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Über den Autor Tony Hillerman, Jahrgang 1925, ist in Oklahoma aufgewachsen. Nach seiner Übersiedlung nach New Mexico hat er bald erkannt, wie lebendig die indianische Kultur der Navajos dort noch ist. Aus der Faszination an ihren Sitten, ihren Gebräuchen und ihrer Mythologie entstand r97o Hillermans erster Kriminalroman, «Wolf ohne Fährte», der ihm ein legendäres Fehlurteil seiner New Yorker Agentin einbrachte: «Wenn Sie meinen, daß sich eine Überarbeitung überhaupt lohnt, dann werfen Sie wenigstens das ganze Indianerzeug raus.» Tony Hillerman hat diesen Rat nicht befolgt und gilt deshalb heute als Großmeister des Ethnothrillers. Neben seinem Debüt «Wolf ohne Fährte» (Nr. 43022) liegt bei rororo thriller auch Jim Chees Einstand als Officer, «Tod der Maulwürfe» (Bd. 43269), vor. In «Die Nacht der Skinwalkers» (Bd. 43270) ermitteln Hillermans berühmte Navajo-Cops, Joe Leaphorn und Jim Chee, das erste Mal in einem gemeinsamen Fall, was sie auch wieder in «Tod am heiligen Berg» (Bd. 43292 erscheint Februar '98) tun werden.
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Tony Hillerman
Wolf ohne Fährte Deutsch von Gisela Stege
rororo thriller Herausgegeben von Bernd Jost
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46.-48. Tausend September 1997 Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Oktober 1991 Copyright (c) 1972 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Umschlaggestaltung Peter Wippermann/Britta Lembke Die Originalausgabe erschien bei Harper & Row, Publishers, New York, unter dem Titel «The Blessing Way» Copyright C 197o by Anthony G. Hillerman Satz Sabon (Linotronic 500) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 990-ISBN 3 49943022 3
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Wolf ohne Fährte
Dies ist ein Kriminalroman, und darum erhebt der Autor hinsichtlich des verwendeten ethnologischen Materials nicht den Anspruch, wissenschaftlichen Anforderungen zu genügen. Trotzdem möchte er hier Willard W Hill, Leland C. Wyman, Mary C. Wheelwright, Father Berard Haile, Clyde Kluckhohn und Washington Matthews danken, deren Werken er wertvolle Informationen entnommen hat. Zugleich dankt er seinen Freunden unter den Navajo für Rat und Hilfe.
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Luis Horseman lehnte den flachen Stein behutsam gegen den Pinienzweig, balancierte ihn sorgfältig aus und zog dann vorsichtig seine Hand zurück. Der Zweig bog sich, brach aber nicht. Horseman ließ sich auf die Fersen zurücksinken und musterte die Baumfalle nachdenklich. Ich hätte ein bißchen mehr Blut an den Zweig schmieren sollen, sinnierte er. Aber vielleicht genügte es doch. Er hatte diese Falle genau an der richtigen Stelle gebaut: Der Zweig hing dicht an der Fährte der Känguruhratte. Der Stein mußte beim ersten Nageversuch fallen. Er griff in sein offenstehendes Hemd, zog einen Lederbeutel hervor und entnahm ihm einen seltsam geformten Türkis. Nachdem er ihn vor sich auf den Boden gelegt hatte, begann er zu singen: «Der Himmel spricht davon.
Der Sprechende Gott berichtet davon.
Die Ewige Dunkelheit weiß davon.
Der Sprechende Gott hilft mir.
Mit dem Sprechenden Gott töte ich das Wild.
Mit dem Sprechenden Gott töte ich das männliche Wild.»
Es gab noch eine dritte Strophe des Gesanges, aber an die konnte sich Horseman nicht erinnern. Er saß still da und dachte nach. Sie mußte irgendwie vom Schwarzen Gott handeln, aber ihm wollte der Text nicht einfallen. Der Schwarze Gott hatte mit Wild eigentlich nichts zu tun, aber sein Onkel hatte gesagt, daß man diese Strophe anhängen müsse, wenn der Gesang richtig helfen solle. Luis Horseman 6
starrte den Türkisbären an. Der Stein verriet nichts. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Kurz vor sechs. Wenn er die Randklippen wieder erreicht hatte, konnte er ein Feuer machen. Es war dann so dunkel, daß man den Rauch nicht mehr sah. Zuerst aber mußte er sein Vorhaben hier zu Ende bringen. «Das dunkle Horn des Bica,Wer immer mir Böses will,
Das Böse soll mich nicht treffen.
Das dunkle Horn ist ein Schild aus gegerbtem Rehleder.
Horseman sang es mit kaum hörbarer Stimme, nur eben so laut, daß ihn die Tiere im Geiste vernehmen konnten. «Das Böse, das der Ye-i gegen mich richtete,
Kann mich nicht treffen durch das dunkle Horn,
Durch den Schild, den der Bica trägt.
Er schenkt mir Harmonie mit dem männlichen Wild.
Er läßt das männliche Wild meinen Herzschlag vernehmen.
Aus vier Richtungen kommen sie auf mich zu.
Sie treten hervor und bieten mir ihre Seite,
Damit mein Pfeil nicht Knochen trifft, wenn ich schieße.
Der Tod des männlichen Wildes wird meinen Körper waschen.
Das männliche Wild wird meinen Gedanken gehorchen.»
Er steckte den Türkisbären in den Medizinbeutel zurück und richtete sich, steif geworden, wieder auf. Er war ziemlich sicher, den falschen Gang gewählt zu haben. Dieser hier ist eigentlich nur für Hochwild, dachte er. Damit das Hochwild heraustritt und man es schießen kann. Aber vielleicht würden die Känguruhratten den Text auch verstehen. Sein Blick wanderte prüfend über das Plateau: zuerst über den
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Vordergrund, dann über die Mitte und schließlich über die hohen grünen Hänge der Lukachukai-Berge im Osten. Dann erst trat er aus dem Schutz des Krüppelwacholders hervor und ging mit raschen Schritten nach Nordwesten. Er bewegte sich fast geräuschlos und hielt sich, sobald es ging, am Boden der flachen Arroyos, der ausgetrockneten Bachbetten. Seine Schritte waren geschmeidig und leise. Auf einmal jedoch blieb er stehen. Aus den Augenwinkeln hatte er unten im KamBimghi-Tal eine Bewegung entdeckt. Tief unter ihm, etwa ein Dutzend Meilen weiter westlich, stieg vor einer verwitterten roten Felsformation plötzlich eine Staubwolke auf. Es konnte eine Windhose sein, von einem der Hartstein-Jungen aufgewirbelt, um den Windkindern einen Streich zu spielen. Aber es war jetzt ganz windstill hier. Über die erodierte Wüste tief unter ihm hatte sich die Ruhe des Spätnachmittags gelegt. Muß wohl ein Lastwagen gewesen sein, dachte Horseman. Sofort überfiel ihn wieder die alte Angst. Vorsichtig, im Schutz einer Pinienreihe, stieg er aus der Wasserrinne hinaus, blieb regungslos stehen und musterte das Gelände unter ihm. Weit hinten im Westen war Träger der Sonne den Himmel hinabgestiegen und ließ die weißen Haufenwolken über der Hoskininie Mesa aufleuchten. Das Plateau, auf dem Horseman stand, lag im Schatten, in das Kam-Bimghi-Tal dagegen fielen noch schräge Sonnenstrahlen. Jetzt war der Staub bei den roten Felsen verschwunden, und Horseman überlegte, ob er sich womöglich getäuscht hatte. Da aber sah er es zum zweitenmal: eine Staubwolke, die langsam über den Talboden wanderte. Ein Lastwagen, dachte Horseman. Oder ein Personenauto. Vermutlich benutzte das Fahrzeug den Weg über die glatten Felsen, der sich ein wenig später verzweigte und dessen Arme dann in den Horse Fell Canon, den Many Ruins Canon und - seit kurzem - auch noch bis zum Tall Poles Butte führten, dem Tafelberg, auf dem sich die Radarstation befand. Es mußte ein Lastwagen oder Jeep sein, denn der
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Weg war nicht mal bei gutem Wetter leicht zu befahren. Horseman spähte angestrengt hinab. Noch eine Minute, dann konnte er sicher sein. Wenn der Wagen die Richtung zum Many Ruins Canon einschlug, würde er selbst sich über das Plateau nach Osten davonmachen und lieber in die Lukachukais gehen. Doch das bedeutete, daß er dann hungern mußte. Der Staub legte sich; das Fahrzeug war im Labyrinth der unzähligen Arroyos verschwunden, die das Kam-Bimghi-Tal kreuz und quer durchzogen. Es tauchte zwar kurz wieder auf, doch an dem Punkt, an dem sich der Weg am Natani Tso, dem großen, tischflachen Lavaberg am Nordende des Tales, nach Westen wandte, verlor ihn Luis abermals aus den Augen. Fast fünf Minuten vergingen, bis er den Staub wieder sah. «Ho!» sagte Horseman zutiefst erleichtert. Der Wagen fuhr auf den Tall Poles Butte zu. Also waren es vermutlich ArmyLeute, die zu der Radarstation gehörten. Er löste sich von seinem Baum und setzte sich in Trab, denn er war hungrig und mußte, bevor er essen konnte, noch ein Stachelschwein abflammen, ausnehmen und braten. Luis Horseman hatte seinen Lagerplatz gut gewählt. Hier wurde das Plateau von einem der hundert namenlosen Canons durchschnitten, die in den tiefen Many Ruins Canon mündeten. Am Rand des Einschnitts, wo Erosion den stützenden Sandstein zerfressen hatte, war die schwere Granitdecke des Plateaus unter ihrem eigenen Gewicht zerbrochen. Mehrere Felsblöcke waren in den Canon gestürzt und hatten zimmergroße Löcher in den Klippen hinterlassen. Andere hatten lediglich das Übergewicht bekommen und waren ein Stückchen den Hang hinuntergerutscht. Hinter einem der letzteren kniete Horseman vor seinem Feuer, das er im äußersten Winkel dieser natürlichen Festung angelegt hatte. Da über ihm nichts war, durch das der Schein reflektiert wurde, konnte er nur gesehen werden, wenn man direkt am
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Rand des Canons stand und auf ihn hinabblickte. Die Flammen verliehen Horsemans Gesicht einen rötlichen Schimmer. Es war ein junges Gesicht, schmal und sensibel, mit großen schwarzen Augen und weichem Mund. Die Stirn war hoch, zum Teil von einem roten, am Hinterkopf geknoteten Stoffstreifen verdeckt, die Nase messerscharf und gebogen. Ein Falkengesicht. Horseman saß mit gekreuzten Beinen auf einem Hügel aus dem vom Plateau herabgetriebenen Sand. Das einzige Geräusch in dieser Stille machte das Fett, das zischend vom bratenden Stachelschwein in die Flammen tropfte. Das Tier war höchstens ein Jahr alt gewesen und so klein, daß er es zu zwei Dritteln verzehrte. Er schüttete Sand auf die Feuerstelle und legte den Rest des Fleisches, den er am anderen Morgen essen wollte, in die glühende Asche. Dann streckte er sich im Dunkeln aus. Nicht lange nach Mitternacht würde der Mond aufgehen, jetzt aber standen nur die Sterne am Himmel. Zum erstenmal seit drei Tagen hatte Luis Horseman das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Als er so dalag und sich entspannte, überfiel ihn eine fast schmerzende Müdigkeit. Gleich durfte er schlafen, zunächst aber mußte er noch einmal nachdenken. Morgen wollte er sich, wenn es ging, ein Schwitzhaus bauen und ein Dampfbad nehmen. Sobald es ohne Gefahr zu machen war, mußte er sich dann einen Sänger besorgen und sich von ihm den Heilszauber singen lassen, doch dazu gab es vorerst noch keine Gelegenheit. Für den Moment mußte er sich mit einem Dampfbad begnügen. Die Prozedur würde zwar einige Zeit in Anspruch nehmen, doch morgen hatte er ja Zeit genug, denn für morgen war er gut versorgt: mit dem Rest des Stachelschweines und vermutlich mehreren Känguruhratten. Die waren ihm sicher. Er hatte zwölf oder dreizehn mit Blut und Stachelschweinfett bestrichene Baumfallen gebaut, außerdem mußte sein Gesang in etwa gestimmt haben. Nicht ganz, aber so ungefähr. Über den morgigen Tag hinaus wollte
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er nicht denken. Jedenfalls noch nicht jetzt. Bis dahin hatten sie sicher gemerkt, daß er nicht ins Tsay-Begi-Gebiet zum Clan seiner Schwiegereltern zurückgekehrt war, und würden hier nach ihm suchen kommen. Abermals wurde Horseman von Angst gepackt. Er wünschte auf einmal, er hätte seine Stiefel und irgend etwas, das er als Wasserbehälter benutzen konnte. Der steile Weg zur Quelle am Boden des Canons war lang und beschwerlich. Sie würden ihn aber überall dort suchen, wo Wasser war, und selbst wenn er seine Spuren verwischte - irgendein Zeichen würde zurückbleiben, und sei es nur niedergedrücktes Gras. Als Wasserbehälter konnte er den Magen des Stachelschweines verwenden; einen Tag lang würde er mit dem Inhalt auskommen. Dann fand er vielleicht etwas anderes oder hatte Gelegenheit, ein größeres Tier zu erlegen. Für seine Füße hingegen konnte er gar nichts tun. Sie schmerzten, weil er den ganzen Tag in Stadtschuhen herumgelaufen war; sollte er noch weite Strecken zurücklegen müssen, würden die Schuhe nicht halten. Auf einmal hörte er ein Geräusch - leise zuerst, dann immer lauter. Eindeutig ein Lastwagen. Nein, zwei. Sie fuhren im ersten Gang. Weit drüben im Westen. Die leichte Nachtbrise drehte sich jedoch ein wenig, und das Geräusch verklang. Erst als der Wind wieder von Westen kam, hörte er die Motoren erneut. Dann hörte er gar nichts mehr. Nur noch den Ruf des Ziegenmelkers, der auf dem Plateau jagte, und das Zirpen der Grillen unten an der Quelle. Muß drüben im Many Ruins Canon gewesen sein, dachte Horseman. Es hatte geklungen, als bewegten sich die Fahrzeuge den Canon entlang, von ihm fort. Aber warum? Und wer mochte das sein? Von seinem Clan war jetzt bestimmt keiner im Canon. Die Angehörigen der Red-Forehead-Sippe mieden ihn wegen der Anasazi-Häuser. Der Ye-i und der Gehörnte Drache hatten die Anasazi vor langer Zeit schon verschlungen - ehe der Drachentöter kam.
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Die Geister der Alten aber hausten noch immer in den großen Fels-Hogans unter den Klippen, deswegen gingen seine Leute niemals dorthin. Deswegen hatte er auch diesen Platz gewählt. Nicht zu sehr in der Nähe der Totenhäuser, aber doch immerhin so nahe, daß der Blaue Polizist nicht auf den Gedanken kam, ihn hier zu suchen. Horseman fühlte, wie sich das Messer in seiner Tasche schmerzhaft in seine Hüfte drückte. Er drehte sich auf den Rücken, zog es heraus, öffnete die lange Klinge und legte sie sich quer über die Brust. Kurz darauf stieg der Mond über das Plateau herauf und schien auf einen mageren, jungen Mann herab, der barfuß auf einem Treibsandbett schlief. Bei Tagesanbruch war Horseman an der Quelle und trank in durstigen Zügen aus dem Teich unter dem Felsen. Dann reinigte er den Magensack des Stachelschweins gründlich mit Sand, spülte ihn aus, verknotete den Magenausgang und füllte ihn mit Wasser. Er faßte ungefähr zwei Tassen. Das Dampfbad würde er noch aufschieben müssen. Hier an der Quelle ein Schwitzhaus zu bauen war zu riskant. Und wenn er es an seinem geschützten Lagerplatz baute, hatte er keinen Behälter, der groß genug wäre, um so viel Wasser hinaufzutragen, wie er über die erhitzten Steine gießen mußte, um zu schwitzen. Mit einem Zweig der Goldasterstaude löschte er sorgfältig seine Spuren und hielt sich beim Erklettern der Canon-Wand auf dem Fels. Vier seiner Baumfallen waren zugeschnappt, tote Känguruhratten jedoch gab es lediglich zwei. Die dritte Falle hatte eine Waldmaus erschlagen, die er voll Widerwillen von sich schleuderte, die vierte war leer. Verdrießlich stellte er die Fallen wieder auf. Zwei Ratten reichten nicht. Es gab zwar Frösche an der Quelle, doch wenn man Frösche tötete, wurde man zum Krüppel. Er konnte es ja mal mit den Präriehunden versuchen. Ein ausgewachsenes Exemplar ergab eine ganze Mahlzeit.
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Der Platz, wo Horseman die Präriehundkolonie entdeckt hatte, lag ungefähr eine Meile weiter östlich. Da er sich, eingedenk des Lastwagengeräusches, nur sehr vorsichtig bewegte, brauchte er eine halbe Stunde für den Weg. Vielleicht war wieder eine Rakete abgestürzt. Er erinnerte sich noch gut an das erste Mal. Das war im Jahr seiner Jünglingsweihe gewesen, und alles hatte von Soldaten gewimmelt. Lastwagen, Jeeps, Hubschrauber waren gekommen, und die Soldaten waren in alle Hogans gegangen, um zu verkünden, daß derjenige, der das Ding fand, zehntausend Dollar bekäme. Es war aber nicht gefunden worden. Dann hatten sie einen Weg zum Tall Poles Butte hinauf angelegt und dort die Radarstation gebaut. Und als vor einem Jahr die nächste Rakete abstürzte, hatten sie sie nach zwei, drei Tagen gefunden. Er blieb bei einem abgestorbenen Wacholderbusch stehen, brach einen krummen Ast ab und schnitzte sich einen Wurfstecken daraus. Zuweilen gelang es ihm, damit ein Kaninchen zu treffen, Präriehunde waren jedoch gewöhnlich zu flink. Sie waren zu wachsam. Während er an seinem Stock herumschnitzte, beobachtete er konzentriert das Kam-BimghiTal. Nichts rührte sich, also handelte es sich vermutlich doch nicht um eine abgestürzte Rakete. Denn dann gäbe es jetzt einen Riesenzirkus. Außerdem würden sie die Rakete bestimmt nicht bei Nacht suchen. Er kam nicht dazu, den Wurfstock zu benutzen. Die Erdhöhlen der Kolonie lagen dicht beieinander unter einem Pinienhügel. Eines der Tiere entdeckte ihn, lange bevor er auf Wurfweite herangekommen war, und stieß warnende Pfeiftöne aus. Innerhalb einer Sekunde waren die Präriehunde in ihren Löchern verschwunden. Horseman schob den Wurfstock in seine Hüfttasche und brach sich von einer Pinie einen kleineren Zweig. Das eine Ende spitzte er zu, das andere spaltete er. Zur Kolonie zurückgekehrt, wählte er einen Bau,
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der sich nach Westen öffnete. Er bohrte den Stock dicht davor in die Erde, holte ein dünnes Glimmerplättchen aus seinem Medizinbeutel und klemmte es in den Spalt. Dann richtete er das Plättchen so, daß es das Licht der aufgehenden Sonne reflektieren und in den Höhleneingang werfen mußte. Jetzt brauchte er nur noch abzuwarten. Mit der Zeit würde das Licht eines der neugierigen Tiere herauslocken. Es würde an die Öffnung kommen, vom reflektierten Sonnenlicht geblendet werden, und dann hatte er endlich Gelegenheit, seinen Wurfstecken zu benutzen. Er sah sich nach einem geeigneten Standplatz um. In diesem Augenblick entdeckte er den Navajo-Wolf. Gehört hatte Luis Horseman nichts. Dennoch stand der Mann keine zehn Meter von ihm entfernt und beobachtete ihn stumm. Es war ein großer, kräftiger Mann mit einem Wolfsfell über den Schultern. Die Vorderpfoten hingen schlaff über das schwarze Hemd herab, den Schädel der Bestie hatte er sich hoch auf die Stirn geschoben, so daß die Schnauze himmelwärts wies. Der Wolf starrte Horseman an. Dann lächelte er. «Ich werde nichts sagen», versicherte Horseman. Er sagte es laut, beinahe schreiend. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und stürzte davon, rannte Hals über Kopf den Arroyo entlang, der sich von der Präriehundkolonie in den Canon hinunterzog. Und hörte hinter sich den Navajo-Wolf lachen.
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In dieser Nacht jagte das Windvolk über die Reservation. Nach dem Navajo-Kalender war es acht Tage vor dem Ende der Jahreszeit-wenn-der-Donner-schläft, der 25. Mai. Spät erst stand die Mondscheibe am Himmel. Der Wind kam aus einem Hochdrucksystem über dem Plateau von Nevada und grub bizarre Formen in den Packschnee auf den San Francisco Peaks, dem Heiligen Berg der Blauen Steinfrau. Unten, auf dem Flughafen von Flagstaff, registrierte man Böen von Geschwindigkeiten bis zu zweiunddreißig Knoten: der trockene, kalte Wind des Hochlandfrühlings. Am Westabhang der Lukachukai-Berge pfiff das Windvolk an dem Felsblock vorbei, hinter dem Luis Horseman kauerte. Er hatte sich, um die Geister irrezuführen, den Körper mit dunkler Asche eingerieben und war jetzt beruhigt. Der Anti, der Bösen Zauber machen und sich nach Belieben in einen Werwolf verwandeln konnte - daher auch das Wolfsfell über den Schultern! -, war ihm nicht gefolgt, das hieß, er hatte nicht vor, ihn zu töten. Und ein anderes Versteck kam für ihn nicht in Frage. Billy Nez würde bald erfahren, daß er sich hier auf dem Plateau aufhielt, und ihm etwas zu essen bringen. Dann sah schon alles viel besser aus. Hier würde der Blaue Polizist ihn auch nicht finden. Also mußte er hierbleiben - trotz des Navajo-Wolfs. Luis öffnete seinen Medizinbeutel und inspizierte den Inhalt. Pollen waren genügend vorhanden, von der Zaubermedizin aus Tiergalle jedoch nur noch eine Fingerspitze. Dabei war die der beste Schutz gegen Navajo-Wölfe. Er nahm den Türkisbären heraus und stellte ihn auf sein Knie. «Bica-Horn, schütze mich», sang er. «Bewahre mich vor der ewigen Dunkelheit.» Er wünschte jetzt, wie schon so oft, seitdem er älter geworden war, dem Onkel besser zugehört zu
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haben, als dieser ihm erklärte, wie man mit dem Heiligen Volk reden mußte. Ungefähr hundert Meilen weiter südlich, in Window Rock, rappelte das Windvolk an den Fenstern des Polizeigebäudes, in dem Joe Leaphorn sich durch die unerledigten Fälle einer ganzen Woche arbeitete. Die Akte mit dem Namen Luis Horseman war die drittunterste, deswegen wurde es beinahe zehn, bis Leaphorn sie endlich in Angriff nahm. Er las die Papiere durch, lehnte sich bequem zurück, steckte sich die letzte Zigarette aus seine Packung an, trommelte mit den Fingern einen Wirbel auf der Schreibtischplatte und überlegte: Ich weiß, wo Horseman ist. Ich bin überzeugt, daß ich es weiß. Aber es hat keine Eile damit. Horseman läuft mir nicht davon. Dann lauschte er den Stimmen im Wind, dachte an Hexen und Zauberer und an Bergen McKee, seinen Freund, der sie zu seinem Studienobjekt gewählt hatte. Bei der Erinnerung an ihn mußte er lächeln. Aber das Lächeln verging ihm sofort, denn Bergen war selbst das Opfer einer Hexe geworden - der Frau, die ihn geheiratet, zutiefst verletzt und dann sich selbst überlassen hatte: Sollte er seine Wunden heilen, so gut es ging. Anscheinend aber ging es nicht. Joe Leaphorn dachte an den Brief, den er in dieser Woche von McKee erhalten hatte. Wieder einmal hatte der Freund geschrieben, er habe vor, in die Reservation zurückzukehren und seine Forschung über den Navajo-Hexenglauben weiterzuführen. Vor allem interessierten ihn die Antis, eine Mischung aus Medizinmann, Zauberer und Hexenmeister, die sich, in der Vorstellung der Navajo, in mancherlei Getier verwandeln konnten und Schafe und Menschen rissen. Derartige Versprechen hatte McKee schon mehrmals gemacht, sie aber nie eingehalten. Und diesmal wird er wieder nicht kommen, dachte Leaphorn. Mit jedem Jahr, das er wartet, wird es ihm schwerer fallen, das alte Leben wiederaufzunehmen. Vielleicht fällt es ihm jetzt schon zu
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schwer. Joe Leaphorn schaltete die Schreibtischlampe aus und blieb, dem Wind lauschend, einen Augenblick still im Dunkeln sitzen. Vierhundert Meilen weiter östlich, in Albuquerque, machte sich der Wind vorübergehend in der Wohnung Bergen McKee's bemerkbar, indem er den Fernsehturm auf dem Sandia Crest so stark schüttelte, daß ein Flackern über den Bildschirm huschte - den Bergen McKee gar nicht beachtete. Den Ton hatte er schon vor einer Stunde abgestellt, weil er Examensarbeiten korrigieren wollte. Aber der Wind machte ihn nervös, und so hatte er sich statt dessen einen Shaker voll Martinis gemixt, die er bei seiner Arbeit austrank, damit er hinterher einschlafen konnte. Vielleicht bekam er morgen Antwort auf seinen Brief, und Joe Leaphorn teilte ihm mit, daß es ein gutes, ein schlechtes oder ein durchschnittliches Jahr für Gerüchte über ihr Unwesen treibende Antis sei. Und wenn die Aussichten günstig waren, fuhr er in der kommenden Woche vielleicht in die Reservation, um während des Sommers die Fallstudien zu vervollständigen, die er noch für sein Buch brauchte. Obwohl ihn das Buch im Grunde gar nicht mehr interessierte. Es konnte daher ebensogut sein, daß er doch nicht fuhr. Er schaltete das Radio ein und blieb an der Balkontür stehen. Der Wind hatte die Wolkendecke über dem SandiaBerg davongeblasen; die schwarze Silhouette stand klar vor den Sternen des östlichen Horizonts. Zehn Stockwerke unter ihm zogen sich die Lichter der Stadt bis zu den Vorbergen hin - eine phosphoreszierende Wasserfläche in der Unendlichkeit der Nacht. Das Radio hinter ihm meldete für morgen kühleres Wetter mit nachlassendem Wind. Bergen McKee kehrte an seinen Schreibtisch zurück - ein großer, starkknochiger, müder Mann, der zugleich kraftvoll und
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linkisch wirkte. Er raffte die unzensierten Examensarbeiten zusammen, schob sie in seine Aktentasche und schenkte sich einen letzten Martini ein, den er mit in sein Schlafzimmer hinübernahm. Nachdenklich betrachtete er die gerahmte Urkunde an der Wand. Das Glas war verstaubt. McKee säuberte es mit seinem Taschentuch. «Sintemalen es bei den Studenten der Anthropologie eine weithin und allgemein bekannte Tatsache ist», lautete der Text, «daß Bergen Leroy McKee, B.A., M.A., Ph.D., wahrlich und gewißlich kein anderer ist als der leibhaftige Drachentöter, ebenfalls bekannt als der Helden-Zwilling des NavajoUrmythos; Item: Sintemalen diese Tatsache belegt und bewiesen ist durch den krankhaften Eifer und die Besessenheit, mit der besagter Professor McKee, im folgenden Drachentöter genannt, seine Studenten mit der erwähnten Entstehungssage traktiert; Item: Sintemalen der Drachentöter bekanntermaßen von Wechselnder Frau geboren und von der Sonne gezeugt worden ist; Item: Sintemalen obengenannte geschlechtliche Vereinigung ohne den Segen des Heiligen Ehestandes vollzogen wurde, gemeinhin als unzulässige, gesetzwidrige, ungeweihte und auch in sonstiger Hinsicht sittenwidrige Hurerei zu gelten hat; Ergo sei allen Menschen kund und zu wissen getan, daß der besagte Drachentöter alle ungeschriebenen und geschriebenen Voraussetzungen für den Beinamen erfüllt und seinen Anspruch auf diesen Titel durch die Art und Weise, mit der er die Examensarbeiten seines Studienseminars für Primitiv-Aberglauben zensiert, in jedem Semester aufs neue demonstriert.»
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Die Urkunde war in kunstvollen, verschnörkelten gotischen Lettern handgemalt, mit einem Notarsiegel versehen und von allen sieben Teilnehmern an McKee's Seminar unterzeichnet worden. Vor sechs Jahren, im Jahr seiner großen akademischen Erfolge. In seinem letzten guten Jahr. Ein Jahr bevor er eines Tages nach Hause kam und Saras Schränke leer, statt dessen aber ihren Abschiedsbrief vorfand: siebzehn Wörter in blauer Tinte auf blauem Papier. Im letzten Jahr der Begeisterung, des eifrigen Pläneschmiedens für seine Forschungsarbeiten, mit deren Hilfe er den gesamten NavajoAberglauben zu einem sauberen, ordentlichen Bündel verschnüren wollte. Im letzten Jahr vor seinem Erwachen zur Wirklichkeit. McKee leerte sein Martiniglas, schaltete das Licht aus, lag still im Dunkeln, lauschte dem Wind und versuchte sich zu erinnern, was für ein Gefühl es gewesen war, der Drachentöter zu sein.
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Als Bergen McKee am Morgen des 26. Mai zu seinem Postfach im Fakultätsgebäude ging, empfand er dabei das gleiche wie jedesmal bei dieser Gelegenheit: eine gewisse Erwartungsfreude. Selbst lange Jahre negativer Erfahrungen, in denen er dem Fach höchstens Vorlesungslisten, Benachrichtigungen und Buchreklamen entnommen hatte, waren nicht in der Lage gewesen, dieses Gefühl ganz in ihm zu ersticken. Nur manchmal, wenn er sich in Gedanken mit einem anderen Problem beschäftigte, griff McKee ohne die optimistische Hoffnung, das Fach müsse heute eine besondere Überraschung für ihn bereithalten, nach seiner Post. Doch als er jetzt das Vorzimmer der Fakultätssekretärin betrat, Mrs. Kreutzer einen guten Morgen wünschte und sich nach rechts, zu den Postfächern, wandte, war er keineswegs abgelenkt. War für ihn wieder mal nichts gekommen, mußte er sich allerdings sofort auf die Frage konzentrieren, wie er bis morgen mittag vierundachtzig Examensarbeiten zensieren sollte. Ein zweifellos deprimierender Gedanke. «Hat Dr. Canfield Sie erreicht?» Mrs. Kreutzer hielt den Kopf ein wenig gesenkt, damit sie ihn durch die obere Hälfte ihrer Bifokalbrille ansehen konnte. «Nein, Ma'am. Ich habe Jeremy seit drei Tagen nicht mehr gesehen.» Der oberste Umschlag enthielt die Nachricht, sein Abonnement für Ethnology Abstracts sei abgelaufen. «Er wollte Sie bitten, sich einer Bekannten anzunehmen», verriet ihm Mrs. Kreutzer. «Ich glaube, Sie haben sie gerade verpaßt.» «Okay», sagte McKee.»Was will sie denn?» Der zweite Brief stammte von Dr. Green und erinnerte die Angehörigen des Lehrkörpers an 'eine Tatsache, die ihnen nur allzugut bekannt
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war: Die endgültigen Semesterzensuren mußten spätestens am 27.Mai, zwölf Uhr mittags, eingereicht werden. «Irgendwas im Zusammenhang mit der NavajoReservation», antwortete Mrs. Kreutzer. «Sie sucht jemanden, der da draußen arbeiten soll. Dr. Canfield dachte, Sie könnten ihr vielleicht einen Tip geben.» McKee mußte grinsen. Weitaus wahrscheinlicher war, daß Mrs. Kreutzer festgestellt hatte, die Dame sei ledig, mannbaren Alters und könne Dr. McKee unverständlicherweise - attraktiv finden. Mrs. Kreutzer machte sich ständig Sorgen um ihre Mitmenschen. Jetzt fiel ihm ein, daß er beim Betreten des Anthropologie-Gebäudes einer jungen Frau mit dunklem Haar und dunklen Augen begegnet war. «Ist sie mein Typ?» erkundigte er sich. Der dritte und letzte Brief trug den Poststempel «Window Rock, Arizona» und den Absender «Division of Law and Order, Navajo Tribal Council». Der mußte von Joe Leaphorn sein. McKee schob ihn vorerst in die Tasche. Mrs. Kreutzer sah ihn vorwurfsvoll an; sie kannte seine Gedanken und verabscheute seinen Ton. McKee empfand leichte Gewissensbisse. «Sie machte einen sehr netten Eindruck», erklärte Mrs. Kreutzer. «Ich finde, daß Sie ihr helfen sollten.» «Mal sehen, was sich da tun läßt», gab er zurück. «Jeremy sagte mir, daß Sie ihn in diesem Sommer in die Reservation begleiten», fuhr Mrs. Kreutzer fort. «Das finde ich ausgezeichnet.» «Steht aber noch nicht fest. Ich muß vielleicht einen Sommerkurs übernehmen.» «Das sollen Ihre Kollegen ruhig selber tun.» Mrs. Kreutzer musterte ihn über den Rand ihrer Brille hinweg. «Sie sind schon ganz blaß.»
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McKee wußte genau, daß er nicht blaß war. Im Gegenteil, seine Gesichtshaut schälte sich sogar, weil er einen Sonnenbrand hatte. Aber er wußte ebenfalls, daß Mrs. Kreutzers Äußerung sinnbildlich gemeint war. Einmal hatte er sie das gleiche zu einem nigerianischen Studenten sagen hören, und als der Nigerianer ihn anschließend fragte, was denn Mrs. Kreutzer damit gemeint haben könne, hatte McKee ihm erklärt, das heiße nichts weiter, als daß sie sich seinetwegen Sorgen mache. «Sollen die doch ihren Dreck alleine machen», grollte Mrs. Kreutzer und überraschte ihn nicht nur mit ihrer Heftigkeit, sondern auch mit ihrem Jargon. «Sie werden immer nur ausgenutzt.» «Aber nein», entgegnete McKee. «Jedenfalls habe ich nichts dagegen.» Als er jedoch den Flur zu seinem Büro entlangging, hatte er doch ein wenig dagegen. George Everett hatte ihn gebeten, in diesem Sommer seinen Kursus zu übernehmen, da Everett selbst zu einer Ausgrabung in Guatemala eingeladen worden war, und jetzt erinnerte sich McKee verärgert, daß Everett fest überzeugt gewesen war, der gute alte Bergen werde ihm diesen Gefallen schon tun. Und außerdem hatte er etwas dagegen, das ständige Objekt von Mrs. Kreutzers Mitleid zu sein. Der Hahnrei läßt sich nicht gern an seine Hörner erinnern, der Ausgestoßene nicht an sein Versagen. Er zog den «Law and Order» -Brief aus der Tasche und dachte an die Vergangenheit - an jene Zeit, als er, erst siebenundzwanzig Jahre alt, in der Navajo-Reservation die Wahrheit gesucht hatte, damals noch voller Begeisterung und Naivität, damals noch voll Optimismus, damals noch ohne daß ihm jemand erklärt hatte, er sei kein Mann. Er konnte sich nicht mehr recht vorstellen, wie das gewesen war.
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Er zog die Jalousien hoch, schaltete die Klimaanlage ein und hörte, als er sich hinsetzte, das vertraute Knarren seines Drehsessels. Dann erst riß er den Umschlag auf. Lieber Berg, auf Deine Frage nach Anti-Fällen habe ich ein wenig berumgehorcht, aber es sieht nicht sehr vielversprechend aus. Es hat zwar in der Gegend des No-Auga-Beckens ein paar Gerüchte, in den Lukachukais östlich von Chinle das eine oder andere Vorkommnis und westlich vom Colorado River oben an der Utah-Grenze Gemunkel über gewisse Zwischenfälle gegeben, doch nichts davon scheint mir gefährlich oder ungewöhnlich, falls Du auf so etwas aus sein solltest. Bei der No-Agua-Geschichte handelt es sich, wie ich gehört habe, um einen Streit zwischen zwei Gruppen des Salt Cedar Clan, in dem es um ein Stück Weideland geht. Die Sache in Utah scheint sich um einen alten Sänger mit schlechtem Ruf zu drehen, und was die Lukachukais angeht, so berichten mir unsere Leute von der Unteragentur Chinle, daß sie noch nicht genau feststellen konnten, was da eigentlich los ist. Die Story, die man ihnen - aus mindestens vierter Hand - aufgetischt hat, besagt, daß es da irgendwo im Canon-Gebiet des Westabhangs eine Navajo-Wolf-Höhle geben soll. Diese Antis sollen sich angeblich bei den Sommer-Hogans da oben herumtreiben, Tiere töten und so weiter. Das Übliche. Und wie gewöhnlich fällt die Geschichte, die man zu hören bekommt, jedesmal anders aus. Die ersten beiden Gerüchte könnten zu den Theorien in Deinem Buch über «Social and Psychotherapeutic Utility of Navajo Wolf and Frenzy Superstitions» passen, aber das wirst Du selbst besser beurteilen können. Bei der LukachukaiSache bin ich mir nicht ganz sicher. Sie könnte etwas mit einem Mann zu tun haben, nach dem wir dort fahnden. Es sei
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denn, es handelt sich um einen richtigen, echten Anti, der sich tatsächlich in einen Werwolf verwandelt. Würde das Euch Gelehrtentypen nicht mal so recht aus den Pantinen hauen? Die letzten beiden Abschnitte des Briefes berichteten von Leaphorns Frau und Familie und von einem gemeinsamen Freund aus der Schulzeit. Außerdem enthielten sie das Angebot, McKee zu unterstützen, falls er in diesem Sommer auf «Hexenjagd» gehen wollte. McKee mußte lächeln. Leaphorn war ihm bei seinen anfänglichen Forschungen eine große Hilfe gewesen; er hatte ihm die Archive der Law and Order Division zugänglich gemacht und ihm geholfen, die Leute zu finden, die er brauchte: von der Zivilisation unverdorbene Indianer, die sich mit Bösem Zauber auskannten. Er hatte es stets bedauert, daß Leaphorn seine These nicht recht akzeptieren wollte - die These, der Werwolf-Aberglaube sei nichts weiter als das Bedürfnis primitiver Völker nach einem Sündenbock, dem sie in Zeiten der Not und Verzweiflung die Schuld an ihren Leiden aufbürden konnten. Er lehnte sich bequem zurück, las den Brief noch einmal durch und dachte an die vielen Diskussionen, die sie geführt hatten. Leaphorn hatte beharrlich erklärt, es müsse ein Kern von Wahrheit im Ur-Mythos der Navajo stecken, es gebe immer wieder Menschen, die sich absichtlich antisozial verhielten, den goldenen Weg der Natur verließen, bewußt das Unnatürliche und damit, nach dem Glauben der Navajos, das Böse wählten. Mit Vergnügen dachte McKee an die langen Abende in Leaphorns Wohnung, wenn Leaphorn im Eifer des Gefechtes in die Navajo-Sprache verfiel und Emma, damals noch eine frischgebackene Ehefrau, sie alle beide einfach auslachte und Bier auftischte. Es wäre schön, die beiden wiederzusehen, aber der Brief klang nicht sehr ermutigend. Er brauchte noch ein Dutzend Fallstudien für sein neues Buch, wenn er seine Theorie in allen Punkten untermauern wollte.
