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C O T TA’S B I BL IO T HEK
DER MODER N E
Cotta’s...
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C O T TA’S B I BL IO T HEK
DER MODER N E
Cotta’s Bibliothek der moderne 29
DORIS LESSING WINTER IM JULI E
rzählung
Aus dem Englischen von Manfred Ohl und Hans Satorius Cotta’s Bibliothek der Moderne
Verlagsgemeinschaft Ernst Klett Verlag – J. G. Cotta’sche Buchhandlung Die Erzählung »Winter in July« erschien zuerst in dem Band »This Was the Old Chief’s Country« bei Michael Joseph Ltd, London 1951 © Doris Lessing 1951 Über alle Rechte der deutschen Ausgabe verfügt die Ernst Klett Verlage GmbH & Co KG, Stuttgart Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages Printed in Germany 1984 Satz: Steffen Hahn, Kornwestheim Druck: Wilhelm Rock, Weinsberg Einband: G. Lachenmaier, Reutlingen CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Lessing, Doris: Winter im Juli: Erzählung / Doris Lessing. Aus d. Engl. von Manfred Ohl u. Hans Sartorius. – Stuttgart: Klett-Cotta, 1984. (Cotta’s Bibliothek der Moderne; 29) Einheitssacht.: Winter in July ‹dt› isbn 3-608-95297-7 ne: gt
D
ie drei saßen beim Abendessen auf der Veranda. Aus dem Wohnzimmer hinter ihnen fiel Licht auf den Tisch und beleuchtete schwach, aber deutlich genug ihre sich bewegenden Hände, das Besteck und das Essen. Julia liebte Halbtöne. Eine Lampe oder Kerzen schufen einen sanft erleuchteten Raum und schlössen sie darin ein, drängten jedoch den Himmel zurück, der sich ihnen jetzt durch die Säulen der Veranda zuneigte. Es war ein hoher, weiter Himmel, an dem die gelbliche Blüte eines unsichtbaren Mondes hing, der die Sterne aufsaugte. Sie waren nur noch ein schwaches, fernes Funkeln. Tom bemerkte manchmal gutmütig brummend: »Sie ist eben romantisch.« Dann lachte Kenneth auf. Aber es klang eher verdrießlich, wenn er sagte: »Ich sehe gern, was ich esse.« Kenneth war überhaupt ein schroffer Mensch. Das kurze, rasch unterdrückte Lachen und der schnelle kritische Blick, den er ihr zuwarf (und den sie mit ebenso kritischen Augen erwiderte), waren Teil des langen Dialogs zwischen ihnen. Kenneth akzeptierte sie nicht. Er widerstand ihr. Tom akzeptierte sie, wie er alles akzeptierte. Julia bevorzugte keinen von beiden: Die zwei Männer gaben ihr Halt – jeder auf seine Weise. Und alles, was die drei sagten, schien kaum von Bedeutung zu sein. Nur die sanfte, elastische Spannung, die sie aneinander band, zählte. Julia liebte die Abendstunde, bevor sie nach drinnen in den hell erleuchteten Raum gingen, denn sie 5
war der Ausdruck ihrer Gefühle für die beiden Männer. Die Lichter des nächtlichen Himmels und der Lampen verschmolzen miteinander, machten ihre Gesichter weich und dämpften ihre Stimmen. So konnte Julia fühlen, was sie waren, und mußte sich nicht durch Zuhören zwingen, aufzuwachen. Dieser Zustand war eine Fortsetzung ihres Tages, den sie allein in einem beinahe tranceähnlichen Zustand verbrachte (denn die Männer waren die meiste Zeit auf den Feldern). Keine Notwendigkeit zu handeln, die stark genug gewesen wäre, sie zu wecken, unterbrach den sanften Fluß der Stunden. Für die Männer, das wußte sie, bedeutete die Rückkehr zu ihr ein Eintauchen in diesen Zustand. Ihr Tag war anstrengend, voll von Aktivitäten, Plänen und praktischen Dingen. Bei Sonnenuntergang betraten sie ihr Reich; und das Abendessen, bei dem die Konturen der Tatsachen nicht nur durch Julias Passivität verwischt wurden, sondern ebensosehr durch die Illusion der Undeutlichkeit, die durch das Sitzen unter einem Dach entstand, das sich schattenhaft in die afrikanische Nacht reckte, war die Pforte. Manchmal fragten sie Julia: »Womit beschäftigst du dich den ganzen Tag? Langweilst du dich nicht?« Sie konnte ihnen nicht erklären, wie es kam, daß sie sich niemals langweilte. Alle Ruhelosigkeit in ihr war gewichen. Sie konnte stundenlang nichts tun. Aber das beruhte auf ihrem Gefühl, in der Spannung zwischen den beiden Männern sanft gehalten zu werden. Tom stellte sie sich gerne als einen zufriedenen und 6
friedlichen Teil seines Lebens vor; Kenneth reagierte gereizt auf sie. An diesem Abend stand Kenneth plötzlich während des Essens auf und erklärte: »Ich muß mir einen Mantel holen!« Beklommen merkte Julia, daß sie ebenfalls fror. Sie hatte schon mehrere Abende gefroren, aber die Stunde hinausgeschoben, in der sie sich diese Tatsache eingestehen mußte. Toms Bemerkung bestätigte ihre Gedanken: »Es ist inzwischen zu kalt, um draußen zu essen, Julia.« »Welchen Monat haben wir?« Er lachte nachsichtig. »Wir sind bei der Ernte.« Kenneth kam zurück und schlüpfte schnell in den Mantel. Er war ein kleiner, lebhafter Mann mit schnellen Bewegungen; ein ungeduldiger Mann, dunkel, mit dunklen Augen, der alles tat, als sei es ihm lästig, daß er Zeit darauf verwenden mußte. Tom war groß, blond und sah gut aus – in jeder Hinsicht das Gegenteil von Kenneth. Mit sanftem Nachdruck sagte er zu Julia, denn er wußte, sie mußte gedrängt werden: »Sag den Leuten, sie sollen den Tisch morgen hineintragen.« »Schon gut«, antwortete sie mürrisch. Ihr Sommer war vorüber: Die langen, klaren, warmen Nächte waren für dieses Jahr vorüber und vorbei – die strahlenden Nächte, manchmal unterbrochen von kurzen Regenschauern oder plötzlich verdunkelt von schweren, treibenden Wolken – stürmische, verzauberte Nächte. In den kommenden drei Wintermonaten würden sie im Haus essen, mit der heißen Lampe über 7
dem Tisch und der Kälte, die sich zitternd um ihre Beine legte, während draußen blasse, kalte Sterne über dem ausgedörrten Land standen. Kenneth sagte munter: »Der Winter, Julia! Du wirst dich damit abfinden müssen.« Sie lächelte. »Nun ja, morgen wirst du sehen, was du ißt.« Es entstand eine kurze Pause. Dann erwiderte Kenneth: »Morgen abend werde ich nicht hier sein. Ich fahre mit dem Wagen morgen früh in die Stadt.« Julia antwortete nicht. Sie hatte es nicht gehört. Das heißt, sie spürte, wie die Bestürzung in ihr beim Klang seiner Stimme wuchs. Sie wunderte sich über ihre Vorahnung, und dann standen die Worte: »Stadt … morgen früh …« vor ihr. Sie gingen sehr selten in die Stadt, die fünfzig Meilen entfernt lag. Eine Fahrt wurde immer lange geplant, denn es bedeutete, Dinge zu kaufen, die es im Laden hier nicht gab. Vor einer Woche waren sie erst in der Stadt gewesen. Jetzt stellte sich Julia der Tatsache und nahm sie in sich auf, daß Kenneth sich an diesem Tag plötzlich entschuldigt hatte und eigene Wege gegangen war. Sie erinnerte sich daran, daß sie ihn auf ihre Weise leicht gestichelt hatte. Sie hätte sich eingestehen müssen (und dieser Gedanke mißfiel ihr), daß sie wie viele eifersüchtige Frauen ihre Eifersucht unter Kontrolle hielt, indem sie sich zur Komplizin von Kenneths Abenteuern machte: Die quälende Neugier wurde erträglich, wenn sie erfuhr, was er 8
getan hatte. In der letzten Woche hatte er sich über ihre Sticheleien geärgert. Jetzt blickte sie hilfesuchend zu Tom hinüber und sah an seinen Augen, daß er ebenso beunruhigt war wie sie. Doppelt verlassen, musterte Julia die beiden Männer nachdenklich. Kenneths nüchterne Absichtserklärung erschien ihr als ungeheuerlicher Verrat an ihren Beziehungen; und deshalb entschloß sie sich, nichts zu sagen, jedoch auf eine Weise, die deutlich verriet, daß sie eine Erklärung erwartete. Es kam keine, aber Kenneth wirkte verlegen. Schweigend beendeten sie die Mahlzeit und gingen ins Haus. Sie durchquerten das leere Eßzimmer, das sich morgen mit den Möbeln, den Kerzen und den Schalen voll Obst in seiner Winterausstattung präsentieren würde, und betraten das Wohnzimmer. Das Haus war für die Hitze gebaut. Im Winter drang die Kälte aus dem Boden und aus den Wänden. Dieser Raum aus stumpfen roten Ziegelsteinen und dem Steinfußboden war sehr kahl und sehr hoch. Morgen würde sie Teppiche ausrollen. Es gab einen großen, gemauerten offenen Kamin, in dem ein Tonkrug mit Christusdornzweigen stand. Julia ging nachdenklich hinüber, kniete nieder und beugte sich über die kleinen, leuchtendroten Blüten. Dabei streckte sie die Hände aus wie über ein wärmendes Feuer. Als ihr klar wurde, was sie tat, hob sie den Kopf, lächelte die beiden Männer trocken an, die sie mit dem gleichen unmerklichen Lächeln beobachteten, und sagte: »Ich werde Feuer machen lassen.« Durch Handeln zwang 9
sie sich, bewußt zu machen, was sie tat; sie ging entschlossen zur Tür und rief nach den Dienstboten. Bald daraufkam der Hausboy mit Holzscheiten und Spänen herein. Die drei tranken stehend ihren Kaffee und beobachteten, wie er sich vor den Kamin kniete, um Feuer zu machen. Sie schwiegen, aber nicht weil sie Skrupel hatten, ihr Leben vor den Dienstboten im falschen Licht erscheinen zu lassen, sondern weil sie wußten, daß Worte notwendig waren; ihr Zusammenleben würde an dem zerbrechen, was gesagt werden mußte. Julia zitterte; es war, als habe man ihr eine Stütze entzogen. Sie wurde von diesen Männern gehalten; die Männer gestalteten Julias Leben für sie; deshalb konnten ihre Instinkte sich ungehindert entfalten und zu Wort melden, ohne notwendigerweise gebilligt oder mißbilligt zu werden. Jetzt registrierte sie, daß sie abwechselnd von Tom, diesem großen, sanften Mann, ihrem Ehemann, dessen Gegenwart ihr tröstlichen Frieden brachte, zu Kenneth blickte, der stirnrunzelnd in seine Kaffeetasse starrte, um ihren Augen nicht begegnen zu müssen. Wenn er doch einfach gelacht und gesagt hätte, was notwendig war! – Er tat es nicht. Er trank die Tasse mit zwei großen Schlucken leer, schien das Bedürfnis zu haben, etwas zu tun, und ging hinüber zum Kamin. Der Eingeborene kniete dort noch immer. Er hatte die nackten Beine locker nach hinten gestreckt, die Hände hingen lose herab, sein ganzer Körper war entspannt und gelöst, mit Ausnahme von Kopf und Schultern, in denen er seine ganze Energie konzentrierte, um das 10
Feuer anzublasen. Und das tat er mit regelmäßigen, kräftigen Atemstößen. »Ich mach das schon«, sagte Kenneth. Der Diener sah ihn an, akzeptierte die Laune des weißen Mannes und verließ schweigend das Zimmer. Zurück blieb ein Gefühl, als habe er gesagt: »Weiße können kein Feuer machen.« Ahnlich erging es auch Julia, wenn sie in der Küche Anweisungen gab und spürte, wie der Koch sagte: »Ich kann bessere Kuchen backen als Sie.« Kenneth kniete jetzt dort, wo der Diener gekniet hatte, und machte sich an den Holzscheiten zu schaffen. Er hatte geschickte Hände; im nächsten Moment leuchteten die ersten Flämmchen auf den Steinen, und der Krug mit den stachligen roten Dornenblüten – Julias Sommerfeuer – wurde zur Seite gestellt. »Jetzt kannst du dir die Hände wärmen, Julia«, erklärte Kenneth beiläufig, eher etwas zu laut. Er ließ sein kurzes, mißmutiges Lachen vernehmen. Julia fand es aggressiv und sah ihm in die Augen. Feindseligkeit sprach aus ihnen. Sie errötete, ging langsam zum Kamin und setzte sich. Die beiden Männer folgten ihrem Beispiel. Eine Zeitlang taten sie nichts. Die nicht gegebene Erklärung hing in der Luft. Bald griff Kenneth nach einer Zeitschrift und begann zu lesen. Julia sah zu ihrem Mann hinüber, dessen freundliche blaue Augen stets alles akzeptiert hatten, was sie war, und zog belustigt die Augenbrauen hoch. Er reagierte nicht, denn er hatte sich wieder Kenneths jetzt absichtlich gesenktem Kopf zugewendet. Kenneth hatte nichts gesagt; Tom war beunruhigt, 11
