Berte Bratt (Ulla Scherenhof) Wir halten zusammen
„Es kommt nicht darauf an, wie man’s hat, sondern wie man’s nimmt.“ N...
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Berte Bratt (Ulla Scherenhof) Wir halten zusammen
„Es kommt nicht darauf an, wie man’s hat, sondern wie man’s nimmt.“ Nach dieser Einsicht leben und handeln die beiden Schwestern: Ellen, die Künstlerin, und Kate, die Lebenskünstlerin. Das Schicksal hat sie wahrhaftig nicht auf Rosen gebettet, doch sie halten zusammen. Und wie sie es schaffen, den verfallenen Bauernhof, den Ellen, jung verwitwet, allein bewirtschaften muß, wieder hochzubringen, darüber können die Nachbarn nur den Kopf schütteln. Dann schlägt das Schicksal noch einmal zu und will Ellen auch ihr Söhnchen nehmen. In der Angst und Verzweiflung reift in ihr die Idee zu einem großen Werk, einem Bildteppich, der sie mit einem Schlage berühmt machen soll. Aber ihr wahres Lebensglück wäre um ein Haar an einem Irrtum gescheitert, hätte nicht ihr kleiner Bub in kindlicher Offenheit alles klargestellt. Und so findet auch die stets fröhliche, herzensgute Kate einen Weg in die Zukunft, die sie sich erträumt hat.
ISBN 3 536 00.638 8 6. Auflage 1971 Gesamtausstattung: E. Grauel- von Mandelsloh Dänischer Originaltitel: Med to tomme Haender Originalverlag: Halvorsen & Larsen Forlag Deutsche Übersetzung: Anne Busch Alle deutschsprachigen Buchrechte 1967 beim Engelbert-Verlag, Gebr. Zimmermann GmbH; 5983 Balve/Westl. Widukindplatz 2 Satz, Druck und Einband: Grafischer Betrieb Gebr. Zimmermann GmbH, Balve
VORWORT Als Tante Ellen ihre silberne Hochzeit feierte, wai ich dabei. Eigentlich ist sie nur meine Nenntante. Ich kenne sie seit ungefähr zehn Jahren. Bildhübsch war sie, so, wie sie dasaß an der festlichen Tafel. Ihre blauen Augen leuchteten unter ihren schneeweißen Haaren, manchmal lächelte sie, und manchmal stieg ihr eine feine Röte in die Wangen, wenn die Redner – und deren gab es viele – sie lobten und rühmten. Ihre Schwester Kate hielt die beste Rede des Tages. „Sag mal, Tante Kate“, sagte ich, als wir nachher allein waren, „hat denn Tante Ellen eine so schwere Jugend gehabt? Alle rühmen sie wegen ihrer Tapferkeit und ihres Mutes – du selbst am allermeisten!“ Tante Kate lächelte, ihre fröhlichen Augen schienen in die Ferne zu schauen. „Ja, sie hatte es schwer“, antwortete Tante Kate. „Menschenskind, wenn ich an die Jahre denke… Schade, daß ich nicht schreiben kann, das wäre Stoff für ein Buch!“ „Kannst du mir nicht einmal davon erzählen?“ bat ich. „Doch“, nickte Tante Kate. „Einmal, wenn wir viel Zeit haben.“ Zwei Monate später kam ich zu Tante Kate, um meinen Sommerurlaub auf ihrem Hof zu verbringen. In dem Sommer erzählte sie mir die ganze Geschichte von Tante Ellens Jugend. Sie hatte recht. Es wurde ein Buch daraus.
ERSTES KAPITEL John Lage ging mit seinem Fahrrad durch die schmiedeeiserne Pforte, die von zwei hohen Granitpfeilern flankiert war, und schloß sie hinter sich. Dann schwang er sich auf und fuhr rasch die Straße hinab. Die Zeit war knapp. Um neun Uhr sollte er mit dem Holzgroßhändler Blom-Sörensen zusammentreffen und möglichst schon um elf Uhr dem Gutsbesitzer den Kontrakt überreichen. Er mußte sich also beeilen. Unwillkürlich verlangsamte John Lage seine Fahrt, als er sich Inspektor Böes braunem Holzhaus näherte, das an der Kreuzung lag, und blickte den Gartenweg entlang zum Haus hinüber. Ja, er hatte Glück: Sie stieg gerade aufs Rad – frisch und hübsch mit ihrem schwarzbraunen Haar, das sich unter der Mütze hervorringelte, und der sportlichen Kleidung – langen, gutsitzenden Hosen und braunmelierter Jacke – , und das leuchtendrote Halstuch brachte die Sonnenbräune ihres Gesichtes vorteilhaft zur Geltung. Ihre Augen hatten das typisch nordländische strahlende Blau. Sie blinkten und blitzten, wenn sie lachte und übermütig war, und sie konnten unergründlich tiefblau werden, wenn sie ernst oder böse wurde. „Guten Morgen, Fräulein Böe!“ „Guten Morgen, Herr Lage – herrliches Wetter!“ „Prächtig! Wie sind Sie gestern nach Hause gekommen bei dem häßlichen Gegenwind?“ „Prima! In dreiviertel Stunden. Ich war ganz stolz darauf. Wieviel Zeit haben Sie gebraucht?“ „Achtunddreißig Minuten!“ „Donnerwetter! Aber, na ja, Sie sind eben ein Mann und außerdem viel jünger als ich.“ „Ach was“, widersprach John Lage, „so groß kann der Unterschied unmöglich sein.“ „O doch, wie alt sind Sie eigentlich? Zwanzig?“ „Aber nein, ich bin schon dreiundzwanzig.“ „Sieh an, so ein großer Junge schon! Ich könnte beinahe Ihre Mutti sein.“ „Ich bin sehr froh, daß Sie es nicht sind. Darf ich mal Ihr Alter erfahren?“ „Achtundzwanzig.“
„Du meine Güte, was für eine scharmante Mutti müßten Sie sein!“ Ellen Böe lachte und beschleunigte ihr Tempo. Punkt neun Uhr mußte sie im Büro sein. Allmählich gesellten sich immer mehr „Drahteselritter“ zu ihnen, wie sie sich selbst nannten, diese energischen jungen Menschen, die die öffentlichen Verkehrsmittel verachteten und ihren Weg von und zur Arbeitsstätte lieber auf dem Fahrrad zurücklegten. Auf der Rückfahrt am Nachmittag verschwand dann wieder einer nach dem anderen hinter Gartenpforten und Haustüren, und nur John und Ellen, die einen Weg von fast fünfzehn Kilometern hatten, fuhren allein weiter. Vor einem Monat etwa hatten sie angefangen, sich zu grüßen, und waren nun dazu übergegangen, jeden Morgen miteinander zu plaudern. Nachmittags trafen sie sich nicht regelmäßig, denn John radelte meist schon im Laufe des Vormittags heim zu seinen geliebten Wäldern. Er war Förster beim Gutsbesitzer Stahle. Mit viel Glück hatte er diese Stellung gleich nach Beendigung seiner Ausbildung bekommen. Herr Stahle schätzte den energischen jungen Mann mit den grauen Augen und dem widerspenstigen blonden Schopf, denn er hielt, was sein Äußeres versprach: Die grauen Augen drückten Intelligenz, Willenskraft und Strebsamkeit aus. Außerdem war der junge Mann kräftig und gesund und ging mit Leib und Seele in seiner Arbeit auf. Hinzu kam noch, daß er nicht nur imstande war, den Wald zu betreuen, sondern er verstand es auch sehr geschickt, Geschäftsverbindungen zu knüpfen und Verträge abzuschließen. Ja, der Gutsbesitzer hatte mit diesem Förster einen guten Griff getan. Er empfand es wie einen Triumph, daß sich der junge Mann so gut entwickelte, denn Stahle liebte es, der Jugend eine Chance zu geben. Und er wußte, daß John Lage elternlos war und sich seine Ausbildung durch Nebenarbeit selbst verdient hatte, ohne je den Mut zu verlieren, obwohl es manchmal schwierig genug für ihn gewesen war. O ja, Gutsbesitzer Stahle empfand viel Sympathie für seinen jungen Förster. Ellen Böe kannte Johns Lebensverhältnisse inzwischen auch schon ganz gut. Bei ihren gemeinsamen morgendlichen Fahrten hatten sie sich gegenseitig davon erzählt. So hatte John nach und nach erfahren, daß Ellen und ihre jüngere Schwester Kate bei ihrem Onkel, Inspektor Böe, wohnten, denn auch sie waren elternlos. Als der Vater vor einigen Jahren starb, mußte Ellen ihre
Zukunftspläne aufgeben. Sie hatte damals die Kunstgewerbeschule besucht und wollte Bildweberin werden. Doch nun war sie mit einem Male gezwungen, für sich und zum Teil auch für die Schwester Kate den Lebensunterhalt selbst zu beschaffen. Kate war neun Jahre jünger als Ellen. John hatte sie einmal kennengelernt und kaum glauben wollen, daß sie Ellens Schwester sein sollte, so verschieden waren die beiden. Ellen so groß, schlank und brünett, mit einem ernsten Zug um den Mund, reif und ausgeglichen, Kate dagegen klein, mollig und blond, mit hoher, fröhlicher Stimme, impulsiv und strahlend. Die einzige Familienähnlichkeit lag in den Augen. Denn wenn Ellen in Necklaune war und ihre schlagfertigen Bemerkungen abschoß, blitzten ihre Augen vor Vergnügen und Übermut ebenso wie Kates Augen, und sie verrieten, daß sich hinter dem reifen, ernsten Wesen tausend lustige Teufelchen verbargen. Ellen hatte eine Stellung in einem Büro angenommen und sich so eifrig ins Zeug gelegt, daß ihr Gehalt bald anstieg. Da Kate inzwischen auch als Stenotypistin in einem Schreibbüro tätig war, ging es ihnen wirtschaftlich recht gut. Im Hause des Onkels bewohnten sie zwei Zimmer, machten sich Frühstück und Abendbrot selbst und aßen zu Mittag mit dem Onkel und seiner Haushälterin. Im übrigen aber führte jeder sein eigenes Leben. John begriff bald, daß Ellen sehr an ihrer Schwester hing, und das war verständlich, denn sie hatte ihr ja von kleinauf die Mutter ersetzt, für sie genäht und geflickt, ihr den Gutenachtkuß gegeben oder den Klaps hintendrauf, wenn es nötig war, die Schularbeiten beaufsichtigt und sich ihre Geheimnisse anvertrauen lassen, kurzum, alle Sorgen und Freuden mit ihr geteilt. Ellen war vierzehn Jahre alt, als die Mutter starb, und Kate fünf, und so waren der Vierzehnjährigen bereits Verantwortung und Pflichten einer Erwachsenen auferlegt, und sie durfte von heute auf morgen kein Kind mehr sein. Als Ellen an diesem Nachmittag heimkam und durch die Gartenpforte trat, stand Kate in der Haustür und winkte mit Topflappen und Schneebesen. „Beeil dich, Ellemama, ich muß dir was ganz Tolles erzählen“, rief sie. „Au wei, da brennt was an!“ Damit verschwand der blonde Wuschelkopf, und ein Geruch nach angebrannter Soße schlug Ellen entgegen. Heute hatte Fräulein Paulsen, die Haushälterin, ihren freien Tag. Dann pflegte der Onkel in der Stadt zu essen, und Kate, die eine
kürzere Arbeitszeit als Ellen hatte, stürzte vom Büro nach Hause, um das Essen für sich und die „Ellemama“, wie sie die mütterliche Schwester zärtlich nannte, zu kochen. Kate kochte gern, aber sie experimentierte dabei ziemlich hemmungslos, und es mißglückte hin und wieder. Aber Ellen aß sich tapfer durch alle selbstkomponierten Gerichte, schluckte alles noch so Süße oder Saure und nahm nicht zur Kenntnis, wenn das eine oder andere ein wenig angebrannt war. Im übrigen aber hatte sich Kate schon beträchtlich entwickelt und war im Grunde geschickt und gewitzt. Und doch war und blieb sie ein Kindskopf, und zwar ein unleugbar recht verzärtelter. Ellen wußte es und hatte deshalb manchmal ein schlechtes Gewissen; trotzdem konnte sie es nicht lassen, die jüngere Schwester zu verwöhnen. „Du, stell dir vor, Fräulein Paulsen hat eine Blinddarmentzündung und muß operiert werden, und der Onkel will verreisen, solange sie im Krankenhaus ist, so daß wir hier ganz allein hausen werden – und am Sonnabend veranstalten wir eine Party!“ sprudelte Kate in einem Atemzug hervor. „Na, hör mal, Katekatz, du bist mir vielleicht eine! Platzt aus allen Nähten vor Spaß, daß Fräulein Paulsen krank ist?“ „Nun halt mal die Luft an! Was ist denn schon eine Blinddarmentzündung? Heute sollte sie operiert werden. Wir können ja anrufen und fragen, wie’s gegangen ist, und dann werden wir ihr Blumen und so was bringen. Aber sag doch mal ehrlich – ist das nicht eine tolle Idee mit der Gesellschaft?“ „Wen gedenkst du denn dazu einzuladen?“ „Einzuladen – gedenke? Menschenskind, das ist doch schon längst geschehen! Ich habe alle gebeten, die ich kenne; wir werden mindestens dreißig sein. Und am Sonntag werden wir beide eine Riesenarbeit damit haben, alles wieder aufzuräumen, und Montag müssen wir so viel neue Gläser kaufen, wie kaputtgegangen sind, und…“ Ellen wurde ganz schwindelig bei dieser Vorstellung. „Nun hör mal zu, Katekatz, wie willst du eigentlich für dreißig Menschen zu essen und zu trinken beschaffen?“ „Ist bereits geklärt, liebe Schwester! Jede Dame muß für zwei Personen Essen in einem kleinen Korb mitbringen und jeder Herr Zigaretten und etwas Trinkbares. Gegessen wird an kleinen Tischen im Wohnzimmer und im Wintergarten, und die Körbchen mit dem Essen stellen wir im Eßzimmer in Reih und Glied auf den Tisch.
Jeder Herr darf sich eins davon auswählen und bekommt als Tischdame diejenige, die das Körbchen mitgebracht hat – verstanden?“ „Ja, ja, bis hier kann ich noch folgen.“ „Na, wird das ein Fest oder nicht?“ Ellen ließ sich, wenn auch widerwillig, mitreißen. Es kam ihr kindisch vor, aus Anlaß der Abwesenheit der „Erwachsenen“ eine Gesellschaft zu veranstalten. Aber es würde gewiß Spaß machen, wieder einmal mit vielen jungen, fröhlichen Menschen zusammen zu sein. „Sicher, das kann sehr nett werden. Aber nun verrate mir mal, wen du eingeladen hast.“ „Ach, einen ganzen Haufen Leute. Aber ich hab’ natürlich darauf geachtet, daß es gleich viele Männlein und Weiblein sind. Es kommen ein paar Freunde aus dem Schwimmklub, dann Fräulein Bang und Fräulein Klausen aus dem Büro, patente Mädel alle beide, und ich traf Hjerring und Finnegard auf der Straße und hab’ sie gleich dazugebeten. Sie waren gerade in Hochstimmung, denn der eine hatte ein Bild verkauft und der andere Aussicht, irgendwo auszustellen. Hjerring will seine neue Freundin mitbringen und Finnegard seine Verlobte…“ Ellen hörte nicht weiter auf das, was die „Katekatz“ noch berichtete. Hjerring und Finnegard waren ihre alten Freunde von der Kunstgewerbeschule. Beide hatten das Kunsthandwerk aufgegeben und waren zur Malerei übergegangen. Ellen erinnerte sich an wunderbare Abende im Kreis der Studienfreunde, sie hörte sie wieder mit Eifer sich die Köpfe heiß reden und die Zukunft in himmelblauen Farben ausmalen. Mit Schriftstellern, Schauspielern und Filmleuten waren sie zusammengekommen – ach, es war eine herrliche Zeit gewesen! Und mit einem Male erwachte in Ellen ein unbezähmbares Verlangen, diese Zeit wiederzuerwecken, mit all dem frohen Künstlervolk zusammenzutreffen, die korrekte Büromaske abzulegen und wieder jung und unbedenklich optimistisch zu sein. „Ja, und dann habe ich noch ein paar eingeladen, aber sie fallen mir im Augenblick nicht ein“, sagte Kate. „Du, das wird bestimmt ein rauschendes Fest. Für dich und mich mache ich ganz feine Körbchen zurecht. Vielleicht kleine Lammkoteletts und Pommes frites, und dann eine schöne Torte als Nachtisch – du weißt, wir müssen etwas austüfteln, was kalt gegessen werden kann. Ein paar
Pralinen können wir auch dazwischenstecken. Dann werde ich die Körbe so ausschmücken, daß wir sie auch bestimmt wiedererkennen. Und…“ Kate redete, und Ellen saß still da und hörte zu. Nach dem Essen wuschen sie zusammen das Geschirr ab, danach zog sich Ellen um und ging in den Garten. Der Onkel hatte den Schwestern ein Stück zur Verfügung gestellt, wo sie Salat, Radieschen und Petersilie selbst ziehen konnten. Ellen harkte Zweige und alte Krautreste von den Beeten und schichtete sie auf einen Haufen, um sie am Abend zu verbrennen. Es war ein schöner Frühlingsabend. Der kühle, säuerliche Duft nach Erde und vermodertem Laub mischte sich mit dem Krautfeuer aus einem der Nachbargärten. Nichts war so verheißungsvoll wie ein Krautfeuer im Frühling. Ellen wurde von Unruhe erfaßt. Da hatte sie nun geglaubt, sich mit ihrem Dasein als tüchtige, geschätzte Sekretärin in einer soliden Firma abgefunden zu haben, doch mit einem Male wollte ihr das nicht mehr gelingen. Seit Kate Hjerring und Finnegard und ihre Malerei erwähnt hatte, war sie innerlich erregt. Energisch packte Ellen den Schaft der Harke an. Es kribbelte ihr in den Fingern nach Stift und Zeichenblock, nach feinem, pastellfarbenem Wollgarn und schönen Webmustern. „Nimm dich zusammen, Mädchen!“ murmelte sie vor sich hin, während sie einen großen Haufen Reisig aufschichtete. Dann blickte sie sich um und fand, daß sie eigentlich den ganzen Garten harken könne. So brauchte es der Onkel nicht zu tun, wenn er zurückkehrte. Es war gut, mit Arbeit die Gedanken zu vertreiben. Man durfte ihnen nicht gestatten, die Grenze zu überschreiten, die man ihnen gesetzt hatte. Wahrhaftig, da war drüben am Zaun schon der erste Löwenzahn aufgeblüht. Wie kleine, goldgelbe Sonnen leuchteten die Blüten zwischen den zarten, hellgrünen Blättchen hervor. Er hatte etwas Rührendes, dieser erste Löwenzahn des Jahres. Ellen legte die Harke beiseite, bückte sich und pflückte die kleinen gelben Sonnen. In Gedanken versunken stand sie da und betrachtete den Strauß in ihrer Hand. Diese Blüten – allein für sich gemalt, stilisiert, am besten einzeln in einer Linie, jedoch ohne auf die zierliche Weichheit ihrer Form zu verzichten… Ellen sah sie als Hauptmotiv auf einem Wandbehang – nein, nicht als Hauptmotiv, sondern am unteren Rand des Bildteppichs, zu Füßen einer Gestalt –
einer Frauengestalt, kräftig und schlank, frühlingshaft jung und stark… „Guten Abend, Fräulein Böe! Wissen Sie eigentlich, daß Ihnen der Overall noch besser steht als Ihr Radfahrkostüm?“ Ellen fuhr zusammen. Hinter dem Zaun stand John Lage, in Lodenkleidung und mit windzerzaustem Schopf. „Ach – guten Abend! Wo kommen Sie denn her?“ „Aus dem Wald! Und ich habe die ersten Leberblümchen gefunden. Wollen Sie sie haben?“ Ellen nickte und streckte die Hand danach aus. Dabei berührte sie seine Hand, und plötzlich wechselten in seinem Gesicht Farbe und Ausdruck, nur für einen Augenblick wurde es blaß, und um die Mundwinkel zuckte ein schmerzlicher Zug. Doch in der nächsten Sekunde war er wieder er selbst und schaute sie jungenhaft lächelnd an. „So sollten Sie gemalt werden – mit Löwenzahn und Leberblümchen und in Ihren Gartenhosen.“ „Am liebsten würde ich selber Löwenzahn und Leberblümchen malen“, erwiderte Ellen lachend. „Tausend Dank! Wie hübsch sind sie!“ Sie erinnerten Ellen an fragende, staunende Kinderaugen, diese erst halb aufgesprungenen Blüten, die er ihr reichte. „Mögen Sie Löwenzahn auch so gern?“ fragte er. „Ich begreife nicht, daß so viele Leute darin nichts anderes sehen als Unkraut. – Wollen Sie übrigens den Reisighaufen dort verbrennen?“ „Ja, sobald ich alles zusammengeharkt habe.“ „Darf ich Ihnen helfen? Der Abend ist so wunderbar, daß ich keine Lust habe, nach Hause zu gehen. Außerdem ist es gerade das richtige Wetter für ein Krautfeuer.“ Er sprang über den Zaun, ergriff die Harke und arbeitete mit raschen, geübten Bewegungen. Der Reisighaufen sollte das reine Sonnenwendfeuer werden. Sie sprachen nicht. Aber Johns Gesicht zeigte einen eigentümlichen Ausdruck. Zwar lächelte er jedesmal, wenn seine und Ellens Blicke sich trafen, doch hinter diesem Lächeln lag eine Spannung, ein geradezu verbissener Ernst. Ellen ging ins Haus, um Streichhölzer zu holen. John richtete sich auf und blickte ihr nach. Wieder fühlte er die wunderbare Verzauberung, die er in letzter Zeit immer stärker empfunden hatte. Er sehnte sich danach, sie in die Arme zu nehmen, ihren Atem auf
seiner Wange zu spüren, ihre Lippen auf den seinen. Diese schlanke, kräftige Gestalt, die glänzenden Augen, der ernste Mund – unwiderstehlich zog sie ihn an. Dabei wußte er, daß es unmöglich war. Sie war fünf Jahre älter als er, so reif und vernünftig, so ruhig und klug. Und er? Er hatte ihr nichts zu bieten, kein Heim und keine Zukunft. Ellen war nicht der Typ, mit dem man für einen Abend flirtet, ohne es ernst zu meinen. John konnte sich sogar nicht einmal vorstellen, sie zu küssen, ohne sie um ihre Hand zu bitten. – Nein, es war sinnlos. Es war verrückt! Hätte sie doch bloß neulich nicht gesagt, sie könne seine Mutti sein! Neben ihr kam er sich vor wie ein tolpatschiger Junge. In seinem Beruf fühlte er sich als erwachsener Mann, denn seine schwere Kindheit und Jugend hatten ihn vorzeitig gereift. Aber Ellen war ihm himmelhoch überlegen, älter, klüger, ausgeglichener – kurzum, in jeder Beziehung unerreichbar. Es wäre nichts passiert, wäre sie nicht gerade in dem Augenblick über eine Baumwurzel gestolpert, als sie ihm die Streichholzschachtel geben wollte. Er griff nach ihrem Handgelenk, damit sie nicht fiel, und sie lächelte ihm zu wie um Entschuldigung bittend für ihre Ungeschicklichkeit. Da hatte er sie auch schon in seine Arme gerissen. Mit einem Male fühlte er sich nicht mehr unterlegen, sondern als Mann, stark und mit Besitzerverlangen und Besitzerrecht. Er hielt sie fest, beugte ihren Kopf zurück und starrte sie an. Er küßte sie nicht gleich. Er schaute auf sie herab, in die unergründlich blauen Augen, sein Blick folgte jeder Linie ihres Gesichtes, den geschwungenen Brauen, der geraden Nase, dem festen Mund, und er wußte, daß er sie liebte. Er entdeckte die winzigen Fältchen neben den Augenwinkeln, Fältchen, die verrieten, daß Ellen sich der Dreißig näherte, also wesentlich älter war als er, doch er liebte sie auch um dieser Fältchen willen, und es war ihm klar, daß er sie auch dann noch lieben würde, wenn das dunkle Haar Silbersträhnen bekam, und wenn die Zeit mehr und tiefere Falten in ihr Gesicht prägte. Die Liebe füllte ihn so vollkommen aus, daß für keinen anderen Gedanken mehr Platz war. Er fühlte ihren warmen Körper, sah die Pulsschläge an ihrem Hals, beugte sich herab und küßte sie. Alles war so natürlich, so logisch und richtig. John fühlte sich in völliger Harmonie mit sich selbst, dem Frühlingsabend, dem Leben und der Welt, weil er Ellen in seinen Armen hielt, weil er sie – alle
Formalitäten, Einleitungen und diplomatischen Spitzfindigkeiten überspringend – geküßt und ihr ins Gesicht geflüstert hatte: „Ich liebe dich.“ Sie war ganz still, ließ sich küssen und leistete keinen Widerstand. Sie antwortete nicht, aber das war auch nicht nötig, denn sie lag ja in seinen Armen, und das genügte, um ihn mit einem Glücksgefühl zu erfüllen, das ihn zu sprengen drohte. Endlich richtete sie sich auf, machte sich behutsam frei und blickte ihn an, ruhig und ernst. In ihren Augen lag ein Ausdruck der Milde, ohne Verlegenheit, Koketterie oder Aufregung. Auch ihre Stimme war ruhig, als sie leise sagte: „Jetzt mußt du gehen, John. – Gute Nacht!“ Er nahm ihre Hand, drückte sie fest mit beiden Händen, beugte sich darüber und küßte sie. „Gute Nacht!“ Sie blieb stehen und sah ihm nach, bis er den Weg entlang in der Dunkelheit verschwunden war. „Na, ich denke, du wolltest den Reisighaufen abbrennen?“ fragte Kate, als sie in den Garten kam, um ihre Schwester zum Abendessen zu holen. „Nein“, erwiderte Ellen, „es ist zu spät, wir verbrennen ihn morgen.“ John ging durch die dämmerige Allee. Er dachte nicht, räsonnierte nicht, er hörte nur immerzu eine leise, melodische Stimme sagen: Jetzt mußt du gehen, John! „Du“ hatte sie gesagt – und „John“. Sie bat ihn zu gehen – das spielte keine Rolle. Aber mit dem „du“ und der Anrede mit dem Vornamen erkannte sie ihn und seine Handlungsweise an. Er würde nun Ellen zu ihr sagen dürfen. Ellen – Ellen – Ellen – flüsterte der Kies unter seinen Sohlen. Ellen – Ellen – Ellen – zischelten die Baumwipfel über ihm. Ellen – Ellen – Ellen – jubelte es in seinem Herzen.
ZWEITES KAPITEL Kate war so geschäftig wie noch nie. Gleich nach der Heimkehr vom Büro stellte sie das ganze Haus auf den Kopf. Das beste Geschirr wurde hervorgeholt und abgewischt, die geschliffenen Gläser blankpoliert und die handgemalten Aschenbecher verteilt, sie kaufte Blumen und füllte damit sämtliche erreichbaren Vasen und Krüge. Kate hatte einen sicheren Blick für Wirkung und geschickte Hände, und so verloren die altmodischen Zimmer ihr sonst etwas steifes Gepräge und wurden im Schmuck bunter Blumen und farbiger Beleuchtung aufgelockert und festlich heiter. Kate strahlte vor Freude. Endlich war der Tag ihrer großen Gesellschaft da. Alle kleinen Tische, die sich im Hause auftreiben ließen, hatte sie zusammengetragen und so verteilt, daß sämtliche Gäste paarweise für sich allein daran sitzen konnten. Einer stand unter den großen Fächern einer Palme, einer hinter dem freistehenden Bücherregal, einer in der Ofennische, einer im Erker und so weiter. Oh, Kate war sehr erfinderisch. Und auf allen Tischen standen Blumen und bunte Kerzen. „Da fehlen nur noch Telefone und Rohrpost“, meinte Ellen lachend, „dann wäre der Eindruck von einem Pariser Nachtklub vollständig.“ Kate stand mitten im Zimmer und betrachtete ihr Werk. „Du, mir scheint, in dieser Umgebung können die Leute schlechterdings gar nicht umhin, sich zu verloben. Ich bin übrigens sehr gespannt, ob sich alle Mühe gegeben haben, recht leckere und hübsche Freßkörbchen herzustellen.“ Kate hatte aus den Körben für Ellen und sich selbst geradezu kleine Kunstwerke gemacht, sowohl in bezug auf die Delikatessen als auch ihre appetitliche Herrichtung. Doch als sie nun darangehen wollte, sie noch ein wenig zu schmücken, nahm Ellen einen davon an sich und erklärte: „Bei meinem mache ich es selber.“ Bald darauf konnte Kate das Ergebnis bewundern. Der Korb war von einem Kranz aus goldgelbem Löwenzahn umgeben, und an den Henkel hatte Ellen ein zartes Sträußchen blauer Leberblumen gebunden. Das sah reizend aus.
„Wie bezaubernd frühlinghaft!“ rief Kate aus. Sie hatte ihren eigenen Korb mit Narzissen und den ersten hellgrünen Birkenblättchen geschmückt. Ellen ging hinauf, um sich für das Fest umzuziehen und hübsch zu machen. Eine Zeitlang saß sie still vor ihrem Toilettentisch und betrachtete sich aufmerksam im Spiegel. Forschend blickte sie in ihr Gesicht. Die winzigen Fältchen an den Augenwinkeln, der etwas müde Zug um den Mund – sie waren kaum zu sehen, wenn man nicht unbarmherzig gründlich hinschaute. Aber sie waren nun einmal da und würden nicht wieder schwinden. Die Jahre hatten ihre allererste Prägung hinterlassen, still, unerbittlich und unausweichlich. Ellen war kein junges Mädchen mehr. Sie war eine Frau, eine erwachsene, reife Frau. Und ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren hatte sie geküßt, hatte gesagt, daß er sie liebe. Dabei war in seinen Augen deutlich zu lesen, daß er die Fältchen gesehen hatte. Außerdem war ihm ja ihr Alter bekannt – und er liebte sie trotzdem! Vor drei Tagen war das gewesen. Ellen hatte seitdem vermieden, ihn wiederzutreffen – ihm zuliebe. Sie wollte ihn möglichst nicht früher wiedersehen als in einer Woche. Er sollte sich erst sammeln und ruhiger werden, damit er sich nicht, jung und unbedenklich, wie er war, in etwas stürzte, das er später bereute. Ellen zog den Kamm durch das dunkelbraune Haar. Es legte sich sofort in weiche, glänzende Locken, sobald es vom Griff der Zinken befreit war. Aber es lag in der Familie, zeitig grau zu werden. Noch ein paar Jahre, und an den Schläfen würden die ersten Silberfäden zu sehen sein. So war es bei der Mutter gewesen und beim Vater auch. Ellen wählte sorgsam die Farbe der Strümpfe aus und zog dann die Wildledersandaletten an. Ihre Beine und Füße waren wohlgeformt und konnten jeder Kritik standhalten. Niemals hatten sie eine Mißhandlung durch zu enges, hochhackiges Schuhwerk erdulden müssen. Dann legte sie den Kimono ab und holte das blaue Abendkleid aus dem Schrank. Der weite Ausschnitt brachte die hellbraun getönte Haut des Halses wunderbar zur Geltung, und die Farbe des Kleides harmonierte mit dem Blau der Augen. Prüfend trat sie noch einmal vor den großen Spiegel – ja, sie sah gut aus. Da hörte sie Kate die Treppe heraufkommen und wandte sich
hastig vom Spiegel ab. Kate riß die Tür auf und stürzte atemlos herein. „Himmel – nur noch zehn Minuten! Bist du fertig? Gut! Du mußt die Gäste im Zimmer begrüßen, und ich werde draußen in der Halle stehen und die Körbe der Damen in Empfang nehmen. – Ach, du Schreck, da hab’ ich ja eine Laufmasche. Hast du noch ein Paar einwandfreie Strümpfe für mich, Ellemama? Sicher! Und pumpst du mir deine Korallenkette?“
Während Kate dies alles hervorsprudelte, hatte sie sich bereits ihr leuchtend bunt gemustertes Seidenkleid übergeworfen, das wie ein ganzes Blumenbeet wirkte und ihr ausgezeichnet stand. Die Kette um den Hals, die hochhackigen Goldledersandaletten an die kleinen Füße, das alte, breite Goldarmband von Mutter ums linke Handgelenk, mit dem Kamm einmal durch die schimmernden, rotblonden Locken – und Kate war fix und fertig. Erst als Ellen im Zimmer stand und das Läuten an der Haustür hörte, wurde ihr bewußt, daß sie jetzt für zwanzig bis dreißig junge Menschen die Gastgeberin zu spielen hatte, eine Zeremonie, die ihr noch ziemlich fremd war. Sie hatte Kate machen lassen, was sie wollte, und geglaubt, als große Schwester nur darüber wachen zu müssen, daß nichts geschah, was einen Schatten auf das Fest ihrer lieben Katekatz werfen konnte. Nun war ihr recht beklommen zumute, denn in gesellschaftlichen Dingen war Ellen noch ungewandt, zumal sie ohnehin zur Zurückhaltung Fremden gegenüber neigte. In den letzten Tagen hatte sie mit Kate so gut wie gar nicht gesprochen. Die jüngere Schwester war ja auch so beschäftigt gewesen, und Ellen gehörte auch sonst nicht zu den Redseligsten. Aber sie wußte, daß sie gerade in diesen Tagen besonders schweigsam gewesen war. Sie nahm jedoch an, daß Kate es nicht bemerkt hatte, da sie immer schon für zwei zu reden pflegte. Und dann waren die Gäste da. Junge Mädchen in Kates Alter, fast alle mit den gleichen Frisuren und den gleichen roten Mündern, nur die Kleider hatten verschiedene Farben. Die jungen Männer, Kates frühere Klassenkameraden oder jetzige Sportfreunde, trugen den ersten Smoking ihres Lebens. Schließlich kamen noch Ellens ehemalige Studienkameraden von der Kunstgewerbeschule, Hjerring und Finnegard, Hjerring mit einem kleinen, strohblonden Wesen, das allen völlig unbekannt war. „Totten Thue“, stellte sich das Mädchen selber vor, „ich bin zwar nicht eingeladen, aber Hjerrings Freundin war gerade eingeschnappt und hat abgesagt, da bin ich für sie eingesprungen – zwar weniger mit Trost und persönlichem Charme als vielmehr mit einem Korb voll gebratenem Hähnchen und Fruchtsalat. Hjerring fürchtete nämlich, er bekäme keinen Korb, wenn er keine Dame mitbrächte. Der eine ,Korb’ genügte ihm wohl nicht…“ So schwatzte Totten Thue drauflos, und Ellen lächelte ihr zu. Die
Kleine hatte so etwas Liebenswürdiges und Zuverlässiges. „Es ist wirklich reizend von Ihnen, daß Sie sich als Retterin in der Not hergegeben haben“, sagte Ellen, „herzlich willkommen!“ „Vielen Dank! Oh, wie festlich es hier ist! Ach nein, sieh doch mal, Gusse, das Tischchen da unter der Palme, das müssen wir haben. Komm, wir reservieren es für uns, Gusse!“ Damit zog sie Hjerring mit sich fort in Richtung auf das Tischchen zwischen den Grünpflanzen. Lächelnd blickte Ellen ihnen nach. Das Mädchen war sicher mindestens die achtunddreißigste, die August Hjerring „Gusse“ nannte und glaubte, ihn für sich allein zu besitzen. Gerade in dem Augenblick, als Ellen sich von den beiden abwandte, sah sie ihn. Er stand in der Tür, ein wenig verloren und unsicher, den widerspenstigen blonden Schopf gewaltsam zurückgestriegelt, und die Hemdbrust wirkte unnatürlich weiß gegen das wettergebräunte Gesicht. Die Hände hingen groß und hilflos aus den Smokingärmeln. In Jägerhemd und Lodenjacke fühlten sie sich offensichtlich heimischer. Mit einem Male wußte Ellen, daß sie diesen Augenblick erträumt, die alberne, unsinnige Hoffnung gehabt hatte, er werde kommen. Kate kannte ja alle Welt, warum also nicht auch John? Dann war es doch selbstverständlich, daß er zu den dreißig gehörte. Da entdeckte er sie. Sie sah ihn auf sich zukommen, sah seine breiten Schultern, das blonde Haar, die grauen Augen, die unverwandt auf sie gerichtet waren, und die Liebe leuchtete aus seinem Blick, den sie wie eine Liebkosung empfand. „Willkommen, John!“ Zuerst sagte er nichts, sondern drückte nur fest ihre Hand. Dann sah sie, daß sich seine Lippen bewegten, doch es dauerte einen Augenblick, bis sie erfaßte, was er gesagt hatte. „Ellen – wie schön du bist!“ Eine heiße Welle stieg Ellen in die Wangen. Sie wußte, daß er recht hatte. Heute abend war sie schön, und sie hatte sich für John schön gemacht. Es fiel ihr schwer, sich wieder zu sammeln und als aufmerksame Gastgeberin die letzten Gäste zu begrüßen. Denn ohne in die Richtung zur Eßzimmertür zu schauen, wußte sie, daß von dort ein Paar graue Augen ständig zu ihr herüberblickten.
