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Das Buch Clarissa Pinkola Estés hat in ihrem Bestseller Die Wolfsfrau mit archetypischen Geschichten den weiblichen Seelenweg beschrieben, den Weg hin zur Instinktnatur der Wilden Frau: Auf dem tiefsten, unerforschten Grund ihrer Psyche kann jede Frau auf eine Urkraft stoßen, die dort verschüttet liegt - ihre naturgegebene ›Wildheit‹, voll richtiger Instinkte, leidenschaftlicher Kreativkraft und alterslosem Wissen. In den hier versammelten Kurzgeschichten zeigt sich die Wilde Frau in ihren zeitgenössischen Facetten; sie kommt in jeder einzelnen Erzählung zum Vorschein, in welcher Gestalt auch immer, und bringt ihre Schwestern auf den Weg. Die Autorinnen dieses Bandes - die bedeutendsten Erzählerinnen der Gegenwart stehen hier Seite an Seite mit Kolleginnen, die erst am Anfang ihrer Schriftstellerkarriere sind - lassen uns einen Blick erhaschen auf die Wilde Frau und die unerschöpfliche Kraft der weiblichen Urinstinkte. Die Herausgeberin Petra Neumann, geboren 1962, lebt als freie Autorin, Texterin und Herausgeberin in München. Im Wilhelm Heyne Verlag ist bereits erschienen: Liebe, Lust und Zoff. Starke Geschichten für starke Frauen (01/ 9743).
Wilde Frauen
ISABEL ALLENDE · ANGELA CARTER FAY WELDON · JOYCE CAROL OATES DORIS LERCHE Herausgegeben von Petra Neumann
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/9909
Copyright © 1996 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Copyright © Einzelrechte siehe Quellenverzeichnis Printed in Germany 1996 Umschlagillustration: e Image Bank / Tosca Radigonda, München Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: (2573) IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Druck und Bindung: Ebner Ulm
ISBN 3-453-10000-X
Inhalt Rückkehr zum Selbst 10 Ich tu’, was ich kann, und ich bin, was ich bin 19 Die Braut des Tigers 34 Orchideen für dich, mein Schatz 66 Die Sonne des Matriarchats 80 Bis in die Wurzeln 112 In meinem nächsten Leben 119 Zwei Worte 140 Wechselbad 153 Planetoid 154 ›Sag bloß, Verbrechen lohnt sich nicht!‹ 159 5
Sie hatten gestritten... 175 Die andere Seite der Trauer 186 Langsam kommt der Herbst 204 Unternehmen Wursthaut 250 Eine Nacht mit Valentin 255 Der Schrei 297 Hexenhochzeit 313 Haarball 331 Detox 300 Die Autorinnen 372 Quellen Verzeichnis 376
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Vorwort Diese Sammlung moderner Kurzgeschichten ist dem Archetyp des Weiblichen verpflichtet, der ›Wilden Frau‹, der ›Wolfsfrau‹. Die amerikanische Psychologin Clarissa Pinkola Estés hat uns das Wildwesen der Frau in ihrem wegweisenden Buch Die Wolfsfrau neu erschlossen. Sie spürt dort allen Facetten weiblicher Ursprünglichkeit nach, hilft der modernen Frau, ihre in Zivilisationsprozessen verschüttete Instinktnatur wiederzufinden, ihre Wildnatur voll richtiger Instinkte, leidenschaftlicher Kreativität und alterslosem Wissen wiederzuerlangen. Clarissa Pinkola Estés, die als Psychoanalytikerin in der Tradition von C. G. Jung steht, tut dies als Geschichtenerzählerin, als ›Cantadora‹. Geschichtenerzählen ist für sie das einfachste und zugleich wirkungsvollste Heilmittel. Sie erweckt mit archetypischen Geschichten die jahrhundertelang gefangengehaltene weibliche Seele aus dem Dämmerschlaf und haucht ihr neues Leben ein. Doch nicht nur in den archetypischen Geschichten, die seit Jahrhunderten von den Cantadoras dieser Welt, den Großen Weisen, den Wissenden, den Urfrauen überliefert werden, zeigt sich das Instinktwesen der Wilden Frau. Auch in den Geschichten unserer Zeit lauert die Wölfin, die Wolfsfrau, und wartet nur darauf, von ihren domestizierten, noch in Gefangenschaft lebenden Schwestern erkannt und begrüßt zu werden. In jeder einzelnen Erzählung dieses Bandes kommt an irgendeinem Punkt die ›Wolfsfrau‹ oder die ›Wilde Frau‹ zum Vorschein, zeigt ihr wildes, ungebändigtes Wesen, 7
lebt und handelt nach ihren gesunden Instinkten. Die Autorinnen dieser Anthologie - die ganz großen Erzählerinnen unserer Zeit stehen hier Seite an Seite mit Kolleginnen, die erst am Anfang ihrer Schriftstellerkarriere sind - weisen uns die Richtung, führen uns auf die Fährte der Wilden Frau. Wir müssen uns mit Clarissa Pinkola Estés nur einlassen auf das große Urwissen, das in uns liegt, und es befreien vom Staub der Jahrhunderte und vom Ballast gesellschaftlicher Normen, die uns das Wilde-Frau-Sein vergällen. Die Geschichten dieser Sammlung legen eine erste Spur. Fay Weldons Geschichte über das Mädchen Romula - ›Ich tu’, was ich kann, und ich bin, was ich bin‹ - ist die Geschichte einer Befreiung, eines sich Losreißens von den Idealen und Grundsätzen einer überemanzipierten Mutter. Romula trägt von Kind an Züge der Wilden Frau und lebt sie, auch wenn ihr das zunächst angst macht. Doch der eintätowierte Drache auf ihrer linken Hand wird ihr zum Zeichen der Wildnatur, ihrer eigenen Unabhängigkeit. Fiona Coopers Heldin Hilary macht dagegen eine Entwicklung durch: Sie ist Mustertochter, Musterschülerin und schließlich blutjunge Musterehefrau - bis ihr endlich die Augen aufgehen und sie dem Ruf der Wölfin folgt. Margaret Atwood schreibt die Geschichte einer Frau, die erst über die Operation eines gutartigen Tumors ein versöhnliches Verhältnis zu sich und ihrem Körper entwikkelt. Mit ihrem neuen Wissen demaskiert sie ihr Umfeld und den Mann, der sie zu lieben vorgibt. Sie sieht jetzt mit den scharfen Augen der Wolfsfrau. »Detox« von Carolyn 8
Flynn ist die Geschichte einer Reinigung von Körper und Seele nach einer Trennung. Mit einer Entgiftungskur sollen schädliche Rückstände der alten Beziehung getilgt werden, um Lebensraum für eine neue Liebe zu schaffen. Im Laufe des Detox-Prozesses erkennt die Protagonistin ihren adäquaten Partner, einen Mann, der wie sie nach seinen ureigensten Instinkten lebt. Die Wilde Frau findet zum Wilden Mann. In den zwanzig Geschichten dieses Bandes hinterläßt die Wolfsfrau ihre Spuren, manchmal sichtbar, manchmal nur angedeutet. Aber wer will, kann die hinterlassene Fährte lesen, die Fährte der Wilden Frau, die den weiblichen Seelenweg durch das Dickicht zeitgenössischen Frauseins markiert. Petra Neumann
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Rückkehr zum Selbst Bevor man uns beibringen konnte, daß es nur vier Jahreszeiten und einige große Zyklen im Leben gibt, haben wir als Kinder Dutzende von zyklisch wiederkehrenden Zeiten im Jahr und an jedem Tag wahrgenommen: die Zyklen des Schaffens und Faulenzens, des Laufens und Stillestehens, des Anteilnehmens und Sich-Zurückziehens. Es gab eine Zeit, in der wir nicht nur von äußerlichen, sondern auch von seelischen Zyklen mit all ihren Nuancierungen bewegt wurden, mal aufgescheucht, dann wieder beruhigt wurden. Dieses Zyklische gehört zu unserer Seelenhaut, jener Membran, die uns und das Wildnatürliche in einen einzigen Körper hüllt, dessen Grenzen unabsehbar sind. Bevor man uns zu verstehen gab, daß das Leben einer Frau aus drei Phasen besteht - der Kindheit, dem Erwachsensein und dem Alter -, haben wir intuitiv gewußt, daß es unzählige mehr gibt. Irgendwie wußten wir, daß ›das nicht alles sein konnte‹, und viele von uns beschlossen damals schon, sich mit aller Kraft dagegen zu wehren, wie Schlafwandlerinnen in dieses öde, verheißungslose Konzept gehüllt auf unser Alter und den Verfall des Körpers zuzusteuern. Nein, wir wollen sämtliche Kreisbewegungen und Spiralformen des innerlichen und äußerlichen Wachstums einer Frau ausleben, wir wollen jede einzelne Phase erfahren, und zwar in all ihren Schattierungen. Die folgende 10
Geschichte handelt von einer der wichtigsten Phasen überhaupt, der zyklisch immer wieder notwendigen Phase der Heimkehr zum Selbst. Die Geschichte von der Fisch- oder Robbenfrau und ihrer ozeanischen Heimat wird weltweit in allerlei Abwandlungen erzählt, denn sie ist archetypisch, also universell gültig. Am relevantesten sind ihre Symbole für Menschen in den nordischen Regionen und überall dort, wo es ein Meer gibt. Die Kelten, Schotten und die Völkerstämme Islands, Sibiriens und Nordwest-Amerikas erzählen unterschiedliche Versionen dieses Märchens, das gewöhnlich unter dem Titel e Seal Maiden oder Selkie-o, Pamrauk, der kleine Seehund auftaucht. Ich nenne meine analytische und eaterversion Sealskin, Soulskin (Seehundfell, Seelenhaut). Die Geschichte erzählt von unserer wahren Herkunft, von dem Stoff, aus dem wir gewirkt sind, und erklärt, daß wir einem innewohnenden Urinstinkt folgen sollen, der uns periodisch auffordert, in unsere ozeanische Heimat zurückzukehren. Seehundfell, Seelenhaut Zu einer Zeit, die einst war, nun für immer vorbei ist und bald schon wiederkehrt, gibt es Tag für Tag einen blendend weißen Himmel und weiße Schneelandschaften, in denen sich die Lebewesen wie winzige, flirrende Pünktchen ausnehmen und bald schon verlieren - Menschen, Hunde und Bären. Hier bläst der Wind so hart, daß die Leute ihre Parkas 11
und Stiefel absichtlich zur Seite drehen. Das gesprochene Wort gefriert in der Luft, und den Menschen müssen die Sätze von den Lippen gebrochen und am Feuer aufgetaut werden, damit man weiß, was sie gesagt haben. Alle Geschöpfe leben im schneeweißen Gespinst der Haare von Annuluk, der Großmutter der Erde. Damals, vor langer Zeit, lebte hier ein Mann, der sehr einsam war. Das Gesicht des Mannes war von tiefen Furchen durchzogen, die seine Tränen im Lauf der Jahre in seine Haut gegraben hatten, denn er fühlte sich verlassen und weinte viel. Tag für Tag ging er auf die Robbenjagd, legte seine Fallen aus und schlief nachts gut und tief, aber er sehnte sich fortwährend nach einem Menschen, mit dem er sein Leben teilen konnte. Manchmal, wenn ein Seehund sich seinem Kajak näherte und zwischen Eisschollen hervorlugte, dachte der Mann an die alten Geschichten, in denen es heißt, daß Seehunde vor langer Zeit einmal Menschen waren, was man heute noch an ihren Augen erkennt, an dem weisen und liebevollen Blick in ihren glänzenden Augen. Wenn der Mann den Blick solcher Augen auf sich gerichtet sah, weinte er, und die Furchen in seinem Gesicht wurden jedesmal noch ein wenig tiefer. Eines Abends war er noch nach Einbruch der Dunkelheit auf der Jagd, weil er den ganzen Tag nichts gefangen hatte. Er paddelte zwischen Eisschollen dahin, während der Mond aufging und ihm einen großen, glitzernden Felsen im Meer zeigte, auf dem sich etwas bewegte. Sein Jägerauge ließ ihn schon von weitem erkennen, daß die Bewegungen nicht von den üblichen Meerestieren herrühren konnten. 12
Lautlos paddelte er näher heran und erkannte, daß ein Grüppchen splitternackter Frauen auf dem Felsen beim Mondschein tanzte. Er verhielt sich still und schaute zu, wie ihre Körper sich wiegten, wie die milchig und silbern schimmernden Gliedmaßen der Mondfrauen sich im Kreise drehten. Stockstill und tief betroffen saß er in seinem Boot, während das Wasser ihn näher und näher zu dem Felsen trug. Er konnte die Wunderwesen lachen hören, aber vielleicht war es auch nur das Plätschern der Wellen, das sein Ohr verwirrte. Der Mann wußte nicht, wie ihm geschah, aber die Bürde seiner Einsamkeit fiel von ihm ab wie eine schwere, nasse Haut, er fühlte sich emporgehoben, sprang, ohne nachzudenken, auf den Felsen und stahl eines der Seehundfelle, die dort im Mondlicht lagen. Hinter einem Vorsprung versteckte er sich und verbarg das Fell unter seinem gutngug, seinem Parka. Bald darauf rief eine der Frauen etwas, und diese Frau hatte die schönste Stimme, die der Mann je vernommen hatte. Sie klang wie der Gesang von Walen im Morgengrauen, nein, besser noch, wie neugeborene Wölfe beim Spielen, nein, die Stimme war mit nichts zu vergleichen, das der Mann je gehört hatte. Es dauerte nicht lange, und eine Frau nach der anderen schlüpfte in ihr Seehundfell und glitt hinab ins Meer. Sie lachten und quietschten vor Vergnügen bis auf eine. Diese Frau suchte nach ihrem Robbenfell und konnte es nirgends finden. Da trat der Mann aus seinem Versteck hervor, und obwohl er sehr schüchtern war, sagte er mit einem Mut, der ihm selbst fremd war: »Bitte... werde meine Frau und 13
komm mit mir... Ich bin so einsam.« »O nein, das kann ich nicht«, antwortete sie. »Ich gehöre zum Anderen, zu Dem Dort Unten.« »Werde meine Frau«, drängte der Mann. »In sieben Sommern erhältst du dein Seehundfell zurück, das verspreche ich dir. Und dann kannst du dich entscheiden, bei mir zu bleiben oder zu gehen, ganz wie es dir beliebt.« Lange forschte die junge Robbenfrau im Gesicht des Mannes nach einem Zeichen. Schließlich sagte sie zögernd: »Also gut, ich gehe mit dir. Und nach sieben Sommern wird es sich zeigen.« So lebten sie miteinander, und nach einer Weile gebar die Meeresgeborene dem Mann einen Sohn, den sie Ooruk tauften. Das Kind war rund und gesund, und in den langen Winternächten, während der Vater am Feuer saß und Figuren schnitzte, erzählte die Mutter ihrem Ooruk Geschichten, aber anstatt vom Bären, vom Raben und vom Wolf zu erzählen, wie andere es taten, erzählte sie die Sagen vom Walfisch, vom Seehund und den Lachsschwärmen, denn dies waren die Geschöpfe, die sie kannte. Die Jahre vergingen, und die Menschenhaut der jungen Frau wurde erst schuppig, dann spröde, bis sie schließlich in trockenen Fetzen von ihrem Körper fiel. Ihr plumpes, weißes Fleisch wurde hohl und grau, selbst die Haare auf ihrem Kopf fielen aus. Das Licht in ihren seelenvollen Augen erlosch, und bald mußte sie die Hand ausstrecken, um sich ihren Weg zu ertasten, denn sie war halb blind geworden. Eines Nachts wurde Ooruk unsanft aus dem Schlaf gerissen, denn der Vater schimpfte laut, und die 14
Mutter weinte. »Gib mir mein Fell zurück«, flehte die Mutter weinend. »Sieben lange Jahre sind vergangen, und der achte Winter kommt. Du hast es mir versprochen.« »Nein«, brüllte der Mann wütend. »Wenn ich dir das Fell gebe, verläßt du mich doch!« »Ich weiß nicht, was ich tun werde. Ich weiß nur, daß ich wiederhaben muß, was mein eigen ist.« »Dein Kind und deinen Mann willst du im Stich lassen«, schrie der Vater, »du gewissenloses Weib!« Damit riß der Mann die Türklappe auf und stapfte in die Finsternis. Das Kind liebte seine Mutter sehr und weinte sich in dieser Nacht in den Schlaf, aber schon bald wurde es zum zweiten Mal geweckt. Ein seltsam tosender Wind ging um, und in dem Wind war eine Stimme, die ›Ooruk, Ooooruk‹ rief, wieder und wieder, bis Ooruk aus dem Bett kletterte, seinen Parka und seine kleinen Stiefel anzog und in die Nacht hinauslief. »Ooruk, Ooooooruk«, rief es im Wind, und der Wind schien vom Meer zu kommen, vom Ufer, wo sich ein großer alter Seehund mit langen silbernen Schnurrhaaren hin- und herwälzte und Ooruks Namen rief. Der mächtige alte Seehund hob seine Flosse und deutete auf ein Bündel, das zusammengerollt unter einem Felsen lag. Ooruk hob das Bündel auf, und sogleich kam ihm der unverkennbare Duft seiner Mutter entgegen. Er entrollte das Seehundfell, und in dem Moment spürte Ooruk, wie sich die Seele seiner Mutter mit all ihrer endlosen Liebe über ihm entfaltete. Das Kind schmiegte seine Wange in den silbrigen Pelz 15
und spürte die Umarmung seiner Mutter, als wäre sie selbst zugegen. Der alte Seehund nickte geheimnisvoll und versank langsam im Meer. Das Fell fest an die Brust gedrückt, rannte Ooruk nach Hause, direkt in die Arme seiner Mutter, die schon voller Unruhe auf ihn und ihr Robbenfell gewartet hatte. Voller Dankbarkeit schlüpfte sie in ihren Pelz. »Oh, nein, Mama, nein«, schrie das Kind. Aber sie hob es auf und trug es dem tosenden Meer entgegen. »O Mama, verlaß mich nicht!« schrie Ooruk, als sie am Ufer angekommen waren und die Mutter sich anschickte, ins Wasser zu steigen. Sie wandte sich zu dem Kind um, mit einem Blick unermeßlicher Liebe in den Augen. »Nein, Mama, nein«, rief das Kind. Aber sie nahm sein Gesicht zwischen beide Hände und hauchte ihren Atem in die Lungen des Kindes, einmal, zweimal und ein drittes Mal. Dann tauchte sie mit ihrem Sohn in den Fluten unter, sank tiefer und tiefer hinab, bis zum tiefsten Meeresgrund, und beide konnten ohne Mühe unter Wasser atmen. Bald kamen sie in eine glitzernde Wasserstadt, wo sich allerlei Meerestiere und Wunderwesen tummelten, die ein gewöhnlicher Sterblicher nie zu Lebzeiten erblickt, und alle waren froh, denn der große alte Seehund schwamm dem Schwarm singend voran und nannte Ooruk voll Stolz seinen Enkelsohn. »Wie erging es dir dort oben, meine Tochter?« fragte der Alte, nachdem er die beiden gebührend getätschelt und an sein mächtiges Herz gedrückt hatte. Die Robbenfrau blickte zur Seite und sagte: »Ich habe 16
einen Menschen verwundet, einen Mann, der alles getan hat, um mich zu behalten. Aber ich kann nicht zu ihm zurück, denn dann muß ich sterben.« »Und der Junge? fragte der alte Seehund. »Was soll aus meinem Enkel werden?« »Er muß in die Oberwelt zurückkehren, Vater. Seine Zeit ist noch nicht gekommen, er kann noch nicht für immer hier bei uns bleiben.« Die Mutter weinte. Alle weinten bei diesen Worten, weil sie wahr waren. Sieben Tage und sieben Nächte vergingen, in denen der Glanz in die Augen der Mutter zurückkehrte, ihr Fleisch wieder fest, ihre Haut wieder seidig wurde und alles an ihr gesundete. Aber dann kam die Stunde des Abschieds. Gemeinsam mit dem Großvater trug sie Ooruk hinauf in die Welt der Erdbewohner und setzte ihr Kind am steinigen Ufer im Mondlicht ab. »Ooruk«, sprach die Mutter zu guter Letzt. »Ich bin immer bei dir. Du mußt nur berühren, was ich berührt habe: meine Feuerhölzer, mein Messer, meine Steinmetzarbeiten von Ottern und Meeresgetier, dann wirst du einen Atem spüren, der mein Atem ist. Und er wird dich singen lassen und dir Geschichten geben.« Der alte silberne Seehund und seine Tochter küßten das Kind noch tausendmal, dann rissen sie sich los und schwammen ins Meer hinaus, wo sie nach einem letzten langen Blick untertauchten. Ooruk blieb am Ufer zurück, da seine Zeit noch nicht gekommen war. Die Jahre vergingen, und Ooruk wuchs zum Mann heran. Er wurde ein großer Sänger, Trommler und Geschichtenerzähler seines Volkes, und die Leute sagten, 17
daß er seine Kräfte einem Wunder in seiner Kindheit zu verdanken habe, bei dem er vom Geist der Seehunde vor dem Ertrinken bewahrt wurde. Noch heute sieht man ihn im Morgennebel auf einem Felsen knien und Zwiesprache mit einer Seerobbe halten, die niemand fangen kann, so oft es auch versucht wurde, denn sie ist unantastbar und wird Tanqigcaq genannt, die Glänzende, die mit den weisen, wilden, seelenvollen Augen.
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Ich tu’, was ich kann, und ich bin, was ich bin Auf Romulas linkem Handrücken ist ein eintätowierter Drache zu sehen, und in ihrem Herzen eingraviert ist der Spruch: »Ich tu’, was ich kann, und ich bin, was ich bin.« (Bei Königin Mary soll es das Wort ›Calais‹ gewesen sein.) In Romulas Geist gehört beides zusammen, Drache und Worte. Eine Tätowierung ist was fürs Leben, und damit hat es sich, und Romula macht das aber auch gar nichts aus, solange der Spruch nur Bestand hat. Ich tu’, was ich kann, und ich bin, was ich bin. Ich möchte Ihnen etwas mehr von Romula erzählen. Letztes Jahr hat sie die Wahl zur Miß Skyways gewonnen, und zwar gegen zweiundachtzig andere Mädchen, allesamt Flugbegleiterinnen - früher hießen sie Stewardessen - von International Skyways. Sie hatte diesen Sieg verdient, nicht nur, weil sie hübsch, patent, tüchtig und freundlich war und von allen gemocht wurde, sondern weil sie ihren Beruf liebte: Es faszinierte sie nach wie vor, mit den ›Airways of the World‹ zu fliegen, das Mädchen aus der Anzeige zu sein, zu sehen, wie unter ihr die Berge vorbeizogen, sich die Ebenen ausbreiteten. Manchmal hielt sie vor lauter Freude darüber den Atem an. Sie hatte die Gabe, sich nie zu langweilen. Auch als sie schon jahrelang dabei war, konnte es vorkommen, daß sie an einem klaren 19
Tag, wenn es sonst nichts zu tun gab - was nun wirklich nicht oft der Fall war -, aus dem Fenster sah und über das Geheimnis des Fliegens staunte, daß sie das Essen nach vorn ins Cockpit brachte - für jeden aus der Crew etwas anderes, falls es doch mal eine Lebensmittelvergiftung gab - und zuschaute, wie starke Männerhände an den Instrumenten herumhantierten, und sich über das Glück freute, das sie gerade jetzt gerade hierher geführt hatte, in dieses Zentrum der Macht und der Wunder. »Was bist du?« wollte ihre Mutter Liz wissen. »Was bist du geworden? Miß Skyways? Um Himmels willen, behalt das bloß für dich.« Liz Ellis war eine handfeste, trinkfeste, sattelfeste Feministin. Seit sie mit Romula schwanger gewesen war, hatte sie keinen Rock mehr getragen, und das war vierundzwanzig Jahre her. Sie hatte Romula davon abgehalten, mit Puppen zu spielen, sie geohrfeigt, wenn sie Staub wischte, und sich bemüht, ihr eine ordentliche Erziehung zu geben, damit sie später einmal eine sinnvolle Funktion in der Gesellschaft ausüben konnte - und was hatte ihr das eingebracht? Eine Miß Skyways. Die Geschäftsleuten Gin Tonics servierte. Was für ein Leben sollte das sein? Wenn Romula ins Cockpit ging, drehte sich so mancher Flugkapitän, so mancher Copilot nach ihr um. Eine ganz natürliche Sache. Hotelzimmer in fremden Ländern können sehr einsam sein, die Kameradschaft in der Luft ist groß: Anspannung und Gefährdung verlangen nach einem 20
Ventil, Erregung flackert nicht nur auf Erden, sondern auch am Himmel. Wie das Salz auf dem Fleisch bringen sexuelle Abenteuer das Aroma eines reichen Lebens erst richtig zur Geltung. Manchmal stand der Sex auf der Kippe zur Liebe. Bei Romula kam es nie soweit. Ich tu’, was ich kann, und ich bin, was ich bin. Oft nahmen Männer Romulas kleine Hand, hielten sie fest, fuhren mit einem Finger über die Umrisse des häßlichen, geschlängelten blauen Drachens und sagten: »Woher haben Sie das denn bloß? Wie sind Sie denn dazu gekommen?« Doch sie sprach nie darüber. Dafür hat sie es mir erzählt, als wir uns beim Frühstück in Singapur trafen, und ich erzähle es Ihnen jetzt weiter. Sollten Sie ihr zufällig einmal begegnen, wenn Sie mit Skyways fliegen, und sollte der Spitzenhandschuh mit halbem Finger an der Hand der jungen Frau, die Ihnen den Kaffee reicht, die die heißen Tücher mit der Zange austeilt (nur in der Club Class), hochrutschen und den Macho-Stempel des Drachen freilegen, dann behalten Sie die Geschichte bitte für sich. Ich möchte nicht, daß sie denkt, ihr Vertrauen wäre mißbraucht worden. Natürlich habe ich einige Details verändert, um ihre Identität zu wahren. Und in gewisser Weise ist es ja auch eine Geschichte von Menschen, wie wir es sind, Sie und ich: das heißt von denen unter uns, die nicht das tun, was ihre Mütter wollen. Ich tu’, was ich kann, und ich bin, was ich bin.
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Mit vierzehn hatte Romula wunderhübsche Hände: weich, aber nicht teigig, zart, aber nicht kraftlos, richtige Ringhände - keine Wurstfinger, aber auch keine zu schmalen, zu langen, die ja leicht so aussehen, als führten sie ein unheimliches Eigenleben. Ihre Nägel waren mandelförmig und von einem gesunden Rosa, die Haut auf der Hand weiß und wie durchsichtig, aber Romula war ja auch eine echte Blondine: Die blauen Adern zeichneten ein schwaches Filigranmuster unter der Haut, und die auf ihrem Handrücken führten, wie sie wußte, direkt zu ihrem Herzen. »Romy, hör auf, mit den Händen rumzufuchteln, und mach dich wieder an deine Hausaufgaben! Nur mit Bildung kannst du’s zu was bringen!« Liz’ Hände waren groß, kantig und rauh. Sie waren fähig und vermittelten ein Gefühl von Sicherheit: Nur einmal hatte Romys Vater seine Faust gegen Liz und Romy erhoben - damals war Romy drei gewesen -, und da hatte Liz ihn endgültig vor die Tür gesetzt. »Wir schaffen das auch allein«, sagte sie. »Kein Mann ist besser als ein halber Mann.« Und schon wenig später stand sie auf Podesten und fuchtelte mit ihren großen, tüchtigen Händen herum und sprach über Frauenrechte, während die kleine Romula irgendwo abseits stand und von einem Fuß auf den anderen trat. »Wenn ich groß bin«, sagte Romula mit fünf, »werde ich Krankenschwester.« »Nein, das wirst du nicht«, riefen Liz und all ihre vielen Freundinnen im Chor. »Du wirst Ärztin.« 22
Romula hielt das für eine absolut furchtbare Idee, zog ihre Latzhose aus, borgte sich eins von Sylvies Partykleidern (Sylvie wohnte gleich nebenan, was Liz gar nicht paßte) und ging damit schnurstracks in den Garten, um zu spielen. Aber so ungezogen war sie nicht oft. Hinterher weinte sie und sagte zu Liz, sie wisse nicht, warum sie das getan habe, und das stimmte auch: Sie wußte es wirklich nicht. Ich tu’, was ich kann, doch ich bin nicht, was ich bin. Wenn Romula Liebeskummer hatte oder sonstwie unglücklich war, bildete sich stets eine kleine Warze an der Stelle, wo ihre Daumenspitze sich an ihrem Zeigefinger rieb. Wenn sie sich dann aber wieder neu verliebte, wieder glücklich war, ging die Warze weg. Männer warfen oft Blicke auf Romulas Hände, forschende Blicke, was sie anfangs etwas beunruhigend fand. Bei anderen Mädchen wanderten die Blicke auf die Beine, den Hals, den Busen oder die Augen - bei Romula waren es die Hände, die faszinierten, Hoffnungen machten, verzauberten. Genau das taten die Frauen mit den Männern, glaubte Romula mit sechzehn. Sie faszinierten sie, machten ihnen Hoffnungen, verzauberten sie. Dann ließen sie sich heiraten und lebten von da an glücklich und zufrieden, erzählte sie ihrer Mutter. »Wovon redest du überhaupt?« schrie ihre Mutter. »Mein Gott, was soll ich bloß mit dir machen?« Romula plagte sich mit Physik, Chemie, Biologie, ihre 23
Mutter mußte gegen Borniertheit, Dummheit und Sexismus der Schule ankämpfen, damit auch etwas daraus werden konnte. Und sie hatte Erfolg. Liz bekam immer, was sie wollte. Romula würde Ärztin werden. Durch den Druck des Kugelschreibers bildete sich eine Blase auf Romulas Mittelfinger. Die Blase vereiterte. Monatelang konnte sie nicht arbeiten, weil es so weh tat: Sie fiel bei den Prüfungen durch. Ich will, doch ich kann nicht, und ich bin nicht, was ich bin. Als sie sechzehn war, ließ Romula sich von einer Wahrsagerin aus der Hand lesen. »Was für hübsche Hände«, sagte die Frau. Na ja, das sagten alle. Aber dann fuhr sie fort: »Wenn du alt genug bist, wirst du deiner Mutter das Herz brechen. Schau mal her, diese aufsteigende Kopflinie, getrennt von der Lebenslinie. So was ist gut für die Kinder und schlecht für die Eltern. Aufsässig!« Und doch war Romula ein ganz süßes, liebes Ding - kam nicht eine Spur nach ihrem Vater, diesem krakeelenden, verlotterten, großmäuligen Haustyrannen. Liz vermißte Romulas Papa, auch wenn sie das Gegenteil behauptete, das wußte Romula. Aber wenn der Mann geht, muß die Frau das Beste daraus machen, und Liz hatte ihren Stolz. So macht eben jeder aus der Not eine Tugend. Als sie siebzehn war, sagte Romula zu Liz: »Ich gehe mit Sylvie auf den Jahrmarkt.« Sylvie wohnte immer noch 24
nebenan. Sylvie kicherte viel. Sie hatte rissige, rote, knochige kleine Hände, die nie still waren. »Wie ihr Mundwerk«, sagte Liz. Sylvie hatte die Schule abgebrochen, nun machte sie mal dies, mal das. Sie trug sehr kurze Röcke, und ihre Haare waren gelbblond, nicht naturblond wie die von Romula. »Was hast du da mit Sylvie zu suchen?« fragte Liz. »Ja, was hast du da überhaupt zu suchen?« Liz hielt gar nichts von Jahrmärkten, und das hatte seinen Grund - aber ob der nun mit Goldfischen oder Chancengleichheit zusammenhing, daran konnte und wollte Romula sich jetzt nicht erinnern. Sie würde auf den Jahrmarkt gehen, und damit hatte sich die Sache. Alle würden auf den Jahrmarkt gehen. »Mit wem sollte ich denn sonst gehen?« fauchte Romula. »Mit Jo«, sagte Liz. »Wenn du schon unbedingt heterosexuell sein willst.« Jo war der Sohn von Liz’ bester Freundin Evelyn. Er steckte in der Ausbildung zum Sozialarbeiter. Er war sensibel und fürsorglich und stotterte. »Ich mag Sylvie, und Jo mag ich nicht«, erwiderte Romula. »Vielleicht ist Jo für dich ja der typische Heteromann, aber für mich nicht und für Sylvie auch nicht.« Ja, sie war schon ein bißchen verkehrt: eine Garnele in einem Teich voll glänzender Forellen. Was ihre Mutter alles mitmachen mußte! Ich tu’, was ich nur kann, doch ich bin nicht, was ich bin! 25
Und dann bekam Romula richtig Streit mit ihrer Mutter. Liz hatte gerade Romulas Zeugnis gelesen. Romula, so hieß es darin, habe ein freundliches, warmherziges Wesen (Liz: Die haben sie nicht mehr alle!), sei beliebt bei Mitschülern und Lehrern und gebe sich große Mühe im Unterricht. Sie hatte eine Eins in Hauswirtschaftslehre (seit Liz’ Briefen an die Schule ein Fach für Jungen und Mädchen), eine Vier in Biologie und Fünfen in Chemie und Physik (Liz: Das haben die mit Absicht gemacht. Bestimmt!) »Romula«, sagte Liz, »du bist eine Blamage für mich, das bist du schon immer gewesen, und jetzt reicht’s mir!« »Dir wär’s wohl lieber, du hättest mich nie gekriegt«, erwiderte Romula. »Ganz so kraß würde ich es nicht ausdrücken, aber es hätte vielleicht einiges leichter gemacht, wenn du ein Junge geworden wärst. Ich hätte nie gedacht, daß ich dir das mal ins Gesicht sagen muß. Ich hätte jammern sollen, als sie dich rausgeholt haben, statt zu jubeln. Also geh schon auf den Jahrmarkt, wenn du unbedingt willst, dann bin ich dich wenigstens los.« Romula rieb sich Gel ins Haar und machte sich auf den Weg zum Jahrmarkt. Sie trug einen lila Rüschenrock mit weißem Spitzentop - beides von Sylvie - und Turnschuhe, weil das ihre einzigen Schuhe waren und sie Größe 41 hatte und Sylvie nur Größe 37, aber sie paßten ganz gut dazu. An jedem Finger hatte sie einen falschen Brillantring, doch an ihren Händen sahen selbst Steine aus Glas kein bißchen schäbig aus.
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Es war eine warme, turbulente Nacht, schräge Musik und sentimentale Weisen versuchten die Karussells und die Buden, das Geschrei, Gekreisch, die Spielautomaten und sich gegenseitig zu überdröhnen. Das Lichtermeer ließ den Mond zu einem Nichts verblassen. Der Rummelplatz war voll, aber man konnte sich immer noch frei bewegen. Sylvie und Romula hatten Geldscheine in den Taschen. Romula fühlte sich hin- und hergerissen zwischen Hochstimmung und der Scham über die letzten Worte, die sie zu ihrer Mutter gesagt hatte, und das machte sie ganz zappelig: ›Wenn ich mein Vater wäre, dann hätte ich dich auch verlassen.‹ ›Er hat mich nicht verlassen. Ich hab’ ihn rausgeworfen.‹ ›Das glaub’ ich dir nicht!‹ rief Romula triumphierend. ›Deinetwegen hat er sich nutzlos und mies gefühlt, und deshalb ist er weggegangen, und ich könnte mir denken, daß er jetzt der glücklichste Mann der Welt ist. Ich würd’s ihm wünschen.‹ Das hatte sie nun davon! Ihre Mutter, ein Drache mit versteinertem Gesicht in Jeans und Sweatshirt. Aber sie war auch eine gutherzige Frau: Sie arbeitete beim Well Woman Centre, aus Liebe zu den Menschen (oder vielmehr Frauen) und nicht etwa zum Geld. Das mußte selbst Romula ihr zugute halten. Nur nicht gerade jetzt, nur nicht heute abend auf dem Rummelplatz. Sylvie und Romula blieben beim Super-Disco-Walzer stehen, und Väter mit Kindern auf den Schultern drängelten sich an ihnen vorbei (und Sylvie kreischte, weil ihr plöt27
zlich Zuckerwatte in den Haaren klebte). Und sie fragten sich, ob sie sich trauten. Ich tu’, was ich mich trau’, und ich bin, was ich bin. Der Boden des Disco-Walzers drehte sich immer schneller um seine verspiegelte Mitte, und aus dieser verspiegelten Mitte drangen Musik und schwadenförmiger Nebel in allen Farben des Regenbogens, und durch den Nebel rauschte eine Frauenstimme - »Noch schneller? Dann schreit lauter! Schreit lauter!« - wie sanft plätschernder Regen über die kreischenden Passagiere, die sich an ihre Schleudersitze klammerten, und je lauter sie schrien, desto schneller wurden sie im Kreis herumgewirbelt, und der Boden hob und senkte sich, während er rotierte, und auf diesem rasenden, schwankenden Sockel drehten sich die offenen Wägelchen, und Leuchtstrahler und Scheinwerfer schaukelten und tanzten blitzschnell um das kreiselnde Dach darüber: Und urplötzlich sah Romula die Fahrtbegleiter, die Ritter des Jahrmarkts, die jungen Männer, die - bei je drei Wagen unter sich - ihr Geld quasi im Fluge verdienten, die mit dem schwankenden Boden kämpften wie Fischer mit der stürmischen See, die tänzelnd und hüpfend versuchten, sich an ihrem Platz zu halten: um die vorbeifahrenden Wagen mit einem Schubs zum Kreiseln zu bringen. »Fixsterne und Satelliten«, sagte Romula zu Sylvie. (Romula paßte immer dann im Physikunterricht auf, wenn das ema von der Erde abhob. Ab dreißig Meter Höhe hörte sie zu. Jede wahre Berufung macht sich eben 28
schon früh im Leben bemerkbar.) Und Sylvie, die verstand natürlich kein Wort: Woher denn auch? Romula glaubte, noch nie etwas so Schönes, so Märchenhaftes gesehen zu haben wie diese jungen Männer, diese starken, gelenkigen, muskulösen Kerle mit nichts als Stroh im Kopf, wie Liz gesagt hätte, und wenn schon? Ihr war, als müßte sie ohnmächtig werden. Die Männer stürzten sich auf die Wagen, die wie verrückt um sie herumrasten und die bleichen, benommenen Gesichter der Passagiere an ihnen vorbeidrehten. »Du hast ja Angst«, sagte Sylvie. »Zuviel Angst, um eine Runde auf dem Super-Disco-Walzer zu drehen.« »Gar nicht wahr«, erwiderte Romula, aber natürlich hatte sie Angst, natürlich - vor der Zukunft, der Vergangenheit, dem Sex, den Männern, dem Leben, ihrer Mutter, vor allem möglichen und ganz zu Recht: Es ist ja auch zum Fürchten. Ich bin, was ich mich trau’, doch ich bin nicht, was ich will. »Männer lieben Frauen wegen ihrer Zukunft«, erklärte mir Romula beim Frühstück, »und Frauen lieben Männer wegen ihrer Vergangenheit.« Traurig, aber wahr, dachte ich, doch wer will das alles schon wissen? Was Romula an den Fahrern so entzückte, war nicht nur das, was sie darstellten, sondern ›woher sie kamen, wohin sie gingen, was ihr Geheimnis war vor allen Dingen‹, waren nicht nur die blauen Tätowierungen, die im Licht der Scheinwerfer an ihren kräftigen Armen aufschimmerten, wenn sie die 29
Wagen anschoben und dabei wie Fische über die Wellen sprangen, um sich im Gleichgewicht zu halten - ›sie waren wirklich wie Tänzer‹ -, oder die blitzenden Zähne, die roten Lippen, die muskulösen Hintern unter den engen Jeans - das alles und doch nichts davon. Es war mehr. ›Ich kann es nur so erklären, daß ich Ben wegen seiner Vergangenheit geliebt habe, wegen all dem, was anders und ungewohnt an ihm war, nicht bloß wegen seiner Muskeln und der Tätowierungen an seinem Arm und der schwankenden Plattform, auf der er sich bewegte wie ein geborener Wellenreiter.‹ »Ich hab’ kein bißchen Angst«, sagte Romula, und sie bezahlten beide ihre zwei Pfund (die teuerste Fahrt auf dem ganzen Jahrmarkt, logisch), und als die Wagen endlich abbremsten, aufquietschten und anhielten, stiegen sie ein, und Romulas kleine weiße Hände schlossen sich sacht um die Eisenstange. Doch Ben, der Star der SuperWalzer-Fahrer, drehte nicht nur den Wagen an, sondern fuhr gleich mit, so hingerissen, fasziniert und verzaubert war er von Romulas zierlichen weißen Händen neben seinen braungebrannten Pranken. Und nachdem sie genug gekreischt hatten, nahm er Romula mit an den Kanal, und Romula hätte es das Herz gebrochen, wenn er ohne sie gegangen wäre. »Tu, was du kannst, und sei, was du bist«, sagte Ben zu Romula. »Das Leben ist einfacher, als du glaubst. Wird sowieso Zeit, daß du von zu Hause wegkommst.« »Aids!« kreischte Liz. »Aids!« Warum mußte Romula 30
ihr auch davon erzählen? Junge Mädchen sollten mit ihren Müttern nicht so reden, als wären sie Schwestern. Sie sind Mütter. Während ihre Töchter groß werden, werden sie alt. Und das gefällt ihnen nicht. Denn je mehr Chancen die Jungen bekommen, desto weniger bleiben ihnen selbst. Doch es gab nichts, was Liz hätte tun können, und außerdem fuhr sie auf ein Seminar zum ema ›Yoga - ein Ersatz für Beruhigungsmittel?‹, und Evelyn und ihr Sohn Jo zogen ein, um ein wachsames Auge auf Romula zu haben. Ich werd’ tun, was ich kann, und das sein, was ich bin. In dieser Woche traf sich Romula jeden Tag mit Ben, und ihr war ziemlich schwindlig vor Liebe, und ihm war auch ziemlich schwindlig, aber der Jahrmarkt zog weiter wie jeder Jahrmarkt, und außerdem war er verheiratet. Und irgendwie schien der Abschied richtig zu sein: Die Trauer, die darauf folgte, heilte mehr, als nur den Verlust von Ben wettzumachen. Ringsherum sausten die Wagen auf schwankendem Boden, immer schneller, große Männerhände und kleine weiße Mädchenfinger. Und in dieser Woche ging Romula auch jeden Tag in die Tätowierstube an der High Street, die gerade eröffnet hatte - ›Neue Nadeln gratis für jeden Kunden!‹ -, und zückte den gefälschten Personalausweis, der Gemeinschaftseigentum der Klasse war und der sie volljährig machte, und ließ sich genauso einen Drachen, wie ihn Ben auf der rechten Pobacke hatte, auf ihren linken Handrücken tätowieren. 31
Schon erstaunlich, wie lange man eine linke Hand vor fremden Blicken verbergen kann, wenn man will. Doch bei einer Mutter geht so etwas nicht lange: Als Liz zurückkam, wurde sie fuchsteufelswild und warf Romula aus dem Haus. Nur vorübergehend natürlich. Und vor lauter Gewissensbissen nahm sie Romula anschließend mit in Urlaub nach Griechenland, auf die Insel Lesbos. »Wenn ich doch bloß nicht auf dieses Seminar gefahren wäre«, jammerte Liz. »Immer kümmere ich mich um andere Leute und vernachlässige dabei mein eigenes Kind.« Das stimmte nun wirklich nicht, versicherten ihre Freundinnen, und sie hatten natürlich recht. Dank der rasanten Fortschritte in der kosmetischen Chirurgie würden sich Tätowierungen sicher schon bald wieder entfernen lassen: Der Drache wäre also nichts fürs Leben. Doch das war er, und das blieb er: Die Adern in ihrer Hand führten direkt zu ihrem Herzen, er würde für immer in ihrem Herzen bleiben. Ich tu’, was ich kann, und ich bin, was ich bin. Die Reise nach Lesbos war Romulas erster Flug. Lesbos mochte langweilig sein, doch Romula, versunken in die Betrachtung des Drachens auf ihrer Hand und ihre Liebe zu Ben, den sie verloren hatte, für immer verloren, verliebte sich ins Fliegen und die Männer, die so hoch über die Wellen sprangen, daß sie für immer in der Luft bleiben konnten. ›Die klassische Bekehrung‹, so beschrieb sie ihr Erlebnis. Skeptiker würden sagen, daß so etwas passieren kann, wenn ein Mensch es nicht mehr erträgt, unglücklich 32
zu sein. Doch ich sehe die Sache anders. Ich glaube, das Fliegen lag ihr einfach im Blut. Wie dem auch sei - als Romula erklärte, sie wolle die Naturwissenschaften an den Nagel hängen und Stewardeß werden, sagte ihre Mutter bloß: »Na schön. Wenn es das ist, was du wirklich willst. Tu, was du kannst, und sei, was du bist, und werde glücklich damit.«
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Die Braut des Tigers Mein Vater verlor mich beim Kartenspiel an das Tier. Es gibt eine bestimmte Verrücktheit, die überfällt die Reisenden aus dem Norden, wenn sie das liebliche Land erreichen, in dem die Zitronen blühen. Wir kommen aus Ländern mit kaltem Klima, zu Hause liegen wir immer im Kampf mit der Natur, aber hier - ach! Man könnte meinen, man sei in die gesegneten Gefilde geraten, wo der Löwe neben dem Lamm ruht. Alles blüht, kein kalter Hauch stört diese sinnenfreudige Luft. Die Sonne schüttet Früchte über uns aus. Und die tödliche, sinnliche Lethargie des lieblichen Südens befällt das verhungerte Hirn; es keucht: ›Wohlleben! Mehr Wohlleben!‹ Aber dann kommt der Schnee, man kann ihm nicht entrinnen, er ist uns seit Rußland gefolgt, als wäre er hinter unserem Wagen hergelaufen, und in dieser düsteren, verbitterten Stadt hat er uns endlich eingeholt, treibt gegen die Fensterscheiben, um meinen Vater zu verspotten, der das ewige Vergnügen erwartet hatte. Die Adern an seiner Stirn schwellen und pochen, und seine Hände zittern, während er des Teufels Gebetbuch austeilt. Von den Kerzen tropfte heißes, ätzendes Wachs auf meine nackten Schultern. Ich sah ihm zu mit dem wilden Zynismus, der jenen Frauen eigentümlich ist, die durch die Umstände dazu gezwungen sind, schweigend Zeuginnen der Torheit zu werden, während mein Vater, in seiner Verzweiflung von immer mehr Schlucken des 34
Feuerwassers angespornt, das sie hier ›Grappa‹ nennen, die letzten Reste meiner Erbschaft verschleudert. Als wir Rußland verließen, besaßen wir fruchtbare schwarze Erde, blaue Wälder mit Bären und Wildschweinen, Leibeigene, Kornfelder, Bauernhöfe, meine geliebten Pferde, die weißen Nächte kühler Sommer, das Feuerwerk der Nordlichter. Welche Last muß ihm dieser Besitz bedeutet haben, denn er lacht fröhlich, als er sich jetzt zum Bettler macht; er ist von einer solchen Leidenschaft gepackt, daß er alles dem Tier schenkt. Jeder, der in diese Stadt kommt, muß mit dem Grandseigneur eine Partie Karten spielen, es kommen freilich nur wenige. Man hatte uns in Mailand nicht gewarnt, oder wir hatten es nicht verstehen können - mein holpriges Italienisch, der verwirrende Dialekt dieser Gegend. Ja wirklich, ich selber schlug dieses abgelegene Provinzstädtchen vor, das seit zweihundert Jahren aus der Mode gekommen, weil es sich, o Ironie, keines Kasinos rühmen kann. Ich wußte nicht, daß der Preis für den Aufenthalt in seiner dezemberlichen Einsamkeit ein Spiel mit dem Herrn war. Es war schon spät. Die feuchte Kälte dieses Ortes kroch in Steine und Knochen und tief in die Lungenbläschen; sie drang mit einem Schauer selbst in unseren Salon, wohin sich der Herr begab, um in der Verschwiegenheit zu spielen, die zu seinem Wesen gehörte. Wer hätte die Einladung zurückgewiesen, die uns sein Diener in unserem Quartier überreichte? Gewiß nicht mein zügelloser Vater; der Spiegel über dem Tisch gab mir seine Besessenheit wieder, meine Reglosigkeit, die flackernden Kerzen, die sich leerenden Flaschen, die bunten Gezeiten der Karten, die auf 35
und nieder gingen, die starre Maske, die alle Gesichtszüge des Tiers verbarg außer seinen gelben Augen, die dann und wann über seine unbehaarte Hand zu mir hinüberstreiften. »La Bestia!« sagte unsere Wirtsfrau und betastete scheu einen Briefumschlag mit seinem riesigen Wappen, einem Tiger im Sprung, und halb Furcht, halb Staunen lag auf ihrem Gesicht. Und ich brachte es nicht über mich zu fragen, warum sie den Herrn dieser Gegend La Bestia nannten - hatte es wohl mit diesem heraldischen Zeichen zu tun? Ihre Sprache war durch die träge, bronchitische Redeweise der Gegend so erstickt, daß ich sie kaum verstehen konnte, außer als sie bei meinem Anblick sagte: »Che bella!« Seit ich krabbeln konnte, war ich immer die Hübsche gewesen, mit meinen glänzenden, nußbraunen Locken, meinen Rosenwangen. Ich war am Weihnachtstag geboren - meine Christrose, nannte mich meine englische Kinderfrau. Die Bauern sagten: ›Das leibhaftige Ebenbild ihrer Mutter‹, und schlugen ein Kreuz zum ehrfürchtigen Gedenken an die Tote. Die Lebensblüte meiner Mutter hielt nicht lange an; nur ihrer Aussteuer wegen von einem solchen Windhund aus dem russischen Adel geheiratet, starb sie bald an seiner Spielleidenschaft, seiner Hurerei, seinen ausschweifenden Festen. Und das Tier reichte mir die Rose aus seinem tadellosen, wenn auch altmodischen Knopfloch, als es eintrat, während der Diener ihm den Schnee von dem schwarzen Rock klopfte. Diese weiße Rose, unnatürlich und nicht aus dieser Jahreszeit, die mei36
ne nervösen Finger jetzt zerpflückten, Blatt für Blatt, wie mein Vater glorreich seine Laufbahn beendete, die nur aus Katastrophen bestand. Dies ist eine schwermütige, in sich versunkene Gegend; eine sonnenlose, gestaltlose Landschaft, der träge Fluß schwitzt Nebel aus, die kahlen Weiden stehen krumm. Und eine grausame Stadt; die düstere Piazza, ein Platz, wie geschaffen für öffentliche Hinrichtungen, unter dem übergreifenden Schatten einer scheunenhaften, bedrohlichen Kirche. Man pflegte die Verurteilten in Käfigen an die Stadtmauer zu hängen; Unfreundlichkeit ist den Leuten hier selbstverständlich, ihre Augen sitzen eng beieinander, sie haben schmale Lippen. Ihr Essen ist kärglich, Nudeln, die in Öl schwimmen, gekochtes Rindfleisch mit einer Sauce aus bitteren Kräutern. Ein Friedhofshauch liegt über dem ganzen Ort, die Bewohner sind gegen Eis und Kälte so vermummt, daß man kaum ihre Gesichter erkennen kann. Und sie lügen und betrügen, Wirtsleute, Kutscher, alle. Du liebe Zeit, wie sie uns gemolken haben! Der trügerische Süden, wo man meint, es gäbe keinen Winter, und vergißt, daß man ihn mit sich schleppt. Meine Sinne wurden immer verwirrter von dem berauschenden Parfüm des Herrn, ein viel zu starker Duft nach Zibet für diesen kleinen Raum und diese Enge. Er schien in diesem Parfüm zu baden, seine Hemden und seine Unterwäsche damit zu tränken; wonach mag er wohl wirklich riechen, daß er es so übertönen muß? Ich habe noch nie einen so großen Mann gesehen, der so zweidimensional wirkt, obwohl das Tier wunderlich elegant ist in seinem altmodischen Gehrock, der seinem 37
Aussehen nach in jenen fernen Jahren gekauft sein mochte, die vor seiner selbstgewählten Abgeschlossenheit lagen; es empfindet es nicht mehr als notwendig, mit der Mode zu gehen. Etwas Ungeschlachtes ist in seinem Äußeren, etwas Riesenhaftes, nichts Gewinnendes; das Tier strahlt eine sonderbare Selbstbeherrschung aus, als kämpfte es mit sich, aufrecht zu bleiben, obgleich es sich viel lieber auf allen vieren bewegen würde. Traurig verzerrt es unsere menschlichen Hoffnungen, göttergleich zu sein, das arme Ding; nur aus einer gewissen Entfernung könnte man meinen, das Tier unterscheide sich kaum von irgendeinem anderen Mann, obgleich es eine Maske trägt, auf die ein sehr schönes Männerantlitz gemalt ist. O ja, ein wunderschönes Gesicht; aber eins mit einer zu strengen Symmetrie der Züge, um ganz menschlich zu sein: Die eine Hälfte seiner Maske ist das Spiegelbild der anderen, zu vollkommen, unheimlich. Er trägt auch eine Perücke, falsche Haare, die mit einer Schleife zu einem Zopf gebunden sind, eine Perücke wie auf altmodischen Porträts. Ein passendes Seidentuch, mit einer Perle festgesteckt, verbirgt seinen Hals. Dazu Handschuhe aus hellem Ziegenleder, die jedoch so riesig und ungeschlacht sind, daß sie wohl keine Hände bedecken. Er ist eine Karnevalsfigur aus Pappmache und Kreppapierhaaren; aber am Kartentisch ist er gerissen wie ein Teufel. Wenn er sich über sein Blatt beugt, hallt seine maskierte Stimme wie aus einer großen Ferne, und er leidet an einem so grollenden Sprachfehler, daß nur sein Diener ihn versteht und übersetzen kann, so als wäre sein Herr eine 38
tolpatschige Puppe und er selbst ein Bauchredner. Der Docht sank in das zerschmolzene Wachs, die Kerzen flackerten. Als meine Rose all ihre Blätter verloren hatte, war auch meinem Vater nichts mehr geblieben. »Außer dem Mädchen.« Spielen ist eine Krankheit. Mein Vater sagte immer, er liebte mich, und dennoch setzte er seine Tochter aufs Spiel mit den Karten. Er fächerte sein Blatt auf; im Spiegel sah ich, wie wilde Hoffnung seine Augen funkeln ließ. Er hatte sich den Kragen aufgeknöpft, seine zerzausten Haare standen zu Berge, er zeigte die Höllenqualen eines Mannes im letzten Stadium der Verkommenheit. Es zog durch alle alten Wände, und ich fror schlimmer als jemals zuvor in Rußland, wenn die Nächte dort am kältesten sind. Eine Dame, ein König, ein As. Ich erkannte sie im Spiegel. Oh, ich wußte genau, daß er sich einbildete, er könnte mich nicht verlieren, mit mir würde sogar alles wieder zurückkommen, was er verloren hatte, mit mir wäre das verschleuderte Vermögen meiner Familie mit einem Schlag zurückgewonnen. Und wenn er nicht gewann, nun gut, dann also das Ahnenschloß des Tiers vor den Toren der Stadt, die unermeßlichen Einkünfte; die Ländereien entlang dem Fluß, die Renten, die Schatztruhe, die Mantegnas, Giulio Romanos, die Salzfässer von Cellini, die Titel... die ganze Stadt selbst. Man darf nicht denken, daß mein Vater mich geringer schätzte als das Lösegeld für einen König, aber eben auch nicht höher. Es war jetzt eiskalt in diesem Zimmer. Und mir, dem Kind aus dem unwirtlichen Norden, kam es vor, als wäre 39
nicht mein Fleisch, sondern in Wahrheit meines Vaters Seele in Gefahr. Mein Vater glaubte natürlich an Wunder; welcher Spieler tut das nicht? Waren wir nicht gerade zu der Jagd nach so einem Wunder aufgebrochen aus dem Land der Bären und Sternschnuppen? So schwankten wir zum Rand des Abgrunds. Das Tier brüllte und legte dann die drei übrigen Asse auf den Tisch. Die ungerührten Diener glitten nun so glatt herbei, als ob sie auf Rollen liefen, um eine Kerze nach der anderen zu löschen. Wenn man sie betrachtete, so mochte man meinen, nichts von Bedeutung wäre geschehen. Sie gähnten ein wenig vorwurfsvoll; es war fast Morgen, wir hatten sie nicht ins Bett gehen lassen. Der Kammerdiener des Tiers brachte ihm den Mantel. Mein Vater blieb inmitten dieser Vorbereitungen zum Aufbruch sitzen und starrte noch immer auf die Karten, die ihn im Stich gelassen hatten. Der Diener teilte mir knapp mit, daß er morgen um zehn Uhr mich und meine Koffer abholen und in den Palazzo des Tiers bringen würde. Capisco? Ich war so erschrocken, daß ich kaum etwas begriff. Geduldig wiederholte er die Anweisungen für mich, er war ein sonderbarer, dünner, behender kleiner Mann, der sich mit unregelmäßigen Schritten vorwärts bewegte, auf schief angesetzten Füßen, die in merkwürdigen, keilförmigen Schuhen steckten. Hatte mein Vater vorher ein feuerrotes Gesicht gehabt, so war er jetzt weiß wie der Schnee, der auf der Fensterbank lag. Seine Augen schwammen, gleich würde er weinen. 40
»Wie der gemeine Inder«, sagte er; er liebte es, Gedichte zu rezitieren, »einer, dessen Hand eine Perle fortwarf, reicher als sein ganzer Stamm... Ich habe meine Perle verloren, meine unbezahlbare Perle.« Daraufhin stieß das Tier plötzlich einen wilden Ton hervor, halb Grollen und halb Brüllen; die Kerzen flackerten. Der flinke Diener, der unverschämte Heuchler, übersetzte, ohne mit der Wimper zu zucken: »Mein Herr will sagen: wenn Sie so nachlässig mit Ihren Schätzen sind, dann sollten Sie damit rechnen, daß sie Ihnen abgenommen werden.« Er bedachte uns mit der Verneigung und dem Lächeln, das uns sein Herr nicht bieten konnte, und sie verschwanden. Ich schaute den Schneeflocken zu, bis sie, kurz vor der Morgendämmerung, zu rieseln aufhörten; starker Frost setzte ein, der nächste Morgen brachte ein Licht wie aus Eisen. Die Kutsche des Tiers, ein elegantes, wenn auch altmodisches Modell, war kohlpechrabenschwarz und wurde gezogen von einem blanken schwarzen Wallach, der Dampf aus seinen Nüstern blies und so lebhaft auf dem festgetretenen Schnee herumstapfte, daß ich wieder Hoffnung schöpfte. Vielleicht war die ganze Welt doch nicht so von Eis umschlossen, wie ich es jetzt war. Ich hatte mich immer etwas an Gullivers Meinung gehalten, daß Pferde besser sind als wir, und an jenem Tage wäre ich ihm mit Freuden ins Königreich der Pferde gefolgt, wenn sich dazu nur eine Gelegenheit ergeben hätte. Der Diener saß in einer schmucken schwarzgoldenen 41
Livree hoch oben auf dem Bock und umklammerte ausgerechnet einen Strauß von seines Herrn verdammten weißen Rosen, als ob ein Blumengebinde eine Frau über irgendeine Demütigung hinwegtrösten könnte. Er sprang mit unnatürlicher Gelenkigkeit herab, um sie mir feierlich in meine widerstrebende Hand zu legen. Mein tränenüberströmter Vater will eine Rose zum Zeichen, daß ich ihm vergeben habe. Als ich eine abbreche, steche ich mir in den Finger, und so bekommt er seine Rose ganz mit Blut verschmiert. Der Diener kroch um meine Füße herum, um mit einer sonderbaren Art von gleichgültiger Willfährigkeit die Decken um mich herum festzustopfen, vergaß jedoch seine Stellung so weit, daß er sich mit einem übermäßig beweglichen Zeigefinger genußvoll unter der Halbperücke kratzte, während er mir einen Blick zuwarf, den meine alte Kinderfrau ›altmodisch‹ genannt hätte; er war spöttisch, verschlagen, eine Spur Verachtung lag darin. Und Mitleid? Nein, kein Mitleid. Seine Augen waren feucht und braun, sein Gesicht überzogen mit der unschuldigen Listigkeit eines uralten Babys. Er besaß die irritierende Angewohnheit, ununterbrochen Selbstgespräche zu führen, während er die Gewinne seines Herrn einlud. Ich zog die Vorhänge zu, um nicht das Lebwohl meines Vaters sehen zu müssen; mein Groll war scharf wie eine Glasscherbe. Verspielt an das Tier! Und was an ihm, so überlegte ich, mochte genau das ›Tierische‹ sein? Meine englische Kinderfrau hat mir einmal von einem Tigermann erzählt, den sie in London gesehen hatte, als sie ein kleines 42
Mädchen war, das sollte mir einen Schreck einjagen, damit ich brav war, denn ich war ein wildes kleines Ding, und mit einem Stirnrunzeln oder einem Bestechungslöffel voll süßer Marmelade allein konnte sie mich nicht zähmen zur Unterwerfung. Wenn du nicht aufhörst, die Stubenmädchen zu ärgern, meine Schöne, dann kommt der Tigermann und nimmt dich mit. Sie haben ihn aus Sumatra von den indischen Inseln mitgebracht, erzählte sie; sein Hinterteil war ganz voll Fell, und einem Menschen ähnelte er nur vom Kopf abwärts. Das Tier jedoch geht stets maskiert, sein Gesicht also kann nicht aussehen wie meines. Aber der Tigermann konnte trotz seiner Behaarung wie jeder gute Christ ein Glas Bier in die Hand nehmen und leertrinken. Das hatte sie mit eigenen Augen gesehen, als sie gerade so groß war wie ich und noch stammelte und krabbelte. Dann pflegte sie aufzuseufzen vor Sehnsucht nach ihrem London jenseits der Nordsee und der vielen vergangenen Jahre. Wenn diese junge Dame aber nicht artig war und brav ihre Rote Bete aufaß, dann würde sich der Tigermann seinen großen schwarzen Reisemantel umwerfen, der genau wie der Mantel von deinem Papa mit Pelz gefüttert ist, er würde das schnelle Pferd des Erlkönigs mieten und durch Nacht und Wind geradewegs zum Kinderzimmer reiten, und Ja, meine Schöne! VERSCHLINGEN WÜRDE ER DICH! Wie habe ich immer gequietscht in wonnigem Schrecken, habe ihr halb geglaubt und halb gewußt, daß sie mich nur necken will. Es gab auch Dinge, von denen 43
ich genau wußte, daß ich sie ihr nicht erzählen durfte. Auf unserem einsamen Bauernhof, wo die kichernden Kindermädchen mich in das Geheimnis einweihten, was der Bulle mit den Kühen macht, hörte ich von der Tochter des Wagenmeisters. Pst, pst, das darf aber nicht deine Kinderfrau wissen, daß wir das gesagt haben; die Kleine vom Wagenmeister, Hasenscharte, Schielaugen, häßlich wie die Sünde, wer hätte die schon haben wollen? Und doch ist ihr zu ihrer Schande und unter dem grausamen Gespött der Pferdeknechte der Bauch dick geworden, und sie tuschelten, der Sohn, den sie geboren hätte, stammte von einem Bären. Kam mit einem Fell und ausgewachsenen Zähnen auf die Welt; das war der Beweis. Als er jedoch erwachsen war, wurde er ein guter Schäfer; nur geheiratet hat er niemals, er hauste vor dem Dorf in einer Hütte und konnte den Wind aus allen Himmelsrichtungen blasen lassen, und außerdem konnte er auch genau sagen, aus welchen Eiern Hähne und aus welchen Hennen schlüpfen würden. Die verstörten Bauern hatten meinem Vater eines Tages einen Schädel gebracht, der auf jeder Stirnseite Hörner hatte, einen guten Finger lang, und sie weigerten sich, auf das Feld zurückzugehen, wo ihr armseliger Pflug das Ding aufgestöbert hatte, es mußte erst ein Priester kommen und mit ihnen gehen, denn dieser Schädel hatte den Kieferknochen eines Mannes, nicht wahr? Altweibermärchen, Kinderstubenängste! Ich kannte nur zu gut den Grund für die Verzagtheit, die ich so angenehm herauskitzelte mit abergläubischen Wundergeschichten aus meiner Kindheit an jenem Tag, an dem diese Kindheit 44
endete. Von nun an war meine Haut mein einziges Kapital auf der Welt, und heute mußte ich sie zum erstenmal zu Markte tragen. Wir hatten die Stadt weit hinter uns gelassen und überquerten jetzt eine breite, flache Mulde aus Schnee, in der Weidenstümpfe mit geschorenen Köpfen gefrorene Tümpel säumten; Nebel löste den Horizont auf und zog den Himmel tiefer, bis er nur noch ein paar Handbreit über uns zu schweben schien. So weit das Auge reichte, kein Lebewesen. Wie kümmerlich und armselig war die tote Jahreszeit in diesem falschen Garten Eden, in dem alle Früchte dem Frost erlegen waren! Und meine zarten Rosen, schon verwelkt. Ich öffnete den Wagenschlag und warf den sinnlosen Strauß auf den hochgepreßten, festgefrorenen Schlamm der Straße. Plötzlich erhob sich ein scharfer, beißender Wind und warf mir trockene Schneekörner ins Gesicht. Der Nebel hob sich so weit, daß sich vor mir ein Areal von halbzerfallenen Fassaden aus reinem rotem Backstein enthüllte, die riesige Menschenfalle, die größenwahnsinnige Zitadelle seines Palazzos. Es war eine Welt für sich, aber eine tote, ein ausgebrannter Planet. Ich erkannte, daß sich das Tier mit seinem Geld nicht Luxus, sondern Abgeschiedenheit erkauft hatte. Das kleine schwarze Pferd trabte geradewegs durch das mit Figuren verzierte Bronzeportal, das sich dem Unwetter wie ein Scheunentor geöffnet hatte, und der Diener half mir aus dem Wagen auf die zersprungenen Fliesen in der großen Halle, in die duftende Wärme eines Stalles, süß von Heu, beißend von Pferdemist. Unter dem großen Dach, wo die Balken dicht besetzt waren mit den letz45
ten Schwalbennestern des Sommers, brach ein Chor von Gewieher und dumpfem Hufgetrappel aus; ein Dutzend grazile Nüstern reckten sich aus den Krippen und wandten sich uns zu, mit steil gespitzten Ohren. Das Tier hatte seinen Pferden den Speisesaal überlassen. Die Wände waren passend bemalt mit einem Fresko von Pferden, Hunden und Männern in einem Wald, in dem die Bäume gleichzeitig Blüten und Früchte an den Zweigen trugen. Der Diener zupfte mich höflich am Ärmel. Der Herr wartet schon. Gähnende Türen und zerbrochene Fenster ließen überall den Wind ein. Wir stiegen eine Treppe nach der anderen hoch, unsere Schritte hallten auf Marmor. Durch Bögen und Türen erblickte ich gewölbte Gemächer, die wie in einem Irrgarten eins aus dem anderen hervortraten wie chinesische Schachteln und in die unendlich verzweigten Räumlichkeiten dieses Ortes führten. Er und ich und der Wind waren das einzige, das sich hier regte; alle Möbel lagen unter Schleiern von Staub, die Kronleuchter waren mit Tüchern verhängt, Gemälde von ihren Haken genommen und mit der Bildseite an die Wand gelehnt, als ob ihr Herr ihren Anblick nicht ertragen könnte. Der Palast war entkleidet, als wollte sein Eigentümer gerade ausziehen oder als wäre er noch niemals richtig eingezogen. Das Tier hatte sich entschieden, an einem unbewohnten Ort zu leben. Der Diener warf mir aus seinen braunen beredten Augen einen beruhigenden Blick zu, in dem jedoch auch eine solch scheele Geringschätzung lag, daß er mich nicht trösten konnte, und hüpfte weiter auf seinen schiefen 46
Beinen vor mir her, wobei er leise vor sich hin murmelte. Ich hob den Kopf und folgte ihm; mein Herz aber war schwer, trotz all meines Stolzes. Der Herr hat seinen Königssitz hoch oben im Haus, in einem engen, stickigen, düsteren Raum; er hält die Fensterläden noch am Mittag geschlossen. Als wir ihn endlich erreicht hatten, war ich außer Atem und erwiderte das Schweigen, mit dem er mich begrüßte. Ich will nicht lächeln. Er kann nicht lächeln. In seiner kaum je gestörten Abgeschiedenheit trägt das Tier ein Gewand mit osmanischen Mustern, einen losen Mantel aus stumpfem Purpur, goldbestickt, am Halse hochgeschlossen und so lang, daß er seine Füße verbirgt. Die Füße des Sessels, in dem er sitzt, sind schön gearbeitete Klauen. Er versteckt seine Hände in weiten Ärmeln. Das kunstvolle Meisterwerk seines Gesichtes erschreckt mich. Ein kleines Feuer auf einem kleinen Rost. Windstöße lassen die Läden klappern. Der Diener hustete. Ihm fiel die delikate Aufgabe zu, die Wünsche seines Herrn zu übersetzen. »Mein Herr...« Ein Scheit fiel in die Asche und krachte mächtig in diese unheimliche Stille hinein, der Diener fuhr zusammen, verlor den Faden und begann von vorn. »Mein Herr hat nur einen einzigen Wunsch.« Der schwere, üppige, wilde Duft, mit dem der Herr auch am vorigen Abend parfümiert gewesen war, hängt um uns in der Luft, steigt in blauen Wolken aus den Löchern eines kostbaren chinesischen Räuchergefäßes. »Er wünscht sich nur...« Hier begann der Diener im Angesicht meiner Teil47
nahmslosigkeit zu stammeln, seine spöttische Überlegenheit war dahin, denn der Wunsch seines Herrn, wie unbedeutend er auch sein mag, klang unerträglich anmaßend aus dem Mund eines Lakaien, und diese Rolle des Zwischenträgers war es offenbar, die ihn vor allem verlegen machte. Er schluckte, räusperte sich und stieß schließlich ohne Punkt und Pause eine Flut von Worten hervor. »Der einzige Wunsch meines Herrn ist die schöne junge Dame unbekleidet zu sehen nackt ohne ihr Kleid und das nur ein einziges Mal wonach sie unbeschadet zu ihrem Vater zurückgebracht werden wird mit einem Barscheck in der Höhe jener Summe die er an meinen Herrn beim Kartenspiel verloren hat und außerdem einer Anzahl von schönen Geschenken wie Pelze Juwelen und Pferde -« Ich blieb ruhig stehen. Während dieses Gespräches waren meine Augen auf gleicher Höhe wie die hinter der Maske, die jetzt den meinen auswichen, als ob er sich jetzt, zur Rettung seiner Ehre, für sein Ansinnen ebenso schämte wie für das Sprachrohr, das sie in Worte kleidete. Agitato, molto agitato rang der Diener die Hände in den weißen Handschuhen. »Denuda -« Ich traute kaum meinen Ohren. Ich stieß ein heiseres Gelächter aus; so lacht keine junge Dame! pflegte mich meine alte Kinderfrau zu ermahnen. Ich tat es trotzdem. Und tue es noch. Vor dem rauhen Krächzen meiner herzlosen Heiterkeit prallte der Diener entsetzt zurück, rang die Hände, als ob er sie loswerden wollte, verzweifelt und in stummem Flehen. Ich spürte, ich schuldete ihm eine Antwort in einem so fehlerlosen Toskanisch, wie ich es 48
nur zustande brachte. »Sie können mich in ein fensterloses Gemach bringen lassen, mein Herr, dann verspreche ich Ihnen, daß ich für Sie meinen Rock bis zur Taille hochheben werde. Es muß jedoch ein Tuch über mein Gesicht gezogen werden, damit es verborgen bleibt; das Tuch muß so locker auf mir liegen, daß es mich nicht erstickt. So werde ich von der Hüfte aufwärts vollkommen bedeckt sein, und es gibt kein Licht. Dort dürfen Sie mich einmal besuchen, mein Herr, und nur das eine Mal. Danach will ich direkt in die Stadt zurückgefahren und auf dem Marktplatz abgeliefert werden, vor der Kirche. Wenn Sie wünschen, mir Geld zu zahlen, dann will ich es gerne entgegennehmen. Ich muß jedoch darauf beharren, daß Sie mir nur die Summe geben, die Sie unter diesen Umständen jeder anderen Frau auch zahlen würden. Wenn Sie es jedoch vorziehen, mir gar kein Geschenk zu machen, so ist das Ihr gutes Recht.« Wie freute ich mich, als ich sah, daß ich das Tier ins Herz getroffen hatte! Denn nach einem Dutzend Herzschlägen quoll eine einzige Träne schimmernd im Winkel des maskierten Auges. Eine Träne! Eine Träne, wie ich hoffte, der Scham. Die Träne bebte einen Augenblick am Rande des gemalten Jochbeins, rann dann über die gemalte Wange und tropfte schließlich mit einem hellen Klang auf den gekachelten Boden. Der Diener scheuchte mich hastig unter murmelnden Selbstgesprächen aus dem Raum. Eine malvenfarbene Wolke von seines Herrn Parfüm wallte mit uns in den eisigen Korridor hinaus und löste sich dort im Luftzug auf. Eine Zelle war für mich gerichtet, eine wahrhaftige 49
Zelle, ohne Fenster, ohne Luft, ohne Licht, in den tiefsten Eingeweiden des Palastes. Der Diener zündete eine Lampe für mich an; ein schmales Bett, ein dunkler Schrank mit geschnitzten Früchten und Blumen zeigten sich im Dämmer. »Ich werde mein Bettlaken zu einer Schlinge knüpfen und mich damit aufhängen«, sagte ich. »O nein«, erwiderte der Diener und musterte mich mit seinen großen und plötzlich melancholischen Augen, »o nein, das werden Sie nicht. Sie sind eine Frau von Ehre.« Und was trieb er in meiner Schlafkammer, diese zappelnde Karikatur eines Mannes? War er mein Wärter, bis ich mich den Wünschen des Tiers unterwarf oder es sich den meinen? War meine Lage so beschränkt, daß man mir keine Kammerzofe mehr zugestand? Der Diener klatschte, wie als Antwort auf meinen unausgesprochenen Wunsch, in die Hände. »Um Ihre Einsamkeit zu lindern, Madame...« Hinter der Schranktür Klopfen und Klappern, die Tür klappt auf, und heraus gleitet eine Soubrette aus einer Operette, schimmernde nußbraune Locken, rosige Wangen, blaue Kugelaugen; es dauert einen Augenblick, ehe ich sie erkenne in ihrer kleinen Haube, den weißen Strümpfen und gestärkten Unterröcken. In der einen Hand trägt sie einen Spiegel, in der anderen eine Puderquaste, und wo ihr Herz sitzen sollte, ist eine Spieldose; sie klingelt, während sie auf ihren winzigen Rädern auf mich zurollt. »Hier lebt nichts Menschliches«, sagte der Diener. Meine Kammerzofe hielt an, verneigte sich; aus einem gesäumten Schlitz an der einen Seite ihres Körpers ragt der Griff eines Schlüssels heraus. Sie ist eine wunderba50
re Maschine, das raffiniertest ausbalancierte System von Schnüren und Rollen der Welt. »Wir haben uns der Dienstboten entledigt«, sagte der Diener, »wir umgeben uns statt dessen zu unserm Nutzen und Vergnügen mit Attrappen, und wir sind nicht weniger zufrieden als die meisten anderen Herren.« Mein Aufziehzwilling machte vor mir Halt, zirpte in ihren Eingeweiden ein Menuett aus dem 18. Jahrhundert und bot mir ein kühnes Lächeln. Klick, klick - sie hebt ihren Arm und pudert mir emsig die Wangen mit rosiger Kreide, daß ich husten muß; dann dreht sie mir ihren kleinen Spiegel entgegen. Ich sah darin nicht mein eigenes Gesicht, sondern das meines Vaters, als hätte ich bei der Ankunft im Palast des Tiers wie eine Quittung für seine Schulden sein Gesicht aufgelegt. Was heulst du noch, du Narr in deinem Selbstbetrug? Betrunken dazu. Er stieß seinen Grappa zurück und warf den Becher fort. Als der Diener meinen Schreck und mein Entsetzen sah, nahm er mir den Spiegel weg, hauchte ihn an, rieb ihn mit einer Kante seiner behandschuhten Faust blank und reichte ihn mir zurück. Jetzt sah ich nur mich selbst, hohläugig nach einer schlaflosen Nacht und so blaß, daß ich meine Kammerzofe und ihr Rouge brauchen konnte. Ich hörte, wie sich der Schlüssel in der schweren Tür drehte und die Schritte des Dieners auf dem steinernen Gang verhallten. In der Zwischenzeit fuhr mein Ebenbild fort, die Luft zu pudern und ihre zirpende Melodie von sich zu geben, doch war sie, wie sich herausstellte, nicht unermüdlich; bald wurde ihr Pudern träger, ihr Metallherz 51
in einer Nachahmung von Müdigkeit langsamer, ihre Spieluhr lief ab, bis sich die Töne so verzerrten, daß sie falsch klangen, wie einzelne Regentropfen, und schließlich, als ob der Schlaf sie überwältigt hätte, bewegte sie sich gar nicht mehr. Als sie eingeschlummert war, hatte ich nur den einen Wunsch, das gleiche zu tun. Ich sank wie gefällt auf das schmale Bett. Zeit verstrich, aber ich weiß nicht, wieviel. Irgendwann weckte mich der Diener mit Brötchen und Honig. Ich winkte ihm, das Tablett wieder fortzunehmen, aber er setzte es energisch neben der Lampe ab, nahm eine kleine Dose aus Chagrinleder herunter und überreichte sie mir. Ich wandte meinen Kopf ab. »Oh, meine Dame!« Wie verletzt knarrte seine hohe Stimme! Geschickt öffnete er den goldenen Verschluß; in einem Bett aus rotem Samt lag ein einzelner Diamantohrring, vollkommen wie eine Träne. Ich klappte die Dose wieder zu und warf sie in eine Ecke. Diese plötzliche, heftige Bewegung muß auf den Mechanismus der Puppe gewirkt haben. Sie ließ ihren Arm emporschnellen, fast wie um mich zu strafen, und gab ein paar Gavottetriller von sich. Dann war sie wieder ruhig. »Nun gut«, sagte der Diener beleidigt. Und kündigte mir an, es sei für mich an der Zeit, meinen Gastgeber abermals zu besuchen. Er gestattete mir nicht, mich zu waschen oder mir die Haare zu bürsten. Im Inneren des Palastes herrschte so wenig natürliches Licht, daß ich nicht unterscheiden konnte, ob es Tag war oder Nacht. Es sah nicht so aus, als hätte sich das Tier, seitdem ich es das letzte Mal gesehen hatte, überhaupt gerührt; er saß in 52