und so mußte Julia sich mit sich selbst beschäftigen. Sie fragte sich: »Warum bin ich so aufgebracht? Er hat doch wohl das Recht zu tun, was er will!« Nein, antwortete sie sich selbst, nicht auf diese Weise. Er sollte sich nicht plötzlich zurückziehen und uns ausschließen – entweder das eine oder das andere. Es auf diese Weise zu tun, bedeutet, alle unsere gemeinsamen Jahre waren eine Lüge. Er distanziert sich von ihnen. Aber das war Kenneth – dieser ständige Wechsel zwischen Geben und Zurückziehen. Julia spürte Tränen in sich aufsteigen – von einem Ort in ihr, der lange trocken geblieben war – Tränen zitternder Unsicherheit. Die dünne, kalte Luft in dem großen steinernen Raum, die das kleine Feuer gerade zu erwärmen begann, schien Julia voller Bedrohung zu sein. Aber Kenneth sprach nicht. Er las, als hinge seine Zukunft von der Werbung für Traktoren ab; und auch Tom begann bald zu lesen, ohne auf Julia zu achten. Sie nahm sich zusammen, lehnte sich im Sessel zurück und zwang sich nachzudenken. Sie dachte bewußt über ihr Leben nach und darüber, was sie war. Es war lange nicht notwendig gewesen, über sich nachzudenken; und sie tat es nur widerwillig. Sie war die Tochter eines Kleinstadtarztes aus dem Norden Englands. Es wäre falsch zu sagen, daß sie ehrgeizig gewesen war: Das Wort Ehrgeiz beinhaltet ein Ziel; Julia war vielmehr kritisch und neugierig. Ihre Auflehnung gegen die Kleinstadtatmosphäre und die Aussicht, dort zu heiraten, war ebensowenig bewußt wie die Auflehnung der meisten jungen Men12
schen, die vage denken: »Das Leben kann doch sicher mehr bieten als das!« Doch sie entfloh. Sie war klug: Am Ende ihrer Schulzeit war sie gebildeter als die meisten anderen. Sie lernte Französisch und Deutsch, denn Sprachen fielen ihr leicht – aber hauptsächlich, weil sie sich mit achtzehn in einen französischen Studenten verliebte und mit zwanzig Sekretärin eines Mannes wurde, der Geschäftsverbindungen nach Deutschland hatte. Und es machte ihr Freude, Männern zu gefallen. Sie war eine ausgezeichnete Sekretärin – nicht nur wegen ihrer Fähigkeiten, sondern weil sie eine gewisse anpassungsfähige Sympathie für die Männer besaß, für die sie arbeitete. Die Chefs stellten fest, daß sie sich schnell und intuitiv auf das einstellte, was sie suchten: Es war eine Art gelenkte Passivität, eine Aufgeschlossenheit Menschen gegenüber. Deshalb verdiente sie gut und hatte bald Gelegenheit, ihre Heimatstadt zu verlassen und nach London zu gehen. Wenn sie jetzt (sie war beinahe vierzig) auf ihr Leben zurückblickte (ein abwechslungsreiches und scheinbar abenteuerliches Leben), konnte sie keinen bestimmten Moment in ihrer Jugend finden, an dem sie gesagt hätte: »Ich will reisen! Ich will frei sein!« Und doch war sie weit gereist – von einem Land zum nächsten, hatte eine Stelle nach der anderen angenommen. Und alle ihre Beziehungen zu Menschen – zu Männern und Frauen – schillerten im Glanz der Unbeständigkeit. Als sie England verließ, wußte sie nicht, daß es für immer sein würde. Es handelte sich 13
um eine Geschäftsreise mit ihrem Arbeitgeber. Abgesehen von Sex glich ihre Beziehung zu ihm der einer Ehefrau zu ihrem Mann: Sie konnte nicht für einen Mann arbeiten, wenn sie ihm nicht freundliche, zarte Sympathie entgegenbrachte. In Frankreich verliebte sie sich und blieb dort ein Jahr. Als das zu Ende war, ging sie aus einer Laune heraus nach Italien – nein, das trifft es nicht. Wenn sie es vor sich selbst so darstellte, mußte sie sich gestehen, daß die Wahrheit anders aussah. Sie war sehr verliebt, brachte es aber nicht über sich zu heiraten. Italien (sie hatte nicht die geringste Lust gehabt, dorthin zu gehen) war ein verzweifelter, aber endgültiger Schritt gewesen, die Affäre zu beenden. Sie konnte sich einfach mit der Vorstellung nicht abfinden, zu heiraten. In Italien arbeitete sie in einer Reiseagentur; und dort lernte sie einen Mann kennen, zu dem allmählich ihre Liebe erwachte. Es war nicht die heftige Leidenschaft vom Jahr zuvor – aber ernsthaft genug für eine Heirat. Später ging sie nach Amerika. Warum Amerika? Warum nicht – man bot ihr dort eine gute Stellung an, als sie sich wieder verändern wollte. Sie blieb zwei Jahre und hatte, wie man sagt, eine wunderbare Zeit. Inzwischen war sie etwas vorsichtiger, wenn es darum ging, sich zu verlieben. Trotzdem gab es einen Mann, der sie beinahe überredete, in New York zu bleiben. Im letzten Moment überkam sie das heftige Gefühl, in der Falle zu sitzen. »Was geht mich dieses Land an?« fragte sie sich. Den Mann zu verlassen, bedeutete diesmal eine qualvolle Anstren14
gung. Sie wollte ihn nicht verlassen. Aber sie ging in den Süden nach Argentinien und befand sich keineswegs in einer guten Verfassung. Außerdem entdeckte sie, daß sie nicht mehr so tüchtig war wie früher. Das lag daran, daß sie jetzt zurückhaltender, weniger anpassungsfähig war. Sie war ängstlich darauf bedacht, sich nicht zu verlieben, und hielt bewußt Abstand zu den Leuten, für die sie arbeitete. Sie gab nur, wofür man sie bezahlte, und das befriedigte sie nicht. Was sollte ihr sonst Befriedigung verschaffen? Schließlich konnte sie nicht ihr ganzes Leben lang von Kontinent zu Kontinent ziehen. Doch es schien keinen Grund zu geben, warum sie sich an dem einen und nicht an einem anderen Ort niederlassen, weshalb sie sich für einen und nicht für einen anderen Mann entscheiden sollte. Sie war müde; sie war sehr müde. Die Quellen ihrer Gefühle waren vertrocknet, und diese Krankheit läßt sich nicht so leicht kurieren. Jetzt hatte sie zum ersten Mal eine Beziehung zu einem Mann, der ihr nichts bedeutete. Es war eine halb unbewußte Entscheidung, denn sie begriff daß sie keinen Mann hätte wählen können, den sie mit der Zeit lieben würde. So ging es etwa zwei Jahre weiter. Sie nahm nur Kontakt zu Menschen auf, die sie nicht erschüttern konnten. Sie wollte nicht erschüttert werden. Es kam der Punkt, an dem sie sich sagte, sie müsse sich endgültig darüber klar werden, was sie wolle, und Opfer bringen, um es zu erreichen. Sie war achtund15
zwanzig. Seit sie die Schule verlassen hatte, vergingen die Jahre damit, daß sie von einem Hotel zur nächsten möblierten Wohnung wechselte, eine Stellung nach der anderen annahm und von einem Land ins andere zog. Sie schien sich müde und liebevoll an so viele Menschen, Männer und Frauen zu erinnern, die ihrem Leben einmal Bedeutung verliehen hatten. Jetzt war es Zeit, etwas Dauerhaftes zu tun. Aber was? Sie gestand sich ein, daß sie hart wurde, und doch war sie nicht hart. Sie war abgestumpft und müde. Sie beschloß, sehr vorsichtig zu sein. Sie durfte sich nicht noch einmal leichtfertig verlieben. Das nächste Mal kam es darauf an. Die ganze Zeit über stand sie voll im gesellschaftlichen Leben. Sie war attraktiv, gutgekleidet und amüsant. Sie stand im Ruf, eine brillante und kalte Frau zu sein. Sie war auch sehr einsam, und sie war noch nie einsam gewesen. Es hatte immer einen Mann gegeben, dem sie Wärme, Zuneigung und Sympathie entgegenbrachte. Es kam ein Morgen, an dem sie eine Vision des Bösen hatte. An einem warmen Sommertag stand sie am Fenster eines großen Hotels und blickte auf die Straßen der attraktiven, modernen Stadt in Südamerika hinunter, hinunter auf die vielen Menschen und den dichten Verkehr … es hätte beinahe jede Stadt an einem sonnigen, warmen Tag sein können, die man aus dem Hotelfenster sieht. Die Menschen wurden wie Blätter durch ihr Blickfeld getrieben, waren so wurzellos, so unstet wie sie, und ihr Leben bedeutete 16
ebensowenig wie das ihre. Zum ersten Mal bekam das Wort böse für sie einen Inhalt: Sie sah es kalt an und wies es zurück. Es ist sentimental, sagte sie sich. Es kommt daher, daß man müde und beinahe dreißig ist. Das Gefühl stand zu nichts in Beziehung. Julia konnte nichts fühlen – warum sollte man etwas fühlen? Dir mißfiel, was sie war – immerhin, es war wenigstens ehrlich, zu akzeptieren, daß es nicht erstrebenswert war, so zu sein wie sie. Leidenschaftslos registrierte ihr Gehirn, daß man, wenn man ohne Regeln lebte, bereit sein mußte, die Folgen zu tragen, selbst wenn es bedeutete, Momente des Schreckens an Hotelfenstern zu erleben, in denen der Tod unten lockte und flüsterte: Warum leben? Und überhaupt, wer war dafür verantwortlich, daß sie so war, wie sie war? Hatte sie das jemals geplant? Warum sollte man eher das eine als das andere sein? Der Zufall führte sie nach Kapstadt. Auf einer Party lernte sie einen Mann kennen, der ihr anbot, ihn auf einer Geschäftsreise als Sekretärin zu begleiten. Es fiel ihr leicht, das Angebot anzunehmen, denn inzwischen haßte sie Südamerika. Im Verlauf der Reise entdeckte sie mit einem Stoßseufzer, daß sie nie tüchtiger, verantwortungsbewußter, aufmerksamer gewesen war. Er war ein unglücklicher Mann, der Sympathie brauchte … sie schenkte sie ihm. Am Ende der Reise bat er sie, ihn zu heiraten; und sie wußte, sie hätte das gleiche empfunden, wenn er sie zum Abendessen eingeladen hätte. Sie floh. Sie hatte genug gespart, um leben zu können, ohne 17
zu arbeiten. Deshalb blieb sie monatelang in einem kleinen Hotel hoch über Kapstadt. Von dort konnte sie das Kommen und Gehen der Schiffe im Hafen beobachten und dachte: Sie sind so ruhelos wie ich. Sie lebte zurückgezogen, überprüfte jedes Gefühl, das sie empfand, und schloß keine Bekanntschaften außer den oberflächlichen, die in einem Hotel unvermeidlich sind. Sie ging jeden Tag stundenlang allein spazieren, ließ sich von Sonne und Meer durchtränken, als könne die schöne Halbinsel sie durch die Macht ihrer Schönheit heilen. Und sie lief vor jeder Möglichkeit davon, für einen anderen Menschen etwas zu empfinden, als sei Liebe etwas Giftiges. An einem warmen Nachmittag ging sie hoch oben an einem Berghang entlang. Das blaue Meer hob und senkte sich unter ihr, und die tiefstehende Sonne warf einen traurigen roten Pfad vom Horizont über das Wasser. Zwei Spaziergänger überholten sie. Sonst war kein Mensch in Sicht, und es schien unvermeidlich, daß sie zusammen weitergingen. Julia fand heraus, daß es Farmer aus Rhodesien waren, die Urlaub machten; Halbbrüder, die durch ihre Arbeit zu Wohlstand gekommen waren. Sie leisteten sich zum ersten Mal seit Jahren einen Urlaub und befanden sich in lokkerer, heiterer und abenteuerlustiger Stimmung. Julia spürte, daß sie nach Ehefrauen Ausschau hielten, um sie mit zurückzunehmen. Sie mochte Tom von Anfang an, obwohl sie etwa einen Tag lang mit Kenneth flirtete. Damit reagierte sie automatisch auf seinen lachenden, herausfordern18
den Antagonismus. Kenneth in seiner lebhaften, beiläufigen Art sprach zuerst; und sie fühlte sich von ihm angezogen. Es war die Beziehung zweier Menschen, die auf eine Liebesaffäre zusteuern. Doch Julia wollte eigentlich nicht flirten, und alles andere schien mit Kenneth unmöglich zu sein. Es beeindruckte sie, wie Tom, der ältere Bruder, ihrem Geplänkel zuhörte und dabei unkritisch, beinahe nachsichtig lächelte. Er nahm so etwas wie eine beschützende Haltung ein. Sie war mehr als beschützend. Sehr viel später erzählte sie Tom, daß er sie an diesem ersten Nachmittag an einen Bauern erinnert habe, der einen Vogel benutzt, um Fische zu fangen. Und doch gab es während der langen Fahrt zurück in die Stadt einen Moment, in dem Julia Tom neugierig ansah. Sie bemerkte, daß sein warmer, blauer Blick freundlich auf ihr ruhte – langsam und prüfend. Damals entschied sie sich für ihn, auch wenn sie sich weiterhin mit Kenneth abgab. Wegen dieser Freundlichkeit überließ sie sich dem Gedanken an eine Heirat. Und genau das war es, was sie wollte. Es war ihr gleichgültig, wo sie lebte. Gefühlsmäßig konnte sie von keinem Land sagen: Hier ist mein Zuhause! Die drei verbrachten mehrere Tage zusammen; und die ganze Zeit über flirtete sie mit Kenneth und beobachtete Tom. Sie fürchtete sich vor der abwehrenden, ironischen Haltung, die sie bei Kenneth spürte und die sie gegen ihren Willen faszinierte. Halb ängstlich, halb zynisch wartete sie darauf, daß sie auch bei Tom zutage trat. Allmählich verhielt Kenneth sich 19
