Christine von Campen
WINDBEUTEL Krosses Wortgebäck mit englischer Creme
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Christine von Campen
WINDBEUTEL Krosses Wortgebäck mit englischer Creme
(2001)
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littera scripta manet
Christine von Campen
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. Ausgabe, September 2005 © Christine von Campen 200 – 2005 für den Text © Christine von Campen 2004 – 2005 für das Titelbild »Drei Engel mit drei Beinen« © eBOOK-Bibliothek 2005 für diese Ausgabe
E
s entsprach nicht meinem Lebensplan, dass er den roten Faden, der sich wie ein Halteseil an meine Jahre gelegt hatte, durchtrennte. Ich wusste nicht weiter. Als ich abzustürzen drohte, meinte Clara: „Ein halbes Jahr ist genug geweint um einen Typen.“ Einfach so. Typisch Clara. Weiß sich immer zu helfen, gibt nie klein bei. Ist ’ne echte Freundin. „Jetzt setzt du dich jeden Morgen erst einmal in deinem Bett hin und hörst dir an, wie es klingt, wenn du sagst: ‚Ich mag dich, Mandy, du bist Klasse und eigentlich hast du es doch gut!‘ Los, versuch es und dann steh endlich auf. Und hör auf zu heulen!“ Also flüsterte ich es mir fast zwei Jahre lang morgens ins eigene Ohr: „Du bist Klasse, Mandy!“ Ich konnte es gar nicht oft genug hören. Ich bin Klasse! Doch irgendwann fiel mir wieder ein, dass nur ich selbst es war, die mich da bewunderte. Damals beschloss ich, es mit professioneller Hilfe zu versuchen.
Frau Dr. Schmidt-Weinberger, die Therapeutin, riet mir, Tagebuch zu schreiben. Zunächst fiel mir das schwer, weil ich es peinlich fand, mir die eigenen Untaten in schriftlicher Form anzuvertrauen. Aber als die anfänglichen Bedenken überwunden waren, begann das regelmäßige Schreiben mir zu helfen. Und zwar so gut, dass Frau Schmidt-Weinberger nun auf mich und mein Geld verzichten muss. Inzwischen ist mein letzter Besuch in ihrer Praxis fast ein halbes Jahr her. Es ist Spätsommer, ich genieße die letzte Wärme und schreibe noch immer tapfer alles auf, was mir auf der Seele liegt. Dabei geht meine Dokumentationslust manchmal so weit, dass ich in den schönsten Momenten auf die Uhr blicke, nur um später möglichst genaue Aufzeichnungen machen zu können.
Donnerstag, 24. August 2000 8 Uhr 20
Die Erkenntnis trifft mich hart: Es ist ein Irrtum, mich für einen halbwegs intelligenten Menschen zu halten! Warum sonst habe ich einen so blöden Job? Ich dachte, ich wäre Journalistin, dabei erledige ich eigentlich nur die Arbeiten, auf die mein Chef keine Lust hat. Was ich übrigens durchaus verstehen kann. Meist handelt es sich nämlich um knifflige Übersetzungen. Mühsam müssen die geistigen Auswüchse anderer überarbeitet und in eine neue Sprache gepresst werden. Und immer sofort. Zu meinem größten Verdruss sitze ich bei der Arbeit zu Hause. Ständig ohne Kollegen allein im Heim. Ermöglicht
wird meine Vereinsamung durch den Internet-Anschluss. Niemand sieht mich, niemand spricht mit mir. Flirten habe ich ebenso verlernt, wie ich vergessen habe, wann mir das letzte Mal ein menschliches Wesen lockend in die Tiefe meiner hungernden Augen geschaut hat, das mir nicht irgendwann in der Absicht, mich „Mamma“, d. h. „Brust“, zu nennen, aus dem Bauch gekrochen ist. Nur morgens, da habe ich regelmäßig Ausgang. Da darf ich den Hund entwässern. Auch heute war ich schon mit ihm draußen. Die Kinder wollten ihn haben, ich muss ihn entleeren. Als ich ihm vorhin sein Halsband anlegte, wurde es ungemütlich dunkel. Von wegen Sommer. Weil so oft spontan Wolken aufziehen, wenn ich Gassi gehen will – was eigentlich heute eher Straßi gehen heißen sollte – , beschleicht mich manchmal das dumme Gefühl, dass Petrus pawlowsche Reflexe hat. Sieht er, dass ich das Halsband berühre, fließt sein Wasser in Strömen. Positiv denken! So ein Quatsch! Ehrlichkeit will ich. Wahrhaftigkeit! Jetzt schreibe ich es mir von der Seele: Ich wollte nie einen Hund haben. Der Stress ist mir zu nervig. Immer gibt es was zu betüdeln. Futter kaufen, streicheln, zu Gummiwürmern getrockneten Seiber von der Wand pulen. Und andauernd müssen wir zum Tierarzt. Wir, das bedeutet der Hund und ich. Klar. Zwischen tumorösen Ratten und trächtigen Kampfhunden im stinkenden Wartezimmer der überlaufenen Tierarztpraxis sitzend, beobachtete ich neulich die Lebenslustige, die die ganze Zeit lachte und offenbar auch gerne über den Hunger aß, wie sie sich von ihrem Schoßhündchen, dessen Fell mit
ihren Augen um die Wette glänzte, über ihre Lippen lecken ließ. Dabei hielt sie ihre Zähne leicht geöffnet und mir wurde ein bisschen übel. Richtig nervten mich aber nur die engagiert militanten Hundebesitzer, die mich von allen Seiten zusülzten. Die neuesten chemischen Waffen gegen Flöhe, Zecken oder Würmer interessieren mich theoretisch unglücklicherweise nicht die Bohne und die herablassenden Blicke, die meine daraus resultierende Unwissenheit hervorrief, erweckten endgültig einen Brechreiz in mir. Und wenn mir Jon Bon Jovi beim Spazierengehen in die Augen blickt, mag ich das auch gar nicht. Denn Jon Bon Jovi ist leider nur eine gemeingefährliche Dogge und Extension des Egos eines kleinen Mannes aus der Nachbarschaft. Wenn Jon das wüsste! 12 Uhr Sollte mich langsam mal ums Mittagessen kümmern. Aber mein Schreibtisch starrt mich auch mahnend an. Also setze ich mich brav hin. Als ich den Rechner hochgefahren habe, grinst mich ein Artikel an, der es natürlich eilig hat. Also blättere ich erst einmal in einem umfangreichen Prospekt für Espressomaschinen, während meine Arbeit daneben liegt und ruht. Um 4.30 Uhr spätestens soll der Text druckreif übersetzt und formatiert durchs Netz schwirren. Aber wie bitteschön sage ich unter Zeitdruck auf Englisch: „Er legte einen Galaritt auf seinem Skateboard hin!“? Skateboard ist leicht. Galaritt? Hinlegen? Skateboard ist leicht.
Leichter als Handy und Konsorten, die allesamt falsche Freunde sind. Ein falscher Freund, im linguistischen Fachchinesisch Interferenz genannt, kann zu bösen Fehlern führen. So ist ein Handy auf Englisch eben kein handy. ’türlich. Handy bedeutet also nichts als praktisch und wer will schon mit einem „Praktisch“ telefonieren? Aber noch mal von vorne. Wenn handy auf Deutsch praktisch heißt und Handy auf Englisch mobile oder cell phone, dann müsste mobile auf Deutsch doch auch praktisch heißen und praktisch auf Englisch mobile, oder? Nicht? Echt krehsie! Ich schwitze. Skateboard ist Skateboard, da bin ich sicher. Aber Galaritt? Und gleich kommen die Kinder hungrig aus der Schule, heim zu ihrer Rabenmamma. Was soll die bloß kochen? 12 Uhr 59 Pizza! Warum nicht mal zur Abwechslung Pizza? Die hatten wir lange nicht. Gestern zuletzt. Könnte noch schnell zum Laden laufen und welche kaufen. Der Artikel ist aber dringender. Was ist das denn? Ach nein, bitte nicht, da steht: „In Tirol geht die Post ab.“ Wäre „The post – or post-office? – is leaving in Tirol“ eine adäquate Übersetzung? Oder heißt es Tyrol? Auch Tyrolia fällt mir ein, doch ich fürchte, dass es sich dabei um den Namen einer Ski-Bindung handelt. Glaub, ich hol nun besser erst mal die Pizzen. Vielleicht flutscht die Arbeit dann leichter über den Bildschirm. Margharita für Hannah und Till. Bloß kein totes Fleisch für die beiden. Sie sind seit Jahren Vegetarier. Eingefleischte Vegetarier sozusagen.
Thunfisch, der von unseren zwei Pflanzenfressern auch zynisch Quecksilberbeutel genannt wird, für Kay, Anna und für mich. Oder besser gar keine Pizza für mich. 18 Uhr 10 Uff. Abend. Endlich Abend. Hänge vor dem Fernseher und sehe eine Soap. Frühabendliche Orgasmen Dreizehnjähriger, unterbrochen von Abtreibungen und Drogenproblemen. Das ganze Leben, ein ständiger Schlagertext. Er liebt sie! Liebt er sie? Und wer liebt mich? 19 Uhr 17 Je länger sich die Bildschirmgestalten in Sachen Liebe abmühen, desto drängender wird die Frage. Wer ist es? Wo finde ich ihn? Ich schalte ab. Das darf doch nicht wahr sein! Morgen in einem Jahr werde ich vierzig. Habe vier Kinder, achtzehn, fünfzehn, dreizehn und elf, einen langweiligen Job, der nicht einmal genug für unsere Ernährung abwirft, ein spießiges Haus und keinen Mann. Keinen, der mich verwöhnt. Was eine Nackenmassage ist, weiß ich nur mehr vom Hörensagen. Clara und Gunda schwärmen manchmal davon. Aber auch nur sporadisch. Na ja, wenn ich mich recht erinnere und mal wieder ganz ehrlich zu mir bin, war das mit der Massage und der Aufmerksamkeit nicht wesentlich besser, als ich noch mit Christian verheiratet war. Christian ist der Vater meiner Kinder. Das kann ich nicht mehr ändern. Will ich auch gar nicht. Es war
so schön mit ihm, obwohl … Damals schien ich noch nicht einmal einen Nacken zu besitzen. So gesehen geht es mir jetzt besser: Ich habe einen Nacken, der nur darauf wartet, verwöhnt zu werden. Welch Fortschritt! Zu Christians Zeiten lag meine Hoffnung auf eine geschlechtsneutrale Massage unter unserer Beziehung begraben. Er nannte meine eine Brust liebevoll „Schoko“ und die andere „Lade“, was mir gefallen hat. Die Fläche außerhalb meiner primären Geschlechtsmerkmale jedoch wurde selten von ihm beachtet. Zwischen den Animationszentren: nichts. Die Bitte „Massierst du mir meinen Nacken?“ verstand er als eine klare Aufforderung, einmal über meinen Rücken zu streicheln, um mir dann sofort an den Busen zu grabschen. „Ist so wenig Platz dazwischen bei dir“, war dann seine Standardausrede. So war das. Damals. Und wenn ich durch die Linse der Jahre, die seitdem vergangen sind, schaue, waren die Busenmassagen auch ganz schön. Schön wie Schokolade eben. Und geliebt haben wir uns auch. Nur irgendwann sind wir einander irgendwie abhanden gekommen. Und jetzt geht die Post für mich nur mehr auf dem Papier ab. Zu allem schwant mir, dass sich morgen, wenn ich, natürlich nur auf dem Papier, schon wieder ein Jahr älter werde, bereits zum vierten Mal eigentlich keiner so recht um meinen Geburtstag kümmern wird. 23 Uhr 25 Die Kinder sind im Bett, doch wahrscheinlich werden meine Augen die ersten sein, die zufallen. Bin ja auch schon älter. Annas Katze liegt dickbräsig mitten auf meiner Decke
und schnarcht vor sich hin. Damit ich nicht allein einschlafen muss, krieche ich ganz vorsichtig zu ihr und versuche, starr vor Glück, einzuschlafen.
Freitag, 25. August 2000
6 Uhr 20
Will extra zehn Minuten früher aufstehen, weil doch heute mein Geburtstag ist. Interessiert zwar keinen hier, aber für mich ist es ein besonderer Tag. Basta. Ich bin schön. Ich bin toll. Klasse. Ein mutiger Blick in den Spiegel: auffällig geschwungene Brauen, ungezupft, über grau-grün gesprenkelten Augen, die nach Meinung eines katholischen Iren so tiefsinnig blicken, dass sie mich zur Nonne prädestinieren, zu spät, üppige Lippen, die meine Klosterkarriere wahrscheinlich verhinderten, kurz geschnittenes Haar, noch immer natürlich blond, dafür aber fedrig. Zierlicher Körper. Fünf Kilo zuviel, okay, aber die geben mir das Liederliche. Sie signalisieren das unersättliche Element in mir. Zu dumm, dass es keiner zu bemerken scheint. Keiner zumindest, dem ich die Signalwirkung gern mal vorführen würde. Fühle mich aber endlich wohl in meiner Haut. Mit der Einsicht, dass diese niedlichen kleinen Pölsterchen-BHs, die momentan in jedem stinknormalen Kaufhaus zu haben sind, auch den besten ästhetischen Chirurgen ersetzen, kam Zufriedenheit in mir auf. Und wenn diese neckischen Dinger haufenweise in meiner Größe feilgeboten werden, gibt es wahrscheinlich ebenso viele Frauen mit Mandarinenbusen, also haufenweise. Das gebietet die Logik. Und die gibt mir
den Mut, meinen kleinen Body nunmehr aufrecht durchs Leben zu schieben. 6 Uhr 25 Warum dauert es nur immer so lange, bis das Duschwasser warm wird? Schlimm genug, dass der Sommer geht. Zitternd an den äußersten Rand der Duschkabine gedrückt und neununddreißig Jahre alt, warte ich, als ob ich noch viel Zeit hätte. Der Schritt unter die Brause kostet mich Überwindung, doch dann läuft das Wasser in einem warmen Strahl kosend über meine Haut und Haare. Der beste aller Lover könnte nicht zärtlicher sein. Hmhmhm. Verwöhne mich. Ich träume, bis mir die Uhrzeit wieder in den Sinn kommt. Mist. Shampoo ist auch keins da. Gestern stand noch eine volle Flasche hier. Tierische Fülle für feines Haar. Wer es glaubt wird selig. Wer es nicht glaubt, kommt auch in den Himmel. Vielleicht. Tropfend schiebe ich den Duschvorleger unter meinen Füßen in Richtung Kommode. Wird der Boden auch gleich sauber. Praktisch. Handy. Wühle die Schublade durch, das Wasser läuft jetzt von meinen Haaren auf Seifenstücke, Enthaarungscreme, Deos ohne Ende und, was mich erstaunt, auf eine Tube Schuhcreme. Hier liegt auch mein Parfüm, das seit Wochen verduftet war. Ein schönes Geburtstagsgeschenk, es wieder gefunden zu haben, und es riecht auch gleich nach der Dualität des Ingwers, wobei es sich angeblich um die Kopfnote des verruchten Wässerchens handelt. Habe zwar eigentlich weder Ahnung, was „Dualität des Ingwers“ noch was „Kopfnote“ bedeutet, geschweige
denn wie die beiden zusammen riechen sollen, aber was gedruckt steht, hat einen Anspruch auf Beachtung. Jedenfalls, wenn einem der Sinn danach steht. Und das tut er, schon wegen des spontanen Wohlgefühls, das der duale Geruch der Kopfnote in mir hervorruft. Während das Wasser munter aus meinen Haaren in die Schublade läuft, erblicken vier Flaschen Festiger das Licht des Tages. Von Shampoo keine Spur. Also gilt es, sportlich zurück zur Dusche zu skaten und das Haar mit Seife zu waschen. Wird es eben schön stumpf. Das gibt bestimmt Volumen. Gut. Wer weiß, was der Tag noch alles bringt, denke ich fröhlich, um gleich darauf genervt festzustellen, dass die zusätzlichen zehn Minuten nun endgültig mehr als verflogen sind. 10 Uhr 10 Die bisherige Bilanz ist nicht schlecht. Anrufe: drei. Von Eltern, Oma und Opa und von Ex-Schwiegermutter. Nun ja. Dazu Laugen- und Mohnbrötchen an gelber Rose von meinem allein stehenden Nachbarn. Das Parfüm wieder gefunden. Zwei Gutscheine können auch bereits verbucht werden. Die werden morgen zu denen von den Vorjahren gelegt. Wahrscheinlich bringen sie Glück. Sonst bringen sie jedenfalls gar nichts. Aber darauf kommt es schließlich auch nicht an. Wichtiger ist, dass sie Liebe ausdrücken. Und das tun sie. Eindeutig. Habe auch tatsächlich zu den Gutscheinen ein Geschenk von den Kindern bekommen. Es trieb mir die Tränen in die Augen. So lieb verpackt. Was Gebasteltes war es nicht, klar.
Aber extra in die Stadt waren sie für mich gefahren. Haben mir eine CD ihres gemeinsamen Lieblingsrockstars besorgt. Man soll schließlich nur das verschenken, was man selbst gern hätte. Keith Kling. Gefällt mir auch gut. Ein bisschen Rock, viel Sehnsucht und dieses berauschende Gefühl in den unteren Regionen. Wenn der Mann in der Wäscheabteilung eines Kaufhauses gespielt wird, reißen sich die Mädchen um die Dessous. Bin sicher, dass der Umsatz nach oben schnellt. Sollte ich die Verantwortlichen mal drauf aufmerksam machen, wenn ich mir meinen nächsten Busen kaufe. 11 Uhr Eigentlich ist Keith Kling ja eher in meinem Alter, aber was geht es mich an, dass die Jugend auf ihn steht. Heute rockt der Süße durch mein Wohnzimmer, ist verletzlich wie wir normal Sterblichen, oh Babaye trampel nicht auf mir herum, ich halt das nicht aus, die Tür ist offen, geh endlich hinaus. Hat dabei aber keine Angst vor Tod und Teufel und will auch gar nicht alt werden. Doch wer will das schon? Jeder? 12 Uhr Werde die fälligen Übersetzungen heute Abend erledigen. Die Kaffeemaschine gurgelt mir einen herrlichen Caffè Latte, doch gerade als ich mich, bewaffnet mit meiner Lieblingszeitschrift und dem Latte, ins Sofa fletze, klingelt das Telefon. Lea. Die ruft jedes Jahr mit Penetranz zu meinem Geburtstag an. Kann sie nicht leiden. Sie mich übrigens auch nicht. Aber sie
scheint mich zu brauchen, z. B. um mir von ihren tollen Nachbarn zu berichten. Alles Anthroposophen. Privatdozenten. Oder wenigstens Zahnärzte. Schlechtestenfalls Zahnarztfrauen. Arme Lea. Für mich ist der Morgen gelaufen, der Kaffee verdorben, die Latte zusammengesunken. Der Drang, ihr zu sagen, dass sie nervt, dass sie mich schon so oft verraten hat, dass sie mich endlich zufrieden lassen soll, macht beinah meine erste gute Tat im neuen Lebensjahr zunichte: All mein bisheriges geduldiges Zuhören wäre völlig umsonst gewesen. Also schweige ich weiter. Und Lea kann sich ohne Punkt und Komma wieder einmal selbst in den Hörer berichten, wie gut sie es hat. Die Highlights – Hochlichter? Strähnchen? oder einfach: Lichtblicke! – ihres beschränkten Straßenzugs stellen mein gescheitertes Familienglück nämlich locker in sämtliche Schatten. 13 Uhr 40 Die Kinder sind längst zu Hause. Ein Mittagessen ist noch nicht in Sicht. Till hat sich bereits beschwert, dass jemand vergessen hat, sein Bett zu machen. Kann eigentlich nur ich gewesen sein, das ist klar. Werde zum Trost und zur Feier des Tages eine Flasche Sekt öffnen. Jetzt bloß keinen Piccolo. Habe immerhin Geburtstag. Nach dem zweiten Glas sieht gleich alles viel freundlicher aus. Die CD gefällt mir noch viel besser als vorhin. Die einsame Rose lächelt mich vom Esstisch aus an, ist immer noch gelb und bereits reichlich aufgeblüht. Wie die Frauen um die Vierzig. Sehen scharf und reif aus, doch wenn du sie berührst, platzt das Styling ab und die Formen sinken
zu Boden. Bei Männern ist das auch nicht besser. Männer welken wie Laub, Frauen reifen wie Wein. Sach ich mal. Der Sekt ist wirklich lecker, mein Geburtstag fängt eigentlich ganz viel versprechend an. Außerdem ist es noch gar nicht der hässliche runde. Und die Rose ist sogar selbst gepflückt, was nur als ein echter Sympathiebeweis gedeutet werden kann. Doch die Freude darüber geht langsam in Verwunderung über, weil mir in Nachbars Garten noch nie gelbe Rosen aufgefallen sind. Sollte für die Liebesgabe etwa mein eigenes Beet hergehalten haben? 16 Uhr Starre gerade in dem Moment auf die satte Blüte, als sie, wie mit dem Gongschlag, so ziemlich all ihre Blätter gleichzeitig abwirft. Dabei wird mir wieder einmal bewusst, dass die platonische Beziehung zu meinem Nachbarn mir nicht auf Dauer helfen wird, meine Einsamkeit zu besiegen. 23 Uhr 50 Mein Kopf brummt. Der Sekt war schlecht. Befinde mich vor dem Badezimmerspiegel und pule Pickel. Genauer: Ich bearbeite das, woraus einmal Pickel werden. Stelle dabei fest, dass meine Mitesser heute wirklich Spitze sind. Echte Geburtstagsgeschenke, so gesehen. Besonders auf der Nase gibt es eine reiche Ernte. Pickel ausdrücken ist Ejakulationsersatz, würde Frau Schmidt-Weinberger sagen. Denk ich mal. Gehe jetzt besser schlafen!
Montag, 28. August 2000 13 Uhr
Habe Erkundigungen angestellt: Die Rose stammt aus meinem eigenen Garten! 13 Uhr 20 Alle Übersetzungen sind abgeschickt. Für heute herrscht Ruhe. Abgesehen davon, dass die Kinder meckern, weil das Essen nicht fertig ist. Schuldbewusst koche ich drauflos: Kartoffelpüree mit Spiegeleiern. „Geht gerade noch runter“, sagt Kay. Zu nett. Wasche den großen Topf zum tausendsten Mal, poliere das Kochfeld. Der Schriftzug der Herstellerfirma ist schon beinah nicht mehr lesbar, weil weggewienert. Bin da sehr gründlich. 15 Uhr 10 Hannah will zum Rudern, muss beinah zehn Kilometer mit dem Fahrrad fahren … Fußball spielt sie auch. Und sie trainiert mit Hanteln. Ob meine frauenfreundliche Erziehung für ihre Aktivitäten verantwortlich ist? Selbstsicher öffnet sie die Schuppentür, befreit ihr heißes Fahrrad aus dem üblichen Ketten- und Pedalenwirrwarr, während ich spüre, wie mir die Verantwortung wieder einmal über den Kopf wächst. Sollte ich sie an die Elbe fahren? Mache ich alles falsch? Lachend schiebt Hannah das Rad auf mich zu, um mir noch schnell einen Kuss auf die Wange zu huschen.
„Ach ja, Mutti, ich habe vorhin bei Papa angerufen. Der hat uns Kinder morgen Mittag zum Essen eingeladen. Notfall, habe ich ihm gesagt. Das Essen ist nicht so doll hier im Augenblick. Stimmt ja auch. Er hat nur gelacht. Dürfen wir morgen früh gleich das Auto mit zur Schule nehmen? Kay muss auch zur ersten Stunde und nimmt uns mit. Dann können wir direkt von dort los und vertüdeln nicht unnötig Zeit.“
Dienstag, 29. August 2000 22 Uhr
Bin wieder mal nicht fertig mit den blöden Übersetzungen, bin einfach nicht in Stimmung. „Anheimelnde Schnulzen säuseln die Seelen wärmend durch das Hüttendorf.“ Ich fass’ es nicht! Mein Chef! Kann der nicht mal wie ein normaler Mensch schreiben? Allein Schnulze! Shnalzi? Shnulsi? Evergreen? Popular song? Nenene, das ist es noch nicht. Morgen früh um sieben muss der Text vorliegen. „A song full of emotion?“ Mist, kann mich deutlich erinnern, dass ich vor kurzem für genau dieses Wort auf eine gute Übersetzung gestoßen bin. Wie war die nur? Werde Schnulze einfach durch Gassenhauer ersetzen, Gasse: lane, hauen: to hit. Schreibe also „lane-hitter“. Oder „alleychopper“? Nein, sollte meine Arbeit ernster nehmen. Deshalb genehmige ich mir erst einmal ein Glas Sekt. Hmhmhm.
Mittwoch, 30. August 2000 0 Uhr 3
Jetzt ist doch tatsächlich die ganze Flasche leer! Anstelle von Sekt entfließen ihr Wunschbilder, die wie auf unsichtbaren Leinwänden verheißungsvoll im Raum schweben. Vorsicht! Träume sind zwar ebenso wichtig wie das Stück Kindheit, das glückliche Menschen noch im Alter in ihren Taschen mit sich herumschleppen, aber wenn sie wichtiger als die wirkliche Wirklichkeit werden … Also: Vor ungefähr einer halben Stunde klingelte das Telefon. Unser automatischer Gebührenschlucker nahm den Anruf entgegen. „Geh schon ran. Ich weiß, dass du noch wach bist, Mandy.“ Eigentlich heiße ich Amanda. Von amare: lieben, hat mein Papi gesagt. Damals. Bin die Frau, die Mann einfach lieben muss. Hab aber noch nicht viel davon gemerkt. Jedenfalls in letzter Zeit nicht. Egal. Doch woher nimmt Christian die Dreistigkeit, mich noch nach unserer Trennung zu mandyen, frag ich mich, obwohl das eigentlich jeder tut. „Mandy? Ich kenn dich doch. Du stehst bestimmt noch vor der Spülmaschine und machst die Küche sauber. Ich sehe es förmlich vor mir. Oder du bist mit irgendetwas anderem in Verzug. Drei Tage zu spät dran mit irgendwelchen unterbezahlten journalistischen Arbeiten. Oder mit einer dieser dämlichen Übersetzungen. Kämpfst gegen, wie heißt das?, Interferenzen oder so. Falsche Freunde.“ Dabei ahmt er eindeutig meine Stimme nach. Das ist eine Frechheit! Könnte ihn schon wieder würgen. Doch er gibt nicht auf: „ ‚Ich muss mal pieseln‘ heißt auf Englisch ‚I have to powder my nose‘ “. Ich sehe Christians anziehendes Gesicht vor mir.
Es lacht. Er scheint sich wirklich königlich auf meine Kosten zu amüsieren. Hahaha. „Mandy? Also spätestens jetzt bist du wach. Oder hast du einen Loverboy unter der Decke? Süße, komm, geh ran … Ich brauch dich.“ Das zu sagen, war unfair. Habe prompt einen Kloß im Hals. Kloß: Dumpling. Klos: toilets, lavatories. Puderräume? Im Hals? „Christian?“ „Na endlich. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, nachträglich. Tut mir Leid, ich hab’s vergessen.“ „Schon okay. Kann passieren.“ Ist ja nicht das erste Mal, denke ich. „Die Kinder haben mich daran erinnert. Dafür, dass mein Glückwunsch so spät kommt, hast du einen Wunsch frei.“ „Vor zwei Jahren hast du mir Enthaarungscreme geschenkt. Auf der Packung fand ich einen handschriftlichen Vermerk von dir: ‚Für deine Zähne.‘ Hast du das vergessen?“ „Das ist lange her. Weißte doch selbst. Ich möchte dir gern etwas schenken, worüber du dich freust. Außerdem sollst du es auch gar nicht aus Höflichkeit oder Sympathie bekommen. Habe nämlich eine Riesenbitte an dich.“ Aha. Deshalb braucht er mich. Bin wieder einmal auf sein Gesäusel hereingefallen und könnte mich ohrfeigen. „Schieß los“, entweicht es mir deshalb burschikos. „Also, Mutti muss morgen Vormittag in die Klinik gebracht werden. Kannst du das für mich übernehmen? Ich schaff es nicht.“ Die Ex-Schwiegermutter meiner Freundin brachte ihr zweimal wöchentlich die dreckige Wäsche ihres geschiedenen
Sohnes vorbei, als der auf Kur war, schießt es mir durch den Kopf. Die Mamma des Ex klingelte für diese Übung noch nicht einmal bei meiner Freundin. Gunda fand einfach regelmäßig einen randvollen, muffelnden Plastiksack vor der Tür. Dessen Inhalt schleppte sie dann gewaschen, gebügelt, fein gefaltet und wohlriechend in einer hübschen Tasche in das Sanatorium zurück. „Klar tu ich das“, hörte ich mich hilfsbereit sagen. „Gern. Was fehlt denn der alten Dame?“ „Eigentlich nicht viel. Sie hat ein Ulcus Cruris, einen Weichteildefekt am Unterschenkel. Ich wollte die Versorgung eigentlich gleich in der Praxis erledigen, aber eine plastische Deckung scheint doch nötig zu sein.“ Ulcus Cruris? Weiß schon: Ein venöses Geschwür oder so. Bin schließlich nicht umsonst jahrelang Arztfrau gewesen. „Am Unterschenkel? Die Arme.“ „Ruf sie doch morgen früh so gegen sieben an und kläre alles Weitere mit ihr selbst, ja? Bitte!“ Gegen sieben. Oh nein. Die Kinder. Und ich muss doch auch noch mit dem Hund los. Und mich ein bisschen aufbrezeln. Meine Haare sind schon wieder reichlich dran. Na ja anrufen heißt noch nicht losfahren. „Wann soll sie denn im Krankenhaus erscheinen?“ „Ach, da hast du viel Zeit. Gegen neun reicht.“ Gott sei Dank. Erst um neun! Moment. Oh nein! Am Morgen fahre ich eine Stunde zu ihr. Mindestens. Von dort zum Krankenhaus brauchen wir eine weitere halbe Stunde. Verdammt. Ich wasch mir jetzt besser gleich die Haare. Wenn die Übersetzung fertig ist.
„Mandy? Bist du noch dran?“ „Hmhhh.“ „Ich weiß, dass es stressig wird. Ich lade dich dafür zum Essen ein. Du darfst aussuchen, wohin wir gehen. Wir haben uns so lange nicht gesehen.“ Christian raspelt wieder einmal Süßholz wie ein fleißiger Koch das Fleisch einer Kokosnuss für sein Lammcurry! Baaaaahhh! Und ich bin lange genug das Lamm gewesen. Warte, du Früchtchen! „Also gut. Okay. Gehen wir zusammen essen. Und zwar jüdisch.“ Billig will ich es ihm schließlich nicht machen. Er soll ruhig ein bisschen leiden. „Ich möchte in das neue sündhaft teure jüdische Restaurant, von dem ich neulich las. Wenn du magst, finde ich die genaue Adresse für uns heraus.“ „Gute Idee. Der Laden ist Spitze, das Essen superlecker. Hast du noch einen anderen Wunsch? Ich würde ihn dir gern erfüllen.“ Er war also schon dort, denke ich und beneide ihn in diesem Augenblick um seine vielen Freiheiten. Der Neid macht mich wütend und er lenkt mich ab. Deshalb bin ich nicht auf der Hut und höre mich abwesend antworten: „Eine rote Rose. Wie im Schlager. Kannst du mir mitbringen. Und Schokolade.“ Verdammt. Schoko und Lade. Wie konnte ich das sagen? Fast greifbar entsteigt das Grinsen dem Hörer, als er genüsslich sagt: „Die bringe ich dir besonders gern, Mandy. Besonders gern.“ Sich räuspern hat noch nie geschadet.
„Also“, Räusper, „wann und wo treffen wir uns?“ „Je eher, desto besser. Ich habe Sehnsucht nach dir.“ Oh nein. Ich muss aufpassen. Er ist mir noch immer so furchtbar vertraut. „Hör auf.“ „Wenn du meinst. Also Montag?“ Montag? Wieso Montag?, schießt es mir schmerzhaft durch den Kopf. Was macht er am Wochenende? Wenn ein Typ dir nur seinen Montagabend opfert, bist du ihm ziemlich schnuppe. Das weiß doch jede, die mit der einschlägigen Frauenliteratur vertraut ist. Amanda, hüte dich. „Montag ist wunderbar“, verkündet meine liebevolle Stimme. „Ich hole dich ab. Bei uns zu Hause.“ Bei uns zu Hause? Dass ich nicht lache. „Um 20 Uhr. Ich bestelle uns einen Tisch. Mach dich schick.“ Jetzt ist mir ein lautes Lachen vergönnt. „Schick? Du meinst als Schickse in dem jüdischen Lokal?“ „Was ist eigentlich eine Schickse?“ „Eine nicht-jüdische Frau. Vom Standpunkt der Juden aus. Eine Jüdin vom Standpunkt der Nicht-Juden aus. Für manche auch einfach ein Flittchen.“ „Ach so. Naja. Okay. Als Flittchen fänd ich gar nicht mal so übel. Eigentlich. Also, bis Montag. Vielleicht sehen wir uns ja auch morgen in der Klinik. Ich komme so schnell ich kann. Schlaf gut.“ „Schlaf gut.“ Ohoh! Fürchte, deine Ex-Frau würde dir morgen gern im Krankenhaus begegnen. Immer noch. „Mandy?“
„Hmhhh?“ „Ich wäre jetzt gern bei dir“, haucht er durch den Hörer direkt in mein Ohr. Das ist eine Frechheit! Mein therapiegeschulter Wille kratzt, nun endgültig alarmiert, den aphrodisischen Schmelz von seiner Stimme und kontert: „Du bist so ein richtiges Ekelpaket! Hast du vergessen, wie weh es mir getan hat, als du dir dein Sprungbett in die SingleGesellschaft suchtest?“ Doch leider hat er sich bereits verabschiedet. 2 Uhr 17 Kann nicht schlafen, zähle Schäfchen und Wölkchen und grüble, bis ich es nicht mehr aushalte und Clara anrufe. Sie klingt müde. „Hast du geschlafen? Entschuldige.“ „Ha. Ha. Du warst schon mal komischer. Was ist los? Lass mich raten: Du hast einen neuen Loverboy! Keith Kling oder so. Mindestens. Sonst gnade dir Gott.“ „Sehr witzig. Du, ich habe lange mit Christian telefoniert. Er will mit mir essen gehen. Na ja, ich soll ihm dafür einen Gefallen tun. Seine Mutter in die Klinik bringen.“ „Klingt nicht so gut, wenn du mich fragst.“ „Die Atmosphäre während des Gesprächs war aber eindeutig erotisch … Jedenfalls streckenweise.“ „Wann will er sich denn mit dir treffen?“ Ich weiß, was sie denken wird, sie hat die Bücher auch gelesen, und druckse kleinlaut:
„Montag.“ Andächtige Pause. Könnte sie würgen. „Aber immerhin am Abend.“ Offenbar hält sie die neueste Entwicklung im ehemaligen Ehehafen für belanglos und grunzt: „Wow. Kann ich jetzt weiterschlafen? Fliege nämlich in fünf Stunden nach New York. Das sage ich dir nur für den Fall, dass du es vergessen hast.“ „Feiv Äeidsch Wan Tih: SHIT. Entschuldige. Schlaf schnell weiter. Und komm heil zurück.“ „Nacht, geliebte Prinzessin. Und halt mir die Daumen, dass ich den Deal mache.“ „Klar, ’türlich!“ Um welchen Deal es wohl diesmal geht? Clara ist unglaublich erfolgreich. So ’ne Art Gegenstück zu mir. Sie kann alles, sieht toll aus und hat offenbar das rechte Gespür für neue Trends. Zu allem Überfluss versteht sie es, diese Fähigkeit in Gold umzusetzen: Auf Grund ihrer trendigen Tipps entscheiden globale Konzerne, was zu produzieren, was zu bewerben und was kurzzeitig vom Markt zu nehmen ist, damit die Nachfrage steigt. Im Augenblick behauptet sie, im nächsten Jahr wird russische Folklore angesagt sein. Also, weiß ja nicht recht, aber wenn die geldpotenten Meinungsbastler ihr erst einmal zugestimmt haben, wird es schon wahr werden. A self-fulfilling prophecy. Hab zwar keine Ahnung, wie das in deutschem Deutsch heißt, gönne ihr den Erfolg aber von Herzen, solange ich keinen Kosakenkittel tragen muss. Vielleicht lege ich mir aber schon mal prophylaktisch eine Balalaika zu und krame die alten Zar-Peter-der-GroßeVideos hervor.