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Ohne anzuklopfen, kam Jeremy Canfield herein. «Ich möchte Ihnen eine Frage stellen», erklärte er. «Wo könnte man in der Navajo-Reservation einen Elektroingenieur suchen, der seine Apparaturen testet?» Er zog seine Pfeife aus der Jackentasche und klopfte sie in McKee's Aschenbecher aus. «Ich kann Ihnen sogar einen Anhaltspunkt geben. Wir wissen, daß er einen hellgrünen Kastenwagen fährt. Was er für Geräte bei sich hat, wissen wir nicht, aber er muß seine Tests weitab von Stromleitungen, Telefondrähten und ähnlichem durchführen.» «Damit kann ich ungeheuer viel anfangen», spottete McKee. «Jetzt bleiben nur noch neunzig Prozent der Reservation für eine Suche offen - neunzig Prozent, also ungefähr fünfundzwanzigtausend Quadratmeilen. Finden Sie mal in einem Gebiet, das größer ist als ganz New England, einen grünen Kastenwagen!» «Es handelt sich um die Tochter eines meiner Freunde. Eine Miss Ellen Leon», erklärte Canfield. «Sie hat es sich in den Kopf gesetzt, diesen Vogel von der U.C.L.A. aufzutreiben.» Canfield war ein kleiner Mann mit einem fröhlichen Mondgesicht, das durch die Glatze noch runder wirkte. Eine leichte Rückgratverkrümmung zwang ihn, immer ein wenig gebeugt zu gehen. «Diese verdammten Flachländer haben keine Ahnung von Geographie», schimpfte Canfield. «Die glauben immer, die Reservation sei nicht größer als der Central Park.» «Weswegen sucht sie ihn denn?» erkundigte sich McKee. Canfield zog ein verlegenes Gesicht. «So etwas fragt man eine Frau nicht, Berg. Nehmen wir einfach an, daß es um Liebe geht. Nehmen wir an, sie hat was für seinen Adonis-Körper übrig.» Canfield setzte seine Pfeife in Brand. «Nehmen wir an, sie hat ihm einen Korb gegeben, er enttäuscht auf und davon, um sein gebrochenes Herz zu kurieren, und jetzt hat sie es sich doch noch überlegt.»
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Oder nehmen wir an, sie ist genauso dumm wie ich, dachte McKee. Nehmen wir an, er hat sie verlassen, und sie ist zu jung, um zu wissen, daß alles hoffnungslos ist. «Jedenfalls habe ich ihr gesagt, er könnte eventuell in der Chuska Range sein. Oder, wenn er die Berge liebt, in den Lukachukais. Oder, wenn er die Wüste liebt, im Kam-BimghiTal, oder nördlich der Hopi-Dörfer, oder an noch einigen anderen Orten. Ich habe ihr die Stellen auf der Karte markiert und ihr auch gezeigt, wo die Handelsposten liegen, weil er ja dort wohl seine Vorräte auffüllen muß.» «Vielleicht sind die beiden verheiratet», mutmaßte McKee. Er interessierte sich plötzlich für diesen Fall, und das überraschte sogar ihn selbst. «Sie heißt Ellen Leon», erwiderte Canfield mit betonter Geduld, «während er ein gewisser Jimmie W Hall, Ph.D., sein soll. Außerdem trägt sie keinen Ehering. Woraus ich messerscharf schließe, daß sie nicht verheiratet sind.» «Okay, Sherlock Holmes», lenkte McKee jetzt ein. «Und ich schließe aus ihrem Verhalten, daß diese Frau ungefähr eins fünfundsechzig groß, schlank, schwarzhaarig ist und ein -» McKee dachte einen Augenblick nach - «ein Kostüm in einer ungewöhnlichen Farbe trägt.» «Und ich schließe daraus, daß Sie ihr im Flur begegnet sind. Jedenfalls habe ich ihr versprochen, daß wir nach diesem Vogel Ausschau halten und ihr Bescheid geben, wo wir unser Lager aufschlagen, damit sie selbst mal bei ihm nach dem Rechten sehen kann.» Er warf McKee einen prüfenden Blick zu. «Wo möchten Sie mit Ihrer Suche nach Antis anfangen?» McKee wollte schon Leaphorns Brief erwähnen und sagen, er habe sich noch nicht entschieden, ob er überhaupt fahren werde. Statt dessen mußte er an das Mädchen denken, das aus dem Anthropologie-Gebäude herausgekommen war und müde, enttäuscht und irgendwie deprimiert ausgesehen hatte.
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«Ich weiß noch nicht», sagte er daher. «Vielleicht in der Gegend von NoAgua oder drüben, westlich der ColoradoSchlucht. Oder am Westabhang der Lukachukais.» Er überlegte einen Moment. Canfield mußte für sein augenblickliches Forschungsprojekt die Grabstätten der Anasazi, der Vor-Navajo-Felsenbewohner, aufsuchen. Bei NoAgua gab es keine derartigen Wohnanlagen, und im Gebiet des Colorado River nur wenige. «Wie wäre es, wenn wir in den Canons am Westabhang der Lukachukais beginnen?» «Das wäre günstig für mich», antwortete Canfield. «Wenn Sie da oben ein paar Antis zu interviewen haben - für mich gibt es da so viele Ruinen, daß ich alle Hände voll zu tun haben werde. Außerdem werde ich meine Gitarre mitnehmen, damit ich abends mit Ihnen zweistimmig singen kann.» An der Tür blieb Canfield noch einmal stehen; seine Miene war ernst geworden. «Ich freue mich, daß Sie doch mitfahren wollen, Bergen. Nach meiner Meinung brauchen Sie unbedingt...» Er brach plötzlich ab, weil er merkte, daß er im Begriff war, in eine Intimsphäre einzudringen. «Ich sollte mir, glaube ich, von Ihnen garantieren lassen, daß mich Ihre Werwölfe nicht holen kommen», schloß er statt dessen. Es klang ein bißchen lahm und konnte seine Verlegenheit nicht kaschieren. «Meine Navajo-Wölfe sind rein psychotherapeutischer Natur und daher erwiesenermaßen harmlos», erwiderte McKee. Er zog eine Schreibtischschublade auf, kramte zwischen Heftklammern, geschnitzten Knochen, Pfeilspitzen und Topfscherben herum und holte schließlich einen eigroßen Türkis heraus, der wie ein kauernder Frosch geformt war. Er warf ihn Canfield zu. «Reed-Clan-Totem», sagte er dabei. «Eines von den Heiligen Völkern. Schützt vor Leichenpulver. Kein Navajo-Wolf mit einem Funken Ehrgefühl wird Sie belästigen. Das garantiere ich Ihnen.»
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«Ich werde es immer bei mir tragen», versicherte Canfield. An diese Worte sollte McKee später noch denken. Sie sollten ihm keine Ruhe lassen.
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Bergen McKee hatte beinahe den ganzen Nachmittag lang im Deckstuhl neben dem Eingang von Shoemaker gesessen. Das Geschäft ging schleppend; nur wenige Angehörige Des Volkes waren gekommen. Drei von ihnen jedoch hatten McKee von Gerüchten über mögliche Antis berichtet, und aus einem hatte er sogar die Namen von zwei Navajos herausgeholt, die möglicherweise mehr darüber wußten. Ein recht guter Anfang, sagte er sich. Er warf einen Blick zu Leaphorn hinüber. Joe stand an den Ladentisch gelehnt und lauschte geduldig dem alten Shoemaker, der wieder einmal eine seiner endlosen Geschichten zum besten gab. McKee hatte Gewissensbisse. Leaphorn hatte zwar behauptet, er müsse ohnehin den Handelsposten aufsuchen, er habe den Besuch nur aufgeschoben, um gemeinsam mit McKee hinfahren zu können. Wahrscheinlich aber hatte er das nur gesagt, um seinem Freund auf taktvolle Art und Weise einen Gefallen tun zu können. «Da steckt ein junger Mann in diesem Gebiet, nach dem wir fahnden», hatte Leaphorn erklärt und einen Aktendeckel über den Ladentisch geschoben. «Hat letzten Monat in Gallup einen Mexikaner mit dem Messer bearbeitet.» Die Akte betraf einen gewissen Luis Horseman, zweiundzwanzig, Sohn der Annie Horseman vom Red Forehead Clan. Verheiratet mit Elsie Tso, Tochter der Lilly Tso vom Many Goats Clan. Wohnsitz Sabito Wash, siebenundzwanzig Meilen südlich von Klagetoh. Drei Haftstrafen für Trunkenheit und ordnungswidriges Verhalten, tätliche Beleidigung und Drogenrausch am Steuer. Der letzte Eintrag betraf eine Messerstecherei in einer Bar in Gallup sowie den Diebstahl eines Wagens, anschließend an diese
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Messerstecherei, der später jedoch wieder stehengelassen wurde. «Wieso glaubst du, daß er sich ausgerechnet im LukachukaiGebiet aufhält?» hatte McKee seinen Freund gefragt. «Warum nicht in der Gegend von Klagetoh, bei seiner Frau?» «Das ist nicht schwer zu erklären», hatte Leaphorn geantwortet. Horseman nehme vermutlich an, er habe den Mexikaner getötet, und habe deswegen jetzt furchtbare Angst. Die Verwandten seiner Frau mochten ihn nicht. Das wisse Horseman, und auch, daß sie ihn sofort anzeigen würden. Darum sei er in das Gebiet geflohen, in dem der Clan seiner Mutter lebte und er sich unbesorgt verstecken könne. «Wie willst du ihn denn aber finden?» hatte McKee eingewandt. «Um all diese Canons abzusuchen, müßtest du das gesamte Marine Corps aufbieten.» Abermals hatte Leaphorn ihm seine Gedankengänge auseinandergesetzt: Das Opfer schwebe nicht mehr in Lebensgefahr, und wenn Horseman davon erfahre, gebe es zwei Möglichkeiten. Entweder würde er sich stellen und die Anklage wegen Körperverletzung auf sich nehmen, oder er würde, wenn seine Angst doch nicht so groß sei, allmählich unvorsichtig werden und plötzlich irgendwo auftauchen - in Chinle, bei Shoemaker oder in einem anderen Handelsposten. Auf jeden Fall aber werde man ihn erwischen und könne die Akte dann endlich schließen. «Und deswegen werde ich heute zu Shoemaker fahren und allen Red Foreheads, die hinkommen, die Sachlage erläutern. Einer von ihnen ist garantiert ein Verwandter von Horseman und wird die Nachricht an ihn weiterleiten. Und wenn du nicht mitkommen willst, dann bleib ruhig hier. Du kannst ja Emma inzwischen bei ihrer Hausarbeit helfen.» Im Augenblick gab Leaphorn mal wieder die Nachricht weiter, diesmal an einen großen, barhäuptigen Navajo, der sich einen Vorrat an Konserven aus den Regalen genommen
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hatte. «Er ist ziemlich mager», erklärte Leaphorn, «ungefähr zweiundzwanzig und trägt sein Haar nach altem Brauch.» «Ich kenne ihn nicht», antwortete der Große Navajo. Er musterte Leaphorn mißtrauisch und trat dann an die Kleiderständer, um einen schwarzen Filzhut aufzuprobieren. Der Hut war ihm um mehrere Nummern zu klein, aber er ließ ihn, fast wie ein Clown, hoch oben auf seinem Kopf thronen, während er weitersuchte. «Mein Kopf ist dicker geworden, seit ich das letzte Mal einen Hut gekauft habe», sagte der Navajo auf englisch. Er warf McKee einen prüfenden Blick zu, um sich zu vergewissern, daß der weiße Mann seinen Navajo-Humor auch zu schätzen wußte. «Ich brauche jetzt siebeneinhalb.» «Lassen Sie sich die Haare abschneiden, dann können Sie Ihren alten Hut weitertragen», schlug Shoemaker vor. Der Große Navajo trug das Haar nach alter Sitte zu Zöpfen geflochten, aber es waren sehr kurze Zöpfe. Vielleicht hatte er sich das Haar wie ein Weißer geschnitten und ließ es jetzt erst wieder wachsen. «Den alten hat mir irgendein Strolch gestohlen», erklärte der Große Navajo, während er einen anderen Hut aufprobierte. McKee gähnte und sah zur offenen Tür hinaus. Die Luft über der nackten Erde vor dem Haus flimmerte vor Hitze. Im Nordosten, über dem Carrizo-Berg, zog eine Gewitterwolke herauf. Dafür war es in dieser Jahreszeit eigentlich noch zu früh. Morgen war Mittwoch. McKee beschloß, Leaphorns Einladung, noch einen weiteren Tag bei ihm zu verbringen, doch anzunehmen. Anschließend wollte er dann mit seinem kleinen Lastwagen losfahren und den Sommer-Hogan von Alte-Frau-grauer-Fels suchen. Er wollte unbedingt bei ihr beginnen, weil eines der aussichtsreichsten Gerüchte angeblich von ihr stammte. Und Donnerstag, wenn Canfield kam, wollten sie dann in den Many Ruins Canon weiterfahren,
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dort Lager machen und, mit dem Canon als Ausgangsbasis, an ihre Arbeit gehen. Der Große Navajo hatte endlich einen passenden Hut gefunden: ebenfalls schwarz, mit breitem Rand und hohem Kopf, wie ihn die älteren Navajos bevorzugen. Er sah eigentlich aus wie ein Navajo aus Tuba City, fand McKee. Mit langem, grobknochigem Gesicht, schweren Brauen und breitem Mund. «Okay», sagte der Mann. «Wieviel schulde ich Ihnen?» Der Große Navajo hatte ein Band aus Silber-Conchos aus der Hüfttasche gezogen. Es baumelte an seinem Handgelenk, während er Shoemaker die Banknoten reichte und auf sein Wechselgeld wartete. Das teure Metall strahlte einen sanften Glanz aus: runde, gehämmerte Scheiben, jede von ihnen größer als ein Silberdollar. Nach McKees Schätzung mußte man für die Conchos als Pfand zweihundert Dollar bekommen. Er musterte den großen Mann mit neuem Interesse. Der Navajo schob das Silberband über den Hutkopf. «Dieser Horseman», nahm Leaphorn jetzt den Faden wieder auf, «hat drüben in Gallup einen Mexikaner mit dem Messer überfallen. Er war betrunken. Der Nakai ist aber nicht gestorben; es geht ihm sogar schon viel besser. Aber Horseman muß in Window Rock noch ein paar Fragen beantworten.» «Ich weiß nichts von ihm», entgegnete der Große Navajo. «Er ist Annie Horsemans Sohn», fuhr Leaphorn fort. «Hat drüben,, auf der anderen Seite des Kam Bimghi gewohnt, am Westhang der Lukachukais.» Er deutete, nach Navajo-Art, die Richtung mit einem Verziehen der Lippen an. Der Große Navajo hatte den Karton mit seinen Einkäufen unter den Arm genommen. Jetzt stellte er ihn wieder hin,
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betrachtete Leaphorn einen Moment und fuhr sich dann nachdenklich mit der Zunge über die Zähne. «In welcher Gegend des Westhanges?» erkundigte er sich. «Weiß Law and Order genau, wo er ist?» «Ungefähr», antwortete Leaphorn. «Aber wissen Sie, es wäre besser, wenn er freiwillig käme. Sonst müssen wir ihn nämlich holen. Und das macht die Sache für alle unangenehm.» «Horseman ...» sinnierte der Große Navajo. «Ist er vielleicht...» Leaphorn wartete, ob er die Frage beenden würde. «Wie sagten Sie, sieht der junge aus?» «Schlank. Ist mit Blue Jeans und rotem Hemd bekleidet, trägt das Haar nach altem Brauch und hält es mit einem roten Band aus der Stirn.» «Ich kenne ihn nicht», stellte der Große Navajo fest. «Aber es wäre wohl gut, wenn er herauskäme.» Er nahm den Pappkarton wieder auf und ging zur Tür. «Dieser Herr dort ist Collegeprofessor», erklärte Leaphorn und deutete auf McKee. «Er sucht nach Informationen über Antis.» Der Navajo schüttelte McKee die Hand. Seine Miene war belustigt. «Es heißt, daß sich drüben, bei den Lukachukais, ein Wolf herumtreibt», sagte McKee. «Aber vielleicht ist es auch nur ein Gerücht.» «Ich habe davon gehört.» Der Große Navajo musterte McKee lächelnd. «Altweibergeschwätz. Ein Mann da draußen hat angeblich von der Gaumenzahnfrau und einem dreibeinigen Hund geträumt, der in seinen Hogan kam. Dann ist er aufgewacht und hat den Hund in seiner Laube gesehen. Und als er schrie, verwandelte sich der Hund in einen Mann und bewarf ihn mit Leichenpulver.» Der Große Navajo lachte und schlug McKee auf die Schulter.
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«Pferdemist!» sagte er. «Dieser Wolf - vielleicht ist es der Junge, den der Polizist da sucht.» Er sah zu Leaphorn hinüber. «Ich nehme an, Sie werden sich den Jungen holen, wenn er nicht freiwillig kommt. Sind Sie jetzt gerade auf der Suche nach ihm?» «Sehr intensiv suchen wir ihn noch nicht», antwortete Leaphorn. «Ich denke, daß er von selbst kommen wird.» Der Große Navajo ging zur Tür. «Wäre wohl besser, wenn er das täte», sagte er noch einmal. Die Sonne war schon fast untergegangen, als Leaphorn den Wagen der Law and Order Division bei Round Rock auf die Navajo Route 8 lenkte. Die Rückfahrt nach Window Rock würde zwei Stunden in Anspruch nehmen. «Ich habe heute eine Menge erfahren», sagte McKee. «Aber du hast vermutlich deine Zeit verschwendet.» «Nein. Ich habe auch ungefähr das erreicht, was ich wollte.» McKee war verwundert. «Du glaubst noch immer, daß Horseman da irgendwo steckt? Aber es hat ihn doch niemand gesehen.» Leaphorn lächelte. «Niemand hat zugegeben, ihn gesehen zu haben. Sie sahen keinen Grund, das zuzugeben, denn sie wissen genau, wie es jetzt weitergeht. Aber der alte Mann, der mit dem Pferdewagen kam...» Leaphorn nahm das Klemmbrett vom Armaturenbrett und las seine Notizen durch. «Nagani Lum hieß er. Der hat ganz zweifellos etwas gewußt. Hast du gesehen, wie er aufhorchte?» «Lum hat mir auch über einen Fall von Bösem Zauber berichtet», erinnerte sich McKee. «War aber nichts Ungewöhnliches.» Ein Fohlen mit zwei Köpfen war geboren worden. Lum selber hatte es nicht gesehen, nur ein Verwandter von ihm. Der Schwager eines Onkels, wenn sich McKee richtig erinnerte. Und dann hatte der Junge, der für den Schwager seines
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Onkels die Schafe hütete, tatsächlich den Navajo-Wolf gesehen. Er hatte ihn für einen Hund gehalten, der seine Schafe in Unruhe versetzte, doch als er mit der 22.er auf ihn schoß, hatte er sich in einen Mann verwandelt. Allerdings war es schon dämmrig gewesen, deswegen hatte er ihn wohl nicht getroffen. Wie immer, dachte McKee. Wie immer war es zu dunkel, um richtig zu sehen, und wie immer war die Quelle des Gerüchtes ein Junge. «Ich glaube, dieser Witzbold, der sich den neuen Hut gekauft hat, wußte auch etwas über Horseman», sagte Leaphorn. «Der Große, der dich mit deinen Hexengeschichten aufgezogen hat.» «Aber er hat es doch abgestritten.» «Er hat auch behauptet, sein Hut sei ihm gestohlen worden.» «Was soll das heißen?» «Hast du nicht das Concho-Hutband gesehen? Weshalb sollte jemand einen alten Filzhut stehlen, das kostbare Silber aber zurücklassen ?» Sie hatten inzwischen Chinle passiert. Leaphorn lenkte den weißen, geräumigen Wagen unverändert in einem Tempo von siebzig Meilen. Der Highway zog sich am Rand der riesigen, toten Mulde entlang, die sich bis zu den ausgetrockneten Betten des Biz-E-Ahi und Nazlini hinabsenkte. Die untergehende Sonne beleuchtete das phantastische Chaos aus erodierten geologischen Formationen. Der weiße Mann sieht diese Öde und nennt sie Wüste, dachte McKee. Bei den Navajo heißt sie Schönes Tal. «Kannst du mir sagen, weshalb der Mann uns dieses Märchen von dem gestohlenen Hut aufgetischt hat?» fragte Leaphorn. Seine Gesichtsmuskeln waren vor intensivem Nachdenken gespannt. «Und - falls er doch nicht gelogen haben sollte - weshalb jemand einen alten Filzhut stiehlt und das Silberband unangetastet läßt?»
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Joseph Begay erwachte zeitiger als sonst. Einen Augenblick lag er ganz still und wartete, bis sein Bewußtsein klarer wurde. Er spürte die Kühle des heraufdämmernden Morgens, denn seine Frau hatte die gemeinsamen Wolldecken fast ganz zu sich herübergezogen. Dann roch er Regenduft, feuchten Staub, nassen Salbei, Pinienharz und Büffelgras. Als er hellwach war, erinnerte er sich an den mitternächtlichen Regenguß, der sie in der Laube im Schlaf überrascht und die gesamte Familie in den Hogan getrieben hatte. Durch die offene Hogan-Tür sah er, daß der östliche Horizont hinter der vertrauten, hoch aufragenden Silhouette des Mount Taylor, siebzig Meilen entfernt in Richtung New Mexico, noch nicht hell wurde. Greift-nach-dem-Himmel war einer der vier heiligen Berge, die das Land Des Volkes an den vier Ecken markierten, und wie an so manchem frühen Morgen dachte Joseph Begay auch jetzt wieder, daß er den Platz gut gewählt habe. Die Lage des alten Hogan, den er mit seinen Schwägern zusammen beim Haus seiner Schwiegermutter errichtet hatte, war weniger günstig gewesen: auf flachem Boden zwar und in Wassernähe, aber rings von Bergen umschlossen. Der Platz hatte ihm nie recht gefallen. Als dann der Sohn, den sie Long Fingers genannt hatten, eines Nachts an der Erstickungskrankheit gestorben war - so plötzlich, daß sie keine Zeit mehr gehabt hatten, ihn vor den Hogan hinauszutragen, damit sein Geist frei davonschweben konnte , hatte es ihm kein bißchen leid getan, das alte Haus zu verlassen. Er hatte persönlich die Tür vernagelt und die Rauchöffnung zugedeckt, damit Long Fingers' Geist die Familie seiner Frau nicht belästigen konnte. Und dann hatte er sofort entschieden, daß dieser Platz auf der Mesa der richtige für den neuen Hogan sei.
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Als er ihn baute, hatte er die Türöffnung nicht, wie es eigentlich den Vorschriften der Alten entsprach, genau nach Osten gerichtet, sondern ein klein wenig weiter nordöstlich, so daß er beim Erwachen im Morgengrauen Greift-nach-demHimmel sehen konnte und immer von neuem daran erinnert wurde, daß der Berg ein Ort der Schönheit war, wo Wechselnde Frau die Helden-Zwillinge geboten hatte. So wurde es jeden Tag aufs neue ein gutes Erwachen. Weil er jedoch die Tür nicht genau nach Osten gesetzt hatte, war er im Hinblick auf das übrige Haus sorgsam darauf bedacht gewesen, alle Navajo-Bräuche zu beachten. Er hatte einen Holzpflock in den Boden getrieben und mit einem Strick einen Kreis gezogen, damit die Außenwand des Hogan gleichmäßig rund wurde und den vorgeschriebenen Umfang besaß. Er hatte die Rauchöffnung haargenau an die richtige Stelle gesetzt, und als er die Steine mit Lehm bestrich, hatte er eine Fingerspitze Maispollen in die Masse gerührt und den Gesang des Heilszaubers intoniert. Joseph Begay erhob sich von seinem Lager und zog Hemd und Hose an. Er bewegte sich trotz der Dunkelheit nahezu lautlos, weil er seine Frau und die beiden Söhne, die an der anderen Hogan-Wand schliefen, nicht stören wollte. Vorsichtig, mit der instinktiven Behutsamkeit der Navajo, die niemals über einen Menschen hinwegtreten, wich er ihren Füßen aus und duckte sich durch die niedrige Tür. Seine Stiefel, die er in der Laube vergessen hatte, waren nur etwas feucht. Während das Wasser für eine Tasse Kaffee siedete, zog er sie an. Joseph Begay war ein gedrungener Mann mit rundem Gesicht und dem mächtigen Brustkasten, der für die NavajoPueblo-Mischlinge typisch ist; er stammte aus einem Clan, der sich Pueblo-Mädchen zu Ehefrauen und damit auch den schwereren, kürzeren Knochenbau der Keresan-Indianer geholt hatte. Er goß den Kaffee in einen Becher, trank ihn und aß dazu einen Streifen getrocknetes Hammelfleisch. Der
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Regen war nicht sehr heftig gewesen - lediglich ein kurzer Schauer. Aber es war ein günstiges Omen. Er wußte, daß in den Reservationen der Hopi und Zuni die Wolkenrufer am Werk gewesen waren und daß die PuebloIndianer am Rio Grande, weit hinten im Osten, Regentänze abhielten. Die Zauberkraft dieser Pueblo-Bewohner war immer sehr stark gewesen, älter noch als die Medizin der Navajo, und wirksamer. Es war eigentlich noch sehr früh für den ersten Regen, doch Begay wußte, daß das nur Gutes zu bedeuten hatte. Begay trank seinen Kaffee aus und gestattete seinen Gedanken erst dann, sich dem Grund für sein frühes Aufstehen zuzuwenden. In wenigen Stunden sollte er seine Tochter wiedersehen, die seit dem vergangenen Sommer nicht mehr zu Hause gewesen war. Er würde zur Bushaltestelle in Ganado fahren, der Bus würde kommen, er würde ihre Koffer und Taschen auf seinen Wagen laden und mit ihr zum Hogan zurückkehren. Sie wollte den ganzen Sommer bei ihnen bleiben. Begay hatte den Gedanken an dieses Wiedersehen absichtlich verdrängt, denn die Navajo-Art war der Pfad der Mitte, der alle Extreme, auch die der Freude, vermied. Der Regenschauer um Mitternacht, der Duft der Erde und die Schönheit des frühen Morgens waren genug. Jetzt aber, als Begay den Lastwagen startete und ihn im zweiten Gang den holprigen Weg quer über die Mesa steuerte - jetzt durfte er guten Gewissens daran denken. Beim Fahren intonierte er den Gesang, den ihn sein Großonkel gelehrt hatte: «Ich wandere dort, wo der Regen fällt.
Ich wandere unter dem Osten.
Ich, der aus dem Wasser Geborene,
Ich wandere dort, wo der Regen fällt.
Ich wandere in der Morgendämmerung.
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Ich wandere dort, wo der Regen fällt.
Ich wandere im weißen Mais.
Ich wandere im Weichen, Sanften.
Ich wandere im gesammelten Wasser.
Ich wandere im Blütenstaub.
Ich wandere dort, wo der Regen fällt.»
Als er den ersten Gang einlegte, um sicher die Serpentinen des langen Abhangs zum Highway hinunterzukommen, wurde es am östlichen Horizont langsam hell. Die Talfahrt dauerte fast eine Viertelstunde. Am Fuße des Hanges zog sich der Teastah Wash um den Sockel der Mesa herum. Hatte es an einer anderen Stelle der Mesa stärker geregnet, konnte er den Arroyo vielleicht erst durchfahren, nachdem das Wasser abgelaufen war. Er hielt den Wagen am Rand des Steilufers so an, daß er mit dem Kühler schräg nach unten stand, zog die Handbremse an und stieg aus. Im Licht der Scheinwerfer sah er, daß nur ein winziges Rinnsal durch die breite Sandmulde floß. Sollte es tatsächlich irgendwo geregnet haben, dann war der größte Teil des Wassers bereits versickert. Als er sich umdrehte, um wieder in den Wagen zu steigen, sah er die Eule. Sie kam direkt auf ihn zugeflogen - so schnell, daß er zusammenzuckte -, strich durch die Lichtbalken der Autoscheinwerfer und verschwand im Halbdämmer des Morgens ebenso plötzlich, wie sie gekommen war. Einen Augenblick blieb er, ein wenig weich in den Knien, still hinter dem Lenkrad sitzen. Die Eule hat sich sehr merkwürdig verhalten, dachte er. Bekanntlich nahmen Geister gelegentlich, wenn sie in der Dunkelheit umherstreiften, die Gestalt dieses Vogels an. Es hatte zwar ausgesehen wie eine Höhleneule, aber es konnte ebensogut ein Geist gewesen sein, der jetzt, bei Tagesanbruch, ins Grab oder in seinen Toten-Hogan zurückkehren wollte.
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Auch während er den Wagen vorsichtig das steile Ufer hinunter und dann über den weichen Sandboden lenkte, mußte er immer noch an die Eule denken. So lange, bis er mit dem Wagen im ersten Gang mühsam aus dem Arroyo hinausgekrochen war. Da gewann seine fröhliche Morgenstimmung wieder die Oberhand, und er sagte sich, daß es bestimmt nur eine Höhleneule gewesen sei, die, von der nächtlichen Jagd heimkehrend, durch seine Scheinwerfer geblendet worden war. Er hatte gerade den Canon-Rand erreicht, wieder ebenen Boden unter den Rädern und den zweiten Gang eingelegt, da mußte er einsehen, daß ihn sein Optimismus getäuscht hatte. Der Tote lag dicht neben dem Weg. Das Scheinwerferlicht erfaßte zunächst nur die Schuhsohlen, die so plötzlich auftauchten, daß er schon fast neben der Leiche war, bis endlich die Bremsen zogen. Joseph Begay legte den Leerlauf ein, ließ aber den Motor weiterlaufen. Er knöpfte sein Hemd auf und zog einen kleinen Lederbeutel hervor, den er an einer Schnur um den Hals hängen hatte und der einen kleinen, annähernd wie ein Bär geformten Gagatfeuerstein und etwa dreißig Gramm Pollen enthielt. Begay drückte den Daumen in den Blütenstaub und rieb ihn sich auf die Brust. Dazu intonierte er: «wo immer ich gebe,
Möge das Glück mir beistehen,
Wo immer meine engsten Verwandten gehen,
Möge ihnen das Glück beistehen.»
Der Geist war fort - wenigstens für den Augenblick. Er hatte ihn den Teastah Wash hinauffliegen sehen. Begay stieg aus dem Wagen und blieb neben der Leiche stehen. Es war ein junger Mann in Jeans, rotem Hemd und Stadtschuhen. Der Tote lag auf dem Rücken, die Beine leicht gespreizt, den
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rechten Arm ausgestreckt, den linken quer über der Brust. Handgelenk und Hand des linken Armes zeigten eine sonderbar steife Haltung. Blut war nicht zu sehen, aber die Kleidung war feucht vom Regen. Die letzte Meile des holprigen Weges zum Highway legte Begay in schnellerem Tempo zurück als seinem Wagen eigentlich zuträglich war. Er sagte sich, daß er den Toten der Law and Order Division melden müsse, bevor er zur Bushaltestelle weiterfuhr. Krampfhaft versuchte er, nicht an die Grimasse zu denken, zu der das Gesicht des jungen Mannes gefroren war: an die toten, stier hervorquellenden Augen und an den in blankem Terror verzerrten Mund.
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Es war Vormittag, als Leaphorn in seinem Büro die Nachricht über Horseman bekam. In den zwei Stunden nach dem Frühstück hatte McKee zwei Aktenschränke durchstöbert, die Schnellhefter über Bösen Zauber herausgesucht und in drei Stapel geteilt, die jeweils die Aufschrift «Wolf», «Tobsucht» oder «Stechapfel» trugen. Bei den Stechapfelfällen handelte es sich um Rauschgiftopfer, beim größten Teil der Tobsuchtsfälle um Geisteskranke. Das wußte McKee, und diese wollte er, wenn ihm noch Zeit blieb, später durchsehen. Im Augenblick kreuzte er auf einer Reservationskarte des Bureau of Indian Affairs die Stellen an, wo angeblich ein Wolf aufgetaucht war, versah sie mit Nummern und notierte sich die Namen der Zeugen. Während er noch damit beschäftigt war, erschien der Telegrafist an der Tür und teilte Leaphorn mit, man habe Horseman gefunden. «Wann ist er gekommen?» «Man hat seine Leiche gefunden», antwortete der Telegrafist. Leaphorn starrte den Mann fassungslos an und wartete auf Details. «Der Captain läßt fragen, ob Sie den Coroner abholen und die Leiche zum Abtransport freigeben würden.» «Warum wird das nicht von der Unteragentur Chinle erledigt?» erkundigte sich Leaphorn. «Die sind doch hundert Meilen näher dran.» «Man hat ihn bei Ganado gefunden. Sie sollen den dortigen Coroner abholen.» «Ganado?» Leaphorns Miene war ungläubig. «Wie ist er denn umgekommen - Selbstmord?»
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«Allem Anschein nach ist er eines natürlichen Todes gestorben», antwortete der Telegrafist. «Zuviel Schnaps. Aber bis jetzt ist er noch nicht weiter untersucht worden.» «Ganado ...» wiederholte Leaphorn nachdenklich. «Wie zum Teufel ist er nur dahin gekommen?» Die Fahrt nach Ganado dauerte fünfundvierzig Minuten, und Leaphorn konnte sich während der ganzen Strecke nicht darüber beruhigen, daß er so sehr danebengetippt haben sollte. «Du kannst dir doch eigentlich gratulieren», tröstete ihn McKee. «Du bist jetzt vierzig Jahre alt und hast soeben deinen ersten Fehler begangen.» «Das stört mich nicht. Aber es ist einfach unlogisch.» Und dann ging Leaphorn zum drittenmal seine Überlegungen durch; irgendwo mußte er sich geirrt haben. Die Polizei von Gallup hatte berichtet, der Wagen, den Horseman nach der Messerstecherei gestohlen hatte, sei zuletzt auf der U.S. 666 gesehen worden, wie er nach Norden fuhr, in die richtige Richtung also. Später war er dann verlassen in der Nähe von Greasewood aufgefunden worden. Am richtigen Ort, falls Horseman in das Canon-Gebiet am Westhang, dem Wohnsitz seines mütterlichen Clans, zurückkehren wollte. Und daß er das wollte - dafür gab es genügend Gründe: Horseman hatte Angst. Das Territorium war menschenleer und daher ideal für einen Flüchtigen, der sich verstecken wollte. Seine Angehörigen würden ihn ernähren und den Mund halten. Bei Shoemaker hatte Leaphorn die Überzeugung gewonnen, daß mindestens zwei der Männer, mit denen er gesprochen hatte, genau wußten, wo Horseman steckte. Der Alte mit der Hexengeschichte und auch der Junge, der wenig später gekommen war. Man hatte direkt gesehen, wie er aufatmete, als er hörte, der Mexikaner sei gar nicht tot. Und dann hatte er es sichtlich eilig gehabt, das Gespräch zu beenden, um auch den anderen davon berichten zu können. Außerdem war da
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der Große Navajo gewesen. «Er war an der Angelegenheit interessiert», sagte Leaphorn. «Weißt du nicht mehr? Er bat mich, ihm Horseman zu beschreiben. Und Shoemaker sagte, der Mann sei neu in der Gegend. Wenn er ihn also nicht gesehen hat, weshalb dann das Interesse?» «Da ist noch die Sache mit dem Hut», entgegnete McKee. «Okay», sagte Leaphorn. «Erklär du mir das.» «Aber gern. Er hat das Hutband abgenommen, und während es ab war, hat jemand den Hut gestohlen.» «Wann hast du dein Hutband zum letztenmal abgenommen?» «Ich trage keine Silber-Conchos am Hut.» In Ganado holten sie den Coroner und Friedensrichter Rudolph Bitsi ab. Bitsi dirigierte sie nach Süden. Als sie das Ufer des Teastah Wash erreichten, war es bereits später Vormittag, und die Sonne brannte heiß. Der NavajoPolizist, der den Toten bewachte, hatte sich in den Schatten der Arroyo-Wand gesetzt. Als der Wagen hielt, kam er blinzelnd ins grelle Sonnenlicht heraufgeklettert. Er wirkte jung und ein wenig nervös. Leaphorn erklärte McKee, der Polizist heiße Dick Roanhorse und sei gerade von der Polizeischule entlassen. «Haben Sie etwas Interessantes gefunden?», erkundigte sich Leaphorn. «Nein, Sir. Nur diese Flasche. Die einzigen Spuren stammen von Begays Lastwagen. Alles andere hat der Regen verwischt.» «Dann hat also die Leiche schon vor dem Regen hier gelegen», stellte Leaphorn fest, und der Polizist nickte dazu. Leaphorn zog die Decke von dem Toten; zu dritt blickten sie auf das hinab, was einmal Luis Horseman gewesen war. «Hm», äußerte sich Bitsi dann. «Sieht aus, als hätte er einen Krampf gehabt.» «So sieht es aus», bestätigte Leaphorn.