ihr gegenüber salopper und brutaler; er wußte, daß man ihn benutzte. Es kam so weit, daß er sich in seiner sarkastischen unverblümten Weise vor ihr verschloß; und eine Zeitlang waren die drei zusammen, ohne Kontakt miteinander zu haben. Vorher waren sie und Kenneth es gewesen, mit Tom als liebenswürdigem Zuschauer. Nun trieb sie allein dahin. Sie ließ sich treiben und wartete darauf aufgenommen zu werden. Man konnte den Zeitpunkt genau bestimmen, an dem Tom und Kenneth sich ironisch und verstehend ansahen, ehe Tom in seiner freundlichen, bedächtigen Art Kenneths Platz einnahm und sie für sich beanspruchte. Er war netter, als sie für möglich gehalten hatte. Plötzlich gab es keinen Konflikt mehr. Er hörte den Geschichten über ihr Leben mit zurückhaltendem Interesse zu, als könnten sie ihn eigentlich nichts angehen. Einmal bemerkte er in seiner zarten, beschützenden Art: »Du mußt in deinem Leben sehr verletzt worden sein. Das ist das Problem mit euch unabhängigen Frauen. Du bist wirklich eine nette Frau, Julia.« Sie lachte verächtlich, denn er war ein arroganter Mann, der sich ein Bild von einer Frau zurechtlegen muß, damit sie in sein Leben paßt. Aber er nahm ihr Lachen nachsichtig hin. Wenn sie so etwas sagte, fand er das lediglich reizvoll, ein Zeichen ihrer Schlagfertigkeit. Halb lachend, halb verzweifelt sagte sie zu Kenneth: »Merkst du, daß Tom keine Ahnung hat, was für eine Frau ich bin? Glaubst du, es ist fair, ihn zu heiraten?« 20
»Nun ja, warum nicht, wenn er geheiratet werden will?« erwiderte Kenneth ungezwungen. »Er ist romantisch. Er sieht in dir eine Wandernde von Stadt zu Stadt, von Bett zu Bett, die versucht, ein gebrochenes Herz oder etwas ähnliches zu heilen. Das gefällt ihm.« Tom hörte schweigend zu und lächelte beunruhigt. Aber es gab tatsächlich Zeiten, in denen Julia sich gerne vorstellte, ein gebrochenes Herz zu haben. Verwundet war es ganz sicher. Es war erholsam, Toms Vorstellung von ihr hinzunehmen. Spitz bemerkte sie zu Kenneth: »Ich vermute, du verstehst natürlich genau, weshalb ich gelebt habe, wie ich es getan habe?« Kenneth hob die Augenbrauen: »Weshalb? Natürlich weil es dir gefallen hat. Gibt es einen besseren Grund?« Sie mußte lachen, obwohl sie ärgerlich erklärte, weil sie sich mißverstanden fühlte: »Fest steht, daß du ebenso schlecht bist wie Tom. Auch du erfindest Geschichten über Frauen, die in dein Konzept passen. Du stellst dir Frauen gern als hart und zielstrebig vor, die berechnend Männer benutzen.« »Richtig«, erwiderte Kenneth. »Das ist sehr viel besser, als sich benutzen zu lassen. Ich habe es gern, wenn Frauen wissen, was sie wollen und wie sie es bekommen.« Solche Gespräche irritierten Julia und machten sie traurig. Sie waren die Gischt an der Oberfläche des Meeres, unter der dunkle und unbekannte Strömungen lauern. 21
Sie wurde nicht gerne daran erinnert, um wieviel besser Kenneth sie verstand als Tom. Sie war froh, die Hochzeitszeremonie hinter sich zu haben. Tom heiratete sie auf seine zielstrebige, bedächtige Weise. Doch er erklärte, es müsse vor einem bestimmten Datum geschehen, denn er wolle bald mit der Aussaat beginnen. Kenneth fungierte als Trauzeuge mit einem Funken Bosheit in den Augen und dem Verhalten eines wohlmeinenden Zuschauers, den es interessierte, wie die Dinge sich entwickeln würden. Unfreiwillig tauschten Julia und er einen Blick vollkommenen Verstehens, denn sie begegneten sich jetzt mit einer Art munteren Freundlichkeit. In Toms sicheren Armen erlaubte Julia sich den Gedanken, wenn Kenneth nicht der Mann sei, der eine Frau beschützt, einfach weil er es nicht genießt, die Beschützerrolle zu spielen, dann sei es sein Schaden. Das war leicht boshaft von ihr, aber im großen und ganzen gutmütig – Gutmütigkeit war notwendig. Sie würden zusammen auf einer Farm, in einem Haus leben und nur selten andere Menschen sehen. Wie sich herausstellte, war alles ganz einfach. Kenneth mußte sich nicht zurücknehmen. Tom beanspruchte Julia in seiner großartigen, lässigen Selbstsicherheit als seine Frau, und sie war froh darüber. Kenneth und sie beließen es bei einem humorvollen Einverständnis. Er erhielt in einem Flügel des Hauses drei Zimmer; doch es dauerte nicht lange, und sie blieben unbenutzt. Es schien albern, daß er sich nach 22
dem Abendessen zurückzog. Abends wurde die Tatsache, daß Julia Toms Frau war, dadurch betont, daß ihre beiden großen Sessel nebeneinander standen und Kenneth ihnen gegenübersaß. Von dort beobachtete er sie aufmerksam mit seinem leicht sarkastischen Lächeln. Nach einiger Zeit wurde Julia klar, daß sie sich unbehaglich fühlte. Sie führte es darauf zurück, daß sie eine subtile Gegnerschaft zwischen den beiden Männern erwartet hatte, die sie auszugleichen haben würde. Doch es bestand keine Gegnerschaft. Die Sache ging tiefer. An den ersten Abenden wurde Tom unruhig, wenn Kenneth sich mit amüsiertem Blick taktvoll zurückzog. Er vermißte Kenneth sehr. Julia beobachtete die beiden und bemerkte seltsam belustigt, wobei ihr das Herz sank, daß sie sich so nahe standen, daß sie es nicht ertragen konnten, lange getrennt zu sein. Abends waren sie es, die die Unterhaltung bestritten; und zwar in dieser scherzhaften Art, die sie auch nicht ablegten, wenn es um ernste Dinge ging – ganz besonders dann nicht. Tom gefiel es, daß Kenneth ihnen gegenübersaß und diese Ehe skeptisch und boshaft beobachtete. Sie neckten sich auf eine Art, die man bei einem Mann und einer Frau eindeutig als Flirten bezeichnet hätte. Wenn Julia ihnen zuhörte, empfand sie außerordentliches Unbehagen wie angesichts einer Perversität. Sie beschloß, nicht darüber nachzudenken. Es schien besser, sich gutmütig über Toms Große-Bruder-Haltung zu amüsieren, die er Kenneth gegenüber an den Tag legte. 23
Kenneth verhielt sich Tom gegenüber oft widerspenstig, rebellisch und kindisch. Oh, Tom behandelte sogar sie wie ein älterer Bruder, obwohl sie doch in all den Jahren ihr Leben auf der ganzen Welt so gut gemeistert hatte. Aber hatte sie ihn nicht deshalb geheiratet? Sie akzeptierte es. Sie akzeptierten es alle. Zwischen ihnen entwickelte sich ein wortloses, bequemes Einverständnis. Tom war sozusagen das Familienoberhaupt; er befahl; er war stark und vielleicht etwas beschränkt, wie eine Autorität es sein muß. Julia und Kenneth ordneten sich ihm mit einem leisen Anflug von Spott unter, um die Tatsache zu beschönigen, daß sie froh waren, sich unterordnen zu können: wie angenehm, die Verantwortung einem anderen zu übertragen. Julia lernte sogar, mit dem Wissen zu leben, wenn Tom beschäftigt war und sie mit Kenneth spazieren oder schwimmen ging, oder mit Kenneth in die Stadt fuhr, daß dies nicht nur mit Toms Einwilligung geschah, sondern daß er es auch wünschte, ja sogar brauchte. Mitunter kam es ihr vor, als dränge er sie, mit seinem Bruder zusammenzusein. Kenneth spürte das ebenfalls und lehnte sich dagegen auf In seiner widerborstigen Jüngerer-Bruder-Haltung wich er aus und erklärte: »Mein Gott, Mann! Julia ist deine Frau, nicht meine.« Tom lachte dann leicht unbehaglich und antwortete: »Ich bin nicht gern besitzergreifend.« Die Vorstellung, Tom sei besitzergreifend, war so absurd, daß Julia und Kenneth wie verschworene alt24
kluge Kinder hemmungslos zu kichern begannen. Und nachdem Tom gegangen war und sie allein zurückgelassen hatte, sagte sie in ihrer besorgten und ernsthaften Art zu Kenneth: »Aber ich verstehe es nicht. Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Es ist gegen die Natur.« »So ist es«, erwiderte Kenneth leichthin. Er sah sie prüfend an: »Du mußt die Dinge nehmen, wie sie kommen, liebe Schwägerin.« Julia empfand, daß sie genau das getan hatte: Sie hatte losgelassen, sich ohne nachzudenken behaglich und wohlig Toms freundlichen und wohltuenden Armen überlassen – und das waren auch Kenneths Arme, denn Tom wollte es so. Gegen Toms Willen hielt sie zwischen sich und Kenneth eine leichte, jedoch starke Barriere aufrecht, denn sie waren zwei Menschen, die sich zu sehr voneinander angezogen fühlen konnten. Ein oder zweimal, als Tom sie alleingelassen hatte, stieß Kenneth gereizt hervor: »Wirklich! Warum ich mich unter diesen Umständen loyal verhalte, weiß ich nicht.« »Unter welchen Umständen?« fragte Julia verwirrt. »Mein Gott, Julia …«, rief Kenneth ärgerlich. Einmal war er so gereizt, daß er aggressiv eine seltsame Bemerkung machte: »Es war wirklich Zeit, daß Tom und ich eine Frau bekamen!« Er begann zu lachen, und es war kein sehr angenehmes Lachen. Julia verstand nicht. Aber sie fand seine Worte häßlich. Kenneth musterte sie ironisch und sagte: »Welch 25
ein Glück für Tom, daß er nicht das Geringste über sich selbst weiß.« Julia gefiel nicht, daß so etwas über ihren Mann gesagt wurde; auch wenn sie spürte, daß es der Wahrheit entsprach. Instinktiv vermieden sie dieses Gebiet ihrer gegenseitigen Beziehungen in Zukunft; und Julia verhielt sich Kenneth gegenüber vorsichtig. Sie weigerte sich, mit ihm über Tom zu sprechen. In diesen zwei Jahren, ehe Tom in den Krieg zog, überprüfte Kenneth (nach eigenen Worten) von Zeit zu Zeit die Mädchen auf den Farmen in der Nachbarschaft auf ihre Eignung für eine Ehe. Sie langweilten ihn. Er hatte eine längere Affäre mit einer verheirateten Frau, deren Ehemann sie langweilte. Julia und Tom gegenüber machte er witzige Bemerkungen über seine Position als Liebhaber. Manchmal konnten sich alle drei bei seinen Beschreibungen von sich als galantem Verehrer vor Lachen nicht halten: Die Dame war romantisch und ließ sich gern den Hof machen. Kenneth war nicht romantisch; sein Interesse an der Dame war auf einen Punkt beschränkt. Und an den langen Abenden mit den Eheleuten konnte er nicht anders, als in seiner spöttischen, bissigen resignierten Art darüber zu sprechen. Wieder überkam Julia das unbehagliche Gefühl, daß Tom wirklich daran interessiert war – nein, das war nicht das richtige Wort. Tom zeigte nicht das beiläufige Interesse eines amüsierten Außenseiters. Während er Kenneth zuhörte, der sich bemühte, geistreich über seine Affäre zu sprechen, wirkte es beinahe, als sei er 26
selbst daran beteiligt; und er schien Kenneth schweigend zu weiteren Enthüllungen zu drängen. Bei solchen Gelegenheiten fühlte Julia sich von Tom abgestoßen. Sie sagte sich, sie sei eifersüchtig, und unterdrückte das Gefühl. Als der Krieg ausbrach, wurde Tom unruhig. Julia wußte, er würde bald gehen. Er meldete sich freiwillig, ehe die Männer eingezogen wurden. Sie beobachtete mit belustigter Traurigkeit die Szene (eine unangenehme Szene), zu der es zwischen ihren beiden Männern kam, als Tom sich gedrängt fühlte, sich bei Kenneth dafür zu entschuldigen, daß er auf Kenneths Kosten eine seltene Chance zum Glück ergriff Kenneth war untauglich für den Wehrdienst. Die beiden Brüder waren hauptsächlich deshalb nach Afrika gekommen, weil Kenneth eine schwache Lunge hatte. Kenneth wollte keineswegs in den Krieg gehen. »Oh Gott!« erklärte er Tom. »Es ist nicht nötig, sich zu entschuldigen. Bitte! Ich bin nicht so romantisch. Wegen einer solchen dummen Sache möchte ich mein Leben nicht verlieren. Für mich ist das Ganze sinnlos.« Mit diesen Worten schien er den Krieg und das Chaos in der Welt beiseitezuschieben. Auch Tom interessierte sich nicht wirklich für die Kriegsziele. Ihm genügte, daß ein Krieg stattfand. Beide Männer waren felsenfest davon überzeugt, es sei unmöglich, England in einem Krieg zu schlagen. Sie konnten über ihre Einstellung zwar lachen (und das taten sie auch, als Julia als liberale, weitgereiste Kosmopolitin sie verspottete), aber trotzdem glaubten sie daran. 27
