H i l m a r Wulff D i e jungen Jäger Illustriert - Etwa 100 Seiten • Halbleinen • Etwa 3,20 DM
Per und Jörn, zwei däni...
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H i l m a r Wulff D i e jungen Jäger Illustriert - Etwa 100 Seiten • Halbleinen • Etwa 3,20 DM
Per und Jörn, zwei dänische Fischerjungen, durchstreifen Wald und Moor entlang der „Vestervig", einer Bucht, die seit Jahr und Tag einsam und verlassen daliegt. Dabei gelingt den jungen Jägern ein großer Fang. Per u n d Jörn erweisen sich als k ü h n e Segler. Ihr gemeinsames Handeln und ihre Hilfsbereitschaft sind beispielhaft für uns.
S. A n t o n o w
Straßen i n d e n n e u e n Tag 276 Seiten - Halbleinen - 4,20 DM
Die fußballbegeisterte Jugend bricht ihr Spiel ab und stürzt zum Bahnhof, um die neuen Autos zu bewundern. - Eine Gruppe Techniker zieht tagelang durch den Wald, um eine Straße zu vermessen. - Die imposanten Erdölfelder Bakus tauchen auf mit ihren hochragenden, schier unzähligen Bohrtürmen, die zum Teil im Kaspischen Meer liegen. 7 Erzählungen berichten vom erlebnisreichen Alltag der sowjetischen Jugend. Liebe Leser, was sagt Ihr zu diesen Büchern ?
VERLAG N E U E S LEBEN Der Verlag der jungen Generalion
Berlin W 8, Markgrafenstraße 30
P r e i s 0,25 DM
WALTER G O E K I S H
Windstärke Null
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2006.10.03 18:59:27 +02'00'
VERLAG NEUES LEBEN 19 5 3
BERLIN
Alle Rechte vorbehalten Copyright 1933 by Verlag Neues Leben, Berlin W 8 Veröffentlicht unter der Lizenz Nr. 303 des Amtes für Literatur und Verlagswesen der Deutschen Demokratischen Republik • Gen.-Nr. 305/12/53 Umschlagzeichnung: Heinz Rammelt, Bernburg Typographie: Kollektiv Neues Leben Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V 15/30
I J J e r siebzehnjährige Leichtmatrose Jürgen Kersten beugte sich weit aus dem Krähennest des Dreimasters „Delphin", der sich auf großer Fahrt von Bombay, der Westküste Indiens, nach Port Darwin, der Nordküste Australiens, befand. Der Dreimaster war knapp einem Taifun entronnen, der ihn scharf östlich und fast über dreißig Meilen aus dem Kurs geweht hatte. Jetzt segelte der „Delphin" auf der langrollenden Dünung des hinter ihm liegenden Taifuns und unter dem Druck einer steifen Brise wieder nach Süden, dem Äquator zu. „Mann backbord, ahoi!" Hatte Jürgen noch vor wenigen Minuten an eine Täuschung geglaubt, so sah er den Mann jetzt genau, der in seltsamer, halb aufgerichteter Stellung auf dem Kamm einer Woge von der verlängerten Richtung des Bugs nach backbord trieb. „Sitzt auf dem Indischen Ozean wie in einem Klubsessel", knurrte Jürgen. Gleichzeitig suchte sein Blick die Wanten* und das Deck unter ihm in Erwartung des Manövers, das den Mann, der nur noch wenige Kabellängen vom „Delphin" entfernt war, an Bord holen sollte. Aber nichts dergleichen geschah. Die Mannschaft fuhr eifrig fort, die letzten Reffe** aus den Segeln zu schlagen, um den „Delphin" wieder auf volle Fahrt zu bringen. Kapitän Brown, ein kurzbeiniger Fünfziger mit einem Geierblick, starrte, als habe er Jürgens Ruf nicht vernommen, die Wanten hinauf und die Rahen*** entlang, welche im Winde hin und her schlugen. • Starke Taue, die den Mast seitlich stützen ** Reff; reffen: Verkleinern der Segelfläche bei zu starkem Wind *** Waagerechte Stange am Mast
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„Daß dem Burschen da oben die Augen aus dem Kopf fallen!" fluchte Brown vor sich hin. Für Kapitän Brown verwandelte sich die steife Brise in harte, runde Dollars, nach denen ihn sein Leben lang hungerte. Je schneller er seine Baumwollfracht los wurde, die der „Delphin" geladen hatte, um so größer wurde sein Bankkonto in New York. Jetzt sollte er womöglich einer halbersoffenen Seeratte wegen die Fahrt unterbrechen, wo der Ausläufer des Taifuns den „Delphin" ohnehin schon dreißig Meilen aus dem Kurs geworfen hatte? „Mann backbord, ahoi!" brüllte Jürgen zum zweitenmal. Zum Teufel, war der Kapitän verrückt geworden, daß er so tat, als höre er nichts, oder hatte er Flundern in den Ohren? „Es ist nichts als eine Gallionsfigur!" Aber Kapitän Brov/ns Stimme war heiser vor Wut. Alle merkten es, und so ging sein Witz daneben, der ihm helfen sollte, die Fahrt fortzusetzen, um eine Handvoll Dollars zu retten. Mit Befriedigung sah Jürgen, wie die Bewegungen der Kameraden auf den Rahen und in den Wanten langsamer wurden, gleichsam als erwarteten sie jeden Augenblick das Kommando des Kapitäns. Mac O'Brien, ein alter, einäugiger Irländer, brüllte jetzt ebenfalls: „Mann backbord, ahoi!" Ihn beseelte die gleiche Solidarität mit einem in Seenot geratenen Kameraden, wie sie unter allen Seeleuten ungeschriebenes Gesetz ist. Einen Kameraden der See preisgeben ist schlimmer, als Vater und Mutter in der Hölle zu lassen, wenn eine Handbewegung genügte, um sie herauszuholen. „Seit wann gleicht eine Teerjacke einer Gallionsfigur?" fuhr Mac O'Brien fort zu brüllen. Jürgen schmunzelte. Mac O'Brien konnte die Schnauze voll nehmen, ohne Gefahr zu laufen, dafür in Eisen gelegt zu werden. Obwohl einfacher Matrose, hatte er mehr als einmal den Steuermann ersetzt, wenn jener mit einem Malariaanfall auf dem Rücken lag. Daß Mac O'Brien es dennoch nicht bis zum Offizier gebracht hatte, lag einzig an seiner Liebe zum Gin. Zum Unglück für Kapitän Browns Bankkonto erschien jetzt, herbeigelockt durch Mac O'Briens Gebrüll, der Steuermann an Deck. Jürgen in seinem Krähennest atmete erleichtert auf. Es war ihm mittlerweile klargeworden, daß der Kapitän nicht die geringste 4
Absicht hatte, den Schiffbrüchigen an Bord zu holen. Jetzt aber, wo außer der Mannschaft auch der Steuermann Zeugnis ablegen konnte, daß der Kapitän im Begriff stand, einen Mord zu begehen, würde Brown es nicht wagen, den Mann seinem Schicksal zu überlassen. Und in der Tat spürte Jürgen, wie der „Delphin" infolge eines kurzen Manövers, das dem Schiffbrüchigen galt, leicht krängte.* Jedoch genügte die plötzliche Neigung des Dreimasters nach backbord, um Lorenzo, einen spanischen Matrosen, gegen die Reling zu schleudern, wo er mit gebrochenem Schienbein liegenblieb; ein Vorfall, der infolge der Spannung, mit der man das Boot verfolgte, das den Neuen an Bord holen sollte, nicht beachtet wurde. Auch Jürgen, der von seinem Krähennest aus jede Bewegung der Bootsmannschaft beobachtete, vergaß zunächst, daß in dem Moment, als man den Neuen über die Reling hob, der Wind plötzlich nachließ. Erst in der völligen Flaute, die wenige Minuten später einsetzte, wurde sich Jürgen dieser Tatsache bewußt. Und zum erstenmal erlebte Jürgen den Anblick schlaffhängender Segel bei einer lang rollenden Dünung, wie sie sonst nur bei einer steifen Brise oder einem Seebeben möglich war. Gedankenverloren starrte Jürgen in die rollenden Wogen, die unter der grellen Äquatorsonne wie Berge von Diamanten funkelten. Lorenzo hatte sich ein Bein gebrochen. Dazu Windstille. Alles in dem Augenblick, als man sich anschickte, den Neuen an Bord zu holen. Nun gut, ein Zufall. Aber ein verdammt seltsamer Zufall! Der Neue und Lorenzo wurden unter Deck gebracht. Gleich darauf stieg aus dem Schornstein der Kombüse der Wrasen nach oben, wand sich in der völligen Windstille wie eine Spirale aus fettem, weißem Marmor den Mast empor. Jetzt hatte der Schwaden aus dem Küchenschornstein Jürgen erreicht. Ein unangenehm süßlicher Geruch wollte dem Leichtmatrosen den Magen umkehren. Der Teufel mochte wissen, was Admiral Wellington in seiner Kombüse für die Mannschaft zurecht braute. Jürgen glaubte sich zu erinnern, diesen widerlich süßen Geschmack schon einmal auf der Zunge gespürt zu haben, vor einer Woche etwa, als der ,.Delphin" ebenfalls in einer kurzen Flaute festlag. Dirk Peters, ein Hamburger Schiffszimmermann, hatte damals genießerisch-ironisch * Sich nach der Seite neigen
