen«, stand da geschrieben. »Was sollen wir Ihrer Meinung nach tun, Steve?«, fragte Matt. Bolton blickte konzentriert auf die Bildschirme. Mehrere kräftige Männer waren trotz der frühen Morgenstunde bei ihrer Arbeit zu beobachten. Einige droschen mit langen Flegeln Wintergetreide, während andere mit schweren Korn- und Mehlsäcken beladen zwischen der Mühle und einem Kutschwagen hin und her pendelten. Die Menschen waren meist hellhäutig und grobschlächtig. Sie arbeiteten methodisch. »Sollen wir die Landung riskieren? Sehen Sie eine Gefahr?«, hakte Matt nach. »Primitive Landwirtschaft... Bauern... Ich glaube nicht, dass wir dort unten etwas zu befürchten haben«, antwortete Steve Bolton langsam. »Aber wir sollten den Menschen auf dem Landweg entgegen fahren. Der EWAT dürfte ohnehin bedrohlich für sie aussehen, und wenn wir dann auch noch fliegen...« »So machen wir's. Danke, Corporal.« Matt nickte Selina McDuncan zu. Aruula kam soeben ins vordere Segment und setzte sich kommentarlos neben Matt. Sie lächelte ihn keck an und ließ die lange Haarmähne wie unbeabsichtigt über seinen Rücken gleiten. Die Spitzen kitzelten ihn, und sie roch gut, so verdammt gut... Matt musste seine Konzentration wieder auf
die Plasmamonitore und die Direktsicht durch das Bugfenster zurück zwingen. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand Selina den Weg nach unten. Sie steuerte einen schmalen, kaum sichtbaren Pfad links des Flusses an. Die Navigationshilfe mittels LaserSensoren half ihr, den EWAT zwischen den Baumriesen durchzuschlängeln und nahezu ruckfrei zu landen. »Voilà«, sagte sie, und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihre Hände zitterten. Seit mehr als zwölf Stunden waren Selina und Steve im Einsatz. Es wurde Zeit, ihnen eine Ruhepause zu gönnen. »Langsame Annäherung an die Mühle«, befahl Matt. »Nicht mehr als zehn Stundenkilometer, sobald wir in Sichtweite sind.« Selina nickte knapp. Der EWAT glitt trotz seiner Länge geschmeidig wie eine Schlange auf dem schmalen Weg entlang. Eine letzte weitgezogene Kurve noch, um einen vorspringenden Hügel herum, dann würden sie die Mühle erreichen. Eine Erstbegegnung mit der ansässigen Bevölkerung wie diese hatten sie schon dutzendfach durchexerziert, und dennoch packte Matt immer wieder die Spannung. Zu unterschiedlich reagierten die sogenannten »Barbaren« auf das technische Monstrum namens EWAT, das jenseits ihrer Vorstellungskraft sein musste. Manche Stämme waren entsetzt geflüchtet. Manche waren auf sie zugekommen und hatten den Panzerwagen ehrfürchtig betastet. Und es gab noch eine dritte Möglichkeit... Was würde sie diesmal erwarten? Die Schnauze des EWATs bog um die Ecke, und – nach einer Sekunde des Staunens griff das Dutzend Männer, das sie erblickte, zu den Waffen. Sie stürmten blindlings auf das Fahrzeug zu.
»Variante drei«, seufzte Matt. »Die dümmste von allen«, ergänzte Selina. »Dummheit gilt hier offensichtlich mehr als Vorsicht.« »Vor vier Jahren hätte ich ebenso wie diese Männer reagiert«, warf Aruula ein. Sekunden später prasselten die ersten Schläge und Stöße auf den EWAT ein. Das Fahrzeug dröhnte wie eine Glocke. Einige der Weeaner hatten kreischend vor Zorn den Wagen erklettert. »Einen Stromstoß nach außen«, befahl Matt. Steve Bolton nickte. »Aye.« Die Spannung mehrerer Stromkreise wurde in die TitanCarbonat-Außenhülle des EWAT geleitet. Diese war zwar ein äußerst schlechter Leiter, doch für ein ordentliches Durchrütteln der blindlings anstürmenden Männer würde es vollauf genügen. »Skraps! Skraps!«, schrien die Barbaren. Sie schlugen mit Steinen, Dreschflegeln und bloßen Fäusten auf das Fahrzeug ein – bis sie von einem Moment zum nächsten verstummten und paralysiert zu Boden stürzten. »Das sollte genügen«, seufzte Matt. »Jetzt kommt der Auftritt des großen Monster-Bändigers und seiner bezaubernden Begleiterin.« Er grinste und nahm Aruula galant am Arm. »Nimm zur Sicherheit dein Schwert mit. Falls unsere Freunde dort draußen noch immer nicht genug haben.« Selina McDuncan öffnete die Heckschleuse.
Es wurde einfacher, als sie erwartet hatten. Das anfängliche Misstrauen der Barbaren schwand rasch, als sie sich davon überzeugt hatten, dass der »Lindwurm« von menschlichen Wesen gelenkt wurde. Die Männer, deren grässlicher Dialekt eine gewisse Ähnlichkeit zur deutschen Sprache aufwies,
erwiesen sich als rau, aber herzlich – und durchaus dankbar dafür, dass sie ihr schweres Tagwerk angesichts der überraschenden Gäste nach hinten verschieben durften. Mehrere Doppelliter eines Weißweins namens »Veltin« taten ihr Übriges. Bereits gegen Mittag war die Stimmung ausgezeichnet. Niemand nahm Matt und seinen Begleitern den kleinen Stromstoß übel. Frischfleisch wurde heran gekarrt, Tofanen und Wurzelgemüse gekocht, und manch einer der Knechte vergnügte sich zwischendurch mit seinem Liebchen hinter den Büschen am Wasser. »Wir nennen uns Skraps«, sagte der Müller. Sein Name war Aschyl. Er hatte sich in einen Fleischschlögel verbissen und kaute energisch darauf herum. »Skraps ist die Bezeichnung für unsere Herkunft. Wir sind das Westvolk«, meinte er stolz in nahezu verständlichem doyz. »Unsere Farbe ist das Grün der Wälder ringsum.« »Gibt es noch andere... Völker, die sich Weeaner nennen?« »Du musst tatsächlich von weit her sein, wenn du das nicht weißt«, antwortete Aschyl und hieb Matt lachend auf den Rücken. »Es gibt natürlich noch die schwarzberockten Fjacks, die düsterblauen Fineberer und die roten Emmaas. Zahlenmäßig mögen sie gleich viel wie wir oder gar mehr sein, doch es heißt nicht umsonst: ›Ein Skrap ist vier Leute!‹« Aschyl lachte, als wäre ihm ein besonders guter Scherz gelungen. Dann schrie er: »Augustin! Wo bist du?!« »Wer ist Augustin?«, fragte Matt neugierig. »Dort!« Aschyl deutete mit seinem Fleischschlögel auf einen Mann mittleren Alters. Der Dunkelhaarige stand gut im Futter. Tief hängende Augenringe wiesen auf ein intensiv genossenes Leben hin. In einem Mundwinkel hing etwas, das wie eine Kiffette aussah und erbärmlich stank. »Das ist der Klaampfnwürga. Ein umherreisender Bänkelsänger, der in ganz Weean zu Hause ist und mehr über die Stadt weiß als sonst jemand. Er wird heute
hier aufspielen und Weeaner Lieder aus der guten alten Zeit zum Besten geben. Und morgen ist er vielleicht wieder ganz woanders, wer weiß?« Matt blickte den Mann an, der hustend von einem der Müllergesellen zum nächsten ging und um irgendetwas schnorrte. Er hatte eine voluminöse Gitarre mit zwei langen Hälsen umgehängt. Ab und zu zupfte er ein paar grässlich klingende Akkorde, und dennoch klatschten die Zuhörer. Augustin sang schlicht und ergreifend schlecht. Nebenher kaute er an seiner Kiffette und erzählte einfache Geschichten, mit denen er die Leute zum Lachen brachte. Aber er strahlte etwas Besonderes aus. Für Matt stand fest: Wenn es jemanden gab, der ihnen über Weean und das grüne Leuchten berichten konnte, so hatten sie ihn soeben gefunden. Der Tag verging schneller als Matt lieb war. Die Weeaner verstanden es, den Müßiggang zu zelebrieren. »Was du heut kannst besorgen, das verschieb doch auf morgen«, antwortete ihm einer der Müllergesellen grinsend, als ihn Matt auf das verpasste Tagessoll ansprach. »S'Leben, s'überlehm ma ned«, fügte er in seine m kaum verständlichen Dialekt hinzu. Was für ein Kontrast zum perfekt durchorganisierten Bunkerleben in der Londoner Community. »Lass es mal langsamer angehen, Maddrax«, flüsterte Aruula ihm ins Ohr. Sie roch leicht nach dem herben Weißwein. Und das, wo sie doch keinen Alkohol vertrug! »Kennst du eigentlich die Sage von der Snäkke und dem Gerul, die um die Wette liefen?« »Ja, natürlich. Nur hießen die Tiere bei uns Hase und Igel. Am Ende der Strecke wartete die Frau des Igels, sodass der Hase dachte, der Igel hätte ihn überholt... aber was hat das mit unserer Situation zu tun?«
»Haase und Iggel? Was ist das denn für eine merkwürdige Geschichte?« Aruula blickte ihn stirnrunzelnd an. »Nein, nein – ich rede von der Snäkke, die den Gerul zu einem Wettrennen forderte. Beide stellten sich an den Start, doch als es losgehen sollte, packte die Snäkke den Gerul und fraß ihn auf. Dann kroch sie gemütlich ins Ziel.« »Sehr... hm... interessant«, sagte Matt ratlos. »Aber ich verstehe noch immer nicht, was das mit uns zu tun hat.« »Bei Wudan!« Aruula verdrehte die Augen. »Vertraue niemals einer Snäkke, soll das heißen. Lass dich niemals auf ein Wettrennen mit ihr ein. Geh deinen eigenen Weg und kümmere dich nicht um das Tempo der anderen. Dann gewinnst du.« Hm. Ein interessanter Standpunkt. »Ruhe jetzt!«, rief Aschyl, der Müller. Alle Gespräche verstummten augenblicklich. Selina McDuncan und Steve Bolton kamen herbei und setzten sich leise grüßend zwischen die Skraps. Sie hatten ein paar Stunden Schlaf nachgeholt. Andrew Farmer hielt nun Wache und kümmerte sich um seine Kolks. Die Dämmerung setzte ein. Die Temperatur sank empfindlich, kühle Luft rollte von den Hügeln herab. Kleine Stechmücken stiegen schwarmweise vom nahen Flussrand hoch und fielen über die Menschen her. Hastig wurden Holzkübel mit verdächtig nach Dung riechendem Insektenschutz herumgereicht. Immer wieder trafen kleine und große Gruppen ärmlicher, aber sauber gekleideter Menschen ein. Sie grüßten freundlich in die Runde und setzten sich ans Lagerfeuer. Wenn sie sich über die Gäste in den ungewöhnlichen Gewändern wunderten, so zeigten sie es nicht. Aschyl stand auf. Es wurde ruhig. »Ich will nicht lange herumreden«, sagte er. »Wir haben heute Gäste unter uns. Gäste, die von weit her gekommen sind, um die Weeaner-Stadt
kennen zu lernen. Das ehrt uns, die wir hier versammelt sind. Augustin wird uns und euch deshalb musikalisch auf das einstimmen, was euch in den nächsten Tagen erwartet.« Die Skraps klatschten rhythmisch, rissen die Hände hoch und schwangen dabei begeistert grob gewebte Schals in grün. Mit einem Mal wurde es ruhig. Augustin trat in die Mitte, hin zum Lagerfeuer. Licht und Schatten zeichneten gespenstische Bilder auf sein Gesicht. Er strich achtlos über die »Klaampfn« genannte Gitarre. Ein dissonanter Akkord erklang. Und dann begann er ohne Begleitung zu singen: »Es is kein' Ordnung mehr in die Stern', D'Kometen müssten sonst verboten wer'n; Ein Komet reist ohne Unterlass Um am Firmament und hat kein' Pass; Und jetzt richt't a so a Vagabund Die Welt bei Butz und Stingel z'grund; Aber lass'n ma das, wie's oben steht, Unt' sieht man, dass's auf'n Ruin losgeht. Da wird einem halt Angst und Bang, Die Welt steht auf kein' Fall mehr lang, Die Welt steht auf kein'Fall mehr lang!« Augustin sang drei weitere Strophen. Erbeschrieb den Aufschlag »Christopher-Floyds« in mythologisch- verbrämten Worten und endete stets mit dem selben Refrain. Als er geendet hatte, erklang tosender Applaus. Auch Matt und Aruula wurden mitgerissen und erwiesen dem Künstler ihre Referenz. »Seid's ruhig jetzd!«, rief Augustin. »Was hat er gesagt?«, fragte Matt. Mit zunehmender Stimmung sprachen die Weeaner undeutlicher. Er schaltete den Translator ein. Hoffentlich würde er ausreichend übersetzen können.
»Er stellt seine Musiker vor«, flüsterte Aruula. Sie deutete auf vier Männer, die ähnlich verlebt wie Augustin aussahen. Einer hatte eine Gitarre geschultert, der zweite zupfte auf einer Geige herum, der dritte trug eine Art Knopfharmonika und der vierte machte sich an mehreren hölzernen Trommeln zu schaffen. Der Translator sprach an und übersetzte, zuerst noch holperig, dann immer präziser, als Augustin die letzten fünfhundert Jahre der Weeaner Geschichte Revue passieren ließ: »Als sich der Staub, den Kristofluu aufgewirbelt hatte, langsam legte, kamen die Weeaner aus den Ruinen gekrochen und leckten ihre Wunden. Hundert mal tausend Menschen und mehr waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt oder von den Trümmern ihrer Häuser erschlagen. Doch viel mehr noch starben in den Monaten und Jahren danach. Neue Wesen machten sich die Erde Untertan und suchten Weean immer wieder heim...« Dies war eine sehr dezente Umschreibung für das, was die CF-Strahlung den Menschen weltweit angetan hatte, doch Matt ließ sich keine Regung anmerken. Augustin fuhr fort: »Wo immer Schatten ist, muss auch Licht sein.« Er deutete auf einzelne Männer und Frauen. »In euch allen steckt das Blut der Skraps, der Grünen. Jener Menschen, die sich nach Kristofluu an dem heiligen Platz namens Hanappel versammelten, um eine Ordnung aufrecht zu erhalten. Lobt und ehrt eure Vorfahren, denn sie haben den Grundstein gelegt für all das, was rings um euch an Zivilisation existiert. Jeder Mensch, der vor Kristofluu lebte, wäre erblasst vor den Errungenschaften unserer Zeit.« Wenn der wüsste!, dachte Matt und lächelte bitter. »Doch es gab nicht nur die Skraps, die in jenen dunklen Jahrzehnten die Fahne des Weeanertums hochhielten. Im Norden der Stadt waren es die Fjacks. Die Bedeutung dieses
Namens ist längst verloren gegangen; man weiß nur, dass sie sich lange in den nordwestlichen Hügeln versteckt hielten und erst vor drei Generationen zurück ans Licht des Tages kamen. Ihre Farbe ist das Schwarz der Erde.« Die Menge murmelte leise. Die Skraps hatten sichtlich Respekt vor dieser zweiten Volksgruppe – und vielleicht auch ein wenig Angst. »Im Osten der Stadt, rund um die Duuna und östlich davon, siedeln seit jeher die Emmaas. Sie stammen von einer Gruppe starrköpfiger Menschen ab, die zu Zeiten Kristofluus eine ›Betriiebsammelung‹ beim Rintaa-Zelt abgehalten hatten. Ihre Farben sind das Rot und das Orange, und selbst heute, zwanzig und mehr Generationen später, kleiden sie sich so.« Leichter, höflicher Applaus erklang. Die Skraps pflegten mit dieses Volksgruppe wohl eher freundschaftliche Bande. »Im Süden jedoch, dort wo Kristofluu Orguudoos Schlund entstehen ließ, herrschen die Fineberer. Sie sind düstere Gesellen, das stimmt, und oftmals unwirsch. Aber das Schicksal hat sie am härtesten getroffen. Sie siedeln dort, wo eigentlich kaum ein Leben mö glich ist. Ihre Vorfahren überstanden Kristofluu in den Katakomben des CentraalFriedhofs und breiteten sich von dort immer weiter aus. Sie, die Blauen, sind zäh, stur und kämpferisch.« Unruhe lag in der Luft. Die Fineberer waren unbeliebt bei der hiesigen Bevölkerung. Doch noch bevor sich der Unmut über die Blauen Luft machen konnte, fügte Augustin mit seiner heiseren Stimme hinzu: »Vergesst nie, dass auch sie Weeaner sind! Sie mögen anders denken oder auch stinken wie sechs Monde alte Eier – die Fineberer sind echte Weeaner, so wie ihr!« War es eine Mahnung oder Erinnerung – die Skraps ließen sich besänftigen. Augustin, der Bänkelsänger, besaß Macht über die Empfindungen dieser einfachen Menschen. Matt musste unwillkürlich an Jonpol Sombriffe denken, den
Truveer, dem er in Pennsylvania und später nochmals in Memphis begegnet war. Er wusste, dass fahrende Sänger im Mittelalter gut gelitten waren und in düsteren Zeiten wesentlich zur Wissensverbreitung beigetragen hatten. So schien es auch in Wien der Fall zu sein... Augustin klatschte seine Band ein: »Es lebe der Centraal-Friedhof, Und alle seine Toten. Der Eintritt ist für Lebende Heut ausnahmslos verboten. Weil der Tod ein Fest heut gibt, Die ganze lange Nacht. Und von den Gäst' ka einziger A Eintrittskartn braacht...« Der Rest der Nacht ging unter in Gegröle und Begeisterung. Matt klatschte mit, er tanzte mehr als einmal mit Aruula, sprang mit ihr durch das Feuer – und hatte ein wenig zu viel vom Alkohol...
»Aufwachen, Maddrax!« Die Stimme klang brutal laut und musste vom Anführer der sprechenden Riesenameisen stammen, die in militärischem Stechschritt quer durch seinen Kopf marschierten. »Nurnochneminute«, brummte Matt und drehte sich zur Seite. »Keine Sekunde mehr! Augustin macht sich bereit für den Abmarsch. Ich dachte, wir wollten ihn begleiten?« »Lass mich hier sterben, Aruula«, entgegnete Matt. »Oder besser noch: Schick den Daa'muren ein paar Hektoliter von diesem Teufelswein, dann erledigt sich das Problem von
alleine. O Mann, hab ich einen Kater!« Mühsam drückte er sich hoch und taumelte an Aruula vorbei aus dem EWAT, um seine Blase zu erleichtern. Das Licht war grässlich hell. Mehrere Vögel zwitscherten unerträglich laut. »Hosd zvü xoffn, Hiasl?« Augustin grinste ihm unverschämt entgegen, die obligatorische Kiffette im Mundwinkel. Matt verstand kein Wort. Ohne den Translator war er verloren, wenn er mit dem Bänkelsänger zu tun hatte. Er deutete auf seinen Kopf und verdrehte die Augen. Augustin grinste. »Is eh ollaas paletti? Kumsd mid dein Mentschaa mid auf an Draara duach Weean?« »Er will wissen, ob wir mitkommen, Maddrax«, rief ihm Aruula von der Heckschleuse her zu. Matt nickte und deutete dem Barden, dass sie in wenigen Minuten abmarschbereit wären. Nachdem er sein kleines Geschäft erledigt hatte, hastete er zurück zum EWAT, goss sich eine Kanne kaltes Wasser über den Kopf und rief die anderen Besatzungsmitglieder zusammen. »Selina«, sagte er, während er sich abtrocknete, »Sie, Steve und Andrew bleiben hier abrufbereit, okay? Lassen Sie die Kolks ausschwärmen und versuchen Sie Funkkontakt zu halten. Sammeln Sie so viele Informationen über Weean wie möglich.« Über Kamera-Implantate würden die großen rabenähnlichen Vögel alles, was sie sahen, bis in eine Entfernung von knapp sechs Kilometern auf die EWAT-Monitore übertragen. »Wäre es nicht vernünftiger, wenn wir alle gemeinsam mit dem EWAT Richtung Stadtzentrum vorrücken würden, Commander?« Die Bunkerfrau blickte ihn zweifelnd von der Seite her an. »Wenn hier wirklich Daa'muren ihr Unwesen treiben, sollten wir ihnen adäquat gegenübertreten.« »Keinesfalls«, widersprach Matt. »Wenn wir lautstark aufmarschieren, haben wir die Bande bald am Hals. Aruula und
ich mischen uns still und leise unters Volk. Wir beobachten und halten die Ohren offen. Sobald wir wissen, was Sache ist, treten wir mit Ihnen in Kontakt.« Mit geübten Händen raffte Matt die wichtigsten Ausrüstungsgegenstände zusammen: Funkgerät, Translator, Driller, Nahrungskonzentrate und Hygieneartikel wanderten ungeordnet in einen mittelgroßen Rucksack, der ihm bereits öfters gute Dienste geleistet hatte. »Nun... dann kann ich Ihnen nur viel Erfolg wünschen, Matt.« Selina sah nicht sehr glücklich drein. Matt lächelte sie an. »Keine Sorge. Wir bleiben in Kontakt. Alle zwei vollen Stunden hören Sie von uns.« Matt verließ das Fahrzeug, wo Aruula ihn empfing. Sie trug eine Felltasche über der Schulter und das Schwert in der Rückenkralle. Augustin und seine Musiker warteten bereits ungeduldig. Rund um die fünf Männer lagen etliche Kiffettenkippen. Auch eine Doppelliterflasche Veltin begann bereits wieder zu kreisen. Das Hallo war groß, als sich die Musiker sowie Matt und Aruula von Aschyl und seinen Gesellen verabschiedeten. Die Müller gingen soeben mit mürrischen Gesichtern an die Arbeit. Matt war also nic ht der Einzige, der unter den Nachwirkungen des Alkohols zu leiden hatte. Wenigstens diesen Trost hatte er.