Der Krieg machte Julia unglücklicher als die beiden Männer. Sie hatte sich auf der Farm an Sicherheit gewöhnt. Nun bedrängte die Welt sie wieder, die sie versucht hatte, auszuschließen. Sie dachte an ihre vielen Freunde in den vielen Ländern, inmitten all der Wirren, die sich merkwürdigen ideologischen Emotionen überließen, die Julia absurd erschienen. Denn sie dachte an Menschen, nicht an Nationen oder Ziele. Für sie bedeutete der Krieg nichts anderes, als daß die Menschheit verrückt geworden war und sich sinnlos umbrachte! Immer wieder sah sie die Sinnlosigkeit in allem! Und nun wurde ihr nicht erlaubt, sie zu vergessen. Zu ihren Gunsten muß man feststellen, daß sie all ihr Unglücklichsein und den weiblichen Groll darüber, von Tom beim ersten Trompetenstoß, der zum Abenteuer rief, verlassen zu werden, unterdrückte. Sie sagte lediglich verächtlich zu ihm: »Was bist du doch für ein Kind! Als hätte es den letzten Krieg nicht gegeben! Und sieh dir all die Männer in der Umgebung an. Sie sind überglücklich, daß etwas Aufregendes geschieht! Wenn dir wirklich etwas am Krieg läge, würde ich dich vielleicht achten. Aber so ist es nicht. Und bei den meisten Leuten, die wir kennen, ist es das gleiche.« Tom gefiel das nicht. Das Kriegsgeschrei hatte in ihm einen künstlichen Patriotismus geweckt. »Du sprichst wie ein Zeitungsmensch«, spottete Julia. »Du glaubst kein Wort von dem, was du sagst. In Wirklichkeit haben die meisten Menschen wie wir in allen 28
Ländern, in denen ich gewesen bin, nicht die geringste Vorstellung von dem, was sie glauben. Wir glauben nicht an die Schlagworte und Lügen. Es macht mich krank, wie ihr alle ganz aufgeregt werdet, sobald es Krieg gibt.« Jetzt wurde Tom wütend, denn sie sagte die Wahrheit. Und er hatte sich plötzlich an seine sentimentale Bindung an England – ganz in der Rupert-BrookeManier – erinnert. In den letzten Tagen, ehe er ging, bestanden Spannungen zwischen ihnen. Tom war froh wegzukommen, besonders da Kenneth ihn nicht weniger bissig behandelte. Die Männer würden zum ersten Mal getrennt sein, und Julia spürte, daß Kenneth ebenso verletzt war wie sie, weil Tom sie beide so unbekümmert verließ. Sie waren alle erleichtert, als Tom endlich gehen konnte und die gegenseitige Quälerei ein Ende fand. Aber nach seiner Abreise wurde Julia sehr unglücklich. Sie vermißte Tom. Die Ehe hatte ihr einen größeren Frieden gebracht, als sie für möglich gehalten hätte. Sie hatte geglaubt, geheilt zu sein, nachdem sie den ruhelosen, kritischen Teil ihres Wesens hatte sterben lassen, nachdem sie dahintrieb, losließ, sich an Afrika als Land erfreute, an seinem Aussehen und seiner Ausstrahlung, nachdem sie Sinnliches langsam und ohne Hast genoß. Und nun war sie nichts ohne Tom. Sie wurde nicht mehr gestützt, nicht mehr gewärmt, und sie erkannte, daß die Ehe sie von nichts geheilt hatte. Immer noch trieb sie ohne Halt wurzellos dahin. Sie gehörte nirgendwohin, und selbst 29
Afrika, das sie zu lieben gelernt hatte, bedeutete ihr in Wirklichkeit nichts. Es war auch nur ein Land, das sie flüchtig wie ein Zugvogel besucht hatte. Und Kenneth war keine Hilfe. Wäre Tom auf der Farm gewesen, hätte sie sich mit dem Strom treiben lassen und die konventionelle Haltung zum Krieg einnehmen können. Aber Kenneth schaltete abends das Radio ein und übersetzte die Kriegsnachrichten beißend in das sinnlose brutale Chaos, als das auch Julia sie sah. Kenneth sprach mit bitterem Zynismus, der verrät, daß ein Mensch leidet, und den Julia in ihrer eigenen Stimme hören konnte. »Es ist alles ganz gut«, sagte sie zu ihm, »für uns ist alles ganz gut. Wir sitzen hier in Sicherheit, während Millionen Menschen leiden.« »Die Menschen leiden gern«, schleuderte er ihr wütend entgegen. »Sieh dir Tom an. Zu Tode gelangweilt sitzt er in der Wüste, und in zehn Jahren wird er von den besten Jahren seines Lebens sprechen.« Julia konnte nur zu deutlich hören, wie Tom sich mit leichter Wehmut an das Abenteuer erinnern würde. Doch gleichzeitig machte Kenneth sie wütend, denn er sprach aus, was sie empfand. Und Julia gefielen ihre Empfindungen nicht. Sie trat den lokalen Frauengruppen bei, begann zu stricken, beteiligte sich an den Aktivitäten im Distrikt und errötete, wenn sie Kenneths kalte Augen auf sich gerichtet spürte. »Mein Gott, Julia! Du bist nicht besser als Tom …« »Man muß sich doch beteiligen, Kenneth.« Sie 30
bemühte sich sehr, ihre Gefühle auszudrücken. »Wofür kämpfst du?« fragte er. »Kannst du mir das sagen?« »Ich glaube, wir müssen herausfinden …« Er hörte ihr nicht zu. Er stürmte hinaus auf die Farm und rief: »Ich will einen neuen Damm bauen. Und falls sie ihn nicht bombardieren, ist er in all dieser Zerstörung und diesem Chaos wenigstens etwas Nützliches. Geh du zu deinen Frauen und stricke hübsche Socken für die armen Teufel, die sich umbringen lassen, und höre den lieben Frauen zu, die von den schrecklichen Nazis reden. Mein Gott, welch eine Heuchelei! Richte ihnen von mir aus, sie sollen sich Südafrika einmal genauer ansehen.« In Wirklichkeit vermißte er Tom. Wenn man sich wegen Kriegsspenden an ihn wendete, gab er großzügig in Toms Namen und schickte ihm, in ironischer Absicht, sorgsam die Quittungen. Als der Krieg sich verschärfte, und die drückende Last von Tod und Leid sich in ihren Köpfen festsetzte, hörte Julia nachts heftige, ruhelose Schritte in den langen Fluren auf den Steinfußböden hallen: auf und ab, auf und ab. Dann ging sie im Morgenmantel hinaus und begegnete Kenneth. Seine Augen waren schwarz vor Zorn, und sein Gesicht war hart und bleich: »Aus dem Weg, Julia! Ich werde dich oder irgend jemanden umbringen. Am liebsten würde ich alles in die Luft sprengen. Warum auch nicht? Dann wäre endlich alles vorbei. Das wäre doch eine gute Lösung!« Julia nahm ihn sanft am Arm, führte ihn zum Bett 31
zurück und unterdrückte ihr eigenes, kaltes Entsetzen vor der Welt Einer von ihnen mußte Vernunft bewahren. In dieser Zeit war Kenneth nicht ganz bei Verstand. Er arbeitete vierzehn Stunden am Tag. Lange vor Sonnenaufgang stand er auf und kam nach Sonnenuntergang eilig die Straße zum Haus hinauf um sich seinem abendlichen Studium zu widmen: Er las wissenschaftliche Arbeiten über Landwirtschaft. Er baute Dämme, Wege und Brücken; er bepflanzte mehrere hundert Morgen Land mit Bäumen und zog Gräben zur Be- und Entwässerung. Er hörte die Nachrichten von den vielen tausend Toten und Verwundeten, von den zahllosen zerstörten Fabriken und wendete sich mit haßverzerrtem Gesicht an Julia: »Ich jedenfalls baue etwas auf und zerstöre nichts.« »Ich hoffe, das ist dir ein Trost«, bemerkte Julia leicht sarkastisch, obwohl sie sich leer und bitter fühlte. Er warf ihr einen traurigen Blick zu und stürmte wieder aus dem Haus, um sich eine Arbeit zu suchen. Sie lebten praktisch allein im Haus. Nachdem Tom gegangen war, sprachen sie eine Zeitlang davon, sich aus Gründen der Konvention um einen Gehilfen zu bemühen. Aber die Vorstellung, einen Fremden im Haus zu haben, mißfiel ihnen; und die Angelegenheit blieb in der Schwebe. Als die Männer die Farmen verließen und in den Krieg zogen, blieben viele Frauen allein und verrichteten die Arbeit selbst oder hatten Helfer, die kriegsuntauglich waren. Es war durchaus nicht anstößig, daß Kenneth und Julia zusammenleb32
ten. Im Distrikt herrschte die stillschweigende Übereinkunft, daß diese Situation für die Dauer des Krieges nicht zum Thema für Klatsch wurde. Es war unvermeidlich, daß sie ein Verhältnis begannen. Sie wußten es beide, sobald Tom sie verließ. Tom blieb drei Jahre weg. Kenneth zermürbte Julia. Er sah alles schwarz und bitter; und Julia wußte, daß nichts, was sie sagen oder tun konnte, ihm helfen würde, denn sie war in der gleichen Verfassung. Sie wurde zu der Frau, die er wollte: Er wünschte keine warmherzige, tröstende Frau. Julia war seine Geliebte. Ihre Beziehung war ein komplizierter Fechtkampf, den sie mit Ironie, Takt und Vernunft führten – außer, wenn er vor Haß überschäumte und ihn an ihr ausließ. Es kam vor, daß sie plötzlich alle Lebenskraft verließ. Sie schien haltlos schnell zu sinken und hilflos in den Tiefen ihrer selbst zu liegen. Von dort blickte sie gleichgültig auf das Leben von Gefühlen und Wärme, das sanft ihren Kopf umspülte. In solchen Momenten ließ Kenneth sie allein. Tom dagegen hätte sie liebevoll ins Leben zurückgelockt. »O Gott, ich wünschte, Tom würde zurückkommen. Ich wünschte, er würde zurückkommen«, seufzte sie. »Glaubst du, ich etwa nicht?« entgegnete Kenneth bitter. Leicht pikiert, aber nicht zu sehr, fügte er dann hinzu: »Genüge ich dir etwa nicht?« »Oh, doch.« »Was willst du also?« fragte er kurz und wendete ihr das wenige an Aufmerksamkeit zu, das er der Farm 33
entziehen konnte, um sich dem Problem Julia, der Frau zu widmen. »Tom«, erwiderte Julia schlicht. Er erwog das kritisch. »Tatsache bleibt, du und ich, wir haben weit mehr gemeinsam als du und Tom.« »Ich sehe nicht, was ›gemeinsam haben‹ damit zu tun hat.« »Du und ich, wir sind dieselbe Art Tier. Tom weiß nicht das Geringste über dich. Er wird es nie wissen.« »Vielleicht ist das der Grund.« Ablehnung stieg in ihnen auf, wie immer gezügelt von geduldiger Ironie. »Du magst Frauen überhaupt nicht«, klagte Julia plötzlich. »Du magst mich einfach nicht. Du vertraust mir nicht.« »Oh, wenn es um mögen geht …« Er lachte gehässig. »Was das angeht, so traust du mir auch nicht.« Es war die Wahrheit. Sie vertrauten einander nicht. Sie mißtrauten dem destruktiven Nihilismus, den sie teilten. Solche Gespräche, die im Laufe der Zeit immer häufiger wurden, führten dazu, daß sie sich tagelang gegeneinander verhärteten und mit wachsamer Herausforderung begegneten. Das gehörte zu ihrem langen, zermürbenden Duell, in dessen Verlauf die gegenseitige Feindseligkeit sich immer wieder in müdes Lachen auflöste. Doch als Tom schrieb, er würde aus der Armee entlassen, bat Kenneth aus einer zärtlichen Stimmung heraus Julia, ihn zu heiraten. Sie war schockiert und verblüfft. »Du weißt sehr gut, daß du mich nicht heiraten willst«, rief sie. »Außerdem, wie könntest du Tom 34
das antun?« Sie bemerkte seinen hilflosen Blick und mußte hemmungslos lachen. »Ich weiß nicht, ob ich dich heiraten will oder nicht«, gestand Kenneth ehrlich und stimmte in ihr Lachen ein. »Aber ich weiß, daß du es nicht willst.« »Ich habe mich an dich gewöhnt.« »Ich habe mich nicht an dich gewöhnt. Ich könnte mich nie an dich gewöhnen.« »Ich begreife nicht, was Tom dir gibt, das ich dir nicht auch gebe.« »Frieden«, entgegnete Julia schlicht. »Du und ich, wir beide kämpfen die ganze Zeit miteinander. Wir tun nichts anderes.« »Wir kämpfen nicht«, protestierte Kenneth. »Wir haben niemals ein böses Wort gewechselt, wie man sagt.« Er schnitt eine Grimasse. »Höchstens, wenn ich in Zorn gerate. Aber das ist etwas anderes.« Julia begriff, daß er sich keine Beziehung zu einer Frau vorstellen konnte, die nicht auf Antagonismus beruhte. Wohl wissend, daß es nutzlos war, sagte sie: »Mit Tom ist alles so einfach.« »Natürlich ist es einfach«, erwiderte er ärgerlich. »Die ganze verdammte Sache ist von Anfang bis Ende eine einzige Lüge. Wenn du das willst …« Er zuckte mit den Schultern. Sein Zorn verflog. Trocken fügte er hinzu: »Ich glaubte, ich hätte mich als Ehemann qualifiziert.« »Manche Männer können nie Ehemänner sein. Sie sind immer Liebhaber.« 35