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den Kochschwaden geschnuppert und durchblicken lassen, daß es an Deck wie auf einem Schlachthof von Chikago röche, wo es den Fleischkönigen auf einen mehr oder weniger verfaulten Schweinekadaver auch nicht ankäme. Ein kurzer Befehl aus der Trillerpfeife des Bootsmannes rief Jürgen aus dem Krähennest an Deck zurück. Die Gefahr, auf ein treibendes Wrack aufzulaufen, wie sie manchmal nach einem Taifun den Schiffen begegneten, war angesichts der Flaute vorüber. Obwohl Jürgen von den Fußsohlen bis zum Haaransatz nur einen Zoll weniger als sechs Fuß maß, und See, Wind und Sonne seinen Körper zu Stahl gehämmert hatten, spürte er, wie ihm beim Berühren des Decks die Knie wegzusacken drohten. „Nur wegen des verfluchten Geruches!" knurrte Jürgen vor sich hin. „Was ist mit dir?" herrschte Kapitän Brown den Leichtmatrosen an. „Gesoffen, was?" „Nichts ist mit mir, Kapitän, und getrunken hab' ich nicht einen Tropfen", beteuerte Jürgen und begab sich auf einen Wink des Kapitäns in die Back.* Brown warf dem Jungen einen langen Blick nach. Teufel, sollte es schon so weit sein? Hoffentlich bekam er noch Sumatra hinter sich. Von da an gab es bis Australien keine Möglichkeit mehr, einen Hafen anzulaufen. Ob die Mannschaft dann wollte oder nicht, sie mußte vor dem Wind segeln und das im eigenen Interesse wie der Teufel. Doch Jürgen, das Muttersöhnchen, war jetzt schon dem Schwaden ausgewichen, der aus der Kombüse quoll. Kapitän Brown schaute sorgenvoll nach Nordost, von wo jeden Augenblick der Monsun** wehen mußte und klar Deck fegen würde. Aber er sah nur einen im Blau ertrinkenden Himmel, ein Meer, das kaum zu atmen wagte und dessen gleißende Fläche wie ein tausendfach gebrochener Spiegel die Sonnenstrahlen zurückwarf. Inzwischen war Jürgen in der Back angelangt. Der Neue lag nackt auf dem Boden. Mac O'Brien fuhr mit seiner Handfläche über den Körper des Geretteten, dessen Kehlkopf krampfartig zuckte. • Mannschaftsraum ** Monsun- Besonders im Indischen Ozean auftretende Winde — bedingt durch die Wärmeunterschiede zwischen Land und Meer — strömen im Sommerhalbjahr landeinwärts, im Winter landauswärts 6
Jürgen schauderte. Jeder Strich der mit reibeisenartigen Schwielen bedeckten Handflächen Mac O'Briens hinterließ auf der Haut des Neuen eine breite, rote Spur. „Redet mächtig viel dummes Zeug, der Neue", japste Mac O'Brien vor Anstrengung. „Will auf der .Oleandra' gefahren sein, einer von den neumodischen Kästen, der sich statt auf den ollen ehrlichen Wind auf seinen Bauch voll Kohle verläßt. Kein Wunder, daß die ,01eandra' vom Taifun zu den Haien geholt wurde. Der Klabautermann will seine Ruhe haben und frischen Wind. Wenn da Tag und Nacht der Maschinenlärm rumort, geht er eben von Bord und schickt so eine neumodische Fuhre auf den Grund." Kaum hatte Mac O'Brien das letzte Wort ausgesprochen, als der Neue wieder zu phantasieren begann. „Kohle! Kohle!" brüllte er in einem fast unverständlichen Englisch. „He, du verdammter Trimmer, du Faultier, wo bleibt die Kohle?" ahmte er jetzt eine scharfe Kommandostimme nach. Dabei versuchte er mit seinen muskulösen Armen schaufelnde Bewegungen auszuführen. „Laß gut sein", versuchte Jimmi, der einzige Neger an Bord, den Neuen zu trösten, „bei uns nix Kohle." Aber der Neue brüllte nur noch lauter. Diesmal schien er noch einmal den Untergang der ,01eandra' zu durchleben. „Frauen und Kinder zuerst!" tobte er, wild mit den Armen fuchtelnd. „Ah, du hundsgemeine Ratte!" versuchte er einen unsichtbaren Gegner zurückzustoßen. „Hab ich nicht gesagt, Frauen und Kinder zuerst?" „Frauen und Kinder zuerst", nickte der Schiffszimmermann, „so wie es sich für einen richtigen Janmaat gehört!" Nach dem Gebaren des Neuen mußten die Szenen, die sich auf der sinkenden „Oleandra" abgespielt hatten, furchtbar gewesen sein. Aber was dem Neuen auf dem „Delphin" begegnen sollte, würde alles andere in den Schatten stellen. „Du schrubbst dem Neuen ja die Haut ab", warnte Jürgen. Und in der Tat erschienen auf der Brusthaut winzige rote Pünktchen. Mac O'Brien hörte auf, den Körper des Geretteten zu bearbeiten. Mit seinem einen Auge betrachtete er zufrieden sein Werk. „Jetzt hat er genug, denk' ich", brummte er. Und sich an Jürgen wendend: „Was ist denn mit dir? Siehst im Gesicht aus wie frisch gemolkene Milch!" 7
Jürgen strich sich über die Stirn. „Es riecht an Bord wie nach krepierten Ratten, wenn ihr nichts dagegen habt." „Aber der Kapitän wird was dagegen haben!" schnappte Hunter ein. Er war ein geschmeidiger Bursche, dessen Oberlippe einmal bei einer Schlägerei mit der Nadel eines Segelmachers Bekanntschaft gemacht hatte, Seitdem kamen die Worte über seine zerrissenen Lippen wie das Fauchen einer in die Enge getriebenen Ratte. „Der Käpten wird fuchsteufelswild, wenn jemand etwas über den „Delphin" sagt- Dazu noch der Jüngste an Bord. Wenn du weiterhin alles hinausposaunst, was deine Nase riecht und kein falsches Signal setzt, etwa w i e . . . n a . . . es riecht nach dem besten Parfüm, das ich je gerochen habe, wirst du mit dem Käpten aneinandergeraten. Ich sag's dir wie einem Bruder. Ich seh' den Sturm schon heraufkommen. Schau dir den Admiral Wellington an. Vor drei Jahren noch war er ein Kerl wie du, nicht weniger als sechs Fuß, und wenn er auf die Waage ging, hatte man nie genug Gewichte... Nach der letzten Niggerjagd auf Malaiti geriet Wellington mit Käpten Brown aneinander. Na, ich will nichts gesagt haben. Nicht ein Sterbenswörtlein. Aber ihr seht ja selbst, was Wellington jetzt ist. Ein Händchenvoll, das dem Kapitän die Füße leckt. Seitdem hat Wellington seine Ruh. Seine Ruh vor dem Kapitän, und gute Proviantierung ist das Beste, was sich eine Teerjacke wünschen kann. Ich sag's dir, wie man es einem Bruder sagt!" Indessen hatte der Neue die Augen aufgeschlagen. Das erste, was er von seiner Umwelt klar empfand, war ein, wenn auch leichter, so doch widerlich süßer Geruch.
II Der einzige, der außer Kapitän Brown wußte, woher der widerliche Geruch kam, war Admiral Wellington, wie der Smutje des „Delphin" seltsamerweise genannt wurde. Es war nichts anderes als das langsam verfaulende Pökelfleisch, das der Kapitän seiner Mannschaft vorsetzen ließ. Admiral Wellington wußte auch ungefähr, wieviel der Kapitän am Elend der Mannschaft verdiente; denn jener hatte das Pökelfleisch weit unter dem üblichen 8
Preis gekauft, was gleichbedeutend mit schlechter Ware war. Vielleicht wäre auch alles noch gut gegangen, aber dann war die Flaute eingetreten, und kein Mensch konnte wissen, wie lange sie noch anhalten würde. Inzwischen verging jedoch die Zeit, und die brütende Hitze an Bord, durch keinen Lufthauch gemildert, war bestimmt nicht das beste für verderbendes Pökelfleisch. Während Admiral Wellington den Ofen heizte, um für die Mannschaft das Essen herzurichten, pfiff er leise vor sich hin. Je länger die Flaute, um so besser! Es wird bestimmt zu einer Explosion kommen bei dem Fraß hier, kalkulierte Admiral Wellington. Sein Blick ruhte auf den Pökelfieischstücken, über welche die Maden krochen. Der Gestank machte Wellington nichts aus; die Hauptsache war, daß er auf dieser Reise endlich Gelegenheit bekam, mit Kapitän Brown abzurechnen. Kapitän Brown war einer der vielen dollarhungrigen Freibeuter, die unter dem Knallen der Snider-Gewehre und dem Klatschen der Peitsche aus Nilpferdhaut den Insulanern die Zivilisation gebracht hatten. Wo beide Mittel versagten, hatte Kapitän Brown mit Gin nachgeholfen. So kam es, daß er im Laufe der Zeit durch den Handel mit gepreßten farbigen Vertragsarbeitern, die auf den Plantagen der weißen Ausbeuter einem traurigen Schicksal entgegengingen, sich ein ansehnliches Vermögen zusammengescharrt hatte. Dazu kamen noch ganze Schiffsladungen Trepang*, Sandelholz, Perlmutter und Schildpatt, Elfenbein, Nüsse und Kopra, die Kapitän Brown im Tausch gegen wertlosen Plunder den Eingeborenen abgegaunert hatte. Die Mündungen der Snider-Gewehre, die von Bord aus auf die Insulaner gerichtet wurden, spielten bei diesem schmutzigen Handel eine erhebliche Rolle. Einmal, als Admiral Wellington seinen Abscheu gegen die unmenschliche Auspeitschung eines Eingeborenen nicht mehr verbergen konnte, übergab Kapitän Brown den Koch für vierundzwanzig Stunden der „Obhut" eines melanesischen Häuptlings. Jener Häuptling, durch den Gin zum willenlosen Werkzeug Kapitän Browns geworden, erhielt die Anweisung, Admiral Wellington am andern Tage wieder lebendig und ohne äußere Verletzungen an Bord abzuliefern. Als sich der Koch nach vierundzwanzig Stunden * Seegurke, Gewürz für Speisen