seinem großen Sessel mit den Händen in den Ärmeln, und die schwüle Luft war vollkommen still. Ich mochte eine Stunde geschlafen haben, eine Nacht oder einen Monat, seine steinerne Reglosigkeit, die erstickende Atmosphäre hatten sich nicht verändert. Der Weihrauch stieg aus dem Gefäß und zog noch immer die gleichen Kringel durch die Luft. Das gleiche Feuer brannte. Soll ich für Sie meine Kleider ablegen, wie ein Ballettmädchen? Ist das alles, was Sie von mir verlangen? »Ein Blick auf die Haut einer jungen Dame, die noch kein Mann gesehen hat...« stammelte der Diener. Ich wünschte, ich hätte mich mit jedem Bauernburschen auf meines Vaters Höfen im Heu gewälzt, um nur nicht die Voraussetzungen für diesen demütigenden Handel zu erfüllen. Daß er so wenig forderte, war der Grund, warum ich es nicht gewähren konnte; ich mußte mit dem Tier nicht sprechen, damit es mich verstand. Eine Träne stieg ihm in das andere Auge. Und dann bewegte er sich; er verbarg sein Karnevalspappgesicht mit den schweren geknüpften falschen Haaren in, wie ich sagen würde, seinen Armen; er zog seine, wie ich sagen würde, Hände aus den Ärmeln, und ich sah seine pelzigen Pfoten, seine Krallen, die Wunden reißen konnten. Die Träne tropfte auf sein Fell und glänzte. Und in meiner Zelle höre ich stundenlang diese Pfoten vor meiner Tür hin und her tappen. Als der Lakai wieder mit seinem Silbertablett auftauchte, besaß ich ein ganzes Paar Diamantohrringe wie aus dem 53
reinsten Wasser der Welt; ich warf den zweiten in die gleiche Ecke, in der der erste lag. Der Diener zitterte vor Kränkung und Bedauern, bot mir jedoch nicht wieder an, mich zum Tier zu führen. Statt dessen lächelte er einschmeichelnd und gab von sich: »Mein Herr, er sagt, er bittet die junge Dame zu einem Ausritt.« »Was soll das?« Er machte kurz das Galoppgetrappel nach und krächzte zu meiner Verwunderung tonlos: »Trapp trapp! Trapp trapp! Auf die Jagd wollen wir gehen!« »Ich werde ausreißen, ich werde in die Stadt reiten.« »O nein«, erwiderte er, »sind Sie nicht eine Frau von Ehre?« Er klatschte in die Hände, und mein Kammermädchen klickte und hampelte sich zurecht für ihre Imitation von Leben. Sie rollte zum Schrank, aus dem sie gekommen war, und griff hinein, um mein Reitkleid herauszuholen und über ihren künstlichen Arm zu legen. Ausgerechnet das, mein eigenes Reitkleid, das ich in einem Koffer auf dem Dachboden jenes Landhauses vor Petersburg zurückgelassen hatte, das uns schon vor langer Zeit verlorengegangen war, lange bevor wir uns auf diese wilde Wanderschaft in den grausamen Süden gemacht hatten. Entweder war es wirklich das echte Reitkleid, das mir meine alte Kinderfrau genäht hatte, oder eine vollkommene Kopie, perfekt bis zum verlorenen Knopf am rechten Ärmel, bis zu dem ausgerissenen Saum, der nur mit einer Nadel festgesteckt war. Ich drehte und wendete den abgetragenen Stoff in meinen Händen, um einen endgültigen Beweis zu finden. Der Wind, der durch den Palast jagte, ließ die Tür in ihrem 54
Rahmen beben; hatte der Nordwind meine Kleider quer durch Europa zu mir geblasen? Bei uns zu Hause konnte ein Bärensohn die Winde nach seinem Willen wehen lassen. Welche Zauberdemokratie herrschte in beidem, in diesem Palast und jenem Tannenwald? Oder sollte ich bereit werden, es als Beweis für das Lebensprinzip meines Vaters zu nehmen, der mir immer eingehämmert hatte: alles ist möglich, wenn man genug Geld hat? »Hopp, hopp, Galopp«, schlug der Diener zwinkernd vor, ganz offensichtlich gefielen ihm das bevorstehende Vergnügen und meine Verwirrung. Das Aufziehmädchen hielt mir meine Jacke hin, und ich erlaubte mir, scheinbar widerstrebend hineinzufahren, dabei war ich halb verrückt danach, hinaus an die frische Luft zu kommen, fort von diesem todbringenden Palast, und wenn auch in einer solchen Gesellschaft. Die Portale der Halle ließen den hellen Tag hinein; ich sah, daß es Morgen war. Unsere Pferde waren schon gesattelt und geschirrt, Tiere in Fesseln, und warteten auf uns. Sie schlugen mit ihren ungeduldigen Hufen Funken aus den Steinen, während ihre Stallgenossen gemütlich im Stroh lagerten und sich in der stummen Sprache der Pferde miteinander unterhielten. Ein oder zwei Tauben, das Gefieder aufgeplustert, um die Kälte abzuwehren, scharrten und pickten nach Körnern. Der kleine schwarze Wallach, der mich hergebracht hatte, begrüßte mich mit einem schmetternden Wiehern, das in dem dunstigen Gebäude widerhallte wie in einem Schalloch, und ich wußte, ihn sollte ich reiten. Ich habe Pferde immer verehrt, diese edelsten aller 55
Geschöpfe, sie haben eine so verwundete Sensibilität in ihren weisen Augen, diese kluge Beherrschung der Kraft in ihrer angespannten Hinterhand. Ich schnalzte meinem blanken, schwarzen Gefährten zu, und er erwiderte meinen Gruß durch einen Kuß mit seinen weichen Nüstern auf meine Stirn. Da stand noch ein kleines zottiges Pony, das an den trompe-l’œil-Ranken unter den Hufen der gemalten Pferde auf der Wand herumschnoberte, und in seinen Sattel sprang der Diener mit einem Schwung wie im Zirkus. Dann kam das Tier, in einen mit schwarzem Pelz gefütterten Mantel gehüllt, und hievte sich auf eine ernste graue Mähre. Kein geborener Reiter; er klammerte sich an ihre Mähne wie ein schiffbrüchiger Matrose an den Mast. Kalt war dieser Morgen, aber er schimmerte in jenem grellen Wintersonnenlicht, das die Netzhaut sticht. Ein wirbliger Wind blies, er schien uns zu begleiten, als trüge ihn der Maskierte, Gewaltige ohne Worte in seinem Mantel und ließe ihn je nach Belieben frei, denn er zerzauste zwar die Mähne der Pferde, hob aber nicht den Nebel über der Ebene. Eine karge Landschaft in trüben braunen und sepiafarbenen Tönen des Winters lag rings um uns, die Marschwiesen streckten sich düster bis an den breiten Fluß. Diese geschorenen Weiden. Dann und wann ein Vogelschwarm, klagende Schreie. Ein abgründiges Gefühl der Fremdheit begann allmählich von mir Besitz zu ergreifen. Ich wußte, daß meine beiden Gefährten in keiner Hinsicht waren wie andere Männer, der äffische Gefolgsmann nicht und nicht der Herr, für den er sprach, mit den krallenbewehrten 56
Vorderpfoten, der mit den Hexen im Bunde war, die im hohen Norden, nahe der Grenze nach Finnland, die Winde aus ihren zugeknüpften Taschentüchern fahren ließen. Ich wußte, sie lebten nach einer anderen Logik, als ich getan hatte, bis mich mein Vater mit seiner menschlichen Gedankenlosigkeit den wilden Tieren ausgeliefert hatte. Dieses Wissen jagte mir noch immer eine gewisse Angst ein; aber, wie ich sagen muß, keine große... Ich war ein junges Mädchen, eine Jungfrau, und deshalb sprachen die Männer mir jeden Verstand ab, so wie sie ihn allen absprachen, die nicht genau wie sie waren, trotz ihres eigenen Unverstandes. Ich konnte in dieser verlassenen Wildnis um mich her keine einzige Seele entdecken, und auch wir sechs, Pferde wie Reiter, konnten uns nicht rühmen, daß es unter uns eine Seele gab, denn schließlich behaupten die besten Religionen der Welt kategorisch, daß weder Tiere noch Frauen mit solchen zerbrechlichen, unstofflichen Dingen ausgerüstet wurden, als Gott der Herr die Pforten des Gartens Eden aufstieß und Eva samt ihrer Sippe hinaustorkeln ließ. So wird man sicher verstehen, daß ich, wenn ich auch nicht gerade behaupten will, ich hätte mich insgeheim metaphysischen Spekulationen hingegeben, als wir so durch das Ried zum Fluß ritten, doch ganz gewiß über das Wesen meiner eigenen Situation nachdachte, wie ich gekauft und verkauft und von Hand zu Hand gegeben worden war. Das Aufziehmädchen, das mir meine Wangen puderte - war denn nicht auch mir nur das gleiche nachgeahmte Leben unter Männern zugewiesen worden, das der Puppenmacher ihr verliehen hatte? Und dennoch, was die wahre Natur dieses krallenbe57
wehrten Zauberers sein mochte, der auf seinem bleichen Pferd so ritt, daß ich mich daran erinnerte, wie Kublai Khans Leoparden auf Pferden zur Jagd geritten sein mochten, davon hatte ich noch keine Vorstellung. Wir kamen an das Ufer des Flusses, der so breit war, daß wir nicht hinübersehen konnten, und so ruhig vor lauter Kälte, daß er kaum zu strömen schien. Die Pferde senkten ihre Köpfe, um zu trinken. Der Diener räusperte sich, wollte sprechen; wir befanden uns an einem Ort vollkommener Abgeschiedenheit, jenseits eines Dickichts aus winterkahlen Binsen, einer Hecke aus Ried. »Wenn Sie sich ihm nicht ohne Kleider zeigen wollen...« Mechanisch schüttelte ich den Kopf. »... dann müssen Sie darauf gefaßt sein, meinen Herrn zu sehen, nackt.« Der Fluß klatschte mit einem leisen Seufzer auf die Kiesel. Meine Fassung ließ mich im Stich; plötzlich befand ich mich am Rand einer Panik. Ich glaubte nicht, daß ich seinen Anblick ertragen könnte, wie immer er auch sein mochte. Die Mähre hob das tropfende Maul und schaute mich geradewegs an, als ob sie mich ermuntern wollte. Das Wasser brach sich wieder zu meinen Füßen. Ich war weit fort von zu Hause. »Sie«, sagte der Diener, »müssen.« Als ich merkte, wie ängstlich er war, daß ich ablehnte, nickte ich. Das Riedgras neigte sich unter einem jähen Windstoß, der einen Schwall des schweren Duftes seiner Verkleidung mit sich führte. Der Diener hielt den Mantel vor seinen 58
Herrn, um ihn vor mir zu beschirmen, während er die Maske abnahm. Die Pferde scharrten mit den Hufen. Nie wird sich der Tiger mit dem Lamm zur Ruhe legen; er erkennt keinen Vertrag an, der nicht gegenseitig ist. Das Lamm muß lernen, mit den Tigern zu laufen. Eine große, katzenhafte, lohgelbe Gestalt, das Fell gemustert mit wilden geometrischen Gittern in der Farbe von versengtem Holz. Sein gewölbter, schwerer Kopf, so schrecklich, daß er ihn verbergen muß. Wie fein die Muskeln, wie fest sein Tritt. Die vernichtende Heftigkeit seiner Augen, wie Zwillingssonnen. Ich spürte, wie es mir die Brust zerriß, als litte ich an einer herrlichen Wunde. Der Diener trat vor, wie um seinen Meister zu verhüllen, nachdem ihn das Mädchen wahrgenommen hatte, aber ich sagte: »Nein.« Der Tiger saß still wie ein Wappentier in einem Pakt, den er mit seiner eigenen Wildheit geschlossen hatte, um mir kein Leid zu tun. Er war viel größer, als ich es mir hätte vorstellen können, wenn ich an die armseligen, schäbigen Tiere dachte, die ich einmal in der Menagerie des Zaren in Petersburg gesehen hatte, die goldene Frucht ihrer Augen getrübt, dahinwelkend in ihrer Gefangenschaft im hohen Norden. Nichts an ihm erinnerte mich an Menschliches. Deshalb knöpfte ich mir nun bebend die Jacke auf, ich wollte ihm zeigen, daß auch ich ihm kein Leid tun würde. Aber ich war ungeschickt und errötete, denn noch kein Mann hatte mich nackt gesehen, und ich war ein stolzes Mädchen. Stolz war es, nicht Scham, der meine Finger so lähmte, und eine gewisse Besorgnis, daß dieses schwa59
che, kleine Ding aus der menschlichen Polsterwerkstatt vielleicht doch nicht großartig genug war, um seine Erwartungen an uns zu erfüllen, denn sie konnten ja auch in der endlosen Zeit seines Wartens unendlich groß geworden sein. Der Wind raschelte im Röhricht und kräuselte den Fluß. Ich zeigte seinem tiefen Schweigen meine weiße Haut, meine roten Brustwarzen, und auch die Pferde wandten ihre Köpfe, um mich zu betrachten, als wären sie ebenfalls ganz höflich neugierig auf die leibliche Natur der Frauen. Dann senkte das Tier seinen riesigen Kopf. Genug! sagte der Diener mit einer Geste. Der Wind erstarb, alles war wieder still. Danach gingen sie zusammen fort, der Diener auf dem Pony reitend, der Tiger wie ein Hund vor ihm herlaufend, und ich ging eine Weile am Flußufer spazieren. Ich hatte das Gefühl, als ob ich zum erstenmal in meinem Leben frei wäre. Dann wurde die Wintersonne blasser, ein paar Schneeflocken wirbelten aus dem verdämmernden Himmel, und als ich zu den Pferden zurückkehrte, sah ich, daß das Tier wieder auf seiner grauen Mähre saß, in Mantel und Maske und allem Anschein nach wieder ein Mann, während dem Diener eine gute Strecke von Schwimmvögeln an der Hand hing und ein frisch erlegter junger Rehbock hinter ihm an den Sattel gebunden war. Ich schwang mich schweigend auf den schwarzen Wallach, und so kehrten wir in den Palast zurück, während der Schnee immer dichter fiel und unsere Spuren auslöschte. Der Diener brachte mich nicht zurück in meine Zelle, sondern in ein elegantes, etwas altmodisches Boudoir vol60
ler Sofas, die mit verschossenem rosa Brokat bezogen waren, einem Feenschatz an orientalischen Teppichen, leise klirrenden Kristallkronleuchtern. Kerzen in Kandelabern aus Geweihen ließen Regenbogenglanz aus den Prismenherzen meiner Diamantohrringe sprühen, die auf meinen, neuen Ankleidetisch lagen, neben dem schon mein aufmerksames Kammermädchen mit ihrer Puderquaste und dem Spiegel bereitstand. In der Absicht, die Schmuckstücke an meinen Ohren zu befestigen, nahm ich ihr den Spiegel aus der Hand. Aber er hatte gerade wieder einen seiner Zaubermomente, und ich sah nicht mein eigenes Gesicht, sondern das meines Vaters; zuerst glaubte ich, er lächelte mir zu. Dann sah ich, daß er aus reiner Genugtuung lächelte. Er saß, wie ich erkannte, in dem Wohnraum in unserem Hotel, am gleichen Tisch, an dem er mich verloren hatte, war jetzt allerdings emsig damit beschäftigt, ansehnliche Banknotenstapel durchzuzählen. Meines Vaters Verhältnisse hatten sich also bereits geändert; er war gut rasiert, ordentlich am Kopf, trug anständige neue Kleider. Ein beschlagenes Glas Champagner stand griffbereit neben einem Eiskübel. Das Tier hatte augenblicklich für seinen Blick auf meine Brüste sofort bar gezahlt, als hätte ich dabei auch sterben können. Dann sah ich, daß meines Vaters Truhen gepackt waren, fertig für die Abreise. Konnte er mich wirklich so leichtherzig hier zurücklassen? Neben dem Geld lag eine Note auf dem Tisch, in einer klaren, schönen Handschrift. Ich konnte sie ganz deutlich lesen. ›Die junge Dame wird unverzüglich eintreffen.‹ Von irgendeinem Windhund, mit dem er in seiner abgrundtiefen Gemeinheit sofort die nächste Liaison ausgehandelt 61
hatte? Keineswegs. Denn in diesem Augenblick pochte der Diener an meine Tür und kündigte mir an, daß ich den Palast ab sofort jederzeit verlassen könne. Er trug einen sehr schönen Zobelmantel über dem Arm, mein eigenes kleines Geschenk, die Morgengabe des Tiers, mit dem es mich zum Packen anhielt und fortschickte. Als ich wieder in den Spiegel sah, war mein Vater verschwunden, und ich fand ein blasses, hohläugiges Mädchen, das ich kaum wiedererkannte. Der Diener fragte höflich, für wann er den Wagen bestellen solle, als zweifelte er gar nicht daran, daß ich mich bei der ersten Gelegenheit mit meiner Beute aus dem Staub machen würde, während mein Kammermädchen, dessen Gesicht nicht mehr das Abbild meines eigenen war, weiter über beide Wangen strahlte. Ich werde sie in meine eigenen Kleider stecken, aufziehen und zurückschicken, damit sie die Rolle von meines Vaters Tochter übernimmt. »Laß mich allein«, sagte ich zu dem Diener. Er brauchte jetzt nicht mehr die Tür zu verriegeln. Ich befestigte die Ohrringe an meinen Ohren. Sie waren sehr schwer. Dann zog ich meinen Reitanzug aus und ließ ihn auf dem Boden liegen, wo er war. Als ich jedoch bei meinem Hemd angelangt war, sanken mir die Arme herab. Ich war es nicht gewohnt, nackt zu sein. Ich war so wenig an meine eigene Haut gewöhnt, daß ich mich, als ich alle meine Kleider abgelegt hatte, fühlte, als würde ich gehäutet. Ich dachte, das Tier hatte wirklich wenig verlangt, verglichen mit dem, was ich mich anschickte, ihm zu geben. Aber für Menschen ist es nicht natürlich, nackt zu gehen, zumindest nicht mehr, seit wir uns zum ersten62
mal die Lenden mit Feigenblättern gürteten. Er hatte das Schändliche verlangt. Ich spürte eine so grausame Pein, als zöge ich mir mein eigenes Fell ab, und das lächelnde Aufziehmädchen stand erstarrt, vergaß, daß sie das Leben nur nachahmte, und schaute zu, wie ich mich entblößte bis auf das kalte weiße Fleisch unseres Kontrakts, und wenn sie mich nicht sah, dann war es um so mehr wie auf dem Marktplatz, wo die Augen, die einen beobachten, einem keine Existenz zumessen. Und es kam mir vor, als wäre mein ganzes Leben, seit ich den Norden verlassen hatte, unter dem gleichgültigen Blick aus solchen Augen verlaufen, wie sie sie hatte. Jetzt war ich splitternackt, bis auf seine untadeligen Tränen. Ich hüllte mich in den Pelz, den ich ihm zurückgeben mußte, um mich vor den beißenden Winden zu schützen, die durch die Korridore pfiffen. Ich kannte den Weg zu seiner Höhle auch ohne den Diener. Keine Antwort, als ich versuchsweise an seine Tür klopfte. Dann wirbelte der Wind den Diener den Gang entlang. Er hatte wohl beschlossen, daß, wenn einer nackt geht, alle nackt gehen. Ohne seine Livree zeigte er sich, wie ich vermutet hatte, als ein zartes Geschöpf mit seidigem, mottengrauem Fell, braunen Fingern, geschmeidig wie Leder, schokoladenfarbener Schnauze - das sanfteste Wesen der Welt. Er jieperte leicht, als er mich sah, mit meinem edlen Pelz und den Juwelen, zurechtgemacht, als ob ich in die Oper ginge, und in einer ganz zärtlichen Zeremonie zog er mir den Zobel von den Schultern. Der Zobel verwandelte sich daraufhin in eine Schar von schwarzen, quiekenden 63
Ratten, die auf ihren harten kleinen Füßen sofort die Treppe hinunter raschelten und meinem Blick entschwanden. Der Diener führte mich mit einer Verneigung in den Raum des Tiers. Der purpurrote Morgenrock, die Maske, die Perücke lagen auf seinem Stuhl bereit, ein Handschuh schmückte jeden Ärmel. Die leere Hülle seiner äußeren Erscheinung war gerichtet für ihn, aber er hatte sie liegenlassen. Ein Geruch von Fell und Urin hing im Raum, das Weihrauchgefäß lag zerbrochen in Scherben auf dem Boden. Halbverbrannte Scheite aus dem verloschenen Feuer waren überall verstreut. Eine Kerze, die im eigenen Fett auf dem Kaminsims klebte, entzündete zwei winzige Flammen in den Pupillen seiner Tigeraugen. Er trabte vor und zurück, vor und zurück, die Quaste seines schweren Schwanzes zuckte, während er die Länge und Breite seines Gefängnisses zwischen den abgenagten und blutigen Knochen abschritt. Er wird dich verschlingen. Kinderstubenängste erschufen Fleisch und Sehnen; früheste und archaischste aller Ängste, die Angst, verschlungen zu werden. Das Tier und sein Fleischfresserbett aus Knochen und ich, weiß, zitternd, roh. Ich näherte mich ihm, als wollte ich ihm mit mir selbst den Schlüssel zu einem friedlichen Königreich übergeben, in dem sein Appetit nicht meinen Untergang bedeuten muß. Er wurde still wie ein Fels. Er fürchtete sich weit mehr vor mir als ich mich vor ihm. Ich kauerte mich auf das feuchte Stroh und streckte meine Hand aus. Ich war jetzt im Kraftfeld seiner golde64
nen Augen. Er knurrte hinten in der Kehle, senkte seinen Kopf, ließ sich auf die Vorderpfoten nieder, fauchte, zeigte mir seine rote Kehle, seine gelben Zähne. Ich rührte und regte mich nicht. Er schnupperte, als wollte er meine Angst riechen. Es gelang ihm nicht. Langsam, ganz langsam begann er, sein schweres, schimmerndes Gewicht über den Boden auf mich zuzuschleifen. Ein ungeheures Dröhnen, wie von der Maschine, die die Erde dreht, erfüllte den kleinen Raum, er hatte begonnen zu schnurren. Der süße Donner seines Schnurrens ließ die alten Mauern beben und die Läden gegen die Fenster schlagen, bis sie auseinanderbarsten und das weiße Licht des schneeigen Monds hereinließen. Ziegel fielen krachend vom Dach; ich hörte sie tief unten auf dem Hof zerschellen. Der Widerhall seines Schnurrens rüttelte an den Fundamenten des Hauses, die Mauern fingen an zu tanzen. Ich dachte: ›Alles wird auseinanderbrechen, alles wird sich auflösen.‹ Er schob sich immer dichter an mich heran, bis ich den rauhen Samt seines Hauptes an meiner Hand spürte, dann eine Zunge, schneidend wie Sandpapier. ›Er wird mir die Haut vom Leibe lecken!‹ Und jeder Schlag seiner Zunge riß mir eine Haut nach der anderen fort, all die Häute eines Lebens in der Welt, und übrig blieb eine eben geborene Patina aus glänzenden Haaren. Meine Ohrringe wurden wieder zu Wasser und sickerten mir auf die Schultern; ich schüttelte die Tropfen aus meinem wunderschönen Fell. 65
Orchideen für dich, mein Schatz Ihr träumte, sie schwebe in Wolken aus Tüll zum Altar hin, neben ihr ein Mann im dunklen Anzug. Er streifte ihr einen goldenen Ring über den Finger, doch sooft sie sich ihm auch zuwandte, sein Gesicht blieb verschwommen. Es war ihr Lieblingstraum, aber sie behielt ihn für sich. So klug jedenfalls war sie. ›Wir alle haben unsere Begabungen, und bei dir ist es der Kopf, Hilary‹, hatte die Mutter ihr eingetrichtert und sie von Rendezvous und Tanzabenden ferngehalten. Elternhaus und Schule hatten sie hochgezüchtet wie eine preisgekrönte Zuchtrose, und so machte sie sich auf zur Universität mit einem Stapel ledergebundener Auszeichnungen und den eindringlichen Ermahnungen, ja hart zu arbeiten, früh zu Bett zu gehen und regelmäßig zu essen. Sie sah ihn bei ihrer ersten Vorlesung und war hingerissen von seiner geschulten Stimme. Im schwarzen Jackett auf dem Podest gehörte er einer anderen Ebene an als der schweigend vor sich hinkritzelnde Studentenpulk zu seinen Füßen. Professor Harrison war bei allen beliebt. »Nennen Sie mich Mark«, drängte er sie in den Tutorenstunden. Sie war berauscht von jedem seiner Sätze, bereit, jedes Wort, ja jedes Komma aus ihren Aufsätzen zu tilgen, nur um ihm zu gefallen. Ein paar Monate später machte er sie zu seiner Frau. Er sagte ihr, sie sei schön. Ihre Mutter schniefte ohne 66
Unterlaß während der Trauung. Ihre Augen sagten: ein alter Bock, der den Jüngling mimt und: mein armes, leicht zu beeindruckendes Kind. Sie nahm den ersten Zug zurück. Hilary schob all das beiseite. Denn sie liebte seine Eleganz, seine Gewandtheit - mein Mann der Professor. Und ihr Herz kam jetzt jedem seiner Wünsche zuvor, begierig, auch die kleinste ihrer Gebärden zu korrigieren. Denn wie konnte er unrecht haben? Sie hatte ihr harterarbeitetes Stipendium zurückgegeben, um ein Heim zu schaffen - beides zugleich ging eben nicht! Er hielt sie in Kontakt mit der akademischen Welt, und sie beeilte sich mit der Hausarbeit, um seine Vorlesungen zu tippen. Er war ja so rücksichtsvoll, als sie ein Jahr später das Kind verlor, sah darüber hinweg, daß sie ihm das, was laut der widerstrebenden Auskunft der Krankenschwester ein Sohn geworden wäre, nicht hatte geben können. Der Arzt sagte, daß sie wahrscheinlich keine Kinder mehr bekommen würde. Und er versicherte ihr, daß das nicht wichtig war, daß sie allein seine ganze Familie sein mußte. Er schlug ihr vor, sie solle ein eigenes Interessengebiet entwickeln und ließ ihr großzügig Freiraum, wo doch ihr ganzes Herz und ihre ganze Seele ihm gehörten, bis in alle Ewigkeit, Amen. Sie entschied sich für einen Bildhauerkurs. Im Sommer nach ihrer Fehlgeburt hatte er sie fachkundig durch die bedeutendsten Stätten Griechenlands und Italiens geführt. Aber von den praktischen Techniken des Modellierens und des Steinbehauens wußte er nichts. Er räumte das Gartenhaus, damit sie ein Atelier hätte, und er gab ihr den einzigen Schlüssel. Wie gut er doch war! 67
Im Kurs dilettierte sie: ein Hund, ein Pferd, eine Ballerina. Ganz hübsch. Aber das Gartenhaus war für etwas Besonderes reserviert. Sie würde eine Büste von ihm machen. Diese würde eines Tages vielleicht sogar im Fakultätsgebäude stehen, wenn er emeritierte, und dann konnten sie die Weltreise machen, von der er träumte. Sie beschaffte den feinsten Ton, fertigte ein Drahtgeflecht und breitete den Ton darauf aus; atemlos saß sie an ihrer Werkbank. Es war am ersten Frühlingstag, als sie begann. Das taufrische Morgenlicht war klamm wie der Ton; sie streifte ihren Ehering vom Finger und legte ihn vorsichtig auf die Konsole, wo er nicht verlorengehen konnte. Den ganzen Tag knetete und formte sie den Ton zu der erhabenen Rundung seines Schädels, arbeitete ihre Finger und Handteller tief in die zähe Masse hinein. Oh, hätte sie ihm nur mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht, als sie nebeneinanderlagen: Sie hätte die sanften Vertiefungen auf seiner glatten Stirn in sich aufnehmen, ihn ganz absorbieren müssen. Ihre Fingerspitzen hatten ihn immer nur umflattert in schmetterlingsgleicher Ekstase. Als der Abend kam, war sie verzweifelt angesichts der rohen, grauen Masse. Es war der blanke Hohn. Sie hüllte das Etwas in feuchte Tücher und Plastikfolie und ging ins Haus, um sein Abendessen zu bereiten. Sie war erstaunt darüber, daß er ganz wie sonst zur Türe hereinkam und ihr seinen Tag schilderte, sein Essen aufspießte und mit der Gabel herumfuchtelte, um zu unterstreichen, in welchen Situationen er am geistreichsten und amüsantesten gewesen war. Ganz so, als wäre das 68
ein x-beliebiger Tag. Sie beobachtete jede seiner Gesten, verbuchte in ihrem Gedächtnis das leichte Stirnrunzeln, das Zusammenpressen seiner Lippen und nahm mit dem Schrecken der Ernüchterung zum erstenmal wahr, daß sein Kinn rund war und schwach. Aber sie liebte ihn dafür nur um so mehr. »Hörst du mir überhaupt zu?« fragte er, als sie nicht an der richtigen Stelle lachte. »Jedes Wort«, sagte sie. »Komisches kleines Ding«, sagte er nachsichtig und erhob sich, um ihr Glas zu füllen. »Ich weiß nie, was Frauen wirklich hören. Manchmal denke ich - alles. Und manchmal scheinst du gar nichts wahrzunehmen.« »Oh, ganz im Gegenteil«, sagte sie mit Bestimmtheit, und er wirkte irritiert. Es war nicht das, was sie gewöhnlich geantwortet hätte. Als er sie beim Kaffee nach ihrem Tag fragte, war sie einsilbig. »Den ganzen Tag im Gartenhaus?« neckte er sie. »Bald wirst du für den alten Herrn keine Zeit mehr haben.« Er fühlte sich unbehaglich, als sie lächelte. Er hatte erwartet, daß sie ihn gegen seine Selbstanklage wegen des Alters in Schutz nehmen würde. Doch egal. »Du findest mich im Arbeitszimmer«, sagte er ihr, und Augenblicke später hörte sie das Klicken des Telefonhörers, seine gedämpfte Stimme und sein Lachen. Wie langweilig mußte er sie finden, wenn er sofort Zerstreuung bei jemand anders suchte. Sie seufzte und kratzte ein Klümpchen Ton unter ihrem Fingernagel weg; sie ließ die Wörter des aufgeschlagenen Buches vor ihren Augen tanzen. 69
Als er ins Bett kam - Stunden später, wie ihr schien war sie hellwach. Sie schmiegte sich an ihn und umschlang sein Gesicht auf dem mondhellen Kissen. Na also, dachte er, während er sie streichelte, welche Leidenschaft. Und er war zärtlich, und er war mächtig, angeheizt durch einen verbotenen Nachmittag mit einer seiner Studentinnen. Sie hatte sich ihm natürlich an den Hals geworfen. Und er hatte sie genommen, geradewegs auf dem Teppich neben dem Schreibtisch. Seine Frau nahm ihn in ihren Körper auf, und ihre Augen glänzten im Halbdunkel. Sie schlief mit ihm, als wäre es das erste Mal, und machte damit ihr ganzes Tagwerk ungeschehen. Mit Freuden ließ sie ihre Handflächen und Fingerspitzen fest über seinen Schädel gleiten. Gott, er fühlte sich wieder jung! Ahnte sie etwas? Offenbar nicht. Er war sich ohnehin sicher, daß er ihr jedweden Groll wieder auszureden vermochte. Am nächsten Morgen lächelte sie ihn beim Frühstück an, saugte ihn ganz in sich ein; den ganzen Tag über würde sie sich allein abmühen müssen, ihn aus dem Ton erstehen zu lassen. Sie berührte ihn, bevor er ging - Stirn, Nase, Wangen, Ohren, Kinn, Lippen. Sie wollte seinen Geruch nicht wegwaschen und schlüpfte mit nackter Haut in einen Overall. Sie ging zum Gartenhaus. Wie ein Kind, das den Schrank, in dem die Hexe wohnt, nicht anzusehen wagt, blickte sie an der Werkbank und der mumienhaften Gestalt vorbei. Sie fröstelte und zog sich einen Pulli über. Ihr goldener Ehering prangte auf der Konsole. 70
Bereit! Der Kopf war gar nicht so schlecht, wie sie gedacht hatte, aber auch bei weitem noch nicht gut genug. Die erhabene Stirn war in Wirklichkeit flacher, als sie sie modelliert hatte, und sie ebnete den Ton mit ihrer neuen Erkenntnis. Wie groß die Versuchung war, hier einzuhalten und seine Augen zu vollenden! Aber nein. Sie formte die Stirn, trat immer wieder einen Schritt zurück und schloß die Augen, um ihn sich besser in Erinnerung zu rufen. Ihre Daumen drückten symmetrisch Augenhöhlen ein, ein Klumpen Ton für die Nase, sie klopfte, tätschelte... hütete sich noch vor zu vielen Details. Zeit für einen Kaffee und - sie haßte es, das zuzugeben, denn er haßte diese Angewohnheit - eine Zigarette. Ihr schwindelte beim ersten Zug, aber auf einmal sah sie vor sich, wie aus dem Gesicht ein ganzes werden würde. Sie rauchte langsam, stürzte den abkühlenden Kaffee hinunter und ging hinüber zur Werkbank. Die Sonne stand hoch am Himmel, Dunst stieg vom noch kühlen Rasen auf, als sie wieder innehielt. Das Gesicht war da bis zum Mund, und sie fühlte Unbehagen. Kein Zweifel, das war er. Und er wäre es um so mehr, wenn sie sich überwinden könnte, das kleine Kinn noch zu verkleinern und es schwach zu machen. Sauertöpfisch! Das Wort wehte wie ein Banner vor ihrem geistigen Auge. Aber er doch nicht! Ihre Mutter war sauertöpfisch gewesen, hatte den Kopf geschüttelt über ihre vergeudeten Talente. Aber ihre Mutter hatte die gleiche Art Kinn. 71
Entsetzlich! Dennoch, das Kinn mußte so werden, auch wenn es unter seinem geliebten Gesicht wie eine Warze aufragte, wie ein Furunkel. Du bist ja albern wie ein Teenager, schimpfte sie mit sich. Dann hat er eben... ein schwaches Kinn. Und gewiß war es nur die Erinnerung an ihre Mutter, die es widerwärtig erscheinen ließ. Sie behielt die Zigarette zwischen den Lippen, als sie das scheußliche Ding modellierte, und ihre Augen tränten vom Rauch. Sie dachte sich das Kinn als etwas Eigenständiges und ließ ihre Daumen über die Fleischfalte hinunter zum kurzen Hals gleiten. Dann trat sie einen Schritt zurück. Sie ging um ihr Werk herum, Rauch in den Sonnenstrahlen hinter sich herziehend. Das war unverkennbar er. Das Kinn war genauso Teil von ihm wie seine durchdringenden Augen, und ihr Gesicht wurde weicher bei dem Gedanken. Genug für heute, und, großer Gott, das bedeutete Fisch und Fritten zum Abendessen. Plötzlich verfiel sie in Hektik - sie konnte ihren ungewaschenen Körper riechen, sie hatte sich an diesem Tag noch nicht einmal die Haare gekämmt. Sie schloß die Türe ab und eilte über den Rasen zum Haus und dem schrillenden Telefon. Vielleicht war ja doch noch Zeit zum Kochen, zum Baden... »Ich habe den ganzen Nachmittag über angerufen«, sagte er ihr, »heute abend ist ein Fakultätsessen. Ich werde erst spät nach Hause kommen. Wo warst du?« »Im Gartenhaus. Es tut mir so leid. Ist o. k. Ich habe ohnehin kein Abendessen vorbereitet.« Armer Mann, er mußte außer sich sein. 72
Er klang leicht mißgestimmt. »Du mußt auf dich aufpassen! Also tschüß.« Dann lächelte er und wählte die Nummer des Studentenheims. Wie gut die Sache sich anließ! Er war ganz einverstanden mit ihrem neuen Hobby. Ein Bad. Abendessen. Aber sie hätte nicht unterbrochen, wäre er nicht nach Hause gekommen. Sie hatte ein verwegenes Gefühl bei dem Gedanken an Brot und Käse und ein Glas Wein allein im nachtdunklen Garten. Von ihrem Liegestuhl aus unter dem Baum konnte sie gerade noch den stummen, grauen Kopf ausmachen. Im Bildhauerkurs bearbeitete sie zaghaft einen Speckstein, wollte ihn in eine dekorative Form bringen; aber mit ihren Gedanken war sie im Gartenhaus. »Nun, hat jemand zu Hause gearbeitet?« fragte der Kursleiter in der Mittagspause. Sie sah weg. Er wußte sehr genau, wer ihr Ehemann war, und gab sich ihr gegenüber immer sehr ehrerbietig. Das ging ihn einen Dreck an! Jemand hatte Aschenbecher und abstrakte Pflanzentöpfe aus Ton gemacht. Wie hübsch! »Ich habe gehört, Sie haben ein kleines Atelier«, sagte der Kursleiter. Sie errötete, das Frauchen mit dem kleinen Atelier. »Oh, es ist nur sehr einfach«, rechtfertigte sie sich und beschrieb ihre Spülküche. Sollte er sich doch vorstellen, wie sie in einem fensterlosen, feuchten Raum töpferte... Im Gartenhaus stellte sie das mühselige Arbeiten in Ton nicht mehr zufrieden. Er verdiente die klaren Linien von 73
poliertem Marmor! Sie würde den Kursleiter bitten, ihr einen Block zu beschaffen - sollte er denken, was er wollte. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das, was sie jetzt als Prototyp betrachtete. Und das gab ihr die Freiheit, Fehler zu machen, seine Gesichtszüge zu übertreiben; sie grinste über die fremde und doch so vertraute Kreatur, die hochmütige Nase, die vollen Lippen und das lächerliche Kinn. Wirklich, sie mußte nur die Zunge ein wenig heraushängen lassen, und sein Kopf könnte die Pfeiler einer mittelalterlichen Kirche zieren. Sie fügte bizarre Satyrlocken an - er hatte ein schönes Leben, dachte sie zärtlich, und deckte ihn mit einem feuchten Tuch zu. In der Küche versuchte sie sich als Entschädigung für ihre Nachlässigkeit am Abend zuvor als Sterneköchin. Gerade als sie eine ziemlich hoffnungslose Bechamelsoße anrührte, klingelte das Telefon. Verflucht! »Bist du nicht beim Modellieren?« Seine Stimme neckte sie zärtlich. »Nur mit Mehl und Sahne.« »Es wird spät werden heute abend - verdammte Tutorials. Sie geraten alle in Panik. Aber ich werde vor Mitternacht da sein!« Sie schluckte ihre Enttäuschung hinunter und sagte ihm, daß sie ihn liebte. Dann schüttete sie die klumpige Soße in den Ausguß. Sie würde ihn einfach mit einem Picknick überraschen; sie packte einen Weidenkorb und fuhr mit dem Rad durch die Gassen, strahlend vor Vorfreude auf sein überraschtes Gesicht. Sie stahl sich die Treppe zu seinem Büro hinauf, wo sie nicht mehr gewesen war seit 74
der Zeit, als sie seine Studentin war. Damals hatte sie ihre Aufsätze bei ihm eingereicht - und jetzt bot sie sich ihm selbst dar und ihren Korb voller Leckerbissen. Das Schild an seiner Türe sagte Bitte nicht stören, und sie lächelte, als sie sich bis zum nächsten Treppenabsatz hochschlich, wo sie ein Fenster wußte, von dem aus man in sein Büro sehen konnte. Wie viele Stunden hatte sie hier verbracht, ihn gierig in sich aufsaugend. Sie setzte sich in die Nische und sah hinunter. Da war sein teurer Kopf neben einem zerzausten, blonden Mop über einen Stapel Papiere gebeugt. Eine Hand mit rotlackierten Fingernägeln flog über die Worte, und er nickte. Er war ja so gewissenhaft. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stein. Eiseskälte kroch ihr in die Knochen, als die Hand ihres Ehemannes in die Bluse der Studentin kroch und beide lächelten. Er stand auf, und der blonde Kopf bewegte sich an seinem Körper nach unten, die scharlachroten Nägel fummelten geschickt seine Hose auf. Sie war wie versteinert und sah außer sich vor Verzweiflung in sein Gesicht. Schließlich war jeder Professor ein potentielles Opfer von Anmache, wenn es auf die Examina zuging... Aber ihr Ehemann lächelte, mit geschlossenen Augen ließ er sich in seinen Sessel fallen, die blonde Mähne bewegte sich zwischen seinen Beinen. Einen Augenblick später lag er auf der Studentin, heftig stoßend, seinen Kopf in ihre Halsbeuge gesenkt, ihr blasses Gesicht im Anschein von Ekstase auf dem Teppich. Sie wollte gehen, aber war erstarrt. Die beiden kamen zum Ende, und er schürzte befriedigt seine roten Lippen, als er zusah, wie die Studentin ihre Unterlagen einsammelte und 75
ging. Erst dann zog er den Reißverschluß hoch und griff zum Telefon. Aber er hatte offenbar kein Glück. Plötzlich wußte sie, daß er sie anrief. Ich mache mich jetzt auf den Heimweg, Liebling. Er brachte ihr einen Zweig Orchideen. Sie holte eine Vase, das Hochzeitsgeschenk seiner Mutter, und stellte sie in sein Arbeitszimmer. Im Bildhauerkurs äußerte sie den Wunsch, einen harten Stein zu bearbeiten, aber nicht Marmor. »Soweit bin ich noch nicht!« sagte sie lächelnd. Irgendeinen feinkörnigen Stein. Einen Stein, den der Regen mit der Zeit wegwaschen würde. Der Kursleiter besorgte ihr einen alten Block von einer eingestürzten Kirche und brachte ihn zu ihr nach Hause. Sie schleifte ihn mit einer Schubkarre zum Atelier. Sie zog ihn auf die Werkbank und setzte Hammer und Meißel an. Zur Hölle mit allem. Und zur Hölle, wenn es Abendessenszeit war. Sie hatte Rollos am Fenster, und als er klopfte, sagte sie, sie würde sich beeilen. Mit Befriedigung registrierte sie, daß ihre geliebten, kleinen Hände Schwielen bekamen. Er schilderte ihr seinen Tag. Sie dachte sich die blonde Studentin hinzu und wer weiß, wie viele andere. War das Eifersucht? Wie konnte das sein, wo sie ihn doch gar nicht mehr wollte? Oh, da war natürlich noch immer Sex, aber was sie aus ihrer eigenen Distanz heraus erstaunte, war die Tatsache, daß er keinerlei Unterschied bemerkte. Und dann fuhr er nach Devon zur Sommerakademie. Er küßte sie und drückte ihr eine Liste mit Telefonnummern und Terminen in die Hand. Die Jahre zuvor war sie mit76
gekommen. In diesem Jahr schien er sich nichts daraus zu machen. Sie richtete sich im Gartenhaus ein mit Schlafsack und frischen Jeans. Wenn sie ins Haus ging, um zu baden, benutzte sie die Hintertreppe und ging danach mit tropfenden Haaren durch den Garten. Ihr träumte, daß er im offenen Sportwagen dahinraste und eine blonde Frau anlächelte, während zwei Hände mit rotlackierten Nägeln das Steuerrad herumwirbelten, leichtsinnig angesichts der steilabfallenden Straßenböschungen nahe der Sommerakademie. Und von früh bis spät bearbeitete sie den häßlichen Block, schmirgelte, kerbte, meißelte sie, schlug sie gähnende Augenhöhlen aus dem Stein heraus. Als das Telefon zum erstenmal schrillte, hielt sie inne, dann zuckte sie die Schultern. Es gab keine Zeit zu verlieren. Stirn und Augen grinsten sie endlich höhnisch an, und sie setzte ihm in Gedanken einen bacchischen Kranz auf die dünnen Locken. Die blonde Studentin erwachte früh in Devon und rührte sich unter dem Gewicht seines Armes. Wie alt er aussah! Seine Augenlieder waren bleich und zerknittert, sein roter Mund schlaff. Seine Lider zuckten, und er preßte seinen schalen Mund auf ihren. Sie schloß die Augen und sagte ihm, er sei wundervoll. Der zu Asche getrocknete Prototyp aus Ton hatte einen dunklen Platz unter der Werkbank gefunden. Sie starrte von Zeit zu Zeit auf ihn herab. In ein paar Tagen würde er 77
zurück sein, und es gab viel zu tun. Der fleischige Mund, der in schweren Falten aus Stein herunterhing. Und das Kinn, sein Kinn. Sie ließ es sabbern, mit festen Tropfen Weines. In der Stille des Abends wusch sie sich im Baumschatten schlückchenweise den Mund rein mit eisklarem Wasser; die abendgrauen Vögel wirbelten mit aufgeregtem Gezwitscher ihren Schlafplätzen zu. Rote Samtvorhänge hielten die Devon-Nacht draußen, und die Bar war überschwemmt von der betrunkenen Intelligenzija der Sommerakademie. Er hatte einen antiken, ledernen Weinbeutel entdeckt und brüstete sich damit, daß er ihn bis auf den letzten Tropfen in sich hineinleeren konnte. Sein Mund spannte sich, als er den dünnen Strahl hinab in seine Kehle zielte, umgeben von Klatschen und Stampfen. Teufelskerl! schrien sie, als er neben einer Studentin in den Sessel plumpste, mit einer Hand ihre Schultern umfaßte und sich mit der anderen die roten Tropfen von Lippen und Kinn wischte. In ihrem Traum jagten sie noch immer die Straße entlang. Sie schwebte über ihnen, ihnen voraus; ihre Augen verengten sich, als sie das Glänzen von Wasser in einer Haarnadelkurve bemerkte. Sie stürzte herab und spürte mit ihren Fingerspitzen der Oberfläche nach. Tief und kühl, tief und kühl. Sie lächelte, als sie erwachte. Am fünften Tag war sie fast fertig. Nicht ganz. Sie schritt um den Gargoylekopf herum, diese groteske Fratze. Der Mund. Dieser selbstgefällige Flunsch. Sie kratzte einen Schlitz zwischen die Lippen und schlug ihm die 78
bröckeligen Zähne ein. Mit einem Mal wußte sie, daß ihr Werk vollendet war. Da war er also. In Stein gehauen. Erstarrt für immer, der Gargoyle, der Satyr. Mit ihm war sie fertig. Sie drehte sich um, wog den Hammer in ihrer Hand und zertrümmerte den Tonkopf zu ihren Füßen. Sie zerstampfte das Ding zu grauem Staub und fegte ihn zur offenen Türe hinaus. Sie machte alles sauber und bereitete sich einen Kaffee. Aber etwas gab es noch zu tun: Auf der Konsole lag der goldene Ring im Staub. Sie nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und schlenderte hinaus in den Garten. Er beschrieb einen hohen Bogen und verschwand in der Sonne, als sie ihn so weit wie möglich von sich schleuderte. In dieser Nacht träumte ihr wieder von dem Auto, in dem sie saßen, dem Sport-Cabriolet, das auf jene verräterische Kurve zuraste. Die Blonde trat zu spät in die Bremsen, die Räder blockierten; der Wagen schleuderte mit quietschenden Reifen auf das Wasser zu, brach aus, knallte in die blühende Böschung; die beiden flogen durcheinander wie Puppen, als sich der Wagen wieder und wieder überschlug. Sie wurde wach vom Kreischen aufreißenden, über Erde und Steine dahinschrammenden Metalls. Die Sonne ging über dem sechsten Tag auf. Sie saß auf der Schwelle des Gartenhauses, und als das Telefon schrillte, war sie bereit, den Hörer abzunehmen.
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Die Sonne des Matriarchats Nur ein Urlaub sollte es werden auf der griechischen Insel Santorin. Meine blasse Haut dürstete nach frischer Seeluft. Schon im Flugzeug hörte ich das Rauschen des Meeres und spürte, wie der warme Sand unter meinen nackten Füßen knirschte. Ich mußte endlich etwas anderes sehen als Buchstaben auf dem Monitorviereck meines Computers. Meine Romanfiguren hatte ich vom Schreibtisch in die Welt entlassen, ein für allemal abgenabelt. Auf Santorin, hoffte ich, würde ich wieder ich selbst sein. Nur für mich. Im Juni war’s, kurz vor der großen Hitze. Mein Blick verlor sich in den krausen Locken des Taxifahrers, die auf wohlgeformte Schultern fielen. Seine Haut war von jener Farbe, die wir Mitteleuropäer als Beweis für einen gelungenen Urlaub ansehen - sie war von dem seidigen, matten Glanz eines Kaffees mit einem Hauch Sahne. Der strenge Geruch seiner Zigarette, sein griechisches Profil im Rückspiegel, das gleißende Sonnenlicht, die ungewohnte Hitze, die karge Landschaft der Insel betörten mich. Erinnerungen an Berlin verblaßten mit jeder Sekunde. Der Taxifahrer schien von mir keine Notiz zu nehmen. Er fuhr sicher jeden Tag junge, blasse Frauen über die Insel, vom Flughafen zu Stränden und minoischen Ausgrabungsstätten. 80
Die Fahrt war zu kurz, als daß ich mich hätte satt sehen können an ihm. Ich bestellte ihn für den nächsten Tag zu der kleinen Pension im Ort Kamai, wo er mich absetzte. Aus der Dusche prasselte heißes Wasser. Dampfschwaden legten sich auf Fliesen und Spiegel. Ich verbrauchte Wasser für fünf Leute, wohl wissend, wie knapp Wasser auf der Insel war, aber ich wollte schön sein für ihn, den Taxifahrer. Er sollte auf mich aufmerksam werden. Der Gedanke, nachts in seinen Armen zu liegen, reizte mich. Ich wollte ihn erobern. Mit einem Handtuch wischte ich ein Rund auf die Spiegelfläche, wie ein Bullauge, durch das mich eine junge Frau anschaute, die mir im ersten Moment fremd vorkam. Unschuldig sah sie aus, wie sie nackt, ungeschminkt und mit nassen Haaren vor mir stand und mich zu fragen schien: Wer bist du? Ich bin du, sagten wir gleichzeitig. Mir gefiel die glatte Haut dieser Frau im Spiegel, ihre langen Haare, die anliegenden Ohren, der schlanke Hals, die Sommersprossen auf der zierlichen Nase. All das gehörte mir. So sah ich also aus. Dabei hatte ich mich ganz anders in Erinnerung. In den letzten Monaten war ich beim Schreiben Kind und Großmutter gewesen, hatte manchmal Bärte getragen oder eine Brille, war mal gertenschlank gewesen und hatte ein anderes Mal einen Funktionärsbauch gehabt, war Jungfrau und Mörderin gewesen und hatte mich selbst darüber fast vergessen. Dampf legte sich auf das Glas und trennte mich von meinem Spiegelbild. Ich zog das bunte Seidenkleid an und genoß meine Nacktheit darunter. Die Wärme liebkoste mich, der Wind spielte mit dem leichten Stoff meines Kleides 81
wie mit den rosafarbenen Hibiskusblüten vor der Tür des Souvenirshops. Ich wehrte mich nicht gegen mein Begehren, den silbernen Ring zu besitzen, der wie ein Delphin aussah. Ich hatte ja Urlaub. An der blumengeschmückten Kirche stieg ich den steinigen, schmalen Pfad hinauf. Die Schatten der Häuser wurden länger, doch die Sonne trieb mir mit unverminderter Kraft den Schweiß aus den Poren. Oben auf dem Gipfel hätte ich den Vulkan sehen können mit seinen beiden Kraterinseln. Ich hätte auch das zerstörte Dorf sehen können, das dem heftigen Erdbeben in den Fünfzigern zum Opfer gefallen war. Ich hätte steinige Hänge sehen können und die rotblühende Hecke, die sich am Balkon meines Zimmers in der Pension hinaufrankte. Aber meine Augen folgten dem Lauf des grauen Asphalts, der sich in den sanfthügeligen Gefilden verlor und sich durch die grün gesprenkelten Weinfelder in der Ebene schlängelte. Ich suchte den Taxifahrer. Ich war gewarnt worden vor dem Charme griechischer Männer, und diese Warnung hatte mich neugierig gemacht. Abends vom Fenster meines Zimmers aus sah ich ihn dann. Auf dem Balkon gegenüber. Er hatte den Arm um eine blonde, pummelige Frau gelegt. Der weibliche Jagdinstinkt in mir erwachte. Ich rüstete auf, polierte meine Waffen, legte Kriegsbemalung an, setzte eine Duftspur vom Hals bis zu den Füßen und lief hinunter in die Taverne. Nicht lange saß ich allein. Er verfing sich in dem Netz, das ich ausgelegt hatte. Wir tranken viel in dieser Nacht, und ich nahm ihn mit auf mein Zimmer. 82
Am Morgen setzte ich mich vorn ins Taxi, neben ihn. Er fuhr zur unterirdischen Ausgrabungsstätte Akrotiri im Süden Santorins. Mit hineinkommen wollte er nicht. Stickig war es, wie in einem Gewächshaus. Zuerst nahm ich nur lehmiges Gelb wahr und eine waghalsige Konstruktion, die ein Wellblechdach zum Schutz gegen Wind, Wetter und frische Luft trug. Dann sah ich Ruinen von zwei- und dreistöckigen Häusern. Steinerne Treppen führten von einem Stockwerk zum anderen, mehrere Zimmer mit Fenstern auf jeder Etage, einige noch mit Steinplatten ausgelegt. In den Magazinen zu ebener Erde standen mannshohe Pithoi, die bauchigen Vorratsbehälter aus Ton, in den Boden eingemauert, damit der Inhalt gekühlt blieb. Daneben lagen kleine konische Gefäße, mit denen Öl oder Getreide aus den Pithoi geschöpft werden konnte. Ich ging durch die krummen, gepflasterten Gassen, berührte mit den Fingerspitzen die vier Jahrtausende alten Fassaden. Neben jeder Eingangstür gab es in Kopfhöhe ein kleines Fenster, eine hübsche architektonische Mode zu minoischer Zeit. In Gedanken vervollständigte ich die Ruinen, kalkte die Mauern, bemalte die Zimmerwände, richtete die Wohnräume ein. Ich vergrößerte die Stadt, vom Hafen bis hinauf zu den Weinfeldern, ließ vor den Toren der Stadt Wälder wachsen. Ich stellte mir die Menschen vor: Sie eilen durch die Gassen. Eine Frau ruft nach ihrem Mann, doch der läßt sich im Haus am Ende der Gasse den Wein schmecken. Ein Junge treibt drei Ziegen mit schwerem Euter vorbei, ein Mädchen spielt auf der Schwelle eines 83
Hauses mit kleinen bronzenen Figuren, eine Greisin zupft die gelben Blüten vom Johanniskraut, das in üppigen Sträußen zu ihren Füßen liegt. Junge Frauen mit hüftlangen Haaren kommen singend aus dem langgestreckten Haus. In dem Haus daneben, das zur Meeresseite hin den Platz begrenzt, knirschen Mahlsteine, vom anderen Ende der Gasse dringen die Hammerschläge des Schmiedes an mein Ohr. Dazwischen auf dem dreieckigen Platz preisen die Händler laut ihre Waren an, frischen oder gedörrten Fisch, Öle, Wein, Stoffe, Keramik, Fladen, Schmuck. Hier duften Gewürznelken und ymian, dort parfümiertes Zypressenholz, da riecht es intensiv nach kandiertem Honig, dann nach gebratenem Fleisch, alles wird für kurze Zeit überlagert von den Ausdünstungen der Ziegen und Schafe. Das Geschrei der Händler, Kinderlachen, Hundegebell, das Zwitschern der Singvögel in den Käfigen, das Zetern einer Mutter mit ihrem Sohn wurden jäh beendet von auswendig gelernten Sätzen einer Reiseleiterin, die in gebrochenem Deutsch dozierte: »... es gab auch der Hygiene dienende Räume, meist in den unteren Etagen, wo die Abwässer direkt in die Kanalisation gingen... besonders hervorzuheben ist die Keramikkunst jener Zeit... viele glauben, das minoische Reich sei ein Matriarchat gewesen... Kommen Sie bitte weiter!« Benommen verharrte ich mitten auf dem dreieckigen Platz. Matriarchat - das Wort schwebte wie ein Zauber über mir, nebelte mich ein, fesselte mich. Gemächlich, einer Karawane gleich, zog die Reisegruppe an mir vorbei. Gelblicher Staub von den Ruinen haftete an 84
meinen Handflächen. Asche. Vulkanasche. Vor dreieinhalbtausend Jahren war der Vulkan von Santorin ausgebrochen, explodiert, implodiert, hatte ganze Teile der Insel als glühende Steinbomben hundert Kilometer weit bis nach Kreta geschleudert, und eine Flutwelle überschwemmte und spülte fort, was eine tausendjährige Kultur hervorgebracht hatte. Wer nicht erschlagen worden oder ertrunken war, der mußte verhungert sein. Wie ein Leichentuch hatte Asche den fruchtbaren Boden meterdick überdeckt. Es gab niemand mehr, der die Geschichte der Minoer weitertrug und bewahrte. Übriggeblieben vom Rund Kallistes war die mondsichelförmige Insel, die später den Namen Santorin bekam, mit den beiden Kratern in der Mitte der Caldera. Aber was war vor der Katastrophe gewesen? War der dreieckige Platz im Sektor Delta ein minoischer Marktplatz oder einer von vielen Marktplätzen der Stadt? Vielleicht war das geräumige Haus, das die Archäologen das Haus der Damen nannten, ein Bordell? Die Wandgemälde darin zeigten Frauen mit nackten Brüsten. Aber die Brüste waren überdimensional groß. Vielleicht war es ja das Haus für stillende Mütter? Wieder und wieder strich ich über die Mauerreste, als könnte ich bei dieser Berührung die Wahrheit erfahren. Welchen Namen trug der Ort Akrotiri zu minoischer Zeit? Woher waren die Menschen gekommen oder waren sie schon immer da? Glich ihre Sprache einer Melodie oder war sie holprig? Eine Idee grub sich in meinen Bauch, ich fürchtete, sie weiterzudenken, dieses Gefühl kannte ich. 85
Meine Gedanken schweiften viertausend Jahre zurück zu einer jungen minoischen Tochter, zu ihrem Alltag in dieser faszinierenden Welt. Warum sollte ich nicht eine Geschichte schreiben, die zu minoischer Zeit spielte? Nicht das Leben in den Palästen, den Prunk und die höfischen Intrigen wollte ich schildern, sondern die Menschen, die in Städten wie Akrotiri lebten. Ich wollte beschreiben, wie sie gelebt, geliebt haben, welchen Berufen sie nachgegangen waren, welche Träume sie hatten. Die Lebensgeschichte einer Minoerin wollte ich erzählen, von ihrer Kindheit, der ersten Liebe und davon, wie der Vulkan ausgebrochen war und alles Leben von einem Tag auf den anderen ausgelöscht und unter Bimsstein und Asche begraben hatte. Ruinen waren geblieben und Scherben, aber keine Spuren von den Minoern selbst. Was war aus den Menschen geworden? Draußen sog ich gierig frische Luft ein. Der Taxifahrer lehnte rauchend an der Autotür. Zusammen gingen wir ein Stück am Strand entlang. Schwarzer, heißer Sand rieb an den Füßen, die Sonne brannte. Ein Dackelspitzschäferhund folgte uns eine Weile über gelbe Fischernetze und blaue Nylonleinen. Die leichte Brise vom Meer erfrischte angenehm. Neben uns ragten Bimssteinfelsen empor, in die Höhlen hineingeschlagen waren. Auf einem Steg, der etwa zehn Meter ins Meer hineinragte, standen drei Tische. Der Fischer sei sein Freund, behauptete der Taxifahrer. Ich setzte mich neben einen der Tische auf den Steg, kühlte meine Füße im Meer. Der Taxifahrer setzte sich zu 86
mir. Unsere Hände berührten sich. Sein Blick fiel auf meinen Delphinring. Er führte meine Hand an seine weichen, warmen Lippen, aber er küßte den Delphin, nicht meine Haut. Aus einer der Bimssteinhöhlen brachte der Fischer ein weißes Tischtuch aus Zellstoff über den Strand. Ein Mädchen trug Brotkorb, Gläser und Besteck aus der Felsenküche zu uns an den Tisch. Der Sohn des Fischers servierte Wein. Ich lud zum Essen ein. Der Taxifahrer suchte in der Küche den Fisch aus. In das Schweigen meines Begleiters hinein dachte ich an die unterirdische Stadt Akrotiri, die vor viertausend Jahren auf einer Anhöhe gelegen haben mußte. Hatten die Minoer eine Schrift, die Buchstabe für Buchstabe zu lesen war? Es gab Tontäfelchen aus minoischer Zeit mit keilschriftartigen Zeichen darauf. Es gab auch den berühmten Diskos von Festos, diese gebrannte Tonscheibe, die als wertvollstes Fundstück angesehen wurde. Aber niemand war imstande, die Hieroglyphen darauf zu deuten. Niemand hatte bisher einen schlüssigen Zusammenhang zwischen den Zeichen, die Köpfen, Tierfellen, Blüten, Häusern, Werkzeugen ähnelten, gefunden. Gab es zu minoischer Zeit Dichter, die die Geschichte ihres Volkes erzählten? Oder die Heldentaten von Göttern? Fabeln? Ist der Diskos von Festos vielleicht ein Bilderbuch gewesen? Nach dem Essen führte mich der Taxifahrer zum rostroten Strand, der sich an die drei Fischrestaurants im Felsen anschloß. Ich badete nackt, er behielt die Hose an. 87
Die Sonne trocknete meine Haut, seine Blicke streichelten sie. Am Nachmittag tuckerten wir mit einem Boot zur größeren der beiden Kraterinseln. Das Meer wurde immer schwärzer. Die weißen Häuser der Orte era und Oia bedeckten in der Ferne die Mondsichel Santorins wie Schnee. In der steilen Wand der Caldera hatte sich jeder Ausbruch des Vulkans mit einer andersfarbigen Lavaschicht verewigt, drei Meter bräunliches Gestein, acht Meter rötliches, ein schmaler Streifen in Schwarz, marmorweiße Linien dazwischen - wie die Jahresringe eines Baumstammes. Neben dem Boot schnellte ein silbernes Etwas zischend aus dem Wasser und glitt einem Pfeil gleich unter der grünen Oberfläche dahin. Aufgeregt verfolgten meine Augen den Delphin, der wieder emporschoß, einige Meter weit flog, unter dem Boot hinweg tauchte, gefolgt von drei anderen Delphinen, die miteinander und dem Boot spielten. Mein Begleiter wies lachend auf die Delphine und meinen Ring. Wurde jeder Fremdling auf Santorin so begrüßt? Ein Gefühl von Freude und Spannung beschlich mich. Die Minoer hatten vor vier Jahrtausenden auch Delphine gesehen. Genau wie ich. Und sie hatten mit den Launen der Natur gelebt, ihnen war der Vulkan auf dem Berg allgegenwärtig. Ich nahm die Bilder in mich auf, versuchte sie zu bewahren für die Zeit der Einsamkeit beim Schreiben. Die junge minoische Frau brauchte einen Namen, einen, 88
mit dem ich sie in ihrem Wesen fassen konnte. Es mußte ein Name sein, der mir gefiel. Noch stand die Frau nackt und gesichtslos vor mir. Der Name mußte ihr eine Gestalt geben. Minoa, das klang sanft, mandeläugig, weiblich. Minoas Vater könnte Fischer sein, ihre Mutter Hebamme in der Stadt Akrotiri. Vielleicht hat Minoa eine Schwester, die die Geheimnisse der Kräuter und Heilpflanzen kennt. Vielleicht auch einen Bruder, der zwischen den Inseln mit Keramik Handel treibt. Sie wird einundzwanzig Jahre vor dem Vulkanausbruch geboren, zu der Zeit, da die minoische Kultur auf ihrem Höhepunkt ist. Priesterin möchte sie werden, aber der alles vernichtende Vulkanausbruch wird ihre Pläne durchkreuzen. Der Ausbruch des Vulkans war das einzige, was in meiner Geschichte feststand. Minoas Schicksal mußte ich aus meiner Phantasie schöpfen, und wie die Menschen hier lebten, als die Insel noch ein Rund war und keine Mondsichel, als man sie noch Kalliste, die Schöne, genannt hatte... Der schwarze Vulkan. Wuchtig. Scharfkantig. Bedrohlich. Schweflige Wolken entströmten dem Fels, in kurzen Stößen wie Atem. Ich trat sehr vorsichtig auf, richtete all meine Sinne auf die Fußsohlen, die zuerst das Vibrieren der Erde spüren mußten, sollte der Vulkan zu neuer Wut erwachen. Wer garantierte mir, daß der Vulkan jetzt nicht mit derselben Gewalt wie vor dreieinhalbtausend Jahren ausbrach? Dem Zorn der Erde wäre ich schutzlos ausgeliefert. Ich stand über der Quelle des Unheils, war der Gefahr ganz nahe. Mich würde der Berg als erste verschlingen. Spurlos würde ich im glühenden Schlund des Kraters ver89
schwinden. Selbst das Lächeln meines Begleiters konnte diese Gedanken nicht vertreiben. Die Minoer müssen gewarnt worden sein, ging es mir am Abend durch den Kopf. Vielleicht haben Rauchwolken und Erdbeben den Ausbruch angekündigt. Vielleicht konnten die Minoer rechtzeitig mit ihren Schiffen fliehen? Aber wohin waren sie gefahren? Zwei Wochen später, in Berlin, Kantstraße. Ich trank schon das dritte Glas griechischen Rotwein und den dritten Espresso dazu. Kurz nach neun Uhr kam die Frau in die Jazzkneipe, Wiebke hieß sie. Ihre Selbstsicherheit weckte meine Aufmerksamkeit. Diese Frau scheute sich nicht, ihre zur Fülle neigende Figur in einem schwarzen, eng anliegenden Overall zu zeigen. Die dunklen Haare hatte sie wild am Hinterkopf hochgesteckt, einige lockige Strähnchen hatten sich gelöst und umspielten ihr geschminktes Gesicht. Ihr Äußeres wirkte provokativ, ein betörender Duft ging von ihr aus. Auf dem Podest hinten setzte der Saxophonist zu einem neuen Stück an, des Drummers Hände bearbeiteten die lederbespannten Zylinder zwischen seinen Beinen zuerst zaghaft, dann immer eindringlicher. Die Töne irrten unter dem Gewölbe aus Klinkersteinen umher, vermischten sich mit dem Zigarettenrauch und den Gesprächen der Leute. Die Schläge des Drummers setzten sich im Innern der Körper fort. Wiebke schnippte mit den Fingern und tippte den rechten Fuß auf die abgelaufenen Pflastersteine am Boden. Sie 90
schien sich in die Musik fallenzulassen. »Was glotzt du mich so an?« fragte sie unerwartet scharf. Erschreckt lenkte ich meinen Blick zu den Jazzern. Doch im nächsten Moment schaute ich sie wieder an. Ihrer Direktheit wegen war sie mir sympathisch. »Dein Auftreten irritiert mich«, erwiderte ich. »Du bist irgendwie anders.« Wiebke lachte. »Hast du noch nie eine Hure gesehen, die Kaffeepause hat?« Sie musterte mich von oben bis unten. »Und was machst du?« fragte sie. »Ich schreibe.« »Ach, du Scheiße«, kam als Reaktion. »Das ist das letzte, was ich heute erwartet habe.« Ich hielt ihrem Blick stand. »Was schreibst du?« Ich war um die Antwort verlegen. Sollte ich es ihr sagen, einer wildfremden Frau? Wiebke sah mich geradeheraus an. »Ich schreibe eine Geschichte, die sowieso kaum jemanden interessieren wird.« Ihr Blick ruhte auf meinem Delphinring, der mich unweigerlich als Griechenlandtouristin entlarvte. »Was schreibst du denn nun?« Die Frage hatte etwas Zwingendes. »Von einer jungen Frau, die vor viertausend Jahren in Griechenland gelebt hat.« Jetzt war es heraus. In Wiebkes Gesicht spielte Neugier. »Red weiter, das ist spannend! Das interessiert mich.« 91
Ich erzählte von meinem Urlaub auf Santorin, auch von dem Taxifahrer, und wie sich unsere Liebesgeschichte nach ein paar Tagen in nichts aufgelöst hatte; er war einfach nicht mehr gekommen. Ich vertraute Wiebke an, wie mir der Gedanke gekommen war, die toten Ruinen von Akrotiri mit minoischem Alltag zu beleben. Stumm hörte Wiebke zu. Wenn ich in meinem Redefluß stockte, bei Beschreibungen nach Worten suchte, drängte sie mich weiterzuerzählen. »Die Minoer«, unterbrach mich Wiebke auf einmal, »haben die Göttin Rhea verehrt, wie alle Völker im Mittelmeerraum.« »Rhea?« fragte ich. »Sagtest du Rhea?« »Was denn sonst?« Wiebke schüttelte den Kopf. »Rhea, die Göttin der Fruchtbarkeit oder die Mutter Erde, ganz wie du willst. Und der Diskos von Festos hat irgendwas mit ihr zu tun. Da bin ich ganz sicher.« »Woher weißt du das?« »Das spüre ich«, meinte Wiebke. »Alles war im minoischen Reich auf die Bedürfnisse und den Geschmack der Frauen abgestimmt, alles war rund. Weiblich. Die Frauen standen im Mittelpunkt des Lebens. Ich war oft auf Kreta, in den Palästen, in den Museen.« Auf einmal ereiferte sie sich und sagte, daß Frauen die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachten, den größeren Teil der Arbeit leisteten, aber nur zehn Prozent des Einkommens auf der Welt besäßen. »Bei den Minoern war das anders«, sagte Wiebke, »die haben im Matriarchat gelebt.« »Du hast was gegen Männer?« fragte ich. 92
Wiebke wurde ernst. »Ich habe etwas gegen die Aggressivität der Männer. Ich habe sie jeden Abend zwischen meinen Beinen, wenn sie ihre Wut rauslassen und mich anschreien. Mit ihren Ehefrauen können die das nicht machen. Siehst du den Drummer? Der vögelt dich nur von hinten, weil er es nicht haben kann, wenn ihn die Frau dabei ansieht. Das macht ihn wütend, bis er nur noch brüllt und dich beleidigt, und das geilt ihn auf.« Wiebke ignorierte mein Lachen. »Ich sehne mich nach glücklichem Sex«, sagte sie. »Dieser ganze kirchliche und freudsche Scheiß über Sex in unserer Erziehung hat uns zu Krüppeln gemacht.« »Und trotzdem machst du Sex zu deinem Beruf.« »Ich brauch’ die Kohle. Aber wenn ich genügend habe, dann wandere ich aus nach Griechenland, dorthin, wo es einmal das Matriarchat gab.« Sie kam ins Schwärmen. Sie erzählte von einer untergegangenen friedlichen Welt, in der die Frauen sich die Männer zum Beischlaf auswählten, in der kein Kind nach dem Namen seines Vaters gefragt werden durfte, in der das Zeugen von Kindern am wichtigsten im Leben war. Sie erzählte, daß die jungen Frauen nackt herumliefen, ihre schönen Körper zeigten, daß sie ihre Lebenslust ausleben konnten. Die Jazzkneipe verwandelte sich vor meinen Augen in eine minoische Stadt, ohne die Segnungen des zwanzigsten Jahrhunderts, keine Elektrizität, keinen Espresso. Ich dachte an Akrotiri, spazierte in den schmalen, krummen Gassen, Ausschau haltend nach einem Fischer mit gelocktem, dichtem Haar und wohlgeformten Schultern. 93
Wiebkes Stimme wurde zum Gemurmel des Meeres. Von der Agora her drangen sanfte Rhythmen an mein Ohr, Flötenklänge lockten Frauen und Männer an. Ich trug eine Schale voller Blüten, die ich der anmutigen Göttin Rhea zum Geschenk machen wollte. Ich sog die Düfte ein, die aus den Häusern kamen. Meine Füße trugen mich über das glatte, warme Pflaster immer höher den Vulkanberg hinauf, von wo ich auf bunte Städte sehen konnte und auf das Meer, das sich silbrigblau in einer weichen Linie mit dem Himmel vereinigte. Ich lauschte in meinen Leib hinein, in dem sich die Wärme der Sonne ausbreitete. Ich roch den herben Duft des Ziegenfells auf meinem Lager, das ich in dieser Nacht mit dem Fischer teilen würde. Den Mann hatte ich mir ausgesucht, ich mußte nicht warten, bis ich ausgesucht wurde. »Im minoischen Reich«, sagte Wiebke, und es klang wie aus weiter Ferne, »waren die Frauen jedes Jahr schwanger. Für die Minoer war es wichtig, zahlreich zu sein. Viele Kinder sind gestorben an Krankheiten, die die Händler vom Festland mitgeschleppt hatten.« Nur langsam fand ich zurück, der gedankliche Ausflug hatte mich verwirrt. Von all dem, was Wiebke beschrieb, hatte ich nichts gesehen auf Santorin. Ich war blind über die Insel gelatscht. Ich hatte die Kunstfertigkeit des verschwundenen Volkes bewundert, der Sinn ihres Tuns war mir verborgen geblieben. Ich habe die Schönheit konsumiert wie den griechischen Rotwein hier, der zufällig angeboten wurde. Hätte ich doch den Sex mit dem Taxifahrer so leicht genommen wie den Espresso! Ich verfluchte die Abgestumpftheit meiner Sinne. 94
»Wir Menschen sind am Endpunkt angelangt«, fuhr Wiebke auf, »wir waren der Natur noch nie so fremd wie heute! Wir haben im Laufe der Jahrhunderte immer mehr von unserer Freiheit verloren. Männer haben uns Frauen weisgemacht, wir seien unvollständig ohne Schwanz. Dabei ist das nichts anderes als ihr Neid auf unsere Gebärmutter. Männer können Paläste bauen und Kanonen, aber Kinder kriegen können sie nicht. Unsere scheinbare Abhängigkeit vom Mann behindert uns nur. Uns Frauen wird eingetrichtert, daß wir stinken, deshalb tragen wir Slipeinlagen. Uns werden idiotische Pflichten auferlegt; Geschirr und Wäsche können gar nicht keimfrei genug sein, jedes Staubkorn macht rasend. Wir müssen Mundspray benutzen, wir sollen verzichten, und der Verzicht macht uns schwach. Wir verwehren uns das Essen, wenn wir ein Kilo zuviel wiegen. Wir übertünchen mit Schminke unser Alter. Wir zeigen Verständnis, wenn der Mann zu müde für Sex ist, und gehen uns statt dessen neue Schuhe kaufen. Unsere weibliche Natur ist bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.« Ich betrachtete die Leute in der Kneipe. Ich sah, wie sie sich unterhielten, ohne miteinander zu reden. Jeder war nur mit sich selbst beschäftigt. Sie nippten an ihren Gläsern und sehnten sich nach einer Umarmung. Sie wälzten Probleme, sogen an ihren Zigaretten und dachten an Küsse. Aber keiner von ihnen gab seinen Sehnsüchten nach. Sie funktionierten perfekt in dieser modernen Gesellschaft. Ich schüttelte mich. Bis eben hatte ich zu ihnen gehört. Ich spürte, wie ich mich langsam zu lösen begann. Hinter 95
einem Schleier dichten Nebels tat sich eine neue alte Welt für mich auf. Ich mußte den Nebel nur durchschreiten; und auf der anderen Seite wartete ich selbst. »Es ist noch nicht lange her«, sagte Wiebke, »da hat sich jede Frau noch ihre Klamotten selber genäht, da konnten wir Felder bestellen... Könntest du einen Acker bewirtschaften und Schweine züchten?« »Jeder kann etwas anderes. Spezialisierung macht unsere Gesellschaft aus.« »Jede einzelne kann immer weniger, niemand von uns könnte sich heute selbst versorgen. Wir haben sogar Sex verlernt. Wenn ich nach Griechenland fahre, dann genieße ich die Verehrung, die mir dort entgegengebracht wird.« »Aber die griechischen Männer verehren dich doch nicht um deinetwillen«, wandte ich ein. »Du bist vielleicht komisch. Natürlich meinen sie nicht mich persönlich, sondern die Frau, die sie sehen, die sie begehren, mit der sie vögeln wollen. Ich will ja auch mit ihnen vögeln, ich habe Spaß daran. Vögelst du nur mit Männern, von denen du glaubst, daß sie dich lieben? Dann bist du ja kurz vor dem Vertrocknen.« Ich verdammte den vielen Wein, den ich getrunken hatte. Wiebkes Worte machten mich trunken genug. Mein bisheriges Leben kam mir auf einmal wie ein ewiger Kindergarten vor. Nichts hatte ich erlebt. Wiebke verabschiedete sich: »Ich muß zu meinen Freiern.« Ich beneidete diese fremde Frau. Sie konnte diese friedliche Welt fühlen, riechen, schmecken, wiederbeleben. In den nächsten Tagen versuchte ich in meinem Atelier 96
der minoischen Gesellschaft erste Konturen zu geben. Ich teilte das Jahr in Feste ein. In jedem Frühjahr kommen die Frauen und Männer der Göttin Rhea zu Ehren zu einer riesigen Orgie in den Palast. Alle Sinne des Körpers werden erregt. Drei Tage lang wird geliebt, gegessen, getrunken. Es gibt eaterstücke und Lieder, Tänze und Balladen, erotische Bilder und Delikatessen, die nur an diesen drei Tagen verzehrt werden dürfen. Es gibt sogar eine andere Schrift an diesen Tagen. Diese Orgie sichert, daß jede Frau schwanger werden kann. Die Frau steht im Mittelpunkt. Aus ihr kommt der Mann, zu ihr geht er zurück. Ein ewiger Kreislauf. Nichts, was zwischen Frau und Mann geschieht, sollte Minoa fremd sein. Ich ließ sie fasziniert beobachten, wie Böcke die Zicken bespringen, wie der Leib anschwillt und wie das Junge zur Welt kommt. Minoa weiß, auch sie wird eines Tages Kinder zur Welt bringen können. Und schon stockte ich. Ich hatte die erotischsten Atmosphären in Olivenhainen und Viehställen geschaffen, in denen sich Frauen und Männer lieben sollten, ich hatte Voyeure dazugesellt und auf der Agora vor dem Heiligtum erotische Feste ausgerichtet. Doch auf einmal wurde mir klar, warum die von mir geschaffenen Minoer künstlich wirkten: In meinem Streben, so selbstverständlich wie möglich über ihren Sex zu schreiben, verrannte ich mich immer tiefer in meiner eigenen Verklemmtheit. Darüber hatte ich ganz vergessen, daß Sex bei den Minoern einfach passierte, ganz selbstverständlich. Ich nahm den Sex viel zu wichtig.