»Eduaard und Kuniguunde«, krächzte Augustin begeistert zur Melodie von »Eisgekühlte Coca Cola«, »Kuniguund und Eduaard, Eduaard und Kuniguunde, Kuniguund und Eduaard!« »Geht's denn nicht auch mit einem anderen Text?«, bat Matt mit säuerlichem Gesicht. »Und auch ein wenig leiser, bitte!«
»Kein Problem.« Der Bänkelsänger grinste unverschämt gut gelaunt. »Feedinand und Olgadiina, Olgadiina und Feedinand, Feedinand und Olgadiina...« Es schmerzte Matt beträchtlich zu sehen, dass Aruula lauthals mitsang. »Aus jetzt! Erbarmen!«, rief er schließlich, halb im Spaß, halb im Ernst. »Augustin – kannst du uns bitte erklären, wohin wir marschieren?« Die Augen des Sängers glitzerten vor Schalk. Doch übergangslos wurde der Mann ernst. »Wir bewegen uns im Weean- Tal in Richtung der Inneren Stadt. Momentan befinden wir uns auf dem einzigen Weg, der auch bei Schnee und Regen aus dieser Richtung begeh- und befahrbar ist, der sogenannten Zeile.« Er deutete über den Fluss hinweg, der nun, nach zwei Stunden der Wanderung, deutlich schmaler, aber auch reißender geworden war. »Seht ihr diesen bewaldeten Hügel dort drüben? Ein toller Platz, mystisch und geheimnisvoll. Man sagt, dass dort die Anführer und Könige der Alten lebten. Aber auch die Obmänner der Skraps und der Emmaas treffen sich hin und wieder im Oberen Gebäude.« Matt blickte suchend umher, konnte aber außer dem Grün unzähliger Bäume und Sträucher nichts entdecken. »Auf dem Gipfel des Hügels, neben den drei breiten Eichen?«, fragte Aruula. »Kompliment, gnä Frau«, säuselte Augustin. »Ja – dort oben steht ›Schönblick‹. Unten, noch im flachen Teil des Waldes und gut verborgen, findet man die Reste von ›Schönbrunn‹. Ich sage euch – dort haben wir unsere größten Erfolge gefeiert. Die Zuschauer haben vor Begeisterung alles zertrümmert, dessen sie habhaft werden konnten. Stimmung pur!« Matt konnte es sich lebhaft vorstellen. Barbaren, die über einen der wertvollsten und schönsten Kulturschätze Europas herfielen und all das vernichteten, was zufällig die Wirren nach »Christopher-Floyd« überdauert hatte.
»Augustin«, fragte er, »hast du in letzter Zeit... Dinge gesehen, die beunruhigend oder neu für dich waren? Du kennst dich doch aus in Weean; wenn sich etwas ändert, würdest du es merken, nicht wahr?« »Was für Dinge meinst du?« Augustin schien keineswegs beunruhigt. Fröhlich pfeifend ging er weiter. »Menschen, die sich anders verhalten. Fremdartige oder unheimliche Besucher. Flugwesen über der Stadt. Grüne Kristalle.« »Nun ja – es gibt viel mehr Reibereien unter den vier Gruppen als noch vor wenigen Jahren. Manchmal gehen sich die Bürger grundlos an die Kehle. Es gibt Raufereien, ein paar Tote und Verletzte, und dann scheint alles wieder normal. Auch die vier Obmänner wirken oft gereizt.« Augustin blieb kurz stehen und blickte ihn nachdenklich an. »Und grüne Kristalle? Nein. Aber... hm... seit ein paar Jahren ist ab und zu mal grünes Licht über Weean zu sehen; meist über der Inneren Stadt. Die Menschen meinen, dass Wudan dann unter ihnen wandelt, in Form eines Basilisken, und darüber wacht, dass sie ein sittsames Leben führten.« Er lachte lauthals. »An dieser Sage kann nicht viel Wahres dran sein. Denn ich bin dem Basilisken noch nie begegnet.« Leiser und nachdenklich fügte er hinzu: »Aber das grüne Leuchten konnte ich schon mehrfach sehen. Es ist ein Strahl, der vom Boden aus in den Himmel geht. Doch wenn man seine Quelle sucht, ist er längst wieder verschwunden, bevor man zum vermuteten Ort kommt. Und keiner, der seinen Ursprung hätte sehen müssen, kann sich an den Strahl erinnern.« Der Boden bebte, bewegte sich leicht. Aruula hielt sich instinktiv an Matt fest. »Nur keine Aufregung, Leute!« Augustin grinste. Er war sichtlich froh, dass er nicht länger über das grüne Leuchten reden musste. »Das passiert fünf, sechs Mal am Tag. Orguudoos Schlund macht sich bemerkbar.« Er deutete nach
vorne, über die Wälder von Schönbrunn hinweg. »Dort steht er, im Nebel verborgen, eine halbe Tagesreis e entfernt. Er bringt sich den Weeanern beständig in Erinnerung. Er sagt uns, dass wir aufmerksam sein und niemals die Tage Kristofluus vergessen sollen. Doch keine Sorge – noch nie ist hier in dieser Gegend die Erde aufgerissen und hat jemanden in die Tiefe gezogen. Auch Orguudoos giftiger Odem zieht selten hierher. Der Wind weht beständig nach Osten. Auf dem Gebiet der Skraps ist es am sichersten und gesündesten.« Augustin kratzte sich lebhaft an seiner Wampe. »Doch wie wird mir? Kann es sein, dass es mich bereits wieder dürstet und hungert? Was sagt ihr, Leute?« Ein vierstimmiger Schrei der Musiker antwortete Augustin, und Matts Protest ging darin unter. Falsch. Es waren fünf Stimmen gegen seine. Denn auch Aruula fiel begeistert ein, als der Sänger meinte: »Da vorn steht doch die Wirtshütte vom Koaal, ›Zum Weeanerwald‹! Ich denke, wir sollten uns verköstigen lassen! Also, Leut', singt's mit: Lasset uns saufen, lasset uns trinken, bis wir wie Gerule stinken...« Und so kam es, dass Matt und Aruula die Mittagsstunden in einer Kneipe bei Wein und Gesang verbrachten, während am Horizont ein breiter grüner Leuchtstrahl wie suchend vom Boden aus über die schwefligen Wolken Orguudoos glitt...
»Und lasst's euch nie mehr hier blicken!«, schrie ihnen der Wirt hinterher. »Saubande, elendige!« Aruula lachte, als sie den völlig verdutzten Maddrax hinter sich her zog. Sie lachte, bis ihr die Tränen kamen. »Das... das könnt ihr doch nicht machen!«, empörte sich Maddrax. »Ihr habt nichts bezahlt!«
»Es hat auch nicht besonders gut gemundet!«, antwortete einer der Musiker und zupfte vergnügt an seiner Geige. »Außerdem haben wir die Gäste unterhalten.« »Das ist... das ist Zechprellerei«, entgegnete Maddrax. »Wir müssen... wir müssen...« »Hast du noch nie bemerkt, dass dein Freund stottert?«, fragte Augustin Aruula. Vergnügt zwinkerte er ihr zu. Aruula wusste weder ein noch aus vor Lachen. Maddrax' Gesicht würde sie nie mehr vergessen. Augustin hatte dem feisten Wirt eine ranzige Torte ins Gesicht gedrückt und war aus dem Wirtshaus geflüchtet. Schneller als man ihm aufgrund seiner Statur zutrauen konnte. Ach, warum war Maddrax nur meist so biirernst? Übergangslos nahm Aruula ihn am Arm, drückte ihn fest und schenkte ihm ein Lächeln. Der Nachmittag war längst angebrochen. Dichter Wald umfing sie. Der Weg, dem sie nun folgten, war bestenfalls ein schmaler Trampelpfad. Immer wieder mussten sie riesige Ruinenfelder durchqueren. Ehemalige »Wohnsiedlungen«, wie Maddrax sie nannte. Es war Aruula unbegreiflich, wie sich Menschen in enge Häuser mit dünnen Wänden hatten zwängen können, ohne durchzudrehen. Aruula fühlte ganz wenige Gedankenimpulse. Die Gegend war nur spärlich besiedelt. »Wir kommen jetzt ins Grenzland zur Inneren Stadt hin«, sagte Augustin. »Das Gebiet der Skraps endet hier. Noch knapp eintausend Schritte, dann erreichen wir das von allen Gruppen gemeinsam, beherrschte Terrain.« »Wie funktioniert das?«, fragte Maddrax neugierig. »Vier Völkergruppen, die einander nicht grün sind, verwalten gemeinsam ein Gebiet?« Aruula lächelte still. Auch wenn Maddrax wegen des Vorfalls im Gasthaus verärgert war – er konnte einfach nicht lange schweigen. Zu groß war sein Wissensdurst. Er
hinterfragte alles. Manchmal glaubte sie mit einem großen Kind unterwegs zu sein, das einfach keine Grenze n für seine Neugierde kannte. Diese kindliche, manchmal fast naive Haltung war für sich alleine schon Grund genug, den Mann zu lieben und zu begehren. »Sie machen alles gemeinsam. Immer zu viert«, erklärte Augustin. »Ein Skrap, ein Fjack, ein Emmaa und ein Fineberer. Sie gehen gemeinsam auf Wachpatrouille, beschließen zusammen Gesetze und Regeln oder halten zu viert Gericht.« »Und das funktioniert?« »Seit Menschengedenken! Die Obmänner der Gruppen streiten sich zwar von Zeit zu Zeit, aber genauso rasch beruhigen sie sich wieder. Wir nennen das die ›Große Koalition‹.« Der Sänger hustete und nahm einen tiefen Schluck aus einer halbvollen, grün schimmernden Doppelliterflasche. Er feixte Aruula an, als er ihre neugierigen Blicke bemerkte. »Die hab ich zufällig gefunden, als wir das Lokal verlassen mussten. Als ich stolperte und nach vorn fiel, muss ich wohl die Schanktüre aufgestoßen haben. Und als uns dieser undankbare Schuft von Wirt davon jagte, ist die Flasche in meiner Hand geblieben.« »In meiner auch!«, schallte es aus vier Kehlen, und die Musiker zeigten jeder grinsend eine ähnliche Bouteille vor. »Ich geb's auf«, seufzte Maddrax. »Gebt mir einen Schluck; ich hab's bitter nötig.«
»Wann kommen wir zu dieser Grenzlinie?«, fragte Maddrax nach geraumer Weile. »Wir haben sie längst passiert«, entgegnete Augustin. »Ich habe aber niemanden gesehen!«
»Weil die Männer nicht gesehen werden wollten«, sagte Aruula an Stelle des Sängers. »Zwei saßen in den Bäumen, einer war hinter einem Busch verborgen, und der vierte, wenn mich nicht alles täuscht, versteckte sich in einer schlecht abgedeckten Grube. Augustin hat ihnen ohnehin ein Zeichen gegeben und eine halbvolle Flasche Veltin stehen lassen, nicht wahr?« Der Sänger nickte beeindruckt. Für Aruula war es alltäglich, alle Sinne offen zu halten. Die Hinweise auf die Anwesenheit der Grenzpatrouille waren deutlich gewesen. Geräusche, wo keine sein sollten. Keine Geräusche, wo welche hätten sein müssen, zum Beispiel das Gezwitscher der Waldvögel. Frisch gebrochene Äste und Zweige; ein Busch, in den vor kurzem erst ein Mann uriniert hatte; das Atmen eines anderen, so laut, dass ihr Schwert das Ziel getroffen hätte... Aber Maddrax' Instinkte waren verdorben. Selbst nach all der Zeit, die sie sich bemüht hatte, ihn etwas über die Natur zu lehren. Es war der Fluch der Tekknik, der die Menschen der Alten Zeit so blind gemacht hatte. Sie verließen sich auf ihre lärmenden, den Boden durchpflügenden Fahrzeuge, anstatt den Pfaden der Natur zu folgen, und sie benutzten ihre Funkgeräte, anstatt ihrem Gegenüber in die Augen zu schauen. Auch jetzt war es Maddrax wichtiger, alle zwei Stunden mit dem EWAT Kontakt aufzunehmen und einen Lagebericht zu geben, als seine Sinne zu öffnen für die Landschaft, durch die er stampfte. Der dunkle Wald öffnete sich allmählich. Das Rauschen des Weean-Flusses, der allgegenwärtig und dennoch unsichtbar war, verlor sich in dumpfem Rauschen. »Ab hier fließt er unterirdisch weiter«, erklärte Augustin. »Er verliert sich in dunklen, unerfindlichen Röhren, die noch niemand erforschen wollte – oder konnte.«
Ab und zu begegneten sie wieder Menschen. Alle grüßten freundlich, als sie Augustin und seine Musiker erkannten. Der Sänger musste nichts anderes tun als ein paar Akkorde zupfen, und schon flogen ihm die Herzen und ein paar Kupferstücke zu. »Das ist der größte Markt Weeans, der Nuschelmarkt«, sagte er und deutete auf eine lange Reihe hölzerner Hütten. »Hier wird alles verkauft, was euer Herz begehrt.« Staunend ging Aruula die Zeile entlang. Tatsächlich – eine derartige Auswahl an Fleisch, Früchten, Gemüse und Gegenständen des täglichen Lebens hatte sie noch nie auf einem Haufen gesehen. Tausenderlei Eindrücke verwirrten ihre Sinne. Der Geruch unbekannter Gewürze erfreute ihre Nase. Sie achtete nicht mehr weiter auf Maddrax und die Musiker, sondern ging einfach vorneweg, fasziniert vom emsigen Treiben. Wo kamen nur auf einmal die ganzen Menschen her? Von allen Seiten strömten sie herbei. Aruula wurde mit der Masse mitgeschoben, tauchte ein in das bunte Volksgetümmel. Die Menschen waren viel besser gekleidet als Aschyl und seine Müllergesellen. Sie trugen kein grob gewebtes, kratziges Leinen, sondern farbige feine Stoffe, die Aruula bewundernd durch die Finger gleiten ließ. Natürlich hatten die BunkerMenschen qualitativ bessere Gewänder – aber diese hier waren einfallsreicher gestaltet. Farbenfroher und fröhlicher, nicht so nüchtern. Grüne, schwarze und rote Röcke herrschten vor, ab und zu war jemand in einem blauen Mantel zu sehen. »Weeanfische, Alzbachfische, Schwechaatfische, Duunafische, Otogrinfische, Kanaalfische, Krebse!«, pries ein Händler seine stinkende Ware an. »Billiga, alles billiga!«, schrie eine alte Vettel und hielt unglaublich schmutzige Kleidungsreste in die Höhe. »Schmerzlose Schweinskastrationen und Zahnentfernung!«, verkündete ein anderer, während sich sein – menschlicher –
Patient unter den brutalen Griffen zweier grobschlächtiger Helfer wand. »Korotten, Karfiool, Strankalaan, Erdäpfeln, Paradeisaa...!«, hallte es vom Gemüseladen zur linken Hand. »Vorgeschichtliche Kristofluu-Relikte, fast wie neu!«, rief ein kleiner, mausgesichtiger Mann. »Seht dieses gewaltige Trinkgefäß aus geheimnisvollem Material!« Er hielt ein längliches, sichtlich gebrauchtes Bidet in die Höhe. Aruula hatte ein ähnliches Ding bereits im Londoner Bunker gesehen. Maddrax hatte ihr erklärt, wofür es tatsächlich gut war... »Ratzen, Bateras und Fleggen! Frischfleisch für die kleine Geldbörse! Fangfrisch gebraten und gekocht!« »Nierndln, Beuschl, Blunzen, Kuttelfleck! Teilweise noch blutend, vom Schimmel und Fleggeneiern gereinigt! Nur heute im Angebot!« »Das Geheimnis ewiger Liebe, nur bei uns! Nie mehr wird dein Mann versagen, wenn du ihm unseren Zaubertrank aus eigener Rezeptur kredenzt! Zwei Tage Garantie. Hilft auch gegen Fußpilz...« »Gefällt's dir?«, fragte Maddrax sie. Er hatte sich an den Menschen vorbei geschoben, um zu ihr zu gelangen. Das Gedränge in der Enge der Gasse wurde zum Erlebnis der besonderen Art. »Ich bin überrascht«, antwortete sie. »Die Stadt lebt. Mehr als die anderen, die wir bislang gesehen haben – außer Rooma vielleicht.« Sie blickte sich um. »Wo sind Augustin und seine Musiker?« »Na, wo wohl? In der nächsten Kneipe! Wenn wir etwas brauchen, sollen wir ihn beim ›Blauen Cafe‹ suchen. Er würde die nächsten paar Tage dort aufspielen, meinte er.« Er schob Aruula in einen schmalen Seitenweg, der über und über mit verfaulten Gemüseresten bedeckt war. Trubel und Lärm blieben hinter ihnen zurück. »Der Abschied war kurz und schmerzlos«, sagte er. »So sympathisch ich Augustin auch
finde – wir sollten uns wieder auf unsere Aufgabe konzentrieren.« »Die Daa'muren und das grüne Leuchten.« »Genau. Als erstes verlassen wir den Markt und sein Gedränge. Wir gehen weiter Richtung Zentrum. Siehst du den Turm der großen Kirche dort vorne? Das ist der Doom von St. Stephan, der Mittelpunkt städtischen Geschehens. Die Obmänner der Großen Koalition sind im Turm zu Hause, sagt Augustin.« »Wie willst du an sie herankommen?«, fragte Aruula. »Sie werden dich kaum empfangen, wenn du nicht gerade mit deinen modernen Waffen herum protzt.« »Das habe ich keineswegs vor. Wir benehmen uns ganz normal. Das Völkergemisch hier ist so bunt, dass wir kaum auffallen. Wir halten Augen und Ohren offen und geben uns als normale Besucher. Wenn wir zum Dom kommen, möchte ich dich bitten, deinen Lauschsinn einzusetzen. Der kleinste Hinweis kann uns auf die richtige Spur führen. Und sollten wir dann etwas in Erfahrung bringen, holen wir den EWAT. Ganz einfach und ohne Risiko.« »Dein Wort in Wudans Ohren«, sagte Aruula.
»Diese Banditen!«, sagte Kridi hasserfüllt. Die derben, stumpf blickenden Gesellen, die sie auf der Duuna-Insel überfallen hatten, hatten ihnen schwarze Säcke über den Kopf gelegt, um den Hals festgezurrt und sie anschließend wie Vieh auf mehreren Wagen verteilt weggebracht. Hierher.
