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Deutsch von Otto Wilck
ZWEITAUSENDEINS 3
1. Auflage, Oktober 1988. Titel der amerikanischen Originalausgabe: ...
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Deutsch von Otto Wilck
ZWEITAUSENDEINS 3
1. Auflage, Oktober 1988. Titel der amerikanischen Originalausgabe: A Walk on the Wild Side. Erschienen bei Farrar, Straus and Cudahy, New York 1956. Copyright © 1956 by Nelson Algren. Für die deutsche Übersetzung: Copyright © 1988 by Zweitausendeins, Postfach, D-6000 Frankfurt am Main 61. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Textteile. Der gewerbliche Weiterverkauf von Platten, Büchern oder anderen Sachen aus der Zweitausendeins-Produktion bedarf in jedem Fall der schriftlichen Genehmigung durch die Geschäftsleitung vom Zweitausendeins Versand in Frankfurt, Herstellung Dieter Kohler & Bernd Leberfinger, Nördlingen. Satz und Druck: Wagner GmbH, Nördlingen. Gesetzt aus der Bodoni-Antiqua. Einband: G. Lachenmaier, Reutlingen. Printed in Germany. Dieses Buch gibt es nur bei Zweitausendeins im Versand (Postfach, D-6000 Frankfurt am Main 61) oder in den Zweitausendeins-Läden in Berlin, Essen, Frankfurt, Freiburg, Hamburg, Köln, München, Saarbrücken. In der Schweiz über buch 2000, Postfach 89, CH-8910 Affoltern a. A. In Österreich über den VKA-Buchladen und Versand, Barnabitengasse 14, Postfach 76, A-1061 Wien. By
n maoi 2003
2003/II-1.0
NICHT ZUM VERKAUF BESTIMMT.
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Für Elizabeth Ingersoll
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»Ein armer, einsamer Mann, der seine Frau verloren hat«, sagten die Verständnisvolleren von Fitzbrian Linkhorn. »Und bei dem sich dadurch ein paar Schrauben gelockert haben.« »Ein oller Querkopf und nichts weiter«, meinten die mit weniger Verständnis. »Wenn man den in den Fluß wirft, treibt er glatt stromauf.« Was ihn so erbitterte, vermochte Fitz nicht zu benennen. Doch hatte er die Empfindung, jeden Morgen durch Lug geweckt und jeden Abend durch Trug eingeschläfert zu werden. Er kam sich betrogen vor – ja, das war's: betrogen. Um was und von wem, ließ sich nicht sagen. Sondern nur, daß alles dahin war. Losgeworden schon von den Vorfahren in jenem kälteren Lande. Und ihren Nachkommen neu verlorengegangen. Immer wieder suchte er es zu fassen zu kriegen, dieses Gefühl, das ihm so zusetzte, mal wie ein innerer Drang, mal wie eine nicht zu lokalisierende Wunde. Es mußte sich doch ans Licht bringen lassen, denn es war ja da, so spürbar wie das Blut in seinen Adern. Hinter ihm stand wer und trieb ihn unablässig zum Kampf gegen sich selber, bis sich all seine Kraft verausgabte. Schwächere Menschen, voll von weltlichen Torheiten, taten sich im Leben leichter als Linkhorn. Er sah es mit Augen, in denen Neid glomm.
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»Ich mach mich nich zur Hure – vor niemand nich!« rechtfertigte er sich, obwohl ihn dessen gar keiner beschuldigte. Einsfünfundachtzig groß, mit schlaksigen Bewegungen und schlaffen Muskeln, war er von jenem gänsehalsigen Genus, zu dem Calhoun und Jackson gehört hatten. Dem Schlag von Jesse James und Jeff Davis. Und auch Lincoln. Wettergegerbte Einsiedler der Wälder, die nach deren Abholzung nun so grundbesitzlos wie eh und je auf sandigem Ödland zurückgeblieben oder in die Barackenviertel von Kleinstädten abgewandert waren. Von den Weißen wurden sie »weißes Gesocks« genannt und von den Negern »weiße Schlucker«. Seit dem Auftauchen des ersten Felsens aus den wogenden Wassern hatte es in Fitzbrians Zweig des Linkhorn-Clans nie einen Prinzen gegeben. In jenem kälteren Lande waren sie von Königen, deren Namen niemand mehr kennt, um ihre Ernten geprellt worden. Jetzt waren die Äcker dort Seesand. Und der alten Könige Gebeine rollten in Meeresgrotten umher. Doch hatte jeder dieser Potentaten vor seinem Ableben Sorge getragen, daß das Mandat zur Ausbeutung aller Linkhorns in verläßliche Hände überging. Devise: Haltet die Unruhstifter kurz! Herzöge und Barone, Gutsherren und städtische Kaufleute, Groß- und Kleingrundbesitzer, Kirche und Staat, in geschlossener Front arbeiteten sie an diesem guten Werk mit. Als schließlich ein Linkhorn aus seiner schottischen Knechtschaft in die verlockende Neue Welt entfloh, lief ihm die Warnung voraus: Vorsicht vor einem wilden Burschen aus nicht eben bestem Clan; ist zu jeder Schandtat bereit und stets bewaffnet; zieht
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dem Arbeiten das Raufen, dem Raufen das Saufen und beidem das Jagdmachen auf Weiberröcke vor; treibt das bisweilen alles gleichzeitig. Der erste freie Linkhorn betrat das Gestade des Old Dominion und wurde schon bald an die Kette des Sharecropping-Systems gelegt: Farmpacht gegen Ertragshälfte. Fron also auch hier – gerecht schien es wohl nirgends zuzugehen. In den tabakduftenden Sommern dort im alten Virginia übertrieben es die Linkhorns nicht mit dem Bestellen der Felder, und entsprechend gering war der Anteil, den sie für sich behalten durften. Solange ein ganzer Kontinent voll jagdbarem Wild vor ihnen lag, ackerten sie sich nie lange für fremder Leute Ernte ab. Obwohl alles andere als genügsam und bescheiden, gelüstete es sie weder nach Sklaven noch nach Landbesitz. Wenn man einen, der seine tausend Acre Grund hatte, auf der Fiedel übertreffen konnte, dann war man der bessere Mann, mochte man auch bloß eine Hütte und einen Krug Whiskey sein eigen nennen. Ihr Dichter war Robert Burns. Kleinfarmer ohne Sklaven – doch sie sahen, wie die Großfarmer und Plantagenbesitzer, sobald sie sich ein paar Neger angeschafft hatten, auf ihren schönen weißen Veranden die Beine hochnahmen und sich um nichts mehr zu scheren brauchten. Und so lehnten die Linkhorns den schmalen Rücken gegen ihre eigenen Bretterbuden, stellten den Krug griffbereit hin und ließen ebenfalls fünf grade sein. Sie hielten es weiterhin mit Burns. Bei ihrer steten Unlust zu körperlichen Arbeiten konnte es nicht ausbleiben, daß sie von den Plantagen immer weiter verdrängt wurden, schließlich bis tief in die südlichen Ozark Mountains hinein. Wo sie sich dann
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so lange im Abseits hielten – »Solln uns doch alle gestohlen bleiben!« –, bis ihnen das zur Lebensweise wurde. »Was geht uns der Krieg von Mr. Lincoln an? Wir wüßten nicht, daß wir mit dem verwandt wären.« Später kamen sie oft genug in die Stadt, um sehen zu können, daß die Baumwollspinnereien nur eine Fortsetzung der Plantagen darstellten: Die herkömmlichen Herrenrechte waren eines wie das andere auf die Fabriken übergegangen. Zwischen einem Eichenwinter und dem nächsten Nachtschwalbenfrühling zogen die Linkhorns weiter bis zu den Cookson Hills. Rund vier Jahrzehnte nach Appomattox erschien ein Linkhorn im Orangen-Boom des Rio Grande Valley, auf den Lippen noch immer: »Hallo, ihr alten Halunken! Wer hat hier was zu trinken?« Hätte in jener Woche ein Weltkongreß des weißen Gesocks stattgefunden, wäre Fitzbrian zum Vorsitzenden gewählt worden. Baumwolle und Obst ließen sich gut an, ein Jahr lang sprudelte Öl und versiegte dann. Solange es noch floß, arbeitete Fitz auf einer Bohrstelle, verdiente gutes Geld und fand sein Mädchen. Ein Mädchen, das sich für stark genug hielt. Baumwolle und Obst gediehen nicht mehr – das Öl hatte den Boden verdorben. Der gab bloß noch eine einzige Frucht her, und das war Staub. Fünfzehn Jahre davon schafften das Mädchen. Es konnte und wollte nicht mehr. Die ersten Jahre waren Orangen und Liebe gewesen, bis dann der Staub die Liebe zusammen mit den Orangen den Golf hinuntergeweht hatte. Und Fitz so arm wie eh und je und nun auch noch ohne den letzten Liebesrest zurückließ. Als die dreißiger Jahre anbrachen, zog er mit einer Leihpumpe durch die kleine Stadt und leerte Latrinen.
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Wurde er in seinen triefenden Hüftstiefeln mit »Halleluja, großer Prediger!« begrüßt, empfand er das nicht als Spott. Manche im Ort entboten dem Witwer überhaupt keinen Gruß. Er war ja auch zu unberechenbar. Die Frotzelei des einen nahm er uneingeschnappt hin, während er auf eines anderen bloßes »Schönen guten Tag, Nachbar« gereizt reagierte. In einer Stadt, wo fast alle tanzten, fluchten und zockten, blieb Fitz als einziges Vergnügen, sich darüber aufzuregen. Er war gegen moderne Tänze und moderne Kleidung, gegen Fluchen, gegen Karten, Würfel und Zigaretten und gegen Sünde. Die lange Dürre von 1930, predigte er, sei Gottes Weise, solchem Treiben ein Ende zu setzen. Als sie jedoch anhielt und noch immer kein Tropfen Regen fiel, drehte er den Spieß um und lastete sie dem Papst an. Gegen Hurerei sei er ebenfalls, hieß es. Aber angeblich war er ja auch gegen Alkohol. Samstags abends zog er einen uralten schwarzen Bratenrock über seine Flicken, einen mit einer Tasche hinten im Schlitz, in der sich die kleine braune Flasche unterbringen ließ, die er seinen »Teufelstöter« nannte. Säuselte er sich dann einen an, während er auf der Vortreppe des Rathauses gegen die katholische Kirche wetterte, bot das ein Spektakel, das regelmäßig Spötter wie wirklich Gläubige anlockte, die einen so barfuß wie die anderen. Denn wenn auch ein Saufaus und Habenichts, in der Religion, da kannte Fitz sich aus und wühlte darin herum wie ein Schwein in einem Drankfaß. Manchmal blieb auch ein Mädchen für einen Augenblick zwischen den Männern stehen und gab Interesse an Gottes Wort vor. Doch da es hier mehr nach Hunger
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als nach Liebe roch, ging das Mädchen bald wieder weiter und wünschte sich, in Dallas zu sein. Für viele in Arroyo war der Samstag der Tag des Herrn; für Fitz aber begann jeden Abend der Woche die Nacht des Herrn. »›Und da es ihnen an Wein gebrach‹«, wehrte er einen Spötter ab, der gefragt hatte, wovon die Ausbuchtung hinten an seiner Hüfte herrühre, »›sprach die Mutter Jesu zu ihm: ›So gib ihnen denn welchen.‹ Satan hat Maria nicht geholt wegen diesem Wein, und so wird er wohl auch mich nicht holen wegen 'nem Fläschchen Fusel.« »Wofür wird man denn in die Hölle geholt?« begehrte einer von den Gläubigen sogleich zu wissen. »In die wird man nicht geholt, da wird man drin geboren«, antwortete Fitz ihm. »Jehova hat einen Zaun um die Hölle gesetzt, ganz drum rum. So daß kein Sünder nicht raus kann! Drunter durchgraben ist unmöglich! Viel zu tief! Durchzwängen geht auch nicht. Drüberklettern schon gar nicht. Der Zaun steht nämlich unter Strom!« »Wie bist du dann rausgekommen?« fragte ein Spötter mit schwacher Stimme. Er saß rittlings auf dem Rohr der Stadthaubitze, Gesicht und Gestalt so umdüstert wie bei einem Kanonier, der nicht nur die Schlacht verloren hat, sondern auch den Glauben an die Sache. »Durch Klimmen«, erklärte Fitz eifrig. »An einem Seil, von einem Strang zum andern, immer höher hoch. Erst den untersten rauf, den der LIEBE. Als nächstes den der BARMHERZIGKEIT. Dann den dritten, die GEDULD …« »Sagtest du nicht, der Zaun steht unter Strom?« unterbrach ihn der Kanonier.
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Doch Fitz war so auf sein Hochhangeln konzentriert, daß er es gar nicht hörte und fortfuhr: »Und dann bin ich rüber auf den allerhöchsten, den Strang S EINES TEUREN BLUTES! Brüder und Schwestern, erwachet! Und erklimmet auch ihr den Strang der L IEBE! Erklimmet den Strang der BARMHERZIGKEIT! Erklimmet den Strang der GEDULD und schicket euch für den letzten – den des BLUTES!« »So hab ich auch mal gedacht«, bemerkte der Kanonier und hustete Schleim aus. Doch Fitz beachtete ihn nicht. »Ich weiß«, redete er weiter, »manche von euch sind von weither gekommen in der Hoffnung, daß ich sie fürs Himmelreich errette. Eben das hatte ich auch vor, aber wenn ich euch jetzt so vor mir seh, werd ich andern Sinnes. Leider ist es nämlich so, daß Jehova kein Ungeziefer in den Gassen von lauterm Golde haben will. Gegen Sünder hat er nichts – Ratten aber sind ihm ein Graus. Daß ich ihm welche anbringe, da sei mir der Teufel vor!« Und ganz offen nahm er einen Schluck aus seiner Taschenflasche. Zweifelnde wie Hoffende quittierten es mit Beifallsrufen – der Alte kam in Fahrt. »Jawoll, gib's ihnen, Prediger!« – »Öl dir nur schön die Kehle!« – »Mach dich nich zur Hure – vor niemand nich!« Fitz leckte sich schmatzend die Lippen, wickelte die Flasche wieder in sein schmutziges Schneuztuch und steckte sie zurück in die verborgene Tasche. »Erzähl uns nun von der Versuchung, Vater«, rief der Mann auf der Kanone, um Fitz zu animieren, gegen den Papst vom Leder zu ziehen. »Über die Versuchung will ich grad dir mal was sagen, Byron Linkhorn«, legte der Alte prompt los. »Unter uns, die wir heute abend versammelt sind, befinden
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sich sogenannte Christen, die bei den achtundzwanziger Wahlen für den Papst gestimmt haben. Glaubst du, Jehova weiß sich nicht zwei Jahre zurückzuerinnern?« Fitz konnte jemandem zwar verzeihen, daß er Marihuana rauchte, nicht aber daß er für Al Smith gewesen war. Jene anderen, die 1928 ihre Stimme ebenfalls dem katholischen Präsidentschaftskandidaten gegeben hatten, standen stumm da und ließen die ganze Schwere ihrer Schuld Byron tragen. Er, besagte dieses Schweigen, habe sie alle um die Aussicht aufs Neue Jerusalem gebracht. Nun könne keiner von ihnen dort hin. »Erzähl uns, wie wenigstens wir anderen zu retten sind, Prediger«, bat ein Heuchler. »Oder wie du damals in die Scheißgrube gefallen bist.« Byron ließ nicht von ihm ab; so wie Fitz immer gegen den Papst giftete, so giftete er immer gegen Fitz. »Die Wege Jehovas sind unerforschlich. Ja, das sind sie, weiß Gott.« Der Alte hatte sein Thema gefunden. »Zum Beispiel, daß er das erbärmliche Geschöpf dort auf der Kanone mir zum Sohne gegeben hat.« »Nu kommt, weswegen ich hier bin«, sagte einer und krallte vorfreudig die nackten Zehen in den Sand. »Jetzt dreht dieser versoffene Seelenretter endlich auf.« »Ein Geschöpf, dem kein langes Weilen in dieser Welt mehr ist«, machte Fitz allen Hoffnung. »Der Herr gibt's, und der Herr nimmt's – und je eher er dieses spezielle Stinktier wegholt, desto zuträglicher wird die Luft hier für die Menschen. Seine Lunge ist zerfressen, sein Kopf ausgehöhlt, sein Herz so welk wie ein Blatt im Herbst. Sein mürber Lebensfaden kann jederzeit reißen. Daß ihm das Ende seiner Leiden bevorsteht, darum beneide ich ihn!«
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Der Mann auf der Haubitze setzte zu einer Erwiderung an, wurde aber von einem so heftigen Hustenanfall befallen, daß sich aller Gesichter ihm zudrehten. Der ist schon so gut wie tot, sagten diese kalten Blicke. Eine Träne aber hatte keiner übrig. Byron drückte sich ein Taschentuch an die Lippen und stieg vorsichtig von dem Rohr hinunter. Sein Vater hub mit brüchiger Stimme ein geistliches Lied an, das alle kannten und in das dann ein Dutzend Leute ebenso brüchig mit einfielen. Ohne sich durch die vielen falschen Töne stören zu lassen, schwoll der Chor an zu dem apodiktischen Refrain: O Tod, wie gar hold ist dein Bild! Nichts kommet hernieden dir gleich. Von allen im Erdengefild Nur einzig der Tote ist reich. Und verfolgte den alle paar Schritte Blut hustenden Byron die ganze Straße lang. Sie waren gekommen, um zu erleben, wie einer fertiggemacht wurde. Daß das jede Woche derselbe Tor war, der zudem schon auf dem letzten Loch pfiff, erhöhte den Spaß noch. Samstag für Samstag, stets mußte Byron dran glauben. Gegen seine Hustenanfälle, die Menge und seinen Vater unterlag er jedesmal. Was hatte er an sich, daß sie nie seine Partei ergreifen konnten? Warum erhöhte die bloße Wiederholung den Reiz? Byron hatte sich in der ersten Zeit tapferer geschlagen als die meisten, und das mußte ihm übelgenommen werden. Fitz fing nun an hochzuhüpfen, regelrechte Hopser zu tun, und mit den Händen überm Kopf den Takt klatschend, grölte er triumphierend:
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Grad wie ich bin, so komme ich, Wenn auch zerrissen innerlich, Weil Furcht und Zweifel quälen mich. O du Lamm Gottes, nimm mich hin, Grad wie ich bin! Grad wie ich bin! Mit der ebenfalls gebrüllten Aufforderung: »Erwachet! Erwachet und schicket euch, Herrgott noch mal, und kommt, grad wie ihr seid!« sprang er die Stufen hinunter, um sich nach gelieferter Predigt von irgend jemand eine Flasche reichen und sich von allen spöttisch oder ehrlich loben zu lassen. »Kipp nich aus den Pantinen, Prediger«, rief jemand. »Halt dich grad – grad wie du bist!« Ja, Fitz hatte leichte Schlagseite. Aber hinter seinem glasigen Blick schimmerte Siegesfreude: Jehova werde dem vergeben, der Seine Lade so trefflich verteidigt hatte. »Prediger«, sagte einer zu ihm, »heut ham Sie meiner Seele aber gutgetan, mich bannig gestärkt. Nächste Woch bring ich die Jungen mit, die ham auch Stärkung nötig. Bei meiner Alten braucht's die nicht mehr. Ist ganz anders worn, seit Seine Macht sie umgebaut hat.« »Hätten sie eben nicht aufheben sollen« – Fitz erinnerte sich, daß neulich eine seiner Zuhörerinnen in Ohnmacht gefallen war – »sondern einfach liegenlassen, wo Jesus sie hingestreckt hatte. Wie geht's ihr inzwischen?« »Schon besser. Schönen Dank fürs Nachfragen. Wir täten auch 'n bißchen Arbeit für Sie ham, falls Sie wollens sind, mal von Ihrer Strecke abzuweichen.« Fitz war wollens. Stände die Straße zur Stadt von lauterm Golde zu beiden Seiten voller protestantischer Latrinen, würde er nicht zögern, sich den Weg zum
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Heil notfalls mit den Händen freizuschaufeln. Ehe er aber Geld von papistischen Schändern nähme, ging er anderswo lang. Er machte sich doch nich zur Hure – vor niemand nich! Er war ein Zeuge Jehovas und sah den päpstlichen Stuhl als Zentrale einer internationalen Verschwörung gegen das angelsächsische Geschlecht im allgemeinen und die Linkhorns im besonderen. Die papistischen Schänder – ja, die waren es, die einen um alles betrogen! Dove Linkhorn konnte sich nicht entsinnen, daß irgendwann irgendwo irgendwer seine Zuneigung gesucht hätte, und wäre es nur ein Hund oder eine Hauskatze gewesen. In der Tiefe unruhigen Schlafes hatte er jedoch zuweilen das flüchtige Gefühl, eine Frau mit goldrotem Haar habe seine Hand berührt und sei dann durch einen Türvorhang entschwunden. Dabei hing schon seit Jahren kein Vorhang mehr an dem Eingang zu der winzigen Kammer. Deren Decke so schräg war, daß das hohe Bettgestell am Kopfende mit den Pfosten dagegenstieß. »Das war Mas Aussteuer«, sagten sie stolz von dem altmodischen Messingbett. »Die Garnitur drauf hat sie selber gemacht«. Die »Garnitur«, das waren die Maisstrohmatratze, die Patchwork-Steppdecke und die zwei quadratischen Paradekissen. Auf dem linken stand gestickt: »Ich schlief und träumt', daß eitel Freude sei das Leben«, und auf dem rechten: »Als ich erwacht', da hat es Pflichten nur gegeben«. Oft rutschte Doves Kopf im Schlaf genau in die Mitte von beiden. Doch das bedeutete nichts. Denn obwohl schon sechzehn, konnte er die Kissen nicht lesen. Ebensowenig den verrußten Spruch über dem Kochherd:
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CHRISTUS
ist dieses Hauses Herr: UNSICHTBARER GASTGEBER
einer jeden Mahlzeit STUMMER ZUHÖRER
eines jeden Gesprächs. Fitz hatte ihn nie zur Schule gehen lassen, um so gegen die Anstellung eines katholischen Rektors zu protestieren. Gegenprotest war ausgeblieben; niemand hatte Meldung gemacht, damit der Junge von der Schulaufsicht geholt werde. Es gab keine Schulaufsicht. Wollte man, daß seine Kinder etwas lernten, schickte man sie zur Schule. Wollten das auch sie, gingen sie hin. Wollte man nicht und sie genausowenig, gingen sie arbeiten. Arbeit gab es jedoch nicht. So gingen sie ins Kino. Dove aber hatte noch keinen einzigen Film gesehen, so sehr er sich das auch wünschte. Als John Barrymore und Marian Marsh als Svengali und Trilby nach Arroyo gekommen waren, hatte er Byron um das Eintrittsgeld angehauen. »Wenn nun die Ewigkeit grade dann eintritt, während du im Reiche des Teufels weilst – was hättest du dann noch für Chancen?« hatte Byron erwidert, um Vater und Bruder gleichzeitig aufzuziehen und außerdem nicht eingestehen zu müssen, daß er nicht mal die paar Cents hatte. Auch zum Tanzen war Dove noch nie gewesen. Doch stand er manchmal am Eingang zu einem Vergnügungssaal, schaute zu und schlug gleich den anderen den Takt mit.
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Take her by the lily-white hand And lead her like a pigeon. Make her dance the weevily-wheat Till she looses her religion. Nachdem er an jenem Abend zu Bett gegangen war, hielt ihn noch lange das Licht der Lampe wach. Einer sogenannten »Lumpenlampe«: ein zum Docht zusammengedrehter und um einen Kiesel geknoteter Stoffstreifen in einem bis zur Hälfte mit Bratfettresten vom Frühstück gefüllten Napf. Byron sprach immer von der »Funzel«. Fitz aber hatte keine Bezeichnung, sondern sagte nur einfach: »Zünd mal's Fett an.« Bei ihrem endlosen Geflacker sah Dove die beiden Narren, die wieder mal, und nicht mehr nüchtern, bei ihrem Thema waren. Er lag da und bewegte bei den ungewöhnlichsten Wörtern, die er hörte, die Lippen mit: »Verweslichkeit«, »Generationen«, »Brandopfer«, »Dankopfer«, »Sündopfer«. Manchmal bekam er auch ganze Sätze mit: »Was ist das für ein so großer, grimmiger Zorn?« – »Ach, daß es Morgen wäre! Vor der Furcht deines Herzens, die dich schrecken wird, und vor dem, das du mit deinen Augen sehen wirst.« »Noch länger kann ich nicht mit dir streiten«, gab Byron schließlich auf, als der Docht fast niedergebrannt war. »Ich spüre mein Leiden zu sehr.« »Ist bloß 'n andrer Name für Verwesung der Seele«, tröstete ihn Fitz. »Wie geht es dir jetzt eigentlich selber, Pappy?« fragte Byron. »Rundrum wohl«, erwiderte der Alte. Selbst Byron wußte, daß er damit nicht die Wahrheit sagte.
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Allen in der Stadt, Mexikanern wie Amerikanern, war klar, daß der Prediger nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte und daß sein ältester Sohn für einen Lungenkranken zuviel Potaguaya rauchte. »Ich bin dazu geboren, Pot zu rauchen«, brüstete Byron sich. »Ich mag zwar arm sterben, dafür aber als freier Mensch.« Dove jedoch, mit seinen Haaren, die weder rot noch blond waren, und seinen so hellen Augenbrauen, daß es aussah, als habe er gar keine, den wußte keiner recht einzuschätzen. »Ob bei dem Jungen wohl alles stimmt?« fragte man einander skeptisch. Hatte sich der Junge ein Stück Kautabak gekauft, lehnte er den ganzen Vormittag an der Tür des Ladens und spuckte vor sich hin. Wurde er gefragt, was er denn da tue, gab er murmelnd zur Antwort: »Lehne hier und träume«, und rückte sich eine knappe Handbreit anders hin. Manchmal wallte aber auch ein unbestimmter Tatendrang in ihm hoch, so daß er ziellos umherrannte und einfach in die Luft hineinschrie. »Der Junge ist in der Entwicklung«, erklärte Fitz verlegen. Eine Entwicklung ging auch in Doves Geist vor. Ab und an zuckte in seinem Hirn ein Blitz auf und tauchte Erde und Himmel in strahlende Helligkeit. Ein gewöhnlicher Busch wurde zu etwas Prachtvollem, ein Vogel auf einem schwankenden Zweig zu einem Wunder. Dann erlosch das Licht wieder, langsam, als senke sich ein grauer Vorhang herab. Solche Augenblicke waren unwiederbringlich. Eines Märztages sah er oben auf einem Hügel einen noch ganz jungen Baum, der sich vor einer festen Wand in Blau im Winde neigte, und es kam ihm vor, als sei dieser Schößling erst gesprossen, seit er hinschaue, und als werde er, wenn er sich umdrehe, wieder verschwin-
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den. Sooft er später auch zu derselben Stelle hinging, kein einziges Mal mehr erblickte er den ranken Stamm so wahrhaftig. Manchmal ließen ihn diese seltsamen Blitzlichter auch Byron einfangen. Hatte er eben noch in der Küche hantiert, sein nichtsnutzer Bruder bei seinem nichtsnutzen Tun, war er im nächsten Augenblick plötzlich ein Wildfremder, von dem kein Mensch wußte, was er trieb. Ein Schnappschuß von ihm, nicht in Bewegung, sondern reglos; lebensstraff und dennoch totenstarr. In späteren Jahren hörte Dove nie das lange Rattern eines im Dunkeln über eine Brücke fahrenden Personenzuges, ohne durch eine aufgehende Tür einen kurzen Blick auf ein rauchiges Morgengrauen zu erhaschen – hörte nachts nie den weißen Dampf pfeifen, ohne Byron zu sehen: auf seinem zerwühlten Pritschenbett in der Ecke, lang ausgestreckt, den Mund offen wie ein Toter, die braunen Stiefelspitzen nach oben gerichtet. Und kam dennoch sein ganzes Leben lang nicht hinter das wahre Wesen seines Bruders. Ein weiteres Rätsel war die Bougainvillea. Sie wuchs unterhalb eines Fahrradrahmens, der an die Nordseite der Hütte genagelt war – wozu nur hängte jemand ein Fahrrad ohne Vorderrad und mit durch den Regen schon ganz verrostetem Rahmen hoch oben an eine Bretterwand? Niemand konnte ihm das sagen, aber herunternehmen tat es auch keiner. Die Bougainvillea streckte sich nach diesen nutzlosen Speichen aus. Den nach unten gebogenen Lenker hatte sie schon fast erreicht. Es drängte sie danach, alles unter Blättern zu verbergen. Frühmorgens schien sie noch halb zu schlafen, gegen Abend aber wurde sie unruhig. Zuweilen ließ ein staubiger Wind sie zusammenzucken, als würde sie von schmutzigen Händen grob angefaßt. Und als einmal
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die Sonne genau über ihr stand, krümmte sich die ganze Pflanze vor Schmerz. Das Haus selbst sah aus, als könne ein einziger kekker Windstoß es umwehen. Der Fußboden war nur gestampft. Als Gardinen dienten Guanosäcke. Den Schornstein bildete ein durch die Wand geführtes Ofenrohr. Dahinter erhob sich ein zerklüfteter Felsen so alt wie Amerika. Eines späten Abends spülte ein Regenschauer den Staub auf dem Vorplatz weg. Dove hörte den Stepptanz der Tropfen. Und das röchelnde Atmen zweier Betrunkener, die bei ihrem sinnlosen Saufen wieder mal eingeschlafen waren. Er löschte die rußende Funzel. Draußen waren die mexikanischen Sterne herausgekommen und bellten die mexikanischen Hunde. »Aus! Aus!« rief jemand so schrill, daß es sich anhörte, als ahme er das Kläffen nach. Dove tastete seine Pflanze ab, wobei er rasch die Augen schloß, um die Blätter besser verstehen zu können. Zwischen den Fingern spürte er, daß sie im Erblühen war. Am Morgen lag das Fahrrad unten im Staub, und die Bougainvillea rankelte darauf herum. Keinem fiel auch nur auf, daß Dove das Rad von der Wand genommen hatte. Warum, wußte er selber nicht. Doch als der zauberische Frühling von 1930 in nicht enden wollender Trockenheit erstarb, wurden auch Dove die Stunden von Tag zu Tag dürrer. Bis er, von unklarer Sehnsucht ergriffen, eine Landstraße entlangschlenderte, die vor langer Zeit einmal ein Trail nach dem Westen gewesen war. Heute aber bloß noch zu Markierungskreisen aus leeren Konservenbüchsen führte, wo Eisenbahn-Tramps von der Santa Fe absprangen, und dann einfach aufhörte.
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Vor Jahren hatte sich dort ein Güterwagen aus der Kupplung gelöst, war die Böschung hinuntergerutscht und dann unten im Chaparral umgekippt. Jetzt halb im Sand versunken, ein ausgeschlachtetes Wrack, bestand er nur noch aus dem nackten Eisengerippe und zwei, drei Bohlen, die an Tagen, wenn Schatten so kostbar wie Wasser war, spärlichen Sonnenschutz boten. Hier ruhten sich stets ein paar Hobos aus: Tramps, Wanderarbeiter, Landstreicher. Als Dove auf seiner Suche, deren Wonach er nicht zu sagen wußte, dort hinkam, sah er einen Mann in Khakihosen und zerrissenem Hemd flach auf dem Rücken liegen, in der Hand eine Flasche. Näher herangehend, erkannte er, daß es sein Bruder war. Er stand da und betrachtete ihn: ein Fremder, genauso im Sand versinkend und abgewrackt wie der Güterwagen. Zu Hause erlebte er Byron ja oft betrunken, aber daß er hier so lag, für jedermann sichtbar, ließ den Jungen vor Scham erbleichen. Doch sah er Burschen, die nicht älter waren als er und die eine Flasche herumgehen ließen. Sie kochten schwarzen Kaffee in deckellosen Konservenbüchsen und aßen auf Zweige gespießte Bohnen, rollten Zigaretten mit einer Hand und prahlten damit, schon gesessen zu haben. Erzählten von ihrer Zeit in Untersuchungs- und Strafhaft in Stadt-, Bezirks-, Staats- und Bundesgefängnissen, in Besserungsanstalten und auf Arbeitsfarmen – »wo sie dich schinden, daß du nicht mehr weißt, ob du Junge oder Mädchen bist«. Manchmal gehe es im Kittchen aber auch fidel zu, erfuhr Dove. Wo der Fraß ungenießbar sei, zum Beispiel in so gut wie allen Bezirksgefängnissen, würden sich die Häftlinge eigene Verpflegung kommen lassen.
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Bezahlt werde mit dem Einstand, den sie von jedem Neuzugang kassieren. Habe der kein Geld, müsse er seine Schuhe hergeben. Sei er nicht bloß blank, sondern auch noch barfuß, werde er von einem sich aus den Knastologen dort zusammensetzenden »Känguruhgericht« zu so vielen Hieben auf den Hintern verdonnert, wie man als angemessene Strafe erkenne. Dafür, daß er sich habe einlochen lassen, ohne zuvor die Zustimmung der schon in dem Loch Sitzenden eingeholt zu haben – vom Tatbestand her eindeutig Hausfriedensbruch. Doch ob beschuht oder unbeschuht, von den draußen gekauften Lebensrnitteln erhalte er stets seinen Teil ab. Dove hörte von einem kleinen Knast im unteren Louisiana, wo die Häftlinge einen Fonds von über zweihundert Dollar zusammengebracht hatten und einmal in der Woche den Schließer und den Sheriff zum Abendessen einluden. Und in der Haftanstalt von Grayson County gaben die Gefangenen ein Wochenblatt heraus, das »Der Gitter Spiegel« hieß. In Laredo, bekam er zu wissen, lägen die Zellen alle auf einer Seite. In Huntsville werde der Bunkerwärter »Heulendes Elend« genannt. In Hillsboro, oben in Missouri, gebe es Matratzen und sogar Bettwäsche. Auch von Glücksfällen wurde berichtet: Einer war mal zwei Monate von einem Pfarrer aufgenommen worden; ein anderer hatte in einem Viehwagen ein betrunkenes und bereites Mädchen angetroffen, ein dritter hatte eine noch neue Jacke gefunden, hängengelassen in einem Kühlwaggon, in den er eines Nachts in Carrizozo geklettert war. Beaumont, erfuhr Dove, sei unangenehm. Greenboro in North Carolina nicht minder, ein richtig übles Nest. Boykin, nicht weit darunter, noch übler. Am allerübelsten aber wären die Städte in Georgia, ganz
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egal wo. Werde man da auf einem fahrenden Zug geschnappt, sei man mit dem einen Bein schon drin im Zwangsarbeitslager. Dort kriege man fünfzehn Cent die Woche und sonntags ein Stück Kautabak. »Was wiederum nicht schlecht ist«, fand Dove Linkhorn im stillen. »Um Waycross mach einen großen Bogen«, warnte ihn ein erfahrener Knastbruder. »Außer du willst für ein Jahr in ein Terpentin-Camp.« Und er begann zu singen und dazu auf einer Konservenbüchse den Takt zu schlagen: I didn't raise my boy to be a soldier, I brought him up to be my pride and joy. In Texas sei es im Osten fies, im Rio Grande Valley dagegen habe man es leicht – da wolle das Zugpersonal nichts weiter, als daß man ein Stückchen weg vom Bahnhof auf- oder abspringt. Auch durch Alabama komme man gut, sofern man nicht auf dem Laufbrett stehe und wie ein Ferienreisender dem Sheriff zuwinke. Und sich von der A. & W. P. fernhalte. Die Begleitpolizisten von der, die machen sich ein Vergnügen daraus, einem an einem Wassertank in einer Wildnis namens Chehawee rauszuschmeißen, so daß man vierundzwanzig Meilen laufen müsse, um nach Montgomery zu kommen. Aber für einen Fünfer bar auf die Kralle würden sie einen im Zug lassen. Vorsicht vor einer Stadt in Mississippi, die Flomaton heiße, denn die sei das Revier vom einarmigen Binga. Der habe eines Nachts mal zwei Tramps mit Pistolenschüssen runtergejagt, und die wären dann zurückgekommen und hätten ihn unter die Räder gestoßen. Dabei habe er seinen rechten Flüchtel verloren. Vorher schon scharf gewesen, sei er seitdem oberscharf.
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Vorsicht vor Marsh City – der Stadt von Hank Pugh. Vorsicht vor Greenville – der von Buck Ryan. Buck laufe als Hobo verkleidet die Wagendächer ab. Erkennen könne man ihn lediglich an dem großen Schlapphut mit den drei Löchern drin. Und an dem Gummiknüppel in seiner Hand. Da sei am besten, mucksmäuschenstill zu verharren und abzuwarten – Flucht unmöglich. So gern er den Knüppel in Aktion bringe, noch lieber tue er das mit dem Colt an seiner Hüfte. Darum einfach Hände als Schutz vor die Augen und dem Rattern der Räder lauschen. Er habe Hilfsbullen, die von beiden Seiten ankommen. »Rennst du weg, dann steh dir Gott bei. Erst recht aber, wenn du Widerstand leistest. Oder kein Geld hast. Oder Neger bist.« Vorsicht vor Lima in Ohio. Und vor Springfield, dem in Missouri. Vor Denver mit seinem Denver Jack Duncan. Vor Tulsa. Vor Tucson. Vor Joplin. Vor Fort Wayne… vor St. Paul… vor St. Joe… vor… vor… vor… Dove sah einen Krüppel, der im Lichtkegel der großen Scheinwerfer festgebannt war wie ein Kaninchen und mit den geblendeten Augen den Lokführer anstarrte, und den Lokführer, der ihn wegwinkte: »Hau ab! Verschwinde!« Von ihrem rührenden Bemühtsein, sich sauberzuhalten, einfach nur sauber, hörte Dove sie nie reden. Dabei waren sie immer und ewig rußverschmiert und bettelten um Wasser und Seife. Sobald der Hobo seinen Durst gelöscht hatte, machte er sich daran, sein einziges Hemd zu waschen. An jedem Bahnknotenpunkt hingen überall an den Zäunen verwaschene Hemden, bei feuchtem Wetter ebenso wie bei trockenem. Kämme, Zahnbürsten und Taschenspiegel wurden wie
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Schätze gehütet und an einer Schnur um den Hals getragen. Rummelplatzarbeiter konnte Dove daran erkennen, daß sie ihr Geld aus Brustbeuteln hervorholten, wie sie bei Schaustellern üblich waren. Einmal sah er, wie ein schon angegrauter Mann einen ellbogenlangen schwarzen Damenhandschuh herumreichte, so einen, wie sie früher von Entkleidungskünstlerinnen in die vordersten Sitzreihen geworfen wurden. Während er von Hand zu Hand wanderte, schnupperte jeder der Männer daran und behauptete, er könne noch das Parfüm riechen. Schließlich steckte sein Besitzer ihn wieder ein, insgeheim erleichtert, daß er sich nicht mit ihnen prügeln mußte, um ihn zurückzubekommen. Und einer erzählte von einem noch ganz jungen Burschen, den man ein Stück weiter oben auf dieser Strecke in einem leeren G-Wagen verblutend vorgefunden hatte. Dove spürte, wie dann ein unruhiges Schuldgefühl von einem zum anderen überging, ganz genauso wie vorher der parfümierte Handschuh die Runde unter diesen Obdachlosen gemacht hatte. Ihr Heim waren zehntausend Bahn-Wassertürme, waren Konservenbüchsenkreise im Nirgendwo. Waren alle Mulden und Kuhlen, wo das Gesetz nicht hinkam und wo büffelfarbene Güterwagen ihren letzten Widerstand im Westen leisteten. Dove sah die abendlichen Lagerfeuer gegen die heimatlosen Herzen anlodern, und ihm war, als wäre er selber mal nach dem Westen gegangen. Wo er es zwar zu nichts gebracht hatte, aber trotzdem wieder hingehen würde. Das Betrogenwerden setzte bereits ein.
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»Ist schon spät, und abends werd ich leicht melanklütrig«, fand er. Und lief zurück nach Hause, zu dem durchdringenden Geruch von kalten Kutteln in einem Topf auf dem fettverklebten Herd. Eine niedrige Girlande aus Geschirrtüchern führte vom Schieber des Ofenrohrs zu einem Haken über dem Spülbecken. Das Spülbecken war eine alte Zinkwanne von der Müllhalde. In ihr lagen schmutzige Teller und Pfannen. Einen Wasserhahn gab es nicht. Der befand sich draußen und versorgte auch die Nachbarn rechts und links von den Linkhorns. Diese drei Hütten aus hochkant gesetzten und so verdorrten, verzogenen Kiefernbrettern, daß Wind und Regen durch die Ritzen drangen, bildeten so etwas wie ein Slum-Alamo mitten im Mexikanerviertel. Die Männer hier waren entweder brünett wie Fitz und Byron oder neigten zu einer gewissen Fahlheit so wie Dove. Die Frauen verloren die Farbe, weil die Waldluft fehlte. Davy Crockett war nicht mehr da. Die alten Wäldler hatten ihre Hände Gewehrschäften angepaßt, nicht aber dem Pflücken von Baumwolle. In den Spinnereien zu arbeiten ertrugen sie nicht, und Handel zu treiben verstanden sie nicht. Berge und Prärie bedurften ihrer nicht mehr. Ihren Anspruch auf Berge und Prärie hatten sie verloren, und Davy Crockett kam nicht wieder. Sie waren Hinterwäldler ohne Hinterwald, die letzten jener, die niemals Baumwolle pflücken würden. Plantagen und Spinnereien ließen ihnen nichts mehr, so wie beim Mähen eines Feldes den Kaninchen nichts gelassen wird. Die Stadt verachteten sie genauso wie die Fabrik, und sie trugen lieber braune Farmerhosen als blaue. Und bis tief in die Nacht hinein hörte Dove vom Ende
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dieser laternenlosen Straße her eine fremdländische Musik, mal leiser, mal lauter. In ihren verräucherten Buden ohne Licht sangen die Mexikaner und ließen es sich fröhlich sein: Tres Maricas tan lozanas Mas lindas que Toledanas Iban a cojer manzanas a Jaén. Axa, Fatima, Marien. Dixayles quien sois, señoras De mi alma robadoras Christianas de ramas Moras de Jaén. Axa, Fatima, Marien. Mexikaner hatten keinen alten Wäldern nachzutrauern. Der alte Weg nach Westen, die alten Trails: WagenTrails und Kinder-Trails, untergegangen in Meilen und aber Meilen von Chaparral und Mesquite, überwuchert von trockenen Kakteen. Alte Hoffnungen, glühende Hoffnungen, Stolz und Geduld, alles vergebens gewesen. All die Liebe, die sie für dieses weite braune Land empfunden hatten, davongeweht wie Staub im Chaparral des Herzens. Jetzt führte die Straße nach dem Westen nur zu einem schäbigen und düsteren Chili-Parlor. Einer bloßen Imbißstube in dem Haus, das einmal das große weiße fröhliche Hotel Davy Crockett gewesen war. Hinter der blinden breiten Fensterscheibe des Lokals brannte, verdoppelt und verschwommen, die Spiegelung einer Lampe wie der zwiefache Geist des gewaltigen Kronleuchters, der hier einst eine Halle gleich dem Ballsaal eines Ozeandampfers erhellt hatte. Damals funkelten seine hundert Kristalle die ganze Nacht wie ein
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Licht, das nie erlöschen könne. Nieder auf Whiskey, Whiskeygläser und Wein. TANZ BEI ELEKTRISCHER BELEUCHTUNG – das hatte samstags abends das junge Blut ins alte Davy Crockett gelockt. Die scharfen Jungs von den Ölquellen, die diese großen roten und grünen Knüpftücher trugen und ihre scharfen Mädchen betrunken machen wollten. Ihre Mädchen, die den Mond unter den Tisch trinken konnten. Den alten Aztekenmond des Rio Grande in seinem Büffelledergewand, aus dem nur seine Outlaw-Augen herausschauten. Er sah den scharfen Jungs von den Ölquellen zu, wie sie an der Spiegeltheke ihr Geld verpulverten, und hörte das Pianola hämmern: Sometimes I live in the country Sometimes I live in town… und einen Gitarrenspieler aus Arkansas klimpern – für Bohrarbeiter und Driller, für Trinker und Tänzer und Zocker. Trinken und Tanzen und Zocken bei richtiger elektrischer Beleuchtung: Sometimes I have a great notion To jump in the river and drown… Ein gleichbleibendes Hämmern und Klimpern, das einmal in einem der Zimmer oben die Sprungfedern unter einem der scharfen Mädchen hatte erbeben lassen; einem Mädchen mit einem Silberkamm in seinem goldroten Haar, mit schwarzen Netzstrümpfen an und sonst nichts. Fitz war damals, 1909, schon über dreißig, aber trotzdem noch ein scharfer Junge, der sich, wenn er in die Stadt kam, immer gleich auf den Weg zu den scharfen Mädchen machte. Bis er eines Nachts auf dem Bett
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der Rothaarigen saß und ihr den Rest einer Flasche an die Lippen setzte. Die Augen fest gegen alles Licht geschlossen und ohne ein einziges Mal den goldroten Kopf zu heben, trank sie, solange der Whiskey floß. Er brannte ihr in der Kehle – doch heißer noch, aber süßer, schmeckte dann sein Mund, der den ihren so festhielt, als sein Fleisch in sie eindrang, tief eindrang. Bis das ganze Zimmer in dem zusehenden Licht wogte und sie Herz an Herz zusammenschloß. Während der Mond, der nie erlöschen konnte, niederschaute. Auf Whiskey, Whiskeygläser und Wein. Während in all den Zimmern oben und unten, mit breiten Betten oder schmalen, die Lichter heller und heller glitzerten. Auf Marmor, Spiegelglanz und Wein. Bis die Würfelspieler verzweifelt aufzuschreien begannen, verzweifelt über mehr als das bloße Verlieren, und das Rouletterad zu rasen anfing, als wäre jede Umdrehung die letzte, und das Hämmern des Pianolas sich zu solchem Wirbel steigerte, als sei alle Hoffnung dahin: Sometimes I have a great notion To jump in the river and drown. Im Rhythmus mit dem ebenfalls hämmernden Mann. Eingekeilt zwischen den Schenkeln in schwarzem Netz, atmete er ihren Atem so wie sie den seinen. Bis ihr Stöhnen seine Lippen freigab. Das Pianola unten klimperte aus, die Musik hörte auf, der Wirbel aber hielt an. Ihre Lider flatterten im Abwallen der Ekstase – die ihr so noch niemals widerfahren war. Fitz hörte das Flattern an seiner Wange. Das Wirbeln des Pianolas flüsterte weiter und weiter. Auch Fitz war es so noch nie widerfahren, so ans Herz gehend.
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Und der Mond, der nie erlöschen konnte, verblaßte zum schwachen schrägen Schein einer Gaslaterne. Bohrarbeiter und Driller, Trinker und Tänzer und Zocker, alle waren gegangen. Draußen in Sand und Yucca, in Chaparral-Erbse und Honig-Mesquite, wo unterm Dornbusch die Hornkröte lauert, schlief der Präriehund in seinem Bau. Weißes Gebein, in der Sonne gebleicht. Ehe die Musik aus gewesen, ehe zu Ende getanzt worden war. Und ein Wind suchte kreisend umher: Wo waren diese Liebenden hin, ehe zu Ende getanzt worden war? Es war alles gut. Sie hatten einer des anderen Atem geatmet, einer von des anderen Lippen getrunken. Alles war gut, denn was nun Staub, war im Leben geliebt worden. Fitz hatte sein scharfes Mädchen geheiratet, das sich dann als doch nicht so scharf erwies. Sie hatte ihm zwei Söhne geschenkt. Und seit ihrem Tod war er nur einmal wieder in jenes Viertel gegangen, wo das David Crockett noch immer stand. Er fand nichts weiter vor als oben mit Brettern vernagelte Fenster und unten einen spärlich beleuchteten Chili-Parlor. Dessen Name quer über die Scheibe gemalt war: LA FE EN DIOS Bien venidas, todas ustedes Die Stadt, die begonnen hatte mit einem Ball bei elektrischer Beleuchtung, siechte beim Schein von Petroleumlampen dahin. Hier war die Zeit rückwärts gegangen. 1930 führte der alte Weg nach dem Westen in den Schatten eines Bahn-Wasserturms, wo alte Landstreicher aufgelösten Hartspiritus durch zerschlissene
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Knüpftücher seihten und zum Zeichen ihres Hiergewesenseins so rührende Andenken zurückließen wie einen Tennisschuh mit durchgelaufener Sohle, ein windversengtes Unterhemd oder eine leere Taschenflasche mit dem Etikett »White Swan Gin – Abgefüllt in Chicago«. Ob schon runzlig oder noch knackig, ob strubbelmähnig oder schütter, blaßwangig oder rotbackig, hager oder stämmig, sonnengedörrt oder regendurchweicht, alle kamen sie im La Fe en Dios zur Tür herein. Um dazustehen, zwischen der Musikbox und einem Kübelfarn, die Mütze von der einen Hand in die andere nehmend, und zu warten, bis die Mexikanerin mit dem Bedienen ihrer zahlenden Gäste Schluß machte. Dann erhielten sie die kalte Neige aus der Kaffeemaschine, eine halbe Ananas-Pie von gestern und ein Stück American-Family-Seife. Wollten sie mehr, mußten sie bei Tage wiederkommen und dafür arbeiten. Ob kahlköpfig oder barfuß, ob alt oder jung, alle versprachen sie dankbar und diensteifrig, sich morgen früh um Punkt sieben Uhr einzustellen. Doch um diese Zeit waren sie einer wie der andere längst wieder auf Achse, weg aus dem öden Nest, so schnell und so weit fort, wie es mit einem S.P.-Güterzug nur ging. Züge nach Osten ließen sie jedoch vorbeifahren, wenn einer nach Westen zu erwarten stand. Sie waren noch immer auf der Suche nach dem alten Weg heim. Der jetzt bloß ein Stück Schotterchaussee war, wie man es beim Samstagsnachmittagsspaziergang am Ende jeder amerikanischen Kleinstadt erreicht. Wo Pflasterquadern liegen, die Wind, Sand und das Arbeitsbeschaffungsprogramm der Bundesregierung zerborsten
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haben. Und wo vielleicht ein Schild steht: »WENDEPLATZ FÜR LASTKRAFTWAGEN«. Wo aus den Ritzen zwischen den Steinen rauhblättrige Sonnenhüte herauswachsen und eine verrostete Bierbüchse mit zwei Löchern im Deckel auf die Auferstehung oder einen neuen Immobilien-Boom wartet. Der alte Weg heim, mit an seinem Ende nichts weiter als einer flackernden Gaslaterne über einer Ortstafel: ARROYO Einw.: 955 Eine Statistik, in die die Mexikanerin nicht mit einbezogen war, deren Domizil gerade so weit außerhalb der Gemarkung lag, daß sie keine Gemeindesteuern zu zahlen brauchte. Und deren eigener Weg heim elf Monate im Jahr eine abgetretene Treppe hinaufführte zu einem Zimmer, das nur von einer Madonna bewacht wurde. Terasina Vidavarri schlief in einer Doppelruine: den Trümmern ihrer eigenen Hoffnungen und den kläglichen Resten vom Hotel Crockett. Der letzte Gast war gegangen, und den langen teppichlosen Flur entlang waren zu beiden Seiten die Türen verbreitert. Genauso wie der Zugang zu ihrem Herzen. Doch im Schlaf hörte sie manchmal ein Pianola spielen. Die vernagelten Türen sprangen auf, Licht ging an, jenes Licht, das in Träumen leuchtet, und zeigte, daß auf allen Betten Männer Frauen nahmen. Bis sie erwachte. Und, ein schlimmes Verlangen verspürend, einen Vollmond aufgehen sah. »Liebe ist was Schönes, weil man dann wen hat, für den man leben kann«, sinnierte Terasina. »Aber ohne Liebe ist es auch kein Unglück, denn da bleiben einem Probleme erspart.«
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Dabei hatte sie es selber noch kaum probiert. Von ihrem ersten und einzigen Liebhaber war sie in einen Horror versetzt worden, der sie von einem neuen Versuch abhielt. Ein Mädchen ohne Familie, Zimmerfee in Hotels für US-Touristen unten in Mérida im alten Yucatán, hatte Terasina sich als Sechzehnjährige mit einem kahlköpfigen und nicht mehr ganz jungen Floridaner spanischer Abstammung verlobt. In seiner Jugend Unterleutnant gewesen, befaßte er sich jetzt mit Blumenzucht, sowohl von Beruf wie aus Berufung, holte sich auf Floristenausstellungen Preise und exportierte Taglilien. Ein feuchtlippiger alter Lüstling mit American-Legion-Käppi auf seiner Glatze – was ihr Blütenfreund selber für eine seltsame Blüte war, das merkte sie erst in der Hochzeitsnacht. Sie war aus leichtem Schlummer erwacht. Die Nachttischlampe warf einen blutorangefarbenen Schein. Terasina hörte den Ex-Leutnant im Bad hantieren, und sie fand, daß er schon über Gebühr lange dort drin sei. Sie rief ihn beim Namen. Erhielt aber keine Antwort. Und starrte zur Tür, als er endlich herausmarschiert kam: splitternackt bis auf einen Helm und ein Exerzierstöckchen, das er wie ein Gewehr geschultert hielt. »Links, zwo, drei, vier! Was denn – Angst vor einem Soldaten?« Sie wollte losprusten, doch das Lachen gefror ihr im Halse, denn sein Gesicht war eine Maske, die kein Lachen duldete. Im Stechschritt paradierte er an ihrer Bettkante entlang, dreimal hin und her, und stand schließlich stramm, in einem Licht, das von schwülem Dunst durchschwadet schien. Und hielt ihr die Spitze seines
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Stöckchens zwischen die Augen. Verächtlich. »Was denn – Angst vor einem Soldaten?« Da sah sie, daß er am ganzen Körper unbehaart war. Für die Abscheulichkeiten, die dann folgten, fand Terasina noch immer keine Worte. Aber einmal hatte sie ihn gewarnt: »Ich fange gleich an, laut zu schreien!« Der Schatten des Stöckchens fiel über das Laken. Doch Terasina biß nur ins Kopfkissen. Und die ganze Zeit über sein Eau de Cologne. Flieder. Anfangs so schwer, daß es ihr die Luft nahm, allmählich aber schwächer werdend. Bis das Morgengrauen ihn endlich von allem entleert hatte, ausgenommen den Ekel vor sich selbst. Zum Weinen zu ausgelaugt, lag er da und sabbelte schwach, während der Fliederduft so langsam verflog wie in einem mitternächtlichen Barbierladen. Zwei Tage später schaute Terasina in einen Spiegel: Oberhalb ihrer blauschwarzen Ponysträhnen war das Haar in einem kleinen Dreieck so weiß geworden wie frischgefallener Schnee. Ihr Floridaner war zurückgekehrt zu seinen Blumenbeeten und dem Negerjungen, der ihm bei deren Pflege half. Terasina aber hatte jetzt, zehn Jahre später, an Blumen nur bäurische Stockrosen mit derben, behaarten Stielen. Und ihre Träume waren von weit seltsameren Wesen belebt. Sie sah sich, nur mit einem Nachthemd an, in einer großen, schattigen Koppel auf einen warten, dem die langen Haare immer wieder wie eine Mähne ins Gesicht wehten. Der nach Salz und Schweiß roch. Einen Hengst aus Mondlicht, der ihr Wiehern mit Hochgehen beantwortete und zugleich auch all ihre Hoffnungen hochgehen ließ. Dann wurde der Salz- und Schweißgeruch
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säuerlich, und sie erwachte in einem leichten Barbierladenduft, der sich die verbreiterten Türen entlang verflüchtigte. Schwach vor Erschöpfung, kleidete sie sich in der frommen Kälte an und erteilte sich gleich einer Nonne selber die Absolution, damit sie ihren Stolz zurückgewann. Und unten bei den LKW-, Bus- und Bahnbrüdern Serviererin spielen konnte. Unter der Preistafel: Tages-Pie… 10 Tages-Pie mit Eiskrem… 15 Lonches y sanguiches 25 y 35 Wobei sie für die Sandwiches, wenn der Kopfsalat ausgegangen war, einfach Weißkohlblätter nahm. »Mexikanerinnen sind immer gut gebaut«, versuchte einer dieser Laffen, der ein Abzeichen an seiner Mütze trug, es immer wieder mal bei ihr, »aber Ihre Figur, Señora, die hat, möcht ich mir zu sagen erlauben, was besonders Schnuckeliges.« »Ihr Amerikaner seht auch nicht schlecht aus«, versicherte Terasina dem Abzeichen. Zehn Jahre lang bediente diese zugeknöpfte Frau mit der Schneewehe im Haar nun schon Streckenarbeiter, Heizer, Bahnpolizisten, Bremser, Tramps, Touristen, Lokführer, Schaffner und Lastwagenfahrer. Auf der Rückseite ihrer Speisekarte stand zwar »Antojitos Mexicanos«, sie selber aber hatte in all den Jahren kein mexikanisches Faible für einen von ihnen entwickelt. »Abierta hasta las 12 de la noche – E MPUJE« , lud ihre Tür zum Hereinkommen und langen Verweilen ein. Die Wirtin jedoch blieb rund um die Uhr geschlossen. »Sie sind sicher von der Bahn«, tastete sich einer an sie heran. »Weil sie zwei so schöne Puffer haben.«
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»Sie erinnern mich an Dolores del Rio«, sagte ein anderer bei schon laufendem Motor. Wäre die Señora wohl einverstanden, wenn er auf ihren Namen ein kleines Bankkonto einrichte, damit seine Frau nicht alles vertrinke? Würde es der Señora gefallen, in einem Testament bedacht zu werden? Oder einen neuen Wohnwagen einzuweihen, auf Weekend-Fahrt runter nach Matamoros? Sie staunte nur immer wieder über Fernfahrer, deren Selbstgefälligkeit kein Stoppschild kannte. So einer, der saß so lange hinter so viel geballter Kraft, daß er mit der Zeit die Stärke des Motors für seine eigene hielt: Wartet nur, wenn ich erst mal den Gang einlege! Als einer von Terasina wissen wollte, was sie oben für eine Heizung habe, gab sie zur Antwort: »Die gleiche wie unten.« Nun, er frage lediglich, weil er zufällig über einen Kumpel billig an Ölöfen komme. Gracias, nett gemeint von ihm, aber oben stehe ja bereits ein Ofen, und was solle sie mit zweien? Wozu was haben, wenn sie gar keinen Gebrauch von machen könne? Mache sie denn von allem Gebrauch, was sie habe? Oder sei da vorn bei ihr bloß Watte drin? »Gott ist großzügig gewesen«, erwiderte sie und reckte stolz ihre Brüste. Ließ den Mann jedoch ihre Handfläche kitzeln, als er das darauf hingehaltene Wechselgeld nehmen wollte, blitzte ihm ihr breites weißes Lächeln zu und schloß dafür die Hand mit dem Vierteldollar. Daß das kleine Restaurant von Fernfahrern frequentiert wurde, hatte seinen Grund darin, daß es am Ende einer langen und schmalen Chaussee lag. Stets war hier irgendein Überlandmonster am Wenden. Das einzige Wesen in Hosen hierherum, das ihr ge-
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fiel, war der abgerissen aussehende Bursche mit den farblosen Brauen und den strähnigen rötlichen Haaren, der eines Tages mit der Comics-Beilage einer Sonntagszeitung in der Hand hereingekommen war. »Ich kenn mich mit Buchstaben nicht aus«, hatte er ihr erklärt. »Drum war ich Ihnen mächtig dankbar, M'am, wenn Sie mir das hier vorlesen täten.« Zuerst hatte sie gar nicht verstanden, weshalb er ausgerechnet zu ihr kam. Dann wurde ihr klar, daß er sich genierte, jemand anders darum zu bitten. So war sie die Bilder Sprechblase für Sprechblase mit ihm durchgegangen, bis sie bei einem Wort selber steckenblieb. Da hatte sie dann das eine ihrer zwei Bücher geholt: »Wie schreibe ich bessere Geschäftsbriefe?« Doch ehe sie mit dessen Hilfe weiterkommen konnten, war ein Lastwagen mit einem Platten vorgefahren und der abgerissene Junge hinausgegangen, um den Fahrer zu fragen, ob er ihm helfen dürfe. Manchmal sah sie ihn einen Anhänger umkreisen, in eifrigem Hundetrab, die eine Schulter hochgezogen und in der Hand einen Kreuzschlüssel. Andermal schauten nur zwei schmutzige Füße unter einem Laster hervor, mit vor Anstrengung gespreizten Zehen, damit er die Arbeit ja schaffe, bis der Fahrer wieder herauskam. Was war er immer so eilfertig? Oder er stand bloß einfach an dem Blechschild »REIFENWECHSEL«, das sich alle paar Augenblicke in eine andere Richtung drehte, weil vorm Chaparral der Wind in einem fort umschlug. Wie er dort lehnte und seine selbstgedrehte Zigarette bis auf ein winziges Stümmelchen aufrauchte, konnte er so verloren aussehen, als kämen Reifen aus der Mode. »Was bin ich dir schuldig, Rotfuchs?« hörte sie einen Fahrer fragen. Und der Rotfuchs antwortete: »'n Säck-
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chen Bull Durham und 'n Kaffee würden mir genügen, Mister.« An seiner Stimme merkte sie, daß er mehr brauchte als Tabak und Kaffee. »Der hat Hunger«, sagte sie sich, »und zwar ziemlichen.« Anscheinend glaubte er, Geld komme ebenfalls aus der Mode. Für eine Stunde schweißtreibende Arbeit in der Sonne nicht mehr zu verlangen als eine Tasse Kaffee und ein Säckchen Bull Durham! Terasina wußte einen Zehn-Dollar-Schein von einem mexikanischen Nickel zu unterscheiden, hüben wie drüben, und es wurmte sie, daß die Männer den Jungen so ausnutzten. Schließlich sagte sie es selber mal einem Fahrer: »Wechseln von zwei Reifen und Batterie macht fünfundsiebzig Cent, bittschön.« Der Mann legte drei Vierteldollar hin. Terasina rührte sie nicht an. »Plus Trinkgeld für den Jungen, bittschön.« Er tat noch einen Dirne hinzu und ging, ohne etwas zu sagen. So wie Dolores del Rio heute gelaunt war, schien ihm das zu riskant. »Nehmen Sie's, M'am«, forderte Dove sie auf, als sie das Geld neben seine Tasse legte. »Dafür daß Sie mir erlauben, mich hier aufzuhalten.« Prompt bongte sie es in die Registrierkasse ein: Kling! »Das hast du jetzt gut.« Fünfundachtzig Cent gut – fast einen ganzen Dollar! Nach langem Überlegen entschied er sich für Sesos lampreados: paniertes Hirn. Sie brachte ihm eine Portion wie für einen Schwerstarbeiter. Eine Weile sah sie dann bloß noch seine großen, dikken Henkelohren. Und hörte nichts weiter als den hämmernden Rhythmus von Messer und Gabel auf dem Teller. Wie eine Stammestrommel.
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»Bitte auch Maisbrot, M'am. An Maisbrot könnt ich mich dick und duhn essen.« Fünf Minuten später: »Jetzt hätt ich noch gern einen Teller Chili, M'am.« »Segundos?« fragte sie, als er den Chili verputzt hatte. In seinem Mundwinkel pappte noch eine Bohne. »Si, señora.« Unter den brauenlosen Augen glomm Erinnerung an generationenlangen Hunger. Und wieder setzte die Stammestrommel ein. »Möchtest du noch was?« Sie lächelte nachsichtig. »Wie war's mit Chicharonnes?« »Mehr krieg ich nicht rein«, erklärte er schließlich. »Außer einem Stück von der Gitter-Pie dort.« Sie brachte die Pie und den Kaffee. Er beugte sich weit runter, um die Lippen an die Untertasse zu bekommen, daß sich sein Rücken wölbte wie bei einem hochtauchenden Wal, und schlürfte sie mit einem einzigen Zug aus. Soweit Terasina es überschlagen konnte, schuldete er ihr jetzt achtzig Cent. Sie holte einen Besen und drückte ihn ihm in die Hand. Schwerfällig, die rechte Schulter wieder hochgezogen, schob er damit zur Tür. Durch den schärfsten Chili nördlich von Chihuahua jedoch plötzlich angefeuert, begann er wie besessen zu fegen: den Vorplatz, die rückwärtige Veranda, hinter der Theke und die Treppe hinauf. Ihr Zimmer kehrte er so sauber wie für einen Gottesdienst, und die Treppe hinunter wirbelte er eine solche Staubwolke auf, daß Terasina mit einer Kanne Wasser zum Sprengen angerannt kam. Er wusch Geschirr ab, putzte Bestecke und flickte im Handumdrehen ein Fliegengitter. Verkündete dann von
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der Küche her einen Sieg: »Unos! Dos!« Er hatte mit der »Police Gazette« Fliegen totgeklatscht. »Laß nun gut sein«, suchte sie ihn zu bremsen. »Ist jetzt alles ordentlich genug.« In der Flaute, wie sie nachmittags in jedem alten Chili-Parlor herrscht, saßen sie zusammen über »Wie schreibe ich bessere Geschäftsbriefe?« »Mit den Buchstaben, das geht so«, erklärte sie ihm. »Der erste ist das A: schräg rauf, schräg runter und dann quer durchstreichen.« Sie ließ es ihn mit dem Finger nachziehen. »Schön so. Nun das B.« Ein Kind gab einem Kinde Unterricht. Als er beide Buchstaben einigermaßen beherrschte, wurde sie dieses Spiels plötzlich überdrüssig und fand ein anderes: an der Musikbox den kleinen Sperriegel hinter dem Geldbehälter so zu lockern, daß sie ohne Münzeinwurf spielte. Als erstes Lied erklang »Meet Me Tonight in Dreamland«, denn genau wie die Wirtin war der Apparat halb auf amerikanisch und halb auf mexikanisch eingestellt. Als nächstes wählte Terasina »Cuando sale de la luna«, doch Dove wollte die erste Platte immer wieder noch einmal hören. Sie goß eine Coca-Cola ein, füllte Tequila hinzu und sagte, sie begreife nicht, wie die Anglos dieses labbrige Zeug ohne Schuß trinken können. Dove pflichtete ihr bei, indem er ihr noch einen hineintat. Dann begann er zu der Musik von einem Fuß auf den anderen zu treten, tapsig wie ein Bär, der zum ersten Mal im Leben glücklich ist. I'd like to live in Dreamland With a girl like you… Sie selber hatte schon so lange keine Fröhlichkeit mehr empfunden, daß es sie jetzt bereits heiter stimmte,
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die eines anderen zu sehen. Ganz normal schien er zwar nicht zu sein, aber immerhin war er kein Blumenzüchter. Er roch nach Salz und Schweiß. Und war von keiner Taglilie berührt worden. »Ich seh Männer gern tanzen«, hörte sie sich zu ihrer eigenen Verwunderung sagen und drückte wieder etwas aus der mexikanischen Hälfte der Musikbox: »Adiós, mi carazon«. Jedesmal wenn auf der Platte das Wort »carazon« geschluchzt wurde, bekam Terasina einen Schluckauf. Beim dritten Mal ergriff sie Doves Hand, preßte sie bei sich auf Nase und Mund, damit er beide zuhalte. »Empuje!« befahl sie das mexikanische Mittel gegen Schluckauf. Den einen Arm um ihre Schulter gelegt, um sie zu stützen, drückte er so fest zu, daß sie keine Luft mehr bekam und er aufhören mußte. »Schluckauf geheilt, Patient erstickt«, sagte sie. »Das ist auch nicht die richtige Methode.« Da war ihr Tanzen lieber. Sie hatte Freude daran, dem lebhaften Gemisch menschlicher Stimmen, durchsetzt mit welchen von Kindern, zu lauschen; Stimmen wie von der anderen Seite einer Wand, hinter der Fremde Geburtstag feiern, ohne zu wissen, daß jemand mithört, dem das Mitfeiern verwehrt ist. Einmal hatte sie einen jungen Vater um Vergebung bitten hören und dann gesehen, wie die junge Mutter sie ihm einfach dadurch erteilte, daß sie seinem einzigen Kinde die Brust gab. Immer wenn sie daran zurückdachte, verspürte sie ein Ziehen an den dunkelumrandeten Warzen ihrer eigenen weißen Brüste, die so voll schmerzlicher Sehnsucht waren. »Ich finde Frieden in Jesus«, pflegte sie dem Spiegel in ihrem kleinen Zimmer zu erklären. »En tristes horas
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de tentación en Jesus tengo paz.« Aus dem Spiegel kam ein Blick zurück, wie um zu sagen: »Mir scheint, hier hat eben wer gelogen.« So fromm sie auch war, in ihren Träumen suchte sie weder Frieden noch Jesus. Da sah sie sich wieder irgendwo in Mexiko: Siesta-Stunde, die Jalousien alle runtergelassen, und in dunklen Torwegen träumten mexikanische Hunde dunkle Träume. Der ganze Ort schlief. Bis auf einen, dessen Hand auf ihrem Türknauf ruhte, scheinbar schon seit Stunden. »Auf der Straße ist es so heiß«, klagte der Lauscher an ihrer Wand in allzu lügengeübtem Ton. »Könnte ich wohl einen Schluck Wasser haben?« »Hier darf nur Jesus trinken«, wehrte sie ihn ab und erwachte mit so trockenem Gefühl im Hals, daß es ihr die Kehle zuschnürte. Draußen ließ der Regenwind alle Pfützen zu Spiegeln werden. Sie sah die wirklichen Sterne Hand in Hand auf Pflastersteinen zum Ende der Stadt spazieren. Und wieder zurückkommen – wie heimkehrende Liebespaare. Die Tasse in ihrer Hand wirkte auf einmal so leer. Sie schüttete das Wasser auf den Fußboden und goß sie voll Tequila, bis auch der überschwappte. Und trank dann mit zitternden Händen und dem Rücken zur Wand, damit die Madonna es nicht sah. Nach Sesos lampreados konnten Kaffee und Selbstgedrehte Dove nicht mehr befriedigen, und genausowenig vermochten das noch die Sonntags-Comics, nachdem er einmal ein Buch gesehen hatte. So schlug sie ihm dann, nachdem des Tages letzter Fernfahrer weg war, ihr anderes Buch auf. Da sah Dove nun einen chinesischen Prinzen, der durch die Lüfte flog und einen flachshaarigen Jungen
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mit grüner Feder am Hut huckepack trug; ein winzigkleines, nur einen halben Daumen großes Mädchen, das in einer Walnußschale auf einem Seerosenblatt in einem Bach trieb und sich vor einem garstigen Kröterich duckte, der bloß immerzu »Koax, koax, brekkekekex« sagen konnte; ein Männchen in flickenbesetztem Rock, das eine Herde Kühe vor sich hertrieb und dabei sein Tonpfeifchen schmauchte; außerdem Rentiere, Tänzerinnen, Kobolde, Mandarine, Engel, Schlösser, Teekannen und Bäume halb so alt wie die Erde. Völlig gefangen aber nahm Dove der standhafte Zinnsoldat, der sein Gewehr so tapfer geschultert hielt, obwohl er doch bloß ein Bein hatte. Er war als letzter gegossen worden, und das Zinn hatte nicht mehr ganz gereicht. Doch stand er auf seinem einen Bein ebenso fest wie die anderen auf ihren zweien. Dove ahnte sofort, daß dieser eine derjenige sein würde, der von der ganzen Armee am meisten von der Welt zu sehen bekam, die größten Abenteuer erlebte und zum Schluß das Mädchen kriegte, das auch all die anderen haben wollten. Der standhafte Zinnsoldat brauchte nicht weit zu suchen: Es war eine niedliche Tänzerin aus Papier, doch hatte sie ein Röckchen aus hauchzartem Tüll an und über den Schultern eine Flitterrose so groß wie ihr Gesicht. Sie stand auf Zehenspitzen, ohne aus der Balance zu kommen, und hatte beide Arme ausgestreckt, dem Zinnsoldaten entgegen; das eine Bein hielt sie so hoch empor, daß er es gar nicht sehen konnte und glaubte, sie habe auch nur eines, gerade so wie er. Das ließ ihn sich ihr sehr nahe fühlen, wobei Dove allerdings kein gutes Gefühl hatte – ein solcher Irrtum konnte nur zu Schlimmem führen. Doch der Zinnsoldat hatte sich nun mal in die Tänzerin verguckt und legte sich, so lang er war,
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hinter eine Schnupftabakdose, so daß er, als seine Kameraden längst wieder in ihre Schachtel gekommen waren, noch immer dalag und kein Auge von seiner Tänzerin ließ. »Da schlug die Uhr zwölf, und klapp! sprang der Deckel der Schnupftabakdose auf. Aber es war kein Tabak darin, nein, sondern ein kleiner schwarzer Kobold, eine Art Schachtelmännchen. ›Zinnsoldat‹, sagte der Kobold, ›wirst du wohl deine Augen im Zaum halten !‹ Aber der Zinnsoldat tat, als hörte er es nicht. ›Na, warte nur bis morgen!‹ drohte ihm der Kobold.« Wie von Dove befürchtet, braute sich tatsächlich Unheil zusammen. Schon am nächsten Morgen, als der Zinnsoldat auf einem Fensterbrett Wache stand, da – war es nun der Zugwind oder der Kobold? – flog auf einmal das Fenster auf, und der Soldat fiel kopfüber vom dritten Stock hinunter auf die Straße. Er streckte das Bein kerzengerade in die Höhe und blieb auf dem Tschako mit dem Bajonett zwischen den Pflastersteinen stehen. Die Leute gingen vorbei, ohne ihn zu sehen, und einige traten beinahe auf ihn. Nun fing es an zu regnen, ein ordentlicher Guß. Als der vorbei war und das Wasser in den Gossen rauschte, entdeckten ihn zwei Straßenjungen. Sie falteten aus einem Zeitungsblatt einen Kahn, stellten den Zinnsoldaten mitten hinein, und schon trieb er davon. Bald kam er unter ein langes Rinnsteinbrett, wo es so dunkel wurde, wie es in seiner Schachtel gewesen war. Die Strömung nahm immer mehr zu, und wo das Brett endete, stürzte das Wasser hinab in einen großen Kanal. Der Papierkahn wirbelte herum, schlug voll und löste sich auf. Der Zinnsoldat ging unter, wurde aber sogleich von einem Fisch verschlungen. Doch er blieb so
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standhaft wie eh und je, behielt sein Gewehr weiter fest im Arm. Plötzlich drang es hell wie ein Blitzstrahl in seine Finsternis, und jemand rief laut: »Ein Zinnsoldat!« Der Fisch war gefangen, auf den Markt gebracht, verkauft worden und in die Küche hinaufgekommen, wo die Köchin ihn mit einem großen Messer aufgeschnitten hatte. Sie faßte den Soldaten mit zwei Fingern um den Leib und trug ihn in die Stube, wo alle einen solch merkwürdigen Mann sehen wollten, der im Bauche eines Fisches herumgereist war. Sie stellten ihn auf den Tisch, und da – nein, wie seltsam es doch in der Welt zugehen kann! Da waren dieselben Kinder, auf dem Tisch stand dasselbe Spielzeug und in der Mitte, strahlend schön, seine kleine Spitzentänzerin. Er war wieder daheim! Das alles, besonders aber der Anblick seiner Angebeteten, rührte ihn so sehr, daß er nahe daran war, vor lauter Freude Zinn zu weinen. Doch das gehörte sich für einen Soldaten nicht. So schaute er nur geradeaus, bloß ein kleines bißchen zur Seite, wie man es tut, wenn man den Blick eines Offiziers erwidert; sie aber sah ihm in die Augen. Plötzlich nahm einer der Knaben den Soldaten und warf ihn, ohne einen Grund dafür anzugeben, in den Ofen, wo er dann, standhaft geradeaus schauend und niemanden direkt ansehend, zu einem Klumpen zerschmolz. Dove sprang auf und schlug das Buch so heftig zu, daß er Terasinas Daumen einklemmte. »Basta!« Genug von Märchen. Ein solcher Ausgang schien ihm nicht zu gefallen, denn er stürzte zur Musikbox und stellte sie an. Als wollte er das traurige Ende des Zinnsoldaten vergessen, begann er zu tanzen, sobald die Musik einsetzte:
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All of me Why not take all of me… Er hob erst den einen Fuß, dann den anderen und wiegte den Kopf langsam hin und her, ließ die Arme aber hängen – ein Tanz, in dem sich, wie Terasina sah, Liebe und Verzweiflung seltsam mischten. »Seht den König der Elefanten!« ermunterte sie ihn und klatschte Beifall, womit sie aber nur ihr Unbehagen kaschieren wollte. Irgend etwas stimmte an diesem Tanz nicht, aber was, das hätte sie nicht zu sagen vermocht. Jetzt stemmte er die Hände in die Seiten, und lasziv lächelnd, mit Schweiß auf der Oberlippe und schneller werdendem Atem, forderte er in so lust verklärten Hüftbewegungen alle Frauen auf, daß Terasina ein beginnendes Auseinandergehen ihrer Schenkel verspürte. Ein Ausdruck, der halb Qual, halb Scham war, ließ sein Gesicht grau werden, und er sank am Tisch nieder, stürzte den Kopf auf die Hände. Sie sah seine Schultern beben, während die Musik ringsum erstarb. Als sie seine Schultern berührte, schaute er sie mit einem Lächeln an, in dem zuviel Leiden lag und das an ihrem Herzen riß wie das Flehen eines Tieres. Sie preßte die Finger der linken Hand zusammen, spreizte den Daumen ab und streute Salz auf die gezerrte Sehne. Mit ihrer flinken kleinen Zunge leckte sie es wieder ab. »Du mußt dir ein Mädchen anschaffen«, verkündete sie, als habe das Salz sie plötzlich weise gemacht. Und hielt ihm die Hand hin; vielleicht hatte es auch bei ihm diese Wirkung. Er nahm eine Prise, tat sie sich auf die Zunge und erklärte dann: »In dem ganzen blöden Valley hier gibt es kein einziges Mädchen, das einen zweiten Blick wert
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war.« Und setzte, nachdem er das Salz schließlich runtergeschluckt hatte, hinzu: »Sie natürlich ausgenommen, Señora.« »Nun ja«, sagte sie, als hätte sie den Nachsatz nicht gehört, »es stimmt schon, die Dinge sind hier nicht zum besten. Aber wenn es in diesem kleinen Winkel von der Welt alles gäbe, hübsche Mädchen und auch noch gute Ernten, würden aus den schlechten Teilen der Welt schlechte Menschen kommen und häßliche Töchter mitbringen. Dann wäre es hier noch weniger gut als jetzt. Also hat es auch sein Gutes, daß es nicht so gut ist.« In jener Nacht fand Terasina keine rechte Ruhe. Im Halbschlaf sah sie immer wieder das Lächeln mit dem zu vielen Leiden darin. Eine Woche vor Weihnachten gab sie ihm den Schlüssel zum La Fe, damit er bis zu ihrer Rückkehr das Haus hüte. Sie konnte nicht jedesmal heimfahren, wenn ihr Herz unruhig wurde, aber in diesem Jahr kam die Unruhe zu Weihnachten und lieferte ihr eine fromme Ausrede. Während der Dürre von 1930, als alter Kunden Kleingeld am meisten zählte, hatten überall in der Stadt die Kaufleute in den Ladentüren gestanden und so freundlich und einladend gelächelt, als ob sie es bezahlt bekämen. Doch als die Hilfsaktionen gegen die Dürre einsetzten und sich auch wieder Touristen unterwegs nach Matamoros hierher verirrten, für eine Stunde zwischen dem Andenkenladen und dem Postamt, hatten die Kaufleute keine Zeit mehr zum Lächeln. Geschäft war Geschäft und Zeit wieder Geld. Die barfüßigen, latzhosigen Männer und Burschen liefen um den Buick irgendeines Touristen herum und erklärten einander so beflissen dessen Vorzüge, als
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seien die Tage des Zufußgehens für jedermann vorbei. Hätte einer die Luft aus den Reifen lassen wollen, wäre er von den anderen daran gehindert worden, denn sie identifizierten sich mit dem Besitzer. Sie hofften auf nicht zu hohen Benzinverbrauch, beulenlos bleibende Kotflügel und gute Fahrt ohne Reifenpanne. Sie wußten, sie kamen aus dem falschen Teil einer Stadt, die nur aus zwei Teilen bestand: einem falschen und einem verkehrten. Folglich mußten Fremde mit losen Münzen in der Tasche respektvoll behandelt werden. Und wenn die Frauen in den Wagen mit östlichen Nummernschildern reichlich hochmütig zu sein schienen, so wurde darüber nur in Spanisch geredet, und das ist ja eine höfliche Sprache. Dieser abgeschriebenen Kleinstadt war die Depression ein bißchen wie ein Aufschwung gekommen. Hatte sie ihr doch immerhin eine Armenküche beschert sowie einen Sozialarbeiter, der dafür sorgte, daß ein Dutzend Naßärsche, wie die illegal über den Fluß ins Land gekommenen Mexikaner genannt wurden, wieder zurückwateten. Begleitet von den guten Wünschen alter Freunde: »Um so mehr geröstete Yams bleiben für uns.« Als Dove eines Abends die Main Street entlangschlenderte, sah er, daß der müßig vor seinem Laden stehende Apotheker jenes Gesicht aufgesetzt hatte, das besagte: »Geh weiter, Nichtsnutz. Du hast hier nichts verloren.« Nichtsnutz ging weiter. Er hatte ja tatsächlich nichts verloren. Nichtsnutz ging stets weiter. Bis man ihm gebot, beiseite zu treten. Dann trat er beiseite. Und blieb stehen, bis ihm geheißen wurde, wieder weiterzugehen. Bei Sonne wie bei Regen, sommers wie winters, Dove konnte immer nur weitergehen oder unerwünscht herumstehen.
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Auf der Vortreppe des Rathauses spielte Fitz für denselben Haufen von Kaktusköpfen den Narren, für den er das jeden Samstag tat. Byron stand gegen die Haubitze gelehnt, als sei er heute zu schwach, auf das Rohr zu steigen. »Prediger«, fragte einer, dem der Hunger aus den Augen schaute und der einen so starken Ast hatte, als trage er eine Hucke Holz mit sich herum, »darf eine verheiratete Frau sich einen Bubikopf schneiden lassen?« »Die Antwort«, verhieß ihm Fitz, »findest du in der Heiligen Schrift.« »Mir leuchtet nicht ein, daß das was Unrechtes sein soll«, trotzte des Buckligen Frau wider das Buch der Bücher an. Fitz' Augen hefteten sich auf sie. »Weib, bist du schon mal niedergekniet und hast Jehova selber gefragt?« »No, hab ich nicht, Prediger.« »Na dann tu's, und Er wird's dir sagen. Wenn Er wollte, daß Frauen sich ihre Haare abschneiden, würde Er dann nicht auch wollen, daß sie sich rasieren?« Darauf schien sich nichts sagen zu lassen. »Wie schnell fliegen eigentlich die Engel?« sollte Fitz als nächstes beantworten. Das war leicht. »Nun, ein Engel, wenn der morgens um sechs im Neuen Jerusalem aufbricht und die ganze Erde abfliegt, kann er abends um sechs wieder dort sein, wo Löwe und Lamm einträchtig beieinander liegen. Und das Himmelreich zum Greifen nahe ist! Wo weder Motten noch Rost fressen! Weder Diebe einsteigen noch Räuber plündern! Wo es keine Krankheiten mehr gibt! Weder Leid noch Weh! Und wo ein einziger Tag tausend Jahre währet!«
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»Warum hetzt sich der Dussel dann so beim Fliegen, damit er's mit dem Zurücksein bis sechs schafft?« Fitz ging über Byrons Frage hinweg. »Wo in Gilead doch Balsam ist! Wo keine Trauerkränze an den Türen hängen – den Türen von lauterm Golde!« Der Alte machte eine effektvolle Pause und fuhr dann fort: »Aber rechnet damit ja nicht für euch – so dumm ist keiner, daß er eine Horde Hühnerdiebe für Engel hält. Nein, meine bedauernswerten Freunde, was eurer harret, ist nicht das Neue Jerusalem.« »Sondern die gute alte Hölle!« rief einer von den Gläubigen geradezu sehnsüchtig. »Die ist für uns noch zu schade!« suchte sich ein anderer bei dem Prediger lieb Kind zu machen, weil er auf einen Schluck von dessen Teufelstöter hoffte. Sie überdrehten alles. Denn sie wußten, daß Fitz die Stadt von lauterm Golde so in Reichweite brachte, das tat er nur um des Vergnügens willen, sie ihnen gleich wieder zu entrücken. An goldenen Städten lag ihnen aber sowieso nichts. Woran sie sich laben wollten, das war Grauen im Jetzt und Hier. Es gelüstete sie nach loderndem Schwefel, nach ewiger Qual und nach einem Tritt von dem mit dem Pferdefuß. Denn wenn sie auch nicht an das von Fitz verheißene nahe Himmelreich glaubten, die Hölle nahmen sie für bare Münze. Und sie brauchten Fitz, damit er ihnen den Weg zu dem feurigen Pfuhl wies. Der Prediger wußte, wo es heiß herging. So routiniert, als wäre er schon mal drin gewesen, führte er sie näher und näher an den Schlund heran: »Unsääägliches Leid für jeden von euch«, versprach er feierlich – ein Weihnachtsmann mit bloß Schreckensgaben im Sack – und ließ einzelne Silben so schön schaurig klingen, daß seine Zuhörer es kaum erwarten konnten,
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auf den Bratrost zu kommen. »Unsääägliches Leid! Grrrauenhafte Plagen! Heimsuchung durch ein Heer! Ein Heer von Aussätzigen! Zweihundert Millionen Reisige auf feuerspeienden Rossen! Ein Strom von Blut und verbranntem Fleisch, hundert Meilen lang! Allein zum Begraben der Erschlagenen sieben Monate nötig! Ein Heer im Anreiten! Ein Heer von Aussätzigen!« »Hie Heer des Herrn und Gideons!« rief ein Idiot ganz hingerissen. Diese leprösen Reiter hatten es ihnen derart angetan, daß sie kaum wußten, auf wessen Seite sie sich schlagen sollten. Das war auch unwichtig; mochte der Kriegsgrund noch so schwachsinnig sein, Hauptsache, es gab eine Schlacht und floß viel Blut. Ihr Leben war so öd, so ereignislos, daß sie sich fortreißen ließen, erst empor zur Stadt von lauterm Golde und unmittelbar vor deren Toren plötzlich kehrt und hinunter in die Verdammnis. Alles in einem Tempo, daß ihnen kein Augenblick Zeit blieb, Atem zu schöpfen und nach innen zu schauen. Hinein in Herzen, wo es so dunkel und leer war, wie es in Herzen nur sein kann. »Mütter essen ihre neugeborenen Kinder! Eine Zeit der Plagen, wie es sie seit Anbeginn der Menschheit noch nie nicht gegeben hat! Hagelkörner so groß wie Eisblöcke! Aus den Wolken schüttet Feuer gemenget mit Blut! Auch alle Wasserströme und Wasserbrunnen werden zu schäumendem Blut! El Paso überflutet von glühender Lava! So, ihr elenden Wichte, jetzt könnt ihr euch in etwa eine Vorstellung machen.« »Und New York?« Es gibt Leute, die nirgendwo allein hinwollen. »Begraben unter vom Himmel geregneten Kröten – Kröten groß wie Katzen! Ein Berg bis rauf zum höchsten Wolkenkratzer der Wall Street!«
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Wall Street hatte das meiste Glück. »Alle Inseln entfliehen, und keine Berge werden gefunden! Fliehet um euer Leben! Alle, die Jehova anbeten, müssen das Malzeichen des Tieres nehmen oder des Todes sterben! Mauern von Stein und Stahl werden eingedrückt durch Hagelkörner von je achtundvierzig Pfund!« Woher sein Vater dieses genaue Gewicht hatte, wußte nicht einmal Byron. »Die papistischen Schänder, die Sendlinge Satans, sind bereits unter uns und am Werke, sich des Weißen Hauses zu bemächtigen. Für einen, der das reinste Ebenbild des Gottseibeiuns ist: den Papst der Wall Street!« Einige schauten argwöhnisch zu Byron hin. Fitz' Augen folgten – und diese Kopfbewegung ließ den ganzen Haufen in trancehaftes lautes Singen ausbrechen: Voll hehrer Freud schau ich ihn an, Den Toten, des' Geist ist entflohn, Der wieder zu Staub werden kann – Ach könnt' ich's doch ebenfalls schon! Byron waren fromme Lieder zuwider, und dieses eine fand er das schlimmste von allen: Kein Leid und kein Schmerz ihn mehr drückt, Kein Leibeskampf setzt ihm mehr zu, All' Erdenqual ewig entrückt – Ach fand' doch auch ich solche Ruh! »O Jehova«, kam es wie ein Aufschrei von Byron, »du Gott, der du die Barfüßer verachtest, vergiß unser täglich Brot und schicke dich lieber mit deiner Rache! Erwache! Erwache!«
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»Herrgott nochmal, auf welcher Seite steht der denn jetzt?« fragte einer verwundert. Doch ehe jemand eine Vermutung äußern konnte, hatte Byron sich umgedreht und war ins Dunkel entschwunden. Seines Vaters Stimme aber hallte hinter ihm her: »Freunde, als ich euch vorhin erzählt habe von dem Heer von Aussätzigen, das im Anreiten ist, von den achtundvierzig Pfund schweren Hagelkörnern, von den zweihundert Millionen Reisigen auf feuerspeienden Rossen, von den katzengroßen Kröten, die es vom Himmel regnet, von den Müttern, die ihre neugeborenen Kinder essen, von dem Wind, der Mauern von Stein und Stahl eindrückt, und von den feuergemengten Blutströmen bis hoch zu den Zügeln der Pferde – mit all dem habe ich euch sagen wollen, daß euch einiges bevorsteht. Richtig gegerbt bekommt ihr das sündige Fell aber erst, wenn euch der Antichrist in die Mangel nimmt. Schon verbreitet er Lehren wie: Der Mensch täte vom Affen abstammen, und da Gott von allem der Vater ist, wären alle Menschen Brüder. Schon leisten ihm die Gewerkschaften der Wall Street dabei Handlangerdienste und arbeiten daraufhin, daß es niemand mehr möglich sein soll, sich sein Brot im Schweiße seines Angesichtes zu verdienen, sofern er nicht das Malzeichen des Tieres trägt: AFL. Und ebenso wird keiner mehr Handel treiben dürfen. Die Gewerkschaften in den Großstädten wollen euch weismachen, ihr wäret die Brüder von Chinesen! Von Kanaken und von Mexikanern! Ihr kommt und sagt uns, die Großstädte sind für Goldwährung. Wir geben euch zur Antwort, die Großstädte basieren auf unsern weiten und fruchtbaren Prärien. Brennt eure Großstädte nieder und laßt unsere Farmen bestehen – eure Städte werden wie durch
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Zauberei wieder hochsprießen. Zerstört ihr unsere Farmen aber, wächst in allen Städten im Lande bald Gras auf den Straßen. Ihr dürft dem Arbeiter diese Dornenkrone nicht aufs Haupt drücken, dürft nicht schlagen Menschen an ein gülden Kreuz.« Wie ein Affe sprang er in die Höhe, und wieder unten gelandet, schmetterte er los: »Das Kreuz! Das Kreuz! Das heil'ge Kreuz! Das Kreuz, ich kann es sehn: Voll Blut, voll rotem Blut, Das niemals wird vergehn! Dies Kreuz mit Jesu teuerm Blut – Mein Glaube läßt's mich sehn.« Dann wies er mit der Hand in die Ferne. »O schauet, was dort die Gassen von lauterm Golde entlanggezogen kommt! Eine große Schar, angetan mit weißen Kleidern, gewaschen im Blute des Lamines!« Ein Dutzend Köpfe fuhr herum, aber alles, was sie erblickten, war ein ganz unglücklich wirkender Dove Linkhorn. Der zu wünschen schien, sein armer irrer Pappy möge von der Treppe herunterkommen. Als er so viele Augen auf sich gerichtet sah, drehte er sich um und folgte seinem Bruder in das Dunkel. An dem kleinen Kino, wo Thomas Meighan in »Junge Sünder« zu sehen war, ging er vorbei. Vor dem Andenkenladen aber blieb er stehen, um die dort aufgehängten Souvenirs zu bewundern, die vorgaben, aus echter Büffelhaut zu bestehen und von echten Cowboys mit echten Brandeisen beschriftet worden zu sein: Dort wo ein Lächeln länger währt, Dort wo ein Handschlag noch was wert: Dort fängt der wahre Westen an.
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Diesen Spruch hatte Dove sich schon vor langem mal von Byron vorlesen lassen. Überall in der Stadt gab es Schilder und Plakate, Hinweistafeln, Warnungen und Aufforderungen, die er auswendig kannte. Und nun machte es ihm Spaß, dazustehen und nach dem Gedächtnis die Lippen zu bewegen, damit Vorübergehende den Eindruck gewännen, er lese wirklich. Ab und an runzelte er dabei sogar die Stirn, als sei er an ein Wort gekommen, das selbst einem so gebildeten jungen Mann wie ihm Schwierigkeiten mache. Die Vorübergehenden beachteten den schlaksigen Burschen mit den in die Augen fallenden Haaren jedoch kaum. So blieb er unter dem vergitterten Fenster des alten Gefängnisses stehen. Wenigstens Häftlinge hatten für ihn Zeit. Aber der einzige, der heute abend hier einsaß und dessen Finger sich weiß um die Eisenstäbe schlangen, war der blinde Riley, ein Indianer, der vor Jahren bei einer Messerstecherei beide Augen verloren hatte. Er trug sein Haar lang, nach Art der Pioniere, und hinten mit einem Steckkamm zusammengenommen. Den Schädel mit den leeren Augenhöhlen zwischen den Stäben nach unten gebeugt, stand er da, um den Duft der Nacht zu spüren, die er nie mehr erschauen konnte. Dove sah auf dem Kamm Licht schimmern. »He, du da unten. Hast 'n bißchen Tabak für mich?« Dove hob einen Kieselstein auf, steckte ihn zur Beschwerung in sein Säckchen Bull Durham und sah sich nach dem Sheriff um. Der regte sich immer furchtbar auf, wenn die Leute aus der Stadt Tütchen mit diesem oder jenem, ja ganze Grapefruits durch das Gitter warfen, denn dann mußte er, der nicht mehr der Jüngste war, die steile Treppe hinauf, um den Häftling einer Visitation zu unterziehen.
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»Tritt zurück, Riley«, sagte Dove und schleuderte dann den Tabak hoch. Er hörte, wie der Stein mit einem winzigen Klick aufschlug. Der Schädel kam wieder heraus. »Schönen Dank auch.« »Weswegen bist du diesmal drin, Riley?« »Wieder mal die alte Sache. Verweigerung der ehelichen Pflichten, als meine Alte unpäßlich war. Wofür halten die mich eigentlich?« »Was hat ihr denn gefehlt?« »Deiner Stimme nach bist du kein kleiner Junge mehr. Dann weißt du ja auch, wie das bei den Weibern ist. Ein Mann, der von seiner Frau was will, wenn sie ihre Woche hat, ist der nicht ein Tier?« »Sicher«, antwortete Dove unsicher. Er wußte keineswegs, wie das bei den Weibern war. »Hätte ich sie gezwungen, mir zu Willen zu sein, sie verdroschen und mißhandelt, wäre das wirklich ein Grund, mich einzulochen. Da würde ich mich selber anzeigen und mich stellen.« »Aber man darf eine Frau nicht schlagen, Häuptling. « »Hab ich ja auch nicht, sage ich dir doch. Ich könnte nicht mal meiner Sau was zuleide tun, geschweige meiner Alten.« »Man darf beides nicht, Häuptling. Ein wehrloses Tier!« »Bin froh, daß du das so siehst. Aber mal angenommen, ich täte es. Trete meine Sau mit Füßen, und zufällig kommt der Sheriff dazu. Glaubst du, der schreitet ein?« »Muß er doch wohl.« »I wo. Und weißt du auch, warum nicht? Weil die Sau mein Eigentum ist und ich mit meinem Eigentum ma-
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chen kann, was ich will. Wie ich meine Sau behandle, das kann er mir genausowenig vorschreiben wie dem Friseur das Haareschneiden. Warum muß er dann einschreiten, wenn ich meine Sau gar nicht mit Füßen trete, sondern bloß zärtlich zu ihr bin, bis meine Frau wieder päßlich ist? Kann ich denn was dafür, daß sie, wenn sie ihre Tage hat, noch eifersüchtiger ist als sonst schon? Ein bißchen zärtlich sein, und gleich gilt man als Unhold.« »Du bist bestimmt keiner, Häuptling«, versicherte Dove ihm, ohne sehr überzeugt zu klingen. »Aber jetzt muß ich zu meiner Arbeit. Bin Haustechniker in dem Hotel am Ende der Chaussee. Schau mal rein, wenn du wieder raus bist. Dann laß ich dir von meiner Köchin was Leckres brutzeln.« Damit verließ Dove den zärtlichen Unhold, der genüßlich durch das Gitter paffte. »Ganz manierlicher Bursche, der Injaner«, befand der Haustechniker, erfreut über den Eindruck, den er selber geschunden hatte. Als er an der armseligen Negerkirche vorbeikam, wo sich das Dutzend Farbige der Stadt zum Beten versammelte, hörte er, wie sie zu singen begannen: Well, hush, O hush, Somebody's callin' me. Well, hush, O hush, Somebody's callin' me. Es war jene Stunde vorm Einsetzen der Frösche, wenn sich Mexikaner und Mexikanerinnen zum Schutz gegen die Abendfeuchtigkeit ihre Halstücher vor den Mund ziehen. In dem staubblauen Dunkel schauten die vernagelten Fenster des La Fe so blind herunter wie Riley. Die trittwunde Treppe, die windwunden Wände,
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die sandwunden Türen zu beiden Seiten eines seelenwunden Flurs, alles erinnerte an Terasina. Ter asina Vidavarri. Frost stand vor der Tür. Obwohl sie Dove nicht gebeten hatte, daran zu denken, entzündete er jeden Abend vor ihrer Madonna eine Kerze. Bei deren Licht setzte er den Ofen in Gang. Dann steckte er sich ein Stäbchen aus Byrons selbstangebautem Potaguaya an und machte einen tiefen, trotzigen Zug. »Blöder alter Bibelforscher! Spielst vor einer Herde Hammel den lieben Gott! Mit ›Erwachet!‹ Und deinem schwachsinnigen ›Schicket euch‹! ›Schicket euch!‹ Ja, schicken, das hältst mal selber tun sollen, nämlich deinen Sohn auf die Schule! Dann hätt ich jetzt 'ne feinere Arbeit, säß an einem Schreibtisch.« Mit jedem Zug wurde er einen Zentimeter größer. »Grad wie du bist – grad bescheuert!« Und plötzlich, die Zigarette hing noch an seiner Lippe, schlug er ein Kreuz und ging, obwohl er sich nirgendwo gestoßen hatte, in die Knie. »Deine idiotischen Parolen, hast du die aus deinen Scheißhäusern?« Hier war ihr Bett, hier schlief sie. In letzter Zeit hatte sie hier unruhig gelegen oder geträumt, und bald würde sie wieder hier liegen und träumen. Beim weißen Licht der Petroleumlampe und gelben Flackern der Kerze vor der Madonna schaute er auf die Zeilen des Märchens »Was der Mann tut, ist stets das Rechte«, denn die kannte er auswendig: »Immer bergab, und immer lustig! Das ist schon das Geld wert.« Die Glut seiner dünnen Zigarette wippte in dem Halbdunkel wie eine kleine Tänzerin. Er blätterte weiter bis
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zu der Seite, wo der wie ein Chinese gekleidete Ostwind dem Prinzen sagt, er solle sich festhalten, sonst könne er leicht herunterfallen. »Ach, du kommst von dieser Ecke?« fragte die Mutter. »Ich dachte, du wärest im Garten des Paradieses gewesen.« »Dahin fliege ich erst morgen«, sagte der Ostwind. »Morgen sind es hundert Jahre, seit ich dort war! Ich komme jetzt aus China, wo ich um den Porzellanturm tanzte, daß alle Glocken klingelten. Unten auf der Straße bekamen die Hofbeamten Prügel; das Bambusrohr wurde auf ihren Schultern zerschlagen, und sie schrien: ›Vielen Dank, mein väterlicher Wohltäter!‹, meinten es aber nicht so. Und ich klingelte weiter mit den Glocken und sang: ›Tsing, tsang, tsu!‹« Ein Duft nach Orient wehte ihn an. Er ließ das Buch liegen und ging, schnüffelnd wie ein Kaninchen, seiner Nase nach. Zu einer Schublade der Kommode. Eine Chiffonbluse, ein weißes, am Saum ausgefranstes Unterkleid und ein schwarzer Büstenhalter – wie Teile eines Ordensgewandes. Dove befühlte die Stücke mit jener ganz eigenen Ehrfurcht von Männern, die völlig getrennt von Frauen gelebt haben. Wie ein Geheimnis ging ihm auf: Unter diesen Sachen hatte die Señora ja nichts weiter an, war nackt! Bei der Vorstellung wurde ihm so schwach, daß er sich auf die Bettkante setzte und das schlaff auf seinen Knien liegende Unterkleid streichelte, als wäre es ihre Haut. In den ausgeformten Schalen des schwarzen Büstenhalters roch er ihren eigenen Geruch, und der war wie Juchten. Das hier hatte ihre Brüste gehalten – dann mußten die ja noch weicher sein! An seiner ledrigen Wange prüfte er die Beschaffenheit des Stoffes.