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Bitsi ging in die Hocke und untersuchte das Gesicht. Er war ein kleiner Mann mittleren Alters, der zur Behäbigkeit neigte, und stöhnte schwer, als er sich so tief hinabbeugen mußte. Aufmerksam schnüffelte er an Horsemans Nase und Mund. «Alkohol. Ist nur ein Hauch, aber man kann ihn riechen.» Leaphorn betrachtete Horsemans Beine. McKee sah, daß sie steif ausgestreckt waren - als wäre er im Stehen gestorben und anschließend rückwärts umgekippt. Was ihm jedoch unwahrscheinlich vorkam. Bitsi studierte noch immer das Gesicht. «Ich habe mal einen gehabt, der genauso ausgesehen hat. So vor zwei, drei Jahren. Irgendein Verrückter hatte ihm ein Gebräu aus Stechäpfeln zurechtgekocht, um seine Zeugungskraft zu steigern, und daran ist er dann gestorben.» Leaphorn betrachtete Horsemans linken Arm. Die Armbanduhr lief noch, also mußte er sie am Tag zuvor aufgezogen haben. Vermutlich vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden. Es war eine billige Uhr, acht bis zehn Dollar wert, mit einem Zugband aus rostfreiem Stahl. Leaphorn starrte auf die linke Hand. Der Arm lag quer über Horsemans Brust, während Gelenk und Hand ohne Stütze steif ausgestreckt waren. «Netter Tropfen», sagte Bitsi, der eine Flasche hochhielt. Der Aufkleber war rot und deklarierte den Inhalt als SauermaischeWhisky. Ungefähr eine halbe Unze der bernsteingelben Flüssigkeit war noch in der Flasche. «Hat sich anscheinend übernommen», meinte Bitsi. «Sieht aus, als wäre er erstickt. Ist hingefallen, als er sich übergeben mußte, ohnmächtig geworden und erstickt.» «So sieht es aus», stimmte ihm Leaphorn zu. «Dann können wir ihn wohl wegbringen lassen.» Abermals stöhnend, erhob sich Bitsi aus der Hocke.
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«Überhaupt keine Spuren?» fragte Leaphorn den Polizisten. «Nur die von Begay. Wo er aus dem Wagen gestiegen und hier zur Leiche herübergekommen ist. Sonst nichts.» Jetzt allerdings gab es eine Menge Spuren. Die meisten von Roanhorse, wie Leaphorn vermutete. «Wo lag die Flasche?» «Ungefähr anderthalb Meter von der Leiche entfernt», antwortete Roanhorse. «Da, wo er sie fallen gelassen hat.» «Okay.» Leaphorn blickte über die Ebene hin, durch die sich der Teastah sein Bett gegraben hatte: eine weite Fläche voll Kreosotbüschen mit einigen Salbeisträuchern dazwischen. Am Ufer des Bachbettes, einige Meter oberhalb der Straße, hatten zwei kleine Wacholderbüsche ihre Wurzeln tief genug in den Boden gesenkt, um nicht wieder abzusterben. Unvermittelt ging Leaphorn auf den ersten der Büsche zu und untersuchte ihn. Er winkte Roanhorse heran; McKee folgte. «Haben Sie hier einen Zweig abgeschnitten?» Roanhorse schüttelte den Kopf. Am unteren Teil des Stammes befand sich eine frische Wunde. Leaphorn drückte den Daumen gegen die bloßliegende Kambiumschicht und zeigte ihn dann McKee. Er klebte von frischem Saft. «Was hältst du davon?» «Keine Ahnung», bekannte McKee. «Und du?» «Weiß nicht. Vermutlich hat es nichts zu bedeuten.» Während er durch das Kreosotgestrüpp zu dem Toten zurückkehrte, wanderte sein Blick suchend über den Boden. Bitsi war, wie McKee feststellte, inzwischen in den Wagen zurückgeklettert. «Such du auf der anderen Straßenseite», bat Leaphorn McKee. «Vielleicht findest du den Wacholderzweig da.» Aber er fand ihn selber. Die zarten Nadeln waren verschmutzt und zerknickt. Leaphorn brauchte McKee nicht erst zu erklären, daß er als Besen benutzt worden war.
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«Eine kluge Idee, Joe», sagte McKee. «Und zu welchem Schluß führt sie dich?» «Ich weiß es nicht.» Leaphorn konzentrierte sich schon wieder auf den Toten. «Siehst du, wie steif seine Beine ausgestreckt sind? Er könnte sie zwar so ausgestreckt haben, nachdem er umgefallen ist, doch wenn das so wäre, dann müßten seine Hosenbeine dabei hochgerutscht sein.» Stumm, wortlos betrachtete er die Leiche. «Aber bitte - vielleicht kommt es doch manchmal vor.» Er sah McKee an. «Das mit dem Handgelenk allerdings kann unmöglich vorkommen.» Er hockte sich neben den Toten und sah dann zu McKee auf. «Hast du schon mal versucht, einen Bewußtlosen hochzuheben? Dessen Körper ist schlaff. Ganz und gar schlaff. Er wird erst steif, wenn er schon zwei bis drei Stunden tot ist.» Deswegen ist mir der Arm aufgefallen, dachte McKee. Es sieht einfach unnatürlich aus. «Du meinst also, daß er gestorben ist und dann erst von jemandem hergebracht wurde?» «So könnte es sein», antwortete Leaphorn. «Und derjenige, der das getan hat, wußte nicht, daß es regnen würde. Deswegen hat er seine Spuren gelöscht.» «Aber warum?» fragte McKee. Er sah sich um. An dieser Stelle mußte der Tote gefunden werden, während er unten im Bachbett vermutlich auf ewig hätte verscharrt bleiben können. «Ich habe ein paar bessere Fragen», entgegnete Leaphorn. «Zum Beispiel, wie ist er gestorben? Das können wir jedoch feststellen. Aber dann lautet die Frage vielleicht: Wer hat ihn umgebracht und warum? Warum sollte jemand diesen armen Teufel umbringen wollen?»
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Alte-Frau-grauer-Fels lehnte sich an den Pfahl aus Zedernholz, der eine Ecke ihres Lauben-Hogan stützte, zog genießerisch an der Zigarette, die McKee ihr angesteckt hatte, und blies den Rauch durch die Nasenlöcher. Hinter ihr lagen die Vorberge der Lukachukais schimmernd unter der blendenden Sonne: grau die Mesquite- und Kreosotsträucher, graugrün die Krüppelzedern, blasser grau die erodierten Schluchten, und über all diesem Grau das Blaugrün der oberen Berghänge, jetzt überschattet von einer winzigen, im Entstehen begriffenen Gewitterwolke. Bei Sonnenuntergang würde die Wolke Blitze schleudern und jenen dünnen Regenvorhang produzieren, der, wie es in trockenen Gegenden immer geschieht, schon hoch über dem Erdboden verdunstete. McKee überlegte, ob Leaphorn wohl wirklich recht gehabt, ob Horseman sich wirklich dahinten, in dem von zahllosen Canons durchzogenen Gebiet versteckt gehalten hatte. Er richtete den Blick wieder in das Dämmerlicht der Laube und sah, daß Alte-Frau-grauer-Fels ihn anlächelte. «Man macht das so, daß man den Wolf fängt und fesselt», erklärte sie. «Man gibt ihm weder zu essen noch zu trinken und läßt ihn auch nicht die Hosen herunterziehen. Bis er gesteht, daß er derjenige ist, der den Zauber gemacht hat. Wenn er das gestanden hat, ist alles gut. Dann kehrt sich der Zauber um, der Mann, gegen den er gerichtet war, wird wieder gesund, und statt seiner wird der Anti selber krank, bis er stirbt.» Alte-Frau-grauer-Fels nahm die Zigarette aus dem Mund und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger. McKee konnte sich nicht erinnern, jemals einen Navajo - die Kinder
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eingeschlossen - mit einer anderen Fingerhaltung rauchen gesehen zu haben. «Ich glaube nicht, daß sie diesen fangen», meinte sie. «Warum sagst du das?» Es freute McKee, daß er die Navajo-Sprache wieder so gut beherrschte wie früher. Vor zwei Tagen noch hätte er lediglich gefragt: «Warum?» - ein einsilbiger Gutturallaut. Er hatte nur einen Nachmittag Zeit gehabt, sich im Sprachlabor die Tonbänder anzuhören, daher war seine Aussprache anfangs so schlecht gewesen. Jetzt aber sprach er beinahe wieder so fließend wie mit siebenundzwanzig Jahren. «Kintabgoo' bil i noolbtab?» wiederholte er, den Klang genießend, seine Frage. «Er lebt nicht hier. Er ist ein Fremder.» McKee empfand plötzlich Interesse. Er hatte sich müde gefühlt, eine Folge der ungewöhnlich schweren Mahlzeit (Lamm-Stew, in Fett schwimmend, gekochter Mais, geröstetes Maisbrot und eingemachte Pfirsiche) und der Gewißheit, die Frau könnte ihm doch nicht viel Brauchbares erzählen - eine Gewißheit, zu der er bereits gekommen war, als Canfield ihn kaum an dem Hogan abgesetzt hatte. Er hatte gehofft, etwas über die Motivationen zu erfahren, die hinter den Gerüchten von Bösem Zauber steckten: Krankheit, familiäre Spannungen, Eifersüchteleien oder anderweitige Schwierigkeiten, bei denen Bedarf nach einem Sündenbock bestand. Und diese Hoffnung war noch gestiegen, als sich Alte-Frau-grauer-Fels freundlich gezeigt und ihn sehr herzlich willkommen geheißen hatte. Im Laufe des Vormittags jedoch war seine Hoffnung langsam wieder gesunken. Trotzdem konnte er sich noch nicht verabschieden: Er mußte warten, bis Canfield ihn auf dem Rückweg von seiner Einkaufstour abholte. Falls es innerhalb des Clans tatsächlich ernsthaften Ärger gegeben hatte, schien Alte-Frau-grauer-Fels nichts davon zu wissen. Sie plauderte munter über Nichtigkeiten. Der Neffe eines angeheirateten
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Onkels hatte seine Frau verlassen und sich mit einer Frau aus dem Peach Tree Clan in Moenkopi zusammengetan. Er hatte seiner Frau ein Pferd gestohlen. Einer der Söhne von Hosteen Tom war nach Farmington gegangen, um sich zum Marine Corps zu melden, aber es hieß, er arbeite jetzt in der Kohlenmine bei Four Corners. Es hieß, das Marine Corps hätte ihn nicht genommen, weil er bei der Prüfung durchgefallen war. Informationen dieser Art hatte sie reichlich auf Lager. Der Winter war naß gewesen, daher waren die Frühweiden gut. Der Wollpreis war ein bißchen gefallen, der Preis für Hammelfleisch dafür aber gestiegen. Einige Neffen hatten Arbeit in der neuen Sägemühle bekommen, die der Stammesrat eröffnet hatte. George Charley hatte drüben, bei den Los Gigantes Buttes, Lastwagen gesehen, und die Männer hatten ihm erklärt, sie gehörten zu einer Ölgesellschaft und Hosteen Charley solle lieber seine Schafe dort wegtreiben, weil sie mit Dynamit sprengen müßten. Alte-Fraugrauer-Fels fand das sonderbar, und McKee fühlte sich in der Navajo-Sprache doch nicht so sattelfest, um ihr zu erklären, daß Seismographen-Trupps aus Explosionswellen auf Petroleumvorkommen schließen konnten. Bis jetzt waren nur zwei ihrer Geschichten von Wert für ihn. Sie hatte einen Mann erwähnt, der einen Kastenwagen fuhr. Er hatte den Ehemann ihrer Schwester angehalten und nach dem Weg gefragt. Eingedenk Miss Leons verlorengegangenen Elektroingenieurs hatte McKee sofort weitere Fragen gestellt. Der Mann hatte sich nach dem Weg in den Many Ruins Canon erkundigt. Laut Alte-Frau-grauer-Fels war der Fahrer, wie McKee, ein Belacani gewesen, und der Lastwagen hatte einen zweirädrigen Anhänger. Ein Wagen wie die, in denen man Brot ausfuhr, mit einer Tür an der Rückseite. Und das bedeutete, daß es sich durchaus um Dr. Halls Wagen handeln konnte. Die Farbe war ihr nicht bekannt, aber ihr Enkel hatte den
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Wagen vor drei bis vier Wochen, als er Kaninchenfallen aufstellte, im Hard Goods Canon stehen sehen. Der Hard Goods Canon mündete ungefähr neun Meilen vom Eingang entfernt in den Many Ruins Canon. Und dann war Alte-Frau-grauer-Fels wieder auf ihr Lieblingsthema, die Entartung der jüngeren Generation, zurückgekommen. Sie sprach von dem Vetter ihres Neffen, der in Gallup auf einen Nakai eingestochen hatte und dann mit einem gestohlenen Wagen geflohen war. «Davon habe ich schon in Window Rock gehört», entgegnete McKee. «Er heißt Luis Horseman, nicht wahr?» Mit Mühe unterdrückte er den Impuls, ihr mitzuteilen, daß Horseman tot war, und sie zu fragen, ob der Vetter ihres Neffen heimgekommen sei, um sich zu verstecken. Es war besser, sie ungestört reden zu lassen. «ja, stimmt. So heißt er», bestätigte Alte-Frau-grauer-Fels und spie auf den Boden. «Er tut immer, als hätte er keine Verwandten. Ist ständig betrunken und streitet sich mit den Leuten. Schon seine Mutter hat nichts getaugt. Ist einfach weggelaufen und hat ihre Kinder im Stich gelassen.» Sie steckte sich eine neue Zigarette an. McKee fragte sich, wie weit sich Leaphorns Nachricht wohl schon herumgesprochen haben mochte. «Hat er diesen Mann in Gallup getötet?» «Es heißt, daß der Mann wieder gesund geworden ist», sagte sie. «Ein Polizist ist zu Shoemaker gekommen und hat das gesagt. Und er hat auch gesagt, daß Horseman mit Law and Order reden soll. Es wäre besser, wenn er das täte.» «Und wie soll er das erfahren?» Alte-Frau-grauer-Fels blickte zu den Lukachukais hinüber. «Es heißt, daß jemand hinübergegangen ist und es ihm gesagt hat», erklärte sie. «Ich glaube, es war einer von den Jungen der Nez-Familie.»
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Und daran, dachte McKee, wird Joe Leaphorn erkennen, daß er mit seiner Vermutung, Horseman werde in seine Heimat zurückkehren, um sich zu verstecken, doch recht gehabt hat. Und möglicherweise wird er außerdem daraus schließen, daß jemand, der Nez heißt, Horseman am Abend vor Auffindung seiner Leiche besucht hat. Jetzt hatte er endlich Gelegenheit, die vielen Gefälligkeiten, die Leaphorn ihm erwiesen hatte, wenigstens teilweise zu erwidern. Es hatte auf einmal den Anschein, als wisse die klatschsüchtige Alte doch mehr über die Fälle von Bösem Zauber, als sie hatte zugeben wollen. Er mußte an ihre Behauptung denken, der Wolf sei ein Fremder. Vor wenigen Stunden noch hätte er diesen Gedanken als abwegig beiseite geschoben. Der Anti mußte ein Angehöriger des Clans sein ein notorischer Unruhestifter oder einer, den alle beneideten. Nun aber stand er vor vollkommen neuen Tatsachen. Falls Alte-Frau-grauer-Fels richtig informiert war, schien es sich hier um keinen der üblichen Zwischenfälle zu handeln, die Anlaß für Redereien von einem Sündenbock-Zauberer waren. Wenn er jetzt auf den Grund für die Gerüchte stieß, würde er feststellen, daß es eine ganz und gar außerhalb des gewohnten Sozialschemas stehende Motivation war. Er beschloß, diesen Punkt sehr vorsichtig anzugehen. «Wer ist der Navajo, der behauptet, der Wolf sei ein Fremder?» «Ich habe es von meinem Mann gehört. Er sagt, man habe ihm erzählt, daß einer der Tsosie-Jungen da drüben -» AlteFrau-grauer-Fels machte eine vage Lippenbewegung in Richtung auf die Lukachukai-Hänge - «den Platz gefunden hat, wo der Wolf sein Lager aufgeschlagen hatte. Das Lager war trocken, dabei gibt es nur eine Meile weiter den Arroyo hinauf eine Quelle. Wenn er aus dieser Gegend stammte, hätte er gewußt, wo das Wasser ist.»
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«Woher wußte man denn, daß es das Lager des Wolfes war?» «Mein Mann hat gehört, die Stiefelabdrücke seien die gleichen wie diejenigen, die Tsosie Begay bei seiner Schafhürde gefunden hat, nachdem der Wolf dort gewesen ist.» Aha, dachte McKee. «Gehört dieser Junge zu Charley Tsosies Familie?» fragte er. «Er ist Charleys Sohn», antwortete Alte-Frau-grauer-Fels. «Er hat nicht geheiratet. Deswegen lebt er noch bei seinem Clan.» «Und die Schafhürde der Tsosies ist diejenige, zu der der Wolf gekommen ist?» «So heißt es. Charley Tsosie war einer von denen, die er heimgesucht hat.» «Kennst du noch andere?» erkundigte sich McKee. Vor dem Essen hatte sie ihm versichert, sie kenne niemanden, der behaupte, von einem Wolf heimgesucht worden zu sein. McKee hielt diese kleine Lüge, die jetzt jedoch äußerst geschickt zurückgenommen wurde, nicht für ein Zeichen typischer Navajo-Geheimniskrämerei, sondern für einen Beweis für das Mysterium, das die Frauen umgibt. Er hatte keine Ahnung, weshalb ihm Alte-Frau-grauer-Fels diese Informationen anfangs vorenthalten hatte, ihm aber jetzt auf einmal anvertraute. Außerdem wußte er nicht, ob sie ihm noch mehr mitteilen würde: McKee hatte vor Jahren schon eingesehen, daß die wundersamen Wege der weiblichen Logik seinen Verstand überforderten. Alte-Frau-grauer-Fels schien seine Frage überhört zu haben. Sie blickte den Hang hinab in den Korral, wo zwei ihrer jungen Enkel ein struppiges Pferd sattelten. «Ich habe in einem Handelsposten gehört, der zweite, den der Wolf heimgesucht hat, sei ein Mann namens Angst-vor-
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seinem-Pferd», sagte McKee. «Ein anderer behauptete, das sei nicht wahr. Und wieder ein anderer sagte, es sei ein Mann namens Shelton Nakai, aber man wüßte nicht, wo er jetzt wohnt.» «Wer hat dir gesagt, es wäre Angst-vor-seinem-Pferd?» fragte Alte-Frau-grauer-Fels. «Daran kann ich mich jetzt nicht mehr erinnern», antwortete McKee. Es war Mr. Shoemaker vom Handelsposten gewesen, doch Shoemaker hatte ihm auch erzählt, Angst-vor-seinemPferd sei der Schwiegersohn von Alte-Frau-grauer-Fels. «Vielleicht war er in Wirklichkeit hinter Ben Yazzie her», meinte die Alte bedächtig. «Wo der jetzt wohnt, weiß ich nicht. Früher hat er seine Schafe immer oben an den Hängen beim Horse Fell und Many Ruins Canon geweidet. Dort hatte er auch seinen Sommer-Hogan.» McKee fand, daß sie nervös wirkte, und glaubte auch zu wissen, warum. Sie wollte nicht, daß ihr Schwiegersohn mit Bösem Zauber in Verbindung gebracht wurde, und sei es auch nur durch dumme Gerüchte. Deswegen lenkte sie seine Aufmerksamkeit auf Ben Yazzie. Er nahm sich vor, Charley Tsosie, Ben Yazzie und Angst-vor-seinem-Pferd später aufzusuchen und mit ihnen zu sprechen; jetzt aber wechselte er zunächst das Thema. Er wollte, falls Alte-Frau-grauer-Fels auskunftbereit war, noch mehr über die Gründe erfahren, aus denen man diesen Anti für einen Fremden hielt. «Ich weiß nicht, warum alle glauben, daß dieser Wolf nicht hier in der Gegend wohnt», sagte McKee daher. «Vielleicht hat er das trockene Lager im Arroyo nur angelegt, weil er vermutete, daß jemand an die Quelle kommen würde, und er nicht wollte, daß man ihn fand.» «Es hat ihn jemand des Nachts gesehen», erwiderte die Alte. Sie sprach sehr langsam, wog jedes Wort ab und überlegte genau, wieviel sie sagte. «Antis kommen zumeist heraus, wenn der Mond scheint, und in jener Nacht schien der Mond.
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Dieser Mann ist in der Nacht aufgewacht und hörte einen Kojoten heulen. Darum ging er hinaus, um nach seinen Schafen zu sehen, die er dort draußen eingepfercht hatte. Und da sah er den Anti im Mondlicht stehen. Es war aber keiner, der hier in der Gegend seinen Hogan hat.» McKee wollte schon nach dem Namen des Mannes fragen, hielt sich jedoch rechtzeitig zurück. Dieser «Jemand» war natürlich kein anderer als Angst-vor-seinem-Pferd, der Schwiegersohn der alten Frau. «Aber woher wußte der Mann, daß der, den er sah, ein Anti war?» erkundigte sich McKee. «Vielleicht war es nur jemand, der einfach so daherging.» McKee mußte lange auf eine Antwort warten - so lange, daß er schon glaubte, Alte-Frau-grauer-Fels werde die Frage ignorieren. Er ließ seine Worte in der lastenden Stille hängen. Hinter dem Winter-Hogan begannen Hunde zu bellen, und dann hörte McKee das Geräusch des Lastwagens: Canfield kam mit den Lebensmitteln von Shoemaker zurück. «Nach allem, was ich gehört habe», berichtete Alte-Fraugrauer-Fels noch immer sehr langsam, «trug der Anti ein Wolfsfell über den Schultern und war bei den Schafhürden, weil er die Tiere mit dem Messer abstach.» Canfield hatte für dreiundvierzig Dollar Lebensmittelvorräte und einen Kasten Bier gekauft; außerdem brachte er einen Brief von Ellen Leon mit, der den Poststempel «Page, Arizona» trug. Ellen wollte noch ein oder zwei Tage lang die Handelsposten der Umgegend des Mormon Ridge und Kaibab Plateau im Nordwestteil der Reservation abfragen. Am Donnerstag wollte sie dann nach Chinle kommen, zu Shoemaker fahren und sich erkundigen, wo Canfield und McKee steckten. Canfield hatte ihr eine gezeichnete Landkarte und einen Brief hinterlassen, in dem er ihr mitteilte, daß sie ihr Lager ungefähr fünf Meilen weit im Hauptarm des Many Ruins
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Canon aufschlagen würden und wie sie fahren mußte, um hinzukommen. «So ist es für uns alle am günstigsten», meinte Canfield. «Sie haben Gelegenheit, Ihren Antis nachzuspüren, und wenn wir Zeit genug haben, können wir uns da drinnen sogar mal nach dem grünen Kastenwagen umsehen.» Er grinste. «Hoffentlich finden wir ihn nicht. Dann werden wir meine Gitarre auspacken, Miss Leon ein kleines Ständchen bringen und abendliche Bacchanale unter dem Navajo-Mond feiern.» «Ich weiß noch immer nicht, ob es sich wirklich um einen Fall von Bösem Zauber handelt», entgegnete McKee. «Zunächst mal muß ich diese Familie Tsosie aufsuchen und feststellen, was die, falls überhaupt, für Schwierigkeiten haben. Nach Aussage der alten Dame hat Charley seinen Sommer-Hogan gewöhnlich nur wenige Meilen südlich der Stelle, an der wir unser Lager aufschlagen wollen; das wäre also nicht weiter schwer. Dann können mir die Tsosies vielleicht sagen, wo ich Angst-vor-seinem-Pferd finden kann. Die alte Dame wollte nicht über ihn sprechen. Hier hat man nicht gern Bösen Zauber in der Familie.» «Was wollen Sie im Hinblick auf Horseman tun?» McKee überlegte. «Ich glaube, ich fahre am besten gleich morgen nach Chinle zurück und rufe Joe Leaphorn an», meinte er. «Glaubt denn Ihr Polizeifreund wirklich, daß es sich um keinen natürlichen Tod handelt?» «Ich glaube, er tappt da ein wenig im dunkeln», antwortete McKee. «Mit seiner Annahme, Horseman werde hierherkommen, um sich zu verstecken, hatte er allerdings recht.» Canfield ließ den Wagen langsam über den Packsand des Canon-Bodens rollen; nur hier und da inspizierte er abzweigende Neben-Canons, um sich anhand der Karte und seines Erinnerungsvermögens zu vergewissern, ob es hier
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Felsenruinen gab. Die Sonne stand schon tief, als sie in den oberen Teil des Canons vordrangen. Hier schoben sich die Felswände dichter zusammen und stiegen, ebenso glatt wie richtige Mauern, mehr als hundert Meter fast senkrecht empor, so daß ganz oben nur ein schmaler Streifen blauen Himmels zu sehen war. In diese mit erodiertem Gestein übersäte Schlucht kam die Dunkelheit früh. Canfield mußte die Scheinwerfer anschalten, ehe er einen geeigneten Lagerplatz fand: einen Geröllhügel, auf dem sich genügend Erde gesammelt hatte, um eine Grasfläche und sogar ein Gehölz junger Pappeln und Weiden zu nähren. Als sie Canfields Arbeitszelt aufgeschlagen und sich eine Mahlzeit gekocht hatten, waren über den Canon-Wänden bereits die ersten Sterne zu sehen. Ein jagender Ziegenmelker schoß an ihnen vorbei. Weiter oben im Canon löste ein heiserer Vogelruf eine Serie dumpfer Echos aus. «Eine Sägeschärfereule», sagte Canfield grinsend. «Wenn Leaphorn recht hat, dann feiert Horsemans Geist da vielleicht fröhliche Urständ.» Nach dem Essen blieben sie in der dunklen Stille sitzen und betrachteten den aufgehenden Mond, der den oberen Rand der Canon-Wände beschien. Aus weiter Ferne drang leises Bellen herüber. «Jetzt haben Sie die Wahl», sagte McKee. «Kojote, verirrter Schäferhund oder einer von meinen Antis, der sich heute nacht in einen Wolf verwandelt hat.» Canfield nahm den Türkisfrosch aus der Tasche und rieb ihn kichernd zwischen den Fingern. «Ich möchte auf Anti tippen, denn das hier ist ja der beste Schutz dagegen.» Eigentlich war der Türkis, wie McKee sich erinnerte, gar kein Navajo-Talisman, sondern ein viel älteres Fruchtbarkeitstotem der Anasazi, das überhaupt nichts mit Bösem Zauber zu tun hatte. Aber das spielte im Grunde natürlich keine Rolle.
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McKee verließ das Lager vor Morgengrauen. Unterwegs, in einer Tankstelle am Highway nach Chinle, rief er in Leaphorns Büro an und nahm, während er auf den Polizisten wartete, in Bishbitos Restaurant ein geruhsames Frühstück ein. Leaphorn, der sechzig Meilen von Window Rock bis zur Tankstelle zurücklegen mußte, traf ein, als McKee gerade die dritte Tasse Kaffee trank. Er reichte dem Freund ein Blatt Papier und setzte sich. «Sieh dir das an», sagte er, «und dann komm mit. Wir wollen den Jungen suchen, der Horseman benachrichtigt hat.» Das Blatt Papier war der Durchschlag eines AutopsieFormulars: Name: Luis Horseman (Kriegername unbekannt) Alter: 23 Wohnhaft: 27 Meilen südwestlich Klagetoh Nächster Verwandter: Ehefrau Agnes (Tso) Horseman, Many Goats Clan Todeszeit: 11. Juni, zwischen 18 und 24 Uhr (schätzungsweise) Todesursache: Ersticken. Beträchtliche Ansammlungen feinen, granularen Materials in Lungengewebe, Luftröhre, Schlund und Nase. Weitere Informationen betrafen negative Ergebnisse der Untersuchung auf Blutalkohol, Schürf- und Stoßwunden. Die Analyse des «feinen, granularen Materials» hatte ergeben, daß es sich um Quarzsand handelte. «Der Arzt, der die Autopsie durchgeführt hat, meinte, es sähe aus, als wäre er verschüttet worden», sagte Leaphorn. «Von einem Sandrutsch.» «Bist du derselben Meinung?»
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«Und daß ihn dann jemand ausgegraben hat? Um ihn da draußen am Teastah Wash hinzulegen - mit einer Flasche Whisky, die er gar nicht getrunken hat?» Leaphorn dachte über seine eigenen Fragen nach. «Ich weiß es nicht. Möglich wäre es. Aber wir haben weder in seinen Hosenaufschlägen noch in seinen Taschen, noch sonstwo Sand gefunden.» «Es wäre auch unlogisch», meinte McKee. Leaphorn sah aus dem Fenster. «Ich denke, daß ich eine ganze Menge über Antis weiß», sagte er. «Und du glaubst ebenfalls, viel über Antis zu wissen. Aber wie tötet man einen Anti ?» Diese Frage überraschte McKee. Er überlegte. «Meinst du, daß man ihn vielleicht erstickt?» «Erinnerst du dich an den Fall drüben in Fruitland ?» fragte Leaphorn. «An den Mann, dessen Tochter an Tbc gestorben war? Der hat gleich vier von ihnen erschossen. Und dann war da der alte Sänger oben in der Nähe von Teec Nos Pas. Das muß ungefähr zwei Jahre her sein. Der ist erschlagen worden.» «Mir ist keine spezielle Tötungsart bekannt», sagte McKee. «In den dreißiger Jahren soll einer gehängt worden sein, aber dafür gibt es keine Beweise, und deswegen nimmt man an, daß es sich um ein Gerücht handelt. Gewöhnlich geschehen derlei Dinge im Zustand höchster Erregung, also läuft es fast immer auf Erschlagen, Erschießen oder Erstechen hinaus. Aber warum fragst du? Glaubst du, daß irgend jemand Horseman für den Anti gehalten hat?» «Unmöglich wäre es nicht», antwortete Leaphorn. «Aber ich habe wirklich keine Ahnung.» Er starrte noch immer aus dem Fenster. «Warum wird ein Mensch wie Horseman getötet? Er war doch nur ein armer Hund, der kein richtiger Navajo mehr sein, aber auch nicht wie ein Weißer zu leben lernen konnte. Einer, der nirgendwo hingehörte.»
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McKee wußte keine Antwort darauf. Unter dem Fenster zog sich das Asphaltband der Navajo Route 9 vorbei, und dahinter, im Osten, lag die graublaue Masse der Lukachukai-Kette. Er fragte sich, was Leaphorn da draußen sah. «Ich leitete die Unteragentur Shiprock, als diese Sache in Fruitland passierte», berichtete Leaphorn. «Deswegen mußte ich den Fall bearbeiten. Ich hatte zwar das Gerede von einem Navajo-Wolf gehört, aber nicht weiter darauf geachtet, und so kam es dann, daß wir fünf Menschen beerdigen mußten.» «Vier», korrigierte McKee. «Nein, fünf.» Leaphorn drehte sich mit grimmigem Lächeln um. «Wir sind nicht in Salem», sagte er. «Bei uns gibt es kein Gesetz gegen Bösen Zauber. Der Mann erschoß einen alten Handzitterer und seine Frau, eine Lehrerin und ihren Mann und zuletzt sich selbst. Weil er sich nicht vor Gericht für die Morde verantworten wollte.» «Warum erzählst du mir das eigentlich?» fragte McKee. «Suchst du eine Möglichkeit, dir selber die Schuld an Horsemans Tod aufzuladen?» «Ich hätte ihn holen müssen.» «Aber du hättest ihn nicht gefunden. Außerdem war Horseman kein Fremder. Die Alte sagt doch, daß der Wolf ein Fremder ist.» «ja», nickte Leaphorn. «Das sagt sie. Vielleicht hat sie einen Grund, dich zu belügen. Suchen wir lieber den Jungen, der Horseman benachrichtigt hat.» Er konsultierte seine Notizen. «Billy Nez. Wir werden Billy suchen und sehen, was er weiß.» Doch Billy Nez war nirgends zu finden. Östlich von Chinle fanden sie zwar, nicht weit von Shoemakers Laden entfernt, die Hogans seiner Familie, Billy aber fanden sie nicht. Sein Onkel war sehr böse auf ihn. «Der Junge hat sich ein Pferd genommen und ist nach dem Frühstück fortgeritten», berichtete er. «Nie ist der Bengel zu
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Hause. Treibt sich bestimmt in den Bergen mit Mädchen herum, statt mir hier unten ein bißchen zu helfen.» Ob er am Abend zurück sein werde? Der Onkel wußte es nicht; Billy bleibe manchmal tagelang fort. Er unterhielt sich eine Weile mit Leaphorn, dann kehrte der Lieutenant zum Wagen zurück und wendete ihn wieder in Richtung Chinle. «Einiges habe ich in Erfahrung gebracht», erzählte Leaphorn. «Der Junge wußte, wo Horseman sich versteckt hielt: irgendwo oben in den Canons. Doch als er hinging, um ihm zu sagen, daß er kein Mörder sei, war Horseman verschwunden.» Leaphorn hielt inne. «Wenigstens hat das der Junge behauptet.» «Aber du glaubst es ihm nicht?» «Es wird schon so gewesen sein. Der Onkel hat mir nämlich noch etwas anvertraut. Billy Nez ist Luis Horsemans jüngerer Bruder.» «Sein Bruder?» fragte McKee verblüfft. «Und weshalb trägt er dann einen anderen Namen?» «Die Familie hat sich getrennt. Billy lebte bei seinem Onkel, deswegen nannte er sich Nez statt Horseman. Du weißt doch, wie das mit den Dinee ist. Der einzige Name, der wirklich zählt, ist der Kriegername, den man in der Jugend verliehen bekommt. Aber der bleibt ein Familiengeheimnis und wird nur beim Heilszauber benutzt oder wenn man sich jemanden holt, der einen gesundsingen soll.» Gegen zwölf Uhr erreichten sie die Unteragentur Chinle, doch der Beamte, den Leaphorn sprechen wollte, machte gerade Mittagspause. Sie fanden ihn im Restaurant, wo Leaphorn ihn McKee als Sam George Takes vorstellte. Es war ein junger Mann mit rundem Gesicht und kräftigem Brustkasten, der die Uniform eines Sergeant der Law and Order Division trug. McKee bestellte sich ein Hühnersteak mehr, als er sich gewöhnlich zu Mittag gestattete.
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«Sie wissen doch, wie es ist, Joe», sagte Takes. «Im Sommer sind Schulferien. Vermutlich rennt er hinter einem Mädchen her, und es ist unmöglich, abzusehen, wann er zurückkommen wird.» «Ganz recht», stimmte ihm Leaphorn zu. «So macht man es, wenn man sechzehn ist. Man streicht um den Hogan eines Mädchens herum. Oder man sucht seinen Bruder, wenn dieser plötzlich verschwunden ist.» Takes legte die Gabel hin. «Er findet ihn nicht, kommt nach Hause, sein Onkel schickt ihn her, wie versprochen, und wir erfahren von ihm, was er weiß. Das ist aber vermutlich gar nichts, und damit wäre die Sache erledigt. Weshalb also machen Sie sich Sorgen?» «Natürlich könnte es kommen, wie Sie sagen», gab Leaphorn zu. «Aber Sie wissen doch, wie schnell sich Nachrichten hier in der Reservation herumsprechen. Vielleicht weiß er inzwischen schon, daß sein Bruder nicht mehr lebt. Und bringt das mit dem Gerede von Bösem Zauber in Zusammenhang. Dann trommelt er ein paar Vettern und Onkels zusammen und macht sich mit ihnen auf die Suche nach dem Wolf.» McKees Essen kam; die Sauce war über die Pommes frites gegossen. «Teds Koch hat mal wieder gekündigt», erklärte Takes. «Jetzt kocht der verdammte Gauner selber.» «Die Frage ist, wo wir mit unserer Suche beginnen sollen», sagte Leaphorn. «Dies ist Ihr Territorium, Sam. Was meinen Sie?» Takes zog ein finsteres Gesicht. «Der Lümmel kann eigentlich überall stecken. Wissen Sie noch, als wir direkt nach dem Koreakrieg hier einen Schwarzbrenner sitzen hatten? Wir haben ihn nie gefunden.» Takes machte den Eindruck, als ärgere er sich noch heute darüber. «Wir wußten, daß seine Brennerei dicht am Wasser liegen und er mindestens ein Pferd zum Transport der Maiskörner haben mußte, aber vier Jahre
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lang tauchte unentwegt dieser Schnaps in der Gegend auf, und wir konnten keine Spur von dem Hersteller finden.» «Die Nez-Familie würde bestimmt keine vier Jahre brauchen, um einen Anti zu finden», entgegnete Leaphorn. Takes lachte. «Wenn Sie sich deswegen Sorgen machen... Die haben einen Feindzauber bestellt. Damit wäre dann wohl die Geschichte erledigt.» «Wer hat ihn bestellt?» erkundigte sich Leaphorn. «Einer von der Nez-Familie selber?» «Soviel ich gehört habe, war es Charley Tsosie», sagte Takes. «Aber die Tsosies sind Verwandte der Nez-Familie. Gehören zum selben Clan.» McKee bekundete Interesse. Alte-Frau-grauer-Fels hatte erwähnt, daß Tsosie vom Anti heimgesucht worden war. Für jemanden, der behext worden war, hielt man jedoch gewöhnlich einen Abwehrzauber ab, durch den das Böse abgewehrt und gegen den Wolf gerichtet wurde, der es ausgelöst hatte. Weshalb also diesmal einen Feindzauber? McKee erinnerte sich gut an den Ritus. Er hatte seinen Ursprung in dem Kampf zwischen den Dinee und den Ute und wurde nur angewendet, wenn Angehörige Des Volkes nach längerer Abwesenheit in die Reservation heimkehrten, wenn sie also, als Soldaten etwa, fremden Einflüssen ausgesetzt worden und mit Weißen, Pueblo-Indianern oder Mexikanern in Berührung gekommen waren. Ihm fiel wieder ein, was die Alte gesagt hatte: daß der Anti ein Fremder sei. Leaphorn sah ihn aufmerksam an. «Wenn sie einen Feindzauber abhalten, muß das, was die Alte dir gesagt hat, wohl stimmen», meinte Leaphorn. «Sie sind überzeugt, daß es sich um einen Fremden handelt, und wenn sie das glauben, dann sind sie auf keinen Fall der Ansicht, daß es Horseman war, und dann kann das nicht der Grund für seinen Tod sein.»
