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Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31058 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: THE WHENABOUTS OF BURR Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Ziegler Umschlagentwurf: Hansbernd Lindemann Umschlagillustration: Peter Gudynas Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1975 by Michael Kurland Übersetzung© 1983 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1983 Scan by Brrazo 07/2005 Gesamtherstellung: Eisnerdruck GmbH, Berlin ISBN 3 548 31058 3 September 1983
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kurland, Michael: Wo steckt Aaron Burr: Roman/ Michael Kurland. [Aus d. Amerikan. übers. von Thomas Ziegler]. - Frankfurt/M; Berlin; Wien: Ullstein, 1983. (Ullstein-Buch; Nr. 31058: Science-fiction) Einheitssacht.: The whenabouts of Burr ‹dt.› ISBN 3-548-31058-3 NE:GT
Michael Kurland
Wo steckt Aaron Burr? Roman
Science Fiction
1 Professor William Kranzler, vielleicht der Welt größte Autorität auf dem Gebiet der Verfassung der Vereinigten Staaten, zelebrierte soeben ein alltägliches und wundervolles Ritual. »Morgen, Herr Professor«, sagte der Aufseher. »Guten Morgen, Mr. McDowell«, antwortete Kranzler wie immer. Die fünf Jahre, die vergangen waren, seit er seine Stellung als Professor für Geschichte der amerikanischen Verfassung an der National University aufgegeben hatte, waren seiner Vorliebe für dieses Ritual nicht im mindesten abträglich gewesen; im Gegenteil, seitdem stand ihm dafür noch mehr Zeit zur Verfügung. »Guten Morgen, Herr Professor«, sagte der nächste Aufseher. »Guten Morgen, Mr. Lundberg.« Dort war der Schrein, wie er im stillen die Ausstellungshalle bezeichnete, in der aufbewahrt wurde, was Gladstone für »das bedeutendste politische Dokument, das Menschenhand je geschaffen hat« hielt. Dort war es, das Dokument selbst: Es lag geschützt in einer aus dickem, aber durchsichtigem Kristallglas bestehenden Vitrine, die mit konservierendem Heliumgas gefüllt und so präpariert war, daß ein äußerst genialer und raffiniert gesteuerter Mechanismus den Behälter samt Inhalt bei mittelbar oder unmittelbar
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drohender Gefahr in ein tief darunter liegendes Gewölbe in Sicherheit bringen konnte. »Guten Morgen, Herr Professor«, sagte der dritte Aufseher, und mit einer nicht ungewöhnlichen Vertraulichkeit – schließlich war er unter den Aufsehern der Dienstälteste – fügte er hinzu: »Tja, es ist noch immer da.« »Guten Morgen, Mr. Luisi.« Kranzler schenkte ihm ein kurzes, würdevolles Lächeln, blieb stehen und gönnte sich einen langen Blick auf das Dokument. »Ja, Gott sei Dank, daß es noch da ist.« Seine Augen überflogen langsam die Seiten, die Zeugnis boten von der wunderschönen Schreibkunst des 18. Jahrhunderts. Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet… Es war noch immer da. Das gesamte Dokument. Er sah es an, konzentriert, lautlos lesend, still genießend. Alle Gewalt soll dem Kongreß übertragen werden. Ein Schlüsselsatz. Nach den Konföderationsartikeln hatte der Kongreß keine Macht besessen. …und Normalmaße und Normalgewichte festzustellen … 1866 war vom Kongreß auch die Verwendung des Dezimalsystems gestattet worden, doch kaum jemand hatte von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. In naher Zukunft jedoch, möglicherweise schon im Laufe des Jahrzehnts, würde der Kongreß die begonnene Arbeit fortsetzen und diesem System rechtsverbindlichen Charakter verleihen. Eine Zeitlang mochte dies zu Problemen führen, doch dies war nicht weiter von Belang. Das Volk der Vereinigten Staaten konnte ohne Zoll und Unze auskommen, so wie es – im praktischen Leben – auch ohne die
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Viertelpinte, die Elle, dem Viertelscheffel und der Rute ausgekommen war. Womit das Volk der Vereinigten Staaten nicht auskommen konnte, das war die Verfassung der Vereinigten Staaten. Sie war, von ihrem ideellen Wert her, das höchste Gut der Nation. Und was ihren materiellen Wert betraf… Nun, wer hütete denn dieses Dokument, das Original der Verfassung? Der Präsident… soll Sorge tragen … William Kranzler wünschte sich insgeheim, man würde die rituellen Ehren, die die diversen Religionen ihren Heiligtümern erwiesen, auch der kostbaren Urkunde in der versiegelten Vitrine zuerkennen. Er hätte so gern seine Stirn oder seine Lippen dagegen gepreßt, sich davor in den Staub geworfen, sein Haupt mit Asche bestreut, die Hände gefaltet, die Schuhe ausgezogen, den Kopf bedeckt oder die Socken gewechselt; gewiß fiel keine dieser Gesten, die doch nur Ausdruck seiner unendlichen Liebe und Verehrung waren, unter das Verbot der Verfassung, daß niemals der Nachweis einer Religionszugehörigkeit als eine Voraussetzung für ein Amt oder eine öffentliche Vertrauensstellung unter der Hoheit der Vereinigten Staaten verlangt werden soll… Oder doch? Seine Augen saugten sich an der Textstelle fest. »Und haben diese Augen Franklin deutlich vor sich gesehen?« rezitierte er fragend. Das hieß, nicht »diese Augen«. Aber diese dicken Bögen Pergamentpapier. Nun ja … nicht direkt gesehen … aber sie waren von ihm berührt worden. Da war die Unterschrift des alten Ben. Und dort die der anderen. Namens und mit einstimmiger
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Billigung der hier versammelten Staaten … In Zeugnis dessen haben wir mit unserer Unterschrift… Lautlos bewegte er die Lippen, wie er sie schon oft lautlos und verstohlen bewegt und die Silben wiederholt hatte. George Washington, Präsident und Abgeordneter von Virginia. New Hampshire: John Langdon, Nicholas Gilman. Massachusetts: Nathaniel Gorham, Rufus King. Connecticut: William Samuel Johnson, Roger Sherman. Ja, solange wie dieses ehrwürdige Dokument existierte und keinen Schaden erlitt, so lange würden auch die Vereinigten Staaten existieren und vor aller Unbill verschont bleiben. Connecticut: William Samuel Johnson, Roger Sherman. New York: Aaron Burr… »…Lundberg! McDowell! Rufen Sie einen Krankenwagen! Schnappen Sie sich das Telefon! Professor Kranzler hat der Schlag getroffen! – He, Herr Professor. Herr Professor? Ist mit Ihnen alles in Ordnung? Herr Professor?« Ves Romero vertrieb sich ohne große Begeisterung die Zeit mit seiner Sammlung estnischer Inkunabeln. Er besaß einen gewissen éclat, der größte private Sammler estnischer Inkunabeln zu sein, aber eben nur einen gewissen. Wenn man sich näher damit beschäftigte, fand man bald heraus, daß es kein sehr lohnendes Betätigungsfeld für einen Sammler war. Und er hatte den Versuch aufgegeben, mit dem Museum für Ethnische Kunstschätze in Tallin Informationen auszutauschen, da er jedesmal, wenn er dort
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hinschrieb, den gleichen Formbrief zurückerhielt, der mit An die Arbeiter und Bauern des Distriktes Columbia begann. Jedenfalls bot sie ihm einen guten Vorwand für den Besitz eines Panzerschrankes. Jenseits der Stahltüren, hinter dem Dokumentenfach, befanden sich außerdem zwei Derringer, eine Flasche Jim Beam, einige saubere Gläser, eine Tüte Kartoffelchips und ein Pornoheft. Zwischen den Seiten des Magazins steckte die neueste Ausgabe eines vom Format her etwas kleineren Heftes mit dem Titel Der Superhelden-Hammer. Die Kombination für den Safe bewahrte er gut getarnt hinter einer eingerahmten Urkundenattrappe auf, die besagte, daß Amerigo Vespucci Romero ein angesehenes Mitglied des Nordamerikanischen Verbandes wider den Versicherungsbetrug / Vereinigte Versicherungsschnüffler e.V. war. Eine Wanduhr schlug dreimal kurz und einmal lang leise Ping. Ves ließ rasch das Comicheft zwischen den Seiten des Pornomagazins verschwinden, schob das Magazin hinter das Dokumentenfach und schloß den Safe. Dann rutschte er von seinem Stuhl, ging zur Tür und schloß sie auf. Mrs. Montefugoni, seine Haushälterin, sah ihm mißbilligend entgegen. »Sie wieder stopfen in sich hinein diese Kartoffelchips«, beschuldigte sie ihn. »Und beim Mittagessen Sie lassen stehen die grünen Spaghetti und etwas faseln von ›zuviel Kohlenhydrate.‹ Maron!« Abrupt wechselte sie das Thema. »Der Kommissär sein da«, teilte sie ihm mit. »Bringen Sie in Ordnung Ihre Krawatte. Und Sie zeigen müssen Respekt. Sie kommen!«
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Das alte Backsteinhaus in der Zee Street war klein und lag eingeklemmt zwischen dem hohen Gras des Vorgartens und dem flachen Stein des Hinterhofs, aber seit seine Frau gestorben war und er sich zur Ruhe gesetzt hatte, erschien es Ves oft zu groß. Auf gleiche Weise zogen sich die Tage, die einst viel zu kurz gewesen waren, um alles zu erledigen, jetzt oft unermeßlich in die Länge. Widersprüchliche Gefühle huschten über sein Gesicht, das eckig war wie alles an ihm, als er dem Mann am Kamin die Hand reichte. (Mrs. Montefugoni, die aus der Toskana stammte, wo alles beargwöhnt und verdammt wurde, was jüngeren Datums war als das Baptisterium von Florenz, konnte mit dem Altertumsverständnis in den Vereinigten Staaten nichts anfangen; ginge es nach ihr, sie hätte den Kamin schon längst zugemauert und durch ein elektrisches Heizgerät ersetzt.) »Nate!« rief Ves. »Na, so etwas! Ich freue mich, dich zu sehen! Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs? Was führt dich um diese Zeit zu mir?« Nathan Haie Swift erwiderte den festen Händedruck. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte er ausweichend. Ves verstand den leisen Wink und wandte sich an seine Haushälterin, die an der Tür herumlungerte und respektvoll den »Kommissär« anlächelte, wie sie – auf ihre eigenwillige Art im Umgang mit Titeln – Swift beharrlich nannte. »Bringen Sie uns doch ein oder zwei Täßchen von Ihrem Spezialkaffee, Mrs. M.«, bat er. »Ich Ihnen darf Kaffee anbieten?« fragte sie den Gast und ignorierte dabei ihren Arbeitgeber.
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»Allein aus diesem Grunde bin ich doch gekommen, Madama«, erwiderte Nate. Mit einem verklärten Gesichtsausdruck schwebte die Haushälterin davon. Zuerst würde sie die Kaffeebohnen rösten, dann mahlen, dann das Kaffeemehl würzen und anschließend – mittels eines geheimnisvollen Verfahrens, das allein ihr und einer kleinen Maschine bekannt war, wie es sie sonst nirgendwo in den Vereinigten Staaten gab – anschließend würde sie den Kaffee aufgießen. Jemand, der törichterweise die Worte Instant-Kaffee in Gegenwart von Mrs. Montefugoni erwähnte, mußte damit rechnen, sich augenblicklich ihren Instant-Zorn zuzuziehen. Als sich die Küchentür hinter sich schloß, verblaßte Swifts Lächeln. »Es ist etwas sehr Ernstes passiert, Ves«, sagte er. »Ich habe es vermutet. Um was geht es?« Swifts langes, schmales Gesicht zuckte. Er schüttelte den Kopf, aber auf eine Weise, die keine Abwehr, sondern Bestürzung ausdrückte. »Die Verfassung der Vereinigten Staaten ist gestohlen worden«, erklärte er. Schweigen zog in das warme, stille Zimmer ein. »Ich verstehe nicht…« begann Ves nach einer Weile. »Ich meine, das Originaldokument des endgültigen Verfassungsentwurfes, wie es im Jahre 1789 von den Delegierten des verfassungsvorbereitenden Konvents in Philadelphia unterschrieben wurde, ist aus der Ausstellungshalle des Nationalarchivs gestohlen worden.« Abrupt
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knickten Swift die langen Beine ein. Er ließ sich in einen Sessel fallen. Ves' Mund klappte einen Moment auf und zu, ehe er hervorstieß: »Aber das ist ja grauenhaft! Wer…« Swift schüttelte wieder den Kopf. »Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Ich glaube …« »Aber haben die Aufseher denn nichts bemerkt?« »Niemand hat etwas bemerkt.« Ves zwinkerte. »Na, hör mal, Nate«, sagte er. »Ich bin dort gewesen. Die Verfassung, die Unabhängigkeitserklärung und die Zusatzartikel, also, sie werden Tag und Nacht bewacht, und sie werden in verschlossenen Bronzebehältern aufbewahrt. Es ist unmöglich.« Nate nickte und strich mit einer langen, mageren Hand über sein schwarzes Haar. »Ich bin ganz deiner Meinung. Es ist unmöglich. Und dennoch, es ist passiert…« Dann berichtete er, daß der Diebstahl zuerst von Professor William Kranzler, dem bekannten Experten für Verfassungsgeschichte, kurz nach zehn Uhr am Morgen des heutigen Tages entdeckt worden war. Der Schock hatte bei dem älteren Herrn eine tiefe Ohnmacht zur Folge gehabt; nachdem er wieder zu sich gekommen war – glücklicherweise ohne Verletzungen oder körperliche Folgeschäden davongetragen zu haben –, hatte er sofort Dr. Stenberry, den Nationalarchivar, benachrichtigt, der sich sofort und mit eigenen Augen von der Tat überzeugt und unverzüglich die Ausstellungshalle für die Öffentlichkeit gesperrt hatte – wegen »notwendiger Reparaturen«.
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»Stenberry informierte den Sekretär des Präsidenten, der Sekretär informierte den Präsidenten und der Präsident wandte sich an mich«, erzählte Nate, während er seine Aktentasche öffnete und ein Blatt herausnahm. »Und jetzt bist du hier«, sagte Ves. »Wie immer fühle ich mich geschmeichelt. In diesem Fall, na ja, komme ich mir vor wie der Mann in Abe Lincolns Geschichte, der mit der Bahn aus der Stadt gebracht wurde. ›Hätte man mir damit nicht eine Ehre erweisen wollen, ich wäre lieber gelaufen …‹ Was ist das für eine Fotokopie?« Swift reichte sie ihm. »Das ist es, ich meine, das ist eine Kopie von dem, was sich jetzt in oder, oh, verdammt, ich stoße dauernd mit der Zunge gegen die Zähne!« Er machte eine Pause, holte mehrmals tief Luft und fuhr fort: »Dies ist eine Fotokopie des von Professor Kranzler entdeckten Dokuments, das gegen die Originalschrift der Verfassung ausgetauscht wurde. Man hat zweieinhalb Stunden gebraucht, um die Vitrine zu öffnen und an die Fälschung heranzukommen.« Ves Romero hatte das glänzende Blatt an sich genommen und begann, von der Präambel an langsam und sorgfältig den Text zu lesen; ungeduldig wies Nate auf eine bestimmte Zeile fast ganz am Ende des Schriftstückes. Ves überflog die Stelle, grunzte, ließ ein verlegenes Lächeln aufblitzen und sagte: »Ich nehme an, ich muß mich schämen, aber – nun, ich wußte wirklich nicht, daß Aaron Burr für den Staat New York die Verfassung unterschrieben hat.« Nates schmales Gesicht wurde kurz von einem noch schmaleren Lächeln geteilt. »Er hat sie nicht unterschrie13
ben. Weder für New York noch für einen anderen Staat. Weißt du, wer für den Staat New York unterschrieben hat?« Die Augen seines Freundes, von keinerlei Geschichtskenntnissen getrübt, blinzelten ihm vertrauensvoll zu. »Macht nichts. Ich wußte es ebensowenig. Und es ist nicht gerade ein Staatsgeheimnis. Der Abgeordnete, der für den Staat New York die Verfassung der Vereinigten Staaten unterschrieben hat, war Alexander Hamilton.« Bei der Erwähnung dieses vertrauten Namens hellte sich Ves Romeros Gesicht auf… und wurde wieder von einem Stirnrunzeln verdüstert… um sich plötzlich zu einer närrischen Grimasse zu verzerren. »He«, sagte Amerigo Vespucci Romero. »Oh«, sagte er. »Aber«, sagte er. »Alexander Hamilton. Er war, öh, er war der erste Marineminister. Ich meine, Finanzminister. Der mit dem berühmten Spruch: ›Ihr Volk, Sir, ist eine große Bestie.‹ Er wurde, äh, öh, er wurde erschossen. Genau! Er hat sich duelliert. Er wurde getötet. Er wurde …« Nate nickte grimmig und müde zugleich. »Ja. In Weehawken, New Jersey. Am 11. Juli 1804. Und der Mann, der den tödlichen Schuß abgab, war …« Ves' Gedächtnis gab endlich die Erinnerungen frei, wie ein Spielautomat, der Geldmünzen ausspuckte. »Aaron Burr!« schrie er. »Aaron Burr!« In der Verfassung der Vereinigten Staaten ist keine Rede von einem FBI. Und was das betrifft, so steht dort auch nichts von einem Geheimdienst. Oder von einer Flagge, einer Nationalhymne, einer – aber wir schweifen ab.
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Allerdings geht aus ihr hervor, und zwar ohne Wenn und Aber, daß es dem Kongreß zusteht, Normalmaße und Normalgewichte festzusetzen; demgemäß wurde im Jahr 1801 durch ein Gesetz des Kongresses ein Eichamt eingerichtet: Von da an war ein Pfund in Richmond, Virginia, ein Pfund in Richmond, N.Y., und eine Elle Stoff, gesponnen in Salem, Massachusetts, maß eine Elle, wenn sie in Salem, South Carolina, verkauft wurde. Daß die Nützlichkeit dieses Amtes klar auf der Hand lag, liegt klar auf der Hand. Föderalisten und Whigs1, republikanische Demokraten und Populisten, der Geldadel und die Großgrundbesitzer, Locofocos2, Dixiecrats3 und Sozialisten, alle verfolgten gegenüber dem Eichamt eine strickte Politik der Nichteinmischung. Das heißt, sie verfolgten im Grunde überhaupt keine Politik. Sie nahmen das Eichamt nicht einmal wahr. Die Zeit verging. 1996 brachten die Wähler (einschließlich jener aus den neuen Staaten Guam und den Jungferninseln, die zum erstenmal ihre Stimme abgaben), den größten Außenseiter unter allen großen Außenseitern und den jüngsten Bewerber aller Zeiten, den für die Demokraten kandidierenden Republikaner Victor Gosport aus Idaho in das Amt des Präsidenten – vielleicht, weil sie wirklich einen Demokraten im Weißen Haus haben woll1
Mitglieder der liberalen Partei Bezeichnung für die Unterstützer von Andrew Jacksons Präsidentschaftskandidatur 3 Mitglieder oder ehemalige Mitglieder der Demokratischen Partei, zumeist Funktionäre oder Delegierte, die die Loyalität zu den Südstaaten-»Werten« (wie Rassendiskriminierung u.a.) höher stellen als die Loyalität zur eigenen Partei. D. Übers. 2
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ten. Vielleicht, weil Luella (Mrs. Victor) Gosport eine Woche vor dem Wahltag gesunden Drillingen das Leben geschenkt hatte; alles Jungen. Oder vielleicht, weil gewisse Grundzüge der Wahlkampfstrategie des demokratischen Kandidaten mit einer nachgerade unheimlich anmutenden wissenschaftlichen Akkuratesse von seinem Freund, Dr. Dunstan Dutton, entwickelt worden waren. Dunstan Dutton (Dr., Dr., Dr. rer. nat., Dr. phil.) hatte im Laufe der letzten fünfzig Jahre sämtliche Daten über die Art und den Ort eines jeden öffentlichen Auftritts aller Präsidentschaftskandidaten sowie eine Vielzahl anderer Statistiken gesammelt, sie mittels eines Verfahrens, das nur er und ein selbstloser Assistent verstanden, zueinander in Korrelation gebracht und dann die absonderlichste Wahlkampagne in der amerikanischen Geschichte organisiert. Andrew Johnson hatte regelmäßig sein Bad in der Menge genommen. Major William McKinleys Rednertribüne war die Veranda seines Hauses gewesen. Harry Truman fuhr mit dem Zug durch das Land und legte in jedem Nest entlang der Bahnstrecke eine kurze Rast ein, und manchmal hielt er seine Ansprachen vom letzten Wagen aus, ohne überhaupt den Zug zu verlassen … Victor Gosport hatte sich für die Zickzack-Methode entschieden; an einem Tag sprach er auf einer Dorfkirmes in Delaware und am folgenden Tag in einer Oberschule in Lubbock, Texas; die nächste Station war ein methodistisches Altersheim in Skaneateles, Ecke Pershing Square; dann ging es weiter mit dem Hubschrauber nach Orange County, zu diesem Zeitpunkt noch eine Hochburg des Feindes. 16
Die Studenten der örtlichen politischen Szene waren verblüfft. Vielleicht auch Victor Gosport. Aber er hatte Vertrauen zu Dr. Dunstan Dutton. Es war weder Geld, das diesen bescheidenen Mann dazu gebracht hatte, sich in den Dienst des demokratischen Präsidentschaftskandidaten zu stellen, noch der Wunsch, ein Königsmacher zu sein, obwohl er (auf hartnäckiges Befragen hin) sich selbst als einen »philosophischen Demokraten« bezeichnete. Er entwickelte seine siegreiche Strategie (sofern es überhaupt die Strategie war, die zum Wahlsieg führte, und nicht Luella und die Drillinge) nicht einmal, um sich an ihren möglichen Erfolg zu delektieren. Dutton wurde schlicht und einfach von seinem politischen Ehrgeiz angetrieben, und sein politischer Ehrgeiz war in der Tat schlicht und einfach. Er wollte Direktor des Eichamtes werden. Und so geschah es auch. Präsident Gosport war nicht gerade ein schweigsamer und verschlagener Mensch; um es genau zu sagen, er war viel zu offenherzig und dabei auch noch zu unaufrichtig, als es für sein eigenes Wohl und vielleicht auch für das Wohl des Landes gut war. Ihm ließ sich jedoch in einem Punkt eine gewisse Gerissenheit nicht absprechen, Folge einer tiefverwurzelten Paranoia: Er traute dem FBI nicht über den Weg, und er traf alle Vorkehrungen, um hinter dem kollektiven Rücken der Bundespolizei seine Ziele zu verfolgen. »Sie alle hassen den Präsidenten – gleichgültig, wer es ist«, sagte er.
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Er sagte es leise und in einer Umgebung, die Garantie dafür bot, daß er nicht belauscht oder abgehört wurde. Er sagte es zu seinem Stubenkameraden vom College, Nathan Haie (Nate) Swift, ehemals beim U.S.C.G.C.S.I. Abt. L, im allgemeinen besser bekannt als Geheimdienst der Küstenwache. »Ich traue diesen Arschlöchern nicht weiter, als ich ihnen den Arsch aufreißen kann«, fügte er verdrossen hinzu, während er sein Problem mit Nate besprach und dabei düster an seinem Bart zupfte (er war der erste bärtige Präsident seit Benjamin Harrison). »Ich sage zu ihnen, dies und das muß geschehen – ich, verstehst du, der Präsident der Vereinigten Staaten – und dieses blöde Arschloch Nephi Gundarson, also, J. Edgar war ja schon abscheulich, aber dieses neue Arschloch, Mann! Er sagt: ›Nun, wir werden tun, was in unserer Macht steht, Mr. President‹, genau das sagt dieses Arschloch. Dann läßt er es entweder bei der gottverdammten Presse oder sonstwo durchsickern, es ist einfach nicht zu fassen, Nate: Nichts geschieht!« »Diese Arschlöcher«, erklärte Nate mitfühlend. Der Präsident brütete mit einem finsteren Ausdruck auf seinem wohlgenährten, kantigen Gesicht vor sich hin. »Abe Lincoln hatte niemals derartige Probleme«, brummte er nach einer Weile. »Wenn er wollte, daß ein Mann beschattet wurde oder so, sagte er einfach zu Alan Pinkerton: ›Beschatten Sie diesen Mann!‹ Und der alte Pinkerton sagte nur, öh: ›Ja, Mr. President!‹ Und das genügte. Meine Geheimdienstler sind nicht einmal in der Lage, die Spuren eines Elefanten im Schnee zu verfolgen, wenn er nicht gerade Falschgeld in seinem Rüssel versteckt
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hat…« Seine Stimme verebbte, und wieder zupfte er an seinem Bart. Nate gab einen teilnahmsvollen Grunzlaut von sich. Nach einem Moment fragte er: »Aber … Vic … was ist mit all diesen Geheimdiensten des Verteidigungsministeriums und der CIA und, hmm, dem … hmm …« Aber alle diese Dienste waren schwerfällige, hierarchisch aufgebaute Behörden; man konnte keinen ihrer Mitarbeiter beauftragen, eine vertrauliche Mission für den Präsidenten auszuführen, und dann erwarten, daß sie auch vertraulich blieb. »Entweder ist dieser Kerl ein so kleines Licht, daß er eine Million Vorgesetzte hat, die über alles informiert werden müssen, was er tut, oder er ist ein so großes Tier, daß er es unmöglich selbst machen kann. Sobald ich sage: Beschattet diesen Mann!‹, dann wird das auf 8700 verschiedenen Formularen vermerkt, es wird auf Tonband aufgenommen, in Computerdateien gespeichert, auf Telexbögen festgehalten, und ehe man auch nur blinzeln kann, wissen mehr Leute darüber Bescheid als Carter Lebertabletten besitzt. Zu diesem Zeitpunkt ist der Mann, der beschattet werden sollte, in Rio de Janeiro oder sonstwo und lacht sich tot«. Nate sagte sanft: »Ich fange an, das Problem zu verstehen, Vic.« »Nenn mich Mr. President«, murmelte der Präsident geistesabwesend. Und dann fügte er hinzu, daß er niemanden vom Stab des Weißen Hauses mit heiklen Aufträgen betrauen könne, weil seine Mitarbeiter einfach alle zu bekannt waren. Man stelle sich vor, in der Presse würde die Frage auftauchen: ›Warum wurde Flanders Krum, Berater 19
des Präsidenten, letzten Donnerstag in Omaha dabei ertappt, wie er einen Mann beschattete?‹ Eine entsetzliche Vorstellung! Der Kongreß würde sich damit befassen, und wenn es etwas gab, was der Präsident bei derartigen Angelegenheiten nicht gebrauchen konnte, dann war es ein Kongreß, der sich mit Dingen befaßte, die ihn nichts angingen. Obwohl das Volk der Vereinigten Staaten einen demokratischen Präsidenten gewählt hatte, war es (das Volk) nicht so weise gewesen, auch einen demokratischen Kongreß zu wählen. Andererseits hatte es auch keinen direkt republikanisch zu nennenden Kongreß gewählt; tatsächlich wurde das Gleichgewicht der Macht prekärerweise von einem Trio politischer Einzelgänger aufrechterhalten. »Zwei GATs und ein Freischwu«, wie Victor Gosport sie bezeichnete. Ein Distrikt in Vermont und einer in Texas hatten ihre bisherigen Abgeordneten durch die Kandidaten der Guten Alten Amerikanischen Traditionspartei ersetzt, deren Wahlprogramm die Ernennung der Blaubeertorte zum Nationalgericht und die Abschaffung der Bundeseinkommensteuer forderte; der prosperierende, überwiegend von Weißen bewohnte vornehme Manhattaner Upper-East-Side-Distrikt hingegen hatte sich dafür entschieden, von einem Kandidaten der Freien Schwarzen Unabhängigkeitspartei in Washington vertreten zu werden, zweifellos aus Begeisterung über sein Versprechen, ihnen allen bei der erstbesten Gelegenheit die Kehle durchzuschneiden. »Ich habe eine Reihe Gesetze vorbereitet, die ich durch den Kongreß bekommen muß«, erklärte der Präsident. 20
»Das habe ich dem amerikanischen Volk versprochen. Also muß ich vorsichtig sein, damit der Kongreß nicht durch irgendwelche Ablenkungsmanöver irritiert wird, Nate. Das FBI und die anderen großen Schnüffeldienste sind eine einzige Bande von Spionen, diese Arschlöcher. Sie sind ganz vernarrt darin, vertrauliche Informationen durchsickern zu lassen, um mir eins auszuwischen. Und was kann ich dagegen unternehmen? Nichts. Nein, ich kann ihnen nicht trauen. Aber dir kann ich trauen, Nate. Ich kenne dich seit Jahren. Außerdem bist du beim Geheimdienst der Küstenwache gewesen, bei einem der besten Schnüffeldienste der Nation. Wenn ich zu dir sage: ›Beschatte diesen Mann‹, nun, bei Gott, du würdest dich ohne zu zögern an seine Fersen heften. Du persönlich, ohne die ganze verdammte Welt darüber zu informieren, so wie Republikanerführer Winthrop Scrannel vom Repräsentantenhaus und FBI-Direktor Nephi Gundarson, diese Arschlöcher.« Sie unterhielten sich in einem Zimmer des Weißen Hauses, dessen Existenz der Öffentlichkeit unbekannt war; in ihm befanden sich Dinge wie eine Wohnzimmereinrichtung, die Mrs. Heber Votaw, die Schwester des Präsidenten Harding, zurückgelassen hatte; eine ganze Reihe vermoderter Trophäen, von Col. Roosevelt persönlich geschossen; Weihnachtsgeschenke, die auf die Mißbilligung der First Ladies Hayes, Garfield, Wilson, Hoover und Truman gestoßen waren; und fünf Diwane, eingelegt mit Perlmutt, die einst ein vertriebener Scheich der Cooledge-Regierung überreicht hatte. Es wurde allgemein als Plunderkammer bezeichnet, und Luella Gosport hatte den Schlüssel unter 21
einem Vorwand dem Hausmeister des Weißen Hauses abgeschwatzt. Präsident Gosport war davon überzeugt, daß es nicht mit elektronischen Mini-Spionen verwanzt war. Nate Swift strich mit der mageren Hand über sein dunkles Haar. »Mr. President«, sagte er, »als alter Amerikaner und loyaler Freund – ich meine, als loyaler Amerikaner und alter Freund bin ich bereit, alles für dich zu tun, was in meiner Macht steht.« »Ich werde dir einen Brief für Dr. Dutton mitgeben, dem neuen Direktor des Eichamtes«, entschied der Präsident. »Er wird dich zum Feldbeobachter ernennen.« Swift, der sich zurückgelehnt hatte, fuhr kerzengerade hoch. Der intarsierte Diwan war für kleinere, weichere Körper entworfen worden als den seinen. »Das Eichamt? Feldbeobachter?« Der Präsident lächelte befriedigt angesichts seines genialen Einfalls und der Reaktion seines Freundes, die aus heilloser Verwirrung bestand. »So ist es. Ganz nach dem Prinzip: Frechheit siegt. Will man etwas geheimhalten, muß man es nur vor aller Welt breittreten. Kein Mensch wird sich darum kümmern. Nun, vielleicht ist Nephi Gundarson ein vertrotteltes Arschloch, aber bedauerlicherweise ist er nicht vollkommen vertrottelt. Er wird mit Argusaugen verfolgen, wer welchen Posten bekommt. Doch da ihm nicht alle Zeit der Welt zur Verfügung steht, wird er sich natürlich auf die Schnüffeldienste wie die CIA, NSA, DDI und so weiter konzentrieren. Wird er überhaupt auf den Gedanken kommen, sich um das Eichamt zu kümmern? Wird überhaupt irgend jemand auf diesen Gedanken kommen? Natürlich nicht. Das ist das, was man 22
Hollywood als ›schönsten Teil vom Ganzen‹ bezeichnet, du weißt schon. Niemand wird das Eichamt verdächtigen! Und dein Titel, Feldbeobachter, nun, daran wird sich niemand reiben. Untersuchungsbeamter, ja. Beobachter, nein. Du gehst überall hin – das heißt, überall, wo ich dich hinschicke – und du schaust dir alles an und erstattest mir dann Bericht. Das heißt, natürlich kannst du auch einige Routineberichte für die Archive des Amtes schreiben, aber mehr ist nicht erforderlich. Niemand wird auch nur einen Gedanken daran verschwenden. Das FBI hat überall seine Informanten sitzen, aber nicht dort.« Er stand auf und kratzte sich am Hinterteil. »Sieh es doch einfach so, Nate. Mit deiner Arbeit wirst du mir helfen, den inneren Frieden der Nation zu bewahren und den Wohlstand des Volkes zu mehren. Natürlich übernimmst du den Auftrag.« Sie gingen zur Tür. »Natürlich, Mr. President«, sagte Nathan Haie (Nate) Swift. Der verstorbene Mr. Romeo Romero, ein Importeur von feinen Olivenölsorten, Teigwaren und Tomatenkonserven, war auf seine italienische Herkunft und seine amerikanische Staatsbürgerschaft gleichermaßen stolz gewesen; deshalb hatte er seinen erstgeborenen Sohn Amerigo Vespucci genannt. Sein Sohn war nicht minder stolz auf beide Auszeichnungen, und es war nicht so, daß er seinen eigenen Namen verschmähte. Aber da ihm aufgefallen war, daß ungebildete amerikanische Zungen oft Schwierigkeiten
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mit der Aussprache seines silbenreichen Namens hatten, war er bald dazu übergegangen, sich selbst so zu nennen, wie ihn die meisten seiner Freunde anredeten: nämlich einfach Ves. Die Firma Romero & Partner stand ihren Konkurrenten auf dem Gebiet der Versicherungsermittlungen in nichts nach; ihre Aufgaben reichten von der Ausforschung der Antragsteller bis hin zu der Überprüfung der geltend gemachten Ansprüche. Ermittlungen in Sachen Brandstiftung überließ sie wohlbekannten Fachleuten auf diesem Gebiet, aber in allen Fällen, die von den Versicherungen kurioserweise als »Binnensee«-Policen bezeichnet wurden, war der Name Romero ein Inbegriff für Erfolg, und dies galt kaum weniger in Fällen persönlicher Schuldansprüche. Der Gegenstand seiner Arbeit, die Schärfe seines Verstandes, seine natürliche Begeisterungsfähigkeit und seine Unermüdlichkeit brachten ihn nicht nur mit professionellen Kriminellen zusammen, sondern auch mit einflußreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und deren Gattinnen, Bühnen- und Filmstars, dem ausländischen Adel, mit Männern und Frauen aus allen Lebenslagen (und Notlagen); es war ihm zur zweiten Haut geworden, auf jene kleinen, von den meisten Menschen übersehenen Hinweise zu achten, durch die sich ein Betrüger so oft verriet. »Ich betrete die Geschäftsräume der Firma, die den Verlust gemeldet hat«, hatte er Nate einmal bei einer Tasse Espresso im städtischen Schachclub erklärt, »und meine erste Frage lautet, nun, vielleicht: ›Wer von denen, die früher ein Taxi benutzt haben, läßt sich seit kurzem 24
chauffieren?‹ Sie wären überrascht, Mr. Swift«, sie waren damals noch nicht bei »Nate« gewesen –, »Sie wären überrascht, wie viele Ganoven, denen es nicht mal im Traum einfallen würde, sich zu verraten, indem sie, sagen wir, bei der Arbeit die teuren Maßanzüge tragen, die sie sich von dem veruntreuten Geld gekauft haben, und die aber aus irgendwelchen Gründen der Versuchung einfach nicht widerstehen können, sich nach Büroschluß ein Taxi zu rufen.« Nate löste den Blick von der schmelzenden Kappe aus zimtbesprenkelter Schlagsahne, die auf der bitteren Flüssigkeit schwamm. »Und was dann?« Romero zuckte die Schultern. »Oh, ich gehe einfach auf denjenigen zu und sage: ›Die Firma weiß, daß jemand ihr Vertrauen mißbraucht hat und zwar in Höhe von 17000 Dollar‹ – oder wie hoch der Verlust der Firma auch immer sein mag, und Sie wären überrascht, wie viele von den Betrügern nicht einmal die genaue Summe der unterschlagenen Gelder kennen –, ›aber die Firma würde es vorziehen, nicht gerichtlich vorzugehen, wenn es sich vermeiden ließe.‹In neun von zehn Fällen geben sie alles zu.« Er zuckte die Schultern und seufzte. »Aber … wissen Sie … in neun von zehn Fällen wird es einfach langweilig.« Seine Augen wurden feucht: »Und dann … dann, vor fünf Jahren, am 11. April werden es fünf Jahre sein, starb meine liebe Frau. Und seitdem, nun, seitdem kann ich mich kaum noch für etwas begeistern …« Und nicht lange nach diesem bitteren Verlust fanden der Sohn und die Tochter von Mr. Romero den Partner fürs Leben und heirateten. Und es traf sich, daß sowohl sein 25
Sohn als auch sein Schwiegersohn mit der Firma Romero & Partner verbunden waren und gut miteinander auskamen. Der ältere Romero rief beide zu sich und sagte: »Roger, Robert. Übernehmt das Geschäft. Ihr wißt mehr als ich in eurem Alter, weil ihr mir gegenüber den Vorteil einer besseren Ausbildung hattet; ferner steht euch eine florierende Firma zur Verfügung, was bei mir nicht der Fall war; zudem steht euch mit mir ein alter Mann mit Rat und Tat zur Seite, wenn ihr in Schwierigkeiten geratet, eine Hilfe, die mir verwehrt blieb. Auf diese Weise werdet ihr in der Lage sein, die Familie zusammenzuhalten, für die Kinder zu sorgen, die ihr mit Gottes Segen haben werdet, und sie gut zu erziehen. Seit Mama tot ist, gelingt es mir nicht mehr, mich so wie früher um das Geschäft zu kümmern. Außerdem werde ich älter, und ich denke, ich habe mir ein wenig Ruhe verdient. Ganz davon abgesehen bin ich dagegen, die Kinder, ob Mädchen oder Jungen, bis ans Lebensende unter der Fuchtel zu halten, so wie es einige Eltern tun. Seht euch zum Beispiel Königin Victoria an, die schon Jahre vor ihrem Tod hätte abdanken sollen, so wie Königin Wilhelmina, die das Land frühzeitig an ihren Sohn oder an ihre Tochter oder wen weiß ich übergeben hat; eine vernünftige Frau.« Also sagte er zu seinem Sohn und seinem Schwiegersohn: »Zahlt mir einfach ein kleines Gehalt als Berater, damit ihr mit Recht auch weiter meinen Namen im Briefkopf führen könnt, und einen Prozentanteil vom Bruttogewinn. – Auf diese Weise«, beendete er seinen Bericht und wandte seine volle Aufmerksamkeit wieder Nate Swift zu, »auf diese Weise bekamen sie nicht das Gefühl, alles 26
umsonst erhalten zu haben, was meiner Meinung nach junge Menschen schnell verderben kann. So sind jetzt alle glücklich«, sagte er mit einem Seufzer, »und ich habe an sich nicht den geringsten Grund, auch nur ansatzweise unglücklich zu sein, aber um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich bin unglücklich. Trotz allem.« Und er seufzte erneut. Aus dieser zufälligen Begegnung am Schachbrett und bei einer Tasse Kaffee entstand jene höchst unwahrscheinliche und dennoch fruchtbare Partnerschaft, die im (geheimen, aber ehrenhaften) Auftrag des Präsidenten und damit im Auftrag des Volkes der Vereinigten Staaten eine Reihe heikler Probleme bereinigte, so beispielsweise die Affäre um den Messerstecher und den bestochenen Bundessenator; den Fall um den ausländischen Spion und das Freudenmädchen aus Jersey City; die vertrackte Sache mit dem armenischen Botschafter und seiner Befreiung aus dem Thunfischnetz im Hafen von San Pedro; und – um ein weiteres Beispiel anzuführen – den wahrhaft grausigen Skandal um Reverend Elmo Smith aus Omaha (Nebraska) und die fünfundzwanzig Piranhas im Swimming-Pool des Mayflower Hotels – Geschichten, für die die Welt noch nicht reif ist – – und nun sahen sich Nate und Romero der bisher größten Herausforderung gegenüber: Sie sollten die verschwundene Originalurkunde der Verfassung der Vereinigten Staaten finden. Und sie zurückbringen … unversehrt.
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2 »Es ergibt«, sagte Amerigo Vespucci Romero wohl schon zum sechzehnten Mal, »einfach keinen Sinn. Ich meine, vergessen wir die Tatsache, daß es nach menschlichem Ermessen keine Möglichkeit gibt, einen Austausch der Urkunden – wie geschehen – vorzunehmen; niemand hat – und das ist noch wichtiger – ein Motiv für eine derartige Tat. Das Motiv ist die Hauptsache, du verstehst? Es gibt alle möglichen Motive: Gier, Sucht, Furcht, Ehrgeiz, religiöser oder philosophischer Fanatismus, Hunger, Rivalität, Loyalität, Zorn und ein paar instinktive Reaktionen. Ich bin mir nicht ganz darüber im klaren, ob es heutzutage opportun ist, den Homo sapiens als instinktgeleitetes Wesen zu bezeichnen.« Während er redete, ging er in seinem Arbeitszimmer auf und ab und fuchtelte mit der Hand – allerdings nicht mit jener, in der er seine Kaffeetasse hielt. »Mir ist ein Gedanke gekommen«, erklärte Nathan Haie Swift, der seine Kaffeetasse auf dem Knie balancierte und in das Feuer starrte. »Eine Idee, um es mit deinen Worten zu sagen. Es erinnert mich an etwas.« »Häh?« machte Romero, und seine Hand erstarrte mitten in der Bewegung. »Es erinnert mich an etwas. Offen gestanden – an das College.« »Wie das?«
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»Nun, siehst du … Du weißt, der Präsident und ich waren Stubenkameraden auf dem College …« »Das hast du mir mindestens schon fünfundzwanzigmal erzählt. Er hat es mir gegenüber nur einmal erwähnt, wenn ich mich recht erinnere.« »Tja. Also, auf dem College haben wir früher oft solche Sachen gemacht. Nicht, daß ich mich da besonders hervorgetan hätte, obwohl ich mich an ein oder zwei Gelegenheiten erinnere … Da war die Sache mit der Schulglocke, die immer vierzehn Uhr schlug, und die Planierraupe auf der dritten Etage der Ver …« »Nate, wovon, zum Teufel, sprichst du eigentlich? Ich meine, man wird doch wohl noch fragen dürfen!« »Schabernack. Collegestreiche. Genau darum handelt es sich meiner Meinung nach, um eine Art Streich. Was sonst?« Ves schüttelte den Kopf. »Mit diesem ›Was sonst?‹ bin ich einverstanden«, entgegnete er. »Ich würde gern herausfinden, was sonst dahinter steckt. Zugegeben, mit meinen Collegestreichen ist es nicht weit hergewesen, aber wird denn irgend jemand – Student oder nicht – ein unmögliches Verbrechen begehen, nur um sich einen Scherz zu erlauben?« »Du hast es erfaßt! Das sind die beliebtesten Streiche. Man mauert das Ende eines Korridors zu, so daß zwei Zimmer mit einemmal nicht mehr zu existieren scheinen; oder man schafft in aller Heimlichkeit eine Planierraupe in die dritte Etage des Verwaltungsgebäudes; oder man läßt eine vier Tonnen schwere Bronzestatue des Stifters mitten 29
in der Nacht von ihrem Sockel verschwinden und ersetzt sie durch eine ähnliche massive Plastik, die ein nacktes Paar in einer – äh – peinlichen Stellung zeigt. Derartige Dinge.« »Das hast du getan?« fragte Ves mit unverkennbarer Verblüffung. »Die Jugend«, erwiderte Swift entschuldigend. »Ich hätte dir nie soviel Phantasie zugetraut«, gestand Ves. »Aber wie bringt uns das der verschwundenen Verfassung näher?« »Ich weiß es nicht«, gab Nate zu. »Aber das ist für mich die einzige Erklärung. Ich meine, betrachten wir die Angelegenheit einmal nüchtern: Jemand ist ungesehen in einen rund um die Uhr bewachten Raum eingedrungen, hat ein Dokument aus einer bronzenen, mit Kristallglas abgedeckten Vitrine entfernt – ohne, nebenbei bemerkt, die Zusammensetzung der Heliumatmosphäre zu verändern –, und es durch ein identisches Dokument aus derselben Zeit ersetzt, das sich nur in einer Unterschrift vom Original unterscheidet. Es ist…« »Aus derselben Zeit?« fiel ihm Ves ins Wort. »Aus derselben Zeit? Du meinst, diese Fälschung, dieser Ersatz ist ebenfalls zweihundert – wieviel? – sechsundzwanzig Jahre alt?« »Habe ich dir das nicht gesagt? Offenbar nicht. Tja. Das Pergament ist genauso alt. Die Tinte besitzt die richtige Zusammensetzung und stammt nach der Kohlenstoffanalyse mit einer Abweichung von plus oder minus zwanzig Prozent aus jener Zeit. Und der Text ist hand30
geschrieben, nicht fotokopiert; nach der Ansicht unserer Experten ist es keine Fälschung.« »Wie meinst du das, es ist keine Fälschung?« entfuhr es Ves. »Was ist es denn, wenn es keine Fälschung ist? Wie sollte denn … Oh, Mrs. Montefugoni. Treten Sie ein, treten Sie ein.« »Frischer Kaffee«, sagte Mrs. Montefugoni, die das Tablett so stolz vor sich her trug, wie sie als Achtjährige bei der Festtagsprozession die Statue des heiligen Lammes durch die engen Gassen ihrer Heimatstadt getragen hatte. »Und Tartes für den Kommissär. Die gefüllt sein mit Creme, ganz für Ihren Geschmack.« Sie stellte das Tablett auf den Kaffeetisch und tauschte die leere silberne Kaffeekanne gegen die volle silberne Kaffeekanne aus. »Und Ihrer Post«, fügte sie hinzu und wies auf einen Stoß Briefumschläge an der Seite des Tabletts. »Post«, ächzte Romero außer sich, griff nach den Briefumschlägen und starrte sie an. »Post. Mrs. Montefugoni, warum tun Sie mir das an? Ich habe Sie schon hundertmal gebeten, die Finger davon zu lassen, aber ich scheine gegen eine Wand zu sprechen. So geht es einfach nicht, Mrs. Montefugoni. Schließlich ist das meine Post.« Swift sah seinen Freund forschend an und versuchte herauszufinden, um was es eigentlich ging. Mrs. Montefugoni machte weder einen verlegenen noch einen beschämten, ängstlichen oder verletzten Eindruck; Starrsinn sprach aus ihrem Blick. »Ich es Ihnen erklärt haben«, sagte sie. »Und mehr als einfach. Ich machen es
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für Sohn meiner Schwester. Vincente Gerabaldi. Er ein Sammler. Erst neun Jahre alt, Sie verstehen. Und Sie so viele Briefe bekommen aus fremden Ländern – und Sie nicht selbst Sammler sein von …« Dann bemerkte Nate, daß die oberen rechten Ecken von drei Briefumschlägen sauber abgeschnitten waren. »Briefmarken!« rief er. »Si«, nickte Mrs. Montefugoni. »Si. Er sammeln Briefmarken. Und er sehr ernsthaft bei der Sache sein, Sie verstehen. Er die Briefmarken in ein Spezialzeug tunken, damit sie abgehen von Papier. Und er sie nicht einkleben, Sie verstehen, in Album. Zuerst, als er zuerst Album haben, da er Briefmarken auf Bilder geklebt – Sie verstehen, in Buch, in Album diese kleine Bilder – und er weißen Klebstoff dafür genommen. Dann er herausfinden, daß das war falsch. Jetzt er diese Pinzetten und diese kleinen Gummidinger nehmen und damit sie in Buch festmachen. Er wirklich sehr ernsthaft bei der Sache sein.« »Ein Sammler!« sagte Nate mit einem Glitzern in den Augen. »Aber können Sie nicht warten, bis ich die Briefe geöffnet habe, und dann die Briefmarken abreißen?« fragte Ves anklagend. »Das ist die Lösung!« rief Nate und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Was Sie meinen mit ›abreißen‹?« erwiderte Mrs. Montefugoni. »Ich ordentlich schneiden mit Schere, Sie die Briefe aufreißen und Briefmarken kaputt machen.«
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Nate goß sich eine frische Tasse Kaffee ein und lehnte sich selbstzufrieden zurück. »Natürlich! Wer sonst?« »Es sind meine Briefe«, sagte Ves in dem matten Versuch, sich einen ehrenvollen Rückzug zu erkämpfen. »Dokumentensammler?« überlegte Nate laut. »Autogrammsammler?« »Briefmarkensammler«, erklärte Ves. »Ein neunjähriger Briefmarkensammler. Mrs. Montefugoni, vielleicht können wir zu einem Kompromiß gelangen. Hören Sie zu: Ich verspreche Ihnen, daß ich die Umschläge vorsichtig öffne und die Briefmarken für den Sohn Ihrer Schwester aufbewahre, aber ich flehe Sie an, bringen Sie mir meine Post in ihrem ursprünglichen, unzerschnittenen Zustand.« »Nein, die Verfassung, Ves. Das ist die Lösung! Ein Sammler! Ein gottverdammter – entschuldigen Sie, Mrs. Montefugoni – Sammler.« »Es nicht nötig sein, schlechte Sprache zu sprechen«, erklärte Mrs. Montefugoni und verdrehte den Kopf in einer märtyrerhaften Pose. »Wenn nicht wollen Sie, daß ich Briefmarken herausschneide – auch nicht mit saubere Schnitte wie ich – dann ich sie überhaupt nicht mehr herausschneiden. Sie mit Ihren Umschlägen machen wie Sie wollen. Ich schon finden andere Perversion für Vincente Gerabaldi, Sohn meiner Schwester.« Sie rauschte aus dem Zimmer. »Jetzt, wo sie einen Vorwand hat, wird sie tagelang schmollen«, klagte Romero. »Und zu guter Letzt werde ich ihr Gehalt erhöhen müssen. Wenn du schon nicht reinen Herzens bist, dann versuche wenigstens in Mrs. Monte33
fugonis Gegenwart ein reines Herz vorzutäuschen, Nate. Du fängst an, mich Geld zu kosten. Ein Sammler, wie?« »Was sonst?« »Das ist eine sehr zweifelhafte Schlußfolgerung.« »Unsinn, es ist die einzig richtige Schlußfolgerung. ›Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, dann muß das, was übrigbleibt, gleichgültig, wie unwahrscheinlich es auch ist, wahr sein‹. Das hat Sherlock Holmes gesagt. Zumindest etwas in dieser Richtung.« »Aber du hast überhaupt nichts ausgeschlossen. Du hast dir lediglich ein Etikett für den Dieb und ein mögliches Motiv aus den Fingern gesogen, aber kein Wort darüber verloren, wie dieses unmögliche Verbrechen eigentlich begangen wurde.« »Nun«, beharrte Swift, »jedenfalls wissen wir jetzt, in welche Richtung wir unsere Nachforschungen anstellen müssen, und das ist doch schon ein Fortschritt.« »Was hast du erst damit gemeint, daß es keine Fälschung ist?« fragte Romero. »Wieso der Ersatz sein keine Fälschung – ist keine – öh – ich befürchte, ich bin schon zu lange mit Mrs. Montefugoni zusammen. Nur weil das Pergament und die Tinte annähernd so alt sind wie das Original der Verfassung, so beweist das doch nicht, daß es sich dabei um keine Fälschung handelt. Wir könnten es mit einem sorgfältigen, geschickten Fälscher zu tun haben. Oder vielleicht ist es eine alte Fälschung. Vielleicht hat dieses Ding zweihundert Jahre lang irgendwo herumgelegen und nur darauf gewartet, daß jemand seinen Schabernack damit treibt.« 34
»Die Unterschriften sind echt, Ves. Zumindest soweit es unsere Experten beurteilen können«, sagte Nate Swift im Plauderton, als ginge es um Allerweltsprobleme. »Sie sind identisch mit denen auf dem Original?« »Nein. Wie du weißt, sind keine zwei Unterschriften eines Menschen identisch. Beim Unterschreiben treten immer irgendwelche Abweichungen auf. Nun, sie sind mit dem Original zwar nicht identisch, aber sie stimmen in allen Fällen mit der Art überein, auf die der Betreffende in jener Zeit seines Lebens seinen Namen geschrieben hat, und das bis zu einem Grad, den nachzuahmen, wie uns die Experten versichern, kein Mensch in der Lage gewesen wäre.« »Auch die Unterschrift von Burr?« »Auch die. Ist das nicht eine verdammte Angelegenheit? Hör zu, wenn auch nur ein Wort davon an die Öffentlichkeit dringt, wird es im ganzen Land zu Aufständen kommen. Vor allem in den Universitäten. Die Studenten haben seit zehn Jahren keinen Vorwand mehr gehabt, um an den Universitäten Krawalle zu inszenieren, und aus Mangel an Gelegenheit werden sie schon ganz zappelig.« »Dann ist der Täter ein Computer«, erklärte Romero grimmig. »Sei nicht albern, Ves. Immer, wenn etwas geschieht, das dir nicht gefällt oder das du mißbilligst, gibst du den Computern die Schuld.« »Aber natürlich, denk doch nach: Du sagst, sie sagen, daß kein Mensch die Unterschriften derart perfekt hätte nachahmen können. Nichtsdestotrotz ist es geschehen. 35
Nach deiner Logik habe ich nur das Unmögliche ausgeschlossen, und was übrig bleibt, ist ein Computer.« »Du hast nichts ausgeschlossen«, korrigierte ihn Nate. »Du hast lediglich die Liste um einen Punkt erweitert.« »Was für eine Liste?« »Gestern nacht, bevor ich ermächtigt wurde, mich an dich zu wenden und dich um deine Hilfe zu bitten, haben wir das Problem von allen Seiten her beleuchtet und eine Liste möglicher Erklärungen aufgestellt.« »Wir?« »Ja, nun: Ich, der Präsident, der Außenminister, der Innenminister und der Direktor des Eichamtes.« »Scheint ein richtiges Kaffeekränzchen gewesen zu sein«, bemerkte Romero. »Zu welchen Schlußfolgerungen seid ihr gelangt?« »Ich glaube, ›Schlußfolgerungen‹ ist nicht ganz das richtige Wort«, erwiderte Swift. »Nach Ansicht des Außenministers stecken chinesische U-Boote dahinter.« »Chinesische …?« »…U-Boote. Ja.« »Wie …?« »Er hat es nicht näher erläutert. Der Innenminister ist überzeugt, daß die Bruderschaft der Rosigkreuzer dafür verantwortlich ist. Das sind die Brüder, die die Geheime Macht besitzen.« »Was für eine geheime Macht?« »Das haben sie nie verraten. Ich schätze, wenn sie es ausgeplaudert hätten, wäre sie nicht mehr geheim.« 36
»Und wen hält der Präsident für den Täter?« »Die Republikaner.« »Natürlich. Irgendwelche anderen Theorien?« »Menschen aus der fernen Zukunft, die in unsere Zeit zurückgereist sind, um die Verfassung vor einer bevorstehenden Katastrophe zu retten.« »Hm. Weißt du, diese Theorie ist nicht ohne. Zumindest können wir sie nicht mit absoluter Sicherheit ausschließen. Wer ist auf die Idee gekommen?« »Die zwölfjährige Tochter des Präsidenten; Emily.« »Nun, wenigstens werden wir bald erfahren, ob es stimmt.« »Wie das?« »Wir warten einfach die Katastrophe ab. Und während wir warten – gibt es sonst noch etwas?« »Die durchdachtesten Vermutungen habe ich soeben aufgezählt.« »Was ist mit deinem derzeitigen Vorgesetzten, Dr. Dutton?« »Er neigt dazu, den Republikanern die Schuld zu geben, allerdings hält er es nicht für ausgeschlossen, daß die ganze Sache von den Demokraten eingefädelt wurde, um ihm eins auszuwischen. Außerdem verdächtigt er den Vizepräsidenten.« »Den Vizepräsidenten. Den Vize …« »Er wies darauf hin, daß Aaron Burr einst Vizepräsident war. Du mußt wissen, daß Dr. Dunstan Dutton ein strenggläubiger Anhänger der Graphologie ist. Er glaubt, 37
daß niemand ein Dokument schreiben kann, ohne seinen Namen, seine Adresse, seine politische Überzeugung und seine Konfektionsgröße in den Text einfließen zu lassen. Er hat bereits durch kryptologische Untersuchungen bewiesen, daß König Lear von Isaac Asimov geschrieben wurde und die fünf Bücher Moses von Avram Davidson stammen. Dr. Dutton glaubt an die Gleichzeitigkeit der Schöpfung. Frag mich nicht, wieso, ich weiß es nicht.« »Nate, ich fürchte, wir werden die Regierung aus unseren Plänen herauslassen müssen. Irgendwie habe ich das Gefühl, daß sie keine große Hilfe für uns sein wird.« Swift stellte seine Tasse Kaffee ab und straffte die Schultern. »Dann bleiben nur noch du und ich übrig«, sagte er. »Wir beide gegen den Unbekannten Feind!« Ves Romero starrte ihn an. »Nate«, flüsterte er, »manchmal graust es mir vor dir.« »Ach, Ves«, brummte Nate und bedachte die Wand mit einem traurigen Blick. »Ich bin der letzte Romantiker, und es gibt niemand mehr, der mich versteht. Wie die Dinosaurier habe ich meine Zeit überlebt. Ich bin das Relikt einer toten und unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit.« »In der letzten Zeit habe ich nicht viele Dinosaurier zu Gesicht bekommen«, bemerkte Ves. »Und außerdem bist du nur halb so alt wie ich. Nun ha, vielleicht ein wenig älter. Außerdem habe ich nicht die leiseste Ahnung, wovon du eigentlich sprichst. Und ich frage mich, ob du überhaupt weißt, wovon du sprichst. Wovon sprichst du ?«
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»Es hat nichts zu bedeuten«, winkte Nate ab. »Wirklich nicht! Ah, Cyrano, ich grüße dich!« Er zog ein imaginäres Schwert und preßte es gegen seine Nase. Leise, kaum hörbar, fing er an, die Marseillaise zu summen. Ves griff nach einem Notizblock und zog einen Filzstift aus seiner Hemdtasche. »Laß uns«, schlug er vor und pochte mit dem Stift auf seinen Handrücken, »das Undenkbare durchdenken. Laß uns das Unmögliche auflisten und uns deutlich vor Augen führen, mit was für einem Problem wir es eigentlich zu tun haben, das wir lösen müssen.« »Ausgezeichnet«, lobte Nate und goß sich eine weitere Tasse von Mrs. Montefugonis Spezialkaffee ein. »Machen wir eine Liste. Ich liebe Listen.« »Zuallererst«, begann Ves, »ist da der Diebstahl samt Dokumentenaustausch. Zweifellos unmöglich, wenn man bedenkt, daß weder die Siegel aufgebrochen, noch die Zusammensetzung der Heliumatmosphäre verändert wurde.« »Ein guter Anfang«, nickte Nate. »Dann ist da das Dokument selbst, das neue Dokument, selbstredend. Eine Fälschung, die so gut ist, daß die Experten sie nicht als solche entlarven könnten, wäre sie nicht so offensichtlich eine Fälschung.« »Warum?« fragte Swift. »Wie?« »Warum? Warum muß es eine Fälschung sein? Was, wenn es ein echtes Dokument ist? Angenommen, es gab zwei Ausfertigungen, und Aaron Burr hat die erste unterschrieben. Dann, aus irgendwelchen Gründen, unterschrieb
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Alexander Hamilton die zweite, und die erste verschwand.« »Das könnte man nachprüfen«, grummelte Ves. »Mal sehen …« Er trat vor seine Bücherwand und stöberte in den Regalen mit den geschichtlichen Werken, zog eine Anzahl Bände heraus und durchblätterte sie, bis er sich für drei entschied. Er schaute mal hier, mal dort hinein und machte sich rasch Notizen. »Aha«, sagte er schließlich. »Kein Zweifel.« »Was?« »Während des verfassungsvorbereitenden Konvents, der im Mai und Juni des Jahres 1787 in Philadelphia stattfand, war Aaron Burr als Rechtsanwalt in New York City tätig; in Manhattan, um es genau zu sagen. Zu jenem Zeitpunkt mußte er einige Klienten vor Gericht vertreten. Philadelphia und New York liegen ungefähr hundertfünfundvierzig Kilometer voneinander entfernt. Das sind etwa zwei bis drei Tage mit der Kutsche, glaube ich. Das hätte eine Abwesenheit von mindestens einer Woche bedeutet. Aber Burr ist keine Woche lang von New York fortgewesen. Hamilton war der Delegierte von New York. Hamilton und Burr waren, äh, schon damals nicht die besten Freunde.« »Nun«, beharrte Nate, »ich behaupte immer noch, wenn unsere Experten festgestellt haben, daß das Ersatzdokument der Verfassung keine Fälschung ist, dann ist es auch keine.« »Ich bin mit dem Spielchen ›Unsere Experten sind besser als eure Experten‹ vertraut«, versicherte Ves. »Als praktizierender Privatdetektiv habe ich es bei Gericht oft
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genug gespielt. Aber handelt es sich hierbei nicht vielmehr um einen Fall von ›Unseren Experten‹ gegen die Gesetze der Logik?« Nate schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, Amerigo Vespucci, als es sich deine Gesetze der Logik erträumen lassen.« Ves zuckte die Schultern. »Wir werden sehen. Ich denke, wir fangen am besten mit deinem Geistesblitz an.« »Hervorragend«, stimmte Nate zu. »Welchen Geistesblitz meinst du?« »Den Geistesblitz, daß es sich bei dem Täter der mysteriösen Tat um einen Sammler handelt. Hören wir uns um, ob jemand ein Interesse daran bekundet hat, die Verfassung in seine Sammlung aufzunehmen.« »Weißt du, wenn ich darüber nachdenke«, brummte Nate, »dann scheint mir das ein hirnrissiges Unterfangen zu sein.« »Wir werden es auf jeden Fall versuchen«, erklärte Ves. »Du weißt schon, Buchantiquariate, Archive, Museen, Galerien, Auktionshäuser, in dieser Richtung. Jemand hat sich so sehr für die Verfassung interessiert, daß er sie gestohlen hat; vielleicht hat er dieses Interesse auch anderweitig bekundet, und jemand kann sich daran erinnern.« »Natürlich«, nickte Nate. »Wir klappern einen Händler nach dem anderen ab und fragen: ›Hat vor kurzem vielleicht jemand versucht, bei Ihnen die Verfassung zu kaufen? Sie wissen schon – das Ding, das in Washington ausgestellt ist?‹« Ves zuckte die Schultern. »Es ist einen Versuch wert.« 41
3 Bei ihrem siebten Versuch hatten sie Erfolg: Brown, Lupoff & Gilden, gegr. 1868: Seltene Bücher, Manuskripte, Autogramme, Münzen, Briefmarken und persönliche Gegenstände der Großen, Wichtigen, Berühmten, Weltbekannten und Bemerkenswerten, An- und Verkauf; kostenlose Schätzung. Wir verschmähen nichts. Mr. Gilden bediente sie persönlich; ein kleiner Mann, dünn und nervös wirkend, mit einem dunklen Schnurrbart, der einem kleinen Walroß Ehre gemacht hätte. Er war, versicherte er ihnen von seinem Platz hinter dem kleinen Tisch, der vierte Mann dieses Namens in der Firma. »Mein Vater, mein Großvater und mein Urgroßonkel. Die Firma hieß ursprünglich einfach ›Brown's‹, wissen Sie. Natürlich, damals war sie noch ein Kaffeehaus. Lupoff und Gilden trafen sich hier früher jeden zweiten Samstag und versteigerten nebenbei seltene Bücher und Dokumente. Mit der Zeit verdrängten die Auktionen immer mehr den Kaffee. Zum Andenken an diese Tradition halten wir immer eine Kanne Kaffee für unsere Kunden bereit.« »Was für eine reizende Tradition«, bemerkte Nate. »Ich würde gern eine Tasse Kaffee trinken.« »Das macht fünfzig Cent«, teilte ihnen Mr. Gilden mit. Ves zog einen Dollar aus der Tasche. »Zwei Tassen«, erklärte er. »Auf meine Rechnung. Können wir Sie um einige Informationen bitten, Mr. Gilden?«
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»Deshalb bin ich hier«, entgegnete Gilden. »Eine Sekunde!« Er verschwand in einer Nische am Ende der langen Theke und kehrte mit drei Tassen Kaffee zurück. »Nun, was kann ich für Sie tun? Sahne oder Zucker?« »Sahne.« »Schwarz.« »Gut, hier.« »Mr. Gilden, was wir gern wissen möchten: Ist vor kurzem jemand mit irgendwelchen ungewöhnlichen Wünschen an Sie – an Ihre Firma – herangetreten?« »Ungewöhnliche Wünsche gehören zu meinem Geschäft«, antwortete Mr. Gilden. »Ein Mann erkundigt sich nach einem Brief von Häuptling Maneater an den Metzger des Weißen Hauses und ist bereit, fünfhundert Dollar dafür zu zahlen; ist das nicht ein ungewöhnlicher Wunsch? Ein anderer Mann macht sich zwar nicht das geringste aus Häuptling Maneater, aber eine Beileidskarte, unterschrieben von Al Capone, entlockt seiner Brieftasche einen Scheck in vierstelliger Höhe. Ungewöhnlich? Sammler – millionenschwere Sammler – suchen das Einzigartige, das Ungewöhnliche. Sie sind alle Spezialisten.« »Wir suchen eine bestimmte Art von Spezialisten, Mr. Gilden«, erklärte Nate. »Hat irgendjemand versucht, irgend etwas von Ihnen zu kaufen, das nach menschlichem Ermessen nicht verkäuflich ist?« »Beispielsweise ein Regierungsdokument«, fügte Ves hinzu. »Ich weiß, was Sie meinen«, rief Mr. Gilden mit aufgerissenen Augen. »Spione! Jemand muß versuchen, geheime 43
Informationen aus dem Land zu schmuggeln, indem er sie als handgeschriebenen Brief tarnt – oder sie im Einband einer Erstausgabe versteckt; ich wette, so ist es!« »Nicht ganz, Mr. Gilden«, wehrte Swift ab. »Dennoch nicht unklug spekuliert«, fügte Ves aufmunternd hinzu. »Aber wir suchen jemand, der eventuell einen extrem sonderbaren Wunsch geäußert hat. Jemand, der eine besonders ausgefallene Rarität kaufen oder verkaufen wollte. Etwas, mit dem Sie nicht gerechnet haben.« »Ich verstehe, was Sie meinen«, murmelte Mr. Gilden und nickte mit rhythmischen Bewegungen. »Ja. Warten Sie einen Moment, ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Er schlurfte zum Tresor im Hintergrund des Ladens. »Aha!« entfuhr es Ves. »Was meinst du?« »Es kann doch nicht…« begann Nate. Dann schüttelte er ein wenig traurig den Kopf. »Nein, vermutlich nicht. Das wäre ein wenig zu viel verlangt.« »Ich bin sicher, daß wir nicht das, äh, Dokument selbst finden werden, Nate«, sagte Ves leise. »Einen Fingerzeig, eine Spur, einen Anhaltspunkt; das ist das Beste, was wir erhoffen können, und das sollte uns auch genügen.« »In diesem Geschäft stößt man auf alle möglichen Verrückten«, erklärte Mr. Gilden, als er zu dem kleinen Tisch zurückkam; in der Hand hielt er eine kleine, flache Schachtel, die wie eine Zigarrenkiste für eine Lage Zigarren aussah. »Wohlgemerkt, diese Stücke sind unverkäuflich.« Er öffnete die Schachtel, nahm mehrere Goldmünzen heraus und legte sie auf die Filzoberfläche des Tisches. Die Kopfseite jeder Münze zeigte das Profil eines 44
arroganten, hakennasigen, energischen Gesichts, das von der Inschrift AARON BURR IMP. MEXICO umrahmt wurde. Auf der Rückseite befand sich ein Wappen: Ein Adler auf einem Kaktus, der nach einer Schlange griff; oben standen die Worte UN EAGLE D'OR. Darunter das Motto: Tritt nicht auf mich. Und das Datum: 1827. »Auf welche Gedanken manche Leute kommen«, murmelte Mr. Gilden, als er eine der Münzen zwischen Daumen und Zeigefinger hielt und sie aus der Nähe betrachtete. »Diese Mühe, die sich jemand damit gegeben hat – es ist einfach unglaublich. Aaron Burr ist niemals Kaiser von Mexiko gewesen, wissen Sie.« »Ich weiß, es war Hamilton«, entschlüpfte es Nate. »Maximilian«, fügte Mr. Gilden hinzu, ohne daß er die Bemerkung gehört zu haben schien. »Ich habe nachgeschlagen. Auf welchen Gedanken manche Leute doch eines Scherzes oder eines Schabernacks wegen verfallen. Unglaublich. Diese Münzen sind von einwandfreier Qualität. Wirklich erste Klasse.« »Woher haben Sie sie bekommen?« fragte Swift. »Ich habe sie gekauft. Wegen ihres Goldgewichts, verstehen Sie. Aber sie sind so schön, daß ich sie nicht einschmelzen werde. Ich habe zwanzig Stück davon.« »Das Bundeseichamt wird sich drei davon ausleihen«, teilte ihm Swift mit und zog seine Ausweiskarte aus der Jackentasche. »Natürlich bekommen Sie eine Quittung, und in ungefähr einer Woche werden wir sie Ihnen unversehrt zurückgeben.«
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»So etwas höre ich nicht zum erstenmal«, knurrte Mr. Gilden und raffte die Münzen zusammen. »Das ist einer der ältesten Tricks; ich kenne mich aus. Ich habe auch all die schlechten Romane gelesen.« Es nahm eine halbe Stunde in Anspruch, um die Sache klarzustellen und Brown, Lupoff & vor allem Gilden davon zu überzeugen, daß die drei Münzen in den Händen eines Beamten der Bundesregierung sicher aufgehoben waren. Nate und Ves kehrten gutgelaunt in Nates Büro in dem alten Gebäude zurück, das die Verwaltungszweigstelle des Eichamtes beherbergte. »Telefon«, rief Swifts Sekretärin drängend, als sie das Büro betraten. Sie hielt den Hörer weit von sich gestreckt und mit der Muschel zur Wand. »Er ist es. Ich hatte Angst, den Hörer hinzulegen.« »Er wer?« fragte Swift und griff nach dem Hörer. »Sie wissen schon, er! Der Präsident.« »Nun, Mary, zum Glück bin ich gerade gekommen, als er anrief.« »Er ist seit ungefähr zehn Minuten am Apparat«, erwiderte Mary. »Ich habe ihm gesagt, daß Sie außer Haus sind. Aber er wollte warten.« »Zehn Minuten?« wiederholte Swift und starrte den Hörer in seiner Hand mit dem Respekt eines Schlangenhändlers an. Langsam hob er ihn an sein Ohr. »Hallo?« »Mr. Swift?« Es war nicht der Präsident. »Am Apparat.« »Einen Augenblick.« Der sich auf fünf Minuten dehnte.