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Señora, laß mich dein nacktes Herz berühren! Ein übermächtiges Verlangen streckte ihn auf den Bauch und drückte ihm ihr Unterkleid an die Brust. Er preßte sich in das Kissen, auf dem ihr Kopf gelegen hatte, seine Glieder zuckten. Dann ein durch und durch gehendes Gefühl, das ihn schwindlig machte und schließlich so schlaff wie das Unterkleid werden ließ. Schweißgebadet und leidenschaftslos, schuldbewußt und verausgabt lag der Junge einen langen Moment mit geschlossenen Augen da. Im Wachzustand war ihm so etwas noch nie passiert. »Dieses Pot hat's ganz schön in sich«, stellte Dove fest. Und fiel in schnarchenden Schlaf. Um zu träumen, er fahre langsam Karussell, immer rundherum, so wie er es mal auf einem Rummel vier Äffchen hatte tun sehen, angeschnallt in Spielautos und mit Jockeymützen auf, jeweils in der Farbe des Wagens, eine rot, eine grün, eine gelb und eine blau. Und an dem Geländer ringsum lehnten lauter Leute. Er hielt seine eigene Mütze am Schirm fest, damit sie ihm nicht davongeweht wurde, wenn das große Rennen losging. Dann begann die Musik zu schmettern, fröhlich und mit Tschingbum: Grad wie ich bin! Grad wie ich bin! Jetzt verlor er an Boden, jetzt holte er auf, jetzt lag er schon fast in Führung. »Schicket euch! Schicket euch!« Seines Vaters schreiende Visage wandelte sich zu Rileys augenlosem Schädel. Dann ging das Traumrad hoch in die Senkrechte, und das Schutzgeländer klappte weg. »Señora, rette mich vor Riley!« Er saß in der Mitte des Zimmers auf dem Fußboden, hatte das Kissen noch immer an die Brust gepreßt. Über
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ihm die Madonna brannte strahlend, neben ihm der Ofen gab nur einen schwachen Schein. Von der dunklen Straße her tönte der Neger Prophezeiung herauf: O hush, one mornin' Death come creepin' in the room. In dem Feuer retteten Terasinas Augen ihn vor Riley, während das Traumrad zusammen mit dem Traum zerging. »Na, alter Graubart, bist wieder mal da?« begrüßte Fitz eines Morgens den in der Nacht gekommenen Frost. Die Dächer der Hütten glitzerten weiß. Zum Heizen hatte man nichts weiter als Grapefruit-Kisten, und selbst die waren knapp. Der Wasserhahn fror ein, doch ein mexikanisches Ehepaar zwei Häuser weiter ließ freundlicherweise seinen Brunnen benutzen. Ein Gerücht, daß ein Kohlenzug durchkomme, lief so schnell von Tür zu Tür, als melde es eine bevorstehende Hochzeit. Ob wahr oder nicht, es lieferte erfreulichen Gesprächsstoff. Bald würden alle es wieder warm haben. Dove und ein Junge namens Jehova gingen die Gleise entlang und hatten einen Sack sowie eine Wäschestange dabei. Am Wasserturm drängte sich ein halbes Hundert Männer, Frauen und Kinder zusammen. Schubkarren und Kisten standen umher. Ein kleines mexikanisches Mädchen hielt, in eine Falte ihres gelben Umschlagtuches gehüllt, eine Puppe aus Pappmache an sich gedrückt. Die schmutzigen Fransen des Tuches, die ihm bis an die Knöchel reichten, hatten so viel Kohlenstaub angesammelt, daß das allein schon für ein Feuer gereicht hätte. Puppe und Kind bewachten einen leeren Puppenwagen mit verbogenen Rädern.
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»Dein Baby wird sich erkälten«, neckte Dove die Kleine, bekam als Erwiderung aber nur einen starr feindseligen Blick. »Wenn man mit dir spricht, dann gib gefälligst Antwort«, rügte Jehova sie, erhielt aber auch keine andere als Dove. »Kleine Naßärsche sind nun mal schüchtern«, entschuldigte er sie bei ihm, während der Zug kreischend und rasselnd zum Stehen kam und die Lok Wasser aufzunehmen begann. Nachdem sie die eine Seite eines Wagens zu der ihren erkoren hatten, kletterte Jehova hinauf auf die Kohlen und legte die größten Brocken, die er packen konnte, hintereinander auf die eiserne Randleiste, wozu er beide Hände brauchte. Warum das so gemacht werden mußte, wußten sie beide nicht; vielleicht weil es anders zu leicht gewesen wäre. Unten stand Dove mit der Stange. Es kam nicht nur darauf an, in möglichst kurzer Zeit möglichst große Stücke zu erwischen, sondern sich die auch nicht von anderen wegschnappen zu lassen. Jehova war mit dem Vollpacken der Randleiste gerade fertig, da fuhr der Zug wieder an. Und er kam noch rechtzeitig runter, um am Ende der Leiste den Sack aufzuhalten. Der erste Brocken Kohle, der gegen die von Dove hochgehaltene Stange stieß, fiel hinein. Einer nach dem anderen folgte, und kein einziger ging verloren. Während sie noch plumpsten, sagte Dove zu Jehova: »Mann, wenn das Yams wärn!« Da er keine Antwort bekam, redete er zu sich selber weiter: »Oder gar Zwiebeln!« Bei der Vorstellung von Zwiebelstippe lief ihm das Wasser im Munde zusammen – Dove Linkhorn brauchte bloß einer zu sagen, wo sich Zwiebeln klauen ließen, die Stippe würde Byron schon machen!
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Jemand rief, auf den Wagendächern komme ein Bahnbulle angerannt. Rasch nahmen sie beide den Sack in die Mitte und stürmten die Böschung hinunter. In dem Graben an dessen unteren Ende lag ein Puppenwagen mit den Rädern nach oben. Sie drehten sich noch, in zwei verschiedene Richtungen. Einen Schritt weiter hatte jemand ein gelbes Umschlagtuch ausgebreitet. Darunter zuckte es. Langsam verfärbte sich das Gelb zu nassem Schwarz. »Ihr Puppenwagen ist von einem Rad erfaßt worden, aber sie hat und hat den Griff nicht loslassen wollen«, hörte Dove einen Mann berichten. »Warten wir auf den Priester«, sagte ein anderer, so daß Dove den im Geiste schon ankommen sah und getragenen Tones erklären hörte, wie groß doch eines kleinen Kindes Liebe zu seiner Puppe sein könne, so grenzenlos, daß es nicht einmal die Räder eines Güterwagens fürchte. An einem der letzten Januartage stand Dove im Holzschuppen vom La Fe und wärmte gerade in Erinnerung an die Hühner des letzten Sommers ein Porzellanei in seinen Händen, da hörte er, daß sich jemand an der Haustür zu schaffen machte. Sein Herz raste vor ihm her zum Schuppen hinaus, und mit bebenden Knien rannte er ihm nach. Terasina. Sie hatte lange schwarze Handschuhe an und sah so sehr wie eine der unerreichbaren New Yorker Touristinnen aus, daß er stehenblieb, steif und stumm, barfuß und verlegen. Sie lächelte ihr breites, zähneblitzendes Lächeln und roch nach mexikanischer Sonne. Als er herankam, klopfte sie ihm leicht auf die Wange.
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Er revanchierte sich, indem er ihr das Ei reichte und sagte: »Ein kleines Mädchen ist überfahrn worden.« »Erzähl mir das später«, hieß sie ihn, und er stieg die alte, so abgetretene Treppe hinauf mit ihrem Koffer, der ebenfalls schon etwas abgeschrammt war. An der Tür zu ihrem Zimmer trat er zur Seite, und sie ging vor ihm hinein. Er hatte die Rolläden heruntergelassen und fest verzurrt. Der Raum roch nach Dunkelheit, Seife und Frieden. Doves Mund viel voll auf den ihren, und es war der Mund eines Jungen – sie spürte darin die große, tiefe Wärme seines ganzen Seins. Bis der Kuß zu dem eines Mannes anwuchs, der ihr die Lippen auseinanderzwang und mit dem ihren verschmolz. Der ihr den Rücken zurückbog und ihrem Herzen Wein zu trinken gab. Ihre Zungenspitze lockte die seine, bis er sie ihr überließ; mit geschlossenen Augen saugte sie sanft daran. Ihre Kraft begann im selben Maße zu erlahmen, wie seine zunahm, und schließlich hielt nur noch seine eine um sie gelegte Hand sie aufrecht. Die andere strich so zaghaft fordernd zwischen ihren Schenkeln hinauf, daß sie dachte, wie lieb er doch sei und ihr nicht weh tue, und dankbar machte sie die Beine ein wenig breit. Als seine Lippen zu ihrem Hals hinunterglitten und ihr Rücken das Bett spürte, waren die Läden aber plötzlich doch zu fest zu, um aus bloßer Dankbarkeit hochzugehen, obwohl sie sich so strafften, daß es schmerzte. Sie wand sich unter Dove hervor und lehnte sich gegen das Kopfende des Bettes, um Luft zu holen; ihr Rock war vorn bis zum Gürtel hochgeschoben und in der Schnalle verhakt. Scham mischte sich in ihr mit Zorn. Sie zog den Rock wieder runter. Als er einen Schritt auf sie zutrat, zeigte sie ihm herausfordernd die Fingernägel. In der Dunkelheit schim-
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merten sie wie winzige Dolche, eigens zum Einsatz gegen Männeraugen geschmiedet. Er warf die Haare aus der Stirn zurück und lächelte schwach. »Such dir anderswo Arbeit«, erklärte sie ihm. Wie blind in der Ungnade umhertappend, in die er gefallen war, drehte er sich um und sagte: »Ich glaub, ich muß mal nach dem Feuer unten sehen.« Eine Minute später hörte sie, wie der große Ofen zu bullern begann – immer wenn er nichts mit sich anzufangen wußte, legte er Brennholz nach, als würde Brennholz nichts kosten. Sie wartete, bis unten die Tür ins Schloß fiel. Vom Fenster aus sah sie ihn davonschlurfen, den Jungen, der ein Mann wäre, wenn sie eine Frau wäre, und jedesmal wenn er auf dem holprigen Weg fehltrat, stolperte sie mit. »Mit mir hat das nichts zu tun«, sicherte sie sich nach allen Seiten ab. Doch hoch oben im windstillen Licht zog ein Schwarm Pelikane zum Golf, in für sie typischer Formation, so daß der jeweils hinterste Vogel den jeweils vordersten in fliegendem Wechsel ablöste: ein sich endlos drehender senkrechter Kreis, ein Riesenrad hinunter zu einem nutzlosen Meer. »Ein Mann bleibt unglücklich, wenn er von einer Frau an der Nase herumgeführt wird«, ging es ihr durch den Sinn, und sie verspürte Gewissensbisse. Wo sollte ein solcher Tölpel denn eine andere Freundin finden? An diesem Abend kniete sie, nachdem die Schneewehe in ihrem Haar im verträumten Schein des Holzfeuers eingeschlafen war, vorm Zubettgehen nieder und beichtete all ihre Schuld. Eine Frau von über Mitte zwanzig mit einem Jungen von sechzehn – sie bemühte sich, Scham zu empfinden, doch statt dessen stieg ein Gefühl
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der Zufriedenheit in ihr auf. So begnügte sie sich damit, den Kopf aufs Bett zu lehnen, damit sie die von irgendwo aus der Ferne kommende Musik besser hören konnte, eine altmodische Musik, die undeutlich über ein altmodisches Meer heranwehte. Mädchen spazierten Hand in Hand, und Burschen kamen ihnen entgegen, taxierten sie im Vorübergehen ab. Sie selber lief ein Stückchen seitwärts, wie es sich für jemand geziemte, der mehr Glück hatte als mancher, aber einsamer war als alle. Und sie sah, daß ihr eine glücklose Mischlingshündin folgte, die mit im Straßenstaub schleifender Leine nach ihrem Herrn suchte. Sie hatte eine gebrochene Rute, war anscheinend angefahren worden; die Leute lachten darüber, wie der Knickschwanz hin- und herpendelte und von überall Rüden anlockte. Den ganzen Tag schon war sie die Seitenstraßen und Durchgänge abgerannt, hatte sich mit hängender Zunge hinter Müllkästen und auf jeden Streifen Schatten gelegt, der ein bißchen Versteck bot, doch war ihr Geruch immer wieder zu anziehend geworden, so daß sie mit kraftloser werdenden Beinen weitertraben mußte. Um Schutz hechelnd, streckte sie sich zu Terasinas Füßen aus; ihre Hinterläufe waren blutig, ihre Augen sahen nichts mehr. »Lacht doch nicht, weil andere ihr nachlaufen«, verteidigte Terasina sie gegen jene, die zu spotten wagten. »Sie ist die Anführerin, diejenige, die bestimmt, was Hunde spielen. Jetzt ist sie vom Spielen bloß durstig.« Wie um der Hündin klarzumachen, daß es keine Schande sei, Anführerin zu sein, fragte sie: »Und was sollen wir jetzt spielen? Wenn du nicht so häßlich wärst, würde ich dich mit nach Hause nehmen.« (Und wie sie in der Schwüle japste!)
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Das Tier war so mager, daß das rötliche Fleisch durchschimmerte, und als Terasina ihm den Rücken streichelte, merkte sie, daß ihre Hand mit diesem Fleisch verschmolz. Was sie da anfaßte, das war kein Hund mehr! »Gehört nicht zu mir!« beteuerte sie allen. »Läuft mir bloß nach!« Und erwachte, noch immer kniend, während der Feuerschein über alle Wände flackerte und die eine Hand die andere rang. »Luft nachfüllen, Mister?« hörte Terasina Dove fragen. Er war am frühen Morgen so zur Arbeit erschienen, als wäre nichts zwischen ihnen vorgefallen. Aus dem oberen Stockwerk sah sie zu ihm hinunter, wie er den Schlauch aufs Ventil drückte. Er hatte frischgewaschene Hosen an, sein Haar war gescheitelt und angeklatscht, sein Gesicht regelrecht rotgeschrubbt. Um den Hals hatte er ein sauberes grünes Tuch geknüpft – nicht einmal seine Knöchel waren mehr schmutzig! Glaubte er denn, sie habe ihn wegen mangelnder Reinlichkeit entlassen? Als er zum Kaffee hereinkam, brachte sie es nicht fertig, ihm zu sagen, es sei ihr Ernst damit, daß er nicht mehr kommen solle. Sie sah, daß das ohnehin keinen Zweck hätte. Er würde trotzdem weiterarbeiten. Immerhin konnte sie es ihm ungemütlich machen. Kaum war er mit dem Anheizen der Öfen fertig, kommandierte sie ihn an den Abwasch von gestern abend. Und noch ehe er das Spülbecken ganz leer hatte, hieß sie ihn neuen Kaffee machen. Wie sie ohne ihn überhaupt zurechtgekommen sei, fragte er sich; und ein bißchen fragte auch sie sich das. Als er auf einem Stuhl hockte und die große verchromte Kaffeemaschine füllte, lehnte sie einen Besen gegen ihn. »Der Fußboden muß gefegt werden. Aber gründlich!«
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»Stecken Sie ihn mir doch in den Hintern«, schlug er ihr mit verhaltener Stimme vor, »dann kann ich beim Fegen gleichzeitig die Wände abwaschen.« »Hast du was zu mir gesagt?« »Ein kleines Mädchen ist überfahrn worden.« Zweifelnd sah sie ihn an und ging weg. Daß er sie genasführt hatte, hob zwar seine Stimmung, bewirkte aber nicht, daß sie ihn weniger herumscheuchte. Kurz vor Mittag lenkten zwei Fechtbrüder ihre Aufmerksamkeit von ihm ab. Sie kamen Arm in Arm, der eine eine Art mexikanischer Windhund, ein richtiger kleiner Pachuco mit Koteletten und allem, der andere ein zerfranst aussehender Schwede, doppelt so groß und dreimal so alt wie der Mex. »Wir kommen, um Ihnen in Ihrer neuen Umgebung Glück zu wünschen«, begrüßte der Jüngere Terasina auf spanisch. »In früheren und besseren Zeiten haben unsere Familie und die Ihrige einander oft zum Essen eingeladen.« »Von neuer Umgebung kann keine Rede sein«, klärte Terasina ihn in ihrer Muttersprache auf. »Denn ich lebe hier schon zehn Jahre. Und Familie habe ich gar keine.« »Ich möchte Ihnen meinen Vater vorstellen«, sagte er, zu Englisch überwechselnd. »Er hat eine Stellung in Dallas als Bezirksdirektor angeboten bekommen, und jetzt mangelt es ihm lediglich noch am Fahrgeld dorthin. Könnten Sie ihm nicht gütigerweise eineinhalb Dollar leihen? Ich stehe mit meiner Person dafür ein, daß er sie Ihnen binnen zwei Tagen per Post retourniert. Um der früheren und besseren Zeiten willen.« »Drück nicht zu sehr auf die Tube!« hörte Dove den Alten flüstern. »Sie sollten sich was schämen«, schalt Terasina den
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Pachuco. »Ein netter spanischer Junge von so guter Erziehung!« Und stellte zwei Tassen Kaffee hin. Um der früheren und besseren Zeiten willen. Die Hand des Alten schoß vor, der Pachuco aber hatte seinen Stolz. »Komm, Vater, wir können unsere Geschäfte auch anderswo tätigen«, entschied er für beide und zog den maulenden Schweden zur Tür. Terasina malte auf der Stelle ein neues Schild. Den Kopierstift immer wieder mit der Zunge anfeuchtend, arbeitete sie über eine halbe Stunde daran. Als es endlich fertig war, hängte sie es an den einen Henkel der Kaffeemaschine: Kein Aufwärmen Auch kein klein bißchen Dove saß da und rätselte, was da wohl drauf stehe. Terasina zu fragen getraute er sich nicht, so wie es zwischen ihnen stand. »Glaubst du, du kriegst deinen Lohn fürs Rumsitzen?« fragte sie, und er sprang wieder an die Arbeit. Der Pie-Mann kam pünktlich angefahren, und wie immer bestellte – und bezahlte – er ein Stück von seinem eigenen Kuchen. »Für lateinamerikanische Frauen habe ich eine Schwäche«, gestand er mit schokoladenverschmiertem Mund, denn er wählte stets die teuerste Pie, »und ich trage mich mit dem Gedanken, zu heiraten und eine Familie zu gründen.« Da sie darauf nicht einging, suchte er ihr mit Belesenheit zu imponieren. »Mich interessiert Wissenswertes aus aller Welt«, vertraute er ihr an. »Zum Beispiel so was: Wußten Sie, daß der Lügendetektor bei Indianern nicht funktioniert?« »Vielleicht lügen Indianer nicht.«
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»Señora, Sie haben aber auf alles eine Antwort. Doch ist Ihnen auch bekannt, daß die Navajos Heuschrecken essen?« Sie tat erstaunt. »Nicht zu glauben.« »Ich kann Ihnen sogar sagen, warum. Falls Sie es gern wissen möchten.« »Warum denn?« »Weil sie einer anderen Kultur entstammen, darum.« »Andere Kulturen, andere Nahrungsmittel«, erklärte Terasina lakonisch und setzte ihm ein KopfsalatTomaten-Sandwich vor, bei dem der Kopfsalat durch ein Blatt Weißkohl ersetzt war. »Würden Sie mir die bitte aufwärmen?« Er schob ihr seine halbleere Tasse zum Nachschenken hin. »Bloß ein klein bißchen.« Terasina wies auf das neue Warnschild, und zu spät erkannte er, daß ihn die paar Tropfen Kaffee einen weiteren Nickel kosteten. »Worauf arbeiten Sie hin?« fragte er. »Die reichste Frau auf dem Friedhof zu werden?« Trotzdem unterließ er es nicht, ihr beim Abschied die Handfläche zu kitzeln, der Pie-Mann mit dem Wissenswerten aus aller Welt. Sie waren wahrlich keine Hengste aus Mondlicht, diese Könige der Fernstraßen. Sondern klotzige Stiesel, deren Untugenden ein bißchen überschwappten so wie der Kaffee, den sie auf ihre Untertassen kleckerten. Freßsäcke, Süffel und Priemkauer. Spießige Kleinkrauter, die sich als große Sünder aufspielten, obwohl sie nie Schlimmeres taten als einen Spielautomaten ein bißchen ankippen, damit die Kugel länger im Feld blieb. Ihrem Reden nach gelangen ihnen jede Menge Eroberungen und hatten sie ständig Ärger wegen des
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Neides von weniger erfolgreichen Liebhabern. Doch als Terasina zum Schein zu dem einen sagte, die WeekendFahrt nach Matamoros klinge nicht uninteressant, machte er einen halben Rückzieher. Nein, doch nicht nach Matamoros, sondern bloß nach Brownsville. Auch nicht übers Wochenende, sondern nur für einen Tag. Und natürlich müsse er seine Familie mitnehmen. Der einzige Mann, der ihr in den zehn Jahren begegnet war und dessen Schmeicheleien zu widerstehen sie schon weniger leicht fand, das war Dove. In seinen Augen las sie Hingabe. »Ist das frische Schokoladen-Pie?« fragte er so, als könnte es Bananenkrem sein. Sie reichte ihm einen trockenen Schwamm. »Da hast du Pie!« Er machte sich ans Fensterputzen – liebelos, schuhlos, kuchenlos. Als er fertig war, drückte sie ihm eine Fliegenklatsche in die Hand. Bedachte jedoch nicht, daß er die Strecke laut zählen werde. »Uno!« meldete er aus der Küche. »Dos! Tres! Cuatro!« Er schwindelte; am Zischen der Klatsche erkannte sie, daß er gar nichts traf. Und lauschte seinen die Treppe hinauf immer höher werdenden Trefferzahlen. »Seis! Siete! Ocho!« Bei »Nueve!« langte er oben an, »Diez!« brachte ihn an die Schlafzimmertür, »Once!« an ihr Bett, und bei »Doce!« schlug er, einen nichtexistenten Brummer rund um das Bett verfolgend, direkt über ihr zu. Er machte ein Täuschungsmanöver – sie hörte seine Füße zurückschlurfen, in bühnenreifer Pantomime eines Mannes, der eine schwirrende Fliege zu überlisten sucht –, flankte dann übers Bett und haute mit so lautem Knall zu, als habe er das Insekt auf dem Fußboden zermatscht. Dann Stille.
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Eine Stille, in der sie sich danach sehnte, auf diesem guten harten Bett ihre Füße hinter seinem Rücken zu verschränken. Halb krank gemacht von diesem natürlichen Wohlgefühl in Leib und Seele, dem sich hinzugeben eine Todsünde war, wie man sie gelehrt hatte, stützte sie den Kopf auf die Hände. »En Jesus tengo paz«, mühte sie sich, das gute harte Bett wegzubeten. »Kein Aufwärmen«, warnte das Schild hinter ihr. »Auch kein klein bißchen.« Während auf dem Bett Dove auf sie wartete. Schließlich kam er, die Klatsche lustlos schwingend, wieder herunter. Er hängte sie an ihren Platz und schob sich zur Tür hinaus. »Jetzt kannst du Pie haben«, suchte sie ihn zurückzurufen. Er spuckte durch die Zähne, um all den Staub loszuwerden, und war verschwunden. An diesem Abend scherte sich Terasina nicht um ihre Freundin an der Wand. Dies war einfach keine Nacht für Madonnen. Allein in dem rollädendichten Dunkel, hörte sie das keuchende Ticken einer Uhr; einer stramm aufgezogenen kleinen Uhr, die allein war wie sie und deren Feder genauso nach Entspannung lechzte wie sie nach dem seidenweichen Anstoß zum Auslösen ihrer ungenutzten Lust. War das eine Uhr des Teufels? Deren Ticktack verkündete, jede Minute keuschen Alleinseins im Bett sei unverzeihliche Sünde? Terasina atmete in einer Atmosphäre, die ohne jeden Laut war, ohne jeden Windhauch, ohne das Zirpen auch nur einer einzigen Grille. Eine Uhr aber bot Rechtfertigung dafür, mit einem Jungen, der noch
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ein halbes Kind war, das Tier mit den vier Beinen zu spielen. Bis diese Stille selber sich ihrer erbarmte und der Schlaf sie eine Weile unruhig hin- und herwarf. Sie trug ein am Rücken tief ausgeschnittenes Abendkleid in Mitternachtsblau mit grünen Pailletten, das aber unappetitlich mit Schokolade beschmiert war. »Wo geht es zur Kirche?« fragte sie einen kleinen Buckligen, der einen Frack anhatte. »Ich will nämlich heute Nonne werden.« »Für Nonnen habe ich eine Schwäche«, versicherte ihr der elegante kleine Gentleman und machte eine tiefe Verbeugung. »Mein Vater war ja Bischof von Sevilla. Meine Familie kannte die Ihrige gut, Señora.« »Monsignore«, sagte sie respektvoll, »meine Familie und Ihre Familie stammen von Cortez ab. Vielleicht erinnern Sie sich noch an meinen Vater?« »Selbstredend. Das war doch der lahme Lude aus Puebla, nicht?« »Richtig.« Und mit stillem Stolz fügte sie hinzu: »Wir hatten stets einen guten Zuhälter in der Familie.« »Und wir stets eine gute Hure«, brüstete er sich seinerseits. »Erinnern Sie sich an meine Mutter?« »Wer könnte wohl die noble Lady vergessen, die einen zum Preis von nur drei Spielen auf ihren Billards schlafen ließ? Erfreut sie sich noch guter Gesundheit?« Doch ehe sie erfahren konnte, wie es der noblen Lady ging, verflüchtigte sich der Traum und verlor sie den Weg zur Kirche. Am nächsten Morgen saß sie in ihrem schwarzen Unterkleid mit Spitzenbesatz auf der Bettkante, als Dove hereingestürmt kam, beide Arme voller Brennholz, damit er nicht anzuklopfen brauchte.
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»Häng die Türen doch alle aus«, sagte sie zu ihm. »Wir scheinen sie ja nicht mehr zu benötigen.« Er mied ihren Blick, ihre Augen aber wichen nicht von ihm. Sie sah, daß seine das Streichholz haltende Hand leicht zitterte, während er darauf wartete, daß die Flamme übergriff. Als sie schließlich aufloderte, ließ ihr flackernder Schein sein bäurisches Gesicht erblühen. Da brach sich in ihr eine frohe Erkenntnis Bahn: Feuer wegleugnen wollen war zwecklos. »Komm mal her, du«, hieß sie ihn, und er gehorchte. Stand vor ihr stramm wie ein Rekrut und schaute an ihren Schultern vorbei auf etwas draußen, bereit, jeden Befehl auszuführen. Daß er sich ihr so völlig unterwarf, tat ihrem Herzen gut wie süße Rache. Verstohlen schob sie den Koffer mit den Zehen vor, bis er an die seinen stieß. »Was stehst du so da? Erwartest du, daß ich dir die Tapferkeitsmedaille verleihe?« »Hab ja nie beim Militär gedient, M'am.« »Was denn – Angst vorm Soldatsein?« »Nein, das nicht. Bin bloß nie aufgefordert worden.« »Ach so. Also nur Angst vor Terasina?« »Angst nicht. Aber Respekt, M'am.« »Dann hast du dich seit gestern abend aber gewaltig verändert. Da hatte deine Hand nicht gerade Respekt vor mir.« Jäh ergriff sie seine beiden Hände, drehte sie nach oben und schleuderte sie in gespieltem Entsetzen von sich. »Nein, sie sind noch genauso. Bloß um einen Tag dreckiger. Mußt du mich denn immer enttäuschen?« Die Ofentür ging auf und blies eine orangefarbene Leidenschaft über sein Gesicht. Das noch so jung und doch schon so alt war.
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»Wollen tu ich das aber nie. Im Gegenteil.« Und in dem Arm, den er um sie legte, spürte sie eine gebieterische Zärtlichkeit. »Was macht eine Frau mit einem Mann, der es so faustdick hinter den Ohren hat?« sagte sie und wartete dann, daß er sich zu entschuldigen beginne und damit alles verderbe. Statt dessen riß er ihr die Achselbänder herunter, als habe er ihre Unterwäsche bezahlt, entblößte ihren Oberkörper von allem und ließ sie sich an ihn lehnen. Dann hob er ihre eine Brust hoch und schaute sie sich an: eine braune Melone mit rosa Spitze. Offensichtlich zufrieden damit, ließ er sie wieder los und untersuchte die andere. »Die ist genauso«, versicherte sie ihm. »Kann ich sonst noch etwas für dich tun, mein ausgekochter Nichtsnutz?« Als Antwort drückte er beide Brüste anerkennend. »Wir können, ich bin bereit«, meldete Nichtsnutz schließlich. Und während dann seine Hände zu arbeiten begannen, ungestüm und doch sanft, ließ die Berührung seiner Lippen ihr die Augen feucht werden. In einem Kuß, der kein Ende nahm. Bis ihre Augen, die sich vor Begehren verdunkelt hatten, selig aufleuchteten. Seine hautenge Hose und ihr schwarzes Unterkleid lagen in einem Knäuel auf dem Fußboden. »Empuje!« Und ihre Arme zogen ihn hinunter und hinein. Sein Gegendrücken verlieh ihr ein solches Lustgefühl, daß sie durch schnelles Hin und Her zum Höhepunkt zu kommen suchte. Da zog er zurück, ganz genauso langsam, wie er eingedrungen war. Und begann mit einem beherrschten Sichgehenlassen, das sie in Staunen versetzte: Was hatte sie alles ver-
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säumt! »So langsam. So schön langsam. So kenne ich's nicht.« Bis ran an den Rand des Abgrunds brachte er sie, ließ sie nur kurz verschnaufen, um sie dann immer noch näher heranzuziehen. Verlängerte ihre Lust bis zur Schmerzgrenze. Und in dem zwanghaften Verlangen, sich von all dem zu befreien, schloß sie ihn immer feuriger, immer fester ein, schlug ihm mit beiden Fäusten auf die Brust, und durch einen Stoß wie von Feuer endlich oben angelangt, fiel sie hinab, fiel in schwereloser Glückseligkeit, erlöst von aller Lust und allem Schmerz. Immer weiter hinunter, in einem Traum des Fallens, mit sonst nichts Lebendem als zwei fernen Stimmen in einem Philippinen-Tief des Friedens, einer unendlichen Tiefe vollkommenen Entspanntseins. In der sie nur eines Mannes langsames Atemholen und einer Frau dankbares Schluchzen hörte. Bis ihr Hände übers Gesicht strichen und ihr dunkel bewußt wurde, daß es ihre eigenen Augen waren, die da jemand zu trocknen suchte. Sie waren durch Tränen versiegelt. Nach dem Moment der Ekstase hatte er jenes tiefe Schuldgefühl, das noch nicht einmal so lange anhält wie die Erschlaffung des Fleisches und dem nie nachgetrauert wird. Ihre Hände fuhren über seinen Rücken, um ihm zu zeigen, daß sie verstehe, obwohl sie gar nichts verstand. Sanken dann matt zur Seite. Terasina Vidavarri schlief wie ein riesiges Baby. »Ich weiß zwar nicht, was ich mal Großes werde«, sann Dove gelassen über seine Zukunftsaussichten nach, »soviel aber steht fest: Ich bin der geborne Welterschütterer.«
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Der geborne Weiterschütterer band sich gerade eine Schürze vor, um sich ans Ausscheuern der Pfannen und Töpfe zu machen, als er seinen Bruder barfuß durch den Staub anhasten sah. Ging ja mächtig schnell, daß sich in diesem Kaff was rumsprach! Dove hatte gerade noch Zeit, sich aus dem Tabakwarenfach eine Zigarre zu nehmen und sie anzuzünden, um sich Mut zu machen, da kam Byron schon herein und kneistete in die Runde. In dem getüpfelten Frühlicht konnte er schlecht sehen. »'n Morgen, Byron«, begrüßte Dove ihn. »'n Morgen, Dove.« »Kann ich was für dich tun?« »Kaum. Bin bloß zufällig hier langgekommen.« »Magst Kaffee?« »Bin 'n bißchen knapp bei Kasse.« Dove goß eine Tasse ein. »Geht aufs Haus. Kuchenbrötchen dazu?« »Nett von dir, Dove. Riesig nett. Du scheinst dich hier gut zu machen.« »Ja, tu ich.« »Wie geht es Dolores del Rio?« »So mein ich das nicht. Ich arbeite hier doch bloß, Byron.« »Diese Mexe, wie alt ist die eigentlich?« »Einundzwanzig, sagt sie.« »Da scheint sie aber schlecht zählen zu können. Was zahlt sie dir denn?« »Das geht dich nichts an.« »Unser lieber Pappy wird das schwerlich gutheißen.« »Unserm lieben Pappy werd ich auch schwerlich was davon sagen.« »Vielleicht aber ich.« »Das würd ich nicht sehr brüderlich von dir finden.«
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»Na dann zeig mal, wie brüderlich du bist.« »Magst auch 'ne Zigarre, Byron?« Byron wurde von seinem trockenen Husten ergriffen. Er schüttelte den Kopf, obwohl allein schon das Angebot ihm ein angenehmes Prickeln im Hals verursachte. Sich sein Knüpftuch vor den Mund haltend, zeigte er auf die Registrierkasse und hielt einen Finger hoch. Dove starrte ihn an. Byron schnippte mit den Fingern. »Pronto! Pronto!« Dove beeilte sich, ihm zu gehorchen, wobei er hoffte, daß es ihm gelinge, die Kasse nur ganz leise klingeln zu lassen. Er nahm vier Vierteldollar heraus und wägte sie einen Moment in der Hand, als besinne er sich anders. Byrons offene Hand langte über die Theke, Stück für Stück fielen die Münzen hinein. Erst als Byron die Fliegentür hinter sich zuwarf, wurde Dove bewußt, daß die Kasse immer noch offenstand. Terasina wachte langsam auf. Sie fühlte sich so wohl wie schon seit Jahren nicht mehr. Eine große weiße Sonne zeichnete ein mexikanisches Mosaik auf den Fußboden. Sie empfand tiefe Dankbarkeit, daß sie sich ihretwegen solche Mühe machte. Ihr war, als sei sie krank gewesen und als habe die Sonne sie wieder gesunden lassen. Doch wer hatte da eben eine Tür zugeschlagen? Dann sah sie ein kleines Taschentuch mit schwarzer spanischer Spitze, das noch feucht von ihren Tränen war. Die Erinnerung kehrte zurück, so als bringe ein Fremder schlechte Nachricht. Von etwas Unrechtem, das sich nicht mehr ungeschehen machen lasse. Und als sie sich vergegenwärtigte, wie sie sich auf diesem unzüchtigen Bett hingegeben hatte, roch das Zimmer nicht mehr nach Seife und Keuschheit, sondern nur noch
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nach Fleischeslust. Mit so spitzen Fingern, als starre es vor Schmutz, hob sie das Unterkleid vom Boden auf. Gerade als die Registrierkasse klingelte. Terasina brachte Gesicht und Haare in Ordnung, zog sich ohne Hast an und ging hinunter. Obwohl bei jedem Schritt Zorn in ihr hochwallte, suchte sie sich einzureden, nichts wäre anders als gestern. Dove dagegen schien zu glauben, daß vieles anders sei. Eine Tasse Kaffee in der Hand, stand er wie ein Mondkalb, verträumt und zufrieden. Zwischen seinen Lippen schmokte eine fast aufgerauchte Zigarre so selbstgefällig, als wäre sie bezahlt worden. »Komm mal her, du«, befahl Terasina ihm von der Kasse aus. »Ich zeige dir was sähr Kommisches.« Ihr Englisch hatte nur dann einen spanischen Akzent, wenn sie erregt war; schon das hätte ihn warnen müssen. »Was sähr Kommisches!« Sie wies auf eine Peso-Note. »Schau, ist gedruckt in Amerika. Sogar zum Geldmachen braucht Mexiko die Amerikanos!« Er nickte nachdenklich; komisch war das schon. Vorsichtig seinen Kaffee balancierend, trat er einen Schritt näher heran. »Ist aber gar nichts gegen zu sagen. Dafür machen wir Mexikanos den Chinesen ihr Geld.« Und schlug ihm mit der flachen Hand von unten her die Tasse weg. Das ganze Gesicht vollgespritzt, stand er da und klappte den Mund auf, so daß der Kaffee auch dort hineinrann. Tasse und Untertasse fielen zu seinen Füßen in Scherben. Sie packte ihn mit der einen Hand am Träger, mit der anderen am Boden seiner Latzhose und schob ihn so schnell vorwärts, daß seine Zehen unterwegs nur zweimal die Erde berührten – und mit einem beidhändig
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geführten Stoß ließ sie ihn hinausstolpern in den Staub, aus dem sie ihn aufgelesen hatte. Dove kniete auf der Straße auf allen vieren, als suche er etwas, das er verloren hatte. Schwerfällig erhob er sich und klopfte sich langsam den Staub ab. Und betrachtete ihre sonnengestreifte Gestalt hinter der fest eingehakten Fliegentür. »Hab dir schon mal gesagt, du sollst gehen«, rief sie ihm ins Gedächtnis. »Und sage es jetzt endgültig: Laß dich hier nie wieder blicken!« Sie schaute ihm nach, bis er aus ihrem Blickfeld entschwunden war. Dann verrauchte all ihr Zorn. Und zurück blieb eine waidwunde kleine Frau mit runtergerutschtem Strumpf hinter der Fensterscheibe mit der Aufschrift »Bien venidas, todas ustedes«. Die halbe Nacht lang hörte Dove seinen Vater und seinen Bruder debattieren, ob die Welt sich drehe oder stillstehe. »Nimm einen Schmetterling«, brachte Fitz hartnäkkig vor, »wie der sich über ein und demselben Fleck in der Luft hält. Würde die Erde sich drehen, tat er doch erst ein paar Meter weiter runterkommen.« »Der Schmetterling hat eben mehr Grips als du«, gab Byron zurück. »Er weiß, daß die Erde rund ist, und so fliegt er eben grad so schnell, daß er mit ihr Schritt hält und über dem Fleck bleibt. Dir mag's so scheinen, als würde er bloß auf der Stelle flattern, in Wirklichkeit aber fliegt er die ganze Zeit voran.« »Hast du schon mal einen Ball hochgeworfen und ihn beim Runterkommen aufgefangen?« »Natürlich.« »Dann sagt dir doch der gesunde Menschenverstand,
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daß du, würde die Erde sich tatsächlich drehen, dann zu weit weg wärst, um ihn aufzufangen. Nun erzähl mir bloß, auch der Ball weiß, daß die Erde rund ist!« Der alte Mann sah den Sieg bereits winken. »Herrgott noch mal, wenn man sagt, die Erde dreht sich, heißt das doch nicht, daß sie einen Affenzahn von vierzig Stundenmeilen drauf hat!« »Was sollte sie an einem solchen Tempo denn hindern?« fragte Fitz trocken. »Wenn sie eine Kugel ist, wie du behauptest, müßte sie doch immer schneller werden, so wie ein Schneeball, der einen Hang runterkullert. Ich werd dir sagen, warum sie sich nicht dreht. Aus demselben Grund, aus dem sie nicht rund ist: Weil sie nämlich Ecken hat, damit sie nicht wegrollen kann. Ich beweis es dir im Buch der Bücher.« Dove hörte ihn in der abgegriffenen Bibel nach der Stelle blättern, die ihm recht gab. »Spar dir die Mühe, Alter.« Byrons Stimme klang müde. »Ich weiß, wonach du suchst: ›Und darauf sah ich vier Engel stehen auf den vier Ecken der Erde, die hielten die vier Winde der Erde.‹ Wie könnte also was, das Ecken hat, rund sein? Geh schlafen, alter Narr.« Die Funzel wurde gelöscht. Dove hörte seinen Vater ins Bett krauchen. Solange die Welt flach war, würde er gut darin schlafen. Nur runde Welten bereiteten Fitz schlaflose Nächte. Sanft säuselnd, als habe er sich das aufgespart, fragte Byron: »An welchem Tag der Schöpfung war es, wo Gott sprach: ›Es werde Licht‹, und es dann Licht ward?« »Am ersten natürlich.« Dove hörte ein kurzes Schweigen hin- und hergehen. Byron hatte Gespür für den richtigen Zeitpunkt zum Zuschlagen.
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»Und wann machte Er die zwei großen Lichter: ›ein groß Licht, das den Tag regiere, und ein klein Licht, das die Nacht regiere‹?« »Na am vierten.« »Da denk mal drüber nach, Alter.« Byron drehte sich auf die Seite. Er schlief auf einem runden Gestirn am besten. Dove hörte seinen Vater grübeln und sich dann wütend von einer Seite auf die andere wälzen. Während Byron im Schlaf der Gerechten leise schnarchte. Daß Byron endlich einmal gesiegt hatte, freute Dove. Von ihm selber aus aber konnte der Planet die Form einer Brezel haben, es war ihm Wurst. Er hatte dringendere Probleme zu lösen. »Erst läßt sie sich mit mir ein, und dann, eh ich mich verseh, versetzt sie mir einen Tritt. Das kann sie mit mir nicht machen!« Nein, vor einer Tür rumlungern, durch die man ihn rausgeworfen hatte, dazu war er sich zu gut. Wenn er wieder für sie arbeiten sollte, müßte sie ihn schon darum bitten. Dennoch, die öffentliche Landstraße langzugehen war nicht verboten. Als Dove das am nächsten Morgen tat, stiegen hinter ihm Staubwölkchen auf und fegte ein eifriger Wind vor ihm her, schnüffelnd wie ein Spürhund mit wunder Vorderpfote, von Gaslaterne zu Telefonmast, von einer Straßenseite zur anderen. Schließlich kam der Wind zu jener Laterne, die sich so zum La Fe neigte wie sich das La Fe zu ihr. Dort schoß er plötzlich um die Ecke herum in den Hof und überließ den Jungen sich selber. Dove hatte auch von keinem Gesetz gehört, das einem
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untersagte, um die Ecke einer schäbigen Chili-Bude herumzugehen. Terasina stand mit dem Rücken zu ihm. Ihre Ohrringe glitzerten grün vor dem Weiß der Wäsche, wie Vorboten eines zeitigen Frühlings. Unterröcke und Höschen in Gelb und Rosa flatterten um sie her wie Einladungen zur Liebe am Morgen. Das starke Vormittagslicht zeichnete die Silhouette ihrer Schenkel in ihrer ganzen Fülle ab. Da hängte sie doch tatsächlich das schwarze Unterkleid von gestern auf. Dove schaute zu, wie der Wind es bauschte und es sich ein bißchen von ihm wegdrehte, wie ein Mädchen, das einem stürmischen Verehrer ausweicht. Der Wind, der nichts ruhen lassen konnte, sondern immer alles mit Willkür aufwirbelte. Um an die höchste Stelle der Leine heranzukommen, stellte sie sich in ihren Sandalen auf die Zehen und streckte die nackten braunen Arme aus. Wobei sich ihre Backen fest zusammendrückten. So wie er sie mit seiner einen großen Hand gedrückt hatte, während die andere ihren Kopf stützte. Den sie nie wieder stützen würde. Er spie über den Zaun und beobachtete, wie sich seine Spucke an einem Dorn strangulierte. Schau, da hängt wer seine schmutzige Wäsche raus. Aus dem Augenwinkel sah Terasina ihn dort lehnen. Wieder einer von diesen Rumtreibern, die kommen, um mich anzuglotzen. Glotz nur ruhig, wenn es dir guttut, mir geht dabei nichts ab. Hergebeten aber habe ich dich nicht. Hat vor vierzig Jahren mal bei 'ner Wahl zur Miss Naßarsch mitgemacht und hält sich für die Maikönigin. Geh doch, wenn du von hier weg willst. Ich weine dir keine Träne nach.
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Wie sie sich aufspielt. Bildet sich ein, wer weiß was zu sein, weil sie matschige Backbohnen serviert. Tät mich kein bißchen wundern, wenn man sie eines Nachts über den Fluß zurückjagt. Wenn ich schon Hure spielen muß, dann lieber für meine eigenen Landsleute. Bald machen mir besser aussehende Frauen als diese Pachuco schöne Augen. In Dallas oder Houston. »Laß mich mein Geld für dich ausgeben, Big Boy«, werden sie mich bitten. Da verplempert Big Boy seine Zeit nicht mehr mit Pachucos. Sondern hat 'ne schmucke blauäugige Anglo ganz für sich allein, die ihm richtiges amerikanisches Essen kocht. In meinem Haus kommen keine Frijoles auf den Tisch! Sie sagt auch nicht »sähr« statt »sehr«, spricht kein falsches Englisch nicht. Und geht in eine anständige Kirche und trägt genug auf'm Hintern, daß nicht jeder Vorübergehende sieht, wie sie zwischen Knöcheln und Bauchnabel gebaut ist. In Houston. Oder war es Dallas? Sie nahm die Wäscheklammer aus den Zähnen, um zu verkünden: »Heute keine Arbeit.« »Ich hab 'ne beßre Stellung.« »So? Wie schön für dich.« »Und auch nicht in diesem Kuhkaff hier.« »In welchem Kuhkaff dann?« »Dallas natürlich.« »Und als was arbeitest du dort in Dallas?« »Erfährst du aus der Zeitung.« »Dann bring mir die, und ich lese sie dir vor, damit auch du's erfährst.« »Ist leicht, sich drüber lustig zu machen, daß einer was nicht kann, wofür er nichts kann. Den Dollar, den ich mir ausgeliehn hab, den zahl ich dir zurück.« »Du schuldest mir nichts weiter als ein Nimmerwie-
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dersehen«, erklärte sie, beugte sich, schlank in der Taille, breit an den Schultern, nach vorn und zog das Kleid bis zu den Kniekehlen runter. Daß er sich herangeschlichen hatte, merkte sie erst, als sich seine Hände um ihren Leib schlossen. Wie eine hinterrücks angegriffene Katze fuhr sie herum und stieß ihm die Wäscheklammer in die Zähne. Er wankte, als hätte ihn ein Brandstrahl getroffen. »Segundos?« fragte Terasina höflich. Holzsplitter spuckend wich er zurück und schüttelte den Kopf: Nein, eine Klammer genügte ihm. Als er unbeholfen nach dem Blut tastete, das ihm übers Kinn rann, hielt sie ihm das kleine Taschentuch mit der schwarzen Spitze hin. Er schüttelte abermals den Kopf. »Behalt deine Rotzfahne.« »Mehr kann ich dir heute nicht bieten«, beendete sie die Verhandlungen. »Was du mir die andern Tage geboten hast, war auch nicht toll«, sagte er ihr und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Aber was ich dir geboten hab, das hat dir verdammt gut gefallen.« Ihr Gesicht verriet keinerlei Erinnerung. »›So langsam, so schön langsam‹, hast du gesagt«, half er galant ihrem Gedächtnis nach, »so hättest du's gern.« Und er legte seine Hand auf ihren Nacken. Sie schlug ihm die Zähne hinein. Obwohl er den Biß bis auf die Knochen spürte und sie nicht ausließ, zwang er sie runter auf die Knie. »Heut mach ich's ein bißchen schneller«, sagte er, »denn ich hab's eilig.« Frühlingsgrün und sonnengelb flatterte die Wäsche hin und her. Geblümte Halstücher tanzten einen Blütenreigen. Das Unterkleid aber wandte sich ab, und ein
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Strumpf hing mit Leichenbittermiene da. Bis sie auf der Seite lag, den Kopf zwischen den Händen, das Kleid vorn weit zerrissen und bis zu den Hüften hochgeschoben. Ein niedriger Wind hielt lange genug inne, um eine Handvoll Sand zu werfen, und wehte dann weiter. Es war geschehen. Dove hob ihr Taschentuch auf und betupfte sich das Kinn. Er rückelte an einem seiner unteren Schneidezähne. Der war jetzt locker, aber nur ein bißchen. Zwei Meilen weit weg pfiff der Mittags-Güterzug. Mit schlurfenden Schritten, als wate er durch Wasser, lief Dove in Richtung S.P.-Turm. Der Zug wurde lauter, ein Geheul wie von einem Sioux, der zu viele Wildwest-Filme gesehen hat. Dove hielt sich außer Sicht, bis die Wagen vorbeizurollen begannen. An jenem Abend traten die Sterne früh heraus, um zu schauen, wie Dove Linkhorn zurechtkomme. Und sahen sofort: Hier war einer, der sich von keinem mehr etwas gefallen ließ. Wer ihn für einen Einfaltspinsel hielt, dem käme dieser Irrtum teuer zu stehen. »Ganz schön harter Bursche«, stimmten sie überein, bis Dove diesen geschwätzigen Himmelslichtern die Waggontür vor der Nase zuschob. Er häufte Stroh zu einer Matratze zusammen, polsterte sein Knüpftuch zu einem Kopfkissen aus und deckte sich mit einer vergilbten Illustriertenseite zu. Wer brauchte noch Texas? Sollte es ruhig draußen vorbeirollen. Und schlief ohne Reue. Nur einmal, während der Waggon ihn zwischen Traum und Alptraum rüttelnd hin- und herwiegte, preßte er sich die Hände auf den Magen und wimmerte ein wenig.
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Als er aufwachte, rasselten die Wagen ein eisernes Wecken und scheuchte der Tagesanbruch die Hemdlosen und Hilflosen, die Lahmen, Ausgestoßenen und Barfüßigen unter den Bremsgestängen hervor und die Laufbretter auf den Dächern entlang. Sie kamen aus Kühlwagen geflüchtet, über sich hochbäumende Kupplungen gestiegen, Trittsprossen herunter geklettert: sehfähige Verwundete und Versprengte der Schlacht, die sich hinkend und einander stützend zum nächsten Verbandsplatz schleppten. »'ne Menge feine Leute unterwegs, um sich das Land anzuschaun«, staunte Dove und suchte sich anzuschließen. »Hätt gar nicht gedacht, daß es so früh im Jahr schon so viele sind.« Kam aber nicht mit ihnen in Tritt, nicht mal die Viertelmeile hin zu ein paar schon halb eingesunkenen Scheunen, die aussahen, als hätten sie mal der US-Kavallerie, während die auf Pancho Villa Jagd machte, als Unterkunft gedient. Genau das hatten sie auch. Doch Villa war schon lange tot, und Pferde gab es hier nicht mehr, weder auf Weide noch in Ställen. Die Hufspuren längst verweht, die Kavalleristen nicht mehr im Sattel, die Captains genausowenig wie die Gemeinen. In Räumen mit noch Gasbeleuchtung lagen Betrunkene und Sterbende. Auch sie alle schon lange aus dem Sattel geworfen oder sonstwie entgleist. Das ganze weite Land sah so zerlottert aus wie ein Bett in einer billigen Absteige. »Besonders bei Kräften scheinen die Leute hier nicht zu sein«, stellte Dove fest und fühlte sich ebenfalls ein bißchen schlapp. Ein Schild mit Aufschrift ließ ihn stehenbleiben, warnte ihn so, wie eines Fremden sich lautlos bewegende Lippen einen Taubstummen warnen.
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»Was tut da draufstehn, Mister?« Er tippte einen Filzhut an, der ihm nur bis zur Schulter reichte und über einem ausgeblichenen karierten Lumberjack wippte. »Daß das hier ein städtisches Asyl ist«, kam ein füchsisches Keckern aus einem Terriergesicht. Es war weder männlich noch weiblich, dieses Gesicht, die Stimme aber klang nach Mädchen. »Daß du hier so viel futtern kannst, wie du willst und dafür in deinen Gebeten den Bürgern von San Antonio danken möchtest.« Sie machte eine Pause, um das Danken anderen zu überlassen. »Und daß du dich von der Stadt selber aber fernhalten sollst, weil eben diese Bürger dich sonst ins lausigste Kittchen von ganz Texas sperren.« »Das alles steht da drauf, Schwester?« »Ja. Und außerdem noch, speziell für Leute mit Stroh im Kopf und Dreck an den Füßen: Weg von stehenden Zügen! Ferner daß du am besten fährst, wenn du das machst, was du die Cleveren machen siehst. Drum schieb deine analphabetischen vier Buchstaben immer schön hinter mir her und mach, was ich mache. Tu nichts, was du nicht vorher mich tun siehst. Und nenne mich nicht Schwester, sondern Bruder.« »Dich zählst du wohl zu den Cleveren, und mich« – absurde Frage! – »hältst du für'n bißchen dumm, was?« Bruder hob den Zeigefinger. »Ich habe eine Jacke. Du nicht. Ich habe ein Hemd. Du nicht. Ich habe Schuhe. Du nicht. Mit Messer und Gabel können wir zwar beide nicht gut umgehen, aber ich habe gestern abend was zu essen gehabt und heute früh ebenfalls, du jedoch schon wer weiß wie lange nicht mehr. Wer ist also cleverer, ich oder du?« Die Reihe der Zerlumpten rückte einen lumpigen Schritt vor.
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»Du bist so clever, daß du einem schon leid tun kannst«, erklärte Dove. »Doch sag mir wenigstens: Haben die in der Küche da vorn auch Liverpudding?« »Selbstverständlich. Und auch kandierte Yams, Vironia-Schinken und Opossum-Pie.« »Yankee-Gerichte liegen mir immer leicht schwer im Magen«, winkte Dove ab. Bruder blickte hoch, um zu sehen, wer jetzt wen auf den Arm nahm. Doch Doves Kinn hing so lang herunter, seine Wangen wirkten so hohl, seine in die Augen fallenden Haare waren so lange nicht mehr geschnitten, daß man schwer glauben konnte, in solcher Verfassung mache einer noch Witze. »Bleib nächstes Mal so lange im Krankenhaus, bis sie dir einen Haarschnitt verpassen«, riet sie ihm. »Tätst du deinen Kalabreser abnehmen, würd man sicher sehen, daß auch du zum Frisör mußt«, konterte Dove. »Darauf wett ich.« Plötzlich spürte er eine freundliche Hand auf seiner Schulter. »Und ich wette, du bist aus der Gegend vom Big Bend. Habe ich recht?« Dove warf die Haare aus den Augen, um zu sehen, ob das wer war, den er kannte, vergaß ganz, daß er ja keinen Bekannten hatte. Ein korpulenter Sergeant der Marine-Infanterie musterte ihn lächelnd. »Nein, Sir«, korrigierte ihn Dove voller Stolz. »Ich bin vom Rio Grande.« »Hallo, Dick und Doof! Wie schön, euch auch mal persönlich zu sehen!« Die Terrierin schob sich so behauptend zwischen sie beide, daß die Uniform über den Filzhut hinwegreden mußte, um Dove anzuwerben. »Wie würden dir drei anständige Mahlzeiten am Tag gefallen, Rotfuchs? Und Gelegenheit, die Tropen zu
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sehen, Sandino zu jagen, dein Land zu schützen, zwei Paar Schuhe zu kriegen und hinterher eine Pension? Und die Uniform« – er zwinkerte Dove so grienend zu, daß Dove genauso zurückzwinkerte – »wie die Girls in Südamerika darauffliegen!« »Klingt alles nicht unübel, Mister«, meinte Dove. »Ganz besonders tut mir gefallen, daß ich mein Land zu schützen hab. Aber erst mal muß ich zusehen, daß ich hier 'nen Happenpappen zu futtern kriege.« »Ich glaube, du würdest einen guten Soldaten abgeben, mein Sohn«, sagte der Sergeant zuversichtlich. »Irgendwelche körperlichen Gebrechen hast du doch nicht, nein?« »Schauen Sie mal richtig hin, Colonel«, empfahl ihm das verkleidete Mädchen, »dann sehen Sie, wie er schielt.« »Schielen gilt beim Militär nicht als Gebrechen«, erklärte der Sergeant herrisch. »Höchstens als Behinderung, die sich aber kurieren läßt. Gegen seinen kleinen Silberblick verschreiben wir Rotfuchs eine Brille. Señoritas stehen auf Soldaten mit Brille.« »Aber sein Gebiß, gucken Sie sich das mal an.« Unaufgefordert machte Dove den Mund auf, und der Sergeant drückte ihm mit seinem schmutzigen dicken Daumen die Zunge runter. »In einem halben Jahr hat er keinen einzigen Zahn mehr im Maul.« Um Zweifeln an der Prognose zuvorzukommen, setzte das Mädchen die Diagnose hinzu: »Skorbut. Davon fallen sie ihm alle aus.« »Wir verlangen von ihm ja nicht, daß er Sandino beißt«, stellte der Sergeant Dove von einer seiner Soldatenpflichten frei. »Der eine ist schon locker«, gelang es Dove hervorzubringen, nachdem er den Daumen mit zwei Fingern
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angehoben hatte. »Er wackelt.« In der Hoffnung, der Sergeant werde für ihn ein bißchen daran ruckeln, ließ er den Daumen wieder los. »Damit kann sich der Truppendentist befassen.« Der Sergeant nahm seine Faust aus Doves Mund. »Aus dir wird ein schneidiger Marine-Infanterist. Würde mich nicht wundern, wenn du Sandino eigenhändig einfängst. Kannst den Mund jetzt wieder zuklappen.« Er zückte Notizbuch und Bleistift. »Ist sonst noch was bei dir nicht in Ordnung, Sohn?« Dove errötete. So ging's einem, wenn man nicht lesen und schreiben konnte. »Ich glaub, daß läßt sich mit der Zeit ebenfalls kurieren«, gab er wegen der Herumstehenden ausweichend zur Antwort. »Doch nichts Schlimmes, nein?« Zwinkernd stieß der Sergeant Dove in die Seite. »Nichts, das du dir bei den Leibern in der Stadt geholt hast?« Immer hatte der Sergeant die Mädchen im Kopf. »Bei seinem zweiten Anfall gestern nach dem Abendbrot«, schaltete sich die Terrierin wieder dazwischen, »hatte er ein bißchen Schaum vorm Mund – ist das was Schlimmes?« »Er kriegt Anfälle?« Der Anwerber wurde unruhig. Er wollte zwar keinen Rekruten verlieren, aber auch keinen faulen Fisch an Land ziehen. »Hab mein ganzes Leben lang noch keinen Anfall nicht gehabt«, verteidigte Dove sich mannhaft. »Hörn Sie nicht auf das, was mein Bruder sagt. Der ist bloß neidisch, weil ich ihm übern Kopf gewachsen bin. Zu Anfällen tu ich nicht mal neigen.« »Bist ein Prachtkerl, Tex, weißt dich deiner Haut gut zu wehren«, lobte ihn der Sergeant. »Nun beantworte mir mal folgendes: Wenn ein Feind, dem eine Vergewaltigung zuzutrauen ist, dich zusammen mit deiner
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Schwester und deiner Mutter in eine Falle getrieben hat und Flucht nur für zwei möglich ist, wer von euch dreien müßte deiner Entscheidung nach zurückbleiben?« »Wie war's mit den Señoritas?« Bruder gab Dove einen Rippenstoß, daß er beinahe umkippte. »Wirst du dich wohl raushalten!« fuhr der Sergeant das Mädchen an. »Ich hab aber weder Mutter noch Schwester, Captain«, fand Dove als Antwort am sichersten. »Nimm an, du hättest.« »Dann die Schwester«, flüsterte die Terrierin. »Dann die Schwester«, wiederholte Dove hoffnungsvoll. »Ich habe gesagt, du sollst deinen Mund halten!« drohte der Sergeant dem Filzhut und wandte sich wieder Dove zu. »Fragen wir anders. Deine hundert Mann starke Einheit ist von blutrünstigen nicaraguanischen Banditen umzingelt, du aber kannst alle retten, indem du dein Leben opferst. Was würdest du höher ansetzen, das Leben deiner neunundneunzig Kameraden oder dein eigenes?« Hier brauchte Dove kein Vorsagen. »Mein eigenes natürlich.« Er strahlte. Ein bißchen war Dove schon traurig, als er sah, daß der Sergeant den Kopf schüttelte und abschob. »War die Antwort denn nicht richtig?« fragte er. »Doch, sogar goldrichtig«, versicherte sie ihm. »Wie fühlst du dich jetzt, Rotfuchs?« »Leicht schwindelig«, gestand Dove. Der Duft der warmen Suppe ließ seinen Magen wie eine Glocke schwingen. »Was hatte ich dir vorhin erst gesagt?« »Hab ich vergessen.«
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»Daß du nichts tun sollst, was du nicht vorher mich tun siehst. Hast du mich Vater Staat um neue Klamotten anbetteln sehen? Oder ihm meine Beißer zeigen? Oder strammstehen zum Maßnehmen für ein Gewehr?« »Dich hat er ja gar nicht haben wollen «, rief Dove ihr ins Gedächtnis. »Kannst ihn noch zurückholen – und den Rest deines Lebens damit verbringen, in der Hitze da unten im Bananenland zu exerzieren, statt hier frei umherzureisen und schön im Schatten zu schlafen. Von mir aus tu's doch.« In dem Augenblick reichte jemand Dove etwas Dampfendes in einem Blechnapf, und so wie dieser Dampf verflüchtigten sich dann auch alle Gedanken ans ZumMilitär-Gehen. Als Dove den Napf leer hatte und hochschaute, merkte er, daß seine Gefährtin ihr Essen kaum angerührt hatte. Sie schob es ihm hin. »Schönen Dank, Schwester.« Doch da sie ihn scharf ansah, verbesserte er sich sogleich: »Ich meine Bruder.« »Eines Tages wirst du mir auch dafür dankbar sein, daß ich dich vorm Kommiß bewahrt habe.« Ein Mann mit fettfleckiger Schürze, der wie ein Gespenst ausschaute, legte eine Art Formular zwischen ihnen hin, einen Wisch so voller Spuren von schmutzigen Daumen, daß Dove dachte, er wolle ihre Fingerabdrücke nehmen. »Schreibt euch mit anderen Namen ein, Jungs«, empfahl er ihnen. »Mit unseren richtigen würden wir's sowieso nie tun«, erklärte das Mädchen. »Wir müssen nämlich Buch führen, wie viele Portionen wir austeilen«, entschuldigte sich das Gespenst.
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»Die Bürger haben ein Recht zu erfahren, wofür ihr Geld verwendet wird.« »Mein Bruder hier wußte das nicht und hat sich dreimal Nachschlag geholt. Was werden die Bürger dazu sagen?« »Nach dem Abendessen könnt ihr rauskommen«, forderte der Mann sie auf, »und mir 'n bißchen Brennholz machen. Daß man zum Backen von all dem Maisbrot Holz braucht, könnt ihr euch ja denken.« »Der will, daß wir ihm einen Baum fällen«, klärte sie Dove auf. »Ganz manierlicher Bursche«, meinte Dove. »Und gegen Arbeiten hab ich nichts«, fügte er so eifrig hinzu, als wolle er keine Gelegenheit dazu verpassen. »Ich auch nicht«, willigte sie ein. »Sofern es nicht zu Anstrengung ausartet.« Danach sah er jedoch nicht aus, der Kreis aus einem halben Dutzend Vagabunden, die mit gekreuzten Beinen um einen Sack Wohlfahrtsbohnen herumhockten. Zwischen sich eine Schüssel und einen Eimer, verlasen Dove und der kleine Hobo Bohnen: Käfer, Steine, Geschirrsplitter, Unkraut und Bierverschlüsse in den Eimer, Bohnen in die Schüssel. Da es sich um ihr eigenes Abendbrot handelte, das sie hier vorbereiteten, arbeiteten sie einigermaßen sorgfältig. Dove fand eine angeplatzte Murmel und steckte sie ein, als wäre sie ein blauer Edelstein. »Jeder muß mal essen, und jeder muß mal sterben«, verkündete ihnen ein weißhaariger Grieche aus seinem Schneidersitz wie eine ganz neue Erkenntnis. Ein mausartiges Wesen neben Dove piepste ihm fröhlich ins Ohr: »Ich bin hier der Kleinste und Älteste. Und wahrscheinlich auch der Hellste. Der Ausverschämteste sowieso.«
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Doves Augen folgten den Händen seiner Gefährtin. So achtsam, selbst beim kleinsten Steinchen, und doch so viel schneller als seine eigenen. »Hiervon hatte ich mal den größten Ernteertrag, der je in Nord-Michigan erzielt wurde«, prahlte ein rotgesichtiger Kerl in abgewetzter Schaflederjacke. »Wahrscheinlich sogar in ganz Michigan. Zumindest in jenem Jahr. Habe dabei aber alles alleine gemacht. Selber gekocht, selber gewaschen, selber eingeweckt. Hatte keine Frau. Brauchte keine. Hatte auch keinen Farmburschen. Wollte keinen. Gleich nebenan von mir die größte Genossenschaftsfarm von Michigan, wenn nicht gar den ganzen USA. Fünfzig rüstige Männer, die Tag und Nacht arbeiteten, mit Traktoren und den modernsten landwirtschaftlichen Maschinen, die es gibt. Alleine vier Professoren zum Untersuchen des Bodens. Und ich hatte nichts weiter als einen altmodischen Pflug, den mein Großvater selber gemacht hatte, aus selber gefälltem Baum und selber gegrabenem Erz. Mein Bodenertrag war doppelt so hoch wie der von denen, ja über doppelt so hoch, um genau zu sein. Und ich hatte keinen einzigen Menschen als Hilfe. Brauchte auch keinen. Hatte keine Frau. Wollte keine.« »Dich hätt wohl auch keine genommen«, bemerkte Dove. Sobald der Sack Bohnen fertig war, schleppte ihnen das Gespenst einen mit Erbsen an, und irgendwie hob das allen die Stimmung, fast so als hätte er einen Sack Kirschen gebracht und gesagt, sie dürften davon essen, so viel sie wollten. Einmal kam er mit einem Korb Tomaten herein und ließ ihn herumgehen. Alle griffen zu, nahmen sich eine oder zwei, nur Dove nicht. »Liebesäpfel tät ich nicht essen«, warnte er seine Gefährtin. »Die sind giftig.«
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Der arbeitsame Nachmittag rieselte zunehmend lustloser durch die verlesenden Finger. In dem Raum wurde es dunkler und feuchter, gehfähige Verwundete kamen und gingen. Doves dicker Schenkel preßte sich gegen den dünnen des Mädchens, und er spürte, daß der Druck leicht zurückgegeben wurde. Einen Augenblick lang berührten sich ihre Finger in dem Sack. »Haltet ihr das, was wir jetzt haben, etwa für schlechte Zeiten?« fragte der Farmer aus Michigan. »Also im Vergleich mit denen, die ich durchgemacht habe, sind sie geradezu rosig. Genau betrachtet, befinden wir uns mitten in der größten Konjunktur, die Amerika je hatte. Schaut doch nur uns an: Wir sitzen hier und schlemmen Maisbrot und Bohnen.« »Stimmt«, pflichtete Dove ihm bei. »Wir machen solche Fettlebe, daß uns das Rumschleppen unsrer vollen Bäuche schlank hält.« »In meiner Kindheit oben in Nord-Michigan«, fuhr der Farmer unbeirrt fort, »da wußten wir überhaupt nicht, daß es in der Welt noch andere Nahrung gibt als entrahmte Milch und wilde Zwiebeln. Wir haben Wasser aus dem Bach getrunken und Sauerampfer gegessen und schätzten uns damit glücklicher als die meisten. Allein mit diesen beiden Lebensmitteln führte Mutter ein gutgehendes Boardinghouse – das größte von ganz Nord-Michigan. Ich habe nie 'ne Toilette gesehen, bis ich siebzehn war. Hatte von Latrinenhäusern zwar gehört, aber nie eins zu Gesicht gekriegt. Ebensowenig eine Wasserpumpe. War schon ein erwachsener Mann, als ich zum ersten Mal Speiseeis gekostet habe.« »Bei uns zu Hause haben wir hauptsächlich von Papayas gelebt«, warf Dove ein. »War ganz schön schwer, uns durchzubringen, wenn kein Wind wehte und die Früchte nicht von den Bäumen fallen wollten.«
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»Nie werde ich den Winter 1917 vergessen«, redete der Farmer einfach weiter. »Der Schnee haushoch. Wölfe rissen meine Schafe, Habichte holten meine Hühner. Nightriders brannten meine Scheune nieder, und Mutter ging mit einem Prediger auf und davon. Ich hatte schon halb im Sinn, die Landwirtschaft aufzugeben.« Die Gesichter ringsum glichen Blechtellern auf einem Bord. Sie strömten einen schwachen Geruch aus, nach Desinfektionsmitteln vermischt mit Rauch. 1931 spielte sich das Leben der Eingesperrten und Ausgesperrten zwischen dem Entlausungsgestank von Gefängnissen und dem Qualm von kleinen Lagerfeuern ab. »Ich bin der Älteste und der Kleinste«, piepste der Mäuserich jedem Neuankömmling vor. »Und der Ausverschämteste. Wahrscheinlich auch der Wildeste. Wie kommt es bloß, daß ich in allem der Erste bin?« »Im Bohnenlesen bist du der Letzte«, bemerkte Dove. »Aber ich war der erste, der für Hoover gestimmt hat«, schnappte das Männchen zurück, jetzt mehr bissige Ratte als fröhliche Maus. »Und auch der erste, der zugegeben hat, daß das falsch war.« »Hoover ist ein großer Mann«, erklärte der Farmer aus Michigan im Brustton der Überzeugung. »Bloß eben seiner Zeit zu weit voraus. So wie die gesamte Republikanische Partei.« »Ich habe Hoover am eigenen Leibe erfahren«, pflichtete jemand bei. »Das gibt mir Kraft und Stärke. Jetzt kann ich noch Schlimmeres durchstehen.« Das Küchengespenst erschien und ließ seine Trillerpfeife ertönen. Sofort warfen alle die Arbeit hin. Vorsichtig stieg Dove über den Sack hinweg.
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Als er in den Eßsaal kam, hatte das Gespenst inzwischen ein schmieriges Käppi aufgesetzt, um den Verkehr zu regeln. Mexikaner nach rechts, Neger nach links. Dove aber dirigierte es geradeaus, wo an dem längsten Tisch die weißen Amerikaner saßen. »Pappy tät das nicht gutheißen«, gingen Doves Gedanken. »Papisten so mang Protestanten mang.« »Wo ist der Judentisch?« fragte die nachkommende Terrierin. »Da mußt du den Fahrstuhl nehmen, Yankee«, antwortete das Gespenst. Dove bekam einen Kanten Maisbrot mit Sirup und einen Klacks Bohnen, die so sauber aufgehäuft waren, als wären sie abgezählt worden. Als er sich überlegte, wie viele er verlesen hatte, fand er, daß er im Verhältnis schlecht wegkam. »Andre kriegen immer mehr als ich«, beklagte er sich, und seine Gefährtin schob ihm abermals ihren Teller hin. »Warum bist du so gut zu mir?« fragte Dove. »Weil ich möchte, daß du zu mir auch gut bist«, erklärte sie ihm so freimütig, daß er fand, er müsse ihr einen Gefallen tun, und alles bis auf den letzten Krümel verputzte. »Jeder muß mal essen«, lamentierte der Grieche, »und jeder muß mal sterben.« Dove war mit seiner dritten Portion noch nicht ganz fertig, da hörten sie den Zug nach Houston pfeifen. »Schnell raus hier, bevor uns dieser Kinderschreck ans Fällen von dem Baum treibt! Steck das Stück Brot ein!« Rasch schob Dove es hinter den Brustlatz seiner Farmerhose, und dann nahmen sie die Beine in die Hand.
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Der Zug führte größtenteils Leerwaggons und war zu schnell, daß sich gefahrlos aufspringen ließ. Auf der Schräge der Böschung liegend, warteten Dove und das Mädchen auf die Erzwagen mit den weit herunterreichenden Trittleitern. Dove zählte sie, als sie vorbeiratterten. »Es ist stockfinster, und er hat zuviel Tempo drauf«, warnte er seine Gefährtin. »Ist der letzte nach Houston bis morgen abend«, erwiderte sie. »Kommst du mit?« Als Dove oben auf dem Wagen entlangte und sich rittlings auf die Kante der Seitenwand setzte, merkte er, daß es ein Selbstentlader war. Mit offener Bodenklappe: Die trichterförmigen Bände liefen innen direkt aufs Gleis aus. Sie kletterte an ihm vorbei, und mit einem Jubelschrei schwang sie sich über den Rand. Er konnte gerade noch ihr Handgelenk packen. Ihr Gewicht zog ihn nach unten, aber seine freie Hand konnte die Eisenkante fassen und hielt fest. Hielt nur einfach fest. Fror an dem Eisen an, wurde ebenso starr wie der bodenlose Tod. Hochziehen konnte er sie nicht. Und loslassen ebensowenig, denn ihr Doppelgriff um sein Handgelenk, der ihm die Rippen aus dem Leib zerrte, sagte ihm, daß sie ihn mit sich reißen würde. Von den Rädern stoben in der Schwärze grüne Funken, in dem Getöse hörte er Gleisschotter gegen ihre Schuhe klicken. Seine rechte Hand hielt sich nicht mehr an dem Eisen fest – das Eisen hielt die Hand fest. Ihr angstverzerrtes kleines Gesicht, von einem Lichtschein kurz erhellt, suchte ihm irgend etwas Letztes zu sagen. Dove packte mit seinen großen Zähnen die Träger ihrer Latzhose und zog, die Nackenmuskeln zum Zerreißen gespannt, bis sie die Finger auf die Kante be-
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kam und sich hochziehen konnte. Er stützte sie, obwohl ihm der Arm bis hinauf zur Schulter zitterte. Sie war ganz voller Kohlenstaub, Furcht hatte ihr die Augen gehöhlt. Als der Zug langsamer wurde und schließlich auf einem Ausweichgleis hielt, um einen Personenzug durchzulassen, half Dove ihr beim Runterklettern. »Auf dem Schild stand drauf: Weg von stehenden Zügen!« erinnerte er sie. Da wandelte sich ihr Zittern zu schwachem Lachen. Sie lehnten ihre Rücken an die windabgewandte Seite eines Kokshaufens. Dort ließ sie ihr Lachen zu Schluchzen umschlagen. »Was hast du denn?« »Wir müssen zurück!« rief sie und rappelte sich hoch. Dove legte ihr den Arm um die Schultern. »Wo willst du hin?« Er zog sie wieder runter. »Zurück!« »Wein dich erst mal richtig aus«, schlug er vor. Das fiel ihr so leicht, daß sie gar nicht mehr aufhören wollte, ganz wie ein kleines Kind. »Weswegen flennst du denn so?« fragte er schließlich. »Ich habe meine Jacke liegenlassen.« »Hättest du die angehabt, dann …« »Ich weiß.« Womit sie ihm sagte, ihr sei klar, wo sie jetzt wäre, wenn sie etwas angehabt hätte, das er nicht mit den Zähnen packen konnte. Ihr Atmen wurde langsamer, Ruß und Müdigkeit siegelten ihr die Augen zu. Im Schlaf sah sie verschlagen aus und doch unschuldig, wie bereits bestraft für eine Tat, die zu begehen sie noch zu jung war. Aber die sie, wenn sie das Alter dafür hatte, schon finden würde. Ihre Hand lag auf der seinen, und im Schlaf drückte
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sie sie. Er faßte zwischen ihre Knie und ließ seine Hand hinaufgleiten, bis er sie direkt auf ihrem Schoß liegen hatte. Sie bewegte sich, und er nahm die Hand weg. «Laß sie ruhig da«, sagte sie. »So viel bin ich dir schuldig.« Laternen und Taschenscheinwerfer strichen die Gleise entlang und wieder zurück, zeichneten Schatten auf die Türen der Güterwagen. Den Zugmannschaften war es egal, wie viele aufsprangen, nachdem der Lokführer sein warnendes Pfeifen hatte ertönen lassen; doch warf es ein schlechtes Licht auf sie, im stehenden Zug Tramps zu haben, die es sich in den Wagen so gemütlich machten wie Reisende mit gültigem Fahrausweis . »Ich heiße Kitty Twist«, erzählte das Mädchen Dove. »Natürlich ist das nicht mein richtiger Name. Aber so haben sie mich im Heim genannt. Ich bin siebzehn, fast achtzehn, und schon aus fünf Heimen ausgerissen. Und ich werde immer wieder ausreißen, bis ich volljährig bin. Dann heirate ich einen guten Taschendieb und werde bürgerlich.« »Besser, ich schau mir diesen Zug mal an«, sagte Dove unruhig. Er wanderte am Gleis entlang und untersuchte die Wagen auf Haltegriffe und Steigsprossen. Als er zufrieden war, pfiff er ihr, half ihr in den von ihm ausgesuchten Waggon und schob die Tür zu. Ein schmaler Lichtstreifen schimmerte durch eine Ritze, und jedesmal wenn der lange Wagen beim Rangieren erbebte, tänzelte er auf und nieder. »Rotfuchs«, sagte sie in dem Dunkel, als der Zug sich endlich in Bewegung setzte, »leg mir deine Hände unter, damit sich mein bißchen Hintern auf diesen harten Brettern nicht noch platter drückt.«
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Mit seinen beiden Händen als Kissen unter ihrem knochigen Gesäß kuschelte sich Kitty Twist hin und her, bis ihr warm wurde. Daß Dove selber der schmale Bürzel fror, daran dachte sie nicht. »Ich liebe dich, Baby.« Er meinte, das sagen zu müssen, weil er ihr doch das Leben gerettet hatte. »Ich kauf dir Sofapuppen und Ansteckblumen. Ich lern mir einen Beruf an und sorg für dich.« Er spürte ihre kalten kleinen Lippen und ihren kalten kleinen Mund, ihre kalten kleinen Hände, die so gierig schienen. »Daddy, du brauchst niemals zu arbeiten«, erklärte ihm Kitty Twist. »Das übernehme ich, und ich liefere dir alles ab, was ich verdiene.« Ihr allzu wissendes Lächeln konnte er in der Dunkelheit nicht sehen. »Je ärmer Leute sind, je eher kannst du darauf rechnen, daß sie dir helfen«, sagte Kitty Twist am nächsten Morgen zu Dove, nachdem sie Lok und Waggons wieder den Bahnern überlassen hatte. »Nimm das erste ungestrichene Haus, das du siehst.« Sie folgte Dove in einen voller Unrat liegenden Hof und wartete, während er an die Tür einer rußfarbigen Bretterbude klopfte. Die Frau, die öffnete, war ebenfalls rußfarbig. »Mein Bruder ist 'n bißchen hingeschlagen, M'am«, brachte Dove vor. »Haben Sie 'ne Pumpe?« »Was sagt er?« Hilfesuchend sah die Frau Kitty an. »Er fragt, ob ich mich bei Ihnen wohl waschen dürfte.« »Komm rein, Kind«, lud die Negerin Kitty ein und machte die Tür weit auf. Dove wartete im Hof und summte leise vor sich hin:
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Well hush, O hush Somebody's callin' me. Schließlich kam Kitty heraus: strahlend saubergeschrubbt, auf der Wange ein Heftpflaster und in der Hand ein Stück Ivory-Seife. »Die Alte hat sich keine Minute täuschen lassen«, berichtete sie. »Hat mich mit ›Schwester‹ angeredet, mich ins Waschfaß gesteckt und mir den Rücken abgeseift. Sogar zwischen den Zehen habe ich mich waschen müssen. Schau mal.« Sie zeigte ihm die weißen Ringe um ihre Knöchel. »Und ob du's glaubst oder nicht, sie hat mir die ganze Zeit ein Lied vorgesungen.« »Was denn für eins?« »Beiß nicht die Hand, die dich füttert.« »Die sind nicht wie du und ich«, erklärte Dove, »sondern einfache Leute. Aber ich könnt ebenfalls 'ne kleine Wäsche vertragen.« »Nachher drinnen in der Stadt«, versprach Kitty. »Guck mal, ich kann werfen wie ein Kerl.« Und sie schleuderte die Seife weit über das Gleis weg. »Nicht schlecht für'n Mädchen«, mußte Dove zugeben. »Was heißt hier für'n Mädchen? Walter Johnson wirft auch nicht weiter, und der ist ein Star. Ich komme schließlich aus einer Großstadt, die in der BaseballOberliga ist.« »In einer Großstadt war ich noch nie«, gestand Dove. »Mit Warenhäusern und so. In Houston, gibt's da welche?« »Ja. Aber einkaufen mußt du allein gehen. Wenn ich mich auf den Straßen blicken lasse, bin ich spätestens morgen früh auf dem Weg zurück ins Heim. Ich werde gesucht, mußt du wissen.«
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»Ich sorg schon dafür, daß dich keiner schnappt, Kitty.« »Und ich dafür, daß du Schuhe kriegst und auch ein Hemd«, revanchierte sie sich. »Ich staffier dich aus, und zwar aufs feinste.« »Ich kauf dir 'n rotes Seidenkleid und 'n Fransentuch. Und goldne Ohrbamsel.« »Rotfuchs, ich meine damit: Wenn du willst, gehe ich für dich anschaffen.« »Nein, was anschaffen ist Sache des Mannes.« »Mein Gott«, dachte das Mädchen, »der glaubt, ich will für ihn richtig arbeiten gehen, als Schuhverkäuferin oder so was. Dem muß ich erst noch das Brett zersägen, das er vorm Kopf hat.« Kitty Twist hatte zwar noch nie angeschafft, kannte das Metier aber von älteren Heiminsassinnen, und sie war mit der Absicht getürmt, selber auf den Strich zu gehen. In einer Seitenstraße lud ein Schild sie ein: »HILFSVEREIN FÜR ENTLASSENE HÄFTLINGE«. »Der übliche Preis hier sind fünfundzwanzig Cent«, sagte der Exsträfling am Schalter. Und fügte vertraulich hinzu: »Aber wenn ihr klamm seid, nehme ich euch dafür beide auf. Bringt ihr so viel zusammen?« »Was bekommen wir dafür geboten?« verlangte Kitty zu wissen. »Pro Nase einmal Essen, einmal Übernachten und einmal Duschen.« Der Ehemalige steckte sich ihren Vierteldollar in die Tasche, und sie folgten ihm in die Küche. Er stellte ihnen zwei Teller welken Krautsalat hin und dazu zwei Tassen kalten Zichorienkaffee. »Das wäre das Essen. Übernachten und Duschen habt ihr noch gut.«
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»Gehe lieber gleich jetzt zum Waschen«, drängte Ktty Dove, sobald sie den Kaffee gekostet hatte. »Sauberes Wasser scheint hier knapp zu sein.« Unter der Brause stand ein alter Mann und ließ sich den dünnen Strahl zum Bauchnabel hinein- und hinausrinnen, während er zu einem hageren, geierhaften Geschöpf hinüberschaute, das sich über seine Kleider beugte. Als der Geier mit der Durchsicht der Lumpen des Alten fertig war, hielt er die gekrümmten Handflächen ans Licht. Dann stieß er das Bündel mit dem Fuß beiseite, ohne die Augen von den Händen zu nehmen. Er hatte tatsächlich etwas gefangen. Der alte Mann schien auch zu wissen, was. »Seltsam … höchst seltsam.« Der Läusejäger rieb seine Hände unter dem Wasser aneinander. »Die dabei nicht zerquetscht werden, die ersaufen«, erklärte er schadenfroh. Und machte sich dann über die Sachen von Dove her, nachdem der sich ausgezogen hatte. Die Dusche war kalt, aber es gab scharfe braune Seife. Sie brannte in der Schramme auf seiner Lippe, doch Dove schrubbte sich, bis ihm die Finger taub waren. Das Wasser wurde immer kälter. Mit enttäuschter Miene gab der Läusegeier Dove sein Zeug zurück. Dove bat ihn um eine Mütze, und nach einigem Suchen wurde er mit einem Strohhut beschenkt. Zwar schon ausgeblichen und angefranst, aber immerhin würde er seine Haare gegen den Kohlenstaub und seine Augen vor der Sonne schützen. Auch noch nach Schuhen zu fragen, getraute Dove sich nicht. Dann schlenderten die beiden eine breite und stille Straße hinunter, vorbei an Fenstern mit zugezogenen Vorhängen oder heruntergelassenen Jalousien. Obwohl es erst Nachmittag war, schien hier alles zu schlafen. Sie
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kamen an einen Spielplatz, auf dem kein einziges Kind spielte. »Schule aus, hurra!« Dove stürzte zur nächsten Schaukel. Breitbeinig auf dem Brett stehend, brachte er sie in hohen Schwung. Kittys geschlechtsloses Gesicht sah von unten zu ihm hinauf. Jedesmal wenn er an ihr vorbeischwang, sagte sie: »Wir haben keine Zeit zum Rumspielen, Rotfuchs.« Er sprang von der Schaukel ab und rannte gleich weiter. Sie wartete, was er als nächstes tun werde. Der Rundlauf: rum und immer wieder rum, Zehen am Boden schleifend, Haare in die Augen wehend und Mund aufgerissen zum Rufen: »Guck, was ich mache! Guck!« »So was habe ich noch nie gesehen.« Sie beschloß, ihm ein Weilchen zuzuschauen. »Und wie findest du das?« Er hatte die Knie in die Ringe geschoben und hing mit dem Kopf nach unten; der Hut war ihm abgefallen, seine Haare fegten Kies und Sand. »Wenn du genug hast, sag mir Bescheid. Ich habe den ganzen Tag Zeit.« Doch genug hatte er noch längst nicht; seine Kindheit begann ja gerade erst. »Fang mich auf, wenn ich runterkomme!« warnte er sie von der Höhe einer Rutschbahn. Und sie, der flügellose Straßenspatz, mußte am Ende der Rutsche stehen und aufpassen, daß er sich, als er mit dem Kopf voran runtergeschossen kam, nicht das Genick brach. Er griff sie bei der Hand und zog sie zu einer Wippe. »Hau dir nur ruhig den Steiß kaputt.« Kitty langte es jetzt. »Ich sehe inzwischen zu, daß ich nach New Orleans komme.«
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Dove saß auf der nutzlosen Wippe: ein kleiner Junge, der keinen zum Mitwippen hatte. Und seine einzige Freundin sah er zum Tor des Spielplatzes hinausgehen. Das kleine busenlose Mädchen, eine Ausgestoßene, die in nächtlicher Flucht durch die Welt streunte, um sich von allem darin ihren Teil zu ergattern. »Tut so, als hätt sie mir damit 'ne Gunst erwiesen, sich das Leben von mir retten zu lassen«, dachte Dove. »Soll sie doch gehen.« Er kletterte wieder auf die Schaukel und schwang sich ganz hoch. Machte am Rundlauf einen Flieger, noch schneller als vorhin. Stieg dann zur höchsten Rutschbahn des Platzes hinauf. Als er oben ankam, atmete er heftig und hatte gar keine rechte Lust mehr zum Runterrutschen. Schließlich tat er es doch, aber nur um wieder nach unten zu kommen. Vor Einsamkeit stolpernd, stürzte er jedem hinterher, der ihn davor bewahren konnte, wieder allein zu sein. Die Kindheit hatte er am Start der Rutschbahn zurückgelassen, das Erwachsensein aber noch nicht erreicht. Kitty war nirgendwo zu sehen. Die ganze sonnengelähmte Straße menschenleer. Dove wollte wieder nach Hause. »Hier ist dein Hut.« Sie kam so leise aus dem Schatten herausgetreten, daß ihm klar wurde, sie hatte ihn beobachtet. Wie um seinen Argwohn zu zerstreuen, sagte sie: »Weißt du, Rotfuchs, ich frage mich immer noch, ob du echt bist.« »Bist du das denn selber?« fragte er nachdenklich zurück. »Wenn ich von dir keine Beweise dafür verlange, brauchst du auch keine von mir.« »Dann werde ich von jetzt an auf welche achten.« Sie blieb stets auf der Hut. Er dagegen, sah sie, verlor sich
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in Staunen über die Häuser zu beiden Seiten dieser Wohnstraße, wo zu jeder Tür ein Privatweg führte. Er zeigte auf eines. »Wie viele Leute tun da drin wohl wohnen?« »Gar keine«, klärte sie ihn auf. »Auf dem Schild steht: ZU VERKAUFEN.« Dove bemerkte nun viele solcher Schilder an Häusern, deren Anstrich abzublättern begann. Auf den Wegen, behütet von Eichen, die schon Indianerpfade behütet hatten, wuchs Unkraut. In einem kleinen Park kamen sie zu einer Reihe verschlafener Läden, von denen einige bereits geschlossen hatten. Kitty hakte sich bei ihm ein und schlenderte mit ihm die eine Seite dieser halbtoten Vorstadt hinauf und die andere hinunter. »Hast du hier Verwandte?« fragte Dove, weil sie sich so viel Zeit ließ. »Nicht, daß ich wüßte«, erwiderte sie und blieb an einem Schaufenster stehen, vor dem Sägemehl verstreut lag. Während sie da standen, kam ein räudig aussehendes Kaninchen um die Ecke, hoppelte vor bis zur Hälfte des Fensters und verschwand dann wieder nach hinten. Kitty ging ihm nach, um den Hof hinter dem Laden zu inspizieren, und kehrte nach kurzer Zeit zu Dove zurück. »Nach dem Dunkelwerden steigen wir hier ein«, sagte sie. »Ein kleiner Bruch ist genau das, was mir fehlt. Keine Angst – ich bin darin nicht schlecht. Für mein Alter sogar Spitze. Würde am liebsten Profi werden.« »Ich nicht, und deshalb kann ich dir dabei auch nicht helfen, Schwester. Ich zieh einen Beruf vor, wo man bei Tage arbeitet. Zum Beispiel auf einem der großen weißen Schiffe in New Orleans, wie ich sie in einem Buch mit Bildern drin gesehn hab.«
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»Und wenn du da hinkommst, gehst du, so wie du bist, barfuß, ohne Hemd und mit ungeschnittenen Haaren, zu einer Reederei und fragst, ob sie nicht einen Kapitän brauchen?« »Bin ja nicht gleich als Kapitän auf die Welt gekommen«, erwiderte Dove. »Fang als einfacher Matrose an. Und auch das versuch ich erst, wenn ich anständig aussehn tu.« Sie betrachtete die schlurfenden Füße, die ein gutes Stück von der Breite des Weges einnahmen. »Welche Schuhgröße hast du, Rotfuchs?« »Hab nie Schuh getragen. Immer barfüßig gegangen.« »Siebenundvierzigeinhalb«, schätzte sie. »Nahe dran«, sagte Dove. »An was?« »An achtundvierzig.« »Du kannst langsam aufhören, mir den Bekloppten vorzuspielen«, riet ihm Kitty Twist. »Ich bin schließlich nicht auf den Kopf gefallen.« Damals gab es im Mexikaner-Slum von Houston eine zweistöckige Feuerfalle, an der stand: H O T E L Das war der Name: Hotel Hotel. »Hab noch nie in einem Wolkenkratzer geschlafen«, sagte Dove und schaute die Fassade hinauf. »Was tut das hier kosten?« »Fünfunddreißig Cent«, informierte ihn Kitty. »Und anderswo meist noch mehr.«
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»Dann müssen wir uns 'n billigeres Quartier suchen«, entschied Dove. »Hier ist aber Frühstück mit dabei.« »Und woraus besteht das?« »Aus altbackenen Doughnuts und Kaffee schwarz.« Dove zog ein Gesicht. »Komm, gehn wir weiter.« »Warte.« Sich an ihm festhaltend, zog sie den einen ihrer Segeltuchschuhe aus, schlupfte gleich wieder hinein und ließ Doves Arm los. »Schau mal, Rotfuchs, was ich in meinem Schuh gefunden habe.« In ihrer offenen Hand lag ein Fünf-Dollar-Schein. »Das nenn ich aber Glück, Schwester. Wie ist der da reingekommen ? « Verschmitzt stieß sie ihm in die Seite. »Habe ich dir nicht gesagt, Neger sind am freundlichsten? Warum halten eigentlich alle die Streichholzschachtel in der Küche für den sichersten Tresor?« »Ich hätt nie bei denen angeklopft, wenn mir klargewesen wär, was du vor hattest.« »Eben deshalb habe ich's dir auch nicht gesagt.« »Leute zu beklaun, während sie dir Gutes erweisen, ist gemein, Kitty. Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.« »Werde mich bemühen, daran zu denken.« Sie zog ihn herum. »Rotfuchs, ist dir klar, was ein Paar DreiDollar-Schuhe und ein Zwei-Dollar-Oberhemd für dich bewirken würden? Daß die Leute dich glatt mit Prediger anreden!« Rasch schob sie ihn in das Hotel hinein. »Und du wärst nicht der erste Boy vom Lande«, fügte sie bei sich hinzu, »der sich in der Stadt zum Luden mausert.« »Mein Pappy ist wirklich Prediger«, erzählte er ihr. »Von der Sorte, die dich dazu bringt, deine Bibel wegzuschmeißen.«
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Während sie mit dem Mann am Schalter verhandelte, betrachtete Dove sich in dem langen Hallenspiegel von der Seite. Ja, sie hatte recht: Klamotten täten ihm gut. »Meine Mutter hatte für mich immer nur ein und dieselbe Gutenachtgeschichte«, erinnerte sich Kitty Twist. »Und die lautete: ›Du läßt mich kalt.‹ Das sagte sie jedesmal, wenn sie wieder nüchtern wurde. Als man mich ihr wegnahm und ins Erziehungsheim steckte, habe ich da jede Menge Terror gemacht. War sauer, daß ich nichts gestohlen hatte, so wie die anderen dort. Habe ins Bett gepieselt, und die eine Erzieherin hat es gemeldet, so daß ich in den Stinktierstall kam. Das ist der Schlafsaal mit Gummilaken für Bettnässer. Ich war damals acht. Sie fürchteten, bis ich zehn werde, überschwemme ich das ganze Haus. Mama ging dann unter die Abstinenzler, um ihnen zu zeigen, daß sie es ernst meinte, als sie sagte, sie will mich wiederhaben. Trommelte als Schützenhilfe einen Haufen Ex-Alkoholiker zusammen, und so mußten sie mich ihr zurückgeben. ›Alles für mein Kind!‹ so hatte sie's hingestellt. ›Wenn du bloß meinetwegen trocken bleibst, dann kannst du ruhig wieder zu saufen anfangen‹, habe ich ihr schließlich erklärt. ›Denn jetzt läßt du mich kalt.‹ Mama konnte es aber nicht ertragen, angebunden zu sein, und als sie dann wieder zur Flasche griff, gab es massenhaft Scherben. Wenn ich schon in eine Erziehungsanstalt zurück mußte, dann wollte ich, daß es wegen was war, das ich getan hatte, und nicht jemand anders. Sie schnappten mich, als ich gerade über eine Brücke lief. Hätte ich's bis an deren Ende geschafft, hätten sie mir nichts mehr
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anhaben können. Da war nämlich die Staatsgrenze, und ich wäre in Illinois gewesen. Ich war inzwischen vierzehn, wurde aber mang Kinder gesteckt, die einen ganzen Kopf kleiner waren als ich. Die erste Nacht habe ich prompt wieder ins Bett gemacht. Das mußt du dir mal vorstellen: vierzehn Jahre alt und wieder da angelangt, wo ich schon mit acht gewesen war! Mir wurde klar, wenn das so weiterging, würde ich mein Leben lang zurückbleiben.« Sie schob den einen Ärmel hoch. Ihr Arm war vom Handgelenk bis rauf zur Schulter tätowiert. »An den Beinen habe ich das auch. Selber gemacht mit Stecknadeln und Schreibtinte. Ich hatte zweiunddreißig Tage Bärenringen aufgebrummt gekriegt, und um dabei nicht noch meschugger zu werden, habe ich mir das beigebracht. Es sollte was sein, das sich von denen nicht wieder wegmachen ließ. Von überhaupt keinem. Heute gäbe ich sonst was, könnte ich diese verdammten Dinger loswerden. Aber wenigstens hatten die anderen gesehen, daß ich kein Mucker war. Hast du schon mal erlebt, wie vier erwachsene Männer ein Mädchen auf einem Tisch festhalten, während ein fünfter es auspeitscht? Das haben sie mit mir gemacht, mit einem Lederriemen über einen Meter lang. Er hatte eine silberne Schnalle, die ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Und wie sie es in die Länge zogen! Zwischen den einzelnen Schlägen konnte ich bis zehn zählen. Einhundert Hiebe – das Höchstmaß; mehr durften sie nicht. Aber ich habe keine einzige Träne geweint. Nein, vor denen nicht. Die Strafe war dafür, daß ich das Klo mit Watte verstopft hatte. Weshalb ich das getan habe? Frag mich nicht. Ich mache immer Sachen, wo ich selber nicht weiß, warum. Vielleicht wollte ich bloß einfach anders
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werden als die da alle. Weißt du, wie du das wirst? Du hockst in deiner Kammer wie ein lebender Leichnam. Sie haben dir alles weggenommen. Du hast nichts zu lesen – nicht mal ein Bonbonpapier. Und Briefe schreiben darfst du auch nicht. Als Frühstück kriegst du einen halben Napf trockene Cornflakes, als Mittag zwei Scheiben altes Brot mit einem Stück Bolognawurst und als Abendbrot einen halben Napf wäßrigen Eintopf. Da wirst du anders. Ich fand eine Freundin. Bettnässerin wie ich. 'n taubstummes Negerbams. Kroch bloß immer auf dem Fußboden rum und plapperte mit den Fingern, ihretwegen bin ich nicht abgehauen, selbst als ich die Möglichkeit dazu hatte; sie war ja meine Freundin. Man steckte sie dann in eine Art Krankenhaus, und nun hatte ich keinen Grund mehr, länger zu bleiben. Als ich wieder an jene Brücke kam, bin ich mit der Straßenbahn rüber. Wie lange bist du schon auf Flitze, Rotfuchs?« »Zu Haus wurde mir der Boden 'n bißchen zu heiß«, antwortete Dove. »Da bin ich einfach auf und davon.« Sie verstand falsch. »Stemmen macht Spaß, nicht? Wenn wir dort einsteigen, möchte ich's gern selber tun. In einer Bude rumstöbern, im Dunkeln, kein Mensch da, und du kannst dir nehmen, was du willst, das ist irre aufregend. Gibt dir ein so prickelndes Gefühl, daß du's immerzu machen willst. Weißt du, was am allertollsten ist? Erwachsenen 'ne Wumme vorhalten und sehen, wie sie ganz klein vor dir werden und anfangen zu flennen. Das ist das Höchste. Wie lange, sagst du, bist du schon unterwegs?« Dove antwortete nicht, unterwegs aber war er wohl. Und schon weit drin im Land der Träume. Neugierig
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beobachtete sie ihn. Im Schlaf sah sein Mund aus, als wäre er soeben beleidigt worden. Sie konnte ja nicht wissen, daß Dove in Fitz' Bratenrock auf der Vortreppe des Rathauses stand und den Gesang anführte: Voll hehrer Freud schau ich ihn an, Den Toten, des' Geist ist entflohn. Während eine Gestalt sich rittlings auf einem Kanonenrohr wiegte, mit umdüstertem Gesicht zwar, doch voll hehrer Freud. Nur Trauer und Drangsal mein Los, Solang dieser Kerker mein Heim. Ein Kerker, wo es gegen zehn Cent Eintritt einen Toten zu besichtigen gab, des' Geist tatsächlich schon entflohn. Die Einlaßkarten wurden verkauft von Kitty Twist, die gleich hinter der Mauer saß und ellbogenlange schwarze Handschuhe trug. Auf ihren Reisen von Stadt zu Stadt waren sie beide reich und berühmt geworden, doch sie kicherte zuviel, und dadurch wurde er wach. Denn sie hielt ihn zwischen ihren Schenkeln fest, und das schon einen Augenblick zu lange, als daß er sich noch von ihr zu lösen vermochte. »Ich schäme mich ja so«, sagte sie hinterher zu ihm. »Was war in dich gefahren, mich zu so etwas zu bringen?« In ihren Augen standen Glastränen. »Es muß mich einfach hingerissen haben«, meinte Dove. »Versprichst du mir, mich nie wieder auf eine so gemeine Tour zu überlisten?« »Ehrnwort.« »Dann verzeihe ich dir, Rotfuchs.« »Du bist so gut zu mir. Bloß eins versteh ich nicht.« »Und das wäre?«
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»Bärenringen – was heißt das?« »Bunker haben. Einzeleinsperrung.« Und erschöpft zum Verzeihen und Gutsein, schliefen sie, bis das Abendlicht erlosch. »Laß mal hören, was du für einen Pfiff drauf hast, Rotfuchs.« Dove brachte einen Ton hervor, der bestenfalls ein schwaches Flöten war. Kitty wartete. »Lauter bring ich's nicht«, mußte er eingestehen. Sie steckte zwei Finger zwischen die Lippen und stieß einen Pfiff aus wie eine Lokomotive, nur gedämpfter. »Wenn ich auf volle Puste gehe, kannst du das zwei Straßen weit hören. Es bedeutet: Laß alles fallen, Polente kommt!« Dove stand auf dem unbeleuchteten Hof und trat von einem Fuß auf den anderen. »Was hast du, Rotfuchs? Angst?« »Bloß davor, auf Glas zu treten.« Sie knipste eine Taschenlampe aus einem Zehn-CentLaden an. »Folge dem Lichtstrahl.« Und Dove gehorchte. »Wir suchen Vetter Jim«, erklärte Kitty. »Hab aber keinen Vetter, der so heißt.« Er glaubte, endlich einen Grund gefunden zu haben, um nicht mitmachen zu müssen. »Ja ich hab überhaupt keinen Vetter. Also dann bis nachher.« Sie packte ihn am Hosengurt und zog ihn zu der rückwärtigen Tür eines Ladens. Dort klopfte sie so gebieterisch an, daß seine Füße auf der Stelle kehrtzumachen suchten. Ihre noch in seinem Gürtel steckende Hand hielt ihn jedoch fest. Kitty klopfte abermals. Aber alles war verschlossen und verriegelt. »Mach mir einen Tritt.« Er bildete mit seinen Händen einen Steigbügel und
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hob Kitty hoch, bis sie an dem offenen Oberlicht einen Halt fand. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie sprang auf der anderen Seite so weich hinunter, daß Dove, obwohl er angestrengt lauschte, sie nicht landen hörte. Dann schwang die Tür lautlos auf, und er spürte, daß ihm die Taschenlampe in die Hand gedrückt wurde. Wie konnte Kitty auf einmal hinter ihm sein? »Vor zur Kasse!« befahl sie. »Ich stehe Schmiere.« Und gab ihm einen Schubs voran, der ihn bis an die Registrierkasse beförderte. Eine Ohmer, das gleiche Modell wie jene, die er für seinen Bruder hatte aufspringen lassen. So ließ er auch diese aufspringen, haute so kräftig drauf, daß die Lade voll herausgeschossen kam. Schnell langte er hinein und bekam eine Handvoll Papier zu fassen. Plötzlich sprang zu seinen Füßen eine Katze fauchend aus dem Schlaf hoch. Dove stürzte kopfüber zu Boden, wobei ihm die Taschenlampe aus der Hand fiel und kaputtging. Noch auf den Knien, spürte er Flügel über seine Haare streichen: Die blöde Katze jagte in halber Wandhöhe irgend etwas hinterher, das so groß war wie eine Eule. In dem Wirbel von Gefieder und Fell seine Geldscheine umklammernd, sah er das Etwas undeutlich von Wand zu Wand flattern, in Richtung offene Tür. Seine Flügel kamen hindurch, kurz oberhalb der Katze, und Dove stolperte unsicher hinterdrein. Da hörte er den schrillen Pfiff. Vorn am Durchgang zur Straße rang eine kleine Gestalt mit einer, die doppelt so groß war. »Ganz schön viel Betrieb für mitten in der Nacht«, staunte Dove. Als Fluchtweg blieb ihm nur der Durchgang. Langsam lief er vor, bis fast hin zu dem ringenden Paar – und
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machte dann einen Satz, merkte, daß eine große Hand nach ihm griff, ihn jedoch verfehlte, und raste hinaus auf die offene Straße. Über einen Zaun hinweg und hinein ins Dunkel, über einen weiteren hinüber und eine Mauer entlang, große Füße, die jeden sich bietenden Weg hineinrannten, bis er sich auf einem grasbewachsenen Flecken zu Boden fallen ließ. Wo weiter kein Laut zu hören war als das Zirpen einer müden Grille als Begleitung zum Pochen seines Herzens. »Weiß nicht, ob man das noch Rennen nennen kann«, lobte er sich atemlos. »Hält ich 'ne Feder in der Hand gehabt, würd ich sagen, es war Fliegen.« Seine Faust hatte die Scheine so fest umklammert gehalten, daß er sich die Handfläche reiben mußte, um die Durchblutung wieder in Gang zu bringen. Dann stopfte er das Geld in seine Hosentasche. Zum Zählen war keine Zeit; was er jetzt brauchte, das war ein Schienenstrang. Wenn Dove einen sicheren Instinkt hatte, dann den kaninchenhaften, sich bis zum Ortsende außer Sicht zu halten. Er schlug verschiedene Richtungen ein, bis ihn die roten und grünen Sterne eines Signalmastes zu guter Letzt auf einen Bahndamm führten. »Wo lang zur S. P., Mister?« rief er zu einer in der Dunkelheit schlenkernden Laterne hinunter. Die Laterne schwang hoch. »Du läufst auf deren Gleis«, gab sie ihm Auskunft. »Weg von stehenden Zügen!« Dove lehnte sich gegen einen Telefonmast und wakkelte ein Weilchen an seinem lockeren Zahn, aber ganz raus wollte der sich nicht ruckeln lassen. Und während er es weiter versuchte, schien ihm der Mast an seinem Rücken mitten auf dem Gleis zu stehen. Ein Scheinwer-
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fer kam mit neunzig Sachen auf ihn zu gebraust, aber das war kein Grund zur Aufregung, denn das tat er schon seit Tagen. Dove schlief weiter. Was ihn schließlich aufweckte, war das laute Klappern von Güterwaggons, die in zehn Schritt Entfernung vorbeirumpelten. An ihrem Ende hinten schaukelte ein kleiner roter Mannschaftswagen, wie bei einer Spielzeugeisenbahn. Dove preßte die Hand auf die Hosentasche, damit die Scheine nicht herausfallen konnten, und kletterte hinein in ein schwankendes Dunkel. »Ist hier wer?» Als Antwort nur das Knarren von Bodenbrettern. »Gut gemacht, Linkhorn«, beglückwünschte er sich, »'n Wagen ganz für dich allein. Hast du dir aber auch redlich verdient.« Er schloß die Tür und legte sich auf die Seite mit dem Geld. Manchmal gab es in diesen Zügen Taschendiebe. Der Tag und die Nacht, die folgten, blieben Dove nur in diesiger Erinnerung. Deutlich war ihm lediglich noch, daß er, als er am nächsten Morgen die Tür aufgeschoben hatte, einen blauen Dunstschleier sah, der die Umrisse der Häuser, Hügel und Bäume verwischte. Und daß, als der Tag sich dann erwärmte, diese ganze blaue Welt schwach zu rauchen begann. Louisiana. Den langen Vormittag hindurch türmten sich Wolken auf. Aber über allem immer noch dieser flüchtige blasse Schleier. Der Dunst des Südens, der dich sehen läßt, was du sehen willst. Der hinter die Augen dringt und aus allem einen Wunschtraum macht. »Ich werd mir Gitarre beibringen«, träumte Dove
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gegen die Wagentür gelehnt. »Zieh einfach umher und spiel Gitarre – das lockt die hübschen Mädchen an.« Louisiana. Er sah einen größeren Dove, in schneidigen Hosen und auf schneeweißem Hengst: Sich mit der einen Hand auf der Gitarre begleitend und mit der anderen die Zügel haltend, ritt er singend in New Orleans ein. Louisiana. Seine Finger glitten über unsichtbare Saiten: Gar mutiglich mannhaft stand Jung Brennan in der Haid … Dove ließ das Pferd langsamer tänzeln, damit die Leute ihn besser sehen konnten. Wünsche und Hoffnungen in einem Traum aus blauem Dunst, während der große Wagen ihn sanft wiegte. Nichts als Frieden und schönes Wetter. Dove verträumte den ganzen dunstblauen Tag, bis die milchigen Sterne herauskamen. Später lag er auf dem Wagendach und hielt sich, während der Zug in der Wildnis Wasser tankte und Taschenlampen und Laternen die Kupplungen und Räder überprüften, für unsichtbar. Doch als der Zug wieder anfuhr, rief jemand lachend herauf: »Mach dich flach wie 'ne Flunder, Junge, oder geh rein.« Und so blieb er auf dem Bauch liegen und jagte in eine dröhnende Finsternis hinein, wo ihm ein Tunnelgewölbe um Haaresbreite den Rücken aufriß. Wolken von Kohlenstaub wälzten sich auf ihn nieder. Er zog sich sein Knüpftuch vor Mund und Nase und hakte sich mit den Armen unter dem Laufbrett fest. Vorm Ohnmächtigwerden bewahrte ihn allein die Hoffnung, daß jeder Tunnel einmal ein Ende habe. Dieser schien jedoch keines nehmen zu wollen. Als
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Dove endlich wieder Luft atmete, schwindelten ihm die Sinne. Den halben Staat hindurch spie er Kohlenstaub. Ein Bahnbulle hatte ihm das Leben gerettet. Dessen Kollegen aber war er keinen Dank schuldig. Gewöhnlich kamen sie tagsüber nicht in die Wagen, auch nicht wenn diese voll waren, sondern gingen vorbei, als wären keine Hobos drin. Nachts allerdings holten sie sich gern vier, fünf Mann heraus, um ihr Mütchen an ihnen zu kühlen. Doch eines Mittags steckte ein Polyp mit Knarre seine Nase zur Waggontür herein. »Los, rauskommen! Schön einzeln.« Niemand rührte sich. Alle wußten, wer als erster ging, wurde blutig geschlagen, während die nach ihm eine Chance hatten, heile Haut zu behalten. »Raus, hab ich gesagt! Sitzt ihr auf den Ohren?« Noch immer rührte sich keiner. »Na gut, wenn ihr nicht rauskommt, kommen wir rein!« Ihr Schweigen reizte ihn auf. »Weißt du«, wandte er sich in gespieltem Überdruß an jemand hinter ihm, »ich habe es so satt, in Ärsche zu treten, daß ich dazu übergehen werde, Schädel einzuschlagen.« In der Sekunde, da er das sagte, sprang einer als erster hinaus, und natürlich fielen die Polypen über ihn her, was die anderen nutzten, schnell das Weite zu suchen. Drei Mann mit Revolverknäufen gegen einen unbewaffneten Hobo war der gängige Maßstab für eines Bahnbullen Mut. Wer couragiert genug war, nur mit einem Revolver gegen bloße Fäuste vorzugehen, konnte niemals Begleitpolizist werden; man brauchte noch mindestens zwei Kollegen mit Schießeisen zur Seite, um sich für diesen Beruf zu qualifizieren, bei dem brutales Draufgängertum innere Feigheit verriet.