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«Ich wüßte gern, warum er sterben mußte», sagte Takes. «Gewöhnlich kommen derartige Morde höchstens bei einer Stammesfehde vor, beim Streit um eine Frau oder wenn jemand schlecht über einen anderen geredet hat.» «Vielleicht hat er die Whiskybrennerei gefunden, nach der Sie immer noch suchen», spöttelte McKee. «Hier ist seit Jahren kein schwarz gebrannter Whisky mehr aufgetaucht», gab Takes zurück. «Und was ist mit dieser Rakete, die hier vor drei, vier Jahren verlorengegangen ist?» fragte Leaphorn. «Gilt die für den Finder ausgesetzte Belohnung von zehntausend Dollar noch immer?» «Das weiß ich nicht», antwortete Takes. «Jedenfalls glaube ich nicht, daß sie jemals gefunden wurde.» «Ich werde die Leute vom Tonepah-Übungsplatz anrufen und mich erkundigen», sagte Leaphorn. Anschließend erklärte er McKee, daß die Geschosse, die auf dem Tonepah Übungsplatz in Utah zum White-Sands-Übungsplatz in New Mexico abgeschossen wurden, den menschenleeren Ostteil der Reservation überflogen. «Früher ging dann und wann, wenn mal eine zweite Stufe versagte, die eine oder andere Rakete verloren, und dann war es schwer, sie wiederzufinden», berichtete Leaphorn. «Jetzt aber ist drüben, auf dem Tall Poles Butte, eine Radarstation eingerichtet worden, mit der man die Dinger bis zum Aufschlag verfolgen kann.» «Du glaubst also, daß Horseman die alte Rakete zusammen mit einem anderen Mann gefunden hat und daß sich die beiden wegen der Belohnung in die Wolle geraten sind?» fragte McKee. Leaphorn zuckte die Achseln. Dann bat er Bishbito, ein Ferngespräch führen zu dürfen. McKee aß pflichtbewußt seinen Teller leer. Er war enttäuscht und schämte sich dieser Enttäuschung. Wieder einmal war er,
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genau wie vor Jahren schon, ein Opfer des eigenen Optimismus geworden. Hatte etwas erwartet, wo nichts zu erwarten war. Hatte in einem Zwischenfall, den Takes und Leaphorn bereits als unerquicklichen Routinemord erkannt haben mußten, ein romantisches Geheimnis gesehen. Der gleiche Fehler hatte ihm, wie er wußte, auch diese letzten acht qualvollen Jahre eingebracht - Jahre, in denen sich das Leid in Trübsal und letztlich in stumpfe Gleichgültigkeit verwandelt hatte. Er sah noch immer den Brief vor sich - blaue Tinte auf blauem Papier, in Saras lässiger, energischer Schrift: Berg, ich treffe mich beute abend mit Scotty in Las Vegas. Ich bin mit einer Scheidung einverstanden. Sonst nichts, nur ihre Unterschrift. Überflüssige Erklärungen paßten nicht zu Saras Stil; so schien es ihr unnötig hinzuzufügen, daß er ein langweiliger, unscheinbarer Mann mit einem langweiligen, aussichtslosen Beruf, Scotty dagegen ein aufregender Verführer war, der in einer aufregenden Welt mit Geld und Jets und Wochenenden auf den Karibischen Inseln lebte. Bei diesem Gedanken verfluchte er sich - wie immer -, verfluchte diesen Fehler, der ihn immer wieder dazu verleitete zu übersehen, daß er ein tölpelhafter, ganz und gar unbrillanter, durchschnittlicher Mann war, der in den Kreis kühler, schlanker Saras und rücksichtsloser, geistsprühender Scotts nicht hineinpaßte. Er schob seine Erinnerungen energisch beiseite und dachte statt dessen lieber an Horseman, der ebenfalls Schiffbruch erlitten hatte. Er überlegte, wieso er in dessen Tod etwas Besonderes vermutet hatte. Und schob diesen Gedanken ebenfalls fort. Horsemans Tod ging ihn nichts an. Er würde sich wieder seinen Forschungen zuwenden. Charley Tsosies Familie würde jetzt allerdings keine Zeit für ihn haben, sondern ausschließlich mit den rituellen Dampfbädern und den
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Vorbereitungen für die Zeremonien beschäftigt sein. Aber er konnte ja zunächst Ben Yazzie interviewen. Oder auch Angstvor-seinem-Pferd, den er jedoch erst suchen mußte. Er blätterte in seinem Notizbuch. Alte-Frau-grauer-Fels hatte gesagt, Ben Yazzie weide seine Schafe im Sommer drüben auf dem Lukachukai-Plateau. Also würde er sich in der Unteragentur erkundigen, wo Yazzie und Angst-vor-seinemPferd ihre Sommer-Hogans hatten. Dann konnte er seine Befragung fortsetzen. Er las noch einmal durch, was er sich bei Shoemaker und nach dem Gespräch mit der Alten notiert hatte. Nur wenig über Angst-vor-seinem-Pferd, aber das Yazzie-Gerede hielt sich im üblichen Schema. Ein Mann im Handelsposten hatte gesagt, Yazzie habe gemerkt, daß ihm ein Kojote folgte, und da der Kojote ein Bote des Heiligen Volkes war, hatte Yazzie dies als eine Warnung vor Gefahr aufgefaßt. Und dann hatte er bei Nacht die üblichen Geräusche gehört, deren Deutung unweigerlich dahin ging, ein Anti habe versucht, Leichenpulver in die Rauchöffnung des HoganDaches zu werfen. Dann hatte es die üblichen toten Schafe gegeben sowie den üblichen Bericht aus dritter Hand, dem zufolge Yazzie einen Hund bei der Herde gesehen haben wollte, der sich beim Davonlaufen in einen Mann verwandelte. Leaphorn kehrte vom Telefon zurück, und McKee steckte sein Notizbuch ein. Er nahm sich vor, am Nachmittag gleich mit Ben Yazzie anzufangen. «Na ja», antwortete Leaphorn, «damit wäre unser Motiv dahin.» Er setzte sich. «Der Colonel sagt, die ausgeschriebene Belohnung sei schon vor zwei Jahren zurückgezogen worden. Die verlorene Rakete ist nicht mehr interessant.» Er lachte. «Ich hatte sogar den Eindruck, daß es ihm lieber wäre, wenn sie überhaupt nicht mehr gefunden wird. Ist ja auch peinlich, so etwas zu verlieren, und dann taucht es erst wieder auf, wenn kein Mensch mehr daran denkt.»
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«Dann stehen wir also wieder da, wo wir vorher waren», bemerkte Takes. «Ich habe da eine ganz bestimmte Idee», sagte McKee. «Nehmen wir an, es waren noch andere Leute da in der Gegend versteckt, die unter allen Umständen verhindern wollten, daß die Navajo-Polizei mit einem Suchtrupp kommt. Und die meinten, die beste Methode, das zu verhindern, sei, Horseman einfach an einen Platz zu bringen, an dem er unbedingt gefunden werden mußte.» Noch während er sprach, war sich McKee darüber klar, daß diese Theorie ziemlich weit hergeholt klang, doch Leaphorns Miene war ernst und grimmig. «Daran habe ich auch schon gedacht», sagte er. «Die Autopsie hat ergeben, daß er zwischen sechs Uhr abends und Mitternacht des Tages umgebracht wurde, an dem ich bei Shoemaker war und allen erzählt habe, daß wir ihn holen würden, wenn er nicht freiwillig käme. Nehmen wir das als Ausgangspunkt, dann bin ich schuldig an seinem Tod.»
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Als Bergen McKee mit seinem Wagen den letzten erodierten Hügelkamm erreichte und unter sich auf dem Hang Ben Yazzies Hogan sah, drückte er auf die Hupe. Es war zwar eine überflüssige Geste, denn das Motorengeräusch war sicher schon eine ganze Weile zu hören gewesen, aber sie war wenigstens höflich. Sie kündigte offiziell einen Besucher an und war, wie McKee vermutete, ein internationaler Brauch bei der Landbevölkerung in aller Welt. Deutlich erinnerte er sich, daß sich sein Vater niemals einem fremden Gehöft genähert hatte, ohne am Tor stehenzubleiben und so lange «Hallo» zu rufen, bis man zu erkennen gab, daß man ihn bemerkt hatte. Bei Menschen, die sich zum Schutz ihrer Privatsphäre mehr auf die Entfernung als auf Fensterläden verlassen mußten, war es ein recht praktischer Brauch. Das Anwesen bestand aus zwei achteckigen Hogans aus ungeschälten Goldkieferstämmen, einem kleinen Vorratsschuppen aus Holzplanken und zwei Lauben. Die Gebäude standen in einem Zederngehölz am Rand eines kleinen Arroyo. Gleich hinter dem Ufer des Bachbettes waren zwei Schafhürden aus Zedernholzpfählen errichtet, deren vierte Wand das Steilufer des Arroyo bildete. Die Hürden waren leer, und als McKee den Wagen langsam weiterrollen ließ, sah er, daß auch die Hogans verlassen waren. Kein Kochtopf hing unter der Laube, keine Kleider waren zum Lüften herausgebracht, nirgends ein Zeichen, das auf die Anwesenheit von Navajos schließen ließ. McKee kletterte aus dem Wagen und setzte sich in den Schatten. Er war sehr müde und tief enttäuscht. Er steckte sich eine Zigarette an und überlegte, was er nun tun sollte. Er konnte die Yazzie-Familie zwar auch über Shoemaker auftreiben, weil sie bei ihm kauften und verkauften
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und Shoemaker sogar einige von Ben Yazzies Silber-Conchos als Pfand genommen hatte, aber es konnte noch Wochen dauern, bis einer von der Yazzie-Familie in den Laden kam. Blieben also nur zwei Auskunftsmöglichkeiten in der Umgebung des Many Ruins: Angst-vor-seinem-Pferd, der sein Weidelager irgendwo nördlich des Canons aufgeschlagen haben sollte, und Charley Tsosie. Tsosie würde noch mindestens zwei Tage lang mit seinem Feindzauber zu tun haben, und Weidelager wurden verlegt, sobald die Schafe die Gegend abgegrast hatten, und waren daher schwer zu finden. Trotzdem nahm er sich vor, Angst-vor-seinem-Pferd zu suchen. Der Grund, warum Yazzie seinen Hogan gerade hier gebaut hatte, lag auf der Hand. Hinter dem Anwesen, im Norden und Westen, stiegen die Sandsteinklippen eines Tafelberges fast senkrecht empor: an ihrem Fuß hundert Jahrhunderte von Geröll, darüber sechzig Meter nackter, glatter, rötlicher Fels mit dunklen, senkrechten Streifen dort, wo Wasser heruntergelaufen war, anschließend eine weichere Schicht graues Perlitgestein, pockennarbig mit Löchern und Höhlen durchsetzt, und zum Schluß der Überhang aus hartem schwarzem Lavagestein. Der Fels schützte die Hogans vor dem Südwestwind und der Spätnachmittagssonne. Im Norden und Osten breitete sich, ebenfalls von einem Tafelberg überragt, eine Landschaft aus einem phantastischen Durcheinander koloßartiger Erosionsformationen aus. Sämtliche Farben des Spektrums, dachte McKee. Alle - nur kein sattes Grün. Das bißchen Gras, das es hier gab, wuchs tief versteckt in den Winkeln, wo sich ein wenig Erde gesammelt hatte und Tropfwasser von den Felsen auffangen und absorbieren konnte. Als er der Wagenspur, die hierherführte, gefolgt war, hatte er mehrere dieser Grasflecken gesehen. Einige waren von den Schafen abgeweidet worden, die meisten jedoch standen unberührt. Yazzie mußte
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schreckliche Angst gehabt haben, um seine Herde von diesem Futterplatz wegzutreiben. Über den Gipfeln der Lukachukais bildeten sich dunkle Wolken. Bei Sonnenuntergang kommt über dem Many Ruins Canon bestimmt ein Gewitter herunter, dachte McKee. Er und Canfield hatten das Lager zwar in sicherer Höhe über dem Canon-Boden aufgeschlagen, so daß es von keiner Flutwelle erreicht werden konnte, aber er hatte fast all seine Gerätschaften vor dem Zelt liegenlassen. Gewiß, möglicherweise war Canfield da und kümmerte sich um die Sachen, vielleicht aber buddelte er auch gerade auf einem Begräbnisplatz in den Ruinen herum. Wenn Canfield arbeitete, war es durchaus nicht gesagt, daß er den Regen überhaupt bemerkte. McKee drückte seine Zigarette aus und erhob sich mühsam. Seine Muskeln waren so steif geworden, daß er bekümmert feststellte, ein Schreibtisch-Job sei wohl doch kein geeignetes Training für einen Studienausflug. In diesem Augenblick bemerkte er den Geruch. Es war ein schwacher Geruch, den eine Brise aus dem Arroyo bis zu den Hogans herauftrug. McKee erkannte ihn sofort. Es war der Geruch des Todes, verfaulenden Fleisches. Stockstill blieb er am Wagen stehen und musterte die stillen Hogans. Wenn der Geruch von dort gekommen wäre, hätte er ihn schon eher bemerken müssen. Langsam stieg er den Abhang hinab. Hinter der Laube machte er halt, um zu lauschen. Ein Stück von den Hogans entfernt zog sich der Arroyo in scharfer Kurve um eine hochragende Felsnase mit einer Krone von Wacholderbüschen und Pinien herum. Irgend etwas dahinter verursachte ein Geräusch: klanglose, leise Töne, die er gar nicht gehört hätte, wäre es hier nicht so still gewesen. Behutsam ging er auf die Baumgruppe zu und lauschte, gepackt von einer unerklärlichen Nervosität. Doch die Erklärung kam von selbst.
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Mit rauhem Krächzen flatterte ein Rabe von einer der Pinien auf. Sekunden später stob mit klatschendem Flügelschlag eine ganze Wolke dieser schwarzen Aasfresser aus dem Arroyo hoch. McKee blieb einen Moment reglos stehen; die Knie versagten ihm den Dienst - vor Schreck. Und vor Ärger über seine Schreckhaftigkeit. Dann trottete er zur Spitze der Felsnase, um nachzusehen, was die Aasvögel angelockt haben mochte. In der Arroyo-Bucht hatte Ben Yazzie an der senkrechten Sandsteinwand noch eine dritte Schafhürde aus Pfählen errichtet, in der fünf Kadaver mit der schweren, dunklen Wolle der Merinoschafe lagen. Von seinem Platz direkt darüber konnte McKee erkennen, daß der Boden an mehreren Stellen dunkel verfärbt war: Blut. Außerdem sah er, daß die Raben, die jetzt in einer fünfzig Schritt entfernten Baumgruppe lärmten, an den Kehlen der Tiere herumgepickt hatten. Also mußten sie von einem Wolf, von Kojoten oder vielleicht auch von Hunden gerissen worden sein. Es dauerte fast eine ganze Stunde, bis McKee die neun Meilen von den Yazzie-Hogans bis zur Mündung des Many Ruins Canon zurückgelegt hatte. Noch vor der Abfahrt war er zu dem Schluß gekommen, daß die getöteten Schafe mitsamt der Ursache ihres Todes vermutlich den Ursprung wenigstens einiger der Gerüchte über Bösen Zauber erklärten. Wenn er Ben Yazzie fand, würde er von ihm hören, daß Yazzie durch diesen Anti viele Schafe verloren und sich deswegen entschlossen habe, seine gewohnten Weidegründe und seinen Hogan zu verlassen. Denn gegen einen Anti konnte sich ein normaler Sterblicher nicht wehren. Daß er mit einem Kojoten oder selbst einem ungewöhnlich dreisten Wolf der natürlichen, vierbeinigen Sorte nicht fertig geworden war, das würde Yazzie niemals zugeben - nicht einmal vor sich selbst. Und wenn McKee Angst-vor-seinem-Pferd auftrieb, würde er dort vernehmen, daß die Kojoten in diesem Jahr außerdem auch
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noch nördlich des Many Ruins Canon aktiv geworden waren. Zusammengenommen sind diese beiden Zwischenfälle der beste Beweis für die Richtigkeit meiner Sündenbock-Theorie, dachte er. Und er war auf einmal sehr optimistisch. Erst als er mit dem Wagen in den Many Ruins Canon eingebogen war und auf dem sandigen Boden fuhr, wurde McKee auf einmal klar, daß er gar keine Ahnung hatte, wie ein Kojote in die Schafhürde eingedrungen sein konnte. Die Hürde bildete, von der Arroyo-Wand ausgehend, ungefähr einen Halbkreis. McKee erinnerte sich deutlich, daß er vom Boden des Arroyo aus nicht hatte hineinsehen können, und das bedeutete, daß der Zaun ungefähr sechs Fuß hoch sein mußte - zu hoch für einen Kojoten, zu hoch sogar für einen Wolf. Vermutlich hatte Ben Yazzie den Pferch so angelegt, damit keine Kojoten oder Wölfe hineinspringen konnten. Die Pfähle waren oben und unten miteinander verdrahtet, das untere Ende fest in den sandigen Boden gerammt. Das Tor, eine schmale Pfahltür, war von waagerechten Klammern zusammengehalten und ebenfalls mit Draht befestigt. Das merkte McKee, weil es sehr lange gedauert hatte, bis er die Drähte lösen konnte. Falls Yazzie in der Nacht, als der Wolf eindrang, das Tor nur nachlässig verschlossen hatte - weshalb sollte er sich dann die Mühe machen, es so zu befestigen, nachdem der Schaden geschehen war? McKee fuhr langsam über den festen Sand. Die Wolke, die ihm vor einiger Zeit aufgefallen war, hatte sich jetzt noch höher getürmt. Irgendwo mußte ein Schauer niedergegangen sein, denn es wehte ein kühler Wind, der einen Duft von nassen Nadelbäumen mitbrachte. An manchen Stellen kam er nur langsam vorwärts: Da lagen zahllose Gesteinstrümmer herum, und die Canon-Wände rückten eng aneinander. Es waren nackte, glatte Felsklippen, die das Wasser sporadischer Regenfälle zu einem schmalen Wildbach zusammendrängten. Im allgemeinen jedoch war der Weg bequem und der Canon
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Boden bis zu über hundert Schritt breit. Das Regenwasser nahm nur einen geringen Teil der Talsohle ein. Der Bach wand sich zwischen Geröllhügeln hindurch, und hier und da gab es Gras und sogar einige Pappeln. Der Sandstein hatte hier eine weichere Konsistenz und war daher stärker von Wind und Wasser zerstört worden. An solchen Stellen hatten die Anasazi auf Geröllhalden und weit oben unter dem schützenden Überhang der Canon-Wände ihre Felsenhäuser gebaut, die diesem Canon den Namen gaben. Auf seiner Fahrt zum Lagerplatz kam McKee an drei Ruinen vorbei, ohne ihnen mehr als einen flüchtigen Blick zu schenken. Er ärgerte sich jetzt kräftig über sich selbst, weil er beim Inspizieren der Schafhürden nicht gründlich genug vorgegangen war - eine Nachlässigkeit, die ihn zwang, noch einmal zu den YazzieHogans zurückzukehren, um festzustellen, wie die Kojoten nun eigentlich eingedrungen waren. So konzentriert beschäftigte er sich mit diesem Problem, daß er erst, als er den Wagen den Hang zum Lager hinaufsteuerte, bemerkte, daß Canfields Kombiwagen verschwunden war. McKee stellte die Zündung ab und blieb einen Moment reglos sitzen. Das Auspuffgeräusch hallte den Canon hinauf und hinab, bis es erstarb und lastende Stille hinterließ. Der Butankocher war kalt, wie McKee feststellte, und nirgends fand sich ein Zeichen dafür, daß Canfield mit dem Kochen begonnen hatte, obwohl er heute damit an der Reihe war. «Wohin zum Teufel kann er gefahren sein?» fragte McKee sich laut. Im Zelt fand er auf einem Klapptisch einen Zettel: ein Blatt Schreibmaschinenpapier, mit einem Türkisfrosch beschwert - Canfields Talisman gegen Antis. Bergen, ein Navajo mit einem geschwollenen Bein hat sich hier heraufgeschleppt. Schlangenbiß. Ich bringe ihn nach Teec Nos Pas. Bin morgen vormittag wieder zurück. John
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McKee laß die Nachricht ein zweites Mal und starrte verwundert auf die Unterschrift. Dr. J. R. Canfields Vorname lautete Jeremy. Nicht John.
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Sandoval hockte neben der Sandzeichnung und wies Charley Tsosie an, sich mit den Knien auf die Knie des Plattkäfers zu hocken. Er zeigte ihm, wie er sich vorbeugen und jede Hand auf eine Hand der Figur setzen müsse. Als Tsosie die richtige Position eingenommen hatte, intonierte Sandoval den Gesang von den Plattkäfern, die Wechselnder Frau zugerufen hatten, daß ihre Helden-Zwillinge, der Drachentöter und das Wasserkind, heil und gesund auf dem Heimweg seien. Schrill stieg seine Stimme zum Ruf der Käfer an und senkte sich wieder, als er vom Besuch der HeldenZwillinge bei der Sonne und von der Tötung des Drachen Ye-i sang. Es war erstickend heiß im Hogan, so daß Tsosies nackter Rücken von Schweiß glänzte. Sogar sein Lendenschurz hatte sich vor Nässe verfärbt. Das war gut. Der Feind kam heraus. Sandoval ging zum nächsten Teil über. Er streute eine Fingerspitze Maispollen auf Tsosies Schultern und ließ ihn aufstehen und von der Sandzeichnung heruntertreten aber behutsam, damit das Bild nicht zerstört wurde. Sandoval war mit seiner Zeichnung zufrieden. Er hatte seit langem keinen Feindzauber mehr gemacht, deswegen hatte er schon gefürchtet, alles vergessen zu haben. Aber es klappte gut. Der Sand, den er als Grund für die Zeichnung auf den Boden des Hogan gestreut hatte, war zwar ein wenig dunkler, als es ihm lieb war, doch als er mit farbigem Sand den Umschließenden Hüter gezeichnet hatte, hob dieser sich gut von dem helleren ab. Er hatte ihn als Viereck gezeichnet, wie sein Vater es ihn gelehrt hatte: mit einer Öffnung nach Osten, damit niemand vom Heiligen Volk darin gefangen wurde. Der Kopf des Hüters lag am nördlichen Ende, die beiden Arme waren nach innen gekehrt, die Füße wiesen nach Süden. Den Körper bildeten vier Linien, abwechselnd aus rotem und
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gelbem Sand, und an der Öffnung hatte Sandoval die schwierige Figur des Donners gemalt, der drei gekrümmte Pfeile im Kopfputz und unter den Flügeln trug. «Füge den Donner hinzu, wenn du gegen einen Anti singst», hatte sein Vater ihm geraten. «Der tötet die Antis mit seinen Blitzen.» Geschickt reparierte Sandoval den Käfer, stand auf und schaute in den Topf, in dem der Medizinsud brodelte. Die Wacholderblätter, die er hineingetan hatte, machten die Flüssigkeit milchig. Sie sah jetzt richtig aus, obwohl sie eigentlich in einem wasserdicht verpichten Korb zubereitet werden mußte. Das Volk kehrt sich von den alten Bräuchen ab, dachte Sandoval und ärgerte sich, daß er Tsosie erst hatte zeigen müssen, wie er sich auf die Beine des Großen Käfers zu setzen hatte. Jetzt intonierte Sandoval den Gesang von Großer Käfer, der zu seinem Volk gekommen war, um ihm zu sagen, daß Schwarzer Gott und die Krieger siegreich vom Kampf gegen die Taos Pueblo zurückkehrten, und ihm von den beiden Mädchen zu berichten, die den Kriegern Essen entgegengebracht hatten. Das war der letzte Gesang vor dem Erbrechen; Sandoval war erleichtert. Heute war schon der zweite Tag des Feindzaubers. Er war heiser und müde, doch immer noch gab es einen großen Teil des Rituals zu erledigen, bevor dieser Mann endgültig vom Hexenzauber erlöst sein würde. Seine Tochter hatte recht: Er war einundachtzig (zweiundachtzig nach des Weißen Mannes Rechnung) und viel zu alt, um einen dreitägigen Gesang wie den Feindzauber durchzustehen. Sandoval tauchte das rituelle Kürbisgefäß in den Topf, füllte es mit der heißen, milchigen Flüssigkeit und reichte es Tsosie. «Du mußt es ganz austrinken», erklärte er. Während Tsosie trank, intonierte er die letzten beiden Gesänge. Anschließend füllte er das Gefäß zum zweitenmal und reichte es Agnes
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Tsosie und den beiden Söhnen. Dann duckte er sich durch den Türvorhang des Hogan, um nachzusehen, ob es der richtige Zeitpunkt war. Draußen war es kühl, fast kalt nach der Hitze im Hogan. Die Farbe des östlichen Horizonts wechselte von Rot zu Gelb, und Sandoval sah, daß es der richtige Zeitpunkt war. Er schob die Vorhänge beiseite und rief Tsosie heraus. «Geh da drüben hinter die Laube», befahl er ihm. «Und vergiß nicht, daß du erbrechen mußt, sobald die Sonne über dem Kamm auftaucht. Sonst wirst du den Bösen Zauber nicht los.» Als Tsosie durch den Vorhang trat, reichte ihm Sandoval eine Hühnerfeder. «Sollte die Medizin nicht wirken, steck dir die Feder in den Hals.» Sandoval setzte sich, den Rücken an die Hogan-Wand gelehnt, auf den Boden. Er genoß die Kühle. Es würde ungefähr dreißig Minuten dauern, bis das Erbrechen vorüber war, und dann mußte er noch einen Gesang absolvieren, während sich Tsosie und seine Familie den Körper mit dem Wacholdersud einrieben. Danach kamen die Leute des Stockempfängers. Sandoval gähnte, reckte sich und blickte auf die Prärie hinaus, wo die Besucher ihr Lager aufgeschlagen hatten. Vier- bis fünfhundert mußten es sein, und heute würden noch weitere kommen - hauptsächlich Frauen mit ihren Töchtern, die sich beim Mädchentanz am Abend einen Mann suchen wollten, und junge Männer, die auf ein Mädchen aus waren. Außerdem würde es Glücksspiele, Alkohol und viel Streitereien geben. Statt an das Ritual zu denken und sich in Harmonie mit seiner Aufgabe zu versetzen, sann er darüber nach, wie sich die Zeiten geändert hatten. Die meisten Leute kamen heutzutage in Lastwagen und Personenautos. Pferdewagen sah man kaum noch. Die Maschinen des Weißen Mannes erleichterten das Reisen, so daß die Leute jetzt einfach aus Sensationslust herkamen. Früher hätte es bei einer solchen feierlichen Zeremonie weder
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Alkohol noch Glücksspiele gegeben. Sandoval sah einen weißen Kombiwagen mit dem Emblem der Law and Order Division - einem hochrückigen Büffel - über die Ebene heranholpern. Ein Mann in Blue Jeans und kariertem Hemd stieg aus und unterhielt sich mit einer Frau, die neben einem der Lastwagen ein Feuer machte. Die Frau deutete auf Sandoval, und der Mann kam auf ihn zu. Es war ein kleiner Mann mit mächtigen Schultern und einer Römernase. Als er vor Sandoval stehenblieb und ihn mit den Worten: «Großvater, ich hoffe, es geht dir gut» begrüßte, klang seine Stimme klar und laut. Das gefiel Sandoval, der festgestellt hatte, daß die jungen Leute in letzter Zeit sehr undeutlich sprachen. Deswegen lud er den jungen Mann ein, sich neben ihn zu setzen. «Ich heiße Joe Leaphorn», stellte der junge Mann sich vor, «und arbeite für Law and Order.» Doch dann begann er sofort, von anderen Dingen zu sprechen: über den Regen, der dieses Jahr sehr früh kam, was gut war, und über das Trinken und die Glücksspiele bei den Ritualfeiern, was schlecht war. Sandoval nickte beifällig: der Polizist würde zu gegebener Zeit zur Sache kommen. Er schätzte es, wenn sich ein junger Mann auch heute noch mit den alten Bräuchen auskannte. «In diesem Land ist seit langer Zeit kein Feindzauber mehr abgehalten worden», sagte der Polizist, und Sandoval schloß aus seinem Ton, daß jetzt die Einleitung vorüber war. «Vermutlich haben sie einen Sternseher oder Handzitterer kommen lassen», fuhr der junge Mann fort. Es war zwar keine direkte Frage gewesen, bestätigte Sandoval aber in der Vermutung, daß jetzt die Hauptsache kam. «Einen Handzitterer», sagte Sandoval. «Jimmy Hudson. Er hat die Hand über Charley Tsosie gehalten und festgestellt, daß er verhext worden ist. Hudson sagt, der Anti hätte ihm etwas angeblasen.»