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»Hallo?« Der Präsident. »Hallo?« »Nate? Wo, zum Teufel, bist du gewesen, Kerl?« »Ich war unterwegs, um Nachforschungen anzustellen, Mr. President. Dafür bezahlst du mich schließlich; um Nachforschungen anzustellen.« »Verdammt richtig. Und ich habe Vertrauen in dich gesetzt, Nate. Vertrauen, das du besser nicht enttäuschen solltest. Die Nation verläßt sich auf dich, Nate. Eine Tatsache, die die Nation besser niemals erfahren sollte. Was hast du für mich erreicht? Hast du ES schon gefunden?« »Nein, Mr. President. Aber wir haben eine Spur. Einen Anhaltspunkt.« »Ich wußte es. Ich wußte, daß ich mich auf dich verlassen kann. Laß hören.« Swift berichtete ihm von den Münzen. Schweigen trat ein, während der Präsident die Nachricht verdaute. Dann: »Du machst Witze!« »Wie das, Mr. President?« »Du machst Witze. Das soll ein Fortschritt sein?« »Es ist eine Spur. Vorher hatten wir nichts in der Hand; jetzt haben wir drei Goldmünzen.« Es folgte eine kurze Pause, dann hängte der Präsident plötzlich auf. »Hübsches Büro«, bemerkte Ves. »Ich bin noch nie in deinem Büro gewesen, weißt du das eigentlich? Und eine nette Sekretärin hast du.« Er lächelte Mary an, die jung, 47
gutaussehend und empfänglich war für Schmeicheleien distinguiert wirkender älterer Herren, die ohne zu lüstern lächeln konnten. Sie lächelte zurück. Nate legte den Hörer auf. »Der Präsident«, beklagte er sich bei Ves, »hat gerade einfach aufgehängt.« »Bei Gott, wen?« »Den Hörer«, erwiderte Nate. »Hast du ihm von den Münzen erzählt?« fragte Ves. »Ja.« »Er ist nicht zufrieden?« »Offensichtlich hat er mehr erwartet. Er ist enttäuscht über den mangelnden Fortschritt.« »Dein Präsident«, erklärte Ves und betonte nachdrücklich das ›dein‹, »ist ein Mann, der Wunder erwartet. Und zweifellos ist das sein gutes Recht; schließlich ist er gewählt worden, nicht wahr?« »Er hat Angst vor dem Moment, in dem die Leute dahinterkommen«, sagte Nate. »Die wissen das doch schon«, winkte Ves ab. »Es ist sehr schwer, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl lange geheimzuhalten.« »Ha, ha«, machte Swift. »Nur weiter so. Aber er hat recht, verstehst du? Wenn die Leute dahinterkommen, daß die Verfassung auf mysteriöse Weise verschwunden ist, dann werden unsere Städte von Mord und Wahnsinn heimgesucht. Betrachten wir die Angelegenheit doch einmal nüchtern: Von der symbolischen Bedeutung des Dokuments ganz abgesehen – wenn die Verfassung aus einem 48
hundertfach gesicherten, rund um die Uhr bewachten Gebäude und noch dazu aus einer heliumgefüllten, kugelsicheren Vitrine, die beim ersten Anzeichen einer Gefahr in ein Betongewölbe sinkt, spurlos verschwinden kann, was ist dann noch sicher und wo soll sie dann aufbewahrt werden?« »Nun, dann setzen wir eben unsere Suche nach diesem verdammten Ding fort«, knurrte Ves. »Wenn Bogart es geschafft hat, den Malteser Falken aufzuspüren, dann dürfte es für uns doch erst recht kein Problem sein, dieses lächerliche Dokument wieder aufzutreiben oder den Buschen dingfest zu machen, der uns die Attrappe untergeschoben hat.« »Ich wußte gar nicht, daß das alles so einfach ist«, frohlockte Swift. »Ich hatte schon befürchtet, daß wir uns daran die Zähne ausbeißen. Wie gehen wir vor?« »Gib mir ein paar Minuten Zeit zum Nachdenken«, bat Ves, »und dann werde ich es dir sagen.« Er zog seine Jacke aus, einen blauen Blazer mit großen Goldknöpfen. Er wollte ihn gerade über den Stuhl hängen, als er den kleinen Kleiderständer in der Ecke bemerkte und dann nach einem Bügel griff. »Gefällt Ihnen die Jacke?« fragte er Mary, die sein Treiben beobachtet hatte. Als sie nickte, erklärte er: »Früher habe ich Anzüge getragen, aber jetzt, wo ich mich zur Ruhe gesetzt habe – zumindest halbwegs – ziehe ich nur Sachen an, die mir gefallen. Die Anzüge trägt jetzt mein Sohn.« Er nahm sein Notizbuch aus der Jackentasche, ließ sich auf dem Stuhl nieder und fing hastig an zu schreiben.
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Die Bürotür öffnete sich, und ein vollbärtiger, dünner junger Mann in einem Laborkittel platzte herein. »Hallo, Mary-Schatz, Tag, Mr. Swift. Hier sind Ihre Münzen; wir sind mit der Untersuchung fertig.« Er stellte die schmale Zigarrenkiste auf den Schreibtisch. »Und wie sieht's aus, Ralph?« fragte Nate. »Gold«, erwiderte Ralph feierlich. »Massives Gold. Nun, das heißt – natürlich ist es eine Legierung. Das Troygewicht jeder Münze beläuft sich auf zweihundertsiebzig Gran, dem US-Standard für diese Klasse, und zwar mit einer Genauigkeit von zwei Promille. Sie wurden höchstwahrscheinlich mit einer Schraubenpresse geprägt; die Druckmuster unterscheiden sich von denen, die durch eine Hebelpresse hervorgerufen werden. Jede Münze weist leichte, jeweils unterschiedliche Abnutzungserscheinungen auf, nach denen zu urteilen sie zwischen sechs Monaten und zwei Jahren im Umlauf waren.« Ralph schwieg und sah sich erwartungsvoll um. »Hm«, machte Swift und nickte, »hm. Fahren Sie fort.« »Der Reingehalt der Münzen beträgt neun-eins-sechsKomma-sechs-vier Tausendstel, was einen Legierungsanteil von etwas mehr als acht Prozent bedeutet. Das entspricht dem herkömmlichen Elf-Zwölftel-Goldstandart der Prägemünzen, der erstmalig im Jahr 1526 in England eingeführt wurde und heute noch Gültigkeit besitzt, wenn man davon absieht, daß in der letzten Zeit keine Goldmünzen mehr geprägt worden sind. Die Legierung besteht aus 95% Kupfer, 4% Zinn und 1% Zink. Das ist sogenannte Münzbronze, die ab dem Jahr 1789 von den meisten Münzanstalten der Welt verarbeitet und dann ab 50
1861 durch eine Nickel-Bronze-Verbindung ersetzt wurde.« »Entschuldigung junger Mann«, unterbrach Ves, »aber wollen Sie damit behaupten, daß diese Münzen vor 1861 geprägt worden sind?« »Nein, Sir«, wehrte Ralph in einem leicht schockierten Tonfall ab. »Das wäre im höchsten Maße unwissenschaftlich. Ich stelle lediglich fest, daß die Legierung, aus denen die Münzen zum Teil bestehen, seit 1861 nicht mehr im Gebrauch ist. Außerdem, daß die Schraubenpresse seit der Erfindung der Hebelpresse durch Uhlhorn im Jahr 1839 nicht mehr von den regierungseigenen Münzanstalten benutzt wird. Aber natürlich können irgendwo noch einige kleine private Münzer Schraubenpressen zum Prägen und Münzbronze zum Legieren verwenden.« »Ist Ihnen eine bekannt?« fragte Swift. »Nein, Sir. Und unsere Unterlagen sind lückenlos.« »Vielen Dank, Ralph. Und richten Sie auch Ihren Kollegen unten im Labor meinen Dank aus. Ich weiß es zu schätzen, daß Sie alle anderen Arbeiten zurückgestellt haben, um meine Bitte so schnell zu erfüllen.« »Es war uns ein Vergnügen, Sir«, entgegnete Ralph. »Wenn wir da unten nicht so verdammt schüchtern wären, Sir, würden wir Sie sogar um Aufträge bitten.« Er verließ den Raum und schloß leise hinter sich die Tür. »Es liegt an dieser verdammten Gewerkschaft«, sagte Nate kopfschüttelnd. »Seitdem diese Regierungswissenschaftler gewerkschaftlich organisiert sind, muß man ihnen
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praktisch den kollektiven Erlenmeyerkolben küssen, damit sie überhaupt noch arbeiten.« »Hier«, rief Ves und riß eine Seite aus seinem Notizbuch heraus, »die Früchte meiner intensiven Bemühungen. Mary, wenn Sie meine Handschrift entziffern können, tippen Sie das ab. Dann werden wir Fotokopien davon machen und sie sofort verschicken.« »Was für Kopien?« fragte Nate. »Und an wen willst du sie schicken?« »An alle Zeitungen«, sagte Ves. »An die größten Zeitungen im ganzen Land. Nur ein einfaches Inserat für die Anzeigenseite. Früher haben wir immer wegen gestohlener Juwelen inseriert. Es hat oft funktioniert. Keine Erklärungen erforderlich; auf diese Art. Je einfacher, desto besser.« Ves' Anzeige lautete: Ungewöhnliche Informationen oder Dokumente in bezug auf Aaron Burr gesucht. Zahle Höchstpreise. Vertraulichkeit wird garantiert. Postfach 1945, Washington D.C. 20013. (202) 301-3856. Nate zuckte – ganz gegen seine sonstige Gewohnheit – die Schultern. »Ich dachte immer, ihr Privatdetektive würdet euch aller möglichen mysteriösen Mittel und Wege bedienen. Und jetzt erfahre ich, daß ihr inseriert. Eine weitere Kindheitsillusion, die mir geraubt wird.« »Sherlock Holmes hat auch inseriert«, bemerkte Mary.
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4 Binnen kurzer Zeit erhielten sie aus dem ganzen Land eine Vielzahl unterschiedlicher Antworten. Die meisten davon konnte man ebenso schnell wieder vergessen: MEINE HERREN: THEODOSIA BURR, AARONS EINZIGE TOCHTER, NICHT AUF SEE VERSCHOLLEN. BIN URGROSSENKEL DES ILLEGITIMEN SOHNES VON THEODOSIA UND SKLAVEN AUF ALEX. HAMILTONS JAMAICA-PLANTAGE, WOHIN SIE FLOH, UM SICH VOR IHREM VATER ZU VERSTECKEN. WASSER WILL MICH DARAN HINDERN. SPIONE DES FLÜSSIGKEITS-TRUST IN JEDEM GLAS UND TOPF. SIND HINTER MIR HER. BRAUCHE ZWEITAUSEND DOLLAR, UM ANGELEGENHEIT WEITER ZU VERFOLGEN. ERWARTE UMGEHEND ANTWORT. KODENAME BLAU. JACKSON HAMILTON ADAMS BURR TELEGRAMMADRESSE JHAB Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe mit Faszination Ihre kurze Epistel in der Abalone Morning Tribüne vom vergangenen Donnerstag verfolgt. Wie Sie die Wahrheit über mich herausgefunden haben, weiß ich nicht, aber es ist
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offensichtlich, daß es Ihnen gelungen ist; warum hätten Sie sonst eine Anzeige in solch einem rückständigen, gottverlassenen Dorf wie Abalone aufgeben sollen? Ja, es stimmt, obwohl ich nicht weiß, wie Sie es erfahren haben. Ich bin die Frau, für die Aaron Burr die Präsidentschaft abgelehnt hat und mit der er nach Mexiko gegangen ist. Man sagte, es wäre Verrat gewesen, aber es war Liebe. Es scheint jetzt alles schon so lange her zu sein. Wenn Sie mich heute sehen, würden Sie kaum glauben, daß ich eine derartige Leidenschaft in einem Mann erwecken konnte. Aber ich galt in meiner Jugend als Schönheit und verfügte über großen Charme und Geist. Napoleon war auch dieser Ansicht, genau wie der Herzog von Wellington, ein überaus reizender Mann. Sie wollen mich bestimmt interviewen. Nach all der langen Zeit kann ich auch endlich das Schweigen brechen. Aber keine Bilder und keine Presse. Ich erwarte allen Ernstes Ihre Antwort. Bessie Van Arwitt Lee - Ist dort zwei-null-zwei-drei-null-eins-drei-achtfünf-sechs? - Ja, bitte. - Ich habe hier ein R-Gespräch für irgend jemand von Mr. Dittle Parsons.
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- Von wem? - Mr. Dittle Parsons (Sagen Sie, es ist wegen Burr). Mr. Parsons sagt, es ist wegen – war das Burr? (Genau, Aaron Burr) – es ist wegen Aaron Burr. - Von wo kommt der Anruf? - New York City. - Ich nehme das Gespräch an. - Bitte, sprechen Sie. - Hallo? - Sind Sie das, der Informationen über Aaron Burr haben will? - Das stimmt. Mein Name ist Romero. Was kann ich für Sie tun? - Sie haben mich falsch verstanden. Ich bin es, der Ihnen helfen kann. Ich habe das Zeug über diesen Burr. - Das Zeug? - Richtig. Sie wollen Infos, und Infos habe ich. Sagen Sie mir, was Sie bieten. - Über welche Art von Informationen verfügen Sie, Mr. Parsons? - Ihnen werden die Augen übergehen! Ich will Ihnen nur soviel sagen: Ich habe alle TammanyPapiere. Alle. - Ich verstehe, Mr. Parsons. Hinterlassen Sie Ihre Nummer bei meiner Sekretärin, und wir werden uns wieder mit Ihnen in Verbindung setzen. 55
- In Ordnung. Aber Ihr Burschen solltet euch besser beeilen. Ihr seid nicht die einzigen Interessenten, klar? - Vielen Dank, daß Sie zuerst mit uns gesprochen haben, Mr. Parsons. Aber einige erwiesen sich von unmittelbarem Interesse: Sehr geehrte Herren, ich bin Geschichtslehrer an der DeWitt Clinton High School in New York City. In der Bronx, um genau zu sein. Mein Sohn Richard ist Briefmarkensammler. Allerdings ist er erst zwölf Jahre alt, und demzufolge ist sein Taschengeld begrenzt, was wiederum zu einer Limitierung seiner Sammlung führt. Er erwarb kürzlich bei einem High-School-Fest ein Stück braunes Packpapier, das drei Briefmarken enthielt. Die Briefmarken sind entwertet; der Stempel besteht aus einem wellenförmigen Muster und einem Kreis mit der Inschrift HAUPTPOSTAMT NEW YORK CITY 4. JUNI 1923 NACHM. Die drei Briefmarken sind identisch: hellgrüner Druck auf weißem Papier. In der Mitte eines Ovals befindet sich ein halb zur Seite gedrehter Kopf mit lockigem Haar und einem verkniffenen Lächeln. Die obere Hälfte des Ovals wird von den Worten PORTO VEREINIGTE STAATEN umrahmt; die untere Hälfte von: Aaron Burr. Darunter steht: EINE DISME. Wie Sie vielleicht wissen, besitzt das 56
Postamt der Vereinigten Staaten keine Unterlagen darüber, je eine Aaron-Burr-Briefmarke herausgegeben zu haben. Fällt das unter die Definition »ungewöhnliche Informationen oder Dokumente«? Wenn dem so ist, was verstehen Sie unter »Höchstpreise«? Mein Sohn würde gern eine der Briefmarken behalten, wäre aber bereit, die beiden anderen zu verkaufen, um die Erweiterung seiner Sammlung zu finanzieren. Ihr ergebener Albert E. Gorey Ves rief Mr. Gorey an, handelte mit seinem Sohn Richard einen angemessenen Preis für eine der Briefmarken aus und ließ sie sich zuschicken. Die Briefmarke schien in das Muster zu passen, obwohl noch ungewiß war, wie das Muster eigentlich aussah. Die Aufgabe ließ sich nicht mit dem Zusammensetzen eines Puzzles vergleichen, sondern vielmehr mit dem Versuch, die Teile eines bestimmten Puzzles aus einer Schachtel herauszusortieren, die ein Dutzend verschiedener Spiele enthielt. An jenem Abend genehmigten sich Nate und Ves nach dem Essen einen Brandy in Ves' Arbeitszimmer, als Mrs. Montefugoni einen Besucher ankündigte. Sie beschrieb ihn als einen »vornehmen Herrn«, und da dies ein Ausdruck war, den sie selten benutzte, erwarteten sie sein Erscheinen auf der Türschwelle des Arbeitszimmers mit Interesse. »Mr. Romero?« sagte der Besucher, als er eintrat und dabei fragend von einem Mann zum anderen sah. Er besaß ein feingeschnittenes, aristokratisches Gesicht mit einer
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markanten Nase und einem schmalen, mürrisch wirkenden Mund. Seine tadellos gearbeitete Kleidung hätte ihn zu einem der bestangezogenen Männer zur Zeit der Amtseinführung von Präsident Warren Gamaliel Harding4 gemacht. »Ich bin Mr. Romero«, erklärte Ves. »Treten Sie näher, Sir. Was kann ich für Sie tun?« »Ich habe heute nachmittag schon angerufen«, erwiderte der Besucher, »aber Sie waren nicht im Hause. Ihre, äh, Haushälterin empfahl mir, es heute abend zu versuchen. Es handelt sich, äh, um Ihre Anzeige, die vor drei Tagen im New York Herald erschien. Oder war es die Times?« »Der New York Herald existiert seit fünfzig oder sechzig Jahren nicht mehr, glaube ich«, bemerkte Swift. »Er ging in die Herald Tribüne auf und wurde dann endgültig eingestellt.« Der Besucher warf ihm einen eisigen Blick zu. »Ach ja?« sagte er. »Dann muß es zweifellos die Times gewesen sein.« »Kommen Sie wegen der Anzeige?« fragte Ves. »Haben Sie Informationen für mich? Ungewöhnliche Dokumente über Aaron Burr?« »Nein, Sir«, entgegnete der Fremde. »Erlauben Sie mir, daß ich die Angelegenheit erkläre. Ich besitze keine aktuellen Informationen oder Unterlagen über den Verbleib oder die Absichten dieses Verräters Aaron Burr. Vielmehr erhoffe ich, von Ihnen einige Informationen zu bekommen, und ich bin bereit, dafür zu zahlen, gut zu zahlen.« 4
Warren Gamaliel Harding, Regierungszeit von 4.3.1921 bis 2.8.1923 (D. Übers.)
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Swift wollte schon eine wütende Antwort darauf geben, aber Ves hielt ihn mit einem kurzen Blick davon ab. »Welche Art von Informationen erwarten Sie von uns?« fragte Ves. Der Mann trat näher und blieb in der Mitte des Zimmers stehen. Er gehörte nicht zu der Sorte Männer, denen man einen Platz anzubieten wagte; ob er sitzen oder stehen wollte, entschied er allein, ohne sich irgendwelche Vorschriften machen zu lassen. »Sagen Sie mir, wer Ihr Klient ist«, verlangte er. »Sagen Sie mir, was für ein Interesse er an diesem Fall hat und was Sie herausgefunden haben.« Ves nickte zustimmend. »Prägnant«, stellte er fest. »Es erinnert mich an meine Abschlußprüfung in Psychologie«, brummte Nate. »›Legen Sie Ihr Wissen über dieses Gebiet dar.‹ Das trifft den Nagel auf den Kopf.« Der Fremde starrte ihn finster an. »Haben Sie etwas dagegen, daß dieser bestimmte Nagel auf den Kopf getroffen wird?« fragte er. »Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich? Die Streitkräfte sammeln sich, die Fronten werden klar. Wählen Sie sorgfältig, junger Mann!« Seine Stimme besaß den durchdringenden Klang eines erfahrenen Redners, und seine Gestalt schien zu wachsen, während er sprach. »Ihnen ist offenbar nicht bewußt, daß Sie Unmögliches von mir erwarten«, wies ihn Ves mild zurecht. »Sie verlangen von mir, daß ich die Identität eines Klienten verrate – falls ich einen Klienten habe; daß ich vertrauliche Informationen weiterleite und meine Quellen preisgebe. 59
Kein Privatdetektiv, der etwas auf sich hält, würde darauf eingehen. Nicht, wenn er vorhat, weiter im Geschäft zu bleiben.« »Mir sind die ethischen Prinzipien Ihres Berufs nicht bekannt«, erwiderte der Fremde. »Sofern man Ihre Tätigkeit überhaupt als Beruf bezeichnen kann. Aber Ihre Logik ist fadenscheinig. Mit Ihrer Anzeige bitten Sie andere Menschen um den Verkauf von Informationen, und das halten Sie für richtig und ehrbar. Aber wenn ich mit diesem Ansinnen an Sie herantrete, benutzen Sie Worte wie ›verraten‹ und ›preisgeben‹. Mein Gold ist so gut wie das eines jeden anderen.« »Gold?« echote Ves. »Ganz nach Wunsch«, sagte der Mann. »Hartgeld oder Scheine. Ich bin sehr an dieser Angelegenheit interessiert und bereit, Ihre Dienste großzügig zu honorieren.« »Ich befürchte, wir reden aneinander vorbei«, meinte Ves. »Ich glaube nicht, daß ich irgendwelche Informationen besitze, die für Sie von Interesse sein könnten.« »Ich bezahle dafür, wenn Sie mir gestatten, dies allein zu entscheiden«, beharrte der Fremde. Er zog eine Münze aus seiner Tasche. »Zehn Dollar in Gold für den Namen Ihres Auftraggebers. Ein zweites Goldstück für Ihre bisherigen Erkenntnisse.« Nates Augen saugten sich an der Goldmünze fest. »Ich würde mir diese Münze gern einmal anschauen«, erklärte er. Der Fremde verbarg sie in seiner Faust. »Verdienen Sie sie!« 60
Nate sah Ves an, der in tiefes Nachdenken versunken war. »Ich kann Ihnen nicht verraten, für wen wir arbeiten«, teilte Ves schließlich seinem Gast mit. »Das wäre ein Vertrauensbruch. Aber ich werde Ihnen Fotokopien der beiden einzigen, äh, Dokumente zur Einsicht vorlegen, auf die wir bis jetzt gestoßen sind.« »Ein faires Angebot, Sir.« Der Fremde warf Ves die Münze zu. Ves nahm zwei Blatt Papier von dem vor ihm stehenden Kaffeetisch und reichte sie seinem Gast. Ein Blatt zeigte beide Seiten der mexikanischen Münze und das andere ein Abbild der Eine-Disme-Briefmarke. Der Fremde starrte die Kopien an. »Das?« stieß er hervor. »Das sind Ihre Dokumente? Sie scherzen, Sir; natürlich, Sie erlauben sich einen Scherz mit mir.« »Ich sagte Ihnen bereits, daß ich meiner Überzeugung nach keine Unterlagen besitze, die für Sie von Interesse sein könnten«, verteidigte sich Ves. »Das ist alles. Natürlich ist es möglich, daß wir auf unsere Anzeige hin noch weitere Dokumente erhalten. Wenn Sie mir sagen, an welchen Informationen Sie besonders interessiert sind, könnte ich Sie anrufen, sobald wir irgend etwas Neues erfahren.« Er schob die Münze in seine Tasche. »Ich hatte angenommen, Sie wüßten Bescheid, Sir«, gestand der Fremde. »Der Inhalt Ihrer Anzeige … Sie sind doch nicht etwa ahnungslos? Sagt Ihnen der Ausdruck ›Hauptkanal‹ etwas?« »Wenn Sie die Kanäle an meinem TV-Gerät meinen …« begann Swift. 61
»TV?« wiederholte der Fremde, als ob ihm dieser Begriff vollkommen fremd wäre. »Ja, das TV-Netz …« »Genau!« Der Fremde wirkte hocherfreut. »Das Netz – Hauptkanal; Sie wissen es. Ich habe es mir gedacht. Nun, Sir, ich bin der Große Widersacher.« Er stand da in der Mitte des Zimmers, plusterte sich auf und wartete auf ihre Reaktion. Der Ausdruck auf den Gesichtern der beiden Männer schien ihn zu befriedigen. »Ich sehe, Sie sind überrascht, eh? Haben wohl nie geglaubt, mir zu begegnen, eh? Ja, ich bin menschlich, meine Herren; überzeugen Sie sich selbst. Ich bin menschlich. Und Ihre kleine Anzeige hat mich interessiert. Natürlich war es reines Glück, daß ich sie gelesen habe. Aber wie es der Zufall wollte, war ich zum richtigen Zeitpunkt hier. Allerdings kann ich nicht lange bleiben; ich muß in Kürze weiterreisen.« Er schwieg und dachte einen Moment nach. »Für den Fall, daß Sie etwas erfahren«, fuhr er fort, »lasse ich Ihnen eine Nummer hier, unter der Sie mich erreichen können. Vergessen Sie nicht: Gute Dienste entlohne ich fürstlich. Und wenn Sie es jemals über Ihr ethisches Herz bringen können, mir anzuvertrauen, wer Sie beauftragt hat und aus welchen Gründen, wäre ich Ihnen im höchsten Maße zu Dank verpflichtet. Im höchsten Maße. Ich muß Abschied nehmen. Sie können mich unter diesem Anschluß erreichen.« Er kritzelte eine Nummer auf eine Visitenkarte und schnippte sie auf Ves' Tisch. »Ich danke Ihnen für Ihre Geduld, meine Herren.« Er verbeugte sich leicht und ging abrupt hinaus. Einen Moment später 62
hörten sie, wie die Haustür geöffnet und geschlossen wurde. Swift ging argwöhnisch in den Korridor, um sich zu vergewissern, daß ihr Gast wirklich das Haus verlassen hatte. Als er zurückkam, hatte Ves das Goldstück aus seiner Tasche hervorgekramt und war dabei, es im Licht zu untersuchen. »Nun?« fragte Nate. »Wessen Bild ist es jetzt?« »Eine Dame mit Turban«, sagte Ves. »Hört auf den Namen ›Freiheit‹, wie hier steht. Holst du mir bitte mein Nachschlagewerk über amerikanische Münzen? Es steht dort hinten im Aktenregal – ziemlich weit unten.« Nate brachte ihm das verlangte Buch, und Ves begann es schnell durchzublättern. »Da ist sie«, frohlockte er. »Hm. Hmm.« »Und?« »Es ist eine echte Münze, nach dem Buch zu urteilen«, erklärte Ves. »Was für eine Erleichterung«, brummte Nate. »Sie stammt aus dem Jahr 1797«, fügte Ves hinzu. »Völlig normal, so etwas mit sich herumzuschleppen.« »Exzentrisch«, bemerkte Swift. »Wenn das Handbuch nicht lügt«, sagte Ves, »ist dieses kleine Goldstück heute über zwei Riesen wert.« »Zwei was?« »Zweitausend Dollar«, sagte Ves. »Heute geht das Abendessen auf meine Rechnung. Das heißt, wir haben
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schon zu Abend gegessen. Dann gebe ich eben morgen einen aus.« »Verrückt«, murmelte Swift. Er beugte sich nach vorn und griff nach der Visitenkarte, die der Fremde zurückgelassen hatte. »Ich habe da eine gewisse Ahnung«, gestand Ves, »aber sie ist zu nebulös und zu wahnsinnig, um jetzt schon darüber zu reden.« »Vielleicht hilft dir das weiter«, erwiderte Swift und hielt Ves die Visitenkarte vor die Augen. Auf der Rückseite stand in sauberer Tintenschrift eine Telefonnummer und auf der Vorderseite: ALEX. HAMILTON Anwalt
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5 Die Windstöße kamen plötzlich und nicht vom Meer her; kalte, schneidende Windböen, die einem die Hosenbeine bauschten und am Mantel zerrten. Sie schienen aus allen Richtungen zu kommen. Wo immer man auch stand, sie fanden einen; wo immer man sich auch versteckte, sie verfolgten einen mit neckischen, kurzen, kalten Knüffen. Es wurde Zeit, die Hollywood-Schaukeln hereinzuholen und die Tische am Swimming-Pool abzudecken. Dabei hatte der Winter noch nicht begonnen. Winter in Washington waren normalerweise mild, aber die letzten Ausläufer des Herbstes zeigten sich oft von ihrer grimmigsten Seite. Swift stand im Sichtschatten eines Hauseingangs, stampfte mit den Füßen auf, wärmte seine Hände unter den Achselhöhlen und wünschte, zwei weitere Pullover angezogen zu haben. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in dem braunen Sandsteinhaus, das er beobachtete, rührte sich nichts. Es war fast zehn Uhr morgens, und das Haus lag genauso still und dunkel da wie um fünf Uhr. Oder, was das betrifft, um vier. Beide Stunden waren Nate noch deutlich in Erinnerung. Erst um drei Uhr morgens war es Ves, Nate und dem Präsidenten gelungen, die Adresse zu ermitteln, die mit der Telefonnummer auf der Rückseite von Alex. Hamiltons Visitenkarte übereinstimmte. Es wäre schneller gegangen, hätten sie das FBI beauftragt, die Adresse von der Telefongesellschaft anzufordern, aber der Präsident wollte um
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jeden Preis das FBI aus dieser Angelegenheit heraushalten. Diese Bastarde hätten nur darauf bestanden, über die Hintergründe informiert zu werden. Seit Watergate erlaubte man sich die unglaublichsten Frechheiten. So gingen Ves Romero, Nate Swift und der Präsident der Vereinigten Staaten gewissenhaft das Bezirkstelefonbuch der Hauptstadt Washington im Distrikt Columbia durch, bis Ves mit einem lauten »Heureka« und einer heftigen Handbewegung, die eine mit Makadamia-Nüssen gefüllte Kristallschale vom Tisch fegte, verkündete, daß er die Nummer gefunden hatte. Sie gehörte zu einer Mrs. Buffie O'Gorman und einer Adresse in der V. Straße, Nordwest-Bezirk. Während jeder von ihnen mit einem Drittel des Telefonbuchs beschäftigt gewesen war, hatten sie über die Bedeutung von Alex. Hamiltons Besuch und über seine wahre Identität diskutiert. Es war ein komplizierteres Problem als das alte Rätsel, von wem wohl der Barbier rasiert wurde, aber die Antwort war dieselbe: Bleibe ihm dicht auf den Fersen, und überzeuge dich persönlich. Und deshalb hielt Nate seit vier Uhr morgens auf der anderen Straßenseite Wache und beobachtete das Haus, in dem – wenn die Hoffnung nicht trog – sowohl Mrs. Buffie O'Gorman als auch Mr. Alex. Hamilton wohnten. Um vier war es kalt gewesen, aber Nate wußte, daß es nach Sonnenaufgang wärmer werden würde. Nate irrte sich. Im Lauf des Morgens wurde es kälter, und Nate hatte das Gefühl, als ob die Haare auf seinem Handrücken splittern und abfallen würden, wenn er die Faust schloß. Die strahlende Morgensonne war eine Täuschung, eine 66
Million Glühwürmchen in einem eiskalten Gefäß, das in der Ferne langsam über den frostigen Türmen der Washingtoner Bürogebäude aufging. Und das braune Sandsteinhaus in der V., das ihn mit seinen drei Stockwerken hochmütig überragte, sah mit vereisten Fenstern auf ihn herab und warnte ihn, sich seiner Vordertreppe zu nähern. Oder, was wahrscheinlicher war, die vielen Stunden in der Kälte hatten ihn den Verstand gekostet. Ein Auto fuhr an ihm vorbei, und Nate erhaschte einen Blick auf Ves' Profil, als das Auto um die Ecke bog. Einen Moment später kam Ves zu Fuß aus der Seitenstraße und stieg die Treppe zum Eingang hinauf, in dem Nate herumlungerte. Er blieb stehen und beschäftigte sich intensiv mit den Namensschildern an den Briefkästen. »Etwas Neues?« flüsterte er. »Wo, zum Teufel, hast du gesteckt?« fragte Swift und starrte mit geheucheltem Desinteresse ins Leere. »Ich hatte noch einiges zu erledigen«, erwiderte Ves. »Hat sich jemand blicken lassen?« »Kein Schwanz«, grollte Swift. »Mir ist eiskalt, und ich fange schon an zu halluzinieren. Ich glaube, ich hatte soeben eine Auseinandersetzung mit dem Gebäude auf der anderen Straßenseite. Ihm gefällt es ganz und gar nicht, daß ich hier herumlungere. Und wenn ich's mir recht überlege, mir gefällt es auch nicht. Ich gehe jetzt nach Hause und lege mich schlafen, in Ordnung, Großer Bruder?« »Noch nicht«, hielt ihn Ves zurück, »aber bald, bald. Wir müssen erst jemanden auftreiben, der dich ablöst.« 67
»Wie wäre es mit dem Innenminister?« knurrte Nate. »Du kommst dir wohl verdammt witzig vor, wie?« fragte Ves. »Dabei weißt du gar nicht, daß der Präsident persönlich herkommen wollte.« »Ich hätte ihn nicht daran gehindert«, entgegnete Nate. »Obwohl er schon damals in der Schule nicht wachbleiben konnte. Nachts hatte er ständig irgendwelche Rendezvous', und tagsüber schlief er.« »Die Mädchen müssen ihn geliebt haben«, bemerkte Ves. »Das haben wir alle«, sagte Nate. »Er hat immer etwas losgemacht. Trotzdem, wenn der Präsident so besorgt ist, daß er mich hier ablösen will, dann glaube ich, daß das im Interesse der Nation geschieht.« »Ich habe ihm davon abgeraten«, gestand Ves bedauernd. »Aber ich hätte es liebend gern gesehen: die schußsichere Limousine an der Ecke, mit dem Marinefeldwebel als Chauffeur, der sich auf dem Vordersitz zusammenkauert und versucht, sich warmzuhalten. Der Präsident, wie er auf einem Klappstuhl hier im Eingang sitzt, mit einem Klapptisch vor sich, und seine Hände über einer Tasse Kakao wärmt. Zwei Männer vom Geheimdienst, die unauffällig vor dem Haus herumlungern; zwei weitere, die vom Dach herunterhängen. Das mobile Nachrichtenbüro des Präsidenten, das sich im Erdgeschoßapartment eingenistet hat, sehr zur Verwirrung … nein, streich das – der Mieter müßte durch den Geheimdienst evakuiert werden. Und das Heer der Pressefritzen auf der anderen Seite der Polizeiabsperrung, die errichtet werden müßte. Oder man
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könnte natürlich auch die Straße an beiden Enden einfach blockieren. Was für ein Glück, daß Alex. nichts von alledem bemerken würde.« »Ich liebe es, wenn du sarkastisch wirst«, sagte Nate. »Du klingst dann genauso wie W.C. Fields.« »Tja«, meinte Ves. »Hier, nimm das.« Er reichte Swift mit der Spitze zuerst eine Stecknadel mit einem braunen Knopf. »Was ist das?« fragte Nate. »Ein Funkgerät«, sagte Ves. »Der Präsident hat ein paar davon ausgegraben. Steck es hinter dein Revers oder an eine andere Stelle, die nicht weiter als fünfzig Zentimeter von deinem Mund entfernt ist. Jetzt nimm das Pflaster hier und befestige es hinter deinem Ohr.« »Hinter welchem?« fragte Swift. »Ich glaube nicht, daß das eine Rolle spielt«, entgegnete Ves. »Du brauchst jetzt nur noch den Knopf zu berühren, und schon kannst du mir eine Nachricht übermitteln. Der Empfänger ist natürlich die ganze Zeit über eingeschaltet.« »Wir groß ist die Reichweite?« erkundigte sich Swift und versuchte unverfänglich dreinzuschauen, während er das Heftpflaster an die Haut hinter seinem linken Ohr drückte. »Etwas mehr als einen Kilometer, wenn die Verhältnisse günstig sind; sehr viel weniger, wenn sie es nicht sind.« »FBI?« fragte Swift. »Sei nicht albern.« »CIA?« 69
»Abteilung für Fisch und Spiele«, bestätigte Ves. »Sie jagen damit Miezen nach oder plaudern mit Backfischen oder was weiß ich.« »In der Verwaltungsstelle des Eichamtes haben wir nichts Vergleichbares«, sagte Nate traurig. »Andererseits finden wir vom Eichamt wenig Zeit für ein Plauderstündchen mit Backfischen.« In diesem Moment bewegte sich etwas hinter der gläsernen Haustür des braunen Sandsteingebäudes. Alex. Hamilton, wie immer tadellos gekleidet – Homburg, grauer Cutaway, Weste, graue Faltenhose mit fünfzehn Zentimeter hohen Aufschlägen und graue Gamaschen über schwarzen Lackschuhen – trat heraus. »Schnell«, zischte Ves. »Du folgst ihm. Ich werde die Wirtin aushorchen, solange er fort ist.« »Ich weiß nicht, ob ich dem jetzt gewachsen bin«, wandte Swift ein. »Ich habe nicht viel Schlaf gehabt.« »Ich werde so schnell wie möglich einen Ersatzmann für dich besorgen«, beruhigte ihn Ves. »Verlier ihn nur nicht aus den Augen.« Nate schlurfte unauffällig hinter Alex. her; und Ves ging die Straße hinunter zu einer Imbißstube, um den Präsidenten anzurufen. Dann telefonierte er mit seinem Sohn bei Romero & Partner und bat um einen Ersatz für Nate – sein Sohn versprach, bis vierzehn Uhr einen Detektiv zu schicken –, und anschließend nahm Ves an einem der Tische Platz und verzehrte ein bescheidenes Frühstück: pochiertes Ei, Toast und ein Glas fettarme Milch. Als er
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fertig war, kehrte er zu dem Sandsteinhaus zurück und klingelte. Eine kleine, dickliche Frau mit orangefarbenem Haar und in einem rosaroten Morgenrock tauchte im Hausflur auf und kam zur Tür. Sie hielt in der linken Hand einen Besen und äugte durch die Glasscheibe. »Ja?« sagten ihre Lippenbewegungen. »Mrs. O'Gorman?« begann Ves höflich. »Dürfte ich Ihnen vielleicht einige Fragen stellen?« »Was?« formte sie mit den Lippen. Er konnte sie nicht hören, und es war offenkundig, daß auch sie ihn nicht verstand. »Einige Fragen!« rief Ves laut. Die Dame erwiderte irgend etwas mit unverkennbarer Gereiztheit und fuchtelte mit dem Besen, um ihre Worte zu unterstreichen. Ves konnte durch die Tür keinen Ton hören. »Öffnen Sie die Tür«, bat Ves und formte sorgfältig die Worte mit dem Mund. »Öffnen Sie die Tür.« »Ei im ei!« las Ves von ihren Lippen ab. Schließlich, als sie erkannte, daß sich Ves auf diese Weise nicht abwimmeln ließ, öffnete sie dann doch die Tür so weit, wie es das Kettenschloß erlaubte. »Keine Zimmer frei!« erklärte sie barsch und quetschte ihr Gesicht, so weit es ging, durch den Spalt. »Informationen, kein Zimmer möchte ich«, sagte Ves eilig und ohne sich um die Grammatik zu kümmern, bevor sie die Tür zuschlagen konnte. »Ich zahle dafür.«
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»Zahlen?« Das Wort erregte ihre Aufmerksamkeit. »Wieviel? Was wollen Sie wissen? Lassen Sie mich das Geld sehen.« Ves zog einen Zehn-Dollar-Schein aus der Tasche und wedelte damit hin und her. Ihre kleinen Augen leuchteten auf, und sie löste die Türkette. »Kommen Sie herein«, forderte sie ihn auf. »Ich hätte gern eine Auskunft über Ihren Mieter«, sagte Ves. »Der Herr, der vor ungefähr einer Stunde weggegangen ist.« »Kommen Sie, setzen Sie sich«, drängte ihn die Wirtin. »Trinken Sie ein Täßchen Kaffee. Was möchten Sie wissen?« Ves folgte ihr in die Küche und erhielt eine rosenverzierte Tasse mit einer wässrigen braunen Flüssigkeit, die er nicht identifizieren konnte. »Alles, was Sie über ihn wissen«, erwiderte Ves. »Wie lange er schon hier wohnt; was er den ganzen Tag treibt; ob er Besuch bekommt; ob es irgend etwas Ungewöhnliches über ihn zu berichten gibt.« »Morgen ist es eine Woche«, erzählte die Frau. »Ich weiß nicht, was er macht, aber er bringt ständig Bücher, Zeitschriften und Zeitungen mit nach Hause. Keine Besucher und nichts Ungewöhnliches. Sind das zehn Mäuse wert?« Ves gab ihr den Geldschein. »Sonst nichts?« hakte er nach. »Nichts, was aus dem Rahmen fällt?« »Ein sehr ruhiger Mann«, antwortete die Wirtin. »Gab mir die Miete eine Woche im voraus. In Gold.« 72
»Gold?« echote Ves, und in seiner Stimme verriet sich Faszination. »Es ist legal«, verteidigte sie sich. »Ich habe mich erkundigt.« »Eine Münze?« fragte Ves. »Was sonst, etwa einen Nugget?« »Mexikanisch?« fragte Ves. »Ich nehme kein ausländisches Geld«, erklärte die Wirtin mit patriotischer Tugendhaftigkeit, kramte die Münze hervor und hielt sie ihm mit ihren plumpen Fingern vor die Nase. Es war tatsächlich keine ausländische Münze. Ein goldenes Zehndollarstück, geprägt 1833 in Philadelphia, und es war genauso amerikanisch wie der Präsident, dessen Gesicht auf der Vorderseite abgebildet war: Alexander Hamilton. »Hamilton ist nie Präsident der Vereinigten Staaten gewesen«, sagte Ves halb zu sich selbst. »Das behaupten Sie. Das ist meine Münze, und Sie geben sie mir jetzt sofort zurück!« rief sie. Und schon hatte sie ihm das Goldstück aus der Hand genommen. »Ves! Kannst du sofort herüberkommen?« fragte das Pflaster hinter Ves' Ohr mit Nates Stimme. »Wohin?« fragte Ves und berührte den Knopf. »Was?« sagte die Wirtin. »Es gibt ein Türkisches Bad an der Nord Dakota, Ecke Warrum«, antwortete Nates Stimme. »Warrum?« wiederholte Ves.