2 Uhr 21 Geselle mich zu meinen falschen Freunden an den Schreibtisch. 4 Uhr Die Arbeit ist erledigt. Habe die schwierigen Sätze einfach ausgelassen. Merkt sowieso keiner. Shnalsi, so ein Quatsch. 6 Uhr 45 Halleluja! Habe noch fast eine ganze Stunde gepennt und bereits acht Schulbrote gestrichen, die Viecher – als da im Augenblick sind: ein Hund, eine Katze, zwei Schildkröten … – gefüttert, war mit Heduda Straßi und habe mich von zwei frustrierten Hundehalterinnen anschnauzen lassen. Die beiden marschierten groß und blond und alt über die Wiese. Die eine führte einen Afghanen an der Leine, der anderen gehörte eine kläffende, umgebaute Katze, die keine Leine zu besitzen schien. Weil die Weiber zögernd mit ihren heiligen Hunden stehen blieben, rief ich ihnen, nett wie ich bin, von weitem zu: „Meine ist ganz lieb.“ Die mit dem Afghanen, dessen Mähne jetzt herrschaftlich im Wind wogte, kläffte zurück, als hätte sie nur auf meine Höflichkeit gewartet: „Wenn ich das schon hör! Meine ist ganz lieb.“ Dabei äffte sie mich nach, was ich herzig fand und woran ich mich bereits zu gewöhnen schien. Und während ich noch bemüht war,
meine Gefühle herunterzufahren, um mir keine Blöße zu geben, heulte die Hundefrau los: „Ich kann meine aber nicht halten. Was denken sich Menschen wie Sie eigentlich?“ Das klang barsch und ein wenig so, als ob ich an ihrem Problem schuld wäre. Bin ich aber nicht. Schnell stellte ich mir das Gesicht von Frau Schmidt-Weinberger vor und ertappte mich bei dem Wunsch, folgende Sätze cool durch meine Lippen zu pusten: „Traurig, dass Sie Ihren Köter nicht im Griff haben! Wie wäre es mit einschläfern?“, nahm meine Süße aber doch lieber ohne ein weiteres Wort an die Leine, in der Hoffnung, so ungeschoren an dem Kläffer vorbeimarschieren zu können. Da sauste plötzlich der Mini-Köter der zweiten Gassigeneralin wie ein versehentlich abgefeuertes Geschoss hinter Heduda her und machte grundlos knurrend Anstalten, meiner Süßen hinterhältig in die Hacken zu beißen. Sein Frauchen meckerte dazu mit mir und fühlte sich offenbar ganz im Recht. Heduda hätte sich nur einmal kurz umdrehen müssen, den Köter packen und ihn ein wenig totbeuteln. Bei dem Gedanken, dass mein Hund das anscheinend nicht nötig hat, tut mir das dumme Weib mitsamt ihrem psychischen Winzling nichts als Leid. Ob ich ihr mal die Adresse von der Weinbergerin zustecken sollte? Mein lächelnder Abstand lässt mich spüren, wie mir die Spaziergänge lockerer aus den Beinen gehen, seitdem ich erkannt habe, dass es sich bei dem Kollektiv der ansässigen Hundehaltenden auch nur um ein weiteres Soziotop handelt.
Bin mittlerweile völlig überdreht, kribbelig, käferig, auf Deutsch: hyper. Jachtere deshalb wie ein Wiesel durchs Haus, um noch möglichst viel zu erledigen, ehe ich gleich zur ExSchwiegermutti loshetze. Dabei ahne ich Ungesundes: Sollte es heute etwa schon wieder Fertig-Pizza geben? 15 Uhr 32 Es sollte. 23 Uhr Sitze am Schreibtisch. Uff. Nach der letzten Nacht bin ich fertig – nur nicht mit den Übersetzungen. Vorhin habe ich mir etwas vorgenommen: Für den Fall, dass ich mal Zeit habe, werde ich mir eine CD mit nichts drauf kaufen. Dann setze ich mich in einen Sessel und werde sie stundenlang hören. Sehne mich nach Ruhe, bin erschossen. Shot. Fünf Stunden war ich mit Schwiegermutti unterwegs. Wie zur Belohnung bin ich wenigstens dem heißesten aller silber-grauen Bürstenschnittdynamiker begegnet. Die Worte mit ihm haben meinen Tag gerettet. Von Christian keine Spur, außer im Fahrstuhl und auch dort nur vielleicht. I ♥ Christian hat jemand neben die Knöpfe für die Stockwerke geritzt. Alle Frauen lieben ihn. Das kann ganz schön nerven. Gut, dass es mich nun nichts mehr angeht! Da stehe ich schon lange drüber. Sollen die doch schreiben, was sie wollen! Das ist mir völlig schnuppe! Doch wer das wohl geschrieben hat?! Schnuppe! Hab schließlich heute auch geturtelt.
Wer diesen Übersetzungsmist geschrieben hat, ist immerhin klar. Könnte ihn wieder einmal würgen. „Diese Masche wurde im Keim erstickt.“ Strickmasche ist stitch, im Sinne von Schleife ist Masche bow. Klar, auch das sind alles hübsche falsche Freunde. Dann die Erleuchtung: Etwas im Keim ersticken heißt „to nip something in the bud“, in der Blüte abkneifen. Bin so genial. Ha! Selbst Schnulze fällt mir nun wieder ein: a tear jerker, ein Tränenwerfer. Und dann gibt es noch ein Wort wie croon oder so. Na ja, sowieso zu spät. Warum benutzt der Typ bloß immer Ausdrücke, die so schwer in Wörterbüchern zu finden sind? Stapel dieser klugen Schinken – ham? – liegen nutzlos um mich herum und verstauben. Oder ist das Alphabet nicht mein Freund und ich finde deshalb nichts in den Wälzern? Vielleicht kann ich auch gar nicht richtig lesen. Möglich wäre es: Vorhin bei der Anmeldung meiner Ex-Schwiegermutti in der Klinik saßen Massen von Menschen beiderlei Geschlechts vor den gläsernen Hühnerkäfigen der drei zuständigen Sekretärinnen. Einen männlichen Sekretär gab es selbstverständlich nicht, was ich bemerkenswert fand. Meine Gedanken schweiften umher, während meine Füße das abgelenkte Gehirn vorantrugen. Kann nicht sein, dass all die Wartenden in die Hühnerkäfige wollen, dachte ich und betrat entschlossen den einen, der frei war. „Kann ich hier meine Schwiegermutter anmelden?“, fragte ich höflich und fügte sicherheitshalber „einfach so?“ hinzu. „Ja“, knurrte die Sekretärin hinter ihrer hübsch bemalten Migränefassade.
Ich setzte mich und wir hatten bereits mit der lästigen Prozedur begonnen, als hinter mir die Tür aufflog. „Die ist gar nicht dran. Meine Nummer ist jetzt dran.“ Eisige Stille. Die Migränefassade drohte zu bröckeln. „Also, ’ne Nummer habe ich nicht“, sagte ich schnell und es klang beinah ein wenig zu freundlich. Aus ihren Augenlöchern sandte die Schmerzmaske verächtliche Drohsignale. Ich räusperte mich und trat den Rückzug an. Vor der Tür starrten ’zig Augenpaare wütend auf mich. „Ich konnte es doch mal versuchen“, hörte ich laut und deutlich meine Stimme und fand das komisch, während die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Dann entdeckte ich den Nummernautomaten und ließ mich zur Nummer 04 degradieren. Merkwürdig. So viele Wartende und die Nummer kleiner als zehn. Ich grübelte noch, fürchtete, schon wieder etwas falsch gemacht zu haben, als mir eine Frau wütend aus ihrem Sessel entgegensprang. Sah gar nicht hübsch aus. „Und das will ich Ihnen auch mal sagen: Wie Sie da parken, ist auch eine Unverschämtheit. Da haben sich schon alle drüber aufgeregt. Da können ja die Sanitätsfahrzeuge kaum noch durch.“ Die haben dort allerdings auch nichts zu suchen. Ich versuchte dennoch höflich zu bleiben: „Aber meine Schwiegermutter ist sehr alt, krank und stark gehbehindert. Und sie hat Schmerzen. Wie sollte ich das sonst machen?“ „Hab ich gesehen. Aber wie Sie da parken, das ist ’ne Frechheit. Dürfen wir ja auch nicht!“
Gut, dachte ich, nächstes Mal bestellen wir einen Krankenwagen und lassen die Kasse Hunderte blechen. Wenn das gesellschaftlich akzeptierter ist: bitte. „Sind Sie denn alle vor mir dran?“, fragte ich ungläubig, kleinlaut und noch immer verwirrt durch meine niedrige Nummer. „Wir alle“, ertönte es sofort höhnisch und irgendwie von oben herab im Chor. „Aha. Dann gehe ich jetzt erst einmal in Ruhe den Wagen umparken“, verkündete da lässig mein Stolz, denn er gönnte ihnen den Spaß an dem Genuss der eigenen Moralität bzw. dessen, was sich dafür ausgab, nicht. „Wo hängt eigentlich der Nummern-Bildschirm“, fragte ich mich. „Aha: 68. Anzeigekapazität: zwei Stellen. Das bedeutet, nach 99 geht es wieder von vorn los. Ach so. Auweih.“ Beim Hinausgehen bohrte sich eine schrille Stimme in meine Ohren: „Und die Nummern hier sind sowieso alle durcheinander!“ Interferenzen den ganzen Tag. Nicht nur bei den blöden Nummern. Wäre ich doch Amerikanerin, Australierin, Engländerin. Dann müsste ich keine Übersetzungen mehr machen und mir würde die eigene Sprache genügen. Die Muttersprachler, native Speakers, eingeborene Sprecher, machen es sich bekanntermaßen so oft so wunderbar leicht, indem sie davon ausgehen, jeder hätte ihre Sprache zu sprechen. Sollte ich einmal einem Engländer oder Ami begegnen, der den Mut hat, deutsch mit mir zu sprechen: Wow, der könnte mir gefallen! An dem könnte ich viel Freude haben. Das wäre schön. Doch wo ist er?
Donnerstag, 31. August 2000 1 Uhr 59
Kann nicht schlafen. Am liebsten, na ja. Aber mit wem? Christian? Uff! Stehe auf, gehe barfuß die Treppe hinunter und lege meine Geburtstags-CD auf. Keith Kling! Gott, der Mann hat eine Stimme wie purer Sex. Wie eine sanfte Welle reibt sie über meine erogenen Zonen. Erlaube mir kurzzeitig, mich der Vorstellung hinzugeben, wie diese Welle in türkisblauer Einsamkeit den elfenbeinweißen Strand einer verträumten Bucht leckt. Oh, Keith! Wir alle, alle deine Fans, egal ob Mann oder Weib, dürfen dich, den wir doch gar nicht kennen, lieben bis in alle Ewigkeit. Dagegen kannst du gar nichts tun! Oder doch? Beinah übergangslos beginnt er, einen rockigen Titel herauszureiben. Torkele, mit einem Pfefferminztee bewaffnet, wieder ins Bett. Und kann noch immer nicht schlafen. 14 Uhr 15 Bin völlig übermüdet. Aber es geht mir ausgesprochen gut, deshalb lasse ich die Espressomaschine gurgeln und überlege, welchen Unsinn ich heute noch anstellen könnte. 15 Uhr 21 Werde noch schnell in die Stadt fahren, weil mir die Antifaltencreme ausgegangen ist. Vor der Haustür entdecke ich, dass Kay ohne zu fragen mit dem Auto verschwunden ist. Zögerlich schleppe ich mich zur Bushaltestelle, denn der Plan,
einzukaufen, ist nun einmal gefasst und meine Haut scheint zudem täglich größer zu werden. 15 Uhr 43 Als der Bus endlich kommt, ist er brechend voll. Gewollt gleichmütig quäle ich mich in dem stickigen Gang vorwärts. Ein junger Mann lächelt mir neckisch zu. Was für ein schöner Tag und das ganz ohne Faltencreme, denke ich geschmeichelt, während er mich doch tatsächlich anspricht. Mein Herz macht einen Hüpfer. „Bitte setzen Sie sich“, sagt er und steht auf. Verletzt starre ich auf das Symbol an der Fensterscheibe, das den mir angebotenen Sitz als für Behinderte und Alte zu räumen vorschreibt.
Freitag, 1. September 2000
Vor 17 Uhr
Frühstück. Schulbrote. Wäsche. Hund. Einkauf. Wäsche. Wäsche. Falsche Freunde. Mittagessen. Wäsche. Copy-Shop. Wäsche. 17 Uhr 10 „Papa hat vorhin angerufen. Er will uns alle mitnehmen. Ins Keith-Kling-Konzert! Er wollte eigentlich mit irgendwelchen Freunden gehen. Jetzt haben die aber doch keine Lust. Oder Zeit. Oder was weiß ich. Deshalb dürfen wir mit. Toll, nicht?“ Kay grinst über alle vier Backen.
„Kim hat auch eine Karte. Wir wollen alle zusammen im VW-Bus fahren.“ „Wer: wir?“, presse ich hervor und habe Hoffnung, auch gemeint zu sein. „Na, Papa und Hannah und Till und Anna und ich. Und natürlich Kim.“ „Ach so.“ Kays Freundin Kim ist mit von der Partie. Nur mich küsst wieder einmal die Wohlfahrt. Luja, sssog i! „Würdest du auch gern mitkommen? Vielleicht kriegt er ja noch ein Ticket.“ „Ne, lass mal lieber, ist schon gut.“ „Dann hat er noch gesagt, ich soll dir sagen …“ Warum klopft mein Herz jetzt? Hört das denn niemals auf? „Was? Sag schon!“ „ … das mit Montag klappt nicht. Tut ihm Leid. Er ruft dich in den nächsten Tagen an.“ Eine Träne in meinem Auge lässt mich verschämt zu Boden gucken. „Naja. Wer nicht will, der hat schon. Ist ja nur euer Vater. Haben ja nur zwanzig Jahre miteinander verbracht.“ „Mutti …“ Kay nimmt mich tatsächlich in den Arm. „Alles in Ordnung. Sollte mich langsam damit abfinden“, schniefen meine Worte in sein Ohr, und bei dem Versuch, den Inhalt meiner Nase noch einmal hochzuziehen, fange ich an, wie ein Schlosshund zu weinen. „Scheiße. Verdammt.“ „Vielleicht hat er wirklich keine Zeit.“ Kay ist heute sehr lieb. Das allein sollte mir das würgende Gefühl wert sein. „Wann ist denn das Konzert?“ „22. September.“
„Herbstanfang.“ „Was?“ „Herbstanfang. Da fängt der Herbst an.“ Hannah kommt die Treppe heruntergewieselt. Sie sieht aus wie ein Himbeereis mit Sahne. Endlich glücklich mit fast vierzig hin, endlich glücklich mit fast vierzig her: In dieser Sekunde käme mir ein Tausch mit ihr sehr attraktiv vor. So jung. So frisch. So unbeschwert und sämtliche Horizonte stehen noch weit offen. „Kay, ich soll heute Abend Cola und so zu ’ner Fête mitbringen. Kommst du eben mit mir zum Einkaufen?“, flötet sie. „Jetzt? Warum?“ Seine Stimme wirkt zäh wie ein lang gezogener Kaugummi. Seine Mimik ein shit-eating-grin, was ich mich schäme, auf Deutsch zu sagen. „Ich brauche deine harten Muskeln zum Tragen. Außerdem können wir doch schnell das Auto nehmen. Sonst muss ich mit dem Bollerwagen los.“ „Das geht wohl mit dem langen Rock nicht, was?“ „Doch. Aber nun komm schon.“ Unverfroren grinsend spielt er seinen Trumpf aus: „Sach mal, brauchst du bloß meine Hilfe beim Schleppen? Oder solltest du vielleicht auch meinen Personalausweis benötigen? Für Cola und so, meine ich?“
Mittwoch, 6. September 21 Uhr weiß nicht wieviel
Nichts passiert. Nur Wohnen, Wischen, Waschen. Zu allem Überfluss, welch passende Wortwahl, fließt meine Periode
so stark, dass es mir vorkommt, als beabsichtige mein Körper, meine Gebärmutter neu zu tapezieren. Im Augenblick ist er gerade dabei, die alten Tapeten rauszuschmeißen. Mein Bauch ist aufgedunsen und tut weh. Allein bin ich auch. Clara ist noch immer in New York. Bei ihr weiß man nie, wann sie wieder erscheint. Verklickert ihren Meinungsmachern gerade, dass sie nun Nastrowje statt Cheers zu sagen haben und anschließend die teuren Kristallgläser über ihre Schultern werfen müssen. Wahrscheinlich werden mit der neuen Sitte auch preisgünstige Gläser den Ton angeben. Produzieren, Leute, produzieren! Sie weiß, was angesagt sein wird. Ihr müsst nur mitziehen. Ihr seid die spindoctors. Ihr injiziert die Sucht nach dem neuesten Dreh, dem neuesten Trend in die Gesellschaft, wie die Ärzte die heilende Droge in den Keislauf Nur Mut! Nur los! Der Konsument zahlt für alles! Für mich hat kein Mensch Zeit. Gunda. Ja Gunda. Die scheint im Augenblick auch zu beschäftigt. Naja, also ehrlich gesagt ist es meine Schuld, dass wir nichts mehr voneinander hören. Sie hat ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann, das mag ich nicht. Der Typ besitzt einen blühenden Malereibetrieb und gemeinsam tapezieren die beiden wahrscheinlich gerade auch Gundas Uterus neu. Pfui! Kann sie doch nichts dafür, dass ich Bauchschmerzen habe. Fies, ich bin fies. Soll ja vorkommen, bereits normal sein, dass Ehe wertlos ist, aber mit ihrem Lebenswandel entspricht Gunda momentan so sehr meinem langjährig genährten Feindbild, dass ich Probleme habe, mit ihr zu sprechen, dass unsere Freundschaft droht, in die Brüche zu gehen.
Das ist der Stand der Dinge. Gunda auf feindlichem Gebiet, Clara in New York, bleibt mir nichts, als der Wahrheit meines inneren Spiegels ins Auge zu blicken: Ich bin allein, voller Selbstmitleid, alt, vom Leben abgeworfen. Quatsch! Männer haben mich immer gemocht. Werde schon noch einen Freiwilligen finden. Gibt’s doch wie Sand am Meer. Irgend so ein leckeres Häppchen. Vielleicht sollte ich es mal ohne Emotionen versuchen. Mir nehmen, was ich brauche. Bin zudem einigermaßen versorgt und eigenständig. Besitze BHs mit Pölsterchen und einen Internet-Anschluss. Bin voll auf der Höhe der Zeit. Meiner Zeit. Was kann mir schon passieren? Und wenn ich jetzt aufhöre, Pickel zu pulen, werde ich morgen auch ganz nett ausschauen. Blöder Spiegel. Hölleninstrument. Hm! 22 Uhr 4 Wäre das Leben leichter ohne Spiegel? Oder schwerer? Was, wenn meiner in den Müll wanderte und die anderen ihren behielten? Das würde zu einer unfairen Verteilung sämtlicher Ausgangspositionen führen. Ich glaube, ich werde den Spiegel behalten.
Donnerstag, 7. September 2000 11 Uhr
Heute flutschen die Übersetzungen nur so über den Bildschirm. Merkwürdig. Heute kann er schreiben, was er will, mir fehlen die Worte nicht. Da steht: „Er verhedderte sich.“ Ich hämmere in die Tasten: „He got his knickers in a twist.“ Er hat
sein Höschen vertüdert. Aber passt das, kann man das sagen? Schließlich ist hier von einem Politiker die Rede. Egal! Soll der doch besser aufpassen. Bin so gut heute! Ist der Bann gebrochen? Beginnen nun die fetten Jahre? Kaum zu glauben: Sogar ein gesundes und leckeres Mittagessen wartet bereits, pffff, pffff, wohlriechende Wölkchen ausstoßend, im Ofen auf die Kinder. 13 Uhr 10 Kay, Hannah, Anna, Till und natürlich Kim treffen fast gleichzeitig hier ein. Und niemand hat vergessen, Essen zu kochen … Muss mich selber loben: Bin echt Klasse. Ein demotivierender Blick in den Ofen offenbart allerdings, dass meine Bemühungen knochentrocken und zudem eher dunkelbraun sind. Also wird Anna zum Pizzakaufen geschickt. Kann passieren. Bin schließlich keine Kochmaschine. 16 Uhr 55 Hannah geht gerade zum fünften Mal an diesem Nachmittag mit Heduda Gassi. Straßi? Waldi? Seltsam und ich habe das dumme Gefühl, ich sollte in nächster Zeit gut auf sie aufpassen. 18 Uhr 45 Telefon. Bestimmt für die Kinder. Warum geht denn wieder keiner dran? Warum antwortet denn nicht wenigstens der
AB? Sollte der sich etwa mit den Kindern verschworen haben und genau wie sie das Klingeln ignorieren? Ich geb auf und nehm den Hörer ab. „Amanda Bierschwall“, schnaufe ich in die Muschel und es klingt wie immer albern. Blöd. Für meinen altbackenen Vornamen kann ich nichts. Unter dem habe ich schon als Kind gelitten, aber für Bierschwall … Also für Bierschwall trage ich die Verantwortung und dieser Name schlägt Amanda um Längen. Als Christian damals wie ein strahlender Komet in meine Umlaufbahn flog, wollte ich zunächst gar nicht glauben, dass er tatsächlich einen so geruchsintensiv bildhaften Namen trägt. Schrecklich. Doch dann, als er mir seinen förmlichen Heiratsantrag machte, floss mein Geschmack dahin wie Hopfenbrause nach dem Anstich. Und plötzlich fühlte ich mich überaus stolz, von Christian diesen großartigen Familiennamen angehängt zu bekommen. Na ja. Als wir uns dann scheiden ließen, blieb er mir erhalten, dieser Kometenname, weil ich nicht anders heißen wollte als die Kinder. So trägt Frau Bierschwall heute den ungeliebten Namen eines Mannes, mit dem sie eigentlich nichts mehr zu tun hat. Den Namen eines Mannes, der ihr eine Einladung verspricht, nur um sie dann wieder auszuladen. Der seine Kinder mit ins Konzert nimmt und dabei nicht an sie zu denken scheint. „Hier auch Bierschwall“, meldet sich Christian und es klingt animierend und irgendwie ganz selbstverständlich. Dabei hat Frau Bierschwall ihren Ex-Mann so lange nicht gesehen, dass sie sich nicht einmal sicher ist, ob seine Stimme überhaupt noch einen Körper besitzt. Aus dem Hörer flötet es munter weiter:
„Tut mir Leid wegen neulich. Es ging wirklich nicht. Ich musste spontan als Redner auf einem Kongress in Wiesbaden einspringen. Bin ganz schön ins Rotieren gekommen.“ „War nicht schlimm. Hat bloß ein wenig wehgetan. Hättest du mir auch persönlich sagen können. Nur so als Tipp. Für andere Beziehungen.“ „Bist du mir böse? Komm. Kennst mich doch. Hatte einfach zuviel Stress.“ „Okay. Gegessen. Was willst du? Mich doch noch zum Essen einladen? Musst du nicht. Hab Muttern gern ins Krankenhaus gefahren. Hab ihr gern geholfen.“ „Du hast auch mir geholfen. Aber ich möchte dich nicht deswegen einladen. Weißt du, manchmal fehlst du mir so. Mit niemandem kann ich so reden wie mit dir.“ Schluck. „Ich habe einen Geburtstagswunsch. Kommst du morgen mit mir zum Segeln? Übers Wochenende?“ „Du hast doch gar nicht Geburtstag“, stottere ich und bin froh, dass er nicht sehen kann, wie rot ich dabei werde. „Jeder hat irgendwann Geburtstag. Kommt doch nicht drauf an, wann. Komm, sei kein Frosch. Wäre doch so schön. Wie früher. Du.“ Heute scheint er beim Sprechen förmlich zu gurgeln. „Weiß nicht …“ „Hast du einen anderen? Du betrügst mich doch nicht etwa?“ Jetzt kokettiert er hoffentlich, durchfährt es mich, während ich das in der Therapie bei Frau Schmidt-Weinberger gelernte Kommando aufrufe: Emotionsebene von Sachebene trennen! Also Emotionsebene: Was immer ihn dazu treibt, mich
einzuladen, ich habe Lust mit ihm zu fahren. Alles andere wäre Lüge. Und die Sachebene? Wo ist bloß die Sachebene? Ein Wochenende mit ihm auf dem Schiff, das uns einmal gemeinsam gehörte, würde sämtliche Narben wieder aufreißen. Sollte nicht fahren. Also: Ich fahre! Verzeihen Sie bitte, Frau Weinberger. Mein Entschluss soll den Erfolg Ihrer Therapie nicht herabwürdigen. Der Hörer rutscht bei diesen Gedanken in meiner feuchten Hand hin und her. Bis ich tief Luft hole: „Ja, ich komme gern mit.“ Vorsichtshalber füge ich aber gleich hinzu: „Aber mit Sex ist Pustekuchen.“ Nein!!! Pustekuchen … Wie konnte mir das Wort in diesem Kontext über die Lippen rutschen? Christian hat hell aufgelacht und kann sich gar nicht wieder einkriegen. Bin eindeutig eine Idiotin. Ich hasse mich. Bin so naiv. Nein, ich hasse mich nicht, bin toll. Basta. Warte, bis ich endlich höre, wie er tief Luft holt und wieder sprechen kann. „Pustekuchen! Höhöhö!“ Er meckert wie eine ausgedörrte Ziege. „Pustekuchen ist gut. Das musst du selbst zugeben. Also, holst du mich morgen in der Praxis ab?“ „Ja, aber ich komme mit Bus, Bahn und Bein. Können wir mit deinem Wagen fahren? Dann haben die Kinder den VW und sind mobil und in Sicherheit.“
Freitag, 8. September 2000 15 Uhr
Wäsche alt, Wäsche neu, Wäsche nass in der Maschine, Wäsche nass in der Schüssel, Wäsche trocken im Trockner, Wäsche trocken auf der Leine. Einkaufen. Übersetzen. Wäsche.
Mittagessen. Geschirrberge, nicht nur von heute. Spülmaschine randvoll, manches sauber, anderes bereits dreckig dazugestellt. Kinder. Meine Süßen. Heute macht mir das alles gar nichts aus. Packen. Was soll ich mitnehmen? Nichts zu essen. Soll er organisieren. Mich drängt er nicht wieder in die alte Rolle hinein. Nicht so schnell jedenfalls. Oder besser nie mehr. Ist mir schlecht bekommen. Schön will ich sein. Und unabhängig. Und sexy. Und wenn es regnet, darf ich nicht nass werden. Kalt ist es heute auch. Natürlich. Also: Busen umschnallen. Ganz wichtig fürs Segeln mit Ex-Mann. Zweites Busenpolster einpacken, für den Fall, dass erstes doch nass wird. String einpacken. Für alle Fälle. Er liebt Strings, nennt sie neckisch Ritzenflitzer. Das kurze enge Trägernachthemd scheint mir auch angemessen für das Wochenende. Wo ist es? Mist! Dreckig im Wäschekorb. Macht nichts, nehme es trotzdem mit. Muss sein. Dann riecht es eben gleich schön gemütlich auf dem Schiff. Ganz wichtig auch meine superkurzen Lieblingsshorts und das T-Shirt mit den unauffällig eingebauten Polstern. Zwei Schichten Kunstbrust sind besser als eine. Na ja, Regenzeug und Wollpullis sollten auch mitgeschleppt werden. Und die Schuhe mit den hellen Sohlen. Und das neue Kostüm, für den Fall, dass wir doch noch schick ausgehen. Und die Gummistiefel. Und das Haarspray. Dass ich bloß nichts vergesse! 18 Uhr 20 Bin zu früh. Alle Busse und S-Bahnen fuhren nach Plan. Die Taschen, eine rosa-lila mit kaputtem Reißverschluss, die
andere rot-blau-weiß mit Sternen, sind schwer. Und sie scheinen unterwegs gewachsen zu sein. Christian wird sich totlachen. Klatschnass stehe ich im Fahrstuhl und fahre auf den Olymp seiner Praxis. „Guten Tag.“ Seine Damen sind noch da. Mit abschätzigen Blicken mustern sie mich von Kopf bis Fuß. „Sie sind ein bisschen spät dran, nicht wahr? Hatten Sie für heute einen Termin?“, fragt mich die eine schließlich gelangweilt. „Nein, ich …“ „Dann müssen wir Sie bitten, Montag wiederzukommen.“ Dabei wirft sie ihre lange Mähne gekonnt in den Nacken. „Dr. Bierschwall erwartet mich.“ Sie gafft ungläubig. Als ob er sich mit so etwas wie mir sonst nicht abgäbe. Jedenfalls sind die Damen jetzt aufgewacht. „So“, tönt die Langmähnige schließlich herablassend und es klingt ungläubig. „Wen darf ich melden?“ Ich richte mich auf. Sechs sorgfältig geschminkte Augen sind gnadenlos auf mich gerichtet. „Amanda Bierschwall.“ Jetzt erhellen sich die Blicke. Sie haben verstanden, alles passt wieder in ihren Raster. Ich höre: „Ach, Sie sind seine Schwester?“ „Nein“, erwidere ich süffisant und habe meine äußere Sicherheit gefunden, denn nun bin ich dran. „Blutsverwandt waren wir eigentlich noch nie.“ In diesem Moment höre ich Schritte und drehe mich um. Christian. Ich fühle ein zittrig prickelndes Wackeln. Er schaut mich belustigt an.
„Liebling! Wie siehst du denn aus? Und was du wieder alles mit dir herumschleppst!“ Er legt eine Hand auf meine Schulter und gibt mir wie selbstverständlich einen schmatzenden Kuss auf die Wange, schaut mir gleich tief in die Augen und sieht dabei unverschämt gut aus. „Hallo. Es regnet draußen, weißt du.“ „Ach ja. Meine kleine Benutzerin öffentlicher Verkehrsmittel. Jennifer, bestellen Sie uns doch schon mal ein Taxi. Ich bin gleich so weit.“ Er hat seinen letzten Satz kaum zu Ende gesprochen, als er sich noch einmal umdreht, um gleich darauf hinter einer Tür mit der Aufschrift PRIVAT zu verschwinden. Bin wieder mit den herablassenden Augen allein. Und während ich überlege, warum er seinen Wagen wohl nicht dabei hat, stehe ich so stumm wie dumm da. Und lächle tapfer. Schließlich gehört das Wochenende mit ihm mir, Amanda, der, die Mann einfach lieben muss. Und nicht all diesen Jennifers, die mittlerweile nur noch halb so alt sind wie ich. Höchstens. 19 Uhr 5 Sind mit dem Taxi zu seiner Wohnung gefahren. Die entpuppt sich als weit größer und vornehmer als in meinen kühnsten Vorstellungen. Es tut mir weh, hier zu sein, und jeder einzelne meiner neugierigen Blicke wird sofort mit einem kleinen schmerzhaften Stich quittiert. Deshalb kann es nur ein masochistischer Drang in mir sein, der wissen möchte, was diese Wände bereits alles mit Christian erlebt haben. Als mir schließlich, Stich, die vielen Kerzen, die bereits damals seine Spezialität
waren, ins Auge fallen, ertappe ich mich bei dem Wunsch, einfach auf sein Bett zu fallen und dort das ganze Wochenende zu bleiben. Das Gesicht möchte ich sehen! Wie immer vernünftig, hocke ich mich aber lieber auf einen seiner edel-hart designten Küchenstühle, während er telefoniert. Seit über zehn Minuten. Nur mal eben kurz, hat er entschuldigend gesagt. Muss sein. „Nein, du, Sonntag klappt nicht. Tut mir Leid. Bin völlig im Stress. Du weißt doch, wie das bei mir ist. Ruf dich Sonntag Abend an. Ciao, ciao“, höre ich ihn noch gurren, als er zu mir in die Küche kommt. „So, Mandy, nu wart dat Tied.“ „Hast du es eilig?“ „Ach, hab ich dir noch gar nicht erzählt, ’tschuldige. Heute Abend ist doch Vorstandssitzung im Seglerverein. Geht aber ganz schnell.“ Schluck. 19 Uhr 15 Die Taschen sind in seinem schmucken Cabrio verstaut, das mich wegen seiner Pastellfarbe und der runden Form an eine Bonbondose denken lässt. Keiner hat etwas zu essen für das Wochenende besorgt. Geschieht ihm recht. Gibt es eben nichts zu futtern. Ich habe bereits Hunger. „Du fährst.“ „Was? Wieso?“ „Also, ehrlich gesagt, ich habe gerade keinen Führerschein. Bin bei dunkelrot über eine Ampel gefahren.“
Mir verschlägt es die Sprache. Missbraucht er mich etwa, um rechtzeitig zu der blöden Versammlung zu kommen? Na warte, sagte Schwarte. Er scheint jedoch überhaupt nicht bemerken zu wollen, dass ich auf Rache sinne, und verkündet selbstsicher: „Ich lauf noch schnell hoch und hol was.“ Am liebsten führe ich einfach ohne ihn los. Verdammter Mistbock. Mandy! Achtung: Emotionsebene von Sachebene trennen. Würde gern mit ihm ins Wochenende fahren. Mit ihm segeln. Mit ihm reden, wenn er mal kurz Zeit für mich haben sollte. An früher denken. Gemeinsam. 22 Uhr 6 Sitze einsam unter Deck. Alles riecht nach damals. 22 Uhr 10 Habe jetzt einen Bärenhunger. Auf der „Windbeutel“ gibt es schier gar nichts zu essen. Nur die Flasche Krimsekt in meiner Sternenbannertasche könnte ich lenzen. Will aber lieber warten. Von Christian keine Spur. 22 Uhr 11 Ist das langweilig. Ich sinniere: Windbeutel heißt auf Englisch auch „cream puff “. Sahnepuff! Christians Kahn ist ein Sahnepuff! Dass ich darauf nicht eher gekommen bin …
22 Uhr 12 Wo ist dieses blöde Handy? Ist es wieder mal zu Hause auf dem Schuhschrank liegen geblieben? Da liegt es gut. Ärgere mich über meine eigene Dusseligkeit, als Christians dezent teure Segeltasche klingelt. Ich öffne sie, hab schließlich einen Grund dafür. Das Telefon liegt gut geschützt in einer offensichtlich speziell dafür genähten Innentasche. „Bierschwall?“ Aufgelegt. Dumme Pute! Bestimmt. Ich verstaue den Klönlolly wieder in dem edlen Seesack. Braucht Christian ja nicht zu wissen, dass jemand angerufen hat. Selbst schuld, wenn er mich warten lässt. Gut, dass immer ein Buch in meiner Tasche steckt. Für alle Fälle. Ich drücke mich in eine Ecke. Feucht! Die Matratze ist eindeutig feucht vom Salzwasser. Setzte mich also wieder aufrecht hin und warte in unbequemer Haltung. 22 Uhr 16 Versuche zu lesen. Nichts würde ich jetzt lieber tun … Bloch: „Man ist mit sich allein. Mit den anderen zusammen sind es die meisten auch ohne sich. Aus beidem muss man heraus.“ Super. Das kann ich im Augenblick gut gebrauchen. Ich klappe das Buch gleich wieder zu. 22 Uhr 28 Pottsau!