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wieder auf dem Schiff befand, war aus dem jungen, frohen Burschen ein alter Mann geworden. Seitdem lebte Admiral Wellington nur noch, um mit Kapitän Brown abzurechnen. „Anker klar zum Fallen!" hörte der Koch jetzt die verhaßte Stimme Browns bis in die Kombüse schallen. Jürgen, der an einem Segelblock hantierte, hob völlig überrascht den Kopf. Er war überzeugt, daß der Kapitän endgültig den Tropenkoller bekommen hatte. Kapitän Brown, das Zögern des Leichtmatrosen bemerkend, brüllte mit verstärkter Stimme: „Heda, Kersten! Wird's bald, oder muß ich dich wegen Gehorsamsverweigerung kielholen lassen?" Jürgen, der nicht die geringste Lust verspürte, halbersäuft eine Fahrt unter dem Kiel des Schiffes hinweg anzutreten, sauste mit noch sieben anderen zum Gangspill*, das sich gleich darauf knarrend in Bewegung setzte. „Das gibt ein Unglück, und zwar sehr schnell, ihr werdet sehen", orakelte Mac O'Brien. „Das läßt sich der alte Neptun nicht gefallen, einen Anker auf seinem bemoosten Rücken, wenn nirgends Grund vorhanden ist." „Eine Arbeit für Affen, die Langeweile haben", brummte Jürgen vor sich hin. „Singt, zum Teufel, singt, Boys!" versuchte der Kapitän die Männer am Gangspill aufzumuntern, wie es bei dieser Arbeit üblich war. Jürgen sang die ersten Takte, und die anderen fielen ein. Aber das Lied, welches sonst beim Ankern im Hafen munter von ihren Lippen kam, erstarb allmählich, und schließlich schwiegen die Matrosen ganz. „Es ist wegen der Kette", wollte der Bootsmann den merkwürdigen Befehl erklären. „Der Kapitän will wissen, ob die Ankerkette in Ordnung ist." Aber Kapitän Brown ging es keinesfalls um die Ankerkette, sondern um den Kochschwaden, der jetzt wieder aus Admiral Wellingtons Kombüse über Deck kroch. Und was Kapitän Brown beabsichtigt hatte, trat ein. Statt nach dem Kochdunst zu schnuppern und nach der Ursache des widerlichen » Ankerwinde
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Geruches zu fragen, fluchten die acht Männer am Gangspill über die sinnlose Arbeit, die ihnen der Kapitän aufgehalst hatte. Genau so erging es dem Rest der Mannschaft, welche von ihren Plätzen aus kopfschüttelnd der Arbeit am Gangspill zugeschaut hatte, und die jetzt zu zwecklosen Segelmanövern in die Takelung gehetzt wurde. „Es steckt ganz etwas anderes dahinter, als die Ankerkette nachzusehen oder die Segel zu prüfen", mutmaßte der Zimmermann Dirk Peters als erster. Man riet hin und her und vergaß den widerlichen Geruch, der über Deck lagerte, bis Joe Allan, ein älterer stiller Matrose mit einem mächtigen roten Vollbart, den er in dünne Zöpfe geflochten trug, die Aufmerksamkeit auf sich und damit auf den Geruch an Deck lenkte. Mit zitternden Knien und grünem Gesicht stand er da. „Gebt mir einen Gin", stöhnte er, „es stinkt an Deck wie in einem Leichenhaus." Das Unglück, welches Mac O'Brien am Gangspill vorausgesagt hatte, traf tatsächlich ein. Der Pfiff des Bootsmannes verkündete endlich das Ende der sinnlosen Anker- und Segelmanöver, und Jürgen begab sich zur Kombüse, um einen Schluck Wasser zu trinken. Aber kaum hatte er die Tür geöffnet, als ihm ein furchtbarer Gestank die Kehle zusammenschnürte. Gleichzeitig sah er auf dem Tische der Kombüse ein Stück Pökelfleisch liegen, von dem Admiral Wellington gerade die letzten Maden schabte. Jürgen bemerkend, der wie angenagelt im Türrahmen stand, hob Admiral Wellington eine der Maden auf die Messerspitze. Er hätte sie geradesogut wie die andern vorläufig auf dem Tisch liegenlassen können. Aber ausgerechnet diese eine Made, die ihren fetten weißen Leib aufgeregt hin und her drehte, beförderte Admiral Wellington mit feierlicher Langsamkeit dicht an Jürgens Augen vorbei in den Kohlenkasten. Dazu sagte der Koch kein Wort, was auch angesichts dieser eindringlichen Vorführung nicht notwendig war. Der Anblick der zuckenden Made auf Admiral Wellingtons Messerspitze ließ jeden Zweifel an der „Qualität" des Pökelfleisches unmöglich werden. Krachend warf Jürgen die Tür hinter sich zu. Verdorbenes Pökelfleisch fressen, während die Fahrt noch nicht einmal halb hinter ihnen lag! .1!
Aber Jürgen kam nicht dazu, seine Wut herauszuschreien. Erregte Ausrufe und Gesten der Mannschaft lenkten Jürgens Blick zum Großmast. Sicherlich in der Absicht, dem widerlichen Geruch auf Deck zu entgehen, war Joe Allan in die Wanten hinaufgeentert. Mit vor Schreck geweiteten Augen sah Jürgen, wie Allans linker Fuß abglitt. Das konnte jedem anderen auch passieren und bot eigentlich keinen Anlaß zum Entsetzen. Doch was Jürgen den Atem anhalten ließ, waren die fahrigen Bewegungen, mit denen Joe Allan sein Gleichgewicht wiederzugewinnen suchte. Joe stand im Begriff abzustürzen, und das aus mindestens achtzig Fuß Höhe. Mac O'Brien, der inmitten der ratlos zusammengedrängten Mannschaft stand, schrie in ebenso unausgesetzter wie unnötiger Weise: „Komm herunter, Joe! Ich rat' es dir wie einem Bruder. Was, zum Teufel, hast du da oben zu suchen?" Die einzigen, welche in dem herrschenden Durcheinander etwas Vernünftiges zu tun gedachten, waren Jim Parker und der Schiffszimmermann, die sich gleichzeitig anschickten, in die Wanten zu klettern. Aber es war schon zu spät. Joes Körper schlug kraft- und willenlos hintenüber gegen die Rahe. Jimmi und Dirk Peters gelang es gerade noch, rechtzeitig zurückzuspringen. Jürgen wandte das Gesicht ab. Den Aufprall von Joe Allans Körper auf Deck zu vernehmen, konnte er jedoch nicht verhindern. Langsam ging Jürgen auf die dicht gedrängte Mannschaft zu, die den Sterbenden schweigend umstand. So furchtbar war Joes letzter Kampf, daß die Männer, die schon manches gesehen hatten, wie gelähmt verharrten. „Joe hätte an Deck bleiben sollen", ließ sich nach einiger Zeit die gepreßte Stimme Hunters vernehmen. „Weiß der Teufel, warum er in die Wanten enterte." Bei der Stimme Hunters, dieses verdammten Kriechers, wie ihn Jürgen bei sich nannte, brach in dem Leichtmatrosen die ganze bisher aufgespeicherte Wut durch. „Joe wollte ein Maul voll frische Luft schnappen!" schrie Jürgen außer sich. „Selbst der verkommenste Hai wagt sich bei dem Gestank an Bord nicht einmal bis auf eine Meile an den .Delphin' heran. Statt anständiges Pökelfleisch bekommen wir Maden zu fressen. Kein Wunder, daß Joe schlappmachte, wo ihm sicher schon der Skorbut in den Knochen saß!" 12
Die Männer schauten sich gegenseitig bedeutungsvoll an und hoben schnuppernd die Nasen in die Luft. Doch bevor sie zu Worte kommen konnten, geschah etwas völlig Unerwartetes. Ohne daß Jürgen oder sonst jemand von der Mannschaft Kapitän Brown hatte kommen sehen, stand jener wie aus dem Deck gewachsen plötzlich vor dem Toten. Durch den Mast gedeckt, hatte Brown alles mitangehört und war auf leisen Sohlen herangeschlichen. Mit einem Strom von Flüchen wandte er sich abwechselnd an die Männer und an den toten Joe, der, wie es Jürgen schien, höhnisch aus seinen gebrochenen Augen zu Kapitän Brown hinaufschaute. Es waren nicht nur unflätige Redensarten schlechthin, deren sich Kapitän Brown bediente, sondern eine Auslese der gemeinsten Flüche der Männer aller Rassen und Nationen, die je unter Kapitän Browns Befehl gesegelt waren. Der Eindruck, welchen Brown damit auf die Mannschaft machte, war offensichtlich. Fast niemand dachte in diesem Augenblick mehr an das verdorbene Pökelfleisch, das die Ursache zu Joes Tod gebildet hatte. Verwirrt schauten die Matrosen auf den fluchenden Kapitän. Sie alle waren harte Burschen, doch vor ihnen lag ein toter Kamerad, und jedes Wort, das über Kapitän Browns Lippen kam, war eine Gotteslästerung. Als der Kapitän merkte, daß er die Mannschaft dort hatte, wo er sie haben wollte, ging er zum direkten Angriff über; denn Brown rechnete mit Stunden, ja sogar mit Minuten. Der Monsun kam gewöhnlich unerwartet. Wehte er in diesem Augenblick, überlegte Kapitän Brown, könnte ich Joe einfach über Bord gehen lassen, und dann mit den Matrosen die Wanten hinauf. Dort oben, wo der Wind die Masten bog, würden sie genug zu tun haben, um das verdorbene Pökelfleisch für eine Weile zu vergessen. Aber vorläufig war noch Flaute, und so mußte der Kapitän zu anderen Mitteln greifen. Joes Tod schien sich jetzt für Brown zu einem Glücksfall umzuwandeln. Auf den Toten zeigend, brüllte Kapitän Brown: „In den Spelunken hat er sich herumgetrieben. Der Suff ist ihm ins Gehirn gestiegen, sag' ich euch. Wie käme sonst eine normale Teerjacke dazu, bei Windstärke Null ohne Befehl die Wanten hochzuentern?" Jürgen schaute ungläubig auf den Zimmermann, der sein Gesicht in höhnische Falten gelegt hatte. „Das soll der Kapitän einer Flunder 13