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»Warum nicht?« meinte die Wirtin. »Gold steigt ständig im Wert, weil es nicht genug davon gibt, um all die vielen Ohrringe herzustellen, seit durchbohrte Ohren wieder groß in Mode sind. Blech kann man dafür nicht nehmen, weil dadurch die Ohrläppchen verfaulen.« »Ganz richtig, Warrum«, bestätigte Swift. »Wir treffen uns draußen.« »Einverstanden«, sagte Ves. »Es stimmt«, nickte die Wirtin. »Meine Stiefschwiegertochter hat es mir erzählt. Und sie muß es schließlich wissen; sie macht eine Lehre als Kosmetikerin.« »Danke, Mrs. O'Gorman. Sie waren mir eine große Hilfe«, erklärte Ves und traf Anstalten zu gehen. »Silber steigt auch, allerdings nicht so stark«, fügte die Wirtin hinzu und nahm ihm die Tasse aus der Hand. »Besuchen Sie mich doch bald wieder!«
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6 Swift folgte Alex. so mühelos wie ein Anhänger einem Lastwagen. Der Mann eilte die Straße entlang, ohne sich um die Autos und Fußgänger zu kümmern, als hätte er eine schriftliche Garantie aus dem Jenseits, daß ihm nichts zustoßen würde. Er sah niemals nach rechts oder links, und wäre die Welt hinter ihm zerlegt und in Kisten verpackt worden, er hätte es nicht bemerkt. Nate hätte ein Clownkostüm tragen und auf dem Rücken eines Elefanten in drei Schritten Abstand hinter ihm herreiten können, und Alex. wäre dennoch unbeirrt weitergegangen. Was eine gute Sache war; in Nates derzeitigem Erschöpfungszustand überstiegen die subtileren Beschattungsmethoden bei weitem seine Kräfte. Aber er war in der Lage, weiterzustolpern und seinem Opfer dicht auf den Fersen zu bleiben. Alex. betrat eine Zweigstelle der Stadtbücherei. Nate forschte nach anderen Ausgängen, und als er keine fand, ließ er sich glücklich auf einer Bank an der Bushaltestelle nieder, um Alex. Rückkehr abzuwarten. Das einzige Problem war die Tatsache, daß Nate sofort nach dem Hinsetzen in das euphorische Halbschlafstadium hinüberdämmerte, indem die Augen ihren eigenen Willen entwickelten und sich die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit auflösten. Nate stand auf, um sich die Beine zu vertreten und seine Müdigkeit zu vertreiben, aber in diesem Moment verließ Alex. Hamilton auch schon die Bücherei.
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Er hatte in der Zwischenzeit seine Kleidung gewechselt und trug nun einen braunen Gehrock mit weißen Aufschlägen und passender Weste, eine weiße Seidenkrawatte, eine braune Kniehose mit weißen Strümpfen und lederne Slipper mit großen Messingschnallen. Unter den Arm geklemmt hielt er einen Dreispitz, und auf seinem Haupt saß eine weiße Perücke. Während er ging, murmelte er: »Ich komme zu spät, ich komme zu spät, der General wird meinen Kopf fordern.« Nate versuchte ihm zu folgen, aber er stellte fest, daß er sich nicht bewegen konnte, als wäre er an seinem Platz festgefroren. Er versuchte sich zu bewegen, er zwang sich dazu, er kämpfte darum, und dann sackte er mit dem Kopf nach vorn auf die Knie, und er wachte auf. Diesmal fuhr er hoch und ging auf und ab. Er zwickte sich ins Ohrläppchen, um sich davon zu überzeugen, daß er wirklich wach war, und er hoffte, daß Alex. während seines Schlummers nicht die Bücherei verlassen hatte. Das Glück war ihm hold, und zwei Minuten später tauchte Alex. auf, stieg die Vordertreppe hinunter und ging die Straße entlang. Swift heftete sich wieder an seine Fersen. Ein paar Minuten später und einen Block weiter erreichte Alex. das Türkische Bad VENUS-ADONIS und ging hinein. »Wer hätte das gedacht?« fragte sich Nate, als er draußen stehenblieb, um zu warten. Das Problem war, eine bequeme Haltung zu finden, die ihn nicht einschlafen ließ. Nachdem er eine Weile herumgezappelt hatte, entschied er, daß jede Haltung den Schlag herbeiführen würde; die einzige Hoffnung war, in Bewegung zu bleiben. 76
Er ging vor dem Eingang des VENUS-ADONIS auf und ab und versuchte, nicht wie ein unentschlossener Kunde oder wie ein Zustellungsbeamter zu wirken. Er wechselte auf die andere Straßenseite und spazierte vor der wuchtigen Doppeltür einer Bank hin und her, bis er einen Mann mit einem strengen Schnurrbart, dünnen, humorlosen Lippen und nervösen, unsteten Augen bemerkte, der ihn durch die halbgeöffnete Jalousie des Straßenfensters der Bank mißtrauisch beobachtete. Dann begab er sich zum VENUSADONIS zurück. Plötzlich zerriß ein Blitz der Erkenntnis den Nebel der Müdigkeit, der ihn umgab, und machte ihn hellwach. Swift fiel ein, daß er die erste und wichtigste Aufgabe vergessen hatte, die Kindergarten-Lektion der Zivilpolizisten und Spione. Er hatte nicht nachgeschaut, ob es andere Ausgänge gab. Er stellte eine leere Limoflasche vor die Haustür, und bog rasch um die Ecke und in die Gasse, die an der Rückseite des VENUS-ADONIS entlangführte. Dort war eine Ladeplattform, die zweifellos seit vielen Jahren nicht mehr benutzt worden war, und ein großes Gittertor, das von außen durch ein Vorhängeschloß gesichert wurde. Die kleine Tür an der Seite der Rampe ließ sich von innen her öffnen, aber vor ihr standen zwei Mülltonnen. Nach dem Abfall zu urteilen, der um die Mülltonnen verstreut lag, waren sie in letzter Zeit nicht bewegt worden. Derart beruhigt, hastete Nate zurück zur Ecke, um Alex. abzufangen, falls er das Etablissement verlassen hatte, während er selbst mit der Inspektion des Abfalls beschäftigt gewesen war. Nichts war von ihm zu sehen, und die Limoflasche befand sich noch immer an ihrem 77
Platz; was bedeutete, daß er sich entweder nach wie vor im Haus aufhielt oder raffinierter war als erwartet. Allmählich begann sich Swift Sorgen zu machen. Sofern sich Alex. nicht den exotischeren Vergnügungen hingab oder im Dampfbad eingeschlafen war, hätte er inzwischen wieder auftauchen müssen; es war schon über eine Stunde vergangen. Manche Leute verbrachten den besten Teil des Tages in derartigen Etablissements, aber Alex. war zu beschäftigt und zu zielbewußt, um sich von materiellen Genüssen lange ablenken zu lassen. Nate schob sich durch die Schwingtür und betrat die weißgeflieste Halle. Er begab sich zu dem weißgekleideten Angestellten, der in einer Ecke hinter dem weißgekachelten Tresen stand. »Morgen«, sagte er. »SF-Anhänger«, murmelte der Mann und kratzte sich mit seinem Kugelschreiber die Nase. »Wie bitte?« fragte Swift. Der Mann sah auf. »Oh, ich habe Sie gar nicht bemerkt. Ich habe gerade nach einem Wort mit drei Buchstaben für ›SF-Anhänger« gesucht.« »Viel Glück«, wünschte ihm Nate. »Der Mann, der vor ungefähr einer Stunde hereingekommen ist; wissen Sie, wo er steckt? Er ist sehr gepflegt gekleidet…« »Der Bursche mit dem Homburg?« Der Angestellte gestikulierte mit dem Kugelschreiber. »Den Gang hinunter und dann nach links. Dampfbad. Ein Freund von Ihnen?« »Ich kenne ihn«, entgegnete Nate vorsichtig. »Warum?« »Er ist in das Dampfbad gegangen, wissen Sie?«
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»Sie haben es mir bereits mitgeteilt«, nickte Nate. »Ja. Nun, er ist in das Dampfbad gegangen. Ich habe ihm erklärt, daß er einen Moment warten müßte, damit ich den Dampf hochdrehen kann, denn er war der erste Besucher an diesem Tag. Er sagte, er wolle keinen Dampf haben. Ich fragte ihn, ob er in den Umkleideraum wolle, um seine Kleidung aufzuhängen, und das lehnte er ebenfalls ab; ich schätze, da er keinen Dampf wollte, war das eine vernünftige Entscheidung. Sie verstehen? Seitdem ist er dort drinnen, in voller Kleidung, ohne Dampf.« »Er ist nicht herausgekommen?« vergewisserte sich Swift. »Er ist nicht an mir vorbeigekommen«, erwiderte der Angestellte, »und das Dampfbad hat keine Hintertür. Er könnte in den Umkleideraum gegangen sein, aber von dort gelangt er auch nur auf den Korridor, wissen Sie.« »Ich frage mich, was er dort drinnen treibt«, sinnierte Swift. Der Angestellte zuckte die Schultern. Solange es nicht um ein Wort mit acht Buchstaben für »geistige Trübung« ging, war er nicht interessiert. Er konzentrierte sich wieder auf sein Kreuzworträtsel. »Er ist dort schon eine verdammt lange Zeit«, sagte Swift. »Wenn Sie wollen, gehen Sie hin, und überzeugen Sie sich, daß mit ihm alles in Ordnung ist«, schlug der Angestellte vor. »Ich möchte nicht, daß er auf den Gedanken kommt, ich wollte ihm hinterherschnüffeln«, wehrte Nate ab. »Schauen Sie hinein«, sagte der Angestellte. »Die Tür besitzt eine Sichtscheibe. Wenn der Dampf aufgedreht ist, 79
kann man nichts erkennen, aber da Ihr Freund keinen Dampf haben wollte…« Nate begab sich zur Tür des Dampfbads und äugte durch die Glasscheibe. Zuerst konnte er überhaupt nichts in dem grellweißen Raum erkennen; als wäre er schneeblind. Dann schälten sich Einzelheiten heraus: die weißlackierten Holzbänke, das Muster der Kacheln an der Wand, die Abflüsse, die Rohre, die Tür zur Umkleidekammer und die Tatsache, daß sich im Innern des Raums keine Menschenseele aufhielt. Er stieß die Tür auf und trat ein. In dem großen, quadratischen Raum gab es keinen Platz, wo man sich verstecken konnte, außer unter den Bänken, und dort befand sich niemand. Er ging weiter in die Umkleidekabine hinein. Es gab vier Reihen Spinde, alle unverschlossen und die meisten von ihnen offen. An der Wand waren zwei breite Regale befestigt, auf denen Badetücher lagen. Von Alex. war nichts zu sehen, aber Swift öffnete die geschlossenen Spinde aus dem Gefühl heraus, es sich schuldig zu sein. Er wußte, daß sich Alex. Hamilton in keinem davon versteckte. Er hatte recht. Swift geriet nicht in Panik. Er war zu erfahren, zu intelligent, zu vernünftig, zu blasiert und zu müde, um in Panik zu geraten. Mit gemessenen Schritten kehrte er zum Tresen zurück. »Er ist fort«, erklärte er. Der Angestellte sah von seinem Kreuzworträtsel auf. »Hm?« »Er ist fort. Der Herr mit dem Homburg.«
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»Was für ein Unsinn«, erwiderte der Angestellte gereizt. »Er ist doch noch nicht herausgekommen. Er muß in der Umkleidekammer sein.« »Ich habe nachgesehen. Er ist nicht da.« »In den Massageräumen? Sie liegen auf der anderen Seite des Korridors. Aber sie müßten an sich verschlossen sein. Die Masseusen sind noch nicht da.« Er nahm einen Schlüsselbund aus einer Schublade des Tresens und verließ sein Kreuzworträtsel, um die drei Türen zu überprüfen. Sie waren alle abgeschlossen. Er öffnete sie. Die Zimmer waren leer. »Seltsam«, bemerkte er und kehrte zu seinem Kreuzworträtsel zurück. »Ves«, sagte Nate in den Knopf an seinem Revers. »Kannst du sofort hierher kommen?«
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7 Ves begutachtete das Gebäude, dann begutachtete er den Bademeister, und schließlich begutachtete er Nate. »Einer von euch dreien«, schlußfolgerte er, »irrt sich – oder er lügt.« »Das Gebäude?« fragte Swift. »Ist es nicht eine extreme Form der Personifizierung, von einem Gebäude zu behaupten, daß es sich entweder irrt oder lügt?« »Nur insoweit, wie es die Wünsche seines Erbauers oder Besitzers ausdrückt«, erklärte Ves und ließ sich auf einer der Metallbänke in der Vorhalle nieder und starrte die weißen Wände an. »Zum Beispiel könnte es uns irrtümlich zu dem Schluß verleiten, daß es keinen anderen Ausgang aus dem Dampfbad gibt; unwissentlich könnte es eine Tür hinter einer Kiste verbergen oder sie als Entlüftungsschacht tarnen. Oder es könnte uns anlügen und irgendwo eine Geheimtür besitzen.« »Eine Geheimtür?« echote Swift. »Ich dachte, so etwas gibt es nur in Romanen. Gibt es denn wirklich Geheimtüren?« »Natürlich«, versicherte Ves. »Es gibt Geheimtüren in allen Größenordnungen und für alle Zwecke. Da sind beispielsweise die Priesterlöcher, versteckte Winkel, die in England während der Zeit Cromwells benutzt wurden, um Priester zu verstecken, wenn ich mich nicht irre. Es gibt Geheimräume in Pionierhäusern, in denen die Familien bei Indianerüberfällen Zuflucht gesucht haben. Da gibt es die 82
Räume, die während der Zeit der U-Bahn benutzt wurden. Es gibt in manchen modernen Regierungsbüros Geheimtüren, hinter denen sich ein Badezimmer, ein Schlafzimmer oder auch nur eine Bar verbergen.« »Hier gibt es keine Geheimtüren«, warf der Bademeister ein und zeigte zum erstenmal Interesse für das, was um ihn herum vor sich ging. »Ich habe es überprüft.« Ves sah ihn an. »Sie haben was?« fragte er. »Warum sollten Sie so etwas tun?« »Wegen der beiden anderen«, erklärte der Bademeister. »Ich meine, das schien mir die vernünftigste Erklärung zu sein.« Nate starrte ihn an. »Wegen der beiden anderen?« Er fürchtete sich fast vor der Antwort des Bademeisters. »Genau«, nickte der Bademeister. »Zwei andere Herren sind hier an mir vorbeigegangen und nicht wieder herausgekommen. Das war kurz nachdem ich meine Stellung hier angetreten hatte. Der erste kam etwa einen Monat danach; das ist jetzt ungefähr zwei Jahre her. Dieser Bursche kommt gekleidet wie ein Italiener hier hereingestürmt und rauscht an mir vorbei ins Dampfbad. Ich renne hinter ihm her, um ihm eine Karte zu geben und die Zeit zu notieren, und als ich den Raum betrete, ist er verschwunden. Und er hat höchstens zwei oder drei Sekunden Vorsprung gehabt.« »Verschwunden?« krächzte Nate. »Wie meinen Sie das, ›wie ein Italiener?« fragte Ves. »War der Raum leer?« erkundigte sich Nate. »Wie ein – Sie wissen schon – wie ein Römer. Als wäre er frisch aus einem Film entsprungen. Mit dieser komi83
schen Rüstung und dem Kilt und den Gamaschen; na ja. In dem Raum war noch ein anderer Bursche, lag da und hatte ein Handtuch über dem Gesicht. Er sagte, er hätte gehört, wie sich die Tür öffnete, und Zugluft gespürt, aber er hätte niemanden gesehen – wegen des Handtuchs über seinem Gesicht.« »Ein Römer?« wiederholte Ves. »Ich habe die Polizei gerufen«, fuhr der Bademeister fort. »Aber das war sicher ein Fehler. Zwei Kerle liefen ein und verhörten mich. Der eine war überzeugt, daß ich mir die ganze Sache nur ausgedacht hatte und es überhaupt keinen Fremden gab; der andere glaubte, ich hätte den Fremden vielleicht umgebracht und die Leiche verschwinden lassen. Ich mußte mir Tausende von Fotos ansehen, und danach versprachen sie, mit mir in Verbindung zu bleiben. Das war das letzte, was ich von ihnen gehört habe. Also habe ich beim nächsten Mal nicht mehr angerufen.« »Beim nächsten Mal…« sagte Swift »Tja. ›Ich werde Gebrauch von Ihrer Einrichtung machen‹, erklärt er, wirft mir diese Goldmünze zu und schlurft ins Dampfbad. Ich dachte schon, er hätte irgendeine Schweinerei im Sinn, so wie der geredet hat, und ich wollte schon hinter ihm her und ihm sagen, daß es so etwas hier nicht gibt, aber die Goldmünze hielt mich davon ab. Sie war eine Stella, und ich hatte noch nie eine gesehen. Ständig bin ich in den Kreuzworträtseln über dieses Wort gestolpert.« »Stella?« fragte Swift.
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»Ein Vierdollargoldstück. Von ihnen wurden weniger als fünfhundert geprägt. Zumindest hat das der Bursche behauptet, dem ich sie verkauft habe. Auf der Rückseite befinden sich ein großer Stern und das Wort Stella, das ist Lateinisch für Stern.« »Wer ist auf der Kopfseite abgebildet?« erkundigte sich Ves. »Die Freiheit. Mit offenem Haar. Und mit einem pummeligen Gesicht.« »Was ist aus dem Herrn geworden, der Ihnen die Münze gegeben hat?« fragte Ves. »Keine Ahnung. Er hat das Dampfbad nicht mehr verlassen. Danach habe ich nach Geheimtüren gesucht und sogar die Baupläne zur Hand genommen und die Räume vermessen, aber nirgendwo ist Platz für einen versteckten Gang.« »Also gibt es keine Geheimtüren«, stellte Nate fest. Der Bademeister zuckte die Achseln. »Vielleicht gibt es eine Tür«, meinte er, »aber sie führt nirgendwo hin.« »Aber wohin sind dann diese drei Männer verschwunden?« sagte Nate, leicht gereizt von der Gleichgültigkeit des Bademeisters. Der Bademeister preßte die Lippen zusammen, öffnete sie wieder und wiederholte diesen Vorgang mehrfach. »Ich habe gründlich darüber nachgedacht«, teilte er dann mit. »Haben Sie jemals etwas von der vierten Dimension gehört?« Ves schüttelte den Kopf. »Diese ganze Angelegenheit«, erklärte er, »ist nicht nur unerklärlich, sie ist sogar unheim85
lich. Wenn ich davon ausgehe, daß ich es mit verständigen Menschen zu tun habe, um nicht zu sagen mit Menschen, die bei Verstand sind, dann komme ich zu dem Schluß, daß das Geheimnis des Verschwindens – der drei Verschwundenen – ein Geheimnis des Gebäudes ist.« Er deutete mit dem Finger auf den Bademeister. »Wissen Sie, wie alt es ist?« fragte er. »Wann wurde es erbaut – und von wem?« »Vor langer Zeit«, antwortete der Bademeister. »Ein Bursche namens Pronzini hat hier gearbeitet, als ich anfing. Hat letztes Jahr gekündigt, nach vierzig Jahren. Stellen Sie sich das vor – vierzig Jahre. Betreibt jetzt eine Hühnerfarm. Er hat mir erzählt, daß das Haus vor dem Krieg eine vornehme Adresse war. Ich schätze, damit hat er den Zweiten Weltkrieg gemeint.« »Dieses Haus stammt mindestens aus den zwanziger Jahren«, meinte Ves. »Vielleicht ist es sogar noch ein paar Jahrzehnte älter. Diese Lustschlösser werden schon lange nicht mehr gebaut.« »Genau«, nickte der Bademeister. »Sag ich doch.« »Nun, wir werden uns ein wenig umschauen«, erklärte Ves. »Man weiß nie genau, was man in den alten Tagen beim Bau eines derartigen Hauses für notwendig gehalten hat.« »Ich habe schon nachgeschaut«, erinnerte der Bademeister. »Davon bin ich überzeugt«, versicherte ihm Swift. »Aber es gehört zu unserer Arbeit«, fügte Ves hinzu. »Sie werden doch nicht versuchen, uns an unserer Arbeit zu hindern, oder? Sie verstehen?« 86
»Oh«, machte der Bademeister. »Natürlich.« Er kehrte hinter seinen Tresen zurück und machte sich wieder an das Kreuzworträtsel. »Sie haben freie Hand, sehen Sie sich ruhig um. Ich hoffe, daß Sie etwas finden. Es wäre weiß Gott eine Erleichterung, wenn ich beweisen könnte, daß ich nicht verrückt bin.« Der Kugelschreiber verharrte, und er sah zu ihnen auf. »Ich bin es nämlich nicht, wissen Sie.« »Ich weiß«, beruhigte ihn Nate. »Vergessen Sie nicht, diesmal habe ich ihn auch gesehen.« »Das stimmt«, rief der Bademeister erfreut und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Kreuzworträtsel. »Schauen Sie sich ruhig um, meine Herren.« Ves führte Nate in das Dampfbad. »Klopf die Wand ab«, befahl er. »Warum?« fragte Nate. »Haben sie dir auf der Geheimdienstschule der Küstenwache außer Backbord und Steuerbord nichts beigebracht?« »Bei der Küstenwache gibt es keine Geheimdienstschule«, erwiderte Nate. »Früher hat es eine gegeben, aber sie wurde geschlossen. Man hat mich auf die Geheimdienstschule der Armee in Fort Geronimo, Kansas, geschickt.« »Da ich in meiner Jugend einige Zeit mit dieser Regierung liiert war«, bemerkte Ves, »überrascht mich das nicht.« »Ein Jahr lang habe ich sie besucht«, fuhr Nate fort. »Und einen Haufen nützlicher Dinge gelernt. Panzeridentifizierung – in Panzeridentifizierung waren sie ganz 87
groß. Schlachtordnung, Uniformen fremder Offiziere, Rangordnung, Marschieren, über Stacheldraht klettern, Salutieren und Pokerspielen; das waren die Hauptfächer.« »Was war mit Brandschatzen und Plündern?« »Standen nicht auf meinem Lehrplan«, antwortete Nate. »Die Fächer wurden nur von den Berufsoffizieren belegt. Ich glaube, man hat dafür Seminare veranstaltet. Warum soll ich gegen die Wand klopfen?« »Hör zu«, erklärte Ves. »Wenn sich hinter der Wand ein Hohlraum oder irgend etwas anderes Ungewöhnliches verbirgt, dann gibt es einen anderen Ton. Paß auf!« Er preßte sein Ohr an die Wand, ging langsam an ihr entlang und klopfte alle paar Zentimeter dagegen. Sie gab ein dumpfes Tonk von sich. Dieses dumpfe Tonk ertönte überall, wo sie klopften, an jeder Wand, oben und unten. Ves hielt schließlich inne und starrte anklagend hinauf zur Decke. »Versuchen wir es im Umkleideraum«, sagte er. Nate klopfte nacheinander die Wände des Umkleideraums ab, während Ves es in den Spinden, über den Spinden und unter den Spinden versuchte. »Unmöglich!« stieß Ves zum Schluß hervor und setzte sich auf die Holzbank. »Er ist hier hereingekommen, er ist nicht wieder hinausgegangen, aber er nicht hier sein. Und meine Grammatik ist in diesem Moment nicht im entferntesten so durcheinander wie mein Verstand. Es muß eine Erklärung geben. Und wenn es eine gibt, dann kann ich sie auch finden; ich weiß, daß ich es kann!«
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»Ich glaube dir«, versicherte Swift. »Wo schauen wir jetzt nach?« »Wir sehen uns jetzt einfach diese Räume an«, erklärte Ves. »Nicht durchsuchen, nur ansehen. Wie sie aussehen. Ob sie sich in irgendeiner Weise von dem unterscheiden, wie sie aussehen sollten. Ob es in diesen Räumen irgend etwas Ungewöhnliches oder Abweichendes gibt, gleichgültig, wie subtil die Veränderung auch sein mag. Sherlock Holmes hat einmal einen schwierigen Fall gelöst, weil ihm auffiel, wie tief die Petersilie in die Butter eingesunken war.« »Ich glaube nicht, daß wir hier mit dieser Methode weiterkommen«, gab Nate zu bedenken. »Mach dich nicht lustig über mich«, beschwerte sich Ves. »Wenn du einen besseren Vorschlag hast, dann heraus damit.« »Das ist der Unterschied zwischen dir und Sherlock Holmes«, bemerkte Nate. »Er hätte niemals zugegeben, daß es einen besseren Vorschlag geben könnte.« Beide kehrten in das Dampfbad zurück und blieben in der Mitte stehen, um die vier kahlen Wände anzustarren. »Kahle Wände«, stellte Nate fest. »Abgesehen von den Dampfrohren und den Ventilen«, korrigierte Ves, »und diesem Muster auf der Kachel.« »Seltsame Sache«, brummte Nate, trat vor das in Hüfthöhe angebrachte Muster und betrachtete es. »Es sieht aus wie die Friesverzierungen, die man während der Weltwirtschaftskrise in den U-Bahn-Stationen New Yorks angebracht hat. Hier ist vermutlich irgendwann eine Kachel 89
beschädigt und dann gegen diese ausgetauscht worden, was meinst du?« Das Muster war einfach: Ein grüner Kreis mit einem goldenen Z in der Mitte. »Wahrscheinlich die Initiale des früheren Besitzers«, spekulierte Ves. »Du hast von etwas Abweichendem gesprochen«, erinnerte Nate. »Ich weiß, ich weiß.« Ves gesellte sich zu ihm und betrachtete das Muster. »Aber ich meinte damit nicht… Sieh mal, die Fugen zwischen den Kacheln sehen hier – und hier anders aus. Nun, was hältst du davon?« »Wie?« fragte Swift. »Schau doch, überall, wo der grüne Kreis die äußeren Kacheln tangiert, sind die Fugen von einem anderen Weiß. Es ist dunkler, grauer.« »Du hast recht!« rief Swift. »Ich frage mich nur, was das zu bedeuten hat.« Er zog ein Taschenmesser aus der Tasche und begann um den grünen Kreis herum zu stochern. »Zu fest«, murmelte er. »Will einfach nicht – warte einen Moment – drück hier – ahh! – nur ein wenig – nee – aber – ahh! – Da, es … Scheiße!« »Was ist passiert?« stieß Ves hervor. »Ist das Messer durch?« »Die Klinge ist abgebrochen«, informierte ihn Swift. »Trotzdem habe ich den Eindruck, daß etwas dahintersteckt.« »Nun, dann muß es eine Möglichkeit geben, die Luke zu öffnen«, meinte Ves. Er drückte und zerrte, drehte und schob, versuchte es mit verschiedenen Kombinationen des 90
oben Erwähnten, und plötzlich wurde seine Mühe belohnt. Das Wandstück mit dem grünen Kreis öffnete sich und enthüllte einen Hohlraum von der Größe und Form eines Wandsafes. »Wie hast du das gemacht?« fragte Nate. »Ich bin mir nicht sicher«, gestand Ves, »aber es hat funktioniert.« Im Innern des Hohlraums befanden sich eine Bakelitschalttafel mit drei zu einem Dreieck angeordneten Skalen und großen Hebeln, einer verglasten Wählscheibe in der Mitte und einer roten, dunklen Diode über der Scheibe. Unter dem Dreieck war eine Messingplatte befestigt: FRANKLYN & WHITNEY MODELL IV E.S. Sämtliche Garantieansprüche erlöschen bei unbefugtem Hantieren an der Maschine. Setzen Sie sich mit unserer örtlichen Vertretung in Verbindung. 41-5734 e FÜR HAUPTKANAL NICHT NEU WÄHLEN Und unter der Messingplatte befand sich ein schwarzer Knopf. »Was, zum Teufel…?« entfuhr es Nate. »Der Dampf?« fragte Ves und beantwortete dann seine Frage selbst: »Nein. Die Dampfventile sind dort drüben, und dieses Ding hier scheint etwas mit Elektrizität zu tun zu haben.«
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»Hauptkanal«, murmelte Nate. »Davon hat doch auch Alex. gesprochen, erinnerst du dich?« »Was, glaubst du, geschieht, wenn du diesen Knopf drückst?« sagte Ves. »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Nate. »Meinst du, daß Alex. auf diese Weise von hier verschwunden ist?« »Hast du eine andere Erklärung?« »Nein. Sollen wir den Knopf drücken?« »Nun«, brummte Ves nachdenklich, »wem möchtest du lieber ins Gesicht sehen – dem Unbekannten oder dem Präsidenten?« »Ich werde es tun. Was ist mit den Kontrollen?« »Drück einfach den Knopf.« Nate streckte die Hand aus und drückte. Der Knopf verschwand in der Verschalung und rastete klickend ein. Die rote Lampe leuchtete auf.
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8 »Es scheint nichts geschehen zu sein«, bemerkte Swift, nachdem er eine Zeitlang das rote Licht angestarrt hatte. »Das können wir nicht wissen«, widersprach Ves. »Wir können nicht wissen, was geschehen sollte. Vielleicht hat sich doch etwas getan.« Nate schüttelte den Kopf. »Wir sollten besser ins Büro zurückgehen«, schlug er vor. »Möglicherweise hat irgendjemand irgend etwas gefunden; eine Münze mit dem Kopf von Marilyn Monroe oder eine Briefmarke mit dem Bild von Präsident John Wayne.« »Ich schätze, du hast recht«, sagte Ves, »aber wir werden einige Techniker hierherschicken und dieses Ding untersuchen lassen.« Er schlug die Kacheltür zu. Eine leise Erschütterung durchlief den Raum, wie von einem fernen Erdbeben oder einer vorbeifahrenden UBahn.
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9 Der Korridor war nicht mehr derselbe. Der Korridor hatte sich verändert. Es war ein völlig anderer Korridor: länger, zum Beispiel, und breiter und mit mehr Türen. Statt der weißen Kachelung gab es rötliches Mauerwerk und polierte messigne Gaslaternen, einen dicken kastanienbraunen Teppichläufer und eine cremeweiße Decke. »Nate …« entfuhr es Ves. Er blieb im Türrahmen des Dampfbads stehen und breitete die Arme aus, um den Durchgang zu versperren. »Ich sehe es«, nickte Swift. »Es ist etwas geschehen.« »Geh nicht hinaus«, bat Ves. »Kehren wir um und drücken wir noch einmal auf diesen Knopf; vielleicht verschwindet es dann wieder.« »Wir können nicht«, sagte Swift. »Denk daran, was du gesagt hast: das Unbekannte oder der Präsident. Und außerdem, woher wissen wir denn, daß wir zurückkehren, wenn wir noch einmal auf den Knopf drücken – vielleicht entfernen wir uns dadurch nur noch weiter.« »Du hast recht«, seufzte Ves und ließ den Türrahmen los. »Ich schätze, ich werde alt und bequem. So etwas dürfte uns ebensowenig schrecken wie – wie ein Aufzug. Es ist nur eine neue Methode, von einem Ort zum anderen zu gelangen. Als ob man mit einem Aufzug fährt, nur daß der Raum größer ist.« »Nicht der Raum«, berichtigte Nate, »nur wir.« »Wie?« 94
»Der Raum hat sich nicht bewegt, wir haben uns bewegt. Schau dich um.« Ves warf einen Blick in das Dampfbad. »Du hast recht«, sagte er. »Der Raum ist länger, und da steht eine zusätzliche Bank. Ich habe es nicht bemerkt. Aber dieses Kreis-Z ist noch immer da. Jetzt brauchen wir nur noch herauszufinden, was geschehen ist, um was es sich bei dieser Maschine eigentlich handelt und wo wir sind.« »Glaubst du, daß die Verfassung hier ist?« »Ich möchte nur ungern spekulieren«, erklärte Ves. »Aber wir befinden uns zweifellos auf dem besten Weg, in Erfahrung zu bringen, was aus ihr geworden ist. Und ich wette, daß sich unser guter alter Alex. hier irgendwo herumtreibt.« Sie gingen den neugestalteten Korridor hinunter, durch eine großzügige Eingangshalle, die mit Couches, Plüschsesseln und massiven Kronleuchtern ausstaffiert war, und traten auf die Straße. Die Straße war wie ein Tal von den Bergwänden hoher Gebäude eingezwängt und führte schnurgerade in beide Richtungen, bis sie links am Konvergenzpunkt verschwand und rechts fünf Blöcke weiter in einen Park mündete. Sie wurde gesäumt von Säulen aus hohen Telefonmasten und war überdacht von einem Netzwerk aus Drähten, die kreuz und quer in alle Richtungen liefen. Die vielen Fahrzeuge auf der Straße – Taxen, Busse, Kutschen, Wagen und eine Vielzahl anderer Vehikel – wurden zumeist von Pferden gezogen, obwohl gelegentlich eine pferdelose, monströse Maschine knarrend, schnau-
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bend, pfeifend, polternd, knackend oder quietschend vorbeischaukelte. Auf dem Bürgersteig wimmelte es von Fußgängern, die in beide Richtungen strömten, ohne anzuhalten oder sich umzusehen. Die wenigen Fußgängerregeln schienen geschlechtsgebunden zu sein: Frauen: bewegten sich schnell, hielten die Augen starr nach vorn gerichtet, benutzten Schirme als Spazierstöcke, blieben nicht stehen, entschuldigten sich nicht, kümmerten sich nicht um andere. Männer: tippten an ihre Hüte, gingen links vorbei, sahen niemanden an. Die Standardkleidung dieser geschäftigen Fußgänger bestand aus einer Art viktorianischer Opernkluft. Die Männer trugen bis zum Hals geknöpfte Anzüge mit hohen, gestärkten Hemdkragen, die das Kinn stützten, und breite, dezentfarbene Krawatten. Alle trugen Hüte: Zylinder, Melonen, Dreispitze, Pflanzer- und Derby-Hüte, PoloKappen und Bergarbeiterhelme, Sonnenblenden, Jachtkappen, Jägerhüte, Eton-Kappen, russische Admiralshüte und einige andere Sorten, für die es keine Namen gab. Die Damen trugen über ihren Korsetts Blusen mit breiten Schulterstücken und getuschten Ärmeln, bodenlange Kleider und spitze, hochhackige Schuhe. Jede Dame trug einen Mantel oder ein Cape über ihrer Bluse. Jede hielt in der Hand einen Regenschirm, wie jeder Mann einen Spazierstock besaß.
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Swift griff nach Ves' Arm. »Wo sind wir?« flüsterte er. »Wo, zum Teufel, sind wir?« »Wann«, korrigierte Ves. »Wann.« »Wie?« Die Straße verdunkelte sich, als ein großer Gegenstand die Sonne verdeckte. Ves blickte auf und sah, wie die orangenen Strahlen der Nachmittagssonne eine Korona um einen silbernen, zigarrenförmigen Ballon bildeten, der seine Nase in das Gitterwerk eines hohen, offenen Eisenturms an der Spitze eines nahen Gebäudes schob. Mehrere Männer auf dem Turm und auf dem Luftschiff waren damit beschäftigt, die Ankerseile zu vertäuen. »Ich nehme es zurück«, flüsterte Ves. »Wann ist auch nicht richtig. Was bleibt übrig?« »Was ist das für ein Ort?« fragte Swift. »Ja, das ist die einzig richtige Form der Fragestellung«, stimmte Ves zu. »Nun, wie finden wir das heraus? Ich denke, wir sollten zunächst unsere verdächtige Kleidung wechseln. Wenn wir uns unserer Umgebung angepaßt haben, können wir herumgehen und diskrete Fragen stellen. Das heißt, sofern die einheimische Bevölkerung Englisch spricht. Oder Italienisch – ich glaube, ich komme mit meinem Italienisch noch immer durch.« Swift holte tief Luft. »Ich werde das klären«, versicherte er grimmig. Er mischte sich unter den Strom der Passanten und spähte einen Mann aus. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er, während er neben seinem Opfer herging, »könnten Sie mir freundlicherweise sagen, wie spät es ist?«
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Der Mann starrte ihn an, als wäre er frisch aus jenem Haus entwichen, in das man kommt, wenn man beginnt, ständig vor sich hin zu kichern und mit dem Hackebeilchen zum Abendessen zu erscheinen. »Italiano?« fragte Swift verzweifelt. »La France? Sprechen Zie Deutsche? Panyamayish po - Russkie?« Der Mann zuckte die Schultern und ging weiter; er ignorierte Swift vollständig. »Entschuldigen Sie bitte«, versuchte es Swift bei einem anderen Herrn. »…Uhr es ist?« Und bei dem nächsten. »Bitte, Meinherr…« »…a-t-il?« Eine Frau rümpfte die Nase und umklammerte ihren Regenschirm noch fester. »So etwas!« hörte er sie murmeln, als sie an ihm vorbeirauschte. »Englisch«, stellte Ves fest. »Ich hatte mich schon gewundert«, bemerkte Swift, als er wieder in der Sicherheit des Eingangs stand. »Du weißt, daß ich kein pessimistischer Mensch bin«, sagte Ves mit bedächtiger, klarer Stimme, »aber ich frage mich, ob es nicht vernünftiger wäre, in das Dampfbad zurückzukehren und zu versuchen, per Knopfdruck wieder unsere eigene Zeit – Welt – öh, unsere Heimat zu erreichen. Wir könnten uns besser vorbereiten und dann noch einmal hier vorbeischauen.« »Ich glaube, wir sollten weitermachen«, widersprach Swift. »Je länger wir warten, desto älter wird Alex.' Spur.
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Und vergiß den Präsidenten nicht. Nur ein Mann, der bis zum Wahnsinn entschlossen und skrupellos ist, kann Präsident der Vereinigten Staaten werden.« »Ich schätze, du hast recht«, seufzte Ves. »Wenn man älter wird, schwindet die Begeisterung für sinnverwirrende, aufwühlende Schockerlebnisse. Aber wir leben in einer Zeit, in der das Ungewöhnliche alltäglich und das Einzigartige normal ist. Aber etwas Derartiges habe ich mir nicht einmal im Traum vorzustellen gewagt. Nun, ich nehme an, wenn es notwendig wird, können wir uns noch immer in das Dampfbad zurückziehen. Merke dir gut, wo sich das Gebäude befindet, Nate. Sollten wir getrennt werden, treffen wir uns hier wieder.« »Was ist mit unseren kleinen Sendern?« fragte Swift. Er berührte den Knopf an seinem Revers und murmelte: »Eins – zwei – drei – hörst du mich?« »Ich höre dich, ich höre dich«, versicherte Ves. »Aber vergiß nicht, die Reichweite dieser Geräte ist nicht besonders groß. Wie dem auch sei, vielleicht erweisen sie sich als nützlich. Jetzt zum wichtigsten Punkt: Wir müssen uns passende Kleidung besorgen, wenn wir hierbleiben wollen.« »Was schlägst du vor?« sagte Swift. »Wir kaufen welche«, erwiderte Ves. »Das heißt, falls wir irgendein Bekleidungsgeschäft finden, das noch geöffnet hat. Übrigens, ist dir aufgefallen, daß uns offenbar über fünf Stunden abhanden gekommen sind? Ich schätze, es war um die Mittagszeit, als ich dich im VENUSAPOLLO getroffen habe.«
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Swift sah auf seine Uhr. »Viertel nach zwei«, brummte er. »Und hier ist es später Nachmittag. Ves, zum Teufel, was ist mit uns geschehen?« »Es gibt schlimmere Dinge als das«, wehrte Ves ab. »Denk daran, irgendwo am anderen Ende dieses Apparates im Dampfbad lauert der Präsident der Vereinigten Staaten. Und er wird nicht erfreut sein, wenn wir mit leeren Händen zurückkommen.« Swift nickte. »Machen wir uns also auf den Weg«, sagte er, und die beiden Männer gingen die Straße hinunter. Das Bekleidungsgeschäft, das sie eineinhalb Häuserblöcke weiter fanden, besaß eine große Auswahl fertiger Kleidungsstücke, obwohl es einige Probleme mit der Größe gab. Zum Glück war der Ladenbesitzer gleichzeitig Schneider und bereit und willens, alle erforderlichen Änderungen mit seiner patentierten Nähmaschine im Hinterzimmer zu erledigen. Ves wählte einen dunkelroten Anzug und eine attraktive Hüftjacke (keine Weste, wie ihm der Schneider versicherte, obwohl es viele Leute gab, die diesen Ausdruck dafür benutzen würden) mit Goldknöpfen. Swift entschied sich für einen grünen Anzug, dessen Revers breit genug war, um eine zweite Jacke überflüssig zu machen. »Sie sind wohl aus dem Ausland, oder?« fragte der Schneider. »So ist es«, nickte Ves. »Und woher?« bohrte der Schneider. »Schwer zu sagen«, wich Swift aus. »Wie meinen Sie das?« sagte der Schneider mißtrauisch.
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»Schwer auszusprechen«, fügte Swift hinzu. »Kwarshimibundi heißt es in unserer Sprache. Das bedeutet: ›Großes liebliches Land bei dem Wasserfall mit den vielen Schlangen‹. Natürlich sprechen wir inzwischen alle Englisch.« »Uh«, machte der Schneider und zeichnete weiße Kreidelinien auf den Rückenteil von Ves' Jacke. »Sind Sie schon lange in New York?« »New York?« echote Swift mit hörbarer Überraschung in der Stimme. »So heißt die Stadt in unserer Sprache«, erklärte der Schneider. »Das bedeutet hohe Steuern, hohe Mieten und einen Haufen verdammter irischer Holzköpfe und anderer Ausländer – die Anwesenden natürlich ausgeschlossen – die sich hier einnisten und den ehrlichen Menschen die Butter vom Brot nehmen. Zweifellos steckt Tammany dahinter.« Zornig fuhr er mit der Kreide über Swifts Hosenboden. »Nun, wenn die Herren jetzt die Anzüge wieder ablegen wollen, werde ich die Änderungen binnen einer halben Stunde fertig haben.« Er schlurfte zu seiner Nähmaschine, einem riesigen, ratternden Ungetüm, das eine ganze Ecke des Hinterzimmers einnahm. Irgendwann während der Suche nach einem passenden Anzug und der Anprobe war Swift der Gedanke gekommen, daß es – gleichgültig, wo sich dieser Ort befand – sehr unwahrscheinlich war, daß das Geld in seiner Tasche hier als legales Zahlungsmittel akzeptiert werden würde. Er grübelte eine Weile darüber nach und zog dann Ves zur Seite. »Geld«, flüsterte er.
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»Mach dir keine Sorgen«, beruhigte ihn Ves. »Ich habe genug Geld bei mir.« »Nein«, erwiderte Swift. »Nicht verstanden? Unser Geld nicht gut hier. Müssen hiesiges Geld besorgen. Wie?« »Warum flüstert eigentlich jeder in Kauderwelsch?« fragte Ves. »Warum du, zum Beispiel? Mach dir keine Sorgen, ich habe etwas Gold; das wird überall gern genommen.« »Was für Gold?« »Die Münzen von Brown, Lupoff & Gilden. Ich habe das Etui in meiner Tasche. Wollte sie heute nachmittag zurückgeben. Wir werden eine Möglichkeit finden, Mr. Gilden dafür zu entschädigen; im Augenblick brauchen wir sie dringender als er.« Swift empfand heftigen Widerwillen bei diesem Gedanken; ein Regierungsagent gab nicht leichtfertig einen ihm anvertrauten Wertgegenstand aus den Händen. Regierungen und Banken waren sich in dieser Hinsicht sehr ähnlich. Aber Ves hatte recht. Der Schneider nahm den Fuß vom Pedal, und das massive Schwungrad wurde langsamer, die Treibriemen verloren ihre Verschwommenheit und enthüllten ihre gezahnte Gummistruktur, und die rumpelnde, ratternde Nähmaschine kam zum Stillstand. »Es muß eine bessere Methode geben«, brummte der Schneider und warf der Vierteltonne aus Getriebeteilen, Riemen, Schwungrädern, Rollen, Kurbeln, Exzentern und Übersetzern, die die Nadel durch den Stoff trieben und den Faden führten, einen finsteren Blick zu. »Und wie viele Millionen hat die 102
Regierung Seiner Majestät für die Luftschiffe verschleudert? Wie viele? ›Die Nummer Eins im LenkbarenLuftschiff-Geschäft.‹ Verkehrsmittel für die Reichen, darum geht es in Wirklichkeit. Dafür gibt die Regierung Seiner Majestät meine Steuergelder aus. Wie wäre es zur Abwechslung mit einer kleinen Investition, um die Nähmaschine zu verbessern? Sind Sie schon jemals an Bord eines Luftschiffs gewesen?« »Nein«, gestand Ves. »Pah!« machte der Schneider, griff nach seiner Nadel und begann die letzten Änderungen per Hand vorzunehmen. Dann glomm in seinen Augen Furcht auf, und er fügte hinzu: »Nicht daß ich mich beklage … Nein, ich beklage mich wirklich nicht.« Er deutete auf ein kleines, rechteckiges, schwarz umrandetes Schild an der Wand. Darauf stand: AMERIKANER ARBEITEN – SIE BEKLAGEN SICH NICHT. Ves und Swift sahen zuerst das Schild und dann einander an. »Sagen Sie«, murmelte Ves und befingerte beiläufig einen Ballen aus rot und grün kariertem Tweed, »welchen Tag haben wir heute?« »Den, äh, den Siebten, glaube ich«, antwortete der Schneider. »Oh«, sagte Ves. »Da auf dem Regal unter dem Tresen liegt eine TimesGazette«, fügte der Schneider hinzu. »Vielleicht haben wir auch den Achten.« »Ah ja«, nickte Ves. Er holte sich die Zeitung. Es war tatsächlich der Achte; der 8. September des Jahres 1897, 103
ein Mittwoch. Das Datum stand rechts neben dem Impressum. Auf der linken Seite stand: Eine faire Presse macht keinen guten Menschen schlecht. Ves faltete die Zeitung auseinander und überflog die Titelseite. Die Schlagzeile des Aufmachers, gesetzt mit einer konservativen pseudo-gotischen Schrifttype, lautete: GOLDFUNDE IN RUSSISCH-AMERIKA. Nowo Alexanderobad, 4. September, von unserem Korrespondenten. SEIT einigen Tagen kursieren Gerüchte in der Hauptstadt, daß entlang des Yukon-Flusses im Klondike-Bezirk von Russisch-Amerika größere Goldvorkommen entdeckt worden sind. Der Umfang der Funde steht noch nicht endgültig fest, aber man glaubt, daß sie den Vergleich mit dem berühmten Fund von 1824 in Oberkalifornien nicht zu scheuen brauchen. Wie Zar Nikolaus auf diese Neuigkeit reagieren wird, ist noch ungewiß. Ob er bereit ist, Nordamerikaner auf den Goldfeldern zuzulassen, oder ob er das Territorium sperren und Bergleute aus RussischAsien einsetzen wird, ist die Frage des Tages. Die expratiierte amerikanische Kolonie hier ist besorgt, daß eine Verhärtung der zaristischen Einwanderungspolitik sich auch nachteilig auf die derzeitigen amerikanischen Immigranten auswirken könnte, von denen sich viele im selbstgewählten politischen Exil befinden. Nicht wenige von ihnen 104
ziehen Vorteile aus den Meinungsverschiedenheiten zwischen Zaren-Rußland und den Vereinigten Staaten über die Bearbeitung von Auslieferungsanträgen. Jede größere Konzentration von Amerikanern entlang der Grenze würde derzeit beide Regierungen vor ernste Probleme stellen. Maßnahmen zur Entschärfung der Situation wären dann dringend erforderlich, um eine Neuauflage des unglückseligen »Krieges aus Versehen« vor zwei Jahren zu verhindern, der soviel unnötige Opfer an Menschen und Material gekostet hat. Ein paar von den anderen Artikeln auf der Titelseite paßten ebensowenig zu dem New York des Jahres 1897, das Ves noch aus dem Geschichtsunterricht kannte. Stumm zeigte er sie Swift. S D M KEHRT ZUM KAPITOL ZURÜCK SEINE Demokratische Majestät, Jacob Schuyler, durch die Gnade Gottes 11. Präsident der Vereinigten Staaten, verlegte seinen Hof gestern wieder nach Philadelphia. Seine Majestät wird den Vorsitz über die Vereinigten Häuser des Kongresses während der offiziellen Eröffnungsfeierlichkeiten am Montag, dem 13., übernehmen. Dies wird die erste Sitzung des Kongresses seit der Beendigung des berühmten Langen Senats vor zwei Jahren sein. Artikel über den Langen Senat Seite 8. 105
PRINZ MARTIN ÜBER DER SPHINX GESICHTET DIE U.S.S. Prinz Martin, das größte lenkbare Luftschiff der Welt, hat nach den letzten Berichten die Sphinx überflogen, ein berühmtes Denkmal in den Außenbezirken der Stadt Kairo in Ägypten. Die Prinz Martin, vor zwei Jahren in den Dienst gestellt und mit Erlaubnis Seiner Demokratischen Majestät nach Seinem ältesten Sohn Martin, Prinz von Texas, genannt, versucht nun, den Weltrekord für den Non-Stop-Flug um die Erde zu brechen. Dieser historische Flug begann vor 27 Tagen auf der Washington-Marine-Basis in Virginia. Der derzeitige Weltrekord von 107 Tagen wurde in den Monaten April bis August des Jahres 1896 von dem lenkbaren Luftschiff Graf Ferdinand von Zeppelin unter dem fähigen Kommando seines Konstrukteurs Graf Ferdinand von Zeppelin und bemannt mit Matrosen und Offizieren der BallonTruppe der Preußischen Armee aufgestellt. Fortsetzung Seite 12 »Wir sind irgendwo anders!« stieß Swift hervor und ließ sich auf einen der Holzstühle fallen, die überall in dem Laden standen. 106
»Tempora mutantur«, sagte Ves leise. »Ich meine, völlig woanders«, fügte Swift hinzu. »Es ist wie … es … es gibt nichts Vergleichbares. Ich meine, an einem völlig anderen Ort. Aber wir müssen irgendwie eine gemeinsame Vergangenheit haben.« Ves nickte. »Ich schätze, die Revolution war der Scheidepunkt. Wir müssen uns sehr vorsichtig in diesem fremden Gewässer bewegen. Sitten, Moral, Religion und Politik dieser Welt sind uns fremd; wir dürfen uns auf keinen Fall einen Fehler erlauben. Sie scheinen hier, äh, strenger zu sein.« Er deutete auf eine Zeichnung auf der Leitartikelseite der Times-Gazette. Sie zeigte einen großen, muskulösen Mann, der vor einer Eisenbahnschwelle stand und einen Hammer schwang. Die Zeichnung war von einem eigenartigen klobigen, kräftigen Stil, und die Unterschrift lautete: »Keine Zeit zum Faulenzen. AMERIKA WIRD IM SCHWEISSE MEINES ANGESICHTS AUFGEBAUT.« »Ihre Gewänder, meine Herren«, rief der Schneider, als er aus seinem Kabäuschen auftauchte. »Haben wir heute den Siebten?« »Nein«, entgegnete Ves. »Den Achten.« »Ah, gut«, brummte der Schneider und hielt die beiden Anzüge wie Schilde vor sich. »Wenn man sich in Zeitdruck befindet, verliert man die Zeit ganz aus den Augen.« Er schien sich inzwischen von seinem Wutausbruch über die Plackerei an der ungefügen Nähmaschine erholt zu haben. »Probieren Sie Ihre Anzüge an. Ich wette, sie passen Ihnen wie eine zweite Haut.«
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Ves und Swift schlüpften in ihre neuen Anzüge, während der Schneider um sie herumsprang und hier einen Faden entfernte, dort an einem Saum zupfte. Als alle drei mit dem Sitz der Kleidung zufrieden waren, zog Ves das flache Münzetui aus der Tasche seiner alten Jacke. »Wieviel schulden wir Ihnen?« fragte er. »Die Anzüge mit den Änderungen kosten sieben-fünfzig das Stück«, erklärte der Schneider. »Ich kann Ihnen fünfzig Cent pro Stück für den Stoff Ihrer alten Kleidung geben. Das macht dann vierzehn Dollar.« »Nehmen Sie Gold?« Der Schneider starrte ihn an. »Sie meinen Goldstaub? Ich habe keinen mehr gesehen, seit ich vor zehn Jahren Oberkalifornien verließ.« »Münzen«, sagte Ves. »Eagles d'or.« »Goldadler? Gerne. Davon habe ich auch schon lange keine mehr zu Gesicht bekommen.« Ves nahm zwei der Münzen und reichte sie dem Schneider. Der Schneider musterte sie und warf dann zuerst Swift und anschließend Ves einen arwöhnischen Blick zu. »Ein Scherz?« fragte er. »Nicht besonders witzig, wenn Sie mich fragen. Ich bin so loyal wie jeder andere.« »Stimmt etwas nicht?« sagte Ves. »Sie sind sicher, daß Sie Ausländer sind?« »Bei unserer Ehre, wir sind in unserem ganzen Leben noch nie hier gewesen.« »Woher haben Sie die Münzen?« »Wir haben sie im Zuge eines Geschäfts bekommen.« 108
»Sie wissen über Aaron Burr Bescheid?« »Über wen?« fragte Ves. »Der Herr, dessen Bild auf den Vorderseiten dieser Münzen ist. Aaron Burr.« »Was ist mit ihm?« »Er ist ein Verräter. Oder besser, er war einer. Präsident Hamilton hat ihn vor etwa achtzig Jahren des Verrats angeklagt, und er floh nach Mexiko. Hamilton schickte die Armee hinter ihm her, um ihn einzufangen. Deshalb ist es auch so kurz nach der Revolution zum Krieg mit Spanien und Frankreich und zu einer Allianz mit Großbritannien gekommen. Wir nennen ihn den Krieg von 1814. Burr verschwand in Mexiko.« »Aber das ist schon« – Ves rechnete rasch im Kopf»dreiundachtzig Jahre her. Was hat das Ganze mit unserer Loyalität zu tun? Entschuldigen Sie unsere Unwissenheit, aber …« »Es gibt eine Gruppe von Unzufriedenen in diesem Land«, berichtete der Schneider und sah sich so wachsam um, als erwarte er, daß einer von ihnen im nächsten Moment hinter einem Kleiderständer hervorspringen würde. »Jakobiner, wissen Sie. Sie nennen sich Burriten. Sie fordern eine Volksdemokratie – direkte Wahl des Präsidenten im Abstand von vier Jahren. Derartige Dinge. Sie wissen doch, was über dem Hamilton-Denkmal steht: ›Das Volk ist ungestüm und umstürzlerisch.‹ Nein, natürlich kennen Sie die Inschrift nicht. Genauso sind die Burriten: Ungestüm und umstürzlerisch. Aaron Burr ist kein respektables Gesprächsthema. Es ist verdächtig. Alexander 109
Hamilton hat Aaron Burr nie gemocht. Einmal hätten sie sich fast duelliert. Und der Besitz einer Goldmünze mit Burrs Bild ist unpatriotisch. Es ist fast amoralisch. Und als Scherz sehr sonderbar.« »Das haben wir uns auch gedacht«, entgegnete Ves. »Aber man kann sie einschmelzen. Schließlich bestehen sie aus Gold.« »Ich werde mir schon etwas ausdenken«, sagte der Schneider mit verschwörerischer Miene. »Hier ist Ihr Wechselgeld.«
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10 »Die Öffentliche Bibliothek von New York«, erklärte Ves. »Das ist unser nächstes Ziel. Du wärst überrascht, wenn du wüßtest, wie viele Privatdetektive ihre Nachforschungen in einer Bibliothek betreiben. Natürlich habe ich meine Zweifel, ob dieses wunderschöne Gebäude mit den Steinlöwen vor dem Portal auch in dieser, äh, Welt existiert; aber es muß hier eine Bibliothek geben.« »Was sollen wir denn in der Bibliothek?« fragte Swift. »Mit diesem esoterischen Forschungszeug habe ich mich noch nie anfreunden können. Wofür haben wir denn unsere Büroknechte? Und wie soll uns das Herumstöbern in der Bibliothek dabei helfen, die Verfassung zu finden?« Er und Ves schlenderten die Madison Avenue hinauf und hatten soeben die Ecke Siebenundzwanzigste Straße erreicht. »Wir suchen nach einem Muster«, dozierte Ves, »und solange wir nicht genug von den Teilen haben, werden wir es nicht einmal erkennen können. Und solange wir nicht genug von den Teilen haben, werden wir nicht einmal mit Sicherheit wissen, ob es die richtigen Teile sind. Uns bleibt nur übrig, die Teile zu sammeln und zu versuchen, sie zusammenzufügen. Möglicherweise werden wir dann feststellen können, welches Teil dazu gehört und welches nicht.« »Ich wünschte, ich hätte das aufgenommen«, brummte Swift. »Ich hätte es dir zu gern vorgespielt.«
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»Nebenbei bemerkt«, sagte Ves, »ich glaube an die Gleichzeitigkeit.« »Was meinst du damit?« erkundigte sich Swift. »Das heißt, wenn etwas geschieht, dann hat es auch geschehen müssen. Alle Ereignisse sind die direkte Folge von Ursache und Wirkung – das ist linear; aber sie sind außerdem alle miteinander verknüpft wie die Fäden in einem Gobelin. Wir haben diesen Ort erreicht, weil wir diesen Ort erreichen mußten. Da dies so ist, werden wir nicht einfach von hier verschwinden, sondern weitermachen. Wie auch immer die Hintergründe des Diebstahls der Verfassung aussehen mögen, wir sind jetzt ein Teil dieser Geschichte. Ob wir gewinnen oder verlieren, weiß ich nicht, aber wir werden diese Geschichte bis zum Ende begleiten und uns nicht mitten in der Handlung davonstehlen.« »Das also bedeutet es?« sagte Swift. »Das ist eine schwere Last für ein einzelnes Wort.« »Das ist das, was ich glaube«, entgegnete Ves steif. »Meine persönliche Philosophie, im Lauf eines langen Lebens entwickelt, in dem ich beobachten konnte, wie sich die Ereignisse abgespielt haben. Du wirst schon sehen.« »Wenn das stimmt«, wandte Swift ein, »wenn eine höhere Macht für all diese Dinge verantwortlich ist, warum strengen wir uns dann überhaupt noch an? Warum steigen wir nicht einfach in irgendeinem anständigen Hotel ab und warten darauf, daß uns die Ereignisse überrollen?« »Es gibt so etwas wie einen freien Willen«, erklärte Ves. »Wenn wir unseren freien Willen dazu benutzen, uns der 112
Situation zu entziehen, werden die Ereignisse an uns vorbeigehen.« »Ich kann zu deiner Philosophie nur sagen, daß ich sie nicht verstehe«, knurrte Swift. »Aber ich verstehe auch nicht Kant, Schopenhauer, Kahlil Gibran, Dylan oder Rod McKuen. Alles, wonach mir jetzt der Sinn steht, ist ein Bett; fünfzehn Stunden lang ungestört schlafen. Wenn ich aufwache, werde ich vielleicht nicht mehr das Gefühl haben, zu träumen.« »Du bist schon eine ganze Weile wach«, erinnerte Ves. »Warum besorgst du dir nicht ein Bett, während ich mich um die Bibliothek kümmere?« Ein Zimmer im Gouverneur Morris, einem schlichten, aber anständigen Hotel an der 35. Straße, Ecke Fifth Avenue, kostete inklusive Bett und Frühstück dreißig Cents pro Nacht. Swift machte Gebrauch von dem Bett, während Ves die Suche nach der Öffentlichen Bibliothek New Yorks aufnahm. Der Zimmerkellner hatte ihm gesagt, daß sie an der 42. Straße, Ecke Fifth Avenue lag, und ihm versichert, daß sie bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet hatte, »zur Erbauung und Zerstreuung der Verkäuferinnen und aller anderen, die das Angebot am Tag nicht nutzen können.« Als er gegen halb elf zurückkehrte, machte er sich nicht die Mühe, Swift zu wecken, sondern ließ sich einfach in das nächste Bett fallen und schlief ein. »Was hast du herausgefunden?« fragte Swift ihn am nächsten Morgen während des vorausbezahlten Frühstücks. »Das Gebäude ist im großen und ganzen mit unserem identisch«, antwortete Ves. »Du kennst die Löwen?«
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»Die vor dem Portal?« »Richtig.« »Was ist mit ihnen?« »Bisons.« »Wie?« »In dieser Welt flankieren zwei Bisons die Treppe. Sind auch recht hübsch. Ich habe ein paar Geschichtswerke durchgeblättert. Hochschulzeug.« »Was ist damit?« sagte Swift, während er ein warmes Brötchen verzehrte. »Alles identisch, sofern ich das beurteilen kann, bis um das Jahr achtzehnhundert. Wer war der vierte Präsident der Vereinigten Staaten?« »Laß mich nachdenken … Washington, Jefferson, öh, Adams, öh, Jackson … Jackson?« »Das ist der Vorteil, wenn man ein eingewanderter Bürger ist«, entgegnete Ves. »Man muß diesen ganzen Kram wissen.« »Ich dachte, du seist in Baltimore geboren«, bemerkte Swift. »In der Tat, aber mein Vater wurde in Carrara geboren. Er mußte die Namen aller Präsidenten in der richtigen Reihenfolge lernen, um seine Einreisepapiere zu bekommen. Er glaubte, daß alle Amerikaner die Präsidenten, die Zusätze zur Verfassung, alle Staaten in ihrer alphabetischen Reihenfolge und das ganze andere Zeug wissen müßten. Als er herausfand, daß man mir dieses Zeug nicht in der Schule beibrachte, sorgte er dafür.« 114
»Jeder lernt das in der Schule«, meinte Swift. »Nenne mir alle Staaten in ihrer alphabetischen Reihenfolge«, forderte ihn Ves auf. »Ich gebe dir hundert Dollar, wenn du es direkt beim erstenmal richtig machst; du gibst mir fünf Dollar für jeden Fehler. Die Schuld ist fällig bei der Rückkehr in unsere eigene Zeit – Welt – oder was weiß ich.« »Wir werden das irgendwann einmal ausprobieren müssen«, murmelte Swift nachdenklich. »Was ist mit den Präsidenten?« »Washington, Adams, Jefferson, Madison, Monroe, Adams (das ist John Quincy), Jackson, van Buren, und damit sind wir schon im Jahr 1840. So habe ich es gelernt.« »Und wie hat man es hier gelernt?« erkundigte sich Swift. »Das ist das Problem. Die Litanei lautet hier: Washington, Adams, Jefferson, Hamilton, Pinckney, Clinton, Schuyler, King…« »Ist nicht jetzt auch ein Schuyler am Ruder?« unterbrach Swift. »Die meisten Namen scheinen sich zu wiederholen«, informierte ihn Ves. »Ich würde sagen, daß sich eine kleine Gruppe von Aristokraten das Präsidentenamt unter den Nagel gerissen hat. Sie reichen es von einem zum anderen weiter. Ich glaube außerdem, daß man mich verhaften würde, wäre ich so verrückt, das in der Öffentlichkeit zu sagen. Der Präsident scheint als eine Art Galionsfigur zu fungieren, aber um diese Galionsfigur wird eine ganze Menge zeremonieller Wind gemacht, und man darf ihn 115
nicht öffentlich beleidigen. Hier ist alles autokratischer und repressiver. Hast du die Schilder bemerkt?« »Was für Schilder?« Ves deutete auf die Wand, wo ein kleines, eingerahmtes Schild hing, das ein Auge an der Spitze einer dreieckigen Pyramide zeigte, und darunter das Motto: MINISTERIUM FÜR ÖFFENTLICHE SICHERHEIT UNSERE AUGEN SIND ÜBERALL UND WACHEN ÜBER IHRE RECHTE »Diese Schilder sind überall«, sagte Ves. »Wundervoll«, knurrte Swift. »Was hast du sonst noch herausgefunden?« »Der Bürgerkrieg«, erwiderte Ves. »Sie haben keinen Bürgerkrieg gehabt.« »Keinen Bürgerkrieg? Was ist mit der Sklaverei?« »Im Jahr 1844 hat es einen großen Sklavenaufstand gegeben, der vermutlich insgeheim von einigen Geschäftsleuten aus dem Norden unterstützt wurde. Er wurde niedergeschlagen, und die überlebenden Aufständischen hat man nach Afrika deportiert. Ich weiß nicht, ob hier noch immer Sklaverei praktiziert wird oder nicht. Wenn dem so ist, dann dürfte dies auf die Südstaaten beschränkt sein. In Neu-England braucht man keine Sklaven; es gibt genug Iren.« »Sollte das ein Witz sein?« erkundigte sich Swift.