Es war eine Erleichterung für sie, als Kate hereinkam und den Raum mit ihrer hellen, lauten Stimme und ihrem fröhlichen Lachen füllte. Ellen verzog sich in die halbdunkle Diele. Sie preßte die Hände an die Schläfen. Was war denn los? Warum schlug ihr Herz so heftig? War sie etwa verliebt in diesen braungebrannten Jungen? Oder war es die Kraft seiner ersten Liebe, die sich ihrer bemächtigte? Drinnen klatschte Kate in die Hände und rief: „Bitte zu Tisch! Oder vielmehr, die Damen werden gebeten, einen Tisch auszuwählen, und die Herren gehen bitte ins Eßzimmer und suchen sich einen Korb aus. Dann gehen sie damit von Tisch zu Tisch, bis sie die Dame gefunden haben, die ihn mitgebracht hat, denn sie ist seine Tischpartnerin. – Also – darf ich bitten, meine Herren!“ Die Tür wurde geöffnet, und die jungen Männer strömten herein, mit offensichtlichem Vergnügen an diesem Arrangement. Ellen schlich ins Arbeitszimmer des Onkels, wo sie sich einen Tisch in einem versteckten Winkel reserviert hatte. Plötzlich durchfuhr sie ein heißer Schreck: Wenn nun ein anderer mit ihrem Korb ankam! Dann mußte sie hier eine oder gar zwei unerträgliche Stunden mit einem von Kates Schulkameraden, mit Gusse Hjerring oder sonstwem verbringen. Aber sie hatte doch nur deshalb ihren Korb mit Löwenzahn und Leberblümchen geschmückt, weil sie heimlich mit dem doch im Grunde Unwahrscheinlichen gerechnet hatte, John werde unter den Gästen sein. Im Eßzimmer drängten sich die Herren um den Tisch, auf dem die Körbe standen. „Der ist aber hübsch!“ sagte der neunzehnjährige Lasse und streckte bereits die Hand nach dem Korb aus, dessen Henkel mit den Leberblümchen verziert war. Doch da schob sich eine braungebrannte, sehnige Hand zwischen Lasses Hand und das Körbchen. Der Gast, dem diese Hand gehörte, sagte kein Wort. Er ergriff den Korb, drehte sich um und verließ den Raum – ohne eine Miene zu verziehen, ohne nach rechts und links zu blicken. Er fragte gar nicht erst unter den anderen jungen Damen nach der Eigentümerin des Korbes, sondern ging schnurstracks und mit dem sicheren Instinkt eines treuen Hundes, der seine Herrin sucht, ins Arbeitszimmer zu Ellen. Dort setzte er den Korb auf den Tisch. Ellen lächelte ihn an, sagte aber nichts. Reglos blieb er neben ihr stehen und sah zu, wie sie mit
raschen, geschickten Händen die kleinen Delikatessen auspackte und anrichtete. „Willst du dich nicht setzen, John?“ Er fuhr zusammen wie aus dem Schlaf aufgeschreckt. „Ja!“ Nebenan machte Kate das Radio an. Gedämpft klang die Musik zu den beiden herüber. „Ellen!“ „Ja?“ „Ich kann jetzt nicht sprechen. Darf ich ganz still bei dir sitzen – nichts anderes als bei dir sein?“ Sie nickte lächelnd. Sie aßen ohne ein Wort. Er füllte die Gläser, und sie tranken sich schweigend zu. Unterhaltung, Gelächter und Rufe der anderen klangen wie ferne, gleichgültige Geräusche, die sie nichts angingen. Sie schienen allein auf der Welt zu sein. Als sie mit dem Essen fertig waren, legte John plötzlich die Arme auf den Tisch, beugte sich vor und starrte Ellen eindringlich an. „Ellen“, begann er mit leiser, unterdrückter Stimme, die jedoch jedem Wort Gewicht und Bedeutung gab, „ich liebe dich. Ich habe bisher nicht gewußt, daß man einen Menschen so lieben kann. Du bist ständig bei mir, wo ich auch bin und was ich auch tue. Du bist – ja, du bist einfach alles für mich – hörst du – alles!“ Drüben hielt einer eine Rede. Brüllendes Gelächter folgte. Totten Thues heitere Stimme übertönte alle anderen. „Ellen – ich will dich nichts fragen. Ich wage es nicht. Ich will gar nicht wissen, daß du mich ganz gern leiden magst und mehr nicht. Ich will dich nur in meiner Nähe haben oder vielmehr wissen, daß du in meiner Nähe bist.“ Er faßte nach ihrer Hand und drückte sie hart. „Ich bitte dich nicht, mich zu lieben, Ellen, ich verlange nichts Unmögliches von dir. Ich bitte nur darum, dich lieben zu dürfen.“ Er beugte sich über ihre Hand und küßte sie. Ellen blickte auf den schmalen, braunen Nacken, das helle Haar, die kräftigen Schultern, und sie nahm den schwachen Duft nach Erde und Wald wahr, der von ihm ausging. Eine große Zärtlichkeit für John erfüllte Ellen. Es tat so gut, ihn bei sich zu haben, und sie wollte so gern recht lieb zu ihm sein. Mit der freien Hand strich sie über sein Haar. Da legte er sein Gesicht auf ihre Hand und schloß die Augen. „Weiter, Ellen – streichele mich noch einmal – noch einmal – Liebe, Liebste…“
„Hallo, da bist du ja, Ellemama! Ich bin so gespannt, wen du zum Kavalier bekommen hast. – Ach, Sie sind es, Herr Lage! Wissen Sie, ich hatte ein etwas schlechtes Gewissen, weil ich Sie so ohne weiteres eingeladen habe. Sie fanden mich vorgestern wahrscheinlich ein bißchen komisch, was?“ „Im Gegenteil, ich fand Sie außerordentlich liebenswürdig. Und Sie können alles andere eher als ein schlechtes Gewissen haben, denn ich versichere Ihnen, daß ich noch niemals so großen Wert auf eine Einladung gelegt habe wie auf diese.“ „Ist das Ihr Ernst? Na, hören Sie mal, Sie sind mir vielleicht einer!“ Kate lachte und legte den Arm um die Schultern der Schwester. „Weißt du, es war nämlich so, Ellemama: Ich stand mit Lasse an der Gartentür, als Herr Lage gerade vorbeiging. Wir wechselten ein paar Worte miteinander, und nachher sagte Lasse in seiner unbekümmerten Art: ,Das ist ein netter Kerl. Willst du ihn nicht auch zu deiner Gesellschaft einladen?’ – Natürlich’, sagte ich, ‚warum nicht? Das ist ein großartiger Einfall!’ Und so rief ich also einfach hinter Herrn Lage her, wenn er Lust habe, solle er heute abend kommen, Smoking oder dunkler Anzug – basta! Hinterher fiel mir ja selber auf, daß das wohl reichlich formlos war. Aber ich glaube, von mir erwartet keiner gesellschaftliche Korrektheit.“ Dabei lächelte Kate John Lage entschuldigend an. „Nein, Gott sei Dank!“ stimmte John lachend zu. „Formelle und korrekte Menschen sind mir ein Greuel.“ Dann fragte er: „Willst du gern tanzen, Ellen?“ Kate blickte mit großen Augen erst John und dann Ellen an. „Höre ich richtig? Ihr duzt euch schon? Na, hab’ ich’s dir nicht gleich gesagt, Ellen? Bei dieser Beleuchtung und in diesen lauschigen kleinen Eckchen können die Leute schlechterdings nicht umhin, sich heimlich zu verloben.“ Kate hatte die kräftigsten ihrer männlichen Gäste dazu angesetzt, das Eßzimmer auszuräumen. Das spiegelglatt gebohnerte Parkett war verlockend, die neuen Tanzplatten erst recht, und so war die Fläche im Nu voller tanzfreudiger Füße. John und Ellen sprachen nicht dabei. Sie paßten wunderbar zusammen, sie hatten den gleichen Rhythmus. Es war eine Freude, ihnen zuzusehen, beide so groß und schlank, der eine Kopf hellblond, der andere schwarzbraun. Jemand folgte ihnen mit den Augen – Kate. Ihr Kosename „Katekatz“ paßte in diesem Augenblick besonders gut zu ihr, denn
wie ein Kätzchen auf der Lauer und zum Schabernack bereit, beobachtete sie die Schwester und ihren Partner und machte sich insgeheim ihren Vers darauf. Als sie sah, daß die beiden immer näher zur Verandatür hin tanzten, nickte sie vor sich hin. Na also! Außer ihr bemerkte niemand, daß sie hinausschlüpften und die Tür leise hinter sich zumachten. Kleine Zweige und altes Laub knisterten unter ihren Füßen. John hatte Ellen in einen Umhang gehüllt und ging, den Arm um ihre Schultern gelegt, neben ihr her. Langsam und schweigend wanderten sie immer weiter. Lange war der Aprilabend hell gewesen, nun dämmerte es, und als sie in den Wald kamen, war es fast ganz dunkel. „Es ist so – so unwirklich“, flüsterte Ellen. Sie blickte hinauf in die Baumkronen, die sich als filigranartige Silhouetten vom gläsernen Graublau des Himmels abhoben. „Nein, das ist ganz wirklich. Jetzt sind wir in meinem Reich, wir beide. Du brauchst nicht ängstlich zu sein, ich kenne mich hier aus.“ „Ich bin nicht ängstlich.“ „Was bist du dann?“ Sie wandte ihm das Gesicht zu. In der Dunkelheit konnte sie nur schwach sein Profil erkennen. „Ich – ich glaube fast, ich bin – glücklich.“ Er blieb mit einem Ruck stehen. Dann hob er sie auf seine Arme und trug sie durch den dunklen Wald bis zu einem gefällten Baum. Dort setzte er sich hin, behielt sie aber im Arm, eingehüllt in den Umhang, als wäre sie ein kleines Kind. „Ellen – wenn ich jetzt sterben müßte, würde ich es nicht bedauern, denn ich habe das größte Glück erreicht, das ein Mensch haben kann. Ellen, ich habe noch nie eine Frau so geliebt wie dich, und ich werde es auch nie wieder können, das weiß ich.“ Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. Die Frühlingsnacht umgab sie wie eine schützende Glocke. „Gehörst du mir, Ellen?“ flüsterte er dicht an ihrem Ohr. „Ja, John.“ „Für immer?“ „Jetzt und immer!“
DRITTES KAPITEL Drei Wochen später heirateten sie. Gutsbesitzer Stahle ließ die Verwalterwohnung für sie herrichten. Er spielte sogar den Bräutigamsvater und überreichte als Hochzeitsgeschenk zwölf silberne Löffel. Kate und drei Freundinnen waren die Brautjungfern, und beim Onkel fand das Hochzeitsmahl statt. „Das muß eben überstanden werden“, meinte John, „aber wenn wir schon nicht drumherumkommen, andere Leute an unserem Glück teilhaben zu lassen, dann müßtest du auch als weiße Braut gehen, nicht wahr, Ellen, mein Schatz? Du wirst bezaubernd aussehen unterm Brautschleier.“ Ellen brachte es nicht übers Herz, sich dieser Bitte zu widersetzen, wie sie es ja überhaupt nicht über sich brachte, John einen Wunsch abzuschlagen. Vom ersten Augenblick an war sie ihm gegenüber völlig machtlos. Sie war sehr gespannt, wie Kate diese Neuigkeit aufnehmen würde, und befürchtete, die Schwester könnte von Einsamkeit, Verlassenheit und Sehnsucht nach ihr sprechen. Aber diese Besorgnis erwies sich als unbegründet. Kate fiel ihr mit einem Jauchzer um den Hals, drückte sie innig und gratulierte ihr unter Lachen und Weinen. In den vergangenen drei Wochen war sie ihr mit großem Eifer zur Hand gegangen und eine unentbehrliche Hilfe gewesen. Sie hatte Gardinen genäht, die Hauswäsche geordnet, bei der Auswahl der Möbel geholfen, die angeschafft werden mußten, und eine Liste über die notwendige Küchenaussteuer aufgestellt. John und Ellen hatten es auch dringend nötig, darauf zu achten, daß wirklich nur das Nötigste gekauft wurde. Wenn John auch im Verhältnis zu seiner Jugend ein recht gutes Gehalt bekam, mußte Ellen doch vorerst ihren Beruf weiter ausüben. Sie durfte ja Kate noch nicht ganz im Stich lassen, deren Gehalt so niedrig war, daß sie unmöglich davon leben konnte, und so war sie auf einen monatlichen Zuschuß von Ellen angewiesen. „Ein bißchen verrückt sind wir ja“, meinte John. „Wenn es nach meinen Wünschen ginge, bekämst du von mir als Morgengabe eine Villa, ein Auto, einen Nerz und eine Perlenkette. Statt dessen biete ich dir zwei Zimmer, Möbel aus Kiefernholz und als Morgengabe
höchstens einen elektrischen Brotröster.“ Ellen lachte und strich John übers Haar. „Natürlich sind wir verrückt“, räumte sie ein, „aber nicht aus wirtschaftlichen Gründen. Das Verrückte an der Sache liegt darin, daß du, der du jung und stattlich bist und – na ja, kurz gesagt – – ein hübsches, junges Ding von achtzehn Jahren haben könntest, mich altes Frauenzimmer gewählt hast.“ „Willst du wohl still sein!“ John drückte sie an sich und küßte sie. „Wenn du das noch ein einziges Mal sagst, dann – dann…“ „Was tust du dann?“ fragte Ellen und schaute ihn an. In ihren blauen Augen blitzte der Neckteufel. „Ich – ich…“ John blickte sie hilflos an. Doch plötzlich packte er mit festem Griff ihre Locken und hielt sie fest. „Ich verprügele dich!“ „Wirklich? Das möchte ich erleben! Also, ich sagte, du hättest eine Jüngere und Hübschere haben können als mich alte…“ „Ellen!“ Johns Stimme wurde mit einem Male ernst und hatte einen schmerzlichen Unterton. „Sag so etwas nicht! Es tut weh, das zu hören.“ Sie errötete und lächelte ein bißchen unsicher. „Ich wollte dir nicht weh tun, Liebster! Ich wollte nur mal wissen, ob du mich wirklich schlagen kannst.“ „Und du glaubst, ich könnte es?“ „Nicht mal im Spaß!“ „Nein, nicht mal im Spaß!“ „Unter gar keinen Umständen? Auch nicht, wenn ich etwas schrecklich Gemeines täte?“ „Das kannst du ja gar nicht. Und selbst wenn du es tätest, würde ich dich niemals schlagen.“ „Du, ich hätte Lust, mal so richtig häßlich zu dir zu sein, nur um festzustellen, ob du nicht doch mal deine Selbstbeherrschung verlierst.“ „Das würde dir nichts nützen. Du könntest mich höchstens traurig machen, aber nicht wütend.“ „John, ich fürchte, du bist zu gut für diese Welt.“ „Und du bist zu gut für mich.“ Da nahm sie sein Gesicht zwischen ihre Hände und küßte ihn. Ellen konnte keinen Schlaf finden. Die Mainacht draußen vor den Fenstern schien ungeduldig darauf zu warten, daß es Tag werde, ungeduldig, weil noch so viel zu tun
war. Die Knospen brauchten nur noch einen Tag Sonnenschein, um aufzuspringen, die hellgrünen Keime rundum im Garten wollten treiben, und die zarten lichtgrünen Schleier an den Birken sollten sich zu kräftigem Blattgrün entwickeln. Sacht bewegte sich die Gardine in der Nachtbrise. Ellen spürte den Druck von Johns Kopf auf ihrem Arm. Sie wandte sich zu ihm um und sah in sein Gesicht. Er schlief tief und fest. Im grauen Morgenschimmer betrachtete sie ihn, der nun seit einer Woche ihr Mann war. Sie war hellwach, blickte in die Morgendämmerung und ließ ihren Gedanken freien Lauf. John! Lieber, großer, unfaßbar guter und aufopferungsbereiter Junge! Sein Dasein schien sich nur noch um einen Punkt zu drehen: die Liebe zu ihr. Er war geradezu demütig dankbar für jeden Kuß, für jedes Streicheln über sein Haar. Er ersparte ihr fast alle Hausarbeit. Da seine Tätigkeit nicht wie die ihre an bestimmte Uhrzeiten gebunden war, fand Ellen oft eine aufgeräumte und saubere Wohnung vor, wenn sie vom Büro heimkam. Und jeden Wunsch, der nur irgend erfüllbar war, las er ihr von den Augen ab. Womit nur konnte sie John so vollkommen für sich eingenommen haben? überlegte Ellen. Sie dachte zurück an die Jahre auf der Kunstgewerbeschule, an die Freunde, mit denen sie diskutiert, Ausflüge gemacht und ihren Spaß gehabt hatte. „Ein richtiger kleiner Deubel bist du, Ellen!“ hatte Hjerring einmal gesagt. „Ab und zu hab’ ich Lust, dich roh zu fressen.“ Und ein andermal hörte sie zwei Kommilitoninnen untereinander sagen: „Die Ellen Böe hat sich ihre Portion Charme gleich doppelt genommen.“ Solche Bemerkungen machten keinen sonderlichen Eindruck auf sie. Als dann der Vater starb und die Verantwortung für Kate und die Beschaffung des Lebensunterhaltes auf ihre Schultern gelegt wurden, hatte sie an ernstere Dinge zu denken als an die mehr oder weniger faustdicken Komplimente der Studienkameraden. So glitt sie aus dem Künstlerkreis in eine brave Bürgerlichkeit hinüber, in anstrengende und verantwortungsvolle Aufgaben, bei denen sie sich im Grunde recht wohl fühlte, wenn es auch nicht ausblieb, daß sie hin und wieder Sehnsucht nach den Freunden bekam. John war nicht der erste, der sie heiraten wollte, aber bei ihm erlebte sie zum erstenmal eine derartig selbstvergessene Liebe, zum erstenmal bedeutete sie für einen anderen Menschen absolut alles.
Natürlich hatte sie John lieb, sehr lieb sogar. Doch in dieser Nacht drängten sich ihr schwerwiegende Gedanken auf: Was wußte sie eigentlich von John? Kannte sie ihn denn bis auf den Grund seiner Seele? Wußte sie mehr von ihm, als daß er ein gutaussehender, netter junger Mann war und daß er sie liebte? Die Unterschiede in ihren Charakteren, ihrer Wesensart, wurden an vielerlei Kleinigkeiten sichtbar. „Wollen wir morgen ins Theater gehen, John? Da ist eine Premiere. ,Don Carlos’ von Schiller.“ „Carlos? Habe nicht die Ehre. Ist das gut?“ Ellen mußte lächeln. „Ja, sehr gut. Ich hab’s vor ein paar Jahren in Stockholm gesehen.“ „Ach, du hast es schon gesehen? Na, dann ist es doch wohl nicht mehr sehr spannend für dich, nicht wahr?“ „Ich gehe doch nicht zu klassischen Vorstellungen, um etwas Spannendes zu sehen, mein Lieber, sondern um große dramatische Kunst zu genießen.“ „Ach so – na ja“, sagte John und blickte ziemlich verständnislos drein. „Da es eine Premiere ist, muß ich wohl den Smoking anziehen?“ „Ja, das mußt du.“ John schien die Sache nicht sonderlich zu reizen. „Ich habe aber so große Lust hinzugehen, John.“ Da war John mit einem Schlage wie umgewandelt. „Dann gehen wir selbstverständlich hin. Ich laufe sofort zum Telefon und bestelle Karten.“ Schon war John zur Tür hinaus und lief hinüber zum Gutshaus, um von dort die Theaterkasse anzurufen. Oder ein andermal: da saß John vor dem Radio und drehte von einem Sender zum anderen, hörte hier ein paar Takte von einem Wiener Walzer, dort ein paar Takte moderne Tanzmusik, dazwischen heulte und krachte es im Lautsprecher, bis John mitten in einem Fußballkampf war, der von dem Sportsprecher aufgeregt und begeistert geschildert wurde. Es war eine Tortur für Ellens Nerven. „Wonach suchst du eigentlich, John?“ „Ach, nach irgend etwas Nettem.“ „Bitte, hier ist das Programmheft. Such dir da heraus, was du hören willst, aber hör mit diesem nervenzerreißenden
Ätherspaziergang auf.“ „Wieso? Das macht doch Spaß.“ „Findest du? Ich kann diese Heulerei nicht ertragen.“ Unsicher blickte John mit dem Programmheft in der Hand Ellen an. „Weißt du, es ist so schwierig, sich etwas auszusuchen, wenn man’s nur gedruckt vor sich sieht. Es ist viel einfacher, eben mal quer durch die Sender zu hören.“ „Hör mal, mein Lieber, wenn du dir einen Film ansehen willst, läufst du doch auch nicht durch die ganze Stadt von einem Kino zum anderen, bis du den gefunden hast, den du gern sehen möchtest, sondern du guckst in die Zeitung, nicht wahr? Stell dir mal vor, wie leicht dir etwas wirklich Gutes und Wertvolles entgehen kann, wenn du gar nicht weißt, was gesendet wird.“ John warf seiner Frau einen flüchtigen Seitenblick zu, errötete und griff nach dem Programmheft. „Um neun Uhr gibt es in Malmö ein Konzert auf der Kino-Orgel“, sagte er. „Willst du das gern hören? Das paßt ja, jetzt ist es erst acht, dann können wir bis dahin noch das Sinfoniekonzert aus Kopenhagen hören, falls du nichts dagegen hast.“ John hatte niemals etwas dagegen. Er saß da und sah seiner vernünftigen, intelligenten Frau zu, wie sie mit geübten, behutsamen Händen den Sender richtig einstellte, so daß die Musik volltönend und rein herausströmte. Dann lehnte sie sich lächelnd zurück. „Das gehört zum Schönsten, was ich mir denken kann“, sagte sie leise. John öffnete den Mund, um zu fragen, was es sei, doch er griff lieber nach dem Programmheft. „Das Vivace aus dem ersten Satz von Beethovens siebter Sinfonie“, erklärte Ellen. John seufzte unhörbar. Schließlich nahm er eine Zeitung und vertiefte sich in die Sportberichte. Beethovens herrliche Musik brauste an seinen Ohren vorüber. Doch am späten Abend, als Ellen aufstand, um aufzuräumen und die Lampen zu löschen, stand er vor ihr in seiner ganzen jugendlichmännlichen Kraft, nahm sie in seine Arme und trug sie, ohne ihren Widerspruch zu beachten, hinüber ins Schlafzimmer. Das war der Augenblick, in dem er entschädigt wurde für all die
kleinen Demütigungen, die er im Laufe des Tages einstecken mußte. Der blonde Kopf neben Ellen bewegte sich. John seufzte im Schlaf. Nein, sie wußten nicht viel voneinander. Sie waren nur über die Maßen verliebt. Wie ein eisiger Schauer durchfuhr Ellen die Angst. Wie sollte das gehen im Laufe der Jahre? Würde Johns Liebe sie beide über die Schwierigkeiten hinwegtragen können, die Ellen mit visionärer Klarheit vor sich auftürmen sah? Und wie groß war ihre eigene Liebe? Wieviel würde sie aushalten können? Plötzlich fühlte sie seinen Kuß. Er war erwacht. „Liebling!“ flüsterte er und legte seinen Kopf an ihre Schulter.
VIERTES KAPITEL Es war Sonntag, und Kate kam als Mittagsgast zu ihrer Schwester und dem Schwager. Bei Tisch war eine lebhafte Unterhaltung im Gange. Der kleinen, munteren Schwägerin gegenüber gab John sich freier, fröhlicher. Er schaute sie nicht wie Ellen mit dem aufmerksamen Hundeblick an, der ständig zu fragen schien: Hast du mich lieb? – Habe ich dich gestört? – Ärgere ich dich? – Was kann ich für dich tun? Nach dem Essen wollte John sich als Herr des Hauses erweisen und bestimmte, daß Ellen ruhen solle, während er mit Kate den Abwasch erledigte. Ellen protestierte, Kate unterstützte John, und im nächsten Augenblick waren sie in einem übermütigen Handgemenge. John hielt die zappelnde Ellen fest, während Kate versuchte, sie in eine Decke zu wickeln. „Willst du mich wohl loslassen, du Lumpenkerl!“ Ellen wand sich in seinen Armen. „Willst du deinem Herrn und Meister wohl gehorchen, du Lumpenliese?“ „Laß los, John, sonst werde ich böse.“ „Ich auch.“ Er lachte sie an, glücklich über seine eigene Kraft. In seinen Armen war sie hilflos wie ein kleines Kind. „Versuch doch, mir zu entkommen, Mädchen!“ Ellen zappelte, und John lachte. „Du, Ellen, weißt du eigentlich, daß ich dich am meisten liebe, wenn du ein bißchen böse bist? Dann hast du rote Backen und strubbelige Haare und – nein, aber nicht beißen! Pfui, schäm dich!“ Er griff in ihr Haar und zwang sie, den Kopf stillzuhalten. „Na? Bist du jetzt wieder brav?“ „Nein.“ „Dein eigenes Pech! Denn du mußt wissen, daß ich dich, solange du dich nicht rühren kannst, küssen werde, soviel ich will.“ „Wage das nur!“ „Das werde ich auch!“ John küßte sie, wieder und immer wieder. „Au, du ziehst an meinen Haaren, John, das tut weh!“ „bedaure, das gehört zu deiner Erziehung. Sag, daß du brav sein willst, dann lasse ich dich los.“
„Hör auf mit dem Unsinn, John!“ „Erst artig bitten, dann lasse ich dich los.“ Ellen kniff die Lippen zusammen. Mit einem Male wußten beide, daß dies mehr war als ein Spaß. Hier war der Mann, der ein für allemal seine Rechte forderte, der Mann, der zwar liebte, aber sich doch in Respekt versetzen wollte. Mit festem Armdruck hielt er sie gefangen. „Du tust mir weh, John.“ „Artig bitten, hab’ ich gesagt.“ In seinen Augen blitzte es. Mit einem Male lächelte Ellen. „Du, John, jetzt könntest du wohl schlagen, was?“ „Nein, da irrst du dich.“ Mit einem Male war sie weich in seinen Armen. „Ich bin wieder gut, John. Bitte, laß mich los!“ Er küßte sie zart und weich, dann hob er sie auf und trug sie zur Couch. Erst jetzt bemerkten sie beide, daß Kate längst nicht mehr da war. John brauchte nur noch einen Rest des Geschirrs abzutrocknen, das meiste hatte Kate bereits allein gemacht. Während Ellen allmählich einschlief, wurde in der Küche gedämpft, aber eifrig gesprochen. Kate fragte, und John erzählte. Er berichtete von seiner Kindheit auf dem Lage-Hof, dem Besitz seiner Vorfahren, wo er nach dem Tode seiner Eltern bei seinem Onkel gewohnt hatte. Er erzählte von Wäldern und Bergen, von Almen, Kühen und Pferden, und Kate kam aus dem Staunen nicht heraus, „Wird denn das nicht eines Tages mal dein Hof sein, John?“ „Nein, leider nicht. Mein Onkel hat einen Sohn, und der ist natürlich der rechtmäßige Erbe. Aber ich kann dorthin zu Besuch kommen, sooft ich will. Ich hatte übrigens schon daran gedacht, in diesem Sommer mit Ellen hinzufahren. Ich möchte ihr gern die Heimat meiner Kindheit zeigen.“ „Und ich?“ fragte Kate. „Darf ich nicht auch mit dabeisein?“ „Ein andermal, Katekatz! Das erste Mal möchte ich mit Ellen allein reisen. Vielleicht im nächsten Sommer – dann gehen wir zusammen auf die Alm. Das wäre doch nett, nicht wahr?“ „Prima!“ sagte Kate, während sie mit flinker Hand den Küchentisch sauberrieb. John stand geduldig wartend in der Schlange vor der Theatergarderobe, bis er endlich seine Sachen bekam, seinen eigenen Mantel und den Hut und Ellens Pelzumhang.
Er legte ihr den Umhang über die Schultern. Er war weich und warm, wenn auch einfach und billig, nämlich aus gefärbtem und geschorenem Kaninchenfell. Ihre Blicke trafen sich in dem großen Spiegel. Ellen hatte das blaue Abendkleid an, und John konnte sich nicht satt sehen an ihr. „Ellen, weißt du, worauf ich mich freue? Auf den Tag, an dem ich dir einen Nerzumhang auf die Schultern lege oder einen Platinfuchs, und auf den Tag, an dem ich dir einen Brillantring an den Finger stecke und dich im eigenen Auto nach Hause fahre, und…“ „Spaßvogel!“ unterbrach ihn Ellen und lachte. „Das ist gar nicht spaßig“, erwiderte er. „Wenn das Schicksal einem ein Juwel vom Himmel gesandt hat, muß man ja wohl für eine entsprechende Fassung sorgen.“ Ellen nahm seinen Arm und drückte ihn an sich. „Du bist goldig, John. Wenn du so etwas sagst, habe ich dich doppelt lieb. Du bist und bleibst ein komischer Kauz. – Im übrigen müssen wir uns beeilen, wenn wir den Zug um halb elf erreichen wollen.“ „Oder wollen wir ins Theatercafe gehen und vorher noch einen Happen essen?“ „Ja – wenn du Lust hast – natürlich.“ „Hast du keine Lust?“ „Doch, aber noch mehr Lust hätte ich, nach Hause zu fahren und den Kimono anzuziehen, und während du ein paar Scheite in den Kamin legst, wärme ich den Rest von heute mittag auf und mache Kaffee, und wenn wir gegessen haben, kann ich mich in deinen Arm kuscheln und…“ „Los – zur Bahn!“ rief John. Lachend liefen sie davon und erreichten den Zug im letzten Augenblick. John liebte es, neben Ellen zu sitzen und sie zu beobachten, wenn sie abends in der Stadt waren, im Theater oder im Konzert. Sie war so schön im Abendkleid, und wenn es wie heute eine muntere Operette voll beschwingter Melodien gegeben hatte, lag in Ellens Augen der betörende Glanz, der John so besinnungslos verliebt machte. „Ellen, weißt du, woran ich gerade denke?“ Sie lächelte und schüttelte den Kopf. „Ich stelle mir vor, wie es gewesen wäre, wenn ich dich gar nicht gekannt hätte. Wenn ich an einem solchen Abend zufällig im Zug dich entdeckt hätte. Wie ich da gesessen hätte und dich nur
angestarrt – ich hätte es nicht gewagt, dich anzusprechen, aber ich wäre vielleicht gleichzeitig mit dir ausgestiegen. Ich wäre dir nachgegangen, hätte gesehen, in welches Haus du gingest, ich hätte gesehen, daß da drinnen das Licht angemacht würde, und ich wäre auf und ab gegangen und hätte mich nach dir gesehnt. Und jetzt – jetzt darf ich dich mitnehmen, mit nach Hause in meine eigenen Zimmer, ich darf dir erzählen, wie ich dich liebe… Weißt du, Ellen, manchmal kommt es mir vor, als sei das Glück zu groß, als daß ich es ertragen könnte!“ Die Mitreisenden konnten nicht hören, was der junge, blonde Mann sagte, der sich zu der gutaussehenden, dunkelhaarigen Dame hinneigte, denn er flüsterte es ihr ins Ohr. Aber sie sahen die strahlenden Augenpaare, und sie bemerkten auch, wie sich die Hände unter den Falten des Pelzumhanges suchten. Die Mitreisenden lächelten. Junge, verliebte Menschen zu sehen, wirkt immer so rührend. „Hallo, was ist denn das?“ fragte John, als er einen Umschlag in seinem Briefkasten entdeckte. Es stellte sich heraus, daß es ein Telegramm für ihn war. Er las es, während Ellen den Umhang ablegte. „Oh, Ellen, das ist – das ist – da, lies es selbst!“ Er reichte ihr das Blatt. Sie warf einen Blick darauf und dann in sein blaß gewordenes Gesicht. Nachdem sie den Text gelesen hatte, fragte sie: „Audun? Ist das dein Vetter, John?“ John nickte. „Alle beide – Vater und Sohn“, murmelte Ellen, „und sie waren deine einzigen näheren Verwandten, nicht wahr?“ „Ja“, sagte John leise. Ellen griff nach seinem Arm, zog ihn mit sich ins Wohnzimmer und setzte sich mit ihm vor den Kamin. Mit wenigen Handgriffen hatte sie ihn angezündet, dann ließ sie sich zu Johns Füßen auf ein Sitzkissen nieder. „Sprich, John, wenn du es kannst.“ Nach und nach begann er zu sprechen, stockend erst, doch allmählich flüssiger. Der Onkel und sein Sohn waren während eines Besuches im Süden auf einer Segelfahrt umgekommen. Auf dem Lage-Hof waren jetzt nur zwei Angestellte, ein Knecht und eine Magd. Eine Bäuerin gab es dort schon lange nicht mehr, der Onkel war seit zwanzig
Jahren Witwer. So erzählte John, beschrieb den Hof in allen Einzelheiten, schilderte Erlebnisse aus seiner Kinderzeit, mit dem Onkel, der immer so still und verschlossen war, und mit Vetter Audun, der stets den Kopf voller Ideen und Schabernack hatte. Endlich schwieg er und starrte vornübergebeugt ins Feuer. Nach einer Weile wandte er sich seiner Frau zu, die zu seinen Füßen hockte, lächelte schwach und strich sacht über ihr dunkles Haar. „Jetzt hab’ ich auf der ganzen Welt nur noch dich, Ellen.“ Sie legte die Arme um seinen Hals und küßte ihn. „Ich danke Gott, daß ich dich habe, du, meine Geliebte, meine Frau!“ Ellen erhob sich, setzte sich auf die Armlehne seines Stuhles und zog seinen Kopf an sich. John schämte sich der Tränen nicht, die auf das blaue Kleid tropften. So saßen sie eine Weile ganz still. Schließlich mußte Ellen aufstehen, um noch ein paar Holzscheite ins Kaminfeuer zu legen. Plötzlich richtete sie sich auf und drehte sich zu ihrem Mann um. „Aber, John, dann wirst du ja nun der Erbe des Lage-Hofes sein, nicht wahr?“ Auch John schien das jetzt erst aufzugehen. „Ja“, sagte er gedehnt und mit einer fast kindlichen Verwunderung in der Stimme, „du hast recht, Lage wird nun mir gehören. – Aber, Ellen, könntest du denn das? Würdest du das wollen? Ich meine, eine Bäuerin sein?“ „Das kann ich – und das will ich auch.“ „Weißt du, das mußt du nämlich bestimmen, Ellen. Ich werde mich vollkommen nach dir richten. Denn man könnte den Hof ja auch verpachten, wenn du deine Stellung hier nicht aufgeben möchtest. Und Stahle wird mich gern behalten, das weiß ich.“ „Nein, John, nicht eine Sekunde darfst du auch nur daran denken, auf den Familienbesitz zu verzichten. Du mußt nämlich wissen, daß…“ Sie unterbrach sich und blickte ihn lächelnd an. „Hältst du es aus, heute abend noch mehr zu hören, John?“ „Ja“, antwortete er halb erstaunt, halb fragend. „Du mußt nämlich wissen, John“, wiederholte Ellen fast ein wenig feierlich, „daß es deine Pflicht ist, den Hof zu übernehmen, ihn zu erhalten und das Bestmögliche daraus zu machen. Erstens, um das Erbe deiner Vorfahren in Ehren zu halten, und zweitens für den
Erben, der nach dir kommt.“ „Nach mir?“ John blickte seine Frau fragend an. „Ja, mein Guter.“ Ellen schwieg einen Augenblick, ihre Augen bekamen einen weichen Glanz, und ihre Stimme war nicht so klar wie sonst, als sie hinzufügte: „Der Erbe ist bereits unterwegs.“ In der hellen Frühsommernacht schliefen sie nicht, sondern sprachen miteinander. John erzählte, was es sonst noch über den Lage-Hof zu berichten gab, von dem alten Wohnhaus mit den niedrigen Stuben, dem hohen Dach mit den Giebelzimmern und den kleinen Kammern mit schrägen Wänden, von Scheunen und Ställen, vom Wald, von Äckern und Wiesen und von dem Garten, der einstmals ein Mustergarten gewesen war. Doch der Onkel hatte ihn verkommen lassen. Ellen hörte zu, stellte hin und wieder eine Frage, nickte zustimmend und lauschte wieder. Dann wurden Pläne geschmiedet, Pläne für sie beide und für den Erben, der kommen sollte. In einem Jahr würde er in seinem Kinderwagen im Garten von Lage liegen und strampelnd in den Sonnenschein lachen. Sie erträumten sich die Zukunft ihres Jungen und was er einmal werden sollte, und ihre Träume waren schrankenlos und wunderbar. „Aber wenn der Junge nun ein Mädchen wird?“ warf Ellen plötzlich ein. John lachte und drückte sie an sich. „Wenn es dir ähnlich wird, soll es mir willkommen sein. Und das nächste kann ja dann ein Junge werden“, meinte er.
FÜNFTES KAPITEL Ellen streckte den Rücken und strich das Haar aus der Stirn. Sie war naß von Schweiß. John kam um die Hausecke und lächelte ihr zu. „Na, wie geht’s der Bäuerin?“ Sie lachte. „Sieh dir bloß dieses Unkrautgebirge an! Wenn doch meine Pflanzen nur halb so gut wüchsen wie das Unkraut, dann würde das hier ein Mustergarten.“ „überanstrenge dich nicht, mein Schatz. Denk an unseren Erbprinzen.“ „Meinst du nicht, daß ich gerade deshalb so viel arbeite, weil ich an ihn denke? übrigens, könntest du mir heute wohl die Borka geben? Ich erwarte einen Haufen Pflanzen mit dem Abendzug.“ „Ich werde selbst hinfahren und sie abholen.“ „Kommt nicht in Frage, das kann ich ebensogut allein. Die Borka kennt außerdem den Weg – sie lacht nur, wenn ich versuche, sie mit den Zügeln zu lenken.“ „Ja, weißt du, Borka ist eben eine zuverlässige Dame. Sie wurde geboren, als ich auf die Mittelschule kam. Zehn Jahre ist das jetzt her. Gewiß, du kannst ruhig allein mit ihr fahren.“ „Geh hinein und wasch dir das Gröbste ab, ich komme gleich. In knapp zehn Minuten steht die Vesper auf dem Tisch.“ „Ein tüchtiges Mädchen bist du, Ellen, ich bewundere dich.“ „Spar dir deine Bewunderung für bessere Dinge, mein Guter, und geh jetzt.“ Er gab ihr einen flüchtigen Kuß, der nur die Nasenspitze traf, und verschwand durch die Tür zur Küche. Ellen blickte ihm mit einem nachdenklichen Lächeln nach. Für sie bestand kein Zweifel, daß er hier an den ihm gemäßen Platz gekommen war. Er schuftete fast übermenschlich, aber er fühlte sich wohl dabei. „Soll ich vielleicht bedauernswert sein?“ fragte John lachend, wenn sie ihm übers Haar strich und meinte, er überanstrenge sich. „Ich, der eine Frau und demnächst auch ein Kind hat, für die er arbeiten kann – noch dazu auf eigenem Grund und Boden.“ Sein eigener Grund und Boden, ja! Ellen hatte Bedenken. Es war ihnen beiden ein wenig schwach
geworden, als sie die Buchführung und die Dokumente des Hofes durchsahen, denn es lasteten Schulden auf dem Hof. Johns Onkel, Harald Lage, war schon seit Jahren durch Krankheit in seiner Arbeitskraft geschwächt gewesen, und Audun, sein Sohn, war eine Künstlernatur, impulsiv und munter, liebenswürdig und heftig, ein fröhlicher Kamerad, aber ohne die Ruhe und Ausgeglichenheit, die zur Führung eines Hofes erforderlich sind. So war er nun ziemlich heruntergewirtschaftet. Eine Riesenaufgabe hatten sich John und Ellen gestellt, als sie sich entschlossen, den Hof wieder in Schwung zu bringen. Bargeld stand ihnen kaum zur Verfügung. Sie konnten also nur ihre Arbeitskraft und ihren Verstand einsetzen, um den Lage-Hof zu einem Überschußunternehmen zu machen, das er unbedingt werden mußte, für sie selbst und für den erwarteten Nachkommen. Ein junger Förster, eine achtundzwanzigjährige Sekretärin aus der Stadt – und ein halbverfallener, abgewirtschafteter Bauernhof, ein skeptischer Jungknecht und eine noch skeptischere ältere Magd, ein alter Hofhund, eine gestreifte Katze, acht Kühe, ein Pferd und ein Schwein – das war die ganze Grundlage, auf der sie aufbauen sollten. Weitere Hilfskräfte konnten sie sich beim besten Willen nicht leisten. Alles, was in Haus und Garten zu tun war, fiel Ellen zu, ungewohnte, schwere Arbeit. Die Zeit war vorbei, da sie nach Hause kam und eine saubere Küche mit gespültem Geschirr vorfand, als John sie noch fast täglich damit überraschte, daß er ihre Arbeit verrichtete. Jetzt blieb der Abwasch stehen, bis sie selbst Zeit fand, sich seiner anzunehmen. John arbeitete den ganzen Tag auf den Feldern, kam zu den Mahlzeiten todmüde heim, schlief nach dem Mittagessen eine Stunde und ging dann wieder hinaus. Ellen schrubbte und scheuerte, wusch und kochte, stand morgens um halb sechs auf und war bis spät abends auf den Beinen. Als sie das Wohnhaus von Lage zum erstenmal sah, hatte sie gejubelt. Die große Stube mit dem weißgescheuerten Fußboden, die Balkendecke und der große Kamin, die wunderschönen alten Bauernmöbel mit ihren schlichten, klaren Linien, die Fenster mit ihren kleinen, bleigefaßten Scheiben – alles dies entzückte ihren Künstlerblick. Und die Küche, die geräumige Küche mit ihrem weißgescheuerten Eßtisch und all den schimmernden Kupferkesseln rundum an den Wänden – ja, hier mußte es Freude machen zu
wirtschaften. Doch es dauerte nicht lange, bis Ellen erkannte, daß Holzfußböden und Tische nur so weiß gehalten werden konnten, wenn man sie mit Sand und Scheuerbürste behandelte, und dazu brauchte man vor allem starke Arme. Auch die Kupferkessel mußten regelmäßig geputzt werden, und das kostete ebenfalls Zeit und Kraft. Wenn Ellen auch nicht gerade schwächlich war, so ermüdete die ungewohnte körperliche Arbeit sie doch, und die Arme taten ihr weh vom „Muskelkater“. An der Westseite des Hauses war das Dach undicht, und die Schlafräume im oberen Stockwerk waren so abgewohnt und schäbig, daß man gar nicht hinsehen mochte. John beklagte sich darüber, daß der Stall so verkommen sei. Er brauchte dringend einen soliden Zementboden. Der Schweinekoben mußte repariert, noch besser ein neuer gebaut werden. Und daß der Onkel keine Hühner gehalten hatte, lag ganz einfach daran, daß das Hühnerhaus völlig unbrauchbar war. Die Aufgaben, vor denen sie standen, drohten sie zu erdrücken. Aber mit gebeugtem Nacken machten sie sich daran. Marte, die Magd, und der Knecht Bernt beobachteten verwundert diese jungen ungelernten Stadtleute, die sich so zielbewußt und unermüdlich an die schwere, ihnen ungewohnte Arbeit machten. Das zwang ihnen Respekt ab. Nun ja, der Bauer selbst war ja auf Lage aufgewachsen und daher eigentlich nie ein richtiger Stadtmensch gewesen. Aber Frau Ellen mit ihren schmalen, gepflegten Händen, der städtischen Sprache und den modischen Kleidern – daß sie so arbeiten konnte, ja, das war zu bewundern. Obwohl Ellen im Hause so viel zu tun hatte, fand sie ab und zu doch Zeit, sich des großen, verwahrlosten Gartens anzunehmen. Sie sah, welche Möglichkeiten er mit seiner guten Erde und den prachtvollen, großen Obstbäumen bot. Für den Beginn der Gartenarbeit war es zwar schon reichlich spät – erst Ende Juni waren John und Ellen nach Lage umgezogen – , doch was noch getan werden konnte, das wurde getan. Ellen jätete und jätete. Eimerweise, körbeweise wurde das Unkraut fortgetragen. Es war eine Sisyphusarbeit, und doch – mit der Zeit nützte sie etwas. Dann wurden Pflanzen angeschafft, kräftige Stauden, die hier wachsen und gedeihen sollten. Ellen maß ab und plante, überlegte und rechnete. Ihr Garten sollte nicht nur ein Schmuck werden, sondern auch etwas einbringen.