»Ich dachte, Frauen mögen das.« »Ich habe nicht von Frauen gesprochen, ich habe von mir gesprochen.« »Wie auch immer. Ich möchte heiraten.« Danach sprachen sie nicht mehr darüber. Wenn sie von ihren Gefühlen redeten, verwirrte sie das; es machte sie zornig und unsicher. Noch ehe Tom zurückkam, erklärte Kenneth: »Ich sollte die Farm verlassen.« Julia gab sich keine Mühe zu antworten. Diese Feststellung war zu unehrlich. »Ich werde eine Farm auf der anderen Seite des Distrikts kaufen.« Julia lächelte nun. In den drei Jahren hatte Kenneth jede Woche lange Briefe an Tom geschrieben und ihn ausführlich über das Geschehen auf der Farm informiert. Die Pläne für die Zukunft standen bereits fest. Es wurde verabredet, daß Julia Tom in der Stadt abholen sollte. Sie würden ein paar Wochen dort verbringen, ehe sie das Leben zu dritt wieder aufnahmen. Kenneth bemerkte sarkastisch zu Julia: »Es werden die zweiten Flitterwochen sein.« Und so war es auch. Tom kehrte abgehärtet und sonnenverbrannt aus der Wüste zurück. Er benahm sich etwas großspurig, denn er fühlte sich Julia gegenüber unsicher. Doch sie war so glücklich, ihn wiederzusehen, daß in wenigen Stunden alles wieder beim alten war. »Wegen Kenneth …«, begann Tom vorsichtig, nachdem sie dieses Thema einige Tage sorgsam vermieden hatten. 36
»Wir wollen besser nicht darüber reden«, fiel ihm Julia rasch ins Wort. Toms blaue Augen ruhten auf ihr – nicht kritisch, sondern bittend. »Wird alles in Ordnung sein?« fragte er einen Moment später. Julia sah, wie sehr er fürchtete, sie könne sagen, Kenneth habe beschlossen, die Farm zu verlassen. Trocken erwiderte sie: »Es war nicht mein Wunsch, daß du wie ein Held in den Krieg ziehst … oder?« »Da ist was Wahres dran«, räumte er ein und gestand damit zugleich, daß sie quitt waren. Er war wegen seiner Jahre im Feld eher in gedämpfter Stimmung und ließ das Thema rasch fallen. Er würde nicht so schnell beginnen, sie als die glücklichsten seines Lebens zu schildern. Erst mußte er die Langeweile vergessen und wie sehr er die Farm vermißt hatte. In den ersten Tagen herrschte eine gewisse Verlegenheit zwischen den dreien. Kenneth war eifersüchtig, weil Julia sich glücklich wieder Tom zugewendet hatte. Doch es gab viel zu tun; und Kenneth und Tom freuten sich, wieder beisammen zu sein. Deshalb dauerte es nicht lange, bis alles wieder so einfach war wie zuvor. Julia empfand es als noch einfacher. Kenneths Anziehungskraft auf sie hatte nachgelassen, ebenso wie die ihre auf ihn. Die Unruhe, die immer zwischen ihnen geherrscht hatte, würde nun schwinden. Vielleicht nicht völlig … Manchmal trafen Julias und Kenneths Augen sich in diesem instinktiven, lachenden Verstehen, das sie mit Tom nie erreichen würde; und dann fühlte sie sich schuldig. 37
Hin und wieder ging Kenneth mit einem Mädchen von einer der benachbarten Farmen aus; hinterher sprachen sie darüber, daß er heiraten solle. »Wenn ich mich nur verlieben könnte«, klagte er scherzhaft. »Du bist die einzige Frau Julia, die ich mir vorstellen kann.« Er sagte das in Toms Gegenwart, und Tom lachte. Soweit war ihre Komplizenschaft bereits gediehen. Sehr bald machten sie Pläne, die Farm zu vergrößern. Sie kauften mehrere tausend Morgen angrenzendes Land und wollten Tabak im großen Stil anbauen. Es war die Zeit des Tabakbooms. Sie wurden sehr reich. Auf der neuen Farm arbeiteten zwei Gehilfen, doch Tom verbrachte die meiste Zeit ebenfalls dort. Manchmal blieb er sogar über Nacht. Nachdem Julia drei Tage allein mit Kenneth gewesen war und sich die alte Anziehungskraft wieder heftig bemerkbar machte, sagte sie zu Tom: »Ich wollte, du würdest Kenneth die Farm überlassen.« Tom, den die neuen Probleme faszinierten und beschäftigten, fragte ungehalten: »Warum?« »Das ist doch offensichtlich.« »Liegt das nicht an dir?« »Vielleicht nicht immer.« Es war das gleiche wie mit dem Krieg. Er schien ein langsamer, bedächtiger Mann ohne viel Temperament zu sein. Aber er löste gern neue Probleme. Er langweilte sich. Der schnelle, lebhafte und ungeduldige Kenneth wollte an einer Stelle verwurzelt sein, wollte entwickeln, was er besaß. 38
Julia überkam wieder das hilflose Gefühl, daß Tom die Sache mit ihr und Kenneth gleichgültig war. Sie mußte sich mit der Erkenntnis abfinden, daß ihm nur an Kenneth etwas lag. Abgesehen von der Kriegszeit waren sie nie getrennt gewesen. Toms Vater war gestorben, und seine Mutter hatte Kenneths Vater geheiratet. Tom war immer mit Kenneth zusammen gewesen. Er konnte sich an keine Zeit erinnern, in der er nicht schützend über ihn gewacht hatte. Einmal stellte Julia ihm die Frage: »Ich nehme an, du warst sehr eifersüchtig auf ihn, nicht wahr?« Mit Verwunderung registrierte sie den aufflammenden Zorn über ihre Vermutung. Sie ließ die Sache fallen. Es zählte nicht mehr. Die beiden Jungen hatten mehrere Schulen besucht und waren zusammen auf der Universität gewesen. Als Zwanzigjährige hatten sie mit der Landwirtschaft begonnen. Damals besaßen sie noch keinen Pfennig und mußten sich Geld leihen, um ihre Mutter zu unterstützen, die sie beide sehr liebten, aber auch halb verzweifelt bewunderten. Offensichtlich war sie eine hilflose, charmante Dame mit vielen Anbetern gewesen, die ihre Kinder der Obhut von Kindermädchen überlassen hatte. Als Tom eines Abends ausblieb und erst am nächsten Tag zurückkommen würde, erkundigte Kenneth sich kurz und mit der Barschheit, die auf einen Konflikt schließen läßt: »Kommst du heute nacht zu mir, Julia?« »Wie kann ich das?« protestierte sie. 39
»Nun, ich möchte nur ungern ins Ehebett steigen«, erklärte er praktisch, und sie mußten lachen. Für Julia würde Kenneth immer das unvermeidliche Lachen sein. Tom sagte nichts, obwohl er etwas wissen mußte. Als Julia ihn wieder bat, er möge auf seiner Farm bleiben und Kenneth zur anderen hinüberschicken, wendete er sich wortlos und stirnrunzelnd ab. Sein Verhalten ihr gegenüber änderte sich nicht, und Julia empfand immer noch: Das ist mein Mann. Im Vergleich zu diesem Gefühl war Kenneth nichts. Gleichzeitig erfaßte sie heftige Angst: Scheinbar kamen sich die beiden Männer auf perverse Art eine Zeitlang näher, indem sie sich eine Frau teilten. So stellte Julia es vor sich dar. Es war die nüchterne und brutale Wahrheit. Schließlich zog Kenneth sich zurück. Aber nicht von Julia, sondern von der Situation. Es kam die Zeit, in der Kenneth sagen konnte, während er ironisch lächelnd vor Julia und Tom stand, die wie ein altes Ehepaar auf ihrer Seite am Kamin saßen: »Ihr wißt, es ist sehr wichtig, daß ich heirate. So kann es nicht weitergehen.« »Aber du kannst nicht heiraten, ohne zu lieben«, widersprach Julia, unterbrach sich aber sofort mit einem ärgerlichen Lachen – sie erkannte, daß sie dagegen protestierte, daß Kenneth sich von ihr abwendete. »Du mußt einsehen, daß ich es tun sollte.« »Mir gefällt diese Vorstellung nicht«, erklärte Tom, als stünde seine Hochzeit zur Diskussion. 40
»Sieh doch dich und Tom an«, erklärte Kenneth friedfertig, jedoch nicht ohne Bosheit. »Ihr fuhrt eine sehr zufriedenstellende Ehe und seid auch nicht verliebt gewesen.« »Waren wir nicht verliebt, Julia?« fragte Tom überrascht. »Also ich war in Kenneth verliebt«, erwiderte Julia und hatte dabei das Gefühl, daß es unnötig war, das zu sagen. »Du wolltest eine Frau, und Julia wollte einen Mann … Alles sehr vernünftig.« »Man kann einmal zu oft verliebt sein«, sagte Julia in Richtung Kenneth. »Bist du jetzt in Kenneth verliebt?« Julia gab keine Antwort. Sie ärgerte sich darüber, daß Tom diese Frage stellte, nachdem er sie Kenneth buchstäblich übergeben hatte. Nach kurzem Schweigen stellte sie fest: »Ich glaube, du hast recht. Du solltest heiraten.« Nachdenklich fügte sie hinzu: »Ich könnte nicht mit dir verheiratet sein, Kenneth. Du zerstörst mich.« Dieses Wort klang hochtrabend und absurd. Rasch sprach sie weiter. »Ich wußte nicht, daß es möglich ist, so glücklich zu sein, wie ich es mit Tom gewesen bin.« Sie lächelte ihren Mann an und ergriff seine Hand. Er erwiderte den Händedruck dankbar. »Also muß ich heiraten«, erklärte Kenneth sarkastisch. »Das hast du gesagt.« »Ich scheine nicht zu fühlen, was ich fühlen sollte«, ließ Tom sich vernehmen und lachte verwirrt. 41
»Und das stimmt bei uns dreien nicht«, fügte Julia hinzu. Dann spürte sie, daß sie am Rand einer Gefahr stand, die sie zerstören konnte. Sie unterbrach sich und erklärte: »Wir sollten nicht darüber reden. Es bringt nichts Gutes, darüber zu reden.« Dieses Gespräch hatte vor einem Monat stattgefunden. Seitdem hatte Kenneth nicht mehr davon gesprochen zu heiraten, und Julia hoffte insgeheim, er habe den Gedanken fallenlassen. Nicht lange danach, bei ihrem Ausflug in die Stadt, hatte er einen Tag ohne Tom und sie verbracht – mit wem? Morgen wollte er wieder fahren, und zum ersten Mal seit Jahren, zum ersten Mal, seit sie zusammenlebten, verband sie nicht das gewohnte Einverständnisjetztwaren es Tom und Julia, während Kenneth sich vorsätzlich ausschloß und Schranken errichtete. Kenneth sagte den ganzen Abend lang kein Wort, obwohl Tom und Julia darauf warteten, daß er das Schweigen brach. Julia las nicht. Sie brütete unglücklich über ihrem Leben; von Zeit zu Zeit warf sie einen Blick zu Tom hinüber, der liebevoll zurücklächelte, da er wußte, daß sie es von ihm erwartete. Trotz des Feuers, das jetzt in der Mauer loderte und knisterte, fror Julia. Die dünne, frostige Luft des hohen Veld erfüllte den großen, kahlen Raum mit elektrisierender Trockenheit. Das Dach knackte vor Kälte. Und jedesmal, wenn das Blech über ihnen knackte, erinnerte es an die zahllosen Sterne am gewölbten Himmel, an die kalte Nacht draußen und an die dürren braunen Blätter, an das hohe, wogende Gras, das jetzt 42
fahl und vertrocknet aussah. Julias Haut runzelte sich und schmerzte vor Trockenheit. Plötzlich sagte sie: »Das geht nicht, Kenneth. Du kannst dich nicht so benehmen.« Sie stand auf, drehte den Rücken zum Feuer und blickte die beiden Männer ruhig an. Sie hatte das Gefühl, innerlich zu verdorren und zu vertrocknen. Sie wog nicht mehr als ein Zweig. In ihren Adern rann kein Blut. Kenneths Verrat hatte sie an einer Stelle verwundet, die sie nicht benennen konnte. Sie besaß keine Substanz, und so fühlte sie sich auch. Die Männer sahen eine große, stattliche Frau, eher etwas kräftig, mit starken Backenknochen. Kummer umwölkte jetzt ihre offenen blauen Augen – aber sie war noch immer bekümmert, wenn auch mit einem Anflug von Humor. Julia zwang die Männer, sie anzusehen, Vergleiche anzustellen. Sie forderte sie heraus. Sie zwang sie sogar, die gewohnte Treue zu brechen, die in gütiger Zartheit ständig neu schaffend die Augen der Liebenden gegen Veränderungen blind macht. Sie sahen diese starke, alternde Frau – die Gefährtin ihres Lebens. Sie stand noch immer im Gewand der Schönheit vor ihnen – sie bot einen erfreulichen Anblick –, aber das Licht der Schönheit war erloschen. Vielleicht erinnerten sie sich an die Julia von damals … an den Nachmittag am Meer, als sie ihr zum ersten Mal begegneten … oder an ihre Ankunft auf der Farm: eine junge, lebhafte, schlanke, eher knabenhafte Frau mit glatten, kurzgeschnittenen Haaren und lebhaften, belustigten blauen Augen. 43
Jetzt fielen die weichen Haare in frisierten Wellen um das straffe, knochige Gesicht. Sie trug ein weiches, geblümtes Kleid. Die beiden bemerkten eine beunruhigende Diskrepanz zwischen diesem Ausdruck der Weiblichkeit und dem, was Julia, wie sie wußten, war. Das irritierte sie. Es erschien ihnen überflüssig, ja sogar unfair, daß Julia dort stand und sie daran erinnerte (wenn sie nicht daran erinnert werden wollten), daß vor ihr die traurige Zukunft des Alters lag, der sie sich allein stellen mußte. Kenneth sagte ärgerlich: »Mein Gott, Julia, du bist eben doch eine richtige Frau. Mußt du eine Szene machen?« Ihr kurzes Lachen klang ebenfalls ärgerlich. »Warum sollte ich keine Szene machen? Ich fühle mich dazu berechtigt.« Kenneth erklärte: »Wir wissen alle, daß sich etwas ändern muß. Können wir das nicht ohne so etwas hinter uns bringen?« »Aber«, entgegnete sie hilflos, »man kann doch nicht alles ohne jede Erklärung verändern …« Sie konnte nicht weitersprechen. »Also, was für eine Erklärung willst du hören?« Sie zuckte resigniert die Schultern. Nach einem Moment sagte sie, als nehme sie ein Gespräch wieder auf: »Vielleicht hätte ich doch Kinder haben sollen.« »Ich habe es immer gesagt«, bemerkte Tom gutmütig. »Du bist beinahe vierzig«, warf Kenneth praktisch ein. 44