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»Sei nicht albern«, brummte Ves. »Ich weiß, daß du Ire bist. Vor ein paar Jahren hat es in Irland eine Hungersnot gegeben, und mehrere hunderttausend Iren sind hier herübergekommen, um eine Ausbildung anzutreten, und jetzt arbeiten sie in den Mühlen. Es gibt hier außerdem einen Haufen Russen, aber der Zar ist nicht begeistert davon.« »Warum hat er sie dann gehen lassen?« »Sie haben sich hinausgeschlichen. Es gibt hier eine große Bewegung für die Befreiung der unterdrückten russischen Bauern. Sie scheint von offizieller Seite her unterstützt zu werden. Die Beziehung zwischen Seiner Demokratischen Majestät und Seiner Kaiserlichen Majestät sind tatsächlich gespannt.« Swift kaute nachdenklich auf einem Milchbrötchen. »Seine Demokratische Majestät… Es klingt einfach nicht richtig. Wir befinden uns in einem parallelen Universum, ist dir das klar? Ich habe einmal in einem Buch darüber gelesen, aber ich hielt es für einen Scherz.« »Es war einer«, nickte Ves. »Wie ich die Sache sehe«, murmelte Swift, drehte den Löffel zwischen den Fingern und spritzte Kakao über das Tischtuch, »nun, da ist unsere Welt, und da ist diese Welt, Seite an Seite in der vierten Dimension – oder nein, ich schätze, es muß die fünfte Dimension sein –, und jede hat ihre eigene Entwicklung durchgemacht, oder sie waren bis um das Jahr achtzehnhundert eins und haben sich dann getrennt.«
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»Und wie kommt es dann, daß hier das Jahr achtzehnhundertsiebenundneunzig geschrieben wird?« wandte Ves ein. »Woher soll ich das wissen?« entgegnete Swift. »Und was ist mit den Münzen?« »Welchen Münzen?« »Die Goldmünzen. Wie die beiden, mit denen ich die Anzüge bezahlt habe, oder diese hier.« Er holte sie aus der Tasche hervor. »Eagle d'or, steht da, Mexiko, steht da, Aaron Burr, steht da. Aaron Burr ist in dieser Welt niemals Kaiser von Mexiko gewesen. Wenn es parallele Zeitebenen gibt, dann gleich haufenweise. Außerdem, falls dieser Bursche der Alexander Hamilton war, dann ist er in dieser Welt vor sechzig Jahren gestorben.« Swift zuckte die Schultern. »Wenn es zwei gibt, warum nicht auch zwanzig? Warum nicht zwanzigtausend? Und was das betrifft, existieren zwei, dann existieren wahrscheinlich unendlich viele. Sie erstrecken sich so weit das Auge reicht, vorausgesetzt, das Auge wäre irgendwo, wo es sie sehen könnte. In einer Welt erschießt Aaron Burr Alexander Hamilton, in der anderen Welt erschießt Alexander Hamilton Aaron Burr, in der dritten erwischt es beide; in einer Welt gehen beide Schüsse fehl, in einer Reihe anderer kommt es zu Querschlägern, die einen der Sekundanten töten; in einer Welt kentert das Schiff, das sie nach Weehawken bringt, und einer oder beide ertrinken; in der nächsten Welt sind sich Hamilton und Burr nie
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begegnet, in der übernächsten waren sie ihr ganzes Leben lang Freunde. Ich könnte noch mehr aufzählen.« »Aber ohne Publikum«, knurrte Ves. »Nun, ich schätze, ich weiß, was du meinst. Doch wo führt uns das hin?« Er zählte an den Fingern ab. »Erstens: Es gibt eine unendlich große Zahl von parallelen Universen; zweitens: Es existiert eine Maschine, mit der man von einem in ein anderes dieser Universen reisen kann – oder zumindest zu einer parallelen Erde, wir sollten mit dem Wort ›Universum‹ nicht so leichtfertig umgehen – und diese Maschine ist in der Wand eines Dampfbades versteckt; drittens: Vielleicht gibt es noch viele weitere derartige Maschinen; viertens: Alexander Hamilton jagt aus nur ihm bekannten Gründen Aaron Burr auf diesen parallelen Erden; fünftens: Jemand hat die Verfassung der Vereinigten Staaten gestohlen und sie durch ein fast identisches Duplikat ersetzt; sechstens: Wahrscheinlich handelt es sich bei diesem Duplikat um eine echte Verfassung, die von einer dieser Alternativwelten stammt.« »Das ist eine annehmbare Erklärung«, nickte Swift. »Aber wie hat er sie aus der Vitrine bekommen?« »Woher soll ich das wissen?« entgegnete Ves. »Finde ihn, und wir werden ihn fragen.« »Wie?« »Indem wir Nachforschungen anstellen. Indem wir das Geheimnis der Tore lüften – dieser Apparate in den Wänden – sofern es mehr als eins gibt. Indem wir herausfinden, wer sie gebaut hat, wer sie kontrolliert und wer Zugang zu ihnen besitzt. Und dann, indem wir die Person
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aus dieser Gruppe identifizieren, die kürzlich eine Verfassung erworben hat. Ein paar Nachforschungen und ein wenig kriminologische Arbeit, so simpel ist das.« »Simpel«, wiederholte Swift. »Und all das glaubst du in der Bibliothek zu erfahren?« »Es ist ein Anfang«, erklärte Ves. »In der Unmenge der amtlichen Dokumente und Zeitungen werden wir den Schlüssel finden, den wir brauchen, sofern wir wissen, wo wir nachschauen müssen.« »Und wo schauen wir nach?« fragte Swift. »Ich weiß es noch nicht«, gestand Ves. »Bist du mit dem Frühstück fertig?« Swift schluckte den letzten Bissen Milchbrötchen hinunter und stand auf. »Ich werde deiner Führung folgen, Ves«, sagte er. »Aber du wirst die Führung übernehmen müssen. Ich habe nicht die geringste Ahnung von dieser Art Forschungsarbeit. Mir wäre selbst dann nicht klar, worauf ich achten müßte, wenn es mich beißen würde.« »Ich denke mir etwas aus«, versprach Ves. Die Bibliothek war noch geschlossen, als sie ankamen; nach dem Schild an der Tür öffnete sie um elf Uhr, und nach der Uhr an dem Eckgebäude auf der anderen Seite der Fifth Avenue war es fünf nach zehn. »Es ist wohl besser, wenn wir unsere Uhren nach der Ortszeit stellen«, bemerkte Swift und schob den Ärmel hoch. Ves ergriff seinen Arm. »Vorsicht!« zischte er. »Wir wissen nicht, ob Armbanduhren hier gebräuchlich sind.« »Du hast recht.« Swift drehte sich ein wenig, um sein Handgelenk vor den Blicken der Passanten zu verbergen, 120
während er die Uhr stellte. »Wir haben noch fast eine Stunde. Wie sollen wir sie verbringen?« »Gehen wir dorthin«, schlug Ves vor und deutete auf das Eckgebäude auf der anderen Straßenseite. »An der Zweiundvierzigsten Straße befindet sich ein interessantes Geschäft. Zumindest hat gestern abend um zehn das Schaufenster einen faszinierenden Eindruck auf mich gemacht.« »Das ist mir auch schon aufgefallen«, nickte Swift. »Schaufenster wirken weitaus faszinierender, wenn die Geschäfte geschlossen sind.« Sie überquerten die Fifth Avenue und die Zweiundvierzigste Straße und mußten dabei pferdegezogenen Bussen, Lastkarren, schweren Wagen und Einspännern ausweichen, die alle den manischen Ehrgeiz entwickelt zu haben schienen, schneller als die anderen die ampellose Kreuzung hinter sich zu bringen. »Puh«, keuchte Swift, als er auf dem Bürgersteig stand und keuchend nach Luft schnappte, »nie wieder werde ich mich nach den friedlichen Tagen vor der Erfindung des Automobils zurücksehnen.« Santesson Fils nannte sich der Laden. Das Fenster maß einsfünfzig mal einsfünfzig im Quadrat und enthielt »Alles, was Sie schon immer begehrt, aber selten gesehen haben.« Es gab ein antikes Astrolabium mit kabbalistischen Symbolen; das Modell einer griechischen Trireme mit abnehmbaren Decks und winzigen Seeleuten an den Rudern; ein ungefüges Messingfernglas mit türkischen Markennamen; einen ausladenden Kopfputz mit vielen Truthahn- und Adlerfedern und einer Urkunde mit der Auf121
schrift: FÜR UNSEREN BRUDER GEHT-LANGSAMDURCH-DEN-REGEN IN ANERKENNUNG SEINER GROSSEN VERDIENSTE UM DIE NATION DER SIOUX; einen Globus einer fremden, hauptsächlich von Ozean bedeckten Welt; ein voluminöses, in Leder gebundenes Buch mit arabischem Titel und verschließbarem Einband; ein kleineres Buch mit zeichnerischen Impressionen zu Augustinus' ›Der Gottesstaat‹, einen ausgestopften kleinen Greifvogel; einen silbernen Zinnenring mit einem graugrünen Stein und einem Geheimfach; und eine Vielzahl komplizierter Apparate, deren Zweck im dunkeln blieb. Das Innere des Ladens war beengt, unordentlich und noch seltsamer als das Schaufenster. Alle verfügbaren Ecken, Winkel, Nischen und Stellflächen waren mit Büchern gefüllt und bedeckt. Und auf den Bücherstapeln stapelten sich weitere Bücher, und auf diesen Büchern lasteten noch mehr Bücherstapel. Verstreut zwischen den Büchern standen Objekte von sonderbarer und einzigartiger Faszination. Da war ein Gerät, das wie ein sechzig Zentimeter hohes Riesenrad mit Eimerchen, Hebeln, Drähten und Zahnrädern aussah und sich langsam, aber gleichmäßig drehte. Auf dem Etikett stand: PERPETUUM MOBILE – VOLLENDET VON Nathanial McCormick im Jahre 1856. Da war ein großer, kunstvoller Krug jener Art, den die vierzig Räuber als Versteck benutzt hatten (einer pro Krug). Da war ein Kasten mit einem mechanischen Arm, der in eine mechanische Hand mit einem Federkiel auslief. Da war der Ladenbesitzer, ein mittelgroßer, stämmiger, ungepflegter Mann in den Vierzigern, ohne Jacke, mit 122
aufgeknöpfter Weste, hochgerollten Ärmeln, der im Hintergrund des Raums an einem Schreibtisch saß, sich über ein Schriftstück beugte und die Neuankömmlinge mit majestätischer Gleichgültigkeit ignorierte. »Hallo«, rief Ves. Der Mann hob einen Arm, ohne von seinen Papieren aufzuschauen, und wedelte mit der Hand. »Es gibt kein Perpetuum mobile«, erklärte Swift. »E pur sie muove«, erwiderte der ungepflegte Mann und löste seine grauen Augen von den Schriftstücken, um sie zum erstenmal anzusehen. »Es bewegt sich aber. Und das schon seit drei Jahren. Obwohl ich der erste wäre, der zugeben würde, daß das kein Beweis ist. Was kann ich für die Herren tun?« »Wir wollen uns nur ein wenig umschauen«, sagte Ves. »Sie haben ein faszinierendes Geschäft.« »Es fasziniert mich«, nickte der Mann. »Ich bin überall gewesen, und ich habe alles gesehen und versucht, von jedem ein Stück mit nach Hause zu bringen. Man könnte sagen, ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt, indem ich meine Erinnerungen verkaufe.« »Überall?« fragte Swift. »Ich habe Orte gesehen, die Ihnen unglaublich erscheinen würden«, versicherte der Mann. »Sie wären überrascht, wenn Sie wüßten, was ich alles glaube«, brummte Swift. Ves warf ihm einen warnenden Blick zu. Der Mann bemerkte es entweder nicht, oder es war ihm gleichgültig.
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»Ich habe mich auf die kleineren Wunder spezialisiert«, erklärte der Mann. »Hier, sehen Sie sich das an.« Er nahm ein winziges Modell von einer Couch und vier weitere von einem Regal und stellte sie auf den einzigen leeren Tisch im Laden. Nicht größer als zwanzig Zentimeter, war es bis ins kleinste, für das bloße Auge sichtbare Detail perfekt: Vier rassige, braune Pferde, die eine kunstvoll gefertigte, vergoldete Kutsche zogen. Der Kutscher, die Peitsche in der Hand, hockte auf dem Kutschbock, und der Rücksitz wurde von zwei Lakaien eingenommen. Ves bückte sich, um sie aus der Nähe zu betrachten. »Wunderschön«, sagte er. »Von ausgezeichneter Qualität. Die detaillierte Bemalung der Figuren ist das Beste, was ich je in dieser Hinsicht gesehen habe.« »Sehr hübsch«, stimmte Swift zu. »Ich wette, wer derartige Modelle mag, wird davon beeindruckt sein.« »Es kann sich auch bewegen«, erklärte der Mann. Er berührte einen winzigen Knopf auf dem Dach der Kutsche, und die Pferde liefen los. Sie galoppierten über die Tischplatte und zogen mit stampfenden Beinen die Kutsche hinter sich her, während der Kutscher sie mit den Zügeln und der Peitsche im Kreis lenkte. Nach drei Runden brachte der Kutscher die Pferde zum Stillstand, und die Kutsche blieb genau dort stehen, wo sie losgefahren war. »Also das«, stieß Swift hervor, »ist beeindruckend!« Der winzige Kutscher stieg ab und öffnete die Kutschentür, und einer der Lakaien klappte unter der Tür eine zweistufige Trittleiter aus. Eine miniaturene Dame in 124
einem Kleid aus dem siebzehnten Jahrhundert erschien in der Öffnung und stieg die beiden Stufen hinunter auf den Tisch. Der Kutscher ergriff ihre Hand, sie entfernte sich drei Schritte von der Kutsche, machte einen tiefen Knicks, zauberte einen Brief hervor und hielt ihn so, daß er auf die Stelle zwischen Swift und Ves deutete. Dann hörte alle Bewegung auf. »Ah«, machte Swift, »uh.« »Es wäre noch beeindruckender gewesen«, bedauerte der Mann, »wenn sie den Brief direkt einem von Ihnen gereicht hätte. Ich habe mich ein wenig verschätzt.« »Ein Aufziehmechanismus?« fragte Ves. »Ja«, nickte der Mann. »Aber ebensogut könnte man sich einen Rembrandt oder einen De Vacchio ansehen und fragen ›Farbe?‹« Vorsichtig hob er die kleine Kutsche hoch und stellte sie zurück auf das Regal. »Schauen Sie sich ruhig um, meine Herren; wenn Sie etwas sehen, das Sie interessiert, rufen Sie mich.« Er nickte ihnen zu und begab sich wieder an den Schreibtisch, wo er sich erneut in die Lektüre seiner Schriftstücke vertiefte. Ves entdeckte einen Stapel Karten und begann sie durchzublättern. Karten hatten es ihm schon immer angetan; alle Arten von Karten. Er sammelte Karten. Er besaß ganze Schränke voller Karten. Sein Lieblingsstück war eine sechshundert Jahre alte Karte der Insel Saaremaa (Ösel) mit einem handschriftlichen, in altkirchlichem Vepse (oder möglicherweise auch Votyak) gehaltenen Text. Er hatte sich ihre Echtheit bestätigen und den Text übersetzen lassen wollen, aber in den Vereinigten Staaten
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gab es nur zwei Männer, die altkirchliches Vepse (oder Votyak) lesen konnten, und sie arbeiteten für die CIA und durften von Außenstehenden keine Aufträge annehmen. Und das Museum für Estnische Kunstschätze in Tallin würde die Karte wahrscheinlich als nationales Kulturerbe beanspruchen und offiziell Beschwerde beim Außenministerium einlegen. Und dem Außenministerium, dem Geist der Entspannung verhaftet, war ohne weiteres zuzutrauen, daß es seine Karte gegen einen Apfel und ein Ei an die sowjetische Regierung verscherbelte. So würde er wahrscheinlich nie die Namen der Berge von Saaremaa (Ösel) oder die Tiefe ihrer Fjorde oder die Lage der Drachenhöhlen erfahren. Die Karten in diesem Regal waren vielfältig und interessant; eine Karte Afrikas, auf der der Großteil des Landesinneren weiß gehalten war und der Nil im Nirgendwo versickerte; eine Karte Britisch-Amerikas mit Ontario als Hauptstadt, das sich weiter nach Süden erstreckte als sich Ves erinnerte; eine humorvoll gezeichnete Karte New York Citys mit holländischen Bürgern, die auf ihren Plantagen in Haarlem Tonpfeifen rauchten, Melonenhändler, die einander an ihren Ständen in der Canal Street zuwinkten, der Mohawk-Siedlung im Central Park und eine Fähre, die geschäftig zwischen den Kais der unabhängigen Städte Brooklyn und New York verkehrte. Ves legte die Karte von New York zur Seite und wollte sich soeben der nächsten zuwenden, einer nautischen Karte des Huron-Sees, als ihm jemand heftig auf die Schulter klopfte. Er fuhr herum. »Was …« 126
Swift legte einen Finger auf die Lippen. Mit der anderen Hand deutete er auf eine Vitrine. Ves betrachtete sie. Im ersten Moment ergab der aus zahlreichen Einzelstücken zusammengewürfelte Inhalt keinen Sinn. Dann begann Ves' Auge die einzelnen Teile zu unterscheiden: ein Glasmodell des Kristallpalastes; ein malayischer Kris; ein goldener Apfel; ein kleiner Glaswürfel, in dem Sterne funkelten; ein Porzellanstiefel; eine alte Schulkrawatte; ein Modell der Großen Pyramide mit der Geheimen Grabkammer; ein Messingmodell des Empire State Building; die Elfenbeinminiatur eines Wals, der ein Schiff verschluckte … »Das Empire State Building?« fragte Ves laut. »Das habe ich mir auch gedacht«, nickte Nate, »aber es ist gut, von dir die Bestätigung zu bekommen. Sollen wir den Besitzer …?« Ves schüttelte den Kopf. »Das halte ich für keine gute Idee. Aber wir sollten den Laden im Auge behalten. Das heißt, übernimm du das. Ich werde meine Nachforschungen intensivieren. Wenn du mich brauchst, ich bin auf der anderen Straßenseite, zwischen den berühmten Steinbisons.« Unauffällig verließen Swift und Ves den Laden. »Also ich soll ihn beobachten«, brummte Swift. »Nun, warum nicht, ich habe im Moment nichts anderes vor. Wahrscheinlich wohnt er im Hinterzimmer des Ladens. Ich werde in völlig unverdächtiger Pose neben diesem Laternenpfahl auf der anderen Straßenseite herumlungern. Vergiß nicht, mir ein- oder zweimal am Tag ein Sandwich
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vorbeizubringen; falls das Sandwich hier schon erfunden worden ist.« »Wenn du mich brauchst«, erinnerte Ves, »ruf mich einfach über Funk an, und ich komme sofort zu dir. Schade, daß wir kein Geld haben, sonst könnten wir versuchen, ein paar Privatdetektive anzuheuern, aber bis auf unser letztes Goldstück sind wir abgebrannt.« »Mir kommt da eine Idee«, entgegnete Swift. »Warum kann ich mich eigentlich nicht zu der Maschine begeben und in unsere eigene Welt – oder Zeit – oder was weiß ich zurückkehren, um Geld und Hilfe zu holen? In spätestens ein paar Stunden wäre ich wieder zurück.« »Und was ist, wenn du nicht zurückkehrst?« wandte Ves ein. »Angenommen, dieser Apparat sendet nur in eine Richtung, und du tauchst noch weiter in der Vergangenheit auf? Oder angenommen, du bedienst die Kontrollen nicht richtig und tauchst nirgendwo auf? Was soll dann aus mir werden?« Swift dachte nach. »So betrachtet hast du recht«, nickte er. »Ich hasse es, zu verschwinden und dich in der Klemme stecken zu lassen. Und was das betrifft, ich hasse es, überhaupt zu verschwinden.« Ves wartete, bis Swift begann, unauffällig auf der anderen Straßenseite herumzulungern, betrat dann dicht hinter der soeben eintreffenden Bibliothekarin das Gebäude und begab sich in den Zeitschriftenraum der Bücherei. Dort griff er nach den Ordnern mit den Ausgaben der drei größten Tageszeitungen New Yorks aus den letzten beiden Monaten: die Times-Gazette, die sich auf internationale
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und politische Nachrichten zu konzentrieren schien; die World, die hauptsächlich Lokalnachrichten brachte; und den Tattier, der den vielversprechendsten Endruck machte. Die Bibliothekarin, eine züchtig gekleidete Dame, die aussah, als müsse sie eine Brille tragen und es trotzdem nicht tat, zeigte großes Interesse – ob nun an Ves oder seinen Nachforschungen, wußte er nicht genau – und bestand darauf, ihm behilflich zu sein. »Ich kenne mich wirklich sehr gut aus«, erklärte sie ihm. »Wonach suchen Sie denn? Es muß schrecklich interessant sein! Ich wäre froh, wenn ich Ihnen helfen könnte; schließlich ist das mein Beruf.« Ves entschied, daß er sie am schnellsten zum Schweigen bringen konnte, wenn er ihr Angebot annahm. »Ich suche nach ungewöhnlichen Ereignissen«, teilte er ihr mit. »Alles, was besonders merkwürdig oder ausgefallen ist; alles Unerklärte oder Unerklärliche könnte das sein, was ich suche. Tut mir leid, aber besser kann ich es Ihnen nicht beschreiben.« »Ich weiß genau, was Sie meinen!« rief sie. »Warten Sie, ich blättere einige der Zeitschriften durch.« Ves nahm seine Nachforschungen wieder auf und notierte alles, was seine Aufmerksamkeit erregte und möglicherweise in das Muster passen konnte, mit einem Büchereistift auf einem Büchereinotizblock. Natürlich war es schwer, das Normale in dieser Welt vom Ungewöhnlichen zu unterscheiden. Der nackte Mann, zum Beispiel, den man letzten Sonntag verhaftet hatte, weil er nackt durch die nächtlichen Straßen von Brooklyn gelaufen war; handelte es sich bei ihm um einen Reisenden, der in einem 129
anderen Dampfbad und in größerer Verwirrung angekommen war als sie, oder war er ein harmloser, uninteressanter Betrunkener? Der Zeitungsartikel lieferte keine Hinweise, und sie würden ihn wohl aufsuchen müssen, um sich zu vergewissern. Oder das seltsame und plötzliche Verschwinden eines mit Madeirawein beladenen Schiffes von seinem Pier an der Pier Street; war das ein Fall von cleverer Piraterie, eines raschen Schiffsuntergangs, oder konnte man Madeira zu einem hohen Preis auf einem anderen dimensionalen Weinmarkt verkaufen? Er würde es vermutlich nie erfahren. »Hier ist etwas, das Sie vielleicht interessieren wird«, sagte die Bibliothekarin und zeigte ihm eine aufgeschlagene Zeitschrift. FRANZÖSISCHER PROFESSOR WILL RAKETE ZUM MOND SCHIESSEN lautete die Überschrift des Artikels. Das Bild, das sich über die oberen Hälften beider Seiten erstreckte, zeigte ein riesiges, kugelähnliches Projektil, das von Nieten übersät war und an der Seite ein Fenster besaß. Zwei Männer betrachteten durch die Scheibe den Mond, der ein zu einem grotesken Zwinkern verzerrtes Gesicht besaß. Rauch drang aus dem Heck des Projektils. »Faszinierend«, murmelte Ves und starrte in offener Bewunderung das Bild an. »Sie sagten, alles, was seltsam ist«, erklärte die Bibliothekarin. »Nun, das ist wahrhaftig seltsam. Wie dieser Mann aus New Jersey, der behauptet, er könnte durch Magnetismus Botschaften durch die Luft senden. Es erstaunt mich immer wieder, wie leichtgläubig die Leute doch sind.« 130
»Ves«, drang Swifts Stimme an sein Ohr. »Hamilton hat soeben diesen Laden betreten.« Ves berührte den Knopf. »Im Auge behalten.« »Natürlich. Wann, glaubst du, wirst du hier sein ?« »Wie bitte?« fragte die Bibliothekarin. »Wen?« »Sofort«, sagte Ves in den Knopf und stand auf. »Jetzt?« Die Bibliothekarin klang schockiert. »Aber ich kenne Sie doch kaum!« Ves schüttelte der Bibliothekarin die Hand. »Vielen Dank für Ihre Hilfe«, erklärte er. »Ich muß jetzt leider gehen, aber ich werde zurückkommen. Vielleicht lernen wir uns dann ein wenig besser kennen. Adieu!« Er ging durch die Tür und die breite Marmortreppe hinunter zum Hauptausgang. »Ves! Er kommt wieder heraus. Geht in Richtung Norden. Ich werde ihm folgen.« Ves berührte den Knopf. »Gut. Ich bin gleich bei dir.« Zwei große Männer in sehr dezenten Anzügen und mit Melonen auf den Köpfen schoben sich hinter den Marmorsäulen an den Türen hervor und traten Ves in den Weg. »Können wir Sie bitte einen Moment sprechen?« fragte der linke Mann und tippte höflich an seinen Hut. Ves blieb stehen und breitete die Arme aus. »Durchsuchen Sie mich«, forderte er sie auf. »Ich habe nicht ein Buch bei mir.« »Wir arbeiten nicht für die Bibliothek«, eröffnete ihm der Mann auf der rechten Seite.
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»Stammt die von Ihnen?« fragte der Mann auf der linken Seite und holte eine Goldmünze aus seiner Tasche hervor. Ves berührte unauffällig den Knopf. »Es wird wohl eine Weile dauern«, murmelte er in das Mikrofon. »Das stimmt«, nickte der Mann zu seiner Linken.
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11 Swift war auf eine lange Wartezeit vorbereitet. Nein, das ist falsch ausgedrückt: Swift rechnete mit einer langen Wartezeit, aber er war nicht darauf vorbereitet. Er fürchtete sich davor. Er wußte weder, wonach er Ausschau hielt, noch wie er es erkennen sollte, wenn es geschah. »Alles, was irgendwie ungewöhnlich ist«, hatte Ves gesagt. Swift stellte sich eine Parade von Zentauren und Einhörnern vor, die mit Empire State Buildings und Freiheitsstatuen auf dem Rücken aus dem Laden strömten. Der Laden schien nicht besonders beliebt zu sein. Viele Passanten blieben vor dem Schaufenster stehen und sahen sich die Auslagen an, aber niemand ging hinein. Swift begann sich zu langweilen. Der einzige Mensch, der den Laden betrat, blieb vorher nicht vor dem Schaufenster stehen, und erst, als er schon im Innern verschwunden war, erkannte Swift, daß es sich dabei um Alex. Hamilton persönlich handelte. Swift rief Ves an, aber bevor Ves zu ihm stoßen konnte, hatte Hamilton schon den Laden verlassen und strebte in Richtung Norden die Fifth Avenue hinunter. Swift entschloß sich, Hamilton zu folgen, da der Laden zweifelsohne dort bleiben würde, wo er jetzt stand. Außerdem hatte mit Hamilton alles begonnen. Oder mit Aaron Burr. Ves sagte, daß er sofort kommen würde. Dann: »Es wird wohl noch eine Weile dauern.« Und dann schwieg er. Swift hatte keine Zeit, sich Gedanken darüber zu machen; er lief
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mit großen Schritten hinter dem schnellsten Fußgänger auf der Fifth Avenue her. Alex. kümmerte sich weder um die Schlaglöcher, noch um die anderen Passanten; er stolzierte unbeirrt weiter und hatte nur majestätische Ignoranz für jene übrig, die ihm in seinem Kielwasser folgten. Hamilton trug ein kleines, in braunes Packpapier eingewickeltes Päckchen unter dem Arm. Swift glaubte nicht, daß Hamilton es schon vor dem Betreten des Ladens gehabt hatte; demnach mußte es aus dem Laden stammen. Deduktives Denken, q.e.d., elementar, mein lieber Ves, dachte Swift amüsiert, während er weiterhetzte und darüber spekulierte, welches von den vielen Objekten, die er im Laden gesehen hatte, sich nun unter Hamiltons Arm befand. Alex. Hamilton marschierte von der Zweiundvierzigsten bis zur Achtunddreißigsten Straße, etwas mehr als drei Kilometer, ohne anzuhalten oder seine Geschwindigkeit zu verringern. Die Preußische Armee wäre stolz gewesen, ihn in ihren Reihen zu haben. Er betrat das Metropolitanische Museum für Kunst und Kunstgewerbe durch den Haupteingang, als Swift noch einen halben Block hinter ihm zurücklag. Swift stieg die Treppe zu dem Museum hinauf und blieb stehen, um Luft zu holen. Sobald er stand, bemerkte er, daß er sehr oft sehr tief atmen mußte, um wieder zu Kräften zu kommen. »Ist das der einzige Ausgang?« fragte er einen uniformierten Aufseher, der am Treppenabsatz stand. »Ausgang und Eingang«, antwortete der Aufseher. »Drehkreuz rechts hinter der Tür.«
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»Danke«, sagte Swift kurzatmig. Er schob sich durch die viereinhalb Meter hohe Bronzetür und sah sich um. Die Halle war riesig, drei Stockwerke hoch und in weißem Marmor gehalten. Breite Oberlichter ließen das Tageslicht hinein, während gewaltige Kronleuchter an der Marmordecke hingen, um nach Einbruch der Dunkelheit Helligkeit zu spenden. Die Bereiche, die nicht direkt von den Oberlichtern erhellt wurden, lagen in tiefem Schatten, ein Chiaroscuro-Effekt, der durch die grelle Weiße des Marmors noch verstärkt wurde. Sieben Bogengänge führten von der Haupthalle in die einzelnen Flügel des Gebäudes und hüllten sich schon nach wenigen Metern in Dämmerung. »Wo ist er hingegangen?« fragte Swift den Aufseher. »Eintritt fünfzig Cents, Sir«, sagte der Aufseher und nickte. »Der Herr, der vor einer halben Minute hier hereinkam«, beharrte Swift, »welchen Weg hat er genommen?« »Er hat sich nach links gewandt, Sir. Entweder zu den Teekannen der Welt‹ oder zum Toltekisch-AztekischHebräisch-Phönizischen Flügel; Genaueres kann ich Ihnen leider auch nicht sagen.« »Der Toltekisch-Aztekisch-Phönizische Flügel?« »Toltekisch-Aztekisch-Hebräisch-Phönizisch, Sir. Ein Geschenk von Sir Dandridge Phillipotts, direkt nachdem er bewiesen hatte, daß es sich bei den amerikanischen Indianern um die zehn verlorenen Stämme Israels handelt, Sir. Fünfzig Cents Eintritt, Sir.«
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»Oh, ja.« Swift suchte in seinen Taschen, ehe ihm bewußt wurde, daß es sinnlos war. »Ich habe nichts, was Sie als Geld akzeptieren würden. Zumindest nicht in der Tasche.« »Sehr gut, Sir«, nickte der Aufseher. »Hier.« Er griff nach einem Buch, das mit einer Kette an dem Pfosten befestigt war und legte es auf den Tisch. »Tragen Sie sich ins Armenbuch ein. Einer von unseren Gönnern wird das Eintrittsgeld für Sie entrichten. Pro bomo publico, Sir.« Es wurde nicht nur eine Unterschrift verlangt, sondern gleich eine ganze Auskunft zur Person. Die Spalten erstreckten sich über zwei Seiten: Name, Anschrift, Beruf, Religion, Geschlecht, politische Zugehörigkeit, Nationalität, Grund für den Museumsbesuch. Erfüllt von dem schrecklichen Gefühl, daß Alex. Hamilton mit jeder Sekunde weiter in die ›Teekannen der Welt‹ vorstieß, dachte sich Swift so rasch wie möglich überzeugende Antworten aus und trug sie ein. »Hier«, sagte er und schob das Buch zurück, »und vielen Dank.« Der Aufseher starrte die Eintragungen im Buch an. Name: Octavius Caesar; Anschrift: Gewöhnlich Rom, gelegentlich Feldpostlagernd; Beruf: Selbständiger Tyrann; Religion: Pantheistischer Paganismus; Geschlecht: Gott; Politische Zugehörigkeit: Mystische Arbeiterpartei; Nationalität: Dyspeptiker; Grund für den Museumsbesuch: Dringendes Bedürfnis. »Sehr gut, Sir. Sehr ausführlich, Sir. Treten Sie jetzt durch das Drehkreuz.« Swift durchsuchte hastig die »Teekannen der Welt»Sammlung, die leer war, und betrat dann den ToltekischAztekisch-Hebräisch-Phönizischen Flügel. Es war ein 136
langer, zu beiden Seiten von Räumen gesäumter Gang. Einige der Räume enthielten Ausstellungsvitrinen voller Artefakte, und in den anderen waren nachgestellte Szenen aus der Geschichte der Zehn Verlorenen Stämme zu bewundern. Keiner der Räume, die Swift passierte, wurde von einem Museumswärter überwacht. Swift berührte den Knopf seines Senders und rief: »Ves, hörst du mich?« Seine Stimme hallte im Korridor wider, aber er erhielt keine Antwort. »Ves«, flüsterte er in das Mikrofon, »wo bist du?« »Warum folgen Sie mir, junger Mann?« Swift blickte auf. Alex. stand im Eingang zu einem der Seitenräume und starrte Swift über die Wölbung seiner Patriziernase hinweg streng an. Swift fielen eine Reihe möglicher Antworten ein, aber keine erschien ihm passend. »Ihnen folgen?« fragte er. »Es spielt wirklich keine Rolle«, erklärte Alex. »Wenn Sie mir folgen wollen, bitte sehr. Kommen Sie.« Er drehte sich um und verschwand in dem Raum. Das Schild neben der Tür trug die Aufschrift: NACHBAU EINES AZTEKISCHEN TEMPELS – INNENANSICHT DER OPFERKAMMER. Entwurf: Professor J. Leavett. Das Innere wurde von einem großen, runden Stein mit glatter Oberfläche und kunstfertigen Schnitzereien beherrscht. Erhellt wurde es vom flackernden Gaslicht künstlicher Fackeln, die an den Pseudosteinwänden befestigt waren. Durch die schmalen Steinfenster konnte man gemalte Ansichten einer großen aztekischen Stadt erkennen, die sich unter dem Tempel ausbreitete. Die
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Atmosphäre war düster, altertümlich und bedrückend. Swift blieb an der Tür stehen. »Nun, kommen Sie schon, wenn Sie kommen wollen«, forderte ihn Alex. auf, während er auf den Opferstein kletterte und dann seine Hose glattstrich. Er bückte sich und öffnete eine in den Stein eingelassene Klappe. »Was haben Sie vor?« sagte Swift und kletterte Alex. hinterher. »Ein wenig spät, um das zu fragen, meinen Sie nicht auch?« entgegnete Alex., griff in den Stein und drückte auf einen Knopf.
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12 Ves war bereit, den beiden Beamten zu erklären, wie die Goldmünze in seinen Besitz gelangt war. Er war begierig darauf, es ihnen zu erklären. Er war schon immer stolz auf seine Fähigkeit gewesen, sich aus jeder Situation herauszureden; eine Fähigkeit, die sich ein Privatdetektiv rasch aneignen mußte, wollte er im Geschäft bleiben und alle Zähne behalten. Das einzige Problem war, daß die beiden Beamten an einer Erklärung nicht interessiert waren. Sie waren an nichts von dem interessiert, was er zu sagen hatte. Sie weigerten sich, ihm zuzuhören. Ihr einziges Interesse war, ihm die großen, altmodischen Handschellen anzulegen und ihn aus der Bibliothek abzuführen. Der erste Teil erwies sich als schwierig. Diese Handschellen ließen sich nicht mit einem Schlüssel schließen, sondern sie wurden mit einer großen Zwingschraube zugeschraubt, die sich nicht bewegen wollte. »Du machst das falsch; komm, überlaß das mir«, sagte Eins. »Sie unterliegen einem Irrtum, meine Herren«, erklärte Ves. »Kein Irrtum, du hast die Handschellen rostig werden lassen«, knurrte Zwei. »Ich bin überzeugt, die Angelegenheit zu Ihrer Zufriedenheit erklären zu können«, fügte Ves hinzu. »Ich halte sie immer gut geölt«, verteidigte sich Eins.
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»Das Gewinde ist empfindlich«, sagte Zwei. »Eine winzige Rostflocke, und die Schraube schraubt sich fest. Oder besser gesagt, sie schraubt überhaupt nicht mehr.« »Schrauben Sie, äh, schauen Sie, ich bin nur durch einen Zufall in den Besitz der Münze gelangt«, warf Ves ein. »Wenn Sie möchten, meine Herren, führe ich Sie zu der Person, die sie mir gegeben hat. Ein hochgewachsener Mann mit einem breiten Schnurrbart. Ich bin sicher, daß ich ihn wiedererkennen werde.« »Halten Sie nur Ihre Hände auf dem Rücken, bis wir Ihnen die Handschellen angelegt haben«, befahl Eins. »Ich möchte Sie nicht in Schwierigkeiten bringen«, sagte Ves und wünschte, den Senderknopf mit den Zähnen erreichen zu können. »Es ist alles ein Irrtum.« »Na endlich«, frohlockte Zwei. »Ich habe sie festgedreht.« »Glaubst du, daß du sie wieder losbekommen wirst?« fragte Eins. »Was spielt das für eine Rolle?« entgegnete Zwei. »Es ist verboten, Gefangene ohne Handschellen ins Hauptquartier zu bringen. Aber ist er erst einmal dort, kann ich sie immer noch durchsägen, wenn es nicht anders geht.« »Das stimmt«, nickte Eins. »Wenn die Herren mir nur verraten würden, was Sie von mir wollen …« begann Ves. »Kommen Sie jetzt«, unterbrach Eins und umklammerte mit eisenhartem Griff seinen Oberarm. »Wir sind im Handumdrehen im Hauptquartier.«
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»Hauptquartier?« echote Ves. »Sehen wir aus, als kämen wir vom Lande?« fragte Zwei beleidigt. »Nein«, antwortete Ves. »Natürlich nicht.« »Im Handumdrehen« erwies sich als eine Zeitspanne von einer knappen Stunde. Es hätte schneller gehen können, aber der Verkehr auf der Fifth Avenue war sehr dicht, oder zumindest behauptete Zwei das, als sie die Achte Straße erreichten. Das war das erstemal, daß er das Wort ergriff, seit sie die Kutsche bestiegen hatten; vermutlich, weil er zu sehr damit beschäftigt gewesen war, grimmig dreinzuschauen und wachsam zu bleiben für den Fall, daß Ves eine Verzweiflungstat beging. Eins saß draußen neben dem Kutscher, und die Tür war von außen verschlossen, aber besser übervorsichtig sein, als übertölpelt werden, wie Eins erklärte, als er die Tür verriegelt hatte. Auf der Achten Straße wandten sie sich nach rechts, bogen in die Sixth Avenue ein, fuhren dann wieder in Richtung Stadtmitte und legten mehrere Häuserblocks zurück; vor einer hohen, langgestreckten Ziegelsteinmauer mit einem massiven Eisentor kamen sie zum Stillstand. Der Kutscher schrie etwas, das Tor öffnete sich und die Passanten auf der Straße blieben stehen und nahmen respektvoll die Hüte ab, als die Kutsche weiterfuhr und das Tor hinter ihr ins Schloß fiel. Dieses Verhalten machte Ves mehr als alles andere nervös. Die Ziegelsteinmauer umschloß einen großen Hof vor einem dreistöckigen Ziegelsteingebäude, das einen abwei-
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senden Eindruck machte. Die Fenster waren klein und in allen drei Stockwerken mit armdicken Eisenstangen vergittert. Die einzig sichtbare Tür war massiv und mit Stahl beschlagen. Auf dem rechteckigen weißen Schild links neben der Tür stand in strengen schwarzen Lettern: MINISTERIUM FÜR ÖFFENTLICHE SICHERHEIT INNERE SICHERHEIT BEZIRK NORDOST ÖFFENTLICHE SICHERHEIT DIENT DER SICHERHEIT DER ÖFFENTLICHKEIT Jenseits dieser Schwelle sind alle Bürger Verdächtige Die Kutsche hielt direkt vor der, Tür und Eins stieg ab und öffnete den Verschlag. Ves kletterte nach draußen und ging – flankiert von Eins und Zwei – zur Pforte. Sie wurde von innen durch einen uniformierten Wächter geöffnet, der sie durch den Türspion musterte, bevor er den Riegel entfernte. Ves wurde die Treppe hinauf ins erste Stockwerk und dann in einen kleinen Raum mit einer Nummer an der Tür geführt, auf eine Holzbank gesetzt und dann alleingelassen. Indem Ves den Hals verdrehte, gelang es ihm, den Kragen seiner Jacke mit den Zähnen zu packen. Er kaute unermüdlich, bis sich das knopfförmige Funkgerät an seinen Lippen befand. Dann stieß er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor: »Nate, Nate, hier ist Ves.« Erst danach wurde ihm klar, wie töricht er sich
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benahm; wer sonst konnte denn versuchen, Swift über Funk anzurufen? Er erhielt keine Antwort. Nun, die Reichweite des winzigen Knopfsenders betrug im besten Falle nicht mehr als einen Kilometer; Swift hatte sich nach Norden gewandt, und Ves war nach Süden verschleppt worden. Ves hörte auf, an seinem Kragen herumzukauen und lehnte sich zurück, um zu warten. Sie ließen ihn geraume Weile warten. Es hätte ihn gestört, wäre er nicht vertraut mit dieser Technik gewesen, die er oft selbst benutzt hatte, um den Widerstand von Verdächtigen zu brechen. Je länger man sie warten ließ, desto nervöser wurden sie; je mehr Zeit sie zum Nachdenken zur Verfügung hatten – und sie konnten nur über ihre Verbrechen nachdenken –, desto begieriger wurden sie, davon zu erzählen – und wenn auch nur, um sie abzustreiten. Er hatte schon oft Betrüger, entlarvt, die bei seinen Auftraggebern über jeden Verdacht erhaben gewesen waren, indem er sie dazu gebracht hatte, ihre Betrügereien zu leugnen. Nach einer Zeitspanne, die seinen Häschern offenbar lang genug erschien, brachte man ihn in ein Büro, das direkt neben seiner Zelle lag. Sie kannten alle Kniffe und Tricks, die man in diesem Gewerbe beherrschen mußte, und sie besaßen zweifellos langjährige Erfahrung in diesen Dingen. Einzig und allein das grelle Licht fehlte, aber man mußte ihnen zugestehen, daß sie technisch noch nicht so weit fortgeschritten waren. Drei Männer hielten sich im Zimmer auf; einer hinter einem riesigen Schreibtisch, um ihn zu verhöhnen; einer an seiner Seite, um ihn zu bedrohen; und einer, der still in der 143
Ecke saß und auf seiner Seite war – der »Freund«, bei dem er das Geständnis ablegen würde, falls ihn der Druck nicht schon vorher zermürbte. Sie nahmen ihm die Handschellen ab und leerten seine Taschen; Brieftasche, Schlüsselbund, Wechselgeld, die letzte Goldmünze samt Etui, Vergrößerungsglas, Westentaschenmikroskop, Filzstift, das kleine Notizbuch, ein Taschenmesser mit zwei Klingen. Der Mann hinter dem Schreibtisch nahm die Brieftasche, holte nacheinander die Papiere heraus, studierte sie ausgiebig und reichte sie dann weiter. Sie fanden großen Anklang, und fast jedes einzelne Dokument entlockte jedem der Verhörspezialisten zumindest ein Lächeln. Insbesondere sein Führerschein stieß auf deutliches Wohlwollen und brachte den Mann hinter dem Schreibtisch zum Kichern, während der Mann in der Ecke traurig und wissend den Kopf schüttelte. Schließlich sah der Mann hinter dem Schreibtisch Ves scharf an. »Setzen Sie sich«, befahl er. »Danke«, erwiderte Ves und nahm Platz. »Sie können mich Colonel Brown nennen«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch. »Das ist Captain Lewis und das Captain Richardson«, fügte er hinzu und deutete auf den Drohenden und den Eckenhocker. »Ich heiße Romero«, stellte sich Ves vor. »Schön, daß wir so gut miteinander auskommen. Ich werde mir Mühe geben, nicht allzuviel von Ihrer Zeit in Anspruch zu nehmen.« Colonel Brown wirkte leicht irritiert; dies war die falsche Reaktion. Er fuhr fort: »Ihr Herr gibt es wohl nie 144
auf, wie? Und Burschen wie Sie schaffen es immer wieder, alles zu verderben.« »Sie meinen?« fragte Ves. Colonel Brown kicherte sanft. »Oh, kommen Sie«, sagte er. »Halten Sie uns für Idioten?« »Ganz im Gegenteil, Colonel Brown«, entgegnete Ves. »Hätte ich denn mit Ihnen sprechen wollen, wenn ich nicht eine hohe Meinung von Ihrer Intelligenz besäße?« »Sie wollten … Lewis, kommen Sie mit!« Er stand abrupt auf und ging zur Tür, dicht gefolgt von Captain Lewis. Colonel Brown schritt über die Schwelle und wollte gerade die Tür hinter sich zuschlagen, als er verharrte und sich umdrehte. »Äh, entschuldigen Sie uns für einen Moment.« Die Tür schloß sich leise hinter ihm. Captain Richardson, der in der Ecke sitzengeblieben war, lächelte und rutschte auf seinem Stuhl, machte aber keinen Versuch, ein Gespräch anzufangen. Ves beschäftigte sich mit Atemübungen und positivem Denken, um entspannt zu bleiben; in der unmittelbaren Zukunft konnte ihm jede körperliche Verspannung zum Nachteil gereichen, und er brauchte jeden Vorteil, den er bekommen konnte. Ungefähr fünf Minuten vergingen, ehe der Colonel und Captain Lewis zurückkehrten. Sie hatten ihren Plan geändert und sich zum Angriff entschlossen. »Was haben Sie damit gemeint«, fragte der Colonel, »daß Sie mit mir sprechen wollten? Ich habe Sie hierher bringen lassen, oder nicht?«
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Ves sah ihn freundlich an. »Dann, so denke ich, wollten wir beide miteinander sprechen«, vermutete er. »Haben Ihre Leute Ihnen nichts davon gesagt?« »Nun«, brummte der Colonel, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände, »kümmern wir uns zuerst um meine Fragen und dann um Ihre. Ich gebe zu, daß ich neugierig bin. Aber jetzt verraten Sie mir, wem Sie Bericht erstatten und wer Ihre Agenten in New York sind.« »Ich halte es für besser, wir gehen andersherum vor«, erklärte Ves. »Ihre Annahmen gehen von den falschen Voraussetzungen aus.« Captain Lewis beugte sich nach vorn und packte Ves am Kragen. »Der Colonel mag es nicht, wenn man auf diese Weise mit ihm spricht«, knurrte er. »Wissen Sie, es ist immer dasselbe, was euch Russen verrät«, sagte der Colonel. »Mangelnde Sorgfalt im Detail. Lassen Sie ihn los, Captain.« »Ich bin Italo-Amerikaner«, erklärte Ves, strich seinen Kragen glatt und lehnte sich im Stuhl zurück. »Was meinen Sie damit?« fragte der Colonel. »Lombarde? Toskaner? Römer? Piemonter? Wollen Sie mir erzählen, daß Sie für das Kaiserliche Österreich und nicht für die Russen arbeiten? Geben Sie uns eine Liste der österreichischen Agenten, die in den Vereinigten Staaten spionieren.« »Sie mißverstehen mich«, entgegnete Ves. Captain Lewis packte ihn erneut am Kragen. »Sie sollen nur die Fragen beantworten, die – au – was, zum Teufel, ist das?« Er ließ den Kragen los und schob seinen verletzten 146
Finger in den Mund. »Sie haben eine Nadel in ihrer Jacke stecken!« rief er anklagend. »Es tut mir leid«, murmelte Ves. »Ich werde mich bemühen …« Er zog die Nadel aus dem Revers und schob sie in seine Tasche. »Sie scheinen mich für einen russischem Agenten zu halten«, stellte er fest. »Einige Dinge ändern sich nie. Obwohl wir im Moment schärfer auf die Chinesen als auf die Russen sind.« »Was ist mit China?« fragte der Colonel. »Hören Sie«, bat Ves. »Ich komme nicht von hier; ich komme von einem anderen Ort, einer anderen Zeit; einer Welt, die sich völlig von dieser hier unterscheidet. Für mich ist das die Vergangenheit, obwohl sie es an sich nicht ist, da es diese Unterschiede, diese Veränderungen gibt. Aber ich bin kein Russe, Lombarde, Chinese, Österreicher oder Schweizer. Ich bin ein Besucher aus einem anderen Universum.« »Mit gefälschten Papieren?« fragte der Colonel unbeeindruckt. »Sie sind nicht gefälscht«, beharrte Ves. »Diese Papiere sind nicht nur gefälscht, sie sind einfach lächerlich«, fauchte der Colonel. »Deshalb halten wir Sie für einen Russen; Zar Nikolaus ist kein Genauigkeitsfanatiker, und die Tscheka neigt bei englischsprachigen Fälschungen zu ausgesprochener Schlampigkeit. Aber wir sind bereit, Ihnen abzunehmen, daß Sie Österreicher sind, wenn Sie Ihre österreichische Staatsangehörigkeit zugeben. Überzeugen Sie uns, daß Sie Österreicher sind.«
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»Ich spreche weder Österreichisch noch Russisch, was das betrifft«, erklärte Ves. »Eine Verneinung ist am schwersten zu beweisen«, bemerkte der Colonel. »Ich komme aus einem anderen Universum«, wiederholte Ves. »Ich bin ein Besucher in Ihrer Welt. Auf der Durchreise, könnte man sagen. Ich bin in keiner Weise ein Spion.« »Was wollen Sie hier?« fragte der Colonel. »Wir suchen einen Mann aus unserer Welt, der in Verdacht steht, einen sehr wichtigen Gegenstand gestohlen zu haben.« »›Wir‹«, echote der Colonel. »Sie und Ihr Freund. Wir wissen über ihn Bescheid. Wo steckt er jetzt?« »Ich habe keine Ahnung«, gestand Ves. »Er war dabei, den Verdächtigen zu verfolgen.« »Es wird leichter für Sie werden, wenn Sie sich zum Reden entschließen«, meldete sich Captain Richardson aus der Ecke zu Wort. »Ich würde Ihnen gerne helfen.« »Ich habe genug von diesem Unsinn gehört«, knurrte Captain Lewis und gab sich alle Mühe, ein rohes Lächeln zustande zu bringen. »Lassen Sie mich ein paar Minuten mit ihm allein; ich werde alles aus ihm herausquetschen, was er weiß!« »Ich bin sicher, daß es Ihnen gelingen wird, Captain«, nickte Colonel Brown. »Sie haben die Papiere aus meiner Brieftasche gesehen«, sagte Ves. »Haben Sie die Jahreszahl bemerkt? Werfen Sie
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einen Blick in meinen Führerschein – das Dokument mit meinem Foto – das Datum steht direkt am Anfang.« »Sie bestehen auf dieser grotesken Geschichte?« »Wie erklären Sie sich den Führerschein?« entgegnete Ves. Der Colonel starrte das Papier lange Zeit an und drehte es immer wieder in den Händen. »Eine Fälschung«, sagte er schließlich. »Warum sollte jemand ein nicht-existierendes Dokument fälschen?« fragte Ves. »Nicht eine von diesen Karten oder eines von diesen Papieren entspricht den Dokumenten, die hier gebräuchlich sind.« Der Colonel nickte. »Genau das ist es«, triumphierte er. »Kämen Sie aus der Zukunft, dann wären Sie mit allen erforderlichen echten Papieren ausgerüstet; aber wenn Sie aus Rußland kommen, dann haben Sie improvisieren müssen. Vielleicht ist das Ganze nur eine schlaue List«, fügte er hinzu und wedelte mit den Papieren. »Ein hübsches Märchen für den Fall, daß Sie verhört werden.« »Was hätte das für einen Sinn?« wandte Ves ein. »Aha!« machte der Colonel. »Genau das ist die Frage. Und ich denke, daß wir die Antwort darauf bekommen werden. Nun, was ist der Zweck dieser Goldmünzen?« »Zweck?« echote Ves. »Werden Sie ja nicht frech«, brüllte Captain Lewis, obwohl sein Mund nur zehn Zentimeter von Ves' Ohr entfernt war. »Antworten Sie dem Colonel!«
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»An wen sollten Sie sie verteilen? Wieviel gibt es noch davon? Was haben die Burriten damit vor?« »Ich hatte niemand speziell im Sinn«, antwortete Ves. »Ich habe sie nur ihres Goldwertes wegen benutzt, weil ich sie zufällig in der Tasche hatte. Es gibt nicht mehr davon, soweit ich weiß; und bei meiner Ehre, ich bin noch nie einem Burriten begegnet.« Der Colonel sprang auf, und sein vorgestrecktes Kinn, das Funkeln in seinen Augen und die Farbe seiner Ohren verrieten, daß er zornig war. »Ich habe genug davon«, schrie er und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Es gibt bestimmte Fragen, auf die ich eine Antwort verlange. Wir können Ihr kleines Spiel nachher weiterspielen, wenn Sie möchten, aber jetzt werden wir mein Spiel spielen. Captain Lewis, kommen Sie einen Moment mit nach draußen.« Colonel Brown verschwand durch die Tür, dicht gefolgt von dem Captain. Captain Lewis drehte sich auf der Türschwelle um. »Ich bin gleich wieder zurück«, versicherte er und knackte vielsagend mit den Fingern. »Haben Sie noch einen Augenblick Geduld, oh Besucher aus der Zukunft. Ich bin gleich wieder zurück – und dann werden wir uns unterhalten.« Mit dieser freundlichen Drohung schlug er die Tür zu. Ves saß da und starrte die Tür an. Captain Richardson in seiner Ecke schwieg. Jetzt kommt es, dachte Ves. Grob und sanft. Lewis hat mir gedroht. Nun wird Richardson versuchen, mich zu beschützen, und ich werde ihm dankbar dafür sein und ihm alles erzählen. Ich wünschte, mir würde
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eine überzeugende Geschichte einfallen; offensichtlich wollen sie die Wahrheit nicht glauben. »Ich möchte Ihnen helfen«, drang Richardsons leise Stimme aus der Ecke. Hahaha, dachte Ves. »Ich glaube, daß ich einiges für Sie tun kann, wenn Sie sich helfen lassen wollen«, fügte Richardson hinzu. »Und das wäre?« fragte Ves und spielte mit. »Ich denke, ich kann Sie hier herausbringen«, erklärte Richardson. Er tippte an seine Jackentasche. »Möchten Sie eine Zigarre? Ich würde Ihnen gern eine Zigarette anbieten, aber die sind hier noch nicht erfunden worden.« Ves starrte ihn für eine Weile sprachlos an. »Sie wollen damit doch nicht sagen …« stieß er schließlich hervor. »Ich meine, was haben Sie gesagt?« »Ich komme vom Hauptkanal«, erklärte Captain Richardson. »Ich bin hier im Auftrag des Direktoriums. Was machen Sie hier – und wozu dieses lächerliche Durcheinander mit Ihren Papieren?« »Es ist kein Durcheinander«, verteidigte sich Ves. »Mein Führerschein, die Sozialversicherungskarte und all das andere Zeug sind echt. Ich komme aus dem Jahr neunzehnhundertsechsundneunzig. Einem neunzehnhundertsechsundneunzig, in dem der vierte Präsident der Vereinigten Staaten Madison und nicht Hamilton hieß.« »Ah«, nickte Captain Richardson. »Dieses neunzehnhundertsechsundneunzig.« Er kicherte leise. »Was ist daran so komisch?« fragte Ves.
