GÜNTHER FEUSTEL
Wir aus der 2 a
Illustrationen von Erich Gürtzig
DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN
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GÜNTHER FEUSTEL
Wir aus der 2 a
Illustrationen von Erich Gürtzig
DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN
Alle Rechte vorbehalten Printed in the German Democratic Republic Lizenz-Nr. 304-270/27/61 -(30-1II B)
Satz und Druck: VEB Landesdruckerei Sachsen, Dresden I. Auflage ES 9 D 1 Für Leser von 7 Jahren an
… und das muß zuerst gesagt werden
Ich heiße Elke. Mein großer Bruder Uwe sagt immer: „Das verstehst du nicht – du bist ja nur ein Mädchen!“ Und wenn seine Freunde in der Nähe sind, spricht er nicht gern mit mir. Gestern habe ich meinem Freund Micha gezeigt, wie er sein Pioniertuch waschen und plätten muß. Da hat er gesagt: „Fein, daß du ein Mädchen bist, Elke!“ Deshalb weiß ich nicht genau, ob es nun gut oder schlecht ist, ein Mädchen zu sein. Das ist auch gar nicht wichtig – glaube ich. Denn in unserer Klasse sind sechzehn Jungen und zwölf Mädchen und wir alle zusammen sind die 2a. Zu uns gehören noch Frau Gräbner, unsere Klassenlehrerin, die Katze Schneeflocke, der Goldfisch Fridolin und eine Zimmerlinde. Ein bißchen auch noch Oma Friedrich, für die wir manchmal einholen gehen, weil sie so schlecht laufen kann. Und dann noch fünfzehn Bänke, eine große Tafel, ein Bücherregal und ein Fleck an der Wand, über den wir die Wandzeitung gehängt haben. Das alles gehört zu uns. Wir gehen gern zur Schule – alle sechzehn Jungen und alle zwölf Mädchen. Und wer uns das nicht glaubt, der soll nur auf den nächsten Seiten einmal lesen, was wir alles erlebt haben – wir aus der 2a.
Wie wir die 7 a besiegten
Manchmal gibt es ärgerliche Tage. So ein ärgerlicher Tag war neulich. Er fing schon am Morgen an. Als ich zur Schule wollte, konnte ich meinen Rechenkasten nicht finden. Und als ich ihn endlich gefunden hatte, da riß mir der Riemen von meiner Stullentasche, und ich mußte die Tasche zu Hause lassen. In der Schule bekam ich eine Drei von Frau Gräbner, weil ich das Gedicht vom roten Apfel nicht gut aufsagen konnte, und mittags gab es zu Hause auch noch weiße Bohnen. Was war das nur für ein ärgerlicher Tag! Als Micha nach dem Mittagessen kam und mich zum Spielen holte, dachte ich, der ärgerliche Tag wäre nun vorbei. Micha brachte Rosi mit und Werner, und wir gingen alle zum Bach und ließen unsere Papierschiffchen schwimmen, die wir in der Schule gefaltet hatten. Das war lustig. Mein Schiffchen kam als erstes bis an die kleine Brücke. Wir brachen Schilfhalme ab und wollten unsere Schiffchen wieder an das Ufer holen. Gerade da rumpelte und pumpelte es auf dem Weg neben dem Bach. Es war mein großer Bruder Uwe und der dicke Borgert und noch ein paar Große aus der 7a. Sie zogen einen Handwagen und hatten eine alte Pumpe und verrostete Eisenstucke geladen. „Was
wollt ihr denn mit dem alten Gerumpel?“ fragte Micha sofort, denn er ist immer neugierig. Uwe blieb stehen und der Handwagen auch. „Das ist Schrott und kein Gerumpel“, sagte Uwe entrüstet. „Aber davon versteht ihr Knirpse natürlich nichts.“ So redete Uwe immer. Das ärgerte mich sehr. Denn eigentlich sind wir aus der 2a auch schon ziemlich groß – das finde ich. Und weil ich mich den ganzen Tag über schon geärgert hatte, zeigte ich meinem Bruder einen Vogel und sagte: „So dumm können nur große Jungen sein und einen Handwagen mit Gerumpel spazierenfahren.“ Der dicke Borgert lachte mich einfach aus, und die anderen Großen lachten mit. Rosi zog mich heimlich am Rock und wollte davonlaufen. Da sagte Uwe: „Für Schrott gibt es Geld, und das spenden wir für unsere neue Turnhalle. Aber das versteht ihr nicht – ihr Säuglinge!“ „Pah! Selber Säuglinge!“ sagte Werner entrüstet, und wir sagten alle „Pah!“, weil uns nichts anderes einfiel. Die Großen aber zogen mit dem Handwagen und dem Gerumpel davon. „Das ist eine Beleidigung“, rief Micha wütend. Und das fanden wir auch. Denn Frau Gräbner sagte immer, daß wir schon tüchtige Schüler und Pioniere seien, auf die man sich verlassen kann.
Am nächsten Tag erzählten wir alles in der Klasse – das von den Säuglingen, dem Schrott und der neuen Turnhalle. Da ärgerten sich die anderen auch. „Die Großen sind immer so frech“, sagte Rosi. „Und auch so eingebildet“, . rief Günther laut dazwischen.
Gerade da kam Frau Gräbner in die Klasse. Sie sah uns an und schüttelte den Kopf. „Aber Günther – wenn jeder in der Schule so schreien wurde wie du, gäbe es einen Lärm, daß die Türen und Scheiben zitterten.“ Günther wurde erst ein bißchen rot und verlegen, aber dann sagte er. „Ach, Frau Gräbner, wir haben uns nur über die Großen geärgert.“ Und nun erzählte er, was wir gestern am Bach erlebt hatten. Frau Gräbner setzte sich an den Lehrertisch und wartete, bis wir ruhig auf unseren Plätzen saßen. Dann begann sie zu sprechen. Wenn Frau Gräbner etwas erklärt, dann ist das plötzlich ganz einfach zu verstehen. So ist das immer! Nun fanden wir es alle fein, daß wir eine neue Turnhalle bekommen sollten. Und es war auch richtig, daß die Großen Schrott dafür sammelten. Aber daß sie Säuglinge zu uns sagten und immer so angaben, nur weil sie ein bißchen größer waren – das fanden wir nicht nett. Da sprang Werner auf und rief: „Frau Gräbner, ich weiß es. Wir schreiben den Großen einen Brief, daß wir auch für unsere neue Turnhalle sammeln wollen.“ Günther meldete sich. „Und diesen Brief … und diesen Brief kleben wir den Großen an die Klassentür, damit es alle lesen können, jawohl“, sagte er und stotterte ein wenig. Jetzt meldete sich auch Micha. „Das ist fein! Aber wir schreiben erstens, zweitens, drittens und viertens auf den Brief.“ Da wußte Frau Gräbner nicht, was
Micha meinte. Und wir wußten es auch nicht, aber Micha wußte es genau: „Wir schreiben – erstens: Wir wollen hundert Mark für unsere neue Turnhalle spenden.“ „Hundert Mark?“ rief Rosi und hielt sich die Hand vor den Mund. Ich war auch erstaunt. Ich stieß Micha an und fragte: „Hundert Mark?“ Aber Micha sah Frau Gräbner an und sagte: „Jawohl – hundert Mark für unsere neue Turnhalle. Und zweitens soll das Geld von uns selbst verdient werden, und drittens sollen die Großen aus der 7a auch hundert Mark sammeln und viertens und viertens…“ Micha überlegte ein wenig, und dann sagte er schnell: „Und viertens wollen wir zuerst die hundert Mark zusammenhaben – wir aus der 2 a.“ Da rief Werner laut: „Jawohl – wir wollen zuerst fertig sein!“ Nun wurde es sehr laut in unserer Klasse, weil wir es alle so schön fanden, daß wir zuerst die hundert Mark zusammenbekommen wollten. Frau Gräbner klopfte mit dem Bleistift auf den Tisch. Wir setzten uns wieder auf unsere Plätze, und nun besprachen wir alles ganz ruhig miteinander. Und Frau Gräbner sagte uns, daß wir einen Wettbewerb mit der 7a machen wurden. Schon am nächsten Morgen hing ein großes Schild an der Tür der 7a. Und darauf stand unser Erstens, Zweitens, Drittens und Viertens. Frau Gräbner hatte uns beim Aufschreiben geholfen. Schon in der großen Pause hatten wir eine Antwort.