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Aus der Zeitung erfuhr ich, daß ein Sprachwissenschaftler aus Oslo die minoische Schrift entziffert hatte. Er war der einzige Mensch auf der Welt, der wußte, was auf dem Diskos von Festos geschrieben stand. In der Hoffnung, von ihm mehr über die Minoer zu erfahren, nahm ich Kontakt zu ihm auf und flog einige Tage später nach Norwegen. Während des unruhigen Fluges in der kleinen Propellermaschine dachte ich an Minoa, die ein wenig rundlich sein sollte wie Wiebke, die Haare genauso wild am Hinterkopf hochgesteckt, die leicht gelockten Strähnchen, die sich gelöst hatten und das Gesicht umspielten. Spitzbübisch blitzten die Augen des Sprachwissenschaftlers Kjell Aartun, als wollte er testen, inwieweit ich seinen eorien folgen konnte. Er führte mich in sein Arbeitszimmer, klein wie eine Abstellkammer, Bücherregale bis zur Decke. Einen wackligen Schreibtisch gab es, keinen Computer. Mehr als sechs Jahre hatte er hier gesessen, gebeugt über die minoischen Hieroglyphen und keilschriftartigen Zeichen. In einer Holzkiste bewahrte er das Manuskript seines Werkes über die minoische Schrift auf, sechshundert Blätter, eng mit der Hand beschrieben. »Die Anordnung der Schriftzeichen in Spiralform gibt es auch auf babylonischen Zauberschalen«, erklärte Aartun den Diskos von Festos. »Was haben die Babylonier mit den Minoern zu tun?« wollte ich wissen. Die Babylonier seien Einwanderer gewesen, meinte er, wie auch die Assyrer, Äthiopier, Ägypter, Hethiter. Sie seien die Urminoer gewesen, die vor viereinhalbtausend Jahren Kreta besiedelten. Kreta sei das ›Amerika der 98
Bronzezeit‹ gewesen, meinte er, ein Schmelztiegel der Kulturen. Kreta, das Amerika der Bronzezeit? Diese Formulierung Aartuns ließ Minoas Familie anwachsen. Sie bekam ägyptische Großeltern, babylonische Tanten und assyrische Vettern. Ich schenkte ihr eine Schiffsreise zu all ihren Verwandten, eine minoische Odyssee durch die Kykladen zu den fernen Hafenstädten des Festlandes. »Es ist ganz klar«, sagte Aartun, »hier auf dem Diskos steht die Anleitung für den Vollzug eines Fruchtbarkeitskultes. Jede Hieroglyphe ist eine Silbe.« Ein Fisch in der minoischen Schrift sei immer Phallus, meinte Aartun. »Der Fisch lebt im Meer, das salzig ist. Nun, auch das Weibliche ist salzig.« Auf einer goldglänzenden Nachbildung des Diskos zeigte er mir die Blüte in der Mitte der spiralförmig angeordneten Zeichen. »Die Blüte heißt immer Hochzeit«, sagte er, »also der Vollzug der Hochzeit. Samenfluß. Das ist ganz klar.« Dann las er mit getragener Stimme vor, was auf dem Diskos geschrieben stand: »Iri la hi schi mi pa tacka...« Eine Jahrtausende alte Sprache erweckte er zum Leben. Im kühlen Oslo klangen minoische Silben und Worte, Sätze, ein Gedicht, ein Hohelied auf die Fruchtbarkeit. Von steifen Gliedern war die Rede, die in das Salzige der Frau eintauchten, von Lüsternheit, heißem Verlangen, von Gewalt während des Liebesaktes, auch von Liebe, aber erst zum Schluß. Die erotischen Anspielungen, wie der Acker zu pflügen, der Boden zu spalten, die Erde aufzureißen sei, übten auf mich einen eigenartigen Reiz aus. 99
Der Diskos war die genaue Anleitung, wie ein Mädchen zu entjungfern sei. In diesem Fruchtbarkeitsritual sah ich den Beweis, daß das minoische Reich ein Matriarchat gewesen sein muß. Doch der Wissenschaftler verwirrte mich mit seinem entschiedenen Widerspruch: »Das ist nur ein Traum vieler Frauen. Die Frau stand lediglich im Zentrum des Interesses, weil sie fruchtbar war. Minos war ein König, ein Titel wie Pharao, aber auf jeden Fall männlichen Geschlechts.« Ich wollte wissen, wieso er sich da so sicher sei, und er führte Homer ins Feld, der Minos ganz klar als König beschrieben habe, nicht als Frau. Ich wandte ein: »Homer hat die Odyssee sechshundert Jahre später geschrieben. Das ist so, als würde ich heute einen Roman über das Mittelalter schreiben. Könnte es nicht sein, daß die Geschichte in diesen sechshundert Jahren verfälscht worden ist? Von Männern möglicherweise.« »Das ist ausgeschlossen«, entgegnete er, mich gütig anlächelnd. »Nehmen wir den Mythos vom Minotaurus, dem jedes Jahr Jungfrauen und Jünglinge aus Athen geopfert werden mußten. Wie paßt der in eine friedliche, von Frauen regierte Gesellschaft? Offenbar wurden tatsächlich Sklaven nach Kreta geschickt, vielleicht sogar als Verbindlichkeit aus irgendeiner kriegerischen oder diplomatischen Auseinandersetzung? Und daraus entwickelte sich diese grausige Geschichte vom menschenfressenden Minotaurus, die ganz und gar nicht weiblich ist.« »Minotaurus ist ein Ekel von Zeus«, rief ich. »Homer 100
hat die Zeiten völlig durcheinandergebracht. Zeus kam erst lange nach den Minoern!« Aartuns Lächeln regte mich auf. »Es ist ganz klar«, meinte er kategorisch, »Sagen und Wunschträume sind das eine, die Wissenschaft sagt das ihre zum Matriarchat. Es gab keines auf Kreta.« Und als Beweis führte er handtellergroße Schrifttafeln aus Agia Triada auf, die Quittungen gewesen waren für Waren, die die Bauern im Palast abgegeben hätten. Für die eingebrachten Ernten sollten die Bauern andere Dinge bekommen, die sie zum Leben brauchten. »Eine Feudalgesellschaft war es, im Feudalismus steht immer ein König an der Spitze.« Aartun erzählte, daß die Minoer gute Architekten gewesen waren, die in Ägypten und im Orient Paläste errichteten. Ich sah nicht ein, warum nur eine männlich geführte Bürokratie zehnstöckige Paläste bauen und verwalten könnte, warum menschliche Leistungen nur mit der Unterdrückung von Frauen möglich sein sollte. Ich wollte mir meinen Traum vom Matriarchat nicht zerstören lassen, auch nicht von einem sympathischen Wissenschaftler. Je vehementer Kjell Aartun seinen König verteidigte, desto deutlicher sah ich die Königin, die Oberpriesterin, die mit weiblichem Gespür einen friedlichen Staat regierte. Und ich sah wieder Minoa, die außerhalb der Palastmauern mit ihrer Familie lebte. Minoas älterer Bruder wurde in meinen Gedanken Architekt, der in Ägypten für den Pharao baute. Der Geliebte ihrer Mutter wurde Seemann, der zwischen den griechischen Inseln mit Kupfer und Gold aus Ägypten Handel trieb. Die Mutter war Salbenmischerin und 101
Heilerin, auch Hebamme. Die Töchter der Insel Kalliste brachen einmal im Jahr nach Kreta auf, im Frühjahr, um an der Entjungferungsorgie im Palast von Festos teilzunehmen. Minoa aber hatte schon einen Geliebten. Sie wollte nicht mit nach Kreta, wollte sich keinem anderen hingeben. Doch das Ritual war sie Rhea schuldig. Jede Jungfrau mußte das tun. Ihr größter Wunsch war, Priesterin zu werden, und schon deshalb mußte sie dabeisein. Sie wollte wie die Priesterinnen zu einer Wissenden werden. Zu dieser Zeit war sie fünfzehn Jahre jung... Kjell Aartuns um einiges jüngere und attraktive Frau brachte einen Teller mit belegten Brötchenhälften, lecker angerichtet. Lachs lag darauf. Was sonst? Minoa beherrschte von nun an mein Leben. Mein Atelier war gespickt mit Fotos aus Santorin und Kreta. Minoa war überall. Ich trug alles zusammen, was über das minoische Reich zu erfahren war. Ich kopierte ganze Bücher, vergrößerte Pläne von Palastanlagen, minoischen Dörfern und der Stadt Akrotiri, zeichnete die Wege ein, die ich Minoa tagtäglich entlanglaufen ließ. Ich begann erste Episoden aus dem Leben der Minoerin aufzuschreiben, über ihre Erziehung, die erste Liebe, ihren Wunsch, Priesterin zu werden, über das Leben auf Santorin und den Vulkanausbruch. Aber alles stand nach zwei Monaten noch lose nebeneinander, ergab keine Geschichte. Ich hatte mich verrannt, kam nicht weiter, eine Sackgasse. Jetzt war das passiert, wovor ich mich gefürchtet hatte: Um mich herum lagen Mengen von Papier, 102
tausend Puzzleteile, die ich nicht zu einem Bild zusammenfügen konnte. Wie eine Archäologin kam ich mir vor, die vor unzähligen Scherben kniete und nicht wußte, ob die Scherben einst zu einer Schale, einem Krug oder einer Figur gehört hatten. Ich brauchte Abstand, räumlich und zeitlich. Ich mußte meine Gedankenbahnen verlassen. Übers Wochenende flog ich nach New York, bloß weit weg vom Schreibtisch, weit weg von der minoischen Zeit, auf einen anderen Kontinent, in eine andere Welt. Am späten Nachmittag Ortszeit landete ich nach neunstündigem Flug der Sonne voraus. Für mich war die Abendbrotzeit längst überschritten. Auf dem Times Square erstand ich ein 30-Dollar-LastMinute-Ticket für ein Musical. Das Unwetter deutete sich mit einer leichten Brise an, die kleine Windhosen über dem Straßenpflaster bildete. Die Windhosen wurden zu Böen; sie wirbelten Staub und ganze Zeitungsseiten gen Himmel. Sie krochen in Plastiktüten und schleuderten sie an den gläsernen Fassaden der Wolkenkratzer empor. Der Himmel darüber verdunkelte sich zusehends. Erste Tropfen fielen, die der staubige Asphalt gierig aufsog. Die Böen wurden stärker. Souvenirshopbesitzer tauschten die Paletten mit den urigsten Sonnenbrillen zu einem Dollar fünfzig gegen Ständer voller bunter Regenschirme aus, zum selben Preis. Wie die meisten ahnungslosen Touristen schaute ich dem Treiben neugierig zu, anstatt wie die Einheimischen Schutz in Stehkneipen, Delis, Cafés oder den Eingängen der Subway zu suchen. Wenige Augenblicke später verwandelten sich die Böen in einen 103
fauchenden Tiger, der durch die Häuserschluchten von Manhattan fegte und Coladosen, Hüte, Papierfetzen, alles, was er zu fassen kriegte, vor sich herscheuchte. Urplötzlich peitschte Regen auf mein Gesicht, rann von den spiegelglatten Häuserfassaden. Kein Balkon oder Vordach bot Schutz. Der Sturm entriß den Menschen die Schirme und trug sie hinüber zum Hudsonriver. Schon war die Kanalisation überfordert. Öliges, dunkles Wasser blubberte aus den Gullis, ergoß sich auf die Fahrbahn. Die gelben Taxis zogen hohe Fontänen dieser Brühe neben sich her. In den Papierkörben sammelten sich unzählige Eindo llarfünfzigregenschirme. Plötzlich schien New York wie ausgestorben. Ich war die einzige auf dem Times Square. Regenwasser troff von den Haaren, Jacke und Jeans waren durchnäßt. Wohin sollte ich fliehen? Angst befiel mich. Ausgeliefert fühlte ich mich dem Zorn der Götter. Schutzlos inmitten der Naturgewalt. Das Unwetter erschien mir wie ein Vorbote der Hölle. Nackte, kalte, unbezwingbare Wände um mich herum. Es dauerte geraume Zeit, ehe ich begriff, daß ich mich im zwanzigsten Jahrhundert befand, in New York. Ich brauchte ja nur in ein Café zu gehen. Der Regen putzte die großen Scheiben, so dicht, daß ein Blick auf die Straße verwehrt blieb. Schon zum fünften Mal schenkte mir die ewig lächelnde Puertorikanerin Kaffee nach. Ich hätte längst meinen Platz für den nächsten Gast räumen müssen. Nur ein Wochenende hatte ich in New York, und ausgerechnet dann mußte es regnen. Pech. 104
Auf einmal saß eine junge Frau in sommerlichem Kleid an meinem Tisch, das Haar wild am Hinterkopf hochgesteckt, einige leicht gewellte Strähnchen hatten sich gelöst und umspielten ihr rundes milchkaffeebraunes Gesicht. Ein Hirngespinst? Oder das Blendwerk einer Göttin? Gaukelte die Phantasie mir nur diese Illusion vor? Minoa? fragte ich. Versonnen lächelte sie und betrachtete den Regen, als sei der etwas Alltägliches, Vertrautes, Gewöhnliches. Dann musterte sie mich ein wenig mitleidig. In ihren mandelförmigen, dunklen Augen gewahrte ich so etwas wie Spott. ›Ist das der Fortschritt eurer Kultur‹, schien sie mich zu fragen, ›wenn ihr euch der Natur dermaßen entfremdet habt? Wenn euch die Natur zum Feind wird? Wenn ihr die Zeichen nicht zu deuten wißt? Wenn ihr bei den ersten Regentropfen in Tunnel und Katakomben flüchtet?‹ Ich wußte darauf nichts zu antworten, und sie redete weiter. ›Mit staunenden Augen wühlt und grabt ihr in unserer Hinterlassenschaft herum und könnt euch die einfachsten Dinge unseres Lebens nicht erklären. Nichts seht ihr, nichts versteht ihr. Ihr nennt eine gewöhnliche Tasse Opfergefäß, eine Schale Kultgegenstand, ein Kleid Priesterinnengewand, unsere Tänze kultische Handlungen. Wie dumm seid ihr! Ihr verschließt eure Ohren vor den Gesängen der Göttinnen. Ihr habt die Göttinnen abgeschafft und euch männliche Götter zugelegt. Mit den männlichen Göttern kam eure Enthaltsamkeit, die Angst, euer schlechtes 105
Gewissen. Ihr erklärt die schönsten Dinge des Lebens zur Sünde. Frauen dürfen sich die Männer nicht selbst wählen. Eure Rituale haben mit Leben nichts zu tun; ihr verehrt die Askese, die Selbstkasteiung, den Tod. Glaubst du, die Göttin liebt den Tod? Nein, sie liebt das Leben, die Freude, die Liebe. Die Frauen tragen bei euch hohe Schuhe, damit ihre Füße die Erde nicht berühren können. Mißtraut ihr der Erde? Ihr fliegt um die Welt, giert nach Erlebnissen, aber ihr seht nichts, das Tempo macht euch frigide. Du willst über mich schreiben? Du, die du für den Gesang der Göttin taub bist? Du willst wissen, wie unser Reich ausgesehen hat? Du, die du blind bist, wenn die Göttin neben dir steht? Du willst meine Gefühle kennen? Du, die du nicht einmal spürst, wenn die Göttin dich streichelt?‹ Ich senkte die Lider. Ja, beinahe schämte ich mich meines Vorhabens, einen Roman über Minoa schreiben zu wollen. Doch in mein Schamgefühl mischte sich Ärger. Wie weit mußte ich noch reisen, um von Minoa loszukommen und sie für einen Augenblick nur zu vergessen? Im selben Moment wußte ich, daß sie mich überallhin begleiten würde, ganz gleich, wohin ich mich zu flüchten suchte. Selbst in meine Träume hatte sie sich eingenistet und jetzt erschien sie mir auch noch leibhaftig, am hellichten Tage! Warum ausgerechnet hier in New York? Warum konnte sie nicht zu mir nach Berlin kommen? Natürlich in New York, ging es mir durch den Kopf, natürlich in diesem Schmelztiegel der Nationalitäten. Sind die Minoer vor dem Vulkanausbruch nach Amerika gesegelt? Als ich 106
wieder aufschaute, saß auf dem Platz gegenüber ein bärtiger Greis. Er griente mich blöde an. Die Vorstellung im Musicaltheater war ausverkauft. Die elegant gekleideten eaterbesucher, die für eine Karte hundert Dollar und mehr gezahlt hatten, huschten in die Fast-Foodläden. Vor dem Kunstgenuß genehmigten sie sich noch einen Hamburger oder Hotdog. In der 42nd Street parkte ein schwarzer Lincoln nach dem anderen. Die Fahrer warteten im Inneren auf ihre Herrschaften. Es nieselte noch, und der Regen hatte die Luft abgekühlt. Nach mitteleuropäischer Zeit war es zwei Uhr nachts. Nur mit Mühe hielt ich mich auf dem Platz 91 wach, als das Licht im Saal zu Dämmerlicht wurde, der Vorhang sich hob und die ersten schwarzen Tänzerinnen auftraten. Sie alle folgten einer Choreographie, und doch verschmolz jede für sich mit dem Rhythmus. Sie tanzten nicht mit ihren Körpern. Sie tanzten mit ihrer Seele, mit ihren Gefühlen, sie tanzten sich in Stimmung, sie tanzten bis zum Rausch, bis zur Ekstase. Der Platz 91 schien sich aufzuheizen, begann zu glühen. Ich ließ mich vom Strudel der Rhythmen, von den Tänzerinnen mit in die Tiefe meines Körpers reißen, leistete keinen Widerstand mehr, atmete schnell, als tanzte ich selbst. Ich vergaß mich, war nicht mehr bei mir, außer mir, war abgehoben aus dem Diesseits, entrückt in eine andere Welt, in der ich mich verführen ließ. Die Bühne wurde zum Tempel. In Liedern und Tänzen verehrten Priesterinnen und Priester die Muttergöttin Rhea. Sie feierten eine Orgie der Lust. Es roch nach vergorenen Beeren. Parfümierte Hölzer verbreiteten ihren 107
Duft. Grillen zirpten in den Zypressen. Leiber schlangen sich umeinander... Der Applaus riß mich aus meiner Welt. Schweiß stand auf der Stirn. Ich beneidete die Tänzer auf der Bühne. Warum war ich nicht fähig, mich meiner Lust hinzugeben? Was hinderte mich, meinem Unterleib zu gehorchen? Ich brauchte Alkohol, manchmal auch einen Joint, ehe ich meine Hemmschwellen überwinden konnte. Den Tänzern reichte die Lust, mir nicht. Unterschied mich das von Minoa? Ich war zu aufgeregt, um Ruhe zu finden. Der Fernseher im Hotelzimmer funktionierte nicht. Aus dem Hotelzimmer blickte ich auf den Wirtschaftshof des PanAm-Buildings. Wiebke nannte die minoische Gesellschaft Matriarchat. Für Aartun war sie ein feudales Königreich. Ich sah darin ein friedliches Königinnenreich: Die Frauen stehen im Mittelpunkt des Lebens. In ihren Leibern wächst neues Leben heran. Und sie sind anmutiger, runder, weicher, salziger. Polizeisirenen schrien mich in den Schlaf. Am nächsten Morgen fuhr ich zum Metropolitan Museum of Art, wo Zeugnisse aus allen Kulturen gesammelt sind. Vor einer faustgroßen steinernen Figur der Mayas blieb ich lange stehen. Sie stellte eine Frau dar mit schwangerem Bauch, vollen Brüsten und einem tiefen Schlitz zwischen den gespreizten Beinen, in dem die Klitoris wie ein kleiner Penis hervortrat. Noch vor vier Wochen wäre ich empört gewesen über die Reduzierung der Frau auf Brüste, Bauch und Möse von alters her. Aber 108
ich sah die weibliche Lust, die wichtig war. Als hätte ich auf sie gewartet, gesellte sich Minoa wiederum zu mir. Minoa erzählte mir von sich. Ihren Namen hatte sie oft gewechselt. Bei ihrer Geburt war sie die Tochter der Salbenmischerin gewesen, später die Pflückerin des gelben Krautes und Ziegenhirtin. Als sie von den Priesterinnen zur Frau geweiht worden war, hatte sie die bei Vollmond Stiergeborene geheißen. Als sie ihren eigenen Teil im mütterlichen Haus bezog, wurde sie die im blauen Zimmer Wohnende gerufen. Ihr großer Traum, Priesterin zu werden, war nicht in Erfüllung gegangen. Eine Mißernte war schuld daran. Viele Familien wollten ihre Töchter nach der Dürre in die Paläste schicken, damit sie ernährt werden konnten. Für Minoa war kein Platz mehr gewesen. Sie wurde schwanger, und bei der Geburt ihrer Tochter bebte die Erde schon. Auf dem Schiff hatte Minoa entbunden. »Aber wohin seid ihr gefahren?« rief ich ihr nach. Doch Minoa verschwand in einer Gruppe Museumsbesucher, die mich neugierig anstarrten. Zurück auf Santorin. Der Oktober war wohlig warm. Ich mietete mich im Ort Akrotiri bei Maria ein, deren Hotel in den Fels der Caldera hineingebaut war, mit Blick auf den Vulkan. Der Anblick des Vulkans beunruhigte mich. Er war seit 1926 nicht mehr ausgebrochen. Er schlief. Woher also die Unruhe? Etwas fehlte. Der Taxifahrer? Vielleicht. Ich lief hinunter zur Ausgrabungsstelle Akrotiri und 109
fühlte, daß Minoa vor viertausend Jahren denselben Weg gegangen war, jeden Tag, von einem Vollmond zum nächsten. Doch das Schiff ihres Bruders war noch nicht eingetroffen. Wahrscheinlich verzögerte einmal wieder die Anmut kretischer Frauen seine Rückkehr. Im Hafen von Akrotiri lag ein ägyptisches Schiff, umgeben vom süßlichherben Duft getrockneter Datteln. Lastträger mit honigfarbener Haut schleppten Ballen von feinstem Leinen an Land. Kleinere Boote fuhren zwischen den stolzen Schiffen, die weiter draußen lagen, und dem Ufer hin und her. Jungen tauchten im Hafenbecken nach Steinen, die sie in derben Netzen nach oben beförderten. Ich schlenderte in der minoischen Stadt Akrotiri umher, suchte nach Zeichen, die Minoa für mich hinterlassen hatte. Ich fand eine Fußspur, sah das holzumrandete Fenster, hinter dem sie gewohnt und ihre Liebhaber empfangen hatte, ich roch an den Blüten, die den Eingang schmückten. Ob Minoa eine Katze hatte? Ich setzte mich mitten auf die Hauptstraße, holte einen Block hervor und begann zu schreiben. Ich belebte Akrotiri mit Menschen, Tieren, Gerüchen, mit Sonne und Regen, mit täglichem Lärm und nächtlicher Stille. Die Touristen, die mir über die Schulter schauten, störten mich nicht. Etwas unsicher wurde ich nur, wenn Minoa kam. Ich sah ihr spöttisches Lächeln, wenn ich mit meinen Lebensmaßstäben aus dem zwanzigsten Jahrhundert dem minoischen Alltag nachsann. Ich ließ die Landschaft auf mich wirken, ließ mich treiben, und langsam hatte ich das Gefühl, Minoa näherzukommen. Ich wollte eins werden mit der Natur. Das, was 110
ich nicht mit dem Kopf erfassen konnte, mußte ich mit meinem ganzen Leib fühlen. Einige Monate später, kurz nach Neujahr, las ich zum ersten Mal einige Kapitel aus dem Manuskript Minoa vor, in einem kleinen, verschneiten Vorort von Neubrandenburg: »... Das lange Schiff des Bruders zerteilte die wütende See. Minoa stand vorn in der Spitze des Schiffes, ihre Tochter auf dem Arm wiegend. Ein letzter Blick zurück nach Kalliste, zu der Insel, die einundzwanzig Jahre lang ihre Heimat gewesen war. Der Verlust war wie der erste Schritt zum Tod. Warum mußte man die Dinge erst verlieren, um sie schätzen zu können? Die Geborgenheit war vorüber. Vor ihr lag ein Leben voller Ungewißheit. Die unbeschwerte Jugend fand auf dem Schiff ihr jähes Ende. Nie würde sie zurückkehren. Ein Abschied für immer. Ihre Erinnerung aber würde Kalliste bewahren, die Olivenhaine, Manolis, den Fischer, Rheas Feste. Für ewig. Der Vulkan spuckte schwarze Rauchwolken, die sich unter dem Himmel ausbreiteten, der Erde das Sonnenlicht nahmen. Aus dem Krater flogen glühende Steinbrocken, eine weißleuchtende Zunge dickflüssiger Lava kroch über die Felder auf die Hafenstadt Akrotiri zu. Der Proviant für die Schiffsreise war knapp bemessen. Die Ernte hatte bevorgestanden, und die Vorräte aus dem letzten Jahr waren fast aufgebraucht. Keiner wußte, ob sie ankommen würden an ihrem Ziel. Niemand konnte die Gefahren voraussehen, die ihnen auf dem Meer noch bevorstanden...« Als ich nach zwei Stunden vom Manuskript aufschaute, 111
sah ich in gespannte Gesichter. Sechzig Zuhörer hatte ich mit der ersten Fassung der Minoa entführt in eine Welt, die vor dreieinhalbtausend Jahren untergegangen war. Die Gastgeber, Cornelia und Kai, hatten Minoa zu Ehren ein griechisches Büfett hergerichtet. Aus dem Wintergarten dufteten in Öl eingelegte Oliven, gefüllte Weinblätter, Ziegenkäse, gegrillte Lammstücke, frittierte Auberginen- und Zucchinischeiben, warmes, knuspriges Weißbrot. Julian, der Sohn des Hauses, lief, griechischen Wein ausschenkend, zwischen den Partygästen umher. Die blätterten schon in Atlanten und Lexika, sie wollten mehr über das ›Amerika der Bronzezeit‹ erfahren. Ich sollte ihnen doch sagen, wo Minoas Reise endete und was aus der jungen Frau geworden war. Ich war die einzige, die es wußte. Minoa hatte es mir in Akrotiri gesagt.
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Bis in die Wurzeln Es regnete, und ihr Haar wurde naß. Kein richtiger Regen, sondern Nieseln, das die einzelnen Strähnen mit einem verwischten Schleier überzog, sich zu dicken Tropfen verdichtete und auf die Kopfhaut rutschte. Sie konnte schon spüren, wie es sich dort ausbreitete und wie Insektenbeine anfühlte. Ihr Haar wurde von seinem Gewicht flach, dunkelte unter dunklem Himmel von Rotbraun zu verschwommenem harzigem Bernsteinschwarz. Alice hatte immer schon üppiges Haar. Selbst die frühesten Babyfotos zeigten es: kleines Gesicht, das sich unter einer schweren Wolke vorkämpfte. Weißblond war es gewesen. Soviel hatte man ihr erzählt, und auf den Fotos konnte sie sehen, daß es stimmte; Haar, passend zu den gestärkten Rüschen unter blendendem Scheinwerferlicht. Was nicht zur Tolle gekämmt war, stand kraus ab, als sei das Kind an eine Steckdose angeschlossen oder vom Blitz getroffen, was den spukhaften Angst- und Schreckensblick erklärte. Wie sehr sie sich mühte, Augenbrauen konnte sie nicht erkennen. Wahrscheinlich waren sie auch weiß. Aschblond, Erdbeer, Ingwerrot. Es wurde dunkler, und es wurde länger. In der Grundschule trug sie die Last seines rückenlangen Wusts, gebürstet, gezähmt und mit mütterlicher Willensanstrengung zu einem dichtgebundenen Zopf geflochten. Dennoch, er rutschte aus der Schleife und begann hinter ihr zu sprießen, wenn sie kreischend über den Spielplatz lief. 113
Abende wurden mit reuig gesenktem Kopf vorm Kamin verbracht, gefangen zwischen Mamas Knien, Knoten wurden ausgekämmt, fluchend, das Feuer anfauchend. Je länger es wurde, desto widerspenstiger wurde es. Was genug war, war genug. Sie bekam ihren ersten Friseurhaarschnitt mit elf: eine neue Uniform und ein neuer Mensch für die große Schule. Sie wurde an die Hand genommen, zu Carrino gebracht und der Friseuse übergeben - Mama hatte etwas anderes vor. Alice dämmerte es, daß sie Angst hatte zuzuschauen. Im Spiegel sah sie den vertrauten Mantel sich entfernen, in ein Lichteck treten, dann aus ihrem Blickfeld verschwinden; die Tür schnappte wie eine Sperre ein. Alice blieb in Betrachtung ihres einsamen Ichs zurück und plötzlich, voller Aufregung, war ihr bewußt, daß dies ein Endpunkt war. Letzter Schnappschuß der Kindheit. Sie schloß die Augen und hörte die Schere schneiden. Alice hatte damals gewußt, hatte es auch so gesagt, sie würde nie das Gefühl vergessen, das der erste Schnitt auslöste: als sei ihr Kopf ein Korken, der vom Boden eines Wasserbeckens hochstieg. Die Friseuse gab ihr den sich noch ringelnden Zopf zum Halten: ein dickendiger Rasierpinsel, der im vom Gummiband umfaßten Nichts endete. Sie umklammerte ihn für den Rest des Schneidens, während im Spiegel eine andere auftauchte. Ein langer Hals, sehr weiß wegen der fehlenden Sonne, war im Dunkeln wie ein stiller Pilz gewachsen. Das Gesicht war sehr schmal und klein, umgeben von einem kastanienbraunen Lockenschopf. Sie stellten sie hin und bürsteten die Schnipsel weg, händigten sie dann wieder 114
aus. Mama ließ sie den Zopf behalten, und sie nahm ihn mit nach Hause und legte ihn in einen Schuhkarton; behielt ihn und nahm ihn ab und zu heraus, erinnerte sich, wer sie einmal war. Dann fing Mama an und nannte es Das Ding, hegte Abneigung gegen das kostbare Stück, verfilzte Zauberschlange, doch als es verschwand, gab niemand zu, es weggeworfen zu haben. Es spielte eigentlich keine Rolle: es fiel erst Jahre später auf, und da war das Haar schon wieder lang. Dem ersten Schnitt folgte frisches Wachstum. Soviel - zwei Jahre später brauchte Carrinos Friseuse so lange zum Frisieren, daß Alice zum Schulball zu spät kam. Sie huschte schüchtern und steif vor Haarspray in die knarrende Turnhalle mit dem tosenden Grand Old Duke und unerlaubten Küssen. Sie war nie ein ausgelassenes Kind gewesen, aber sie machte mit. Amüsierte sich auch: sah gut aus in ihrem hausgeschneiderten Samtkleid mit gestärktem Kragen, aber nach Hause ging sie allein. Keiner konnte durch die Stirnfransen ihre Augen sehen, das erweckte Mißtrauen. Alice mochte es so. Es brachte auch Nachteile mit sich. Sie erinnerte sich an die immergleichen kleinen Jungen, die ihren Rattenschwanz gejagt und gerupft, gehofft hatten, daß sie schrie, was sie nie tat. Hatte sich die Lippen blutig gebissen, den Schmerz gefangen mit trotzigem Mund, wild entschlossen, ihn für sich zu behalten. Und einmal hatte eine Spinne darin festgesessen, ein dunkler zappelnder Umriß im roten Netz, hatte sie angstgeschüttelt, erstarrt und tatenlos. Ein Junge wieder, diesmal ein Verwegener, der sachte zu Werk ging, kam ihr zu Hilfe. Er befreite sie 115
und die Spinne, entließ sie als Einzelwesen, ohne daß irgendwer Schaden erlitt. Sie kniff die Augen zusammen. War es Charles gewesen? Vermutlich. Vierte Klasse, es war also mehr als wahrscheinlich. In jenem Jahr hatte sie aus Spaß ihr Haar gefärbt, zweimal und zwei Farben, bevor sie ihm ohne weiteren chemischen Eingriff wieder seinen Willen ließ. Die Farbstreifen waren zu sehen, wenn du genau hinsahst, und er mußte genau hinsehen, um die Spinne zu fangen. Lange rote Laufmaschen, die in kastanienroten Wellen aus einem geraden weißen Mittelscheitel über ihre Schultern quollen. Sie hatten alle gleich ausgesehen. Sie hatte noch ein Klassenfoto aus der Sechsten: eine Reihe älterer Schülerinnen mit gleichgeteilten Köpfen und spitzen Gesichtern, gelangweilt in die Kamera blikkend. Sie war in der ersten Reihe, modisch schmollend und im Minirock; ans nächste Mädchen gelehnt wie eine langbeinige Buchstütze. Das andere Mädchen wohnte jetzt woanders: zwei kleine Kinder und kein Mann. Das Lächeln war sicher weggeblasen. Was den Rest anging, wußte Alice wenig oder nichts; kümmerte sich nicht um alte Bekannte. Das hatte ihre Mutter getan, und es war ihr selbstverständlich erschienen, solange die Frau noch lebte. Bestandteil der Besuche zu Hause, der langweiligen Leier über Geburten, Hochzeiten, bedeutende Ereignisse. Skandale. Bis sie selbst einer wurde und zu einem Mann zog, in Sünde lebte, in Charles’ Wohnung. Komisch, wenn sie es genau bedachte. Sie hatte sie nie ihre genannt, trotz all der Arbeit und Mühen. Immer Charles’ Wohnung, wo sie helle Bartstoppeln aus dem 116
Waschbecken gewischt hatte, Laken geglättet, neue Kissen genäht und Kochen gelernt. Damals war es ihr nie aufgefallen, und jetzt war es zu spät. Sie nahm sich vor, zum Friseur zu gehen, in der Woche als sie wegging - alles kurzsäbeln zu lassen, weil er es lang gemocht hatte. Aber der Bruch hatte ihrem Gesicht zugesetzt, und bei dem Gedanken, den Blick in die Spiegel draußen aushalten zu müssen, grauste sie. Statt dessen blieb sie zu Hause, tapezierte ihre eigenen beängstigenden Wände, an einem Ort, den sie als ihr Heim begreifen mußte. Sie übte Lächeln im Glanz des sauberen Badezimmerwaschbeckens, freute sich über einzelne seiner blonden Haare auf ihren Pullovern. Fand sie erstaunlich lang. Auch wenn sie manchmal nicht echt waren. Es regnete noch. Nieselte nun und sickerte ihr über den Kopf wie schmelzender Sirup. Alice war gereizt. Es war sinnlos, machte es nur noch schlimmer. Was tat sie hier draußen bei diesem Wetter? Etwas, damit die Depression wegging, vielleicht machte sie Fotos: Der leblose Metallklumpen von Apparat schubste gegen ihre Hand in der Tasche. Die anderen waren weit voraus. Nein, es half nichts: sie fühlte sich nicht besser, und das ständige Geniesel steigerte ihren Verdacht, daß sie sich allein zum Narren hielt. Die Rücken der Leute auf der Straße näherten und entfernten sich nicht. Einen Augenblick schienen sie sie einzuholen und im nächsten schwankten sie wie hastig bewegte Filmbilder und waren wieder unerklärlich weit weg wie zuvor. Es verschwamm vor ihren Augen - ein Nebeneffekt, der die Sache verschleierte. Verdammte Pillen. Sie fragte 117
sich, ob sie sich zum Weitergehen zwingen sollte, gegen den kalten, widerlichen Jeansstoff an ihren Beinen ankämpfen und sie einholen, als sei sie nur stehengeblieben und hätte die Schuhe zugeschnürt, die Aussicht bewundert. Doch sie umging die Idee einfach. Die eigene Gesellschaft war in dieser Stimmung am sichersten. Nach diesem Entschluß ging es ihr viel besser. Sofort hörte sie auf zu gehen, hörte auf, sie einzuholen, und stand still mitten auf der Straße. Erleichterung erfaßte ihren Rücken, ihren Nacken, Wärme und Zuneigung für die verschwindenden Gestalten vorn. Laß sie gehen. Und so sollte es sein. Alice stand da und sah die vertrauten Rücken wie im Spiegel verschwinden. Sie schloß die Augen und hörte, wie ihr Absatz im Straßenschotter kehrtmachte; öffnete sie. Und da stand der auseinandergebrochene Baum; gespalten und gen Himmel gesprengt. Ihre Lippen wurden blutrot, als sie lächelte. Das war ein Gruß. Der Baum wartete. Alice trat auf den Erdwall, eine Hand ausgestreckt und mit feuchten Augen. Der Baum glitzerte im Regen. Üppig rot und in Grau gehüllt. Pilzbelag wucherte aus allen Höhlungen außer einer, und auf die bewegte sie sich zu. Ein Loch wie eine Augenhöhle, mit einer geschwollenen Rindenlippe und Moos, das die Wunde noch roher scheinen ließ. Es würde weh tun, aber es mußte sein. Sie spannte die Armmuskeln an, winkelte den Arm; in ihren Ohren sirrte es metallisch, sie machte eine hohle Hand, bereit zu empfangen. Alice würgte ihre Angst hinunter, holte aus und schob zwei gekrallte Finger ins Loch. Es war voll Haar.
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In meinem nächsten Leben Dies ist eine Liebesgeschichte. Obwohl Abby und ich nie ein Liebespaar waren. Mir kommt es komisch vor, das sagen zu müssen, denn ich habe noch nie ein Verhältnis mit einer anderen Frau gehabt. Aber mit Abby wäre es denkbar gewesen. Natürlich, mit Abby war alles denkbar, und ich frage mich oft, ob wir ein Verhältnis miteinander gehabt hätten, wenn sie nicht krank geworden wäre: ob nicht eines Tages unsere Umarmungen und Berührungen stillschweigend in etwas anderes übergegangen wären. An unserer Beziehung hätte sich dadurch wohl nichts grundlegend geändert, aber es hätte trotzdem wunderschön sein können. Es war der Sommer, in dem ich mir den Lebensunterhalt mit biologisch angebauten Gartenprodukten verdiente. Ich hatte einen kleinen, aber treuen Stamm von Kunden, die sich die Ware bei mir abholten, wodurch ich mich finanziell über Wasser halten konnte. Ich betrieb einen Tauschhandel mit Carvers Bäckerei - Tomaten gegen Brot - und auch mit den Farmern auf dem Markt von Salt Lake City - frische Kräuter gegen Hühner und Lebensmittel. Ich baute für omas, meinen Vermieter, und dessen Freund, die beide Aids hatten, Quecken an. Ich tauschte mit Larry von der Mühle bei Purina soviel Mais, wie seine Kinder essen konnten, gegen Hafer für meine Stute. Sie war genauso wild wie starrköpfig, und ich hätte sie, wie mir die meisten meiner Freunde rieten, öfter draußen wei119
den lassen oder aber erschießen sollen, wie mir der Rest empfahl, aber ich war fest überzeugt, daß sie und ich ein prima Gespann abgeben könnten, wenn wir bloß mal am selben Tag gut aufgelegt wären. Abby trug das lange schwarze Haar zu einem Zopf geflochten, und ihre Augen hatten die Farbe von polierter Jade. Ihre Schultern waren rund wie die einer Schwimmerin, dabei fürchtete sie sich vor dem Wasser, und sie hatte flinke und zierliche Hände, die dennoch unglaublich kräftig wirkten. Ich begegnete ihr in einer Pferdeklinik in Salt Lake City, wo sie Kurse gab und wohin ich wegen meiner verrückten Stute gefahren war. »Es gibt keine von Natur aus problematischen Pferde«, sagte Abby. »Jemand hat deine Stute zu dem gemacht, was sie ist.« Während ich beteuerte, ich hätte meinem Pferd bestimmt keine schlechten Angewohnheiten beigebracht, fragte ich mich, ob ich es nicht vielleicht doch getan hatte. Abby hatte eine Art, mich anzusehen, in mich hineinzusehen, die in mir das Gefühl erzeugte, es sei immer das genaue Gegenteil von dem wahr, was ich sagte. »Drei Dinge muß man beachten, wenn man mit Pferden arbeitet«, belehrte Abby die Frauen in ihrem Kurs. »Verlangen, empfangen, geben.« Sie betonte die Wörter und trennte sie durch Atempausen. »Klingt irre einfach, nicht?« Ich glaube, ich habe mich beim Reiten noch nie so angestrengt wie an dem Tag in der Klinik. Abby war ruhig, selbstsicher, ihre Sprache voller Bilder. »Deine Arme und 120
Hände sind wie fließendes Wasser«, sagte sie. »Laß das Wasser über dein Pferd strömen. Laß die Knöpfe von deinem Hemd aufspringen, laß deinen Körper wie Eis schmelzen und das Mark aus deinen Knochen tropfen.« Meine Stute reagierte auf die Kombination aus meinen Signalen und Abbys Worten. Sie bewegte sich mit sicherem, geschmeidigem Schritt, durchgebogenem Rücken und in gleichmäßigem, straffem Rhythmus. »Fang die Energie auf, tu so, als würdest du ein Baby im Arm wiegen«, sagte Abby. »Laß deine Finger in den Himmel wachsen. Flieg mit deinem Pferd. Fühl, wie du tanzt.« Sie widmete sich einer Frau nach der anderen. »Ruf den großen Geist an«, sagte sie. »Schärfe dein Bewußtsein, verinnerliche, laß dich gehen.« Als wir am Ende des Tages im Schritt nebeneinanderher ritten, sagte Abby zu mir: »Du bist eine wirklich schöne Frau. Erzähl mir, was du sonst so machst.« Ich erzählte ihr, daß ich nebenher Banjo spielte, in einer Gruppe, die bei Leuten meines Alters nur mäßig beliebt, bei den älteren Herrschaften im Fallen Arches Square Dance Club jedoch der absolute Hit war. Abby sagte zu mir, vor Musikern hätte sie schon immer großen Respekt gehabt. Sie sagte auch, ich hätte Haar wie aus dem Mittelalter. Gleich am ersten Tag, den ich nach dem Kurs mit Abby verbrachte, gestand ich ihr, daß die Bekanntschaft mit ihr mein ganzes Leben verändern werde. Dies fand sie anscheinend weder bedrohlich noch überraschte es sie; bestenfalls fühlte sie sich auf verhaltene Weise gesch121
meichelt. »Das Leben gibt uns im richtigen Moment, was wir brauchen«, sagte sie. »Ob man es annimmt, das ist allerdings eine ganz andere Geschichte.« Wir hatten uns beide mit Männern eingelassen, die nichts taugten: Bei dem einen waren Drogen schuld, beim anderen der Alkohol, und bei beiden der Charakter. Trotzdem gab es ein paar Unterschiede. Abby lebte mit ihrem Freund, der Roy hieß, zusammen, ich wohnte allein. Roy war immerhin nett und treu, mein Freund, der Hardin hieß, war es nicht. Ich sagte zu omas: »Ich habe eine Frau kennengelernt, in die ich mich verlieben würde, wenn sie ein Mann wäre.« Aber Abby war nun mal kein Mann. Trotzdem verliebte ich mich in sie. Sie hätte sich wahrscheinlich geweigert, es so zu definieren, aber ich glaube, sie war auch ein bißchen in mich verliebt. Einmal, am Telefon, als wir uns nicht ganz sicher waren, ob wir uns alles gesagt und uns schon voneinander verabschiedet hatten, behielten wir beide den Hörer in der Hand und atmeten leise, bis sie sich endlich einen Ruck gab und fragte: »Bist du noch dran?« »Was für alberne Weiber wir sind!« sagte sie, als wir endlich zu lachen aufgehört hatten. »Zwei alberne Weiber, die sich schrecklich danach sehnen, Freundinnen zu sein.« Obwohl Abby nur zu einem Sechzehntel CherokeeIndianerin war und selbst das nicht verbrieft, glaubte sie an die Medizin der amerikanischen Ureinwohner. Sie hatte sich auf die Heilmethoden der Schamanen spezialisiert. Bei den Schamanen wird Heilung durch sogenannte 122
Seelenreisen erzielt, die der Kranke mit Hilfe unablässigen Getrommels in die untere oder obere Welt unternimmt und auf der ihn sein Totemtier begleitet. Das Totemtier dient dem Patienten als Dolmetscher, Beschützer und in vielen anderen Funktionen. Diese Tiere, so glaubt man, haben Erbarmen mit uns Menschen, weil wir um uns herum so ein Durcheinander anrichten. Die lehrreiche Erfahrung findet in dem Energiefeld statt, in dem sich Mensch und Tier begegnen. Eine junge weiße Frau aus New Jersey wie ich wäre nicht unbedingt von allein darauf verfallen, sich von einem Büffel als Reisebegleiter in die Unterwelt führen zu lassen, aber alles, was aus Abbys Mund kam, war für mich Magie. Wenn sie zu mir gesagt hätte, die Welt ist eine Scheibe, hätte ich es irgendwie geschafft, daran zu glauben. Während Abby mich in der Heilkunst der Medizinmänner unterwies, versuchte ich, auf Seelenreise zu gehen. Abby schlug für mich die Trommel. Eine Rassel in der Hand, tanzte sie um mich herum und ließ Kraft in mein Brustbein und durch meine Schädeldecke strömen. Das Getrommel beeinflußte meinen Gemütszustand, soviel stand fest, doch es gelang mir nicht, etwas zu sehen, das ich eindeutig hätte definieren können. Wenn ich den Unterarm fest gegen meine Augäpfel preßte, sah ich flirrendes Licht. Aber einen Tunnel? Eine andere Welt? Nein, es wollte mir einfach nicht gelingen, Tiere und Geister heraufzubeschwören. »Jeder Mensch hat ein unterschiedlich starkes spirituelles Potential«, sagte Abby, »bei manchen dauert es eben eine Weile. Du darfst dich dadurch nicht entmutigen las123
sen.« Also versuchte ich immer wieder, in den schemenhaften Formen hinter meinen Augenlidern etwas Konkretes zu erkennen, und wenn ich ihr dann schilderte, was ich gesehen hatte, frisierte ich die Wahrheit ein bißchen. Ich wollte Abby überallhin begleiten können. Ich hatte Angst, sie könnte jemanden finden, der ein größeres spirituelles Potential besaß als ich. »Du siehst die Dinge jetzt auf eine Weise, wie du sie noch nie gesehen hast«, sagte Abby. »Du weißt nur noch nicht, wie du sie erkennen sollst. Es ist eben nicht wie ein Zeichentrickfilm, den du mit geschlossenen Lidern siehst. Und auch nicht wie Fernsehbilder im Großformat.« Irgendwann fing mein Verstand an, die Dinge, die ich sah, logisch miteinander zu verknüpfen. »Da war ein Bär«, sagte ich beispielsweise. »Er rannte weg und kam wieder.« Abbys grüne Augen zwangen mich, sie anzusehen. »Ein großer weißer Bär, der auf zwei Beinen laufen konnte.« Als ich diese Worte sagte, bildete ich mir ein, ich hätte es wirklich so gesehen. »Er schlug Purzelbäume und wälzte sich in den Blaubeersträuchern.« Ich hatte zwar nicht das Gefühl zu lügen, aber wie die Wahrheit kam es mir auch nicht vor. Eines stand fest: Ich glaubte an das, was Abby sah. Wenn sie behauptete, sie steige zu den Sternen auf und fliege ihnen bis nach Südafrika hinterher, oder sie tanze mit ihren Vorfahren auf den Dächern von Paris, oder sie und ihr Totemtier liebten sich in Sibirien im Schnee, dann glaubte ich ihr. Ich glaube es auch jetzt noch. Abby war keine Lügnerin. 124
Aber bei Abby war nicht nur Magie im Spiel. Sie war zartfühlend und lustig und sprach vor allem mit den Händen. Ihr Kartoffelpüree war köstlich. Sie hatte Examen in Botanik, Biologie und Kunstgeschichte abgelegt. Und die Pferde, Abby liebte ihre Pferde mehr als jedes Totemtier, das sie mit ihrer Phantasie herbeizaubern konnte. »Indianer glauben nicht an die Phantasie«, erklärte sie mir. »Sie haben nicht mal ein Wort dafür. Wenn du das erst richtig begriffen hast, wird alles viel einfacher.« Wir waren auf den Berg hinter meinem Haus gestiegen, weit über die alte Silbermine hinaus, und lagen auf einer vom Mond beschienenen Wiese. Abby streute ein paar Handvoll Maismehl auf den Boden. »Ich füttere mein Totemtier«, sagte sie. »Damit es weiß, daß ich es hier und jetzt brauche.« Ich machte für Abby jede Menge frische Salsa, Pesto und Spaghetti-Soße. Ich brachte ihr Kürbisblüten, rote Pfefferschoten und Pferdemais mit, damit sie sich daraus eine Halskette basteln konnte, wie ihr Totemtier es ihr geraten hatte. Sie erzählte mir von Tracy, ihrer Zimmergenossin im College, vor mir ihre beste Freundin, wie sie sagte. Tracys Ehe sei in die Brüche gegangen, weil Tracy ein Verhältnis mit einer Frau angefangen habe und Steve, ihr Mann, damit nicht klargekommen sei. Sie hätten alles versucht und sogar eine erapie zusammen gemacht, doch Tracy habe am Ende die Frau ihrem Mann vorgezogen. »Sie sagte, sie habe sich nie vorstellen können, jemals 125
was mit einer Frau zu haben«, sagte Abby, »aber dann hätte sie sich einfach in die andere verliebt.« Ich mußte an meinen Freund omas denken. Daran, wie wütend er jedesmal wird, wenn jemand zu ihm sagt, er respektiere, daß er sich für das eigene Geschlecht entschieden habe. »Das hat nichts mit einer Entscheidung zu tun!« höre ich omas sagen. »Glaubt ihr etwa, ich hätte das getan, wenn ich die Wahl gehabt hätte?« Ich frage mich, ob es bei Frauen nicht doch mit einer Entscheidung zu tun hat. Gibt es denn nicht Frauen, die irgendwann aufwachen und es satt haben, immer wieder eine unüberbrückbare Kluft überbrücken zu müssen? Frauen, die mit der Bereitschaft aufwachen, jemanden zu umarmen und von jemandem umarmt zu werden, der weiß, worauf es ankommt? »In meinem nächsten Leben«, war omas’ Lieblingsspruch, »werde ich eine Lesbe.« »Genau das habe ich getan«, sagte meine Freundin Joanne, die ich seit fünf Jahren kannte, als ich sie nach ihrer Meinung fragte - als hätte ich schon immer gewußt, daß sie eine lesbische Beziehung hatte. »Mit Isabelle. Es war wunderschön, zumindest eine Zeitlang. Aber es passiert ganz schön oft, daß man sich irgendwo tief drinnen doch zu Männern hingezogen fühlt und zu ihnen zurück will. Dann mußt du mit einem ganz neuartigen Schuldgefühl klarkommen. Du verletzt nämlich jemanden aus deinem eigenen Lager, jemanden, der dich wirklich kennt und genau besehen so ist wie du.« »Es gibt eine Menge Dinge, die interessanter sind, als 126
sich zu verlieben«, sagte Abby. »Sollten Roy und ich uns trennen, möchte ich mit lauter Frauen in einem Haus zusammenleben, mit alten und jungen, Teenagern und Babys. Ist es im Vergleich dazu nicht langweilig, sich zu verlieben?« Ich mußte zugeben, daß es so war. Wir kämpften beide darum, aus unserem Abhängigkeitsverhältnis herauszukommen. Ich hatte es noch nicht so weit gebracht wie Abby. »Mit der Abhängigkeit ist das so eine Sache«, sagte sie. »Oft stellt sich heraus, daß das, was dich abhängig macht, und das, was du tun mußt, um nicht mehr abhängig zu sein, dasselbe ist.« »Und wo bleibt in einem Haus voll Frauen der Sex?« fragte ich. Wir saßen auf ihrem Sofa schräg hintereinander, wie Kinder auf einem Rodelschlitten. Sie flocht mein mittelalterliches Haar zu einem Zopf, löste ihn aber wieder. »Ehrlich gesagt macht mir das am wenigsten Sorgen«, meinte sie. »Das sagst du jetzt«, widersprach ich, »aber ich glaube, wenn du ein paar Jahre darauf verzichten müßtest, würdest du anders darüber denken.« »Ja, vielleicht hast du recht«, sagte sie und zupfte an meinem kurzen Nackenhaar. »Vielleicht würde wegen Sex ein Riesenchaos entstehen.« Wir hatten uns erst drei- oder viermal getroffen, als mir Abby von dem Knoten in ihrer Brust erzählte. »Den habe ich schon lange«, sagte sie. »Seit zwei Jahren, schätze ich, 127
aber mein Totemtier sagt, es ist kein Krebs. Außerdem wird er größer, wenn ich meine Tage habe, und danach wieder kleiner. Ein Krebsgeschwür tut das nicht.« Als sie schließlich zum Arzt ging, meinte auch er, er sei sich zu neunundneunzig Prozent sicher, daß es sich bei dem Knoten nicht um ein ›malignes Geschwür‹ handele (das Wort mit ›K‹ gebrauchten Ärzte offenbar nicht mehr), aber sicherheitshalber wolle er ihn trotzdem lieber entfernen. Am Abend vor der Biopsie kochte ich Abby ihr Lieblingsessen: drei verschiedene Kürbisarten, Hahnenfuß, Walnüsse und Ahornblätter. »Manchmal beneide ich Hardin«, sagte ich. »Er lebt an der Oberfläche, und da ist er glücklich. Wer bin ich, um ihm vorzuschreiben, was für ein Leben er führen soll? Dazu müßte ich mit all meinem Tiefgang es erst mal fertigbringen, genauso glücklich zu sein wie er.« »In der Grundschule hatte ich eine Freundin, die hieß Margaret Hitzrot«, sagte Abby. »Einmal, auf einem Skiausflug, lösten wir mit unserem Auto eine Massenkarambolage aus, bei der sich einundzwanzig Fahrzeuge ineinander verkeilten. Unser Auto kam ins Schleudern und prallte gegen eine Schneebank, wurde aber nicht beschädigt. Als wir nach hinten schauten, sahen wir, wie die Kombis, Pick-ups und VW-Busse ineinanderfuhren, daß es nur so krachte, sie drehten sich und prallten aufeinander. Mrs. Hitzrot fragte: ›Was meinst du, Margaret, sollen wir warten, bis die Polizei kommt?‹ Und Margaret antwortete: ›Wenn wir nicht im Skigebiet ankommen, bevor die Lifte öffnen, ist der ganze Tag im Eimer.‹ Also stiegen wir ins 128
Auto und fuhren weiter.« »Das ist nicht die schlechteste Art zu leben«, meinte ich. »Das Dumme an der Oberfläche ist«, sagte Abby, »daß sie so glatt ist. Wenn du erst einmal runtergerutscht bist, schaffst du es nicht, wieder raufzuklettern.« Auf der weißen Unterseite ihrer Arme hatte Abby Narben, dünn und fein wie orientalische Schriftzüge, die fast bis zu den Ellbogen reichten. »Das ist lange her«, erklärte sie. »Kein Selbstmordversuch. Mein Stiefvater hatte ein paar schwere Probleme. Sexueller Mißbrauch, das ging ziemlich lange so. Aber ich habe nie daran gedacht, mich umzubringen. Ich wollte bloß, daß ich blute.« Nach dem Abendessen ritten wir zu unserer Lieblingswiese. Abby ritt mein Pferd, das in ihren Händen zu Wachs wurde. Ich saß auf einem von ihren Pferden, einem großen grauen Wallach, verläßlich wie ein Fels in der Brandung. Von Zeit zu Zeit sagten wir, daß wir gleich tauschen würden, jetzt, wo meine Stute gebändigt war, aber ich hatte es damit nicht eilig. Ich hatte Angst, daß meine Stute in ihre schlechten Angewohnheiten zurückfallen und Abby deshalb enttäuscht sein könnte. So etwas hatte ich einer Frau gegenüber noch nie empfunden, diese Riesenangst, schlecht dazustehen. Ich war deprimiert an diesem Abend. Hardin war bei einer anderen Frau, in einem anderen Staat, und wenn ich daran dachte, drehte ich derart durch, daß ich mir um mich selbst Sorgen machte. »Du hast Hardin deine ganze Kraft gegeben«, sagte Abby. »Du mußt etwas tun, um sie zurückzubekommen.« 129
Wir setzten uns unter den sternenübersäten Himmel, und Abby sagte, sie würde gern Seite an Seite mit mir eine Reise machen, sozusagen mir zuliebe mitreisen. Also legten wir uns nebeneinander so auf den Boden, daß sich unsere Schultern, Knie und Hüften berührten. Wir banden uns bunte Tücher um den Kopf, und Abby zog ihren Walkman und die Kassette mit dem Getrommel aus der Satteltasche. »Du solltest dich nicht zu dieser Reise zwingen«, sagte sie. »Überlaß mir die Arbeit, und wenn du spürst, daß es losgeht, laß dich reingleiten. Laß es einfach passieren.« Eine Zeitlang beobachtete ich, wie sich auf der Innenseite meiner Augenbinde weiße Flecken hin und her bewegten, während Abbys Atem sich zuerst beschleunigte, dann stabilisierte und schließlich verlangsamte. Nach einer Weile sah ich ein ruhiges Leuchten und darunter ein Flimmern. Es war meine erste richtige Vision, daran war und ist nicht zu rütteln. Es ist wie Mondlicht auf Granit, dachte ich, leuchtend, reglos und kalt. Abby kam langsam wieder zu sich. Ich drückte auf die Stoptaste. »Deine Kraftquelle ist der Mond«, sagte sie. »Das hat mir ein Bär gesagt. Ein riesengroßer Bär, der kleiner und kleiner wurde. Er war bunt wie Licht, das durch ein Prisma fällt. In fünf Tagen ist Vollmond. Dann mußt du raus und dich ins Mondlicht stellen. Trink es, laß dich von ihm durchfluten! Nimm vier Steine mit und laß sie das Mondlicht aufsaugen. Hier ist der erste.« Sie drückte mir ein Tigerauge in die Hand. »Die drei anderen mußt du selbst finden.« 130
Einen Blumenstrauß in der Hand, betrat ich die Chirurgische Abteilung. Ich entdeckte Abby in einem Bett am Ende des Saals. Sie war hellwach und winkte mir zu. »Du hast mir Blumen mitgebracht?« sagte sie. »Ja, Zuchtblumen, aber ich habe sie so hergerichtet, daß sie wie frisch aus der Natur aussehen«, sagte ich. »Wie geht es dir?« »Gut«, antwortete Abby. »Gar nicht so übel.« Der Arzt kam rein und beugte sich wie ein alter Freund über ihr Bett. »Der Knoten war ein Tumor, Abby«, sagte er. »Ein Tumor?« fragte sie. »Was für einer?« »Ein bösartiger«, erwiderte er. »Krebs.« (So, das war er los.) »Hören Sie, von all den Knoten, die ich heute entfernt habe, und es waren insgesamt fünf, war ich bei Ihrem am wenigsten auf eine bösartige Geschwulst gefaßt.« Sein Piepser piepste, und er verschwand hinter dem Vorhang. Es dauerte eine Weile, aber dann drehte Abby den Kopf zu mir hin und sah mir in die Augen. »Aha, Krebs«, sagte sie. »Mein Totemtier hat sich also geirrt.« Nachdem ich Abby zu Hause in ihr eigenes Bett gepackt hatte, fuhr ich den langen Weg übers Gebirge nach Hause. Heute war John Lennons fünfzigster Geburtstag, und deshalb brachte das Radio eine Sendung, die weltweit von vielen Sendern gleichzeitig ausgestrahlt wurde, die längste aller Zeiten, eine Sendung, die mehr Leute erreichte als jede andere zuvor. Sie wurde live aus dem UNO-Gebäude übertragen. Yoko Ono las ein Gedicht vor, und dann wurde Imagine gespielt. Zum erstenmal weinte ich um John 131
Lennon. Abby rief mich mitten in der Nacht an. »Ich weiß, es klingt verrückt«, sagte sie, »aber ich kann ohne meinen Knoten nicht einschlafen. Ich hätte den Arzt bitten sollen, ihn mir zu geben. Ich hätte ihn mit nach Hause nehmen und unter mein Kissen legen sollen«, sagte sie. »Was, glaubst du, ist mit ihm passiert?« Vor der zweiten Operation, bei der Abby beide Brüste abgenommen und die Lymphknoten untersucht werden sollten, fuhr ich mit ihr in den Süden von Utah zu dem Stück Land, das ich mir mitten im Nirgendwo gekauft hatte, weil mir die Gegend gefiel und es mir ein Gefühl von Sicherheit gab, so etwas zu besitzen. Meine sechs Hektar mitten in der Wüste, wo es so gut wie nie regnet, aber wenn, dann viel zu stark, und wo es dafür um so häufiger schneit, so daß die Kirschblüten erfrieren, oder so stark hagelt, daß man sich auf der ungeschützten Haut blaue Flecken holt. Hier wuchsen vor allem Salbei und Wacholder und ein paar Kakteen. Abby stemmte die Füße so fest auf den Boden, als wollte sie Wurzeln schlagen. Zwei Raben flogen über unsere Köpfe hinweg und verfolgten einen kleineren, blaugrauen Vogel. Krächzen, das Geflatter von Flügeln, und dann segelte ein Büschel Federn herab und landete vor Abbys Füßen. Drei Federn klebten zusammen, und an den Spitzen hing je ein Tropfen Blut. Abby fing an zu singen, sie tanzte zu einem Lied, das sie erfand, während sie sich in östlicher Richtung bewegte. »Warum singt und tanzt man?« hatte sie mich einmal 132
gefragt. »Um die Lebensgeister zu wecken, oder?« Sie lachte. »Deshalb singe ich auch«, sagte sie. »Genau deshalb.« Sie sang dasselbe Lied in alle vier Himmelsrichtungen, und machte, die grauen Vogelfedern ins Haar gesteckt, nach allen Seiten dieselben Tanzschritte. Die Worte fallen mir nicht mehr ein, es war halb Englisch, halb Navajo. Es ging um Licht, daran erinnere ich mich, und auch um rote Erde und Freude. Als sie zu tanzen aufhörte und sich wieder dem östlichen Horizont zuwandte, ging der Vollmond auf und stieg ihren Händen entgegen. Abby sah winzig und verloren aus in dem riesigen Bett, zwischen all den Geräten, an die sie angeschlossen war. »Wie fühlst du dich?« fragte ich. »Nicht übel«, antwortete sie. »Ein bißchen matt. Die Medizinmänner glauben, daß man bei jeder Betäubung ein Stück von seiner Seele verliert«, sagte sie. »Beim Fliegen auch. Die Seele kann nämlich nicht schnell genug fliegen, sie kommt nicht mit. Und wie geht es dir?« fragte sie. »Was macht Hardin?« »Er ist heute früh nach Kanada geflogen, in die Rocky Mountains«, antwortete ich. »Er bleibt sechs Wochen weg. Ich habe ihn gefragt, ob er Lust hat, mit mir zu schlafen, und weißt du, er ist einfach nur dagelegen und hat an die Decke gestarrt. Dann hat er gesagt: ›Ich habe gerade überlegt, ob ich Lust habe oder ob ich lieber zum Eisenwarenladen fahre.‹« »Ich möchte nicht, daß du dich von ihm trennst, nur weil er solche Dinge sagt«, sagte Abby. »Ich möchte, daß 133
du dich von ihm trennst, weil er solche Dinge sagt und dabei nicht merkt, wie komisch sie sind.« Der Arzt kam rein und fing an, von Chemotherapie zu sprechen, von Knochen- und von Gehirntomographie, lauter Behandlungsmethoden, bei denen auf die eine oder andere Art garantiert ein Stück Seele verlorengehen würde. Weil ich sonst niemanden hatte, rief ich Hardin in Kanada an. »Das ist ja wirklich schlimm«, sagte er, als ich ihm erzählte, daß der Krebs die Lymphknoten befallen hatte. Und wie immer hatte er recht. Die Nächte wurden kälter, und an dem Tag, als Abby aus dem Krankenhaus entlassen wurde, pflückten sie und ich an die tausend grüne Tomaten, um sie süß-sauer einzulegen. »Ich weiß nicht, was ich Roy zumuten kann«, sagte sie. »Ich weiß, daß es ein bißchen viel verlangt wäre, Dinge wie Beistand und seelische Unterstützung von ihm zu erwarten, und deshalb habe ich mir gedacht, ich bitte ihn um etwas, was er kapiert. Ich möchte, daß er in meiner Gegenwart nicht raucht. Ich möchte, daß er den Schnee aus unserer Auffahrt schaufelt.« »Klingt vernünftig, und außerdem ist es was Konkretes«, meinte ich. »Weißt du, ich liebe ihn sehr«, sagte sie. Gott stehe mir bei, ich war eifersüchtig. Wir machten einen Spaziergang zu den Uinta Mountains, wo das Laub der Espen schon zu Boden gefallen war und unter unseren Füßen einen Teppich bildete. »Hör mal, wenn du Lust hast, dieses Jahr irgendwohin 134
zu fahren, treibe ich das Geld dafür auf, und los geht’s«, sagte ich. »Wozu gibt es Kreditkarten. Ich kann das regeln.« »Ich weiß jetzt, warum mein Totemtier gelogen hat«, sagte Abby. »Weil meine Frage einen Hintersinn hatte. Ich habe gefragt: ›Habe ich Krebs?‹, aber in Wirklichkeit meinte ich: ›Muß ich sterben?‹ Das wollte ich eigentlich fragen, und die Antwort war nein.« »Ich bin froh, daß dir das klargeworden ist.« »Ich habe einen Entschluß gefaßt«, verkündete sie. »Aber jetzt gehe ich nicht mehr zum Arzt.« Etwas, das sich wie eine kleine Bombe anfühlte, explodierte in meinem Brustkorb. »Wie meinst du das?« fragte ich. »Ich mache keine Chemotherapie«, sagte sie. »Und mit den Untersuchungen ist auch Schluß. Mein Totemtier hat gesagt, ich brauche das nicht, es kann sogar ›abträglich‹ sein - ja, genau so hat es sich ausgedrückt.« Das tote Laub unter meinen Stiefeln raschelte so laut, daß es schier nicht auszuhalten war. »Hat es das wirklich gesagt, Abby?« Ich stellte mich vor sie hin. »Hat es den Mund aufgemacht und genau diese Worte gesagt?« Sie machte einen Bogen um mich und folgte weiter dem Pfad. »Du wirst mich nicht allein lassen«, sagte sie nach einer Weile. »Selbst wenn es ganz schlimm wird.« Ich beugte mich zu ihr hin und küßte sie auf den Kopf. »Ich stehe hinter ihrer Entscheidung«, sagte ich zu omas. »Ich würde sogar gern an ihre Magie glauben, aber sie kann nicht einfach die medizinischen Forschungsergeb135
nisse mehrerer Jahrhunderte ignorieren. Das gräßliche Geschwür frißt sie langsam auf, und sie tut nichts, um es aufzuhalten.« Wir gingen im Mondlicht den Weg zur alten Silbermine hinauf, nicht weit oberhalb von meinem Haus. Es war Erntemond, und er schien so hell, daß man die Schattierungen der sich verfärbenden Blätter erkennen konnte: roter Ahorn, orangene Zwergeiche, gelbe Espe. Man konnte sogar Unterschiede zwischen den Espen feststellen, bei denen das gelbe Laub bereits einen Stich ins Braune hatte oder noch mit Grün durchsetzt war. »Sie unternimmt doch was dagegen«, sagte omas. »Allerdings nicht das, was du willst.« »Ja, sie hört auf ihr Totemtier«, sagte ich. »Sie wartet darauf, daß die Geister aus der unteren Welt sie vom Krebs befreien. Wie kann ich das ernst nehmen? Wie kann ich den Sprung schaffen?« »Du liebst Abby«, sagte omas. »Ja«, antwortete ich. Im Mondlicht wirkten die hellen Blätter vor dem dunklen Immergrün wie ein Spuk. »Und sie liebt dich«, sagte er. »Ja«, sagte ich. »Siehst du«, sagte er, »so kannst du den Sprung schaffen.« Über die nächsten Monate und darüber, wie der tückische Krebs ihrem Körper mit immer heftigeren Attacken zusetzte, möchte ich nicht reden. Auch nicht darüber, wie sie in sich zusammenfiel und zu einem Schatten ihrer selbst wurde, so daß sich das, was von ihrem Haar und ihrer 136
Haut übrig war, immer mehr verdüsterte. Wie die Lebenskraft aus ihr wich. Vielleicht will ich irgendwann darüber reden, aber nicht jetzt. Ich beobachtete, wie Abbys Zustand sich verschlechterte, und da nun kein Arzt mehr Prognosen stellte oder Erklärungen abgab, kam es mir so vor, als würde ich in einem Buch ohne Erzähler lesen oder einen Film in einer fremden Sprache anschauen. Immer wenn du glaubst, zu begreifen, was vor sich geht, verheddert sich die Handlung und wird unlogisch. Als es Roy zuviel wurde, zog er aus, und ich zog ein. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, ein paar ältere Frauen und Teenager zusammenzutrommeln oder ein paar Damen vom Fallen Arches Square Dance Club anzurufen und eine Wohngemeinschaft zu gründen, wie Abby sie sich gewünscht hatte. Das klingt alles viel dramatischer, als es war. Wir aßen jede Menge gutes Essen. Wir sahen uns eine Menge guter Filme an. Ich spielte Banjo, und Abby sang dazu. Wir lachten viel in den letzten Tagen. Mehr, möchte ich wetten, als sich die meisten Menschen vorstellen können. Schließlich weigerte sich Abby sogar zu essen. Das Leben hatte ihr all das genommen, was sie sich nehmen lassen wollte, und so starb sie schließlich sehr sanft in ihrem Zimmer, während sie durch das Fenster ihren Pferden zusah. Einmal fuhr ich auf dem Highway einen Hasen an, nur ganz leicht, fast hätte ich ihm noch ausweichen können. Es war mitten in der Nacht und sehr kalt, und ich hielt 137
am Straßenrand an und ging zu der Stelle zurück, wo der Hase im Sterben lag. Die humanste Lösung wäre gewesen, ihn zu erschießen, sagte jemand später zu mir, oder ihm mit dem Wagenheber den Kopf einzuschlagen oder noch mal über ihn drüberzufahren. Aber ich hob ihn auf und steckte ihn unter den Mantel und hielt ihn, bis er tot war. Es dauerte nur ein paar Minuten, und zu spüren, wie alles Leben schlagartig entwich, war das seltsamste Erlebnis, das ich je gehabt habe. Abby und ich sprachen nicht an dem Tag, an dem sie starb. Sie hatte für mich keine letzten Worte, mit denen ich unter alles einen Schlußstrich hätte ziehen, an die ich mich hätte klammern und nach denen ich mein Leben hätte ausrichten können. Ich hielt die letzten paar Stunden ihre Hände, und auch noch danach, bis sie kälter als Eis wurden. Fast die ganze Nacht saß ich bei ihrem Leichnam, ohne zu wissen, worauf ich eigentlich wartete. Auf einen Adler vermutlich oder einen Raben, irgendeinen riesengroßen Vogel, der im schimmernden Sternenlicht aus ihrer Brust hervorbrechen würde. Doch falls am Ende überhaupt etwas aus Abbys Körper entwich, dann in einer Form, die ich nicht wahrnehmen konnte. Zeichentrickfilme sind das, was du willst, hätte Abby bestimmt gesagt. Disneyland und Spezialeffekte. Nach ihrem Tod war ich zwei Tage lang wie gelähmt. Dabei gab es so viel zu tun, wirklich jede Menge Arbeit, aber Gott sei Dank waren andere da, die sich darum kümmerten. Nachbarn, Verwandte, Freunde. Abbys Stiefvater und ich warfen uns ein paar kurze Blicke zu, und schließ138
lich umarmten wir uns sogar, aber ich weiß nicht, ob er wußte, wer ich war, oder ob er wußte, was ich über ihn wußte. Ihre Mutter konnte ich nicht ausstehen. Vielleicht war das unfair, aber wir gingen immer so ums Haus herum, daß sich unsere Wege nicht kreuzten, und das funktionierte, bis sie nach Santa Cruz zurückfuhren. Am dritten Tag war Vollmond, und ich wußte, daß ich raus und mitten hinein mußte, denn es konnte ja sein, daß Abby mich sah, wo immer sie jetzt sein mochte. Zum erstenmal seit über einem Jahr sattelte ich meine Stute und ritt den Berg hinauf zu der Stelle, wo Abby und ich vor nicht einmal einem Jahr bei Vollmond nebeneinander gelegen hatten. Das Pferd verhielt sich ruhig, obwohl ein launischer Wind wehte und wir dann und wann das Getrappel von Hirschen hören konnten. Es benahm sich so gut, daß ich mir wünschte, ich wäre zusammen mit Abby ausgeritten, und hoffte, sie könnte uns sehen, und dann fragte ich mich, warum ich allen Anzeichen zum Trotz immer noch glaubte, Abby sei jemand, dem ich etwas beweisen mußte. Dein Körper fühlt sich an wie ein Handschuh, hätte Abby gesagt, und dein Pferd füllt ihn aus. Ich saß ab und streute ein bißchen Maismehl auf den Boden. Schärfe dein Bewußtsein, verinnerliche, laß dich gehen. Ich legte meine Steine so hin, daß jeder von ihnen in eine der vier Himmelsrichtungen zeigte. Jade nach Westen, Rauchquarz nach Norden, Hämatit nach Süden und Abbys Tigerauge nach Osten. Verlangen, empfangen, geben. Ich sang den Kiefern ein Lied und tanzte dem Himmel etwas vor. Ich trank das Mondlicht. Es durchflutete mich.