22 Uhr 29 Könnte bei Gunda anrufen. Ein Telefon hab ich jetzt ja. Wo hab ich es bloß hingesteckt? Wühle es langsam an die Oberfläche. Von innen sieht Christians picobello Tasche schon fast so unordentlich aus wie meine. Hab ich gut gemacht. Es wird ihn freuen. „Hallooo?“ „Hi Gunda. Du bist zu Hause?“ „Tach Mandy“, sagt sie und klingt enttäuscht. „Er ist bei seiner Mamma.“ „Such dir am besten einen ohne Frau. Er wird sich sowieso für sie entscheiden.“ „Sehr witzig. Hast du angerufen, um mir das zu sagen?“ „Nee. Bin auch traurig. Bin mit Christian zum Segeln gefahren …“ „Was? Mit dem? Lass die Finger von ihm. Der hat dir schon einmal wehgetan.“ „Kann passieren.“ „Wenn du damit auf mich anspielst, das ist was Anderes. Der wird zu mir kommen, denn ich habe Hasis Ehe nicht kaputtgemacht. Das muss selbst seine Frau einsehen. Wenn sie ehrlich ist, die langweilige Kuh. Die ist so eine, mit der man nicht weiß, was man reden soll.“ Angeblich nennen alle den armen Mann Hasi. Seine Frau, seine Freunde und jetzt auch noch seine Geliebte. Ob er winzige Hasenzähne hat? Die würden dann immerhin nicht so beim Küssen stören. „Irgendwann werden Hasi und seine Frau wahrscheinlich miteinander geredet haben. Sonst hätten sie wohl kaum
geheiratet. Und, wer weiß, vielleicht hat das damals das Weib, das Christians Sprungschanze war, auch von mir gesagt: ‚Das ist auch so eine, mit der man nicht weiß, was man reden soll.‘ “ In diesem Augenblick höre ich Schritte an Deck. Richtig unheimlich ist das, bis Christians Segelschuhe im Niedergang auftauchen. „Muss jetzt auflegen, Liebling, ja? Bis ganz bald.“ Bisschen Eifersucht hat noch nie geschadet. Christian zeigt natürlich keine Regung, sondern setzt sich statt dessen unanständig dicht neben mich. Und das fühlt sich auch noch gut an. Und so vertraut. Fürchte, ich bin hoffnungslos hetero. Männer sind doch einfach zu geile Gestelle. „Hast du Hunger?“ Mit knurrendem Magen starre ich ihn an. Der kann Fragen stellen! „Willst du noch etwas essen, meine ich? Ich habe schon eine kleine Seezunge genossen. Komm, du siehst hungrig aus.“ 22 Uhr 41 Die Küche im Club ist bereits geschlossen. Das war klar. Auf mein Betteln hin bekomme ich zwei Scheiben Schwarzbrot mit Butter und Käse. Immerhin. Der Hunger treibt es hinein. „Du“, sagt Christian, als wir durch die Nacht zurück zum Boot gehen, „wollen wir nicht noch raussegeln und uns einen gemütlichen Ankerplatz suchen?“ Wie früher, denke ich und bin trunken vor lauter Glück. Die Sachebene? Die lass ich in den kleinen gluckernden Wellen am Steg zurück.
23 Uhr 19 Die „Windbeutel“ legt vom Steg ab. Fühle mich unsinnigerweise glücklich. Liebling, Liebling, weißt du noch … Alles klappt wunderbar. Wir sind ein eingespieltes Team. Gleich wird sich Christian weigern, der Fähre die Vorfahrt zu gewähren. Die legt nämlich grundsätzlich und offenbar ohne jegliche Rücksicht auf die Uhrzeit genau dann ab, wenn wir hinter ihr kreuzen. Doch dieses Mal hat er Pech und keine andere Wahl als zu warten: Ein Krankenwagen wird von der Fähre zur Klinik auf die Halbinsel transportiert. Mit lautlos blauem Blinken gleitet der Wagen gespenstisch vor uns über das Wasser. Ich gebe zu, mich über die schnelle Niederlage zu freuen, denn der Gedanke an eine Kollision mit dem Linienschiff lässt mich schaudern. Ein kalter Wind schüttelt mich. Da ist auch die Skandinavienfähre. Die ist auch nicht gerade von schlechten Eltern. Wie ein metallenes Riesengebirge pflügt sie durch das Wasser an uns vorbei, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen. Keine Welle ist zu sehen. Hoch oben über uns auf dem mächtigen Schiff wandert, klein wie ein Märklin-Männchen, der Lotse zwischen Miniatur-Lastwagen hin und her. Gehe davon aus, dass er uns noch nicht einmal wahrgenommen hat. Da! Der vertraute Anleger, auf dem tagsüber die Passanten stehen und auf die Boote blicken. Jetzt ist alles leer. Nur in dem großen Nobelhotel brennen noch tausend Lampen. Freue mich, hier draußen zu sein.
Samstag, 9. September 2000
0 Uhr
Wir befinden uns auf einem Geisterschiff, dessen Passagieren auf ewig die Heimkehr versagt bleibt. Jede Nacht irren wir über die See und finden keine Ruhe. 0 Uhr 17 „Hol mal die Fock dicht! Du träumst wohl, Puppe!“ Es ist fast stockdunkel. Die Sterne sind hinter einem Dunstschleier verschwunden. Nur weit hinter uns, in der fernen Bucht, leuchten die Lichter. Wir sind ganz allein mit den Gewalten der Natur. Die Wellen sind hoch und es weht ein guter Wind. Die Windbeutel hat sich brav auf die Backe gelegt. „Übrigens zieht der alte Kahn ganz flott Wasser. Hab sogar eine elektrische Lenzpumpe gekauft.“ Ich muss lachen. „Solange der Auto-Pilot funktioniert … Bei dieser Dunkelheit …“ „Welcher Autopilot? Ach so. Der liegt hinten im Schapp. Hat die Jahrtausendwende nicht überlebt. Und irgendwo steht der unbeleuchtete Bohrturm, den hier jemand vergessen hat …“ Mir ist das alles egal. Ich liebe es, wenn mir der Wind um die Ohren weht und mich vorantreibt. Dann fühle ich mich geborgen. Wie in einer Nussschale, die so winzig ist, dass kein böser Meeresgott irgendein Interesse an ihr hat. Wie glücklich ich in diesem Augenblick bin. „Wollen wir deinen Sekt köpfen?“ „Gute Idee.“
Ich lege Wert darauf, den Korken selbst knallen zu lassen. Er hebt ihn auf und wirft ihn säuberlich in die Abfalltüte, die umständlich in einer der Backskisten verstaut ist. „Huh, ist der süß. Aber eigentlich genau das Richtige für heut Nacht.“ „Ist Krim-Sekt.“ „Den kannst du luuutschen oder kauen, je nach Luuust und Laune.“ „Und er liegt voll im Trend. Sagt Clara.“ „Die wird es schon richten.“ „Nastrowje wora!“ Ich leere das Glas in einem Zug und werfe es hinter mich in die See. Beinah entsetzt sieht er mich an. Und als es mich dann auch noch singt: „Russland ist ein schönes Land, wirf die Gläser an die Wand! Hahahaha! Ha!!!“, glaube ich für den Bruchteil einer Sekunde, Hass in seinem Blick aufblitzen zu sehen. Deshalb lenke ich schnell ein: „Pardon. Ich konnte es nicht sein lassen. Tut mir wirklich Leid.“ Um dann zu kichern: „Krieg ich jetzt ein neues Glas?“ „Nur wenn es nicht wieder schwimmen geht.“ „Will es versuchen. Ehrlich.“ 1 Uhr 24 Die Flasche ist leer. Ich schwebe, während das Boot vor Anker liegt und sanft im ruhigen Wasser schaukelt. Christian schaut mir in die Augen. Was könnte eine tolle Frau sich mehr wünschen? Er grinst. „Wie geht es euch beiden eigentlich?“
Ich zögere mit meiner Antwort. Wen meint er mit „euch beiden“? Doch wohl nicht etwa mich und …? Nein, das glaube ich einfach nicht! Er jedoch blickt unmissverständlich auf meinen Schritt. Wie von selbst schlagen sich meine Beine übereinander. Ich fühle mich sprachlos, will ihm aber keine Antwort schuldig bleiben: „Gut. Uns geht es beiden gut. Wir unterhalten uns prächtig miteinander. Sozusagen.“ Er prustet los. „Willst du mir weismachen, dass du keinen Lover hast? Du?“ „Nein. Weismachen will ich dir zunächst einmal gar nichts. Aber einen Lover, wie du es nennst, gibt es auch nicht.“ „Seit wann? Ich meine, es wird doch Männer gegeben haben, seit wir uns getrennt haben.“ Eine kluge Frau sollte mit ihren Geheimnissen haushalten. Diese Weisheit hat mir meine Oma bereits beigebracht, eh ich ahnen konnte, wovon sie eigentlich sprach. Doch wie immer erschlägt meine offene Art jedes taktische Bemühen. Wie immer bin ich zu blöd. Clara wird den Kopf über mich schütteln, wenn ich ihr davon erzähle. „Keinen. Mit einem habe ich geknutscht, wenn du es genau wissen willst.“ „Und dann?“ „Nichts. Es hat mir nicht geschmeckt.“ „Das kann nicht wahr sein.“ Er befördert eine Flasche Cognac von irgendwoher aus dem Schapp ans Licht der spärlichen Petroleumlampe. Dabei fällt ein Lichtschein auf sein Gesicht, der seine Augen dunkel und unwiderstehlich erscheinen lässt. Ein gestandenes Wasserglas verfärbt sich golden bis an
den Rand und bewegt sich zu einer unhörbaren Musik verführerisch auf mich zu. „Wir teilen, ja?“ Ich schlucke trocken und spüre, wie meine Hände beim Trinken zittern. Er hat es bemerkt und geht zum Angriff über. „Du … ich würde euch beide gern an Bord begrüßen. Darf ich?“ Dabei streicht er mir bereits mit einem anzüglichen Funkeln in den Augen über die Schokolade. „Lass das!“, brumme ich, doch er scheint es nicht zu hören. Und es wäre auch möglich, dass ich es gar nicht gesagt habe. Dann wird alles sehr schön. So schön wie es immer war. Langsam und grandios. Und nach einer unendlich langen Zeit zeigt er mir, was er vorhin noch so schnell aus seiner Wohnung holen musste: Kondome. Er trug sie in seinen Hosentaschen bei sich. 20 Uhr Bekomme heute Abend auch eine kleine Seezunge. Hmmmmm … Für diesen einen Tag hätte sich das Leben beinah schon gelohnt. Morgens weckte mich Christian mit einem behutsamen Kuss: „Bleib ruhig liegen. Ich tuckere nur mal schnell ein paar Minuten, um uns ein Frühstück zu besorgen. Habe es bereits bestellt.“ Das Maschinengeräusch klang noch sinfonisch in meinen Ohren, als wir nach einer kleinen Viertelstunde an einem winzigen Steg anlegten, auf dem eine rundliche Frau erschien. Sie trug tatsächlich eine blütenweiße Schürze mit Spitzenbesatz.
Durch das Bullauge beobachtete ich staunend, wie sie lächelnd ein großes silbernes Tablett bis ans Schiff balancierte. Meine kleine Koje war das reinste Schlaraffenland! Was auf dem Tablett stand, ließ auch keine Wünsche offen. Kaffee, frische Milch, gekochte Eier, Pampelmusensaft, Brötchen … Christian weiß eben, was mir gut schmeckt. In jeder Hinsicht. Wo die lauschigen Plätzchen für ein romantisches Frühstück zu zweit zu finden sind, weiß er allerdings offenbar auch. Aber das war mir spätestens in dem Moment egal, als er sich wieder auszog und tatsächlich zurück zu mir in die Koje kroch, wo wir bis zum frühen Nachmittag blieben und uns sehr lieb hatten. „Weißt du, wie sehr ich dich manchmal vermisse?“, hatte er in einem besonders schwachen Moment gesagt. „Unsere Gespräche, dein Witz, deine Schnelligkeit. Und im Bett ist es mit keiner so wie mit dir. Klar, die ersten Male haben immer ihren besonderen Reiz, aber danach denke ich manchmal dabei an dich. Naja, vielleicht sollte ich dir das gar nicht sagen.“ „Ist schon gut. Ich vermisse dich auch. Und nach so einem Tag wie heute … Früher wolltest du nie auch nur im Bett mit mir frühstücken. Auch nicht in der Koje. Irgendwie hattest du es mit allem, also mit fast allem, meine ich, immer eilig. Wolltest immer weiter.“ „Früher waren auch die Kinder dabei. Da war alles anders. Wie sollten wir denn da stundenlang im Bett rumschmusen? Kannst du mir das mal verraten?“ Kann ich nicht. Aber vielleicht kommen ja die wirklich guten Zeiten noch …
Sonntag, 10. September
Irgendwann vor dem ersten Lerchenlaut Als ich aufwache, ist es noch früh am Morgen. Ein unruhiges Schaukeln in meiner gemütlichen Koje hat meinen Traum vom ewigen Glück unsanft unterbrochen. Werde hart an die Bordwand gepresst, denn das Boot kränkt. Ein rascher Blick nach draußen bestätigt mir, dass wir unseren Ankerplatz verlassen haben und in voller Fahrt segeln. Ich torkele zum Niedergang und gucke raus. Es gießt. Christian trägt Regenzeug und Schwimmweste und blickt in die Ferne. Verdammt! Das war es dann wohl. Die Erkenntnis, dass das Glück nun vorbei ist, kriecht mir den Rücken hinunter und macht mich zittern. Dennoch gurre ich so tapfer wie fröhlich: „Guten Morgen! Gibt’s heute kein Frühstück?“ „Klar. Ich habe auch noch nichts gegessen.“ „Willst du so zwischen Mast und Pinne im Regen essen?“ „Wenn es dir nichts ausmacht. Der Wind ist Spitze, die Dünung genau richtig. Und ich will auch nicht so spät nach Hause.“ Aha. Der Anruf. Ich werde mich zusammenreißen, mir keine Blöße geben. „Es war die Lerche und nicht die Nachtigall“, würde mir mein Romeo einzureden versuchen, wenn wir noch kuschelten. Denken würde er: „Bloß weg hier!“ Romeo falsch herum. Oder sehe ich Gespenster?
10 Uhr 43 Wir dümpeln bereits im trüben Wasser des Liegeplatzes auf und ab.
11 Uhr 20 Das Schiff ist vertäut und der Wind hat nachgelassen. Enttäuscht schleppe ich meine zwei Taschen durch das Nieselwetter. Irgendwann vor 12 Uhr Es soll wohl wie eine gut gemeinte Erklärung klingen, als Christian im Auto sagt: „Ist dir doch klar, dass unser gemeinsames Wochenende nur so ’ne Art Auffrischung der Erinnerung war?“ „Klar.“ Gut, dass die Weinbergersche Sachebene nicht wieder am Steg liegen geblieben ist. So kann ich eisgekühlt reagieren. „Sentimentalität ist übrigens, was du meinst.“ Ramme beim Einscheren fast einen grünen Golf. „Weißt du, es stimmt alles, was ich dir gesagt habe. Aber die Trennung war so schwer für mich. Ich möchte nicht, dass das ganze Theater noch einmal von vorn losgeht.“ Für dich war sie also schwer, die Trennung. Haha. Du hattest doch dein Betthupferl. „Vielleicht ist es besser, wenn wir uns erst einmal eine Weile nicht sehen.“ Dass so ein kluger Mensch so treudoof aus der Wäsche gucken kann! Sein Blick ist die perfekte Garnierung seiner Worte. So ’ne Art Dualität der Kopfnote oder so. Tue so, als müsste ich mich gerade besonders auf die Straße konzentrieren, während mir die Tränen den Blick verwässern. Wenn du, Pardon, Fickfehler mit keiner so gern schläfst
wie mit mir, mit keiner so gern redest wie mit mir, dann lass doch die anderen in Frieden! Christian guckt stur aus dem Fenster. Draußen rast das Leben vorbei. Möchte es so gern festhalten, möchte, dass die Stunden mit ihm feinporig gerinnen wie, wie Eierstich in einer gefetteten Form. 5H1T. Nun wird sie auch noch poetisch. Lache über meine kulinarische Metapher, obwohl mir die Tränen lautlos über das Gesicht laufen. Kurze Zeit darauf legt er den Arm zum Abschied um mich. „He“, sagt er, „es war wunderschön. Danke. Du.“ Frau Bierschwall darf den Wagen mitnehmen. Kay wird ihn für sie zurückfahren.
Sonntag, 17. September 2000 15 Uhr 20
Die Woche ist wie im Flug vergangen. Habe mich mit Stress zugedeckt wie mit einer kuscheligen Decke. Nur nicht nachdenken. Nur nicht fühlen. Nur nicht weinen. I am not turning on the waterworks. Die Pumpstation bleibt geschlossen. But I feel like flipping my lid. Und wenn dieser Deckel aufspringt, mein Lieber, dann wird es ein Klodeckel sein und dann mögen dir die Göttinnen gnädig sein! Du … Du … 15 Uhr 36 Das Telefon klingelt. Beschließe, nicht zu antworten. Der AB tut es für mich.
„Mandy? Liebling? Du! Geh schon ran! Ich kann nicht zu dem Konzert. Mir ist was dazwischengekommen. Könntest du nicht mit den Kindern …?“ Unter diesen Umständen nehme ich bereitwillig den Hörer ab. „Ja. Wer hat die Karten?“ „Ich schicke sie dir.“ „Okay. Bis dann. Ciao.“ Kühl, aber allzu durchsichtig verletzt lege ich wieder auf. Nicht zu nah am Wasser gebaut. Ich habe nicht zu nah am Wasser gebaut. Habe ich nicht. Springe auf und rase zur Stereoanlage. Nur um irgendetwas zu tun. Keith Kling. Purer Sex. Reibeisen aus Samt. Wie sieht er eigentlich aus? Greife gierig zur CD-Hülle. Na ja. Wahrlich kein Latin Lover, aber da ist etwas. Auch klar, bei dem Marketing. Ich tanze. Ihm gefällt, wie der Träger heute von meiner Schulter rutscht. Singt er. Kein Wunder, er kann mich ja nicht sehen … „Baby …“ Damit meint er mich. Nur mich. Schon wieder das Telefon. Mutter. „Du hörst aber laut Musik. Alles in Ordnung?“ „Alles in Ordnung.“ „Was machen die Kinder?“ „Sind alle ausgeflogen.“ „Dann genieß man deinen schönen ruhigen Sonntag.“ 16 Uhr 20 Wo bleiben die Kinder? Gehe mit Heduda zum Pieseln. I am walking her. Ich walkiere sie. Begegne heute Jon Bon Jovi,
nehme allen Mut zusammen und streichele das Kalb. Stelle mir dabei vor, es hieße Keith Kling. 17 Uhr 10 Noch immer kein Kind in Sicht. Ich sollte vorsorglich etwas kochen, gehe aber lieber an den Schreibtisch. Ein Außenseiter hat einen Skateboard-Wettbewerb gewonnen. Herzlichen Glückwunsch. Wie wäre es mit dark horse oder unknown quantity für Außenseiter? Lachen hilft da gar nicht. Outsider, ich schreibe Outsider, ist stilsicherer. Und langweiliger.
Donnerstag, 22. September 10 Uhr 05
Herbstanfang! Heute Abend ist das Konzert! Oh, Keith! Vorerst allerdings schleppe ich noch schnell den gesamten Wocheinkauf aus der ALDI-Filiale heraus. Belade gelassen den VW-Bus damit, als mich ein Mann bittet, ihn gleich meinen Einkaufswagen nehmen zu lassen, denn freie gebe es nicht. „Klar. Hab aber so einen Hausfrauenchip drin, kein Geld.“ „Macht nichts. So einen habe ich auch. Meiner ist blau.“ „Meiner schwarz. Hab ich mal gegen ’nen gelben getauscht.“ „Kriegste jetzt ’nen blauen für ’nen schwarzen.“ „Guter Tausch.“ Wir lachen, als eine sorgfältig geschmacklos gekleidete Frau auf uns zustürzt und den Mann anquakt: „Das kommt gar nicht in Frage! Das ist mein Chip. Du spinnst wohl.“
„Könnte ich wohl Ihren Einkaufswagen …?“, fragt da auch schon ein weiterer Bewerber. „Dann müssen sie nur mitkommen. Ich habe nämlich so einen Hausfrauenchip …“ Jetzt entreißt mir das aufgetakelte Model für Sonderposten den Einkaufswagen und rast damit quer über den Parkplatz zu einer Einkaufswagensammelstelle, um dort den Chip auszutauschen. Hechte hinter ihr her und komme gerade noch rechtzeitig, um meine Plastikmünze in Empfang zu nehmen. Während der Mann seiner im Sonnenstudio vergilbten Schönheit in den Laden hinterherschleicht, tut er mir plötzlich unendlich Leid. Das wünsche ich keinem. Noch nicht einmal Christian … 10 Uhr 40 Der Einkauf ist verstaut, Waschmaschine XYZ läuft. Sehe erfreut, dass der AB blinkt. Bestimmt Keith Kling. Der will uns Backstage-Karten zukommen lassen. Ist er aber nicht. Ist Clara. Sie ist aus New York zurück. Hat Riesenerfolg gehabt. Und einen Mann kennengelernt. Deshalb will sie gleich nächste Woche wieder rüberfliegen. Rüber. Weltreise. Die hat Nerven. Na klar freue ich mich für sie, aber wer kümmert sich um mich? Erzähle ihr von dem Konzert heute Abend. Sie reagiert überhaupt nicht. Von meinem Treffen mit Christian wird sie nichts erfahren. Vorerst nichts. Warum eigentlich? „Ach ja, Clara, etwas ist doch passiert, nichts Wichtiges. Ich war mit Christian segeln.“ „Allein?“
„Ja.“ „Du hast nicht etwa wieder mit ihm geschlafen?“ „Doch …“ Oh weih, das klang ganz kleinlaut. „Ich sag dazu nichts. Oh Frau, Amanda. Wie kann man nur so blöd sein. Frau meine ich. Wie kann frau nur so blöd sein.“ 17 Uhr Als ich völlig gefrustet vor dem Spiegel stehe, blinzelt mich jemand müde aus faltenumwogten Augen an. Das ist übertrieben, ein bisschen, aber: Verflixt, ich sehe so alt aus wie ich bin. Wie um mich über diese niederschmetternde Erkenntnis hinwegzutrösten, klingelt das Telefon. „Hallo, Frau Bierschwall. Hier spricht Hammachef, der Klavierstimmer. Wollte fragen, ob ich mal wieder zum Stimmen kommen soll. Hatten wir so vereinbart, steht hier in meinem Notizbuch.“ „Klar, Herr Hammachef. Jederzeit. Wann passt es Ihnen?“ „Gleich nächste Woche Freitag um zehn wäre gut. Da kann ich dann hinterher gleich meinen Einkauf für das Wochenende tätigen.“ „Abgemacht. Freitag um zehn Uhr.“ „Gut! Denn man Tschüß.“ „Tschüß, Herr Hammachef.“ Herr Hammachef, den hatte ich gar nicht mehr auf der Liste. Hatte mal das absolute Gehör, der arme Mann. Ist aber eine Weile her, denn jetzt ist er sechsundachtzig und wohl einer der wenigen Klavierstimmer mit Hörgerät, ein rechtes Unikum. Jedes Mal, wenn er in unser Haus kommt, guckt er
sich gründlich um, um dann zu verkünden: „Ne, hier war ich noch nie. Bestimmt nicht. Da könnte ich mich dran erinnern!“ Diese jährlich wiederkehrende Szene ist für mich zu einer Art Ritual geworden und ich muss auch fast gar nicht mehr darüber lachen. 17 Uhr 29 Nun aber dalli. Den dunkelblauen Kaschmir-Pulli lass ich einfach an. Ist doch genau richtig für ein Rock-Konzert. Die Perle darf auch am V-Ausschnitt bleiben. Ist mir doch egal, wie die anderen sich aufschnatzen. Kay hat bereits ausgiebig mit Kim geduscht. Das wollten sie gemeinsam tun, um Wasser zu sparen, vergaßen dann jedoch leider, den Hahn abzudrehen, eh der Riesenboiler leer war. Aber auch ungeduscht sehen alle meine Kinder zum Abbeißen aus. Fröhlich gackernd huschen sie durch das Haus. Ihre Vorfreude animiert schließlich auch mich. „Hannaaah?“ „Ja, was willste denn, Frau Mutter?“ „Kann ich ein bisschen Glimmer-Flimmer von dir haben?“ „Klar. Wohin soll er denn geschmiert werden?“ „Mal sehen.“ Stehe bereits nachdenklich vor ihrem Spiegel, als sie sich hinter mich stellt, um mit skeptischem Blick über meine Schulter zu grinsen. „So, ein wenig Geglitzere unter die Wangenknochen für die slawische Physiognomie. Und, so, noch ein bisschen in die kurzen Haare, damit man sie sieht.“
„Du spinnst“, kommentiert sie kopfschüttelnd meine Bemühungen. Ich blinzle sie fragend an. „Sieht aber gut aus, Mutsch. Mach man.“ Sehr tröstlich. 18 Uhr 55 Wir finden auf Anhieb einen Super-Parkplatz in dem Wohngebiet vor der Konzerthalle. Wie für uns gemacht. Auch gar nicht zu klein für mich … Die Anwohner wird der Lärm heute schwerlich stören, denn da sie keinen Parkplatz finden, können sie ohnehin erst später nach Hause kommen … Wir alle steigen aufgeregt lachend aus dem VW-Bus, um gemeinsam in Richtung Spaß zu gehen. 19 Uhr 10 Gnadenlos gefilzt betreten wir das Multifunktionszentrum, das zum Zeitpunkt seines Baus wahrscheinlich „Mehrzweckhalle“ genannt wurde und noch immer ein bisschen so aussieht. Angesichts der Menschenmassen vereinbaren wir, uns am Wagen zu treffen, falls wir uns aus den Augen verlieren. Till folgt mir brav, bis wir, ohne bewusst gedrängelt zu haben, tatsächlich beinah vor der Bühne angekommen sind. Ist ein kleiner Ausgleich dafür, dass ich im letzten Jahr einen Superrocker noch nicht einmal richtig auf den hoch über den Zuschauern aufgehängten Leinwänden erspähen konnte. Und wenn auch unser Platz nicht gerade zentral vor der Bühne liegt, so sieht die kleine Zusatz-Rampe, die fast in greifbare
Nähe auf uns zu führt, um so viel versprechender aus. Sollte uns hier der Star zum Anfassen geboten werden? Der ist es Wert, bestätige ich mir wortlos selbst. Zumal wenn man die Karten geschenkt bekommen hat … 20 Uhr 47 Die Vorgruppe „wwwow.“ war zunächst Klasse, schimpfte dann noch ein wenig auf die Deutschen, was offenbar wenige der englischklugen Zuhörer mitbekamen, und kaut uns mittlerweile mit endlosem Mainstream-Gedudel die Ohren ab. Das Publikum wirkt stetig genervter, bis die „wwwow.“ einen bekannten und allseits präsenten Titel einer anderen Band draufklimpern. Der Sänger findet sich jetzt eindeutig sehr schön und entspricht auch tatsächlich dem Normalo-Geschmack. Mir geht er auf den Geist. Wo bleibt Mr. Kling??? 21 Uhr 17 Endlich! Da ist er! Wow, was für ein Auftritt! Der hat das Publikum sofort an der langen Leine. Oh Baby, ja, wir beide. I have been waiting for you, too. Ein Schönling ist er gerade nicht. Auch kein riesiger Athletenkörper, eher klein und zart. Dunkle Haare ohne Fülle, dafür aber eindeutig schmuselockig. Ein Mann nach meinem Geschmack. Na ja, jedenfalls seit einiger Zeit nach meinem Geschmack. Denn keiner wird mich daran hindern, dass ich mit jedem Tag, den ich lebe, klüger werde.
Die Latin Lover kenne ich gut. Sogar die blonden. Und ich hab sie satt. Zugegeben, Starkult und die Höhe der Bühne tragen zu Mr. Klings Wirkung auf mich bei. Aber das Drumherum steht ihm zu, weil schließlich alle ihn sehen und hören wollen. Was kein Wunder ist, denn live öffnet seine Stimme gleich alle Knöpfe. Vor mir tobt eine kleine Gruppe braun gegerbter Schwuler. Obwohl ich ihre Hochstimmung teile, stört es mich, dass sie so heftig mit ihren vollen Bierbechern fuchteln. Habe bereits eine satte Ladung auf meinen Pulli bekommen. Selber schuld, wenn man hier in Kaschmir aufläuft, könnte man argumentieren. Doch es geht hier nicht um den Pulli. Es ist mir einfach eklig, in Bier aus fremden Humpen zu baden. Später vergesse ich die angetrunkenen Fans, die stetig nachfüllen, und singe einfach mit. Sollen sie mich doch von oben bis unten versaubeuteln. 21 oder 22 Uhr (ich weiß wirklich nicht, wie spät es war … , hatte die Zeit endlich vergessen) Keith Kling kommt tatsächlich auf die kleine Rampe, die mich so erwartungsfroh stimmte. Da steht er und lässt seine tiefrote Stimme über unsere unteren Regionen streicheln. Unglaublich. Und so schön heiser. Nur Sehnsucht kann so klingen. Bin hin und weg. Kann ihn fast berühren, na ja ein paar Meter fehlen. Würde ihn sowieso nicht betatschen. Wenn das jede täte! Schön wäre es aber doch, ihn anzugrapschen, säuselt mir eine verwegene Stimme ein. Oh Keith … Und dann, dann
guckt er mich an. Guckt mir direkt in die Augen. Jahrzehntelang geübter Blick, aber das begreife ich in diesem Augenblick nicht. Will ich auch gar nicht. Verschämt vor lauter Glück blicke ich wieder einmal zu Boden. Wie blöd. Nie wieder wird dir Keith Kling in die Augen schauen! Hörst du, nie wieder! Also los, Augen hoch! Er blickt tatsächlich noch immer. Könnte vor Wonne hüpfen. Wäre in der Lage, spontan zu ovulieren. Oh Keith! Bin dein kleiner Teenager, Screamager, Schreijahrer. Dann geht er wieder weg, zurück zur Bühnenmitte. Mein Abend aber ist gelungen, komme was da kommen wolle! Und als Keith mir später trotz meiner wilden Gesten sein Handtuch nicht gnädig zuwirft, finde ich das ausgesprochen schade. 23 Uhr 5 Auf der Autobahn fragt mich Hannah: „Was hättest du wohl mit dem voll geschwitzten Lappen gewollt?“ An ihrem Tonfall höre ich, dass sie mich längst für plemplem hält. Deshalb antwortete ich ganz kleinlaut: „Weiß selbst nicht genau. Glaube, ich hätte das Handtuch auf 95 ° C gewaschen und dann benutzt. Morgens nach dem Duschen hätte es mir dieses Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein. Ist doch nicht schlimm oder? So eine kleine Freude früh am Morgen.“ „Du spinnst.“ Das war Till. „Nichts als ein Fetisch!“ Kay. „Ist doch eklig.“ Anna. „Wieso? In Hotels bekommst du auch die Handtücher anderer. Irgendwann wäre es dann ohnehin zerschlissen. Das
wäre okay gewesen. Erinnerungen lösen sich auch auf. Die meisten jedenfalls.“
Freitag, 22. September 7 Uhr 35
Sechs Pausenbrote sind gebuttert und auf dem Weg zur Schule. Die Erinnerung hat sich noch nicht aufgelöst, sie schnürt mir die Kehle zu. Mein Magen hält eine Horde von Schmetterlingen gefangen, die ich zu gern freilassen würde. Oder vielleicht doch nicht. Fühle mich high, rede zu viel und habe bereits die frisch getrockneten Socken versehentlich in die Besteckschublade zu stopfen versucht. Was eigentlich ein zu hoher Preis für so ein bisschen Blick-Kontakt ist. 9 Uhr 43 „Clara, ich muss mit dir sprechen.“ „Jetzt? Ich bin mitten in einer Besprechung.“ „Ja jetzt. Sofort.“ „Oh Frau. Warte, ich rufe dich gleich zurück. So in einer halben Stunde.“ 9 Uhr 52 „Baby trampel nicht auf mir herum. Ich halt das nicht aus. Die Tür ist offen. Geh endlich hinaus.“ Diese Stimme! Dieser Blick! Dieser Mann!