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Manchmal holten die Bullen auch alle vom Zug runter, führten sie ab in die Stadt, fotografierten sie, nahmen ihre Fingerabdrücke und ließen sie dann mit der Warnung frei: »Jetzt haben wir euch im Polizeiregister. Werdet ihr hier bei uns ein zweites Mal erwischt, kommt ihr auf die Arbeitsfarm.« So versperrte sich eine Stadt nach der anderen den Obdachlosen, bis sich fast keine mehr nennen ließ, die nicht jeden rechtzeitig gewarnt hatte, was ihn erwarte, wenn er sich noch einmal innerhalb ihrer Bannmeile blicken lasse. Eines Nachmittags lagerte Dove zusammen mit vier anderen an einem Bach. Von den vorherigen Benutzern dieses Busch-Biwaks war ein Pappschild aufgestellt worden mit der Bitte, das Lager so sauber zu verlassen, wie man es vorgefunden habe. Außerdem hatte jemand ein Paar noch guterhaltene Schuhe dagelassen, wie eigens für Dove hingestellt; sie paßten ihm genau. Zwei junge Burschen waren dabei, einen Mulligan zu kochen, einen Eintopf nach altem Hobo-Rezept: Man nehme, was man gerade hat. Dove lag nackt in dem Bach, rauchte eine Zigarette und genoß den Duft des Mulligan. Erst als er die Schüsse hörte, sah er die Bullen. Der eine ballerte sechs Löcher in den Topf. Zischend und dampfend ergoß sich der Mulligan ins Feuer, während die Tramps sich schnell ins Gebüsch schlugen. Triefend und verlegen kam Dove aus dem Wasser gestiegen. Den Polypen ging es um den Spaß, zu sehen, wie geschwind ein Landstreicher sich anziehen konnte, während ihm von beiden Seiten Polizeiknüppel auf den Ballon droschen: einen Hieb fürs Hemd, zwei für die Hose und so weiter. Dove, der ja bloß die Hose hatte, hätte
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also mit zweien davonkommen können, wäre er so gescheit gewesen, danach gleich die Beine in die Hand zu nehmen. Aber da waren ja noch die Schuhe. Um sie anzuziehen, mußte er sich hinsetzen – und nun prasselten so viele Schläge auf ihn nieder, daß er dann doch ohne sie davonrannte. Als er in Algiers, gegenüber von New Orleans, kurz vorm Güterbahnhof vom Zug sprang, brummte ihm noch immer der Schädel. An einer Pumpe wusch er sich die oberste Schicht Blut und Ruß vom Gesicht. Als er dann an der Fähre die fünf Cent für die Überfahrt hinlegen wollte, winkte ihn der Kassierer mit gnädiger Miene an Bord. »Die Dame dort hat schon für dich bezahlt.« Dove sah eine Frau mittleren Alters, die vor ihm auf die Fähre ging. Den Nickel noch zwischen Daumen und Zeigefinger, trat er neben sie. »Gut gemeint, M'am, doch ich zahl selber«, sagte er und drückte ihr die Münze in die Hand. Die Frau lief rot an, Dove aber fühlte sich wohler. Als die Fähre anlegte und ein Bootsmann ein aufgerolltes Seil auswarf, um sie am Poller festzumachen, sprang Dove hinzu und half ihm beim Vertäuen. Als Dank für seine Mühe erhielt er aber bloß ein verärgertes: »Das ist meine Arbeit.« So kam Dove endlich in die Stadt, die ständig im Schwingen zu sein scheint. Seit jeher durch ihre Flüsse und später auch noch durch ihre Eisenbahnen in Gang gehalten, bewegt sich ihr Stundenpendel zwischen Schiffs- und Zugglocke hin und her. Die Stadt des Poor-Boy-Sandwiches und des Zichorienkaffees, wo Knoblauchzwiebeln wie Girlanden an Schnüren hängen und Fernfahrer in ihren Lastern
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schlafen. Wo die Postboten Tropenhelme trugen und die Levite bis spät in die Nacht hinein rote Kerzen in altmodischen Windlichtern brennen hatten. Die Stadt, wo die Negerinnen sangen: Daddy I don't want your money, I just want your stingaree. Und Pianisten auf verstimmten Klavieren klagten: Early in the morning before day That's when my blues come fallin' down. An der Desire Street Wharf ging Dove in die erste Herberge für Bettler und Penner, an die er kam. »Du siehst ja aus, als hättest du dich mit 'ner Kreissäge geprügelt«, sagte der Portier zu ihm. »Nein, hab bloß Kratzbürsten sortiert.« »Ich gebe dir ein hübsches, stilles Zimmer, wo du dich ungestört ausruhen kannst. Auch ich bin einst barfuß in die Stadt gekommen, mit so viel Grün hintern Ohren, daß man's hätte abschaben und als Spinat verkaufen können.« »Das sind fünfundzwanzig Cent zuwenig, Mister«, sagte Dove, ohne das ihm hingelegte Wechselgeld anzurühren. »Sie scheinen sich 'n bißchen verzählt zu haben.« Der Portier rückte den in der hohlen Hand zurückbehaltenen Vierteldollar heraus. »Du wirst schneller zu Schuhen kommen als ich damals«, meinte er lachend. »Die Treppe rauf und das erste Zimmer rechts.« Das erste rechts unterschied sich in nichts vom zweiten rechts bis zum zehnten links; eines wie das andere waren sie nicht abzuschließen. Die Decke bestand aus Hühnerdraht. Dem Geruch nach mußten die Hühner noch irgendwo in der Nähe sein. Das Pritschenbett
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aber war genau das, was ein erschöpfter Tramp brauchte. Dove schlief durch den staubigen Abend hinein in die fiebrige Nacht. Und hörte die ganze Zeit die Flußdampfer rufen. Einmal hörte er auch eine Frau, die allein an einer Ecke zu stehen schien und der Welt vorsang, wie alles gekommen sei: Didn't have nobody to teach me right from wrong. Tol' me, ›Girl, you're good for nothin' …‹ Now my Mama's gone. Unter Draht, zu beiden Seiten des Ganges, schliefen andere Zehn-Cent-Gäste ihre Zehn-Cent-Träume aus. Bis die hundert Harfen des Morgens ihre Saiten aus silbernem Licht erklingen ließen. Und die lange, schattenlose Straße entlang ein Verkäufer von buntem Speiseeis einen Regenbogen in die Luft bimmelte. Für jede Farbe ein eigenes Klingeling. Gefrorenes Wasser, feilgeboten zu blecherner Musik. Kommt und kauft, liebe Penner, kommt und kauft, liebe Bettler. Nur zwei Cent pro Eismelodie. Zwischendurch immer wieder zu dem Drahtnetz hochschauend, ob ihn nicht etwa jemand von dort beobachtete, hielt Dove seine Geldscheine einen nach dem anderen dicht vor die Augen, merkte sich die darauf stehende Zahl und addierte sie zu der des vorigen. In der Hoffnung, es könnten zwei aneinanderhaften, fühlte er jede einzelne Note sorgfältig ab. Als er bei vierzig angelangt war, lag noch eine auf dem Bett. Also begann er von neuem, fing mit dieser einen an. Überzeugt, Besitzer von einundvierzig Dollar zu sein, war er aber erst nach dem dritten Durchzählen.
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Endlich einmal hatte ein Linkhorn es zu Reichtum gebracht. Der verbrauchte Atem langjähriger Stadtstreicher und Spiritussäufer machte den Morgen in der asylartigen Herberge stickig und trüb. Doch er war ein Linkhorn mit eigenem Schlafkabinett. Zwar besaß er weder Hemd noch Schuhe – aber jetzt konnte er sich ja so viele kaufen, wie er wollte. Ein loser Zahn, das war nicht zu teuer bezahlt dafür, zu Dove Linkhorn zu werden. Schlimm natürlich das mit dem törichten kleinen Mädchen, das so dumm gewesen war, sich schnappen zu lassen. Kinder sollten eben nicht versuchen, Dinger zu drehen, solange sie noch gar nicht wissen, was sie tun. »Vielleicht«, hoffte er, »ist ihr das eine Lehre, auf den graden Weg zurückzukehren, eh es zu spät ist. Sie hat einfach nicht das Zeug für ein Leben, wie wir schwern Jungs es führen, die schon von Natur aus mehr dazu neigen.« Ein kleines Taschentuch, fast durchgerissen und grau von Ruß, fiel ihm aus der Hosentasche auf den Boden. Als er den Ruß abgeklopft hatte, sah er, daß es schwarz war und noch Reste eines Spitzenrandes dran hatte. Die Falten fühlten sich ein wenig steif an. Es beschlich ihn eine dunkle Ahnung, daß er wohl immer nur denen Leid zufügen werde, die ihm am nächsten standen. Und daß seiner noch viele Gewissensbisse harrten, heftige und weniger heftige, längere und kürzere, einer davon ihn aber nie loslassen werde. »Hoffe, ich hab dir nicht allzu weh getan, Señora.« Erklärend fügte er hinzu: »Grad als ich dir hochhelfen wollte, um dir zu sagen, daß ich das alles nicht so gemeint hab, zog der blöde Lokführer seine Dampfpfeife, und so blieb mir keine Zeit dazu.«
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Doch das Licht klebte wie ein gebrauchtes Bahrtuch an einer schuldbefleckten Wand – sie hatte ihm ihr Taschentuch gereicht, und er hatte sich den Mund statt dessen mit dem Handrücken gewischt. »Ich laß mir von jemand einen Brief schreiben«, nahm er sich vor, »um ihr zu sagen, wie leid mir jetzt tut, was ich getan hab.« Die lange, schattenlose Straße entlang bimmelte ein Regenbogen für zwei Cent blechernen Beifall und zog dann weiter zu einer noch breiteren Straße. Der Morgen schien vergangen. Die düstere Treppe hinunter dräuten Angstgefühle auf. Das Geländer schmierig von eines anderen Schuld, von Stufe zu Stufe langsam hinein in einen widerhallenden Brunnenschacht. Wo die Reue von Fremden die Luft stickig machte. Draußen auf der offenen Straße kam er sich vor wie ein vorzeitig entlassener Strafgefangener, der weiß, daß er seine Bewährungsauflagen nie erfüllen kann. Doch dann verflogen alle aufgekommenen Selbstvorwürfe für eine Weile in dem weiten Wunder der Canal Street und dem wuselnden Gewirr ihres in die Sonne getragenen Raunens und Tosens. Theater mit durch lange Markisen überdachten Eingängen, Polizisten hoch zu Roß, ein rotes Motorrad mit blauem Beiwagen und eine Popcorn-Maschine, die mitten auf dem Bürgersteig Puffmais produzierte. Das Parfüm einer Frau riß ihn herum: Hoi, wie sich ihre Beine unter dem Kleid bewegten! Und da eine andere! Er fand den Schatten einer Markise und lehnte sich dort gegen den Pfosten eines Friseurladens, bis seine Sinne sich wieder beruhigten. »Warum benimmst du dich so blöd verdächtig?« wies er sich zurecht. »Ein Mann mit einundvierzig Dollar
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braucht sich doch nicht kleinzumachen, vor niemand nicht.« Mit so viel Zaster war man schon auf dem Wege, Kapitän zu werden. Bananenkapitän oder Baumwollkapitän, Erdnußoder Puffmaiskapitän, Kaffee- oder Whiskeykapitän – obwohl natürlich keiner so ohne weiteres Kapitän von was wurde. Erst mußte man denen, die das schon waren, die Kaffeesäcke schleppen und den Mais puffen, ihre schwarzen Lokomotiven fahren und ihre großen weißen Dampfer steuern. Nicht mal ein Kapitän schaffte alles allein. »Ich könnt auch Dentist werden«, überlegte er. »Arzt war ebenfalls nicht schlecht, denn da darf man sogar Bäuche aufschlitzen.« Man begann auf der untersten Sprosse der Leiter, und versuchte wer, sich vorbeizudrängeln, gab man ihm einen Tritt in die Fresse – er mußte sich recht bald Schuhe kaufen, am besten wasserdichte Stiefel. Doch bestand ja wenig Gefahr, daß jemand so lebensmüde sein würde, einen Linkhorn übertölpeln zu wollen. »Im Rechnen bin ich auch ganz gut« – er zog in Betracht, Buchhalter zu werden oder Bankkaufmann – »obwohl da doch der kleine Makel ist, daß ich nicht übers B hinausgekommen bin.« Und beendete die Abwägung seiner diversen Fähigkeiten mit: »Auf jeden Fall hab ich Hirn. Und wer so viel davon hat wie ich, der kann bestimmt mal die Welt aus den Angeln heben und ihr einen Keil unterlegen.« In dem Schaufenster machte der Friseur ihm mit einer Flasche Haarwasser irgendwelche Zeichen. Dove antwortete mit einem Lächeln; vielleicht wollte der Mann bloß freundlich zu ihm sein. Als der Friseur dann aber mit einer Haarschneidemaschine in der Hand auf die Tür zukam, drehte Dove sich um und schlenderte zur Canal Street zurück.
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An einem Wagen kaufte er sich zwei Eis, ein grünes und ein orangefarbenes, und reichte dem Verkäufer, der eine Sonnenbrille trug, einen mexikanischen Nikkel. Und bekam prompt einen amerikanischen Cent heraus. »Gut gemacht, Linkhorn«, gratulierte er sich. »Ja, im Rechnen bin ich schon weit übers B hinaus. Muß mir für solche kleinen Geschäfte 'ne Geldbörse zulegen.« Er folgte einer St.-Charles-Street-Tram bis zum Lee Circle. Dort drängte er, die eine Hand grün, die andere orange beschmiert, einen alten Mann mit verbundenem Fuß von einer Bank, um Platz für seine eigenen Quadratlatschen zu bekommen. Seinen Krückstock ärgerlich aufs Pflaster stoßend, ging der Alte weg. »Humpelbein scheint 'ne Laus über die Leber gelaufen zu sein«, vermutete Dove. »Jetzt wüßt ich gern, wer der Captain da oben ist.« Fragend schaute er zu einem Reiterdenkmal hinauf. »Wahrscheinlich einer aus dem Bürgerkrieg.« Ein kahlköpfiger Mann in verschmutztem Anzug und mit Hoover-Kragen kam in verlegener Haltung zu Doves Bank. »Ich bin beileibe kein Bettler«, erklärte er. »Stehe vielmehr im diplomatischen Dienst. Man hält mir in Washington einen Posten frei, und wenn ich hinkomme, wohne ich natürlich in den besten Hotels. Heute aber werde ich wieder im Freien nächtigen müssen, sofern mir nicht jemand fünfzehn Cent leiht.« Er reichte Dove seine Visitenkarte, die an den Rändern schon ganz vergilbt war. Dove tat, als lese er sie, und war so beeindruckt, daß er dem Mann einen Nickel gab. »Ist schließlich für unser Land«, sagte er. Die Straßenbahn schwang beim Kehrtmachen um den Platz herum. »Irgendwann muß ich da mal mitfahrn«, nahm er sich vor.
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Ein Anglo-Mädchen mit weißer Matrosenmütze und Schultertasche kam in den von Lees Stiefeln geworfenen Schatten und blieb stehen, um Dove unverhohlen anzulächeln. Er blickte über die Schulter zurück, sah aber niemanden, der auf sie wartete. Da wurde sie deutlicher: »Nun?« Dove stand auf und verneigte sich tief, wobei er die Hand aufs Herz legte und seinen Strohhut bis fast zur Erde schwenkte. »Schönen guten Tag, M'am.« Sie ging weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Machte nichts. Hatte er erst mal die Gitarre und konnte ein paar gute Lieder, dann war ihm bei den Mädchen freie Wahl gewiß. Und so schlenderte er dahin, lässig und träumend, vorbei an Kaputten und Kaputtgehenden: Krüppeln und Pennern, Sumsern, Säufern und Süchtigen, alten Nutten und jungen Strichern, lahmen und schwärenbedeckten Bettlern, schwindsüchtigen Hausierern, lebenden Schnapsleichen. An der Welt war alles in Ordnung. Bis er zufällig in einem Schaufenster sein Spiegelbild erblickte und sah, daß doch nichts in Ordnung war. Kein Wunder, wenn das Mädchen sich abgestoßen gefühlt hatte. Wer hätte je von einem Kapitän gehört, der barfbeinig ging? An den Piers von der Barracks bis zur Bienville Street, Trockendock an Trockendock, lagen tote Ozeanriesen wie gestrandete Wale, ihre weißen Rümpfe vor sich hinrostend. Die ganze Stadt lag auf Trockendock. Über allem, in einem kaffeefarbenen Dunst aus glücklicheren Jahren, roch man immer noch den starken braunen Duft von Kaffee. Er backte an den Mauern
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der Lagerhäuser ebenso wie an den Schiffsrümpfen. Die Planken der Piers waren von ihm durchtränkt. Und unter den Planken faulten uralte Säcke im anplätschernden Flutwasser. Die ganze Stadt auf Trockendock, das ganze Land auf der Pfandleihe. Aber die Talsohle der Depression, verkündete ein Gewerkschaftsführer, sei jetzt bereits durchschritten; des Präsidenten stramme Lohnpolitik habe eine noch schlimmere Krise verhindert. »Die Wirtschaft kommt wieder in Schwung.« »Keiner braucht zu hungern«, sagte der feiste kleine Hoover und wischte sich das Brathähnchenfett von seinem feisten kleinen Kinn. Wer tüchtig sei, der benötige keine Hilfe von der Regierung, um Arbeit zu finden. Dadurch würde er bloß faul. Und womöglich sogar krank. Den Armen müsse Selbstvertrauen gegeben werden, den Reichen dagegen Regierungshilfe – die alte Garde war wieder am Ruder. »Ich hab's ja auch geschafft«, sagte Hoover und klopfte selbstgefällig auf das Hähnchen in seinem Bauch. Und das einzige Schiff in all diesen Meilen von Piers und Docks, das noch im Wasser schwamm, war ein Frachter unter argentinischer Flagge mit dem stolzen spanischen Namen »Shichi-Fukujin«. Selbst in seinen kühnsten Phantasien hätte Dove nie gewagt, sich etwas so Großes zusammenzuträumen. Er konnte nur mit offenem Munde dastehen, während das Flachwasser gegen die Kaimauer schlug, ein kleiner Mensch, der hinaufschaute zu einem kleinen Menschen, der zu ihm hinunterschaute. Der Niederschauende winkte ihm, heraufzukommen. Als Dove an Deck war, erkannte er sogleich, hier wurde ein richtiger Mann gebraucht. Denn die Matrosen waren ja viel zu schmächtig, als daß sie ein solches Riesen-
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schiff steuern konnten. Hatten viel zu schmale Augen, um einen Leuchtturm von einer Landungsbrücke zu unterscheiden, ehe sie bereits dagegenknallten. Der Kleine, der ihm gewinkt hatte, begann in einer Sprache zu reden, die weder Englisch noch Spanisch war, und mit einem Farbpinsel auf den Schornstein zu zeigen. Einen so großen Pinsel hatte Dove noch nie gesehen und genausowenig einen so hohen Schornstein. Aber wenn verlangt, konnte er dieses alte Ding wie neu aussehend machen. Er griff nach dem Pinsel, doch der Kleine hielt den zurück und wies jetzt auf ein Fenster unten am Pier. »Erst zu Boss gehn.« »Wartet auf mich!« hieß Dove die Mannschaft. Er eilte die Gangway hinunter, in das Lagerhaus hinein und eine Wendeltreppe hinauf. Durch eine offene Tür sah er die gerahmte Fotografie eines Ozeanriesen, die eine halbe Wand einnahm. Darunter saß ein Dockaufseher und wünschte sich, reich zu sein. »Papiere.« Ohne aufzuschauen, streckte der Mann die Hand aus. Dove guckte dumm. »Was für Papiere?« Der Aufseher blickte nun doch auf, bereute das aber sofort. Vor ihm stand ein seltsamer Vogel: Tropenhelm aus einem Walgreen-Laden, Farmerhose, Sonnenbrille, Ein-Dollar-Uhr mit so lautem Gangwerk wie ein Regulator und kanariengelbe Schuhe. »Sind Sie hier der Obermeister?« fragte Dove. »Ich such Arbeit auf 'nem Schiff.« »Die suchen sogar Kapitäne, mein Junge«, belehrte ihn der Aufseher. »Ich tu ja nicht damit rechnen, gleich als Kapitän anzufangen«, bot Dove als Kompromiß an. »War schon sehr froh, das Deck schrubben zu dürfen.« Und geris-
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sen fügte er hinzu: »Oder falls Sie zufällig einen Schornstein haben, der neu gestrichen werden muß, dann tat ich das gern machen.« »Dazu mußt Papiere als Leichtmatrose haben.« »Bin aber nicht leicht. Sondern schwerer als die meisten in meinem Alter. Und auch kräftiger.« Dove ließ nicht locker. »Egal, was Sie mir zahlen, ich wär Ihnen unheimlich dankbar und würd Sie überall wärmstens empfehlen. Und noch was: Ich bin ein ganz schwacher Esser.« »Würdest du auch schwarzarbeiten?« »Schwarz oder weiß oder bunt, ich streich Ihr Schiff in jeder Farbe an, die Sie wünschen, Mister. Ich koch, ich wasch ab, ich stopf Ihre Socken, halt ihre Maschinen unter Feuer, fang Ihnen mit bloßen Händen einen Wal. Denn ich will die Seefahrt lernen, und das Armschmalz dazu hab ich.« »Daß es eine Seemannsgewerkschaft gibt, das weißt du?« »Mister, ich stamm aus christlichem Haus, und mit Sachen von den Yankees hab ich nichts am Hut. Nehmen Sie mich auf Ihr Schiff, und Sie sind mein Käptn und ich bin Ihr Matrose. Sie brauchen mir bloß zu sagen, was Sie gemacht haben wolln, und ich mach's im Nu, denn im Arbeiten bin ich flink wie'n Wiesel. Wenn ich nicht bringe, was Sie als gute Tagesleistung ansehn, können Sie mich ja im ersten Hafen, den wir anlaufen, an Land setzen. Ist das kein faires Angebot nicht?« »Überaus fair, mein Sohn. Wären mehr junge Burschen bereit, für umsonst zu arbeiten, gäbe es entsprechend mehr Millionäre.« »Genauso seh auch ich das, Mister. Man muß umsonst arbeiten, sonst wird man niemals reich. Logisch.« »Weißt du« – der Aufseher legte Dove eine brüder-
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liche Hand auf die Schulter– »dein Gesicht, das hat mir gleich beim Hereinkommen gefallen. Hättest du wohl mal die Freundlichkeit, deine Scheuklappen abzunehmen, damit ich es besser sehen kann?« Dove riß die Sonnenbrille ab und stellte sich gerade hin. »Ebenso hat mir gefallen, wie forsch du hier eingetreten bist«, fuhr der Aufseher fort. »Ohne dich erst mit Anklopfen aufzuhalten.« »Ich dachte, Sie hätten grad nichts zu tun.« »Und auch die intelligente Art und Weise, auf die du deine Bewerbung vorgetragen hast.« »Hab ja gesagt, ich bin richtig« erklärte Dove bescheiden. »Ganz richtig bist du zwar nicht«, dachte der Aufseher bei sich. »Für mich aber goldrichtig.« Durchs Fenster taxierte er den Schornstein: zwanzig Meter hoch, und ab zehn stieg der Gewerkschaftstarif von Meter zu Meter; zwei Dollar siebzig Stundenlohn, zehn Tage zu acht Stunden … Im Geiste überschlug er, wieviel er davon in die Bücher eintragen müsse und wieviel er in die eigene Tasche wandern lassen könne. »Ich zahle dir einsfünfzig die Stunde fürs Anstreichen des Schornsteins dort, Junge.« Wie ein Kiwi, ein Vogel der nicht fliegen kann, jakkerte Dove die Gangway wieder hinauf. Er hörte den Aufseher vom Fenster aus zum Deck rüberrufen: »Setzt diesen Mann in den Stuhl, Jungs!« Als Dove auf dem Deck anlangte, standen Schaber, Pinsel, Farbe und Verdünner schon bereit. Er sprang sogleich in den Bootsmannsstuhl und rief: »Holt an, Kameraden!« Als er dann nach unten schaute, hing er bereits gut fünf, sechs Meter hoch in der Luft. »Das genügt, Jungs!« rief er wohlgemut hinunter.
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»Ich fang hier an und arbeite rauf zu!« Doch die Kette zog weiter. Wer hätte gedacht, daß hier oben eine so schöne frische Brise wehte, während die andern in der Hitze drunten schwitzen mußten? Gerade als er ein zweites Mal hinunterschauen wollte, begann der Stuhl wie eine Wiege zu schaukeln, und so ließ er es bleiben. Höher und immer höher. Über ihm ragte der rostschuppige Schornstein auf, unter ihm kippte der Fluß seltsam ab. Die Zeiger seiner Uhr schienen zwar irgendwie schief zu stehen, aber allem Anschein nach auf 10:55 – in fünf Minuten würde er sein Werkzeug bereit haben, so daß er zur vollen Stunde beginnen konnte. Ein voller Tageslohn für einen vollen Arbeitstag, so kam man in der Welt voran. »Ich fang jetzt an, Kameraden!« rief er über den Rand des Stuhls hinweg, um ihnen zu zeigen, daß er hier oben keine Angst hatte. Irgend etwas zog heftig an dem Stuhl, und er deutete das so, daß der Aufseher es sich anders überlegt habe – er könne jetzt jederzeit wieder runterkommen. Dove schlang das Seil um den Schornstein und verknotete es so fest, wie er es nur schaffte. Der Mann hatte ihn raufgeschickt – runterkriegen aber würde er ihn erst mit einem Tageslohn in der Hand! Nun fest vertäut, hörte der Bootsmannsstuhl auf zu schwanken, und auch Dove fand sein Gleichgewicht wieder. Zum Aufrechtstehen reichte es zwar nicht, aber dazu, die Büchse mit der Farbe aufzumachen. Kaum hatte er den Deckel ab, neigte der Wind den Stuhl wieder, und die obenauf schwimmende Firnisschicht schwappte über. Dove tupfte sich den Fleck von der Hose. »Schwein gehabt, daß das nicht auf meine Schuh gegangen ist.«
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Wozu sie sich von einem so heimtückischen Wind versauen lassen? Also drückte er den Deckel wieder rauf und schaute auf seine Uhr. 11:04. Nicht lesen und schreiben können hieß ja noch lange nicht, daß man nicht auch rechnen konnte. Zehn Cent hatte er heute schon verdient, oder er mußte sich sehr vertun. Als er über den Rand nach unten blickte, sah er den kleinen Kreis grinsender Gesichter zu ihm hochschauen. Er schloß die Augen, um sich nicht übergeben zu müssen. Am ersten Arbeitstag durfte das um Himmels willen nicht passieren. Nachdem sich sein Magen beruhigt hatte, fiel ihm etwas ein, und ganz unten in einem Bull-Durham-Säckchen fand er es dann auch: ein bißchen hellgrünen Potaguaya und ein paar braune Blättchen zum Drehen. »Da keiner was von gesagt hat, ist hier Rauchen bei der Arbeit auch nicht verboten«, schloß er scharfsinnig. Und beim ersten Zug spürte er den Stuhl um eine Handbreit ansteigen. »Soll er nur«, dachte er. »Je höher, desto höher auch der Lohn.« Schaber, Verdünner, Farbe und Pinsel lagen vergessen zu seinen Füßen. Und vergessen hatte man offenbar auch ihn. Als er wieder auf seine Uhr schaute, war es schon fast zwei. Mein Gott, wie die Zeit verflog! »Mittag!« rief er hinunter. »Schickt's Essen rauf!« Doch er sah niemanden hochgeklettert kommen, der sich mit nur einer Hand an den Schornsteinsprossen festhielt, weil er in der anderen ein Tablett balancierte, und der ihn fragen wollte, ob er den Kaffee mit Milch und Zucker wünsche. »Diese Bagage ist zu Tisch gegangen«, vermutete er verdrossen. »Frißt sich voll und läßt mich leer ausgehen. Kam mir ja gleich wie'n fieser Verein vor.«
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Den ganzen Nachmittag dort oben in luftiger Höh döste Dove vor sich hin, und mit jedem Erwachen wurde er hungriger. »Essen!« versuchte er es noch einmal. Erreichte aber nicht mehr, als daß einer der Matrosen ihm zuwinkte. »Ich weiß schon, was Sie bezwecken«, teilte er dem Aufseher schließlich laut mit. »Daß der Hunger mich runtertreibt. Aber da können Sie lange warten: Nicht eher, als bis ein voller Tag rum ist!« Und nickte gleich wieder ein. Es war kurz vor fünf, als er wach wurde und eine kühle Brise vorbeistreichen spürte. Er löste den Knoten des Seils. »Gut, daß ich nichts im Magen habe«, dachte er, als es abwärts ging, und blaß und schwankend sprang er aufs Deck. Zwei von der Mannschaft mußten ihn stützen, und alle schienen mit seiner Arbeit zufrieden. Ausgenommen der Aufseher. »Keinen einzigen Cent Lohn!« teilte der ihm gleich mit. »Ein Wort von Geld, und ich laß dich auf der Stelle über Bord werfen!« Dove kam wieder fest auf seine Landrattenbeine zu stehen. »Mister, ich bin in Ihrem dämlichen Stuhl hoch, wie Sie's verlangt haben. Wir hatten 'ne Abmachung.« »Jetzt hör mir mal zu, mein Sohn. Auf diesem gottverdammten Trockendock hier bestimme ich, merk dir das! Ich laß mir nichts vorschreiben, von niemand, und von dir schon gar nicht! Hast du das kapiert, du Moses aus christlichem Hause?« »Ich heiß nicht Moses, Mister. Sechs volle Stunden war ich da oben, und die Überstunden berechne ich gar nicht, weil mir klar ist, daß ich an meinem ersten Tag hier noch kein Meisterstück vollbracht hab. Aber ich hab mir alle Mühe gegeben, und dafür stehn mir sechs Dollar zu.«
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Der Aufseher nahm Dove beim Arm, führte ihn zur Seite und flüsterte: »Nimm das und verschwinde aus meinem Dock.« Dove sah runter. Es war eine Zwei-Dollar-Note. »Hab sechs zu kriegen, Mister.« »Höher gehe ich nicht.« Er hatte den Zweier gegen einen Fünfer ausgetauscht. »Na schön.« Dove nahm den Schein. Der Aufseher trat mißmutig an die Reling und schaute aufs Meer hinaus. Unten auf dem Deck blickte Dove ein letztes Mal zu dem Schiff hinauf. Wieder lächelte der kleine Mann von heute vormittag zu ihm hinunter und winkte mit dem großen Pinsel. »Du morgen pünktlich kommen, Kamrad«, rief er. Dove winkte zurück. Ganz manierlicher Bursche. Ein bißchen traurig war er schon, als er wegging von dem großen Fluß und wußte, mit seinem Zur-See-Fahren würde es nun doch nichts. Eine Weile später fand er den Zugang zur Herrentoilette in der Southern Railway Station durch den Aufwärter, einen weißhaarigen Neger, blockiert. »Laß mich mal durch, Pappy«, sagte er und wollte sich an ihm vorbeischieben. Pappy begehrte jedoch erst zu wissen: »Hast du farbiges Blut, Landboy?« »Selbstverständlich«, gab Dove zur Antwort. »Mein Blut ist doch nicht weiß!« »Bitte keine faulen Witze«, warnte ihn der Neger. »Ich bin hier verantwortlich.« Dove begriff zwar nicht, was er falsch gemacht hatte, trat aber den Rückzug von dem »WC FÜR FARBIGE« an.
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Als er sich über die Trinkwasserfontäne beugte, sah er den Aufwärter abermals auf sich zukommen. Auf so einen wie ihn hatte der alte Mann in seinen Träumen schon jahrelang gewartet. »Da du ja farbiges Blut hast, darfst du dieses Wasser nicht trinken.« »Haben denn nicht alle Menschen farbiges Blut, Mister?« Dove interessierte das jetzt wirklich. »Mit so dummen Fragen«, erwiderte der Alte, »hältst du nicht mich, sondern bloß dich selber zum Narren. Bist du weiß, dann bleib auch weiß. Bist du schwarz, mußt du sowieso schwarz bleiben, bis du stirbst. Und jetzt scher dich aus meinem Bahnhof raus!« »Find ich schon merkwürdig«, sinnierte Dove, »daß man in so'ner großen Stadt als Christenmensch nicht mal 'nen Schluck Wasser kriegen kann. Vielleicht hat mein verschrobener kleiner Pappy doch nicht so unrecht.« Die Kehle war ihm wie ausgedörrt, und er ging zur ersten Tür hinein, über der er ein Coca-Cola-Schild sah. Auch innen in dem düsteren Raum hingen überall Coca-Cola-Reklamen, auf den Regalbrettern aber standen nur leere Flaschen. Dove klopfte mit einem Dime auf die Theke. Es erschien eine bemalte Puppe. Ohne BH und höchstens neunzehn. An einem in die Theke geschlagenen Nagel öffnete sie eine Flasche Coca und ließ dabei den einen Träger ihrer Bluse runterrutschen, so daß ihre linke Brust bis über die dunkle Warze hinaus freilag. Unter der Brust war eintätowiert: »WHISKEY«. »Finden Sie nicht auch, daß das 'ne Affenhitze ist?« fragte Dove.
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»Habe schon mehr geschwitzt«, gab die Puppe zurück. »Meiner Rechnung nach krieg ich noch fünf Cent raus, M'am.« »Meiner Rechnung nach nicht.« Mit gelangweilter Miene schob sie den Träger wieder hoch. »Sind Sie sicher, daß Sie sich da nicht 'n bißchen verzählen, M'am?« »Absolut.« »Wieviel kostet 'n Strohhalm?« »Der ist umsonst. Wohl vom Lande, was?« »Komisch«, sagte Dove verwundert und nahm zum Ausgleich vier Halme auf einmal, »aber Sie sind innerhalb von 'ner Stunde schon der zweite, der das merkt. Woran tun die Leute das erkennen?« Die Puppe schaute nur ausdruckslos vor sich hin. Als die Strohhalme nicht mehr zogen, knickte er jeden einzelnen säuberlich zusammen und legte weitere zehn Cent auf die Theke. Diesmal wischte sie die Flasche mit einem Lappen sauber und steckte einen einzigen Halm hinein. Er nahm sie ihr ab, ohne die Augen von dem linken Träger zu lassen. Der verschob sich auch nicht um einen Zentimeter. Sie bongte seine Münze ein und ließ die Lade so schnell zuschlagen, daß er dachte, sie habe die Taste mit ihrer Brustwarze betätigt. Dann lehnte sie sich gegen die Registrierkasse, und ihre Brust kam auf das Schild »KEIN VERKAUF AUSSER HAUS« zu liegen. Unter dieser Brust stand tätowiert: »BIER«. Nachdenklich betrachtete Dove das Wort. »Darf ich mal meine Meinung äußern, Miss?« fragte er schließlich. »Aber Sie dürfen nicht beleidigt sein.« »Wüßte nicht, womit Sie mich beleidigen könnten.«
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Dove sagte es ihr trotzdem: »Ich find, Sie haben 'n bißchen viel Tünche drauf. Dadurch sehn Sie richtig bleich und krank aus.« Ausdrucksloser konnte ihr Blick nicht mehr werden. Sie verzog keine Wimper. Kippte lediglich den letzten Tropfen aus der Flasche, stellte diese weg und schob den Träger wieder hoch. »M'am, ich kann mir nicht helfen, aber ich hab das Gefühl, hier ist was faul.« Mit einem Minimum von Neugier hob sie die eine ihrer nachgezogenen Brauen. »So?« »Gestern abend hab ich auf der andern Seite vom Bahnhof 'ne Coca gekauft, und da hat sie bloß fünf Cent gekostet.« »Das war drüben. Dort herrscht ein Preiskrieg.« »Hoffentlich hat's noch keine Gefallnen gegeben«, sagte er und legte einen dritten Dime hin. Sie öffnete die Flasche, wischte sie ab, steckte einen Strohhalm hinein, bongte die Münze, schlug die Lade zu und trat zurück – alles mit einer einzigen Bewegung. Doch der Träger verrutschte nicht mehr. Dove trank langsamer. Nichts. »Wie viele Flaschen von diesem Sprudelwasser verkaufen Sie so am Tag, M'am?« »Ungefähr so viele, wie sich Krähen beim Schweineschlachten einstellen.« »Ganz schöne Menge«, fand Dove. »Wozu sind Sie eigentlich hier reingekommen, Mister?« »Weil ich an der Fontäne nicht hab trinken dürfen.« »Ich glaube, Sie verschwenden bloß Ihr Geld.« »Ist doch mein Geld.«
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»Fragt sich nur, wie lange noch«, gab sie zu bedenken. »Ja, stimmt schon, manchmal ist's schneller zerronnen als wie gewonnen, oder wie der Spruch heißt. Sie meinen, mit meinen vierzig Dollars geht's genauso?« »Wenn Sie sie alle für Cocas verjubeln, schon. Aber ich weiß was Besseres als Verjubeln: Verbumsen. Kommst du mit, Süßer?« »Nicht ganz. Worin besteht 'n der Unterschied? Außerdem, Coca-Cola schmeckt doch prima. Was, wenn ich einen ganzen Dollar hinlege?« »Tu's doch mal.« Dove legte ihn hin, und kaum daß der Schein die Thekenplatte berührte, hatte sie ihn schon geschnappt. »Na endlich hast du kapiert. Komm mit.« Irgendwo am Ende des schmalen Korridors lachte ein Mädchen so ohne Heiterkeit, als lache es sich selber aus. Die Türen zu beiden Seiten waren alle numeriert. Kein Licht, kein Fenster, kein Laut. Verloren wartete Dove in der Finsternis, bis er jemand eine Tür öffnen hörte. Dann ging in einer Ecke ein grünes Lämpchen an, und in dem Lichtschein stand die Bier- und Whiskeypuppe, nackt bis auf ihre Pumps, ein Mädchen schmal wie ein Reh. »Hab noch nie 'n so hübsches Mädel gesehn wie dich, obwohl du unten rum ja 'n bißchen dünn bist«, sagte Dove zu ihr. »Ich krieg mächtig Lust zum Rammeln. Du auch?« Hinterher, den einen Fuß auf den Boden gestützt, um nicht von dem engen Bett zu rutschen, wurde er vertraulich. »Mir ist der Magen wie zum Platzen«, gestand er. »Trink nächstes Mal lieber Whiskey«, riet sie ihm und fügte hinzu: »Landboy, deine Zeit ist lange um.«
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Spießte dann mit einem grünlackierten Zehennagel seine Hose auf, schwenkte sie wie an einem Ladebaum herum und ließ sie in dem Augenblick, da seine Geldtasche herausglitt und auf geheimnisvolle Weise unter dem Bettzeug verschwand, mit geziertem Angewidertsein über seine Knie fallen. »Also ich muß sagen«, erklärte Dove, »du bist die irreste Biene, die mir je untergekommen ist.« »Inwiefern?« In ihrem Ton klang Argwohn mit. »Na, diese Fußnägel.« »Du hast mehr als genug für dein Geld gekriegt.« Auf einmal schien sie nicht mehr freundlich sein zu wollen. »Zieh dich an und verschwinde.« »Ich lieg hier bloß noch, um mir 'ne Entschuldigung zusammenzubasteln. Hab sie gleich fertig.« »Entschuldigung wofür?« »Daß ich gesagt hab, du wärst unten rum zu dünn. Das hat sich nicht gehört. Und tatsächlich hast du ja einen Balkon, der nicht von Pappe …« »Die Toilette ist rechts«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Tut mir leid, Miss, ganz schrecklich und ehrlich. Aber ich bin total ausgepumpt und muß jetzt schnell 'ne Runde schlafen.« Sie trippelte um das Bett herum und spähte auf den Korridor hinaus. »Ich hole jemand, der dich wieder munter macht«, versprach sie. Die Hand auf dem Türknauf, stand sie mit dem Rükken zu Dove, und ihr Paradehöschen beulte sich hinten so deutlich mit seiner Geldtasche aus, daß er durch den dünnen Stoff die Narbung des Leders sehen konnte. Doch er versuchte nicht, sie herauszuziehen. Vielmehr hakte er einen Finger in den Schlüpfergummi, streckte den Arm zum Ladebaum, ganz so wie er es sie mit ihrem
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Bein hatte tun sehen, und schwenkte ihn genauso geschickt und kaltblütig zur Seite wie sie vorhin seine Hose, Als sie hinter sich eine Bewegung spürte, fuhr sie herum. Da lag dieser große Tölpel auf dem Bett und schlief, aber selbst ein Blinder konnte sehen, daß er bloß so tat. »Hör mal, ich weiß nicht, wen du zu täuschen meinst, mich jedenfalls nicht!« Nach dieser letzten Warnung trat sie hinaus auf den Korridor. »Knifey! Knifey Darling! Hier ist wer für dich!« Dove sprang aus dem Bett, hinein in seine Hosen und, Schuhe in der Hand, zum Fenster hinaus. Zur gelinden Verblüffung von zwei Negermädchen auf der anderen Straßenseite, die auf zur Vordertür herauskommende Männer aufpaßten – sie verbrachten ihre Nachmittage damit, sie zu zählen. Einer, der durchs Fenster kam, durfte der mitgezählt werden oder nicht? Immer schien irgend wem was einzufallen, woran vorher keiner gedacht hatte. Frauen sind besser dran als Männer: Sie können in die Hölle hinabfahren und leicht wieder hochkommen. So heißt es in einem alten Lied, und so ist es auch. Sonderfälle wie Dove Linkhorn jedoch ausgenommen. Dove war sich durchaus klar, daß er in der Unterwelt geweilt hatte. Als er wieder auf die Canal-Street-Seite der Southern Railway Station kam, hatte er das Gefühl, entweder sei er aus irgendeiner Tiefe aufgetaucht oder aber der Himmel ein Stückchen höher geworden. Die Stadtväter und Honoratioren, die Rotarier, Kiwanier, Soldatenbündler und Logenritter, all diese Biedermänner würden lachend zugeben, daß New Orleans die Hölle sei. Es aber nur bildlich meinen. Daß man
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mitten in der City jedoch eine leibhaftige Hölle angelegt hatte – das durfte nie und nimmer eingestanden werden. Denn Zuhälter und Huren treiben ja Verwerfliches, wogegen Biedermänner in ihren Familien aufgehen, die ihnen ihr Rückgrat sind. Rückgrat haben genügt so einem Daddy, ob nun bieder oder unbieder, aber nicht immer. Ab und zu muß er sich auch mal von Heim und Herd befreien. Und auf einen Ball der Halbwelt gehen, sich einem albernen Einlaßritual unterwerfen und sich in Gegenwart eines auswärtigen Bekannten von einer attraktiven Edelnutte beim Vornamen anreden lassen. Da fühlt sich ein Daddy wieder als Mann. Drei Glas Moonshine-Whiskey, und einer wie der andere beginnen diese honorigen Bürger gegen eben jene Gesetze zu verstoßen, die sie selber verfaßt haben. In einem Taxi durfte man ruhig einen Schluck Whiskey aus seiner eigenen Taschenflasche nehmen. Nicht dagegen in der Straßenbahn. Pech für jene, die sich kein Taxi leisten konnten. Mit einer Flasche Schnaps in der Tasche oder gar in der Hand eine Straße entlangzugehen war verboten. Doch wer ein Auto besaß, der konnte seine Spirituosen straffrei transportieren. Zwischen den Maschen eines jeden dieser Gesetze gab es ein kleines Schlupfloch – das zufällig genau den Körpermaßen der Biedermänner entsprach, wie eigens für sie eingearbeitet. Jene, die an den Gesetzen nicht mitgestrickt hatten – Zuhälter, Puffmütter und dergleichen – fanden es viel schwerer, sich durchzuzwängen. Eine althergebrachte Perfidie, in der alle BiederDaddys Übung haben. Wenn es zur Polizeistunde erst losgeht und alle da sind, dort wo man für sein Geld was erleben will und wo es alles andere als spießig zugeht, wo sich hungrige junge Dinger an alte Knacker
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verkaufen und Lustgreise mit glasigen Augen Revuegirls betatschen, wo auf den Tischen getanzt und schmachtfetziger Blues gegrölt wird, wo es alles zu gewinnen und nichts zu verlieren gibt – wenn alles gekauft und bezahlt ist, dann steht stets mit Sicherheit fest: Betrieben wird der Laden von irgendeinem Oberbiedermann. In der alten Perdido Street reihten sie sich aneinander, die Tingeltangel mit Bühnenschauen oder Gucklochdarbietungen, die Bumslokale und Bordelle. Doch war es weder die Halbwelt noch die Unterwelt, die diese Straße betrieb. Die Bordelle gehörten keinen Madams und auch keinen Zuhältern. Es gab blutjunge Flittchen und angejahrte Pritschen, Amateusen wie Professionelle. Strichvögel aller Art und beiderlei Geschlechts, von Trottoirschwalben über Schnapsdrosseln und Sumpfhühnern bis zu diebischen Elstern und Aasgeiern. Dazu jede Menge Schmeißfliegen. Die Nacht war so hell wie der Tag, der Tag so dunkel wie die Nacht, doch diese Etablissements standen alle im Besitz von Honoratioren. Ein Bieder-Daddy liebt Geld über alles, haßt deswegen aber nicht das Vergnügen. Er berechnete den Mädchen den doppelten Preis für Bordellfummel, Drinks, Polizeistrafen, Zimmermiete, Handtücher und so weiter. Doch ließ er die nächtliche Fete nicht verrauschen, ohne nicht auch selber mitzumachen. Hinterher mußte er sich von der Sünde reinwaschen lassen, damit er wieder mit seiner Frau schlafen konnte. Das besorgte die Geistlichkeit. Eine so offizielle Institution mußte es schon sein, um die Schuld den Frauen zuzuschieben. Die Prediger, Priester, Sozialreformer und Konsorten verstanden sich darauf sehr gut. Manche Mädchen, erklärten sie, seien schon von Natur aus
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verderbt, andere wären durch verderbte Männer verdorben worden. Niemals aber liege die Schuld bei jemandem, der an ihnen verdiene. Daddy, kannst ruhigen Gewissens wieder heimgehen. Geistliche, Journalisten und Kommunalpolitiker scheuchten die Frauen von Puff zu Puff, von Straße zu Straße – doch mit Ausnahme der Verseuchten nie so weit weg, daß sie nicht mehr verfügbar gewesen wären; Daddy wollte ja nach wie vor für sein Wochenende eine gesunde und gutaussehende Puppe haben und brauchte Leute, die sie ihm verschafften. Das war etwas, das half, die Kirchen zu füllen, die Zeitungsauflagen zu erhöhen, die Festnahmeregister auf den Polizeirevieren ansehnlich werden zu lassen und den Bonzen im Rathaus Aktivität zu bescheinigen. Haben wir bereits mehr Häuser, als wir bewohnen können, mehr Autos, als wir fahren können, mehr zu essen, als wir verzehren können, besteht die einzige Möglichkeit, noch reicher zu werden, darin, jene kurzzuhalten, die nicht genug haben. Wenn jeder übergenug hat, was habe ich dann noch von meinem Übergenug? Was nutzt mir eine große Wiese, die allen offensteht? Erst wenn andere durch einen Zaun ausgesperrt sind, bekommt die freie Weide wirklichen Wert. Was nutzt es, Offizier zu sein, wenn man nicht mehr haben kann als ein Unteroffizier? Wozu dann überhaupt noch Unteroffiziere? Die Mädchen selber lasen von der jüngsten Kampagne, doch glitten ihre Augen gelangweilt über die Druckerschwärze. War die letzte Predigt gehalten, der letzte Leitartikel geschrieben und die letzte Razzia durchgeführt, würden jene, die gepredigt, geschrieben und die Razzien veranlaßt hatten, ja doch wieder zu ihnen kommen, um sich ein bißchen zu vergnügen.
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Das war die althergebrachte Perfidie, die von keinem zugegeben wurde. Doch über der Perfidie, unter der Fidelitas, schwelte in jenem schwülen Sommer ein Gefühl, als sei das alles so freudlos wie Lustbarkeiten in einem Lande, in dem schon der Feind steht. In den verlebten Gesichtern junger Mädchen und den geschminkten Gesichtern junger Männer in geheimen Bars stand die Ahnung, daß alles bald aus sein werde. Einsame Gebeine im alten Französischen Friedhof, die Jahrzehnte hindurch geschlafen hatten, spürten das ebenfalls und erwachten, um sich den staubigen Weg heraus durch Mauerwerk, Holz und Stein zu bahnen. Dove Linkhorn, der an einer bröckelnden Mauer vorbeikam, schaute hinein und sah, wie unsanft der Tod mit alten Knochen umging. Er ließ ihnen keine Ruhe. Ob Spanier oder Franzosen, Kreolen oder Kentuckyaner, Seeleute oder Jäger, ehrbare Frauen oder Konkubinen, aller Gebeine bleichten gleichermaßen in der Samstagssonne. Auch sie waren in der Unterwelt gewesen und wieder hochgekommen. Doves eigene Knochen schmerzten. »Zuviel rumgehetzt und rumgerackert«, schalt er sich. »Und nicht mehr erreicht als 'nen Anzug, 'n Paar Schuhe und 'ne Dollar-Uhr. Könnt aber noch weniger sein.« Als ein Mädchen mit Augen, wie man sie sich nur in einer Schachtel Reißzwecken holen kann, ihn anbettelte: »Hast 'nen Dollar, Süßer?« fand er es nicht recht, sie zu belügen. »Ja, hab ich«, gestand er. »Aber jetzt keine Lust.« Sie zog die Tür weit auf. »Komm rein. Lust mach ich dir schon.«
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Zehn Minuten später kam Dove heraus und hatte inzwischen solchen Hunger, daß er sogar Schlange gegessen hätte. Am Ende des Häuserblocks sah er ein Schild, auf das ein Poor-Boy-Sandwich gemalt war, doch den Weg dorthin versperrte ihm ein anderes Mädchen, indem sie eine Fliegentür nach außen aufstieß. »Hast 'nen Dollar, Süßer?« »Ja, aber den brauch ich für was zum Essen.« »Essen kannst du hier«, verhieß das Mädchen. Er trat ein. Doch wie ein Restaurant sah es nicht aus. Zehn Minuten später kam er heraus, lehnte sich einen Moment gegen die Wand und ging dann weiter, leise und mit gesenktem Kopf, um an den restlichen Türen vorbeizukommen. Schließlich erreichte er den Laden mit dem Schild. Doch als er hineinschaute, sah er auch bloß wieder ein Mädchen ohne BH, das eine Coca-Cola aufmachte. Er trottete weiter, von Querstraße zu Querstraße, den Weg zu einer Futterkrippe mehr mit der Nase als mit den Augen suchend. So gelangte er zu guter Letzt in eine Meeresgrotte, erfüllt von dem Geruch lebender Hummern und Krabben, dem Dampf brodelnder Muschelsuppe und der Nässe eingewässerter Gumbos, auf denen kleine Schnecken herumkrochen. Er setzte sich an einen Tisch, der so betagt und narbenbesät war wie der Alte Französische Markt selber. Als sich seine Augen an das Tiefseelicht gewöhnt hatten, sah er einen Neger mit der Figur eines Camera und nacktem, von eisenfarbigem Schweiß glänzendem Oberkörper, der mit silbern blitzender Präzision Schnappschildkröten die Köpfe abschlug. Nun leben Schildkröten leider in der Meinung, ein jeder könne sich emporstrampeln, er müsse nur fleißig
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um sich schlagen und um sich schnappen. Ganz oben sei stets noch Platz für einen mehr. Von diesem seltsamen Glauben am stärksten durchdrungen sind die Schnappschildkröten – ihr Name kommt ja nicht von ungefähr –: Mag der Weg auch noch so steil und blutig sein, Hauptsache, man erreicht die Spitze der rottriefenden Pyramide. Der schwarze Schlachter dünkte Dove wie der leibhaftige Doktor Tod. Doktor Tod, dessen Patienten einer nach dem anderen auf immer schmaler werdender Planke angekrochen kamen, jeder einzelne voller Zuversicht, in letzter Minute doch noch begnadigt und wieder voll in seine bürgerlichen Rechte eingesetzt zu werden – das Messer klappe in der Luft zusammen, ein modernes Wunder. Einen Kopf kürzer gemacht werden sei gut und recht für bestimmte niedere Arten wie etwa die Land- und die Schlammschildkröten, jedoch nicht für jemanden aus der alten und edlen Familie der Kaimanschildkröten. Aber mit dem Kopf verliert man ja nicht auch seine Gliedmaßen. Und mit denen läßt sich weiter rempeln und um sich treten, um zu Stellen zu gelangen, wo noch mehr Blut fließt. Nur nicht sagen, Kämpfen habe keinen Zweck mehr. Nach wie vor gilt die Parole: Vorwärts und aufwärts! Ist man bereits unters Messer gekommen, wird es dringlicher denn je, sich in der Welt nach oben zu bringen. Man spürt, daß die Zeit gegen einen arbeitet, und so strengt man sich immer mehr an, es doch noch zu schaffen. Bis der Boden rings um die Pyramide eine einzige schwarze Blutlache ist, in der einige auf dem Bauch und andere auf dem Rücken liegen. Dove merkte, daß außer dem seinen noch ein Augenpaar den wachsenden Haufen beobachtete: Unten auf
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dem Fußboden neben ihm schaute ein abgeschlagener Schildkrötenkopf von der Größe einer Hand auf seinen eigenen Körper, der sich rutschend und glitschend mühte, den Berg hinaufzuklettern. Der einer anderen Schildkröte konnte es nicht sein, denn allein er paßte zu dem massigen Kopf, der ihm reglos und unerschütterlichen Glaubens nachblickte. Auf hundert blutende Halsstümpfe krabbelnd, über eben so viele Rücken klimmend, hier einen Tritt und dort einen Stoß austeilend, schickte der Körper ein Dutzend Kletterkonkurrenten in die Tiefe, ins endgültige Aus. Gebannt schauten Dove und der Kopf zu, ob er es schaffen werde. Getrieben von einem Drang, der noch stärker war als der der anderen, wuchtete er sich ungerührt über Mütter und verwaiste Kinder hinweg, bekam mit den blind arbeitenden Vorderbeinen schließlich den Schwanz eines roten Schnappers zu packen, klomm auf dessen Rücken, schob den Roten unter sich weg und bildete nun selber die Spitze der Pyramide. Er war König der Schildkröten. In Siegergeste breitete er die Arme aus. »Na bitte: Jeder kann es schaffen, nach ganz oben zu kommen.« In dem Moment stieß ihn etwas von hinten brutal weg, und seine kurze Regierungszeit war zu Ende. Zappelnd und trudelnd rutschte er auf einer Schlitterbahn aus Blut den Berg hinunter und landete unter dem Tisch. Platt auf dem Rücken lag er da und ruderte mit den Beinen, hilflos und immer schwächer werdend. »Liebe Freunde und edle Seelen«, sagte sein Rudern, während er schon die Todeskälte in sich hochsteigen spürte, »wollt ihr tatenlos zusehen, wie euer alter Kamerad stirbt? Mein Leben lang begehrte ich nie etwas für mich selbst – nach Reichtum, Wohlleben, Macht
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oder Sicherheit habe ich nur gestrebt, weil es meine Familie danach verlangte. (Waren diese Dinge da, genoß ich sie natürlich ab und an mit.) Wollt ihr mich hier wirklich verrecken lassen? Gewiß, ich habe immer gut gegessen. Doch das einzig und allein, um mich für meinen aufopfernden Lebenskampf bei Kräften zu halten. Denn niemals tat ich einem Mitgeschöpf absichtlich Böses an, außer es stellte sich mir in den Weg. Nie habe ich mir unbilligen Vorteil verschafft, es sei denn es brachte mir Gewinn. Kriegt ihr es fertig, eine so liebenswerte Schildkröte verrecken zu lassen? Einen fürsorglichen Vater, regierungstreuen Bürger, rechtschaffenen Arbeiter, rücksichtsvollen Nachbarn und regelmäßigen Kirchgänger. Aus der Lauterkeit meiner Seele heraus befolgte ich stets Gottes Gebote und der Menschen Gesetze. Aus Lauterkeit und aus Angst vorm Gefängnis. Könnt ihr mit ansehen, wie eine so gottgefällige Schildkröte umkommt? Ihr sagt, vorhin scheine ich ein wenig darauf aus gewesen zu sein, meine Brüder aus dem Weg zu räumen? Ich gestehe es ein – aber das war vorhin, und inzwischen bin ich ein anderer geworden. Könnt ihr es ertragen, eine so ehrliche Schnappschildkröte abschnappen zu sehen? Hebt mich hinauf, ihr edlen Seelen – hebt mich hinauf, laßt mich ein letztes Mal den Gipfel des Berges erblicken, von wo aus ich einst so stolz geherrscht habe.« Und damit zog er ganz langsam seinen dunklen Schwanz ein. Seine Beine wurden starr. Er hatte für immer ausgerempelt. Gerade als aus der Musikbox Bing Crosbys Stimme erklang: »I Aint Got Nobody.«
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»Was darf's denn sein, Junge?« fragte der Kellner. Dove überlegte nicht lange. »Ich nehme die Tarponsuppe.« Er wußte noch nicht, daß auch ganz unten stets noch Platz für einen mehr war.
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II
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In jenem heiteren Sommer 1931 bot New Orleans ehrgeizigen jungen Männern von adretter Erscheinung, die bereit waren, ganz unten anzufangen und sich die Leiter des Erfolges Sprosse für Sprosse emporzuarbeiten, nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Wer die Verhältnisse besser kannte, begann gleich oben und arbeitete sich dann nach unten, denn das ging schneller. In jenem heiteren Sommer 1931 waren die meisten US-Staaten noch trocken, doch einige hatten die Prohibition schon aufgehoben. Russ Colombo sang »Please«. Al Capone zitierte Mark Twain, und jemand trat mit der Meinung auf, Frauen könnten es in der Fliegerei durchaus mit Männern aufnehmen. Eine Frau verweigerte vor einem Senatsausschuß die Aussage, und die American Legion behauptete, die Gesetze der Bundesstaaten behinderten den Absatz der Produkte amerikanischer Werktätiger. Ein New Yorker Geistlicher fand heraus, daß Jerusalem eine noch üblere Stadtverwaltung gehabt hatte als die von Jimmy Waker, und erklärte, er lebe allemal lieber unter Hoover als unter Hiskia. Die Exzesse jenes Jahres, führte Harry Emerson Fosdick aus, seien auf ein Ausschlagen des moralischen Pendels zum Negativen hin zurückzuführen, und gäbe es noch den öffentlichen Ausschank von Alkohol, wären sie sogar weit schlimmer. Der Präsident in Washington
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drückte auf einen Knopf und ließ damit in einem 52Millionen-Dollar-Gebäude in New York, Thirty-Fourth Street Ecke Fifth Avenue, dem bis dahin höchsten Bauwerk von Menschenhand, das Licht angehen. Und die Baumwollpreise erreichten einen neuen Tiefstand. Die Leiter des Erfolges war auf den Kopf gestellt, oben war unten und unten war oben. Männer aus Führungspositionen, die noch goldene Uhren trugen, aber Löcher in den Schuhsohlen hatten, gingen mit Babyfotografien hausieren. Ärzte klapperten mit Hautaufhellern die Türen ab, und Kapitäne standen Schlange, um eine Heuer als Schiffsjunge zu ergattern. Büros von großen Feuerversicherungen gingen in Rauch auf, was nur gerecht schien. Hatte die Feuerwehr – die schon seit langem keine Entlohnung mehr bekam – ihr Werk getan, blieb wenig mehr übrig als angesengte Akten, Drehsessel, in denen sich nie wieder jemand drehen würde, ansehnliche Haufen Milchglas und all das Mahagoni. All das Mahagoni, das ja niemandem weiter als den Maklern gedient hatte. Dann fingen die Makler an, sich von Dächern hinabzustürzen, mit noch genauso wenig Rücksicht auf die Leute unten wie zu den Zeiten, als sie oben geschwommen waren. Industriemagnaten schnappten sich alles Bargeld, dessen sie habhaft werden konnten, und setzten sich damit ab. Rechtsanwälte machten sich gegenseitig den Prozeß, um in Übung zu bleiben. Und jede Klapsmühle hatte wenigstens einen Kleinwucherer, der, abgesondert in einer Einzelzelle, den lieben langen Tag nichts weiter tat, als an der Wand mit den Fingernägeln Zinsen auszurechnen. Schneller als einem die Spucke wegbleiben kann, wurde der sich durchbeißende Treppenterrier zum
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Rückgrat der amerikanischen Wirtschaft. Ging er lange genug mit Realsilk-Strümpfen oder Hoover-Staubsaugern klingelputzen, konnte er sich stück-respektive teileweise ein Dutzend Seidenstrümpfe oder ein Vorführgerät unter den Nagel reißen. Dann war da noch das Kleingeld für den Milchmann oder sonstige Lieferanten, das auf einem Bord oder Fensterbrett lag, während die Hausfrau sich ins Anschauen der angebotenen Ware vertiefte. Diese Münzen und kleinen Scheine mitgehen zu lassen gehörte mit zum Sichdurchbeißen; Hunderte lebten davon die ganze Woche. Der Generalsekretär der AFL aber redete nach wie vor davon, daß sich die Wirtschaft bereits wiederbelebe. Den Besitzlosen Selbstvertrauen und Regierungshilfe jenen, die bereits mehr hatten, als sie brauchen konnten, darauf wurde hingezielt. Doch auf Parkbänken ist es frühmorgens feucht, auch wenn es nicht geregnet hat, und selbst Bananen kann man überbekommen. Dennoch waren die Zeiten gar nicht so schwer, wie manche es gern hinstellten. Im Grunde handelte es sich um nichts weiter, als daß unser Wohlstand einen zu steilen Berg genommen hatte und die Wirtschaft sich nun auf Talfahrt befand, hinunter in neues Flachland, wo größere Chancengleichheit herrschte. Kurz gesagt, wir hatten weiter volles Tempo drauf. Und die Chancen, selbst die tollsten, waren jetzt tatsächlich gleich: Geld erbrachte keine. Lediglich die Zuhälter schienen noch immer nicht zu kapieren, daß sich das Land auf eine neue Normalebene hinunterbewegte. Dabei waren sie schon seit längerem auf dem Wege bergab, nur wußten sie nicht, wie sehr sie damit im Trend lagen. Jetzt merkten sie plötzlich, daß
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das Angebot an Mädchen ihre Bettenkapazität überstieg. Jungen Dingern, noch keine zwanzig, auf der Suche nach einem Daddy, irgendeinem, der ihnen sagte, wo sie sich hinlegen sollten. Wirte und Vermieterinnen schoben sie den Taxifahrern zu, und die reichten sie an die Luden weiter. Im Verein mit der Prohibition durchbrach die Prostitution dann schließlich die althergebrachte Rassenschranke. Farbige Hotelpagen hatten praktisch ein Monopol auf die Beschaffung von verbotenem Alkohol erlangt und dabei gemerkt, daß männliche weiße Gäste zu der Flasche gern eine Frau hatten beziehungsweise zu der Frau eine Flasche. Die Arbeit des Hotelpagen entwikkelte sich zu Kuppelei. Und sofort begann er, auf die Frauen seiner Hautfarbe herabzusehen. Gleich dem Negerpolizisten ging der Negerlude mit seinen eigenen Leuten härter um als der weiße Zuhälter. Er sah jetzt mit eigenen Augen, daß das, was seine Mutter ihm gesagt hatte, überhaupt nicht stimmte: »Anständige« Weiße benähmen sich niemals so wie unanständige Schwarze. Denn er erlebte, wie Träger und Trägerinnen der besten Namen in der Stadt es bei den samstäglichen Sauf- und sonstigen Orgien trieben, Höschen auf dem Bettpfosten, Hosen auf dem Fußboden. Doch er wußte, am Sonntagmorgen würde Daddy Biedermann wieder sittsam mit Familie in der Kirche sitzen, selbstredend in der mit dem besten Namen in der Stadt. Dort und damals begann der Neger seine Achtung vor der weißen Frau zu verlieren. Er stellte sie vor die Wahl, ihm zu willfahren oder angezeigt zu werden. Der Hotelboy wurde also nicht nur zum Kuppler, sondern auch zum Denunzianten. Er fand die Zeiten längst nicht so schlimm, wie die Zeitungen schrieben.
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Irgendwie waren ja alle mit Verkuppeln beschäftigt: mit Vermitteln und Verkaufen und Kundenwerben; jeder rannte sich die Hacken schief, um diese oder jene Ware an den Mann oder an die Frau zu bringen. Die ganze Stadt unterwegs beim Türenabklappern, der eine beim andern, und folglich niemand daheim, um etwas abzukaufen. Man arbeitete entweder auf Provisionsbasis oder suchte sich Leute zusammen, die noch dümmer waren als man selber, teilte sie in Trupps ein und zog seine Provision von der ihren ab. Doch da diese rein theoretisch war, blieb das auch die eigene. Beschwatzte man zum Beispiel eine Hausfrau, sich zur Abnahme von zweimal wöchentlich zwei Pfund Kaffee auf die Dauer von drei Monaten zu verpflichten, bekam man dafür zwei Dollar gutgeschrieben. Realiter aber arbeitete man für die Katz, denn den Auftrag gab dann der Ausfahrer, der den Kaffee lieferte, als von ihm beschafft aus. »Die Kundin hat es sich anders überlegt«, erklärte er dem Klingelputzer. »Sie wissen ja, wie Frauen sind.« Der Ausfahrer wurde seinerseits geprellt, indem man ihm von seinem Festlohn zwei Dollar als Pfand für die noch nicht eingegangenen zwei Dollar jener Hausfrau einbehielt. Bis dieses Geld dann aus dem Portemonnaie der Frau in das von dem gelangte, dem es zustand, war in dem Vertretertrupp keiner mehr von der vorigen Woche dabei. Dove Linkhorn, jetzt in einem Seersucker-Anzug und mit meergrünem Schlips, stand an der Ecke Calhoun und Magnolia. Daß es sich hier um jemand weit über der Klasse der Farmerhosenträger und Bull-Durham-Raucher handelte, war deutlich zu sehen, denn er paffte eine Picayune. Jetzt fehlte ihm bloß noch etwas zum
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Verkaufen, um dann die Erfolgsleiter genauso schnell hinunterzusteigen wie die anderen ehrgeizigen jungen Männer. Als er nun sah, daß ein Stück weiter die Straße hinauf sich Leute um irgendwas oder irgendwen scharten, rannte er in der Hoffnung, dort führe sich einer verrückt auf, so schnell hin, wie es seine neuen Schuhe zuließen. Es war jedoch nichts weiter als ein dicklicher Mann, der etwas Glänzendes in der Hand hielt. Dove bahnte sich mit den Ellbogen vor, um zu sehen, was da so schön funkelte. 'n Kaffeekocher. Hallo, Kocher. Wirklich, 'n hübscher Kocher. »Mein Name ist Wreneger«, erklärte der Dicke dem Trupp. »Aber sagt einfach Smiley zu mir, denn so nennen mich alle meine Kollegen. Und wißt ihr, was ich meinen Mitarbeitern immer für einen Rat gebe? ›Kollegen‹, sage ich zu ihnen, ›wenn ihr nichts verkauft, ist das ein Zeichen dafür, daß ihr euch nicht richtig anstrengt.‹ Genau das sag ich meinen Mitarbeitern. Und hiermit auch euch, denn ihr seid ja jetzt meine Mitarbeiter.« Kleiner grün-roter Kaffeekocher, du gefällst mir. Der Kaffee aus dir schmeckt sicher köstlich. »Ihr müßt nicht darauf aus sein, in einer bestimmten Zeit möglichst viele Türen zu machen – das ist kein richtiges Anstrengen. Wohl aber, wenn ihr den ganzen Vormittag bloß zwei Türen schafft, doch an beiden was verkauft!« Hätt ich so einen Kocher wie dich, Kaffeekocher, wüßt ich schon, wo ich die Zichorie für dich herkrieg. »Habt ein Ohr für die Klagen der Hausfrau, Kollegen. Hört euch ihre Sorgen und Wehwehchens an.
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Macht ihre Freuden zu euren Freuden, ihre Tränen zu euren Tränen. Hört ihr lange genug zu, wird sie euch früher oder später fragen: ›Junger Mann, was ist das für ein neuartiges Gerät, das Sie da in der Hand halten ?‹« »Sieht mir aus wie 'n Kaffeekocher«, sprang Dove dem Mann zur Seite. »Danke, Rotfuchs. Du arbeitest mit mir zusammen. Ihr andern verteilt euch. Immer je zwei Mann das Stück von einer Querstraße zur nächsten, der eine die rechte, der andere die linke Seite. Um zwölf treffen wir uns hier wieder. Wenn ihr nichts verkauft, ist das ein Zeichen dafür, daß ihr euch bloß nicht richtig anstrengt, Kollegen.« »Arbeitsscheue Dreckfresser, einer wie der andere«, versicherte Smiley Dove, sobald sie ausgeschwärmt waren. »Meinst du, ich wüßte nicht, worauf die aus sind? Auf nichts weiter als Bleistift und Bestellblock, um fünf oder sechs getürkte Aufträge auszuschreiben, mit Adressen von unbebauten Grundstücken, damit sie sich dann am Lafayette Square vollaufen lassen können. Die glauben, auf ihr verlogenes Wort zahlt Old Dominion gleich.« Leutselig haute er Dove auf den breiten Rükken. »Aber sie werden sehr bald merken, daß sie sich da gewaltig geschnitten haben, was, Kollege?« »Und ob, Mister«, pflichtete Dove ihm fröhlich bei. »Eben deshalb ist meine Wahl ja auf dich gefallen, Rotfuchs.« Smiley wurde ernst. »Endlich mal ein Gesicht, habe ich mir gesagt, dem man trauen kann.« »Ich tu auch Ihnen trauen, Mister«, erwiderte Dove, der von Minute zu Minute glücklicher wurde. »Ich möchte dich an meiner Seite haben, wenn ich in Position gehe. Denn wenn man sich für Old Dominion ins Zeug legt, kämpft man für Rot-Weiß-Blau!«
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»Mister« – Dove blieb stehen und reichte Smiley die Hand – »das ist auch meine Mannschaft!« Smiley erwiderte den Händedruck nur flüchtig. Wortwörtlich genommen zu werden war er nicht gewohnt; es machte ihn unsicher. »Ich meine das doch bloß bildlich, rede nicht von dem Baseball-Club, sondern von der glorreichen Flagge der alten Südstaaten. Auf eben diese Masche müssen wir machen. Als erstes immer unserer Gefallenen auf seilen der Konföderierten gedenken. Fragt dich die Hausfrau, wieviel Kaffee sie kaufen muß, bis der Kocher ihr rechtmäßig gehört – manche sind da raffinierter, als man glaubt –, dann sage ihr, du wärst ein Enkelsohn von J.E.B. Stuart, und dein teurer Vater liege in Memphis im Sterben. Erzähle ihr sonstwas, nur nicht, daß der Kocher erst nach Abnahme von fünfzig Pfund Kaffee ihr eigen wird. Wenn sie wissen will, wieviel Prozent Zichorie bei uns drin sind, erzähle ihr was über die Schlacht bei Chancellorsville.« »Ich werd sagen, ich arbeite für Old Dominion!« rief Dove mit so feuriger Inbrunst, daß Wreneger, einer jener Typen, die von sich behaupteten, ihnen könne es gar nicht heiß genug hergehen, sich fast schon all und ausgebrannt vorkam. »Halte dich ein bißchen im Hintergrund.« Er wies Dove in den Schatten einer kleinen ungestrichenen Veranda und ließ ihn einen der Kocher bewachen. »Wir kaufen keine Kaffeekocher nicht, Mister«, versicherte die Hausfrau Smiley sogleich, als sie sah, was er in der Hand hielt. Smiley setzte ein Gesicht auf, als schlecke er Schlagsahne. »Madam, das ist kein bloßer Kocher! Und kaufen kann man ihn gar nicht. Es handelt sich vielmehr um einen französischen Dripolator, ein Werbegeschenk
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von der Firma Old Dominion, das anzunehmen für Sie mit keinerlei Verpflichtung verbunden ist. Hier nehmen Sie's. Es gehört Ihnen.« »Freundlich gemeint, aber wir haben schon einen Kocher.« Die Augen der Frau wanderten zu der an die Hauswand gelehnten Gestalt mit den gelben Schuhen. Dove knallte die Hacken zusammen. »Ich bin ein Enkel von Jeb Stuart!« »Rühren!« befahl Smiley leise und ging dann zum Angriff über. »Madam, dieser original echte französische Dripolator wird in Kürze für drei Dollar fünfundachtzig auf den Markt gebracht, und zwar landesweit. Im Zuge unserer ebenfalls landesweiten Vorwerbung suchen wir nun nette Leute, die es nicht eigensüchtig für sich behalten, wenn sie merken, daß sie den besten Kaffee in der Stadt haben. Leute, die ihre Nachbarn teilhaben lassen wollen und ihnen von unserem Angebot berichten. Solche kleinen Gefälligkeiten verschaffen unserem Reklamefeldzug eine Vorgabe – Rühren! hab ich gesagt –, aber bitte, wenn Ihnen nichts daran liegt, uns durch ein wenig Mundpropaganda unter die Arme zu greifen, so bin ich überzeugt, die Dame nebenan zeigt sich interessiert.« Eher hätte sie riskiert, sich die Pest zu holen, als daß sie ihre Nachbarin etwas haben ließ, das sie nicht hatte. Dove sah, wie sie begierig den Empfang der Kanne quittierte. »Bloß Formsache«, begründete Smiley der Frau die Notwendigkeit ihrer Unterschrift, »damit die Firma nicht denkt, ich hätte das gute Stück meiner Frau zugeschanzt.« Sein anschließendes Lachen empfand sogar Dove als hohl. Nachdem der Betrug unter Dach und Fach gebracht
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war, händigte Smiley Dove einen Bleistift, einen Bestellblock und einen Kocher aus. »Laß dir das Ding aber nicht aus der Hand nehmen, ehe du die Unterschrift hast«, gab er ihm als Warnung mit auf den Weg. Dann schob er ab, um sich in den Schatten zu legen und sich auszuträumen, wie er bei Old Dominion mehr Schmu machen könne. Dove war erleichtert, daß sein Kollege ihn nicht gefragt hatte, ob er mit dem Bleistift denn umzugehen verstehe. Aber den hinterm Ohr stecken zu haben war richtig schön. Er kam an eine Kreuzung, wo die eine Straße stadteinwärts ging und die andere in die entgegengesetzte Richtung. In der hinein zur City hingen von Laterne zu Laterne Girlanden aus Willkommenswimpeln, und sie war breit und neu gepflastert. Die andere hatte weder Laternen noch Wimpel und führte augenscheinlich nirgendwo hin. Ohne zu zögern, entschied sich Dove für die nach nirgendwo. Denn genau dort wollte er im Grunde seines Herzens ja hin. Lässig in seinen gelben Prachtschuhen dahinschlendernd und immer wieder mal an seinem meergrünen Schlips zupfend, gelangte er an einen schmiedeeisernen Zaun, wo eine Negerin einen Busch stutzte, und blieb in der Hoffnung stehen, sie werde hochschauen und fragen: »Wie komme ich an einen so schönen Kaffeekocher?« Doch sie musterte ihn nur, die Heckenschere in der Hand, als wäre er von Old Dominion ausgeschickt, sie zu berauben und zu vergewaltigen; immerhin war sie gut gebaut. Er nahm den Kocher in die andere Hand. Er war so schwer, daß er ihn schalt: »Du machst mir ja den Arm lahm!« Und seine Schuhe drückten ihn so strafend, als hielten sie zu dem Kocher.
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Er gelangte zu einem dreistöckigen Mietshaus, das bis ganz an den holprigen Gehsteig herangesetzt war, um auch den letzten Zentimeter Grund auszunutzen. Ein weiteres farbiges Mädchen lehnte, mit noch Schlummer im Gesicht, an einer geflickten und rostigen Fliegendrahttür. Dove hielt den Kocher hoch, ließ die Sonne darauf glitzern. »Hübsches Gerät, nicht? Kann man für umsonst haben.« Sie nahm ihn sofort beim Wort. Geschwind stieß sie die Tür auf und packte den Kocher am Henkel. Aber Dove war so schlau, die Tülle nicht loszulassen. »Erst muß unterschrieben werden.« »Ich unnerschreib dir alls, was du willst, Mista Kaffekochamann.« Sie riß den Bleistift von seinem Ohr und kritzelte einen Namen auf ein Bestellformular. Dove war überzeugt, Old Dominion werde mit seiner Arbeit zufrieden sein. »Meine Mutta un meine Tante, vleich wolln die auch so ein ham«, sagte das Mädchen und rief die Treppe hinauf. Als hätten sie schon daraufgewartet, kamen zwei ältliche Frauen so hastig heruntergestampft, daß sie sich in dem engen Treppengang festkeilten – einen Augenblick lang konnte keine auch nur einen Zentimeter Vorsprung gewinnen. Schließlich arbeiteten sie sich wieder frei, und die Siegerin, noch ganz außer Puste, kam heran. »Was hasten jetz wieder gekricht, du Glücksmädel?« »Ein schön Kaffekocha.« »Schreib du für uns, Minnie-Mae, damit wir ehmfalls ein ham könn.« »Meine Handschrift ist so schlecht zu lesen, Miss«,
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gestand Dove, »daß ich Ihnen sehr verbunden war, wenn Sie das für mich täten.« Minnie-Mae griff sich den Block, riß zwei Formulare ab, füllte sie aus und reichte sie zurück. »Old Dominion dankt Ihnen, Miss«, erklärte Dove. »Die beiden Geräte liefere ich morgen.« »Meine Freundin oben mag sicher auch eins«, lud Minnie-Mae ihn ein, ins erste Stockwerk hinaufzusteigen. »Überaus gefällig von Ihnen, Miss«, beteuerte Dove ihr, während sie ihn vorwärtsschob und Mutter und Tante schwerfällig hinterdrein folgten. Von Fenster zu Fenster, von dunklem Gang zu dunklem Flur lief aufweckendes Getuschel: »Kommt un holt euch 'n Kaffekocha!« Von Tür zu Tür, von Freundin zu Freundin verbreiteten Mutter und Tante die frohe Kunde. Ob es Huey Long oder Old Dominion waren, die da wieder etwas verschenkten, interessierte keinen die Bohne. Dunkle Neger wie helle Neger, tiefschwarze wie fast weiße, die mit Goldzähnen wie die Zahnlosen, Kaffee tranken alle gern. So schnell sie konnte, riß MinnieMae Formulare ab und reichte sie danach ausgestreckten Händen. »Kommt un holt euch euern Kocha!« Von dem ihm um die Ohren tönenden Kauderwelsch, jenem Slang von Negern untereinander, bei dem sie Englisch wie Französisch und Französisch wie Englisch aussprechen, die Wörter zusammenziehen und ganze Silben verschlucken, wenn Weiße gleich welcher Nationalität zuhören, verstand Dove kein einziges Wort. Aber das störte ihn nicht – er war auf dem Wege, reich zu werden. Als Minnie-Mae die Bestellscheine ausgingen, raste er runter zur Straße, um neue zu holen. Die Wirtschaft befand sich auf Talfahrt hinunter zur
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Normalebene, die Chancengleichheit nahm zu, Zeit war nieder Geld. Wreneger, mit zwei Mann von dem Trupp, wartete schon an der Ecke auf ihn. »Wo warst du so lange, Kollege?« Ohne ein Wort reichte Dove ihm fünfzig Bestellungen, korrekt ausgefüllt und unterschrieben. Smileys Gehilfen, der eine ein baumlanger Floridaner, der andere ein zu kurz geratener Georgianer, drängten heran, um zu sehen, wie der Texaner das geschafft hatte. Smiley blätterte den Packen geschwind durch, blätterte einen Teil noch mal zurück, wie um sich etwas kaum Glaubhaften zu vergewissern, riß ihn dann mitten durch, und fünfzig französische Dripolatoren wehten wie Konfetti die Elysian Fields Avenue hinunter. Dove rannte dem einen hinterher, bis er begriff, und ließ ihn dann den anderen nachsegeln, als sähe er alle Hoffnung fortfliegen. »Kollege!« Gelindes Entsetzen würgte Smiley in der Kehle. »Wer hat denn gesagt, daß wir an Nigger verkaufen?« Schwerfällig setzte sich Dove auf den Bordstein, zog den linken Schuh aus und rieb sich die unbestrumpften Zehen. Smiley baute sich über ihm auf. »Steh wieder hoch!« Dove wechselte zu den Zehen des rechten Fußes über. Die schmerzten nicht minder. »Da hast du dir schön was eingebrockt«, bemerkte der Georgianer. »Und genauso schön darfst du es nun auslöffeln«, fügte der Floridaner hinzu. Doves Blick galt allen dreien. »Ihr könnt mir gestohlen bleiben. Ich steig aus.«
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Rasch bückte sich Smiley, schnappte sich Doves Prachtschuhe und reichte den linken dem Georgianer und den rechten dem Floridaner. »Deine Trittlinge kriegst du erst wieder, wenn du den Kocher zurückbringst.« Dove erhob sich und fand endlich die Sprache wieder. »Diese Schuhe kosten mehr als Ihre blöde Blechkanne !« »Aber, aber«, verteidigte der Georgianer Old Dominion, »wie kannst du einen original echten französischen Dripolator als Blechkanne bezeichnen?« »Mach dich auf deine nicht vorhandenen Socken«, riet ihm der Floridaner. Sie gingen zurück zu dem Mietshaus, der barfüßige Dove auf dem Grasstreifen und Smiley Wreneger auf dem Pflaster. »Warten Sie hier, Mister, ich bring Ihnen Ihren verdammten Kocher zurück«, versprach Dove am Eingang. Smiley klappte seine Taschenuhr auf, warf einen Blick drauf und ließ sie wieder zuschnappen. »Es widerstrebt mir, einen Kollegen zur Polizei zu bringen. Ich gebe dir genau fünf Minuten.« Sobald Dove eine Tür zwischen sich und Wreneger hatte, dachte er: »Dazu werd ich wohl 'ne Weile länger brauchen«, und schob den Riegel vor. Dann steckte er den Kopf durch den Perlenvorhang, der bei MinnieMae die Zimmertür vertrat. Ihre Augen glühten ihm aus einer hinteren Ecke entgegen wie zwei Pflaumen in einer Schale Sahne. »Bleib nich so zwischen Tür un Angel stehn, Mista Kaffemann«, forderte sie ihn auf. »Entwer rein or raus.« Dove ging hinein und begann seine Entschuldigung:
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»Ich will nicht undankbar erscheinen, Miss, denn Sie sind wirklich mehr als freundlich gewesen. Aber ein gewisser Jemand, der schickt mich wegen so 'nem dämlichen Kaffeekocher wieder her. Ist das nicht tieftraurig?« Das Mädchen saß in einem altväterischen Schaukelstuhl und hatte nur ein dünnes Unterkleid an. Irgendwo in dem Zimmer brannte Zunder. Ihr eigener Geruch aber war noch durchdringender. »Wo hasten deine schönen gelben Schuh gelassen, Kaffemann?« »Die hat die Firma beschlagnahmt und rückt sie erst wieder raus, wenn ich eben dieses billige Dings von Kocher zurückbringe. Ach, Miss« – seine ganze Enttäuschung brach aus ihm heraus – »ich bemühe mich doch, was ich nur kann. Andre kommen nach oben, ohne sich auch nur anzustrengen. Warum nicht auch ich?« Er bedeckte seine Augen mit dem Handrücken. »Nu schäm dich aber mal!« Sie nahm seine Hände herunter und hielt sie mit sanfter Gewalt auf den Armlehnen des Schaukelstuhls fest. »Son großer un starker Kaffemann, un sich von sowas den Schneid raum lassen – is doch lachhaft! Klar kommst du genauso nach ohm wie die annern, un wahrscheinlich nochen Stück höher.« »Ich selber bin da nicht mehr so sicher, Miss. Aber nett von Ihnen, das zu sagen. Sie können ja nicht wissen, daß ich gegen ein paar Behinderungen an muß, wovon andre frei sind.« Seine Knie drückten gegen die ihren, und sie ließ es geschehen. »Von behinnert merkt man bei dir aber wenig, Kaffemann.« »Bin's trotzdem, Miss«, klagte er weiter und beugte sich dabei vor. »In mehr als einer Beziehung. Erstens
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kann ich nicht mal meinen eignen Namen lesen, geschweige denn schreiben. Und zweitens wartet draußen vorm Haus ein Kerl, der mir die Polizei auf den Hals hetzen will. Wenn das für einen Jungen vom Lande keine belämmerte Lage ist, dann weiß ich nicht.« »Ach Kaffemann«, schalt sie ihn mild und schob seine Hände wieder unter ihre eigenen. »Bist wirklich der größte Gimpel vons Land, der je barfuß inne Stadt gekomm is. Nu sag mir mal genau: Diesa Kocha, wo du so hinnerher bist, was hatten der fürne Farbe?« Dove schaukelte sie ein Stück vor, um den Kocher besser sehen zu können, der unmittelbar über dem Kopf des Mädchens auf dem Kaminsims stand und in dem Dunkel wie ein Schatz aus Edelmetall schimmerte. »Hauptsächlich grün, Miss.« Bekäme er eine Hand frei, könnte er nach ihm langen. »Kaffemann, du kipps mich ja um!« Sie streckte die Füße weit aus und beugte sich mit vollem Gewicht vor, zwang ihn so, sich hinter ihrem Hals an dem Stuhl festzuhalten, damit er nicht selber umkippte. »Und der Griff ist rot.« Um ihm beim Balancehalten Hilfestellung zu leisten, hakte sie die Knöchel umeinander und schlang die Arme um seine Taille. »Muß jan komisches Ding sein: grün un rot! Kann man als Mädchen schwer glaum. Womit ich aber nich behaupten will, daß du mir was vorlügst.« Für jemand mit starken Zweifeln war ihr Ton jedoch seltsam anerkennend. »Schmeckten der Kaffe daraus auch gut?« »Ja. Hat man mir jedenfalls gesagt. Aber vielleicht war das bloß Schwindel. Ich an Ihrer Stelle tat mich da nicht drauf verlassen.« »Hängt wahrscheinlich von ab, ob man ihn selber mahlt.«
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»Selber mahlen gibt immer bessern Kaffee. Weil er dann frischer ist.« »Schon, aber was nutzt noch so frisch, wenns nich genug is? So'n kleina Kocha, wo bloß paar Tröpfchen rauskomm, das is nix für mich, Mista. Ich brauch ein schön großen, wo für morgens un ahms reicht.« »Solange er guten Kaffee macht, spielt die Größe doch kaum eine Rolle.« »Und ob sie das tut! Die kleinen kochen immer gleich über, wenn man bloß kurz mal woanners hinkuckt.« »Bei diesem aber«, fiel Dove wieder ein, »handelt es sich um einen französischen Langsamkocher.« Und er schaukelte sie so weit zurück, daß ihr Unterkleid bis zum Nabel hochrutschte. »Einen sogenannten Drehpotentor. In Grün mit Rot.« Den Kopf auf die gepolsterte Nackenstütze gelehnt, blickte Minnie-Mae weiter ungläubig zu Dove hoch, »Mag sein, aber du redst jetz so geschwolln daher, daß ich Zweifel krieg, ob du überhaupt vons Land kommst. Bisten Städter, bloß mit ohne Schuhe, stimms?« Von plötzlichem Stolz erfüllt, richtete Dove sich hoch. »Miss, ich bin wirklich vom Lande, von Kopf bis Fuß, und da brauch ich mich nicht wegen zu schämen. Wer unser Land großgemacht hat, das waren nicht die aus den Städten – wenn es in Gefahr war, sind als erste immer die Jungs vom Lande zur Fahne geeilt. Und nicht wenig Barfbeinige haben's ganz weit gebracht, wenn mir ihre Namen im Moment auch nicht einfallen. Wir vom Lande, wir legen uns immer voll rein, geben unser Alles. Ach, tat mir doch wer 'ne Chance bieten, nach oben zu kommen, da würd ich für umsonst arbeiten. Denn so viel weiß ich: Mehr Lohn verlangen, davon wird man nicht reich. Millionäre sind die geworden, die bereit wa-
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ren, bloß dafür zu arbeiten, daß sie Erfahrung sammeln! Ach Miss, bekam ich nur meine Schuh zurück, denn dann bring ich's mit der Zeit bestimmt ebenso weit wie die andern.« »Hast doch ehm erst gesagt, barfuß bringt mans viel weiter. Also behinnerst du dich mit Schuhn bloß noch mehr. Bist schon ein komischer Dummbax.« Jemand suchte die Tür von draußen aufzuschieben, merkte aber, daß der Riegel vor war, und ging auf leisen Sohlen davon. Dove sah den Kocher fast schon in Reichweite und merkte, wie er zentimeterweise Boden gewann. »Die Schnalle von deim Gürtel piekt.« Der altväterische Schaukelstuhl knarrte und ächzte. »Jetz mahl Kaffe, Dummbax, un laß deine dämlichen Jauchestiefel!« Dove, mit der Hose um die Knöchel, stand jedoch nur da, wackelte an seinem lockeren Zahn und maß mit den Augen, wie weit die Kanne noch weg war. Als er den kleinen Finger bereits an der Tülle hatte, hörte er einen Sumpfmoskito zur Landung ansetzen; daß es ein Sumpfmoskito war, erkannte er an den zwei Motoren. Das Insekt brauste die Landepiste seiner linken Hinterbacke entlang, kam mit wackelnden Flügeln zum Stehen und begann, das Fleisch auf seine Konsistenz abzutasten. Dove ruckte mit dem Gesäß, um den Moskito abzuschütteln, und der verlor tatsächlich den Halt. So empört, wie jedes Wesen mit Würde reagiert, wenn es mir nichts, dir nichts auf die Straße gesetzt wird, stemmte er die Vorderbeine fest auf, beugte sich mit vollem Gewicht vor und stach seinen gierigen Rüssel so tief ein, daß Dove vor Schmerz vorschoß wie ein aufgescheuchter Hase. »O Kaffemann! O du starker Kaffemann! O du kaffe-
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mahlender Kaffemann! Du mahlst ja so guuut! O mein kaffigster Kaffemann!« Von dem Mädchen an beiden Händen festgehalten, konnte Dove aber nichts weiter tun, als wie wahnsinnig mit dem Hintern zu ruckeln und zu wackeln, und je heftiger er das tat, um so verbissener bohrte der Moskito weiter. »Ich kauf dir Schuhe! Kauf dir Hemden! Kauf dir Hüte un alles! Ach Kaffemann, was bist du schön groß!« Dann nur noch dankbares animalisches Gestöhn: »Oooh! Oooh! Oooh!« Und mit jedem »Oooh!« holte sie sich verlorenes Terrain zurück, indem sie sich mit den Füßen seinen Rücken hinaufrankte und ihn so immer weiter von dem Kocher wegdrängte. Als sie ihre Knöchel schließlich um seinen Nacken hatte, wurde Dove klar, daß er von seinem Ziel weiter und weiter abkam. Während der altväterische Schaukelstuhl knarrte und ächzte. »Raus hier!« Minnie-Maes Fuß schnellte um Doves Kinn herum und versetzte ihm mit dem Rist einen solchen Stoß, daß er fortgeschleudert wurde, als habe ihn ein Maultier getreten. In seine Hose verwickelt, landete er im selben Moment auf dem Fußboden, als Smiley durch das Fenster gekracht kam und Schieberahmen, Fliegengitter und alles mitriß. Minnie-Mae stieß sich ab, und mit der vollen Schubkraft des Stuhls im Rücken knallte sie in der Mitte des Zimmers voll auf Smiley – Dove schloß die Augen, als dem das dumpfe »Wummmm!« ihrer Faust die Luft wegbleiben ließ. Smileys Beine flogen hoch, und er schlug noch härter auf als Dove. Während ein leerer Schaukelstuhl knarrte und ächzte.
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»Ein Varückter, das laß ich mir noch gefallen«, hörte Dove das Mädchen erklären, »aber zweie sind mir dochen bißchen viel.« »Mit dem einen scheint sie mich zu meinen«, erriet Dove, obwohl sie, Kocher in der Hand, auf Smiley niederblickte. »Mach, daß du hier vaschwinnst, du Kaffeknallkopp!« fügte sie hinzu Dove sprang auf und wie ein Känguruh über Smiley hinweg – doch als er noch in der Luft war, schloß sich eine feiste Hand um seinen einen Knöchel, und bums! landete er wieder unten. »Rassenschande!« brüllte Smiley. Er setzte sich hoch und zog Dove so zu sich heran, als ziehe er etwas auf einer Leine Hängendes ein. »Rassenschande und Kaffeekocherdiebstahl! Arbeitsscheuer Dreckfresser! Wo ist mein Kocher?« »Deiner? Du meinst meiner!« Und zum Beweis, wem er ein für allemal gehörte, brachte Minnie-Mae ihn an seinem Schädel wie eine Glocke zum Klingen. Dove hörte das blecherne »Bong!«, merkte, daß sein Knöchel wieder frei war, kroch über einen Brustkasten hinweg und sprang zum Fenster hinaus. Dann rannte er, was er konnte, sich den Hosengurt zusammenhaltend und verfolgt von der Einbildung, unmittelbar hinter ihm komme Smiley mit einem Fliegengitter um den Hals, hinter Smiley Minnie-Mae mit einem eingebeulten Kaffeekocher und hinter ihnen allen ein Polizist mit einem einen Meter langen Gummiknüppel. Zum Luftholen blieb Dove erst stehen, als er vier Ekken hinter sich gebracht hatte und sah, daß ihm überhaupt keiner folgte. »Ich glaub, ich laß mir wirklich zu leicht den Schneid rauben«, sagte er sich und hakte endlich seine Gür-
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telschnalle zu. »Trotzdem, mir bleibt's ein Rätsel, daß manche so leicht nach oben kommen, während andre sich abstrampeln müssen und dabei noch ihre Schuhe loswerden. Bin halb versucht zu glauben, daß man am besten fährt, wenn man gar nicht erst zur Welt kommt.« Wieder an der Ecke Calhoun und Magnolia, setzte er sich zum Ausruhen auf den Bordstein und schaute in den Tag hinein. Es war ein schöner Tag, und die Leute wirkten freundlich. »Allmählich sollt ich mich auf Suche nach Arbeit machen«, dachte er. »Lauf nicht weg, Kollege«, riet ihm ein weitreichender Schlagschatten. Als Dove den Hals herumreckte, sah er den langen Floridaner und den kurzen Georgianer. »Nein, das brauchst du nicht mehr, Kollege«, versicherte ihm der Kurze. »Wir sind jetzt auf deiner Seite.« »Waren das eigentlich schon von Anfang an.« »Hab sowieso keine Puste mehr«, ließ Dove alle Hoffnung fahren. Dann sah er, daß sie jeder etwas Gelbes in der Hand hielten. Voller Abscheu schaute er auf die beiden Schuhe. »Diese verdammten Dinger waren um ein Haar mein Ruin«, erklärte er. »Außerdem knarrn sie wie'n neuer Sattel.« »Wer so elegante Treter trägt, der sollte sich auch Strümpfe anschaffen«, bemerkte der Lange, während er Dove den einen auf den rechten Quanten schob. »Wasser und Seife würden ebenfalls nicht schaden.« »Kann nicht mal erkennen, wie viele Zehen der hier hat«, sagte der Kurze beim Beschuhen von Doves linkem Fuß. »Vermutlich hat er in dem Kuhfladen sechs Abdrücke hinterlassen. In welchem Teil vom Friedhof hast du letzte Nacht gepennt?«
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»Wollt in ein Hotel, aber es war so schwül, daß ich die ganze Nacht bloß rumgelatscht bin.« »Kannst bei uns wohnen, wir haben genug Platz«, bot der Lange an und reichte ihm die Hand. Seine Stimme war ein rumpelndes Summen wie von einer Biene in einem ausgehöhlten Kürbis. »Mein Name ist Luther, aber nenn mich Fort, denn ich stamme aus Fort Myers.« »Ich heiße ebenfalls Luther«, stellte sich der Kurze mit festerem Händedruck vor. »Doch sag einfach Luke zu mir. Na, dann komm mal mit.« »Gut. Und wohin? Fragte die Kugel den Colt.« Als sie an der Tchoupitoulas die Canal Street überquerten, sagte Fort: »Bist mit unserm werten Kollegen ein bißchen aneinandergeraten, was?« »Hätten die Leute dort mich nicht von ihm weggerissen, läg er jetzt im Sarg.« »Das würde ihm recht geschehen«, pflichtete Fort bei. »Ist einer von denen, deren Väter durch Schinden ihrer Schwarzen hochgekommen waren, und die nun selber hochkommen wollen, indem sie Weiße schinden. Er hat sich eine Yankee-Philosophie zu eigen gemacht: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Kein wahrer Südstaatler würde jemals einen Mitmenschen vor eine solche Wahl stellen.« Nachdem sie eine wacklige Hintertreppe hinaufgestiegen waren, zog Fort den Strippenschalter zu einer 60-Watt-Glühbirne. Ein Raum füllte sich mit bläulichem Licht, und vom Fluß her kamen Moskitos hereingesummt. Dove sah einen Spülstein voll schmutzigem Geschirr und ein hohes Messingbett, genauso eines wie jenes in seinem Damals, das schon so lange her und dahin war. »Ich kann auf dem Fußboden schlafen«, bot er an.