erzählen, aber nicht mir!" raunte er Jürgen zu. „Joe war ein ordentlicher Seemann, der seine Heuer zu Frau und Kindern schickte." Aber auch die Zunächststehenden, unter ihnen der Neger Jimmi Parker und Mac O'Brien hatten das Geraune des Zimmermannes vernommen, und die Mannschaft begann zu tuscheln. Kapitän Brown, dem nichts entging, riß wieder das Wort an sich. „He, Hunter!" schrie er, „sag den Jungs, was mit Joe los war! Du bist doch mit ihm in der Rittititti-Bar gewesen, der gemeinsten Giftmischerspelunke zwischen Bombay und Sydney, wie ihr ja alle selber wißt." Hunter, der sich in der letzten Reihe befand, trat vor. Und auch ohne den drohenden Blick aus Kapitän Browns Geieraugen wußte er genau, was dieser von ihm verlangte. Und Hunter, der eine gute Proviantierung und seine Ruhe vor dem Kapitän über alles schätzte, begann nach dem Willen Browns zu lügen. „Was die Rittititti-Bar angeht, darüber brauche ich euch nicht lange zu erzählen", kam es fauchend über Hunters zerrissene Lippen. „Wer da bloß einen Gin nehmen will, dem kann nichts passieren. Nun, Joe wollte mehr als einen Gin. Der war ihm nicht mehr gut genug. Da goß er das Giftzeug in sich hinein, von dem niemand weiß, woraus es gebraut wird." Und sich den Schweiß abwischend, der plötzlich in dicken Tropfen von seiner Stirn perlte, zeigte Hunter auf den Toten. „Was dabei herausgekommen ist, seht ihr. Und der Kapitän hat's euch ja schon gesagt. Laßt euch Joe zur Warnung dienen!" schloß Hunter scheinheilig. Bei diesen Worten ging durch einen Teil der Mannschaft ein befreites Aufatmen. Das war also die wahre Ursache von Joes Tod. Zu allem Überfluß kam den Machenschaften Kapitän Browns auch noch ein Zufall zu Hilfe. Sich über den Toten beugend, erspähte der Kapitän beginnende Geschwüre an Joes Nacken. „Da seht her!" rief Brown seinen Leuten zu, dabei auf die entzündeten Stellen deutend, „seht selbst, wie weit es mit jemand kommt, dem der Gin nicht mehr gut genug ist und ein Teufelsgebräu in sich hineinkippt." Jürgen, der sich aus dem Kreis der Mannschaft hervordrängte, entgegnete: „Das Pökelfleisch ist schlecht, Kapitän. Das Geschwürchen da kann auch vom Skorbut herrühren." 14
Wie der Blitz fuhr Kapitän Brown herum. „Was sagst du da?" schrie er Jürgen an. „Du willst deinen Kapitän und Hunter dazu als Lügner hinstellen!" Jürgen schluckte. Da hatte er sich in eine schöne Geschichte eingelassen. Jetzt würde er die ganze Fahrt über die Wut des Kapitäns zu spüren bekommen. Dennoch fühlte Jürgen eine tiefe Erleichterung, als er mit schnellem Blick den toten Kameraden streifte. Er war der einzige, der Joe dem Kapitän und Hunter gegenüber zu verteidigen gewagt hatte. Diese mutige Haltung, geboren aus einem tiefen, natürlichen Solidaritätsgefühl mit einem Kameraden, der sich nie etwas zuschulden hatte kommen lassen, erfüllte Jürgen trotz der Schikane, die er in Zukunft von seinem Kapitän erwarten mußte, mit Stolz. Aber wenn Jürgen glaubte, er stände allein im Kampf um Joes Ehre, so sollte er sich getäuscht haben. Es war Dirk Peters, der Hamburger Schiffszimmermann, der Jürgen zu Hilfe kam, und hinter dem sich die Mannschaft eng aneinandergepreßt zusammenrottete. „Mit allem schuldigen Respekt gegenüber Ihrer Person und Ihrem Wort, Kap'tän", begann der Zimmermann, der ein erfahrener Seemann war und genau wußte, wie man sich auf hoher See in heiklen Situationen gegenüber seinem Kapitän zu benehmen hatte, „die Meinung des Leichtmatrosen Jürgen Kersten sollte man nicht einfach in die Segel hängen. Der Skorbut hat schon mehr als einen Seemann auf dem Gewissen. Und daß es fast immer Geschwüre sind, die ihn fressen, und daß am Schluß die Zähne und die Beine wackeln, weiß jeder, der einmal mit dem Skorbut Bekanntschaft gemacht hat." Und ermutigt durch das zustimmende Murmeln der Mönner hinter seinem Rücken, holte der Zimmermann tief Luft, hütete sich aber, auch nur mit der Wimper zu zucken. Überhaupt vermied Dirk Peters jegliche Geste, welche Kapitän Brown, der ihn wie zum Sprung geduckt belauerte, als Meuterei hätte auslegen können. „Auf das Wort Hunters gebe ich allerdings nicht die Bohne", fuhr der Zimmermann fort, „und wenn noch soviel Fleisch drin sein sollte", spielte er auf das Bohnengericht an, in dem man beim letztenmal Maden gefunden hatte. An dem beifälligen Flüstern der Mannschaft hörte Dirk Peters mit Befriedigung, daß sein Hieb gesessen hatte, ohne daß der Kapitän 15
etwas dagegen tun konnte. Aber im gleichen Augenblick spurte der Schiffszimmermann, wie ihn die Matrosen vorwärtsschoben. Dicht neben seinem Gesicht fühlte er den erregten Atem Jürgens. Nur keine Meuterei auf hoher See, überlegte Dirk Peters blitzschnell. Dirk wußte, daß ihnen eine Meuterei im nächsten angelaufenen Hafen den Tanz der grauen Krawatte einbringen mußte, wie die Matrosen den Strick um den Hals nannten, an dem Meuterer baumelten. Die Beine breit spreizend, stemmte sich Dirk gegen die stumm anrückende Mannschaft, der in diesem Augenblick alles zuzutrauen war. „Drängt nicht so, Jungens", rief der Zimmermann. „Immer der Reihe nach, wer den Kapitän sprechen will. Aber wenn ich bitten darf, mit dem nötigen Respekt. Der Kapitän wird das Pökelfleisch schon untersuchen lassen." Jetzt war es heraus, was Dirk Peters eigentlich bezweckt hatte, als er Jürgen beisprang. Joe war tot, dem konnte niemand mehr helfen. Jetzt ging es um die Gesundheit; ja, wenn die Flaute noch länger als erwartet anhalten sollte, vielleicht sogar um das Leben der Mannschaft. Und den Blick fest auf den Kapitän gerichtet, der den Schiffszimmermann nicht aus den Augen ließ, spürte Dirk, wie der Druck der Mannschaft hinter seinem Rücken nachließ. Denn nun mußte es sich endgültig herausstellen, was es mit dem Gestank an Bord auf sich hatte. Aber auch Kapitän Brown atmete erleichtert auf. Die Sonne schien senkrecht auf die Köpfe der Männer, und die brütende Hitze drohte die Nerven der Menschen an Bord zu zerreißen. Angesichts der Mannschaft, die stumm und eng aneinandergepreßt auf das Wort ihres Kapitäns lauerte, hielt es Brown für ratsam, etwas nachzugeben und ihnen einen Spaß zu gönnen, der die Männer sicherlich für den Rest des Tages beschäftigen würde. Und den Zigarrenstummel von einem Mundwinkel in den andern rollend, sagte Kapitäri Brown: „Well, Boys! Ich bin Amerikaner, und die Planken des „Delphin" sind ein Stück amerikanischen Bodens. Wie ihr wißt, leben wir im freiesten Land, das je von der Sonne beschienen wurde. Well, wenn irgendwo etwas nicht in Ordnung ist, hat bei uns in Amerika jeder das Recht, da hineinzuleuchten. Wenn ihr glaubt, das Essen sei schlecht, so habt ihr das Recht, Admiral Wellington beizubringen, 16
wie man auf dem „Delphin" zu kochen hat. Na, ich bin gespannt, wie ihr dem Smutje heimleuchten werdet." Kapitän Brown warf Hunter einen bezeichnenden Blick zu. Dann drehte er sich um, wie ein Mann, den die ganze Angelegenheit nicht mehr interessierte. Indes, während der Kapitän seiner Kajüte zuging, hörte er mit Befriedigung das Gebrüll Hunters: „He, Jungens, wollen wir der schäbigen Küchenwanze beibringen, was seine Schuldigkeit ist!" Und schon dröhnte das Deck unter den Füßen der Mannschaft, die auf die Kombüse zurannte. An der Spitze lief Hunter. Seine Augen leuchteten vor Bosheit. Das würde einen Hauptspaß geben, wenn sie Admiral Wellington kielholten. Dirk Peters, der neben Jürgen lief, raunte jenem zu: „Achtung, Admiral Wellington darf kein Haar gekrümmt werden!" Unglücklicherweise schlug der Zimmermann im gleichen Augenblick, über ein Tauende stolpernd, der Länge nach hin. Jürgen, der zunächst durch das herausfordernde Gebrüll Hunters mitgerissen worden war, verstand es, Hunter zu überholen. Und während Jürgen wie alle anderen lief und unsinniges Zeug brüllte, wunderte er sich tief im Innern, warum der Kapitän nicht ein einziges Wort über das verdorbene Pökelfleisch gesagt hatte, sondern so tat, als ob die ganze Angelegenheit die Schuld des Smutje war. An die Worte Dirk Peters denkend, nahm sich Jürgen vor, das Schlimmste zu verhindern. Koste es, was es wolle, er mußte als erster den Koch erreichen. Entsetzt über die brüllend anstürmende Mannschaft knallte Admiral Wellington hastig die Tür hinter sich zu. Fast gleichzeitig hatte Jürgen die Kombüse erreicht. Der Aufprall der Mannschaft traf Admiral Wellingtons Bereich wie der Faustschlag eines Riesen. Glas klirrte. Dazwischen das polternde Geräusch stürzender Eisentöpfe und die kreischende Stimme Admiral Wellingtons: „Ich werde euch einen Eimer kochendes Wasser in die Schnauzen kippen!" „Geh mal von der Tür weg!" forderte Hunter Jürgen auf. Dann geschah etwas in dem allgemeinen Gebrüll und Durcheinander, was Hunter zwar durchschaute, aber nicht zu beweisen vermochte. Sich an einen Trick aus seiner Schuljungenzeit erinnernd, bückte sich Jürgen, griff mit beiden Händen nach seinem Schienbein und brüllte laut auf. Und obwohl Hunter ihn kaum berührt hatte, 17