10 Uhr Drei E-Mails mit Anlagen. Oh weh! Wage nicht hineinzuschauen. Werde heute nicht arbeiten. Kann nicht. 10 Uhr 23 Telefon. Endlich. „So jetzt hab ich Zeit, Mandy. Wo brennt’s?“ „Überall. Am ganzen Körper. Sozusagen. Ich war doch gestern mit den Kindern im Keith-Kling-Konzert. Es war so toll. Der Mann ist zu geil. Der versteht, persönlichen Kontakt zu seinem Publikum herzustellen. Wir haben einander in die Augen geblickt. Stell dir das mal vor! Und auch später hatte ich das Gefühl, er schaut zu mir herüber. Es war wahnsinnig schön.“ „Nun verrenn dich da man in nichts. Du kannst bei den vielen Menschen doch gar nicht beurteilen, wohin so ein Typ genau schaut.“ „Mag sein. Aber in die Augen hat er mir geblickt!“ „Das ist ein Profi, Schwester.“ „Das war irgendwie anders.“ „Okay, mag ja sein, aber komm runter. Es ist vorbei. Der ist ein Star, du hast das Gefühl, er ist bei dir eingezogen, aber er existiert für seine Fans nicht wirklich. Er ist eine Ikone, nicht mehr.“ „Und nicht weniger. Und was scheint deiner Meinung nach aus der Ikone heraus? Doch wohl nicht Jesus Christus!“ „Nein. Der Star, nur der Star.“ „Der Traum von einem anderen Leben. Da ist ein Mensch, der es geschafft hat, sich Momente relativer Freiheit zu
ermöglichen, ohne sich der Gesellschaft anzupassen. Der leben kann, wie es ihm gefällt. Der nicht um 6.30 Uhr aufstehen muss, um sich ein spießiges Haus in guter Nachbarschaft zu verdienen. Und lieb sah er aus, eigentlich keiner, der zweimal ‚hier ‘ geschrien hat, als Gott die Accessoires der Schönheit verteilte und doch hat er es geschafft, sich eine ungeheure Ausstrahlung zu erarbeiten.“ „Ich dachte, wir wären langsam aus dem Alter heraus, in dem man sich in Popstars verliebt“, schnauft Clara. „Hast ja Recht. Weiß ja selbst. Kann das auch alles analysieren, theoretisieren, abstrahieren, aber es hat so gut getan“, gebe ich zu, wobei ich beinah wieder den Boden der Tatsachen berühre. „Na also. Schon besser“, Clara klingt beruhigt. „Im übrigen finde ich ihn nicht attraktiv. Seine Stimme, ja, okay, die ist Klasse, aber als Mann?“ „Er entspricht dem Männerbild, das mir zusagt. Jemand, der es geschafft hat. Zudem klein, damit ich keine Leiter brauche. Törnt mich völlig an. Die Clark Gables sind doch laue Schwämme. Hast du dir mal überlegt, warum der Funke nicht überspringt, wenn du dir alte Liebesfilme ansiehst? Das liegt an den Typen! Wie kann ich mich mit Ingrid Bergmann identifizieren, wenn ich ihren Macker albern finde? Das Bild vom Traummann hat sich gewandelt! Männer ohne Krawatten, die erst von den Bildunterschriften als Vorstandsmitglieder enttarnt werden, die sind lecker.“ „Und die neuesten Barbiepuppen haben schiefe Gesichter oder so. Hab ich auch gehört. Allerdings dünn, langbeinig und durchtrainiert sehen die Plastikgestelle noch immer aus.
Schon bemerkt? Und jede hat bestimmt ihre eigene E-MailAdresse und einen Steckbrief, der sie als sportlich, engagiert, individuell, stets fröhlich und erfolgreich verkauft. Was soll sich denn da groß geändert haben, bitte schön?“ „Mir gefällt er. Und erfolgreich ist er allemal.“ „Ich finde, er sieht schwul aus.“ „Clara, ich wundere mich heute über dich. Du weißt doch sonst immer alles über die Trends, in denen wir armen Irdischen gerade durch das Leben strömen. Lass ihn doch schwul sein. Ich bin so hoffnungslos hetero, das reicht für uns beide.“ „Komm zurück zur Erde. In die Wirklichkeit. Mach dir einen Tchai-Tea und arbeite. Vergiss den Kerl! Ich will dich nicht frustrieren. Du weißt, ich finde, dass du eine tolle Frau bist. Aber, entschuldige, was der Typ macht, ist nichts als das professionelle Anbrateln von Mädchen.“ „Ich bin aber kein Mädchen.“ „Da hat er sich im Dunkeln eben verguckt.“ 12 Uhr 15 Fürchte, sie hat Recht und schalte seine Reibeisenstimme aus. Ab sofort herrscht in diesem Haus ein absolutes KeithKling-Verbot. Muss ihn schleunigst aus meinem System verbannen. Er wohnt nicht mehr bei uns. Er hat hier nur gesungen.
Sonntag, 24. September 2000
13 Uhr 24, 15 Uhr 52 und 19 Uhr 17 „Kinder macht die Musik aus!“ „Ist doch Keith Kling. Ich dachte, du stehst drauf?“ „Schaltet es aus. Bitte.“ Spüre, wie ungläubige Blicke versuchen, meinen Augen hinter deren gesenkten Lidern zu begegnen.
Freitag, 29. September 2000 10 Uhr 5
Wo bleibt Herr Hammachef denn heute nur? Der ist doch sonst immer überpünktlich. Lohnt es sich noch, den Computer anzuschmeißen? 10 Uhr 43 Herr Hammachef hat mich versetzt. Hoffentlich ist ihm nichts passsiert. Hoffentlich ist er nicht verstorben. Ich fahre den Rechner hoch. 10 Uhr 46 Es klingelt an der Tür. Da steht er und begrüßt mich mit dem üblichen Schalk in seiner Stimme. „Musst entschuldigen, dass ich so spät dran bin. Ich saß in meinem Wagen in der Tiefgarage und wollte eben den Reißverschluss von meinem Pullover hochziehen. „Guck, so.“ Er pfriemelt an seinem Hals herum, dessen Haut wie die üppig gerafften Stoffmengen schwerer Übergardinen
nach unten strebt. Jetzt zieht er den Reißverschluss des knallroten Pullis hoch und ich fürchte, er wird seine Haut darin einklemmen. „Vorsicht!“, rufe ich. „Siehste. Du hast es bemerkt. Genauso war es. Und dann saß ich da in der Garage und konnte meinen Hals nicht wieder aus dem Reißverschluss kriegen. Das Licht war auch schon ausgegangen. Das hat ewig gedauert, bis er wieder frei war. Guck, ist ja auch ganz rot hier.“ Tröstend bedauere ich ihn. „So nun woll’n wir aber mal an die Arbeit gehen.“ Forsch öffnet er die Windfangtür und marschiert voraus, als wäre er hier zu Hause. Wo bleibt denn heute sein altbekannter Ausruf, der sich mir als der jährliche Refrain der Klavierstimmung eingeprägt hat, wundere ich mich noch, als er bereits, sicher wie das Amen in der Kirche, erklingt: „Hier war ich aber bestimmt noch nie. Daran könnte ich mich sonst aber garantiert erinnern“, verkündet Herr Hammachef, indem er schnurstracks einmal rechts herum geht, dann links und wieder rechts, um seine Tasche schließlich vor dem Klavier abzustellen, das hinter einer weiteren Ecke, versteckt in seiner Nische, sehnsüchtig auf ihn gewartet hat. „So, Minna“, tönt er nun mit einem entschuldigend provozierenden Ausdruck in den schalkhaften Augen, „nu bring mir man erst mal einen Kaffee.“ Dabei packt er all seine kleinen, mit den Jahren notwendig gewordenen Hilfsgeräte aus, wuchtet die schweren Holzverkleidungen allein vom Klavier, steckt sich eine dicke Zigarre an, rüttelt ein letztes Mal an seinem Hörgerät, streicht sich mit dem Handrücken leise
ächzend über die Wirbelsäule, als wolle er sie geraderücken und beginnt ausdauernd sein Werk, mit dem er absolute Perfektion anstrebt. Nach langen Stunden ist er endlich fertig, doch jetzt geht es erst richtig los: Bei uns riecht es rauchig wie in einer schummrigen Bar. Herr Hammachef setzt sich für ein weiteres Stündchen an das Klavier und spielt, was der alte Kasten hergibt. Wie in jedem Jahr setze ich mich zu ihm, was ihn glücklich lächeln lässt. Da die Verkleidungen noch an der Wand lehnen, kann ich all die kleinen Hämmerchen verfolgen, die wie toll rasend auf die Saiten vorschnellen. Und weil wir heute keine Zeit verloren haben, gelangt mein Gigolo bereits nach einer halben Stunde an sein eigentliches Ziel: die selbst komponierten Stücke. Die Baratmosphäre ist nun trotz des störenden Tageslichts beinah perfekt und der alte Herr ist ganz offenbar glücklich. Er beginnt sogar mit seiner während eines langen Lebens brüchig gewordenen Stimme zu singen: „Marianne, meine Wo–Honn–Ne, du bist ne Wucht. Ma–Ri–An–Ne“ 15 Uhr 27 Herr Hammachef hat sich verabschiedet und fährt nun nach Hause. Genauer: Er versucht, nach Hause zu fahren. Perfekt ausgerüstet mit einem Baseballkäppie, das er kokett jugendlich mit dem Schirm im Nacken trägt, sitzt er hinter dem Steuer seines amerikanisch anmutenden Straßenkreuzers. Der glänzt immer noch golden, obwohl er nicht entscheidend jünger zu sein scheint als sein rüstiger Fahrer. Doch der Motor will heute nicht recht starten.
Während ich bereits Anstalten mache zu schieben, beginnt der Wagen, geräuschlos zu rollen. Mit konzentrierter Miene sitzt Herr Hammachef hinter dem Steuer und blickt stur geradeaus. Seine linke Hand grüßt mich militärisch zum Abschied, wobei ein Blickkontakt mit ihm nicht mehr möglich ist, denn obwohl der Motor noch immer nicht läuft, geht die Fahrt bereits rasant bergab. In Richtung Hauptstraße. Erst als der Kapitän dort schon beinah angekommen ist, springt sein Straßenschiff laut stotternd an. Herr Hammachef verschwindet um die Ecke. Und wie in jedem Jahr klingen seine Abschiedssätze nachhallend in meinen Ohren: „Na dann bis zum nächsten Jahr. Wenn ich dann noch lebe!“ 16 Uhr 3 Die Kinder trauen sich hervor und verlangen nach ihrem Mittagessen. Pizza? „Wollen wir Pizza essen?“ „Ja!!!“ „Wer holt sie denn eben?“ „Ach so.“ Stille. 22 Uhr 34 Nun ist es aber höchste Zeit, dass ich mich um meine Arbeit kümmere. Mit schlechtem Gewissen sitze ich vor dem flimmernden Bildschirm und habe gleich Grund, mich zu ärgern. Heute soll ich Rezensionen von deutschen Kinofilmen
übersetzen! Können die das mit mir machen? Dürfen die das? Nur weil mir der Job im Falle meiner Weigerung wahrscheinlich verloren geht, mache ich mich ans Übersetzen. Hier, oh nein: Pantoffelheld. Pantoffelheld! Slipperhero. Hahaha. To be hen-pecked, durchfährt mich ein guter Gedanke. Und schon wird der Hauptdarsteller des Films zum von Hennen gehackten Helden. 23 Uhr 59 Der nächste Text gefällt mir gleich viel besser, denn ich muss ihn nur vom Englischen ins Deutsche übersetzen. Welch seltenes Glück! Doch da geht’s schon wieder los: Wie übersetze man einen whodunit? Mit Krimi? Oder sagt man das nicht mehr? Wie wäre es mit einem Werhatsgetan? Oder ist whodunit längst so deutsch wie Grapefruit? Und sollte ich whodunit dann groß oder klein schreiben?
Sonntag, 1. Oktober 2000 14 Uhr 43
Die letzte E-Post ist verschickt. Bin noch online, als mich der Gedanke durchzuckt, einmal nachzusehen, wie Keith Kling im Internet wohnt. Würde ihn zu gern mal besuchen, nur mal kurz vorbeischauen. Obwohl ich fürchte, der Erfüllung meiner Wünsche damit nicht wirklich näher zu kommen, beglückt mich die Gewissheit, dass er zu Hause sein und sich über meinen Besuch freuen wird. Automatisch hämmern meine wissenden Finger bereits auf die Tasten:
www.KeithKling.com. Nudel zu, du Kasten. Da! Liedertexte. Kenn ich alle. Fotos. Mit Mama. Mit Kollegen. Mit Zunge raus. Zunge rein, Mund zu, Mund auf, Po in Jeans, Po aus Jeans. Einzelne Teile seines Körpers. Kein Penis dabei, schade. Die bindungslosen Bruchstücke animieren mich, mir seine Identität nach meinen Bedürfnissen zu erstellen. Fotos von Cindy Sherman rasen dabei über meinen inneren Bildschirm. Ein immer neues Ich in hundertfachen Posen und tausendfacher Verkleidung und diesem Ich liegt keine Identität zu Grunde. Die zwanzigfache Marilyn von Andy Warhol. Darstellung von Manipulierbarkeit der Identität. Und Keith Kling schickt Fragmente von sich ins Netz. Sollte er etwa auf der Höhe der Zeit sein, gar reflexiv, gar selbstironisch? Vielleicht ist er wirklich ein Künstler, kommt es mir in den Sinn. Dann lass uns gemeinsam authentisch sein! Aber fordert Kunst heute noch Echtheit? Ist Authentizität überhaupt noch ein denkbares Ziel, wenn Madonna, war es Madonna?, vielleicht auf Anraten irgendwelcher Trendscouts, in einer lang lüsternen Limousine die Nacht durchquert, obwohl sie, gemessen an dem Geburtsdatum ihres Kindes, wenn ich das richtig verfolgt habe, doch während des Drehs in der wirklichen Wirklichkeit gerade hochschwanger gewesen sein könnte. Dennoch repräsentiert sie im Video den puren Sex. Und zwar ohne Bauch. Dabei transzendiert sie, auch hier kann ich mich nur auf meine bruchstückhafte Erinnerung verlassen, ganz nebenbei locker die Geschlechterrollen, indem sie TableDancerinnen begafft. Steckt sie nicht einer sogar im gönnerhaften Big-Daddy-Stil Geld in das Höschen, besser in das, was
von der ursrünglichen Zweckform des Höschens übrig geblieben ist? Und du Keith? Mr. Kling? Um Authentizität bemüht? Wo ist dein Selbst? Gibt es das überhaupt noch? Gibt es dich überhaupt? Oder erwartest du von deinen Fans, dass sie deine Identität für dich finden? 17 Uhr 2 Habe Till vorgelesen, mit Mutter telefoniert, Kartoffeln geschält. Und einmal mein Lieblingslied von Keith Kling gehört. Nur einmal. Ich schwör’s. 22 Uhr 39 Schwul. Keith Kling ist schwul. Ich spüre es. Und außerdem: Wer ist das heute nicht: schwul. Vielleicht überschreitet er die Geschlechtergrenze in der Realität. Ist weder Mann noch Frau, wählt sich seine eigene Form der Existenz. Auch ohne Trendscouts. 22 Uhr 46 Es wäre mir einerlei. Will schließlich nicht mit ihm ins Bett. Suche einfach einen Menschen. Muss auch gar nicht Keith Kling sein. Doch wo ist dieser Mensch?
Montag, 2. Oktober 2000 11 Uhr 10
Montage. Mon–ta–ge. Ich hasse sie! Zu allem Überfluss ruft Lea schon wieder an. Hab ich etwa Geburtstag? Schon wieder? Warum sonst bestraft mich heute ihr Gefasel? „Ich habe bereits alle Weihnachtsgeschenke“, verkündet sie stolz. Lieber Gott! Sollte diese Nachricht der Grund ihres Anrufs sein? Sie lacht so triumphierend wie penetrant. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Weihnachten ist stressig genug, also verschont mich bitte bis zum 23. Dezember mit euren Konsumgedanken. Nascht mit mir Kekse und genießt meine Kerzen, aber ansonsten lasst mich bitte zufrieden. 12 Uhr 24 Bin nun genauestens darüber im Bilde, wer womit von Lea zu Weihnachten zwangsbeglückt wird. Nur schade, dass ich all die Leute gar nicht kenne. Uff. 13 Uhr 35 Das Essen ist heute lecker, nur den Reis hätte ich noch einmal umrühren sollen, ehe der Topf auf den Tisch wanderte. Doch obwohl die klebrigen Körner nicht gerade leichtfüßig auf die Teller springen, schmeckt es den Kindern heute so gut, dass sie alles auffuttern. „Möchte etwa noch jemand ein Stück Reis? Wem soll ich noch eine Scheibe davon abschneiden?“, fragt Kay grinsend, ehe er sich auch den allerletzten Rest nimmt.
15 Uhr 27 Habe gerade meinen für heute einzigen Artikel rechtzeitig abgeschickt – Körperfettmessgeräte sind das Größte seit Erfindung der Bratkartoffel! Wie sinnig. Der blöde Satz hätte mir fast eine Verspätung eingebrockt. Entschied mich für: „The device for measuring body-fat is the best thing since sliced bread.“ Bratkartoffeln, Brotscheiben, was soll’s! Bin aber unsicher, auch in Hinblick darauf, ob ich diesen dämlichen Job hinschmeißen soll – und ich bin noch online. Die Kinder sind ausgeflogen. Sollte die freie Stunde nutzen und meinen fraulich werdenden Körper zeitgemäß stählen. Der Augenblick wäre günstig, von der Sesselpuperin zur Läuferin zu mutieren, von der Couchkartoffel zur Schoggerin, vom Vanillepudding zum Stahlbeton. Anstelle dessen starre ich dumpf träumend auf den Bildschirm. Welt da draußen, melde dich! Keith, Mr. Kling wohnst du noch im Internet? Bist du zu Hause, mein Süßer? Ich komme dich vielleicht gleich besuchen, Darling! Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie du dich hilflos schüttelst bei dem Gedanken an all die vielen Frauen, die dich heimlich mit Worten liebkosen. Dein Pech! Nenn mir den Menschen, der berühmt geworden ist, ohne es zu wollen! Und weil er das nicht kann, tippen meine Finger gnadenlos die Buchstaben: www.KeithKling.com. Kurz darauf heißt er mich schon wieder bei sich daheim im Netz willkommen. Lässt mich heute gar Interviews lesen. Wow. Na ja, bei genauerem Hinsehen sind sie eher uninteressant. Blablabla. Keine bohrenden Fragen, noch weniger Antworten. Aber was will ich eigentlich? Der Mensch Keith geht
mich nichts an. Einzig seine vermittelte Fassade darf mich interessieren. Sie ist ein Konsumprodukt. Der Mensch, der sich dahinter versteckt hält, ist für die Fans ohne Belang. Kunst und Leben sind nicht dasselbe und passen auch oft nicht zueinander. Klar. Sollte mich also für meinen neuen Schwarm freuen, wenn die Kunst ihn nicht an ihrem fordernden Busen zerquetscht. Lautlos gleitet der Cursor durch sein Heim. Da, was ist das: E-Mails. Lustig. Würde Keith glatt eine schicken, sofort. Muss aber leider feststellen, dass nicht etwa Keith Kling virtuell erreichbar ist, sondern seine Fans. Einige von ihnen machen ihre Gedanken öffentlich, damit andere sie lesen können. Haha. Das ist wirklich toll. Überfliege die Texte und kann es kaum fassen: Gegen alle Hoffnung versuchen die verzweifelten Fans – Fächer, Verteiler des Ruhms – ihren Star – diesen leuchtenden Stern – zu erreichen. „Stehst du auf lila Locken?“, schreibt da eine erwartungsfroh. „Du schautest mich so an am HMHMHM um HMHMHM im Hotel HMHMHM in Hehehe.“ Fürchte, dieser blöde Text raubt mir endgültig meine Illusionen. Die hat er auch so angeschaut? Dachte, das hätte er nur bei mir getan. Also doch professionelles Anbrateln! Vielleicht beglückt er so die besonders bemitleidenswert Aussehenden. Oder die, die den Anschein erwecken, noch brav seine CDs zu kaufen, anstatt sie bei den virtuellen Tauschbörsen zu zocken. 16 Uhr 43 Schöne Zeit, wo bist du geblieben, als ich im Netz beim „Surfing Wohnzimmer“ verschollen war? Beschließe, wenigstens
eine E-Mail abzudrücken, um irgendetwas fabriziert zu haben. Als Adresse erscheint ohnehin nur mein anonymes Alias. Schreibe ich in Deutsch? Oder Englisch? Deutsch ist gut, denn die Wahl beweist mir, dass ich frei von falschen Hoffnungen bin, die so hoch wie Sterne hängen und die mir zudem nicht von einem Unbekannten erfüllt werden könnten, nur weil er eine geile Stimme hat und berühmt ist. Also schreibe ich: „Lieber Keith, du bist mein Stern, bescheinst die pechschwarze Wolke, von deren Hoffnungsschimmer bereits Milton fürchtete, getäuscht worden zu sein. Drum antworte mir nicht, damit du mein Lichtblick bleiben kannst. Deine Amanda.“ 16 Uhr 54 Das kann ich nicht abschicken. Oder doch? Das Internet ist bekanntlich gnädig. Letztes Jahr verabredete sich Clara im Netz mit einem Unbekannten. Es kam zu einem Rendezvous, bei dem sich herausstellte, dass Claras Chat-Partner mir gut bekannt ist. Und dass er leider verheiratet ist, wofür das Netz allerdings nichts konnte. Und hätten sie nicht den Fehler begangen, sich zu treffen, wären sie vielleicht noch heute ein glückliches Internet-Paar. Mutig klicke ich auf das Symbol für Versenden. John Milton (1608-1674), nach Shakespeare bedeutendster englischer
Schriftsteller.
16 Uhr 57 Telefon. Christian. Bekomme sofort rote Ohren und habe ein schlechtes Gewissen. So einen Unfug würde er mir nie verzeihen. Bringt nichts, ist nichts. Oder er würde sich totlachen. Aber er weiß nichts davon, denn ich habe ebenso viele Identitäten wie ein Star. Zumindest seit es das Internet gibt. Also Brust raus, Kopf mitsamt Nase hoch. Das Wesen, das diese unsägliche E-Mail verschickte, war nicht ich, war nicht die, die ich in diesem Augenblick bin. Und bei diesem Gedanken gelingt es mir, selbstsicher lockend zu girren: „Hallo, Liebling.“ „Tach Mandy. Du bist ja locker drauf. Wie war das Konzert?“ „Stark.“ Dass Keith Kling mit mir geflirtet hat, behalte ich wohl besser für mich. Außerdem hat er auch gar nicht mit mir geflirtet. Er hat nur eine Kundin beglückt. Hatte ich schon wieder vergessen. „Du, Mandy, ich habe noch Schulden bei dir. Du hast doch noch ein jüdisches Essen mit mir gut.“ „Anstelle des Essens waren wir segeln. Schon vergessen?“ Er räuspert sich. „Ne. Ich weiß, habe es nicht vergessen. Aber können wir nicht trotzdem noch essen gehen? Ich vermisse dich. Das ist wirklich so, bin einfach noch nicht völlig entwöhnt.“ Immer die alte Leier. Mir wird schlecht. Leider schlägt mein Herz wie wild dazu. „Gut. Ich muss schließlich auch an meine Finanzen denken. Ein gutes Essen gibt es nicht ständig umsonst. Essen ist gebongt. Bumsen nicht.“ Kein Adonis mehr in meinem Bett, denke ich und sage es auch beinah, aber Christian scheint
meine Bemerkung ohnehin überhört zu haben und macht einfach weiter im Text: „Wann?“ „Samstag Abend.“ Der Termin geht mir wie Butter von der Zunge. Warte, du Früchten. Unter Prime-Time, der besten Zeit, tue ich es nicht. Noch nicht einmal zum Essen kannst du mich während der Woche bewegen. „Samstag?“ Ich höre ihn trocken schlucken. „Wie wäre es mit Donnerstag?“ „Wunderbar, das passt auch wunderbar. Nur mir nicht. Da wirst du alleine gehen müssen. Oder jedenfalls ohne mich.“ Pause. „Also gut, Samstag.“ Das nenne ich, einen kleinen Sieg verbuchen. It made my day.
Dienstag, 3. Oktober 2000 18 Uhr 44
Wieder so spät dran mit meiner Arbeit. Was bitte heißt: „Er ging das heiße Eisen an.“ „He touched the hot potato?“ Und kann ich „Pferdefuß“ mit „hiccup“, Schluckauf, übersetzen? Oh ne, oh ne, oh ne! Sollte einfach reich und berühmt werden. Als Rock- oder Popdiva etwa. Das wäre nicht so anstrengend und irdisch. Bestimmt würden mir meine Fans freiwillig, freudig ihr Geld rüberreichen, wenn ich nur aufhörte zu singen.
Mittwoch, 4. Oktober 7 Uhr 57
Meine E-Post verkündet mir, dass irgendjemand in diesem Haus Fahrradzubehör für einhundertdreiundachtzig Mark und zwanzig Pfennig bestellt hat. Frage mich ernsthaft, wann die Kinder endlich kapieren werden, dass auch im Internet die Bezahlung nicht virtuell abläuft. Nicht ärgern, Mädchen. Geh besser erst einmal Gassi, den Köter walkieren. Punkt 10 Uhr Beschließe, meinen Kleiderschrank weiß zu streichen. Wenn ich mir schon keinen neuen leisten kann, muss eben ein wenig Kosmetik auf das gute Modell aufgetragen werden. Ist immerhin noch jünger als ich, sollte schon deshalb noch lange nicht ausrangiert werden. Bin ja selbst noch nicht einmal vierzig. Ein Frühlingsküken geradezu! Das muss doch mal gesagt werden! Ich mag dich, Mandy, du bist Klasse! Und eigentlich hast du es doch gut … 10 Uhr 24 Im Baumarkt entscheide ich mich für ein großes Eis am Stiel und für die Farbe „Kokosnuss“. Warum die so heißt, ist mir allerdings schleierhaft. Eierschalenweiß wäre zutreffender, aber wahrscheinlich nicht exotisch genug. An der Kasse quatscht mich ein Typ an, weil ich ein Eis esse. He chats me up. Halt dein Maul, mich regt das auf. Oder besser: Du bist
nicht mein Typ. Habe zwar nichts gegen Heimwerker, hätte selbst gerne einen, aber du bist es nicht. 10 Uhr 44 Es kann losgehen: Die Leiter ist vom Nachbarn geliehen. Schnell, schnell Papier um den Schrank verteilt, Zeitung wird reichen. Einen neuen Pinsel habe ich zufällig noch, hatte gar nicht daran gedacht. Sogar die Griffe schraube ich fachfrauisch von den Schranktüren ab. Wozu brauche ich eigentlich einen Mann? Zum Na Ja, na klar, aber sonst kann er ruhig auf seiner Weide bleiben. 11 Uhr 1 Trage den ersten Pinselstrich auf. Ob ein Anstrich genügen wird? Habe eigentlich schon jetzt gar keine Lust mehr. Hätte ich es doch sein lassen. Aber jetzt ist es zu spät. Hauptsache, die Farbe tropft nicht auf die Klamotten, denn die hängen natürlich noch im Schrank. Ich such doch die Arbeit nicht. Und von innen will ich den Schrank schließlich auch gar nicht streichen. Muss ein bisschen grinsen, denn diese Aktion könnte die finale Rache sein: Christian würde mich würgen, wenn er davon wüsste. Und das sogar, obwohl sich seine Kleidung längst nicht mehr in diesem Schrank befindet.
11 Uhr 44 Der erste Anstrich ist fertig. Das verhasste Stück sieht nun erst recht entsetzlich aus. Vorsichtig öffne ich eine der Türen und ahne Böses. Die Finger sind weiß und kleben, aber die Kleidung ist noch genauso bunt wie vor meiner Anstrengung. Auch neue weiße Sprenkel entdecke ich nirgends, denn Glück hat auf Dauer eben doch die Tüchtige! 23 Uhr Der zweite Anstrich sitzt. In meinem Schlafzimmer stinkt es erbärmlich. Glaubte ich der Aufschrift auf der schick durchsichtigen Farbdose, bekäme ich Appetit auf einen Schluck Natur in „Kokosnuss“. Die anpreisenden Worte entpuppen sich also wieder einmal als reine Konsumhilfe, auch Lüge genannt. Der Schrank jedoch sieht, was ich nicht mehr erwartet hatte, gut aus. Auf jeden Fall viel besser als vor Beginn meiner Aktion. Um einen dritten Anstrich allerdings werde ich nicht herumkommen.
Donnerstag, 5. Oktober 2000 9 Uhr 10
Habe Hannah gesehen, als ich mit Frau Hund spazieren ging. Amor hatte den Arm besitzergreifend um eine der süßesten aller Töchter gelegt. Warum ist sie nicht in der Schule? Werde sie darauf ansprechen müssen. Und das selbst auf die Gefahr hin, mich unbeliebt oder gar ungeliebt zu machen.
17 Uhr 2 Als ich den Laden betrete, gongelt die Glastür fröhlich und ich erblicke einen knappen Body aus weinrotem Samt mit tiefem, von Perlen umrankten Dekolleté, der aufmunternd in der Luft schwebt. „Wirklich ein Traum! Was kostet er denn?“, fragt die piepsige Stimme einer zierlichen Kundin, deren Gesicht ich nicht sehen kann. „Fünfhundertneununddreißig, gnädige Frau.“ Jetzt bin ich neben der gnädigen Frau angekommen. Sie ist ein sehr junges Mädchen, das mittlerweile bereits Anstalten macht, den horrenden Preis folgsam mit einer EC-Karte zu bezahlen, während ich noch bemüht bin, die nervösen Zuckungen, in die er mich versetzt hat, zu unterdrücken. Wundere mich dabei, von welchem Teufel ich geritten wurde, diesen Laden überhaupt zu betreten. Irgendetwas muss mich so lange magisch angezogen haben, bis ich schließlich in der kleinen Dessous- und Strumpfboutique „Calze“ stand, die in ihren Fenstern mit einzelnen wunderschönen Plastikbeinen in neckischer Verpackung die Kundin zum Leichtsinn verlockt. Wieder bei Sinnen denke ich lästerlich, dass die abben Beine auch auf Keith Klings Homepage erscheinen könnten. Und dass der Laden auch „Socks“ heißen könnte oder „Chaussettes“. Oder eben einfach „Socken“. Das tut er aber nicht, denn der Name „Socken“ könnte bei der vermeintlich hygienisch reinen Kundin unserer Gesellschaft einen ungewöhnlichen Fantasieschub und damit trügerischen Schweißgeruch
evozieren. Grinse und weiß plötzlich, was ich hier will: halterlose Strümpfe kaufen. Schwarz. Die haben mich bereits aus dem Schaufenster angestarrt. Frau kann schließlich nie wissen, was sie erwartet. Und allzeit bereit ist sogar ein Motto der Pfadfinder. Vielleicht werde ich ja auch einmal einer, ein Scout, ein Trendscout oder so.
Samstag 7. Oktober 2000 17 Uhr 13
Bin aufgeregt. Meinen ungefähr achten – oder ist es bereits der zehnte? – Becher Milchkaffee gieße ich schließlich in die Spüle und greife zur Baldrianflasche. 17 Uhr 23 „Kinder, Kinder, sie geht wieder mal mit Papa aus.“ „Die nächsten Tage werden fürchterlich.“ „Ihr Frust auf unseren Schultern.“ „Lass ihn doch endlich zufrieden!“ „Hat er dich heute schon betrogen, Mutti?“ „Wenn ihr nicht gleich still seid, gibt es nicht ein einziges Mal Pizza in der ganzen nächsten Woche.“ 19 Uhr 21 Bin zu spät dran. Sollte ich mich noch einmal umziehen? Bin ich zu platt für dieses Kleid? Auf meinem Bett türmen sich bereits die Klamotten, die nicht infrage kommen. Quatsch.
Ich bleib, wie ich bin. Ganz natürlich, kein Stress. Und die halterlosen Strümpfe? Soll ich sie anziehen? Entscheide mich dafür, sie mitzunehmen. Sicher ist sicher. Bereit sein ist alles. Im vorderen Fach meiner raffinierten Handtasche ist gerade genug Platz für sie. 22 Uhr 55 Das gemeinsame Essen mit Christian war sehr romantisch und muss wohl aphrodisische Wirkung gehabt haben. In seiner Wohnung brennen bereits die Kerzen, als ich hereinkomme. „Leichte Beute, Mandy, Vorsicht, du wirst zur leichten Beute“, entziffere ich die züngelnde Schattenschrift auf der Wand. Emotionsebene von Sachebene trennen! Zack zack, es eilt! „Grabkammer.“ Huch, warum habe ich das gesagt? „Was? Das ist Romantik pur! Du … Mandy …“ Er nestelt gekonnt schamhaft an einem seiner Hemdenknöpfe herum. „Ja?“ „Zieh doch mal die geilen Strümpfe an, die du in deiner Handtasche mit dir herumschleppst.“ „Bitte?“ Mir bleibt die Spucke weg. „Woher weißt du das denn?“, stottere ich. „Du hast sie vorn in den durchsichtigen Teil der Tasche gesteckt.“ Ich fühle, wie mein Gesicht rot anläuft und mein Hals wie Feuer zu brennen beginnt. Hitzewallungen, Rotlauf und Fleckfieber gleichzeitig könnten kaum schlimmer sein! Habe die ordinären Biester den ganzen Abend gut sichtbar an meiner
Seite spazieren geführt! Wie peinlich! Wie dämlich. Warum passiert mir so etwas? „Reg dich ab. Ich find das völlig cool. Und freuen tue ich mich auch darauf. Wusste ich doch gleich, wie schön es heute noch wird.“ „Blödmann!“ „Zieh sie doch mal an.“ Er umarmt mich von hinten und beißt mir dabei zärtlich fordernd in den Nacken. Ich bleibe hart: „Nein. Mir ist die Lust vergangen. Ich will nach Hause. Mit uns geht immer alles schief.“ „Zeig mal her.“ Lächelnd fingert er die Strumpfpackung aus der Handtasche. „Stark“, murmelt er dabei und es klingt anerkennend. „Mit Naht. Komm, sei keine Spielverderberin.“ „Mag nicht.“ „Jetzt bist du wieder das kleine Mädchen von damals.“ „Auch die Tour zieht nicht.“ „Mandy, das ist doch unfair. Du kannst mich haben, wann immer du willst. Machst mich erst heiß und dann auf Blümchen.“ 23 Uhr 21 „Also gut. Gib her die Biester.“ Unfair will ich schließlich nicht sein. Christian lehnt sich triumphierend in seinem Sessel zurück und schaut mir in freudiger Erwartung zu, während ich genussvoll den einen Strumpf zu einem kleinen Ring zusammenrolle, in den ich dann zierlich mit dem rechten Fuß hineinschlüpfe, um ihn langsam, ganz langsam, noch langsamer das Bein entlang nach oben abzurollen.
Ich höre Christian trocken schlucken. „Geil. Du bist brutal.“ 23 Uhr 22 „Es bringt mir auch Spaß. Ich benutze dich auch“, grinse ich ihn an. „Jetzt den anderen. Nein. Warte. Zieh erst dein Höschen aus.“ 23 Uhr 45 Jetzt stehe ich mit einem halterlosen Strumpf, der den rechten Oberschenkel mit seiner abschließenden Spitze umfasst, und ohne Höschen da. Weiß nicht so genau, wie ich mir dabei vorkommen soll. „Den anderen! Zieh den anderen Strumpf an.“ Mit zitternden Händen fingere ich ihn aus der Tüte. Schön, die Spitze, denke ich und versuche, den Strumpf unaufgerollt über den Fuß und das Bein zu ziehen. Das geht erstaunlich leicht, denn er ist kürzer als ein Kniestrumpf. Seine obere Weite aber entspricht dem Umfang eines Oberschenkels. Fabrikationsfehler. Stehe da wie Klein Erna, fühle mich gedemütigt, aber nur ein bisschen, denn ich weiß, wie hart das Leben ist. Ein zu kurzer Strumpf bedeutet nicht den Untergang der Welt. Selbst wenn man, genauer frau, kein Höschen, einen halterlosen Strumpf und einen weiteren ohne Bein trägt. Selbst wenn der Typ, den es zu verführen gilt, sich in seinem bequemen Sessel vor Lachen biegt.