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»Brauchst du nicht.« Luke zog einen Vorhang zu einem schrägwandigen Alkoven zur Seite. Auf dem Bett darin lag eine Ginflasche, leer und ohne Etikett, eine Flasche ohne Namen. Luke schleuderte sie gegen das Fliegendrahtfenster, das sich höflich teilte, um sie durchzulassen, und sich dann geräuschlos wieder schloß. Unten zerschellte die Flasche. »Wer schmeißt denn da Sachen zum Fenster raus?« Forts aus dem Zimmer kommende Stimme klang erschrocken. »Irgend so'n besoffener Nigger zerteppert Glas«, antwortete Luke leichthin. »Der gehört angezeigt.« »Bei uns daheim machen wir mit solchen was andres als anzeigen«, prahlte Luke. »Wir sind aber nicht bei euch daheim«, belehrte ihn Fort. »Hast du genug für die Miete?« »Dreidreißig die Woche insgesamt«, sagte Luke erklärend, als wäre die Frage an Dove gerichtet worden. »Pro Nase also einszehn«, teilte Fort die Summe auf. »Ja, einverstanden.« Nachdem Dove somit den Alkoven angenommen hatte, machte er sich gleich daran, sein Bett auszuprobieren. »Sagt mal, 'n paar Yams habt ihr nicht noch übrig?« »Yams haben wir nie.« »Schade. Hab da grad so einen Gieper drauf.« Er hörte Fort und Luke über die Miete der letzten Woche streiten, nahm es aber nur mit halbem Ohr wahr. Seine rechte Gesäßbacke brannte noch immer von dem Moskitostich. Er rieb die Stelle und ruckelte gleichzeitig an seinem Zahn, bis seine Müdigkeit das Reiben, Ruckeln und Giepern einschlafen ließ. Fort sah aus wie ein Karrengaul, der versehentlich in ein hochdotiertes Galopprennen geraten und dann
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öffentlich beschimpft worden war, weil er nicht gewonnen hatte. Sein ganzes Leben lang war er von für einen Karrengaul zu schneller Konkurrenz überrundet worden. Immer, sagte er, habe er gegen zu Starke antreten müssen. Folglich sei keine seiner Niederlagen ihm selber zuzuschreiben. Wer niemals einen richtigen Start gehabt habe, dem könne man auch keine Schuld geben. Und alle bekamen Forts Version der Geschichte zu hören. Wie die guten Zeiten an ihm einfach vorbeigegangen wären, die Liebe und das Leben im Luxus. »Aber das eine sag ich euch: Von jetzt an werde ich nur noch auf meinen eigenen Vorteil bedacht sein!« Doch wurde er melancholisch, wenn er sich vergegenwärtigte, daß irgendwo ein Mädel mit fester Arbeit, das einen Mann wie ihn verdiente, Tag um Tag seiner beraubt wurde. Über Annoncen hatte er so einer Frau bei der Suche nach ihm behilflich sein wollen, den Heiratsmarkt der Zeitungen dann aber als bloßes Jagdrevier von Schmarotzerinnen erkannt, die auf einen Ernährer aus waren. Was taugte eine Welt, die ihre Belohnungsbonbons nicht an jene verteilte, die sie verdienten, sondern Leute damit überschüttete, denen eigentlich eins in die Fresse gehörte? Da war jemandem ein Konstruktionsfehler unterlaufen, fand Fort. Habe er sich doch immer wieder für andere ruiniert und von keinem einzigen Dank erhalten. Vierzig Jahre selbstlose Aufopferung für die Menschheit hatten ihm nicht mehr eingebracht als das ausgeblichene Baumwollzeug, das er auf dem Leibe trug. In Wirklichkeit aber waren diese schmalen und gummigen Lippen schon beim ersten Saugen an der Brust seiner Mutter im Hinterwald nur auf den eigenen Vor-
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teil bedacht gewesen. Und hatten seither jede erreichbare Zitze kräftig gemolken. »Das war ein wirklich patentes Weib«, hörte Dove ihn im Schlaf reden. »Hat mir zwanzig Dollar geschenkt.« Auf diese Weise war Fort mit dem Glücklichmachen von anderen zu Werke gegangen, und deshalb konnte er sich auch, als die Melkquellen eintrockneten, die Orangenhaine erfroren und die Schuhsohlen Löcher bekamen, so schrecklich ungerecht behandelt fühlen. Und sein Kreuz so mit Duldermiene zur Schau tragen, eine Art Kiwanis-Christus im Bing-Crosby-Hemd, der sich damit abgefunden hatte, benachteiligt und beleidigt zu werden, der unfähig war, seine Mitmenschen zu bestehlen oder sie auch nur mit seinen Sorgen zu belasten. Sagte er doch zu Dove: »Ich bin keiner von denen, die andern ihren Kummer vorstöhnen. Niemand wird von diesen leidenden Lippen erfahren, was Old Fort durchgemacht hat.« Und erzählte anschließend lang, breit und haarklein, was Old Fort alles durchgemacht hatte. So sehr er auch in Selbsttäuschung lebte, über New Orleans gab er sich keinen Illusionen hin. »Hier seinen Lebensunterhalt verdienen zu wollen, das ist wie einem Armen den Arsch kratzen«, setzte er Dove gleich ins Bild. »Diese Stadt läßt dich glatt verhungern. Ich bin Mechaniker, ich bin Koch, ich kann Taxi und Laster fahren, ich spiele Gitarre und verstehe was von Buchhaltung. Gestern habe ich zwanzig Cent verdient und vorgestern sogar bloß zehn und bin damit noch besser dran als viele. Der Mensch kann von einem Dollar am Tag leben, sagt Hoover. Bloß: Wo kriegt der Mensch den Dollar her?« »Gewiß, es ist nicht einfach, sich durchzuschlagen«, schaltete sich der kurze Luke ein. »Aber wenn der
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Mensch ein christliches Leben führt, was hat er dadurch schon zu verlieren? Wird er nicht reich und bleibt sein Leben lang ein Hungerleider, erwartet ihn doch immerhin ein hoher Platz im Himmelreich, oder etwa nicht? Wieviel Geld einer gemacht hat, zählt nicht – der Himmel lohnt jeden einzig und allein nach seinen Verdiensten. So sehe ich das jedenfalls.« »Ich glaub, jeder kriegt genau das, was ihm zukommt«, pflichtete Dove bei. »Doch ich hab noch nicht das Alter, um wählen zu gehn, und wenn, werd ich's wohl auch kaum tun.« Fort war zu jener Zeit aus dem sumpfigen Hinterland nach Carol Gables gekommen, als die Strande für die Konjunkturritter und Konjunkturhaie schöngemacht wurden. Beide Spezies fläzten sich bereits unter den Palmettos. Und begrüßten einander statt mit »Guten Morgen« mit »Geld gemacht?« Fort war zwischen ihnen umhergelaufen und hatte Ausschau nach einem Südstaatler gleich ihm gehalten, doch in jedem Gesicht, das er sah, stand das widerliche »N. Y.« geschrieben. »Geld gemacht?« Er hatte über Herd und Grill gebeugt gestanden und den Schwitzberuf des Bratkochs ausgeübt, während hundert Meter weiter New Yorker mit Mädchen sonnenbadeten, die halb so alt waren wie sie. Fettbeschmiert und schweißverklebt, immer noch gebeugt, aber zum Schwitzen schon zu ausgedörrt, erblickte er, wenn die Kellner durch die Küchentür kamen, sie wieder, die Konjunkturritter und Konjunkturhaie. Jetzt waren sie im Abendanzug und ihre Mädchen in ärmelloser Seide. Auf dem Damast weiß wie Schnee sahen dunkler Wein und heller Wein gleichermaßen kühl aus.
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Eines Abends war eine Bestellung zurückgekommen: »Nicht genug durch.« Und dann noch einmal: »Jetzt zu sehr durch.« Aus dem Gomorrha nebenan hörte er metallisches Gelächter. Zwischen dem dunklen Wein und dem hellen Wein auf dem schneeweißen Damast. Fort hatte jene hinterwäldlerische Lüsternheit, die ihn halbnackt im Meer zu baden, und sei es auch im schützenden Dunkel einer Sommernacht, als unzüchtig empfinden ließ. Deshalb behielt er, wenn er ins mitternächtliche Wasser watete, seine lange Unterwäsche an. Irgendwie fühlte er sich so sicherer. Vor allen offenen Hassern hatte Fort Angst. Er ging nur so weit hinein, um sich das Naß durch die Hände laufen zu lassen, und achtete darauf, nicht zu spritzen. Hoch über ihm reihten sich die in Yonkers und der Bronx bezahlten hellen Fenster übereinander. Oh, er wußte recht gut, was hinter den Jalousien getrieben wurde. O ihr lächelnden treulosen Mädchen, die ihr euch dort oben mit aufgeknöpften Blusen und aufgezogenen Rockreißverschlüssen im Lustlicht eurer Bettlampen räkelt und sagt: »Maxie, treib kein falsches Spiel mit mir«, während irgendein Konfektionskönig euch ein Konfektionsstück nach dem anderen auszieht. Hotel Sodom – das wäre der richtige Name. Sich vorzustellen: christliche Mädchen, gute Südstaatlerinnen, Töchter von Familien, in denen das Gedenken Atlantas und Shilohs noch lebendig war, nackt in den Armen von behaarten braunen Dieben aus Babylon! Der giraffenlange Mann im Meer ließ Südstaatenwasser von einer Hand in die andere rinnen. In seiner Seele stand ganz Atlanta in Flammen. Wieder in der Schlafkammer des Bratkochs, war ihm
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abwechselnd heiß und kalt. Er sah sich am Volant eines Stutz – immer nur eines Stutz. Und der vorbeizischende Wind lüftete den Rock der schlanken Blondine neben ihm so hoch, daß er seine große Hand ausstreckte – »Geld gemacht?« verhöhnte sie ihn, und dann war auf dem Beifahrersitz überhaupt niemand. Ja es war nicht einmal ein Sitz da. Sondern bloß ein schmutziges Kopfkissen, zu heiß zum Anfassen, und das Frühlicht sikkerte vom Korridor herein, der als Sackgasse zur Küche führte. »Geld gemacht?« fragte der Chefkoch an jenem Morgen, kaum daß Fort seine Schürze umgebunden hatte. »Geld gemacht?« war das letzte, was Fort an jenem Abend hörte. Er lernte, sich die Leichtgläubigkeit der Zeit damals zunutze zu machen, und stürzte sich gleich tausend anderen dort auf alles an Sand, Stahl oder Stein, bei dem eine Wertsteigerung zu erwarten stand, sobald eine Großstadt drum herum gebaut würde. Zwar war noch keine einzige Straße durch das Sumpfland gelegt, doch da alle wußten, daß die Metropole bald entstehen werde, hielten sie zäh an ihren Flecken Sand oder Stein fest, auch wenn sie das Fünfzigfache des Wertes geboten bekamen. Warum Vermögen an Fremde weggeben? Land, das einmal zwei Dollar den Acre gekostet hatte, ging weg für dreihundert. Geschäftsgrundstücke im Wert von zweitausend stiegen auf hunderttausend an, und als Geschäftsgrundstücke wurden auch welche gehandelt, die weitab von jeder Einkaufsgegend lagen. Farmland, das sonst einen Acre-Preis von fünfzig Dollar erbracht hatte, wurde in »Bauparzellen« aufgeteilt und zu zehntausend pro Acre angeboten: »In ein paar Jahren ist hier ja Innenstadt.« Nachdem er seinen ersten zaghaften Hundert-Dol-
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lar-Schnitt gemacht hatte, ging Fort ab nächstem Tag nicht mehr zu seinen Koteletts und Steaks; sollten sich andere darüberbeugen und schwitzen. Fünfhundert, achthundert – zwölfhundert Dollar! Soviel hatte er im ganzen Leben noch nicht besessen. Er wurde kühner. Viertausend, achttausend! Er hatte jetzt zwar Rückenwind, doch aus Angst, der Zauber könne brechen, wagte er nicht, aus seinem kleinen möblierten Zimmer auszuziehen. Zwölftausend – fünfzehntausend – bei achtzehn, nahm er sich vor, würde er sich wirklich einen Stutz kaufen. Als er achtzehn beisammen hatte, beschloß er, auf fünfundzwanzig zu verlängern und dann ganz aufzuhören. Irgendwann müsse dem Faß der Boden rausfallen, sagte ihm seine Ahnung. Er wollte nicht zu denen gehören, die es traf, während sie eine Million zu machen versuchten. Durch eine einzige Transaktion erreichte er sein Limit – sagte sich dann aber, jetzt Schluß zu machen bedeute, sich weitere fünfundzwanzigtausend entgehen zu lassen. Bei fünfzig werde er aber bestimmt aufhören. Jeden Tag dachte er an den Stutz. Bei zweiundvierzigtausend kaufte er sich die knalligste Badehose von ganz Carol Gables und zeigte sich endlich in der Sonne, empfand plötzlich schon halb freundschaftliche Gefühle gegenüber anderen Dollar-Daddys. Warum sollte man etwas gegen Leute haben, bloß weil sie in New York geboren waren? Auch New Yorker konnten gute Amerikaner sein. Er verbrachte drei Tage damit, um den Preis eines Ford T zu feilschen. Stolz fuhr er damit nach Hause, und stolz stieg er zum letzten Mal die düstere, stickige Treppe zu seinem möblierten Zimmer hinauf. Auf dem Tisch meldete ein Brief, daß seine Zweiundvierzigtausend unverkäuflicher Staub seien.
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Das Schlafen bis Mittag und den Sherry, den Port und den Stutz und den Damast, er hatte es alles schon in den Händen gehabt, und es war ihm durch die Finger geglitten. Nun würde er nie Ober herumscheuchen, nie länger als bis sieben im Bett bleiben können. Fort wanderte durch die Ruinen einer Zukunft, die es nie geben würde, durch alte Städte, die es nie gegeben hatte. Durch die millionenschweren Metropolen, schon zerfallen, noch ehe ein einziger Grundstein gelegt worden war. Vorbei an den Grandhotels mit ihren funkelnden Foyers, durch die Parks mit ihren Springbrunnen, wo jetzt nichts weiter war als Gras und Schlacke längs des Wegerechts der Southern Railway. Wanderte durch die kleinen mitternächtlichen Orte, erinnerte sich an den dunklen Wein und den hellen, hörte das Hallen seiner Absätze auf dem Pflaster. Dachte noch immer, wie es wohl gewesen wäre, morgens im eigenen Garten spazierenzugehen. Und dann sie zu finden, in einer gestreiften Hängematte liegend und Halbschlaf vortäuschend, ihr Kleid so dünn, daß der leiseste Wind es kräuselte. Er würde sie sacht wiegen, Worte wären nicht nötig. Nur ihr Lächeln beim Erwachen und ihre schläfrigen Hände, die träge die Bluse aufknöpften, um ihn zu erfreuen. Mitternachts in den Städten, die es nie gegeben hatte und in denen er das Hallen seiner Absätze hörte. Oder in der dampfenden Nacht von New Orleans das Hallen von Gelächter, das nie ganz erstarb: Wieder trieben es dunkelbehaarte Männer mit rosigen Mädchen. Gomorrha auch hier. Von Straße zu Straße lief der baumlange sommersprossige Mann laschen Schrittes und mit hängenden Schultern durch die New-Orleans-Nacht, bis er einen Eiskarren fand. Beschnupperte dann im Schein der
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flackernden Wagenlampe das Eis und hielt die zwei Cent so fest in der Hand wie ein Kind, dieser fast zwei Meter große Finanzberater. Sei die Schokoladensoße auch frisch? Kein Sirup, nur Schokoladensoße konnte sein Selbstmitleid mildern. Sei sie wirklich von heute? Schließlich wagte er einen mißtrauischen Lecker, ehe er sich von seinen Münzen trennte. Risiken wollte er einfach nicht mehr eingehen. Eines warmen Abends begleitete Dove ihn, um ihm bei der Suche nach einem Eiswagen mit guter Schokoladensoße zu helfen, und an jenem Tag überzeugte ihn bereits die erste Kostprobe. Er drehte sich um und lächelte zu Dove hinunter. »Pump mir noch zwei Cent, Kollege.« Und hielt dem Verkäufer das Eis wieder hin. »Doppelte Portion, Kollege.« An jenem Abend schien die Schokoladensoße genau richtig gewesen zu sein. Obwohl selber bar jeden Schliffs, war ihm die Gesellschaft von Leuten ohne Kinderstube peinlich. Über eine Tasse Zichorienkaffee gebeugt, schaute er Dove so unverwandt an, daß der Junge sich zu fragen begann, was er so früh am Tage, mit der Sonne noch kaum über der Melpomene Street heraus, wohl falsch gemacht haben könne. »Behalten bei dir zu Hause alle bei Tisch die Kopfbedeckung auf?« fragte Fort schließlich. Dove nahm seinen Strohhut ab und legte ihn neben den Teller. »Scheint nie was von Garderobenhaken gehört zu haben«, bemerkte Fort sarkastisch zum Fenster. »Trinkt deine ganze Familie aus der Untertasse?« wollte er als nächstes wissen. »Mir schmeckt der Kaffee so eben besser«, erklärte Dove mit Bestimmtheit. »Würdest du mir bitte mal 'ne
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Scheibe Toastbrot rüberreichen? Ich mag's zwar lieber mit Sirup, aber da wir keinen haben, tu ich mir als Ersatz 'n bißchen Kaffee rauf, indem ich's in die Untertasse stippe.« Fort lebte in einer Unordnung aus ungewaschenen Socken, Zigarettenkippen, Eisstielen, Bull Durham und herausgerissenen Stellenanzeigen. Was er nicht mehr brauchte, warf er auf den Fußboden, und Geschirr wusch er nie ab. »Habe wieder Migräne von der zu leichten Kost«, klagte er die Menschheit im allgemeinen und Dove Linkhorn im besonderen an. »Mir ist so flau im Magen, daß ich, wenn ich raus in die Sonne gehe, umkippe wie ein Hund.« »Auf dem Kaminsims liegt ein ganzes Brot, Fort«, sagte Dove. »Ehe ich Karo einfach esse, noch dazu Fabrikbrot, laß ich mir lieber den Mond in den Mund scheinen.« Fort bevorzugte Hausbrot. »Nun«, erklärte Dove, nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, »trocken Brot ist immer noch besser als Kohldampf. Ich hab beides probiert.« Fort jedoch, gerührt von der Vorstellung, wie er gleich einem verreckenden Hund auf der Straße liege und die Leute über ihn hinwegsteigen, stand auf und verkündete: »Aber ab jetzt geht's anders lang. Ab jetzt werde ich nur noch auf meinen eigenen Vorteil bedacht sein!« Und machte sich eilig davon, das gleich in die Tat umzusetzen. »Ich glaub, die schweren Zeiten haben ihm einen Sparren geraubt«, sagte Dove hinterher zu Luke. Blies der lange Fort überall Trübsal um sich her, so war der kurze Luke ein Mensch, der das Leben von der
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leichten Seite und mehr oder weniger als Burleske nahm. Ein Mops, der sich unmopsig durchzubeißen wußte. An seinen Pleiten gab er nie anderen als sich selbst die Schuld. »Bin momentan total blank«, sagte er etwa. »Aber ich war ja auch, als ich mit Glückssteinen handelte, so töricht, sie alle loszuschlagen, ohne einen für mich zu behalten. Schon schlimm, meine Nachlässigkeit.« »Ich glaub an solche Sachen nicht«, erklärte Dove. »Und selbst wenn – von einem Fremden tat ich so was nicht kaufen.« Luke hatte immer irgend etwas im Anrollen oder Auslaufen, in Kommission oder auf Provision, wovon er Prozente erwartete oder abführen mußte. Deshalb zog es ihn auch so oft in Dockery's Dollhouse, eine Kaschemme in dem Viertel, wo er all seine seltsamen Geschäfte tätigte. Andere sagten, seine Schwäche sei der Gin, Luke aber hatte einen anderen Namen dafür. Er nannte es Wanderlust. Wo er auch hingekommen sei, stets habe eine Miss Molly oder Miss Jane ihn angefleht, sich mit ihr auf ihr schönes Anwesen im Süden zurückzuziehen. Er habe ihre Angelegenheiten in Ordnung gebracht, ihr bei Tag die Angst und bei Nacht die Lust gestillt. Bis sie ihn dann beim Schnüren seines Bündels überraschte. Da sei eine jede hysterisch geworden: Wenn er sie jetzt verlasse, nehme sie sich das Leben. So habe er sich schließlich immer bei Nacht und Nebel davonmachen müssen. »Das glaube ich gern«, bemerkte Fort. »Hatte Miss Molly auf einem Wohltätigkeitsball in Memphis kennengelernt, und sie ließ mich einfach nicht mehr los«, log Luke munter weiter. »Sie besaß das prachtvolle alte Herrenhaus in Greenville und eine
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Restaurantkette. Ach, die Bataten-Pie, die diese Frau einem vorsetzte! Das sentimentale kleine Dummchen. Als sie merkte, daß ich nicht mehr zu halten war, hat sie mir einen Essensgutschein auf fünf Dollar geschenkt, gültig sowohl in Memphis wie in Atlanta.« »War das, bevor oder nachdem sie sich das Leben genommen hatte?« fragte Fort. »Ich bin ihretwegen sehr in Sorge«, deutete Luke dunkel an. Und nickte ein, wo er saß, die Flasche Schwarzgebrannten in Griffweite. »Nimm dich in acht vor diesem Scheißer«, warnte Fort Dove, sobald Luke zu schnarchen anfing. »Der beschwatzt einen vom Lande wie dich, bei irgend 'nem faulen Geschäft mitzumachen, und du bist dann derjenige, der den Kopf dafür hinhalten muß. Sieh dich vor, Kollege.« Kollege versprach es. Kaum war Fort seinerseits eingeschlafen, plinkerte Luke ein Auge auf. »Pssst, Tex«, flüsterte er, »nimm dich in acht vor diesem Pisser. Der war schon in jedem Knast zwischen Miami und Houston. Er hat mich mal verpfiffen, und mit dir wird er das genauso tun. Sieh dich vor, Tex.« Tex versprach es. »Das nenn ich zwei besorgte Kameraden«, sagte sich Dove. »Wachen abwechselnd über mein Wohl.« Eines Abends kam Luke polternd und lärmend herein, eingehüllt in eine Schnapsfahne und den Geruch von etwas Fischigem. »Krabben! Bedient euch, Kollegen! Hick!« Er knallte eine fettige Tüte auf den Tisch, stellte eine weitere namenlose Flasche daneben, angelte zwei Lauchzwiebeln aus seiner Tasche und lud die ganze Stadt ein.
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»Ganz frisch schmecken die aber nicht mehr«, beklagte sich Fort. »Eher schon ein bißchen stinkig.« »In der Bibel steht zwar«, sagte Dove, »daß es Sünde ist, was zu essen, das die Klauen spaltet, aber nicht wiederkäut, doch ich mag Krabben trotzdem gern.« Luke begann, Viertel- und Halbdollar ostentativ zu Häufchen zu ordnen. Jemand war ganz schön schnell reich geworden. »Ich esse sie lediglich, weil ich was im Magen haben muß.« Forts Ton triefte vor Selbstmitleid. »Zwei Orangeneis sind für einen ausgewachsenen Mann nicht genug Nahrung bis zum Abend.« »Dann nimm das hier als Nahrung für morgen.« Herablassend schnippte Luke ihm einen Vierteldollar hin. Doves Muskeln spannten sich; konnte ja sein, daß Fort die Beleidigung mit der Faust zurückgab. »Hier in New Orleans können sie keine richtige heiße Schokoladensauce machen«, bemerkte Fort und steckte die Münze ein, als habe er dieses Geld soeben verdient. Sein Kinn war mit Orangeneis beschmiert, sein Mund mit Schokoladensauce. Aus seiner Nase stachen Haare hervor, und an den Haaren klebte Rotz. »Willst du auch einen, Tex?« Luke hielt einen weiteren Vierteldollar schnippbereit. »Vielen Dank«, lehnte Dove ab. »Hätte ich auch nicht anders erwartet«, sagte Luke, ohne Fort anzusehen. Bei Fort hatte sich das Ende eines Krabbenschwanzes zwischen den Zähnen festgeklemmt, und er mühte sich verzweifelt, es mit der Zunge herauszustoßen. »Eigentlich eine Unverschämtheit, die Dinger an Leute zu verkaufen, ohne sie vorher sauberzumachen«, beschwerte er sich, als hätte er für etwas einen Überpreis
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bezahlt. Er bekam das Stückchen endlich frei und spie es auf den Fußboden. »Ich würd lieber eine von den Bollen essen«. Dove zeigte auf die beiden Lauchzwiebeln. Zwei Orangeneis waren wirklich nicht genug, einen Mann wie Fort bis zum Abend zu erhalten. Und genausowenig Dove. Dennoch gab Dove jeden Abend bekannt: »Ich muß morgen früh raus. Weckt mich einer von euch?« Und schleppte dann bei Tagesbeginn einen Warenkoffer durch die Straßen, um noch verschlafen guckenden Hausfrauen zu melden: »Der wandernde Laden ist da!« Vorbei am Konföderierten Veteranenheim. Die Humanity Street hinauf und die Gentilly Road hinunter. Die ganze Peoples Avenue lang. Türen abklappernd, die vorn wie die hinten. Von der Peoples zur Almonaster, treppauf, treppab. Als die Vormittagshitze einsetzte, beide Seiten der Spain Street hinunter zum Hafen. Am Mittag, der Koffer inzwischen nur um eine verkaufte Dose Pomade leichter, saß er an der Desire Street Wharf, neben sich eine Fünf-Cent-Staude Bananen und eine kleine trockene Lauchzwiebel, und bestaunte ein Schiff aus Norwegen oder Peru. Beim Schälen vor sich hin träumend, dachte Dove an all die berühmten Gestade, die er beinah zu sehen bekommen hätte. Durch halbgeschlossene Lider wiegten sich seine Gedanken den großen Fluß hinunter, immer weiter, bis hin zum Meer. Dem majestätischen und magischen Beinah-Meer. Und dann hinaus auf den gefährlichen Wogen, bis es schon wirklich zu weit draußen war und er sich sacht zum Ufer zurückwiegte. Zum schützenden Ufer des Heimathafens. Wo freundliche Straßenlaternen den Weg zur Tür von einem alten
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Chili-Parlor erhellten. Und halb im Traum hörte er Frauenstimmen aus seinem verlorengegangenem Heimatstädtchen: Weilst du in fernen Gefilden, Denk an die Freundin dein; Wehn um dich her wilde Winde, Schreib ihr ein Briefelein. Nach Hause, wonach er sich so sehnte. Schließlich plinkerte er sich die glitzernden Tränen aus den Augen. Für Heimweh war jetzt keine Zeit. Kaum ja noch dazu, nach oben zu kommen. Und so nahm er seinen Koffer wieder hoch und schleppte ihn weiter, von Tür zu Tür. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, bis ihn eine gutaussehende Puppe in ihr prächtiges altes Herrenhaus lud, ihm Bataten-Pie vorsetzte und ihn bat: »Big Daddy, laß dein wildes Leben und bleib für immer bei mir.« Und er kam tatsächlich zu einem Herrenhaus, das auch schön alt war, aber längst nicht mehr prächtig, und wo ein karottenköpfiges blasses Mädchen von zwölf oder dreizehn beim Anblick seines kleinen Ladens ausrief: »Oma! Ein Mann mit allem, was wir brauchen!« Es griff sich ein Stück Seife. »Für meine ollen strähnigen Haare.« Einen Schuhlöffel für seine ollen Schuhe und eine Tube Creme für seine olle Haut, eine Nagelfeile, einen Kamm, eine Puderdose. »Hier sind auch Sachen bei, die du brauchst, Oma!« Dove glaubte, den Verkauf des Jahres zu machen. Bis die Stimme einer uralten Frau die Kleine zurückrief. Als sie wieder herauskam, sah sie noch blasser aus als vorher. Schweigend kniete sie sich hin und legte jeden Artikel, den sie aus dem Koffer genommen hatte, wieder hinein.
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»Ist schon recht, Miss«, versicherte Dove ihr. »Viele Damen suchen sich was aus und überlegen es sich dann doch anders, weil die Zeiten nun mal so schwer sind.« »Tut mir leid, daß ich Sie so enttäusche«, erklärte ihm das Kind ruhig. »Das hatte ich nicht gewollt.« Ein Nickel fiel in den Koffer, die Fliegentür schlug zu, das alte Herrenhaus stand still und heruntergekommen da. »Hättest besser dran getan, die Seife zu nehmen«, warf Dove der leeren Säulenveranda vor und klappte seinen Koffer zu. Steckte die fünf Cent aber ein. Dafür gab's eine Tasse starken Kaffee zu kaufen sowie eine Zeitung, die er sich von Fort vorlesen lassen konnte. Die Heimtour nahm er durch die endlosen Straßen der Farbigen, denn es war noch hell. Neger waren ihm irgendwie unheimlich, und das nicht nur im Dunkeln. Worüber lachten sie in einem fort von Haustür zu Haustür? Nie konnte er das deutlich hören; kam er näher, senkten sie ihre Stimmen so lange, bis er wieder außer Hörweite war. Ihre Prophezeiungen aber klangen ihm hinterher: De Lord give Noah de rainbow sign… Won't be by water but by fire next time. Als Dove an jenem Abend in der Tchoupitoulas Street die Treppe hinaufkam, lag Fort noch genauso auf dem hohen Messingbett, wie er ihn am Morgen verlassen hatte. Auf dem Tisch standen zwei benutzte Tassen mehr, und die Menge der Papierschnipsel auf dem Fußboden hatte sich ebenfalls vergrößert. »War den ganzen Tag unfähig, aufzustehen«, stöhnte Fort. Dennoch hatte Dove den momentanen Eindruck, als
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wäre er eben erst heimgekommen. Er reichte ihm die Zeitung, und während Fort laut vorlas, räumte er den Tisch frei und spülte ab. Fort zerknüllte die Stellenanzeigen. Wozu brachten die ihre Zeitung überhaupt raus, wenn sie nicht meldeten, wo ein Finanzberater gebraucht wurde? Der Finanzberater erhob sich erst, als der Abwasch fertig war. »Muß jetzt wohl einkaufen gehen und dann für euch am Herd stehen und schwitzen.« Sein Ton gab zu verstehen, was es hieß, sich tagaus, tagein für andere abzuschinden. »Wollen wir nicht auf Luke warten?« schlug Dove vor. »Ich selber hab nämlich bloß lumpige fünfundzwanzig Cent eingenommen.« »Wenn der kommt, ist er doch sternhagelvoll«, meinte Fort, »und hat seinen Mietanteil sicher nicht mehr beisammen.« »Das ist nun mal seine schwache Seite, da kann er nicht gegen an«, verteidigte Dove den Freund. Fort begann etwas zu braten, und nach einer Weile schien es fertig zu sein, denn er füllte zwei Teller mit einem qualstrigen Pamps und stellte sie auf den Tisch. »Ich eß alles, von dem ich nicht gefressen werde«, sagte Dove und haute mit dem Löffel rein, ohne sich erst zu vergewissern, ob nicht noch etwas Lebendes drin war. Fort sah ihn fragend an. »Schmeckt dir der Fraß etwa?« »Du meinst, ob auch wenn ich 'ne andre Wahl hätte? Da war mir Speckstippe natürlich lieber.« »Dir macht es wohl nichts aus, so zu vegetieren?« »Immer noch besser als im Gefängnis«, erwiderte Dove voller Überzeugung. »Dir scheint dieses Leben sogar noch zu gefallen!«
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»Ich hab ja kein andres«, fühlte sich Dove zu erklären verpflichtet. Der kurze Luke kam herein, lächelnd, im Gesicht gute Nachrichten und unterm Arm eine weitere Zeitung. »Wir sind jetzt raus aus dem Tief«, verkündete er. »Habe ich euch nicht gesagt, daß die Zeiten erst noch schlechter werden müssen, um besser werden zu können?« »Ach, du«, sagte Fort und erhob sich, »wenn wir daständen und uns überlegen müßten, wen von uns wir essen sollen, würdest du immer noch behaupten, so schlecht wären die Zeiten gar nicht.« Luke holte aus der Innentasche seines Jacketts einen Packen grünumrandete Gutscheine. »›… berechtigt Inhaberin zu einer kostenlosen Wasserwelle inklusive Kopfwäsche im Salon Madam Dewberry‹«, las er das Großgedruckte vor. »Nun sagt mir mal, welche Frau in New Orleans möchte sich nicht umsonst schampunieren und ondulieren lassen?« Dove konnte keine einzige nennen. »Weißt du, was das bedeutet, Tex? Du händigst der Glücklichen einen Gegenwert von fünf Dollar aus.« »Ich?« »Du machst doch bei mir mit?« »Wird Madam Dewberry damit einverstanden sein?« »Die hat das nicht zu bestimmen, sondern ich.« »Bin dir sehr verbunden, Luke.« »Du hast nichts weiter zu tun, als dich um Telefonleitungen zu kümmern.« »Im Klettern bin ich aber nicht besonders gut, Luke.« »Wer sagt denn was von Klettern?« Draußen waren Schritte zu hören, und rasch ließ Luke die Scheine in seiner Jacke verschwinden. »Habe
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noch hundert Stück mehr unter der Treppe versteckt.« Er legte den Finger an die Lippen. »Mund halten.« Klingelputzen mit Luke war ein Kinderspiel. Statt eines schweren Warenkoffers hatte Dove jetzt bloß einen Packen Gutscheine zu tragen, und er brauchte auch gar nicht auf Telefonmasten zu klettern. »Ich möchte warten, was mein Mann dazu sagt«, erklärte seine erste prospektive Abnehmerin. »Dann werden Sie auf Ihre kostenlose Wasserwelle mit Kopfwäsche wohl verzichten müssen, M'am. Wir kommen nicht noch mal in diese Gegend. Außerdem gehen unsere Gutscheine zu Ende. Für die ganze Stadt sind nur insgesamt hundert ausgegeben worden.« Die Frau, neben sich eine verheiratete Tochter, studierte einen der Scheine. »Klingt alles zu schön, um wahr zu sein«, zweifelten beide Dove unverhohlen an. »M'am, warum rufen sie nicht einfach bei Madam Dewberry an und erkundigen sich, ob es stimmt, was ich sage?« Da es 1931 in New Orleans selten mehr als einen Telefonanschluß pro Häuserblock gab, war das ein sicherer Bluff. Die Frau nahm Dove einen Gutschein für sich und auch noch einen für ihre Tochter ab. Sein zweites Opfer war dickköpfiger. »Warten Sie hier, junger Mann – ich gehe wirklich telefonieren.« »Ja, tun Sie das nur ruhig, M'am«, sagte Dove. Kaum war sie reingegangen, um sich für den Weg zum Apparat des Gemüsehändlers an der Ecke herauszuputzen, rannte Dove weg, um Luke Warnung zu geben, aus diesem Block zu verschwinden. Luke nahm einen Schluck aus seinem Flachmann und sah keinerlei Notwendigkeit zu schneller Flucht. »Ganz ruhig bleiben, Tex. Da kommt sie ja schon.«
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Er trat der Dickköpfigen in den Weg. »Guten Morgen, M'am. Ich bin der Geschäftsführer vom Salon Madam Dewberry. Mein junger Assistent berichtet mir, Sie würden unsere Einladung gern bestätigt bekommen. Das gefällt uns. Genau diesen Typ Kundin suchen wir. Wenn wir Sie zufriedenstellen können, gelingt uns das bei allen. Sparen Sie sich ihren Nickel – ich stehe für jedes Wort auf dem Gutschein gerade.« Luke zog einen aus der Tasche. »Und für diesen hier verlange ich von Ihnen nicht einmal den Vierteldollar Schutzgebühr, M'am.« Er drückte ihn ihr in die Hand. »Ich wollte ihn ja nicht für umsonst haben«, wand Dickkopf ein. »Wenn Sie dem jungen Mann die fünfundzwanzig Cent unbedingt zahlen wollen, steht Ihnen das natürlich frei. Als reine Gefälligkeitsgeste.« Die Frau reichte Dove einen Vierteldollar und ging, unterwegs das Kleingedruckte lesend, zu ihrem Haus zurück. Den Rest des Vormittags lief es leichter. Am Mittag klimperten fünfundzwanzig Vierteldollar in Doves Hosentasche, und er hatte noch mal fünfundzwanzig Gutscheine für den Nachmittag. Doch schon lange vor dessen Ende hatte Luke seine eigenen Vierteldollar in eine Flasche Gin investiert, so daß sie, nachdem sie erst ein paar Türen abgeklappert hatten, für weitere nicht mehr in der Verfassung waren. Um Mitternacht hörte Dove Schiffs- und Zugglocken. Er und Luke halfen einander die Tschoupitoulas entlang, und die ganze dunkle Stadt war ein einziges Läuten. Auf der kläglichen Höhe ihrer steilen alten Treppe hielt Dove Luke zurück. »Ob Old Fort heute was zu essen gehabt hat?«
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»Laß das Faultier doch verhungern.« Luke schob sich ins Zimmer. Auf dem Bett lag Fort mit dem Gesicht zur Wand. »Pssst!« machte Dove. »Weck ihn nicht auf.« »Der ist doch schon seit Stunden wach.« Luke rüttelte Fort an den Schultern. »He, guter alter Kollege! Krabben – hick! –, frische Krabben!« Fort drehte sich um. Der Hunger vernebelte ihm die Augen. Er sah keine Krabben. Und roch auch keine. »Sind ja auch gar keine da, denn wir haben sie alle aufgegessen, Kollege!« Luke lachte mit echter Fröhlichkeit und sang dann ein kleines Spottlied, wozu er Tanzschritte machte: You made a lot of money back in '22 But whiskey and women made a fool of you. Why don't you do right Get me some money too? Dove fiel ein, daß er etwas in der Tasche hatte, und er holte sechs in eine Papierserviette gewickelte kalte Krabben heraus. »Hier, Fort.« Er hielt sie dem Schläfer übers Gesicht, um ihm zu zeigen, daß es doch kein Witz war. »So gutschmeckende Krabben, wie du nur jemals …« Fort holte mit der Hand aus und ließ Krabben und Serviette durchs Zimmer segeln. Eine prallte gegen die Wand und fiel aufs Bett. Dove hob sie auf und knabberte trunken daran, während er auf die fast zwei Meter Selbstmitleid unter der schmutzigen Patchwork-Decke niederschaute. Stunden später wurde er wach, weil jemand umhertrapste. Luke schnarchte auf dem Stuhl. Dove sah ein Streichholz aufflammen. Dann hörte er ein Geräusch
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wie Kauen und schlürfendes Saugen. »Hoffentlich findet er alle«, dachte er und schlief wieder ein. Am Morgen war Fort schon außer Haus. »Er ist sicher beleidigt wegen heute nacht«, meinte Dove. »Ach was, dessen Stolz hält bloß an, bis er was zu essen riecht«, erklärte Luke. »Er kann ja nichts dafür«, entschuldigte Dove ihn. »Wo er doch so lang ist.« »Was hat denn das ewige Eingeschnapptsein mit seiner Länge zu tun?« »Naja, er hat eben auch 'ne besonders lange Leber, so daß es länger dauert, wenn ihm da 'ne Laus rüberkrabbelt. Sind noch Eier da?« »Was belieben der gnädige Herr: Rührei oder Setzei?« »Ich bin nicht wählerisch«, antwortete Dove. »Mag Eier auf jede Art.« Luke schlug zwei Stück in eine Pfanne und trug das Ergebnis auf, das von beiden etwas hatte. Pfanne und Teller ließen sie für Fort zum Abwaschen stehen und machten sich, jeder mit fünfundzwanzig Gutscheinen aus Lukes Versteck, auf ihre Vormittagstour. Als sie am Abend heimkamen, stand der Tisch voller Geschirr, taten sich in allen Schüsseln Fliegen gütlich und hing wie eine Verheißung besserer Zeiten ein Geruch von angebranntem oder anbrennendem Fleisch in der Luft. Fort lag ausgestreckt auf dem hohen Messingbett, mehr als dessen volle Länge einnehmend, und rauchte eine Zigarre, die so lang war wie er selber – ein Mann, der keine einzige Mahlzeit ausgelassen hatte. Ein verwirrender Anblick. »Hatte ein halbes Steak für euch aufgehoben«, erin-
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nerte er sich und blies einen großen Rauchkringel, um die Moskitos zu verscheuchen, »aber als ihr nicht kamt, habe ich mir gesagt: ›Ehe es die Fliegen kriegen, eß ich's selber.‹ Mußte mich dazu zwar zwingen, hab's aber geschafft. Hätte das Essen liebend gern mit euch geteilt, doch was würde es jetzt nutzen, mir selber in den Arsch zu treten, weil ich nicht gewartet habe?« Ja, hier auf ihrem Herd waren Reste eines Steaks gebraten worden, und heute nacht stand Fort nicht auf, um auf Krabbensuche zu gehen. Statt dessen lachte er im Schlaf sie beide aus. Fort lachte überhaupt nur im Schlaf. Dove und Luke aber konnten das im Wachen tun. Die nächsten Tage blieben sie betrunken, meist bis spät in die Nacht hinein. Sie hatten keinen Grund, sich nüchtern zu halten. Die Zeiten des ängstlichen Hineinspähens in einen Hinterhof, ob eine Telefonleitung vorhanden sei, waren vorbei. Ein Geschäftsmann wie er, fand Dove inzwischen, konnte seine Zeit nicht mit solchen Dingen verplempern. Er klopfte jetzt nur noch an Vordertüren, schnell und gebieterisch, und sobald eine Hausfrau öffnen kam, forderte er sie schon heraus, noch ehe sie fragen konnte, was er denn wolle: »Gehn Sie ruhig anrufen - mir soll's gleich sein!« Tippte dann an seinen Strohhut und verschwand auf leicht schwankender Straße im Abenddunkel. Aus irgendwelchen Gründen begann der Absatz zu stocken. Wurden die Zeiten besser, noch ehe sie sämtliche Gutscheine losgeschlagen hatten? Luke war sicher, daß es wieder bergauf gehe; das Tief der Wirtschaftskrise sei durchgestanden, und es würden ihnen Scheine übrigbleiben, für die sie dann gar keine Verwendung mehr hätten. Fort hingegen meinte, die Krise habe gerade erst begonnen. Die Verhältnisse würden noch
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schlimmer, prophezeite er, und länger so bleiben, als alle glaubten. Dann falle dem Faß der Boden raus. Nichtsdestoweniger war, wann immer sie heimkamen, die Luft in dem kleinen Zimmer stickig von dem Geruch nach Filet oder Kotelett und Fort blies den mit Havannarauch weg. Hier ging es jemandem nicht schlecht. »Wenn ihr mich bloß wissen lassen würdet, ob ich euch erwarten kann oder nicht«, klagte Fort. »Dann tat ich von Herzen gern für euch was mitbraten. Hatte heute wieder Steak.« »Ich bin nicht wählerisch und esse alles, sogar Steak«, baute Dove für künftige Gelegenheiten vor. »Für mich kannst du also immer was mitbraten.« Aber der einzige, für den Fort was mitbriet, war er selber. Um sich für neulich abend zu revanchieren, lud Dove Luke zu Schildkrötensuppe am Alten Französischen Markt ein. In dem vertrauten düsteren Lokal mußten sie einem Bettler mit dunkler Brille ausweichen, der sich mit Hilfe eines weißen Stocks den Weg durch die Fischgerüche ertastete. »Entschuldigt, Mädels«, hörte Dove ihn im Vorbeigehen murmeln, »laßt mich mal durch.« Den Schildkröten waren vierundzwanzig Stunden Gnadenfrist gewährt worden; heute fanden keine Enthauptungen statt. So bestellten Dove und Luke Gumbosuppe. Jeder eine ganze Terrine. Und danach Katfisch. Jeder eine doppelte Portion. Sie aßen, bis sie nicht mehr konnten. Als sie wieder gingen, war die Hitze auf der Straße inzwischen vorbei; auch die Sonne konnte nicht mehr. »Hab so viel gegessen, daß ich schier platze«, stellte Dove fest.
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Er fühlte sich so voll von Gumbo und Fisch, daß er kaum reagierte, als eine Colliehündin in einem gepflegten Garten auf ihn losfuhr und ihn gebissen hätte, wäre die Kette ein Stückchen länger gewesen. Eine weiße Frau hielt die Bestie am Halsband zurück und entschuldigte sich: »Das habe ich noch nie erlebt, daß Queenie einen Weißen anfällt.« Dann betrachtete sie den rothaarigen Fremden genauer und fügte mit leisem Argwohn hinzu: »Sie hat sich da noch nie geirrt, Mister.« Dove tippte nur an seinen Hut. »Schon gut, M'am.« Und als er weiterschob: »Der Köter riecht den Katfisch in meinem Bauch.« Draußen, wo die Vorgärten weniger gepflegt und die Gehsteige so zerborsten waren wie daheim, hatte er stets weniger Skrupel. Das erste Haus, wo er an jenem Tag klingelte, befand sich an einem solchen Gehsteig. Eine Negerin mit violetten Augen kam zur Tür. Dove tippte an seinen Hut, spürte etwas an seinen Hacken knibbeln, und als er sich umdrehte, sah er gerade noch, wie ein fetter weißer Mischlingshund wegflitzte und unterm Haus Schutz suchte, als habe er etwas ganz Tollkühnes vollbracht. »Er mag nicht, wenn Weiße in seinen Hof kommen«, erklärte die Frau prosaisch. »Er sagt sich, da er nicht in die von denen darf, haben die auch nichts in seinem zu suchen.« »Schon gut, M'am.« Und wieder dachte Dove schuldbewußt: »Die Töle riecht die Gutscheine in meiner Tasche.« »Dieses Rumziehen und Klinkenputzen und Schönreden artet mir zu sehr in Arbeit aus«, fand Luke. Auch Dove hatte genug davon. Obwohl es nicht das Rumrennen und Klinkenputzen war, was ihn störte.
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Und auch nicht das Schönreden. Sondern daß jeder neue Vierteldollar, den er einer Frau abschwindelte, noch ein bißchen schwerer wog als der vorherige. Der Warenkoffer war doch leichter gewesen. »Wie viele Scheine hast du noch, Tex?« Dove reichte Luke den Rest seines Packens. Luke zählte ihn durch. Dreizehn Stück. »Ich weiß, wo wir die alle auf einen Schlag loswerden können«, sagte er. An der South Rampart wartete Dove vorn auf der Straße, während sich Luke zum Hintereingang einer Negerbude schlug und mit einer Flasche Selbstgebrannten zurückkam. Sie leerten sie bis zur Hälfte. »Das Zeug ist so gut«, sagte Dove, »daß man sich kaum traut, davon zu trinken.« »Eben echte Landware«, stimmte Luke bei. »Riecht noch nach den Füßen von den Jungs, die das Korn gesät haben.« Dove nahm einen Schluck mehr, um zu prüfen, ob Luke recht hatte. »Ganz schöner Rachenputzer.« »Habt ihr Lust, die Mädchen kennenzulernen?« fragte ein kleiner Mann in knallgelbem Hemd und Cowboystiefeln aus einer Tür heraus, die so breit war, daß sie einmal der Eingang zu einem prunkvollen Vergnügungslokal gewesen sein mußte. »Machen die's heute umsonst?« fragte Luke zurück. Der kleine Mann hatte blonde Koteletten, die bis fast ans Kinn reichten, und mochte ebensogut zweiundzwanzig wie vierzig sein. »Bei zwei so gutaussehenden Burschen wie euch, da würde es mich nicht wundern, wenn sie das täten«, lockte er weiter. »Ich habe das deshalb gesagt«, erklärte Luke, »weil
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nämlich wir was für umsonst haben.« Er zückte einen der grünumrandeten Gutscheine. »Und zwar kostenlose Wasserwellen im Salon Madam Dewberry. Da sind die Damen doch sicher interessiert?« »Aber klar«, gab der Kleine vor. »Sie fragen sich ja bereits, wie sie an diese Gutscheine rankommen. Und nehmen euch bestimmt alle ab, die ihr habt.« Bis den beiden Beschwatzern aufging, daß sie selber beschwatzt wurden, befanden sie sich schon drinnen in einem jener altmodischen hohen Salons, wo in alles beherrschendem Halbdunkel ein Deckenventilator so lässig schnurrt, daß man nicht zu sagen vermag, ob sich noch jemand im Raum befindet. Allmählich ließen sich in dem Dämmer die Umrisse von einem halben Dutzend Männern ausmachen, die so dasaßen wie beim Barbier, die Hemdkragen offen, Illustrierte auf dem Schoß und einer oder zwei mit Zigarren in der Hand. Irgend etwas strich Dove übers Haar, und er berührte eine Spinne aus Metall, die an einem so dünnen Draht hing, daß man ihn erst sah, wenn er durch eine Luftwelle von dem Ventilator in Bewegung geriet; dann blitzte ein Lichtschein hin und her. In der lautlos schwingenden Luft voller Spinnen in Rot und Grün, an Drähten lang und kurz, rosa und golden. Spinnen, die aus in dem Zwielicht unsichtbaren Fäden hauchfeine Netze spannen. Dove nahm eine Zeitschrift in die Hand und tat so, als lese er gleich den anderen Männern. Bis er plötzlich den Wunsch verspürte, sie alle irgendwie zu übertrumpfen, und als er auf einem Diwan ein Buch erspähte, ging er kühn hin und holte es sich. Und blätterte dann bloß einfach darin, als sei das Licht zu schwach, so daß man sich beim Lesen die Augen überanstrengen würde. Er
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war schon fast durch, da kam er an eine Seite, bei der ihm die Hand zu zittern begann. Denn er sah dort seinen standhaften Zinnsoldaten stehen, Tschako auf, Gewehr fest im Arm und hinter sich seine Korporalschaft zweibeiniger Soldaten. Aber der Einbeinige war noch immer der standhafteste. Und in der Einfalt seines Staunens dachte Dove, das müsse Terasinas Buch sein. »Die Mädels kommen gleich runter, Jungs«, verkündete eine bebrillte Mulattin in schwarzem Crêpe de Chine mit aufgesteckten Samtblumen. »Frag sie, ob sie an kostenlosen Wasserwellen interessiert sind, Lucille«, forderte Luke sie auf. »Daß man mich ›Lucille‹ nannte, das ist schon Jahre her«, sagte sie. »Ja«, bestätigte Luke, »viele, viele Jahre.« Sie schaute ihn genauer an, aber es war wirklich schon zu lange her. Die Gesichter anderer waren gekommen wie Meereswellen, schnell hintereinander. Jetzt bestand keine Erinnerung mehr, an welchem Gestade, in welchem Sommer und zu welcher nächtlichen Stunde ihre Augen einander in Liebe, Lust oder bloßem Feilschen um den Preis begegnet waren. »Heute nennen mich alle Mama«, erklärte sie. »Ich bin hier nur die Hausdame.« Dann erblickte sie Dove, der des Salons einziges Buch umklammerte. »Das gehört unserer Hallie«, sagte sie zu ihm. Dove schaute auf den vorn hineingeschriebenen Namen. So also schrieb man »Hallie«. Und behielt den Finger drauf, obwohl er das Buch zuklappte. Ein alter Mann auf einem hochlehnigen Stuhl, der das Geld für eine Flasche Schnaps zu verdienen hoffte, und neben ihm der Junge, der sich so sehr nach Liebe
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sehnte, daß ihm schon der Name in einem Buch liebenswert war. Während die anderen dasaßen wie Schaufensterpuppen, anonyme Männer, die anonym bleiben wollten. Ab und an seufzten sie, aber Plaudereien vermieden sie geflissentlich, denn so etwas konnte ja zur Entdeckung von gemeinsamen Bekannten führen. Ein kleiner Negerjunge in einem Hemd, das ihm nur bis zum Nabel reichte, beguckte sich die Kunden einen nach dem anderen. Manche reagierten mit einem Lächeln, einige schauten weg. Eingehend musterte er jeden einzelnen und ging dann zum nächsten. Bekam er einen Cent geschenkt, nahm er ihn, ohne eine Miene zu verziehen. Ein weiblicher Duft, ein Hauch wie eine Mischung aus Weihrauch und Eau de Cologne, bewegte die Portiere. Dove umklammerte das Buch fester. Das würde Hallie sein. Doch es war nur der Ventilator, der den Vorhang in leichtes Schwingen versetzt hatte. Die Metallspinnen hingen jetzt ruhiger, die Barbierladenlangeweile wurde lastender. Auf der anderen Seite der Straße bot ein Mann mit schwarzem Stetson einem in der Ecktür stehenden Mädchen etwas aus einer Tüte an. Dove sah dieses in beide Richtungen der Perdido sowie auch der Rampart spähen. Dann schnell in die Tüte fassen und sich ebenso schnell zurückziehen. Einen Augenblick später machte es die Tür wieder auf, gerade lange genug, um eine Erdnußschale auf die Straße zu spucken. Jegliche Kontaktnahme mit einem sich noch auf dem Bürgersteig befindenden Mann, selbst wenn es dabei bloß um Erdnüsse ging, konnte dem Mädchen schon Ärger mit der Polizei bringen. Doch das Risiko, das es eingegangen war, zahlte sich aus, denn der Stetson nahm seinen Mut zusammen und
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trat ein mit seiner Tüte, die groß genug war, daß jedes der Mädchen dort eine Erdnuß bekommen konnte und noch zwei Stück für ihn übrigblieben. Die erste Straßenlaterne ging an. Sie spähte erst in beide Richtungen der Perdido sowie auch der Rampart und flimmerte sich dann ein für die vor ihr liegende lange Nacht. In der Gott allein wußte, was für ein Unhold ohne Erdnüsse, was für ein Streuner ohne Geld kommen mochte, um hier Ruhe zu suchen. Eine Blondine mit kalkweißem Vollmondgesicht, pechschwarzen Augenbrauen und zum Knoten aufgesteckten Haaren schlenderte herein. Dove schreckte auf, entspannte sich aber gleich wieder. Nein, das konnte nicht Hallie sein. »Reba, die Jungs haben kostenlose Wasserwellen abzugeben«, berichtete Mama ihr. »Ja, für fünfundzwanzig Cent, Miss«, schaltete sich Luke sofort ein und drückte ihr einen Gutschein in die ausgestreckte Babyhand. »Was denn: Kostenlos, und trotzdem soll ich einen Vierteldollar dafür berappen?« Sie reichte ihm den Schein zurück. »Nicht bei mir, Mister!« »Sie ist aus Chicago«, sagte Mama erklärend. Doch ein Mädchen, dessen Gesicht so geschminkt war, daß es aussah wie eine Totenmaske von Joan Crawford, also wie aus starrem Kunststoff, bekundete Interesse. »Mama, sei so lieb und gib dem Mann das Geld für eine für mich.« »So was – sie weiß noch gar nicht, was der Kerl anbietet, aber kauft schon!« Chicago schüttelte den Kopf über die Dummheit der Zwitschen hier im Süden. »Das ist Frenchy«, stellte Mama die Maske vor. »Und das mein Enkelsohn Warren Gameliel. Mach schön deinen Diener, Warren G.«
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Der kleine schwarze Junge dachte nicht daran, sich zu verneigen, ja sagte nicht einmal guten Tag. »Tu ich unter!« warnte er alle. Was er damit meinte, wußte kein Mensch. »Und hier unser Mädchen aus Fort Worth«, setzte Mama das Vorstellen mit einer weiteren Blondine fort, die die doppelte Konfektionsgröße der ersten und einen Busen hatte, der einer Kuh gut als Euter gestanden hätte. Nein, das konnte niemals Hallie sein. Mama zahlte den Vierteldollar für Frenchy, und die nahm ihren Gutschein, warf einen gelangweilten Blick darauf und gab ihn dann Fort Worth. »Benutz du ihn, Schätzchen. Ich komme ja doch nie in die Stadt.« Sie hatte gekauft wie ein Kind, bloß um des Kaufens willen, und das Erworbene an die nächstbeste Freundin verschenkt. Niemandem, erkannte Dove, ließ sich so leicht etwas andrehen wie Freudenmädchen. Lediglich für Reba war Kaufen kein Selbstzweck. Warren Gameliel schien weniger Kind als die Frauen. Einen Cent in der Faust, beobachtete er den Besitzerwechsel jedes einzelnen Vierteldollars so aufmerksam, daß Mama erklärte: »Ich bin felsenfest überzeugt, dieser Knirps kann schon zusammenzählen und abziehen.« Und wohl in der Hoffnung, die beiden Verkäufer so zu animieren, daß die Mädchen ihr Geld wieder hereinbekämen, fügte sie hinzu: »Uns besuchen viele verheiratete Männer. Ich bin selber viermal verheiratet gewesen, habe, wie man so sagt, das Pferd rundum beschlagen. Mein einer war Geschäftsmann, die andern drei waren Diebe, und unglücklich bin ich bloß mit dem Geschäftsmann gewesen.« »Ist Balla schon auf?« erkundigte sich jemand. »Sie meinen sicher Balla-Balla?« fragte Fort Worth.
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»Wir haben hier keine, die so genannt wird, jedenfalls nicht daß ich wüßte«, verteidigte Mama das fehlende Mädchen. »Falls Sie Floralee meinen, die ist noch beim Anziehen. Ich habe ihr ein für allemal verboten, jemals wieder ohne was an runterzukommen. Wissen Sie, was sie da geantwortet hat? ›Wozu sich erst anziehen, wenn man sich ja doch gleich wieder auszieht?‹ Hat das Dummchen wahrhaftig zu mir gesagt.« »So dumm finde ich das nun wieder nicht«, meinte Fort Worth. Hinter Joan Crawfords Augenbrauen bildete sich eine Frage, und Frenchy brachte sie vor: »So, wie sie's gestern nacht getrieben hat, wie soll sie da runterkommen können, ob nun mit oder ohne was an? Sie wird nicht mal zum Aufstehen fähig sein.« »Keine Angst, die kommt schon runter und verdrückt Maisbrei und Schinken für sechs«, versprach Fort Worth. »Daß sie einen Magen hat, das weiß sie gar nicht.« »Eine Nutte, die bei ihren Freiern mit Gusto zurückbumst, braucht eben Kraftnahrung«, höhnte Reba. »Mißgönnt dem Kind doch nicht sein Essen«, wies Mama sie alle zurecht. »Sie hat nun mal 'ne andere Art als ihr.« »Wenn ihr Loddel einen Funken Grips hätte«, erklärte Frenchy, »würde er ihr die austreiben. Wozu ist ein Loddel da?« »Das mußt du doch wissen«, brachte Fort Worth Frenchy rasch zum Schweigen. »Du arbeitest ja für einen.« Die Tür wurde weit aufgestoßen, und ein beinloser Hüne, festgeschnallt auf einer Art Straßenfloß, einer auf Rollschuhe gesetzten Plattform, kam hereingefahren wie jemand, der hier Stammkunde war. Dumpf rat-
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terten die Räder über das Parkett. Dove schaute ihm zu, wie er seine Riemen löste und sich mit einem einzigen Satz auf einen niedrigen Diwan schwang. Furchtlos ging der schwarze Hemdenmatz zu diesem gigantischen Torso hin und unterzog ihn vergleichender Betrachtung. Der große Krüppel schenkte ihm eine Münze, doch der Junge blieb ohne Lächeln vor ihm stehen. Plötzlich fragte er: »Was ham sie denn mit dir gemacht?« »Ein so teilnahmsvolles Kind«, sagte Mama bewundernd. »Wollt ihr beiden nicht bleiben und euch ein bißchen vergnügen?« »Nachher auf dem Rückweg, denn wir müssen erst unsere Tour zu Ende machen«, log Luke, um ihnen Geld zu sparen. Als sie gingen, hielt ihnen das cowboybestiefelte Anderthalbmetermännchen die Tür auf. »Komm alleine wieder.« Dove war fast sicher, daß der kleine Mann ihm das zugeflüstert hatte; jedoch so leise, daß sie schon an der nächsten Querstraße waren, ehe diese Worte ihn zurückzuziehen begannen. »War sehr gern dageblieben«, sagte er mit einem Seufzer zu Luke, »'n kleiner Jing-Jang hat noch keinem Mann geschadet.« »Ist rausgeschmissenes Geld, mein Sohn«, belehrte Luke ihn wie ein Vater. »Vielleicht bei dir«, berichtigte Dove ihn wie ein Freund. »Zuviel davon, Junge, und du fährst ab.« »Keine Angst, ich nicht«, entgegnete Dove. »Eben das hat mich ja dazu gebracht, von daheim wegzugehen.« Er blieb stehen. »Und jetzt hab ich wieder Lust drauf. Ganz stark.«
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»Wir sehen uns dann zu Hause, Junge«, entließ Luke ihn. »Bring bloß nichts von da mit.« Dove hastete zurück, denn er fürchtete, der mit den Cowboystiefeln könne inzwischen weggegangen sein. Ohne Einführung durch einen Bekannten, glaubte er, würde man ihn nicht wieder einlassen. »Mein Name ist Finnerty«, sagte der kleine Mann zu Dove. »Folge mir.« Und führte Dove hinunter in Richtung Hafen. In halber Höhe der abschüssigen Straße bog er in einen gekachelten Eingang ein, an dem verrostete Türangeln von der Zeit kündeten, da hier einmal Schwingtüren gehangen hatten. Ein Haus ohne Obergeschoß, das sich zum Fluß hinunterneigte. Die Prohibition war zwar schon so gut wie passe, doch jene, die jahrelang von ihr gelebt hatten, konnten nicht von heute auf morgen ihre Gewohnheiten ändern. Jede Flüsterkneipe, die etwas auf sich hielt, hatte ihr Klopfzeichen, ihr Guckloch und ihr Einlaßwort. Die Gäste wollten mehr als durch eine offene Tür gehen; sie wollten einen Geheimkreis erleben, ja wollten zu ihm gehören. Nachdem Finnerty dreimal kurz den Klingelknopf gedrückt hatte, wartete er einen Augenblick und betätigte ihn ein viertes Mal. Dann standen sie beide vor einer schweigenden Tür. »Scheint niemand da zu sein«, vermutete Dove. »Er beobachtet uns jetzt von hinter der Gardine«, sagte Finnerty, ohne zu dem Fenster hinzuschauen, »um zu sehen, ob wir okay sind. Klingeln wir jetzt noch mal, kommen wir nicht rein. Doc läßt sich keine Vorschriften machen.« Schließlich öffnete sich die Tür weit genug, um eine weiße Knollennase erscheinen zu lassen.
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»Losung?« fragte die Nase. »Allzeit Achtung«, antwortete Finnerty und durfte damit an dem alten Mann vorbei. Dove wiederholte es, und schon waren sie beide drinnen. Wo längs den tausend Flaschen der rückwärtigen Theke Old Doc Dockerys hundert Puppen der tollen Twentys gedachten. Brünette, mondan gekleidete City-Dolls und Flachsblondinen mit Dutt aus Windmühlenlanden, rothaarige Irinnen und blauschwarze Zigeunerinnen, ein Cowgirl in Wildleder mit Fransen und ein Broadway-ßaby mit Pelzboa, eine Geisha, deren Augen Viertelmonde waren, und eine andere mit Herrenschnitt, die ganz Babylon durch war, denn in ihren Augen standen Dollarzeichen. Eine mit Nickelaugen und eine mit Knopfaugen wie Wahlplaketten für Cox; eine, die derart schielte, daß man nicht mehr darüber lachen konnte; und eine mit Paradiesvogel. Und eine Lumpen-Anny, mit geflicktem Rock und runzligem Hals; sie direkt in der Mitte, wo die Lichter der Theke einen kleinen Heiligenschein um sie ziehen konnten. Doch ob noch mit Paradiesvogel oder schon in Lumpen, ob auf Hollandmädel, auf irische Maid oder auf Japanerin machend, alle hatten sie am Valentinstag die Schlagzeilen gelesen und mal ein Rendezvous mit Harry Greb gehabt. Manchen hatte das Glück gebracht und manchen Pech, aber alle hatten in den zwanziger Jahren zu leben angefangen und mit deren Ende zu leben aufgehört. Manche, weil ihnen beim Tod von Wallace Reid das Herz gebrochen war. Manche, weil sie eingeschlummert waren beim Warten darauf, daß Dempsey Harry Willis herausfordere. Andere hatten nach dem Abgang von
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Starr Faithful allen Elan verloren. Eine nach der anderen waren sie verblichen, die mit Glück ebenso wie die mit Pech. (Der Lumpen-Anny war es natürlich am dreckigsten gegangen, wie ihre Lumpen verrieten. Und vielleicht war das der Grund, weshalb sie den Ehrenplatz in der Mitte innehatte.) »Sie haben kein Preisschild«, warnte Dockery jeden. »Sie sind nicht käuflich. Und ich genausowenig. Mit Achtung kommst du hier rein, und ohne fliegst du raus.« Niemand durfte um seine Dolls feilschen, niemandes Hand sie betatschen. Allzeit Achtung vor den Toten eines toten Jahrzehnts, hieß die Parole. Der Alte bevorzugte jenen Typ Trinker, der verlangte, daß sein Glas vor jedem Nachschenken ausgespült werde. So wie manche Männer ständig betrunken und manche Frauen ständig verliebt sein wollen, so wollte Doc Dockery ständig sauber sein. Sauber sein und saubermachen. Menschen aber ließen sich nicht saubermachen. Ob der alte Mann in seinem Leben durch bis zum Hals reichenden Schmutz hatte waten müssen, so daß er sich auch noch im Silberhaar davon zu befreien suchte, oder ob sich hinter seinem Reinlichkeitsfanatismus eine psychische Krankheit verbarg, war nicht erkennbar. Wohl aber daß ihm dadurch alle Frauen zu Puppen geworden waren. Nicht nur vor seinen Dolls verlangte er Achtung, sondern auch vor seiner Musik. Das war »Stardust«, »Stormy Weather«, »Bye Bye Blackbird«, »A Good Man Is Hard To Find«, »My Bill«, »Paper Doll«, »Red Sails in the Sunset« und »Tie Me To Your Apron Strings Again«.
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Zu jener windschiefen Spelunke mit diesem schankgenehmigungslosen Geist als Wirt, diesem Flüsterkneipengespenst, das einmal gelebt hatte, aber beim Börsenkrach gestorben war und nun in die dreißiger Jahre hineinspukte, kamen von oben wie von unten her all jene gepilgert, die nicht zugeben mochten, daß das Geld alles verpulvert war, der Traum zu Ende, der Zauber verflogen. Sie trugen noch, was sie vor 1929 getragen hatten, und keiner von ihnen wußte, wann er sich jemals wieder etwas Neues kaufen konnte. Zur Hauptsache waren es Theaterleute, die kein Theater mehr hatten: Naive, Liebhaber, Kulissenschieber, Kartenhändler, Wanderbühnendirektoren, Kleindarsteller und Primadonnen. Jetzt aber, und selbstverständlich nur vorübergehend, hielten sie sich durch Liebesdienst oder Kuppelei, durch Diebstähle oder Trickbetrügereien, durch Zocken, Wetten oder auch bloßes Hausieren über Wasser, und ein paar ehrlich gebliebene waren schlicht Stadtstreicher. Das erste, was Dove sah, als er in diese Höhle kam, war der Amputierte mit dem Löwenhaupt, den sie in dem Bordell zurückgelassen hatten. Über welche Hintergassen er es geschafft hatte, schneller herzukommen als sie, konnte nur wissen, wer auf Kugellagern lebte. Finnerty trank mit dem Rücken zu dem Krüppel und gab Dove zu verstehen, daß dies am klügsten sei. Und so fühlte sich Dove irgendwie erleichtert, als er die Plattform über die Dielen, durch die Tür und hinaus auf die Straße rollen hörte. Um das Gespräch leichter anlaufen zu lassen, steckte Finnerty einen Nickel in die Musikbox, und die begann zu singen: I'm forever blowing bubbles, Pretty bubbles in the air…
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»So, jetzt komme ich zur Sache«, sagte Finnerty zu Dove, als die Platte ausgelaufen war. »Ich brauche die Hilfe eines Jungen, der seinen Mann stehen kann. Du bist doch so bei Kräften, wie du aussiehst?« »Weit mehr noch«, erwiderte Dove bescheiden. »Und immer bereit, mir ehrliches Geld zu verdienen, Mister.« »Du kannst Oliver zu mir sagen.« »Und ich heiß Tex. Nicht richtig, aber weil ich von dort bin.« »Nun also, Tex, wie du dir wohl schon gedacht hast: Ich mache in Frauen. Ein bißchen Erfahrung mit Weibern hast du doch, oder?« »Ich weiß nur soviel: Sollte Gott was geschaffen haben, das noch besser ist als die Frauen, ist mir das noch nicht begegnet.« »Dann lassen deine Kenntnisse über sie aber zu wünschen übrig«, bemerkte Oliver. »Trotzdem – hättest du Lust, mit einer ins Bett zu gehen, die noch nie mit einem Mann geschlafen hat?« »Hör mal, ich bin Südstaatler und würde keinem Mädchen so was antun.« »Gegen deine Südstaatlerehre vergehst du dich dabei nicht«, versicherte Finnerty ihm. »Diese Mieze will ja ins horizontale Gewerbe. Ist schon alles geregelt, bloß daß sie noch zugeritten werden muß.« »Da du in Frauen machst, war das doch deine Aufgabe.« »Begreifst du nicht, daß eben das der Grund ist, weshalb das nicht geht?« Dove schüttelte den Kopf und wurde dann von Finnerty geduldig aufgeklärt: »Täte ich es, könnte sie noch nach einem Jahr ankommen und mich vor Gericht bringen. Da gibt's nämlich das Gesetz gegen sogenannte
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weiße Sklaverei, wonach du, wenn du 'ne Puppe ›zu Zwecken der Unzucht‹, wie es so schön heißt, in einen anderen Bundesstaat bringst, hinter schwedische Gardinen wanderst. Und da genau das mir schon mal passiert ist, möchte ich kein zweites Mal deswegen verknackt werden. Dagegen jemand wie du, den sie nie wiedersieht… Hab keine Angst, daß du Gewalt anwenden mußt, denn das ist gar nicht nötig. Du brauchst sie nicht mal auszuziehen, das macht das gute Kind schon selber.« »Klingt aber wenig nach Jungfrau«, wandte Dove ein. »Sie sagt, sie wäre es noch, und das genügt mir. Worum es geht, ist folgendes: Wenn du mir diese kleine Gefälligkeit erweist, kann sie mit solcher Behauptung später nicht mehr kommen. Kapierst du?« »Bis zu einem gewissen Punkt ja«, antwortete Dove. »Aber ab da bleibt mir die Sache unklar.« »Vielleicht macht der hier sie dir klarer.« Dove nahm die Hände flach auf den Rücken. »Du, ich kann zwar meinen eigenen Namen nicht lesen, und wenn er riesengroß an einer Scheunenwand stehen tat, einen Hundert-Dollar-Schein aber, den erkenn ich allemal. Und diesen hier solltest du besser wieder einstekken.« Finnerty stopfte ihn Dove in die Brusttasche. »Nein, das kann ich nicht annehmen«, wehrte Dove ab, ohne Anstalten zu machen, den Schein zurückzugeben. »Sollst du ja auch nicht, Landboy«, beruhigte ihn Finnerty. »Sondern ihn lediglich für mich rüberbringen auf die andere Straßenseite. Dort die Treppe hinauf und in ein Zimmer, wo diese junge Dame auf dich wartet. Wenn du reinkommst, gibst du ihn ihr, ohne was zu
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sagen. Wie ich ihre Habgier kenne, wird sie ihn in ihren Schuh stecken, und da nimmst du ihn dann raus.« »Wie heißt sie denn?« »Das wird sie dir selber sagen, Landboy.« Sie waren schon am Hinterausgang des Hauses, das sie durch die Vordertür betreten hatten, als Dove stehenblieb und sagte: »Eins aber bitt ich mir aus.« »Und das wäre?« Finnerty war dicht hinter ihm. »Daß du mich nicht Landboy nennst, sondern Tex.« »Okay, Tex.« Finnerty reichte ihm die Hand, um die Abmachung zu besiegeln. Dove schlug ein und schritt durch die Tür, die Oliver ihm weit aufhielt. Ein Mädchen von jener Blässe, wie sie jemand hat, der selten an die frische Luft kommt, starkknochig, aber wenig gepolstert, in roten Shorts und gleichfarbigem schulterfreiem Oberteil. Hinter sich hörte Dove das Türschloß einschnappen. »Wie heißt du?« fragte er. »Floralee«, antwortete sie, »und ich singe wie eine Nachtigall. Aber wie bin ich hierhergeflogen gekommen?« »Das weiß ich doch nicht«, erwiderte Dove. »Bist wohl vom Lande, was? Jedenfalls soll ich dir das hier geben.« Er nahm seinen letzten Zehn-Dollar-Schein und reichte ihn ihr. Wie Finnerty gesagt hatte, war sie habgierig und steckte ihn sofort, ohne erst drauf zuschauen, in den einen ihrer Pumps. Dann knöpfte sie den Bund der Shorts auf. Falls Dove in den Minuten, die folgten, hinter einer Wand murmelndes Gelächter hörte, so lenkte ihn das nicht von den Zahlen ab, die ihm jetzt durch den Kopf schwirrten.
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»Mit zehn Dollar Einsatz hundert verdienen«, summierte er, »bei dieser Quote ist schwerlich Verlust zu machen.« Der Morgen war so feucht, daß das Salz klumpte. Dove erwachte und fühlte sich wie durchgekaut und ausgespien. Sein an einem Wandnagel hängender Seersukker-Anzug sah aus wie aus dem Fluß gefischt. Alles, worauf seine Augen fielen, sah aufgefischt oder ausgespien aus. Er hatte einen mächtigen Brummschädel, preßte die Hände gegen die Stirn und stöhnte: »Beim Trinken sieht die Welt ja wunderschön aus, aber hinterher – o Gott! Wenn sie so bleibt, wird sie wohl nicht mehr lange machen.« Der Finanzberater hingegen pfiff fröhlich vor sich hin, während er sich in einen finanzmäßig aussehenden frischgebügelten Anzug hineinknöpfte. »Mir ist da ein höchst merkwürdiger Gutschein in die Hände gefallen«, verkündete er, sobald Dove die Augen halbwegs aufbekommen hatte, und schwenkte ein grünumrandetes Blatt Papier wie eine Urkunde. »Was glaubst du, was passiert, wenn eine von diesen Frauen den weiten Weg in die Innenstadt latscht, um sich kostenlos ondulieren lassen zu wollen?« »Na, sie wird hübsch frisiert werden, nehm ich an.« »Sicher – wenn sie dreieinhalb Dollar dafür berappt. Was sie aber, wie du sehr gut weißt, nicht tun wird. Hast du diese Dinge, die du verkaufst, auch gelesen?« Zum ersten Mal war Dove froh, daß er sich mit Buchstaben nicht auskannte. Mit einem Bügel seiner Sonnenbrille tippte Fort auf die fatalen Zahlen. »Ich hatte dich gewarnt, dich mit diesem Windbeutel aus Georgia einzulassen«, erinnerte er Dove. »Und jetzt lautet mein Rat: Geh nicht aus dem
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Haus. Kann nämlich sehr gut sein, daß inzwischen Ehemänner die Straßen nach einem Karottenkopf absuchen, der wie vom Lande aussieht.« »Hab doch bloß versucht, mir ehrliches Geld zu verdienen«, brachte Dove vor. »Auch wenn die Tour 'n bißchen krumm gewesen sein mag.« Statt einer Erwiderung heftete Fort seine Augen kurz auf den Spiegel und schien mit dem, was er sah, zufrieden zu sein. Dann ging er forschen Finanzberaterschrittes zur Tür hinaus, ein Mann, der in sechs, wenn nicht schon in fünf Wochen reich sein werde. Dove trat zum Fenster. Von der Straße bis hinauf zum Himmel war die Stadt verhangen. Er sah ihre schreckliche Einsamkeit, spürte ihre furchtbare Hitze. »Belämmerter Tag«, sinnierte er. »Ich glaub, ich verdien kein Nachobenkommen nicht, nachdem ich diesem unschuldigem Mädel vom Lande so mitgespielt hab. Was soll aus dem armen Kind jetzt werden?« Fort erschien wieder im Türrahmen. »War schon an der übernächsten Ecke, ehe ich sie vermißt habe«, erklärte er und griff sich seine blaue Sonnenbrille. »Die Sonne scheint aber nicht sehr«, bemerkte Dove. »Es sieht sogar nach Regen aus.« Fort setzte die Brille auf und verschwand. »Der kann schlecht sehen«, folgerte Dove, als die ersten Tropfen zu trommeln begannen. So getragen wie ein Trauermarsch: Soon one mornin', death come creepin' in the room. Well, soon, one mornin', death come creepin' in the room. »Tät ich Buchstaben können, wär ich jetzt wahrscheinlich schon verheiratet und würd gut dastehen,
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hätte meine Kleider in einer Lorbeerholztruhe und hielte mir während der Baseball-Saison die Zeitung«, träumte Dove beim Anziehen vor sich hin. Seinen Traum, der schon so arg am Zerrinnen war. »Mit 'nem Mädel, das ebenfalls lesen und schreiben kann. Und unsern Kindern würd ich's selber lernen.« Einem Mann, der das Abc beherrschte, dem war alles möglich. Die Gerüche des Kaffee- und Bananenhafens, der Lagerhäuser und der Orangenkais wurden von den Böen eines Regens, der keine Ufer kannte, ins Zimmer hineingeweht. Unter ihnen zogen Bananendampfer hinaus zum Meer und brachten Lastwagen Erdnüsse und Grapefruits in die Stadt. Endlose Frachten gingen ab nach Osten und nach Westen, per Flugzeug, per Schiff, per Personenzug. Auf trockenen wie auf nassen Fernstraßen waren alle Menschen außer ihm auf dem Wege, Kapitän von diesem oder jenem zu werden. Alle außer einem vergessenen Linkhorn, der sich in einem Zimmer festgefahren hatte, das zur Melancholie herausforderte und wo jetzt der blöde Regen so anpochte wie jemandes Großmutter, die noch immer ihren längst verlorenen Erstgeborenen sucht. Und Dove schien, als sei die Sonne nie mehr aufgegangen seit jenem Morgen, da Terasinas Arme sich zum letzten Mal in Liebe hinter seinem Nacken verschränkt und ihre guten Lippen zum letzten Mal die seinen geliebt hatten. »Du warst meine ein und einzigste«, gestand er schließlich, »doch wir sind bloß bis zum B gekommen. Die Zeit jetzt, wo ich nicht mit dir zusammen bin, die ist genauso verlorn wie meine Chance, auch all die andern Buchstaben zu lernen. In meinem ganzen Leben warst du der einzige Mensch, der sich die Mühe gemacht und versucht hat, mich durchs Alphabet zu bringen. Da hält
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ich 'ne Möglichkeit gehabt, ebenso nach oben zu kommen wie andere.« Luke kam herein, mit seinem ulkigen Schritt, der mehr Hüpfen als Gehen war, und mit strahlendem Lächeln. Wie er dann in der Zimmermitte stand, naßgeregnet, angetütert, ohne Kopfbedeckung, Schnürsenkel aufgegangen, Hemd aus dem Bund gerutscht und die Hose bloß halb zu, bot er das Bild eines zufriedenen Menschen. »Zieh dir doch das Jackett aus, Luke«, forderte Dove ihn auf, denn es war ganz durchnäßt. Luke haute sich auf den Schenkel und tat ein paar ausgelassene Tanzschritte. »Man muß alles so sehen, Sohn, wie man es sehen will. Mit der Wirtschaft steht's besser denn je – man muß sich's nur glauben machen!« Und schüttelte sich wie eine Ente. »Du bist ja pitschnaß«, sagte Dove. Luke wurde ernst. »Was ist denn mit dir, Kollege? Die Chancen hämmern uns die Tür ein, und du läßt dir von ein paar Regentropfen die Laune verderben!« »Ich wollt doch nichts weiter sagen, als daß du eingeregnet aussiehst.« »Du hast zuwenig Gesellschaft, Junge, grübelst zuviel vor dich hin. Lächle, Herrgott noch mal, lächle! Ein Lächeln ist der beste Regenschirm.« »Mir ist, als ob ich Fieber krieg«, erklärte Dove. »Hab an früher gedacht, und morgens werd ich sowieso leicht melanklütrig. Noch dazu so ohne Frühstück.« Luke schlug so hart mit der Hand auf den Tisch, daß er beinahe aus der Balance gekippt wäre. »Warum sagst das denn nicht gleich?« Er begann schmutzige Teller hochzuheben und darunter nach etwas zu suchen. »Wo ist mein Scheck? Irgendwo hier habe ich einen kleinen Scheck liegen.«
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»Der muß wohl so klein sein, daß man ihn mit bloßem Auge nicht sieht. Die Hauswirtin war hier, aber einen Scheck hat sie nicht gebracht. Sie wollte die drei Dollar dreißig Wochenmiete holen.« Luke schaute Dove an, ohne ihn zu sehen, während es in seinem Hirn wie in einem Spielautomaten zu rotieren begann. Als habe der Gewinnanzeiger eine unerwartet hohe Summe gemeldet, leuchtete sein Gesicht triumphierend auf. »Uns Geld für eine Bruchbude abzunehmen, wo das Dach so durchregnet, daß einem im Schlaf die ganze Bettwäsche naß wird!« Er sprang auf Forts Bett, stach mit einem Taschenmesser durch die Deckenwand und sprang wieder runter. Dove stürzte mit der Waschschüssel zu dem Bett und konnte den ersten Tropfen gerade noch auffangen. Der zweite straffte einen Augenblick lang seine Muskeln für den todesverachtenden Sprung in die Tiefe, und plumps! klatschte er genau in der Mitte der Schüssel auf. »Man müßte ja bescheuert sein, für ein Zimmer Miete zu zahlen, wo man sich, wenn's draußen feucht ist, die Schwindsucht holt!« Luke klang, als sei er drauf und dran, die Wirtin zu verklagen. »Kannst du mir bis Montag einen halben Dollar pumpen, Rotkopf?« »Hätt ich Geld, tät ich damit Mehl und Fett kaufen, damit wir uns 'ne Stippe machen können«, antwortete Dove. »Ißt du Mehlstippe denn gern?« »Leidenschaftlich. Ob mit oder ohne Klütern. Überhaupt alle Arten Stippe: Weißstippe, Braunstippe, Buntstippe, Schmalzstippe, Speckstippe, Zwiebelstippe – da kann ich nicht genug von kriegen. Hätten wir jetzt Mehl und Fett, würd ich einen Schuß Kaffee mit in die Pfanne tun und …«
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Fröhlich haute Luke ihm auf den Rücken, »Wirf deine Sorgen auf den Müll, Kollege. Schau, was ich hier habe – in sechs Wochen sind wir beide reich!« Er ließ vor Doves Augen etwas pendeln. Es war aus dünnem Gummi und hatte vorn eine rote Feder dran. »Was ist das wohl, Junge?« »Ohne die Feder würd ich sagen, ein unaufgeblasener Luftballon, vielleicht auch ein künstlicher Wurstdarm«, riet Dove und beguckte sich das Ding näher. »So was hab ich noch nie gesehn.« Luke schwenkte es wie eine rote Fahne. »Das ist ein Kondom! Ein Überzieher. Verbindet Genuß mit Verhütung.« Er tippte die Feder an der obszön aussehenden Spitze an, ließ sie lustig wippen und schleuderte die in seiner anderen Hand gehaltenen Gutscheine weg. »Schluß damit, uns für fünfundzwanzig Cent die Finger wundzuklingeln! Das Stück einen Dollar, Kollege – einen ganzen Dollar!« Betrübt schüttelte Dove den Kopf. »Ich tat mich wer weiß wie geniern, bei 'ner Lady zu klingeln und ihr eins von diesen unnatürlich aussehenden Dingern zu zeigen, Luke. Würd glatt im Erdboden versinken, wenn sie weiß, was das ist. Und weiß sie's nicht, wie kann ich es ihr dann verkaufen?« Luke wurde ernst. »Der Vertrieb ist mein Ressort, Rotkopf. Aber in der Produktionsabteilung, da war für dich eine Stelle frei. Fängst bei den einfachen Kondomen an und arbeitest dich dann zu den Luxusmodellen empor.« »Was verdient so ein Einfach-Kondomiker?« fragte Dove mit nur mäßigem Interesse. »Zwanzig Cent fürs Dutzend. Da kommst du auf vier Dollar am Tag, wenn du dir Zeit läßt. Außerdem hast du bei Gross Kost und Logis frei.«
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»Wer ist Gross?« »Gross« – hätte Luke einen Hut besessen, hätte er ihn vor Ehrfurcht gezogen – »Gross ist der Vater vom O-Daddy.« »Den kenn ich genausowenig«, sagte Dove. »Aber vier Dollar pro Tag sind kein schlechter Lohn.« Luke schrieb eine Adresse auf ein Stück Papier, doch dann fiel ihm etwas ein. »Ach so, das nutzt dir ja nichts.« Er zerriß den Zettel, sprach Dove eine Anschrift vor und ließ sie sich von ihm wiederholen. »Präge sie dir ein. Nach dem Weg fragst du am besten einen Polizisten. Aber erwähne gegenüber keinem Menschen in Uniform jemals den Namen Gross. Hast du verstanden, Kollege?« »Ja, hab ich, Luke. Und schönen Dank auch.« »Vergiß nicht: Ein Lächeln ist der beste Regenschirm. Aus dem Tief sind wir raus. Die Wirtschaft läuft so geschmiert wie nie zuvor. Wer Trübsal bläst, ist selber schuld.« Damit ging er und ließ Dove allein. Zum Trübsalblasen oder Lächeln, ganz wie er wollte. »Immer bergab und immer lustig«, dachte Dove, als sich der zu kurz geratenen Schnapsdrossel alberne Hüpfschritte in dem geistlosen Gekicher des Regens verloren. Und er hatte das Gefühl, als werde er diese Schritte nie wieder hören, weder bei solchem noch bei besserem Wetter. Wie Luke zu der Adresse gekommen war, die er ihm an jenem Tag genannt hatte, erfuhr Dove nie. Das Zimmer begann sich mit graugrünem Flußlicht zu füllen. Die reinste Schlaffarbe. Das Aufschlagen der Tropfen in der Schüssel wurde schneller. Den Kopf in den Händen, nickte Dove ein. Um von einem Raum zu träumen, wo lauter Eimer
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zum Auffangen von Regentropfen standen und Männer und Frauen ein Bett umringten, um einem Paar bei der Liebe zuzuschauen. Über dem Kopf des Mädchens erhellte sich die Düsternis ein wenig, so wie verblassende Schamröte, und Dove sah, daß es den einen Zehennagel grün lackiert hatte. Dazu hörte er Forts Stimme aus einer Kirche herausschallen: »Schicket euch! Erwachet! Erwachet!« In einem Gewand, das einmal rot gewesen, jetzt aber zu Rosa ausgeblichen war, kam Terasina auf ihn zu. Sie trug eine dunkle Brille und ertastete sich mit ausgestreckten Armen den Weg. Ein Tropfen platschte in einen Eimer, dann ein zweiter, ein dritter und immer mehr. Sie fallen zu hören machte Dove traurig, denn mit jedem verlor er einen Freund, und er konnte hier nicht weg, ehe nicht auch der letzte gefallen war. »He, Junge! Wo ist mein Pott?« Eine große Hand begann ihn zu rütteln. Unter der Glühbirne stand der reale Fort und schaute auf ihn nieder. »Wer hat die Löcher in die Decke gestoßen?« Dove sah zu der Schüssel hin. Ihr Boden war knapp bedeckt. »Lukes Idee. Er meint, wenn es durchregnet, brauchen wir die Miete nicht zahlen.« »Ganz schön schwachsinnig gedacht von ihm.« »Fort, mir schwant was.« »Und was?« »Daß Luke vorhat, sich aus dem Staub zu machen.« »Ich wüßte nicht, was mich weniger kratzen würde. Meine Miete habe ich heute nachmittag verdient. Habe in dem Regen sechs Dollar gekriegt, und mit ein bißchen Hilfe hätte ich's leicht auf acht gebracht.« »In was für 'ner Branche arbeitest du jetzt, Fort?«
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Fort stand auf und streckte den rechten Arm aus. Dove langte hin, um ihm die Hand zu schütteln, aber Fort ging nicht darauf ein. »Fällt dir denn mein beklagenswerter Zustand nicht auf?« fragte er. Dove betrachtete ihn sorgsam und sagte dann: »Deine Augen, die sehn irgendwie zu aus.« »Na dann führe mich, mein Freund«, bat Fort, ohne ein Lid zu öffnen. »Führe mich.« Gehorsam erhob sich Dove und leitete den großen Mann im Zimmer umher. »Das ist schon alles, was du zu tun hast.« Fort nahm die Brille ab und machte die Augen auf. »War doch kinderleicht, nicht?« »Wir hatten bei uns einen blinden Injaner«, erinnerte sich Dove. »Hieß Riley und trug einen Steckkamm. Aber der ist nie mit geschlossenen Augen rumgelaufen. Brauchte das nicht, denn er hatte keine mehr. Waren ihm ausgestochen worden.« »Indianer haben es nicht nötig, was vorzutäuschen«, erklärte Fort verdrossen. »Wenn du heute in ein Reservat geschickt werden willst, wo du unter Naturschutz gestellt und gepäppelt wirst, brauchst du bloß irgend so'n verdammter Indianer zu sein. Nächstens gibt's noch 'ne Regierungsrente dafür, daß einer Jude ist. Als Weißer aber hilft dir keiner, wenn du arm bist.« Unvermittelt ging Fort vom Klagen zu seinem Finanzberaterton über: »Selbstredend ist diese Sache nur als Überbrückung zu verstehen, bis wir das Startkapital zusammenhaben, um dann ins Ölgeschäft einzusteigen.« »Ins Ölgeschäft?« »Ja. In Cameron County, zwischen Harlingen und Rio Hondo. Einen halben Tag Fußweg von deiner Heimatstadt. Wir brauchen bloß die zwanzig Dollar, die
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der Sinclair-Mann für eine Tankfüllung Benzin verlangt. Er stellt uns aus seinem Speicher Feldbetten und Decken zur Verfügung. Einer von uns bedient die Pumpe, und der andere kauft bei den mexikanischen Farmern ringsum Bodenprodukte auf und verkauft sie an die Geschäfte im Valley. Wovon der Sinclair-Mann aber nichts zu wissen braucht. Hauptsache, es ist immer einer an der Pumpe, wenn er mal kommt. Kannst du auch so gut graben wie Kaffee an Nigger verkaufen, Rotkopf?« Dove rollte die Augen. »Viel besser noch! An Armschmalz, da fehlt's mir nicht. Was soll ich denn graben?« »Gruben für Benzintanks, Kollege! Zu beiden Seiten der Tankstelle. Du die eine und ich die andere.« »Eine Tankstelle, die zur Hälfte mir gehört!« Verträumt erbot sich Dove: »Dafür fang ich noch vorm Morgengrauen zu arbeiten an. Und heb die Gruben alle beide selber aus.« »Darfst du gern, Partner.« »Wann geht's los, Fort?« »Sobald du mich ein paar Tage rumgeführt hast. Und danach ich dann dich.« »Was mach ich, wenn ein Polizist kommt und sieht, daß ich gar nicht blind bin?« »Du hast ja nirgends gesagt, daß du's wärst«, erklärte Fort. »Auf deinem Schild steht lediglich: ›Helft mir.‹« »Irgendwie ist es schon gemein, die so auszubooten.« »Wen – die Polizei?« »Nein, die Injaner.« »Laß dir man der Indianer wegen keine grauen Haare wachsen. Präge dir vielmehr ein, daß die Augen
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eines Blinden nicht auf Licht reagieren, deine aber ja. Eben deshalb mußt du sie geschlossen halten. Wenn du wirklich blind bist, kannst du sie beim Herumlaufen auflassen. Da gucken die Leute dich kurz an und stekken dir einen Dollar zu oder auch zwei. Und obendrein kriegst du vom Staat eine Rente.« »Ich?« »Du doch nicht. Wirklich Blinde.« »Injaner auch. Ich glaub, besser als ein blinder Injaner kann man kaum dran sein. Dieser Bursche bei uns daheim hatte es trotzdem nicht allzu gut. Hat nämlich alle Wochenenden im Kittchen verbracht.« »Ja, ja, wie man hört, sind die scharf auf Feuerwasser«, sagte Fort ungeduldig. »Nein, Riley nicht. Der war auf was andres scharf, und zwar auf seine Sau. Den Weg zu der hat er allein mit dem Geruchssinn gefunden. Kam seine Frau nach Haus und war er nicht da, ist sie raus zum Schweinekoben, hat die Taschenlampe angeknipst, und da waren die beiden dann. Seine Alte wurde mit der Zeit so eifersüchtig auf das Tier, daß sie Riley jeden Freitagabend einlochen ließ.« »Schätze, wenn Riley Montag früh entlassen wurde, ging's in dem Koben dann ganz schön hoch her«, bemerkte Fort. »Die Woche über hat er sie nie belästigt«, berichtete Dove. »Bloß immer wenn seine Alte unpäßlich war. Saß tagaus, tagein in der Dominostube und hat selten verloren. Er erkannte jeden Stein, indem er kurz mit den Fingern drüberstrich.« Fort seufzte. »Vielleicht war es auch so, daß er sie wochentags nicht fand. Denn er konnte ja bloß seiner Nase nachgehn.«
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Fort brachte ihn zum Thema zurück. »Guck auf keinen Fall in der Gegend rum. Sondern bloß starr geradeaus und frage immer wieder: ›Ist hier wer? Ist hier jemand? Wer sind Sie? Ist hier jemand? Wer sind sie?‹« »Ist hier jemand? Wer sind Sie?« »Richtig so. Du machst dich.« »Ist hier jemand? Wer sind Sie?« »Kannst sie jetzt wieder aufklappen. Führe du erst mal mich, bis du mitgekriegt hast, worauf es ankommt. Ein Sonntagmorgen vor einer katholischen Kirche bringt seine zehn bis fünfzehn Dollar.« »Das Loch dort wird bis zum Morgen ganz schön groß sein, wenn der Regen so anhält«, meinte Dove. Und blinzelte hoch zu der Stelle, wo der nächste Tropfen hing, seinen Halt verlor und niederfiel, um sich mit den ewigen Wassern zu vereinen. »Wie würde es dir gefallen, Tex, heute abend im besten Restaurant der Stadt zu essen? An einem weißgedeckten Tisch zu sitzen und einem Ober zu befehlen, was er dir bringen soll?« »Sehr freundlich von dir, aber ich könnt mich ja nicht revanchiern.« »Hör zu, Tex«, beharrte Fort, »wenn du bei mir Blindekuh mitspielst, gebe ich dir jetzt und hier mein Ehrenwort, daß wir an dem Tag, wo wir den Einstand zusammenhaben, die Brille wegschmeißen. Überleg dir das.« Dove überlegte es sich so lange, wie zwei weitere Tropfen brauchten, in die Waschschüssel zu platschen. Dann teilte er das Ergebnis mit: »Ich will zwar in der Welt vorankommen, doch in der Canal Street den Blinden markiern, das scheint mir dazu nicht der richtige Weg. Ja, ich würd lieber verrecken, als daß ich mich
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von jemand rumführn lasse, als wenn ich hilflos war, dabei aber so gut sehen kann wie ein Luchs.« »Die Chance war da«, sagte Fort im Ton eines Grabredners. »Sie entschwindet nun durch diese Tür. Und kehret nimmer wieder.« Dann ging er. Ein Mann, der den ganzen Tag und notfalls auch noch die halbe Nacht nach der richtigen Sorte Schokoladeneis suchen würde. Allein gelassen summierte Dove, was ein einziger Tag ihm an Angeboten gebracht hatte: »Erstens hätt ich eine Stellung als Blindenführer annehmen können, was ich aber abgelehnt hab. Zweitens kann ich als EinfachKondomiker anfangen, mit Aussicht, mich zu den Luxusmodellen emporzuarbeiten. Das hab ich mir offengelassen. So wie mir heut die Chancen winken, müssen die schweren Zeiten vorbei sein.« Er ging zum Fenster, um auf die Stadt zu schauen. In dem Dunst zeichneten sich zwar Lichter ab, jedoch keine Sonne. Er wollte sich schon wieder umdrehen, als er einen kurzen Blick auf eine Sonne erhaschte, wie er sie noch nie gesehen hatte. Sie hielt sich hinter der Ecke einer Regenrinne versteckt, gleich einem Hühnerdieb in der Dämmerung. Dove blieb still stehen – was werde sie, die sich unbeobachtet glaubte, wohl als nächstes tun? Und da stahl sie sich auch schon weiter vor, zeigte sich ein bißchen mehr: eine schleichdiebische Sonne, die dem hellen Tageslicht auswich. Und die für ein paar Dollar alles machen würde. Dove verlangte es nicht zu wissen, was eine solche Sonne im Schilde führte. Er knüpfte sein Bull-DurhamSäckchen auf, und ganz unten – da war er noch, Finnertys großer Schein, säuberlich so zusammengelegt, daß man die »100« lesen konnte, ohne ihn auseinanderfalten zu müssen.
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»Da ich's nu mal gemacht hab, kann ich das Geld dafür auch behalten«, philosophierte er seine Gewissensbisse hinweg. Draußen in einer Vorstadt, schon am Rande des Lake Pontchartrain und weit ab vom grellen Getriebe, stieg Dove in einem Haus, das seine menschliche Zeit lange hinter sich hatte, eine stille Treppe empor. Die lautlose Treppe hinauf zum O-Daddy-Land. Dunkelbleiches, steriles Licht. Ein Schild, auf dem Doves Gefühl nach nichts anderes stehen konnte als »RUHE!«. Denn das Wetter draußen, gleich welcher Jahreszeit, darf sowenig ins O-Daddy-Land hinein wie in den Waschraum eines Operationssaales. Regenwinde, die Kinderstimmen heranwehen, haben nichts bei ODaddies zu suchen. Steig in luftdichter Quarantäne hinauf, geh einen emotionslosen Flur entlang. Bleib stehen vor einer Tür mit weder Klopfer noch Klingel. Bis von unten her ein betäubender Geruch aufströmt. Wie von Gas oder Äther; als würden hier Abtreibungen vorgenommen. Fremder in dem fremdlichtigen Treppenhaus, du bist an eine fremdländische Grenze gekommen. An die Grenze eines Fürstentums, wo allein das Gesetz von Rhino Gross und seinen vielen Launen gilt. Eines totalitären Staates, dessen einzige Industrie die Verarbeitung von Goodrich-Gummi zu phantasievollen Formen ist. Die Entwürfe dazu stammen alle von Gross selber, und an Einfallen mangelt es dem nicht. Geht es hier doch um Geburtenverhinderung, und darin besitzt Gross Erfahrung. (Tief nachts, wenn es totenstill ist, hört der alte Gross es wieder, das leise Kratzen des Schabers an der Gebärmutterwand. Schraaap, schraaap, schraaap.)