Auf dem Schulhof waren die Großen aus der 7a nicht mehr so frech zu uns, weil wir doch einen Wettbewerb mit ihnen hatten. Aber sie sagten immer noch: „Euch Knirpse stecken wir alle zusammen in einen einzigen Kartoffelsack.“ Eigentlich hatten wir ein bißchen Angst, weil doch hundert Mark viel Geld sind. Und deshalb fingen wir gleich am Nachmittag mit dem Wettbewerb an. Als wir uns zum Spielen am Bach getroffen hatten, sagte Rainer: „Wenn ich nur wußte, woher wir die hundert Mark bekommen?“ Wir überlegten. Da kam Günther auf einen guten Gedanken. „Wir gehen zum Bürgermeister. Ein Bürgermeister muß doch alles wissen. Und er weiß bestimmt auch, wie man hundert Mark zusammenbekommt.“ Das sahen wir ein. Wir holten schnell noch Anita, Christel und Hans-Jürgen ab, und dann gingen wir zum Bürgermeister. Der Bürgermeister staunte sehr, als er uns alle sah. Er hätte wenig Zeit, sagte er. Aber als er von den hundert Mark gehört hatte und von unserer neuen Turnhalle, lachte er. „Ich habe gerade eine Arbeit für euch, aber…“, und er sah uns alle prüfend an, „… die muß sehr ordentlich und sauber gemacht werden.“ Wir nickten und kamen uns schon sehr groß vor – beinahe so groß wie die Großen aus der 7a. Da brachte uns der Bürgermeister zu Herrn Kienast. Herr Kienast gab uns einen Topf mit Leim, einen großen
Pinsel und viele Plakate dazu. Er sagte uns genau, wo wir die Plakate ankleben sollten. Was waren das für hübsche, bunte Plakate! Wir zogen los. Werner und Günther trugen die Plakate, Rosi und ich hielten vorsichtig den großen Leimtopf, und Micha schwenkte den dicken Leimpinsel hin und her. Er ärgerte uns ein bißchen damit und wollte uns die Nasen mit Leim bestreichen. Wir klebten die Plakate überall an – ganz genau und sehr ordentlich. Ich glaube, wir waren die besten Plakatkleber der Welt. Da kamen mein Bruder Uwe und der dicke Borgert vorbei. Als sie sahen, daß wir Plakate anklebten, blieben sie stehen. Uwe sagte: „Laßt uns auch ein Plakat ankleben!“ „Nein“, sagte ich. „Nein, das kann nicht jeder.“ Micha drängte den dicken Borgert zur Seite. „Geh weg hier!“ Er tunkte den Pinsel tief in den Leimtopf und strich über den Pfahl, bis er vor lauter Leim glänzte. Werner drückte ein Plakat darauf. Uwe und der dicke Borgert liefen noch lange hinter uns her. Sie waren richtig neidisch, daß sie keine Plakate ankleben durften. Der Bürgermeister gab uns für das Plakatkleben drei Mark. Am nächsten Morgen standen wir alle ganz still, als Frau Gräbner in die Klasse kam. Rosi ging nach vorn und legte die drei Mark auf den Tisch. „Das ist für unsere neue Turnhalle!“ sagte sie. Uns allen war dabei sehr feierlich zumute. Frau Gräbner
freute sich, aber sie sagte: „Wir wollen doch lieber zusammen beraten, wie wir das Geld verdienen können.“
Wir besprachen es gleich in der nächsten Pause. Um unsere kleine Stadt herum wachsen viele Eichbäume. Am Nachmittag gingen wir mit Körben und Taschen
und drei Handwagen los und sammelten alle Eicheln auf. Wir verkauften sie an unsere LPG, damit es viele fette Schweineschinken gibt. Wir bekamen dafür zweiundzwanzig Mark und noch dreißig Pfennige dazu. Weil ich so stolz darauf war, sagte ich beim Abendbrotessen zu meinem Bruder Uwe: „Ätsch – wir haben schon fünfundzwanzig Mark zusammen und noch dreißig Pfennige dazu!“ Da machte Uwe sein hochmütiges Gesicht. „Na ja, ihr Knirpse, aber wir haben schon zweiunddreißig Mark.“ Ich sagte nichts mehr, aber wie habe ich mich geärgert! Ich erzählte es gleich am nächsten Tag in unserer Klasse. Da ärgerten sich die anderen auch. Wir ärgerten uns noch mehr, weil es uns an diesem Tag nicht gelingen wollte, mehr Geld zusammenzubekommen. Von den Großen konnten wir nachmittags auch nicht erfahren, wieviel Geld sie schon zusammen hatten. „Vielleicht haben sie schon zweihundert Mark“, sagte Anita. Aber Frau Gräbner half uns. Sie hat immer gute Einfälle. Wir spielten im Kindergarten für die Kleinen Kasperletheater, wir bastelten Kalender und wunderschöne Untersetzer und verkauften sie auf unserem Pioniermarkt. Schließlich fehlten uns nur noch zwölf Mark. Da kam Frank in die Klasse und sagte: „Oma Friedrichs Keller ist ganz mit Gerümpel vollgestopft.“
„Schrott heißt das“, sagte Werner. Doch wir sahen alle zur Tür, durch die Uwe den Kopf steckte: „Na, ihr Knirpse! Wir rechnen morgen schon ab – ganze hundert Mark!“ und schon war er wieder verschwunden. Es gab eine große Aufregung in unserer Klasse. Anita sagte enttäuscht: „Die Großen haben gesiegt, und wir brauchen uns gar nicht mehr anzustrengen.“ Na, wir haben Anita vielleicht ausgeschimpft! Frank sagte wieder: „Jetzt hört mir doch endlich einmal zu! Oma Friedrich will das Gerumpel nicht mehr haben.“ Er bekam rote Ohren vor Aufregung. Es war wirklich viel Schrott in Oma Friedrichs Keller. Wir mußten drei Handwagen volladen mit vielen Flaschen, Lumpen und Papier. Wir fuhren damit zu Herrn Katzbeil, dem Altwarenhändler. Herr Katzbeil rechnete alles zusammen. Micha rechnete mit. Und dann kam es heraus. „Ihr bekommt dreizehn Mark und elf Pfennige dafür.“ „Hurra, wir haben gesiegt!“ riefen wir, und Herr Katzbeil schüttelte verwundert den Kopf. Wir holten gleich das andere Geld und gingen zur Schule. Unser Direktor war noch in seinem Zimmer. Wir legten das Geld auf seinen Schreibtisch. Es waren viele Markscheine und sehr viele Groschen und noch mehr Pfennige – so viel Geld! Als wir alle am Montagmorgen auf dem Schulhof um den Fahnenmast standen, trat unser Direktor vor. Er erzählte von unserem Wettbewerb und auch davon,
daß die 2a gesiegt hatte. Er sagte, daß es alle Klassen der Schule so machen sollten. Dann sagte er noch, daß eigentlich beide Klassen gesiegt hätten, weil die neue Turnhalle allen gehören wird. Wie waren wir stolz! Ich sah zu Uwe hinüber. Er blinzelte mir freundlich zu, und darüber wunderte ich mich. Ich wunderte mich noch mehr, als die Großen aus der 7a in der Pause zu uns kamen und uns gratulierten. Der dicke Borgert sagte: „Was seid ihr für verteufelte Knirpse!“ Er holte eine Tüte mit Hustenbonbons hervor, und wir durften alle einmal hineinfassen. Da sagte Micha: „Wollen wir heute nachmittag nicht zusammen Fußball spielen?“ Die Großen lachten, und Uwe sagte: „Dazu seid ihr viel zu klein, ihr Knirpse.“ Und die Großen gingen einfach davon und ließen uns stehen. „Na, so etwas“, Werner schüttelte ärgerlich den Kopf. Aber Günther schmunzelte. „Die haben bloß Angst, daß wir sie wieder so hereinlegen wie beim Wettbewerb – aufs große Ehrenwort!“ Da lachten wir alle ganz laut.
Wie Teddy Franz zu uns kam
Als wir gerade in die zweite Klasse gekommen waren, mußten wir uns sehr ärgern. Und daran hatten auch die Großen aus der 7a schuld. Mein Bruder Uwe kam nämlich und zeigte uns einen Brief. Der hatte wunderschöne Briefmarken, und es war etwas in einer fremden Schrift darauf geschrieben. Wir standen alle um Uwe herum und wunderten uns. „Das ist ein Brief aus Leningrad – von sowjetischen Pionieren“, sagte Uwe. Und wir staunten, wie weit der Brief gereist war. Da stellten sich Uwes Freunde zu uns, und alle prahlten mit den Briefmarken und den roten Halstüchern, die ihnen die Pioniere aus Leningrad geschickt hatten. Rosi sagte: „Wir schreiben den Pionieren auch einen Brief!“ Darüber lachten die Großen, Sie lachten sehr laut und stießen sich gegenseitig an. Und der dicke Borgert, den ich nicht leiden kann, sagte: „Diese Knirpse! Könnt ihr überhaupt schon Mama und Papa schreiben?“ So sind die Großen immer zu uns. Wir waren sehr beleidigt. Werner stellte sich vor den dicken Borgert hin.