behauptete Jürgen, Hunter habe ihn mit aller Kraft gegen das Schienbein getreten. Sofort bildete sich um die beiden Streitenden ein weiter Kreis. Hunter ging in Kampfstellung, während er immer wieder behauptete, Jürgen sei ein gemeiner Lügner. Das konnte sich Jürgen, dem jeder den Schmerz vom Gesicht ablas, natürlich nicht gefallen lassen, und die Mannschaft fand es ganz in Ordnung, daß Jürgen jetzt seinerseits in Kampfstellung ging. „Macht Platz für Jürgen und Hunter!" schrie Mac O'Brien, dessen einziges Auge vor Vergnügen strahlte. „Schlag zu, nimm die Linke! Tu mir den Gefallen und vergiß die Linke nicht!" feuerte er Jürgen an. Die ausgedörrten Deckplanken knarrten unter dem tollen Wirbel der Kämpfenden. Jürgen, der seinen Gegner schon nach wenigen Sekunden ins Land der Träume hätte schicken können, zog die Auseinandersetzung mit Hunter bewußt in die Länge, lenkte die Aufmerksamkeit der Männer von der Kombüse ab und durchkreuzte damit den Plan Kapitän Browns, die Wut der Mannschaft über das verdorbene Essen sich auf Admiral Wellington entladen zu lassen. Mit einem kurzen Blick an Hunter vorbei bemerkte Jürgen, wie sich die Tür der Kombüse vorsichtig um eine Handbreit öffnete. Ein sicheres Zeichen, daß Admiral Wellington die Gefahr, in der er geschwebt hatte, zunächst für beseitigt hielt. Der Kampf zwischen Jürgen und Hunter endete damit, daß Jürgens Gegner das Messer zog. Aber bevor er zustoßen konnte, sprang Dirk Peters, der sich inzwischen wieder aufgerappelt hatte, Hunter von der Seite her an. In diesem Augenblick erschien Admiral Wellington vor der Kombüse, in der Hand das Küchenbeil. Aber er dachte weder an Jürgen noch an Hunter, als er das Beil mehrere Mal in die Luft warf und geschickt am Griff wieder auffing. Sein ganzer Haß galt Kapitän Brown, der von der Kommandobrücke aus ohne mit der Wimper zu zucken den Tumult auf Deck beobachtete, der sich entwickelte, als Dirk Peters Hunter das Messer entriß. Admiral Wellingtons Augen, von denen man noch vor wenigen Minuten glauben konnte, sie seien die eines Toten, glitzerten im Vorgenuß seiner Rache, als er mit dem Daumen die Schneide des Beiles prüfte und zu Kapitän Brown hinüberschaute. 18
Die hereinbrechende Nacht senkte sich wie ein kühler Mantel auf die erregten Gemüter der Mannschaft. Still schaute das Kreuz des Südens auf den „Delphin" herab. Jürgen hatte Ruderwache. Diese Stunden unter dem sternenbesäten Himmel waren für Jürgen die schönsten an Bord. Gewohnheitsgemäß mit beiden Fäusten das schlanke Ruderrad umklammernd, döste Jürgen vor sich hin. Leider gab es nichts zu steuern. Der „Delphin", sonst dem leisesten Druck des Steuerruders gehorchend, erschien Jürgen wie in tiefen Schlaf versunken. Den Blick in sich gekehrt, schaute der Leichtmatrose versonnen in das Halbdunkel, aus welchem Deck und Masten gespensterhaft hervorragten. Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Aber Jürgen schaute sich nicht um; kannte er doch diesen schleichenden Tritt. Es war Kapitän Brown, der, die Zigarre im Mundwinkel, an Jürgen vorbeiging. Kurz darauf, als das Halbdunkel die Gestalt des Kapitäns verschluckt hatte, glaubte Jürgen ein Scharren zu vernehmen. Mit dem Mondlicht, das langsam das Deck zu überfluten begann, trat wieder tiefe Stille ein. Es mochten kaum fünf Minuten vergangen sein, seit Kapitän Brown das Steuerruder hinter sich gelassen hatte, als Jürgen etwas sah, was seinen Herzschlag stocken ließ. Über die Reling, die jetzt fast taghell erleuchtet im Mondschein lag, stieg eine Gestalt. Wie verzaubert stand Jürgen da, und nur das eiserne Gesetz, daß die Ruderwache, komme was wolle, niemals das Steuer verlassen durfte, ließ Jürgen auf seinem Posten ausharren. Aber dann erkannte er in dem Wesen, das mit Hilfe der Bugleine an Bord geklettert war, seinen Kapitän. Als Kapitän Brown dann schwankenden Schrittes auf ihn zukam, wich Jürgen mit dem Oberkörper instinktiv zurück. „Gut, Kersten", sagte Kapitän Brown mit leiser Stimme, „du bist es nicht gewesen. Wo ist der Steuermann?" Jürgen schüttelte verwirrt den Kopf, gewann aber gleich seine Fassung wieder. „Ich weiß es nicht, Kap'tän", antwortete er ruhig. ..Hab ihn auch die ganze Wache über nicht gesehen." „Hast du sonst jemand an Deck bemerkt?" „Außer Ihnen niemand, Kap'tän." „Aber hast du nicht bemerkt, welchen Weg ich zurückkam? Kannst du dir das erklären?" 19
„Sie müssen über Bord gewesen sein, Kap'tän." „Well, ich war über Bord, und jemand hat versucht, mir mit dem Beil einen Scheitel zu ziehen. Und jetzt mache das Rad fest und komm mit." Nachdem Jürgen das Ruder festgebunden hatte, suchte er gemeinsam mit Kapitän Brown, der kein Wort verlauten ließ, das Deck ab. Brown durchwühlte sogar die Beiboote. Aber an Deck war keine Menschenseele zu entdecken. Noch nicht einmal Deckwachen waren ausgestellt. Was hatte es auch für einen Sinn bei einer Flaute. Obendrein war der „Delphin" in Gewässer abgetrieben worden, die wahrscheinlich noch nie ein Schiffskiel durchfurcht hatte. „Geh wieder ans Steuer", befahl Kapitän Brown seinem Leichtmatrosen, als sie erfolglos das Deck geprüft hatten. Wieder am Steuer, sah Jürgen, wie Brown sich bückte, um durch die Luke in die Back hinabzusteigen. Sie bestand aus einem schmalen Rechteck, an dessen beiden Längsseiten die Kojen eingebaut waren. Der Neue lag in einer Hängematte. An der Decke schaukelte fast unmerklich mit den sanften Bewegungen des „Delphin" eine Ölfunzel. Der ganze Raum war bis auf jeden erdenklichen Platz ausgenützt und vollgestopft mit Ölzeug, Stiefeln, sauberer und schmutziger Wäsche der Mannschaft. Kapitän Brown, der sich seit Jahren in kein Mannschaftslogis mehr hineingetraut hatte, prallte unwillkürlich vor der stickigen Luft zurück, die in der Back herrschte. Langsam ließ er seinen Blick über die einzelnen Kojen gleiten. Doch keiner der Männer fehlte. Auf dem Neuen ließ Kapitän Brown besonders lange seinen Blick haften. Dann schien er das Nutzlose seines Tuns einzusehen und ging, noch das Schnarchen der Schläfer im Ohr, wieder an Deck. Jürgen, der Brown auf seine Kajüte zugehen hörte, hielt den Blick starr geradeaus gerichtet. Wie mochte alles zugegangen sein? Wer hatte Kapitän Brown mit dem Beil bearbeitet und ihn dann über die Reling gefiert?* Der „Delphin" schaukelte in einer unmerklichen Dünung. Das Kreuz des Südens begann zu verblassen. In der Kombüse zündete Admiral Wellington das Feuer an. Das Beil war dort, wo es hingehörte, mit der Schneide in den Hauklotz vergraben, der sich nahe der Kombüsentür befand. • Fieren - herablassen
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III Die Sonne schlug ihren sich stets erneuernden, glühenden Bogen über den „Delphin", und Tage und Nächte lösten sich aus quälender Verstrickung gemächlich ab. Der so ersehnte Monsun blieb aus. Das Meer, noch bis vor wenigen Tagen durch eine sanfte Dünung leicht gekräuselt, glich jetzt einer blaupolierten Stahlplatte, auf die der „Delphin" festgeschmiedet zu sein schien. Um das Elend der Mannschaft voll zu machen, zeigten sich bei verschiedenen Männern bereits peinigende Geschwüre. Jürgen und der Zimmermann hatten recht behalten; an Bord des „Delphin" wütete der Skorbut. So kam es, daß Krankheit und Höllenglut an Bord des Schiffes einen Wirbel von überspannten Empfindungen in den Köpfen der Mannschaft erzeugte. Aber weder war es bisher zum offenen Disziplinbruch noch zu sonstigen Gewaltakten gekommen, bis eines Tages Mac O'Brien dem Neuen an der Reling begegnete. Jetzt, wo Silvio, wie der Neue hieß, einigermaßen wiederhergestellt war, sah man, daß er kaum älter als Jürgen sein konnte, obwohl sich die beiden in keiner Weise glichen. Silvio war klein, dafür aber massiv wie ein Klotz, der ideale Kohlentrimmer. Silvio, ein italienischer Landarbeiter, stammte vom Rande der Pontinischen Sümpfe, wie sich später herausstellte. Wie er auf die „Oleandra" geraten war, wußte niemand. Jedenfalls zeigte es sich bald, daß er von den Kompaßstrichen nicht mehr als ein Walroß vom Getränkemischen verstand, wie sich Mac O'Brien ausdrückte. Voll und bei und dicht am Wind* waren für Silvio böhmische Dörfer. Fock** und Klüver*** waren für ihn ein und dasselbe. Dies aber nicht aus Dummheit. Von Schiffen und allem, was damit zusammenhing, kannte Silvio lediglich einen schmalen Gang, an dessen einem Ende sich der Kesselraum und am anderen Ende ein riesiger Kohlenberg befand, der niemals alle wurde. So kam es, daß Silvio, der zudem die englische Sprache nur äußerst mangelhaft beherrschte, sich an Bord des „Delphin" ein wenig für sich hielt. * Verschiedene Segelmanöver, je nach der Lage des Seglers zum Wind ** Das unterste Segel am vordersten Mast (Fockmast) •** Dreieckiges Segel über dem Bugspriet