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Zwei Worte Ihr Name war Belisa Crepusculario, aber nicht auf dem Taufschein oder von ihrer Mutter her, sondern weil sie selbst nach ihm gesucht hatte, bis sie ihn fand und ihn annahm. Ihr Beruf war, Worte zu verkaufen. Sie zog durch das Land, von den höchsten und kältesten Regionen bis zu den heißesten Küsten, und richtete sich auf den Märkten ein, wo sie vier Pfähle mit einer Plane darüber aufstellte, die sie vor Sonne und Regen schützte und unter der sie ihre Kundschaft bediente. Sie brauchte ihre Ware nicht anzupreisen, denn weil sie soviel umherwanderte, kannten sie alle. Viele erwarteten sie schon von einem Jahr zum andern, und wenn sie mit ihrem Bündel unterm Arm im Ort erschien, bildete sich vor ihrem Stand rasch eine Schlange. Für fünf Centavos lieferte sie Verse zum Gedenken, für sieben verschönte sie die Bedeutung der Träume, für neun schrieb sie Liebesbriefe, für zwölf erfand sie Beschimpfungen gegen Todfeinde. Sie verkaufte auch Geschichten, aber das waren keine ausgedachten, sondern wirkliche lange Geschichten, die sie geläufig erzählte, ohne etwas auszulassen. So brachte sie die Neuigkeiten von einem Dorf zum andern. Die Leute bezahlten sie dafür, daß sie ein, zwei Worte hinzufügte: Ein Kind ist geboren, der und der ist gestorben, unsere Tochter hat geheiratet, die Ernte ist verbrannt. In jedem Ort versammelte sich eine kleine Menschenmenge um sie und hörte ihr zu, und so erfuhren sie vom Leben anderer, von den fernen Verwandten, von 140
den Kämpfen des Bürgerkrieges. Wer bei ihr für fünfzig Centavos kaufte, dem schenkte sie ein geheimes Wort, um die Schwermut zu vertreiben. Natürlich war es niemals dasselbe, das wäre ja Betrug an allen gewesen. Jeder erhielt das seine und war sicher, daß kein anderer es für denselben Zweck gebrauchte, in dieser Welt nicht und nicht jenseits davon. Belisa Crepusculario war in einer Familie geboren, die so bettelarm war, daß sie nicht einmal Namen für ihre Kinder besaß. Sie wuchs auf in der unwirtlichsten Gegend, wo in manchem Jahr der Regen sich in Wasserlawinen verwandelt, die alles mit sich fortreißen, und wo zu anderen Zeiten nicht ein Tropfen vom Himmel fällt, die Sonne wächst und wächst und endlich den ganzen Horizont ausfüllt und die Welt zur Wüste wird. Bis sie zwölf Jahre alt war, hatte sie keine andere Beschäftigung oder Fähigkeit, als den Hunger und die Erschöpfung von Jahrhunderten zu überleben. Während einer endlosen Dürre mußte sie vier jüngere Geschwister begraben helfen, und als sie begriff, daß nun die Reihe an ihr war, beschloß sie davonzugehen, durch die Ebenen zum Meer zu wandern, sie wollte doch sehen, ob es ihr unterwegs nicht gelang, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Die Erde war borkig, in tiefe Risse gespalten, übersät mit Steinen, geborstenen Baumstrünken, verdorrtem Stachelgesträuch, von der Hitze weißgebleichten Tierskeletten. Von Zeit zu Zeit stieß sie auf Familien, die gleich ihr gen Süden zogen, dem Trugbild des Wassers folgend. Einige hatten sich mit ihren Siebensachen auf dem Rücken auf die Wanderung gemacht, andere hatten sie auf Karren geladen, aber sie 141
konnten kaum sich selbst voranbringen und mußten ihre Habseligkeiten aufgeben. Sie schleppten sich mühsam dahin, die Haut zu Eidechsenleder verbrannt und die Augen vom grellen Widerschein des Lichts versengt. Belisa winkte ihnen im Vorübergehen zu, aber sie hielt sich nicht auf, sie konnte ihre Kräfte nicht in barmherzigen Taten vergeuden. Viele blieben auf dem Weg liegen, sie aber war hartnäckig und schaffte es, die Hölle zu durchqueren, und so gelangte sie schließlich zu den ersten Quellen, dünnen Wasserrinnsalen, die eine kümmerliche Vegetation speisten und im weiteren Verlauf zu Bächen und kleinen Flüssen anwuchsen. Belisa Crepusculario rettete ihr Leben und entdeckte nebenbei durch Zufall die Schrift. Als sie schon nahe der Küste durch ein Dorf kam, wehte ihr der Wind ein Zeitungsblatt vor die Füße. Sie hob das gelbe, brüchige Papier auf und betrachtete es lange, ohne zu ahnen, wozu es dienen mochte, bis die Neugier über ihre Schüchternheit siegte. Sie näherte sich einem Mann, der sein Pferd in demselben trüben Tümpel wusch, in dem sie ihren Durst gestillt hatte. »Was ist das?« fragte sie. »Die Sportseite der Zeitung«, sagte der Mann, ohne sich über ihre Unwissenheit zu verwundern. Die Antwort verblüffte das Mädchen, aber sie wollte nicht aufdringlich erscheinen und beschränkte sich auf die Frage, was die auf das Papier gemalten Fliegenfüßchen bedeuteten. »Das sind Worte, Kind. Hier steht, daß Fulgencio Barba den Negro Tiznao in der dritten Runde k. o. ge142
schlagen hat.« An diesem Tage lernte Belisa Crepusculario, daß die Worte ungebunden und herrenlos sind und daß jeder mit ein bißchen Geschick sich ihrer bemächtigen kann, um mit ihnen Handel zu treiben. Sie bedachte ihre Lage und kam zu dem Schluß, daß es, wenn sie nicht ihren Körper verkaufen oder sich als Dienstmädchen in den Küchen der Reichen verdingen wollte, nur wenige Beschäftigungen gab, die sie ausführen konnte. Worte zu verkaufen erschien ihr als anständiger Ausweg. Seither übte sie diesen Beruf aus und hatte sich niemals einen anderen gewünscht. Anfangs bot sie ihre Ware an, ohne zu ahnen, daß Worte auch außerhalb von Zeitungen geschrieben werden konnten. Als sie es begriff, erwog sie die unendlichen Möglichkeiten ihres Geschäfts, zahlte aus ihren Ersparnissen einem Priester zwanzig Pesos, damit er sie Lesen und Schreiben lehrte, und kaufte sich von den drei Pesos, die ihr verblieben waren, ein Wörterbuch. Sie arbeitete es von A bis Z durch und warf es dann ins Meer, weil sie nicht vorhatte, ihre Kunden mit eingeweckten Worten zu betrügen. Rund zehn Jahre später saß Belisa Crepusculario an einem Augustmorgen unter ihrem Zelt und verkaufte rechtliche Beweisgründe an einen alten Mann, der seit siebzehn Jahren vergeblich seine Pension einforderte. Es war Markttag, und ringsum herrschte Lärm und Trubel. Plötzlich hörte sie Schreie und trommelnde Pferdehufe, sie hob den Blick von ihrem Schreiben und sah zuerst eine Staubwolke und dann einen Trupp Reiter, der in das Dorf einbrach. Es waren Männer des Coronel, befehligt von dem Mulat143
ten, einem Riesen, der im ganzen Gebiet bekannt war für die Schnelligkeit seines Messers und die Treue zu seinem Anführer. Beide, der Coronel und der Mulatte, hatten ihr Leben im Bürgerkrieg verbracht, und ihre Namen waren unlösbar verbunden mit Zerstörung und Unheil. Die Reiter drangen auf ihren schweißnassen Pferden mit donnerndem Getöse in den Ort ein und brachten auf ihrem Weg die Schrecken eines Hurrikans mit sich. Gackernd flogen die Hühner auf, die Hunde stoben in alle Himmelsrichtungen davon, die Frauen brachten sich rennend mit ihren Kindern in Sicherheit, und auf dem ganzen Marktplatz blieb keine lebende Seele zurück außer Belisa Crepusculario, die den Mulatten noch nie gesehen hatte und sich sehr verwunderte, daß er geradenwegs auf sie zuritt. »Dich suche ich!« schrie er und deutete mit seiner eingerollten Peitsche auf sie, und augenblicklich stürzten sich zwei seiner Männer auf Belisa, wobei sie das Zelt umwarfen und das Tintenfaß in Scherben ging, fesselten sie an Händen und Füßen und warfen sie wie einen Sack quer über das Pferd des Mulatten. Dann wendete der Trupp und galoppierte in Richtung auf die Hügel davon. Stunden später, als Belisa Crepusculario schon zu sterben meinte und glaubte, ihr Herz müsse in lauter Sand verwandelt sein auf dem stoßenden Pferderücken, hörte das Schüttern auf, und vier starke Hände setzten sie zu Boden. Sie wollte aufstehen und würdevoll den Kopf heben, aber ihr versagten die Kräfte, mit einem Seufzer sank sie in sich zusammen und fiel in einen abgrundtiefen Schlaf. Einige Stunden später erwachte sie im Murmeln der Nacht, doch sie hatte keine Zeit, die Laute ringsum zu enträtseln, denn 144
als sie die Augen öffnete, begegnete sie dem ungeduldigen Blick des Mulatten, der neben ihr kniete. »Endlich kommst du zu dir, Weib«, sagte er und reichte ihr seine Feldflasche, damit sie einen Schluck Branntwein mit Schießpulver trank und wieder ins Leben zurückfand. Sie wollte wissen, weshalb sie so mißhandelt worden war, und der Mulatte erklärte ihr, der Coronel benötige ihre Dienste. Er erlaubte ihr, sich das Gesicht zu waschen, und führte sie dann bis ans Ende des Lagers, wo der gefürchtetste Mann des Landes in einer zwischen zwei Bäumen befestigten Hängematte ruhte. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, weil der schwankende Schatten des Laubwerks und der unauslöschbare Schatten von vielen Jahren Banditenlebens darüber lagen, aber sie stellte sich vor, daß sein Ausdruck grausam sein mußte, wenn sein riesiger Adjutant sich ihm so demütig näherte. Seine Stimme überraschte sie, sie war sanft und klangvoll wie die eines gebildeten Mannes. »Du bist die, die Worte verkauft?« fragte er. »Zu deinen Diensten«, stammelte sie und spähte in das Halbdunkel, um ihn besser zu erkennen. Der Coronel stand aus seiner Hängematte auf, und der Schein der Fackel, die der Mulatte trug, leuchtete ihm voll ins Gesicht. Die Frau sah seine dunkle Haut und seine drohenden Pumaaugen und wußte sogleich, daß sie vor dem einsamsten Mann dieser Erde stand. »Ich will Präsident werden«, sagte er. Er war es müde, durch dieses verfluchte Land zu ziehen in nutzlosen und zerstörerischen Kriegen, die keine Ausrede in Siege ver145
wandeln konnte. Er hatte viele Jahre bei Wind und Wetter unter freiem Himmel geschlafen, war von Moskitos zerstochen worden, hatte sich von Leguanen und Schlangensuppe ernährt, aber die kleinen Unannehmlichkeiten ergaben keinen ausreichenden Grund für ihn, sein Leben zu ändern. Was ihn in Wirklichkeit plagte, war das Entsetzen in fremden Augen. Er wünschte sich, unter Triumphbögen, zwischen bunten Fahnen und Blumen in die Städte und Dörfer einzureiten, die Leute sollten ihm zujubeln und ihm frische Eier und Brot noch warm aus dem Backofen schenken. Er war es leid, mit anzusehen, wie bei seinem Kommen die Männer flohen, die Frauen vor Schreck niederkamen und die Kinder zitterten, deshalb hatte er beschlossen, Präsident zu werden. Der Mulatte hatte ihm vorgeschlagen, sie sollten zur Hauptstadt reiten, im Galopp in den Palast eindringen und sich der Regierungsgewalt bemächtigen, wie sie sich so vieler anderer Dinge bemächtigt hatten, ohne um Erlaubnis zu bitten, aber der Coronel hatte kein Verlangen danach, auch nur wieder ein Tyrann zu werden, davon hatten sie hier schon genug gehabt, und außerdem würde er damit nicht die Zuneigung der Leute gewinnen. Seine Vorstellung ging dahin, in den Dezemberwahlen durch die Stimmen des Volkes berufen zu werden. »Dafür muß ich wie ein Kandidat sprechen. Kannst du mir die Worte für eine Rede verkaufen?« fragte er Belisa Crepusculario. Sie hatte schon viele Aufträge angenommen, aber noch keinen wie diesen, dennoch konnte sie sich nicht weigern, denn sie fürchtete, dann würde der Mulatte ihr genau 146
zwischen die Augen schießen oder, schlimmer noch, der Coronel würde zu weinen anfangen. Andererseits drängte es sie auch, ihm zu helfen, denn sie fühlte eine pochende Hitze unter der Haut, den machtvollen Wunsch, diesen Mann zu berühren, ihn zu streicheln, ihn in die Arme zu schließen. Die ganze Nacht und ein gut Teil des folgenden Tages suchte Belisa Crepusculario in ihrem Vorrat nach Worten, die für eine Präsidentenrede geeignet wären, wobei der Mulatte neben ihr hockte und die Augen nicht von ihren festen Wandererbeinen und ihren jungfräulichen Brüsten ließ. Sie schied die schroffen und trockenen Worte aus, die allzu blumigen, solche, die vom Mißbrauch farblos geworden waren, solche, die unwahrscheinliche Versprechungen anboten, die lügnerischen und die verworrenen Worte, bis ihr die übrigblieben, bei denen sie sicher war, daß sie das Denken der Männer und das Einfühlungsvermögen der Frauen anzurühren vermochten. Sie bediente sich der Kenntnisse, die sie bei dem Priester um zwanzig Pesos erworben hatte, und schrieb die Rede auf ein Blatt Papier. Dann winkte sie dem Mulatten, damit er den Strick losband, mit dem er ihre Fußgelenke an einen Baum gefesselt hatte. Sie wurde erneut vor den Coronel geführt, und als sie ihn sah, spürte sie wieder die gleiche pochende Unruhe wie bei der ersten Begegnung. Sie überreichte ihm das Papier und wartete, während er es mit den Fingerspitzen hielt und ratlos betrachtete. »Was, zum Teufel, heißt das hier?« fragte er schließlich. »Kannst du nicht lesen?« 147
»Was ich kann, ist Krieg machen«, erwiderte er. Sie las die Rede laut vor. Sie las sie dreimal, damit ihr Kunde sie sich ins Gedächtnis prägen konnte. Als sie geendet hatte, sah sie atemlose Ergriffenheit in den Mienen der Männer, die sich um sie geschart hatten, um zuzuhören, und sah, daß die gelben Augen des Coronels vor Begeisterung strahlten, denn er war sicher, daß mit diesen Worten der Präsidentenstuhl ihm gehören würde. »Wenn die Jungs mit offenen Mäulern dastehen, nachdem sie das dreimal gehört haben, dann muß dieser Scheiß was taugen«, sagte der Mulatte beifällig. »Wieviel schulde ich dir für deine Arbeit, Frau?« fragte der Coronel. »Einen Peso.« »Das ist nicht teuer«, sagte er und öffnete den Beutel, den er mit dem Übriggebliebenen vom letzten Beutezug am Gürtel trug. »Außerdem hast du ein Recht auf eine Dreingabe. Dir stehen zwei geheime Worte zu«, sagte Belisa Crepusculario. »Was soll das denn heißen?« Sie erklärte ihm nun, daß sie einem Kunden für jeweils fünfzig Centavos, die er bezahlte, ein Wort für seinen ausschließlichen Gebrauch schenkte. Der Coronel zuckte die Achseln, denn ihm lag nicht das geringste an dem Angebot, aber er wollte nicht unhöflich gegen jemanden sein, der ihn so gut bedient hatte. Sie ging ohne Eile auf den ledernen Schemel zu, auf dem er saß, und beugte sich zu ihm hinab, um ihm ihr Geschenk zu übergeben. Da spürte der Mann den Geruch nach Gebirgstier, der von 148
dieser Frau ausging, die brennende Hitze, die ihre Hüften ausstrahlten, die ungeheuerliche Empfindung, als ihr Haar seine Haut streifte, den Minzeatem, mit dem sie ihm die zwei geheimen Worte ins Ohr flüsterte. »Sie gehören dir, Coronel«, sagte sie, als sie zurücktrat. »Du kannst sie verwenden, so oft du willst.« Der Mulatte begleitete Belisa bis zum Wegrand und blickte sie dabei unverwandt mit den flehenden Augen eines verirrten Hundes an, aber als er die Hand ausstreckte, um sie zu berühren, stoppte sie ihn mit einem Schwall von selbsterfundenen Worten, die ihm das Verlangen austrieben, denn er hielt sie für eine nie mehr zu widerrufende Verwünschung. In den Monaten September, Oktober und November hielt der Coronel seine Rede so oft, daß sie durch den vielen Gebrauch zu Asche geworden wäre, hätte sie nicht aus leuchtenden, dauerhaften Worten bestanden. Er durchzog das Land in allen Richtungen, ritt mit Siegermiene in die Städte ein und verweilte selbst in den vergessensten Dörfern, wo nur die Unrathaufen menschliche Gegenwart anzeigten, um die Wähler zu überzeugen, daß sie für ihn stimmen mußten. Während er auf einem Podium in der Mitte des Platzes seine Rede hielt, verteilten der Mulatte und seine Männer Bonbons und malten mit vergoldetem Zuckerguß seinen Namen auf die Häuserwände, aber niemand beachtete diese Reklametricks, denn alle waren begeistert von der Eindeutigkeit seiner Absichten und von der poetischen Klarheit seiner Schlußfolgerungen, alle waren angesteckt von seinem unbändigen Wunsch, 149
die Fehler der Geschichte wiedergutzumachen, und zum erstenmal in ihrem Leben waren sie fröhlich. Am Schluß der Rede jagten seine Männer Pistolenschüsse in den Himmel und entzündeten Feuerwerksraketen, und wenn sie schließlich fortritten, blieb eine Spur Hoffnung zurück, die noch viele Tage in der Luft hing wie die wunderbare Erinnerung an einen Kometen. Schon bald war der Coronel der volkstümlichste Politiker geworden. Er war ein nie vorher gesehenes Phänomen, dieser Mann, der aus dem Bürgerkrieg aufgetaucht war, mit Narben bedeckt, der sprach wie ein Gebildeter und dessen Ruhm sich über das Land verbreitete und die Herzen der Menschen bewegte. Die Presse beschäftigte sich mit ihm. Von weither kamen die Reporter gereist, um ihn zu interviewen und seine Kernsätze zu wiederholen, und so wuchs die Zahl seiner Anhänger und die seiner Feinde. »Wir kommen gut voran, Coronel«, sagte der Mulatte, als zwölf Wochen voller Erfolge vergangen waren. Aber der Kandidat hörte ihm nicht zu. Er wiederholte für sich seine zwei geheimen Worte, wie er es immer häufiger tat. Er sagte sie, wenn er vor Sehnsucht schwach wurde, murmelte sie im Schlaf, stieg mit ihnen auf sein Pferd, dachte sie, bevor er seine berühmte Rede hielt, und ertappte sich dabei, daß er in unachtsamen Augenblicken ihren Klang auskostete. Und jedesmal, wenn ihm diese zwei Worte in den Sinn kamen, beschworen sie Belisa Crepuscularios Gegenwart herauf, und seine Sinne gerieten in Aufruhr bei der Erinnerung an den Gebirgsgeruch, die brennende Hitze, die ungeheuerliche Empfindung und den Minzeatem, bis er schließlich wie ein Schlafwandler 150
umherging und seine Männer befürchteten, es würde mit ihm zu Ende sein, bevor er den Präsidentenstuhl erobert hatte. »Was ist los mit dir, Coronel?« fragte der Mulatte ihn viele Male, und eines Tages wußte sein Anführer nicht mehr weiter und gestand ihm, die Schuld an seinem Gemütszustand trügen diese zwei Worte, die ihm wie in den Leib gerammt seien. »Sag sie mir, dann werden sie schon ihre Kraft verlieren«, bat ihn sein treuer Adjutant. »Ich werde sie dir nicht sagen, sie gehören mir allein«, entgegnete der Coronel. Der Mulatte hatte es satt, seinen Anführer dahinkümmern zu sehen wie einen zum Tode Verurteilten, er warf sich das Gewehr über die Schulter und ritt davon, Belisa Crepusculario zu suchen. Er folgte ihren Spuren durch das ganze weite Land, bis er sie in einem Dorf im Süden fand, wo sie unter ihrem Geschäftszelt saß und ihren Rosenkranz von Neuigkeiten abspulte. Er pflanzte sich breitbeinig vor ihr auf, das Gewehr im Anschlag. »Du kommst mit mir!« befahl er. Sie hatte ihn erwartet. Sie packte ihr Tintenfaß ein, faltete die Zeltplane zusammen, legte sich ihr Tuch um die Schultern und schwang sich schweigend auf die Kruppe des Pferdes. Auf dem ganzen Weg wechselten sie kein Wort, denn sein Verlangen nach ihr hatte sich in Wut verwandelt, und nur die Furcht, die ihre Zunge ihm einflößte, hielt ihn davon ab, sie zu Tode zu peitschen. Er war auch nicht geneigt, ihr zu erklären, daß sein Coronel sich wie ein Blödsinniger aufführte und daß ein ins Ohr geraunter 151
Zauber zustande brachte, was so viele Jahre des Kampfes nicht vermocht hatten. Drei Tage später kamen sie im Lager an, und sofort führte er seine Gefangene vor den Kandidaten, angesichts der ganzen Truppe. »Ich habe dir die Hexe geholt, damit du ihr diese Worte zurückgibst, Coronel, und damit sie dir deine Mannhaftigkeit zurückgibt«, sagte er und richtete den Lauf des Gewehrs auf den Nacken der Frau. Der Coronel und Belisa Crepusculario sahen sich lange an, maßen sich aus der Entfernung. Dann begriffen die Männer, daß er sich nicht mehr von dem Zauber dieser zwei teuflischen Worte losmachen konnte, denn alle sahen, wie die Raubtieraugen des Pumas sanft wurden, als sie auf ihn zutrat und ihn bei der Hand nahm.
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Wechselbad Von meinem letzten Spaziergang bin ich nicht zurückgekehrt. Aus dem Flußschwimmbad, in dem ich den Nachmittag verbracht hatte, verabschiedete ich mich früher als gewöhnlich. Ich wollte mir meine Haare waschen, mit warmem Leitungswasser, mit Shampoon, allein für mich, ein verständlicher Wunsch. Mein Freund schenkte mir, als ich mich, schon angezogen, zu ihm hinunterbeugte, um mich zu verabschieden, ein Lächeln, das den Abend kaum erwarten wollte. Ich ging den ganzen Weg zu Fuß, stromerte herum, sah in einen Hauseingang, hinter dessen schön geschwungenem zweiflügeligen Portal aus der Glanzzeit dieser Stadt wohl niemand mehr wohnte, kaufte mir eine Zeitung, die ich jedoch nicht las. Als mein Freund am Abend in die Wohnung zurückkam, rief er, wie er es häufig tat, wenn ich ihm nicht gleich entgegenlief, meinen Namen. Als ich nicht antwortete, ging er ins Bad; er hatte das Surren meines Föns, der, in Ohrhöhe gehalten, jede Verständigung unmöglich macht, gehört. Vor dem Spiegel stand eine fremde Frau mit nassen Haaren, die meinen Fön in der Hand hielt. Er fragte nach mir, aber sie konnte ihm keine Auskunft geben. Sie fragte ihn aber nach seinen Wünschen. Er zögerte einen Augenblick, wie er immer zögerte, wenn ich ihm Fragen stellte, dann sagte er, was er sich wünschte. Gut, sagte sie. Ich werde alles tun. So jedenfalls ist es mir berichtet worden. 153
Planetoid Ich kannte einmal ein Mädchen das saß beim Fest abseits allein am Boden. Eine kleine fast-Frau in einer großen blauen Jacke, wie Matrosen sie tragen. In der hatte sie sich verkrochen. In einem Anfall von Freundlichkeit setzte ich mich zu ihr. Ich reichte ihr meinen Joint in der glitzernden Totenkopfpfeife. Ich war träge und verträglich, glücklich und zufrieden über das Gelächter ringsum und die verblichen blühenden Blumen auf dem Teppich. Es störte mich nicht, daß sie die Pfeife ablehnte. »Magst du nicht?« »Rauche nicht und trinke nicht«, sagte sie müde. Mit gesenktem Kopf. »Sonst...« »Sonst?« »Sonst werde ich verrückt. Bloß keinen Rausch, bloß nicht.« Rückzug in den Mitternachtsmantel. O je. Noch ein verwirrter, verirrter, fiebernder Geist. Ich lächelte, gütig, Buddha gleich. Ich sagte rauchselig: »Wenn man es sich vorstellen kann«, vorsichtig mache ich kurze Züge, »wird man angeblich nicht verrückt.« Ich habe den Bogen raus: rundes Lächeln, runder Rauch. Ich kannte einmal ein Mädchen Sie sah mich an und zuckte zusammen. »Ich kann denken, was ich will. Es gibt einen Beweis... Beweis.« 154
»Welchen Beweis?« Sie krempelte den Jackenärmel hoch. »Sieh.« Ich beugte mich höflich vor. Es war ein gewöhnlicher weiblicher Arm, blaß, leicht behaart, am Handgelenk ein wenig zu dick. Der Rauch kräuselte sich zwischen uns. Sie zog den Jackenärmel höher. Einstiche, dachte ich verträumt. Sie zeigt mir Nadelspuren und langweilt mich mit ihrem Märchen von Schmutz und Trostlosigkeit. »Da«, sagte sie. Die Armbeuge. Es waren keine Einstiche da. Es war die aufregendste Tätowierung, die ich jemals gesehen hatte, und ich war lauthals begeistert. Ein Bild für Kenner, sagte ich überschwenglich. Sie sagte bitter: »Das ist kein Bild. Fühl doch, aber nur am Rand. Wo noch Knochen ist.« Ich streckte meinen Finger sacht über die Haut und betupfte den Rand des erstaunlichen schwarzen Ovals. Auflösung des Fleisches. Wie hatte ein Künstler das mit bloßer Tinte Ich riß den Finger zurück. »Siehst du?« Ihr Lächeln war schief und schmerzlich wie vorhin ihr Schreck. Der schöne Nebel wich aus meinem Kopf, und ich saß und besah das Mädchen, das seinen Arm besah. Wo meine Fingerspitze das Schwarz berührt hatte, war ein tödlich weißer Fleck wie Frost. Es tat weh. Was hatte 155
ich berührt? Nichts. »Die Sterne wandern«, sagte sie mit kleiner Stimme. »Über Nacht wandern sie. Ich sehe, wie sie große Kreise ziehen.« Ich sah genau hin. Im tiefen Schwarz waren eine Myriade glitzernder Funken. Sie formten eine ferne Spirale. »Das sind Sterne«, sagte sie erschöpft. »Wenn ich sie sehe, ist mir, als wölbte ich mich über ihnen, Mutter des himmlischen Heeres.« Eine müde fast-Frau, klein, in eine schwere Jacke gewikkelt. »Wie die Ägypterin. Göttin. Ding.« Sie krempelte langsam den Ärmel hinunter. »Jemand dort verlangt nach mir.« Sie sah mich an. »Wirst du auch verrückt?« Ich stand auf unsicheren Beinen. Meine Augen schmerzten, so hatte ich sie aufgerissen. Mein Kiefer schmerzte, so hatte ich die Zähne zusammengebissen. Das unwissende Gelächter überall klang hart und rauh, und alle blumigen Farben waren welk. Ich brauchte ein Glas einen Krug eine Flasche Sherry, um die Süße zurückzuholen, den Schmerz zu ertränken, um wieder an morgen zu glauben. »Du bist nicht verrückt. Warte. Ich komme gleich zurück. Nicht verrückt.« Ich erinnere mich, daß sie nicht lächelte, als ich davonstolperte. Sie kauerte an der Wand, der hochgestellte Kragen rahmte und schützte ihr blasses unscheinbares Gesicht. Ich kannte einmal ein Mädchen. Wen? Ich fand meinen Sherry. Ich trank zuviel zu schnell, stand 156
im geschwätzigen Gedränge. »Wer ist das Mädchen?« rief ich. »Eine Houri«, sagte Anna, »eine Houri aus dem duftenden Reich des Rauchs.« Und Michael kicherte: »Warum? Was soll’s?« Und Big Molly sah mich genau an, bevor sie sagte: »Sie ist Schwester auf meiner Station. Krank. Mit den Nerven fertig. Hat’s dich erwischt?« »Nein. Ja. Ich weiß nicht.« Molly lächelte. »eresa Wyatt. Wohnt bei Rossiters. Weißt du, wo?« Der Sherry, der Lärm und unvermeidlich, die Übelkeit und der übliche Gang an die frische Luft. Als ich wieder hereinkam, war das Mädchen gegangen. Am nächsten benebelten Morgen ging ich zu Rossiters. Ihre Wirtin sagte, sie sei nicht nach Hause gekommen. »Was Sie sicher wissen«, sagte sie bissig. Sie ist nie mehr nach Hause gekommen. Und hier sitze ich und schreibe und neben mir liegt ein toter Joint. Ich schreibe unbeholfen, mein einer Finger ist verbunden. Ich kannte einmal ein Mädchen das Selbstmord beging, glaubt die Polizei. Das ins Meer sprang und sich von seinem Körper trennte. Glaubt Molly. Glaubt die Wirtin. Glaube ich meistens. Ich meine, sie war ein halbes Jahr lang krank und hatte in aller Öffentlichkeit verkündet, sie sei auf dem Weg zu anderen Welten. Das glaube ich. Ich. Doch dann wickle ich den Verband von meinem Finger. Meinem neugierigen Zeigefinger. Und mitten in dem tödlichen Weiß sitzt wie eine fremde lästige Warze ein winziges blaugrünes Juwel. Ich denke. Ich starre auf den Punkt. 157
Ich frage mich. Wenn du von herzlosen Fremden umgeben wärst und hättest in Reichweite ein ganzes Universum, würdest du ein Mauerblümchen bleiben? Um das Juwel wächst ein dunkler Hof, und dahinter im tiefen Schwarz blinken die bitterkalten Sterne.
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›Sag bloß, Verbrechen lohnt sich nicht!‹ (Myrna)
S 1961 Seite 118 Ich sitze hier am Fenster, in einem Haus mit Hypotheken auf dreißig Jahre, schreibe in mein Notizbuch und betrachte meine Helena-Rubinstein-Hände... warum auch nicht? Schließlich bin ich keine ernsthafte Schriftstellerin, und daher müssen meine Fingernägel nicht abgeknabbert und die Nagelhäute nicht ausgefranst sein. Ich kann mir - meinen Händen - Kräuteressenzen, Nagellack, Lotionen und Cremes gönnen. Das Ergebnis sind wirklich schöne Hände: lieblich duftend, klein und weich... Ich nehme sie von dem Blatt, auf das ich die Zeile ›Sag bloß, Verbrechen lohnt sich nicht!‹ geschrieben habe, lasse sie suchend an meiner Bluse (einer weißen Rüschenbluse) emporgleiten und dann sanft meinen Schwanenhals hinauf, wo der Duft von Gardenien unter dem Haaransatz schwebt. Sollte ich Arme und Beine ausstrecken oder mich nur mal kurz und schnell drehen - ich könnte den lieblichen Duft meines Körpers nicht ertragen. Aber ich passe perfekt in meine neue Umgebung; wie ein Tiegel Cold Cream, die auf einer Frisierkommode vor sich hin schmilzt. 159
Seite 119 »Ich habe eine Überraschung für dich«, sagte Ruel, als er mich zum ersten Mal hierher brachte. Und du weißt ja, wie mir das mittlerweile auf den Magen schlägt, wenn er grinst. »Was denn?« Es interessierte mich kein bißchen. Und so kamen wir bei dem Haus an. Vier Schlafzimmer und zweieinhalb Toiletten. »Ist es nicht herrlich?« sagte er. Er faßte mich nicht an dabei, aber die falsche Begeisterung, mit der er sprach, drängte mich aus dem Auto. »Ja«, sagte ich. Es ist herrlich. Wie alle neuen SüdstaatenHäuser. Die Ziegel sehen aus wie Würfel von rohem Fleisch; das Dach drückt nach unten wie ein Strohhut aus Eisen. Die Fenster sind schmale Knopfaugen; das Aluminium funkelt. Der Hof ist eine lange, nackte Wunde, die wenigen Bäume bar aller Blätter, wie Haarnadeln in einem Sandhäufchen. »Ja«, sage ich, »herrlich ist es schon.« Er strahlt, auf seine kühle, selbstsichere Art. Es verblüfft mich, daß er keinerlei Militär-Uniform mehr trägt. Aber nein. Er ist als Held aus Korea zurückgekommen und mit einer unersättlichen Gier nach lieblichen Gerüchen. »Hier können wir vergessen, was war«, sagt er.
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Seite 120 Wir sind eingezogen und haben neue Möbel gekauft. Alles ist so neu, daß es stinkt, die grünen Wände lassen mir die Galle hochkommen. Er steht hinter mir, seine Hände berühren meine Haarspitzen. Ich nehme die Haarbürste und bürste seine Hände weg. Ich lasse meinen Körper so lieblich duften, daß sogar er (vor allem er) ihn nicht mehr anfassen darf. Ich will nicht vergessen, was war; aber ich sage ›ja‹ wie ein Papagei. »Hier können wir vergessen, was war.« Was war, ist natürlich Mordecai Rich, von dem Ruel behauptet, daß er an meinem Zusammenbruch schuld ist. Was war, ist die Nacht, in der ich Ruel mit einer von seinen Bandsägen umbringen wollte. M 1958 Seite 2 Mordecai Rich Mordecai will nicht glauben, daß Ruel Johnson mein Mann ist. »So ein alter Mann«, sagt er, spöttisch und grausam. »Ruel ist nicht alt«, sage ich. »Er sieht eben einfach alt aus.« Genau wie du eben jung aussiehst, denke ich, obwohl du womöglich nicht viel jünger bist als er. Vielleicht liegt es einfach daran, daß Mordecai ein Vagabund ist, der Eindrücke aus den Südstaaten aufs 161
Papier kritzelt, ohne festen Standort und ohne festes Ziel... und Ruel ist nie aus Hancock County herausgekommen, nur ein einziges Mal, als er so mannhaft in den Krieg zog. Er behauptet, das Reisen habe seinen Gesichtskreis erweitert, besonders die zwei Monate Urlaub in Europa. Er hat mich geheiratet, weil ich für ihn wie eine Französin aussehe, obwohl meine Haut dunkel ist. Manchmal erzählt er mir auch, ich hätte etwas Asiatisches an mir: wie eine Koreanerin oder Japanerin. Ich tröste mich mit dem Gedanken: Wir in unserer Familie werden mit den Jahren immer dunkler. Kann sein, daß er eines Morgens aufwacht mit einer völlig fremden Frau im Bett. »Er arbeitet im Laden«, sage ich. »Außerdem baut er 100 Morgen Erdnüsse an.« Wenn das kein Erfolg ist. »So viel«, sagt Mordecai versonnen. Ich erzähle ihm nicht aus Stolz, was mein Mann macht und ist. Auf diese Weise kann ich ihm etwas über mich erzählen. Seite 4 Heute ist Mordecai wiedergekommen. Er erzählt eine traurig-komische Geschichte von einem Mann, der seine Frau nicht in Fahrt bringen konnte. »Wie er auch pustete und schnaufte«, lacht Mordecai, »das Ergebnis war gleich null.« Eines Nachts, als er sich zu ihrem Schlafzimmer schlich, hörte er drinnen freudige Schreie. Er stürmte hinein und fand seine Frau in den Armen einer anderen! Seine Frau zog sich ruhig an und packte ihre Koffer. Der 162
Mann fing an zu bitten und zu betteln. »Ich tu’ alles, was du willst«, versprach er. »Was willst du denn?« flehte er. Seine Frau mußte kichern, und lachend verließ sie mit ihrer Freundin das Haus. Jetzt läßt sich der Mann jeden Tag vollaufen und verlangt, daß die Behörden etwas unternehmen. Wogegen sie etwas unternehmen sollen, weiß er auch nicht, aber so redet er auf die Leute ein: »Ich will, daß die gottverdammten Behörden was unternehmen!« Wer die Geschichte kennt, macht sich über ihn lustig. Man hat Mitleid mit ihm und gibt ihm soviel Geld, daß er sich weiter vollaufen lassen kann. Seite 5 Ich glaube, Mordecai hat ungefähr so viel Herz wie eine dreckfressende Kröte. Selbst wenn er mich zum Lachen bringt, ist mir immer noch klar, daß kein Mensch die Schwierigkeiten anderer Leute mit so kalten Augen ansehen sollte. »Das bin ich aber«, sagt er und blättert in seiner Kladde. »Ein kaltes Auge. Ein Auge auf der Suche nach Schönheit. Ein Auge auf der Suche nach Wahrheit.« »Warum schaust du nicht nach anderen Sachen aus?« will ich wissen. »Nicht nach Wahrheit und Schönheit, sondern nach den Stellen im Leben der Menschen, wo die Dinge gründlich aus dem Gleis geraten sind.« »Das ist mir zu vage«, sagt Mordecai stirnrunzelnd. »Genau wie die Wahrheit«, sage ich. »Von der Schönheit ganz zu schweigen.« 163
Seite 10 Ruel will wissen, warum der ›dürre schwarze Landstreicher‹ - so nennt er Mordecai - immer noch bei uns rumhängt. Dummerweise hab’ ich ihm erzählt, daß Mordecai daran denkt, eine seiner Geschichten über das Landleben im Süden in unserem Haus spielen zu lassen. »Mordecai kommt aus dem Norden«, sagte ich. »Er hat noch nie ein Holzhaus mit Klo im Hof gesehen.« »Da soll er besser dorthin zurückgehen, wo er hergekommen ist«, sagte Ruel, »und so scheißen, wie er’s kennt.« Ruel fühlt sich in seinem Stolz verletzt. Er schämt sich für dieses Haus, das mir völlig okay vorkommt. Eines Tages werden wir ein neues Haus haben, sagt er, aus Ziegelsteinen und mit einem japanischen Bad. Wie soll ich wissen, warum? Seite 11 Als ich Mordecai erzählte, was Ruel gesagt hat, lächelte er auf seine schlangenäugige Art und sagte: »Macht’s dir was aus, wenn ich hier rumhänge?« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich stammelte irgendwas. Nicht wegen der Frage, sondern weil er die Hand ohne Umschweife auf meine linke Brust legte. Die andere Hand vergrub er tief in meinem Haar. »Ich bin verheiratet, und zwar gründlicher, als ein junger Spund wie du sich das vorstellen kann«, erzählte ich 164
ihm. Aber ich glaube nicht, daß er sich davon stören läßt. Besonders, wo er inzwischen herausgefunden hat, daß ich auch gerne Schriftstellerin wäre. Und das kam so: Ich saß und schrieb in der Weinlaube auf der Landzunge am Flüßchen, die man vom Haus aus wegen der Bäume nicht sehen kann. Plötzlich stand er vor mir, bevor ich mein Notizbuch weglegen konnte. Er schnappte es mir aus der Hand und fing an zu lesen. Noch dazu laut. Ich schämte mich zu Tode. »Kommt nicht in Frage, daß meine Frau mich ins Geräde bringt mit so ’nem unanständigen Mist«, las Mordecai. (Das ist Ruels Kommentar dazu, daß ich schreibe.) Er erzählt mir dauernd, wie verrückt ich bin, daß ich Geschichten schreiben will, und dann kommt er aufs Kinderkriegen oder Einkaufen, als ob das alles dasselbe wäre. Bloß daß ich beschäftigt bin. »Wenn du Zeit übrig hast«, sagte er heute zu mir, »dann geh doch mal in dem neuen Laden in der Stadt einkaufen.« Ich war da. Ich hab’ sechs verschiedene Sorten Gesichtscreme gekauft, zwei Augenbrauenstifte, fünf Nachthemden und eine Langhaarperücke. Zwei Konturenstifte und einen Topf LipGloss. Und dabei hab’ ich die ganze Zeit meiner letzten Geschichte nachgetrauert. Im Rohentwurf fertig - soweit komme ich schon mit meinen Geschichten -, aber ein totgeborenes Kind. Meine Hand von Feigheit gelähmt, mein Herz das Herz eines Sklaven.
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Seite 14 Natürlich wollte Mordecai die Geschichte sehen. Was hatte ich noch zu verlieren? »Blätter ein paar Seiten weiter«, sagte ich. »Es ist nichts als das Skelett einer Geschichte, aber vielleicht wird doch eines Tages was draus.« »Die einbeinige Frau.« Zuerst las Mordecai laut vor, dann machte er leise weiter. Die Personen sind arme Bauern mit ein paar Kühen. Einmal ist der Mann morgens zu verkatert, um zu melken. Also macht es die Frau, und als sie fertig ist, geraten die Kühe durch ein aufziehendes Gewitter in Panik und trampeln sie nieder. Außerdem wird sie an einem Bein schwer verletzt. Ihr Mann schläft und hört sie nicht schreien. Schließlich schleppt sie sich ins Haus und weckt ihn. Er versorgt ihre Wunden und bittet sie um Verzeihung. Er holt keinen Arzt, weil er Angst hat, der Doktor könnte ihn als Faulpelz und Säufer hinstellen, unwürdig einer so guten Frau. Er will, daß der Doktor ihn achtet. Die Frau versteht das und sagt nichts. Aber die Wunde wird brandig, und der Arzt kommt. Er macht dem Mann Vorhaltungen und amputiert das Bein der Frau. Die Frau kommt durch und versucht, dem Mann seine Schwäche zu verzeihen. Während ihrer Krankheit versucht ihr der Mann seine Liebe zu beweisen, aber das fehlende Bein kann er nicht anschauen. Als es ihr wieder gutgeht, merkt er, daß er nicht mehr mit ihr schlafen kann. Die Frau spürt seinen Widerwillen und begreift, daß ihr Opfer umsonst war. Sie schleppt sich in die Scheune und erhängt sich. 166
Der Mann schämt sich vor den Leuten, daß er mit einer einbeinigen Frau verheiratet war. Er begräbt sie selber und erzählt dann überall herum, daß sie bei ihrer Mutter zu Besuch ist. Während Mordecai die Geschichte las, schaute ich auf die Felder hinaus. Wenn er ein einziges lobendes Wort darüber sagt, schwor ich mir, werde ich mit ihm ins Bett gehen. (Wie hätte ich mich sonst erkenntlich zeigen können? Mein einziger nennenswerter Besitz waren meine Töpfe mit Cold Cream!) Als hätte er meine Gedanken gelesen, ließ er sich neben mir nieder und sah mich mit seltsamen Augen an. »Über so was denkst du nach?« fragte er. Er nahm mich gleich an Ort und Stelle in die Arme. »Hast du viel Haar, so schwer und sexy«, sagte er und legte mich sanft auf den Boden. Und dann geschah ein Wunder. Unter Mordecais Fingern entfaltete sich mein Körper wie eine Blume und blühte zart auf. Und das war nicht nur wundervoll, sondern auch seltsam. Ich glaube nämlich, Liebe hat dabei überhaupt keine Rolle gespielt. Seite 17 Danach lobte Mordecai meine Intelligenz, meine Sensibilität, die Tiefe meiner Werke, soweit er sie kannte - und natürlich zeigte ich ihm alles, was ich hatte: alte Tagebücher aus meiner Schulzeit, Notizbücher, die ich unter einer Plane in der Scheune versteckt hatte, Geschichten, die auf Papiertüten geschrieben waren, auf Servietten, selbst auf 167
das Schrankpapier vom Regal über dem Abwaschbecken. Ich bin verblüfft - noch verblüffter als Mordecai -, was ich alles geschrieben habe. Es hat sich in über zwanzig Jahren angesammelt und würde leicht einen kleinen Schuppen füllen. »Die mußt du mir geben«, sagte Mordecai endlich und zeigte mir drei Notizbücher, die er aus dem ziemlich chaotischen Haufen herausgesucht hatte. »Ich werd’ schauen, ob man damit nicht irgendwas anfangen kann. Aus dir könnte eine zweite Zora Hurston werden.« Er lächelte. »Oder eine zweite Simone de Beauvoir!« Natürlich schmeichelt mir das. »Nimm sie! Nimm sie!« rufe ich. Ich sehe mich bereits mit seinen Augen. Eine berühmte Schriftstellerin, meilenweit von Ruel, meilenweit von allen normalen Sterblichen entfernt. Ich trage grobes Arbeitszeug, und meine Hände sehen gräßlich aus. Ich rieche nach Schweiß. Ich strahle vor Glück. »Wie können so hübsche braune Finger nur so ein häßliches, tiefsinniges Zeug schreiben?« fragt Mordecai und küßt diese Finger. Seite 20 Eine Woche lang versagen wir einander nichts. Wenn Ruel etwas gemerkt hat (Wie sollte er nicht? Seine Laken sind nie sauber) - sagen tut er nichts. Inzwischen ist mir klar, daß er Mordecai nie als echten Rivalen betrachtet hat. Anscheinend hat Mordecai nämlich nichts zu bieten außer seiner dürren Person und seinem komischen Geschwätz. 168
Ich weide mich an dieser Erkenntnis. Jetzt wird Ruel bald sehen, daß ich kein Bauch ohne Kopf bin, den man mit japanischen Badewannen und Einkaufsorgien kaufen kann. Der Augenblick meiner Befreiung ist nahe! Seite 24 Mordecai ist heute nicht gekommen. Ich sitze in der Laube, schreibe diese Worte, und langsam zieht meine Kehle sich zusammen. Ich ersticke fast an meiner Angst. Seite 56 Wochenlang habe ich nichts wahrgenommen. Ruel nicht, das Haus nicht. Von überall her flüstert es, daß Mordecai mich vergessen hat. Gestern hat Ruel zu mir gesagt, ich soll nicht in die Stadt gehen, und ich hab’ es ihm versprochen, denn ich hab’ tagelang straßauf, straßab nach Mordecai gesucht. Die Leute gucken mich seltsam an, ihre Blicke gleiten auf merkwürdige Art von mir ab. Als ob sie etwas in meinem Gesicht sehen, das ihnen peinlich ist. Weiß denn jeder über mich und Mordecai Bescheid? Ist ein schönes Liebeserlebnis so schnell zu sehen? ... Aber so schnell ist es gar nicht. Er ist jetzt schon länger fort, als ich ihn kannte.
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Seite 61 Ruel sagt, ich benehm’ mich, wie wenn bei mir innen alles schläft. Das stimmt natürlich. Und nichts kann mich aufwecken außer einem Brief von Mordecai, daß ich meine Sache packen und nach New York fliegen soll. Seite 65 Wenn ich Mordecais Aufzeichnungen gelesen hätte, wüßte ich genau, was er von mir hält. Aber jetzt fällt mir auf, daß er sie mir kein einziges Mal gezeigt hat, obwohl er jeden ernsthaften Gedanken lesen durfte, den ich je hatte. Ich habe Angst zu wissen, was er dachte. Ich fühle mich verkrüppelt, entstellt. Aber wenn er es jemals aufgeschrieben hätte, wäre es wahr. Seite 66 Heute hat mich Ruel aus der Weinlaube, aus dem Regen ins Haus gebracht. Ich wußte nicht, daß es regnet. Er hat noch Witze gemacht: ›In unserm Alter kann man sich leicht das Rheuma holen, wenn man nicht aufpaßt.‹ Ich weiß nicht, was er meint. Ich bin zweiunddreißig. Er ist vierzig. Bis zu diesem Monat hab’ ich mich nie alt gefühlt.
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Seite 79 Gestern nacht ist Ruel ins Bett gekommen und hat tatsächlich geweint in meinen Armen! Für ein Kind würde er alles geben, sagt er. »Glaubst du, wir könnten eins bekommen?« hat er gesagt. »Ja sicher«, hab’ ich gesagt, »warum nicht?« Er hat angefangen, mich zu küssen und sich darüber auszulassen, wie gut ich bin. Ich hab’ angefangen zu lachen. Er ist furchtbar wütend geworden, aber er hat seine Sache zu Ende gebracht. Er will tatsächlich ein Kind haben. Seite 80 Ich muß mir wirklich was Besseres einfallen lassen als mich umzubringen. Seite 81 Ruel will, daß ich zum Arzt gehe, damit es schneller klappt mit dem Kind. »Gehst du zum Arzt, mein Schatz?« fragt er, wie ein Bettler. »Ja sicher«, sage ich. »Warum nicht?«
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Seite 82 Heute hab’ ich im Wartezimmer des Arztes eine Illustrierte aufgeschlagen, und da war eine Geschichte über eine einbeinige Frau. Ein Bild war auch dabei. Das hat jemand gemacht, der die Kühe grün und orange gemalt hat, und die Frau hat er weiß gemalt, wie eine arme weiße Südstaatlerin, mit kleinen blauen Schlitzaugen. Nicht schwarz und füllig wie in der Geschichte, die ich im Kopf hatte. Aber es ist schon noch meine Geschichte, ausgearbeitet und umgekrempelt, wie das so ist. Der Autor ist angeblich Mordecai Rich. Weiter hinten ist ein kleines Bild von ihm. Er guckt streng und hat sich einen Bart wachsen lassen. Und unter dem Bild steht genau das, was er zu mir gesagt hat, über das Suchen nach der Wahrheit. Sie schreiben, sein nächstes Buch soll ›Der Widerstand der Schwarzen Frau gegen das Kreative in der Kunst‹ heißen. Seite 86 Gestern nacht, als Ruel auf seiner Seite im Bett lag und schnarchte, hab’ ich die Spuren seiner Hände von meinem Körper gewaschen. Dann hab’ ich eine von seinen Bandsägen angestellt und versucht, ihm den Kopf abzuschneiden. Das hat nicht geklappt wegen dem Krach. Im letzten Moment ist Ruel aufgewacht.
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Seite 95 Die Tage vergehen in einem Dunst, der nicht unangenehm ist. Die Ärzte und Schwestern nehmen mich nicht ernst. Sie stopfen mich mit Drogen voll und schließen noch nicht einmal die Tür ab. Wenn ich an Ruel denke, fällt mir das Lied ein, das die Briten immer singen: ›Ruel Britannia!‹ Ich kann’s sogar pfeifen oder mit den Fingern trommeln. S 1961 Seite 218 Die Leute erzählen meinem Mann ständig, daß ich nicht verrückt aussehe. Ich bin jetzt schon fast ein Jahr draußen, und so langsam glaubt er ihnen. Nachts steigt er auf mich drauf mit seinem Gesabbel und seiner Hoffnung und flucht, daß Mordecai Rich sein Leben zerstört hat. Ich wüßte gern, ob er spürt, wie sein Wille im Dunkeln mit meinem zusammenstößt. Manchmal sehe ich in meinem Kopf die Funken fliegen. Es ist erstaunlich, wie normal alles ist. Seite 223 Das Haus wird noch immer nicht vom Getrappel süßer kleiner Füßchen zum Leben erweckt, weil ich inbrünstig die Pille nehme. Es ist für mich der einzige lustige Moment des ganzen Tages, wenn ich die kleine gelbe Tablette 173
schlucke und mit Limonade oder Tee runterspüle. Ruel ist die ganze Zeit im Laden und auf den Erdnußfeldern. Er kommt verschwitzt, dreckig und müde nach Hause, und da erwarte ich ihn und dufte nach Arpège, My Sin, Wind Song und Jungle Gardenia. Die Frauen in der Nachbarschaft bedauern ihn, daß er mit so einem Nichts von einer Frau verheiratet ist. Ich warte, schön und perfekt bis in die Fingerspitzen, und mache das Abendessen, als sei es eine Sache von Leben und Tod. Liege widerstandslos auf seinem Bett, wie eine an Land gespülte Wasserleiche. Aber er ist nicht glücklich. Denn er weiß jetzt, daß ich nichts tun werde außer ›ja‹ sagen, bis er total erschöpft ist. Ich gehe jetzt zweimal am Tag in das neue Einkaufszentrum; einmal am Vormittag und einmal am Nachmittag oder Abend. Ich kaufe Hüte, die ich im Leben nicht aufsetzen oder auch nur besitzen wollte. Kleider, die auf direktem Wege an die Fürsorge gehen. Schuhe, die im Keller zu Schimmel und Moder werden. Die Parfümflaschen, die Hautemulsionen, die Töpfe mit Lip-Gloss und EyeShadow behalte ich. Ich vergnüge mich damit, mein eigenes Gesicht zu bemalen. Wenn er mir mal ganz, ganz leid ist, dann sage ich ihm, wie lange ich mich schon auf die Sicherheit der Pille verlasse. Wenn ich den lieblich-süßen Duft meines Körpers und diese weichen Helena-Rubinstein-Hände mal ganz, ganz leid bin, dann verlasse ich ihn und dieses Haus. Und zwar für immer, ohne einen einzigen Blick zurück.
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Sie hatten gestritten... Sie hatten gestritten. Es war ein häßlicher Streit gewesen, in dessen Verlauf er sie eine heißhungrige, unersättliche Fotze nannte und sie ihm vorwarf, er habe sie nie befriedigt, niemals. Und er sagte, dann solle sie sich gefälligst auf der Straße Kerle auflesen, die sie befriedigten, denn er könne es nicht, wolle es auch nicht, lege keinerlei Wert darauf. Und kehrte ihr im Bett den Rücken zu. Er wollte sie nicht vögeln. Sosehr sie auch bettelte und flehte, er tat es nicht. Diese Macht besaß er über sie. In dieser Hinsicht war sie ihm ganz ausgeliefert, mit all ihrer Berühmtheit, ihrem blonden Haar, ihrem Geld, auch wenn sie älter war als er und klüger (ha!) und geiler. Mit ihren dreiunddreißig war sie das Opfer ihrer unentwegt zuckenden Möse, er hingegen war kühle siebenundzwanzig und konnte ihr seinen Schwanz nach Lust und Laune zukommen lassen oder vorenthalten. Er war kein PlastikPenis, kein Spielzeug, kein Vibrator, er war ihr Mann. Er besaß den Schwanz. Sie konnte noch so sehr jammern und winseln und sich an seinen harten Rücken pressen, der Schwanz blieb sein Eigentum. Er las, er wahrte seine Würde, er arbeitete mit dem Kopf, er tat, als wüßte er nichts davon, daß ihre Möse naß für ihn war, daß ihre Glieder schmerzhaft nach ihm zuckten, daß ihr Becken sich anfühlte, als hätte jemand die Knochen verknotet. Sie konnte sich im Badezimmer mit der Handbrause selbst befriedigen, oder mit einer Flasche, das alles rührte 175
ihn nicht im mindesten, er lag kühl im Bett und las, ein junger Flußgott mit rötlichem Flaum an seinen langen Gliedmaßen. Der kleine rote Mund schaute nachdenklich aus dem kupferfarbenen Bart, hinter den Brillengläsern träumten grünlich-braune Augen. Sie hätte sich gern das Haar gerauft, geheult, immer wieder masturbiert, ihn gebissen, geprügelt, die herrlichen weißen Zähne in seinen Hals geschlagen, ihm die Schlagader durchgebissen. Aber sie bezwang sich. Statt dessen sagte sie möglichst würdevoll: »Du hast mich nie befriedigt, kein einziges Mal, du machst mich so nervös, daß ich nichts empfinde, wenn es mir kommt, oder es kommt mir nicht, überhaupt nicht.« Das kränkte ihn. Der rote Mund bebte wie eine Wunde. Die grün-braunen Augen wollten sich mit Tränen füllen. Sogar der kupferfarbene Bart schaute besiegt drein. Sie aber triumphierte, denn nun hatte sie ihn getroffen, ihren Kleinen, ihren Liebling, und sie nahm ihn in die weit geöffneten Arme. »Ich liebe dich doch«, sagte sie dazu, sie umklammerten einander und schluchzten. Und doch wollte er sie nicht vögeln, nicht an diesem Abend. Dies war seine Macht, und er gab sie nicht leichtsinnig aus der Hand. Er hielt sie in den Armen, er wiegte sie, aber der Schwanz war sein Eigentum. Sie war feucht für ihn. Sie führte seine Hand an die Stelle zwischen ihre Schenkel, wo die Lippen so schlüpfrig waren wie der moosbewachsene Stein am Seeufer, und sagte: »Das ist für dich.« Er aber zog die Hand weg. Da wollte sie ihn beißen, ihn töten, sein Blut vergießen, doch statt dessen umklammerte sie ihn fester und fester, 176
dachte dabei an den Mann, der weiter oben am Strand wohnte, an den sie auch beim Masturbieren immer dachte, den Mann, auf den er eifersüchtig war, den Schauspieler mit den meerblauen Augen, den breiten Schultern, dem (vermutlich) gigantischen Schwanz, der die Frauen behandelte wie Dreck. Sie wollte ihn nicht, und das war es ja, das war es, was sie so wütend machte: Diesen hier wollte sie, diesen kupferfarbenen Geliebten, diesen rosigen Schwanz. Die Möse ist ein sehr wählerisches Organ, sie hatte sich nun mal auf diesen Mann eingestellt, sich nach diesem Schwanz geformt, fühlte sich in dieser einzigartigen Umarmung zu Hause, in diesen Armen, dieser bärenhaften, haarigen Umklammerung. Sie kniff die Lider zu, und Tränen schossen hervor, als wollten sie dabei schreien. Sie schlief ein mit dem Kopf auf seiner Brust, der Pelz seiner Brustbehaarung kitzelte ihre Nasenlöcher, und von ihren Wangen tropften Tränen hinein. Alpträume. Gesichte. Wogen türmen sich, brechen donnernd hernieder, türmen sich von neuem. Der schwarze Kater von nebenan jagt Kaninchen, Feldmäuse, Eidechsen, lauter kleine Geschöpfe, die er lange foltern kann, bevor er sie tötet. Am nächsten Morgen wollte sie ihn immer noch. Er hatte Kopfschmerzen, sagte ihr das auch gleich, sprang fast aus dem Bett, stapfte ins Bad, unter die Dusche. Lange Zeit lief das Wasser, die Hähne quiekten, Flaschen klirrten. Sie lag auf dem Wasserbett, masturbierte mit klebrigem Finger, ließ ihn um die Klitoris kreisen, steckte noch zwei Finger tief, tief hinein und dachte dabei an den blauäugigen Schauspieler weiter oben am Strand, den sie 177
nicht leiden mochte. Er fuhr im offenen Wagen in die Stadt, auf dem Kopf die Mütze, ein Geschenk von ihr aus ihrer ersten gemeinsamen Woche. Er drückte das Gaspedal durch und dachte dabei an seine Verflossene in der Stadt, und ob er sie nicht besuchen und vögeln sollte. Die empfand er nicht als Bedrohung, sie betete ihn an, sie war lieb und häuslich und in keiner Hinsicht auffallend, eine Bibliothekarin, im Bett durchaus wollüstig. Sie hatte einen noch nicht den Windeln entwachsenen Sohn, der überraschend zu ihnen ins Bett gekrabbelt kam. Bei Frauen kam er gut an, zu gut vielleicht. Sie verliebten sich in seine Jungenhaftigkeit, sein Kindergesicht, den verwundeten Blick, seine Verletzlichkeit. Er konnte sie verlassen. Jederzeit. Noch war er nicht völlig ihr Gefangener, noch war er sein eigener Herr. Später rief er sie aus der Stadt an. Er hatte Sehnsucht. »Ich liebe dich«, sagte er, und sie erwiderte: »Ich liebe dich immens.« Als er heimkam, diktierte sie gerade ihrer Sekretärin die Post, und auch diese Dame hatte eine Schwäche für ihn. Den Nachmittag hindurch arbeiteten alle drei in dem Haus am Strand. Sie schrieben, brühten Kaffee auf, für das Abendessen mußte dies und das vorbereitet werden. Das Telefon klingelte. Sie schrieb ein Weilchen in der Sonne, das Geräusch der Brandung übertönte das Tippen der Sekretärin. Die Glut der Sonne auf ihren Schultern machte sie geil, und sie ging zu ihm ins Arbeitszimmer, wo auch er schrieb. Sie setzte sich auf sein Knie, kitzelte seine Eier, wartete, daß er einen Steifen bekam, und lief davon. 178
Die Sekretärin war gegangen, die Gäste mußten jede Minute kommen. Sie stand in der Küche, schälte eine reife Avocado für den Salat. Die glitschige grüne Frucht fühlte sich schleimig an wie ihre Möse, die den ganzen Tag auf ihn gewartet hatte. Sie hatte einmal, zweimal, dreimal masturbiert, brauchte ihn aber trotzdem noch. Nur sein Schwanz in ihr konnte ihr Ruhe verschaffen. Alles übrige waren Nervenzuckungen. Ihre Finger konnten die glitschige Frucht kaum noch halten, und sie rief ihn zu Hilfe. Während er Scheiben schnitt, wusch sie ihre Hände, trocknete sie an einem Papierhandtuch, schob sie in den Bund seiner Jeans, zwischen seine Schenkel, umschloß seine Eier, die so wunderhübsch gerundet, so glatt, so rosig waren. Dann fuhr sie ihm mit der Zungenspitze ins Ohr, leckte den Fruchtsaft von seinen Fingern. »Ich bin ganz steif für dich«, murmelte er, »ist noch Zeit zum Ficken?« »Die Gäste kommen jede Minute«, neckte sie ihn. Sie war parfümiert, gepudert, frisiert, sie trug hochhackige Sandalen zu einem halb aufgeknöpften Kaftan und nichts darunter. Er tastete über den weichen Venushügel. »Pelzernes Pudendum«, sagte er, ein Ausdruck, der auf den köstlichen ersten gemeinsam verbrachten Monat zurückging. »Junge, bin ich steif, haben wir wirklich keine Zeit?« »Nein, jetzt nicht«, und sie genoß es, ihn hinhalten zu können. Sein Schwanz spannte sich unter den Kupferknöpfen der Jeans, und sie mußte an ihre Schulzeit denken, ans Fingervögeln im elterlichen Wohnzimmer, an den köstlichen, schuldbewußten Sex der Heranwachsenden. »Ich kann so nicht an die Haustür gehen«, sagte er und deutete 179
auf seine eindrucksvolle Erektion. Sie befühlte ihn, um sich noch einmal davon zu überzeugen. »Laß das«, sagte er, aber nicht streng. Die Gäste gingen. Auf dem niedrigen Kaffeetisch volle Aschenbecher, fleckige Weingläser, leere Flaschen Mouton-Cadet, ausgetrockneter Käse, feucht gewordenes Salzgebäck, angeknabberte petit fours, eine geleerte Cognacflasche, zwei Schwenker, in denen noch goldener Branntwein stand. »Aufzuräumen brauchen wir doch wohl nicht mehr, oder?« sagte sie. »Nein, das können wir morgen früh erledigen.« Sie war jetzt müde, fast zu müde zum Vögeln. Komisch, nicht wahr? Sie wusch ihr Gesicht im Badezimmer mit kaltem Wasser, fuhr mit der Bürste über das Haar, versprühte Parfüm. »Ich weiß nicht, ob man Joanna trauen kann«, sagte sie. Joanna war unter den Gästen gewesen. »Sie macht mir einen ziemlich abgebrühten Eindruck. Findest du nicht?« Sie fand alle anderen unweigerlich abgebrühter, gerissener als sich selbst; andere ließen sich nicht so leicht übers Ohr hauen, waren weniger offenherzig, mehr darauf bedacht, sich keine Blöße zu geben. Vielleicht galt das auch für ihn, so lieb er auch war. Vielleicht war auch er ein abgefeimter Bursche? »Dir sollte ich eigentlich auch nicht trauen«, sagte sie vom Ankleidezimmer her. »Was?« Er war gekränkt, fühlte sich abgewiesen. Sie trat ans Bett und sah ihn scharf an. »So was kannst du doch nicht zu einem Mann sagen, mit dem du gleich vögeln willst.« 180
»Ich meine es anders als du. Und im übrigen brauchst du dich meinetwegen nicht zu bemühen.« »Ich weiß, daß ich es nicht brauche, ich will aber. Nur, wenn du mir nicht sagen willst, weshalb du mir nicht traust, dann lasse ich’s.« Alle möglichen Gedanken gingen ihr durch den Sinn. Die gescheiterte Ehe; die unstillbare Sehnsucht nach diesem Mann neben ihr, der sich ihr tropfenweise austeilte, immer darauf achtend, daß sie niemals vergaß, wer der Herr war; ihre Zärtlichkeit, die nur ihm galt; die Angst, verwundbar zu werden, ihn allzusehr zu brauchen. Das konnte sie ihm jetzt unmöglich alles erklären, auch wenn sie sich ihm verwandt fühlte, auch wenn er der Mann war, der sie beinahe besser verstand als sie sich selbst, ihr bester Freund. Denn auch hier, auch in dem zärtlichen Miteinander, das sie jetzt schon beinahe ein Jahr verband, gab es Unvereinbarkeiten, mangelte es gelegentlich an Einfühlungsvermögen, die Schlange lauerte im Gras. »Ich habe es nicht so gemeint, wie du denkst. Und wenn ich es dir erkläre, wird das Mißverständnis noch größer. Manchmal frage ich mich, ob du bei all deiner Sanftheit nicht doch hart bist wie Stein. Weiter nichts. Es ist nicht wichtig. Ich kann es nicht näher erklären...« Er sah sie gekränkt an. »Ich hätte dich gern gevögelt«, sagte er. »Ich hatte so Lust darauf und war dir so zugetan. Warum mußt du jetzt eine Mauer aufrichten?« Das wußte sie auch nicht. Er stand auf und knipste die Lampen aus. Aus dem Wohnzimmer brachte er eine Kerze, die nach Fichtennadeln roch, und suchte nach seinem Feuerzeug. 181
»Ich werde eine romantische Stimmung hervorzaubern«, sagte er sarkastisch. Die Kerze wollte nicht brennen. Sie rutschte über das Wasserbett, daß er ins Schaukeln kam. Sie probierte es jetzt mit dem Feuerzeug, drehte die Kerze um, verbrannte sich die Finger, beschmierte sich mit grünem Wachs, aber der Docht wollte nicht brennen. »Laß, ich hole eine andere Kerze aus dem Wohnzimmer. Warum ziehst du nicht das tolle schwarze Nachthemd an?« Sie hatte auf einer ihrer Reisen billige Reizwäsche gekauft, weil er daran Gefallen fand, unter anderem ein Korsett aus schwarzem Satin mit roten Spitzen und breitem, schwarzem Seidenbesatz, langen Strumpfhaltern, schwarzen Strümpfen mit Naht, ferner mehrere durchsichtige schwarze Nachthemden, eines mit rosa Bändern unter dem eingearbeiteten BH, der ihre Brüste steil anhob, daß die Warzen über den schwarzseidenen Rand hinwegstanden. Das Nachthemd sprang vorn auf. Dies zog sie nun über, ohne die winzigen Höschen, die dazu gehörten. Ihre Möse tropfte. Nun trafen sie im Bett aufeinander. Die Kerze brannte. »Du kannst doch nicht an meiner Liebe zweifeln«, sagte er, so als wüßte er, daß es jetzt besser war, nicht von den anderen Dingen zu reden, von Vertrauen, Kränkung, Härte. »Das tue ich auch nicht«, sagte sie. Er war ihre Liebe, der einzige Mann, bei dem sie sich ganz als Frau, ganz besessen, ganz geöffnet und verletzlich gefühlt hatte. Wenn er ihre Möse berührte, fühlte sie sich so nackt wie die geschälte Avocado vorhin. »Wie eine Blume ist das«, sagte er, umkreiste mit den 182
Fingern ihre Klitoris, berührte die empfindliche Stelle gleich hinter der Öffnung, beugte sich darüber und führte die Bewegung mit der Zungenspitze fort. »Ich bin naß für dich«, murmelte sie. Sie wollte jetzt nicht ans Vögeln denken, nicht ans Kommen, ans Streiten, nur an die Zunge, die da am Rande ihrer Möse entlangfuhr, an die Glitschigkeit, die Schlüpfrigkeit der Avocado, das Schaukeln des Wasserbettes, an das Rauschen der Brandung. Sie beugte sich zu seinem Penis hinunter und kitzelte ihn mit ihrer Zunge, dann seine Eier, den Schaft, die Haut, leckte, hörte auf, leckte wieder, bis sie ihn ächzen hörte und meinte, sie könnte seinem Schwanz nicht nur Sperma entlocken, sondern auch Gesang, Ächzen, Wörter, könnte ihn zum Sprechen bringen. Nun saugte er an ihren Brustwarzen, knetete die über den Rand des Nachthemdes quellenden Brüste. Sie öffnete für den Bruchteil einer Sekunde die Augen, sah ihm dabei zu, sah ihn an ihren Brüsten saugen, dieses rotbärtige Baby mit dem riesigen, harten Schwanz, diesen Mann, dieses erstaunliche Wunder. Also war alles vergebens gewesen: ihr Feminismus, ihr Unabhängigkeitsdrang, ihr Ruhm, das alles hatte sie nicht von dieser Hilflosigkeit befreit, von dieser Bedürftigkeit. Sie brauchte ihn, sie brauchte diesen Mann. Als er in sie eindrang, als sein heißer Schwanz in sie hineinglitt, ächzte sie etwas von Ergebung, Kapitulation, wie sie sich dessen schäme, daß sie seiner so bedürftig sei, daß sie ihn so verzweifelt liebe. »Ich brauche dich ebensosehr«, widersprach er. »Ich kann das doch nicht ohne dich 183
machen, ich brauche dich auch.« Anfangs saß sie auf ihm, glitt gleichmäßig auf seinem Schwanz auf und nieder, und er hielt ihre Klitoris mit zwei glitschigen Fingern, einen Finger in ihrem Arsch. Die Welt versank bis auf das Pochen in ihrer Möse, welche für sie jetzt das gesamte Universum darstellte, eine Milchstraße, ein schwarzes Loch im Weltraum. Das erste Mal kam es ihr zitternd und schreiend, und sie biß in seine Schulter. Der Orgasmus war offenbar nicht nur in ihrer Möse, sondern auch in der Kehle, überhaupt im ganzen Körper, und der Schrei gehörte dazu, mit ihm löste sich die Spannung. Er drehte sie abrupt, aber nicht unzart auf den Rücken und fickte sie von oben. Als sie seinen Schwanz raus und rein gleiten fühlte, als gehöre ihm ihre Seele, meinte sie, es wäre ihr recht, wenn sie so in dieser Minute stürbe, denn dann hätte sie gelebt, hätte das meiste erfahren, empfunden. Mehr noch: sie wollte sein Kind, ihr und sein Kind, wollte den Schmerz spüren, die Lust, aber wenn sie in diesem Augenblick stürbe, würde sie sich nicht vom Leben betrogen fühlen. Wieder kam es ihr. Sie sagte es ihm. Ob er warten könne? Ob sie mal einen Moment stilliegen könne? Sie lag still, sie drückte seinen Schwanz nur mit den Muskeln ihrer Möse, und er ächzte. Sein Mund lag weich und zärtlich auf dem ihren, die Augen waren weit genug geöffnet, um die ganze Dunkelheit einzulassen. Wieder rollte er sie herum, bis sie auf ihm saß, sein Schwanz war ganz reglos, auch die Hüften. Sie massierte seinen Schwanz mit ihren Muskeln, mied aber möglichst jede Bewegung. Er sollte sich erst beruhigen. 184
Dann legten sie beide los, gleichzeitig, im gleichen Rhythmus, Schwanz und Möse, und nun gab es nichts anderes mehr auf der Welt. Sie kam mit einem Schauder, der sie von Kopf bis Fuß schüttelte und ihr noch einen Schrei entrang, der kaum menschlich war. Alles löste sich, sie schrie, es kam ihr, sie pinkelte, und das war ihr peinlich, aber er sagte bloß: »Auch deine Pisse liebe ich, deine Fürze, deine Scheiße, deine enge Fotze.« Und dabei krallte er seine Nägel in ihren Arsch und zog ihre Möse auf seinen Schwanz herunter wie einen Handschuh über den Finger. »Willst du mein Sperma?« fragte er überflüssigerweise, denn selbstverständlich wollte sie es, sie wollte es gegen ihre Gebärmutter spritzen fühlen, gegen ihr Herz, bis in die Fingerspitzen, und er ächzte, er schluchzte, zitterte und weinte, als es ihm kam, und sie spürte, wie sein Penis zuckte, als er den Samen in ihren Schoß verspritzte, wo er, wie sie hoffte, aufgehen würde. In der Stille nach dem Erdbeben lagen sie reglos. Sie spürte im Zwerchfell eine kleine Sonne glühen. Ihre Arme und Beine waren schwer und unbeweglich, Raumanzüge mit Quecksilber gefüllt, bleierne Gliedmaßen. Auch als sein Schwanz schlaff wurde und sich von ihr wegkringelte, hielt er sie noch umfangen. »Ich will dich nie verlassen«, sagte er. »Nie.« Mit vom Schreien heiserer, von Liebe gedämpfter Stimme fragte sie: »Glaubst du, daß viele Liebende so etwas empfunden haben und dann doch gestorben sind?« »Das ist doch egal«, sagte er. »Das ist doch egal.« »Das heißt also: ja, nicht wahr?« Er zog sie fester an sich. 185
Die andere Seite der Trauer Es läutet an der Tür. Paula drückt auf den Knopf, der die Eingangstür öffnet, und geht ins Treppenhaus. Sie blickt über das schmiedeeiserne Geländer. Zunächst sieht sie nichts, doch sie hört Männerstimmen, kurze Befehle, ein Scharren, dumpfes Pochen. Die Treppe verläuft spiralförmig nach unten. Paula geht den Geräuschen entgegen, dem Schlurfen, Ächzen. Sie sieht die Klavierträger von oben. Die beiden tragen das Pianino mit Hilfe von Gurten. Einer, dessen Glatze zu ihr hinaufleuchtet, geht voraus, ein zweiter dahinter. Sie schwanken auf der Treppe, das Pianino neigt sich zur Seite. Auf dem Treppenabsatz angekommen, stellen sie das Klavier auf ein Brett mit Rädern und schieben es bis zum Anfang der Treppenflucht, die ins nächste Stockwerk führt. Paula läuft hinunter, begrüßt die Männer, die ihr mit gepreßter Stimme antworten, und geht neben ihnen her. Auf dem nächsten Treppenabsatz stellen sie das Klavier wieder auf das Brett. Der Mann mit der Glatze ist untersetzt und mindestens sechzig. Der zweite ist jünger, blond und schmächtig und lehnt sich an die Wand. Er wischt sich die Stirn. Paula sieht den älteren Mann an. Warum müssen Menschen mit sechzig Klaviere tragen, denkt sie. Menschenfleisch muß gepeinigt werden, sagt der jüngere Klavierträger wie zur Antwort und kichert. Paula blickt in sein Gesicht und sieht die Zerstörung. 186
Die beiden Männer kämpfen sich weiter die Treppe hoch. Paula macht die Wohnungstür weit auf. Wohin, stößt der ältere hervor. Sie weist ihnen den Weg zu dem Platz, den sie für das Klavier bestimmt hat. Dann geht sie in die Küche, öffnet zwei Flaschen Bier und bietet sie den Männern an, die die Flaschen stehend an die Lippen setzen und in langen Schlucken austrinken, während ihre Augen über die Gegenstände im Zimmer gleiten. Sie unterschreibt den Lieferschein und gibt ihnen ein Trinkgeld. Im Gehen wendet sich der jüngere Mann um. Elegant haben Sie es hier, sagt er und kichert wieder. Paula schließt die Tür, geht zum Klavier, hebt den Deckel hoch und schlägt eine Taste an. Ein besonderer Klang, hat der blinde Klavierstimmer gesagt und an ihr vorbeigeblickt. Sie streicht über das Holz, die Schnitzereien, die Stellen, wo das Furnier abgeblättert ist, zieht mit dem Finger eine kreisförmige dunkle Stelle an der Oberseite nach. Sie kennt das Klavier sehr genau. Zuletzt hat sie als Halbwüchsige darauf gespielt. Mit siebzehn Jahren hat sie das Spielen aufgegeben, da ihr der Klavierlehrer von Tag zu Tag abstoßender erschienen war. Das Telefon läutet. Es ist die Mutter. Haben sie das Pianino gebracht, fragt sie. Ja, sagt Paula. Ich habe ihnen gesagt, daß sie es sehr vorsichtig behandeln müssen. Ein solches Pianino ist heute nicht mehr zu haben. Es ist der Rahmen. Der Rahmen ist das Besondere. Ein gußeiserner Rahmen. Es ist alles in Ordnung, sagt Paula. 187
Ich bin einsam, seit du fort bist, sagt die Mutter. Wann kommst du. Ich bin so einsam. Ich bin auch einsam, sagt Paula. Wann kommst du, fragt die Mutter wieder. Wenn du nicht kommst, bin ich traurig. Paula schweigt. Andere kümmern sich um ihre Mütter. Wann kommst du endlich. Seit du fort bist, nehme ich wieder die Tabletten. Ohne Tabletten kann ich nicht einschlafen. Am Freitag, sagt Paula. Am Freitag komme ich. Mit dem Abendzug. Ja, sagt die Mutter. Andere kümmern sich mehr um ihre Mütter. Aber du warst schon immer so. Ich muß auflegen, sagt Paula. Bis Freitag. Paula sieht sich im Zimmer um. Das Klavier ist das einzige Möbelstück. Ein dunkelrotes Telefon steht auf dem Fußboden, das Kabel schlängelt sich über das Parkett. An einer Seite des Raumes sind große Kisten aufgereiht. Auf einer Kiste sitzt ein großer brauner Teddybär mit einem roten Stirnband. Paula geht ins angrenzende Zimmer. Auf dem Boden liegt eine Matratze, daneben stehen ein Wecker, eine halbvolle Flasche Rotwein und ein Glas. Ein weißer Kachelofen füllt eine Ecke aus. Paula schenkt sich Rotwein ein und geht mit dem Glas in die Küche. Die neuen Einbaumöbel strömen einen fremden Geruch aus. Auf dem Kühlschrank klebt ein grünes Etikett mit dem Wort Ökosystem. Den Küchenboden bedecken hellgraue Fliesen. Paula hat die erste Nacht in der neuen Wohnung verbracht. Sie hat sich vorgenommen, sich an das zu erinnern, 188
was sie träumen wird. Sie hat von einem Kind geträumt, das vor ihren Augen in Flammen aufging und lichterloh brannte. Sie war entsetzt, doch dann sah sie, daß das Kind keinen Schaden genommen hatte, daß es heil, mit wenigen kleinen Schrammen, aus dem Feuer hervorgegangen war. Sie schloß es in die Arme. Paula stellt das Glas ab, durchsucht eine Kiste, findet Notenhefte und geht zum Klavier zurück. Sie klappt den geschnitzten Notenständer auf, blättert eine Weile in einem Heft und stellt es auf den Ständer. Stehend spielt sie ein Bach-Präludium, das ihr noch in Erinnerung ist. Plötzlich steht das kleine Mädchen im Zimmer. Du mußt dich beim Spielen hinsetzen, sagt es. Wie bist du hereingekommen, fragt Paula. Gleichzeitig fällt ihr die Antwort ein. Eine Tür des Zimmers führt auf den Balkon, den man auch von der Nachbarwohnung aus betreten kann. Ein niedriges Gitter teilt ihn in zwei Teile. Ich bin über das Gitter geklettert, sagt das Mädchen. Sieh mal. An der Hand zieht sie Paula auf den Balkon und weist auf das Gitter. Es ist ganz einfach. Wohnst du jetzt hier. Ja, sagt Paula, nimmt zwei hölzerne Klappsessel, die an das Balkongitter gelehnt sind, und stellt sie auf. Das Mädchen setzt sich auf einen Sessel und läßt die Beine baumeln. Vorher hat hier ein Ehepaar gewohnt, sagt sie. Der Mann hat in der Nacht gehustet. Die Frau hat rote Blumen auf dem Balkon gepflanzt. Sie hat mir manchmal Kekse gegeben. Hast du welche. 189
Ich kann nachsehen, sagt Paula, geht in die Wohnung und kommt mit einer Dose zurück. Das Mädchen dreht eine leere Kiste um und stellt sie zwischen die beiden Sessel. Wir stellen die Dose auf die Kiste, sagt sie. Wir machen ein Teekränzchen. Das Mädchen stellt die Dose auf die Kiste, öffnet sie und blickt hinein. Die kenne ich, sagt sie. Kann ich eines haben. Wie heißt du. Ja, sagt Paula. Ich heiße Paula. Und du. Friederike, sagt das Mädchen. Meine Mutter arbeitet. Sie kommt aber bald. Warte. Sie steigt über das Gitter und verschwindet in der Nachbarwohnung. Gleich darauf kommt sie mit einem kleinen Tablett zurück, auf dem zwei Mokkatassen mit Goldrand, zwei kleine Untertassen mit zwei Löffelchen und ein Milchkrug stehen, und stellt es auf die Kiste. Hast du Tee, fragt sie. Ich glaube nicht, sagt Paula. Ich bin gerade erst eingezogen, weißt du. Ja, ich weiß, sagt Friederike. Ich habe die Möbelpacker durch den Spion gesehen. Hast du was anderes. Apfelsaft, sagt Paula. Und Milch. Das geht, sagt Friederike. Holst du die Sachen. Paula nimmt einen Karton Apfelsaft und eine Flasche Milch aus dem Kühlschrank, geht wieder auf den Balkon und stellt beides auf die Kiste. Friederike gießt Apfelsaft in die Mokkatassen. Dann leert sie die Milch in den Krug. Sie gießt ein wenig davon in ihren Apfelsaft und kostet. 190
Das schmeckt gut, sagt sie. Jetzt haben wir ein Teekränzchen. Willst du auch Milch in deinen Apfelsaft. Nein danke, sagt Paula. Wie alt bist du. Friederike greift in die Dose. Fünf, sagt sie. Am Sonntag fahren wir nach Dresden. Zu meinem Onkel. Ich kann schon schreiben. Darf ich auf dem Klavier spielen. Ohne eine Antwort abzuwarten, nimmt sie den Klappsessel und stellt ihn vor das Klavier. Vorsichtig drückt sie die Tasten nieder. Man darf nicht so laut spielen, flüstert sie. Wozu sind die hier, fragt sie und zeigt auf die Pedale. Wenn man darauf tritt, werden die Töne länger, sagt Paula. Versuch es doch. Friederike rutscht auf dem Sessel nach vorn, tritt sacht auf beide Pedalen und wählt die Tasten sorgfältig aus. Das klingt schön, sagt sie. Da vermischen sich die Töne. Wie in einem Zauberwald. Die Elfen spielen so. Konzentriert spielt sie weiter. Paula steht mit der Mokkatasse in der Hand am Fenster und sieht dem Kind zu. Das Mädchen hat halblanges, glattes blondes Haar. Sie trägt einen kurzen geblümten Rock. Ihre Beine sind lang und dünn, die Knie unverhältnismäßig groß. Sie trägt ein T-Shirt mit dem Abdruck vieler kleiner Hände. Ich muß jetzt gehen, sagt Paula. Ich muß ins Büro. Schade, sagt Friederike und hört zu spielen auf. Meine Mutter muß auch immer ins Büro. Kann ich wiederkommen. Wir machen noch ein Teekränzchen. Ich kann das Geschirr mitbringen. Das Porzellan. Ja, das machen wir, sagt Paula. 191
Friederike geht auf den Balkon, stellt ihre Sachen auf das Tablett, steigt über das Gitter und verschwindet. Paula läuft den Bahnsteig entlang, reißt eine der bereits geschlossenen Zugtüren auf, wirft ihre Reisetasche hinein und steigt ein. Der Zug setzt sich in Bewegung. Mit der Reisetasche vor sich zwängt sie sich durch die engen Gänge des Zuges, in denen sich viele Reisende aufhalten. Sie gelangt in den Speisewagen und beschließt, sich hier niederzulassen und einen Kaffee zu trinken. Sie setzt sich an einen Tisch, an dem ein Mann sitzt, der in einem Buch liest, gibt ihre Bestellung auf und blickt aus dem Fenster. Von Zeit zu Zeit lacht der lesende Mann leise. Hinter ihr sitzen drei lärmende Betrunkene. Ich sag’ dir was, hört sie einen von ihnen sagen. Ich sag’ dir jetzt was. Die Frau muß wissen, wer der Herr im Haus ist. Das ist das wichtigste. Der Zug hat die Stadt hinter sich gelassen und durchquert eine weite Ebene. Maisfelder reichen bis an den Horizont. Paula trinkt einen Schluck von ihrem Kaffee. Fahre ich in die falsche Richtung. Wohin führt die richtige Richtung. Führt die richtige Richtung von der Mutter weg. Muß die Mutter immer kleiner werden. Ist es genug, wenn sie mir aus der Ferne zuwinkt. Ein köstliches Buch, sagt der lesende Mann. Endlich wieder ein Buch, das einen zum Lachen bringt. Das ist so selten. Es geht um diesen jungen Mann, der auf der Suche nach seinem Vater ist, wissen Sie. Ach so, sagt Paula. Die Strecke steigt langsam an. Bald befindet sich der 192
Zug weit über dem Tal. Wie Zündholzschachteln liegen kleine Heuschober auf den grünen Wiesen unter ihnen. Der Zug fährt in einen Tunnel. Paula sieht sich in der Fensterscheibe widergespiegelt. Mein trauriges Gesicht. Die Augen. Der Zug fährt wieder aus dem Tunnel und über eine hohe Eisenbrücke. Unten fließt ein schäumender Bach. Der Witz ist, sagt der Lesende, daß mindestens fünf Männer als Vater in Frage kommen. Seine Mutter führte nämlich ein lustiges Leben. Ich verstehe, sagt Paula. Lustiges Leben. Ich bin vierzig. Mein Leben ist nicht lustig. Ich bin nicht lebenslustig. Meine Mutter ist auch nicht lebenslustig. Auf einer Anhöhe steht eine Burg aus grauem Stein. Der Zug hat die höchste Erhebung erreicht, die Strecke wird abschüssig. Der Lesende klappt sein Buch zu, grüßt freundlich und geht. Paula bezahlt ihren Kaffee. Sie blättert in einer Tageszeitung, die auf dem Tisch liegengeblieben ist. Gast kritisierte das Essen, steht auf der ersten Seite. Da griff der Koch zur Pistole. Sie macht sich zum Aussteigen bereit. Der Zug hält mit kreischenden Bremsen. Will ich aussteigen. Oder will ich an ihr vorüberfahren. Paula steigt aus und schlägt den kurzen Weg zum Elternhaus ein. Die Mutter steht vor der Haustür. Sie hat sich hübsch gekleidet und frisiert. Paula umarmt sie. Sie wird immer kleiner. Immer weicher. Die Haut wird immer dünner. Du mußt etwas essen, sagt die Mutter. Ich habe für dich gekocht. Obwohl mich das Stehen vor dem Herd 193
anstrengt. Ich habe mir den Knöchel verletzt. Gestern. Ich bin im Garten umgeknickt. Ich bin nicht hungrig, sagt Paula. Ich habe im Speisewagen etwas gegessen. Aber ich habe für dich gekocht, beharrt die Mutter. Du siehst schlecht aus. Der Speisewagen ist viel zu teuer. Du mußt essen. Sie wendet sich zum Herd. Paula sieht sie von hinten, die hartnäckige Haltung der Schultern. Das Mitleid und die Liebe und die Wut. Es gibt keinen Ausweg aus diesem Gefühl. Am Nachmittag machen sie einen Spaziergang zum Grab des Vaters. Leute begrüßen sie auf der Straße, fragen sie, wie es ihr in der Stadt gefällt, ob ihr denn das Dorf nicht fehle, in dem sie so lange gelebt hat, das Elternhaus, die Mutter. Sie gibt zur Antwort, was sie hören wollen. Ja, sagt sie. Man hat Heimweh. Sie sieht ihre leere weiße Wohnung vor sich. Das Mädchen, das mit abgestrecktem kleinen Finger die durchsichtige Mokkatasse mit dem Goldrand hält. Sie streckt sich im Gehen und lacht die Mutter an. Ja, sagt sie, man hat Heimweh. Was für ein schöner Tag, sagt sie. Dieser klare Himmel. Ja, aber die Wespen, sagt die Mutter. Die Wespen. Und das Wetter wird nicht anhalten. Es wird regnen. Sie gehen ein Stück unter Birnbäumen. Der Geruch nach gärenden Früchten aus der Kinderzeit. Hier hat sie mich eingeholt, an dieser Stelle. Ich war zwei, drei Jahre alt, hatte mich mit dem Dreirad zu weit vom Haus entfernt. Ihre Wut, das ist die andere Seite der 194
Trauer. Eine Weile schweigen die beiden Frauen. Paula hebt den Kopf und sieht von neuem das Bild des Mädchens, wie es behutsam die Tasten anschlägt. Sie lächelt wieder. Ich habe viel Platz in der neuen Wohnung, sagt sie. Du brauchst nicht soviel Platz, sagt die Mutter. Andere Töchter wohnen zu Hause. Eine Freude steigt in Paula auf. Ich kann von einem Zimmer ins andere gehen, sagt sie fröhlich. Die Fenster sind groß. Ein kleines Mädchen hat mich besucht. Man weiß nie bei fremden Leuten, sagt die Mutter. Du könntest längst Kinder haben. Wo sind meine Enkel. Ich könnte fünf Enkel haben. Sie hängt sich bei Paula ein. Paula schiebt den Arm der Mutter weg. Du kannst allein gehen, sagt sie. Sie betreten den kleinen Friedhof und gehen durch die Reihen der Gräber. Viele Namen wiederholen sich. Die Gräber sind in pedantischer Weise gepflegt. Schau dir dieses Grab an, sagt die Mutter und weist auf ein Grab, auf dem Gras wuchert. Eine Schande. Wenn das ihr Mann sehen könnte. So lange hat er gelitten. Und sie glaubt, sie kann tun und lassen, was sie will. Aber es ist vier Jahre her, sagt Paula. Dein Vater ist seit sieben Jahren tot, sagt die Mutter. Man muß die Toten ehren. Und die Lebenden. Was ist mit den Lebenden. Sie stieß ihn von sich. Geh weg, sagte sie. Ihre Nörgelei. Ihre Herrschsucht. Ihre Szenen. Über Jahrzehnte hinweg. 195
Kein Fortschritt. Und nun die unmäßige Trauer. Die neue Pflicht. Die ständigen Friedhofsbesuche. Paula blickt auf das Bild des Vaters und beruhigt sich. Mit gefalteten Händen steht sie eine Weile vor dem Grab. Die Mutter zupft Unkraut aus, harkt die Erde, gießt die Blumen und stellt eine neue Kerze in die Grablaterne. Gehen wir, sagt Paula. Am Abend sitzt die Mutter vor dem Fernsehapparat und sieht sich die Nachrichten an. Paula liest in der Küche die Zeitung. Komm, sieh dir das an, ruft die Mutter. Was ist denn. Ein Brand in einem Tanzlokal in Madrid. Komm doch. Ich lese gerade. Schrecklich. All die verkohlten Leichen. Sie tragen sie hinaus. Komm und sieh es dir an. Gleich. Alles junge Leute, in deinem Alter. Paula hebt den Kopf von der Zeitung und blickt in eine Ecke der Küche. In diese Ecke hat sie sich oft geflüchtet, wenn die Mutter hinter ihr her war. Sie hat sich in den Zwischenraum zwischen dem Kühlschrank und dem Diwan gedrückt, der damals dort stand. Weiter ging es nicht. Sie stand und wartete auf die Mutter, die mit verzerrtem Gesicht näher kam. Der Blick in die Ecke zeigt ihr die roten und blauen Striemen auf der dünnen Kinderhaut wieder, beschwört den Schauer herauf, den sie empfand, wenn sie leicht über die gänsehautartigen Erhebungen strich, um sich zu trösten. Viel später hat sie die Mutter 196
zur Rede gestellt. Die Mutter sagte: Wenn man seine Kinder liebt, dann schlägt man sie, so hat man es mir beigebracht. Für Paula ist es nur ein Teil der Wahrheit. Das Kind spürte, wie die Mutter das Schlagen genoß. Danach war sie erschöpft und entspannt. Das Kind war als Opfer in die Orgie einbezogen. Die Mutter steht im blauen Schlafrock in der Tür. Willst du einen Martini, fragt sie. Ja, sagt Paula und löst sich von den Bildern. Die Mutter nimmt zwei Gläser, füllt sie bis zur Hälfte mit Eiswürfeln, gießt Martini ein, schneidet zwei Scheiben von einer Zitrone ab, macht einen Schnitt in jede Scheibe und steckt sie auf den Rand des Glases. Ich trage die Gläser auf den Balkon, sagt sie. Es ist warm draußen. Paula folgt ihr und setzt sich in einen Korbsessel. Der Mond steht am Himmel, die Fichte vor dem Haus ragt dunkel in die Höhe. Weiter unten liegt der See. Am anderen Ufer glänzen Lichter. Warum bist du weggegangen, fragt die Mutter. Vierzig Jahre hast du hier gelebt. Eben deshalb, sagt Paula. Man muß sich verändern. Sie sieht die Mutter von der Seite an. Sie hat ein Kind nach ihrem Willen formen wollen. Ist es ihr gelungen. Eine Wohnung ist teuer. Hier könntest du weiter umsonst wohnen, sagt die Mutter. Wir könnten es schön haben. Paula lacht. Ich denke nicht daran, sagt sie. 197
Der Tonfall der Mutter ändert sich. Dein Trotz. Immer warst du störrisch. Immer hast du die Wäsche falsch aufgehängt. Ich habe es dir gesagt, und du hast die Wäsche absichtlich verkehrt aufgehängt. Du warst ein störrisches Kind. Aber ich habe es nicht zugelassen. Wenn du Kinder hättest, wüßtest du, wie schwer es ist, Kinder zu erziehen. Aber du hast ja keine. Andere Frauen in meinem Alter haben zehn Enkel. Paula hört sich langsam reden. Deinetwegen habe ich keine Kinder. Was redest du da, ruft die Mutter. Als ob du das nicht wüßtest, sagt Paula. Als ob du das nicht wüßtest. Wenn dich dein Vater hören würde, sagt die Mutter. Er würde sich im Grabe umdrehen. Paula hört sich leise reden. Er müßte nicht tot sein. Die Mutter ist aufgestanden. Sie holt mit der rechten Hand aus und schlägt Paula zweimal hart ins Gesicht. Ich werde es dir geben, flüstert sie. Kinder haben zu gehorchen. Solange ich lebe, gehorchst du. Am nächsten Morgen fährt Paula ab. Bevor sie geht, fällt ihr Blick auf die Familienfotos, die gerahmt an der Wand des größten Zimmers hängen. Aus einem Klassenfoto schaut ihr die Mutter als kleines Mädchen entgegen. Sie hat halblanges, glattes blondes Haar. Sie trägt eine weiße Schürze mit Rüschen. Ihre Beine sind lang und dünn, die Knie unverhältnismäßig groß. Paula starrt das Kindergesicht an. 198
Das ist am Anfang gewesen. Eine Unschuld. Es gibt nichts zu reden. Als Paula geht, steht die Mutter vor dem Haus. Bevor Paula um die Ecke biegt, blickt sie zurück, sieht den Rücken der Mutter, die sich entfernt, die trotzige Linie. Das Mitleid. Sie geht weiter. Es gibt nichts anderes zu tun. Im Zug versucht sie zu schlafen. Im Dahindämmern steigen Bilder auf. Die Mutter und sie nebeneinander, ununterscheidbare Zwillinge, dunkle Augen voll Trauer, die Mutter und sie an einem schwarzen Gewässer. In einer weiten Krinoline schreitet die Mutter feierlich ins Wasser, immer weiter hinaus, die Tochter ringt am Ufer die Hände. Die Mutter, außer sich auf sie einschlagend. Die Wut und die Trauer. Entschuldigen Sie, haben Sie Feuer, fragt die junge Frau, die ihr gegenübersitzt. Paula schüttelt den Kopf. Es ist besser, nicht zu rauchen, sagt die Frau. Ich rauche, seit ich zehn bin. Ich habe einen Schatten auf der Lunge, sagt der Arzt. Mit der unangezündeten Zigarette im Mund steht sie auf und geht auf die Suche nach jemandem, der ihr mit Zündhölzern oder einem Feuerzeug dienen kann. Auf dem Weg zu ihrer Wohnung geht Paula an einem großen Musikaliengeschäft vorüber. Im Schaufenster steht ein glänzend schwarzes Pianino, davor ein ebenfalls schwarzer lackierter Klavierhocker. Sie tritt durch die Tür und stellt die Tasche ab. Ein junger Mann fragt sie nach ihren Wünschen. 199
Ich hätte gern einen Klavierhocker, sagt Paula. Wir haben Klavierhocker nicht lagernd, gnädige Frau, sagt der Verkäufer. Aber der Hocker im Schaufenster, sagt Paula. Er ist unverkäuflich. Ein Schauexemplar. Ich zeige Ihnen einen Katalog. Sie können einen Hocker bestellen, wenn Sie wollen. Lieferfrist ein Monat. Paula setzt sich an einen runden Tisch und blättert in einem Katalog. Sie entscheidet sich für einen einfachen Hocker aus schwarz gebeiztem Holz mit grüner Polsterung. In ihrem Haus sperrt sie die erste Tür des alten schmiedeeisernen Aufzugs auf, schiebt die zweite Tür zurück, stellt die Tasche auf den kleinen Klappsessel und schließt beide Türen. Sie fallen mit einem hallenden Geräusch zu. Paula drückt den Messinghebel hinunter, auf dem Dritter Stock steht. Beim Hinauffahren blickt sie durch das Gitter. Ein Gefängnis. Ein Hochsicherheitstrakt. Abwärtsfahren verboten steht auf einem Emailschild an der Wand des Aufzugs. Auf dem Gang begegnet Paula niemandem. Im Haus ist es sehr still. Als sie die Wohnung betritt, hat sie das Gefühl, ein ungebetener Gast zu sein. Sie packt die Tasche aus, duscht sich, zieht sich um, kocht Kaffee und geht mit der Schale ins große Zimmer. Der Klappstuhl steht noch immer vor dem Pianino. Darauf liegt ein ovaler Gegenstand. Paula tritt näher. Es muß ein Osterei aus Schokolade sein. Sie nimmt es in die Hand. Überraschungsei steht auf dem Stanniolpapier. Sie setzt sich auf den Klappstuhl und wikkelt das Ei aus. Es läßt sich leicht in zwei Hälften teilen. Im Inneren findet sie einen orangen Plastikbehälter. Das 200
Ei besteht außen aus dunkler Schokolade, das Innere ist mit weißer Schokolade ausgekleidet. Paula ißt eine Hälfte. Dann öffnet sie den Plastikbehälter. Kleine Plastik- und Papierteilchen fallen ihr entgegen. Sie legt die Teilchen nebeneinander auf den Klavierdeckel. Lange orange Vogelbeine. Ein oranger Schnabel. Sie beginnt die Teile zusammenzufügen. Ein großer Vogel. Ein schwarzweißer Plastikkörper. Flügel aus weißem Papier. Sie stellt den Vogel auf die Innenfläche der linken Hand. Ein Reiher. Ein Storch. Sie sieht den Vogel an und beginnt zu weinen, ohne ein Geräusch. Ihr Gesicht rötet sich, sie legt den Kopf auf den Klavierdeckel, die Schultern heben und senken sich. Nach einer Weile steht sie auf, wählt ein Notenheft aus, schlägt es auf und legt es auf das Heft mit den BachPräludien. Sie versucht, eines von Bartoks Kinderliedern zu spielen. In der leeren Wohnung hallen die Töne nach. Sie vernimmt ein Geräusch und blickt sich um. Friederike drückt die Balkontür auf. Ich habe dich spielen hören, sagt sie und stellt sich neben sie hin. Ach, du hast mein Ei schon aufgemacht. Kann ich den Rest haben. Sie greift nach der Schokolade. Ihr Blick fällt auf den Vogel. Schon wieder ein Storch, sagt sie. Ich habe schon drei. Ich muß die Überraschungseier woanders kaufen. Der Mann an der Ecke hat immer die gleichen Sachen drin. Den Storch, den rosaroten Panther mit dem Tennisschläger und das Segelboot. Du hast ein komisches Gesicht. Hast 201
du geheult. Ich habe mich sehr über dein Geschenk gefreut, sagt Paula. Ich habe aber nichts für dich. Das macht nichts, sagt Friederike. Du kannst ein anderes mal daran denken. Heute ist meine Mutter da. Sie hat gesagt, ich darf dich besuchen. Machen wir wieder ein Teekränzchen. Ja, sagt Paula. Das wäre schön. Ich hole das Porzellan, sagt Friederike und geht. Paula schiebt die beiden Klappsessel zurecht und stellt die Kiste auf. Dann holt sie die Keksdose, den Apfelsaft und die Milch. Friederike kommt mit dem Tablett zurück, und sie setzen sich hin und essen und trinken. Ich bekomme einen Klavierhocker, sagt Paula. Dann sitzen wir weicher, wenn wir spielen. Das ist gut, sagt Friederike. Sie lächelt. Hast du einen Zettel und einen Bleistift. Ich schreib’ dir was. Paula findet einen Schreibblock und einen Kugelschreiber und legt beides vor Friederike hin. Das Kind reißt einen Zettel ab, schützt ihn mit der Hand vor Paulas Blicken und schreibt. Dann faltet es den Zettel mehrmals zusammen und überreicht ihn ihr. Paula faltet ihn langsam auseinander und liest: Drei fon mir das bringt einen Anderen. Was heißt das, fragt sie. Das Kind öffnet die Augen weit, zieht die Achseln hoch und die Mundwinkel hinunter. Es sagt nichts. Darf ich ihn behalten, bittet Paula. Von mir aus, sagt Friederike. Ich kann dir noch andere 202
Sachen schreiben. Das Telefon läutet. Die Mutter ist am Apparat. Ich mache mir Sorgen um dich, sagt sie. Du hast so schlecht ausgesehen gestern. Du solltest auf längere Zeit hierherkommen. Die Luft hier ist viel besser als in der Stadt. Es ist ein Kurort. Es geht mir gut, sagt Paula. Es geht mir gut. Dein Leben. Ach, dein Leben, fährt die Mutter fort. Vielleicht bist du krank. In deinem Alter muß man aufpassen. Paula blickt durch das Fenster auf den hellen Kinderkopf, der über die Kiste gebeugt ist. Ich bin nicht krank, sagt sie. Ich muß auflegen. Ich habe Besuch. Besuch, sagt die Mutter. Man muß aufpassen. Vergiß nicht, abends die Kette vorzulegen. Ich muß Schlaftabletten nehmen. Wann kommst du. Ich weiß nicht. Nicht so bald. Ich habe Besuch, sagt Paula, hängt auf und läuft zurück auf den Balkon. Friederike reicht ihr einen neuen, winzig zusammengefalteten Zettel. Ich hab’ dir noch was geschrieben, sagt sie.