In ein schwankendes Gefängnis, bestehend aus verrosteten Metallplatten. So alt und schäbig, dass es wahrscheinlich aus der Zeit vor Kristofluu stammte. Durch kleine Ritzen und Spalten pfiff kühler Wind. Es war dunkel. Nur in der drei Meter hohen Decke befand sich eine schmale, vergitterte Luke, die ein wenig Sonnenlicht hereinließ. Waren sie vielleicht an Bord eines Schiffes, in einem außen liegenden Frachtbehälter? Ja, das musste es sein! Sie saßen auf einem Boot fest, das auf der Duuna schipperte. Kridi wanderte unruhig hin und her. Auf und ab, immer wieder. Sechs Schritte hin, sechs Schritte zurück. Seine Frau Raheel mochte jeden Moment das Kind bekommen, und er durfte nicht bei ihr sein. Dem Geflüster ihrer Entführer hatte der Merkantor entnehmen können, dass man seine Leute in drei Gruppen aufgeteilt hatte. Raheel musste also in einem anderen Raum sein. Oder hatten sie noch... Schlimmeres mit den Frauen gemacht? Er wollte gar nicht daran denken. Es gab keine Sit zgelegenheiten, nur ein paar Strohballen und wenige Decken. Drei Krüge mit schal schmeckendem Wasser standen herum und ein Kübel, in den sie ihre Notdurft verrichten konnten. »Warum macht der Fineberer das?«, fragte Caai. »Die Gier alleine kann es nicht sein. Er kennt doch unseren strengen Ehrenkodex. Er weiß, dass wir gewisse Geheimnisse unserer Gilde nicht einmal unter der Folter verraten würden.« Der junge, groß gewachsene Lehrling war bei ihm geblieben. Weitere elf seiner Männer hockten in den Ecken des Gefängnisses und stierten apathisch ins Leere. »Woher soll ich das wissen?«, fuhr ihn der Anführer der Merkantoren an. »Menschen machen tagtäglich Dinge, die unsinnig erscheinen. Viel mehr interessiert mich, wie wir hier rauskommen – und wie es meiner Frau geht.«
»Du bist der Merkantor«, sagte der Junge kühl. Er sah ihm fest in die Augen. »Das Wohlergehen der Gruppe ist wichtiger und über das Persönliche zu stellen«, zitierte er eine Textpassage ihres Gildenbuches. »Das mag sich ja in der Theorie schön lesen«, sagte Kridi, »aber steck du einmal in meiner Haut! Ich pfeife auf die Verantwortung! Ich will nur hier raus und zu meiner Frau – hast du mich verstanden?« Er packte den Jungen beim Kragen seiner Felljacke. Auch wenn er einen Kopf kleiner und zierlicher gebaut war als Caai, so besaß er doch Kräfte, die man seinem dürren Körper nicht zutraute. »Hör auf... Meister!«, stöhnte Caai. Mit aller Gewalt drückte er die Hände Kridis beiseite und stieß ihn weit von sich. »Was ist in dich gefahren?« »Ich will raus hier!«, schrie Kridi, kaum dass er sich wieder hochgerappelt hatte. »Raus! Zu meiner Frau! Weg von euch stinkenden, elenden Kreaturen! Ihr ekelt mich an!« Blanke Wut erfasste ihn. »Seht euch doch an! Hilflos seid ihr, zu nichts zu gebrauchen. Ihr hockt einfach da und unternehmt nichts, habt jeden Lebensgeist verloren. Schwächlinge! Feiglinge!« »Hör auf damit, Meister! Sonst...« »Was sonst? Willst du mir drohen? Ein großer Junge mit einem Gehirn so klein wie das einer Flegge? Du – ein stinkender Bastard, dem man täglich den Hintern auswischen muss? Du widerlicher Kretin! Ohne mich wärt ihr nichts, nicht fähig zu überleben...!« Knurren antwortete Kridi aus allen Ecken. Archaisch und tief aus den Kehlen kommend. Langsam richteten sich die Männer auf. Gebückt kamen sie näher. Mordlust glitzerte in ihren Augen. Kridi griff nach einem der Krüge und zerschlug ihn am Boden. Der Griff und eine spitze Tonscherbe blieben in seiner Hand. Er richtete die behelfsmäßige Waffe drohend von sich.
»Traut euch nur her, ihr Kamaulerbrut. Dem Ersten, der mir zu nahe kommt, schlitze ich die Kehle auf...!« Caai stieß einen Wutschrei aus – und sprang auf ihn zu.
Maddrax wehrte den überraschenden Angriff des Jungen mit einem gezielten Handkantenschlag ab – doch ein weiteres halbes Dutzend brüllender Menschen drängte sofort nach. Sie waren in der beginnenden Dämmerung in Richtung Dom unterwegs gewesen, als völlig überraschend die Attacke kam. Von einem Moment zum nächsten fielen Händler, deren Kunden und harmlose Spaziergänger übereinander her. Begleitet wurde der Gewaltausbruch von einem grünen Leuchten, das von einem eng begrenzten Feld vor Aruula und Maddrax ausging. Hinter einem Wagen mit zwei hässlichen Kleppern musste mindestens einer der Daa'muren-Kristalle verborgen sein. So nah – und doch so fern. Mehr als fünfzig Menschen standen dazwischen. Menschen, die schlugen, kratzten, bissen und mit allem, das sie hatten, zustachen. Sie waren offensichtlich von dem Daa'muren beeinflusst! Aruula fluchte im Jargon der Wandernden Völker und teilte kontrollierte Schläge mit der flachen Seite ihres Schwertes aus. So wie ein Bauer seine Sense führt, mit größtmöglicher Sorgfältigkeit und Effektivität. Dennoch konnte sie im Getümmel nicht verhindern, dass mal ein Finger oder Ohr dem Besitzer abhanden kam. Wachtrupps in Vierergruppen, die herbei stürmten, waren völlig überfordert. Sobald sie sich dem Zentrum der Bestrahlung näherten, wurden auch sie von unmotivierter Wut befallen. Immer mehr Weeaner griffen in die Kämpfe ein.
»Raus aus dem Gedränge, Maddrax!«, rief Aruula. »In eine der kleinen Gassen!« Sie deutete mit dem Schwert nach links. Mächtige Kopfschmerzen plagten sie plötzlich. Ihr Gefährte schien sie nicht zu hören. Er schlug mit blanken Fäusten um sich, ungezielt und voll Panik. Die Aura der Außerirdischen griff also auch nach ihm! »Na gut!«, sagte Aruula grimmig, »dann eben anders!« Mit zwei weiten Schwüngen ihres Schwertes verschaffte sie sich Respekt – und ausreichend Platz. Blitzschnell sprang sie nach vorne, griff sich Maddrax und zerrte ihn mit sich, weg von der breiten Straße. Raus aus dem Chaos! Er schlug selbst dann noch mechanisch um sich, als sie das Menschenknäuel längst hinter sich gelassen hatten. »Ich tu's nicht gern...«, murmelte Aruula – und verabreichte ihm links und rechts eine klatschende Ohrfeige. Maddrax stierte sie verständnislos an. Nur allmählich kam das Erkennen. »Was... was ist passiert? Hab ich etwas versäumt?« »Du warst nicht du selbst«, sagte Aruula knapp und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Straßenschlacht, die sich immer weiter ausweitete. Maddrax griff sich an den Kopf, als wollte er die bösen Geister, die sich dort eingenistet hatten, mit den Händen verscheuchen. »Ich erinnere mich. Vage.« »Normalerweise würde ich sagen, dass ein Dämon die Leute befallen hat«, sagte Aruula, »aber diesmal ist es wohl der böse Geist der Daa'muren. Ich selbst konnte mich mit meinem Lauschsinn dagegen schützen, aber diese Menschen hatten keine Chance.« Sie standen neben einem tief in die Erde hinab reichenden Brunnen. Vor ihnen lag die Straße, die die Weeaner »Graben« nannten. Die Situation wurde langsam prekär – und unübersichtlich. Das grüne, immer stärker leuchtende Licht überstrahlte in der
zunehmenden Dunkelheit die Kämpfenden. Aruula sah keine Chance, an die Quelle des Leuchtens zu gelangen. Dazu hätte sie mehr als zwanzig Menschen beiseite räumen – und vermutlich töten müssen. Sie schnaufte verärgert. Warum eigentlich nicht? Sie konnte doch mit dem Schwert klar Schiff machen, all diesen Pöbel von der Straße fegen. Das waren keine Krieger, also hatten sie auch keine ehrenvolle Behandlung verdient. Sie sollte... Die Barbarin erschrak. Was dachte sie da bloß? Das waren doch nicht ihre eigenen Gedanken! Ihre Immunität gegen die Beeinflussung wurde durchlässig! Sie musste alle Konzentration aufbringen, um einen klaren Kopf zu behalten. »Du musst... mir helfen«, ächzte Maddrax neben ihr. Er richtete sich langsam auf. Sein Gesicht war von Anstrengung verzerrt. Seine Hände schlossen und öffneten sich, als wolle er dem nächstbesten Gegner an die Gurgel gehen. Und wahrscheinlich war es auch so. »Was hast du vor?« »Feuer... mit Feuer bekämpfen, und zwar... wortwörtlich!« Er stützte sich auf ihre Schultern. »Siehst du... die allein stehende Ruine dort?« Er deutete auf ein zweistöckiges Gebäude, kaum mehr als solches zu erkennen. Eigentlich war es ein einziger Schutthaufen, laienhaft zusammengezimmert. »Wir müssen... es anzünden.« »Bei Wudan – bist du verrückt? Hier, mitten in der Stadt?« »Vertrau mir einfach. Bitte!« Sie blickte ihm in die blaugrünen Augen, schloss für wenige Momente alles, was sich ringsum abspielte, von ihrem Denken aus. War Maddrax beeinflusst? Befahlen ihm die Geistwesen, das Chaos weiter zu vergrößern? Kurz nur versuchte sie in seine Gedanken vorzudringen. Vergeblich. Die Kopfschmerzen machten ihr zu schaffen, und im Hintergrund lauerte eine namenlose, alles verschlingende
Gefahr, die zuzuschlagen drohte, sobald sie in ihrer Konzentration nachließ. Also blieb ihr nur der gute alte Instinkt. Und der riet ihr, Maddrax zu vertrauen. »Ich helfe dir«, sagte sie schlicht. »Gut.« Er schleppte sich mit ihrer Hilfe noch weiter weg vom grünen Lichtschein, hin zu der Ruine. »Schau nach, ob jemand drinnen ist. Rasch!« Aruula ließ ihn an eine Häuserwand gestützt stehen. Hastig stieg sie über Schrott und Unrat hinweg und versicherte sich so gewissenhaft, wie es ihr in der Kürze der Zeit möglich war, dass sich niemand im Gebäude befand. Als sie wieder ins Freie sprang, hatte Maddrax mit seinem Feuerzauber... nein, Feuerzeug eine behe lfsmäßige Fackel entzündet. Sie nickte ihm knapp zu, und er schleuderte das mit einem brennenden Lappen umwickelte Stück Holz. Schon nach wenigen Sekunden erklang ein Knistern und Knacksen. Wie trockener Zunder begann die Ruine zu brennen. Funken sprühten weit umher. »Feuer!«, rief Maddrax. »Fuca!«, brüllte nun auch Aruula, so laut sie nur konnte. Das Geschrei wirkte fast erleichternd und lenkte von den rasenden Kopfschmerzen ab. Sie wollte gar nicht wissen, wie es ihrem Gefährten in diesen Momenten ging. »Gran Fuca!« Endlich wurden die Weeaner auf die hochzüngelnden Flammen aufmerksam, die nur wenige Dutzend Meter neben dem Kampfgeschehen den Graben hell erleuchteten. Erste panische Rufe mischten sich unter die wüsten Beschimpfungen. Nun ging es schnell. Die Stimmen mehrten sich. Die Weeaner ließen voneinander ab und eilten stattdessen zum Brunnen, um Wasser zu fassen. Binnen weniger Minuten stand eine lange, bestens organisierte Schlange. Eimer, Wannen und
Trinkbehälter wurden von Mann zu Frau und von Frau zu Kind zur hell lodernden Brandstätte weitergereicht. Jeglicher Aggressionstrieb war vergessen. Matts Plan hatte funktioniert. Feuer weckt eine verborgene, existenzielle Furcht in den Menschen. Schon seit der Morgendämmerung des Homo sapiens steckt der Respekt vor den Flammen in seinen Knochen – so stark, dass er bei Gefahr alle anderen Gefühle übertönt. »Das meinte ich, als ich sagte, dass wir Feuer mit Feuer bekämpfen müssen«, sagte Maddrax heiser. »Die Weeaner werden den Brand sicherlich bald unter Kont rolle bekommen. Und danach werden sie zu erschöpft sein, um sich noch einmal an die Kehle zu gehen.« »Mag sein. Das Risiko war trotzdem groß.« »Nicht größer als die Gefahr durch das grüne Leuchten. Apropos: Wo ist es geblieben?« Aruula drehte sich einmal um die eigene Achse. Das Licht war erloschen.
Am nächsten Morgen »Verschwunden? Bei Orguudoo – wie soll denn das passiert sein? Fünfzig Menschen lösen sich nicht einfach in Luft auf!« Belloo, Obmann der Skraps, sprang erregt auf. Es herrschte heilloses Durcheinander in der Türmerstube, seitdem ein Vierer-Trupp der Stadtguardia gemeldet hatte, dass der gesamte Händler-Tross der Merkantoren nicht mehr auf der Duuna-Insel war. Man hatte lediglich die verstümmelten Leichname von vierundzwanzig Kriegern gefunden, die in Begleitung der Händler gereist waren.
»Hat denn niemand etwas gesehen?«, fragte Cüsl, der kleingewachsene Obmann der Fjacks. »Beide Brücken werden von mindestens zwei Koalitionsgruppen bewacht. Es ist ganz und gar unmöglich, dass fünfzig Menschen unbemerkt von der Insel verschwinden.« Und doch war es passiert. Belloo blickte sich um. Die Türmerstube hoch oben im Stefaansdom war bereits in den frühen Morgenstunden hoffnungslos überfüllt. Neben den vier Obmännern – Heddr von den Fineberern, Gusey von den Emmaas, Cüsl und ihm selbst – waren auch noch die jeweiligen Heshaas zugegen, ein Haufen aufgeregter Bürger sowie vier Vertreter der Stadtguardia. »Wir müssen etwas unternehmen«, sagte Gusey und stand auf. »Nicht schon wieder ein neuer Unterausschuss!« Heddr hieb mit der Faust auf den Tisch. »Das ist alles nur Verschleppungstaktik der Emmaas und lenkt von den tatsächlichen Problemen dieser Stadt ab...« »Ruhe!«, brüllte Belloo, ganz entgegen seines sonst so besonnenen Naturells. Es wurde tatsächlich still. Mit diesem Gefühlsausbruch hatte niemand gerechnet. »Wir müssen kühlen Kopf bewahren«, sagte der Vertreter der Skraps. »Dazu bitte ich die Stube räumen zu lassen. Nur die Obmänner und die Heshaas bleiben. Wir werden uns beraten und nach und nach jeden, der etwas zu sagen hat, zu uns bitten. Einverstanden?« Er blickte die anderen Obmänner der Reihe nach an und erntete überall Zustimmung. »Gut. Guardia – raus mit allen anderen Leuten!« Wütendes Protestgeschrei erklang, doch gegen die bewaffneten Koalitionäre mit ihren langen Hellebarden hatten die Schaulustigen keine Chance.
»So ist es besser«, seufzte Belloo, nachdem Ruhe eingekehrt war. Er sah sich in der Türmerstube um. Vier große Fenster erlaubten den Ausblick in ebenso viele Himmelsrichtungen – und damit auf die jeweiligen Gründe der vier Volksgruppen. Schaudernd wandte sich Belloo dem südlichen Fenster zu, sah hinab in die Ländereien der Fineberer. Schlackehügel und vegetationsloses, nahezu unfruchtbares Land breitete sich hier aus. Und natürlich Orguudoos Schlund. Stets präsent – und verdammt nahe. Was konnte man von einem Menschenschlag, der im Schatten einer derartigen Bedrohung heranwuchs, erwarten? Er wandte sich ab und vermied jeden Blickkontakt zu Heddr und dessen Heshaa, Kahagee. »Die Merkantoren sind also verschwunden. Möglicherweise auch bereits tot«, sagte er nachdenklich. »Die Bedeutung dieser Männer aus dem Osten ist vielleicht gar nicht allen klar. Sie kommen zwar nur alle paar Jahre nach Weean – doch jedes Mal bringen sie uns neue, unbekannte Waren. Sie lehren unsere Schmiede neue Bearbeitungsmethoden, zeigen den Bauern, wann und wie man aussät, um höhere Ernteerträge zu erwirtschaften. Unsere Kinder werden von ihnen im Schreiben, Lesen oder in fremden Sprachen unterrichtet...« »Du vergisst zu erwähnen«, mischte sich Heddr ein, »dass die Merkantoren bewusst Lügen verbreiten, die an Blasphemie grenzen. Wer, der seine fünf Sinne noch beisammen hat, würde sonst behaupten, dass die Erde eine Kugel ist?« Der Obmann der Fineberer kratzte sich an seiner spitzen Nase. »Man kann ihre Lehren hinnehmen oder nicht«, sagte Gusey, der Obmann der Emmaas, verärgert. »Tatsache ist, dass sie uns neue Kenntnisse vermitteln und unsere Kaufleute beschäftigen. Ich bin mir sicher, dass wieder einige fette Aufträge auf die Weeaner Krämer gewartet hätten.«
»Könnte es nicht sein, dass gerade dies der Grund für das Verschwinden der Merkantoren ist?«, fragte Kahagee, der Heshaa, provokativ. Bei Orguudoo, was war ihm dieser Schleimer unsympathisch! Kahagee mochte zwar der Traum jeder gutbürgerlichen Mutter sein, die ein Töchterchen im heiratsfähigen Alter an ihrem Rockschoß hängen hatte, doch Belloo wusste genau, was sich hinter dem glatten, so unschuldig scheinenden Gesicht in Wirklichkeit verbarg: persönliche Eitelkeit, Falschheit und krankhafter Ehrgeiz. Heddr, der Obmann der Fineberer, war vielleicht nicht viel besser. Doch der trug seine Bösartigkeit wenigstens offen zur Schau und man wusste damit umzugehen. »Was willst du damit sagen?«, fragte Cüsl. Er hatte den Mund angespitzt, so wie er es immer tat, wenn er sich ärgerte. »Ich habe nur etwas zur Diskussion gestellt, ohne jemanden zu verdächtigen«, entgegnete Kahagee und lehnte sich mit süffisantem Grinsen zurück. »Für Kompromittierungen ist unser Freund Gusey zus tändig.« »Ich protestiere energisch gegen diese Unterstellung! Ich...« Wenn nur diese Kopfschmerzen nicht wären! Seit Wochen – nein, seit Monaten quälte Belloo ein stechender Schmerz zwischen den Augen. Er tunkte die Hände in ein Wasserglas und massierte sich mit den kühlen Fingern die Schläfen. Das Ziehen und Pochen ließ ein wenig nach. Er verfolgte für eine Weile die Gehässigkeiten, die zwischen den einzelnen Obmännern und Heshaas ausgetauscht wurden. Als alle endlich einmal Atem holen mussten, sagte er: »Wir kommen nicht weiter, wenn wir uns in Beleidigungen und Kleinkram verzetteln. Es stehen auch noch andere Probleme zur Behandlung an.« »Was meinst du damit?«, fragte Cüsl. Ihm und den anderen war sichtlich unbehaglich zumute. »Ich rede von dem grünen Le uchten.«
Die Männer husteten nervös, spielten mit Graphitstiften oder guckten Löcher in die Luft. »Wir können das Thema nicht weiter leugnen – ihr habt selbst gesehen, was gestern auf dem Graben passiert ist. Immer wieder wird das Licht gesehen, und immer wieder hängt es mit Schlägereien, mit Mord und Totschlag oder seltsamen Vorgängen zusammen.« »Mumpitz!«, rief Kahagee. »Die Weeaner sind schlicht und einfach hysterisch und dreschen vor lauter Angst aufeinander ein. Vielleicht war es gestern der zu laute Furz eines Haflaas, vielleicht das böse Wort eines Händlers. Lasst euch doch nicht von Belloo kirre machen! Hinter jedem Wetterleuchten sieht er ein Problem.« Der Heshaa der Fineberer stand auf. »Es gibt bislang niemanden, der die Quelle des Leuchtens tatsächlich gesehen hat. Ich halte es für eine Erscheinung, die von Orguudoos Schlund ausgeht.« »Und die Erinnerungslücken, die die Leute haben, wenn es um das Leuchten geht? Die Kopfschmerzen, die uns immer wieder plagen? Die Spuren der Verwüstung, an die wir uns nicht mehr erinnern können? Sind das auch lauter Hirngespinste?« »Wenn du Sachen zu sehen glaubst und Dinge hörst, die nicht da sind – solltest du dann nicht deinen Platz räumen?«, höhnte Heddr. »Vielleicht bist du krank und benötigst die Hilfe der Heiler in Theresien oder Aspaan?« »Hör doch endlich auf mit diesen Unterstellungen!«, warf Gusey ein. »Auf den Gängen und Treppen vor dieser Türe stehen gut und gern zwanzig aufgebrachte Menschen, die gestern das grüne Leuchten beobachten konnten. Denn diesmal ist es anders als sonst verlaufen. Dank des beherzten Eingreifens zweier Fremder blieben die Erinnerungen bestehen und konnte größerer Schaden verhindert werden...«
»Schaden verhindert?!« Heddr sprang wütend hoch. »Diese beiden Barbaren haben eins meiner vornehmsten Häuser angezündet! Wer wird mir den Schaden bezahlen?« »Die Stadtkasse wird sich darum kümmern«, entgegnete Belloo unbeeindruckt. »Erwarte aber nicht, dass du allzu viel Geld für diese Bruchbude rausschlagen kannst, in dem normalerweise deine Sklaven vor sich hin vegetieren.« »Wudan sei Dank, dass sie bis spät in die Nacht in den Steinbrüchen arbeiten durften! Der finanzielle Verlust wäre sonst unersetzlich gewesen.« »Wir wissen alle, dass du ein besonderer Menschenfreund bist, Heddr, du brauchst es uns nicht auch noch auf die Nase binden. Doch zurück zum Thema: Wir müssen uns um das grüne Leuchten kümmern. Ich möchte ein paar Leute auf das Rätsel ansetzen. Wer dafür ist, soll Handzeichen geben.« Die Heshaas, die Finanztreiber, durften an dieser Abstimmung nicht teilnehmen. Sie hatten lediglich eine gewisse beratende Funktion. Es lag also an den vier Obmännern, ob etwas passierte oder ob die Große Koalition die ungewöhnlichen Geschehnisse weiterhin lakonisch hinnahm. Belloo reckte seine Hand in die Höhe, und Gusey folgte ohne zu zögern. Wie er es erwartet hatte. Heddrs Hand blieb unten. Wusste Orguudoo, warum er und sein Heshaa sich derart gegen Untersuchungen wehrten. Belloo blickte Cüsl an. Alles hing von ihm ab. Normalerweise stand der Fjack auf Seiten Heddrs, und so gab es seit geraumer Zeit eine Pattstellung bei allen wichtigen Entscheidungen. Doch hier ging es nicht um kleinliche Streitigkeiten oder um Machtverteilung in der Stadt – es ging um Essentielles. Irgendetwas, eine unbekannte Macht, fraß sie auf. Langsam, zögernd, kam das Zeichen des Obmanns der Fjacks. Er stimmte für den Vorschlag!