Schaue ein wenig unschlüssig an meinem linken Bein herab. Der kurze Strumpf mit seinem passgenau gearbeiteten oberen Spitzenabschluss schlackert mir hilflos um den Knöchel. Mitleid erregend. Warum immer ich? „Warum immer ich?“ „Komm schnell zu mir!“ Christian schnauft und prustet vor Lachen. „Entschuldige. Das ist zu komisch.“ Das Lachen platzt jetzt schwallartig aus seinem Gesicht. „Komm schnell zu mir, ich tröste dich.“ „Hör auf.“ „Es sieht trotzdem gut aus. Du machst mich auch mit einem Strumpf ohne Bein an. Wirklich.“ Er wiehert die Worte hinaus wie ein Gaul. „Hör auf.“ „Kann nicht.“ Sein Gesicht ist wahrscheinlich röter als meines. „Blödmann.“ „Ich kann doch nichts dafür.“ „Immer wenn ich mit dir zusammen bin, werde ich klein gehalten.“ „Hehehe“ „Mistkerl.“ „Mach mal halblang.“ „Arsch.“ „Heute bist du aber ganz flott auf Krawall gebürstet, Amanda. Armada. Kleine Kriegsflotte.“ „Affe.“ „Fregatte.“ Er zieht mich an sich und versucht doch tatsächlich, mich zu küssen.
„Lass!“ „Ist doch immer so schön. Weiß gar nicht, was du willst.“ „Zieh wieder zu uns, sei mir treu, verhilf mir zu einem frohen Leben und mach, dass der Strumpf lang wird.“ „Wenn ich das könnte.“ „Konntest du früher auch. Ich war glücklich mit dir. Was habe ich falsch gemacht?“ „Nichts. Du bist Klasse. Du hast Klasse. Nur, kein einzelner Mensch kann einem anderen alles geben.“ „Aber fürs Bett könnte einer genügen. Mehr habe ich nie verlangt. Treue.“ „Ich habe Angst, etwas zu verpassen, mag mich nicht immer beherrschen, mag nicht immer verzichten.“ „Freiheit ist, das gern zu tun, was man ohnehin tun muss.“ „Ich muss das aber nicht tun. Ich muss nicht verzichten.“ „Okay, okay, sag mir aber mal eins: Warum kommst du wieder angekrochen?“ „Oh, Mandy.“ Er blickt mich lange an. Der Kloß in meinem Hals wird so groß, dass er mich zu ersticken droht. „Weil ich dich liebe. Ich liebe dich.“ Ich glotze ihn an. Wenn doch bloß dieser blöde Strumpf nicht so um meine Fessel schlabberte. „Christian, wie soll ich damit denn leben? Ich habe dich so geliebt und dann hast du begonnen, mit mir zu spielen.“ „Es tut mir Leid, Mandy. Aber ich kann dir nur das geben, was ich habe.“ „Das ist viel. Und doch wieder auch fast gar nichts.“ Als er mich dann küsst, hat das eine umwerfende Wirkung auf mich.
„Bring mich ins Bett. Schnell, ganz schnell, ehe ich es mir anders überlege. „Oh ja. Schnell, schnell.“
Sonntag, 8. Oktober 2000
0 Uhr 23
Erschöpft liege ich wie ein Käfer auf dem Rücken und streichle gedankenverloren Christians Körper. Schön sieht er aus im Schein der Straßenlampe, der durch einen Spalt in der dunklen Chintzgardine dringt, durchtrainiert, breitschultrig, braun gebrannt, mit allen Attributen der Lifestylebranche versehen. Der Käfer fühlt sich winzig und unscheinbar neben ihm. Und plötzlich wird er wütend. Zum ersten Mal seit der Trennung wird der kleine Käfer wirklich wütend. Ob das ein gutes Zeichen ist? „Du machst es mir gut im Bett. Zahlen tust du dafür am Monatsende. Danke. Ich bin fertig für heute. Jetzt bring mich bitte zu meinem Wagen, es ist dunkel draußen.“ Er öffnet ein Auge, um schläfrig zu murmeln: „Drinnen auch. Hast du die Kerzen ausgepustet? Muss geschlafen haben. Zünde sie doch noch einmal an.“ „Nein!“ „Dann tu ich es.“ Er steht auf und ich sehe schattenhaft, wie er seinen phantastischen Body in Richtung des größten der Leuchter bewegt.
2 Uhr 4 „Bring mich zu meinem Auto.“ „So? Du bist doch ganz nackt. Ich meine, mir macht das nichts aus, aber was werden die vielen Leute dort draußen sagen?“ „Da ist niemand.“ „Dann komm schnell.“ Er lacht. Umständlich versuche ich, in meine verknüdelte Strumpfhose zu steigen. „Welche Strümpfe ziehst du nun an? Die normalen oder die asymmetrischen?“ „Von denen wirst du wahrscheinlich noch jahrelang schwärmen.“ „Kann schon sein. Die sind doch echt Spitze.“ „Der Kavalier genießt und schweigt.“ „Bleib doch heute Nacht hier.“ „Geht nicht.“ „Warum eigentlich nicht? Wir haben in der letzten Zeit so selten nebeneinander geschlafen.“ „Stimmt.“ „Also?“ „Du bist nur zu faul, dich aus dem Bett zu erheben.“ „Ich erhebe mich locker. Guck mal.“ Grinsend blickt er an seinem Körper hinunter. „Geht das schon wieder los? Du bist unersättlich. Ich will jetzt nach Hause.“ „Warum? Mandy.“ Der Schmelz in seiner Stimme ist unglaublich. Dreist. Siegesgewiss. Es reicht. „Ich will nach Hause.“
Fragend schaut er mich an und drängt mich mit seinem Blick in die Enge. Der Typ ist dominant. Merkwürdig, dass ich mir dessen bislang nie bewusst war. Verdammt, ja, er ist dominant und ich spreche es in dem Augenblick aus, in dem ich es erkenne. „Du bist dominant. Tausend Jahre lang hast du versucht, mich als dominant bloßzustellen, zu tadeln, dabei bist du es doch, der ständig den Ton angibt.“ „Was ist denn nun los?“ „Und außerdem bin ich verliebt. In einen anderen Mann.“ „Keith Kling. Hahaha. Du bist unglaublich. Völlig irre.“ „Nein!“, sage ich bestimmt, obwohl ich verunsichert bin und gern wüsste, was die Kinder ihm gemeldet haben? „In wen denn?“ „Geht dich nichts an. Ist ohne Bedeutung, wird sowieso nichts draus. Bin eben zu unattraktiv.“ „Du und unattraktiv.“ „Die Männer verlassen mich.“ Das klang schnippisch und lässt die Szene völlig unwirklich erscheinen. „Du spielst Theater, Liebling. Verlassen hat dich nur ein Mann. Und das war sein Problem, hatte nichts mit dir zu tun, war weder deine Schuld noch hatte es irgendetwas mit deiner Attraktivität zu tun. Kapier das endlich.“
Donnerstag, 19. Oktober 2000 9 Uhr 20
Scheiße. Scheiße. Scheiße. Werde das nie kapieren und habe gerade eine nicht ganz kleine Stange Toblerone gegessen.
Was soll’s, wenn Mann mich nicht mehr liebt, bekomme ich eben Blähungen und werde fett. Christian fände es entsetzlich, sich auch nur vorstellen zu müssen, wie jemand so viel Süßes in sich hineinversenkt. Aber er interessiert mich nicht mehr. Basta. Außerdem hat er doch immer gepriestert, man müsse die Aufgaben annehmen, die auf einen zukommen. Und wenn dann jemand so einen Schokotorpedo in meinen Weg legt, dann muss ich mich eben der Aufgabe stellen und das Biest vernichten.
Sonntag, 29. Oktober 2000
9 Uhr 6
Mal sehen, was der elektronische Postbote für mich dabeihat. Verschlafen hänge ich in meinem gigantösen UraltKnautschledersessel vor dem Bildschirm, werde dann aber plötzlich wach und kippe beinah meinen Kaffee über die Tastatur. Traue meinen Augen nicht: Post von Keith Kling! Mit zitternden Händen hole ich sie vom Server, dem Bediener, den hiesige Sportler auch schon mal Surfer nennen, warum nicht, Hauptsache Englisch. Und es dauert. Warum hab ich nur auf „Alles abholen“ geklickt? Die viele Post der Kinder mit Bildchen und Spielchen geht mir in diesem Augenblick sehr nahe … Bis ich ruhig werde und mich gelassen zurücklehne, um über mich selbst zu lachen. So ein Quatsch. Natürlich haben die Kinder meinen kleinen spätpubertären Ausrutscher bemerkt und antworten mir jetzt von irgendwoher,
vielleicht sogar von eben diesem, meinem eigenen Computer. Geht das? Ein „Alias“ ist so schnell eingerichtet, wie ich das Wort „Äleiäs“ von der Zunge über die Lippen rollen lasse. Da. Da ist sie. Na wartet. Oder warte, wer immer es wagt. Du Fremder oder Bekannter, der du dich auf meine Kosten amüsieren möchtest! Beinah belustigt beginne ich zu lesen. „Hi Amanda, ist das deine wirkliche Name? Ist dein Sex weiblich?“ Ein Psychopath! Ich habe es gewusst. Spricht mir im ersten Satz von Sex. Ach so, ja, er meint Geschlecht, will wissen, ob ich eine Frau bin. Okay, genehmigt. Obwohl, sicher wünscht er, ich wäre keine, warum fragt er sonst? Wer kommt denn gleich auf so etwas? „Wie bist du? Du kennst Milton? Wow. Du bist die silver lining von mein Leben. Hoffnungsschimmer ist ein gut Übersetzung. Schade nur, dass du nicht mein E-Mail willst. Kannst du nicht ein blindes Auge dazu drehen und mich trotzdem antworten?“ Ein blindes Auge drehen? Hilfe! Ach so, ich hab’s. „To turn a blind eye to something“, bei etwas ein Auge zudrücken. Alles klar. „Nenn mich Kim, damit du mich nie für das in Wirklichkeit so normale Popstar hältst.“
9 Uhr 26 So ein Spinner. Wer das wohl geschrieben hat? Kim, so heißt Kays Freundin und so heißt auch ein männlicher Bekannter aus Schweden. Welches Geschlecht hat er oder sie oder besser, welches hätte er oder sie gern? Wer hat mir diese merkwürdige Mail geschrieben? Ein Schwuler? Eine Lesbe? Transsexueller? Transvestit? Hetero? Hete? Was erwartet er/sie von mir? Sollte ich Angst haben? 9 Uhr 28 Bewusst versuche ich mich daran zu erinnern: Eins meiner eigenen Kinder könnte vielleicht der Übeltäter sein und die E-Mail fabriziert haben. Das fände ich gemein. 10 Uhr 32 Die Post geht ab! Darin steht: „Lieber Kim, höre auf, mich zu veräppeln, du Pseudo-Keith. Milton kannst du dir an den Hut stecken. Wahrscheinlich hättest du ihn vor dem Lesen meiner E-Mail noch für eine neue Marke Wegwerfwindeln – falls du, wovon ich ausgehe, deutscher Herkunft bist: Es handelt sich dabei um Pampers! – gehalten. Amanda.“
10 Uhr 49 „Armada, komm, kämpf mit mir. Mein Sonntag wird sonst zu boring. Wer bist du? Schreib mir in Ruhe, denn ich muss nun auf meine schwarze Wolke zum Schlafen. Die Nacht war lang und ich bin müde. Schreib mir von dein Tag. Bis heute Abend. Kim.“ Warum nennen mich in letzter Zeit alle Armada? Christian hat es auch getan. Christian? Da kommt mir ein übler Gedanke: Sollte der hinter den Mails stecken? Wie sollte er von meiner Verrücktheit Wind bekommen haben? Unmöglich. Quatsch. Und doch, als alter Seemann hat er vielleicht so lange mit dem Vorsegel gespielt, bis er ein wenig Wind gefangen hat. Die Kinder? Haben die Kinder meine blöde Mail gelesen und ihm davon berichtet? Mir wird schlecht. Ich werde nicht mehr antworten. 22 Uhr 45 „Liebe Man, ich lag lange wach und tagträumte von dich. Wer bist du? Warum hast du nicht geantwortet? Wenn ich dir ein ticket schicke, kommst du nach London? Wir können nichts verlieren. Keith. Das ist mein richtige Name.“
23 Uhr 59 Kein Anruf von Christian. Keine Blumen. Nur ein Irrer, der mich gar nicht kennt und in London umbringen will. Lieber Gott, ich fühle mich so allein. Die Kinder schlafen. Danke, dass es ihnen gut geht. Mehr kann ich mir eigentlich gar nicht wünschen.
Montag, 30. Oktober 2000 7 Uhr 45
Acht Brote gebuttert, gehonigt, bemarmeladet und schokobestreuselt. Zwei von meinen Kindern heftig tschüßgeküsst, einen Turnbeutel zur Schule hinterhergetragen, mich zurück nach Hause geschleppt, dann noch ein Pausenbrot auf der Treppe gefunden. Montage! Könnte ein wenig Spaß gebrauchen. Keith! Kim! Werde meine E-Mail-Adresse nicht ändern! Schreib mir weiter, erheitere mich! Mir kann nichts passieren, denn du wirst nie erfahren, wer ich bin, wie ich heiße, wo ich wohne. Deshalb drücke ich folgende Zeilen durch das Netz: 10 Uhr 31 „Ich kenn dich doch gar nicht. Und du mich auch nicht. Das geht mir zu schnell. Mandy.“
14 Uhr 1 Nichts. 15 Uhr 31 Nichts. 17 Uhr 10 Nichts. Meine Arbeit nicht erledigt. 19 Uhr 43 Post! Endlich! Oh weh. Sie entpuppt sich als eine Droh-Mail von meinem Arbeitgeber: „Wenn der Text nicht bis 8 Uhr hier ist …“ Blablabla. Komm runter, Kleiner. Du kriegst ihn schon noch. 21 Uhr 34 „Okay ganz langsam. Also, Liebe Man, ich bin ein Mensch mit viele Bekannten, auch Freunden und doch einsam, auf der ganzen Welt zu Hause und nirgends wirklich at home. Leben kann ich nur in mein Musik. Kein Mensch dringt durch zu mein Herz. Liebe scheint mir niemals echt und dennoch kann ich nicht aufhören zu hoffen. Nicht auf eine bürgerlich Leben, aber
auf Attraktion und Vertrauen, auf das Aufbrechen von meine Hülle aus kaltes Metall. Keith. p.s. Und du? Ganz normal? Glaub ich nicht. Milton im dritte Millennium … Der gehört für andere ins 7. Jahrhundert, sogar und speziell dann, wenn sie noch nie von ihm gehört haben.“ 22 Uhr 4 Liebe Man? Warum schon wieder Man? Von Mandy, klar. Oder hält er/sie mich tatsächlich für einen Mann? Was ist er selbst? Oder was ist sie? Mann oder Frau? Mischform? Was bin ich? Attraktion ist auch nicht schlecht. Interferenz, klarer Fall, er meint Anziehung. Apropos Interferenz: Ich sollte doch noch arbeiten …
Freitag, 3. November 2000 Mir geht es viel zu gut. So gut, dass der nächste Einbruch nicht lange auf sich warten lassen wird. Kann doch nicht wahr sein, dass jemand jeden Tag grundlos bereits mit guter Laune aufwacht. Heute erzeugt mein Caffè Latte sogar ein Magenkribbeln, das sich anfühlt, als wäre ich verliebt. Wie warme, langsam durch meinen ganzen Körper kriechende Sehnsucht. Wie hoffende Erwartung. Dabei ist nichts passiert, es gibt keinen Grund, keinen tollen Job, keinen realen Mann, der auch mein Alltagsgesicht schätzt, kein besonders auf-
regendes oder sonstwie prickelndes Ereignis, das vor der Tür steht. Der Pseudo-Keith-Kling kann der Grund nicht sein, denn der ist zwar ganz lustig, aber verrückt und nicht echt. Es ist eher so, als wäre mein Körper mittlerweile in der Lage, grundlos Glück spendende Hormone durch mein System zu schießen. Wofür ich früher den Zufall des Verliebtseins oder den Moment einer glücklichen Fügung brauchte, reicht es mir heute aufzuwachen, da zu sein, froh zu sein. Spitze. Es tut mir gut, faltig zu werden, was will ich mehr?
Samstag, 4. November 2000 19 Uhr irgendwas
Clara steht unangemeldet vor der Tür. „Wie geht es dir, Liebes?“ Sie sieht aus wie aus einem Hollywood-Streifen geschlüpft. Einfach toll. Ihr Mund lächelt breit und ehrlich, ihre Augen sind schön und strahlend. Alles scheint natürlich an ihr. Der liebe Gott hat großzügig verteilt. Dicke Haare, dicke Augenbrauen, straffes Bindegewebe, ein nicht ganz kleiner, noch immer jugendlich verdichteter Busen zu einem schlanken Körper, an dem das hellgrüne Edel-Twinset, das zum Vorschein kommt, während sie ihren Kaschmirmantel locker von den Schultern streift, wie gewachsen wirkt. Als wäre sie in teuren Tüchern geboren worden. „Du trägst keine russische Folklore?“, frage ich sie und grinse verschmitzt dazu. Wortlos stellt sie eine Papiertüte mit klirrenden Flaschen auf den Küchentresen.
Stunden und fast zwei Flaschen Champagner später „Du spinnst. Wie kannst du mit so einem Typen E-Mails austauschen? Das bringt doch nichts! Was du brauchst, ist ein guter Job. Oder wenigstens ein Mann! „Ne, was ich brauche, Clara, ist eine Ehefrau. Fürs Grobe, sozusagen. Auf die kann ich mich dann verlassen. Außerdem weiß ich selbst, dass sich da jemand einen Spaß mit mir erlaubt. Ist doch egal, ob Keith Kling oder Paulchen Panther. „I don’t want to sleep with you. I don’t need that passion, too.“ Kein Sex, keine Leidenschaft. Kennst du den Text von Freddy Mercury?“ „Nee. Aber der war genauso schwul wie Keith Kling.“ „Und? Ich will nur jemanden, der für mich da ist. Verstehst du, ich suche einen Freund, der mich tröstet, wenn es dunkel und kalt ist.“ „Mmmph. Wenn du meinst. Gib mir noch einen Schluck.“ Müde lächelnd streckt sie mir ihr Glas entgegen und sieht dabei immer noch so schön aus.
Sonntag, 5. November 2000 11 Uhr 41
Mir dröhnt der Kopf und jemand hat es gewagt, zu dieser nachtschlafenen Stunde, an der Tür zu klingeln. Offenbar bequemt sich keiner zu öffnen. Alles wie gehabt, fluche ich stumm, als ich tapfer und ohne Rücksicht auf Verluste die Treppe herunterwanke. Vor der Tür steht der Single-Nachbar und es ist ihm ganz peinlich, mich so zu sehen. Und weil er zudem ein höflicher Mensch ist, dem meist die richtigen Worte einfallen, sagt er, sich liebenswert entschuldigend:
„Macht gar nichts, dass du eine Maske draufhast.“ Ich überlege. Ach so, verstehe, was er meint, und antworte: „Ich habe gar keine Maske drauf, so sehe ich aus.“ Der Arme errötet und sieht aus, als hätte er lieber nicht geklingelt. In diesem Moment blickt Clara um die Ecke und endlich sieht auch sie einmal nicht ganz frisch aus.
Montag bis Freitag, 6. – 10. November 2000 Stress.
Wochenende 10. – 12. November 2000, 22 Uhr Nichts. 23 Uhr „Keith? Wo bist du, was tust du, stehst du eigentlich auf SadoMaso?“ Die Antwort kommt prompt: „Man? Haaaaaa? Was ist jetzt auf? Ich bin in Tokyo, sitze den ganzen Tag vor mein note-book, bin immer online und warte auf dein Post. Wenn du das glaubst, bist du romantischer als es die Zeit erlaubt. Zu dein letzte Frage: nein, ich glaube nicht! Keith.
Wann darf ich dir dein tickets schicken? Ich will dir treffen. Bitte. Please …“
Montag, 13. November 2000 16 Uhr
Fühle mich schlapp ohne Ende. Der November erscheint mir jedes Jahr wie die Einfahrt in einen Tunnel. Draußen wird es gräulich, beim Hundespaziergang kriecht mir die nasse Kälte unter die Jacke, meine Finger beginnen zu schmerzen und der Weihnachtstrubel steht vor der Tür. Oh du fröhlicher Konsum! 20 Uhr 17 Habe gerade mit den Kindern einen großen Teller Tomaten mit Mozzarella und frischem Basilikum verdrückt. Bin jetzt auf dem Weg ins Bett, um ein wenig Kraft zu tanken. Noch sitze ich auf der Fensterbank im Badezimmer und putze mir hingebungsvoll die Zähne. Im Schein der Straßenlaterne sehe ich Herrn Müller ohne seinen Hund vorbeigehen. Der arme Mann ist so sehr daran gewöhnt, abends noch Gassi gehen zu müssen, dass er sich dieser Routine noch Monate nach dem Tod seines Hundes unterwirft. So ist das. Zuerst bist du jung und knackig und alle reißen sich um dich und deine Arbeitskraft, später bleibt dir nur noch dein Hund und wenn der dann auch tot ist, gehst du eben weiter, bis auch dein Weg sein Ende erreicht hat. Nicht mehr. Nicht weniger. Vielleicht hätte ich mich in das Abenteuer Tokyo begeben sollen. Wo
auch immer das stattgefunden hätte. Vielleicht hätte er mich mitgenommen: Pseudo-Keith-Kling und Mandy Bierschwall, das Traumpaar in Asien!
Dienstag, 28. November 2000 17 Uhr 14
Der Adventskranz schwebt munter in der Küche. Er hängt so tief, dass wir ihn nicht übersehen können. Und wenn wir es dann doch tun, laufen wir dagegen, was spätestens in zwei, drei Wochen zu einer sichtbaren Entlaubung, besser: Entnadelung, führen wird. Letztes Jahr ließen wir den Besen irgendwann gleich im Wohnzimmer stehen. Aber es gibt dennoch Gründe dafür, den Kranz so tief zu hängen: Die Kinder sind zufrieden, weil sie ihren Kopf vorsichtig durch das Loch in seiner Mitte bohren können, um von dort kichernd herauszublicken. Ich habe ihn auf diese Weise ständig vor Augen, was mir auch deshalb wichtig ist, weil er im Schweiße meines Angesichts und meiner Füße gewunden wurde. Die Nachbarn scheinen andere Ansprüche im Hinblick auf Weihnachtsstimmung zu haben. Aggressiv zucken mir mittlerweile ihre aufgerüsteten Fenster grellbunte Freudenbotschaften entgegen, die auch noch die Nacht entweihen, indem sie störend in unsere Schlafzimmer eindringen. 20 Uhr 17 Habe brav die Nachrichten gesehen. Habe jetzt wieder einmal das Gefühl, eine Pflicht erledigt zu haben, obwohl
ich gleichzeitig ahne, dass die Nachrichten ihren Namen bekamen, weil sie nachgerichtet sind. Auf den Geschmack des Kunden und die Zeit zugeschnitten. 20 Uhr 21 Gönne mir einen Adventspiccolo. 21 Uhr 14 Eine E-Mail wartet in unserem Briefkasten. Ihr Betreff lautet: „Der Link funzt nicht“. Da ich diese Sprache nicht spreche, schließe ich daraus, dass die Post nicht für mich ist. Schade. Hicks. 21 Uhr 37 Bin betüdelt. Die drei Piccolos müssen doch größer gewesen sein als ich dachte. Mit Gott und der Welt zufrieden starre ich aus dem Badezimmerfenster, die Lichter blinken stärker als noch vor einer Stunde und ich sehe es ein: Es wird Weihnachten. „Markt und Straßen stehn verlassen, still erleuchtet jedes Haus; sinnend geh ich durch die Gassen, alles sieht so festlich aus. An den Fenstern haben Frauen buntes Spielzeug fromm geschmückt, tausend Kindlein stehn und schauen, sind so wunderstill beglückt.“ Mit fromm ist nicht mehr viel und auch die Frauen sind nicht mehr zwingend für die Deko verantwortlich. Während sich die Nachbarhäuser langsam in vermeintlich wehrhafte
Trutzburgen vorweihnachtlicher Freude verwandelten, sah ich ausschließlich Männer, die mit Lichterketten und Plastikgirlanden kämpften. Entweder werden die Schweifträger jetzt tatsächlich hilfreich in Sachen Deko oder sie nehmen ihren Begattinnen die Arbeit nur ab, weil die Festtags-ER!-leutchtung dank der männlichen Domäne Strom funktioniert. Bin deutlich geneigt, auf Letzteres zu tippen. Ist mir auch egal, jedenfalls im Augenblick, denn mir steht sowieso keiner beim Schmücken zur Seite. Schade nur, dass die Wunder, die Vorstellung vom Glück, die Stille neuen Phänomenen weichen mussten. Das Glück ist mittlerweile batteriebetrieben und Stille wünscht sich offenbar kaum einer. Weihnachtlich klingeln nur mehr die Kassen und vor dem Hintergrund all unserer Reiselust wird die Gedichtzeile „Wie so weit und still die Welt!“ zur Lachnummer. Eng ist sie geworden, unsere Welt, vom großen Skizirkus in schwindelnder Höhe bis Dom Rep ist es nur noch ein Katzensprung. Und an beiden Orten fühlen wir uns gleichermaßen zu Hause. Dieselben Organisationen und deren Gäste mit ihren so ähnlichen Wünschen garantieren dieselben Strukturen. Und wenn wir mögen, gerinnt die Erinnerung bereits am exotischsten Urlaubsort zu vorzeigbar beweiskräftigen Fotos. Materie statt Erinnerung. So strahlt und funkelt es auch an den Türen der Nachbarn trotz der Vielfalt der Ketten identisch, als wären die Erleuchtungen in demselben Baumarkt erstanden worden. Fantasie? Transzendenz? Kannste kaufen!
Dienstag, 5. Dezember 2000 8 Uhr 23
Hilfe! Morgen ist Nikolaus. 9 Uhr 47 Warum bin ich bloß mit dem Auto in die Stadt gefahren? Gemeinsam mit vielen anderen Müttern und wenigen Vätern quäle ich mich in einer stinkenden Riesenschlange durch die Straßen. Wenn das so weitergeht, werde ich in nur wenigen Stunden wieder zu Hause sein, ohne den Wagen überhaupt verlassen zu haben. 10 Uhr 34 Das Auto hinter mir hupt wild. Ohne mich umzudrehen, weiß ich, dass eine genervte Mutter auf Nikolaustour hinter dem Steuer sitzt. Ganz ruhig, Schätzchen. Sach- und Gefühlsebene trennen. Sollte ich aussteigen und ihr den Tipp geben? Mein Schlitten würde sicher langsam in der Schlange vorangeschoben und ich könnte hinterher ohne Zeitverlust ruhig wieder aufsteigen. Auch klauen kann ihn keiner. Nachdenklich blicke ich die Frau im Rückspiegel an. Sie ist ein alter Herr mit Hut. 10 Uhr 59 Die Lampe über der Einfahrt des Uralt-Parkhauses leuchtet grün. Keine Ahnung, ob mein VW-Bus dort überhaupt
hineinpasst, doch ich probiere es. Die Spirale nach oben ist endlich das Abenteuer, auf das ich seit Wochen warte: eng, steil, der Asphalt voll atemberaubender Löcher. Und ich befinde mich mitten in einer deutschen Großstadt. Stark. Ob die Konstruktion hält? Muss den Bus bis in den obersten Stock quälen, um überhaupt noch ein Plätzchen zu finden. So eng bemessen, dass es nur rückwärts möglich ist, den Bus hinein zu manövrieren. Quetsche ihn nah an die Mauer, hinter der es nach unten geht und hinter die ich nicht blicken kann. Sie ist aus purem Zement. Dazu schlägt die obere Kante gut getarnt und nur unwesentlich unter dem Dach meines hohen Gefährts einen koketten Bogen nach innen. Richtung Parkplatz. Ich bemerke es gerade noch rechtzeitig. 11 Uhr 4 „Und ich wandre aus den Mauern bis hinaus ins freie Feld.“ Von wegen! Chaos überall. Bereits im Treppenhaus auf dem Weg ins Freie versucht ein kleiner Stämmiger, mir den Rucksack zu entreißen. Habe leider im Selbstverteidigungskurs gelernt, Besitzgüter klaglos aufzugeben. Sehe ein, dass es sich nicht lohnt, für einen Rucksack zu kämpfen. Wundere mich deshalb um so mehr darüber, dass ich gleich auf Programm zwei umschalte und dem Herzchen ohne Überlegung in seine holden Kronjuwelen trete. Er reagiert brav, ich streife den Rucksack wieder über die rechte Schulter und lasse ihn winselnd zurück. Männer sind doch wirklich genial gebaut! Einfach wunderbar! Stolz und aufrecht die Treppe hinunterspringend, ist mir klar, dass die Aktion hätte ins Auge gehen
können. Hätte cooler bleiben müssen, habe mich unnötig in Gefahr begeben und gelobe Besserung.
Mittwoch, 6. Dezember 2000
6 Uhr 15
„Mutti?“ 6 Uhr 15 ein Halb „Mutti?“ 6 Uhr 16 Nichts. Stille, aber ich spüre genau, dass Till neben meinem Bett steht und mich anstarrt. Vorsichtig öffne ich ein Auge: „Was?“ „Kann ich? Darf ich schon an meine Stiefel?“ Mein kleiner Langschläfer ist früh wach … Was für ein Zufall! „Klar. Aber lass mich noch einen Augenblick weiterschlafen.“ 6 Uhr 19 „Mutti?“ Er muss das mit dem Augenblick wörtlich genommen haben. „Ich will schlafen.“ „Gut. Gleich. Aber guck mal. Nur ganz kurz. Ich mach mal eben das große Licht an.“ Freudestrahlend präsentiert er mir
meine Einkäufe vom Vortag und für ein paar müde Minuten bin ich bereit zu glauben, dass Till wieder an den Nikolaus zu glauben glaubt. 8 Uhr 4 Alle haben nun ihre Stiefel entleert. Auch Kays Freundin Kim hatte der Nikolaus offenbar schon bei uns gelistet. Die beiden sahnen bestimmt kräftig ab, weil sie doppelt benikolaust werden, kommt es mir in den frevelhaften Sinn. Dafür könnte ich allerdings Weihnachten sparen. Theoretisch sollten meine vier Süßen dann nämlich leer ausgehen, weil Santa in diesem Jahr keinen einzigen Wunschzettel in den Stiefeln gefunden hat. Werde die Faulpelze ein wenig damit hänseln bzw. greteln. Mit Till habe ich noch ein zweites Hühnchen zu rupfen: Er hatte gleich zwei Stiefel vor seinem Fenster platziert. Ansonsten gab es für mich heute noch keinen Grund zum Lachen. Ob Keith wenigstens an mich gedacht hat? Der würde in einer seiner ungenierten Übersetzungen wahrscheinlich sagen, ich muss noch einen Knochen mit Till abnagen wegen der beiden Stiefel. Oh Keith. Warum bin ich so vorsichtig? Warum so spießig? Morgen ist mein Hund tot und ich schleiche allein durch die Straßen, weil ich nicht mehr aus meinem Programm herauskomme. Etwas muss sich in meinem Leben ändern. Im nächsten Jahr, beschließe ich, werde ich deshalb auch mal einen Stiefel auf die Fensterbank stellen. Dann lege ich mir etwas Gutes hinein.
Samstag, 9. Dezember 2000 14 Uhr 45
Bin auf dem Weg zu Paulsens. Gerrit und Sigune sind Christians Kollegen aus seiner Zeit im Krankenhaus. Wir haben früher oft gemeinsam gegessen und gefeiert. Jetzt sehen wir einander seltener. 15 Uhr Bin pünktlich! Auf die Minute! Juhu! So etwas passiert mir sehr selten! Wohl deshalb scheint hier auch noch keiner mit mir gerechnet zu haben. Sigune begrüßt mich herzlich, bittet mich aber, noch einen Augenblick im Flur zu warten. Gerrit impft gerade die Kinder. Jetzt? Das kommt mir ungewöhnlich vor. Habe anscheinend schon vergessen, wie es bei Arztens zugeht. Als ich dann vor lauter Neugier und Langeweile doch ins Wohnzimmer spitze, sehe ich, das darf doch nicht wahr sein, ich traue meinen Augen nicht: den Weihnachtsmann. Er ist gerade dabei, dem kleinen Friedjoff eine Spritze in den Oberarm zu verpassen. „Tut auch gar nicht weh“, brummt er wie ein sinkender Bariton. Für mich klingen die beruhigenden Laute, die wie kleine weiße Kuschelwölkchen aus dem überlangen Wattebart des Medizinmannes schlüpfen, als transportierten sie Gerrits Stimme.
15 Uhr 13 „Weißt du, ich wollte nicht, dass sie zu mir das Vertrauen verlieren oder Angst vor mir bekommen. Deshalb habe ich die Verkleidung angezogen.“ Ich kann es kaum fassen. „Glaubt ihr nicht, dass ihr den Kleinen damit ein Stück Kindheitstraum zerstört? Die haben jetzt doch Angst vor dem Weihnachtsmann. Wenn andere aufgeregt herumsitzen, weil sie sich so auf den Weihnachtsmann freuen, machen sie sich vor Angst ins Hemd.“ „Glaub ich nicht.“ „Bisschen naiv vielleicht.“ Die Stimmung bleibt erfreulicherweise trotz meiner ehrlichen Worte entspannt, doch während mir die gute alte Zeit quälerisch langsam über die Seele kriecht, wünsche ich mir Christian und unsere Kinder herbei. Der Erstere hat aber umgesattelt und die Letzteren sind zu groß geworden. Der Traum von Geborgenheit ist längst wie eine Seifenblase zerplatzt. 17 Uhr 7 „Ich glaube, dass Christian dich noch immer liebt. Der kommt zu dir, zu seiner Familie zurück“, verkündet Sigune wie aus heiterem Himmel und Gerrit pflichtet ihr brav bei, während ich beinah mein Sektglas umstoße. „Wie kommt ihr darauf?“ „Wenn du es für dich behältst: Er hat es selbst gesagt.“ Ich ringe mit der mühsam erlernten Fassung. Emotionsebene von Sachebene trennen. Zack zack! Emotionsebene: Freude, Genugtuung, Hoffnung. Sachebene: Er ist schon lange fort,
macht keine Anstalten zurückzukommen und ich fürchte, ich will es auch gar nicht mehr. „Bitte hört auf damit. Ich kann mit dieser sinnlosen Hoffnung nicht mehr leben. Mühsam habe ich mich davon entfernt, mich weiter und in eine andere Richtung entwickelt.“ „Wir wollten dir nicht wehtun.“ Ich könnte keck etwas sagen wie: Er ist ein geiler Mann, wir haben viele gemeinsame Erinnerungen, ich habe viel Spaß mit ihm und er ist gut im Bett. Es liegt mir aber nicht, mich so oberflächlich locker zu geben. Also sage ich ernst und ehrlich: „Es war eine schöne Zeit mit ihm und ich genieße unsere kleinen Eskapaden, obwohl sie wehtun. Verdammt wehtun.“ Die beiden starren sich bedröpst an und hauchen wie aus einem Munde: „Ihr schlaft noch miteinander?“ Ihre Reaktion überrascht mich, denn es hatte sich doch so angehört, als hätten sie offen mit ihm gesprochen. Nun kann ich aber nicht mehr zurück und antworte deshalb offen wie ein Scheunentor: „Oh. Ja. Wieder. Manchmal. Ich dachte, ihr wüsstet das.“ Sigune nibbelt an ihrem Glas und Gerrit steht auf, weil ihm gerade jetzt aufgefallen zu sein scheint, dass die Musik seit etwa einer halben Stunde nicht mehr spielt. Solche peinlichen Momente sind schon häufiger zwischen uns entstanden. Ob sie der Grund dafür sind, dass wir uns nun so selten treffen? „Findet ihr das schlimm?“, versuche ich die Flucht in die Vertrautheit. „Nein. Nein. Nur ungewöhnlich“, antwortet Gerrit aus der Richtung des CD-Spielers. Ich meine, nach allem, was war.“
„Aber dass wir wieder zusammenkommen, wäre normal? Ich meine, nach allem, was war?“, kontere ich und beiße mir dann gleich doch lieber auf die Zunge. Sie wissen genau, dass der Zug längst abgefahren ist und bereden es auch in diesem Sinne miteinander, wenn sie allein sind. Mir aber spielen sie die Hoffnungfrohen vor. Und ich kann es ihnen noch nicht einmal übel nehmen.