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Langsam kommt der Herbst Sie hatte es gesagt, und sie hatte es gut gesagt. »Sie müssen entschuldigen, aber ich habe... einen Pakt mit mir selbst geschlossen. Eine Art... ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll... Fernsehabstinenz.« Der Redakteur, Antonangelo Irgendwas, war begeistert von der Formulierung und bedauerte ihre Entscheidung in gebührendem Maße. Ob sie nicht noch einen Tag darüber nachdenken wolle? Es ginge doch nicht um den üblichen Samstagabend-Firlefanz. Ein ema von größter Brisanz. Und außerdem: Es war eine wichtige Sendung. Und dann kam die Talk-Show zu einer ausgezeichneten Sendezeit. Der Programmdirektor hatte Stil und war gut vorbereitet, respektierte unterschiedliche Meinungen und war außerdem ein alter Verehrer von ihr. »Ach, tatsächlich?« Gelungen, dieses Ach-tatsächlich. Sophie hatte den Klang im Ohr, als läge er noch in der Luft wie ein Parfumhauch: da war nicht die Spur von Herablassung, aber auch kein Erstaunen oder - was noch schlimmer gewesen wäre - Dankbarkeit. Der Redakteur hatte devot darum gebeten, am nächsten Tag noch einmal anrufen zu dürfen. Sophie hatte losgelacht und es ihm dann gestattet. Sie glaubte nicht, daß sie ihre Meinung ändern würde. Aber bitte, sollte er ruhig anrufen. Sicher, am nächsten Morgen würde sie zu Hause sein. Wann sie aufstand? Nicht vor elf, um ehrlich zu sein. Mit der Seligkeit einer Märtyrerin legte sie den 204
Telefonhörer auf. Nur sie wußte, was dieses Nein für sie bedeutete. Wer hätte sonst schon abgelehnt an ihrer Stelle? Hauptsendezeit. Ein guter Sender. Ein seriöser Programmdirektor und Talkmaster. Sie hätten sie nicht zur blöden Gans abgestempelt (wenn sie das im Sinn haben, merkt man es sofort), das war garantiert, vor allem durch das ema: der Frieden. Das Ganze war seriös, und es war nur angemessen, daß sie eingeladen wurde, daß ihr diese Ehre zuteil wurde, schließlich hatte sie sich Hals über Kopf in die emotionale Schlacht gegen die Sprache der Waffen gestürzt. Sie hatte ihre Schönheit den Frauen in Schwarz zur Verfügung gestellt, die jeden Mittwoch, in Schals und dicke Pullover gehüllt, schweigend vor dem Parlament demonstrierten wie eine Gruppe von Witwen. Sie hatte wie sie ihre honigblonden Haare versteckt, die gefärbt waren, aber nach zwanzig Jahren Film waren sie so oft gezeigt worden, daß sie im Grunde ihre eigenen, natürlichen Haare waren. Sie hatte sich anstrengenden Treffen ausgesetzt, in feuchten Räumen, zwischen Frauen, die redeten und rauchten und sich untereinander kannten. Die ersten Male hatte sie von jenen feinen Nuancen, die sie feierlich miteinander abstimmten, praktisch nichts verstanden. Langsam hatte sie sich dann mit gewissen zentralen Begriffen angefreundet und brachte sich ein (so hieß es, wenn eine von ihnen zu reden begann), kurz und schüchtern, aber nicht ohne Stolz. Sie hatte gelernt, Teile vom Code jener Welt zu ent205
schlüsseln, in die sie, nicht mehr die Jüngste, als letzte eingetreten war, während die anderen in ihr gereift waren. Sechzehnjährige Kommunistinnen, fünfundzwanzigjährige Feministinnen, vierzigjährige Veteraninnen des kritischen Bewußtseins. Es waren nette Frauen. Sie kleideten sich wie Männer oder junge Mädchen. Sie hofierten sie; wenn sie etwas sagte, wurde es plötzlich still; wenn sie den Faden verlor, applaudierten sie ihr. Sie mochten ihren unsicheren Tonfall; ihr Engagement war frisch und unverdorben, und deswegen sah man ihr einiges nach. Sie war ein bißchen dumm, hatte dabei aber den Charme eines Neugeborenen. Sie rissen sich darum, ihr die Tricks beizubringen, sie mit den Tücken vertraut zu machen, die es zu umschiffen galt, führten ihr die Machenschaften und Allianzen vor, denen sie besser nicht traute, zeigten ihr, daß das Labyrinth von Zielen zweiten und dritten Grades sich hinter scheinbar wunderschönen Sätzen verbarg. Sie sollte sich bloß keine Illusionen machen: es gibt eine Sprache, die behauptet, eine, die suggeriert, eine, die negiert. Sophie hörte zu und war bei ihnen zu Hause zum Abendbrot: chaotische, schöne Wohnungen voller Bücher. Viele von ihnen waren verheiratet gewesen. Sie hatte erwachsene Kinder. Sie lebten allein, die meisten jedenfalls, oder hatten Beziehungen untereinander. Freundinnen? Geliebte? Das durchblickte sie nie so ganz. Sicher war, daß ihre eigene Einsamkeit anders war als die dieser Frauen. Deren Einsamkeit war lebhafter, aktiver, nicht so schüchtern. Vielleicht war es nicht einmal Einsamkeit. Männer waren für sie Wesen aus einer angrenzenden Welt. 206
Ein wackerer Stamm, recht friedlich, mit dem Handel zu treiben oder Geschenke auszutauschen waren. Wesen, mit denen man auch mal Ferien machte, aber keine Verträge oder Gesetze. Mit Männern reiste man, aber man lebte nicht mit ihnen. Sicher fühlte keine dieser Frauen sich so, wie sie sich fühlte, wenn Michele nicht anrief: leblos, mit schmerzenden Knochen, als hätte man sie mit Füßen getreten. Sie traute sich nie, mit ihnen über Michele zu reden. Sie zog es vor, sie zu beobachten und, wenn überhaupt, ihre aggressive, herrische Art nachzuahmen. Sie mochte es nicht, kritisiert zu werden. Sie akzeptierte das eigentlich Inakzeptable, und das wußte sie. Er meldete sich alle zehn, vierzehn Tage. Wenn er in Rom arbeiten mußte. Sie aßen zusammen, gingen zusammen ins Bett, stritten sich, vertrugen sich wieder. Gingen wieder ins Bett. Wenn er da war, war ihr zum Weinen zumute, denn die erregte Erwartung, in der sie die Woche verbracht hatte, machte der Tristesse der Wiederholung, dem Gefühl von Leere Platz. Manchmal heulte sie auch. Jetzt heulte sie weniger. Sie hatte Schwestern gefunden. Nein, keine Schwestern. Sie hatte Vorbilder gefunden. Sie war gewöhnt an falsche Lorbeeren, an nichtssagende Umarmungen, an einen Exhibitionismus der Vertraulichkeiten, aber nicht an Vertrautheit, sie kannte bloß Konkurrenzgefühle und die tausend Masken, hinter denen sie verborgen wurden. Nun hatte sie Frauen gefunden, die sie nicht beneideten und nicht in den Himmel hoben, Frauen, mit denen sie ein neues Selbst entwickeln 207
konnte, ein kultiviertes Selbst, das vielleicht nicht so charmant, dafür aber altruistischer war. Ein von den Jahren geprägtes Selbst. Sie erhob sich aus dem weißen Sessel, in dem sie nach dem Telefonat mit dem Redakteur eine Weile reglos dagesessen hatte, um alles noch einmal zu überdenken. Sie ging ins ebenfalls weiße Ankleidezimmer - drei Wände Einbauschränke, eine Wand verspiegelt. Sie studierte mit gelassener Professionalität ihre Gesichtszüge. Wie bei einer medizinischen Untersuchung. Sicher, da waren Schatten, unter den Augen vor allem. Die Lider waren ein bißchen schlaff, was die Ausdruckskraft ihrer blauen Augen ein wenig minderte. Der Hals war nicht mehr so straff, die Züge wurden härter. Die Jochbögen, eine ihrer starken Stellen, zeigten zu sehr ihre Funktion. Sie dehnten die Haut, es sah aus, als würde sie bald reißen. Die Gesichtszüge waren noch schön, aber die Art, wie sich das nicht mehr ganz so straffe Fleisch über ihre strenge Schädelform zog, machte einen verbrauchten Eindruck, wenn sie auch nicht direkt alt aussah. Ihr Gesicht war zu oft geschminkt und abgeschminkt worden, zu oft fotografiert, gefilmt, projiziert, massiert, gestreichelt, geküßt... Vielleicht war der Zeitpunkt gekommen, sich von dem Blond zu befreien. Sich wieder zu dem Kastanienbraun zu bekennen, mit dem sie geboren worden war. Durch graduelle Tönungen wieder zur Authentizität der Kindheit zu gelangen. Vielleicht. Vielleicht auch ein neuer Haarschnitt, die Locken herauswachsen lassen, den Pony ein bißchen in 208
Fasson bringen. Sie war siebenundvierzig. Sie sah aus wie achtunddreißig, so daß sie, nicht ohne eine gewisse Koketterie, behaupten konnte, sie sei vierzig. Sie betrachtete ihre Lippen, die auch ohne die Collagenspritzen, die gewisse Damen benötigten, voll waren. Ihr Mund war wirklich schön. Sinnlich. Voll und weich und rot. »Schau dir deinen Mund an«, sagte sie zu sich selbst. Ist es nicht ein bißchen früh, jetzt unsicher zu werden? Im Moment findest du es aufregend, nein zu sagen... Aber dann? Fernsehkeuschheit! Na prima! Wo sie dich zum erstenmal eingeladen haben, um die Heilige zu spielen und nicht die Hure! Wütend drehte sie sich vom Spiegel weg und ging wieder zum Telefon. Der weiße Sessel umfing sie warm und kuschelig. Ein widerwärtiges Refugium. Um sie herum lagen aufgeschlagene Zeitungen: auf dem Teppich, dem Tischchen, dem Sofa, auf der Armlehne des Sessels. Sie kaufte sie alle und verschlang sie geradezu. Sechs, sieben Versionen derselben Meldung. Krieg, Krieg, Krieg. Es war Krieg. Es herrschte Krieg. Nicht so nahe, daß man Angst haben mußte, aber auch nicht so weit weg, daß es einem gleichgültig war. Verfremdet und verwirrend wie ein Film, wie ein Gedanke, der einen nicht losläßt. In Tel Aviv, in Kuwait, in Bagdad wurde der Tod abgespult, die bedrohte Normalität. Die Normalität ist nicht wie das Glück. Sie existiert. Und sie ist ein anerkanntes Recht. Auch sie hatte ihre Normalität. Diese Wohnung, den Sessel, etwas zu essen, ein Bankkonto, Kleider. 209
Normalität bedeutete auch, nicht glücklich zu sein. Du langweilst dich, könntest aber ausgehen, wenn du wolltest. Du siehst den Himmel durchs Fenster. Du könntest die Tür aufmachen, die schöne Marmortreppe hinabsteigen, Spazierengehen. Du könntest dir ein Eis kaufen, ein Kleid, eine Flasche Wein, ein Stück Obst, einen Schirm, ein Paar Schuhe. Wo Krieg ist, können sie das nicht. Sie sind nicht Herren ihrer eigenen Normalität. Sie konzentrierte sich auf den Schmerz eines verletzten kleinen Mädchens, das auf der ersten Seite abgebildet war. Ihre Augen waren angstvoll aufgerissen. Um die Hand trug sie einen Verband. Sophie rieb sich die Stirn. Der Krieg tat ihr gut. Sie schämte sich deswegen. Ihre Depressionen. Schon als Mädchen hatte sie darunter gelitten (sie war eine Schönheit gewesen, woran sie sich erinnern mußte, um nicht zu vergessen, daß Schönheit nicht alles ist): Nach dem Aufwachen hatte sie die Möglichkeiten erwogen, die das Leben ihr an diesem Tag bieten würde. Alles war ihr sinn- und trostlos erschienen. Ein Fest, eine Verliebtheit, ein Fototermin. Alles. Alles. Trostlos, sinnlos, platt, egal. Man würde ihr den Hof machen, sie würde lachen, etwas trinken. Und dann? Nichts konnte ihr das Gefühl des prallen Lebens, nach dem sie suchte, verschaffen, nichts, was sie nicht zum erstenmal tat. Sie dachte immer, mit dreißig würde sie tot sein. Sie hatte über die Grenzen hinaus gelebt, die sie für möglich gehalten hätte. Sie hatte gelebt. Sie hatte gearbeitet. Achtzehn Hauptrollen. Ein bißchen eater. Kleine 210
Rollen in großen Filmen. Eine schöne Karriere, die sie vor den stillen morgendlichen Anfällen bewahrt hatte, wenn sie glaubte, nur aufgewacht zu sein, um das Fenster zu öffnen und sich hinauszuwerfen auf den Asphalt. Sie schloß die Augen. Sie mußte aufpassen. Seit neun Monaten arbeitete sie nicht mehr. Sie bekam Angebote von jungen Regisseuren. Es waren dürftige, saftlose Geschichten, zu armselig, um traurig zu sein oder sie durch ein bißchen versöhnliche Heiterkeit in den Griff zu bekommen. Sie blieben einfach auf der Strecke. Von den Filmen, in denen sie noch hätte die Hauptrolle spielen können, wurde kein einziger verwirklicht. Genaugenommen war diese Einladung zur Talk-Show ein Geschenk des Himmels. Ein Nebeneffekt des Fotos (sie in Schwarz, eine Haarsträhne quer über die Augen), das Max an den Espresso verkauft hatte? Oder war es Panorama gewesen? Jedenfalls eine seriöse Zeitschrift, kein Schmierblatt. Max war eigentlich wirklich ein Schatz. Und es tat ihr leid, daß sie ihn so angegriffen hatte. Aber es mußte sein. Alle Frauen, die ihn umringten, waren stumm, eingeschüchtert. Sie war sich fast sicher, daß Max wußte, daß es sich in gewisser Weise um einen längst fälligen Denkzettel gehandelt hatte. Sie überlegte, ob sie ihn anrufen sollte. Ich wollte mich entschuldigen: Ich bin im Moment in einer schwierigen Phase. Selbstzweifel. Es ist, als würde meine Psyche, das Unbewußte oder sonst irgendwas, mich dazu zwingen, für alle Kinder zu leiden, die ich nie geboren habe. Max hätte ihr übers Haar gestreichelt: Du bist verrückt. Die einzige schöne Verrückte, die ich kenne. Ach komm, 211
ich bitte dich, ich bin eine alte... Nein, wirklich: Ich finde, du siehst großartig aus. Alle fanden, daß sie großartig aussah. Jeden Tag gab es irgend jemanden, der fand, daß sie großartig aussah. Sie logen natürlich alle. Aber was würde geschehen, wenn sie aufhörten zu lügen? Wenn sie plötzlich und völlig unvorbereitet in ein großes Schweigen gehüllt wäre? Der Fernsehredakteur hatte behauptet, das Foto sei von unglaublicher Intensität. Das mußte sie Max erzählen. Sie verließ das Wohnzimmer mit dem energischen Schritt eines Menschen, der etwas Dringendes zu erledigen hat. Es war nur angemessen, ihn aus dem Schlafzimmer anzurufen. Auf der Seidendecke ausgestreckt, den Kopf auf die Kissen gestützt. Inszenierte Laszivität. Es war ihr unmöglich, dasselbe Telefon zu benutzen, im selben Sessel und im selben Zimmer zu sitzen, wo sie eben noch die Märtyrerrolle gespielt hatte, von wo aus sie ihren Beschluß zur Fernsehkeuschheit verkündet hatte. Bei Max galt es, andere Töne anzuschlagen: Er glaubte an Äußerlichkeiten, mit männlicher Strenge, und wehe, wenn äußerlich etwas mit einem nicht stimmte. Er sagte immer: Meine Fotos sind die Geigerzähler der Seele, sie spüren sie auf wie Öl in den tiefsten Erdschichten. In Wirklichkeit war es ihm völlig egal, ob er die Seele fand oder nicht. Dann verkaufte er eben etwas anderes. Für sie hatte er die Seele verkauft. Das war gerade die Phase. Und niemand war geschickter darin, Phasen aufzudecken, als Max. Ich bastele dir aus dem Nichts eine Persönlichkeit, gib mir eine Handvoll Lumpen. Gib mir eine Handvoll Lumpen und ein Gesicht, ich bringe damit ganz Italien 212
zum Weinen. Sophie probierte eine Sekunde lang, sich wie ›eine Handvoll Lumpen und ein Gesicht‹ zu fühlen. Und wenn es so wäre? Schon vor einiger Zeit hatte sie die sicheren Ufer jenes Alters verlassen, in dem man sich unvergleichlich, einzigartig und unersetzbar fühlt. Sie wählte die Nummer mit der Trägheit, die Max für einen verregneten Nachmittag in einem weiß-rosa Bett als perfekt angesehen hätte. (Warum verließ sie sich bloß bis ins letzte Detail auf die Architekten? Es schien ihr, als habe sie noch nie in einer wirklich eigenen Wohnung gewohnt.) »Hier Sophie Marini. Ist Max da?« Der Ton war perfekt, aber Max war nicht da. Er würde am späten Nachmittag wieder in der Agentur sein. Ob sie eine Nachricht hinterlassen wolle. Sie wollte keine Nachricht hinterlassen. Ehrlich gesagt, wußte sie nicht einmal, was für eine Nachricht sie hätte hinterlassen sollen. Dein Foto ist phantastisch. Du bist ein genialer Fotograf. Und noch genialer ist es, wie du deine Genialität als Fotograf einsetzt, seit du als Wiederbelebungsagent für verschwindende Stars arbeitest. Ich bin erleichtert, daß ich dich nicht angetroffen habe. Es war ein Fehler, nein, kein Fehler, ein Rückfall. Ein Rückfall in mein altes Selbst. Floskeln und Grimassen der Beunruhigung, künstliche Gesten. Alte Kamellen. Verdaut und vergessen. Da, die Wut, was für ein unvorhergesehenes Geschenk. Sie spürte das leichte Unbehagen, mit dem sie diese neue Regung erfüllte. Eine neue Sophie. Eine durch die Jahre 213
gereifte Sophie. Sie stürzte zum Fenster und riß es auf. Der Regen war wie ein unsichtbares Band, das den Himmel herabzog. Der Himmel lag auf der Kuppel von Bernini (oder war es Borromini?). Die Piazza, vor tausend Jahren ein Wasserbecken, auf dem Schiffchen herumschwammen, war endlich kalt und leer und glänzend. Jemand rannte quer hinüber, bedeckte sich den Kopf mit einer Zeitung. Die Passanten drückten sich gegen die Mauern, um trokkene Inselchen unter schmalen Fenstervorsprüngen für sich zu erobern. Ist Regen wirklich so beängstigend? Mit Mühe stieg sie die Treppen hinab. Sie ging hinaus, mit ihren Samptpantöffelchen und im Morgenmantel, einem langen Plüschgewand mit einem seidenen Mäusepärchen auf der Brust. Sie fror, trotz der Wollstrümpfe. Innerhalb weniger Minuten waren die Haare, die sie auf der Treppe nervös geöffnet hatte, klitschnaß, so daß ihre Schultern noch feuchter wurden. Sie rannte, und in den Pfützen, die sich um die Gullys gebildet hatten, saugte sich der Samt voll. Sie rannte, als wolle auch sie sich vor dem Regen in Sicherheit bringen, aber sie flüchtete von einem Regenguß in den nächsten, in sinnlosen Kreisen, als seien die Piazza und die anliegenden Straßen die Gänge eines Labyrinths. Jemand rief aus einem Geschäft hinter ihr her. Man kannte sie in diesem Viertel. Dabei war sie hier nicht einmal die einzige Schauspielerin, wenn auch vielleicht die bekannteste, und das, obwohl die beiden anderen bei weitem jünger waren. »Sophie, hast du dich ausgeschlossen?« Sie hielt nicht an. Es war der Friseur aus Süditalien, 214
der mit einem deutschen Fotomodell verheiratet war, das sich, wenn es wütend war, mitten auf der Straße über ihn lustig machte. Sie war eine bildhübsche Frau, er ein Zwerg. Jemand bot ihr einen Schirm an. Es war der Lehrling aus dem Getränkeladen. Einmal hatte er sie um ein Autogramm gebeten, als er ihr das Mineralwasser geliefert hatte. Laufen, laufen, laufen. Sie durchkreuzte das Viertel, wo sie seit sechs Jahren wie eine lebendige Zielscheibe lebte. Sie wollte nicht, daß man sie stoppte, daß man sie beschoß, sie wollte nicht, daß man sie ansprach. Sie bog in die Gassen, raste über eine glitschige Schicht aus Unrat, sie roch die Feuchtigkeit, die die Palazzi des siebzehnten Jahrhunderts aus ihren verfallenen Mauern ausschwitzten. Unter dem Arm einer Laterne, die genau in dem Moment anging, hielt sie an. Sie keuchte. Der Himmel versuchte, sich vom Gewicht der Wolken zu befreien, indem er die frühe Dunkelheit des Winters eroberte. Sie zitterte, hielt sich selbst umarmt, die linke Hand an der rechten Schulter, die Ellenbogen gegen die Brüste gepreßt. Langsam ging sie die Via Santa Maria dell’Anima entlang, erreichte die Piazza, erstaunt über jene unberührte, naßglänzende Weite. Sie lächelte dem Kellner aus der Bar zu, der sie anstarrte. Nein, nein... sie hatte sich nicht ausgeschlossen. Sie hatte einfach Lust auf einen kleinen Regenspaziergang. Ach so, ach so. Mit einer femininen Geste der Erschöpfung lehnte sie einen heißen Tee ab. »Ich muß mich sofort ausziehen«, sagte sie. Der Mann bat um Erlaubnis, sich vor das Schlüsselloch zu stellen. Alles lachte. Und doch war Sophie sicher, daß sie vielleicht auch ein wenig Mitleid 215
erregte. Als das Telefon klingelte, war sie gerade dabei, sich die Temperatur zu messen, ganz angetan von der Idee, daß es ihr gelungen war, sich so schnell zu erkälten (eine Pause im täglichen Kampf darum, ob sie aus dem öffentlichen Leben verschwinden sollte oder nicht). Eine übertrieben nasale Stimme begrüßte sie, es war der Fernsehredakteur. Antonangelo Roveda. »Ja, guten Abend.« Er entschuldigte sich, der Programmdirektor könne nicht bis morgen auf die Antwort warten. »Sie wissen ja, wie das ist... so im letzten Moment ist es in diesen Tagen schwierig, jemanden zu finden, der Sie ersetzen könnte.« »Ich habe Fieber«, sagte Sophie und starrte auf das Fieberthermometer, das gerade mal achtunddreißig Grad anzeigte. »Das tut mir leid. Vor zwei Stunden ging es Ihnen aber noch ganz gut, wie mir schien.« »Es ist völlig verrückt. Ich bin im Regen herumspaziert.« »War heute auch eine Demonstration?« »Aber nein... eine von meinen Kindereien. Manchmal vergesse ich, daß ich nicht mehr sechs bin.« Antonangelo Roveda gab einen schmeichlerischen Wimmerlaut von sich. Einen Augenblick lang fühlte sich Sophie verführerisch und falsch, ganz die unwiderstehliche Frau. Ach, war das großartig! »Und jetzt? Sieht wohl aus, als müßten wir auf Sie verzichten... da Sie ja nun einmal krank sind.« »Na, das wäre ja noch schöner... andere Leute liegen im Sterben... ist ja wohl kein Grund, sich wegen ein bißchen 216
Halskratzen aufzuregen.« »Heißt das... Sie kommen? Haben Sie es sich anders überlegt?« Sophie hielt inne: eins zwei drei vier, eins zwei drei vier. Sie holte tief Luft. Sie war glücklich, sie war traurig. Mit einem kapriziösen Pferd galt es ein Hindernis zu nehmen, das sich ohne Unterlaß mal hob, mal senkte. Im Moment war das Hindernis einfach nur ein kleiner blühender Strauch. Sie konnte darüber hinwegschweben. »Ja, ist gut. Donnerstag. Ich komme eine halbe Stunde früher, für die Maske.« Hinter den Studiokulissen scharten sich die Techniker um einen Tisch, auf dem ein kleiner Imbiß aus Pizzastücken und Sandwiches hergerichtet war. Sie unterhielten sich über Fußball und kümmerten sich nicht um sie. Sie war zu früh gekommen. Antonangelo (ein untersetzter Mann, häßlicher und jünger, als seine Telefonstimme vermuten ließ) ließ sie allein, um sich um die andern Studiogäste zu kümmern. Er war freundlich, aber zurückhaltend. Er war hektisch und angespannt und deshalb sehr viel weniger entgegenkommend, als sie es sich gewünscht hätte. Unter anderem erwartete er einen Staatssekretär, was all seine Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen schien. Sophie streckte die Hand zum Tisch aus. Aus zweiter Reihe griff sie ein Eiersandwich mit Mayonnaise. Sie kaute angestrengt, konnte aber keinen Bissen herunterschlucken. Sie würde ersticken, sie würde am Boden liegen, puterrot, und sich übergeben müssen. Sie faßte sich an den Hals. Ihre Augen waren vor Panik weit aufgerissen, das spürte 217
sie, und bestimmt würde nun ihr ganzes Make-up zerlaufen. Sie warf das halbe Sandwich, das sie noch in der Hand hielt, in einen Aschenbecher und ging wieder zum Tisch, um sich etwas zu trinken zu holen. Sie fühlte sich in absoluter Lebensgefahr und war in diesem Zustand von der Gleichgültigkeit der Welt umgeben. Aus einer Karaffe schenkte sie sich etwas ein. Sie trank in großen Schlucken. Es schmeckte süßlich und irgendwie metallisch. Fruchtsaft mit Gin oder Wodka. Endlich, sie hatte geschluckt. Einen Augenblick lang war sie unendlich dankbar, daß ihr Körper ein weiteres Mal jene Funktionen ausgeführt hatte, die nur scheinbar mechanisch abliefen und sie am Leben erhielten. Sie suchte die Maskenbildnerin, um sich ihr Make-up auffrischen zu lassen. Sie konnte sie nicht finden. Wahrscheinlich schminkte sie gerade die anderen Studiogäste. Sie öffnete ihre Puderdose und versuchte, sich mit einem Taschentuch selber wieder herzurichten. »Sophie Marini?« Sie blickte auf. »Ich bin’s.« War es denn möglich, daß jemand sie erkannte? Gingen diese Leute überhaupt ins Kino? Der Tonmeister, ein Kaugummi kauender junger Mann um die Dreißig, hielt ihr etwas hin. »Entschuldigen Sie, ich muß das Mikrofon einrichten.« Sophie streckte mit vorgespielter Verlegenheit die Brust mit dem weiten Ausschnitt vor. »Haben Sie keine Jacke?« »Nein«, sagte Sophie. Der Mann berührte ihre Brust. Sophie lächelte. 218
»Mir klopft das Herz bis zum Hals«, sagte sie, und traf sogar ihren üblichen schalkhaften Ton. Der junge Mann antwortete nicht. »So«, sagte er, als er das kleine Mikrofon befestigt hatte. Sophie verfluchte ihn, matt und kleinmütig. Er und seine Kinder, die werden schon sehen. Sollen sie kurze, trostlose Leben führen. Krankheiten sollen sie heimsuchen. Sie hätte sich gerne ihren Blick im Spiegel angesehen, traute sich aber nicht, noch einmal die Puderdose hervorzuholen. Der Redakteur kam mit seinem geschäftigen Gang auf sie zugeeilt. Er stellte ihr die anderen Studiogäste vor: ein Professor, der regelmäßig für verschiedene Zeitungen schrieb, die berühmte Politikredakteurin mit dem taubengrauen Bürstenschnitt (Sophie wußte, wer sie war; die Frauen aus der Gruppe sagten nur Schlechtes über sie) und dann der Staatssekretär, wirklich ein Schatz. Der einzige, der sie mit einem Handkuß würdigte. Ein bißchen lächerlich, ja. Was für eine Idee, enchanté zu sagen, wo doch jeder wußte, daß sie aus Piacenza kam und sich Sophie nannte, weil das der Name war, den sie mit sechzehn schon hatte, als alles angefangen hatte. Als sie tanzte. In einer Art experimentellem eater. »Ich bin einer Ihrer größten Verehrer«, sagte der Staatssekretär. Hinter ihm standen zwei der blaugekleideten Männer herum, sie waren größer als alle anderen, ihre Gesichter leer und grimmig, wie bei Comicfiguren. Um sich beim Staatssekretär beliebt zu machen, lächelten ihr jetzt alle anwesenden Männer zu, sie verbeugten sich, richteten sich wieder auf, äußerten kurze, abgehackte 219
Sätze, die nur schwer verständlich waren. Sie nannten ihre Filme, Filme mit anderen Schauspielerinnen, die noch älter waren als sie. Sie behaupteten, sie phantastisch gefunden zu haben. Umwerfend. Eine Vollblutschauspielerin. Schade, daß ich es nicht war. Es war eine andere. Ein neuer Anfall von Schüchternheit überkam Sophie. Die Herzschläge hallten, als sei ihr ganzer Körper ein großes, kaltes unbewohntes Zimmer. Sie hatte das Gefühl, als flatterten eingepferchte Vögel durch die Adern. Als der Tonmeister ihr nach der Stimmprobe unter Entschuldigungen das Mikrofon abnahm, um es durch ein neues zu ersetzen, befürchtete sie, er könne ihr Herz klopfen hören, und es war ihr furchtbar peinlich. Alle beobachteten sie, heimlich, ohne daß man ihre Blicke sah. Sie hatte das Gefühl, sich unpassend angezogen zu haben. Ein weiterer Beweis dafür, daß sie nicht die war, die sie sonst war. Sie befand sich in einer Gefahrenzone. In ihrem vertrauten Ambiente (Abendessen, Feste, die Herausforderung der verführerischen Waffen), wählte sie nie die falsche Kleidung. Sie hätte eine Jacke anziehen sollen, vielleicht einen Hosenanzug, den ziegelroten aus Gabardine oder den grauen aus Samt, mit einem rauchfarbenen Taschentuch, um das Ganze ein bißchen aufzulockern. Darunter hätte sie statt des Hemdes den Seidenbody getragen. Maskulin, aber nicht zu sehr. Ein nonnenkeuscher Zweireiher über einem Dekollete mit schimmernder nackter Haut. Sie war Expertin in diesem Spiel bewußt inszenierter Kontraste. Spitzbube und Frau. Mann und Lieblingsfrau des Sultans. Tänzerin und Mystikerin. 220
Mit welcher Sicherheit verknüpfte sie in ihrem vertrauten Milieu alte, unangreifbare Mythen mit modernen Zitaten... Auch diesmal hätte sie das richtige Kostüm finden können. Sie hätte selbstbewußt dagestanden, eine gutaussehende Frau, der es zusteht zu schweigen. Aber sie hatte das Falsche gewählt. Ihre wohlgeformten Hüften wurden durch das Kleid eingezwängt wie durch eine Haut, die nicht die ihre war. Ab einem gewissen Alter haben Rundungen etwas Verdächtiges, jede Kurve läßt an schlaffes Fleisch denken... Auch um die Brust herum, so unglaublich es auch scheinen mag, saß das Kleid nicht richtig. Es drückte die Brüste zu sehr zusammen, zwängte sie ein. Und dann mündete der Ausschnitt in jenem dunklen Schatten, eine deplazierte Aufforderung, eine Erinnerung an vergangene Zeiten, an geheimnisvolle Frauen, und überhaupt nicht, ganz bestimmt nicht, meine liebe Sophie, an Gefährtinnen in den Zeiten der Sitzungen und Debatten. Und tatsächlich: die Politikredakteurin, ein paar Schritte entfernt, einen Pappbecher in der Hand, fixierte sie. Bestimmt verurteilte sie sie. Sie neigte den Kopf zur Seite, als wollte sie sie anvisieren, bevor sie mit ihr sprach, drohend zog sie die Brauen zusammen. »Geht es Ihnen nicht so gut, Sophie?« fragte sie. Vermutlich hatte sie Sophies Wallungen bemerkt, Sophie legte eine Hand an ihren Ausschnitt. »Ist Ihnen nicht kalt?« fragte die Politikredakteurin und bedachte Sophies Hand und ihre volle Brust mit einem leicht verächtlichen Blick. Blöde Kuh, dachte Sophie. »Mein Gott...«, sagte sie statt dessen, »ich bin nicht vertraut... mit solchen Situationen.« 221
Sie schämte sich, weil sie ›vertraut‹ gesagt hatte. Ein Scherz, der nur geschrieben komisch war. Jeder Regisseur würde es streichen. Du willst vor den Intellektuellen gut dastehen? Wann wirst du endlich erwachsen? »Nicht vertraut... Sie? Wie denn das: Sie sind doch Schauspielerin.« Jetzt sage ich ihr, daß sie häßlich ist. Nicht einmal für eine Gebißhaftcreme würden sie sie nehmen. Mit dieser Hundefratze. Nicht einmal in einem Dokumentarfilm über Armenhäuser... Sie war einfach hassenswert, nach der Betonung, mit der sie ›Sie sind doch Schauspielerin‹ gesagt hatte, würde jede Entgegnung lächerlich sein. Sophie gelang es nicht, das Lächeln von ihrem eigenen Gesicht zu vertreiben. Sie schwieg. »Schauspielerinnen«, fuhr die Politikredakteurin fort, »dürften aber eigentlich kein Lampenfieber haben, nicht nach einer Karriere wie der Ihrigen.« Nach? »Meine Herrschaften«, sagte der Programmdirektor, der puderumwölkt endlich erschien, »ich bitte Sie, setzen Sie sich, Antonangelo wird Ihnen Ihre Plätze zeigen.« »Na dann mal los«, sagte die Politikredakteurin und unterdrückte ein Gähnen. »Je eher wir anfangen, desto eher sind wir fertig.« Unterwegs, während sich bereits alle auf das Studio fünf zubewegten, legte Sophie eine Hand auf den Arm der Politikjournalistin und sagte mit seltsam rauher Stimme: »Heute sage ich nicht einfach irgendwelche Drehbuchsprüche auf, heute abend fühle ich mich der... Verantwortung gegenüber der Sprache... verpflichtet.« 222
Sie setzte sich an den runden Tisch, der nicht gut ausgeleuchtet war. Die Kamera konnte sie nicht vorteilhaft treffen, drei Viertel von ihr waren wie abgerissen, das Profil unscharf, nicht mal die Nahaufnahme würde gut werden. Licht und Kamera waren ganz auf den Staatssekretär ausgerichtet. Auch der Programmdirektor, aufgedonnert und kurzatmig, war auf den Staatssekretär ausgerichtet, er benahm sich wie ein ewig zu spät kommender Schönling. Sophie erinnerte sich, den Programmdirektor in einem jener Lokale gesehen zu haben, in die man nach Mitternacht geht, um sich zu langweilen, das mit den vielen Spiegeln und der Musik, der kein Mensch zuhört. Bis vier Uhr morgens begrüßte man sich hier, setzte sich gegenseitig in Szene: ich werde erkannt, also bin ich. Auch den Staatssekretär hatte sie ab und zu in jenem Lokal gesehen, wenn sie es sich so überlegte. Den Professor nicht, aber das mag daran liegen, daß er in Mailand lebt. Und die Politikjournalistin auch nicht, aber das lag wohl an ihrem Aussehen. Sie war weder jung noch schön, was sollte sie also in einem Etablissement voller Spiegel? Die Männer sind aufgrund ihres Ranges da, die Frauen sind nur Dekoration. Wer würde sich schon mit der Politikredakteurin schmücken wollen? Sophie fragte sich, ob es ein Lokal gab, wo Frauen von Rang sich nach Mitternacht gegenseitig begrüßen und langweilen konnten. Zuerst mußten sie sich auf einem Monitor verbrannte Leichen ansehen, pechschwarze Rümpfe, von Bomben zerfetzt. Sie mußten sich die langen Flüchtlingszüge 223
ansehen, die sich durch den Sand, durch den Schlamm schleppten. Sie mußten zuhören, wie jemand aufheulte, mußten die Stille nach den Schüssen hören, erträglich gemacht durch die Bildunterschriften. Sie mußten die Reihen von Bahren sehen, Menschen in Lumpen, Hände, die sich von Körpern lösten und über den Boden schleiften, leblose Arme. Nachdem sie das alles gesehen hatten, sollte jeder von ihnen etwas sagen. Der Staatssekretär war souverän, redete in einer Sprache, deren Klang Sophie verstand, wenn ihr auch oft der Sinn entging. Der Gedanke, auch etwas zu sagen, machte ihr angst. Was sollte sie sagen? Singen Sie weiter, Herr Staatssekretär, ich bitte Sie, Sie haben eine so schöne Stimme. Und was für eine außergewöhnliche Kollektion von Antworten! Es macht Mut, Ihnen zuzuhören, die Welt erscheint wieder hübsch geordnet, und Ihre Gefühle sind rein, edel, fern aller Niedrigkeit oder Schuld. Wenn es ihr gelungen wäre, sich zu entspannen, wäre sie eingeschlummert, wie ein kleines Mädchen, dem ein Märchen vorgelesen wird. Aber jetzt unterbrach ihn die Politikredakteurin. »Du«, sagte sie mit gepreßter Stimme und zeigte mit dem Finger auf ihn, beugte sich zu ihm vor wie in einer privaten Schlacht. »Du. Ihrseidesdoch, ihrseidesdoch, ihrseidesdoch.« Wer, ihr? Was, ihr? Unter dem Tisch rieb sich Sophie ein Knie. Der Talkmaster bedachte sie mit einem breiten Lächeln: »Vielleicht möchte unsere Sophie Marini etwas dazu sagen.« Dieser Feigling. Was für ein billiger Schachzug, 224
billig und durchschaubar. Überlassen wir das Wort dem kleinen Dummerchen, um die Gemüter zu beruhigen, um dem Staatssekretär aus der Klemme zu helfen. Gemein. Und chauvinistisch. Unsere Sophie Marini - wessen Sophie Marini denn? Sophie verfluchte sich selbst für jeden Anflug von Narzißmus, der sie dazu getrieben hatte, etwas zur Diskussion beizutragen. Dann doch lieber ein Varietétheater, da ist es wenigstens offensichtlich, daß es sich um eine Scheinwelt handelt. »Sie sind für den bedingungslosen Frieden auf die Straße gegangen, wenn ich richtig informiert bin...« Sophie lächelte, holte Luft und sagte dann, wobei sie ihr Gesicht im unvorteilhaftesten Winkel der Kamera zuwandte: »Ich verstehe die Vorteile der Demokratie nicht so ganz, ich weiß nicht, wer sie verteidigt und bis zu welchem Grad... ich bin Schauspielerin und mußte über die Geschichte immer Geschichten legen... ich weiß nicht einmal, warum ich hier bin. Ich habe keine Meinungen, mit denen ich mich brüsten wollte. Aber ich habe dasselbe gesehen wie alle hier, ich habe zugehört und... na ja... ich weiß auch nicht... aber ich denke, es ist einfach unmöglich, einen Toten zu sehen und darüber nicht betroffen zu sein. Der Fortgang der Geschichte erfordert offensichtlich Blut, aber niemand von uns soll glauben, daß dieses Blut wirklich notwendig ist. Auch gegenseitige Schuldzuweisungen haben etwas von... Rhetorik, von Lüge. Solange es weltweit mehr als ein einziges Maschinengewehr gibt, solange es mehr als einen einzigen Bankier gibt, der mehr als eine einzige Waffenfabrik finanziert, solange es mehr als einen einzigen Wissenschaftler gibt, der Gift- und sonstige 225
Bomben perfektioniert - solange sind wir alle Opfer und Täter zugleich. Und Kriege werden unausweichlich sein. Schlimmer noch: es wird sie zwangsläufig geben. Und es ist dieselbe Zwangsläufigkeit, die die Hefeteilchen eines Bäckers in seine Schaufenster führt, zu den Gelüsten, die sie hervorrufen sollen, zu den Kindern, die sie sich als kleine Zwischenmahlzeit genehmigen.« Ein Raunen ging durch die Runde. Der Professor zitierte jemanden, dessen Namen sie sofort wieder vergaß. Der Staatssekretär zitierte sie, Sophie Marini, und nannte sie ›den Mann von der Straße‹, eine jener Redewendungen, die in der weiblichen Form einen völlig anderen Sinn bekommen. Die Politikredakteurin machte ihr ein paar schleimige Komplimente und erinnerte dann an eines ihrer berühmten Interviews, an das sie alle zweifellos seit dem Tag der Invasion Kuwaits oft gedacht haben, ihr Interview, das Interview, das sie zitternd vor Aufregung, eigentlich noch ein kleines Mädchen, mit dem großen Bertrand Russell geführt hatte. Das war neunzehnhundertneunundsechzig. Oder war es siebenundsiebzig? Siebzig, siebzig, half ihr der Professor. Wie dem auch sei, die Aktualität stand außer Frage. Und das klang in den Worten unserer Sophie Marini ja auch an. Die Schauspielerin. Der Mann von der Straße. Sophie schwieg. Herz, Blut, Magen, ihr ganzer Körper beruhigte, besänftigte sich. In der Rolle des Vertreters der Menschheit wurde sie mal auf diese, mal auf jene Seite der Front gezogen. Poetisch, genial, von verschiedenen Parteien einzunehmen. Sie hatten sich ihrer rohen Worte bemächtigt 226
und bearbeiteten sie, schliffen sie in Form. Bestimmt würden sie etwas daraus machen. Ein Halsband, einen Ring. Eine Kette. Nichts Echtes, natürlich, aber etwas, das sich sehen lassen konnte, etwas Schönes, Vorzeigbares. Es war noch nie passiert, daß Michele sie an einem Mittwoch anrief. Wie das Herrchen einer wohlerzogenen Hündin hatte er sie an einen festen Rhythmus gewöhnt. Er rief sie jeden Sonntag an, am Abend. Er sagte: ›Ich komme morgen‹, oder: ›Diese Woche komme ich nicht.‹ Sonntag abends ging seine Frau mit ihren Freundinnen ins Kino. Wenn sie an einem Sonntag mal zu Hause blieb, schickte er ihr Telegramme, die in einem Ton abgefaßt waren, als ginge es um Geschäftstermine. Wenn seine Frau weg war, was eigentlich meistens der Fall war, telefonierte er lange mit Sophie. Erst erzählte er von sich selbst: bestimmte Situationen, die er auf bestimmte Weise lösen könnte. Ein Lob, das jemand ausgesprochen hatte. Etwas, das irgendwer einem anderen über ihn erzählt hatte und was er nun herausgefunden hatte. Wenn es etwas Negatives war, sagte Sophie, er solle sich nicht aufregen. Er stehe doch über solchen Dingen. Wenn es etwas Positives war, nahm sie Anteil an seiner Genugtuung: Sie habe immer gewußt, daß er besser sei als alle anderen, daß die anderen ihm gegenüber minderwertig seien. Es folgte ein Schweigen, das Michele mit einem Seufzen brach. Das Seufzen war ein konventionalisiertes Zeichen. Sie lachte glucksend. Dann redete sie darüber, wie sehr sie sich danach sehne, ihn in den Armen zu halten. Er hörte zu. Sie hörte ihn atmen. Wenn sie aufhörte zu reden, stellte er ihr Fragen. Über 227
ihre Sehnsüchte, die Details. Wo sie denn seine Hände spüren wolle, und die Zunge? Sag mir, wo du geleckt werden willst. Hinterm Ohr. Nein, an den Schenkeln. An der Leiste? Nein, da wo sie sich treffen. Ich will... im Mund... von dir geleckt werden. Er lachte (tonlos). Weißt du, daß du eine ziemlich große Sau bist? Und du bist ein ziemlich großes Schwein, sagte sie. Der Text endete mit ›Du fehlst mir‹. »Du fehlst mir auch« - das mußte der letzte Satz sein. Wenn sie sagte: Du bist das einzig Schöne in meinem Leben. Wenn sie sagte: Wir sehen uns so selten. Dann erstarrte er. Sie spürte es. Sie sah es. Er saß in einem Haus in Mailand, das sie nur aus globalen Beschreibungen kannte. Sie sah, wie er erstarrte, wie das Herrchen einer Hündin, die sich nicht gut benimmt. Sie durfte es nicht übertreiben, spielen ja, mit dem Schwanz wedeln, okay. Aber keine zu hohen Sprünge, und ja nicht jaulen. Sie legte auf und war für eine Stunde fix und fertig, konnte nichts anderes spüren als ihr Unglück. Aber all das geschah sonntags, am Abend. Und wenn es nicht geschah, fühlte sie sich, als hätte man sie geprügelt. All das war nie an einem Mittwoch geschehen. Nicht ein einziges Mal in den ganzen sieben Jahren. »Ich habe dich im Fernsehen gesehen«, sagte Michele. Sein Ton war heiter. Er rief aus dem Büro an. Um zehn Uhr morgens. Sophie versuchte, das außergewöhnliche Ereignis zu begreifen. Offensichtlich erwartete Michele wieder irgendeine Form von Anerkennung. »Du warst fabelhaft, aber vor allem warst du wunderschön. Und weißt du was, ich hätte dich fast verpaßt. Wir hatten Leute zum 228
Essen da. Tanzis Frau hat irgendwann gesagt, wir sollten mal das Zweite einschalten, da käme etwas über den Krieg, und außerdem sei ihr Cousin in der Sendung. Ihr Cousin ist dieses Arschloch, dieser Staatssekretär... Als ich dich gesehen habe, war ich... stolz auf dich, stolz auf mein kämpferisches Mäuschen.« Sophie dachte über unterschiedlichste Freudenbezeigungen nach, verwarf sie dann aber wieder. Sie schaffte es einfach nicht. Sie hatte am Abend zuvor sehr spät und unerwarteterweise noch ein Glas Bourbon getrunken, und seither verspürte sie einen Druck im Kopf, als wollten sich die Gedanken nicht voneinander lösen und als einzelne irgendwie erkennbar werden. Sie hatte einen Steinblock im Gehirn. Unbehagen. Es war das einzige Wort, das ihr durch den Kopf ging, sonst nichts. Mit müder Stimme sagte sie: »Ach, weißt du... das Ganze war ziemlich grotesk... vielleicht... hätte ich gar nicht hingehen sollen.« Michele antwortete gar nicht erst, als hätte er ihr überhaupt nicht zugehört. Er war bester Laune. Er sagte: »Willkommen in der weiten Welt der Gedanken, willkommen in der Polis, mein selbstverliebtes Plappermäulchen!« So endete das Gespräch, mit einem Kuß ›in deinen schönen säuischen Ausschnitt‹. Kommst du am Montag? Am Freitag? Kommst du früher? Bleibst du etwas länger? Sophie traute sich nicht einmal die Fragen zu stellen, die ihr auf der Seele lagen. Es war nicht der richtige Moment. Sie versuchte, wieder einzuschlafen. 229
Aber da klingelte das Telefon erneut. Es war Max. »Du hast Furore gemacht«, sagte er. »Meine Güte, hast du Furore gemacht! Das war gestern abend der Anfang einer ganz großen Geschichte.« Sophie gab es auf, schlafen zu wollen. Mit ihren Holztischchen hätte die Bar gemütlich sein können, wäre sie nicht schlecht geheizt und - selbst die rustikalen Antiquitäten konnten darüber nicht hinwegtäuschen - leicht verdreckt gewesen. Die Bedienung trug durchgelaufene Schuhe, der Absatz klappte nach außen, und einer ihrer Strümpfe rutschte. Die Sandwiches waren gelb-bräunlich, die Ecken bogen sich nach oben. Der Tee war nicht richtig heiß. Elisabetta war zu spät gekommen und redete schon seit einer Ewigkeit, wobei ihre leicht belehrende Gelassenheit von unerwarteten rhetorischen Schleifen, von wunderschönen Worten aufgelockert wurde, die Sophie in einem bevorzugten Teil ihres Gehirns sichern wollte, damit nichts von ihnen verlorenginge. Das ema der Unterhaltung war, oder sollte es zumindest sein, sie, Sophie. Deswegen hatten sie sich getroffen. Eine Woche war seit der Sendung vergangen, und immer noch bekam sie ständig Anrufe. Eine Quizsendung, Pazifisten gegen Kriegsbefürworter, ein Nachmittagssalon, wo eine ihrer Kolleginnen andere Frauen zu ihrer Person interviewte, als Frauen, als Berufstätige, als Mütter, als Nicht-Mütter... der Titel der Sendung war Der Mann in mir. Es sollte... eine Art Messung des äußeren Drucks sein, 230
dem der goldene Kern der Weiblichkeit - also Schönheit, Haushalt, Mutterschaft - ausgesetzt ist. Nicht zu glauben, Sophie hatte Elisabetta angerufen: »Bitte, ich brauche deinen Rat.« Es war das erste Mal, daß sie sich außerhalb der Gruppe sahen. Sie hatte Elisabetta angerufen, weil sie sie für eine fröhliche, starke Frau hielt. Ihr gefiel ihr dichtes, lockiges Haar, das sie sich alle zehn Tage anders schneiden ließ. Sie mochte ihr großflächiges Gesicht, das bereit war, zu lachen, zu weinen, anzugreifen und dann sofort wieder zu lachen. Elisabetta gehörte zu den Redegewandtesten in der Gruppe, aber sie hegte gegen niemanden Groll und hatte keine Geheimnisse. Sie sagte immer, was sie dachte, mit einer fast unschuldigen Ernsthaftigkeit, die nicht zu Anfeindungen führte und niemals erniedrigend war. Sie war zu spät gekommen, in einem gelben Regenmantel. Sie war redend in die Bar gekommen. Redend hatte sie sich gesetzt, hatte ihr einen Kuß auf die Haare gegeben. Sie hatte über das Wetter und den Verkehr geplaudert, den winterlichen Fluch Roms, über die Schlaglöcher, die Pfützen, den verdammten Fahrstil der amphibischen Lastwagen. Sie spritzen dir die Schuhe naß. Es waren die üblichen Fluchereien, aber aus Elisabettas Mund klangen sie wie allgemeingültige Wahrheiten. Elisabetta war so anmutig. Sie war die absolute Revolutionärin, sie war aufmüpfig. Wenn drei Leute sich über etwas einig waren, machte es ihr Spaß, die Gegenposition einzunehmen. Regen fand sie wunderschön. Der Verkehr bewirkte, daß sie sich als Teil eines 231
Ganzen fühlte. Sie pries das erotische Potential von Verkehrsstaus. Diese zusammengeballten Blechkarossen. Das heiße Keuchen dieser ganzen hinter Lenkrädern gebannten männlichen Aggression... Über Sophie, über ihren Fernsehauftritt, sagte Elisabetta: »Wunderbaren Schwachsinn hast du da von dir gegeben. Deinen Versuch, häßlich zu sein, fand ich richtig gut. Du hast deine Nase so komisch bewegt. Wie eine Comicfigur. Die Großmutter von dieser Katze da... wie hieß sie doch gleich... Es war, als würdest du nach dem Krieg schnuppern. Nase hierhin, Nase dorthin. Sniff, sniff, wirklich köstlich. Ist doch klar: sie haben dich angerufen, weil sie Angst vor uns haben. Sie würden uns ja noch öffentlich verbrennen, wenn wir das nicht inzwischen selbst in die Hand nähmen.« Nur sie sprach, aber es hatte nichts Aufdringliches. Sophie kuschelte sich in ihre Übertreibungen und ihre Verwünschungen, übersprang das Rauhe, errang voller Freude kleine Gipfel von Verständnis, ja von Erleuchtung. Es war nicht einfach das, was Elisabetta sagte, sondern vielmehr die Dichte dessen, was zwischen den Zeilen stand. Ein Leben der existentiellen Gedanken, sortiert nach einem Standpunkt, der Sophie ein Vorwand zu sein schien und auf wunderbare Weise in die Zeit paßte. Die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht. Das Chaos, das in ihr Leben Einzug gehalten hatte, seit sie begonnen hatte, sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen, lichtete sich unter Elisabettas Worten. Sie wurde ungeduldig und wollte endlich zu einem Urteil gelangen. Sie sagte: »Ich glaube, ich hätte da nicht 232
hingehen sollen. Weißt du... ich weiß, was richtig ist, aber kaum, daß ich es weiß, übermannt mich die Angst.« »Welche Angst?« »Ich weiß nicht, die Angst zu verschwinden... nicht mehr gesehen zu werden.« »Niemand wird gesehen, höchstens als Spiegel. Man schaut die anderen nur an, um in ihnen das eigene Bild zu sehen. Du redest dir ein, sie sähen dich. Solange du schön bist, sehen sie dich an wie ein Kleid in einem Schaufenster, um dich zu besitzen, um sich deine Schönheit überzuziehen und sich damit in der Öffentlichkeit zu zeigen, dafür bewundert und beneidet zu werden. Wenn du nicht mehr schön bist, benutzen sie dich, falls du es zuläßt, als Spiegel. Das ist alles.« »Ich will niemandem als Spiegel dienen«, sagte Sophie. Und dabei entzog sie sich Max, der ihren Arm ergriff, sie an ein mit schwarzer Pappe bezogenes Bett lehnte, sie neben eine Pflanze schob, über ihrem Kopf die Reproduktion eines Gemäldes geraderückte. »Halt still«, sagte Max. Und er schaltete zwei Strahler an. Über den Strahlern waren geöffnete Schirme. Um das Licht zu dämpfen oder vielleicht, um es zu verteilen. Sophie verschränkte die Arme und schob eine Hüfte vor. »Nein«, sagte Max, »so siehst du aus, als würdest du auf den Bus warten.« »Und auf was sollte ich statt dessen warten?« »Darauf, daß die Welt sich ändert, daß deine Argumente anerkannt werden. Ich will nicht diesen traurigen, geduldi233
gen Blick. Schau mal genervt, kämpferisch. Zu, den Mund. Nein, keinen Schmollmund. Dies soll das Bild einer reifen Frau werden, die weiß, was sie will, oder zumindest, was sie nicht will, die für eine Menge Dinge kämpft, die richtig sind... edel... erhaben... du bist eine, deren Leidenschaft gerade geweckt wurde... die Jahre der Ernüchterung haben dich ermüdet. Die schillernde Welt der Bühne... und so weiter und so weiter... schön wie eine Heilige... nicht lächeln... schau in die Ferne... Pupillenspiel... ja, beweg dich, beweg dich, genau! Perfekt, du bist fabelhaft... die Schultern gespannt und den Hals strecken... hoch mit dem Kopf! Du marschierst der Zukunft entgegen und nicht zu einer Mieterversammlung. So. Genau. Super. Wunderschön. Und bitte mal das Fältchen da korrigieren, Esther.« Esther betupfte Sophies Gesicht mit einer Puderquaste, kaschierte mit Hilfe eines spitzen weißen Schminkstiftes eine Falte. »Gut so?« »Wunderbar«, sagte Max. Für Max war jedes Urteil, das zwischen ›wunderbar‹ und ›abstoßend‹ zu vermitteln versuchte, eine tragische Konzession an unklare Farben, undeutliche Maße, ungenaue Zeiten, in denen sich die bewegten, die ›nichts drauf hatten‹. Er hatte was drauf. Auch Esther hatte was drauf. Mit dreiundzwanzig Jahren war sie schon zweimal verheiratet gewesen, sie war schon zweimal in der Klinik, zum Entzug und dann zum Entzug vom Entzug. Wenn sie nicht kokainabhängig geworden wäre, und 234
dann in Ermangelung von Besserem auch noch extasyabhängig, hätte sie eine Zukunft als Fotomodell vor sich gehabt. Auch als Schauspielerin hätte sie eine Zukunft gehabt. Da sie nun mal keine besseren Aussichten mehr hatte, begnügte sie sich mit einer Zukunft als Fotografin. Sie arbeitete als Assistentin von Max, wenn er mal, was wirklich höchst selten vorkam, Studioaufnahmen machte. Wenn Max eilig irgendein Foto machte, was seiner Karriere als Agent diente, war Esther im Studio seine Stellvertreterin. Sie war gut. Nicht wie Max, sondern viel besser. Sie fotografierte mit Besessenheit, mit einer Art Vision. Hinter jeder Schönheit sah sie den Totenschädel, der einst daraus werden würde. Sie vertiefte die Augen. Ihre Fotos wurden in ein paar Galerien in London ausgestellt, aber keine Schauspielerin hätte eines dieser Fotos in das ›Book‹ aufnehmen lassen, das vor Beginn der Dreharbeiten für einen Film, einen Werbespot oder eine Fernsehbearbeitung zu den Produzenten geschickt wurde. »Warum kann Esther mich nicht fotografieren?« fragte Sophie. Esther senkte den Blick. Sie war bescheiden. Immer war ihr kalt. Sie trug helle Farben und war blaß. »Na komm schon, Esther, warum läßt du dich von diesem aufgeblasenen Heini ausnutzen...? Du bist doch viel besser als er.« Max lachte kurz. »Hör dir das an, sie ist tatsächlich Feministin geworden. Gut, sehr gut... Der Blick einer angriffslustigen Betschwester. Stark.« Esther verließ den Raum. »Du hast sie beleidigt«, sagte Max, ohne mit dem 235
Fotografieren aufzuhören. »Sie hat es nicht gerne, wenn man ihr Beachtung schenkt. Du kapierst es einfach nicht.« »Du beleidigst sie, indem du sie immer wie eine Assistentin behandelst, wenn es dir gerade paßt.« »Da war eine Falte.« »Ich pfeife auf meine Falten. Ich habe nun mal Falten. Ich bin vierzig Jahre alt, und ich habe Falten. Na und? Fotografier mich gefälligst mit Falten, wenn du mich fotografieren willst.« Sie sprach mit lauter Stimme. Max näherte sich ihr und streichelte ihre Wange. »Du warst wunderschön, hoffentlich bekommt deine Schönheit keine Schatten. Wenn du die Entrüstete spielst, bist du einfach wunderbar.« Sophie entfernte sich von dem dunklen Hintergrund und ging aus dem Lichtkegel hinaus. Sie nahm ihre Tasche und den Regenmantel. »Es reicht. Ich habe keine Lust mehr.« »Ich will noch ein paar Schwarzweißfotos machen. Das waren erst die Farbfotos.« »Ich mag nicht, Max, schon die wollte ich nicht.« Max packte sie bei den Schultern, sachte, aber gebieterisch. (Warum bloß wurde sie von allen Männern so behandelt? Alle behandelten sie, als wären sie ihre Herren, bis hin zum letzten Idioten.) Er zwang sie, sich auf ein sandfarbenes, kleines Sofa zu setzen. Er blieb vor ihr stehen. Groß und gutaussehend. Imposant. Er war fast fünfzig, hatte aber die Ausstrahlung einer Frau von dreißig: ein ganz kleines bißchen angeknautscht, gerade genug, um die Schönheit interessant zu machen. 236
»Also hör mal zu, Sophie«, sagte er, »du willst hier die Kapriziöse spielen, aber jetzt mal im Ernst: Du hast dein Friedensmärschlein hinter dich gebracht, prima. Ich habe dich fotografiert, und nachdem dieses Foto erschien, hat man dich in die Sendung eingeladen. Du hast deine kleine Friedensrede gehalten, alles wunderbar. Meinen Verbindungen, meiner Initiative und meinem Realismus hast du es zu verdanken, daß sie dir die Hauptrolle in einem Film angeboten haben, und zwar in einem Film, der eine deiner Kolleginnen, die nicht gute Vierzig, sondern eher knappe Vierzig ist, durchaus interessieren würde. Wenn du weißt, was ich meine... Claudia, ich will ja keinen Namen nennen... wenn ich, der ich Tag und Nacht für dich arbeite, mit meinem Grips und mit meinen Händen, wenn ich, der einzige, der dich nach dem Rizzotti-Film nicht hängengelassen hat (ich hatte ja gesagt, du sollst ihn nicht machen, aber das nur am Rande), wenn ich, dein Agent und dein Freund, seit der Zeit, wo du es dir noch erlauben konntest, dich morgens nicht zu schminken, wenn ich dich jetzt bitte, dein Image zu verändern, eine Fotoserie zu machen, in der du reif, aggressiv und dabei sensibel bist... dabei aber noch gut und schön, wie Frauen eben zu sein haben, wenn sie keinen Mann haben, der für sie sorgt... es sei denn, sie haben einen Abschluß in Nuklearphysik. Wenn ich bereit bin, diese Fotoserie zu machen, ist es doch wohl das mindeste, verdammt noch mal, daß die gnädige Frau mir, wenn nicht Anerkennung - bitte, die möge sie für ihre Genossinnen Märtyrerinnen aufsparen -, so doch wenigstens Kooperationsbereitschaft entgegenbringt! Ich arbeite hier, um deine Karriere noch ein paar Jahre zu ver237
längern, ist das klar oder nicht?« Wut? Aber nein, Wut war es nicht. Die Wut war ein Gefühl, zu dem Sophie nie Zugang gehabt hatte. Zu stark, zu klar. Sie wäre gerne einmal wütend gewesen, aber es gelang ihr nur, Wut zu spielen, und das nicht einmal gut und nur für ein Publikum, das extreme Gefühlszustände bei ihr akzeptierte. Jetzt, als sie allein die viale Parioli entlangging, umgeben vom schweren Geruch und vom Geräusch der Stadt, befiel sie eine ausweglose Bitterkeit. Die Passanten rempelten sie an. Ein weiterer Beweis dafür, daß sie offensichtlich langsam unsichtbar wurde. Sie betrat eine Bar und nahm die dunkle Brille ab. Sie lächelte. Niemand erkannte sie. Sie bestellte mit einer Stimme, die in der Stille heiser klang, ein Glas Bourbon. Mit den Fingerkuppen streichelte sie über die Falte, die Max mit dem weißen Stift hatte abdecken lassen. Man sah es. Das erkannte sie in dem Spiegel hinter den Flaschen. Das Make-up begann zu verlaufen. Du faßt dich zu oft an. Immer zupfst du dir an der Haut herum. Das ist die Unruhe. Man sollte sich nicht zuviel berühren und auch nicht lächeln oder die Brauen bewegen. Ein Gesicht, das noch schön ist, ist ein gepflegtes und unbewegtes Gesicht. Wie eine gepreßte Blume, wenn man sie unter das durchsichtige Gewicht einer Glasscheibe legt. Sie stellte das Glas ab, ohne auszutrinken. Sie bedauerte, daß niemand beobachtete, wie sie litt: eine Frau, die um fünf Uhr nachmittags alleine trinkt, mit professionell geschminkten Augen, die mitleiderregend tränen. Wo schaute die Welt eigentlich hin? Ist es denn mög238
lich, daß niemand den Schmerz bemerkt, obwohl man ihm auf offener Straße begegnet? Keine Rede von Altruismus, das ist sowieso ein Märchen, aber wenigstens sollte man sich selbst wiedererkennen. Die condition humaine. Schaut sie euch in meinem Gesicht an: Da ist sie, in jener Schlacht der Schminke mit den bewaffneten Söldnern der Zeit. »Kann ich mich in den hinteren Teil setzen?« fragte sie den Kellner, der hinter dem Tresen offensichtlich lustlos die Tassen spülte. Die Erlaubnis wurde ihr durch ein Kopfnicken gegeben. Ein halbes ja. »Danke«, sagte sie, »und wären Sie so freundlich, mir einen Cappuccino und einen Toast zu bringen?« Sie setzte sich an das Tischchen, entschlossen, diese Verzweiflung, die kein Publikum hatte, mit der Wahl irgendeines Lebenshungers zu überwinden. Zum Beispiel mit einem kleinen Imbiß. Dann wollte sie lesen. Die Bar war nicht besonders gemütlich, eine Durchgangsbar in einer Wohngegend. Gutgekleidete Kinder kauften Joghurt und Milch. Die Kassiererin kannte sie beim Namen. Der Tisch, an dem Sophie saß, war der einzige im ganzen Laden. Die Beleuchtung war schlecht, rechts neben ihr stand eine Schachtel mit Keksen. Die Musik war grauenhaft, ein Gemisch aus Schlagern und Werbung, von rauhen, aufdringlichen Stimmen im trägen römischen Akzent herausgeschrien. Aber was soll’s. Sophie schlug das Drehbuch auf. Es war aber eigentlich noch kein Drehbuch. Es war... ein bißchen mehr als die Idee für ein ema, in zu großem Zeilenabstand gedruckt, damit es nach mehr aussah. Fünfzig Seiten. In Wirklichkeit waren es nicht mehr als fünfundzwanzig. Sie las: Die Contra-Frau, Idee für eine 239
Fernsehserie. Vorausgesetzt, daß nicht Claudia, die behauptete, um die Vierzig zu sein, und achtunddreißig statt siebenundvierzig war, diese Rolle bekommen würde, sollte sie die Sarah spielen (Anspielung auf die Bibel), eine ›noch schöne, wenn auch nicht mehr ganz junge Frau‹. Sie war - so sah es der Drehbuchautor vor - geschieden und rastlos. Die Geliebte eines angesehenen Arztes, aber der ausweglosen Beziehung müde. Kinderlos, und deshalb Opfer eines unheilbaren Seelenschmerzes, da es ja nun einmal in der Natur der Frau lag - so wörtlich der Autor -, sich um Kinder zu kümmern. Sarah, die es satt hat, über ihre sinnlose bürgerliche Existenz zu brüten, besucht ihren Geliebten, der ein zweifellos skrupelloser Oberarzt ist, regelmäßig in der Klinik. Hier wird sie sich des Elends und der Mißverhältnisse in der Welt bewußt. Der arme Alte auf der Pritsche. Die Alte im Flur. Das kleine Mädchen, das nie Besuch bekommt. Der Drogenabhängige, der aus Verachtung entlassen wird, obwohl er dringend einer Behandlung bedarf. Oje, denkt Sarah, jenseits meiner Zwei-Terrassen-Dachwohnung fließt also der Fluß des Unglücks. Diese Erkenntnis an sich ist schon überaus ergreifend. Zur großen Bestürzung des Geliebten ist Sarah im Krankenhaus immer und überall im Weg. Sie stellt Fragen über Fragen. Sie macht der Oberschwester das Leben zur Hölle. Sie setzt sich für alle Benachteiligten ein. Sie nimmt die Todkranken in den Arm. Natürlich paßt ihm das gar nicht, weil sie nun nicht mehr in Zermatt Skilaufen ge240
hen will und auch nicht mehr zum Shopping in Cortina. Immer ist sie müde, wegen der Nachtwachen, sie macht es nicht mehr mit ihm, obwohl sie es vorher unter tausend kleinen Schreien ständig mit ihm machte. Aber das ist noch nicht das Ende. (Da es ja nun einmal zwei Abende füllen soll, muß der Schwenker mit den sexuellen Enttäuschungen an den Haaren herbeigezogen werden!) Da Sarah ständig im Krankenhaus ist, entdeckt sie echte Schweinereien (chirurgische Geräte, die verschoben werden, um den Schlachthof einer Luxusklinik zu bestükken, das dubiose Auswahlverfahren, nach dem die Patienten aufgenommen werden, überalterte Medikamente, die den Kassenpatienten gegeben werden, und so weiter). Sie bespricht diese Dinge mit ihrem Geliebten, der sie behandelt wie eine gefährliche Geisteskranke. Aber hier ist es noch immer nicht zu Ende - jedes der beiden Serienteile muß neunzig Minuten füllen. Als es gerade am schönsten ist, als sie ihr Doktorchen gerade in klarem Licht sieht, macht Sarah die ekelhafteste Entdeckung. Düstere Geschäfte: Organe, die Patienten herausgeschnitten werden, obwohl diese noch nicht ganz tot sind, und die dann (für sehr viel mehr Geld, als sie wert sind) an wohlhabende Kranke in der ganzen Welt verscherbelt werden. O nein, sagt sich Sarah, was zuviel ist, ist zuviel. Das kleine Mädchen, dem ihr die Leber herausgenommen habt - ihr Enzephalogramm zeigte noch eine Kurve. Ihr Koma war so reversibel wie ein Nachmittagsschläfchen, wie konntet ihr nur? Nur weil ihr Vater drogenabhängig ist, während die andere, die gerettet wurde, steinreich ist. Natürlich hofft unsere Heldin bis zum letzten Moment, 241
daß ihr Angebeteter zwar geldgierig, aber doch nicht ganz so herzlos ist. Aber weit gefehlt. Er steckt bis zum Hals in der ganzen Geschichte. Aber Sarah fährt mit ihren Nachforschungen fort, sie gibt sich scheinbar überzeugt, sie entlockt ihm seine widerlichsten Geheimnisse und nimmt ihn in die Zange. Ihr Herz bricht: Tief im Innern hat sie ihn geliebt. Oder zumindest vögelt sie ihn seit Jahren. Das Glück im Unglück will es, daß der drogenabhängige Vater des Mädchens, dem die Leber herausoperiert wurde, eine Entziehungskur gemacht hat. Das Schicksal will es, daß er dreißig Jahre und ein agiler junger Mann ist, wenn auch ein bißchen mager. Eigentlich ist er kultiviert und reizend, der Tod seiner Frau hatte ihn an den Rand der Gesellschaft getrieben. Das Schicksal will es, daß er noch ein zweites Kind hat, ein ganz, ganz kleines Töchterchen. Blond und nach frischer Wäsche duftend. Natürlich verliert das Krankenhaus den Prozeß und muß ihm einen Haufen Geld zahlen. Natürlich verliebt er sich in Sarah. Natürlich übernimmt Sarah die Mutterrolle, und die Kleine muß jetzt nicht mehr bei der Großmutter leben. Contra-Frau heiratet ehemaligen Drogenabhängigen mit Tochter - und im Bewußtsein um das Unglück in der Welt lebten sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage, im unermüdlichen Kampf gegen alle Ungerechtigkeiten, die sich ihnen darboten. »Und meine Liebe, hat Ihnen die Geschichte gefallen?« Der Assistent kehrte lässige Effizienz hervor. Er ging ans Telefon. Aber schnaufend sagte er: Ich bin in einer Be242
sprechung, rufen Sie mich in fünf Minuten zurück. Also würde die Besprechung vermutlich in vier Minuten vorbei sein. Die Besprechung war Sophie. Ununterbrochen klingelte das Telefon. Der Assistent entschuldigte sich: Meine Sekretärin ist heute nicht da, Nervenzusammenbruch. Die Glückliche. Damit wollte er darauf anspielen, daß er im Grunde auch einen Nervenzusammenbruch verdiente. Vor allem wegen seines Lebens voller wichtiger Entscheidungen. Er mußte ständig entscheiden. Aber in Wirklichkeit war alles, immer, bereits beschlossene Sache. Auch diese nette Idee, die Contra-Frau Sophie Marini zu geben. Der Chef hatte gesagt: Genial. Er hatte gesagt: Rufen Sie sie an. Was aber nicht im geringsten bedeuten mußte, daß die Rolle nicht schon längst anderweitig vergeben war. Wieder klingelte das Telefon. Während er telefonierte, urteilte er über Sophie: Im Fernsehen, bei der Talk-Show, war sie ihm noch schöner als sonst erschienen. Wer weiß, hatte sie sich vielleicht liften lassen? Müßte bei Schauspielerinnen ja eigentlich die Krankenversicherung übernehmen. Wenn sie älter als vierzig sind, sehen sie ja meistens total entstellt aus. Und die Marini, da sei ja wohl nichts zu beschönigen, habe die Vierzig ja schon länger hinter sich gelassen. Er erinnerte sich an ihre Rolle in Der Spiegel. Ein bestialisches Luder. Wann war das noch gleich? Da war ich noch auf der Universität. Ziemlich heiße Braut. Aber jetzt sind Sie viel besser. Die werden ja immer viel zu spät richtig gut. Er legte auf. »Freut mich, daß Sie mich in Erwägung ziehen«, sagte sie und stand auf. 243
Er sagte: »Sie bekommen dann Bescheid.« Er gab ihr einen Handkuß. »Bleiben Sie so hübsch, wie Sie sind. Und jetzt entschuldigen Sie mich.« Sophie kam zu spät zum Parlamentsgebäude. Sie hatte sich noch schnell die Moschino-Kostümjacke ausgezogen und war in eine schwarze Hose und einen Radlerpulli geschlüpft. Sie hatte sich eine Lederjacke gekauft, damit das Ganze ein bißchen jugendlicher aussah. Alles was recht ist, aber sie wollte nicht in diesem Ost-Look erscheinen. Es waren weder Fotografen noch Schaulustige da. Niemand schaute sie an. Elisabetta diskutierte mit Irene über das Fusionskonzept, sie wetterte gegen einen Pazifismus materialistischer Prägung. Der reinste Horror, Frauen gegen den Krieg mobil zu machen. Die Aufgabe, Leben zu schenken, ist ihr nicht zum Preis dafür verabreicht worden, sich gegen den Tod einsetzen zu müssen. Frauen sind nicht von Natur aus für den Frieden. Frauen sind nicht von Natur aus gegen den Krieg. Sie sind gegen diesen Krieg. Sie sind für diesen Frieden. Und was ist mit der Emanzipation? Der Krieg lenkt die Frauen von sich selbst ab. Vom Bedürfnis, sich mit ihrem eigenen Geschlecht zu identifizieren. Der Krieg ist eine symbolische Umwälzung. Man muß unbedingt den Charakter der Fremdheit betonen. Sophie näherte sich der Gruppe, ging dann aber weiter. Niemand achtete auf ihre Bewegungen. Sie drehte sich vom Gebäude weg. Der Himmel war stockdunkel, aber klar. Der Mond war zu sehen. Sie stellte sich aufrecht hin und bewegte sich nicht. Die Muskeln angespannt. Der 244
Gesichtsausdruck war entsetzte Anteilnahme an der bevorstehenden Katastrophe. Die Lippen geschlossen. Der Blick abwesend, verloren. Und hinter ihr das korrupte Gewimmel. Der Tempel der Händler. Wie lange dauerte diese Demonstration in Schwarz nun schon? Die ersten Male war es ergreifend. Sie meinte, eine tiefe Stille zu hören. Sie sahen sie an. Sie mimte mit den Schultern. Ein großer, stummer Monolog, Schultern, die sich wehren, stolz gespannte Gesäßbacken. Ein Mädchen hatte sich Friedenstauben auf Stirn und Wangen gemalt. Aber sie, nur sie, konnte mit ihrem Körper sprechen. Sie war eine Frau, sie trug Trauer, sie war Pazifistin, sie gehörte zu den anderen. Nie zuvor hatte sie zu anderen gehört. Die anderen waren eine Bedrohung gewesen, die statt ihrer auserwählt werden konnten, wo doch sie es war, die auserwählt werden mußte. Jede Frau muß auserwählt werden. Deswegen ist jede andere Frau immer eine Bedrohung. Schaffe eine Leere um dich herum. Nur wenn du die einzige bist, vermeidest du das Risiko, nicht auserwählt zu werden. Es gibt keine schwesterliche Bindung, die das Risiko, in der Herde unterzugehen, rechtfertigen könnte. Da, ein Polizist schaute sie an. Er trug einen Schild und hatte einen Helm auf. Er sah gelangweilt aus. Alle Polizisten sehen gelangweilt aus. Es waren nur wenige, sie hielten ihre Schilde wie Kinder, die an einer Parade teilnehmen sollten. Sie flößten einem keine Angst ein. Weder hatten die Frauen Angst vor ihnen, noch hatten sie Angst vor den Frauen. Plötzlich überkam Sophie die Lust, einen Stein zu werfen. Es war ein idiotisches Verlangen. Einen Pflasterstein. An einer Seite der 245
Piazza, neben einer der üblichen provisorischen Gruben für Arbeiten an Telefonleitungen, Wasserleitungen oder Abwasserrohren, war ein Haufen. Ein ganzer kleiner Berg mit erdverschmierten Pflastersteinen. Sie hätte nur ein paar Schritte machen und sich bücken, nur leicht die Knie beugen müssen. Dann hätte sie den Stein werfen können. Auf den gelangweilten Polizisten. Auf den Palazzo, aus dem Männer mit blauen Mänteln, Männer mit Kaschmirmänteln kamen, mit Ledertaschen und in müder Zufriedenheit, um sich sogleich hektisch in den nächsten Abschnitt ihrer Tagesläufe zu stürzen. Contra-Frau wirft Pflasterstein, während sie vorbeilaufenden Regierungsangestellten betrachtet. Sie würde den Oberkörper leicht verdrehen müssen. Sie müßte drei Schritte Anlauf nehmen und den Arm nach hinten strecken. Die Lederjacke paßte in das Bild, das sich in ihrem Innern um den ersehnten Steinwurf fügte. Eine starke, feurige Frau mit einem ausgeprägten Potential an aufrührerischer Gewalt. Eine, die weder Zögern noch Resignation duldet. Eine, die es nicht duldet, auserwählt zu werden. Sollten sie doch Claudia diese verdammte Rolle geben. Das Skript war absolut idiotisch, was den Erfolg garantierte. Die Trägheit der Welt mündete in einen flimmernden Würfel, den Fernseher. Wenn es ein richtiger Film gewesen wäre. Wenn sie ihr wenigstens eine richtige Filmrolle angeboten hätten. Das hatte sie klipp und klar gesagt, auch zu Max. Aber eine richtige Filmrolle würden sie ihr nie mehr anbieten. Es ging nur noch um Brüste und Hintern, um Liebhaber, um einen Ruf, der nur im Bett zu erwerben war. Wenn 246
sie diese Erkenntnis nicht gehabt hätte, wäre sie vielleicht wenigstens eingebildet gewesen, wie gewisse Kolleginnen, die nie über sich selbst nachdachten. Sie war keine große Schauspielerin. Das war sie nie gewesen. Sie war überhaupt nichts Großes. Sie war ein hübsches junges Mädchen gewesen, mit feinen Zügen, willensstark und mit einem kräftigen Körper. Sie dachte gern daran zurück, wie sie von zu Hause abgehauen war. Der Zettel, den sie ihrer Mutter hinterlassen hatte: ›Ich hab’ Dich lieb. Ich habe Großes vor. Ich will nicht enden wie Du.‹ Ihre Mutter. Warum mußte sie jetzt an ihre Mutter denken? Sie dachte eigentlich nie an sie, und jetzt fiel sie ihr plötzlich ein. In einem Anflug von Melancholie. Als sie von zu Hause abhaute, war ihre Mutter zehn Jahre jünger gewesen als sie jetzt. Auch ich bin grausam gewesen, dachte sie, und es war in diesem Augenblick ein tröstlicher Gedanke. Er half ihr, sich wieder in etwas einzubinden. Ich wollte nicht enden wie meine Mutter, und das ist mir gelungen. Ich habe keine Kinder. Ich habe keinen Mann. Ich war niemals Hausfrau. Ich habe mir mit meinem eigenen Geld eine Wohnung mit Blick auf die schönste Piazza der Stadt gekauft. Ich habe Glück gehabt. Ich. Genau. Ich habe Glück gehabt. Dennoch werde ich zu diesem Stein greifen, als Beweis meiner Sensibilität gegenüber dem Unglück, das mich nicht direkt betrifft. Habe ich vielleicht einen Bruder, einen Mann oder einen Liebhaber in den Flugzeugen, die in der südlichen Hälfte der Welt über die Himmel stürmen? Ich habe keine Brüder. Und keine Liebhaber. Und keine Ehemänner. Weder hier noch anderswo. Michele ist ein 247
Phantom. Sobald ich aufhöre, ihn zu lieben, verschwindet er, ich projiziere sein Bild, er ist die Figur des chinesischen Schattenspiels, und ich bin seine Lichtquelle. Ohne einen bestimmten Anlaß, aber übermannt von Tausenden von Einsichten, fing Sophie an zu weinen. Sie berührte eine Träne und versuchte, ihre Gedanken wie eine widerspenstige Herde auf ein bestimmtes Bild zuzutreiben, das zum Ort, zum Tag, zu den Menschen, zu den Umständen paßte. Das irakische Mädchen... So sehr sie sich auch anstrengte, das Mädchen mit der verbundenen Hand wollte nicht erscheinen. Statt dessen war da Michele, war da Max. Und schließlich war da Antonangelo Wasweißich und der Staatssekretär und die Politikredakteurin. Alle hatten sie denselben Blick. Sie schauten Sophie an, als sei sie die Kopie eines Bildes. Sie suchten nach Anzeichen für Verformungen, korrigierten, zeichneten ihre Züge nach. Sie schauten sie an. Gefühllos. Sie war nicht das Original, sie war die Kopie. Eine Fälschung, wenn auch gut gemacht. Fälschungen sind niemals antik. Mit dem ersten Riß sind sie einfach alt. Vielleicht waren da schon Risse. Das Blut, von der Verzweiflung vergiftet, fließt schon langsamer durch die Venen und steht vielleicht bald gänzlich still. Und die Gesichtshaut war auf dem Jochbein schon dünn wie ein Schleier. Bald würde sie reißen. Dann wäre nur das nackte Fleisch zu sehen, kein schöner Anblick. Sie mußte sich in Sicherheit bringen. Einen Schatten finden. Oder einen festen Schutz. Einen Haß. Eine Idee. Einen Kreuzzug. Sie warf den Stein wie aus Versehen, weil sie so lange 248
darüber nachgedacht hatte. Mühsam fuhr der Arm nach oben. Sophie sah ihn fortfliegen, oben, über dem Dach eines blauen Autos. Endlich war das Mädchen mit der verbundenen Hand wieder da. Aber es lachte. Und das war mehr, als das Herz von Sophie ertragen konnte.