»Gut«, sagte Belloo erleichtert, »damit ist es entschieden.« Er konnte es sich nicht verkneifen, schadenfroh in Heddrs Richtung zu grinsen. »Und ich glaube, dass wir die richtigen Leute haben, um die Ursachen des grünen Leuchtens rasch zu ergründen. Guardia! Bringt Aruula und Maddrax herein!«
Am Kratersee, Teil 2 Die beiden, Mann und Frau, blickten sich ruhig an. Est'sil'bowaan imitierte mit der Körperhaltung seines Wirtskörpers »Ratlosigkeit«. Er hatte die ontologisch- mentale Substanz Nikaati'rostows mit Hilfe von Liob'lan'taraasis gescant. Sie waren dabei mit äußerster Sorgfalt vorgegangen – und dennoch war es zur befürchteten Aurenschmelze gekommen. »Warum zuckt der Encephalorobotowitsch noch?«, fragte die Frau. Sie änderte ihre Gestalt, nahm ein echsenhaftes Aussehen an. Dampf entwich zischend aus kiemenartigen Öffnungen, die unter den Achseln entstanden. »Ich vermute, dass die Nervenenden letzte Informationen weitergeben. Die Bewegungen müssten rasch verebben.« Est'sil'bowaan räusperte sich bewusst. »Bitte unterlasse jegliche Gestaltwandlungen, während wir verbal kommunizieren«, sagte er leidenschaftslos. »Verwirrt es dich?«, fragte Liob'lan'taraasis. »Es schwächt meine Konzentrationsfähigkeit. Die momentanen Sinnesempfindungen meines Trägerkörpers sind leicht zu irritieren.« »Gut. Du solltest den Sol rasch informieren.« (Ich bin bereits bei euch. Der Hirn-Scan ist also fehlgeschlagen?)
(Nur teilweise, Ora'sol'guudo. Wir sind im Besitz wichtiger Erkenntnisse über die Primärrassenvertreter), antwortete Est'sil'bowaan auf geistigem Wege. Die Präsenz des Sol in seinem Kopf war außerordentlich stark. (Der Encephalorobotowitsch ist nunmehr funktionsneutral. Er ist eine rein mechanische Komponente ohne ontologisch-mentale Tätigkeit. Um das Kunstwesen wieder in Gang bringen zu können, benötigen wir einen Aktivator in Form einer biologischen Komponente.) (Dafür werden wir sorgen. Ich möchte die Hülle des Encephalorobotowitsch für unsere Zwecke nutzen. Grao'lun'kaans Substanz soll in einen Wirtskörper verpflanzt werden.) Est'sil'bowaans mentale Impulse drückten Überraschung aus. Grao'lun'kaan hatte sich schuldig gemacht, nicht rechtzeitig auf die Bedrohung durch den Primärrassenvertreter Mefju'drex reagiert zu haben. Dafür war der von Mefju'drex zerstörte Trägerorganismus ihm zugeteilt worden. Und nun sollte er doch noch einen Körper erhalten? (So kann er seine Nachlässigkeit wieder gutmachen), sendete Ora'sol'guudo. (Seine ontologisch-mentale Substanz soll in das Gehirn des Wirtskörpers überspringen und dieses anschließend an Stelle von Nikaati'rostows biologischer Komponente in den Encephalorobotowitsch eingesetzt werden.) (Aber die Chance für das Gelingen einer doppelten Übertragung ist gering!), warf Liob'lan'taraasis ein. (Zumal wir keinerlei Erfahrung mit derart komplexen Transplantationen besitzen.) (Der Verlust des Lun ist ein vertretbares Risiko. Sollte das Experiment allerdings gelingen, könnte der Encephalorobotowitsch eine Schlüsselfunktion in unseren Plänen einnehmen...)
»Ihr glaubt also, dass ihr von einer... fremden Macht unterwandert werdet?«, fragte Maddrax. Noch verzichtete er darauf, die Daa'muren ins Gespräch einzubringen. Die Story von den Außerirdischen, die mit einem Kometen auf die Erde kamen und sich einen neuen Körper schufen, musste man behutsam vorbringen, wollte man nicht auf instinktiven Unglauben stoßen. Umgeben von Männern im besten Alter saß Matthew Drax an einem schwerenhölzernen Tisch. Seine Gesprächspartner zeigten alle demonstrativ ein möglichst honoriges, gewichtiges Auftreten. Auf Aruula wirkten diese Anstrengungen lächerlich. Sie stand hinter Maddrax, im Schatten einer der vielen schlanken Säulen, und beobachtete das Gespräch, zu dem man sie beide gebeten hatte. Keiner der Männer der Großen Koalition hatte etwas an sich, das sie als interessant oder anziehend empfand. Aufgeblasene Saftsäcke waren das, mit feisten oder schlaffen Körpern, die noch nie etwas Schwereres als die Brüste ihrer gekauften Gespielinnen gehoben hatten. Krämerseelen, nur auf den eigenen Vorteil bedacht; Menschen, die sich auf Kosten anderer bereicherten. Am liebsten hätte sie ausgespuckt. Die schmierigen Blicke der beiden in blau gekleideten Männer streiften immer wieder über Aruulas entblößten Oberkörper. Mühsam konzentrierte sie sich auf ihre Aufgabe. Sie sollte lauschen und auf eine mögliche Beeinflussung der Stadtoberhäupter achten. »Warum vertraut ihr ausgerechnet uns?«, fragte Maddrax soeben. »Wir sind neu in der Stadt, eigentlich nur auf der Durchreise. Warum sollten wir uns um eure Probleme kümmern?« Er wollte die Krämer aus der Reserve locken und
damit Aruula helfen. Starke Gefühle erzeugten klarere Gedanken und erleichterten das Lauschen. »Das grüne Leuchten...«, fing einer der Männer an, »... es legt sich allmählich über uns, über die ganze Stadt. Auch wenn es nicht alle hier wahrhaben wollen: Es zersetzt unsere Gedanken. Es fällt mir schwer, darüber auch nur zu reden. Wir wissen nicht einmal, ob es existiert oder ob es uns nur vorgegaukelt wird. Von irgendeiner höheren Macht, von Wudan oder gar Orguudoo.« Belloo hieß der Sprecher, wenn sich Aruula richtig erinnerte. Der einzig bärtige Mann am Tisch. Im Mundwinkel hielt er einen dieser glimmenden Stinkestängel festgeklemmt. »Wir haben das Leuchten ebenfalls gesehen«, sagte Maddrax gewohnt vorsichtig, »und wir kennen es von unseren Wanderungen. Es geht von großen grünen Kristallen aus. Ich garantiere euch, dass es nicht eurer Einbildung entspringt.« Mehrere Männer sprangen auf. »Ihr kennt es also?« Gusey hieß derjenige, der als Erster seine Sprache wiederfand, der rundliche kleine Emmaa mit den feisten Lippen. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich erleichtert oder erschrocken sein soll.« »Letzteres«, erwiderte Maddrax. »Es handelt sich um einen Gegner alles Menschlichen. Es wäre zu kompliziert, dies genau zu erklären – aber die Wesen, die hinter dem Leuchten und in diesen Kristallen stecken, wollen den Bewohnern Weeans sicherlich nichts Gutes.« »Lächerlich!«, sagte ein kleiner drahtiger Mann mit spitzer Nase. Heddr war sein Name. Von ihm ging eine latente Bösartigkeit aus. Aruula spürte unersättlichen Machthunger. »Da kann ja jeder daherkommen und Schauergeschichten erzählen...« »Du willst Beweise?«, unterbrach ihn Maddrax sofort. »Leidest du öfters unter Kopfschmerzen? Hast du Gedächtnislücken? Machst du manchmal Dinge, von denen du
später nicht mehr weißt, warum du sie tatest? Wirst du grundlos aggressiv? Fühlst du dich jeden Tag kränker und schlechter?« Alle Zwischenrufe verstummten. Kleinlaut saßen die Obmänner nun da und horchten mit offenen Mündern. Aruula wandte sich ab. Sie zog sich in eine der kleinen dunklen Nischen zurück und setzte sich auf den kalten Steinboden. Zog die Beine an und klemmte ihren Kopf dazwischen. Alles Denken ausschalten, die Stimmen ignorieren. Mit dem Geist fühlen... suchen... nach den geistigen Stimmen der anderen greifen... Wenn da nur nicht diese Kopfschmerzen wären! Die Quelle des Bösen musste in der Nähe sein. Nicht zu nah und auch nicht hier oben im Dom, mehr als siebzig Meter über dem Erdboden. Aber doch nahe genug, dass sie seine Präsenz spüren konnte. Neuerlich konzentrierte sie sich – und erfasste einen einzelnen, isolierten Gedanken. So schnell wie ein Blitz huschte er durch den merkwürdigen und nicht greifbaren Raum, den sie immer um sich fühlte, während sie lauschte. Der Gedanke hinterließ einen Abdruck, den Hauch einer Erinnerung. So wie eine Sternschnuppe, die über den Horizont huscht und einen Schweif irrlichternden Feuers nach sich zieht. Es war die Erinnerung an... an Mord und Totschlag. An Angst und gleichzeitig an mühsam kontrollierte Wut. Kämpfe. Männer, die getötet wurden. Andere, die verschleppt wurden. Eine Insel, sumpfig und dennoch besiedelt. Aruula sah ein Rad vor sich, das langsam rotierte. Und über jedem Gedankensprengsel lag das grüne Leuchten, wie sie ihn nur zu gut von den Kristallen her kannte... »Was sagst du?«
Aruula schreckte hoch. Die Gespräche am Tisch waren verstummt. Alle Männer blickten sie an. Maddrax stand neben ihr und streckte beruhigend die Hand aus. »Du hast laut gesprochen«, flüsterte er ihr zu. »Glücklicherweise in der Sprache der Dreizehn Inseln – die Männer konnten also nichts verstehen. Was hast du erlauscht?« »Da war ein großes Rad, und Menschen, die entführt, aber nicht getötet wurden«, raunte Aruula zurück. »Weißt du, woher die Visionen stammen?« »Von einem der Männer am Tisch.« Aruula nahm die angebotene Hand und drückte sie gegen ihre Stirn, um den Schmerz dahinter zu lindern. »Ich weiß aber nicht genau, von wem. Ein Schatten liegt über ihren Gedanken. Ein grüner Schatten.« »Das genügt mir!« Sanft nahm Maddrax seine Hand zurück und ging festen Schrittes zum Verhandlungstisch. Aruula richtete sich mühsam auf und folgte ihm. »Meine Begleiterin besitzt gewisse... Gaben«, sagte Maddrax ohne weitere Umschweife. »Sie weiß mit Bestimmtheit, dass die Merkantoren, von denen ihr erzählt habt, entführt worden sind. Und dass einer von euch hier am Tisch daran beteiligt war!« »Verleumdung!«, schrie Heddr, und sein ebenfalls blau gekleideter Begleiter rief: »Sie ist eine Hexe!« Beide sprangen sie auf und starrten die Barbarin hasserfüllt an. »Es ist keine Zauberei«, erwiderte Matt kalt, »sondern eine Gabe, die alle Frauen ihres Volkes besitzen. Einer von euch hier am Tisch ist ein Verräter. Entweder steht er unter dem Einfluss eines grünen... Kristallgeists, oder er nutzt ihn für seine eigenen dunklen Zwecke.« Nun war es vorbei mit der Beherrschung der ehrwürdigen Herrschaften. Ein Geschrei und Geschimpfe sondergleichen hob an. Sie alle beschuldigten einander auf übelste Art und
Weise. Scheinbar längst vergessene Wunden brachen wieder auf. Lediglich ein letzter Rest von Zivilisiertheit hielt die acht Männer davon zurück, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Dies – und Aruulas Schwert. Sie ließ es laut und scheppernd gegen einen eisernen Kerzenständer prallen. Binnen weniger Augenblicke verstummten die Streitpartner. »Ich und mein Schwert haben einen Vorschlag zu machen«, meinte sie kühl. »Maddrax und ich suchen die verschollenen Händler und befreien sie.« »Wer sagt uns denn, dass ihr die Merkantoren nicht selbst festgesetzt habt, um als strahlende Helden eine fette Belohnung zu kassieren?« Heddr sah sie nach wie vor argwöhnisch an. Aruula blieb gelassen. »Gebt uns vier eurer Männer mit. Sie sollen darüber wachen, ob alles mit rechten Dingen zugeht.« »Was wollt ihr als Gegenleistung für eure Hilfe?«, fragte Gusey nüchtern. »Kein Geld oder sonstige Werte«, antwortete Maddrax schnell, noch bevor Aruula die bissige Bemerkung, die ihr auf der Zunge brannte, aussprechen konnte. »Wenn wir die Merkantoren befreien und das Rätsel lösen, das hinter dem grünen Leuchten steckt, möchten wir die Hilfe der Weeaner erbitten. Nicht jetzt und nicht heute – doch es mag der Tag kommen, da wir die tatkräftige Hilfe aller Menschen dieser Stadt benötigen.« »Ihr wollt uns in eine Auseinandersetzung hineinziehen?«, fragte der bärtige Belloo. »Weean war immer neutral und hat sich nie um die Schlachten gekümmert, die in anderen Gegenden ausgefochten wurden. Was ihr da fordert, ist ein hoher Preis. Ein sehr hoher Preis.« Aruula ließ Maddrax weiterreden. Wenn es um Verhandlungen mit Krämerseelen wie diesen hier ging, besaß er mehr Geschick als sie.
»Wir bitten nicht um Unterstützung in einem Krieg«, sagte er. »Es geht um viel mehr als das.« Bevor erneut Unruhe am Tisch ausbrechen konnte, fügte er hinzu: »Wir sollten nicht über ungelegte Eier streiten. Wir erfüllen unseren Teil der Abmachung. Wenn wir für euch das Rätsel des grünen Leuchtens gelöst haben, werdet ihr besser verstehen, um was wir bitten.« Die Männer der Großen Koalition verständigten sich mit Blicken. Heddr, der blaue Fineberer, signalisierte demonstrativ Ablehnung. Doch die Vertreter der drei anderen Gruppen nickten – und damit war die Sache beschlossen. Der zweite Vertreter der blauen Gruppe – das Glattgesicht, wie ihn Aruula insgeheim nannte – stemmte sich wütend hoch und machte Anstalten, den Raum zu verlassen. »O nein!«, sagte die Barbarin. »Da hat jemand etwas falsch verstanden.« Sie hielt ihm das Schwert vor die Füße. »Du wagst es...« Maddrax trat näher heran. »Wir haben euch Hilfe zugesagt. Doch wir wissen, dass einer von euch hier am Tisch ein falsches Spiel treibt. Es wäre nicht sehr ratsam, wenn ihr jetzt in alle Himmelsrichtungen davonlauft. Der Verräter könnte uns sabotieren – oder flüchten. Beides wäre wohl nicht im Sinne der Weeaner. Habe ich Recht?« Die Männer am Tisch nickten langsam und bedächtig. Selbst Heddr stimmte widerwillig zu. »Also schlage ich vor, dass ihr euch darauf einrichtet, die nächsten vierundzwanzig Stunden hier im Turm zu verbringen. So viel Zeit möchten wir von der Großen Koalition erbitten. Spätestens morgen früh zur selben Zeit werden wir mit dem Anführer der Merkantoren zurückkehren.« Maddrax blickte in die Runde. »Der Verräter kann sich ja mittlerweile Gedanken über das Schicksal machen, das ihn erwartet.«
Langsam und vorsichtig stiegen Maddrax und Aruula die enge, staubige Wendeltreppe zur Straße hinab. Noch immer standen aufgeregte Bürger in den düsteren, nur von rußigen Fackeln beleuchteten Gängen und Katakomben. Und auch vor dem Stephansdom diskutierten sie angeregt über die Geschehnisse, die vor einem halben Tag die Innere Stadt in ein beispielloses Chaos gestürzt hatten. Allerorten hörte Aruula Geflüster über das »grüne Leuchten«, das nahezu vollständig abgebrannte Haus am Graben und ihrer aller Erwachen aus einem scheinbaren Albtraum. Väter und Söhne waren sich gegenseitig an die Gurgel gegangen, Bruder hatte gegen Bruder gekämpft. Mehr als dreißig Menschenleben waren zu beklagen. Aruula sah und spürte die respektvollen Blicke, die ihr und Maddrax zugeworfen wurden. Es hatte sich rasch herumgesprochen, wer die Weeaner aus dem Bann des grünen Leuchtens gerissen hatte. Sie ignorierte die Bewunderung in den Augen der Menschen, so gut sie konnte. Sie hatte geholfen, und damit war die Sache für sie erledigt. »Warum hast du nicht gleich in der Turmstube... wie sagst du dazu? Ach ja: reinen Tisch gemacht?«, fragte sie Maddrax. »Was meinst du damit?« »Es ist doch klar, dass einer der Männer in Blau Schuld an diesen Zuständen ist. Beide Fineberer wehren sich gegen unsere Untersuchungen. Denk nur an die hasserfüllten Blicke, die sie uns zugeworfen haben.« »Du hast schon Recht, Aruula. Ich glaube auch, dass entweder Heddr oder sein Begleiter Kahagee unter dem Einfluss der Daa'muren steht. Aber ein paar unfreundliche
Worte und Blicke sind noch kein Beweis. So einfach ist die Sache nicht.« »Und ob es einfach ist! Ich kitzle das Milchgesicht mit dem Schwert, und wenige Sekunden später weiß ich, ob er der Schuldige ist.« »Diese Männer sind immerhin die Führer einer zivilisierten Stadt, die kannst du nicht einfach zur Aussage zwingen. Wir müssen nach ihren Regeln spielen. Ein abgehackter Finger trägt da nicht zur Wahrheitsfindung bei. Was, wenn wir uns irren? Nein, wir müssen zuerst die Merkantoren finden und abliefern.« Aruula zog eine Schnute. »Zivilisation ist ja schön und gut – aber warum muss sie immer so kompliziert sein?« Sie bahnten sich einen Weg durch die Menschenmenge. Vier mit Hellebarden bewaffnete Stadtguardias folgten ihnen in einigem Abstand. Diese Männer waren ihre Begleiter – und auch ihre Bewacher. »Wo beginnen wir die Suche?«, fragte Aruula. Maddrax schritt so energisch aus, dass er ein Ziel haben musste. »Dort, wo du deine Fähigkeiten im Spurenlesen einsetzen kannst«, erwiderte er. »Auf der Insel, von der die Merkantoren verschwunden sind.«
Der Fußmarsch zur Duuna-Insel dauerte mehr als zwei Stunden. Das Stadtgebiet war riesengroß; größer als das aller anderen Metropolen, die Aruula bislang kennen gelernt hatte. In postapokalyptischen Stadtstaaten wie Paris, Warschau, Rom oder Hamburg waren die erhaltenen Strukturen nur auf einen eng begrenzten Stadtkern konzentriert. Die Herrschaftsgebiete
der vier Weeaner Volksgruppen besaßen hingegen eine gewaltige Ausdehnung. »Wohin des Weges?«, fragte ein mürrischer, rot gekleideter Söldner an der Schlagbrücke über die Duuna, Rudibrücke genannt. Wortlos präsentierte einer ihrer vier Begleiter einen Siegelring, der sie als Entsandte der Großen Koalition auswies. Sofort wurde ihnen Platz gemacht. Maddrax betrat die Brücke als Erster. Es war eine merkwürdige Konstruktion. Ein Konvolut aus bröckelndem Beton, rostroten Stahlträgern und überdimensionalen Holzbalken, das in schwindelnder Höhe über das graue Wasser des Flusses führte. Vorsichtig gingen sie weiter und ließen ihrem Wachtrupp gerne den Vortritt. »Ich habe alte und neue Karten verglichen!« Maddrax musste fast schreien, um sich verständlich zu machen. Der kühle scharfe Wind verschluckte seine Worte. »Die Duuna hat in den letzten fünfhundert Jahren ihr Flussbett gehörig verändert. Es sind heute acht große und unzählige kleine Arme, die Wasser führen und ein riesiges sumpfiges Gebiet durchziehen. Diese Brücke hier mag dir groß vorkommen mit ihren dreißig, fünfunddreißig Metern Spannbreite. Doch vor fünfhundert Jahren war sie mindestens fünf Mal so lang.« Aruula schauderte. »Und wo ist die Lagerwiese dieser Merkantoren?« »Gleich hier voraus; auf der ersten, länglichen Insel.« Vorsichtig nahm Aruula die letzten Schritte und war schließlich froh, die schwankende Konstruktion verlassen zu dürfen. Die schweigenden Männer führten sie durch dichten Wald zu einer ebenen Wiese. Geschwärzte Erde zeugte von einem großen und mehreren kleinen Lagerfeuern, die hier gebrannt hatten. Mannschaftszelte standen herum, die meisten zerrissen. Stoffbahnen knatterten laut im Wind. Zehn eiserne und
hölzerne Wägen, teilweise umgestürzt, waren in einem Halbkreis angeordnet. Die wertvollen Waren lagen noch darauf; offenbar hatten die Entführer kein Interesse daran gehabt. Es herrschte rege Geschäftigkeit auf dem Platz. Totenknechte hievten grausam verstümmelte Leichname auf einen offenen Wagen, vor dem zwei Haflaas geduldig warteten. Bei den Toten handelte es sich, wie Aruula mit einem Blick erkennen konnte, ausnahmslos um Wächter der MerkatorenKolonne. Ihre Haut war einen Hauch dunkler als die der Weeaner. Bronzefarbene und von Kämpfen gezeichnete Körper wurden hier aufgebahrt. »Wann fand der Überfall statt?«, fragte Matt einen ihrer Begleiter. »Vermutlich vorgestern Nacht«, antwortete der Skrap kurzangebunden. »Die Toten wurden allerdings erst gestern gefunden.« »Sehen wir uns mal die Spuren an«, sagte Maddrax. Wir!, dachte Aruula spöttisch. Sie blickte sich konzentriert um, ging in die Hocke, prüfte den Boden, unterschied die Fußabdrücke der Entführer von denen der Totenknechte und verfolgte sie. »Die Angreifer kamen aus dieser Richtung« , sagte sie dann und deutete auf einen Trampelpfad auf der anderen Seite der Lichtung. »Sie haben sich entlang der Baumgrenze verteilt und sind dabei ziemlich plump vorgegangen. Ein Wunder, dass die Wachen sie nicht gehört haben...« Sie suchte nach weiteren Hinweisen. Es gab sie zuhauf: da ein gebrochener Ast, dort eine achtlos weggeworfene Kiffette, ein Tuchrest, mehrere Pfeile, und jede Menge Fußtritte im dunklen Moos des Waldes... »Ein Blinder würde erkennen, was hier passiert ist«, sagte sie schließlich, machte keine Anstalten, weiter zu reden und grinste breit, als sie Maddrax' verzweifelten Blick bemerkte.