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In dem Augenblick, als Mac O'Brien an dem Neuen vorbeiging, starrte Silvio, die Ellbogen auf die Reling stützend, zum Himmel hinauf. Mac O'Brien starrte ebenfalls zum Himmel, und als er nichts anderes sah, als was er sein Leben lang dort oben gesehen hatte, nämlich nichts, fand er das Benehmen des Neuen höchst merkwürdig. Mac O'Brien, der schon weitergegangen war, drehte sich noch einmal um. Silvio starrte noch immer in den Himmel. Das war für Mac O'Brien, dem die Hitze wie ein eiserner Ring die Schläfen zusammenpreßte, zuviel. Mit einem Satz stand er vor Silvio, der erschrocken zur Seite wich. „He, du verdammter Kohlenfresser", brüllte Mac O'Brien kochend vor Wut, „bin ich weniger als eine Wanze, daß du mich nicht sehen willst, wenn ich an dir vorbeigehe?" Der Alte hob die Faust, und nur eine kurze Drehung Silvios ließ den Schlag daneben gehen. Aber die Sonnenglut und die Langeweile an Bord waren nicht das Schlimmste. Was die Mannschaft, allmählich an den Rand der Verzweiflung brachte, war der scheußliche Brodem, der aus dem Schiff sinnern kommend, jetzt auf Deck lagerte. Er kroch in die Back, in die Kleider. Es kam so weit, daß einer den andern nicht mehr riechen konnte. Am andern Tag bekam Mac O'Brien das zweite Gesicht. Er verschaffte sich Ruhe, indem er versuchte, dem Schiffszimmermann ein handlanges Messer in den Leib zu jagen. Jedoch streifte er ihn lediglich an der Schulter. Und endlich kam der Tag, wo es fast stündlich eine Schlägerei gab. Wer der Prügelei entging, dem fraßen die Geschwüre Löcher in den Leib. Der Zimmermann sagte immer wieder: „Hört auf mich, Jungens! Es ist eine verdammte Gemeinheit, wenn Kameraden sich untereinander abschlachten, als seien sie Bestien und keine Menschen. Und letzten Endes kommt alles vom verdorbenen Pökelfleisch, das wir fressen müssen!" Jürgen, den ein faustgroßes Geschwür im Nacken fast um den Verstand brachte, schrie: „Über Bord mit dem Rattenfraß!" Eigentlich war seine Aufforderung gar nicht mehr nötig gewesen; denn schon während Dirk Peters zur Mannschaft sprach, setzte sich diese in Richtung Kombüse in Bewegung. Allen voran Jürgen. Diesmal gebrauchte er keinen Trick. Gleich einer brüllenden Woge drangen die Männer in die Kombüse ein. Admiral Wellington, 22
<der glaubte, die Wut der Mannschaft gelte wieder ihm, empfing sie mit geschwungenem Beil. Wie eine Spinne hockte er vier Fuß hoch In einem Regal, wo er seine Küchengeräte aufbewahrte. „Wer mich anrührt, sieht seine Mutter nie wieder!" schrie er von dort. Sofort schlug die Stimmung der Mannschaft um. Sie brüllte vor Lachen über den komischen Anblick Admiral Wellingtons. Und als der Koch merkte, daß statt seiner das Faß mit dem faulenden Pökelfleisch über Bord gefeuert werden sollte, huschte zum erstenmal seit Jahren ein von Genugtuung gesättigtes Lächeln über seine Züge. „Fiert den Alten hinterher!" raunte Admiral Wellington mit vor Haß verzerrtem Gesicht Jürgen zu, um dann plötzlich mit gellender Stimme zu schreien: „So ist's recht! Gebt's den Haien! Ich seh' nicht ein, warum wir uns den Magen verderben sollen!" Die Deckplanken knarrten unter den Füßen der Männer, die sich in ihrem Elend und ihrer Verzweiflung zu dieser Tat hinreißen ließen, die als offener Disziplinbruch, wenn nicht gar als Meuterei auf hoher See von den Gerichten bestraft werden konnte. Nicht genug damit, rief jetzt Dirk Peters: "Alle Mann zum Kapitän! Wollen sehen, wie er dazu kommt, uns faules Pökelfleisch vorzusetzen!" Sam Rogers ergriff einen Bootshaken. „Schätze, das ganze wird eine nette, kleine Unterhaltung werden!" knurrte Rogers grinsend, wobei er sein vom Skorbut geschwollenes Zahnfleisch entblößte. Langsam, wie zu einem Block zusammengeschweißt, bewegte sich die Mannschaft auf die Kommandobrücke zu. Kapitän Brown, der, seine Zigarre paffend, von dort aus das Zwischenspiel an der Kombüse beobachtet hatte, wußte, daß er jetzt etwas Außerordentliches tun mußte, wenn er es nicht zum Schlimmsten kommen lassen wollte. Inzwischen hatte die Mannschaft fast die Kommandobrücke erreicht. An der Spitze ging Dirk Peters. Links und rechts neben ihm Jürgen und Mac O'Brien, der dem Zimmermann aus seinem einen Auge unaufhörlich zublinzelte. Dirk Peters verstand den im Grunde gutmütigen Alten nur zu gut. Mac O'Brien hat das zweite Gesicht bekommen, ging es Dirk blitzschnell durch den Kopf. Niemand konnte dagegen etwas tun, wenn die Hitze und der Skorbut die Menschen bis an den Rand des Wahnsinns trieben. Zum Glück hatte 23
Mac O'Brien ihm nur eine Schramme an der Schulter beigebracht; doch sie begann zu eitern, und als Dirk Peters vor dem Kapitän stand und jenen beschuldigte, er habe durch seinen Geiz das Leben der Mannschaft an Bord des „Delphin" zur Hölle gemacht, spürte Dirk, wie ein eiskalter Fieberstoß seinen Körper ins Wanken brachte. Kapitän Brown hörte sich alles ruhig mit an, als sei das, was ihm Dirk Peters im Namen der Mannschaft sagte, wirklich nur eine nette, kleine Unterhaltung. Dann sagte er in einem väterlich wohlwollenden Ton, wie ihn die Männer noch nie von ihrem Kapitän vernommen hatten, und der auch den Wütendsten unter ihnen schwanken ließ: „Well, Boys, die Unschuld Admiral Wellingtons habt ihr inzwischen festgestellt. Ich kann euch kaum sagen, wie es mir zu Herzen gegangen ist, beinahe einen Unschuldigen für das verdorbene Pökelfleisch leiden zu sehen. Denn, wie ihr wißt, haben wir bei uns in Amerika die Freiheitsstatue, und Freiheit ohne Gerechtigkeit ist wie eine Suppe ohne Salz." Und seinen Geierblick über die in Verwirrung geratene Mannschaft gleiten lassend, fuhr Kapitän Brown fort: „Well, Boys, aber meine Schuld ist es auch nicht, daß ihr bis Australien faules Pökelfleisch fressen müßt." Und ohne noch:ein weiteres Wort zu verlieren, ging Brown, gefolgt von der sich fragend anschauenden Mannschaft, auf Silvio zu, der wie immer an der Reling lehnte. Und Kapitän Brown, der die Leichtgläubigkeit einfacher Menschen, die man in eine hoffnungslose Situation getrieben hat, nur zu gut kannte, bediente sich eines Mittels, dessen sich schon lange vor Kapitän Brown eine Reihe von Staatsmännern bedient hatten und noch nach ihm bedienen würden. „Well, Boys", sagte Brown, als er vor dem erblassenden Silvio stand. „Meine Sorge um die Mannschaft ist auf allen Meeren bekannt. Warum auf einmal das Pökelfleisch schlecht geworden ist, kann ich mir auch nicht erklären. Aber es ist das erstemal, daß ich einen Juden an Bord habe!" Mit diesen Worten paffte Kapitän Brown dem Neuen den Rauch seiner Zigarre ins Gesicht und ging davon. Silvio, der nicht die leiseste Ahnung hatte, worum es ging, vernahm ein erlöstes Aufseufzen a'us den Reihen der Männer. Und schon glaubte er, man hätte sich mit ihm irgendeinen Witz erlaubt, als er in den Augen seiner Kameraden etwas sah, was ihn erschauern 24
lifen. Aber er konnte nicht weg. In seinem Rücken wartete stumm drtj; Meer auf ihn und vor Silvio der Ring der keuchenden MannscJÖ aft. Kapitän Brown hatte ihnen den an ihrem Elend Schuldigen gezeigt. Wer konnte es anders sein als ein Jude? IDie erzene Wölbung des Himmels, welche das Denken und Fahlen der Mannschaft wie in einer unerbittlichen Falle immer me.hvif zusammengeschnürt hatte, schien jetzt gleich einem überhitzten Dampfkessel ein Ventil erhalten zu haben. Und auf einmal häufig Jürgen vergessen, daß er den widerlich süßen Geruch auch schon vor dem Erscheinen des Neuen an Bord des „Delphin" bemerket zu haben glaubte. Und war nicht gerade, als der Neue an Bord1 erschien, der Wind eingeschlafen? Brach sich Lorenzo nicht im selben Augenblick ein Bein, als man sich anschickte, den Neuen an DecU zu hieven?! Aber da war noch etwas anderes, was Jürgen gege^i Silvio die Fäuste heben ließ. I§3 ist dem Menschen gegeben, wie an einem Tau in die Tiefe der Vergangenheit hinabzusausen. So erging es auch Jürgen, als er vor Silvip stand. Als etwa zwölfjähriger Junge war Jürgens ganzer Stoltd ein Manchesteranzug, schwarze gerillte Hose und eine ebensolche Jacke. Dieser Anzug war gleichzeitig die Quelle unaufhörl i c h ^ Demütigungen und Qualen für den kleinen Jürgen. War kein Geld! im Hause, mußte Jürgen seinen Anzug zum Krämer Olsen tragen, der ihn als Pfand bis auf weiteres in Zahlung nahm. Obwohl die Mutter Jürgens noch nie einem Juden in ihrem Dorf begegnet war,, behauptete sie, Olsen sei ein schamloser, gieriger Jude, der eine;» Kind seinen Anzug nicht gönnte. Bei diesen leichtfertig herausg Geplapperten Worten seiner Mutter entbrannte in Jürgen allmäh, lieh ein unauslöschlicher Haß gegen Olsen, den er für einen JudeR halten mußte, so wie er jetzt Silvio für einen Juden hielt. Vielleicht wusch Frau Kersten in diesem Augenblick, wo ihr Sohn JürgiB^i drauf und dran war, sich auf Silvio zu stürzen, für ihre Herr: sJ:haft Wäsche. Hätte sie gewußt, daß sie durch ihr leichtfertiges GeretÄs mitschuldig an der Tragödie wurde, von welcher sie durch Länder und Meere getrennt war, sicherlich wäre sie ebenso blaß gewo tf(ien, wie Silvio es jetzt war. Und wie Jürgen, so brachte auch diese;r und jener unter der Mannschaft sein Päckchen Haß aus der Vergi u igenheit mit in die Gegenwart. Da mochte irgendein jüdischer 25