Aber dann mußte die Versorgung des Gartens in den übrigen Arbeitsplan mit eingerechnet werden. Ellen schmerzte der Rücken, und unter den Augen bildeten sich dunkle Schatten… … bis eines Tages John mit der Faust auf den Tisch schlug. „So geht das nicht weiter, Ellen. Du machst dich ja kaputt. Schluß mit der ewigen Scheuerei und Putzerei! Die Stuben werden vorläufig zugemacht. Wir haben vollkommen genug an Küche und Schlafzimmer. Und wenn wir jeden Groschen noch fünfmal mehr umdrehen müssen, morgen bestelle ich Linoleum für die Fußböden und Wachstuch für den Tisch. Verstanden? Das würde dir die Arbeit doch sehr erleichtern, nicht wahr?“ „Ja, gewiß, aber…“ „Kein Aber! Wenn du schon für deine Person keine Vernunft annehmen willst, dann denke wenigstens an unseren Kronprinzen.“ Ellen dachte an den „Kronprinzen“ und willigte zögernd ein. Sie holte sogar all die schimmernden Kupferkessel von den Wandborden und verwahrte sie. Der Tag würde schon kommen, an dem sie sie wieder aufstellen konnte. Und dann sollten auch Fußböden und Tisch weißgescheuert werden wie bisher. Aber nicht jetzt. Nicht eher, als bis Lage ein blühender Hof mit einer ausreichenden Anzahl von Hilfskräften war. Nun kam es darauf an, sich auf das Notwendigste zu konzentrieren. Da sie jetzt etwas mehr Zeit für ihren Garten hatte, dachte sie gründlich darüber nach, wie sie ihn am besten nutzen konnte. Am Ende des Grundstückes befanden sich die Reste eines alten Treibhauses. Ellen betrachtete es genau. Vielleicht ließ sich die Idee, die ihr im Kopf herumging, doch verwirklichen. Beim Aufräumen im Wirtschaftsgebäude fand sie Kaninchenställe. „Habt ihr hier Kaninchen gehalten, John?“ „Ach, du liebe Zeit, sind die alten Ställe noch vorhanden? Ja, Audun und ich haben ein paar Jahre lang Kaninchen gehabt. Aber dann hatten wir keinen Spaß mehr daran.“ „Würdest du mir wohl die Ställe instand setzen?“ „Ja, gewiß kann ich das. Willst du Kaninchenzucht betreiben?“ Ellen erklärte ihm ihren Plan. Der Garten quoll ja über von Kaninchenfutter. Wenn sie sich nun ein paar ausgewachsene Chinchillakaninchen kaufte und sie im August Junge bekommen
ließ, so würden diese Jungen schon im Winter schlachtreif sein. Kaninchenfleisch schmecke ausgezeichnet, sagte sie, und die Felle von Chinchillakaninchen würden sehr gut bezahlt. Die Zuchttiere würden nicht mehr als zwanzig bis dreißig Kronen kosten; wenn man sich zwei Weibchen anschaffte, bekäme man im August bereits zwei Würfe. Ställe waren vorhanden, Futter sogar in reichem Maße, und um Winterfutter zu sammeln, war noch Zeit genug. Das Unternehmen würde dann also nichts weiter kosten als Arbeit. „Meinetwegen kannst du es versuchen“, sagte John, „aber ich warne dich: Kaninchen zu versorgen, ist ein undankbares Geschäft.“ „Hauptsache, es lohnt sich, dann will ich die Arbeit nicht scheuen“, erwiderte Ellen. Damit war die Sache beschlossen. Ein paar Tage später hoppelten drei schöne Chinchillakaninchen in dem geräumigen Auslauf im Garten umher, und Ellen hatte nun eine nützliche Verwendung für das Unkraut, das sie jätete. Es bestand hauptsächlich aus Löwenzahn und Wegerich, und beides war für die Kaninchen eine Delikatesse. Es machte ihr viel Freude, die hübschen, lebhaften Tierchen zu betreuen. Als sie eines Morgens im August im Nest des einen Weibchens zwölf nackte, krabbelnde Dinger fand, rannte sie ins Haus und holte John. Es waren ja die ersten Lebewesen, die auf Lage geboren waren, seit John und sie den Hof übernommen hatten. Ein paar Tage später brachte das andere Kaninchen zehn Junge zur Welt, und im September erblickte ein kleines Kuhkalb im Stall das Tageslicht. Um diese Zeit war auch das alte Hühnerhaus wieder instand gesetzt. Zehn weiße Italiener zogen dort ein und legten fleißig. Jeden Morgen wurde Ellen von dem energischen Hahn geweckt, dem sie vergeblich beizubringen versuchte, auf den Namen Bartholomäus zu hören. Abends saß Ellen über die Buchführung gebeugt. Von den paar tausend Kronen, die Onkel Harald an Bargeld hinterlassen hatte, war nicht mehr viel da. Aber Eier und Milch brachten etwas ein, und außerdem hatten sie zwei Stierkälber verkauft, die noch im Stall standen und unnütz Futter und Betreuung kosteten. Nun ja, es würde schon gehen – wenn auch mit äußerster Vorsicht, mit eisernem Fleiß und gutem Willen. Es war Abend. Das Nachtmahl war verzehrt, das Geschirr abgewaschen. Hühner und Kaninchen hatten ihr Futter bekommen – friedliche Dämmerung lag über Lage. Vor dem Herd in der Küche hatte John einen bequemen Stuhl
aufgestellt. Dort saß Ellen und strickte etwas kleines Schneeweißes. John hockte auf einem kleinen Schemel neben ihr und achtete auf das Kaffeewasser. Sie pflegten sich immer noch eine Tasse guten Kaffees aufzugießen, wenn Marte und Bernt gute Nacht gesagt hatten. Ellen beobachtete ihren Mann. Er war in den letzten Monaten so männlich geworden. Seine grauen Augen hatten einen neuen Ausdruck bekommen, so nachdenklich ruhig und zielbewußt. Sah er sie an, so bekam sein Blick strahlenden Glanz. Er liebte sie mehr denn je – doch seine Augen hatten jetzt nicht mehr diesen unterwürfig-ängstlichen Blick. Nun, da er in die ihm gemäße Umgebung gekommen war, behauptete er sich neben ihr. Er wußte, was er wollte. Noch nie hatten sie sich so gut verstanden wie jetzt. Seite an Seite trugen sie die schwere Last, und zwischen ihnen gab es nichts anderes als vollkommenes Vertrauen. Der einzige Schatten, der über ihrer Liebe lag, war Johns Besorgnis um Ellen. Auch an diesem Abend vor dem Herd griff er wieder nach ihren Händen. „Wie sie sich verändert haben“, sagte er und küßte die roten, rauhen Handrücken. „So weiß und schön waren deine Hände früher – und nun – wie sehen sie aus, seitdem du dich für mich so abrackerst!“ Ellen lachte laut auf. „Dummkopf! Erstens waren meine Hände nie weiß. Mein Leben lang war mein Körper bräunlich, auch meine Hände. Zweitens rackere ich mich nicht für dich ab, sondern für uns – genau wie du.“ „Ach, Ellen – Mädchen – begreifst du nicht, daß ich dich auf Händen tragen möchte? Du solltest es gar nicht nötig haben, zu schuften und zu schleppen. Als Herrin auf dem Hof solltest du am Fenster in der Wohnstube sitzen und nähen und stricken für unser Bübchen, und du solltest Klavier spielen und sticken oder lesen und so etwas – und im übrigen Haus und Hof verwalten. Und wir müßten ein Auto haben, damit ich dich in die Stadt zu Konzerten und zum Theater fahren könnte – und – ach, Ellen! Weißt du, etwas gibt es, was ich mir absolut nicht aus dem Kopf schlagen kann: Eines Tages will ich dir ein Hermelincape um die Schultern legen können – und du sollst so elegant gekleidet sein, daß sich alle nach dir umsehen und mich beneiden! Damit will ich nicht sagen, daß mich die Menschen nicht jetzt schon beneiden müßten, obwohl du noch nicht
einmal ein Hermelinschwänzchen besitzt, aber ich will…“ „John, bitte, komm auf die Erde zurück, sei so gut! Außerdem irrst du dich. Es war nicht Hermelin, sondern Nerz oder Platinfuchs, von dem du gesprochen hattest. Im übrigen vergiß bitte nicht, daß du Landwirt bist und nicht ein großer Schiffsreeder. Selbst wenn ich jetzt eine Hermelinstola bekommen könnte, würde ich lieber um einen neuen Schweinekoben bitten.“ „Ellen, du bist – du bist…“ Plötzlich nahm er sie fest in die Arme. „Ellen, du bist der prachtvollste Mensch, den ich kenne. Du bist Frau, Kamerad und Geliebte – und was für eine wundervolle Mutter wirst du sein! Ellen, ich liebe dich so sehr, daß ich keine Worte dafür finde. Ich glaubte, dich zu lieben, als ich dich im Frühling zum erstenmal küßte. Aber das war nichts – rein gar nichts gegen das Gefühl, das ich jetzt für dich empfinde!“ Ellens Augen wurden ganz blank. Sie strich behutsam John über Haar und Wange. Doch in ihr friedliches Glück stahl sich mit einem Male ein beunruhigender Gedanke: Womit sollte sie eine solche Liebe nur entgelten? Jetzt erst merkte sie, daß sie noch niemals, selbst, nicht in den glücklichsten Augenblicken, gesagt hatte, daß sie ihn liebe. Noch nie hatte sie ihm ins Ohr geflüstert: „Ich hab’ dich lieb.“ Warum tat sie das nicht? Sie hatte ihn doch lieb. Sehr lieb sogar! Aber dieses Liebhaben – es war so klein, so armselig gegenüber der grenzenlosen Liebe, die sich mit keinem anderen Wort auszudrücken vermochte als mit dem einen großen, unmodernen: Ich liebe dich! Vor diesem Wort wich sie zurück. Johns Liebe nahm ihr den Atem, und sie wußte, daß sie ein so großes, so allumfassendes Gefühl für ihn nicht empfinden konnte. Solange sie nicht zu sagen vermochte: „Ich fühle für dich das gleiche!“, solange sagte sie lieber gar nichts. „Mein Lieber, Guter, Allerbester“, flüsterte sie in seinen blonden Schopf hinein, „du bist so – oh, schnell, John, das Kaffeewasser kocht!“
SECHSTES KAPITEL Bleiche Novembersonne schien durch das kleine Fenster am Südgiebel. Nur ein paar Minuten am Tage erreichten die Strahlen die Mitte des Zimmers und gelangten bis zu dem Bett mit der großgeblümten Daunendecke. Dann wendete John den müden Kopf der Sonne zu und ließ sie sich ins Gesicht scheinen. Doch bald war sie wieder fort. John schloß die Augen und lag still im Halbdunkel. Aus der Küche war ein fernes Klappern von Geschirr zu hören. Dann Schritte auf der Treppe – Ellens Schritte. Sie lief jetzt nicht mehr so rasch. Ihr Körper war schwer, und sie mußte vorsichtig sein. Sie trat zur Tür herein mit Johns Mittagessen auf einem Tablett. Es war appetitlich und hübsch angerichtet auf weißer Serviette und mit dem besten Geschirr. Ein verlockender Duft stieg aus der verdeckten Schüssel – hätte John doch nur Lust zum Essen! Sollte er überhaupt imstande sein, etwas zu essen, mußte Ellen sich dazusetzen, sich mit ihm unterhalten und ihn füttern. Er war so grenzenlos müde – und zum Verzweifeln mutlos. Alles war so plötzlich gekommen. Sein Herz schlug schwer und unregelmäßig, und er bekam Anfälle von Schwindel und Übelkeit. Ellen ließ den Arzt kommen, und es war ein furchtbarer Schlag für sie beide, als sie erfuhren, daß John herzkrank sei. Wer hätte das geahnt – so groß und stark, wie er war! Aber er hatte wohl zu viel und zu schwer geschleppt. Der Arzt verlangte so ernst und energisch unbedingte Bettruhe, daß sie begriffen, wie notwendig es war. Seit fast drei Wochen lag er nun schon. Ein paarmal hatte er versucht, aufzustehen, war jedoch froh, wenn er nach einer halben Stunde wieder ins Bett kriechen konnte. Er war so müde und zitterig wie ein Greis – mit seinen vierundzwanzig Jahren! Ellen setzte das Brett ab, beugte sich über das Bett und half John, sich in sitzende Stellung aufzurichten. Nun brauchte sie sich nicht mehr zu überlegen, wie sie seine Liebe entgelten konnte. Sie pflegte ihn, scherzte mit ihm, fütterte ihn und half ihm, wo sie nur konnte. Sie ermutigte ihn, berichtete von allerlei kleinen Erlebnissen aus Haus und Hof, und wenn sie sich am Abend selbst zu Bett legte, steckte John seine Hand in ihre. So fand er Ruhe und konnte schlafen. „Heute mußt du aber ordentlich essen, John! Weißt du, was ich
gemacht habe? Ich habe zum erstenmal in meinem Leben Fischklopse gekocht. Du ahnst gar nicht, wie stolz ich darauf bin. Nun werde ich dich füttern, und dann sollst du mir mal sagen, ob die Klopse gut sind!“ Die Klopse waren gut. John aß drei davon und sogar auch noch etwas von der Zitronencreme, die Ellen als Nachtisch heraufholte. „Was war das am Vormittag für ein Hämmern?“ „Du Armer, hat es dich gestört? Das war Anders, der sich an eine große, wichtige Arbeit gemacht hat – er repariert nämlich den Schweinekoben.“ „Es ist wirklich gut, daß du den Anders hast.“ „Ja, es ist nett von ihm, daß er manchmal zu uns herüberkommt. So kannst du in aller Ruhe hier liegen und dir Zeit nehmen, wieder richtig gesund zu werden.“ „Ja“, flüsterte John. Ein Schatten glitt über sein Gesicht. Richtig gesund… Als ob sie nicht beide, sie und er, genau wüßten, daß er niemals mehr wieder richtig gesund werden würde. Vielleicht konnte sein dummes Herz mit der Zeit lernen, sich ruhig zu verhalten. Vielleicht konnte er morgens aufstehen und zum Frühstück hinuntergehen und dann kleine Inspektionsgänge machen und zusehen, wie die anderen arbeiteten; aber er selbst würde niemals mehr schwerere Arbeit machen können, sondern höchstens ein wenig im Garten herumpusseln und die unangenehme Buchführung übernehmen. Obwohl John und Ellen erst kurze Zeit auf Lage wohnten, waren sie in der Umgebung schon recht bekannt geworden. Als es sich herumsprach, daß John bettlägerig sei, kam der jüngste Sohn des Nachbarn, Anders Enger, und bot seine Hilfe an. Anders war ein netter junger Mann von zwanzig Jahren. Er hatte von kleinauf Landarbeit auf dem elterlichen Hof verrichtet, und so fiel es ihm leicht, Johns Aufgaben zu übernehmen. Als Ellen von Bezahlung sprach, lachte Anders nur. „Diesmal helfe ich euch, ein andermal helft ihr uns“, sagte Anders, und dabei blieb es. Im Stall war noch ein Kalb angekommen, und Marte, die Magd, meinte, man könne es wohl zu Weihnachten schlachten. „Nein“, erwiderte Ellen, „das wird verkauft. Wir brauchen Geld.“ „Sollen wir denn zu Weihnachten nichts anderes als Schweinefleisch haben?“
„Auch davon werden wir nicht viel behalten, Marte. Bedenke, daß Schweinefleisch gut bezahlt wird, und das Kalb können wir lebend verkaufen.“ „Und wir selber sollen wohl nur Grütze und Klippfisch essen, was?“ „Wir werden zu Weihnachten achtzehn Kaninchen schlachten, Marte. Das werden achtzehn feine Mahlzeiten, sag’ ich dir. Und dann werden wir noch einen Schinken von dem Schwein für uns behalten.“ Marte machte große Augen. Kaninchenbraten hatte sie noch nie gegessen. Und so war sie skeptisch. Aber Ellen hatte eine so ruhige, bestimmte Art, daß sie nicht zu widersprechen wagte. Solche kleinen Meinungsverschiedenheiten in Stall und Küche erfuhr John gar nicht. Er lag müde und mutlos in seinem Bett und empfand seine eigene Hilflosigkeit wie einen unentwegten Schmerz. Er hatte ja nur seine Jugend, seine Gesundheit und Kraft einsetzen können; nun, da er sie nicht mehr besaß, war er nur noch eine Sorge und Belastung für die anderen. Ellen verstand ihn. Sie hätte vor Mitleid mit ihm weinen mögen. Doch es gelang ihr, sich zu beherrschen. Sie zeigte ihm ein lächelndes Gesicht, plauderte mit ihm und fragte ihn um Rat über Dinge, die die Wirtschaftsführung betrafen. An einem der ersten Tage im Dezember erwachte John frühzeitig. Er schaute auf Ellen, die neben ihm schlief. Sie hatte einen Arm unter den Kopf gelegt. Die Hand war hart und rauh. Und im Schein der kleinen Nachttischlampe entdeckte John ein paar einzelne weiße Haare zwischen ihren schwarzbraunen Locken. Wie weh es ihm tat! Er wußte, Arbeit und Sorgen um ihn und seinen Besitz waren schuld daran, daß diese Silberfäden viel zu früh kamen – Ellen war ja noch kaum neunundzwanzig Jahre alt! Zwar wußte John, daß es Menschen gibt, die bereits vor ihrem dreißigsten Lebensjahr ergrauen, aber trotzdem – trotzdem… Herrgott – was hatte er dem Menschen angetan, den er über alles in der Welt liebte! Er hatte davon geträumt, ihr ein Luxusdasein zu schaffen, mit Auto, Schmuck und Pelzen – und was war in Wirklichkeit daraus geworden? Er hatte sie aus einer guten Stellung und von ihrer kleinen Schwester fortgeholt, er mutete ihr eine unmenschliche Schufterei zu, die ihre feinen Hände hart und rot und ihre Haare grau machten. Das hatte er für sie erreicht – sie, seine wunderbare, intelligente,
aufopfernde, geliebte Frau! Ellen rührte sich. Sie drehte den Kopf auf dem Kissen um, dann schlug sie die Augen auf und lächelte. „Du bist ja schon wach, Liebster!“ „Ja. Ich liege schon eine Weile und sehe dich an.“ „Sah ich froh aus? Ich träumte nämlich etwas Herrliches.“ „Was hast du geträumt?“ Der Traum stand noch deutlich vor ihr: Sie war mit John im Ausland gewesen und über eine sonnenbeschienene Autostraße gefahren – und dann hatte sie Orangenbäume und blauen Himmel und ein blaues Meer vor sich gesehen… Lächelnd blickte sie John an. Mit einem Male las sie alle seine Gedanken und wußte, wie er litt und warum er litt. Da lachte sie, legte ihm den Arm um den Hals, zog seinen Kopf an ihre Schulter und sagte: „Ich träumte, daß du wieder ganz gesund seiest. Und daß unser Bübchen schon geboren war, und daß – daß – da war noch etwas – ja, jetzt erinnere ich mich – es war Weihnachtsabend! Wir beide gingen in den Stall und streichelten die Kühe, und im großen Zimmer stand der Weihnachtsbaum. Und als ich erwachte, war es so wunderbar, sich vorzustellen, daß dies ja bald alles wirklich geschehen würde. Oh, John, wenn du nur erst wieder gesund bist, dann, meine ich, habe ich alles, was ich mir auf der Welt wünsche!“ Ein unbeschreibliches Glück erfüllte John. Sollte das möglich sein? Fühlte sie wirklich so? Empfand sie keine Bitterkeit wegen des harten Lebens, das er ihr geschaffen hatte? Sehnte sie sich nicht nach der Stadt und nach Kate zurück? Er fragte nicht, sondern starrte nur in ihre strahlenden, glänzenden Augen. „Ellen – ich liebe dich!“ Später wollte John aufzustehen versuchen. Ellen half ihm in die Kleidung und wollte, daß er sich in den Lehnstuhl am Fenster setze. „Ich möchte so schrecklich gern wieder einmal unten in der Stube sein, Ellen. Oder in der Küche am Herd sitzen und dich wirtschaften sehen.“ „Glaubst du, daß du es wagen kannst?“ „O ja, ich werde ganz vorsichtig gehen.“ Ellen konnte kein Wort sagen, während sie die Treppe hinabgingen – vorsichtig, Schritt für Schritt. Es hatte etwas Erschütterndes, den frischen, kräftigen Mann als zitternden, gebeugten Schwächling zu sehen. Die Tränen würgten
sie im Hals, und sie mußte ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um sie zu unterdrücken. Schweißtropfen liefen von Johns Stirn, als er endlich in der Küche angekommen war. Er sank in einen Sessel und schloß die Augen. „Gib mir – bitte – etwas zu trinken – Ellen!“ Sie brachte ihm ein Glas mit Saft. Es zitterte in seiner Hand, als er daraus trank. „Ich möchte – so gern – in die Stube!“ Ellen mußte ihn stützen, als er sich mit Mühe aus dem Sessel aufrichtete. Er ging ein paar Schritte, dann taumelte er und fiel zu Boden. Bernt und Anders trugen ihn hinauf. Und mit einem Male wußte Ellen, daß John niemals mehr die Stube und die Küche von Lage sehen würde. Sie saß bei ihm in der Dunkelheit. Tränen liefen über seine mageren Wangen. Sie sprachen nicht. Beide wußten, was kam, sie hatten es heute gespürt. John war am Ende. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Dunkelheit breitete sich immer weiter aus im Raum. Ellen hatte sich am Kopfende des Bettes hingesetzt und stützte mit einem Arm Johns Kopf. Seine Augen, die treuen, bittenden Hundeaugen, suchten die ihren. Ellen beugte sich über ihn und küßte seinen Mund. „John – ich liebe dich!“ Da schoß eine schwache Röte in sein Gesicht. Der Mund zitterte, und seine Hand tastete nach der ihren. Er wollte etwas sagen, doch es gelang ihm nicht. Sie flüsterte dicht an seinem Gesicht: „Ich liebe dich, John, ich liebe dich!“ Da geschah irgend etwas mit John. Sein Gesicht veränderte sich. Jubel spiegelte sich darin, ein Glück, das nicht von dieser Erde war. Ellen schien es in diesem Augenblick, als erschaue sie etwas überirdisches. Und seine Stimme war kräftig und klar, fast wie früher, als er sagte: „Das Glück ist zu groß für mich. Ich kann es nicht tragen. Und hätte ich hundert Leben, Ellen, würden sie nicht ausreichen, um das Glück zu tragen, das du mir gegeben hast.“ Dann schloß er die Augen. Eine Weile später flüsterte er: „Was habe ich nur Gutes getan im Leben, um so viel Glück verdient zu haben, daß das Herz davon zerbricht?“
Ellen beugte sich tiefer über ihn. Sein Atem ging schwach und langsam. Sie legte das Ohr auf seine Brust, die sich bei jedem Atemzug immer weniger, immer schwächer hob. Schließlich bemerkte Ellen keinerlei Bewegungen mehr. Sie holte ihren Handspiegel vom Toilettentisch und hielt ihn vor Johns Mund und Nase. Angstvoll starrte sie darauf – eine Minute – zwei Minuten – drei Minuten. Der Spiegel blieb blank. Da erhob sich Ellen Lage, legte behutsam den Kopf ihres Mannes auf das Kissen zurück, dann zog sie die Decke glatt und faltete seine Hände. Hochaufgerichtet und einsam stand sie da und blickte auf John. Und unter ihrem Herzen lebte der Erbe von Lage.
SIEBENTES KAPITEL Kate stand am Fenster, die Stirn gegen die Scheibe gelehnt, und starrte auf die schneebedeckte Landschaft. Zur Linken lag die rote Scheune, rechts verlief ein Bretterzaun und dahinter der Weg. Auf der anderen Seite des Weges standen das schöne, alte Wohnhaus, die Speicher und Scheunen von Enger. Lange Zeit stand Kate so. Wie dünn und klein wirkte sie in dem schwarzen Kleid! Ihr Gesicht war blaß und die Augen rot vom vielen Weinen. Kate hatte so viel geweint in den letzten Wochen, mehr als in ihrem bisherigen Leben. Hinter ihr ertönte das leise Geräusch einer emsigen Arbeit. Ellen saß am Tisch und putzte das Silberzeug. Sie rieb, spülte und trocknete, und dann folgte ein schwaches Klirren, wenn die Gabeln oder Löffel in den Kasten zu den bereits fertig geputzten Bestecken gelegt wurden. Keine der Schwestern sagte etwas. Doch nach einer Weile drehte sich Kate um und blickte Ellen an. Sie war fast durchsichtig bleich und wirkte in der schwarzen Kleidung noch farbloser. Aber aufrecht und stark war sie, und ihr Gesichtsausdruck war ruhig und sanft – trotz des Ausdrucks von Willenskraft um ihren Mund. „Wie du das nur fertigbringst!“ rief Kate schließlich aus. „Was? Zu arbeiten, meinst du?“ „Ja – daß du es fertigbringst, das Silber zu putzen – zu backen – zu waschen – was hat das alles jetzt zu bedeuten?“ „Wenn der Hof gedeihen soll, kann ich die tägliche Arbeit nicht liegenlassen, Katekatz. Es ist doch zu nichts nütze, die Hände in den Schoß zu legen und nichts zu tun. Komm lieber her und hilf mir. Könntest du nicht die fertigen Bestecke in die Schubladen einordnen? Und bring mir bitte die Kanne und den Silberbecher mit heraus, die auf dem Regal über dem Sofa stehen.“ Kate tat, um was sie gebeten wurde. Gleich darauf saß sie der Schwester gegenüber und putzte ebenfalls. Sie las die Inschrift auf dem silbernen Becher. Es war ein Ehrenpreis, den John bei einem Schwimmwettbewerb gewonnen hatte. „Kannst du das begreifen?“ fragte sie leise. Ellen verstand sofort, was sie meinte, und brauchte nicht weiter zu fragen. „Nein. Niemand war fassungsloser als John selbst. Allerdings
sagte er nachher, er könne sich erinnern, manchmal starkes Herzklopfen und hin und wieder einen stechenden Schmerz in der Seite gehabt zu haben, aber er hatte dem nie eine Bedeutung beigemessen. Außerdem war er immer viel zu beschäftigt gewesen, um auf sich selbst zu achten.“ Es zuckte um Kates Mundwinkel. Ellen legte ihr die Hand auf die Schultern. „Na, Katekatz, nun sei aber mal ein vernünftiges Mädchen. Wenn ich ruhig sein kann, wirst du es wohl auch können, nicht wahr?“ „Ich – ich – weine ja nur deinetwegen. Schließlich war ich es ja nicht, die John geliebt hat – aber es ist so schrecklich – so schrecklich – daran zu denken…“ „Auf diese Weise machst du es mir nicht leichter, Kate. Hilf mir lieber, an die Zukunft zu denken. Was gewesen ist, gehört mir allein – das Gute, das Schöne; niemand kann es mir nehmen. Es soll mir auch nicht durch Kummer und Tränen zerstört werden. Nach vorwärts, immer nach vorwärts müssen wir denken und schauen. Und die Zukunft ist für mich wahrhaftig voller Probleme.“ „Du bist also fest entschlossen, auf Lage zu bleiben?“ „Wenn ich mich durchboxen kann, ja. Weißt du, ich sehe bereits einen schwachen Hoffnungsschimmer. Wir haben in den letzten Monaten immer mehr Milch abgeliefert, außerdem Kälber verkauft und eine Menge Eier. Natürlich müssen wir spartanisch leben, denn was wir dringend brauchen, ist Bargeld. Aber ich glaube, daß ich es schaffen werde. Und du verstehst doch sicher, daß ich nicht einfach das Vaterhaus unseres Jungen aufgeben kann. Es ist meine Pflicht, alles zu tun, um Johns Jungen auf Lage heranwachsen zu lassen. Leuchtet dir das nicht ein?“ „Doch“, sagte Kate. Dann lächelte sie. „Du redest die ganze Zeit von dem Jungen, Ellemama. Was wirst du sagen, wenn es ein Mädchen wird?“ „Dann habe ich ihm gegenüber doch wohl die gleiche Pflicht, nicht wahr? Aber weißt du was, Katekatz? Ich überlege schon eine Weile… Ich finde es nämlich schrecklich, dich in die Stadt zurückzuschicken. Ich würde so gern…“ „Ja, du liebe Zeit, dann bleibe ich natürlich hier!“ rief Kate aus, und ihre Augen strahlten. „Ich sehe ja selbst, wie dringend hier noch ein Mensch mehr gebraucht wird.“ „Einen Augenblick, Katekatz, überlege es dir bitte sehr gründlich, ehe du dich entscheidest. Denke daran, daß das Leben hier im Haus
aus harter Arbeit besteht. Von morgens bis abends muß geschuftet werden. Seitdem dein Gehalt aufgebessert worden ist, kannst du gut allein leben. Schon seit Juni hast du ja nichts mehr von mir bekommen. Es wird dir schwerfallen, dich hier abzurackern, ohne etwas zu verdienen. Darum mußt…“ „Ellen Lage, geborene Böe – schämst du dich nicht?“ Kate war mit einem Male erwachsen und energisch. „Wenn du mich hier behalten kannst, ohne daß dir deine Hafergrütze und dein Klippfisch ausgehen, und wenn ich mich nützlich machen kann, denkst du, dann hätte ich solche lächerlichen Bedenken? Oder ich scheute mich vor der Arbeit? Du hast dich wohl nicht für mich abgeschuftet, seit du vierzehn Jahre alt bist, wie? Du weißt selbst, daß es keinen Platz auf der Erde gibt, wo ich lieber wäre als bei dir, und du brauchst mich doch, wenn der Junge kommt, und nachher brauchst du mich erst recht. Wenn du einen Teller Hafergrütze am Morgen, etwas Mittagessen und abends ein paar Bratkartoffeln übrig hast, dann genügt das, mehr verlange ich nicht. Also bleibe ich hier – besser gesagt, ich fahre morgen in die Stadt zurück und bereite meinen Umzug vor. Dann bin ich noch rechtzeitig vor Weihnachten hier.“ Ellen blickte die Schwester an. Mit einem Male war Leben in das betrübte Gesicht gekommen, und die Wangen hatten sich gerötet. Ellen sehnte sich plötzlich geradezu danach, diesen guten, liebevollen Menschen immer um sich zu haben, diese Kate, die immer helfen wollte, für alles Verständnis hatte und mit ihrem strahlenden Lächeln und ihrem fröhlichen Wesen stets Frohsinn um sich verbreitete. „Willst du es wirklich wagen, Katekatz? Angenommen, ich werde mit dieser Riesenaufgabe nicht fertig! Angenommen, ich muß den Hof doch aufgeben – dann stehe ich da auf kahlem Boden mit der Verantwortung für dich und meinen Jungen.“ „Angenommen, angenommen…! Angenommen, der Mond sei aus Quark gemacht! Wir kommen doch nicht weiter, wenn wir nur an die schlimmen Möglichkeiten denken. So, wie ich dich kenne, schaffst du es! Da kann es biegen oder brechen!“ „Du bist ein gesegneter Optimist, Katekatz. Aber das darf dich nicht daran hindern, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Hier sitze ich allein ohne die geringste Erfahrung in Landwirtschaft, mit zwei skeptischen Hilfskräften auf einem verkommenen, verfallenen Hof, mit einem Kind, das demnächst das Licht der Welt erblicken soll – und im übrigen mit zwei leeren Händen!“
Kate sah ihr in die Augen. Ihr Blick war warm, fröhlich und vertrauensvoll. „Mag sein, daß deine Hände leer sind“, gab sie zu, „aber das schadet nichts – sie sind ja stark!“ Ellen räumte den Tisch ab, und Kate wusch ab. Als Bernt und Marte aufstanden, um sich schlafen zu legen, bat Ellen sie, sich noch einmal hinzusetzen. Sie wollte ihnen etwas sagen. Die beiden nahmen wieder Platz und blickten sie fragend an. Ellen schaute von einem zum anderen. Das waren der blonde, kräftige Bernt mit Riesenfäusten und einem Riesenappetit, und die vierzigjährige Marte mit ihrem ruhigen, ein wenig verschlossenen Gesicht, in dem die Jahre ihre Spuren hinterlassen hatten. Marte war tüchtig, fleißig und außerordentlich pflichtbewußt, aber einen Sonnenstrahl konnte man sie beim besten Willen nicht nennen. „Ich möchte euch beide um etwas bitten“, sagte Ellen, und ihre Stimme war leise und ruhig. „Wie ihr wißt, kommt bald ein Hoferbe oder vielleicht auch eine Hoferbin. Ihr, die ihr schon so lange auf Lage arbeitet und den Hof von Grund auf kennt, haltet es vielleicht für wahnwitzig, daß eine Städterin wie ich hier bleiben und versuchen will, den Hof weiterzuführen, anstatt ihn zu verpachten. Nun, ich will im Sinne meines Mannes handeln und den Kampf aufnehmen um des Kindes willen. Ich möchte euch bitten, mir dabei zu helfen. Ihr wißt und könnt viel mehr als ich. Darum frage ich euch geradeheraus: Können wir drei den Hof weiterführen, wenn meine Schwester hierbleibt und die Innenarbeit übernimmt? Glaubt ihr, wir könnten Lage so weit hochbringen, daß es sich lohnt? Und wenn ihr meint, es sei möglich, wollt ihr mir dabei helfen?“ Bernt war rot geworden vor Verlegenheit. Martes strenges Gesicht löste sich ein wenig, und ihr Mund machte den Versuch zu einem ungewohnten Lächeln. Ihre harte, rauhe Arbeitshand streckte sich aus, und Ellen ergriff sie. „Wollen wir! Verlaß dich darauf!“ sagte Marte in ihrer kurzen Art. „Wir werden es machen, so gut wir es können.“ Ellen erwiderte den Händedruck. Daraufhin streckte auch Bernt seine junge, breite Pranke aus, und Ellen schien es, als werde ihre Hand darin zerdrückt. „Können sich auf mich verlassen – bestimmt!“ sagte Bernt. Sie blieben noch ein Weilchen zusammen sitzen, doch viel wurde nicht gesagt. Nach einer Weile erhoben sich die Magd und der Knecht und sagten leise gute Nacht. Es wurde ein stiller Weihnachtsabend auf Lage. Bernt hatte, ohne
Ellen zu fragen, einen kleinen Tannenbaum geschlagen und aufgestellt. Kate schmückte ihn mit dem alten Christbaumschmuck, den sie von daheim mitgebracht hatte. Nach heimlicher Vereinbarung zwischen Kate und Marte kamen Gebratenes und andere leckere Dinge auf den Weihnachtstisch. Es wurde trotz allem ein schöner Abend. Ellen las das Weihnachtsevangelium und spielte Weihnachtslieder auf dem alten Klavier. Sie blickte sich in der Stube um. Wie heimisch fühlte sie sich hier! Wie lieb hatte sie jeden Stuhl, jeden, Balken an der Decke, jede der kleinen, bleigefaßten Fensterscheiben. Während sie am Klavier saß und phantasierte – sie spielte eine Art Weihnachtspotpourri – , formte sich in ihr ein Gebet: „Laß mich dieses Heim behalten! Hilf mir im Kampf darum!“ Sie gingen zeitig zur Ruhe. Oben im Schlafzimmer blieb Ellen stehen und schaute aus dem Fenster. Das Mondlicht machte die Landschaft unwirklich, ja fast überirdisch schön. Blendender Schnee mit geheimnisvollen, schwarzen Schatten – der Widerschein in den Fensterscheiben auf Enger – , leuchtendes Glitzern auf dem zugeschneiten Teich drüben unterhalb des Hügels, der im bläulichen Dunst flimmerte. Die Leere drohte Ellen zu überwältigen. Eine unsagbare Sehnsucht brannte in ihr. Einen Augenblick meinte sie, Kraft und Mut wollten sie verlassen, und sie wünschte sich nichts mehr, als John folgen zu können. Sie konnte es nicht fassen, daß sie vor noch nicht drei Wochen seinen warmen Mund geküßt, seinen Kopf auf ihrem Arm gespürt hatte. Und nun – nun… Wenn sie sich ein wenig vorbeugte, konnte sie den Kirchturm sehen. Dahinter lag der Friedhof. Ganz am Ende vor der Mauer befand sich die Familiengruft der Lages. Und dort – dort… Ellen zitterte fröstelnd. Mit einein Male ertrug sie es nicht mehr, allein zu sein. Sie mußte zu Kate hinübergehen und sich an einem lebenden, warmen, guten Menschen ausweinen. Sie machte einen Schritt – dann blieb sie stehen. Ein Ruck – eine Bewegung – da lebte ja etwas in ihr! Und sie hatte sich allein gefühlt? Sie trug doch den kleinen John mit grauen Augen und blondem Haarschopf – trug sie nicht Lages Zukunft und Wohlergehen in ihrem Schoß? Ruhig kleidete Ellen sich aus und legte sich zu Bett.
ACHTES KAPITEL Kate, in einem alten Mantel und mit schweren Holzschuhen an den Füßen, machte die Kaninchenställe sauber. Nur die drei Zuchttiere und vier junge Kaninchen waren zu betreuen – alle übrigen befanden sich in Weckgläsern in der Speisekammer, und ihre Felle hingen zum Trocknen auf dem Boden. Bei mehreren Grad Kälte war die Versorgung der Tiere eine unangenehme Tätigkeit. Aber gerade wegen der Kälte hatten sich ihre Felle wunderbar entwickelt. Dicht und weich und mit schimmerndem Seidenglanz – es war ein Vergnügen, sie anzusehen. „So, so“, plauderte Kate mit den Tieren, „nun bist du gleich dran, Tine. Warte nur, bis ich mit Tulla fertig bin. Pfui, du hast ja dein Freßnäpfchen schmutzig gemacht, Tulla! Nein, Truls, du als Herr mußt bis zum Schluß warten, die Damen haben den Vorrang!“ Kate war ganz vertieft in ihre Arbeit, und so merkte sie nicht, daß draußen ein Auto hielt. Auch die Schritte hinter sich bemerkte sie nicht – das heißt, sie hörte sie wohl, aber sie glaubte, Ellen käme oder Marte. Doch plötzlich legten sich zwei Hände über ihre Augen, und eine lachende Stimme hinter ihr fragte: „Wer ist das?“ „Ellemama!“ Die Hände blieben vor den Augen. „Weiterraten!“ „Nein, wirklich, ich weiß es nicht.“ Da wurde Kate losgelassen und umgedreht. Sie starrte in Totten Thues lächelndes Gesicht. „Nanu, Totten!“ „Jawohl, Totten in höchsteigener Person! Der Ehemann folgt – da ist er schon. Wir haben vor Weihnachten rasch mal eben geheiratet. Gusse haßt alles Offizielle, sagt er. Nun wollen wir zum Wochenende so einen Kleckser überfallen, der das zweifelhafte Vergnügen hat, Gusses Freund zu sein. Da fiel uns plötzlich ein, daß ihr hier in der Gegend sein müßtet – nein, was für zauberhafte Kaninchen! Komm mal her, Pussi – sagt man Pussi zu Kaninchen, Kate? Du hast einen prachtvollen Pelz! – Du, Gusse, so einen Anorak wünsche ich mir!“ „Ja, sagt uns bitte Bescheid, wenn ihr die Kaninchen schlachtet“, sagte Gusse Hjerring. Offensichtlich war er sehr verliebt in seine kleine, geschwätzige Frau.
„Wir haben achtzehn Felle auf dem Boden hängen. Wenn die Herrschaften Bedarf haben…“ sagte Kate. Sie witterte ein gutes Geschäft und beeilte sich, die Gäste ins Haus zu bitten. Als Hjerring mit Ellen zusammentraf, nahm er ihre beiden Hände und blickte ihr ernst ins Gesicht. „Ich habe viel an dich gedacht, Ellen. Wie geht es dir?“ „Danke, ich denke, es wird ganz gut werden. Wir müssen eben hart arbeiten und uns ins Zeug legen, weißt du.“ „Und was arbeitest du?“ „Da fragst du auch noch? Scheuern und waschen, Hühner und Kaninchen versorgen, Essen machen, einsalzen und…“ „Eigentlich ist das ein Jammer“, meinte Hjerring, „du mit deinem Talent.“ Er sah sich in der Stube um. „Wie hübsch es hier ist, Ellen! Diese Umgebung müßte dich eigentlich anregen.“ „O ja, das tut sie auch“, sagte Ellen. „Zum Zeichnen, meine ich, oder zum Weben. Du hast damals so gute Sachen gemacht.“ „Nun habe ich anderes zu tun.“ Ellen lächelte und errötete ein wenig, als sie bemerkte, daß Hjerrings Blick ihre Figur streifte. „Ich bin Hausfrau und nächstens Mutter und habe die Verantwortung für Tiere und Menschen und…“ „Tüchtig bist du“, sagte Hjerring. In diesem Augenblick erschien Kate mit Tee und Gebäck. „Ellen – ich darf doch wohl Ellen und du sagen, nicht wahr?“ fragte Totten, während sie einen Keks in den Mund steckte. „Stimmt es, daß du achtzehn Kaninchenfelle auf dem Boden hängen hast?“ „Ja, es läßt sich nicht leugnen.“ „Falls du sie verkaufen willst, darf ich mir dann das Vorkaufsrecht sichern?“ „Ja, gewiß“, sagte Ellen, „das kannst du gern. Aber sie sind noch nicht zubereitet, sondern…“ „Das macht nichts, ich kann sie in der Stadt zubereiten lassen. Du, ich bin ganz wild auf einen Anorak aus solchen Fellen! Der wird ja tausendmal hübscher als diese gräßlich struppigen Ziegenanoraks, die jeder zweite trägt. Du, Gusse, stell dir vor, was für einen Eindruck ich auf unserer Ostertour machen werde, mit so einem – so einem weichen Kätzchenanorak!“ „Du bist ja selbst ein weiches Kätzchen“, meinte Hjerring lachend. „Ich sage dir, Ellen, sie gibt nicht nach, und sie hat mich unter dem Pantoffel! Kann ich die Felle mal sehen? Und was kosten
sie?“ Kate war bereits in Windeseile auf den Boden gelaufen, um die Felle zu holen, und kurze Zeit später war der Handel abgeschlossen. Ellen bekam viel mehr dafür, als ihr ein Aufkäufer gegeben hätte, und Hjerring erhielt sie billiger, als wenn er sie in einem Pelzgeschäft in der Stadt gekauft hätte. Strahlend zog Totten mit ihrem Schatz ab und versicherte, wenn sie einmal ein Baby bekäme – und das könnte gut sein, sie sei sich nur nicht so ganz sicher – , würde sie noch weitere Felle für ein Mützchen, einen Kragen und eine Wagendecke kaufen. Außerdem habe sie noch mindestens zehn Freundinnen, die ebenfalls… „Truls, Trine und Tulla werden sich anstrengen müssen“, sagte Kate gedankenvoll, als die Gäste fort waren, „aber war das nicht ein gutes Geschäft, Ellen? Du, in dem Buch über Kaninchenzucht steht übrigens, daß man schon im Februar den ersten Wurf haben könne, falls die Tiere in guten und warmen Ställen untergebracht wären, und das sind sie ja. Nun werden wir Tulla und Trine so bald wie möglich decken lassen, und im März können auch schon unsere jungen Tiere zur Zucht verwendet werden. Stell dir mal vor, wie viele Junge wir im Laufe des Jahres zusammenbekommen!“ Kate verlor sich in Träumereien über einen Kaninchengroßhandel, der, wenn er wirklich zustande käme, den Lage-Hof retten und Ellen binnen weniger Jahre zur Millionärin machen würde. Kate fühlte sich wohl wie ein Fisch im Wasser. Sie nahm sich vor allem der Tiere an, die sie am meisten liebte. Sie erreichte, daß die Hühner so fleißig legten, als bekämen sie es bezahlt. Die Kaninchen gediehen unter ihrer Pflege und nahmen zu, und Treu, der alte Hofhund, trottete hinter ihr her, wo sie ging und stand. Marte mußte sie das Melken lehren, und bald konnte Kate es so gut, daß es nur so in den Eimer brauste, während die Stallkatze zärtlich um ihre Beine strich. Ja, Marte hatte sogar das Lächeln gelernt, seit Kate auf dem Hof war. Ihrem fröhlichen Lachen, ihrem sonnigen Humor konnte niemand widerstehen. Ellen neckte die Schwester damit, daß Bernt immer zufällig da zu tun hatte, wo sich Kate befand. Es ließ sich außerdem nicht leugnen, daß Anders Enger neuerdings auffallend oft unaufschiebbare Angelegenheiten auf Lage zu erledigen hatte. Der Winter ging zur Neige, und dann kam endlich der Februartag, an dem die Spannung auf Lage ihren Höhepunkt erreichte. Im Haus war es ganz still; nur oben bei Ellen, wo sich die Hebamme aufhielt,
herrschten Unruhe und Betriebsamkeit. Gegen Abend kam Kate mit der Freudenbotschaft in die Küche hinunter, wo Marte und Bernt wartend am Tisch saßen, daß Lage einen Erben bekommen habe. Der kleine John war geboren.
NEUNTES KAPITEL Die alte Borka spannte alle Muskeln und zog an. Es war, als wolle auch sie ihre ganze Kraft einsetzen, um den Lage-Hof wieder in Schwung zu bringen. In üppigen, dunklen Schollen brach die Erde unter dem Pflug auf, den Bernts junge, sichere Fäuste lenkten. In der Stube schlief der kleine John in seiner Wiege. Kate allerdings war entsetzt gewesen über so etwas unglaublich Altmodisches wie eine Wiege. – Kinder mußten doch in einem luftigen, leichten, hygienischen und praktischen Korb liegen – wie konnte man nur heutzutage noch so ein armes Würmchen in eine Wiege packen! Doch Ellen lachte nur. „Bitte etwas Respekt vor der Tradition, Katekatz! In dieser Wiege haben John, sein Vater und überhaupt alle auf Lage geborenen Kinder gelegen, und zwar seit 1789 – siehst du die Jahreszahl am Kopfende? O ja, mein Johnnie soll in der Wiege liegen, aber natürlich nicht geschaukelt werden – daß du’s nur weißt! Es steht mir ja deshalb noch lange frei, zeitgemäßes Bettzeug in die alte Wiege zu legen. Mein Junge braucht also keine dicken Federbetten unter sich und über sich zu ertragen.“ Jedenfalls gedieh Johnnie in der alten Wiege mit den Schnitzereien im dunklen Holz prächtig.