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»Mir scheint, Ihnen ist die unermeßliche Größe des Raum-Zufall-Zyklus nicht bewußt. Er ist unendlich. Und jeder Teil davon ist praktisch ebenfalls unendlich.« »Und was bedeutet das?« fragte Ves, von der Furcht erfüllt, daß er die Antwort bereits kannte. »Es bedeutet, daß es eine unendliche Zahl von Zeiten gibt, in denen der vierte Präsident der Vereinigten Staaten James Madison hieß. Sie liegen alle zwischen Hamilton und einer dritten Amtszeit Jeffersons, glaube ich. Genau wie unendlich viele Brüche zwischen einem Viertel und einem Halb liegen.« »Bedeutet das, daß Sie mich nach Hause bringen können?« »Oh, natürlich nicht. Glücklicherweise können wir nur bestimmte dieser unendlich vielen Welten erreichen; und obwohl es sehr viele von ihnen gibt, liegen sie zeitlich weit genug voneinander entfernt, um leicht unterschieden werden zu können. Man muß nur im Auge behalten, welche Zeit in der Heimatwelt herrscht.« »Klingt einleuchtend. Wie werden Sie mich hier herausbringen?« »Da Sie nicht vom Hauptkanal sind, sollte ich Sie einfach hier verrotten lassen«, erklärte Captain Richardson freundlich. »Es wird erhebliche Mühe und Anstrengung kosten, Sie zu einem Es zu schaffen. Aber ich denke, man darf auch den humanitären Aspekt nicht außer acht lassen. Ich meine, Sie diesen schrecklichen Barbaren auszuliefern …« »Ein Es?« unterbrach Ves. 152
»Ja, ja. Ein Es. Ein E.S. Ein Extemporal-Sender. Wie in: Senden 1) Senden, pret sandte or sendete, ptp gesandt or gesendet, senden an, jemandem etwas senden, nach jemandem senden; 2) Senden vti (Radio, TV), ein Signal etc. senden. Zum Beispiel: ›Gleich zu Beginn der Nachrichtensendung lief der Sprecher grün an, verzehrte sein Manuskript, schoß mit einer Wasserpistole auf die Kameras und stürzte sich anschließend von seinem Schreibtisch in den Tod.‹ Und: Extemporal, adj., außerzeitlich. Zum Beispiel: ›Die extemporale Nacht ist ein einsamer Ort, aber ein Ort, wo sich ein Mann frei fühlen kann. Man fühlt sich nicht mehr als Teil…‹ Warum starren Sie mich so an?« Ves schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Plötzlich kam es mir vor, als ob das alles zuviel für mich ist. Was geschieht als nächstes?« »Das wissen nur die Dinosaurier«, seufzte Captain Richardson. »Tun Sie nur, was ich Ihnen sage, und ich werde schon auf Sie aufpassen. Jemand wird sich später mit Ihnen in Verbindung setzen. Die Losung ist, hm, irgendein Wort aus unserer gemeinsamen Vergangenheit wäre nicht schlecht. Ich mag es, wenn die Dinge zusammenpassen, ein Gefühl des Kismet, des Karmas entsteht; und da das Universum so selten der menschlichen Vorstellung von dem, was sein sollte, entspricht, sollten wir es bei jeder Gelegenheit ermutigen. Sie starren mich schon wieder so merkwürdig an. Erscheint Ihnen der Wunsch, das Universum zu ermutigen, so seltsam? Aber was bleibt uns sonst übrig? Ich für meinen Teil würde es nicht wagen, das Universum zu entmutigen; nachher kommt es auf den Gedanken, mich zu entmutigen. Kismet! 153
Das ist das treffende Wort! Kismet nehmen wir, und ich wünsche Ihnen ein gutes Karma.« Ves zuckte die Schultern, ein Schulterzucken, das aus tiefster Seele kam und ein Erbe seiner Vorfahren aus der Trentino-Alto-Adigean-Linie war. »Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet«, erklärte er. Captain Richardson sah zur Tür und wurde plötzlich nervös. »Hier«, sagte er und warf Ves eine Zigarre zu, »schieben Sie sich die zwischen die Lippen. Rauchen Sie ein paar Züge. Man erwartet, daß wir Freunde werden und ich Sie zum Reden bringe. Auch ich befinde mich in einer schwierigen Lage, wissen Sie.« Er zündete ein Schwefelhölzchen an und setzte damit die Zigarre in Brand. »Wenn Sie zu der dummen Sorte der Trottel gehören, die Tabakrauch inhalieren, dann verzichten Sie zumindest darauf, die ersten Züge von dieser Zigarre einzuatmen. Dieses Streichholz verätzt Ihnen sonst die Lunge.« »Sagen Sie mir«, bat Ves, »was machen Sie hier? Ich meine, warum sind Sie hier?« »Nun«, entgegnete Captain Richardson, »ich bin Temporalist; eine Art anthropologischer Soziologe. Ich studiere primitive Kulturen, indem ich in ihnen lebe und an ihnen teilnehme. Eines Tages werden wir hoffentlich in der Lage sein, unsere eigene Kultur aufgrund unserer hier gesammelten Erfahrungen zu kontrollieren.« »Und was für Erfahrungen haben Sie gesammelt?« fragte Ves. »Nun«, brummte Captain Richardson und zog an seiner Zigarre, »ich möchte es so ausdrücken: Der Grundsatz der temporalistischen Philosophie, für dessen
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Ergründung wir zweihundert Jahre gebraucht haben, besteht aus drei Worten und lautet: Laß alles laufen. Und es kostete uns einhundertfünfzig Jahre, dies zu akzeptieren. Einige von uns…« Er verstummte und horchte einen Moment. “…natürlich bin ich Ihr Freund. Sie müssen verstehen, daß Colonel Brown seine Pflicht erfüllen muß. Ich bin sicher, wenn Sie ihm helfen, wird er auch Ihnen helfen. Ein neuer Beruf, eine neue Identität, an irgendeinem Ort, wo die Tscheka Sie nicht finden kann. Ah, Colonel – unser Freund hier ist bereit auszusagen. Kein Anlaß mehr, Captain Lewis und seine Spezialbehandlung zu bemühen.«
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13 Nichts schien sich verändert zu haben, aber plötzlich erfüllte ein beißender Gestank den Raum. Die Fackeln flackerten jetzt und verbreiteten dicken, schwarzen Rauch. Ein Blick durch die Fenster veranlaßte Swift dann, seine Meinung zu ändern; es hatte sich sehr viel verändert. »Was ist geschehen?« rief er. »Das ist eine fast so törichte Frage wie ›Wo bin ich?‹«, wies ihn Alex. zurecht und schloß die kleine Klappe in dem Stein. »Genau das wollte ich als nächstes fragen«, gestand Swift und stieg von dem Steinbrocken. »Und dann ›Was, zum Teufel, geht hier vor‹, ›Was soll das alles überhaupt bedeuten‹ und ›Warum kommen diese nackten Männer mit den Messern in den Händen durch die Tür‹?« Bei der letzten Frage huschte Swift um den Stein, um sicheren Abstand zwischen sich und die drei nackten Männer zu bringen, die soeben mit Messern in den Händen durch die Tür gekommen waren. »Sie sind nicht nackt«, erklärte Hamilton indigniert. »Sie tragen Lendenschürze und Federhauben, die korrekte Aufmachung für Dienstboten hier in Tehetilotipec. Ich würde keinem von meinen Leuten gestatten, nackt herumzulaufen. Selbst die Frauen sind anständig angezogen. Obwohl ich zugeben muß, daß einige der Eingeborenen in den Bergen … Ah, nun ja, die Verbreitung der Zivilisation erfordert Zeit.« 156
»Diese Indianer stehen in Ihren Diensten?« vergewisserte sich Swift und richtete sich langsam hinter dem Steinbrocken auf. »Natürlich«, nickte Hamilton. »Nun, äh, um es genau zu sagen – in Wirklichkeit halten sie mich für eine Art Gott. Man spart eine verdammte Menge an Lohngeldern, wenn man von den Angestellten für Gott gehalten wird.« »Wie sind die Indianer denn auf diese Wahnidee gekommen?«, fragte Swift. »Nun, wissen Sie, ich habe ihnen gesagt, daß ich einer bin, tja, öh.« Hamilton wirkte verlegen. »Sie haben ihnen gesagt, daß Sie ein Gott sind?« stieß Swift verblüfft hervor. »Ja. Nun, ich schätze, ich hätte ihnen auch von Jehova, der Erbsünde, dem Fegefeuer, den Auserwählten und von all dem anderen Zeug erzählen können, aber ich befürchtete, daß keiner von uns großen Nutzen davon gehabt hätte. Da alle Auserwählten in Boston wohnen, und das liegt an der anderen Küste, erschien mir zweifelhaft, ob sie das genügend zu schätzen gewußt hätten.« »Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte Swift. »An der anderen Küste?« »Sie begreifen langsam, nicht wahr, mein Sohn?« bemerkte Hamilton freundlich. »So ist es. Das hier ist die Stadt Tehetiltotipec. In anderen Kanälen bekannt als Mission Dolores, oder Yerba Buena, oder Drake's Bay, oder San Francisco. Kommen Sie jetzt und verraten Sie mir, warum Sie mir gefolgt sind.«
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Sie traten hinaus ins Sonnenlicht, und vor der Spitze der Zikkurat, die sich auf dem höchsten einer ganzen Reihe von Hügeln erhob, konnte Swift die Stadt Tehetilotipec unter sich ausgebreitet sehen. Die Sonne, halb schon im westlichen Ozean versunken, warf lange Schatten über die kleinen, dicht an dicht stehenden Ziegelhäuser und die schmalen, gewundenen Straßen. Nob Hill? fragte sich Swift. Ohne die hohen Gebäude in der Stadtmitte erschien ihm die Halbinsel von San Francisco fremd, und er konnte nicht mit Sicherheit sagen, auf welchem Hügel die Stufenpyramide errichtet worden war. Weiter im Norden lag grün, golden und weiß die Insel Alcatraz, und Swift hatte den Eindruck, daß sie von einer hohen Mauer umgeben war, und hinter der Mauer entdeckte er niedrige Gebäude. Swift machte Hamilton darauf aufmerksam. »Ist sie auch hier ein Gefängnis?« erkundigte er sich. »Ein Gefängnis? Nein, das ist die Schatzkammer des iztahatitipekischen Reiches.« Hamilton führte Swift die Treppe hinunter, die die Mitte einer Seite der hohen Zikkurat einnahm. Am Fuß der Pyramide, in der schmutzigen Straße, wurden sie bereits von einer Sänfte und vier Trägern erwartet. Hamilton stieg ein und winkte Swift, sich zu ihm zu gesellen. »Sie wird auch zwei Personen aushalten«, versicherte er. »Die Träger wechseln sich ab und sind an schwere Lasten gewöhnt.« Swift kletterte hinein, ließ sich neben Hamilton nieder, und die Träger trotteten die Straße hinunter. Sie versuchten ihre Schritte zu koordinieren, aber so schwer die Sänfte für die Träger war, so ungemütlich war sie für die Insassen. »Ich glaube«, murmelte Swift, »ich sollte Ihnen danken.« 158
»Nun«, entgegnete Hamilton, »ich bin ein sehr geduldiger Mann. All meine Kollegen werden Ihnen bestätigen, daß ich ein sehr geduldiger Mann bin. Aber selbst die Geduld eines geduldigen Mannes – eines sehr geduldigen Mannes – hat ihre Grenzen. Warum sind Sie mir gefolgt?« »Sagen Sie mir«, bat Swift, »sind sie der echte Alexander Hamilton?« »Ich lebe, ich atme, ich spucke, ich bin«, erklärte Hamilton. »Und ich bin der einzige Alexander Hamilton, von dem ich weiß. Es gibt natürlich die unzähligen Doppelgänger in jedem der Zeitkanäle, in denen ich geboren wurde. Aber jeder von ihnen – von uns – ist so wahrhaftig ein Alexander Hamilton wie alle anderen. Unsere Sprache ist nicht für die Probleme der parallelen Zeiten gemacht. Ich bin im höchsten Maße am Wohlergehen des Alexander Hamilton interessiert, der jetzt in diesem Körper neben Ihnen sitzt, obwohl ich mir intellektuell über die Existenz aller Alexander Hamiltons im klaren bin. Beantwortet das Ihre Frage?« »Versuchen wir es anders«, sagte Swift. »Sind Sie der Alexander Hamilton, der die Verfassung der Vereinigten Staaten unterschrieben hat?« »Das bin ich«, bestätigte Alexander Hamilton. Er lehnte sich zurück und schnitt ein zufriedenes Gesicht. »Und ich werde es immer sein.« Swift entschied, nicht die abweichende Version der Verfassung mit der Unterschrift Aaron Burrs zu erwähnen. Eine Weile schwiegen sie, dann hielt die Sänfte an, neigte sich nach vorn und wurde abgesetzt.
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»Ich denke, wir sind da«, sagte Hamilton. »Wo?« fragte Swift, stieg aus der Sänfte und sah sich um. Sie befanden sich auf einem hölzernen Landesteg, der weit hinaus in die Bucht reichte. An der Längsseite des Piers war eine bauchige Bireme vor Anker gegangen; der Bug besaß die Form eines wütenden Alligators und schnappte mit den Zähnen nach den Meereswogen. Zwei Doppelreihen nackter, eingeölter Ruderer warteten stumm und mit eingezogenen Rudern auf das Einsetzen des Trommelschlags. »Die Fähre«, bemerkte Hamilton und deutete mit seiner aristokratischen Hand auf das Schiff. »Wie kommt es, daß ich all Ihre Fragen zu beantworten scheine, während Sie meiner einzigen Frage ausweichen?« »Fähre?« echote Swift. Alexander Hamilton seufzte. »Kommen Sie«, bat er. »Ich würde es nur ungern sehen, wenn Sie hinter dem Boot herschwimmen müßten. Wir fahren auf die andere Seite der Bucht nach Xantitipetal – Oakland in Ihrer Welt – und nehmen dann die Interkontinentalbahn.« »Die Interkontinentalbahn?« »Kommen Sie nur«, seufzte Hamilton erneut. »Es zu erleben ist so viel leichter, als es zu erklären. Und während wir unterwegs sind, können Sie mir vielleicht etwas von Ihnen erzählen; zum Beispiel, warum Sie mir gefolgt sind.« Sie balancierten über die schmale Planke auf die Fähre und begaben sich zum Passagierdeck im Heck. Die Anker wurden gelichtet, und der dröhnende Schlag der Trommel ließ die Galeerensklaven die Ruder eintauchen. Nate Swift 160
war fasziniert von dem harmonischen Zusammenwirken der Ruderer und dem dumpfen Ausdruck auf ihren Gesichtern. »Was fasziniert Sie denn so an den Ruderern?« erkundigte sich Hamilton. »Ich habe mich gefragt, ob sie eine gute Gewerkschaft haben«, verriet Swift. »Es sind Sträflinge«, sagte Hamilton. »Aller möglichen Verbrechen schuldig – angefangen von Ketzerei bis hin zu Mord. Für jeden Tag auf der Galeere werden ihnen drei Tage ihrer Strafe gestrichen. Aber setzen Sie sich doch, und genießen Sie die Reise.« Swift nahm Platz und versuchte sich zu entspannen, aber er hatte das Gefühl, als ob man ihm eben verraten hatte, daß das schwarze Pulver im Faß nebenan Cordit war, verbunden mit der Aufforderung, sich doch zu setzen und seine Zigarette zu genießen. »Zwangsarbeit macht mich immer nervös«, entschuldigte er sich. »Eine der Folgen Ihrer progressiven Demokratie«, entgegnete Hamilton verächtlich. »Der großen Gleichmacherei, bis schließlich jeder, der überlegen ist, Angst davor hat, sich an die Spitze der Herde zu stellen. Denken Sie daran, mein Junge, die Arbeiterklasse wurde zum Arbeiten erschaffen; versuchen Sie ja nicht, sie zum Denken zu bringen, es macht sie nur reizbar und aggressiv.« Swift sah ihn erstaunt an. »Ich hielt Sie immer für einen Demokraten.«
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»Sie hielten mich für was?« Nun war Hamilton an der Reihe, erstaunt zu sein. »Ich bin Föderalist.« »Ich meinte damit nicht die politische Partei«, erklärte Swift. »Ich meinte, ich hielt Sie immer für einen Anhänger der parlamentarischen Demokratie.« »Das war ich nie«, wehrte Hamilton ab. »Niemals. Bringt man Ihnen etwa das bei?« »Nun, Sie haben die Verfassung unterschrieben; Sie waren einer der Helden der Revolution …« »Nur weil ich gegen die Methoden George des Dritten war, dieses kleinkarierten Idioten, bedeutet das noch lange nicht, daß ich etwas gegen das Prinzip der Monarchie einzuwenden habe. Jefferson glaubt an die natürliche Aristokratie des Farmeradels. Pah! Jefferson ist noch nie einem wirklichen Farmer begegnet. Er hält sich für einen Farmer, weil ihm mehrere tausend Hektar Land in Monticello gehören, die von seinen Sklaven bestellt werden. Washington glaubt an die natürliche Aristokratie seiner selbst.« »Sie glauben, daß einige Menschen besser sind als die anderen? Daß manche Menschen auf natürliche Weise zum Herrschen bestimmt sind, während die anderen nur dienen können? An eine Art genetischen Unterschied zwischen dem Herrn und dem Diener?« »Nicht im geringsten«, widersprach Hamilton. »Ich glaube an die natürliche Niederträchtigkeit des Menschen. Aber die Ungebildeten sind zu kurzsichtig, um auch nur zu ahnen, wo ihre eigenen Interessen liegen, und sie lassen sich von jedem Schurken mit einer goldenen Stimme an 162
der Nase herumführen. Burr ist sehr beliebt bei der Masse. Die Gebildeten haben eine bessere Chance, die simpleren Formen des Betrugs zu durchschauen, und die Reichen oder Vornehmen können eher den Schmeicheleien widerstehen, deren sich die primitiveren Charaktere unter den Schwindlern bedienen.« »Und das ist der Grund dafür, daß diese armen Schweine ihr ganzes Leben damit verbringen müssen, zwischen Oakland und San Francisco hin und her zu rudern?« »Xantitipetal und Tehetiltotipec«, verbesserte Hamilton geistesabwesend. »Nein, nicht im geringsten. Aber obwohl ich meine Vorteile aus dieser primitiven Zivilisation ziehe, liegt es nicht in meiner Macht, sie in irgendeiner Hinsicht zu ändern.« »Ich dachte, Sie sind ein Gott«, bemerkte Swift. »Das ist richtig«, nickte Hamilton. »Doch ist Ihnen eigentlich bewußt, wie umsichtig ein Gott vorgehen muß? Es ist kein Problem, dann und wann zu erscheinen und meinen mysteriösen göttlichen Geschäften nachzugehen; aber wenn ich beginne, Glaubenssätze zu verbreiten, die ihren Dogmen widersprechen, dann werden sich die Priester schnell daran erinnern, daß auch Götter sterblich sind.« »Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, was für eine schwere Bürde es doch bedeutet, ein Gott zu sein«, gestand Swift kopfschüttelnd. »Aber jetzt zu Ihnen«, fuhr Hamilton fort, »und Ihrer Lebensphilosophie.« »Sie meinen, warum ich Ihnen gefolgt bin«, sagte Swift.
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»Exakt«, bestätigte Hamilton. »Sie besitzen einen flinken und scharfen Verstand. Warum?« »Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Swift, »und sie beginnt mit der Verfassung der Vereinigten Staaten.« Und dann erzählte er Hamilton, was geschehen war. »Ich hatte einige Zweifel, ob ich es Ihnen sagen sollte«, schloß er, »aber dann kam mir plötzlich der Gedanke, wenn ich nicht einmal Alexander Hamilton erzählen kann, was mit der Verfassung der Vereinigten Staaten passiert ist, wem dann?« »Nun, also«, brummte Hamilton, nahm seinen Hut ab und fächelte sich damit Luft zu, »das ist ja eine verteufelte Angelegenheit.« »Wir dachten, daß entweder Sie oder Burr darüber Bescheid wissen müßten«, fügte Swift hinzu. »Das heißt, natürlich erst, nachdem wir von dieser Sache mit den parallelen Zeiten erfahren hatten.« Er erwähnte nicht, daß das noch gar nicht so lange her war. »Glauben Sie, daß Burr …« »Nein«, unterbrach Hamilton. »Das glaube ich nicht.« »Sie meinen, er besitzt genug Ehrfurcht davor, sie nicht zu entweihen, indem er …« »Das nicht«, fiel ihm Hamilton erneut ins Wort. »Im Gegenteil. Sie müssen wissen, daß für uns, die wir die Verfassung formuliert haben, das Dokument selbst keine Bedeutung besitzt; es ist lediglich ein Schriftstück. Wenn es etwas gibt, das wir als heilig betrachten, dann sind es die Gedanken, Ideen, Kompromisse und Träume, die wir in die Niederschrift haben einfließen lassen. Und derartige Dinge 164
können nicht gestohlen werden, solange der Text bekannt ist.« »Sie haben gesagt, daß für Sie das Dokument an sich nur ein Stück Papier war«, sagte Swift. »Aber wer …?« »Offensichtlich jemand, für den das Symbol wichtiger ist als die Idee«, erklärte Hamilton. »Möglicherweise jemand vom Hauptkanal; sie sind genau die Sorte ignoranter, gedankenloser Schwachköpfe, die etwas derart Albernes anstellen würden.« »Was, zum Teufel, ist der Hauptkanal?« fragte Swift. »Wie können Sie das nicht wissen und mir dennoch überall hin folgen?« konterte Hamilton. »Nun, es spielt keine Rolle, wir werden später darauf zurückkommen. Jetzt müssen wir von Bord gehen und dafür sorgen, daß wir unseren Zug nicht verpassen.« Das Boot legte am Dock von Xantitipetal an, die Ruder wurden eingezogen, die Anker ausgeworfen und die Gangway heruntergelassen. Hamilton und Nate waren die ersten Passagiere, die das Schiff verließen, und sie eilten zu dem Halteplatz der Taxi-Sänften am Anfang des Piers. Sie bestiegen die vorderste Sänfte, und die vier Träger schleppten sie über eine Strecke von mehreren Kilometern hinweg zu einem großen, freistehenden Bahnhof. »Ich dachte, diese Leute hätten noch nicht einmal das Rad erfunden«, sagte Swift und starrte die riesige, ungefüge Lokomotive und die über und über ornamentierten, aber zerbrechlich wirkenden Passagierwaggons an. »Ihre Götter haben in der letzten Zeit eine Menge für sie getan«, erklärte Hamilton. »Sie haben ihnen nicht nur das 165
Rad, sondern auch die Dampfmaschine, Federn, Eisen, die Reiseschreibmaschine, Papier und die Pampelmuse gebracht.« »Und zum Ausgleich stellen sie die Arbeiter zur Verfügung, damit auch alles funktioniert, richtig?« entgegnete Swift. Hamilton nickte. »Das liegt auf der Hand.« Sie bestiegen einen Wagen, der für Hamilton reserviert worden zu sein schien, und ließen sich auf den Korbsitzen nieder. Einer der Sänftenträger kletterte auf das Dach und verschwand aus ihrem Blickfeld. »Einer meiner Leute«, erklärte Hamilton mit einer knappen Geste. »Was treibt er oben auf dem Dach?« wollte Swift wissen. »Er hält Ausschau nach Wilden. Und er erledigt Botengänge für mich.« »Es muß schwierig sein, als Bote auf den Dächern dieser Waggons hin und her zu gehen«, bemerkte Swift. Hamilton zuckte gleichgültig die Achseln. Zwei Männer öffneten die Tür ihres Abteils und stellten einen großen Weidenkorb auf dem Boden ab. »Ah!« machte Hamilton und rieb sich die Hände. »Goobish parmisan«, sagte er zu den beiden Männern, die sich verbeugten und rückwärts durch die Tür verschwanden. »Etwas zu essen gefällig?« wandte er sich dann an Nate Swift. Es war schon eine ganze Weile her, seit Swift zum letztenmal etwas zu sich genommen hatte. Eine sehr lange Weile. »Ja«, nickte er. »Danke.« 166
»Ich möchte nicht, daß Sie über mangelnde Gastfreundschaft klagen«, brummte Hamilton. »Wir werden diese bescheidene Räumlichkeit eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Tagen teilen müssen.« »Oh?« entfuhr es Swift. »Wohin geht es denn? Wie lange wird es dauern?« »Nach Manhattan«, eröffnete ihm Hamilton. »Es dürfte ungefähr eine Woche in Anspruch nehmen, vorausgesetzt, daß keine wandernden Büffelherden die Schienen blockieren oder wandernde Wilde den Zug niederbrennen.« »Klingt großartig«, schluckte Swift. »Warum?« »Weil ich dort zu tun habe«, erklärte Hamilton geduldig. »Ich meine«, verdeutlichte Swift, »warum nehmen wir eine derart mühsame und zeitraubende Fortbewegungsart auf uns?« »Was würden Sie vorschlagen?« fragte Hamilton. »Das Flugzeug übersteigt noch ein wenig ihre technischen Fähigkeiten. Sie können sich keine Vorstellung davon machen, wieviel Arbeit es bedeutet hat, ihnen das Prinzip der Eisenschienen und Dampfkessel beizubringen. Benjamin Franklin war in dieser Hinsicht eine große Hilfe. Sie sollten ihn in Manhattan besuchen. Ich schätze, er ist ebenfalls einer der Helden Ihrer Kindheit; und er verdient es auch zweifellos. Schließlich hat dieser Mann alles erfunden.« »Er ist es noch«, gestand Swift. »Aber ich wollte sagen: Was ist mit der Maschine, die uns hierher gebracht hat, mit dem Sender; warum können wir nicht einfach damit reisen?« 167
»Mit einem Es kann man nicht an jeden Ort gelangen«, erwiderte Hamilton. »Wissen Sie denn überhaupt nichts über den Hauptkanal, die Es und alles andere?« »Ich schätze, ich bin einfach ein kultureller Analphabet«, murmelte Swift. »Nun, es ist sehr töricht, eine Maschine zu benutzen, ohne auch nur die geringste Vorstellung zu besitzen, um was es sich dabei handelt und wie sie funktioniert«, sagte Hamilton. Er öffnete den Deckel des Weidenkorbes, wühlte darin herum und holte einen irdenen Weinkrug und ein in Ton gebackenes Hähnchen heraus. »Ziehen Sie an diesem Griff neben dem Fenster«, befahl er. »An diesem Lederding. Ja, genau.« Swift zog daran, und ein Klapptisch senkte sich von der Decke und faltete sich zwischen ihnen auseinander. Hamilton stellte Krug und Huhn auf den Tisch und brachte zwei Stielgläser, zwei Porzellanteller und zwei Silberbestecke zum Vorschein. »Hm«, brummte er. Erneut bückte er sich hinunter zum Korb und kam mit zwei Leinenservietten wieder hoch. »Knacken Sie den Vogel«, sagte er. Swift griff nach dem Tonhühnchen und musterte es. Hamilton reichte ihm einen kleinen Holzhammer. »Vorsichtig«, warnte er. »Verstreuen Sie nicht überall den Ton.« Swift legte den Vogel auf den Tisch und klopfte leicht mit dem Holzhammer dagegen. Der Ton knackte, Staub wallte auf, Risse und Sprünge entstanden, und dann brach es sauber in zwei Teile, und ein gebratenes Hühnchen erschien.
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»Gute Arbeit, Sir«, lobte Hamilton. »Sie dürfen es auch zerlegen.« Und er reichte Swift ein kleines Messer mit dreieckiger Klinge, das an der Schneide und der Spitze sehr scharf war. »Für den Anfang hätte ich gern ein Bein.« Während Swift das Hühnchen tranchierte, öffnete Hamilton den Krug, roch mißtrauisch an dem Wein, schenkte sich eine Probe ein, nickte beifällig und goß die beiden Gläser voll. Dann griff er hinter sich in den Korb und holte eine zusammengefaltete Papiertüte mit einem großen roten S und dem Motto Da wir Nachbarn sind, lassen Sie uns Freunde sein auf der Seite hervor. Er öffnete sie, schob die Tonscherben hinein, faltete sie wieder zusammen und verstaute sie in dem Korb. »Sauberkeit über alles«, erklärte er. »Zivilisierte Menschen sollten immer nach Sauberkeit streben; sie ist das Wichtigste überhaupt.« Swift reichte ihm ein gebratenes Hühnerbein, an dem er nachdenklich zu knabbern begann. Ein plötzlicher Ruck durchlief das Abteil, wiederholte sich mehrmals, und die Interkontinentalbahn begann in Richtung Osten zu rollen.
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14 Man hatte Ves, da er geständig gewesen war, in die für freundliche Gefangene reservierte Zelle gesperrt. Nachdem er einige Stunden in ihr verbracht hatte, schätzte er sich in zunehmendem Maße glücklich, nicht als unfreundlicher Gefangener klassifiziert worden zu sein. Wenn sie schon mit Leuten, die sie mochten, so umgingen … Die Zelle maß einen Meter zwanzig im Quadrat und war einen Meter fünfundsechzig hoch. Eine sechzig mal hundertzwanzig Zentimeter messende Matratze aus Stroh nahm die Hälfte der Bodenfläche ein und war völlig durchnäßt von dem Wasser, das aus dem Boden sickerte und von der Decke tropfte. Das einzige Licht drang durch ein fünfzehn mal fünfzehn Zentimeter großes Loch in der Tür, das durch drei horizontale und drei vertikale, jeweils zentimeterdicke Eisenstäbe versperrt war. »Zum Teufel, wozu ist dieses Gitter gut?« fragte er den Wächter, der ihn in die Zelle warf. »Niemand kann durch ein fünfzehn mal fünfzehn Zentimeter großes Loch kriechen.« »Halt's Maul«, knurrte der Wächter, schlug die Tür mit mehr als der notwendigen Begeisterung zu und klemmte sich den Finger am Riegel. Mit gemurmelten Drohungen und Worten, die Ves zu seiner Erleichterung nicht verstehen konnte, schlurfte er dann davon. Einige Stunden später brachten ihm zwei Männer einen Zinnteller voll Suppe. Sie war von milchiger Färbung und ranzigem Geschmack, aber es war ohnehin nicht viel davon
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da. Ein Krug mit altem, vielleicht ein klein wenig zu lange gelagerten Wasser, das aber ein delikates Bukett besaß, komplettierte den Festschmaus. Dann kamen sie wieder und holten das Geschirr und Besteck ab und ließen ihn erneut allein. Nach einer unbestimmbaren Periode der Einsamkeit – die gewiß mehr als eine Stunde und weniger als eine Woche gedauert hatte – besuchte ihn eine junge Frau. Sie war klein und schlank und trug eine rote, pelzbesetzte Jacke, eine rote Reithose und hohe, schwarze Stiefel; ihr Haar war lang und rot (oder war es walnußbraun, dunkelbraun? In dem Dämmerlicht ließ sich das schlecht erkennen.) Ihre Gesichtszüge waren aristokratisch, und ihre Stimme klang weich und ausländisch und löste Assoziationen an den Orient aus. »Guuten Morr-genn«, sagte sie, und es war wie das Zwitschern von Vögeln und das Rauschen eines kleinen Wasserfalls. Der Wächter führte sie in die Zelle, verriegelte hinter ihr die Tür und ging davon. »Guten Morgen«, antwortete Ves von seinem Platz auf der feuchten Matratze. »Ist es Morgen? Willkommen in meiner bescheidenen Behausung. Ich habe zwar schon von fortschrittlicher Kriminalpädagogik gehört, aber das ist das erste Beispiel, das meine Zustimmung findet. Wie lange bleiben Sie? Putzen Sie auch die Fenster, oder übernehmen Sie nur die leichteren Hausarbeiten? Können Sie kochen? Ich biete Ihnen die besten Sozialleistungen – sonntags, jeden zweiten Dienstag und den halben Samstag haben Sie frei. Meine Dreiminuteneier hätte ich gern nicht länger als fünfeinhalb Minuten lang gekocht; und, bitte, wenn bei 171
meinem Toast die eine Seite verbrannt ist, drehen Sie ihn nicht um, weil ich es ohnehin merke, wissen Sie; Marmelade können Sie meinetwegen gestern und morgen servieren, aber niemals heute. Rede ich zuviel? Sie sind der erste Mensch seit Wochen, mit dem ich reden kann. Meine einzige Gesellschaft ist dieser holzköpfige Wächter, der ›Halt's Maul‹ brüllt und sich ständig irgendwo den Daumen stößt; sehr unbefriedigend. Und das seit Wochen.« »Sie sind hier seit dem späten Nachmittag (sie sagte ›Nachchmiddag). Es ist jetzt zehn Uhr abends (sie sagte ›ab-bends‹). Aber wenn Sie gerne reden möchten, nur zu.« »Wer sind Sie?« fragte Ves. »Wenn man Sie nicht zu mir geschickt hat, um mein Zimmer in Ordnung zu halten, was wollen Sie dann?« »Towarisch«, erklärte sie, »ich bin froh, daß Sie mich das fragen.« »Was war das für ein Wort am Anfang?« fragte Ves. »Ich fürchte, ich habe es nicht ganz verstanden.« »Sie brauchen sich nicht zu fürchten«, beruhigte sie ihn. »Ich bin Ihre Droog. Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich bin nicht die Russin, für die Sie mich halten.« »Ich bin bereit und willens, Sie für jede Art Russin zu halten, die Sie sein möchten«, versicherte Ves und wich vor ihr zurück. »Wie sind Sie hier hereingekommen?« »Das Kaiserliche Rußland hat Freunde unter den Wachen; und ich habe Freunde unter den Offizieren«, erklärte die Russin. »Sie werden mit mir kommen.« »Wer hat Sie geschickt«, fragte Ves, »und wohin bringen Sie mich?« 172
»Ihr Droog Captain Richardson hat mich geschickt«, sagte sie, »und ich soll Sie zum nächsten Es bringen. Unglücklicherweise ist Es recht weit von hier entfernt.« »Oh«, machte Ves. »Dann sind Sie keine Russin; Sie sind vom Hauptkanal wie Richardson. Kommen Sie vom Direktorium?« »Sie reden wieder zuviel«, bemerkte sie. »Natürlich bin ich Russin. Ich stamme nicht aus dieser Zeit, aber ich bin dennoch Russin. In meiner Zeit ist es das Jahr neunzehnhundertsiebenundvierzig nach dem gregorianischen Kalender.« »Ah!« rief Ves. »Sie sind eine Stalinistin.« »Eine was?« fragte sie. »Ich bin Gräfin Tatjana Petrowna Obrian; ich habe den Rang eines Colonels im Geheimdienst Zar Alexanders des Siebten inne.« »Eine Gräfin im Geheimdienst?« wunderte sich Ves. »Ist das nicht ein wenig ungewöhnlich?« »Gewiß nicht«, fauchte sie und richtete sich mit blitzenden Augen zu ihrer vollen Größe von einem Meter zweiundfünfzig auf. »Würden Sie etwa einen Bauern zum Spion machen?« »Vermutlich nicht«, gestand Ves. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Tatjana Petrowna; ich bin Amerigo Vespucci Romero, Gefangener Seiner Demokratischen Majestät, Jacob Schuyler.« Sie schlug die Hacken ihrer Stiefel zusammen und verbeugte sich. »Es ist mir ein Vergnügen«, sagte sie. »In unseren Heimatwelten mögen wir politische Gegner sein, aber als Reisende quer durch den Strom der Zeit müssen 173
wir einander helfen, uns auf einander verlassen, einander lieben. Russen sind gut in der Liebe.« Sie sah ihn vielsagend an und gab ihre steife militärische Haltung auf. Ves schüttelte den Kopf. »Sie sind zu schnell für mich«, entgegnete er. »In dem einen Moment knallen Sie die Hacken zusammen und im nächsten sprechen Sie von Liebe.« »Das ist der komplizierte russische Charakter«, verriet sie ihm. »Deshalb sind wir auch so schwermütig.« Sie zog einen eisernen Schlüssel aus ihrem Stiefel und schob ihn in das Schlüsselloch. »Alles arrangiert«, erklärte sie. »Sie wollen, daß man flieht, sie geben Schlüssel. Kein Gefangener wundert sich, daß Schlüsselloch auf dieser Seite der Tür sein. In den meisten Zellen kein Schlüsselloch auf dieser Seite der Tür sein. Kommen Sie, wir jetzt gehen.« »Ihr Akzent scheint stärker zu werden«, bemerkte Ves und folgte ihr auf den Korridor. »Ich bin Patriotin«, antwortete sie. »Jetzt still sein.« Sie schlich zum Ende des Korridors, wo eine Eisentür mit massiven Angeln den Weg versperrte. »Wir gehen hinaus, indem wir hineingehen«, flüsterte sie Ves zu. »Tür führt in den Innenhof, der jetzt geschlossen ist und als Sportplatz für jene Gefangene dient, die Sport treiben dürfen und können.« Ein anderer Schlüssel öffnete diese Tür, und Tatjana schloß sie hinter ihnen wieder ab. »Hier entlang«, wisperte sie, »nach rechts. Führt zum Innenhof. Geradeaus geht es zum Block für aufsässige Gefangene. Ochen widerlich. Kommen Sie.«
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Sie ging voraus; Ves hinterher. Sie hasteten durch den schmalen Korridor, bis sie an eine dicke, verriegelte Holztür gelangten. Dort blieb die Gräfin stehen; Ves folgte ihrem Beispiel, und dort warteten sie. »Was ist los?« fragte Ves mit leiser, ungeduldiger Stimme. »Nada«, antwortete die Gräfin. »Nichts. Ich habe keinen Schlüssel für diese Tür, und wir müssen warten, bis jemand sie von der anderen Seite öffnet.« »Warten wir auf eine bestimmte Person«, flüsterte Ves, »oder warten wir, bis zufällig jemand mit dem Schlüssel vorbei kommt?« »Ich habe einen Verbündeten auf dem Hof«, raunte ihm Tatjana Petrowna heiser zu. »Er wird die Tür öffnen.« »Wann?« bohrte Ves weiter. »Worauf wartet er? Ich meine, diesen Leuten ist zuzutrauen, daß sie meine Flucht jeden Augenblick entdecken; vielleicht schauen sie sogar aus reiner Gehässigkeit in meiner Zelle vorbei.« »Pah!« machte die Gräfin. »Keine Sorge. Diese Leute leiden an Unfähigkeit und Selbstüberschätzung, eine fatale Kombination. Falls jemand nach Ihnen schaut, und Sie befinden sich nicht in Ihrer Zelle, dann wird er annehmen, daß man Sie aus irgendwelchen Gründen fortgeschafft hat; zum Entlausen beispielsweise. Er weiß, daß niemand fliehen kann, wissen Sie; einfach weil niemand flieht. Wenn tatsächlich jemand flieht, dann ist es ihnen zu peinlich, sich das einzugestehen, und sie schreiben in die
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Unterlagen, daß der Gefangene entweder gestorben oder entlassen worden ist.« »Der Wärter wird nicht bemerken, daß ich verschwunden bin?« fragte Ves. »Pah! Der Wärter. Pah!« Die Gräfin tat den Aufseher mit einer verächtlichen Handbewegung ab. Genau in diesem Moment dröhnten Gongschläge durch das Gebäude, und der Lärm stampfender Schritte näherte sich dem Korridor. »Was hat das Ihrer Meinung nach zu bedeuten?« zischte Ves, während er sich gegen die Wand preßte und wünschte, eins mit dem Gestein zu werden. »Der Wärter hat Ihre Flucht entdeckt«, erklärte Tatjana Petrowna. »Glauben Sie, wir können Ihren Freund auf der anderen Seite dazu bringen, daß er die Tür öffnet?« fragte Ves. »Ich möchte keinen ängstlichen Eindruck machen …« »Er wird sie jetzt jede Sekunde öffnen«, versicherte ihm die Gräfin. »Die Tür ist zu dick, als daß er uns hören kann; also wird er sie zur vereinbarten Zeit aufschließen.« »Und wie lange dauert das noch?« erkundigte sich Ves. »Ich weiß nicht«, gestand die Gräfin. »Ich habe keine Uhr.« Bevor Ves Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken, knirschte, ächzte, quietschte und erbebte die Tür und schwang auf. Ein hochgewachsener Mann in voller Husarenuniform, mit Säbel und Pelzmütze, umarmte Tatjana Petrowna, zog beide durch die Tür und schloß sie wieder. »Kommt«, grollte seine Stimme durch den Gang. »Ich bin 176
es leid, unauffällig in der Ecke zu hocken. Laßt uns von hier verschwinden.« »Gehen Sie voran«, forderte ihn Ves auf. »Nein«, wehrte der große Mann ab. »Die Gräfin geht voran; ich bilde die Nachhut, um möglichen Verfolgern die Flausen auszutreiben.« Er legte die Hand aufsein Schwert und nickte bedeutungsvoll. »Sie haben mich überzeugt«, erklärte Ves. »Also los!« »Bleiben Sie an der Wand«, flüsterte Tatjana Petrowna, »für den Fall, daß jemand aus einem Fenster schaut.« Der Innenhof war ein langer, schmaler Platz, auf allen Seiten von fünfstöckigen Ziegelgebäuden umgeben und lückenlos betoniert. Die Fenster im Erdgeschoß waren durch eiserne Läden verschlossen, die im zweiten und dritten Stockwerk durch dicke Eisengitter gesichert, die in der vierten Etage durch stabilen Maschendraht versperrt, und nur die Fenster im fünften Stock lagen frei. »Ich schätze, das sind die Exekutionsräume«, murmelte Ves. Tatjana Petrowna tastete sich mit dem Rücken an der Wand weiter; dann blieb sie stehen und schüttelte den Kopf. »Wie dumm von uns!« erklärte sie. »Wenn wir uns wie Kriminelle davonschleichen, dann wird jeder, der uns sieht, uns für Kriminelle halten. Wenn wir selbstbewußt daherschreiten, hält man uns für Wächter – oder zumindest für Aufseher. Wir werden von nun an selbstbewußt daherschreiten!« Mit erhobenem Kopf stolzierte sie in die Dunkelheit der Hofmitte, drehte sich dann um und winkte den Männern zu. »Kommt!« zischte sie. »Und marschiert wie die Kosaken.« 177
Auf der anderen Seite des Innenhofes befand sich eine kurze Betontreppe, die hinunter zu einer lackierten, metallenen Doppeltür führte. Sie marschierten wie Kosaken zu den Türen und warteten, bis die Gräfin sie geöffnet hatte. »Vorratskammer hinter der Küche«, flüsterte sie. »Wir durchqueren jetzt die Küche und gehen dann zum Lieferantenausgang. Ganz einfach – keine Probleme.« Sie betraten die Vorratskammer und schlossen und verriegelten hinter sich die Tür. Es war ein großer, hoher Raum, von Gaslampen erhellt, und überall stapelten sich Kartons, Fässer, Kanister, Tonnen, Schachteln, Kästen und jene Art Gerümpel, das sich im Lauf der Zeit in jedem Lagerraum ansammelte. Dort in einer Ecke war ein Stoß rostiger Metalltabletts, auf einem Regal standen eine Reihe verschiedenartig gemusterter Tassen mit abgebrochenen Henkeln, und neben der Tür entdeckte Ves eine defekte Maschine, deren einstiger Zweck ihm verborgen blieb. Sie durchquerten das Lager so schnell und leise wie möglich und gelangten an die Innentür. »Küche«, wisperte Tatjana Petrowna. »Könnte leer sein; könnte aber auch nicht leer sein – Köche, Putzfrauen, Kammerjäger.« Sie zuckte die Achseln. »Kümmert euch nicht um sie, und sie werden sich nicht um euch kümmern. Begebt euch zur Tür auf der linken Seite. Fertig?« Ohne die Antwort abzuwarten, stieß sie die Tür auf. Licht stach in ihre Augen, und Lärm drang an ihre Ohren. Die Küche war ein großer Saal aus fleckenlosem Weiß, das hier und dort durch einen geschrubbten Holztisch oder durch ein poliertes Messingrohr gemildert wurde. An den Tischen, Herden und Spülen wimmelten die 178
Küchenbediensteten in ihren weißen Kitteln und mit ihren weißen Schürzen, mit schlaffen weißen Mützen oder runden weißen Kappen und kosteten, rührten, würzten und schwatzten. Als sich die Tür öffnete, hielten alle in ihrer Arbeit inne, alle Münder schlossen sich – abgesehen von jenen, die vor Erstaunen noch weiter aufgerissen wurden – und alle Augen starrten die drei Neuankömmlinge an: einen Mann in einem dunkelroten, elegant geschnittenen Anzug (zumindest trug Ves noch immer seine eigene Kleidung und keine Sträflingskluft), eine Dame in einer pelzbesetzten Jacke und einer Hose (einer Hose!), die in Reitstiefeln steckte, und einen uniformierten Soldaten, der keiner Armee angehörte, die sie jemals gesehen hatten. Ves erfaßte mit einem raschen Blick die Situation, schloß leise die Tür, wandte sich an seine Begleiter und deutete mit der rechten Hand auf die gaffenden Köche. »Das ist die Küche«, sagte er laut. »Wenn die Frau Kommissarin mir bitte folgen würde …« Mit serviler Nonchalance ging er weiter. »Beachten Sie, wie sauber die Küche gehalten wird, ganz im Gegensatz zum Lagerraum.« »Hm«, machte Tatjana Petrowna und trat an den nächsten Tresen. »Hm.« Aus der Innenseite ihrer Jacke zog sie ein Paar weiße Handschuhe heraus, streifte sie feierlich über und fuhr dann mit den Fingern über die Tischplatte und an den Kanten entlang. »Ruß«, stellte sie nach einem Blick auf ihre behandschuhten Finger fest. »Ruß?« echote Ves ungläubig. Er drehte sich zu der weißbekittelten Menge um und hob seine Stimme. »Ruß? Ruß?«
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Plötzlich hatten alle Gaffer dringende, unaufschiebbare Dinge zu erledigen. Sie wandten sich ab und hasteten hin und her, kontrollierten die Herdfeuer, spülten das Besteck, neigten die Köpfe, beugten die Knie, schlossen die Augen. Tatjana Petrowna stolzierte hochnäsig und ohne ein weiteres Wort zu sagen durch die Küche, während Ves ihr aufgelöst und Entschuldigungen stammelnd folgte: »Aber, Madam, sie waren nicht darauf vorbereitet – aber Frau Kommissarin, Sie müssen ihnen noch einmal eine Chance geben – ich versichere Ihnen, sie werden weder Mühe noch Kosten scheuen – normalerweise ist das die sauberste Küche, die man sich vorstellen kann …« Und auf diese Weise gingen sie durch die Tür und nach draußen. »Brillant«, lobte die Gräfin und salutierte vor Ves. »Meine Kutsche steht einen Block weiter. Gehen wir.« »Wohin«, fragte Ves, »bringen Sie mich?« »Zum Es«, eröffnete ihm Tatjana Petrowna. »Wir bringen Sie zum Hauptkanal.«
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15 Der Zug fuhr vierundzwanzig Stunden am Tag und hielt nur an, um den unersättlichen Hunger der Lokomotive nach Brennstoff und Wasser zu befriedigen. Dennoch nahm die Reise fast eine Woche in Anspruch; sechs Tage und den größten Teil des siebten. Das Überqueren mehrer Flüsse auf großen, kabelgezogenen Fähren kostete die meiste Zeit. Allein der Mississippi erforderte drei Versuche und neun Stunden. Der Brennstoff bestand aus Holz oder Braunkohle; der einzige Unterschied für die Lokomotive schien in der Färbung und der Menge des Rauches zu bestehen, die sie ausstieß. Während der Zwischenhalte wurden auch Nahrungsmittel und Wasser für die Passagiere an Bord genommen, aber es war klar, daß dies nur eine Nebenerscheinung und nicht der Grund für die Fahrtunterbrechung war. Jeden Tag wurde die Zugbesatzung ausgewechselt; jede Mannschaft arbeitete vierundzwanzig Stunden hintereinander, ehe sie am nächsten Haltebahnhof abgelöst wurde. Der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienten speziell geformte Nachttöpfe, die unter den Sitzen bereitstanden. Für Swifts Geschmack besaßen sie ein armseliges Design. Hamilton verbrachte die Zeit mit Lesen und langen Monologen über seine Ansichten zur Politik, Philosophie, Ethik und Moral und der Führung eines dicken Tagebuchs, das er in seiner Reisetasche aufbewahrte. Er schien erfreut über Swifts Gesellschaft zu sein und bereit, nach bestem Wissen und Gewissen alle von Swifts Fragen zu 181
beantworten. Am dritten Tag fragte ihn Swift, wie er und Burr Zugang zu den parallelen Zeitebenen gefunden hatten. »Es lag an dem Duell«, erklärte Hamilton. »Sie wissen von dem Duell?« »Ja«, sagte Swift. »In meiner Welt sind Sie, äh, getötet worden.« Hamilton nickte. »Dieses Ergebnis scheint in den Welten, wo das Duell stattfand, dominierend zu sein.« »Es war also nicht, äh, universell?« »In einigen Welten hat Burr auf mich geschossen, und ich habe überlebt; in den meisten bin ich gestorben. In allen haben wir beide geschossen, aber meine Kugel ging fehl. Was nicht überraschend ist, da ich nicht beabsichtigte, zu schießen; das heißt, ich wollte in die Luft feuern. Aber ich zielte und schoß. Zumindest« – er schüttelte den Kopf – »ich zielte und schoß. Ich kann nur vermuten, daß meine Doppelgänger ebenso gehandelt haben. Natürlich fand in einigen Welten das Duell überhaupt nicht statt; entweder hatte Burr mich nicht herausgefordert, oder ich fand eine ehrenvolle Möglichkeit, mich für die fraglichen Beleidigungen zu entschuldigen. Es stimmt schon; manchmal ist mein Mund – oder mein Stift – schneller als mein Verstand. Ich hätte niemals derartige Dinge über Burr sagen dürfen.« »Was haben Sie gesagt?« fragte Swift. »Meine Meinung über Burr. Ich sagte, er sei ein gefährlicher Mann, und man dürfe ihm nicht die Regierungsverantwortung überlassen. Ich habe noch mehr gesagt…« »Sie haben es nicht so gemeint?« unterbrach Swift. 182
»Natürlich habe ich es so gemeint«, erwiderte Hamilton mit gereizter Stimme. »Mein Fehler war, daß ich es in der Öffentlichkeit gesagt habe. Die Öffentlichkeit war in diesem Fall ein Mann namens Charles Cooper. Doktor Charles Cooper. Er schrieb einen Brief, in dem er mich zitierte – nur halb zitierte, was noch schlimmer ist – und der Brief wurde im Albany-Register veröffentlicht. In dem Brief stand, daß ich meine verächtliche Meinung‹ über Burr ausgedrückt hätte. Sehen Sie, Sir, in unserer Gesellschaft werden Worte wörtlich genommen. Was ich ausgedrückt hatte, das war meine politische Meinung über Burr. Aber nach dem Brief bezog sich meine Verachtung auf Burrs Person und nicht auf seine politische Überzeugung. Cooper hatte diesen Ausdruck benutzt und nicht ich; aber ich befand mich plötzlich in der Lage, mich dafür rechtfertigen zu müssen. Hätte ich mich auf Burrs Verlangen hin entschuldigt, wäre mein Wort von da an wertlos, entehrt gewesen. Und natürlich mußte er es von mir verlangen; ›verächtlich‹ war kein Epitheton, das er auf sich sitzen lassen konnte, wollte er seine Ehre nicht verlieren. So waren wir gezwungen, nach dem Kodex unserer Zeit ein Duell auszutragen, das keiner von uns, davon bin ich überzeugt, wirklich gewollt hat.« »Was geschah dann?« fragte Swift. »Ich meine, mit Ihnen. Offensichtlich sind Sie nicht getötet worden.« Rumpelnd und quietschend kam der Zug zum Halt; mit dem hohen, peinigenden Ton von Weichholzbremsen auf Eisenrädern. Hamilton und Swift wurden hin und her geschüttelt, während der Zug seine Geschwindigkeit
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verlangsamte. Von der Lokomotive her drang gellendes Geschrei. »Dort vorn scheint eine ernste Diskussion im Gang zu sein«, bemerkte Hamilton, öffnete seine Reisetasche und brachte einen sechsschüssigen Revolver zum Vorschein. »Das beste ist, wir schauen nach.« Sie stiegen aus dem Waggon und trotteten, mit Hamilton und seinem Sechsschüsser an der Spitze, dem Ursprung des Geschreis entgegen. Das Land war hügelig und, abgesehen von der Schneise, die man für den Schienenstrang geschlagen hatte, dicht bewaldet. Wegen der Bäume und einer sanften Biegung war die Spitze des Zuges nicht zu sehen. Die Auseinandersetzung schien lauter und heftiger zu werden. Periodisch ertönte ein eigentümlicher Laut, halb ein Quietschen, halb ein Bellen. »Götter haben keine Angst«, machte Hamilton sich Mut und umrundete die Kurve. Hamilton blieb wie angewurzelt stehen. Swift eilte an seine Seite und verharrte ebenfalls. Schweigend starrten sie nach vorn; Worte erübrigten sich. Eine Anzahl Kamele stand vor der Lokomotive. Jedes Kamel trug ein Halfter und einen Packsattel. Mehrere Männer in langen, weiten Gewändern und mit langen, weittragenden Gewehren standen neben den Kamelen. Hierin den jungfräulichen Wäldern Ohios oder Pennsylvanias hatte sich eine Karawane ihrem Zug in den Weg gestellt. Hamilton stand eine Weile wie erstarrt da und musterte die Szene. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Swift. »Was haben die da zu suchen?«
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»Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden«, erklärte Hamilton und ging weiter. »Was ist hier los?« brüllte er und versuchte, das Geschrei der Eingeborenen zu übertönen. »In Ordnung, Leute, seid einen Moment lang still. Und Sie da, was machen Sie hier?« Einer der Araber, ein kleiner, stämmiger Bursche, rannte auf Hamilton zu und ergriff seine Hand. »Mein guter Mann«, rief er und schwenkte Hamiltons Arm wie einen Pumpenschwengel, »Sie sprechen Englisch. Wie wundervoll! Bentham, stets zu Ihren Diensten. Jeremy Bentham. Obwohl ich befürchte, daß ich auf Ihre Dienste angewiesen bin. Sind Sie so freundlich und sagen mir, wo wir sind und wo sich die Große Wüste befindet?« »Wüste?« echote Hamilton. »In einem Umkreis von dreieinhalbtausend Kilometern gibt es hier keine Wüste. Etwa viertausend Kilometer weiter westlich liegt eine hübsche Wüste. Richtung West-Süd-West, um es genau zu sagen.« Bentham schüttelte den Kopf. »Ich bin offenbar falsch informiert worden. Manche Leute sind mit ihren Richtungsangaben sehr nachlässig. Sind Sie sicher, daß sich hier keine Wüste befindet?« »Ja«, nickte Hamilton. Er wandte sich an Swift. »Mr. Swift, was meinen Sie?« Swift nickte ebenfalls. »Keine Wüste weit und breit«, erklärte er. »Schockierend«, ereiferte sich Bentham. »Einfach schockierend. Das war das letztemal, daß ich einem Hauptkanaler vertraut habe. Was mache ich jetzt?« 185
»Wie ich die Sache sehe, haben Sie zwei Möglichkeiten«, sagte Hamilton. »Entweder folgen Sie dieser Eisenbahnlinie in Richtung Westen, bis Sie eine große Bergkette erreichen, und wenden sich dann nach links; oder Sie folgen den Schienen etwa vierhundert Kilometer nach Osten, bis Sie Manhattan vor sich sehen, und kehren dann mit Es zum Hauptkanal zurück, woher Sie meiner Ansicht nach kommen. Wenn Sie bereit sind, Ihre Kamele aufzugeben, können Sie mit uns fahren und in einem Tag dort sein. Andernfalls muß ich Sie bitten, Ihre Kamele aus dem Weg zu nehmen.« »Natürlich, guter Mann, natürlich. Aber was soll ich tun?« Er legte die Hand unters Kinn und nahm eine nachdenkliche Pose ein. »Ich kann diese armen Viecher nicht sich selbst überlassen … Ich werde Ihnen folgen, alter Freund. Wenn wir in ein paar Tagen nicht eintreffen, dann schicken Sie die Hunde los, um die Kamele zu suchen, ha, ha, ha, ha.« Sein Gelächter besaß einen trockenen und mechanischen Klang. Bentham entfernte seine Kamele von den Eisenbahnschienen, die Tolteken und ihr kleiner Gott bestiegen wieder den Zug, und die Fahrt ging weiter. Hamilton zog eine kleine Flasche und zwei kleine, silbergesprenkelte Gläser aus seinem Gepäck. »Was halten Sie von einem bescheidenen Trankopfer?« Er füllte die Gläser und reichte eines davon Swift. »Rum«, erklärte er. »Ich führe immer einen kleinen persönlichen Vorrat mit. Es gibt so viele Orte, wo man ihn nicht bekommen kann. Hier, zum Beispiel, wird er nicht hergestellt – noch nicht. In vielen, äh, Zeiten hält man nichts davon. Es gibt sogar 186
Zeiten, wo es verboten ist, Gärungsgetränke herzustellen, Wein oder alkoholarmes Bier, können Sie sich das vorstellen?« »Durchaus«, versicherte Swift und nahm das Glas. Er hob es. »Auf Ihr Wohl, Sir.« Hamilton nickte und hob sein eigenes Pintchen. »Und auf Ihres, Sir; auf Ihr besonderes Wohl. Sie haben sich als angenehmer Gefährte und exzellenter Gesprächspartner auf dieser lange Reise erwiesen.« Swift lächelte. »Sie meinen, ich kann gut zuhören.« »Das meine ich in der Tat, Sir«, bestätigte Hamilton und erwiderte das Lächeln. »Und das ist eine seltene Fähigkeit. Ich muß gestehen, daß ich einen Großteil des Erfolges in meinem Leben meinen Ohren zu verdanken habe; ich höre gut und aufmerksam zu. Washington schätzte mich, weil ich ihm zuhörte. Alle anderen starrten ihn entweder respektvoll an, zu überwältigt, um überhaupt zu hören, was er sagte, oder sie starrten ins Leere und waren zu sehr damit beschäftigt, ihren Widerspruch zu formulieren, um auf seine Worte zu achten. Ich habe zugehört. Ich habe nicht immer zugestimmt, aber ich habe zugehört.« »Sie waren dabei, mir von dem Duell zu erzählen«, erinnerte Swift. »Ha, ja. Das Duell. Es hat mein Leben verändert. Was, wie ich glaube, keine schlechte Angelegenheit ist; in anderen Zeitkanälen bin ich in dem Duell ums Leben gekommen. Damit Sie auch verstehen können, was geschehen ist und warum, müssen Sie wissen, daß Burr und ich ein 187
Nexuspunkt der Geschichte sind. Das bedeutet, wenn Sie die historische Entwicklung in angrenzenden Zeitkanälen zurückverfolgen, um herauszufinden, wo sie aufeinander treffen – oder sich voneinander trennen, je nachdem, in welche Richtung Sie sich wenden – dann werden Sie feststellen, daß sie bündelweise zusammenlaufen, alle an einem Punkt, wie die Borsten eines Besens. In Wirklichkeit ist ›Punkt‹ ein zu beschränkter Begriff; es ist mehr ein, äh, Klecks.« Hamilton ballte die rechte Hand zur Faust und hielt sie hoch. »Eine begrenzte Zeitspanne um ein entscheidendes Ereignis oder eine Gruppe von Menschen. Nun, Burr und ich scheinen die Fokusse einer dieser Zeitspannen zu sein, die eine Periode von etwa zehn Jahren ab dem Jahr 1802 umfaßt. Es gibt zahllose Zeitkanäle, in denen Burr oder ich Präsident waren oder er zum Kaiser von Mexiko gekrönt wurde und in denen das Duell mit unterschiedlichen Ergebnissen endete. Die Geschichte von Tausenden Amerikas in Tausenden paralleler Zeitkanäle ist abhängig von dem, was Burr und ich zwischen 1803 und 1812 getan oder nicht getan haben.« »Faszinierend«, murmelte Swift, als Hamilton schwieg, um seine Reaktion zu hören. »Das muß Ihnen ein seltsames Gefühl der Macht vermitteln.« Hamilton äugte traurig in sein silbernes Glas. »Es vermittelt mir ein seltsames Gefühl des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit angesichts des Schicksals. Ich komme mir vor wie eine Art Marionette in einem Puppentheater, und der Puppenspieler schreibt das Ende des Stücks ständig um.« »Wie sind Sie dem Kreislauf entronnen?« fragte Swift. 188
Hamilton sah ihn merkwürdig an, als ob er die Frage nicht verstanden hätte, und dann nickte er. »Das Duell!« erklärte er. »Es liegt jetzt etwa fünf Jahre zurück, fünf Jahre meiner Zeit, meiner subjektiven Zeit. Einige Hauptkanaler tauchten auf, um zuzuschauen, weil es ein so berühmtes und wichtiges Ereignis war. Sie versteckten sich hinter den Bäumen.« »Tatsächlich?« sagte Swift. »Tatsächlich, sie sind sehr sorglos, diese Hauptkanaler; gedankenlos bei dem, was sie anstellen.« Hamilton verstummte erneut und sah aus dem Fenster. »Dies war der Kanal, wissen Sie, in dem Burr mich erschießt und ich unter Qualen einige Tage später sterbe«, fuhr er schließlich fort. »Wie in Ihrem Kanal, nur daß ich dort ein oder zwei Tage länger lebe und mehr schreie. Überall, wohin ich mich wende, sofern es von meinem Kanal aus gesehen zeitaufwärts ist, erfahre ich, was aus Alexander Hamilton geworden ist. Es ist sehr betrüblich. Nun, in diesem bestimmten Fall, in dieser bestimmten Zeit, machte einer der Hauptkanaler ein Foto von dem Duell. Mit einem Blitzlicht. Es erschreckte Burr, so daß sein Schuß fehlging, einen Stein traf und als Querschläger in das Bein des Fotografen fuhr. Wir waren verwirrt, er war enttäuscht; das Duell hätte so nicht ausgehen sollen. Ich sollte erschossen werden, und ich lebte weiter. Er sollte ein Foto von mir machen, wie ich erschossen wurde, und statt dessen hatte er eine Kugel in seinem Fotografenbein.« »Besitzen diese Hauptkanaler keinen Sinn für Ethik im Umgang mit, äh, anderen?« erkundigte sich Swift.