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«Es hat hier einen Mann gegeben, der Luis Horseman hieß», fuhr der Polizeibeamte fort. «Ob der ein Anti war?» «Darüber weiß ich nichts.» «Ich nehme an, der Feindzauber wirkt auch, wenn man den Anti nicht kennt. Aber ich bin ein unwissender Mann. Es gab keine Sänger in meiner Familie, darum weiß ich nicht, woher der Skalpjäger den Skalp bekommt, wenn man nicht weiß, wer der Anti ist.» «Aber man weiß etwas über ihn», antwortete Sandoval. Er genoß dieses Gespräch. Er freute sich über das Taktgefühl des jungen Mannes und über das Wortgeplänkel. «Ich kannte mal einen Handzitterer, der sich irrte. Er sagte, der Sohn von meines Onkels Bruder sei von einem Geist besessen, und daraufhin wurde ein Schießzauber abgehalten. Später stellte es sich dann heraus, daß es Tuberkulose war.» «Das Handzittern taugt oft nicht viel», gab Sandoval zu, «doch diesmal hat es gestimmt. Es heißt, daß der Navajo-Wolf Tsosies Schafe in der Nacht überfallen und Tsosie ihn dabei gesehen hat. Sah aus wie ein großer Kojote, war aber ein Mann. Und als dann Hudson kam und das Handzittern gemacht hat, da haben sie einen von ihrem Stamm geholt, der sich mit den Gesängen auskennt, haben Tsosie geschwärzt, und dann hat er sich eine Zeitlang besser gefühlt.» Die Bemerkung über die Tuberkulose hatte Sandoval nicht behagt. Verärgert überlegte er, ob der junge Mann tatsächlich an Antis glaubte. Der Polizist trug die Haare wie ein weißer Mann. Nicht so, wie Wechselnde Frau es gelehrt hatte. Er machte jetzt ein nachdenkliches Gesicht. Sandoval nahm an, daß schon die nächste Frage ihm mehr verraten würde. «Großvater, ich stehle dir heute viel von deiner Zeit, und ich höre sonst auch nicht auf Gerüchte. Aber ich muß dir etwas sagen, was möglicherweise für deinen Zauber wichtig sein kann. Dieser Horseman ist jetzt tot, und wenn er der Anti war,
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dann ist es wohl besser, wenn du das weißt, weil du dann nämlich einen anderen Gesang anwenden mußt.» Sandoval überlegte, weshalb der Polizist diesen Horseman für den Anti hielt. Aber das würde er zweifellos schon der nächsten Frage entnehmen können. «Wie gesagt, ich kenne mich in vielen Dingen nicht aus. Ich weiß nur, daß Tsosie leichter zu heilen wäre, wenn der Anti nicht mehr lebte. Doch wie soll man einen Anti am besten töten?» Sandoval erwog diese Frage gründlich. «Am besten mit Knüppeln.» Der Polizist musterte ihn durchdringend. «Wäre es gut, ihn zu ersticken? Ihm Sand über den Kopf zu werfen?» «Das habe ich noch nie gehört. Manchmal macht man es mit Knüppeln und manchmal mit Erschießen.» Sandoval war verwirrt. Er hatte noch nie von diesem Horseman gehört und ebensowenig von einer solchen Art zu töten. Er sah, daß Tsosie hinter der Laube hervorkam, und stand auf. Seine Knochen waren steif, und er war verärgert. Er argwöhnte, daß der junge Mann die Navajo-Art abgelegt und den Jesus-Weg betreten hatte. «Enkel, ich muß in den Hogan zurück. Aber jetzt habe ich noch eine Frage an dich. Sag mir, ob du an Antis glaubst.» «Großvater», antwortete der Mann namens Leaphorn lächelnd, «ich habe gelernt, an das Böse zu glauben.» Lieutenant Joe Leaphorn war zu seinem Kombiwagen zurückgekehrt, weil er ein wenig schlafen wollte. Endlich konnte er sich ausruhen. Von Sandoval hatte er nichts Entscheidendes erfahren. Seine Umfrage bei den verschiedensten Leuten hatte ergeben, daß Billy Nez noch nicht angekommen war, also konnte er jetzt nichts weiter tun als abwarten. Der Zeitpunkt für die Begegnung der beiden Lager kam erst, wenn die Sonne, die gerade aufging, den halben Weg zum Zenit zurückgelegt hatte. Darauf folgten der
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Austausch von Geschenken und andere rituelle Gebräuche, und dann konnte das Schießen des Skalps stattfinden. Er lehnte sich auf dem Autositz zurück, konnte aber nicht einschlafen. Noch einmal ließ er sich alles durch den Kopf gehen, was er über Luis Horseman wußte, und suchte zu ergründen, ob es ein Schema gab, in das alle ihm bekannten Fakten hineinpaßten. Luis Horsemans Akte in Window Rock war typisch für die relativ wenigen jungen Männer, die der Law and Order Division am meisten zu schaffen machten. Ein paar Schuljahre in der Reservation, von siebzehn Jahren an Verhaftungen in Gallup, Farmington und Tuba City wegen Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses. Kurze Jobs als Gleisarbeiter bei der Santa-Fe-Eisenbahn und im Bergwerk. Einheirat in die Familie der Minnie Tso, eine Schlägerei, sechs Monate im Reservationsgefängnis wegen schwerer Gewalttätigkeit und dann die Messerstecherei in Gallup und der Autodiebstahl. Alles vertraut. Viel zu vertraut. Er tut, als hätte er keine Verwandten, dachte Leaphorn und mußte über diese altmodische Redewendung grinsen. Als er noch ein Kind war, hatte seine Mutter nichts Schlimmeres über einen Menschen sagen können als dies; denn nach dem Navajo-Brauch war die gesamte Familie für die Taten ihrer einzelnen Mitglieder verantwortlich. Heute änderte sich das allerdings ein wenig, und es gab mehr junge Männer wie Horseman, die zwischen den Wertbegriffen Des Volkes und den Wertbegriffen des Weißen Mannes in der Luft hingen. Nicht einmal geschickt genug für ein Verbrechen. Nicht wert, getötet zu werden, dachte Leaphorn. Und dennoch war Horseman getötet worden, und zwar von jemandem, der sich dabei beträchtlicher Mühe unterzogen hatte. Warum? Und warum war Horsemans Leiche an einen anderen Ort gebracht worden? Warum hatte man den Toten neben den Weg gelegt, während er doch irgendwo in diesem
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riesigen Areal unauffindbar in einem Arroyo verscharrt oder den Raben zum Fraß überlassen worden sein könnte? Und warum war Horseman umgebracht worden? Vor allem, warum auf eine so merkwürdige Art und Weise? Diese Frage brachte ihn immer wieder auf den Anti zurück. Obwohl, all seine Arbeit gestern nachmittag und abend, die vielen Stunden Autofahrt von einem Ort zum anderen, die zahllosen enttäuschenden Interviews mit Handzitterern, Lauschern und Sängern kein Resultat gezeitigt hatten. Einzig der Handzitterer, der Tsosie untersucht hatte, behauptete, in seiner Trance erfahren zu haben, daß der Anti ein Fremder sei und sein Zauber nur mit einem Feindzauber ausgetrieben werden könne. Das war ein Ritual, zu dem man sich keineswegs leichtfertig entschloß. Zwei Sänger waren dafür erforderlich - einer für den Patienten und einer für das Lager des Stockempfängers - und überdies noch der Skalpjäger. Das alles würde die Tsosie-Familie mindestens zweihundert Dollar an Honoraren kosten. Hinzu kamen Dutzende von Schafen, die für die Verpflegung der Teilnehmer in beiden Lagern geschlachtet werden mußten, und mehrere hundert Dollar für Geschenke. Wenn Tsosies Onkel und Vettern, die sich an diesen Unkosten beteiligen mußten, dem Zauber zugestimmt hatten, dann zweifellos nur, weil sie ganz sicher waren, daß es sich um Bösen Zauber handelte. Aber woher wollten sie das wissen, wenn sie den Anti nicht identifiziert hatten? Leaphorn sah Rauch aus der Dachöffnung des ZeremonienHogan steigen. Sandoval, der neben der Laube Nadelholz und Weidenrinde verbrannt hatte, war mit der Asche ins Haus zurückgegangen. Drinnen würde er jetzt ein Feuer aus Süßgras, Dodgeweed, Felsensalbei und Grammagras, mit Krähen- und Bussardfedern vermischt, entzünden, die rußigen Rückstände mit der Baumrindenasche verrühren und den Patienten für seinen Angriff auf den feindlichen Skalp damit schwärzen. Über dem Feuer würde Sandoval die alten
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Gesänge intonieren, die den Menschen in innere Harmonie mit allem versetzten, was zu den Elementen gehörte. Leaphorn wurde schläfrig. Der Himmel war wolkenlos hellblau, der Horizont ein wenig diesig. Später würden sich zweifellos Gewitterwolken bilden und Schauer niedergehen wenigstens in den Bergen. Leaphorn sah die beiden Mädchen mit den rituellen Essenskörben am Sattel davonreiten. Kurz darauf hörte er im Norden Gewehrschüsse, und dann tauchte am Rand der Ebene eine lärmende Reiterschar auf, die dicke Staubwolken hinter sich herzog. Steif kletterte Leaphorn aus dem Wagen, um sich die Begegnung der beiden Lager anzusehen. Er schaute auf seine Armbanduhr. Sie zeigte zwölf Minuten nach zehn. Es wurde Spätnachmittag, bis der zweite Gesang beendet war und die Geschenke verteilt wurden. Sie wurden in die Menge der Festgäste hineingeworfen: zuerst die Opfergabe in Gestalt eines Beutels Tabak aus der Rauchöffnung des Hogan und dann die übrigen Geschenke durch drei Männer der Tsosie-Familie von der Laube aus. Es gab viel Drängelei und Gelächter, und alle, die etwas auffingen, freuten sich. Leaphorn, der gerade mit einer jungen Frau aus der Nähe von Toadlena sprach, hatte inzwischen sechs Stunden lang ununterbrochen geredet und konnte die Leute, die er befragt hatte, nicht mehr zählen. Die meisten von ihnen schienen, wie auch diese junge Frau, nicht das geringste über das Thema, das Leaphorn interessierte, zu wissen. Aber er hatte wieder einmal über jeden Zweifel hinaus feststellen können, daß Horseman nach der Gallup-Angelegenheit in diese Gegend zurückgekehrt war, und wußte nun auch, daß Billy Nez sich im Lager des Stockträgers befand. Das hatte ihm der rundliche junge Mann mit der Hornbrille erzählt. Hornbrille hatte nach einem entlaufenen Muli gesucht und Horseman bei den Lukachukais auf einem Saumpfad getroffen. Horseman war sein Vetter zweiten Grades, deswegen war er
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stehengeblieben, um sich mit ihm zu unterhalten und ihm von seinem Tabak anzubieten. «Ich glaube, seine Frau war ihm mit einem anderen durchgebrannt und er wollte zur Familie seiner Mutter zurückkehren», hatte Hornbrille gesagt und Leaphorn sodann erklärt, daß Luis ein «ganz mieser Gauner» sei. Es waren jedoch schon zwei Wochen seit diesem Zusammentreffen vergangen, und Hornbrille hatte keine weiteren Informationen zu bieten. Nur noch, daß Billy Nez beim Stockträger sei. Im Hinblick auf Auskünfte über den Anti war dieser lange Nachmittag sogar noch unergiebiger gewesen. Nur eines war Leaphorn mit ziemlicher Sicherheit bestätigt worden: Sandovals Hinweis, die Identität des Antis sei nicht genau bekannt. jedenfalls nicht nach Namen, Familie und Clan. Instinktiv spürte Leaphorn, daß mehrere Leute des Red Forehead Clan, mit denen er gesprochen hatte - fast alle Mitglieder der Tsosie-Familie oder Angehörige ihres weiteren Verwandtenkreises -, eine bestimmte Vorstellung von dem Anti hatten. Doch diese Vermutung ließ sich leider nicht verifizieren. Leaphorn war ihnen fremd, deswegen stieß er überall auf jene Vorsicht, die jeder Angehörige Des Volkes walten ließ, sobald irgendwo von Bösem Zauber die Rede war. Einmal hatte er sogar bemerkt, daß sich ein Mann verstohlen die Hand in den Overall schob und den Medizinbeutel im Lendenschurz berührte. Das war eine bezeichnende Geste für die Gefühle, die diese Menschen ihm gegenüber hegten. Woher sollten sie auch wissen, daß Leaphorn nicht selbst ein Anti war? Der diejenigen suchte, die über ihn Bescheid wußten, um sie zu seinen nächsten Opfern zu machen? Trotzdem hatte er von den Redseligen, den Klatschbasen einige Einzelheiten erfahren. Zum Beispiel, daß der Anti sehr groß war und daß er stets nur zu Fuß gesehen wurde, niemals auf einem Pferd. Und daß außer Tsosie noch mindestens zwei bis drei Personen von ihm heimgesucht worden waren. Er
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hatte sich ein paar Namen notiert, doch während er sie noch aufschrieb, fragte er sich schon, wozu. Die Gesetze, die er vertrat, waren vom Stammesrat aus dem Gesetzbuch des Weißen Mannes übernommen worden, und bei den Weißen galt Bösen Zauber machen nicht als gesetzwidrig. Gesetzwidrig wurde es erst, wenn ein Verbrechen damit verbunden war. Jetzt kam Agnes Tsosie aus dem Zeremonien-Hogan und zog sich mit einer Gruppe weiblicher Verwandter und dem Sänger des Stockträger-Lagers in die Laube zurück. Leaphorn sah, daß eine der Frauen sich noch im Gehen Talg auf das Kinn und Wacholdersaft auf die Stirn strich. Drinnen im Hogan würden jetzt Tsosie und die anderen männlichen Verwandten, die an dem Angriff auf den Skalp teilnahmen, das gleiche tun. Allerdings würden sie sich etwas gründlicher mit der rituellen Asche schwärzen, denn auch der Drachentöter hatte sich vor seinem Kampf mit dem Ye-i unsichtbar gemacht. Falls Leaphorn sich recht erinnerte, würde Agnes Tsosie beim Angriff nur zusehen und sich von einem männlichen Verwandten vertreten lassen. Der Sänger wurde zum Schwärzen nicht benötigt, daher unterhielt sich der alte Sandoval mit dem Skalpjäger, der den ganzen Nachmittag neben dem Hogan-Eingang gesessen und ein Aschenhäufchen gehütet hatte. Das Jagen und Abschießen des Skalps war Aufgabe eines Professionellen, obgleich seine Rolle bei der Zeremonie lediglich darin bestand, einen Pfeil auf den Skalp abzuschießen und ihn, um seinen Tod anzudeuten, mit Asche zu bestreuen. Leaphorn überlegte, was Sandoval wohl als Symbol für den Skalp benutzen würde. Im Idealfall mußte es etwas vom Körper des Antis sein - abgeschnittene Haare, ein Gegenstand, an dem sein Blut klebte, oder ein Kleidungsstück, das mit seinem Schweiß getränkt war. Da dieser Anti jedoch nicht bekannt war, mußte wohl etwas anderes als Skalp
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dienen. Vermutlich ein Beutel mit Sand von einem Fußabdruck oder etwas, von dem man annahm, der Anti habe es berührt. Wenn es Haare sind, dann müssen Sandoval und einige andere mich belogen haben, dachte Leaphorn. Wenn es Haare waren - oder ein blutiger Gegenstand -, dann mußte er den Skalp nach dem Ritual konfiszieren. Das Labor würde Haare oder Blut mit denen Horsemans vergleichen, und wenn der Vergleich positiv ausfiel, hatte er einen abscheulichen Mordfall zu klären. Aber es war ziemlich sicher, daß Sandoval nicht gelogen hatte. Eine Verbindung Horsemans mit dem Anti war ihm von Anfang an unlogisch erschienen, hatte er immer nur für eine entfernte Möglichkeit gehalten. Nach allem, was Leaphorn den Gerüchten über den Anti entnahm, war Horseman kaum in die Lukachukais zurückgekehrt, als schon die ersten Zwischenfälle passierten, und mindestens einer davon hatte sich vor der Messerstecherei in Gallup zugetragen. Außerdem waren die Menschen, die des BösenZauber-Machens verdächtigt wurden, fast durchweg älter, besaßen beträchtliche Reichtümer und hatten eine Menge Feinde. Im Hogan ertönte jetzt Gesang, begleitet vom dumpfen Rhythmus einer Trommel. Sandoval kam durch den Vorhang, dann Tsosie, zwei Vettern und der Onkel, der Agnes Tsosie vertrat. Sogar die Lendenschurze waren mit Asche geschwärzt worden, und jeder Mann hielt in der Rechten einen Wacholderstab, an dem mit Yucca- und Lederriemen oben ein Rabenschnabel befestigt war. Der Skalpjäger nahm seinen Aschenkorb und ging in Richtung Nordnordost davon. Also in Richtung auf die Zentralberge der Lukachukais, wie Leaphorn feststellte. Über die Berggipfel stieg eine riesige Gewitterwolke herauf, die schon die ersten, dünnen Regenfälle nach sich zog. Jetzt weiß Sandoval, daß seine Medizin ihre Wirkung tut, dachte Leaphorn. Er hat den Donner gerufen, damit er den
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Wolf töte, und der Donner ist zum vereinbarten Platz gekommen. Interessant, daß der Sänger des StockträgerLagers den Skalp sorgfältig in nordnordöstlicher Richtung vom Hogan placiert hatte. Das hieß, daß man den Wolf jetzt irgendwo in dieser Richtung vermutete. Leaphorn ließ sich von der Menge mitziehen. Der Skalpjäger war ungefähr zweihundert Schritt vom Hogan entfernt an einem abgestorbenen Kreosotbusch stehengeblieben und streute Asche auf einen Gegenstand, der unter den Zweigen lag. Dann trat er beiseite, damit Charley Tsosie und seine Verwandten den Gegenstand mit ihren Rabenschnäbeln bearbeiten und so dieses Symbol der Verachtung töten konnten. Leaphorn drängte sich bis ganz nach vorn. Die Zuschauer waren still geworden, so daß man hören konnte, wie die Angreifer immer wieder murmelten: «Er ist tot. Er ist tot», wenn sie auf den symbolischen Skalp einstachen. Der Gegenstand, den sie mit ihren Rabenschnäbeln zerfetzten, war ein schwarzer Hut. Sofort kombinierte Leaphorn diese neue Erkenntnis mit anderen Informationen: mit dem bulligen Fremden, der bei Shoemaker Hüte aufprobiert hatte, und mit der Frage, weshalb jemand einen wertlosen Hut stahl, das wertvolle silberne Concho-Band aber zurückließ. Obwohl der Hut jetzt ganz mit Asche bedeckt war, konnte man dort, wo schwere Silber-Conchos den Filz vor der Sonne geschützt hatten, immer noch deutlich einen Kranz miteinander verbundener Kreise erkennen. Wenn ich im Schweißband nachsehe, werde ich feststellen, daß der Hut Größe sieben drei Achtel hat, dachte Leaphorn. Der Große Navajo war der Navajo-Wolf. Aber warum war er der Anti? Deswegen hatten der Handzitterer und Sandoval zu einem Feindzauber geraten - weil der Navajo-Wolf ein Mann war, den niemand kannte. Ein Fremder in der festgelegten Clans-Gemeinschaft der Lukachukai-Hänge. Doch was hatte
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er getan, um diesen furchtbaren Zauber Des Volkes auf sich zu ziehen: den Tod innerhalb eines Jahres durch seine eigene Hexenkraft, gegen ihn selbst gerichtet mit Hilfe des Feindzaubers; oder, wie Leaphorn grimmig überlegte, einen viel früheren Tod, falls nämlich einer der Tsosies oder der Nez-Familie ihn zufällig vorher erwischte? Die oberen Hänge der Lukachukais waren jetzt hinter den dunklen Wolken verborgen. Das Licht der untergehenden Sonne glitzerte auf den Strata aus Eiskristallen, die sich in der dünnen, kalten Luft der oberen Regionen bildeten. Tief innen wurde die Wolke von einer Serie Blitze erleuchtet. Und dann zuckte ein einzelner Blitz, ein greller Strich weißen Lichtes vor dem düsteren Regenschwarz, auf den Berghang herab. Wenn jetzt der Anti dort oben ist, dann ist er tot, dachte Leaphorn. Niemand konnte ihm diesen Gedanken übelnehmen. Und sein eigenes Schuldbewußtsein dabei war geringer, als es sein würde, wenn Das Volk den Wolf aufstöberte und das gefällige Todesurteil an ihm vollstreckte, bevor er, der Polizist, ihn erreichte.
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Es hatte schon seit mehreren Minuten immer wieder gedonnert. Trotzdem schreckte McKee bei einem harten, grellweißen Blitz zusammen. Der Donnerschlag, der beinahe sofort darauf folgte, löste eine krachende Serie von Echos aus, die von den Canon-Klippen widerhallten. Gleich darauf setzte klatschender Regen ein; dicke, kalte und harte Tropfen ließen ihn hastig ins Zelt stürzen und seinen Regenmantel holen, damit er die Eier, die auf dem Butankocher brutzelten, retten und die Schlafsäcke, die neben einigen Felsblöcken auf dem Sand ausgebreitet waren, ins Trockene holen konnte. Als er das Bettzeug bereits unter dem Arm trug, hörte der Regen ebenso plötzlich auf, wie er begonnen hatte. McKee ließ Canfields Decken fallen und inspizierte mißtrauisch den Streifen Himmel, der über dem Canon zu sehen war. Ein Stück entfernt war er blauschwarz, und dort rollte auch der Donner noch immer. Direkt über ihm stürmten graue und weiße Wolken dahin. Canonabwärts, nach Süden und Osten zu, stand ein klarer dunkelblauer Himmel, der sich im Sonnenuntergang am Horizont glühend rot und gelb färbte. Die Brise hatte wieder nach Südwest abgedreht, und die Regenfront trieb vom Canon fort auf die Berge zu. Über die Schlucht selbst war nur ein Randgebiet weggezogen. McKee glaubte die Schlafsäcke draußen lassen zu können. Er kehrte an den Butankocher zurück, schob sich mit der Gabel ein Ei auf eine Brotscheibe und klappte sie zu. Der Sonnenuntergang übergoß den Canon jetzt mit einem unheimlich rosigen Licht, das den erodierten Sandstein und Granit der Felsen zum Glühen brachte. Jetzt hörte McKee auch, daß unten Wasser durch den Canon floß. Der Regen hatte zwar kaum mehr als ein paar Tropfen gebracht, weiter nordwestlich auf der Mesa jedoch war er anscheinend so stark
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gewesen, daß das ablaufende Wasser aus den Rinnen im Many Ruins Canon zusammenlief. Allerdings mußte es schon zu einem zwei bis drei Meter tiefen Gießbach anwachsen, um den Geröllhügel zu überschwemmen, auf dem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Das Wasser, das sich auf dem CanonBoden ausbreitete, stand jedoch nach McKees Schätzung höchstens zwei Handbreit hoch. Es war ein schlammiges Rinnsal, das Äste, Piniennadeln und anderes Treibgut mitführte, und konnte nur dann noch tiefer werden, wenn sich der Regen weiter oben zum Wolkenbruch steigerte. Falls das geschah, war der Canon-Boden morgen schwer zu befahren. Und das brachte McKee wieder auf Canfield zurück. Seit seiner Rückkehr zum Lager war er zwischen drei verschiedenen Gefühlen hin und her gerissen worden: der nervösen Sorge, irgend etwas Außergewöhnliches könne Canfield bewogen haben, die Nachricht mit einem falschen Namen zu unterzeichnen. Ärger über sich selbst wegen dieses törichten Gedankens und Ärger auf Canfield, den Urheber seiner Unruhe. Noch mehr allerdings störte ihn die Idee, Canfield könnte plötzlich zurückkommen und erklären, die Unterschrift sei lediglich einer seiner zweifelhaften Scherze gewesen; dann war die ganze Angelegenheit zu albern und trivial, um große Worte darüber zu verlieren. «Dämlicher Kerl!» murmelte McKee vor sich hin. Er verdrückte die dritte Scheibe Brot mit Ei, schenkte sich einen Becher Kaffee ein und scheuerte dann die Pfanne mit Sand. Inzwischen war die Beleuchtung im Canon von Rosen- zu rauchigem Rot übergegangen, und gleichzeitig hatte sich McKees Stimmung verdüstert. Er ärgerte sich jetzt wieder ausschließlich über sich selbst, weil er so unmotiviert beunruhigt war. Um etwa zehn Uhr war er mit der Durchsicht seiner Notizen fertig und saß im Zelt, um seine Unternehmungen für den nächsten Tag zu planen. Er mußte wenigstens so lange im
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Lager bleiben, bis Canfield zurückkehrte, denn morgen sollte ja Miss Leon ankommen. Falls Canfield bei seinen Ausgrabungen auf etwas Interessantes stieß, hatte er bestimmt keine Lust, damit aufzuhören, und einer von ihnen beiden mußte das Mädchen doch in dieses Labyrinth von Canons begleiten, um den Lastwagen zu suchen. Ob es sich tatsächlich um das Auto des Elektroingenieurs handelte oder nicht - auf jeden Fall würde er nicht schwer zu finden sein. Bestimmt nicht, wenn er noch immer irgendwo im Hard Goods Canon stand und wenn dieser Canon, wie Alte-Frau-grauerFels gesagt hatte, wirklich neun Meilen vom Eingang entfernt in den Many Ruins Canon mündete. Das wären vom Lager aus nur noch vier Meilen. Er machte die Butanlaterne aus und blieb, ehe er zu den Schlafsäcken hinüberging, noch einen Moment an der Zeltöffnung stehen, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Er war jetzt müde genug, um einschlafen zu können. Er stellte seine Stiefel neben den Schlafsack, rollte Hemd und Hose zu einem Kopfkissen zusammen und schlüpfte unter die Wolldecken. Direkt über seinem Kopf entdeckte McKee die Plejaden: sechs Sterne in zwei parallel verlaufenden Reihen, der siebte als Abschluß in der Mitte. Von dort waren, wie sich McKee erinnerte, die sieben Stein-Jungen der Navajo-Sage herabgestiegen, um den Drachentöter auf seiner heldenhaften Odyssee zu den Bösen Dingen zu begleiten und selbst auch Unheil unter den Dinee zu stiften. Und um sich jedes Frühjahr von tausend Schafhirten in tausend kleinen heiligen Schreinen auf tausend Mesas und Berggipfeln in der ganzen Reservation Opfergaben aus Maisbrei darbringen zu lassen. Weit hinten am Westrand des Canons bellte ein Kojote zweimal kurz auf und schickte dann aus voller Kehle sein Geheul in die stille Luft. Der Klang schien - wie die Stimme eines urzeitlichen
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Hundes - von den Sternen zu kommen und unendliches Leid durch den Himmel zu tragen. Es könnte mein Kojote sein, dachte McKee. Derjenige, der in Yazzies Schafhürde eingefallen ist. Wie, das wollte er morgen zu klären versuchen. Falls seine Gastgeberpflichten gegenüber Miss Leon es ihm erlaubten. Er legte sich auf dem Packsand bequemer zurecht und war auf einmal gar nicht mehr so sicher, daß er herausfinden würde, wie der Kojote in den fest verschlossenen Korral hatte eindringen können. In dieser schweigenden Finsternis kam es ihm auf einmal natürlich, fast logisch vor, daß es auch Unenträtselbares gab. Unten im Canon rief der Ziegenmelker, und dann ertönte der seltsame, schnarrende Schrei der Sägeschärfereule. McKee langte nach seinen Zigaretten, besann sich jedoch anders und mußte wieder an den Zettel denken, den Canfield ihm hingelegt hatte. Und an die Frage, warum Jeremy Robert Canfield, dessen Name unter den Angehörigen der anthropologischen Fakultät bereits zu Scherzen Anlaß gegeben hatte, mit «John» unterschrieben hatte. Noch immer nervös, begann er trotzdem, allmählich in Schlaf zu versinken. Das Geräusch ließ ihn abrupt hochfahren. Hellwach starrte er zur anderen Canon-Seite hinüber. Ein fallender Stein hatte eine winzige Geröllawine ausgelöst. Der Nachhall des Echos hing noch einen Moment in der Stille, bis er erstarb. McKee saß vollkommen regungslos da und lauschte. Er spürte, wie seine Muskeln mit Adrenalin überflutet wurden, spürte, wie der Geschmack primitiver Angst in seinen Mund stieg. Er zog die Beine aus dem Schlafsack, schlüpfte in seine Hose, fuhr in die Stiefel, griff nach dem Hemd und stand auf. Der Mond war jetzt bereits halb am Himmel emporgestiegen und badete die ganze Westwand des Canons in seinem Licht. McKee stand geduckt, erstarrt; er lauschte und suchte mit den Augen die Sandstein-Felsnase ab, von der das Geräusch gekommen war. Aber es herrschte wieder tiefe Stille. Eine drohende
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Gestalt, halb hinter einem Wacholderbusch am Fuß der Felsnase versteckt, entpuppte sich, nachdem sich McKees Augen an die halbe Dunkelheit gewöhnt hatten, als ein bizarr erodierter Felsblock. McKee entspannte sich, die panische Angst ließ nach. Es konnte ein Tier gewesen sein. Es kam ihm jetzt sogar töricht vor, überhaupt an etwas anderes als ein Tier gedacht zu haben. Er fühlte sich auf einmal erschöpft und beinahe etwas kindisch. Doch immer noch bohrte in ihm eine intuitive Empfindung, die ihm Gefahr signalisierte und ihn zur Vorsicht mahnte. Fünf Schafe mit zerfetzten Kehlen und der falsche Name unter einer kurzen Nachricht. Eine Höhleneule strich langsam die mondhelle Seite des Canons entlang offenbar auf der Suche nach jagenden Känguruhratten. Als sie an die Felsnase kam, wich sie urplötzlich mit klatschendem Flügelschlag aus und verschwand im dunkleren Teil des Canons. McKees Angst kehrte zurück. Irgend etwas hatte die Eule erschreckt. Und das mußte etwas Großes sein. Vorsichtig zog er sich tiefer in die Dunkelheit zurück und kletterte den Geröllhang unter der Ostwand empor. Behutsam setzte er Fuß vor Fuß, stieg vorsichtig über die kleineren Felsbrocken, schlich lautlos um die größeren herum. In einer Felsspalte, direkt unter einem Überhang, machte er halt und sah sich um. Erstaunt mußte er feststellen, daß er bereits nach dieser geringfügigen Anstrengung keuchte und Mühe hatte, sein Atemgeräusch zu dämpfen. Das Licht des höhersteigenden Mondes reichte jetzt bis zur Hälfte des Canon-Bodens. Nichts regte sich. Der Canon war ein Abgrund reglosen, lastenden Schweigens. McKee faßte die Felsnase scharf ins Auge und ließ dann den Blick langsam den Canon entlangwandern. Er musterte jeden Umriß, der sich in dem perspektivelosen gelben Licht abzeichnete, und beobachtete jeden Schatten. Er spürte, wie sich die Unebenheiten des Felsbodens schmerzhaft in seine Knie drückten, und wollte sich eine bequemere Stellung suchen,
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wurde aber wieder von einer Intuition gewarnt. In diesem Augenblick entdeckte er eine Bewegung. Irgend etwas in dem schwarzen Schatten hinter der Felsnase hatte sich kaum wahrnehmbar gerührt. McKee starrte hinüber, bis ihm die Augen brannten. Er rieb sie kurz und starrte weiter. Und dann sah er den Kopf eines Hundes, der sich ganz langsam aus dem Schatten ins Licht schob. Zuerst die Nase, dann der Kopf mit den aufgestellten Ohren und dem - McKee strengte die Augen an, bis er ganz sicher war - unnatürlich weit offenhängenden Kiefer. Außerdem war der Hundekopf merkwürdig weit oben, aber vielleicht stand das Tier hinter der Felsnase auf einer Erhebung. Jetzt machte es abermals eine Bewegung. Der Hund verwandelte sich in einen Mann. In einen großen Mann mit einem Wolfsfell um die Schultern, dessen hohler Schädel den Kopf des Mannes bedeckte. Er huschte quer über einen Streifen Mondlicht und verschwand hinter einem Gebüsch am Fuß des westlichen Geröllhanges. Als die Gestalt einen Augenblick später wieder auftauchte, glaubte McKee sekundenlang, daß seine Augen ihm einen Streich gespielt hatten, daß es sich tatsächlich um einen Wolf handelte. Aber es war ein Mann, der da geduckt über den feuchten Sand des Canon-Bodens lief, der mit lautloser Behendigkeit direkt auf McKees Zelt zukam. Der Mann hielt einen ein Fuß langen Gegenstand in der Rechten - einen Gegenstand aus Metall, der das Mondlicht reflektierte. Es war eine langläufige Pistole, aus der vor dem Abzugshahn ein Magazin ragte. Eine Maschinenpistole. Abermals verschwand die Gestalt, diesmal hinter dem Geröllhang auf McKees Seite des Canons. McKee bückte sich, tastete nach einem Stein und wählte einen von handlicher Größe. Als er den Kopf hob, war die Gestalt wieder zu sehen: Sie stand im Schatten, hob sich aber von den mondhellen Felsklippen ab. Ohne den Mann aus den Augen zu lassen,
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packte McKee den Stein fester. Seine panische Angst hatte sich gelegt, um grimmiger Wut Platz zu machen. Die Gestalt stand reglos vor dem Zelt. Er lauscht, dachte McKee. Er lauscht, hört nichts und wundert sich. Dann war die Gestalt hinter dem Zelt verschwunden. McKee dachte schon fast, der Mann sei irgendwie davongeschlichen, als er ihn bei den Schlafsäcken auftauchen sah. Doch dort war das Gelände von Büschen und Felsblöcken durchsetzt, deswegen konnte er nicht sehen, was der Mann tat. McKee musterte die Felswand zu beiden Seiten seiner Spalte. Er konnte seinen geschützten Platz verlassen, wenn er hinter dem riesigen Sandsteinblock direkt neben ihm entlangkletterte. Er würde es vermutlich sogar schaffen, ohne vom Lager aus gesehen zu werden. Wenn er aber doch hier heraufkommt, dann gibt es für mich bestimmt keine bessere Stelle, um ihn zu erwarten, dachte McKee. Ich könnte ihn mit meinem Stein niederschlagen, bevor er mich überhaupt sieht. Es sei denn, er hat nicht nur die Pistole, sondern auch eine Taschenlampe. Dann allerdings sind meine Chancen gering. Während er dies überlegte, kam ihm das Unwirkliche der Situation zu Bewußtsein. Sie ähnelte einem Alptraum aus seiner Kindheit. Aber der Mann dort war wirklich; er stand jetzt am Zelt und machte offenbar keinerlei Anstalten mehr, sich zu verstecken. Er klappte die Kühlerhaube von McKees Wagen auf, und McKee gab sich schon fast der Hoffnung hin, er werde ihn starten, einsteigen und davonfahren - ein einfacher Dieb. Statt dessen jedoch schloß der Mann die Kühlerhaube wieder, drehte sich um und trat ins Zelt. Gleich darauf war durch die Leinwand ein Lichtschimmer zu sehen. Der Strahl der Stablampe wanderte, machte halt, wanderte weiter und blieb dann endgültig stehen. Er durchsucht meine Papiere, dachte McKee. Er fragte sich, was der Mann wohl von seinen Notizen über die Bösen-Zauber-Interviews halten würde. Und hatte auf
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einmal das Bedürfnis, ins Zelt zu gehen, den Mann zu stellen und ihn zu fragen, was zum Teufel er hier zu suchen habe. Dann ging das Licht aus, und der Mann trat vor das Zelt. Er starrte fast genau auf den Punkt, an dem sich McKee versteckt hatte. McKee wäre am liebsten gestorben. «Dr. McKee ?» rief der Mann mit ruhiger, sonorer Stimme, kaum lauter als im Konversationston. In dieser abgrundtiefen Stille jedoch klang seine Stimme erschreckend laut. Und die Canon-Wände warfen den Ruf zurück: Kee-Kee-Kee-Kee. «Bergen McKee», wiederholte der Mann, «ich muß ...» Der Rest des Satzes ging in den Echos unter. «Ich muß mit Ihnen über Dr. Canfield sprechen», sagte die Stimme. Wer mag er sein? überlegte McKee. Der Navajo mit dem Schlangenbiß? Oder war dieser Mann gar kein Navajo? An der Stimme war das nicht zu erkennen. Sie hatte nicht den geringsten Akzent. Aber den hatten die gebildeten Navajos ja selten. Der Mann blieb einen Augenblick still stehen und blickte den Canon hinauf und hinab. Lauschte. Er wird nichts hören, dachte McKee. Keinen verdammten Ton. Jedenfalls nicht von mir. «John ist verletzt», sagte die Stimme. Sie klang jetzt lauter, und die Lippen warfen das «letzt» zwischen sich hin und her, bis es zu einem einzigen Ton verschmolz. «Er braucht Ihre Hilfe.» John. John - nicht Jeremy. Der Mann da unten in der Dunkelheit, der Mann mit dem Wolfsfell, der Mann, der sich wie ein Raubtier an ihn herangeschlichen hatte, dieser Mann hatte irgend etwas mit Canfields Nachricht, mit Canfields befremdender Unterschrift zu tun. Ich sollte vielleicht hinuntergehen, dachte McKee. Doch sofort fiel ihm der Gegenstand ein, den der Mann in der Hand getragen hatte, als er den Canon durchquerte, und der das Mondlicht reflektierte. Wozu die Pistole? Wozu das Wolfsfell? McKee blieb regungslos an den Felsen gelehnt stehen, spürte
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die harte Kälte des Steins an seinen Beinen, den kalten Schweiß in seinen Handflächen und wußte, daß er sich diesem Mann freiwillig nicht nähern würde. Jedenfalls nicht, solange er mit ihm allein hier in diesem finsteren Canon war. Und nicht ohne eine Waffe in der Hand. Dann war der Mann auf einmal verschwunden, war einfach nicht mehr vor dem Zelt. Kurz darauf sah McKee ihn schräg über den Canon-Grund trotten. Das Wolfsfell trug er in der herabhängenden Hand. Erleichtert sank McKee gegen den Felsblock. Und merkte auf einmal, daß er fror, daß sein Hemd schweißgetränkt war. Weit hinten im Canon stieß die Sägeschärfereule wieder ihren seltsamen, schnarrenden Ruf aus. Triumph über ein erlegtes Wild, dachte McKee.
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Es war schon nach Mitternacht, als Leaphorn endlich erfuhr, wer den Skalp für das Ritual beschafft hatte. Er hatte geredet, bis ihm die Zunge aus dem Hals hing, bis er sich, müde, enttäuscht und verärgert über dieses wortkarge Volk, schon zurückziehen wollte. Und dann hatte ihm ein Mädchen stolz und unaufgefordert erzählt, daß Billy Nez, der noch immer nicht aufzutreiben war, den Hut gestohlen hatte. Billy Nez war den Spuren des Lastwagens gefolgt, der dem Anti gehörte, und hatte den Mann von seinem Versteck aus beobachtet, bis sich eine günstige Gelegenheit ergab. Leaphorn war von dem Mädchen, einem molligen, hübschen Teenager in einem Polohemd mit der Aufschrift «Chinle High School», zum Mädchentanz aufgefordert worden. Sie hatte ihn plötzlich am Ärmel gepackt, während er sich mit einem alten Mann unterhielt. «Komm schon, Blauer Polizist», hatte sie zu ihm gesagt. «Ich habe dich gefangen, und nun mußt du mit mir tanzen.» Leaphorn hatte sich widerstandslos von ihr zum großen Feuer ziehen lassen; er wußte ohnehin, daß ihm der Alte nichts verraten würde, und außerdem war es bei diesem Ritual so Brauch. Er hatte sich vorgenommen, eine Zeitlang mit ihr zu tanzen und sich dann mit dem üblichen Lösegeld die Freiheit zu erkaufen. Anschließend wollte er sich zwar noch weiter nach Billy Nez erkundigen, hatte aber kaum noch Hoffnung, ihn auch zu finden. Blauer Polizist, dachte er. Hat verdammt viel genützt, daß ich meine Uniform zu Hause gelassen habe. Ich glaube, es gibt keinen einzigen Erwachsenen hier, der nicht weiß, daß ich das Gesetz vertrete. Im Licht des Feuers stieg der Gesang empor. Ya Ha He Ya Na He. Stieg und fiel im Rhythmus der Trommeln. Leaphorn
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sah seine Partnerin verstohlen an. Geriet sie beim reichlich anzüglichen Text nicht in Verlegenheit? Aber sie tanzte sehr graziös, mit ihrer Rechten seinen linken Arm haltend. «Ich wußte gern, warum Hosteen Polizist mich so ansieht», sagte sie. «Will er mich vielleicht verhaften?» Leaphorn erwiderte ihr Lächeln. «Das würde ich wohl, wenn ich glaubte, daß du mir ein paar Fragen beantworten kannst.» «Für wen interessierst du dich denn? Was möchtest du wissen?» «Ich möchte Näheres über einen Anti wissen.» «Ich wette, daß du überhaupt nicht an Antis glaubst.» «Ich glaube an einen Anti, der einen großen schwarzen Stetson trug, bis ihm der Hut von jemandem gestohlen wurde.» «Das war Billy Nez», hatte das Mädchen prompt erwidert. Einfach so. Und Billy Nez müsse sich hier irgendwo herumtreiben. (Das Mädchen spähte mit gerunzelter Stirn in das Dunkel.) «Ich würde mich gern mit Hosteen Nez unterhalten», sagte Leaphorn. «Ich auch. Ich hatte ihn gefangen und zum Tanzen geholt, aber er hat mir nur fünfundzwanzig Cent gegeben. Dann hat er gesagt, er würde sich später von mir noch einmal einfangen lassen.» Wiederum spähte das Mädchen in die Dunkelheit; dann sah sie zu Leaphorn auf. «Aber er ist noch kein Hosteen. Er ist noch ein Junge.» «Und wie alt ist dieser Junge ?» «Sechzehn.» Und du bist höchstens fünfzehn, dachte Leaphorn. Und wenn Billy Nez nicht sehr vorsichtig ist, wird sein Clan bald einen Jungen verlieren, und überdies den Preis für eine Braut. «Also ein Junge», bestätigte Leaphorn. «Aber er hat den Hut geholt. Billy war der Skalpträger. Er ist dem Lastwagen dieses Mannes gefolgt, hat ihn von einem
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Platz aus beobachtet, wo er nicht gesehen werden konnte, und als der Mann einmal wegging, hat Billy sich den Skalp geholt.» Mehr schien das Mädchen nicht zu wissen. Sie wußte, daß Nez ein Red Forehead war, daß er mit seinem Onkel drüben auf den Cottonwood Flats bei Chinle Schafe gezüchtet hatte, daß er ein rotkariertes Hemd und eine rote Baseballmütze trug und darüber hinaus noch einige Dinge, wie fünfzehnjährige Mädchen sie über sechzehnjährige Jungen zu wissen pflegen. Dann brachen die Trommeln und der Gesang ab, damit die Frauen ihr Lösegeld kassieren konnten. Leaphorn gab dem Mädchen einen Dollar. «Soviel habe ich heute noch nicht bekommen», erklärte sie ihm erfreut. Aber sie wollte nicht mit ihm kommen, um ihm Billy Nez zu zeigen. Eine halbe Stunde darauf hatte Leaphorn den Skalpträger endlich entdeckt. Inzwischen hatte der Wiegetanz begonnen. Billy Nez mit seiner Baseballmütze stand in der Reihe der Tänzer aus dem Lager des Stockempfängers. Der Rhythmus war schneller geworden, das Steigen und Fallen der Stimmen uralt wie die Erde. Aber der Text handelte von einer Rakete. «Belacanis Rakete fiel auf die Mesa», sangen die Tänzer. Die Reihe der Männer aus dem Lager des Patienten begann mit dem rhythmischen Wiegen, und der Text änderte sich. «Belacanis Rakete setzte den Busch in Brand.» Finde den Mann, der diesen Text gemacht hat, und du findest die Rakete, nach der die Army vor vier Jahren einen halben Winter lang gesucht hat, dachte Leaphorn. Aber vermutlich war es schwieriger, den Textdichter zu finden als die Rakete. Immerhin hatte er Billy Nez gefunden: Der junge Mann kam, als der Tanz für eine Weile unterbrochen wurde, mit einem noch jüngeren Burschen, nach Leaphorns Vermutung seinem Vetter, auf ihn zu.
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«Neffe», begann Leaphorn, «ich hätte gern einen Augenblick mit dem Mann, der den Skalp trug, gesprochen.» Billy Nez machte ein überraschtes und geschmeicheltes Gesicht. Aber er hob die Hand auch, wie Leaphorn sah, an seine Hemdöffnung, um schnell den Medizinbeutel mit dem Gallenstein gegen Antis zu berühren. Bei einem Feindzauber war man mißtrauisch gegen Fremde. «Ich bin Polizist», fuhr Leaphorn fort. «Es ist gelegentlich meine Aufgabe, Menschen aufzuspüren, und es wäre mir eine große Hilfe, von dir zu erfahren, wie du diesen Wolf aufgespürt hast.» Der Junge blickte verlegen zu Boden. «Das war nicht schwierig», sagte er, besann sich aber sogleich auf seine Manieren und fügte «Onkel» hinzu. Zum erstenmal an diesem endlosen Tag hatte Leaphorn das Gefühl, eine Sache genau richtig anzupacken. «Und trotzdem hat kein anderer als du den Skalp für diesen Zauber geholt, Hosteen Nez.» «Drei Tage lang ist Billy ihm gefolgt», mischte sich der kleinere Junge ins Gespräch. Er sah Leaphorn grinsend an. «Ich bin der Sohn von Billys Onkel.» «Wir wollen uns hier neben den Lastwagen setzen und rauchen», schlug Leaphorn vor. Er nahm sich eine Zigarette und reichte dem kleineren Jungen die ganze Packung. Als dieser sie an Billy Nez weitergab, holte sich der Skalpträger eine Zigarette heraus, steckte sie an und berichtete Joe Leaphorn alles, was er wußte. Und fing, wie Leaphorn es erwartet hatte, mit seiner Erzählung ganz vorne an. Zum erstenmal war der Anti um die Mitte des Frühjahrs zu den Sommer-Hogans seines Onkels gekommen - kurz nachdem die Familie des Onkels die Schafe von ihrer Winterweide im Chinle-Tal auf die Sommerweide in den Lukachukais getrieben hatte.