»Ich wäre keine gute Mutter«, stellte sie fest. »Ich könnte mich mit eurer Mutter nicht messen. Ich hätte nicht den Mut dazu, denn ich weiß, den Vergleich mit eurer ach so vollkommenen Mutter würde ich nicht bestehen.« Sie gab sich sarkastisch, aber in ihrer Stimme schwangen Tränen mit. »Halten wir unsere Mutter da raus«, sagte Tom kalt. »Natürlich, wir klammern immer alles Wichtige aus.« Keiner der beiden sagte etwas. Sie verschlossen sich feindselig vor ihr. Sie sprach weiter: »Ich frage mich oft, warum du mich überhaupt wolltest, Tom. Eigentlich lag dir nichts an Kindern.« »Oh, doch«, erwiderte Tom ziemlich verwirrt. »Aber nicht genug, um mir ein Gefühl dafür zu geben, was du wolltest: Kinder oder keine Kinder. Eine Frau hat schließlich ein Recht darauf zu wissen, daß ihre Kinder etwas bedeuten. Ich weiß nicht, wofür du mich in dein Leben geholt hast.« Nach kurzem Schweigen erklärte Kenneth leichthin im Versuch, die bequeme Oberflächlichkeit wieder herzustellen: »Ich dachte immer, wir sollten Kinder haben.« Weder Tom noch Julia reagierten auf seinen Vorstoß. Julia nahm eine Kerze vom Kaminsims, beugte sich zum Feuer hinunter, um sie anzuzünden, und sagte: »Also, ich gehe ins Bett Ich verstehe das alles nicht mehr.« »Nun gut«, ließ sich Kenneth vernehmen, »wenn du es unbedingt wissen mußt: Ich werde bald heiraten.« 45
»Offensichtlich«, erwiderte Julia trocken. »Was wolltest du von mir hören?« »Wer ist es?« Toms Stimme klang so vorwurfsvoll, daß sich das Gewicht der Unterhaltung verlagerte: Jetzt waren Tom und Kenneth die Gegner. »Es ist ein Mädchen aus England. Sie kam vor ein paar Monaten im Rahmen dieser Aktion ›Heiratsfähige Frauen für die Kolonien‹ herüber … nun, schließlich ist das der Sinn der Aktion.« »Was für ein Mädchen ist es?« fragte Julia gegen ihren Willen amüsiert über Kenneths unüberwindliche Abneigung vor der Ehe. »Also …«, Kenneth zögerte und sah Julia mit den dunklen, intelligenten Augen an, wobei seine Mundwinkel bereits ironisch zuckten. »Sie ist blond. Sie ist hübsch. Sie scheint brauchbar zu sein. Sie will heiraten … was kann ich mehr verlangen?« Die letzten Worte waren brutal. Sie waren in eine Sackgasse geraten. »Ich gehe ins Bett!« rief Julia plötzlich, und die Tränen strömten ihr über das Gesicht. »Ich ertrage das nicht.« Keiner der beiden sagte etwas, um sie zurückzuhalten. Als sie gegangen war, machte Kenneth eine instinktiv abwehrende Geste. Tom erklärte nach einem Moment gereizt, aber entschieden: »Es ist absurd, daß du heiraten willst, obwohl keine Notwendigkeit dazu besteht.« »Offensichtlich besteht die Notwendigkeit«, erwiderte Kenneth wütend. Er stand auf und nahm eben46
falls eine Kerze vom Kamin. Im Hinausgehen – und es war klar, daß er ging, um die Szene zu verhindern, die Tom machen würde – sagte er: »Ich möchte Kinder haben, ehe ich ein alter Mann bin. Es scheint das einzige, was noch bleibt.« Als Tom ins Schlafzimmer kam, lag Julia mit offenen, tränenlosen Augen im Bett und wartete auf ihn. Sie wartete auf ihn, damit er sie tröstete und ihr die Sicherheit der Gefühle zurückgab. Er hatte sie nie enttäuscht. Nun lag er im Bett, und sie stellte fest, daß sie ihn tröstete. Das empfand sie als so pervers und verdreht, daß sie nicht schlafen konnte. Kenneth machte sich bald nach dem Frühstück auf den Weg in die Stadt. Er war elegant gekleidet. Üblicherweise kümmerte es ihn nicht, wie er aussah, und er schien seine Kleider zusammenzusuchen wie jemand, der Werkzeuge für eine Arbeit braucht. Alle drei kommentierten sein Aussehen mit einem kaum merklichen, gezwungenen Lächeln; und Kenneth bekam einen roten Kopf, als er ins Auto stieg. »Ich komme heute abend vielleicht nicht zurück«, rief er im Davonfahren, ohne sich noch einmal umzudrehen. Tom und Julia sahen dem großen Wagen nach, der durch die Bäume glitt, und dann sahen sie sich an. »Kommst du mit auf die Felder?« fragte er. »Ja, gern«, erwiderte sie dankbar. Dann begriff sie – und dieses Wissen warf sie wieder auf sich selbst zurück –, daß er sie nicht mitnahm, um sie zu trösten, sondern sich. Es war ein windiger, sonniger Morgen. Es war sehr 47
kalt. Über Nacht hatte der Winter vom Veld Besitz ergriffen. Das Haus stand auf einer kleinen Anhöhe, von der das Land nach allen Seiten abfiel. In der Trockenzeit beherrschten gedämpfte Farben die Landschaft: Olivgrün und fahle Gelbtöne. Es gab diesen außergewöhnlichen Gegensatz zwischen dem klaren leuchtendblauen Himmel, aus dem die Sonnenstrahlen sich wie flüchtiger Äther ergossen, und der trockenen Kälte, in der Gesicht und Hände erstarrten. Das bedrückte Julia im Winter. Durch die Trockenheit schien die Kälte sich wie eine enge, unnachgiebige Fessel um sie zu legen, wodurch das unaufhörliche innere Zittern unterdrückt werden mußte. Sie ging mit hochgezogenen Schultern und fest über der Brust verschränkten Armen neben Tom über die Felder. Doch sie fror nicht – nicht körperlich. Die Maisfelder, die das Haus umgaben, schimmerten jetzt in sanftem silbrigem Gold, und wenn der Wind darüber hinstrich, entstanden schimmernde Lichtbänder. Das trockene Rascheln der dürren Blätter erinnerte an Ratten im Gras. Tom sprach nicht. Doch er runzelte die Stirn und wirkte bedrückt. Als sie nach seiner Hand griff, erwiderte er den Druck, aber nur teilnahmslos. Sie wollte, daß Tom sich ihr zuwendete, und sagte: »Jetzt geht er seinen eigenen Weg. Du mußt zu mir zurückkommen, und wir machen einen neuen Anfang.« Sie wollte, daß er sie für sich beanspruchte, sie heilte und sie ganz machte. Aber er war niedergeschlagen und ruhelos. Schließlich sagte sie 48
trotzig: »Warum macht es dir so sehr zu schaffen? Ich sollte unglücklich sein.« »Bist du es nicht?« fragte er und klang wie jemand, der sich über eine Unehrlichkeit ärgert. »Doch, natürlich«, erwiderte sie und versuchte, Worte zu finden, um ihm zu sagen, daß für sie beide wieder alles m Ordnung sein würde, wenn er sie nur sanft in seine Sicherheit aufnahm, wie er es Vorjahren getan hatte. Aber er besaß diese Sicherheit nicht mehr. Den ganzen Tag lang sprachen sie kaum miteinander – nicht aus Feindseligkeit, sondern wegen einer tiefen, traurigen Hilflosigkeit. Sie konnten sich gegenseitig nicht helfen. Kenneth kam an diesem Abend nicht zurück. Am nächsten Tag ging Tom allein auf die zweite Farm und verließ Julia mit einem weichen, entschuldigenden Blick, wie um zu sagen: »Laß mich allein. Ich kann nichts dafür.« Im Lauf des Vormittags rief Kenneth aus der Stadt an. Er klang unbeschwert, aber auch leicht defensiv. Diese dünne Stimme, die aus einer solchen Entfernung durch die Drähte kam, beschwor ein so klares Bild von Kenneth herauf daß sie zärtlich lächelte. »Nun?« fragte sie vorsichtig. »Ich komme irgendwann zurück. Ich weiß nicht wann.« »Heißt das, es ist endgültig?« »Ich denke.« Eine Pause entstand. Dann sagte er trocken und belustigt: »Sie ist ein so nettes Mädchen, 49
daß alles lange dauert, weißt du …« Julia lachte. Schnell fügte er hinzu: »Aber das ist sie wirklich, Julia. Sie ist schrecklich nett.« »Du mußt tun, was du für richtig hältst«, erwiderte sie zurückhaltend. »Wie geht es Tom?« fragte er. »Ich weiß plötzlich gar nichts mehr von Tom«, erwiderte sie. Es entstand ein so langes Schweigen, daß sie auf die Gabel drückte. »Ich bin immer noch da«, hörte sie Kenneth, »ich habe nach den richtigen Worten gesucht.« »Ist es so weit gekommen, daß wir nach den richtigen Worten suchen müssen?« »Es sieht ganz so aus.« »Auf Wiedersehen«, sagte sie schnell und legte den Hörer auf »Laß mich wissen, wann du kommst, und ich bereite alles vor.« Wie jeden Morgen machte sie ihren Rundgang durch das große, kahle Haus und ging von Zimmer zu Zimmer. Die Fenster standen den ganzen Tag offen und gaben den Blick frei auf Blöcke aus blauem Kristall oder auf das Veld, als sei das Gebäude – die Ziegelsteine und das Eisen – mit dem Himmel und der Landschaft eins und bildete eine neue Art Heim. Nachdem sie ihren Inspektionsgang beendet und alles sauber, poliert und aufgeräumt gefunden hatte, ging sie in die Küche. Dort ordnete sie die Mahlzeiten an und unterhielt sich mit dem Koch über die Vorräte. Danach ging sie zurück auf die Veranda. Um diese 50
Zeit las oder nähte sie normalerweise bis zum Mittagessen. Mit zerstörerischer Macht drängte sich ihr der Gedanke auf, daß Tom kaum bemerken würde, wenn sie nicht im Haus wäre. Die Dienerschaft würde auch ohne sie für seine Bequemlichkeit sorgen. Sie unterdrückte den Impuls, in die Küche zu gehen und zu kochen oder einen Schrank aufzuräumen – irgendeine Arbeit für ihre Hände zu suchen. Sie suchte kein Trostpflaster für das Gefühl, nutzlos zu sein. Im kahlen Hausflur mit dem Steinfußboden nahm sie den großen leichten Strohhut vom Nagel und ging hinaus in den Garten. Ihr lag nichts am Garten, und deshalb standen im Gelände um das Haus Gruppen von Büschen, damit das ganze Jahr über irgend etwas blühte. Der Gärtner hielt den Rasen frisch und grün. Über dem leuchtend smaragdgrünen Gras erhoben sich die Blumen der Trockenheit, die Poinsettias – lokker verstreute Blüten in leuchtendem Rot, cremigem Rosa und blassem Gelb. An den glatten, glänzend braunen Stengeln bewegten sich hellgrüne Blätter. Ein plötzlicher Windstoß ließ die leichten Blüten und Blätter tanzen und schaukeln. Julia sah in ihnen die Essenz dieser Jahreszeit – die Essenz trockener Kälte, das hohen kalt-blauen Himmels und der blassen, kraftlosen Sonne. Sie ging ruhig auf dem Weg durch Rasen und Blumen hinunter zur Zufahrtsstraße, wendete sich um und blickte zurück auf das Haus. Von außen wirkte es wie ein großer, massiger Klotz mit den glänzenden 51
Blechdächern, dem grellen Rosa der Mauern und den glänzenden rechteckigen Fenstern. Obwohl hier und da Sträucher wuchsen und es inmitten dichter Bäume stand, wirkte es nackt, roh und plump. »Das ist mein Heim«, sagte Julia zu sich selbst und prüfte das Wort. Sie verwarf es. In diesem Haus hatte sie zehn Jahre gelebt – sogar noch länger. Sie wendete sich ab und ging unbeschwert wie eine Fremde über den feinen rosa Staub der Straße. Es hatte immer Zeiten gegeben, in denen Afrika sie zurückwies – Zeiten, in denen sie sich wie ein kritischer Geist vorkam. Dies war ein solcher Moment. Hinter der bekannten und geliebten Szenerie des Velds sah sie Buenos Aires, Rom, Kapstadt – ein Dutzend großer und kleiner Städte verschmolzen und vermischten sich miteinander, während das Land um sie herum sich hob und senkte. Vielleicht tat es Menschen nicht gut, an so vielen Orten zu leben? Aber das war es nicht. Sie litt unter einer unvertrauten Trockenheit der Sinne – einem unbestimmten, nicht lokalisierten Schmerz. Wenn sie jung gewesen wäre, hätte er sich auf einen Menschen oder auf einen Ort gerichtet. Aber jetzt blieb er in ihr verschlossen. »Was bin ich?« fragte sie sich immer wieder, während sie im wandernden Schatten, der von dem großen, breitrandigen Hut fiel, durch das Veld ging. Das Gras zu beiden Seiten des Weges wogte und wisperte. Die Tauben gurrten sanft auf den Bäumen. Der Himmel wölbte sich kornblumenblau über ihr – es war, wie man sagt, ein schöner Morgen. Sie ging wie ein Geist an den Maisfeldern vorüber 52