Am sonnigen Südfenster war Ellen mit den Kästen beschäftigt, in denen sie aus Samen junge Pflanzen zog, die später, wenn es warm war, in den Garten ausgesetzt werden sollten. Schon immer hatte Ellen Blumen geliebt, nun aber wollte sie versuchen, in ihrem Garten besonders schöne und seltene Sorten anzupflanzen. Ihre Gedanken beschäftigten sich viel mit dem alten Treibhaus. Wenn es wieder instand gesetzt wurde, konnte sie sich vielleicht auf besondere Dinge spezialisieren – auf Mais zum Beispiel. Für Maiskolben würde sie bestimmt Absatz finden. Und dann konnte Bernt – oder auch sie selber – mit Körben und Kästen auf den Markt fahren. „Du oder Bernt?“ fragte Kate, als Ellen sie in ihren Plan einweihte. „Das kommt nicht in Frage, solange ich da bin! Auf den Markt paßt niemand besser als ich! Hei, das wird vielleicht ein Spaß! Ich werde mich mit sämtlichen Marktweibern anfreunden und die ganze Stadt dazu kriegen, bei mir Mais und Blumen zu kaufen!“ Ellen lachte. Kate war wirklich ein Prachtmensch! Sie scheute sich vor nichts, und sie war sich für nichts zu gut. Jede Arbeit übernahm sie, und alles machte sie gut. Die langen, hellen Frühlingstage erleichterten das Arbeiten sehr. Alles wuchs und gedieh. Im Kaninchenauslauf, der beträchtlich erweitert worden war, wimmelte es nur so von hübschen, silbergrauen und weißen Jungtieren und Neugeborenen. Im Februar waren zwanzig gekommen, im April hatten bereits die vier Jungtiere
des Vorjahres geworfen, und im Mai waren Tulla und Trine abermals an der Reihe – nun waren über siebzig Kaninchen zu versorgen. „Na, das reicht wohl erst für Anoraks und Babygarnituren“, meinte Kate lachend. Aber wenn die hübschen Tierchen so vertrauensvoll angehoppelt kamen und ihr aus der Hand fraßen, mochte sie nicht daran denken, daß eines Tages Frikassee und Pelze daraus werden sollten. Ellens Garten begann „Form anzunehmen“, wie sie sagte. In langen Reihen zogen sich die Gemüsebeete hin, wohlgepflegt und mit kräftigen Pflanzen. An der Sonnenseite des Hauses stand die Wiege mit dem kleinen Johnnie, während seine Mutter jätete – unermüdlich jätete. Und eines Tages fuhr Kate zum erstenmal mit frischen, kleinen Salatköpfen, mit Schnittlauch und vielen Bündchen leuchtend roter Radieschen in die Stadt. Sie konnte im Auto von Anders Enger mitfahren, der jeden Mittwoch und Sonnabend hinfuhr. Auf irgendeine unerklärliche Art und Weise hatte er auf seinem Wagen für Kates Körbe, Kästen und für Kate selbst noch Platz gefunden. Anders hatte ihr zu dem Plan mit dem Markthandel eifrig zugestimmt und ihr alle notwendigen Vorbereitungsarbeiten abgenommen. Auch die Ausstattung verdankte sie ihm, wie den Tisch und die Plane darüber – alles war leicht aufzustellen und zusammenzuschlagen. Viele lächelnde Gesichter wandten sich dem frischen, jungen Mädchen auf dem Markt zu, viele Kunden sammelten sich an, und im Nu waren Kates Waren verkauft. Als Anders im Laufe des Vormittags kam, um zu sehen, wie es ging, war bei Kate schon alles ausverkauft, und sie saß strickend hinter ihrem leeren Tisch und wartete darauf, abgeholt zu werden. Enger war ein wohlhabender Hof, und Anders ein hübscher, netter junger Mann. Eigentlich ein richtiger Wunschkavalier, dachte Kate, als sie alles auf den Wagen geladen hatten und fertig zur Rückfahrt waren. „Du bist sicher hungrig“, meinte Anders. „Jetzt werden wir etwas essen. Wir haben ja noch zwei Stunden Fahrt vor uns.“ Oh, und wie hungrig Kate war! Um fünf Uhr morgens hatte sie gefrühstückt und danach nur noch auf der Fahrt im Auto ein Butterbrot gegessen. Im Auto lagen ihre Jacke, ein Hut und ein Paar hübsche Schuhe.
So konnte sie sich rasch umziehen und hatte sich im Handumdrehen in ein schickes Stadtfräulein verwandelt. Nur ihre Haut war ein wenig brauner als die der Stadtbewohnerinnen, und ihre Fingernägel waren keine rotlackierten Krallen, sondern ziemlich kurz geschnitten. Sie gingen ins Grand-Hotel. „Ich glaube, du bist wahnsinnig“, sagte Kate. „Was würden meine Kolleginnen, die Marktweiber, denken, wenn sie mich hier sähen?“ Anders lachte. Er bestellte ein solides Menü, und Kate tat ihm alle Ehre an. Danach streckte sie die Beine unter dem Tisch aus, lehnte sich in dem Sofa zurück, nippte voll Genuß an dem guten Kaffee und blies den Rauch ihrer Zigarette in die Luft. „Ich fühle mich auf Lage zwar pudelwohl, aber es macht doch Spaß, zwischendurch mal wieder Städterin zu sein“, bekannte sie mit strahlendem Lächeln. „Es ist sehr gemütlich hier, Anders.“ „Ja, das finde ich auch, und wir werden es jeden Mittwoch und Sonnabend so machen, falls du immer deine Waren so flott verkaufst wie heute. Aber nun müssen wir uns auf den Heimweg machen. Es ist zwei Uhr durch, und wir werden erst nach vier zu Hause sein.“ Bald darauf rollten sie in der hellen, vorsommerlichen Nachmittagssonne nordwärts. Es war warmes, herrliches Wetter, und zu beiden Seiten der Landstraße leuchteten grüne Wiesen und Äcker. „Du bist ein unwahrscheinlich tüchtiges Mädchen, Kate“, sagte Anders, nachdem beide lange Zeit geschwiegen hatten. „Ich – tüchtig? Quatsch!“ „Doch, das bist du. Du bist tüchtig und tapfer. Glaubst du, ich sehe nicht, wie hart ihr arbeiten müßt, du und Ellen? Glaub’ mir, es wird nicht lange dauern, bis der Lage-Hof wieder obenauf ist – so, wie ihr euch ins Zeug legt!“ Kate errötete vor Freude. „Meinst du das im Ernst, Anders?“ „Natürlich meine ich das im Ernst!“ „Oh, Anders, wie ich mich darüber freue! Das war das Beste, was du sagen konntest.“ Anders warf einen schnellen Blick auf ihr Gesicht – nur einen Augenblick, denn er mußte sich ja auf das Fahren konzentrieren. „Lage bietet so viele Möglichkeiten. Das kann ein erstklassiger Hof werden, wenn er ordentlich geführt wird. John war ein tüchtiger Kerl. Es war ein Jammer, daß er sterben mußte. Wenn ich mir
vorstelle, was man aus Lage machen könnte…“ „Meinst du, Lage könnte so gut werden wie Enger?“ „Enger wird ja besonders gut bewirtschaftet, wenn ich das mal selber sagen darf. Mein Vater und mein Großvater waren geborene Landwirte und hatten für nichts anderes Interesse als für Erde und Tiere. Und so ist das mit uns Brüdern auch. Vater sagt, er brauche eigentlich vier Höfe, für jeden von uns einen. – Wir sind nämlich alle vier nicht so, wie die Söhne des Lage-Hofes waren. Die waren meist entweder künstlerisch veranlagt, oder sie fuhren zur See, und andere arbeiteten in der Stadt. Aber wir auf Enger – wir fühlen uns alle an unseren Heimatboden gebunden. Ich muß gestehen, daß ich Trond, meinen ältesten Bruder, sehr beneide.“ „Könntest du denn nicht auch mal zu einem Hof kommen?“ „Ach, weißt du, ich bin noch lange nicht dran. Meinen Brüdern Arne und Björn muß doch auch noch die Zukunft gesichert werden. Mein Vater hat mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, zur See zu fahren. Aber dazu habe ich ganz und gar keine Lust.“ Kate betrachtete Anders, während er sprach. Er war untersetzt und ungewöhnlich kräftig. Kate hatte ja schon gesehen, wie Anders zupacken konnte. Dabei war er gewandt und wohlerzogen, alles andere eher als „bäuerisch“ – ein Ausdruck, bei dem Kate ohnehin sofort rot sah. Wie gut sie Anders leiden mochte! Er war so ruhig und vernünftig, seinen jungen Jahren so weit voraus. Mit einem Male stieg Kate das Blut in die Wangen, sie wußte selbst nicht, warum. Ellen lächelte über ihre rotwangige, fröhliche Schwester, die im Tanzschritt auf das Haus zukam. Schon von weitem fing Kate an zu rufen und zu erzählen: wie gut der Markthandel gegangen sei, welches Vergnügen er gemacht habe, wie sie sich mit zwei prächtigen Marktfrauen angefreundet habe, daß sie mit Anders im Grand-Hotel zu Mittag gegessen habe, und… Der Redestrom fand seinen Höhepunkt darin, daß Kate einen Haufen Münzen und Geldscheine in Ellens Schoß schüttete. Dabei blitzte in Ellen ein anderes Erlebnis auf: Da hatte die achtjährige Kate durch einen Botengang für die Nachbarin vierzig Öre verdient und war dann voll Stolz zur großen Schwester heimgekommen. Vier blanke Zehn-Öre-Stücke legte sie in Ellens Hand und sagte strahlend vor Freude: „Bitte sehr, Ellemama – Haushaltsgeld!“ O ja, die Katekatz hatte frühzeitig Ellen und den Vater über
Haushaltsgeld sprechen hören und dabei begreifen gelernt, daß Geld dazu da ist, um davon zu leben. Die zwanzigjährige Kate wurde natürlich genauso herzlich in den Arm genommen wie damals die Achtjährige. Ellen fühlte wieder einmal, wie unbeschreiblich lieb sie die Schwester hatte. „Nun muß ich aber rasch zu den Kaninchen“, sagte Kate, kaum daß sie etwas gegessen hatte. „Und dann werde ich dir beim Jäten helfen, Ellemama, es kribbelt in meinen Fingern vor Arbeitslust, ich kann einfach nicht stillsitzen. Und weißt du, ich glaube, wir können ruhig Anders bitten, uns noch einen weiteren Auslauf für Theodora und ihre Jungen zu bauen, denn Anders lacht nicht über uns wegen unserer Kaninchenzucht.“ Damit berührte Kate einen wunden Punkt. Ellen hatte wohl die Sympathie und das freundliche Interesse der anderen Leute bemerkt, aber auch ihr Mitleid und ihr mühsam unterdrücktes Lächeln über die städtischen Damen, die glaubten, man könne einen Bauernhof mit solchem Kleinkram wie Kaninchenzucht in Schwung bringen. Das war doch nur eine Freizeitbeschäftigung für Villenbesitzer, es sei denn, man betrieb die Sache auf eine ganz andere Art, als Ellen es tat. Dann mußte man ein paar hundert Tiere haben und sich wirklich und allein auf die Pelzproduktion konzentrieren. Am nächsten Abend, als Anders kam, um für Kate noch einen Kaninchenzaun zu machen, unterhielt sich Ellen mit ihm. „Du weißt, daß sich die Leute hier schwer an neue Ideen gewöhnen können“, sagte Anders, „und es ist noch nie vorgekommen, daß jemand versucht hat, einen Bauernhof mit Hilfe von Kaninchen- und Maiskolbenzucht zu betreiben.“ „Wie stellen sie es sich denn sonst vor, daß ich zu Einnahmen kommen soll?“ fragte Ellen. „Mit dem Verkauf von Milch und Eiern und Vieh wahrscheinlich“, sagte Anders, „so, wie wir anderen es auch tun.“ „Gewiß, aber alle hier in der Umgebung wissen doch, daß Lage ziemlich heruntergewirtschaftet war, als wir den Hof übernahmen. Nur zwei Kühe mit Kälbern waren noch vorhanden. Wo sollten dann schlachtreife Tiere zum Verkauf herkommen, und woher sollten wir so viel Milch bekommen, daß sich der Verkauf in der Kasse bemerkbar machte? Hühner waren überhaupt nicht da – woher sollten wir also Eier nehmen? Im Schweinestall war kaum mehr Platz als für ein einziges Schwein – wie sollten wir Schweinefleisch für den Verkauf schaffen? Im Herbst konnten wir nur deshalb ein
gutes Kalb lebend verkaufen, weil wir selbst von Kaninchenfleisch lebten. Und die achtzehn Felle, die ich verkaufen konnte, haben mir gerade so viel Geld eingebracht, daß ich damit einen Monat lang den Haushalt bestreiten konnte. Dann ist da noch mein Gemüse. Es hat viel Arbeit gekostet, aber wenn es Kate gelingt, weiterhin für guten Absatz zu sorgen, wird es auch Bargeld einbringen, und das ist es, was ich vor allen Dingen brauche! Bargeld müssen wir haben, um auszubauen und zu reparieren, damit wir mehr Tiere halten und verkaufen können – das müssen die Leute doch begreifen. Größere Bankanleihen mag ich nicht – sie würden den Hof belasten, und ich müßte sie ja schließlich auch abzahlen. Ich weiß selbst gut genug, daß Kaninchen und Gemüseanbau viel Arbeit machen, die sich im landläufigen Sinne nicht ,lohnt’. Nein, wenn ich für Kate und mich einen Stundenlohn errechnen sollte, dann würde sich das Unternehmen wahrhaftig nicht lohnen. Aber von diesem Standpunkt aus darf man es eben nicht sehen. Mag sein, daß diese Kleinkrämerei, die ich da betreibe, keine vernünftige Landwirtschaft ist – aber sie hilft mir aus der derzeitigen Lage heraus – während die Kühe darauf warten, Kälber zu kriegen, während wir darauf warten, daß die Ferkel heranwachsen, kurzum: In der schwierigen Aufbauzeit muß doch irgend etwas Handfestes geschehen. Begreifen das die Leute denn nicht?“ Anders sah Ellen an. Stark und hochgewachsen stand sie vor ihm. Wettergebräunt und kräftig, mit Silberstreifen in dem dichten, dunklen Haar. Erst dreißig Jahre war sie alt, doch sie sah älter aus. Ihre blauen Augen hatten einen festen, ruhigen, bestimmten Ausdruck. „Du bist großartig, Ellen“, sagte Anders. „Nie im Leben hätte ich mir träumen lassen, daß eine Frau das leisten könne, was du schaffst, und nicht auf halbem Wege aufgibt!“ Ellen lachte, und es klang frisch und jung. „Nun hör aber auf mit dem Unsinn, Anders! Du vergißt wohl, daß ich jemanden habe, für den ich schaffen kann. Erstens tue ich es im Andenken an John – es handelt sich schließlich um den Hof seiner Väter – , vor allem aber habe ich ja…“ Aus dem offenen Kammerfenster drang ein quarrender Laut, der gleich darauf zu einem kräftigen, fordernden Geschrei wurde. „Na, da hörst du es ja“, sagte Ellen. „Bedenke mal die Verpflichtung, die ich diesem kleinen Trabanten gegenüber habe. Ich habe Johnnie einen Musterhof versprochen, und den soll er haben! –
Ja, ja, Johnnie – immer mit der Ruhe, Mami kommt schon!“ Leichtfüßig und rasch lief Ellen ins Haus, und einen Augenblick später war das Kindergeschrei verstummt.
ZEHNTES KAPITEL „Sag mal, du konntest wohl keine ungeeignetere Zeit wählen“, rief Ellen. „Kein Mensch außer dir käme auf die Idee, ausgerechnet während der Heuernte den Boden aufzuräumen.“ Kate erschien in der Dachbodentür, völlig verstaubt und mit Spinnweben im Haar. „Ja, aber abends werden wir doch weder heuen noch harken noch – hatschi! Außerdem – hatschi! – , außerdem räume ich nicht den ganzen Boden auf. Vielmehr sagte Marte – hatschi! – , sie hätte hier oben mal einen ganzen Korb voll Wollgarnreste gesehen, und ich brauche dringend Garn, um die rote Jacke zu stopfen. Beste Ellemama, könntest du nicht mit einer Taschenlampe heraufkommen und mir leuchten? Dann ist es im Nu getan. Du ahnst gar nicht, wie interessant es hier oben ist übrigens scheint hier nicht aufgeräumt zu sein, seitdem die Wiege gezimmert wurde. Hier sieht es aus, als läge der Staub bereits seit mindestens hundertneununddreißig Jahren!“ Gutmütig gab Ellen nach. Sie holte eine Taschenlampe und folgte Kate damit durch den großen, dunklen Bodenraum. Noch nie war sie hier oben gewesen. In dem einen Jahr, das sie nun auf Lage wohnte, hatte sie wahrhaftig noch keine freie Zeit gehabt, außer der dringend benötigten Nachtruhe. So hatte sie sich einfach noch nicht auf den weiträumigen Dachboden gewagt. Marte hatte die Wiege heruntergeholt, als Johnny erwartet wurde; sonst war niemand hier oben gewesen. „Du meine Güte!“ rief Kate. „Sieh bloß diese wunderbare Truhe mit den Beschlägen, Ellen! Kannst du begreifen, wie es jemand fertigbringt, so etwas auf dem Dachboden abzustellen? Was mag wohl darin sein? – Nein, sieh doch, da steht ja ein Kinderbett! Das müssen wir auch bald herunterholen. Johnnie kann schließlich nicht in der Wiege schlafen, bis er konfirmiert wird. – Bitte, Ellemama, leuchte mal hierhin! – Ja, was, in aller Welt, ist denn das?“ Ellen trat näher, und ihr Herz begann kräftig zu schlagen. „Das – das ist ja ein alter Webstuhl. Ein aufrechtgestellter Webstuhl.“ „So einer, auf dem man Bilder weben kann?“ „Ja, es scheint so.“ „Oh, Ellen – oh, Ellemama, wie herrlich!“ Kate lief in die Küche hinab, wo Bernt und Marte saßen und den
geruhsamen Feierabend genossen. „Lieber Bernt“, rief Kate aufgeregt, „sei so nett und komm mit auf den Boden! Und du auch, Marte! Wir brauchen eure Hilfe, es dauert nur ein paar Minuten.“ Bald darauf war der Webstuhl hervorgeholt und gründlich abgestaubt. Im Triumph dirigierte Kate ihn hinunter in die große Stube. Auch der große Korb mit den Wollgarnresten war inzwischen gefunden – offenbar waren sie zum Weben gedacht, jedenfalls war es kein Strickgarn, wie Kate es brauchte. Aber vor Freude über den Webstuhl hatte sie ihre rote Jacke ganz vergessen. „Denk mal, Ellemama, ein richtiger Webstuhl! Das wird ja ein Spaß für dich werden! Freust du dich?“ „Ach, du leichtsinnige Katekatz! Glaubst du denn, ich würde je Zeit haben, mich hinzusetzen und zu weben? Weißt du nicht, daß ich eine hart arbeitende Bäuerin bin?“ „Genau das gleiche sagte die Tone, Auduns Mutter“, sagte Marte. „Die webte früher, aber dann brachte sie den Webstuhl auf den Boden, weil er ihr zu viel Zeit stahl. Es war in dem Jahr, bevor sie starb.“ Ellen betastete den Webstuhl. Er schien in Ordnung zu sein. Es juckte ihr in den Fingern. Ach, wenn sie doch könnte… Sie hatte noch ein paar Zeichnungen, die im letzten Semester auf der Kunstgewerbeschule entstanden waren. Wenn sie doch wenigstens eine einzige kleine Decke weben könnte! Ihr Blick fiel auf den Korb mit dem Garn. Es war eine Menge blaues Garn vorhanden – Blau in allen Schattierungen. Ellen erinnerte sich an einen ihrer Entwürfe. „Blauer Abend“ hieß er. Ein Teich – blauer Himmel – blaue Schatten – kriechende, verschwimmend weiche Schatten und kräftige, dunkle, scharf abgegrenzte Schatten – und hinter dem Teich ein blauer Hügel. Davor eine einsame Kiefer und ein schwarzer Vogel… „Ellemama!“ Der Ruf holte sie in die Gegenwart zurück. Kate hatte sie eifrig am Ärmel gezupft. „Soll ich dir helfen, den Webstuhl zu bespannen? Hier ist ja auch Garn für die Kette – du, wir haben Zeit – komm!“ Kate lockte und bettelte, und Ellen ließ sich verlocken. Bis weit in die Nacht hinein arbeiteten sie. Der Webstuhl war ziemlich groß, und es wurde ein wahres Geduldspiel, ihn zu bespannen. Zahllose Knoten mußten geknüpft und viele lange Fäden daran gehindert werden, sich zu verheddern. Ellen war völlig hingerissen. Ihre Augen strahlten, und mit
eifriger Stimme erklärte sie, während sie einrichtete. Kate bemerkte es, und so unterdrückte sie ihre Müdigkeit und freute sich mit der Schwester. „Nun bleib aber nicht gleich hier sitzen und webe die ganze Nacht hindurch“, sagte Kate lachend, als sie fertig waren. „Ach was – du spinnst, ich webe nicht – jetzt nicht! Los, ins Bett mit dir! Du warst viel zu lange auf – gut, daß morgen wenigstens nicht Markttag ist.“ „Nein, aber trotzdem bin ich an der Reihe, zuerst aufzustehen, und wenn du es wagen solltest aufzustehen, ehe ich dir den Kaffee ans Bett gebracht habe, dann – dann – reiße ich die ganze Bespannung wieder herunter!“ Kate drückte die Schwester hastig an sich, winkte ihr fröhlich gute Nacht zu und verschwand. Ellen aber blieb vor dem Webstuhl stehen. Ihre Hand betastete das Garn im Korb. Fest und solide, selbst gesponnen und selbst gefärbt – darum hatte es sich in all den Jahren so gut gehalten. Leise schlich sie in ihr Schlafzimmer hinauf, wo Johnnie in seiner Wiege schlief, dick, stämmig und rosig. Ein blonder Schopf stand auf dem Köpfchen in die Luft, und ein weiches Händchen lag auf dem Kissen. Ellen stopfte noch einmal fürsorglich die Decke zurecht, dann begann sie sich auszukleiden. Plötzlich hielt sie inne, hüllte sich in den Kimono und öffnete leise die unterste Schublade ihrer Kommode. Dort lag vieles, was sie aus der Stadt mitgebracht hatte, die verschiedensten Dinge aus ihrer Jungmädchenzeit. Sie suchte – zuerst tastend, dann immer hastiger und voller Ungeduld. Hier mußten sie doch sein! Die Schublade war groß und tief, endlich fand sie an der hinteren Wand die Rolle mit den Zeichnungen. Als sie die Blätter entfaltete, rollten sie hierhin und dorthin. Unten in der Stube schlug die Uhr zwölf. Die Nachttischlampe warf ein gedämpftes Licht auf das Bett, die Kommode und sie selbst. Sie hockte auf dem Boden und prüfte einen Entwurf nach dem anderen. Die Blätter waren steif und vergilbt. Da war der Entwurf – genau so, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sorgfältig rollte sie das Blatt auseinander und hielt es unter die Lampe, um die Zeichnung besser betrachten zu können. Ja – es war eine Sinfonie in Blau – vom hellsten Graublau und weichen Pastellblau bis zum tiefen, geheimnisvollen Dunkelblau des
Hügels… Ellen stand ganz still und wußte mit einem Male, daß sie etwas konnte. Dies war wirklich gelungen. Der Entwurf war eine Eingebung. Sie erinnerte sich, daß sie einen Tag, nachdem sie dies gezeichnet hatte, mit dem Weben beginnen wollte. Aber dieser Tag danach – war der Tag, an dem der Vater starb. Vierzehn Tage später wurde die Zeichnung mit allen anderen zusammengerollt und weggepackt. Ellen mußte mit der Büroarbeit beginnen. Sie leistete der wunderlichen Macht, die sie trieb, keinen Widerstand mehr, sondern zog den Kimono fester um sich, schlich aus dem Raum und schloß die Tür hinter sich, lautlos, um das schlafende Kind nicht zu stören. Heimlich wie ein Dieb stahl sie sich die Treppe hinab – die vierte Stufe, die immer knarrte, vorsichtig meidend – , dann ging sie auf Zehenspitzen in die große Stube und machte Licht. Die Zeichnung wurde auf ihrem Platz hinter der Bespannung befestigt. Dann machte sich Ellen daran, das Garn zu untersuchen. Ja, es war wirklich eine reiche Auswahl an blauen Farben vorhanden. Nur das ganz helle Blaugrau für den Himmel über dem Hügelkamm fehlte. Aber das würde sie sich später noch beschaffen. Sie konnte es ja selbst einfärben. Das Garn wurde in passende Knäuel aufgeteilt, dann holte sich Ellen eine Gabel aus der Anrichte, um damit die Fäden niederzudrücken. Sie setzte sich an den Webstuhl. Die alte Wanduhr tickte Minute um Minute, dann sammelte sie sich schnarrend zu einem Gongschlag. Ellen hörte es nicht. Sie war wieder jung und voller Träume für die Zukunft, eine Zukunft in Farben, Schönheit und Kunst. Ihre Kunst sollte das Leben reich und wunderschön machen. Ihre Finger bewegten sich glücklich und gewandt zwischen den Fäden der Bespannung, und langsam, langsam baute sie das blaue Muster auf… Kate erwachte schlaftrunken. Es schien ihr, als habe sie etwas gehört – es klang, als ginge jemand auf der Treppe. Sie hob den Kopf vom Kissen und horchte. Nein, es war wohl doch nichts. Halt – ging da nicht Ellens Tür? Wieder hob Kate den Kopf. Das Morgenlicht schimmerte ein wenig neben der Gardine herein. Vogelgezwitscher – frische, reine Sommerluft – ein schwacher Morgenwind bewegte die Gardine ein wenig…
Die Uhr in der großen Stube schlug fünf. Kate legte sich wieder hin und zog die Decke über sich. Es war noch eine halbe Stunde bis zum Aufstehen. Natürlich war es Einbildung, daß sie etwas gehört hatte. Wer sollte denn so zeitig aufstehen? Um sechs Uhr bekamen Marte und Bernt ihr Frühstück, und Kate machte das Kaffeetablett für Ellen und die Milchflasche für Johnnie zurecht. Als sie durch die große Stube ging, um aus der Anrichte eine von den guten Tassen zu holen, blieb sie mit einem Ruck stehen. Sie starrte auf den Webstuhl, dann lächelte sie. Anstatt die Tasse aus dem Schrank zu holen, setzte sie das Tablett beiseite, schlich die Treppe hinauf und betrat auf Zehenspitzen das Zimmer. Leise hob sie das Baby aus der Wiege und trug es hinaus. Dabei warf sie einen Seitenblick auf die Schwester, die fest schlief. Blaß und mit dunklen Ringen unter den Augen lag sie da, aber ihr Mund lächelte glücklich. Kate nahm den Jungen mit hinunter, wickelte ihn, gab ihm die Flasche, legte ihn in den Kinderwagen und fuhr ihn in den Garten. Zu Bernt und Marte sagte Kate, ihre Schwester fühle sich nicht ganz wohl. Dann machte sie sich energisch an die Arbeit Ellens, die nichtsahnend Stunde um Stunde schlief – tief, traumlos und glücklich.
ELFTES KAPITEL Über Ellens Wesen kam etwas Rastloses. Marte und Bernt pflegten nicht viel zu sagen, aber ihre Augen folgten oft der Bäuerin, beide spürten die nervöse Hast, mit der Ellen arbeitete. Ständig beeilte sie sich, ungeduldig und irritiert, als müsse sie so schnell wie möglich mit etwas fertig werden. Auch Kate sah es, und sie verstand die Schwester. Die stets lächelnde Kate entwickelte sich in dieser Zeit fast zu einer Heldin. Sie übernahm viel mehr Arbeit, als man von einem solch jungen Mädchen verlangen könnte. Von früh bis spät war sie auf den Beinen, ohne müde zu werden, ohne auch nur einen Augenblick ihr frohes Lächeln zu verlieren. Sie tat, was sie konnte, damit Ellen hin und wieder eine Stunde erübrigen konnte, um sich dorthin zurückzuziehen, wohin ihr Verlangen sie trieb: zum alten Webstuhl in der großen Stube. Dort vergaß sie alle Sorgen und Kümmernisse. Dort wurde ihre Stirn glatt, und das glückliche Lächeln war wieder da, das ihr Gesicht so warm und schön und strahlend jung machte. Wie gut kann ich verstehen, daß John sich in dieses Gesicht verliebte, dachte Kate, wenn sie wieder einmal heimlich in die Stube trat, um der Schwester über die Schulter zu sehen. Die Finger arbeiteten flink und geschickt – sie war gerade dabei, den schwarzen Vogel auf der Kiefer einzuweben. Mehr als die Hälfte des Wandteppichs war bereits fertig, Trotz Kates eisernen Fleißes blieb in dieser Zeit eine Menge Arbeit liegen, doch Kate meinte, darauf käme es jetzt nicht an. Und eines Tages war der Wandteppich fertig. Er wurde aus dem Webstuhl genommen, die Fadenenden befestigt und verknüpft und das Werk an die Wand gehängt, wo das alte, schöne Sofa mit dem blauen, handgewebten Bezug stand. Nun war der Garnkorb fast leer. Mit gerunzelten Brauen starrte Ellen hinein. Ein harter Kampf entbrannte in ihr. Sie konnte Wolle kaufen und sie selbst färben – unwillkürlich wandten sich ihre Augen zum Fenster und suchten den Wald im Osten. Dort drüben wuchsen die herrlichsten Moosarten, rotes und lila Heidekraut, kurzum alle Pflanzen, die sie zum Färben brauchte. Es war Hochsommer, die Pflanzen waren kräftig und reif und die Farben von verschwenderischer Üppigkeit.
Doch dann schüttelte Ellen diesen Gedanken ab. Sie kehrte dem Webstuhl den Rücken und wandte sich ihrem vernachlässigten Haus zu. Draußen auf der Wiese ging Kate im Sommeranzug umher und harkte das Heu zusammen, das Marte und Bernt auf den Wagen luden. Dazwischen ertönte in gleichmäßigen Abständen das Rumpeln der Räder auf der Tenne. Im Hühnerhof gackerte das Federvieh um die Wette, und im Garten hoppelten die Kaninchen in ihrem geräumigen Auslauf umher. Im Schweinestall lag die Sau Bolette fett und schwer und von acht rosa Ferkeln umgeben. Auf der Weide grasten Kühe, und daheim im Stall standen zwei schwarze Kälber mit großen, treuherzigen Augen. Überall auf Lage herrschte Leben und Treiben. Ellen rechnete und rechnete mit zusammengezogenen Brauen. Es drehte sich darum, daß die Tochter eines Bauern aus dem Dorf vor ein paar Tagen hier gewesen war. Bei einer Tasse Kaffee in der Küche hatte sie gefragt, ob auf Lage nicht noch eine Hilfskraft mehr gebraucht werde. Sie sei zufällig gerade frei, und Lage sei ein so netter Platz… Ellen wußte ganz genau, weshalb Lage ein so verlockender Arbeitsplatz war, nämlich deshalb, weil er in nächster Nachbarschaft von Enger lag. Und das Mädchen – es hieß Asny Bjerkelien – hatte ein Auge auf Björn geworfen. Ellen hätte Asny am liebsten gleich dabehalten, aber sie wagte es nicht. Zu essen war zwar genug da, aber der Lohn… Ach, das elende Bargeld! Nein, sie mußte sich die Sache aus dem Kopf schlagen. In diesem Jahr ging es auf keinen Fall, aber vielleicht im nächsten Frühjahr… Dann kam ein Tag im Sommer – ein warmer, sonniger Augusttag. Es war um die Mittagszeit. Treu, der Hofhund, lag zusammengerollt im Schatten seiner Hundehütte, und der Kater Mons saß auf der Türschwelle und blinzelte schläfrig vor sich hin. Beide waren angenehm satt, denn heute hatte Kate ihnen das Fressen gegeben, und dann fiel es immer sowohl für den Kater als auch für den Hund besonders reichlich aus. Nachdenklich leckte Mons sich die Pfoten, gähnte und beschloß endlich, sich ebenfalls zusammenzurollen und ein Mittagsschläfchen zu halten. Ellen war im Schlafzimmer und versorgte Johnnie, ehe sie sich zur Mittagsruhe hinlegte, und Kate stand in der Küche und trocknete das letzte Geschirr ab. Da hörte sie, daß sich auf der Straße ein Auto näherte, und sie
blickte hinaus. Du liebe Zeit, was war denn das? Es blieb ja vor dem Lage-Hof stehen! Kate mußte lächeln. Das Auto war voll junger, fröhlicher Menschen – sechs an der Zahl, drei junge Ehepaare anscheinend. Hastig warf Kate die Küchenschürze ab und strich ihre Haare glatt. Es geschah so selten, daß Fremde herkamen, und deshalb war es so neu und spannend, und Kate liebte alles, was spannend war. „Entschuldigen Sie bitte die Störung“, rief eine junge Dame, „aber wir sind nahe daran, umzukommen vor Hunger und Durst. Ist es wohl möglich, bei Ihnen etwas Milch zu kaufen?“ Die Dame, die so sprach, sah reizend aus. Sie hatte Grübchen in den Wangen, und ihre Augen blitzten vor Fröhlichkeit. „Bitte sehr, treten Sie ein!“ sagte Kate. „Ich werde nachsehen, ob wir schon Dickemilch haben.“ „Dickemilch – habt ihr’s gehört?“ Die Dame wandte sich strahlend an die anderen. „Habt ihr gehört, daß wir Dickemilch bekommen sollen? Der Himmel danke es Ihnen, Fräulein, mit Sekt könnten Sie uns nicht glücklicher machen! Aber wir stören womöglich gerade in der Mittagsruhe?“ „Es ist zwar gerade Mittagsruhe, aber Sie stören nicht“, erwiderte Kate lachend. „Ich halte nie Mittagsruhe. Bitte, kommen Sie herein – aber seien Sie so freundlich und halten Sie sich recht still, denn wir haben ein Baby im Haus, und das fängt sofort an zu schreien, wenn…“ „Das kenne ich!“ sagte die freundliche Dame und nickte verständnisvoll. „Ich habe auch so ein Exemplar zu Hause. Zeigen Sie uns bitte den Weg, dann werden wir auf Zehenspitzen gehen. Auf diese Kunst verstehe ich mich noch vom Internat und von unseren nächtlichen Schmausen.“ Kichernd und flüsternd wie sechs übermütige Schulkinder schlichen die Gäste durch den Gang in die große Stube, wo Kate rasch den Tisch deckte. Außer der kalten Dickemilch brachte sie frischgebackene Waffeln. Wir werden uns mit Brot zum Abendessen begnügen, dachte Kate mit einem heimlichen Seufzer. Als sie mit Zwieback und Zucker für die Dickemilch hereinkam, stand eines der Ehepaare in den Anblick von Ellens Wandteppich versunken. „Das ist ja das Schönste, das ich seit langem gesehen habe“, sagte die Frau. „Haben Sie eine Ahnung, wer das gewebt hat, Fräulein?“ „Aber ja“, bestätigte Kate, „meine Schwester!“ „Ihre Schwester? Wohnt sie hier?“
„Ja, das muß sie wohl. Ihr gehört nämlich der Hof. Sie ist Witwe und hat einen kleinen Jungen und daher kaum Zeit zum Weben. Es ist jammerschade!“ „Da haben Sie recht! Ein Mensch, der so etwas kann, darf doch die Weberei nicht an den Nagel hängen.“ Die Frau sah sich in der Stube um und fügte hinzu: „Und wenn es der Geschmack Ihrer Schwester ist, der sich hier ausdrückt, dann ist sie in mehr als einer Richtung eine Künstlerin. Auf keinem anderen Bauernhof habe ich bisher eine so schöne Stube gesehen. Stammt Ihre Schwester aus diesem Dorf hier?“ „O nein“, erwiderte Kate. Und offenherzig, wie es ihrer Natur entsprach, berichtete sie Ellens ganzes Schicksal und wie sie nach Lage gekommen war. Die Gäste hörten interessiert zu. Sie hatten sich übrigens inzwischen vorgestellt – als Diplomingenieur Ross und Frau, das war die vergnügte Dame mit den Grübchen, Konservator Örland mit Frau und Architekt Reckstad und Frau. Frau Reckstad war es, die sich so begeistert über den Bildteppich „Blauer Abend“ geäußert hatte. „Kate Böe“, stellte Kate sich vor und gab jedem der Gäste die Hand. „Böe?“ wiederholte der Architekt fragend. „Böe – und Bildweberei – – dann ist Ihre Schwester doch nicht etwa Ellen Böe?“ Kates Herz machte einen Sprung. „Doch – sie heißt jetzt Ellen Lage.“ „Erinnerst du dich nicht, wie oft Finnegard von Ellen Böe gesprochen hat?“ fragte Reckstad seine Frau. „Ach, diese Ellen meint er immer, wenn er sentimental wird?“ fragte Frau Reckstad lachend. „Sie müssen nämlich wissen, Fräulein Böe, daß unser Freund Finnegard, den Sie vielleicht auch kennen, zwei große Leidenschaften hat, die nach dem dritten Glas immer zum Vorschein kommen. Die eine ist die Schwärmerei für die jeweilige Braut, und die andere gehört Ellen Böes Weberei. Wie oft hat Finnegard schon bei uns gesessen und sich darüber gegrämt, daß Ellen, wie er zu sagen pflegt, ,ihre Berufung der Büroarbeit geopfert hat’. Er behauptet, diese Ellen könnte die beste Bildweberin des Landes – manchmal sagt er auch die beste Skandinaviens oder Europas oder der ganzen Welt – sein. Das kommt darauf an, wieviel Gläser er gekippt hat. Das letzte Mal war sie die beste Weberin in Europa, wenn ich mich recht erinnere. Aber jetzt…“ Frau Reckstad nickte zum „Blauen Abend“ hin. „Jetzt verstehe ich es. Ich habe
nämlich einen Blick für so etwas, nicht wahr?“ wandte sie sich an ihren Mann, der zustimmend nickte. „Ich überlege gerade…“ Frau Reckstad war so vertieft, daß sie die Dickemilch vergaß. „Wenn Frau Lage einen Bildteppich für die Halle weben würde… Du, sie würde es können, das weiß ich. Fräulein Böe, glauben Sie, daß es Zweck hätte, sie zu fragen?“ „Aber gewiß!“ beeilte sich Kate zu versichern. „Sie wird es sicher tun. Zu schade, daß sie nicht zu Hause ist“, sagte Kate und drückte heimlich die Daumen, daß Ellen nicht erwache und herunterkäme. Oder wenn sie womöglich gar nicht schlief? Kate kannte ihre Schwester, sie würde vielleicht nein sagen, weil sie den Hof und den Jungen zu versorgen und daher keine Zeit zum Weben habe. Wenn nur die Gäste bald verschwinden würden! Dann würde Kate anfangen, Ellen langsam zu bearbeiten… „Schreiben Sie meiner Schwester“, sagte sie, „dabei müssen Sie gleich das Format angeben und ein paar Farbproben mitschicken. Das würde ihr sicher ausreichen, um Ihnen einen Entwurf zu schicken. Was halten Sie davon?“ „Ausgezeichnet! Ich gebe Ihnen auch gleich meine Adresse.“ Frau Reckstad kritzelte rasch ihre Adresse auf die Rückseite eines alten Briefumschlages und gab ihn Kate. „Sagen Sie bitte Ihrer Schwester, sie müsse den Auftrag unbedingt annehmen. Ich bin ganz verliebt in diesen Wandteppich hier, aber den würde sie gewiß nicht verkaufen, nicht wahr? – Ja, nun müssen wir gehen, wir haben schon viel zuviel von Ihrer kostbaren Zeit gestohlen, Fräulein Böe – was sind wir Ihnen schuldig?“ „Schuldig?“ Kate lachte laut auf. „Wir haben doch keine Gastwirtschaft. Ich nehme also unter gar keinen Umständen eine Bezahlung von Ihnen an!“ „Das fehlte noch!“ erwiderte Frau Ross energisch. „Unser schlechtes Gewissen würde uns Tag und Nacht plagen, wenn wir nicht bezahlten, was wir Ihnen weggegessen und -getrunken haben. Bitte sehr, das ist wohl das mindeste für eine so festliche Bewirtung. Und tausend Dank, liebes Fräulein Böe, für Ihre reizende Gastfreundschaft!“ „Sie sind uns jederzeit herzlich willkommen“, sagte Kate. Sie strahlte vor Freude. Ihre Hand schloß sich um einen zusammengefalteten Zehnkronenschein. Sie winkte den netten Menschen im Auto nach, solange sie sie
sehen konnte, dann drehte sie sich um und hüpfte im Tanzschritt in die Stube zurück, um die leeren Milchnäpfe und Teller fortzuräumen. „Oh, ich habe geschlafen wie ein Dachs“, sagte Ellen schuldbewußt, als sie die Treppe herabkam, mit roten Wangen und zerzaustem Haar. „Nanu, was hast du denn inzwischen gemacht, Katekatz?“ Kate stand singend und pfeifend vor der Abwaschwanne. Sie spülte das Geschirr der Gäste und wußte sich vor Freude nicht zu lassen. „Was ich gemacht habe?“ Mit nasser Hand griff sie in die Schürzentasche und zog mit zwei Fingern den Zehnkronenschein heraus. „Sieh mal! Den hab’ ich verdient, und das ist nur ein Vorschuß auf die Summe, die Lage demnächst zu einem schuldenfreien Musterhof machen soll!“ „Ich verstehe kein Wort. Wie willst du denn das anstellen…“ „Nein, nicht ich, du sollst das Geld verdienen. Ich habe die Sache nur für dich eingefädelt – sozusagen als – als – Manager nennt man das wohl, nicht wahr? Die großen Künstler in Amerika haben doch immer einen. Na, und nun bin ich dein Manager, und du weißt ja, daß die Künstler immer alles tun müssen, was die Manager sagen! Setz dich hin, Ellemama, dann werde ich dir alles erzählen!“
ZWÖLFTES KAPITEL „Vergiß bitte nicht, die Kaninchen zu füttern, Asny! Und wenn du Zeit haben solltest, wäre es sehr nett von dir, einen Kuchen zu backen. Es kann nämlich sein, daß Reckstads morgen kommen. Und noch etwas, Asny – lege bitte den Klippfisch für Montag ins Wasser. Und die Knochen, die oben in der Speisekammer stehen, sind für Treu. Und dann wasch doch auch bitte Mons’ Milchschüssel aus. Er hat es nicht gern, wenn seine Schüssel sauer riecht.“ Alle diese Anordnungen traf Kate in einem Atemzug, während sie sich den dicken Mantel anzog. Es war noch kalt zu so früher Morgenstunde im September, und sie hatte über zwei Stunden Autofahrt vor sich. Anders war bereits da. Er und Bernt setzten gerade die Kästen auf den Wagen – sie enthielten rote Rüben und Mangold, Mohrrüben und Porre, und zuletzt kamen noch ein großer Korb mit Blumen und ein Kasten voll Maiskolben dazu, die sorgfältig verpackt waren. Der Mais sollte an ein feines Obst- und Delikatessengeschäft im Westen der Stadt geliefert werden, alles übrige nahm Kate mit auf den Markt. „Was sollte ich nur machen ohne dich, Anders?“ sagte Kate. Sie hatte neben ihm im Auto Platz genommen und wickelte ihre Beine in eine Decke. „Ach, dir würde es wohl nicht schwerfallen, jemanden zu finden, mit dem du fahren könntest“, meinte Anders. Er schaltete den Gang ein und gab Gas. „Ich bin zur Zeit so froh, daß ich mich nicht zu lassen weiß“, berichtete Kate lachend. „Du solltest nur Ellen sehen! Den ganzen Tag geht sie trällernd und lächelnd umher – richtiger gesagt, sie geht überhaupt nicht, sondern sie sitzt! Wie festgeklebt sitzt sie am Webstuhl, außer wenn sie ißt oder Johnnie versorgt. Und morgen kommt Frau Reckstad, um sich den Wandteppich anzusehen. Sie versteht etwas davon! Ein wunderschönes Heim hat sie, sag’ ich dir! Ich erzählte dir wohl schon, daß ich neulich bei ihr war, um ihr die Entwürfe zu bringen. Na, ich kann dir sagen, ich hab’ Mühe gehabt, Ellen zu überreden! Zuerst war sie rasend über mein eigenmächtiges Handeln, dann fing sie an, mir mit allen möglichen Argumenten zu widersprechen, bis sie endlich zugab, daß sie große Lust zum Weben hätte – und da hatte ich meine Schlacht fast gewonnen. Daraufhin
nahmen wir wieder einmal den Rechenstift zur Hand und stellten fest, daß wir es wagen könnten, Asny einzustellen, wenn sie wenigstens zu Anfang etwas entgegenkommend in ihren Lohnforderungen sein würde. Und nun – nein, Anders, du ahnst nicht, wie reizend es jetzt auf Lage ist. Wir lächeln alle miteinander und gegeneinander – unentwegt!“ Anders mußte auch lächeln über das fröhliche Mädchen, das so glücklich plaudernd neben ihm saß. Ob Kate wohl selbst wußte, daß sie es war, die Sonne und Frohsinn auf Lage gebracht hatte? Ahnte sie nicht, daß ihr fröhliches Lachen, ihre schlagfertigen Redensarten der Treibstoff waren, der die ganze schwere Maschinerie in Gang gebracht hatte? „Wie geht es übrigens mit deinen Kaninchen?“ fragte Anders. „Wie viele hast du jetzt?“ „Ach, du, wenn ich das wüßte!“ erwiderte Kate lachend. „Die höhere Mathematik war nie meine starke Seite, und jetzt sind es so viele, daß ich wahrscheinlich die Logarithmentafel zu Hilfe nehmen müßte, um es auszurechnen. Nein, im Ernst: Rund gerechnet müssen es ungefähr hundert sein. Ich hoffe bloß, daß wir die Felle auch in diesem Jahr privat verkaufen können, denn das würde das lohnendste Geschäft für uns – für die Käufer übrigens ebenfalls. Und die Felle sind so wunderhübsch, findest du nicht?“ „Ja“, sagte Anders und nickte. Er hörte eigentlich mehr auf ihre Stimme als auf das, was sie sagte. Ansehen konnte er sie ja nicht, solange er fuhr. „Du – Kate“, sagte er endlich, langsamer, als es seine Gewohnheit war, „von nächster Woche ab wirst du mit Trond in die Stadt fahren.“ Kate versuchte nicht, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Aber warum denn, Anders? Wir haben es doch immer so nett auf unseren Stadtfahrten!“ „Ja, gewiß haben wir das. Aber mit Trond wirst du es wahrscheinlich auch nett haben.“ „Ach was, mit Trond ist es doch wohl nicht dasselbe wie mit dir, nicht wahr? Was ist denn mit dir los? Streikst du?“ „Nein, aber ich muß ja nun mit der Ausbildung auf der Landwirtschaftlichen Hochschule beginnen. Montag fahre ich.“ „Das ist aber sehr plötzlich gekommen.“ „Ich hab’s im Frühjahr schon versucht, aber da wurde ich nicht angenommen. Nun bekam ich gestern abend telegrafisch die
Nachricht, daß ein Schüler krank geworden ist und aufhören mußte. Wenn ich wollte, könnte ich an seine Stelle treten. Na, du wirst wohl verstehen, daß ich will.“ „Ja, das ist klar. Aber ich werde dich bestimmt schrecklich vermissen.“ „Ach, das wirst du schon überleben“, sagte Anders so ruhig und gleichgültig wie möglich, aber seine Freude über Kates Worte waren doch deutlich herauszuhören. „Und was willst du später machen, Anders?“ „Ich will versuchen, irgendwo eine Stellung als Verwalter zu bekommen. Aber es bleibt natürlich mein Ziel, einmal einen eigenen Hof zu haben.“ „Du wirst schon eine Frau mit einer großen Mitgift finden“, meinte Kate lachend. „Ich werde mehr auf die Frau als auf die Mitgift sehen“, erwiderte Anders, und plötzlich wurden sie beide rot. Ein Weilchen schwiegen sie, dann fuhr Anders fort: „Eine Mitgift kann verschiedene Formen haben, zum Beispiel als Bankkonto, als Aktien oder als Hof – die wertvollste Mitgift aber sind Arbeitskraft und Arbeitswille. Bankkonten können verbraucht werden und Aktien ihren Wert verlieren, ein Hof kann verfallen – und dann kommt es nur auf Kraft und Optimismus an.“ Es klang so sicher, wie Anders es sagte, so, als habe er schon oft darüber nachgedacht, um die Worte bereit zu haben, wenn er sie brauchte. Kates Gesicht rötete sich noch mehr, und sie empfand es als eine Erleichterung, daß sie nun in die Stadt kamen, wo der Verkehr Anders so in Anspruch nahm, daß er sich nicht mehr mit ihr unterhalten konnte. Nachdem der Kasten mit Mais abgeliefert war, wurde auf dem Markt der Tisch aufgestellt. Bald darauf hatte Kate ihren Platz hinter den Bergen von frischem Gemüse eingenommen. Zu dieser frühen Morgenstunde waren noch nicht viele Kunden da, und so konnte Kate ihr Strickzeug herausnehmen, während sie sich mit den Kolleginnen zu beiden Seiten unterhielt. Es waren zwei dicke, treuherzige Frauen, die schon jahrelang auf dem Markt standen und bereitwillig ihre Erfahrungen an Kate weitergaben. Dann begann der Vormittagsverkehr. Kate hatte schon viele feste Kunden. Es ging eben hier wie überall zu: Ihr fröhliches Lächeln, ihr freimütiges Wesen schafften ihr Freunde und Kunden. Die Leute
handelten gern mit dem stets liebenswürdigen Mädchen, und viele nahmen sich reichlich Zeit, um sich mit Kate zu unterhalten und Ratschläge auszutauschen. Der Kundenkreis um Kates Tisch wuchs ständig. Gegen elf Uhr vormittags hatte sie alle Hände voll zu tun, und dann fühlte sie sich wohl wie ein Fisch im Wasser. „Guten Tag, Frau Nielsen, ich hab’ die roten Rüben für Sie zurückgelegt, bitte schön, fünf Kilo – am Mittwoch noch einmal fünf Kilo? Jawohl, ich werde es aufschreiben. – Bitte sehr, Herr Direktor, hier ist Ihr Paket – und möchten Sie vielleicht noch ein paar Blumen? Wir hatten allerdings nur noch ein paar von den gelben Mombretien, und darum habe ich diese mitgebracht – ja, nicht wahr, die sind doch wunderschön in den Farben. – Nein, leider, gnädige Frau, ich kann in diesem Jahr keine mehr beschaffen – das hier sind die letzten. Der Herr Direktor hat schon den ganzen Sommer bei mir gekauft. Aber ich habe noch schöne Astern und Gladiolen – einen Augenblick bitte! – Ja, die Mohrrüben kommen direkt aus der Erde, sie sind erst gestern abend gezogen worden. – Nein, mein Junge, Kaninchenfutter kann ich dir leider nicht besorgen, wir haben selbst über hundert Kaninchen, weißt du. Aber frag mal bei Frau Hansen hier nebenan. – Nein, die Kürbisse sind bestellt, meine Dame, aber ich kann Ihnen zu Mittwoch sehr schöne mitbringen. Darf ich die Bestellung notieren? Aber bis spätestens zwölf Uhr müssen sie abgeholt werden, sonst muß ich sie anderweitig verkaufen. – Hallo, Lasse, nein, bist du es wirklich? Lasse, schau mich mal an! Junge, wie geht es dir?“ Es war wirklich Lasse, Kates alter Schulkamerad und einstiger Partner auf unzähligen Tanzabenden. Er ging mit einem auffallend schicken und modisch gekleideten Mädchen vorüber. Lasse blickte sich erstaunt nach allen Seiten um. Endlich entdeckte er Kate – rotwangig und strahlend, mit schmutzigen Händen und buntem Kopftuch und mit dicken Strohpantoffeln an den Füßen. Lasses Begleiterin zog die Brauen hoch und warf Kate einen verwunderten Blick zu. Dann sagte sie mit einem spöttischen Lachen, für das Kate sie am liebsten geohrfeigt hätte: „Du hast ja aristokratische Bekanntschaften, Lasse. Ich wußte gar nicht, daß auch Marktweiber zu deinem täglichen Umgang gehören.“ Lasse errötete und stand wie ein begossener Pudel da. Er wandte sich Kate zu, stammelte etwas, ging einen Schritt näher – dann
besann er sich anders. Kate hob den Kopf, und ihre Augen blitzten. Ihre Stimme jedoch war ruhig und beherrscht, als sie sagte: „Entschuldige bitte, Lasse, es war sehr taktlos von mir, dich anzusprechen. Und ich weiß doch, welch großen Wert du auf Takt und gute Erziehung legst.“ Es war rund um Kates Tisch ganz still geworden. Ihre Kunden blickten von ihr zu dem jungen Mann und seiner überlegen dreinblickenden Partnerin. Die Sympathien waren offenbar auf Kates Seite. Ihre Antwort lag noch in der Luft. Lasse hatte offensichtlich den Wunsch, die Situation zu retten. Doch er kam nicht dazu, denn ein neuer Kunde trat an Kates Tisch, streckte seine gepflegte Hand aus und ergriff Kates erdbeschmutzte Rechte. „Was für ein Glück, daß ich Sie gefunden habe, Fräulein Böe! Ich dachte mir doch, daß Sie am Sonnabend auf dem Markt sind. Würden Sie wohl meiner Frau und mir die Freude machen, heute bei uns zu Mittag zu essen? – Anders Enger? Oh, bringen Sie ihn doch bitte mit, für ihn wird das Essen gewiß auch noch reichen. Sie kommen also? Wie reizend! Wir freuen uns darauf, uns wieder einmal unterhalten zu können. Meine Frau hat hundert Ideen, die sie Ihnen und Ihrer Schwester vorlegen möchte.“
Architekt Reckstad sprach mit so munterer Stimme und brachte seine Einladung mit so aufrichtiger Herzlichkeit vor, daß es Kate warm ums Herz wurde. Reckstad drehte sich um und bemerkte Lasse und seine Freundin. „Ach, Sie sind um diese Zeit in der Stadt, Fräulein Jensen? Ich erinnere mich gar nicht, Ihnen freigegeben zu haben. Wollen Sie also so freundlich sein, sich schnellstens ins Büro zurückzubegeben? Ich dachte, Sie wüßten, daß es Ihre Pflicht ist, auf das Telefon zu achten.“ Fräulein Jensen errötete und murmelte etwas. „Darauf können wir später zurückkommen, hier ist nicht der
rechte Platz für Erklärungen und Entschuldigungen.“ Reckstad wandte sich von dem Mädchen ab und wieder Kate zu. „Die Porrestangen sehen lecker aus, Fräulein Böe. Kann ich sechs bis acht davon haben? Danke schön! Wie bitte? Ach, die junge Dame? Ein unzuverlässiges kleines Ding, das ich leichtsinnigerweise angestellt habe, um Anrufe entgegenzunehmen und Briefmarken zu kleben. Ihre Tätigkeit als Telefonistin besteht vor allem darin, den ganzen Tag Privatgespräche zu führen, und die Briefmarken kleben schief, wenn sie überhaupt auf die Briefe gelangen. Nein, die Kleine wird wohl bei mir nicht alt werden. – Wann werden Sie hier fertig sein, Fräulein Böe? Können wir sagen, um halb vier zum Essen? Ausgezeichnet! Seien Sie und Herr Enger uns herzlich willkommen!“ Kate lächelte über das kleine Intermezzo. Sie gönnte dem abscheulichen Fräulein Jensen die Demütigung. Die Kleine war ja wahrhaftig ganz schön zusammengestaucht worden. Der arme Lasse! Er sah aus wie ein Schuljunge, der zum Direktor bestellt und bestraft worden war, wie er hinter der Schaufensterpuppe mit den langen Pfennigabsätzen hertrottete. Kate hatte übrigens schon manches Lustige auf dem Markt erlebt. Nie würde sie die feine Dame vergessen, die einmal mit ihrer Freundin auf den Markt kam und bei Kate die schönen, goldgelben Fresien kaufte. Die Dame tat sehr überlegen, sagte du zu Kate und tat, als habe sie jemand ungewöhnlich Minderwertiges vor sich. Plötzlich wandte sie sich mit ein paar Worten auf französisch an ihre Freundin. Kate verstand zwar nicht alles, aber immerhin so viel, daß die Dame meinte, das junge Mädchen sei im Grunde recht hübsch. Da lächelte Kate und sagte ebenfalls auf französisch: „Ich bin Ihnen sehr dankbar, Madame. Sie sind außerordentlich liebenswürdig!“ über das Gesicht, das die Dame machte, amüsierte sich Kate noch lange Zeit hinterher. Mehrmals hatte sie schon alte Freunde getroffen, und jedesmal gab es ein begeistertes Wiedersehen. Noch niemals war ihr das „Marktweib“ so an den Kopf geworfen worden wie heute. Vielmehr pflegten die ehemaligen Schulfreunde und -freundinnen ihren Tisch zu umlagern, Gemüse bei ihr zu kaufen und mit ihr zu plaudern, und die Jungen liefen nach Eis und Schokolade für sie. „Es ist der amüsanteste Job, den ich je gehabt habe“, versicherte Kate lachend.