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Bei Tage ist der Ex-Arzt, Ex-Abtreiber, Ex-Kurpfuscher, Ex-Ganove, Ex-Mann und Ex-Alles, den Schichten von schwarzverkrustetem Fett wie in einen Panzer hüllen und der sich seinen Spitzbauch hält, damit er nicht auf sein verrostetes Bruchband rutscht, ein an den Rand des Dschungels gekommenes altes Tier mit zwar noch scharfem Gehör, aber schwachen Augen, so daß es beim leisesten Knacken eines Zweiges kehrtmacht und ins schützende Dunkel seines Waldes zurückschlurft. Dann aber einen Moment stehenbleibt, bebend und mit erhobener Nase, um die gefahrenträchtige Luft zu schnüffeln und sich zu fragen, ob es wohl risikolos sei, auf den oder das dort auf der anderen Seite des Zimmers einen kleinen Scheinangriff zu wagen. Dove wurde von dem starken Geruch angeweht, den der Schnüffler am Urwaldrand ausströmte. Er wußte nicht, daß das, was ihm wie verbrannter Gummi in die Nase stieg, tatsächlich verbrannter Gummi war. Wenn man mit Guano arbeitet, riecht man bald aus jeder Pore danach. Gross' Haut war durchsättigt von dem Gestank, den auch sein Geld hatte. (Wer anders als ein seiner Zulassung verlustig gegangener Gynäkologe hätte diese Phantasie in Technicolor schon so lange vor Technicolor ersinnen können, diesen Farbenrausch in Gelbsuchtgelb und Feuerwehrrot, überhaucht von einem Regenbogen so seidig wie Babyflaum? Diesen Fortschritt in Form und Funktion, würdig seines stolzen Namens »O-Daddy – das Präservativ von morgen«?) »Erst mußt du mal das Handwerkliche lernen«, sagte Gross zu Dove. »Wie sonst soll ich sehen können, was du taugst?« Dann entschied er sich, diesem Unbekannten zu zeigen, daß er eigentlich ein Berserker sei. So hob
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er den Rüssel und trompetete mit furchterregender Stimme: »Velma! Velma!« Trippelnde Schritte, und es erschien eine Frau, die verlebt aussah. Sie mochte ebensogut sechzig wie erst fünfunddreißig sein; ganz ausgebrannt war sie jedenfalls noch nicht. Sie trug eine Gummischürze über einem gummifarbenem Kleid und von einer großen rosa Schleife zusammengehaltene Zöpfe, die so wippten, als wären auch ihre Haare schon zu Gummi geworden. Anscheinend sah sie nicht viel besser als Gross, denn sie stand da mit an der einen Hand einem halbausgezogenen Handschuh und in der anderen einer Brille und suchte nach einer Möglichkeit, die von rötlichem Staub bedeckten Gläser zu reinigen. Schließlich bückte sie sich und zog einen Zipfel ihres Unterrocks weit genug hoch, damit er als Brillenwisch dienen konnte. »Schau sich einer die Schleife an!« kreischte Gross mit hämischem Vergnügen. »Velma, das vulkanisierte Weib! Weder Frau noch Mutter!« Sein Ton wurde vor Scham ihretwegen ernst. »Was bist du überhaupt? Glaubst du, eine Schleife macht eine Frau?« Velma setzte die Brille auf und schaute Dove so freundlich durch die Gläser an, als sei Rhinos Spott ein Lob gewesen. »Menschen piesacken, das tut er gern. Heute mich und morgen Sie. Er hat nun mal einen durch und durch fiesen Charakter, ist ein Schuft, wie er im Verbrecheralbum steht. Er würde eher die eigene Mutter bestehlen als mal was Ehrliches versuchen. Womit ich noch stark untertreibe. Wenn Sie sich ansehen wollen, wie wir die Dinger machen, dann kommen Sie mit nach hinten, und ich zeig es Ihnen.« Die Küche, so geräumig, daß sie einst als Sklavenquartier gedient haben mochte, wurde größtenteils von einem halben Dutzend kleiner Gießformen verschiede-
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ner Gestalt eingenommen. Um die Formen herum standen Kannen mit flüssigem Gummi, offene Büchsen Farbe und in Verdünner steckende Pinsel. Über einem großen weißen Herd war eine Leine gezogen, an der O-Daddys wie Würste zum Trocknen hingen. Hier entstanden auch »Amorpfeile« und wurden »Rubbel-Rosys« produziert. »Kitzel-Kessys« gingen nicht mehr so gut, wogegen »Bomber-Boys« stark im Kommen waren. »Mann-O-Manns« warteten auf Fertigstellung, an einem Draht baumelten mit Wäscheklammern festgehaltene »Dingdong-Darlings«, und auf allen lag rötlicher Staub. War der »O-Daddy« doch nicht die einzige Kreation von Hand, Herz und Hirn dieses entehrten Genies, sondern lediglich sein Meisterwerk. Durch die von Gummi, Farbe und Terpentin geschwängerte Luft roch Dove jedoch Besseres als diese Produkte: In dem Backrohr dort brutzelte etwas. Als Velma die Klappe kurz aufmachte, um danach zu schauen, erhaschte er einen Blick auf ein Huhn im Yamsbett. »Was Gross sagt, dürfen Sie nicht tragisch nehmen«, erklärte sie. »Sein Wettern ist nichts weiter als Angst. Obwohl ich nicht weiß, wovor – ist doch niemand weiter hier als ich. Er hat nicht mehr lange zu machen, und da setzt ihm sein Gewissen zu.« »Er kann von mir aus bollern, so viel er will«, beruhigte Dove sie. »Aber Ihre rosa Schleife, M'am, die find ich richtig hübsch.« »Danke für das Kompliment.« Sie schien sich echt geschmeichelt zu fühlen. »So, und jetzt zeig ich Ihnen mal, wie man einen Präser macht, auf den Verlaß ist.« Während sie die Häute mit flüssigem Gummi bemalte, deutete sie mit dem Kopf zur Küchentür, um zu sagen, daß Gross dort lausche, und sprach dann extra
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laut, damit der alte Mann auch alles mitbekam. »Vor Ihnen wird er so tun, als mache ihm lediglich Sorge, daß die Bundespolizei ihn vorladen könne. Tatsächlich aber wird er nicht bloß von Uncle Sam gesucht. Und diese anderen, die hinter ihm her sind, die nehmen ihn gleich mit.« Gross' Kopf kam durch den Türspalt. »Alte Ladendiebin!« verkündete er, als rufe er eine Haltestelle aus. »Selber von allen Instanzen gesucht, ausgenommen vielleicht der Kirche. Hat die eine Hand auf dem Herzen und die andere in deiner Tasche!« Und knallte die Tür zu, ehe sie die Beleidigung zurückgeben konnte. Dove sah, daß Velmas aschblondes Haar noch einen schwachen Schimmer von Kupfer hatte und ihr Gesicht Spuren von angelsächsischer Schönheit zeigte. Sie schien doch noch nicht vollvulkanisiert zu sein. »Jedes kahle Fenster in dieser Stadt erinnert mich an Arkansas«, gestand sie Dove. »So wie ich hier lebe, könnte ich ebensogut im Gefängnis sein.« Sie saß am Fenster und schaute staunend wie ein Unschuldslamm hinaus auf eine Welt von Gaunern und Gangstern. Ihre schon stark grau durchsträhnten Ponyfransen täuschten darüber hinweg, daß es an gängigen Straftaten nur wenige gab, die Velma nicht auf dem Kerbholz hatte, wozu noch etliche kamen, die sie sich selber ausgetüftelt hatte. Sie entstammte einer langen Ahnenreihe von ländlichen Dieben, die in den Bergen die Skrupel verloren hatten. Der letzte Rest der ihren war Velma in der Stadt abhanden gekommen. Eben deswegen aus dem Verkehr gezogen, wurde sie dann zur skrupellosesten Insassin der Besserungsanstalt. Noch keine zwanzig bei ihrer ersten Einweisung dorthin, tat sie sich sehr bald hervor, indem sie zu einer farbigen Aufseherin sagte:
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»Halten Sie mir das mal«, und der Frau dann ein Tafelmesser mit isolierbandumwickelten Heft in den Leib stieß. »Legen Sie ein sauberes Tischtuch auf, damit wir zu Abend essen können«, bat sie Dove. »In der Kommode dort finden Sie eins.« Velma fuhr Spezialitäten des Südens auf: Gumbosuppe, Clobber, Maisbrot, Yams, Reis, Huhn, Zwiebelsoße und Bataten-Pie. Aber Dove hatte noch nie einen Menschen so essen sehen wie Gross. Messer, Gabel und Löffel legte Velma ihm gar nicht mehr hin. Denn er nahm ja doch alles zwischen Daumen und Zeigefinger, und jeden Happen Ei, der ihm runterkleckerte, ließ er geflissentlich auf seiner Hose landen. »Sieht toll lecker aus, das Huhn, M'am«, lobte Dove Velma. Ja, das Huhn lachte einen an, die Yams wirkten delikat, die Zwiebelsoße roch pikant und der Clobber nicht minder. Nur leider war der feine rötliche Staub auch in die Eßwaren eingedrungen, so daß alles auf ein einziges Gericht hinauslief: Gummi. Gross liebte diesen Geschmack. Wer mit Gummi arbeitet, dem kommen sämtliche Speisen, ja sogar die Träume mit einer Gummischicht daher. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden sah Dove aus wie Velma, das vulkanisierte Weib, und roch auch so. Was er zwischen den Zehen hatte, das waren keine toten Ameisen, sondern bloß Frimmel aus der Form für die Fixie-Paxies, die ihm in die Strümpfe geraten waren. Sie gossen den Gummi ein und erhitzten den Leim, säuberten die Formen und bemalten die Häute, klebten die Federn an und hängten die O-Daddys auf, sortierten
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nach erster und zweiter Wahl, verbrannten den Abfall und tüteten die Bestellungen ein. Und gingen nie hinunter zum Tanzen. Velma wies Dove an, ja keinen Liebespfeil auf das Gestell mit den Killekille-Kings zu tun, vor allem aber keinen O-Daddy zwischen die Kubbel-Rosys geraten zu lassen. Hielt sich die Sonne, riskierten sie es, ihre Produkte zum Trocknen auf eine draußen von Fenster zu Fenster gespannte Leine rauszutun; bei Regen oder bedecktem Himmel dagegen beherrschten die nassen Pariser, die regenbogenbunt über den dunklen Flammen des Gasherdes hingen, den ganzen Raum. Abends saßen die drei Outcasts im Düster ihres unheimlichen alten Hauses und hörten das An- und Abschwellen von Stimmen. Am Ende der palmenbestandenen Straße befand sich ein Rummelplatz und ließ Lachen zu ihnen heranklingen. Von einem Ort, wo sich das Leben auf Achterbahnen abspielte, während sie das gummierte Dunkel des O-Daddy-Landes ertrugen wie Geister, die das Licht der Welt noch nicht erblickt hatten. »Mein Sohn« – mit dieser Anrede begann Gross jede seiner abendlichen Lektionen – »mein Sohn, nicht alle O-Daddys hängen auf einer Leine. Einer sitzt hier vor dir in diesem Schaukelstuhl. Würde es dir etwas ausmachen, die Lampe ein wenig runterzuschrauben oder aber mich nicht direkt anzusehen? Ich hab es nicht gern, gemustert zu werden. Dove drehte sich ein Stückchen zur Seite. »Danke. Mein Sohn, du siehst mir aus, als hättest du zwei große Schwächen. Erstens die Weiber und zweitens den Whiskey. Wenn du nicht so als Mann-o-Mann enden willst wie ich, dann höre auf meinen Rat. Dieses Hemd solltest du wegschmeißen. Trage niemals leuch-
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tende Farben, denn darauf fängt sich die Sonne. Am besten ist das dunkle Postbotenblau. Das ganze Geheimnis, nicht als O-Daddy auf einer Wäscheleine zu enden, besteht darin, sich so weit wie möglich das Aussehen eines Postboten zu geben. Und wie der aussieht, wer weiß das schon? Zieht er sich was anderes an, erkennt ihn kaum einer mehr. Besorge dir eine Mütze mit Schirm, der die Augen beschattet. Trage eine Brille, die das Licht spiegelt. Laß dir meinetwegen einen Schnurrbart stehen, aber geh nicht in Kneipen. Wenn du nicht anders kannst und trinken mußt, dann sauf im stillen Kämmerlein. Geselligkeit führt zu Raufereien, und Raufereien führen zu Wutanfällen. Laß dich dazu nie hinreißen, mein Sohn, denn einen Menschen, den sie in Wut erlebt haben, den merken sich die Leute. Mein Äußeres war leider immer so, daß ich nicht erst Krawall schlagen mußte, um aufzufallen. Nach jedem Ding, das ich gedreht habe, wußten sich Zeugen stets so gut an mich zu erinnern, daß es keine fünf Minuten dauerte, bis die Polizei meine Personalbeschreibung einschließlich Kragenweite hatte. Sei auf der Hut, mein Sohn, wenn du die Neigung verspürst, jemandem Vertrauen zu schenken, besonders einer Frau. Da ist es am allergefährlichsten. Denn es führt zu Präsenten, wobei es mit Blumen anfängt. Kurz gesagt: Schenk einer Frau, der du vertraust, niemals Blumen.« »Nur Geduld«, sagte Velma zu Dove, »er kommt schon noch zum springenden Punkt.« »Solange die Welt existiert«, führte der alte Mann seinen Gedankengang fort, »hat noch keine Frau eine Blume bloß als Zeichen der Zuneigung entgegengenommen. Wie freut sie sich über so ein bescheidenes Geschenk: ›Oh, eine Primel – für mich?‹ Denn du leistest
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damit ja die Anzahlung für einen Kaufvertrag; die weiteren Raten haben in Form deines Herzens, deines Verstandes und schließlich deiner Hand zu erfolgen. Dir ist das noch gar nicht klar, ihr dagegen sehr wohl. Nach der Primel bist du ihr eine Schachtel Pralinen schuldig, und was glaubst du, wie lange sie sich mit Blumen und Konfekt zufriedengibt? Wo bleibt das Parfüm? Fortschritte machen, das will die Frau beim Mann. Und welcher Fortschritt ist natürlicher als der von Pralinen zur Armbanduhr? Danach dann wird es dir nur kurze Zeit gelingen, dem Thema Verlobungsringe auszuweichen. Schon dein Schweigen verrät ja, daß du sie gern heiraten möchtest, bloß eben noch nicht den Mut hast, ihr einen Antrag zu machen. Jetzt bist du praktisch schon in der Falle. Bist verpflichtet zu Haus, Auto, Kindern, Dienstmädchen. Du gibst deine Freiheit auf, aber darüber, was sie dir schuldig ist, wird kein Wort verloren. Doch das erübrigt sich, denn sie schenkt dir ja ihren weißen und jungfräulichen Körper. Halte ihr nicht dagegen, daß du ihr deinen rosigen kleinen Körper schenkst, denn das wäre verlorene Liebesmüh – nein, mein Sohn, deine Primel, die kriegst du nicht mehr zurück. Dafür wirst du die Feststellung machen, daß diesen kleinen weißen Körper zu befriedigen eine Arbeit ist wie jede andere auch, nur ohne drei Wochen bezahlten Urlaub. Nimmst du dir den trotzdem, springen deine Freunde für dich ein. Weshalb bezahlt man mir wohl zwei Dollar für einen Präser mit Kitzelwirkung, wenn nicht aus Angst, Hörner aufgesetzt zu bekommen? Cherchez la femme, sagen die Franzosen, was soviel heißt wie: Schauet nach der Frau, die dahintersteckt. Ich aber gehe noch einen Schritt weiter und empfehle: Schauet nach den Keimzellen und guckt euch die mal
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richtig an. Wußtest du, daß unter dem Mikroskop jedes Samenfädchen so aussieht wie sein Erzeuger, wenn der einen in der Krone hat? Genau wie der schwänzelt es umher, ohne bestimmtes Ziel, oder hat vergessen, wo es hin will. Torkelt bloß von Laternenpfahl zu Laternenpfahl, die eine Straße rauf, die andere runter, kann kaum eine Tür von der nächsten unterscheiden und hofft, von jemand reingelassen zu werden, den es kennt. Richtet dabei jedoch nichts an, tut keinem was. Plötzlich macht dann eine Eizelle – die wiederum genau wie ihre Mutter aussieht – eine Tür auf und säuselt: ›Hier rein, Jack!‹ Zieht ihn zu sich hinein und riegelt zu. Geht dir jetzt auf, mein Sohn, wo all unser Unglück seinen Anfang nimmt? Hüte dich vorm Lieben, hüte dich vorm Vertrauen, hüte dich vor jeglichem Schenken. Vor Wein, vor Primeln und vor Leuten, die leicht lachen. Überhaupt: Gehe keine Freundschaften ein. Das bringt nur Unheil. Freunde reiten dich stets tiefer rein als Feinde. Dessen sei eingedenk, wenn du einmal aufgefordert wirst, mit dem Finger auf jemand zu zeigen und zu sagen: ›Der da, das ist derjenige, welcher.‹ Ehe du das tust, mußt du absolut sicher sein. Hast du auch nur den allerleisesten Zweifel, ist es deine heilige Pflicht und Schuldigkeit zu sagen, du seiest nicht hundertprozentig sicher. Ist dir klar, daß du, wenn du einen Menschen durch falsches Identifizieren ins Gefängnis bringst, selber zum Verbrecher wirst und kaum besser bist als ein kaltblütiger Mörder?« »Langsam kommt er zum Kern«, bemerkte Velma. »Herrgott noch mal«, redete er sie nun auch direkt an, »hat ein alter Mann denn kein Recht darauf, im eigenen Bett zu sterben?« Von dem vulkanisierten Weib kam keine Antwort.
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Velmas Stuhl war leer. Sie hatte sich auf Zehenspitzen hinausgeschlichen, um Gross in Angstschweiß zu versetzen. »Wo ist sie hin? Wie lange ist sie schon weg? Warum hast du nichts gesagt?« »Sie wird wohl schlafen gegangen sein, Mister«, meinte Dove und wartete geduldig auf den Rest der Rede, während Gross aufstand, um das Ohr an die Schlafzimmertür zu legen. Überzeugt, daß sie die Grenze noch nicht überschritten habe, kehrte er zu seinem Schaukelstuhl zurück. Hatte an jenem Abend aber nichts mehr zu sagen. (In der Nacht, in ihrer Stille und Dunkelheit, hört der alte Mann wieder das leise Schraaap-Schraaap, und auf einmal merkt er, daß er durch die Gebärmutterwand gekommen ist und daß ihm Blut über die Hände rinnt. Aus der Gebärmutter, die, wenn einmal durchstoßen, so lange blutet, bis kein Blut mehr da ist. O ja, dem alten Gross kommt manches ins Gedächtnis, wenn es tiefe, tote Nacht ist.) Gross' Zusammenleben mit Velma war ein unerträgliches Nie-ganz-sicher-sein. Er hatte diese Frau geheiratet, um sie zu seiner Gefangenen zu machen. Inzwischen hatten sich ihre Rollen vertauscht: Sie war die Schließerin und er der Häftling. Velma hatte nicht nur genug gegen ihn in der Hand, um ihn für den Rest seines Lebens hinter Gitter zu bringen, sondern verfügte auch über Verbindungen im Milieu, und das machte Gross weit mehr Angst als die Polizei. Er wußte, daß sie sich seiner entledigen konnte, ohne sich erst die Mühe zu machen, ihn vor Gericht zu bringen. Sie brauchte bloß wo anzurufen, und am Abend jenes Tages würde er seinen Schaukelstuhl nicht wiedersehen. Dove erkannte, daß er von Gross eigentlich bloß dazu
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engagiert worden war, Besorgungsgänge zu machen, die sonst Velma erledigen müßte. Der alte Mann hatte nur dann Ruhe, wenn sie unter seinen Augen am Arbeiten war. Was immer ihm bevorstehen mochte, er wollte nicht überrumpelt werden. Bestimmte Gänge machte Gross selber, und Velma bereitete sie ihm vor. Jeden Morgen wickelte sie etwas in Geschenkpapier, umschnürte es mit farbigem Band, schob es ihm unter den Arm, und er zog damit los. In weniger als einer Stunde war er wieder da, ohne das Päckchen. Es dauerte einige Tage, bis Dove dahinterkam, daß sich in dem Papier nichts weiter befand als Müll. »Er läßt es irgendwo liegen, in der Straßenbahn oder an einem Zeitungsstand, damit jemand es findet und in dem Glauben, es sei wunder was Wertvolles drin, nach Hause eilt, auswickelt und dann die Bescherung hat. Woran anders kann ein Greis denn noch Spaß haben?« Dove dünkte, irgendwas müsse es da schon noch geben, selbst für einen Greis. Wie sie ihn ausfindig gemacht hatte, hier in der Vorstadt am Lake Pontchartrain, wo das Rauf und Runter einer Achterbahn und die Freudenfeuer am Seeufer den Sommer versüßten, interessierte Gross nicht zu wissen. Aus letzter, verzweifelter Hoffnung heraus, daß sie ihn nicht verraten werde, wenn sie seine rechtmäßige Frau sei, war er mit ihr die Ehe eingegangen. Velma hatte sich ihr Leben lang ein eigenes Heim gewünscht. Sie wußte etwas Gutes zu erkennen, wenn sie es sah. Die Heirat war lediglich Gross' Anzahlung gewesen. Jetzt hatte Velma gesetzlichen Anspruch auf alles, was er besaß, und brauchte nicht mit ihm zu streiten, sondern bloß ein bißchen Nachsicht mit ihm zu haben. Am schwersten fiel ihr das bei seinen Eßmanieren.
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»Ich schwöre, ich habe vorher nie einen Menschen gesehen, der Austern-Crackers in Kaffee tunkt«, bemerkte sie über den Tisch zu Dove. Doch Gross stippte in aller Ruhe weiter ein. Seine ganze Hemdfront war mit von seinen Fingern getropftem Kaffee bekleckert. »In deinem Arkansas hast du wahrscheinlich auch nie Austern-Crackers gesehen«, sagte er. Und um sie ein bißchen zu ärgern, kippte er den Kaffee in die Untertasse, wobei das meiste auf das Tischtuch schwappte. »Was war das noch gleich, weswegen man dich aus Arkansas rausgejagt hat? Ich vergeß es immer wieder.« »Wichtig ist nicht, wen sie mal rausgejagt haben«, korrigierte Velma ihn, »sondern wen sie gar nicht erst reinlassen würden. Ich schwöre, ich habe vorher nie einen Menschen gesehen, der …« »Wenn du stänkern willst«, fiel Gross ihr ins Wort, »dann tu's mit meinem Arsch. Mein Kopf ist gegen Sticheleien immun.« Sie ging zurück zum Spülstein und machte den Abwasch fertig, und Dove, der abtrocknete, sah, daß sie sich verstohlen die Augen betupfte. »Ich muß so viele Beleidigungen ertragen, daß ich diesen Pavian verlassen werde«, sagte sie laut, damit Gross die Warnung auch ja hörte. »So was hält kein Mensch auf die Dauer aus.« Dove tätschelte ihr den Rücken. »Er meint es nicht so, M'am. Das ist bloß seine Art, Zuneigung zu zeigen.« Von solcher Zuneigung wollte Velma nichts wissen. »Wo ich her bin, da würde man diesen Kerl lynchen, zumindest aber teeren und federn.« »Schau her!« befahl der alte Mann frohlockend von der anderen Seite der Küche. »Schau her! Jetzt schlürfe ich's aus!«
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Velma war zwar eine Kreuzung zwischen Viehbremse und Kampfstier, aber gleich vielen gewalttätigen Naturen wahrte sie gewöhnlich Gelassenheit. Wobei sie mit nicht unlieblicher Stimme sang: It all seemed wrong somehow That you're nobody's baby now. Und gelassen weitermachte mit dem Gießen und Bemalen, dem Trocknen, Sortieren, Eintüten und Zählen. Dem Zählen der Kondome wie der Tage, bis der Alte abkratze. Dove hatte das Gefühl, Velma sähe ihn lieber im Bett als eines gewaltsamen Todes sterben. Die Ruhe, die das Wissen darum ihm geben würde, wollte sie ihm nicht schenken. Vielleicht befürchtete sie, wenn sie ihm Entspannung gewähre, würde er womöglich ewig weiterleben. Schließlich hatte sie es schwer genug mit ihm und lagen vor ihr selber auch nicht mehr allzu viele Jahre. Mitleid konnte sie sich nicht mehr leisten. So stand der alte Mann nachts immer wieder mal auf und schlich in seinem Nachthemd umher, um sein Geld anderswo zu verstecken. Zum Beispiel schraubte er eine Bettpfostenkugel auseinander, steckte ein paar Zwanziger hinein und vergaß dann das Zuschrauben. Gross hatte nicht weniger Verstecke als ein Eichhörnchen im Oktober, und eines seiner liebsten war der altmodische Wasserkasten über dem Klosett. Er steckte eine Rolle Banknoten in ein Präservativ, schnürte dieses fest zu und band es an den Schwimmer. Hörte er dann die Spülung rauschen und kam Velma aus dem WC, hastete er hinein und kletterte auf die Brille, um nachzusehen, ob sie das Versteck herausgefunden habe. Womit er sich vollends verriet. Sie war ihm ohnehin so hinter alles gekommen, daß sie es nicht nötig hatte, ihm nach-
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zuspionieren. Brauchte sie Geld, stahl sie ihm einfach welches aus der Jackentasche. War die leer, ging sie zu seinem Bücherbord und blätterte ein paar Bände durch, bis ein oder mehrere Scheine herausflatterten. Auf eine Bank konnte Gross sein Geld nicht bringen, denn damit würde er ja seinen Aufenthaltsort preisgeben. Ob bei Regen, wenn die kupferne Mittagsglut die Häute schnell trocknete, oder bei Regen, wenn Frühlingsgüsse die Gullys überlaufen und farbige Wäscheklammern die nassen Pariser in bunter Reihe über den dunklen Flammen des Gasherdes baumeln ließen – sie gossen den Gummi ein und erhitzten den Leim, säuberten die Formen und bemalten und beklebten die Rohprodukte. Und gingen nie hinunter zum Tanzen. »Nähert man sich den Sechzig«, klagte Gross, »möchte man sich manchmal am liebsten ein Taxi zum Friedhof nehmen und an seinem Grabstein auf seinen Schöpfer warten. Hat man aus den ganzen sechzig Jahren jedoch keine einzige Stunde echter Zufriedenheit herausgeholt, will man nicht den Löffel wegwerfen, ehe das nicht doch noch erlebt zu haben. Als Lohn für all das Leiden.« »Hättest du dich an das Wort des Herrn gehalten«, erinnerte Velma ihn, »und auch mal gegeben, wäre wahrscheinlich auch dir gegeben worden. Wenn du dich änderst, wird dir das vielleicht noch zuteil.« »Käme dieser Rat von jemand anders, würde ich ihn unter Umständen sogar befolgen« sagte Gross. »Aber von dir ist er der reinste Hohn. Wie soll ich mich auf meine alten Tage denn noch ändern? Mein Leben ist nicht so gelaufen, daß ich mir Geben erlauben konnte. Mich hat nur Nehmen gerettet.« »Und es mußte immer gleich alles sein«, bemerkte
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Velnia. »Mit weniger wärst du auch nicht untergegangen.« »Ja, ich habe genommen, was ging«, gab Gross zu. »Und jetzt machst du es doch genauso. Ich habe dir den kleinen Finger gereicht, und du nimmst die ganze Hand.« Eines Nachts wachte Dove auf, weil er den alten Mann brüllen hörte: »Alte Ladendiebin! Kann das Klauen einfach nicht lassen!« Gross stand im Nachthemd an der Klotür und hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Füllung. »Hilf mir, Junge! Wir haben sie auf frischer Tat ertappt!« Zwischen seinen lauten Worten rauschte die Spülung wie ein Wasserfall und lief immer wieder neu an, schien überhaupt nicht aufhören zu wollen. Unten am Türspalt war Licht zu sehen. Es hörte sich an, als könnte Velma drinnen ertrinken. Doch als sie die Tür aufstießen, war das Klo leer. Wie Velma das angestellt hatte, daß sich die Apparatur von selber in Gang setzte, blieb Dove ein Rätsel. Denn sie lag die ganze Zeit Schlaf vortäuschend in ihrem jungfräulich weißen Bett mit davor ihren Hausschlappen und ihren ordentlich über einen Stuhl gehängten Baumwollstrümpfen. Dove brachte erst die Spülung zur Ruhe und dann den alten Mann. Als er ihn in friedlosen Schlaf zurückfallen hörte, stand er auf und zog sich an. Er hatte genug von Gummi. Leise trat er an Gross' Bettende, wartete, bis er sicher sein durfte, und schraubte dann vorsichtig die eine Bettpfostenkugel auseinander. Er hatte das Oberteil bereits in der Hand, als er Velmas Stimme so dicht hinter sich hörte, daß er erstarrte.
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»Da ist nichts mehr drin«, sagte sie. »Schauen Sie unterm Korridorläufer nach.« Unter dem Läufer zog er einen plattgedrückten Pakken Scheine hervor, und eine Minute später verlor er sich in den Schatten der hohen Palmen auf der Straße. Und wenn er später an jene fremdlichtige Treppe und die gummierten Nächte und Tage zurückdachte, die er dort verbracht hatte, kam ihm das vor wie ein von jemand anders geträumter Traum. Aus Neugier ging er einmal wieder hin, konnte aber das Haus nicht mehr finden. Und begann sich zu fragen, ob es ihn wirklich jemals gegeben habe, jenen Ort, wo an einer Drahtschnur über schwach brennenden Gasflammen O-Daddys hingen. Und auf allem rötlicher Staub lag. Dies war keine Stadt für Alte oder Alternde. Dazu wurde hier zuviel Liebe angeboten. Hinter den Vorhängen und Türen, auf den Plätzen und Straßen. Am meisten aber in dem Viertel westlich von der Southern Railway Station. Wo jedes Fenster einen flügelbestutzten Liebesvogel umrahmte. Wo jede Fliegendrahttür als Einlaß in eine Voliere diente. Storyville war jetzt ein einziges Vogelbauer. »Komm nur rein, Daddy, wir beißen nicht«, luden sie jeden Flaneur ein, der sie bloß anschaute, und ging er weiter, taten sie, als stritten sie sich um ihn: »Der gehört mir!« Von Farmen und aus Mietskasernen, aus Hotels und Häfen waren Mädchen und Frauen hunderterlei Gefieders angeflogen gekommen, um auf beiden Seiten der unteren Basin Street zu nisten. Flaumzarte Küken, gerade erst von der Glucke weg, und Hupfdohlen mit schon angerupftem Federschmuck. Lautstarke, streit-
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lustige Nebelkrähen und tirilierende Sommerlerchen, die ein Winterquartier suchten. Abends schauten sie von ihren Fenstern hinaus auf den Strich. Wie Seevögel auf ein sonnenloses, sich im Dunkel verlierendes Meer. »Daddy, wenn du mich nicht nimmst, werf ich mich vor die Hunde!« – »Daddy, komm rein, und wir machen es uns vergnüglich.« Doch es war nicht vergnüglich für eine nördlichen Komfort gewohnte Frau, in der Perdido Street zu erwachen, bei in der Nacht niedergebrannter Petroleumlampe, und sich ausgelaugt zu fühlen, eingesperrt in ein Hundeloch von Zimmer, dessen Fußboden aussah, als würden die Freier demnächst durch die Dielen heraufkommen. Die in Trauben an den Sprungfedern klebenden Wanzen, die angeplatzte Emailleschüssel, die altmodische Kommode, die schmutzige Portiere, die als Tür diente, die Stimmen draußen auf dem Gang, die Moskitos, die hinaus wollten, alle waren sich einig: »Kind, du bist gehabt worden. Bist gehabt worden.« Und summten das die ganze Nacht lang. Bist gehabt worden. Hast dich verkauft, dich viertelstundenweise vermietet. Da greifst du dann zu allem, Hauptsache, es vertreibt den Melancholischen, der sich in Storyville so leicht einstellt. Kokain, Whiskey. Sich in den Seitengassen prügeln. Auf den Fußboden fallen. Alles geben, ohne etwas zu verlieren zu haben. Männer und Gin, die ganze Nacht durch. Einen draufmachen und sich ganz verausgaben. »Daddy, spendier mir noch einen, dann erlaube ich dir alles.« Das war, was man in der alten Perdido Street unter Vergnügen verstand. Wer würde da nicht den Melancholischen kriegen? Mädchen aus Großstädten kam dieses Leben in den Bordellen härter an als die vom Lande. Die brachten ein
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dickeres Fell mit. Am wenigsten aber focht es die aus kleinen Kohlen- und Fabrikstädten an; denen machten schwere Zeiten nichts – sie kannten ja keine leichteren. Angst vor Polizei und Gefängnis hatten sie nicht und vor Ansteckung offenbar ebensowenig. Die Kohle hatte ihre Herzen zu Anthrazit werden lassen. Jedesmal wenn in West Virginia, Alabama, Kentucky, Pennsylvania oder im südlichen Illinois eine Grube oder Baumwollspinnerei stillgelegt wurde, fiel ein neuer Schwarm Mädchen in New Orleans ein und begann zum Einführungspreis von einem Poor Boy Sandwich und einer Flasche Dr. Pepper's zu kobern. Sie hatten nicht viel Fleisch auf den Rippen, dafür aber Kraft in den Knochen. Wenn sie handgemein wurden, suchten sie nicht, einander an den Haaren zu ziehen oder die Augen zu zerkratzen, sondern zielten auf Kinn oder Bauch, und zwar mit den Fäusten. Sie boxten wie Männer. Und nicht nur beim Kämpfen, auch beim Keifen und Trinken hatten sie mehr Stehvermögen als die Land- und Großstadtmädchen. Von ihrem Liegevermögen ganz zu schweigen. »Gib dein Geld doch uns, du selber bist ja viel zu besoffen«, verspotteten sie mit vom gestrigen Gin noch unsicherer Zunge die stocknüchternen hornbebrillten Jüngelchen von der Loyola University und der Tulane. Grünschnäbel, die an soziologischen Dissertationen arbeiteten und gehört hatten, in der Perdido Street gehe es hoch her. »Professor, sag mal, wozu bist du eigentlich hergekommen? Was, bloß zum Gucken? Kinder, der Brillenschlangerich will nichts weiter als glotzen! Na dann laß dir mal schön die Augen übergehen, Professor!« Das Hohngelächter der Frauen verfolgte den Sehmann die Perdido hinunter bis hinein in die gewundenen Ave-
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nuen all seiner Voyeursträume. Straßen, durch die er als letzter Junggeselle der Welt schlenderte und dabei die Fensternutten kichern hörte. Starren taten in diesen Träumen immer nur die Frauen. Ein hartes Brot in harter Zeit, bei dem weiche Mädchen hart und harte Mädchen weich wurden. Die mit viel Erfahrung boten sich an mit: »Daddy, sag nur frei heraus, was du willst, ich pfeife auf dem letzten Loch.« Denn manchmal kamen Männer, die eine suchten, die sie in den Abgrund stürzen oder aber vor dem Abgrund retten konnten. Was beides auf dasselbe hinauslief. Von mir aus spiel Jesus oder auch Satan, aber zahl deinen Dollar. Für zwei kannst du beide spielen. Dem Löwen, der am lautesten brüllt, wenn das Schaf blökt, wurde in der Perdido Street jede Menge Verlustigung geboten. Das säuselnde Flüstern aus dem engen Dunkel galt Kunden mit Sonderwünschen. Junge Dinger unter zwanzig, keß oder unterwürfig. Noch frei streunend oder schon an die Kette gelegt, ohne Glück oder ohne Moral. Die Brünetten und die Blonden aus allen Landesteilen, die in Minneapolis oder Seattle, in Kennebunkport oder San Francisco längst im sicheren Hafen der Ehe gelandet wären, hätte die Nationalökonomie der alten Garde mehr auf Haushalten als auf Coca-Cola-Liebe gedrungen. Minnesota-Mädchen mit Haar so voll und schwer wie reifer Weizen; auf solchem Haar lag noch immer ein Schimmer nördlicher Sonne. In den Augen der Mädchen aus San Francisco wogten große Meeresnebel langsam und lautlos dem Ufer zu. Hinter den Augen derer aus Oregon regnete es wieder mal in Portland. Irgendwie schien es hinter den Augen von Oregon-Mädchen immer zu regnen. Mädchen mit dem Tonfall des Westens und solche mit
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dem der Mittelstaaten. Die ihre Haare offen trugen wie Ann Q. Nillson oder geflochten á la Ann Harding. Ob Herrenschnitt, Stirnpony oder schulterlange Mähne, ob rosiger Teint oder vornehme Blässe, sie frisierten sich genauso trickreich wie anständige Mädchen auch. Krank oder kindisch, geprügelt oder gestrauchelt, frischgefallenes Blatt oder schon angewelkt, das käufliche Mädchen in Storyville schwatzte genauso fröhlich über Ehemänner und Ehefrauen, Waschtage und Hauswirte, verpaßte und verbliebene Chancen wie anständige Mädchen auch. Und wahrte Andenken an glückliche Stunden auf, Haarlocken und Alben, Briefe und Ringe, genauso wie anständige Mädchen auch. War sie mit einem Zuhälter verheiratet und saß der gerade, wurde sie von denen mit bürgerlichen Männern ein bißchen beneidet – aber ist das bei anständigen Mädchen nicht oft ebenso? Sie pumpte einen Liebhaber an, um das Geld dann einem anderen zu geben, betrog jene, die ihr geholfen hatten, damit sie einem Fremden einen unentgeltlichen Gefallen erweisen konnte, ließ sich von einem Luden zu Sachen zwingen, die kein Tier tun würde, und hielt währenddessen einen leichtgläubigen Verehrer damit hin, daß sie erst dann bereit wäre, mit einem Mann ins Bett zu gehen, wenn sie seine rechtmäßige Ehefrau sei, und sollte er ihr die Sterne vom Himmel holen. War das nicht genau das, was auch anständige Mädchen hin und wieder taten? Anständige und käufliche Mädchen benahmen sich in jenem heiteren Sommer 1931 so gleich, daß sich mancher Yankee hinters Licht führen ließ. Einem Südstaatler etwas vorzumachen war dagegen schwerer. Sah der hinter einer Fenstertür eine sitzen, die bis zum Nabel nackt war und die Brüste hochhob,
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kam ihm bereits eine gewisse Ahnung. Machte sie dann noch die Beine breit und vollführte mit dem Unterkörper stoßende Bewegungen, dämmerte ihm, daß es hier nicht umsonst war. Öffnete das Mädchen die Tür und sagte: »Komm nur rein, ich beiße nicht«, folgte er der Aufforderung natürlich, rein aus Höflichkeit. Doch ihm war klar: Die wollte bloß sein Geld. Nein, einen Südstaatler zu täuschen war nicht leicht, egal in welchem Sommer. Wenn sich der weiße Regen im Rotlicht verfärbte und die Türen der Perdido Street weit offenstanden. Wo hier und da, zwischen Tanzsaal und Flüsterkneipe, eine neue Nachtstelze stumm umherstrich, da sie sich noch schämte und es nicht fertigbrachte, jemanden anzusprechen, obwohl sie den ganzen Tag lang nichts zu essen gehabt hatte. (Wo diese schweigenden Mädchen herkamen, wußte niemand. Und ebensowenig ob ihre nach innen gerichteten Augen ein zerwühltes Bett mit Blutflecken oder eine nagelneue Registrierkasse sahen. Ob sie sich, wie sie da so standen, von Reue zerfleischt fühlten oder bloß kaltblütig zählten: Ein Dollar, zwei Dollar, drei und vier. Habe ich acht beisammen, kaufe ich mir ein Kleid in Tropenrosa. Und bei zweiundzwanzig auch rosa Pumps.) Vögel gewöhnlichster wie ausgefallenster Art, piepsig flötend oder zotig zwitschernd – ein Zoo neuen Typs, in dem sich die Tiere ihr Futter selber verdienten. Manche waren einfältig, manche überkandidelt und manche tätowiert. Manche machten Vorführungen vor Publikum, direkt oder hinter Gucklöchern. Manche hatten Walkürenfiguren, und eine war eine Zwergin, die die Prinzessin genannt wurde. Für diesen überbesetzten Tierpark gab es gar nicht genug Wärter. Zuhälter, die nie mehr als zwei Frauen
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arbeiten gehabt hatten, fanden für mehr keine Koberfenster. Immer bettelten fünf, sechs gleichzeitig darum, hinter die Scheibe oder an die Tür zu dürfen; sie wetteiferten, Daddys Spitzen-Girl zu sein. So gefragt ein Daddy auch war, auf Ordnung halten mußte er trotzdem. Oliver Finnerty, ehemals Jockeylehrling und jetzt Besitzer von sechs Gucklöchern im ersten Stock vom Spider-Boy Court, hatte einmal eine neunzigtägige Gefängnisstrafe antreten müssen und für diese Zeit einem Freund aus dem Milieu ein Mädchen anvertraut. In diese Mieze war von ihm viel Zeit und Überlegung investiert worden, denn er hatte früh erkannt, daß sie einiges versprach. »Baby, du bleibst bei diesem Mann«, hatte er sie angewiesen, »und wenn er sagt: ›Geh anschaffen‹ dann gehst du schön anschaffen, verstanden?« Und den Hilfsluden instruiert: »Schlag sie nicht so, daß Striemen zurückbleiben, sonst nutzt sie das als Vorwand, die Arbeit zu verweigern. Also macht's gut, ihr beiden, und Gott mit euch.« Als er nach Absitzen seiner neunzig Tage zurückkam, um sich sein Eigentum wiederzuholen, fand er die Mieze in einem langen schwarzen Kleid und mit Pincenez vor, und sein Vertreter arbeitete beim Straßenbau, wo er Gräben aushob. Da schien etwas schiefgelaufen zu sein. Es kostete Finnerty den ganzen Tag, sie zu bereden, wieder ihren Bordellfummel anzuziehen, und als der Freund dann von der Arbeit heimkam, mit schwarzem Essensträger unterm Arm, war Finnertys Geduld erschöpft. »Schau dir an, was du aus ihr gemacht hast«, schimpfte er mit dem der Zuhälterei abtrünnig gewordenen Freund. »Hast ein nettes und hübsches Mädel total versaut. Meine ganze Erziehungsarbeit ist jetzt
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für die Katz.« Dann zog er die Puppe an den Haaren hoch und begann sie zu backpfeifen, rechts links, ohne Erregung oder gar Zorn, rechts, links, ruhig und routiniert, rechts, links, immer weiter, so selbstsicher wie jemand, der weiß, daß er für eine bestimmte Arbeit der richtige Mann ist. Und wie es sich für eine gute Hure geziemt, nahm sie die Bestrafung widerstandslos hin; sie sah ein, daß sie sie verdient hatte. Und daß ihr hinterher wahrscheinlich voll verziehen würde. Der Fahnenflüchtige dagegen durfte nicht auf Pardon hoffen – wenn so etwas passierte, lag die Schuld nie bei dem Mädchen. Er konnte jetzt bloß stumm und bedrippt dasitzen, denn er wußte, er würde nie mehr im Kreise honoriger Luden zechen dürfen. Zum Trinken ständen ihm künftig bloß trostlose Proletarierkneipen offen, wo um Centbeträge Domino gespielt und jeder beneidet wurde, der auch samstags arbeiten ging. Ach, gäbe Oliver ihm doch noch einmal eine Chance! Der aber war nicht bereit, von seinen Prinzipien abzuweichen. Als er mit dem Backpfeifen fertig war, das Pincenez zerbrochen auf der Erde und das lange schwarze Kleid im Mülleimer lag, wandte er sich seinem Ex-Kollegen zu und machte ihm kurz und bündig den Garaus: »Du! Nimm deinen Henkelmann und steig wieder in deinen Graben!« Entehrt, ausgestoßen, eine Schande für den ganzen Berufsstand, trottete der Versager mit gesenktem Kopf und ohne Abschiedsworte hinaus auf eine Straße, die einst andere Henkelmänner gebaut hatten. Und ward in der ehrbaren Zunft der Zuhälter nie wieder gesehen. Finnerty, der so ausschaute wie einer jener kleinen Wüstenfüchse mit Ohren halb so lang wie ihr Körper,
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gab seine Größe mit einszweiundfünfzig an, mußte zur Bestätigung aber seine Cowboystiefel anhaben. »Meine Zahnlose macht mir wieder mal Kummer«, beklagte er sich über das Mädchen, das am längsten bei ihm war, die Blondine aus Chicago mit dem Vollmondgesicht. »Gewiß, sie ist treu wie Gold, aber das mit ihrem Gebiß habe ich langsam satt. Sie muß ja fast jeden Monat ein neues Waffeleisen haben. Die Hälfte der Zahnklempner in der Stadt lebt nur von mir.« »Würdest du ihr weniger oft eins aufs Maul geben, brauchtest du auch weniger Dentisten zu unterhalten«, bemerkte die Mulattin, die einst Lucille geheißen hatte. Oliver besaß fünf Frauen, ein einmotoriges Flugzeug und eine gefangene Maus. Er behauptete, im ganzen Süden der erste Zuhälter zu sein, der seine Ware auf dem Luftwege liefere. Was jede einzelne der fünf mächtig stolz auf ihren Anderthalbmeter-Daddy machte. Er lud sie alle in die kleine Maschine, setzte die eine am Rande von Baton Rouge ab, zwei in der Nähe von Hammond (wo damals noch eine Rennbahn in Betrieb war) und flog dann die beiden anderen nach Gulfport. Den Frauen gegenüber gab er vor, er tue das des Zeitgewinnes wegen, Kollegen aber gestand er ein, daß er sich vielmehr ersparen wolle, das endlose Geschnatter anhören zu müssen. »Schon allein ein Weib einen ganzen halben Tag zu ertragen halte ich nicht aus, geschweige denn fünf von der Sorte.« Als Pilot hatte er dieselbe Schwäche wie schon seinerzeit als Jockey. Er rauschte sich immer so mit PanamaPot an, daß das seine Entscheidungskraft lahmte. Auf einem Pferd hatte er nie gewußt, ob er die Peitsche geben oder die Zügel anziehen sollte, und manchmal beides gleichzeitig getan. In einem Flugzeug, mit fünf dummen Gänsen an Bord, die genauso angedröhnt waren
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wie er und ihm alle durcheinander Anweisungen zuriefen, konnte er sich nie entscheiden, ob er auf einer Chaussee oder auf einer Wiese landen sollte. Der Straßenbelag ging stark über die Reifen, aber das Risiko, auf der unebenen Grasfläche eine Bruchlandung zu machen, war sogar noch größer. Sobald die Frauen sahen, daß Daddy in der Klemme war, kämpften sie darum, die erste zu sein, die ihm heraushalf. Die eine entschied sich, bloß damit es nach ihr gehe, für die Chaussee und grabschte nach dem Steuerknüppel. Doch eine andere, die sparsamer veranlagt war und hinterher sagen wollte, sie habe ihn davor bewahrt, einen neuen Satz Reifen kaufen zu müssen, kreischte ihm ins Ohr: »Auf die Wiese! Auf die Wiese!« In der allerletzten Sekunde brüllte er: »Ich kann's nicht jeder von euch recht machen!«, warf beide Fäuste vor, setzte auf und brachte die Maschine kreischend und taumelnd zum Stehen. Aber ob auf Split oder auf Gras, die Frauen fanden es einfach herrlich; kein anderer Zuhälter der Welt konnte etwas so Aufregendes bieten. Kein Wunder, daß ein Mädchen unter den Frauen der Perdido Street echtes Ansehen genoß, wenn von ihr gesagt wurde: »Die steht bei Finnerty im Stall.« Bei der Maus handelte es sich um ein mit knapper Not Hallies Tigerkatze entkommenes Opfer. Die Katze, Hinterlassenschaft einer Frau, die nichts mehr mit Finnerty hatte zu tun haben wollen, lief schon so lange auf nur drei Beinen, daß sie nicht mehr töten, sondern bloß noch verkrüppeln konnte. Nachdem der Maus das passiert war, hatte sie sich in eine Ecke hinter der Musikbox geschleppt. Finnerty hatte sie hervorgeangelt und ihr in einer Schachtel mit Cellophanfenster, in der einmal Gesichtspuder gewesen war, ein Heim gegeben. Wenn er ein neues Mädchen einweisen oder ein altes,
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das aufmüpfig wurde, wieder auf Vordermann bringen mußte, zeigte er ihm die Maus. Während sie beide zuschauten, wie das Tier trotz all seiner Schmerzen zu entkommen suchte und das kaputte Hinterteil nachzog, blieb Finnertys Miene unbeweglich, und er sprach kein Wort. Gerade als es so schien, als habe die Maus endlich den Weg in die Freiheit geschafft, ließ er sie in ihre Schachtel zurückplumpsen, sagte zu dem Mädchen: »Wenn du so viel Verstand hast wie diese Maus, kommen wir beide reibungsloser miteinander aus, Baby«, und klappte den Deckel wieder zu. Eine Warnung, daß Baby besser daran tue, seinem Daddylein zu spuren, damit er sich nicht gezwungen sehe, seine Handschuhe anzuziehen. »Daddylein«, jammerte einmal seine Chicagoer Blondine, »bring mich in die Klinik, bei mir muß wieder mal was rausgenommen werden«, und lehnte den Kopf auf seine Hände. »Dich jeden Monat zweimal operieren zu lassen, das kann ich mir nicht leisten«, erklärte ihr Finnerty. »Bist hinterher ja immer tagelang arbeitsunfähig. Beim nächsten Mal laß ich dir gleich alles rausnehmen. Alles – hörst du? Dieses endlose Rumschnippeln an deinen Eingeweiden, immer bloß ein Stückchen hiervon oder davon weg, das stinkt mir.« »Aber Daddylein, wieso denn gleich alles?« fragte sie. »Wenn dir deine Prostata ein bißchen zu schaffen macht und du damit zum Arzt gehst, willst du doch auch nicht, daß der dich gleich kastriert, oder? Auch eine Frau hat was, das sie nicht gern verlieren möchte, Daddylein.« »Quatsch«, beendete Finnerty die Diskussion. »Ihr kommt auch ohne das Gekröse in euch aus.« »Das ist keine Art, so mit einem Mädel zu reden, nicht
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mal für einen Luden«, wies Mama den Zuhälter vor allen zurecht. »In der Bibel steht, eine Frau ist wie eine edle Frucht in einem verschloßnen Garten.« »Und es ist schon gar keine Art, so mit mir zu reden, merk dir das!« brachte Finnerty sie zum Schweigen. Er war in Schultern und Armen so kräftig wie stämmige Einsachtzig, und auf seinem rechten Arm trug er eine seltsame Tätowierung: eine brennende dünne Zigarette, deren Rauchkringel sich zu dem langen Wort »POTAGUAYA-KING« formten. Was ihm dieses Bekenntnis im Fall einer Festnahme einbringen konnte, darüber sagte er nie ein Wort und stritt bescheiden ab, daß die Tätowierung das bedeute, was aus ihr zu schließen sei. »Natürüch nicht, daß ich über die Pot-Raucher König bin, sondern daß ich als Pot-Raucher König bin.« Seinen feinen Unterscheidungen war manchmal schwer zu folgen, und das zu versuchen lohnte ohnehin nicht. Es war von ihm bekannt, daß er einmal eine Frau, obwohl noch nicht älter als fünfunddreißig, gegen einen Zwanziger und ein Springmesser verhökert hatte, wozu er allerdings sagte, er hätte Grund zu der Annahme gehabt, daß sie ihm untreu gewesen sei. Doch ob treu oder untreu, fast jedes seiner Mädchen war er herzugeben bereit, wenn auf den Zwanzig-Dollar-Schein eine halbe Büchse grüner Tee draufgestellt wurde. Ausgenommen natürlich Reba. Die wäre ihm nicht feil, sagte er; habe er für sie doch mal eine Wagenladung Kochbananen sowie eine ganze Büchse Potaguaya geboten bekommen und dennoch abgelehnt. Zuvor aber hatte er sich den Tee angeschaut, und der war ihm ein bißchen arg hellgrün vorgekommen. »Wäre das echter Boge gewesen«, gestand er später, »hätte ich für mich nicht garantieren können.«
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Wobei er mit »Boge« jene dunkelviolette Pflanze meinte, die nur auf dem Popocatepetl wächst. Er bevorzugte breitgestreifte Stoffe und Sakkos, die ihm bis fast an die Knie reichten, ein Mann gut zehn Jahre der Mode voraus und mit Augen so wäßrig gelb wie der Whiskey in seinem Glas. »Ein Kreuz, daß mich Killen so reizt«, klagte er. »Könnte ich mich bloß mehr beherrschen! Doch wie soll ich das schaffen?« »Zum Beispiel indem du deinen Ballermann wegwirfst«, erteilte Lucille ihm schon wieder Rat. »Dann war ich ja wehrlos!« antwortete Finnerty empört. Aber sie hielt schließlich seinen Stall in Ordnung, und er mochte sie nicht ungern. Als er einmal von einem Fremden, der das geschniegelte Männchen in den hochhackigen Stiefeln und mit dem Cologne-Duft putzig fand, gefragt worden war: »Sag mal, du Schrumpfriese, wie groß bist du eigentlich?«, hatte Finnerty erwidert: »Groß genug, um einem vorlauten Indianer in den Arsch treten zu können. Du bildest dir wohl ein, größer zu sein, was?« »Nein, nein, Mister«, hatte der Fremde kleinlaut geantwortet, »leh schätze, wir sind beide gleich groß. In etwa.« »Genauer bitte.« »Nun, wahrscheinlich sind Sie sogar ein Stück größer.« War ihm jemand sympathisch, ließ Finnerty ihn das sogleich wissen. »Ich habe beschlossen, dich nicht umzulegen«, beglückwünschte er ihn. »Ja dich nicht mal zusammenzuschlagen. Sondern dir gegen jedermann beizustehen. Muß von dieser Lust am Killen endlich wegkommen, und bei dir mach ich den Anfang.«
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Hatte man Oliver dann auf seiner Seite, blieb er dort auch, ließ einen nicht mehr los. Er wußte, man brauchte ihn. Und wer konnte einem so engen Freund kleine Gefälligkeiten abschlagen, wie beispielsweise ihm den ganzen Nachmittag lang Drinks zu spendieren? Eine Freundschaft, die kein paar Whiskeys aushielt, was wäre die schon wert? Mit Frauen machte er es anders. Sie hatten ja keine guten Seiten, auf die ein Mann sich stellen konnte, waren nicht mehr als Fische in einem Bach. Und er angelte sie sich fast immer mit dem gleichen Köder. Mit der uralten Geschichte von der Hühnerfarm, deren sich Zuhälter schon so lange bedienen, wie es ihr Gewerbe gibt. Sie lautete: »Wir hauen unser Geld nicht sinnlos auf den Kopf wie andere Paare, Baby. Bei uns wird keiner erleben, daß wir es für Schnaps und Firlefanz verplempern. Wir beide, wir wissen doch, daß du innerlich genausowenig eine Hure bist wie ich ein Lude. Wir sind nichts anderes als ein Mann und eine Frau, die sich lieben, aber erst ein bißchen was zusammenbringen müssen. Hör auf mich, Baby, und alles wird wunderschön. Jeden Montag früh soundso viel auf die Bank, egal ob's eine gute oder eine schlechte Woche war. Ich hatte dir noch nichts davon sagen und es als Überraschung aufheben wollen, Darling, aber ich liebäugle schon eine Weile mit einer kleinen Hühnerfarm für uns beide, hier in Louisiana, ein Stück weiter rauf. Die kaufen wir uns, für uns ganz allein, nur du und ich, und in fünf Jahren sind wir gemachte Leute. An dem Tag, wo wir hinziehen, gehen wir dort gleich zum Friedensrichter und lassen uns trauen. Denn wenn Babylein Daddylein die kleinen Bedürfnisse erfüllt, erfüllt Daddylein Babylein die großen.«
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Welches Babylein hätte ihrem Daddylein da wohl nicht geholfen, bis er wieder auf die Beine kam? Doch aus den Wochen wurden Monate, aus den Monaten ein halbes und ein ganzes Jahr. All die Zeit erfüllte sie ihm seine kleinen Bedürfnisse und er ihr ihre großen: Er sorgte dafür, daß sie nicht festgenommen wurde, und konnte er das mal nicht verhindern, besuchte er sie im Gefängnis; er sah zu, daß sie stets genug Freier bekam, und beschützte sie vor Dieben, Volltrunkenen, Sodomiten und Sadisten; und ein-, zweimal im Jahr nahm er sie auf eine Angeltour mit. Von der Hühnerfarm aber war nicht mehr die Rede. Vielleicht daß er Babylein einmal, wenn es zum Farmen inzwischen längst zu spät war, beim Weinen ertappte und sie daraufhin ein bißchen streichelte. »Was ist denn, Kleines? Hast du Fieber? Möchtest du heute abend freihaben?« Da murmelte sie dann etwas vom Durchleuchten von Eiern, doch er verstand nicht, was sie meinte. Und nach einiger Zeit fing sie wieder an zu weinen, wußte jetzt aber selber nicht mehr, warum. So wie ein Kind, das schlecht geträumt hat, immer noch weiterweint, obwohl es den Traum selbst schon vergessen hat. Mit der Zeit versiegten die Tränen. Babylein konnte über nichts mehr weinen. Alle Tränen waren vergossen, alles Lachen gelacht, alle Liebe längst verausgabt. So daß nur noch blieb, abgestumpft dazusitzen, Abend für Abend, bei gedämpftem Licht und schmalziger Musik, und mechanisch aufzustehen, wenn wer in Hosen mit dem Finger zeigte und sagte: »Die da.« Und dann wie ein Tier, das darauf dressiert ist, beim Läuten eines Glöckchens schönzumachen, den Weg zu dem ihr zugewiesenen Bett zu beschreiten. Wo sich all das befand, worauf sie in der Welt An-
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spruch hatte: ein Handtuch, eine Tube Vaseline, eine Emailleschüssel, ein Stück Lifebuoy-Seife und eine Flasche Coca-Cola, wovon die eine Hälfte für die Waschschüssel und die andere für die Spülungsspritze bestimmt war. Ihre Ohren hörten die Hosen nach ihrem Namen fragen, und die Antwort darauf war ihr eingetrichtert worden. (»Diese Woche heißt du Pepper, Baby.« Überließ man die Wahl ihr selber, käme sie womöglich mit so was an wie Jane oder Mary.) So setzte sie dann ein erwiderndes Lächeln auf, wusch ihn in leicht angewärmtem Wasser, legte sich hin und schloß die Augen; fühlte seine tatschenden Hände auf ihren Brüsten und sein Gewicht der Länge nach auf ihr, drehte den Kopf zur Seite, um seinem Atem auszuweichen, spürte ein krampfhaftes Rucken seines Gesäßes und schlug die Augen wieder auf: Zeit um, Zeit für den nächsten. Wieder runter in das gedämpfte Licht und die schmalzige Musik, wo schon ein neuer Finger auf sie zeigte: »Die da.« »Jetzt hast du sie endlich soweit, daß du ihr trauen kannst«, erklärte Finnerty. »Doch solange sie sich ihren Namen selber aussuchen will, mußt du noch zu sehr auf sie aufpassen.« Ehe eine nicht jeden anderen Anspruch als auf Waschschüssel, Bett und Handtuch aufgegeben habe, ja gar nicht mehr wisse, daß sie für Geld arbeite, sei sie nicht verläßlich. Eine so hinzubringen koste den Zuhälter Jahre. Erst wenn er aus einem halben Dutzend Städten von Madams Geld geschickt kriege – nicht per Zahlungsanweisung, sondern bar –, lasse sich von ihm sagen, er habe sein Geschäft im Griff. Finnertys Talent lag in seiner grenzenlosen Geringschätzung des gesamten weiblichen Geschlechts. Er
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behandelte Frauen so, als fehle ihnen von Natur aus jeglicher Verstand. Und mit der Zeit benahmen sie sich auch so, als hätten sie tatsächlich keinen. Hatte er mit der Hühnerfarm-Story doch gegenwärtig sogar zwei am Haken. Beide lebten unter einem Dach, arbeiteten Seite an Seite, und jede war überzeugt, daß es die andere sein werde, an der Oliver den Verrat begehe, wenn die Judasstunde schlug. Bis dahin wetteiferten sie miteinander, wochein, wochaus, um ihrem Daddylein zu beweisen, daß er nicht aufs falsche Pferd gesetzt habe. Hatte die eine Woche Reba das Rennen gemacht, war die nächste hindurch Frenchy ganz niedergeschlagen, kam sich so unvollkommen und nutzlos vor, daß Oliver sie wieder aufrichten mußte: »Kopf hoch, Kleines. Sie hat letzte Woche bloß viel Glück gehabt. Im Aussehen kann sie dir nicht das Wasser reichen, das weißt du doch. Diese Woche gehst du als erste durchs Ziel, davon bin ich fest überzeugt.« Angefeuert von dem Bewußtsein, daß ihr Stallherr noch auf sie setzte, legte sich Frenchy voll ins Geschirr, drängte die Freier, kaum daß sie die Hosen runter hatten, zur Eile, schob sie hinterher zur Tür hinaus, damit das Bett für den nächsten frei wurde, und machten sie nicht schnell genug, gackerte sie wie eine aufgeregte Henne. Am Ende der Woche hatte sie Reba schon wieder halb eingeholt. »Mein Leben lang war ich noch nie so stolz auf jemand«, bekomplimentierte Oliver sie an jenem Samstag vor allen. »Und du lahme Schnecke laß mich in Ruhe«, sagte er zu Reba. »Kauf dir deine Drinks selber.« Frenchy dagegen hielt er den ganzen Abend frei, protzte mit ihr, fragte sie, was sie sich zum Geburtstag wünsche und (obwohl erst Juli war) wo sie Silvester feiern wolle, und sagte ihr, die Hühnerfarm sei jetzt wirklich in Reich-
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weite. »Nur noch zwei Wochen wie diese, Babylein, und wir können hier für immer weg.« Diese zwei Wochen lang strengte sich Reba an, daß die Fetzen flogen und sie alle übertrumpfte; man mußte sie regelrecht zurückhalten, keine Freier von der Straße ins Haus zu zerren. Und so ging das endlos weiter. Woche für Woche ließen sich die beiden gegeneinander ausspielen, bis es bei Dockery zum stehenden Witz wurde, zu fragen, wer denn jetzt Finnertys Nummer eins sei. Einem Witz, der allein von seinen beiden Zielscheiben nicht verstanden wurde. Mama war einmal so kühn, Finnerty herauszufordern: »Für Frauen hast du wohl nichts als Verachtung übrig, was?« »Die Spitzenklasse erreichen nur Gemütsathleten, egal in welcher Disziplin«, war alles, was er darauf zur Antwort gab. Daß er selber zur Spitze gehörte, konnte niemand abstreiten. Ja, er war durchaus ein Topplude. Machte er doch nie auf die billige Anpreise wie: »Hier meine heiße Stute aus St. Louis, die ist rossig wie sonst was. Hab ein halbes Dutzend Pferdchen in Miami laufen und sechs weitere in Kansas City.« Warum aber ruinierte sich ein Mädchen im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, um einen Halbliliputaner mit Koteletten aufs teuerste auszustaffieren? Warum ließ es irgendeinen Vormittagstrinker, bevor er zu seiner Frau heimging, sich auf seinem rosigen Körper ausrammeln, um einem Finnerty seine tägliche Rennwette zu finanzieren? Und einmal, von den Knöcheln bis zur Brust mit Narben besät, in einem Nuttenschuppen auf Trinidad zu enden? Mama tat, als begreife sie das nicht, dabei aber ver-
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stand sie es sehr wohl. Schließlich verlor ein beschützerloses Mädchen leicht den Kopf, betrank sich etwa bei der Arbeit, riß sich die Puffklamotten vom Leib und wollte den nächsten Greyhound-Bus nach Hause nehmen. Um eine bei der Stange zu halten, das wußte Mama, bedurfte es eines guten Luden. Mama Lucille verabscheute Gewalttätigkeit, doch verging kaum eine Woche, in der sie sich nicht gezwungen sah zu sagen: »Schätzchen, laß mich nicht Finnerty mit seinen Handschuhen herholen.« Wenn der die dann anlegte, sagte er jedesmal: »Baby, das wird dir eine wunderbare Lehre sein. Eines Tages dankst du mir dafür.« Mehr als eine hatte sich, weil sie ihren Verdienst nicht mehr abliefern, sondern für sich behalten wollte, von irgendeinem Mulatten-Louis in Omaha abgesetzt und war in dem naiven Glauben nach New Orleans gegangen, dort auf eigene Rechnung arbeiten zu können. Hatte sie sich hier dann in einer Pension oder einem Hotel eingemietet, trafen die Wirtin beziehungsweise der Portier jedoch bald andere Vorkehrungen für sie. Die Wirtin etwa so: »Schätzchen, ich habe einen Neffen, mit dem ich Sie gern bekannt machen würde. Er ist in der Sportartikelbranche tätig. Ein ganz reizender Junge, gutaussehend und ein fröhliches Haus. Ist soeben fürs Wochenende nach New Orleans gekommen. Möchten Sie sich von ihm nicht mal toll ausführen lassen?« Hotelportiers machten keine solchen Umstände. Da klopfte es nur kurz an die Tür, und dort stand er dann, karierte Weste und den einen Daumen im Gürtel. »Mit mir ist leichtes Auskommen«, versicherte er, nachdem er ihr erklärt hatte, wie es von nun an zu
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laufen habe. »Hängt allerdings davon ab, ob du gleich mitmachst, oder ob ich dir die Flötentöne erst noch beibringen muß. Ich habe uns eine hübsche kleine Wohnung besorgt, in bester Gegend und direkt über einer Bar. Sei gescheit, Baby.« Mama hatte nur eine einzige in Kost und Logis, die nie für einen Zuhälter gearbeitet hatte und das auch nie tun würde. Hallie Breedlove war in der Perdido Street gelandet, weil man in einer kleinen Stadt gemunkelt hatte, eine gewisse Lehrerin habe einen Schuß Negerblut. Hallie hatte es ihr Leben lang geschafft, als Weiße durchzugehen, und einen Weißen geheiratet, der sie beim geringsten Zweifel daran nie und nimmer zur Frau genommen hätte. Als das Gerede sie beide zwang, nach New Orleans zu ziehen, hielt sie ihn in dem Glauben, es wäre wirklich nur Gerede. Dann kam das Baby zur Welt, und das Geheimnis wurde offenbar. Seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Sie besaß mehr Selbstachtung, hielt mehr auf ihre Gesundheit und verdiente mehr als die anderen bei Mama. Hätte es eine von ihnen tatsächlich zu einer Hühnerfarm bringen können, dann Hallie. Als Finnerty ihr seine diesbezüglichen Vorschläge antrug, bedachte er jedoch nicht, daß er es hier einmal nicht mit einem leichtgläubigen Dummchen zu tun hatte. Er redete so zu ihr, als wäre sie ebenso hirnlos wie die anderen. »Klingt fast zu schön, um wahr zu sein«, sagte Hallie, als wolle sie sich ihre Freude über sein Angebot nicht zu deutlich anmerken lassen. »Doch eines nehme ich dir dabei übel.« Und obwohl sie ihn um Haupteslänge überragte, zog sie einen Schmollmund wie ein kleines Kind.
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»Mir, deinem kleinen Daddy, nimmst du was übel?« Finnerty konnte es nicht glauben. »Ja was denn?« »Reba hast du versprochen, sie brauche nie Federn zu rupfen, und Frenchy, sie habe nichts weiter zu tun, als Eier zu durchleuchten – dann soll ich also Ställe ausmisten, Futter schleppen und neue Brutkästen zusammennageln? Findest du das nicht ein bißchen ungerecht verteilt, kleiner Daddy?« »Diese beiden dummen Dinger«, höhnte Finnerty heiter. »Du nimmst doch nicht an, ich ließe zwei solche Gänse, die nur das Leben in der Stadt kennen, auf meine Hühnerfarm? Du und ich, wir wissen, daß viel Federvieh viel Wirtschaft macht. Wäre ja lächerlich, wollte ich einem klugen Mädel vom Lande vortäuschen, man hätte da nichts weiter zu tun, als Eier zu durchleuchten. Deshalb meine ich es bei dir ernst. Ein Mädel vom Lande und ein Junge vom Lande. Uns beiden ist bewußt, daß man es ohne schwere Arbeit zu nichts bringt. Nicht wahr, Baby?« »Von welchem Lande redest du eigentlich, kleiner Daddy?« Erst da merkte Finnerty, daß sie ihn zum besten hielt. Und gab es bei Hallie auf. »Dann bleib eben Nutte, bis du sechzig bist. Aber komm nicht an, daß ich dir helfen soll.« »Ich habe noch nicht nein gesagt.« Hallie ließ den köderlosen Haken weiter im Wasser. Schüttelte Frenchy den Kopf und sagte bekümmert: »Die arme Reba, ich hab sie trotz allem gern, aber sie kann mir richtig leid tun, so wie sie von Oliver zum Narren gehalten wird«, äußerte sich Hallie jedoch nicht dazu. Denn genauso sorgte sich Reba um die arme Frenchy: Was solle bloß aus ihr werden, wenn sie und Oliver auf die Farm zogen?
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Hallie bedauerte beide und ebenso Floralee, ja überhaupt alle. Alle außer Oliver Finnerty. Ihr Herz wurde schon zu Eis, wenn sie ihn nur dastehen oder dasitzen und am Nagel seines kleinen Fingers knabbern sah. Und Finnerty seinerseits konnte zwar ihr mangelndes Interesse an seiner Farm respektieren, ihre Gleichgültigkeit gegenüber seinen körperlichen Reizen aber vermochte er ihr nicht zu verzeihen. Er fühlte sich verletzt. »Die Schnalle trägt die Nase ein bißchen zu hoch für eine, bei der ich Grund zu der Annahme habe, daß sie in einem weißen Haus überhaupt nicht arbeiten darf.« Er hatte es bei ihr versucht und war unter Hohn und Spott abgeblitzt. Jetzt half nur noch eines: Gewalt. So paßte er sie ab, als sie allein war und gerade ihre lahme Katze streichelte, jene, die seine Maus verkrüppelt hatte. Er kam sogleich zur Sache: »Baby, du bist doch so gebildet und hast so feine Manieren, also führe mir mal vor, wie du zu deiner Kommode gehst, die oberste Schublade aufziehst, alles Geld rausnimmst, damit hierher zurückkommst und es mir aushändigst. Enthältst du mir auch nur einen einzigen Nickel, ist das so, als würdest du das mit dem ganzen Batzen tun. Und das wäre glatte Unterschlagung. Na los, mach schon.« Hallie hielt mit dem Streicheln der Katze inne und bedachte den Zuhälter mit einem Blick, der ernst und grau war. Dann kuschelte sie die Katze in ihre Armbeuge hinein, damit sie mit ihr nirgendwo anstieß, ging zu der Kommode und lehnte sich mit dem Gesäß fest dagegen. Wie beiläufig schob sie die eine Hand in die Tasche ihres ausgeblichenen roten Bademantels. Finnerty schloß die Tür hinter sich ab und steckte
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den Schlüssel ein. »Du weißt, ich habe meine Mittel, dir nachzuhelfen, Babylein«, warnte er Hallie. »Ich habe nicht vor, mit dem Messer auf dich loszugehen«, erklärte sie ihm ganz ruhig. »Habe mich selber mal geschnitten und weiß, wie weh das tut. Ebensowenig mit den Fingernägeln, denn ich mag keinen Mann mit Kratzern im Gesicht rumlaufen sehen. Ich spritze dir auch keine Säure in die Augen, denn Blinde erwecken mein Mitleid. Ich erschieße dich einfach, da wo du stehst. Entkommst du durch die Tür, erschieß ich dich auf der Treppe. Schaffst du es bis runter, erschieß ich dich im Salon. Schaffst du es bis raus auf die Straße, dann eben auf dem Bürgersteig. Oder in einem Seitendurchgang. Selbst in einem Gotteshaus. Egal wo, ich erschieße dich.« Finnerty stand da, den Kopf leicht nach unten genommen und die Brauen zweifelnd hochgezogen. »Suchst du was, Oliver?« »Meinen Schlüssel«, antwortete er. »Ich habe ihn verloren.« »Du meinst meinen Schlüssel.« »Ja, gut, deinen.« »Der steckt in deinem Hosenumschlag. Hast ein Loch in der Tasche. Bring deine Hose nachher hoch, und ich nähe dir eine neue Tasche ein.« Wäre er tatsächlich mit dem Beinkleid erschienen, hätte sie ihm beide Taschen am Hosenboden festgenäht, doch eine solche Gelegenheit gab er ihr nicht. Sondern übertrug die Arbeit Mama, wie Hallie später erstaunt entdeckte. Da saß sie, seine Haushälterin und Zuträgerin mit dem Grau in ihrer Negerwolle, Brille auf der Nase, Rosenkranz um den Hals und Finnertys Knabengrößenhose auf den Knien, und handhabte Nadel und Faden, als wäre sie seine Mutter.
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»Ich setze Oliver eine neue Tasche ein«, erklärte sie und nähte weiter. »Ja, ich weiß, die Leute sagen, ein Zuhälter war ein Schandfleck, aber die haben eben keine Ahnung, was so ein Mann alles für sein Mädchen tun muß. Was, wenn es krank ist oder festgenommen wird? Wen hat das arme Ding dann, ihm beizustehen? Oliver hat seinen Beruf genausowenig erfunden wie wir den unsern. Ich habe noch nie gehört, daß ein Lude zum Bürgermeister gewählt worden wäre, ja nicht mal daß sich einer bequemt hätte, selber wählen zu gehen, warum also ihnen die Schuld geben, daß die Verhältnisse so sind, wie sie sind? Sie haben die Gesetze doch nicht gemacht, die das Gewerbe weiter existieren lassen. Würde kein Mensch wollen, daß es Zuhälter gibt, gäbe es auch keine. Ist es nicht seltsam, daß gerade jene, die uns als öffentliche Schande hinstellen, uns am besten bezahlen? Du weißt ja selber, Schätzchen, daß die von der Polizei samstags die ersten bei uns sind mit: ›Bring uns zwei Frauen und 'ne Flasche!‹« »Was ist schlecht an zwei Frauen und 'ner Flasche?« wollte Hallie gern wissen. »Gar nichts, Schätzchen. Auch nicht an drei oder vier Frauen und einer ganzen Kiste Schnaps, solange du's nicht heimlich machst und am nächsten Morgen dagegen predigst.« Mama befeuchtete den Faden und schob ihn durch das Öhr. »Stände Oliver ein anderer Beruf offen, würde er sich darin auch versuchen. Und es weit bringen.« Manchmal staunte Hallie ein bißchen über Mama. Denn wie mißbilligend schaute Mama eine Weile später in der Küche drein, wo Reba und Finnerty gerade einen Imbiß nahmen. »Magst du Kaffee, Baby?« hörte sie Finnerty Reba fragen.
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»Gern, Daddy.« »Dann mach gleich zwei Tassen und bring mir meine her.« »Ja, Daddy«, erklärte sich Reba bereit. »Aber streich du mir ein Butterbrot. Schließlich arbeite ich für dich.« Reba war in einem Chicagoer Waisenhaus aufgewachsen, obwohl ihre Eltern noch lebten. Sie hatten sich darin abgewechselt, sie sonntags zu besuchen. Aber eines Sonntags war keiner von beiden gekommen. »Da siehst du's«, hatte eines der Mädchen dort zu ihr gesagt, »dein Vater scheint nichts zu taugen« – und sie mit dem Kopf gegen einen rausstehenden Nagel gestoßen. Diese Verletzung war der Grund für Rebas Silberblick auf dem rechten Auge. Jetzt hatte sie einen Ersatzvater gefunden, einen, der zwar tatsächlich nichts taugte, sie aber immerhin jeden Tag besuchen kam, manchmal sogar zweimal. Und da ging es dann, mein Oliver hier, und mein Oliver da, und: »Mein Oliver ist von der reinseidenen Haushose, die ich ihm gekauft habe, ja so begeistert, daß er schon zwei ganze Tage nicht mehr aus dem Haus gegangen ist. Ich werde ihm dazu noch passende Cowboystiefel kaufen. Muß schick aussehen, nicht?« »Ich hab da was andres gehört«, stichelte das füllige Mädchen aus Fort Worth. »Nämlich daß du ihm seine andere Hose weggenommen hast, damit er nicht raus kann, um die Karre Kochbananen abzuladen, die man ihm wieder mal für dich angeboten hat.« »Mein Oliver und einen Obstwagen abladen – wie kommst du auf so was?« verteidigte Reba sofort ihre Haushaltsehre. »Sein ganzes Leben lang hat er noch keinen einzigen Tag gearbeitet! Hat nie die Ärmel hoch-
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gekrempelt, außer mal um Pferde ein bißchen zu bewegen. Aber selbst das hat er bloß als Gymnastik betrieben und sich dabei nicht überanstrengt. Er würde sich ja nicht mal die Schuhe selber ausziehen, wenn er ins Bett steigt!« Daß nichts erniedrigender sein konnte als körperliche Arbeit, verstand sich. »Kauf dir einen Henkelmann und geh auf Maloche«, war in der Perdido Street die schlimmste aller Beleidigungen. »Jedem Luden, dem seine Mieze nicht die Schuhe auszieht«, leistete Finnerty Reba Verstärkung, »dem streite ich ab, daß er fest im Sattel sitzt.« »Wen interessiert schon, wie das mit dir und deiner Alten ist«, fertigte die Blonde aus Fort Worth sie beide ab. »Ich dagegen, ich habe einen Macker, der keinen Cent von mir nimmt. Sondern der mir Sachen kauft. Demnächst schenkt er mir einen Cadillac. So lang, daß man damit nur ganz vorsichtig um Ecken rumfahren kann.« Wie Fort Worths richtiger Name auch lauten mochte, niemand nannte sie anders als Fünfie, und zwar zu Ehren ihres wie eine Fünf geformten Bauchnabels. Wurde sie aufgefordert, diese phänomenale Geburtsnarbe zu zeigen, tat sie das, ohne sich zu zieren. Männer kniffen sie in den Hintern, doch trug sie deswegen nicht die Nase hoch. Mit einer Hühnerfarm hätte sich Fünfie schwerlich locken lassen. Sie war auf einer groß geworden und hatte davon genug. Auf die Cadillac-Geschichte dagegen flog sie, obwohl die doch nichts anderes war als die Hühnerfarm-Story auf Rädern. Ach, dieser herrliche Wagen, so luxuriös, so bequem und ja so schön lang! Wenn man den richtig fuhr, behutsam und mit Gefühl… Ließen sich Cadillacs mit
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Versprechungen bezahlen, hätte Flotte davon besessen. So aber ging sie weiter zu Fuß.
Fünfie
eine
ganze
Die Gerichte waren gegen sie, die Polizei war gegen sie, die Ehefrauen, die Kirchen, die Presse, die Politiker, ja selbst ihre eigenen Zuhälter hatten diese Marionetten auf Korkabsätzen gegen sich. Und jetzt schickten die christlichen Missionen noch Sandwichmen aus, um zu verkünden, daß auch Jesus Christus gegen sie sei. »Ein Glück, daß wenigstens Mama für uns eintritt«, war eine stehende Redewendung von Frenchy, und Mama schien das auch stets zu tun. Sie ergriff der Frauen Partei gegen Oliver, wies ihn mit dem Bemerken aus dem Haus, er dürfe sich erst wieder sehen lassen, wenn er die nötige Achtung vor Damen habe, und zwang ihn, sich mindestens einmal in der Woche bei der einen oder anderen zu entschuldigen. Ein grausames Spiel, Kinder so zu betrügen. Aber ein einziges Wort von Finnerty genügte, und sie müßte als Halbnegerin zurück in den Slum, aus dem sie gekommen war. Ein Haus zu leiten, in dem weiße Prostituierte arbeiteten, war Farbigen verboten. Doch gab es eine Vorschrift, daß in den Etablissements während der Betriebsstunden eine Aufwärterin da sein müsse. Also war Mama für die Polizei keine Madam, sondern bloß eine Dienstbotin. Das hatte Finnerty so arrangiert, und er ließ sie es keinen Tag vergessen. Die Rolle, die sie spielte, bereitete Mama Gewissensbisse. Manchmal suchte sie die wegzuargumentieren, indem sie daran zurückdachte, von wie vielen Weißen ihr übel mitgespielt worden war – da sei es nur gerecht, wenn sie jetzt deren Töchter hinterging. Doch jeden Morgen weckte sie ein Frustriertsein, das sich auf die
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ganze Welt bezog, und sie fragte sich, wann sie aufgehört habe, sich selber zu gehören. Oft mußte sie erst einen Cognac nehmen, ehe sie nach unten laufen und zu jeder einzelnen sagen konnte: »Wie geht's meinem Schätzchen heute?« Ihre Schätzchen, die waren, wenn sie zwischen spätem Vormittag und frühem Abend die Treppe hinunterkamen, eine wie die andere eine Wohltat. Als erste erschien immer Hallie, in der Hand eine Tasse dampfenden Tee und an der Seite die Tigerkatze. Sie war nicht sehr wählerisch, diese Katze, und schon froh, überhaupt noch am Leben zu sein. Sie hinkte neben ihr her hinaus auf den Gehsteig, doch sobald sie unter ihren Pfoten nassen Tau spürte, wich sie zurück. Da streckte Hallie den einen Fuß vor, und die Katze stieg hinauf, zog und krallte sich hoch, bis sie auf der Schulter saß. Dann gingen sie beide den Narzissen, die zwischen den Kopfsteinen hervorwuchsen, guten Morgen sagen. In Hallies Herzen dagegen wollten keine Blumen mehr gedeihen. Einem Herzen gleich einem einsamen Grab, selbst jetzt von winterlichem Unkraut bedeckt. Unter dem Unkraut lag das Kind, das bei seinem Tode erst drei Jahre alt gewesen war. Ein Junge, der in jenem jähen und traurigen Herbst seine Mutter mit Fragen erstaunt hatte wie: »Mami, sind für den Winter meine Fäustlinge fertig? Liegen meine Ohrenschützer bereit? Wird mein Mantel warm genug sein?« An seinem letzten Weihnachten hatte er mit der einen Hand eine glitzernde Christbaumkugel umfaßt, sich damit übers Gesicht gestrichen und verträumt ihre von den Kerzen erhaltene Wärme in sich aufgenommen. Jetzt, neun unbegangene Weihnachten später, lief sie
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mit gepudertem Gesicht, getuschten Wimpern und im Bordellfummel in geschminktem Abendlicht umher, und wie ein wucherndes Pilzgeflecht breitete sich in ihrem Herzen Verdrossenheit aus. Der Morgen war nicht die schlimmste Zeit, denn da brauchte die lahme Katze sie, und die anderen Frauen waren noch nicht da, um sie anzusprechen und dabei leicht vor sich hin zu lächeln. »Wie geht's unserer Philosophin?« fragten sie immer, und sie konnte sich gar nicht mehr erinnern, wer sie zum ersten Mal so genannt hatte und worauf das zurückging. Wahrscheinlich hatte es damit zu tun, daß sie mal Dorfschullehrerin gewesen war. »Ich habe zwar keine Philosophie, bin aber gestern abend besser angekommen als du«, hänselte vor allem Frenchy gern. So machten Hallie und die Katze ihren Besuch bei den Narzissen und plauderten dabei ein bißchen miteinander, Fell an Ohr und in dem angestammten Sprachverständnis zwischen Frauen und Katzen. Manchmal las sie während der ruhigen Morgenstunden ein Buch, was sie immer noch gern tat. War der Vormittag verstrichen und lag die Katze den drückend heißen Nachmittag hindurch auf dem Fensterbrett, befand sich Hallie allein in diesem seltsamen Haus. Da fiel die Langeweile sie dann an wie eine Feindin, und sie legte schützend die Hand vor die Augen. Und dachte an die Aussicht, ihre noch ungelebten Stunden in einem Krankensaal zu verbringen, unter lebenslänglicher Quarantäne, Bett an Bett in einem Asyl, wo all jene landen, die für unberührbar erklärt worden sind und aus Straßen kommen, für die niemand betet. Wo jeder neue Tag so trostlos aufgeht, wie der alte untergegangen ist. Bis sich endlich der violette Abend ihrer erbarmte.
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Da stand sie dann in der Portiere und traf ihre Wahl unter den Gästen. Die anderen Frauen betrachteten sie mit einem Gemisch aus Bewunderung und Mitleid. Sie glaubten, sie halte sich abseits, weil sie Lehrerin gewesen war – doch gab es Momente, da sie erkannten, daß sie ihnen allen gegenüber irgendwie wehrlos war. Und so schauten sie, wenn sie das leise Schleifen von Metall auf Stein hörten, woanders hin, während Finnerty die Türflügel weit aufhielt. Obwohl sie es nicht sahen, spürten sie, so als wären die Lichter plötzlich ein bißchen heller geworden, daß beim Klang der Rollen in Hallie wieder das Leben zurückkehrte. Ihr Liebhaber war der Mann ohne Beine. »Ich bin auch Philosophin«, forderte Reba Hallie heraus. »Mache mir meine Philosophie allerdings selber. Zum Beispiel: Eine Frau hat einen guten Mann, betrügt ihn aber. Da wird ihr Baby tot geboren. Das hat sie doch verdient, oder etwa nicht? Jeder bekommt, was er verdient, das ist meine Philosophie. Hab sie mir zusammengebaut, als ich in einer Kanzlei von zwei Anwälten arbeitete. Die sagten, so was hätten sie noch nie gehört.« »Das glaube ich gern«, bemerkte Hallie. »Wenn ich da 'ne Coca wollte, mußte ich zwei Treppen runter und auf der andern Straßenseite eine rauf«, erzählte Reba weiter. »Vis-á-vis war nämlich ein Puff, und die hatten dort einen Coca-Cola-Automaten. Warum sollte ich mich weiter mit Treppensteigen kaputtmachen? Eine Arbeitsstelle ist so gut wie die andere. Eine, wo's Coca gibt, ist besser. Das gehört ebenfalls zu meiner Philosophie.
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Aber vielleicht stehst du nicht so auf Coca, sondern mehr auf Schnaps. Na dann gehst eben als Ambulante in Bumskneipen und läßt dich jeden Abend vollaufen. Oder kannst einfach nie genug zu essen kriegen, bist ein richtiger Vielfraß. Da suchst dir 'ne Stelle als Serviererin, wo du futtern kannst, bis du nichts mehr reinkriegst. Oder klapperst mit 'nem Karton Seidenstrümpfe unterm Arm Türen ab und mußt draußen im Kalten bibbern. Na da fängst wo als Taxigirl an und tanzt dich in Schweiß. Ich habe bloß noch die Hälfte meiner Zähne und keine Eierstöcke mehr. Na und? Kann ich doch noch als Hausschwester gehen. Meine Familie kommt von dort in Europa, wo sie ›Fiß‹ sagen statt ›Fisch‹. Wo genau, weiß ich nicht mehr, aber meine Mutter, wenn die mich einkaufen schickte, hat sie jedenfalls immer gesagt: ›Puppi, bring 'n schönes Stück Fiß mit.‹ Hört mal, hättet ihr gern alle Zigaretten umsonst, die ihr raucht? Braucht bloß zur American Tobacco Company zu gehen und zu sagen, ihr kommt von mir, dann schenken die euch so viele Packungen, wie ihr bei einem Mal schleppen könnt.« »Liebchen, ich weiß zwar nicht, wie und was du damit meinst«, sagte Fünfie staunend, »aber das ist doch schier nicht zu glauben.« Reba las alle Zeitungen, und nach jeder, die sie durch hatte, schüttelte sie den Kopf. Jemandem in South Carolina war ein Einschreibepäckchen zugestellt worden, das zwei Schachteln vergiftete Pralinen enthalten und auf dem als Absender »O. S. Terhas« gestanden hatte. Was könne einer, fragte Reba, darin für eine Befriedigung finden, einen anderen per Post zu vergiften? »Hat man gegen jemand einen so großen Roches, dann dingt man sich eben irgendwen, damit er ihm ein paar Kno-
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chen bricht oder so was, aber man schickt ihm doch keine Bonbonniere und schreibt drauf, man war der Osterhase! Noch dazu wo gar nicht Ostern ist.« Zu den wenigen, für die Reba kein Verständnis aufzubringen vermochte, gehörte aber nicht nur der postalische Giftmörder, sondern auch der Pachtfarmer, von dem sie las, er habe seine drei kleinen Töchter in einen Brunnen geworfen, »weil Jesus doch sagt, wir müssen diese Welt verlassen«. »Sollte Jesus so was wirklich gesagt haben, warum ist der Farmer dann nicht selber in den Brunnen gesprungen und hat die Entscheidung über die Kinder Jesus überlassen?« Ebensowenig überzeugte sie die Begründung eines Eisenbahners, warum er seine Frau mit einem Hammer erschlagen habe: »Grace war zu dußlig, auch nur einen Hund aufzuziehen. Ich wußte mir keinen andern Weg mehr, eine Dame aus ihr zu machen.« »Wo soll das bloß hinführen«, meinte Reba dazu, »wenn einer den andern immer gleich umbringt?« Als sie von einer Witwe las, die in einer Straße der Innenstadt hingefallen war und der jemand achtundvierzig Dollar aus der Handtasche gestohlen hatte, während sie mit gebrochenem Bein hilflos dalag, war auch Reba hilflos. »Das ist einfach zuviel!« war alles, was sie an jenem Tag noch an Kommentaren von sich gab, und sie warf die Zeitung weg. Eines Abends war ein Schauspieler hereingetorkelt. »Hab zuviel getrunken«, hatte er den Frauen verkündet, als hätten sie das sonst nicht gemerkt. »Süßer, ich habe dich heute in der Zeitung gesehen«, war ihm von Reba gesagt worden. »Trotzdem: Warum gehst du nicht einfach nach Hause?« Am nächsten Morgen hatte der Schauspieler sein Bild schon wieder in der Presse – er war ein paar Häuser weiter wegen Randalie-
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rens im Alkoholrausch festgenommen worden. »Hab zuviel getrunken«, hatte er auch den Reportern erklärt. Da riß Reba der Geduldsfaden. »›Hab zuviel getrunken!‹ Was habe ich ihm gesagt, als er hier war? ›Süßer, du hast zuviel getrunken‹, genau das! Wenn einer immer noch weitersäuft, obwohl er weiß, er hat schon zuviel, dann ist das einfach zuviel! Ich gedenke nicht, mich solchem Bauernvolk wie hier unten anzupassen.« Die Verteidigung des Mannes, der sein Töchterchen in der Wiege erwürgt hatte, weil seine Frau mit einem andern auf und davon gegangen war, stieß bei Reba auf taube Ohren. »In meinem Kopf klinkte was aus«, hatte er der Polizei erklärt. »Ich wußte nicht mehr, was ich tat.« ›»Hab zuviel getrunken‹«, äffte Reba alle fehlgeschlagene Menschheit nach, »›In meinem Kopf klinkte was aus‹, ›Wußte nicht mehr, was ich tat‹ – nichts weiter als faule Ausreden. Da sind mir Tiere lieber. Die wissen wenigstens, was sie tun.« Besonders Elefanten. Die wüßten das immer. »Hast du schon mal gehört, wie die es machen?« fragte sie eifrig einen Freier, während er sich vor dem zersprungenen Spiegel wieder seinen schwarzen Wollschlips band und sie mit dem Ritual der Spülung beschäftigt war, wozu sie die Flasche kräftig schüttelte, damit es schäumte. »Wenn du mit dem Zischen aufhören würdest«, erwiderte der Wollschlips, »könnte ich vielleicht verstehen, was du sagst.« »Also das ist so«, berichtete Reba. »Wie ich gelesen habe, scharrt der Elefantenbulle mit seinem Rüssel eine Grube aus, und in die treibt er seine Kuh dann
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rein. Anders geht es bei denen nicht und gäbe es keine Elefanten.« »Ja und?« »Na das zeigt doch, daß Tiere eben wissen, was sie tun.« »Ich bin vom Varieté«, erzählte Frenchy einem Kunden. »Schau« – sie verbog ihre blassen Hände und hielt sie ihm vor die Augen – »ich habe Gummigelenke. In der Hüfte ebenfalls. Bloß leider keinen Partner mehr.« »Läßt sich denn kein neuer auftreiben?« fragte der Freier. »Du begreifst nicht. Wahrscheinlich kann ich in ganz Amerika keinen finden. Schließlich ist nicht jeder so biegsam.« Sie hatte starke Backenknochen und einen schwindsüchtigen Teint. »Wir könnten beide die Ostküste hochtouren und zurück dann, über Philadelphia, Cleveland, Cincinnati, Chattanooga, nach Westen. Da lebt meine Familie. Sie hat Tausende in meine Ausbildung gesteckt.« Draußen auf der Straße, hin und her in dem Regen, her und hin, trug der Mann mit der die Augen beschattenden Schirmmütze ein Schild, auf dem zu lesen stand: »HÜTET EUCH, DENN DER TAG DES ZORNS IST NAHE!« War die verwirrte blasse Blondine zu der Zeit, wenn die Straßenlaternen angingen, noch nicht unten, lief jemand nach oben und holte sie herunter. Ob Laternen erst an oder bereits wieder aus, der verwirrten blassen Blondine war alles eins. Niemand hatte gezählt, denn niemand interessierte sich dafür, wie viele Laternen schon an- und ausgegangen waren seit dem Abend, als sie dort, wo die
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Glühbirnen am Eingang zum Loew flackerten, im launischen Regen gestanden und ein Taxifahrer ihr den Schlag weit aufgehalten hatte, woraufhin sie ihm sagte, als wäre sie wach und nicht tief im Traum: »Lake Pontchartrain.« Dort war niemand daheim gewesen. Sie hatte lediglich eine aufgeschnappte Adresse genannt und bot dem Chauffeur als Fahrlohn eine gepreßte Blume aus ihrer Handtasche an. Er zog es vor, zu ihr in den Fond zu steigen und in natura zu kassieren. Um sich aber doch noch zu holen, was sein Taxamater anzeigte, brachte er sie hinterher zu Finnerty. »Bitte nicht schlagen«, sagte sie zu Oliver. »Wenn's möglich wär.« »Natürlich ist es das«, erklärte Finnerty. »Wir brauchen bloß eine Abmachung zu treffen, daß wir uns gegenseitig die Bedürfnisse erfüllen. Ich dir deine großen und du mir meine kleinen. Oder ist das zuviel verlangt?« »Deine kleinen und meine großen«, wiederholte sie und bot ihm ein Lächeln an, als wäre es ebenfalls eine gepreßte Blume. »Weißt du noch, wie du heißt, Baby?« fragte er sie. »Floralee.« An mehr konnte sie sich nicht erinnern. Zuerst hatte er sich mit ihr vergnügt, sie dann aber bald seinen anderen Pferdchen zugespannt. Die Leichtigkeit, mit der das gelaufen war, machte ihn stutzig. Er ließ sie von Mama bespitzeln. Und Mama erstattete Bericht. »Hast du denn überhaupt keinen Stolz?« sagte er zu Floralee in dem Ton, den er anschlug, wenn er sich in seiner Eitelkeit getroffen fühlte. »Mit einem Freier so rumzumachen, als könntet ihr vor lauter Liebe nicht mehr auseinander! Ist dir klar, daß du mit diesem Pen-
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ner fast eine geschlagene Stunde verbracht hast, und das für lumpige vier Dollar?« »Ich hatte das Gefühl für die Zeit verloren«, gab sie zur Antwort. »Für deine Bedürfnisse bin ich da«, erinnerte er sie. »Vergiß das nicht.« Doch ein paar Tage danach hörte er, während sie oben einen Gast bediente, von dort einen mächtigen Bums. »Was war das vorhin?« fragte er eine halbe Stunde später. »Ach nichts weiter, Daddy. Wir sind bloß aus dem Bett gefallen, haben aber einfach auf dem Fußboden weitergemacht.« Sie sagte das mit solcher Unschuld, daß er es kaum über sich brachte, ihr die Tracht zu verabreichen, die sie jetzt so reichlich verdient hatte. Doch es mußte sein, um diese Närrin vor sich selber zu schützen. Er hängte sein Jackett über eine Stuhllehne. »Bitte nicht schlagen.« Sie ahnte, was ihr bevorstand. »Wenn's möglich wär.« »Das ist es diesmal leider nicht.« Er streifte sich seine Handschuhe über, lüftete ihren Pferdeschwanz hoch, um den Nacken freizulegen, wo blutunterlaufene Stellen nicht zu sehen sein würden, und verpaßte ihr ein paar Karnickelhiebe, bis ihr der Kopf schwindelte. Damit gab er sich zufrieden. »Machst du noch mal solchen Vergnügungsritt, zieht sich Daddy keine Handschuhe an«, versprach er ihr. Die Sünde, zum Vergnügen zu reiten, beging sie nie wieder. Obwohl Olivers beide anderen Getreuen, Reba und Frenchy, sich Tag und Nacht beeifersüchtelten, bezo-
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gen sie die umnachtete Blonde da nicht mit ein. »BallaBalla ist in Ordnung«, war alles, was Frenchy über sie zu sagen hatte. Denn um sie mit Neid zu verfolgen, dazu lebte Floralee zu weit weg, eingehüllt in eine nur ihr eigene Wolke, in die zwar das Licht der Außenwelt hineinfilterte, mal trübe, mal auch hell, jedoch nie so wie das jener Welt, in der die anderen Frauen lebten, webten und feilschten. Tagsüber wirkte sie zuweilen so vernünftig, daß keiner auf den Gedanken gekommen wäre, mit ihr stimme etwas nicht. Nahte aber der Abend, geriet sie in Verzückung und begann zu singen, ob oben oder unten: Die wildesten Tiere wird führen Ein kleines Kindlein dahin, Und ich werd sein ein reineres Wesen, Als ich es heute bin. Und war am nächsten Morgen wie am Boden zerstört. Als Oliver einmal hinaufging, sie zu holen, fand er sie nackt auf der Seite liegen, die Augen geschlossen, die Knie bis zum Kinn hochgenommen und die Bettdecke über den Kopf gezogen. Der einzige Laut in dem heißen engen Zimmer war das unaufhörliche Surren eines elektrischen Ventilators. »Da sind kleine Menschen drin, die beten und singen« , erklärte sie ihm, und ihm ging auf, daß sie in dem hypnotischen Gesurre die Stimmen der Leute bei ihr daheim hörte, die ihre alten geistlichen Lieder sangen. Er schaltete den Ventilator ab, kam mit einem kleinen Radio zurück und holte einen sonntäglichen Kirchenchor herein: Zum Krieg zieht Gottes Sohn wohlan, Zum Kampf um eine Königskron'.
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Sein blutrot Banner weht voran – Wer ziehet mit ihm jetzo schon? Als Floralee die Augen aufschlug, sah sie ihren kleinen Daddy auf einem Stuhl stehen und pantomimisch einen Gottesdienst leiten. »Für die wirklich guten Programme brauchst du eben dein Daddylein«, sagte er und sprang herunter. Lauschend rückte sie näher an den Lautsprecher heran und wurde stolz auf ihr Daddylein, der die wirklich guten Programme reinzuholen wußte. Gegen Mittag war sie wieder unten und sang mit gestärkter Zuversicht: Sein blutrot Banner weht voran … »Das geht nicht, Kind«, mußte Mama ihr schließlich Einhalt gebieten. »Ich bin selber eine fromme Frau und hoffe, mal gesegnet zu sterben. Aber alles zur rechten Zeit und am rechten Ort, und hier paßt dieses Lied nun wirklich nicht her. Falls du nicht anders kannst und unbedingt singen mußt, wenn Männer da sind, dann versuch's mal mit was wie ›Mademoiselle from Armentiers‹ – was, das Stimmung macht, nicht Stimmung nimmt.« »Ich singe keine kessen Lieder mit unanständigem Text«, erklärte Floralee, plötzlich obstinat geworden. »Als ich mal eins gesungen habe, hat in der Nacht drauf Gott gesagt, Er mag mich nicht leiden.« »Aber Schätzchen, so etwas würde Gott doch niemals sagen«, beteuerte Mama. »Hat er aber. Er stand draußen vor meiner Tür, und ich hab's ganz deutlich gehört. ›Die da drin langt mir jetzt‹, hat Er gesagt. ›Ich kann ihren Anblick nicht mehr ertragen‹.«
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»Wie kommst du nur darauf, daß Gott das auch bloß denken würde, Kind?« Floralees Gesicht umwölkte sich, während sie sich zu erinnern suchte, und dann leuchteten ihre Augen auf. »Na weil Er, zu wem er da auch gesprochen haben mag, immerzu sagte: ›Nein, nein, nein. Auf keinen Fall‹. Das mußte Gott sein. Denn war es der Teufel gewesen, hätte der doch gesagt: ›Ja, aber ja. Auf jeden Fall. Denk nur nicht, sie wäre mir nicht wohlgefällige« Und bestrebt, sich Gott doch noch erträglich zu machen, ging sie ihn trotz Mamas Warnung sogleich mit der Frage an: Was muß ich tun, zu gewinnen die Kron' Wenn ich das leuchtende Ufer erreich? Da half nichts weiter, als die Musikbox zu drücken und auf volle Lautstärke zu drehen. »Wenn man diese Klapsrese grölen hört«, sagte Reba, nachdem wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt war, »hat man den Eindruck, in den Hinterwaldbergen, wo die herkommt, haben die Leute nichts weiter gemacht als Tote begraben.« Sie schüttelte sich. »Lästere nicht über sie«, tadelte Mama Reba. »Dieses Kind hat jene Einfalt, die unter Gottes Schutz steht.« Ihre Einfalt wurde von Gott beschützt und ihre Finanzen von Finnerty. Er sorgte für ihre Kleidung, ihr Essen, ihre Vergnügungen und ihre Erziehung, wie er das allen Ernstes nannte. Auf Berufsgarderobe wie zum Beispiel Paradehöschen schlug er hundert Prozent auf und manchmal auch mehr. Kein Wunder, daß er den Flüchtling aus dem ODaddy-Lande ganz vergessen hatte. Der Flüchtling kam mit einem Musterkoffer die Perdido Street lang. Er hausierte nicht mehr mit Kaffeekochern
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und auch nicht mit Wasserwellen. Er war jetzt WatkinsVertreter. 1931 hieß Watkins-Mann sein nicht mehr das wie einst vorm Zurückdrängen der Wildnis. Da hatte das etliches mehr verlangt als Bestellungen für Wässerchen und Salben entgegennehmen. Der Watkins-Mann war damals derjenige gewesen, der Nachrichten aus der Welt außerhalb des Louisiane-Hinterlandes brachte. Darüber hinaus hatte er dem Farmer sagen können, was seinem Gaul fehlte, und den auch zu kurieren vermocht. Nicht bloß Pferdedoktor, hatte er auch Menschen kuriert. Er konnte das Wort Gottes predigen, als Hebamme einspringen und »Evangeline« rezitieren. Bei Dove Linkhorn waren diese Fähigkeiten leider verkümmert. Genauer: Sie waren nie vorhanden gewesen. Und seiner Kleidung nach mußte man sich fragen, ob dieser spezielle Watkins-Mann nicht sowieso der Meinung war, als Liebhaber eigne er sich besser denn als Verkäufer. Dove hatte sein ganzes O-Daddy-Gold in eine ODaddy-Aufmachung gesteckt: Anzug in tropenweiß, Hemd mit schmalen rosa Streifen, am Hut eine gelbe Feder, passend zu den gelben Wildleder schuhen. Von dem Jungen, der barfuß und in Farmerhosen in die Stadt gekommen war, sah man ihm nichts mehr an. Wie er so zu früher Abendstunde die Straße langkam, die niemand in seine Gebete einschließt. Zu jener verrufsfarbenen frühen Abendstunde, bevor der Betrieb einsetzt, wenn wieder einmal die Laken gewechselt und Seife und Permanganat ausgegeben worden sind und sich in all den Häusern die Mädchen beim Pudern, beim Lippenschminken oder beim Putzen ihres Bauchnabels müßig fragen, was ihnen der Abend
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für Exemplare der Gattung Mann bringen werde: Stiere, Ochsen oder bloß Schweine. In der dampfenden Hitze war es in der Perdido Street wie in einer Kellerbügelei, in der beide Pressen arbeiten. Die Mädchen in den Bordelltüren zupften an ihren Blusen, damit sie nicht an ihren Brüsten pappten. Ihre Achselhöhlen waren klatschnaß, Schweißbäche rannen ihre Körper hinunter. Die ganze Straße transpirierte. Selbst zum Kobern war es zu heiß. Denn normale Männer schauen bei solcher Hitze gar nicht zu den Mädchen hin; da würde man ja Bauch an Bauch klebenbleiben. Doch eben die Hitze, die Männer entkräftet, erfüllt Frauen mit Unruhe, und die Stadt war voll von nicht geheuren Kerlen. In Seitengassen umherschleichenden Einzelgängern, die sich nicht betrinken konnten und nicht allein sein, aber ihre Einsamkeit dennoch nicht aufgeben wollten. Stumpfsinnigen Klötzen, deren ganze Lust sich in einem tierischen Grunzen erschöpfte. Einer Frau, die für jeden zu haben war, konnte alles widerfahren. Das ewige Einerlei ihrer Betten und die Schrekken ihrer Straße rissen sie hin und her, eine wie die andere. Eine wie die andere waren sie an Unerfülltsein gestorben, vegetierten aber noch weiter, hinter wahrhaften Präriebränden von Wünschen, hofften auf etwas, das sie noch nicht erlebt hatten: die zu einem Verkehrsunfall an der Kreuzung hinkreischende Sirene des Notarztwagens, das Röcheln des Mannes mit dem Messer in der Seite, den Selbstmordsprung ohne jeden Grund. Saßen unterdessen über Kreuzworträtseln und polkten sich dabei Toffeereste aus den Zähnen. Langeweile und Leidenschaft rissen sie hin und her, eine wie die andere. Im Spider-Boy Court tauchten die ganz heruntergelassenen Jalousien den Raum in ein Halbdunkel, in das
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unscharfe, aber noch dunklere Schattenstreifen fielen. Denn auf der Seite parallel zur Perdido Street befanden sich kleine Fenster. Dazu ließ der Deckenventilator, der das unruhige Licht zerteilte, an der Wand und auf dem Fußboden Schatten entlangzittern. In diesem gesprenkelten Dämmerlicht spielte eine Musikbox, und solange sie spielte, saßen die Frauen zufrieden da. Doch sobald die Musik aufhörte, setzte unentrinnbar über ihnen ein Knarren ein, leise und regelmäßig, und sie begannen ruhelos die Plätze zu wechseln, vom Diwan an die Tür, von der Tür zurück zum Diwan, wobei sie an jedem neuen Platz eine neue Flasche Coca aufmachten oder sich eine neue Zigarette ansteckten. Nichts taten sie zu Ende. Unzufriedenheit war bei ihnen eine Krankheit. Reba behauptete, sie hole sich von dem Ventilator einen Schnupfen, Floralee brauchte was zum Anwärmen, Frenchy wollte wissen, warum sie keinen Schuß Gin in ihre Coca haben könne, und Kitty erklärte, sie kriege einfach keine Luft mehr. Wo sie auch im Wechsel saßen, standen und umherliefen, wo sie sich auch aufpulverten, Langeweile und Mißgunst rissen sie hin und her, eine wie die andere. »Ein leichter Regen wäre gut fürs Geschäft«, meinte Mama sinnierend. »Ein Wolkenbruch aber würde es kaputtmachen.« In dem Augenblick hupte vom Bordstein her ein Taxi. Obwohl immer jemand die Straße im Auge behielt, hatte keine es vorfahren sehen. Ein Taxi, so aus dem Nirgendwo gekommen wie in einem nebligen Traum. Mama hastete sogleich hinaus, und die Mädchen drängten sich in ihrem blassen Dunkel nach vorn und beschatteten die Augen gegen die Straße.