und beobachtete die Gruppen einheimischer Arbeiter. Am Brunnen blieb sie stehen und sah den Frauen mit ihren nackten kleinen Kindern zu. An den Unterständen der Rinder beugte sie sich vor, um die feuchten Schnauzen der Kälber mit ihren weichen Köpfen zu berühren, die sich um ihre Beine drängten und stießen. Sie blieb dort eine Weile, denn die jungen Tiere schenkten ihr Trost. Schließlich wurde ihr klar, daß es bald Zeit für das Mittagessen war. Sie mußte nach Hause gehen und am Tisch sitzen, für den Fall, daß Tom beschlossen hatte zurückzukommen. Sie verließ die Kälber mit dem Gedanken: Vielleicht sollte ich doch Kinder haben … Sie wußte sehr gut, daß sie keine haben würde. Die Straße, die zum Haus zurückführte, wand sich an einem langgestreckten felsigen Hügel zwischen zwei Senken entlang. Sie ging langsam und versuchte das ruhige Staunen wiederzufinden, das sie bei ihrer Ankunft auf der Farm empfunden hatte, als sie begriff daß das Leben in den Städten sie um das Wissen von Himmel und Land betrogen hatte. Über ihr, in der großen strahlend blauen Glocke des Himmels verrieten Wolkenwirbel die Windbahnen; schwere, dicke, schmutzigweiße Wolkengebilde wiesen auf die Tümpel stehender Luft hin. Überall zeichnete sich unter der dünnen Decke lebender Erde das Skelett des Felsens ab. Die Bäume wurden dichter, wenn das Land sich hob oder senkte oder dort, wo unterirdisch Wasser floß. Das Gras – die langen blonden Haare des Grases – kämpfte unablässig darum, jede Wunde zu 53
heilen und zu schließen, die die Hufe der Tiere oder die Gedankenlosigkeit der Menschen aufgerissen hatte. Der Himmel, das Land, die wirbelnde Luft umschlossen sie im Wechsel von Wasser und Hitze. Und das tiefe, vielfältige Murmeln lebender Substanz klang wie Summen in ihrem Blut. Sie lauschte, halb hingegeben, halb aufbegehrend und fragte: »Was trage ich zu all dem bei?« An diesem Nachmittag wanderte sie wieder stundenlang über die Felder und auch den ganzen nächsten Tag. Zu den Mahlzeiten kehrte sie pünktlich ins Haus zurück und begrüßte Tom über die Distanz hinweg, die sich zwischen Menschen schiebt, die versuchen, sich durch die theoretische Kenntnis eines Landes zu bestätigen, und jenen, die dort arbeiten. Einmal bemerkte Tom müde und besorgt und blickte dabei in ihr gleichermaßen erschöpftes Gesicht: »Julia, ich wußte nicht, daß es dir so zu schaffen macht. Ich nehme an, es war Selbstgefälligkeit, aber ich glaubte immer, ich käme an erster Stelle.« »Das tust du«, entgegnete sie rasch, »glaube mir, das tust du.« Sie ging zu ihm, damit er sie in die Arme nehmen konnte. Er tat es, aber beide fanden in dieser Umarmung keine Wärme. »Es wird schon wieder werden mit uns«, versprach er. Doch er schien dabei auf seine Stimme zu lauschen, als suche er darin eine Botschaft, die ihm Sicherheit gab. Am vierten Abend kam Kenneth unerwartet zurück. Er war allein und wirkte unbeirrbar und ent54
schlossen. Während des Abendessens sprachen die drei kaum. Danach saßen sie im nackten, kahlen Wohnzimmer, in dem das Feuer brannte, und warteten darauf daß einer etwas sagte. Schließlich fragte Julia: »Nun, Kenneth?« »Wir werden im nächsten Monat heiraten.« »Wo?« »In der Kirche«, antwortete er. Er lachte gepreßt. »Sie wünscht sich eine richtige Hochzeit. Ich habe nichts dagegen, wenn sie es so will.« Kenneth gab sich munter, nüchtern und sachlich. Doch er sah Julia und Tom verlegen an: Seine Lage gefiel ihm ganz und gar nicht. »Wie alt ist sie?« erkundigte sich Julia. »Sie ist noch ein Kind … dreiundzwanzig.« Schockiert rief Julia: »Kenneth, das kannst du doch nicht tun!« »Warum nicht?« Julia sah eigentlich keinen Grund. »Hat sie Geld?« fragte Tom praktisch, und die beiden anderen sahen ihn erstaunt an. »Schließlich«, sprach er schnell weiter, »müssen wir etwas über sie wissen, ehe sie kommt.« »Natürlich hat sie kein Geld«, erklärte Kenneth kalt, »sonst käme sie nicht im Rahmen einer subventionierten Aktion für den Import heiratsfähiger Frauen in die Kolonien.« Tom schnitt eine Grimasse. »Ihr beide seid grausam.« Kenneth und Julia warfen sich einen Blick zu. Er 55
war wie ein Achselzucken. »Ich habe nicht angefangen, von Geld zu reden«, wehrte er sich, »du warst es. Und was ist so schlimm daran? Als überzählige Frau in England würde ich ganz sicher emigrieren, um einen Mann zu finden. Es ist das einzig Vernünftige.« »Wovon lebt sie jetzt?« erkundigte sich Julia. »Sie arbeitet in einem Büro … irgend so ein Unsinn«, erklärte Kenneth wegwerfend. »Aber warum sollten wir über Geld sprechen. Haben wir etwa nicht genug?« »Wieviel haben wir?« wollte Julia wissen, die sich kaum um Geld kümmerte. »Eine ganze Menge«, sagte Tom lachend, »in den letzten drei Jahren haben wir Tausende gemacht.« »Schwierig zu sagen. Es fließt soviel zurück in die beiden Farmen. Fünfzigtausend vielleicht. Dieses Jahr wird es noch sehr viel mehr sein.« Julia lächelte. Das Wort fünfzigtausend gewann in ihrer Vorstellung keine Realität. Sie dachte daran, wie sie jahrelang ihren Lebensunterhalt in Büros verdient hatte und jede Ausgabe sorgfältig planen mußte. »Ich nehme an, man könnte uns als reich bezeichnen …«, fragte sie schließlich verwundert und versuchte diese Tatsache mit dem Leben in Verbindung zu bringen, das sie führte, mit dem Land, das sie umgab, und mit ihrer Zukunft. »Ich nehme an, das könnte man«, stimmte Tom zu und schnaubte amüsiert. Es gefiel ihm, wenn Julia ihm die Möglichkeit gab, sich vorzustellen, sie sei hilflos. »In erster Linie haben wir das Kenneth zu verdanken«, 56
fügte er hinzu, »seine Arbeit während des Kriegs trägt jetzt Früchte.« Julia sah ihn an und warf dann einen ironischen Blick auf Kenneth, der sich unbehaglich im Sessel wand. Tom fuhr unbeirrt mit gutmütigem Sarkasmus fort und zahlte damit Kenneth seine Sticheleien über den Krieg heim: »Dies hier wird eine richtige Musterfarm. Ich habe einen Brief von der Regierung erhalten, in dem man anfragt, ob man in der nächsten Woche eine Gruppe hoher Gäste aus England zur Besichtigung hierher bringen kann. Du wirst die Gastgeberin spielen müssen, Julia. Sie kommen, um Kenneths Kriegsleistungen zu sehen«, er lachte, »die unter anderem auch sehr einträglich sind.« Kenneth preßte die Lippen zusammen und bewahrte Ruhe. »Wir sprechen über meine zukünftige Frau«, erklärte er kalt. »Das tun wir«, sagte Julia. »Kommen wir damit zum Schluß. Ich werde dem Mädchen zu rauschenden, teuren Flitterwochen in den elegantesten und schrecklichsten Hotels des Subkontinents verhelfen«, führ Kenneth grimmig fort, »es wird ihr gefallen.« »Warum auch nicht?« fragte Julia. »In ihrem Alter hätte mir das auch gefallen.« »Ich habe nicht gesagt, daß es ihr nicht gefallen soll.« »Und dann?« fragte Julia weiter. Sie wollte erfahren, welche Pläne Kenneth für eine andere Farm hatte. Er sah sie verständnislos an. »Und dann was?« 57
»Wohin willst du gehen?« »Gehen?« Ihr dämmerte, daß er nicht beabsichtigte, die Farm zu verlassen. Der Schock war so groß, daß sie nicht sprechen konnte. Schließlich nahm sie sich zusammen und erkundigte sich langsam: »Sicher hast du doch nicht die Absicht, hier zu leben?« »Warum nicht?« fragte er schnell und sehr defensiv. Die Atmosphäre war inzwischen äußerst gespannt. Und als Julia von einem Mann zum anderen blickte, wurde ihr klar, daß dies die eigentliche Krise der ganzen Geschichte war. Damit hatte sie nicht gerechnet, aber die beiden hatten – bewußt oder unbewußt – daraufgewartet, daß sie es zur Sprache brachte. »Guter Gott«, sagte sie langsam, und Zorn stieg in ihr auf. »Guter Gott.« Sie blickte Tom an, der sofort zur Seite sah. Sie erkannte, daß Tom ängstlich hoffte, sie würde es Kenneth ermöglichen zu bleiben. Endlich begriff sie: Wenn es einem von beiden in den Sinn gekommen war, daß hier keine andere Frau leben konnte, so war keiner von beiden bereit, sich dieser Erkenntnis zu stellen. Sie sah die beiden Männer an und haßte sie dafür, wie sie Frauen in ihr Leben einbezogen, ohne auch nur einen Gedanken oder eine Gewohnheit zu ändern, um ihnen entgegenzukommen. Sie stand auf und ging langsam durch das Zimmer zum Fenster, wendete ihnen den Rücken zu und blickte hinaus in die sternenübersäte Winternacht. Sie sagte: »Kenneth, du heiratest dieses Mädchen, weil du 58
eine Familie haben willst. An ihr liegt dir überhaupt nichts.« »Ich muß sie sehr mögen«, protestierte Kenneth. »Im Grunde deines Herzens liegt dir nichts an ihr.« Er gab keine Antwort. »Du willst sie hierher zu mir bringen. Sie wird vielleicht nicht mit dem Verstand, aber doch instinktiv erkennen, daß sie benutzt wird. Und du bringst sie hierher zu mir.« Sie glaubte, deutlich genug gemacht zu haben, welche Unverschämtheit sie darin sah. Sie drehte sich um und sah die beiden an. »Die Vorstellung, sie ›zu dir‹ zu bringen, erscheint mir offensichtlich weniger schockierend als dir«, erklärte Kenneth trocken. »Siehst du denn nicht?« begann sie verzweifelt, »sie könnte nicht mithalten …« »Du schmeichelst dir«, erwiderte Kenneth heiter. »Oh, das meine ich nicht Ich meine, wir leben schon so lange zusammen. Es gibt nichts, was wir nicht voneinander wissen. Muß ich es sagen …?« »Nein«, erwiderte Kenneth ruhig, »besser nicht.« Tom, dieser große, blonde, gelassene Mann saß die ganze Zeit über zurückgelehnt im Sessel und blickte wie jemand, der sich plötzlich in einem fremden Land befindet, von seiner Frau zu seinem Halbbruder. Er sagte eigensinnig: »Ich sehe nicht ein, warum du dich nicht damit abfinden kannst, Julia. Schließlich mußten Kenneth und ich uns auch damit abfinden …« »Richtig«, stimmte Kenneth ihm schnell zu, »richtig.« 59
Wütend wendete sie sich an Kenneth: »Warum willst du jedes Gespräch so schnell beenden? Weshalb sollen wir nicht darüber reden? Es ist für uns alle doch Realität!« »Es ist sinnlos, darüber zu reden«, sagte Kenneth verdrießlich. »Sinnlos«, wiederholte sie kalt, »sinnlos.« Sie wendete sich ab und kämpfte gegen die Tränen. »Im Grunde lag euch beiden nicht das geringste daran. Das ist es.« Im Moment schien ihr das die Wahrheit zu sein. »Was meinst du mit ›etwas daran liegen‹?« fragte Kenneth. Julia drehte sich langsam nach ihnen um und zog mit einer heftigen Bewegung die leichten Sommervorhänge vor die Sterne. »Ich meine, uns ist es gleichgültig. Uns ist einfach alles gleichgültig.« »Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte Tom verwirrt und ärgerlich. »Warst du nicht glücklich mit mir? Willst du das damit sagen, Julia?« Kenneth und Julia mußten bei seinen Worten lachen. Es war ein nicht zu unterdrückendes, qualvolles Lachen. »Natürlich war ich glücklich mit dir«, sagte sie schließlich knapp. »Also?« fragte Tom. »Ich weiß nicht, warum ich damals glücklich war und jetzt unglücklich bin.« »Sagen wir, du bist eifersüchtig«, warf Kenneth munter ein. 60
»Ich glaube nicht.« »Aber natürlich bist du eifersüchtig.« »Also gut, dann bin ich es. Darum geht es nicht. Was werden wir dem Mädchen antun?« fragte sie und konnte plötzlich ihren Gefühlen Ausdruck verleihen. »Ich werde ihr ein guter Ehemann sein«, verkündete Kenneth. Die drei sahen sich mit hochgezogenen Augenbrauen und belustigt verzogenem Mund an. »Also gut«, räumte Kenneth ein, »aber sie wird eine Menge netter Kinder haben. Sie hat dich, Julia, eine nette, intelligente Frau. Und sie wird viel Geld, hübsche Kleider und all diesen Unsinn haben, wenn sie das will.« Es entstand ein so langes Schweigen, daß es aussah, als könne es nie mehr gebrochen werden. Langsam und gequält sagte Julia: »Ich finde es schrecklich, daß wir nicht in der Lage sein sollen zu erklären, was wir fühlen und was wir sind.« »Ich wünschte, du würdest aufhören, das zu versuchen«, entgegnete Kenneth, »ich finde es unangenehm und ziemlich nutzlos.« Tom sagte: »Ich wäre sehr dankbar, wenn du versuchen würdest zu erklären, was du fühlst. Ich habe keine Vorstellung.« Julia stand mit dem Rücken zum Feuer und begann unsicher: »Sieh uns an. Ich meine, was sind wir wert? Was tun wir überhaupt hier?« »Tun wir wo?« erkundigte sich Tom freundlich. »Hier, in Afrika, in diesem Distrikt, auf dieser Farm.« »Ohhhh«, stöhnte Tom belustigt. 61