„Pah“, sagte er. „Und wer hat den besten Maiwagen geschmückt und das meiste Altpapier gesammelt?“ Da waren die Großen aber still. Sie gingen einfach weg und ließen uns stehen. Den besten Maiwagen hatten wir nämlich geschmückt, und auch das meiste Altpapier hatten wir gesammelt. Die Großen aus der 7a haben meist nur einen großen Mund. Aber Briefe
aus Leningrad bekamen sie nun wirklich, und wir ärgerten uns, weil wir keine bekamen. „Wir schreiben gleich heute an die sowjetischen Pioniere einen Brief’, sagte Micha, „einen langen Brief.“ Das taten wir auch. Am Nachmittag trafen wir uns alle auf der Wiese hinter der Schule. Wir brachten unsere Tuschkästen mit und die Zeichenblöcke. Dann fingen wir an. Günther malte eine wunderschöne Taube auf seinen Zeichenblock. Sie gefiel uns allen gleich. Anita sagte: „Nun muß Werner darunter einen Brief schreiben. Der kann es am besten!“ Und Micha meinte: „Zuerst schreiben wir ,Liebe Freunde!‘ und dann ,Wir sind die 2a – sechzehn Jungen und zwölf Mädchen – und wir wollen euch einen Brief schreiben!‘“ Werner schrieb. Aber – oh – wie „Brief“ geschrieben wurde, das wußten wir nicht. Manche meinten mit einem „f“ und andere sagten mit einem „v“. Da lief ich schnell zu unserem Hausmeister und fragte ihn. Und der wußte es genau. „Jetzt schreiben wir noch…“, Rosi überlegte ein wenig, „… wir wohnen in Deutschland, und wir spielen gern Verstecken und Greifzeck.“ Aber das war ein zu schwerer Satz, den konnten wir noch nicht schreiben. Nachdem wir lange beraten hatten, stand endlich der Brief auf dem Zeichenblock unter der Taube. Und so sah er aus:
Wir waren sehr stolz auf unseren Brief. Vorsichtig falteten wir ihn zusammen und steckten ihn in einen großen Umschlag und Anitas blaues Halstuch dazu. „Jetzt fliegt er mit dem Flugzeug“, sagte Günther. „Ach Quatsch“, meinte Werner. „Er fährt mit der Eisenbahn, ich weiß es ganz genau. Zuerst durch Deutschland und dann durch Polen und dann durch die Sowjetunion.“
„Ist das eine weite Reise! Hoffentlich geht er nicht verloren.“ Rosi strich vorsichtig über den Umschlag. „Und nun bringen wir ihn gleich zur Post“, meinte Micha. „Es fehlen nur noch die Briefmarken.“ Hinter dem Postschalter saß Frau Wagner. Sie staunte sehr, als wir alle in die Poststube kamen. Frank legte vorsichtig den Brief auf den Schalterrand. Er sagte: „Das ist ein sehr wichtiger Brief, der reist in die Sowjetunion.“ Frau Wagner nahm den Brief in die Hand und drehte ihn hin und her. „Zu wem soll denn der Brief reisen?“ fragte sie. „Zu den Pionieren in die Sowjetunion“, sagte Micha. Frau Wagner sah uns an und lächelte ein wenig. „Aber es gibt doch viele Städte und Dörfer in der Sowjetunion und noch mehr Jungen und Mädchen dazu.“ Da standen wir nun und hatten einen so schönen Brief geschrieben. Und nun konnte der Brief nicht auf die Reise gehen, weil es in der Sowjetunion so viele Städte und Dörfer und noch viel mehr Pioniere gab. Traurig nahmen wir unseren Brief und gingen aus der Poststube. Wir gingen einfach so durch die Straßen, weil wir traurig waren. Wohin sollten wir nur unseren Brief schicken? Als wir am Bahnhof waren, hielt ein Auto an, und ein Mann stieg aus. Es war ein Offizier aus der Sowjetunion. Er nahm seinen Koffer und ging die Treppe zum Bahnhof hinauf.
Micha sah ihm nach. Da sagte er schnell: „Gebt mir den Brief!“ Er rannte hinter dem Offizier her. Und weil wir so neugierig waren, liefen wir alle hinter Micha drein. Der Offizier stand da und kaufte sich eine Zeitung. Micha wurde rot, als er sich neben den Offizier stellte und seine Hand zum Pioniergruß hob. Der Offizier steckte seine Zeitung weg und sah Micha an. „Bist du…vielleicht…ein Vati?“ fragte Micha plötzlich und sah den Offizier an. Ich wunderte mich sehr. Warum fragte Micha so etwas? Der Offizier lächelte. Dann sagte er: „Ja, ich bin ein Vati.“ „Hast du einen Jungen oder ein Mädchen?“ fragte Micha weiter. „Ein Mädchen“, antwortete der Offizier. „Wie alt ist dein Mädchen?“ fragte Micha. „Walja ist neun Jahre alt“, sagte der Offizier. „Au fein!“ rief Micha, und er zappelte mit den Händen. Das macht er immer, wenn er aufgeregt ist. „Da!“ sagte Micha und gab dem Offizier unseren Brief. „Das ist für deine Walja von uns allen.“ Der Offizier sah zuerst den Brief an und dann uns. Dann aber lachte er. „Ach – so ist das!“ Da rollte der Zug in den Bahnhof, und der Offizier stieg ein. Wir winkten alle, und der Offizier winkte zurück.
Der Zug wurde immer kleiner, und dann war er verschwunden und unser Brief auch. Wir gingen nach Hause. Am nächsten Tag sprachen wir nur noch von unserem Brief. Wir dachten darüber nach, was Walja wohl für ein Mädchen sei.
Einige Mädchen glaubten, sie hätte Zöpfe, aber ich meinte, sie habe einen Pferdeschwanz – genauso wie ich. Rosi sagte: „Man kann nicht genau wissen, ob sie nicht auch eine Brille trägt.“ Jeden Tag fragten wir unseren Hausmeister nach einem Brief für uns. Aber es kam kein Brief. Und da vergaßen wir bald, nach dem Brief zu fragen, und Walja vergaßen wir dazu. Eines Tages, als wir gerade rechneten, klopfte es an unsere Klassentür. „Huuu – das ist der Weihnachtsmann“, flüsterte Werner. Werner ist immer gleich so frech. Natürlich war es nicht der Weihnachtsmann, denn es war ja erst Oktober. Es war Herr Lubenow, der Postbote. Er ist der Vati von Christiane. Er legte ein Päckchen auf den Lehrertisch und sagte: „Das Päckchen ist für die 2a.“ Wir standen alle auf und machten lange Hälse. Denn wir wollten sehen, was auf dem Päckchen stand. Da schimpfte Frau Gräbner ein wenig mit uns, und wir setzten uns alle wieder hin. Aber neugierig waren wir doch. Ich glaube, Frau Gräbner war es auch. Sie ärgert sich sonst immer, wenn uns jemand stört. Aber jetzt begann sie gleich das Päckchen aufzuknüpfen. Vorsichtig löste sie das Papier. Eine Pappschachtel kam hervor. Frau Gräbner hob den Deckel hoch. „Na, so etwas“, sagte sie erstaunt. Da standen wir alle auf und versuchten in die Schachtel hineinzusehen. In der Schachtel lag ein weißer Teddybär und daneben ein Brief und darauf ein rotes Halstuch. Jetzt
liefen wir alle nach vorn, und Frau Gräbner schimpfte nicht einmal darüber. Den Brief beachteten wir gar nicht, weil wir erst alle den weißen Teddybären streicheln mußten. Da sagte Frank: „Der sieht beinahe aus wie mein Franz.“ Und wir fanden, daß Franz ein sehr schöner Name für einen weißen Teddybären war. Und so kam Teddy Franz zu uns in die 2a. „Was ist denn das für ein Brief?“ rief Werner. „Den kann ich ja gar nicht lesen.“ Frau Gräbner nahm den Brief in die Hand. „So schreiben sowjetische Kinder. Und der Brief kommt von Walja aus Omsk.“ Nun las uns Frau Gräbner den Brief so vor, daß wir ihn verstehen konnten. Wie sie das nur machte? In dem Brief stand: „Liebe Pioniere aus der Klasse 2a! Ich heiße Walja, und mein Vati hat mir euren Brief geschickt. Meine Lehrerin hat ihn vorgelesen, und alle Kinder in meiner Klasse haben zugehört. Wir sind einundzwanzig Mädchen, und wir wollen euch jetzt immer schreiben.“ „Och“, sagte Werner enttäuscht, „und kein Junge ist dabei.“ „Nun sei doch endlich still“, schimpfte Micha. Dann schrieb Walja noch, daß sie uns den weißen Teddybären schenkt, und wir sollten damit spielen. Gleich in der großen Pause zeigten wir allen auf dem Schulhof unseren Teddy Franz aus Omsk – zuerst aber den Großen aus der 7a.