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Zwei Tage nachdem sie sich dort häuslich eingerichtet hatten, trieb der Onkel mit den beiden Jungen die Schafe auf das Plateau. Billys Onkel trieb seine eigenen Schafe, die Jungen die Schafe, die der Frau des Onkels gehörten. Und da sahen sie den Lastwagen den Arroyo durchqueren. Eigentlich war es ja gar kein richtiger Lastwagen. Eher ein Jeep, nur war er größer und hatte ein Segeltuchverdeck. «War es vielleicht ein Landrover?» erkundigte sich Leaphorn. «Das weiß ich nicht», antwortete Billy. «Ich habe noch nie so einen Wagen gesehen. Jedenfalls war er grau.» Der Große Navajo ist nach seinen Einkäufen bei Shoemaker mit einem Landrover davongefahren, dachte Leaphorn. Mit einem grauen, der wegen seiner Farbe schwer auszumachen ist. Und ich möchte wissen, ob es sich da um einen Zufall handelt. Der Wagen hatte gehalten, und Billys Onkel hatte gesehen, daß der Fahrer zu ihnen herüberblickte. Dann war er näher gekommen, und der Mann hatte den Onkel gefragt, wohin er die Schafe treiben und wie lange er sie da oben im Hochland lassen wolle. Der Onkel hatte geantwortet, den ganzen Sommer, und der Mann hatte sich erkundigt, ob er denn nicht wisse, daß es da oben eine Werwolfhöhle und ein Rudel Wölfe gebe, die alle Menschen überfielen, die sich in ihr Territorium wagten. Billy Nez inhalierte den Rauch der Zigarette und blies ihn langsam wieder aus. «Was hat dein Onkel gesagt?» erkundigte sich Leaphorn, ärgerte sich aber sofort über seine Ungeduld. «Er fand es komisch, daß dieser Nakai soviel über NavajoWölfe wußte.» «Wieso Nakai? Hat dein Onkel den Mann für einen Mexikaner gehalten?» «Nakai, Belacani oder etwas anderes», antwortete Billy Nez. «Auf jeden Fall sagte mein Onkel, daß dieser Mann die
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Navajo-Sprache sehr schlecht beherrschte. Er wollte englisch reden, aber das versteht nun wieder mein Onkel nicht gut, deswegen versuchte er es mit Spanisch, und das konnte der Mann überhaupt nicht.» Billy Nez machte eine Pause. «Und darum kann er eigentlich doch kein Nakai gewesen sein. Vielleicht war er ein Ute oder so.» Aha, dachte Leaphorn. Jetzt wußte er, warum der Handzitterer den Feindzauber vorgeschrieben hatte. Deswegen also hielten sie den Anti für einen Fremden, für einen feindlichen Geist, der ausgetrieben werden mußte. Aber der Mann im Landrover, der Mann mit dem schwarzen Hut, war ein Navajo gewesen. Das wußte Leaphorn ganz genau. Wie dem auch sei - Billy Nez erzählte jetzt, sein Onkel habe erwidert, er kümmere sich nicht um Antis, wenn es darum gehe, Gras für seine Schafe und für die Schafe seiner Frau zu finden. Daraufhin sei der Mann davongefahren. Sein Onkel aber habe von dem Augenblick an gewußt, daß etwas passieren würde. Während der ersten Woche ihres Aufenthaltes im Hochland war Billys Onkel eines Morgens ein junger Kojote gefolgt und seinem Pferd quer über die ganze Mesa nachgelaufen. Dadurch wollte ihm das Kojote-Volk mitteilen, er solle vorsichtig sein. Das Kojote-Volk verursache immer viel Ärger, erklärte Billy, aber es habe auch seine guten Seiten. Es warne die Menschen vor Gefahren. Kurz darauf habe sein Onkel den Wolf auf dem Dach seines Hogan gehört. Zuerst sei an der Ostseite des Hogan Schmutz vom Dach gefallen (und jetzt kommen die drei anderen Himmelsrichtungen, dachte Leaphorn), dann auf der Südseite, dann auf der Westseite, und schließlich auch noch auf der Nordseite. Und da habe sein Onkel gewußt, daß der Wolf gleich durch die Rauchöffnung herabschauen werde, um nachzusehen, wo sie sich aufhielten, damit er ihnen Leichenpulver anblasen konnte. Aber Billys Onkel habe keine
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Angst vor dem Wolf gehabt. Er sei zum Hogan hinausgelaufen, um ihn zu verjagen, habe ihn aber nicht deutlich sehen können. Vielleicht hatte er einen Hund davonrennen sehen, aber ganz sicher war er nicht. «Das muß etwa Anfang Mai gewesen sein, nicht wahr?» fragte Leaphorn. «Ein bißchen früher», antwortete Billy Nez. «Der Mond stand im letzten Viertel, also muß es Ende April gewesen sein.» Fast zwei Wochen bevor Luis Horseman ermordet wurde! Beim zweitenmal aber hatte Billys Onkel den Wolf gesehen. Das war am Tag gewesen, zwar schon bei Sonnenuntergang, aber immer noch hell genug. Der Onkel hatte ein paar Schafe zur Tränke geführt und dabei das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Er blickte zum Rand der Mesa hinauf, und da stand der Anti und schaute zu ihm herab. Er stand dicht am Mesa-Rand, das Wolfsfell um die Schultern gehängt, aber der Onkel hatte genau erkennen können, daß es ein Mann war. Der Onkel hatte erzählt, der Anti habe dagestanden und eine Medizin mit den Händen gemacht. Der Onkel habe geglaubt, daß er vielleicht damit die anderen Antis aus den Höhlen zu Hilfe rufen wollte. Der Onkel habe dann die Schafe zum Hogan zurückgetrieben, sie mit Pollen beworfen und die Gesänge aus dem Nachtzauber intoniert. Die gegen die Antis. «An welchem Tag war das?» «Das war drei oder vier Tage nach dem ersten Mal auf dem Dach. Ich glaube, drei Tage.» Von da an hatte der Onkel stets seine 30-30 mitgenommen, wenn er die Schafe hütete. Und für den Fall, daß der Anti zum Hogan kommen würde, während er weg war, immer einen der beiden Jungen bei seiner Frau gelassen. Außerdem hatte er sich gedacht, es wäre gut, wenn er den Wolf aufspüren und töten würde. Dann war er auf die Mesa hinaufgegangen dorthin, wo er den Wolf gesehen hatte - und war auf Spuren gestoßen. Einige davon waren große Stiefelabdrücke, andere
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schienen von einem riesigen Hund zu stammen. Es war noch die Jahreszeit-wenn-der-Donner-schläft; der Boden war feucht von getautem Schnee, und das Spurensuchen ein Kinderspiel. «Mein Vater ist ein tapferer Mann», prahlte der Vetter von Billy Nez und schämte sich sofort seiner Unhöflichkeit. Einen Augenblick rauchten sie stumm vor sich hin, um den Zwischenfall zu überspielen, dann nahm Billy Nez seine Erzählung wieder auf. Unter dem anderen Abhang der Mesa hatte der Onkel Reifenspuren gefunden. Der Wolf war also hier heraufgefahren, hatte den Lastwagen stehengelassen und war später zu ihm zurückgekehrt, um davonzufahren. Anschließend hatte der Wolf begonnen, die Haustiere zu überfallen. In der ersten Nacht hatte der Onkel die Pferde wiehern hören; es klang, als wären sie irgendwie erschreckt worden. Dann hatte eines von ihnen richtig geschrien, und als er hinauslief - dorthin, wo er sie eingepfercht hatte -, waren zwei Tieren die Fußsehnen durchschnitten worden, so daß er sie hatte töten müssen. Leaphorn hob seine Hand, um die Erzählung zu unterbrechen. Dieser Zwischenfall erstaunte ihn. Auf derart konkrete Dinge war er nicht gefaßt gewesen. «Neffe, hast du diese Pferde selbst gesehen?» «Ich sah sie. Der Wolf muß es mit einer Handaxt getan haben. Er hat der Stute beide Hinterhandsehnen durchtrennt und das Fohlen so schwer geschlagen, daß es das Bein gebrochen hat.» Nun gut, dachte Leaphorn. Ein weiterer Grund, diesem Schuft endlich das Handwerk zu legen. Der Stammesrat hatte ein Gesetz gegen Grausamkeit an Tieren erlassen. Außerdem verabscheute Leaphorn Menschen, die einem Pferd so etwas antun konnten. Dann, so berichtete Billy weiter, seien die Schafe an die Reihe gekommen. Sein Onkel habe nächtelang mit der 30-3o
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auf Wache gelegen, aber der Wolf sei zunächst nicht wieder erschienen. Dann sei der Mond höhergestiegen, und in einer sehr hellen Nacht habe er Gewehrschüsse gehört. Er sei sofort hinausgelaufen und habe gesehen, wie der Anti in die schlafende Herde hineinschoß. Drei Tiere seien tot gewesen, andere, die nur verwundet waren, habe er selbst töten müssen. «Dann hat mein Onkel mit meiner Tante gesprochen, und sie haben beschlossen, die Schafe von dort wegzubringen. Sie waren der Ansicht, daß sie den Anti doch nicht kriegen konnten, und fürchteten, er werde sie eines Tages umbringen. Deswegen sind sie lieber wieder heruntergekommen.» Leaphorn ließ seine Zigarettenpackung noch einmal kreisen. «Wann hat er auf die Schafe geschossen?» «In einer Nacht wie heute.» Billy Nez blickte zum Mond hinauf, der zwei Nächte vor seiner vollen Phase stand. «Ungefähr vor sechsundzwanzig, siebenundzwanzig Tagen. Vor einem Mond.» «Und wann hast du die Suche nach dem Wolf aufgenommen?» «Na ja, der Vater meines Onkels kam mit den anderen Männern der Sippe zu uns, und sie besprachen die Angelegenheit. Dann holten sie den Handzitterer, der die Handzitterergesänge sang und den Arm über meinen Onkel hielt. Er zitterte und zitterte. Und dann sagte er, der Grund für die bösen Träume meines Onkels sei dieser fremde Anti gewesen.» Billy Nez zog tief an seiner Zigarette. «Oder vielleicht der Geist des Antis. Jedenfalls machten sie die Probe mit dem Schwärzen. In dieser Nacht, mit der Asche auf seiner Haut, schlief mein Onkel gut und hatte nicht einen einzigen Traum. Deswegen kamen sie am folgenden Abend wieder in unserem Hogan zusammen und beschlossen, einen Sänger zu suchen, der den Feindzauber beherrschte.»
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Billy Nez machte wieder eine Pause. «Und mein Vetter sagte ihnen, er werde den Wolf suchen und den Skalp tragen», mischte sich der kleinere Junge ein. «Mein Großvater wollte das nicht. Er sagte, derjenige, der den Skalp hole, müsse ein älterer Mann sein. Jemand, für den schon einmal ein Feindzauber gesungen worden sei. Aber zuletzt ließen sie es mich trotzdem tun.» Die drei blieben eine Weile schweigend sitzen. Am Feuer hatte der Gesang wieder begonnen - ein neuer Wiegetanz. «Woher wußtest du, wo du den Skalp suchen mußtest?» erkundigte sich Leaphorn. Das habe einige Zeit gedauert, antwortete Billy Nez. Sein Onkel habe ihm aufgezeichnet, wie die Reifenspuren des Lastwagens aussahen. «So.» Billy Nez glättete die Erde mit der flachen Hand und klappte sein Taschenmesser auf. «Die Vorderreifenspur sah so aus.» Er zeichnete das Muster in den Sand. «Und die Außenseite der Spur war nicht so tief. Die Reifen waren außen abgefahren. Und die Hinterreifen waren so.» Er zeichnete das Profil von schweren M & S-Reifen auf. «Die gingen sehr tief. Ich war überzeugt, daß ich sie finden würde.» «Und so war es dann auch», ergänzte Leaphorn. Dazu jedoch hatte Billy Nez fast eine Woche gebraucht. Drei anstrengende Tage zu Pferde, bis er auf die ersten Spuren gestoßen war - auf alte, die der Wind schon fast gelöscht hatte. Am vierten Tag hatte er den Landrover auf der Talking Rock Mesa entdeckt. Er hatte gesehen, wie der Wagen durch eine Wasserrinne ins Kam-Bimghi-Tal hinunterfuhr. Am folgenden Tag hatte er den Platz entdeckt, wo der Anti arbeitete: Er räumte am hinteren Abhang der Ceniza Mesa einen Weg für seinen Wagen frei. Und später am selben Tag hatte Billy dann seinen Skalp errungen.
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«Ich hobbelte mein Pferd oben an und versteckte mich zwischen den Felsen», erzählte er. «Unten, bei der Stelle, an der er arbeitete. Er rollte Felsblöcke aus dem Weg und legte Büsche um. Schließlich machte er eine Pause, setzte sich unter eine Pinie, aß Büchsenpfirsiche und warf die Konservendose weg. Ich dachte mir, daß ich vielleicht auch die Dose als Skalp benutzen könnte, weil er ja daraus gegessen hatte, aber das wäre nicht so gut gewesen, und etwas später erwischte ich dann den Hut.» «Erzähl doch, wie du das gemacht hast», drängte ihn der jüngere Vetter. «Na ja, am Spätnachmittag zogen sich auf einmal Wolken zusammen. Es wurde dunkler, und Wind kam auf. Der Anti schleppte sich mit den Steinen ab, und der Wind blies ihm immer wieder den Hut vom Kopf. Darum ließ er ihn, als er den Wagen ein Stück weiter den Hang hinaufgefahren hatte, auf dem Sitz liegen. Während er dann wieder arbeitete, schlich ich mich hin und holte ihn mir.» «Und dabei hast du das Hutband abgenommen und zurückgelassen», ergänzte Leaphorn. Billy machte ein verblüfftes Gesicht. «ja, sicher. Es war aus Silber-Conchos.» «Es lag auch ein Gewehr im Wagen», fügte der Vetter hinzu. «Ich glaube, eine Remington», erklärte Billy. «Mit langem Lauf und Zielfernrohr. Sah aus wie eine 3 o-o6-Jagdbüchse.» «Hast du sonst noch was gesehen?» «Auf dem Armaturenbrett lag eine zusammengefaltete Landkarte. Ich nehme jedenfalls an, daß es eine war. Und auf dem Sitz eine Papiertüte. Vielleicht für sein Mittagessen. Hinten lagen ein paar Rollen und Seile.» Der Junge hielt inne. «Vielleicht ein Flaschenzug?» meinte Leaphorn. Genau», antwortete Nez. «Sonst noch etwas?»
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«Nein. Ich habe mich nicht weiter umgesehen. Nur den Hut geholt. Dann dachte ich noch, daß ich das Concho-Band lieber abmachen sollte, damit es nicht wie ein Diebstahl aussah. Ich band einen Yucca-Riemen an den Hut und befestigte ihn damit am Skalpstock. So hatte es mir mein Großvater geraten. Man tut das, damit man den Skalp nicht soviel mit den Händen anfassen muß. Und als ich wieder zur Mesa hinaufkletterte, sang ich den Bärenfährtengesang, nahm Pollen und ritt zum Hogan zurück.» Leaphorn bot den beiden Jungen eine dritte Zigarette an. «Und jetzt», sagte er, «möchte ich etwas über deinen Bruder hören. Erzähl mir von Luis Horseman.» Er versuchte in Billys Miene zu lesen. Zeigte sie Überraschung? Angst? Wut? Der Junge starrte auf das Ende seiner Zigarette, tat einen langen, tiefen Zug und blies den Rauch wieder aus. «Ich habe gehört, daß Law and Order ihn schon gefunden hat», sagte er. «Ich habe gehört, daß Luis Horseman tot ist.» «Wir haben seine Leiche gefunden», bestätigte Leaphorn. «Sie lag weit hinten bei Ganado. Hundert Meilen südlich von hier. Und wir haben keine Ahnung, wie er dort hingekommen sein mag.» «Ich weiß es auch nicht», antwortete Billy Nez. «Er war hier oben auf dem Plateau zwischen dem Many Ruins und dem Horse Fell Canon.» «Und du bist zu ihm gegangen, um ihm zu sagen, daß er diesen Nakai in Gallup nicht umgebracht hat, daß der Mann wieder gesund geworden ist und daß Luis zu uns kommen und sich mit uns darüber unterhalten sollte, nicht wahr?» rief Leaphorn. «So war es doch.» Sein Ton war freundlich. «Ich hatte gehört, was du bei Shoemaker sagtest, und fand, daß du recht hattest. Es wäre besser, wenn Luis Horseman nach Window Rock ginge und nicht mehr davonlaufen und sich verstecken müßte. Aber als ich zu ihm gehen, ihm alles
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sagen und ihm auch etwas zu essen bringen wollte, war er verschwunden.» «Das war vor vier Tagen», sagte Leaphorn. «Am Dienstag. An dem Tag, als ich bei Shoemaker war, nicht wahr?» Billy Nez nickte. «Um wieviel Uhr bist du gegangen? Um wieviel Uhr bist du dort angekommen?» «Ich habe gewartet, bis es dunkel wurde», berichtete Nez. «Luis Horseman hatte mir das geraten, damit ich von niemandem gesehen wurde. Aber er war nicht da. Ich kam vielleicht zwei Stunden nach Mitternacht an, und er war fort.» «Blauer Polizist», sagte der kleinere Junge, «mein Vetter hat etwas sehr Merkwürdiges dort gefunden.» «Ich habe mich umgesehen, wo er zwischen den Felsen sein Lager aufgeschlagen hatte, und dachte, er hätte alles mitgenommen», erzählte Nez. «Doch dann habe ich mich noch genauer umgesehen und entdeckt, daß er Lebensmittel zurückgelassen und dort vergraben hatte - einfach mit Sand zugedeckt.» «War die Asche ebenfalls zugedeckt?» erkundigte sich Leaphorn. «Mit Sand bedeckt, der anschließend geglättet worden war.» «Hast du sonst noch etwas gesehen?» «Es war dunkel. Ich bin ins Chinle-Tal hinuntergeritten und habe geschlafen, bis es hell wurde. Dann bin ich noch einmal hinaufgeritten, und da habe ich wieder die Reifenspuren gefunden.» «Die Spuren des Landrover ?» «Genau. Oben auf der Mesa, ungefähr eine halbe Meile von Luis Horsemans Lagerplatz entfernt.» Billy hielt inne. «Mein Bruder hätte die Lebensmittel mitgenommen. Er hätte sie nicht so verkommen lassen.» Sie saßen schweigend und rauchten.
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«Ich hatte Luis Horseman gesagt, daß das kein guter Platz zum Lagern sei. Zu viele Häuser des Alten Volkes in diesen Canons», sagte Nez. «Zu viele Geister. In dieser Gegend fühlen sich höchstens Antis wohl.» Dann schwieg der Junge wieder und starrte zum Feuer hinüber, wo sich zwei Reihen von Tänzern im Rhythmus der Trommeln wiegten. «Ich glaube, daß der Wolf meinen Bruder getötet hat», sagte Billy. Er sagte es nüchtern, ohne ein Gefühl zu verraten. «Höre mir zu, Neffe», entgegnete Leaphorn. «Höre mir zu. Du könntest recht haben. Aber vielleicht irrst du dich auch.» Leaphorn hielt inne. Es hatte keinen Sinn, diesen Jungen vor einer Gefahr zu warnen. «Dies ist jetzt unsere Angelegenheit, eine Aufgabe der Law and Order Division. Wenn du diesen Mann verfolgst, würdest du ihn verfolgen, weil du ihn töten willst, und das wäre ein Unrecht. Denn es könnte sein, daß er gar nicht der Mann ist, der es getan hat. Also verfolge ihn lieber nicht.» Billy Nez stand auf und klopfte sich den Staub von den Jeans. «Ich muß jetzt mit dem Mädchen von der Chinle High School tanzen, Onkel. Wandle in Schönheit.» «Wandle in Schönheit», grüßte Leaphorn zurück. Er saß an den Lastwagen gelehnt und ordnete in Gedanken alles, was er bis jetzt erfahren hatte. Die Dinee - zumindest die Dinee, die östlich von Chinle lebten - hielten den Großen Navajo für ihren Anti. Billy Nez hatte bei Horsemans Lagerplatz die Reifenspuren seines Landrover gefunden. Aber das konnten alte Spuren gewesen sein, und außerdem waren sie jetzt vielleicht verschwunden. Es hatte am Abend auf den Lukachukai-Hängen geregnet. Und der Anti, wer immer er sein mochte, war gewalttätig, ja sogar grausam: ein Mann, der Pferde mit der Axt verkrüppelte. Mehr wußte er nicht. Nur noch, daß Billy Nez den Fahrer des
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Landrover verfolgen würde -gefährlich für den Mann, falls dieser unschuldig war, gefährlich für den jungen, falls der Mann nicht unschuldig war. Am östlichen Horizont begann die Nacht zu verblassen. Bald würde Charley Tsosie mit Frau und Söhnen aus dem Zeremonien-Hogan kommen. Sandoval würde die vier Ersten Gesänge und den Kojote-Gesang intonieren, und die Tsosies würden die vorgeschriebenen vier Atemzüge der Luft des Morgendämmerung-Volkes einsaugen. Dann waren Tsosie und seine Leute geheilt, und der Anti, der einen grauen Landrover fuhr und möglicherweise zwei Pferde mit der Axt verletzt hatte, würde unter seinem eigenen, gegen ihn selbst gerichteten Bösen Zauber leiden. Nach dem Ur-Mythos hatte er noch genau ein Jahr zu leben. Falls nicht die Tsosies oder Billy Nez ihn schon vorher erwischten.
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Es war schon ungefähr eine Stunde hell, als McKee das Auto den Canon heraufkommen hörte; das Auspuffgeräusch weckte ein schwaches Echo zwischen den Klippen. Canfield hatte gesagt, daß Miss Leon einen Volkswagen fahre, und dies hörte sich wie ein Volkswagen an. Auf keinen Fall war es das tiefe Dröhnen des Autos, mit dem der Mann weggefahren war, der sich in der vergangenen Nacht ins Lager geschlichen hatte. McKee kam aus dem Weidendickicht hervor, in dem er gelegen hatte, und machte sich für den Augenblick stark, vor dem er sich fürchtete. War das Fahrzeug, das gleich da vorn um die Ecke biegen mußte, ein Volkswagen, dann mußte er es anhalten. Und war die Fahrerin Miss Leon, würde sie vor dem furchteinflößenden Anblick eines hochgewachsenen Mannes mit zerfetztem Hemd, zerschrammtem, geschwollenem Gesicht und verletzter Hand zurückschrecken. Und dieser Mann würde ihr überdies eine wilde, völlig verrückte Geschichte auftischen und behaupten, er sei von einem Werwolf aus dem Bett gescheucht worden. Zuletzt würde ihr der Mann auch noch befehlen, den Wagen zu wenden und mit ihm aus dem Canon zu fliehen. Denn McKee hatte stundenlang über die bevorstehende Begegnung nachgedacht - seit dem Moment, da ihm klar wurde, daß er nicht blindlings aus dem Canon mit seiner lauernden Gefahr fliehen und Hilfe für die Suche nach Canfield holen konnte. Wenn er das tat, würde er Miss Leon unvorbereitet genau der Gefahr aussetzen, vor der er floh. Das Auto, das um die Felsnase bog, war eine hellblaue Volkswagen-Limousine, die Fahrerin eine junge Frau mit dunklem Haar. McKee trabte den Hang hinunter auf den Packsandboden und machte ein Haltezeichen.
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Der Volkswagen verlangsamte sein Tempo. McKee sah, daß ihn die junge Frau mit weiten Augen anstarrte. Dann riß sie auf einmal das Lenkrad herum, die Hinterräder wühlten den Sand auf, und der Wagen schoß an ihm vorbei. «Miss Leon !» schrie McKee. «Halten Sie!» Der Volkswagen hielt. McKee lief ihm nach und zerrte am Türgriff. Abgeschlossen. Er spähte durchs Fenster. Das Mädchen hockte ängstlich zusammengeduckt auf dem Fahrersitz und starrte ihn mit entsetzten Augen im schneeweißen Gesicht an. McKee fluchte lautlos, versuchte sein klaffendes Hemd zusammenzuziehen und klopfte behutsam an die Scheibe. «Miss Leon», sagte er, «ich bin Bergen McKee. Ich sollte hier auf Sie warten. Das heißt, eigentlich mit Dr. Canfield zusammen.» Das Mädchen konnte anscheinend nicht verstehen, was er sagte. Also wiederholte McKee seine Worte noch einmal laut schreiend, obwohl ihm klar war, daß auch der Mann mit der Maschinenpistole den Volkswagen gehört haben mußte und jetzt womöglich gerade auf ihn anlegte. Das Mädchen beugte sich über den Beifahrersitz und zog den Verschlußknopf heraus; im Bruchteil einer Sekunde war McKee eingestiegen. «Wenden Sie!» befahl er ihr. «Fahren Sie sofort aus dem Canon hinaus!» «Was ist denn los?» erkundigte sich Miss Leon. «Wo ist Dr. Canfield?» «Fahren Sie!» befahl McKee noch einmal. «Wenden Sie, dann werde ich Ihnen beim Fahren alles erklären.» Miss Leon setzte den Wagen zurück, schlug scharf ein und brachte das Auto in umgekehrter Richtung auf die Fahrspur zurück. McKee öffnete seine Tür und beugte sich weit hinaus. Er spähte aufmerksam den Canon entlang. Nichts rührte sich.
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Während er überlegte, wie er beginnen sollte, sah er Miss Leon nachdenklich an. «Was ist los?» fragte sie noch einmal. «Was haben Sie vor?» Sie machte jetzt einen weniger ängstlichen Eindruck, doch als er sich zu ihr umdrehte, entdeckte sie die Schramme und das getrocknete Blut auf seiner Wange. Ihre Miene verriet Schrecken und Mitleid zugleich. «Was geht hier eigentlich vor? Wo ist Dr. Canfield? Und was haben Sie mit Ihrem Gesicht gemacht?» «Ich weiß es nicht», antwortete McKee. «Das heißt, ich weiß nicht, wo Dr. Canfield ist. Es wird ein bißchen schwierig sein, Ihnen alles zu erklären.» Er hatte seit Tagesanbruch überlegt, wie er ihr alles klarmachen sollte, und sich vorgestellt, wie lächerlich er ihr dabei vorkommen mußte. Während der Nacht hatte er sich langsam immer weiter den Canon entlang vorgearbeitet, indem er sich ständig zwischen den Felsbrocken dicht an der Schluchtwand hielt. Als der Mond senkrecht über ihm stand und die Nordseite der Klippen in Licht tauchte, hatte er sich zum Ausruhen und Horchen unter ein Gebüsch gelegt. In dieser Stille hatte er dann gehört, daß sich auf der anderen Seite des Canons etwas auf den Randklippen bewegte. Wer immer sich dort oben aufhielt - und er hegte keinen Zweifel daran, daß es sich um den Mann mit dem Wolfsfell handelte -, bewegte sich mit äußerster Behutsamkeit. Das Geräusch hatte sich schließlich vom Canon-Rand entfernt. McKee wartete noch dreißig Minuten, dann sprintete er über den Sand zur Südwand hinüber, die jetzt im Mondschatten lag. Dort war er von den Randklippen her nicht so gut auszumachen. Er hatte sich so hoch wie möglich auf dem Geröllhang gehalten und somit auf das leichtere Vorankommen am Canon-Boden zugunsten des von Gesteinsbrocken und Büschen gebotenen Schutzes verzichtet. Langsam, mit unendlicher Vorsicht, war er weitergeschlichen.
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Sein Plan war einfach. Er wollte weitergehen, bis es hell wurde, und sich dann einen Platz suchen, von dem aus er den Canon-Boden beobachten konnte. Dort würde er auf Miss Leon warten und ihren Wagen anhalten. Er wollte sie warnen, ihr raten, den Canon sofort zu verlassen, sie zu Shoemaker schicken, um Hilfe zu holen. Dann wollte er umkehren und Canfield suchen. Er hatte die Hoffnung, daß Canfield am Morgen heil und gesund von einem Hilfsunternehmen für den von einer Schlange gebissenen Navajo zurückkehren würde, längst aufgegeben. Sie war von den Geräuschen auf der Felskante zunichte gemacht worden. Wäre der Mann, der ihn verfolgte, von weniger finsteren Motiven getrieben worden, dann hätte er laut nach ihm gerufen, statt sich heimlich an ihn heranzuschleichen. Und derselbe Mann - der Mann mit dem Wolfsfell und der Pistole - mußte neben Jeremy gestanden haben, als dieser den Zettel schrieb und ihn mit <John> unterzeichnete. Er kennt meinen Namen, hatte McKee gedacht. Er muß ihn im Zelt in meinen Papieren gelesen haben. Genauso kann er auch Canfields Namen erfahren haben, aber eben nur die Anfangsbuchstaben der Vornamen. Und Canfield muß ihm erklärt haben, das J stehe für John, um ihm eine Warnung zu hinterlassen. Auf einmal kam McKee der Gedanke, der Wolf müsse im Zelt auch von Ellen Leons Ankunft erfahren haben. Der Brief, in dem sie ihre Ankunftszeit mitteilte, lag auf dem Tisch. Der Wolf brauchte also nur noch auf sie zu warten. Solange es dunkel war, hatte das alles recht einleuchtend geklungen. Der Mann, der sich an ihn angeschlichen hatte, mußte geistesgestört sein. Eine andere vernünftige Erklärung schien es nicht zu geben, auch nicht für den rätselhaften Mord an Horseman. Eine Stunde vor Morgengrauen, als der Mond untergegangen war und im Canon tiefe Finsternis herrschte, war McKee gestürzt. Ein Stein hatte unter seinem Gewicht
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nachgegeben, und er war drei Meter tief gegen einen Felsblock gefallen. Der Schlag hatte ihn benommen gemacht, so daß er schon wieder auf den Füßen stand, ehe er merkte, daß er sich den kleinen Finger der rechten Hand ausgerenkt hatte. Ihm fiel nur die merkwürdige Unbeweglichkeit des Fingers auf - dann erst begann der Schmerz. Er sah, daß der Finger in einem unnatürlichen Winkel nach oben stand, wollte ihn wieder geraderichten und zuckte zusammen, weil ihm das verletzte Gelenk so weh tat. Da hatte er sich voll Angst auf den Stein gesetzt und gelauscht, um festzustellen, ob seine Ungeschicklichkeit den Mann auf ihn aufmerksam gemacht hatte, konnte aber nichts hören, weil ihm vor Schmerz das Blut in den Ohren rauschte. Schließlich war er, die verletzte Hand vorne ins Hemd gesteckt, weitermarschiert. Und da hatte er das Geräusch des startenden Motors, des Getriebes und des Räderrollens auf steinigem Boden gehört. Es kam von oben, ein Stück den Canon hinab, und entfernte sich langsam. Nach wenigen Minuten war wieder alles still. Der Mann, der sich an ihn angeschlichen hatte, war weggefahren. Wie weit weg, das vermochte er nicht zu sagen. Nun war McKee auf den Canon-Boden hinabgeklettert; auf dem Packsand ging es sich wunderbar leicht. Nach kurzer Zeit dämmerte es. An einer Stelle hatte sich in einer Felstasche ablaufendes Regenwasser gesammelt. Er machte halt, trank durstig von dem sandigen Wasser und wusch sich, so gut es ging, mit der linken Hand das Blut vom Gesicht. Die Haut an seiner rechten Wange war abgeschürft, und er hatte das Gefühl, daß auch der Knochen angeschlagen war. Er lehnte sich an einen Stein und untersuchte seinen Finger. Der Knöchel schien gebrochen, die Sehne gerissen zu sein. Der Himmel wurde jetzt heller, die Felsen und Bäume auf der anderen Canon-Seite waren viel deutlicher zu sehen. Die Nacht war der Morgendämmerung gewichen.
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McKee zog den linken Stiefel vom Fuß und schüttelte die Steinchen heraus, die sich während des Nachtmarsches darin angesammelt hatten. Dann untersuchte er noch einmal seine rechte Hand. Eine breite Hand mit kräftigen, stumpfen Fingern, von denen zwei ein wenig verkrümmt waren. Beide Verformungen stammten von Baseball-Verletzungen. Behutsam schob er sie in sein Hemd zurück. Sie pochte jetzt, aber der Schmerz war erträglich geworden. McKee stand auf erstaunt, wie rasch seine Beinmuskeln steif geworden waren. Aus einer jungen Pappel flog kreischend eine Spottdrossel auf. In diesem Augenblick überfiel McKee der niederschmetternde Gedanke an Miss Ellen Leon. In wenigen Stunden würde er ihr gegenüberstehen, und dann mußte er ihr eine völlig unglaubliche Geschichte glaubhaft machen. Während er gemächlich den Canon entlangwanderte, überlegte er, wie er das anstellen sollte. Der Canon war jetzt vom kühl-grauen Licht des frühen Morgens erfüllt, und alles, was bei Mondlicht geschehen war, wirkte einfach absurd. Wie ein schlechtes Melodrama, in dem er eine durch und durch unheldenhafte Rolle spielte. Dennoch mußte Miss Leon alles erfahren - damit sie den Canon wieder verließ. Es war schlechthin unmöglich, ihr das Geschehene zu erklären, ohne dabei den Eindruck eines ausgemachten Narren zu erwecken. McKee wünschte sich von Herzen, statt Miss Leon käme ein Mann. Er trottete immer weiter den Canon entlang und beschäftigte sich in Gedanken mit dem Problem, vor das ihn die Begegnung mit dieser Frau stellte. Vor lauter Eile, nach Chinle zu kommen und Leaphorn anzurufen, hatte er sich gestern nicht einmal mehr rasiert, daher sah das Gesicht, das ihm allmorgendlich aus seinem Badezimmerspiegel entgegenblickte, mit seinen Zweitagestoppeln noch übler aus. Und das zerrissene, schmutzige Hemd und die zerschrammte Wange würden bestimmt auch nicht dazu angetan sein, einer
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Frau Vertrauen einzuflößen. Ebensowenig wie die unwahrscheinliche Geschichte, die er ihr auftischen mußte. Als er dann abermals Motorengeräusch hörte, war er beinahe erleichtert. Er hatte gerade die Stelle passiert, an der ein breiter Neben-Canon sein Regenwasser in den Many Ruins Canon ergoß und die Wirbel die Felsen im Lauf der Jahrhunderte hufeisenförmig geschliffen hatten. Das Motorengeräusch und seine irreführenden Echos schienen zuerst von stromauf, dann wieder von stromab zu kommen. Bevor es jedoch auf einmal erstarb, kam er zu dem Schluß, das Fahrzeug müsse sich irgendwo weiter oben im NebenCanon befinden. Es war der Talking Rock Canon, vermutete er; ganz sicher aber war er nicht. In der Morgensonne hatte das Motorengeräusch völlig natürlich und logisch geklungen und ihm bestätigt, daß das, was sich im Nachtdunkel abgespielt hatte, nicht nur ein Alptraum gewesen war. Und nun saß er hier neben Miss Leon, die ihm erklärte, sie wolle unbedingt noch an diesem Vormittag mit Dr. Canfield sprechen. McKees Verlegenheit verwandelte sich in Zorn. «Hören Sie», sagte er, «irgendwo in diesem Canon ist ein Mann, der sich nicht normal verhält. Ich glaube sogar, daß er Dr. Canfield etwas angetan hat. Ich weiß nicht, wo Canfield ist, und kann ihn erst suchen, wenn ich Sie heil hier herausgebracht habe.» «Oh!» machte Miss Leon mit kleiner Stimme und sah McKee ins Gesicht. Abermals stellte er fest, daß sie sehr hübsch war. Sie muß mich für einen Irren halten, dachte er. «Als ich gestern ins Lager zurückkehrte, war Canfield verschwunden», setzte er seinen Bericht dann fort. «Er hatte mir eine Nachricht mit der Unterschrift <John> hinterlassen. Er heißt aber Jeremy.» Selbst als er es sagte, klang es verrückt. Miss Leon warf ihm einen schrägen Seitenblick zu. «Was stand denn auf dem Zettel?»
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«Daß ein Navajo mit einem Schlangenbiß gekommen sei und daß er den Mann nach Teec Nos Pas bringen wolle.» Der Inhalt der Nachricht erschien auf einmal vollkommen logisch. «Aber weshalb sollte er einen falschen Namen daruntersetzen?» «Vielleicht war es als Scherz gemeint.» Vielleicht war es wirklich als Scherz gemeint, dachte McKee. Doch wenn das so ist, dann bringe ich diesen Bastard um! «Daran habe ich auch schon gedacht», sagte er dann. «Aber in der vergangenen Nacht, irgendwann nach Mitternacht, sah ich einen Mann zu unserem Zelt schleichen. Mit einem Wolfsfell über dem Kopf.» Er hatte sich eigentlich vorgenommen, das Wolfsfell nicht zu erwähnen, weil es sie unter Umständen ängstigen oder die ganze Geschichte noch alberner erscheinen lassen würde. Nun aber war es ihm doch herausgerutscht. «Stammt daher diese scheußliche Schramme in Ihrem Gesicht? Hat er Sie geschlagen?» «Nein, nein», beruhigte er sie ungeduldig. «Ich bin nur gegen einen Stein gefallen.» Miss Leon verlangsamte das Tempo und legte den ersten Gang ein, um vorsichtig über ein Geröllbett zu fahren. «An der Hand haben Sie sich auch verletzt», sagte sie dann. «Ich möchte Sie bitten, zu Shoemaker zurückzufahren», erklärte McKee. «Sagen Sie ihm, daß Canfield etwas zugestoßen sein muß, und bitten Sie ihn, in Chinle anzurufen, damit die Law and Order Division jemanden schickt, der mir bei der Suche hilft.» McKee zog eine Grimasse. «Sollten Sie Canfield auf dem Weg zu Shoemaker jedoch selber treffen, vergessen Sie das Ganze am besten.» Er lachte bitter. «Sagen Sie Canfield, Sie hätten oben im Canon einen Verrückten namens Bergen McKee getroffen.»