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Und sahen in dem grünlichen Licht einen Navy-Offizier in voller Montur aussteigen, einen randlos bebrillten Abteilungsleiter zur See, einen Helden noch ungeschlagener Meeresschlachten. Auf seiner hellblauen Brust funkelten all die regenbogenbunten Ordensbänder, die eine Kriegsmarine in Friedenszeiten verleihen kann. Von der goldbetreßten Mütze bis zu den dito Ärmelstreifen, 1931 war ein solcher Anblick in der Öffentlichkeit selten. Mama hatte etwas so Prachtvolles noch nie erschaut. Doch der Anblick schien sich nicht so ohne weiteres einfangen lassen zu wollen. Er verwickelte Mama in ein ernstes Gespräch, wobei er ganz leise redete, damit der Chauffeur nichts mitbekam. »Ich steh auf Mammys«, glaubte sie ihn sagen zu hören, »die hinten so schön weich wackeln.« Mama trat näher heran. »Ich weiß nicht, was Sie meinen, Generalkapitän.« Er beugte sich vor und flüsterte etwas lauter, jedoch hinter vorgehaltener Hand: »Hatte extra für mich Zitronen-Pie gebacken. Eine kleine zwar, aber ganz für mich allein. Zitrone.« Mama wich wieder einen Schritt zurück. »Zitrone? Und für Sie ganz allein?« »Obwohl ich doch am Tag vorher die Kanne zerbrochen hatte.« Mama wußte sich nicht anders zu helfen, als zu sagen: »Da habe ich das richtige Mädchen für Sie.« Denn was der Kerl auch wollen mochte, einen so nach Geld aussehenden Kunden wieder gehen zu lassen, konnte sie sich nicht erlauben. »Jeder Mann möchte ab und an mal was anderes. Ich weiß genau, was Sie wünschen. Und was Sie empfinden.« Er richtete sich wieder hoch. »Niemand weiß, was ein
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Mammysteher empfindet«, klärte er sie ohne Umschweife auf. »Wie könnte das auch wer, der nicht selber zu den Mammystehern gehört?« Sollte das eine Organisation sein, war er wohl deren Vorsitzender. Mama drehte sich einfach um und wollte gehen, doch er hielt sie mit streichelnder Hand zurück. »Du weißt ja selbst«, redete er ihr zu, »wie schön weich ihr hinten wackelt.« »Wer ihr?« »Na ihr, wenn ihr geschäftig rumrennt. Gib's schon zu.« Mama schüttelte seine Hand ab. »Wer wackelt? Wer rennt rum? Was soll ich zugeben?« Sie wurde ärgerlich, auch wenn sie nicht wußte, worüber. »Ihr alten Negermammys natürlich«, sagte er so, als wisse doch jeder, daß alte Negermammys das schärfste waren. »Vielleicht sollten Sie besser reinkommen, bevor es zu regnen anfängt«, forderte sie ihn auf. Sie hatte das Gefühl, im Salon wären sie beide sicherer. »Es gibt keinen Regen«, behauptete er im Offizierston und so sicher, als wäre er der Wettergott. Dann begann er eine kleine Halbschürze auseinanderzufalten, die er unter seinem Uniformrock hervorgeholt hatte. Er beugte sich nieder, um sie ihr umzubinden. Sie war grün-weiß-gestreift, pfefferminzstangenfarbig, und während er die Schleife knotete, fragte sich Mama, wie sie zu dieser Aufmerksamkeit komme. Kraftlos zerrten ihre Finger an dem Preisetikett. Da riß er es selber ab, und das Taxi fuhr angewidert davon. »Zu dir kommen sicher viele Mammysteher?« fragte er zuversichtlich. »Ist schon einige Tage her, seit der letzte da war.«
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Und fügte, um das falsche Spiel nicht zu weit zu treiben, hinzu: »Seinen Namen aber hat er nicht hinterlassen. Darf ich fragen, wie der Ihre lautet?« »Meine Leute reden mich mit Commander an«, erwiderte er steif. »Da werden sich meine Mädels wohl kaum dran halten«, dachte sie bei sich. Und führte ihn ins Haus, als bringe sie ihn heim. Gerade als die ersten Tropfen fielen. Drinnen im Salon stand der fünf Jahre alte Junge, der wie ein vierzigjähriger Zuhälter dachte und den seine Großmutter Warren Gameliel, die Mädchen aber den König der Zimmerdiebe nannten, auf einem Diwan und war zu allem bereit. Sein Hemd, das ihm nie weiter als bis zum Bauchnabel reichte, gab eine straffe Haut frei, nach der man ihn eigentlich nicht mehr der Klasse der hellbraunen Neger zuordnen konnte. Er ging schon stark ins Dunkelbraune. Genauer: Warren Gameliel war so mohrenschwarz, daß man ihm, um ihn im Dunkeln zu finden, einen Topf Milch übern Kopf hätte gießen müssen. Er sah aus wie eine Kreuzung zwischen einem schwarzen Anguskalb und etwas, das in mondloser Nacht aus dem Mississippi gefischt worden war. Noch dunkler ging nicht mehr. Schmeichelten ihm die Frauen, drehte er stolz das Haupt auf seinem eisenfarbenen Hals und klimperte bescheiden mit seinen schönen Wimpern. »Das ist mein Enkelsohn.« Mannsleute stellte Mama meist zuerst vor. »Ein Prachtjunge, nicht?« »Wiegt mit fünf Jahren sechzig Pfund, und da fragt sie noch, ob er nicht ein Prachtjunge war«, spottete Hallie, jedoch ohne Mama weh tun zu wollen, während
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der große Mann in der Prunkuniform vor dem kleinen Nackedei militärisch salutierte. »Mach schön deinen Diener«, forderte Mama Warren G. zu der einzigen nicht mit den Gesetzen in Konflikt stehenden Verrichtung auf, zu der er fähig war. Doch Warren G. spreizte seine schwarzen Zehen noch weiter auseinander, wie um zu sagen, ehe er auch nur für eine Sekunde mit dem Daumenlutschen innehalte, müsse er erst mehr über das Geschäft mit diesem goldbebänderten Freier erfahren. Ja, der Junge wachse wirklich zusehends, sagte Reba ein bißchen zu laut und auch ein bißchen zu fröhlich. »Schämst du dich nicht?« tadelte Mama ihn in vor Stolz triefendem Ton. Nein, Warren G. schämte sich nicht im mindesten. Um so mehr aber, wie Hallie mit einem erschreckten Blick sah, den Held neben ihr. Denn das an seinen Lippen entlangirrende Lächeln gehörte dem Schemen eines bitterarmen Bettlers, der um eine milde Gabe flehte. Jetzt erlosch es. Und ließ ihn in sich selbst verkrochen in einer Höhle zurück, die außer ihm niemand kannte. Hallie hakte sich bei ihm ein, um ihn wissen zu lassen, daß er doch nicht ganz allein sei, und er spähte hinaus, langsam, vorsichtig. Ihre Unterstützung spürend, begann er sich hinauszuwagen. Langsam, vorsichtig. »In Chicago habe ich in einer Anwaltskanzlei gearbeitet«, beeilte sich Reba, dem Gast mitzuteilen, damit er sie nicht mit gewissen gewöhnlichen Huren verwechselte, die sich jetzt alle an ihn heranzumachen suchten. »War spezialisiert auf Verkehrsdelikte und …« Doch sie wurde von Floralees Ellbogen weggeschoben. Floralee war ebenfalls scharf auf Goldtressen. »Ich kann wunderschön singen, Mister«, säuselte sie
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mit silberheller Glockenstimme. »Selbstverständlich nur anständige Lieder, denn unanständige kenne ich gar nicht.« Und machte vor ihm einen so artigen Knicks, wie er noch keinen gesehen hatte. Warren G. suchte das Scheinwerferlicht wieder auf sich zu lenken, aber Mama zog ihm die Mütze, die er dem Offizier vom Kopf genommen hatte, ganz über die Augen, als könne es sein Betragen bessern, wenn man ihm die Sicht nahm. In dem Augenblick stellte eine die Musikbox an, und eine andere rief nach Gin. Eine dritte sagte: »Mir einen doppelten.« Gerade als die Platte begann: All of me Why not take all of me … »Da kann ich aber viel schöner singen«, behauptete Floralee inmitten der Bitten, Forderungen, Drohungen und kleinen Kreischer, denn alle waren jetzt im Wettkampf, der Kriegsmarine Beachtung zu erringen. »Warum sprechen die Leute hier unten alle so südlich?« beklagte sich Chicago-Kitty. »Warum müssen sie so reden wie Nigger? Warum bleiben sie nicht bei ihrer eigenen Sprache?« »Tun wir doch«, belehrte Hallie sie. »So wie die Farbigen reden, haben sie das schließlich von uns gelernt.« »Darf ich jetzt was singen?« bettelte Floralee. »Sobald die Platte abgelaufen ist, Schätzchen«, versprach Mama und wandte sich an den Gast: »Dieses Mädchen ist ein wahrer Engel.« »Eine wahre Hure«, korrigierte Kitty. »So wie alle. Zu dem Beruf braucht man ja nichts, der steht einer jeden offen. Selbst mir.« »Stimmt das?« fragte der Offizier Mama. »Kann jede Frau Dirne werden? Jede?«
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»Jede x-beliebige.« Mama war da optimistisch. »Sind wir nicht alle frei und gleich geschaffen?« »Sag mir mal eines, Goldmatrose«, wollte ChicagoKitty wissen. »Wo habt ihr eure U-Boote liegen?« Der Tressenträger guckte konsterniert drein. »Was soll denn eine solche Frage?« »Ich muß das rauskriegen. Arbeite nämlich nebenbei als Spionin.« »Ich wünsche nicht, daß unser Gast mit Goldmatrose angeredet wird«, schalt Mama Kitty und damit auch alle anderen aus. »Schaut zu diesem Mann auf! Er erweist uns eine Ehre! Commander, melden Sie jede Ungehörigkeit mir. Warren Gameliel, du schwarzer Dummbax, nimm diese alberne Mütze ab und mach endlich deinen Diener. Sofort!« »Mama«, schalt Hallie zurück, »hör auf, hier herumzubefehlen, als wären wir auf dem Kasernenhof! Dieser Mann ist nicht hergekommen, um sich von dir einen Orden anstecken zu lassen. Merkst du nicht, daß du ihm den Spaß verdirbst?« Alle beiseite schiebend, nahm sie sein Gesicht in beide Hände, damit er sie ebenso ansehe wie sie ihn. »Marinemann, hör nicht auf Mama«, hieß sie ihn. »Sie ist bloß durch deine Uniform beeindruckt.« »Nenn unsern Ehrengast nicht Marinemann!« Mama wurde immer ärgerlicher. »Er vertritt schließlich die gesamte Atlantikflotte!« »Ich habe mal zwei Anwälte vertreten«, erinnerte sich Reba wehmütig. »Und ich vertrete eine Tube Vaseline und einen lekken Irrigator«, bemerkte Kitty sarkastisch. »Ich singe wie eine Nachtigall«, lobte sich Floralee. »Aber wie bin ich hierhergeflogen gekommen?« Draußen wankten die Betrunkenen aus des Landes
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letzten Flüsterkneipen und begannen die Straßenlaternen sich zu bewegen wie die Brüste eines jungen Mädchens unter den Händen eines Mannes, der zuviel getankt hat. Warren Gameliel streckte blindlings die Hände aus, und sie landeten in schwarzem Würgegriff um den Hals des Offiziers. »Wenn du dich nicht benimmst, schicke ich dich in die Niggerschule!« drohte Mama ihm. In eine seltsame kurze Stille hinein sagte eine Mädchenstimme: »Ich war betrunken, die Musikbox spielte, da fing ich an zu weinen.« Und die ganze Luft war geschwängert von Eau de Cologne. »Ich glaube, unser Gast möchte mit zu mir«, entschied Hallie und zog des Betreßten Kopf an ihre Brust. Kraftlos nickte er Zustimmung. Sie half ihm beim Aufstehen, und er erhob sich mehr wie ein Kranker denn wie ein Betrunkener. »Zwei doppelte Gin auf mein Zimmer«, wies Hallie Mama an. »Ihr andern trinkt, was ihr wollt.« Die Tür schloß sich hinter ihnen, und eine Lampe erhellte ein Zimmer, das einer Hure des alten Babylon hätte dienen können: ein schmales Bett in Hoffnung auf Brot, eine Waschschüssel in Hoffnung auf Reinlichkeit. Ein Perlenvorhang zur Abwehr von Moskitos und zum Hereinlassen von ein bißchen Musik. Ein Weihrauchduft von einem Raucher Stäbchen, um Schnaps- oder Tabakgeruch zu vertreiben, ein Wandkalender von vorigem Jahr und darüber ein frommes Bild in Hoffnung auf Vergebung für unfrommes Tun. Für Millionen ihre ganze Welt, seit sich das erste Mädchen verkauft hat, und das auch heute noch. Der braune Schein der Lampe auf ihrem bernstein-
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farbenen Kleid machte Hallie zu einer goldenen Frau. Denn ihre Augen waren grau, ihre Haut oliv, und um den Hals trug sie ein gelbes Band. Das lose fallende Kleid, an der einen Schulter nicht zugeknöpft, wurde nur durch die Wölbung ihrer nackten Brust am Runterrutschen gehalten. Dennoch sagte sie: »Sooft ich auch Freier habe, sobald ich mit einem Mann zusammen bin, befällt mich ein bißchen Angst.« »Bei mir hast du dazu keine Ursache«, versicherte ihr der Abteilungsleiter zur See. »Mach dir gar nicht erst die Mühe, dich auszuziehen.« Also hatte er etwas an ihr auszusetzen. »Was ist? Magst du keine Brünetten?« »Es liegt nicht an dir, sondern an mir«, antwortete er. »Bei mir geht nichts, das ist alles. Doch ich bezahle gern deine Zeit.« »Auf Almosen bin ich nicht angewiesen.« Hallie war verletzt. »Ich meine es nicht als Almosen. Du hast mir bereits auf eine Art geholfen, die mit Geld nicht zu bezahlen ist.« »Dann nehme ich es doch.« Wieder beruhigt, setzte sich Hallie neben ihn auf ihr entehrtes Bett, und für den Fall, daß bei ihm doch noch was gehe, ließ sie das Kleid so weit rutschen, daß es ihre Brust mehr oder weniger freigab. »Ich bin aus Virginia, versteht sich«, verkündete er, als sei das wichtiger als der Körper einer Frau. »Und ich aus Louisiana«, gab Hallie zurück. »Versteht sich.« »Ich will damit sagen« – er fand es angebracht, geduldig zu bleiben – »daß ich ein Gentleman bin.«
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»Davon bin ich überzeugt«, bestätigte ihm Hallie. »Wenn man selber eine Lady ist, erkennt man das bei einem Mann sofort.« »Ich will damit sagen«, versuchte er es von neuem, »daß ich ein Virginia-Gentleman bin.« »Jetzt mal ohne Ironie: Was heißt das?« »Nun…« Daß ein Begriff wie Virginia-Gentleman einer Erklärung bedürfe, so ein Gedanke war ihm noch nie gekommen. »Nun, das bedeutet, daß ich an der Washington und Lee University Professor werden kann.« »Schön, daß du neben deinem Posten bei der Marine noch einen anderen in petto hast«, sagte Hallie. »So was ist in Zeiten wie diesen eine Rarität.« »Weißt du, was ebenfalls immer rarer wird?« Endlich kam er zur Sache. »Eine alte Negermammy, bei der es hinten so schön weich wackelt.« In seiner Stimme schwang Erregung mit. »Wie sie ankommt mit ihrem Besen und dich fast umrennt. ›Junge, sollst mir doch nix laufen zwischen Beine, wenn ich bei Saubermachen bin!‹ Und da kommt sie abermals angeschoben, jetzt mit Eimer und Schrubber. ›Herrgott noch mal, Junge, wann nimmst endlich mal Gehorsam an? Hab dir doch gesagt, sollst mir nix laufen zwischen Beine!‹ Und kaum hast du dich umgedreht, ist Mammy schon wieder da. ›Herrgott noch mal, Junge, hast lieben langen Tag nix weiter zu tun, wie mir im Weg stehen? Willst wohl ganz naß werden, was?‹« Nur mit Mühe fing er sich wieder. »Sag mal«, fragte Hallie sanft, »wie lange ist das mit dir schon so?« »Natürlich seit dem Tag, da ich die Kanne zerbrochen hatte. Meine Negermammy ist bereits neunzehn Jahre tot – sonst war's für mich ja leicht. Ihr Leben lang
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hatte sie uns bedient, und als sie schließlich nicht mehr arbeiten und bloß noch in ihrem alten Korbsessel sitzen konnte, war keine Seele da außer mir, ihr mal ein Glas Wasser zu holen. ›Mammy‹, habe ich zu ihr gesagt, ›du hast mich bedient, und jetzt bediene ich dich. Ich kümmere mich um meine alte Mammy.‹ Ich schlief neben ihrem Sessel, denn liegen konnte sie nicht mehr. Wurde ich nachts wach, brauchte ich nur hinzulangen und ihr über den knochigen schwarzen Handrücken zu streichen, da wußte ich einfach durch die Berührung ob sie schlief oder wach war. Meist war sie wach. Weißt du, was ich sie dann gefragt habe?« Hallie spürte seine Hand auf der ihren. »Nein, was denn?« »›Brauchst du was, Mammy? Hast du einen Wunsch?‹ Das habe ich sie gefragt.« »Sie war für deine Pflege sicher sehr dankbar.« Er schaute Hallie ganz gerade an. »Mehr als das. Denn an eben dem Tag, da sie starb, hob sie den müden alten Arm und schlug mir mit dem Handrücken ins Gesicht.« »Hattest du ihr denn wieder eine Kanne zerbrochen?« »Sie wollte mir damit zu verstehen geben, daß ihr die ganze Zeit klargewesen war, was ihre allererste Ohrfeige, als ich zehn war, bewirkt hatte.« »Sie verzieh dir die Sache mit der Kanne also endlich?« bemühte sich Hallie weiter. »Wir waren einer dem andern zu verpflichtet, als daß es irgendwelchen Verzeihens bedurft hätte«, antwortete er. »Glaubst du, ich wüßte nicht, daß es Mammys Hand war, was mich zum Mammysteher gemacht
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hat? Daß ich jetzt wahrscheinlich Frau und Kinder hätte, wenn ihre Hand nicht gewesen wäre? Trotzdem bin ich ihr nach wie vor dankbar. Wer sonst hat sich denn menschlich um mich gekümmert? Ich bin froh, daß es auf der Veranda glitschig war.« Hallie wußte nicht weiter. Betrübt schüttelte sie den Kopf. »Ich kriege nicht mit, worauf du hinaus willst.« »Das Wasser aus der Kanne hatte die ganze Veranda naß gemacht. Der Henkel war abgebrochen, und als sie sah, was ich angerichtet hatte, holte sie mit der Hand aus. Ich rutschte und fiel hin, und wie ich da so lag, mit dem Gesicht nach oben, hat sie sich niedergebeugt und mir ein paar runtergehauen. Ich habe geschrien wie am Spieß und so getan, als würde sie mich totschlagen. Mammys Hand war nicht von Pappe. So brachte sie mir zum ersten Mal Gehorsam bei.« Jetzt dämmerte es Hallie ein wenig. »Was bewirkte das bei dir?« »Nun, das, was eintritt, wenn ein Mann mit einem Mädchen zusammen ist, genau das. Anders dazu zu kommen gelingt mir nicht.« Er lachte in dem bräunlichen Licht, doch sah sein Gesicht verzerrt aus. »Ich bin schrecklich müde, weiß gar nicht, wovon«, sagte er und nahm den Kopf in die Hände. Hallie ging auf, daß dies kein Unhold war, sondern lediglich ein einsamer kleiner Junge, der Offizier spielte, obwohl er noch nicht ohne Schnuller auskam. »Was du brauchst«, erklärte sie ganz ruhig, »ist kein Mädchen, sondern ein Arzt.« »Für Mammy Steher gibt es keine Ärzte«, erwiderte er so sicher, als habe er schon versucht, im Adreßbuch der Stadt einen zu finden.
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»Am besten, du ruhst dich erst mal ein wenig aus«, riet Hallie ihm. So schnell sie die Stecknadeln handhaben konnte, machte Hallie Mama für ihre große Rolle zurecht. »Du glaubst nicht, daß er mit der Schiffskasse abgehauen ist, nein?« fragte Mama. »Und uns alle in Schwierigkeiten bringt, nein?« »So leicht hast du im Leben noch kein Geld verdient«, beruhigte Hallie sie. »Das ist bloß ein grüner Junge, der zu lange die Brust seiner schwarzen Amme zu lutschen gekriegt hat. Du mußt nur darauf achten, daß dieser Tolpatsch dir immerzu in den Weg kommt. Doch schlag nicht zu hart zu – wohl aber so, daß es so aussieht, als ob.« »Mich kriegt keiner dazu, einen Angehörigen unserer Streitkräfte zu schlagen!« Mama wollte noch immer nicht. »Von seiner alten Negermammy Maulschellen zu kriegen, extra dazu kommt er doch her! Jetzt dreh dich um, damit ich dir vorn was reinstopfen kann. Dort brauchst du ebenfalls viel.« Sie begann ein kleines Kissen in Mamas Busen zu stopfen. »Um so stärker wirkt dann das Hinterteil. Da mach ich dir einen so schön weichen Wackelpopo, daß du zur Miss Pudding gewählt werden kannst.« »Aber Mädel« – Mama hatte das Spiel noch immer nicht begriffen – »dazu bin ich doch nicht hellhäutig genug.« »Na dann eben Miss Schokoladenpudding. Also nun vergiß endlich mal die Uniform von dem. Kapierst du denn nicht? Er ist anders als andere Männer.« Mama erstarrte zur Salzsäule. »Was – doch nicht etwa einer von denen, die's andersrum wollen?« Sie war
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drauf und dran, sich das zum Turban gebundene Halstuch, so wichtig für ihr Kostüm, abzureißen und die gesamte andersrum wollende Marine aus der Stadt zu jagen. »Nein, bei mir nicht! Nicht für sonstwas für Geld!« »Als so einer wäre er weniger arg dran«, besänftigte Hallie sie. »Nun dreh dich wieder um.« Sie steckte ihr Unterrock auf Unterrock fest. Von dem Gewicht niedergezogen, sank Mama auf einen Stuhl. »Mir bricht der Schweiß aus«, stöhnte sie. »Um so besser«, sagte Hallie. »Du mußt schwitzen, bis du glänzt wie eine Speckschwarte. Aber zeig dich nicht, bevor ich das Zeichen gebe.« Dann trat sie durch die Portiere. Unter der Ruine der goldbetreßten Mütze waren dem König der Zimmerdiebe zu guter Letzt die Augen zugefallen; sein hochgerutschtes Unterhemd hing ihm so um den Hals, als habe ihm jemand mittels Erdrosseln bessere Manieren beibringen wollen. Er schnarchte, bis seine Zehen sich spreizten, streckte sich, bis seine Zähne knirschten – beim Träumen von irgendeiner großen Unverschämtheit, mit der er sich die Welt ein für allemal gefügig machen konnte. »Hört jetzt auf, aus dem Mundwinkel zu tuscheln, als wärt ihr Edward G. Robinson und als befänden wir uns alle im Kittchen«, wies Hallie die Frauen zur Ruhe. »Ihr habt heute abend einen Gast, der Geld bedeutet, und das nicht zu knapp. Versucht also, euch zu benehmen.« Denn die Treppe hinunter kam im Admirals schritt der Held so gut wie gewonnener Meeresschlachten. Er sah aus, als hätten ihn die Hunde unterm Haus vorgehabt, und in seiner Hand baumelte ein leeres Schnapsglas.
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Hallie krümmte einen Finger in Richtung Portiere. Mama trat heraus, eine Negermammy wie aus dem Bilderbuch: schweißglänzende Stirn, Turban, Pfefferminzstangenschürze und in der Hand einen Besen. In der Sekunde, da er sie erblickte, ließ er das Glas fallen. »Das hab ich nicht mit Absicht getan«, entschuldigte er sich sofort und schickte sich an, mit seinem Ärmel die Glassplitter auf dem Fußboden zusammenzufegen, wobei er sie aber nur noch mehr verstreute. (Mammy, damals vor so langer Zeit, die mir an dem Tag, da die große Kanne zerbrach, Gehorsam beigebracht hat, indem sie mir mit dem Handrücken ins Gesicht schlug. Weil sie so tun wollte, als wüßte sie nicht, daß da was für immer zerbrochen war. Dabei aber sehr wohl wußte, wie das mit mir werden würde, und mir eine kleine Pie gebacken hat, ganz für mich allein. Wer soll mir jetzt Gehorsam beibringen?) Mama, in all ihrer lächerlichen Aufmachung, nahm ihm gegenüber Platz. Hallie legte warnend einen Finger an den Mund. Die Mädchen tauschten Blicke, halb Angst, halb Staunen. »Ich bin protestantischer Geburt, aber katholischer Herkunft«, begann Mama die Konversation; sie fand den Zeitpunkt geeignet, das kuriose Niemandsland ihres Glaubens zu erläutern. »Ich habe das Pferd rundum beschlagen.« Womit sie meinte, sie sei viermal verheiratet gewesen. »Darum bin ich für die Kirche nicht tragbar. Aber wenn auch ohne ihre Sakramente, so hoffe ich doch, wenigstens mit ihrem Segen zu sterben.« Sein Ellbogen stieß gegen Floralees Glas. Es kippelte, und er griff hin, als wolle er es am Umfallen hindern, stieß es aber natürlich erst richtig um. Floralee rückte mit ihrem Stuhl zurück, und er begann mit einem seide-
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nen Taschentuch aufzuwischen, das er in dem Naß aber bloß hin- und herschob. »Fahr fort mit deiner Geschichte«, forderte er Mama auf. »Tut mir leid, daß ich so ungeschickt war.« Mama hatte den Faden verloren. Sie konnte sich nur noch erinnern, daß sie vier Männer gehabt hatte. »Drei waren Diebe und einer was Bürgerliches. Einen Bürgerlichen würde ich nie wieder nehmen. Wußten Sie, daß ein Preisboxer außerhalb des Ringes sanfter ist als andere Männer? Weil er nämlich weiß, wie weh Fäuste tun können. Wußten Sie, daß man bei einem Mann, der für Geld mordet, sicherer lebt als bei einem, der noch nie wen umgebracht hat? Weil er weiß, was Töten heißt. Der andere dagegen nicht.« »Wenn das so ist«, bemerkte der Abteilungsleiter zur See, »dann müssen käufliche Mädchen ja auch bessere Ehefrauen abgeben als bürgerliche.« Wieder trat diese seltsame kurze Stille ein. Denn darauf wußte niemand etwas zu sagen. Schließlich brach Hallie das Schweigen: »Marinemann, ich glaube, das ist das Netteste, das ich jemand habe sagen hören, seit ich in diesem Gewerbe bin.« Im selben Moment stieß sein Ellbogen Mamas Glas auf ihren Schoß. »Kommen Sie mir nicht damit an, das wäre wieder bloß aus Versehen passiert!« schimpfte Mama nun ganz ernsthaft. »So ungeschickt kann kein Mensch sein. Ehrlich gesagt, Mister, ich habe den Verdacht, das war mit Absicht.« »Nein, Mammy, war es nicht«, log er geduldig. »Bitte nicht schlagen«, bat Floralee für ihn. »Wenn's möglich wär.« »Ich bin überzeugt, er tut es nicht wieder«, verteidigte ihn auch Hallie.
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»Gib mir noch mal eine Chance, Mammy«, wimmerte er. »Nur aus Achtung vor Ihrer Uniform«, verkündete Mama als letzte Warnung. »Und bloß noch dies eine Mal.« Um ihre Röcke auszuschütteln, stand sie auf und drehte sich um. Da kicherte jemand, und eine andere johlte, und als Mama herumfuhr, sah sie gerade noch, wie er ihr eine lange Nase drehte. »Also das …« Vor Empörung wußte sie kaum, was sie dazu sagen sollte. »Ein Mann aus solchen Kreisen und sich so ungezogen zu benehmen!« »Er hat es doch nicht böse gemeint, Mama«, suchte Hallie sie zu beschwichtigen. »Bitte nicht schlagen«, flehte Floralee abermals. »Nein, nicht böse gemeint«, winselte er in seinem unerträglichen Kleinjungenton, für den allein er schon eine Tracht Prügel verdiente. »O doch, sehr böse sogar«, meldete Kitty. »Ich hab's deutlich gesehen, mit bloßem Auge, denn meine rosa Brille ist in Reparatur.« »Bitte, bitte, Mammy, ich will mich ja auch bessern«, versprach er unterwürfig. »Und immer ganz artig sein. Ehrenwort!« Und als er aufstand, um das durch Handschlag zu bekräftigen, riß er die Tischdecke mit, und Gläser, Cocas, Tabletts, Karaffen sowie vier Flaschen Bier krachten zu Boden. »So was von Tolpatsch, das gibt's doch nicht!« brüllte Mama ihn an, rot vor nun ganz echtem Zorn, gleich darauf aber vor ebenso echter Angst erbleichend. Worauf der zwei Zentner schwere Held sich sofort unter dem Tisch verkroch. Und von dort unten wimmerte: »Schlag mich nicht, Mammy! Bitte, bitte, schlag mich nicht!«
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Da sie ihn mit der Faust nicht erreichen konnte, packte Mama ihn an seinen in schwarzen Seidenstrümpfen steckenden Knöcheln und zerrte ihn hervor, so wie er da auf dem Rücken lag, zappelnd und die eine Hand vorm Gesicht, um es vor den sehnsüchtig erwarteten Hieben zu schützen. »Mir ist das alles nicht geheuer«, sagte Mama zu Hallie. »So darf sich doch kein Mensch gehenlassen, ohne betrunken oder krank zu sein.« »Er ist so krank, daß es für zwanzig reicht«, klärte Hallie sie auf. »Hol mal eine ein bißchen Wasser.« »Geht nicht auch Bier?« fragte Floralee, und schon goß sie ihm ihren vollen Krug mitten ins Gesicht. Wurde aber ganz traurig, als sie hinterher in den Krug schaute. »Oooch – leer! Soll das Vergnügen schon aus sein?« Sie guckte drein, als wollte sie gleich zu weinen anfangen. »Nimm Coca«, befahl Hallie. Wem anders als Hallie hätte das einfallen können? Floralee sprang zu den halbleeren Flaschen, die wie kleine Schildwachen auf den Fensterbrettern und dem Diwan standen, und im Nu hatte sie ihren Krug wieder voll. Diesmal goß sie ihn ihm auf die Hemdbrust. »War das lustig!« sagte sie dann zu Hallie. »Ja, aber jetzt ist der Spaß zu Ende«, erklärte ihr Hallie. »Spaß zu Ende«, nahm Floralee die Sachlage hin. Doch unten auf dem Fußboden hatte der Spaß erst richtig angefangen. Dort lag der Marinewürdenträger und leckte sich seine große Ochsenzunge, ein Coca-Cola schleckender Lazarus, der keine Kraft mehr zum Aufstehen hatte. »Ich bin in Gottes weiter Welt viel rumgekommen«, verkündete Mama, »aber das ist der widerlichste Anblick, den ich je gesehen habe.«
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»Du kannst seine Beine jetzt loslassen«, sagte Hallie, und Mama gab seine Knöchel frei, die wie die eines Toten runterfielen. Beide standen da und schauten nieder. Selbst Hallie wußte nicht, was man mit dem Kerl machen sollte. Da schlug der endlich die Augen auf. Seine so blauen, so gebieterischen Augen. »So gut vergnügt habe ich mich schon seit zwölf Jahren nicht mehr«, bedankte er sich bei allen. Mama ließ sich in all ihrem Aufputz auf einen Diwan sinken und seufzte nur. »Bringt mir die Abendzeitung«, bat sie nach einer Weile. »Ich will sehen, was die Weißen im Schilde führen.« Gestalt, Gesicht und Glitzertressen des Verrückten, der an einem einzigen Abend einen ganzen Monatssold auf den Kopf gehauen hatte, verblaßten schnell. Sein Geld längst ausgegeben, interessierte es keine Seele, was aus dem Mammysteher geworden war. Lediglich Mama fragte ein paar Tage später argwöhnisch: »Dieser Offizier – ob der uns wohl die ganze Wahrheit gesagt hat?« »Ich denke schon«, schätzte Hallie. »Jedenfalls soweit sie ihm klar ist.« »Du meinst, ein bißchen was fehlte?« »Seine Negermammy war kein so simples Gemüt, wie er sich glauben macht. Sie dürfte ihm eher eins über gewesen sein.« »Ich kann dir nicht folgen.« »Nun, von dem Tag an, da sie den Bengel verprügelt hatte, wußte sie sehr wahrscheinlich, mit was für Material sie arbeitete. Ich glaube, ob aus diesem kleinen Jungen ein Mann werden oder er ewig ein kleiner Junge
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bleiben würde, lag ganz allein in ihrer Hand. Sie hatte die Wahl zwischen sich und ihm, und sie entschied sich gegen den Jungen. Das war die einzige Möglichkeit, die sie hatte, ihn nicht eines Tages an ein weißes Mädchen zu verlieren.« »Es will mir nicht ein«, lehnte Mama Hallies Theorie ab, »daß eine gewöhnliche Feldnegerin in der Lage gewesen sein soll, sich so etwas Gemeines auszudenken.« »Sie war keine Feldnegerin. Sondern eine Hausnegerin, also bei der Arbeit fast den ganzen Tag lang mit ihrer Herrschaft zusammen. Alles, was sie hatte, war Eigentum der Weißen. Da sah sie eine Möglichkeit, sich was zu nehmen, das allein ihr gehören würde, auf immer und ewig. Ich möchte schwören, sie hat sich an jemand rächen wollen.« »Glaube ich nicht«, widersprach Mama. »Jeder Mensch braucht wen zum Liebhaben, und diese Frau hatte dazu niemand weiter als einen kleinen weißen Jungen, und der hatte dazu niemand weiter als eine alte Negerin. Wenn es so ist, spielen selbst Hautfarbe und Alter keine Rolle mehr. Bei Liebe zählt nicht einmal der Preis. Nein, nein, die Negermammy hat dieses Kind echt geliebt.« »Eben das suche ich dir ja die ganze Zeit zu erklären«, sagte Hallie. »Bei Liebe ist es egal, was sie kostet und wer der beiden Liebenden zahlt. Deshalb kann er sie selbst heute noch nicht hassen, obwohl ihm bewußt ist, was sie ihm angetan hat.« Wenn der Mammysteher auch längst wieder auf hoher See war und kaum zu erwarten stand, daß er jemals wieder hier aufkreuzen werde, so bewirkte sein Besuch doch eine allmähliche Veränderung des Klimas. Er hatte so großzügig Geld springen lassen, daß Finnerty
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meinte, von solchen Betickten müsse es doch mehr geben, ob nun in Uniform oder in Zivil. Und er fand seine Annahme bestätigt. »Wir leben im Zeitalter der Spezialisierung«, begann er einen neuen Glauben zu predigen. »Wenn man sich einen Zahn ziehen lassen will, geht man da zum Augenarzt? Holt man sich Briefmarken in einer Eisdiele? Neue Märkte öffnen sich, und einer davon ist der für Perverse. Und davon gibt es Hunderte, mit den Taschen voller Mäuse, unberührt von der Wirtschaftskrise und bereit, gut dafür zu bezahlen, daß jemand sie glücklich macht. Nun macht es einen Perversen aber nicht glücklich, in einen Puff zu gehen, sich ein Mädchen auszusuchen und mit ihm zu schlafen. Er will es pikanter haben. Will, daß das Mädchen zu ihm sagt: ›Mach mit mir, was du willst.‹« Vielleicht war Finnerty auch durch seine neue Mieze, ein mageres Kind mit bissigem Mundwerk, gerade erst aus einem Knast in Houston raus, dazu angeregt worden, denn der schien es völlig gleichgültig zu sein, was mit ihr wurde. »Mein Name ist Kitty Twist«, hatte sie zu ihm gesagt, »und ich mache alles.« Daß sie wenig Busen hatte und irgendwie geschlechtslos wirkte, spielte, wie Finnerty wußte, keine Rolle. Denn das war der Typ Mädchen, von dem sich ein Mann etwas zurückholen konnte, das ihm seine Frau oder Geliebte geraubt hatte. Die Stadt war voll von solchen Weichmännern, die weniger Liebe suchten als Rache für Unrecht, echtes oder eingebildetes, ihnen angetan von Frauen: Ehefrau, Kindermädchen, Schwester, Tochter, Geliebte oder Tante. Frauen – die waren die Ursache von allem. Ein Geschäft, das auf Selbstmitleid fußte, warf mehr ab als der altmodische Handel mit Liebe. Die Dividen-
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den der Liebe kamen in kleinen Scheinen, die des Hasses dagegen in großen. »Das ist eine Branche mit Zukunft«, fand Finnerty. Und die Männer, die im Kielwasser des Seeoffiziers kamen, die hatten die großen Scheine. Offenkundig lasen sie keine Zeitungen, denn sie ließen keinerlei Wissen davon erkennen, daß sich das Land in einer schweren Depression befand. Existenzsorgen waren ihnen unbekannt, ihr ganzes Leben lang schon und jetzt noch genauso. Ihre Welt war allein die ihrer eigenen Bedürfnisse, und schauten sie vom Fenster hinunter auf die Straße, sahen sie da unten nichts, ob an Dingen oder Menschen, das irgendwelchen Bezug hatte zu ihnen dort oben, wo Sicherheit herrschte. Börsenjobber und Broker, Produktivitätsexperten mit Privatvermögen, Personalchefs aus Bankiersfamilien, Männer, in deren Wiegen schon Schiffs-, Bergwerks- oder Ölaktien gelegen hatten – der gesamte satte Clan der Stehkragenfüchse, deren Herzen in ihren Aktenköfferchen steckten und deren Liebe in ihren Aktenschränken eingeschlossen war, die aber dennoch vom Leben eine Antwort haben wollten. Ohne sich erst einmal zu überlegen, aufweiche Frage denn. »Das sind Leute aus besseren Kreisen«, suchte Finnerty seine Mädchen zu beeindrucken. »Wenn einer von denen zu euch sagt, ihr sollt am Kronleuchter schaukeln, dann hängt ihr euch da dran und tut's.« »Warum verscheuern wir nicht einfach die Betten und kaufen für das Geld Trapeze?« schlug die Neue vor. »Du weißt wohl auf alles eine kluge Antwort, was?« warnte Oliver sie. »Wenn du auch immer so kluge Fragen stellst, Daddylein«, besänftigte Kitty ihn schnell.
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Gegen die Aktenköfferchen hatten die Henkelmänner – Bauarbeiter, Rohrleger, Steinsetzer, Schlächter, Pförtner, Mechaniker und Handelsmatrosen – keine Chance. Die Aktenkoffer trieben die Preise für Liebe so hoch, daß die hübscheren und jüngeren der Frauen für die Henkelmänner unerreichbar wurden. Warum eine einträgliche Arbeitskraft eine halbe Stunde lang bei einem Kunden einsetzen, der nach Fisch oder Teer stank, wenn einer, der nach nichts als Rasierwasser duftete, das Fünffache zahlte und vielleicht noch nicht mal ein Handtuch naß machte? »Hör zu, Mama«, erläuterte Oliver ihr die neuen Richtlinien, »diese primitiven Proleten, die überhaupt nicht wissen, daß ein Mädchen eine Seele hat, die wollen wir vergessen. Ich kenne einen Luden, der bereit ist, so lange an der Ecke zu stehen und zu warten, bis seine Mieze einen Drei-Dollar-Freier gefunden und bedient hat, damit er sich die Haare schneiden lassen kann. So einer ist für mich kein Lude. Ich habe jede meiner Frauen versichern lassen, und um mit der Zeit zu gehen, liefere ich sie mit eigenem Flugzeug an. Der einfache Arbeiter, was der will, das kann er sich woanders holen. Wir dagegen stellen uns ab sofort um auf exklusive Kundschaft mit exklusiven Wünschen. Auf Männer, die etwas wollen, das sie bei ihrer Ehefrau nicht bekommen, weil sie sich nicht trauen, es von ihr zu verlangen – oder es von ihr nicht möchten. Oder weil sie es gar nicht hat.« »Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstehe, Oliver.« »Tust du«, versicherte ihr Finnerty. »Aber was hat das, worauf du hinaus zu wollen scheinst, mit uns zu tun? Was können unsere Mädchen einem Mann bieten, das seine Frau nicht hat?« »Jungfräulichkeit!« Der Zuhälter spie das Wort
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förmlich aus. »Jungfräulichkeit! Wie käme es denn sonst, daß einer, wenn ich ihn anmachen will mit: ›Mister, hätten Sie Lust, die Mädchen kennenzulernen?‹ mich bloß blöd anguckt und weitergeht? Sage ich aber: ›Mister, wären Sie interessiert an einem Mädchen, das noch keinen Mann gehabt hat?‹, ist er wie gebannt. Er verlangsamt seine Schritte, überlegt es sich, macht an der Ecke kehrt, kommt auf der anderen Straßenseite zurück, und ich brauche lediglich zu warten. ›Was meinen Sie damit?‹ fragt er schließlich, und daran, wie er das sagt, erkenne ich, ob er von der Polente ist oder ein Lüstling. ›Nun, ob Sie gern mal zusehen möchten, wenn sich eine das erste Mal hingibt.‹ Mama, du würdest staunen, wie auf eine solche Aussicht hin nahezu jeder bereit ist, einen Zehner springen zu lassen. Ehrlich, manchmal schäme ich mich so für alle, daß mir die Kotze hochkommt.« »Und ich mich manchmal so für dich, Oliver«, gestand Mama, »daß es mir genauso geht.« Der kleine Mann saß da und hielt sich die Hand vor den Mund, als müsse er sich übergeben. »Welcher Sportsmann würde bei so einer Gelegenheit, wie wir sie bieten, nicht zugreifen? Denn das ist ja so, als bekäme er des Mädchens Seele. Liebe kann er daheim finden – aber die Seele, die Seele! Vielleicht hat seine Mutter ihn vernachlässigt, seine Tante ihn verführt, seine Schwiegermutter ihn eingefangen, seine Frau ihn verlassen, seine Geliebte ihn betrogen. Hier hat er eine Chance, das allen heimzuzahlen.« »Sachte, Oliver«, bremste Mama ihn, als sie die Sprache wiedergefunden hatte, »denn für so was laß ich in mein Haus keinen Mann rein. All mein Leben lang bin ich eine Frau der Unterwelt gewesen. Ich habe den festen Glauben, daß der Herr mir vergeben wird. Ihm
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gegenüber habe ich ja immer Ehrlichkeit geübt, genauso wie vor mir selber und …« »… und deinen Mädels gegenüber, ja, ja«, fiel ihr Finnerty in einem Ton ins Wort, der sie sofort zum Schweigen brachte. »Setz dich hin, Alte. Es gibt da etwas, das ich mit dir klären muß, und das können wir eigentlich jetzt gleich tun.« Gehorsam nahm Mama Platz. »Es dreht sich um ein Scheinchen, das dir als ein Hunderter gegeben wurde und das, als ich es zurückbekam, bloß noch ein Zehner war. Bei einer anderen als Balla-Balla würde ich annehmen, vielleicht war sie das, und nicht du. Aber ich weiß, daß sie sich diesen Schein überhaupt nicht angeguckt hat – ich habe schon oft beobachtet, wie sie Geld nimmt: Sie schaut niemals drauf, sondern steckt es nur ein und händigt es mir hinterher aus, und zwar alles. Also weiß ich genau, daß sie dir original denselben Lappen gegeben hat, den sie bekommen hatte. Alte, du hast deinen besten und einzigen Freund mit dem Zigeunertrick betrogen! Sieht so dein frommes Üben von Ehrlichkeit aus?« »Oliver, wenn ich wüßte, wovon du redest, ich würde dir den Hintern küssen, so wahr mir Gott helfe!« Finnerty legte den Kopf leicht schief. »Du, eine solche Unverschämtheit, wie du da eben von dir gegeben hast, habe ich von einem Niggerweib gegenüber einem Weißen schon lange nicht mehr gehört.« »Oliver, es ist die Wahrheit. Ich weiß es wirklich nicht.« »Schau« – er verlor langsam die Geduld – »ich habe der Mieze eine verpaßt, und die hat es weiter abgestritten. Ich habe ihr eine zweite verpaßt, und sie ist beim Abstreiten geblieben. Auch dann noch, als ich meine Handschuhe ausgezogen und ihr angedroht habe, sie
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mir richtig vorzunehmen. Mama, dich möchte ich nicht schlagen. Aber ich weiß, daß es nicht die Mieze getan hat. Sondern du.« Mama hielt dieses Unrecht nicht aus. »Herrgott, Junge, versündige dich nicht! Was macht dich so sicher, daß es nicht der Landboy war, der dich begaunert hat?« Finnerty lächelte dünn. »Ich frage mich schon die ganze Zeit, wann du damit wohl ankommen wirst. Das läuft aber nicht, Alte. Ich habe diesen Schein, nachdem ich ihn dem Gimpel in die Tasche gesteckt hatte, keinen Moment aus den Augen gelassen.« »Warst du denn mit in dem Zimmer, als er ihn dem Mädchen gab?« »So gut wie. Ich hatte mein Auge am Guckloch.« »Und da konntest du die Zahl auf dem Schein erkennen?« Der Schatten eines Zweifels huschte dem Zuhälter durchs Hirn, als Finnerty sich die reine Einfalt von Doves Gesicht in Erinnerung rief. Es konnte einfach nicht sein. Denn dieser rothaarige Bauernbengel war kein gewöhnlicher Gimpel gewesen. Sondern ein OberObergimpel, wie er einem im Leben nur einmal begegnete, von so schlichtem Gemüt, daß es schon rührend war. »Jeder, aber nicht der«, erklärte er ihr. Und da ihm plötzlich bewußt wurde, wie nahe sie daran gewesen war, ihn aus dem Gleis zu werfen, forderte er noch nachdrücklicher: »Mama, ich will es von deinen eigenen Lippen hören, daß du es warst, die mich geprellt hat, und niemand anders.« Mama kannte diesen Ton; sie konnte nur unglücklich dasitzen und den Kopf schütteln. »Nein. Nein. Ich will den schlimmsten aller Tode sterben, wenn ich es getan habe.«
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Finnerty erhob sich. »Oliver, ich weiß, was du vorhast. Aber ich kriege meinen Mund einfach nicht dazu, das zu sagen, was du hören willst.« Finnerty zog sich den einen Handschuh an. Er strich ihn über jedem einzelnen Finger glatt. Nachdem auch die kleinste Falte ausgeglättet war, drehte er langsam das Handgelenk, um dessen Beweglichkeit zu testen. Dann streifte er den anderen Handschuh über. »Ja«, sagte Mama zu ihm. »Ja. Ja. Ja.« »Ich wußte es die ganze Zeit, daß du es warst«, erklärte Finnerty. »Ich ziehe dir das Geld nicht ab. Aber erzähl mir nie wieder, du würdest immer ehrliches Spiel treiben. Mir nicht! Hier.« Er goß ihr einen Cognac ein und reichte ihr das randvolle Glas, ohne einen Tropfen zu verschütten. Doch Mamas Hand zitterte beim Abnehmen so stark, daß er ihr helfen mußte, es an die Lippen zu setzen. Als das Glas leer war, hielt sie es hin für mehr. Er füllte es abermals. Diesmal trank sie sicherer. Und wollte immer noch mehr. »Wenn ich nur einen einzigen Sperling vorm Fallen retten kann …«, begann sie. »Das reicht für heute, alte Betschwester«, stoppte Oliver sie. »Ich hab zu tun und du ebenfalls.« Und ging seine Maus beobachten. Das, was draußen auf der Straße als Tag des Zorns angekündigt wurde, und das, was man drinnen in dem Puff darunter verstand, waren Strafgerichte zweier völlig verschiedener Welten. Mochte jener Amateurheiland die Frauen auch vor den Schlünden der Hölle warnen, sie waren überzeugt, diese seien allein für jene reserviert, die bei der Polizei sangen. Sicher hegte kein
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vernünftiger Gott Groll gegen ein Mädchen, das sein Brot im Schweiße seines Geschlechts verdiente, mit dem Er es gesegnet hatte. Aber eine Schwester zu verpfeifen, um die eigene Haut zu retten – das würde kein Gott, der dieses Namens würdig war, ungeahndet lassen. Außerdem mußte Gott ja auf ihrer Seite sein, weil er auf der von Mama stand. Brachte Mama nicht in einem fort Kanarienvögel in der Mauser oder im Preis herabgesetzte Goldfische an, weil sie ihr leid taten? Sagte sie nicht beinahe tagtäglich: »Wenn ich nur einen einzigen Sperling vorm Fallen retten kann, dann hat es doch noch sein Gutes, daß ich eine Gefallene geworden bin«? Lange nach Mitternacht riefen alte, einsame Eisenbahnzüge zu Mama hinauf, wie Liebhaber, die zum Lieben immer zu spät kommen, riefen von dem langen, sehnsuchtserfüllten Fluß her, vorbei an Gleisen, Wasserturm und Pier, hinauf zu Fenstern, in denen kein Licht mehr brannte, und Türen, die schon zu waren; alte Kavaliere, die vor langer Zeit in der Perdido Street Stamm gewesen waren und die wieder herkamen, um den Namen von Mädchen nachzuweinen, die sie geliebt hatten. Sie hatten die Taschen voller Geld und die ganze Nacht Zeit. Aber die Fenster waren dunkel, die Türen verschlossen, und die einzigen Mädchen, deren Namen sie kannten, hießen bloß noch Staub und Asche. Da erhob sich Mama von ihrem so breiten Bett, die Frau, die der Papst nicht haben wollte, die die Schwachen und Mutterlosen so verteidigte und die so aufpaßte, daß kein einziger Sperling fiel, solange es nicht um Dollars ging. Und sah einen zu spät gekommenen Kavalier anrücken und sich unter eine Laterne stellen, die die ganze Nacht wie käuflich aussehen machte.
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Unten an der Ecke hörte sie irgendeine Frau ihren Koberpreis von vier Dollar anbieten. Dann ihren Mann ihr von einem Stück weiter die Straße hinunter ein Signal zupfeifen: »Ich hab hier einen Freier für dich, Baby, also komm nach Hause.« Und die leere Nacht senkte sich wieder herab. Von irgendwo oben oder irgendwo unten begann die Stimme eines Mädchens aus den Bergen die Dunkelheit zu bitten: Weh ihn hinweg, den Morgentau … Und Mama wußte, wußte sehr gut, früher oder später kam die Stunde, da der Polizeiwagen die Mädchen holte, die mit Stolz wie die ohne, die mit Spargeld wie die ohne, und sie zu jenem Keller unter den Zellen brachte, wo eine Tür in die Freiheit führt und eine andere ins Gefängnis. Eine zurück auf die Straße und eine zu einer Sitzreihe. Wo manche sich dann selber freikauften, manche die Kaution von ihren Zuhältern gestellt bekamen und manche ihre Schwestern verpfiffen. Weh ihn hinweg, den Morgentau, Mit Winden lind und lau. »Wenn ich schon nicht mit den Sakramenten der Kirche sterben kann« – Mama bekreuzigte sich, wo sie stand – »dann laß mich wenigstens mit ihrem Segen sterben.« Da die Luft dort so stickig war, der Whiskey so schlecht und so teuer und der Weg dahin so steil, kamen Abend für Abend alle zu Dockery's Doll House, während andere Kneipen leer blieben. Das heißt, alle kamen, nur die Polizei nicht. In diese windschiefe Spelunke, wo sogar der Fußboden eine
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leichte Schräge hatte, kam die nie. Wenn die große Stille einsetzte, die bedeutete, daß es gleich Krawall geben werde, ließ der alte Mann die Jalousien herunter, bis das Handgemenge vorbei war. Er selber hatte sich noch nie im Leben mit jemandem geprügelt, doch empfand er senile Freude, anderen dabei zuzuschauen. Für Männer gehöre es sich, sagte er, Meinungsverschiedenheiten mit den Fäusten auszutragen – aber die kribbelnde Wonne, die er empfand, wenn das erste Blut floß, war weibischer Natur. Solche Keilereien gab es häufig, doch achtete er immer darauf, daß nichts davon nach draußen auf die Straße drang. Nur das stete Surren der Deckenventilatoren, verzweifeltes Schurren von Schuhen und keuchendes Atmen waren zu hören, wenn der Kampf zweier Zuhälter auf den Dielen hin- und herwogte. So plötzlich wie der angefangen hatte, hörte er auch auf. Doc ließ das Licht herein, Sieger und Besiegter schmissen eine Stubenlage, Stimmengedröhn erhob sich wieder, die Musikbox begann »Dream Train« oder »It's Only a Paper Moon« – und alle hatten das Gefühl, doch noch was Richtiges erlebt zu haben. »Gucken wir uns an, was die Macker machen«, schlugen Huren an freien Nachmittagen einander vor. »Ich möcht heut lieber eine schöne Schlägerei sehen als einen traurigen Film.« Wurde einer so ernsthaft verletzt, daß er zum Trinken nicht mehr hochkam, goß ihm Old Doc persönlich einen Schluck in den Hals, und seine Freunde schleppten ihn dann weg, um ihn hinter einer weniger glücklichen Kaschemme abzusetzen. Seltsamerweise aber waren all die Kämpfe unnötig, und keiner bereinigte jemals etwas. Es ging ja auch nie um reale Dinge wie Geld oder Liebe. Hatte Daddy
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Dandy wirklich zu Lui Lässigs Frau gesagt, sie kleide ihren Mann nicht standesgemäß? War von Lui Lässig wirklich verbreitet worden, Spanier-Max würde seine eigene Mutter an die Polizei verkaufen? Das schien es zu sein: Sie mußten lediglich ihre Ehre verteidigen. Nicht weil sie zu viel Schnaps intus hatten, sondern zu wenig. Ihr Leben wurde so leer wie ihre Gläser; Mangel an Liebe dörrte ihnen die Kehle aus. Sie wollten betrunken sein. Und betrunken bleiben. »Auf den Kartoffelchips ist zuviel Salz«, beschwerte sich immer irgendwer bei Dockery. »Sie sollen den Leuten ja auch Durst machen«, erklärte Doc. »Aus dem gleichen Grund ist der Senftopf stets voll und sind genügend Salzbrezeln da.« Damit sie sich betranken. Und betrunken blieben. Dove aber kam zur Mittagszeit her, lange vor der Stunde der Trinker, bloß um seinen Musterkoffer unter den Tisch zu stellen, sein Buch auf die Tischplatte zu legen und ein Poor-Boy-Sandwich sowie eine Flasche Bier zu bestellen. Dann, das Buch vor sich und das Bier vergessen, sah er endlich selber, wie verschieden ein A von einem B war. Als er eines Tages beim Studieren von M und N war, fiel ein Schatten über die Seite, und Finnerty schlug das Buch zu. So wie für immer. »Was hast du denn da für eine neue Leimrute?« fragte er. »Märchen – begaunerst du jetzt Kinder oder was, Landboy?« Dove nahm das Buch und steckte es weg. »Hallo, Oliver«, sagte er. Ungläubig schüttelte Finnerty den Kopf. »Die Vorstellung, daß ich dich für den größten Einfaltspinsel in der Stadt gehalten habe!«
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»Ich tu doch für Watkins arbeiten«, erklärte Dove dem Zuhälter mit verständlichem Stolz. »Mann, du bist Klasse. Einfach Klasse. Und die Masche mit dem Musterkoffer ist Spitze. Einfach Spitze. Dieses Ding mit dir rumzuschleppen, dazu dein Landeigesicht – wer käme da jemals drauf, womit du wirklich handelst?« Er zog einen Stuhl heran, setzte sich so nahe und redete so leise, den Mund direkt an Doves Ohr und seinen kleinen Finger in den von Dove gehakt, daß Dove sich zwischen ihm und der Wand wie gefangen vorkam. »Da du mein Freund bist«, flüsterte Oliver mit feuchter Aussprache, »sehe ich es als meine Freundespflicht an, dich darauf hinzuweisen, daß meine Neue dir ganz schön was einbrocken kann. Ich tu bereits mein möglichstes, sie davon abzuhalten. Nein, ich meine nicht die Sache – so übel die auch war –, wo sie den Kopf hat hinhalten müssen, während du dich mit der Sore aus dem Staube gemacht hast. Daß Texas deswegen Auslieferungsantrag für dich an Louisiana stellt, glaube ich nicht. Aber dein Gewissen, mein Freund, wie steht's damit? Wußtest du, daß das Mädel hundert Tage gesessen hat, ohne daß ihr einer auch nur ein einziges Paket geschickt hat? Du und ich, wir beide wissen, wie hart, wie unheimlich hart so was da drinnen ist. Aber wie du deine Miezen behandelst, wenn sie im Knast sind, ist natürlich deine Sache. Ich jedenfalls würde keine so hängenlassen, nicht mal eine, die mir nichts mehr bringt.« »Oliver« – Dove mühte sich, seinen kleinen Finger freizubekommen – »dieses Mädchen hat dir was Unwahres erzählt.« »Du nimmst doch wohl nicht an, daß ich einer Nutte
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mehr glaube als meinem Freund mit dem Musterkoffer und dem Märchenbuch? Wo der mir doch mein einträglichstes Pferd eingeritten hat!« Oliver war verletzt, daß Dove auch nur annahm, er könne eine solche Gefälligkeit vergessen haben. »Natürlich lügt sie. Wie alle Nutten. Was ich dir zu sagen versuche, ist, daß ich bereit bin, dir aus dieser Klemme rauszuhelfen. Mann, ich habe selber gesessen, in Hurtsville, ich weiß, was das heißt. Dort haben sie mich dazu gekriegt, daß ich bereut habe, auf die Welt gekommen zu sein. Und meinem Freund mit dem Musterkoffer, dem soll das nicht ebenso widerfahren. Wenn sie nun aber doch hingeht und angibt, daß sie noch minderjährig war, als du sie in einem Gefährt in einen anderen Bundesstaat verschleppt hast? Da kann selbst Oliver Finnerty nichts machen.« »Ich hab sie doch nicht verschleppt! Wir sind bloß ein Stück zusammen gefahren, mehr nicht. In einem ollen Güterwagen. Und der läßt sich ja wohl schwerlich als ›Gefährt‹ bezeichnen.« Finnerty zog seinen kleinen Finger heraus, als wäre das Verhaken Doves Idee gewesen. »Als was denn sonst, Mister Oberschlau? Als Opossum auf einem Telegrafenmast?« »Es war ein Selbstentlader. Mit offener Bodenklappe!« »Bruder« – Finnerty legte Dove eine Hand auf die Schulter – »Bruder, ob du's per Güterwagen oder auf Kollschuhen getan hast, ist ganz egal. Diese Mieze kann auf jedem Polizeirevier der Stadt einen Haftbefehl für dich erwirken und …« »Ich hab sie unter den Rädern vorgezogen!« Dove schrie das fast. »Bin gut zu ihr gewesen!« Finnerty schüttelte solang den Kopf. »Gut genug zu
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einer kann man immer sein«, mahnte er Dove. »Aber schlecht genug nie.« »Verdammt noch mal, ich hab ihr das Leben gerettet!« fügte Dove hinzu, spürte allerdings, daß ihn aller Mut verließ. »Glaube ich dir sogar«, sagte Finnerty teilnahmsvoll. »Aber vor Gericht nutzt dir selbst diese Lebensrettung nicht viel.« »Sie hat gewollt«, erinnerte Dove sich verzweifelt. »Viel mehr als ich. Und wurde immer schärfer. So sehr, daß ich auf dem Bauch schlafen mußte.« »Gewollt haben zählt nicht. Bei einer Minderjährigen gilt's immer so, daß du sie genotzüchtigt hast, selbst wenn sie dich mit einem Revolver dazu gezwungen hat.« »Hat sie aber nicht«, gestand Dove. »Und ebensowenig hab ich sie in Not gezüchtigt. Wirklich nicht, Oliver.« Seltsamerweise wurde er jedoch rot. »Wir machen alle von Zeit zu Zeit mal verrückte Sachen«, erklärte Oliver mit gesenkter Stimme, denn er deutete dieses Erröten ganz richtig. »Ich sag immer, wenn man nicht das Zeug zum Champion hat, kann man sich gleich von den Weibern unterbuttern lassen, 'ne Mieze ist bloß 'ne Mieze, ein Freund aber ist ein Freund, sei also unbesorgt. Denn ich lasse nicht zu, daß ein Freund von mir eingelocht wird, weil eine Pritsche ihm eins auswischen will. Ich habe ihr schon klargemacht, daß es ihr dann an den Kragen geht. ›Baby‹ habe ich gesagt, ›einen Freund von mir verpfeifen – da wirst du anders vorgenommen, als wenn du bei mir mal Schmu gemacht hast!‹ Willst du nun, daß ich dir aus dieser Bedrouille raushelfe, in die du dich reingeritten hast, oder nicht?« Dove begann so Angst zu bekommen wie noch nie im Leben. »Da war ich dir mächtig dankbar, Oliver.«
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»Also gut. Aber eine Hand wäscht die andere. Das heißt, ich erwarte deine sofortige Mitarbeit. Ich bin der General, du bist der Soldat: Wenn ich einen Befehl gebe, hast du ihn auszuführen. Andernfalls habe ich meine Mittel, dir nachzuhelfen.« »Du bist mein Käptn«, willigte Dove ein, »und ich bin dein Matrose. Eins aber bitt ich mir aus.« »Und das wäre?« »Daß du mich nicht Mister Oberschlau nennst, sondern Tex.« »Okay, Tex.« Finnerty streckte ihm die Hand hin. Dankbar schlug Dove ein. »Ich hab meinen Teil der Abmachung geleistet, Oliver«, sagte Dove eine halbe Stunde später in Mamas Salon zu Finnerty. »Das hast du, und ich bin so stolz auf dich, daß ich in der ganzen Stadt mit dir Reklame machen werde«, versprach er. »Komm und hol dir deinen Lohn.« Er hielt ihm eine Fünf-Dollar-Note hin. Dove drehte den Schein um, als könnte auf der Rückseite eine andere Zahl stehen. Dann reichte er ihn Frenchy mit den Worten: »Erzähl allen, wo du ihn her hast, und was das Ganze für'n Kinderspiel war.« Und schritt lässig zur Tür hinaus. Finnerty konnte es nicht fassen. Kurz vorm Eingang zu Dockery holte er Dove ein. Da er ein bißchen außer Puste war, wartete er damit, Dove zu einem Drink einzuladen, bis sie drin waren. »Gib diesem Mann, was er trinken möchte«, sagte er atemlos zu Dockery. »Und zwar immer.« »Wenn dieser Mann was trinken möchte, zahlt er selber, und zwar immer«, erklärte Dove Dockery und legte einen Hunderter auf die Theke.
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Finnerty wollte danach greifen. Sacht schob Dove ihm die Hand weg. »Soviel ich weiß, nimmst du von jedem Zuschauer zehn Dollar, Oliver. Du hast ein volles Haus gehabt. Also krieg ich jetzt meine dreißig.« Finnerty zückte seine Geldtasche. Langsam zwar, aber er zückte sie. »Hätte ich dir nie und nimmer zugetraut«, gestand er und legte drei Zehner auf den Hunderter. »Solchen Nerv zu bringen!« »Du bringst die Jungfrauen und ich den Nerv«, versprach Dove. »Wußtest du, daß ich deinetwegen einem armen Mädel eine Neunzig-Dollar-Abreibung verpaßt habe?« fragte Finnerty in rügendem Ton, während er zusah, wie hundertdreißig Dollar in Doves Brieftasche verschwanden. »Wie ich stets sage«, erklärte Dove ihm fröhlich, »gut genug zu einer kann man immer sein. Aber schlecht genug nie.« Dumpfe, luftlose Tage, wenn purpurfarbene Höschen und schwarze Büstenhalter, silberne Strapse und bunte Oberteile auf den Leinen hingen: ein Dschungel aus Reizwäsche. Sein Laubwerk jene Gewänder der Schande, die sich auswaschen ließen, und seine einzigen Laute das Rufen des Pepperpot-Mannes: Heißer Pepperpot. Scharf macht stark! Bis ins Mark! Heißer Pepperpot! Gerüche und Rufe, ein Leibchen beschmiert mit Wimperntusche, das Eingießen von Wasser in ein Bekken, bevor des langen Tages als erster auf gestandener
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Freier sich mit dem als letztes wach gebliebenen Mädchen verklammerte. Wie Feinde stießen sie einer gegen den anderen, Bauch gegen Bauch, bis seine zwei Dollar Leidenschaft verausgabt waren. Während er dann dastand, den einen Strumpf schon angezogen, den anderen Fuß noch nackt, wehte ihn Ekel an. Wie ein Parfüm, das einen ewig scheinenden Vormittag durchdringt. Bis der Mittag mit dem Abend verschmolz und der Abend mit der Nacht. Dann ein rötlicher Geruch wie von Seife oder Blut, die Stimmen von Frauen und einsetzendes eilendes Treiben, irgendwo oben oder unten. Dann mischten sich der Zigarrenrauch mit Cologne und der Weihrauch mit Whiskey und der Whiskey mit Gin. Dann war Dove Linkhorn immer zu finden, manchmal oben und manchmal unten. Manchmal in einem roten Hemd und manchmal in einem gelben, mit Cowboystiefeln und schwarzem Knüpftuch. Den einen Fuß auf die Trittstange von Dokkerys Theke gesetzt oder sich gegen Dockerys Musikbox lehnend, ließ er Fremde nicht lange darüber im unklaren, wer er war. »Gib Big Bull die Hand! Big Bull vom Rio Grande! Guck mal, diese Stiefel – die haben vierzig Dollar gekostet. Und der Hut fünfunddreißig. Ich bin hier der, der am meisten trinkt. Und auch am meisten spendiert. Kannst haben, was du willst, brauchst bloß auf die Flasche zeigen. Ich laß meine Freunde doch nicht verdursten. Und wenn du mit 'nem Mädchen bekannt werden willst, sag mir nur, mit welchem. Die meisten gehörn mir, aber ich bin kein eifersüchtiger Typ. Denn ich weiß, daß sie zu mir zurückkommen. Zu ihrem Daddy-O. So nennen sie mich, ihren Daddy-O, aber du kannst Tex zu mir sagen. Immer wenn du hier rein-
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schaust und ich bin mal nicht da, sag dem Alten hinter der Theke einfach, du wartest auf Tex. Sag ihm, was du trinken willst – er arbeitet für mich –, und früher oder später komm ich dann. Mit in jedem Arm einer und höchstwahrscheinlich auch in einem neuen Hemd, das mir eine von den beiden grade gekauft hat. Guck mal den Gürtel hier. Hat mir ein Mädchen geschenkt.« Der Whiskey braun, der Rum so schwarz, das Bier so dunkel, der Gin so hell. »Ich kann zwar nicht mal meinen eignen Namen lesen, selbst wenn er riesengroß an einer Scheunenwand stehen tat, mach aber an einem einzigen Tag mehr Kohle als mancher gebildete Trottel im ganzen Monat. Trink!« Whiskey, Brandy, Gin, Rye, ob gute Ware oder Fusel, Big Bull trank alles, was eingeschenkt wurde. Bis Tropfen auf sein rotes oder gelbes Hemd kleckerten und Bier in seine Cowboy Stiefel sickerte. Einmal erhob er sich in einer Lache Urin oder Wein, und sein Kopf hatte von einer schweren Ladung Rum Schlagseite. Er schwenkte die Arme, bis jemand die Musikbox abschaltete – Big Bull hatte der gesamten Zuhälterzunft etwas zu sagen. »Brennt eure Großstädte nieder!« forderte er alle auf. Er wankte einen Augenblick, suchte sich zu erinnern, was sonst noch getan werden mußte. »Brennt eure – hick! – Großstädte nieder und laßt – hick! – unsre Farmen bestehn«, beendete er lahm seine Ansprache. »Und? Fahr fort!« Aber so sehr Dove sich auch zu erinnern bemühte, das war alles, was er noch zusammenbrachte. Denn täglich ein- bis zweimal standen Finnertys Gentlemen mit auf eine Wand gebannten Augen da, um
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sich durch seine Stellvertretung jenes uralte Gelüst erfüllen zu lassen: eine Jungfrau zu deflorieren. Finnerty hatte recht. Das war eine Phantasie, der sie allesamt schon ihr Leben lang nachzujagen glaubten, tatsächlich aber von ihr gejagt wurden. Sie hatten daraus lediglich einen geheimen Mythos gemacht, der niemals Wirklichkeit werden konnte. Finnerty aber ließ diesen Trugmythos verheißungsvoll und in leuchtenden Farben kreisen wie ein Glücksrad im Dunkeln, das, wenn es nicht mehr gedreht wird, bloß noch eine buntbemalte Holzscheibe ist. Er unterwies die Mädchen, ihre Keuschheit nicht leicht aufzugeben, sondern nur unter Tränen und erst nach einigem Widerstand. Floralee taugte dazu ganz schlecht, denn sie konnte, ja wollte nicht verstehen, daß das alte Spiel jetzt anders zu gehen hatte. Sobald Dove hereinkam und seinen Stetson aufhängte, riß sie sich alle Kleider vom Leibe und begann mit Silberglockenstimme zu singen: Unsre Katz hat Junge, Die sind winzig klein. Und forderte Dove auf, mit ihr in die Hände zu klatschen: Aber dein Rhabarber, Mag der größer sein? Ihr war einfach nicht begreiflich zu machen, daß so etwas ganz und gar nicht dem Benehmen einer tugendsamen Jungfrau entsprach: Ja, der steht schon prächtig Auf der ganzen Farm. Und ein weitres Gläschen Tut uns keinen Harm.
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Reba dagegen spielte ihre Rolle um einiges zu gut. Sie floh von einer Ecke in die andere, scheute zurück wie ein in eine Falle geratenes Tier, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte die Wände an: »Nein! Nie und nimmer!« Mit beiden Fäusten schlug sie Dove auf die Brust, und während sie ihn laut beflehte, sie nicht zu entehren, rutschte ihr wieder mal das Gebiß heraus. Was sie aber nicht im geringsten aus dem Konzept brachte. Sie machte einfach weiter, nuschelte zahnlos im Takt zu ihren hämmernden Fäusten: »Nein! Nie und nimmer!« Für die vielen Abtreibungen, die sie hinter sich hatte, war sie erstaunlich behende. Immer wieder wich sie Dove geschickt aus, bis er, mit nichts weiter an als roten Sockenhaltern und Cowboystiefeln, dastand und kaum noch Puste hatte. Nachdem sie das etliche Male so mit ihm gemacht hatte, sah er sich gezwungen, sich bei Finnerty zu beschweren. »Ist ja gut und schön, wenn eine zu schauspielern versteht«, sagte er, »und ich erwarte auch nicht, daß es mir allzu leicht gemacht wird. Aber Reba hin- und her- und rumzujagen kostet Kraft. Sie ist 'ne hübsche Puppe und alles, doch sie macht einfach zu sehr auf echt.« Manchmal war auch Frenchy die Unschuld. Kitty bat und bettelte, ebenfalls mitmachen zu dürfen, aber die dilettantischen Tätowierungen, die sie sich als Kind beigebracht hatte, schlossen sie aus. »Wer hätte je von einer tätowierten Jungfrau gehört?« wies Finnerty sie ab. »Ich behalte einfach die Sachen an«, schlug sie vor. »Dann verlangen die ihr Geld zurück«, erwiderte Finnerty. »Geh runter an die Tür, wo du hingehörst,
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und ich will dich nie wieder dabei erwischen, daß du deinen Posten verläßt!« Sie erkannte nicht, daß er sie, täte sie sich auch nur ein bißchen gegen ein Mitmachen sträuben, sogar zwingen würde, sich oben entjungfern zu lassen, statt unten stundenlang bloß Wache zu schieben. Niemals aber war es Hallie. Dazu wäre Hallie nie bereit gewesen. Was hätte Finnerty dafür gegeben, gerade sie einsetzen zu können! Doch bestand nicht die geringste Aussicht, sie rumzukriegen. Sie hatte schon mit tausend Männern geschlafen, innerlich aber war sie noch immer unberührt. Das wurmte ihn nicht minder als die Tatsache, daß er nach jedem Anstich eines dieser Nie- und nimmer-Mädchen sechzig Dollar mit Dove teilen mußte. Was für diese Art von Arbeit ja auch wirklich eine fürstliche Entlohnung war. »So mancher würde das mit Freuden umsonst für mich machen«, gab er Dove zu bedenken. »Bloße Eintagsfliegen«, warnte der ab. »Die können heute, aber morgen schon nicht mehr.« In der Tat, Dove war nicht zu ersetzen, und Finnerty wußte das. Jedesmal wenn er ein Auge ans Guckloch legte, um Dove zu kontrollieren, sah er ihn für seinen Spitzenlohn auch eine Spitzenleistung bringen. Und vor allem schien es nichts zu geben, das seine Kräfte über eine gewisse Regenerationspause hinaus zu erlahmen vermochte. Man konnte sich auf ihn verlassen wie auf die Gezeiten des Meeres. Seine Bewunderung von Doves Stehvermögen für sich zu behalten war Finnerty unmöglich. »So was hast du noch nicht gesehen«, forderte er den beinlosen Schmidt zum Zuschauen auf. »Gott hat seinen Arm um diesen ungöttlichen Komiker gelegt.«
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»Warum sollte er das bei so einem wie dem tun? Du kannst den lieben Gott aus dem Spiel lassen, denn für so was zahl ich keinen Nickel.« Finnerty tat beleidigt. »Mir fiele nicht ein, von dir dafür Geld zu nehmen. Ich dachte nur, du würdest gern mal lachen.« »Dabei gibt es nichts zu lachen«, erklärte der halbierte Hüne dem kleinen Zuhälter. »Wie kannst du das sagen, ehe du's gesehen hast?« beharrte Finnerty. »Mann, wie dieser Deckbulle sich ins Zeug legt – da läßt sich was bei lernen!« »Vielen Dank, aber ich bleibe lieber dumm«, lehnte Schmidt ab. Finnerty gab noch immer nicht auf. »Überleg dir's, Freund. Mein Angebot gilt jederzeit.« Warum er Schmidt mit hineinziehen wollte, war Finnerty selber nicht ganz klar. Er nahm dem Krüppel übel, daß er sein Auskommen hatte, fand das nicht richtig, wo heute doch selbst arbeitsfähige Männer betteln gehen mußten. Hinzu kam, und das wurmte ihn noch weit mehr, daß sich Hallie so leichthin seinem eigenen Charme verschloß. Wie konnte eine Frau einen Mann ohne Beine einem kleinen Adonis wie ihn vorziehen? Wohl aber kannte er die alte Weisheit: Kommst du an eine Frau nicht ran, dann mach dich an den ran, der an sie rangekommen ist. Doch ob nun als Lach- oder als Lustanreiz berechnet, sein Seelenkalkül ging glatt auf. Irgend so ein Kragenoder Aktenkofferträger kam unter dem Vorwand herein, nach einem Bekannten zu suchen; dann ein weiterer Bekanntensucher und noch einer, bis fünf oder sechs beisammen waren. Mit einem nach dem anderen führte Oliver ein kleines Gespräch unter vier Augen,
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und durch die halboffene Tür konnte man seine Stimme hören, die vertraulich, verheißungsvoll und versichernd klang. Bis das Geschäft abgeschlossen war und ein Zehn-Dollar-Schein den Besitzer gewechselt hatte. Legte der Käufer schließlich sein Auge an das Guckloch, sah er zunächst nichts weiter als ein blasses, schwachsinniges Mädchen mit blonden, fest um den Kopf gewundenen Zöpfen, das einen schlichten Baumwollhänger trug und die bleichen Hände im Schoß gefaltet hielt. Dann kam ein rothaariger Bauernbengel hereinstolziert, auf dem Kopf einen Sheriff-Hut mit grellbunter Kordel und die Füße in Stiefeln, an denen nur noch die Sporen fehlten – die Versteckten konnten seine Schnapsfahne beinahe riechen. Wenn er den Stetson abnahm, knöpfte das blasse Mädchen sein Kleid auf. Die Figur, die er nun machte – zum Schreien komisch! Die einzigen Laute in dem Zimmer waren sein schweres Keuchen und das Surren des Deckenventilators, der die laszive Luft in Scheiben schnitt. Der Kerl verrichtete seine Arbeit da drinnen so, als wäre das ein Heldenstück, das sonst niemand auf der Welt vollbringen könne. Manche empfanden Verachtung für den schamlosen Schwachkopf, jedoch nicht alle. Bei jedem der Spanner bewirkte die Vorführung etwas anderes. Dem einen wich beim Zuschauen langsam die Farbe aus dem Gesicht. Schon nach einer Minute ging er weg und dachte bei sich, wie traurig so was letzten Endes doch sei. Ein zweiter lachte selbstgefällig in sich hinein, weil ihm hier endlich bestätigt wurde, was er schon lange geargwöhnt hatte: daß ein Mann nichts weiter war als ein zweibeiniges Tier und eine Frau ein vierbeiniges.
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Wie gut, sagte er sich, daß er das mal so richtig zu sehen bekomme! Ein dritter schaute so aufmerksam zu, als würde Teppich weben vorgeführt: Sieh an, im Kleingewerbe war auch jetzt noch etwas zu verdienen! Ein anderer spürte schon schal gewordene Gelüste wieder hochprickeln und biß sich auf die Lippe: Schade, daß er heute abend so wenig flüssig war – sonst würde er die Nacht durchmachen und mal anständig die Sau rauslassen! Der große Krüppel aber lachte weder in sich hinein, noch wich ihm die Farbe aus dem Gesicht. Nur seine Züge verhärteten sich; er schwang seinen Torso auf den kleinen Rädern herum und rollte davon, laut auf dem Gang ratternd, um seine Empörung zu kaschieren. Nein, für so etwas hatte Schmidt nichts übrig. Die Voyeure saßen wieder im Salon, wenn Dove herunterkam – und da begann der Spaß erst richtig. Das Bild des Burschen, wie er sich die Haare kämmte oder eine Münze in die Musikbox steckte, scheinbar ahnungslos, daß er eine öffentliche Vorstellung geliefert hatte, setzte hämisch feixende Blicke in Gang, und alle fanden, die Ausgabe habe sich allein schon deswegen gelohnt. Daß der Witz in Wirklichkeit aber auf ihre Kosten ging, ließ Finnerty natürlich nicht laut werden. Hätten sie erfahren, daß der Klotz mit dem Stetson nicht nur von ihrem Zuschauen wußte, sondern insgeheim noch stolz war auf seine Potenzdemonstration, wären sie wohl über Dove und seinen Arbeitgeber hergefallen. Schmidt wußte natürlich Bescheid und teilte nicht das Vergnügen, das die anderen empfanden. Aus einer Ecke, wo kaum Licht hinfiel, beobachtete er Dove. Big
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Bulls Hemd stand am Hals offen, sein Gesicht war gerötet, und seine Augen sahen bereits leicht glasig aus, denn er hatte wieder mal dreißig Dollar verdient. Und gab sie auf die Weise aus, die er als die schnellste herausgefunden hatte: indem er all und jedem Drinks spendierte. »Er merkt nicht, daß die Schau schon aus ist«, gingen Schmidts Gedanken, als die Musikbox einsetzte: They needed a songbird in Heaven So God took Caruso away … Dove begann, den Sänger stumm zu imitieren, als wäre es seine Stimme, die da um Caruso trauerte. »Ich wünschte, ich könnt richtig singen«, lamentierte er, nachdem Caruso geholt worden war. »Aber ich hab meine Stimme schon als Baby verlorn, weil ich immer so laut schreien mußte, um überhaupt was zu futtern zu kriegen.« Der Mann ohne Beine hatte in Schaubuden gelebt, unter Spinnenmenschen, Fünf-Zentner-Frauen, Zwergen, Zwittern und Jungen mit Hundeköpfen, doch ihm schien, daß der Anblick keiner jener Monstrositäten ihn so mit Abscheu erfüllt habe wie der dieses grinsenden Fatzkes vom Lande, der als Vorturner arbeitete und jetzt Caruso mimte. Als die Platte abgelaufen war, erblickte Dove Hallie. Er trat an ihre Seite, hob sein Glas, leerte es und rief: »Wirt! Diese Dame braucht was zu trinken!« Hallie bedeckte ihr Glas mit der Hand. »Warum sitzt du an der Theke, wenn du nichts trinken willst?« »Ich kaufe mir meine Drinks lieber selber.« »Was hast denn, Hallie?« Sein protzendes Gehabe geriet ins Wanken. »Hab dir doch nichts getan.«
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»Ich mag nicht auf Kosten von jemand trinken, der nicht mehr weiß, was er tut, das ist alles.« Als Antwort nahm er ein volles Glas Gin, kippte es mit einem einzigen Schluck hinter und stellte es seufzend auf die Theke zurück. »Was sollte das nun beweisen?« fragte sie ihn. »Daß ich Gin trinken kann.« »Das hast du bereits bewiesen. Seit Wochen schon sehe ich dich nicht mehr nüchtern.« »Kostet das dein Geld oder meins?« »Deins«, sagte sie und ging weg, ließ ihn schwankend stehen. An der Tür, wo er auf sie gewartet hatte, rollte sich ihr Schmidt in den Weg. »Was hattet ihr beide zu flüstern?« wollte er wissen. »Ich habe ihm gesagt, daß er sich totmacht.« »Laß ihn doch. Je eher, desto besser.« Einmal aber war es Morgen, als sie, ihre lahme Katze im Arm, in den Salon hinunterkam. Nach dem langen Abend der Ausschweifungen hingen die Spinnen, die sich bis Mitternacht an ihren Metallfäden gedreht und geschaukelt hatten, nun bewegungslos herab. Das Frühlicht lag umher wie zersplittertes Glas, als hätten hier Leute in einem Mausoleum Picknick gehalten. Wie in einem Mausoleum war auch die Luft: dumpf und verbraucht. Und so still, so totenstill, daß ein stumm vor sich hin spielendes Sonnenstäubchen einem im Krankenbett liegenden Kinde glich, dem seine Pflegerin gesagt hat, es solle ruhig sein, damit sie weiter schlafen könne. Hallie sah das blasse Stäubchen einen Fußboden absuchen, auf dem Tote gegen Tote gelehnt lagen: Am Sockel der Musikbox war eine ganze Schwadron Cocas
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niedergemäht worden, und die Musikbox selber sah aus, als könnte sie nie wieder spielen. Eine einsame Flasche Gin, die letzte aus ihrem Glied, lag heruntergefallen auf dem Gesicht inmitten von Zigarren- und Zigarettenstummeln, die sich auf den Dielen zu Ende geraucht hatten. Haarnadeln, Schminkwattebäusche, Bierkapseln, Weinkorken und eine wutzerrissene und quer über den Teppich geschleuderte Handvoll Spielkarten ließen den ganzen Raum aussehen wie ein Schlachtfeld, auf dem kein Pardon gegeben worden war. Aber von irgendwoher hörte Hallie ein murmelndes Atmen, regelmäßig und langsam. Sie folgte dem Stäubchen auf seiner Suche nach dem einzigen Überlebenden. In einer Ecke gekauert und so weit vornübergebeugt, daß sie dachte, er schlafe, saß der Junge mit dem noch zu jungen und doch schon zu alten Gesicht. »Wach auf«, hieß sie ihn. Er erhob sich und suchte die diversen Teile vom Big Bull wieder zusammenzukriegen, zugleich aber etwas hinter dem Rücken zu verbergen. »Was hast du da?« »Ich bin stocknüchtern«, lautete seine sonderbare Antwort. »Aber bis Mittag wieder voll.« »Ist doch mein Geld.« »Das hast du mir bereits gestern gesagt.« »Gestern hab ich sechzig Dollar verdient. Und du?« Er hatte den Big Bull schon fast wieder zusammen. »Wenn du mir so kommen willst, dann gib mir mein Buch zurück.« Er brachte es hinter seinem Rücken hervor. »Weiß selbst nicht, wie das in meine Hände geraten ist«, log er.
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»Natürlich, es muß deins sein, denn du bist ja so büchergebildet und ich kein bißchen nicht. Was dir aber noch lange kein Recht gibt, sich über andrer Leute Unwissenheit lustig zu machen.« »Das habe ich bei dir nie getan, Dove. Behalte das Buch.« »Es nutzt mir nichts, denn ich kann ja nicht lesen, wie du sehr gut weißt, und allein damit, daß du mir's anbietest, machst du dich über mich lustig.« »Wenn du eine Woche lang bis zum Mittag nüchtern bleibst, bringe ich dir das Lesen bei.« Darauf sprang er so schnell an, daß sie mißtrauisch wurde und nach dem Buch griff, um es ihm doch wegzunehmen. »Bist du am Mittag noch nüchtern, bekommst du es wieder.« Er wollte es ihr nicht geben. »Wenn ich nüchtern bin, bring ich’s selber zurück. Das versprech ich. Wirklich.« »Du wirst zu blau sein, dich noch an ein Versprechen zu erinnern.« Am Mittag war er nüchtern. Und auch noch um vier. Um fünf ging Finnertys Schau los. Um halb sechs kam er zu Hallie, immer noch nüchtern, und reichte ihr wortlos das Buch. »Wirt!« rief er Dockery zu. Seine Fingerknöchel hauten weiß auf die Theke. »Gin! Gin! Gin!« In jener Nacht träumte Dove, er sei allein in einem Hotel in Houston. Irgendwo in dem Zimmer mühte sich eine Katze, sich zu erbrechen – sie hatte etwas im Hals, das sie nicht runter schlucken konnte. Er suchte nach ihr, unter einem Diwan, hinter einer Musikbox und schließlich unter einem Bett, aber alles war in einen Nebel gehüllt, so daß er nichts deutlich sehen konnte.
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Dann bewegte sich in dem Nebel ein Schatten. Hallies Katze stürzte quer über den Fußboden darauf zu und verschwand im Zimmer von jemand anders. Sie hielt dort etwas verborgen, das keiner sehen sollte. Mit dem Tier stimmte etwas nicht, schon seit geraumer Zeit, aber was das war, getraute sich niemand zu sagen. Hinter einem Heizkörper hatte die Tigerkatze den schon Wochen alten Kadaver eines Kätzchens versteckt, und den säugte sie nun. Der Mund bestand bloß noch aus dem Kiefergerippe, doch sie legte sich das Kleine an den Bauch und leckte ihm den verwesten Leib. Dove begann die Katze zu schlagen, damit sie aufhöre, aber sie spürte die Schläge nicht, so lange er auch schlug. Schließlich drehte sie sich zu ihm um und sah ihn an. An ihren Barthaaren glitzerte frische Milch, und langsam verlosch der Traum. Wie eine Zwanzig-WattGlühbirne, die gute Nacht sagt. Niemand in der Perdido Street sah in dem Beinlosen eine Monstrosität. Niemand erzählte davon, daß er sich mal ein paar kurze Wochen lang auf einem Rummelplatz als »DER HALBE MENSCH« hatte plakatieren lassen. Denn niemand, der den aus diesem Löwenhaupt kommenden festen Blick kannte, konnte an seiner perfekten Natürlichkeit zweifeln. Unter den starken Brauen brannten seine weit auseinanderstehenden Augen so ruhig wie Kerzen in einem Zimmer ohne Zug. Schmidt plinkerte niemals. Wie ein Heiliger der Amputierten saß er auf seiner Plattform und gab Anstarren mit Anstarren zurück. Wandte der andere seine Augen schließlich ab, strich er sich über sein braunes Kinnbärtchen, wie um zu sagen: »Ich habe auch von dir genug gesehen, Freund.«
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Er verkaufte seine Waren, machte seine Wetten und trank sein Bier, helles wie dunkles, vergaß aber nie seine Würde. Ebensowenig erlaubte er anderen, sie zu vergessen. Einmal hatte ein Mädchen zu ihm gesagt: »Behalt dein Geld, denn du brauchst es nötiger als ich«, und das gütig gemeint. Doch da war der wie eine verstümmelte Statue auf dem Rand des niedrigen Bettes wartende Mann unter seiner Sonnenbräune bleich geworden. »Das hättest du nicht sagen dürfen, Schwester«, hatte er erklärt, sich dann von dem Bett hinuntergelassen und war gegangen. Aber als am nächsten Nachmittag dasselbe Mädchen ihm für ein FünfundzwanzigCent-Fläschchen Cologne einen Fünf-Dollar-Schein gab, steckte er den ein, ohne erst so zu tun, als wolle er herausgeben. Ganz ohne Falsch und Arg. Wenn man gebe, fand er, gebe man alles. Wenn man nehme, nehme man alles. Er hatte sein Leben nach dessen Wiedergewinn ganz auf den Fels des Mutes gebaut, und nun auf die Vierzig zugehend, merkte er, daß der Fels zu wanken begann. Er konnte es nicht glauben. Sicher würde ein Mensch, der schon einmal vernichtet worden war und der sich ins Reich der Lebenden zurückgekämpft hatte, kein zweites Mal zur Vernichtung ausersehen werden. Das ließe Gott nicht zu. Er war Schmidt, der niemanden brauchte, Schmidt, der nie verlieren konnte. Und doch – wenn er an Hallie dachte, dann erbebte der Fels spürbar. Wie hatte sein Leben, von ihm immer so fest im Griff gehabt, in die schwache Hand einer Frau geraten können und die Frau selber in die Arme von lauter namenlosen Fremden?
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Diese Frage ließ ihn in seiner Kammer hin- und herstampfen. Auf seinen Stümpfen, in ohnmächtiger und doch blutroter Wut. Denn so oft die Verkehrsampel draußen neben seinem Fenster auch von Rot auf stumpfes Gold umsprang, sie kehrte immer wieder zurück zur Farbe von Blut. Die Stümpfe! Die waren an allem schuld! »Eines am Oberschenkel und eines am Knie.« Strafend schlug er wie mit Hämmern auf die Reste seiner Beine, funkte weißglühenden Schmerz durch die Brust hinauf zu seinem Hirn. Die Stümpfe! Die verfluchten Stümpfe! Er rang nach Luft, schnaufte wie ein Walroß. Nein, nicht noch mal! Nicht zweimal! Schließlich riß er sich zusammen und begann langsam zu rollen, denn Rollen war Therapie gegen seinen Zorn. Und während er rollte, dachte er zurück, und während er zurückdachte, liebte er wieder. Sah sie stehen in einer Tür mit Perlenvorhang, als warte sie selbst jetzt einzig und allein auf ihn – und wie sie dann, wenn er auf seinen Rädern hereinkam, langsam den Kopf senkte und nicht mitleidig zu ihm hinuntersah und wie ihr Mund »Liebster« sagte, nur zu ihm. »Ich werde das heute abend ein für allemal aus mir raustreiben«, gelobte sich Schmidt. Doch ehe er zu Mama ging, brauchte er ein paar von Dockerys Schnäpsen, um vorm Lieben die Schmerzen in seinen Stümpfen zu betäuben. Und ein bißchen Schwatzen mit Leidensgenossen, um die Schmerzen in «einer Brust zu betäuben. Bei Dockery verkehrten auch andere Krüppel, und einer, der so gut wie sicher da sein würde, war Johnson, den alle bloß den Knierutscher nannten. Johnson hatte e» noch schwerer als Schmidt: Er war Neger und besaß
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keine Plattform. Seine Stümpfe hatte er mit Leder gepolstert und die Polster zum Schutz mit Blech abgedeckt. Schmidt fand es furchtbar rückständig, so auf klappernden Blechplatten durch die Straßen der Stadt zu ziehen, und er sah es als seine Pflicht an, Johnson zu modernisieren. »Steig auf das Ding hier«, hieß er ihn. Johnson wollte von der Plattform überhaupt nichts wissen, mochte Schmidt aber auch nicht vor den Kopf stoßen. »Ich komm gut ohne so was zurecht, Mista Achilles«, beteuerte er, ohne auf das Floß zu schauen. »Hab meine eigne Methode.« »Auch für rückwärts? Seitwärts? Drehen im Kreis? Und wie steht's mit dem Tempo?« Um zu demonstrieren, was er meinte, rollte er los, direkt auf die Musikbox zu, bremste um Zollbreite davor mit kreischenden Rädern. »Jetzt rückwärts!« Und schon kam er denselben Weg zurückgebraust; seine Hände an den Rädern schienen mechanisch betrieben. »Seitwärts! … Im Kreis!… Und nun mit Vollgas!« Zuhälter, Krüppel und ihre Mädchen flüchteten nach allen Seiten, während kühlere Köpfe Stühle vor sich aufbauten – es war wie in einem Schwimmbecken, in dem ein ruderloses Motorboot herumrast. Dockery blieb im Dunkel seiner Theke, damit keiner sein dünnes Lächeln bemerkte. Er liebte es, Männer und Frauen in Panik und Flucht zu sehen, wenn es sie mit all ihren Sünden in die Enge trieb; ja, daran hatte der alte Doc Dockery seine Freude. Wovon auch immer sie überrollt wurden, es geschah ihnen recht, verriet dieses Lächeln. Endlich hielt Schmidt inne. »Nun versuch du's mal«, sagte er. Johnson hatte keine Wahl. Hände hoben ihn hinauf,
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andere Hände schnallten ihn fest, und dann traten alle zurück. »Gebt ihm Raum!« befahl Schmidt. »Gebt ihm eine Chance!« Der alte Mann mit dem weißen Kraushaar und unterhalb der Taille nichts weiter als kurzen Hosen, wie sie kleine Jungen tragen, setzte seine Hände, die nur halb so breit wie die von Schmidt und doch einen ganzen Zoll länger waren, an die Räder. Und rollte sacht vor und gleich wieder zurück. Ein ängstliches Stückchen vorwärts und ein furchtsames Stückchen rückwärts, das war alles. Als habe er zum Probieren nicht den Platz von der Größe einer Tanzfläche, sondern bloß eine winzige Zelle. Es hatte keinen Zweck. Niemand konnte Johnson bewegen, mehr zu wagen. Ihm zuzuschauen, wie er diesen höchstens einen Meter vor- und wieder zurückrollte, wurde langweilig. Bis jemand in dem Glauben, Musik könne dem alten Mann Mut machen, eine Münze in die Box steckte. Doch als die Musik begann, bewirkte sie nichts weiter, als daß Johnson mitsang, ohne auch nur ein bißchen schneller zu rollen als zuvor: Ninety-nine year so jumpin' long Und sich dabei in einem seltsamen, beängstigenden Krüppeltanz wiegte: To be here rollin' an' caint go home Oughta come on de river in 1910 Dey was drivin' de women des like de men Well I wonder what's de matter, somepin' must be wrong I'm still here rollin' but everybody gone …
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»Siehst du jetzt, wieviel besser meine Methode ist?« fragte Schmidt, nachdem Johnson sich hatte abschnallen und auf den Knien zur Theke rutschen dürfen, hin zu dem Bier, das seine Belohnung war. »Hast du dich erst mal dran gewöhnt«, versicherte Schmidt ihm, »wirst du dich schämen, dich mal auf die altmodische Weise fortgewagt zu haben. Das Holz besorge ich dir, auch die Räder und die Riemen. Ich bau dir das Ding sogar zusammen. Mann, du wirst stolz darauf sein, auf Rädern zu leben!« »Mista Achilles«, sah sich der Neger schließlich zu erklären gezwungen, »Sie vergessen dabei eins. Daß ich nämlich nich so in Innenstadt rum darf wie Sie. Nix Canal Street, ja überhaupt nix weiße Viertel. Werd weggescheucht, soll mir mein Brot bei mein eignen Leuten holn. Da draußen aber sind die Bürgersteige alle uneben und voll Löchers. Un an vielen Stellen gibt's gar keine, bloß zafurchte Fahrwege. Wenns geregnet hat, un ich komm an kaputtes Pflaster oder große Wasserlachen, was soll ich da mit solch schwerm Brett? Muß ich mich ja abschnalln, das Ding über die Holpastrecke oder durchn Schlamm ziehn un mich wieder draufschnalln. Sie sehn also, Mista Achilles, ich gewinn damit keine Zeit. Im Gegenteil.« Doch Schmidt hatte plötzlich das Interesse verloren. Er wandte sich an einen Wildfremden an der Theke und fragte ihn: »Jack, mal ganz ehrlich, was hältst du von einem Mädchen, das mit einem Kerl ins Bett geht, von dem sie nicht mal den Namen weiß?« So quälte er sich, wie es Liebende schon immer getan haben. Denn was dann begann, wenn er bei Mama hineinrollte, war eines jener Rätsel, zu denen es nur in Freudenhäusern kommen kann: eine Beziehung von
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der reißenden Kraft eines tiefen Flusses, der zwei Menschen unversehens in seine Strömung gezogen hatte und sie nun an sprachlosen Gesichtern am Ufer vorbeitrug. Gesichtern, in die Ehrfurcht oder Mitleid trat beim Anblick einer so starken Frau und eines so starken Mannes, die es plötzlich so schwach werden ließ, schwächer als alle, die sich noch am sicheren Ufer befanden. Finnerty hielt die große Tür weit auf, und Schmidt rollte hinein. Gelassen lächelnd wie ein sitzender Buddha. »Hallie!« rief Mama sofort. »Dein Mann ist doch noch gekommen!« Er hatte einen Gruß und ein Lächeln für jedes der Mädchen im Salon, ausgenommen Hallie. Floralee küßte ihm die große Hand, Frenchy strich ihm über das dunkle, aber schon angesilberte Haar, und er ließ die beiden, die eine mit bloß Stroh und die andere mit gar nichts im Hirn, darum wetteifern, wer zuerst seine Schnallen aufbekomme. Als jede mit einem eroberten Riemen zurücktrat, war es, als hätten seine Stümpfe Sprungfedern: Er schnellte sich hoch, landete auf der Mitte vom Diwan, geriet ins Schwanken, gewann das Gleichgewicht aber sofort zurück und schaute triumphierend in die Runde. Nahm jedoch noch immer keine Notiz von Hallie. Statt dessen schob er die Hände in die Taschen und zog sie voller Nickels, Dimes und sogar Halbdollars heraus. »Für euch, Mädels!« rief er, während er dieses ganze Geld in die nicht wenig erstaunte Luft warf. »Alles!« Frenchy und Floralee gingen nieder auf alle viere und suchten umher, hoppelnd wie Kaninchen, huschend wie
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Mäuse. Kitty Twist tat es ihnen sofort nach, kroch und schlängelte sich voran, suchte die anderen mit den Ellbogen wegzustoßen. Die Frau mit dem dunklen Teint, die so still in der Portiere stand, aber rührte sich nicht, obgleich eine der Münzen ihr direkt vor die Füße gerollt war. »Der großzügigste Mann, den ich je kennengelernt habe«, verkündete Mama. »Soweit ich sehe«, warf Kitty ein, »läßt er seine Piepen aber genausowenig für umsonst springen wie alle andern.« »Und soweit ich sehe«, wies Hallie die Neue zurecht, »bist du auf seine Piepen genauso aus wie alle andern.« »Du etwa nicht?« konterte Kitty. »Ich verdiene mir hier mein Brot«, erwiderte Hallie ganz ruhig. »Du etwa nicht?« Ab da hielt Kitty ihre Zunge mehr im Zaum, denn so sehr die Frauen einander auch wegen ihrer Stammfreier stichelten, Hallies Verhältnis mit Schmidt galt als tabu. »Du da in dem braunen Kleid«, rief er ihr zu, als habe er sie erst jetzt bemerkt, »komm mal näher, damit ich sehen kann, was du zu bieten hast.« Hallie war gezwungen, sich allein in die Mitte vom Salon zu stellen, zwischen Schmidt und dem starren Auge der Musikbox. Wie ein Sultan griff er sich an sein braunes Kinnbärtchen, während er ihren Gang begutachtete. Und ebenfalls wie ein Sultan schwenkte er die Hand, um anzudeuten, er wünsche sie nun von hinten zu mustern. »1st sie auch gesund?« fragte er Mama nach einer Weile. »Ich mache dich haftbar.« Mama aber war mit ihrem Rosenkranz beschäftigt, und die anderen schauten zum Fenster oder zur Tür
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hinaus – sie fanden, ihr Big Dad treibe das Spiel heute ein bißchen zu weit. Big Dad war nicht dieser Ansicht. Er ließ sich von dem großen Diwan hinabgleiten und rutschte um seine Wahl herum. Während sie ihren Kopf auf dem olivfarbenen Hals drehte, um dem Torso bei seinem Rutschen zu folgen, dachte sie: »Was muß das mal für ein Bild von einem Mann gewesen sein!« Denn selbst auf den Stümpfen bewegte sich Schmidt noch mit Anmut. »Werd's mal mit der hier probieren«, fällte er laut seine Entscheidung und schob sich ihr nach durch die Portiere, sein Kopf kaum höher als ihre Taille, seine Miene so zufrieden und stolz wie bei jemand, der einen schlauen Handel getätigt hatte. Doch sobald die Tür sich hinter ihnen schloß, fiel das alles von ihm ab – er ergriff ihre Hand, küßte jeden einzelnen Finger direkt unter ihrem Herzen und umschlang sie, als wäre sie das Leben, das er verloren hatte. Es seien die Stümpfe, die ihn dazu trieben, sich so wie vorhin zu benehmen, erklärte er ihr. Die Stümpfe seien an allem schuld. Hallie stand ganz still, voller Mitleid mit der Kraft, die sich nicht eindämmen ließ. Nach einem Weilchen lächelte sie zu ihm nieder, strich ihm übers Haar und gab ihm recht wie einem Kind: Ja, seine Stümpfe, die seien an allem schuld. Auf solche Zärtlichkeit reagierte er wie eine riesengroße Katze. Und Hallie, von seinen starken Armen umfangen, an seinen mächtigen Brustkasten gedrückt, von seinem Löwenatem behaucht, spürte das unaufhaltsame Drängen seiner Leidenschaft. Da war es dann, als habe vor dem beinlosen Schmidt kein Mann sie jemals besessen.