»Nein, du zählst nicht, mein Lieber. Aber diese traurigen Torfnasen der Stadtwache hätten längst sehen müssen, dass die Gefangenen mit ihren eigenen Wägen weggebracht wurden. Und zwar in diese Richtung.« Sie deutete nach Süden, in den Wald hinein. »Ich sehe keinerlei Spuren«, meinte Maddrax und blickte sie mit großen Augen an. »Das ist auch nicht notwendig«, entgegnete Aruula. »Kein vernünftiger Mensch würde seine Wagen in einem Halbkreis anordnen. Er würde eine Wagenburg bilden. Und sieh dir mal die Zugtiere an.« Sie deutete auf grauhäutige Vierbeiner, die kläglich schrien. »Die Weeaner haben sie eingepfercht, um die Spuren auf der Lichtung besser sichten zu können. Dabei haben sie wohl vergessen, sie zu wassern.« »Ich kann nichts Ungewöhnliches entdecken«, meinte Maddrax. »Es sind achtzehn. Zwei zu wenig, um zehn Wagen zu ziehen. Denn alle haben eine doppelte Deichsel. Das bedeutet, dass sich die Entführer – aus welchen Gründen auch immer – bei ihnen bedient und zwei Tiere mitgenommen haben.« »Schön und gut – aber woher willst du wissen, dass sie den Weg nach Süden genommen haben?« Aruula grinste wieder. »Diese Grauhäuter sind Herdentiere. Dass sie sich jetzt dicht aneinander pressen und kaum bewegen, bedeutet, dass das Leittier fehlt. Und in welche Richtung blöken die übrig Gebliebenen?« Sie brüllten verunsichert in Richtung des Waldes. Nach Süden.
Die Entführer hatten sich nur geringe Mühe gemacht, ihre Spuren weiter zu verwischen, nachdem sie die Fahrzeuge ins Unterholz gelenkt hatten. »Dieser Weg führt zur Wiesenbrücke«, sagte der Skrap. »Eine selten befahrene Schneise. Wer diesen Plan ausgeheckt hat, muss gute Ortskenntnisse besitzen.« »Das wundert uns nicht«, murmelte Matthew. »Die Wiesenbrücke... wohin führt sie? Zurück zur Inneren Stadt?« »Nein«, antwortete der Stadtguardia. »Zur Lustwiese.« »Die... was?!«, fragte Aruula und verschluckte beinahe das Dörrfleisch, an dem sie seit geraumer Zeit herumkaute. »Die Lustwie se«, wiederholte der Skrap. »Dort, wo sich die Bürger und feinen Herren aus allen vier Reichen der Koalition einen Lenz machen. Sie jagen, huren, gehen feist essen oder vergnügen sich an den Schaubuden.« »Interessant«, murmelte Matt, während Aruula nur verständnislos zuhörte. »Ich ahne, wo und was diese Lustwiese ist«, fügte er hinzu, zog seine alte Karte aus den Londoner Archiven zu Rate und nickte dann zufrieden. Sie gingen weiter, die Waldschneise entlang. Matts Versuch, mit Selina McDuncan Kontakt aufzunehmen, schlug fehl. Die Distanz zum EWAT war mit knapp zehn Kilometern und teilweise hügeligem Gelände für eine Direktverbindung zu groß geworden. Die ISS als Funkrelais hingegen stand noch für mehrere Stunden unter dem Horizont, wie das Funkgerät anzeigte. Nun – dann waren sie eben in der nächsten Zeit auf sich alleine angewiesen. Eine Situation, die nicht neu für sie war. Sie näherten sich der Brücke, die sie über die Duuna zum westlichen Ufer Weeans zurückbringen würde. Die Wiesenbrücke. Ein holpriger, aber gerader Weg führte hinauf zum Brückendamm. In beide Richtungen öffneten sich endlos scheinende Wälder. Links, also im Osten, konnte man weitere
Arme der Duuna erahnen. Kilometerweit erstreckte sich Brückenwerk, immer wieder unterbrochen von freien Flächen und Inseln. In weiter Ferne sah Aruula mehrere Menschen, die langsam auf sie zu kamen. »Das Gebiet der Emmaas«, sagte der Skrap. »Viel Wald, viele Untiere und nur wenige kleine Siedlungen und gerodete Flächen. Nicht mehr als fünftausend Menschen leben auf einem Gebiet, das nahezu so groß ist wie das der drei anderen Koalitionsgebiete zusammen.« Sie orientierten sich nach Westen. Zurück in Richtung Stadt. Orguudoos Schlund war von hier gut zu erkennen. Er spuckte, so wie auch gestern, heiße Feuerasche. Sie marschierten auf eine weitere Koalitionsgruppe zu, die hier bei der Duuna-Insel Brückenmaut erhob. Matt hatte mittlerweile den Siegelring der Großen Koalition von dem Stadtguardia übernommen, zeigte ihn her und fragte dann: »Ist euch vorgestern gegen Abend etwas Ungewöhnliches aufgefallen?« Die vier Männer verneinten. Sie hätten keinen Dienst gehabt. »Wo finden wir dann die diensthabenden Wachen von vorgestern?« Gelangweilt ging der rote Koalitionär in das Karbäuschen neben der Brücke und kam nach wenigen Momenten mit einem kleinen Notizbüchlein und gerunzelter Stirn zurück. Er blätterte verwirrt in seinen Unterlagen und sagte: »Seltsam. Wir vier sind zwar eingetragen – aber ich bin mir ganz sicher, dass keiner von uns hier war.« Aufgeregt versammelten sich die Männer und begannen zu diskutieren, eifrig unterstützt von den Stadtguardias in Aruulas und Matts Begleitung. Es verwirrte die Männer anscheinend weniger, dass sie sich an nichts erinnern konnten, als vielmehr, wie das nun mit der Bezahlung für den »vergessenen« Tag
ablaufen würde. Zumal soeben ein Offizier über die Brücke auf sie zu kam. »Sie haben eine Art Gedächtnisblockade«, sagte Matt leise zu Aruula, während sich die Soldaten stritten. »Da waren Daa'muren am Werk.« »Du meinst, die Entführer haben die Kräfte der Außerirdischen für ihre Zwecke ausnutzt?!« »Oder sie waren selbst Daa'muren. Schließlich wissen wir, dass sie sich als Menschen tarnen können. Ich wette, dass alle, die den Verschleppten begegnet sind, genauso behandelt wurden.« »Das würde erklären, warum sie an den Waren der Merkantoren nicht interessiert sind«, sagte Aruula. »Aber was haben sie vor?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, gab Matt zu. »Aber wir sollten uns beeilen, es herauszufinden.« Er sah sich nach den Wachen um. »Solange die Typen ums liebe Geld streiten, sehen sie nicht nach links oder rechts. Die Gelegenheit ist günstig – machen uns aus dem Staub. Zu zweit können wir viel unauffälliger vorgehen.«
Sie erreichten das Ende der Brückenstraße. Eine breite Allee führte wie ein gerader Strich nach beiden Seiten. »Wir befinden uns im sogenannten Prater«, erklärte Maddrax. »Früher war das ein riesiges Erholungsgelände auf einer Insel inmitten der Stadt.« Aruulas Füße bewegten sich wie automatisch. Irgendetwas zog sie vorwärts. Ein Bild, eine Momentaufnahme, die sie möglicherweise im Kopf des unbekannten Verräters der Großen Koalition gesehen hatte.
Eine Ruine, ein riesiges Oval ähnlich dem römischen Kolosseum tauchte bald rechter Hand auf. Maddrax blickte auf die alte Karte und meinte: »Ein ehemaliges Fußball-Stadion. Und daneben ein Schwimmbad. Was für ein Gestank! Heute scheint es eine riesige Senkgrube zu sein.« Die Bäume, übergroße Kastanien, wuchsen über ihnen beinahe zusammen. Die Sonne sank allmählich und es wurde kühl in den Schatten. »Sumpfland«, meinte Maddrax. »Die Alleestraße bildet anscheinend eine Grenze zum urtümlichen Teil der Insel.« Tiere machten sich im Unterholz bemerkbar. Tiere, die hierher gehörten, wie Aruula instinktiv spürte. Kein Grund, nervös zu werden. Rechts tauchten jetzt Lichter auf, Kerzen in verschwenderischer Zahl. Gleichzeitig wurde es lauter. Eine Gruppe betrunkener Männer grölte lautstark. Damen, denen ihr Gewerbe ins Gesicht geschrieben stand, bemühten sich um sie. Jetzt griff Aruula zur Waffe. Rasch marschierten sie an der Gruppe vorbei. Mit Missfallen ignorierte Aruula die unflätigen Aufforderungen, die ihr nachgerufen wurden. Die Menge der stinkenden Paraffin-Kerzen auf der Allee nahm immer mehr zu. In rußgeschwärzten Gläsern hingen sie an niedrigen Ästen. »Siehst du die Buden dort vorne?«, fragte Matt. Sie gingen einen schmalen Seitenweg entlang auf kleine Holzhütten zu – und tauchen von einem Moment zum nächsten in ein Wunderland, ein verlockendes Paradies ein. Schön und gleichzeitig verdorben, glänzend und dennoch schäbig. »Lebzelte!«, rief ein feister Mann und hielt seine Waren mit schmutzigen Fingern in die Höhe. »Limoni und Krapfen!« »Selchwürst, Grammel, Bradelfetten zum Tunken, Kaas!« Die Gerüche vermengten sich zu einem unglaublichen Durcheinander, das Aruulas Sinne vollends verwirrte.
Wirtshäuser mit den fantasievollsten Namen reihten sich aneinander. »Zum grünen Paperl« stand auf dem ersten, dann folgte »Zum wilden Mann«, »Der Taschelzieher« und das »Schwitzerhaus«, alle mit großen und gut gefüllten Gastgärten, in denen es wild zuging. Dazwischen fanden sich Schaustellbuden, bei denen ebenfalls reges Treiben herrschte. »Ein Ringelspiel!«, sagte Maddrax mit glänzenden Augen, »so was hab ich das letzte Mal in meiner Jugend gesehen. Und dort: eine Kegelbahn! Riesenschaukeln! Schieß- und Wurfbuden! Und weiter hinten – das ist tatsächlich eine Hochschaubahn! Ob die noch in Betrieb ist?« Aruula hatte für all das keinen rechten Blick. So sehr es sie auch reizte, stehenzubleiben und einige dieser Vergnügungsstätten näher in Augenschein zu nehmen – irgendetwas zog sie weiter. Auf den großen Platz zu, der sich allmählich öffnete. Die Kastanienbäume endeten hier wie abgeschnitten und machten Platz für das wohl größte Bauwerk in diesem Vergnü gungspark. »Was ist los, Aruula?«, fragte Maddrax heiter, als er ihr hinterher gelaufen kam. »Ich hab's gefunden«, sagte sie. »Was meinst du? Ich sehe nichts...« Er blickte an ihr vorbei. »Das Rad aus den Gedanken des Verräters.« Sie deutete nach vorn, auf das riesige Ding. »Das Wiener Riesenrad!«, sagte Maddrax verblüfft. Sie waren am Ziel...
Vorsichtig näherten sie sich dem Riesenrad. Schatten, die im Licht des späten Nachmittags lang und länger wurden, hatten plötzlich etwas Unheimliches, Bedrohliches an sich.
Dutzende Gestalten lungerten auf dem großen Vorplatz herum. Meist Betrunkene, die auf Bänken ihren Rausch ausschliefen. Ein Pärchen, das alles um sich herum vergessen zu haben schien, war zu einem einzigen breiten Schatten verschmolzen. Eine Taratze mit einem schweren Ring um den Hals fegte den Platz sauber. Eine Stimme ertönte. Zittrig, rau – und Aruula nur zu gut bekannt: »O du lieber Augustin, Augustin, Augustin, O du lieber Augustin, alles ist hin. Geld ist weg, Mad'l ist weg, Alles weg, alles weg. O du lieber Augustin...« Der Bänkelsänger Augustin und seine Musiker standen inmitten einer erhöht gebauten Rotunde am Fuße des Riesenrades. Er hielt eine Sackpfeife im Arm und blies ein paar grässlich klingende Akkorde, die wohl nur Betrunkene und Verliebte ohne Schmerzen aushalten konnten. »Was macht ihr denn hier?«, fragte Matt Drax. Augustin unterbrach seinen Katzenjammer und kam die drei Stufen herabgestürzt, um sie freudig zu begrüßen. »Ach, wir hatten ein klitzekleines Problem mit einer Abrechnung. Eigentlich nicht der Rede wert, aber es ist besser, wenn wir uns eine Zeitlang nicht mehr im Blauen Cafe blicken lassen.« »Ich verstehe.« Matt bemühte sich, ernst zu bleiben. Doch als Augustin seine Version der Geschichte erzählte, musste er grinsen, ob er wollte oder nicht. »... haben wir die fette Wirtin und den Knecht in eindeutig zweideutiger Stellung zusammengebunden und sind verschwunden.« »Aufhören«, lachte Aruula und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ja – aufhören«, sagte auch Matt. »Denn wir haben andere Probleme.«
»Ich bin berühmt dafür, Probleme zu lösen.« Der Sänger warf sich in Heldenpose und quetschte einen erbärmlichen Ton aus seiner Sackpfeife. »Worum geht's denn?« »Um dieses Ding da«, sagte Matt und deutete mit dem Daumen steil nach oben. Augustin folgte seinem Blick. »Das Riesenrad? Das steht schon, solange ich zurückdenken kann«, murmelte er. »Angeblich stammt es aus der Zeit vor Kristofluu. Bis vor kurzem konnte man sogar noch damit fahren.« »Und warum geht das jetzt nicht mehr?«, fragte Maddrax. »Die Große Koalition hat es so beschlossen. Weiß Orguudoo, warum. Die Gondeln waren stets gut besetzt und schaufelten ordentlich Steuergeld in die Stadtkasse, so viel ich weiß.« »Vielleicht hatten die Obmänner Angst, dass es zusammenbrechen könnte«, ließ sich Aruula vernehmen. »Auf mich macht es jedenfalls keinen stabilen Eindruck.« Matthew musste ihr beipflichten. Er schaute auf die so filigran wirkenden Zwischenträger, auf das Geflecht aus Drähten und Abspannungen, auf die zwei großen Arme, welche die Achse des gewaltigen Rades aufnahmen. Überall fehlten Befestigungen und Nieten. Elf Waggons hingen noch dran. Die Fenster waren durch Stahlplatten ersetzt worden. »Die Koalition und Rücksicht nehmen?« Augustin lachte bitter. »Das ist nicht dein Ernst! Die Weeaner Stadtsäcke haben noch nie auf irgendwelche Gelder verzichtet. Auf ein paar Dutzend Tote kommt's denen doch nicht an; Hauptsache sie verdienen dabei.« »Das hab ich mir gedacht«, sagte Matt. »Aber es muss einen triftigen Grund geben...« Er drehte sich im Kreis und ließ den Blick aufmerksam schweifen. Was er genau suchte, wusste er selbst nicht. Sie hatten nicht wirklich damit rechnen können, eine Lösung des
Rätsels auf dem Silbertablett präsentiert zu bekommen, nur weil sie das Rad aus Aruulas Vision gefunden hatten. Der Lärm von den Vergnügungsstätten, der Straßen und Wege hinter ihnen war groß. Frauen kreischten vergnügt, Kinder juchzten. Männer gaben lauthals derbe Bemerkungen von sich. Musik in einem eigenartigen, beschwingten Takt schwebte über dem Platz. Zischen, Platschen und Geknalle drang aus den Schießbuden. Doch seltsam – einige der Schreie hoben sich irgendwie von den anderen ab! Als würden sie aus Angst oder Wut ausgestoßen. »Hörst du es auch?«, fragte Matt seine Gefährtin, die ein geschulteres Gehör als er besaß. Aruula konzentrierte sich, »Schreie!«, sagte sie schließlich. »Sie kommen... von oben!« Sie blickten hinauf in den Himmel. Auf die drei Waggons, die zuoberst im Rad eingespannt waren – und die heftiger schwankten, als der Wind allein sie bewegen konnte!
Es war ein geniales Versteck, das musste Matt anerkennen. Es benötigte keinerlei Bewachung, und bei dem Lärm am Boden rund um die Uhr würde auch niemand auf die Gefangenen aufmerksam werden. Wer kam schon auf die Idee, in einer luftigen Höhe von mehr als fünfzig Metern Menschen zu vermuten? »Wie kommen wir an die Waggons ran?« Matt näherte sich der Treppe, die zum Einstieg in die unten stehende Gondel einlud. Niemand war zu sehen, der ihn daran hindern wollte, den Unterbau des Riesenrades zu untersuchen. »Ich könnte rauf klettern und sie befreien«, schlug Aruula vor.