Händler in irgendeinem Hafen die Matrosen beim Einkauf überv*>rfteilt haben. Daß die Heuerbasse hingegen die Männer zeit ihirfcs Lebens um einen Teil der Heuer betrogen, daran fand niemadttd etwas Besonderes. Zentimeter um Zentimeter schob sich die Mannschaft näher,' &n Silvio heran. Jürgen schrie ihm wilde, grausame Worte ins GesS/;Jit. Mac O'Brien erinnerte sich des Märchens von geschlachteten Christenkindern, und sicher hätte jener, der seinen Rücken gege:n die Reling preßte, das Pökelfleisch auf dem Gewissen. Sam Rogers^ der sich von der Seite her näherte, hob seinen Bootshaken, und Silvio, der jetzt von einer fast unnatürlichen Ruhe überkommen wtürde, sah sich schon mit entsetzlicher Deutlichkeit blutüberströmt auij den Decksplanken liegen. Silvio hob den Blick. Für den Bruchteil filier Sekunde sah er über sich den geschwungenen Bootshaken in der Hand Sam Rogers. Gleichzeitig streckte Dirk Peters den Arm! aus, um den Schlag aufzufangen. Aber Sam Rogers kam nicht IJJIBZU, seinen Hieb auszuführen. „Ich kann nicht! Er hat ein Gesicht wie ein Mensch!" ächzte Rogers, den Bootshaken sinken lassend. „Und wenn Silvio ein Jude wäre, wie der Käpten behauptet^ was glaubst du, was er dann für ein Gesicht hätte?" brüllte Dirk Pe: ters, durch dessen Körper wieder ein Fieberstoß jagte. Obwohl Dirk sich bemühte, das Schlimmste von dem Neueni abzuwenden, hatte Silvio an Bord des „Delphin" keine ruhige Mämute mehr. An irgend jemand mußte die Mannschaft ihre Verzweiflung über die Geschwüre, das blutende Zahnfleisch und den Gete tank an Bord auslassen. Kapitän Brown hatte der Wut der Matjrbsen gleich einem überhitzten Kessel ein Ventil aufgesetzt, dag' nun unter grellem, mißtönendem Pfeifen den aufgespeicherten ibiruck entströmen ließ. ' ' J Jürgen trieb es am tollsten; heimlich und offen, wie esj; sich gerade fügte. Zum doppelten Unglück für Silvio lag Dirk Peteajst, der einzige, welcher seinen Verstand bisher zusammengehalten !J' hatte, im Fieberdelirium unter einem Sonnensegel auf dem Achterdeck. Die Schramme, welche ihm Mac O'Brien beigebracht hatte, *«'&r zu einer großen, eiternden Wunde geworden. Als Jürgen merkte, daß ein Teil der Mannschaft des T r a b e n s gegen Silvio überdrüssig wurde, sagte er beiläufig zu Mac OHSrien: 26
„Der Neue hat nicht ein Geschwür! Teufel auch, wie kommt er zu diesem Glück?" Und Mac O'Brien tobte auf dem Achterdeck und wollte von Silvio wissen, warum er keine Geschwüre habe. „Weil er fast nichts von dem faulen Pökelfleisch gefressen hat", sagte statt Silvio Dirk Peters mit schwacher Stimme, die jedoch nur von Hunter gehört wurde. „Hätte es auch nicht gefressen, wenn ich wüßte, was der Neue weiß", entgegnete er Dirk Peters. Und niemand außer Admiral Wellington, dem der Haß gegen Kapitän Brown den Blick schärfte, bemerkte, daß Brown sich kaum enthalten konnte, dem Schlimmsten unter der Mannschaft für seine Antwort wohlwollend auf die Schulter zu klopfen. Außerdem war es Admiral Wellington, der beobachtet hatte, daß Kapitän Brown in weiser Voraussicht die Tür zum Vorratsraum durch ein drittes Schloß gesichert hatte. Wenn die Nacht kam, schlich Silvio in die stinkende, glühende Back, in der es kein normaler Mensch hätte aushalten können, außer wenn er Ursache besaß, seine Kameraden und die Dunkelheit zu fürchten. Tagsüber hielt sich Silvio in der Nähe der Wanten auf; obwohl ihm das im äußersten Falle auch nicht viel genützt hätte. Eines Abends, bevor sich Silvio in das Mannschaftslogis begeben hatte, säbelte Jürgen an den Stricken von Silvios Hängematte herum, bis sie nur noch an einigen Fasern hing. Jürgen wußte kaum noch, was er tat. In seinem Innern hämmerte ein einziger Gedanke: Meine Schuld ist es, daß wir den Neuen an Bord haben! Darum fühlte Jürgen sich verpflichtet, bei allen Schikanen gegen Silvio mit der erste zu sein. Vom Skorbut und seinem eingebildeten Schuldgefühl gepeinigt, torkelte Jürgen aufs Deck zurück. Und was er erwartet hatte, traf ein. Silvio, der kurze Zeit darauf in die Back ging, erschien wenige Minuten später wieder an Deck. Am Hinterkopf hatte er eine klaffende Kopfwunde. Ein Teil der Mannschaft stand an der Reling. Keiner rührte sich; denn auf der Brücke befand sich Kapitän Brown, welcher jedem heimzuleuchten wußte, der auch nur das geringste Mitleid Silvio gegenüber bezeugte. Jedoch noch mächtiger als die Furcht vor Kapitän Brown war der sinnlose Aberglaube, der die 27
Männer beherrschte. Mit dem Erscheinen des Neuen an Bord des „Delphin" war alles schiefgegangen. Irgendein Ungeist hatte ihn aus der Tiefe des Meeres an Bord gespült, und es war an der Zeit, die Gewalten der See endlich zu besänftigen, indem der Neue wieder dorthin zurückkehrte, wo er hergekommen war. Auch Jürgen starrte auf die Blutspur Silvios, die sich Strich... P u n k t . . . S t r i c h . . . über das Deck bis zu den Wanten hinzog. Aber Jürgen verstand die Sprache nicht, die sich auf Deck abzeichnete. Er trug im Genick faustdicke Skorbutgeschwüre, und Olsen, der Krämer in seinem Heimatdorf, hatte vor Jahren mit seinen roten Fingern Jürgens Stolz, nämlich den Manchesteranzug, zerknüllt. Das alberne Schimpfen seiner Mutter hatte Jürgen zur Überzeugung gebracht, daß Olsen ein Jude sei, und sein Haß übertrug sich auf Silvio, von dem Jürgen das gleiche annahm, während dieser ebensowenig Israelit war wie Olsen. Die Nacht breitete ihre schwarzen Flügel über das Meer und den „Delphin" aus, als man feststellte, daß Silvio sich eines Rettungsringes bemächtigt hatte und über Bord gegangen war. Sofort begann Admiral Wellington, der zuvor eine lange Unterredung mit Dirk Peters führte, im Schutze der Dunkelheit unter der Mannschaft zu agitieren. Und schließlich erreichte er es, daß die Männer den Vorratsraum erbrachen. Ein pestilenzartiger Gestank schlug den Matrosen entgegen, als sie die Deckel von den Pökelfleischfässern hoben. Und als Jürgen den Gips von den Speckseiten schlug, der diese gegen vorzeitiges Verderben schützen sollte, stellte es sich heraus, daß auch der Speck von Maden wimmelte. „Da habt ihr's!" grinste Admiral Wellington. „Mit dem Juden, der an allem schuld sein sollte, hat euch Kapitän Brown fein hereingelegt. Warum hat er denn mit eigener Hand drei Schlösser an der Tür des Vorratsraumes angebracht? Doch nur, weil der Kapitän schlechten Proviant an Bord genommen hat, den ihr nicht sehen solltet. Das ist die ganze Wahrheit!" Flüche gegen Kapitän Brown wurden laut. Jürgen schmetterte seinen Hammer, mit dem er den Gips von den Speckseiten geschlagen hatte, gegen die Holzverschalung der Vorratskammer. Aber die völlige Erkenntnis dessen, was eigentlich geschehen war, 2S
überkam die Mannschaft erst einige Minuten später, als der Schiffszimmermann Dirk Peters, gestützt von Jürgen und Mac O'Brien, vor dem Kapitän stand. „Mit allem Respekt gegenüber ihrer Person, Kap'tän", begann Dirk mit der üblichen Anrede, „die Reise ist noch nicht halb herum, und sie haben bereits am Elend der Mannschaft genügend verdient. Im Namen der Matrosen fordere ich Sie darum auf, bei der nächsten Brise Kurs auf Sumatra zu nehmen, um dort frischen Proviant an Bord zu heißen. Andernfalls werden wir Sie in Port Darwin beim zuständigen Seegericht verklagen. Beweise gegen Sie sind genügend vorhanden." „Ausgezeichnet!" entgegnete Kapitän Brown. „Dann können die Gerichte auch gleichzeitig feststellen, wie es möglich ist, daß ein Mann bei Windstärke Null über Bord geweht wird. Beweise sind genügend vorhanden, um einigen von euch die graue Krawatte um den Hals zu legen." Nach den Worten Kapitän Browns war es so still auf dem „Delphin", daß man hätte glauben können, die Mannschaft habe ihn mit Mann und Maus verlassen. In Wirklichkeit standen die Männer wie gelähmt durch die blitzartige Erkenntnis, in welche Falle sie Kapitän Brown hineingelockt hatte, aus der sie nicht mehr entrinnen konnten.