Sonntag, 10. Dezember 2000 Bei uns herrschen heute nur die Stille und der Duft von Tannennadeln. 18 Uhr 54 Nach soviel Ruhe und Besinnlichkeit scheint die Zeit reif für ein wenig Abwechslung zu sein: „Lieber Keith, ich trinke einen großen Caffè Latte und sehne mich nach Liebe. Manda.“ 23 Uhr 17 Noch immer keine Antwort.
Mittwoch, 13. Dezember 2000 8 Uhr 21
Es ist so windig, dass Frau Hund sich fürchtet, nach draußen zu gehen. Ich rede ihr gut zu. 8 Uhr 35 Frau Farblos trägt heute Lila. Sie erzählt mir zum fünfundzwanzigsten Mal, dass sie demnächst ihren Balkon tiefer legen lässt, weil sie sonst eines Tages mit dem Tablett stolpert. Wie jedes Mal blicke ich verständnisvoll, obwohl der Ausdruck „tiefer legen“ in mir den Gedanken an einen Mantafahrer wachruft. Dann sehe ich Frau Farblos, wie ihr brummbrummende Geräusche aus dem fahlen Mund entweichen, während sie in ihren lederbehandschuhten Händen ein Tablett balanciert, dessen Griffe mit Fell bezogen sind. 8 Uhr 49 Die Farblos bin ich los. Dafür unterhält mich nun Herr Braun mit seinen rassistischen Parolen. Er mag weder Türken noch Russen noch Polen. Und Schwarze, also die mag er überhaupt nicht. „Man gut, dass ich eine Deutsche bin, sonst dürfte ich wohl gar nicht neben Ihnen gehen“, rutscht es mir zynisch über die eisigen Lippen.
8 Uhr 56 Ein schwarzhäutiger Mann kommt uns entgegen. Ausgerechnet. Heduda beginnt zu knurren. Nie knurrt diese Hündin, jeden Einbrecher würde sie totschlecken. Warum also gerade jetzt, warum tut sie mir das an? Sie führt sich dermaßen böse auf, dass ich gezwungen bin, sie an die Leine zu nehmen. Herr Braun ist natürlich entzückt. „Ihr Hund ist wohl ein kleines bisschen rassistisch, was?“, flötet er und trägt dazu einen ekelhaft triumphierenden Blick.
Donnerstag, 21. Dezember 2000 8 Uhr 43
Auf Annas Schreibtisch liegt bereits ein Kalender für das neue Jahr, dessen wenig dezenter Aufdruck mir sagt, dass sie ihn beim Bäcker bekommen hat. Er bietet getrennte Spalten für die Termine von bis zu fünf Familienmitgliedern und entspricht genau meinen Vorstellungen. Gerade überlege ich, ob ich versuchen sollte, mir auch so einen zu erschleimen, als mir Annas Eintragungen ins Auge springen. In folgender Reihenfolge steht in den Feldern, die eigentlich für die Namen der einzelnen Familienmitglieder gedacht sind: Schule. Freunde. Schildkröten. Sonstiges. Familie. Die Reihenfolge macht mich traurig und ich frage mich, ob die Familie vor „Sonstiges“ eingetragen worden wäre, wenn Christian durchgehalten hätte. 22 Uhr 13 Warum antwortet Keith nicht?
Sonnabend, 23. Dezember 2000
Kurz vor 18 Uhr
Ich habe gerade ausgiebig Mitesser gepult und die Spuren dick weiß mit Anti-Pickel-Creme verspachtelt. Da klingelt es prompt an der Tür. „Kay! Anna! Hannah! Till! Geht mal bitte einer zur Tür? Ich kann gerade nicht!“ Keine Reaktion. „Kay! Hannah! Till! Anna!“ Dann der letzte Versuch: „Kim?“ Nichts. Das war klar. Also gehe ich selbst die Tür öffnen. Wahrscheinlich steht ohnehin nur ein Kind aus der Nachbarschaft davor, das mir meine Clownsmaske lachend verzeihen wird. 18 Uhr (mit dem Gongschlag der Kuckucksuhr in Tills Zimmer, dessen Tür offensteht) Mit einem mutigen Ruck reiße ich die Tür auf. „Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!“ Es ist Christian! Unangemeldet. „Hallo.“ Er starrt mich an. „Wie siehst du denn aus? Die Version kenne ich ja noch gar nicht!“ „Die Überraschung ist dir gelungen. Komm rein.“ „Ich wollte nur den Kindern ihre Weihnachtsgeschenke vorbeibringen.“ 18 Uhr 57 Christian stellt den Weihnachtsbaum auf, sägt, astet, flucht und alles ist, wie es einmal war. Wie es immer noch sein
könnte. Mir wird stetig wärmer ums Herz, während Hannah und Till ihren Vater umgarnen. 19 Uhr 25 Ich decke den Abendbrottisch. 19 Uhr 40 Gemeinsam mit den Kindern und Kim essen wir zu Abend. Wir sind sieben strahlende Gesichter, vierzehn leuchtende Augen und benehmen uns wie eine große, laute, heile Familie. Ich finde, dass sogar der Hund irgendwie glücklich aussieht, obwohl ich weiß, dass mir Sentimentalität den Blick verstellt. Als ich bemerke, wie Hannah der Hündin laufend klebrige Honigbrote zusteckt, glaube ich schließlich doch wieder an die Echtheit des glücklichen Blicks. Dabei ist mir allerdings auch klar, wer für die Narrenfreiheit des heutigen Abends in den nächsten Wochen büßen wird, wenn sie Frau Hund das Betteln wieder abzugewöhnen versucht. 20 Uhr 50 Christian hat geholfen, die Küche aufzuräumen! Als er den letzten Becher in den Geschirrspüler versenkt hat, holt er ein hübsch beschleiftes Päckchen aus seiner Weihnachtstüte, nimmt mich in die Arme und hält mich einen Augenblick lang ganz fest.
„Ich habe ein kleines Weihnachtsgeschenk für dich, Mandy. Ich hoffe, du bist nicht böse deswegen. Es kommt wohl etwas unerwartet.“ „Tut es. Ich bin unbewaffnet. Habe nichts für dich.“ Er streichelt meinen Arm, der nackt ist, weil ich den Ärmel hochgeschoben habe. Trocken schluckend fühle ich den Drang irgendetwas zu tun. Also plappere ich drauflos: „Zeig her! Was ist es? Diamanten? Möchtest du, dass ich es erst morgen auspacke?“ „Lieber gleich.“ Während ich das Paket auswickle, beobachtet mich Christian, als hielte er mich in diesem Augenblick für den Mittelpunkt seines Lebens. „Lass. Bitte.“ „Was?“ „Guck nicht so! Guck anders.“ Aus dem Päckchen kommt ein Holzjoseph hervor. Es ist genau der, der mir seit Jahren in unserer Krippe fehlt. Mir wird ganz flau bei der Vorstellung, dass das Geschenk symbolisch gemeint sein könnte. Wird der Vater endlich heimkommen? Ich frage nichts, obwohl das Blut in meinen Schläfen pocht, als ich die väterliche Figur liebevoll in den weihnachtlichen Stall stelle. Schön sieht das aus. „Danke. Und, was tust du morgen? Feierst du mit deiner Mutter?“, frage ich ihn neugierig hoffend. „Nein, die ist gar nicht da. Ich fliege morgen Mittag für zwei Wochen in die Karibik.“ Aua. „Mit wem denn?“, presse ich ganz locker hervor und hoffe, er wird sagen: allein.
„Kennst du doch nicht.“ „Sollte ich sie denn kennen lernen?“ „Ich glaube eher nicht, Mandy. Aber ich freue mich sehr auf den Urlaub.“
Sonntag, 24. Dezember 2000 18 Uhr
Wir sind gerade aus der Kirche zurück. Mir ist aber gar nicht feierlich zumute. 18 Uhr 25 Ich übergebe mich. 18 Uhr 41 Gemeinsam zünden wir die Kerzen an. Die Kinder scheinen zufrieden, singen mir sogar ein Lied. Gnaden bringende Weihnachtszeit. Stimmt ja auch. Ich sollte dankbar sein, dass wir alle gesund und munter sind. Besser gesagt, fast alle, denn ich übergebe mich erneut. 19 Uhr 51 Die Geschenke sind ausgewickelt. Mir ist übel und ich zittere. „Es tut mir so Leid. Ihr seid die besten Kinder der Welt. Ich muss mir irgendwo so ein blödes Virus eingefangen haben. Tut mir Leid. Es tut mir so Leid.“
„Kein Problem“, trällern sie brav im Chor und es scheint, dass sie die Wahrheit sagen. 20 Uhr 21 „Wollt ihr den Pizza-Service anrufen?“ 20 Uhr 34 Wir wissen jetzt, dass auch Pizzabäcker Heiligabend eine Pause machen. Die Kinder streichen sich deshalb Nutellabrote und schicken mich mit einer Wärmflasche ins Bett. Wie die Heiligen Drei Könige, die noch einen Kollegen mitgebracht haben, erscheinen sie dort irgendwann auf der Bildfläche. Kay bringt mir einen Becher Tee, Hannah steht mit dem brüchigen, gelben Spielzeugeimer zwischen ihm und Anna. Till nutzt die Gelegenheit zu fragen, ob er nachher zu mir ins Bett kriechen darf. Ich murmele: „Oh Du fröhliche …“, worüber die Kinder lachen und meinen, ich soll mir mal keine Sorgen machen.
Sonntag, 31. Dezember 2000
22 Uhr 12
Silvester. Kay und Kim sitzen mit über dreißig anderen in der größten Suite eines Nobelhotels. Von hier aus meinen sie, den besten Blick über die Dächer Hamburgs zu haben und das mitternächtliche Feuerwerk besonders genießen zu können. Wahrscheinlich haben sie sogar Recht. Mir ist nur noch nicht
ganz klar, wie sie die vielen Bierkästen und billigen Schampusflaschen an den vornehmen Portiers vorbei nach oben geschafft haben. Ganz zu schweigen von dem kalten Büffet. Und dann sind da ja auch noch die vielen jungen Leute, die alle in ein und demselben Apartment verschwinden … Oder drücken die Verantwortlichen etwa ein Auge zu, so lange die Kohle rüberkommt? Vielleicht benehmen sich die Keith Klings dieser Welt auch nicht besser als dreißig schlecht betuchte Jugendliche? Jedenfalls findet diese Art von FünfSterne-Fête nicht zum ersten Mal statt und Kay und Kim freuen sich, in diesem Jahr dabei zu sein. Hannah schwoft derweil noch braver und völlig normkonform mit Freunden in irgendeiner zweckentfremdeten winterkalten Garage. Hoffe ich jedenfalls. Till wollte unbedingt zu einer Feier mit Freunden, auf der versucht werden soll, die Nachbarn mit möglichst vielen Knallkörpern zu ärgern. Anna habe ich bei ihrem Patenonkel unterbringen können. Christian kafuffelt irgendwo in der Karibik. Und ich? Mir geht es körperlich besser. Frauenseelenallein stehe ich möglichst dekorativ auf einer riesigen Party herum, auf der ich eigentlich niemanden kenne. „Caipirinha“ lautet für mich die Losung des Abends. Ich trinke gerade das dritte Glas und beginne zu überlegen, ob ich die leckere Brause vielleicht in „Caipiranha“ umtaufen sollte. 22 Uhr 20 „Bevor Sie das nächste Glas bestellen, sollten Sie einen Gehversuch unternehmen.“
„Danke, ich fühle mich wunderbar“, sage ich ins Leere, bevor ich mich umdrehe. Hinter mir steht lächelnd ein gut aussehender Schwarzhaariger in Gourmetqualität. „Seien Sie vorsichtig, schöne Frau! Caipirinha steigt nicht in den Kopf, sondern geht in die Füße. Tanzen wir? Nur zur Kontrolle, meine ich.“ Schluck, trocken. „Ja!“ Bis kurz vor Mitternacht wirbelt er mich durch den Raum. Einen mir bislang unbekannten Tanz, den er besonders zu mögen scheint, bringt er mir bei. Jedes Mal, wenn er Lust darauf hat, fragt er: „Tanzen wir unseren Tanz?“ Ich schwebe mit ihm durch den Himmel, bis er dann kurz vor Mitternacht wie vom Erdboden verschluckt ist. Hokuspokus Fidibus. Das muss ein Märchenprinz mit Zauberkräften gewesen sein.
Montag, 1. Januar 2001 0 Uhr
Die Glocken im Radio läuten das neue Jahr ein. Ich stehe allein in einer Ecke und bemühe mich, was nicht ganz leicht ist, aufmunternd in meine eigene Richtung zu lächeln. „Prost, Mandy, meine Süße, mit dir trink ich am liebsten!“ Tapfer proste ich mir auch noch selbst zu und denke an die Gespräche, die ich so lange zweimal täglich auf therapeutische Anordnung mit mir geführt habe: „Ich mag dich, Mandy. Du bist klasse. Klasse. Klasse. Und eigentlich hast du es doch gut. Gut. Gut.“ Die Worte zerfließen mir dabei wie mein Lächeln. Der einzige Mensch in diesem Raum, der niemanden in seinen Armen hält, bin ich. Sehr individualistisch. Gerade als
mir der Gedanke kommt, im falschen Film zu sein, umarmen mich alle. Sie sind so penetrant fröhlich, dass ich mich seit langem zum ersten Mal wirklich allein fühle. Deshalb stehle ich mich hinaus ins Freie. Hier rasen die Raketen zischend in die Luft und gebären funkelnde Sterne. 1 Uhr 4 Da ist er wieder. Hokuspokus Fidibus. Wie mit einem Knall aus dem Hut gezaubert. Lächelnd steht er vor mir. Vor meinem inneren Auge platzen wieder tausend Sterne in den nächtlichen Himmel. „Ich werde jetzt gehen. Es war sehr schön mit Ihnen zu tanzen. Danke.“ „Ich danke Ihnen auch.“ „Sonst stehe ich immer wie ein Mauerblümchen herum“, gesteht er und kommt mir dabei ebenso bescheiden wie attraktiv vor. „Den Eindruck machten Sie gar nicht. Sie denken bestimmt nur, Sie wären ein Mauerblümchen. Ich habe Sie durchschaut, es ist zu spät!“ „Stimmt. Ich bin überhaupt kein Mauerblümchen. Leider weiß das niemand außer Ihnen und mir!“ Wir lachen und er nimmt mich kurz in den Arm, wobei er eine möglichst unschuldige Maske trägt.
Mittwoch, 31. Januar 2001 17 Uhr
„Hallo Mandy!“ „Gunda! Schön, von dir zu hören. Wie geht es dir?“ „Super. Naja, Weihnachten war ich bei meinen Eltern …“ „Gunda, du bist fast vierzig!“ „Und? Es war ganz schön.“ „Und Silvester?“ „Allein. Ich war Silvester allein und hab drei Flaschen Champagner getrunken. Veuve Clicquot. „Veuve“ für die Witwe, die nur einmal kurz verheiratet war.“ „Nanu? So bissig. Ist alles im Lot? Wenn es dich tröstet: Ich war Silvester auf einer oootslangweiligen Fête und habe anschließend den wieder mit nach Hause genommenen Kartoffelsalat im Windfang verschüttet. Am nächsten Morgen sah es aus, als hätte dort jemand Würfelhusten gehabt. Stell dich nicht so an, das Leben ist eines der schönsten.“ „Du lügst. Warum?“ „Wieso?“ „Die Fête war überhaupt nicht langweilig! Und von wegen Kartoffelsalat.“ „Woher weißt du das? Verzeih mir bitte, ich weiß auch nicht, warum ich gelogen habe. Es ist sonst nicht meine Art. Vielleicht tust du mir doch Leid.“ „Ich habe gehört, dass du den ganzen Abend mit Professor Wurf getanzt hast.“ „Das wusste ich gar nicht. Ich meine, ich kenne seinen Namen nicht.“
„Alle haben es bemerkt und sprechen darüber, weil der Mann sonst ein völlig zurückhaltender Typ ist. Mit der Wissenschaft verheiratet, verstehste?“ „Aha.“ Mir wird ganz warm. „Also sag schon: Seht ihr euch wieder?“ „Nein. Ich kannte noch nicht einmal seinen Namen. Weißt du, ob er liiert ist?“ „Soweit ich weiß, nein.“ Ich will nicht mehr mit ihr darüber reden und lenke deshalb vom Thema ab. Mit nichts gelänge mir das sicherer, als mit einem Gespräch über ihren verheirateten Lover: „Und was ist mit Hasi? Wo war der Silvester? Hat er sich etwa just an diesem Tag sein Esszimmer endlich richten lassen?“ Damit bin ich schon wieder gemein, denn ich wage es, auf seine sicher schiefen Zähne anzuspielen, weil ich glaube, es mir heute leisten zu können. Gunda ist wahrscheinlich ohnehin sauer auf ihn, wenn er sie Silvester wieder einmal hat sitzen lassen. „Hasi? Der war brav bei seiner Familie. Aber du wirst es nicht glauben: Er feiert am Freitag seinen Geburtstag und ich …“ „Lass raten! Es ist der sechzigste und du bist eingeladen!“ „Besser. Er war mit seiner Alten Skilaufen. Und sie hat sich das Bein gebrochen. Jetzt liegt sie im Krankenhaus und ich organisiere die Riesenfeier!“ „Nein! Wie will er denn deine Anwesenheit den Gästen verklickern? Und seiner Holden? Die mir übrigens auch Leid tut.“ „Er sagt …“ „Du bist die Kalt-Mamsell!“ „Nein, wart doch mal, er sagt einfach, ich sei seine persönliche Referentin!“
„Oh Frau.“ Mir bleibt die Spucke weg. Ich sehe sie in einem schicken kleinen Kostüm um Hasi und seine Gäste herumwatscheln. Dabei wackelt sie mit ihrem süßen Popo wie eine Ente beim Gründeln mit ihrem Bürzel. Das trübe Wasser macht sie beinah blind und sie findet da unten keinen Fisch, gar nichts findet sie und schwimmt abgekämpft wieder nach Hause. Wenn die Aufregung nachlässt und die Müdigkeit einsetzt, bemerkt sie, wie hungrig sie ist. Und ist bereits zu schläfrig, um sich noch etwas Gutes zu organisieren. „Was soll ich bloß anziehen? Weißt du, es ist doch wichtig, was ich für einen Eindruck mache, wenn mich Hasis Freunde und Geschäftspartner kennenlernen.“ „Die Beine. Zieh am besten die Beine an“, entfleucht es mir und ich fürchte bereits, eine Freundin weniger zu haben, als sie kleinlaut sagt: „Ich weiß doch, Mandy. Sei doch ein bisschen lieb zu mir. Du hast wenigstens deine Kinder. Was soll ich denn machen? Was soll ich bloß tun?“ Sie weint. Ich tröste sie und beschließe, mein Leben zu leben. Leben! Die Kinder sind groß, Christian wäre im Notfall für die noch anfallende Restaufzucht der Kinder da. Soeben habe ich endgültig erkannt, dass er nie wieder mit mir leben wird, dass er dabei ist, meine Illusionen zu zerstören, und dass ich mit Hilfe des winzigen Stückchens Kindheit, das selbst ich trotz aller Ernüchterung in diesem Moment wieder in meinen Taschen spüre, einen neuen Abschnitt meines schönen – und einzigen! – irdischen Lebens einläuten werde. In meinen Ohren klingen Glocken wie von einem hohen Kirchturm in einer Dunkelheit, die allzu früh eingesetzt hat.
Es ertönt ein Glockenspiel aus tausend Glocken, große, kleine, hoch klingende, dumpf klingende, jubilierende, Kuhglocken, Essensglocken, Christkindsglocken, Neujahrsglocken. Einzig Hochzeitsglocken, die sollen nie wieder für mich läuten! Ich will frei sein, selbst entscheiden, täglich neu. Jetzt habe ich Verständnis für den humorigen Satz, der mich damals, als ich ihn zufällig aus Christians Mund aufschnappte, traurig und sehr nachdenklich machte. Er lautete: „Wer übernimmt schon eine ganze Pizzeria, nur weil er einen guten Happen Lasagne essen möchte?“ Einige Wochen, nachdem er seinem Freund diese weise Frage gestellt hatte, trennte er sich von uns.
Donnerstag, 8. Februar 2001 20 Uhr 31
„Hi Man, hattest du ein Merry Christmas? Ich denk noch immer an dir! Keith.“ 20 Uhr 33 „Hi Pseudo-Keith, ja, es war ganz merry. Hast du Silvester mit deinen Eltern gefeiert? Oder wenigstens Weihnachten? Das scheint dieses Jahr im Trend zu liegen bei den meisten Riesenbabies, die sich auf Deutsch Singles nennen. Amanda.“
20 Uhr 46 „Hi Army, wow, ja, ich war tatsächlich bei mein Mutter. Wie übrigens beinah jedes Jahr. Warum bist du so aggressive? Warst du etwa nicht bei dein Mutter? Bist du etwa nicht Single? Keith.“ 20 Uhr 59 „Ne, ich habe vier Kinder.“ Mal sehen, was nun passiert. 21 Uhr 13 „Baby, du lügst. Vier Kinder! Sag mir bitte, dass du lügst. Du mein Güte. Wenn du mir nun auch noch schreibst, dass du ein Lehrerin bist, will ich dir kein E-Mail mehr senden. Nimm das aber nicht ernst! Ich werde dann erst noch mal nachdenken über alles …“ 21 Uhr 27 „Nein, bin keine Lehrerin und die Kinder sind fast groß.“
21 Uhr 34 „Man? Schickst du mir mal ganz schnell eben dein telephonenummer? Keith.“ 21 Uhr 41 Ich schwitze wie sonst nur bei etwas sehr Schönem. Nein, nein und noch mal nein! Das geht zu weit. Ich schreibe: „Nein! Nein! Nie!“
Freitag, 9.März 2001 7 Uhr 30
Die Kinder sind auf dem Schulweg. Und ich muss verrückt geworden sein. In gut zwei Stunden sitze ich im Flugzeug – neudeutsch: „Flieger“ (Wäre der Begriff nicht bereits mit einer anderen Bedeutung besetzt, säße ich wahrscheinlich gleich in einem „flyer“ …) – nach London, um mich mit einem PseudoRocksänger zu treffen. Wer der Typ wohl ist? Ob er mir so gut gefällt wie in den E-Mails? Wie soll ich ihn erkennen? Wahrscheinlich hat er sich als Keith Kling verkleidet und ich lache mich tot. Bin ganz schön aufgeregt. Was zieh ich an? Erst ein neues Gesicht malen. Ein Blick in den Spiegel meldet eine Katastrophe. Hätte ich bloß nicht geguckt: Der Pickel links neben der Nase, der langen, hat genau im richtigen Augenblick
zu blühen begonnen. Wie schön. Wunderbar. Die Haare sitzen überhaupt nicht. 7 Uhr 56 Ich muss mich beeilen. Wo ist die Zeit bloß wieder einmal geblieben? Koffer in den Bus, mich bei Clara telefonisch abmelden, mir sagen lassen, dass ich eine Meise habe, auf mich aufpassen soll und dass sie sich um meine Lütten kümmert. Sie hat sich tatsächlich drei Tage freigeschaufelt, um meine Kinder zu hüten, die Gute. 7 Uhr 59 Der Pass. Fast wäre ich ohne ihn gefahren. Hätte es der Perso auch getan? Wahrscheinlich. Aber sicher ist sicher. 8 Uhr 7 Der Wagen springt nicht an. Mistkarre. Koffer wieder raus. Taxi anrufen. „Bitte beeilen Sie sich. Ich muss ganz schnell zum Flughafen.“ „Selbstverständlich, Gnädigste“, schmiert er die Worte durch den Hörer und ich weiß, er wird sich nicht beeilen. 8 Uhr 20 Die Taxe biegt endlich um die Ecke.
8 Uhr 31 Stau. Natürlich, das war klar. Und der Fahrer entscheidet sich konsequent für die Spuren mit den längsten Schlangen. Ich glaub es nicht. Da treff ich mich mit einem echt britischen Psychopathen und verpasse prompt das Flugzeug. 8 Uhr 57 Ich rase in die Flughafenhalle, der Koffer wirft sich mir bei jedem zweiten Schritt bösartig ans rechte Bein. „Schnell, schnell“, drängt die schnieke Frau am Schalter. 9 Uhr 7 Den Koffer bin ich los. Vor der Passkontrolle wartet eine Schlange, die unruhig vibriert. Nein, vorlassen will mich keiner. Keine Zeit. Ich auch nicht. Bin selbst schuld. Dann höre ich meinen Namen aus den Lautsprechern. So soll es sein. 9 Uhr 13 Schnellen Schrittes rase ich über das elektrische Laufband. Es multipliziert meine Geschwindigkeit. Was den Effekt hat, dass ich mich wie eine durchtrainierte Sprinterin fühle. 9 Uhr 17 Jacke aus zur Waffenkontrolle. Dies ist ein Jacken-AufsLaufband-Ins-Körbchen-Flughafen. Das ist selten, wie soll
mensch das alles wissen. Das Flughafenpersonal ist da versierter, klar, die sind wahrscheinlich monatelang nur auf einem Flughafen. Oder lebenslang. Egal, Laufband groß, Laufband klein, dann Jacke aus, Jacke ins Körbchen, Jacke aus dem Körbchen, Jacke an; ich erwische das Flugzeug mit fliegenden Haaren. 12 Uhr 15 Bin aufgeregt, fussele ständig an meinen Haaren herum. Wo bleibt mein Koffer? Sollte ich mir einfach einen anderen aussuchen? Der zum Beispiel sieht edel aus, vielleicht ist etwas Nettes drin, vielleicht sogar etwas Passendes. Da, endlich. Ich aste das alte Stück, das mich schon so häufig begleitet hat, auf einen Wagen. Sollte der rechte Zeitpunkt für den Kauf eines schnieken Koffers auf Rollen gekommen sein? 12 Uhr 31 Durch eine gläserne Tür betrete ich den aufregenderen, aber wahrscheinlich allzu kurzen Abschnitt meines Lebens. In nur wenigen Stunden werde ich irgendwo in dieser prickelnd pulsierenden Stadt tot über einen Zaun hängen. Oder in einem Verließ gefoltert werden. Mein Psychopath wird dazu laut die sehnsuchtsvollsten Liebeslieder von Keith Kling spielen. Der schimmernde Stern wird sich, zwischen Angst und Enttäuschung zu giftigem Pulver gemahlen, in meinem kochenden Blut auflösen. Alles langsam, ganz langsam, nur viel schmerzhafter als ich es mir gewünscht habe.
Wo ist er denn? Wo steckt mein Pseudo-Rockstar? Was wenn er mich nur veräppelt hat? Hat er kalte Füße bekommen? Was wenn keiner mich abholt? Ganz ruhig: Dann gehst du einfach in dein Hotel, machst dir allein ein paar gute Tage und wirst eben doch nicht umgebracht. Da, ich fass es nicht, Keith Kling! Der hat sich tatsächlich als Keith Kling verkleidet! Ich gehe gelassen und selbstsicher auf ihn zu. „Hi, Keith.“ Ich grinse. „Mandy?“ Er stellt seine Stimme auf rau. Soll ja alles passen und schön echt wirken. Als er seine Brille abnimmt und mich anlächelt, sieht er wirklich ein bisschen wie Keith Kling aus und haucht dazu: „Wie bist du?“ Der Typ spricht tatsächlich deutsch mit mir. Wie in seinen E-Mails. Natürlich bin ich völlig geplättet. Ein Engländer, der ohne sich zu schämen das sichere Terrain seiner Muttersprache verlässt! Tausend Pluspunkte für Flexibilität und Mut. Also, wie bin ich? „Gut. Ich bin gut.“ Während ich das sage, muss ich furchtbar lachen und je mehr ich es unterdrücke, desto schlimmer wird es. Er lacht auch. „Warum lachst du?“, will er dann schließlich doch wissen. „Äh, nur so.“ Er hält mich wahrscheinlich für ein bisschen blöd. „Weil ich dir geantwortet habe, dass I am good. Was aber nicht stimmt, da ich schlecht bin.“ „Du bist schlecht? Das tut mir Leid! Kannst du Fliegen nicht nehmen?“ „Genau“, druckse ich, wobei ich vor lauter stummem Gelächter zu platzen drohe.
„Dann solltest du dick ausruhen. Gehen wir zu mein Platz?“ „Hä?“ „In mein Apartment?“ „Ne.“ „Uberall sonst kommt die Journalist“, droht er mir und zwinkert dabei mit beiden Augen. Nun schüttelt es mich endgültig vor Lachen. Er ist süß, aber für wie blöd hält der Typ mich denn? „Hör bloß auf, du Spinner. Komm zur Erde, du gefällst mir auch als Sterblicher.“ „Bitte. Wenn du unbedingt aus die Zeitung gucken willst.“ Ein wunderschönes Mädchen mit langen roten Haaren und noch röteren Wangen kommt in diesem Moment zielstrebig auf uns zu, hebt ohne Vorwarnung ihr ohnehin für diese Jahreszeit erstaunlich knappes Top, dreht ihren süßen Bauch mit gekonntem Schwung ganz nah an meinen nunmehr leibhaftigen E-Mail-Partner heran und bittet ihn um ein Autogramm! Der unterschreibt ohne zu zucken, kalt lächelnd, als hätte er die Keith-Kling-Nummer schon öfter abgezogen. So ein Schuft. Der Schreiber tanzt dabei fröhlich unmittelbar über dem bissfest-knackigen Bauchnabel der Schönen, den ein Ring ziert, wie ein frisches Blatt einen saftigen Pfirsich. Während ich die Szene so betrachte, bin ich mir sicher, dass ich ihm meinen von vier Föten zerknitterten Nabel niemals zeigen werde, diesem Unterschriftenfälscher. „Also, wohin du willst“, höre ich ihn hastig sagen. „Wohin ich will?“ „Sag schnell, look.“
Ich folge seinem Blick und traue meinen Augen nicht: Eine kleine Horde Reporter läuft mit gezückten Kameras und Mikros auf uns zu. Panisch entweicht mir: „Egal. Irgendwohin!“ Gemeinsam greifen wir nach meinem Koffer und laufen in Richtung Ausgang. Direkt davor parkt ein wunderhübsch knallgelber Mini. Er ist unverschlossen, ich klettere auf den Beifahrersitz, wo ich sofort meinen Oberkörper beuge und den Kopf auf meinem Schoß verstecke. „Coward!“ „Das heißt Feigling!“ „Weichling!“ „Klappe. Damit will ich nichts zu tun haben.“ Er schlägt meine Tür zu, verstaut den Koffer und steigt ein. Ich sehe nicht, was draußen passiert, nehme aber wie durch Nebelschwaden gedämpfte Stimmen und das laute Aufheulen des Motors wahr. „Trifft sich mit mir und will nickt in die papers“, grunzt der Mann neben mir. „Was willst du denn von mir, wenn du nickt publicity liebst?“ „Ich dachte doch nicht im Traum daran, dass ich wirklich ein Rendezvous mit Keith Kling habe, Mann! Ich meine das Verhältnis der Zahl derer, die sich gern mit dir träfen zu der Zahl derer, die es tun, ist wahrscheinlich bemerkenswert unausgewogen. Ich hätte auf ein Treffen mit einem Psychopathen unbekannter Herkunft getippt. Aber so finde ich es auch ganz lustig. Den öffentlichen Keith Kling kenne ich jedenfalls genau und finde ihn sehr sexy. Schade nur, dass du nicht auf Frauen stehst.“
„Hä? Woher weißt du das denn?“ „Ist doch offensichtlich, will nur keine wahrhaben.“ „Dann ist ja alles okay. Dann können wir furcktlos nack mein Apartment gehen.“ „Furchtlos und nackend, oh Mann.“ „Sei nicht so, so toffee-nasig“, gurrt es aus seinem eingebauten Reibeisen. Er meint hochnäsig, ich grinse, bleibe aber still. Toffee-nasig klingt beinah wie sahnebonschinasig! Ist der süß. Ich fass es nicht. Es ist wirklich schade. Seine Sprache und Stimme machen mich ganz kirre. Zudem ist er mein Typ. Und das nicht nur, weil ich endlich schlau geworden bin und Christian nie wiedersehen will. Wenn der wüsste. Ich stelle mir sein Gesicht vor, aber wahrscheinlich fände er mein Rendezvous nur komisch, würde nur milde darüber lächeln. Und von oben herab. Sahnebonschinasig eben. Auch deshalb wird er nie erfahren, dass ich mit Keith Kling durch London gefahren bin. Keiner wird es erfahren, außer Clara, die zu Hause bei meinen Kindern auf mich wartet. 13 Uhr 19 Er stoppt den Wagen. „Ich hol uns schnell ein paar Croques“, meldet er lapidar. „Beeil dich, bitte. Ich mag hier nicht auf dich warten“, anworte ich und bin erstaunt über meinen gekonnten Augenaufschlag. „Nickt panicken! Der Flughafen und die city sind die Hauptgefahrsonen. Hier ist alles okay, ich kaufe oft hier.“
Der Mann ist bescheiden, wenn das stimmt. Croques statt Hummer. Spitze. Ein Traum, jemand der Kohle hat und es nicht zeigt. So wäre ich auch gern. Allein mir fehlt die Kohle. 13 Uhr 41 Sein Apartment entpuppt sich dann als eine uralte Lagerhalle mit viel Platz für den freien Tanz der Gedanken. Alles wirkt hier ein wenig steril, kahl, aber dennoch gediegen durch den Reiz der Umgebung. „Hier bleib ich, hier ist es schön.“ Lässig fletze ich mich in eines der vier braun-weißen Designersofas, die ganz verloren dastehen und trotz ihrer ausufernden Dimensionen beinah winzig in der riesigen Halle wirken. Keith werkelt in einiger Entfernung an einem antik wirkenden High-Tech-Herd herum und bemüht sich, die Croques zu erhitzen. Ich genieße es, ihm dabei zuzusehen, ohne mich aus meinem so schicken wie unbequemen Sitzmöbel erheben zu müssen. Nach einer Weile schweifen meine Gedanken und Blicke jedoch ab. Alles ist eigenwillig und großzügig hier, allein es fehlt das Leben. In einem Kamin, der einem alten Herrenhaus alle Ehre machen würde, brennt kein Feuer. Das stört mich und es lässt mich aufspringen. Wie unter einem Zwang zünde ich, ohne zu fragen, das darin aufgeschichtete Holz an. „Cool, Mandy. I like that. Coffee?“ „Gern.“ „Latte?“ Hä? Ach so. „Du hast mich durchschaut.“ „Ich habe deine E-Mails sssorgfaltig gelesen.“
„Ach.“ Hättest ja auch antworten können, denke ich, verkneife mir aber die Frage, warum er mich vor Weihnachten offenbar vergessen hatte. Will nicht engstirnig erscheinen und grunze stattdessen: „Fältig.“ „Hm?“ „Sorgfältig. Es heißt sorgfältig. An Falten mag ich nicht denken.“ „Was? Verstehe ich nicht. Musst du mir erklären.“ Dann, ohne mir eine Chance zu geben: „Flip! Es sind keine Bienen im Haus.“ Bienen? Was will er denn jetzt mit Bienen? Ich denk, er macht Kaffee? Dann erhellt mir schließlich ein Lichtblitz seine Gedanken: Bienen! Beans! Bohnen! Kaffeebohnen! „Tee ist auch okay“, sage ich und erzähle ihm von Gunda, die sich standhaft weigert, Tee außerhalb von Intensivstationen zu sich zu nehmen. 15 Uhr 24 Wir reden gut miteinander. Wir schweigen auch gut miteinander. Der Mann könnte zu einer Bereicherung meines Lebens werden. 16 Uhr 43 Weil ich so gern wüsste, ob er nach dem Konzert in Hamburg noch manchmal an mich gedacht hat, fasse ich den Mut, mich nun zur Äffin zu machen und frage wie beiläufig und mit einem ganz und gar unschuldigen Augenaufschlag:
„Kannst du dich eigentlich an mein Gesicht erinnern?“ „No.“ Pause. „Was meinst du?“ „Ich dachte, du hättest mir während deines letzten Konzerts in Hamburg recht tief in die Augen geschaut.“ Er lacht schallend. „Das ist mein Job, Baby. Ich stehe da oben auf der Buhne und blicke durch die Gesickt. Gesickte?“ „Gesichter.“ „Damn.“ „Damn.“ „Ich sehe euch da unten nickt.“ „Euch? Jetzt bin ich hier.“ „Jetzt bist du jemand anders, verstehst, du. Ichchch bin auch jemand anders.“ 18 Uhr 4 Keith Kling und mich trennt ein Glastisch, dessen quadratische Glasplatte die unglaubliche Seitenlänge von wohl beinah drei Metern hat und die auf dem Torso einer ionischen Säule ruht, von dessen Herkunft ich lieber nichts wissen möchte. Auf weitem Abstand sitzt er mir auf einem anderen der identischen Sofas, die theoretisch alle gleichermaßen unbequem sind, gegenüber. Obwohl er sich sichtlich wohl fühlt, sieht er in der monströsen Couch, die doch so winzig in diesem Raum erscheint, ganz zart und verloren aus, während er mich grinsend zergelt und in meinem Leben bohrt: „Und du? Wer bist du? Bist du etwa auch ein klein Stehlerin? Downloadest du dir dein Musik auch bei Napster oder so?“ „Was ich mir wo runterhole ist meine Sache.“
„Nickt jetzt wo du mit ein Popstar susammen bist. Komm, sag es!“ „Ich bin mit keinem Pappstar zusammen. Zusammensein bedeutet eine andauernde sexuelle Beziehung miteinander haben. Deshalb darf ich weiter napstern.“ „Moment. Das werden wir ändern.“ Keith Kling springt von seiner kargen Sitzbank auf, springt behände um den Glastisch herum, wirft sich neben mich ins Design und zwingt mich in die Kissen. Theatralisch blickt er mir dabei in die Augen. Ganz langsam nähert sich mir sein Gesicht, bis er tatsächlich sanft und genießerisch seinen Mund auf meinen drückt. Dort verharrt er minutenlang mit geschlossenen Augen, während ich perplex weitere Handlungen abwarte. Nichts. „So“, sagt er, „für die Presse hätten wir jetzt gekusst, geknutttscht. Und das Bild, das die Press von mir malt, ist Keith Kling, ist es nicht? Keith Kling, den anderen Weg rum, bin ich. Jetzt bist du also mit mir und sssouou mit ein Popstar susammen.“ Er lacht und ich weiß nicht recht, was ich von dieser Aktion halten soll. Jedenfalls bleibt er, den Arm um meine Schultern gelegt, neben mir auf dem Sofa sitzen. Immerhin, denke ich und wundere mich verwirrt über mich selbst. „Also. Ersehl! Downloadest du dir dein Musik?“ Ich blicke ihm in die Augen und fühle mich völlig verunsichert. Schwul hin, schwul her, er wirkt in seinem jungenhaften Charme so verdammt attraktiv auf mich. „Ein einziges Mal habe ich mir einen Titel aus dem Netz heruntergeladen“, gebe ich zu, blicke ihm mit zuckenden Mundwinkeln in die Augen, die mir jetzt so nah sind, und freue mich, mit diesem Geständnis meine Röte rechtfertigen zu können.