Wenn die Sonne schien, war es wirklich ein reines Vergnügen, nicht aber, wenn es in Strömen regnete. Dann stand Kate in Ölzeug und mit Gummistiefeln hinter ihrem Tisch und trampelte, um sich warmzuhalten. Sie pustete auf ihre blaugefrorenen Finger und trank heißen Kaffee, den sie sich in einer Thermosflasche mitbrachte. Solche Tage zogen sich in die Länge. Es war wenig Betrieb, denn die Leute gingen bei Regenwetter ungern in die Stadt. Dann konnte es vorkommen, daß auch Kate nicht alle Waren verkauft hatte, wenn Anders kam, um sie abzuholen. An solchen Tagen pflegten sie ins Cafe zu gehen und heiße Schokolade zu trinken und Kuchen zu essen, ehe sie heimfuhren. Nie zuvor hatte Kate die Schokolade so wunderbar geschmeckt wie nach einem Tag auf dem Markt in Kälte, Wind und strömendem Regen, sieben Stunden lang. Man wurde warm dabei, das Blut stieg einem in die Wangen, man taute vollständig auf und vergaß, sich darüber zu ärgern, daß man mit einem Drittel seines Gemüses wieder nach Hause fahren mußte. Die Unterhaltung am Mittagstisch bei Reckstads war sehr lebhaft. Kate lachte und amüsierte sich über alles – sie aß wie ein Wolf, erzählte mit blitzenden Augen witzige Begebenheiten vom Markt und konnte vor übermütiger Laune kaum still sitzen. „Sie sind wohl immer guter Dinge“, meinte Frau Reckstad lächelnd, „mir scheint, Sie lachen immerzu.“ „Ja, gewiß, aber bedenken Sie auch mal, wieviel Grund ich habe, fröhlich zu sein“, sagte Kate. „Ellen und ich sind gesund, wir lieben unsere Arbeit, und es sieht so aus, als sollten wir alle Skepsis, die uns zuerst begegnete, überwinden. Sie ahnen ja nicht, wieviel spitze Bemerkungen wir zu hören bekommen haben, weil wir versuchen wollten, Lage mit Hilfe von Kaninchen- und Blumenzucht, mit roten Rüben und Mais wieder in Schwung zu bringen. Vor allem über den Mais wunderten sich die Leute. Aber, du lieber Himmel, wie gut läßt er sich verkaufen! Und Johnnie gedeiht so gut, und wir haben jetzt eine Hilfe für das Haus, so daß Ellen nichts anderes zu tun braucht, als den Jungen und den Garten zu versorgen. In der übrigen Zeit des Tages kann sie weben. Und Sie haben Interesse für meine Schwester und haben ihr Aufträge verschafft, und ich bin zweimal wöchentlich in der Stadt und habe meinen Spaß. – Nun sagen Sie selbst, habe ich nicht Grund genug, guter Laune zu sein?“ Kate blickte vergnügt von einem zum anderen. Anders konnte mit einem Male nichts mehr sagen. Ein Kloß saß ihm im Halse. Ohne zu
überlegen, was er tat, griff er unter dem Tisch Kates Hand und drückte sie fest. Herr und Frau Reckstad betrachteten Kate mit gerührtem Lächeln. „Sie haben die herrliche Gabe, kleine Kate, nur das Helle im Dasein wahrzunehmen. So, wie Sie es darstellen, ist es wohl wahr, daß Sie viel Grund zum Frohsein haben. Aber damit beweisen Sie nur die alte Wahrheit: Es kommt nicht darauf an, wie man’s hat, sondern wie man’s nimmt. Ein anderer Mensch in Ihrer Lage könnte es zum Beispiel auch so darstellen: ,Es gibt niemanden, dem es so schlecht geht wie mir. In jungen Jahren schon habe ich die Eltern verloren. Meine arme Schwester mußte ihre Kunst aufgeben und sich mit langweiliger Büroarbeit abquälen, und als sie sich verheiratete, starb ihr Mann bald darauf. Die arme Ellen – welch schweres Schicksal! Da sitzt sie nun auf einem heruntergekommenen und verschuldeten Hof, muß sich von früh bis spät schinden und hat obendrein noch das Mißtrauen und den Hohn der Nachbarn zu erdulden, weil sie nichts anderes tut als das, was sie kann, nämlich Kaninchen, Blumen und Gemüse ziehen. Und ich selbst mußte meine gute Stellung aufgeben, meine Freunde und Freundinnen verlassen, aufs Land umsiedeln und mich ohne Lohn und Zukunftsaussichten und ohne eine Minute Freizeit den ganzen Tag für andere abrackern. Dazu muß ich auch noch, obwohl ich jung und hübsch bin, auf dem Markt stehen und Gemüse verkaufen wie eine ganz gewöhnliche Marktfrau. Oh, mein Schicksal ist wirklich hart!“ Herr Reckstad sagte das alles mit so weinerlicher Stimme, daß Kate schließlich laut auflachte. „Sie haben womöglich noch recht, Herr Reckstad! Ich habe schon oft daran gedacht, daß es für Ellen und mich eines Tages mal sehr hart und schwierig kommen könnte, weil wir es bisher so gut hatten. Nun, eigentlich hatten wir schon die Schwierigkeiten, wir haben sie nur nicht bemerkt. Wir sind eben so rechte Glückspilze.“ Beim Kaffee berichtete Frau Reckstad, daß sie Ellens Entwürfe einigen ihrer Freundinnen gezeigt habe, die sehr interessiert daran seien. Eine brauche einen schönen Läufer für den Eßtisch in ihrer Hütte, eine andere wolle einen handgewebten Bezug für ihren Kaminstuhl haben, beide Damen seien sehr anspruchsvoll und machten große Bogen um alles Fertiggekaufte – alles, was nach Dutzendware aussähe. Wenn sie etwas anschafften, müsse es erstklassig sein. Darum habe sie, Frau Reckstad, ihre Bekannten auf Ellen Lages Arbeiten aufmerksam gemacht.
„Ich bin überzeugt, daß Ihre Schwester eine große Zukunft hat“, versicherte Frau Reckstad. „Es ist nur schade, daß sie so zurückgezogen lebt. Sie ist ein ungewöhnlich scharmanter Mensch, allein schon durch ihr Wesen und ihr Aussehen würde sie die Leute für sich einnehmen, und dazu kommt noch ihre außergewöhnliche Begabung.“ „Ja, Ellen ist der prächtigste Mensch, den ich kenne“, stimmte Kate warmherzig zu, „nur nach Johns Tod ist sie so anders, so still geworden. Ich glaube, es ist schon zu einer fixen Idee geworden, daß sie sich für Lage aufopfern müsse. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, Johnnie einen Hof zu schaffen, auf den er stolz sein kann. Gleichzeitig verglüht sie innerlich vor Sehnsucht nach Zeichenstift und Webstuhl. Sie hat es ja herrlich, jetzt, da sie den größten Teil des Tages weben kann. Aber eigentlich müßte sie in der Stadt wohnen und sich nur der Weberei widmen können – sofern sie sich damit ihren Lebensunterhalt verdienen könnte.“ „Natürlich“, stimmte Frau Reckstad zu. „Dazu käme es nur darauf an, mit den richtigen Menschen in Verbindung zu kommen. Dafür würden mein Mann und ich schon sorgen.“ „Aber Ellen will ja gar nicht von Lage fortziehen. Sie meint, sie sei es dem Ansehen und der Zukunft ihres Jungen schuldig, auf dem Hof seiner Vorfahren zu arbeiten. Meiner Meinung nach sollte sie ihn lieber verpachten. Sie müßte nur einen wirklich verantwortungsbewußten Mann finden, der sich Mühe gäbe, aus Lage etwas zu machen.“ Plötzlich schwieg Kate und wurde rot vor Verwirrung. Sie fühlte Anders’ Blick auf sich ruhen. – Und sie ahnte, was er jetzt dachte. „Oh, Anders, wir achten aber auch gar nicht auf die Zeit! Wir müssen ja losfahren, und zwar schleunigst. Was meinst du wohl, was sie sonst zu Hause denken werden?“ Anders überstürzte sich nicht. In gemächlicher Fahrt steuerte er den Wagen heimwärts. Auch Kate trieb ihn nicht zur Eile. Viel gesprochen wurde nicht. Sie hockten nebeneinander und wußten mit bedrückender Sicherheit, daß sie für lange, lange Zeit zum letztenmal miteinander fuhren. Es wurde dunkel, und die ersten Sterne erschienen am Himmel, als sie sich endlich Lage näherten. Mit einem Male stoppte Anders das Auto. Kate fragte nicht, warum. Sie wußte es. „Kate, ich kann dich nicht ansehen, wenn ich fahre. Aber jetzt
muß ich dich genau ansehen, um mir dein Gesicht einzuprägen – jeden einzelnen Zug.“ Er ergriff ihre Hände und betrachtete sie – dann beugte er sich darüber und küßte diese kleinen, sonnengebräunten Arbeitshände. Als er den Kopf wieder hob und ihr ins Gesicht schaute^ löste Kate ihre Hände aus den seinen. Schlicht und natürlich legte sie die Arme um seinen Hals und zog seinen Kopf zu sich heran. Dann nahm auch er sie in die Arme und drückte sie an sich. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Kate lag in seinen Arm geschmiegt, während sie sich küßten. Mit keinem Gelöbnis, mit keinem Versprechen, keiner Verpflichtung banden sie sich aneinander. Sie waren gleichaltrig – einundzwanzig Jahre alt. Sie wußten selbst, wie jung sie noch waren und wie lange es dauern würde, bis sie einander gehören konnten. Aber sie wußten auch, daß jeder des anderen Gedanken ausfüllte, daß ihre Geschicke miteinander verflochten waren und daß sie in Zukunft – wie auch immer sie sich gestalten mochte – zusammen leben wollten. Nachdem Kate ihrer Schwester von dem Mittagessen bei Reckstads berichtet hatte, war sie in ihr Zimmer gegangen. Nun stand sie am Fenster und blickte in die Dunkelheit hinaus. Sie fühlte sich mit einem Male so stark und froh, so ruhig und glücklich. Nebenan hörte sie Johnnie schläfrig wimmern und dann Ellens Stimme, die ihm beruhigend zuredete. Ja, ja, Ellemama, dachte Kate, es ist gut, daß du für Lage arbeitest, aber ich tue es ja auch. Johnnie soll seinen Hof schon haben, wenn er groß ist, aber warte nur, du – Anders und ich werden es nämlich sein, die den Lage-Hof hochbringen werden. Du sollst in die Stadt und weben, Ellemama, während Anders und ich aus Lage einen Musterhof für deinen kleinen Johnnie machen werden. Drüben bei Engers fiel schwaches Licht aus einem Giebelfenster. Dann verlöschte es, leuchtete wieder auf, verlöschte abermals und leuchtete zum drittenmal. Kate lächelte und knipste ihre Nachttischlampe an und aus – einmal, zweimal, dreimal, viermal. Dann folgte das gleiche Signal von Engers her, und Kate antwortete auf dieselbe Weise. Endlich blieben die Fenster dunkel, sowohl bei Engers als auch auf dem Lage-Hof.
DREIZEHNTES KAPITEL Es schneite in dichten Flocken. Der Winter war in diesem Jahr früh gekommen. Bereits im November hatte strenge Kälte eingesetzt. Heute war der sechste Dezember – Johns Todestag. Ellen war mit einem schönen Kranz auf den Friedhof gegangen. Als sie heimkam, stand eine Schale mit herrlichen Rosen neben Johns Bild auf dem Klavier. Sie sagte nichts, sondern strich Kate übers Haar. Heute war es ganz still im Haus. An anderen Tagen hatten sie viel mit dem Einwecken von Kaninchenfleisch zu tun. Kate und Asny experimentierten dabei nach Herzenslust. Sie machten Rouladen und Leberpastete, Würste und Frikadellen. Wenn sie vierzig bis fünfzig Tiere auf einmal geschlachtet hatten, war ja genug da. Kate wollte unbedingt beweisen, wie lecker Kaninchenfleisch ist. Sie merkte es Marte und Bernt an, daß sie meinten, es sei ja verrückt, Kälber und Schweine zu verkaufen und selbst immer nur das elende Kaninchenfleisch zu essen, das nicht besser als Hühnerfleisch war. Nun ja, in diesem Jahr hatten sie wenigstens ein halbes Schwein für sich behalten, und Kate mischte Speck unter das Kaninchenfleisch, würzte und probierte und machte die leckersten Frikadellen, die unter einer Fettschicht aufbewahrt wurden. Mit der Zeit gelang es ihr, Asny so dafür zu interessieren, daß sie beide ihren Spaß daran hatten, wenn sie zusammen in der geräumigen Küche wirtschafteten, in der das schöne Kupfergeschirr wieder auf den Regalen an den Wänden stand. Asny putzte nämlich mit Begeisterung Kupfer und Silber, und dazu sang sie, daß es bis zum Enger-Hof zu hören war. Und nun war es Björn Enger, der immer einen Grund fand, herüberzukommen. Nun, da Anders fort war, brauchte man vielleicht seine Hilfe. Ellen lachte und pries im stillen die junge Liebe, die ihr so viel freiwillige Arbeitskraft verschaffte. Sie war im Laufe des letzten Jahres recht schweigsam geworden. Das fühlte sie zwar selbst, doch sie konnte über das, was sie bewegte, nicht sprechen. Erst war es Anders, der hier aus und ein ging; nun kam Björn fast täglich – beide so stark, so gesund und voller Lebensmut und Zukunftspläne – Söhne eines wohlhabenden Bauern. Dann mußte Ellen immer wieder Johns Bild ansehen, sein
freundliches, offenes Gesicht, die guten Augen, das breite, kräftige Kinn. Lieber, guter John, warum mußte dir das kurze Leben so schwergemacht werden? Warum mußtest du dich abschinden für einen halbverfallenen Hof, während die Enger-Söhne in gesicherten Verhältnissen ruhig in die Zukunft sehen können? Warum mußtest du eine heimtückische Krankheit mit dir herumschleppen, ausgerechnet du in den jungen Jahren schon ein kranke Herz haben? Warum mußte überhaupt alles so gehen – warum mußtest du ausgerechnet dann sterben, als du fühltest, daß alles gutgehen werde, als ich gerade anfing, dich zu lieben? Doch Ellen wußte: Hätte John die Wahl gehabt zwischen einem langen Leben in Reichtum und Gesundheit auf der einen und sie auf der anderen Seite, so würde er sie gewählt haben. Sie wußte, daß John glücklich war, als er starb. Und sie war froh, daß es ihr gelungen war, einen Menschen so unbeschreiblich glücklich zu machen. Ellen wußte auch, daß sie eher imstande war, Johns Verlust zu ertragen, als daß er auf sie hätte verzichten können. Gewiß trauerte sie um ihn und vermißte ihn schmerzlich. Und doch – und doch! Nicht einen Augenblick hatten Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung die Oberhand über sie gewonnen. Im Gegenteil, die Sorge hatte sie doppelt stark gemacht. Wenn sie darüber nachdachte, mußte sie sagen, daß ihre Gedanken nicht so sehr bei dem toten John weilten, sondern vielmehr bei dem springlebendigen, kerngesunden, kleinen Johnnie, der nun schon aufrecht in seinem Kinderstühlchen saß und energisch mit dem Löffel auf den Breiteller klatschte. Er lachte schon übers ganze Gesicht und brüllte mit unglaublicher Kraft, wenn er etwas zu essen haben wollte. Ellen saß vor dem Webstuhl und ließ die Gedanken zurücklaufen. Alles stand so klar vor ihr seit dem Tag, da sie im Garten Reisig verbrennen wollte und John vorbeikam. Er hatte sie in die Arme genommen und geküßt. Sie erinnerte sich an Kates Gesellschaft mit den Körbchen und an den Waldspaziergang in der Frühlingsnacht. Hatte sie John damals geliebt? Sie hatte nicht darüber nachgedacht, sondern nur das Gefühl gehabt, als sei es etwas ganz Selbstverständliches, Richtiges und Natürliches, daß er seinen Arm um sie legte, daß sie Seite an Seite durch die Aprilnacht gingen, daß sie zusammenpaßten und zueinandergehörten. Sie dachte an Johns grenzenlose Verehrung für sie, seine Liebe,
die nie nach einem Entgelt fragte, seine Güte und Opferbereitschaft. Wie reich John gewesen war, wie unerschöpflich der Brunnen seiner Liebe! Sie allein hätte ausgereicht, beide glücklich zu machen. Ellen dachte an ihr eigenes Gefühl der Zärtlichkeit für John. Sie erinnerte sich, wie gern sie gut zu ihm sein wollte, sich dankbar erweisen, ihm helfen und raten. Aber genügte das, um eine gute Ehefrau zu sein? War es nicht vielmehr ihr Mutterinstinkt gewesen, der ein Objekt suchte? „Ich liebe dich“, hatte sie zu John gesagt, kurz bevor er starb. War es wahr? Ja, gewiß – aber in dem Sinne, wie eine Mutter ihr Kind liebt. Man kann schließlich auf viele Arten lieben. Liebte sie etwa nicht ihren kleinen, zappelnden Jungen? War ihre Liebe zu John ganz anderer Art gewesen oder nicht? Fünf Jahre hatte der Altersunterschied betragen. Wie oft hatte sie diese fünf Jahre gespürt – ja, nicht nur das: Es war ihr vorgekommen, als habe sie die Erfahrung eines ganzen Lebens John voraus. Weihnachten und Neujahr kamen und gingen. Johnnie war nun schon ein richtiger Junge von einem Jahr. Dann wurden die Tage länger und heller, und Ellen saß noch immer vor dem Webstuhl. Die Finger bewegten sich rasch und geschmeidig. Es sollte ein Läufer für einen großen, schweren Eichentisch in einer Jagdhütte werden, die einem bekannten Schiffsreeder in Oslo gehörte. In dieser Arbeit trafen sich alle glühenden Farben des Herbstes zu einer vollendeten Harmonie. Vögel und Hasen, Füchse und Hunde tauchten in dem stilisierten Muster an der Kante auf. Ellen lächelte. Sie dachte an das Geld, das ihr der Wandbehang für Reckstads eingebracht hatte, und die schönen Honorare für den Läufer und den Bezug des Kaminstuhles, die von Frau Reckstads Freundinnen bestellt worden waren. Das Geld war bis auf den letzten Öre in den Hof gesteckt worden. Der Stall hatte einen neuen Zementboden bekommen, und wenn sie das Geld für diesen Tischläufer bekam, sollten die Schlafzimmer neu gestrichen werden, und vielleicht reichte es auch noch für die Renovierung der Küche. Ellen sah froh und munter drein. Doch sie war nüchtern genug, sich selbst im Zaum zu halten – ein paar Aufträge auf handgewebte Läufer und Decken waren noch kein Grund, sich eine himmelblaue Zukunft auszumalen. Sie wußte, daß sie eine Riesenaufgabe übernommen hatte, und sie webte unter dem ständigen Druck knapper Geldmittel und immer wiederkehrender Ausgaben. Nur die
Anschaffung der allernotwendigsten Dinge hatte sie sich gestattet, als sie die ersten Honorare für ihre Webarbeiten bekam. Sie durfte es sich nicht in den Kopf steigen lassen, daß ein paar freundliche Damen in der Stadt ihre Arbeit lobten. Gewiß waren ihr Farbensinn und Fingerfertigkeit angeboren, und sie war die Beste ihrer Gruppe auf der Kunstgewerbeschule gewesen, aber in einem Land, in dem es so viele tüchtige Handweberinnen gab, hatte sie keine überwältigend großen Aussichten, darüber war sie sich im klaren. Doch soviel sie sich auch Vernunft einzureden versuchte, es gelang ihr noch nicht, die glückliche Unruhe, die ihr Inneres durchzitterte, zu zügeln. Sie hörte einen kläglichen Ton aus der Wiege hinter sich, stand auf und hob Johnnie heraus. Er war aus dem Mittagsschlaf erwacht. Nun mußte er trockengelegt und gefüttert werden, dann wurde er in sein Laufställchen gesetzt, wo er, vor sich hin brabbelnd, mit dem großen Teddybär spielte, den Totten Hjerring zu Weihnachten geschickt hatte. Ellen hob den Jungen hoch. Er griff nach ihr und lachte. Mit einem Male spürte sie eine brennende Sehnsucht danach, zu jemandem gut zu sein, die Nähe eines anderen Menschen zu fühlen, sich geliebt zu wissen. Sie legte ihre Wange an das Köpfchen des Jungen, küßte ihn und drückte ihn an sich. Er ließ es einen Augenblick lang geschehen, doch dann zappelte er und entwand sich ihr. Ellen lächelte schwach und setzte das Kind in das Laufställchen. Dann ging sie hinaus, um das Essen für ihn zu holen. Sie konnte sich selbst nicht erklären, weshalb sie plötzlich Tränen in den Augen hatte. Ellen saß im Zug und fuhr in die Stadt. In einem Koffer neben ihr lag der fertige Tischläufer. Sie hatte versprochen, ihn zu Ostern fertig zu haben, und das hatte sie geschafft. Zum Mittagessen war sie bei Reckstads eingeladen, und am Abend sollte sie mit Finnegard ins Theater gehen. Er hatte in diesem Winter oft an sie geschrieben und war auch zu Besuch auf Lage gewesen. Mit allen Kräften versuchte er, sie zur Fortsetzung ihrer Weberei zu ermuntern. Wenn er neben ihr am Webstuhl sitzen, ihr zusehen und ihr dabei von seinen eigenen Kümmernissen erzählen durfte, fühlte er sich wohl wie ein Fisch im Wasser. „Und mit wem bist du zur Zeit verlobt?“ neckte ihn Ellen dann wohl einmal.
„Du, wenn ich das wüßte!“ seufzte Finnegard. „Weißt du, ich bin viel zu gutmütig, ich bringe es einfach nicht übers Herz, nein zu sagen, wenn die Mädchen behaupten, sie seien mit mir verlobt. Du müßtest mich heiraten, Ellen, dann käme ich endlich davon los, daß die Mädel sich an mich hängen.“ „Vielen Dank für das Angebot, ich fühle mich sehr geschmeichelt. Aber ich glaube nicht, daß du dich zum Landwirt eignest“, sagte Ellen lachend. „Zum Landwirt? Um Himmels willen, wo denkst du hin! Aber denke mal, wie nett wir es haben könnten: Ich würde die Webmuster für dich zeichnen…“ „Vielen Dank, aber das kann ich selbst.“ Finnegard seufzte. „Ach ja, natürlich kannst du das! Nein, ich sehe schon, ich muß mir den schönen Plan aus dem Kopf schlagen. Was meinst du, welche soll ich denn nun nehmen?“ „Du solltest am besten Junggeselle bleiben. Ich wüßte keinen Menschen, der schlechter zum Heiraten paßt als du.“ Finnegard strahlte. „Meinst du wirklich, Ellen? Das ist ja großartig! Du rätst mir also, alle Verlobungen abzusagen?“ „Unbedingt! Schreibe einen schönen Absagebrief – am besten mit der Schreibmaschine mit mehreren Durchschlägen, das wäre jedenfalls das einfachste. Dann schickst du jeder deiner Bräute eine Kopie zusammen mit ein paar schönen Blumen. Und am nächsten Donnerstag gehst du mit mir ins Theater, das heißt, falls du so weit bei Kasse bist, daß du mich einladen kannst.“ „Und wenn ich meinen Wintermantel versetzen oder mir fünfzig Kronen von Hjerring pumpen muß, ich werde dich hinterher auch noch zum Essen einladen, Ellen. Du sollst mal sehen, es wird ein netter Abend.“ Ellen dachte an diese Unterhaltung und lächelte. Eigentlich war es dumm von ihr gewesen, die alten Freundschaften abzubrechen. Sie hatte sich doch unter dem fröhlichen Künstlervolk so wohl gefühlt. Bestimmt würde es nett sein, wieder einmal ins Theater zu gehen. Es war übrigens das erstemal seit Johns Tod. Mit einem Male fühlte sich Ellen wieder jung. Im Grunde war sie es ja auch. Sie war noch nicht einmal einunddreißig Jahre alt und hatte ein Recht darauf, jung und froh zu sein – trotz der Silberfäden an den Schläfen. Sie warf einen raschen Blick in den Spiegel. Es kleidete sie eigentlich nicht schlecht; mit einigem guten Willen
konnte man sogar behaupten, daß die grauen Schläfen ganz pikant aussähen. Das von Natur gewellte Haar hatte einen schönen, weichen Fall, und dazu das junge Gesicht… Ellen mußte lächeln. Einen etwas bräunlichen Teint hatte sie ja schon immer gehabt, aber jetzt, da sie sich auf Lage so viel im Freien und in der Sonne aufhielt, war die Haut fast so braun wie die einer Mulattin. Im Hause des Schiffsreeders wurde Ellen von der Frau begrüßt, die ganz begeistert von dem Tischläufer war und ohne zu handeln den Preis bezahlte. Ellen hatte schon vorher gesagt, daß er dreihundertfünfzig Kronen kosten werde. Als sie gehen wollte, kam der Schiffsreeder heim. Er wechselte ein paar Worte mit ihr, bedankte sich für den Läufer und fragte, ob sie noch irgendwelche Auslagen gehabt habe. Er wirkte nervös und abwesend, und darum wollte Ellen ihn nicht aufhalten. Sie verabschiedete sich und ging. Die dreihundertfünfzig Kronen in ihrer Tasche machten sie froh und zauberten ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht. „Sie sehen aus, als hätten Sie das Große Los gewonnen“, meinte Frau Reckstad lächelnd. „Ich muß sagen, die Schwestern von Lage sind die reizendsten Menschen, die mein Haus je betreten haben, denn es ist jedesmal, als ginge die Sonne auf, wenn eine von ihnen hereintritt!“ „Ja, bei Kate stimmt das gewiß“, meinte Ellen. „Aber mit meinem Sonnenschein ist es so eine Sache.“ „Ach, der liegt auch ständig auf der Lauer, um jederzeit hervorzubrechen“, erwiderte Frau Reckstad. „Heute zum Beispiel!“ „Natürlich, dreihundertfünfzig Kronen sind ein ausgezeichnetes Mittel, den Sonnenschein hervorzulocken“, sagte Ellen lachend. „Morgen früh, ehe ich heimfahre, werde ich in die Stadt gehen und Farben und Linoleum kaufen und außerdem noch Gummistiefel für Johnnie. Wenn ich daran denke, muß ich ja zwangsläufig strahlen.“ Ellen wollte in der Stadt übernachten, und zwar in ihrem früheren Mädchenzimmer beim Onkel. Er war inzwischen ein recht alter Sonderling geworden, seine Haushälterin behauptete, er sei verkalkt und fange an, kindisch zu werden. Sie müsse alles allein besorgen und bestimmen. Sie hatte Ellen und Kate Hausschlüssel gegeben, so daß sie in ihrem ehemaligen Heim stets ein Unterkommen hatten, wenn sie in der Stadt waren. Das Mittagessen bei Reckstads verlief munter und behaglich, und zum Kaffee erschien Finnegard. Frau Reckstad versteckte scherzend die Likörflasche, nachdem sie das zweitemal eingegossen hatte.