Und die sagten kein Wort. Sicherlich ärgerten sie sich sehr, weil sie keinen Teddy Franz haben.
Der Weihnachtsbaumwald in Oma Friedrichs Garten
Es war zwei Wochen vor Weihnachten. Auf unserem Marktplatz stand schon die große Tanne mit den vielen Lichtern. Da hatten wir Pioniernachmittag. Wir saßen in unserer Klasse und kosteten von den Pfefferkuchen, die Micha selbst gebacken hatte. Rosi sagte: „Ich wünsche mir zu Weihnachten eine große Babypuppe und einen Puppenwagen dazu.“ Sie seufzte ein wenig und überlegte. „Dann wünsch ich mir für meine Puppenstube noch eine Kuckucksuhr, die richtig Kuckuck ruft.“ „So ein Weiberkram“, sagte Werner verächtlich und winkte mit der Hand. „Ich wünsche mir eine neue Lokomotive für meine elektrische Eisenbahn.“ „Ooh“, sagte Micha da ganz schnell, „ich wünsche mir noch einen Goldhamster und eine Schildkröte und einen Kanarienvogel…“ „Wünsch dir doch gleich einen ganzen Zoo“, sagte ich. Und wir lachten alle, denn wir wußten, daß Micha schon einen halben Zoo in seinem Zimmer hatte – ein Aquarium, einen Hund, ein Meerschweinchen, einen Goldhamster und eine zahme Elster. So redeten wir alle durcheinander, man
konnte überhaupt nichts mehr verstehen. Da sagte Günther: „Mir ist gerade etwas eingefallen!“ Und weil Günther die lauteste Stimme von uns allen hat, wurden wir still und hörten ihm zu. „Was wünscht sich wohl Oma Friedrich?“ sagte Günther. „Und dann – wer schenkt es ihr?“ Wir waren sehr verwundert, denn an Oma Friedrich hatten wir wirklich nicht gedacht. Anita sagte: „Oma Friedrich hat doch nur uns. Wer sollte ihr denn da etwas schenken?“ „Bist du aber dumm“, rief Werner empört, „wir müssen ihr etwas schenken – wir!“ „Hmm“, machte Ralph. „Ich werde einen Kalender kleben, und dann gehe ich zu Oma Friedrich und gratuliere von der ganzen Klasse zu Weihnachten.“ Wir wurden mächtig wütend, denn Ralph drängelt sich immer vor. Er möchte auch alles allein machen. „Ich gehe hin“, sagte Günther. „Nein – ich“, rief ich schnell, „ich… ich… ich!“ Aber ich konnte nicht mehr hören, was die anderen sagten, denn die Tür ging auf, und Frau Gräbner kam in die Klasse. Sie tat sehr geheimnisvoll und legte ein Päckchen auf den Tisch. „Von unseren Brieffreunden aus Omsk!“ sagte sie. Vorsichtig machten wir das Päckchen auf. Und – oh! – da lag ein Väterchen Frost in einem grünen Pelzmantel. Behutsam stellte ihn Frau Gräbner auf den Tisch. Er fing leise an zu schaukeln auf seinen
runden Schuhen, und eine ganz feine Musik klang dazu. Rosi tippte sacht mit dem Finger an den Bauch von Väterchen Frost. Und wieder wippte er, und die leise Musik spielte dazu. Wir vergaßen alles – unsere Weihnachtsgeschenke und Oma Friedrich und auch, was wir gesagt hatten. Dann las uns Frau Gräbner wunderschöne Geschichten vor. Dazwischen ließen wir leise Väterchen Frost auf seinen Füßen schaukeln und hörten der feinen Musik zu. So schön war es an unserem Pioniernachmittag. Als wir aus der Schule kamen, schneite es überall lag dicker weißer Schnee. „Feine Sache!“ rief Micha und machte einen Luftsprung. Dann griff er mit beiden Händen in den Schnee hinein und warf ihn Günther in das Gesicht. Aber der lachte bloß und wir auch. So froh waren wir über den Schnee. Manchmal kommt alles Schöne auf einmal zusammen. So war es auch an diesem Nachmittag, zwei Wochen vor Weihnachten. Als wir nämlich am Konsumgeschäft vorbeikamen, wurden gerade Weihnachtsbäume abgeladen – große und kleine und ganz kleine. Alle hatten ihre Zweige dicht an den Stamm gepreßt und sahen aus wie grüne Stangen. Aber Herr Peisker vom Konsumgeschäft nahm die grünen Stangen und stieß sie auf den Boden. Da breiteten sie alle ihre Zweige aus, und mit einem Male waren es richtige Weihnachtsbäume. Wir standen und staunten.
Da kam Rosis Mutti. „Komm, Rosi, wir wollen gleich einen Weihnachtsbaum kaufen“, sagte sie. Und wir suchten alle einen großen dicken Weihnachtsbaum für Rosi aus. Rosi faßte die Spitze an, und ihre Mutti trug den Stamm. Wir aber standen noch lange bei den Weihnachtsbäumen. Günthers Vati kam noch und Ralphs große Schwester, und alle kauften einen Weihnachtsbaum. Plötzlich waren nur noch Micha und ich allein da und natürlich noch die Weihnachtsbäume und Herr Peisker, der sie verkaufte. Neben dem Fahrradständer stand ein Baum, den wir sehr gern hatten, weil er so klein war. Und wir hatten Angst, daß ihn jemand kaufen würde. Micha sagte plötzlich: „Du, Elke, das ist der Weihnachtsbaum für Oma Friedrich.“ „Haha“, lachte ich. „Woher willst du das wissen?“ „Ich weiß es“, sagte Micha, und dabei blieb er. Er nahm den kleinen Baum und trug ihn zu Herrn Peisker. „Was kostet der kleine Baum?“ fragte Micha. „Eine Mark“, sagte Herr Peisker. „Eine Mark, soviel Geld?“ staunte Micha. Herr Peisker nickte. Ratlos sahen wir uns beide an. „In meinem Sparschwein steckt noch eine halbe Mark“, sagte Micha. Ich überlegte. „Und ich habe noch dreißig Pfennige.“ Wir liefen schnell und holten das Geld. Und Micha gab es Herrn Peisker. Herr Peisker sah sich noch einmal den kleinen Baum genau an. „Ich glaube, ich habe mich geirrt. Er kostet hur achtzig Pfennige, weil er für Oma Friedrich ist.“
Da hopsten wir vor Freude, und ich rutschte aus und setzte mich in den Schnee. Aber das machte nichts – wir hatten ja den Weihnachtsbaum.