»Und wie willst du sie dann nach unten bringen?« Matt verzog zweifelnd das Gesicht. »Du kannst unmöglich fünfzig oder mehr Menschen abseilen.« »Das Rad wurde immer durch eine Kurbel bewegt«, sagte Augustin. Er nahm einen langen Schluck aus einer frischen Flasche Veltin. »Seht ihr – dort hinten liegt sie.« Er deutete auf einen Haufen scheinbar wertloser Brat- und Metallroste. Einer davon war in S-Form gebogen; vierkantig und mehr als drei Meter lang. »Damit soll man das Riesenrad in Bewegung setzen können?« Matt konnte es nicht glauben. Trotzdem räumte er einige Bratenspieße und Lattenroste beiseite, packte zu und wuchtete den Vorderteil der Kurbel über seine Schulter. Hinter ihm griffen Augustin und seine Musiker ebenfalls zu. Zu sechst schafften sie es, die Kurbel hochzuheben und in der Führung eineinhalb Meter über dem Boden zu fixieren. »Geschafft«, ächzte Matt. Seine Muskeln schmerzten von der ungewohnten Anstrengung. Die Musiker pfiffen aus dem letzten Loch. »Dann los...« Matt blickte sich um. Keiner der Parkbesucher kümmerte sich um sie. »Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass wir die Kurbel auch nur eine Umdrehung weit bringen, aber versuchen wir's.« Und in Richtung der Musiker, die erschöpft an der Balustrade zum Eingang der untersten Gondel lehnten, meinte er: »Fünf Doppelliter Veltin für jeden, der mithilft, diese Kurbel in Bewegung zu bringen.« Fünf Augenpaare leuchteten hell auf. Im Nu war jede Müdigkeit verflogen. Auch Aruula packte mit an. »Auf eins – zwei – drei!« Zu siebt stützten sie sich mit aller Kraft gegen die Kurbel. Sie ächzte, gab ein wenig nach, hutschte zurück – und ließ sich dann verblüffend leichtgängig im Uhrzeigersinn bewegen. »Unglaublich!«, keuchte Matt. »Eine Art KettenFlaschenzug mit einer riesigen Untersetzung! Schau nach oben,
Aruula! Zehn Umdrehungen hier unten bedeuten eine ganze auf der Mittelachse. Deswegen kann das Gewicht auch relativ problemlos bewegt werden.« Kein Quietschen, kein Scheuern war zu hören. Kurbel, Kette und Flaschenzug bewegten sich wie geschmiert. Langsam setzte sich das Konstrukt aus Stahlträgern und Gondeln in Fahrt. Matt schätzte, dass es mehr als vierhundert Tonnen wog – und dennoch ließ es sich durch eine derart einfache, fast primitive Konstruktion führen. Elf Waggons waren am Riesenrad angehängt. Die Reste von vier weiteren lagen auf dem Boden verstreut und boten wahrscheinlich diversem Getier Unterschlupf. »Nur noch wenige Umdrehungen«, presste Augustin hervor. »Wir sollten langsam bremsen.« Matts sah sich erneut um. Warum hinderte sie eigentlich niemand der feiernden Menschen daran, dieses stolze Symbol einer vergangenen Zeit zu bewegen, obwohl es von der Koalition verboten worden war? Endlich kam die erste der obersten Gondeln vor ihnen zum Stillstand. Keuchend hielten sie inne. Matt hustete. Zu den Muskel- kamen jetzt Kopfschmerzen. Er hatte die Anstrengungen wohl unterschätzt. Leise, fast zaghaft klopfte er gegen die Metallplatte, die die Gondeltüre verschloss. »Hallo da drinnen – könnt ihr mich hören?«, fragte er. »Ja«, kam eine geknurrte Antwort. »Holt uns verdammt noch mal hier raus!« Hm... keine besonders freundliche Stimme. Aber wer wusste schon, was die Männer und Frauen in den letzten Stunden hatten mitmachen müssen? »Einen Moment noch!«, sagte Matt. Ein flaches eisernes Band war wie eine Spange um den Waggon gewunden. Ein primitiver Sperrriegel verband Anfang und Ende. Matt machte sich daran zu schaffen.
Die Musiker waren erschöpft zu Boden gesunken und sogen durstig an ihren Weinflaschen. Aruula hingegen stand neben ihm. Äußerst angespannt, wie er bemerkte. »Sei vorsichtig«, warnte sie. »Die Gefangenen sind... verwirrt.« »Kein Wunder«, meinte Matt. »Wahrscheinlich mehr als sechsunddreißig Stunden in einer finsteren Gondel eingesperrt zu sein, tötet selbst die beste Laune.« Er löste die Verriegelung. Das breite Metallband sprang auseinander, die Stahlplatte über der Eingangstür fiel krachend zu Boden. Fremdartig gekleidete Männer taumelten ins Freie. Es waren die Merkantoren, daran gab es keinen Zweifel. Mit ihnen quoll verbrauchte, nach menschlichen Fäkalien stinkende Luft aus der Gondel. Ein Junge, hoch gewachsen und vielleicht sechzehn Jahre alt, kam auf sie zu. Seine Halsadern waren angespannt, fast verhärtet. Als litte er unter großen Schmerzen. Ein zweiter Mann – blond, zierlich, mit spärlichen Haaren – näherte sich ebenfalls Matt. »Hier stimmt was nicht«, sagte Aruula nochmals. »Sag ool!«, sagte der Junge. Seine Augen glitzerten boshaft im grünen, immer heller werdenden Widerschein eines unheimlichen Lichtes. »Sag ool! Danke!«, meinte auch der Ältere – und rammte Matt einen der Bratenspieße, die neben dem Riesenrad lagen, tief in den Oberschenkel.
»Maddrax!«, schrie Aruula entsetzt. Sie zog ihr Schwert und stellte sich zwischen ihn und die beiden Männer, deren Gesichter sich zu hasserfüllten Fratzen verzerrten. Den großen Jungen trat sie mit einem Wutschrei in den Unterleib, dem
kleinen Mann hieb sie die flache Seite der Klinge gegen die Schläfe. Benommen wankte er zurück. »Ein Kristall!«, stöhnte Matt. Er war zu Boden gestürzt und hielt den eisernen Spieß, der in seinem rechten Oberschenkel steckte. Die neue Uniform aus Spinnenseide hatte der Gewalt des Besessenen nicht standgeha lten. Grünes Leuchten umhüllte das Riesenrad jetzt vollends. Verdammt! Warum hatte er den Kopfschmerz nicht früh genug als Anzeichen erkannt?! Noch fühlte er keinen Schmerz. Noch stand er unter Schock. Er musste jetzt handeln. Matt schob den Spieß mit aller Kraft von sich. Langsam, millimeterweise löste er sich aus dem Fleisch. Seine Hände zitterten vor Anstrengung. Das Blut pochte wie verrückt in seinen Schläfen. Ihm wurde kalt. Kraftlos setzte Matt ab. »Mach schon! Komm hoch!«, herrschte ihn Aruula an. Sie bedachte ihn lediglich mit einem kurzen Seitenblick. Dann schwang sie erneut das Schwert im Kreis und hielt sich die knurrende Meute der beeinflussten Männer vom Halse. Lange konnte das nicht mehr gut gehen. Alle Merkantoren rückten langsam gegen sie vor. Selbst die vier Musiker Augustins hielten ihre wertvollen Instrumente wie Schlagwaffen erhoben. Der Bänkelsänger selbst war nirgendwo zu sehen. Hatte er sich abgesetzt? Matt hyperventilierte. Sein Atem ging wie rasend. Er griff erneut nach dem rostigen Spieß. Nicht an die Verunreinigungen denken, die eben seine Blutbahn vergifteten! In EWAT würde er die Wunden behandeln können. Einfach nur daran ziehen, mit aller Kraft... Matt brüllte seinen Schmerz hinaus, dass der Schrei über den gesamten Platz hallte. Mit einem letzten Ruck löste sich der Spieß. Dunkles Blut schoss aus der Wunde.
»Lauf!«, befahl ihm Aruula. Sie fintierte nach links und rechts, hielt den Abstand der Männer. Der Schmerz blockte die Beeinflussung durch die Daa'muren weitestgehend ab – und dennoch spürte Matt Wut in sich hoch steigen. »Ich lass dich nicht... allein!«, presste er hervor. »Verschwinde, Idiot. Als Klotz am Bein hilfst du mir nicht weiter!« Auch Aruulas Stimme klang verärgert. »Aber...« »Kein aber! Flieh in die Sümpfe! Ich werde dich finden!« Sie hatte Recht. In seinem Zustand konnte er ihr nicht helfen. Matt stemmte sich hoch. Der erste Schritt war der schwierigste. Der Schmerz durchfuhr ihn, als ob ein glühendes Messer in der Wunde herumwühlte. Dann wurde es leichter. Ein wenig zumindest. Matts bewusstes Denken zog sich so weit wie möglich zurück. Wie ein Außenstehender betrachtete er sich selbst, während er langsam, Schritt für Schritt, vom Riesenrad weg taumelte. Die Wunde blutete stark. Die Hauptschlagader war unverletzt geblieben, dennoch musste die Stichwaffe gut durchblutete Gefäße durchtrennt haben. Schritt für Schritt schleppte er sich weiter, eine rote Spur hinter sich her ziehend. Er wagte es nicht, sich umzudrehen. Hätte er bewusst gesehen, wie sich Aruula mit einer Übermacht anlegte, er wäre umgekehrt. Schritt für Schritt. Weg von den Buden. Über die Alleestraße. Matt stolperte und fiel. Stand wieder auf. Schmerz spielte keine Rolle mehr. Er war zu einem Bestandteil seiner Existenz geworden. Eine Böschung.
Geräusche erwarteten ihn im Sumpf. Ein Klopfen und Pfeifen, Krächzen und Knacken. Nachttiere, die inmitten Weeans auf nächtliche Jagd gingen. Verletzte Beute war leichte Beute. So war es im Instinkt aller Raubtiere verankert. Und Matt blutete wie eine Wisaau. Schritt für Schritt humpelte er weiter. Seltsam. Er sah viel mehr Sterne als zuvor. Obwohl sich sein Sichtfeld immer weiter einzuengen schien. Vielleicht war es besser, sich hinzusetzen – oder besser: gleich hinzulegen. Nein! Er musste zuerst die Wunde abbinden. War er weit genug weg von den Verfolgern? Matt griff nach hinten. Nach endlosen Versuchen hielt er den Rucksack in Händen. Was wollte er noch gleich? Ach ja – die Wunde abbinden. Mit ruhigen Fingern, die nicht ihm zu gehören schienen, griff er in den Rucksack. Der Driller rutschte im entgegen. Erst jetzt erinnerte er sich an die Waffe; durch den Schock hatte er sie völlig vergessen. Verdammt, damit wäre einiges leichter geworden... Matt unterdrückte den Ärger und holte den Erste-Hilfe-Pack hervor. Er widersetzte sich seinen Bemühungen. Also biss und zerrte er daran herum, bis er sich entfaltete. Zuerst die Notspritze. Schmerzbetäubend. Blutverdickend. Gegen den Schock. Gegen die Verunreinigungen. Matts Hände waren verkrampft, ließen sich nicht mehr auseinander bringen. Ungeschickt fummelte er die Spritze aus der antiseptischen Verpackung. Er kippte kraftlos zur Seite. Seine linke Gesichtshälfte kam bis zum Mundwinkel im schlammigen Wasser zu liegen. Er sah nur noch mit einem Auge. Irgendetwas, vielleicht ein Wasserläufer oder ein Wurm, krabbelte über seine Wange
hinweg und versuchte in den Mund einzudringen. Er spuckte ihn angewidert aus. Das brachte ihn wieder hoch. Matt rammte sich mit gefühllosen Fingern die Spritze ins Bein, gleich neben der Wunde. Der Himmel, er war so schön, so friedlich. All die wunderschönen kleinen Punkte. Wie hießen sie? Ach ja, Sterne. Er wollte so gerne schlafen...
Aruula hielt sich die wütend anstürmende Meute mühsam vom Leibe. Augustins Geiger bohrte sie die ausgestreckten Fingern in den Magen. Dass er zusammenklappte und bewusstlos liegen blieb, registrierte sie nur am Rande. Denn mit dem Schwert in der anderen Hand hieb sie einem aus dem Gefolge der Merkantoren über den Kopf. Eine Gehirnerschütterung oder Schlimmeres war ihm gewiss. Es blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, dass ihre Gegner von Daa'muren beeinflusst waren und nichts für ihre Aggressionen konnten. Aruula musste handeln, die Menschen aufhalten, damit sich der schwer verletzte Maddrax in Sicherheit bringen konnte. Wenn sie diesem Schauspiel ein Ende bereiten wollte, musste sie zur Quelle des Leuchtens vordringen und sie zerstören! Am Ende der Plattform, auf der das Riesenrad stand, war das Licht am intensivsten. Dort lag ihr Ziel! Aruula stach nach vorn, durchbohr te den Oberarm eines wütenden Angreifers, ließ das Schwert dann wieder kreisen und verschaffte sich so erneut Luft. Sie keuchte. Es war ein Wunder, dass die Merkantoren noch nicht auf die Idee gekommen waren, sie zu umzingeln.
Bedeutete dies, dass die Dämonen aus dem All die Menschen nicht hundertprozentig im Griff hatten? Sie streckte zwei weitere Angreifer nieder. Einer würde wohl nie mehr aufstehen können. Nur noch acht Männer standen zwischen ihr und der Quelle des Leuchtens. Nur noch... Schreie ertönten. Von hinten. Von den Schaubuden her! Sie fuhr herum. Und wusste, dass der Kampf endgültig vorbei war. Ihr blieb nur noch die Flucht. Denn der Wahnsinn hatte sich einer weiteren Hundertschaft von Weeanern bemächtigt. Sie alle kamen auf Aruula zu. Die Barbarin schwang sich über ein Geländer, schlug einige Haken und stürmte mit weiten, federnden Schritten davon, bis sie mit der Dunkelheit verschmolz. Äste und Bäume wurden zu Verbündeten, Schatten zu Freunden. Nahezu geräuschlos bewegte sie sich. Da und dort war eine Amphibie zu hören, die aufgeschreckt in einen der vielen Teiche huschte. Die Verfolger schrien und brüllten wie waidwunde Taratzen. Lärmend und alles niederwalzend stürmten sie hinter ihr her. Aruula hatte Maddrax' Blutspur bemerkt, die rechts von ihr in den Sumpf führte. Sie war bewusst daran vorbei gerannt, um die Weeaner ja nicht in seine Richtung zu locken. Das Wutgebrüll hinter ihr wurde leiser. Sie ließ die Verfolger hinter sich. Aruulas Gedächtnis speicherte besondere Merkmale des Geländes. So würde sie später wieder zurück auf markierte Wege und die Allee finden. Sie huschte von einem kleinen Inselchen inmitten des Sumpfgebietes zum nächsten und wich dabei heimtückischen Wasserlöchern mit traumwandlerischer Sicherheit und dem Instinkt der Wildnis aus.
Dann verharrte sie, verschmolz mit der Umgebung. Die Henna-ähnlichen Linien auf ihrem Körper taten ein Übriges. Kein Mensch hätte sie aus einer Entfernung von mehr als zehn Schritten als menschliches Wesen enttarnt. Ruhe. Vorsichtig kletterte sie auf die obersten Arme eines mangrovenähnlichen Gewächses und räumte es von kleinen bleichen Schlangen und einem Dutzend größerer Schnecken frei, bevor sie sich den Luxus leistete, sich zu setzen und Atem zu holen.
Sie wartete gerade so lange, bis sie sicher war, dass die Verfolger aufgegeben hatten. Wie erwartet bereitete es ihr keinerlei Schwierigkeiten, den Weg zurück zur Allee zu finden. Sie hetzte an deren linken Rand entlang, so schnell es ihr möglich erschien. Die Sorge trieb sie vorwärts. Maddrax... wie tief und schwer war die Verwundung gewesen? Da vorne verlief die Blutspur. Es war kein Mensch zu sehen. Die Verfolger mussten sich nun, eine halbe Stunde nachdem sie sich auf dem Mangrovenast in Sicherheit gebracht hatte, gänzlich verlaufen haben und ihre normalen Tätigkeiten wieder aufgenommen. Das grüne Leuchten war von hier aus nicht zu erkennen. Das Riesenrad sehr wohl. Sie drang in das Niederholz vor. Hier war er gefallen, dort mit schwerem Schritt knapp an einem tiefen Sumpfloch vorbeigestolpert. Überall waren selbst im Schwarzweiß der Nacht die gestockten Blutspuren zu sehen. »Maddrax!«, flüsterte Aruula leise. Er konnte nicht weit weg sein – sie roch es förmlich.
Da. Ein Hügel, dahinter ein glitschiger Hang, hinab zu einer größeren, flachen Lache. Dort lag etwas. Bewegungslos. Sie rutschte hinab; das Herz schlug ihr bis zum Hals. Aruula drehte, den Körper herum. Er war kalt, und er sah schrecklich aus. Zornig fegte sie Dutzende Würmer und Schnecken beiseite, die über Maddrax hinweg glitschige Spuren gezogen hatten. Mehrere fingerlange Blutegel zupfte sie ihm von den Wangen. Er atmete! Erlebte! Die Nadel einer abgebrochenen Spritze steckte in seinem Oberschenkel; die verkrampfte Rechte umklammerte den Rest davon. Die Blutung hatte aufgehört. »Maddrax, ich liebe dich!«, flüsterte sie und wischte ihm Schlamm aus Gesicht und Mund. Tränen fielen hinab, tropften auf seine Wange – und er öffnete die Augen.
Minuten vergingen, bis Matt langsam und mühselig ins Leben zurückfand. Aruula hatte seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt; wie ein kleines Kind lag er da und spürte die Hitze ihrer Haut. Ein kurzer Schmerz durchzuckte ihn, als sie die Kanüle der Spritze aus seiner Haut zog. Dann tupfte sie mit einem sauberen Tuch sorgfältig die Wunde an seinem Bein ab. Eine jede Berührung tat weh. Die Notfallspritze aus dem Erste-Hilfe-Pack, die er sich gesetzt hatte, war ein Wunder der Medizin. Ein Spitzenerzeugnis aus den Laboratorien der Londoner Community. Deren Ärzte hatten sich aus verständlichen Gründen lange und ausgiebig mit körperlicher Immunität, bakteriologischen Verunreinigungen und dergleichen beschäftigt.
Aruula goss die verschorfte Wunde mit sauberem Trinkwasser aus. Dann nahm sie das silberne Dreieckstuch aus dem Pack, legte einige gut durchgekaute Pflanzen darauf und verband ihm den Oberschenkel. »Kannst du aufstehen?«, fragte sie. »Anscheinend wird es zur Regel, dass du mich verpflegen musst«, beschwerte er sich lächelnd. Er stützte sich an ihr ab und zog sich hoch. »Pass in Zukunft vielleicht besser auf, mit wem du spielst«, erwiderte sie spöttisch. Und fragte, ernst geworden: »Wie fühlst du dich jetzt?« »Wie sehe ich denn aus?« »Wie Wakuda-Dung, der lange in der Sonne lag.« »Dann hast du deine Antwort.« Das Grinsen fiel ihm schwer; wieder einmal tanzten Punkte und Sterne vor seinen Augen. Matt seufzte schwer und griff nach dem Funkgerät in seinem Rucksack. Nach wenigen Sekunden erhielt er ein Freisignal. Die ISS musste demnach über dem Funkhorizont erschienen sein. »Selina – können Sie mich hören?« »Dem Himmel sei Dank – Sie leben!« Die Frau war sichtlich erleichtert. »Wir haben Sie anhand des Funksignals bereits geortet. Digger-3 kreist über Ihnen. Wir landen in wenigen Minuten.« »Woher wussten Sie, dass wir Schwierigkeiten hatten?« »Sie haben das verabredete Zeitfenster für den Funkkontakt verpasst«, erwiderte sie. Richtig. Matt straffte sich und ignorierte das Wummern in seinem Bein. »Beeilen Sie sich, Selina! Wir haben einen Haufen Arbeit vor uns.«
Selina McDuncan landete den EWAT kurzerhand im Sumpf. Bäume knickten, Tiere unbekannter Herkunft, darunter einen Meter große Frösche mit aufgeblähten, feuerroten Backen, flüchteten aus dem brackigen Landegebiet. »Schön, euch wiederzusehen«, sagte Matt, und schwang sich ächzend an Corporal Andrew Farmer vorbei in die Heckschleuse. Selina wurde blass, als sie ihn erblickte. Offensichtlich sah er wirklich nicht besonders toll aus. Matt riss sich die Uniform vom Körper und betrachtete sich kritisch. Er musste ein weiteres Dutzend Blutegel von Brust und Bauch lösen, die den Weg ins Innere seiner Bekleidung gefunden hatten. Captain McDuncan drängte ihn auf eine der Liegen. Sie beschmierte Kratzer und gröbere Blessuren mit einem Tiegel Heilsalbe und öffnete dann behutsam den Notverband. Ihr besorgtes Kopf schütteln sagte alles. »Das gehört von einem Arzt behandelt, Commander. Die Wunde ist sehr tief. Da wurden wahrscheinlich wichtige Gefäße verletzt. Wie ist das passiert?« »Jetzt ist keine Zeit, Selina«, antwortete er. »Weder für langwierige Untersuchungen, noch für Erklärungen. Geben Sie mir ein kreislaufstützendes Mittel und erneuern Sie den Verband.« Nach einem Seitenblick auf die Barbarin fügte er hinzu: »Verwenden Sie auch wieder die Pflanzenmasse, die mir Aruula auf die Wunde gelegt hat.« »Kein Problem, Sir«. Selina lächelte. »Die hat mittlerweile Eingang in die Bordapotheke gefunden.« Die beiden Frauen blickten sich flüchtig an. Die Verarztung nahm nicht mehr als fünf Minuten in Anspruch. Das kreislaufstabilisierende Mittel wirkte Wunder. Es war Raubbau am Körper, den er jetzt betrieb. In Wirklichkeit gehörte er ins Krankenbett.