IV Zweifellos war er es gewesen, der sich Silvio gegenüber am schlimmsten benommen hatte. Jürgen war ehrlich genug, sich diese Tatsache einzugestehen. Im Krähennest hockend, bohrten sich seine Blicke in einer verzweifelten Hoffnung über das in Dunkelheit getauchte Meer, während vom Deck her Stimmen an sein Ohr schlugen. „Silviooooo!" hörte Jürgen jetzt Mac O'Brien rufen. Aber der Ozean blieb stumm. Zu einem dunklen Klumpen zusammengeballt, sah Jürgen die Mannschaft an der Reling stehen, während die zornige, wenn auch noch schwache Stimme Dirk Peters' deutlich zu vernehmen war. 29
„Jetzt steht ihr da und starrt euch die Augen nach Silvio aus. Und noch vor ein paar Stunden habt ihr nicht gemerkt, wie euch der Kapitän Fesseln anlegte, die zwar niemand sieht, die aber dicker als Ankerketten sind. Jetzt wird faules Pökelfleisch gefressen bis Port Darwin, und was Silvio anbelangt, könnt ihr froh sein, wenn der Kapitän den Mund hält. Die Gerichte sind nämlich verflucht neugierig, wenn es heißt, ein Mann ist bei Windstärke Null über Bord geweht worden." „Und wer hat um Silvio falsche Segel setzen lassen?" brüllte Mac O'Brien. „War es nicht der Kapitän selber, der uns auf den verkehrten Kurs lotste, als er uns auf Silvio hetzte?" „Laßt es euch in alle Ewigkeit zur Warnung dienen", erwiderte Dirk Peters, „wer sich an einem Kameraden vergreift, schlägt sich selbst ins Gesicht." „Ob Jude oder nicht", ließ sich jetzt Sam Rogers vernehmen, „ich gäbe meine Seligkeit drum, wenn ich gegen Silvio nicht den Bootshaken geschwungen hätte. Schlimmer als die Gerichte ist die Schande, eine ehrliche Teerjacke auf dem Gewissen zu haben." Und während Jürgen in seinem Krähennest teils leise, teils laut hervorgestoßene Verwünschungen gegen Kapitän Brown vernahm, sagte sich der Leichtmatrose immer wieder: Ich habe mitgeholfen, einer Mutter Sohn über Bord wehen zu lassen. Und Scham und Reue über seine Tat würgten wie ein dicker Kloß in Jürgens Kehle. Der erste Dämmerschein des Tages sah Jürgen noch immer im Krähennest. Die Augen des Leichtmatrosen brannten vor Müdigkeit. Auf Deck war keine Menschenseele mehr zu sehen. Ich bin von allen der Schlimmste gewesen, hämmerte es unentwegt in Jürgen, und wieder beugte er sich aus dem Krähennest vor. Wenn nicht inzwischen die Haie Silvio geholt hatten oder die Strömung ihn zu w e i t . . . Ein Windhauch, der die schlaffhängenden Segel wie aus tiefem Schlaf erwachend erschauern ließ, schnitt Jürgens Gedanken mitten durch. Der Monsun! durchfuhr es den Jungen. Fast im selben Augenblick teilte sich am Horizont die Nebelbank, welche die Nacht dort zusammengebraut hatte, und im strahlenden Sonnenlicht, das jetzt den Ozean überflutete, sah Jürgen eine winzige, dunkle Erhöhung über dem Wasserspiegel. 30
„Mann backbord, ahoi!" brach es aus Jürgen hervor. Wenige Minuten später, als man das Boot ausschwang, kam es unter der Mannschaft fast zu einer Schlägerei darüber, wer mitrudern durfte, um Silvio an Bord zu holen. „Ich bin der Schlimmste gewesen!" behauptete Jürgen seinen Platz auf der Ruderbank. „Und ich?" schrie Sam Rogers, „habe ich nicht gegen Silvio den Bootshaken geschwungen?!" Der einzige, der verbittert, aber stumm, um seinen Platz im Boot kämpfte, war Mac O'Brien, während Hunter neben ihm immer wieder schrie, er, Hunter, sei der größte Schuft gewesen, und man solle ihm eine Chance geben. Zum Glück für Silvio stieß das Boot endlich ab. Kapitän Brown, der aus der Kajüte gestolpert kam, lehnte sich fluchend und die Mannschaft im Boot vergeblich zurückrufend über die Reling. Gelang es den Männern, Silvio an Bord zu holen, mußte Kapitän Brown statt mit dem einsetzenden Wind nach Port Darwin zu segeln, Sumatra anlaufen, um dort frische Lebensmittel an Bord zu nehmen. Aber noch einmal schien sich das Glück für Kapitän Brown entschieden zu haben. Der Windhauch, den Jürgen für den aufkommenden Monsun gehalten hatte, stellte sich bald genug als Vorbote eines Sturmes heraus, wie er sich in diesen Breiten plötzlich zusammenballt. „Es beginnt zu blasen, Jungens!" schrie Mac O'Brien, während das Boot nach Lee* in ein Wellental absackte. Aber keiner der Männer dachte an eine Umkehr. Die Rücken beugend und sich wieder aufrichtend, rissen die Matrosen mit jedem Ruderschlag das Boot vorwärts auf Silvio zu, der jetzt deutlich erkennbar vor ihnen auf einen Wellenkamm gehoben wurde. Was nun geschah, kam alles schnell hintereinander. Jürgen sah, wie von Luv** her eine mächtige Woge auf das Boot zurollte. „Festhalten, Jungens!" hörte er noch Mac O'Briens Stimme, als sich Jürgen auch schon aus dem Boot gehoben fühlte. Eine Ewigkeit, so schien es dem Jungen, durchflog er endlose Räume; dann verlor er die Besinnung. * Lee: Die dem Wind abgekehrte Seite des Schiffes ** Luv: Die dem Wind zugekehrte Seite des Schiffes
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Als Jürgen wieder erwachte, war alles vorüber. In der Back liegend, spürte er das vertraute Schlingern des „Delphin", der unter einer steifen Brise lag. „Wo ist Silvio?" fragte Jürgen, als er sah, daß die Tür zum Mannschaftslogis geöffnet wurde. „Auf Deck", vernahm er die Stimme Dirk Peters. „Mac O'Brien hat sich vorgenommen, aus ihm einen segelfesten Janmaat zu machen. Der Junge ist zum Kohlenschleppen viel zu schade. Da grinst du, was?" fuhr Dirk Peters auf das glückliche Lächeln Jürgens hin fort. „Übrigens war es Silvio, der dich zu packen bekam, als du aus dem Boot geschleudert wurdest." Dann erfuhr Jürgen noch, daß der „Delphin" an der Linie* entlang auf Sumatra zuhaspelte, wie sich Dirk ausdrückte, um dort frischen Proviant an Bord zu nehmen. „Und wie stellt sich Kap'tän Brown dazu?'" fragte Jürgen gespannt. „Seit gestern nacht fehlt von Kapitän Brown und Admiral Wellington jede Spur", antwortete Dirk Peters. „Der Steuermann hat sie als über Bord gegangen ins Logbuch eingetragen, obwohl der Sturm schon längst abgeflaut war. Der Teufel mag wissen, was hinter dem Verschwinden der beiden steckt." Gedankenvoll starrte Jürgen zur Decke hinauf. „Das Schlimmste haben wir hinter uns", hörte er des Schiffzimmermannes eindringliche Stimme. „Aber man kann es nicht oft genug sagen: Ob Jude oder nicht, ob weiße oder schwarze Haut, wer sich von einem Kapitän Brown oder wie er sich sonst immer nennen mag, gegen seine Kameraden aufhetzen läßt, den trifft es am Schluß immer selbst." Jürgen gedachte noch dieser Worte, als er am anderen Morgen in das lachende Gesicht Silvios sah, der neben ihm auf der Rahe stehend, nach vorn zeigte, wo unter dem Strahlenkranz der aufgehenden Sonne die Küste im Osten vor ihnen lag. • Seemannsausdruck für Äquator