„Mehr bekommt Finnegard nicht“, sagte sie lachend, „denn nach dem dritten Glas fängt er an, von Ihnen zu schwärmen, Frau Lage, und dabei gebraucht er Adjektive, die Sie besser nicht hören sollten.“ „Wie steht’s denn mit deinen Lieblingsproblemen?“ fragte Ellen. „Fürchterlich“, seufzte Finnegard, „eine hat schon mit Selbstmord gedroht, eine andere will mich wegen Bruch des Eheversprechens verklagen, und zwei sagen, sie gingen ins Kloster.“ „Glauben Sie ihm nicht!“ rief Frau Reckstad. „In Wirklichkeit ist er ein einziges Mal verlobt gewesen, die übrigen Verlobungen sind erlogen und erdichtet.“ „Das weiß ich ja“, flüsterte Ellen, „aber warum soll ich ihm nicht den Spaß machen, so zu tun, als ob ich ihm glaubte?“ Ellen war in strahlender Laune, als sie ins Theater kam. Sie trug zu solchen Gelegenheiten noch immer ihr blaues Abendkleid. Sie hatte in den letzten Jahren für neue Kleider weder Zeit noch Geld, ja noch nicht einmal Interesse gehabt. Und sie trug auch noch immer ihren kleinen, billigen Pelzumhang. Ein kleiner Schatten ging über ihr Gesicht, als Finnegard ihr den Pelz um die Schultern legte. Plötzlich stand der Abend vor ihr, an dem sie mit John zum letztenmal im Theater war. Es schien ihr, als müsse sie ihn im nächsten Augenblick mit seiner leisen, warmen Stimme sagen hören: „Weißt du, worauf ich mich freue? Daß ich dir eines Tages ein Nerzcape um die Schultern legen kann – oder einen Platinfuchs!“ Seit diesem Abend waren noch keine zwei Jahre vergangen. Einerseits schien es ihr, als sei es vorige Woche gewesen, andererseits aber, wenn sie ihre Gedanken nach Lage zurückgehen ließ, konnte es auch zehn Jahre her sein, seit sie das letzte Mal in der Stadt war. Ellen genoß diesen Abend. Sie genoß den Anblick der festlich gekleideten Menschen, die Musik, die Farben und das Licht. Man spielte „Was ihr wollt“. Sie freute sich an den verschiedenen Bühnenbildern, an den bunten Kostümen und nicht zuletzt am geistreichen Witz Shakespeares. Es war eine so wunderbare Unterbrechung der Plackerei in Haus und Hof, ja sogar eine willkommene Abwechslung zum Sitzen am Webstuhl. Trotzdem überfiel Ellen mitten in der Vorstellung der Gedanke daran, ob der Schlafanzug von Johnnie wohl vorher am Ofen angewärmt worden war, ehe man ihn ihm anzog, und ob er geschrien hatte, als er statt von der Mutter von Tante Kate zu Bett gebracht
wurde. In der Pause trafen sie den Schiffsreeder, für dessen Jagdhütte Ellen den Läufer gewebt hatte. Der Reeder nickte Finnegard im Vorbeigehen zu. „Sein Geld müßte man haben“, seufzte Finnegard. „Der könnte ohne weiteres Diamanten futtern, ohne es zu merken.“ „Das würde er schon merken, und zwar bei der Verdauung“, meinte Ellen trocken. Es klingelte, die beiden drückten ihre Zigaretten aus und nahmen wieder ihre Plätze im Parkett ein. Finnegard hatte einen Tisch im Grand-Hotel bestellt. Entweder hatte er seinen Wintermantel versetzt, oder bei Hjerring Geld gepumpt, oder ein Gemälde verkauft, jedenfalls besaß er Geld genug für ein ausgesuchtes Essen. Für Ellen, die seit nunmehr fast zwei Jahren an sehr einfache Landkost gewöhnt und gezwungen war, so genügsam wie möglich zu leben, waren diese delikaten Gerichte ein Erlebnis. Sie waren von einem französischen Koch angerichtet und wurden zusammen mit einer verstaubten Flasche Wein von einem lautlosen Kellner ehrerbietig serviert. Außerdem war es ein angenehmes Gefühl, ein wenig umschwärmt zu werden. Finnegard war ein gutaussehender Mann von etwa Mitte dreißig. Wenn er seine Redensarten über Damenbekanntschaften und Armut – beides war nämlich, milde ausgedrückt, stark übertrieben – ablegte, war er wirklich nett. Dann konnte Ellen mit ihm über das sprechen, was sie am meisten beschäftigte, und das waren – nächst ihrem kleinen Johnnie – Farben, Zeichnungen, Muster, kurz gesagt die Weberei. „Warum, in Gottes Namen, haben wir das nicht schon früher getan, Ellen?“ fragte Finnegard und leerte sein Glas. „Von jetzt an mußt du öfter in die Stadt kommen, damit wir so einen kleinen Bummel machen können. Das wird dir gut tun, glaubst du nicht auch?“ „Mag sein. Jedenfalls bin ich heute ganz selig.“ „Du bist im Grunde noch die gleiche wie früher, Ellen. Weißt du was, ich hätte Lust, dich zu malen.“ „Ja, das wäre ein lohnendes Motiv! Warte lieber, bis ich besser bei Kasse bin, dann werde ich ein Porträt von meinem Johnnie bei dir bestellen.“ „Gut, aber am liebsten möchte ich dich malen, und zwar am Webstuhl. Weißt du was, ich werde einfach meinen Kram
zusammenpacken und dich eines Tages überfallen. Aber dann mußt du deine Tracht anziehen.“ „Du Scherzbold!“ „Ich scherze absolut nicht. – Hör mal, sie spielen einen Tango. Willst du tanzen?“ „Danke schön, lieber nicht.“ Finnegard wollte protestieren, doch dann blickte er in ihr Gesicht. Ihre Augen waren plötzlich voller Tränen. Er verstand. „Aber wenn du Lust zum Tanzen hast, dann tue es ruhig, du kennst gewiß die meisten der Damen hier, und mindestens zehn davon seufzen danach, mit dir zu tanzen.“ „Unsinn, glaubst du etwa, ich ließe dich hier allein sitzen?“ „Aber natürlich kannst du das tun, ich sitze gern ein Weilchen allein und schaue mich um.“ Finnegard blickte sie prüfend an, dann stand er auf. „All right! Ich hoffe, daß meine Gesellschaft dir doppelt lieb sein wird, wenn du erst das bittere Gefühl der Sehnsucht nach mir verspürt hast!“ Damit verschwand er in Richtung auf ein kleines, rothaariges Ding mit Stupsnase und auffälligem Make-up. Sie strahlte, als er sich ihr näherte, und im nächsten Augenblick waren sie zusammen auf der Tanzfläche. Ellen lehnte sich im Sessel zurück. Es war angenehm, ein Weilchen stillzusitzen und zu schweigen. Sie war es nicht mehr gewöhnt, immerzu amüsant und geistreich zu sein. Es strengte sie an. Da wurde sie mit einem Male Zeugin eines Gespräches, das hinter einer Wand in ihrem Rücken geführt wurde. „Wer mag die Dame sein, mit der Finnegard heute hier ist?“ „Mit Finnegard? Ach, das ist so ein Bauernmädel aus einem der Dörfer hier in der Umgebung. Sie war übrigens heute bei uns, um einen Läufer zu bringen, den sie für die Jagdhütte gewebt hat. Meine Frau ist neuerdings sehr kunstinteressiert. Sie und Frau Reckstad wollten das Mädchen wohl ein bißchen unterstützen. Na ja, Vergnügen für die Frauen, Unkosten für die Ehemänner. – Prost!“ „Ich finde, das Mädchen sieht recht gut aus.“ „Tja – diese exaltierten Frauenzimmer! Sie soll mal verheiratet gewesen sein mit einem Mann, der viel jünger war als sie. Dann ist er gestorben, und das war vermutlich das Beste für ihn, denn die Dame ist ja unübersehbar über die erste Jugend hinaus. Na ja, man
weiß ja, wie es mit den Weibern ist – Torschlußpanik! Sie soll einen Jungen haben und einen Bauernhof, auf dem sie sich abrackert, und die Schwester steht auf dem Markt und verkauft Gemüse. Und sie selbst hat sich auf die Weberei geworfen, die Kunst soll wohl die Lage retten. Meine Frau und Frau Reckstad spielen zur Abwechslung Mäzene auf Kosten ihrer Ehemänner. Meinetwegen sollen sie zur Abwechslung mal ihr Vergnügen haben am Umgang mit Marktweibern und angehenden Dorfgenies – ah, da kommt ja unser Essen! Die Austern sehen lecker aus, bediene dich, wir können noch ein paar Dutzend nachbestellen. – Herr Ober!“ Ellens erster Gedanke war, aufzustehen, um die Wand herumzugehen und dem Schandmaul von Schiffsreeder gegenüberzutreten. Aber dann siegte ihre Vernunft, und sie blieb sitzen. Alles ging noch an, alles hätte sie ertragen, aber daß man ihre Ehe in den Schmutz trat, das war zuviel! Daß man es so hinstellte, als habe sie „in Torschlußpanik“ gehandelt! Dieser Dummkopf, der keine Ahnung von wirklicher Liebe hatte! „Ist dir schlecht, Ellen?“ Finnegard beugte sich über sie und griff nach ihrer Hand. „Schlecht? Aber nein! Ich – ich bin nur nicht mehr daran gewöhnt, mich unter so vielen Menschen aufzuhalten. Ich bin einfach nur ein bißchen müde, weißt du.“ „Wir werden jetzt eine Tasse starken Kaffees trinken, Ellen, und dann fahre ich dich nach Hause. Ich könnte mich ohrfeigen, daß ich dich allein gelassen habe.“ „Aber nein, im Gegenteil, lieber Finnegard, es hat mir Spaß gemacht, dich tanzen zu sehen, und mir – mir hat es gutgetan, hier still zu sitzen.“ In der Taxe legte Finnegard den Arm um Ellen, und sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Er küßte sie nicht, sondern strich nur behutsam über ihr Haar. Lange schwiegen sie. Endlich begann Finnegard zu sprechen, und seine Stimme war tief und warm und hatte jeden Scherzton verloren. „Es ist ein Jammer, Ellen – du bist tatsächlich die einzige Frau, die mich dazu bewegen könnte, mein Junggesellenleben aufzugeben. – Und ausgerechnet du machst dir überhaupt nichts aus mir.“ Ellen lächelte angestrengt und wie um Entschuldigung bittend. „Ich finde, daß du ein außerordentlich netter Kamerad bist.“ „Ja, danke, ich verstehe vollkommen! Aber das dürfte wohl etwas
zuwenig sein, um darauf zu bauen.“ „Ja, das ist es wohl.“ „Aber, Ellen, du kannst es mir doch wenigstens nicht verbieten, dich liebzuhaben.“ „Nein, das kann ich nicht.“ Dies zu hören, war gerade jetzt besonders gut. Ellen schloß die Augen. Nachdem sie so verletzt worden war, nachdem man sie so beleidigt hatte und sie erst so aufgebracht und dann so unglücklich darüber gewesen war, wirkten Finnegards gute Stimme und herzlichen Worte sehr tröstend. Das Bedürfnis, beschützt zu werden, sich an einen anderen Menschen zu lehnen und weinen zu können, war für Ellen ein völlig neues Gefühl. Sie weinte zwar nicht in Finnegards Arm, aber sie fühlte die Nähe eines Menschen, der sie lieb hatte. Mit einem Male erinnerte sie sich wieder an die Sehnsucht, die sie neulich empfunden hatte, als sie Johnnie in den Armen hielt und er sich gegen ihre Küsse und Umarmung sträubte. Nun saß ein erwachsener Mann neben ihr, und sie fühlte seinen Atem an ihrer Wange und seine Hand, die immerzu über ihr Haar strich. Das Auto hielt, sie waren angekommen. Rasch beugte sich Finnegard über Ellen, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küßte sie auf die Stirn. „Du bist ein herrlicher Mensch, Ellen“, flüsterte er, „du darfst dich nicht selbst in dich verspinnen. Du mußt einen Mann haben, dem du deine Reichtümer mitteilen kannst – einen Mann, der das wirklich wert ist.“ Bald darauf ging Ellen in ihrem alten Jungmädchenzimmer zur Ruhe. Sie legte sich auf den Rücken, faltete die Hände im Nacken und starrte mit weit offenen, tränenlosen Augen in die Dunkelheit.
VIERZEHNTES KAPITEL „Mami! Mami! Guck – ‘ninchen frießt! Mami! Guck mal!“ Ellen hob den Kopf und nickte ihrem Söhnchen lächelnd zu. Johnnie stand vor einem der Kaninchenställe und stopfte Gras durch das Gitter. Groß und flink war er geworden, der Junge. Auf seinen kurzen, kräftigen Beinen stapfte er hinter der Mutter her und redete den lieben langen Tag. Ständig wollte er ihr helfen, ob sie jätete, Beeren oder Blumen pflückte oder ob sie am Webstuhl saß. Er lief in den Stall und klopfte die „liebe Mukuh“ mit seinen kleinen, dicken Händen. Er hockte vor dem alten Kater Mons, redete ernsthaft auf ihn ein und streichelte über seinen Rücken. Mons schnurrte behaglich und schaute blinzelnd zu dem kleinen Jungen auf, der keine Furcht vor Tieren kannte, sondern vertrauensvolle Freundschaft mit dem alten Kater hielt. Eines Tages war der Junge verschwunden. Ellen rief und suchte überall, und auch Kate und Asny, Marte und Bernt beteiligten sich an der Suche. Endlich kam Kate auf die Idee, in der Hundehütte nachzusehen. Da lag Johnnie wahrhaftig behaglich zusammengerollt im Stroh, den Kopf in das zottige Fell des Hundes gebettet, und schlief in aller Unschuld. Anders, der in den Sommerferien zu Hause war, zimmerte einen kleinen Wagen, den Treu ziehen konnte. Der Hund bekam ein Geschirr mit Zügeln, die der Junge im Wagen sitzend voller Stolz und Seligkeit in den Fäustchen hielt. An sich brauchte Treu gar keine Zügel. Er war das zuverlässigste Kindermädchen, das man sich wünschen konnte.
In diesem Sommer ging Ellen völlig in der Gartenarbeit auf und kam nur selten zum Weben. Auch in die Stadt fuhr sie nicht. Aber Finnegard kam ab und zu heraus und verbrachte ein paar Tage auf Lage. Er malte Ellen am Webstuhl und machte ihr Vorwürfe, weil sie wieder einmal ihre Weberei vernachlässigte. Ellen gab ihm keinen Grund dafür an. Während sie in den endlosen Gemüsebeeten Unkraut jätete oder zusammen mit Bernt im Treibhaus arbeitete, dachte sie immer wieder an die freundlichen Frauen, die Mäzene für sie gespielt und ihre Webereien gelobt hatten. Nein, auf diese Weise nicht! Merkwürdigerweise gewann sie ihre Selbstsicherheit gerade in dieser Zeit zurück. Sie wußte, daß sie weben konnte und daß die Arbeiten, die sie geliefert hatte, jeder Kritik standhalten würden. Gerade deshalb wollte sie nicht gefördert werden wie ein armes Wesen, dessen man sich erbarmen muß. Ihr Werk sollte den Weg für sie bereiten – war es dazu nicht imstande, war es auch nicht gut genug. Ellen hob den Kopf. Sie hatte jetzt nicht mehr das Bedürfnis nach Schutz und Hilfe. Arbeiten wollte sie und den Leuten zeigen, daß Ellen Lage etwas taugte. Und für Mitleid jeglicher Art bedankte sie sich. Es war an einem Tage im Spätsommer, als der bedeutendste
Mann des Ortes sie besuchte, der reiche Hans Storlien. Sie wunderte sich ein wenig über diesen Besuch, denn bisher hatte sie dem Mann nur einmal bei Johns Begräbnis die Hand gedrückt, und sonst war es bei einem Gruß im Vorübergehen geblieben. Jetzt trat er in die große Stube mit der feierlichen Gebärde, wie sie eine offizielle Visite kennzeichnet. Ellen zwinkerte Kate zu, die mit Saft und Gebäck hereinkam – Alkohol hatten sie nicht im Haus, außerdem war Hans Storlien Abstinenzler, soweit sie sich erinnerte. Er versorgte sich zurückhaltend mit Gebäck, lobte Ellen wegen ihrer Gartenpflege, fragte, wie viele Kaninchen sie habe, und ließ sich berichten, wie sich die Maiszucht im Treibhaus anließe. Ellen antwortete freundlich und entgegenkommend und wurde immer neugieriger. Was, in aller Welt, wollte der Mann? „Sie haben wohl viel zu tun mit dem Lage-Hof“, sagte Hans Storlien. Er blickte aus dem Fenster über den üppigen Garten und auf die Unmengen von Kaninchen, die in den Ausläufen umherhoppelten. „Ach, das ist wohl nicht der Rede wert. Ausgerechnet Sie sagen das? Ihr Hof ist doch zehnmal größer“, erwiderte Ellen lächelnd. „Wir anderen betreiben es eben so gut, wie wir es können, und mit den bescheidenen Mitteln…“ Hans Storlien richtete seine blauen, starken Augen auf sie. „Wir haben Ihnen viel Unrecht getan, wir hier im Dorf, Ellen Lage. Wir haben uns über Sie lustig gemacht, während Sie sich hier abrackerten. Um Ihren Mut könnte Sie mancher Mann beneiden.“ „Aber ich bitte Sie…“ Ellen wurde rot und wußte nicht, was sie sagen sollte. Hans Storlien aber fuhr fort: „Doch, wir haben Witze gemacht über die Stadtdame, die die Landwirtschaft betreiben will mit Hilfe von Kaninchen-, Blumen- und Maiszucht. Und ich weiß gut, daß nichts so schwer ist, wie gegen den Spott der Leute anzukämpfen, die immer alles besser wissen. Aber jetzt haben wir’s eingesehen. Ich meine, wir haben eingesehen, daß Sie es richtig gemacht haben. Das heißt – verstehen Sie mich recht“ – Hans Storlien lächelte – , „ich würde niemandem raten, sich mit solchem Kleinkram abzurackern, wie Sie und Ihre Schwester es gemacht haben. Bei so was hätte mancher Mann aufgegeben. Und wenn ich mir so ansehe, was Sie schon aus dem Hof gemacht haben, dann – Sie sind eine gute Frau für John Lage gewesen. Ja, ich meine, das
mußte ich Ihnen mal sagen.“ Das war zuviel für Ellen. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Hans Storlien drehte sich taktvoll um und schaute scheinbar interessiert zu, wie Kate im Garten die Kaninchen versorgte. Nach einer Weile wandte er sich dem Webstuhl zu. „Sie weben, wie ich sehe?“ „Ach, dazu habe ich kaum Zeit. Ich habe zuviel mit dem Hof zu tun, wissen Sie.“ „Ja, ja – – das haben Sie wohl. Aber Sie sollen sehr tüchtig sein mit dem Weben, wird gesagt. Und darum hatte ich mir überlegt…“ Ellen horchte auf. Sollte sie etwa wieder dem Mitleid und der Wohltätigkeit der Leute ausgesetzt werden? „Sie hätten wohl nicht gelegentlich mal Zeit – also, Sie müssen es ganz ehrlich sagen – aber die Sache ist die – Sie wissen vielleicht, daß meine Mutter im Frühjahr gestorben ist. Sie hatte ziemlich viel Geld. Bevor sie starb, bat sie mich, irgend etwas Schönes für unsere Kirche zu kaufen. Die Kirche lag ihr nämlich sehr am Herzen, müssen Sie wissen. Es ist hauptsächlich meinem Vater zu verdanken, daß sie seinerzeit gebaut worden ist. Ich war das erste Kind, das dort getauft wurde. Meine Mutter sprach von einem Kronleuchter oder einer Altardecke. Aber nun ist beides schon vorhanden. Gestern haben wir uns im Gemeinderat geeinigt, daß wir einen Läufer für den Mittelgang haben wollen – Sie wissen ja, wie das immer klappert, wenn die Leute mit ihren schweren Schuhen hereinkommen. Er soll natürlich nur an hohen Festtagen ausgelegt werden, zum Beispiel bei Hochzeiten oder Konfirmationen. Und wissen Sie, solch einen Auftrag wollten wir nicht nach auswärts vergeben. Also, wenn Sie die Arbeit übernehmen könnten, würden wir uns sehr freuen.“ Ellen errötete vor Freude. Oh, wie gern wollte sie das tun! Konnte sie glauben, daß es sich wirklich so verhielt, wie Hans Storlien sagte – daß ihm nicht jemand zugeflüstert hatte, man müsse der armen Ellen Lage unter die Arme greifen? „Woher – woher wußten Sie denn, daß ich webe?“ „Ach, wissen Sie, das hat sich so herumgesprochen. Asnys Mutter war ja schon ein paarmal hier, und sie war ganz begeistert von dem blauen Wandteppich“ – er nickte zu der Wand hin, wo „Blauer Abend“ hing – , „und die Leute vom Enger-Hof haben den Tischläufer gesehen, den Sie gemacht haben. Na, wenn eine Weberin unter uns ist, dann haben wir keine Lust, mit dem Auftrag nach auswärts zu gehen.“
Was hatte er da gesagt? Eine Weberin unter uns? Ellen war sich bisher noch nicht bewußt gewesen, wie sehr sie sich die Anerkennung durch die Dorfbewohner gewünscht hatte, und nun hörte sie mit einem Male, daß sie sie besaß. Hans Storliens ehrliche Augen bewiesen ihr, daß er weder scherzte noch schmeichelte. „Ich danke Ihnen herzlich, daß Sie zu mir gekommen sind“, sagte Ellen langsam, „ich möchte die Arbeit sehr gern übernehmen. Wir können vielleicht zusammen zur Kirche gehen, und ich werde dort die Farben zusammenstellen. In ein bis zwei Wochen können Sie dann die Entwürfe für das Muster bekommen.“ Hans Storlien fing von sich aus an, über die Bezahlung zu sprechen. Als er die Summe nannte, die dafür vorgesehen war, schwindelte es Ellen geradezu. „Wir Storliens sind nie knauserig gewesen“, sagte er und reckte sich. „Wir verlangen ordentliche Arbeit von Ihnen, aber Sie haben auch das Recht, ordentliche Bezahlung dafür zu bekommen.“ Kate stand am Gartentor im Dunkeln und verabschiedete sich von Anders. Er mußte am nächsten Tag abreisen. Sie hatten herrliche Sommerwochen miteinander verbracht, und das, was bisher nur vage Hoffnung für beide gewesen war, hatte sich nun zu offener Vertraulichkeit und bestimmten Versprechen verdichtet. „Aber niemand darf etwas davon wissen“, flüsterte Kate, „nicht einmal Ellen, jedenfalls nicht eher, bis alles mit uns klar ist.“ „…und wir auf Ellens Teppich zum Altar gehen können“, fügte Anders hinzu. „Gott sei Lob und Dank für den Kirchenläufer“, sagte Kate. „Nun ist Ellen wieder sie selbst. In den letzten Monaten war sie kaum anzusprechen, und den Webstuhl hat sie so gut wie gar nicht angerührt. Als ein Auftrag durch Frau Reckstad kam, sagte sie ab und verschanzte sich dahinter, sie habe keine Zeit. Ich bin nicht dahintergekommen, was mit ihr los war, aber nun scheint sie ja auf dem Wege zu sein, wieder ein normaler Mensch zu werden.“ Gerade tauchte der Mond hinter dem Hügel auf. Und wenn ein junges Mädchen am Gartentor steht und von ihrem Liebsten Abschied nehmen soll, und wenn dann auch noch zu allem Überfluß der Mond so geheimnisvoll auf ihn und sie und das Gartentor scheint – dann kann dieses Mädchen beim besten Willen nicht an die Schwester, an Webereien und Kirchenläufer denken. Kate und Anders sprachen auch von etwas ganz anderem, als sie noch lange flüsternd dicht beieinanderstanden.
FÜNFZEHNTES KAPITEL Als die Zeichnungen für den Kirchenläufer begutachtet und anerkannt waren, kam Hans Storlien mit einem Scheck zu Ellen. „Hier haben Sie die Hälfte der Bezahlung“, sagte er sachlich und geschäftsmäßig, „damit Sie Garn einkaufen können und außerdem nicht an Geld zu denken brauchen, wenn Sie von morgens bis abends am Webstuhl sitzen. Wirtschaftliche Sorgen haben keine gute Wirkung, weder auf Sie noch auf die Arbeit.“ Hans Storlien hatte eine so praktische, offene und vernünftige Art, daß Ellen gar nicht darauf kam, zu widersprechen. Es ließ sich auch nicht leugnen, daß sie von Herzen froh war über das Geld. Nun konnte sie sich vollkommen der großen Arbeit widmen, die sie übernommen hatte. Und es war beruhigend, zu wissen, daß in Haus und Hof alles seinen geordneten Gang ging. Bernt, Marte und Asny kannten ihre Aufgaben und erfüllten sie, und Kate lief umher, sorgte mit Lächeln und freundlichen Worten für gute Stimmung, und ihre kräftigen Fäuste packten zu, wo es not tat. Eines Tages kam sie freudestrahlend vom Markt heim und berichtete, daß einer ihrer Kunden nach Kaninchenfellen gefragt habe. Fünfzig Stück wolle er haben. „Ausgezeichnet“, sagte Ellen, „wir haben hundert, und auf die anderen fünfzig habe ich eine Bestellung.“ „Das hast du mir gar nicht erzählt. Wer will sie denn haben, und was bezahlt er dafür?“ „Warte es ab, du wirst es schon erfahren“, antwortete Ellen. Noch am gleichen Abend ging sie auf den Boden, suchte die fünfzig schönsten Felle heraus, packte sie ein und schickte Bernt damit in die Stadt. Daraus sollte Kate zu Weihnachten einen Pelzmantel bekommen. Wenn jemand ein solches Geschenk verdient hatte, so war sie es. Das war ein Jubel, als Kate unter dem Weihnachtsbaum den herrlichen, weichen Pelz auspackte. Er war weit und reichlich gearbeitet, mit einer kleidsamen Kapuze, und Kate sah bezaubernd darin aus. Am ersten Weihnachtstag fuhren alle, die auf Lage wohnten, gemeinsam zur Kirche, Johnnie eingeschlossen, nachdem man ihm mehrmals eingeschärft hatte, stillzusitzen. Da der Junge gewohnt war, sich mit sich selbst zu beschäftigen, saß er wirklich still.
Daheim konnte er ja auch stundenlang am Fenster oder neben der Mutter am Webstuhl oder bei Tante Kate und Asny in der Küche sitzen und zuschauen. Andächtig gingen sie über den schönen, neuen Läufer, der heute eingeweiht wurde. Kate warf blitzschnell einen Seitenblick nach links – ja, dort saßen alle vom Enger-Hof. Anders war in den Weihnachtsferien heimgekommen. Kate konnte gerade seinen blonden Haarschopf, die wettergebräunte Stirn und die blauen Augen sehen. Mit einem Male war Kate ganz selig, denn sie wußte, wie hübsch sie aussah in ihrem neuen Pelzmantel. Sie freute sich unbeschreiblich auf morgen, denn dann waren sie und Ellen zum großen Festessen bei Storliens eingeladen, und sie wußte, daß Engers auch kommen würden. Zu Beginn des neuen Jahres erfuhr Ellen, daß im Frühjahr eine Ausstellung von Bildwebereien in Oslo veranstaltet werden sollte. Sie las in der Zeitung einen Artikel darüber, in dem bereits mehrere bekannte Namen erwähnt wurden. Ellen schwankte. Sie war sich klar darüber, daß es die reine Anmaßung war, eine Arbeit von ihr für die Ausstellung einzureichen – und trotzdem! Dies wäre die Chance, um ohne wohlmeinende Förderung, ohne das unerträgliche Mitleid der Leute weiterzukommen. Dort würde ja ihre Person nicht in Erscheinung treten, nicht ihr scharmantes Wesen würde ihr den Erfolg verschaffen, sondern nur die ehrliche Arbeit ihrer Hände. Die Besucher der Ausstellung sollten ihr Werk ansehen und sagen: „Nein, was für ein schöner Wandteppich!“, anstatt sie anzusehen und zu murmeln: „Die arme junge Witwe, wie nett sie ist, und sie soll ja auch weben, nicht wahr? Vielleicht könnte man ihr helfen und eine Arbeit bei ihr bestellen.“ Am gleichen Abend, kaum daß Johnnie ins Bett gekommen war, saß Ellen am großen Tisch in der Stube mit Reißbrett und Farben. Die Idee, die ihr vorschwebte, würde unerhört viel Arbeit bedeuten, und die Zeit war knapp. Etwas Fertiges, das sie einsenden konnte, hatte sie nicht – es sei denn der „Blaue Abend“. Aber der armselige kleine Lappen war nichts, das man ausstellen konnte, es mußte ein Wandteppich von ganz anderem Format sein. Eine Woche später war das Muster bereits im Webstuhl, und die Arbeit begann. Kate war überglücklich, daß Ellen wieder regelmäßig an einer Weberei arbeitete. Das war genau der Weg, auf den sie die
Schwester in Gedanken dirigiert hatte. Sie glaubte unumstößlich an Ellens überragendes Talent und besaß für die Schwester viel mehr Ehrgeiz, als sie je für sich selbst gehabt hatte. Von nun an nahm Kate ihren hellgrauen, schimmernden Pelz mit, wenn sie mit Trond zur Stadt fuhr. Der Pelz wurde sorgsam zusammengelegt und im Auto verwahrt, während Kate ihren alten, dicken Wintermantel anzog, der einmal beim Aufräumen auf dem Dachboden zum Vorschein gekommen war. Mit einem soliden Ledergürtel wurde er zusammengehalten, dazu trug Kate schwere Holzschuhe an den Füßen, eine Pelzmütze mit Ohrenklappen und gewaltige Fausthandschuhe. So war sie imstande, Kälte und Wind auf dem Markt zu trotzen, wenn ihr Anzug auch nicht gerade sonderlich schick war. Niemand hätte geglaubt, daß in diesem unförmigen Kleiderbündel das gleiche hübsche, schlanke Mädchen steckte, das ein paar Stunden später das Grand-Hotel oder eine Konditorei betrat, im silbergrauen Pelzmantel, mit modischem Hütchen und eleganten Schuhen. Trond hatte von Anders die ausdrückliche Anweisung bekommen, jedesmal mit Kate essen zu gehen, wenn der Markt zu Ende war, und er tat es getreulich. Es bedeutete ja auch alles andere eher als ein Opfer für ihn, mit einem so hübschen, jungen Mädchen zweimal in der Woche auszugehen. Kate kam mit Trond sehr gut aus, wenn auch niemals etwas anderes daraus werden konnte als eine harmlose Kameradschaft. Es war an einem kalten, stürmischen Tag im Februar. Kate kam aus der Stadt, verfroren und mit roter Nase, und sie stürmte in die Küche, um etwas Heißes zu trinken. Dort pflegte stets das Essen auf dem Herd fertig für sie bereitzustehen, und sie genoß den erholsamen Ausklang des Tages. Ellen sorgte dafür, daß es etwas besonders Leckeres gab, und im Ofen knackten die Birkenscheite. Außerdem verließ Ellen den Webstuhl und setzte sich zu Kate, um sich Neuigkeiten aus der Stadt erzählen zu lassen. Aber heute war es still und leer in der Küche. Asny hatte ihren freien Tag, und da es gerade Zeit zum Melken war, befand sich Marte im Stall. Aber wo waren Bernt und Ellen? Kate schälte sich aus den warmen Sachen und machte sich dann auf die Suche nach Ellen. Zuerst ging sie in die große Stube. Doch sie war leer, der Webstuhl verlassen und der Ofen ausgegangen. Und wo mochte der Junge sein? Kate ging ein Stück die Treppe hinauf und rief nach Ellen. Da ging oben eine Tür. Ellen trat aus dem Schlafzimmer.
„Pst! Ganz still, Katekatz! Johnnie ist krank, und Bernt ist losgefahren, um den Doktor zu holen.“ Kate schlich hinein. Johnnie lag in dem grüngestrichenen Gitterbettchen, das inzwischen die Wiege abgelöst hatte. Seine Bäckchen und die Stirn glühten, und der Atem ging pfeifend. „Er war doch nur ein bißchen erkältet gewesen“, sagte Kate und blickte die Schwester ratlos an. Johnnie hatte in den letzten Tagen Schnupfen gehabt und auch etwas gehustet, aber niemand war deshalb besorgt gewesen. Ellen hatte ihn im Hause behalten, ihm einen Wollschal um den Hals gewickelt und Hustentropfen gegeben. Mehr, so glaubte sie, brauche man gegen eine Erkältung nicht zu tun. Aber heute morgen begann er zu jammern, war unlustig und weinerlich und wollte nichts essen. Als Ellen ihm trotzdem etwas Hafergrütze zu geben versuchte, erbrach er sich. Im Laufe des Tages stieg das Fieber. Als Ellen vor ein paar Stunden über neununddreißig Grad gemessen hatte, schickte sie Bernt nach dem Doktor. Blaß und gequält sah sie aus, als sie dies Kate erzählte. Kate kam sich so entsetzlich hilflos vor. Sie verstand nur zu gut, daß die Gedanken der Schwester zum großen John zurückgingen, der in dem gleichen Raum krank gelegen hatte. Ohne daß Ellen ein Wort darüber sagte, empfand Kate ihre ganze namenlose Angst, fühlte mit ihr, wie sich die Nerven zum Zerreißen spannten, während die Uhr tickte und tickte und die Zeit sich dehnte, bis der Doktor kam. Es war schon ganz dunkel, als endlich draußen Borka hielt, keuchend und mit Schaum bedeckt. Johnnie, der sonst ein so resoluter, kleiner Kerl war, weinte und hatte Angst vor dem fremden Mann. Doch der gutmütige, freundliche Arzt verstand mit Kindern umzugehen. Als er sein Stethoskop hervorholte und sagte, sie wollten nun damit Telefon spielen, zeigte sich der Kleine doch interessiert. Ein Telefon hatte er schon ein paarmal gesehen, wenn er mit der Mutter in dei Stadt war. Und auf dem Bahnhof des Ortes fand er es stets sehr spannend, wenn es klingelte und der Mann ein Ding in die Hand nahm und hineinsprach. So war er gar nicht mehr bange, als der Arzt ihm das Stethoskop auf die Brust setzte und sagte: „Hallo, ist Johnnie zu Hause? Dann huste mal, mein Junge, damit ich höre, ob du da bist!“ Johnnie hustete nach Herzenslust. Dann griff er selbst nach dem
Stethoskop und wollte hineinsprechen, doch plötzlich ließ er es los und schloß die Augen. „Johnnie – müde“, murmelte er. „Wehweh im Kopf.“ Der Arzt strich über seine heißen Bäckchen. „Ja, ja, nun muß Johnnie schlafen“, sagte er. „Mami und der Onkel Doktor werden hinausgehen und etwas Schönes ausdenken, was Johnnie bald wieder gesund macht.“ Ellen folgte dem Arzt aus dem Zimmer. Er sah sehr ernst aus und fragte Ellen, seit wann der Junge erkältet sei, seit wann er Fieber habe und ob er schon einmal über Kopfschmerzen geklagt hätte. Ellen antwortete kurz und sachlich. „Auf der Lunge ist nichts weiter zu hören“, sagte der Arzt, „nur ein bißchen in den Bronchien, aber nur ganz unwesentlich. Trotzdem…“ Er runzelte die Stirn und schwieg. „Trotzdem – was, Herr Doktor?“ „Mir gefallen die Kopfschmerzen und die hohe Temperatur nicht. Sorgen Sie dafür, daß der Junge sich ganz ruhig verhält, und geben Sie ihm vorläufig nur flüssige Kost. Ich werde morgen vormittag wiederkommen. Guten Abend, Frau Lage!“ Ellen stand noch immer an der Tür, die schon längst hinter dem Arzt zugeschlagen war. Er war fort, und sie hatte nicht erfahren, was ihrem Jungen fehlte. Ellen verstand sich nicht auf die Medizin – aber auf Menschen. Der Ausdruck im Gesicht des Arztes und der Klang seiner Stimme hatten ihr klar genug gemacht, daß Gefahr im Anzug war. Mit einem Male fing sie an, praktisch zu denken und zu handeln. Sollte Johnnie längere Zeit krank sein, mußte man sich beizeiten darauf einrichten. Sie holte sich Kate und Marte zu Hilfe, und gemeinsam machten sie aus der Kammer hinter dem großen Wohnzimmer ein Krankenstübchen. Es war viel bequemer, alles auf einer Ebene zu haben, als Essen, Waschschüssel, Medizinflaschen und so weiter treppauf, treppab zu tragen. Zuletzt wurde das Bett hinuntergebracht. Ellen wickelte den Jungen in eine warme Decke und trug ihn hinunter, während Bernt das Gitterbettchen beförderte. Bald darauf war Johnnie in der Kammer zur Ruhe gebracht, während Ellen sich ihr Bett auf der Gästeliege richtete, die man vom Boden geholt hatte. Das Kind war sehr unruhig. Es war schwer zu verstehen, was Johnnie murmelte, er konnte ja ohnehin noch nicht richtig sprechen. „Wehweh im Kopf“, sagte er mehrmals, und dann murmelte er
wieder. Endlich bekam Ellen heraus, daß das Kind auch Schmerzen im Nacken hatte. Sie zog sich aus und legte sich hin, doch es war ihr unmöglich, zu schlafen. Immerzu horchte sie auf die Atemzüge des Jungen, unzählige Male griff ihre Hand nach der heißen Stirn. Sie versuchte, für eine Weile Ruhe zu finden, sich zu entspannen und die Augen zu schließen, fuhr aber gleich wieder auf, als das Kind anfing, sich zu übergeben. Dann legte sie sich wieder neben Johnnie und starrte in sein Gesichtchen. In den kindlich weichen Zügen, die sie so unendlich liebte, fand sie Ähnlichkeiten mit dem Vater, aber auch mit sich selbst. Johnnie war ein ungewöhnlich hübsches Kind. Er hatte von beiden Eltern das Beste geerbt. Für sein Alter war er schon sehr weit entwickelt, und bisher war er immer gesund und lebhaft gewesen – so richtig das, was man einen kräftigen Bengel nennt. Als der Morgen dämmerte, war Ellen todmüde. Die Augen schmerzten, und es hämmerte in den Schläfen. Es lag nicht nur an der durchwachten Nacht, daß sie so erschöpft war. Die furchtbare Angst um das Kind hatte ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. Kate kam mit einem appetitlich angerichteten Frühstück herein. Ellen schob es unwirsch beiseite. Sie hatte keinen Hunger. Da griff Kate fest und energisch nach den Händen der Schwester und sagte: „Wenn du deinem Jungen etwas nützen willst, mußt du dich selber gesund erhalten, Ellemama. Also mußt du essen! Und sollte Johnnie längere Zeit krank sein, mußt du die Wache mit mir teilen. – Iß jetzt!“ Damit ging Kate hinaus, und Ellen gehorchte. Sie trank den heißen Kaffee und aß das Ei und die dünnen, lecker belegten Brotscheiben, die Kate ihr zurechtgemacht hatte. Der Junge hatte noch immer hohes Fieber. Er weinte und jammerte und wollte nichts essen. Ellen stand gerade über sein Bett gebeugt, als der Krampfanfall einsetzte. Die Ärmchen wurden steif, der ganze Körper zog sich heftig zusammen, der Rücken krümmte sich, und der Kopf lag weit nach hinten gebeugt. Da wußte Ellen Bescheid. Sie erinnerte sich an ein Bild, das sie in einem medizinischen Buch gesehen hatte. Auf dem Bild lag ein Kind
in genau der gleichen Stellung wie jetzt Johnnie. Es war Hirnhautentzündung. Ellens Hände umkrampften das Gitter des Bettchens. In ihrem Kopf war ein eigentümliches Brausen – und mit einem Male fühlte sie einen wahnsinnigen Drang zu lachen – laut zu lachen. Es war so unwirklich, ein so grotesker Scherz des Schicksals – ihr Junge mit einer tödlichen Krankheit – ihr kleiner Johnnie sollte eine Krankheit haben, die entweder zum Tod führte oder zum Wahnsinn? Oder gab es auch ein Gesundwerden? Doch, es sollte auch vorkommen. Nein, das stimmte ja alles gar nicht. Ellen schüttelte den Kopf. Es war ein Alptraum. Gleich würde sie erwachen und Johnnie in seinem Bettchen sitzen sehen, fröhlich und munter und vor sich hin plappernd. Gleich würde alles vorüber sein, sie brauchte nur aufzuwachen. Dann würde Johnnie seine Hafergrütze bekommen, in seinen Wagen gesetzt werden und mit Treu spazierenfahren. Das war sein schönstes Vergnügen. Und sie selbst würde heute ein großes Stück an ihrem Wandteppich weiterweben, denn nun wurde es ja Zeit. Was machte man nur gegen den Krampf? Warme Umschläge? Kalte Umschläge? Einen Eisbeutel auf den Kopf? Ellen beugte sich über das verkrampfte, steife Körperchen. Noch nie war sie so ratlos gewesen, noch nie hatte sie einen so rasenden Schmerz verspürt wie beim Anblick des leidenden Kindes. Da ging leise die Tür. Kate kam herein. „Ellemama – was ist?“ „Da!“ sagte Ellen. Kate erschrak, die Stimme der Schwester war nicht wiederzuerkennen. Mit hartem Griff zog sie Kate an das Kinderbett, das Köpfchen lag so weit nach hinten, als sei das Genick gebrochen. „Was – was ist das, Ellen?“ „Hirnhautentzündung!“ Ellens Hände lösten sich von der Kante des Kinderbettes, und sie fiel zu Boden. Nachdem Kate und Asny Ellen ins Bett gelegt hatten, faltete Kate die Hände. „Wenn Ellen recht haben sollte“, murmelte sie halblaut, „so besteht kaum Aussicht, daß er wieder gesund wird. Ach, Herrgott, du mußt ihn wieder gesund machen – nimm alles von uns, nimm meinetwegen mich dafür – aber Ellen darf Johnnie nicht verlieren!“
SECHZEHNTES KAPITEL Ellen behielt mit ihrer Vermutung recht. Es war Hirnhautentzündung, wie der Arzt am Vorabend schon befürchtet hatte. Nun bestätigte er es. Als Ellen aus ihrer Ohnmacht erwachte und aufstand, war sie wieder ganz ruhig. Sie hielt das Kind selbst, während der Arzt die Punktion ausführte und eine graue Flüssigkeit aus dem Rückenmark nahm. Ohne eine Miene zu verziehen, sah sie zu, wie die Serumspritze in den kleinen Rücken gejagt wurde. Sie maß die Temperatur und führte sehr gründlich und genau eine Tabelle darüber, sie kochte kleine Portionen Suppe und andere trinkbare Mahlzeiten für den Jungen und fütterte ihn mit unermüdlicher Geduld. Sie vertat ihre Kräfte nicht mit Weinen und Klagen. Sie wußte, daß sie sie für wichtigere Dinge brauchte. „Noch nie ist mir solch ein Mensch begegnet wie Ihre Schwester“, sagte der Arzt eines Tages zu Kate. Er hatte gerade die dritte Punktion beendet und eine neue Dosis Serum gegeben, später sollte der Junge Morphium gegen die entsetzlichen Kopf- und Nackenschmerzen bekommen. „Sie ist der stärkste Mensch, der mir je begegnet ist“, fügte der Arzt hinzu. „Ja“, sagte Kate. Sie wußte keine andere Antwort. „Es ist jetzt der dritte Tag“, sagte der Arzt. „Wenn das Kind noch ein paar Tage durchhält, können wir vielleicht – ich sage vielleicht, Fräulein Kate – hoffen, daß – daß…“ „Daß er wieder gesund wird? Ganz gesund?“ „Niemand kann uns die Hoffnung nehmen, Fräulein Kate. Die müssen wir uns um Himmels willen erhalten. Leben Sie wohl, ich komme heute nachmittag wieder.“ Stundenlang saß Ellen da und starrte auf das Kind. Sie beachtete jede seiner Bewegungen, sie verfolgte die Krankheit von Minute zu Minute mit angstvollen Augen. „Nicht Auto auf Kopf! Nicht Auto auf Kopf!“ jammerte der Junge. Er fuchtelte mit seinen kleinen, müden Händen, als wollte er etwas wegschieben. „Nimm Auto weg! Auto ist schwer!“ murmelte er. Ellen wechselte den kalten Umschlag. „So, nun ist Auto weg“, sagte sie. Sie wußte nicht, ob ihre Stimme in sein Bewußtsein drang, aber er wurde doch für eine Weile
ein wenig ruhiger. Am Nachmittag bekam er Morphium und fiel in einen Dämmerschlaf. Dabei redete er viel unverständliches Zeug und erkannte weder seine Mutter noch Kate, doch er rief hin und wieder nach Treu, dem Hund. Er nahm entsetzlich ab. Wenn Ellen dem abgemagerten Körperchen ein frisches Hemd anzog, hatte sie große Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Wie sollte dieser Körper noch die Widerstandskraft gegen die grauenhafte Krankheit aufbringen? Doch am Morgen des vierten Tages lebte Johnnie noch immer, und am fünften Tag begann die Temperatur ein wenig zu fallen. „Frau Lage“, sagte der Arzt, nachdem er den Jungen untersucht hatte, „ich will Ihnen nichts versprechen. Ich will nicht verheimlichen, daß die Gefahr noch überwältigend ist. Aber Sie können jetzt mit etwas mehr Grund als noch vor zwei Tagen hoffen. Was auch kommen mag, Sie werden auf jeden Fall eine lange, anstrengende Zeit vor sich haben. Und selbst wenn – ich sage selbst wenn – der Junge sich erholen sollte, wird er noch lange Zeit die sorgfältigste Pflege brauchen, und Sie werden viele Tage und Nächte mit Angst und Sorgen vor sich haben. Aber Sie können doch hoffen, den Kampf, den Sie aufgenommen haben, zu gewinnen.“ „Danke!“ flüsterte Ellen. Sie fühlte, daß ihr die Tränen in die Augen stiegen. Der Arzt wandte sich rasch ab und sah nicht, daß Ellen hastig mit der Hand über die Augen fuhr. Die Tage vergingen. Auf Lage hatten sich alle an den Zustand gewöhnt, einen lebensgefährlich kranken Patienten im Hause zu haben. Es war ihnen zu einer natürlichen Selbstverständlichkeit geworden, nur leise zu gehen und miteinander zu flüstern. Alles drehte sich um Johnnie. Zwar wurde die tägliche Arbeit gemacht, das Essen gekocht, die Tiere versorgt, es wurde gewaschen und saubergemacht, aber nur gleichgültig und rasch wie eine Nebensache. Das ganze Haus war gleichsam erfüllt von einem einzigen angstvollen Warten. Man wartete auf ein Ereignis – auf das Fallen der Temperatur oder auf das Steigen, auf ein Wunder, auf die plötzliche Nachricht, daß der Junge außer Gefahr sei. Aber die Zeit verging… Ellen und Kate hielten umschichtig die Nachtwache. Ellen hatte eingesehen, daß sie eine Ablösung nötig hatte, und einen zuverlässigeren Menschen als die tüchtige, unermüdliche Kate
konnte sie nicht haben. Allmählich gelang es Ellen auch wieder zu schlafen. Sie war schließlich so erschöpft, daß der Schlaf von selbst kam. Hin und wieder hatte Johnnie schon klare Augenblicke, in denen er versuchte, die schwachen Ärmchen nach der Mutter auszustrecken. Dann konnte er auch schon um Apfelsinensaft oder Milch bitten, und es gelang Ellen, ihm etwas Essen einzuflößen. Aber dann wand er sich auch wieder in Krämpfen, er verlor das Bewußtsein, und die Temperatur stieg und fiel in unglaublichen Schwingungen. Ein andermal konnte der Junge herzzerreißend schreien. O ja, der Arzt hatte recht gehabt, als er sagte, Ellen habe eine lange, aufreibende Zeit vor sich. Dann kam ein Abend, an dem Ellen am Bett ihres Jungen saß. Er war eingeschlafen. Der Anblick seiner mageren Händchen, des blassen, eingefallenen Gesichtchens wollte ihr das Herz zerreißen. Sie lehnte sich im Stuhl zurück und schloß die Augen. Wie still die Nacht war! Ellen war müde und ließ die Gedanken laufen, wie sie wollten. Sie hatte dasselbe Gefühl wie sonst abends ganz kurz vor dem Einschlafen. Man ist gerade noch bei Bewußtsein, aber zu müde, um die Gedanken im Zaum zu halten. Sie sind schon dabei, das zu bilden, was man am folgenden Tag einen seltsamen Traum nennt. Ellen dachte an den großen John und an den kleinen Johnnie, an die Arbeit auf dem Hof, an die Kaninchen, an Kate und Anders. Dann blieben ihre Gedanken am Webstuhl stehen. Ja, richtig – sie wollte doch den Bildteppich auf die Ausstellung nach Oslo schicken. Den Teppich, der noch auf dem Webstuhl war. Mit einem Male sah sie Muster und Farben, ja die ganze Idee zu dem Bild wieder vor sich. Und sie erschien ihr als kitschige Dutzendware. Etwas so Banales hatte sie auf die bedeutende Ausstellung schicken wollen? Es begann in ihr zu arbeiten. Alles, was sie an Sorgen, Schmerzen und Verlangen durchgemacht, alles, um was sie gekämpft und gestritten hatte, verdichtete sich zu einer gewaltigen Kraft. Etwas wollte sich Bahn brechen, koste es, was es wolle. Ellen stand auf und ging wie eine Schlafwandlerin in die große Stube. Ohne zu denken, getrieben von etwas Unerklärlichem, das stärker war als ihr eigener Wille. Sie trat an den Webstuhl und riß die Zeichnung herunter. Dann rollte sie das bisher fertige Stück zusammen, bis sie nur noch die leere Bespannung angähnte.