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»Warum sollten sie die Menschen in den Nebenkanälen – so nennen sie die anderen Zeiten – mit mehr Respekt behandeln als wir die Indianer, oder die Christen die Moslems, oder die Katholiken die Hugenotten?« »Was geschah weiter?« fragte Swift, der in keine philosophischen Gespräche hineingezogen werden wollte, wenn es ihm um Tatsachen ging. »Mit mir? Ich bin nicht gestorben. Und der Hauptkanaler? Wir brachten ihn zu einem Arzt. Ein Chirurg hielt sich auf der Barkasse bereit, aber der Hauptkanaler wollte von unserer primitiven Heilkunst nichts wissen; er bestand auf seinem eigenen Arzt. Er hatte keine Bedenken gehabt, mich einem dreitägigen qualvollen Todeskampf auszuliefern, aber als er mit dem Schreien an der Reihe war, erschien ihm die Vorstellung nicht mehr sonderlich attraktiv. Und dabei hatte er sich nur eine Fleischwunde zugezogen. Also brachten wir ihn zu einem seiner Ärzte – mit einem Es. Und von da an war unser Leben nie wieder dasselbe.« »Die Möglichkeit, zahllose Welten zu bereisen, dürfte verlockend genug sein, um selbst einen notorischen Stubenhocker in die Ferne zu treiben«, bemerkte Swift. »Das war nicht der Grund«, widersprach Hamilton kopfschüttelnd. »Die Hauptkanaler waren dafür verantwortlich. Sie gaben sich nicht damit zufrieden, unser Duell verdorben zu haben; ihnen genügte es auch nicht, daß sie uns das Leben gerettet hatten, nein, sie mußten sich noch weiter einmischen. Es gibt eine Art elementares Gesetz im Hauptkanal, nachdem es verboten ist, sich in die Angelegenheiten der Nebenkanäle einzumischen. Es erinnert an 190
unsere Prohibition – das Gesetz scheint nur zu existieren, um gebrochen zu werden. Nun, in diesem Fall, da Burr und ich überaus wichtig für das Muster der Raum-Zeit waren (ich zitiere nur, versichere ich Ihnen, ich zitiere nur), mußten sie etwas unternehmen. Die Behörden des Hauptkanals gaben große Summen Geld auf meiner Welt aus, um die Leute davon zu überzeugen, daß ich tot und Burr der Mörder sei. Und wie bei allen anderen Dingen taten sie des Guten zuviel. Ich konnte nicht mehr als Alexander Hamilton zurückkehren, da ich tot war. Burr konnte nicht mehr zurück – man hätte ihn gelyncht. Ein wohlverdientes Schicksal, wenn Sie mich fragen, aber Burr konnte sich nicht damit anfreunden. Übrigens, Lynch stammt aus Virginia; Washington, Jefferson und Lynch, drei Männer, die das Schicksal Amerikas bestimmt haben, und alle aus Virginia. Das gibt einem schon Stoff zum Nachdenken.« »Und was haben Sie unternommen?« fragte Swift. »Schauen Sie sich um«, entgegnete Hamilton. »Ich fand eine Welt, deren nordamerikanischer Kontinent nur von unzivilisierten Wilden bewohnt war, und ich begann mit dem Aufbau meiner eigenen Zivilisation. Mit der Unterstützung durch ein paar Dutzend ausgewählter Menschen aus verschiedenen Zeitkanälen und den Möglichkeiten des Es werde ich hier eine Republik errichten, auf die Plato stolz wäre.« »Was ist mit den Indianern?« warf Swift ein. »Was soll mit ihnen sein?« fragte Hamilton verdutzt. Swift zuckte die Achseln. »Ich schätze, wir haben da unterschiedliche Ansichten.«
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»Kommt da wieder Ihr demokratischer Idealismus zum Vorschein?« sagte Hamilton belustigt. »Sie sorgen sich um das Wohlergehen der Indianer? Mein lieber Freund, als wir auf diesem Kontinent eintrafen – auf dieser Version unseres Kontinents – da waren die Tolteken eifrig damit beschäftigt, ihren Göttern Menschenopfer darzubringen, und das wöchentlich und auf eine äußerst blutrünstige Weise.« »Sie haben das unterbunden?« fragte Swift. »Nun, wir haben sie zumindest reduziert, obwohl viele der traditionalistischen Priester darüber murren. Ich weiß allerdings nicht, wie wir reagieren sollen, wenn es im Lauf der nächsten fünf Jahre zu Mißernten kommt.« »Ich bin nicht überzeugt«, erwiderte Swift. »Es gibt immer Rationalisierungen für die Vernichtung der Zivilisation eines anderen Volkes; auch wenn sie sich nicht so benehmen, wie das anständige Menschen Ihrer Meinung nach tun sollten, so haben sie trotzdem das gleiche Recht auf ihre eigenen Bräuche wie Sie auf Ihre.« »Sie würden diese Indianer kaum mit ähnlicher Begeisterung verteidigen, wenn es Ihre Brust wäre, in der das Obsidianmesser herumschneidet«, brummte Hamilton. »Aber ich mache Ihnen ein faires Angebot: Schließen Sie sich unserer kleinen Gemeinde hier an, und bestimmen Sie gleichberechtigt über die Zukunft dieses Landes mit. Was sagen Sie dazu, Sir?« Hamilton lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und sah Nate Swift forschend an. »Ein großzügiges Angebot, Mr. Hamilton«, erklärte Swift, »und ich werde sorgfältig darüber nachdenken. Aber
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im Augenblick habe ich den Auftrag, die Verfassung der Vereinigten Staaten zu finden und sie wieder an ihren rechtmäßigen Platz in der Vitrine zurückzubringen. Zudem muß ich meinen Partner, Ves Romero, aufspüren, ehe der Zahn der Zeit auch die letzte Brücke zernagt hat, die uns noch miteinander verbindet.« »Sehr gut«, lobte Hamilton. »Ich könnte einen Mann, der sich seiner Pflicht entzieht, nicht respektieren. Finden Sie Ihren Freund, finden Sie diesen Fetzen Papier, und kehren Sie heim. Wenn Sie feststellen, daß Ihre eigene Welt Sie langweilt, dann kommen Sie hierher zurück und nehmen mein Angebot an.« »Wird es schwierig sein, meine eigene Welt zu finden?« erkundigte sich Swift. »In einer Hinsicht, nein«, antwortete Hamilton. »In anderer Hinsicht werden Sie niemals in der Lage sein, Ihre eigene Welt wiederzufinden, niemals.« »Wie?« sagte Swift. »In einer Hinsicht, nein …« begann Hamilton. »Es war die zweite Hälfte des Satzes«, unterbrach Swift. »Und Sie brauchen sich nicht zu wiederholen, nur zu erklären.« »Nun«, brummte Hamilton, stützte sein Kinn auf die Hand und schaute nachdenklich drein, »ich werde es versuchen. Der Extemporal-Sender überbrückt aufgrund eines Strukturmusters des Universums, das von bestimmten Energieströmungen geprägt wird, bei jedem Sprung Millionen oder Milliarden paralleler Zeitkanäle. Doch durch die Verlangsamung des Zeitstroms – oder die 193
Beschleunigung, wenn Sie sich in die andere Richtung wenden – enden diese Sprünge mit einer zeitlichen Versetzung in Bezug zu dem, was ich mir als unsere gemeinsame Vergangenheit zu bezeichnen erlaube. Diese Zeitversetzung beträgt, um es genau zu sagen, neun Komma sieben Jahre. Aber wegen dieser zunehmenden Veränderung in der Geschwindigkeit des Zeitstroms bringt ein Sprung von neun Komma sieben Jahren Sie nicht genau in jene Welt zurück, die Sie verlassen haben, sondern in eine Welt, die ein paar, äh, Zeitkanäle rechts oder links davon liegt. Normalerweise sind sie einander so ähnlich, daß man den Unterschied nicht bemerkt. Ein Mann, dem man niemals begegnen wird, hat zum Beispiel einen anderen, unwichtigen Beruf ergriffen; oder ein Gebäude, das man niemals sehen wird, ist in einem anderen Grünton gestrichen.« »Das ist alles?« fragte Swift. »Klingt ja ganz manierlich. Obwohl es bestimmt ein komisches Gefühl ist, wenn man weiß, daß irgendwo irgend etwas anders ist und man nie erfahren wird, wo und was.« »Natürlich besteht die Möglichkeit, daß zwischen Ihnen und Ihrer Heimatwelt ein Hauptnexuspunkt entsteht und daß Sie einfach auf der falschen Seite landen. Die Möglichkeit ist verschwindend gering, aber sie besteht.« »Warten Sie«, sagte Swift, »muß man denn nicht in die Welt zurückkehren, in der sich Es befindet?« »Gewiß«, bestätigte Hamilton, »aber seit der Aufstellung von Es hat sich diese Welt viele Male verästelt und
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in parallele Welten aufgesplittert, und Es befindet sich in jedem dieser Zeitkanäle.« »Darüber muß ich eine Weile nachdenken«, sagte Swift. »Trinken Sie noch ein Glas Rum«, forderte ihn Hamilton auf. »Er regt das Denken an.«
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16 Der zweispännige Brougham schoß, so schnell es der Abendverkehr erlaubte, über den Broadway. Die Gräfin, die neben Ves auf dem Rücksitz saß, klammerte sich an seinem Arm fest und hüpfte vergnügt auf und ab. »Reizend!« rief sie. »Dieser flinke Verstand. Dieser drollige Witz. Dieses Ambiente. ›Das ist die Küche.‹ Oh, einfach wundervoll. Es ist mir eine Ehre, Sie befreit zu haben.« Ves nickte; er war ebenfalls stolz auf sich. Allzu oft geschah es, daß man sich erst im Nachhinein auf seine Schlagfertigkeit besann und die brillantesten Winkelzüge entwickelte, wenn es schon zu spät war. »In meinem Beruf habe ich gelernt, flink zu denken«, erklärte er. »Vor meinem Eintritt in den Ruhestand, damals, als wir uns noch hauptsächlich mit Wiederbeschaffungen herumzuschlagen hatten, da mußten wir fast tagtäglich Schlagfertigkeit, List und Improvisationsvermögen beweisen.« »Wiederbeschaffungen?« echote die Gräfin. »Wiederbeschaffungen von Automobilen. Im Auftrag der Banken, wissen Sie.« »Was haben Banken mit Automobilen zu tun?« fragte sie. »Vergessen Sie's«, seufzte Ves. »Ihnen das zu erklären, dürfte zu lange dauern. Ich möchte Ihnen und Ihrem Kosakenfreund aber auf jeden Fall herzlich für Ihr entschlossenes Eingreifen danken.«
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»Nicht so wichtig«, winkte die Gräfin ab. »Wichtig ist jetzt, daß wir Sie unversehrt zu Es und fort von diesem unfreundlichen Zeitkanal bringen.« »Nate!« rief Ves. »Wie, bitte?« fragte die Gräfin höflich. »Mir ist dieser Ausdruck nicht vertraut.« »Nate!« wiederholte Ves. »Mein Freund Nate; er ist ebenfalls hier. Wir müssen ihn finden. Ohne Nate können wir diese Welt nicht verlassen.« »Das können wir«, versicherte ihm die Gräfin. »Wir müssen es sogar. Er ist nicht verhaftet worden; Captain Richardson hätte es mir gegenüber sonst erwähnt. Sagen Sie mir, wo wir ihn finden können, und ich werde dafür sorgen, daß Ihr Freund eine Nachricht erhält.« Ves dachte eine Weile darüber nach, während die Kutsche weiter über den Broadway schaukelte. »Sie haben recht«, sagte er zu der Gräfin. »Im Gouverneur Morris Hotel an der 34. Straße, Ecke Fifth Avenue. Wenn er dort nicht ist, versuchen Sie es in der Bibliothek.« Plötzlich fiel ihm etwas ein, und er griff in seine Tasche und holte die Funknadel hervor. »Das habe ich doch glatt vergessen«, brummte er, führte den Knopf zum Mund, hielt ihn zwischen zwei Fingern und drückte. »Nate! Kannst du mich hören, Nate. Wo bist du?« »Warum reden Sie mit Ihrem Daumen?« erkundigte sich die Gräfin Tatjana Petrowna. »Ist das eine Art religiöses Ritual?«
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»Ich spreche nicht mit meinem Daumen«, sagte Ves geduldig und zeigte der Gräfin die winzige Nadel, »sondern damit.« Tatjana Petrowna nahm die Nadel und betrachtete sie mit faszinierten Augen. »Hm«, machte sie. »Das ist ein mir bislang unbekannter Fetisch. Sie sind doch kein Christlicher Realist, oder? Einer von diesen Leuten, die nicht an ihre eigene körperliche Existenz glauben, so daß sie gezwungen sind, sich Nadeln in das Fleisch zu stechen, um sich zu beweisen, daß sie noch immer hier sind?« »Nicht im geringsten«, wehrte Ves ab. »Das ist ein Mini-Radiosender. Gibt es in Ihrer Welt kein Radio?« »Ah, da! Sie meinen diesen drahtlosen FunkenstreckenApparat und das Waschininitsky-Alphabet mit seinen Tüüts und Tuuts. Sie senden Tüüts und Tuuts mit diesem Knopf?« Bewundernd drehte sie die Nadel zwischen Daumen und Zeigefinger und gab sie dann Ves zurück. »Hervorragend für Spione geeignet«, lautete ihr Schlußkommentar. Ves steckte die Nadel wieder an die Innenseite seines Jackenrevers. »Dafür ist es auch gedacht«, bemerkte er. Der Brougham kam vor einem großen, flachen Gebäude aus alten, roten Ziegelsteinen zum Halt. Möglicherweise waren die Ziegelsteine neu gewesen, als man das Gebäude errichtet hatte; wenn dem so war, so hatten es weder Baumaterial noch Bauwerk verstanden, mit Anstand zu altern. Der Kutscher sprang vom Bock und öffnete die Tür für seine Fahrgäste.
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Die Gräfin stieg aus und betrat den Bürgersteig. »Nate wer?« fragte sie, als Ves ihr folgte. »Swift«, erklärte Ves. »Nate Swift. Nathan Swift.« »Sehr amerikanisch«, meinte die Gräfin, während sie den Namen auf einen Umschlag schrieb, den sie dann dem Kutscher aushändigte. »Hier, fahren Sie zum Gouverneur Morris, und suchen Sie Mr. Nathan Swift auf. Bringen Sie ihn uns nach.« Der Kutscher salutierte und wirbelte herum, sprang zurück auf den Kutschbock und peitschte die erschöpften Pferde zu neuem Tatendrang an, daß sie wiehernd davongaloppierten. »Boris, du wartest hier«, befahl sie dem hochgewachsenen Kosaken. »Halt die Augen auf und verschwinde, wenn es notwendig werden sollte. In vier oder fünf Stunden folgst du uns mit dem Freund unseres Freundes oder mit einer Nachricht von ihm.« Er nickte gehorsam. »Paß auf dich auf«, bat er. Tatjana Petrowna wandte sich zu Ves. »Kommen Sie!« »Sie bringen mich jetzt zum Hauptkanal?« fragte Ves, als er ihr durch die kleine Tür in der Ziegelmauer und in eine Finsternis so tief wie im Raum zwischen den Galaxien folgte. »Ja«, erklang ihre Stimme, »aber der Weg ist lang und nicht immer sicher.« Sie streckte den Arm aus und ergriff seine Hand. »Kommen Sie, ich werde Sie führen; ich kenne den Weg durch die Dunkelheit.« Ves ließ sich von ihr auf verschlungenen Wegen durch die finsteren Räume und Korridore führen, und nur einmal 199
und nur für kurze Zeit konnte er rechts und links von sich eine Wand berühren. »Sie kennen tatsächlich den Weg«, sagte er, und seine Stimme hallte hohl wider. »Sobald meine Füße einmal einen Weg beschritten haben«, erwiderte sie, »finde ich mich beim nächstenmal mit geschlossenen Augen zurecht. Eine nützliche Fähigkeit in meinem ungewöhnlichen Beruf. Aber dämpfen Sie Ihre Stimme.« Sie wandte sich erneut nach rechts, dann zweimal nach links und blieb stehen. »Wir sind da«, verkündete sie selbstsicher. »Haben Sie ein Streichholz?« »Ich glaube nicht«, flüsterte Ves. »Bei dem Verhör hat man mir die Taschen geplündert.« »Ich habe auch keins«, gestand die Gräfin. »Ich rauche nicht. Manchmal zündel ich, aber ich rauche nicht. Unwichtig, ich werde es so versuchen. Ich muß Sie jetzt loslassen, weil ich beide Hände brauche. Legen Sie Ihre Hand auf meine Schulter oder um meine Hüfte, damit unsere körperliche Nähe im kritischen Moment gewahrt bleibt.« Ves legte seine Hand um die schlanke, weibliche Hüfte, die unter seiner Berührung so fest war wie Stahl. »Ich möchte keinesfalls, daß unsere körperliche Nähe im kritischen Moment gefährdet wird«, erklärte er. »Wir Russen haben keinen Sinn für Humor«, informierte ihn Tatjana Petrowna. »War das scherzhaft gemeint?« Ves seufzte. »Vor zehn Jahren hätte ich das noch für romantisch gehalten«, murmelte er, »aber jetzt, befürchte ich, kann es nur noch scherzhaft klingen.«
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»Wie sentimental«, sagte die Gräfin. »Alter ist lediglich eine Frage der seelischen Einstellung. Erzählen Sie mir keine traurigen Dinge, weil ich sonst weinen muß. Russen weinen gut, aber ich bin zu nichts mehr gut, wenn Sie mich zum Weinen bringen, weil ich dann die nächsten Stunden nur noch weinen werde.« »Dabei hielt ich das Gerede von den schwermütigen Russen immer für einen Scherz«, wunderte sich Ves. »Ich schätze, auch wir Etrusker haben keinen Sinn für Humor. Aber wir produzieren hervorragende antike Scherben. Wie kommt das?« »Die Wand ist offen«, entgegnete sie. »Ich schalte jetzt an den Kontrollen. Es geht jede Sekunde los. Haben Sie Geduld.« Ves wartete geduldig und fragte sich, wie es möglich war, daß sich die Gräfin in der Finsternis so mühelos zurechtfinden und darüber hinaus auch noch komplizierte Arbeiten verrichten konnte. Ein Instinkt, den »Wir Russen« zweifellos in den langen Wintern entwickelt haben, dachte er. Es war bedauerlich, daß das Licht von dem hoch an der Wand gelegenen Fenster zu schwach war, um ihre Umgebung zu erhellen, sagte sich Ves. Dann wurde ihm unvermittelt klar, daß sich an dieser Stelle bis vor einem Moment gar kein Fenster befunden hatte. »Das müßte funktioniert haben«, murmelte Tatjana Petrowna. »Es hat«, versicherte ihr Ves. »Wir sind jetzt woanders. Wann-anders? Nun, wo auch immer, wir sind da.«
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»Sehr gut«, sagte die Gräfin. »Das war der erste Schritt. Jetzt müssen wir uns an den zweiten Schritt machen.« »Das hier ist nicht der Hauptkanal?« fragte Ves. »Warum begeben wir uns nicht direkt zum Hauptkanal?« »Es funktioniert nicht auf diese Weise«, erklärte Tatjana Petrowna. »So ist es beim Es, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als Es zu folgen. Jedes einzelne Es durchläuft nach einem bestimmten Muster eine begrenzte Zahl von parallelen Zeitkanälen. Stellen Sie sich vor, Sie müßten, um zu Ihrem Ziel zu gelangen, mit der Straßenbahn fahren und mehrmals umsteigen.« »Also ist das hier eine Art Haltestelle«, nickte Ves und versuchte sich über die Identität der Schatten im klaren zu werden, die an dem hohen Fenster vorbeihuschten. »Aber nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu unserem Ziel, und Es kommt nicht zu uns; wir müssen weiter«, entgegnete die Gräfin. »Es ist nicht weit. Nach dem Licht zu urteilen, das durch das Fenster dringt, ist Es, ich meine, ist es entweder später Abend oder früher Morgen. Ich hoffe sehr, daß es – Es – früher Morgen ist; dann treiben sich weniger unangenehme Leute in der Nähe dieser sehr unangenehmen Haltestelle herum.« »Was ist daran unangenehm?« erkundigte sich Ves und starrte in die Dämmerung. »Wo sind wir? Ist das hier noch immer New York? Wie oft müssen wir noch umsteigen, ehe wir den Hauptkanal erreichen?« »Geduld, und bleiben Sie dicht bei mir«, riet Tatjana Petrowna. »Gott allein weiß, was geschieht, wenn wir hier getrennt werden. Das ist noch immer New York, glaube 202
ich; aber Sie werden wenig Ähnlichkeit mit jenen New Yorks feststellen, die Sie kennen, vom Namen einmal abgesehen. Kommen Sie.« Sie führte ihn durch die Finsternis bis in eine weitläufige Eingangshalle, in der zwei trübe, nackte Glühbirnen ungewisses Licht verbreiteten. Schwere, schwarze Gobelins verdeckten die Fenster, und ein schwarzer Vorhang hing vor der Tür. Während ihre Schritte auf dem gefliesten Boden hohle Echos erzeugten, bemerkte Ves plötzlich, daß es kalt war. Wenige Sekunden später, an der schwarzverhangenen Tür, änderte er seine Meinung in verdammt kalt; kalt genug, um einen Mantel, einen Pelzmantel anzuziehen; kalt genug, um die Hände unter den Achseln zu wärmen, auf und ab zu stampfen und zu erwägen, die Eßzimmereinrichtung kleinzuhacken und mit dem Holz auf dem Teppich des Wohnzimmers ein Feuer zu machen. Und sein nagelneues, leuchtendrotes Jackett war nicht einmal gefüttert, Jesusgottessohn, und die Weste besaß keinen Rückenteil (aus modischen Gründen, hatte der Schneider gemeint, und weil das besser für den Sitz des Anzugs sei). Und sie befanden sich noch immer im Innern des Gebäudes. Ves glaubte nicht, daß ihm viel daran lag, ins Freie zu gehen. »Es ist kalt«, sagte er, schob die Hände unter die Achseln und stampfte mit den Füßen auf. »Das bezeichnen Sie als kalt?« schnaubte Tatjana Petrowna. »Warten Sie, bis wir draußen sind. Der Wind pfeift durch die Straßen, als wäre es Februar und das hier Sibirien. Aber zumindest schmilzt der Schnee nicht zu diesem abscheulichen Matsch zusammen. Warten Sie! Ich 203
kann mich dunkel daran erinnern, irgendwo in diesem Raum für derartige Notfälle eine Decke versteckt zu haben. Ich werde sie Ihnen holen.« Sie stöberte zwischen den aufgestapelten Sesseln herum, die in den Ecken vermoderten, hob von einem das Polster und fand eine sorgfältig gefaltete Decke aus dickem Stoff und von dunkler Farbe, die sie Ves zuwarf. Sie roch nach Pferd. Ves beäugte sie nachdenklich und kam dann zu der Erkenntnis, daß er die Kälte mehr verabscheute als den Geruch, und wickelte sie um die Schultern. »Sie sollten sie mit mehr Stil tragen«, kritisierte die Gräfin. »Sie sehen wie ein Bauer aus.« Ves zuckte die Achseln. »Wie kann man eine Pferdedecke mit Stil tragen?« fragte er. »Benutzen Sie sie als Umhang«, schlug die Gräfin vor. »Werfen Sie sie lässig über Ihre Schulter. Wer kann in der Dunkelheit schon den Unterschied erkennen?« »So ist es wärmer«, sagte Ves. »Wohin gehen wir jetzt?« Tatjana Petrowna hob ihre rechte Hand zu einer Geste, die Zustimmung ausdrücken konnte. »Haben Sie die Güte, mir zu folgen«, sagte sie und schob sich durch den Vorhang. Die dahinter liegende Holztür hing schief in den Angeln, aber sie mußte erst kürzlich geölt worden sein, denn sie schwang lautlos zur Straße hin auf. Es war, stellte Ves ohne Begeisterung fest, draußen nicht kälter als im Haus; aber die Witterung war rauh. Schneehaufen türmten sich vor den Gebäuden und im Rinnstein auf, doch Bürgersteig und Straße waren mit Matsch bedeckt. Die Kälte der vergangenen Nacht hatte eine dünne 204
Eiskruste über den Schneematsch gefroren, die unter jedem Schritt von Ves knirschend nachgab. Seine Schuhe, dünnbesohlte, stumpf zulaufende, handgenähte, schnallenversehene Schuhe, wurden rasch eins mit dem Morast. »Halten Sie sich so nah wie möglich an den Gebäuden«, zischte Tatjana Petrowna Ves zu, während sie ihn – die aufgehende Sonne im Rücken – die Straße hinunter führte. »Warum?« fragte Ves, dem auf der Straße nichts Ungewöhnliches auffiel. Nicht ein einziges Auto fuhr, vielleicht wegen der frühen Stunde, und die wenigen Wagen, die an der Bordsteinkante parkten, schienen aus den späten dreißigern oder den frühen vierziger Jahren zu stammen, soweit Ves das beurteilen konnte. »Heckenschützen«, sagte sie. Ves hielt sich so nah wie möglich an den Gebäuden. »Wie weit ist es noch?« fragte er. »Ein paar Kilometer«, antwortete Tatjana Petrowna. »Im ganzen vielleicht fünf. Nicht zuviel. Können Sie eines von diesen Dingern fahren?« Ves musterte das nächststehende Fahrzeug, das genauso aussah, wie ein altes Auto aussehen sollte. Es war ein HENRY Tourglide Inline. Ford oder Kaiser? fragte sich Ves. »Ich kenne mich mit dem da aus«, versicherte er der Gräfin. Er zog an der Tür, und sie war unverschlossen. »Steigen Sie ein.« »Können Sie ihn ohne Zündschlüssel starten?« »Jeder Privatdetektiv kann das«, erwiderte Ves. »Neben einer griffbereiten Flasche Schnaps in der Schreibtischschublade und der Ablehnung von Scheidungsfällen gehört 205
das zu den Grundvoraussetzungen, die man erfüllen muß, um eine Lizenz zu bekommen.« Er öffnete die Kühlerhaube. Ford, entschied er, nachdem er mit Kennerblick den Motor gemustert hatte. Einige Sekunden später sprang der Motor stotternd an und lief nach einer kurzen Weile mit lärmendem Gebrumm, und er hatte die Tür hinter sich zugeschlagen und sich hinter das Lenkrad geklemmt. »Verdammt gut für einen alten Mann«, knurrte er und ging mit dem Steuerknüppel die Gänge durch, um ein Gefühl für die Kupplung zu bekommen. »Wohin, meine Dame?« »Bitte«, sagte Tatjana Petrowna, »ich bin eine Frau, ich bin eine Gräfin, aber ich bin keine Dame. Die Engländerinnen sind Damen. Und Sie sind nicht trotz, sondern wegen Ihres Alters so vielseitig begabt. Ich kann den amerikanischen Jugendkult nicht verstehen. Der einzige Vorteil der Jugend ist eine gewisse Behendigkeit des Körpers, die nur selten durch eine vergleichbare Gewandtheit des Verstandes ergänzt wird. Zum Empire State Building.« »Versuchen Sie nicht, mich zu belehren, Teuerste«, erwiderte Ves. »Ich bin alt genug, um Ihr Vater zu sein.« Er lächelte und streckte sich und rieb seinen Rücken an dem rauhen Stoffbezug der Lehne. »Und ab die Post«, knurrte er und schaltete in den ersten Gang. »Langsam, bitte«, rief Tatjana Petrowna, »und lassen Sie die Scheinwerfer aus.« Sie lehnte zusammengekauert an der Beifahrertür und äugte mit ernstem Gesicht aus dem Seitenfenster.
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»Heckenschützen?« fragte Ves. Die Gräfin zuckte die Schultern. »Alles mögliche. Hier herrscht Krieg.« »Was für ein Krieg?« fragte Ves. »Der Zweite Weltkrieg«, antwortete sie. »Aber während des Zweiten Weltkriegs hat es in New York keine Kämpfe gegeben«, wandte Ves ein. »In Ihrer Welt nicht«, murmelte sie. »Aber in dieser Welt haben die Deutschen mit riesigen U-Booten Truppen an Land gebracht und New Jersey erobert. Ich hoffe, ich irre mich nicht. Mein Wissen über diesen Zeitkanal ist lückenhaft.« Ves steuerte die Limousine langsam durch die Straße. »Es fällt mir schwer, all das zu glauben«, gestand er. »Ich meine, ich glaube Ihnen, aber es fällt mir schwer zu akzeptieren, daß es stimmt. Man hält die Vergangenheit für unveränderlich, selbst wenn man sie bereisen kann. Das Paradoxe des Mordes am eigenen Großvater und so weiter.« Als Ves verstummte, erklang in der Ferne das Stakkatohusten eines Maschinengewehrs. Sofort antworteten ihm mehrere Gewehre mit durchdringenden, knallenden Stimmen. »Sie müssen sich darüber klar werden, daß dies hier in keiner Hinsicht eine Zeitreise ist«, bemerkte Tatjana Petrowna, ohne sich um den fernen Lärm zu kümmern. »Ihre Vergangenheit – die Vergangenheit Ihrer Welt – ist tot und vorbei, unwiederbringlich verloren, soweit ich weiß. Diese Welt liegt hinter Ihrer Welt nicht zeitlich 207
zurück, sondern sie liegt rechts oder links davon. Passen Sie auf den Panzer auf!« Ves wich gerade noch rechtzeitig aus, um einem Zusammenstoß mit dem Panzer zu entgehen, der in diesem Moment zur rechten Hand um die Ecke rumpelte. Der Panzerturm drehte sich und schwenkte die Kanone auf sie ein, während sie vorbeischössen. Ves riß das Lenkrad scharf nach links, so daß der Wagen über den Bürgersteig der anderen Straßenseite hüpfte, und steuerte dann wieder scharf nach rechts, bis er die Ecke erreichte, wo er den Wagen nach links riß und das Eckhaus zwischen sich und den Panzer brachte, ehe er das Fahrzeug wieder in die Straßenmitte steuerte. »Sie sind ein guter Fahrer«, sagte die Gräfin ernst. Ihre Augen glänzten vor Erregung, aber ansonsten machte sie einen völlig gelassenen Eindruck. »Aber warum haben Sie sich nach links gewandt? Die Kanone des Panzers hat sich nach rechts gedreht, so daß wir direkt an ihr vorbei mußten, um in die Seitenstraße einzubiegen.« »Der Panzer kam von rechts«, erklärte Ves, »und ich dachte mir, am besten fährst du nach links, dann triffst du wenigstens keinen von seinen Freunden. Ich hielt es für eine gute Idee, so schnell wie möglich auf die linke Straßenseite zu steuern.« »Sie sind ein guter Denker«, nickte die Gräfin. »Das war ein Sherman-Panzer«, sagte Ves. »Ich habe mich eine Zeitlang mit alten Panzerfahrzeugen und Munition beschäftigt.« »So?« entgegnete Tatjana Petrowna. 208
»Also war es einer von unseren. Ich meine, ein amerikanischer Panzer.« »So? Ich hielt die Amerikaner immer für gute Schützen.« »Ich weiß, was Sie damit sagen wollen«, brummte Ves. »Aber es ist ein komisches Gefühl, vor den eigenen Leuten davonzulaufen.« Tatjana Petrowna nickte. »In der Tat«, bestätigte sie. »Ich kenne dieses Gefühl aus eigener Erfahrung.« Ves fuhr langsam, vorsichtig und ohne Scheinwerfer durch die Amsterdam Avenue in Richtung Stadtmitte. Die Morgendämmerung begann die Stadt zu erhellen, und Ves konnte allmählich die Gebäude, an denen sie vorbeikamen, besser erkennen. Hauptsächlich handelte es sich dabei um fünf- oder sechsstöckige rötlichbraune Sandsteinbauten, hier und da unterbrochen von Läden oder älteren, zwölfbis fünfzehnstöckigen Appartementhäusern. Jedes Fenster in jedem Gebäude war bis hoch zum dritten Stockwerk mit Brettern vernagelt. Klebestreifen und Sandsäcke schützten die Schaufenster, sofern sich in den Rahmen noch Scheiben befanden, und viele der Häuserfronten wiesen die Pockennarben von Gewehr- oder Maschinengewehrfeuer auf; ein paar größere Einschußlöcher deuteten auf Flugzeugkanonen hin, und gelegentliche Schutthaufen verrieten die Einwirkung von Bomben und Artillerie. Schwere Zerstörungen waren nur selten anzutreffen, aber der Zustand der meisten Gebäude offenbarte die bedauerliche Tatsache, daß irgendwelche Leute versuchten, irgendwelche andere Leute umzubringen.
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Tatjana Petrownas Hand umklammerte Ves' Schulter. »An den Bürgersteig und anhalten«, stieß sie hervor. »Schnell!« Ves lenkte den Wagen an die Bordsteinkante und trat auf die Bremse. Zwei Häuserblöcke weiter brummten mehrere Halbkettenfahrzeuge – Truppentransporter, wie Ves erkannte – um die Ecke und versperrten die Durchfahrt. Männer in feldgrauen Uniformen mit Stahlhelmen sprangen von den Lastern und entluden schwere Maschinengewehre, metallene Munitionskisten und Sandsäcke zur Errichtung einer Barrikade. Sie arbeiteten mit dem sicheren, instinktiven Geschick von Ameisen, die einen Ameisenhaufen anlegten, und die Barrikade nahm mit eindrucksvoller Geschwindigkeit Gestalt an, während Ves und die Gräfin zusahen. »Der Motor läuft noch immer«, bemerkte die Gräfin, »und wenn einer der Soldaten in unsere Nähe kommt, wird er ihn wahrscheinlich hören und nachschauen.« »Ich kann ihn abstellen«, erbot sich Ves, »und ich werde es auch, wenn es sein muß. Aber ich muß die Kühlerhaube öffnen, um ihn wieder zu starten, und das könnte Verdacht erregen. Lassen Sie uns ein paar Minuten hier sitzen und sehen, was geschieht.« Kurz darauf gesellte sich ein drittes Halbkettenfahrzeug zu den beiden ersten, und die Soldaten schwärmten aus und besetzten die Gebäude an der Straßenecke. Einige Fenster in den oberen Stockwerken wurden eingeschlagen, vermutlich, um den dort postierten Scharfschützen die Arbeit zu erleichtern. Dann tauchte ein Lastwagen auf und entlud
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Bauelemente aus Stahlbeton, die die Männer quer über die Straße aufstellten – von Bürgersteig zu Bürgersteig. »Eine Fertigbau-Panzersperre«, sagte Ves. »Ich schlage vor, wir verschwinden von hier«, erklärte Tatjana Petrowna. »Falls die Deutschen uns nicht schon vorher erschießen, werden sie uns über kurz oder lang eingemauert haben.« »Keine schlechte Idee, Gräfin«, stimmte Ves zu. »Wir müssen uns auf schnelle, entschlossene Weise davonmachen, ehe sie Gelegenheit haben, eines von diesen Gewehren auf uns zu richten.« Nachdenklich musterte er die Straße. »Ich denke, ein U-förmiges Wendemanöver und dann am Ende des Blocks scharf nach rechts…« Seine Planung wurde plötzlich von einem schrillen, mechanischen Kreischen unterbrochen, und das Fahrgestell eines propellergetriebenes Kampfflugzeuges tauchte über ihnen am Himmel auf. Schräg stieß es auf die von den Nazis besetzte Straßenecke hinunter. Das rhythmische Donnern von Explosionen übertönte alle anderen Laute, und Hunderte von stahlummantelten Kaliber-DreißigGeschossen zogen eine wandernde Schneise der Verwüstung über die Straße. Der Asphalt wurde in Stücke zerfetzt, bis nur noch schwarzer, staubiger Rauch übrigblieb; ein Hydrant platzte und schickte eine Wassersäule fünf Stockwerke hoch in die Luft; ein Auto detonierte in einem roten Feuerball; und ein Trupp deutscher Soldaten, für die letzten Sekundenbruchteile ihres Lebens zu einem Tableau gefroren, wirbelten wie Blätter durch den Kugelsturm und blieben in grotesken Stellungen an der Barrikade liegen. Dann war das Flugzeug vorbei und schraubte sich 211
über die Dächer in den stillen Himmel, aus dem es gekommen war. Die Halbkettenfahrzeuge standen unbeeindruckt inmitten der Zerstörung und wirkten unversehrt, aber von dem mittleren Gefährt stieg eine dünne schwarze Rauchsäule auf. Der linke Transporter hatte sich in einem sonderbaren Winkel zur Seite geneigt und gemahnte an ein Modellauto, das achtlos auf einer Miniaturstraße abgestellt worden war. Ein Offizier mit einem Dreispitz auf dem Kopf rannte aus dem sicheren Unterschlupf eines Eingangs und verfeuerte das Magazin seiner Pistole auf das entschwindende Flugzeug. Außer dem scharfen Bellen seiner Pistole und dem Rauschen des ausströmenden Wassers war es nach dem Angriff seltsam still auf der Straße. »Es gibt ein altes chinesisches Sprichwort über das zweifelhafte Vergnügen, in interessanten Zeiten zu leben«, murmelte Ves. »Ich frage mich, was sie von dem zweifelhaften Vergnügen gehalten hätten, durch interessante Zeiten zu reisen.« Er setzte den Wagen zurück und beschrieb langsam ein exakt U-förmiges Wendemanöver. Staub war der einzige Widersacher, der ihn daran zu hindern versuchte. »Ich hoffe, daß Es im Empire State Building noch immer zugänglich ist«, sagte Tatjana Petrowna. »Wenn nicht, stehen uns eine Menge Unannehmlichkeiten bevor.« »Ich hoffe nur, daß das Empire State Building noch immer an seinem Platz steht«, entgegnete Ves. »Wenn es noch nicht eingestürzt ist, werden wir schon einen Weg hinein finden; darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
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Nach zwanzig Minuten in ihrem gestohlenen Henry, die sie mit Anschleichen, Vorwärtstasten und Warten verbrachten, erreichten sie ihr Ziel. »Nun«, knurrte Ves, nachdem er den Wagen am Straßenrand geparkt hatte, »wo ist das Maschinchen?« »Oben«, antwortete die Gräfin. »Hoch oben, im Aussichtsturm.« »Das hätte ich mir denken können«, sagte Ves. »Hoffen wir, daß die Aufzüge funktionieren.« Sie stiegen aus und hasteten über den verlassenen Bürgersteig zum Gebäudeeingang an der Fifth Avenue. Eine der Türen war unverschlossen. Sie traten ein und gingen mit schnellen Schritten durch die langgestreckte Arkade zu den Aufzügen. »Ist Es das letzte Es vor unserer Ankunft im Hauptkanal?« fragte Ves. »Das vorletzte«, teilte ihm Tatjana Petrowna mit. »Aber das nächste ist weitaus leichter zu erreichen.« »Warum gibt es nicht ein Es, das direkt dorthin führt?« sagte Ves. »Der Sender kann nur eine Verbindung von einem Zeitkanal zum nächsten herstellen, wenn in beiden Zeiten die Grundlagen für seine Existenz gegeben sind«, erwiderte die Gräfin. »Haben Sie es nicht bemerkt?« »Es?« fragte Ves. »Nein, es.« »Ach, es«, brummte Ves. »Was bemerkt?« »Die Ähnlichkeit der Örtlichkeit auf beiden Seiten des Transfers«, erklärte sie.