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«Na schön.» Miss Leon warf einen kurzen Blick auf seine rechte Hand, die noch immer in seinem Hemd steckte. «Wie schlimm ist es denn...» Dicht vor ihnen, hinter einer scharfen Biegung, hörten sie das jaulende Geräusch eines auf Hochtouren laufenden Motors. «Halten Sie mal!» verlangte McKee, doch Miss Leon hatte den Fuß bereits auf der Bremse. Als er mit der linken Hand nach dem Türgriff langte, stieß er sich den verletzten Finger und wurde von einer so heftigen Schmerzwelle überfallen, daß ihm direkt übel wurde. Er schwang die Beine aus dem Wagen und blieb mit hängendem Kopf sitzen, bis das Schwindelgefühl vorüberging. Er hörte, daß Miss Leon ihre Tür ebenfalls öffnete. «Ich werde nachsehen gehen», bestimmte er. «Sie warten hier.» Voll Selbstverachtung merkte er, daß seine Worte nur langsam und mit belegter Stimme kamen. Als er sich aufgerappelt hatte, war Miss Leon bereits ausgestiegen. Soll sie, dachte er müde. Er hatte keine Energie mehr, um sich mit ihr zu streiten. Es waren kaum fünfzig Schritt bis zu der Biegung, aber McKee hatte das Geräusch schon identifiziert, ehe er sie erreichte. Er war überzeugt, daß dort eine Seilwinde lief. Der erste Blick um die Felsnase bestätigte seine Vermutung. Ungefähr fünfhundert Schritt entfernt machte der Canon einen weiteren Knick nach Norden, der durch einen Engpaß führte. Hier war ein Stück Felsüberhang abgebrochen und in riesigen Brocken auf den Boden herabgestürzt. Gleich hinter diesem Geröllhaufen sah McKee einen grauen Landrover stehen. Das Kabel der Winde an der vorderen Stoßstange des Wagens war an einer Goldkiefer befestigt, die der Bergrutsch mit in die Tiefe gerissen hatte. Der dicke Stamm des seit langem abgestorbenen Baumes wurde langsam quer über den CanonGrund gezogen.
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«Sieht aus, als müßten wir zu Fuß weiter», sagte McKee leise. «Was macht er da überhaupt?» «Er versperrt uns den Weg, damit wir nicht heraus können.» «ja, nicht wahr?» Das klang sehr kleinlaut. Den Mann, der in dem Landrover saß, konnte McKee nicht genau erkennen. Er trug einen schwarzen Hut, und aus dem Seitenfenster schaute etwas hervor, das wie ein Gewehrlauf aussah. Der jaulende Lärm der Seilwinde hatte das Geräusch des Volkswagens übertönt. «Kommen Sie», sagte McKee. «Wir werden zurückfahren, uns einen Wasserlauf suchen und darin aus dem Canon hinausklettern.» Das Windengeräusch verstummte im selben Augenblick, als sie das Auto erreichten. Während sie einstiegen, herrschte lautlose Stille, dann setzte der Lärm wieder ein. McKee winkte Miss Leon, den Motor zu starten. «Aber so leise wie möglich», ermahnte er sie. «Lassen Sie ihn nicht aufheulen, und schalten Sie möglichst schnell in den zweiten Gang.» Sie sagte nichts, fuhr sehr geschickt und biß sich dabei, wie McKee aus den Augenwinkeln feststellte, auf die Lippe. «Aber weshalb will uns der Mann den Weg versperren?» fragte sie unvermittelt. «Meinen Sie nicht, wir sollten einfach hinfahren und ihn bitten, uns durchzulasssen?» «Nein, Miss Leon, das meine ich nicht», entgegnete McKee. Er fühlte sich unsäglich erschöpft. «War das der Mann, den Sie in der vergangenen Nacht gesehen haben? Der Mann mit dem Wolfsfell?» «Ich weiß es nicht, aber ich glaube schon.» Nach einer halben Meile bat er sie, die Zündung abzustellen. Von weit hinten kam immer noch das hohe Jaulen der Winde, jetzt allerdings nur noch ganz leise.
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«Na, jedenfalls kann er uns nicht folgen», stellte Miss Leon befriedigt fest und sah McKee lächelnd an. «Er ist auf der falschen Seite der Straßensperre.» «Ganz recht», antwortete McKee. Aber er wußte es besser. Der Mann mußte die Winde von unten ansetzen, weil der Baumwipfel stromaufwärts zeigte. Er würde einfach den Stamm so weit herunterziehen, daß er daran vorbeifahren konnte, und ihn dann von der anderen Seite wieder in die richtige Lage bringen. Er fährt hinein und macht das Tor hinter sich zu, dachte McKee. Er überlegte, ob ein Landrover Vierradantrieb hatte. Er war fast sicher. Mit einem Landrover konnte man überall fahren, wo man mit einem Volkswagen fahren konnte, und außerdem überall dort, wo es das kleine Auto nicht mehr schaffte. Wieder beschlich ihn das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben, und gleichzeitig begann es in Hand und Wange zu pochen. «Haben Sie sich die Hand gebrochen?» «Nein», sagte McKee. «Nur den kleinen Finger verstaucht.» Sie sah ihn an. Das Mitleid in ihren Augen war ihm peinlich, darum wandte er den Blick ab. «Aber das muß doch sehr weh tun», meinte sie. «Es wäre besser, wenn Sie mich Ihre Hand verbinden ließen.» «Es wäre besser, wenn wir uns ein bißchen beeilten», entgegnete McKee. «Wir fahren zu unserem Lagerplatz, holen Wasser und Lebensmittel und suchen uns eine Stelle, an der wir heraussteigen können.» «Vielleicht ist Dr. Canfield inzwischen zurück», überlegte sie. «Das heißt, wenn er nicht zu Shoemaker gefahren ist.» «ja, vielleicht.» Sie glaubt noch immer, daß ich mir alles nur einbilde, dachte McKee. In gewisser Hinsicht ein Vorteil. Und doch wäre es leichter, wenn sie sich der Gefahr genauso bewußt wäre wie er.
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Canfield war nicht im Lager. Und nirgends gab es ein Anzeichen dafür, daß er inzwischen hiergewesen war. McKee füllte eilig seine Feldflasche. Canfields Flasche konnte er nicht finden, die hatte der Freund vermutlich mitgenommen. Seine Papiere lagen noch auf dem Klapptisch im Zelt. Falls dieser Mann sie wirklich gelesen hatte, war er darauf bedacht gewesen, sie nicht in Unordnung zu bringen. McKee steckte sich zwei Dosen Fleisch in die Tasche, schob sich die Wasserflasche vorn in sein Hemd und nahm eine Packung Kekse mit. Was brauchten sie noch? Der Dosenöffner an seinem Taschenmesser kam ihm in den Sinn; er fand das Messer neben der Schreibmaschine und steckte es in die Hemdtasche. Mein Lastwagen, fiel ihm auf einmal ein, wäre bequemer als der Volkswagen. Damit konnten sie viel weiter den Neben-Canon hinauffahren, vielleicht sogar bis ganz nach oben kommen. Er lief zum Wagen, schaltete die Zündung ein und trat auf den Anlasser. Nichts geschah. Er trat noch einmal auf den Anlasser und erinnerte sich dann, daß der Mann die Motorhaube aufgeklappt hatte. Er klappte sie ebenfalls auf und warf einen Blick hinein. Die Zündkabel waren herausgerissen worden. Mag ja sein, daß er geisteskrank ist, dachte McKee, als er zum Volkswagen zurückrannte, umsichtig ist er aber auf jeden Fall. «Okay», sagte er zu Miss Leon, «wir fahren jetzt noch ungefähr eine Meile den Canon hinauf. Da oben gibt es eine Seitenschlucht, in die wir einbiegen können. In der fahren wir weiter, solange der Volkswagen mitmacht. Dann klettern wir zu Fuß hinaus.» Miss Leon fuhr sehr langsam. McKee musterte sie ungeduldig. «Legen Sie lieber ein bißchen Tempo zu.» Miss Leon biß sich schon wieder auf die Lippe. «Dr. McKee, ehrlich... Meinen Sie nicht, daß wir besser hier im Lager warten sollten?» Sie sah ihn entschlossen an. «Ich bin überzeugt, daß Dr. Canfield bald kommen wird, und wenn
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nicht... Der Mann, den wir dahinten im Canon gesehen haben, wird uns ganz sicher helfen.» O Gott, dachte McKee, jetzt macht sie doch noch Schwierigkeiten! «Sie können mit Ihrer Kopfwunde unmöglich aus diesem Canon hinausklettern, geschweige denn den ganzen Weg bis zu Shoemaker zurücklegen. Wir kehren um.» «Wissen Sie, warum mein Lastwagen nicht starten wollte?» Miss Leon sah ihn wieder an. «Nun?» «Weil unser Freund die Zündkabel herausgerissen hat.» Sie glaubt mir nicht, dachte McKee. Ihm wurde vor Schmerz und Müdigkeit auf einmal schwindelig. «Hören Sie», sagte er, «wenn wir genügend Zeit hätten, würde ich mit Ihnen umkehren und es Ihnen zeigen. Aber wir haben leider keine Zeit.» Sein Ton war heftig geworden. «Und jetzt fahren Sie endlich weiter, bis ich Ihnen sage, wo wir abbiegen müssen!» Miss Leon fuhr und sah nach vorn. McKee betrachtete ihr Profil. Ihre Miene war ärgerlich, doch Anzeichen für Furcht waren nicht zu entdecken. Es wäre besser, wenn sie sich ein bißchen fürchtete, dachte er. Und dann überlegte er, was er ihr sagen sollte. Der Schmerz in seiner Hand schnitt plötzlich so scharf wie ein Messer durch seinen Knöchel, daß er sich nicht mehr konzentrieren konnte. Behutsam zog er sie aus dem Hemd. Der Finger war steif geworden, dunkelblau, und die Schwellung hatte sich über die Handfläche bis zur Wurzel ausgedehnt. Er hörte, wie sie bestürzt den Atem einsog. «Sie müssen zum Arzt», erklärte sie kategorisch. «Die Hand ist gebrochen. Ich werde jetzt wenden, wir fahren zum Lager zurück, und Sie baden Ihre Hand. e Sie verlangsamte das Tempo. Da stellte McKee seinen Fuß über den ihren auf den Gashebel und trat zu. Der kleine Wagen machte einen Satz
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nach vorn, so daß sie das Lenkrand umklammern mußte, um nicht die Kontrolle über das Fahrzeug zu verlieren. «Jetzt hören Sie mal gut zu», sagte McKee mit nachdrücklicher Betonung. «Ich habe gestern einen schweren Tag gehabt. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich bin todmüde, und meine Hand tut weh. Ich mache mir Sorgen um Jeremy. Sie werden sich jetzt vernünftig betragen und tun, was sich Ihnen sage. Und ich erklären Ihnen noch einmal, daß wir aus diesem Canon hinausklettern werden.» Miss Leon blieb stumm. Er sah sie an. Sie drehte den Kopf weg. Auf einmal merkte McKee, daß sie weinte, und dieser Gedanke erfüllte ihn mit Bestürzung. Ratlos sank er auf seinem Sitz in sich zusammen. «Müssen wir hier abbiegen?» «Genau. Da rechts, den Canon hinauf.» Die Seitenschlucht erschien ihm jetzt schmaler als vorher, als er mit Canfield zusammen die Nase hineingesteckt hatte. Erst vorgestern. Ihm kam es wie eine Woche vor. McKee überlegte, was er ihr, sagen sollte. Was sagte man, wenn man eine Frau zum Weinen gebracht hatte. «Wird ziemlich eng hier», stellte er fest. «Ja.» Der Canon machte eine plötzliche Biegung, und dahinter war das Bachbett zu schmal für alle vier Räder. Der Volkswagen neigte sich gefährlich zur Seite, als er mit den beiden rechten Rädern über eine nackte Sandsteinplatte rollte. Dann holperte er von der Platte so hart herunter, daß die hintere Stoßstange auf den Stein schlug. McKee entdeckte, daß sich auf dem Stück, das vor ihnen lag, Reifenspuren befanden. Er wurde plötzlich sehr nervös. Miss Leon verlangsamte das Tempo des Wagens. «Soll ich tatsächlich da hinüberfahren?» fragte sie. Dicht vor ihnen schoben sich die Wände des Canons eng zusammen,
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und vom Wasser abgeschliffene Felsen sahen durch den Sand. «Ich werde mich mal umschauen», sagte McKee. Steif kletterte er aus dem Wagen. Die Steine waren zum Teil von Gestrüpp überwuchert, sahen aber nicht allzu unüberwindlich aus. Ein paar Meter weiter oben kam dann wieder glatter Sand. Dahinter allerdings stieg der Canon steil an und war mit Felsbrocken aus einem Erdrutsch bedeckt. Dort konnte vermutlich kein Fahrzeug mehr durchkommen. «Legen Sie den ersten Gang ein, und halten Sie sich links», ordnete McKee an. «Wir können an dem Gebüsch vorbeifahren und den Wagen dahinter verstecken.» Der Volkswagen holperte müheloser über die Steine, als McKee es erwartet hatte. Er zeigte Miss Leon, wo sie ihn neben der Wasserrinne hinter den Büschen abstellen konnte, und suchte dann Feldflasche und Keksschachtel zusammen. «Den Wagen können wir abschließen», meinte er. «Nehmen Sie alles mit, was Sie brauchen. Aber ich würde nicht allzuviel mitschleppen.» «Ich habe eine paar Sachen, die ich Dr. Hall bringen wollte», erklärte sie. «Sie sind in diesem Paket.» «Das können wir mitnehmen», antwortete McKee. Jetzt sah er auch, daß sie einen Verlobungsring trug - einen Ring mit einem eindrucksvollen Brillanten. Weshalb überrascht mich das, fragte er sich. Weshalb bin ich enttäuscht? Natürlich ist sie verlobt. Das spielt doch nicht die geringste Rolle. Der Marsch über die ersten fünfzig Schritt des Packsandes war nicht schwer, doch dann würden sie über Felsblöcke klettern müssen. Erstaunt stellte McKee fest, daß der andere Wagen diese Barriere anscheinend geschafft hatte. Seine Spur war von geknicktem Strauchwerk gekennzeichnet. Er blickte zurück. Miss Leon saß auf einem Stein und hielt sich den Knöchel. Soweit er feststellen konnte, hatte sie das Paket nicht mitgebracht.
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«Was ist passiert?» «Fuß vertreten.» Ihre Miene war ängstlich. Er sah sie wortlos an; zum erstenmal in seinem Leben hatte er das Gefühl absoluter Hilflosigkeit. Über die Steine kletterte er zu ihr zurück. «Schlimm?» Er ging neben ihr in die Hocke und betrachtete den Knöchel. Es war ein sehr schlanker Knöchel, der noch keine Schwellung aufwies. «Ich weiß nicht. Auf jeden Fall tut es sehr weh.» «Können Sie den Fuß belasten?» «Ich glaube nicht.» McKee setzte sich ebenfalls hin und wischte sich mit dem Handrücken die Stirn. Er hatte Kopfschmerzen. «Wir werden jetzt eine Weile warten», entschied er schließlich. «Sobald Sie sich besser fühlen, geht es weiter.» Er versuchte nachzudenken. Wenn sie sich den Fuß verstaucht hatte, würde er bald anschwellen. Und wenn er verstaucht war, dann konnte sie die vor ihnen liegende Klettertour nicht schaffen. Noch weniger anschließend den langen Marsch über das rauhe Gelände bis zu Shoemaker. Mindestens fünfundzwanzig Meilen, nach seiner Schätzung. Von hier aus vielleicht noch weiter. Was, wenn sie einfach hierblieben und warteten? Ob der Mann mit dem Landrover ihnen folgte? Und wenn - was dann? McKee versuchte sich an alles zu erinnern, was sich seit gestern abgespielt hatte. Die Schafe mit den durchgeschnittenen Kehlen. Der Zettel von Canfield. Der Mann, der in der Dunkelheit gekommen war. Was hatte er dabei in der Hand gehabt? War es wirklich eine Pistole gewesen? Das Gefühl, den Canon entlang verfolgt zu werden. Dieses Gefühl kam ihm jetzt irreal vor. Aber da war der Baum, der quer über den Canon-Boden gezogen worden war. Der war real. Er versuchte eine Erklärung dafür zu finden. Es gab keine. Die Sperre diente keinem anderen Zweck, als Miss Leon mit ihrem Volkswagen am Verlassen des Canons
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zu hindern. Sie beide hier einzuschließen. Er wischte sich abermals über die Stirn und holte dann seine Zigaretten heraus. Miss Leon saß regungslos ein Stückchen weiter unten; sie hatte den Kopf in die Hand gestützt. Sehr schwer ist sie nicht, dachte er. Höchstens hundertzehn Pfund. Wenn ich diese verdammte Hand nicht hätte, könnte ich sie bestimmt tragen. Das kurzgeschnittene Haar fiel ihr um das Gesicht. Ihr Hals war schlank und glatt. McKee wurde auf einmal sehr traurig. «Möchten Sie eine Zigarette?» «Nein danke.» Miss Leon hob nicht mal den Kopf. «Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das alles tut», sagte McKee sehr langsam. «Ich weiß, Sie müssen mich für verrückt halten. Aber der Mann...» McKee hielt inne. Sinnlos, das alles noch einmal durchzukauen. Jetzt sah sie ihn doch an. «Es braucht Ihnen nicht leid zu tun», sagte sie. «Ich weiß, daß Sie mich nur beschützen wollen.» McKee hatte sich eingebildet, ihre Augen seien schwarz oder braun. Aber sie waren dunkelblau. Er wandte sich ab. Wenn er diese Situation falsch beurteilte, würde sie ihn auf ewig für den größten aller Idioten halten. Und selbst wenn er sie nicht falsch beurteilte und wenn sie genau wußte, daß er recht hatte, dann war da immer noch ihr Verlobter, der Mann, den sie so hartnäckig suchte. Und außerdem, sagte er sich bedrückt, spielt es ohnehin keine Rolle. «Aber ich denke, wir sollten jetzt umkehren. Wir müssen umkehren.» «Mag sein», antwortete er. Wenn sie nicht gehen konnte, gab es keine andere Möglichkeit. Er würde sich einfach darauf verlassen müssen, daß er sich fürchterlich geirrt hatte. Ihm kam der Gedanke, daß Miss Leon den verletzten Fuß nur vortäuschte. Aber das sah ihr eigentlich gar nicht ähnlich. Dann fielen ihm die Reifenspuren ein. Es war nur ein
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Spurenpaar gewesen, und das bedeutete, daß der Wagen entweder vor dem gestrigen Regen aus diesem Canon herausgekommen oder hineingefahren war und nun weiter oben parkte. Ein Hin- und Rückweg hätte zwei Spurenpaare hinterlassen. Er ging ein paar Meter weiter in den Canon hinein - bis dahin, wo sich das Gestrüpp über den Felstrümmern schloß. Die Zweige waren eindeutig von einem Gegenstand geknickt worden, der sich den Weg bergauf erzwungen hatte. Und falls das Canon-Bett nicht plötzlich breiter und flacher wurde - was aber von hier aus unwahrscheinlich wirkte -, konnte er nicht viel weiter gekommen sein. «Ich bin gleich wieder da», sagte McKee. «Ich werde mal nachsehen, wo dieser Wagen geblieben ist.» Die Spur war ziemlich leicht zu verfolgen. Hinter der Buschbarriere hatte das Fahrzeug das nunmehr sehr schmale Bachbett zwischen die Räder genommen und zwei tiefe Rinnen im weichen Boden hinterlassen, die dann etwas weiter unten hinter einer buschüberwachsenen Felsnase verschwanden. McKee schritt langsam, mit wachsender Spannung auf den Vorsprung zu. Dahinter würde er irgendein Fahrzeug finden. Der Landrover konnte es nicht sein, aber vielleicht Canfields Kombiwagen. Oder der Lastwagen eines Navajo-Schäfers. Und wenn es Canfields Wagen war - wo war dann Jeremy? Canfields Kombiwagen stand, die Vorderräder schräg auf einem felsigen Abhang, gleich hinter der Ecke. McKee blieb einen Augenblick stehen und sah ihn an. Dann schaute er den Canon hinauf und zu den Randfelsen empor. Nirgends etwas zu sehen. «Jeremy ?» rief er leise. Keine Antwort. Der Wagen war abgeschlossen. McKee spähte durchs Seitenfenster: Kein Schlüssel im Zündschloß. Aber auf dem Boden Canfields Hut. Ein karierter Leinenhut mit übergroßer
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Feder. Ein lächerlicher Hut - gewiß. Aber warum hatte ihn Canfield hier zurückgelassen? McKee trat an das Heck des Kombis und schielte durch das kleine Rückfenster. Canfield hatte die Einrichtung herausgenommen und den Raum hauptsächlich benutzt, um Gegenstände wetterfest zu lagern. Drinnen war es so dunkel, daß McKee zunächst kaum etwas sehen konnte. Er preßte das Gesicht an die Scheibe und schirmte mit der linken Hand das spiegelnde Sonnenlicht ab. Nun sah er etwas: Zuerst ein Khakihemd und dann die Beine eines Mannes, das eine Knie gekrümmt, das andere ausgestreckt, das erste am Knöchel kreuzend. Der Kopf des Mannes lag außerhalb seines Gesichtsfeldes an der Hecktür, direkt unterhalb des Fensters, durch das McKee blickte. Er wußte sofort, daß es sich um Canfield handelte, und der zivilisierte Teil seines Bewußtseins sagte ihm, daß der Freund schlafe. Doch einen unendlich kleinen Sekundenbruchteil darauf sagte ihm sein Verstand, daß Jeremy durchaus nicht schlafe. Kein Mensch schlief auf einem so steilen Abhang mit dem Kopf nach unten. McKee versuchte noch einmal, die Tür zu öffnen. Sie war verschlossen. Er sah sich nach einem passenden Stein um, wickelte sich ein Taschentuch um die linke Hand und zerschlug damit die Fensterscheibe. Er mußte fünfmal zuschlagen, bis er das Sicherheitsglas durchstoßen hatte. Er zog die Splitter heraus, die ihm den Weg versperrten, langte hindurch, öffnete das Schnappschloß an der Innenseite, hob den oberen Türteil empor und ließ die untere Klappe herab. Ein Strom wärmerer Luft schlug ihm entgegen, und das, was einmal Dr. J. R. Canfield gewesen war, rutschte ein Stück auf ihn zu. McKee wich einen Schritt zurück und starrte den Toten erschrocken an. Canfields Mund war wie zu einem gefrorenen, lautlosen Schrei geöffnet. McKee schluckte und setzte sich auf
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die Wagenklappe. Mit dem Daumen schloß er sanft Canfields Augen. Die Lider fühlten sich sandig an, und auch um den Mund herum und im schütteren Haar des Freundes entdeckte er Sandspuren. Geistesabwesend wischte er sich die Hand am Hosenbein ab und starrte mit blinden Augen in den Canon. Seltsamerweise überlegte er, wo Canfield seine Gitarre gelassen hatte. Vermutlich im Zelt, dachte er. Canfield hatte zur Feier von Miss Leons Ankunft an einem seiner gearbeitet. McKee versuchte sich den Text ins Gedächtnis zu rufen. Es war ein sehr witziger Text gewesen, wie er sich jetzt erinnerte, und überdies ein sehr gemäßigter für Jeremy. Dann konnte er plötzlich nur noch an Miss Leon denken, an ihre schlanke, zierliche und müde Gestalt, die dahinten, den Kopf erschöpft in die Hand gestützt, auf dem Felsblock saß. McKee stand auf, schob Canfields Leiche ein Stück die steile Schrägung des Wagenbodens hinauf und schloß die Klappe. Dann schritt er eilig den Canon hinab. Jetzt blieb ihnen keine Wahl. Umkehren kam nicht in Frage. Er mußte sie an diesem Wagen vorbeibringen. Es gab keine andere Möglichkeit. Aber er mußte verhindern, daß sie hineinsah. Als er durch die Büsche trat, saß sie noch immer auf ihrem Stein. Sie hob den Kopf und blickte ihm lächelnd entgegen. «Wir müssen jetzt los», sagte er. «Was macht der Knöchel?» «Ich glaube nicht, daß ich auftreten kann», antwortete sie. «Wir müssen umkehren.» «Wir werden nicht umkehren. Ich habe da oben Canfields Wagen gefunden. Irgend jemand hat das Heckfenster mit einem Stein eingeschlagen, und Canfield selber ist verschwunden.» «Aber wir können unmöglich ...» «Stehen Sie auf!» befahl McKee mit rauher Stimme. «Kommen Sie, ich helfe Ihnen.»
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«Ich will nicht.» «Sie werden, und zwar auf der Stelle.» McKees Ton war grimmig. Er packte sie am Arm und zog sie hoch - erstaunt, wie leicht sie war. Die Keksschachtel lag auf dem Stein, wo er sie hingestellt hatte. Wie hatte er nur so idiotisch sein und Kekse mitnehmen können? «Sie tun mir weh!» Urplötzlich war sich McKee des weichen Armes bewußt, den er durch ihren Blusenärmel spürte. Rasch zog er die Hand zurück. Miss Leon lief davon. Sie warf sich herum und rannte leichtfüßig über die Felsen zum Volkswagen. McKee stand regungslos - zu überrascht, um eine Bewegung zu machen. Ihrem Knöchel fehlt überhaupt nichts, dachte er. Dann stieß er einen Fluch aus und lief, unbeholfen wegen der verletzten Hand, hinter ihr her. Doch ehe er den Volkswagen erreichen konnte, hatte sie schon die Fenster hochgekurbelt und sich eingeschlossen. Einen Augenblick dachte McKee, sie würde den Motor starten und einfach wegfahren; er sah sich schon vor dem Wagen einen Tanz aufführen - eine umgekehrte Verfolgungsjagd. Aber sie blieb einfach hinter dem Lenkrad sitzen und starrte ihn an. Er klopfte an die Scheibe und versuchte seinen Ton möglichst normal zu halten. «Drehen Sie das Fenster herunter!» «Erst wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß wir ins Lager zurückfahren.» Er konnte sie durch das Glas nur undeutlich verstehen. Mein Fenstereinschlagetag, dachte McKee. Er hob einen Stein auf und wickelte sich wieder das Taschentuch um die linke Hand. «Drehen Sie das Fenster herunter!» «Nein.»
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McKee zögerte. Er dachte an den toten Jeremy, an den Sand auf dem Gesicht des Freundes. Ein Wortbruch war einfacher als das Einschlagen eines Fensters. «Gut, ich verspreche es», sagte er. «Lassen Sie mich einsteigen, und wir werden ins Lager zurückfahren.» «Eigentlich weiß ich nicht recht», meinte nun Miss Leon. «Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen trauen kann.» Großer Gott, dachte McKee. Frauen geben einem doch unentwegt Rätsel auf. Er hob den Stein. «Öffnen Sie, oder ich zerschlage die Scheibe.» Miss Leon entriegelte die Tür, die er sofort aufriß. «Und jetzt steigen Sie aus. Schluß mit dem Theater. Sie steigen aus, oder ich muß Sie herausziehen.» Miss Leon stieg aus. Er packte ihren Arm und ging mit ihr rasch den Canon hinauf. Und blieb auf einmal wieder stehen. Vor ihnen trat ein großer Mann mit einem neuen schwarzen Hut aus dem Gebüsch. Es war der Große Navajo, der bei Shoemaker eingekauft hatte. Mit der rechten Hand hielt er eine Maschinenpistole auf McKees Magen gerichtet. Die Waffe bestand aus blankem, bläulichem Metall, das durchaus das Mondlicht reflektieren konnte. «Ganz recht», sagte der Mann. «Bleiben Sie schön still stehen.» Er kam über die Felsen auf sie zu, ohne den Blick von McKee zu lassen. Die Waffe hatte, wie McKee erkannte, einen - jetzt aufgeklappten - Bügelgriff und ein langes Magazin, das aus der Geschoßkammer herausragte. «Sie sind Bergen McKee», stellte der Mann fest. «Und diese junge Dame hier dürfte Miss Ellen Leon sein.» McKee schob Miss Leon hinter sich. «Was wollen Sie?» Der Mann sah McKee lächelnd an. Es war ein freundliches Lächeln. Auch sein Gesicht war sehr freundlich. Ein langes, grobknochiges Navajo-Gesicht mit schweren Brauen und
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vollem Mund. McKee sah, daß er kurze, mit roter Kordel zusammengebundene Zöpfe trug. «Nichts weiter als vorübergehend das Vergnügen Ihrer Gesellschaft», antwortete der Mann. «Im Augenblick will ich jedoch, daß Sie sehr langsam Ihre Hand aus dem Hemd ziehen.» McKee zog seine Hand heraus. «Na ja», meinte der Mann. «Da bin ich wohl ein wenig zu mißtrauisch gewesen.» Er lächelte wieder. «Ein hübscher Finger, den Sie da haben.» McKee antwortete nicht. «Jetzt legen Sie die Hände gegen den Baumstamm da drüben.» Mit dem Pistolenlauf deutete er auf eine Pinie. «Stützen Sie sich dagegen, bis ich Ihre Taschen durchsucht habe. Und Sie, Ellen, bleiben da stehen, wo ich Sie beobachten kann.» Der Mann stellte sich hinter McKee und tastete ihn mit geschickter Hand ab. Er holte ihm die Fleischkonserven aus der Tasche und warf sie zu Boden, nahm ihm Autoschlüssel und Brieftasche ab und klopfte an Taillengegend und Hemd herum. Dann folgte keine Berührung mehr, die Stimme aber war immer noch dicht hinter ihm. «Sie bleiben in dieser Stellung, bis ich Miss Leons Sachen durchsucht habe. Keine Bewegung! Daß ich Gebrauch von der Pistole machen werde, brauche ich wohl nicht zu betonen.» «Nein», antwortete Bergen düster, «das brauchen Sie nicht.» Die Stimme befahl Miss Leon, die Arme zu heben, McKee sah sich vorsichtig um. Der Schlag kam unversehens und so heftig, daß er in die Knie sank und sich vor Schmerzen krümmte. Der Mann hatte ihm den Pistolenlauf mit voller Kraft in die Nieren gestoßen. «Sie tun nicht, was ich gesagt habe», hörte er die Stimme des Mannes. «Ich sagte, keine Bewegung. Jetzt können Sie aufstehen.»
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McKee rappelte sich mühsam auf. Er hatte sich wieder den Finger gestoßen, und der Schmerz war beinahe unerträglich. Er sah, daß Miss Leon ihn mit schneeweißem Gesicht beobachtete. Der Mann beobachtete ihn ebenfalls - noch immer mit diesem leichten Lächeln. Er trug ein schwarzes Hemd und hatte die Jeans oben in seine Stiefel gesteckt. «Wissen Sie, fast hätte ich Sie schon wieder verpaßt», sagte der Mann. Er lächelte jetzt nicht mehr. «Sie haben mir viel Kopfschmerzen bereitet. Wenn wir mal ein bißchen Zeit haben, müssen Sie mir erzählen, wie Sie mir gestern nacht in Ihrem Lager entkommen sind. Das kann ich einfach nicht begreifen.» Einen Augenblick schwieg der Mann und starrte McKee ins Gesicht. «Ich konnte mir auch zuerst nicht vorstellen, wieso ich Sie an meinem Baum nicht erwischt habe. Aber Sie waren schon weiter unten im Canon, als ich vermutet hatte, und da haben Sie die Winde gehört, nicht wahr?» «Ganz recht», bestätigte McKee. «Ich hätte da beinahe zu lange gewartet», sagte der Mann. «Sie waren klug und sind davongefahren, aber dann haben Sie Ihren Vorteil wieder verschenkt. Ich möchte wissen, warum Sie hier auf mich gewartet haben.» Er musterte McKee nachdenklich. «Sie hätten mir leicht noch einen weiteren Tag lang entkommen können. Warum haben Sie haltgemacht? Wollten Sie aufgeben?» McKee wagte nicht, Miss Leon anzusehen. «Wir dachten nicht, daß uns hier jemand suchen würde.» Der Navajo lachte. Er wirkte aufrichtig amüsiert. «Wenn Sie tatsächlich nicht wußten, daß dies der einzige Weg aus dem Canon ist, dann habe ich wirklich Glück mit Ihnen.» «Wer sind Sie eigentlich?» erkundigte sich McKee. «Und was haben Sie mit uns vor?» «Wir werden jetzt aufbrechen. Sie gehen ein Stück vor mir her und tun genau, was ich sage.»
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Er schwenkte den Lauf der Maschinenpistole zur Seite und klopfte auf den Sicherheitsknopf neben dem Abzugsschutz. «Ich trage sie immer entsichert. Kaliber 3 B. Und ich bin ein ausgezeichneter Schütze.» «Kann ich mir vorstellen», sagte McKee. Der Mann hielt sich ein gutes Stück hinter ihnen, während sie an den Büschen vorbei- und über die Felsen marschierten. McKee ging stumm und versuchte nachzudenken. Miss Leon berührte seinen Arm. «Es tut mir leid.» Ihr Ton war kleinlaut. «Keine Ursache.» «Wäre ich nur nicht so dumm gewesen!» flüsterte sie. «Ich dachte, es käme von dem Sturz auf den Kopf.» «Weshalb sollten Sie auch etwas anderes denken. Es kommt mir selbst immer noch völlig unsinnig vor.» «Es tut mir aufrichtig leid. Sie hätten entkommen können.» «Ich hätte es trotzdem schaffen müssen.» McKees Stimme klang verbittert. «Woher kennt er unsere Namen?» «Er hat die Papiere in unserem Zelt durchsucht. Dabei muß er sie wohl gelesen haben.» «Nicht sprechen!» befahl der Navajo. «Sparen Sie lieber Ihren Atem.» Schweigend wanderten sie die schräge Sandebene hinauf bis hinter die Felsnase, hinter der Canfields Wagen stand. «Hier werden wir einen Augenblick haltmachen», bestimmte der Mann. McKee sah, wie Miss Leon den Wagen musterte. Er war jetzt froh, die Rückklappe geschlossen zu haben. «Wie ich sehe, haben Sie schon hineingeschaut», sagte der Mann. «Mir wäre es allerdings lieber, Sie hätten das Fenster nicht eingeschlagen. Was wollten Sie damit erreichen? Jetzt sieht es verdächtig aus.»
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Der Navajo trat an den Wagen, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er warf einen Blick hinein und untersuchte die zerbrochene Scheibe. «Dieser Canfield schien mir ein recht netter Bursche zu sein», meinte er dann. «Immer voll Scherze.» «Warum haben Sie ihn dann umgebracht?» fragte McKee erbost. Er benutzte die Navajo-Sprache. Der große Mann sah ihn an, als habe er ihn nicht verstanden. Er antwortete auf englisch: «Er hat eben Pech gehabt. Es gab keine andere Möglichkeit für mich, mit ihm fertig zu werden.» Der Blick, den er McKee zuwarf, war ernst, und er schob dabei fast schmollend die Lippen vor. «Wir müssen weiter», sagte er. «Es ist noch über eine Meile bis zu meinem Wagen, und es geht steil bergauf.» Nach etwa einer Viertelmeile wurde der Marsch rasch immer schwieriger. Der Boden des Canons stieg steil an, Büsche und Felsbrocken boten zahlreiche Hindernisse. McKee kletterte in stetem Tempo weiter; er half Miss Leon und versuchte dabei nachzudenken. Was für ein Ungeheuer war dieser Mann? Er machte einen so nüchternen Eindruck, als handele es sich bei dieser verrückten Szene um eine Geschäftsangelegenheit. Anscheinend hatte er Jeremy ebenso ungerührt getötet, wie er eine Fliege zerquetschen würde. McKee war fest überzeugt, daß er Miss Leon und ihn ebenso eiskalt umbringen würde. Und er, McKee, konnte wieder einmal nicht das geringste tun, um das zu verhindern. Er hatte daran gedacht, sich unvermittelt herumzuwerfen und mit einem Stein auf den Mann einzuschlagen. Aber seine rechte Hand war beinahe völlig unbrauchbar, und außerdem blieb der Navajo in vorsichtiger Entfernung von ihnen. Er hielt es für unwahrscheinlich, daß der Mann sie am Leben lassen würde: sie wußten ja, daß er ein Mörder war. Aber warum hatte er sie nicht gleich unten beim Kombiwagen erschossen? McKee ahnte, daß der Navajo zwar
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vorübergehend daran gedacht hatte, als er sich vergewisserte, ob Canfields Leiche noch da war. Aber er mußte den Gedanken wieder verworfen haben. Er scheint eine bestimmte Verwendung für uns zu planen, dachte McKee. Entweder das, oder er will, daß unsere Leichen woanders gefunden werden, und es ist viel bequemer für ihn, wenn wir auf unseren eigenen Füßen dorthin marschieren. Aber warum? Der Mann wirkte vernünftig; die ganze Angelegenheit dagegen schien nicht einmal von einer Andeutung von Vernunft getragen. «So, hier werden wir hinausklettern», sagte der Mann und zeigte auf eine Spalte, die ein Steinrutsch in die Südwand des Canons gerissen hatte. «Sie zuerst, Dr. McKee. Sobald Sie oben sind, legen Sie sich so hin, daß Ihre Füße über den Rand hinausragen und ich sie sehen kann. Ellen wird direkt vor mir herklettern, und falls Sie eine falsche Bewegung machen sollten, werde ich sie erschießen müssen, damit ich Ihnen nachlaufen kann. Begreifen Sie, wie ich es meine?» Er musterte prüfend McKees Gesicht. «Sie denken vielleicht, daß ich bluffe. Aber das ist nicht der Fall. Im Grunde brauche ich Miss Leon nämlich gar nicht.» McKee sah sie an. Sie stand ein wenig tiefer als er und keuchte vor Anstrengung. Auf ihrem Gesicht standen Schweißtropfen, aber sie versuchte trotzdem zu lächeln. Irgendwie werde ich sie hier herausbringen, schwor sich McKee. Und wenn ich selbst dabei umkommen sollte. Er machte sich an den Aufstieg. Wegen der verletzten Hand kam er nur langsam vorwärts und war, als er den Schluchtrand erreichte, zutiefst erschöpft. Vorsichtig legte er sich so auf die Felskante, daß seine Füße von unten zu sehen waren. «Bleiben Sie ganz still liegen!» befahl die Stimme des Navajo. In dieser Position war er hilflos. Er konnte nicht die geringste Bewegung machen, ohne daß der Navajo es sah, und zweifelte nicht daran, daß der Mann Miss Leon sofort erschießen würde, falls er es doch tat. Was er wohl damit
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gemeint hatte, daß er Miss Leon nicht unbedingt brauche? Wozu sollte er sie denn brauchen? Und wozu brauchte er ihn? Der Navajo erreichte die Felskante vor Miss Leon und baute sich, während sie die Klettertour vollendete, in vorsichtiger Entfernung auf. «Gehen Sie da zum Wagen hinüber», befahl er. McKee entdeckte den Landrover, beinahe unsichtbar versteckt, hinter einem Wacholdergebüsch. «Aber zeigen Sie mir zuerst mal Ihre Hand.» McKee streckte die linke Hand aus, die Fläche nach oben. «Sind Sie Linkshänder, Dr. McKee ?» «Nein. Rechtshänder.» «Das habe ich befürchtet. Lassen Sie mal sehen.» Langsam hob McKee die verletzte Hand. Die Bewegung löste erneuten Schmerz aus, und er zuckte zusammen. Die Tatsache, daß jetzt die Sonne direkt im Süden stand, erklärte möglicherweise die Schwäche in seinen Knien: Es war schon Mittag, und er hatte seit gestern nachmittag nichts mehr gegessen. «Sieht böse aus», stellte der Navajo fest. «Wir müssen sie baden, damit die Schwellung zurückgeht.» McKee merkte, daß Miss Leon ebenfalls seine Hand anstarrte. Er ließ sie sinken, zuckte abermals zusammen, und dann schoß das Blut wieder hinein. «Ich bin von Ihrer Fürsorge zutiefst gerührt», höhnte McKee. Der Navajo kicherte. «Fürsorge ist es eigentlich nicht», antwortete er grinsend. «Es ist nur, weil Sie für uns einen Brief schreiben müssen.»