Wir versprachen uns, niemandem etwas von Oma Friedrichs Weihnachtsbaum zu erzählen – auch nicht unserer Klasse. Wir bastelten beide Sterne und
Körbchen aus Stroh, bunte Ketten und Weihnachtsbäumchen aus Glanzpapier und hängten alles an den kleinen Baum. Es wurde der schönste Weihnachtsbaum, den es gab – das fanden wir jedenfalls. Nun will ich gleich erzählen, wie es am 24. Dezember war. Kaum war es draußen dunkel geworden, klopfte es an unsere Haustür. Ich öffnete. Ein Weihnachtsmann stand draußen – ein ganz kleiner. Er war nur ein bißchen größer als ich. „Wohnt hier vielleicht meine freche Freundin Elke?“ fragte er mit tiefer Stimme. Da mußte ich lachen, denn nun wußte ich genau, wer der kleine Weihnachtsmann war. Und Micha lachte auch. Ich zog schnell meine Schuhe an und setzte meine’ Regenkapuze auf. Dann band ich mir einen Weihnachtsmannbart um. Ich versuchte ganz tief zu sprechen. Aber da lachte Micha und sagte, ich wäre eben doch nur eine Weihnachtsfrau – aber das war ja nun egal. Oma Friedrich würde sich gewiß auch über eine Weihnachtsfrau freuen. Wir zogen los. Ich trug unseren kleinen Baum, und Micha schleppte einen Sack auf dem Rücken. Darin lagen Kekse, die wir selber gebacken hatten. Als wir vor Oma Friedrichs Tür standen, bollerten wir dagegen, wie das richtige Weihnachtsmänner immer tun. Oma Friedrich öffnete die Tür. Und ich sagte mit ganz tiefer Stimme: „Hier kommen zwei Weihnachtsmänner!“
„Eine Weihnachtsfrau und ein Weihnachtsmann“, verbesserte Micha sofort. Oma Friedrich lachte. „Das ist ja eine Überraschung! Ihr seid also Nummer sieben und Nummer acht.“ „Warum sind wir Nummer sieben und Nummer acht?“ fragte ich neugierig und vergaß, daß ich eigentlich eine Weihnachtsfrau war. Aber Oma Friedrich lachte nur wieder und machte die Tür zu ihrer Wohnstube auf. Neugierig guckten wir hinein. „Verflixtes Donnerblech!“ sagte Micha. So etwas darf ja eigentlich ein Weihnachtsmann nicht sagen, nicht wahr? In der Wohnstube saßen sechs Weihnachtsmänner rund um den Tisch herum, und vier kleine Weihnachtsbäume standen im Zimmer. Unser Baum war der fünfte. Auf dem Tisch lagen Pfefferkuchen und ein paar Handschuhe und eine große Rosinenstolle. Die Weihnachtsmänner sahen uns sehr wütend an und wir sie auch. Aber kaum hatten wir uns an den Tisch gesetzt, da klopfte es schon wieder. Kurz danach kam Oma Friedrich mit einem Schneeflöckchen zurück und mit einem Zwergen dazu. Das Schneeflöckchen war die dicke Anita, das konnte man gleich sehen. Der Zwerg trug einen kleinen Weihnachtsbaum. „Verflixtes Donnerblech!“ schimpfte der Weihnachtsmann Micha wieder. Aber ich mußte lachen und konnte gar nicht mehr aufhören. Da lachten die anderen Weihnachtsmänner auch. Und
Oma Friedrich lachte so, daß sie ihre Brille putzen mußte. Beinahe hätten wir nicht gehört, daß es schon wieder an der Tür bummerte. Aber diesmal war es nur ein Weihnachtsmann. Als er uns alle sah, ließ er vor Schreck seinen Sack fallen. Wir aber saßen da und lachten nur. Und da lachte er auch und packte seinen Sack aus. Es wurde der lustigste 24. Dezember, den ich erlebt habe. Oma Friedrich meinte es auch. Sie kochte uns Kakao und schnitt die große Stolle an. Inzwischen klopfte es noch ein paarmal, und neue Weihnachtsmänner und Weihnachtszwerge kamen. Wir setzten unsere Kapuzen und Mützen und Pudel ab und zogen unsere Mäntel aus. Und da sah man – es fehlte kaum jemand aus unserer 2a. Wir aßen und lachten und sangen und erzählten. Plötzlich sagte Oma Friedrich: „Wer von euch heute noch zu Hause ein Geschenk erwartet, der muß bald gehen.“ Auf einmal hatten wir es alle sehr eilig. Oma Friedrich sagte noch: „Wenn ich alle Weihnachtsbäume im Zimmer behalten soll, dann muß ich über Weihnachten ausziehen.“ Das sahen wir ein. Einen Weihnachtsbaum stellten wir Oma Friedrich auf den Tisch. Die anderen trugen wir in den Garten hinaus. Dort pflanzten wir sie in den Schnee. Es wurde der schönste Wald, den wir je gesehen hatten. Wir faßten uns an den Händen und tanzten um den Wald herum. Aber dann liefen wir schnell nach
Hause. Es schneite, und durch die Fensterscheiben der Häuser konnten wir sehen, daß überall schon die Kerzen an den Weihnachtsbäumen brannten.
Von der armen Katze vor der Schule
Wer in unsere Schule hineingehen will, der muß erst fünf Stufen hochsteigen, bis er an das große Tor kommt. Jeden Morgen sitzt die dicke Schneeflocke auf der dritten Stufe an der Hauswand und wartet auf uns. Schneeflocke ist eine weiße Katze, und sie gehört zu unserer Klasse. Aber das war nicht immer so. Und nun will ich erzählen, wie Schneeflocke zu uns kam. Es war mitten im Winter. Auf der Straße lag Schnee, der schon beinahe getaut war. Ich hatte meine neuen Gummistiefel angezogen und Micha seine hohen Schuhe. Wir patschten in den Schneematsch hinein, daß es nur so spritzte. Das machte Spaß. Plötzlich standen wir vor der Schule. Wir waren richtig erschrocken, weil wir schon da waren. Auf der dritten Stufe an der Hauswand saß eine Katze. Aber wie sah sie aus! Ganz mager und schmutzig und ein bißchen blutig am Schwanz. Da sagte Micha: „Die arme Katze!“ Auch mir tat die Katze leid, weil sie so mager war und so schmutzig und so allein. Ich bückte mich und wollte sie streicheln. Aber sie fauchte und machte einen Buckel. „Vielleicht hat sie Hunger?“ sagte Micha. Wir guckten in unsere Stullentaschen, ob vielleicht etwas
darin wäre, was armen, mageren Katzen schmeckt. Micha versuchte es mit Pfefferkuchen. Die Katze 1 fraß gierig den ganzen Pfefferkuchen. Ich nahm die Wurst von meinem Brot. Es tat mir ein wenig leid, weil es Zungenwurst war. Zungenwurst esse ich nämlich sehr gern. Als die Katze meine Zungenwurst aufgefressen hatte, leckte sie mit ihrer rosa Zunge ihre Schnauze und schnurrte um unsere Beine. Gerade kamen Rosi und Werner die Treppe hinauf. Als Rosi die Katze sah, sagte sie: „Die arme, arme Katze!“ „Vielleicht hat sie Hunger“, sagte Werner. Und beide sahen in ihren Stullentaschen nach, ob etwas darin war, was arme nasse Katzen gern fressen. Die fremde Katze fraß alles auf, was die beiden ihr gaben. Da kamen Rainer und Frank gelaufen und gleich hinterher die dicke Anita. Sie sagten alle drei: „Ach, die arme nasse Katze!“ Und sie sahen auch in ihren Stullentaschen nach. Die Katze fraß auch alles auf, was ihr Rainer und Frank und Anita gaben. Micha sagte: „Ich wundere mich, was in die arme nasse Katze alles hineingeht. Hoffentlich platzt sie nicht.“ Da gab ihr niemand mehr etwas, und wir sahen sie von allen Seiten prüfend an. Die Katze aber saß da und leckte sich die Schnauze.
„Bestimmt hat sie fünf Wochen nichts gefressen“, meinte Rainer. „Vielleicht war sie schon dreiviertel tot.“ Werner ging um die Katze herum. Er versteht etwas von Katzen, weil er selber eine hat. Rosi aber bückte sich und streichelte die Katze. „Sie ist so naß. Bestimmt wollte sie jemand ertränken!“
Wir stellten uns vor, wie schrecklich das Ertränken sein mußte, und die arme Katze tat uns noch viel mehr leid. Plötzlich klingelte es. Wir schubsten und stießen uns und liefen in unsere Klasse. Wir hatten uns gerade hingesetzt, da kam Frau Gräbner, und wir mußten rechnen. Ich mußte immer wieder an die arme nasse Katze auf der Schultreppe denken. Die anderen aber auch – das merkte ich. Rosi flüsterte mir zu: „Wir müssen sie retten!“ Alle hörten es und nickten. Frau Gräbner sah Rosi an und fragte: „Wieviel ist drei mal vier, Rosi?“ Rosi hatte gar nicht an drei mal vier gedacht, sondern nur an die Katze auf der Schultreppe. Sie wußte es einfach nicht. „Drei mal vier ist… drei mal vier ist…“, stotterte Rosi. „Miau!“ sagte es. Erschrocken sahen wir uns um. Frau Gräbner blickte uns ärgerlich an. „Laßt doch den Unsinn!“ sagte sie. „Ihr stört Rosi nur beim Nachdenken.“ „Miau!“ sagte es wieder, und jemand klopfte an das hinterste Fenster. Da mußte Günther lachen – zuerst leise und dann ganz laut. Wir sahen alle zum Fenster. Dort stand die arme weiße Katze auf dem Fensterbrett und wollte zu uns hinein. Sie stieß mit dem Kopf gegen die Scheibe. Auch Frau Gräbner sah die Katze. Sie ging zum Fenster und klopfte an die Scheibe. Die Katze
verschwand. „Die arme Katze“, flüsterte Micha mir zu. Und weil Rosi endlich wußte, daß drei mal vier zwölf ist, ging unsere Rechenstunde weiter. In der großen Pause saß die arme Katze noch immer auf der Schultreppe. Als sie uns sah, kam sie gleich angelaufen und strich um unsere Beine herum. Wir streichelten sie alle. Weil sie so naß war, nahmen wir sie einfach mit in unsere Klasse und setzten sie in den Papierkorb. Rainer sagte: „Wenn Frau Gräbner die Katze sieht, wird sie vielleicht böse.“ Da nahm Micha seinen großen Zeichenblock und legte ihn über den Papierkorb. Die Katze raschelte noch ein wenig im Papierkorb herum, aber dann lag sie still. Wir gingen leise auf unsere Plätze. Als Frau Gräbner kam, saßen wir alle still auf unseren Plätzen. Frau Gräbner wunderte sich ein wenig darüber, aber sie wußte ja nichts von der Katze, die im Papierkorb schlief. Frau Gräbner holte unsere Zeichenblöcke aus dem Schrank und teilte sie aus. Wir zeichneten, wie wir neulich gerodelt haben. Ganz still war es in unserer Klasse. Nur das Zeichenpapier raschelte ein wenig. Ich malte gerade, wie Rainer mit seinem Schlitten gegen einen Baum fuhr, da stieß mich Micha an. Er zeigte auf den Papierkorb. Langsam hob sich der Zeichenblock. Ein Spalt wurde frei. Die weiße Katze schob ihren Kopf hervor und sah neugierig in die Klasse hinein. Der Zeichenblock klatschte auf den
Boden. Wie waren wir da erschrocken! Und die weiße Katze auch! Sie fauchte ein bißchen und sprang aus dem Papierkorb. Frau Gräbner sagte streng: „Wie kommt die Katze in unsere Klasse?“ Wir hatten alle ein schlechtes Gewissen und sagten nichts. Die Katze hatte kein schlechtes Gewissen, aber dafür hatte sie Angst. Sie sprang auf das Fensterbrett und wollte fliehen.