„Aber es war kein Titel von dir, keine Bange! Dich würde ich natürlich nie hintergehen. Das weißt du doch“, füge ich bereits wieder koketter werdend hinzu. „Außerdem hatte ich vorher versucht, das Stück zu kaufen. Was sich aber als schwierig erwies.“ „So, so. Interesand. Also Leute wie du betrugen uns von die Fruckte unserer Arbeit“, fährt er in seinem Text fort, während sein rechter Arm noch auf meinen Schultern ruht und seine Linke beginnt, mit den Händen in meinem Schoß zu spielen. „Stell dich bloß nicht so an“, poltere ich mit belegter Stimme heraus. „Medien sind ein zweiseitiges Ding. Auf der einen Seite wäret ihr alle, alle Künstler und Sportler meine ich, ohne sie nicht da, wo ihr seid. Medien bringen euch doch den ganzen Zaster. Dass das Phänomen auch eine andere Seite hat, werdet ihr wohl oder übel akzeptieren müssen.“ „Ich seh das eigentlick auch nick so klein. Bin ganz cool.“ Er grinst herausfordernd. „Musiktausch ist auch Werbung für uns und die Medien so eine Art Schicksal. Aber anderer Seite will ich den Saster für mein Arbeit auch sehen.“ „Du hast doch genug Saster.“ „Mal bist du oben, mal bist du unten.“ „Sag mal: Zzzaster.“ „Dsssaster.“ Als ich nicht widerstehen kann, meine Fingerspitzen zaghaft in seine Locken zu tauchen, steht er abrupt auf und holt seine Gitarre.
20 Uhr 10 „Ersseehl mir von dein Leben. Wie lebt ein normal Frau in Deutschland?“ „Normal? Frau?“ „Okay, so ein sußes Wesen wie du?“ Während die Aussprache seiner „ch“ variiert, spricht er das „W“ konsequent wie ein englisches double yuh. Zusses UUUWESEN! Ich zergehe vor Entzücken wie die Buchstaben auf seiner Zunge. Dabei verfliegt die Zeit. Viel später sitzen wir zusammen in einem plüschigen Riesensessel mit Bärentatzen aus Ebenholz als Beinen und sehen „Casablanca“ auf einer veritablen Kinoleinwand. Wir verstehen uns prächtig. Er ist ganz echt. „I look you in the eye“, wiederholt er den bekannten Trinkspruch aus dem Film und lässt es dann doch lieber sein. Viel Abstand erlaubt uns die Größe des Sessels allerdings nicht und mir ist die ganze Zeit über schwindlig. Irgendwann bemerkt er es und fragt besorgt: „Was ist los? Du guckst mich so komisch an.“ „Mir wird gerade bewusst, dass ich mit …“, lüge ich, um ihn nicht wieder zu verscheuchen. „Hor auf, Baby, bitte, ich mag dick. Dick. Ich mag dock auch nicht das, was andere mir von dick sagen. Oder was ich in deine Fotoälbam sehen kann. Du bist dick und ick bin ick. Ick bin authentisch. Kannst ja mal pinschen.“ Als Beweis für seine Behauptung hält er mir seinen angewinkelten Arm unter die Nase. Und grinst. Ich kneife ihn nicht, sondern streiche zart, fast zärtlich über seine Haut. „Verzeih. Es ist auch schwierig. Unter anderem
auch schwierig. Ich muss erst lernen, euch auseinander zu halten. Euch zwei Süßen.“ „Schon besser. Viel besser“, lächelt er und ich fühle mich nicht schuldig wegen meiner kleinen Notlüge. Denn es stimmt doch, dass der Gedanke, den Mann, der bislang der unerreichbare Keith Kling vom Poster für mich war, so dicht bei mir zu spüren, mein Gemüt erhitzt. Und das, obwohl es ihn gar nicht gibt. Obwohl er ein ganz anderer ist. Weil er ein ganz anderer ist.
Dienstag, 13. März 2001 13 Uhr 20
Ja, so war das mit Keith und Mandy. Jetzt ist Mandy wieder zu Hause, hat die Kinder Richtung Schule abgefertigt und ahnt, dass das Märchen vorbei ist und sie ihren Prinzen nie wiedersehen wird. Oder doch? Jedenfalls hat sie beschlossen, nicht von sich aus wieder mit ihm in Kontakt zu treten, denn immerhin hat er zu mailen versprochen. 13 Uhr 40 War vielleicht mal ’ne nette Abwechslung für ihn. Ein bisschen Allgemeinbildung und Bürgerlichkeit zur Lebensmitte. Es wird für die nächsten Jahre reichen. Und dann lädt er eben mal eine andere ein oder einen anderen, wie das Leben so spielt. Er hat freie Auswahl. Ich sitze vor meinem Bildschirm und die Übersetzungen flutschen nicht. Überhaupt nicht. Als ich endlich wieder anfing,
mich ungeliebt, verlassen und hässlich zu fühlen, habe ich mir sofort verboten, öfter als alle zwanzig Minuten meinen E-Briefkasten zu kontrollieren. Jetzt gehe ich mindestens alle dreißig Minuten ins Netz, um sicherzugehen, dass keine Mail von ihm auf mich wartet. Tut sie auch nicht. 14 Uhr 10 Noch immer nicht. 14 Uhr 36 Nichts. 14 Uhr 59 Nichts. 15 Uhr 11 „Wo bleiben denn die Übersetzungen, verdammt noch mal?“
Sonntag, 1. April 2001 14 Uhr 56
Ich schnaufe über einem blöden Text. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um einen Aprilscherz. Sockenschuss. Da steht deutlich Sockenschuss und ich soll das übersetzen.
„Someone shot someone else in the sock.“ Am liebsten würde ich das so stehenlassen. Heute müsste mir das doch eigentlich als Aprilscherz verziehen werden. Oder? Sockenschuss! Crazy! Nuts! Bonkers! Bananas! Lost your marbles! Warum habe ich keinen so tollen Job wie all die anderen?
Montag, 2. April 2001 13 Uhr 27
Ausnahmsweise scheint den Kindern das Essen zu schmecken. Es gibt Hirtentaschen aus Blätterteig. Hannah meint, ihr jüngerer Bruder ist zu dick. „Till, futter nicht so viel.“ „Das ist alles Babyspeck. Außerdem war ich heute Morgen auf der Waage. Nur noch 43 Kilo. Und das obwohl ich sogar noch Creme im Gesicht hatte!“, rechtfertigt er sich und scheint es ganz ernst zu meinen. „Gib mir noch mal so zwei, drei Kaukasische Zipfel“, fordert Kay, zeigt auf die Hirtentaschen und grinst verdorben dazu. 16 Uhr 21 „Mandy?“ Christian ist am Telefon. „Na du? Wie geht’s?“ Bei seinen Worten entdecke ich zum ersten Mal, dass er etwas mit Keith Kling gemeinsam hat: Auch seine Stimme packt mich wieder einmal in den unteren Regionen. Wie oft wir wohl miteinander geschlafen haben? Dreitausendmal? Vier? Fünf? „Ich fühle mich wohl und sehe aus wie Claudia Schiffer.“
„Dann können wir ja morgen mal wieder zusammen essen gehen.“ „Gerne!“ „Wie? Was? Du gehst tatsächlich ohne Murren an einem Dienstag mit mir essen? Das ist doch, nach deiner Version, sicher gar nicht die Prime Time!“ Da scheint ihn jemand schlau gemacht zu haben. „Egal. Du bist so gut drauf, dass ich dir auch an einem Dienstag gern mal beim Essen zusehen möchte. Welchem Umstand verdanke ich überhaupt diesen spontanen Einfall?“ „Ich habe tatsächlich gute Laune und mir ist gerade so etwas Komisches passiert, dass ich einfach an dich denken musste. Willst du es hören?“ „Klar. Mal sehen, ob ich darüber lachen kann.“ „Also, ich habe einen kleinen Jungen behandelt. Da ging in meiner Kitteltasche plötzlich der Pieper los. Und weißt du, was er fragte?“ „Nein. Wer? Der Pieper? Woher sollte ich das wissen? Also raus damit.“ „Der kleine Junge fragte …“ Christian prustet los. „Also, er fragte …“ Er prustet noch einmal los. „Nun aber. Er fragte: ‚Hast du auch so ein Tamagotchi?‘ Kannst du dir das vorstellen? Hält meinen Pieper für ein Tamagotchi!“ Ich muss tatsächlich lachen und dann verabreden wir uns flugs für morgen um 9 Uhr 30, bevor er wieder den guten Onkel Doktor spielt.
Dienstag, 3. April 2001 19 Uhr 30
Er ist noch nicht da. Das war klar. Warum bin ich immer so blöd, pünktlich zu sein, wenn ich mich mit ihm treffe? 19 Uhr 40 Er ist noch immer nicht da. Das ist dreist. 19 Uhr 55 Er kommt hereingestürmt. „Liebes, Geliebtes, Süßes, verzeih mir noch einmal! Ich habe Theaterkarten, das wird dich freuen! Komm schnell, wir gehen dann anschließend essen!“ Trägt der heute dick auf, das ist ja eklig. Nun ja, er hat es wohl nötig. Meine Wut flaut ab, weil mir einfällt, dass ich ihm eines lassen muss: Langweilig war es in seiner Gegenwart noch nie. Also lächele ich tapfer, freue mich spontan über den bevorstehenden Theaterbesuch, zahle schnell meinen Caipi und folge ihm schlanken Fußes. 23 Uhr 10 „Trinken wir noch ein Glas Wein bei mir?“ „Nee. Vergiss nicht: Wir wollten essen gehen!“
23 Uhr 59 Eine Auflaufform, gut zur Hälfte mit überbackenem Spinat gefüllt, steht schamlos nach Knofi duftend vor meiner Nase. „ ‚Morgen in Augsburg.‘ Ein Spruch wie ein geflügeltes Wort, mit dessen Hilfe das Personal des Theaterstücks seinen Tag meisterte“, setzt er etwas mühsam unser, durch die Ankunft des Essens unterbrochenes, Gespräch fort. „Geflügeltes Wort“ könnte als Übersetzung für „sound bite“ herhalten, kommt mir in meinen für Sprache stets wachen Sinn, aber ich kann mich nicht recht über meine Eingebung freuen, denn das Thema ist mir zu ernst. Und zu persönlich. „Ja, morgen. Augsburg. Haben wir auch so gelebt, Christian? Haben wir auch immer alles verschoben, nur morgen gelebt und das Jetzt verdrängt?“ „Ich glaube nicht …“, sagt er leise und sein Blick wirkt auf mich beinah verwundert. „Es ist komisch, Mandy. Eigentlich haben wir alles ganz gut gemacht. Eigentlich waren wir glücklich. Und doch wollte ich wieder allein sein, wollte nichts verpassen. Inzwischen fürchte ich manchmal, ich tue genau das: Ich verpasse ein Zuhause, mein Zuhause.“ „Das überrascht mich. Ich meine, nach allem …“ „Mandy, manchmal glaube ich, ich würde gern wieder zu euch ziehen.“ „Was?“ Mir wäre gerade fast die Gabel in den Spinat geplatscht. So etwas passiert mir leider manchmal in besonders ungünstigen Augenblicken. „Zu dir, Mandy.“ „Werde ich da auch gefragt?“
„Klar. Was meinst du? Meine Wohnung würde ich natürlich nicht vermieten. Die würde ich für mich als Zufluchtsort behalten. Schon allein, damit ich nicht noch einmal so einen Unsinn begehe und euch verlasse!“ Das hat er nicht gesagt! Das darf doch wohl nicht wahr sein! Was bildet der Mann sich eigentlich ein? Gleich will er mir noch weismachen, dass er dabei nur an uns denkt! „Dabei denke ich doch hauptsächlich an euch!“ Ich bin kurz davor zu explodieren. Mandy!, hält mich da meine innere Stimme gerade noch rechtzeitig im Zaum, Mandy, du erinnerst dich doch noch? Gefühlsebene von Sachebene trennen! Dank der Stimme und der Weinbergerin werde ich ruhig und es gelingt mir, eisgekühlt und souveräner als ich es selbst für möglich gehalten hätte zu antworten: „Verstehe. Ich bin deine Be-Gattin und du genießt Familie und Freiheit gleichzeitig.“ Sexy blickt er mich über den Rand seines Rotweinglases an. Donnerwetter, der hat sich gut im Griff. Von dem könnte auch Frau Schmidt-Weinberger noch lernen. Aber es zieht nicht. Dieses Mal nicht. Mandy! Bedenke, dass du jede deiner Reaktionen deinem Tagebuch beichten musst. Also, komm schon. Zieh ihn auch einmal über den Tisch. Benutze ihn, damit dein Leben schön ist. Einfach nur schön. Und plötzlich weiß ich, dass meine Taktik funktioniert hat, denn ich höre mich säuseln: „Gib mir noch ein wenig Zeit, Liebling, ja? Ich könnte mir das gut vorstellen. Wir hätten ein gemütliches Zuhause und du immer gute Laune durch Freiheit und Freiwilligkeit.“
„Oh Mandy! Du könntest dir das tatsächlich vorstellen? Du bist eine tolle Frau! Wie du dich verändert hast! Es kommt mir so vor, als hätte dir unsere vorübergehende Trennung wirklich gut getan.“
Mittwoch, 4. April 2001 1 Uhr 41
„Lieb, dass du mich nach Hause gefahren hast.“ „Soll ich noch mit reinkommen?“ „Es ist einfach zu spät, du. Morgen, besser heute, ist Mittwoch.“ „Okay. Sag mal, ehe ich es vergesse, könntest du für mich beim Grundbuchamt anrufen und mir eine Kopie des Grundbuchauszugs unseres Wohnhauses besorgen?“ Unseres Hauses?, denke ich und sage: „Klar. Gern. Was willst du denn damit?“ „Nichts Wichtiges. Wir sprechen in Ruhe darüber, okay? Ich tu nichts ohne dich“, sagt er und es klingt sachlicher, als es die Gegebenheiten hergeben. „Gute Nacht, du Traumfrau.“ „Schlaf gut, mein Schatz!“ 2 Uhr 42 Ich kann nicht schlafen. Mist, die Nacht ist bald vorbei. Was will er bloß mit der Kopie? „Ich tu nichts ohne dich.“ Dass ich nicht lache! Das kann er rechtlich auch gar nicht! Und was ich ihn auch noch gern fragen möchte: Bekomme ich kleine Traumfrau auch eine Zweitwohnung für meine Ruhe
und zum Vernaschen meiner köstlichen amourösen Zwischenmahlzeiten?
Montag, 16. April 2000 0 Uhr 43
Schlafe seit Tagen schlecht. Tagsüber bin ich grantig. Und keine Süßigkeit ist vor mir sicher. Weshalb die Blütezeit des nächsten Pickelschubs unmittelbar vor der Tür steht.
Mittwoch, 18. April 2001 0 Uhr 44
Ich habe einen feuchten Traum der wenig erotischen Art. Der geht so: Zitternd stehe ich unter der Dusche und das Wasser will nicht warm werden. Mir ist klamm und kalt. Als ich wach werde, bemerke ich, dass es durch das Dach der Gaube, in der mein Bett steht, reinregnet. Meine Bettdecke ist bereits klatschnass und ich könnte weinen. Eine Frau mit Mann und meiner Sozialisation würde diesen jetzt wachrütteln. Dieselbe Frau ohne Mann holt den ausrangierten Spielzeugeimer, den gelben, der für vieles gut ist, stellt ihn unter die tropfende Stelle und sucht sich einen besseren Platz zum Schlafen, indem sie zu einem der Kinder ins Bett kriecht, wobei sie inständig hofft, dass die Leckage mit der Windrichtung zusammenhängt und sich ihre Reparatur somit von selbst erledigt.
Montag, 14. Mai 2001 9 Uhr 32
Brav rufe ich beim Grundbuchamt an und bitte um die Kopie, die Christian so dringend braucht. Ich will nämlich zu gern herausfinden, was er damit vorhat. Die Frau am anderen Ende der Leitung will die Anfrage natürlich schriftlich haben. Das war klar. Wie ich sie liebe, diese Aufträge Marke „KannstDu-Mal“, weil du doch Zeit hast, weil du doch auf der Strecke geblieben bist, weil ich nichts ohne dich tue. Immerhin ist die Frau dann aber bereit, ein Fax zu akzeptieren. 10 Uhr 3 Also klettere ich in meinem Arbeitszimmer unter den von meiner Rest-Familie als Ablageplatz für halb leere Gläser, krümelndes Schokoladenpapier, angetrocknete Suppentassen, Disketten und Konsorten genutzten Schreibtisch , um das Faxgerät in das Telefonnetz einzustöpseln. 10 Uhr 4 Jetzt klettere ich unter Schreibtisch 2, den zu besetzen meine Kinder sich bislang nicht getraut haben. Unter ihm befindet sich die für den Strom des Faxgerätes zuständige Steckdose. 10 Uhr 5 Ich stoße mir die Birne heftig an Schreibtisch 2.
Donnerstag, 17. Mai 2001 9 Uhr 44
Die nette Dame vom Grundbuchamt hat die Kopie postwendend geschickt. Super. Zu allererst fällt mir die Unterschrift auf dem beiliegenden Schreiben auf. Dieter heißt die Dame. Den Frauennamen Dieta habe ich zwar schon mal gehört, aber bei Dieter handelt es sich wohl eher um einen Mann. Wahrscheinlich ist er ein Vorgesetzter, der unterschreiben darf, weil er ein Schwert trägt. Während ich das denke, gehe ich mir mit meiner eigenen Zickigkeit auf den Geist und beschließe, lockerer zu werden. Bis mir dann die Anrede auf dem Wisch ins Auge fällt: „Sehr geehrter Herr Bierschwall.“ Ich glaube es nicht! Erstens gehört mir das Haus mittlerweile allein und zweitens habe ich mich schon immer um alles, was damit zu tun hat, gekümmert! Dafür bin ich noch nicht einmal in einem der das Haus betreffenden Briefe erwähnt bzw. nicht als „Herr“ tituliert worden. Früher habe ich es klaglos geschluckt. Doch dann, als Christian sich von mir trennte und mir das Haus überschreiben musste, schrieb ich einen höflichen Brief, um den Sachverhalt zu klären. Und nun das. Am liebsten würde ich sofort bei diesem Dieter anrufen, um ihn verbal zu kastrieren. Wahrscheinlich sind mangelnde Flexibilität und das Fehlen des Blickes für den Wandel in einer Gesellschaft die beste Voraussetzung für die Posten all dieser Dieters! Ich sollte, als Transe verkleidet, bei Dieterlein auflaufen, um ihn ein bisschen auf die Schippe zu nehmen.
Freitag 18. Mai 2001
6 Uhr 31
Ich wache auf und denke an all die kleinen Dieterleins. 13 Uhr 41 Nachdem ich tapfer und beinah lustvoll ein annehmbares Essen gebraut habe, sitze ich glücklich mit all meinen nunmehr fünf Kindern am Mittagstisch. Genüsslich lehne ich mich in meinem Stuhl zurück und betrachte die kleine Gemeinschaft. Meine Gemeinschaft. „Ich finde es klasse, Mutti, dass du nun so oft vegetarisch kochst“, grunzt Hannah mit vollem Mund. „Irgendwie ändert sich alles immer. Die Ansprüche, die Einschätzungen, alles“, antworte ich ihr und es klingt ungewohnt verständnisvoll. „Hä? Was ist denn nun wieder los?“ Kay glotzt mich bei seinen Worten mit übertrieben fragendem Blick an. „Ich mein, dass zum Beispiel eine Krankheit wie BSE einen Strukturwandel der Gesellschaft bewirken kann. Stellt euch einmal vor, was wäre, wenn nur noch die Vegetarier fit wären!“ „Na danke“, lacht Hannah, „dann könnten Till und ich euch alle pflegen!“ „Und Ärzte wären nicht mehr, was sie einmal waren.“ Kay lacht laut, während Till und Anna ihn verständnislos anschauen. „Ja, die wären auch fast alle krank und vegetierten dahin“, ergänzt Kay seine ausführenden Gedanken. „Vegetarier müssten sie in ihrer Tätigkeit ersetzen.“
Jetzt lacht Hannah prustend. „Stellt euch mal folgende Szene vor: Da liegt ein Mensch und hat Schmerzen. Von hinten drängt sich einer mit Koffer durch die schlapp herumstehende, aber nach wie vor gaffende Menge und brüllt: „Aus dem Weg! Machen Sie den Weg frei! Ich bin Vegetarier!“ 22 Uhr 34 Einsam und wach in meinem Bett liegend fühle ich, wie sehr ich meine Kinder liebe. Dass ich meine Kinder liebe. Ohne wenn und aber.
Samstag, 1. Juni 2001
8 Uhr 30
Das Telefon klingelt gnadenlos neben meinem Bett. Verschlafen greife ich zum Hörer. Wer wagt es, mich um diese Zeit …? „Man?“ „Keith!“ „Ou-Ou, ich habe dir aufgewacht.“ „Macht nichts. Das heißt, ich freue mich, dass du es bist.“ „Ich dackte, dein Hund muss sowieso gegangen werden.“ „Der schläft am Wochenende bis zehn, halb elf. Dann weckt er erst einmal die übrigen Viecher auf und animiert sie zum Spielen. Selbst unsere Tiere sind Spätaufsteher.“ „Verzeih. Ich tue es nie wieder.“ „Gegessen. Was willst du überhaupt so früh? Ach! Nun geht mir ein Licht auf, du bist weit weg und bei dir ist es bereits ganz spät. Wo bist du?“
„Man? Nicht erschrecken. Ich bin in Hämbörg.“ „Was?! Was machst du denn hier?“ „Ich muss dir sehen.“ 10 Uhr 53 Aufrecht gehen, Amanda, aufrecht. Keine Gefühle! Es hat keiner von dir verlangt, dass du in deiner alten Cordhose, die einmal dunkelbraun war, durch die Empfangshalle eines gediegenen Fünf-Sterne-Hotels spazierst. Du hast es so gewollt, jetzt steh dazu. Nase hoch, Busen raus, Schulterblätter zusammen und rein! Es klappt. Der Livrierte an der Drehtür grüßt mich mit ausgesuchter Höflichkeit und ich fühle mich gar nicht mal so unwohl. Nur die Üppige, die in einem ebenso knallroten wie bestickten Edelpulli neben mir an der Rezeption wartet, schaut angewidert, während sie sich auffallend krampfhaft an ihrem Täschchen, dessen Schließe ein protziges Markenlogo ziert, festhält. „Kann ich Ihnen helfen?“, wird die mit Geld gepanzerte Unsichere von der Frau hinter dem Tresen gefragt. „Ich warte noch auf meinen Mann, danke.“ Das war klar. Teure Tasche aber keinen eigenen Mund. „Gnädige Frau?“ Der smarte Herr sieht mich höflich an. „Herr Kling erwartet mich.“ „Nur einen Moment.“ Er greift zum Hörer.
10 Uhr 58 „Ich begleite Sie zu Herrn Kling“, lächelt es dann konziliant aus dem Mund des Herrn vom Empfang. Der Dicken rutscht prompt der Riemen ihrer steifen Tasche von der satt gepolsterten Schulter. 11 Uhr 3 Ich stehe in einem üppig großen Zimmer und blicke an dem Mann, der mich zum ersten Mal fest in die Arme schließt, vorbei auf die Alster. Dabei streifen meine Augen die hehre Pracht der Suite. Wofür braucht er eine so riesige Nobelabsteige, wundere ich mich und mein momentaner Eindruck will sich nicht recht in das Bild, das ich mir von ihm machen möchte, einfügen. Ich weiß fast nichts von diesem Menschen, überschüttet mich die Erkenntnis. Und ich fürchte mich plötzlich ein wenig, denn ich ahne, dass ich in diesen Räumen erfahren werde, worauf ich mich eingelassen habe. „Mandy.“ Theatralisch legt er seine Lippen über meine und als ich gerade denke, der dramatische Teil der Begrüßung ist nun vorbei, spüre ich seine feuchte Zunge zwischen meinen Lippen. Er küsst mich! Davon fühle ich mich so überrumpelt, dass ich den Kuss nicht erwidern kann. „Mandy?“ „Es kommt so überraschend. Du bist doch schwul.“ Er lacht wie wahnsinnig. „Keith! Warum lachst du? Hör doch auf.“ „Weil es so weh tut. Immer, wenn mir etwas weh tut, lache ich.“
„Verzeih mir. Gib mir Zeit. Ich dachte, ich hätte endlich einen Freund gefunden. Ich will doch gar nichts anderes als einen Freund. Jemanden, der keine partnerschaftlichen Ansprüche hat, jemanden, der mich nie verlässt, der ganz nah an meinem Herzen wohnt.“ Bei meinen Worten hat er endlich aufgehört zu lachen und als ich ihm dann zögerlich über sein Haar streiche, läuft er nicht wieder fort. Dieses Mal kann er meine zärtliche Geste annehmen und ein gewinnendes Lächeln huscht dabei über sein Gesicht. „Gut. Gehen wir aus“, ergreift er die Intiative. „Ich gehe nicht mit dir aus. Das weißt du.“ „Mandy. Hör zu. Du bist nickt irgendein Frau oder irgendein Mensch für mich. Wenn du mit mir sein willst, wenn du mein Freundinnn sein willst, wirst du dir an viel gewohnen mussen. Sonst werden wir immer zu Hause sitzen.“ Das scheint mein Schicksal zu sein, denke ich, behalte es aber für mich. „Look, mich erkennt normal niemand, weil ich so ein unscheinbare Typ bin.“ „Das stimmt doch gar nicht. Ich finde dich …“ „Schschhh … Es stimmt. Es ist sogar gut so. Ich kann raus gehen und meistens belästigt mir keiner.“ „Okay. Aber ich tue es ungern.“ „Dann verkleiden wir dich. Wenn mich dann doch jemand erkennt, bist du wenigstens inkognito. Ist doch lustig.“ Jetzt lachen wir zum ersten Mal heute gemeinsam.
11 Uhr 57 Eine Frisörin des Hauses erscheint mit zwei großen Koffern. Sie stülpt mir eine wunderschöne rabenschwarze Langhaarperücke über und reicht mir eine nicht so schöne rosa Sonnenbrille in Herzchenform. Als sie mich dann auch noch dunkelbraun geschminkt hat, zieht sie meine Lippenkonturen lila nach. Ich finde, ich sehe aus wie frisch geliftet und weiß nicht recht, ob mir das gefällt. 12 Uhr 31 Der nette Mann vom Empfang erscheint mit einer schwarzen Anzugjacke, die mir bis an die Waden reicht und buchstäblich ziemlich schräg ist. 12 Uhr 34 Wir sind wieder allein. „Ich komme mir vor wie beim Kinderfasching. Am liebsten würde ich alles wieder ausziehen.“ „Du siehst entsetzlick hinreißend aus. Lass es an. Jetzt wird bestimmt keiner mehr auf michchch ackten. Alle werden dir für der beruhmte Star halten und mick für der langweilige Reckanwalt, der dir mit unwicktigen Dingen langweilt. 18 Uhr Wir sind den ganzen Nachmittag über spazieren gegangen, haben Kaffee getrunken und uns sogar für eine Stunde ein
Segelboot gemietet, was beinah an den Fotos in meinen Papieren bzw. an der Perücke gescheitert wäre. Dank meines bemühten Lächelns konnte die Klippe aber gerade noch rechtzeitig umschifft werden und die Haarpracht hat dann alles brav mitgemacht, so dass wir jetzt zersaust und zufrieden mit knurrenden Mägen in einer herrlichen Kneipe in der Langen Reihe eingekehrt sind. 18 Uhr 57 Drei Reporter mit Kameras stürmen auf uns zu. „Das muss an dir liegen. Du scheinst sie irgendwie zu ansiehen“, höre ich noch ein Raunen aus Keiths Mundwinkeln, als er auch schon professionell mit ihnen zu parlieren beginnt. „Und wer ist Ihre smarte Begleiterin?“, fragt der eine, der mehlig aussieht und hektisch mit einem Federwisch verbrämten Mikrofon wedelt. „Marlene“, antwortet Keith spontan, um dann gelassen hinzuzufügen: „Meine Mutter. Aber bitte, sprechen Sie sie nickt an. Sie hatte gestern ein frischen face-lift. Ihr fumpften.“ Als die drei Typen abzischen, nähert sich eine Frau mit gezücktem Stift und einer Speisekarte unserem Tisch. „Darf ich Sie um ein Autogramm bitten?“, fragt sie so aufgeregt wie unterwürfig und streckt dabei Speisekarte und Stift von sich. Keith nickt spontan und lässt seinen Profi-Charme spielen, doch das scheint sie überhaupt nicht zu interessieren. Ich bin es, die sie flehentlich anstarrt! Also unterschreibe ich brav. Wenn ich ihr doch damit eine Freude mache. Als ich in ungelenken Buchstaben „Marlene“ auf die Speisekarte
kritzele, beobachte ich Keith aus den Augenwinkeln, wie er lautlos lachend vor sich hinzuckt. 22 Uhr 41 Mit angezogenen Beinen sitzen wir auf seinem riesigen Bett. Er spielt auf einer abgeschabten akustischen Gitarre. Sein Bild treibt mir Tränen voller quälendem Glück in die Augen. Während ich es anschaue, wünsche ich mir, diese Stunden würden nie vergehen, denn was ich höre, sind nicht die rockigen Töne, die seine Fans von ihm kennen. Heute Abend spielt er ganz allein für sich und mich. Was ich hier höre ist schwerer Blues, der dickflüssig auf meine Seele tropft. Von dort leckt er reißend in meine Mundhöhle hinab und schmeckt nach trockenem Sherry und klebrigem Honig. Als Keith mit einer unerhörten Tiefe und schleppenden Ruhe zu singen beginnt, droht mein Herz zu platzen. Seine Stimme entsteigt dem zähen Nektar ihrer Töne wie ein Flaschengeist, der keck durch das Tor meiner Ohren tanzt, weiter und weiter, stetig bedächtiger, bis er schließlich in meinem Herzen angelangt ist, wo er übermütige Salti schlägt. Je einen so sehnsuchtsvollen Schmerz empfunden zu haben, kann ich mich nicht erinnern und vielleicht ist diese Musik auch gar nicht von dieser Welt. Als hätten wir die Gefängnisse unserer Körper verlassen, fühle ich mich eins mit dem Mann an meiner Seite, den zu berühren ich nicht wage. Und plötzlich fürchte ich mich davor, dass diese Klänge, deren Widerhall sich wie eine kurze Erlösung von der ewigen Suche nach den
Urbildern in meine Ohren malt, irgendwann auf einen vergänglichen Tonträger gebannt werden.