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Unternehmen Wursthaut Das große Problem in Friedas Leben waren die Männer. Nicht, daß sie keine gekannt hätte, nicht, daß sie nichts mit ihnen anzufangen gewußt hätte - nein, ihre Lage war eine viel schwierigere, denn sie hatte ihr Herz just an den Einen gehängt, der ihren Annäherungsversuchen beharrlich auswich. Mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit gelang es ihr, ihr Gefühl für ihn trotz aller Anfechtungen lebendig zu erhalten, es gelang ihr aber auch, mit ihm nicht das große Glück im Himmelbett zu erleben, von dem sie träumte, seit sie ihn kannte. Ihr erstes Zusammentreffen fand im Gang eines Kongreßzentrums statt, wo sie beruflich zu tun hatte und er auch. Gehört hatte sie schon von ihm, und was man sich über diesen Mann erzählte, erweckte ihre Neugier. Es eilte ihm ein Ruf als eminenter Gelehrter voraus, doch ansonsten galt er als giftsprühender Zyniker. Besser fand sie die Charakterisierung, die ein gemeinsamer Bekannter bei einem Empfang gefunden hatte, als er das sauertöpfische Verhalten des Einen mit den Worten quittierte, er wirke wie ein Verhütungsmittel. Frieda gab es zu denken, wenn sie sich sagen mußte, sie liebe ein Verhütungsmittel. Wie stand sie denn vor sich selbst als Frau da, wenn es stimmte, daß die abwehrende Umhüllung sie mehr anzog als das, was in ihr steckte oder stecken sollte? Denn manchmal beschlichen sie heftige Zweifel, ob das unfaßbare Objekt ihrer Begierde nicht nur 250
ein Trugbild war... Um diesen Zweifeln abzuhelfen, faßte sie eines Tages den Entschluß, den Stier bei den Hörnern zu packen. »Trifft es zu, daß meine Liebe einer Phantasmagorie gilt«, sprach sie zu sich selbst, »trifft es zu, daß Herz und Sinne und nicht zuletzt der Verstand«, denn die Gespräche mit ihm amüsierten sie ganz besonders, »daß also mein inbrünstiges Sehnen auf ein Fabelwesen gerichtet ist, dann möchte ich wie im Märchen mit diesem Fabelwesen zusammentreffen, um zu erfahren, was dann geschieht. Stimmt es aber, was ich viel eher glaube, daß in seiner Pariser Haut ein kräftiges Stück Fleisch steckt, wie es sich ja rechtens auch gehört, dann möchte ich endlich zugreifen und meinen Hunger nach einer saftigen, lebensstrotzenden Speise stillen.« So sprach Frieda zu sich selbst, um sich Mut zu machen. Dann setzte sie das Unternehmen ›Wursthaut‹ in die Tat um. Ihr Gefühl und ihr Verstand sagten ihr, daß man diese Wurst häuten müsse, um in den Genuß ihres wohlschmeckenden Inneren zu gelangen. Doch wie häutet man eine lebende Wurst ohne ihre Gegenwehr? Denn daß er zu der Spezies der Märtyrer zählen würde, die sich für ihren Glauben mit Wonne die Haut bei lebendigem Leibe abziehen ließen, womöglich unter ekstatischem Absingen von Kirchenliedern, das nahm sie nicht an. »Eigentlich müßte man die Wurst dazu bringen, ihre Haut von selbst abzuwerfen«, sagte sich Frieda. »Doch dann«, so schloß sie messerscharf, »wäre die Wurst keine Wurst mehr, sondern eine Schlange.« Der psychoanaly251
tisch mehr als offenkundige Gehalt ihrer Phantasien ließ Frieda, die in einer Klosterschule aufgewachsen war, aber ihren Horizont inzwischen durch allerhand Lektüre erweitert hatte, entsetzensvoll erschauern, doch schließlich faßte sie sich ein Herz und führte ein Telefongespräch mit einem ihrer gemeinsamen Freunde, um ein Treffen zu arrangieren. Es war ihr ganz gleichgültig, ob dieser das Offenkundige ihrer Vorgehensweise durchschaute, Hauptsache, sie kam zu ihrem Vergnügen und konnte sich als Schlangenbeschwörerin oder Wurstenthäuterin betätigen. Das Treffen fand in einer Bahnhofsrestauration statt, die einerseits wegen ihrer vorzüglichen Küche von weither besucht wurde, andererseits durch die Nüchternheit ihres Dekors keinerlei Anlaß zu romantischen Spekulationen gab. Frieda hatte alles getan, um ihre weiblichen Reize in bestem Licht, doch nicht zu auffällig, erscheinen zu lassen, sie hing nämlich noch immer dem Glauben an, sie dürfe sich nicht zu sehr in den Vordergrund spielen. Ein gütiges Schicksal hatte ihren gemeinsamen Freund an einer heftigen Magenverstimmung erkranken lassen, so daß sie nun zu ihrem freudigen Erschrecken ihm höchstselbst und leibhaftig allein gegenübersaß. Die Zeremonie der Begrüßung war bald abgewickelt, und das Studium der Speisekarte half ihr über die erste Verlegenheit hinweg. »Wie nur«, sprach Frieda zu sich selbst, »wie nur stelle ich es an, meinem Angebeteten die Natur meiner Begierden klarzumachen, ohne die Regeln der Dezenz allzu kraß zu verletzen?« Die Lektüre des Menüs enthob sich dieser Grübeleien, denn als Tagesgericht waren Würste mit 252
Sauerkraut und Bratkartoffeln angeboten. Eingedenk des Titels ihres Vorhabens und eines französischen Freundes, der 1974 beim Verzehr von Andouillettes, scharf gewürzter, mit Kutteln gefüllter Würste von einschlägiger Form, den Kommentar abgegeben hatte, dies sei das Essen zum Jahr der Frau, bestellte sie beherzt eine Wurst, die sie mit sichtbarem Appetit genüßlich verzehrte, nicht ohne ihr vorher die Haut abgezogen zu haben. Friedas Erstaunen und Entzücken waren jedoch keine Grenzen gesetzt, als sie sah, was er auf seinem Teller hatte: Schnecken! Diese possierlichen Tierchen hatten ihr zwar immer wegen ihrer Glitschigkeit einen gelinden Schrecken eingejagt, doch nun öffnete ihr die Liebe die Augen für die sinnlichen Qualitäten dieser Speise. Mit geschickter Hand befreite August, denn dies war sein Name, eine nach der anderen aus ihrem Häuschen und ließ sie in seinem Mund verschwinden. Frieda war perplex: Sollte er die gleichen Begierden hegen wie sie selbst, sollte er die Einwilligung zu diesem Treffen mit denselben Hintergedanken gegeben haben? Ein Wort aus seinem Mund versetzte sie endgültig in ungläubiges Staunen, denn August schlug einen Verdauungsspaziergang in ein Wäldchen am Rande der Stadt vor. Friedas unternehmerischer Geist fügte sich mit Wonne diesem Wunsch. Lustwandelnd schütteten beide ihre Magensäfte mit den genossenen Speisen und dem getrunkenen Wein zusammen und waren alsbald so berauscht, daß sie sich voll Verlangen in die Arme sanken. Der Austausch von Körpersäften beim Küssen zeitigte jedoch eine überraschende Wirkung: Frieda fühl253
te, wie ihr zwei Hörner wuchsen, wie sich ihr Körper in eine weiche, feuchte Schnecke verwandelte, wie auf ihrem Rücken ein elegant geschwungenes Haus entstand. August hingegen präsentierte sich als züngelnde Schlange, die sich voll Begierde an Frieda schmiegte und ihr glühende Liebesworte gegen die Fühler - denn Schnecken haben keine anderen Sinnesorgane - hauchte. Die Liebestaumel brachte beide vom rechten Weg ab, und ehe Frieda einen klaren Gedanken fassen konnte, befand sie sich in ihrer neuen Gestalt mit dem gleichfalls verwandelten August auf einer mit Kiefernnadeln bedeckten, sonnenbeschienenen Lichtung. »Ich weiß zwar nicht, wie eine Schnecke die Wonnen der Liebe empfindet«, dachte Frieda noch, als sie sich mit der Schlange August in leidenschaftlicher Umarmung auf dem Boden wälzte, »aber eigentlich müßte meine Glut einen Waldbrand verursachen.« Dann dachte sie nichts mehr. Als Frieda wieder zur Besinnung kam, fand sie sich, Kiefernnadeln im verwirrten Haar und umgeben von verstreuten Kleidungsstücken, mit einem gleichfalls verwirrten August auf dem weichen Waldboden wieder. Ihr Auge fiel auf ein Schneckenhaus, das neben einem wursthautähnlichen Gebilde zwischen den Wurzeln einer Kiefer lag. »Seltsame Paarungen bringt die Natur zustande«, dachte Frieda erstaunt. August klaubte ihr die Kiefernnadeln aus dem Haar und sagte: »Wie wär’s mit Anziehn?«
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Eine Nacht mit Valentin »Hier ist Katharina.« Ich war überrascht, daß sie anrief. Und dann mit solch einem Stimmchen! Ich hätte ihr eine kräftige Stimme zugetraut, nach dem Foto, das eine selbstbewußte, ausgesprochen attraktive Frau gezeigt hatte. Ich nahm den Telefonapparat und lauschte in den Hörer, während ich mich in meinem Polstersessel niederließ. »Ich möchte mit dir reden.« »Warum?« Was sollte dieses vertrauliche ›Du‹. »Wegen Valentin.« »Was gibt es da zu reden?« Ich klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter und versuchte, mir eine Zigarette anzustecken, während ich Katharina zuhörte. »Ich leide«, sagte sie. »Und du leidest auch. Du weißt doch, daß Valentin uns gegeneinander ausspielt. Ich komme nicht mehr damit zurecht.« »Ich weiß nicht, wovon du redest.« Ich sog an meiner Zigarette. »Mach es mir nicht so schwer«, bat sie, und gegen meinen Willen war mir ihre Stimme angenehm, »du weißt doch, daß ich seit einem halben Jahr Valentins Geliebte bin.« Ich stieß eine Rauchwolke aus und starrte ihr nach, wie sie nach oben stieg und sich auflöste. Seit einem halben Jahr? Das hatte mir Valentin nicht 255
gesagt, als ich Katharinas Foto in seiner Jackentasche gefunden hatte. Du kennst mich doch, hatte er gesagt und dazu sein schuldbewußtes Kleinjungengesicht gemacht, sie ist ein Flirt wie so viele. Sie bestand darauf, mir ihr Foto zu schenken. Seit einem halben Jahr? Ich wußte, er schwindelte gelegentlich. Aber dabei ging es um Kleinigkeiten. Eine Geliebte würde er mir nicht verheimlichen, da war ich ganz sicher. Wahrscheinlich bildete sich diese Frau in ihrer Verliebtheit auf zwei, drei Nächte mit ihm etwas ein, das er nicht einzulösen gedachte. So was kenne ich ja auch, dachte ich, daß man sich an die kleinste Hoffnung klammert. »Und was hab’ ich damit zu tun?« »Ich brauche deine Hilfe.« Es war mir unangenehm, daß sie sich so erniedrigte und mich, ihre Rivalin, anflehte. »Ich kann dir nicht helfen«, sagte ich kurz. Warum ließ ich mich auf ein solches Gespräch überhaupt ein? Warum warf ich nicht den Hörer auf die Gabel und stellte Valentin zur Rede? »Bitte«, sagte sie. »Ich muß mit dir sprechen.« Ich schnipste die Asche von meiner Zigarette, sagte: »Gut, wo treffen wir uns?« und kam mir sehr großmütig vor. »Magst du zu mir kommen?« Sie gab mir ihre Adresse, wir machten einen Termin aus, ich legte auf. Ich schob eine Kassette in meinen Rekorder, spanische Flamenco-Musik. Ich drückte sie gleich wieder aus, fand 256
aber keine Musik, die zu meiner Stimmung passen wollte. Ich ging in die Küche und wärmte den Eintopf vom Vortag auf, deckte den Tisch, holte eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Als das Essen heiß war, hatte ich keinen Appetit mehr. Was macht mich so nervös, dachte ich und stellte den unbenutzten Suppenteller zurück ins Regal. War es möglich, daß diese fremde Frau die Wahrheit sagte und Valentin mich seit einem halben Jahr belog? Es kribbelte mich, seinen Aktenkoffer, den er bei mir liegengelassen hatte, zu durchsuchen. Das mißfiel mir. Ich verachtete besitzergreifende Frauen, die ihrem Mann keinen harmlosen Seitensprung verzeihen können. Es war eine Bedingung unserer Beziehung gewesen, daß wir uns gegenseitig kleine Freiheiten ließen, wir hofften, dadurch das Verhältnis zu stabilisieren. Leider - und das störte mich manchmal - kostete Valentin seine Freiheiten mehr aus als ich. Ich entdeckte sogar schrecklich konservative Sehnsüchte in mir nach einer gemeinsamen Wohnung, nach gemütlichen Abenden vorm Fernseher oder im Bett, nach einem ruhigen Urlaub zu zweit in einem abgelegenen Gebirgsdorf, vielleicht in Nepal oder auf den Azoren. Diese Wünsche irritierten mich. Ich hatte mich immer für fortschrittlich, großzügig und unabhängig gehalten. Natürlich erzählte ich Valentin nichts von diesen Phantasien. Ich steckte mir eine Zigarette an. Valentin war verreist für ein paar Tage, es hätte mir gutgetan, ihn zu sehen und mit ihm zu reden. Seit einem halben Jahr? Ich versuchte, mich zurückzuerinnern. Tatsächlich, ich war über einige Merkwürdigkeiten 257
gestolpert. Aber ich hatte nicht grübeln wollen. Selbst als ich dieses Foto entdeckte - zufällig, er hatte mich gebeten, seine Jacke in die Reinigung zu bringen, beim Ausleeren der Taschen fand ich es -, selbst da war ich ganz gefaßt gewesen. Dennoch, gegen meinen Willen hatte mich diese Frau beschäftigt. Valentin mochte eigenwillige Frauen. Die auf dem Foto sah aus wie eine alternative Universitätsprofessorin mit ihren hennaroten Locken, die ein glitzerndes Kämmchen aus dem Gesicht raffte. Das freie Ohr trug einen Schmuck, der kostbar wirkte, Gold mit einem grünen Stein. Grün war auch die hochgeschlossene Satinbluse, die durch den Stehkragen etwas streng wirkte. Die läßt nicht so leicht los, hatte ich mehr geahnt als gedacht, die läßt sich nicht abspeisen mit einer Nacht. Und zum erstenmal, seit ich mit Valentin zusammen war, hatte ich mich bedroht gefühlt. Dann verdrängte ich das Foto, ich hatte keine Lust, mir das Leben mit eingebildeten Rivalinnen zu versauern. Valentin war ein sinnlicher Mann, das wußte ich, und das gefiel mir an ihm. Daß er auf jeden runden Arsch ansprach, war der Preis. Im übrigen hatte er mir immer wieder versichert, daß diese kleinen Abenteuer, die er brauchte, unser Verhältnis niemals gefährdeten. Bevor ich Katharina besuchte, probierte ich lange aus, wie ich auftreten sollte. Ich entschied mich für mein pinkfarbenes Strickkleid, schminkte mich stärker als sonst, benutzte sogar Lippenrot, grell wie das Kleid, und zog mein einziges Paar hochhackige Schuhe an. In meinem normalen Alltag bevorzugte ich die Bequemlichkeit. Ich wunderte mich über meine Ruhe, als ich bei 258
Katharina klingelte. Ich war auf alles vorbereitet. Und wieder überraschte sie mich. Sie trug einen schlichten schwarzen Pulli und eine schwarze Gymnastikhose mit Steg. Sie war vollkommen ungeschminkt, anders als auf dem Foto. Sie will einen ehrlichen Eindruck machen, dachte ich, sie tut so, als gäbe sie sich mir in die Hände, ich darf ihr nacktes Gesicht sehen. Schöne füllige Haare, ja, aber farblose Brauen und Wimpern und eine überschlanke Figur ohne Busen. Valentin mag Brüste, dachte ich mitleidig. Ihr Gesicht war blaß, fleckige Haut, wie man sie bei Frauen sieht, die täglich Make-up auftragen. Aber was mich halb schockierte, halb rührte: ihre Wangen trugen lange parallellaufende Narben wie Spuren von Fingernägeln. Auf dem Foto hatte ich nichts davon bemerkt, wahrscheinlich waren sie vom Make-up verdeckt gewesen. Sie ließ mich eintreten, und ich wunderte mich über ihre Natürlichkeit. Ich hatte damit gerechnet, daß sie krampfhaft freundlich sein würde. Sie war freundlich, aber ganz unverstellt. »Du bist jetzt sicher neugierig, wie ich bin«, sagte sie. »Schau dich um.« Sie war mir sympathisch. Ich war auf der Hut. »Magst du was trinken?« »Ja.« Ich entschied mich für Tee, und sie hantierte in der Küche, während ich im Zimmer umherging und alles sorgfältig betrachtete. Sie wohnte in einem Zweizimmerapartment, das sie mit dem gediegenen Geschmack einer höheren Tochter 259
eingerichtet hatte. Bequeme Schalensessel, ein niedriger Glastisch. Die Möbel sehen nicht billig aus, dachte ich. Sie schien nicht extra für mich aufgeräumt zu haben, auf dem Teppich waren mehrere kleine Bücherstapel verteilt, einige Bücher lagen auf dem Gesicht, andere trugen Papierschnipsel als Lesezeichen. Auf dem Glastisch stapelte sich benutztes Kaffeegeschirr. Für zwei Personen, registrierte ich. Den Aschenbecher füllten zusammengeknüllte Tempotaschentücher. Hat sie geheult, dachte ich, oder hat ein Männerbesuch mit Interruptus geendet. Der Raum hatte gerade den richtigen Grad an Unordnung, um gemütlich zu wirken. Es könnte auch, dachte ich, eine Inszenierung sein. Genau in der Mitte stand das breite Doppelbett, mit dem Kopfende gegen die Wand. Unter dem flauschigen Überwurf zeichneten sich die Wölbungen von Kopfkissen und Deckbett ab. Die Tür zum Nebenraum stand offen, ich blickte auf eine Staffelei und ringsum an den Wänden aufgestellte Acrylbilder. Farbtuben und Pinsel bedeckten den mit weißer Plastikfolie ausgelegten Boden. Katharina trug das schmutzige Kaffeegeschirr hinaus in die Küche: »Magst du Kandis?« - »Ja, gern.« Sie brachte den Tee auf einem silbernen Tablett, holte mit einer silbernen Zange die Kandisstückchen aus dem Glas, klirrend fielen sie in die Tassen. Nachdem sie uns eingegossen hatte, legte sie sich der Länge nach aufs Bett. Sie wirkte nicht lässig, sondern erschöpft. Ich ließ mich in einem der Schalensessel nieder, trank den Tee in kleinen Schlucken, sagte nichts und wartete ab. 260
Sie hob den Arm und machte eine Bewegung um das Zimmer herum: »Was da hängt, habe ich gemalt!« Sie nippte an ihrem Tee und fuhr fort: »Ich bin nicht besonders talentiert. Aber malen tut mir gut. Ich kann da meinen ganzen Seelenkram loswerden.« Ich betrachtete ihre Bilder. Sie alle zeigten stark kontrastierende Farben, vor allem kaltes Blau gegen aggressives Rot. Dargestellt waren Frauen, immer wieder Frauen, mit vorm Gesicht gespreizten Händen, mit verkrampften Fäusten, mit aufgerissenen Mäulern. Sie hat Probleme mit ihrer Weiblichkeit, dachte ich, solche Bilder habe ich in der Pubertät gemalt. »Ich habe jede Menge Selbsterfahrungsgruppen mitgemacht«, sagte sie, »da hab’ ich das gelernt mit dem Malen, ich habe mir ja nie was Kreatives zugetraut. Du lebst vom Malen, nicht?« »Mehr schlecht als recht«, gab ich zu. Was sollte ich ihr vormachen. »Die großen Aufträge kommen selten. Aber wahrscheinlich bin ich nicht geschäftstüchtig genug.« Sie goß mir Tee nach und holte eine Flasche Rum aus der Küche: »Magst du?« Ich verneinte. Sie gab sich einen guten Schluck in ihren Tee. »Du sollst sehen, wer ich bin«, sagte sie. »Wer weiß, was Valentin über mich erzählt hat...« sie hielt fragend inne, aber ich sagte nichts. »Ich bin völlig kaputt, weißt du«, sie lachte bitter. »Du siehst ja meine Narben... Ich zerkratze mir das Gesicht. Ich bin voller Selbsthaß. Ich habe acht Jahre erapie hinter mir, dadurch ist es besser geworden. Das Kratzen war ja eine richtige Sucht. Aber es bricht in Streßsituationen immer wieder durch.« 261
Sie setzte sich auf und legte ihre beiden Hände an die Wangen. Sie sieht aus wie ein erschrockenes Mädchen, dachte ich. Sie ist am Ende, dachte ich, sie weiß nicht weiter, ich bin ihre letzte Chance, sie hat nichts mehr zu verlieren. Ich stellte keine Fragen. Sie erzählte: »Ich habe eine neunjährige Ehe hinter mir. Wir haben einander nur verletzt und gedemütigt. Irgendwann schaffte ich den Absprung. So etwas will ich nie wieder. Eine Ehe ist ein Monster mit zwei Köpfen und vier Beinen, jeder strebt in die entgegengesetzte Richtung, aber man kommt nicht voneinander los. Als ich Valentin kennenlernte, war ich ziemlich fertig. Wahrscheinlich hat er es mir nicht angesehen. Ich kann gut spielen, wenn es sein muß. Die Männer merken so was nicht. Oder sie wollen es nicht merken.« Ich wunderte mich, daß sie sich so in meine Hände gab. Ich fühlte mich ihr nah. Ich war wachsam. »Mir gegenüber«, sagte sie, »war Valentin aufrichtig. Ich wußte von Anfang an, daß es dich gibt.« Sie lachte kurz auf. »Du hattest den Part der betrogenen Ehefrau, ich den der Geliebten.« »Beides hat seine Vor- und Nachteile«, bemerkte ich und dachte, warum soll ich eigentlich den langweilen Part der Ehefrau haben. Nur weil Valentin mich belog? Ich hatte genauso wenig Sicherheit wie sie. Wir wohnten nicht zusammen. Er kam und ging, wie es ihm paßte. Er war mir zu nichts verpflichtet. Jederzeit konnte es zu Ende sein. Wir hatten eine Beziehung ohne Zwänge gewollt, ohne Rollenverteilung, ohne Besitzanspruch. Sie sollte auf freiwilliger Basis nur von Gefühl getragen sein, es sollte keine Vermischung mit ökonomischen Abhängigkeiten geben, 262
keiner sollte unterdrücken, keiner sich unterdrückt fühlen. Eine freie Liebe, die nie selbstverständlich, nie Gewohnheit wurde, die immer neu und frisch und spannungsvoll und leidenschaftlich sein sollte. Auf keinen Fall wollten wir die trüben Ehen unserer Eltern wiederholen, die - um einer fragwürdigen Geborgenheit willen - einander ängstlich am Leben hinderten und irgendwann verbittert feststellen mußten, daß sich das, was sie versäumt hatten, nicht nachholen ließ. »Dich gibt er nicht so schnell auf«, sagte Katharina. »Die Dauer der Beziehung ist ein wichtiger Faktor. Ihr kennt euch fünf Jahre, nicht?« Ich nickte, die Teetasse in der Hand. »Ich hatte eine andere Vorstellung von dir«, sagte sie. »Ich bin überrascht.« Sie musterte mich. »Valentin hat dich farblos genannt. Auf mich wirkst du...« Sie überlegte einen Moment, zögerte, hob den Blick: »Ein besseres Wort fällt mir nicht ein: ungebrochen.« Sie zupfte Fussel aus der Flauschdecke. »Ich bin gebrochen. Ich habe hart gekämpft, aber sie waren stärker.« »Wer?« Sie lachte unmotiviert: »Wir waren ein Frauenclan, meine Mutter, meine Großmutter und ich. Mein Vater war nicht wichtig, er hielt sich ohnehin meistens in der Mansarde unterm Dach auf, wo er sich eine Werkstatt eingerichtet hatte für seine Kunstobjekte. Alle haben sie einander gehaßt, jeder bekämpfte jeden. Mal hat mich meine Mutter auf ihre Seite gezogen, mal meine Großmutter, dann wieder ging’s mit beiden gegen meinen Vater. Als ich ein Mädchen war, haben die zwei Frauen überlegt, 263
wie sie meinen Vater umbringen könnten. Aber ich wollte meinen Vater gar nicht umbringen. Ich lehnte ihn ab, er war jähzornig, er prügelte mich und meine Mutter. Aber ich wollte ihn nicht umbringen. Gott sei Dank starb er irgendwann an einem Herzinfarkt, er hatte es ja auch nicht einfach gehabt im Leben...« »Dein Vater war Künstler?« fragte ich. Sie zögerte: »Er war Kunsterzieher und malte und bildhauerte nebenher, er hat nicht ein einziges Bild verkauft in seinem Leben oder eine Plastik. Er haßte seine Schüler, denen er die Kunst beibringen sollte, denn sie nutzten den Unterricht, um sich auszutoben. Als er tot war, verbündeten sich die beiden Frauen gegen mich, oder die Großmutter verbündete sich mit mir gegen die Mutter, oder die Mutter verbündete sich mit mir gegen die Großmutter - ein fürchterliches Intrigennetz. Heute liegt mir viel an Frauensolidarität. Durch die Frauenbewegung habe ich eine Menge gelernt.« »Du bist sehr offen«, sagte ich. »Ich trau’ dir nicht. Aber mir gefällt deine Offenheit.« Sie zuckte die Achseln: »Trau mir oder trau mir nicht. Du hast gewonnen.« »Was heißt das?« Sie schaute mich an: »Valentin will dich nicht verlieren. Ohne deine Hilfe habe ich keine Chance.« Ich fragte nach der Toilette. Als ich die Tür verriegelte, fiel mein Blick auf ein riesig vergrößertes Foto, das die ganze Türfläche bedeckte. Ich war schockiert. Ich ärgerte mich, daß ich schockiert war. Das bezweckte sie doch gerade, dachte ich. 264
Das Foto zeigte eine Möse mit leicht geöffneten Lippen, quer darüber war mit schwarzem Filzstift geschrieben: ich. Während ich auf der Klobrille saß und nirgendwo anders hinschauen konnte als auf dieses verzweifelt aufdringliche Foto, dachte ich, sie tut sich schwer mit dem Sex, und ich kam mir sehr gesund vor. »Ich wüßte nicht«, sagte ich, als ich zurückkam und mich wieder in den Schalensessel gesetzt hatte, »ich wüßte nicht, was ich für dich tun könnte.« »Ich will dir deinen Platz nicht streitig machen«, begann sie. »Ich will nichts weiter, als Valentin ab und zu sehen, das ist alles.« »Und was hab’ ich damit zu tun?« »Er zieht sich zurück von mir«, sagte sie leise. »Seit du weißt, daß er mit mir zusammen ist, setzt du ihn unter Druck. Er wird dir nachgeben, um dich nicht zu verlieren.« Wie kam sie darauf? Ich hatte ihn überhaupt nicht unter Druck gesetzt. Ich wußte doch erst seit einem Tag, daß er eine Geliebte hatte. Er war es also, der sich von ihr zurückzog. Das zu hören tat mir gut. Darum also setzt sie alles auf eine Karte, dachte ich, darum demütigt sie sich vor mir. Traurig, wie sie bei der Konkurrenz betteln geht, um ein paar Brocken Liebe abzukriegen. Ich versuchte, sie meine Überlegenheit nicht spüren zu lassen. »Wie kann ich dir helfen?« »Er hat uns beide betrogen«, sagte sie. »Er war jedesmal bei mir, wenn er dir erzählte, er sei in der Deutschen Bibliothek, um dort für sein Buch ›Die Frau in der bilden265
den Kunst der zwanziger Jahre‹ zu recherchieren.« Das hatte ich nicht gewußt. Ich führte die Tasse zum Mund. Der kalte Teerest schmeckte übersüß. Ich hielt Katharina die Tasse hin. Sie schüttete nach. Das also war es gewesen. Ein halbes Jahr lang hatte er mich angelogen. Ich hatte diffus empfunden, daß irgend etwas nicht stimmte, hielt mich für überspannt und hatte mir Vorwürfe gemacht. Und nun erfuhr ich, daß meine Empfindungen richtig gewesen waren. Eine merkwürdige Heiterkeit ergriff mich. Mir war, als schritte ich über eine Bergkamm, leicht und ohne jede Angst, abzustürzen. Ich lächelte Katharina zu, während ich in meinem Tee rührte, damit sich die Süße des Zuckers verteilte. Sie lächelte zurück wie eine Komplizin. Gleichzeitig hoben wir die Tassen, nickten uns über den Rand hinweg zu und tranken. Und dann stürzten die schwarzen Gedanken auf mich ein. Ist es möglich, sechs Monate lang einen Menschen zu belügen, und man liebt ihn dennoch? Wenn wir im Bett herumalberten, uns kindisch durch die Wohnung jagten, er mich heftig griff und atemlos an sich drückte, lächerliche Koseworte murmelte - da war ich sicher gewesen, daß er mich liebte. Das hatte mich ruhig gemacht. Da lachte ich nur über seine Frauengeschichten, die hatten nichts mit uns zu tun. Das war halt dieser unbezähmbare männliche Trieb, der keine Bedeutung hat. Männer können Sex und Liebe trennen, dachte ich neidisch, ich bin immer gleich töricht verliebt. Der Schwanz 266
an sich langweilt mich, ich brauche auch das Drumherum. Könnte ich mir doch, dachte ich, wie Valentin überall ein schnelles Glück holen, ohne die Qualen der Verliebtheit. Wie fremd sind mir Männer, dachte ich. Wie fremd ist mir Valentin. Vielleicht sind wir uns nie nahegekommen. Vielleicht habe ich nur von der Einbildung gelebt. Vielleicht ist unsere Liebe, die ich für etwas Besonderes gehalten habe, in seinen Augen ebenso bedeutungslos wie alle anderen Affären. Merkwürdig, dachte ich, daß du auf jede Frau springen mußt, Valentin. Warum bist du so rastlos. Vielleicht treibt dich gar nicht dein Geschlecht. Vielleicht treibt dich ein Fluch, und du suchst die Erlösung und findest sie bei keiner Frau. Oder liegt es an mir? Bin ich nicht raffiniert genug? ›Farblos‹ hatte er mich genannt. In der Tat, er schien ein doppeltes Spiel getrieben zu haben, wenn es stimmte, was Katharina sagte. Wenn nicht auch sie ein doppeltes Spiel trieb und mich einlud zu sich, um mich später bei Valentin schlechtzumachen. »Ich hatte den Vorteil, daß er mich nicht belog«, sagte sie. »Er weihte mich sogar in seine Spielchen ein, die er mit dir trieb. Sicher tat es ihm gut, daß er sich mir gegenüber nicht zu verstellen brauchte. Weißt du, daß er Silvester mit mir auf Teneriffa war? Er hat mich eingeladen, mit ihm Urlaub zu machen...« Ich griff in meine Handtasche: »Darf ich rauchen?« Sie öffnete das Fenster und holte einen Aschenbecher. Für Katharina waren also die tausend Mark gewesen, die er sich von mir geliehen hatte. Angeblich, um mit seiner kranken Mutter an die Nordsee zu fahren. Er hatte 267
schon eine Menge Schulden bei mir, und ich war nicht sicher, daß ich das Geld je wiedersehen würde. »Er verachtet Frauen«, bemerkte sie und nahm sich eine Zigarette aus meiner Packung. »Er verachtet uns beide, dich und mich. Im Bett sollst du ja ganz gut sein, aber von deiner Malerei hält er überhaupt nichts. Ich nehme an, daß er über mich genauso lästert. Er spielt uns gegenseitig aus, begreifst du das nicht?« Ich wedelte das Streichholz aus und sog den Rauch tief in mich ein. Irgend etwas sträubte sich in mir, mit Katharina über meinen Geliebten zu reden. Ich wollte ihn nicht mit ihr teilen, und sei es auch nur im Gespräch. »Was liegt dir eigentlich an ihm?« fragte ich und betrachtete die Deckenlampe aus dünnem Chinapapier, die der Luftzug torkeln ließ, »warum willst du mit ihm Zusammensein, wenn du ihn so ablehnst?« »Ich weiß nicht«, sagte sie, die Zigarette steif zwischen den weggespreizten Fingern, »ich weiß nicht, ob ich noch mit ihm Zusammensein will. Es ist ja wirklich jämmerlich, daß ein Mann in seinem Alter und in seiner Position solche Lügen nötig hat.« »Von welcher Position redest du?« fragte ich. Sie schien verunsichert: »Er ist doch Hochschullehrer?« »Hat er dir das erzählt?« Ich lachte. »Nichts ist er. Sein Philosophiestudium hat er nach sechzehn Semestern abgebrochen. Er schreibt Artikel, schlecht bezahlte Artikel für Provinzzeitungen. Und er war aufgebrochen mit soviel Ehrgeiz.« 268
Sie betrachtete mich interessiert: »Ach, deshalb durfte ich ihn nie besuchen. Er wohnt wohl sehr ärmlich?« »Er wohnt in einer besseren Rumpelkammer«, sagte ich. »Er schläft auf einer durchgelegenen Matratze mitten in einem Chaos von Büchern und Manuskripten.« »Stört dich das nicht?« Ich hob die Schultern: »In meiner Wohnung stört es mich, wenn er alles stehen und liegen läßt. Bei sich kann er machen, was er will.« Sie wurde nachdenklich: »Da war er also auch mir gegenüber nicht ehrlich. Seine häßliche Seite, die ihm peinlich war, hat er mir nicht gezeigt. Er glaubte wohl, ich ließe ihn fallen, wenn ich herausbekäme, in was für armseligen Verhältnissen er lebt.« Sie seufzt. »Und ich war der Meinung, ich hätte dir gegenüber den Vorteil, daß er aufrichtig ist. Dann bin ich ja reich und etabliert neben ihm. Wie hat er Teneriffa bezahlen können? Er hat immer den Großzügigen gespielt, mich zum Essen eingeladen, kleine Geschenke gekauft... obwohl...« sie zögerte kurz, bevor sie weitersprach, »ich habe viel Geld für ihn ausgegeben, fällt mir jetzt ein. Ich sehe nicht aufs Geld, weißt du, das interessiert mich nicht. Oft hatte er seinen Geldbeutel vergessen, und ich dachte mir: Aha, das Klischee vom zerstreuten Professor stimmt doch.« »Kannst du dich an Ostern erinnern?« fragte ich, und die Frage tat mir weh, »ist er Ostern bei dir gewesen?« Wir hatten Ostersonntag zusammen verbracht. Ostermontag mußte er angeblich zu seiner Mutter, die wieder kränkelte. Es war schön mit ihm gewesen, wir waren durch den frühlingshaften Spessart gelaufen. Er hatte ganz von 269
sich aus vorgeschlagen, wir sollten mal wieder einen gemeinsamen Urlaub verbringen. Vielleicht auf Ibiza, er kenne dort jemanden, der ein Hotel besaß. Vielleicht könnten wir dort billig wohnen. Ich war selig gewesen, daß er so auf mich zuging... Katharina dachte einen Moment nach: »Ich hatte Ferien. Ich wollte so gern mit ihm verreisen. Aber er sagte, er müsse arbeiten, er hatte einen Stapel Klausuren durchzusehen... Am Ostermontag kam er kurz zum Kaffee...« »Habt ihr gevögelt?« Sie lächelte: »Er kam immer zum Vögeln. Manchmal war es mir zuviel. Ich wollte auch mal nur mit ihm sitzen und klönen...« »... und dir erzählen lassen, was ihn alles an mir stört.« »Ihn stört vor allem deine Kleidung. Ausgebleichte TShirts, schlabberige Hosen. Im Moment...«, sie lehnte sich zurück und musterte mich, »siehst du allerdings ganz pfiffig aus. Wenn du immer in solchen Klamotten rumlaufen würdest, wär’ ich sicher nur halb so interessant für ihn. An mir gefällt ihm, daß ich Sinn für elegante Kleidung habe, daß ich gern auffalle. Ein narzißtischer Zug natürlich. Es macht ihm Spaß, sich mit mir in der Öffentlichkeit zu zeigen. Wenn er ins eater oder in die Oper geht, nimmt er grundsätzlich nur mich mit. Mit mir kann er mehr hermachen. Du würdest, sagt er, wahrscheinlich deine Jeans und irgendeinen dunkelblauen Pulli anziehen. Er liebt die Show, und die kann ich ihm bieten.« »Ich kann mir gar nicht vorstellen«, sagte ich, »daß du so bist. Ich erlebe dich eher schutzbedürftig.« »Schutzbedürftig«, wiederholte sie, drückte ihre Ziga270
rette aus und warf mir einen schnellen Blick zu, als wollte sie ergründen, was ich mit der Aussage bezweckte. »Im Unterricht habe ich keine Probleme, mich durchzusetzen.« »Du bist Lehrerin?« »Stellvertretende Direktorin am Gymnasium«, sagte sie leichthin. »Aber die Schule ödet mich an.« »Darum hast du mich also zu dir gelockt«, bemerkte ich, »ich soll dir ein bißchen Spannung in dein tristes Leben bringen.« Mit einem tiefen Atemzug setzte sie sich aufrecht: »Ich habe dich hergebeten, weil ich dir einen Vorschlag machen möchte.« »Bitte.« »Immer wenn Valentin von dir weggeht, rufst du mich eine halbe Stunde später an. Ich sage dir dann, ob er bei mir ist. So haben wir ihn im Griff, und er kann uns nicht mehr belügen und gegeneinander ausspielen.« Ich betrachtete den Rauch meiner Zigarette, wie der Luftzug ihn fortwirbelte. Mich gruselte bei der Idee, ich könnte Valentin ganz und gar unter Kontrolle haben. Das war es nicht, was ich mir unter einer Beziehung vorstellte. »Das ist mir zu aufwendig«, sagte ich, »ich will mich nicht Tag und Nacht mit Valentin beschäftigen. Außerdem...« ich schaute ihr gerade ins Gesicht, »möchte ich dich nicht gleichberechtigt einbeziehen.« Sie saß sehr steif auf ihrem Bett: »Du willst also weiter mit Valentin zusammenbleiben? Trotz allem, was er dir angetan hat?« Aha, dachte ich, darum ging es ihr also. Sie wollte mich 271
soweit bringen, daß ich Valentin freiwillig verlasse. Ihre Offenheit war Taktik. Gott sei Dank, dachte ich, war ich vorsichtig und habe nur wenig von mir gezeigt. »Ich weiß«, sagte ich lässig, »daß Valentin hier und da kleine Affären hat. Das gestehen wir uns gegenseitig zu. Ich selbst bin auch kein Kind von Traurigkeit.« »Seine Lügen gefallen dir sicher nicht«, sagte sie. »Aber egal. Ich mache dir einen anderen Vorschlag.« »Bitte.« Sie zog eine neue Zigarette aus der Schachtel und ließ ein Streichholz aufzischen. Ich sah ihr stolzes hohlwangiges Profil, als sie den Rauch einsog. Dann wandte sie sich mir zu, den Arm mit der Zigarette in die Handfläche gestützt. Sie schaute über mich hinweg, während sie redete: »Für eine Beziehung ist mir Valentin viel zu egoistisch. Zu wenig kooperativ. Ich wollte mit ihm zusammen eine Paartherapie machen. Aber er weigerte sich.« Gouvernantenhaft spitzte sie den Mund. »Hör mal«, rief ich. »Den ganzen Abend erzählst du mir schon, was für ein Schurke Valentin ist. Dabei bist du wie besessen. Was willst du von ihm? Willst du ihn heiraten? Soll ich euch mein Jawort geben? Oder was?« »Du hast mich unterbrochen«, sagte sie, »ich war noch nicht fertig. Also: Ich will keine Ehe mit ihm, da kannst du beruhigt sein. Er ist unterhaltsam. Das ist alles. Er langweilt mich nicht wie andere Männer. Die meisten sind doch Trottel. Wissen nichts mit einer Frau anzufangen.« »Und dein Vorschlag?« »Moment«, sagte sie, »laß mich ausreden. Wenn wir mehr als eine Nacht zusammen sind, strengt er mich an. 272
Dann bin ich immer froh, wenn er geht. Ich will nichts weiter«, sagte sie und schob sich mit dem Oberkörper näher, während sie mir in die Augen schaute - sie roch blumig nach Badezusatz -, »ich will nichts weiter, als ihn einmal die Woche sehen. Schenk mir eine Nacht, bitte. Wir können sogar ein festes Date machen, Donnerstag oder Freitag paßt mir am besten. Den Rest der Zeit hast du ihn ganz für dich allein.« »Und was hab’ ich damit zu tun?« Sie schaute mich erstaunt an: »Ich wollte nur wissen, ob du einverstanden bist. Wenn ja, kriegen wir das schon hin.« »Das ist nicht meine Sache«, sagte ich, »frag Valentin.« Sie sank in sich zusammen: »Er will nicht«, sagte sie. »Deinetwegen. Er hat Angst, dich zu verletzen.« Sollte ich frohlocken? Ich fühlte mich so kalt. »Ich möchte nichts weiter«, bettelte sie, »als ihn ab und zu sehen. Ich nehme ihn dir nicht weg, das verspreche ich dir. Ich bin keine Frau, die dauernd mit ihrem Kerl Zusammensein muß. Das habe ich hinter mir. Meine Ehe war ein Alptraum. Ich brauche viel Freiheit, verstehst du das?« Ich fühlte mich unwohl, wie sie so in mich drang. »Wir könnten auch«, mit ihren schlanken, gepflegten Fingern faßte sie plötzlich nach meiner breiten Hand voller Farbspuren, »wir könnten es auch zu dritt versuchen. Du gefällst mir. Ich habe schon lesbische Beziehungen gehabt...« Ich entzog ihr meine Hand, um die Teetasse zu nehmen. »Ich will Valentin«, sagte ich und erschrak über die 273
Klarheit meiner Formulierung - war das schon Besitzdenken? »Was habe ich mit dir zu schaffen!« Ich sah, wie sie die Lippen nach innen zog, und griff ihren Arm: »Jeden Donnerstag... ich könnte das nicht, meine Wünsche so regeln... versteh das nicht als Kritik, ich habe nichts gegen dich, wir könnten uns weiterhin treffen, behutsam, ohne Anspruch auf Freundschaft oder Liebe. Aber ich denke, du willst Valentin, nicht mich. Du machst dir was vor.« Sie schaute mich traurig-trotzig an: »Schade«, sagte sie. »Schade, schade, schade.« »Wenn du magst«, sagte ich und erhob mich, »kannst du mich anrufen. Ich würde gern wieder einen Tee mit dir trinken. Aber das hat mit Valentin nichts zu tun.« Wir standen beim Abschied zögernd in der Tür: ich reckte mich vor, um ihr einen Kuß zu geben, sie zuckte beiseite, wir stießen mit den Köpfen aneinander, lachten verschämt. Bei einem zweiten Versuch erwischte ich mit meinem Mund ihre zerkratzte Wange. Sobald ich zu Hause ankam, packte mich die Unruhe. Ich haßte es, wenn mich Grübeleien bei der Arbeit störten. Ich saß an einem größeren Auftrag für eine Elektrofirma, ein Wandgemälde für die repräsentative Vorhalle. Nach meinen Angaben sollten einzelne Fliesen bemalt werden. Die Arbeit war gut bezahlt, und ich hoffte, damit meiner finanziellen Misere für die nächsten Monate zu entkommen. Als Valentin von seiner Reise zurückkam, erzählte ich 274
zunächst nichts, ich wollte, daß er mir freiwillig und von sich aus beichtete, daß die Geschichte mit Katharina mehr war als ein unbedeutender Flirt. Er war liebevoll wie sonst auch, ich staunte, daß ich ihm so gar nichts anmerkte. Lange hielt ich es nicht aus und gestand ihm, was ich von Katharina erfahren hatte. Ja, sagte er zerknirscht, er habe diese Frau öfter getroffen. Mit Absicht habe er mir das verschwiegen. Ich sollte nicht annehmen, daß er ernsthaft an dieser Frau interessiert sei. Er habe Mitleid mit ihr gehabt. Ich wisse doch, daß er einer bedürftigen Frau nur schwer einen Korb geben könne. Ihre Ansprüche seien ihm aber schnell zu viel geworden. Er habe sich längst von ihr distanziert. Ich solle diese Geschichte um Gottes willen nicht aufbauschen. Ich sei doch sonst so vernünftig. Wenn ich Wert darauf legte, würde er den Kontakt zu dieser Frau gänzlich abbrechen. Ich wollte nicht mißtrauisch sein. Ich wollte nicht nachhaken, ihn in die Enge treiben, ihn festnageln, ihn überführen. Ich wollte, daß er aus Liebe bei mir blieb und nicht aus Angst. »Wenn ich meinen Auftrag fertig habe«, sagte ich, »würde ich gern mit dir nach Ibiza fahren.« Er strahlte. Ja, auch er sehne sich nach südlicher Sonne und gebackenem Tintenfisch. Er schlage als Reisetermin das übernächste Wochenende vor. »Das wird knapp«, sagte ich, »vielleicht schaffe ich meine Arbeit nicht bis dahin...« Dann sollte ich halt ein paar Tage später nachkommen. Er holte meinen Atlas aus dem Regal und zeigte mir die Balearen. 275
»Ich habe Angst«, sagte ich, »du bändelst gleich mit der nächstbesten Frau an, wenn ich dich dort ein paar Tage allein lasse.« Er lachte, ich wolle ihn domestizieren. »Nein«, sagte ich, »aber ich will dich für mich, wenigstens im Urlaub.« Ich solle mir keine Sorgen machen, sagte er, er habe einen Haufen Manuskripte zu überarbeiten. Vielleicht schreibe er auch einen Bericht über ›die andere Seite von Ibiza‹ oder so ähnlich. Da habe er gar keine Zeit zum Flirten. Noch am selben Abend rief mich Katharina an, aufgeregt: »Ihr fahrt in Urlaub?« »Woher weißt du das?« »Er war kurz hier«, rief sie. »Weißt du, was er mir vorgeschlagen hat, dieser Dreckskerl? Ich solle ihn begleiten und die erste Woche mit ihm auf Ibiza verbringen. Dann kämest du, aber du dürftest um Gottes willen nichts von meinem Besuch erfahren.« Ich war schockiert. Ich konnte es nicht glauben. Oder bluffte sie nur? Aber woher sollte sie unsere Pläne kennen? Vielleicht hatte sie ihn in seiner Wohnung angerufen. Vielleicht hatte er nur erwähnt, er wolle in Urlaub fahren, und sie hatte sich gleich eingeladen gefühlt. Aber wenn es stimmte, was Katharina erzählte? Sollte sich Teneriffa wiederholen? Ich hatte ihm wieder Geld geliehen. »Und du?« fragte ich. »Was willst du jetzt machen?« Stille. Dann: »Ich fahre mit. Es ist ja nur eine Woche...« Ihre Stimme am Telefon bekam etwas Flehendes: »Gönn mir doch die paar Tage. Vermutlich halte ich es ohne276
hin nur einen Tag bei ihm aus und nehme mir dann ein Einzelzimmer.« Aha, dachte ich, sogar das Doppelzimmer ist schon vorgesehen. »Ich gönn’ dir keinen Tag«, sagte ich und wunderte mich über die Schärfe in meinen Worten. »Wir hatten seit Ewigkeiten keinen gemeinsamen Urlaub. Mir paßt es gar nicht, daß du dich so zwischen uns drängst.« »Ich?« sagte sie. »Dein Valentin ist heute extra auf einen Sprung bei mir vorbeigekommen, um mich zu bitten, ihm eine Woche lang Gesellschaft zu leisten. Im übrigen hast du doch anschließend jede Menge Zeit mit ihm!« »Ich muß arbeiten«, sagte ich bitter, »ich kann nicht weg. Und ihr verlebt eine schöne Woche miteinander, das gefällt mir nicht.« »Laß doch die Arbeit«, sagte sie, »und komm. Wir machen uns einen wunderbaren Urlaub zu dritt.« »Und wer von uns schläft im Kinderbett?« versuchte ich zu spotten. »Ich muß hierbleiben und den Auftrag erledigen, ich brauche das Geld. Wovon soll ich denn meinen Urlaub finanzieren.« »Ich weiß gar nicht«, sagte sie, »warum du an diesem Miststück so hängst, er nutzt dich doch nur aus. Übrigens«, fuhr sie fort, »habe ich ihm erzählt, daß ich weiß, wie arm er ist. Es war ihm grenzenlos peinlich. Aber wenigstens hat er nicht mehr nötig, mich anzulügen.« Er findet mich spießig, dachte ich, das ist es. Er wirft mir meine brave Kleidung vor. Katharina mit ihren frivolen Vorschlägen gefällt ihm, mit ihrer Möse und dem Klo, mit ihrer Toleranz. Da haben sich zwei gefunden, dachte ich, die hervorragend zusammenpassen, verlogenes, intri277
gantes Pack. Ich sollte sie beide in Urlaub fahren lassen, tschüs, mich seht ihr nicht wieder, was will ich von diesem Kerl. Er ist ja nur ängstlich, deshalb lügt er, dachte ich. Lügt er denn? Oder lügt sie? Oder lügen sie beide? Oder bin ich einfach kleinherzig? Katharina ist großzügiger als ich. Sie versucht immer wieder, mich einzubeziehen, während ich sie verbissen ausgrenze. Valentin hat schon recht, wenn er sich eine zweite Geliebte zulegt. Eine, die wirklich versucht, offen zu sein für alternative Formen der Liebesbeziehung. Ich theoretisiere ja nur und will am Ende doch nur meine schäbige kleine Ehe. Ich hatte gar keine Lust mehr auf den Urlaub. Aber wenn ich ihn jetzt abblase, dachte ich, verbringt er ihn mit ihr. Als ich mich von Valentin verabschiedete, bat ich ihn, nicht mit Katharina zu fahren. Dummerweise, gab er verlegen zu, habe er Katharina von unserem Urlaub erzählt, nun wolle sie unbedingt auch nach Ibiza. Er könne es ihr doch nicht verbieten. Wer lügt, dachte ich, lügt sie oder lügt er oder lügen beide. Vielleicht kann er wirklich zwei Frauen lieben, wenn das Liebe ist. Ich kannte Fälle, wo es über ein, zwei Jahre gelang, eine Liebesbeziehung zu dritt aufrechtzuerhalten. »Eine Dreierbeziehung ist die ideale Lebensform«, hatte ein Kollege behauptet, der mit seiner Frau und seiner Geliebten eine ménage à trois geführt hatte. Irgendwann war die Geliebte ausgezogen. »Leider«, seufzte mein 278
Kollege, nachdem seine Frau einen hübschen Italiener kennengelernt hatte, »leider sind wir durch unsere Erziehung so verkorkst, daß Eifersucht und Konkurrenz irgendwann überhandnehmen.« Phantasien blitzten in mir auf: Valentin liegt bäuchlings am Strand, und Katharina ölt ihm zärtlich den Hintern ein. Wie werde ich, dachte ich, diese kleinliche Eifersucht los. Ich versuchte, mich ganz auf meine Arbeit zu konzentrieren, die mir, wie ich glaubte, immer wichtiger gewesen war als jeder Mann. Eines Abends kam ein Anruf aus Ibiza. »Wie geht es dir«, fragte Katharina. »Wir streiten uns dauernd, wir haben eine völlig entgegengesetzte Auffassung von Malerei.« »Warum ruft sie an«, dachte ich. »Warum erinnert sie mich daran, daß er mit ihr zusammen ist?« Sie kam mir plötzlich so gleichberechtigt vor. Vielleicht hätte ich ihr verbieten sollen, nach Ibiza zu fahren, oder ihn vor die Alternative stellen: sie oder ich. Sie zwingen mich, dachte ich, in die Rolle der krallenden Ehefrau. Das Wetter war strahlend, ich saß mit meiner Schwester im Eiscafé, die Bäume blühten - da überfiel mich ein mörderischer Haß. »Ich könnte Amokläuferin sein«, sagte ich. »Wenn ich jetzt eine Pistole hätte, ich würde um mich schießen vor lauter Haß.« »Wen willst du treffen?« »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Valentin hat immer andere 279
Frauen nebenher gehabt. Ich wollte halt lernen, damit umzugehen.« Ihn will ich treffen, dachte ich, oder sie. Oder beide. »Am besten, du tolerierst die Geschichte«, riet mir meine Schwester, »um so schneller ist sie zu Ende. Er braucht dich doch, sonst hätte er es nicht fünf Jahre mit dir ausgehalten. So was gibt man nicht so schnell auf, du weißt ja, wie rasch seine Affären immer vorbei sind.« »Aber es macht mich müde«, sagte ich. »Dann such dir einen anderen.« »Ich will keinen anderen.« »Dann ist dir nicht zu helfen!« Ich ertrug die zwei nicht in der Sonne, während ich mit meinem Geschäftspartner ums Geld feilschte. Ich hatte - wie schon oft - den Kostenvoranschlag zu niedrig angesetzt. Damit sich der Termin meines Abfluges nicht noch mehr hinauszögerte, gab ich vorschnell nach, kassierte das Honorar und buchte den Flug. Ich schickte ein Telegramm mit meiner Ankunftszeit an die Hoteladresse, die mir Katharina telefonisch durchgegeben hatte. Ich hoffte, sie würde diesen Hinweis verstehen und rechtzeitig das Feld räumen. Ich war erholungsbedürftig und hatte keine Lust auf Rivalenkämpfe. Ich hatte nicht erwartet, daß Valentin mich abholen käme. Aber noch weniger hatte ich mit Katharina gerechnet, die hinter der Sperre stand und mir zuwinkte. Sie küßte mich fröhlich und griff nach meinem Rucksack, in den ich neben Kleidung vorwiegend Arbeitsmate280
rial gepackt hatte: Skizzenblöcke, Stifte und Kreide sowie einen stoffbespannten Klapphocker. Katharina wußte nicht, wie sie den Rucksack schleppen sollte, auf den Rücken wollte sie ihn wohl nicht nehmen. Da überließ sie ihn mir. »Valentin fühlt sich nicht wohl. Laß uns was trinken gehen.« Verwirrt lief ich neben ihr her. »Er hat Angst vor deinen Vorwürfen«, sagte sie, »weil ich noch immer hier bin. Aber ich habe mich selbst entschieden zu bleiben. Valentin hat mit meinem Entschluß nichts zu tun.« Sie lächelte: »Er ist ein Feigling. Aber ich habe viel Spaß mit ihm. Sonst hätte ich mich längst von ihm getrennt. Im übrigen ist er ein passabler Liebhaber. Das findet man ja auch nicht alle Tage.« »Wo ist er?« »Im Hotel. Ich fahr’ dich hin, wenn du willst. Aber laß uns vorher einen Kaffee trinken.« Ich schüttelte den Kopf. Sie nahm mir den Rucksack von den Schultern, sagte: »Im Feld übernachtest du aber nicht, oder?« und warf ihn in den Kofferraum ihres Mietwagens. Ich kam mir vor wie eine wohnsitzlose Tramperin, aufgelesen von einer reichen Dame, die mir gleichwohl zu erkennen gibt, was für ein Glück ich hatte, ihr begegnet zu sein. Beim Fahren hielt Katharina ihren angewinkelten Arm aus dem offenen Fenster. Sie schien viel umherzufahren, denn er war dunkler als die übrige Haut. Die goldene Bräune stand ihr gut, die Narben im Gesicht fielen kaum noch auf. Um die Stirn hatte sie sich ein türkisfarbenes 281
Tuch gewunden, das flatterte verwegen im Fahrtwind. Sie scheint sich gut erholt zu haben in den paar Tagen, dachte ich. Sie trug einen weißen, kniekurzen Schlitzrock und ein weißes Blüschen, dessen Zipfel sie vorne zusammengeknotet hatte, darunter schimmerte ein golddurchwirktes Hemd. An den Füßen trug sie passende goldene Sandalen. Wie häßlich verkrümmt ihre Zehen sind, dachte ich böse, und dazu dieser grellrote Lack auf den Nägeln. Wie eine Filialleiterin sieht sie aus. Dennoch, mit dieser Frau konnte Valentin sich sehen lassen. Ich war blaß vom deutschen Regenwetter, trug Anorak, Hemdbluse, Jeans, Turnschuhe. Es war wohl auch eine Trotzreaktion gegen Valentin. Je mehr er mir meinen Hang zu bequemer Kleidung austreiben wollte, um so heftiger bestand ich darauf. Im übrigen war mir klar, daß ich auch mit Flitterkleidchen keine kapriziöse Kleopatra war. Ich wollte nicht mit Katharina in einen würdelosen Wettkampf treten, bei dem ich ohnehin den kürzeren zöge. »Ich sehe nicht ein«, sagte Katharina, »daß ich gleich wieder abfahren soll, bloß weil der Herr die Ehefrau nachkommen läßt.« »Wieso Ehefrau«, wehrte ich mich. »Ich bin genausowenig Ehefrau wie du.« Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu: »Ob du’s bist oder nicht, spielt keine Rolle. Er macht dich zur Ehefrau. Du bist zuständig für den banalen Alltagsdreck. Spielst Mutter, Krankenschwester, Seelsorgerin, munterst den Herrn auf, wenn’s ihm schlechtgeht. Zu mir 282
kommt er nicht, um herumzujammern und mir seinen Seelenschmodder vor die Füße zu kotzen - zu mir kommt er, weil er mich begehrt, vielleicht liebt. Was ist schon Liebe. Du baust ihn auf - seine gute Stimmung teilt er mit mir. Dabei weiß ich genau«, setzte sie lächelnd hinzu, »daß du notwendig bist, damit das Gleichgewicht stimmt.« Ich bewunderte sie. Ich war überwältigt von der Offenheit, mit der sie mir, ihrer Konkurrentin, die Situation analysierte. Ich fühlte mich schwach. Sie hielt vorm ›Hotel Palmar‹, einem dreistöckigen Gebäude mit Rundbögen und schmiedeeisernen Balkons, von denen Kaskaden blühender Geranien hinabstürzten. Die Zufahrt säumten üppige rote Oleanderbüsche. Ich ließ mein Gepäck im Auto und folgte ihr in die Eingangshalle. Sie drückte den Aufzugknopf. »Keine Angst«, sagte sie munter, »ich will dir deine Vorrechte nicht nehmen. Ich will nur nicht wie eine Marionette funktionieren. Ich will selbst bestimmen, wann ich abreise. Vielleicht bleibe ich noch eine Weile, vielleicht auch nur ein paar Tage. Es gefällt mir hier. Übrigens habe ich nichts dagegen, wenn Valentin zu dir in ein anderes Hotelzimmer zieht. Er muß schließlich selbst wissen, was er tut.« Gegen dieses Hotel habe ich keine Chance, dachte ich, wer weiß, wie teuer die Zimmer sind. Mein Geld langt gerade für ein bescheidenes Zimmerchen in einer Pension. Ich brauche keinen Luxus. Mir reicht, wenn es ruhig liegt und nicht zu weit vom Strand entfernt. Wir fuhren hinauf in den obersten Stock und betra283