Ellen holte Papier und den großen Kasten mit den Farbstiften. Und während das kranke Kind im tiefen Fieberschlaf lag, saß Ellen da und zeichnete. Sie hatte die große Arbeitslampe eingeschaltet und entwarf kleine Skizzen eines neuen Motives, das plötzlich vor ihren Augen gestanden hatte, als sie am Bett des Jungen saß. Es machte ihr keine Mühe, es aufzuzeichnen. Es stand gleichsam fertig vor ihr und brauchte nur zu Papier gebracht zu werden. Nach ein paar Stunden schob sie die Skizzen beiseite und begann die gewaltige Arbeit an der großen Musterzeichnung. Der Tag graute, doch sie merkte es nicht. Sie hörte zwar Asny in der Küche hantieren, doch es drang nicht in ihr Bewußtsein. Nicht einmal, als Kate in der Tür erschien, hob sie den Kopf. Kate öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dann traf sie ein Blick aus den Augen der Schwester, und sie schwieg und trat hinter Ellen, um ihr über die Schultern zu sehen. Sonderbare, unheimliche Phantasietiere mit krankhaften, unklaren Farben wanden und krümmten sich da, streckten ihre Krallen und Zungen heraus. Eine steife Knochenhand mit einer Sense bohrte sich in all diesen Wirrwarr, verzerrte Gesichter, halb Mensch, halb Tier, grinsten einander an. Schlangenund eidechsenartige Phantasiegebilde erfüllten kriechend und krabbelnd den ganzen unteren Teil der Zeichnung. Wenn man eine Zeitlang genau hinsah, konnte man erkennen, daß sie alle in der gleichen Bewegung einer Art Zentrum zustrebten. Die Krallen, die Schlangenbewegungen, die spitzen Zungen und die Hand mit der Sense gingen in dieselbe Richtung auf etwas hin, das sich aus einem Sumpf erhob und emporreckte. Dieses Etwas war eine Frauengestalt. Schmal und jung, eingehüllt in ein helles Gewand, stieg sie aus dem Gewimmel von Häßlichkeit und Widerwärtigkeit dort unten herauf. Helles Haar floß um ihre Schultern, und mit erhobenem Gesicht streckte sie sich dem Licht entgegen. Dabei hielt sie in ihren Armen ein lächelndes Kind. Und über ihrem Haupt ergossen sich Kaskaden leuchtender Farben. Kate stand ganz still und starrte auf das Bild. Sie bezwang ihre Lust, in laute Begeisterung auszubrechen. Sie sah, daß die Schwester bisher auch nicht annähernd ein solches Werk erreicht hatte wie dieses. Schließlich war es Ellen, die zuerst etwas sagte. „Es soll ,Empor’ heißen.“
Kate nickte stumm. Dann fuhr Ellen fort: „Empor – aus Kummer und Geschwätz, aus Gemeinheit und Armut, aus Elend, Alltagssorgen – ja, sogar aus dem Tode.“ Sie zeigte auf die steife, stilisierte Hand mit der Sense. „Ich konnte nicht den ganzen Knochenmann mit auf das Bild bringen, das wäre zu kraß, zu brutal. Dies genügt ja auch.“ Wieder nickte Kate und flüsterte: „Ja.“ „Empor zu etwas – zum Licht – zur Reinheit – zu etwas, wovon ich selbst nicht genau weiß, was es ist. Empor – zusammen mit dem Kind.“ Als habe sie das Wort „Kind“ in die Wirklichkeit zurückgebracht, sprang sie plötzlich auf. „Ich muß nach Johnnie schauen.“ Der Junge schlief. Es sah nicht aus, als habe sich seit gestern etwas verändert. Sonderbare Tage waren es, die nun folgten. Jede zweite Nacht saß Ellen am Kinderbett. Sobald der Junge eingeschlafen war, erhob sie sich und ging in die Stube. Dann saß sie stundenlang am Webstuhl und arbeitete so intensiv wie nie zuvor. Sie dachte weder an die Ausstellung noch an das Gedeihen des Hofes, sie dachte überhaupt nicht, sondern ließ sich nur diktieren von etwas, das außer ihr zu sein schien, etwas, das von ihr verlangte, sie solle arbeiten. Sie konnte keine Ruhe finden, ehe sie das Werk vollbracht hatte. Die Nächte wurden kürzer und heller. Ellen arbeitete oft von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang durch. Sie war blaß und hohlwangig, und die Augen waren von tiefen Schatten umgeben. Aber Kate sagte nicht, sie solle Schluß machen. Sie verstand die Glut in Ellens Blick nur zu gut und wußte, daß jetzt die Arbeit für sie wichtiger war als die Erholung. So rackerte Kate sich ab. Tagelang, wochenlang mit einem todkranken Kind und der Arbeit, die getan werden mußte. Als Johnnie wieder einmal einen Rückfall gehabt hatte und der Doktor noch eine Punktion machen mußte, saß Ellen hinterher am Webstuhl und weinte. Die Tränen fielen auf ihre Hände und auf das Garn – und trotzdem arbeitete sie, webte und webte, führte die Fäden aus und ein durch die Bespannung, preßte sie mit dem Schlagbaum fest – trocknete die Augen und webte weiter. Je verzweifelter sie um den Jungen bangte, um so verbissener arbeitete sie. Ellen schien es, als sei ein Jahr vergangen; in Wirklichkeit aber
waren es fünf Wochen, als endlich der wunderbare Morgen anbrach. Johnnie schlug die Augen auf und lächelte seine Mutter an. Es war ein schwaches, müdes Lächeln, aber bewußt und normal. „Mami, Johnnie hat Hunger!“ Ellen stützte ihn, während Kate ihm vorsichtig mit einem Teelöffel Grießbrei gab. „Gut“, sagte der Junge. Dann wurde er wieder ins Bett gelegt, doch er blieb wach und schaute durch das Gitter auf die Mutter. „Mami, wo ist Treu.“ „Treu liegt am Herd in der Küche, Johnnie.“ „Mami, ich will Treu sehen!“ Ellen erhob sich und öffnete die Tür. Sie rief nach dem Hund, und er sprang sofort auf und kam herein. Es wurde ein rührendes Wiedersehen zwischen dem Kind und dem Hund. Treu verstand offensichtlich den Ernst der Lage. Er stand ganz still vor dem Bett und machte erst gar nicht den Versuch, daran hochzuspringen oder gar zu bellen. Aber er steckte die Schnauze durch das Gitter und winselte ganz leise, während er heftig mit dem Schwanz wedelte. Johnnie streckte sein durchsichtig weißes Händchen aus und klopfte Treu auf den Kopf. Der Hund leckte es behutsam und liebevoll. Ellen bekam einen Kloß im Hals, Kate schluchzte laut auf. Nun wußten sie endlich, daß es mit Johnnie aufwärts gehen werde. Es bedeutete für Ellen jedesmal unbeschreibliches Glück, wenn der Junge für irgend etwas Interesse zeigte. So lange Zeit hatte er nur still dagelegen und in die Luft gestarrt und weder auf Licht noch auf Laute reagiert. In solchen Augenblicken war es Eilen bewußt geworden, daß der Tod gar nicht das Schlimmste ist. Hätte Johnnie das überleben der Krankheit mit seinem Verstand bezahlen müssen – ja, dann wäre der Mann mit der Sense doch ein barmherziger Gast im Hause gewesen. Aber Johnnie sah und hörte wieder. Müde und matt, wie er war, dauerte es allerdings lange, bis er sich wieder des Wortschatzes entsann, den er vor der Krankheit besessen hatte. Es fiel ihm schwer, das auszudrücken, was er meinte, er gebrauchte falsche Wörter und suchte nach den richtigen, und wenn er nicht verstanden wurde, fing er an zu weinen.
Doch Tante Kate war unübertrefflich. Wie einer Eingebung folgend, kam sie auf den richtigen Weg. Sobald Johnnie kräftig genug war, setzte sie ihn im Bett auf und ließ ihn in Bilderbücher schauen. Dabei erklärte sie ihm die Bilder in einfachen, leicht faßlichen Worten und Sätzen. Sie regte ihn zum Fragen an und lobte ihn sehr, wenn ihm ein schwieriges Wort einfiel. Von nun an begann der Junge mit einem Male Riesenfortschritte zu machen. Er hatte zugenommen und war auch ein ganzes Stück gewachsen, und sein Gehirn schien besser als je zuvor. Er war geradezu besessen von einem unersättlichen Drang zum Lernen, und Tante Kate wurde seine geduldige und geschickte Lehrmeisterin. An einem sonnigen Maitag führte Ellen ihren Sohn in den Garten. Er war noch ein wenig unsicher auf den Beinchen, noch dünn und blaß, aber seine Augen blitzten von Leben und Fröhlichkeit, er plapperte unentwegt. Als er dann, bequem und in eine Decke gewickelt, auf dem Liegestuhl saß, den alten Kater Mons auf dem Schoß, starrte er plötzlich erschrocken seine Mutter an. „Mami, warum du weinen?“ Da kniete Ellen neben dem Liegestuhl nieder und drückte Johnnie fest an sich. „Weil ich dich so lieb habe, mein Junge, weil ich so glücklich bin, dich bei mir zu haben, und weil du wieder gesund bist.“ Das verstand Johnnie nicht. Wenn er weinte, pflegte die Mutter ihn zu küssen und zu sagen, das ginge schon vorüber. So versuchte er, sie auf die gleiche Weise zu trösten. Ellen bekam einen kleinen, feuchten Kuß auf die Stirn, und sein Stimmchen sagte mit dem Versuch, erwachsen zu klingen: „Nicht weinen, Mami, geht vorüber!“
SIEBZEHNTES KAPITEL Es summte von Stimmen in dem großen Saal, wo die Wände dicht behängt waren mit schönen, handgewebten Decken und Teppichen. Die besonders schweren und großen Arbeiten hingen mitten im Saal auf Gestellen. Es war imponierend, was Frauenhände in diesem gediegenen Kunsthandwerk ausgeführt hatten. Das Publikum war sichtlich voller Bewunderung. Nur ein paar Fachleute, solche, die auch mit Linien und Farben hantierten, gingen mit gerunzelten Brauen umher und suchten hier und da Schwächen und Fehler. „Gewiß, die Zeichnung ist einwandfrei, aber die Ausführung recht mangelhaft. Ein so guter Entwurf hätte einer besseren Weberin bedurft.“ – „Ja, das alte Muster ist recht gelungen, aber die Farben viel zu kräftig.“ – „Nein, da müßten Sie sich einmal den Bildteppich bei mir zu Hause in der Halle ansehen, der ist viel schöner als alle diese hier zusammen!“ Letzteres sagte eine Dame unbekümmert laut. Ein Herr in ihrer Nähe hörte es und drehte sich um. „Ah, guten Tag, Frau Reckstad! Sehen Sie, ich erkannte Sie gleich an der Stimme. Soso, Sie ziehen also Ihre eigenen Kunstwerke vor. Findet denn hier gar nichts Gnade vor Ihren Augen?“ „Ach ja, es gibt ganz nette Sachen hier, aber, ehrlich gesagt, der Wandteppich, den ich habe, schlägt alles! Besuchen Sie mich nur mal und schauen Sie ihn sich an.“ „Wer hat ihn denn gewebt, und wer hat den Entwurf dazu gemacht?“ „Zeichnung und Weberei stammen von derselben – Ellen Lage heißt sie. Sie ist geradezu ein Genie. Es tut mir leid, daß ich nicht noch mehr Arbeiten von ihr habe. Sie als Architekt würden ganz begeistert sein, Herr Alvdal.“ „Wer ist denn diese Ellen Lage eigentlich?“ „Sie ist zunächst ein ungewöhnlich scharmanter und ungewöhnlich bescheidener Mensch – und im übrigen eine junge Witwe, hübsch und kultiviert. Dabei rackert sie sich mit Haus- und Landwirtschaft ab, aber hin und wieder trocknet sie die Hände nach dem Geschirrspülen ab, setzt sich an den Webstuhl und produziert ein Stück gottbegnadeter Kunst. Dann steht sie wieder auf, geht in den Garten und jätet Unkraut, während ihre Schwester auf dem
Markt steht und Gemüse verkauft. Im übrigen habe ich die beiden seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Frau Lage scheint mit der Weberei Schluß gemacht zu haben, und das ist ein Jammer.“ Der Architekt Vemund Alvdal hörte lächelnd Frau Reckstad zu, die so warm und herzlich von dieser unbekannten Weberin sprach. „Vielleicht hat sie etwas für die Ausstellung eingesandt, was aber nicht angenommen worden ist“, meinte er. „Nicht angenommen? Ja, dann müßte allerdings das Richterkollegium ausschließlich aus Idioten oder Farbenblinden bestehen. Im übrigen könnte ich das mühelos feststellen. – Nein, es ist wirklich schade, daß Ellen Lage nichts mehr von sich hören läßt, denn sie wäre die kommende Frau auf dem Gebiet der Webkunst.“ Der Architekt und Frau Reckstad schlenderten gemeinsam weiter durch den Saal. Alvdal studierte jede einzelne Arbeit gründlich und lange. „Mir scheint, Sie suchen etwas Bestimmtes“, meinte Frau Reckstad. „Ja, so ist es. Ich habe nämlich den Wettbewerb für die Innenausstattung eines neuen Rathauses gewonnen.“ Er nannte den Namen einer Küstenstadt. „Das Rathaus soll einen großen Festsaal bekommen, an dessen Stirnwand ich mir das tollste Relief aller Zeiten gedacht habe, oder an Stelle eines echten Gobelins einen ganz großartigen Teppich.“ „Da könnte Ihnen Ellen Lage helfen.“ „Sie trauen dieser Ellen Lage wahrhaftig alles zu“, meinte Alvdal und lachte. „Nein, wissen Sie, es hat keinen Zweck, dazu unbekannte Dorfgenies heranzuziehen. Ich brauche jemanden mit Namen und Erfahrung. – Ah, da ist ja Ihr Mann, Frau Reckstad – haben wir noch Zeit zu einem raschen Imbiß im Bristol? Ich bin halb verdurstet!“ Wenige Minuten, nachdem der Architekt zusammen mit Reckstads den Saal verlassen hatte, betraten zwei Damen mit einem kleinen Jungen die Ausstellung. Die eine war groß und dunkelhaarig, die andere klein und blond. Der Junge ging zwischen ihnen, er war ein hübscher, kleiner Kerl mit dichtem, blondem Schopf. Sie gingen von einem Bildteppich zum anderen, ohne viel zu sprechen. Nur der Junge plapperte vergnügt und laut. Wenn die beiden Frauen etwas sagten, dann taten sie es leise, damit es niemand hören konnte. Nachdem sie eine Stunde lang durch die Ausstellung gewandert waren, verlor der Junge die Geduld.
„Mami, du hast mir ein Fahrrad versprochen! Mami, können wir jetzt nicht das Fahrrad kaufen?“ Die Mutter nickte. Als sie wieder draußen auf der Straße im Sonnenschein standen, drehte sich die blonde Dame zu der anderen um und sagte: „Die können alle miteinander nach Hause gehen und sich schlafen legen, Ellen. Hätte ,Empor’ auf der Ausstellung gehangen, wären die anderen Bildteppiche nur noch als Scheuerlappen verwendbar gewesen.“ Da lachte Ellen laut auf. Sie gingen in ein Sportgeschäft, wo Johnnie sein Dreirad bekam, und nachher saßen sie in einer Konditorei, und der Junge durfte so viel Kuchen essen, wie er wollte. Es war für Johnnie ein ganz großer Tag. Die Nachmittagssonne stach und brannte unbarmherzig auf die Felder und die staubige Straße, die sich wie ein grauweißes Band zwischen Äckern und Wiesen dahinschlängelte. Der Mann am Steuer des langen, niedrigen Sportwagens hatte alle überflüssige Kleidung abgelegt. Er war erhitzt und müde, hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und ein großes Arbeitsprogramm für den nächsten Tag vor sich. Er war mit dem Wagen losgefahren, einfach ins Blaue hinein, nur um aus der Stadt mit ihrer sommerlichen Glut herauszukommen und ein wenig frische Luft zu schnappen. Gestern hatte er sich an der See erholen wollen, aber nachdem er drei Bäder nacheinander aufgesucht und überall das gleiche Gewimmel am Strand vorgefunden hatte, reichte es ihm. Nun hatte er eine unklare Wunschvorstellung: an einen brausenden Wasserfall oder wenigstens einen plätschernden Bach zu kommen und in den Schatten von Birken oder großen, dunklen, herrlichen Nadelbäumen. Er fuhr schon eine ganze Weile und seufzte resigniert bei dem Gedanken daran, daß er den ganzen Sommer in der Stadt bleiben mußte. Gewiß freute er sich, daß er den Wettbewerb gewonnen hatte, die Aufgabe war sehr interessant, aber sehr aufreibend, und es würde viel Ärger geben, bis alles so wurde, wie er es wollte. Ständig war er mit ganzen Stößen von Zeichnungen unterwegs zwischen seinem Wohnort und seiner Wirkungsstätte am neuen Rathaus. Viele Besprechungen waren notwendig. Er hatte seinem Bauherrn erklärt, daß es für den großen Saal zwei Möglichkeiten gäbe. Man konnte die Stirnwand entweder mit einem Relief dekorieren oder mit einem großen Wandteppich. Die Entscheidung
hatte man ihm überlassen, und die mußte er nun bald treffen. Zu dumm, daß die Ausstellung eine solche Enttäuschung gewesen war! Gewiß, man konnte den bekannten Bildhauer Kvernli vorschlagen – oder sollte man zur Konkurrenz gehen? Alvdal saß zurückgelehnt im Wagen und ließ ihn auf der guten, geraden Betonbahn gemächlich laufen. Da mußte er plötzlich hart auf die Bremse treten und das Steuer nach links herumreißen. Kreischend blieb der Wagen stehen – und kaum einen halben Meter davor kreuzte ein kleiner Junge auf seinem Dreirad die Straße. Vemund Alvdal trocknete sich den Schweiß von der Stirn. Um ein Haar wäre ein Unfall geschehen. Da rief ihm in sehr bestimmtem und belehrendem Ton ein Kinderstimmchen zu: „Du hast vergessen, mit der Hand – so – zu machen. Ich hab’s gemacht! Mutti hat gesagt, man müsse immer mit der Hand zeigen, wohin man fahren will. Da hätten wir aber schön zusammenstoßen können!“ Vemund Alvdal mußte lächeln. Der Bengel hatte offensichtlich keine Ahnung, wie schlimm es ihm hätte ergehen können. „Wie heißt du denn?“ fragte Alvdal. „Ich heiße Johnnie, aber manchmal heiße ich auch nur John.“ Interessiert betrachtete er das Auto. „Darf ich mal da drin sitzen?“ „Ja. Wo wohnst du denn?“ „Da, den Berg ‘rauf, dann den Berg wieder ‘runter und dann noch ein Stückchen weiter, und da wohne ich in einem braunen Haus.“ Dem Architekten gefiel das Kind. Es war wirklich ein reizender kleiner Junge. Er setzte ihn neben sich ins Auto, und das Dreirad wurde auf den Rücksitz gelegt. „Darf denn ein so kleiner Kerl wie du schon so weit fortfahren?“ Vorwurfsvoll blickte Johnnie zu ihm auf. „Ich bin doch nicht klein. Mami hat gesagt, ich bin groß.“ „Und du meinst, du seiest schon groß genug, um ganz allein auf der Landstraße zu radeln?“ „Ach, zu Hause ist es langweilig. Die Mami – die webt immer.“ Alvdal horchte auf. „Sie webt? Was webt sie denn?“ „Ein großes Bild, so – ein großes Bild! Mami webt viele Bilder, jawohl. Und für mich malt sie Bilder. Sie hat mir ein Bild von Treu gemalt.“
„Wie heißt du denn weiter, Johnnie?“ fragte Alvdal. „John Lage, und wenn ich groß bin, will ich Bauer werden.“ Lage – Lage – wo hatte er diesen Namen schon gehört? Lage – und Bildweberei – ja, jetzt wußte Alvdal es wieder! Das mußte die junge Bäuerin sein, von der Frau Reckstad des Lobes voll war. Was für ein merkwürdiges Zusammentreffen! Alvdal war sofort fest entschlossen: Er würde unter keinen Umständen in die Stadt zurückfahren, ohne die Arbeiten von Ellen Lage gesehen zu haben. Als sie in den Hof von Lage einfuhren, waren zunächst keine anderen Lebewesen zu sehen als Mons, der Kater, der dasaß und sich die Pfoten leckte, und Treu, der Hund, der angetrottet kam und sich an Johnnie schmiegte. Dann kam eine Frau um die Hausecke, groß und dunkelhaarig, mit leuchtenden blauen Augen und ungewöhnlich braungebranntem Gesicht. Sie trug einen Korb voll schwarzer Johannisbeeren. „Wo, in aller Welt, hast du wieder gesteckt, Johnnie?“ „Ich bin mit dem Onkel da im Auto gefahren!“ Vemund Alvdal stieg aus dem Wagen und stellte sich vor. Einen Augenblick starrte er sie an, irgend etwas fesselte ihn sofort an ihr – ihre Ruhe, ihre aufrechte Haltung, ihr freundliches, selbstsicheres Lächeln, all dies verriet Intelligenz und Kultur. Sie wechselten ein paar Worte über die brütende Hitze, und Ellen bot ihm aus dem Beerenkorb an. Und wie es so zu gehen pflegt: bald darauf saßen sie in der schattigen, behaglichen Stube und tranken Limonade mit Eisstückchen. Ein kleiner Kühlschrank war eins von den Dingen, die Ellen vom Honorar für den Kirchenläufer angeschafft hatte. Vemund Alvdal blickte sich um. Ellen war daran gewöhnt, daß fremde Gäste die Stube bewunderten, und sie freute sich darüber. Plötzlich erhob sich Alvdal und stellte sich vor den Webstuhl. „Da haben wir’s ja!“ „Was denn?“ „Das große Bild“, sagte Alvdal und lachte. „Ihr Sohn erzählte mir nämlich, Mami webe ein großes Bild. Würden Sie es mir wohl zeigen, Frau Lage?“ „Es ist aber noch nicht ganz fertig…“ „Ach, da fehlt ja nicht mehr viel! Von der Musterzeichnung ist ja nur noch die oberste Kante zu sehen!“ „Sie kennen sich anscheinend mit der Webtechnik aus.“ „Ja, und an dem kleinen Teil, den ich bis jetzt sehen kann, stelle
ich bereits fest, daß Sie ganz ungewöhnliche Farben verwendet haben. Seien Sie doch bitte so freundlich und rollen Sie den Teppich auf, damit ich ihn im Ganzen sehen kann.“ Es lag nicht nur eine Bitte, sondern gleichzeitig auch ein ganz bestimmtes Verlangen in seinem Tonfall. Ellen erhob sich und ging an den Webstuhl. Mit einiger Mühe gelang es ihr, den Bildteppich so weit zurückzurollen, daß er in seiner ganzen Höhe wieder zum Vorschein kam. Alsvdal schaute ihn an. Er trat ein paar Schritte zurück und sah sich nach einer Lampe um. Ellen verstand, was er wollte, und zündete die starke Arbeitslampe an. Grelles Licht fiel auf die Arbeit. Es war das erste Mal, daß Ellen ihren Bildteppich selber sah. Bisher hatte sie nur daran gearbeitet und den fertigen Teil aufgerollt. Plötzlich befiel sie ein heftiges Herzklopfen. Das war ja ein Kunstwerk! Damit konnte sie sich einen Namen machen. Die schlichten Linien, die durch die Webtechnik entstanden, sowie die stilisierte Zeichnung beeinträchtigten in keiner Weise das Motiv – nicht einmal die Frauengestalt, die ja eigentlich weiche Linien erforderte. Gerade die Strenge der Konturen machte die Frau noch aufrechter, noch reiner und stärker, und die Symbole der Unterwelt und des Todes zu ihren Füßen wurden dadurch noch aufdringlicher und teuflischer. Vemund Alvdal schaute lange darauf, ohne ein Wort zu sagen. Jede Einzelheit der Linien, der Farben und vor allem der Idee prägte er sich ein. Nach vielen Minuten wandte er sich zu Ellen um. Mit einem Male schien es ihm, als kenne er sie schon jahrelang, als habe er ihren Kampf, ihren Mut, ihre Kraft und ihre Liebe aus ihrer Arbeit herausgelesen. Er griff nach ihren Händen und drückte sie fest. „Ellen Lage – Dresche sollten Sie kriegen!“ „Was – sollte ich kriegen?“ „Dresche! Oder Haue, Prügel, wie Sie es nennen wollen. Wie wollen Sie es verantworten, sich hier auf dem Lande zu vergraben und Ihr Licht, Ihre Begabung, unter den Scheffel zu stellen? Wußten Sie nicht, daß wir kürzlich eine Bildteppichausstellung in Oslo hatten? Oder hielten Sie sich für zu gut, um teilzunehmen?“ Ellen wurde blaß und zog ihre Hände aus den seinen, Sie Hätte einen Kloß im Halse. „Ich – ich wollte den Bildteppich auf die Ausstellung schicken. Aber dann – dann wurde mein Junge krank. Zwei Monate lag er da
mit einer Hirnhautentzündung.“ Und dann erzählte Ellen von den grauenvollen Nächten, in denen sie um das Leben ihres Kindes gebangt hatte und in denen ihr die Idee zu diesem Bild gekommen war. Plötzlich hielt Ellen erschrocken inne. Wie kam es nur, daß dieser fremde Mann sie dazu brachte, so offen zu ihm zu sprechen, sich die ganze Verzweiflung der damaligen Zeit vom Herzen zu reden? Doch Alvdal legte wie selbstverständlich den Arm um ihre Schultern, führte sie zum Sofa und setzte sich dort mit ihr hin. „Erzählen Sie weiter“, sagte er nur. Es war ein ungewöhnliches Erlebnis für Ellen. Zum erstenmal in ihrem Leben war sie völlig willenlos, schwach und fügsam. Sie tat, ohne zu überlegen, was von ihr verlangt wurde. Zum erstenmal war sie einem Menschen begegnet, dessen Kraft und Wille ihren eigenen überschattete, dessen Stärke größer war als die ihre. Sie erzählte von ihren Kinderjahren, von der Zeit der Kunstgewerbeschule und von ihren Zukunftsträumen. Sie erzählte vom frühen Tod des Vaters, von der Bürotätigkeit und von Kate. Ja, sie erzählte sogar von John mehr, als sie je zuvor einem anderen Menschen offenbart hatte. Auch von den ersten harten Kämpfen um den Hof berichtete sie, von dem Einfall, wieder zu weben, und der Bekanntschaft mit Frau Reckstad. „Aber warum, um Himmels willen, haben Sie denn nicht mehr verkauft? Frau Reckstad erwähnte, daß Sie nur noch ein paar Arbeiten geliefert hätten, die viel Erfolg…“ Ellen erhob sich mit einem Ruck. Ihr Gesicht war flammendrot. „Ich ertrage es nicht, vom Mitleid der Leute zu leben! Ich habe keine Lust, das Objekt für die Wohltätigkeiten verwöhnter Damen zu sein.“ Alvdal war ebenfalls aufgestanden, auch sein Gesicht war gerötet, und zwischen seinen Brauen stand eine tiefe Falte. „Wie kommen Sie dazu, solchen Blödsinn zu reden? Das Objekt für die Wohltätigkeiten verwöhnter Damen… Erstens haben Sie kein Recht, einen so guten und feinen Menschen wie Frau Reckstad eine verwöhnte Dame zu nennen, und zweitens hätten Sie eigentlich selbst merken können, daß Frau Reckstads Begeisterung für Ihre Arbeit echt ist.“ „Vielen Dank für Ihre gute Meinung“, erwiderte Ellen kühl, „aber ich weiß es zufällig besser.“ Dann berichtete Ellen wörtlich von dem Gespräch, das sie
mitgehört hatte, als der Schiffsreeder sie ein exaltiertes Frauenzimmer genannt und erzählt hatte, seine Frau und Frau Reckstad machten sich ein Vergnügen daraus, Mäzene zu spielen. Da schlug Vemund Alvdal auf den Tisch. „Diese verdammten Idioten!“ rief er. „Die Dummköpfe zerstören Ihre Zukunft und berauben mit ihrem albernen Geschwätz das Land um eine überragende Künstlerin! Hören Sie mal zu, Frau Lage! Sie wissen sehr gut, daß Sie weben können. Und Sie haben gemerkt, daß ich etwas davon verstehe. Sie wissen im Grunde Ihres Herzens auch, daß das, was der Schiffsreeder über die Frauen gesagt hat, zumindest auf Frau Reckstad nicht zutrifft. Glauben Sie mir nun, wenn ich sage, daß dieser Bildteppich ein Kunstwerk ist?“ „Ja“, sagte Ellen ruhig, „das ist er.“ „Na, dann ist es ja gut. Und nun hören Sie bitte zu: Ich bestelle hiermit diesen Bildteppich bei Ihnen – nein, nicht den kleinen Lappen, den Sie da auf dem Webstuhl haben, sondern genau dasselbe Bild in einem viel größeren Format, vier mal sechseinhalb Meter. Ja, ich sagte vier mal sechseinhalb Meter! Er soll nämlich an der Stirnwand eines Festsaales in einem neuen Rathaus hängen. Vielleicht haben Sie zufällig in der Zeitung gelesen, daß ich den Wettbewerb für die Innenausstattung dieses Rathauses gewonnen habe. Somit werden Sie hoffentlich begreifen, daß ich wirklich auf gute Kunst aus bin und nicht darauf, mich bei Ihnen einzuschmeicheln. Ich hätte nämlich gar kein Recht, die Stadt zu einer Ausgabe von vielen tausend Kronen zu verleiten – bloß aus Sentimentalität oder aus Mitleid mit Ihrer kleinen Person. Ausschließlich auf Ihre Kunst habe ich es abgesehen. Sie selbst sind mir, ehrlich gesagt, völlig gleichgültig.“ über den letzten Satz mußte Ellen lächeln, und das brachte sie wieder ins Gleichgewicht. „Da muß ich mich erst einmal hinsetzen“, sagte sie mit schwacher Stimme, „das ist wahrhaftig zuviel auf einmal. Kann ich diese Bestellung tatsächlich ernstnehmen?“ „Jawohl, das können Sie.“ „Ja, aber – aber – einen so riesengroßen Teppich kann ich doch nicht allein weben.“ „Nein, natürlich nicht. Um diese Arbeit auszuführen, müssen Sie in die Stadt umziehen, und ich werde Ihnen tüchtige Weberinnen beschaffen. Aber ich verlange, daß Sie selbst die Zeichnungen ausführen, Farben aussuchen und Garn besorgen. Und dann sollen Sie die feinsten Einzelheiten an der Arbeit selbst übernehmen. Hier –
und hier zum Beispiel!“ Er zeigte auf den Teppich, der nun auf einmal klein und armselig wirkte, nachdem von so großen Ausmaßen die Rede gewesen war. „Hier – der Übergang von dem neutralen Hintergrund zu der Explosion von Farben – und das Kindergesicht – so etwas müssen Sie selbst ausführen – und dann…“ „Und auch das Gesicht der Frau überlasse ich niemand anders – und die Hände, die das Kind halten.“ Ellen sprach laut und eifrig, während sie auf verschiedene Stellen ihrer Arbeit zeigte. Die Tür ging auf, und Kate schaute herein. „Ach, hier bist du, Ellemama! Das Essen ist – oh, Verzeihung, ich wußte nicht, daß du einen Gast hast.“ „Komm nur herein, Katekatz. Dies ist Herr Architekt Alvdal. – Meine Schwester, Kate Böe! – Weißt du, Kate, wir sprachen gerade von der Weberei, und darüber haben wir natürlich die Zeit vergessen. Nun müssen Sie mit uns in die Küche kommen und Abendbrot essen, Herr Alvdal. Sie brauchen nur ein bißchen von der Grütze zu essen, nachher bekommen Sie frisches, selbstgebackenes Brot mit Butter und ,Kalbsleberwurst’ von Kaninchenfleisch.“ Alvdal gefiel die ruhige, selbstverständliche Art, mit der er behandelt wurde. Hier wurde kein Aufhebens gemacht, kein eifriges Tischdecken in der guten Stube, kein nervöses Klirren mit Tellern und Besteck, kein hastiges Kochen einer besonderen Mahlzeit für den Gast; man wurde schlicht an den Alltagstisch gebeten zu der Mahlzeit, die die Familie ohnehin einnehmen wollte, und das gefiel ihm. Wer hätte gedacht, daß der arbeitsreiche, anstrengende Tag bei Hafergrütze am weißgescheuerten Tisch zusammen mit einer gottbegnadeten Künstlerin und einem kleinen Jungen und allen sonstigen Bewohnern eines Bauernhofes enden würde? Alvdal aß mit Appetit sowohl von der Grütze als auch vom selbstgebackenen Brot, und auch der Milch tat er alle Ehre an. „Nachdem Sie so brav von unserer Alltagskost gegessen haben, sollen Sie hinterher auch noch Himbeeren mit Sahne bekommen“, sagte Kate lachend. „Geht bitte in die Stube und unterhaltet euch über Kunst. Ich komme gleich nach.“ Bei der leckeren Nachspeise erfuhr Kate von dem großen Ereignis, und es wurde gleich beraten, wie sich die Sache für Ellen am besten ordnen ließ. Es war selbstverständlich, daß sie in die Stadt umziehen mußte. Alvdal wollte es übernehmen, ihr einen Arbeitsraum, Hilfskräfte und
ein paar große, moderne Webstühle zu besorgen. „Haben Sie einen Platz, wo Sie wohnen können?“ fragte er Ellen. „O ja, ich kann für diese Zeit in meinem früheren Jungmädchenzimmer wohnen“, versicherte Ellen. „Und an jedem Wochenende fahre ich Sie hierher nach Hause, damit Sie Ihren Jungen und den Hof sehen können – und Ihre Schwester natürlich auch“, fügte er mit einer lächelnden Verbeugung zu Kate hinzu. Es war schon sehr spät, als sich Alvdal verabschiedete und für den Abend bedankte. Und es wurde noch sehr viel später, bis endlich Ellen und Kate zu Ende geplaudert hatten und sich gute Nacht sagten. Dann lag Ellen noch lange wach. Merkwürdigerweise dachte sie nicht in erster Linie an den großartigen Auftrag und den Umzug in die Stadt, der sie für lange Zeit von ihrem Johnnie trennen würde, obwohl ihr doch eine Arbeit bevorstand, die den höchsten Wunsch ihres Lebens erfüllte. Nein, sie dachte daran, daß sie sich heute einem völlig fremden Mann gegenüber ausgesprochen hatte – einem großen, starken, hübschen Mann – , der ihr zum Dank dafür antwortete, ihre Person sei ihm vollkommen gleichgültig. Sie hatte zwar über seine Ehrlichkeit gelächelt, aber tief im Innern hatte es ihr doch einen kleinen Stich versetzt. Dann dachte sie an sein offensichtliches Interesse an Kate. Das war ja nun wahrhaftig kein Wunder. Mit ihrem scharmanten Wesen besaß Kate viel Anziehungskraft. Aber es täte mir leid um Anders, dachte Ellen. Sie stützte sich auf den Ellenbogen, knipste die Nachttischlampe an und warf einen Blick auf Johnnie. Er schlief fest in seinem Gitterbettchen. Mußte sie nicht glücklich sein, daß Gott ihr den Jungen zurückgegeben hatte, frisch und gesund und im vollen Besitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte? Und daß sie eine Aufgabe bekam, die ihr Dasein auf lange Zeit ausfüllen und Lage wieder hochbringen würde? Und doch – so ganz glücklich, bis auf den Grund ihres Herzens glücklich, war sie nicht. Woher mochte das kommen? Vemund Alvdal brachte seinen Wagen in die Garage und blickte auf die Uhr. Wahrhaftig, es war zwei. Er war fast zwei Stunden unterwegs gewesen, ohne es zu merken. Er hatte an das reizende
blonde Mädchen gedacht, an die großartige Arbeit am Webstuhl, den harmonischen Stil der Bauernstube – und an Ellen. War das eine Frau! Was mochte sie von ihm gedacht haben, als er ihr schlicht ins Gesicht sagte, sie sei ihm vollkommen gleichgültig? Aber er hatte ja keine Wahl. Sollte er ihr das Selbstvertrauen als Künstlerin zurückgeben, mußte er jedes andere Interesse an ihr als Mensch leugnen. Sonst hätte sie auch von ihm geglaubt, er handele aus Mitleid. Prachtvoll war sie, diese Ellen Lage!
ACHTZEHNTES KAPITEL Im obersten Stockwerk eines modernen Hochhauses in der Stadt hatte Ellen ihren Arbeitsraum bekommen. Durch große Atelierfenster im Dach ergoß sich das Licht über drei Webstühle und riesige Körbe von Garn in allen möglichen Farben. Ein mächtiger Zeichentisch und ein kleiner Konferenztisch mit ein paar bequemen Sesseln vollendeten die Ausstattung. Hier wurde mit Eifer und Lust gearbeitet. Hin und wieder kamen Journalisten herauf, um die bisher völlig unbekannte Künstlerin zu interviewen, die einen Auftrag erhalten hatte, wie ihn sich sämtliche webenden Frauen des Landes wünschten. Die geschäftige Redakteurin einer Frauenzeitschrift hatte Aufnahmen und Notizen gemacht, und obwohl Ellen nichts weiter gesagt hatte als: „Warten Sie es nur erst ab, ich möchte noch nichts weiter sagen, solange ich ein unbekanntes Nichts bin!“, hatte die Dame zwei Spalten geschrieben über die scharmante Frau Lage, und auf irgendeine Weise hatte sie sich sogar ein paar Bilder vom Lage-Hof und Johnnie beschafft. Sie hatten zwar nicht das geringste mit Ellens Arbeit zu tun, würden aber gewiß von den Leserinnen mit großem Interesse aufgenommen werden. Ellen war zusammen mit Alvdal in der Küstenstadt gewesen, um sich den Saal im neuen Rathaus anzusehen, wo der Wandteppich hängen sollte. Auf dieser Fahrt hatte sie wieder das wunderbare Gefühl genossen, einen reifen Mann neben sich zu haben, der sie beschützte, der stark genug für sie beide war, in dessen Gegenwart sie klein und hilflos sein durfte. Es war ein völlig neues Gefühl für sie – ein beängstigend schönes Gefühl. Ellen mußte über sich selbst lächeln. Sie saß Alvdal im Speisesaal des Zuges gegenüber, und sie tranken alten Burgunder zu einer gemischten Fleischplatte. Jetzt hätten die Nachbarn daheim die einst schuftende Bäuerin von Lage sehen sollen! Eine elegante Dame war daraus geworden. Das Kostüm, das sie trug, war die erste Kleidung, die sie sich seit Jahren wieder angeschafft hatte. Mit Alvdal konnte man sich lebhaft und vielseitig unterhalten. Er war weit gereist und hatte viel gelesen. Am liebsten aber hörte er zu, wenn sie von sich und Kate erzählte. Ja, sie verstand ihn nur zu gut. Wer war nicht schon auf den ersten Blick begeistert von Katekatz? Und während sie von Kates unvergleichlicher Energie und immer
strahlender Laune, die ihr über so vieles hinweggeholfen hatte, berichtete, fühlte sie mit einem Male brennendes Heimweh. Sobald sie angekommen waren, wollte sie zu Hause anrufen. Als sie in die Stadt zog, hatte sie auf Lage Telefon legen lassen, um jeden Tag mit Kate und Johnnie plaudern zu können. Der Junge konnte jetzt schon gut sprechen, und es machte ihm viel Spaß, zu telefonieren. Trotz ihrer Nüchternheit und Bescheidenheit genoß Ellen es sehr, auf dem Bahnhof von einem Komitee empfangen zu werden. Sie bekam den traditionellen Blumenstrauß überreicht, und es wurde auch nicht versäumt, sie zu interviewen und zu fotografieren. Die Reporter und die Komiteemitglieder lächelten entzückt, als Ellen hilflos errötend sagte: „Ja, aber ich bitte Sie – wollen Sie nicht erst warten, bis Sie meine Arbeit gesehen haben? Vielleicht gefällt sie Ihnen gar nicht.“ Aber dafür bestand wohl keine Gefahr. Ellens kleine Ausgabe von „Empor“ war allen, die mit der Sache zu tun hatten, vorgelegt worden und ein Foto davon in den Zeitungen erschienen. Für das neue Rathaus interessierte sich natürlich die ganze Stadt, und vor allem über den neuen Festsaal war schon viel geschrieben worden. Als Ellen nach einem wohlgelungenen Abend mit den Honoratioren der Stadt endlich in ihrem Hotelzimmer zur Ruhe kam, ging ihr erst richtig auf, daß sie dort angekommen war, wohin sie wollte. Sie war um ihrer Kunst und nicht um ihrer Person willen anerkannt. Und außerdem konnte nun alles für Lage getan werden, was nötig war. Oh, ihr Junge sollte einmal einen Musterhof bekommen! Ob Vemund Alvdal immer noch nichts anderes als Gleichgültigkeit für ihre Person empfand? Die Arbeit ging flott voran, obwohl sie viel Zeit in Anspruch nahm. Sie war ja ungeheuer schwierig, und die feinen Farbschattierungen, die Ellen in verschwenderischer Fülle verwendet hatte, erforderten große Genauigkeit. Sie überwachte jedes einzelne Detail ihrer Arbeit und setzte sich oft an den Webstuhl, um einen besonders schwierigen Teil selbst auszuführen. Sie war so froh, so glücklich bei der Arbeit, wie sie noch nie gewesen war. Oft klingelte das Telefon. Privatleute und Gesellschaften fragten an, ob sie weitere Aufträge entgegennähme. Manche kamen auch selbst zu ihr herauf und wollten Läufer, Kissenbezüge und Decken gewebt haben. Ellen sagte zu, wollte die Aufträge aber erst ausführen, wenn sie mit dieser großen Arbeit fertig war.