Auf dem Fensterbrett standen unsere Blumentöpfe. Wir waren sehr stolz darauf, weil keine Klasse so schöne Blumentöpfe hatte wie wir. Aber die Katze kümmerte sich nicht darum. Sie sprang zwischen den Blumentöpfen hin und her und stieß dabei die schöne große Fuchsie um. Es gab einen Knall, und Scherben und Sand und die Fuchsie lagen auf dem Fußboden. Da bekam die Katze noch größere Angst. Sie sprang über die Bänke und riß Anitas Tuschnapf um. Anita schrie „iiiiii“, weil ihr das Tuschwasser über den Rock gelaufen war. Frau Gräbner wollte die Katze greifen, aber die Katze fauchte böse. Sie sprang zu Rosi auf die Bank und duckte sich. Rosi nahm die Katze und hielt sie fest. Und nun erzählten wir Frau Gräbner alles. Wir sagten ihr auch, wie leid uns die arme Katze tat. Frau Gräbner seufzte ein bißchen, aber sie schimpfte nicht. Rosi sollte die Katze nehmen und sie wieder auf die Schultreppe setzen. Und gerade da fing es an zu schneien, große dicke Flocken fielen vom Himmel. Rosi ging langsam mit der Katze zur Klassentür. „Die arme Katze“, seufzte Micha. Rosi blieb stehen und sagte zu Frau Gräbner: „Es schneit.“ Wir guckten aus dem Fenster und dann wieder auf die arme weiße Katze. Nun seufzte Frau Gräbner. „Aber wir sind doch keine Katzenschule“, sagte sie. Rosi ging wieder einen Schritt weiter. Da flüsterte Günther so laut, daß
wir es alle hören konnten: „Jetzt muß sie bestimmt erfrieren – die arme Katze.“ Frau Gräbner sah uns an und schüttelte den Kopf. „Aber hier in der Klasse kann die Katze nicht bleiben.“ „Ich weiß etwas!“ Werner vergaß ganz, daß er sich melden mußte. Er winkte aufgeregt mit seinem Pinsel. „Sie muß zu Herrn Kloxin in den Heizungskeller. Dort ist es warm und trocken, und wir füttern sie.“ Herr Kloxin ist unser Schulhausmeister. Frau Gräbner ging zu Rosi. Sie sah noch einmal in das dichte Schneetreiben hinaus, und Rosi durfte die Katze auf die Erde setzen. Die Katze legte sich unter die Zentralheizung und schlief ein. Wir aber zeichneten weiter, bis es klingelte. Wir alle zusammen brachten die weiße Katze zu Herrn Kloxin in den Heizungskeller. Zuerst wollte Herr Kloxin die Katze nicht behalten. „Mein Kohlenkeller ist kein Tierpark“, sagte er. Aber wir erzählten ihm, was es doch für eine arme Katze sei, und daß wir sie füttern wollten. Da durfte die Katze im Kohlenkeller bleiben. Wir nannten sie Schneeflocke, weil sie so weiß war und weil es gerade schneite, als sie zu uns kam. So kam also Schneeflocke zu uns. Wir fütterten sie jeden Tag, und sie störte niemanden in der Schule. Meine Geschichte ist aber noch nicht zu Ende. Eigentlich fängt sie jetzt erst an.
Als die Großen merkten, daß wir eine Klassenkatze hatten, neckten sie uns. „Unsere Kaninchen bringen Geld“, sagten sie, „für unsere neue Turnhalle. Aber was bringt eure Katze?“ Aber da hatten sich die Großen geirrt. Unsere Katze brachte auch etwas – nämlich fünf kleine Katzenkinder. Herr Kloxin schimpfte mächtig auf uns und auf Schneeflocke und auf die fünf kleinen Katzenkinder. Aber dann mußte er doch lachen, und wir merkten, daß er es gar nicht so ernst meinte. Als die Katzenkinder größer wurden, beschlossen wir, sie zu verkaufen. Max und Moritz, die beiden kleinen Kater, kaufte uns die LPG ab. Wir bekamen zwei Mark dafür. Oma Friedrich kaufte den kleinen schwarzen Schornsteinfeger. Wir wollten ihr das Kätzchen schenken, aber sie gab uns doch eine Mark dafür. Herr Kloxin nahm das Graudien für eine Mark. Und als Frau Gräbner sah, daß wir beinahe alle Katzenkinder verkauft hatten, nahm sie das schwarzweiß gefleckte Katzenmädchen und nannte es Minka. Sie gab uns auch eine Mark. Da nahmen wir die fünf Mark und gingen zu unserem Direktor. Werner legte das Geld auf den Schreibtisch und sagte: „So, das ist für unsere neue Turnhalle.“ Der Direktor freute sich sehr und lobte uns. Wir aber waren sehr stolz auf unsere Klassenkatze – auf unsere Schneeflocke.
Wie Rosi rechnen lernte
Ich finde, daß Rosi das netteste Mädchen in unserer Klasse ist. Und das sagen auch unsere Jungen. Nur Micha findet mich netter, weil ich neben ihm auf der Bank sitze und ihm manchmal den Mantel zuknöpfe. Aber wir fanden Rosi nicht immer so nett. Es war uns früher einfach nicht aufgefallen, wie nett Rosi ist. Sie saß immer so schüchtern auf ihrer Bank, und sie rechnete sehr langsam und machte viele Fehler beim Schreiben. Wenn wir um die Wette rechneten, dann war Rosi die letzte, und unsere Reihe konnte deshalb nie gewinnen. So kam es, daß wir uns um Rosi nicht kümmerten. Rosi trägt eine Brille mit dicken Gläsern. Und mit dieser Brille fing es an. Eines Tages standen wir in der großen Pause zusammen auf dem Schulhof. Da kam ein großes Mädchen vorbeigelaufen und stieß Rosi an. „Geh weg, du Brillenschlange“, sagte sie. Rosi liefen plötzlich dicke Tränen unter der Brille hervor. Wir alle standen um Rosi herum und waren sehr erschrocken. Rosi tat uns plötzlich leid. Daß sie eine Brille tragen mußte, dafür konnte sie doch nichts. „So eine blöde Gans!“ rief Werner empört. Er meinte nicht Rosi, sondern das große Mädchen, das eben vorbeigelaufen war.