ten ein Prachtzimmer. Fenster über die ganze Breite des Raumes. Unten schimmerte blau das Meer. »Es ist herrlich, auf dem Balkon zu frühstücken«, sagte Katharina lässig und deutete hinaus. Dann zeigte sie mir das riesige Bad, sehr hell durch die Fensterfront. In der Badewanne ruhend, konnte man aufs Meer schauen. Auf dem elfenbeinfarbenen Kachelboden lagen Valentins helle Sommerhosen und ein Tangaschlüpfer aus dunkelroter Spitze. Katharina knüllte den Tanga zusammen und warf ihn in die Ecke mit der schmutzigen Wäsche. Sie umfaßte meine Schulter und führte mich zurück in den Wohnraum. »Wo Valentin nur bleibt«, sagte sie, ließ meine Schulter los und schaute auf ihre Uhr, die zierlich in ihr goldenes Armband eingearbeitet war. »Soll ich uns einen Kaffee aufs Zimmer bestellen, oder wollen wir unten auf der Terrasse was trinken?« »Ich will nichts trinken«, sagte ich hastig, »ich muß mir erst ein Hotelzimmer suchen.« »Wie du willst«, sagte sie, und begleitete mich zum Auto, um mir den Kofferraum zu öffnen. »Sehen wir uns heute abend?« fragte sie. »Wir sitzen ab acht Uhr unten auf der Terrasse.« Ich zog los mit meinem Rucksack und einem wehen Herzen. Wahrscheinlich bezahlt sie ihm das Hotel, dachte ich, für so einen Luxus reicht das bißchen Geld nicht, das ich ihm geliehen habe. Ich irrte durch die lärmende Hauptstraße. Alle Hotels waren besetzt. Ich hatte Lust, geradewegs zurückzufahren. 284
Aber ich wollte mir den Urlaub nicht nehmen lassen. Ich wünschte mir, ich könnte mit der Liebe genauso unbekümmert umgehen wie er. In der Bar einen Spanier kennenlernen. Einen schwarzen schönen Hitzkopf. Eine ganze Nacht mit ihm vögeln. Nein, dachte ich, dann ist Valentin entlastet, er wartet doch darauf, daß ich ihm untreu bin. Hätte ich einen Spanier, könnte Valentin ohne schlechtes Gewissen bei Katharina bleiben in ihrem Luxusapartment. Dann wären sie fein raus, die zwei, dann wären sie mich endlich los. Will er mich denn loswerden? Nein, dachte ich, sonst hätte er doch seinen Urlaub nicht mit mir verbringen wollen. Er will mich. Aber er will sie auch. Ist das denn so schlimm? Ich setzte mich in eine Bar und bestellte einen Wein. Warum, dachte ich, kann ich sie nicht einfach genießen, alle beide? Sie bieten mir den Dreier-Urlaub ja immer wieder an. Zu dritt, hatte mir dieser Kollege gestanden, habe er Dimensionen der Liebe erlebt, die in den seit Jahrtausenden eingefahrenen Rastern der üblichen Zweierbeziehung nicht möglich seien. War ich feige? Starrsinnig? Oder stand ich zu mir und meinen Bedürfnissen? Katharina beeindruckte mich. Aber reichte das aus, um mit ihr ins Bett zu gehen? Seit der Pubertät hatte ich keine erotischen Erlebnisse mehr mit Frauen gehabt. Selbst in der Zeit, als lesbische Erfahrungen Mode wurden und jede emanzipierte Frau, die etwas auf sich hielt, die weibliche Liebe ausprobierte, plagte ich mich unermüdlich mit Männern herum. Hatte ich etwas versäumt? 285
Die Vorstellung, mit beiden in einem Bett zu liegen, reizte mich nicht. Sie machte mir angst. Vielleicht würde ich mitten im Geschlechtsakt in unpassende Tränen ausbrechen. Ich fand ein Hotelzimmer direkt zur Straße. Der Lärm hörte die ganze Nacht nicht auf. Am frühen Morgen lief ich zum Strand. Es war noch kein Mensch unterwegs. Auch die beiden, dachte ich, schlafen sicher lange. Ich schlenderte am Meer entlang, barfuß. Das Wasser beruhigte mich. Schön, dachte ich, dieser gläserne Himmel, die glitzernde Brandung, warum lasse ich mir das Meer verderben. Wenn ich darauf bestehe, dachte ich, daß Valentin zu mir zieht in mein lautes Hotelzimmer, wird er voller Haß sein, weil ich ihm den Luxus raube. Und er wird mich bestrafen, vielleicht mit Katharina. Wenn ich aber den beiden ihr Pracht-Apartment lasse und in meinem bescheidenen Zimmerchen bleibe, werden sie auf mich hinunterschauen, mich vielleicht gönnerhaft die große Welt schnuppern lassen, und ich werde krampfhaft mein ärmliches Glück hochhalten. Ich kehrte zurück in mein Hotel, zahlte die eine Nacht, schulterte den Rucksack und nahm einen Bus ganz ans andere Ende der Insel. Dort wanderte ich von dem kleinen Fischereihafen aus an der Küste entlang, einen sandigen Weg durch rotgelbblaue Blumenwiesen, sah unten das Meer liegen mit seinem gekräuselten weißen Saum, sah die ausgewaschenen Kehlen am Felsenhals. Bald bricht der Weg herunter, 286
dachte ich, das hält nicht mehr lange, auch wenn das Meer im Augenblick so harmlos spielt da unten, ich weiß nicht, wie es im Winter ist, wenn die Stürme kommen. Aber das Mittelmeer ist ein freundliches Meer, es läßt sich Zeit. Soll er doch, dachte ich, sich im Luxus suhlen. Sollen sie sich doch totfressen aneinander. Ich fand ein weißes Haus auf der Klippe, in dem man Zimmer mieten konnte. Unter mir lag das Meer und rauschte. Wenn ich das Fenster öffnete, schaute ich auf diese gewaltige Wasserfläche. Der Strand war ein winziges Sandfleckchen, gerade passend für mich. Manchmal kamen ein paar Leute vom nahen Dorf, um zu fischen. Sie hockten sich zwischen die Felsbrocken und hängten die Angel ins Wasser oder warfen kleine Netze aus. Manchmal sah ich silberne Fische in dem Gitternetz zappeln. Ich balancierte oben am Rande des Felsens entlang, von weitem witterte ich schon den süßen Duft der Zitronenbäume. Die Kronen waren voll von weißen Blüten. Dazwischengetupft hingen grüne und gelbe Früchte. Ich staunte über diese Gleichzeitigkeit von Frühling, Sommer, Herbst. Mit farbiger Kreide hielt ich meine Eindrücke fest. Manchmal fiel mir Valentin ein, und der Schmerz mitten in der Brust wollte nicht aufhören. Sitzt da das Herz, dachte ich, oder die Lunge, was tut da eigentlich so weh, das Herz ist doch weiter links. Unruhe packte mich. Ich schob mein Malzeug wieder in den Rucksack und stapfte durch das kurze Gestrüpp, das frühlingsgrüne, das im Sommer vertrocknet sein würde wie jedes Jahr. Das 287
Laufen beruhigte meine Gedanken. Abends, manchmal lange, nachdem es dunkel geworden war, kam ich zurück. Merkwürdig, diese laternenlosen Nächte, nur Mond und Sterne. Ich mußte an die Seefahrer denken in früheren Zeiten, die nichts hatten als diese Sterne, die mir so fremd waren. Nur ein funkelndes Muster ohne Bedeutung, außer daß sie mir ein wenig Licht schenkten neben dem Mond. Ich begann, Valentin zu vergessen. Wahrscheinlich verdrängte ich, dachte ich, wahrscheinlich mache ich mir was vor, und wenn ich wieder zu Hause bin, kommt der Katzenjammer. Drei Wochen später fuhr ich zurück. Ich fühlte mich gut erholt und ging mit Lust an meine Arbeit. Ich hatte Glück. Mein Wandgemälde hatte ein gutes Echo, und es kamen neue Aufträge. Tagsüber ging es mir wunderbar. Aber nachts holten mich die finsteren Gedanken ein. Nur mit Schlaftabletten fand ich Ruhe. Ich rechnete damit, daß Valentin irgendwann reumütig vor der Tür stehen würde, und beschloß, ihn nicht anzurufen. Er sollte auf mich zukommen, nach allem, was passiert war. Aber nichts geschah. Er rief nicht einmal an, und meine Unruhe wuchs. Zwanghafte Erinnerungen tauchten in mir auf, Bilder aus zärtlichen Zeiten verfolgten mich. Ich warf mich in die Arbeit, um mich abzulenken, aber ich wurde Valentin nicht los. Endlich rief ich bei ihm an. Niemand meldete sich. Ich versuchte es wieder. Ich kannte die Zeiten, in denen 288
er zu Hause zu sein pflegte. Keiner hob ab. Wie eine Besessene wählte ich seine Nummer. Nichts. Nun hielt ich die Ungewißheit nicht mehr aus und rief Katharina an. Sie war sofort am Apparat. Ihre Stimme klang voll und kräftig. Ich spürte, wie ich unter dieser starken Stimme in einen jammerigen Ton verfiel, den ich an mir haßte: »Weißt du, wo Valentin ist?« »Warum?« So eine knappe Reaktion hatte ich nicht erwartet. »Ich erreiche ihn nicht. Er scheint nicht zu Hause zu sein.« »Was willst du von ihm?« »Ich will ihn sehen.« Oh, wie ich mich verachtete mit diesem demütigen Stimmchen. »Hör mal«, sagte sie. »Was willst du überhaupt. Wir wollten dich einbeziehen. Wir waren bereit zu einem Urlaub zu dritt. Wir haben uns wirklich Mühe gegeben mit dir. Und du verdrückst dich ohne ein Wort. Das war mies, ohne jedes Format. Wir waren sehr verärgert. Und jetzt kommst du auf einmal an und stellst Ansprüche.« Ich schrumpfte unter ihren Worten und haßte mich dafür, daß ich ihr soviel Macht gab über mich. »Wo ist Valentin?« Sie lachte: »Er hat sein Zimmer aufgegeben, diese Rumpelkammer, Gott sei Dank. Er lebt jetzt bei mir. Wir suchen eine größere Wohnung. Falls du irgendwas hörst... zufällig...« Ich legte auf. Ich verkroch mich ins Bett. Ich aß kaum. Ich arbeitete 289
nicht. Ich ließ das Telefon klingeln. Valentin verfolgte mich, ich sah uns durch den Palmengarten spazieren. Er zeigte mir die riesenhaften Seerosen auf dem Wasser mit ihren fleischigen Blüten und den wie Teller flach aufliegenden Blättern. In den Treibhäusern schrien die Urwaldvögel. Ich sah uns durch Wolken von Zittergras waten, draußen im Spessart, wir suchten Steinpilze und fanden einen feurigen Satanspilz. Wir kletterten auf einen Hochstand und schauten über die hügelige Waldlandschaft. Seine langen Arme umschlossen mich von hinten, er hauchte mir seinen Atem ins Haar. Am Hintern spürte ich die Schwellung seines Geschlechts. Zwischen Heulen und Schlafen nahm ich das Telefon auf den Schoß und wählte: »Ich will Valentin sprechen.« Katharina rief etwas nach hinten. Dann: »Er sagt, er wüßte nicht, was es zu besprechen gäbe.« »Dann möchte ich mit dir sprechen.« »Wozu?« Ich zögerte: »Ich brauche deine Hilfe.« Pause. »Ich habe dir auch geholfen.« »Na gut«, sagte sie. »Wo treffen wir uns?« »Bei mir.« »Hier wäre es ohnehin nicht gegangen«, sagte sie. »Valentin muß arbeiten und braucht Ruhe. Du kennst ja meine Wohnung, man kann sich nicht zurückziehen.« Als sie kam, umarmte sie mich temperamentvoll: »Du siehst ja ganz blaß aus, Mädchen. Von deiner Urlaubsbräune ist kaum noch was übrig.« Ich hatte mich nicht geschminkt, nur über die Lider 290
einen Hauch dunklen Puder gestäubt, damit ich nicht so verheult aussah. Sie hatte ihre Augen schwarz umrahmt und die Brauen an den Enden verlängert. Sie spielt die Sphinx, dachte ich. Sie trug einen kurzen Rock aus Lackleder und ein leopardengeflecktes Wämschen. Ich blieb steif unter ihrer Umarmung. Sie trat an mir vorbei: »So wohnst du also?« Mir wurde plötzlich bewußt, wie zusammengewürfelt meine Wohnung war. Ich hatte mir nie Möbel gekauft, das meiste stammte noch aus meiner Studienzeit. Die winzige Küche war gleichzeitig Wohn- und Eßzimmer. Eine Ecke füllte die eingebaute Duschkabine aus. Katharina wanderte durch den Flur, warf einen Blick in die Toilette und landete in meinem kombinierten Schlafund Arbeitszimmer. Eine von Valentins uralten, unverwüstlichen Trevirahosen hing an der Tür meines Kleiderschrankes. »Die kann hierbleiben«, sagte Katharina. »Die ist häßlich. Die braucht er nicht mehr.« Sie betrachtete sein Foto über meiner Bettcouch: »Traurig sieht er aus. Dabei ist er gar kein trauriger Mensch.« Sie raffte ein paar vollgekritzelte Notizblätter zusammen, die auf der Kommode herumlagen: »Die Notizen hat er schon vermißt. Hast du eine Tüte?« Sie lief selbst in die Küche, fand gleich hinter der Tür meine PlastiktütenSammlung, rief: »Gibt’s nichts zu trinken?« und ließ sich auf einem meiner wackligen Küchenstühle nieder. Ich setzte Teewasser auf und holte Geschirr aus dem Wandschrank. Während ich Tassen, Löffelchen und 291
Zuckerdose auf dem Tisch verteilte, wanderte ihr Blick durch den Raum. Jeden einzelnen Gegenstand kommentierte sie mit einem Lächeln oder einem Nasenrümpfen. An einer farbigen Kreidezeichnung blieben ihre Augen hängen. Das Bild stellte Valentin dar, nackt im Bett, die Lider geschlossen, der Schwanz schmiegte sich weich in die Leistenrille. »Wie sinnlich«, sagte sie spöttisch und begann mit dem Fingernagel am Küchentisch herumzuschaben, wo die oberste Farbschicht abblätterte. »Neulich habe ich auch ein Bild von ihm angefangen. Meins ist kälter in den Farben. Man merkt gleich, daß ich einen Hang zu Depressionen habe.« Ich schob ihr eine Schale Kekse zu, billige aus dem Pennymarkt. Sie nahm einen Keks und knabberte lange an einer Ecke herum. Dieser breite, violett gefärbte Mund. Dieses schmale, kühne Gesicht. Dieses feurig gescheckte Haar. Ich warf einen Blick in den Spiegel über der Spüle. Rundliche Wangen. Mürrisch nach unten gebogene Mundwinkel. Struppiges kurzes Haar ohne Fasson. War wirklich alles so lächerlich einfach? Du setzt deine feuerroten Locken und die uralten billigen Verführungstricks ein, und der Mann ist gefesselt? Ich hörte meine Schwester sagen: »Sei froh, daß er fort ist. Du bist viel zu gut für ihn.« Ich wollte nicht gut sein, wollte nicht die langweilige Rolle der Gerechten spielen müssen. War ich nicht einfach zu ungeschickt zum Lügen? Ich wußte nicht mehr, was gut, was schlecht, was richtig, was falsch war. Sie setzte 292
alles daran, um den Mann zu bekommen, den sie haben wollte. War das schlecht? Wenn Valentin sich mit ihr wohler fühlte, warum sollte ich ihm das vorwerfen? »Valentin schätzt dich«, sagte sie friedlich, »nur für die Liebe langt es nicht. Manchmal erinnerst du ihn an eine Betschwester mit deinem biederen Wunsch nach Treue.« Ich stand auf: »Es ist besser, du gehst jetzt.« Sie ließ ihren angebissenen Keks fallen und erhob sich unwillig, die Plastiktüte mit den Notizzetteln in der Hand. Ich führte sie zur Tür. »Na, dann mach’s gut«, sagte sie und drehte sich auf der Schwelle herum zu mir. Wir sahen uns an. Wie die Rivalen aus einem Wildwestfilm, dachte ich und roch ihr Parfüm. Da begann plötzlich ihre Unterlippe zu zittern, und sie flüsterte: »Bist du mir böse?« Wir standen so dicht, daß ich die Linien ihrer Narben unter dem Make-up sah. Ich könnte sie küssen, dachte ich plötzlich und schaute auf die schiefen Zähne zwischen ihren Lippen. Ich hob die Hand und strich sachte über die unebene Fläche ihrer Wange. Das Make-up machte ein stumpfes Gefühl an den Fingern. Ich verführe sie, dachte ich. Ich locke sie von Valentin weg, das bringt alles durcheinander. Ich mache sie abhängig, dachte ich, daß sie nicht mehr mit ihm schlafen will. Ich liege mit ihr im Bett, und er müßte uns die Füße massieren, während wir uns streicheln. Er würde uns den Tee bringen auf ihrem silbernen Tablett und uns Schnittchen machen für zwischendurch. Und dann müßte er uns einen kräftigen Kerl suchen, bei dem wir uns abwechselnd 293
bedienen, Katharina und ich. Valentin würde derweil in die Küche gesperrt. Höchstens unser Gestöhne und Gegrunze dürfte er hören. Ich stürzte mich in meine Arbeit. Ich ging nicht ans Telefon. Wochen später traf ich die beiden auf einer Ausstellungseröffnung. Sie stand mit dem Rücken zu mir, trug ein lilafarbenes Kleid, das vom Nacken hinunter- und von den Kniekehlen hinaufgeschlitzt war. Ich betrachtete Valentin, der mir sein Gesicht zuwandte. Bart und Kopfhaar waren gleichmäßig dunkel gefärbt. Er schämt sich seines Alters, dachte ich. Da entdeckte er mich. Sein Blick flitzte hin und her zwischen Katharina und mir. Er löste sich aus der Gruppe, in der sie standen, schaute noch einmal über seine Schulter hinweg zu Katharina, die arglos weiter mit den Leuten sprach, und zog mich hinter eine Säule. »Ich wußte gar nicht mehr, daß du so hübsch bist.« Ich lächelte. »Ich habe«, er senkte die Stimme, »hundertmal bei dir angerufen. Warst du verreist?« »Ja«, sagte ich. An der Säule vorbei sah ich Katharina, wie sie sich von der Gruppe verabschiedete und nervöse Blicke um sich warf. »Komm«, sagte ich zu Valentin und trat hinter der Säule hervor. Sie stürzte mit einem Aufschrei auf uns zu, umhalste mich und schüttelte mir die Hände. Valentin strahlte. Er hat sich Kronen machen lassen, stellte ich fest und mußte mich erst an dieses neu blitzende Lachen gewöhnen. 294
Katharina mochte meine Hände kaum loslassen. »Wie geht es dir? Wir haben dauernd versucht, dich zu erreichen. Warst du verreist?« »Ja«, sagte ich und genoß, wie sie sich anstrengte für ein Lächeln, während ihr die Angst in den Augen saß. Am nächsten Morgen rief er an: »Ich bin allein«, sagte er. »Endlich habe ich mal Luft zum Atmen. Die Wohnung ist viel zu klein für zwei.« Ich schwieg. »Katharina überwacht mich«, sagte er, »ich halte es kaum aus. Wie wohltuend, mit dir zu reden.« Ich schwieg. »Ich muß dich sehen«, sagte er. »Wenn du wüßtet, wie sehr du mir fehlst. Ich muß mit dir reden.« »Tut mir leid«, sagte ich, »es gibt nichts zu reden. Ich habe einen Freund.« »Oh«, sagte er. Ich horchte in den Hörer. Endlich kam seine Stimme, und sie klang gequält: »Dann seid ihr wohl glücklich zusammen?« »Ja.« Ich legte auf. Ich füllte Wasser in den Kessel, um mir einen Tee zu machen. Wie gewohnt goß ich das kochende Wasser über die Teeblätter, entzündete, während der Tee zog, die Flamme im Stövchen, stellte Tasse, Zuckerdose und Kanne auf ein Tablett und trug es in mein Arbeitszimmer. In der einen Hand die Tasse, in der anderen eine Zigarette, schlenkerte ich die Schuhe von den Füßen, räkelte mich in meinen Polstersessel hinein und lagerte die 295
Beine auf mein Tischchen zwischen Farbtuben und buntverklebten Lappen, mit denen ich die Pinsel auswischte. Bedächtig trank ich die Tasse leer, setzte sie ab und hob den Telefonapparat auf meinen Schoß. Durchs Fenster sah ich den seidig blauen Himmel über den Dächern. Ich nahm den Hörer ab und wählte. Valentin war sofort am Apparat. »Ich bin’s«, sagte ich ruhig. »Komm heute nachmittag zu mir. Ab fünf Uhr habe ich Zeit für dich.«
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Der Schrei »Da fragt man sich doch, was das soll, stimmt’s?« Renée drehte sich rasch um und erblickte einen Mann dicht hinter sich. Er wollte irgendwas und grinste deshalb... sein Gesicht war faltig, rot angelaufen. Er mußte Ende Fünfzig sein; er trug einen Fischgrätmantel, aufgeknöpft und nicht besonders sauber. »Ich meine all diese Sachen, die sie da heutzutage in die Galerien hängen«, sagte er. »Ich meine... man weiß nicht, was man damit anfangen soll, oder? Man fragt sich doch, was das soll, hm?« Renée stimmte kraftlos zu. Das Lächeln des Mannes wurde noch breiter. Seine Zähne waren viel zu weiß; sie glänzten wie Porzellan, und sein Gesicht wirkte fahl dagegen. Er roch nach Tabak und schmutzigen Kleidern. Sie waren allein in einem der kleineren Räume im zweiten Stock der Galerie. Vor ihnen nahm ein riesiges Bild fast die ganze Wandbreite ein. Renée hatte mehrere Minuten darauf gestarrt und gar nichts wahrgenommen - ihre Gedanken waren bei anderen Dingen - jetzt erst schien das Bild vor ihr Wirklichkeit zu werden, machtvoll und aggressiv. Verlorene Landschaft III. Das Werk war abstrakt: ein Wirbel von Farben, vorwiegend Brauntöne, naß sahen sie aus, schwer, dreidimensional. Eher wie eine Plastik, wenn nicht die Leinwand gewesen wäre. Der Maler war recht jung - er war jünger als Renée - 1952 in Regina, in Saskatchewan geboren. Er hatte es fertig297
gebracht, daß die Farben naß aussahen; sie glänzten in polierter Künstlichkeit. Das Bild sah nicht ganz fertig aus. Renée fühlte das Bedürfnis, es wie ein Kind anzufassen. Aber nein, nicht berühren, vielleicht sieht es jemand und weist sie zurecht. Und das Geheimnis des Bildes könnte sie damit auch nicht lösen. »Ja, man fragt sich doch, was das soll, oder?« wiederholte der Mann. Renée wäre gern weggelaufen. Aber sie blieb, sie wollte nicht unhöflich wirken; sie las eine Erklärung zu Verlorene Landschaft III, die der Leiter des Museums abgefaßt und mit Klebestreifen an der Wand befestigt hatte... energische, aber unterdrückte Gefühle... ›gezügelte Möglichkeiten‹ wie in der Natur... die Lyrik der kanadischen Landschaft, wie sie über die Dimensionen des Menschlichen hinauswächst... Sie entfernte sich von dem Mann mit dem roten Gesicht, während er die Erklärung zu dem Gemälde las, und verließ den Raum, ohne sich den Anschein zu geben, besonders schnell zu gehen. Sie wollte ihn doch nicht vor den Kopf stoßen. Renée ging zum zweiten mal in dieser Woche durch die Telforder Kunstgalerie. Es war ein Freitagnachmittag im April. Ein Frühlingstag. Sonne, Forsythien, eine Schar zänkischer Spatzen auf dem Baum vor einem der geöffneten Fenster... die Welt belebte sich wieder; wieder einmal. Wie jedes Jahr. Es war ein endloser Winter gewesen, sehr kalt im Januar und im Februar. Aber jetzt war der Frühling da: die Leute warnten sie, zu glauben, daß der Winter endgültig vorbei sei, 298
sicher werde noch einmal Frost kommen und vielleicht ein Schneesturm, aber das war ihr gleichgültig. Sie stand an einem offenen Fenster im Gang, blickte hinaus und sah nichts. Hatte jemand sie vor ein paar Minuten belästigt...? Ein irgendwie unerfreuliches, undefinierbares Erlebnis...? Sie hatte es schon vergessen. Ein Weg von fünf Minuten zu ihrem Liebhaber. Er wartete in der Nähe auf sie. Es war Viertel nach eins, sie war schon spät dran... Vielleicht sah er jetzt auf seine Armbanduhr und merkte, wie spät es war. Verzog den Mund, ein bitteres ungeduldiges Lächeln. Sie stand am Fenster; von hier konnte sie zu dem dreistöckigen Herrenhaus aus dunklem Granit hinübersehen, an der Ecke der Westbury- und St.-Regis-Straße... Ihr Geliebter wartete ein paar Häuser weiter auf sie; im Atelier eines Freundes, zweiter Stock eines Kutscherhauses auf einem der alten Anwesen. St.-Regis-Straße 788. Am Freitag um eins. Renée? Kommst du? Kann ich mich darauf verlassen? Eine Minute vor der Zeit hatte sie ihn angerufen vom Telefon im Museum aus; sie hatte gesagt, daß sie nicht kommen könne, daß es ihr nicht gut gehe, es sei etwas nicht in Ordnung, und sie könne heute doch nicht kommen... Das war am Dienstag gewesen. Vor drei Tagen. Sie war an dem Kutscherhaus vorbeigefahren und hatte nicht zu ihm gehen können, statt dessen war sie in die Gemäldegalerie gefahren, hatte auf dem Parkplatz gehalten und ihn angerufen... Tut mir leid. Es tat ihr leid. Sie verabscheute sich selbst für ihre Feigheit. Mit spöttischer Höflichkeit hatte er gefragt, ob zu 299
Hause etwas vorgefallen war? - etwas mit ihrem Mann? Nein. Sie wollte ihn eben heute nicht sehen, stimmte das? Nein, nein. Renée war jetzt seit zwei Monaten Karls Geliebte; aber ihr kam es viel kürzer vor, kaum länger als ein paar Tage. So schnell! ... Es war alles so schnell gegangen und ohne Vorbereitung... Renée hatte sich nicht durch Ironie davon distanzieren können, das wäre einfacher für sie gewesen. Ein wenig Ironie hatte ihr schon immer geholfen, nicht bei Liebesaffären, denn sie hatte vorher noch keine gehabt, aber bei den kleinen und doch schmerzlichen Enttäuschungen im alltäglichen Leben. Sie war immer ihrem wirklichen Alter in der Entwicklung vorausgewesen, war immer das Mädchen gewesen, das auf die anderen aufpaßte, das Kind, dem Verantwortung übertragen wurde, die andere Kinder zurückgewiesen hätten; Renée, die Musterschülerin, Renée, die junge Frau, die in einem vollen Drugstore diejenige war, die sich bückte und ein halbes Dutzend Stück Seife aufhob, die irgendein vorbeilaufender Junge auf den Boden gerissen hatte... Renée, die junge Frau, zu der alte Männer oder retardierte Jungen kamen, um eine Unterhaltung anzufangen. Hallo, schön heute, nicht wahr? Ach, hallo. Was ist das für ein Bild. Man fragt sich doch, was das soll, hm? Vielleicht liebte ihr Mann sie noch; vielleicht auch nicht; nur ihre intelligente, ironische, unter Schmerzen erworbene Distanziertheit bewahrte sie davor, wahnsinnig zu werden... in dieser Situation, geliebt von vielleicht zwei Männern... oder nur vom einen und nicht vom anderen... oder von keinem, gar keinem. Sie dachte 300
ständig an ihren Geliebten wie ein junges Mädchen. Sie fühlte sich wie vierzehn, erwartungsvoll, gedemütigt, unsicher. Es half nichts, sich vorzustellen, daß ihr Geliebter auch litt wie sie; das erschwerte das Ganze nur noch. Sie hatte gehofft, daß sie sich selbst wieder lieben würde, wenn sie sich verliebte, oder jedenfalls wieder etwas Selbstbewußtsein aufbauen könnte; aber diese Hoffnung hatte sich nicht erfüllt. Kommst du dann am Freitag? Am Freitag um eins? Ja. Heute war Freitag. Es war jetzt zwanzig nach eins. Die Luft hatte einen leichten Malzgeruch von einer Brauerei ein paar Meilen entfernt, aber Renée fand den Geruch nicht unangenehm. In einem der Büros der Galerie wurde ein Radio angeschaltet: schrille Musik, ein Sender in Detroit. Auch eigentlich nicht unangenehm. Nein... Renée trat vom Fenster zurück. Eine große, zögernde junge Frau, die nicht zu wissen schien, in welche Richtung sie gehen sollte: in den Hauptausstellungsraum oder in die andere Richtung, auf den Gang, der zu den kleineren Ausstellungsräumen führte... Wo war sie? Was war dies für ein Gebäude? Das Telefon war unten. Sie folgte einem gesprächigen Ehepaar mittleren Alters in den Hauptausstellungsraum. Ein auffallender englischer Akzent. Ziemlich laut für diesen Ort. Renée hörte Engländer gern sprechen, man hatte bei ihnen den Eindruck, sie wüßten genau, was sie sagten, alles klang so präzise, so klar umrissen. Bei den englischen Frauen vor allem. Fest, selbstsicher, nachdrücklich. Im Gegensatz dazu war ihre eigene Stimme gewöhnlich schwach und wenig überzeugend, als ob sie nicht die 301
Wahrheit sagte. Warum bist du so unglücklich, so gereizt? - hatte ihr Mann gefragt. Ich bin nicht unglücklich. Ich bin nicht gereizt. Warum bist du immer so müde? Du siehst erschöpft aus. Ich sehe nicht erschöpft aus. Dann konnte er zum Beispiel wieder fragen: Warum bist du so glücklich? Immer dieselbe Frage, immer dieselbe Antwort. Ihr gefiel die Kunstgalerie, obwohl sie immer kritisiert wurde, weil sie zu klein und die Sammlung beschränkt sei. Warum sollte es denn schlimm sein, daß sie klein war? ... Die Kanadier, die sie kannte, machten sich immer über ihre Stadt lustig, über ihre Universität, ihre Musik, ihre Galerien... sie äußerten sich sarkastisch und abweisend über ›ihre‹ Dichter wie Karl und seine Freunde. Renée verstand eigentlich nicht, warum. Sie fragte sich, ob sie sie vielleicht auf die Probe stellen wollten, sie und andere Amerikaner? ... Aber nein, sie meinten es ernst. Wenn Renée auf etwas hinwies, das ihrer Meinung nach wirklich gut war, ärgerten sie sich über diese Einmischung; sagte sie nichts, ärgerten sie sich darüber, daß sie schwieg. Wenn sie manchmal heftig und ganz unvernünftig nationalistisch waren (wenn sie forderten, daß Tschechow, Picasso, Yeats, Faulkner, Strawinsky, ja sogar Shakespeare durch ›ihre‹ Kunst, ›ihre‹ Werke ersetzt werden sollten), hatte sie fast den Verdacht, daß sie voller Verbissenheit witzelten und daß sie gern vor der Verbissenheit ihrer Witze bewahrt werden wollten; aber sie konnte es nicht, sie konnte nichts 302
sagen. Dieser heiße und hoffnungslose Wunsch nach kultureller Unabhängigkeit, nach einer Art kulturellem Schutzzoll, der die Konkurrenz aus der ›Welt da draußen‹ bannen würde, wobei die ›Welt da draußen‹ unglücklicherweise den größten Teil der Erde ausmachte, rührte Renée in gewisser Weise. Aber wenn sie ihr Mitgefühl zeigte, wechselten sie plötzlich ihren Standpunkt und behaupteten, dieser Nationalismus sei kindisch und grotesk und habe keine Zukunft, und sie wollten damit nichts zu tun haben, sie hätten nicht die Absicht, sich dafür zu engagieren: ihre Kunst sei international. Einen der größten Fehler ihres Lebens hatte Renée vor einiger Zeit gemacht, ein paar Monate, nachdem sie und ihr Mann nach Kanada gezogen waren. Sie hatte in der Kunstgalerie ein Bild entdeckt, das ihr herrlich erschien - wirklich schön - auffallend und originell und bewegend. Natürlich verstand sie wenig von Kunst; sie hatte einmal ein paar Semester Kunstgeschichte studiert, aber das war auch alles. Sie gab nicht vor, sich mit zeitgenössischer Kunst auszukennen. Das Gemälde, das sie so bewunderte, hieß Weiße Birken von Tom ompson, von dem sie nie etwas gehört hatte. Aus irgendeinem Grund hatte sie angenommen, daß er recht unbekannt war... oder daß er vielleicht aus dieser Stadt stammte und noch nicht entdeckt worden war... Als sie den Namen in einer Gruppe von Leuten erwähnte, merkte sie zu ihrer Verlegenheit, daß er berühmt war; oh, diese kalten belustigten Blicke, diese belehrenden Bemerkungen... Karl mochte sie auch nicht. Er behauptete, sie zu lieben, aber gleichzeitig konnte er sie nicht leiden. Sie hatte das im 303
Gefühl. Er stemmte sich gegen etwas an ihr, das er nicht benennen konnte. Obwohl er genau wußte, wie wenig Geld die Maynards hatten - und wie unzufrieden Renées Mann mit seiner Arbeitsstelle war - glaubte er offensichtlich unbewußt, verbohrt, daß sie viel Geld haben müßten, da sie doch Amerikaner waren. Das war natürlich lächerlich. Und doch hatte er diese Vorstellung und ließ sich nicht davon abbringen. Und genauso unbewußt glaubte er, daß sie Kanada ständig kritisierten: daß ihre Gegenwart hier eine Art Abenteuer war, etwas wie eine Campingreise, jedenfalls eine Zwischenstation in ihrem Leben. Wenn sie jetzt zu ihm ginge, würden sie sich auf dem Bett seines Freundes lieben. Und sie würde glücklich sein. Und danach unglücklich. Er würde sich freuen, sie zu sehen; und später würde er sich ärgern. Gefühle stiegen in ihnen auf und verschwanden wieder: sie ließen sich nicht steuern. Jetzt Glück, dann Unglück. Jetzt Panik, im Gedanken daran, entdeckt zu werden. Dann Schuldgefühle. Und dann wieder Eifersucht... Und wieder dieses Glück, eine Welle von unbekümmerter, egoistischer Freude... Manchmal war er geistesabwesend. Manchmal weinte sie, was ihn erschreckte. Manchmal sprach er in bitterem Ton über ›ihre‹ Ehe: Renée wagte nicht, darüber zu sprechen, wagte es nicht, ihrem Liebhaber offen zu sagen, was sie für ihren Mann fühlte, deshalb legte er ihr Schweigen falsch aus... Karl selbst sprach ausführlich und oft über die Probleme, die er mit seiner Familie hatte, mit seinen Freunden, mit allen. »Dieses Bild ist wirklich ganz etwas anderes, nicht? Das sind doch echte Menschen. Ich meine, das kann man ver304
stehen...« Wieder dieser Mann mit dem roten Gesicht. Renée murmelte Zustimmung und zwang sich zu einem Lächeln. Was wollte er, warum folgte er ihr? Er lächelte so seltsam... Begierig und eifrig. Wäßrige Augen, gar keine richtige Farbe. Sie wich davor zurück, seinem Blick zu begegnen, konnte es aber nicht vermeiden, mit ihm zu sprechen. Dieses Bild? Die Fotos? Ja, sie gefielen ihr. Ja, sie gefielen ihr besser als die Gemälde im anderen Raum. Sie standen im Hauptraum vor einer Fotoausstellung. Eine ganze Menge Fotos, wahrscheinlich mehr als hundert, und alle so eindrucksvoll... Renée wünschte, sie wäre allein, um sie eingehend betrachten zu können. Aber der rotgesichtige Mann war neben ihr und wies sie auf Dinge hin, schwätzte, lobte ein Foto und verdammte aus unerfindlichen Gründen ein anderes, und die Engländerin gab ein paar Schritte weiter ihrem Mißfallen Ausdruck: »Also wirklich, man sollte so etwas nicht in der Öffentlichkeit zeigen! Sieh dir diese Frau an, sieh dir an, was sie tut, und das auf der Straße.« Ein paar Kinder marschierten herein. Ein etwa zehnjähriger Junge kicherte. Ein anderer Junge sagte mit Fistelstimme: »Gleich kriegt jemand ein Bajonett durch die Eingeweide gejagt.« Einige der Fotos waren während des Kriegs aufgenommen. Der Zweite Weltkrieg. Der Spanische Bürgerkrieg. Andere, fast vergessene Kriege, Kriege in Indochina und Indien und irgendwo in der Südsee... Ein orientalisches Kind, vielleicht vier Jahre alt, das in einer Einfahrt stand und den Fotografen anstarrte, es weinte bitterlich. Das Foto trug das Datum 1941. War das Kind jetzt erwach305
sen...? Lebte es überhaupt noch...? Lebte es nicht mehr? Verwundete Soldaten. Ein ausgemergelter italienischer Priester, im Hintergrund Panzer, ein totes Huhn auf der Straße. Gesichter, dreifach vergrößert, schwarz-weiß, großkörnig, die in geistesabwesendem Schrecken auf Renée und die anderen Galeriebesucher niederblickten... Der Mann mit dem roten Gesicht zeigte auf etwas, und Renée ging widerstrebend hinüber, um es sich anzusehen. Eine Fotografie einer deutschen Frau, dicklich, das Haar in häßliche Schillerlocken aufgedreht, die vor den Ruinen einer Kirche stand. Dicke schlaffe Beine. Renée wußte nicht, warum der Mann ihr das Bild hatte zeigen wollen. Ihr fiel etwas Ungewöhnliches an dem Gesicht der Frau auf. Schielte sie? Sie sah fast schwachsinnig aus. Und dabei sinnlich, schlau, wissend. Die Frau trug schwarze Strümpfe und hohe Schuhe und eine Art Hemd oder Überwurf, der zu kurz war, so daß man den oberen Rand ihrer Strümpfe sah. Sie posierte für den Fotografen, die Hände tief in die Taschen eines weiten Herrenpullovers gesteckt, sie stellte ihren Körper zur Schau, mit einem leeren Lächeln auf dem Gesicht und glasigen Augen... Der Mann berührte Renées Arm und sagte noch etwas, aber Renée zuckte zurück. Plötzlich fiel ihr ein, wie ihr einmal, als sie vielleicht zwölf gewesen war, ein alter Mann in einer New Yorker Untergrundbahn eine obszöne Reklame in einem Boulevardblatt gezeigt hatte. »Nein«, sagte sie scharf, »lassen Sie mich bitte in Ruhe.« »Hat der Mann Sie belästigt?« »Nein, nein.« »Ich habe ihn schon einmal hier gesehen... Ein seltsa306
mer Mensch.« »Nein, nein, nichts. Es ist alles in Ordnung.« Einmal hatte Karl zu ihr gesagt, liebevoll und doch anklagend: »Du bist zu sensibel.« Sie hatte erwidert: »Und du, bist du nicht auch sensibel?« »Es gibt einen Unterschied zwischen sensibel und empfindlich«, sagte er. »Meine Frau kennt mich sehr gut: sie sagt, ich halte mich für sensibel, wo ich in Wirklichkeit nur für meine eigenen Gefühle sensibel bin. Ich vermute, daß ich empfindlich bin. Ein Egoist.« Er kratzte sich nachdenklich an seiner nackten Brust. Er wirkte distanziert und gedämpft. Falls er erwartet hatte, daß Renée ihm widersprechen würde, so gab er kein Zeichen des Ärgers über ihr Schweigen. Sie war seine Geliebte geworden, weil er sie liebte, weil er sich um sie bemühte. Am Anfang hatte alles so einfach ausgesehen. Jede Romanze ist am Anfang einfach. Karl fragte manchmal, halb im Scherz, ob sie ihn heiraten würde - wenn es möglich wäre -, wenn seine Frau ihr Verhältnis entdecken würde - oder ihr Mann? Sie wollten natürlich niemanden verletzten; doch wenn man sie entdecken würde, irgendwie, wäre das nicht ihre Sache... Ihre Beziehung würde dann ihrer eigenen Schwungkraft folgen, würde eigene Bedürfnisse entwickeln. Er fragte sie solche Dinge, als meinte er sie ernst, und Renée antwortete schüchtern und ängstlich, als wären sie ernst. Würdest du das tun? Würdest du ihn für mich verlassen? Sie sagte, alles 307
was geschähe, würde für sie eine Erleichterung sein: sie fand es schrecklich, zu lügen, dieser wahnsinnige Zustand von Unentschlossenheit, Nicht-Wissen, nicht wagen zu wissen. Ja, aber würdest du ihn um meinetwillen verlassen...? Ja. Sie erzählte ihrem Geliebten nicht, wie oft sie ihren Mann anschreien wollte: Merkst du denn nichts? Errätst du es denn nicht? Warum bist du denn so gleichgültig? Ihre eiligen Mahlzeiten, Frühstück und Abendessen. Er aß schnell, manchmal las er; er entschuldigte sich zwar dafür, aber er las; Fachliteratur über Biochemie oder Zeitschriften wie Scientific American. Er war wie ein Bruder, ein älterer Bruder. Fleißig. Besorgt um die Zukunft, aber er schloß sie aus seiner Sorge aus; er bemühte sich nicht, ihr seine Sorgen und Ängste zu erklären... das hielt er vielleicht für unmännlich. Vielleicht tat man das nicht als Ehemann. Bevor sie geheiratet hatten, hatte Renée Evans Stolz geahnt, aber es war ihr nicht aufgefallen, daß dieser Stolz eigentlich gefährlich war, daß er fast krankhaft werden könnte; damals war er ihr unreal erschienen, eigentlich rührend. Seit kurzem hatte er den Verdacht, daß seine Arbeit indirekt von einer chemischen Firma in den USA finanziert wurde. Er war nicht sicher; niemand sagte in solchen Dingen die Wahrheit. Er vermutete, daß alle logen. Für Geld. Für amerikanisches Geld. Er konnte nicht einmal seinem Vorgesetzten trauen. Aber als Renée mit ihm darüber sprechen wollte, winkte er ab, lachte und ließ das ema fallen. 308
Wenn sie neben ihm lag und er schlief, dachte sie an ihren Geliebten. Sie hätte sich gern beschwert, hätte sich gern mit ihm auseinandergesetzt. Sieh doch mal, sieh, wie ich leiden muß, das ist doch nicht meine Schuld... das soll eine Sünde sein, ich soll eine Ehebrecherin sein, die einer anderen Frau den Mann wegnehmen will? Es war doch nicht möglich. Nicht Renée Brompton. Sie doch nicht. Ihre Mutter und Verwandte, ihre Freunde, ihre Schulfreundinnen, sie wären weniger böse auf sie, als vielmehr überrascht. Renée...? das muß doch ein Irrtum sein. Ihr Geliebter war vier oder fünf Jahre älter als ihr Mann. Beide hatten dunkles Haar, das ihres Geliebten war lockig und dicht; ihr Mann hatte glattes Haar. Ihr Liebhaber lachte oft. Ihr Mann lachte selten. Ihr Geliebter hatte auch nicht viel Geld - er arbeitete für einen kleinen Verlag und war freier Schriftsteller, schrieb für die Lokalzeitung und gelegentlich für die Toronto Globe and Mail - natürlich verdiente er an seinen Gedichten nichts, gar nichts. Ihr Mann hatte auf eine ausgezeichnete Stelle gehofft, natürlich mit einem ebenso ausgezeichneten Gehalt. Aber diese ausgezeichnete Stelle hatte er nun gar nicht. Er war nach Kanada ausgewandert; er war über die Grenze gegangen und war jetzt einer von vielen auf einem überfüllten Arbeitsmarkt, auf einem Gebiet, das innerhalb eines Jahres völlig übersättigt war. Keiner wußte die Gründe dafür. Niemand wollte zugeben, sie zu kennen. Die Universitäten, die Regierungen gaben vor, diesen Engpaß an Stellen nicht vorausgesehen zu haben... und immer noch tauchten jedes Frühjahr frischgebackene Doktoren auf, voller Hoffnung, und ohne alle Aussichten auf eine Stelle. Ihr Geliebter hatte kein 309
besonders hohes Ansehen in der Welt, doch schien ihm das nicht viel auszumachen; ihrem Mann machte das sehr viel aus. Einen von beiden liebte sie, aber sie vertraute ihm nicht... dem anderen vertraute sie voll und hätte ihm ihr Leben anvertraut. Aber ihn liebte sie nicht mehr. Renée? Das kann doch nicht sein. Es war jetzt fünf nach halb zwei, und sie hatte sich entschlossen, nicht zu ihm zu gehen. Sie sah sich weiter die Fotos an, aus einer Art Selbstdisziplin. Sie wollte der Verzweiflung, die sie in sich hochsteigen fühlte, nicht nachgeben, sie wollte nicht anfangen zu weinen... Es war nicht schwer, sich in diese Gesichter zu vertiefen, Gesichter von Negerkindern in Harlem... alter Männer und Frauen im amerikanischen Mittelwesten... Immigranten in Quebec. Hunderte von Menschen. Gesichter. Augen. Schmerzhaft, es war schmerzhaft, diese Augen so nahe vor sich zu sehen, in die Seelen von Unbekannten zu blicken. Viele von ihnen litten, aber viele waren auch sehr glücklich. Ein Gesicht, dann ein anderes und dann noch ein anderes... Renée konnte sich in ihnen verlieren, in ihrer Menschlichkeit. Die deutsche Frau... Kinder in einem Flüchtlingslager irgendwo in Indochina... Eine Inderin, die dem Fotografen ein bis zum Skelett abgemagertes Kind hinhielt, das Gesicht vor Wut oder Verzweiflung verzerrt, den Mund in einem weiten, lautlosen Schrei aufgerissen... Renée schauderte, als sie diese Frau ansah. Mein Gott, das war zu schrecklich. Das war quälend und entsetzlich. Der Mund der Frau war ein gähnendes Loch... die Zähne waren häßlich, Stümpfe schwarzer Zähne... die Augen zu 310
Schlitzen verengt, die nicht mehr menschlich schienen... Das Kind war ein Gerippe mit geschwollenem Bauch. Es war schon tot. Wußte die Mutter das denn nicht? Doch, sie mußte es wissen. Sie wußte es. Renée starrte sie an, bis ihr Blick sich verschleierte. Der Schrei der Frau hüllte sie ein: er zwang alle anderen Geräusche nieder, das Geplauder der Leute, das Zwitschern der Vögel. Wie konnte daneben von Bedeutung sein, wenn... wie konnte es überhaupt eine Rolle spielen... Renée mußte denken, sie mußte sich selbst dazu zwingen, zu denken. Wie konnte es von Bedeutung sein, ob eine junge Frau zu ihrem Geliebten hinging oder ob sie sich ihm verweigerte. Wie konnte das von Bedeutung sein? Überhaupt nicht. Wie denn auch. Ob sie in dieses Haus ging, das nach Farbe und Terpentin roch, und in seinen Armen weinte, gierig und schamlos, ihn liebte, als ob er das Leben selbst sei... das so lange von ihr weggeströmt war, ihr ausgewichen war. Es konnte doch keine Rolle spielen, oder? Es konnte nichts ausmachen. Sie sah das Foto noch einmal an, als hoffte sie, es habe sich verändert. Aber nein: noch immer dasselbe. Ein lautloser Schrei. Ein ewiger Schrei, Er hob alles andere auf. Unten, bei der Eingangstür, sprach der alte Mann mit einem anderen alten Mann. Beide hatten Mäntel an, trotz des warmen Wetters. Mit gerötetem Gesicht, ernst, stand der Mann, der Renée belästigt hatte, da und bemerkte sie jetzt gar nicht. Sein Freund beugte sich interessiert vor und hielt die Hand hinters Ohr: »... Eine ganze Woche lang bin ich nicht rausgekommen, ein böser Husten, die Bronchien... Sie wissen doch, wo ich hingezogen bin, als 311
Lilian tot war... also das Lebensmittelgeschäft ist gerade an der Ecke, aber nicht mal bis dahin konnte ich gehen... habe eine Woche lang mit niemand gesprochen, nicht einer Seele, dachte, ich würde verrückt. Die Leute kümmern sich einen Dreck um einen in der Gegend. Man könnte in seinem Bett sterben, und sie würden sich einen Dreck kümmern. Eine ganze Woche vergeht, und man sieht keinen einzigen Menschen, mit dem man mal sprechen kann...« Renée drückte die schwere Eichentür auf, indem sie ihr ganzes Gewicht dagegenstemmte. Das Kutscherhaus aus dunkelroten, weiß gefugten Klinkern, es war ein wenig verwahrlost, aber hübsch. Die Forsythien davor hatten begonnen zu blühen. Einige Büsche waren riesig, nicht wie die dünnen Reiser vor Renées Haus. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, waren die Forsythien erst ein Gewirr von Zweigen gewesen und hatten noch nicht einmal grüne Spitzen gehabt. Wartete er am Fenster auf sie? Oder lag er ausgestreckt auf der Liege und las und hatte die Zeit vergessen? Er las viel, ständig, alles... Oder war er nach Hause gegangen, war die Treppe hinuntergegangen, hatte die Tür zugeschlagen und das Haus verlassen? Verdammtes Weibsstück. Irgend etwas. Alles. Oder nichts.
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Hexenhochzeit 1. Brief Geliebter, manchmal hänge ich meinen Kopf aus dem schmalen Seitenfenster des Landrovers, bis der Wind mein Gesicht mit einem zinnoberroten Staubschleier bedeckt. Ich trauere, weil Du nicht bei mir bist. Im Gluthauch der Sahelzone ist mein Zorn über Dein Fortgehen zu einem kompakten Klumpen Sehnsucht zusammengeschmolzen. Warum tauchst Du nicht mit mir in diesen Fiebertraum fremder Bilder und Gerüche und kühlst in sanfter Liebkosung den sengenden Kuß, den Afrikas Sonne mir aufdrückt? Ja, ich bin auf der Flucht vor Deiner Asienreise mit Ehefrau. Hast Du wirklich geglaubt, ich könnte in der Stadt bleiben, morgens zur Probe gehen, abends im Nieselregen auf die Straßenbahn warten, den Alltag leben, als wäre nichts geschehen, und dabei immer nur Euch vor mir sehen, am Strand irgendeiner namenlosen, verwunschenen Insel oder händchenhaltend in den Straßen von Manila? Du kennst Deine Hexe schlecht. Ich habe all meinen Zauber benutzt, um wegzukommen aus der Stadt. Nicht mit Mann und Kind, nein. Nicht als Ehepaar. Sondern al313
lein, hinreißend frei, ganz dicht bei mir selbst und so weit weg wie möglich. Schwarzafrika. Dunkler, unbekannter Kontinent. Rote Erde. Aufgeschichtet zu einer schnurgeraden, kaum befestigten Piste, an deren Rand uns tiefschwarze Menschen in bunten Baumwolltüchern zuwinken. Wann immer wir eines der zahllosen Runddörfer aus Lehmhütten passieren, schwirren uns Kinder entgegen. Halten wir an, so lassen sie sich wie eine flatternde Vogelschar um das Auto nieder, mit aufgeblähten Bäuchen, auf mageren Stelzenbeinen. Die Kleinsten suchen Zuflucht auf dem Arm der Mutter, aufgescheucht von Urmißtrauen gegen das Andersartige. Wer hat Angst vor der weißen Frau? Faßt sich erst einer ein Herz und berührt die gespensterblasse Hand, die - verblüffend! - nicht einmal abfährt, ist der Zauber gebrochen. Dann muß ich hundert eilfertige, schwitzende, lakritzenschwarze Katzenpfoten schütteln. Seit die Expedition vor zwei Wochen Ouagadougou, die Hauptstadt von Burkina Faso, verlassen hat, bin ich atemlos vor Staunen und Schauen. Immer wieder erhebt sich am Rand der abgeernteten Felder vor blauem Himmel und gegen die grelle Sonne die Silhouette einer hirsestampfenden Frau. In einem einfachen, endlosen Auf und Ab bohrt sich der hölzerne Stößel in den runden Mörser, für Sekunden nur unterbrochen, wenn der Stampfer in einem einzigen eleganten Zwischentakt von einer Hand in die andere fliegt. Es ist harte Arbeit, die die schwarze Haut der Frauen mit warmem Schweiß befeuchtet. Aber ihre Schultern und Bäuche, ihre Hüften und Schenkel federn 314
in einem Schwung, ihre Brüste wippen in einer Bewegung, die mich hilflos der Erinnerung ausliefern. Wie ich vor drei Wochen, vor drei Millionen Jahren, an Deinem glatten Pfahl entlang einem erschöpfenden Orgasmus zutrieb. Ein schweißnasser Frauenrücken, dem Deine braunen, starken Arme den Rhythmus diktieren - machst Du es so jetzt Deiner Ehefrau auf dem quietschenden Bett eines heruntergekommenen philippinischen Hotelzimmers? Der Markt in Ouahigouya, der erste westafrikanische Markt, den ich sehe, ist ein Besäufnis. Ich ertrinke im glatten Blau, im krassen Rot, im lachenden Orange der Baumwollkleider, der Tücher und Turbane der Frauen, die am Boden hocken. Wie Feuerwerk vor nachtdunklem Himmel setzen sie Lichter auf die schwarze Haut. Die Muster der Stoffe, die Zusammensetzung der Farben sind einfach, doch ungewohnt, gewagt für das eingefahrene Farbgefühl der Europäerin. Mit welch anmutiger Lässigkeit sie das bunte Tuch beiseite schieben und eine milchpralle Brust entblößen. Stolz tragen sie ihre Kinder in Tüchern auf der Hüfte oder auf dem Rücken wie schweren Schmuck, der ihre Weiblichkeit betont. Werde ich jemals ein Kind von Dir haben? Lara ist jetzt fünf Jahre alt. Nicos Tochter. Sie sieht ihm ähnlich, nur den Mund hat sie von mir. Den Mund mit meinen Lippen, die Du blutig gebissen hast bei unserem letzten Treffen, bevor Du wegfuhrst mit Deiner Frau. Ich will Dir die kleine, unerquickliche Phantasie verraten, die mich durch meine letzten Tage zu Hause gebracht hat: Was, wenn ich nicht mehr zurückkäme?
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2. Brief Geliebter, gestern nacht bin ich aufgewacht von einem gelben Vollmondlicht, das sich wie zerlassene Butter über unser Zelt ergoß. Es ist gefährlich, mein abtrünniger Halbgott, eine Frau allein zu lassen, die sich der Magie verschrieben hat. Wir haben die Grenze nach Mali überquert und das Land der Dogon erreicht, deren Dörfer wie Schwalbennester an einem zweihundert Kilometer langen Steilabhang kleben, der Falaise von Bandiagara. Hier muß ich ihn suchen, hier werde ich ihn finden, den schwarzen Zauber, der mir Deine Liebe sichern soll. Ich habe Freundschaft mit Mohammed geschlossen, unserem einheimischen Führer. Bin dicht auf seinen Fersen geblieben während unserer Wanderung über das flache Felsplateau, das plötzlich jäh abfällt und den Blick freigibt über die Weite der Gondoebene. Am Fuß des Bergmassivs liegt Irelli, das erste Dogondorf, hingewürfelt wie aus einem Knobelbecher. Rechteckige Lehmbauten mit flachen Dächern, auf denen Früchte trocknen, daneben merkwürdige kubische Türme mit spitz zulaufenden Hütten: Stroh- und Hirsespeicher. Wäre ich eine Dogon, müßte ich wohl heute im Frauenhaus am Rande des Dorfes übernachten. Dorthin werden die Frauen verwiesen, die ihre Tage haben. Niemals käme ich in den Genuß Deiner warmen Wunderhände, die sich auf meinen angespannten Bauch legen, krampflösend, beruhigend, sanft, um dann unmerklich, scheinbar unbeabsichtigt tiefer zu gleiten, ein winziges Feuer zu ent316
zünden, wieder zurückzukehren zum Bauch, unschuldig, um Verzeihung bittend und sich doch gleich wieder verlierend zwischen meinen Schenkeln, die längst offen für Dein Begehren sind. Wärest Du ein Dogon, würdest Du unter der ›Toguna‹ sitzen, einem zwei Meter dicken Dach aus Hirsehalmen, das die Hitze abweist und allein den Männern vorbehalten ist. Ein guter Tausch? Der Weg durchs Dorf ist übersät mit seltsam angeordneten Steinen und gekreuzten Ästen, ausgetrockneten Katzenköpfen und Krallen von Raubvögeln. Das sind die Fetische einer Großfamilie oder eines einzelnen Dorfbewohners. Sie sollen eine gute Ernte oder die Geburt eines Sohnes bewirken, vor Krankheit oder Unglück schützen, den Tod eines gehaßten Menschen heraufbeschwören - oder die Liebe einer bestimmten Person erzwingen. Wie samen- und blutverschmierte Penisse ragen am Ausgang des Dorfes drei mannshohe Lehmspitzen auf, weiß und rot übergossen. Es ist das Fetischhaus mit den eingetrockneten Spuren der letzten Opferung, Tierblut und Hirsebrei. Mohammed ist sehr nachdenklich geworden, als ich ihn bat, mich zu einem Fetischeur zu bringen. Er muß sich erst mit den Dorfältesten besprechen. Denn ich bin eine Frau, und die Dogonfrauen sind bei Kulthandlungen nicht zugelassen. Aber ich bin auch eine ›Anasari‹, eine, die nirgendwoher kommt, keine Stadt hat, also nicht zum Kodex gehört, und ich habe ihm sehr viel Geld unter die Nase gehalten.