Doch er hatte eine Rechnung mit den Daa'muren offen. »Selina«, sagte er und zeigte auf eine Karte, »fliegen Sie uns hierhin und landen Sie direkt neben dem Riesenrad. Wir haben das grüne Leuchten lokalisiert. Jetzt machen wir Nägel mit Köpfen.«
Der Platz war nicht wiederzuerkennen. Mehrere Dutzend Menschen lagen bewusstlos oder tot am Boden. Andere gingen ziellos, wie in Trance, umher. Verwirrung und Verzweiflung war zu sehen – und zu spüren. Von dem grünen Leuchten war nichts mehr zu sehen. Matt stieg vorsichtig aus dem EWAT. Diesmal hielt er den Driller griffbereit. Zudem wusste er die Deckung durch die Schiffsbesatzung hinter sich. Er erkannte den kleinen Mann mit dem schütteren blonden Haar, der ihm den Spieß in den Oberschenkel gerammt hatte. Er kniete am Boden, blickte umher und betrachtete immer wieder fassungslos seine blutverkrusteten Hände. Matt näherte sich ihm, auf alles vorbereitet. Der Mann sah hoch. »Erkennst du mic h?«, fragte er ihn, und hielt ihm die Faustfeuerwaffe unter die Nase. »Nein«, murmelte der Merkantor. »Ich hab keine Ahnung, was ich hier mache. Und warum meine Hände bluten. Wo bin ich?« »Das ist nicht dein Blut.« Matt beherrschte sich. Er machte sich einmal mehr klar, dass der Mann keine Schuld trug. Es waren die Daa'muren – und vielleicht auch ihre menschlichen Verbündeten –, die er zur Verantwortung ziehen musste. »Kannst du dich an irgendwas erinnern?«
»Der Überfall auf der Duuna-Insel.« Der Merkantor stockte. Der Gedanke daran schmerzte ihn sichtlich. »Überall tote Wachen. Panik und Geschrei. Wir wurden verschleppt, mit verbundenen Augen. In einen dunklen, zugigen Raum eingepfercht, der im Wind hin und her schwankte.« Dankbar trank er vom Wasser, das ihm Aruula reichte. »Plötzlich war da ein Schmerz zwischen meinen Augen, als ob mir jemand ein heißes Messer in den Kopf gejagt hätte. Ich... ich glühte von innen heraus, und ich fühlte, wie Zorn in mir hochstieg. Dann... weiß ich nichts mehr.« »Erinnerst du dich an den grünen Schein?«, fragte Matt. Kurz flackerte Panik in den Augen des Mannes auf. »Das Leuchten... ja! Es war in meinem Kopf!«. »Und hier draußen«, fügte Matthew an. »Hast du gesehen, wohin es verschwunden ist?« Der Mann zog die Augenbrauen zusammen. Erst sah es so aus, als könne er sich auch daran nicht erinnern, doch dann entspannte sich seine Miene. »Es wurde weggebracht... glaube ich. Es kam aus einem großen Kristall!« »Wer hat es weggebracht? Und wohin?« »Ein Mann... Er lud den Kristall in einen Mula-Karren...« »Nur ein Mann? Und nur ein Kristall?« »Ja. Oder doch nicht? Ich... ich kann mich kaum erinnern...« »Wohin ist er gefahren?«, drängte Matt. »Ich... ich weiß es nicht...« Der Merkantor ließ die Wasserflasche fallen und kroch von Matt weg. Er bewegte sich auf allen Vieren, nach wie vor völlig desorientiert. »Meine Frau... das Baby...«, murmelte er. »Selina?« »Ja, Commander?« Die Pilotin trat zu Matt. »Ich möchte, dass Sie, Steve und Andrew diesen Menschen hier helfen. In den beiden untersten Waggons des Riesenrades befinden sich voraussichtlich weitere gefangene Merkantoren. Helfen Sie ihnen, wieder zu sich zu kommen.«
»Und was haben Sie vor, Sir?« »Aruula und ich werden uns auf die Jagd begeben.«
Aruula hatte das Gespräch mit dem Merkantor verfolgt. »Wie finden wir diesen Wagen?«, fragte sie und blickte sich um. Aber natürlich war das Gefährt längst nicht mehr zu sehen. Matt blickte am Riesenrad hoch. »Von da oben hätte man sicher einen guten Überblick«, überlegte er. »Aber wir fünf schaffen es sicher nicht, die Kurbel zu drehen.« »Kein Problem«, strahlte Aruula. »Ich brauche keine Kurbel, um da hoch zu kommen. Schließlich habe ich zwei gesunde Bei... oh. Entschuldige.« Matt grinste. »Schon okay. Aber wenn du auf dieses marode Ding klettern willst – vergiss es!« »Na – du wirst es ja wohl kaum können, oder?«, sagte sie entwaffnend logisch. »Außerdem ist ›Klettern‹ mein zweiter Vorname.« Damit sprang die Barbarin mit einem Satz auf die unterste »Speiche« des Riesenrades. Behände wie ein Eichhörnchen kraxelte sie das Metallgerüst hoch. Sie schlüpfte zwischen Trägern hindurch, klammerte sich an rostigen, faustgroßen Nieten fest, schwang sich in der Dunkelheit wie weiland Tarzan durch das Labyrinth des Gestänges. Binnen weniger Minuten hatte Aruula die Hälfte der Strecke bewältigt. Sie verharrte kurz, blickte sich um – freihändig, sodass Matt bereits vom Zusehen schwindelte – und kam im selben affenartigen Tempo wieder herab gehangelt. »Wir haben ihn«, sagte die Barbarin. Sie war kaum außer Atem. »Konntest du den Karren sehen?«
»Ja. Mit zwei vorgespannten Mulas. Er fährt auf einer Straße, die schnurstracks aus der Stadt hinaus führt.« »Gut. Dann hinterher!« »Kannst du laufen?« »Es geht schon. Ich spüre kaum noch Schmerzen.« Er verschwieg, dass er das ganze Bein kaum spürte. Die Spritze hatte eine betäubende Wirkung. Die Barbarin nickte knapp und lief los. Matt hatte Mühe zu folgen. Sein gefühlloses Bein drohte immer wieder wegzuknicken. Es dauerte einige Minuten, bis er gelernt hatte, es richtig zu belasten. Er wusste, dass Aruula sehr wohl auf ihn Rücksicht nahm. Sie hätte ein weitaus höheres Tempo anschlagen können. Sie liefen entlang des Kanaals, einem weiteren kleinen Seitenarm der Duuna. Rechts von ihnen brannten einige Feuer. Stadtbewohner, den Farben ihrer Bekleidung nach Fjacks, hatten sich inmitten eines Trümmerfeldes bescheidene Hütten errichtet. Argwöhnische Wächter der kleinen Siedlung, mit Armbrüsten bewaffnet, zogen grimmige Gesichter, als sie vorbei hasteten. Weiter ging es über eine pontonähnliche Brücke, breit genug, um ein Gespann mit wenig schreckhaften Tieren passieren zu lassen. Immer wieder blieb Matt stehen. Nicht nur, um Atem zu holen. Er fragte die wenigen Menschen, die sie unterwegs trafen, nach dem Karren, dem sie nachhetzten. Niemand konnte sich erinnern, dem Wagen begegnet zu sein. Der Daa'mure – war es tatsächlich nur dieser eine, der all das Chaos hier verursacht hatte? – ließ also seine Kräfte nach wie vor wirken, um alle Spuren zu verwischen. Wer aber saß auf dem Kutscherbock? War es ein getarnter Daa'mure im neu gezüchteten, wandelbaren Echsenkörper, oder arbeitete tatsächlich ein Mensch mit dem Außerirdischen zusammen?
Matt fluchte leise. Sie hatten einen Fehler begangen, anzunehmen, dass sich der Verräter in der Türmerstube festsetzen ließ. Mit Hilfe des Daa'muren hätte er die Große Koalition natürlich beeinflussen können – und war kurzerhand zum Riesenrad geeilt, um ihnen eine Falle zu stellen. »Geht es noch?«, fragte Aruula. »Solange du die Mohrrübe spielst, die vor mir baumelt, laufe ich weiter«, keuchte Matt und grinste schwach. Er deutete nach vorn. »Ist das der Wagen?« Links und rechts bogen sich lange dornige Arme eines unbekannten Gestrüpps über den holprigen Weg. Wenige mickrige Funzeln erzeugten ein wenig Licht und beleuchteten einen altersschwachen Karren, der im Schritttempo von zwei Mulas gezogen wurde. »Ja«, sagte Aruula lapidar. »Gut. Langsamer jetzt.« Matt ging normal weiter. »Dort vorne beginnen, wenn ich mich nicht täusche, die Bauten der Inneren Stadt. Wir erwischen den Daa'muren nicht mehr vor den Kontrollen der Koalition.« »Was spielt das für eine Rolle?«, fragte Aruula. »Je dichter das Gebiet besiedelt ist, desto mehr Menschen kann der Daa'mure beeinflussen und auf uns hetzen. Wir dürfen ihn erstens nicht merken lassen, dass wir hinter ihm her sind, und ihn zweitens nur in einer Gegend angreifen, in der keine Menschen sind. Ich verlasse mich auf deinen Lauschsinn, Aruula. Du musst mir sagen, sobald du möglichst wenige Leute in der Umgebung spürst.« Aruula nickte knapp. »Verringern wir den Abstand, so weit es geht.«
»Jetzt!«, flüsterte die Barbarin.
Matt und sie liefen los. Die Dunkelheit schützte sie. Das Geklapper der beschlagenen Hufe übertönte jedes andere Geräusch. Aruula war wie erwartet schneller am Karren. Matt hastete hinterher. Der Schmerz in seinem Bein machte sich wieder stärker bemerkbar. Die Wirkung der Spritze ließ allmählich nach. Geschmeidig wie eine Katze sprang die Barbarin auf den Wagen. Matt sah, wie sie kurz innehielt. Sie wic h irgendetwas auf der Ladepritsche aus. Matt machte einen letzten humpelnden Schritt und stemmte sich an der hinteren Ladeklappe hoch. Er konnte ein Stöhnen nicht verhindern, als er mit den Oberschenkeln über die Holzfläche glitt. Der Kutscher drehte sich um. Eine braune Kapuze hing ihm tief ins Gesicht. »Bei Orguudoo!«, fluchte Kahagee. Denn um keinen anderen handelte es sich! Hasserfüllte Augen starrten aus dem Dunkel der Kapuze hervor. Augen, die grün zu glühen schienen – und Matts Blick wie eine Lanze trafen. Grüne Augen, die in sein Innerstes blickten und nach seinem Verstand griffen, um ihn wie mit einer glühend heißen Zange zu zerreißen. Aruula, die ebenfalls irritiert wirkte, handelte schnell. Mit einem wuchtigen Faustschlag traf sie Kahagee an der Schläfe und fegte den Heshaa wie einen nassen Sack vom Kutscherbock. Gleich einem wilden Tier sprang sie hinterher. Noch bevor der Mann auf dem Boden aufschlug, war sie über ihm und versetzte ihm einen Tritt gegen die Brust. Sofort ging es Matt besser, ließ der Druck nach. Die Umrisse des Wagens wurden für ihn wieder erkennbar; ebenso der abgedeckte Quader, der gedämpft grünlichen Schimmer verbreitete – und der bewusstlose oder tote Augustin, der seitlich am Block hinabgerutscht war!
Offenbar ging die Suggestion nicht direkt von dem Kristall aus; der Daa'mure benutzte Kahagee als Medium. Nur so war es zu erklären, dass sie nun, da der Heshaa außer Gefecht war, nicht weiter beeinflusst wurden. Das erinnerte Matt frappierend an die »Auserwählten«, einen von den Daa'muren kontrollierten Stamm, der andere Menschen in Neandertaler zurück verwandeln konnte. Was er damals am eigenen Leib hatte erfahren müssen... Die beiden Mulas, die Kahagee den Merkantoren entwendet hatte, schrien erbärmlich. Die langen Ohrenzügel hatten sich im Räderwerk verfangen. Jede Bewegung des Karrens musste den Tieren Schmerzen bereiten. Dennoch hüpften sie panikerfüllt hoch und nieder, schlugen aus und trafen dabei den kastenförmigen Wagen. Matt ließ sich auf die Knie fallen. Er musste die Tiere unbedingt zur Räson bringen! Und gerade jetzt meldeten sich die Schmerzen im Bein mit voller Wucht zurück! Langsam, Handgriff vor Handgriff arbeitete er sich nach vorne. Da waren die Zügel, peitschten vor ihm auf und nieder, verfingen sich immer wieder in der Deichsel, der Bremse und den Rädern. Matt richtete sich halb auf. Schnappte nach den Lederriemen. Verfehlte. Probierte es neuerlich – und diesmal gelang das waghalsige Manöver. Hastig entwirrte er die Zügel. Er ließ sie langsam nach, sodass sich, die Mulas beruhigten. Der Wagen blieb stehen. Zwanzig, dreißig Meter von Aruula entfernt, die Kahagee das Schwert vor die Brust hielt. »Brrr! Ruhig, meine Lieben.« Mit sonorer Stimme beruhigte Matt die Mulas. Fast. Denn der linke schlug zornig ein letztes Mal aus und traf den Kutschbock.
Matt verlor das Gleichgewicht. Er schrie vor Schmerz auf, als sein ganzes Körpergewicht kurzfristig auf dem verletzten Bein lastete – und kippte nach hinten. Matt schlug mit dem Kopf schwer auf das kristalline Gestein. Die darüber liegende Decke minderte den Aufprall kaum. Augenblicklich verlor er das Bewusstsein.
Er schwebte in einer seltsamen Zwischenwelt. Weder träumte er, noch war er wach. Doch Matt war sich seines merkwürdigen Zustandes durchaus bewusst. (Du bist ein interessantes Wesen), sagte eine nicht greifbare Stimme, die von überall her zu kommen schien. Sie strahlte Kühle aus – und zugleich eine unbegreifliche... Naivität. Ich bin ein Mensch, dachte Matt konzentriert. Wollte ihn der Daa'mure einlullen? Einen Moment der Schwäche abwarten und dann Besitz von ihm ergreifen? (Auch Ka'ha'gee ist ein Mensch. Doch sein Geist ist... ist... fleckiger.) Fleckiger? Was meinst du damit? Matt verstand kein Wort. Warum attackierte ihn der Daa'mure nicht? Schließlich war er der deklarierte Erzfeind der Aliens. (Ka'ha'gees Substanz ist schattig und dunkel. Manchmal wird sie von rötlichen Blitzen durchzuckt. Dann sagt er, dass er böse oder wütend sei.) Eine kurze Pause entstand. (Dein Denken ist strukturierter. Übersichtlicher. Schöner.) Als wäre damit alles gesagt, schwieg der Daa'mure. Matt spürte Erregung in sich wachsen. War dies die Möglichkeit, Kontakt – richtigen Kontakt! – mit einem der so fremdartigen Wesen aufzunehmen? Zu einer Übereinkunft oder zu einem gewissen gegenseitigen Verständnis zu gelangen? Wie heißt du?, fragte er. Mein Name ist Matt.
(Ich bin Elge'leq'thein. Dein Name ist nicht vollständig. Stehst du außerhalb der symbiotischen Einheiten? Bist du geächtet? Oder bist du weniger als ein Leq? Bist du deiner gerade erst bewusst geworden?) N...nein. Unsere Namen haben eine andere Bedeutung als bei euch, sagte oder dachte Matthew aufs Geratewohl. Sag mir, was ein Leq ist. (Ka'ha'gee zeigte niemals Interesse an mir. Ein weiterer interessanter Unterschied.) Das Fremd wesen machte eine Pause, als überlegte es angestrengt. (Ein Daa'mure wird geboren. Mit seiner Bewusstseinswerdung wird er zum Leq), meinte es schließlich. Matt verstand plötzlich. Ein Kind. Er unterhielt sich mit einem Daa'murenkind!
Aruula hielt die Schwertspitze an den Hals des Heshaas. Eine einzige unbedachte Bewegung dieses Verräters, und sie würde seine Kehle durchbohren. »Was... was ist los?« Ächzend richtete sich Kahagee auf. Die Kapuze war zurückgefallen. Seine linke Gesichtshälfte schwoll allmählich an. »Wo bin ich? Wer bist du?« Mit großen Augen blickte der Heshaa Aruula an. »Kannst du dich an nichts mehr erinnern?«, fragte sie argwöhnisch. »Nur vage. Da war dieses Licht, das von mir Besitz nahm.« Er kniff die Augen zusammen, als ob er scharf nachdenken müsste. »Alles war verschwommen, wie von einem Schleier verdeckt. Wie in einem bösen Traum, aus dem ich nicht mehr erwachen konnte.« Kahagee sah Aruula gequält an. »Kann es sein, dass es mehr als das war? War dieser böse Geist
tatsächlich in mir und hat mich all diese Dinge tun lassen, an die ich mich dunkel erinnere?« Aruula nahm das Schwert ein wenig zurück. Dies war kein Gegner, wie sie ihn erwartet hatte. Offensichtlich hatte Kahagee gänzlich im Bann des Daa'muren gestanden – und das über mehrere Jahre hinweg! Seine Gedanken konnte sie nicht deuten. Sein Hirn schien so leer wie das eines Neugeborenen. »Bei Wudan«, murmelte er verzweifelt. Der Heshaa barg den Kopf zwischen beiden Händen und wippte vor und zurück. Vor und zurück. »Ich war ein Opfer« , sagte er weinerlich, »ein Opfer dieser Kristallbestie! Jetzt erinnere ich mich langsam wieder an alles. O ihr Götter – ich kann doch nichts dafür! Was habe ich nur getan. All die Jahre...« Kahagee zog die Beine an. Er klemmte den Kopf dazwischen. So wie sie es tat, wenn sie lauschte. Aruula ließ das Schwert endgültig sinken. »Du warst für dein Tun nicht verantwortlich«, meinte sie schließlich tröstend und griff ihm besänftigend an die Schulter. »Nett, dass du es so siehst, naives Gör«, entgegnete Kahagee. Er hob den Kopf und grinste hämisch. Seine Augen glänzten grünlich. Dann waren die Männer heran. Ein Dutzend insgesamt. Drei von ihnen warfen sich mit aller Wucht auf sie.