Da wischte sich Rosi die Tränen ab. „Ach“, sagte sie. „So ist das immer. Die Kinder in meiner Straße rufen mir auch so etwas nach.“ Was mußte das für eine gräßliche Straße’ sein, in der Rosi wohnte! Niemand von uns wohnte dort. Da legte ich den Arm um Rosi, und Anita faßte sie an der anderen Seite unter. Und wir gingen dicht an dem großen Mädchen vorbei, das Rosi angestoßen hatte. Es klingelte, und wir mußten wieder in unsere Klasse. Es war eine Rechenstunde. Als Rosi an der Tafel stand, konnte sie wieder nicht rechnen. Sie gab sich große, große Mühe, aber sie konnte es einfach nicht. „Rosi, Rosi, was soll ich nur mit dir machen?“ Frau Gräbner legte Rosi die Hand auf die Schulter. Und Rosi stand da und wußte es auch nicht. „Jetzt wird sie gleich wieder weinen“, sagte Micha leise. Und da tat mir Rosi noch mehr leid. Sie hatte schon oft an der Tafel gestanden und konnte nicht rechnen, aber da hat sie mir nie leid getan. Heute war das anders. Ich dachte an das böse Wort „Brillenschlange“ und an die gräßliche Straße, in der Rosi wohnte, und an die bösen Kinder. Und ich nahm mir fest vor, daß ich Rosi helfen wollte. Ich wußte auch schon genau, wie ich das machen mußte. Am Nachmittag holte ich Micha ab. Wir gingen zu Günther, zu Werner und noch zu Anita. Als wir zusammen waren, suchten wir nach der Straße, in der Rosi wohnte. Wir fanden sie auch. Sie lag in der Siedlung hinter dem Bahnhof. In der Straße spielten
viele Kinder Hopsen. Rosi war nicht dabei. Wir gingen zu den Kindern hin, und Werner fragte sie: „Wer von euch sagt immer zu Rosi Brillenschlange?“ Die Kinder blieben stehen und sahen uns verwundert an. Ein kleines Mädchen sagte: „Ach, das rufen wir doch bloß so!“ Die anderen nickten dazu. Günther stellte sich vor die Kinder und stemmte beide Arme in die Hüften. „Nun hört mal her!“ sagte er. „Rosi ist unsere Freundin. Und wer noch einmal Brillenschlange zu ihr sagt, den verhauen wir!“ Günther ist sehr stark, das sieht man ihm gleich an. Die Kinder hatten wohl ein bißchen Angst vor ihm. Sie drehten sich um und wollten davonlaufen. Aber Micha, Werner und Günther hielten sie fest. Und sie mußten uns versprechen, Rosi nie mehr Brillenschlange zu rufen. Wir trafen noch andere Kinder in der Straße. Allen sagten wir, daß Rosi ein sehr nettes Mädchen sei, und daß sie in unsere Klasse gehöre. Wir sagten auch, daß alle Haue bekämen, die noch einmal Brillenschlange rufen würden. Dann klingelten wir bei Rosi. Rosi kam heraus und holte uns in ihren Garten. Wir schaukelten und spielten zusammen den ganzen Nachmittag. Am nächsten Tag hatten wir wieder Rechnen. Rosi mußte an die Tafel. Und wieder konnte sie die Aufgaben nicht rechnen. Frau Gräbner erklärte sie ihr noch einmal, aber Rosi verstand sie eben nicht. Da beschloß ich, Rosi im
Rechnen zu helfen. Mir wollte nur nicht einfallen, wie ich das anfangen mußte. In der Pause ging ich zu Werner. Werner ist der beste Rechner in unserer Klasse. „Wie machst du das, daß du so gut rechnen kannst?“ fragte ich ihn. Werner sah mich erstaunt an. „Ach, das kommt von ganz allein.“ Bei Rosi kam es aber nicht von allein. Und ich dachte nach, wie es bei mir kam, daß ich rechnen konnte. Da fiel es mir ein. Mutti gibt mir immer einen Sahnebonbon, wenn ich alle Aufgaben richtig gerechnet habe. Und Sahnebonbon esse ich sehr gern. Da sagte ich zu den Jungen: „Wir müssen Rosi viele Sahnebonbon geben, damit sie besser rechnen kann!“ Erst lachten mich die Jungen aus. Aber dann erklärte ich ihnen alles ganz genau. Am nächsten Tag lagen acht Sahnebonbon auf Rosis Platz. Rosi freute sich sehr, und sie wollte uns davon abgeben, aber wir nahmen ihr keinen Bonbon ab. „Für die Sahnebonbon mußt du jetzt besser rechnen“, sagte ich. Rosi nickte nur. Dann kam wieder eine Rechenstunde. Rosi gab sich große Mühe, man konnte es sehen. Aber zusammenzählen konnte sie wieder nicht, und das war schlimm. Da sagte Micha: „Ich weiß, wie man besser rechnen kann“, und er tat sehr geheimnisvoll. Er lud Rosi zum Nachmittag ein und Werner und Günther und mich dazu.
Wir saßen alle um den großen Tisch im Wohnzimmer und spielten das Hütchenspiel. Oh, wie mußte Rosi da rechnen! „Fünf und sieben ist zehn“, sagte sie. „Gut, dann schreiben wir dir zehn an“, sagte Micha. Aber Rosi hatte noch einmal nachgerechnet.
„Nein, zwölf kommt heraus“, sagte sie schnell. Wir spielten den ganzen Nachmittag mit den Hütchen. Am nächsten Tag spielten wir Lotto. Und da muß man noch mehr rechnen. Aber Rosi paßte ganz genau auf, daß wir ihr nicht zuwenig anschrieben. So spielten wir noch oft zusammen und manchmal auch andere Spiele. Aber es waren immer Spiele, bei denen man rechnen mußte. Eines Tages, als Rosi an der Tafel stand, sagte Frau Gräbner: „Na, Rosi, wie fein du jetzt rechnen kannst!“ Da waren wir sehr stolz. Nur Werner flüsterte leise: „Jetzt können wir endlich wieder schaukeln!“ Wir nickten alle dazu. Wir hatten es nämlich schon über, immer nur Lotto und Hütchen und so etwas zu spielen. Aber das sagten wir nicht laut und schon gar nicht zu Rosi. Am Nachmittag schaukelten wir in Rosis Garten. Da holte Rosi ihr Kasperletheater und gab für uns eine Sondervorstellung. Wie gut konnte Rosi Kasperletheater spielen! Und was konnte sie überhaupt noch alles! Niemals nahm sie uns etwas übel, niemals war sie böse, und niemals zankte sie. Sie ist überhaupt das netteste Mädchen in unserer Klasse – aber das hatte ich ja schon gesagt.
Wie wir den Lehrertag feierten
Einmal haben wir Frau Gräbner einen Omnibus zum Lehrertag geschenkt, einen richtigen, großen Omnibus und einen Omnibusfahrer dazu. Das ist nicht geschwindelt. Und Frau Gräbner hat sehr darüber gestaunt. Aber wie alles kam, das will ich jetzt erzählen. Der Juni hatte gerade begonnen. Das merkt man in unserer Schule immer daran, daß die Kinder in allen Klassen Geld sammeln, um Blumensträuße, Bucher und andere Geschenke für ihre Lehrer zu kaufen. Denn am 12. Juni ist ja der Lehrertag. Weil nun Frau Gräbner eine sehr nette Lehrerin ist und wir sie alle gern haben, wollten wir ihr etwas besonders Schönes schenken. Zuerst fiel uns aber gar nichts ein, was so richtig zu Frau Gräbner paßte. Da sagte Rosi: „Jetzt weiß ich es. Wir schenken Frau Gräbner eine große Schachtel mit bunter Kreide.“ „Nein“, rief Werner sofort. „Kreide ist kein Kuchen. Wir backen Frau Gräbner einen Kuchen, den kann sie wenigstens essen.“ „Oder auch nicht. Wenn wir ihn wieder selber backen“, sagte Günther und lachte. Wir mußten alle lachen, denn es fiel uns ein, daß wir in der ersten Klasse schon einmal einen Kuchen für Frau Gräbner
gebacken hatten, zu ihrem Geburtstag nämlich. Und da hatten wir vergessen, Backpulver hineinzustreuen. So war er sehr hart geworden, hart wie ein Mauerstein. Als wir soweit überlegt hatten, kam Frau Gräbner in die Klasse. Wir setzten uns still auf unsere Plätze. Draußen schien die Sonne, und die Blätter der Bäume glänzten wie frisch lackiert, weil es am Morgen geregnet hatte. Frau Gräbner schaute aus dem Fenster und sagte: „Immer, wenn die Sonne so scheint und es nach Erde riecht, bekomme ich Sehnsucht nach GroßKimmeritz.“ Wir wußten alle, daß Frau Gräbner in Groß-Kimmeritz geboren war und daß ihre Eltern dort noch wohnten. Und außerdem wußten wir, daß es in Groß-Kimmeritz einen großen Teich gab, in dem dicke, alte Karpfen schwammen, und einen kleineren mit lauter Enten und Gänsen. Frau Gräbner hatte uns oft davon erzählt. Wir waren schon sehr neugierig auf Groß-Kimmeritz. Wenn Werner aufgeregt ist, meldet er sich nie. Deshalb sprang er auch jetzt auf und rief laut: „Frau Gräbner, Frau Gräbner – wir fahren am Lehrertag alle zusammen nach Groß-Kimmeritz.“ Frau Gräbner sah uns an, und wir konnten richtig sehen, daß sie Sehnsucht nach Groß-Kimmeritz hatte. Aber sie sagte: „Das geht nicht, Kinder. GroßKimmeritz hat keinen Bahnhof, kein Omnibus und keine Straßenbahn fahren dorthin. Und wir können an einem Tag nicht hin und zurück.“