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Gehabt hatten sie viele, aber nicht besessen. Keine einzige Sekunde lang, nicht einmal vom Vater ihres Kindes, hatte sich Hallie so unterwerfen lassen wie von diesem verschrien Athleten. Zum Objekt der Lust erniedrigt zu werden war ihr Beruf, und damit hatte sie sich abgefunden. Doch unter dieser Lust Liebe zu spüren, die wie ein Fluß mit Hochwasser strömte, machte ihr angst. Denn sie gab sich ihr hin, verlor sich darin, wußte sich nicht dagegen zu wehren. Und schämte sich hinterher – nicht weil sie mit einem Krüppel ins Bett gegangen war, sondern weil sie das oberste Gebot ihres Berufes übertreten hatte. Mit Schmidt gab es Momente, da weinte sie leise und flehte sein Fleisch an, als wäre es etwas von ihm Getrenntes, sie sein zu lassen. Und zog es im selben Augenblick so inbrünstig und fest an ihr Herz, damit er ihr nicht entglitt, daß der Mann selber den Tränen nahe war, wenn er sich erschlafft zurücklehnte. Bei noch keiner Frau hatte Schmidt so empfunden. Ihm war, als habe er vor Hallie nie eine ganz gehabt. Erst bei ihr und nur bei ihr war er wieder der alte: ein Mann, dem nichts fehlte, der liebte und der geliebt wurde. Bei ihr verrauchte all sein Grimm. Bei ihm lebte auch sie wieder. Neun Weihnachten war sie schon begraben und er doppelt so lange. Doch bei jedem Mal, wenn sie zusammen waren, kehrten sie für ein Weilchen ins Leben zurück. Einmal sah sie wieder, als sie aus dem Schlaf erwachte, wie die Räder der Santa Fe seine Beine zermalmt hatten, eines am Oberschenkel und eines am Knie: von roter, narbenzerfurchter Haut bedeckte Stümpfe. Sie warf die Decke über ihn, um seine Verunstaltung und zugleich ihren Ekel zu verbergen.
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»Ich habe Angst, du erkältest dich«, gab sie vor. »Die brauchst du nicht zu haben«. Er hatte sich keine Sekunde täuschen lassen. »Ich finde dich auch nicht schöner als du mich.« So endete es jedes Mal. Und nie versuchte sie direkt, seine Beleidigungen zurückzugeben, die jetzt, nachdem er sie gehabt hatte, wieder so beißend waren wie vorher. Sie sagte, was sie schon so oft zu ihm gesagt hatte: »Das mag ich nicht mehr mitmachen. Ich gehe hier weg.« »Schwester, falls du glaubst, ich reagiere darauf mit: ›Bitte, bitte bleib doch‹, bist du auf dem Holzweg. Wenn ich ein bißchen was intus habe, ist mir egal, was ich mir für'n Mädchen nehme. Da seht ihr Flittchen für mich alle gleich aus.« »Dann wirst du mich ja nicht vermissen. Also leb wohl.« Doch als er sich fertig angezogen hatte und sie noch auf dem Bett lag, schob er sich mit einem Packen Scheine in der Hand auf seinen Stümpfen zu der Kommode. Hallie hielt die Augen geschlossen, tat so, als wisse sie nicht, was er vorhabe. »Unter deinem Kamm und deiner Bürste liegen rund hundert«, sagte er zu ihr. »Damit kommst du irgendwohin. Wir sehen uns wieder im Knast.« Und nachdem er so seinen Stolz auf Kosten seines Herzens gerettet hatte, ging er. »Vielleicht mache ich das bald mal wahr«, dachte sie bei sich, als er draußen war. Dann, allein im dumpfen Düster und Trübsinn ihres kleinen Zimmers, schlief Hallie ein. Schmidts größte Freude war Flossen-Charlie, ein Straßenbettler mit einer Visage, als habe er sich eine
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Schrecklarve vorgebunden, und mit Armen, die als bloße Stummel dort endeten, wo andere Menschen die Ellbogen haben. Welch verirrter Wind ihn aus welchem Behindertenheim in die Perdido Street geweht hatte, wußte niemand. Jedenfalls war er da, hatte zwischen den Zähnen eine Zehn-Cent-Münze und legte sie behutsam auf die Theke. »Hört euch das mal an«, gebot Schmidt Ruhe. In die Stille hinein fragte der Bettler dann mit seinem Sprachfehler: »Mitßter Dockewy, kann ich bitte tßehr 'n Bier haben? Aber mit tßön viel Tßaum.« »Und jetzt alle zuschauen!« befahl Schmidt, sobald das Bier dastand. Charlie packte das Glas mit den Zähnen, kippte es an, bis ihm das Bier übers Gesicht rann – und schluckte wie besessen, bemüht, so wenige Tropfen wie möglich danebengehen zu lassen. Er keuchte und schnaufte, ließ das Glas aber immer erst wieder los, wenn es leer war. Dann setzte er es so vorsichtig ab, wie er es aufgenommen hatte, machte eine leichte Verbeugung und sagte mit all dem Schaum im Gesicht: »Tßönen Dank, Mitßter Dockewy.« »Mein Gott, was für ein Schwein!« Schmidt rollte auf seiner Plattform vor und zurück und schlug sich auf die Stümpfe. »Ist er nicht das letzte?« Ein Original ganz anderer Art war nie bei Dockery zu finden, sondern kam immer nur zu Mama. Das war ein uralter Neger, der einen verhängten Vogelkäfig mit gußeisernem Untersatz mit sich herumtrug, noch betagter als er selber. Er stellte ihn auf einen Tisch, tippte für jede der Frauen einzeln an sein rotes Affenmützchen und zog schließlich an einer kleinen Schnur, woraufhin der Vorhang vor dem Käfig hochging.
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Und einen Papagei freigab, der einen glasigen Blick in die Kunde tat und kreischte: »Laß mich! Ich bin verheiratet! Laß mich!« Dann hängte er sich mit dem Kopf nach unten und biß wütend in die zerknabberte Sitzstange. Der Alte trat einen Schritt zur Seite, um zu zeigen, daß der Vogel jetzt unbeeinflußt sei. Hielt jedoch seine Mütze ausgestreckt, falls jemand eine Münze hineinfallen lassen wollte. Tat das wer, zog er eine Schublade in dem Käfigsockel auf, in der kleine bunte Zettel verheißungsvoll zusammengerollt lagen. Der Papagei pickte einen heraus und ließ ihn sich von dem Käufer aus dem Schnabel nehmen. Auf allen stand dasselbe: Du ahnungsloser Tor! Such nicht denselben Weg zurückzugehen, den Du gekommen bist. Weißt Du denn nicht, daß ein Tiger Deiner Fährte folgt? Halte Dich fern von getretenen Pfaden – die sind eigens Deinetwegen vermint worden. Schau nicht unter dem Stein dort nach, denn da wartet eine Giftschlange auf Dich. Wenn Du auch nur ein bißchen Verstand hast, dann bleib aus dem Wind, denn sechs schnüffelnde Hyänen haben bereits Witterung von Dir. Meide offenes Terrain – die Geier haben Dich schon erspäht. Achte auf niemand oben in den Bäumen – das sind bloß die Affen, die sich über Dich totlachen. Eingeborene durchkämmen den Busch nach Dir. Und so etwas nennst Du Zivilisation? Doch das steht Dir natürlich frei. Ich hingegen nenne es einen Dschungel. Jetzt schuldest Du mir 15 Cent für einen Teller Gumbosuppe, weil ich der einzige bin, der nicht Jagd auf Dich macht.
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»Daß das der Alte alles selber geschrieben hat, glaube ich nicht«, meinte Finnerty. »Dazu hat der doch gar nicht genug Grips.« »Wer soll es dann geschrieben haben?« fragte Hallie. »Na der Papagei natürlich«, versicherte ihr Finnerty. Und ging hinauf zu Kitty Twist. Die Neue hatte noch einiges von seiner Maus zu lernen. Einmal ließ eine frühe Abenddämmerung einen weiteren Wunderkönner, wenn auch nicht vom Stamme der Wahrsager oder Schnelltrinker, hereinschneien, der eine einzige kurze Vorstellung gab und sich dann nie wieder blicken ließ. »Persönlicher Auftritt von Adler!« kündigte er sich an. »Dem König der Lüfte! In alter Bestform!« Aufgeschwemmt, bläßlich, kahlköpfig und tätowiert – genau das, was man sich unter einem Mann in alter Bestform vorstellt. In einem Seersucker-Anzug, so verschwitzt und voller Flecke, daß man sich fragte, in wie vielen Lokalen er wohl schon rausgeschmissen worden war, seit er ihn das letzte Mal hatte waschen lassen, stellte er sich in die Mitte des Salons und verkündete: »Einmal Akrobat, immer Akrobat! Ich habe den Doppelsalto rückwärts auf dem Hochseil erfunden.« »Erfunden – aber wer hat ihn ausgeführt?« wollte Kitty Twist wissen. Dergleichen pflegte er zu überhören. Mit strahlender Miene trat er zurück, bis alle ihn gut sehen konnten, und fragte leutselig: »Na, was ist das für ein Gefühl, König Adler gegenüberzustehen?« »Kein besonderes«, bekam er von Kitty zur Antwort. »Diese jungen Damen warten darauf, daß Sie ihnen guten Tag sagen, Mr. Königsadler«, forderte Mama ihn
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auf, um ihm zu verstehen zu geben, daß es keine von ihnen im geringsten interessiere, wie großartig er sei; wenn er bleiben wolle, müsse er ein bißchen was springen lassen. Adler ließ sich dadurch nicht aus dem Konzept bringen. Er wußte, die Leute beliebten zu scherzen, indem sie so taten, als wäre ihnen der König der Lüfte kein Begriff. »Sind Sie bei einem Zirkus oder so was, Mister?« fragte Floralee erwartungsvoll. Er faßte das als Aufforderung auf. »Macht einen Platz frei!« rief er und gab Anweisungen wie ein Filmregisseur, beziehungsweise wie ein Filmregisseur uns immer beschrieben wird: »Frauen aus der Dekoration raus! Nicht drängeln! Die Zigarette dort aus!« Dann zeigte er auf Dove, obwohl der heute gar keine Cowboystiefel anhatte. »Du da! Tische aneinanderstellen!« Dove sprang so eilfertig ans Werk, daß die Mädchen übereinanderstolperten, bis Mama sie einsammelte und hinter ihrem Rücken in Sicherheit brachte. Finnerty kam hereingestürmt und sah Dove nach den Kommandos eines komischen Kerls mit Glatze zwei Tische zusammenschieben. »Ein bißchen niedriger«, wies Adler Dove an. »Nein, ein bißchen höher. Ja, so ist's genau richtig.« »Was zum Teufel geht hier vor?« fragte Finnerty. »Sind wir in einem Puff oder in einer Rummelbude?« »Der Mann will ein Kunststück vorführn, Oliver«, sagte Dove. »Laß es ihn zeigen.« Adler machte seinen Oberkörper frei. Sein Brusthaar schimmerte weiß, wo es nicht grau war: ein Brustkasten in alter Bestform. Doch er tänzelte erst noch ein bißchen. »Der König spricht zuvor immer ein paar Worte.«
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»Ach bitte ja«, bat Floralee. »Aber möglichst wenige«, verlangte Kitty. »Und nur wenn's außergewöhnliche sind«, drohte Finnerty. »Ladies und Gentlemen«, sagte Adler und nickte Hallie zu, »ich widme diese einzigartige Demonstration menschlicher Gelenkigkeit der Dame in dem braunen Kleid und mit den grünen Ohrringen.« »Mach einen Genickbruch und widme ihn mir«, schlug Kitty ihm vor. Hallie bedankte sich nicht für sein Geschenk; er sollte nicht annehmen, sie sei für umsonst zu haben. Ex-Clown, Ex-Polizist, Ex-Akrobat, Ex-Sonstwas – alle suchten dieser zurückhaltenden brünetten Frau mit irgend etwas eine Freude zu machen, bloß nicht mit besserer Bezahlung. Mit Geld, schienen sie zu glauben, könne man sie nicht erfreuen. »Tu endlich, was du nicht lassen kannst«, forderte Finnerty den König der Lüfte auf. Adler stellte sich in Position, rückwärts zu den Tischen, ging in die Kniebeuge, wölbte erstaunlich biegsam das Kreuz, tat einen kurzen zuversichtlichen Satz nach vorn, schnellte sich dann hintenüber, stieß mit dem Kopf voll gegen die Tischkante und krachte flach auf den Rücken, wo er mit vor unterdrücktem Kichern bebenden Schultern liegenblieb. »Das war ja noch nicht mal 'n Purzelbaum!« Dove glaubte es einfach nicht. »Warum verscheuern wir nicht die Musikbox und kaufen für das Geld Betten?« fragte Kitty. »Immer wenn ich hier in die Runde gucke, liegt einer lang.« Mit seinen Cowboystiefeln stieß Finnerty den Kerl wieder hoch und zur Tür zurück. Seine Jacke, sein Hemd und seine Mütze rollte er zu einem Bündel zusam-
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inen und warf es ihm nach. Und als Zugabe noch einen Spucknapf' hinterher. Der schepperte laut, als er aufs Pflaster knallte, kullerte dann, schon etwas leiser, den Bürgersteig lang und ergoß sich, nun nicht mehr hörbar, in den Rinnstein. In die entstandene kurze Stille platzte Adlers dummes Gesicht wieder hinein. »In alter Bestform!« erklärte er ungebrochen allen und schob weiter, mit der Mütze in der Hand und heraushängendem Hemd, um eine Tür zu suchen, wo bei seinem Anblick ein jeder rufen würde: »Champagner für alle! Der König der Lüfte ist wieder da!« Einen Ort, wo er den ganzen Abend Rückwärtssaltos schlagen konnte und der Applaus kein Ende nahm. »Nun gib nicht mir die Schuld, Oliver«, sagte Mama zu Finnerty. »Ich habe den Kerl nicht dazu animiert. Mir ist sowieso unklar, warum jeder Blödmann, der nach New Orleans kommt, immer gleich bei uns aufkreuzen muß!« Die Tische standen bereits wieder an Ort und Stelle, als Schmidt hereingerollt kam. Sofort begannen alle mit Ausnahme von Floralee, ihm zu erzählen, was er soeben für ein Schauspiel verpaßt habe. Floralee war durch das Ganze in so gehobene Stimmung versetzt worden, daß sie nur noch singen wollte: Freude, Freude, über Freude, Da Jesus zu uns kommen ist! »Schätzchen, sei so lieb und lauf nach oben«, bat Mama sie, denn sie wußte, wie gern Floralee Aufträge übernahm, die Hallie betrafen. »Sag Hallie, daß ihr Mann da ist.« Floralee brauchte so lange zum Wiederkommen, daß Mama schließlich selber die Treppe hinaufwatschelte.
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Sie fand Floralee in der Mitte von Hallies Zimmer stehen und in die Runde schauen, als verstecke sich Hallie irgendwo vor ihr. Doch der Kleiderschrank war ausgeräumt, der Schuhhalter hing leer da, und auf dem Toilettentisch fehlten Haarbürste, Kamm und Puderdose. Alle waren so sprachlos, daß keinem einfiel zu fragen, wo denn Big Bull hin sei, der seine Cowboystiefel unter seinem Bett zurückgelassen hatte. Achilles Schmidt hatte am Ruhm geschnuppert – einem Duft, der alle Parfüms übertönt. Geboren auf einem Rummelplatz am Stadtrand von Mobile, war er zu einem hellen wilden Burschen herangewachsen; Lesen und Schreiben hatte er beim Arbeiten in den Bingo-Zelten gelernt. Auch jetzt noch konnte er das Gewicht einer Frau aufs Gramm genau schätzen, indem er kurz mit den Händen an ihren Kleidern hinunterstrich. Mit siebzehn hatte er sich als Berufsboxer versucht, bei seinem ersten Kampf jedoch nur zwei Runden durchgestanden – für einen Boxer war er schon zu schwer bemuskelt. Er trat dann als Kraftmensch auf, als »ACHILLES DER BÄR AUS BIRMINGHAM«, und Landmädchen kamen, um hochzuschauen zu einem Jungen mit einem IBM-Hirn im Körper eines Riesen-Teddys. Er brachte die Hinterwäldler damit in Scharen ins Zelt, daß er sämtliche Herausforderer aus dem Publikum auf die Matte legen, den örtlichen Sheriff auf die Schippe nehmen und dabei noch den Mädchen schöne Augen machen konnte. Doch erst als er mit einer Catcher-Truppe quer durch die USA zog und als Strohgegner für einen selbsternannten Welt-Champion fungierte, fand er den ihm gemäßen Beruf.
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Einen Beruf, der ihn bald erkennen ließ, wie groß seine körperliche Überlegenheit über andere Menschen war, so daß er begann, sie vor seiner Kraft zu schützen. Denn nicht nur in Bizepsen und Brustkasten war er größer als andere, wie er ohne Arroganz feststellte, sondern auch in Hirn und Herz. Daß er der Gemeinheiten unfähig war, die er bei anderen bemerkte, sah er nicht als Tugend an sich, vielmehr als einen Vorteil so wie die Breite seiner Brust, und er war dankbar dafür. Wer ihn so großzügig ausgestattet hatte, wußte er nicht, wollte sich dieser wundervollen Glücksgabe aber würdig erweisen. Wenn er sich in seinem prächtigen roten Cape an die Ringeseile lehnte und den Blick über die Zuschauerreihen in den verräucherten Sporthallen und Zelten schweifen ließ, sah er, wie sicher der Reichtum aus allen Zelten der Welt, die Frauen darinnen und ebenso der Ruhm zu ihm kommen würden. Es hatte Zeit, genug Zeit, daß das alles Schmidt zufiel. »Wann hörst du auf zu wachsen, Achilles?« fragte ihn einmal ein Stadtmädchen, das draußen vor seinem Zelt auf ihn gewartet hatte. »Wenn ich selber Champion geworden bin«, antwortete er im Spaß, denn das Bewußtsein seiner Kraft war ihm so schnell gekommen, daß er noch gar keine Zeit gehabt hatte, sich voll darüber klarzuwerden, wie leicht es ihm fallen würde, diesen inoffiziellen Titel zu gewinnen. Doch konnte er die Hand eines Mädchens so nehmen wie ein neunzehnjähriger Bruder und sagen: »Ich will nicht noch größer werden. Denn ich mag den Leuten nicht angst machen.« »Du bist groß genug, um den Champion das Fürchten zu lehren«, sagte sie in jener Nacht zu ihm. »Ich aber habe keine Angst vor dir.« Und schmiegte zum Beweis ihr Gesicht an seines.
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Ein Gesicht vergessen in diesen fast zwanzig Jahren. Den sanften Druck der Hand aber, die so leicht in der seinen gelegen hatte, spürte er noch immer. Das Mädchen hatte recht gehabt. Er war in jener Nacht groß genug zu allem gewesen. Auf der Tournee mit dem Würger mußte er sich bremsen, um nicht seinen Job zu verlieren. Als sie die Kohlenstädte des Ostens erreichten, wußte er, niemand in der Welt konnte den wilden Burschen mit dem Teddybärenherzen bezwingen. Aber der Würger hatte bloß noch ein paar Jahre, er dagegen ein ganzes Leben. Und er mochte den Würger, diesen armen Schöps. Ein ehemaliger Manager, der zu Dockerys Stammgästen gehörte, war immer noch voller Bewunderung für den Bären aus Birmingham. »Er konnte dir so kräftig in den Arsch treten, daß dir das Becken brach. Dennoch habe ich ihn die Qualen der Verdammten leiden sehen, wenn er irgend so einem Dorfathleten erlauben mußte, ihn von der einen Seite des Ringes zur anderen zu ziehen, obwohl doch keiner, der unbewaffnet war, ihm wirklich was tun konnte. Einmal wurde er von einem mutigen Burschen in die Klappstühle geworfen, während er noch dabeiwar, die Zuschauer auf dem Rang zu zählen. Achilles griff sich zwei von diesen Stühlen, streckte mit dem einen den Mutprotz und mit dem anderen seinen Manager nieder und hielt das Publikum so lange in Schach, bis die Polizei kam. Ihn konnten weder Mann noch Börse schaffen. Ich bin überzeugt, selbst heute würde es keinem Bullen gelingen, ihn zu überwältigen.« Und doch war er in der Zeitspanne, die ein Sekundenzeiger von der Zwölf bis zur Sechs braucht, ein für allemal besiegt und seine strahlende Mannheit, die so
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glücklich und so rein begonnen hatte, zu etwas zermalmt worden, das zur Hälfte aus einem Menschen und zur Hälfte aus einer Plattform bestand. Güterwagenräder der Santa Fe hatten sich als noch stärker als er erwiesen. Was man dann unter ihnen hervorgeholt hatte, nach Stunden qualvollster Schmerzen, in denen er sich keine Sekunde erlaubt hatte, die Besinnung zu verlieren, war nicht mehr Achilles der Bär aus Birmingham, sondern nur noch der beinlose Schmidt. Für den jeder mit zwei ganzen Beinen derjenige sein konnte, der ihn unter die Räder gestoßen hatte. Gewiß, er war nicht mehr nüchtern gewesen, aber was bewies das? Er hatte schon öfter unterwegs von dem einen Jahrmarkt zum nächsten auf dem Dach eines Güterwagens mit unter dem Laufbrett festgekeilten Bein einen Rausch ausgeschlafen. Hätte er es sich selber zuzuschreiben, wäre es niemandes Schuld als seine eigene, ließe es sich leichter ertragen. Doch er wurde und wurde den Verdacht nicht los, daß man ihn absichtlich hinuntergestoßen habe. Manchmal konnte er die Hände an seiner Schulter, das Knie in seinem Kreuz förmlich spüren. Zwei Jahre in einem staubigen Krankenhaus in der Wüste, wo die Kraft, die einst des toten Achilles Schenkel bewegt hatte, mit wilderem Stolz durch den verkrüppelten Schmidt zu fließen begann. An die Zeit dort war ihm nur noch das unablässige Wehen von Alkalistaub gegen die Fensterscheibe in Erinnerung. Und das Gesicht der Frau eines im Krankenhaus wohnenden Assistenzarztes, die ihm aus seinem roten Cape eine Trainingsjacke mit Rollkragen geschneidert hatte. Auf der in einst goldenen, inzwischen längst zu Grau
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verwaschenen Lettern die letzten Reste seines kurzen Ruhmes weiter verblaßten: »JUNG ACHILLES«. Alles dahin, unwiederbringlich dahin. So schnell wieder verweht wie der Wüstenstaub, der nie liegenbleibt: der Ruhm, auch die Kraft, die Mädchen, das Geld, die Macht. Im Verlauf einer einzigen Nacht Beruf und Glanz verloren. Sinnlos verloren. Danach hatte er sich kurze Zeit als »D ER HALBE MENSCH« zur Schau stellen lassen. Er rollte seine selbstgebaute Plattform in eine monströse Sonne und schaute hinunter auf Farmer, die in die Stadt gekommen waren, um sich die Monstrositäten anzusehen. Und der Bär, der seine Pranken früher immer eingezogen hatte, wünschte, während er so dasaß, er wäre eine einzige große Pranke. Dieses Sichbegaffenlassen auf der Tribüne einer Rummelbude war seine schlimmste Erniedrigung, und er hatte sie abgeschottet. Selber sprach er nie davon, und er glaubte, unter den Verlorenen und Verdammten der Perdido Street sei sein Geheimnis sicher. Doch im tiefsten Innern wurde er nie damit fertig: ein halber Mensch! Als er einmal mit ein paar Mädchen schwatzte, die sich hinter einer Fliegendrahttür der Perdido Street zusammendrängten, hastete ein Mann mit Klumpfuß vorbei. Unterm Arm hatte er eine Aktentasche, und in seiner oberen Jackettasche steckten Bleistifte und ein Füllfederhalter; er wollte offensichtlich zu einer geschäftlichen Verabredung und hatte es sehr eilig. Als Schmidt ihn sah, leuchteten seine Augen auf. Auf lautlosen Kugellagern rollte er hinterher und brachte den Krüppelrivalen so arg zum Stolpern, daß der, hätte er sich nicht an einer Hauswand gehalten,
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lang aufs Gesicht geschlagen wäre. Mit einem einzigen wilden Anstoß seiner Räder schwenkte Schmidt herum und stellte, den Kopf herausfordernd gesenkt, den Mann. Der aber wollte nichts weiter, als daß man ihn seiner Wege gehen ließ. Er humpelte, klotz, klotz, klotz, vom Bürgersteig hinunter, lief außen um Schmidt herum und kam so frei. Triumphierend rollte Schmidt zu seinen Mädchen zurück. »Warum dem eine Chance geben?« fragte er. »Hätte er mir denn eine gegeben?« Die Mädchen mit den gepuderten Gesichtern, geschminkten Augen und getuschten Wimpern stimmten ihm voller Schadenfreude bei: »Richtig, warum solltest du? Er hätte dir ja auch keine gegeben.« Hallie und Dove wohnten hinter einem schmiedeeisernen Gitter, eine lange, gewundene Wegstrecke weg von der alten Perdido. Das Gitter umschloß einen winzigen Balkon zwei Stockwerke über der Royal Street. Gegenüber hatte jemand vor langer Zeit einen weißen Blechmond auf einen blauen Blechhimmel gemalt. Einen Himmel in Mitternachtsblau. Einen Mond aus Weihnachtsschnee. Vor langer Zeit. Inzwischen hatten Regen und Rost die Farben verwischt und die Sonne den Mitternachtsschnee abblättern lassen. Geblieben war nur noch ein kaputter Mond an einem löchrigen Himmel. Hier, zur Stunde der Glühwürmchen, wenn er und Hallie niederschauten auf die flackernden Lichter des Old Quarter, kam die Zeit des Glücks endlich auch zu Dove. Die eine glückliche Zeit. Aus einem nicht zu sehenden Hof oder Honkytonk, mal ferner, mal näher, lud ein Klavier sie zum Mittanzen ein. Jeden Abend hör-
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ten sie dieses Klavier, und dann wußten sie, der Tanz hatte wieder begonnen. Hinter ihnen ein Zimmer, nicht größer als eine auf den Kopf gestellte Bierflasche und mit kaum mehr darin als einem Bett, wo der Schüler mit den Fingern auf der Brust seiner Lehrerin schlief und sie sich im Schlaf an ihn preßte. Bis der Morgen sie mit Händlerrufen weckte: Trara! Der Krustenmann ist da! Bratenkrusten sind gesund! Kosten nur fünf Cent das Pfund! Als er einmal erwachte, merkte er, daß sie ihn schon eine Weile lächelnd ansah, und er fragte sie nach dem Grund. »Es macht mich traurig«, antwortete sie, »daß du so bist, wie du bist, und dich das noch immer nicht zu stören scheint.« Auf einer Kommode stand eine Reihe in Saffian gebundener Bücher, einziges Relikt aus Miss Hallie Breedloves Lehrerinnenzeit. Manchmal war er dran, daraus vorzulesen, manchmal Miss Hallie Breedlove. Denn im ersten Sturm ihrer gemeinsamen Tage hatte er gelernt, ohne Hilfestellung zu lesen: Wasser ist nun fest wie Stein. Darauf wandeln wir zu zwein: Nan und ich gehn Hand in Hand Durch des Bilderbuches Land. Schauen an die bunte Welt: Menschen, Tiere, Wald und Feld, Berge, Städte, Meeresstrand In des Bilderbuches Land.
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Ach, wie ist es doch so schön, Sich das alles anzusehn! Nan und ich sind wie gebannt Von des Bilderbuches Land. Als er mit diesen kinderleichten Versen fertig war, setzte er ein so zufriedenes Lächeln auf, daß sie einwand: »Du schaust drein wie eine Katze, die an einem eiskalten Morgen warmen Milchbrei geschleckt hat«, und riß ihm das Buch weg. »Dabei hast du nicht mehr getan, als was ein Sechsjähriger auch kann.« Um das satte Katzengrinsen aus seinem Gesicht zu vertreiben, legte sie ihm einen anderen Text vor. »Hier, zeig mal, ob du auch damit zurechtkommst.« Doch er zerbrach sich dabei so arg die Zunge, daß sie schließlich Erbarmen mit ihm hatte und ihm von vorn an vorlas: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; Und dasselbe plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune schallen, und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden. Denn das Verwesliche muß anziehen die Unverweslichkeit, Und dies Sterbliche muß anziehen die Unsterblichkeit. Dann fragte sie ihn: »Nun, was hältst du davon?« »Ganz und gar nichts«, erklärte Dove. »Erinnert mich zu sehr an meinen armen irren Pappy. Liebe Lehrerin, lies mir doch das vor, wo der Pappy von jemand im Meer versinkt.« Fünf Faden tief liegt Vater dein
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»Ja, das ist schön«, sagte er. Sein Gebein wird zu Korallen, Perlen sind die Augen sein; Nichts an ihm soll verfallen, Das nicht wandelt Meereshut In ein reich und seltnes Gut. »Mein Pappy, der ist auch was Seltnes – was selten Verschrobenes. Aber den hat nicht das Meer so werden lassen, sondern das Leben, das er geführt hat.« »Ein bißchen sonderbar sind wir doch alle«, meinte Hallie. »Kommt auch bei uns von dem Leben, das wir führen.« Sie nahm seine Hand und geleitete ihn zum Bett. »Ich wollte nicht, daß du mit mir schläfst«, mußte sie ihm eine Minute später sagen. »Halte mich nur in deinen Armen. Ganz fest.« Dove hielt sie umschlungen und ahnte dunkel, daß er sie vor etwas beschützen sollte. Denn von den Rändern ihrer Seele her rollte wie auf sich langsam schrägendem Fußboden der Torso eines Tyrannen ratternd heran. Von der Straße rief jemand herauf: Maismann wieder hier! Maisbrei rein und schier! Die letzten metallischen Schreie des Tages vermischten sich mit dem Tuten und leisen Ächzen der ersten Abendfähre. Und in der großen blauen Dämmerung erzählte Hallie ihm von verlorenen Schlachten und von Städten halb so alt wie die Welt. Gemeinsam lasen sie: Vielerorten lag die Asche bereits kniehoch. Die Schauer heißen Wassers von dem kochenden Atem des
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Vulkans erzwangen sich den Weg in die Häuser und verbreiteten dichten, erstickenden Dampf. An manchen Stellen rissen die auf Dächer fallenden Felsbrokken Trümmermassen auf die Straßen, so daß der Weg von Stunde zu Stunde unpassierbarer wurde; und mit fortschreitender Zeit war auch die Bewegung der Erde mehr und mehr zu spüren: Die Füße verloren ihren Halt und gerieten ins Rutschen; selbst auf ganz ebenem Boden ließ sich keine Sänfte und kein Wagen im Gleichgewicht halten. Bisweilen zerbarsten die größeren Steine, wenn sie im Sturz aneinanderschlugen, zu unzähligen Bruchstücken, wobei Funken stoben, die alles Brennbare in ihrem Bereich entzündeten. In den Niederungen hinter der Stadt wurde nun die Finsternis auf grausige Weise erhellt, denn mehrere Häuser und sogar Weingärten standen in Flammen, und in unregelmäßigen Abständen schlugen die Feuer wild und trotzig gegen die Düsternis hoch. Um zu dieser Erhellung der Dunkelheit beizutragen, hatten die Bürger hier und da, vornehmlich an öffentlichen Plätzen wie den Vorhallen der Tempel und den Eingängen zum Forum, ganze Reihen von Fackeln aufgestellt. Doch brannten diese selten lange, denn die Wasserschauer und Windstöße ließen sie bald erlöschen, und die jähe Finsternis, zu der ihr unbeständiges Licht verwandelt wurde, hatte etwas doppelt Schreckliches, machte sie den Menschen doch die Ohnmacht all ihres Hoffens deutlich und lehrte sie Verzweiflung. »Fische, frische Fische!« rief wieder ein anderer Händler herauf. »Flundern! Schwarzfische! Meeräschen! Haifisch-Steaks für Kenner! Schwertfisch-Steaks für Männer! Fische, frische Fische!«
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Gegen Mitternacht gingen sie durch Seitengassen zur Fähre. Als die Lichter des Ostufers ihnen entgegenschwenkten, kam ihm plötzlich ein Gedanke: »Diese Dummköpfe ! Da unten an dem Berg wohnen zu bleiben, wo der Vulkan doch jeden Moment ausbrechen konnte! War es ihnen denn gleich, ob sie lebten oder starben?« »Warum bist du da wohnen geblieben, wo es keinen interessierte, ob du lebtest oder starbst?« »Ich bin ja doch weggegangen.« »Gehst aber wieder zurück. Oder etwa nicht?« »Wahrscheinlich«, gab er zu. »Irgendwann. Ist schließlich meine Heimat.« »Nun, für die Bürger von Pompeji war das da unten an dem Berg ihre Heimat. Und zwar schon seit ungleich längerer Zeit, als Arroyo das für deine Familie ist.« Sie spazierten durch Gretna nach Algiers zu einer kleinen Bar, wo es Rot- und Weißwein gab und ein Negerpianist spielte und sang: Every time the sun comes down My love comes down for you … Doch ob unter den Straßenlaternen oder auf der Fähre, ob bei weißem Wein oder bei rotem, der Unterricht Hand in Hand ging weiter. »Ich wär nicht nach Moskau marschiert«, erklärte er, nachdem er die Frage von allen Seiten durchdacht hatte. »Hör auf die Musik, Dove.« Every time the rain comes down My love comes down to you … »Ich hätt gewartet, bis das Eis taut, damit die Pferde Frühlingsgras haben.«
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»Trink deinen Wein, Dove.« »Ich war nämlich bereit, ein paar Wochen von Pferdefleisch zu leben, wenn ich dann König von einer großen Stadt werden kann.« Every time the sun comes up My love comes up for you … Beim Läuten der Schiffsglocke, beim Schein der Nachttischlampe, beim Liebeslied oder unterm Sternenhimmel, der Unterricht Hand in Hand ging weiter. Heim durch die europäisch engen Gassen ihres Viertels und die zwei Stockwerke hinauf, bis sie wieder oben über ihrer Glühwürmchenstraße in Sicherheit waren. »Wenn wir so gute Generäle hatten und alles, wieso haben wir dann die Hucke voll gekriegt, Hallie?« »Der Norden verfügte über mehr Kanonen. Schlaf jetzt, Dove.« Doch in der großen blauen Mitte der Nacht spürte sie, daß er sie sanft anstieß. »Dann ging also nicht Recht vor Macht, sondern Macht vor Recht?« »Macht geht nach Macht«, murmelte sie schlaftrunken. »Ja, aber wie ich das sehe« – und wieder fällte er ein zeitloses Urteil – »rüstete sich der Norden deshalb mit so vielen Kanonen, weil er wirklich ein Recht hatte, den Krieg anzufangen. Was ich nicht begreifen tu, das ist, warum die Yankees vier Jahre dazu brauchten, den Süden zu besiegen, obwohl das, wofür wir gekämpft haben, gar keine Zukunft mehr hatte.« Hallie, die noch ganz südstaatlich dachte, wurde so hellwach, als habe er das Feuer auf Fort Sumter eröffnet. »Deine Leute, die sich in den Cookson Hills verkro-
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chen, fanden ja, daß überhaupt nichts Zukunft hat. Ausgenommen das Schnapsbrennen.« »Damit deine Leute was zu saufen hatten.« »Meine Leute? Wen meinst du?« »Das weißt du verdammt gut.« Er geriet nun selber in Harnisch. »Bloß weil du zufällig keine Negerkrause geerbt hast…« »Ich bin französisch-spanischer Abstammung und zu einem Sechzehntel indianisch.« Er hatte sie hochgebracht und dachte nicht daran, sie zu besänftigen. »Was dieses eine Sechzehntel betrifft…« »Jetzt langt's mir!« Sie sprang aus dem Bett, schaltete das Licht an, nahm Kleider aus Schrank und Kommode. Dove bekam Angst. »Wo willst du hin, Hallie?« Als Antwort kippte sie eine Handtasche aus, die sie schon seit Wochen nicht mehr benutzt hatte, und der Inhalt ergoß sich auf das Bett: all die Utensilien ihres so alten Gewerbes. Mit dem einen Fuß fegte er sie auf den Boden. Dann zog er Hallie zu sich heran und fand ihren Mund, der noch nach Rotwein schmeckte. Müde gab sie nach, eine Frau, die genug von der Liebe erfahren hatte, um sich ein Leben lang mit Rotwein zu begnügen. Später im Schlaf klagte sie jemand Unsichtbares an: »Hättest du das Kind akzeptiert, wäre es nicht gestorben.« Sie trug einen weißen Strohhut an jenem Tag im Zoo, als die Jahreszeit der Sonne der des Regens begegnete. Jenem Tag, an dem sie beide glücklich genug waren, Regen und Sonne als gleich zu empfinden. Dove, in einem blauen Serge-Anzug aus einem Laden für getra-
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gene Kleidung, ließ sich von ihr eine kleine grüne Feder an seine schwarzweißkarierte Mütze stecken und kam sich flotter vor denn je. Als sie sie ansteckte, strahlten seine Augen vor Liebe. Und vor Stolz darauf, daß er die »Times-Picayune« oder das »Item« lesen konnte. Liebe und Stolz. Sowie das Bewußtsein, daß ein gewisser Hunderter noch immer nicht angebrochen war. Karusselmusik lockte sie an: endlos im Kreis galoppierende große Hengste, manche weiß wie Schnee, manche schwarz wie die Nacht, aber alle mit im Rhythmus der Musik wehenden Mähnen. Er wollte gern mitfahren, traute sich aber nicht, das zu sagen. Hallie neben ihm lächelte vor sich hin; sein Wunsch war ihm zu sehr anzusehen. Sie zog ihn von der Versuchung weg. Als sie zum Affenhaus kamen, blieb er plötzlich stehen. In einem der Käfige schlug ein herrisches kleines Männchen einem seiner Weibchen in einem fort auf den Kopf, um es aus nur ihm bekannten Gründen zu bewegen, einen Baum hinaufzuklettern. »Schau mal, da sind Oliver und Reba!« rief Dove Hallie fröhlich zu und bewarf Finnerty mit Popcorn. Doch dann fand er das gar nicht mehr komisch, und sie gingen weiter. Eine einsame eisenfarbige Eule harrte im Mittagsschatten wie ein Traum, der auf die Nacht wartet, um geträumt zu werden. Verwesungsgeruch wehte von ihr heran, als würde sie unter ihren Federn schon verfaulen. Sie schauten dem Elefanten zu, der beim Laufen so schaukelte wie ein Schiff, damit die auf ihm sitzenden Kinder ihre Freude hatten. Er sah selber aus wie ein großes dummes Kind. Und doch trug er die Schwachen auf seinem Rücken. Dove kaufte zwei Wundertüten. In der für Hallie
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fand sich zwischen den Süßigkeiten eine kleine Anstecknadel: ein rot-blauer Clown aus Blech. Doves Überraschung war eine Trillerpfeife, und er pfiff damit der Rummelsonne zu. Wundertütenpfeifen und Kinderstimmen, Ponyreiten und Karussels, alles, was Dove an jenem Tag im Zoo sah und hörte, spielte sich ab in einer neuen Stadt, die voller Glanz und ohne Arg war. Und nur ihm und Hallie gehörte. Im Reptilienhaus wand sich die Riesenschlange. Ein Wärter hielt sie an Kopf und Schwanz fest, und ein zweiter zog ihr die Kiefer auseinander, damit ein dritter sie mit einer Flasche füttern konnte. Als der Löwe brüllte, wich Dove einen Schritt zurück. »Der scheint ebenfalls Hunger zu haben«, sagte er zu Hallie. »Sieht mir mehr nach Heimweh aus«, fand sie. Die großen grauen Wölfe der weiten Schneewildnis lagen langgestreckt da und warteten auf den Dezember. Die kleinen Füchse in den Käfigen neben ihnen aber rannten ruhelos hin und her, als bleibe es ewig Sommer. Staunend sah Dove das wechselvolle Licht dem Regen über den mit Papierfetzen besäten Rasen folgen; er hatte noch nie bemerkt, wie Licht fiel. In seinem Kopf dudelte ein Leierkasten herbstliche Lieder, die ihm ganz unbekannt waren. In ihrem nach Heu duftenden Dunkel tänzelte die flüchtige Gazelle mit schwermütiger Eleganz umher, übte die Schritte für ein Ballett, bei dem sie sicher den Solopart tanzen durfte. Gleich einem Betrunkenen im Rinnstein, dem es egal ist, ob feuchtes oder trockenes Wetter herrscht, lag der große Bär da, die Tatzen in die Luft gestreckt, während
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um ihn herum seine Jungen tolpatschig miteinander balgten. Langsam kam aus dem Urgestein die Urmutter der Bären hervor, über und über braun. Eine berufstätige Mutter, verheiratet mit einem Faulpelz, einzige Ernährerin einer immer größer werdenden Familie. Kam hervor, die Pranken eingezogen, so wie sie schon auf die ersten Menschen zugegangen war. Dove warf ihr eine Erdnuß hin, und dieses eine Mal entschied sie sich, sie selber zu fressen. Am Nachmittag fiel wieder Regen, besprühte Wege, Höhle und Käfige. Dove und Hallie flüchteten, Zeitungen überm Kopf, in einen Pavillon aus Lattenwerk. Einem Platz für Liebende im Oktober. Sie hatten gerade Limonade und zwei Poor Boy Sandwiches bestellt, da kam eine Frau mit grauen Strümpfen zu ihnen heran. In der Hand hatte sie eine nasse Zeitung. »Vierzig Jahre ein gutes Leben gehabt«, berichtete sie. »Vierzig Jahre mit einem guten Mann verheiratet gewesen. Sie ist feucht geworden, deshalb können Sie sie für nur einen Cent haben.« Und hielt ihnen die Zeitung hin. »Außerdem ist sie von gestern«, sagte Hallie und gab ihr einen Nickel. »Behalten Sie sie.« In gekränktem Stolz lehnte die Alte ab. »Bin doch keine Bettlerin.« Sie wandte sich zum Gehen. Dove hielt sie zurück. »Ich kaufe Ihre Zeitung«, erbot er sich. »Gestern war etwas, worüber ich was lesen möchte. Also können Sie ruhig den Preis von gestern verlangen.« Die Frau verstand. Sie reichte ihm die Zeitung. Dove gab ihr einen Dollarschein und wartete auf das Wechselgeld. »Sie wollen was zurück?« Ihr Ton war ängstlich. Sie hatte nichts.
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Als sie aßen, kam die Sonne wieder heraus, obwohl es noch regnete. »Der Teufel verdrischt seine Tochter«, lautete Hallies Erklärung für so wendisches Wetter. »Ist das die, die mich eben um einen Dollar gebeutelt hat?« fragte Dove leicht verdrossen. Aus irgendeinem Grund begann Hallie ihm zu erzählen, wie sie zur Prostitution gekommen war: Nach dem Tode ihres Kindes sei sie lange krank gewesen, und da habe ein Freund ihres Mannes sich als einziger Weißer um sie gekümmert. Wenn sie erwachte, habe er am Fußende ihres Bettes gestanden, denn er hatte sie beim Schlafen beobachtet. Als es ihr wieder besser ging, sei er mit einem Paar Schuhen gekommen, die er ihr gekauft hatte, genau in der richtigen Größe und mit Stöckelabsätzen. Dann sei er mit ihr hinausgefahren zum Strand. Da habe er in der Sonne gelegen und den kleinen Wellen zugeschaut, wie sie die Absätze umspülten, als sie am Rande des Wassers auf- und abspazierte. Dann habe er sie mit zu sich nach Hause genommen. So einfach sei das gewesen. »Aber ich habe einen Mann immer noch lieber neben mir schlafen als ihn an meinem Bettende stehen, ohne daß ich davon weiß«, erklärte sie Dove. »Was im Kopf eines solchen Mannes vorgeht, macht mir angst.« Inzwischen war die Teufelstochter zurückgekommen und bettelte um ihre nasse Zeitung, als hätte sie weder Dove noch Hallie jemals zuvor gesehen. »Kann ich Ihre Zeitung haben? Ich habe mal gut gelebt. War vierzig Jahre verheiratet. Gut verheiratet. Da hat's mir an nichts gefehlt. Vielen Dank. Vielen, vielen Dank. Vielleicht komme ich andermal vorbei, und Sie schenken mir dann wieder eine Zeitung.« Es schien ein Glückstag für alle zu sein.
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Gegen Abend frischte ein bißchen Wind auf und begann die Minuten wegzuwehen, bis es Zeit zum Gehen wurde. Auf ihrem Rückweg kamen sie wieder an den Kerkern vorbei. Wo die verurteilten Wölfe lagen, ihr Fell jetzt von des Winters ersten Regen feucht geworden. Wo die Sommerfüchse nach wie vor hin- und herrannten, durch das wechselhafte Wetter noch ruheloser gemacht. Wo der gehorsame Elefant noch immer Kinder auf seinem Rücken umhertrug und seinen Rüssel schwang wie ein Kapellmeister, der einen altmodischen Walzer dirigiert. Wo die weißmähnigen Karusselhengste galoppierten, abwechselnd einander um eine Nasenlänge voraus, und bei abgestoppter Musik im Leerlauf weiterkreisten. Der heimwehkranke Löwe brüllte seine Sehnsucht hinaus. Die eisenfarbige Eule wartete nur auf die Nacht, um dann lautlos in die Träume der Menschen hineinzufliegen und bis zum Morgen wieder in ihrem Baum zu sein. Finnertys Freundin, gefangen auf einem Ast, der nicht stabil genug war, daß er ihr hinauffolgen konnte, winselte vor Angst vorm Hinunterfallen und vor Angst vor Finnerty. In dem heuduftenden Dunkel tänzelte die flüchtige Gazelle umher und übte pausenlos für ein Tierballett mit ihr als Primaballerina. Drinnen in dem Urgestein hatte sich die Urbärin zusammengerollt, und diesmal ließ sie sich nicht zum Rauskommen verlocken, weder für Erdnüsse noch für Menschen, den Teufel oder dessen Tochter. So kehrten sie schließlich zurück zu den Straßen, auf denen die wildesten aller Tiere frei herumliefen.
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An der Einmündung der Canal Street sahen sie ein großes weißes Showboat, das an jenem Tag von Baton Rouge her den Fluß hinuntergekommen war. Mit einer kühnen Ankündigung vor der Gangway: Heute: OTHELLO Hallie hatte seit ihrer Lehrerinnenzeit keine Theateraufführung mehr gesehen und Dove überhaupt noch keine. »Dies ist dein Tag«, entschied sie, »und du darfst bestimmen.« Sie selber fühlte sich von der Sonne des langen Tages zu müde und wollte nichts weiter als auf dem Deck sitzen und dem großen goldenen Strom zuschauen, der leere Provianttüten zum Meer trug. Alle zehn Minuten kehrte Dove mit neuen Nachrichten zu ihr zurück: Der Dampfer lege um halb neun ab, und um neun beginne dann das Stück. Er sei unter Deck gewesen und habe sich vom startbereiten Zustand der Maschinen überzeugt. Im Ballsaal werde jetzt die Beleuchtung überprüft. An der Bar habe er einen jungen Mann und eine junge Frau Bier trinken sehen, und ihm sei gesagt worden, das wären Ott Olio und Dessy Mona. In dem Augenblick erbebte das Schiff, und das große Schaufelrad machte seine langsame erste Umdrehung – sie nahmen Kurs aufs offene Meer! Dove schob los, um zu sehen, ob der Kapitän seine Hilfe brauche. Als die Lichter des Ostufers näher kamen, hörte Hallie unten ein Singen aus Jahren, an die sie sich kaum mehr erinnerte: We'll have a bunch of little by-gollies And we'll put them in the Follies…
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Die Vergnügungsdampferfröhlichkeit drang zu ihr herauf, und dann spürte sie, daß sich in ihr etwas regte, sich schon den ganzen Tag lang geregt hatte, ohne daß es ihr aufgefallen war. Sie sah die Bug- und Hecklaternen eines Frachtprahms, der flußabwärts geschleppt wurde. Und Männer, Betten und Gerüche, der ganze gräßliche Alptraum ihrer Jahre seit dem Tod des Kindes, schienen mit dem Prahm den Fluß hinuntergeschleppt zu werden. An der Stelle, wo ihr Herz gewesen war, spürte sie wieder das schwache Regen. Das Kielwasser des vorbeiziehenden Prahms erschütterte den Dampfer, und sie schloß die Augen, denn es überkam sie ein wohliges Übelsein. Im Geiste sah sie wieder die weißmähnigen Karussellpferde kreisen, immer rundherum und rundherum. »Ein Sechzehntel«, dachte sie aus keinem ihr klaren Grund und wollte lachen, wußte aber nicht, worüber. Höchstens über den rothaarigen Jungen, der auf sie zukam, als habe er etwas ungeheuer Wichtiges zu vermelden. Sie hörte seine Worte, nahm sie aber kaum auf. Erst als er sie an der Hand mit sich zog, begriff sie, daß gleich eine Theatervorstellung begann. In der Mitte des ersten Aktes geriet das Schiff ins Schlingern, so daß sich die gesamte Bühne ein wenig neigte. Für die ersten Reihen war inzwischen klar, daß der schlecht zurechtgeschminkte Othello selber eine Schlagseite hatte. Doch war er noch geistesgegenwärtig genug, daß er sich, wenn er sich an der Luft festhalten mußte, gegen die Bodenschräge stemmte und nicht in die andere Richtung. Durch diese instinktive Reaktion hielt der Mohr von Venedig die ersten Reihen in Bann, denn sie waren gespannt, nach welcher Seite er wohl fallen werde, wenn er sich mal verschätzte.
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Dove aber hätte es nicht einmal gemerkt, wenn der Dampfer total umgeschlagen wäre. Er war völlig gepackt von dem Klang und der Wucht der so altehrwürdigen Verse, daß sie die ganze Menschheit freisprachen: Ich küßte dich, eh ich dir Tod gab! Nun sei dies der Schluß: Mich selber tötend, sterb ich so im Kuß. »Ein Sechzehntel«, bohrte es in Hallies Kopf, während die Bühne in die Waagerechte zurückschwankte, und sie hörte sich ein seltsames Gebet gen Himmel schicken: »Lieber Gott, ob es ein Junge oder Mädchen wird und meinetwegen kohlrabenschwarz ist, aber bitte, bitte laß es mir gehören. Mir ganz allein.« Bei dem bloßen Gedanken, ein Weißer könne Anteil auf dieses Kind erheben, verriegelte sich ihr Herz. Im Geiste begann sie ihre französischen und spanischen Ahnen wie leere Provianttüten über die Reling zu werfen. Sie wünschte sich, und wie ihr jetzt klarwurde, schon seit Tagen, in das Mulattendorf heimzukehren, wo sie geboren war. Und dort nach Sitte ihrer Leute die Haare zu Zöpfen geflochten zu tragen, bis das Baby kam. Es würde schnell getan werden müssen, ehe dieser weiße Mann etwas zu ahnen begann. Doch zugleich breitete sich träges Behagen in ihr aus, eine vernunftwidrige Zufriedenheit: Das habe ja alles noch viel Zeit. Als sie den Dampfer verließen, erschöpft von dem langen Tag, hörte Dove ein leises Bimmeln und sah am Straßenrand einen kleinen Eiswagen stehen. Der Abend war schwül, und ein Eis war genau das, was er jetzt brauchte. »Welche Sorte möchtest du, Hallie?« fragte er sie. »Orange.«
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Das Orangeneis in der Hand und dem Verkäufer drei Cent schuldig, stand er da und suchte sich zwischen Stachelbeer und Ananas zu entscheiden, als eine Stimme hinter ihm »Schokolade« sagte und ein baumlanger Schatten auf Randstein und Wagen fiel. Dove wartete nicht, bis er mit seiner Entscheidung fertig war. Er würde heute abend auch ohne Eis auskommen. »Jemand, den du kennst?« erkundigte sich Hallie. »Ja, früher mal.« »Warum hast du Angst vor ihm? Will er was von dir?« »Nicht daß ich wüßte.« An der Ecke riskierte er einen Blick zurück. Fort war so weit vorgebeugt, um sicherzugehen, von dem Verkäufer nicht geneppt zu werden und Ahornsirup statt Schokoladensoße drauf getan zu bekommen, daß Dove aufging, wie schwer es sein mußte, abends Farben zu unterscheiden, wenn man eine dunkle Brille trug. In den nächsten Tagen bekam Hallie es ein wenig über, immer wieder zu hören: »Ich küßte dich, eh ich dir Tod gab! Nun sei dies der Schluß: Mich selber tötend, sterb ich so im Kuß.« »Könnte ich annehmen, daß du immer weißt, wovon du redest, wäre mir wohler«, erklärte sie ihm. Daß er das nicht wußte, dessen konnte sie aber genausowenig sicher sein. Eines Abends hörte sie ihn laut lesen: So weit bis hin zur Grabesstätte Christs (Des Krieger nun, mit dessen heil'gem Kreuz Wir sind gezeichnet und zum Streit verpflichtet!) Wolln wir ein Heer von Englischen sofort Ausheben, deren Arm im Mutterschoß Geformt schon ward, zu jagen jene Heiden
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Im Heil'gem Lande, über dessen Hufen Die segensreichen Füße sind gewandert, Die uns zum Heil vor vierzehnhundert Jahren Genagelt wurden an das bittre Kreuz. Als sie ihn fragte, was das seiner Meinung nach denn alles bedeute, antwortete er, als wisse er das schon sein Leben lang: »Na, das ist was über irgendwelche Könige und andre Leute von anno dazumal. Es gibt Krieg und sieht so aus, als würde unsre Seite Prügel beziehn. Soll ich runtergehn und ein paar Krabben holen?« Später, als die Krabben geholt und verzehrt waren, las sie vor: Und als ich ein winzig Bübchen war, Hop heisa, bei Regen und Wind! Da machten zwei nur eben ein Paar; Denn der Regen, der regnete jeglichen Tag. Und als ich vertreten die Kinderschuh, Hop heisa, bei Regen und Wind! Da schloß man vor Dieben die Häuser zu! Denn der Regen, der regnete jeglichen Tag. »Das sagt ja nichts weiter«, fand er. Und ahnte nichts davon, daß hinter den Worten, die sie sprach, der Torso eines Tyrannen rollte und ratterte. Die südlichen Nächte wurden kühler. Denn der Regen, der regnete jeglichen Tag. Eines Abends saß Dove, nachdem Hallie schon zu Bett gegangen war, noch lange allein auf ihrem Balkon. Jedesmal wenn vom Fluß her eine Brise vorbeistrich, erlosch ein weiteres der Lichter unten, bis es so aussah, als puste der Wind sie alle aus. Als die Fenster zu beiden Seiten der Straße dunkel waren, drehte er in dem kleinen Zimmer, wo sie schlief, die Lampe an.
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Über ihrem Gesicht lag ein Schatten, der ihren Mund freiließ und ihn schutzlos dem Lampenschein preisgab. Sie schlief weiter, ohne zu wissen, daß soeben eine Brise das letzte der Lichter ausgeblasen hatte. Oder daß der Regenwind ihr Zimmer nun kälter werden ließ. Auch nicht daß der nächtliche Verkehr zwei Stockwerke tiefer sich jetzt fast lautlos bewegte. Ebensowenig daß all die Pein, die ihm seine Unwissenheit bereitet hatte, zum ersten Mal in seinem Leben verschwunden war. Und im Augenblick nichts weiter wichtig schien, als daß diese Frau weiterschlief und nicht erfuhr, daß der Wind die Lichter gelöscht hatte. Irgendwo in dem Hof unten begann jemand Klavier zu spielen, ganz leise, als befürchte er, sie aufzuwecken. Auf der Bettkante sitzend und der bald näheren, bald ferneren Musik lauschend, dachte Dove zurück an jenes erste Mal, da Hallie ihm aus Buchstaben Wörter zusammengesetzt hatte: Wasser ist nun fest wie Stein. Darauf wandeln wir zu zwein: Nan und ich gehn Hand in Hand Durch des Bilderbuches Land. Schauen an die bunte Welt: Menschen, Tiere, Wald und Feld, Berge, Städte, Meeresstrand In des Bilderbuches Land. Als er die Lampe ausmachte und sich neben Hallie legte, drehte sie sich halb auf die Seite, rückte ein Stück von ihm weg. Ach, wie ist es doch so schön, Sich das alles anzusehn! Nan und ich sind wie gebannt von des Bilderbuches Land.
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Er mußte sehr schnell in Schlaf gefallen sein, denn es dünkte ihn bloß Sekunden später zu sein, als er wach wurde und sah, daß die Lampe brannte. Einen Moment starrte er in sie hinein und fragte sich schläfrig, ob er vergessen habe, sie auszuschalten. Die Luft draußen war durcheinander und die Straße voller Geräusche. Auf dem Toilettentisch sah er ihren Lippenstift, ihre Puderdose und ihren Kamm. Erst jetzt merkte er, daß er allein im Bett lag. Sie war weder im Bad noch auf dem Korridor. Überzeugt, daß sie zu Mama zurückgegangen sei, denn etwas anderes konnte er sich nicht denken, zog er sich an. Das letzte, was Dove von dem kleinen Zimmer über der Royal Street sah, war ein zerbrochener Kamm, der in einem Lichtfleck lag. Er rannte durch Straßen, die so eng wie steil waren. Und der Regen, der regnete auf jeglichen Weg. Zu jener Stunde, da die Schlepper tulen und tuten. Wie Liebende, die sich verirrt haben.
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III
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Oliver Finnerty kam bei Dockery mit der Hoffnung herein, sein Angewidertsein ersäufen zu können. Hühnerfarm-Versprechungen, Mamas Warnungen, Rebas Eingeweide, Maus in Puderschachtel, aufmüpfige Miezen und kuschende Miezen, nüchterne Miezen und besoffene Miezen, Amputierte, die Dollars auf den Fußboden warfen, damit Mädchen auf allen vieren danach krochen – Fieberphantasien und kalter Zaster klumpten sich wie faules Fleisch in seinem Hals zusammen, zu weit unten, um sich auskotzen zu lassen, und zu weit oben, um runtergeschluckt werden zu können. »Heute abend gibt's in Storyville einen Luden, dem saumäßig zumute ist«, meldete er sich erbarmungslos zur Stelle. Kippte dann zwei Canadian Rye so schnell hinter, daß sie in seiner Kehle kollidierten, den Klumpen jedoch nur um ein geringes höher brachten. Der kleine Mann lehnte den Kopf auf die blassen Hände und schaute in die Düsternis seines Hirns hinein. Bewegungslos hing dort wie Kohlen- oder Abgasrauch eine niedrige Wolke über den Dächern einer seltsamen Straße: zwei kurzen Reihen von flachen Holzhäusern, die schon lange nicht mehr gestrichen worden waren und aussahen wie Company-Baracken in einer Company-Straße; auf der einen offenen Veranda brannte noch eine Lampe. Doch war es weder der Rauch noch der fehlende
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Anstrich und auch nicht, daß unter der Veranda eine Regenpfütze wie Feuer funkelte, was den träumenden Zuhälter so beunruhigte. Denn in den Spinden hingen noch die Kleider der Frauen, und die Öfen strahlten noch Wärme aus; die Bierkannen waren noch halb voll und die Whiskeyflaschen ebenfalls. Jemand hatte einen Pantoffel unter einen Toilettentischspiegel geklemmt, um ihm Halt zu geben. Draußen schnüffelte ein Hund zwischen den verlassenen Häusern umher. Und eine Luft wie von Rage und schrecklicher Eile strich durch die leeren Räume, was nur bedeuten konnte, daß das Schlimmste noch bevorstand. Da kam es schon. In Autos. An Kotflügel spritzender Schlamm, herausspringende Männer und Halbwüchsige – er hörte das erste Glas splittern und sah die ersten Flammen hochlodern. Was dem Zuhälter Schmerz bereitete, angenehmen Schmerz, der ihn irgendwie von allem befreite. Ihm wieder das kranke alte Vergnügen an dem toten alten Traum brachte. Obwohl er den sonderbaren Namen jenes Ortes nicht unterbringen konnte und auch nicht die Namen der Frauen dort, weder der blonden noch der brünetten. Diese Rowdies hatte er nie gesehen. Ebensowenig wie aus einer Regenpfütze unter einer brennen gelassenen Verandalampe loderndes Feuer geworden war. Ob er solch einen Überfall mal als Kind aus dem Fenster eines fahrenden Zuges miterlebt hatte oder ob das Ganze nichts weiter war als ein Wunsch, sämtliche Frauen ein für allemal aus seinem Denken zu verscheuchen, das konnte der arme Lude Finnerty nicht wissen. »Oliver, du schaust ja drein wie sieben Tage Regenwetter.«
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Finnerty hob das Gesicht, aus dem sich alles Leben so verflüchtigt hatte wie aus dem eines Embryos, der zwar cleverer als die meisten gewesen, aber trotzdem tot zur Welt gekommen war. Und er dachte, es müsse zu seiner flauen Stimmung gehören, daß er neben sich plötzlich seinen texanischen Einreiter stehen sah. Doch er war es leibhaftig: sein guter alter Jungferneinreiter, der mit weit heraushängender Zunge nach einem Schnaps lechzte. Jemand hatte ihm eine schwarzweißkarierte Mütze aufgestülpt, die lediglich eine Nummer zu groß war, und jemand hatte ihn in einen lediglich eine Nummer zu engen Anzug gesteckt. Jemand hatte ihm die Haare geschnitten, jemand hatte ihm die Schuhe geputzt, und jemand hatte ihm einen kleinen blau-roten Clown aus Blech ans Revers geheftet – doch er war immer noch derselbe alte Einreiter. Wie Staub vor der Hoffnung der Welt wurde des Zuhälters trübe Laune weggefegt. Wohlgefühl stieg in ihm hoch wie in einen Kelch gegossener Wein. Dankbar für jede Freude, wünschte er, sie säßen vor einem Mahle, damit er das Tischgebet sprechen könne. Sein Einreiter und Vorturner mit dem Säufergesicht, der alte Großtuer und Nichtsnutz. »Big Bull!« begrüßte er Dove und trat zurück, wobei er sich die Augen beschattete, als könne er es noch immer nicht glauben, daß das größte Wundertier unter den schrägen Typen der Stadt auf einen Sprung zurückgekommen sei. »Weißt du, daß ich dich in dieser Verkleidung erst gar nicht erkannt habe?« »Du hast mich angestarrt, als hättest du einen Groll auf mich, Oliver.« »Ich und einen Groll auf dich?« Mit einem einzigen heftigen Zug löste er Doves Krawattenknoten und band ihn sorgfältig in eine modernere, mehr lockere Form.
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»Wie könnte ich? Wann hat es je einen stolzeren Anblick gegeben? Mann, ich habe dich zu dem gemacht, was du bist, und ich schäme mich meines Werkes nicht. Aber was haben wir denn da?« Er zog Dove ein kleines Buch aus der Jackentasche, und sein Lächeln wurde dünner. »Haust du wieder Kinder übers Ohr? An deiner schicken Schale sehe ich, daß du eine profitable Sache laufen hast, und da bin ich natürlich interessiert. Als ich eine hatte, habe ich dich mitreingenommen, und ich zweifle nicht, daß du mich auch in deine mitreinnimmst.« »Ich kann jetzt lesen und schreiben, das ist alles.« Als Dove das Buch wieder einsteckte, kehrte ein Anflug von Protzerei in seinen Ton zurück. »Toll, nicht?« »Obertoll! Einfach einmalig! Darauf gebe ich einen aus!« Finnerty schien irgendwie erleichtert. »Ich habe ja immer zu allen gesagt: ›Macht euch um Mister Oberschlau keine Sorgen. Der hat sich eine Privatlehrerin genommen und läßt sich von ihr beibringen, was ihm noch fehlt. Dieser Simpel, der steckt euch alle noch mal in die Tasche.‹ Jawoll, das habe ich gesagt.« Er senkte die Stimme, um anzudeuten, daß jetzt der Augenblick gekommen sei, einander zu vertrauen. »Ich wette, die hellhäutige Niggerin und du, ihr habt euch zusammengeschmissen?« »Ich weiß nicht, wo dieses Mädchen ist, Oliver. Wirklich nicht. Ich wünschte bei Gott, ich wüßt es.« »Sie war vorhin hier und hat dich gesucht.« »Das kann doch wohl kaum sein …« sagte Dove begriffsstutzig. »Natürlich nicht«, gestand Finnerty sofort ein, nachdem er erfahren hatte, was er zu wissen brauchte. »Warum sollte sie dich erst suchen, wenn sie doch genau
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weiß, wo sie dich finden kann? Dockery, zwei Whiskey!« »Ich trink nicht mehr so stark wie früher, Oliver.« »Doppelte, Dockery!« Eine abgesägte Krücke stieß die große Tür weit auf, so daß das Straßenlicht auf den Rädern glitzerte. Er schwang sich herein, und wie die Nacht schloß sich die Dunkelheit hinter ihm, und ebenfalls wie die Nacht kam er lautlos herangerollt. Wenn ihm nicht froh ums Herz war, dämpfte Schmidt seine Kader. Finnerty streckte einen Fuß vor. »Big Dad! Eine kleine Feier dir zu Ehren! Darf ich dir einen alten Bewunderer von dir vorstellen? Er hat dich mal auf der Leinwand gesehen. Komm und trink einen mit.« »Wir kennen uns bereits«, lehnte der Krüppel ab. »Ich trinke heute abend nicht mit Bewunderern.« Er hatte die Hand schon an den Rädern, hielt jedoch noch inne, um Dove zu mustern, von unten nach oben und dann von oben nach unten. Finnerty deutete dieses Zögern richtig. »Wenigstens einen«, bat er. »Unser Studiosus hier fragte gerade, ob du tatsächlich mit dem Würger auf Tournee warst. Erzähl doch mal.« Er reichte Schmidt einen Whiskey runter. Schmidt teilte Dove das Ergebnis seiner Musterung mit: »Tagedieb.« Und fand dann doch eine Minute Zeit. »Ach, das war ein Kinderspiel. Der Würger nahm mich immer in die Klammer, und ich ließ ihn, bis er ordentlich Beifall bekam, denn ich arbeitete damals ja gegen Prozente von der Börse. Schließlich sprengte ich seinen Griff und ließ mich von ihm dann an Oberarm und Schulter packen und zu einem Purzelbaum rumschmeißen – alles für die Hinterwäldler, damit die dachten, jetzt hätte er mich geschafft. Ich ließ ihn weitermachen,
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bis ich merkte, daß er anfing zu ermüden. Da hab ich ihn dann abgeschüttelt und ihn« – er legte zwei Finger über Kreuz, um zwei umklammernde Schenkel anzudeuten – »in die Schere genommen und anschließend« – er legte die Handgelenke über Kreuz und preßte dem Würger den Kopf zusammen – »in die Klammer. Doch sehr zudrücken durfte ich nicht, sonst wäre ich arbeitslos geworden. Aber meine Klammer sprengen, das ist ihm nie gelungen.« Er reichte sein leeres Glas hinauf. »Nie!« »Darauf trinken wir«, befahl Finnerty mit ausdrucksloser Miene. »Daß er die von Schmidt nie gesprengt hat.« »Daheim hab ich mal mit einem mexikanischen Jungen gerungen«, meldete sich Dove zu Wort. »Bin von dem aber so achtkantig zu Boden geworfen worden, daß ich das nie wieder versucht habe.« Plötzlich bestritt der Krüppel Dove und aller Welt: »Nein, meine Klammer konnte er nicht sprengen!« Und schlug sich mit beiden Fäusten auf die Stümpfe, als wolle er es auch sich selber bestreiten. »Das hat Zybysko nie geschafft! Kein einziges Mal!« »Bleib ruhig, Dad, bleib ruhig«, besänftigte Finnerty ihn. »Ich nehme doch an«, animierte er ihn zum Weitererzählen, »die kleinen Mädchen haben dich mehr als einmal in eine Klammer genommen, die zu sprengen du gar nicht erst versucht hast? Stimmt's, Big Dad? Womit ich«, fügte er rasch hinzu, »natürlich auf deine Filmkarriere anspielen will.« »Filmkarriere?« Wie ein Seebarsch mit knurrendem Magen schnappte Schmidt nach dem Köder. »Nun ja, ich hatte einen kleinen Part mit Wallace Beery, aber ich wüßte nicht, daß ich das jemals erwähnt hätte.« »Du hast die letzten zwanzig Jahre kaum von was an-
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derm geredet«, dachte Finnerty und fügte laut hinzu: »Ich habe das von gemeinsamen Bekannten erfahren, die eifrige Kinogänger sind. Du hattest da eine Ringkampfszene, nicht? Können wir ein bißchen mehr darüber aus erster Hand hören, Big Dad?« »Ach, das ist lange her und vergessen«, berichtete Schmidt. »Ich hatte ein Mädchen kennengelernt, das in diesem Film ebenfalls eine kleine Rolle hatte. Kurz bevor ich mit dem Würger auf die Amerikatournee ging, verlobten wir uns. Im Osten machte die Catcher-Schau dann Pleite, und meine Rückfahrkarte für den Bus reichte bloß bis Needles. Ich hatte es so eilig, wieder zu meiner Braut zu kommen, daß ich keine Stunde verlieren wollte. Statt ihr zu telegrafieren, daß sie mir Geld schicken soll, habe ich mir für meinen letzten Dollar eine Flasche gekauft und bin auf einen leeren Güterwagen geklettert. Eine Minute vor Mitternacht, am einunddreißigsten Dezember neunzehnhundertdreizehn. Das nächste Mal, wo ich sie sah, war nach der Operation. Sie hat mich zurück ins Leben gepflegt. Eigenhändig. Hat mich gebeten, sie trotzdem zu heiraten, so als wäre nichts geschehen – so eine Frau soll man erst noch mal finden! Aber wie konnte ich solche Selbstlosigkeit ausnützen? Wo sie doch ihre ganze Karriere vor sich hatte! Zwei Karrieren ruinieren, weil die eine zu Bruch gegangen war? Ich habe sie weggeschickt und sorge seither selber für mich, und zwar besser als viele, denen das Leben glücklicher mitgespielt hat.« »Aber«, fragte Finnerty kalt lächelnd, »hast du nicht einige Zeit gebraucht, dich daran zu gewöhnen, kleiner als andere zu sein, nachdem du doch so lange immer und überall der Größte warst?« Ob nun allein schon die Frage oder auch des Zuhälters Ton, Schmidt paßten offensichtlich beide nicht.
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»Hier sehe ich keinen, der größer ist als ich.« Er schaute zu Finnerty hoch, ihm direkt in die Augen, und als Dockery drei Whiskeys hinstellte, ließ er den für ihn bestimmten stehen. »Wenn du irgendwas kannst, das ich nicht kann, dann hast du jetzt die Möglichkeit, das zu nennen.« »Nun werde nicht auf mich sauer, Big Dad«, sagte Finnerty heiter. »Ich behaupte ja nicht, es mit dir aufnehmen zu können. Aber unser Studiker hier, bei dem ist das schon anders: Im Stutenreiten kommt mit ihm kein Mann auf der Welt mit.« Schmidt riß seine Räder herum und wandte sich Dove zu. »Kannst du was besser als ich, Tagedieb?« »Sogar von dem, was Nichtbehinderte können, kann ich vieles nicht, Mister«, beeilte sich Dove zu sagen, und selbst in seinen eigenen Ohren klang das nicht ganz gehörig. »Zum Beispiel«, half Finnerty ihm nach, »könnte er sich niemals als DER HALBE MENSCH zur Schau stellen.« Darauf also hatte er hinaus gewollt! »Ich wünsche euch frohes Schaffen in eurem noblen Beruf«, sagte Schmidt zu beiden und rollte so lautlos hinaus, wie er hereingekommen war. Doch Finnerty rief ihm unverhüllt spöttisch hinterher: »Wenn du nicht das Zeug zum Champion hast, kannst du dich gleich von den Weibern unterbuttern lassen!« Dann piekte er Dove den Finger in die Brust. »Du weißt, auf wen das mit dem noblen Beruf gemünzt war? Auf dich! Das brauchst du dir nicht gefallen lassen, Tex. Ich stehe hinter dir.« Dove leerte sein Glas und das von Schmidt ebenfalls. »Und ich hinter dir, Oliver«, sagte er und wünschte, eines der beiden Gläser wäre wieder voll.
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»Wenn ich hinter einem stehe, dann voll und ganz. Finnerty prügelt sich nicht, Finnerty legt um und läßt wegschaffen.« Manchmal war das eine seiner Gläser voll, manchmal waren es beide. In dem Spiegel hinter der Theke beobachteten ihn immerzu Gesichter von Leuten. Und vor der Theke beobachteten Gesichter von Puppen immerzu Leute. Gesichter von Leuten und Gesichter von Puppen, und sein Glas war wieder voll. Er war hergekommen, um jemanden zu suchen, dessen Name ihm auf der Zungenspitze lag, doch gerade in dem Moment setzte die Musikbox ein, mit was von Saints, die reinmarschiert kommen. Die Leute begannen mitzumarschieren, hinter den Saints und die Puppen hinter den Leuten, und er schloß sich an. Dorthin, wo Glocken läuteten, Züge rangierten, Saints marschierten, Zeit verging und sein Glas wieder gefüllt wurde. Bis aus dem Whiskeynebel eine Stimme kam, die behauptete, kein Linkhorn könne lesen. »Wer kann nicht lesen?« hörte er jemanden fragen, der bereit war, sich zu raufen. »Ich? Wer sagt das?« »Niemand. Sei jetzt still oder scher dich raus.« »Red nicht in dem Ton mit mir, Oliver!« warnte er Finnerty. »Du hast nicht Oliver vor dir.« »Sondern?« »Ich bin Dockery.« »Und ich bin Big Bull. Jawoll!« Der Fußboden neigte sich ein wenig, doch er bekam etwas zu fassen und hielt sich daran fest, hielt sich nur einfach fest. Bis die Lampen angingen und das, was dort stand, mit einem kleinen Heiligenschein um seinen Rand, sein eigenes Whiskeyglas war, wieder vollge-
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schenkt. Er fand das von dem Whiskey so lieb, daß ihm die Tränen kamen. Während Puppen marschierten, Saints marschierten, Leute lachten. Durch einen Dschungel von Pappmachepuppen, der kein Ende nahm. »Er fängt sich schon wieder, Doc«, sagte jemand, der der beste Freund war, den jemand jemals gehabt hatte, zu jemand, der nie jemandes bester Freund gewesen war. Dove zog Finnerty am Ärmel, um ihn zum Zuhören zu bewegen. »Die Leute wollen, daß ich sie wieder zum Lachen bringe, Oliver.« »Dann lies Ihnen doch was aus deinem Kleinkinderbuch vor.« Aber die aufgescheuchten Buchstaben hüpften hin und her wie kopflos gewordene Vögel, so daß der mit der Behauptung, kein Linkhorn könne lesen, doch recht hatte und alle so enttäuscht von ihm waren, daß er nun richtig zu weinen begann, ihretwegen, der Puppen wie der Leute, weil sie nicht auf ihre Kosten kamen. »Ich weiß was: Ich werd für sie singen! Singen und tanzen!« Das war die Lösung. Für alles. Und sich mit der einen Hand auf die Musikbox stützend, hob er den einen großen Fuß, als wäre einen solchen Fuß heben allein schon eine Leistung. Durch den Whiskeynebel guckte er in die Runde, ob ihm auch alle zuschauten. Immerhin, auf nur einem Fuß stehen, das konnte nicht jeder. Er war der einzige, der ganz genau wußte, wie man das machen mußte. Das würden sie bald erkennen. Einer applaudierte bereits. Jetzt hatte er sie soweit. Gelänge es ihm nun, auf den anderen Fuß überzuwechseln, würde ihm der ganze Saal zuklatschen. Vorsichtig begann er das Standbein zu tauschen.
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Er schaffte es, mit pendelnden Armen, wiegendem Kopf und so weit vornübergebeugt, daß er ein wenig ins Schwanken geriet. Ein zweiter klatschte, dann ein dritter und ein vierter. Der Tanz wurde von Schritt zu Schritt schneller. Manche sahen darin Liebe, andere Verzweiflung. Er tanzte wie der König der Elefanten. Durch einen Dschungel von Pappmachepuppen. Er stemmte die Hände in die Seiten und ging über zu langsamen, obszönen Hüftbewegungen. Die Musik lief aus, aber es applaudierte überhaupt keiner. »Hör auf damit!« protestierte wer. »Es sind Damen anwesend!« »Laß ihn doch zeigen, was er hat!« Jemand anders sah das anders. Dann rückten aus dem Whiskeynebel Dockerys Augen näher und näher heran, bohrten sich wie Bienenstachel in die seinen. »Jetzt gehst du zu weit. Wenn du dich nicht benehmen kannst, dann mach, daß du rauskommst. Ich sag dir das kein zweites Mal.« »Du mir? Hick! Wer bissen du?« »Dockery.« Leute fingen an, ihn wegzudrängen. Er war doch hier, weil er jemand suchte! Aber wo war sie hin? »Wer bissen du?« fragte er wieder. »Und du? Und du! Und du?« Er schob sie alle zurück. »Laßt mich los! Wer seid ihr ü'erhaupt?« »Wenn wir dich loslassen, knallst du auf den Kopf.« »Auffen Kopf knalln – dassa ja genau, wassich will! 'n richtig schönen Kopfknaller machen!« Er mühte sich wie wild, lang hinzuschlagen. Doch sie ließen ihn nicht, weder für Geld noch für gute Worte, gönnten ihm einfach keinen Kopfknaller. Die Glocken begannen ihren eigenen albernen Melodien zu lauschen, und die Züge rasten jetzt aufeinander zu.
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In Türeingängen warteten Frauen auf ihn. Sein Glas war wieder voll. »Wenn man niches Zeug zum Ch-ch-ch – hick! – Champion hat«, verkündete er, »kann man sich gleich vonnen Weiban unterbuttern lassen!« »Na dann kannst du das ja hier und jetzt tun«, bestätigten ihm alle. Dockery langte es. »Schafft ihn raus!« Und inmitten eines Haufens von lachenden Zuhältern, die die Feder an seiner Mütze aber alle überragte, torkelte Dove zur Tür hinaus, wobei er noch immer zu seinem Kopfknaller zu kommen suchte, aber jedesmal aufgefangen wurde. Als sie ihn schließlich vorm Eingang von Mama hatten, war die Jacke seines neuen Anzugs für immer dahin und das eine Hosenbein vom Gürtel bis zum Knie aufgerissen; die Hemdtasche hing bloß noch an einem Faden. Seine Mütze aber hatte alles überstanden, lediglich die Feder war zerknickt. »Hier kommt Big Bull«, rief ein Lude, »um einen draufzumachen!« »Und sich von den Weibern unterbuttern zu lassen«, ergänzte ein anderer. Während Oliver Finnerty, nun schon fast wieder der alte, zuschauend in der Tür stand. Und seinen Überdruß schwinden spürte. Wenn Taxis vom Bürgersteig zurückstoßen und die Dunkelheit zwischen den Laternen länger wird, wenn du den Whiskey in deinem Glas vor dir nicht mehr magst und der Himmel eine schon sträfliche Glut birgt, voller Habenwollen und voller Verlorenhaben, dann ist die Stunde des Komm-und-erzähl-mir-alles-darüber, des Hörn-Sie-mich-an-Mister-zwanzig-Cent-helfen-mir
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schön-weiter, des Wenn-Sie-mir-einen-Dime-gebenkann-ich-in-einem-Bett-schlafen, die Stunde der die ganze Nacht Bittenden und Bettelnden. Dann sehen die wie verirrte Gespenster in den paar noch offenen Türen stehenden Mädchen (wie bleich ihr nachtlanger Hunger sie gemacht hat!), daß es keine Möglichkeit mehr gibt, die letzten Laternen am Ausgehen zu hindern, und dann fangen selbst die Luden an aufzugeben. Der Beinlose rauchte die erste bittere Zigarette des kommenden Tages und beobachtete die letzten der Zweibeiner beim Nachhauseeilen, heim zu Liebe und Ruhe. Ein Schmerz wie der Schmerz völligen Besiegtseins strich ihm gleich einem Wind aus den Eissteppen des Todes übers Herz und ließ es erzittern wie ein Espenblatt. Was bedeutete es schon, daß sie sich über ihn ein bißchen lustig gemacht hatten? Schlimmeres als das geschah Leuten jeden Tag. Als Behinderter mußte man lernen, das Bittere mit dem Süßen zu nehmen, es gehörte nun mal mit dazu. Schließlich wußte jeder, daß die beiden nichts weiter waren als Luden billigen Schlages, er dagegen aber noch nie von einer Frau auch nur einen Cent genommen hatte. Doch während er so träumend sinnierte, wanderten seine Augen hinunter, dorthin, wo einmal seine kräftigen Beine gewesen waren. Und er sah keinen Weg zurück zu seinem eigenen Leben, seinem guten eigenen Leben, das so unwiederbringlich dahin war. Eines am Oberschenkel, eines am Knie. Warum denen eine Chance geben? Wer hatte ihm denn eine gegeben?
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Mochte Floralee auch etwas getan haben, das sie zu der Annahme bewog, Gott könne sie nicht mehr leiden, so folgte daraus noch nicht, daß Er es gewesen war, der nach dem Razziawagen telefoniert hatte. Die Musikbox begann gerade »Please Tell Me How Many Times« zu spielen, als sich der Salon plötzlich mit blauen Uniformen füllte und jemand ihre Scheibe einschlug. Wozu sollte das gut sein? Denn ohne das Glas kam der Song ja nur um so lauter heraus: »I'd feel bad if you'd kissed too many but I'd feel worse if you hadn't kissed any.« Wo war Reba, als die Scheibe zu Bruch ging? Sicher nur mal kurz rausgegangen. Wo war Fünfie, als die Musikbox eingeschlagen wurde? Beim Galoppieren von Tür zu Tür, nur mit ihren Ohrringen und einer Badematte bekleidet. »Schafft die Kerle raus!« rief sie und scheuchte drei Freier, die ihre Hosen noch in der Hand hatten, den Korridor lang. Den einen schob sie zum Fenster hinaus, ein anderer ging mit einem Schein in der Hand an einem der Blauen vorbei. Der sagte zu einem Kollegen: »Onkel Charlie.« Und ließ ihn passieren. Wo war Mama, als die Musikboxscheibe zersplitterte? Beim Durchlesen einer Quittung über zweitausendzweihundert Dollar für ein Haus mit Grundstück und sechs Hundezwingern samt zwei Dobermännern, und sie hatte ihre ersten schlimmen Ahnungen. Wo war Finnerty, als sich das alles zutrug? In einer einmotorigen Sportmaschine mit zweitausendzweihundert in Fünfern und Zehnern unterwegs nach Miami, um sich die Achselhöhlen bräunen zu lassen. Am Nagel seines kleinen Fingers kauend, fragte er sich immer wieder reuig: »Ach, warum habe ich diesen Krüppel nicht umgelegt?«
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Wo war Floralee die ganze Zeit? Beim Bezeigen ihrer Demut vor Gott, indem sie sich einem johlenden Betrunkenen barmherzig als Liegestatt zur Verfügung stellte. Wo war Kitty Twist, dieses liebenswerte Kind? In Gedanken bei Finnerty und wünschend, sie wäre tot. Als sie es splittern hörte, nahm sie einen großen Schluck Gin, warf die Flasche zum Fenster hinaus und folgte ihr hinterher – direkt in die Arme von zwei Polypen. »Ich habe nun mal kein Glück«, sagte die abgebrühte Kitty Twist. »Bist nicht schlechter dran als die andern«, tröstete sie der eine der Blauen. »Hopp und rein mit dir, Schwester. « Gehorsam stieg Kitty ein. »Wer seid ihr?« fragte sie in das Dunkel des Polizeiwagens hinein. »Wer fährt hier noch mit?« »Herbert Hoover gewiß nicht«, kam die Stimme von Frenchy. »Sie, Polizeichef«, sagte Kitty zu dem, der an der Einstiegstür Wache hielt, »worauf warten Sie noch? Wir sind doch fahrbereit.« »Kann sein, daß noch mehr kommen.« »Habt ihr denn bloß diese eine Karre?« fragte Kitty mit Tadel im Ton. »Wir wollen's mit einer Fuhre schaffen, Schwester«, sagte er entschuldigend. In dem Moment ließ ein Gebrüll wie ein Schlachtruf die Sterne wackeln. Die Mädchen steckten die bemalten Gesichter hinaus und hörten etwas wie Eisen gegen Eisen schlagen. »Anscheinend will da jemand nicht mit«, vermutete Frenchy. Der Jemand erschien im Lichtrahmen der Tür: Dove,
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mit nichts weiter an als einem Unterhemd. »Hände weg!« brüllte er und schlug, vor Trunkenheit und schrecklicher Angst außer sich, mit der Flachseite eines Buches um sich. Kitty sah, wie er den einen Polizisten an die Wange traf- »Hände weg, hab ich gesagt!« – und einen anderen direkt ins Auge. Dann packte der eine ihn am Nacken, und ein zweiter hielt die das Buch schwingende Hand fest. »Sei ein schön artiges Bübchen, so wie ich es in deinem Alter war«, sagte ein dritter und riß ihm beide Beine weg. Gemeinsam hoben sie ihn hoch. »Eins! Zwei! Drei!« Kitty und Frenchy konnten gerade noch ausweichen, und schon kam der nacktarschige Körper hereingeflogen: Bang! Watkins' Exvertreter landete auf dem Bauch und hielt sich an dem eisernen Wagenboden fest. »Fein, daß du diesmal mit mir mitkommst«, begrüßte Kitty ihn. Und stieß ihn tastend mit dem Zeh an. Der Körper rührte sich nicht. Da fand Kitty, daß es eigentlich egal war, ob er mitkam oder nicht. Ihr war überhaupt alles egal, alles und alle. Alles, was geschah, geschah mit Recht. Was spielte es da für eine Rolle, wem es geschah? So sah Kitty Twist die Dinge. »Ich hörte ein Niesen im Wandschrank«, berichtete der Polizist den Mädchen, »und als ich die Tür aufmachte, war dort dieser jungsche Bengel drin – nackt bis auf Mütze und Unterhemd und mit einem Buch unterm Arm.« »Ist wohl bloß einer, der keine Zeit mehr gehabt hat, sich die Hosen anzuziehen«, sagte Frenchy, um ihn auszuhorchen, wieviel er wirklich wußte. »Wenn er nicht zum Haus gehört, droht ihm nichts Ernsthaftes«, meinte der Polyp. »Wie ein Zuhälter kommt er mir nicht vor.«
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»Was mich betrifft, so habe ich ihn noch nie gesehen«, bemerkte Frenchy und gab Kitty einen Rippenstoß. »Ich auch nicht«, erklärte Kitty Twist. In stickiger Zellenluft kam Dove wieder zu sich. Irgend etwas lag ihm auf dem Gesicht. Hallo, Hose. Er spürte, daß ihm der Kopf abwechselnd anschwoll und abschwoll. Hielt er die Augen ganz still, tat es weniger weh. Als jemand die Hose von seinem Gesicht hob, schaute er deshalb starr hoch, ohne zu plinkern. »Mir scheint, der Hurensohn ist tot«, hörte er eine gleichgültige Stimme sagen, und ihm stieg Zigarrenrauch in die Nase. »Ich sehe aber nirgends Blut, Harry.« »Die bluten innerlich.« »Dann sind wir beide dran.« »Bloß wir beide? Und Smitty nicht?« Die Hosen fielen zurück. »Doch, der auch, klar. Ach, dieser Smitty. Statt auf die Nutten im Wagen aufzupassen, gibt er damit an, daß er jetzt für die L.S.U. Football spielt.« »Weißt du noch, wie er den Nigger mit einem einzigen Handkantenschlag fertiggemacht hat? Da siehst du, was man mit Jiu-Jitsu erreicht.« »Nein, aber ich war dabei, als er bei dem Spanierbengel die Geduld verlor, weil der so tat, als würde er kein Englisch verstehen. Da siehst du, was man mit So-Tun erreicht.« »Wachtmeister«, piepste ein Stehkragenträger vom Ende der Sitzbank her, »dürfte ich wohl ein Aspirin haben? Ich kann es bezahlen. Sofern es Ihnen nicht zu viele Umstände macht.«
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»Macht es aber«, lautete Harrys Antwort. »Laß es dir da geben, wo du hinkommst.« Und er stieß Dove mit dem Fuß in die Seite. Einfach nur so. »Da hab ich aber schon kräftigere Tritte gekriegt«, fand Dove im stillen und wünschte, sie würden das Rauchen lassen. Die schienen vor nichts Ehrfurcht zu haben. »Weißt du was, Jeff?« fragte Harry leise. »Was ist denn?« wollte Jeff wissen. »Ich glaube, der Hurensohn ist tatsächlich tot.« Tief drinnen in Doves Hals zitterte ein großer Tropfen Speichel, wuchs zu einer Blase heran, die ihn kitzelte. Die Luft in der Zelle war so, daß man kaum atmen konnte, und wenn sie nicht mit dem Rauchen aufhörten, würde er husten und damit wieder zum Leben erwachen müssen. Lieber tot als das, dachte Dove. »Ein bedauernswertes Opfer des Alkohols. Whiskey und Weiber, das hat sein Herz nicht ausgehalten.« »Dann war das, was da vorhin, als er auf dem Eisen landete, wie eine Glocke geklungen hat, wohl sein letzter Herzschlag, was? Fällt dir nichts Besseres ein?« »Der Captain wird uns schon den Rücken decken«, meinte Jeff. »Der? Glaubst du, er möchte ein Bild von dem hier auf der ersten Seite der ›Times-Picayune‹ sehen und daneben die Forderung, die Polizei von brutalen Elementen zu säubern? Wohl kaum.« Dann verriet ein Schweigen, daß sie sich einig geworden waren. Der eine, merkte Dove, nahm seine Arme und der andere seine Beine. »Als Toter wird man besser behandelt«, fand er, während sie ihn behutsam hochhoben. »Das ist immerhin was.«
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»Wo bringen wir ihn denn hin, Harry?« »Glaubst du ins Loew?« Ein Flußdampfer stöhnte wie eine müde Kuh, als ließe er in Dunkel und Flut alle Hoffnung fahren. Dove spürte, daß die Luft plötzlich klarer wurde, und da wußte er, sie befanden sich jetzt unter freiem Nachthimmel. Irgendwo über ihm wurde geräuschvoll ein Fenster geöffnet. »Was habt ihr Hammel denn jetzt vor?« hörte er eine neue Stimme, gebieterischer als die von Harry. »Uns ist wieder mal einer krepiert, Captain.« »Wie oft soll ich euch noch sagen, daß man im Gefängnis genauso sterben kann wie im Krankenhaus. Schafft ihn ins Charity Hospital und laßt euch einen Wisch geben. Ich hab's satt, euch das jedesmal neu sagen zu müssen.« Das Fenster schlug zu. Dove hoffte, daß sie ihn nicht fallen ließen; er hatte das Gefühl, über Beton zu hängen. »Was meint er mit ›Wisch‹, Harry?« »Na, 'ne Empfangsquittung für die Leiche natürlich.« »Können wir ihn nicht einfach draußen auf die Vortreppe legen und darauf vertrauen, daß die Krankenschwestern ihn schon holen werden?« »Ich möchte aber doch lieber reingebracht werden, falls das nicht zuviel verlangt ist«, bat Dove höflich. Den beiden Blauen klappte der Mund runter. Während sie noch wie erstarrt dastanden, wurde Dove klar, daß das eben seine eigene Stimme gewesen war, und er sprang auf, rannte los und raste direkt in eine Mauer aus rotem Backstein hinein. Harry fing ihn beim Zurückprallen ab und führte ihn an der Hand wieder zu Jeff. »Ich wußte die ganze Zeit,
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daß der bloß simuliert«, sagte er. »Habe nur auf eine falsche Bewegung von ihm gewartet. Siehst du, nun habe ich ihn dazu gebracht, sich zu verraten.« Dove legte seine Hose sorgsam zu einem Kissen zusammen, schob sie sich unter den Kopf, streckte sich bequem aus und wartete, wieder hochgehoben zu werden. »Wißt ihr«, entschuldigte er sich bei den südlichen Sternen über den Köpfen der Polypen, »eigentlich möchte ich aus dieser alten Welt doch nicht scheiden, denn sie ist ja die einzige, in der ich mich einigermaßen auskenne.« Jeff sah Harry an. Harry sah Jeff an. »Hör mal, Junge«, sagte Jeff schließlich, »wir beide schieben schon den ganzen Tag schweren Dienst, und heute ist es besonders heiß hergegangen. Würde es dir etwas ausmachen, dich zu Fuß in deine Zelle zurückzubegeben?« »Mitnichten.« Dove stand auf und begann sich so eifrig die Hose anzuziehen, als hätten sie ihn zum Hähnchenessen eingeladen. »Im Gegenteil, ein kleiner Spaziergang durch die TVacht wird meinem Kopf guttun.« Verstohlen schaute er von einem zum anderen. Irgendwas schienen die in petto zu haben. »Seid ihr mir wegen was böse?« »Weshalb sollten wir denn, Junge?« beruhigte Harry ihn mit jovialer Barschheit. »Hast uns doch bloß ein bißchen zum besten gehabt. Wir haben schließlich Sinn für Humor.« Und schmierte Dove eine solche Ohrfeige, daß er sich im Kreis drehte. Dove stand da und schüttelte den Kopf, damit die Luft ihn noch klarer mache. Die Nächte wurden tatsächlich schon kühler. »Versprich uns, daß du dem Gericht genau erzählst,
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wie es gewesen ist«, drohte Harry ihm mit erhobener Hand. »Versprich das!« Dove rieb sich den Hinterkopf. Ein großer Gedanke bahnte sich dort an die Oberfläche. »Wißt ihr«, entschied er sich langsam, »so was wie das möcht ich lieber gar nicht erst vorbringen. Da könnt man mich ja für'n bißchen dumm halten.« »Hab dir doch gesagt, Harry«, kam Jeff ihm zu Hilfe, »der Junge hat 'ne gute Erziehung.« Harry, die Hand noch immer hoch, musterte Dove von oben bis unten. »Ich hab mir 'ne Menge von dir bieten lassen«, erklärte er. »Noch mehr, und ich …« »Nimm schon die Flosse runter, Harry«, unterbrach ihn Jeff. »Der Junge hat genug. Er ist nicht auf den Kopf gefallen und meint, was er sagt.« Harry senkte die Hand. »Wenn nicht, dann gnade ihm Gott!« Eine Minute später schloß sich hinter Dove das große Tor. »Am besten, ich tu erst mal 'n Weilchen schlafen«, sagte er vor sich hin und tastete in dem Dunkel umher, bis er eine Pritsche fand. Den Vormittag über lösten sich die Insassen von Trakt 10 immer an dessen einzigem Fenster ab. Es ging hinaus auf den Hof eines Tierschutz Vereins, wo mit dikken Handschuhen angetane Männer von frühmorgens an damit beschäftigt waren, die vierbeinigen Schützlinge von des Lebens Leid zu befreien. »TUE GUTES, EHE ES zu SPÄT IST«, lautete das in Klinikweiß gemalte Motto des Vereins. Manchmal kam eine gütig aussehende Frau in Schwesterntracht heraus, um den Tierschutz schneller voranzutreiben. Vormittags bestand dieser darin, jedem Hund genau zwischen die
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Augen zu schießen und seinen Kadaver dann auf einen Karren zu heben. Katzen machten weniger Arbeit, denn es genügte, sie am Schwanz zu packen und ihnen an einem Eisenpfosten den Schädel zu zerschmettern. Und sie brauchten auch nicht hochgehievt zu werden, sondern fielen gleich auf den Karren: Plumps! Plumps! Plumps! Aus irgendeinem Grund glaubten die Häftlinge, es obliege ihnen, die Zahl der getöteten Hunde festzuhalten und sie mit der der Katzen zu vergleichen. Ein Arbeitsdienst-Deserteur namens Murphy betätigte sich als Buchmacher und nahm Wetten in Bull Durham auf die Gesamtquoten des Tages an. Damit nicht geschummelt werden konnte, brauchte man einen Unpartenschen, der nicht mitwetten durfte, und Dove erklärte sich zu diesem Amt bereit. Nie verließ er seinen Beobachtungsposten, ohne die Zahl der Opfer exakt zu melden und ohne, was ihn mit Stolz erfüllte, auch nur eines übersehen zu haben. Und fragte sich manchmal, wo denn wohl, wenn das hier in Trakt 10 Kriminelle waren, die wirklichen Verbrecher gehalten wurden. »Die schönste Zeit meines Lebens, wo ich mich richtig glücklich gefühlt habe«, erinnerte sich ein lebender Scheuerlappen namens Pinky, »das war abends bei der Nationalgarde, wenn wir exerzieren mußten und geschliffen wurden.« Pinky hatte fünfzehn Meter Gartenschlauch gestohlen, und zwar als Ausgleich für Lohnrückstände. Daß diese größtenteils bloß eingebildet waren, hatte den Gartenschlauch nicht kürzer werden lassen, und Pinky mußte noch fünf Monate brummen. Sein Zellengenosse war ein furchterregender Grimwolf mit Lippen wie geifernde Lefzen und Händen wie
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Raubtierpranken. Ein richtiger Kinderfresser, und wenn man hörte, weshalb er einsaß, lief es einem kalt den Rücken hinunter. Hatte er sich doch durch das Dach eines Gewächshauses heruntergelassen und wäre es ihm um ein Haar gelungen, sich mit zwei Töpfen Usambaraveilchen davonzumachen! Zu seinem Pech war er aber in eine Glasscheibe gekracht und hatte sich unter chrysanthemenfarbigem Getöse, seine Veilchen noch immer umklammernd, mit dem Gesicht nach unten in frischgepflanztem Efeu verfangen. Offenbar war durch den Sturz das Wilde seines Wesens gemildert worden, denn jetzt schien es ihn schon glücklich zu machen, daß er zweimal am Tage Pinkys Löffel abwaschen und abtrocknen durfte. Dann gab es noch einen alten Lüstling, einsam und freudlos, mit einem Gesicht wie nie aus dem Keller herausgekommen, und für den kein Mensch Mitgefühl aufbrachte, nicht einmal er selbst. Der Wärter hatte ihn »Regenpelle« getauft – was ein freundlicherer Name war als die Bezeichnungen, mit denen die Häftlinge ihn bedachten. Dieses simplen Satyrs Delikt hatte in nichts weiter bestanden als im Ersinnen einer Methode, bei der Liebe Zeit und Geld zu sparen und sich obendrein vor gefühlsmäßigen Verstrickungen zu schützen: Zwei Einweckringe und ein Regenmantel mit leichtgehenden Knöpfen waren alles, was der selbstgenügsame Liebhaber benötigte. So ausgerüstet war er eines wollüstigen Aprilabends die Carondelet Street entlangspaziert. Vorher hatte er noch vorsorglich seine Hosen in Kniehöhe abgeschnitten und nur die Beinlinge angezogen, die nun von den Gummiringen gehalten wurden, so daß er auf Vorübergehende wie vollständig angekleidet wirkte. Hier und
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da, wenn er an einer Frau vorbeikam, die es wert schien, hatte er zu ihrem Erstaunen und Entzücken den Regenmantel weit aufgeschlagen, sich dann sittsam wieder zugeknöpft und war ebenso sittsam weitergeeilt. Erfindergeist kann sich überall bilden. »Ich bin nicht hier, weil ich Frauen belästigt habe«, erklärte er mit sanftem Tadel für die Gesellschaft, »sondern weil ich eben das nie tue. Habe doch bloß meine harmlose kleine Darbietung gemacht, aber die Frau, statt weiterzugehen und sich um ihren eigenen Kram zu kümmern, schaute sie über die Schulter zurück, gleichsam als Aufforderung, ihr nachzusteigen. Sie muß mich für schwachsinnig gehalten haben – anzunehmen, daß ich so etwas tun würde. Pfui Teufel, da kann man sich ja bei anstecken! Schließlich kam sie sogar ein paar Schritte auf mich zu. ›Haben Sie keine Angst‹, hörte ich sie sagen, ›ich tue ihnen nichts.‹ Ich fürchtete mich auch gar nicht, jedenfalls nicht sehr, denn diesen Typ kenne ich. Aber daß eine mich auch noch anmacht, damit hatte ich nicht gerechnet. Sie rückte immer näher heran. Ich war wie angewurzelt, und sie langte nach mir – igitt!« Regenpelle vergrub das Gesicht in den Händen. Die anderen Übeltäter standen um ihn herum. Mit der Sitte hatten sie alle schon mal zu tun gehabt; sie wußten, was der Mann durchgemacht hatte. Höflich warteten sie, bis er sich wieder fing. Regenpelle wischte sich die Augen und fuhr mit seinem Bericht fort: »Wißt ihr, was dieses Weib für eine Chuzpe hatte, mich zu fragen? ›Möchten Sie gern mit einem netten Mädchen schlafen?‹ Nicht zu fassen, aber das hat sie wirklich und wahrhaftig gesagt, keinen Meter von mir ab! Ein klarer Fall von Mannstollheit. ›Da würde ich eher mit einem pudelnassen Schäferhund
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schlafen!‹ habe ich ihr geantwortet. Und bin weggerannt. Noch ehe mir vor Verwunderung das Kinn runterklappen konnte, war ich schon von einem halben Dutzend Leuten umringt. Wo die so plötzlich hergekommen waren, weiß ich bis heute noch nicht. Sie zerrten mich hin und her, zerrissen mir die Kleider und kreischten: › Sittenstrolch! Sittlichkeitsverbrecher! ‹ Wäre ich das, hätte ich vor der Frau doch nicht Reißaus genommen, sondern wäre mitgegangen!« Stets waren mehrere hier, die wegen Trunkenheitsdelikten oder wegen Schwarzbrennerei saßen, und es wunderte nicht, daß jene, die zuviel Schnaps konsumiert hatten, und jene, die zuwenig davon produziert hatten, einander als Zellengenossen erkoren. Nicht so leicht zu verstehen war dagegen, warum Männer, die nicht mehr mit der Außenwelt kommunizieren, sondern bloß noch dasitzen und vor sich hin murmeln konnten, automatisch zusammenfanden. Bürger der Republik der Bemackten, fühlten sie sich als gemeinsame Kriegsgefangene in Feindesland. Regenpelle zum Beispiel war zu Sumser in die Zelle gezogen, den seine Frau hatte einsperren lassen, weil er nicht davon abzubringen gewesen war, mit ihrer beider Tochter ein Kind zeugen zu wollen. Niemand vermochte ihm das auszureden, selbst mittelalterlicher Folter wäre das nicht gelungen; er war von der Richtigkeit seines Vorhabens felsenfest überzeugt. Seine Rechtfertigung aber teilte er als einzigem seinem Zellenkameraden mit. »Er sagt, die Kleine sehe wesentlich besser aus als seine Alte«, dolmetschte Regenpelle. »Außerdem sei sie viel jünger.« In der einen oder anderen Zelle gab es auch die übliche heruntergekommene zahnlose alte Keller- und
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Parkbankschwuchtel. In Trakt 10 war das Weißnischwas, der behauptete, Saxophonist gewesen und auf irgend etwas süchtig geworden zu sein. »Weiß nisch, was das für'n Zeusch is, denn der Dokta hat's mir nisch sagen wolln, und isch kann Lateinisches nisch lesen«, nuschelte er seine Entschuldigung. »Aber was immer es war, irgendwer hat den Preis erhöht, und da mußte der Dokta 'türlisch auch mehr von mir nehmen.« Der Stoff sei schließlich so teuer geworden, daß er seine Zahnprothese habe versetzen müssen. Da er ohne sie jedoch nicht spielen konnte, sei er gezwungen gewesen, sein Saxophon zu verpfänden, um sie sich zurückzuholen. Er habe dann arbeiten gehen wollen, aber nun ja kein Instrument mehr gehabt. Da habe er was machen müssen. Und so mache er jetzt hier ein Jahr und einen Tag ab. »Weiß nisch, woran das liegt«, fragte er sich noch immer, »aber ohne Zähne krischt man aus dem Sax keinen Ton raus …« »Und isch weiß nisch, was du dir dabei denkst, uns das alles zum hundertsten Mal vorzustöhnen«, stoppte ihn Volldrauf, ein wenig umgänglicher alter Arbeiter, der sich in den roten Zinkminen von Oklahoma eine chronische Migräne geholt und dagegen immer Morphium genommen hatte. Er war zum Entzug im Federal Hospital in Lexington, Kentucky, gewesen und gedachte dieser berühmten Institution voll echter Dankbarkeit. »Das schöne in Lex«, schwärmte er, »das ist, daß sie dich da entwöhnen, indem sie dich an was anderes gewöhnen, was ganz Neues, das niemand kennt, denn es hat noch gar keinen Namen. Da kannst du dann zwei Süchten frönen, statt bloß mit einer rumzukrebsen. Das neue Zeug wirkt so, daß du bald voll drauf bist; dein
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bißchen Gieper nach Flohpulver ist da gar nichts gegen. Man müßte doch blöd sein, so einen guten Tausch nicht machen zu wollen. Mir hat es dort großartig gefallen. War voll drauf.« Er bevorzugte es, die Zelle mit einem ebenfalls Drogensüchtigen zu teilen, nahm notfalls aber auch mit einem vorlieb, der andersrum war. »Deine Krankheit ist schlimmer als meine«, pflegte er zu Typen wie Weißnischwas zu sagen. Was er jedoch partout nicht ertragen konnte, das waren Alkoholiker. In jenen, deren Schwäche der Schnaps war, sah er einen feindlichen Stamm, der von den herrschenden Mächten unverdientermaßen begünstigt wurde. Wieso reiche eine kleine weiße Pille aus, einen Mann mit Einstichnarben am Arm für Monate ins Arbeitslager zu bringen, während einer, der sich an einer Laterne festhalten müsse und dem eine offene Flasche Gin aus der Tasche rage, umsonst nach Hause gefahren werde, sofern er noch fähig sei, den Polizisten seine Adresse zu nennen? »Wenn du einen siehst, der sich nach 'ner Kippe im Rinnstein bückt«, forderte Volldrauf alle Trinker in die Schranken, »kannst du Gift daraufnehmen, daß er ein Wermutbruder oder ein Spritsäufer ist. Kein Süchtiger mit Selbstachtung läßt sich jemals so tief sinken.« Dundee verbrachte schon dreizehn Jahre lang jedes Wochenende in ein und derselben Zelle. Seine Frau hatte einen Bruder, der bei der Polizei war, und um ihren Mann daran zu hindern, daß er seinen Wochenlohn versoff, paßte dieser Schwager ihn, wenn samstags mittags die Feierabendsirene ertönte, stets am Fabriktor ab und nahm ihn wegen Stadtstreicherei fest. Dann brachte er Dundees Lohn seiner Schwester. Und am Montag früh reichte er Dundee seinen Henkelmann und ließ ihn zeitig genug frei, damit er pünktlich auf seiner
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Arbeit sein konnte und nicht wegen Zuspätkommens mit Lohnabzug bestraft wurde. »Doch bestehe ich immer darauf«, erklärte Dundee stolz, »daß ich erst noch mein Mittag essen darf, ehe ich mitgehe.« Die Zelle teilte er mit Wren, und dem war ebenfalls seltsam mitgespielt worden. Wren hatte ein nicht eben alltägliches Steckenpferd gehabt: das Kaufen von Automobilen der Marke Ford, und zwar ausschließlich an Sonntagen und vornehmlich in Kleinstädten. Die rund tausend Dollar, die das jedesmal kostete, beglich er mit einem Scheck, wobei er zum Beweis, daß dieser gedeckt sei, dem Verkäufer seinen Bankauszug vorlegte. Dann fuhr er das erstandene Auto zu dem Gebrauchtwagenplatz gleich gegenüber und verkaufte es dort für sechshundert. Woraufhin ihn der Ford-Händler bis zum öffnen der Banken am Montagmorgen in polizeilichen Gewahrsam nehmen ließ. Wren sagte, er sei immer so fair gewesen, den Mann zu warnen: »Mein Lieber, Sie machen den größten Fehler Ihres Lebens.« Am Morgen stellte sich heraus, daß der Scheck tatsächlich gut war. Wren klagte dann auf fünfzigtausend Dollar Schmerzensgeld für durch die Verhaftung erlittene Unbill. Und bekam manchmal bis zu dreißigtausend zugesprochen. »Ich hätte es auf eine Million gebracht«, erklärte er wehmütig. Doch dann war mit Ford-Händlern eine betrübliche Wandlung vor sich gegangen, und zwar nur an Sonntagen und vornehmlich in Kleinstädten: Sie hatten angefangen, ihm zu trauen. Um Verdacht zu erregen, mußte er immer auffälliger vorgehen und so verstohlen tun, als wolle er sich über Nacht aus dem Staube machen. Er klebte sich sogar ein künstliches Bärtchen auf die Oberlippe, das aussah, als würde es jeden Moment
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abfallen. Trotzdem holte kaum noch einer die Polizei. Wren rannte gegen eine Wand menschlichen Vertrauens an. Und das kostete ihn jedesmal vierhundert Dollar. Zu böser Letzt ließ es mit Verhaftungen so zu wünschen übrig, daß er total pleite gegangen wäre, hätten ihn nicht ein kleiner Bohrer, ein Endchen Draht und ein paar bunte Wachskreiden davor bewahrt. Bis Gemeindepolizei ihn in einem Clubhaus beim Manipulieren eines Geldspielautomaten erwischte. »Ich bohre ein Achtel-Zoll-Loch in die Seite von dem Kasten – ist ja bloß Aluminium. Wenn die drei Zahlenwalzen die Gewinnkombination erreichen, stoppe ich mit dem Draht schnell das Laufwerk, und der Automat spukt aus. Danach schmiere ich das Loch mit Wachskreide von derselben Farbe zu, meist Blau, Rot oder Silber. Haben die Gäste den Gewinnpott wieder aufgefüllt, komme ich zurück. Manchmal nehme ich einen Kumpel mit, damit er mich abschirmt, während ich bohre. Wir konzentrieren uns auf Privatlokale – Vereinsheime und so. Was können die schon gegen uns machen? Glücksspielautomaten sind ja illegal.« Tatsächlich waren sich die Behörden nicht sicher, ob sie ein Recht hatten, Wren festzuhalten. Aber irgendwer schien das ja tun zu müssen. Die Zellentüren von Trakt 10 blieben unverschlossen. Lediglich die große, druckluftbetriebene Tür zu dem Block sperrte die Gefangenen vom Draußen ab. So konnte der Raum zwischen Außenmauer und Zellen für Spiele genutzt werden. Da diese aber allein der Phantasie der Häftlinge überlassen waren, liefen sie auf nichts weiter hinaus als vormittags auf das Mitzählen der Abgänge beim Tierschutzverein und nachmittags auf ein Wettspucken. Doch selbst das Wettspucken verlor an Interesse, weil immer nur die Priemer gewannen.