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»Ah!« machte Ves. »Ja, natürlich. Jetzt, wo Sie das sagen …« »Woher und wohin?« erklang eine junge, entschlossene Stimme. Und dann, als wäre es dem Rufer erst nachträglich eingefallen: »Stehenbleiben!« Ves und die Gräfin erstarrten mitten in der Bewegung, und ein junger Corporal mit einem uralten Springfield-Gewehr trat aus einer Tür und richtete mit einer verlegen wirkenden Gebärde die Waffe auf sie. »Nähertreten und ausweisen«, befahl er. »Sehr gut, Corporal, bleiben Sie wachsam«, nickte Ves. Er trat einige Schritte nach vorn und senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Wir sind in geheimer Mission für das Manhattan-Projekt unterwegs. In streng geheimer Mission, um es genau zu sagen. Sie brauchen das Losungswort, natürlich. Das heutige Losungswort für Zivilisten der Klasse A ist Federbett. Und Ihre Antwort?« »Federbett?« fragte der Corporal mit unglücklich klingender Stimme. »Das ist nicht die Parole, die man mir genannt hat.« Er hantierte an dem Gewehr, als wüßte er nicht, ob er die Waffe weiter auf Ves richten oder sie ihm geben sollte. Schließlich entschied er sich dafür, das Gewehr zu präsentieren. »Das ist nicht das Losungswort?« fragte Ves erstaunt. »Sie sind doch für Geheimaufgaben abkommandiert worden, oder nicht?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, Sir.« »Nein? Aber was machen Sie dann hier?« Ves' Erstaunen war vollkommen. 214
Tatjana Petrowna berührte Ves' Arm. »Schließlich werden wir angegriffen«, erinnerte sie ihn. »Da kann schon einiges durcheinandergeraten – schiefgehen. Gewiß ist es nicht die Schuld des Corporals.« Sie wandte sich an den Soldaten. »Welches Losungswort hat man Ihnen genannt?« »Central Park«, antwortete der Corporal. »Und die Antwort muß Bronx Zoo lauten.« »Na also«, nickte die Gräfin und machte eine bezeichnende Geste. »Central Park! Zweifellos verstehen Sie jetzt…« »Natürlich«, versicherte Ves. »Hören Sie, mein Junge, benutzen Sie Ihr Losungswort, wenn Sie es mit Ihren Leuten zu tun haben – Armeeangehörige und so weiter. Aber wenn andere Leute auftauchen und Ihnen die Parole ›Federbett‹ nennen, dann denken Sie daran, daß die Gegenparole ›Kissen‹ ist. Ich werde dafür sorgen, daß bei der nächsten Wachablösung alle fünf Parolenklassen durchgegeben werden.« »Fünf?« wiederholte der Corporal. Inzwischen deutete sein Gewehr auf das Gemälde einer Waldnymphe an der Decke des Korridors, und er hielt die Waffe locker am Schaft fest. »Fünf«, bestätigte Ves. »Es ist ein komplizierter Krieg. Vielen Dank, Corporal. Halten Sie die Augen offen, es treiben sich deutsche Truppen in der Gegend herum. Funktionieren die Aufzüge?« »Ja, Sir«, erwiderte der Corporal. »Soweit ich weiß. Die Fahrstuhlführerin ist unten im Keller; klingeln Sie ruhig nach ihr.« 215
»Sehr gut, vielen Dank.« Und sie ließen den Wächter stehen und näherten sich den Fahrstuhlschächten. »Ich hatte ganz vergessen, daß es einst Fahrstuhlführer gab«, murmelte Ves. »Wo ich herkomme, da erledigt man das selbst.« »Eine wirkliche Demokratie«, kommentierte Tatjana Petrowna. Nachdem sie einmal geklingelt und lange Zeit geduldig gewartet hatten, kam der Aufzug. »Wohin soll's gehen?« fragte das Mädchen. »Ganz nach oben«, sagte Ves. »In Ordnung«, nickte das Mädchen fröhlich, schloß die Tür und ließ die Kabine mit jenem magenumdrehenden Ruck in die Höhe schießen, der für dieses Gebäude so charakteristisch war. »Aber im Hundertzweiten müssen Sie umsteigen; höher kann ich nicht fahren.« Als sie im 102. Stockwerk ausstiegen, stellten sie fest, daß der Turmaufzug nicht funktionierte, und so mußten sie die drei Etagen bis zum Aussichtsturm zu Fuß zurücklegen. Es war heller Tag, als sie die Plattform erreichten, achtzig Stockwerke über dem Nebel. Der Großteil der Stadt unter ihnen wurde von Bodennebel und niedrigen Wolken verhüllt. Im Osten und Süden stiegen schwarze Rauchwolken in die Höhe, aber es waren keine Einzelheiten zu erkennen. »Kommen Sie«, sagte Tatjana. Sie führte Ves zu einer bestimmten Stelle an der Richtung Stadtmitte gelegenen Seite des Turms und betätigte einen verborgenen Schalter. Die Klappe öffnete sich. 216
»Einen Moment«, bat sie und griff in die Nische, um den richtigen Knopf zu drücken. Dann schloß sie die Klappe wieder. »Nun?« brummte Ves. »Erledigt«, antwortete sie. »Woher, im Namen Minos', sind Sie gekommen?« erklang hinter ihnen eine Stimme. Sie drehten sich um. Ein Mann in einer blauen Toga mit goldenem Saum und eine Frau in einem Gewand in griechischem Stil, das ihre linke Brust unbedeckt ließ, standen Arm in Arm da und starrten Ves und die Gräfin an. Der Mann hielt eine automatische Pistole auf Ves' Gürtelschnalle gerichtet. Es war nicht mehr kalt, stellte Ves fest. Tatjana Petrowna griff nach Ves' Arm. »Dies ist der falsche Ort«, raunte sie in sein Ohr.
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17 Die Interkontinentalbahn endete am Jersey-Ufer des Hudson – oder zumindest wäre es in Nates Welt das Jersey-Ufer gewesen. Eine Fähre mit einem dampfbetriebenen Schaufelrad brachte sie von den Hoboken-Docks zum Battery-Park am Rande Manhattans. Um den Battery gruppierten sich eine Anzahl sauberer Ziegelhäuser, hinter denen sich mehrere Hektar gerodetes Land und ein dichter Wald ausbreiteten, der den ganzen Norden Manhattans bedeckte. »Das also ist Ihre Kolonie«, stellte Swift fest, betrat den Pier und betrachtete die hübschen, sauberen, geometrisch exakten Ziegelwände. Selbst die Lehmstraße schien frisch geschrubbt zu sein. »Hochanständige Farmer«, sagte Hamilton. »Jefferson wäre begeistert. Natürlich halten wir uns keine Sklavenarbeiter.« »Was dann?« fragte Nate Swift zweifelnd. »Indianische Arbeiter, die sich für ihre Götter abschuften?« »Reden Sie keinen Unsinn«, wies ihn Hamilton verächtlich zurecht. »Zugegeben, wir haben auf indianische Arbeiter zurückgegriffen, um die Interkontinentalbahn zu bauen; aber die verschiedenen Stämme und Völker, die daran beteiligt waren, betrachteten sie als ein Werkzeug der Götter und eine Einrichtung, die ihnen beim Handel und bei ihren Geschäften Vorteile bringen würde. Aber sie zu bitten, im Dreck herumzugraben und Mais für ihre Götter anzupflanzen, würde sie rasch ernüchtern, fürchte ich. Wir 218
würden dann zu ungöttlichen Methoden greifen müssen, um sie mit ihren Händen am Pflug zu halten.« »Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Sie selbst arbeiten«, sagte Swift. »Haben Sie noch nie von Pächtern gehört, Sir?« fragte Hamilton. »Das ist eine faire und ehrbare Möglichkeit, sich in einem neuen Land einzurichten, wenn man kein Eigenkapital besitzt.« Hamilton führte ihn quer über die Straße zu einer Taverne mit dem Namen Zum armen Richard und schob Swift durch die massive Eichentür. »Das ist eine Form der Sklaverei auf der Basis Land gegen Geld, nicht wahr?« bemerkte Swift. »Nein«, widersprach Hamilton und ließ es dann fürs erste gut sein, während sie sich auf der langen Holzbank neben der Tür niederließen und von einem knapp vierzehnjährigen Mädchen zwei große Bierkrüge aus Zinn serviert bekamen. Dann wandte er sich Swift zu und sah ihn scharf an, als wolle er sich dessen Gesicht genau einprägen. »Wir sind seit über einer Woche zusammen unterwegs«, sagte er, »und ich gestehe, daß Sie mir noch immer fremd sind. Meistens reden Sie wie ein vernünftiger Mensch, aber Sie scheinen einige sonderbare jakobinische Vorstellungen zu besitzen. Wenn ein Mann mittellos ist, warum sollte er dann nicht arbeiten, um etwas zu verdienen? Sollte man es ihm etwa einfach schenken? Aber wer würde das tun? Und von wem sollte es genommen werden, und warum?« »Ich glaube einfach nicht, daß man das Leben eines Menschen für eine bestimmte Anzahl von Jahren kaufen kann«, beharrte Swift.
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»Nicht sein Leben, Sir«, entgegnete Hamilton und schlug mit der Faust auf die Holzbank, »doch nicht sein Leben. Lediglich seine Arbeitskraft. Und sie müssen sie nicht verkaufen. Wir unterhalten keine Kopfjäger, die uns mit Zwangsarbeitern versorgen. Es gibt viele Leute in vielen alternativen Amerikas, die entzückt wären, wenn sie die Möglichkeit erhielten, hierher nach Georgeland zu gelangen. Die Rekrutierung ist nicht das Problem. Im Gegenteil, wir achten sehr sorgfältig darauf, das Wachstum unserer Kolonie zu dämpfen und es im Griff zu behalten. Wir hoffen, aus unseren Fehlern zu lernen.« »Georgeland?« echote Swift. »Georgeland?« Hamilton zuckte die Achseln; eine Geste, die, wie Swift inzwischen erkannt hatte, für ihn charakteristisch war. »Wir fühlten uns dazu verpflichtet«, antwortete er. »Obwohl ich befürchte, daß General Washington niemals etwas davon erfahren wird. Die erste Bedingung für eine Einladung in unsere Welt sind ernste Schwierigkeiten in der Heimatzeit; und in jedem Zeitkanal, in dem wir General Washington lebend vorfanden, ging es ihm ausgezeichnet.« Er leerte sein Bier und wischte den Mund an der gerüschten Manschette seines Hemdes ab. »Glauben Sie mir, Mr. Swift, unseren Pächtern geht es sehr viel besser als den Millionen, die sich an anderen Orten mit der stolzen Bezeichnung Vereinigte Staaten von Amerika freie Menschen nennen.« »Das streite ich nicht ab«, entgegnete Swift. »Und ich gebe zu, daß ich tief beeindruckt bin von Ihrer Kolonie und von Ihrer Rhetorik. Beide sind sehr hübsch und sauber.«
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»Nun, Sir«, brummte Hamilton, »wir sollten im Moment unsere politische Diskussion nicht weiter vertiefen. Trinken Sie Ihr Bier.« »Einverstanden, Sir«, nickte Swift und nahm einen tüchtigen Schluck aus seinem Krug. Das Bier war dick und vollmundig und schmeckte intensiv nach dem Korn, aus dem es gebraut worden war. Es hätte eine vollwertige Mahlzeit darstellen können, aber Swift widerstand der Versuchung, es als sein Mittagessen anzusehen. »Kann man hier irgend etwas zu sich nehmen?« fragte er. »Schon bestellt«, versicherte Hamilton. Und kurze Zeit später wurde aufgetragen: ein riesiges Tablett voller verschiedener Sorten Käse, Fleisch, Brot und Gemüse, das vom Wirt serviert wurde, einem kleinen, behenden Mann mittleren Alters, der Swift bekannt vorkam. »Alex«, rief der Wirt und streckte ihm eine große, schwielige Hand entgegen. »Willkommen daheim. Was gibt es Neues?« »Die Rekrutierung entwickelt sich gut«, antwortete Hamilton. »Die benötigten Vorräte sind gekauft oder bestellt. Nichts Neues von Burr.« Der Wirt wischte rituell die Hände an seiner Schürze ab. »Aaron Burr ist Ihre ganz persönliche Obsession und keine Angelegenheit der Kolonie«, erinnerte er Hamilton. »Was mich betrifft, ich habe den Mann immer gemocht.« Hamilton zuckte die Achseln. »Ich versuche nicht, Sie gegen Burr aufzuwiegeln«, sagte er, »sondern nur, ihm auf den Fersen zu bleiben.«
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Der Wirt nickte und nahm Hamilton und Swift gegenüber Platz. »Die Weisheit«, philosophierte er, »besteht aus der Kenntnis der eigenen Motive. Und wer ist dieser junge Mann? Ich glaube nicht, daß wir uns schon einmal begegnet sind.« Swift reichte ihm die Hand. »Nathan Haie Swift«, sagte er. »Es ist mir ein Vergnügen.« »Aha, er ist nach einem von uns genannt worden«, stellte der Wirt fest und ergriff die dargebotene Hand. »Wie George Washington Carver. Eine schöne Tradition. Ich bin Benjamin Franklin. Unglücklicherweise nicht Benjamin Franklin Sowieso, sondern nur Benjamin Franklin.« »Ah!« machte Swift und schüttelte die schwielige Hand. Da ihm außer diesem Ausruf keine weiteren geistreichen Bemerkungen einfielen, schwieg er, bis die Stille peinlich wurde. »Sie haben eine absonderliche Abneigung dagegen, mit dem Händeschütteln aufzuhören, wenn Sie einmal angefangen haben«, stellte Franklin fest. »Handelt es sich dabei womöglich um Ihre einzige sportliche Betätigung?« »Nein, nein«, stieß Swift hervor und zog hastig die Hand zurück. »Entschuldigen Sie.« »Ich habe einmal eine Händeschüttel-Maschine erfunden«, erinnerte sich Franklin. »Dachte, sie wäre von unschätzbarem Nutzen für die Politiker. Aber keiner hat sie je benutzt. Meinten, sie würde ihnen den direkten Zugang zum Wähler versperren. Ich sagte ihnen, daß dies ihr größter Vorteil sei. Politikern den direkten Zugang zu den
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Wählern zu verwehren ist an sich eine wünschenswerte Sache. Meinen Sie nicht auch, Alex?« »Ich muß jetzt gehen«, erklärte Hamilton und stand auf. »Dringende Geschäfte erwarten mich, aber ich komme zurück. Bitte, kümmern Sie sich während meiner Abwesenheit um Mr. Swift. Er hat ein sehr interessantes Problem, bei dem ihm Ihr Rat zweifellos hochwillkommen wäre. Ich bin überzeugt, daß Sie ihm weiterhelfen können.« Er lächelte so grimmig wie ein Schuldirektor, der seinen Schülern beweisen will, daß er Humor hat. »Ich überlasse Ihr beiderseitiges Schicksal nun Ihren beiderseitigen treuen Händen.« Und mit diesen Worten verließ er die Gaststube. »Ein Problem, eh?« brummte Franklin, während er sich erhob und seine Schürze ablegte. »Ein Problem … oder war das nur einer von Hamiltons Scherzen?« »Nein, Sir«, erwiderte Swift. »Ich habe ein Problem. Ich weiß nicht, ob Sie mir helfen können, aber ich habe ein Problem.« »Hervorragend!« rief Franklin. »Nichts hält den Verstand so wach und beweglich wie ein gutes Problem. Tier, Pflanze oder Mineral? Oder vielleicht etwas Seelisches? Kommen Sie, gehen wir in mein Büro und unterhalten wir uns bei einer Zigarre weiter. Connecticut-Breitblatt, eh?« »Nein, danke«, wehrte Swift ab und folgte Franklin durch die Gaststube in ein geräumiges Büro, das einen der schönsten und größten Schreibtische aus der Kolonialzeit enthielt, den Swift je gesehen hatte. »Ich rauche keine Zigarren.«
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»Sie rauchen nicht, nein?« sagte Franklin, nahm eine aus seiner Kiste und schnitt die Spitze sorgfältig mit einer goldenen Zigarrenschere ab. »Kann Ihnen das nicht verdenken.« Er holte eine Schachtel Schwefelhölzer aus einer Schublade und zündete mit einem seine Zigarre an. »Üble Angewohnheit. Sehr übel. Und auch gefährlich. Möchten Sie eine Tasse Bitterwurzeltee oder eine Sarsaparillalimonade? Was ist Ihr Problem?« Swift sah ihn offen an. »Ich spüre der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika nach.« »Das scheint mir nun doch eine reichlich intellektuelle Art des Zeitvertreibs zu sein«, bemerkte Franklin, lehnte sich auf seinem Holzstuhl zurück, faltete die Hände vor dem Bauch, legte den Kopf zur Seite und maß Swift mit einem nachdenklichen, bebrillten Blick. »Erstrecken sich Ihre Forschungen auf das Originaldokument oder auch auf die Schriften Voltaires, Piatos, Lao Tses und Hamhoteps?« »Meine Nachforschungen betreffen nicht die dahinterstehenden Ideen«, eröffnete ihm Swift, »sondern das Originaldokument. In meiner Welt hat jemand die Verfassung gestohlen; Pergament, Tinte, einfach alles.« Franklins Kinn fiel nach unten, und seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, als er den Blick auf seine Daumen richtete, die er über den gefalteten Fingern drehte. Eine Weile verharrte er in nachdenklichem Stillschweigen. Dann sagte er: »Faszinierend! Den ganzen Wisch, eh?« »Ja, Sir. Aus einer versiegelten, heliumgefüllten Vitrine.«
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»Helium, eh. Von der Sonne, wissen Sie. Helios ist das griechische Wort für Sonne. Ein Gas, nicht wahr?« Franklin erhob sich. »Natürlich, in gewisser Hinsicht besteht kein Grund zur Aufregung. Ich meine, niemand kann die Verfassung stehlen. Sie befindet sich in den Herzen und den Gedanken aller Amerikaner. Außerdem steht sie in Millionen von Schulbüchern. Aber in anderer Hinsicht ist es ein niederträchtiges Verbrechen. Frage mich nur, wie es dem Dieb gelungen ist. Die Vitrine ist nicht geöffnet worden?« »Soweit ich weiß, nein«, antwortete Swift. »Die Heliumatmosphäre in der Vitrine war zumindest unverändert.« Franklin starrte durch seine Brille ins Leere. »Unmöglich, wissen Sie. Zumindest Ihrer Beschreibung nach. Irgendein wichtiges Element fehlt. Das Unmögliche ist lediglich das ungenau beschriebene Mögliche. Schildern Sie mir den Hergang in allen Einzelheiten.« Swift erzählte Franklin die Geschichte des Austausches chronologisch und in allen Einzelheiten; Franklin hörte schweigend, mit geschlossenen Augen und stummen Lippenbewegungen zu. »Aha!« rief Franklin an einer Stelle. »Das ist es!« Aber da Swift gerade über Burrs Unterschrift sprach und es keinen Grund zu der Annahme gab, daß Burr den Diebstahl begangen hatte, war Swift nicht sicher, wie er Franklins Bemerkung verstehen sollte. »Und so«, schloß Swift seinen Bericht, »muß ich jetzt nicht nur die Verfassung, sondern auch meinen Freund Ves Romero finden. Wahrscheinlich steckt er in großen
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Schwierigkeiten und kann inzwischen überall sein. Oder irgendwann.« »Sie beide werden einander zwangsläufig wiederbegegnen«, versicherte Franklin. »Da Sie beide dasselbe Ziel verfolgen, wird Ihre Suche am selben Ort enden. Wobei ich den Begriff ›enden‹ nicht in seinem absoluten Sinne verstanden wissen will.« »Das hoffe ich auch«, murmelte Swift. »Nebenbei bemerkt, unsere Suche wird nur am selben Ort enden, wenn wir herausfinden können, wo dieser Ort liegt.« »Kein Problem«, entgegnete Franklin. »Ich weiß zwar nicht, wer Ihre, äh, spezielle Verfassung gestohlen hat, und warum. Aber ich glaube, ich weiß, wie der Diebstahl durchgeführt wurde und wo sich das Dokument jetzt befindet.« »Tatsächlich?« rief Swift erstaunt. »Das haben Sie alles aus meinen Worten erfahren?« »Deduktives Denken, mein Freund, mehr nicht«, sagte Franklin. »Und wenn mir das so leicht fällt, dann wird derjenige, bei dem Ihr Freund Rat sucht, ihm in ähnlicher Weise helfen können. Vielleicht kostet es ihn mehr Mühe, aber das Ergebnis wird identisch sein.« Er erhob sich und durchschritt den Raum. »Möchten Sie ein Stück Frühlingswurst?« fragte er. »Nach meinem eigenen Rezept zubereitet; eine Abwandlung der petite saucisse, die ich in einem kleinen Restaurant im Norden von Paris kennengelernt habe.« Er zog an einem dicken Glockenstrang, der neben der Tür hing, und ohne eine Antwort abzuwarten, schrie er: »Maryanne, Kind, bring uns etwas Wurst und Käse und
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zwei Krüge Bier in meine Werkstatt.« Dann winkte er Swift zu. »Kommen Sie«, sagte er. »Die Werkstatt liegt auf der anderen Seite des Hauses. Ich möchte Ihnen einige Dinge zeigen.« »Gern«, nickte Swift und folgte Franklin. »Aber wie wurde der Diebstahl durchgeführt, und wo befindet sich die Verfassung jetzt?« »Geduld«, bat Franklin. »Wer sich mit Geduld bescheidet, dem wird das Warten, äh – etwas, das sich auf ›bescheidet‹ reimt, und wenn auch nur annähernd, wäre nett. Wird das Warten nicht verleidet… Wird das Warten nicht angekreidet… Wird landauf, landab beneidet… Das beste ist, ich überschlafe das noch einmal; es ist noch nicht ganz druckreif. Wie dem auch sei, gleich werde ich Ihnen zeigen, wie der Diebstahl durchgeführt wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach. Mit fast absoluter Sicherheit. Ich sehe zumindest keine andere Möglichkeit. Und das dürfte Ihnen genügend Hinweise auf den Verbleib der Verfassung liefern.« Franklins Werkstatt war in einem Anbau an der Rückseite des Hauses untergebracht, der nach seinem Aussehen zu urteilen einst als Stall gedient hatte. Die unbeschreibliche Unordnung, die in dem großen Raum herrschte, löste Assoziationen an ein Labor nach einem mißglückten Experiment, an die Werkstatt eines Alchemisten und an einen Trödelladen aus. Ein riesiger Franklin-Ofen beherrschte die Mitte des Raums; seine Ofenröhre knickte auf dem Weg zu der Öffnung in der Decke dreimal rechtwinklig ab. Drei große Tische waren in einem Dreieck um den Ofen gruppiert, und die Tische waren derart mit 227
zahllosen Utensilien überladen, daß ein vierter, zusätzlicher Tisch neben der Tür aufgestellt worden war, damit Franklin einen Platz zum Arbeiten hatte. »Was, zum Teufel, ist das?« fragte Swift und deutete auf ein Gebilde auf dem Tisch zur Rechten, das an eine Kreuzung zwischen einer Orgel und einer Nähmaschine gemahnte. »Eine meiner Erfindungen«, erklärte Franklin stolz. »Eine dampfgetriebene Schreibmaschine mit auswechselbaren Schrifttypen. Wenn ich sie erst einmal perfektioniert habe, wird sie weitaus handlicher sein. Ich bin der Herausgeber der einzigen Zeitung der Kolonie, der Thursday Evening Post, ein wöchentliches Periodikum.« »Braucht man für eine Zeitung nicht eher eine Druckmaschine statt einer Schreibmaschine?« fragte Swift. »Nicht, daß ich im Journalismus sehr bewandert bin …« »Nur nicht so schüchtern«, ermunterte ihn Franklin. »Schreiben ist der einzige Beruf, in dem sich jeder per Geburtsrecht für einen Experten hält, ob nun mit oder ohne Ausbildung. Das gilt sowohl für die technischen, als auch für die kreativen Aspekte.« Er ging zu dem Apparat und hämmerte mehrmals dagegen. »Ich würde Ihnen die Funktionsweise gern demonstrieren, aber es dauert eine halbe Stunde, bis der Dampf genügend Druck erzeugt. Um auf Ihre Frage zurückzukommen, die ich wohl gehört habe – ich habe eine Variante des Seidensiebdruckverfahrens entwickelt, um mein Journal herzustellen. Die Lettern werden direkt auf ein spezialbehandeltes Gittersieb gesetzt, das dann in einen Rahmen eingespannt wird. Wenn
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der Rahmen mit dem Papier in Kontakt kommt, läuft die Druckerschwärze durch die Maschen des Siebs, und nur die Buchstaben werden ausgespart.« Franklin gestikulierte, während er den Prozeß beschrieb, und Swift konnte fast sehen, wie die Druckerpresse aus der Luft entstand, als Franklins flinke Hände ihre Umrisse nachzogen. »Nun zu Ihrem Problem«, fuhr Franklin fort. »Kommen Sie, und schauen Sie sich das einmal an.« Er führte ihn durch den Raum zu dem entferntesten Tisch und deutete auf ein kleines, kugelförmiges Gewirr aus Drähten, Röhren, Spulen, Keramikteilen und sorgfältig geschnitzten Elfenbeingebilden. »Wunderschön«, sagte Swift bewundernd. »Wozu ist das gut?« »Dieser Apparat ist ein Extemporal-Sender«, erklärte Franklin. »Er bewegt Objekte von hiernach dort; oder besser: von dann nach wann. Wie läßt sich das bei einer Maschine, die seitwärts durch die Zeit reist, schon genau ausdrücken?« »Sie haben das erfunden?« fragte Swift. Franklin schüttelte den Kopf. »Einer meiner Urenkel stellt sie in verschiedenen Zeitkanälen her, aber ich weiß nicht einmal, wie sie funktioniert. Ich habe mir dieses Gerät hier besorgt, um herauszufinden, wie es arbeitet, was es alles leisten kann und vor allem, von welcher Kraft es angetrieben wird. Eine äußerst mysteriöse Angelegenheit. Aber wir machen langsam Fortschritte. Vor allem hinsichtlich der Leistungsfähigkeit dieser Maschine. Nach welchem Naturgesetz sie funktioniert und woher sie ihre
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Energie bezieht – sofern sie überhaupt Energie bezieht –, sind noch immer ungelöste Fragen, zumindest für mich.« Das junge Mädchen, das im Schankraum bedient hatte, öffnete die Tür der Werkstatt und kam mit einem Zinntablett voll Brot, Wurst, Käse und einem Krug Bier herein. Sie stellte es auf dem nächsten Tisch ab, brachte unter ihren Armen zwei kleinere Krüge zum Vorschein und polierte sie mit einem Tuch, bevor sie sie daneben stellte. Dann machte sie einen Knicks und ging wieder hinaus. »Ein gutes Mädchen, diese Maryanne«, brummte Franklin und füllte die beiden Krüge. »Bringe ihr das Lesen bei. Es gibt Männer, die sich nicht damit aufhalten, einem Mädchen das Lesen beizubringen, aber ich gehöre nicht dazu.« Swift, der bereits bedauert hatte, im Schankraum die Gelegenheit zum Essen nicht wahrgenommen zu haben, belegte sich ein großes Sandwich und biß hungrig hinein. »Die Verfassung«, erinnerte er Franklin, »und der Extemporal-Sender.« »Ja«, nickte Franklin. »Lassen Sie mich meine Gedanken sammeln.« Er schloß die Augen, spitzte die Lippen, und seine Hände malten Universen in die Luft. Dann öffneten sich seine Augen wieder. »Ich werde es Ihnen zeigen.« Er wühlte auf dem Tisch herum, griff nach mehreren kleinen Gegenständen und legte sie wieder beiseite, bevor er sich schließlich für einen Steinkäfer von der Größe eines Daumennagels entschied. »Ein Skarabäus«, erklärte er. »Bei den Ägyptern galt er als heilig. Ich habe ihn von einem Franzosen bekommen, der ihn in einem Grab gefunden hat. Soll über dreitausend Jahre alt sein. Das müßte genügen.« 230
Er schob den Skarabäus in die Maschine auf dem Tisch. »Das ist eine andere Anwendungsmöglichkeit, wissen Sie«, sagte er. »Gewöhnlich wird Es in ein sehr altes, sehr großes und sehr massives Objekt eingebaut – was auch bei diesem Apparat der Fall war, als ich ihn entdeckte. Wer die Maschine dann benutzt, wird von ihr auf irgendeine Weise zu demselben Objekt in einem anderen Zeitkanal versetzt.« »Selbst wenn sich dieses Objekt nicht an derselben Stelle befindet?« fragte Swift. »Offenbar«, bestätigte Franklin. »Spätestens nach Ihrer zeitlosen extemporalen Reise mit Hamilton quer über den ganzen Kontinent müßte Ihnen das klargeworden sein. Wichtig ist, daß die beiden Objekte identisch sein müssen; es scheint keine Rolle zu spielen, wo sie sich befinden. Nun, ich habe die Einstellung jetzt so geändert, daß nicht wir von Objekt zu Objekt reisen, sondern daß die Maschine dieses Objekt gegen das identische Objekt aus einem anderen Zeitkanal austauschen wird. Passen Sie auf.« Franklin legte einen Schalter an der Maschine um … …und nichts geschah. Der Skarabäus blieb an seinem Platz und veränderte sich nicht im geringsten. »Es hat nicht funktioniert«, stellte Swift fest und versuchte seine Enttäuschung zu verbergen. Einen Moment lang hatte er Möglichkeiten gesehen, die erklären konnten … »Natürlich hat es funktioniert«, beharrte Franklin. »Wie wollen Sie denn feststellen, ob zwei identische Objekte den Platz getauscht haben?« 231
»Nun, woher wissen Sie denn, daß es funktioniert hat?« entgegnete Swift. »Leicht zu beweisen«, erklärte Franklin. »Warten Sie einen Augenblick – die Maschine scheint eine kurze Erholungszeit zu benötigen, ehe man sie wieder benutzen kann.« Swift verzehrte sein Sandwich, trank sein Bier und versuchte seine Ungeduld zu zügeln. »Das reicht«, murmelte Franklin nach einer Weile, die Swift mehr als ausreichend erschien. »Und jetzt Achtung!« Er nahm einen Holzhammer von einem Haken an der Wand und schlug damit auf den winzigen Skarabäus ein. Der Käfer zerbarst in genug Stücke, um jede Ähnlichkeit mit seiner früheren Form zu verlieren. Nichts deutete jetzt mehr darauf hin, daß es sich bei ihm je um etwas anderes als ein Häufchen Stein und Staub gehandelt hatte. »Und was soll das beweisen?« fragte Swift, schockiert von der plötzlichen Zerstörung. »Geduld«, verlangte Franklin und hängte den Holzhammer wieder an seinen Haken. Erneut legte er den Schalter um … …und der Skarabäus war wieder unversehrt. Swift starrte ihn an. Er hob ihn auf und betrachtete ihn von allen Seiten. »Er sieht genau wie vorher aus«, stellte er fest. »Mehr noch«, sagte Franklin, »er ist wie vorher. Es ist dasselbe, einzigartige Objekt. Irgendwo in einem anderen Zeitkanal, in irgendeinem Grabmal am Nil oder in der Vitrine eines Ägyptologischen Museums liegt jetzt ein 232
kleines Schutthäufchen, das vor ein paar Sekunden noch ein Steinskarabäus war.« »Ha!« machte Swift. »Sie verstehen?« »Was?« fragte Swift. »So ist auch Ihre Verfassung gestohlen worden«, sagte Franklin triumphierend. »Deshalb lag in der Vitrine plötzlich eine alternative Ausgabe, die sich bis auf die Diskrepanz bei den Unterschriften als echt erwies. Es muß dasselbe Pergament gewesen sein, auf dem auch Ihre Verfassung niedergeschrieben wurde.« »Ha!« machte Swift wieder. »Das klingt gut. Ja, das gefällt mir. Ich glaube es. Aber – warum? Warum sollte jemand unsere echte Verfassung gegen eine andere echte Verfassung austauschen? Es ergibt noch immer keinen Sinn, auch wenn ich jetzt weiß, wie der Austausch vorgenommen wurde.« »Das mag sein«, gab Franklin zu, »aber zumindest schränkt das die Zahl der Verdächtigen erheblich ein. Mit fast an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit steckt jemand vom Hauptkanal dahinter. Niemand sonst könnte gewußt haben, daß man Es für solche Zwecke benutzen kann, und niemand sonst hätte die Möglichkeit, ein Es für diesen Zweck in die Hände zu bekommen.« »Sie haben eins«, bemerkte Swift. »Ja, das stimmt. Aber ich bin einzigartig«, erwiderte Franklin. »Und ich habe ganz gewiß nicht irgendwelche Ausgaben der Verfassung der Vereinigten Staaten miteinander vertauscht.« 233
Tief in Gedanken versunken verschlang Swift sein zweites Sandwich. »Ich muß zum Hauptkanal«, erklärte er und wischte sich mit dem großen Leinentuch, das auf dem Tablett lag, die Krümel vom Mund. »Natürlich, mein Sohn«, nickte Franklin und musterte die Überreste ihrer Mahlzeit. »Soll ich Ihnen etwas Verpflegung einpacken?« »Sie meinen, es ist so einfach?« fragte Swift. »Natürlich, jetzt, wo Sie hier sind«, versicherte Franklin. »Wir haben eine direkte Es-Verbindung zum Hauptkanal hier in Manhattan. Sagen Sie nur Bescheid, wenn Sie aufbrechen wollen.« »Nun«, brummte Swift, »ich verstehe. Hm. Gibt es irgend etwas, das ich wissen müßte? Ich meine, gibt es irgend etwas, das Sie mir über den Hauptkanal oder seine Einwohner erzählen können, was mir vielleicht hilft?« »Was meinen Sie?« entgegnete Franklin. »Nun, zum Beispiel: Was gilt dort als Schwerverbrechen? Wird man zum Tode verurteilt, wenn man auf die Straße spuckt oder es wagt, einer unverheirateten Frau ins Gesicht zu schauen? Verstößt es gegen das Gesetz, ohne Rollschuhe die Hauptstraße zu betreten? Betrachten die Leute einen bartlosen Mann als einen Frevel an der Natur? Derartige Dinge.« »Das sind wichtige Fragen«, nickte Franklin. »Lassen Sie mich überlegen… Nun, die Menschen dort sind so verschiedenartig, so eigensinnig und so blasiert, daß fast jeder Aufzug und jedes Verhalten, das keine Gefahr für Leib und Leben anderer 234
darstellt, von ihnen akzeptiert wird. Ihr unangenehmster Charakterzug ist – wenn man mich fragt – daß sie sich einen verdammten Dreck um ihre Mitmenschen scheren. Solange das bedeutet, daß sie nicht neugierig sind und ihre Nase nicht in die Angelegenheiten anderer Leute stecken, ist das durchaus lobenswert; aber wenn das bedeutet, daß sie ungerührt an der Stelle vorbeigehen, wo man gerade in Treibsand versinkt, ohne daß sie auch nur daran denken, einem die Hand zu reichen, so läßt sich dieses Verhalten nur als schädlich bezeichnen.« »Aber auch als harmlos, solange man sich von Treibsand fernhält«, warf Swift ein. »Ich befürchte, es wird ihre Gesellschaft zerstören«, sagte Franklin. »Aber solange sich der Zusammenbruch nicht während Ihres Aufenthaltes ereignet, dürfte Ihnen daraus kein Schaden erwachsen, das stimmt.« »Ich werde alle philosophischen Einwände unterdrücken müssen, bis ich die Verfassung gefunden habe«, murmelte Swift. »Sie sind ein sehr pflichtbewußter Mann«, lobte Franklin. »Ausgezeichnet. Ich bewundere Sie.« »Ich würde nach einer Woche in der Koje des Zugabteils heute nacht gern in einem Bett schlafen. Und morgen werde ich zum Hauptkanal aufbrechen.« »Mein Gasthaus steht Ihnen zur Verfügung«, erklärte Franklin. »Gehen Sie jetzt, und sagen Sie Maryanne, daß sie Ihnen Zimmer Sechs geben soll, und dann legen Sie sich schlafen. Aber bevor Sie morgen gehen, kommen Sie
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noch einmal zu mir; vielleicht gibt es noch einige Dinge, über die wir sprechen müssen.«
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18 Der togabekleidete Herr machte einen verwirrten Eindruck, aber die Mündung seiner Pistole deutete weiter auf Ves' Bauch. »Woher sind Sie gekommen?« fragte er. »Und warum sind Sie so angezogen?« »Sagen Sie etwas Überzeugendes«, flüsterte Tatjana Petrowna Ves zu, das Gesicht von dem fremden Paar abgewandt. »Wir kamen gerade um die Ecke«, erklärte Ves und deutete auf die Biegung, die die Wand des Aussichtsturms links von ihnen beschrieb. »Können Sie uns von hier wegbringen?« wisperte er der Gräfin zu. »Erst in zehn oder fünfzehn Minuten«, murmelte sie, »die Maschine muß sich erst wieder erholen. Unterhalten Sie sich weiter mit ihnen.« »Um die Ecke?« fragte der Mann. »Warum sind Sie so angezogen? Gehören Sie nicht zur Reisegruppe?« »Reisegruppe?« echote Ves. »Was für eine Reisegruppe?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Offenbar nicht«, schloß er. Die barbusige junge Dame zerrte am Arm des römischen Herrn. »Komm schon, Harry«, drängte sie. »Wir müssen noch die ganzen Passagiere einweisen.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Vielleicht sind es Dergs«, argwöhnte er. Es klang wie »Dergs«. 237
»Es sind keine Dergs«, widersprach die Frau. »Schau sie dir doch an. Und jetzt komm, wir müssen uns beeilen – die Dergs sind wahrscheinlich schon auf halbem Weg hinter uns.« »Wir hätten nie hierherkommen sollen«, brummte der Mann. »Ich habe ihnen gesagt, daß das eine törichte Idee ist. Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Hilfesuchend sah er die Frau an. »Ich weiß es nicht«, entgegnete sie. »Und es interessiert mich herzlich wenig, was du machst, aber unternimm etwas. Wir müssen die Gruppe an Bord bringen und von hier verschwinden.« »Verdammt«, fluchte der Mann inbrünstig. »Hören Sie«, wandte er sich dann an Ves und fuchtelte mit der Pistole. »Was haben Sie hier zu suchen?« »Wir waren auf der Flucht vor den Dergs«, antwortete Ves. »Es gab für uns keinen anderen Ausweg.« »Ah«, machte der Mann. »Dann sind Sie keine Dergs?« »Ich versichere Ihnen«, sagte die Gräfin, »das sind wir auf keinen Fall.« »Schau sie dir doch an«, zischte die römische Dame. »Und jetzt weg von hier. Sie sind keine Dergs. Wir müssen zurück zum Schiff.« »Du hast recht«, nickte der Mann. »Sie haben bestimmt eine interessante Geschichte zu erzählen«, sagte er zu Ves. »Wir müssen uns später unterhalten.« »Und ob wir das müssen«, stimmte Ves zu.
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»Komm jetzt, Harry«, rief die Frau. Und sie zog ihn davon, um die Biegung des Aussichtsturms. »Dergs?« sagte Ves. Die Gräfin zuckte die Schultern. »Eine völlig fremde Welt; ich bin noch nie hier gewesen. Schiff?« »Wie konnte das geschehen?« fragte Ves. »Ich meine, wie kommt es zur Existenz dieser völlig fremden Welten?« »Ich kann Ihnen sagen, was geschehen ist«, entgegnete die Gräfin. »Aber was das wie betrifft – das läßt sich nur mathematisch ausdrücken, und diese Sprache beherrsche ich nicht.« »Können wir jetzt weiter?« erkundigte sich Ves. »Die Dergs – was auch immer sie sein mögen – kommen näher.« »Geduld«, verlangte die Gräfin. »Wenn ich den Knopf zu früh drücke, wird die gesamte bisher akkumulierte Energie verpuffen, und dann müssen wir noch länger warten.« »Wieso hat es uns in diese Welt verschlagen?« rätselte Ves. »Es liegt an der Drift der Parallelwelten«, erklärte Tatjana Petrowna. »Wenn sich neue Welten an den Nexuspunkten bilden, werden die älteren weiter voneinander getrennt und ändern außerdem ihre Geschwindigkeit im Zeitstrom. Gelegentlich entfernen sich zwei so weit voneinander, daß eine dritte, die zuvor unerreichbar war, sich zwischen sie schiebt und zugänglich für den Sender wird.« »Ich verstehe das alles nicht«, klagte Ves. »Auf jeden Fall sind wir hier«, sagte die Gräfin. »Entspannen Sie sich, und genießen Sie den Aufenthalt.«
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»Hoffen wir, daß unser Aufenthalt nur kurz sein wird«, murmelte Ves und ließ sich auf einer der Holzbänke nieder, die an der Innenwand standen. »Ich würde lieber nicht erfahren, was ein Derg ist.« »Die Dergs«, ertönte eine hohe Stimme neben ihm, »sind schwarz und haben Beine.« Ves fuhr herum und entdeckte ein togabekleidetes Kind, das ihn mit ernstem Gesicht ansah. Das Kind rannte mit klappernden Sandalen davon. »Ein hervorragender Abgang«, rief Ves dem Kind nach, als es hinter der Biegung verschwand. »Noch ein paar Minuten, und wir können es versuchen«, sagte die Gräfin beruhigend. Sie setzte sich, öffnete die Reißverschlüsse ihrer Stiefel, zog sie aus und entblößte ein Paar hellroter Strümpfe. »Ich muß meine Füße für einen Moment atmen lassen«, murmelte sie. »Wer seine Füße gut behandelt, wird auch von seinen Füßen gut behandelt.« Eine Frau mit langen, blonden Haaren und in einem klassischen kretischen Kleid kam um die Ecke gelaufen. »Haben Sie einen fünfjährigen Jungen gesehen?« fragte sie. »Er ist in diese Richtung gerannt«, antwortete Ves und machte eine entsprechende Handbewegung. »Der Junge könnte sich verlaufen«, bemerkte die Frau und hastete weiter. Einige Momente später kam sie mit dem Jungen im Schlepptau zurück. »Ich denke, wir können es jetzt versuchen«, sagte die Gräfin, wackelte noch ein letztesmal mit den Füßen und schlüpfte dann wieder in ihre Stiefel. »Ihnen ist hoffentlich 240
klar, daß von diesem Zeitkanal aus die Kalibrierungskontrolle unwirksam ist und daß wir überall und nirgends landen können.« »Wollen Sie lieber auf die Dergs warten?« meinte Ves und zuckte zustimmend mit den Schultern. »Ich wollte Sie nur auf dem laufenden halten.« Tatjana Petrowna trat vor die verborgene Wandnische und öffnete sie. »He«, sagte der Römer mit der Pistole und bog um die Ecke, »was glauben Sie eigentlich, was Sie da tun?« »Sie holt sich nur ein Glas Wasser«, antwortete Ves aus dem Stegreif. »Kümmern Sie sich nicht um uns. Machen Sie ruhig mit Ihrer Führung weiter.« »Wir können das nicht zulassen, wissen Sie«, erklärte der Römer. »Schließen Sie die Klappe!« Tatjana Petrowna zögerte für einen Moment und kam dann dem Befehl nach. »So ist es gut«, nickte der Mann, »und jetzt folgen Sie mir. Die Zeit wird knapp, wissen Sie. Die Dergs können jeden Moment auftauchen! Kommen Sie, schnell!« Mit einem freundlichen, aber bestimmten Wink seiner Automatik trieb er sie an. »Hervorragend«, murmelte Ves der Gräfin zu. »Ein Fremdenführer mit einer Knarre. Was, zum Teufel, denkt er sich eigentlich dabei?« Ein plötzlicher Donnerschlag hallte durch den Raum. Ves fuhr herum und sah, wie der Römer seine Automatik in den Gürtel zurückschob. Ein großes Loch klaffte in der getarnten Klappe, die die Nische mit dem Es verschloß. 241
Die Klappe schwang knarrend auf, und kleine Bruchstücke und Splitter der Maschine fielen auf den Boden. »Uh«, machte Ves. »Jetzt weiß ich, was er sich dabei gedacht hat.« »Das könnte sich zu einem Problem entwickeln«, bemerkte die Gräfin mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. Der Römer trottete an ihnen vorbei. »Kommen Sie«, sagte er. »Hier haben wir nichts mehr verloren.« Ves und die Gräfin folgten ihm um die Wölbung des Aussichtsturms, und dort vor ihnen – auf dem einhundertfünfzigsten Stockwerk des Empire State Buildings – lag das Schiff: ein riesiges, silbernes, zigarrenförmiges Luftschiff von mehreren hundert Metern Länge und mit Passagiergondeln mit der Größe von Ballsälen, die dicht unter dem straffen Silberrumpf hingen. Die Spitze des Luftschiffs war irgendwo über ihnen am Turm vertäut, und von einer Tür im Aussichtsraum führte eine flexible Röhre zu einem Korridor im Innern des Schiffes. Der Mann wartete an der Tür. »Schneller, schneller«, drängte er. »Sie sind die letzten.« Tatjana Petrowna zuckte die Achseln. »Jetzt spielt es ohnehin keine Rolle mehr«, sagte sie. Gemeinsam betraten sie den Schlauch, der aus Seilen, Aluminiumbodensprossen und Stoffwänden bestand, die dünn wie Wurstpellen waren. Der Aluminiumkorridor im Innern des Luftschiffes, zwischen den gigantischen Gasbehältern, wirkte im Vergleich dazu beruhigend massiv.
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Nachdem sie länger marschiert waren, als es Ves vernünftig erschien, erreichten sie den ersten Leiterschacht; er führte senkrecht nach unten, und an seiner Seite war ein Schild befestigt: BRÜCKE & OFFIZIERSQUARTIERE – BETRETEN VERBOTEN. Ein Stück weiter lag der nächste mit der Aufschrift NUR FÜR BESATZUNGSMITGLIEDER. Dann der dritte: BUGMASCHINENRAUM – ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE VERBOTEN. Zehn Meter weiter gelangten sie an eine spiralförmige Wendeltreppe mit samtbeschlagenem Geländer und dem Hinweis ERSTER-KLASSE-KABINEN UND SALONS. »Sind wir erstklassig?« fragte Ves die Gräfin. »Etwa nicht?« gab sie zurück und stieg die Treppe hinunter. Sie mußten durch zwei Korridore, die von luxuriös ausgestatteten Kabinen gesäumt waren, ehe sie einen der Salons erreichten. Die wenigen Menschen, denen sie in den Korridoren begegneten, waren zumeist mit römischen Gewändern bekleidet und brachten ihnen nicht das geringste Interesse entgegen. Unter den derzeitigen Umständen konnten sie dafür nur dankbar sein. Die Couches im Salon waren so aufgestellt, daß man bequem durch die schräg angebrachten Bullaugen nach draußen sehen konnte, während man gemütlich neben seinem Nachbarn saß. Tatjana Petrowna und Ves ließen sich in einer Ecke des Salons nieder und verfolgten, wie Manhattan Island unter ihnen verschwand. »Was machen wir jetzt?« fragte Ves.
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»Wie witzig«, entgegnete die Gräfin. »Genau das wollte ich Sie gerade auch fragen. Ihnen ist klar, was geschehen ist?« »Was meinen Sie damit?« erkundigte sich Ves. »Die Zerstörung des Es«, antwortete sie. »Wir werden warten müssen, bis wir eine Gelegenheit finden, diesen Leuten zu entwischen und ein anderes Es zu suchen«, meinte Ves. »Und natürlich dürfen wir den Dergs nicht in die Hände fallen.« »Ich weiß nicht, ob das möglich ist«, widersprach sie. »Bedenken Sie, ich habe Ihnen gesagt, daß es erst seit kurzem eine Es-Verbindung zu dieser Welt gibt. Was extemporale Reisen anbelangt, so ist sie soeben existent geworden. Möglicherweise gibt es hier noch kein anderes Es. Möglicherweise war unser Es das einzige Es, mit dem diese Welt erreicht werden konnte.« »So etwas ist denkbar?« fragte Ves. »Ich denke gerade daran. Allerdings, meine Leute sind mehr oder weniger nur Trittbrettfahrer bei den Hauptkanalern; wir kennen noch nicht alle Gesetzmäßigkeiten. Aber ich habe gewisse Geschichten gehört…« »Wundervoll«, knurrte Ves. »Ich frage mich, wie Nate zurechtkommt. Bedeutet dies, daß wir hier gestrandet sind?« »Das würde ich nicht sagen«, erwiderte die Gräfin. »Sobald auch andere Es in der Lage sind, eine Verbindung zu dieser Welt herzustellen, wird es auch Hauptkanaler oder andere Leute nach hier verschlagen. Wahrscheinlich werden sie umgehend wieder verschwinden, aber die 244
Maschine bleibt. In etwa einem Jahr sollte es uns gelingen, ein anderes Es aufzuspüren, wenn wir beharrlich danach suchen. Ja, ich bin überzeugt, daß es nicht länger als ein oder zwei Jahre dauern wird.« »Wundervoll«, murmelte Ves. »Sofern wir nicht vorher von den Dergs gefressen werden.« »Was sind Dergs?« fragte die Gräfin. »Ich habe Sie zuerst danach gefragt«, erinnerte Ves. »Was sind Dergs, und wer sind diese Leute? In welchem alternativen Zeitkanal befinden wir uns?« »Meinen Sie das philosophisch, meine Freunde«, ertönte hinter ihnen eine rauhe, bedächtige Stimme, »oder handelt es sich dabei um eine tatsächliche Frage?« Sie drehten sich um. Ein kleiner Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war, kam durch den Gang auf sie zu. Er besaß dunkle, stechende Augen unter buschigen Brauen und machte einen hochintelligenten und freundlichen Eindruck. »Willkommen an Bord der Titanic«, fuhr er fort. »Man hat mir gesagt, daß Sie zu uns gestoßen sind.« »Der Titanic?« wiederholte Ves verblüfft. »So ist es«, nickte der Mann. »Der Name steht in großen Lettern auf dem Rumpf. Sie gehört zur Forschungsflotte des Hauptkanals und ist ein Schwesterschiff der H.F.F.S. Mary Celeste, der Morro Castle, der Kichemaru, der Lusitania, der Normandie und der Andrea Doria; waren das zehn?« »Nein«, entgegnete Ves. »Acht, glaube ich – nein, sieben.«
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»Nun, wie dem auch sei, es gibt zehn davon. Wunderschöne Schiffe, falls man etwas für die Luftfahrt übrig hat. Noch einmal: Willkommen an Bord.« Der Mann machte eine weit ausholende Handbewegung. Er trug einen schwarzen Anzug, der aus einer engen, in hohen Stiefeln steckenden Hose und einer Jacke mit vielen Knöpfen und kurzem, geschlitztem Rockschoß bestand. Sein Hemd war blau, gerüscht und am weichen Kragen mit einer schwarzen, schmalen Krawatte geschlossen. Alles in allem ein Bild modischer, aber unaufdringlicher Eleganz. »Ich bin hier, um Ihnen einige Fragen zu stellen«, erklärte der Mann, »und um Ihre Fragen zu beantworten, falls Sie welche haben; ein faires Angebot, wie Sie zugeben müssen.« »Ich bin Ves Romero«, stellte sich Ves vor, »und das hier ist die Gräfin Tatjana Petrowna Obrian. Wir freuen uns, Ihre Gäste zu sein. Was sind Dergs?« »Kleine, stumpfsinnige Biester mit flachen Blechhelmen«, erwiderte der Mann. »Und das ist alles, was wir über sie wissen, abgesehen von der Tatsache, daß sie Menschen umbringen. Warum sie das tun, haben wir bisher noch nicht herausfinden können.« Der Mann ließ sich ihnen gegenüber nieder. »Ich bin Colonel Burr, und ich bin der Kommandant dieser Expedition – die sich derzeit mit mäßiger Geschwindigkeit Richtung Heimat bewegt. Sie sind natürlich herzlich eingeladen, uns zu begleiten; in Anbetracht der Umstände gibt es keine andere Möglichkeit, die ich Ihnen guten Gewissens empfehlen könnte. Sind Sie mit dem Sender im Aussichts-
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turm auf diese Welt gelangt? Möchten Sie etwas Kaltes zu trinken, oder vielleicht Kaffee oder Tee?« »Kaffee«, sagte Tatjana Petrowna. »Ich bin ganz vernarrt in Kaffee. Mit Zucker und Sahne und vielleicht einem winzigen Schuß Cognac.« »Mit Vergnügen, Gräfin«, erklärte Colonel Burr. Er drückte einen kleinen roten Knopf über einem der Bullaugen, und ein Steward eilte herbei; der rote Teppichboden verschluckte das Geräusch seiner Schritte. »Kaffee, mein guter Wagner, und Cognac. Für mich einen Grog, und für den Herrn dort…« Der Steward sah Ves erwartungsvoll an. »Hm«, machte Ves. »Äh, Kaffee wäre eine gute Sache. Nur Kaffee. Mit Milch.« »Sehr wohl, Sir«, bestätigte der Steward und verließ lautlos den Salon. Er schien, wie Ves bemerkte, Pantoffeln zu tragen. »Eine Tradition der Luftschiffahrt«, erklärte Colonel Burr, bevor Ves eine entsprechende Frage stellen konnte. »Filzpantoffeln. Verringert die Gefahr von Funkenbildung. Wasserstoff ist leicht entzündbar.« »Sagen Sie mir«, warf die Gräfin ein, »wenn Sie von dem Extemporal-Sender gewußt haben, warum haben Sie ihn dann zerstört?« »Um zu verhindern, daß sich die Dergs seiner bemächtigen«, antwortete Colonel Burr. »Verwenden Sie inzwischen Helium für Ihre Luftschiffe?« fragte Ves.