„Schade“, sagte Rosi laut. Uns allen tat es sehr leid, daß wir am Lehrertag nicht mit Frau Gräbner nach Groß-Kimmeritz zu den dicken Karpfen fahren konnten. Als wir aus der Schule kamen, sagte Micha: „In Groß-Kimmeritz muß es schön sein.“ Er sah uns eine Weile an. „Ich glaube, Groß-Kimmeritz ist so ein richtiger Tierpark – Karpfen und Gänse und Enten – Kühe, Pferde, Ziegen, Schafe, Hunde und Hühner.“ „Und ein paar Mäuse“, sagte Werner, und wir lachten. Micha mußte uns noch eine Geschichte erzählen. Wenn wir von der Schule nach Hause gehen, muß uns Micha oft Geschichten erzählen, weil er das so gut kann. Da waren wir schon an dem grünen Zaun der Grenzpolizei. Hinter dem Zaun wohnen viele Soldaten. Als wir an dem Posten vorbeikamen, stand das Tor weit offen. Wir blieben stehen und guckten neugierig auf den Hof. „Da steht ein großer Omnibus“, sagte Günther. Und nun sahen wir es alle. An der Seite stand ein großer graugrüner Omnibus mit zwei bunten Wimpeln am Kühler. „Och“, sagte Werner, „den müßten wir haben. Dann könnten wir mit Frau Gräbner nach Groß-Kimmeritz fahren.“ Da ging Micha zu dem Posten mit dem Gewehr. „Guten Tag, Soldat! Könnt ihr uns nicht den schönen Omnibus dort borgen, nur für einen einzigen Tag?“ So macht Micha das immer. Der Posten lachte. „Was wollt ihr
denn mit dem Omnibus? Der ist doch kein Spielzeug!“ „Ach“, sagte Micha und seufzte, „wir wollen so gern nach Groß-Kimmeritz fahren – zum Lehrertag mit Frau Gräbner.“ „Frau Gräbner ist nämlich unsere Klassenlehrerin“, sagte ich schnell. Da kam gerade ein Offizier vorbei. Der Posten größte. Der Offizier sah uns und blieb stehen. „Na, was wollt ihr Knirpse denn hier?“ Micha trat einen Schritt vor. Er hob die Hand zum Pioniergruß. „Seid bereit!“ sagte er. „Immer bereit!“ antwortete der Offizier und schüttelte Michas Hand. Woher kannte der Offizier nur unseren Pioniergruß? Aber da erzählte Micha dem Offizier schon von Groß-Kimmeritz und von dem Teich mit den dicken Karpfen und von Frau Gräbner und dem Lehrertag. „Und nun fehlt uns nur noch ein Omnibus – so einer wie der da“, sagte Micha. Der Offizier hatte sich alles aufmerksam angehört. „So, so“, sagte er. „Darüber müssen wir verhandeln.“ Er nahm uns mit in eine große Stube. Dort saßen noch andere Offiziere und Soldaten. Mir wurde ein bißchen ängstlich zumute, und ich faßte Micha schnell an. Der Offizier fragte uns nach unserer Schule und nach unserer Lehrerin. Micha erzählte alles und noch viel mehr. Er erzählte auch, daß wir die beste Pioniergruppe der Schule waren. Und alle Offiziere und Soldaten hörten zu.
Der Offizier, der uns hereingeholt hatte, ging in ein anderes Zimmer. Wir mußten ein bißchen warten, dann kam er zurück und legte seine Hand auf den Mund. „Psst“, machte er. „Jetzt werden wir ein großes Geheimnis miteinander haben. Aber nichts Frau Gräbner verraten!“ Oh, war das spannend! Micha
hopste von einem Bein auf das andere, so aufgeregt war er. Der Offizier sagte uns, daß der große, graugrüne Omnibus am Lehrertag nach Groß-Kimmeritz fahren wurde – mit Frau Gräbner und uns allen zusammen. Zuerst waren wir so überrascht, daß wir gar nichts sagen konnten. Wir sollten wirklich nach GroßKimmeritz fahren und einen Omnibus ganz allein für uns haben? „Du… Sie… Sie sind beinahe so gut wie Frau Gräbner“, sagte Werner und gab dem Offizier die Hand. Und der Offizier freute sich mit uns und alle Soldaten auch. Mir fiel ein, daß ich noch einen schönen Sahnebonbon in meiner Stullentasche hatte. Ich nahm ihn heraus und schenkte ihn dem Offizier. „Für den Omnibus, und daß Sie uns geholfen haben“, sagte ich. Natürlich erzählten wir am anderen Tag sofort allen aus unserer Klasse von dem Omnibus. Und da freuten wir uns alle so sehr, daß es ganz laut in unserer Klasse wurde. Anita sang vor Freude: „Ich freue mich so, ich freue mich so…“ Wir hatten gar nicht gemerkt, daß Frau Gräbner in der Klasse stand. „Worüber freust du dich denn so, Anita?“ fragte sie. Da setzte sich Anita vor Schreck auf ihren Platz und stotterte: „Weil… weil… weil…“ „Weil die Sonne so schön scheint, Frau Gräbner“, rief Werner dazwischen. „Ja, weil die Sonne so schön scheint“, sagte Anita schnell.
Frau Gräbner schüttelte den Kopf und begann mit dem Unterricht. Oh, wie lang können drei Tage werden! Immer wieder gingen wir nach dem Unterricht zu dem großen Tor mit dem Posten davor und schauten nach unserem Omnibus. Er stand immer noch da. Beinahe hätte ich unser Geheimnis verraten – an meinen
Bruder Uwe nämlich. Der saß nachmittags am Tisch und malte ein Schild. Er sagte: „Wir backen zum Lehrertag einen Kuchen. Was macht ihr Knirpse denn?“ „Pah, Kuchen“, sagte ich. „Wir schenken Frau Gräbner einen O….“ Ich hielt mir schnell den Mund zu, denn beinahe wäre mir das Wort herausgeschlüpft. „Einen… einen Osterglockenstrauß“, sagte ich schnell. Uwe tippte mit dem Finger gegen die Stirn. „Jetzt gibt es doch keine Osterglocken mehr.“ Aber da ließ er sich schon von Mutti Mehl und Margarine geben und verschwand. Am nächsten Tag stand Micha in der Rechenstunde auf. Er war wieder zappelig vor Aufregung. „Frau Gräbner, Sie müssen morgen am Lehrertag um neun Uhr vor der Schule sein. Es gibt eine große Überraschung!“ Ich kniff Micha schnell in den Arm, weil ich Angst hatte, er wurde unser Geheimnis verraten. Frau Gräbner war sehr erstaunt. „Eine Überraschung für mich? Warum bringt ihr sie denn nicht mit in die Klasse?“ Wir lachten alle, und Werner sah sich um. Er sagte: „Weil unsere Klasse viel zu klein ist für diese Überraschung.“ Da sah Frau Gräbner ein bißchen ängstlich aus. Vielleicht dachte sie, wir wollten ihr einen Elefanten oder eine Giraffe zum Lehrertag schenken. Aber wir sagten nichts mehr.
So kam der Lehrertag heran. Schon lange vor neun Uhr standen wir alle vor der Schule. Unsere Pioniertücher hatten wir geplättet, und Werner hatte seine Haare ordentlich gekämmt. Wieder schien die Sonne, und alle Augenblicke liefen wir zur Straßenecke und sahen die Straße hinunter. Der große Zeiger der Schuluhr ruckte langsam auf die zwölf. „Na, wo bleibt denn eure Überraschung?“ fragte Frau Gräbner und sah sich suchend nach rechts und nach links um. „Sie wird, bestimmt gleich kommen“, sagte ich. Wir liefen noch einmal aufgeregt zur Straßenecke und sahen die Straße hinunter. Es war aber nichts zu sehen. Da liefen wir wieder zu Frau Gräbner zurück. Ein Motor brummte auf. Micha machte einen kleinen Hopser und rief: „Jetzt kommt unsere Überraschung angefahren – jetzt kommt unsere Überraschung angefahren – Frau Gräbner!“ Da bog schon der große, graugrüne Omnibus um die Ecke und blieb vor der Schule stehen. Frau Gräbner sagte nicht ein Wort. Sie machte nur große erstaunte Augen. „Bitte einsteigen!“ sagte Werner und öffnete die Tür. „Dieser schöne Omnibus fährt direkt nach GroßKimmeritz.“ Frau Gräbner freute sich so sehr, wie wir es noch nie gesehen hatten. Dann lief sie schnell noch einmal in die Schule zurück, und wir begrüßten den Soldaten, der unseren Omnibus fuhr.
Als wir endlich losfuhren, sahen viele Kinder aus den Fenstern unserer Schule und winkten uns zu. Und wir winkten zurück. So fuhren wir mit Frau Gräbner am Lehrertag nach Groß-Kimmeritz zu dem Teich mit den großen, dicken Karpfen.
… und das muß noch gesagt werden
Hier ist nun das Buch zu Ende. Und nun werdet ihr sicher verstehen, warum wir alle so gern zur Schule gehen – wir aus der 2a. Und ich sage jetzt „Auf Wiedersehen!“