Matt sammelte seine Gedanken. Konzentriert überlegte er und schirmte sich so gut wie möglich nach außen ab. Was auch immer dieses »außen« war. Oder konnte der junge Daa'mure gar alles deuten, was er dachte? Keine Reaktion des jungen Bewusstseins, dessen geistige Substanz in einer kristallinen Struktur geborgen – oder
gefangen – war. Elge'leq'theins mentale Stimme blieb stumm. Anscheinend gab es einen Wall, hinter dem Matt seine geheimsten Gedanken verbergen konnte. Gut. Erzähle mir von dir, forderte Matt den Daa'muren auf. Wie bist du hierher gelangt? (Das ist alles sehr schwer für mich), antwortete Elge'leq'thein. (Ich habe wenige Erinnerungen an das Früher.) Pause. (Es gab einmal viel mehr Hitze. Angenehme, kochende Hitze. Ich war glücklich mit meiner symbiotischen Einheit. Ich hatte einen anderen Körper damals. Einen Körper, mit dem ich mich bewegen konnte. Dann wurde alles anders. Die Sils und Luns waren aufgeregt; selbst die Sols wurden nervös. Großes Unglück sollte passieren; ich weiß nicht, was die Alten damit meinten. Meine Erzeuger nahmen mich in ihre Mitte. Ich verließ mit ihrer Hilfe meinen Körper – und steckte plötzlich in diesem... Block. Und dann weiß ich nichts mehr... bis ich erwachte.) Du hast also geschlafen?, fragte Matt nach. (Es war mehr eine Art Traum. Ein endlos langer Traum.) Und wie bist du erwacht? (Zuerst durch einen Ruck. Einen großen, mächtigen Ruck: Ka'ha'gee meinte einmal, dass ich vom Himmel gefallen wäre, im Auftrag Orguudoos. Ich weiß leider nicht, was er damit meinte.) Und du bist bereits seit fünfhundert Jahren wach? Ich meine: seit fünfhundert Sonnenumläufen? (Nein. Dieser Ruck ließ mich in der Nähe einer Hitzequelle landen. Die Glut umfing meinen kristallenen Körper, doch sie blieb nicht flüssig wie in meiner Heimat. Sie erstarrte und quetschte ihn in einen Mantel aus Gestein, der immer kälter wurde und mich fast erdrückte. Es war unangenehm. Ich konnte niemanden mehr spüren, keine Gedanken mehr
erkennen. Ich hatte Angst. Ich wollte nicht mehr wach sein. Ich beschloss, wieder zu schlafen. Solange, bis...) Bis was?, fragte Matt nach, der dem jungen Daa'muren die Unsicherheit anmerken konnte. (Bis ich die Hitze erneut fühlte. Diesmal befreite sie mich, verdampfte die steinerne Hülle. Plötzlich waren wieder Gedanken da. Die eines Menschen. Die von Ka'ha'gee.) Er hat dich mit sich genommen? (Ja. Er wollte, dass ich ihm diene. Dann würde er mir helfen.) Bei was sollte er dir helfen? Schweigen. Matt wiederholte die Frage. (Er hat mir etwas versprochen), sagte Elge'leq'thein schließlich. (Wenn ich ihm helfen würde, mit den ontologischmentalen Substanzen anderer Menschen zu spielen, würde er mich zu meinen Erzeugern bringen.)
Matt zog sich in sein Innerstes zurück und hoffte, dass tatsächlich eine gedankliche Barriere zwischen dem Daa'muren und ihm stand. Was sollte er mit diesem Wesen anfangen? Es war einerseits sein Feind. Und andererseits ein unschuldiges Kind, das von dem heimlichen Krieg, der auf der Erde zwischen seiner Rasse und den Menschen herrschte, nichts ahnte. Die Gedanken des jungen Daa'muren waren verworren. Er war nicht ängstlich in dem Sinne, wie es auf ein Menschenkind zutreffen würde. Er war verstört und reagierte irrational. Kahagee, dem die Machtgier förmlich bei den Ohren und der Nase heraustropfte, hatte die Möglichkeiten rasch erkannt,
die sich ihm boten. Der Heshaa hatte die telepathische Begabung des Daa'muren förmlich in sich aufgesogen und dazu benutzt, andere Menschen in seinem Sinne zu beeinflussen. Er speicherte einen gewissen Teil der mentalen Energie in sich und konnte sie auf seine Umgebung anwenden. Doch zwischendurch musste er seinen psychischen Tank immer wieder auffüllen. Die weitergegebenen Kräfte des Daa'murenKinds hielten nicht lange vor. Es war ähnlich wie bei den »Auserwählten«. Damals jedoch waren körperliche Deformationen der Beeinflussten mit ihrer psychischen Veränderung einher gegangen. Die Kräfte von Elge'leq'thein mussten anders gelagert sein. Sie waren roher und ungeschliffener. Das hatte möglicherweise mit dessen Jugend zu tun. Aber eigentlich interessierte das Matt nicht. Tatsache war, dass Kahagee letzten Endes von den Launen eines Kindes abhängig gewesen war. Das hatte wohl letzten Endes dafür gesorgt, dass der Heshaa nie die Macht in Wien hatte übernehmen können. Denn Kinder handelten nicht logisch. Matt war am Ende seiner Überlegungen angelangt. Nun hatte er eine folgenschwere, eine weitreichende Entscheidung zu treffen. So schwer es ihm fiel, in einem grünglänzenden Kristallblock ein Kind zu sehen – noch dazu ein Kind der Daa'muren – er musste ihm helfen. Schon allein weil es ein Bindeglied und Mittler zwischen zwei völlig verschiedenen Rassen sein konnte. Elge'leq'thein, dachte er schließlich und gab dabei seine geistige Deckung nahezu vollständig auf, du darfst Ka'ha'gee nicht vertrauen. Du erinnerst dich, was du über seinen Verstand sagtest? Er sei fleckig – und böse. Matt machte eine kurze Pause. Du kennst die Bedeutung des Wortes »böse«?
(Ein Konzept, bei dem Worte und Handlung einander widersprechen.) So ähnlich könnte man sagen, ja. Ich möchte dich bitten, nun tief in meinen Geist zu schauen. Sieh nach, ob du dieses... Konzept findest. Dann wirst du wissen, ob du dich für meine Hilfe oder die Ka'ha'gees entscheidest. Matt brach seinen Schutzwall nieder und ließ das Daa'murenkind in seinen Geist. Er war sich des Risikos wohl bewusst. Wenn der Daa'mure von dem Konflikt erfuhr und einen negativen Schluss daraus zog, war er erledigt...
Aruula war überrascht. Dennoch gelang es ihr, mit einem Sprung zur Seite zwei der drei Männer auszuweichen. Es waren derbe, schwarz gekleidete Gestalten, die sich wie Ratzen aus dem Unrat gewühlt hatten. Der dritte Beeinflusste hängte sich an ihren Arm. Seine Augen waren stumpf, seine Bewegungen hölzern. Kahagees Kontrolle über die Männer war nicht mehr vollständig. Überraschend ließ sich Aruula zu Boden fallen und riss die Gestalt mit sich. Die Barbarin rollte sich ab, stieß dem Weeaner das Knie vor die Brust und hebelte ihn über sich hinweg. Hilflos wie ein Käfer kam er auf dem Rücken zu liegen. Zappelnd und nach Luft schnappend. Aruula war sofort wieder auf den Beinen. Sie griff nach dem Schwert, das sie kurz fallen gelassen hatte, knurrte wild und bleckte die Zähne. Weitere Gestalten sammelten sich um sie. Sie deckten Kahagee ab, der sich feige zurückzog und dabei auch noch selbstzufrieden grinste. Aruula hob das Schwert. Es reichte mit der Rücksichtnahme auf die Beeinflussten! Diesmal würde ihr der Heshaa nicht
entkommen. Sie würde sich eine Bresche schlagen – koste es, was es wolle. Die Barbarin stieß einen Schrei aus, in dem aller Frust steckte – und ließ das Schwert niedersausen... »Stopp!«, rief eine Stimme, die sie nur zu gut kannte. Der sie bedingungslos vertraute. Noch bevor der Hieb einen Schädel spalten konnte, änderte sie die Schlagrichtung um einen Hauch. Funkenschlagend fuhr das Schwert über den steinernen Boden. Maddrax! Er stand auf dem Kristallblock, in dem der Geist des Daa'muren gefangen war. Und der in hellstem, strahlendsten Grün leuchtete. Die Angreifer indessen rührten sich nicht mehr. Wie Statuen standen sie da, mit ausdruckslosen Gesichtern. »Der Daa'mure und ich sind zu einer Übereinkunft gekommen«, sagte Maddrax. Er schloss kurz die Augen. Hielt er ein Zwiegespräch mit dem unheimlichen Wesen? Wurde er von ihm beeinflusst? »Das Abkommen zwischen ihm und Kahagee hat keine Gültigkeit mehr«, ergänzte er schließlich. Die mittlerweile knapp zwanzig Männer und Frauen zuckten kurz, als ob sie aus einem Traum erwachten. »Geht nach Hause«, sagte Maddrax zu ihnen. »Alle.« Sie gehorchten. Ratlos, ohne Plan. »Du nicht«, zischte Aruula Kahagee zu, der sich seitwärts in die Büsche schlagen wollte. Sie packte ihn am Kragen. Der Heshaa lächelte harmlos, unverbindlich, als ob ihn das alles nichts anginge. Er säuselte: »Merkst du denn nicht, dass dein Begleiter beeinflusst wird? Er will uns alle nur...« »Mich kannst du nicht täuschen«, unterbrach ihn Aruula grimmig. »Oder hast du vergessen, dass ich besondere Fähigkeiten besitze? Ich sehe in seinen Gedanken, dass sein Wille frei ist.«
Trotz des nur schwachen Fackellichts erkannte Aruula, dass Kahagee blass wurde. »Ich berufe mich auf meine Immunität als Heshaa«, sagte der Weeaner Steuereintreiber schließlich. »Ich verlange, dass ich vor die Obmänner der Großen Koalition gebracht werde.« »Nichts anderes hatten wir vor«, erwiderte Maddrax, der mittlerweile vom Wagen gestiegen war. Er umarmte Aruula herzlich, drückte sie fest an sich. Dies war seine Art zu zeigen, dass alles in Ordnung war. Aruula hingegen zeigte ihre Zufriedenheit mit der Situation, indem sie Kahagee einen mächtigen Tritt dorthin verpasste, worauf er sich sonst niederließ. »Kruziwodan, hab ich einen Durst«, meldete sich eine raue Stimme vom Karren. Augustin war erwacht und kratzte sich gähnend am Hinterkopf. »Hab ich was versäumt?«
Der Dom war umlagert von erzürnten Weeaner Bürgern. Die Herkunft des grünen Leuchtens hatte sich schnell herumgesprochen. Ebenso die schmähliche Rolle, die Kahagee in den letzten fünf Jahren gespielt hatte. Wenn es um ihr Steuersäckel ging, reagierten die Weeaner besonders empfindlich. Kein Wunder also, dass Kahagee trotz emsiger Beteuerungen, endloser Schönrederei und mehr oder weniger plumpen Bestechungsversuchen schlussendlich dem Henker zur peinlichen Befragung überantwortet wurde. Dem »Verrückten Michl«, wie ihn die Weeaner aufgrund seiner Vorliebe für immer neue und überraschende Foltermethoden nannten, würde Kahagee nicht entkommen. Doch nun ging es um das Kind. Um das Daa'murenkind.
»Elge'leq'thein ist nicht verantwortlich für das, was passiert ist«, sagte Matt, nachdem er seine Sicht der Dinge dargelegt hatte. Er hätte sich eine weitere Spritze mit einem schmerzmindernden Mittel gesetzt und fühlte sich körperlich – beinahe – wohl. »Deine Meinung in alle Ehren«, entgegnete Belloo, »aber dieses seltsame Geistwesen in dem Kristallblock war es doch, das die Beeinflussung von uns allen erst ermöglicht hat! Kind oder nicht – es trägt Schuld an fünf schrecklichen Jahren. An hunderten Toten. An unfassbarem Schrecken. Willst du das leugnen, Maddrax?« »Das kann ich natürlich nicht. Ich bitte euch nur, mir den Daa'muren zu überantworten. Ich werde dafür sorgen, dass er zu Freunden gebracht wird. Wir können so viel lernen von Elge'leq'thein. Wie er denkt. Was sein Volk hier sucht. Wie wir zu einer Übereinkunft finden könnten...« »Nun, das sind Dinge, von denen wir nichts verstehen – und die uns auch nicht interessieren«, sagte Heddr. Der Obmann der Fineberer hatte sich während der Gerichtsverhandlung besonders in den Vordergrund geschoben. War dies die abartige Form eines schlechten Gewissens? Er hatte als Erster die Verurteilung seines Heshaas gefordert – und auch durchgesetzt. »Nein – es bleibt dabei: Dieser Daa'mure wird ebenfalls hingerichtet.« Matt blickte verzweifelt umher. »Das könnt ihr nicht machen! Ihr schuldet mir immerhin etwas; ich habe dieses Rätsel für euch gelöst!« Belloo zündete sich umständlich eine Kiffette an. Seine Hände zitterten, und er sah Matt nicht in die Augen. »Wir werden uns dafür zu revanchieren wissen, Maddrax. Wie wir es versprochen haben. Wenn ihr uns im Kampf gegen diese Kristallwesen benötigt, werden die Weeaner bereit stehen. Doch der Verbrecher gehört uns.«
Vier Männer nickten und klopften auf das Holz des eichenen Tisches. Damit war es beschlossen. »Nein!«, grollte Matt. »Ich habe ihm mein Wort gegeben! Ihr dürft ihm nichts tun!« Er tat einen Schritt auf Heddr zu, um ihn am Kragen zu packen, aber mehrere Männer der Guardia hielten ihn zurück. Verzweifelt versuchte er sich aus ihren kräftigen Griffen zu befreien. Auch Aruula stand einer Übermacht gegenüber. Ihre Waffen hatten sie vor dem Tor der Türmerstube abgeben müssen. Ebenso die Funkgeräte, mit denen sie die Hilfe der EWAT-Besatzung hätten herbeirufen können. Heddr stand auf, trat an das Fenster, das nach Süden zeigte, und streckte breit grinsend den Daumen nach unten. Jubel antwortete ihm von der Straße. Die Menschen, aufgehetzt und aufgestachelt, feierten das zweite Opfer der heutigen Nacht. Dass sie damit vielleicht die Zukunft der Erde zerstörten, ahnten sie nicht...
»Wird der Daa'mure die Männer nicht beeinflussen, die ihn töten wollen?«, fragte Aruula. »Ich fürchte nein«, antwortete Matt. »Elge'leq'thein war auf Kahagee als Medium angewiesen, um seine Kräfte freizusetzen. So schnell wird er kaum ein zweites finden.« »Und wie können sie ihn zerstören? Wollen sie den Kristall mit einer Axt zerschlagen?« Zornig schüttelte Aruula die Hände ab, die sie hielten. »Nein«, sagte Cüsl, der leise nähergetreten war. »Aus dem Feuer ist er gekommen, ins Feuer wird er zurückkehren.« »Was soll das heißen?«, fragte Matt. Verächtlich blickte er den Obmann der Fjacks an.
»Die Bürger werden den Kristall in einer Prozession bis zum Gipfel von Orguudoos Schlund begleiten – und den Göttern opfern.« »Ich gratuliere zu dieser heldenhaften Tat«, ätzte Matt. Am liebsten wäre er den verlogenen Politikern ins Gesicht gesprungen. »Ich muss euch bitten, so lange hier zu bleiben, bis die... Tat vollbracht ist«, sagte Belloo. Ihn als Einzigen schien das schlechte Gewissen zu plagen. »Wir haben genügend Kostproben eurer kämpferischen Fähigkeiten erfahren. Seid bitte für die nächsten Stunden unsere Gäste.« Aruula wandte sich verächtlich ab. Matt sagte laut und bewusst theatralisch: »Ihr macht einen furchtbaren Fehler. Möge Wudan euch vergeben...«
Der Abschied verlief kühl. Matt und Aruula weigerten sich, die Hände der Obmänne r zu schütteln. Sie grüßten lediglich Augustin, der mittlerweile als Volksheld gefeiert wurde. Schließlich hatte er nahezu eine ganze Nacht neben dem Kristallwesen verbracht, ohne beeinflusst zu werden. Dass er sich lediglich mit allen greifbaren Flaschen Veltin im Karren versteckt und seinen Rausch ausgeschlafen hatte, verschwieg der listige Sänger wohlweislich. Der Ruhm würde ihm Freibiir und Wein für die nächsten Jahre garantieren; dafür würde er mit selbstverfassten Heldenepen schon sorgen. Die Merkantoren verabschiedeten sich ebenfalls aus Weean. Auch sie wollten nichts mehr mit den Weeaner Bürgern zu tun haben. Heim, nur heim nach Anatulya, hieß ihre Devise.
Kridi, dessen Frau Rahel trotz der ungünstigen Umstände in der letzten Nacht einen gesunden Jungen zur Welt gebracht hatte, entschuldigte sich wort- und gestenreich bei Matt. Den freilich plagten andere Sorgen. Die Wunde in seinem Oberschenkel war tief, aber sie würde binnen weniger Wochen verheilen. Die Wunde in seinem Herzen jedoch würde ihn ein Leben lang plagen. Er hatte dem Daa'muren-Kind Versprechungen gemacht – und hatte sie nicht halten können. Die aufgebrachten Weeaner Bürger hatten den Kristall in den frühen Morgenstunden dem Feuer des Vulkans überantwortet. »Wenn es euch interessiert«, setzte Kridi seinem letzten Entschuldigungsschwall hinzu, »wir waren ursprünglich auf dem Weg nach Pressenburgh. Doch die Umstände« – er deutete glücklich auf das Neugeborene – »haben mich dazubewogen, eine rasche Route zurück in die Heimat zu wählen.« »Was ist mit Pressenburgh?«, fragte Matt mit mäßigem Interesse. Der Stadtname kam ihm vage bekannt vor. Ach ja – Pressburg! Der deutsche Name für die ehemals slowakische Hauptstadt Bratislava. »Unsere Kundschafter berichten, dass bei einer Stadt namens Michalovce ungewöhnliche Dinge passieren. Man mauschelt von Unfällen, von vielen Toten. Es handelt sich bloß um Hörensagen – doch sagtet ihr nicht, dass ihr euch für merkwürdige Ereignisse interessiert? Es sollen Nosfera darin verwickelt sein...« Nosfera? Was trieben die Blutsauger in dieser düsteren Ecke Europas? Er musterte Aruula nachdenklich. »Ich habe schon verstanden«, seufzte sie. »Du willst dich dort umsehen. Du willst deine Verletzung nicht auskurieren. Du willst wieder mal den Helden spielen.« »Genau.« Matt grinste schief. »Aber bis wir Pressenburgh oder Michalovce erreichen, haben wir... einige Stunden Zeit.
Ich könnte uns das hinterste Segment des EWAT für diese Zeit reservieren. Du könntest mich also ausgiebig bemitleiden...«
Am Kratersee, Teil 3 Grao'lun'kaan erwachte. Er fühlte sich geschwächt. Aber auch Schwäche war ein Zeichen von Körperlichkeit und damit der Beweis dafür, dass der doppelte Übergang geklappt hatte. Der Transfer in die ontologisch- mentale Substanz des neuen Trägerkörpers war anstrengend gewesen. Man hatte ihm jedoch keine Zeit zur Regeneration gelassen. Sein Körper war augenblicklich neutralisiert worden; die graue Hirnsubstanz hingegen, in der sich sein Geist befand, wurde in eine halbkugelförmige Schüssel transferiert. Die neue Körperlichkeit verursachte Schmerzen. Aber sie war auch... befriedigend. Der Lun betrachtete seine stählernen Hände. Sah zu, wie sich jedes einzelne Fingerglied aufgrund eines kleinen Befehls bewegte. Dann spürte er, wie Wissen auf ihn überging. Er begriff den Vorgang nicht; es war auch irrelevant. Er besaß nunmehr wichtige Erkenntnisse, die aus der geistigen Hinterlassenschaft des Nikaati'rostow stammten. Er sah Bilder und hörte Stimmen, die von russischen Communities erzählten, und von Mefju'drex... (Du funktionierst), unterbrach ihn eine mächtige Gedankenbotschaft. »Ja, Ora'sol'guudo!«, antwortete der Lun mit lauter, blechern klingender Stimme. »Der Encephalorobotowitsch ist zu hundert Prozent funktionsbereit.«
(Gut. Du weißt, wie dein Auftrag lautet.) »Ja.« Grao'lun'kaan richtete sich von seiner Liege auf. »Ich mache mich sofort auf den Weg...« ENDE
Das Abenteuer geht weiter! Im nächsten Band lesen Sie:
Das Feuermal von Bernd Frenz Durch einen Zufall haben die Daa'muren erkannt, wie sie den Antrieb des Wandlers – der Raumarche, mit der sie einst auf die Erde kamen – reaktivieren können. Nun setzen sie alles daran, »Projekt Daa'mur« voran zu treiben. Als Matt und seine Mannschaft nahe Michalovce einen Stamm Nosfera kontaktieren wollen, stoßen sie mitten hinein in ein Wespennest. Und der »Sohn der Finsternis«, wie Matthew Drax von ihnen genannt wird, entfesselt ein Licht, das heller strahlt als tausend Sonnen...