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3. Brief Geliebter, ich habe Angst. Die Augen des Fetischs sind hohle Löcher, die mich in einen Abgrund ziehen. Sein Mund ist geöffnet, als wolle er mit mir sprechen. Das ganze Zelt ist erfüllt von ihm. Was soll ich mit ihm tun? Heute mittag war ich noch ganz ruhig. Das Dorf lag in ohnmächtiger Stille. Mohammed ging so schnell, als müßten wir Verfolger abschütteln, aber nicht einmal die Kinder rannten uns nach. Nur zwei steinalte Männer dösten unter der Toguna, und vor der Hütte des Fetischeurs zerstoben ein paar Hühner. Drinnen war es warm und dunkel, überall lagen blutige Lumpen. Einen Flügelschlag lang flatterte Panik auf. Der Fetischeur war viel jünger, als ich erwartet hatte. Ein hünenhafter Schwarzer mit unglaublich breiter Nase, der mich auf einen niedrigen Hohlpflock setzte und mir ohne jeden Kommentar die Hände auf den Rücken band. Er legte einen schweren, rauhen Stein in meinen Schoß, einen Kopf, aus dem ein seltsam schmales, strenges Gesicht ohne jeden negroiden Zug gehauen war. Auf der linken Seite gähnte ein tiefes Loch in seiner Stirn, was der natürlichen Zerklüftung des Steins entsprach. Dennoch lähmte es mich. Gutturale Wortkapseln schossen an mein Ohr. Anasum, Diriyasum, Ibisyasun, Oburasum. Zwischen meinen Beinen sah mich der Kopf unverwandt an. Er schien zu warten. Ein unheimliches, dunkles Kraftpaket, das darauf harrte, Kontakt aufzunehmen. Mohammed verließ die Hütte. Der Fetischeur hockte 318
sich dicht vor mir auf die Fersen und spreizte vorsichtig meine Schenkel. Ich konnte ihn riechen. Er roch nach schwarzer Haut und Männerschweiß, scharf, intensiv und fremd, meine Beine zitterten unter der Last des Steins. Der modrige Duft von Menstruationsblut strömte aus meinem Schoß auf. Wieder warteten sie - der schwarze Mann und der dunkle Kopf. Zwei versteinerte Energiepole. Warteten auf mich. Mohammed kehrte zurück mit einem Huhn, das er an zusammengebundenen Beinen mit dem Kopf nach unten hielt. Es war merkwürdig still und hatte einen irren Blick. Ich spürte, wie das Blut aus meinem Gesicht wich und sich in den unteren Teil des Körpers zurückzog, während die Angst das Vakuum im oberen Teil füllte. Ich wußte, was jetzt kam. Und trotzdem, als er es tat, in einem runden, graziösen, vollkommenen Menuett der Bewegungen, vergaß ich, die Augen zu schließen. Ich schloß sie erst, als die warme Flüssigkeit sich in schnellen Spasmen über meinen Schoß ergoß. Der Fetisch badete im Hühnerblut. Es durchtränkte meinen Rock, näßte meinen Slip und vermengte sich mit meinem eigenen. Das Blut auf dem Fetisch ist zu einer dunkelbraunen Kruste eingetrocknet. Aber er wartet immer noch. Es ist, als verlange er, daß ich einen Dialog mit ihm beginne: »Warum weckst du mich, verschleppst mich aus meiner Erde, was verlangst du?« - »Ich will, daß der Mann, den ich liebe, seine Frau verläßt.« - »Bist du nicht auch verheiratet? Hast du nicht ein Kind?« - »Doch. Deshalb habe ich dir geopfert. Meine Liebe ist gegen jede Vernunft. Sie hat mei319
nen Verstand zerfressen. Ich bin besessen.« Glaubst Du an die Kraft des Fetischs? 4. Brief Geliebter, in Djenné, dieser tausendjährigen Stadt im Delta des Niger, habe ich Dich zum ersten Mal vergessen können, seit ich in Afrika bin. Die Schönheit der glatten Lehmbauten, die aussehen wie die kunstvollsten Sandburgen an den Nordseestränden meiner Kindheit, erstickte während der letzten Tage die Erinnerung an Dich. Nach jeder Regenzeit müssen die Häuser neu verputzt werden. Der helle Lehm, ›Banko‹ genannt, besteht aus Kuhmist, Stroh und Termitenerde. Das macht die Häuser vergänglich, und gerade dadurch scheinen sie zu leben, als hauche das rein organisch-pflanzliche Baumaterial ihnen eine Seele ein. Die ganze Stadt ist in Ocker getaucht, ein perfekter, gleichmäßiger Hintergrund für die Frauen, die daraus hervortreten: Fast zwei Meter große Riesinnen, Bambara, die in der biegsamsten Haltung Türme aus übereinandergestapelten Kalebassen mit Zwiebeln, Reis und Gewürzen balancieren. Zierliche Peul, Nomadinnen mit heller Haut und hohen Wangenknochen, an deren Ohren gondelähnliche Goldgehänge schaukeln. Oh - und die Männer, wie herrschaftlich sie über die staubigen Straßen schreiten in ihren farbenprächtigen Bubus, diesen luftigen, bodenlangen Gewändern, die seltsamerweise ungemein maskulin auf 320
mich wirken. Manche von ihnen werfen mir Blicke zu, die mich auf Gedanken bringen. Was wäre, wenn ich mich rächen würde für Deinen Verrat auf eine einfache, uralte, biblische Art? Übrigens gibt es keine Autos hier. In den sandigen, stillen Gassen zwischen den zwei- und dreistöckigen Lehmhäusern ertönt nur das Trappeln nackter Kinderfüße, das dumpfe Klopfen der hirsestampfenden Frauen oder der monotone Singsang der Koranschüler im Schatten der großen Moschee. Beneide mich nur, Geliebter! Die Schuhe ausziehen und barfuß über den feinen, kühlen Sand am Boden der Moschee laufen. Den Kopf zurücklegen und das Gesicht in das schmetterlingsgelbe Sonnenkarree tauchen, das aus dem Lüftungsschacht einfällt. Die breiten Säulengänge aus Banko durchwandern. An irgendeinem der glatten Lehmpfeiler herunterrutschen in einen halben Lotussitz und sich einhüllen lassen von Raum und Stille und Zeit, die stehenbleibt. Plötzlich ganz mit sich und ganz allein unbändig glücklich zu sein. Das sind Geschenke, die das Leben in den unverhofftesten Momenten verteilt, und ich habe sie alle selig aufgerissen und dankbar angenommen in Djenné, der tausendjährigen Stadt aus Lehm. 5. Brief Geliebter, ich ritze unsere Anfangsbuchstaben in den Stamm des Affenbrotbaums, von dem die Sage geht, Gott habe ihn im 321
Zorn mit den Wurzeln nach oben auf die Erde geworfen, weil seine blattlosen Äste, auf denen die Geier hocken, sich wie Geisterfinger in den Himmel krallen. Ich schreibe unsere Namen in den Sand neben den ausgefressenen Panzer eines schwarzen Wüstenkäfers. Über den Dornbuschakazien der Steppe lasse ich Visionen aufsteigen - von brennenden Scheiterhaufen und steinernen Altären, auf denen wir den Kampf zu Ende führen. Den Kampf, der vor drei Jahren begann, als wir das erste Mal miteinander schliefen und den Duft unserer Liebe nicht abwaschen mochten und es doch tun mußten, damit unsere Partner den Betrug nicht röchen. In diesem ersten Widerstand lag schon die instinktive Ahnung, daß unsere Liebe zu tief ist, um den Zynismen der Affäre gewachsen zu sein. Und jedes Jahr, jede Woche, jede Stunde ist es unerträglicher geworden, anzuleben gegen die Sehnsucht, Dich zu sehen, den Hunger, Dich zu lieben, den Wunsch, für immer mit Dir zusammenzusein. Tausendmal schon habe ich die Waagschale vor mich gestellt. Da bist Du, Liebe meines Lebens, Inkarnation meiner Phantasien, Beherrscher meiner Sinne. Dort meine Familie. Lara, mein Sternenkind. Nico, mein Ehemann, der uns beide auf Händen trägt. Und immer und immer wieder ist die Schale tiefer gesunken, auf Deine Seite. Und Du? Hast Du sie nicht aufgestellt? Hier das Gewicht von zwölf Jahren Ehe, gewachsener Liebe, Harmonie, Loyalität und gegenseitigem Verständnis. Dort ein Amour fou, eine nervige, aufreibende Leidenschaft, die Chance und das unkalkulierbare Risiko, Dein Glück 322
noch einmal in die Waagschale vor Dir zu werfen. Ich habe Dir ein Ultimatum gestellt. Du hast Dir eine letzte Bedenkzeit auserbeten. Vier Wochen auf den Philippinen. Mit Ehefrau. Aber der Kampf ist noch nicht entschieden, Geliebter. Möglich, daß Du mich, Dein Satansweib, auf den Scheiterhaufen verpaßter Möglichkeiten wirfst. Eine Stichflamme der Leidenschaft, und die große Liebe ist abgefackelt. Du stocherst noch ein wenig in der Glut und fragst Dich, wie die schönen Gefühle so schnell verrauchen können. Es sei denn, Du nimmst mich zur Frau. In einer schwarzen Messe, auf einem weißen Altar, die Ellenbogen gefesselt, die Arme über den Kopf gestreckt, die Beine so weit gespreizt, daß die Sehnen einen klaren Ton singen. Davon träume ich. Deshalb reise ich weiter, den weißen Saharadünen entgegen bis nach Timbuktu. Dort bei den Tuareg, den einstigen Raubrittern der Wüste, muß ich das Messer für die Bluthochzeit erstehen. Denn ich bin nicht fortgegangen, um Dich freizugeben. Sondern um Waffen zu sammeln für den Kampf um Dich. 6. Brief Geliebter, seit Tagen nicht einmal mehr eine Piste, nichts als Sand und Hitze. Irgendwo zwischen Léré und Bintagoungou sind wir trotz Kompaß vom Weg abgekommen. Die Teilnehmer der Expedition fangen an zu maulen. Ihre Whis323
kyvorräte gehen zu Ende. Jetzt gibt es nur noch pißwarmes Trinkwasser, wenn wir abends unsere Zelte aufschlagen. Und auch das wäre längst rationiert, hätten wir nicht zufällig einen Brunnen entdeckt. Da wachsen in der kargen Wüstenweite drei weißgekleidete Gestalten in die Schärfe, schön wie griechische Götter, die Gesichter halbverschleiert, so daß nur schmale Nasen und große Augen mit hochgebogenen, dichten Wimpern zu sehen sind. Es sind Tuareg, die ihre mageren Zeburinder an einer Wasserstelle tränken und aus vollgeschöpften, runden Ziegenledersäcken unsere Plastikkanister mit Trinkwasser auffüllen. So wie ihre Vorfahren es schon vor Jahrhunderten taten, wenn die großen Kaufmannskarawanen vorüberzogen und um Wasser baten. Nur daß wir ihnen keinen Wegzoll zahlen. Die Zivilisation hat den einst unbezwingbaren Beherrschern der Wüste ihre Lebensgrundlage geraubt - die Kontrolle der Brunnen. Und doch tragen sie unbeirrt ihre Waffen, das Schwert an der Seite, den Speer, das Messer am Oberarm, die Klinge am Gürtel. 7. Brief Geliebter, ich habe die Expedition verlassen und bin allein in Timbuktu geblieben, dieser erloschenen Wüstenstadt, die wunderbar zu meiner Stimmung paßt. Einst war sie das Ziel reichbeladener Karawanen, ein lärmender Umschlag324
hafen für Salz, Seidenstoffe und Damast aus dem Norden gegen Gold, Elfenbein, Leder und Sklaven aus dem Süden. Aber die Jahrhunderte sind über die Stadt gestrichen wie der ewige Wüstenwind und haben ihre Pracht verweht. Die strengen, eckigen Häuser aus behauenem Stein, die breiten, verlassenen Gassen verraten nichts über ihre süße, wilde Vergangenheit. Und wenn sich am Abend die weißen Saharadünen im Widerschein der Lagerfeuer noch enger an die Mauern der Stadt schmiegen, dann ist es, als sängen sie ihr bereits das Todeslied. Bald werden sie Timbuktu unter sich begraben haben und damit seine Legende unsterblich machen. Heute nacht werde ich die Nomaden aufsuchen, die mit ihren Kamelen am Rande der Stadt lagern. Addi, ein Berber, der in meinem Hotel das Frühstück serviert, sagte mir, daß sie Waffen verkaufen, schöne, alte Messer mit silberziselierten Griffen. Ich soll aufpassen, daß sie mich nicht übers Ohr hauen dort draußen, hat er gesagt und dabei mit dem linken Zeigefinger sein unteres Augenlid ein wenig heruntergezogen. Ein wenig verrückt ist es schon, allein zurückzubleiben in dem öden Hotel mit den nackten, sandigen Fußböden und den klappernden Fensterläden und der hellblau gestrichenen Bar, an deren eke die Aufkleber von allen hier vorbeikommenden Expeditionen kleben. In irgendeinem Landrover, der die Tanezrouftpiste über Gao nach Marokko oder über Tamanrasset durchs Hoggargebirge nach Algerien nimmt, werde ich ganz sicher einen Platz bekommen. Aber erst muß ich das Messer finden, ein altes Tuareg325
Messer, das Du aus einer zerschlissenen, dünngescheuerten Lederscheide ziehen wirst, bevor Du mich zur Frau nimmst. 8. Brief Geliebter, ich werde mich an alles gewöhnen, nur nicht an die Fliegen, die sich immer wieder träge auf meiner Haut niederlassen, um sich an meinen Körpersäften zu laben. In der letzten Woche war ich immer wieder draußen bei den Nomaden, die ihre halboffenen Zelte am Wüstenrand aufgeschlagen haben. Ich weiß nicht, ob es wirklich Tuareg sind, wie sie behaupten, aber wenn ich mich zu ihnen hocke, ist das vollkommen gleichgültig. Als Ausländerin genieße ich auch hier Narrenfreiheit, und es ist mir erlaubt, mich zu den Männern ans Feuer zu setzen. Dort lausche ich wie hypnotisiert der fremden Sprache, diesen kratzenden Lauten, die sich der Tiefe ihrer Kehle entwinden, während Bo-Said, der Alte, den Tee aufgießt, wieder und wieder, bis er so stark ist, daß man ihn nur noch mit großen Brocken rohem Zucker genießen kann. Sie haben mir schon viele schöne Messer gezeigt, aber der Preis, den sie verlangen, ist so hoch, daß ich fast mein ganzes restliches Geld dafür aufwenden müßte. Ein Neffe des Familienoberhaupts hat mich bereits als Braut auserkoren. Ghazi ist noch ein halbes Kind mit einem schmalen, bartlosen Männergesicht und edel geschnittenen Lippen, hinter denen sich schlechte Zähne 326
verbergen. Seine Nase ist aristokratisch, und seine Augen sind unendlich tief, so tief wie die steinige Ebene, die hinter den großen Sanddünen liegt. Dorthin soll ich mit ihm und seiner Familie gehen, sagt Ghazi und bietet mir sandige Datteln an, deren Süße mir die Zunge am Gaumen festklebt. Natürlich kann man ihm nicht vertrauen. Zuweilen spricht er zu seinen Brüdern über mich, und wenn ich es bemerke, versteckt er Mund und Nase hinter seinem Tagelmust, anmutig wie eine Frau. Ich bewundere die perfekt geschnitzte Form seiner Mandelaugen, ich ertrinke in ihrem unergründlichem Dunkel, aber ich weiß genau, daß sein Mund hinter dem weißen Halbschleier zu einem abfälligen Grinsen verzogen ist. 9. Brief Geliebter, ich hoffe, daß mein Brief Dich irgendwie erreicht. Ich gab ihn einer jungen Frau mit, die zu einer französischen Expedition gehört, deren Lager wir im Morgengrauen streiften, als wir die Kamele suchten. Vor einer Woche, vielleicht auch zwei, haben wir Timbuktu verlassen. Ich bin jetzt dem Sandmeer ausgeliefert, hilflos. Die Düne hochstapfen, während der Fuß immer wieder einsinkt bis zu den Knöcheln, um dann, endlich oben, halbschräg, wieder hinunterzustolpern. Unten angelangt, erhebt sich vor mir schon der nächste, makellose Sandberg, 327
der sich mit den Linien einer nackten Odaliske dem Himmel offeriert. Oben auf dem Kamm aber vereinen sich vollkommene Stille und die Unendlichkeit der regungslosen Wellen. Dort gerinnt mein ganzes Leben zu einer Sekunde, mein Ich wird zermalmt zu einem Sandkorn, ich möchte auf die Knie sinken und beten. Später am Tag stimmen die Männer einen Wechselgesang an, der von jedem aufgenommen und weitergesponnen wird, als webten sie gemeinsam an einem ornamentreichen Teppichmuster. Ich ziehe dann den Halbschleier des Tchesch, den Ghazi mir jeden Morgen um den Kopf wickelt, bis unter die Augen und sehe nur noch auf meine Füße. Es ist einfacher so. Denn wenn ich Ghazi beobachte, wie er vor mir geht, vollkommen gleichmütig, ohne jedes Anzeichen von Müdigkeit, die schlanken, braunen Füße in offenen Sandalen, deren brüchiges Leder meine Haut schon längst zerfetzt hätte, dann verliere ich allen Mut. Dabei habe ich keinerlei Aufgaben. Am Abend laden die Männer die Tiere ab, noch bevor das Licht sich in ein glasiges Rosa verfärbt. Sie binden den Kamelen die Vorderbeine mit kurzen Stricken zusammen, und auf einem alten Sack sitzend verfolge ich, wie sie sich hoppelnd vom Lager entfernen. Schnell, ohne zu zaudern, wie eine Raubkatze vom Baum, fällt die Wüstennacht herab. Wenn ich den Lichtkreis des Feuers verlasse, verschluckt mich Schwärze. Bin ich jemals Deine Geliebte gewesen? Hier bin ich Teil der Nacht. 328
Beschleichen Dich zuweilen dunkle Phantasien, mein Liebster, von einem schlanken Tuaregkörper, der sich über einer weißen Frau hebt und senkt, hebt und senkt? Hörst Du das Stöhnen des Fremden? Es klingt genau wie Dein eigenes, nicht wahr, kurz bevor Dein Brunnen zu sprudeln beginnt. Fürchte nicht den Biß des Skorpions, Geliebter. Er tut weh, aber man stirbt nicht daran. 10. Brief Geliebter, meine Reise geht zu Ende. Ich habe mich von den Nomaden getrennt und bin mit einem marokkanischen Lastwagenfahrer bis nach Quarzarzate gekommen. Vor dem eigentlichen Stadtkern liegen riesige, in die Wüste geklotzte Hotelanlagen voller Touristen. Eine Gruppe französischer Touristen, die Männer in makellos gepflegten Bommelschuhen, platzte fast vor Lachen, als ich durch die Hotelhalle ging, um nach einem Zimmer zu fragen. Die Sohlen haben sich von meinen Schuhen gelöst und klappen bei jedem Schritt auf. Über einem langen T-Shirt-Rock - das einzige Kleidungsstück, das ich nicht verschenkt habe - trage ich einen inzwischen vollkommen verschmutzten Überwurf von Ghazi. Doch die Einheimischen an der Rezeption behandelten mich freundlich und zuvorkommend. Da ich meine Kreditkarte noch habe, erhielt ich anstandslos ein Zimmer. 329
Als ich an der Wand des Hotelzimmers zum ersten Mal seit Wochen in einen Spiegel blickte, sank ich bis auf den Grund meiner Augen. Ich bin schön, Geliebter - Du wirst sehen. Meine Augen sind so klar wie die eines Menschen, der lange gefastet hat. Meine Lippen sind so zerschunden, daß Du sie nicht mehr blutig beißen kannst. Mein Körper ist so übersät mit Beulen und Stichen und blauen Flecken, daß Du Dich nicht mehr auf mich legen kannst. In mir aber leuchtet wie eine funkelnde Essenz der Geist der Wüste. Ich habe vom Reichtum der Kargheit gekostet. Noch nie habe ich eine solche Droge gefunden. Doch reise ich nicht leicht wie eine Nomadin. Ich kehre zurück, Geliebter, und in meiner Tasche wiegen schwer die Dinge - der Fetisch und das Messer. Alal, das Familienoberhaupt, hat mir das alte Messer geschenkt. Er hätte es mir niemals verkauft, behauptet Ghazi. Viele neugefertigte Tuareg-Waffen würden für Touristen auf alt geschliffen. Aber ich sei nun tatsächlich im Besitz einer alten Waffe. Er kniff mir ein Auge zu, während er dies sagte. Ich habe keine Ahnung, ob er die Wahrheit spricht. Dennoch wirst Du feststellen, daß Dein Werkzeug makellos ist. Ich bin durch den halben Kontinent gereist, um es Afrikas dunkler Erde zu entreißen. Aber nur Du kannst uns damit in den Himmel schießen. Laß zuerst den Fetisch sprechen. Er wird Dir sagen, was zu tun ist: »Nimm ihre linke Hand. Ein schneller, einfacher Schnitt. Kein Blutbad, ein paar Tropfen nur. Das genügt, wenn man eine Hexe zur Frau nimmt.« Oder glaubst Du nicht an diese Dinge? 330
Haarball Am 13. November, dem Tag des Unheils, im Monat der Toten, ging Kat in das Toronto General Hospital, um sich operieren zu lassen. Es war wegen einer Eierstockzyste, einer großen. Viele Frauen hatten sie, sagte der Doktor. Niemand wußte warum. Man konnte auch nicht sagen, ob das Ding bösartig war, ob es bereits Keime des Todes in sich trug. Man mußte reingehen und es herausholen. Der Arzt sprach vom ›Reingehen‹, so wie sie Kriegsveteranen in Fernseh-Dokumentarsendungen von ihren Angriffen auf feindliches Territorium hatte sprechen hören. Mit derselben Anspannung des Kiefermuskels, demselben Zähneknirschen, demselben grimmigen Vergnügen. Nur, daß er in ihren Körper ›reingehen‹ würde. Während sie zählte, auf die Betäubung wartete, knirschte auch Kat wild mit den Zähnen. Sie hatte entsetzliche Angst, aber sie war auch neugierig. Neugier hatte sie schon durch allerlei hindurchgebracht. Kat nahm dem Chirurgen das Versprechen ab, das Ding für sie aufzuheben, damit sie es sich ansehen konnte. Sie war an ihrem Körper außerordentlich interessiert, daran, was er zu tun oder zu produzieren beschloß; als allerdings Dania, die bei dem Magazin das Layout machte, ihr sagte, dies sei eine Botschaft ihres Körpers an sie, und sie solle mit einem Amethysten unter dem Kopfkissen schlafen, um ihre Vibrationen zu dämpfen, sagte ihr Kat, sie solle die Klappe halten. 331
Die Zyste erwies sich als gutartiger Tumor. Kat gefiel die Verwendung von gutartig, als ob das Ding eine Seele hätte und ihr wohlgesonnen wäre. Es war so groß wie eine Grapefruit, sagte der Doktor. »Groß wie eine Kokosnuß«, sagte Kat. Andere Leute hatten Grapefruits. ›Kokosnuß‹ war besser. Es drückte das Harte des Dings aus und auch das Haarige. Das Haar in ihm war rot - lange Strähnen, die in ihm aufgewickelt waren, wie ein nasses Wollknäuel, das Amok gelaufen war, oder wie das Zeug, das man aus dem Badewannenabfluß zog. Kleine Knochen waren auch darin, oder Knochenfragmente; Vogelknochen, die Knochen eines von einem Auto zerquetschten Sperlings. Es gab auch so was wie Finger- oder Fußnägel. Und fünf perfekt geformte Zähnchen. »Ist das unnormal?« fragte Kat den Doktor. Er lächelte. Jetzt, da er reingegangen und ohne Schramme wieder herausgekommen war, wirkte er entspannter. »Unnormal? Nein«, sagte er abwägend, als bringe er einer Mutter die Nachricht, daß mit ihrem Neugeborenen nicht alles ganz richtig sei. »Sagen wir, es ist recht gewöhnlich.« Kat war enttäuscht. Sie hätte lieber etwas Einzigartiges gehabt. Sie bat um eine Flasche mit Formaldehyd und legte den aufgeschnittenen Tumor hinein. Er gehörte ihr, er war gutartig, er hatte es nicht verdient, weggeworfen zu werden. Sie nahm ihn in ihre Wohnung mit und stellte ihn auf den Kaminsims. Sie nannte ihn Haarball. Das ist nicht sehr anders als ein ausgestopfter Bärenkopf oder ein präpariertes Hündchen oder irgend etwas anderes mit Fell 332
und Zähnen über dem Kamin. Zumindest tut sie so, als wäre es nichts Ungewöhnliches. Auf jeden Fall macht es Eindruck. Ger mag es nicht. Trotz seiner angeblichen Begierde auf alles, was neu und outré ist, bleibt er im Grunde ein Mann, der sich leicht ekelt. Als er nach der Operation das erste Mal zu ihr angeschlichen, herumschnüffeln kommt, sagt er zu Kat, daß sie Haarball rauswerfen soll. Er nennt ihn ›ekelhaft‹. Kat weigert sich rundheraus und sagt, daß sie lieber Haarball in einem Glas auf ihrem Kaminsims stehen hat als die schmalzigen toten Blumen, die er ihr gebracht hat, die außerdem viel schneller verrotten, als Haarball es tun wird. Als Schmuck für den Kaminsims ist Haarball weit überlegen. Ger sagt, Kai neige dazu, alles immer bis zum Äußersten zu treiben, Grenzen zu überschreiten, nur aus dem kindlichen Wunsch heraus, schockieren zu wollen, was wohl kaum ein Ersatz für Witz sei. Eines Tages, sagte er, wird sie zu weit gehen. Zu weit für ihn, meint er. »Darum hast du mich angestellt, oder?« sagt sie. »Weil ich zu weit geh’.« Aber er ist in seiner analysierenden Stimmung. Diese Tendenz spiegle sich auch in ihrer Arbeit für das Magazin wider, sagt er. All das Leder und all die grotesken und gequälten Posen gehen in eine Richtung, von der er und andere gar nicht so überzeugt sind. Sieht sie, was er meint, versteht sie seinen Punkt? Dieser Punkt ist früher schon öfter diskutiert worden. Sie schüttelt den Kopf, sagt nichts. Sie weiß, was das heißt: Es hat Klagen gegeben, Klagen von Leuten, die Anzeigen schalten. Zu bizarr, zu überspannt. Pech. »Willst du meine Narbe sehen?« sagt sie. »Aber bring 333
mich nicht zum Lachen, sonst reißt sie auf.« So was macht ihn schwindlig; alles, was mit Blut zu tun hat, alles Gynäkologische. Als seine Frau vor zwei Jahren ein Baby bekam, hätte er sich fast im Kreißsaal übergeben. Das hatte er ihr stolz erzählt. Sie denkt daran, sich eine Zigarette in den Mundwinkel zu stecken, wie in einem Schwarzweißfilm aus den vierziger Jahren. Sie denkt daran, ihm den Rauch ins Gesicht zu blasen. Ihre Unverschämtheit hatte ihn früher, wenn sie sich stritten, erregt. Dann hatte er sie an den Oberarmen gepackt, und es hatte einen schwelenden, heftigen Kuß gegeben. Er hat sie immer geküßt, als glaubte er, jemand beobachte ihn, beurteile das Bild, das sie zusammen abgeben. Dieses junge, aufregend modische Ding küssend, hart und glänzend, mit purpurrotem Mund, mit vorgestrecktem Kopf; ein Mädchen küssend, eine Frau, ein Mädchen mit knallengem Rock und Leggings. Er liebt Spiegel. Aber jetzt ist er nicht erregt. Und sie kann ihn nicht ins Bett locken, sie ist noch nicht verheilt. Er nimmt einen Drink, den er nicht austrinkt, hält ihre Hand wie in einem Nachgedanken, klopft ihr onkelhaft auf die mattweiße übergroße Alpakaschulter, geht zu schnell wieder. »Auf Wiedersehen, Gerald«, sagt sie. Den Namen spricht sie spöttisch aus. Es ist eine Negation seiner Person, eine Tilgung, als würde man ihm eine Medaille von der Brust reißen. Es ist eine Warnung. Als sie sich das erste Mal begegneten, war es Gerald. Sie war es gewesen, die ihn verwandelt hatte, zuerst in Gerry, dann in Ger. (Reimt sich auf Flair.) Sie brachte ihn dazu, seine spießigen, sauren Krawatten aufzugeben, sagte ihm, 334
welche Schuhe er tragen sollte, brachte ihn dazu, sich einen lose geschnittenen italienischen Anzug zu kaufen, schlug ihm eine andere Frisur vor. Viel von seinem gegenwärtigen Geschmack - was das Essen betrifft, die Getränke, Drogen, Frauenreizwäsche - ist ihr eigener Geschmack gewesen. In seiner neuen Form, mit seinem neuen, metallisch zusammengeschrumpften Namen, der mit dem harten R endet, ist er ihre Kreation. So wie sie selbst ihre eigene Schöpfung ist. In ihrer Kindheit war sie eine romantische Katherine gewesen, die von ihrer Mutter umständlich und mit verschwommenem Blick in Kleider gesteckt wurde, die wie zerknautschte Kissenbezüge aussahen. Mit der High-School hatte sie die Rüschen abgelegt und war als kräftige Kathy mit rundem Gesicht, mit glänzendem frisch gewaschenem Haar und beneidenswerten Zähnen wieder aufgetaucht, Kathy, die gefallen wollte und so uninteressant war wie die Zahnpastawerbung. Auf der Universität war sie Kath, geradeaus und illusionslos, mit engen einfachen Jeans und kariertem Hemd. Als sie nach England ausriß, reduzierte sie sich auf Kat. Das war sparsam, straßenkatzenhaft und spitz wie ein Nagel. Außerdem war es ungewöhnlich. In England mußte man sich etwas einfallen lassen, um Aufmerksamkeit zu erregen, vor allem wenn man keine Engländerin war. In dieser Inkarnation einigermaßen sicher, schlug sie sich durch die achtziger Jahre. Es war der Name, davon ist sie noch immer überzeugt, dem sie das Bewerbungsgespräch und dann den Job verdankte. Der Job war ein Avantgarde-Magazin, in Schwarzweiß auf mattgetöntem Papier, mit überbelich335
teten Nahaufnahmen von Frauen mit wehenden Haaren vor den Augen, ein Nasenloch besonders prominent: the razor’s edge hieß es. Frisuren als moderne Kunst, ein bißchen wirkliche Kunst, Filmkritiken, ein paar Stars, Garderoben von Ideen, die aus Kleidern bestanden, und von Kleidern, die nur Ideen waren - die Metaphysik des Schulterpolsters. Sie lernte ihr Handwerk gut, auf praktische Art. Sie lernte, was funktionierte. Sie arbeitete sich die Leiter hinauf, vom Layout zum Design, dann zur Verantwortung für Sparten, dann für das ganze Blatt. Es war nicht leicht, aber es war die Sache wert. Sie war eine Schöpferin geworden: sie schuf einen ›Look‹. Nach einer Weile konnte sie durch Soho gehen oder bei Eröffnungen in der Lobby stehen und sich ihre Arbeit inkarniert in den Besuchern ansehen; sie liefen in Aufmachungen herum, die sie ›gemacht‹ hatte, ihr ›Look‹ in vielfachen Zweitausgaben. Es war, als wäre man Gott, nur daß Gott nicht von der Stange geschaffen hatte. Im Laufe der Zeit hatte ihr Gesicht sein rundes Aussehen verloren, obwohl natürlich die Zähne blieben: was für die nordamerikanische Zahnarztkunst sprach. Sie hatte sich das Haar sehr kurz geschnitten, arbeitete an dem tödlichen Blick, vervollkommnete eine bestimmte Drehung des Halses, die eine distanzierte innere Autorität vermittelte. Man mußte sie glauben machen, daß man etwas wußte, das sie noch nicht wußten. Und man mußte sie auch glauben machen, daß sie dies auch haben konnten, diese Sache, die ihnen zu Bedeutung und Macht und sexueller Anziehung verhelfen, die ihnen Neid einbringen würde; aber für einen Preis. Den Preis des Magazins. 336
Was sie nie in ihre Köpfe bekamen, war, daß es einzig und allein mit Kameras gemacht wurde. Eingefrorenes Licht, eingefrorene Zeit. Wenn sie den Winkel kontrollierte, konnte sie jede Frau häßlich aussehen lassen. Und jeden Mann. Sie konnte alle schön aussehen lassen, oder wenigstens interessant. Es war alles Fotografie, es war alles Ikonografie. Es lag alles im auswählenden Auge. Das war etwas, das man sich nicht kaufen konnte, egal, wieviel von seinem erbärmlichen Monatslohn man für Schlangenhaut rauswarf. Trotz seines Status zahlte the razor’s edge ziemlich schlecht. Kat konnte sich selbst nicht viel von den Dingen leisten, die sie so vorzüglich konzeptualisierte. Das gruftartige, teure London begann ihr auf die Nerven zu gehen; sie war es leid, sich mit den Schnittchen der literarischen Salons vollzuschlagen, um am Essen zu sparen, war den stickigen Geruch von Zigaretten leid, die in die rotbraunen Teppiche der Pubs getreten wurden, war die platzenden Rohre leid, wenn es im Winter Frost gab, und war die Clarissas und Melissas und Penelopes im Magazin leid, die sich beklagten, weil sie in der Nacht buchstäblich, absolut, total erfroren waren, und daß es buchstäblich, absolut, total, gewöhnlich sonst niemals so kalt wurde. Es wurde immer so kalt. Und immer barsten die Rohre. Niemand dachte daran, richtige Rohre zu legen, solche, die das nächste Mal nicht platzen würden. Rohrbruch war eine englische Tradition, wie so vieles andere auch. Wie, zum Beispiel, englische Männer. Sie machten einen ganz schwindlig mit ihren weichen Vokalen und ihrem frivolen Wortschatz, und wenn man ihnen praktisch zu Füßen 337
lag, gerieten sie in Panik und flüchteten. Oder sie blieben und winselten. Es war Tradition und ein Kompliment, von einem Engländer angewinselt zu werden. Auf diese Weise teilte er dir mit, daß er dir traute, daß er dir das Privileg zuerkannte, sein wahres Selbst kennenzulernen. Das innere, winselnde Selbst. Das war ihre Vorstellung von Frauen; sie waren ein Winselauffangbecken. Kat konnte da mitspielen, aber das bedeutete nicht, daß sie es genoß. Etwas hatte sie den Engländerinnen allerdings voraus: Sie gehörte zu keiner Klasse. Sie besaß keine Klasse. Sie war ihre eigene Klasse. Sie konnte sich zwischen den Engländern tummeln, allen Sorten, und sich in der Sicherheit wiegen, nicht an den Klassenzollstöcken und Akzentdetektoren, die sie in ihren Gesäßtaschen mit sich herumtrugen, gemessen zu werden, nicht dem pedantischen Snobismus und den Ressentiments ausgesetzt zu sein, die ihrem Innenleben so viel Reichtum verliehen. Die Kehrseite dieser Freiheit war, daß sie nicht dazugehörte. Sie kam aus den Kolonien, wie frisch, wie lebendig, wie anonym, wie, letztendlich, ohne Bedeutung. Wie einem Loch in der Wand konnte man ihr alle Geheimnisse erzählen und sie ohne schlechtes Gewissen sitzenlassen. Natürlich war sie zu klug. Die Engländer liebten den Wettkampf, und sie liebten es, zu gewinnen. Ein paarmal tat es weh. Zweimal trieb sie ab, weil die betreffenden Männer für die Alternative nicht zu haben waren. Sie lernte zu sagen, daß sie sowieso keine Kinder wolle, daß sie sich einen Hamster kaufen würde, wenn sie etwas zum Streicheln brauchte. Ihr Leben begann, ihr lang vorzukommen. Ihr ging das Adrenalin aus. Bald würde sie 338
dreißig sein, und alles, was sie vor sich sah, war mehr vom Gleichen. So standen die Dinge, als Gerald auftauchte. »Sie sind großartig«, sagte er, und sie war bereit, es sich anzuhören, sogar von ihm, obwohl großartig als Wort wahrscheinlich zusammen mit dem Bürstenhaarschnitt der fünfziger Jahre aus der Mode gekommen war. Sie war zu dieser Zeit auch für seine Stimme bereit, für den flachen metallenen nasalen Ton der Großen Seen, mit dem harten R und ohne die geringste eatralik. Stinknormal. Die Sprache ihrer Heimat. Plötzlich wurde ihr klar, daß sie im Exil war. Gerald war auf der Suche, er warb Leute an. Er hatte von ihr gehört, sich ihre Arbeiten angesehen, hatte sie eigens aufgesucht. Eine der großen Finnen in Toronto wollte ein neues modeorientiertes Magazin herausbringen, sagte er; gehobenes Niveau, natürlich mit internationaler Aufmachung, aber auch ein bißchen kanadische Mode und mit Adressenlisten von den Läden, wo die Dinge, die vorgestellt wurden, zu haben waren. Auf die Weise glaubten sie, die Konkurrenz ausstechen zu können, die amerikanischen Magazine, die so taten, als gäb’s Gucci nur in New York oder Los Angeles. Himmel, die Zeiten hatten sich geändert, Gucci gab’s in Edmonton! In Winnipeg! Kat war zu lange weggewesen. Es gab jetzt eine kanadische Mode? Ein Engländer würde sofort sagen, daß ›kanadische Mode‹ ein Oxymoron sei. Sie hielt sich aber zurück, zündete sich mit ihrem zyanidgrünen lederbezogenen Feuerzeug aus der Covent-Garden-Boutique, das in der Maiausgabe von the razor’s edge abgebildet gewesen 339
war, eine Zigarette an, sah Gerald ins Auge. »London aufzugeben ist nicht so einfach«, sagte sie ruhig. Sie sah sich in dem Mayfair-Restaurant um, in dem sie zu Mittag gegessen hatten, ein Restaurant zum Gesehen werden, das sie gewählt hatte, weil sie wußte, daß er die Rechnung bezahlen würde. Sonst gab sie nie soviel Geld für Essen aus. »Wo soll ich da essen?« Gerald versicherte ihr, daß Toronto jetzt die RestaurantHauptstadt von Kanada war. Er selbst würde sich glücklich schätzen, den Führer zu spielen. Es gab ein großartiges Chinatown, es gab Italiener von Weltklasse. Dann machte er eine Pause, holte tief Luft. »Was ich Sie fragen wollte«, sagte er. »Wegen Ihres Namens. Ist das Kat wie Krazy?« Er hielt das für suggessiv. Sie hörte es nicht zum ersten Mal. »Nein«, sagte sie. »Es ist Kat wie in KitKat. Ein Schokoladenriegel. Schmilzt im Mund.« Sie starrte ihn an, verzog spöttisch ein wenig den Mund, nur ein Zucken. Gerald wurde nervös, aber er machte weiter. Sie wollten sie, sie brauchten sie, sie liebten sie, sagte er im wesentlichen. Jemand wie sie, mit ihrer frischen, innovativen Art und ihrer Erfahrung, wäre ihnen, relativ gesprochen, eine Menge Geld wert. Aber Geld war ja nicht alles. Sie würde am Konzept mitarbeiten können, sie könne das Blatt mitgestalten, sie würde freie Hand haben. Er nannte eine Summe, die ihr die Sprache verschlug. Sie ließ sich natürlich nichts anmerken. Inzwischen hatte sie gelernt, Sehnsucht nicht zu zeigen. Und so flog sie zurück, brachte ihren dreimonatigen Kul340
turschock hinter sich, probierte den Weltklasseitaliener und den großartigen Chinesen aus und verführte Gerald bei der erstbesten Gelegenheit direkt in seinem Vizepräsidentenbüro. Es war das erste Mal, daß Gerald an einem solchen Ort verführt worden war, oder vielleicht je verführt worden war. Obwohl es lange nach Büroschluß war, versetzte ihn die Gefahr in höchste Erregung. Allein der Gedanke. Die Kühnheit. Das Bild von Kat, die auf dem dicken Teppich kniete, in ihrem legendären BH, wie er ihn bislang nur in der Lingeriereklame der Sunday New York Times gesehen hatte, und ihm direkt vor dem silbergerahmten Verlobungsporträt seiner Frau, das die unmögliche Kugelschreibergarnitur auf seinem Schreibtisch ergänzte, den Reißverschluß aufmachte. Zu der Zeit war er so spießig, daß er sich gezwungen sah, zuerst seinen Ehering abzunehmen und ihn sorgfältig in den Aschenbecher zu legen. Am nächsten Tag brachte er ihr eine Schachtel David-Wood-Food-Shop-Schokoladetrüffel. Sie waren die besten, sagte er ihr, damit sie auch ja die Qualität erkannte. Sie fand die Geste banal, aber auch süß. Die Banalität, die Süße, der hungrige Eifer, Eindruck zu machen: das war Gerald. Gerald war die Art Mann, mit der sie sich in London nicht abgegeben hätte. Er war nicht witzig, er wußte nicht viel, er hatte wenig verbalen Charme. Aber er war eifrig, er war gefügig, er war ein unbeschriebenes Blatt. Obwohl er acht Jahre älter war als sie, schien er ihr viel jünger. Sein verstohlenes jungenhaftes Entzücken über die eigene Verruchtheit bereitete ihr Vergnügen. Und er war so dankbar. »Ich kann kaum glauben, daß das alles wahr 341
ist«, sagte er häufiger, als notwendig gewesen wäre, und gewöhnlich im Bett. Seine Frau, der Kat bei vielen langweiligen Firmenveranstaltungen begegnete (und noch immer begegnet), trug dazu bei, seine Dankbarkeit zu erklären. Die Frau war eine sehr steife Zicke. Sie hieß Cheryl. Ihr Haar sah aus, als würde sie noch immer Lockenwickler und Haarfestiger wie zum Einbalsamieren benutzen; geistig war sie ein grauer Wand-zu-Wand-Teppich. Wahrscheinlich trug sie beim Sex Gummihandschuhe und hakte ihn hinterher auf einer Liste ab. Eine weitere Hausarbeit erledigt. Sie sah Kat an, als wollte sie sie mit ihrem Deospray abschießen. Kat rächte sich, indem sie sich Cheryls Badezimmer vorstellte, lilienbestickte Handtücher und flauschige Klodeckelschoner. Das Magazin hatte einen wackligen Start. Obwohl Kat eine Menge Geld zur Verfügung hatte, um damit herumzuspielen, und obwohl es eine Herausforderung war, in Farbe zu arbeiten, hatte sie nicht soviel freie Hand, wie Gerald ihr versprochen hatte. Sie mußte sich mit dem Vorstand der Gesellschaft herumschlagen, alles Männer, alle offenbar Buchhalter oder nicht von Buchhaltern zu unterscheiden. Sie waren vorsichtig und langsam wie Maulwürfe. »Es ist einfach«, sagte Kat ihnen. »Man bombardiert sie mit Bildern davon, wie sie sein sollten, und bringt sie dazu, sich lausig zu fühlen, weil sie so sind, wie sie sind. Man arbeitet mit der Lücke zwischen Realität und Wahrnehmung. Deshalb muß man sie mit etwas Neuem treffen, mit etwas, das sie noch nicht gesehen haben, etwas, 342
das sie nicht sind. Nichts verkauft sich wie Angst.« Der Vorstand seinerseits glaubte, daß die Leserinnen einfach mehr von dem geboten bekommen sollten, was sie schon hatten. Mehr Pelze, mehr Leder, mehr Kaschmir. Mehr etablierte Namen. Der Vorstand hatte nichts übrig für Improvisation, kein Verlangen danach, Risiken auf sich zu nehmen; keinen Spieltrieb, nicht das Bedürfnis, nur so zum Spaß den Lesern etwas vorzumachen. »Die Mode ist wie die Jagd«, sagte Kat ihnen in der Hoffnung, männliche Hormone anzusprechen, falls vorhanden. »Sie ist spielerisch, sie ist intensiv, sie ist räuberisch. Sie ist Blut und Mumm. Sie ist erotisch.« Aber ihnen ging es um den guten Geschmack. Sie wollten Kleider für die Karrierefrau. Kat wollte Aggressivität, Härte - einen Anschlag auf die Sinne. Alles wurde zum Kompromiß. Kat hatte das Magazin Rage nennen wollen, aber das Direktorium schreckte vor den Schwingungen des Zorns in dem Wort Rage zurück. Sie fanden es zu feministisch, ausgerechnet. »Es ist ein vierziger Sound«, sagte Kat. »Die Vierziger sind wieder da. Verstehen Sie das nicht?« Aber das taten sie nicht. Sie wollten es Or nennen. Das französische Wort für Gold, klar genug, aber ohne jede Grundnote, wie Kat ihnen sagte: Sie einigten sich auf Felice, das Qualitäten besaß, die beide Seiten sich wünschten. Es hörte sich französisch an, es bedeutete glücklich und war nicht so bedrohlich wie Rage, und für Kat hatte es, auch wenn man nicht erwarten konnte, daß die anderen es merkten, ein katzenhaftes Aroma, das dem allzu Betulichen entgegenwirkte. Sie druckte es in einem mit Lippenstift hingekritzelten grellen 343
Pink, was ein wenig half. Sie konnte damit leben, aber es war nicht ihre erste Liebe. Diese Schlacht war bei jeder Neuerung des Designs geschlagen und immer wieder geschlagen worden, bei jedem neuen Gesichtspunkt den Kat hereinzubringen versuchte, bei jeder noch so harmlosen kleinen Perversität. Es gab einen großen Streit über eine Seite, die sich mit Damenunterwäsche beschäftigte, halb heruntergerissen, mit zerbrochenen Parfümflaschen am Boden. Es gab einen empörten Aufschrei bei den beiden Nouveau-StockingBeinen, von denen das eine mit einem dritten, sehr verschiedenfarbigen Strumpf an ein Stuhlbein gefesselt war. Sie hatten die Dreihundert-Dollar-Lederhandschuhe für Männer nicht verstanden, die doppelsinnig um einen Frauenhals lagen. Und so ist es immer weitergegangen, fünf Jahre lang. Nachdem Gerald gegangen ist, geht Kat in ihrem Wohnzimmer auf und ab. Auf und ab. Ihre Stiche ziehen. Sie freut sich nicht auf ihr einsames Essen aus mikrowellenerhitzten Resten. Sie ist sich jetzt nicht mehr so sicher, warum sie hierher zurückgekommen ist, in dieses flache Dorf an dem verschmutzten Binnensee. War es Ger? Lächerlicher Gedanke, aber nicht mehr ganz ausgeschlossen. Ist er der Grund, warum sie bleibt, trotz ihrer wachsenden Ungeduld mit ihm? Er ist nicht mehr ganz so befriedigend. Sie kennen sich jetzt zu gut, sie nehmen Abkürzungen; ihre gemeinsame Zeit ist von gestohlenen ausgedehnten sinnlichen Nachmittagen auf wenige Stunden geschrumpft, die sie 344
sich zwischen Arbeit und Abendessen ergattern. Sie weiß nicht mehr, was sie von ihm will. Sie sagt sich, daß sie mehr wert ist, daß sie ausbrechen sollte, aber sie trifft keine anderen Männer, irgendwie bringt sie es nicht fertig. Ein- oder zweimal hat sie es probiert, aber es lief nicht. Manchmal geht sie mit einem der schwulen Designer essen oder ins Kino. Sie liebt den Klatsch. Vielleicht vermißt sie London. Sie fühlt sich eingesperrt in diesem Land, in dieser Stadt, in diesem Zimmer. Sie könnte mit dem Zimmer anfangen, sie könnte ein Fenster aufmachen. Es ist muffig hier drin. Ein leichter Geruch von Formaldehyd, von Haarballs Flasche. Die Blumen, die sie zur Operation bekommen hat, sind fast verwelkt, alle außer denen, die Gerald heute gebracht hat. Warum hat er ihr eigentlich keine ins Krankenhaus geschickt? Hat er es vergessen, oder war es eine Botschaft? »Haarball«, sagt sie, »ich wollte, du könntest sprechen. Ich könnte mit dir eine intelligentere Unterhaltung führen als mit den meisten von diesen Truthähnen.« Haarballs Babyzähne glitzern im Licht; es sieht aus, als sei er drauf und dran, etwas zu sagen. Kat legt sich die Hand auf die Stirn. Sie fragt sich, ob sie Temperatur hat. Irgendwas Seltsames geht vor sich, hinter ihrem Rücken. Vom Magazin sind nicht genügend Telefonanrufe gekommen; sie haben es fertiggebracht, sich ohne sie durchzuwursteln - ein schlechtes Zeichen. Regierende Königinnen sollten nie in Urlaub gehen - oder sich operieren lassen, was das betrifft. Unbehagen erfüllt sie. In diesen Dingen hat sie einen sechsten Sinn. Sie war schon in genügend Palastrevolutionen verwickelt, um die 345
Zeichen zu erkennen, sie hat empfindliche Antennen, sie hört die verstohlenen Schritte des Verrats. Am nächsten Morgen rafft sie sich auf, trinkt einen Espresso aus ihrer Minimaschine, wählt ein aggressives Faßmich-an-wenn-du-es-wagst-Wildlederkostüm in Waffengrau und schleppt sich in die Redaktion, obwohl sie erst in der nächsten Woche dort fällig ist. Überraschung. Überraschung. Geflüsterte Gespräche in den Korridoren brechen ab, sie grüßen sie mit falscher Herzlichkeit, als sie an ihnen vorbeihumpelt. Sie läßt sich hinter ihrem minimalistischen Schreibtisch nieder, sieht die Post durch. Ihr Kopf dröhnt, ihre Operationsstiche schmerzen. Ger bekommt Wind von ihrem Eintreffen; er will sie so bald wie möglich sehen, aber nicht zum Mittagessen. Er erwartet sie in seinem renovierten Weiß-in-WeißBüro mit dem Schreibtisch aus dem 18. Jahrhundert, den sie zusammen ausgesucht haben, dem viktorianischen Tintenfaß, den gerahmten Vergrößerungen aus dem Magazin: Hände in beigem Leder, die Handgelenke mit Perlen gefesselt, der Hermesschal als Augenbinde, wie bei einer Hinrichtung, darunter der sinnliche Mund eines Models. Einige ihrer besten Arbeiten. Er ist wunderbar hergerichtet, im offenstehenden Seidenhemd, mit weitem italienischem Knit-Pulli aus Seide und Wolle darüber. Oh, kühle Insouciance. Oh, die Sprache der Augenbrauen. Er ist ein Geldmann, der begierig war auf Kunst, und jetzt hat er sie, jetzt ist er selbst ein wenig Kunst. Körperkunst. Ihre Kunst. Sie hat ihre Arbeit gut gemacht, jetzt ist er sexy. Er ist so glatt wie Lack. »Ich wollte’s dir erst nächste 346
Woche beibringen«, sagt er. Er bringt es ihr jetzt bei. Es ist der Vorstand. Er findet, sie sei zu bizarr, er findet, sie gehe zu weit. Er, Ger, konnte nichts dagegen tun, obwohl er es natürlich versucht hat. Natürlich. Verrat. Das Monster hat sich gegen seinen eigenen verrückten Wissenschaftler gestellt. »Ich hab’ dir Leben eingehaucht«, möchte sie ihn anschreien. Sie ist in keiner guten Verfassung. Sie kann sich kaum auf den Beinen halten. Sie steht, obwohl er ihr einen Stuhl angeboten hat. Sie begreift jetzt, was ihr fehlt, was sie vermißt hat. Gerald hat ihr gefehlt, der solide, altmodische, frühere Gerald mit dem zusammengekniffenen Arsch. Nicht Ger, nicht den, den sie nach ihrem eigenem Bild gestaltet hat. Den anderen, bevor er ruiniert wurde. Den Gerald mit einem Haus und einem kleinen Kind und einem Bild von seiner Frau in einem Silberrahmen auf dem Schreibtisch. Sie möchte in diesem Silberrahmen sein. Sie möchte das Kind. Sie ist beraubt worden. »Und wer ist mein glücklicher Nachfolger?« sagt sie. Sie braucht eine Zigarette, aber sie will nicht, daß er ihre zitternden Hände sieht. »Um ehrlich zu sein, ich bin’s selbst«, sagt er. Er bemüht sich um einen bescheidenen Ton. Das ist zu absurd. Gerald könnte nicht einmal ein Telefonbuch herausgeben. »Du?« sagt sie schwach. Sie ist immerhin noch klug genug, nicht zu lachen. »Ich wollte schon immer aus dem Geldende raus«, sagt er, »und in den kreativen Bereich. Ich wußte, daß du es verstehen würdest, nachdem du selbst ja auf jeden Fall draußen bist. Ich wußte, daß dir jemand lieber wäre, der, 347
na ja, also, der gewissermaßen auf dem aufbaut, was du begründet hast.« Aufgeblasenes Arschloch. Sie sieht auf seinen Hals. Sie hat Sehnsucht nach ihm, haßt sich deswegen und ist machtlos. Das Zimmer schwankt. Er rutscht über den weizenfarbenen Teppich auf sie zu, hält sie an den grauen Wildlederoberarmen fest. »Ich werd’ dir ein gutes Zeugnis schreiben«, sagt er. »Mach dir deswegen keine Sorgen. Natürlich können wir uns auch weiterhin sehen. Ich würd’ unsere Nachmittage vermissen.« »Natürlich«, sagt sie. Er küßt sie, es ist ein sinnlicher Kuß, oder jedenfalls würde es für einen dritten so aussehen, und sie läßt ihn. Sie schafft es mit einem Taxi bis nach Hause. Der Fahrer ist unhöflich, und sie läßt ihn damit davonkommen: sie hat nicht die Energie. In ihrem Briefkasten ist eine gedruckte Einladung: Ger und Cheryl geben morgen abend eine Cocktailparty. Vor fünf Tagen abgestempelt. Cheryl hat die neuere Entwicklung noch nicht mitbekommen. Kat zieht sich aus, läßt sich ein Bad einlaufen. Es gibt hier nicht viel zu trinken, es gibt hier nichts zu schnüffeln oder zu rauchen. Pech, sie sitzt fest, sie hat nur sich. Es gibt andere Jobs. Es gibt andere Männer, jedenfalls theoretisch. Trotzdem, es ist etwas aus ihr herausgerissen. Wie hatte ihr das nur passieren können? Wenn Messer gewetzt wurden, war immer sie es gewesen, die das Zustoßen besorgt hatte, wenigstens in letzter Zeit. Wer ihr in die Quere zu kommen drohte, wurde rechtzeitig von ihr entdeckt und ausgeschaltet. Vielleicht verliert sie ihren Biß. Sie starrt in den Badezimmerspiegel, mustert ihr Gesicht 348
in dem beschlagenen Glas. Ein Gesicht der achtziger Jahre, eine Maske, ein hartes Gesicht; drück die Schwachen an die Wand und hol dir, was du kriegen kannst. Aber jetzt sind die Neunziger. Ist sie aus der Mode, so bald schon? Sie ist erst fünfunddreißig, und sie ist schon nicht mehr auf dem laufenden, was die Leute, die zehn Jahre jünger sind als sie, denken. Das könnte tödlich sein. Mit der Zeit wird sie immer schneller und schneller laufen müssen, um Schritt zu halten, aber wozu? Ein Teil des Lebens, das sie hätte führen wollen, ist nur eine Lücke, es ist nicht vorhanden, es ist nichts. Was läßt sich noch retten davon, was läßt sich noch einmal neu machen, was läßt sich überhaupt machen? Als sie nach dem Bad aus der Wanne klettert, fällt sie fast hin. Sie hat Fieber, kein Zweifel. Es ist ein Leck in ihr, oder eine eiternde Wunde; sie kann es hören, wie einen tropfenden Wasserhahn. Eine blutende Wunde, weil sie zu schnell gelaufen ist. Sie sollte in die Notaufnahme eines Krankenhauses gehen, sich mit Antibiotika vollpumpen lassen. Statt dessen wankt sie ins Wohnzimmer, nimmt Haarball in seiner Flasche vom Kamin, stellt ihn auf den Couchtisch. Sie setzt sich mit übereinandergeschlagenen Beinen hin, lauscht. Fäden wehen vor ihren Augen. Sie hört ein Summen, wie Bienen bei der Arbeit. Sie hatte den Arzt gefragt, ob es anfangs ein Kind gewesen sein könnte, ein befruchtetes Ei, das irgendwie an die falsche Stelle geraten war. Nein, sagte der Arzt. Manche Menschen glaubten, daß diese Art Tumore von Geburt an, oder schon davor, in Samenform vorhanden waren. Es könnten unentwickelte Zwillinge sein. Das war 349
nicht bekannt. Sie haben aber viele Arten Gewebe. Sogar Gehirngewebe. Obwohl all dieses Gewebe natürlich ohne Struktur ist. Trotzdem, während sie hier auf dem Teppich sitzt und es betrachtet, stellt sie es sich als ein Kind vor. Schließlich ist es aus ihr herausgekommen. Es ist Fleisch von ihrem Fleisch. Ihr Kind von Gerald, ihr verhindertes Kind, das nicht wachsen durfte. Ihr entstelltes Kind, das sich nun rächt. »Haarball«, sagt sie. »Du bist so häßlich. Nur eine Mutter könnte dich lieben.« Sie verspürt Mitleid mit ihm. Sie hat das Gefühl, etwas verloren zu haben. Tränen rinnen ihr übers Gesicht. Weinen gehört sonst nicht zu den Dingen, die sie tut, nicht für gewöhnlich, nicht in letzter Zeit. Haarball spricht mit ihr, ohne Worte. Er ist nicht reduzierbar, er hat die Struktur der Realität, er ist kein Trugbild. Was er ihr erzählt, ist all das, was sie nie über sich hören wollte. Es ist neues Wissen, dunkel und kostbar und unumgänglich. Es verletzt. Sie schüttelt den Kopf. Was tust du da, sitzt auf dem Fußboden und sprichst mit einem Haarball? Du bist krank, sagte sie sich. Nimm ein Tylenol und leg dich ins Bett. Am nächsten Tag fühlt sie sich ein bißchen besser. Dania vom Layout ruft an und gibt taubenartige mitfühlende Gurrlaute von sich und möchte in der Mittagspause vorbeikommen, um sich ihre Aura anzusehen. Kat sagt ihr, daß sie sich bloß nicht übernehmen soll. Dania wird gereizt 350
und sagt, daß der Verlust ihres Jobs der Preis sei, den Kat für ihr unmoralisches Benehmen in einem früheren Leben bezahlen muß. Kat sagt ihr, daß sie sie damit verschonen soll; auf jeden Fall ist sie schon in diesem Leben unmoralisch genug gewesen, um für die ganze Sache aufzukommen. »Warum bist du so voller Haß?« fragt Dania. Sie sagt es nicht böse, sie scheint aufrichtig erstaunt. »Ich weiß es nicht«, sagt Kat. Es ist eine ehrliche Antwort. Nachdem sie aufgelegt hat, geht sie im Zimmer auf und ab. Innerlich brodelt sie, wie heißes Fett unter dem Grill. Sie muß an Cheryl denken, die geschäftig in ihrem traulichen Heim herumläuft und die Party vorbereitet. Sie zupft an ihrer erstarrten Frisur herum, stellt eine überladene Blumenvase an ihren Platz, ärgert sich über die Lieferanten. Gerald kommt herein, gibt ihr einen flüchtigen Kuß auf die Wange. Eine eheliche Szene. Sein Gewissen ist rein. Die Hexe ist tot, er hat den Fuß auf ihren Körper gesetzt, die Trophäe, er hat seine schmutzige Affäre gehabt, er ist jetzt bereit für den Rest seines Lebens. Kat nimmt ein Taxi zum David Wood Food Shop und kauft zwei Dutzend Schokoladentrüffel. Sie läßt sie sich in eine übergroße Schachtel packen, dann in einen übergroßen Beutel mit dem Firmenschriftzug oben drauf. Dann geht sie nach Hause und nimmt Haarball aus seiner Flasche. Sie läßt die Flüssigkeit im Küchensieb ablaufen und tupft ihn behutsam mit Papierhandtüchern feucht-trocken. Sie besprenkelt ihn mit Kakaopuder, der eine braune breiige Kruste bildet. Er riecht noch immer nach Formaldehyd, daher wickelt sie ihn in Plastikfolie 351
und dann in Stanniolpapier und dann in pinkfarbenes Seidenpapier, das sie mit einer malvenfarbenen Schleife festbindet. Sie legt ihn in die David-Wood-Schachtel und ordnet zerrissenes Seidenpapier darum herum an, in das sie die Trüffel legt. Sie macht die Schachtel zu, verklebt sie mit Klebeband, legt sie in den Beutel, stopft mehrere Lagen rosafarbenes Papier oben drauf. Er ist ihr Geschenk, wertvoll und gefährlich. Er ist ihr Botschafter, aber die Botschaft, die er überbringt, ist seine eigene. Er wird die Wahrheit sagen, allen, die sie wissen wollen. Es ist richtig, daß Gerald ihn bekommt; schließlich ist es auch sein Kind. Sie schreibt die Karte in Druckschrift: Gerald. Tut mir leid, daß ich nicht bei Euch sein kann. Dies ist im Moment die Rage. In Liebe, K. Als der Abend schon fortgeschritten ist und die Party in vollem Gang sein muß, ruft sie erneut ein Taxi. Cheryl wird nicht mißtrauisch sein, wenn etwas in einer so teuren Verpackung eintrifft. Sie wird es in aller Öffentlichkeit öffnen, vor allen anderen. Sie werden bestürzt sein, es wird Fragen geben. Geheimnisse werden ans Tageslicht kommen. Es wird schmerzen. Danach wird alles zu weit gehen. Sie fühlt sich nicht gut; sie hat Herzklopfen, der Raum beginnt wieder zu schwanken. Aber draußen vor dem Fenster schneit es, die weichen, feuchten, windlosen Flocken ihrer Kindheit. Sie zieht den Mantel an und geht, törichterweise, hinaus. Sie will nur bis zur Ecke gehen, aber als sie an der Ecke ist, geht sie weiter. Der Schnee schmilzt auf ihrem Gesicht, als würden sie kleine Finger berühren. 352
Sie hat etwas Skandalöses getan, aber sie fühlt sich nicht schuldig. Sie fühlt sich erleichtert und friedlich und voller Güte, und im Augenblick zeitweilig ohne Namen.
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Detox Anisette und Victoria sind beschwipst. Zu dritt schwingen wir in meiner Küche gehässige Reden und trinken Margaritas, versuchen unsere Ex-Lieben zu vergessen und lackieren uns dabei die Fußnägel. Dann steht plötzlich Warren in der Auffahrt. »Mensch, Eden, der sieht aus wie jemand, der kein Zuhause hat«, raunt Victoria mir zu. »Er hat sich einen Bart stehen lassen«, sage ich. »Ist aber ziemlich dürftig geraten.« Warren starrt zum Haus herüber, hat sich breitbeinig in die Auffahrt gepflanzt. Er starrt solange, bis ich schließlich hinausgehe. Mit einer fahrigen Handbewegung bedeutet er mir: »Diese Rosensträucher gehören mir.« Meine Gedanken überschlagen sich. Ich versuche mich angestrengt zu erinnern, ob ich die Rosen gepflanzt habe, bevor oder nachdem er ausgezogen ist. Zwei Monate ist das jetzt her. »Ich habe die Löcher dafür gegraben«, sagt er. Einen Augenblick lang überlege ich, ob das stimmt. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern. Er läuft an mir vorbei ins Haus. Verschwommene Antworten schießen mir durch den Kopf. Anisette und Victoria wachsen im Kerzenschein zusammen, halten ihre Margaritagläser am Stiel umklammert. 354
Warren schnappt sich aus dem Abstellraum die Schaufel. »Nein, ich habe die Löcher selbst gegraben«, sage ich jetzt, wo ich mich wieder daran erinnere. Ich folge ihm durch den Korridor. »Ich nehme die verdammten Rosensträucher mit.« Er dreht sich um. Ich fange seinen Blick auf - durchdringend, die Augen blutrot unterlaufen. Hinter mir kichert Anisette. Sie ist betrunken. »Du wohnst nicht mehr hier«, sagt Victoria. Sie hebt den Arm, um Warren den Durchgang zu versperren. Er stürmt an ihr vorbei. Die Windschutztür knallt gegen die Wand. Ich muß auch betrunken sein, kommt es mir in den Sinn. Ich starre auf meine halblackierten Fußnägel hinunter. Einen Augenblick lang versuche ich zu bestimmen, ob der Lack blutrot oder burgunderfarben ist. Und dann versuche ich, eine Entscheidung zu treffen in der Frage, ob ich Warren die Rosenbüsche ausgraben lasse oder nicht. Die Wörter schwirren in meinem Kopf herum. »Ruf Linaus«, sagt Victoria schließlich. Sie hält mir das Telefon unter die Nase. Als Linaus kommt, zerrt Warren mit bloßen Händen an dem roten Rosenbusch herum. Die Wurzeln sind schon halb herausgerissen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie Linaus ihn dazu gebracht hat, damit aufzuhören. Alles, was ich noch weiß, ist, daß Linaus zu ihm sagte: »Du blutest ja, merkst du denn nicht, daß du blutest?« Linaus’ Leben war damals gerade am Zusammenbrechen. 355
Jill und er hatten sich nach zwölf Jahren Hin und Her getrennt. Keiner von beiden hatte jemals angenommen, daß ihre Beziehung halten würde; aber sie haßten sich dafür, daß sie keinen Schlußstrich ziehen konnten. Für Linaus wurde es mit der Zeit ganz schön ungemütlich zu Hause. Einmal brachte Jill einen Lover mit und besorgte es ihm gerade mit dem Mund, als Linaus zur Türe hereinkam. An diesem Abend kam er zu mir herüber, und wir machten Pesto aus dem Basilikum in meinem Garten, zerpflückten die Blätter und zerstampften Knoblauchzehen mit dem stumpfen Ende eines Küchenmessers. »erapie«, sagte er und hämmerte auf den Mixer ein. Linaus ißt keine Eier. »Würdest du eine Fehlgeburt essen?« sagt er immer, und dagegen gibt es kein vernünftiges Argument. Seit er bei mir eingezogen ist, kultiviert er Quecken auf dem Küchenfenster. Jeden Morgen schneidet er eine Handvoll davon ab und püriert sie im Mixer. Er hält mir einen Schuß Queckensaft unter die Nase. »Reinigung«, sagt er. Aber ich brauche einen Milchkaffee. Linaus durchläuft einen Entgiftungsprozeß, Detoxifikation, und auf gewisse Weise tue ich das auch. Linaus hat Zigaretten, Koffein und Alkohol aufgegeben. Ich weiß nicht recht, was ich eigentlich aufgegeben habe. Linaus ist eingezogen, weil ich einen Mitbewohner brauchte. Weil Warren sich so verrückt aufführte, hielt ich es für besser, einen Mann im Haus zu haben. Jill geht weg aus den USA, das hat Linaus herausgefun356
den. Sie kehrt zurück nach London. Auch er will jetzt das Land verlassen. »Ich hab’ die Nase voll von Amerika«, sagt er. »Es ist ein Land ohne Hoffnung.« Linaus und ich sind seit Jahren Freunde. Er hatte schon immer einen Hang zum Dramatischen. Vor Jahren wohnten wir zusammen, als ich Michael liebte. Wir drei gaben babylonische Liebesparties mit Champagnerbrunnen und Pestotoasts. Wir hatten eine Klagemauer, an die unsere Gäste Liebesbriefe aus gescheiterten Romanzen heften konnten. Auf diese Weise kriegten wir alles mit. Katharsis, so glaubten wir damals, ist das Heilmittel für ein gebrochenes Herz. Die Leute durften sich so richtig austoben und ausheulen über leidenschaftliche Liebesgeschichten mit unglücklichem Ausgang. Doch jetzt können wir die Wut nicht herbeizaubern, um die befreiende Katharsis auszulösen. Wir sind in Hilflosigkeit erstarrt. »Dieses Haus schlechtes Chi«, sagt Linaus eines Abends, als wir darüber reden, was werden soll. Ich möchte Kalifornien verlassen, will entweder in die Wüste oder in die Berge, aber ich kann mich nicht entscheiden. Vielleicht gehe ich sogar zurück nach Hause, nach North Carolina. Linaus spricht von Burma. Oder Belize. Er will ganz weit weg. »All die Geister sind hier gefangen«, sagt er. »In deinem Haus muß es tote Geister geben.« »Geister von ehemaligen Geliebten?« frage ich, »die immer noch ans Fenster klopfen?« Wir sind vor dem Haus, betrachten den Vollmond und 357
nippen frisch gepreßten Orangensaft. Ich sitze in einem Pfauenthronsessel. Linaus steht und taxiert das Haus. »Ich war mit fünf Männern zusammen, seit ich hier eingezogen bin«, erzähle ich ihm. »Die Affären nicht mitgezählt, allerdings waren das nur zwei.« »Es liegt an der Türe im Korridor«, sagt Linaus und nickt. »Die beiden Flügel erscheinen auf den ersten Blick symmetrisch, aber wenn man genauer hinsieht, merkt man, daß sie unterschiedlich groß sind. In einem Haus mit unsymmetrischen Türen sind die Bewohner über Kreuz, liegen oft im Streit.« »Ich hatte tatsächlich immer das Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmt, die ganzen acht Jahre.« »Ja, meine Liebe, du läßt dich eben immer wieder mit Wasserzeichen ein. Das ist das Problem.« Linaus schwingt sich in einen anderen Pfauenthronsessel und legt mir die Hand auf den Arm. Ich bin ein Feuerzeichen. »Wasser ertränkt Feuer.« Er tippt mit dem Zeigefinger nachdrücklich auf meinen Arm. »Alle meine ersten Männer sind Wasserzeichen.« »Ernste Männer? Oh, bitteschön, gnädige Frau, erzählen Sie uns doch von Ihren unernsten Männern.« Unsere Blicke begegnen sich. Aus seinen tiefbraunen Augen blitzt jener mir so vertraute, arrogante Charme. Er ist Journalist. Er bringt mich zum Reden. Ich entziehe mich seinem Blick, drehe mich zur Wand. »Die Affären waren Luftzeichen.« »Luft läßt Feuer atmen.« »Aber ich weiß genau, daß auch sie geklammert hätten, 358
wenn ich es zugelassen hätte.« »Mein Rat: Geh den Wasserzeichen aus dem Weg.« »Hattest du Affären, als du noch mit Jill zusammen warst?« frage ich. »Oder wünschst du dir das jetzt?« »Nein, Mann, ich war treu.« Er nimmt einen kräftigen Schluck Orangensaft. »Es ist so still«, sagte ich und lehne mich zurück, um die Sterne zu betrachten. Es ist zwei Uhr morgens. »Ich glaube, wir sind die einzigen Menschen, die es noch auf der Welt gibt«, sagt er. Ich sage auf einmal: »Ich glaube, ich kann überhaupt nicht mehr lieben. Ich glaube, ich bin fertig damit. Leer.« Linaus erhebt sich. Er schüttet den Rest Orangensaft in die Bougainvillea. »Im Ernst. Warren hat etwas in mir zum Absterben gebracht.« Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Warren in Rage, nach mir schlagend. Er reißt das Telefon aus der Wand, und es zerbirst in tausend kleine Messing- und Silberteilchen. Seitdem ist meine Stimme abgestellt. Ich bin zum Schweigen gebracht. »Ich meine, fragst du dich nicht auch manchmal, ob man vielleicht nur eine bestimmte Menge an Liebe geben kann, und dann nichts mehr?« Linaus ist auch ein Feuerzeichen. Ich kann nicht schlafen. Der Koffeinentzug hat mich aus der Bahn geworfen, das ist seltsam genug. Und ich habe es satt, wie frisch gemähtes Gras zu schmecken nach diesen Queckencocktails. In der Küche suche ich nach 359
Kamillentee. Im Kräutershop hat man Linaus gesagt, er solle Kamillentee trinken gegen seine Schlaflosigkeit. Ich arbeite an einem neuen Spiegel. Mit dem Entwerfen von Spiegelobjekten verdiene ich meinen Lebensunterhalt, ich verkaufe sie an Galerien. Die Teile, die ich in den Spiegel einarbeiten will - Gegenstände, die man als Abfall bezeichnen würde -, sind auf dem Küchentisch verstreut. Meine letzte Spiegelgruppe hat emotionalen und industriellen Dekonstruktionismus zum ema. Ich habe verschiedene Metallteile auf senfgelb gebeiztes Holz geklebt. Auf dem Rahmen schreibe ich die Botschaft, in wirr durcheinanderstehenden Metallettern. Aber die Botschaft will diesmal nicht kommen. Normalerweise werfe ich die Buchstaben solange durcheinander, bis sie zu Wörtern werden, die ich benutzen kann. Ich weiß vorher nie, was ich sagen will, bis es sich von selbst ergibt. Im Spiegelbild sehe ich älter aus. Den ganzen Tag hat sich mein Blut schwerfällig durch meine Adern geschoben. Ich bin an den Geschwindigkeitsrausch des Koffeins gewöhnt, daran, daß mein Blut in Wellen gegen meine Seele brandet. An diesem Abend bin ich eingehüllt in dichten, flaumigen Nebel, eine stille, faserige Welt. Ich arbeite ungern so. Ich spüre, daß meine Kreativität lahmgelegt ist, seit ich das Koffein aufgegeben habe. Oder seit Warren weg ist. Ich weiß nicht, was von beidem der wirkliche Grund ist. Die auf dem Tisch verstreuten Buchstaben wähle ich nach Formen aus, nach Oberlängen und Unterlängen. Langsam entfalten sich die Wörter. 360
»Trunkener Mond Milchiger Himmel Bitter Ihn nicht sehen.« Wenn ich anders geliebt hätte, vielleicht würde ich dann nicht hier sitzen und Gegenstände, die niemand mehr will, in der Hand halten. Verbittert und mit Schuld beladen. Nach so vielen Fehlschlägen, glaube ich, muß man sich einfach unrein fühlen. Man hat nicht mehr viel, was man jemand noch geben könnte. Linaus läßt mich aufschrecken. Er ist im Vorderzimmer. »Du bist auf«, sage ich. »Der Mond steht im Steinbock. Ich kann nicht schlafen.« Linaus sagt, daß wir alle ruhelos werden, wenn der Mond sich im Steinbock befindet. Der Mond durchläuft alle zweieinhalb Tage eine neue Konstellation. Ich glaube aber, meine Desorientiertheit kommt davon, daß mein Alkohol-Koffein-Kreislauf unterbrochen ist. Linaus wollte sich dieser Reinigung unterziehen. Er spürt, daß er jetzt wieder ins Laufen kommt, und er möchte rein sein von den Rückständen der Vergangenheit. »Wir hatten Gifte in unserer Beziehung«, sagt er über seine Zeit mit Jill. »Einige waren ihre, andere meine. Solange diese Gifte noch in mir sind, gibt es für mich kein Vorwärts.« Als ob man eine schlechte Beziehung wie mit Salzsäure ausbrennen könnte. Linaus spielt mit einem der Buchstaben auf dem Tisch. 361
»Ich glaube, Michael hat dich wirklich geliebt«, sagt er. »Das ist mir gerade aufgegangen.« Am nächsten Morgen macht Linaus keine Queckencocktails. Er sitzt im vorderen Zimmer in seinem weißen Frotteemantel, die Hände gefaltet, die Zeigefinger auf die Lippen gepreßt. Ich glaube, er ist die ganze Nacht aufgewesen und hat die Wolken betrachtet, wie sie am Mond vorübergezogen sind. Er sagt stundenlang kein Wort. Gegen Mittag sage ich ihm, daß ich auf einen Milchkaffee aus dem Haus gehe. Er hält mir nicht einmal einen Vortrag über das Koffein. Als ich mit Michael lebte, hatte unser Haus gutes Chi, Linaus und ich hatten ständig Leute zu Gast, zogen uns jeden Abend zum Essen um. Damals fing ich damit an, Spiegel zu machen. Linaus half mir, die erste Gruppe an eine Galerie zu verkaufen. Er war damals mit einer Frau zusammen, die dort arbeitete. Mein erster Spiegel war für die Klagemauer gedacht. Die Leute sollten in den Spiegel sehen und ihm ihre schmerzvollsten Liebesgeschichten anvertrauen. Ich klebte hölzerne Schlangen auf erdbeerfarben gebeiztes Holz und umwand sie mit bronzenen Weinreben. Ich folgte damals nur meinen Gefühlen, wollte keinen tieferen Sinn damit erreichen. Linaus nennt ihn meinen Garten-Eden-Spiegel - den Sündenfall, wegen der Schlangen und wahrscheinlich wegen meines Namens. »Er hat unglaubliche Kraft«, sagte er damals. Er bewunderte ihn eine Ewigkeit, wie mir schien, 362
und hängte ihn dann wieder zurück an die Wand. »Eden«, sagte er. »Er ist toxisch.« Ich werde ein Unterlassungsurteil gegen Warren erwirken müssen. Eine Nacht, nachdem Linaus eingezogen ist, kommt er und behauptet, er hätte seine Skier hiergelassen, obwohl ich mich genau daran erinnere, sie auf der Ladefläche seines Explorers verstaut zu haben. Er versucht, meine Ausgabe der Sonette von Edna St. Vincent Millay mitzunehmen, aber Linaus marschiert in seinem Bademantel hinaus und schnappt sich die Sonette vom Beifahrersitz. Ich hätte Warren das Buch mitnehmen lassen, weil er sich nicht in der Gewalt hatte. Er tobte, weil die Katzen angeblich seinen Futon zerrissen hätten und sagte mir, sein Anwalt würde mich anrufen. Danach steht Linaus im Korridor und blättert in dem Gedichtband, bis er die richtige Seite findet: Er liest mir ein Sonett vor, ohne aufzublicken, mit dunklen, ernsten Augen. »Wen meine Lippen geküßt haben, und wo und warum, das habe ich vergessen...« Das Sonett singt von den Geistern alter Lieben, die in einer Regennacht ans Fenster klopfen und auf Antwort warten; und es klagt, daß die unschuldige Melodie des Sommers unwiederbringlich verklungen sei. Linaus überblättert die Seite schnell, als er die letzte Zeile vorgelesen hat. »Ich wollte nicht, daß du das verlierst.« Er wirft das Buch auf den Tisch und geht rasch in sein Zimmer. Wir machen einfach so weiter, sehen zu, wie der Mond 363
seine verschiedenen Phasen durchläuft. Wir warten darauf, daß das Gift unsere Körper verläßt, damit wir Kalifornien verlassen können. Linaus könnte eine Reportage von Burma aus machen, das zum ersten Mal seit fünfzig Jahren für Touristen zugänglich ist. Meine Spiegel verkaufen sich gut, aber ich kann trotzdem hingehen, wo ich will. Vielleicht nach Taos. Linaus überlegt, ob er zur Akupunktur gehen soll wegen des Pochens in seinem Schädel. Ich weiß nicht, wo ich hingehen könnte, um meine Gedanken zu entgiften. Ich habe meine Fähigkeit zu flirten verloren. Wenn ich mit einem Mann zum Abendessen ausgehe, kann ich bestimmte Seiten an mir nicht mehr verbergen. Meine üblichen charmanten Geschichten kommen mir abgedroschen und sinnlos vor. Ich habe ein Rendezvous mit Chris, einem Typ aus einer Galerie, die meine Spiegel ankauft. Ich mache den Fehler und biete ihm Kamillentee im Becher von Linaus an. Linaus hat einen eigenen Becher, der immer neben dem Ausgußbecken steht. Niemand sonst darf daraus trinken. Krankheitserreger, sagt er. Chris und ich sitzen im Hof in den Pfauenthronsesseln und trinken unseren Tee. Linaus fährt mit dem Wagen vor, und als ich die beiden einander vorstelle, starrt er auf den Becher, den Chris in der Hand hält. Er ist beleidigt. Später höre ich ihn in der Küche Abendessen machen. Bevor er zu Bett geht, bietet er uns Lachs an, aber wir übergehen seine Einladung. Am nächsten Tag, als Chris weg ist, esse ich den Lachs zu Mittag. Linaus schnauzt mich an, weil ich ihn nicht vorher gefragt habe. 364
Linaus hätte gerne ein Rendezvous, aber er war schon mit allen meinen Freundinnen aus. Ich schlage ihm vor, sich mit Anisette zu verabreden, einfach zum Abendessen. Aber er erwidert darauf nur, sie habe einen Schnurrbart. Der Mond steht im Wassermann, sagt Linaus später und erklärt damit seine Launenhaftigkeit. »Idealisierte Verhältnisse führen zu emotionaler Enttäuschung und zu einer Unterbrechung im natürlichen Fluß des Lebens.« Linaus hat sich dem Gedanken der Reinigung fest verschrieben. Ich habe starke Kopfschmerzen. Ich sage ihm, ich fühle mich aus der Bahn geworfen; ich sage ihm, daß meine Kreativität auf dem Tiefstand angelangt ist. Aber er erwidert nur, das sei Teil des Prozesses und werde vorübergehen. Die körperliche Heilung kommt immer zuerst, sagt er. Eines Tages komme ich einfach nicht aus dem Bett, und alles in mir fühlt sich wieder genauso an, wie kurz nachdem Warren mich verlassen hat. Ich dachte, ich sei längst darüber hinweg, und ich frage Linaus wie das kommt. Er sagt, damit daß ich schon bald mit Chris geschlafen habe, hätte ich meinen Schmerz nur übertüncht. Linaus sagt immer, was er denkt. Er hat, solange ich ihn kenne, noch nie Umschweife gemacht. »Glaubst du nicht, es wäre an der Zeit, das verdammte Telefon zu reparieren?« fragt Linaus mich. Als ich aus meinem Zimmer komme, sind Silberplättchen in rote und schwarze Drähte verheddert, und Messingteilchen liegen über den Fußboden verstreut. Er hält den Hörer in einer Faust umklammert. 365
»Du solltest lieber den Sockel halten«, sage ich. »Nein, meine Liebe, du mußt jetzt die Teile hier hineinschrauben, damit nicht alles wieder auseinanderfällt.« Wir haben kein Freizeichen. Ich knie auf dem Boden und sehe mir die verstreuten Einzelteile an. Schweigend beginne ich mit meiner Arbeit, ich füge Teilchen an Teilchen, entwirre Drähte. Der Mond steht jetzt im Zeichen der Fische, dort, wo »Energie sich aus der Oberfläche des Lebens zurückzieht und im Inneren überwintert, um sich für einen neuen Tag zu sammeln«. Das jedenfalls sagt Linaus. Eines Nachts träume ich, daß Warren im Haus meiner Nachbarin einzieht. Daß er es ist, realisiere ich erst, als er seine Bilder ins Haus schafft. Unsere Häuser liegen sich spiegelbildlich gegenüber. Von meinem Eßzimmer aus sind es nur ein paar Meter über den Hof bis zu seinem Kaffeebecher auf dem Tisch meiner Nachbarin. Warren fängt meinen Blick auf und stellt das Bild, das er unter dem Arm trägt, ab. Er kommt langsam über den Hof und begrüßt mich. Er ist geschniegelt und gebügelt. »Ich ziehe zu Megan«, sagt er. »Wir werden heiraten.« Megan ist meine Nachbarin. Ich möchte am liebsten wegrennen. Meine Zunge liegt mir wie ein Klumpen Blei im Mund. Ich bin nicht fähig, mich zu bewegen. Warren kann in meine Fenster sehen. Er kann in meine Seele sehen. Er kann sie töten, wenn er will. Aber ich schüttle ihm mit beiden Händen die Hand. Ich halte sie an mein Herz. 366
»Ich möchte, daß wir Freunde sind«, sage ich. Ich rufe von der Galerie aus an und frage Linaus, ob er eine Zeitung oder Bier oder sonst irgend etwas braucht. Er hat sich die Flugpreise zum Pazifik angeschaut. Er trinkt wieder Kaffee, aber bei allem anderen ist er standhaft. Ich lobe ihn deswegen. »Nein«, sagt er. »Ich habe eine Zeitung. Und ich trinke doch keinen Kaffee mehr. Das hast du wohl vergessen.« »Gut«, sage ich. Als ich nach Hause komme, macht er gerade eine Kanne Kaffee, denn er arbeitet an einer Projekt-Outline für seinen Burma-Auftrag. Dann nimmt er seine Jacke und geht ein Bier trinken. »Bist du in Chris verliebt?« fragt Linaus mich. Ich kenne Chris jetzt seit einem Monat. Es ist, als hätte ich keine Vergangenheit. Chris stellt keine Fragen. Ich habe ihm keine meiner alten Geschichten erzählt, keines der signifikanten Ereignisse in meinem Leben geschildert. Wir pusten nur den Staub vom Spiegelglas unserer Leben und tun so, als könnten wir dann nach innen sehen. Aber alles ist nur Spiegelung. Ich kann ihn in Wirklichkeit gar nicht sehen. Ich sehe nur mein eigenes, gequältes Selbst. »Ich bin nicht in ihn verliebt«, sage ich. »Er ist nur ein Mann, mit dem ich zum Abendessen ausgehe.« »Aber er bezahlt.« »Ja, manchmal.« »Dankbarkeit ist der erste Schritt.« Ich runzle die Stirn. »Der erste Schritt in Richtung Liebe«, sagt Linaus und 367
geht. Linaus und ich machen einen Tagesausflug zur Halbmondbucht. Ich verlasse Kalifornien Ende des Monats. Es sieht so aus, als würde ich noch vor Linaus gehen, dann kann er im Haus bleiben. Ich hatte immer gedacht, er würde zuerst gehen. Weil ich nie daran glaubte, daß ich es tatsächlich tun würde. Ich tue häufig nicht, was ich sage. Linaus und ich kommen seit der Zeit hierher, als ich noch mit Michael zusammen war und es ganz danach aussah, als wären wir glücklich. Wir liegen im grauen Sand und beobachten die schaumige Flut. Es ist einsam hier, ein dunstiger Tag, obwohl es überall sonst an der Küste sonnig gewesen ist. Wir trinken Mokka aus einer ermosflasche. »Die Berge«, sage ich. »Taos.« Wir reden nebeneinander her, jeder grübelt ziellos vor sich hin. Wir diskutieren unsere Pläne nicht aus - so wie wir sonst unsere Ideen ausspinnen, ausgesprochen oder unausgesprochen, aber immer wahrgenommen und immer verstanden. »Nein«, sagt er endlich. »Also in den Süden?« frage ich. »Heimat tröstet.« »Ich kann nicht zurückgehen«, sagt er. Wohin ich eigentlich will? Im Augenblick weiß ich nur, daß es Zeit ist zu gehen. Die Kopfschmerzen haben aufgehört. »Mexico. Ein neues Land.« Vorwärts oder wieder zurück, ich kann mich nicht 368
entscheiden. Ich bin eingehüllt in Nebel, kann nicht in die Zukunft sehen. »Nein, wenn du nach Lateinamerika gehst, muß es Belize sein.« Mir fällt auf, daß er noch immer zittrig ist ohne Zigarette. Mokka hilft da wenig. »Belize, das ist es, glaube ich«, sagt er wieder. Dunst schwebt über dem Sand. Die Wellen rollen erhaben vor uns aus. Mein Haar fühlt sich feucht an. »Ich spüre auf einmal den Wunsch in mir, daß du mit mir kommst«, sagt er. Wir liegen schon den halben Tag hier und haben bisher kaum gesprochen. »Ich weiß nicht«, sage ich schließlich. »Natürlich nicht. Mußt du auch nicht. Das ist das Ungewisse. Ich weiß es auch nicht.« Nach einer Weile mache ich einen Strandspaziergang. Ich sammle Muscheln, die ich auf Rahmen kleben und zu Spiegeln verarbeiten werde. Ich laufe sehr weit. Als es kühl wird, packen wir sofort die Sachen ins Auto und fahren zurück in die Stadt. Ich schlage vor, noch bei unserer Lieblingsgalerie haltzumachen. Wir sehen die Kerzenhalter aus Zinn im gleichen Moment und überlegen, ob wir sie nicht für unser letztes gemeinsamen Abendessen kaufen sollten. Linaus schlendert in den hinteren Teil der Ausstellung. »Eden, komm nach hinten«, sagt er. An der hinteren Wand hängt mein Schlangenspiegel. Mein Schlangenspiegel von vor zwölf Jahren, als Linaus und ich mit Michael in dem Haus mit dem guten Chi leb369
ten. Ich verkaufte den Spiegel damals für 150 Dollar. »Sie wollen 750 Dollar dafür haben«, sagt er. Ich streiche über das Holz. Er ist weicher geworden, älter. Die Bronze ist dunkler, intensiver in der Farbe. Er ist kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte. »Du mußt ihn einfach haben«, sagt Linaus. »Ein Spiegel wird gutes Chi in deinen Korridor bringen.« »Ja, aber ich ziehe aus diesem Haus aus.« Linaus hört mir nicht zu. Er nimmt den Spiegel von der Wand. Er bewundert ihn, wie er ihn in jener Nacht bewundert hat, als er ihn zum erstenmal sah. Schon damals war mir klar, daß er etwas darin entdeckt hatte, das ich nicht sehen konnte. »Nein, ich habe ihn für jemand anders gemacht«, sage ich. »Deswegen habe ich ihn verkauft.« »Nein, meine Liebe, du hast ihn verkauft, weil du mußtest. Du mußtest ihn verkaufen, um deine Künstlerlaufbahn ins Rollen zu bringen.« Ich lächle gequält. »Linaus, du denkst immer so praktisch.« »Das erste Werk einer Künstlerin ist der reinste, purste Ausdruck ihrer Seele«, sagt er. »Es gehört zu dir.« »Nein, das ist zuviel.« Ich gehe ein paar Schritte weg von ihm und wandere dann wieder nach vorne. »Ich kaufe ihn für dich.« Als der Verkäufer meinen Spiegel in braunes Packpapier einwickelt, beobachte ich Linaus staunend. Er lächelt in sich hinein; ich registriere jede Linie seiner scharf geschnittenen Züge, seines hageren Gesichts. Er setzt sich die Nickelbrille zurecht und überkreuzt die Arme vor der 370
Brust. In völliger Selbstzufriedenheit. Auf dem Heimweg halten wir auf dem Blumenmarkt. Wir schlendern Arm in Arm an den Reihen zinnoberroter Gladiolen und purpurner Iris vorbei. Wir kaufen frischen Dill und Basilikum für das Abendessen. Ich kaufe einen Strauß rote Rosen, die ich in weißes Seidenpapier einschlagen lasse. Er ist überrascht, als ich sie ihm gebe. »Dankbarkeit«, sage ich.
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Die Autorinnen : 1942 geboren; Nichte des beim Militärputsch 1973 getöteten chilenischen Präsidenten Salvador Allende; arbeitete lange als Journalistin, verließ Chile nach dem Militärputsch 1973 und lebt seit 1988 in den USA. Sie gilt als eine der erfolgreichsten Erzählerinnen der Welt. : 1939 in Ottawa geboren; die prominenteste Autorin der kanadischen Gegenwartsliteratur; sie schreibt neben Romanen, Erzählungen und Prosastücken, Gedichte, Essays und Kritiken. : 1940-1992; wurde in Eastbourne/ England geboren; arbeitete nach dem Studium als Journalistin, reiste dann um die Welt, lebte zwei Jahre in Japan, lehrte an verschiedenen Universitäten in den USA und in Australien und lebte zumeist in London. Sie schrieb neun Romane und zahlreiche Kurzgeschichten. : lebt in Newcastle on Tyne/England; sie hat mehrere Romane und zahlreiche Erzählungen veröffentlicht. : 1950 in Kärnten geboren; studierte Anglistik und Geschichte, war 1975-1991 Lehrbeauftragte für Anglistik an der Universität Graz und ist seit 1992 freie Schriftstellerin und Übersetzerin.
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: geboren in Lexington/Kentucky; nach Journalistik-Studium Zusatzausbildung in kreativem Schreiben; sie arbeitet heute als Zeitungsredakteurin in Albuquerque/New Mexico; ›Detox‹ ist ihre erste veröffentlichte Kurzgeschichte. : 1956 in Ayrshire/Schottland geboren; sie arbeitete als Sozialarbeiterin, Lehrerin und Dramaturgin; sie lebt heute in Glasgow. : 1962 geboren in Trenton/New Jersey; sie studierte Englisch an der Dension University/Ohio und an der University of Utah; sie lehrt heute an der Universität von Ohio und schreibt für verschiedene Zeitschriften. : 1947 in Christchurch/Neuseeland geboren; sie schlug sich mit verschiedenen Jobs durch, bis sie sich an der Westküste in der Nähe des Fischerorts Okarito einen Turm baute, wo sie heute lebt, schreibt und malt. : geboren 1964; zunächst im Schuldienst beschäftigt, 1988-1992 Journalistin bei Tageszeitungen; nach vier Griechenlandreisen 1992 sechsmonatiger Aufenthalt auf Kreta; bisher zwei Romane: Seit die Götter ratlos sind und Ankunft der Pandora; sie lebt in Berlin. : 1942 in Manhattan/New York geboren; sie studierte an der Columbia University Englische Literatur; ihr erster Roman Angst vorm Fliegen wurde auf Anhieb 373
ein Erfolg; sie lebt heute als freie Schriftstellerin in New York. : 1958 geboren bei Dortmund; studierte Politologie, Germanistik und eaterwissenschaft in München; sie schreibt für verschiedene Zeitschriften und Magazine; 1992 veröffentlichte sie ihren ersten Roman Pumps und Pampers. : in Trier geboren; Studium der Germanistik, eaterwissenschaft und Kunstgeschichte; sie veröffentlichte Gedichte, erzählerische Prosa, Hörspiele, eaterstücke, Essays; sie lebt in Frankfurt am Main. : 1953 geboren; studierte und promovierte in Innsbruck; sie lebt in Bregenz. : 1945 geboren; studierte Psychologie, Kunstpädagogik und Grafik; sie arbeitet seit 1975 als freie Cartoonistin und Autorin. : 1938 in Lockport/New York geboren; sie studierte Philosophie und Anglistik und unterrichtet heute Literatur an der Princeton University/New Jersey; sie gilt als eine der erfolgreichsten amerikanischen Erzählerinnen der Gegenwart. : geboren 1951 in Turin; die italienische Publizistin und Schriftstellerin wurde bekannt mit dem erotischen Roman Schweine mit Flügeln. 374
: geboren 1944 in Eatonton/Georgia; sie ist heute eine der bekanntesten afro-amerikanischen Schriftstellerinnen. Für ihren ersten Roman Die Farbe Lila (verfilmt von Steven Spielberg) erhielt sie 1983 den Pulitzerpreis; sie lebt in San Francisco. : 1933 geboren im englischen Alvechurch/ Worcestershire, aufgewachsen in Neuseeland; nach ihrer Rückkehr nach England Werbetexterin und Studium der Psychologie und der Wirtschaftswissenschaften; sie gilt als eine der bedeutendsten englischen Erzählerinnen.
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