»Mein Gott, Julia«, protestierte Kenneth ungeduldig. »Ich habe das Gefühl, wir sollten nicht hier sein.« »Wo sollten wir denn sonst sein?« »Wir haben ebenso das Recht dazu wie jeder andere.« »Vermutlich.« Julia ließ diesen Punkt fallen. Offensichtlich ging es ihr nicht darum. Sie sagte langsam: »Ich nehme an, es gibt im Verhältnis sehr wenig Menschen auf der Welt, die so sicher leben und so reich sind wie wir.« »Es müssen nur ein paar schlechte Ernten oder eine veränderte internationale Lage kommen«, erklärte Kenneth, »und wir können ebenso leicht arm werden, wie wir reich geworden sind … wenn du es als leicht bezeichnen möchtest. Tom und ich haben schwer gearbeitet.« »Das tun viele andere auch, aber wir haben Geld soviel wir wollen. Warum sprechen wir nie über Geld, denken wir nie über Geld nach? Das ist es doch, was wir sind.« »Du sprichst nur von dir, Julia«, sagte Tom, »Kenneth und ich reden und denken den ganzen Tag lang nichts anderes. Was glaubst du, wie wir sonst reich geworden sind?« »Wie man zu Geld kommt, und nicht, was dabei herauskommt.« Die beiden Männer antworteten nicht. Sie blickten sich resigniert an. Kenneth zündete sich eine Zigarette an, Tom eine Pfeife. »In den letzten Tagen habe ich ein Gefühl für Geld 62
bekommen. Vielleicht weniger für Geld, als für …« Sie brach ab. »Ich kann nicht sagen, was ich fühle. Es hat keinen Zweck. Was kommt bei unserem Leben heraus? Das möchte ich gern wissen.« »Was erwartest du von uns zu hören?« fragte Kenneth schließlich neugierig. Das war ein neuer Ton. Julia sah ihn erstaunt an. »Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich. Und dann fügte sie sehr trocken hinzu: »Ich vermute, ich muß die Folgen dafür tragen, euch beide geheiratet zu haben.« Die Männer lachten verlegen, aber doch erleichtert, denn das Schlimmste schien vorüber zu sein. »Wenn ich morgen hier wegginge«, sagte sie traurig, »würdet ihr mich nicht vermissen.« »Ah, du liebst Kenneth«, stöhnte Tom plötzlich. Das Stöhnen kam so unvermittelt, wie der leichtfertige Ton aufgekommen und aufgegriffen worden war, daß Julia es nicht ertragen konnte. Sie sprach langsam und ruhig weiter, um den unverhüllten Schmerz in Toms Stimme zu lindern: »Nein, ich wünschte, du würdest nicht von Liebe sprechen.« »Nur darum geht es«, sagte Kenneth, »um Liebe.« Julia sah ihn verächtlich an. Sie sagte: »Was für Menschen sind wir? Laß uns nackte Worte für nackte Tatsachen benutzen – wenigstens einmal.« »Mußt du das?« fragte Kenneth tonlos. »Ja, ich muß es. Tatsache ist, daß ich für euch beide eine Art hochkarätige Konkubine war …« Sie hielt sofort inne. Selbst der Anfang der Tirade klang in ihren Ohren absurd. 63
»Ich hoffe, die Feststellung hat dir einen klaren Kopf verschafft«, bemerkte Kenneth ironisch. »Nein … das habe ich nicht erwartet.« Doch Julia kämpfte verbissen gegen das Niemandsland der Gefühle, in dem sie so lange gelebt hatte. Sie kämpfte gegen dieses Tiefseeterritorium, wo eine Sache sich mit der anderen vermischt und wo man so leicht im Sog der Strömung sorglos dahintreibt. »Ich hätte Kinder haben sollen«, stellte sie schließlich ruhig fest. »Das war unser Fehler, Tom. Wir hätten Kinder gebraucht.« »Ahh«, sagte Kenneth aus seinem Sessel heraus, und es klang plötzlich völlig aufrichtig: »Jetzt wirst du vernünftig.« »Nun«, sagte Tom, »uns hindert nichts daran.« »Ich bin zu alt.« »Andere Frauen bekommen mit vierzig auch noch Kinder.« »Ich bin zu … müde. Mir scheint, um Kinder zu haben, braucht man …« Sie schwieg. »Was braucht man?« fragte Tom. Julia begegnete Kenneths Blick. Sie sahen sich in tiefem, ironischem, geduldigem Verständnis an. »Gott sei Dank hast du nicht mich geheiratet«, sagte er plötzlich. »Du hast völlig recht: Tom ist der Mann für dich! In einer Ehe ist es notwendig, daß einer stark genug ist, die Illusion zu schaffen.« »Welche Illusion?« fragte Tom verdrießlich. »Die Notwendigkeit«, erwiderte Kenneth schlicht. »Ist das der Dienst, den dieses Mädchen dir erweisen soll?« fragte Tom. 64
»Genau. Sie liebt mich. Gott helfe ihr. Sie liebt mich wirklich, verstehst du …« Kenneth sah die beiden an, als fordere er sie auf, sein Staunen über diese Tatsache mit ihm zu teilen. »Und sie will Kinder. Sie weiß, weshalb sie Kinder will. Sie wird dafür sorgen, daß ich es auch weiß. Gott segne sie dafür. Die meiste Zeit …« Er konnte es sich nicht verkneifen, das hinzuzufügen. Jetzt schien es unmöglich, weiter zu reden. Sie schwiegen. Und aus jedem Gesicht sprach müdes, ratloses Unglück. Julia lehnte am Kamin und spürte, wie die Wärme des Feuers über ihren Körper strömte, doch die Kälte in ihr nicht erreichte. Kenneth faßte sich zuerst. Er stand auf und sagte: »Zeit, ins Bett zu gehen … für uns alle. Das hilft nicht. Wir dürfen nicht reden. Wir müssen weitermachen, uns mit den nächsten Dingen beschäftigen.« Er sagte gute Nacht und ging zur Tür. Dort drehte er sich um, sah Julia mit seinen schwarzen, wachsamen, intelligenten Augen an und bemerkte: »Du mußt nett zu diesem Mädchen sein, Julia.« »Du weißt sehr gut, ich kann ›nett‹ zu ihr sein, aber für sie werde ich nicht ›nett‹ sein. Du setzt sie dem bewußt aus. Du ziehst nicht einmal zwei Meilen weiter auf die nächste Farm. Du gibst dir nicht einmal soviel Mühe, um sie glücklich zu machen. Vergiß das nicht!« Kenneth wurde rot und sagte hastig: »Ich habe nicht behauptet, ich würde nicht auf die andere Farm ziehen.« Damit ging er hinaus. Julia wußte, daß sie alle vier sehr unglücklich werden mußten, ehe er einem 65
Umzug zustimmen würde. Er betrachtete dieses Haus als sein Zuhause und konnte es selbst jetzt nicht ertragen, Tom zu verlassen. »Komm her«, sagte Tom sanft, nachdem Kenneth das Zimmer verlassen hatte. Julia ging hinüber und setzte sich zu ihm in den Sessel. »Findest du mich dumm?« fragte er. »Nicht dumm.« »Sondern?« Sie drückte ihn an sich. »Lege deine Arme um mich.« Er hielt sie fest; doch sie fühlte sich nicht gehalten. Seine Arme waren so leicht wie der Wind und ebenso unverläßlich. Mitten in der Nacht stand sie auf, warf sich den Morgenmantel über und ging durch die windigen Flure zu Kenneths Schlafzimmer am anderen Ende des Hauses. Es lag im hellen Mondlicht. Kenneth saß aufrecht in den Kissen. Er war wach; sie sah das Licht in seinen Augen glänzen. Julia setzte sich ans Fußende des Bettes. »Julia? Es ist nicht gut, daß du zu mir kommst.« Sie gab keine Antwort. Das verwirrende, diffuse Licht des Mondes, der direkt vor dem Fenster hing, beunruhigte sie. Sie hielt ein Streichholz an die Kerze und beobachtete, wie der warme gelbe Schein sich im Zimmer ausbreitete und den Mond zurückdrängte, bis er nur noch eine kleine, harte glänzende Münze war, die hoch oben zwischen den Sternen hing. 66
Auf der Kommode entdeckte sie ein neues, gerahmtes Foto. »Wenn man eine Frau erwirbt«, sagte sie ironisch, »erwirbt man natürlich auch ein Bild, um es auf die Kommode zu stellen.« Sie ging hinüber, nahm es in die Hand und kam zum Bett zurück. Kenneth beobachtete sie aufmerksam. Langsam breitete sich auf Julias Gesicht ein mitleidiges Lächeln aus. »Was ist?« erkundigte Kenneth sich schnell. Sie war keine dreiundzwanzig; das konnte Julia sehen. Sie war weit über dreißig und hatte ein hübsches, sehr englisches Gesicht – ein breites, flächiges Gesicht mit kleinen Zügen. Die blonden Haare waren sorgsam eingelegt und aus der Stirn frisiert. Angst sprach aus diesen zu ernsten Augen; der Mund lächelte mit einer sorgfältig für den Fotografen aufgesetzten Lieblichkeit; sie hatte zarte Wangen. Julia hielt das Foto ins Licht und sah die Fältchen und Linien am Hals. Nein, sie war keineswegs ein junges Mädchen. Julia sah Kenneth an, und langsam erfüllte sie eine süße, irrationale Zärtlichkeit für ihn, eine köstliche, verantwortungslose Fröhlichkeit. »Oh«, stellte sie fest, »du bist also doch verliebt, Kenneth.« »Wer hat behauptet, ich sei es nicht?« Er lächelte breit, lehnte sich in die Kissen zurück, zog an der Zigarette und beobachtete sie wachsam. Sie lächelte ihm liebevoll zu, immer noch von dieser Woge der Freude getragen. Dann wendete sie sich 67
ab und spürte sie verebben, als sie auf das Bild hinunterblickte. In Gedanken begrüßte sie diese andere müde Frau, die wie das arme Mädchen im Märchen auf die große, reiche Farm kam. »Worüber amüsierst du dich?« fragte Kenneth vorsichtig. »Ich habe mir dich als einen Zufluchtsort vorgestellt«, erklärte sie trocken. »Ich bin durchaus bereit, das zu sein.« »Du wirst niemals jemandem Zuflucht bieten.« »Dir nicht. Aber du vergißt, sie ist jünger.« Er lachte. »Sie ist nicht so kritisch.« Julia lächelte ohne zu antworten und betrachtete das Gesicht der Frau. Es war ein so humorloses, ernstes und aufrichtiges Gesicht mit ernsthaften suchenden Augen. Julia seufzte. »Ich bin schrecklich müde«, erklärte sie und wendete sich wieder Kenneth zu. »Ich weiß. Und ich bin es auch. Deshalb heirate ich.« Julia besaß eine klare Vorstellung von dieser Engländerin, die bald auf die Farm kommen würde. Einen Moment lang gab sie einer Regung nach und stellte sie sich in verschiedenen Situationen vor – wie sie nervös und taktvoll hier ankam, wie sie ihre Sehnsucht nach einem eigenen Heim unterdrückte, wie sie hoffte, in Julia keine Feindin zu finden. Sie würde keinen Streit, keine Feindseligkeit und Szenen erleben – keine der Situationen, auf die sie sich vielleicht eingestellt hatte. Sie würde auf drei Menschen treffen, die 68
sich so gut kannten, daß sie es die meiste Zeit über kaum notwendig fanden, miteinander zu sprechen. Ihr würde eine Gleichgültigkeit allem gegenüber begegnen, was sie eigentlich war – eine bewußte, beabsichtigte Freundlichkeit. Sie würde wie ein Gast sein, der zu spät zu einer Party kommt und einen Raum betritt, in dem die Stunden der Wärme und Intimität alle bereits fest miteinander verbunden haben. Sie würde hilflos Kenneths Bedürfnis ausgeliefert sein, ihm etwas zu geben, was sie nicht sein konnte: eine junge Frau mit der geistigen Kraft, ihn zu heilen. Julia blickte auf das hübsche Mädchen auf dem Foto in ihren Händen und sah unter der hübschen Oberfläche die ängstliche, gejagte Frau. Dabei kam ihr das Wort in den Sinn, nach dem sie suchte: Diese Lippen mit dem aufgesetzten Lächeln schienen das Wort zu formen. »Weißt du, was wir sind, Kenneth?« »Keine Ahnung«, erwiderte er fröhlich. Julia akzeptierte das Wort »böse« von dieser humorlosen, heimatlosen Frau. Zweimal in ihrem Leben war es ihr begegnet – diesmal nahm sie es dankbar an. Schließlich wurde ihr kein anderes angeboten. »Ich weiß, was böse ist«, sagte sie zu Kenneth. »Wie schön für dich«, erwiderte er ungeduldig. Dann fügte er hinzu: »Ich glaube, du fängst jetzt wie die meisten Frauen, die ihr eigenes Leben geführt haben … was immer das auch bedeutet … an, ein übertrieben strenges Gewissen zu entwickeln. In diesem Fall werden wir dich beide sehr langweilig finden.« 69
»Tue ich das?« fragte sie und dachte darüber nach. »Ich glaube nicht.« Er sah sie ernst an: »Geh ins Bett, meine Liebe, und hör auf, dir Gedanken zu machen. Bist du bereit, etwas dagegen zu unternehmen? Das bist du nicht … oder? Also hör auf, uns alle wegen unmöglicher Dinge unglücklich zu machen. Wir fuhren ein angenehmes Leben, wenn wir es so nehmen, wie es ist. Es ist nie sehr lustig, das Schlußlicht zu sein, doch selbst das hat seinen Reiz.« Julia hörte lächelnd ihre eigenen Worte: »Hübsch, wie du das sagst.« Damit verließ sie das Zimmer.
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»Sie sah die beiden Männer an und haßte sie dafür, wie sie Frauen in ihr Leben einbezogen, ohne auch nur einen Gedanken oder eine Gewohnheit zu ändern, um ihnen entgegenzukommen.« 29
ISBN 3-608-95297-7