Sonntag, 2. Juni 2001 1 Uhr 31
„Bleibst du heute Nacht bei mir?“ Ein wohliger kleiner Schauer läuft mir über den Rücken und ich schlucke trocken. „Ja. Vergiss aber bitte nicht wieder, was deiner sexuellen Disposition entspricht.“ Als wir eng aneinander gekuschelt einschlafen, höre ich, wie er murmelt: „Das musst du schon mir uberlassen, ob ich gay bin.“ Mehr nicht. Und beim Einschlafen spüre ich sein Verlangen auf meiner Haut. 11 Uhr 12 Gemütlich sitzen wir nebeneinander im Bett und frühstücken. Der Kellner hat nicht diskret zur Seite geschaut, er hat auch nicht gegrinst, für ihn schien es eine ganz normale Übung, einen berühmten Hotelgast neben einer Frau, die gestern noch nicht in diesem Zimmer wohnte, im Bett zu bedienen. Keine seiner Wimpern zuckte. Die Selbstverständlichkeit seines Benehmens erscheint mir wie die Hohe Schule seiner Zunft und ich denke: Das soll ihm erst einmal jemand nachmachen! „Der Joghurt auf dem Musli ist ganz schon läufig“, murrt Keith ganz dicht neben mir.
„Häh? Läufig? Der Joghurt? Ach so, runny. Du meinst flüssig. Läufig bedeutet on heat.“ „Ach sei nicht so schlau“, grunzt er wie ein alter Ehemann und stößt dabei mit der heftigen Bewegung, die seine Worte begleitet, mein weichgekochtes Ei um. Das Eigelb rinnt auf die Bettdecke. 11 Uhr 40 „Listen, hor su, ich muss mit dir reden. Es ist so: Ich habe in mein Leben alles ausprobiert. Nur geheiratet hab ich nickt und kein Kinder gehabt, kein Familie. Eigentlichchch schon als Kind nickt. Mein Vater war ein cholerisch Mann und er hat rumgeschlafen.“ „Und deine Mutter?“ „Sie ist die beste Mutter von allen. I love her.“ „Warum hast du nicht geheiratet? Hattest du Angst? Oder kein Bedürfnis?“ „Oh Mandy. Ick weiß nickt.“ Er blickt mir voller Vertrauen in die Augen und bevor er weiter spricht kriecht er einfach unter meine Bettdecke. „Okay.“ Nun scheint er doch zu zögern, ehe er sich mir ganz öffnet. Lange starrt er unbeweglich das moderne Gemälde an der gegenüberliegenden Wand an, als schaue er in einen weit entfernten Spiegel. Mir ist nicht wohl in meiner Haut, denn ich weiß nicht, ob und wie ich ihn von seiner Qual erlösen soll, bis er endlich zu sprechen beginnt. „Okay. Ick habe mit viel Frauen geschlafen und mit nock mehr Männern. Zuletzt nur nock mit Männern. Auch anonymous.“
Dabei dreht er den Kopf in meine Richtung und blickt mir fest in die Augen. Ich kann seinen Blick nur fragend und verunsichert erwidern. „In dark rooms, dunklen Simmern. Mit Männern, die ich nicht kenne“, berichtet er tapfer und in einem Atemzug. Dann blickt er fragend, als suche er eine Form der Bestätigung oder wenigstens der Aufforderung, weiterzusprechen und muss dabei erkennen, dass ich im Augenblick nicht zu reagieren in der Lage bin. Sein Geständnis hat mir die Sprache verschlagen und es gelingt mir kaum, seinem Blick standzuhalten. Und dennoch spricht er vorsichtig und gefasst weiter. „Seit mein Geburtstag vor ackt Jahr habe ick kein Sex mehr mit ein Partner oder ein Partnerin gehabt. Der thrill war weg, die Nummer billig geworden. Die Schwelle sur Lust war immer hoher gestiegen. Und ick hatte Angst. Verstehst du das?“ Ich nicke unsicher. „Mit dir fuhl ich das erste Mal wieder das Verlangen zusamen zu sein. Du faszinierst mir. Wir sind beide ohne time. Aber du hast Halt in dir selbst gefunden, ich bin nie erwacksen geworden. Ick bin ein uralter Baby, der nie reif geworden ist. Mein Gefuhle waren immer nur in Gedanken egsisstent. Wollte ich sie seigen oder auch nur empfinden, waren sie schon verschwunden. Ich bin ein dreamer.“ Mir ist der Kaffeelöffel, mit dem ich die ganze Zeit über verlegen gespielt habe, nicht aus der Hand gefallen. Es ist mir irgendwie gelungen, ich habe ihn ganz fest gehalten, denn ich freue mich über das Vertrauen, das der Mann an meiner Seite mir entgegenbringt. Und vielleicht, ganz vielleicht wird das
marternde Gespräch ihn ein kleines bisschen glücklicher machen. Auch deswegen fordere ich tapfer: „Sprich weiter. Ich will alles wissen.“ Er küsst meine Hand auf eine Weise, die alles andere als galant ist und mir als fordernd liebevolle und tiefe Geste erscheint. „Lieben kann ich nicht, Mandy, nur mein Mutter vielleickt, aber ich würde es gern mit dir versuchen. Ein ricktiger Freund sein.“ Wortlos sitzen wir nebeneinander. Ich schweige. „Ich mochte mit dir schlafen, Man. Ich werde treu sein und ick bin Ätsch Ei Vi negggativvv.“ Langsam finde ich meine Worte wieder, doch als ich zu sprechen beginne, klingt meine Stimme belegt. „Ich muss erst einmal umdisponieren. Ich hatte mich bereits anders in unserer Beziehung einzurichten begonnen. Du bist sehr attraktiv in meinen Augen, aber ich dachte wirklich, du suchtest in mir eine Freundin, nicht Mann, nicht Frau und dennoch nicht geschlechtslos. Einen Menschen vom virtuellen Geschlecht sozusagen, eine Muse, mit der du ein wenig flirten kannst und die du ein wenig necken kannst, die du aber nicht wirklich begehrst. Eine spaßige Beziehung, die uns keine Sorgen bereitet.“ „Ich bin ein artist, ein Kunstler in mein Herz. Nickt, weil ich beruhmt sein will. Kunst ist mein Leben. Meine Gefuhle sind mein Musik.“ Jetzt ist es mir nicht mehr peinlich, ihm in die Augen zu schauen, auf denen ein feuchter Glanz schwimmt. Liebevoll streichele ich über seine Locken, die heute ganz wirr aussehen.
„Kunst und Leben schließen einander aus, lautet eine These.“ Diesmal küsse ich seine Hand, ehe ich ihn mit meinen Worten zu trösten versuche: „Du brauchst nicht weiterzusprechen, quäle dich nicht. Ich glaube, ich verstehe bereits ein wenig von dem, was du sagen willst. Aber empfunden habe ich diesen Mangel an Leben nie. Ich weiß nur aus Büchern davon“, füge ich kleinlaut hinzu. „Bei mir ist es genau den anderen Weg rum: Ich bin nickt echt. Die Gefuhle, die ich ausdrucke, wenn ick spiele, sind nicht mein eigene. Sie verbinden sich nicht mit mein Leben.“ „Du meinst, du kennst die Worte ‚Liebe‘, ‚Vertrauen‘, ‚ewig‘, aber die dazugehörigen Empfindungen sind dir fremd? Dennoch gelingt es dir, diese Gefühle in anderen für dich zu erwecken, indem du ihnen davon singst. Es ist, als lebten deine Fans diese Gefühle für dich aus, indem sie ihre Liebe, ihr Verlangen, ihre Träume, Sehnsüchte, Hoffnungen auf dich projizieren?“ „Oh Man. Ja. Ich bin so froh, dir das alles erssählt su haben. Einmal in mein Leben musste ich alles sagen, vielleickt nur, um es selbst zu horen. Vielleicht auch um ein Freund, ein Freundinnn zu finden. Wahre Kunst ist nie außen, Man, sie ist in die Menschen. Dem Außerlichen erliegen nur die, die kein artists sind. Gesellschaft und Menschen sind für mich oft nickt zu ertragen. Dort, wo alles außen, alles Oberflache ist, kann ick nickt sein. Das Lebendige, das, was das real reality sein soll, ist wie ein Hulle, wie ein leere Märionett – ein Gliederpuppe? Mein Körper ist auch so ein Puppe, außerlich, hohl, dreckig, full of shit. Und jetzt plotzlick wunsche ich, dass du ihn streichelst, ihn liebhast. Kannst du das, Mandy?“
Flehentlich blickt er mich, die ich längst dahingeflossen bin, an. „Kannst du das?“ Als er weint, halte ich ihn wie einen Säugling in meinen Armen und weine mit. In dieser Pose verweilen wir lange. Dann legt er seinen Kopf in meinem Schoß. 13 Uhr irgendwas Bis ich endlich unbefangen reden kann: „Ja. Ja. Ich glaube ja. Warum sollte ich es nicht können? Ich habe nur ein Leben. Und die Gesellschaft zählt nicht. Sie wird nicht an meinem Bett sitzen, wenn ich sterbe. Sie ist nichts für mich. Sei ganz ruhig. Ob ich stark genug für dich bin, weiß ich nicht. Aber ich schwimme so gern. Weit hinaus auf einem tiefen, dunklen See. Und ich weiß nicht, was unter mir ist und ich fühle mich trotzdem ganz sicher und geborgen. Und doch frei. Wenn es so sein wird mit dir und mir, wie schwimmen über einen See, wie ein behütetes Gleiten über einen Abgrund, dann kann ich es. Dann will ich es. Versprich mir nur aufzupassen, wenn ich doch versuchen sollte, eine spießige Beziehung daraus zu machen. Und sei nachsichtig mit mir. Dann werden wir zueinander und gleichzeitig uns selbst gehören. Wir werden uns nicht gegenseitig kontrollieren. Wir werden die Momente nutzen, wie sie kommen. Verlässliche Freiheit werde ich das Konzept nennen, denn wenn die Dinge erst einmal einen Namen haben, kann ich sie besser begreifen.
17 Uhr 15 Mit einem nicht ganz reinen Gewissen rufe ich meine Kinder an. Für einige Stunden hatte ich sie tatsächlich beinah vergessen. „Ist es okay, wenn ich heute Nacht noch einmal bei Keith schlafe oder braucht ihr mich?“, piepse ich kleinlaut in den Hörer. „Alles okay, Frau Mutter“, antwortet Hannah und es klingt verständnisvoll. „Wir haben hier alles im Griff.“ „Danke, meine Süßen. Ich komme morgen Vormittag. Schafft ihr es, allein aufzustehen und so?“ „Klar, wir sind nämlich keine Babies mehr. Ach ja, es hat wieder auf dein Bett geregnet. Ich habe die Decke zum Trocknen über den Stuhl gelegt und den Kotzeimer unter das Leck gestellt.“ Kotzeimer! Ich muss lachen. Hätte ich mir übrigens auch denken können, dass es gerade heute Nacht wieder auf mein Bett regnet, denn ich hatte den zweiten feuchten Traum des Jahres und dieses Mal war er recht unanständig. Gut, dass Hannah nicht sieht, wie rot ich werde, als mich die Erinnerung daran einholt. „Danke. Klasse gemacht“, sage ich in unschuldigem Tonfall. „Ich hab euch lieb und freu mich schon, euch morgen zu sehen. Passt gut auf euch auf und habt es schön!“ „Klar. Bis morgen, mach dir keine Sorgen. Clara ist auch da. Sie geht gerade mit Heduda Gassi, dann kocht sie uns noch was Gutes, die kann kochen, Mutti, und dann fliegt sie nach
New York! Und, ach ja, Mutter, ehe ich es vergesse: Denkt daran, Präser zu benutzen!“ „Hannah! Keith und ich, wir sind nur Freunde, wir schlafen doch nicht miteinander.“ „Das kannste deiner Großmutter erzählen. Die glaubt es aber auch nicht! Tschüß, Mutti!“ Und schon hat sie aufgelegt. 17 Uhr 26 Ich bin baff. Ist ganz schön kess, die Kleine. Als ich Keith von den Einzelheiten des Telefonats berichte, findet er, sie sei gar nicht dumm und obwohl ich ihm die Sache mit dem Traum verschwiegen habe, streichelt er die Innenseiten meiner Oberschenkel, während die verlangenden Blicke aus seinen Augen Bände sprechen. Als er dann plötzlich innehält, stelle ich fest, dass mir das gar nicht recht ist. Er aber beginnt, meine Füße zu massieren, die Zehen, zwischen den Zehen, unter den Fußsohlen. „Sieh dich aus“, murmelt er und während ich meine Kleidung Stück für Stück zu Boden fallen lasse, spüre ich seine Augen auf meiner Haut und weiß, dass es nun aus ist mit unserer neutralen Freundschaft. Langsam nähert er sich mir, führt mich anstandslos zu seinem großen Bett und zieht mich zu sich hinunter. Dann dreht er mich, Liebkosungen stammelnd, auf den Bauch, bedeckt meinen Rücken mit ganz vielen winzig kleinen, prickelnden Küssen und beginnt, meinen Nacken so ungeheuer geduldig und zart und ausdauernd zu streicheln und zu massieren und zu streicheln und zu massieren und zu streicheln, dass bald alles an mir zu pulsieren scheint. Als er
mich nach einer ewigen Zeit mit seinen großen Händen auf den Rücken dreht, hüpfen die Muskeln in meinem Bauch auf und nieder, als raste dort ein Bogen über eine Geige, deren straffe Saiten ungeduldig zwischen meinen Schenkeln vibrieren. Mir fällt auf, dass diesem Mann die Flächen zwischen meinen primären Animationszentren offenbar keineswegs zu klein für eine ausgiebige Behandlung erscheinen. Und von den Animationszentren selbst, versteht er dann auch eine ganze Menge.
Montag, 3. Juni 20001 12 Uhr 41
Bin gerade noch rechtzeitig nach Hause gekommen, um diverse Fertigpizzen, die ich wie durch ein Wunder in der Friere finde, in den Ofen zu werfen. Nichts hat sich verändert, außer, dass ich nun, fröhlich vor mich hinpfeifend, die Gewissheit habe, wirklich nur noch der Großmutter von meiner Keuschheit berichten zu können. Und dass selbst die beim Zuhören in sich hineinlächeln und rote Ohren bekommen würde. 13 Uhr 17 Ich staune noch, wie rechtzeitig die Kinder heute zu Hause eintrudeln, als sie bereits alle gleichzeitig auf mich einreden. Dabei überschlagen sich ihre Stimmen: „Mutti! Sag, dass du das nicht bist! Bitte!“ Drängend halten mir drei rechte und eine linke Hand das Titelblatt einer Boulevardzeitung vor die Nase. „Keith Kling in der Langen
Reihe!“ lautet die fette Überschrift. Etwas weiter unten sehe ich ihn neben einer Frau mit rosa Herzchenbrille und superlanger schwarzer Hexenfrisur an einem Tisch sitzen. „Keith Kling mit seiner frisch gelifteten Mutter Marlene“ steht unter dem Foto. „Na bitte“, presse ich tapfer hervor, wobei ich versuche, meinen Kindern abwechselnd in die Augen zu blicken. „Jetzt muss ich nur noch einmal kurz durch den Big-Brother-Container hüpfen und schon bin ich reich und berühmt.“ „Solange du noch nicht anfängst, Autogramme zu schreiben“, flötet Hannah. „Na hör mal“, pariere ich den Angriff lachend und bekomme nun selbst die roten Ohren, die ich eigentlich der Großmutter zugedacht hatte. Ich stelle mir nämlich vor, wie die Frau, der ich das Autogramm gab, bereits dabei ist, einen Fanclub für Marlene zu gründen.
Mittwoch, 5. Juni 2001 17 Uhr 23
Ich höre das Gebührengrab ab. „Sag mal“, ertönt Claras Stimme vom Band, „wie ist er denn im Bett, der Sohn von Marlene? Wer ist denn die Tücke? Und was sagt der gute Christian zu der ganzen Geschichte? Ruf mich bloß ganz schnell mal an!“ Wir haben noch nicht miteinander über die neuesten Entwicklungen an meinem Horizont gesprochen, weil sie nie zu erreichen war. Nicht immer praktisch genug, so ein Handy. Ich wäre fast geplatzt vor Mitteilungsdrang und jemand anderer
wollte ich nichts erzählen. Hab ich auch nicht. Gut, dass auch sie mich nicht auf dem Foto in der Verkleidung der Mutter Marlene erkannt hat. Erleichtert atme ich auf.
Donnerstag, 13. Juni 2001 14 Uhr 3
Beim Aufräumen meiner Schreibtische und 2 entdecke ich neben eingetrockneten Gläsern, Kekskrümeln und dem üblichen Bonbonpapier, dass ich beinah vergessen hätte, Christian die Kopie vom Grundbuchamt zu schicken. 14 Uhr 9 Als Frau Hund die Leine sieht, springt sie aufgeregt an mir hoch. „Heute Mittag gehe ich mit Heduda Gassi“, brülle ich durch das Haus und nehme den Brief an Christian gleich mit zum Kasten.
Montag, 2. Juli 2001 21 Uhr 12
Weil er darauf bestanden hat, treffe ich mich mit dem Schlawiner bei einem, wie er es nennt, „Nobel-Italiener“ zum Essen. An einem winzigen Tisch kaue ich seit einer geschlagenen halben Stunde auf trockenen Weißbrotscheiben herum. Der traut sich was, denke ich und überlege mir gerade, ob ich gehen soll, als er wohlriechend um die Ecke schwebt.
„Hi Mandy. Du siehst stark aus!“ „Was ist denn in dich gefahren?“ Christian kommt mir übertrieben jovial vor. „Auch du, meine liebe Amanda, wirst mich nicht daran hindern, dass ich mit jedem Tag, den ich lebe, klüger werde.“ Haha. Sehr komisch. Der Mann klaut eindeutig die Sprüche anderer. 23 Uhr 5 Endlich erfahre ich den Grund unseres Treffens. „Ach ja, Liebling, magst du in der nächsten Woche mal für mich beim Notar vorbeischauen? Ich habe dir bereits einen Termin besorgt, den du aber selbstverständlich jederzeit ändern kannst. Und dann brauchte ich hier noch eine kleine Unterschrift von dir.“ Als handelte es sich dabei um eine nebensächliche Kleinigkeit, schiebt er mir in aller Seelenruhe einen Schrieb seiner Bank über den Tisch, direkt unter die Nase, indem er mit der ausgefahrenen Mine seines schwarzglänzenden MontblancStiftes bereits auf die für meine Unterschrift vorgesehene Stelle deutet. Ich wittere Böses und lese. Sehr sorgfältig. „Du willst die Grundschuld auf meinem Haus erhöhen?“ Dass er mich für so dämlich hält, finde ich herrlich. Herr– lich. „Muss sein, tut mir Leid. Aber für dich wird sich ja dadurch nichts ändern.“ Wenn der die Grundschuld erhöhen will, wird er auch die Schulden erhöhen, das ist klar. Eine kleine Unterschrift hier,
eine kleine Unterschrift da, tut auch gar nicht weh … Mandy, du tolle Traumfrau, pass auf! „Stehst du kurz vor der Pleite?“, frage ich deshalb vorsichtig und wäre trotz allem wahrscheinlich bereit, ihm aus der Bredouille zu helfen. „Nein. Nein. Ich muss nur investieren. Das ist normal.“ „Dann erhöhe doch den Praxiskredit.“ „Würde ich ja gern tun, aber das geht nicht.“ „’türlich geht das. Wenn du doch in die Praxis investierst.“ Er beginnt herumzudrucksen. „Also, wenn ich ehrlich bin, ich will gar nicht in die Praxis investieren. Ich habe mir ein neues Segelschiff gegönnt. Das habe ich mir nach all den Jahren wohl auch verdient.“ „Und was habe ich davon? Ich meine, weil du dir das Schiff doch schließlich von meinem Geld leisten willst?“ „Ganz so ist das ja nun nicht! Und außerdem kommst du doch selbst gerne mit.“ „In den letzten vier Jahren durfte ich einmal an Bord. Vergiss das nicht.“ „Okay, ich mache dir ein Zugeständnis: Wenn du unterschreibst, kannst du dir das Schiff ja auch mal leihen.“ „Nein Kapitän. Da miete ich mir lieber eins. Auch auf die Gefahr hin, dass du jetzt sauer bist.“ „Ich bin nicht sauer. Aber du bist wirklich ein bisschen kleinkariert manchmal.“ Jetzt muss ich lachen, denn das Hemd mit den kleinen Karos trägt heute er. Christian aber scheint die Situationskomik nicht zu bemerken und interpretiert mein Lachen auch gleich falsch.
Deshalb ist er sich auch gar nicht zu schade, mich noch einmal zu bitten, dass ich mir die Sache überlege.
Mittwoch 25. Juli 2000 8 Uhr 23
Die Kinder haben Sommerferien und ich bin selbst überrascht, bereits so früh fit zu sein. Heduda ist schon entwässert und die Kaffeemaschine gurgelt gemütlich vor sich hin. Unternehmungslustig schmeiße ich den Computer an und sehe, dass ich endlich mal wieder Post bekommen habe. 8 Uhr 28 „Man? Wovor fürchtest du dir am meisten? Keith“ 8 Uhr 37 „Davor, allein zu sterben.“ Die prompte Antwort wartet bereits um 9 Uhr auf dem Server auf mich: „Du meinst, dass dich keiner in die Arme hält, wenn du gehen musst?“
8 Uhr 43 „Es wäre wunderbar, wenn ein Mensch, dem ich vertraue, bei mir wäre. Aber das meinte ich gar nicht. Ich meinte, zu sterben und nicht zu wissen, dass da irgendwo ein Mensch ist, der mich liebt, der mich wirklich vermissen wird, der wirklich an mich denkt, bei dem ich in Gedanken sein darf.“ 9 Uhr 5 „Mandy, davor fürchte ich mich auch am meisten. Es wäre, als hätte ich mein Leben umsonst gelebt.“
Ende Juli bis Mitte August 2001 Ich schwimme in sämtlichen Seen der nahen Umgebung. Von Christian habe ich seit dem legendären Abend in der Pizzeria keinen Ton mehr gehört und frage mich, ob ich mich mal bei ihm melden sollte.
Mittwoch, 22. August 2001 12 Uhr 5
Bin gerade erst aufgewacht. Das darf doch wohl nicht wahr sein! Während andere in meinem Alter beginnen, an seniler Bettflucht zu leiden, werde ich wohl doch nie erwachsen.
Donnerstag, 23. August 2001 8 Uhr
Ich habe es geschafft, wieder früher aufzustehen und wie zur Belohnung wartet bereits eine E-Mail von Keith für mich auf dem Server. „Darling …“ In seinen Zeilen erklingt seine Stimme wie in seinen Liedern. Dieses geile Reibeisen, das sofort die unteren Regionen angreift. Darling! Baby! Honey! Ein wohliger Schauer läuft prickelnd meinen Rücken hinab. Doch: verflixt! Er soll mich nicht mit den Frauen verwechseln, die er in seinen Liedern anschmachtet. Und ich will mich auch nicht mit ihnen verwechseln. Jahrelang hat er ihr Blut ausgesaugt, um nicht selber empfinden zu müssen, um nicht selber lieben zu müssen! Feigling! 8 Uhr 16 „Vorsicht! Nenn mich nie wieder Darling oder Honey oder gar Baby!!! Ich bin keinem deiner Liedertexte entstiegen! Ich bin aus Fleisch und Blut. Man.“ 8 Uhr 57 Warum antwortet er nicht? Schläft er? Arbeitet er? Ist er bereits auf Hawaii? Wie spät mag es dann bei ihm sein? Keine
Ahnung. Ob er sich freuen würde, wenn ich zu ihm flöge? Oder hat er mich längst wieder durch seine Musik ersetzt? Eine brave Geliebte ist sie, eine, die die Klappe hält, die seine unechten Gefühlsschleusen öffnet, ohne ihm Verantwortung aufzubürden, eine, die ihn nicht ins Leben hinauszwingt.
Freitag, 24. August 2001 17 Uhr 15
„Liebe Army, mein kleine Festung, mein Schutzwall (habe ich alles im dictionary aufgeguckt. Das habe ich sogar bei mir …), ich werde dich nie mehr Darling oder Baby oder sonstwie klischeehaft nennen. Willst du ein first-class-ticket nach Hawaii? Ich werde noch fast drei Monaten hier verbringen und music recorden. Ich longe für dir! Du kannst den ganzen Weg schlafen, es ist sehr bequem da vorn in ein jumbo-jet und gar nicht so laut. Sag ja! Wenn du nur kurz bleiben kannst oder willst, ist das auch ganz okay mit mir. Dann wird unser relation wenigstens kein everyday. Jeder Tag mit dir, jede Stunde, jede Sekunde ist reality. Wenn du bei mir bist, kann ich anknüpfen an mein Kindheit. Und mich selbst finden, mich selbst fühlen, weil Innen und Außen fallen zusammen. Ich habe dir noch so viel zu erzählen. Love, Keith.“
20 Uhr 30 Telefon! Mir wird ganz flau, vielleicht ist es Keith? Ich habe ihm noch nicht geantwortet, weil ich nicht weiß, wo ich die Kinder auch nur für ein paar Tage unterbringen könnte, ohne ihnen das Gefühl zu geben, im Wege zu sein. Tagelang alleinlassen mag ich sie noch immer nicht. Clara. Ja Clara, die Frau, die am meisten Arbeit, Stress und Erfolg hat, wäre die Einzige, die sich um freie Tage zwecks Babysittens bemühen würde. Also hebe ich nicht ab, der AB tut seine Pflicht. Ich kann jetzt nicht mit Keith sprechen, bin schrecklich unentschlossen und aufgeregt. „Mandy, geh schon ran!“ Es ist Christian und ich bin plötzlich ganz gelassen. „Hallo Darling.“ „Was ist denn mit dir los? Freust du dich denn gar nicht über meinen Anruf?“ „Doch, sehr. Wie immer.“ „Du klingst so, so, ironisch.“ „Ne, was hast du denn auf dem Herzen? Bestimmt hast du wahnsinnig Sehnsucht nach mir und bereits einen stehen, wenn du nur meine Stimme hörst.“ „Mandy?“ „Das liegt an dem Gefühl der Macht, mein Schatz. Macht motiviert einen jeden unserer Schritte. Selbst in der Liebe.“ „Liebe. Ja, du kennst mich gut. Und weißt, was ich für dich empfinde. Es wird alles wieder gut, Mandy.“ „Dann weißt du bestimmt auch, dass ich morgen Geburtstag habe? Ich werde vierzig! Endlich.“
Seine bemühte Reaktion kommt allzu prompt. So prompt, dass er mir beinah ins Wort gefallen wäre, und es kommt mir vor, als wolle er seine Überraschung besonders deutlich überspielen. Was mittlerweile ein zum Scheitern verurteiltes Bemühen ist. Vergessen hat er es, der Schwindler. Wieder einmal vergessen, doch es tut nicht mehr weh. Scheinheilig fragt er: „Was wünscht du dir denn eigentlich?“ Und auch mir fällt die Antwort gar nicht schwer: „Christian, es ist so lieb von dir zu fragen. Ich habe nämlich tatsächlich einen Wunsch. Könntest du dich mal für ein, zwei Wochen um unsere Kinder kümmern? Ich brauch dich so.“ „Wie soll ich das denn machen? Und wieso?“ Auweih, er hat sich richtig zickig angehört. Entgegen der vorherrschenden Meinung, können das in der Tat nämlich auch Männer: sich zickig anhören. Gelassen antworte ich ihm: „Zu Frage zwei: weil du der Vater bist. Zu Frage eins: Tagsüber schickst du deine persönliche Referentin her, die wird sich vielleicht sogar geschmeichelt fühlen. Und abends kümmerst du dich selbst um die Kinder. Ist doch gar nicht so schwer.“ „Mandy, ich bin Arzt.“ „Ich weiß, Darling. Darauf habe ich tausend Jahre lang Rücksicht genommen. Jetzt sind wir getrennt.“ „Ich habe aber keine, wie du es nennst, ‚persönliche Referentin‘.“ „Eine Praxishelferin tut es auch. Wie wäre es zum Beispiel mit der schönen, jungen, wie heißt sie noch, Jennifer?“ „Ist das fair, Mandy?“
„Das frag ich mich schon lange. Hör zu, ich muss mal kurz nach Hawaii und deine Kinder sind allein. Hast du das soweit verstanden? Es hat nichts mit dir zu tun.“ „Hawaii??? Ist das der Name eines neuen Sonnenstudios oder einer neuen Kneipe bei dir da draußen?“ „Nein, Schatz, es handelt sich dabei um ein Archipel im Pazifik.“ Ruhe. Pause. Nichts. Dann: „Das glaub ich nicht. Das kannst du dir doch gar nicht leisten. Bezahle ich das etwa?“ Dann hat es offenbar in seinem eingebildeten Köpfchen gearbeitet, bevor er hinzufügt: „Und du willst ganz allein nach Hawaii?“ „Ja, Liebling. Natürlich. Mit wem sollte ich wohl fahren?“, entweicht es cool meinen üppigen Lippen.
Samstag, 25. August 2001
8 Uhr 30
Der Wecker klingelt und ich bin vierzig Jahre alt! Und es macht mir gar nichts aus, denn heute fliege ich aus. Keith hat liebevoll darauf bestanden, meine sämtlichen Tickets am Lufthansaschalter für mich bereitlegen zu lassen. Wegen fehlender Visa soll ich mir auch keinen Stress machen. Es wird deswegen nirgends Probleme geben, hat er versprochen. Alles läuft glatt wie in einem sanften Traum. Christian hat sich zwangsweise und ein wenig murrend bereit erklärt, für zwei Wochen zu
den Kindern zu ziehen. Und er hat, gar nicht murrend, vorgeschlagen, mich zum Flughafen zu fahren. Natürlich ist er nur neugierig und will wissen, was Sache ist, aber was geht das mich an? Die Sachebene lautet: Er bringt dich reibungslos in seinem schmucken Cabrio zum Flughafen und wird, um auch bestimmt nichts zu verpassen, deinen Koffer bis auf das Förderband schleppen. Und sollte er doch wieder einmal unpünktlich sein, kannst du dir immer noch ein Taxi rufen. 9 Uhr 55 Christian ist heute super pünktlich. Was für ein Zufall! 10 Uhr 3 – 11 Die Kinder gratulieren mir noch schnell schläfrig aus ihren Betten. Alle vier nehmen mich fest dabei in ihre Arme und sehen ganz zufrieden aus. 10 Uhr 19 Ruhig und vergnügt steige ich in Christians rasende Bonbonschachtel. 10 Uhr 41 Die Fahrt verlief bei guter Laune und ohne Stau, einzig jetzt finden wir keinen Parkplatz und die Zeit hat zu laufen begonnen.
„Magst du nicht direkt vorm Eingang halten und mich dort aussteigen lassen?“ „Nein, mein Liebling, das würde ich doch nie tun. Wo denkst du hin? Ich trage dir selbstverständlich noch den Koffer rein. Das gehört doch wohl zum Service“, sagt er charmant und vergisst dabei offenbar tatsächlich, wie gut ich ihn kenne. „Dann steig doch schon mal mit dem Gepäck aus und ich suche weiter nach einem Parkplatz. Wenn ich die Bon…, den Wagen los bin, hole ich schnell meine Tickets, die liegen nämlich noch am Schalter. Wir treffen uns dann an der Gepäckaufgabe. Wenn es dir Recht ist.“ Brav und ohne zu zögern stimmt er meinem Vorschlag zu und schleppt Koffer und Handgepäck in den Terminal. 10 Uhr 55 Christian steht hektisch winkend am Kopf der Schlange vor dem Counter der Touristenklasse. Mit den Erste-KlasseTickets in der Hand gehe ich, auch ein wenig kopfschüttelnd über soviel verschwenderische Großzügigkeit, huldvoll wie eine kleine Königin auf ihn zu. „Danke“, hauche ich generös in seine Richtung, als ich meine Unterlagen auf den Tresen lege. „Oh“, sagt die Stewardess, „das tut mir Leid, Herr Bierschwall, Sie hätten …“ „Doktor“, entblödet Christian sich nicht zu sagen. „Dr. Bierschwall!“ „Pardon, Herr Dr. Bierschwall. Sie hätten sich gar nicht hier anstellen müssen. Ihre Frau reist doch erster Klasse.“
Aus den Augenwinkeln sehe ich, nun doch errötend, wie er zwar möglichst unauffällig, aber anhaltend in winzigen, schnappenden Stößen nach Luft japst. Schließlich gewinnt er die Fassung wieder und sieht schon fast wie der alte Christian aus, als er sich Hilfe suchend umblickt. „Ja. Ja. Natürlich. Einzig scheint der Erste-Klasse-Schalter sonnabends nicht zu existieren.“ „Inlandflüge, Herr Dr. Bierschwall“, sagt die Stewardess mit ausgesuchter Höflichkeit, jedoch nicht ohne seinen Titel eindeutig zu betonen, „Inlandflüge gibt es in Deutschland schon lange nicht mehr in der ersten Klasse. Sie können einfach zum Schalter der Business-Class hinübergehen. Selbstverständlich transportieren wir Ihnen das Gepäck sofort dorthin!“ Nun steht er dumm da. Was mir gut tut und ihm auch nicht schaden wird. 11 Uhr 1 „Guten Tag!“ Christian benimmt sich, als wäre ich sprachlos. „Meine Frau fliegt erster Klasse. Bitte checken Sie ihr Gepäck für mich ein.“ 11 Uhr 5 „Dann wünsche ich Ihnen eine gute Reise, Frau Bierschwall!“, trällert fröhlich die Stewardess und ich werde dabei das Gefühl nicht los, irgendwie viel sagend von ihr betrachtet zu werden.
„Danke, die werde ich haben!“, kontere ich so beschwingt wie selten. „Bestimmt wird sie Keith Kling treffen und er wird sich maßlos in sie verlieben“, unterbricht Christian meinen Schwung mit Spott in der Stimme und Häme im Blick, indem er der Stewardess übertrieben deutlich zuzwinkert. „Sie wissen davon? Ach so! Da kann ich ja offen reden“, verkündet da die hübsche Frau aufgeregt sprudelnd hinter ihrem Schalter und mir fällt nicht schnell genug ein, wie ich ihren Redefluss souverän unterbrechen kann. „Ich würde alles geben, wenn ich mit Ihnen tauschen könnte, Frau Bierschwall. Alles! Ein Urlaub mit Keith Kling! Was für ein Mann! Sagen Sie, ist er wirklich so, wie in seinen Liedern?“ „Haargenau so“, antworte ich lächelnd, „nur noch viel besser!“