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Die Männer durften die Zellen nach Belieben wechseln. Als Wren die Klagen Dundees über seinen Schwager zu viel wurden, zog er, einfach um mal andere zu hören, zu einem Dorf-Kretin um, den alle nur Hühnerstecher nannten. »Hab noch nie gehört«, wunderte sich Dove, »daß Hühner abstechen strafbar ist. Hatte er sie denn gestohlen gehabt?« »Nein, ein Diebstahlsdelikt liegt nicht vor bei dem, wobei der Delinquent in flagranti ertappt worden ist«, klärte Murphy ihn auf. Murphy spielte gern den Rechtssachverständigen und ließ keine Gelegenheit aus, aufgeschnappte Wendungen aus der Juristensprache anzubringen. »Er hat die Henne auch nicht abgestochen, sondern sie lediglich gestochen. Und zwar in den Sterz, nachdem er sie sich zuvor auf seinem Schoß zurechtgesetzt hatte. Hat ihr also quasi, wie man im Volksmund sagt, den Popo gepudert. Womit ich, wohlgemerkt, nicht behaupten will, er habe das ohne weiteres tun dürfen. Schließlich handelte es sich um ein Leghorn, und diese echt amerikanische Hühnerrasse ist von Natur aus so schön, daß sie keiner solchen kosmetischen Behandlung bedarf.« »Ja, Putputchen schön gewesen«, gluckte Hühnerstecher aus seiner Zelle. »Der Fall interessiert mich zwar nicht sonderlich, doch werde ich ihn übernehmen«, sagte Murphy zu Dove. Bei den Känguruhgerichten der Knastologen spielte er, wenn er sich nicht gar direkt zum Richter ernannte, immer gern den Offizialverteidiger. Wer denn ihn, Murphy, verteidigte, danach fragte Dove nicht. Da war der Fall Gonzales gegen Gonzales schon mehr nach Murphys Geschmack. Gonzales, der sechs Tage in
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der Woche körperlich schwer arbeitete, hatte sich am siebenten ausruhen wollen, als sein Ehegespons plötzlich mit der müßigen Frage kam, warum sie eigentlich keine zweite Hochzeitsreise machten. Das brachte Vicente in Brast, denn eine erste hatten sie ja auch nicht gemacht. Mit einer riesigen Schaufel ging er methodisch durchs Haus und zerschlug Heiligenfiguren, Bilder, Gläser, Stühle, Porzellan sowie ein VictorGrammophon, und jedesmal, wenn er die Schaufel sinkenließ, brüllte er: »Da hast du deine Hochzeitsreise!« Er war gerade dabei, die Badewanne an ihren emaillierten Klauenfüßen aus der Installierung zu reißen, da hörte er, daß Consuela ins Haus zurückgerannt kam, ins Schlafzimmer stürzte und sich dort etwas griff. Ihm wurde klar, sie wollte ihr Hochzeitsbild retten. Er wies auf den Ofen. Stets eine folgsame Frau gewesen, tat sie auch jetzt, was er ihr befahl: Sie warf das Foto ins Feuer. Seite an Seite und Hand in Hand hatten sie beide dagestanden, bis die Flammen mit ihrem Werk fertig waren. »Mister Gonzales«, hatte Consuela dann zu ihm gesagt, »damit hast du den Bogen überspannt.« Anschließend hatte sie die Polizei angerufen und ihn abführen lassen, und jetzt verhieß sie ihm jedesmal, wenn sie, beladen mit Leckerbissen, ihn besuchen kam, daß sie nicht eher ruhen werde, als bis sie ihm neunzig Tage wegen vorsätzlicher Sachbeschädigung verschafft habe. »Warum hast du das getan, Vicente?« fragte Dove teilnahmsvoll. »Wenn mir ist nach Toben, dann ich muß toben.« Was Vicente eine hinlängliche Begründung fand.
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»Du warst im Recht«, erklärte ihm Murphy zuversichtlich. »Hast eure Inneneinrichtung renoviert. Kein Gericht im Lande kann dich dafür verurteilen.« »Nur schade«, meinte Dove, »daß er das Hochzeitsbild mit renoviert hat. Wenn du mich fragst, so war das reine Niedertracht.« »Ich bin froh, daß du mit diesem Einwand kommst«, sagte der Möchtegern-Anwalt. »Denn ich kann ihn entkräften: Mein Mandant wollte ja lediglich seine Hälfte des Bildes verbrennen.« »Was ihrer Hälfte aber nicht gut bekommen ist«, fühlte sich Dove hinzuzufügen bemüßigt. »Ach so« – Murphy sah ihn abschätzig an – »du bist einer von jenen, die einen Menschen einer alten Fotografie wegen seiner Freiheit berauben wollen, ja?« »Nein, bin ich nicht«, erwiderte Dove. »Aber wenn ich die Frau von diesem Mex war, tat ich darauf dringen, daß ihm erst seine Schaufel beschlagnahmt wird, eh ich ihn wieder in mein Haus lasse.« »Ich nix brauchen Schaufel«, erklärte Gonzales allen mit fröhlicher Miene. »Wenn mir ist nach Toben, dann ich muß toben.« »Scheint ein bißchen ein Starrkopf zu sein«, mußte Murphy zugeben und hockte sich dann neben Dove hin. Er war ein Ausreißer aus dem Nirgendwo, der sich unterwegs verirrt hatte. Ein hochaufgeschossener Bursche, ein, zwei Jahre älter als Dove. Daß er sich so gern als versierter Jurist gab, wurde von den anderen Häftlingen toleriert; für unerfüllbare Träume hatten sie Verständnis. »Mein Gott«, sann er jetzt laut vor sich hin, »wenn ich mir überlege, was es unser Land kostet, uns Verbrecher hier durchzufüttern – für das Geld könnten wir eine Flotte gegen Mexiko schicken!«
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»Wozu?« fragte Dove verwundert. »Wir führen doch gegen Mexiko gar keinen Krieg.« »Nein? Na dann schicken wir sie trotzdem runter und fangen eben einen an.« Der einzige wirklich schwere Junge in dem ganzen Narrenkäfig, der einzige, der Gesetz und Obrigkeit wacker befehdet hatte, war ein Gewohnheitskrimineller namens Kline, dessen rundes braunes Gesicht so zerledert aussah wie ein alter und nicht so einfach zu treffender Baseball. »Laß dir eines gesagt sein, Freund«, riet er Dove, »es ist allemal leichter, einen wegen was zu verurteilen, das er gar nicht getan hat, als zu beweisen, daß das, was er wirklich getan hat, strafbar war. Deshalb gehen die Bullen ja mit jemand ohne Vorstrafenregister so viel unsanfter um als mit einem notorischen Kriminellen. Denn bei diesem wissen sie, mit wem sie es zu tun haben; sie können ihn jederzeit festnehmen, sich also auch erlauben, freundlich zu sein. Unbehagen bereitet ihnen dagegen der plötzlich Zugeflogene, der neu in ihrem Dreh auftaucht, der behauptet, noch nie mit der Polizei zu tun gehabt zu haben, der keine Einstichnarben hat, der sich nicht wie ein Dieb benimmt und dessen Fingerabdrücke sie noch nicht in ihrer Kartei haben. Sie denken, das muß ein ganz Gerissener sein. Und dann gilt es, die Straftat zu finden, die zu ihm paßt. Hat er sie nicht begangen, muß er überredet werden, sich dazu zu bekennen. Weißt du, daß die Hälfte aller Sitzenden für andere sitzt? Weil sie sich auf einen Kuhhandel eingelassen haben: sich für was Kleineres, für das unbedingt ein Täter gebraucht wird, schuldig zu bekennen und dafür wegen der tatsächlich begangenen größeren Sache nicht unter Anklage gestellt zu werden.
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Wenn ein junger Spunt wie du nicht bloß mal was nebenbei machen, sondern richtig als Profi arbeiten will, dann muß er genau das tun, was jeder junge Businessman tut, ehe er in was Geld reinsteckt, nämlich sich überlegen: Wie und wo kann ich mich so absichern, daß es mich, falls es schiefgeht, nicht Kopf und Kragen kostet und ich mit einem blauen Auge davonkomme? Das heißt, er muß sich Beziehungen schaffen – bei den Gerichten, bei der Staatsanwaltschaft, bei der Polizei. Sich auf einen Anwalt zu verlassen, genügt nicht, denn wie es in der Juristerei wirklich zugeht, das hat der auf seiner Rechtsschule nicht gelehrt bekommen. Du mußt jemand haben, der nicht bloß vor den Schranken des Gerichts, sondern ebenso auch dahinter operieren kann. So daß du, wenn du auf die Schnauze gefallen bist, die Möglichkeit hast, statt lebenslänglich für schweren Raub zu kriegen, mit ein bis drei Jahren für räuberischen Diebstahl davonzukommen. Doch laß dir gesagt sein, Freund, und schreib dir das hinter die Ohren: Spiele nie Karten mit einem Mann, der Doc heißt. Kehre nie bei einer Wirtin ein, die Mom genannt wird. Schlafe nie mit einer Frau, die noch mehr Kummer hat als du selber. Und laß dich vor allem nie zu einem Anklagentausch beschwatzen. Ich habe das alles durchprobiert und weiß, es bringt nichts. Große Sprünge geraten selten, heißt es schon im Sprichwort. Aber du mußt ja nicht springen. Im Normalschritt kommst du auch durchs Leben. Leichter, sanfter und sicherer. Und glaub mir, Freund, mit Geld läßt sich längst nicht alles kaufen. Zum Beispiel keine Armut. Nimm nur, wie es mir mit Geld ergangen ist. Ich gab mich an der Westküste als Schriftsteller aus, aber alles, was ich je schrieb, waren Telefonnummern. Ich schlich
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mich auf Partys ein, als wäre ich eingeladen, suchte mir dort eine Schnepfe, die aussah, als habe sie daheim ein schön volles Schmuckkästchen stehen, machte mich an sie ran, entlockte ihr ihre Adresse und gab die telefonisch an zwei Männer durch, die in einem Hotelzimmer saßen und über Religion diskutierten. Kam sie dann nach Hause, war das Schmuckkästchen leer. Wie hatte ich wissen können, was die beiden für Burschen waren? Wir machten so viel Geld, daß ich kaum die Zeit hatte, es auszugeben. Aber da ich den Verdacht nicht los wurde, daß die anderen mich behumpsten, stieg ich aus und arbeitete auf eigene Kappe. Ich fing mit einem schnuckligen kleinen Frauchen was an; du mußt wissen, ich galt damals als ganz gutaussehend. Ihr Mann hatte Kies. Sie fuhr ihren eigenen Wagen, und eines Tages gab sie mir den Autoschlüssel – während sie einkaufte, sollte ich ein bißchen rumkutschieren. Er hing an einem Ring, an dem auch ihre anderen Schlüssel dran waren. Da bin ich dann mit neunzig Stundenmeilen raus zu ihrem Haus, habe mir ihren gesamten Schmuck gekascht sowie auch den von ihrem Mann, und als sie mit dem Einkaufen fertig war, stand ich wieder da und wartete auf sie. Solche Beute machte ich jede Woche, und mein Koffer füllte sich für eine Fahrt nach Chicago, wo ich einen Hehler wußte, dem ich vertrauen konnte. Was mich zu Fall brachte, das war, daß ich meinte, ich müßte auch selber mal eine Party geben. Damals war die Prohibition noch in vollem Gange. Ich wohnte auf Catalina und fuhr rüber nach Los Angeles, kaufte einen gebrauchten Koffer und packte ihn mit Canadian Rye voll. Wieder zurück auf der Insel, schleppte ich ihn hoch zu meinem Cottage. Dorthin mußte ich an der Polizeiwache vorbei. Die Bullen da
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kannte ich alle. Ich setzte den Koffer ab, und wir machten einen kleinen Plausch, juxten ein bißchen rum. Der eine fragte: ›Was ist in dem Koffer, Kline?‹ ›Genau das, was sie denken, lieber MacElheny‹, sagte ich. ›Schnaps.‹ Wir lachten alle. Ich am meisten. Kaum war ich in meinem Cottage angelangt, da bummerte es an die Tür. Vier Polypen, die ich noch nie gesehen hatte. ›Was ist in dem Koffer, Kline?‹ Diesmal war die Frage ernstgemeint. › Spirituosen ‹, antwortete ich wahrheitsgemäß. ›Möchten Sie einen Schluck?‹ ›Wir müssen Sie mit zur Wache nehmen. Uns ist ein Hinweis zugegangen, daß Sie mit Alkohol schieben. ‹ Ich ging mit. Was blieb mir anderes übrig? Irgend so ein Clown von Friedensrichter legte mir hundertfünfzig Dollar Geldstrafe auf. Da ich so viel nicht bei mir hatte, mußte ich dableiben und kam in die Zelle. Ich spielte mit dem Schließer Karten und ging dann schlafen. Ich lachte noch immer, wenn auch nicht mehr so laut. Gegen drei Uhr früh kam ein Deputy-Sheriff rein, rüttelte mich wach, brachte mich ins Büro und zeigte auf was. Es lag ausgebreitet auf einem Tisch. Für hundertzwanzig Mille heißes Eis. Fast alles Brillanten. Um die zu finden, mußten sie das ganze Cottage niedergerissen haben. Den Rest der Nacht drehte sich mir der Kopf wie ein Kreisel, denn ich versuchte verzweifelt, mir was auszudenken, wie ich die Sore verschwinden lassen könne. Da ich noch nie wegen Einbruchs verdächtigt worden war, wäre ich, wenn sie das Beweismaterial nicht mehr hätten, sauber gewesen. Am Morgen übergab mich der
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Chef einem Greifer in Zivil, der mich nach Los Angeles bringen sollte. Dieser Bursche war ein Schürzenjäger. Sobald die Bordkapelle zu spielen anfing, ging er in den Tanzsaal. Den Schmuck schleppte er mit, in einem Schuhkarton, den er sich unter den Arm geklemmt hatte. Einmal warf er ihn dem Schlagzeuger zu, damit er darauf aufpaßte, während er selber ein Weib auf dem Parkett rumschwenkte. Handschellen hatte er mir nicht angelegt. Wohin hätte ich auch fliehen können? Höchstens über Bord, und ich bin kein besonders guter Schwimmer. So saß ich bloß da und kaute an den Fingernägeln, wartete achtundzwanzig Meilen lang auf eine günstige Gelegenheit. Als wir schon fast da waren, kam die dann auch. Der Greifer holte sich den Schuhkarton zurück, und wir gingen nach oben an Deck, um zuzuschauen, wie das Schiff einlief. Da sagte ich, mir werde seekrank, und lief zur Reling. Wir waren in der Fahrrinne kurz vorm Hafen von Wilmington. Der Greifer kam mit – ich nehme an, er wollte mir den Kopf halten –, und als wir die Reling erreichten, habe ich ihm einen Tritt verpaßt, der nicht von schlechten Eltern war. Als er mit dem Hinterkopf aufs Deck schlug, habe ich mir den Schuhkarton geschnappt und ihn über Bord geworfen. Er plumpste in das von der Schiffsschraube aufgewühlte Wasser und platzte auseinander wie eine Bombe. In der dreckigen Fahrrinne blitzten lauter Brillanten auf. Der Greifer langte nach seinem Revolver, und ich hob sofort die Hände, so daß er es nicht wagte, mich vor all den Passagieren abzuknallen. Da steckte er die Kanone wieder ein, und während er mich mit Handschellen an die Reling fesselte, begann er wie wild zu schnau-
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zen und zugleich wie ein kleines Kind zu flennen, wobei er mich ganz naß sabberte. Dann rannte er, immer noch schluchzend, nach seinem Karton. Das hätte er sich sparen können – sie haben den Grund von dieser Fahrrinne zehn Tage lang von einer Tauchermannschaft absuchen lassen, ohne daß auch nur ein einziges Stück hochgebracht wurde. Als wir anlegten, standen am Kai vier Wagen vom Erkennungsdienst. Während der Fahrt hielt der Greifer dreimal an und bat mich, ja flehte mich händeringend an, doch rauszuspringen und einen Fluchtversuch zu machen. ›Gib mir eine Chance‹, so hat er sich ausgedrückt, ›das bist du mir schuldig.‹ Ich blieb ganz brav sitzen. Der Erkennungsdienst hat mich dann in die Mangel genommen. Zweiundsiebzig Stunden hintereinander ohne Pause, und die Dinge, die sich Bullenhirne für einen ausdenken können, der nicht reden will – wenn ich daran zurückdenke, bricht mir jetzt noch der kalte Schweiß aus. Ich könnte dir Sachen erzählen, da würde Uncle Sam der Spitzbart schwarz werden. Sie sprangen mir mit vollem Gewicht auf die Füße. Sie gaben mir so lange Ohrfeigen, bis ich nicht mehr hören konnte. Sie blendeten mir die Lampe in die Augen, bis ich dachte, ich erblinde, und die ganze Zeit über brüllte mir einer, den ich nicht sehen konnte, aus voller Lunge ins Ohr. Einer meiner Zähne ist ein Stiftzahn – den richtigen hat mir ein Bulle mit lockerer Faust ausgeschlagen. Doch sie haben mich nicht weich gekriegt. Noch Jahre später, wenn ich im Knast in unruhigem Schlaf lag, wurde ich wach und dachte: ›Jetzt nehmen die dich wieder vor!‹ Aber ich bin nicht weich geworden, nein. Bis dann eine meiner Freundinnen im Radio von mir hörte und mir einen Anwalt schickte. Da begannen meine Leiden aber erst richtig.
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Mann, was die mir alles anhängten! Jeden Juwelenraub in Kalifornien seit dem Erdbeben. Ich war nicht bloß der Taxiräuber von Hollywood, sondern auch ein Geldschrankknacker aus San Diego, der schon seit einem Jahr gesucht wurde. Sie stellten mich einem Knallkopf mit Kneifer gegenüber, und der behauptete steif und fest, er erkenne mich wieder: Ja, ich wäre der Kerl, der ihn in Pasadena überfallen und ihm seine Kofferschreibmaschine abgenommen habe. Als hätte ich es nötig gehabt, mich mit solchen Kinkerlitzchen abzugeben, wo ich doch all das Eis hatte! Über diese Juwelen habe ich mich nach wie vor nicht näher ausgelassen, sagte bloß immer, man habe mir was in die Schuhe schieben wollen. In der Haft unterhielt ich mich mit ein paar Knackis über meinen Fall, aber deren Hirne hatten dort anscheinend gelitten, denn sie meinten, meine einzige Chance wäre, eine bestimmte Anwältin zu nehmen, deren Vater Richter sei – die würde dafür sorgen, daß die Sache vor sein Gericht komme und niedergeschlagen werde. Ein alter Hase warnte mich: ›Laß dich von keinem Rechtsverdreher zu einem Anklagentausch beschwatzen, aber ich hörte nicht auf ihn. Ich mußte der Anwältin eine gepfefferte Honorarvorauszahlung leisten und dann drei Monate in diesem lausigen Knast warten, statt mir in Chicago ein flottes Leben zu machen. Schließlich erklärte sie mir, in meinem Fall wäre es am besten, auf mildernde Umstände zu plädieren. Da ich nicht vorbestraft sei, werde ich anstandslos Bewährung bekommen. Ich hörte mir das an und bekannte mich schließlich schuldig für zwei Sachen, die irgendwelche Kleindiebe gemacht hatten und für die sie einen Delinquenten brauchten. Das heißt, ich lieferte mich der Gnade des Gerichts gegenüber einem Ersttäter aus. Bei der Ver-
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handlung höre ich dann meine Verteidigerin ihr Plädoyer mit den Worten beenden: ›Euer Ehren, diesem Manne ist seine Chance gegeben worden. ‹ Und wummm! verpaßt mir ihr Daddy zwei Strafen! Einmal viereinhalb Jahre und einmal ein Jahr, beide auf einen Sitz abzumachen. Da war ich nun, mein Eis auf dem Boden der Fahrrinne im Hafen von Wilmington und ich somit sauber, aber verknackt für zwei andere und unterwegs nach San Quentin. Ich lachte noch immer. Machte mir noch immer was vor. Geknutet zu werden ließ sich ertragen; jeder muß Prügel einstecken, muß, ob nun im Knast oder draußen, den Kopf für wen anders hinhalten. Was mich jedoch heute noch wurmt: Daß das einzige Mal, wo sie mich verdonnert haben, ausgerechnet jenes einzige Mal in meinem Leben gewesen ist, wo ich unschuldig war. Bist du durch mit den Comics, Kumpel? Zeig mal her. Ist wer in einer Sprechblase steckengeblieben, und kann ich ihm raushelfen?« Kline behauptete, es wäre wegen seiner guten Führung gewesen, aber es war wohl eher auf Grund schlechter Buchführung, jedenfalls wurde er neun Tage, bevor seine letzte Strafe offiziell abgelaufen war, aus Leavenworth entlassen. Als er den Irrtum bemerkte, befand er sich schon nicht mehr im zuständigen Kansas, sondern bereits im Süden. Er raste durch ganz Louisiana und Mississippi und suchte irgendeine ländliche Polizeidienststelle dazu zu kriegen, ihn für die neun Tage in einem Lokalgefängnis in Gewahrsam zu nehmen und ihm darüber eine Bescheinigung zu geben, damit ihm der Bundes-Strafvollzug nichts mehr anhaben könne.
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In Leavenworth selber mochte er sich nicht stellen, um nicht wieder vor jenen Richter zu kommen, der ihn seinerzeit verurteilt hatte. »Möglich, daß der einen Koller kriegt und mir wegen Mißachtung von irgendwas ein Jahr aufbrummt«, befürchtete Kline noch immer. Tagelang war er umhergefahren, hatte Tankwarte gefragt, ob sie ihn nicht für einen Ausbrecher hielten, aber kein Lokalpolizist war zu bewegen gewesen, ihn einzusperren. »Bei uns hier unten hast du keine Sitzschulden, Sohn«, hatten ihm Sheriffs wie Constables gesagt. »In der Kreide bist du lediglich bei Uncle Sam. Geh zu ihm nach Kansas. Leavenworth muß dich aufnehmen. Wir wollen dich nicht.« Die Mütze keck auf die Seite geschoben und in der Backe einen Red-Seal-Priem, wartete er nun mit einer Mischung aus Hoffnung und Angst, die er nicht klar zu trennen vermochte, auf die Bundesjustiz. Dove betrachtete dieses Philosophengesicht mit den ledrigen Falten und kam zu dem Schluß, einen besseren Zellenkameraden hätte er nicht kriegen können. Was immer auch mit ihm werden mochte, es war Klines Trost, daß er den Spitzbart schmerzhaft gezwickt hatte. Er schuldete ihm hier und dort so viele Strafjahre, daß er, selbst wenn er die ohne Unterbrechung absäße, sicher sein durfte, bei seinem Tod würden noch gut und gern fünfzig übrigbleiben. Sogar in den Hirnen von Verrückten entsprungenen Ideen sah er Mittel und Wege, der Justiz ein Schnippchen zu schlagen. Eine ganz neue kam eines Tages Sumser. Als ein Wärter zu ihm sagte: »Das würde ich an deiner Stelle nicht tun«, erwiderte er schnell: »Das würde ich an deiner Stelle nicht tun.« Steckte der Arzt den Kopf zur Zelle herein und fragte: »Wie geht
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es Ihnen?«, antwortete Sumser flugs mit: »Wie geht es Ihnen?« Jeder Versuch zu einem Gespräch mit ihm, ob über das Wetter, den Tod oder die Möglichkeit, Bewährung zu bekommen, erstarb schon im Ansatz. »Eine Unterhaltung mit dir kommt einer Strafverschärfung gleich«, wandte sich sogar sein Zellengenosse angewidert von ihm ab. Und prompt bekam er von Sumser zu hören: »Eine Unterhaltung mit dir kommt einer Strafverschärfung gleich.« Kline war überzeugt: »Der hat genausowenig eine Macke wie du oder ich. Er will lediglich seine Ruhe haben, und das kann ich ihm nicht verdenken. Mein Gott, was hätte ich mir für Ungemach ersparen können, wäre mir schon vor Jahren etwas derart Simples eingefallen!« Sämtliche Insassen von Trakt 10 waren weiß. Abends hörten sie von der eine Treppe höher liegenden Farbigenabteilung her Gelächter, und die meisten der Kalfaktoren waren Neger mit Kurzstrafen. Murphy behauptete, es sei ihm zu verdanken, daß ihre Zellenreihe weiß blieb, Dove hatte jedoch die stille Vermutung, daß das wohl eher eine Anordnung von oben war. Die hier saßen, das waren weder die großen Grauwölfe der Schneesteppen noch scharfkrallige Katzen, die von einem Baum herabfauchten, sondern jene zahnlosen Sommerfüchse, die von jemand gejagt und von jemand an Ketten gelegt worden waren und nun das wendische Wetter anbellten. Die Geprellten und die Gepeinigten, die Geschlagenen und die Verschlagenen. Bagatelltäter aus dem Lande der möblierten Zimmer, aus Straßen halb so alt wie die Zeit, wo sie ihre Geschäftchen gemacht und ihre
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kleinen Dinger gedreht hatten. Ihr Leben eingegrenzt von Fenstern mit Schildern: »SCHLAFSTELLE FREI« – »HERBERGE« – »PASSANTENHOTEL«. Wo der Portier den Federhalter über ein Buch hinwegreicht, in dem tausend Namen stehen, und rät: »Tragen Sie sich mit anderm Namen ein, Mister. So ist es für uns beide gefahrloser.« So ist es für alle gefahrloser. Sie kamen aus jenen langen Schlafsälen, jenen Geisterhallen, wo Versatzstücke einer anderen Zeit ihre Schatten werfen und die Wände grün sind. Grün, ein trüb-dumpfes Grün, die Farbe des Mißtrauens. Wo man durch das Mieten eines Bettes Teil der zwielichtigen Vergangenheit eines anderen wird. Ehe sie sich über eine Stellenvermittlung um Arbeit bewarben, versuchten sie sich lieber an Glücksspielautomaten. Sie machten nicht mit beim Tretmühlenrennen um Reichtum und Ruhm, hielten sich verkrochen in dem unratbesäten Hinterland jenseits der Verheißungen der Reklametafeln, wo die Gossen auf eigene Weise und dunkler strömen und die Gassen, voller Katzen und Müllkästen, zu schmal für einen Chrysler sind. Sie nannten sich »Halbtags-Bratkoch«, »Aushilfs-Friseuse«, »Tanzlehrerin«, »Wasserskitrainer«, »Unbeschäftigter Talentsucher« und »Selbsternannte Erbin«. Und schlenderten illusionslos durch ihre Halbtags-Alpträume hinein in ein Tageslicht von eigenen Gnaden, das nicht weniger schrecklich war als all ihre Träume. Ihre Vergehen hießen Krankheit, Müßiggang, gute Laune, Langeweile und Pech. Sie hatten es verabsäumt, sich bei den Gerichten, bei der Staatsanwaltschaft und bei der Polizei Beziehungen zu schaffen. Und da sie nicht im sachten Normalschritt durchs Leben gehen wollten, stolperten sie über jeden noch so kleinen Stein
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und fielen stets voll auf die Schnauze. Und kamen nie wieder richtig hoch. Sie fanden zum Kartenspielen immer einen namens Doc. Sie wichen immer vom Wege ab, um bei einer Wirtin einzukehren, die Mom genannt wurde. Sie schliefen immer nur mit Frauen, die noch mehr Kummer hatten als sie selber. Ob im Gefängnis oder draußen, ständig hielten sie für wen anders den Kopf hin. Gejagte Liebhaber, Abartige und Verrückte. Die Geprellten und die Gepeinigten, die Geschlagenen und die Verschlagenen. All jene, die keine Beziehungen haben und für die niemand betet. Für die der Pflichtverteidiger sein Plädoyer mit den Worten beendet: »Euer Ehren, diesem Manne ist seine Chance gegeben worden.« Kline rollte mit einer Hand eine Zigarette, zog den Tabakbeutel mit den Zähnen zu und brachte sein selbstgebasteltes Flintfeuerzeug in Gang, wobei er es sorgsam mit der Hand bedeckte, als fürchte er, Dove könne hinter den Mechanismus kommen und sich den patentieren lassen; es sah ja so aus, als würde Dove als erster wieder in Freiheit kommen. »Ein Fidibus mit Automatik«, erklärte Kline nicht ohne Stolz und reichte ihm eine bereits angezündete Zigarette. Dove machte einen tiefen Zug. »Auch ich hab einen Fehler begangen«, gestand er. »Dachte, es würde beim zweiten Mal besser klappen, da ich ja schon ein bißchen Übung darin hatte.« Und er wartete, daß Kline fragte: »Übung worin?« Schließlich tat der ihm den Gefallen: »Übung worin?« »Im Sichtotstellen. Ich fand, da braucht man am wenigsten Mut zu, und deshalb hab ich's probiert. Hab die
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Luft angehalten, gradaus gestarrt und keinen Muskel bewegt. Bloß vergessen, daß man dabei nicht sprechen darf. So haben sie mich immer, wenn sie nichts weiter zu tun hatten, auf eine Bahre gelegt und zu einem andern Revier gefahren, mich dort abgesetzt und den Polizisten da gesagt: ›Der ist hinüber, dem braucht ihr keine Furage zu geben.‹ Wenn Essenszeit kam, kriegten die ändern alle Bolognawurst, bloß ich nicht. ›Leg dich wieder hin, Totling‹, haben sie mir befohlen. Ich hatte keinen Anspruch auf Verpflegung, weil ich doch tot war, verstehst du?« »Ja«, sagte Kline. »Erzähle weiter.« »Die andern, die da eingesperrt waren, kriegten das natürlich mit und riefen schon immer: ›Hallo. Totling, wie geht's dir heute?‹ – ›Als war die Hölle bloß noch eine Meile weit ab‹, hab ich geantwortet, ›und kein Zaun mehr drum rum.‹ So war mir auch tatsächlich.« »Wie lange ist das so gegangen?« »Allmählich schienen die zu glauben, mich könnte rein gar nichts umbringen. Letzte Woche war ich in fünf Revieren. Schließlich hab ich ihnen gesagt, wenn ich nicht ganz schnell was zu futtern kriege, schmeiß ich wirklich den Löffel weg, und dann wären sie die Angeschmierten. Da haben sie mir endlich was gegeben, aber was für'n Pamps das war, ist mir noch immer unklar. Langsam war's wohl sowieso nicht mehr witzig. Weißt du, was ebenfalls komisch ist? Dadurch daß ich nichts zu beißen hatte, haben sich meine Zähne gelockert. Alle, bis auf den einen, den ich am meisten entbehren könnte.« Dove ruckelte an diesem Zahn, der einfach nicht rausgehen wollte. Über seiner Schlafdecke hatte jemand, der schon lange raus war, in die Wand geritzt:
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Armer John Mendoza, Bist nach Osten und bist nach Westen, Hast geglaubt, das war am besten. Hast geliebt deine Braut, Aber keiner hat dir getraut. In den melancholischen Mondnächten dachte Dove an den armen John Mendoza und hoffte, daß wenigstens seine Braut ihm getraut habe. Er lernte, aus einer Zigarette einen Zug mehr herauszuholen, indem man sich die Lippen befeuchtet, wenn der Stummel zu kurz geworden ist, um sich noch zwischen den Fingern halten zu lassen. Er bekam gezeigt, wie man ein Streichholz so spaltet, daß vier daraus werden. Und jeden Abend vorm Einschluß machte er mit brennenden Hölzchen auf seiner Decke Jagd auf Läuse. War eine gefangen worden, gab sie ein Knacksen von sich und hauchte ihr Leben aus. Eines Morgens ernannte Murphy sich zum Verpflegungsverteiler. Obwohl auf all den Blechtellern eine gleiche Portion war, behauptete er nun plötzlich, jeder sei für einen bestimmten Häftling gedacht. Aus irgendeinem Grund fügten sich alle diesem Schwachsinn, und hinfort suchte Murphy nun an Hand so minimaler Unterschiede wie der Dicke der Maisbrotscheiben einem jeden seine Ration heraus. »Yo tengo hambre, Compañero«, beklagte sich Gonzales, als er einmal meinte, weniger bekommen zu haben. »Wir haben alle Hunger, Kumpel«, versicherte Murphy ihm, hielt jedoch seine linke Hand geschlossen. »Keiner kriegt weniger.« »Dann kannst du ja die Hand aufmachen«, sagte Dove zu Murphy, »damit wir uns davon überzeugen können, daß wirklich keiner weniger kriegt.«
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»Ich brauche vor niemand die Hand aufzumachen.« Murphy preßte die Finger so fest zusammen, daß sich aus seiner Faust Krumen herausdrückten. »Bildest du dir ein, du kannst mich dazu zwingen?« »Das ist gar nicht nötig«, gab Dove zurück. »Denn wenn du es nicht tust, beweist das ja, daß du diesem Mann zu wenig gegeben hast.« Langsam öffnete Murphy die Faust, als hoffe er, es habe sich inzwischen schon so viel Brot herausgedrückt, daß es doch noch nach gerechter Verteilung aussah. Aber mindestens die Hälfte von Gonzales' Schnitte lag noch darin und gab ein volles Schuldbekenntnis ab. Dove nahm sie ihm aus der Hand und warf sie Vicente zu. Murphy lief rot an, sagte aber kein Wort mehr. »Ich an deiner Stelle hätte mich da nicht eingemischt«, warnte Kline Dove. »Das war nicht dein Streit, sondern der des Mexikaners. Was habe ich dir über das Einsteigen in anderer Leute Strafsachen gesagt?« »Daß wir alle den Kopf für wen anders hinhalten«, gab Dove zurück. »Drinnen wie draußen.« Kline war der einzige der Gefangenen, dem es egal war, ob er Maisbrot bekam oder nicht. »Kannst meines haben«, sagte er manchmal zu Dove und reichte ihm seinen Teller. Und sang dann, während Dove aß, ein fröhliches Klagelied vor sich hin: Like to go home but it ain't no use Jailer-Man won't turn me loose … Unter Doves Haut bildeten sich große, juckende Quaddeln und breiteten sich so schnell aus, daß er zusehen konnte. Wenn er sich am Knie kratzte und sich danach über den Knöchel fuhr, schwoll der innerhalb von Minuten ebenfalls an und begann zu jucken. Dove war-
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tete, bis der Wärter kam, und riß sein Hemd auf. »Diese Dinger machen mich wahnsinnig, Mister.« Der Wärter besah sich die blutig gekratzten Quaddeln und holte eine Insektenspritze. »Ist bloß Nesselfieber«, erklärte er. »Das Zeug hier brennt zwar ein bißchen, hilft aber.« »Lieber die Haut voller Schorf als voller Brandblasen«, lehnte Dove ab. In jener Nacht sah er sich in einem Bett zwei Stockwerke hoch über einer murmelnden Straße liegen. Lichter wie von Glühwürmchen gingen an und aus. In einem nicht zu sehenden Hof spielte ein Klavier. Und durch die Musik hindurch hörte Dove, während er sich im Traum selber schlafen sah, ein metallisches Rauschen wie von kleinen Rädern auf Stein. Und dann, seitwärts, Hand über Stumpf und Stumpf über Hand, den Beinlosen eine gasbeleuchtete Treppe heraufgestiegen kommen. So wie schon jahrelang, bei Thekenlicht, bei Sternenlicht, bei Nebellicht, eine Treppe hinauf, von Stufe zu Stufe schwerer atmend, doch sicher, sich in seiner letzten Stunde endlich zu holen, was sein war. Die Zeit reichte gerade noch, die Tür vor ihm zu verschließen. Der Schlüssel steckte im Schloß, aber Dove hatte nicht die Kraft, ihn voll herumzudrehen. Er sah die Gummispitze der abgesägten Krücke, die der Krüppel zum Treppensteigen benutzte, durch die Füllung kommen, als wäre die Tür Staub. Da wachte er auf. Und wünschte, diesen Traum nicht gehabt zu haben. Mief und Quaddeln – doch mancher Tag war auch so strahlend blau, daß ihm schmerzlich bewußt wurde, was ihm verlorenging. Trübe Tage machten melancholisch, sonnige aber schlugen noch mehr aufs Gemüt. Wenn es draußen regnete, konnte er sich in einen mür-
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rischen Halb träum zurückziehen, wo ihn nichts zu berühren vermochte. Tage mit klarem Himmel jedoch ließen ihn all seine Torheiten erkennen, und dann dachte er: »So viel Zeit vertan! So wenig geblieben! Reicht ja kaum noch dazu, daß ein junger Mann nach oben kommen kann!« Murphy saß in seiner eigenen Zelle und hatte die Nase in einem Heftchen, das sich »Dein Wegweiser« nannte und zum Abonnementspreis von einem Dollar jährlich verriet, wie man durch Beten reich werden könne. »Nach oben kommen bringt einem heute nichts mehr«, lautete Klines sonderbare Philosophie. »Denn es läßt sich ja bloß noch auf dem Rücken von anderen erreichen, und das gibt keine rechte Befriedigung. Du verübelst es mir hoffentlich nicht, daß ich dir das sage, Freund, aber dir steht ganz groß ›Zuhälter‹ ins Gesicht geschrieben – und das ist die fieseste Methode, nach oben zu kommen. Ich sage dir auch, wieso. Sollte Gott was geschaffen haben, das noch besser ist als eine Hure, dann hat Er es für sich selber behalten. Wenn man nicht in der Gosse lebt, ist es keine Kunst, nicht in den Gully zu geraten. Aber eine Frau, die sich ihren Lebensunterhalt dort verdient, wo der Sog die Schwachen in den Abfluß zieht, und die sich trotzdem oben hält, ist doppelt so viel wert wie eine, die um ihre Seele nie hat kämpfen müssen.« Eines Tages wurde es in Trakt 10 merkwürdig still. Murphy kam und lehnte sich an Doves Tür. Ein bißchen zu beiläufig; die beiden redeten schon seit einer Woche nicht mehr miteinander. »Was hast du eigentlich für eine Schulbildung?« verlangte er plötzlich von Dove zu wissen. »Gar keine«, gestand Dove.
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»Mit welcher Berechtigung bist du hier?« fragte Murphy weiter. »Hab zuviel getrunken gehabt.« »Typisch für euch Indianer.« Murphy schien sich schon seine Gedanken gemacht zu haben. »Bin kein Injaner«, erhob Dove Einwand. »Nicht mal zu einem Sechzehntel.« »Warum hockst du dann so da wie einer?« Dove, der mit angezogenen Knien saß und sich eine Schlaf decke um den Kopf gezogen hatte, blies ein bißchen Rauch durch die Nase, ehe er antwortete. Er wußte, jede Antwort war falsch. »Bei uns zu Hause hat man immer so gesessen. Dich hab ich auch schon so hocken sehen.« Und er warf seinen Zigarettenstummel durch die Gitterstäbe. Damit war der Stein ins Rollen gebracht. »Steh auf und tritt die Kippe aus!« befahl Murphy. »Willst wohl das ganze Haus mit all uns Weißen darin in Flammen aufgehen lassen?« »Bin doch kein Brandstifter nicht. Diese Kippe ist bereits ausgedrückt.« »Tritt sie auch noch aus!« »He, du«, rief Dove dem Liebhaber von Usambaraveilchen zu, der auf dem Rundgang vor den Zellen herumlungerte, als wäre er zum Kalfaktor ernannt worden, »kannst du mal für mich den schon ausgemachten Stummel dort auch noch austreten?« »Ich habe nicht ihm den Befehl gegeben«, schaltete sich Murphy dazwischen, »sondern dir.« »Trete ihn doch selber aus und laß mich in Ruhe!« »Deputy«, rief Murphy einem Unsichtbaren zu, »führen Sie den Angeklagten in den Verhandlungssaal!« Hände rissen Dove herum, schoben ihn durch die offene Tür, den Gang entlang und hinein in eine Zelle
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voller Häftlinge. Er hatte die Insassen von Trakt 10 noch nie alle versammelt gesehen und wünschte jetzt, der Anblick wäre ihm so lange erspart geblieben, bis er sich wieder mehr bei Kräften fühlte. Wie Bulldoggen sahen sie aus, manche auch wie Kojoten, alle aber richtig zum Fürchten. Pinky mit so farblosen Haaren und Brauen, daß er wirklich mehr Ähnlichkeit mit einem zum Trocknen rausgehängten Scheuerlappen hatte als mit einem lebenden Wesen. Sein getreuer Grimwolf hatte einen Löffel in der Hand für den Fall, daß Pinky ihn abgewaschen, abgetrocknet, blankgeputzt oder in Suppe getunkt haben wollte. Weißnischwas, ohne einen einzigen Zahn im Mund, stand neben Volldrauf mit seinem Pferdegebiß. Wren hielt Dundees Henkelmann, damit Hühnerstecher kein Ei hineinlegte, denn der sah aus, als wolle er gleich zu glucken anfangen. Und schließlich Gonzales, zwar ohne Schaufel, aber nichtsdestoweniger tobbereit. Selbst Murphy war ein bißchen mulmig. »Schau sich einer die Geschworenen an, die man mir geschickt hat – wie soll ich mit solchen Leuten arbeiten? Sieh an, unser Sittenstrolch ist auch schon da!« Regenpelle kam hereingehastet und entschuldigte sich für sein Zuspätkommen: Er habe nichts vom Stattfinden der Gerichtsverhandlung gewußt, und man möge ihm auch nachsehen, daß er in dem Anlaß nicht gemäßer Kleidung erscheine. Nur Kline fehlte, und das war Dove angenehm. »Sittenstrolch«, fragte Murphy, »wer steht dem hier zusammengetretenen Hohen Gericht vor?« Mehrere warfen leere Blicke in die Runde, auf Wände, Gitter und Gesichter in der vom Tabakrauch durch wirbelten Luft, denn sie wußten nicht, welchen Sittenstrolch er meinte.
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»Sittenstrolch Regenpelle«, drückte Richter Murphy sich deutlicher aus, »das Gericht hat dir eine Frage gestellt!« »Wie lautete sie noch gleich, Euer Ehren?« Seine Ehren hatten das inzwischen selber vergessen. »Das ist jetzt ohne Belang«, improvisierte Murphy geschickt. »Benenne dem Gericht einfach denjenigen, der zu dir gesagt hat, wenn er will, kann er dich verwamsen, und dem du selbiges auch zugestanden hast.« »Mich haben Euer Ehren verwamsen können, wann immer Euer Ehren beliebten.« Grimwolf wollte immer der erste sein. »Mich auch!« – »Mich auch!« kam es von allen Seiten; manche taten sogar so, als habe Murphy ihnen Sonderbehandlung zuteil werden lassen. »Mich am meisten«, log Pinky. »Nein«, ließ Grimwolf sich nicht übertrumpfen, »mich noch mehr!« »Mich noch mehr!« begann Sumser mit seinen Echos. »Schafft den aus dem Saal!« ordnete Richter Murphy an. »Schafft den aus dem Saal«, konnte Sumser gerade noch zustimmen, bevor er hinausgeschoben und in seine Zelle geführt wurde, wo er strikte Anweisung bekam, ja dort zu bleiben; man werde ihm das Urteil hinterher mitteilen. »Urteil hinterher mitteilen«, fügte sich Sumser; Echos widersprechen nie. »Und womit habe ich all euch Starklinge gezüchtigt?« fragte Murphy. »Mit der Faust!« rief Regenpelle, als beginne er den Schmerz erst jetzt zu spüren. »Ja, denn damit tut's am meisten weh«, bestätigte
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Murphy und hielt Dove seine eine Faust unter die Nase. »Guck sie dir an«, heischte er. »Ist das eine richtige Männerfaust oder nicht?« »Vielleicht.« Dove zuckte die Achseln. »Vielleicht auch nicht.« Murphy trat zurück, zog ein verknittertes und beidseitig beschriebenes Blatt Papier aus der Tasche, und während alle ehrfürchtig lauschten, las er vor: HAUSGESETZE gem. Kengerugerichtl. Erlaß Wer für schuldig befindet wird, in diese Haftanstalt gekommen zu sein ohne zuvor von den Insaßen Zustimmung eingeholt zu haben wird mit Geldstrafe nicht unter 2 Dollar belegt, ersatzweise 40 Tege schlafen auf dem Fußboden. (Tagessatz: 5 Cent.) Erkennt das Kengerugericht darauf Gnade walten zu lassen, hat er den Vorsitzenden Richter 3mal den Rundgang herum Hukepack zu tragen. Die Insaßen von Trakt 10 sind verpflichtet, sich reinlich zu halten und aufManirlichkeit von ihrer Kleidung zu achten. Sie haben sich täglich zu waschen außer Sonntags. Vor dem berühren von Verflegung, auch der Eigenen, sind jedes Mal Gesicht und Hände zu säubern. Wer für schuldig befindet wird, in den Ascheimer oder zum Fenster hinaus gespukt zu haben muß zur Strafe den Kopf in den Spühlichkübel tauchen. Imfalle von Weigerung wird ihm ders. zwangsweise in obgenanten gesteckt. Nach benutzung des Kloos ist sofort mit dem Eimer nach zu spülen. Wer von einer Schury aus seines Gleichen für schuldig befindet wird Selbiges unterlassen zu haben wird mit dem Kopf in den Kübel getunkt, nötigen Falles mit Gewalt. Papierreste sind in die Kohlenschütte zu werfen.
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Verzieren der Wände mit anstösigen Mahlerein ist zu unterlassen, denn es kann ja jemand seine Schwester zu Besuch kommen. Bei Benutzung eines Abwaschlappens ist Ders. in säubern Zustand zu halten. Wer bei Kamradendiebstal erwischt wird den nimmt sich Endes Unterzeichneter persöhnlich vor. Wer mit einer Venehrschen Krankheit herkommt als wie Trio, Bubos oder Filsläuse ist verflichtet, diese ohne Verzug zu melden. Bestrafungen von Verstößen gegen obige Hausgesetze erfolgen im ermessen des Vorsitz führenden Richters in Verein mit den Geschwornen. Gez. William Makepeace Murphy (zugl. Kassenwahrt) So stolz wie ein Frosch, der als Feuerschlucker auftritt, plinkerte William Makepeace Murphy Dove zu. »Jedesmal«, sagte er, »wenn du von jetzt an den Mund aufmachst, wird das gegen dich verwendet. Die Devise des Gerichts lautet: Keine Gnade!« »Dann steh ich auch nicht Rede und Antwort.« »Mißachtung des Gerichts!« kicherte Pinky. »Da hast du aber fein drauf angebissen.« »Er hat recht«, bestätigte Richter Murphy die Worte des Geschworenen. »Du bist jetzt dran wegen Mißachtung. « »Wieso?« fragte Dove. »Weil ich dich mißachte, deshalb«, antwortete Murphy und wechselte dann zu einem mitfühlenden Ton über. »Ich möchte dir gern helfen, mein Junge, aber du kommst mir ja keinen Schritt entgegen. Wäre ich an deiner Stelle, würde ich reinen Tisch machen mit all den ruchwürdigen Verbrechen, die du begangen
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hast, und dich der Gnade des Gerichtes ausliefern. Ich glaube, du würdest dich dann psüschisch wohler fühlen.« »Aber du sagst doch, euer Motto lautet ›Keine Gnade ‹.« »Mit solch juristischen Spitzfindigkeiten zu kommen, das ist noch mißächtlicher!« »Mann«, brüllte Pinky Beifall, »wieder prompt in die Falle gegangen! Jetzt bleibt ihm nichts mehr, als zu gestehen, was er verbrochen hat!« »Aber ich hab nichts verbrochen«, sah Dove sich zu verteidigen gezwungen. »Jedenfalls kein richtiges Verbrechen.« »Natürlich nicht, denn du bist ja ein Unschuldsengel«, bekomplimentierte Murphy ihn. »Nur-wo hast du deine Flügel?« Sie fanden das so witzig, daß ihr johlendes Gelächter die Zelle erbeben ließ. Dove mußte eine Minute warten, bis das Tribunal sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. »Ich meinte doch bloß«, sagte er dann, »ich habe nicht gegen die Gesetze verstoßen, die auf dem Zettel da stehen. Gegen kein einziges nicht.« »Gegen kein einziges nicht? Dann also gegen allel Was du hiermit zugegeben hast!« »Quatsch!« Dove war jetzt so verwirrt, daß er ärgerlich wurde. »Ich bin unschuldig!« »Da hast du selber schuld. Und wer schuld hat, ist natürlich und logischerweise auch schuldig.« »Ja, schuldig!« blökte Pinky, knurrte Grimwolf, plärrte Regenpelle und krähte Hühnerstecher. »Schuldig! Schuldig!« »Hast dich sauber aufs Kreuz legen lassen«, bedauerte Murphy ihn. »Doch wenn du einsichtig bist und
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Reue bekundest, könnte dies das Gericht eventuell bewegen, bei der Strafbemessung mildernde Umstände walten zu lassen.« »Ich verweigere jede weitere Aussage«, entschied sich Dove plötzlich. »Dazu ist es leider zu spät«, belehrte ihn Murphy. »Denn du hast ja bereits gestanden.« »Nein, hab ich nicht«, erhob Dove Einspruch. »Immerhin hast du zugegeben, gegen sämtliche Gesetze verstoßen zu haben, und wenn das kein Geständnis ist …« »Schuldig! Schuldig!« riefen die Geschworenen. »Da hast du das Urteil vernommen«, sprach der Richter. »Worauf wartest du noch? Der Kübel steht dort in der Ecke.« »Ich steck meinen Kopf doch nicht in keinen Dreckkübel!« weigerte sich Dove. Kline kam und lehnte sich in die Tür. »Ich rate Ihnen, Gnade vor Recht ergehen zu lassen, Gentlemen«, sagte er zu keinem der Gentlemen im besonderen. »Sechs Huckepacks!« entschied Pinky. »Das ist gnädig genug.« Seine Ehren warteten, ob der Angeklagte die Strafe annehme. Dove blickte zu Kline hin. Der nickte. Dove bückte sich, stemmte wie beim Bockspringen die Hände auf die Knie, und Seine Ehren stiegen ihm auf den Rücken. Dann ging es den Rundgang lang, ganz herum, immer wieder noch einmal, wobei Dove unter dem Gewicht des großen Burschen fast zusammenklappte, während die Schury aus seines Gleichen von Zelle zu Zelle rannte und die Runden zählte. Als die Strafe abgegolten und Murphy abgestiegen war, sagte er leichthin zu Dove: »Du würdest dir keinen Zacken aus der Krone brechen, wenn du den Jungs ein
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bißchen was zu rauchen spendierst. Zum Zeichen, daß du ihnen nichts nachträgst.« Dove reichte dem Gericht seine Picayunes. Murphy, der nun seine Genugtuung gehabt hatte, zündete eine davon für Dove an. In Trakt 10 herrschte wieder Frieden. Am nächsten Morgen kam der Wärter schon ganz früh, lange vorm Wecken. »Kline, zieh dich an«, befahl er. »Der Sheriff wartet auf dich. Weiß nicht, was er von dir will.« Trakt 10 aber wußte es: Uncle Sam war endlich gekommen, sich Kline zu holen. Der ließ sich beim Ankleiden jedoch Zeit; er schien sich immer noch zu fragen, wessen man ihn denn anklagen werde. »Ich muß erst mal nachdenken«, sagte er zu dem wartenden Schließer, als habe er überhaupt eine Wahl. Schließlich schüttelte er allen die Hand und als letztem Dove. »Wir sehen uns nach hundert Jahren Knast wieder«, versprach er, und Dove ließ ihn nur ungern gehen. Hinaus in strömenden Regen. Der Mardi Gras aus, das Nachtlicht aber noch an. Die Glühbirne, die normalerweise um sechs abgeschaltet wurde, blieb an diesem Morgen brennen, bis dann um neun die Gerichtsglocken läuteten. Eine Minute danach begann sie zu erlöschen. Langsam, als brenne sie durch. Und die Zellen blieben im Schatten der längst vergangenen Nacht. Eine dunkle und trübselige Stunde, die erste, die Dove ganz allein in einer Zelle verbrachte. Als weit weg ein Zug tutete, wie ein Zug, der sich immer weiter von daheim entfernt, dachte er: »Dieser Lokführer scheint sich schrecklich einsam zu fühlen.«
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Später, beim Stehen an dem Gangfenster, sah er, daß sie beim Tierschutzverein wieder am Werke waren. Doch er hatte alle Lust zum Mitzählen verloren. Jemand versuchte, ein Wettspucken um ein Säckchen Bull Durham zu organisieren, aber keiner wollte mitmachen. Auf dem Hof wendete ein grüner Lincoln, schaukelte dann in der ungepflasterten Durchfahrt ein bißchen, und als er auf die Straße hinauskam und mit den Scheinwerfern gegen den Nebel ankämpfte, wurde seine Sirene lauter. »Die Bullen fahren weg!« meldete Dove den anderen, und alle kamen heran und drängten sich ans Fenster, doch inzwischen war der Wagen schon fort. Seine Sirene aber ließ sich noch schwach hören, und Dove fühlte sich hundeelend vor Heimweh. Den ganzen winterlichen Nachmittag hindurch hörte der südliche Regen nicht auf. Als die Dämmerung einsetzte, versammelten sich die Häftlinge auf dem Gang, um die Hausgesetze zu lesen, so wie auf einem Floß auf dem Meer treibende Menschen das I.Buch Moses lesen. Gegen Abend ließ das Pladdern des Regens für ein Weilchen nach, und in der Stille hörten sie Stiefel Stufen her aufkommen, so schwer wie unter einer Last. Bei der Tür zu dem Block mit Trakt 10 brauchte der Sheriff stets länger zum Öffnen als beim Außentor, weil ihr Druckluftmechanismus von einem an der Außenwand angebrachten Kasten aus in Gang gesetzt werden mußte und der Schlüssel zu diesem Kasten als der kleinste an seinem Bund ihm immer wieder entglitt. Die Männer lauschten, während er fummelte. »Er bringt wen«, ahnte ein jeder. Der Sheriff und ein Deputy mit einem Abzeichen an der Mütze, und zwischen ihnen hing Kline; alle drei
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waren klatsehnaß. Er sah irgendwie kleiner aus, und seine Zehen schurrten am Boden nach, wie sie ihn da halb trugen und halb schleiften. Unter der kecken roten Mütze war sein Gesicht so blutleer, daß es überhaupt keinen Ausdruck mehr hatte. Jemand rollte eine Decke zusammen und schob sie durch die Gitterstäbe. Kline sackte zusammen, sein Mund klappte auf. Als er lang dalag, preßte er sich die Mütze auf den Bauch und trank den Regen, der ihm von den Haaren in den Mund rann. Kraftlos begannen seine Finger, nach der Wunde zu tasten. »Wie ich ihn hab kotzen sehen«, sagte der Sheriff, »da wußte ich, daß ich einen Volltreffer gelandet hatte.« Klines Gesicht war so grau, wie Dove es bei noch keinem Lebenden gesehen hatte, und vor Entsetzen weiteten sich seine Augen immer mehr. »Hättest eben nicht versuchen sollen, uns durch die Lappen zu gehen, Alter«, tadelte der Sheriff Kline, während der Arzt die Einschußwunde mit einem Wattebausch betupfte. »Er ist aus dem Wagen gesprungen.« Der Deputy schien zu glauben, den durch die Gitter schauenden Männern eine Erklärung schuldig zu sein. »Ich hab gerufen, aber er ist weitergerannt, immer im Zickzack. Weiß nicht, ob ich's ihm verübeln kann. Neunundneunzig Jahre sind eine verdammt lange Zeit.« Klines Hals war von selbem Leichengrau wie seine Finger; der Farbe des Betons, in den er so lange eingesperrt gewesen war, der Farbe seines einzigen Heimes und auch der Farbe jenes neuen, ihm noch unbekannten Gefildes, nach dem er sich die ganze Zeit unbewußt gesehnt hatte.
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»Wir müssen operieren, Alter, gib deine Zustimmung«, bat der Sheriff. Gefangen zwischen den gleichermaßen trüben Aussichten auf einen zu frühen Tod oder ein Weiterleben ohne Wozu, blickten Klines Augen nach innen, um eine Wahl zu treffen; daß er gar keine mehr hatte, war ihm nicht klar. Im Geiste sah Dove ihn wie einen Fuchs in einem immer kleiner werdenden Kreis herumrasen. Scheiden war hart, bleiben aber nicht minder. Die Finger, naß von Regen oder Schweiß, bewegten sich schwach auf der Mütze, suchten einen Halt; die Augen mühten sich weiter um Erkenntnis. In der Hoffnung, ein geflüstertes Einverständnis zu hören, legte der Sheriff ein Ohr an Klines Lippen. »Hätte ich geschossen«, gingen seine Gedanken, »hätte ich dem Mann auf die Beine gezielt.« Die Finger ließen die Mütze los und wanderte über den grauen Rand der Wunde, folgten dem zerfetzten Gewebe, wie um sich zu vergewissern, daß es sein eigenes war. »Sagen Sie uns schnell, ob wir operieren dürfen«, drängte der Arzt. »Ich müßte jetzt schon beim Nähen sein.« Der Regen hörte eine Minute auf, als wolle auch er das erwartete Flüstern hören. Der Arzt sah zu dem Sheriff hoch, und der Sheriff sah zu dem Arzt hinunter, sein Gesicht eine Maske der Empfindungslosigkeit. Er war mal verklagt worden, und ein zweites Mal würde ihm das nicht passieren. Im Trakt begann sich Jodgeruch auszubreiten. »Sag ja«, redete Dove Kline zu. »Sag ja.« Der Wärter kam heran, bemüht, gleichzeitig schnell und leise zu laufen. »Unten ist eine, die behauptet, sie wäre mal mit ihm verheiratet gewesen. Hat Papiere dar-
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über, aber ich habe mir die nicht näher angeschaut. Nein, durchsucht habe ich die Frau nicht. Hatte Angst vor dem, was ich da womöglich gefunden hätte. Vielleicht sagt sie für ihn ja.« »Mal gewesen genügt nicht.« Der Sheriff sah aus wie ein müder Bluthund. »Wenn er noch bei Bewußtsein ist, muß er es, soviel ich weiß, selber sagen. Ist er es nicht mehr, braucht man einen rechtmäßigen Angehörigen, sonst bin ich haftbar. Ich darf nur Erste Hilfe leisten.« Draußen setzte der Regen wieder ein. Durch sein Rauschen hindurch hörte Dove den Wind wehen, der zu sagen suchte: »Ja. Ja. Ja.« Doch niemand achtete auf den dummen Regen oder lauschte dem Geplapper des Windes. Die beiden kamen ja jeden Tag und tuschelten miteinander wie zwei unentgeltliche Anwälte, die die ganze Nacht zusammensitzen, um das, was morgen gesagt werden muß, so vorauszuformulieren, wie alle es hören wollen. Aus dem Augenwinkel merkte Dove, daß er beobachtet wurde, drehte den Kopf aber nicht herum. In der Ecke bewegte sich etwas – und dann wieder diese Katze! Hallies Tigerkatze. Sie sprang quer über den Fußboden darauf zu, und als sie um einen Winkel bog, forderte sie ihn mit einer Schwanzbewegung auf, ihr zu folgen. Er ging ihr nach und kam in ein Zimmer, wo hoch über ihm vor einer undeutlichen Madonna eine Kerze brannte und näher vor ihm ein Holzofen einen herzförmigen Lichtschein in flammendem Blutrot warf. Einer Frau schwarzes Unterkleid und eines Mannes Farmerhosen lagen ineinander verschlungen auf dem Fußboden, und er konnte nicht sagen, wo die Katze abgeblieben war. Eine Schicht Staub hatte sich vor langer Zeit auf Boden und Wände gelegt. Das Unterkleid und die Farmerhosen, eben noch Kleidungsstücke gewesen, waren ein
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Staubhaufen. Fensterscheiben, Bilder, Türen, Vorhänge, alles war Staub. Er führte ein Stäubchen an seine Zunge, aber es war gar kein Staub, sondern Salz. Als dort zu weit oben die Madonnenkerze zu hell zu brennen begann und er unter der ihm direkt in die Augen scheinenden Nachtbirne erwachte. Mit dem Geschmack von Salz auf der Zunge. »Was von Kline gehört?« fragte er. »1st vor 'ner halben Stunde abgekratzt«, antwortete der Wärter. Und Dove hörte Gonzales klagen: Toda le noche estoy, ay, niña Pensando en ti. Yo, do amores Me muero, desde que te vi Morena salada, desde que te vi. »Ich hab das Gefühl, ganz schön rumgekommen zu sein in Gottes weiter Welt«, sinnierte Dove vor sich hin. »Aber überall bin ich bloß Leuten begegnet, die es schwer haben. Überall nur Kummer und Leid, Schwierigkeiten und Abstieg. Und die es am schwersten haben, sind immer viel eher bereit, ändern zu helfen, als die, die es am leichtesten haben. Überall nur zwei Sorten Menschen: die einen, die lieber auf der Verliererseite der Straße leben, zusammen mit den andern Verlierern, als bloß für sich allein zu gewinnen; und dann die andern, die auf Teufel komm raus gewinnen wollen, selbst wenn sie das bloß auf dem Rücken von den ohnehin schon Geprügelten schaffen können. Überall hab ich Männer und Frauen kennengelernt, und die Frauen waren eine wie die andere Gefallene. Arme Flittchen, arme Huren, für jeden zu haben und zu nichts weiter nutze, hat man mir gesagt. Und auch: Gut
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genug zu einer kann man immer sein, aber schlecht genug nie. Doch würd ich die schlimmste davon nicht gegen die beste von der andern Sorte eintauschen. Ich finde, sie waren das wahre Salz der Erde.« Sein Herz wanderte zurück durch die Straßen der Dirnen, bis es an eine zerfurchte Schotterchaussee am Ende einer abgeschriebenen kleinen Stadt kam. Einer Stadt, wo die Zeit rückwärts gegangen war und große, von Wind und Sand zerfressene Pflasterquadern zurückgelassen hatte. Und er spürte den Wind immer noch über den Mesquite dorthin wehen, wo eine einzige Gaslaterne einsam brannte. Um Mitternacht würde ihr flackernder Schein eine Schrift auf einer blinden Fensterscheibe erhellen: LA FE EN DIOS Bien venidas, todas ustedes »Terasina«, fragte der Junge mit einem Anflug von Scheu die Frau, die dort einst Erbarmen mit seiner Unwissenheit gehabt hatte, »bist du da? Liegst du in deinem Bett dort an deinem Ende der Welt, während ich in meinem hier an meinem Ende der Welt liege?« An dem Morgen, als bloß acht statt neun Blechteller kamen, erhob sich sofort Tumult. Am Tag seiner Entlassung erhielt der Häftling kein Frühstück mehr. Für die Freiheit waren alle bereit, hungrig zu bleiben. »Wer hat's geschafft, Mr. Foster?« fragten sie ganz aufgeregt. Dove, mit der Decke um die Schultern und angezogenen Knien hockend, antwortete für den Wärter: »Ihr Verbrecher alle, ihr braucht nicht weiter zu hoffen. Denn wer's geschafft hat, das ist Linkhorn.« Er hatte die Tage genau mitgezählt.
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Pinky, Grimwolf, Regenpelle, Sumser, Weißnischwas und Volldrauf, Hühnerstecher und Seine Ehren William Makepeace Murphy drängten sich um ihn, ihm alles Schlechte zu wünschen. »Du bist morgen wieder hier«, prophezeite Weißnischwas. »Nein, schon heute abend«, war Volldrauf überzeugt. »Bis dahin wird das hier wohl langen«, sagte Murphy und hielt Dove ein Säckchen Bull Durham hin, hübsch mit Schleife verschnürt, wie es sich für ein Geschenk gehört. Dove zögerte. Krümchen für Krümchen aus acht Säckchen zusammengekratzt, war es fast dreiviertel voll. »Hier noch Blättchen«, fügte Murphy hinzu und reichte ihm die armselige Gabe. Dove nahm schließlich an. »Wir sehn uns alle wieder, Freunde«, sagte er und bekräftigte diese verständliche Lüge durch Handschlag; er wußte, er würde keinen einzigen von ihnen jemals wiedersehen. In jenem wirren April 1932 stieg die Zahl der Arbeitslosen auf acht Millionen, mußten zweihunderttausend Stahlarbeiter eine Lohnkürzung von fünfzehn Prozent hinnehmen und bedurfte es eines Kardinals, um zu erkennen, daß des Landes wirtschaftlicher Kollaps in Wirklichkeit ein Glück war, weil er doch jeden Tag Tausende der Armut Christi näher brachte, die bislang weit von ihr entfernt gewesen waren. Für die sei das eine einmalige Chance, sagte der Kardinal, das einfache Leben von Jesus bei sich zu Hause zu praktizieren. Überall im Lande begannen Männer, Frauen und auch Kinder, von dieser frommen Gelegenheit Gebrauch zu
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machen. Geistliche Bonbons dieser Art waren im April 1932 in vielerlei Geschmacksrichtungen zu haben. Die Daughters of the American Revolution verlangten die Ausweisung aller Ausländer ohne festen Arbeitsplatz; in Atwood, Kansas, lynchte ein Mob einen Mann zu Tode; eine Einheit der nicaraguanischen Nationalgarde ermordete ihren amerikanischen Kommandeur; das Arbeitslosen-Hilfsprogramm schien zusammenzubrechen; jemand erschoß den Präsidenten von Frankreich; Baumwolle, im Gefolge von Weizen, zog leicht an; und Huey Long sagte, die Zeit sei reif für eine Umverteilung des Reichtums. RUSS Coumbo sang immer noch »Please«. Kubanischer Zucker wurde zur Gefahr für den unseren erklärt; Oberbürgermeister Walker verkündete, New York habe nicht den Glauben verloren; die Suche nach dem gekidnappten Lindbergh-Baby wurde auf England ausgedehnt; Al Capone befand sich auf dem Wege nach Atlanta. Oberbürgermeister Walker sprach sich gegen Gehaltsherabsetzungen in der Stadtverwaltung aus; und Huey Long erklärte, er wähle eher Farmer-Labor als »diese Baruch-Morgan-Rockefeller-Demokraten«. Baumwolle, im Gefolge von Weizen, sackte wieder ab, aber der Kongreß entschied, den Reichtum doch nicht umzuverteilen. In dem seltsamen April 1932 schrieb Mussolini ein Theaterstück und mußte sich Calvin Coolidge öffentlich entschuldigen und einem Versicherungsmann aus St. Louis zweitausendfünfhundert Dollar zahlen, weil er in einer Rundfunkrede Versicherungsberechner als »Zahlenverdreher« bezeichnet hatte. Schmeling bereitete sich auf seinen bevorstehenden Kampf gegen Sharkey vor; Kalifornien lehnte eine Begnadigung von Tom Mooney ab; und die Leute sangen immer noch »Surren-
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der Dear«. Senator Borah forderte die Abrüstung, und Wasserstoffatome wurden zu Heliumatomen umgewandelt. Der Präsident der University of Wisconsin erklärte, die gesamte Politik sei in eine Sackgasse geraten; Herbert Hoover ließ sich in Öl malen; der Kongreß wurde aufgefordert, Senator Bankhead das Mandat zu entziehen; und dem Arbeitslosen-Hilfsprogramm drohte immer mehr der Zusammenbruch. In jenem weit zurückliegenden seltsamen Frühjahr 1932 sagten so viele Leute, die Prohibition sei ein Fehlschlag, daß die New Yorker Handelskammer es schließb'ch offiziell sagte. Baumwolle, im Gefolge von Weizen, zog wieder an, und einheimische Winzer verlangten, daß einheimische Weine aus dem Alkoholverbot herausgenommen werden. Am Viktoriasee wurde ein Stück Kieferknochen gefunden, das man für vom ersten Menschen stammend hielt. Der Kongreß lehnte es ab, jemandem das Mandat zu entziehen. Sharkey bereitete sich auf seinen bevorstehenden Kampf gegen Schmeling vor. Und ein Aschenregen verdüsterte vierzig Stunden lang die Sonne über Buenos Aires.
»Je dunkler das Tal, um so heller leuchtet der Geist christlicher Nächstenliebe«, sagte derselbe Kardinal in jenem seltsamen kurzen Frühling, und New Orleans begann eine Bierparade zu planen. Und in Doc Dockery's Dollhouse versuchte, während aus der Musikbox »Chinatown« erklang, eine glatthaarige, flachbrüstige und kaltäugige Nutte namens Kitty Twist, ein kleines Bier auf Anschreiben zu bekommen. Doch der Wirt, so sonderbar reagierend wie Hoover, schien nicht zu hören. »Hat mein Mann hier Schulden hinterlassen – oder was?« fragte sie. »Hast du dich deshalb so wegen einem bloßen Bierchen?«
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»Wenn du von einem gewissen Finnerty redest«, erklärte Doc, »der steht in der Tat bei mir in der Kreide. Denn er ist auf Nimmerwiedersehen verduftet.« »Solange ich hier im Dreh bin, kannst du dich darauf verlassen, daß er früher oder später zurückkommt«, gab Kitty ihr Wort. »Dazu bin ich ihm viel zuviel wert, daß er mich auf dem trocknen sitzen lassen würde.« »Wenn er so große Stücke von dir hält«, sagte der Alte in säuselndem Ton, »warum ist er dann abgehauen? Und wohin?« »Das darf ich nicht verraten«, antwortete sie, noch ehe er die Frage beendet hatte. »Und ich darf kein Freibier ausschenken«, gab Doc nicht minder rasch zurück. Aus der Tasche ihrer verschossenen Latzhose zog sie eine kleine Geldbörse hervor und leerte sie auf die Theke aus: zwölf Cents und ein Nickel. »Für ein Bier reicht's«, sagte sie, nachdem sie gezählt hatte. »Aber nicht, um sich vollaufen zu lassen.« Und machte ein Gesicht, als wolle ihr keiner auch nur eine kleine Freude gönnen. Der Alte brachte das Bier und strich die Hälfte ihrer Münzen ein. »Ich habe ein bißchen Geld auf die Seite gelegt«, bemerkte er beiläufig, »und möchte das gern in eine Hühnerfarm stecken. Weißt du nicht wen, bei dem ich mich darüber beraten lassen kann?« »Da ist mein Oliver genau der rieh…« Sie brach mitten im Wort ab, die ausgebuffte, hartgesottene Kitty, letzten Endes genauso leichtgläubig wie alle. Und der alte Mann wandte sich wieder seinen Puppen zu. Seinen Puppen, die sich niemals vollaufen ließen. In dem Moment drückte jemand den Klingelknopf, und als Doc hinausspähte, sah er diesen Angeber, der
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schon lange nicht mehr hier gewesen war und der sich Big Bull genannt hatte. Als Dove in der Tür erschien, war ihm deutlich anzumerken, daß er, wenn nicht aus dem Krankenhaus, dann aus dem Knast kam. Aber inzwischen waren so viele wo drin gewesen oder wo rausgekommen, daß der alte Mann sich das nicht mehr merken konnte; und es interessierte ihn auch nicht sonderlich. »Bleib so lange, wie du was zum Ausgeben hast«, warnte er den Burschen, »und verschwinde dann. Laß dich nicht von mir dabei erwischen, daß du andere um Drinks anschnorrst.« »Hör mal, Alter, ich hab hier andern jede Menge Drinks bezahlt«, erinnerte Dove ihn, »und da hast du nie was gegen gehabt.« »Dagegen habe ich auch jetzt nichts«, versicherte ihm Doc. »Bestell so viel für andere, wie du willst. Was kriegst du selber?« »Whiskey mit Nachspüler«, sagte Dove. Der Alte wartete, bis er sein Geld hingelegt hatte. Dove goß seinen Whiskey in das Bier, wobei er sich Zeit ließ, und ging dann damit, ohne jemanden zu begrüßen, zu einem Tisch. In dem schmutzigen Licht bewegten sich die Zuhälter und ihre Frauen wie Menschen unter Wasser. Das Surren der Deckenventilatoren hörte sich an wie das vom Meeresboden her vernommene Rauschen von Schiffsschrauben. Obwohl er hier vor erst fünf Monaten noch mit allen per du gewesen war, schienen das jetzt Leute aus einer verschüttetgegangenen Zeit seines Lebens zu sein, von der er kaum noch etwas wußte. Als er eine Frau fragte, ob sie Hallie gesehen habe, bekam er nur ein Achselzukken. Entweder wußte sie es wirklich nicht, oder sie getraute sich nicht, es ihm zu sagen. In der alten
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Perdido Street behielt man keinen lange im Gedächtnis. Die einzige, deren Erinnerung an ihn noch frisch zu sein schien, war die, bei der er das am wenigsten wünschte: Kitty mit ihrem schlauen schiefen Lächeln. Sie kam zu ihm heran, aber noch ehe sie ihn um einen Drink anhauen oder ihm einen anbieten konnte, schüttelte er den Kopf. Nein, mit der wollte er nichts mehr zu tun haben. Es war ein ruhiger Nachmittag. Dockery schaute immer wieder mal nach seiner eigenen Flasche, damit die keiner klaute. Natürlich verdreckten diese Schmutzfinken ihm wieder mal seinen Fußboden, doch wie immer, wenn sie das taten, erfüllte ihn das mit Vorfreude aufs Wieder-Saubermachen-Dürfen – einer der wenigen Genüsse, die dem alten Mann geblieben waren. Er sah die Plattform des Beinlosen hochgestellt an der Wand lehnen und Schmidt selber an einem Tisch sitzen, mit nach vorn gestreckten Stümpfen und gegenüber von Kitty Twist. Doc war das nur recht; würde er keinen ausgeben, säße sie nicht bei ihm. Er überlegte sogar, ob er ihnen auf Kosten des Hauses zwei Schnäpse bringen sollte, um sie zu animieren, tat es dann aber doch nicht. Und machte sich ans Abstauben seiner Puppen, wobei er der Lumpen-Anny besondere Aufmerksamkeit widmete. Von der ersten Drohung hörte er nichts. Er vernahm nur ein halblautes Stimmengewirr, das für einen Augenblick das Surren der Ventilatoren übertönte und dann merkwürdigerweise verstummte. Als er aufschaute, hatte der rothaarige Angeber mit der Krankenhausblasse den Rücken gegen die Wand gefläzt, und Schmidt stand vor ihm, die Stümpfe weit gespreizt und die eine Hand flach auf dem Fußboden, um sich zu stützen.
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»Ich habe nichts gegen Sie, Mister«, hörte Doc den Angeber sagen. »Leugnest du, daß du mit ihr abgehauen bist? Daß du mit ihr zusammenlebst?« »Ich bin mit ihr weg, ja, und wir haben auch zusammengelebt. Das streite ich gar nicht ab, Mister. Und wüßt ich, wo sie jetzt ist, tat ich's Ihnen sagen. Aber ich bin selber weg gewesen.« »Erzähl mir doch keine Märchen. Du weißt, wo sie ist, denn sie hat dich ja hergeschickt, weil sie wissen will, wie es mir geht. Jawohl, das hat sie!« Er schien seiner Behauptung seltsam sicher. Kitty Twist stand unmittelbar hinter ihm. »Sag mir, wo sie ist, und bring mich zu ihr. Sonst hast du dir, bei Gott, die Folgen selber zuzuschreiben!« »Macht den Männern Raum, Jungs!« Die Macker und die Mackigen überboten sich wie Leute mit Gemeinsinn, die für das Wohl aller arbeiten. »Wenn es das ist, was die beiden wollen, dann sollen sie's haben«, erklärte Dockery. »Und niemand geht dazwischen – ein fairer Kampf von Mann zu Mann.« »Laß sie sich vorher die Hand reichen, Doc, um zu zeigen, daß sie beide anständige Kerle sind.« »Nun wollen wir mal sehen, wer der bessere ist.« Kitty Twist setzte zwei Cent. Die Luden schoben die Frauen zurück, und genauso schnell, wie diese zurückgeschoben wurden, drängelten die sich wieder nach vorn. Dann spürten alle die große Stille fallen. »Weichen Sie zurück!« Dove schwenkte einen eisernen Spucknapf. »Ich will keinen Ärger nicht.« Und trat einen Schritt auf Schmidt zu. Der rührte sich nicht vom Fleck, stand nur da und
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maß seinen Gegner. Schließlich wandte er sich ab, und die Männer und Frauen machten ihm Platz, als er auf seinen Stümpfen zu seiner Plattform lief und sich sorgsam darauf festschnallte. »Gehst du schon so früh nach Hause, Big Dad?« fragte jemand, aber der Krüppel gab darauf keine Antwort. Seine Plattform war, und das wußten alle, sowohl seine Waffe wie auch sein Panzer. Dove begann sich langsam die Wand entlangzuschieben, dorthin wo das späte Straßenlicht durch eine halboffene Tür hereinschien. Wenn er es bis auf Sprungweite schaffte, wollte er losrennen. Und nie mehr zurückkommen. Doch Schmidt rückte mit, genauso langsam, ein Monster auf Kugellagern, die Hände an den Rädern, bereit zum Angriff, vorwärts, rückwärts oder seitwärts. Die Plattform kam zwar nicht näher heran, hielt aber Schritt. Hinter Schmidt folgten, vor wohligem Horror bleich, Gesichter von Männern und Frauen, hielten inne, folgten weiter. Kein Laut zu hören bis auf das Surren der Ventilatoren und das schneller werdende Atmen wie von einem Kaninchen, das über sich schon das Netz spürt. Dockery sah, daß sich des Beinlosen Lippen lautlos bewegten, wie bei jemand, der eine Kombination erst im Kopf durchprobiert, ehe er sie ausführt. Schließlich machte Schmidt einen Scheinangriff von links und dann einen von rechts, und bei jedem nahm Dove den Spucknapf in die andere Hand. »Ich weiß wirklich nicht«, beteuerte er, »wo Ihre Frau …« Bei »Frau« versetzte Schmidt seinen Rädern einen kräftigen Stoß und brauste heran, den Unterarm vor die Augen gehalten.
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Dove holte aus und schlug ihm den schweren Spucknapf unter den schützenden Arm. Schmidt schwankte wie ein locker sitzender Baumstumpf im Sturm, doch die Plattform rückte weiter heran. Dove schlug noch einmal zu. Die Wucht dieses zweiten Schlages riß Schmidts Räder herum, und die Plattform raste blindlings gegen die Wand, prallte zurück und verlor jede Richtung. »Mach ihn fertig!« hörte Dove es von allen Seiten flüstern. »Jetzt! Jetzt! Gib's ihm auf die Birne, solange er nichts sehen kann!« Denn Schmidts Kopf war so niedrig, daß Dove die kahle Stelle sehen konnte. »Jetzt! Jetzt! Jetzt!« Dove aber stand da mit seiner Waffe, starrte auf diesen wehrlosen Schädel und war unfähig, die Hand zu heben. Als Schmidt sein Gesicht schließlich freigab, war es die ganze linke Seite hinunter blutbeschmiert; über und unter dem Auge hatte der Spucknapfrand die Haut aufgerissen. Dove reichte ihm sein Taschentuch, denn niemand bot Schmidt Hilfe an. Und er schaute zu, wie der Halbhüne sich das Blut aus dem Gesicht tupfte, bis er wieder sehen konnte. Dann legte Schmidt das Tuch säuberlich zusammen, wie um sich zu entschuldigen, daß er es schmutzig gemacht habe, und reichte es Dove zurück. »Dank dir, Sohn«, sagte er. Vielleicht war es sein Ton, was Dove zu der Annahme verleitete, die Sache sei nun erledigt. Denn er suchte sich einen Weg zwischen die Zuschauer zu bahnen. »Der Kampf ist zu Ende«, sagte er. Die Zuschauer schlossen vor ihm die Reihen. »Er hat gerade erst angefangen«, hörte er hinter sich Schmidt sagen. »Halt dich gut fest, Sohn.« Und der Krüppel schoß los.
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Dove sprang auf einen kleinen Tisch am Ende der Theke und kauerte sich darauf zusammen, zitternd wie ein junger Hund, der vor Angst weder ein noch aus weiß. Mit einem einzigen Ruck seiner Räder stieß Schmidt den Tisch um, und Dove stürzte runter, alle viere wie eine Comic-Figur von sich gestreckt, während der Spucknapf davonflog und beim Aufschlagen wie ein wildgewordner Uhrengong dingdongte. Schmidt drückte Dove das Gesicht auf die Dielen, und als er sich aufbäumte, preßte er ihn sogleich wieder runter. Dann hob er ihn zwischen seinen großen Pranken hoch, und mit einer Stoßkraft, als wären seine Arme Spiralfedern, schleuderte er ihn zu Boden. Dove landete auf der Seite, den einen Arm ausgestreckt, den anderen vor den Augen. Schmidt setzte sich auf den ausgestreckten Arm, indem er mit seiner Plattform einfach drauffuhr, und riß den anderen von Doves Augen weg. Als er ihn losließ, fiel er lose herab, wie gar nicht mehr festsitzend, ein Arm ohne Knochen. »Der ist erledigt«, sagte jemand. Alle drängten heran, um ihn sich anzusehen. Ob nun betäubt durch sein Aufknallen oder verwirrt vor Angst, er lag da mit noch glänzenden, aber blicklosen Augen wie ein Tier, dem als Schutz nur mehr völlige Wehrlosigkeit geblieben ist. Jedem preisgegeben, der zuschlagen wollte. Schmidt schaute hinunter auf das Gesicht, das plötzlich das eines Kindes war. Dann nahm er seinen rechten Arm zurück und stützte sich auf dem Boden hinter ihm mit der Faust auf. Dort standen zwei Männer, und die hätten den Fuß draufsetzen können. Doch der eine beguckte sich nur, wie sich die sonnengebräunte Haut über den Fingerknöcheln spannte, und der andere bemerkte lakonisch: »Ist aus mit ihm.«
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»Er simuliert bloß«, bemerkte Schmidt dazu. Er hob den Arm, holte weit aus und brachte ihn mit voller Wucht nieder. Mitten ins Gesicht. Dem Aufschlag folgte ein leiser, dumpfer Laut, der nicht von Dove, sondern von seinen Knochen kam. »Ich schaue mir Unfallopfer gern von nahem an.« Kitty Twist drängelte sich heran und legte das Ohr an Doves eingeschlagenen Mund, der zwischen dem Blutschlucken zu sprechen versuchte. »Wenn du mich gehnläßt …« hörte sie ihn sagen und wiederholte es für jene, die nicht das Glück hatten, so dicht dran zu sein: »Er sagt, wenn du ihn gehenläßt…« »… sprech ich ein Gebet für dich.« »… spricht er ein Gebet für dich.« »Sag ihm, seine Gebete kann er sich sparen«, erklärte Schmidt. »Ich will wissen, wo meine Frau ist.« Er schaute zu Dove hinunter. »Bilde dir ja nicht ein, du könntest mir mit ein bißchen Blut angst machen«, sagte er. Kraftlos wankte Doves Kopf hin und her, noch immer alles abstreitend. Und obwohl, als sich Schmidts Faust erneut hob, alle dachten, die Zuhälter, die Krüppel und die gefallenen Mädchen: »Hab Erbarmen!«, empfanden sie, als sie niederging, doch eine herzzerreißende Freude. Als mache jeder neue Schlag jenen Schlag wett, der ihm vom Leben versetzt worden war. Später erinnerte sich eine Frau, die gesehen hatte, daß das Gesicht auf dem Fußboden gar kein Gesicht mehr gewesen war, sondern bloß noch eine breiige Masse aus Knorpel und Blut, aus der ein einzelnes Auge blind herausschaute: »Wie ich ihn da auf den Dielen liegen sah, ohne daß er sich noch erheben und zurück-
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schlagen konnte, habe ich bei mir gedacht: ›Soll er ihn nur kaltmachen! Warum dem eine Chance geben?‹« Als es vorbei war, schaute Schmidt in die Runde wie jemand, der aus einem Nebel kommt. Er sah alle an, als wäre da etwas, das sie wußten, er aber nicht. Als begreife er nicht, woher das Blut rührte, das seine Hände besudelte. Kitty Twist kniete nieder, um dem Krüppel ihre dünnen Arme um den Hals zu legen, und als ihre Lippen die seinen schon fast berührten, schob er sie angewidert weg. »Sorgt dafür, daß dem Mann geholfen wird, und macht die Tür auf«, befahl er. Deren Flügel wurden gerade noch rechtzeitig aufgetan, um den letzten Rest Tageslicht hereinzulassen. Schmidt sah den Tag und die offene Tür. Doch er saß auf seiner Plattform und rührte sich nicht. Bis Dockery sagte: »Schmeißt ihn raus.« Und nun, da ihre Spannung gelöst war und ihre Verachtung erwachte, machten sie sich über den abgesägten Riesen her, als wäre er bloß ein toter Gegenstand. Einer gab ihm von hinten einen Stoß, ein anderer zog ihn an den Haaren. Ein dritter setzte mit den Füßen die kleinen Räder in Gang, vor denen er sich vor einer Minute noch gefürchtet hatte und die sich ihm jetzt nicht schnell genug drehen konnten. Und Kitty Twist, selber bloß armes, verkommenes Opfer, spie ihm auf den Nacken. Schmidt wehrte sich nicht, Schmidt ließ alles mit sich geschehen. Wie ein Schmerzensmann, dessen Augen sagten, er habe doch nur getan, was ihre Arbeit gewesen wäre – ein Heiliger der Amputierten. Aus der Flüsterkneipe, deren Zeit vorbei war, durch die Ausgangstür eines verblichenen Jahrzehnts, karr-
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ten sie den entthronten Helden, der einmal ein Mann gewesen war, hinaus auf eine abschüssige Straße. Jemand gab der Plattform einen Stoß. Und wartete zusammen mit anderen eine Minute, um zuzuschauen, wie das Ding von einer Seite des Bürgersteiges auf die andere rollte, immer schneller wurde und schließlich ganz aus dem Kurs geriet, so daß bergan trottende Passanten ihm ausweichen mußten wie einem betrunkenen Fahrer, der auf der falschen Straßenseite ankommt. Als es gegen den Telefonmast krachte, lachte kaum einer. Sie blieben nur noch stehen, um zu sehen, ob sich von hier oben irgendeine Bewegung in diesem halb auf der Fahrbahn, halb auf dem Bordstein liegenden Klumpen entdecken ließ. Doch der rührte sich nicht. Drinnen hörten sie die Musikbox anheben: You made a lot of money back in '22 But whiskey and women made a fool of you Und gingen wieder hinein. Mit der Miene von Männern, die jederzeit bereit waren, sich fürs Gemeinwohl zu überbieten. Samstags abends zog es die Hinterland-Squatter nach Arroyo. Sie kamen per Ford T und Pferdewagen, die meisten aber zu Fuß. Manche hatten Schuhe an, manche nicht. Doch ob beschuht oder barfuß, alle hatten sie einen schlaksigen Gang, und die Frau blieb den ganzen Weg einen Schritt zurück. Sie hatte ihren Schal vor den Mund gezogen, um sich vor der schädlichen Abendfeuchtigkeit zu schützen, und er atmete nach Art der Mexikaner durch ein Knüpftuch. Waren sie dann in der Stadt, gab es jedoch so viel zu erzählen, daß alle die schädliche Luft vergaßen; vielleicht war sie innerhalb der Stadtgrenzen auch besser.
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Denn die Frauen zogen schwatzend von Laden zu Laden und beguckten sich die Auslagen in den Schaufenstern oder gingen in einen Film mit Rod la Roque. Alle versuchten sie, ihren Mann mit ins Kino zu bekommen, ob er mochte oder nicht; er sollte weniger Gelegenheit haben, sich zu besaufen. Doch ließ er sich dazu selten bereden. Er schickte sie allein hinein und schlenderte zur Rathaustreppe, um zu hören, ob der Prediger was zu sagen hatte, das er nicht schon an tausend anderen Samstagen gesagt hatte. Es wurde gemunkelt, der Alte eifere nicht mehr so stark gegen den Papst. Ja er eifere überhaupt nicht mehr so wie früher, egal gegen was. Der heilige Zorn und das Feuer, die so wohltuend gewesen waren wie ein spendiert bekommener Tequila, schienen in Fitz zu erlöschen. War es der Schnaps oder bloßes Müdegewordensein, was ihm den Dampf genommen hatte? Oder lag es nur daran, daß nun, da Byron unter der Erde lag, niemand mehr da war, ihn durch Fragen in Verlegenheit zu bringen? Doch was es auch sein mochte, wenn er sie jetzt bis an den Rand des feurigen Pfuhls führte und sie zwang, in den grausigen Abgrund hinunterzuschauen, sahen sie, daß sie bloß ein, zwei Fuß tief stürzen würden, hinein in eine Aschengrube voll regennasser Kohlenschlacke mit darauf ein paar verrosteten Bierbüchsen und zerbrochenen Ginflaschen. Daraus würde nie ein richtiges Höllenfeuer werden. Sie schnupperten, ob wenigstens Schwefel in der Luft lag, doch es roch nur nach Ringelblumen, wie sie an alten Müllkuten wachsen. Nach Ringelblumen und nach angewehtem Staub, dessen Geruch sie so gewöhnt waren, daß sie ihn gar
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nicht mehr von dem der Luft unterscheiden konnten. Der Alte hatte sie nirgendwo hingeführt. Doch aus Höflichkeit und weil es nichts anderes gab, wo sie hätten hingehen können, lauschten sie weiter den Drohungen seines nachlassenden Ingrimms. »Die Mutterschaft hat ihren Glanz verloren«, sagte er ihnen. »Frauen, die rauchen und trinken und Hosen tragen, sind unwürdig, Mütter von Menschenkindern zu werden. Eine fluchende, trinkende, rauchende, geschminkte, bubiköpfige Mutter ist ein abstoßender Anblick! Wenn der Papst sagt, die moderne Frau ist eine Beleidigung für ihren Schöpfer, zeigt er damit mehr Charakter als unsere eigenen protestantischen Seelenhirten. Hat der Herr nicht gesagt, daß es dem Weibe zur Ehre gereicht, so sie langes Haar trägt? Heutzutage haben Frauen ja auf offener Straße schamlosere Sachen an, als vor ein paar Jahren in Bordellen getragen wurden.« Und es war niemand da, der ihn fragte, woher er denn wisse, was vor ein paar Jahren in Bordellen getragen wurde. »Selbst unsere kleinen Mädchen werden fast nackt auf die Straße geschickt, so daß Gottes Strafgericht heraufbeschworen wird über Sünde so schwarz wie die zu Sodom. Wollen wir es darauf ankommen lassen?« Und er beantwortete seine Frage gleich selber: »Wenn Gott die Sünde eines ganzen Volkes richtet, dann ist es mit den Dollarzeiten vorbei. Seid ihr bereit, diesen Preis zu zahlen?« Unbetroffen schauten sie zu ihm hoch. Könnten sie überhaupt einen Preis zahlen, sagte ihr Blick, wären sie im Kino oder im Puff. In dem dämmrigen Licht bemerkten nur wenige den Mann im städtischen Anzug und mit der zerknickten
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Feder an der Mütze, der im Schatten gegen einen Baum lehnte. Heutzutage kamen jede Stunde Fremde durch die Stadt. »Er hat den Glauben an seine Berufung verloren, das ist alles«, sagte sich Dove und fuhr mit der Hand an dem Haubitzenrohr entlang, bis er zu der Stelle kam, wo es sich verjüngte. Dann ertastete er sich mit seinem Stock einen links davon stehenden Baum und fand damit den Weg zur Straße. »Immer noch nicht gepflastert«, dachte er bei des Stockes erster Berührung von dem vertrauten Staub. Unter der Laterne vor der Dominostube sahen ihn zwei Mexikaner den Rinnstein entlangkommen. Der eine trat einen Schritt auf ihn zu, um ihm über die Straße zu helfen, aber der andere zog ihn zurück. »Wenn er Hilfe braucht, wird er schon darum bitten«, sagte er zu seinem Freund. Der Mann schien tatsächlich keine nötig zu haben. Er wartete, um ein Pferdefuhrwerk vorbeizulassen, und ging dann geradenwegs, jedoch ohne Hast jene alte Chaussee hinunter, die einmal nach dem Westen führte. Tief drinnen im Chaparral lärmten die Frösche. Als er näher kam, wurden sie leiser, verstummten ganz, während er vorbeiging, und quakten dann wieder los. Es war jene Stunde, da die Frösche einsetzen und der Duft nach Honig-Mesquite am stärksten ist. Von hinten kam ein Auto herangerattert, das mehr nach einem Chevie als nach einem Ford klang, und hielt dann ein paar Schritte vor ihm. »Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?« fragte eine Männerstimme. Als er an den Wagen herantrat, roch er den Duft von Frauenkleidern. »Bin ich auf dem richtigen Weg zum Chili-Parlor?« erkundigte er sich.
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»Sie stehen keine zwanzig Meter davor«, sagte die Stimme eines Mädchens. »Können Sie sehen, ob dort wo Licht brennt?« Als sie sich zum Hinausschauen an ihm vorbeibeugte, spürte er ihren nackten Arm. »Ja, in dem einen Fenster oben«, meldete sie. »Soll ich Ihnen wen herunterrufen?« »Nein danke, sehr freundlich von Ihnen. Jetzt find ich mich schon zurecht.« Er hörte den kleinen Wagen zurückstoßen und fühlte sich ganz allein in der weiten Rio-Grande-Nacht. Und empfand dabei eine seltsame Zufriedenheit. »Sollte Gott was geschaffen haben, das noch besser ist als die Mädchen«, dachte Dove, »dann hat Er es bestimmt für sich selber behalten.« All das ist schon lange her. Es begab sich in einem kurzen Frühling, an den sich niemand mehr erinnert, und in einem Ort, den es nicht mehr gibt.
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