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»Leider nicht«, entgegnete Colonel Burr. »Aus verschiedenen Gründen. Eine derartige Umrüstung würde die Hauptkanaler einige Mühe kosten, was ihnen nicht gefällt. Das ist der Hauptgrund. Der Wasserstoff verschafft uns einen um zehn Prozent größeren Auftrieb, und ich versichere Ihnen, er ist nicht gefährlich, solange man nicht zu sorglos mit Bomben oder Flammenwerfern umgeht.« »Sie sind vom Hauptkanal!« rief die Gräfin, als sie begriff. »Gott sei Dank!« Sie umarmte den kleinen Colonel und küßte ihn auf beide Wangen. Er wirkte nicht im mindesten verlegen, sondern schien diese Behandlung zu genießen. »Ich muß mich entschuldigen«, sagte Colonel Burr, als ihn die Gräfin freigab. »Ich dachte natürlich, Sie wüßten es, oder ich hätte es bestimmt erwähnt. Die Titanic ist ein Hauptkanalschiff. Ihren Namen hat sie dem eigentümlichen Humor dieser Leute zu verdanken. Der Kapitän dieses Schiffes, Captain Herrington, und die meisten Offiziere sind Hauptkanaler. Ich selbst bin wie die meisten meiner Leute Expatriierter oder Flüchtling, wenn Sie diesen Ausdruck vorziehen.« »Sie sind doch nicht in irgendeiner Weise mit Aaron Burr verwandt, oder?« fragte Ves argwöhnisch. »Mein lieber Freund, ich bin in der Tat ein sehr enger Verwandter Aaron Burrs«, erwiderte der Colonel, »und zwar bin ich es höchstpersönlich.« »Nun«, brummte Ves. »Dann ist es mir eine Ehre, Sir, eine große Ehre.« Er schüttelte Colonel Burr feierlich die Hand. »Ich habe Sie gesucht.«
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»Was Sie nicht sagen«, entgegnete Colonel Burr vorsichtig. »Und jetzt haben Sie mich gefunden. Ich hoffe, Sie haben weder einen Haftbefehl noch eine Vorladung für mich, denn ich kann Ihnen versichern, daß man mich nicht ausliefern wird.« »Nichts von alledem«, wehrte Ves ab. »Soweit ich weiß, ist mein Interesse an Ihnen rein freundschaftlicher Natur. Ich habe Ihnen eine interessante Geschichte zu erzählen, wenn Sie mir zum Ausgleich einige Informationen geben, die Sie – wie ich vermute – besitzen.« »Ich liebe Geschichten«, erklärte Burr und ließ sich in seinen Sessel sinken. »Beginnen Sie!« »Einen Moment noch«, bat Tatjana Petrowna. »Zuerst verraten Sie uns, wo wir sind und wie wir zurück zum Hauptkanal kommen.« »Wir fliegen in mittlerer Höhe über Terra Incognita, das man in einer anderen Welt als New Jersey bezeichnen würde. Wir kehren zum Hauptkanal zurück, indem wir den Schnittpunkt gewisser magnetischer Kraftfeldlinien aufsuchen, wenn ich es recht verstanden habe, wo unser Captain dann einen Knopf drücken oder einen Hebel umlegen oder einen Schalter betätigen wird, und dann transportiert uns unser Es zum Hauptkanal.« »Warum sind Sie hier?« fragte Ves. »Eine Expedition«, antwortete Colonel Burr. »Nur nicht in dem grimmigen, ernsten Sinn, in dem dieses Wort gewöhnlich gebraucht wird. Es ist mehr eine Art Ausflug für die Hauptkanaler – sie hatten in diesem neuen Kanal keine Schwierigkeiten erwartet. Es handelt sich offenbar 249
um einen Sektor, in dem die Veränderungsmuster genau kartografiert sind.« »Was ist geschehen?« sagte Ves. Colonel Burr schüttelte den Kopf. »Die Dergs«, erklärte er. »Sie sind etwa einen Meter groß und scheinen eine wenn auch geringe individuelle Intelligenz zu besitzen, wie Ameisen. Aber sie erhalten ihre Befehle von woanders her – möglicherweise über die Blechhelme. Sie bringen Menschen um. Vielleicht verspeisen sie sie auch, aber das wissen wir nicht genau. Wir nehmen an, daß sie nicht von diesem Planeten stammen.« »Wenn das hier geschehen konnte, wird es dann auch woanders geschehen?« fragte Ves. »Ich meine, in anderen Zeitkanälen?« Burr zuckte die Schultern. »Dafür gibt es keine Anzeichen«, entgegnete er. »In diesem Zeitkanal ist es etwa neunzehnhundertfünfunddreißig. Wenn Sie in Ihrem Kanal das Jahr neunzehnhundertfünfunddreißig hinter sich haben, brauchen Sie sich meiner Meinung nach keine Sorgen mehr zu machen. Wir werden uns näher damit befassen, sofern uns die Hauptkanaler die Erlaubnis geben.« »Ist es nicht auch in ihrem Interesse?« sagte Ves. »Das sollte man annehmen«, brummte Burr. »Aber sie finden es bequemer, das ganze Gebiet zu sperren. Was ihre Zeitkanäle angeht, sind diese Hauptkanaler sehr konservativ.« Der Steward betrat lautlos den Raum und servierte die Getränke. Dann schlich er wieder davon. 250
»Auf Ihr Wohl«, prostete Colonel Burr und hob sein Glas. »Und auf Ihres, Gräfin.« Er trank einen Schluck. »Und jetzt zu dieser Geschichte, die Sie mir erzählen wollten …« »Haben Sie die Verfassung der Vereinigten Staaten unterschrieben?« fragte Ves. Burr sah ihn seltsam an. »Nein, Sir«, antwortete er. »Ich war zu dieser Zeit in New York. Die Verfassung wurde von den Abgeordneten in Philadelphia formuliert und unterzeichnet. Der fertige Text sah eine weit größere Zentralisierung der politischen Macht vor, als ich es für richtig gehalten hatte.« »Hätten Sie denn die Verfassung unterschrieben?« insistierte Ves. »Man hat mich nicht gefragt«, fauchte Burr. Aber dann sah er nachdenklich drein, preßte seinen Daumen an die Nase und starrte eine Zeitlang ins Leere. »Ich hätte den Text geändert, wenn es möglich gewesen wäre«, erklärte er, »zumindest in einigen Details. Aber ich hätte ihn, so wie er dastand, unterschreiben können, ohne meinen Stolz und mein Ehrgefühl zu verletzen.« »Sie haben es, Colonel, Sie haben es«, eröffnete ihm Ves. »Wie das?« »In einem dieser alternativen Zeitkanäle hat Aaron Burr die Verfassung der Vereinigten Staaten anstelle Alexander Hamiltons unterschrieben.« »Ohne Änderungen?« fragte Burr. »So wenig Einfluß habe ich gehabt? Ah, nun … Weiß Hamilton davon? Es 251
wird dem armen Alex das Herz brechen, wenn er das hört. Wie haben Sie davon erfahren?« Ves erzählte ihm die ganze Geschichte der vertauschten Verfassung und der dadurch entstandenen Verwicklungen. Burr nippte hin und wieder an seinem Glas, und der abwesende Blick seiner Augen verriet, daß er sich mit irgendwelchen geheimen Gedanken beschäftigte, aber Ves zweifelte keinen Moment daran, daß er jedes Wort hörte und sorgfältig abwog. Burr war ein hervorragender Zuhörer; es bestand kein Zweifel daran, daß es ihn interessierte und daß er jedes Wort so ernst nahm wie er selbst. Wenn man Burr von einem Problem erzählt hatte, fühlte man sich erleichtert; es interessierte ihn, er lauschte teilnahmsvoll, er stellte intelligente Fragen, und man konnte sicher sein, daß das Problem schon halb gelöst war. Ves spürte dies sehr deutlich, während er Colonel Burr Bericht erstattete; es war die Aura, die von dem Colonel ausging. Ves wußte, daß diese Aura von ihm ausging, weil es stimmte. Ves hätte nicht geglaubt, daß seine Geschichte so viel Zeit in Anspruch nehmen würde, aber unter dem Einfluß von Burrs geschickten Fragen war eine Stunde vergangen, bevor er Burr über alles informiert hatte. Lange Zeit, nachdem Ves geendet hatte, sagte Burr kein Wort, sondern saß einfach da, sah aus dem Bullauge und nippte an einem Grog, der bereits sein zweiter war. Schließlich schüttelte er traurig den Kopf. »Die Implikationen sind weitreichend«, murmelte er, »und nicht gerade angenehm für mich. Sie lassen ein völlig neues Bild entstehen – ich werde darüber nachdenken müssen.« 252
»Jedes Licht, das Sie in das Dunkel meines Problems bringen können, ist hochwillkommen«, sagte Ves. »Oh, Ihr Problem«, nickte Burr. »Ich nehme an, Sie meinen damit den Diebstahl der Verfassung. Das ist kein Problem. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Möglichkeiten; unsere Aufgabe ist es, die richtige auszuwählen. Dann gibt es natürlich noch das Problem, das Dokument wieder an seinen angestammten Platz zurückzubringen, sobald wir den Dieb ermittelt haben. Aber ich bin überzeugt, daß es auch dafür eine Lösung gibt.« Burr trommelte mit den Fingern auf den kleinen Tisch neben seinem Sessel. »Nein, es ist nicht der Diebstahl, der mir Kopfzerbrechen bereitet«, fuhr er fort. »Es ist die Tatsache, daß sie ausgerechnet die Verfassung als Beute erwählt haben, und es sind die Konsequenzen für Hamilton und mich.« »Es tut mir leid«, sagte Ves, »aber ich glaube, ich verstehe nicht, was Sie meinen.« »Wir sind eine Art Fetisch, wissen Sie«, antwortete Burr. »Wegen unserer Verknüpfung mit einem der wichtigsten Nexuspunkte in ihren parallelen Welten scheinen Hamilton und ich in den Augen der Hauptkanaler irgendwo zwischen willkommenen Gästen und kleinen Göttern zu liegen. Deshalb kann Hamilton auch in einer alternativen Welt seine eigene kleine Kolonie errichten und auf zwanzig weiteren ein Netz von Informanten unterhalten, ohne daß sie dazwischenfahren. Und deshalb kann ich auch an diesen Forschungsreisen teilnehmen – und gelegentlich übergeben sie mir sogar das Kommando über eine ihrer
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Expeditionen, damit sie Nutzen aus dem ziehen können, was ich ohnehin mache.« »Dann ist das Ihre Hauptbeschäftigung?« fragte Ves. »Der ich mich so oft wie möglich widme«, bestätigte Burr. »Außerdem lese ich viel. Stellen Sie sich vor, Sie sehen sich plötzlich zweihundertfünfzig Jahren Literatur gegenüber. Das allein dürfte mich eine Weile in Atem halten.« »Das kann ich mir vorstellen«, murmelte Ves. »Haben Sie Charles Dickens gelesen?« erkundigte sich Burr. »Ja, natürlich.« »Der Raritätenladen, Große Erwartungen, Harte Zeiten, Oliver Twist… Kennen Sie Lewis Carroll?« »Gewiß.« »Meine Begeisterung langweilt Sie?« »Nicht im geringsten. Die beiden gehören zu meinen Lieblingsautoren.« »Ja. Stellen Sie sich vor, zu früh geboren worden zu sein, um beide während Ihres Lebens gelesen zu haben. Wirklich eine Tragödie. Eine wirkliche Tragödie.« »So habe ich das noch nie gesehen«, gestand Ves. »Sicherlich«, erwiderte Burr. »Nehmen wir nur Jabberwocky. Was wäre das Leben ohne Jabberwocky ? Oder Ihr seid alt, Vater Franz: »Ihr seid alt«, sprach der Sohn, »und von all den Jahren krumm. 254
Und wie Eure Hände zittern; Dennoch tanzt Ihr dick und dumm auf dem Eßzimmertisch herum. Ohne das Geschirr zu splittern.« »Ich glaube nicht, daß ich diese Strophe kenne«, sagte Ves. »Sie kommen aus einem alternativen Universum?« fragte Burr. »Vielleicht haben Sie eine alternative Version von Alice, eine völlig andere Ausgabe. Was halten Sie davon?« »Bedauerlich, daß dich das stört«, sagte Franz zu Fränzchen, »Es geschieht aus reinem Übermut. Doch, darauf mein Ehrenwort, beim nächsten flotten Tänzchen, Verschon ich nichts in meiner Wut.« »Ich denke, ich ziehe die mir vertraute Version vor«, erklärte Ves. «Es ist die Möglichkeit der Wahl, die alles so interessant macht«, bemerkte Burr. »Aber meine Pflicht ruft jetzt nach mir, wenn ich sie richtig verstanden habe. Machen Sie es sich hier bequem. Ich werde Ihnen etwas zu essen bringen lassen. Wenn wir den Hauptkanal erreicht haben, müssen wir uns weiter unterhalten.«
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19 Der Hauptkanal war eine Enttäuschung. Nate wußte zwar nicht, was er erwartet hatte, aber das ganz gewiß nicht. Das Problem war, daß es hier so wie überall aussah. Wie überall. Man schien sich mitten in einem riesigen Filmstudio der dreißiger Jahre zu befinden: In der einen Richtung das moderne New York, in der anderen das alte Rom; aus den Augenwinkeln sah man ein Stück vom wilden Dodge City, und wenn man den Kopf drehte, fiel der Blick auf Nieuw Amsterdam. Es hätte aufregend sein können, aber enttäuschend war, daß es tatsächlich wie eine Filmkulisse wirkte. Nate hatte das Gefühl, daß die Häuserfronten aus Pappe bestanden und von Sperrholzstreben gestützt wurden. Das Es befand sich in einem großen Felsklotz, der auf einer Lichtung am bewaldeten Stadtrand stand. Benjamin Franklin fuhr ihn nach dem Frühstück in einem Einspänner dorthin, schüttelte ihm die Hand, wünschte ihm Glück, riet ihm, zurückzukommen, wenn er Hilfe benötigte, notierte sich die Idee für eine neue Blattfeder, die ihm während der Fahrt gekommen war, und ließ ihn dann allein. Nate legte den Schalter um und stand plötzlich mitten im Central Park. Das Gelände war durch Seile abgesperrt und kreisförmig von Pfosten umgeben, die etwa drei Meter voneinander entfernt waren. Jeder Pfosten besaß an der Spitze eine Lampe und in halber Höhe ein Schild, auf dem zwei oder
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drei Buchstaben standen. Die Buchstaben waren in alphabetischer Reihenfolge von rechts nach links angeordnet. Neben jedem Pfosten standen ein kleiner Tisch und ein Stuhl. Ein Mann in einer blauen Uniform und mit einer Dienstmütze auf dem Kopf saß am C-D-E-Pult, zwei Enten, Stockenteriche, um es genau zu sagen, standen zwischen dem S-T-und dem U-V-W-Pfosten und starrten Nate würdevoll an. Nach einer langen Weile quakte eine der Enten der anderen kurz etwas zu, und beide watschelten davon. »Begeben Sie sich bitte zum zuständigen Pfosten«, sagte der Mann. »Haben Sie bereits Ihre Zollerklärung ausgefüllt?« Nate sah sich um. Bis auf den Mann und den entschwindenden Stockenten befand sich kein weiteres Lebewesen in der Nähe. Demnach mußte der Mann ihn meinen. »Nein«, antwortete er. »Welcher Pfosten ist für mich zuständig?« Kurz dachte er darüber nach, wie wohl ein unzuständiger Pfosten aussehen würde. »Nennen Sie Ihren Namen, Ihren Familiennamen«, befahl der Mann. Nate grübelte einen Moment. »Swift«, sagte er schließlich. »Begeben Sie sich zum S-T-Pfosten und füllen Sie das Formular aus, das auf dem Pult liegt«, wies ihn der Mann an. »Jemand wird rechtzeitig erscheinen, um sich um Sie zu kümmern.« Nate gehorchte und sah auf dem Pult einen Stapel Vordrucke liegen. 257
ZOLLERKLÄRUNG Hauptkanal BEIM BETRETEN DES HAUPTKANALS BITTE IN DRUCKSCHRIFT AUSFÜLLEN. FREMDSPRACHIGE VORDRUCKE AUF ANFORDERUNG ERHÄLTLICH. Name, Vorname Bei Frauen Geburtsname Anschrift Staatsangehörigkeit Land Zone* Sektor* Derzeitige Sektoralität Geburtssektoralität Geschlecht MÄNNLICH o WEIBLICH o SONSTIGES o (spezifizieren) Zweck des Besuches (kurz fassen) Voraussichtliche Dauer des Aufenthaltes KREUZEN SIE DIE UNTEN AUFGEFÜHRTEN UND IN IHREM BESITZ BEFINDLICHEN WAREN AN: ALKOHOLIKA O BATTERIEN O CHIRURGISCHE INSTRUMENTE O DROGEN/MEDIKAMENTE O ELEKTROGERÄTE O FEUERWAFFEN O FEUERWERKSKÖRPER O FRÜCHTE O HEFE (abgepackte) O JUWELEN O 1 KÄSE O KLEBSTOFFE O KNALLFRÖSCHE O MASCHINEN O PFLANZEN (Menge) O PROTHESEN/KÖRPERERSATZTEILE O RADIOAKTIVE STOFFE O SAATGUT O SPIELKARTEN O SPRAYDOSEN O SPRENGSTOFFE O TIERE (lebend, Menge) O ZUCKER O Armband- und Taschenuhren ausgenommen HABEN SIE IRGENDWELCHE WAREN ZU VERKAUFEN ODER ZU TAUSCHEN? Ja o Nein o HABEN SIE EINEN HAUPTKANALBÜRGEN? Ja o Nein o HABEN SIE IRGENDWELCHE KÖRPERLICHE ANOMALITÄTEN? Ja o Nein o HABEN SIE IRGENDWELCHE MEDIZINISCHE ANOMALITÄTEN ? Ja o Nein o FALLS SIE EINE DER OBIGEN FRAGEN MIT JA BEANTWORTET HABEN, MÜSSEN SIE EINE MEDIZINISCHE NOTFALLKARTE AUSFÜLLEN UND IMMER BEI SICH TRAGEN *falls Sie Ihre Zone oder Ihren Sektor nicht identifizieren können, geben Sie das genaue Datum – gregorianischer Kalender – in Ihrem Sektor an. WENN SIE DIESES FORMULAR VOLLSTÄNDIG AUSGEFÜLLT HABEN, HÄNDIGEN SIE ES DEM INSPEKTOR AUS, UND BEANTWORTEN SIE ALLE FRAGEN, DIE ER IHNEN STELLT. SEIEN SIE HÖFLICH. FASSEN SIE SICH KURZ. WILLKOMMEN IM HAUPTKANAL
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Nate füllte das Formular nach bestem Wissen und Gewissen aus. Zu seiner Überraschung führte er keine der angegebenen Waren im Gepäck mit. Die Liste ergab für ihn keinen Sinn, aber welche Zollerklärung hatte schon jemals für irgend jemanden einen Sinn ergeben? Warum war es leichter, halbautomatische Gewehre in die Vereinigten Staaten einzuführen als Kanarienvögel? Der Mann mit der Dienstmütze kam schließlich zu Nates Pfosten und nahm das Formular in die Hand. »Willkommen im Hauptkanal, Sir«, sagte er. »Haben Sie Tabak bei sich?« »Nein«, erwiderte Nate. »Ich rauche nicht.« »Schade«, bemerkte der Zollinspektor. »Sind Sie jemals wegen eines Kapitalverbrechens verurteilt worden – moralische Verderbtheit ausgeschlossen?« »Sagten Sie moralische Verderbtheit ausgeschlossen?« fragte Nate. »Wir pfeifen hier auf Ihre Moralvorstellungen«, erklärte der Inspektor. »Oh«, machte Nate. »Also, sind Sie jemals verurteilt worden?« wiederholte der Inspektor. »Nein, noch nie.« »Gut«, brummte der Inspektor. »Nun zum Grund Ihres Besuches: ›Suche nach der Verfassung‹. Könnten Sie das ein wenig näher erläutern?«
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»Sie ist gestohlen worden«, entgegnete Nate. »Ich glaube, daß sie sich hier im Hauptkanal – auf dem Hauptkanal? – befindet, und ich will versuchen, sie heimzuholen.« »Mit welchen Mitteln planen Sie dieses Dokument wieder in Ihren Besitz zu bringen?« fragte der Zollinspektor. »Nebenbei, um welche Verfassung handelt es sich genau? Wessen Verfassung, meine ich.« »Um die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika«, eröffnete ihm Nate. Der Inspektor überflog Nates Formular und machte einige Vermerke am Rand. »Ich verstehe«, murmelte er. »Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, Zone A-27, Sektor 10.« »Komme ich von dort?« fragte Nate. »Oder sollte ich besser sagen von ›dann‹?« »Ich habe willkürlich eine Zone und einen Sektor herausgegriffen«, klärte ihn der Zollbeamte auf. »Dafür werde ich bezahlt. Also: Mit welchen Mitteln planen Sie dieses Dokument wieder in Ihren Besitz zu bringen?« Nate dachte nach. »Durch Überredung«, antwortete er schließlich. »Oder, wenn das versagt, durch ein finanzielles Angebot.« Mißtrauisch dachte der Zollbeamte lange Zeit darüber nach. »Mir scheint, dies verstößt gegen keines unserer Gesetze«, brummte er. »Sie beabsichtigen doch nicht, Gewalt anzudrohen oder Gewalt anzuwenden? Und Sie planen nicht, das Dokument zu stehlen?«
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»Natürlich nicht, Sir«, wehrte Nate ab. »Wofür halten Sie mich eigentlich?« »Hm«, machte der Zollbeamte. »Ich stelle Ihnen ein Visum für einundzwanzig Tage aus.« Er zog an der Kante des Pultes, und eine ausziehbare Schreibunterlage wurde sichtbar. Dann griff er nach einer Kiste voller Stempel: große Stempel, kleine Stempel, komplizierte verstellbare Stempel, Datumsstempel, Zeitstempel, Statusstempel, Erlaubnisstempel, Ablehnungsstempel, Wiedervorlagestempel. Aus einem der zahlreichen Schreibtischfächer nahm er eine Karte, kritzelte mit seinem Kugelschreiber einige Worte darauf und fing dann mit wachsender Hingabe an zu stempeln. Schließlich händigte er Nate die Karte aus. »Tragen Sie die immer bei sich. Falls Sie Ihren Aufenthalt über die einundzwanzig Tage hinaus ausdehnen wollen, wenden Sie sich an einen unserer Bezirkspfosten. Ich muß Sie noch darauf aufmerksam machen, daß Sie ohne weitere Formalitäten unverzüglich transformalisiert werden, wenn Sie gegen unsere Gesetze verstoßen. Ein Besuch im Hauptkanal ist ein Privileg, kein Recht.« »Transformalisiert ?« »Denken Sie darüber nach. Sie können jetzt gehen.« Nate verließ den Central Park und gelangte in ein römisch-holländisches Hochhausviertel und fragte sich, was er als nächstes unternehmen sollte. Soweit er wußte, gab es drei Dinge, die er erledigen mußte: Erstens: Ves finden; zweitens: Die Verfassung (der Vereinigten Staaten von Amerika, Zone A-27, Sektor 10) finden; drittens: Heimkehren. Aber zuallererst mußte er ein Restaurant finden. Ein kleines, einfaches … 261
»Nate!« Er sah sich um. »Nate, hörst du mich ?« Es war niemand in der Nähe … »Nate, hier ist Ves. Bist du da? Hörst du mich?« Das Funkgerät! »Ich bin hier, Ves. Ves, wo bist du?« »Nate, hier ist Ves, hörst du mich ?« Nate fand den Knopf in seinem Revers und drückte ihn. »Ves! Ich bin hier! Ich bin hier!« »Nate, hier ist…« Ein Klicken ertönte, gefolgt von einem Moment der Stille. Dann drang die außergewöhnlich klar akzentuierte Stimme einer Frau an sein Ohr. »Mr. Swift? Halten Sie bitte die Verbindung noch eine Weile aufrecht, ich bin gleich bei Ihnen.« »Natürlich«, sagte Nate. Und dann: »Uh?«
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20 Die H.F.F.S. Titanic legte an einem der hohen Ankertürme in ihrer Heimatbasis in Lakehurst, New Jersey, Hauptkanal, an. Colo nel Burr schleuste Ves und die Gräfin durch den Zoll und führte sie zum Bus nach New York. »Sie brauchen eine Unterkunft«, stellte er fest. »Ich empfehle das Great Auk and Gremlin als bescheidenes Hotel mit bescheidenen Preisen, wo die Geschäftsleitung noch etwas von der alten Schule des Bedienens versteht.« »Bescheidene Preise«, echote Ves. »Mit was sollen wir bezahlen?« »Mit dem, was Sie haben«, entgegnete Burr. »Ich bin überzeugt, daß man Ihnen Kredit geben wird. Die Hotelleitung kann sich ja telefonisch über Ihre Solvenz erkundigen.« »Telefonisch?« sagte Ves nur leicht überrascht. »Natürlich. Es besteht eine Sprechverbindung zwischen dem Hauptkanal und den meisten der fortgeschrittenen Sektoren; eine vibrierende Luftschicht zwischen zwei Membranen. Klingt sehr hohl und leise, aber sie funktioniert ausgezeichnet.« »Sehr hohl, eh?« brummte Ves. »Ich vermute, ich habe selbst schon hin und wieder mit dem Hauptkanal gesprochen. Das beweist, daß man der Telefongesellschaft nicht für alles die Schuld geben kann.« »Ich kann allerdings nur eine Nacht bleiben«, erklärte Tatjana Petrowna. »Ich muß zurück ins Kaiserliche 263
Rußland und in meinen eigenen Zeitkanal, wo ich gewisse Verpflichtungen habe.« »Wirklich, Gräfin?« fragte Burr. »Wie bedauerlich, daß Sie uns verlassen müssen. Aber natürlich werden Sie mir die Ehre erweisen und heute abend mit mir speisen. Und Sie auch, Mr. Romero.« »Ich bin entzückt«, versicherte die Gräfin und streckte ihre Hand aus, die Colonel Burr prompt küßte. »Ich möchte Ihnen für Ihre Hilfe danken, Gräfin«, sagte Ves. »Ohne Sie wäre ich noch immer im Gefängnis.« »Nicht der Rede wert«, wehrte die Gräfin ab. »Es geschah in Gedenken an die historische Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern. Mütterchen Rußland vergißt nie.« »Natürlich«, nickte Ves, »aber dennoch habe ich das Bedürfnis, Ihnen meinen Dank auszusprechen. Ich hoffe, wir sehen uns einmal wieder.« »Zweifellos«, erwiderte Tatjana Petrowna. »Die Reisenden zwischen den Zeiten sind eine furchtlose und verschworene Gemeinschaft. Wenn man einmal dazugehört, ist es schwer, den Lockungen des Es zu widerstehen. Wir werden uns wiedersehen, an irgendeinem unbekannten Gestade einer fremden Zeit…« »Sie werden sich heute abend beim Essen sehen«, erinnerte Burr. »Sparen Sie sich Ihren romantischen Abschied, bis der richtige Moment kommt.« Die Tram fuhr in einen röhrenähnlichen Tunnel, und dann verstummte das Rattern der Räder, und die Tram fing an zu schaukeln und zu schwingen. Als sie ein paar 264
Sekunden später den Tunnel wieder verließ, hing sie sanft schaukelnd sechs Meter über dem Boden, und die Schienen waren verschwunden. »Was ist passiert?« fragte Ves, schob den Kopf aus dem Fenster und versuchte herauszufinden, was sie in der Luft hielt. »Die Tram hat von den Schienen auf Kabel gewechselt«, erklärte Burr. »Wir überqueren den Hudson an einem Paar Oberleitungskabel. Erspart die Mühe des Brückenbaus.« »Aha!« sagte Ves nervös. »Sehr raffiniert. Dicke Kabel?« »Seit Monaten haben wir keine Tram mehr verloren«, beruhigte ihn Burr und lachte dann über Ves' Gesichtsausdruck. »Willkommen in New York Hauptkanal!« »New York Hauptkanal«, brummte Ves. »Klingt wie aus einer Führung durch das Abwassersystem.« Die Tramfahrt endete in einem großen Trambahnhof auf der Manhattaner Seite des Flusses. Eine Vielzahl unterschiedlicher Fahrzeuge erwarteten sie am Ausgang: Taxis, Einspänner, Kabrioletts, Landauer, Streitwagen, Bollerwagen, Kleinbusse, eine Rikscha, eine Sänfte und ein Hundekarren. »Suchen Sie sich ein Gefährt aus«, bot Burr an. »Ich setze Sie an Ihrem Hotel ab und fahre dann weiter. Wir essen in etwa vier Stunden; genug Zeit für Sie, um sich auszuruhen und … oh, Sie haben kein Gepäck, nicht wahr? Vielleicht sollten Sie etwas einkaufen.« »Eine beeindruckende Vielfalt«, stellte Tatjana Petrowna fest, »aber ich vermisse eine Droschke.«
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»Ein ernstes Versäumnis«, nickte Burr. »Ich werde die Stadtverwaltung benachrichtigen.« Sie nahmen einen der Kleinbusse, in dem sie bequem einander gegenüber sitzen konnten. »Kulturschock«, murmelte Ves. »Ich empfinde ein leichtes Gefühl der Verwirrung angesichts dieses kulturellen Durcheinanders. Ich meine, man braucht sich nur umzuschauen; ein kleiner römischer Tempel, zwei Sandsteingebäude, ein viktorianisches Herrenhaus und ein verglastes Bürogebäude. Und alle sehen neu aus.« »Nicht neu«, korrigierte Burr, »nur gut erhalten. Die Hauptkanaler legen viel Wert auf Äußerlichkeiten. Es spielt keine Rolle, vornan aussieht, solange man gut aussieht, verstehen Sie? Lassen Sie mich von den Problemen mit dieser Erfindung erzählen, diesem Es. Es ist die letzte Neuerung, die die Hauptkanaler selbst hervorgebracht haben. Jetzt importieren sie alles. Sie besitzen keine eigene Wissenschaft; sie besitzen keine eigene Kunst; sie besitzen keine eigene Kultur; sie importieren ihre Gesetze zusammen mit ihren Nahrungsmitteln, ihr Verhalten mit ihrer Kleidung. Es ist eine vollkommen amorphe Gesellschaft. Sie besitzt keinen eigenen Charakter, sondern täuscht nur welchen vor.« »Was machen Sie dann hier, Colonel Burr?« fragte Ves. »Man sagt, ich suche«, antwortete Burr. »Wonach?« »Manche sagen, ich suche nach meiner Frau; andere sagen, ich suche nach meiner Tochter; wiederum andere meinen, ich suche nach mir selbst. Das letzte erscheint mir 266
am wahrscheinlichsten zu sein; aber wie ich mich kenne, schlage ich lediglich die Zeit tot und lerne. In meinem Kopf spukt die vage Vorstellung herum, mein Wissen weiterzugeben – an wen, weiß ich noch nicht – wenn ich mit dem Lernen fertig bin. Nicht, daß jemand wirklich mit dem Lernen fertig werden kann, bevor er auch mit dem Leben fertig ist – ein Schicksal, das mir hoffentlich erspart bleibt. Hier ist Ihr Hotel.« Ves und die Gräfin gingen hinein und suchten nach den Anmeldungsformalitäten ihre separaten Zimmer auf, um sich ihren separaten Aufgaben zu widmen. Ves vergewisserte sich im Hotel, daß man im Hauptkanal jede Kreditkarte von jedem Ort akzeptierte, und unternahm einen kleinen Einkaufsbummel. Einen zweischneidigen Rasierapparat, Klingen, einen Kamm, Unterwäsche, Kleidung, Schuhe. Er bemühte sich, seine Aufmachung der in seinem Zeitkanal gültigen Mode so weit wie möglich anzunähern, und als er fertig war, sah er aus wie ein Gangster um das Jahr 1925, mit breiten Aufschlägen, Nadelstreifen und allem anderen. »Elegant!« rief die Gräfin, als er sie in der Hotelhalle traf. »Sie rauben mir den Atem, Gräfin«, gestand Ves überwältigt. Ein rosenrotes Kleid hatte die Reitkluft ersetzt, und ihr kastanienbraunes Haar war gewaschen und kunstfertig aufgedreht und von einem edelsteinbesetzten Diadem gekrönt.
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»Gefällt es Ihnen?« fragte die Gräfin und fuhr mit der Hand über den Seidenstoff, der die Rundungen ihrer Taille nachzeichnete. »Ich wäre kein Mann, wenn es mir nicht gefallen würde, Gräfin«, erklärte Ves. »Sie sind sehr dschallant, Sir«, sagte die Gräfin mit einem Akzent à la Francaise. »Glauben Sie, daß es auch Colonel Burr gefallen wird?« »So ist das also«, brummte Ves. »Ich hätte es mir denken können. Ich habe da einige Dinge über ihn gelesen, und seitdem frage ich mich, was hat er, das ich nicht habe …? Gräfin, er wird bezaubert sein, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.« Und so war es auch, als der Colonel etwa zehn Minuten später eintraf. »Bezaubernd, Gräfin«, sagte er und küßte ihre Hand. »Sie haben Ihre Zeit gut genutzt. Und Sie, Mr. Romero, sehen wie ein neuer Mensch aus. Wie ein Importeur holländischen Kakaos, den ich einst gekannt habe, um es genau zu sagen. Sollen wir essen gehen? Ich habe uns bei Delmonico's einen Tisch reservieren lassen.« Beim Essen sprachen sie über viele Dinge. Colonel Burr besaß die Fähigkeit, über jedes Thema brillant zu parlieren, wie er fortwährend bewies. Nach jedem Durchgang sah Tatjana ihn mit größerer Bewunderung an. Schließlich, als man ihnen ihr flambiertes Dessert serviert hatte und die Flammen gelöscht waren, kamen sie auf Ves' derzeitige Sorgen und Probleme zu sprechen.
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»Ihr Freund wird schon noch hier im Hauptkanal auftauchen«, versicherte Burr. »Kein Grund, sich Sorgen zu machen.« »Aber wie soll ich ihn finden, wenn er kommt?« fragte Ves. »Soll ich eine Zeitungsannonce aufgeben?« »Eine Möglichkeit«, nickte Burr. »Aber warum benutzen Sie nicht dieses Funkgerät, von dem Sie gesprochen haben? Gehe ich recht in der Annahme, daß er ebenfalls eins besitzt? Sie brauchen nur zu funken, bis er antwortet.« »Die Reichweite ist sehr gering«, gab Ves zu bedenken. »Sie beträgt im besten Fall ein paar Häuserblocks.« »So? Setzen Sie sich mit dem Städtischen Rufdienst in Verbindung. Gegen Bezahlung verbreiten sie Suchmeldungen über Funk. Ich bin sicher, es ist für sie kein Problem, Ihre Frequenz zu ermitteln. Sie senden in regelmäßigen Abständen eine Endlosdrahtaufzeichnung Ihrer Stimme. Dann warten Sie auf die Antwort Ihres Freundes und schicken ihn zu Ihrem Hotel. Einfach?« »Ich werde mich morgen darum kümmern«, versprach Ves. »Und jetzt zu Ihrer Verfassung; der gestohlenen, wohlgemerkt. Diese Leute hier im Hauptkanal haben wirklich keine Achtung vor Nichts und Niemand. Erstaunlich, dieser Charakterzug. Ich schätze, es steckt ein privater Sammler oder ein Händler dahinter; wäre es eine Regierung, ein Museum oder irgendeine andere Behörde, hätte ich zweifellos davon gehört. Ich habe über diesen Punkt sorgfältig nachgedacht. Und ich habe, wie ich gestehen muß, heute nachmittag einige Erkundigungen eingeholt. In 269
dieser Hinsicht ist nichts Offizielles im Gang«, berichtete Burr. »Und wie finde ich diesen privaten Sammler?« fragte Ves. »Mir gefällt Ihr erster Vorschlag«, entgegnete Burr. »Annoncieren Sie.« »Ein guter Gedanke«, nickte Ves, »schließlich bin ich auf diese Weise hierher gelangt.« »Sie haben mir erzählt, daß Sie in Ihrem eigenen Zeitkanal Privatdetektiv waren«, erinnerte Colonel Burr. »Ich sehe keinen Grund, warum die Methoden, die Sie dort angewandt haben, hier nicht auch funktionieren sollten.« »Aber ich weiß so wenig über diese Zeit«, sagte Ves. »Sie ist genau wie Ihre eigene Zeit«, erklärte Burr. »Und wie meine, wie die der Gräfin, des alten Roms und jeder anderen Periode, die Ihnen gerade einfällt. Das ist ja das Schöne an ihr.« Und so verschwand Ves nach dem Essen und ließ Colonel Burr und die Gräfin Tatjana Petrowna allein am Tisch zurück, damit sie sich in aller Ruhe tief in die Augen sehen und Händchen halten konnten. »Nein, nein, das macht doch nichts«, versicherte er ihnen, als er ging. Vielleicht hatten sie ihn sogar gehört. Am nächsten Morgen begab sich Ves ins Büro des Städtischen Rufdienstes, wo man entzückt war, ihm behilflich sein zu können. Man überspielte eine Aufnahme seiner Stimme auf ein Endlosdraht – man benutzte hier Tondrahtgeräte und keine Bandaufzeichner – und versprach ihm, sie alle fünfzehn Minuten zu senden und die nächsten 270
zehn Minuten auf eine Antwort zu warten. Dann machte sich Ves daran, einen Plan für die Suche nach der Verfassung zu entwickeln. Es gab mehrere Möglichkeiten. Eine Annonce in der entsprechenden Zeitung war die einfachste. Schließlich hatte der derzeitige Besitzer der Verfassung hier im Hauptkanal nichts zu verbergen; das Gesetz war auf seiner Seite. Verbrechen, die in anderen Zeitzonen begangen wurden, waren nicht strafbar oder auslieferungsfähig. Und Gespräche mit Händlern und Sammlern konnten sich als fruchtbar erweisen, falls sich der Besitzer nicht hervorlocken ließ. Immerhin entstand der Wunsch nach dem Besitz einer solchen Rarität nicht über Nacht. Die Bekannten des Besitzers mochten über diesen Wunsch Bescheid wissen, ohne zu ahnen, daß er sich das Dokument schon angeeignet hatte. Beide Spuren konnte er gleichzeitig verfolgen. Ves benötigte nur eine Namensliste der Sammler und Händler und die Namen der Zeitschriften, die von ihnen am meisten gelesen wurden. (Sammler von was? fragte er sich, Händler mit was? Nun, das würde sich schon von allein klären.) Ves nahm das städtische Telefonbuch von der Rezeption des Hotels, um die Namen der in Frage kommenden Händler im näheren Umkreis zu notieren, die er persönlich aufsuchen und befragen konnte. Allerdings war es wegen der exzentrischen Neigungen der Hauptkanaler kein Telefonbuch im eigentlichen Sinne. Einige von ihnen besaßen Telefone, andere Fernschreiber, wieder andere Kabelvisifone, die nächsten wiederum Breitbandempfänger. Es schien keine Koordination zwischen den konkurrierenden Formen der Kommunikationsmittel zu geben. 271
Tatsächlich boten zumindest drei konkurrierende Gesellschaften in Manhattan nur Telefondienste an: Bell Telephone Company; Lower Manhattan District Signaling Company; und Pictaphon Corporation. Und ihre Netze waren offenbar nicht zusammengeschaltet. Nachdem er eine Zeitlang im Branchenverzeichnis des Buches geblättert hatte, fand Ves die gesuchte Eintragung: PIPPIN & CRIE. Dokumente, Briefmarken, Münzen aus allen Sektoren, allen Zeiten, An- und Verkauf. Garantierte Höchstpreise. 141 Upper Wall. Upper Wall, wurde ihm vom Zimmerkellner versichert, lag nur wenige Minuten Fußweg vom Hotel entfernt. So machte sich Ves zu Fuß auf den Weg nach PIPPIN & CRIE. Die Upper Wall Street schien aus einem Buch von Dickens in der Bearbeitung von Walt Disney zu stammen. Eine schmale, gewundene Straße, gesäumt von kleinen zweistöckigen Läden mit überstehenden Obergeschossen, wirkte sie zu hübsch, zu sauber, zu gut gezeichnet, um real zu sein. Ves erwartete halb, kleine Hinweisschilder an den Türen zu sehen: Türkarten am Kiosk im Queen-VictoriaLand erhältlich. Aber die Schilder waren sehr pragmatisch und geschäftsmäßig, obwohl in fast schon exzessiver Weise adrett und hübsch gedruckt. 141 Upper Wall besaß einen schmiedeeisernen Schildbalken mit einem geschwungenen, kunstfertig verschnörkelten hölzernen PIPPIN & CRIE.-Schild darunter. Im Innern war der Laden mit dunklem Holz getäfelt, mit einigen Vitrinen und Ausstellungsregalen möbliert und an den Wänden mit unzähligen Motti und Erbauungssprüchen 272
geschmückt. Gegenüber der Tür stand auf einem Schild: Frag! Es kann nie schaden! Darunter hing ein gerahmter Vers, mit Adlerzeichnungen und dramatischen Pinselstrichen verziert: Von hier nach da Von dann nach wann Wir sehen klar Wir packen's an. Quer durch die Zeit Taucht die Ruder ein Pullt hart, fahrt weit Kommt niemals heim. Seessel »Und was können Pippin und Crie tun für Sie?« fragte ein hagerer Mann in Cut und hellgrüner Weste, der hinter dem Tresen auftauchte. »Entschuldigen Sie den dürftigen Reim. In Wirklichkeit wird es ›krei‹ ausgesprochen, wissen Sie.« »Nein, das wußte ich nicht«, gestand Ves. »Es ist«, erklärte ihm der Mann, »phönizisch, glaube ich. Natürlich von meiner Zeit; obwohl ich Pippin gekannt habe. Das heißt, den ersten Pippin, nicht seinen Sohn, den ich natürlich ebenfalls kenne. Er ist der Besitzer. Das heißt, der Sohn. Ich bin der Geschäftsführer. Phipps. Zu Ihren Diensten.« »Ich, äh, ich brauche nur eine Information«, sagte Ves.
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»Wir sind mit besten Kräften bemüht, Ihnen in jeder Hinsicht behilflich zu sein«, erklärte Phipps. »Was möchten Sie gern wissen?« »Ich suche nach einer, äh, Verfassung. Wissen Sie, die der Vereinigten Staaten. Ich versuche, eine, äh, spezifische, äh, Verfassung zu finden.« »Sicher«, nickte Phipps. »Welche meinen Sie?« »Ah, nun, äh, meine. Die aus meiner Zeit – meinem Sektor – sie wurde gestohlen.« »In welcher Hinsicht unterscheidet sich diese Verfassung von allen anderen Verfassungen?« fragte Phipps geduldig. »Ich meine, wie können wir sie unterscheiden?« »Nun«, sagte Ves, der eine solch hilfsbereite Reaktion nicht erwartet hatte, »sie ist von Hamilton unterschrieben worden. Alexander Hamilton.« »Das tritt auf die meisten von ihnen zu«, bemerkte Phipps. »Die Version, die an ihrer Stelle zurückgelassen wurde«, fügte Ves hinzu, »hat Burr unterschrieben. Aaron Burr. Statt Hamilton.« »Ich verstehe«, nickte Phipps. »Alexander Hamilton. Das also ist aus ihr geworden.« »Sie meinen?« fragte Ves. »Ich werde Ihnen sagen, wer Ihre Verfassung gestohlen hat«, erklärte Phipps. Er griff hinter den Tresen, zog eine Zeitschrift hervor und reichte sie Ves. Der Titel lautete KURIOSITÄTEN, VARIETÄTEN, VARIANTEN – DER INTERTEMPORALE SAMMLER.
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»Die Zeitung?« sagte Ves. »Rückseite«, erwiderte Phipps knapp. Ves drehte den Intertemporalen Sammler herum. Auf der Rückseite befand sich eine Anzeige. Chitterly, Boatswain, Meloris, Pettiglob und Sims offerierten eine ganze Seite voller Dokumente und ausgewählter intertemporaler Raritäten dem ernsthaften Sammler zum Kauf an. Zum Beispiel: 23 Z9S29 Zusatzklauseln zu den Grundrechten, 9 Artikel (ohne 7) $ 1 300 24 Z66S11 Kapitulation von 1777 St. Fr. $ 2 500 25 Z7S9 Annexion Mexikos – Entwurf von Jeffersons offizieller Rede vor dem Kongreß $ 3 500 »Diese Leute haben unsere Verfassung?« fragte Ves. »Einer von ihnen«, erwiderte Phipps. »Chitterly, um es genau zu sagen. Natürlich ist das nur eine Vermutung, aber eine, die sich auf Tatsachen stützt. Erwähnen Sie bitte nicht meinen Namen.« »Wieso sind Sie davon überzeugt, daß dieser Chitterly meine – unsere Verfassung hat?« Phipps dachte nach. Einen Moment lang glaubte Ves, er wolle es ihm nicht sagen, womit er recht hatte. Aber dann gab sich Phipps einen Ruck und nickte. »Es ist nur eine Theorie, wissen Sie. Doch sie ist sehr plausibel. Sehen Sie, Chitterly hat nicht direkt Ihre Verfassung gestohlen – die mit der Hamilton-Unterschrift. Er hat versucht, die BurrVerfassung zu verstecken.« »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen«, gestand Ves.
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»Señor Chitterly ist das, was man als einen Hehler bezeichnen könnte«, erklärte Phipps. »Und nicht nur das, sondern er steht auch in dem Verdacht, das eine unentschuldbare Verbrechen zu begehen, das es hier im Hauptkanal gibt: Er bestiehlt seine Freunde. Es ist nichts daran auszusetzen, wenn man Dokumente aus den Seitenkanälen raubt, aber hier im Hauptkanal zu stehlen, Sir, ist eine unverzeihliche Sünde. Und dieser Tat ist Chitterly dringend verdächtig. Die Burr-Verfassung ist ein wertvolles Relikt, das sich seit seinem Auftauchen vor dreißig Jahren in privaten Händen befunden hat. Kurz nachdem das Dokument in seiner Zone unterzeichnet wurde, wissen Sie.« »Und?« »Und es verschwand. Chitterly geriet in den Verdacht – ich weiß nicht, warum – und einige von uns begaben sich in die Höhle des Schakals. Der Besuch erfolgte völlig überraschend, und nachdem wir ein wenig moralischen Druck ausgeübt hatten, erhielten wir die Erlaubnis, sein gesamtes Anwesen einschließlich gewisser geheimer, speziell gesicherter Bereiche zu durchsuchen. Wir fanden zwar mehrere Verfassungen, aber nicht die Burr-Variation. Eine dieser Verfassungen war nicht katalogisiert, und zweifellos war das die Ihre.« »Ich glaube, ich verstehe«, murmelte Ves. »Auf seiner Werkbank stand ein Tisch-Es. Das alte Prinzip: Frechheit siegt – es ist Ihnen sicher ein Begriff? – hat uns vollkommen getäuscht. Wir benutzen die tragbaren Es zur Suche nach wertvollen Dokumenten. Keiner von uns kam auf den Gedanken, er könnte die Burr-Verfassung versteckt haben, indem er sie mit dem Es verschwinden 276
ließ und zum Ausgleich Ihre Version erhielt; sozusagen ein Tauschgeschäft.« »Wie erfahre ich, daß das stimmt; sofern er das tatsächlich getan hat?« fragte Ves. »Nichts leichter als das«, antwortete Phipps. »Man braucht die Verfassung nur ein weiteres Mal durch das Es zu schicken. Da die Burr-Variante und Ihre Version schon einmal die Plätze getauscht haben, besitzen sie eine sehr hohe Affinität zueinander, und das bedeutet, daß sich dieser Vorgang wiederholen läßt.« »Aber warum wenden Sie sich nicht erneut an ihn, um das Experiment durchzuführen?« erkundigte sich Ves. »Das geht nicht«, erklärte Phipps. »Beim erstenmal war er unvorbereitet. Inzwischen wird er sich wohl beim Magistrat gegen eine Wiederholung unserer, eh, Invasion rückversichert haben. Das Gesetz läßt einem alles – fast alles – durchgehen, aber nur beim erstenmal. Aber hätten wir ihn erwischt…« Phipps seufzte wehmütig. »Und auf welche Weise, meinen Sie, bekomme ich meine Verfassung zurück?« sagte Ves. »Indem Sie warten«, schlug Phipps vor. »Es wird vielleicht ein paar Jahre oder länger dauern, bis sich die Aufregung gelegt hat. Aber ich bin sicher, daß er einen Käufer für die Burr-Variante hat. Er wird Ihre Version behalten, und wenn die Angelegenheit in Vergessenheit geraten ist, wird er den Schalter umlegen, und Sie haben Ihre Verfassung zurück.« »Wir können nicht ein paar Jahre lang warten«, wehrte Ves ab. »Angenommen, ich besorge mir ebenfalls ein 277
tragbares Es und mache das gleiche wie Chitterly mit der Burr-Verfassung?« »Dann werden Sie eine dritte Variante bekommen. Die Abstimmung ist der kritische Punkt, und es gibt keine Möglichkeit, Ihr Es entsprechend zu justieren, selbst wenn Sie Einblick in Chitterlys Unterlagen hätten.« Entmutigt kehrte Ves in sein Hotel zurück. In der Halle saß Nate und wartete auf ihn. Ves machte einen Satz und schrie: »Nate!« Und dann umarmte er seinen Freund. »Ves!« entgegnete Nate und schlug Ves auf den Rücken. »Es ist schön, dich zu sehen. Es ist unglaublich schön, dich zu sehen. Eine verteufelte gute Einrichtung, dieser Rufdienst hier.« »Wann bist du angekommen?« fragte Ves. »Wo bist du gewesen?« »Vor etwa einer halben Stunde«, antwortete Nate. »Ich bin … es war … Ich habe dir einiges zu erzählen. Und ich habe das Gefühl, daß du mir alles glauben wirst. Wahrscheinlich, weil du mir ebenfalls ein paar haarsträubende Geschichten zu erzählen hast.« »Beim Essen, Nate, alter Freund, beim Essen. Und bei einer Flasche Chianti. Gibt es hier Chianti? Es muß welchen geben! Komm in den Speisesaal, komm!«
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21 Nate lehnte sich in dem bequemsten Sessel in der Halle des Great Auk and Gremlin zurück und trank den ersten Kaffee, seit er Ves' Haus vor einer Ewigkeit verlassen hatte. Und es war ein ausnehmend guter Kaffee. »Also liegt es jetzt an uns, den Geier in seiner Höhle aufzusuchen, eh?« sagte er. »Du hast wirklich anständige Arbeit geleistet. Das ist in diesem Jahr bei uns Regierungsleuten die beliebteste Belobigungsfloskel – ›anständige Arbeit geleistet‹ Genau die richtige Mischung aus Untertreibung und Unaufrichtigkeit.« »Phipps hat diesen Chitterly als Schakal und nicht als Geier bezeichnet«, berichtigte Ves. »Und danke für dein Lob, aber es war reines Glück.« »Nun, du weißt, was man über das Glück sagt«, entgegnete Nate. »Es ist nur dem Tüchtigen hold.« »Dann sollten wir uns bemühen, sehr tüchtig zu sein«, entgegnete Ves, und mit dem Entschluß, sich nicht um die Ansichten der Geschäftsleitung zu kümmern, streckte er die Beine auf der Couch aus. »Weil wir verdammt viel Glück brauchen werden. Wie können wir diesen Chitterly dazu bringen, uns die Verfassung zurückzugeben? Was können wir ihm anbieten?« »Eine große Summe Geld?« schlug Nate vor. »Wir können es in unserer Zeit besorgen. Für den Präsidenten dürfte es kein Problem sein, die benötigte Summe aus der Spesenkasse zu nehmen.« 279
»Man hat mir zu verstehen gegeben, daß unser Geld hier wenig Wert besitzt«, sagte Ves. »Hmmm«, brummte Nate. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. »Eine Invasion!« rief er. »Eine Invasion?« echote Ves alarmiert. »Oh, keine große Invasion«, wiegelte Nate ab. »Keine wie die in der Normandie. Nur ein kleines Kommandounternehmen. Ein paar Dutzend Ledernacken …« »Ich bin überzeugt, daß der Präsident da nicht mitmachen wird«, erklärte Ves. »Vergiß nicht, was in El Salvador geschehen ist. Und eine derartige Aktion läßt sich vor dem Kongreß nicht geheimhalten.« »Selbst wenn es um die Rettung der Verfassung der Vereinigten Staaten geht?« fragte Nate. »Nein, ich schätze, du hast recht. Nebenbei, Präsident Gosport ist noch nicht einmal bereit zuzugeben, daß das Ding verschwunden ist, also wird er niemals die Erlaubnis für eine derartige Aktion erteilen. Aber was dann?« »Was wir brauchen …« Ves schnitt plötzlich ein merkwürdiges Gesicht und starrte ins Leere. »Ves! Ves! Was ist los? Liegt es am Hummer? Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht…« »Nate!« »Was?« »Wir haben etwas, das für ihn von Interesse ist!« »Was?«
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»Komm mit.« Ves richtete sich auf. »Wir werden unsere Verfassung zurückbekommen. Unsere eigene, unverwechselbare Verfassung!« Chitterlys Anwesen war groß, geräumig und streng bewacht. Sie mußten drei Kontrollpunkte passieren, bevor sie das Hauptgebäude erreichten. »Sagen Sie Mr. Chitterly, wir haben ihm ein hochinteressantes Angebot zu machen!« erwies sich als magische Formel, die ihnen alle Türen öffnete. Am zweiten Kontrollpunkt mußten sie sich auf Waffen untersuchen lassen, aber da keiner von ihnen eine bei sich trug, spielte dies weiter keine Rolle. »Nun?« sagte Chitterly, als sie schließlich vor ihm standen. »Nun? Mein Sekretär sagte mir, daß Sie mit niemand sonst reden wollten. Ich warne Sie, es ist besser für Sie, wenn Sie meine Zeit nicht verschwenden. Wirklich besser.« Er war ein großer, dünner, knochiger Mann mit glitzernden Vogelaugen und einem kleinen Mund. Was von seinem Haar übriggeblieben war, umrahmte seinen Schädel wie ein weißer, hufeisenförmiger Heiligenschein. »Wir haben Sie wegen einer Angelegenheit aufgesucht, Mr. Chitterly, die für uns beide von ungeheurer Bedeutung ist«, erklärte Ves. »Es wird Sie gewiß interessieren.« »Sie haben etwas zu verkaufen?« fragte Chitterly, und seine Augen wanderten von einem zum anderen. »Vielleicht bin ich daran interessiert. Ich kann zwar nicht viel für mein kleines Hobby ausgeben, aber wenn der Preis nicht zu hoch ist…« »Die Burr-Variante«, sagte Ves. »Sie haben schon einmal davon gehört?«
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»Was ist das? Was ist das?« Chitterly sah feindselig drein. »Sind Sie von Thomerson, Phipps oder einem anderen dieser Kerle dazu angestiftet worden? Ich habe das verdammte Ding nicht, und wenn ich es hätte, würde ich es Leuten wie Ihnen bestimmt nicht sagen.« »Sie mißverstehen uns, Mr. Chitterly«, erklärte Nate sanft. »Wir haben die Variante.« »Sie fiel uns sozusagen in den Schoß«, fügte Ves hinzu. »Da haben wir uns mit dieser simplen, ordinären Version der Verfassung gelangweilt – Sie wissen schon, die von Alexander Hamilton unterschriebene Version – und plötzlich stellten wir fest, daß die Unterschrift gar nicht von ihm stammte; das heißt, nicht von Hamilton, sondern von Burr.« »Stellen Sie sich unsere Überraschung vor«, sagte Nate. Chitterly dachte eine Weile darüber nach. »Sie wollen also, daß ich Ihnen dieses Burr-Dokument abkaufe«, stellte er fest. »Aber es ist Diebesgut. Ich könnte es gar nicht annehmen.« »Jedenfalls nicht, wenn es in diesem Sektor gestohlen wurde«, schränkte Ves ein. »Sie glauben vermutlich«, bemerkte Nate, »Sie brauchen nichts weiter zu tun, als dieses gewöhnliche alte HamiltonDokument in Ihre kleine Maschine zu legen und Plop, Sie haben Ihre Burr-Variante zurück, stimmt's?« »Aber dem ist nicht so«, sagte Ves. »Wir haben sie verändert, wissen Sie«, erklärte Nate. Zum erstenmal wirkte Chitterly verdutzt.
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»Wachs«, teilte ihm Ves mit. »In den Poren und überall. Wir haben Wachs genommen, weil es sich wieder entfernen läßt. Aber solange das Dokument damit präpariert ist, wiegt die Verfassung dreimal soviel wie gewöhnlich.« »Keine Möglichkeit, sie mit dem Es zurückzuholen«, fügte Nate hinzu. »Absolut unmöglich.« »Ich glaube Ihnen nicht«, stieß Chitterly hervor. »Versuchen Sie es«, forderte ihn Ves auf und deutete auf das tragbare Es in der Ecke. »Es sind keine Zeugen anwesend. Sie können alles leugnen, und wer würde uns schon glauben?« »Ja, wer?« sagte Chitterly. »Ich bestimmt nicht.« »Wir dachten nur, Sie wären interessiert«, meinte Ves mit einem Schulterzucken. »Es gibt andere Interessenten«, erklärte Nate. »Entschuldigen Sie die Störung. Wir finden allein hinaus.« »Warten Sie!« rief Chitterly. »Warten Sie einen Moment. Wie Sie schon sagten, es bedeutet kein Risiko, Ihre Geschichte zu überprüfen.« Er eilte in den Nebenraum und schließlich hörten sie Geräusche wie von einer Falltür oder vielleicht auch von einer Kühlschranktür, die geöffnet und wieder geschlossen wurde. Dann kam er mit einem zusammengerollten Dokument zurück. »Wenn das stimmt, was Sie sagen«, murmelte Chitterly, »wird es nicht funktionieren. Dann können wir ins Geschäft kommen.« Er legte das Dokument in den Korb des Es, drehte am Abstimmknopf und legte den Schalter um. Das zusammengerollte Dokument verwandelte sich in ein auseinandergerolltes Dokument. »Ha!« sagte Chitterly. 283
»Ho!« machte Nate. »Ist das die Burr-Verfassung?« »In der Tat, meine Herren«, nickte Chitterly nach einem prüfenden Blick. Dann sah er Nate und Ves auf sich zukommen. »So ist das also«, rief er und wich hastig zurück. »Ein gewöhnlicher Überfall! Nun, Sie werden das Haus niemals lebend verlassen.« »Sie mißverstehen uns«, sagte Ves. »Wir wollen nichts von Ihnen.« »Sie haben uns bereits gegeben, was wir haben wollten«, verriet ihm Nate. »Wie? Was?« »Die Verfassung, die Sie gerade gegen die Burr-Variante ausgetauscht haben«, erklärte Ves. »Sie gehört uns. Wir wollten sie zurückhaben.« »Und jetzt haben wir sie«, sagte Nate. »Und wir beabsichtigen, sie zu behalten.« Er stieß das Es vom Tisch. Es fiel auf den Boden und zerbrach in tausend Stücke. Ves stampfte auf den Bruchstücken herum und prüfte befriedigt, wie sie unter seinen Sohlen zu Staub wurden. »Wir haben hier jetzt alles erledigt«, sagte er. »Vielen Dank für Ihre Mühe, Mr. Chitterly. Wir müssen jetzt gehen.«
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22 Mrs. Montefugoni rümpfte die Nase. »Sie sich die Schuhe abputzen, wenn Sie kommen herein«, befahl sie. »Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben, nachdem ich fast zwei Wochen lang fort war?« fragte Ves. »Daß ich mir die Schuhe abputzen soll?« »Tu besser, was sie sagt«, riet Nate und folgte Ves in das Haus. »Du bist wieder daheim.« Mrs. Montefugonis Gesicht hellte sich auf. »Schön zu sehen Sie, Kommissär«, begrüßte sie ihn. »Ich gehen und machen Kaffee.« »Machen Sie genug für drei«, bat Ves. »Und einige von Ihren Torteletts, wenn es möglich ist. Wir haben einen hohen Gast zu Besuch.« Mit einem höflichen Lächeln ging der Präsident auf sie zu und streckte die Hand aus. »Mrs. Montefugoni«, sagte er, »ich habe schon so viel von Ihnen gehört. Ihre beiden Freunde sind Helden, wissen Sie das? Helden. Geheime Helden, wie der Zufall es wollte, aber nichtsdestoweniger Helden.« Mrs. Montefugoni rümpfte die Nase. »Sie sich die Schuhe abputzen«, befahl sie dem Präsidenten.
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