Eines Tages hatte sie ein Erlebnis, das sie außerordentlich amüsierte und ihrem Selbstbewußtsein irgendwie Auftrieb gab. Zwei Herren kamen in ihr Atelier. Zuerst erschrak sie, als sie einen von ihnen erkannte. Es war der Schiffsreeder, der ihr mehr weh getan hatte, als sie vor sich selbst zugeben mochte. Er wollte eine Decke als Weihnachtsgeschenk für seine Frau bestellen. Etwas besonders Schönes müsse es sein, Geld spiele dabei keine Rolle. „Bedaure“, erwiderte Ellen, „aber ich kann Ihnen die Arbeit erst nach Weihnachten liefern.“ „Sollte es denn unmöglich sein, daß Sie sie noch vorher machen?“ fragte der Schiffsreeder mit einschmeichelnder Stimme. „Meine Frau ist nämlich ganz wild hinter solchen Sachen her, gnädige Frau, und darum möchte ich sie so gern mit einer echten Ellen-Lage-Decke überraschen.“ Da zeigte Ellen ihr liebenswürdigstes Lächeln. „Aber, Herr Schiffsreeder, Ihre Gattin war ja eine der ersten, die eine Arbeit bei mir bestellten. Es war ein Läufer für einen Tisch in Ihrer Jagdhütte, und diesen Läufer rechne ich zu meinen besten Arbeiten.“ Der Schiffsreeder errötete. „Ach, wissen Sie, ich – ich kann nicht immer so genau verfolgen, was meine Frau alles anschafft. Gewiß, der Läufer ist sehr schön, aber…“ „… aber er ist eben von einem exaltierten Frauenzimmer vom Lande hergestellt worden, einem hilflosen Dorfgenie und nicht von einer bekannten Weberin mit eigenem Atelier, nicht wahr? – Sehen Sie, Herr Schiffsreeder, Sie haben sich einmal über mich und meine Arbeiten ausgesprochen, und zwar so laut, daß ich es nicht überhören konnte. Seitdem, das muß ich zugeben, arbeite ich lieber für andere Kunden. Nicht, daß ich etwa beleidigt oder rachsüchtig wäre – ich möchte Sie nur bitten, mir Zeit zu lassen, jenes üble Gespräch zu vergessen. Außerdem möchte ich noch beweisen, daß ich kein exaltiertes Frauenzimmer bin, sondern, wie ich hoffe, eine anerkannte Weberin. – Vielen Dank für Ihren Besuch, Herr Schiffsreeder, aber diesmal ist es mir leider unmöglich, Ihnen zu dienen.“ Ellen hatte leise und beherrscht gesprochen und dabei mit zuvorkommendem Lächeln die Tür für die beiden Herren offengehalten. Schweigend und mit roten Köpfen verschwanden sie
im Fahrstuhl. Weihnachten stand vor der Tür. Vemund Alvdal erbot sich, Ellen zwei Tage vor den Feiertagen heimzufahren. So ergab es sich ganz von selbst, daß sie ihn fragte, ob er das Fest mit ihnen auf Lage feiern wolle. „Eine großartige Idee!“ sagte Alvdal. „Und dann laden wir Reckstads, Örlands und Finnegard zu Silvester ein. Was halten Sie davon?“ „Ja, gern!“ stimmte Ellen zu. Es war wunderbar, in ein blitzblankgescheuertes Haus zu kommen, wo es nach Gebäck und Festessen duftete. Im Kamin knackten die Birkenscheite, und Kate begrüßte sie mit roten Wangen und vergnügt blitzenden Augen. Sie hatte ordentlich zugepackt, trotz der Hilfskräfte, die ihr fürs Schlachten, Backen und Saubermachen zur Verfügung standen. Die Gästezimmer waren instand gesetzt und sahen einladend aus mit ihren frischbezogenen Betten und Treibhausblumen auf den Nachttischen. Ellen sprach nicht viel. Sie genoß es, wieder im eigenen Bett schlafen zu können, am eigenen Tisch zu sitzen, und nicht zuletzt, ihren Jungen bei sich zu haben. Sie beschäftigte sich nur mit ihm und überließ es Kate, Vemund zu unterhalten. Zu Weihnachten hatten sie alle Duzfreundschaft miteinander geschlossen. Sie dachte viel darüber nach, wie sich die Zukunft wohl gestalten mochte. Sollte sie das Atelier in der Stadt behalten und weiterhin nur am Wochenende auf Lage sein? Sie konnte doch nicht einfach die Arbeit wieder aufgeben, die gerade anfing, sie reich und unabhängig zu machen. Andererseits aber konnte sie auch nicht auf Lage verzichten. Der Gedanke war ihr unerträglich, auf unbegrenzte Zeit die ganze Woche von dem Jungen getrennt zu sein. Wenn sie nun eine Wohnung in der Stadt nahm und den Jungen zu sich holte? Nein, Johnnie sollte nicht in einer Stadtwohnung, auf Asphaltstraßen und in Parks aufwachsen. Er sollte auf seinem eigenen Hof wohnen und ein kerngesunder, kräftiger Bauernjunge werden, der Erbe seines Vaters. Und Kate? Kate, die den Lage-Hof so liebte? Nein, es gab keinen anderen Ausweg, als daß Ellen in die Stadt übersiedelte und den Jungen Tante Kate überließ. Zumindest konnte sie es zunächst so machen und dann zusehen, wie sich die Sache weiter gestaltete. Ellen hob den Kopf. Sie war ganz in ihre Gedanken versunken gewesen, während sie am Fenster stand und ihre Augen über den
Garten bis hin zum Treibhaus wandern ließ. Nun beugte sie sich vor und konnte gerade die Ecke des angebauten Stalles sehen, in dem zwölf Kühe standen. Auch zwei Pferde standen jetzt im Stall. Außerdem hatten sie einen neuen Lehrling auf den Hof bekommen, der Bernt und Marte zur Hand ging. Lage war aufgeblüht, Ellen verdiente Geld, und Johnnie strotzte vor Gesundheit. Warum war Ellen nicht wunschlos glücklich?
NEUNZEHNTES KAPITEL In ihrem alten Mädchenzimmer beim Onkel, wo Ellen nun wieder wohnte, stand ein vergrößertes Foto von John – dem großen John, ihrem Mann. Sie nahm es vom Nachttisch, betrachtete es und wünschte sich dabei, John möge noch leben und bei ihr sein – oder nein, wünschte sie das eigentlich? John – das war etwas Fernes, etwas Schönes, das es früher einmal gegeben hatte. John – das war ein großer Junge, für den sie die Mutter gewesen war, den sie beraten, dem sie geholfen und den sie betreut hatte. Ein Junge – fünf Jahre jünger an Lebensjahren und ein Menschenalter an Geist und Erfahrung. Seit frühester Jugend hatte Ellen eine Mutter sein müssen. Erst für die Schwester, dann für den Mann. Nun war sie die Mutter ihres kleinen Johnnie. Alle Menschen, mit denen sie bisher zusammengekommen war, hatten ihre Mutterinstinkte beansprucht, Hilfe und Schutz bei ihr gesucht. Nun erst war sie mit einem Mann zusammengetroffen, der stärker und klüger, der ihr geistig überlegen war, einem Mann, der seine Entschlüsse faßte, ohne sie um Rat zu fragen. Und – welche Ironie des Schicksals – ausgerechnet diesem Mann bedeutete sie gar nichts. Der Bildteppich „Empor“ war fertig. Ellen reiste in die Küstenstadt, um selbst dabeizusein, wenn er im Festsaal des neuen Rathauses aufgehängt wurde. Als sie zurückkam, trug sie einen Scheck in der Tasche, der sie mit einem Schlage zu einer wohlhabenden Frau machte. Daheim wartete viel Arbeit auf sie. Sie brauchte sie nur anzupacken. Sie wandte sich an ein paar anspruchsvolle Möbel- und Einrichtungsgeschäfte, und die Firma, mit der sie dann in Verbindung trat, bot ihr eine besonders hohe Bezahlung dafür an, daß sie sich verpflichtete, nicht für die Konkurrenz zu arbeiten. Das war nun wirklich fast wie ein Märchen. Noch vor einem Jahr hatte sie sich daheim auf Lage mit schlechtem Gewissen an den Webstuhl gesetzt, weil sie eigentlich kochen und saubermachen oder waschen mußte. Und jetzt – sie lächelte über die große Anzeige in der Zeitung. Die Firma „Kunst im Heim“ inserierte darin: Nur bei uns erhalten Sie die echten Ellen-Lage-Teppiche! Noch immer fuhr Ellen mit Vemund Alvdal an jedem Wochenende nach Lage. Es war so zur Gewohnheit geworden, daß
er sozusagen dazugehörte. Oft, sehr oft kehrte bei Ellen der Gedanke wieder: Wenn nun Vemund dasselbe für sie empfinden könnte wie sie für ihn? Wie würde sich dann die Zukunft für sie gestalten? Dann müßte sie ja den Lage-Hof verlassen. Aber dazu hatte sie doch kein Recht. Es war ihre Pflicht dem Jungen gegenüber, den Hof seiner Väter, der blühte und gedieh wie nie zuvor, weiter zu bearbeiten. Nein, es war gut, daß sie Vemund nicht so viel bedeutete, das würde alles nur unnütz komplizieren. Sie waren gute Kameraden, voller Vertrauen zueinander, und nicht mehr. Ellen zwang sich zur Vernunft und hielt stets einen gewissen Abstand zwischen sich und Vemund. Sie besuchte frühere Freundinnen aus der Schulzeit und verbrachte oft die Abende mit ihnen, wenn sie in der Stadt war. Und Vemund bekam hin und wieder eine Absage, wenn er sie einlud. Ellen arbeitete mit doppeltem Eifer und Fleiß. Nur keine Träumereien! Es ging um Lage und um Johnnies Zukunft. – Punktum! Eines Vormittags erschien Vemund im Atelier. Er besaß das Privileg, zu jeder Zeit kommen und die Arbeit unterbrechen zu dürfen. Es war das mindeste, das er als Entgelt erwarten durfte für das, was Ellen ihm verdankte. Er traf sie am Zeichentisch an, wo sie an einem Entwurf zu einem Teppich arbeitete. „Ich komme, um zu stören“, sagte Vemund ruhig. Er legte seinen Hut auf eine Zeichnung und setzte sich auf einen Schemel. „Das habe ich mir gedacht“, sagte Ellen und lächelte. „Und weshalb?“ „Ich will dich mitnehmen auf einen Bummel.“ „Unmöglich, Vemund, ich habe keine Zeit.“ „Das sagst du immer. Aber heute abend mußt du dich losreißen. Das Philharmonische Orchester hat ein prachtvolles Programm und das Grand-Hotel frische Austern angekündigt. Nun sei nett, Ellen, und sag ja!“ „Gut, aber nur, wenn du mir versprichst, dafür zu sorgen, daß ich nicht zu spät nach Hause komme.“ „Ach was! Ich hole dich… Nein, du brauchst gar nicht erst nach Hause zu fahren. Du kommst zum Essen zu mir – sagen wir, um fünf Uhr…“ „Nein, das tue ich nicht, denn ich bin heute zum Essen bei Reckstads.“
„Ach“, sagte Vemund und biß sich auf die Lippe, „dazu hast du also Zeit.“ Ellen wurde rot.
„Ich bin doch Reckstad sehr zu Dank verpflichtet…“ Sie brach ab. Wenn dieser Einwand eine Rolle spielte, so stand Vemund doch wohl an erster Stelle. Schuldbewußt blickte sie ihn an, um seine Mundwinkel lag ein bitterer Zug. „Ich bin ein Schafskopf, Vemund. Aber kurz gesagt, ich habe heute einen bestimmten Grund, weshalb ich bei Reckstads essen muß. Doch, ich möchte sehr gern mit dir ins Konzert gehen. Wenn wir uns zehn Minuten vor acht vor dem Konzertsaal treffen, ist das recht?“
Vemund warf einen heimlichen Seitenblick auf Ellen, die neben ihm saß. Nie zuvor hatte sich Vemund so zu einer Frau hingezogen gefühlt. Warum wich sie ihm aus? Warum sagte sie ihm so oft ab, wenn er mit ihr ausgehen wollte? Warum nahm sie ihn überhaupt an jedem Wochenende mit nach Lage, wenn sie ihn dann fast ausschließlich Kate überließ und sich selbst nur mit dem Jungen beschäftigte? Natürlich, als Mutter geizte sie um jeden Augenblick, den sie mit ihrem Kind zusammen sein konnte, und trotzdem – trotzdem… Vemund Alvdal war schon mit vielen Frauen zusammengetroffen – schönen, scharmanten, liebenswürdigen, amüsanten oder klugen Frauen – , Ellen aber war die erste Frau, die alle diese Eigenschaften zusammen besaß und noch mehr dazu. O ja, es wunderte ihn nicht, daß John Lage Ellen über alles geliebt hatte. Er biß die Zähne zusammen. Wie gedemütigt kam er sich vor, denn er war gewöhnt, eine große Anziehungskraft auf Frauen zu besitzen, die ihn umschwärmt hatten wie Motten das Licht. Nur die eine, die alles für ihn bedeutete, war kühl und freundlich zu ihm und mehr nicht. Bei Austern und Rheinwein im Grand-Hotel wollte er mit ihr sprechen und versuchen, ihrem eigentümlichen Wesen auf den Grund zu kommen, sich Klarheit zu verschaffen über die Frau, die ihm so großes Vertrauen entgegengebracht und sich dann von ihm zurückgezogen hatte. Er fand jedoch keine Gelegenheit dazu, denn plötzlich tauchte das Ehepaar Örland mit Finnegard auf. Es wurde zwar ein lebhafter und lustiger Abend, aber nicht so, wie er ihn sich gedacht hatte. „Ellen, Ellen“, sagte Finnegard, „was soll ich nun tun, seitdem du mir so über den Kopf gewachsen bist? Ich bin ja fast nicht mehr wert, dir die Schuhriemen zu lösen…“ „Das ist auch nicht nötig, denn ich trage Pumps“, sagte Ellen trocken, „und im übrigen bist du ein großer Dussel und ein reizender Kamerad. Mit wem bist du übrigens zur Zeit verlobt?“ „Das werde ich dir unter vier Augen anvertrauen. Prost, Ellen, du bist die herrlichste aller Frauen!“ Finnegard hatte wahrscheinlich wieder einmal ein Glas zuviel getrunken. Vemund dagegen nicht. Seine Stimme klang sehr nüchtern, fast hart, als er sein Glas hob und fragte: „Darf ich auch mit anstoßen?“ Ellen warf sich im Bett von einer Seite auf die andere. Nein, nein und tausendmal nein, sie wollte nicht! Sie konnte nicht! Sie durfte
Johnnie und den Lage-Hof auf keinen Fall im Stich lassen. Es war ganz dunkel. Und in dieser Dunkelheit schwirrten Gedanken und Eindrücke umher und drohten sie zu überwältigen, sie unbarmherzig zu erdrücken. „Nein“, sagte Ellen laut. Sie sammelte ihre ganze Willenskraft, ihre kühle Vernunft, ihre Fähigkeit zu nüchterner Betrachtung in diesem Nein. Sie nahm Johns Bild vom Nachttisch und legte ihre Wange darauf. Doch das gab ihrem Herzen nicht die erhoffte Ruhe, nicht das Verlangen nach der Abgeschiedenheit in Lage. Sie fühlte nichts anderes als die Kühle und Härte des Glases an ihrem Gesicht. Am nächsten Tag ging Ellen nur ins Atelier, um einige Anordnungen zu treffen. „Ich bin heute den ganzen Tag unterwegs. Sagen Sie bitte, ich sei morgen wieder da“, sagte sie zu einer ihrer Mitarbeiterinnen, zog ihren Mantel an und ging fort. Sie wollte nach Hause, wollte sich mitten in der Woche einmal einen freien Tag gönnen, um Johnnie zu sehen und den Hof – sie mußte sich wieder einmal eins fühlen mit allen, denen sie ihre Liebe opferte. Es war, als müsse sie sich vergewissern, daß dies alles dieses Opfer wert sei. Ellen stieg in den Zehn-Uhr-Zug. Nun konnte sie um zwölf Uhr zu Hause sein. Leise schlich sie sich ins Haus. Katekatz würde ja Augen machen! Oh, wie herrlich würde es sein, wieder einmal am eigenen Tisch zu sitzen, an einem gestohlenen Tag in der Woche! Sie würde für Johnnie das Essen zurechtmachen, seine tausend Fragen beantworten, ihm von den vielen Töfftöff in der Stadt erzählen – o ja, und nun wußte sie auch, was sie noch tun würde! In einem Monat wollte sie eine Sommerreise machen. Es sollte mit Johnnie nach Südnorwegen gehen, und zwar mit dem Flugzeug. Das wollte sie ihm heute erzählen, dann hatte er etwas, worauf er sich freuen konnte. Als Vemund Alvdals Auto draußen hielt, steckte Kate den Kopf zum Küchenfenster hinaus. „Hallo, was bedrückt dich denn, daß du mitten in der Woche herauskommen mußt? Hast du Ellen mitgebracht? Hör mal, Vemund, du mußt das Auto aber hinter die Scheune fahren, hier steht es dem Heuwagen im Wege. Ich setze sofort Kaffeewasser auf.“ Bald darauf saßen Kate und Vemund an dem kleinen Tisch im
Wohnzimmer und tranken Kaffee. „Ich mußte heute herauskommen und mit dir sprechen, Kate. Aber zuerst sag mir mal, wie’s dir geht.“ Kate lächelte verschmitzt und hielt ihre Hand hoch. Am Ringfinger blitzte ein schmaler goldener Ring. „Nein – Kate! Gratuliere! Seit wann?“ „Seit gestern. Anders kam und brachte aus der Stadt die Ringe mit. An sich sind wir schon lange verlobt, mußt du wissen. Aber ich will den Ring erst in ein oder zwei Wochen tragen, nur heute habe ich ihn mir mal angesteckt.“ Kate zog ihn vom Finger und steckte ihn in die Tasche. „Ellen soll es zuerst erfahren, aber ich scheue mich vorläufig noch davor, ihr zu erzählen, daß ich von hier fortziehe, denn – entschuldige, wenn ich das sage, es klingt ein bißchen eingebildet – ich weiß, daß sie mich braucht.“ „Und du mußt unbedingt wegziehen?“ „Das ist doch klar. Wenn Anders mit seiner Ausbildung auf der Landwirtschaftsschule fertig ist, muß er sich doch nach einer Stellung als Verwalter oder Pächter umsehen. Sobald er etwas Passendes gefunden hat, heiraten wir. Aber ich möchte es Ellen eigentlich nicht vor ihrer Sommerreise sagen, denn sie braucht zu ihrer Erholung unbedingt Ruhe.“ „Aber, Kate – könntest du – könntet ihr denn nicht hier bleiben? Angenommen, Ellen brauchte selbst einen Pächter?“ „Nein, mein Lieber, sie leitet ihren Hof selbst. Die jetzigen Verhältnisse können ja nicht ewig dauern. Früher oder später wird sie doch nach Hause zurückkehren und nur noch ein- oder zweimal in der Woche in die Stadt fahren. Sie kann doch nicht jahrelang dem Hof und Johnnie fernbleiben.“ „Aber angenommen nun, daß – daß sie sich verheiratet?“ Kate beugte sich vor und blickte Vemund ins Gesicht. Dabei hob sie die Augenbrauen zu einer stummen Frage. Er nickte kaum merklich. „Ich – ich liebe sie nämlich, mußt du wissen.“ Vemund wirkte plötzlich rührend in seiner jungenhaften Hilflosigkeit. „Aber sag mal, Kate, weißt du eigentlich, wie Ellen darüber denkt? Bedeute ich ihr überhaupt etwas? Sie gibt sich ja die größte Mühe, sich in drei Schritten Abstand von mir zu halten, so daß…“ Vemund stellte sich ans Fenster und drehte Kate den Rücken zu. Sie trat hinter ihn. „Ich weiß es auch nicht, Vemund. Aber wenn sie nach Hause
kommt, will ich versuchen, sie ein wenig auszuhorchen. Oh, ich wünsche ihr so von Herzen, daß sie es gut hat, und du wirst sicher lieb zu ihr sein, nicht wahr? Ellen ist ein so wunderbarer Mensch, Vemund, und sie verdient, daß sie es gut hat.“ „Du bist rührend, Katekatz!“ Es war das erste Mal, daß jemand außer Ellen diesen Kosenamen gebrauchte. Sie hob den Kopf und lächelte Vemund zu. Da legte er den Arm um ihre Schultern, beugte sich herab und küßte sie auf die Stirn. „Liebe kleine Kate, ich freue mich so, daß du glücklich bist.“ „Und ich wünsche, daß du es auch wirst.“ Einen Augenblick standen sie noch so zusammen, sein Arm lag auf ihren Schultern. Beide merkten nicht, daß hinter ihnen lautlos die Tür geöffnet und einige Sekunden später wieder geschlossen wurde. Ellen schlich durch den Hausflur hinaus auf den Hof. Glücklicherweise hatte sie niemanden getroffen. Die Knechte, Marte und Asny arbeiteten auf den Feldern, und Johnnie hielt wahrscheinlich Mittagsschlaf. Eine Weile blieb sie stehen. Ihr Herz hämmerte, und sie fühlte, daß sie blaß geworden war. Dann drehte sie sich um, schlich wieder ins Haus, die Treppe hinauf und in ihr Schlafzimmer. Der Junge schlief in seinem Gitterbettchen. Still setzte sie sich daneben. Die Tränen rannen über ihre Wangen, und sie ließ ihnen freien Lauf. Wie unlogisch war sie doch eigentlich, wenn sie es sich recht überlegte. Sie wollte Vemund doch gar nicht heiraten. Sie hatte beschlossen, sich für Lage und den Jungen zu opfern. Doch jetzt, da sie gesehen hatte, daß er eine andere küßte, daß nicht sie es war, sondern Kate, wollte ihr das Herz brechen. Sie liebte ihn also doch, und zwar auf eine ganz andere Weise als John. Diesmal war es ein reifer Mann, den sie liebte, ein Mann, der für sie sorgen und ihr helfen konnte, der stark und klug und alt genug für sie war. Aber es war ja nur zu verständlich, daß er sich zu Kate hingezogen fühlte, der reizenden, tüchtigen Kate. Ellen richtete sich auf und trocknete die Tränen. Wenn schon jemand enttäuscht werden sollte, dann schon lieber sie selbst, denn sie konnte eine Enttäuschung leichter ertragen als Kate. Sie war die
Stärkere, und Kummer und Schmerz, die sie jetzt fühlte, waren der Preis, den sie für Kates Glück bezahlte. Aber – wenn es nun anders gewesen wäre… Mit einem Male wirkten sie so klein und unwesentlich, die Hindernisse, die gestern noch so turmhoch erschienen waren. Warum sollte sie sich eigentlich nicht verheiraten können? Sie und Vemund und Johnnie konnten sich doch ein hübsches Haus außerhalb der Stadt bauen, nahe genug, um täglich zur Arbeit ins Atelier fahren zu können. Und Kate könnte mit Anders als Pächter auf Lage bleiben. Ja, der Anders – was würde er wohl sagen? Er liebte doch die Katekatz schon seit langem. So könnte man lange herrliche Sommerferien auf Lage verbringen, ebenso Weihnachten und Ostern hier draußen sein – und jede Woche könnte Kate in die Stadt kommen mit Gemüse und Blumen. Alles war mit einem Male so leicht und einfach – jetzt, da nichts mehr daraus werden konnte. Johnnie könnte eine höhere Schule besuchen und später das Abitur machen, ohne deshalb allein in einer Studentenbude wohnen zu müssen. Er konnte die denkbar beste Ausbildung erhalten und nachher immer noch von Mutter und Onkel Vemund fort aufs Land ziehen und seinen Hof übernehmen – den blühenden Hof, der Lage geworden war. Denn wie sollte es anders sein unter den tüchtigen Händen von Anders und Kate? Nein, sie durfte nicht hier herumsitzen und phantasieren, sondern mußte sich mit der Wirklichkeit abfinden, so bitter sie auch war. Unten hörte sie Schritte gehen. Hastig zog sie den Mantel aus, wusch sich die Augen und kämmte das Haar. Sie hörte, wie ein Auto gestartet wurde, und blickte hinter der Gardine verborgen hinaus. Kate winkte Vemund nach. Ellen ging ruhig und lächelnd die Treppe hinab. „Aber, Ellemama – sehe ich recht? Wo, in aller Welt, kommst du denn her?“ „Ich bin vor kurzem hier angekommen und wollte euch überraschen. Aber da hörte ich, daß du Besuch hattest, und so ging ich zu dem Jungen hinauf. Wer war denn da?“ „Ja, denke dir, das war…“ Kate schwieg plötzlich. Sie hatte Vemund ja versprochen, Ellen heimlich auszuhorchen, und dazu war es besser, wenn sie nicht wußte, daß er hier war. Sonst merkte sie womöglich etwas. Und so fuhr Kate hastig fort: „Das war Anders.
Wir haben Kaffee getrunken und ein bißchen geschwatzt. Zu dumm, daß du nicht hereingekommen bist. Ich gieße rasch noch frischen Kaffee für dich auf. Außerdem habe ich leckere Butterkekse.“ Kate verschwand geschäftig in der Küche, und so sah sie den schmerzlichen Zug im Gesicht der Schwester nicht. Zum erstenmal hatte Ellen ihre Katekatz bei einer Lüge ertappt. Aber das bekräftigte ja nur das, was ihr bereits klargeworden war: Die beiden waren sich einig und wollten es vor ihr geheimhalten. Als Kate später im Gespräch Vemund beiläufig erwähnte, war Ellen vorbereitet und antwortete ganz ruhig. „Ja, er ist ein sehr netter Freund, das ist sicher“, sagte sie, „aber mich in ihn verlieben – nein, das könnte ich nie!“ „Aber warum denn nicht?“ fragte Kate und wurde gleichzeitig feuerrot. Es lag ihr gar nicht, Spion zu sein, aber sie tröstete sich damit, daß der Zweck das Mittel heiligt. Ellen bemerkte, wie die Schwester errötete, und dachte sich ihr Teil. „Tja – ich weiß nicht. Oder doch – ich habe eben einmal einen Mann geliebt, und nun liebe ich seinen Sohn – jetzt ist kein Platz weiter in meinem Herzen außer für Johnnie und für Lage, verstehst du. – Und für dich!“ fügte sie hinzu und faßte nach Kates Hand, die auf dem Tisch lag, verarbeitet, fest und warm. „Komisch!“ sagte Kate. Ellen lächelte ein wenig. „Was soll daran so komisch sein? Siehst du, ich bin mit solchen Dingen fertig. Nun zählen für mich nur noch die Arbeit, Johnnie, du und Lage.“ Einige Zeit später fragte Kate plötzlich: „Warum bist du eigentlich nach Hause gekommen?“ Ellen antwortete, ohne sich einen Augenblick zu besinnen: „Weil ich hier einiges zu ordnen habe. Ich muß nämlich Ende der Woche verreisen.“ „Nanu, warum denn?“ Blitzschnell erinnerte sich Ellen, in der Zeitung eine Anzeige gelesen zu haben, daß in Stockholm eine große Ausstellung der Haus- und Möbelindustrie stattfinde. „Weil ich mir aus geschäftlichen Gründen eine Ausstellung in Stockholm ansehen muß“, sagte sie. „Oh, wie interessant für dich! Und was machst du hinterher?“ „Dann komme ich nach Hause und hole Johnnie, und wir reisen
für ein paar Wochen nach Südnorwegen. – Und du?“ „Ich – ach, ich habe auch einige Pläne. Aber darüber können wir gelegentlich noch sprechen“, sagte Kate ausweichend. Sie wollte bei ihrem Entschluß bleiben, Ellen nicht vor ihrer Erholungsreise mit neuen Schwierigkeiten zu belasten. Ellen saß im alten Lehnstuhl am Fenster und hatte Johnnie auf dem Schoß. Sie erzählte ihm ein Märchen, und am Schluß sagte sie, wenn Mami das nächste Mal nach Hause käme, dürfe Johnnie mit einem richtigen Flugzeug reisen. Er blickte die Mutter mit großen Augen an. „Ein richtiges Flugzeug?“ wiederholte er. „Eins, wo Menschen drin sitzen können?“ „Ja, mit einem richtigen großen Flugzeug.“ „Zusammen mit dir, Mami?“ „Ja, zusammen mit mir. Und dann werden wir beide in einem großen Hotel wohnen, und davor ist ein Strand, und Mami wird dir zeigen, wie man schwimmt.“ „Oh, Mami!“ Johnnie schnappte vor Begeisterung nach Luft. „Oh, Mami, ich freu’ mich so – so – ganz toll! Und nur wir beide, Mami?“ Ellen drückte das Kind an sich. „Ja, mein kleiner Schatz! Nur du und Mami. Wir beide immerzu, das ganze Leben lang…“ Der Junge war so glücklich, daß er die Tränen nicht spürte, die in seinen blonden Schopf fielen.
ZWANZIGSTES KAPITEL Ellen schlenderte über einen der großen Plätze von Stockholm, nachdem sie in einem behaglichen, kleinen Restaurant zu Mittag gegessen hatte. Sie wollte ein Geschäft aufsuchen, das sie bei ihrem vorigen Besuch in der Stadt entdeckt hatte, und zwar einen Konfitürenladen, in dem es die herrlichsten kandierten Früchte gab. Davon wollte sie eine große Schachtel für Kate kaufen, die eine unwiderstehliche Schwäche für Süßigkeiten hatte. Anschließend ging Ellen in ein großes Warenhaus und suchte hübsches Spielzeug für Johnnie aus. Dann wanderte sie langsam der Altstadt zu. Sie ging viel lieber zu Fuß, als daß sie ein Verkehrsmittel nahm, obwohl es manchmal recht weite Wege waren. Die Altstadt von Stockholm liebte sie ganz besonders. Gestern war sie zufällig mit einem alten Freund zusammengetroffen und hatte mit ihm zu Mittag gegessen. Für heute hatte er sie zusammen mit ein paar jungen Schweden zum Tee eingeladen. Sie wollten sich an der Katharina-Seilbahn um halb fünf treffen und den Tee in dem hübschen Restaurant „Die Gondel“ trinken. Von diesem Lokal aus sollte man den Eindruck haben, als schwebe man hoch oben über den Schornsteinen und Dächern der Stadt. Seit drei Tagen war sie nun in Stockholm. Sie fühlte sich frei und war fast froh. Es war wunderbar, weit entfernt zu sein von allem, was schmerzte und quälte. Die letzten Tage daheim waren furchtbar gewesen – Tränen in der Nacht und Kopfschmerzen am Tage… Ach, sie kam sich so dumm und schwach vor, und sie hatte keinen Menschen, mit dem sie ihren Kummer teilen konnte. Stets hatte sie sich mit allem, was Kummer bereitete, in sich selbst verschlossen, das Gute aber um sich verstreut. In der Ausstellung war sie mit ein paar schwedischen Kolleginnen zusammengetroffen, die ihren Namen bereits kannten und sich freuten, sie kennenzulernen. Eine von ihnen, eine liebenswürdige Frau mittleren Alters, hatte sie für morgen in ihr Haus eingeladen, wo sie mit einigen ihrer Freundinnen zusammentreffen sollte. O ja, sie verbrachte angenehme Tage hier in jeder Beziehung, und die Leute waren reizend zu ihr… Aber was sie auch tat, mit wem sie auch sprach, immerzu waren ihre Gedanken bei Vemund und Kate, bei Johnnie und Lage. Wie
mochte es zu Hause gehen? War Vemund heute wieder in Lage? Wann würden er und Kate heiraten? Ellen blieb stehen und schloß für einen Augenblick die Augen. Dann richtete sie sich auf und ging weiter. Beim Tee im Restaurant „Die Gondel“ waren die jungen Schweden ganz begeistert über die junge Norwegerin mit ihrem strahlenden, herzlichen Lachen und ihren blitzenden Augen. „Tante Kate! Tante Kate! Onkel Vemund kommt!“ Johnnie kam um die Hausecke gerannt. Sein Spielanzug war fleckig und hatte einen Riß. Sein Naschen war schwarz, und die Haare standen ihm strubbelig zu Berge. „Tante Kate, eins von den kleinen Kaninchen ist ausgerissen und sitzt unter der Hecke, ganz weit hinten, und ich kann’s nicht kriegen, und…“ Kate ließ das Kaninchen sitzen, wo es war, und ging Vemund entgegen. Es war sein zweiter Besuch auf Lage, seit Ellen verreist war. „Vemund, du mußt vorläufig mit Johnnie vorliebnehmen. Wir wollen in einer halben Stunde Kaffee trinken, dann kannst du hereinkommen. Versuch doch mal, das Kaninchen einzufangen, das ausgerissen ist.“ „Das werden wir gleich haben. Komm, Johnnie, zeige mir mal, wo es ist!“ Vertrauensvoll steckte der Junge sein schmutziges Fäustchen in Vemunds Hand, und gemeinsam zogen die beiden „Männer“ auf Kaninchenjagd. „Hier ist es ‘reingelaufen“, erklärte Johnnie, und gleich darauf lagen er und Vemund auf dem Bauch und steckten die Köpfe unter die Hecke. Vemund griff nach dem Kaninchen, doch es entwischte ihm, sprang in langen Sätzen durch den Garten auf das Haus zu und verschwand unter der Veranda. „Gar nicht so einfach!“ brummte Vemund. „Glatt wie ein Aal ist das Tier.“ „Du mußt es am Rücken festhalten, das hat Mami gesagt“, erklärte Johnnie. „Deine Mami hat dir sicher schon viel beigebracht, Johnnie, was?“ fragte Vemund lächelnd. Er kroch unter die Veranda, und diesmal gelang es ihm wirklich, das kleine, silbergraue, zappelnde Ding zu fassen. „So, mein Kleiner, immer mit der Ruhe, wir tun dir nichts“, redete er dem Kaninchen zu. Dann blickte er auf den Jungen.
„Hast du große Sehnsucht nach Mami, Johnnie?“ fragte er. „Ja!“ Der Junge seufzte tief. „Mami ist so lieb. Aber sie ist immer so traurig.“ „Traurig ist sie, sagst du?“ „Ja, traurig. In der Nacht weint sie immer so viel – jede Nacht hat sie geweint, bevor sie weggefahren ist. Sie dachte sicher, ich schlafe, aber ich hab’s wohl gehört.“ „Hast du Mami denn nicht getröstet?“ Johnnie schüttelte energisch den Kopf. „Nein – weil – weil – weil ich glaube, sie will nicht, daß ich sie tröste.“ Vemund Alvdal blickte in das nachdenkliche Kindergesicht. War das Instinkt? „Was hat deine Mami denn gesagt, bevor sie verreiste?“ „Sie hat gesagt, ich solle artig sein.“ „Bist du denn artig?“ Johnnie blickte Vemund mit strahlenden Augen an – Augen, aus denen das gute Gewissen leuchtete. „Ja, sicher bin ich artig!“ „Bei wem sollst du denn artig sein?“ „Bei Tante Kate und Onkel Vemund, hat Mami gesagt. Weil sie beide so lieb hat, sagt sie. Und dann hat sie wieder geweint, und dann – aber, Onkel Vemund, du hast ja das Kaninchen wieder losgelassen!“ Gleich darauf schaute ein- strahlendes Gesicht zur Küchentür herein. „Auf Wiedersehen, Katekatz! Ich fahre wieder ab!“ „Du fährst schon wieder? Wohin denn?“ „Nach Stockholm! Und zwar sofort!“ Er schlang die Arme um Kate und drehte sie im Kreise. „Wenn es stimmt, daß Kinder und Narren die Wahrheit sprechen, dann – dann – ja, dann brauche ich nichts weiter zu sagen, Kate. Aber du kannst dreimal toi-toi-toi hinter mir spucken!“
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL Es fiel Vemund nicht schwer, das Hotel ausfindig zu machen, in dem Ellen wohnte. Der Pförtner bedauerte – nein, Frau Lage sei leider ausgegangen. Nein, er wisse nicht, wo die gnädige Frau hingegangen sei. Aber die gnädige Frau habe für halb sechs das Bad bestellt, und sie habe sich erkundigt, wie sie nach Lidingö fahren könne… Mit diesem Bescheid mußte Vemund sich begnügen. Er blickte auf die Uhr – es war elf. Die ganze Nacht hindurch war er gefahren und hatte sich nur die Zeit genommen, zu baden, sich zu rasieren und umzuziehen. Von elf bis halb sechs Uhr – sechs und eine halbe Stunde! Sechs und eine halbe Ewigkeit! Er stand auf der sonnenbeschienenen Straße und überlegte. Wo, in welchem Teil dieser großen Stadt, mochte Ellen sich verborgenhalten? Nein, es nützte nichts, darüber zu grübeln. Der Zufall mußte helfen – wenn der Zufall es wollte. Sie konnte ebensogut im Park von Skansen wie in der Riddarholmkirche sein, bei einem Einkaufsbummel wie im Stadthaus. Das Stadthaus! Ja, warum nicht dort? Vemund ging direkt zum Stadthaus und durchschritt die Blaue Halle so eilig und ungeduldig, daß der diensteifrige Fremdenführer gar nicht dazu kam, zu erklären, weshalb die Blaue Halle nicht blau sei und daß alle Säulen der Halle besonders interessante Kapitelle hätten. Es war, als befände sich in dem riesigen Gebäude ein unsichtbarer Magnet, der ihn anzöge. In dem Saal mit den französischen Gobelins sah er sie. Sie stand allein mit dem Rücken zu ihm. Wie schmal ihre Gestalt war! Sie kam ihm mit einem Male so klein und einsam vor, wie sie dastand und den herrlichen Gobelin betrachtete. Leise näherte er sich ihr und stellte sich hinter sie. „Ellen“, flüsterte er. Sie zuckte zusammen und drehte sich langsam um. Sein Gesicht war nahe vor dem ihren. „Ellen – liebste Ellen!“ Er breitete die Arme aus und fühlte in der nächsten Sekunde, wie sie sich hineinschmiegte.
Der Fremdenführer, der dem merkwürdigen Touristen atemlos gefolgt war, blieb stehen und starrte die beiden mit offenem Mund an. Dann ging ein verständnisvolles Lächeln über sein gutes, rundes Gesicht, und er drehte sich um und ging in die Blaue Halle zurück, wo eine Gruppe Touristen auf ihn wartete. Sie hörten ihm interessiert zu, als er ihnen über die interessanten Kapitelle erzählte. Im weichen Halbdunkel der Julinacht lag Stockholms Lichtermeer vor ihnen. Sie hatten einen Tisch direkt am Fenster des großen Restaurants bekommen. Aus weiter Ferne tönte Musik. Sie blickten auf die Stadt hinab. Die Lichter glitzerten spiegelnd in den Kanälen, prächtige, alte Gebäude, Türme und Spitzen standen als Silhouetten gegen den Nachthimmel. „Eine wunderbare Stadt“, flüsterte Ellen. „Die Stadt aller Städte“, bestätigte Vemund. Er beugte sich ihr entgegen. „Ellen, liebst du mich?“ „Ja, Vemund, ich liebe dich!“ Sie schwiegen und dachten beide das gleiche. Um ein Haar wäre ihr Lebensglück verspielt gewesen, hätte nicht ein kleiner, schmutziger, blondschopfiger Bengel…
„Wenn man bedenkt, daß es erst gestern war“, sagte Vemund, „daß ich gestern im Garten von Lage stand, mit einem Kaninchen im Arm und Johnnie vor mir, diesem gottgesegneten Jungen…“ Er schwieg. Ellen nickte mit glänzenden Augen. „Dem gottgesegneten Jungen“, wiederholte sie. Sie hoben gleichzeitig die Gläser und leerten sie. Arm in Arm wanderten sie zurück. Es war ein weiter Weg von Skansen in die Stadt, doch sie merkten keine Müdigkeit, merkten nicht, wie die Zeit verging. Plötzlich blieb Ellen stehen. „Oh, Vemund, jetzt habe ich etwas vergessen!“ „Was denn? Ist es etwas, das dich daran hindert, mich zu heiraten?“ „O nein, aber ich war heute abend in Lidingö eingeladen,
zusammen mit ein paar Damen. Oh, was werden sie jetzt von mir denken?“ „Laß sie denken! Wenn sie morgen anrufen, sind wir schon abgefahren. Nach Hause, Ellen. Willst du gern nach Hause?“ „O ja, und ob ich will!“ „Nach Hause und Kate und Anders glücklich machen. Nun können sie ja gleich heiraten – wir übrigens auch. Wir brauchen nur noch ein paar Möbel, vor allem für Johnnie, eine Wohnung habe ich ja. Und im Frühjahr bauen wir uns ein Haus in Nordstrand oder Smestad oder Lysaker oder wo du willst. Freust du dich darauf?“ „Ja, Vemund, und wie!“ Sie schwiegen eine Weile. Die Nacht hüllte sie ein. Der Lärm der Stadt war verstummt. Ihre Schritte hallten in den stillen Straßen. „Da fällt mir übrigens noch etwas ein, das mir einige Sorgen macht“, sagte Vemund. Ellen warf einen Blick auf seine gerunzelten Brauen und fragte beunruhigt: „Was denn, Vemund?“ „Ob Johnnie wohl das Kaninchen wieder eingefangen hat, das mir gestern entwischt ist?“