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McKee mußte feststellen, daß es recht unbequem war, mit dem Gesicht nach unten auf dem Rücksitz eines fahrenden Wagens zu liegen, während ihm die Handgelenke gefesselt und mit einem Strick an den Knöcheln befestigt waren. Am besten lag er noch, wenn er direkt auf die Rückseite des Vordersitzes starrte. Schielte er dann aus seinem rechten Augenwinkel, sah er den Nacken des Großen Navajo. Der Mann hatte sich den Hut tief in die Stirn gezogen. Vermutlich, weil sie nach Westen fuhren und die schon tief stehende Sonne zur Windschutzscheibe hereinschien. Schielte er an seiner Wange herab, sah er Miss Leon steif aufgerichtet dicht an der rechten Tür des Landrover sitzen - so weit entfernt von dem Indianer, wie es nur ging. Der Landrover holperte über eine Erhebung, und McKee mußte die Knie spreizen, um nicht auf dem Sitz herumgeworfen zu werden. Diese Bewegung löste wieder das Pochen in der rechten Hand aus. Der Navajo sagte etwas, aber er konnte es vor Benommenheit nicht verstehen. «Ich weiß es nicht», antwortete Miss Leon. «Und Sie selber? Wie lange wollten Sie hierbleiben?» Die Frage klang so normal und konversationsmäßig, daß McKee beinahe laut aufgelacht hätte. Als Miss Leon jedoch antwortete, zwei oder drei Tage, drehte der Navajo ihr sein Gesicht zu. Es folgte ein langes Schweigen, und erst als der Navajo wieder sprach, wurde McKee plötzlich klar, daß seine Frage durchaus ihren Sinn gehabt hatte. «Weiß jemand, wohin Sie gefahren sind?» «Natürlich. Alle.» «Dieser Dr. Green in Albuquerque weiß es», stellte der Navajo fest. «Aber wer außer ihm? Was ist mit Ihrem Mann? Weiß er, daß Sie in diesen Canon kommen wollten?»
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«Ich habe keinen Mann.» Abermals eine Schweigepause. «Wer weiß es noch?» erkundigte sich der Navajo. «Einige andere Freunde natürlich, und meine Familie. Warum? Was spielt das für eine Rolle?» «Noch etwas. Warum hat McKee da im Canon herumgesessen und zugelassen, daß ich ihm den Weg abschneide?» «Fragen Sie ihn doch selbst.» «Sagen Sie es mir.» «Weil ich dumm war», gestand Miss Leon. «Haben Sie ihn daran gehindert?» Der Navajo kicherte. «Glaubten Sie nicht an den Navajo-Wolf?» «Er hatte doch die schwere Kopfverletzung», erklärte Miss Leon. «Ich dachte, daß es daran läge.» «Na ja, ich hätte ihn trotzdem erwischt.» «Nein», widersprach sie, «ohne mich wäre Dr. McKee entkommen.» «Vielleicht wissen Sie nicht genug über uns Navajo-Wölfe. Wir können uns in Kojoten, Hunde, Bären, Füchse, Eulen und Krähen verwandeln.» McKee starrte auf den Hinterkopf des Navajo. Der Mann hatte die Reihe der Tiere in einem Ton heruntergerattert, der von Sarkasmus nur so troff. Und er hatte Bären, Eulen und Krähen erwähnt. Damals, als Greersen in den zwanziger Jahren sein Buch über den Werwolf-Aberglauben veröffentlichte, hatte es gelehrte Diskussionen über das Thema gegeben. Greersen hatte von diesen Tieren aber nur jeweils ein Beispiel angeführt. Die Bärengeschichte stammte aus den Navajo-Bergen, die Eulen- und Krähenlegende weit aus dem Osten, aus der Checkerboard Reservation in New Mexico. McKee selber hatte immer nur von Wölfen, Hunden und Kojoten gehört. Der große Mann mußte Greersen gelesen haben, und das bedeutete, daß er irgendwo in einer anthropologischen Bibliothek nachgeschlagen hatte. Aber
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warum? Und wo? «Außerdem können wir fliegen, wenn es dunkel ist und die Situation es erfordert», fuhr der Navajo jetzt fort. «Nein, nein, McKee wäre mir niemals entkommen.» «Er war Ihnen ja schon einmal entkommen.» Miss Leons Stimme klang aufgebracht und trotzig. «Gestern nacht hat er Sie überlistet. Und heute hat er Ihnen wieder ein Schnippchen geschlagen. Er...» «Lady, seien Sie lieber still. Sie wissen nicht, wer ich bin. Mir entkommt keiner.» Damit war das Gespräch beendet. Der Landrover folgte einer scharfen Kurve und fuhr im ersten Gang steil bergab, bis er den Boden eines Arroyo erreicht hatte. Nach schätzungsweise drei oder vier Meilen Fahrt spürte McKee wieder glatten, ebenen Sand unter den Rädern, und der Navajo steigerte das Tempo. Es schien keine Sonne mehr auf den Landrover, woraus McKee schloß, daß sie sich wieder auf dem Boden des Many Ruins Canon befanden. Aber die Richtungsänderungen hatte er immer nur erraten können. Der dumpfe Schmerz seiner Kopfwunde und das Pochen in seiner Hand erschwerten ihm die Konzentration. Wer war der Navajo? In diesem Teil der Reservation dachten die Leute an Eulen höchstens im Zusammenhang mit Geistern, niemals mit Antis; Krähen und Raben wurde überhaupt keine übernatürliche Bedeutung zugeschrieben. Der Ton des Mannes war eindeutig ironisch gewesen, als er die Tiere aufzählte. McKee konnte sich als Quelle für diese Liste nur Greersens vorstellen. Aber das war ein bekanntermaßen schwerverständliches Buch und höchstens für Anthropologen bestimmt. Weshalb also sollte der Navajo so etwas lesen? Während McKee versuchte, irgendeinen Sinn dahinter zu finden, kehrten seine Gedanken immer wieder zu Ellen Leons Stimme zurück, die ihn verteidigt hatte. «Er hat Sie überlistet», hatte sie gesagt.
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Der Landrover hielt, und McKee hörte, daß die Handbremse angezogen wurde. «Sie bleiben hier», befahl der Indianer. «Versuchen Sie nicht, McKees Fesseln zu lösen, und machen Sie keine Dummheiten!» Dann ging die Tür auf, und der Mann stieg aus. Miss Leon beugte sich über die Rückenlehne. Ihr Gesicht war staubig, zerzaust, sehr müde und sehr, sehr mitleidig. «Alles in Ordnung?» erkundigte sie sich. «Wo sind wir? Wohin ist er gegangen?» «Wir sind am Baum», erklärte sie. «An dem, den er quer über den Canon gezogen hat. Wie fühlen Sie sich?» «Was macht er da? Befestigt er das Windenseil?» «ja... Dr. McKee, es tut mir leid, daß ich so dumm war. Ich ahnte ja nicht...» «Einen Teil Ihrer Unterhaltung habe ich nicht mitbekommen. Hat er Ihnen irgendwas Brauchbares erzählt? Wer er ist oder so?» «Nein. Er sagte nur, ihm würde keiner entkommen.» «Das hörte ich. Hat er sonst nichts gesagt?» «Mir fällt nichts ein.» Sie hielt einen Augenblick inne. «Er hat mich gefragt, warum wir so lange im Canon gewartet haben, bis er uns fand.» «Das hörte ich ebenfalls. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.» Dann hörte er den Mann wieder in den Landrover steigen. Es folgte das Geräusch gekuppelter Gänge, das Jaulen der Winde und das Krachen brechender Äste. Dann stoppte die Winde, und der Navajo stieg wieder aus. «Sie müssen mir versprechen, sehr vorsichtig zu sein», sagte McKee. «Tun Sie genau, was er Ihnen befiehlt. Und halten Sie die Augen offen. Warten Sie auf eine Gelegenheit zur Flucht. Wenn Sie einmal außerhalb seiner Sichtweite sind, verstecken Sie sich. Rühren Sie sich nicht von der Stelle, bis es ganz dunkel geworden ist, und laufen Sie dann aus dem
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Canon hinaus. Gehen Sie zu Shoemaker. Das ist in südwestlicher Richtung von hier. Sie wissen, wie man sich nachts orientiert?» «ja», antwortete Ellen. Sie weiß es vermutlich nicht, dachte McKee. Aber es war ohnehin eine rein rhetorische Frage. «Suchen Sie den Großen Wagen», erklärte er ihr. «Die beiden Sterne am Ende der Deichsel zeigen auf den Polarstern. Wo der steht, ist Norden.» «Er kommt!» warnte sie. «Vergessen Sie nicht: Warten Sie auf eine Fluchtgelegenheit!» Jetzt beugte sich der große Mann über die Sitzlehne und musterte ihn. «Hoffentlich haben Sie Miss Leon gute Ratschläge gegeben.» «Ich habe ihr geraten, Ihren Befehlen zu gehorchen.» «Das ist ein sehr guter Rat.» Nach McKees Schätzung fuhren sie jetzt ungefähr zehn Minuten, ehe der Landrover wieder hielt. «Diesmal kommen Sie lieber mit, Miss Leon», sagte der Mann. «Rutschen Sie auf meiner Seite heraus.» «Wohin wollen Sie mit ihr?» McKees Stimme wurde unwillkürlich laut. «Keine Sorge, ich tue ihr nichts», beruhigte ihn der Mann. «Wir wollen nur Ihre Papiere holen.» McKee verdrehte, so gut es ging, Schultern und Hals, um aus dem Heckfenster zu sehen. Sein Blickwinkel erfaßte nur die Oberkante der Canon-Wand, doch das genügte, um ihm zu bestätigen, daß sie am Lagerplatz waren. Die beiden blieben nur einen Augenblick fort. Dann rollte der Landrover weiter - zuerst weich über den Sandboden des Many Ruins Canon, dann stoßend über unebenen Untergrund. Auf einmal blieben sie wieder stehen. McKee hörte, daß die Handbremse angezogen wurde.
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«Du hast ja eine Frau mitgebracht, George! Wo ist der Mann, hinter dem du her warst?» Die Stimme klang weich. Virginia-Akzent, dachte McKee. Vielleicht aber auch Carolina oder Maryland. «Auf dem Rücksitz», antwortete der Navajo. «Steigen Sie aus, Miss Leon.» Die Tür an McKees Kopf wurde geöffnet, und ein Mann blickte auf ihn herab. So auf dem Bauch liegend, den Kopf zur Seite gewandt, konnte McKee ihn nur aus dem rechten Augenwinkel sehen. Er sah eine Gürtelschnalle, eine marineblaue Weste mit schwarzen Knöpfen, das Kinn des Mannes von unten und das Innere seiner Nasenlöcher. «Der ist ja gefesselt!» sagte die Stimme über ihm. Eine idiotische Bemerkung. «Geh mal zur Seite», sagte der Navajo. Dann spürte McKee, wie die Hände des Indianers geschickt seine Fesseln lösten. «Irgendwelche Nachrichten, während du fort warst?» fragte die weiche Stimme. «Wissen sie schon, wann wir aus diesem Loch hier verschwinden können?» «Keine Nachrichten», antwortete der Navajo. «Habt ihr was gesehen?» «Nichts. Nur wieder den Jungen auf dem Pferd. Oben am Schluchtrand. Drüben auf der Mesa.» «Sie können jetzt aufstehen, Dr. McKee.» McKee richtete sich auf und musterte den Mann mit der blauen Weste. Es war ein großer, junger Mann mit bleichem Gesicht unter einem hellblauen Strohhut. Er sah McKee an, nickte höflich - blaue Augen unter blonden Brauen - und wandte sich dann an Miss Leon. «Guten Tag», grüßte er. Ellen Leon ignorierte ihn. Der junge Mann trug ein Holster mit einer halbautomatischen Pistole über der Weste. Die Marke war McKee unbekannt, er nahm aber an, daß es sich um Kaliber 38 handelte. Miss Leon stand steif vor dem Kühler des Wagens. Sie wirkte verängstigt.
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«Kommen Sie», sagte der Große Navajo. «Steigen Sie aus. Ich hab nicht viel Zeit.» Mit steifen Muskeln kletterte McKee hinaus. Er hatte Kopfschmerzen, doch diese Schmerzen wurden von dem heftigen Pochen in seiner verletzten Hand überdeckt. Er hielt die Hand steif an der Körperseite und sah sich um. Sie befanden sich in einem schmalen Seiten-Canon. Weiter unten sah McKee das breite, sandige Bett des Many Ruins Canon in der Nachmittagssonne glänzen. Hier oben war Schatten, daher dauerte es einen Moment, bis er hinter dem Blonden hoch oben in der Sandsteinwand das Felsenhaus entdeckte. Flüchtig dachte er, daß dies ein von den HarvardSmithsonian-Gruppen ausgegrabenes Haus sein müsse. Es war nur schwer zu erreichen und daher für Archäologen um so attraktiver, denn die Wahrscheinlichkeit, daß es nicht ausgeraubt worden war, erschien größer. «Dr. McKee wird den Brief für uns schreiben, Eddi», erklärte der Navajo. «Aber es kann noch eine Weile dauern, und während ich über den Brief nachdenke, möchte ich, daß du über McKee nachdenkst. Er ist sehr gerissen.» «Er hat ihn also noch nicht geschrieben?» fragte der Blonde erstaunt. «Ich hätte ihn drüben in seinem Lager schreiben lassen können», entgegnete der Indianer. «Ich denke, daß ich mit ihm fertig geworden wäre. Neunundneunzig zu eins. Aber warum mit so einem aalglatten Burschen ein Risiko eingehen?» «ja, stimmt», sagte Eddie. «Es geht um zuviel Geld. Um viel zuviel Geld für ein Risiko.» Geschickt zog er seine Pistole aus dem Holster. McKee stellte beklommen fest, daß er so geübt mit ihr umging wie ein Pfeifenraucher mit seiner Pfeife. «Red nicht soviel», mahnte der Große Navajo. «Wir werden diese beiden hier zurücklassen, und je weniger sie hören, desto besser.»
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Eddie machte nur: «Oh?» Es klang wie eine Frage. Der Navajo langte in den Landrover, holte einen Stoß Papiere heraus, stapelte sie auf der Kühlerhaube, blätterte sie eilig durch, zog einen Brief heraus und überflog ihn. «Was ist mit diesem Dr. Green? Anscheinend Ihr Boss. Ein Brief müßte vermutlich an ihn gerichtet werden, nicht wahr?» «Green ist der Vorsitzende der Fakultät», antwortete McKee. «Wir halten gewöhnlich Verbindung mit ihm, wenn wir auf Studienfahrt gehen.» Wie lange hatte Canfield wohl noch gelebt, nachdem er den Zettel für diesen Mann geschrieben hatte? Jedenfalls so lange, daß ihn der Navajo umbringen konnte, ohne Spuren von Gewalt zu hinterlassen. Nur eines war in dieser phantastischen Situation unbestreitbar: Lediglich der Tatsache, daß der Navajo sie für diesen Brief brauchte, hatten Miss Leon und er das Leben zu verdanken. Er würde den Brief auf keinen Fall schreiben, aber er mußte es richtig anfangen. Der Große Navajo reichte ihm Dr. Canfields Kugelschreiber, einen sehr schlanken Silberstift. Als ihn McKee mit der linken Hand entgegennahm, festigte sich sein Entschluß. Nie, unter gar keinen Umständen, würde er diesen Brief schreiben! «Ich konnte kein Briefpapier finden, also haben Sie wohl immer Ihr Notizbuch benutzt.» «Ganz recht», bestätigte McKee. «Wir werden ihn an Dr. Green adressieren», entschied der Navajo. «Wie nennen Sie ihn? Dr. Green? Oder beim Vornamen?» «Dr. Green», log McKee. «Er ist ziemlich steif.» Der Navajo musterte ihn nachdenklich. «Wie hieß Dr. Canfield eigentlich mit Vornamen? John?» «John Robert Canfield», ergänzte McKee. Der große Navajo sah ihn an. «Dr. McKee», sagte er schließlich, «was Dr. Canfield zugestoßen ist, war sehr bedauerlich, aber nicht zu umgehen,
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weil Dr. Canfield zu fliehen versuchte und mir keine andere Möglichkeit ließ. Für Sie und Miss Leon jedoch besteht keinerlei Grund zu sterben. Wenn dieser Brief in der richtigen Form abgefaßt wird, verschafft er uns Zeit, unser Vorhaben hier zu beenden. Und dann werden wir wegfahren und können es uns leisten, Sie hierzulassen.» Er sagte das alles sehr langsam und beobachtete McKee dabei genau. McKee gab sich Mühe, ein unbewegtes Gesicht zu machen. «Und was ist, wenn ich den Brief nicht schreibe?» Die Miene des Navajo blieb unverändert freundlich. «Dann werden ich Sie beide töten müssen. Ohne den Brief müssen wir uns sehr beeilen. Und Sie werden uns dabei nur hinderlich sein, weil Sie ständig bewacht werden müssen. Nichts gegen Sie persönlich, Dr. McKee, aber es geht für uns um sehr viel Geld.» Er lächelte. «Sie kennen doch unseren UrMythos: Bei der ganzen Hexerei handelt es sich nur um das eine - um die Kunst, Geld zu machen.» «Was soll ich denn schreiben?» fragte McKee. «Das ist Ihr Problem. Wir verlangen einen Brief an Dr. Green, in dem Sie ihm mitteilen, daß Sie diesen Canon verlassen und woanders hingehen - irgendwohin, wo es für Ihre Zwecke logisch wäre. Sie, Dr. Canfield und Miss Leon. Und er muß so abgefaßt werden, daß Dr. Green auf keinen Fall Verdacht schöpfen kann.» Der Große Navajo hielt inne und starrte McKee durchdringend an. «Sie verstehen mich doch, nicht wahr? Wenn jemand unruhig wird und herkommen sollte, um nach Ihnen zu sehen, würden wir Sie sofort umbringen müssen.» Ich darf keinen Fehler machen, dachte McKee. «Ich glaube nicht, daß ich Ihnen trauen kann», sagte er laut. «John haben Sie auch umgebracht, nachdem er den Brief geschrieben hatte.»
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«Ihr Dr. Canfield war sehr dumm. Er schrieb Ihnen den Zettel und versuchte dann zu fliehen. Er fiel mich an.» «Aha», machte McKee. «Und außerdem bin ich der Meinung, daß Dr. Canfield Sie irgendwie in diesem Brief gewarnt hat. Wodurch? Aus welchem Grund haben Sie mich erwartet?» McKee mußte grinsen. «Sie haben natürlich recht. Es war der Name. Dr. Canfield heißt Jeremy. Als ich seine Unterschrift sah, wußte ich sofort, daß etwas nicht stimmte. Ich war beim Yazzie-Hogan gewesen, hatte die Schafe gefunden, die Sie getötet haben, und war deswegen ohnehin nervös.» McKee hörte mit Genugtuung, daß seine Stimme vollkommen natürlich klang. Er hoffte verzweifelt, den Zeitpunkt richtig gewählt zu haben. Vielleicht hätte er noch etwas länger warten sollen, aber er las ganz deutlich die Erleichterung in der Miene des Navajo. Es ist wie beim Poker, dachte er. Und die einzige Schwäche dieses Mannes, falls er überhaupt eine hat, ist seine Eitelkeit. «Sie sollten so etwas lieber nicht versuchen.» «Ich habe keine Veranlassung, Ihnen zu trauen», sagte McKee. «Nur eines möchte ich Ihnen sagen: Töten Sie einen Mann, werden Sie zwar eine Zeitlang gejagt, aber im Grunde ist das nicht so ungewöhnlich. Töten Sie dagegen zwei Männer und eine Frau, dann wird das kein Mensch je vergessen, und man wird Sie in alle Ewigkeit jagen.» Er beobachtete das Gesicht des Navajo. Es verriet nur noch größere Erleichterung. «Dieser Gedanke ist Ihnen auch schon gekommen, nicht wahr?» fragte McKee. «Dies ist für mich ein Geschäft. Dr. McKee», entgegnete der Navajo. «Eine Möglichkeit, sehr viel Geld zu bekommen, Sie haben recht. Je mehr Menschen zu Schaden kommen, desto eifriger die Verfolgung.»
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McKee mußte sich zwingen, nicht zu dem Blonden hinüberzuschauen. Aus den Augenwinkeln hatte er Eddie ganz leicht lächeln sehen. «Na schön», sagte McKee. «Also, was wollen wir schreiben?» «Schreiben Sie, daß Sie hier wegfahren. Alle.» Er hielt inne. «Schreiben Sie, daß Sie übermorgen abfahren wollen, einen Tag nachdem wir den Brief bei Shoemaker aufgeben werden.» McKee gab sich nachdenklich. «Canfield hat in den AnasaziRuinen nach Gerätschaften der Folsom-Menschen gesucht», sagte er, obwohl er sich klar darüber war, daß der Navajo das bereits wußte. «Wir werden schreiben, daß er in dieser Gegend nichts mehr gefunden hat und daß auch ich niemanden mehr auftreiben konnte, der mir von Antis erzählen wollte.» Er beobachtete das Gesicht des Navajo. «Sie glauben mir vielleicht nicht, daß das stimmt. Aber Sie können gern jemanden hinschicken, um meine Notizen zu holen. Antis sind tatsächlich mein Forschungsgebiet.» «Ich glaube Ihnen», sagte der Navajo. «Hier, schreiben Sie auf der Kühlerhaube.» Der Lump hat meine Notizen gelesen, dachte McKee. Er war gehobener Stimmung, die jedoch sofort wieder sank, als er sah, daß Ellen Leon ihn ausdruckslos beobachtete. Sie hält mich für einen Feigling oder Dummkopf, dachte er. Aber vielleicht ist es besser so. «Ich werde Green schreiben, daß wir nach Utah in die Gegend des Monument Valley gehen. Dort waren die Navajo noch nicht so sehr den Einflüssen der Außenwelt ausgesetzt und haben daher weniger von unserer Kultur übernommen. Das wäre logisch für uns beide. Canfield will ...» Er zögerte eine Sekunde, angeekelt von dieser Schauspielerei. «Canfield wollte nach Jagdlagern der Folsom-Menschen suchen. Die frühen Pueblo-Erbauer sammelten Folsom-Lanzenspitzen und
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bewahrten sie als Totems auf. Also wäre das genau der richtige Ort für ihn.» Er war ziemlich sicher, daß der Navajo alles über ihre Tätigkeit wußte, und gab sich Mühe, seiner Stimme einen überredenden Klang zu verleihen. Über Ellen Leon dagegen konnte der Mann eigentlich gar nichts wissen. Von ihr war in den Papieren aus dem Zelt nicht die Rede. Es existierte lediglich ihre kurze Mitteilung. «Und für meine Arbeit wäre es ebenfalls der richtige Platz. Im Hinterland glauben die Menschen zum Teil noch an Navajo-Wölfe.» «Was ist mit Miss Leon?» «Ich habe ihm gesagt, daß ich nur Ihre Assistentin bin», mischte sich Miss Leon ins Gespräch. «Aber ich habe den Eindruck, er glaubt mir nicht.» «Green würde selbstverständlich annehmen, daß sie uns begleitet», erklärte McKee. «Dafür wird sie ja bezahlt. Damit sie uns zur Hand geht.» Abermals hielt er inne. Er dachte an den Sand auf Canfields Lippen und daran, daß mit seinem Plan auch etwas schiefgehen konnte. «Klingt Ihnen das einleuchtend genug?» fragte er. Der Große Navajo rieb sich geistesabwesend mit dem Daumen über die Fingerspitzen und beobachtete McKee. «Hat Green einen Arbeitsplan, aus dem er ersieht, wohin Sie sich als nächstes wenden?» «Wir haben keinen Plan festgelegt.» «Würde Green Ihnen irgendwohin schreiben? Haben Sie einen Briefkasten ausgemacht?» «Solange wir hier sind - nur Shoemaker.» Er merkte, daß Miss Leon ihn noch immer ansah, und errötete. «Wir teilen ihm mit, wohin er uns schreiben soll, wenn wir weiterziehen. Ich werde ihm in diesem Brief erklären, wohin wir fahren, und ihn bitten, uns die Post an die Handelsniederlassung in Mexican
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Water nachzusenden. Das klingt durchaus normal. Meinen Sie vielleicht, daß er unsere Angaben kontrolliert?» «Sehen wir mal, wie es sich schwarz auf weiß macht», schlug der Navajo vor. McKee hatte die rechte Hand die ganze Zeit hängen lassen. Es hatte zwar weh getan, aber das gestaute Blut mußte die Schwellung verstärken. Als er sie jetzt hob, nahm er sich vor, Schmerz vorzutäuschen. Es war nicht notwendig. Der Schmerz übertraf alles, was er erwartet hatte, so sehr, daß er unwillkürlich aufstöhnte. Er spürte, daß ihm der Schweiß auf die Stirn trat, und in seiner Kehle stieg Übelkeit auf. Als er den rechten Unterarm schließlich auf die Kühlerhaube legte, sank er schwer atmend zusammen - zu benommen, um festzustellen, ob der Navajo alles gesehen hatte. Ich darf jetzt keinen Fehler machen, dachte er. Der Mann muß überzeugt sein, daß ich mir wirklich Mühe gebe. «Ich werde mit <Sehr geehrter Dr. Green> anfangen», sagte er mit belegter Stimme. Ganz langsam hob er die rechte Hand und nahm den Kugelschreiber zwischen Daumen und Zeigefinger, senkte die Spitze auf das Papier und begann mit dem <S>. Der Indianer beobachtete ihn aufmerksam. Abermals half ihm eine Schmerzwelle bei seiner Theatervorstellung. Das Zusammenzucken kam ganz und gar unwillkürlich, eine Verkrampfung seiner gemarterten Nerven. «Schreiben Sie nicht!» rief Miss Leon ihm auf einmal zu. «Ich traue ihm nicht.» Der Navajo drehte sich zu ihr um. «Ellen», kam ihm McKee hastig zuvor, «wenn Sie sich vor einer Weile etwas vernünftiger verhalten hätten, wären wir jetzt nicht hier. Und wenn Sie Ihr Spatzenhirn jetzt einmal anstrengen könnten, würden Sie einsehen, daß dieser Brief für uns die einzige Möglichkeit ist, aus dieser Patsche herauszukommen. Und nun halten Sie gefälligst den Mund!»
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Während er sprach, hoffte er inständig, daß der Navajo seinen Zorn für echt, Miss Leon ihn aber für gespielt halten möge, und dachte bitter, daß es vermutlich umgekehrt war. Der gekränkte Ausdruck auf Miss Leons Gesicht wirkte durchaus echt, und der Navajo verzog keine Miene. Abermals machte er einen Versuch mit dem Stift, schaffte diesmal das ganze <Sehr> und betrachtete seine zittrigen Krakel voller Genugtuung. «Recht gut gelungen», meinte er. Es bestand nicht die geringste Ähnlichkeit mit seiner Handschrift, und der Navajo besaß in Form seiner Notizen genügend Proben, um das bei einem Vergleich auch zu erkennen. «Nicht gut genug», protestierte der Mann daher sofort. «Wie wär's denn, wenn ich mit der linken Hand schriebe?» schlug McKee plötzlich vor. «Wir können ja sagen, daß ich mir die Rechte verletzt habe.» Er gab sich Mühe, den Indianer möglichst gelassen anzusehen, und hielt den Atem an. «Dr. McKee, denken Sie nach! Das würde überhaupt nicht nach Ihrer Schrift aussehen. Und wenn es nicht nach Ihrer Schrift aussieht, tut es seine Wirkung nicht.» Der Navajo musterte McKee prüfend. «Warum sollten Sie Dr. Green mit der linken Hand schreiben, wenn Dr. Canfield den Brief doch abfassen könnte?» «War ja auch nur so eine Idee», murmelte McKee. Der Navajo schaute auf seine Armbanduhr und sah dann fragend den Mann an, der Eddie hieß. Eddie zuckte die Achseln. «Wie du meinst», sagte er. «Ich weiß es nicht.» McKee wurde sich plötzlich mit eiskaltem Schrecken darüber klar, daß hier über sein Leben entschieden wurde. Der Navajo starrte ihn ausdruckslos an, ohne Zorn oder Bösartigkeit. McKee erkannte deutlich die gezackte Umrandung der Iris im Auge des Indianers, die tiefe Schwärze der- Pupillen erkannte, daß hinter dieser Schwärze ein scharfer Verstand
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Gründe und Gegengründe gegeneinander abwog und darüber befand, ob er, Dr. McKee, jetzt sterben mußte. «Das Verteufelte ist, daß wir nicht wissen, wie lange wir hier noch festsitzen», sagte der Große Navajo. «Wie du meinst», wiederholte Eddie. «Es geht um sehr viel Geld.» «Zeigen Sie mir noch mal die Hand!» befahl der Indianer. Langsam, die Innenfläche nach oben, hob McKee seine Hand dem Navajo entgegen. Der Mann beugte sich vor und betrachtete den verrenkten Finger. «Vielleicht kriegen wir die Schwellung mit einem heißen Bad weg», meinte der Indianer. «Wir wollen sie ins Felsenhaus hinaufschaffen, Eddie.» Hinter sich hörte McKee ein leises Klicken. Eddie hatte den Sicherheitsbügel seiner Automatic geschlossen. «Es ist jetzt fast vier», stellte der Navajo fest. «Das Verteufelte bei dieser Sache ist, daß wir nie genau wissen, wieviel Zeit wir noch haben.»
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Um etwa vier Uhr führte Joe Leaphorn, ausgiebig schwitzend, sein geliehenes Pferd am Halfter die letzten steilen Schritte zum Kamm des Bergrückens hinter der Ceniza Mesa hinauf. Beinahe sofort fand er genau das, was er zu finden erwartet hatte. Und auf einmal paßten die Einzelteile des Puzzlespiels wie von selbst ineinander. Er wußte jetzt, weshalb Luis Horseman umgebracht worden war. Und wußte ebenfalls, daß der Große Navajo der Mörder war. Die Tatsache, daß er für diese Erkenntnisse keine Beweise besaß, war im Moment nicht so wichtig. Um ungefähr zehn nach vier dagegen fand Lieutenant Leaphorn etwas, womit er auf dem Ceniza-Kamm nicht gerechnet hatte. Die unerwartete Tatsache zu seinen Füßen hatte eine ähnliche Wirkung wie ein in einen stillen Teich geworfener Stein, der das perfekte Spiegelbild in tausend Stücke zerschlägt. Die Lösung, die Antwort, die er gefunden hatte, verwandelte sich in eine neue Frage. Jetzt hatte Leaphorn nicht mehr die geringste Ahnung, warum Luis Horseman sterben mußte. Im Gegenteil - sein Tod erschien ihm rätselhafter denn je. Leaphorn hatte die Unteragentur Chinle - Sam George Takes' Anhänger mit dem Pferd im Schlepp - um zwölf Uhr mittags mit dem festen Vorsatz verlassen herauszufinden, was der Große Navajo auf der Ceniza Mesa zu suchen gehabt hatte. Zuerst fuhr er schneller, als eigentlich zulässig war, denn er machte sich Sorgen. Billy Nez war nämlich vom Feindzauber nach Hause gekommen, hatte sich sein Gewehr geholt und war auf seinem Pony davongeritten. Charley Nez hatte - wie stets - keine Ahnung, wohin. Doch Leaphorn konnte es sich denken. Und dieser Gedanke gefiel ihm gar nicht. Er war überzeugt, daß Billy Nez zu der Stelle ritt, an der sich Luis
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Horseman versteckt gehalten hatte. Dort würde Nez die Spur des Landrover aufnehmen und sie verfolgen. Da Leaphorn das Rätsel um Luis Horsemans Tod nicht entwirren konnte, hatte er nicht die geringste Vorstellung, was Nez - falls überhaupt etwas - finden würde. Und deshalb machte sich Leaphorn Sorgen. Als er den Lastwagen an Many Farms vorbei den langen Hang hinauflenkte, fuhr er ein wenig langsamer und machte sich etwas weniger Sorgen. Er hatte sich methodisch an die Kernfrage herangearbeitet, an die Frage, die den Schlüssel zu dieser ganzen Affäre enthielt: an die Frage nach dem Motiv. Als der Lastwagen den Hügelkamm erreichte und die gemächliche Abfahrt zum Agua-Sal-Wash begann, nahm die Antwort darauf allmählich konkrete Gestalt an. Leaphorn bog von der asphaltierten Straße ab, parkte auf dem Randstreifen und lehnte sich, seine Lösung nach Fehlern untersuchend, gemütlich zurück. Er konnte keine schwachen Stellen entdecken, und damit erübrigte sich auch seine Sorge um den jungen Nez. Billy würde den Großen Navajo mit ziemlicher Sicherheit nicht auf dem Lukachukai-Plateau finden. Der würde schon lange nicht mehr dort sein. Und fand er ihn doch, würde es auch nicht viel schaden. Es sei denn, Nez stellte etwas besonders Dummes an. Leaphorn untersuchte seine Lösung noch einmal, und wieder ohne ein Loch zu finden: Der Große Navajo mußte die verschwundene Army-Rakete auf der Ceniza-Mesa gefunden haben. Warum, fragte sich Leaphorn voller Zorn, hatte er diesen Gedanken nur so schnell von sich gewiesen, als er hörte, daß die Belohnung zurückgezogen worden war? Der Große Navajo war, als Billy Nez ihn gefunden und ihm den Hut gestohlen hatte, damit beschäftigt gewesen, einen Weg bergauf frei zu räumen. Genauso ein freier Weg wäre nötig, um die Reste einer Rakete herunterzuholen. Dann hatte er seinen Fund irgendwo
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versteckt, bis er in Erfahrung bringen konnte, wie er an die Belohnung kam. Horseman hatte die Rakete gefunden und Anspruch darauf erhoben. Wegen Geld würde ein Navajo zwar niemals töten, wohl aber im Zorn. Die beiden hatten miteinander gekämpft - auf irgendeinem sandigen ArroyoBoden. Horseman war erstickt. Und der Große Navajo hatte seine Leiche zum Teastah Wash gebracht. Warum? Damit die Gegend, in der er seine Rakete versteckt hatte, nicht von den Law-and-Order-Leuten nach Horseman durchsucht wurde. Jetzt wartete der Große Navajo mit der angeborenen Geduld der Dinee auf den Moment, da Sonne, Wind und Vogelsang ihm verkündeten, daß es der rechte Augenblick sei, die zehntausend Dollar von der Army zu fordern. Oder er hatte inzwischen erfahren, daß die Belohnung gestrichen worden war. Das schien nicht ausschlaggebend zu sein. Leaphorn sah keine andere Möglichkeit, den Mord mit der Rakete in Zusammenhang zu bringen. Er blickte an den Los Gigantes Buttes vorbei über das weite Agua-Sal-Valley. Da drüben, zwanzig Meilen entfernt, erhob sich die Ceniza Mesa, eine tafelbergartige Gesteinsmasse, die sich wie ein ungeheurer Flugzeugträger in einem Ozean aus bizarren Erosionen ausnahm. Vor Äonen war diese Mesa Bestandteil des Lukachukai-Plateaus gewesen und sogar jetzt noch durch einen Bergsattel mit ihm verbunden. Auf diesem Bergsattel hatte Billy Nez den Großen Navajo arbeiten sehen, und dort hoffte Leaphorn auch den Beweis für seine Theorie zu finden. Möglich, daß Billy Nez gelogen hatte. Leaphorn dachte darüber nach. Nein, Billy Nez hatte nicht gelogen. Er lenkte den Lastwagen auf die gepflasterte Straße zurück und ließ ihn den Hang hinab auf Round Rock zurollen. Der Blick war wunderschön. Zum erstenmal, seit der tote Luis Horseman gefunden worden war, fühlte er sich im Frieden mit sich selbst. Er schaltete das Radio ein. «Ha at isshq nilj?» fragte jemand. «Zu welchem Clan gehörst du? Gehörst du
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zum Jesus-Clan?» Navajo mit Texas-Akzent. Ein Rundfunkprediger aus Gallup. Leaphorn drückte auf einen Knopf. Volksmusik aus Cortez. Er schaltete den Apparat aus und begann zu singen. Seine frohe Stimmung hielt an, bis er Round Rock und die Abzweigung bei Seklagaidesi hinter sich gelassen und elf Meilen holpriger Wagenspur bewältigt hatte. Sogar als Leaphorn dort, wo die Wagenspur an einem verlassenen Toten-Hogan endete, das Pferd auslud, sang er noch immer die endlosen Strophen des Nachtzaubers. Im Trab ritt er das Tier über die zerrissene, menschenleere Landschaft um den Toh-Chin-Lini Butte herum nach Südosten auf den CenizaSattel zu. Er sah das Gerippe eines Schafes, die leeren Bauten einer Präriehundkolonie und den flüchtigen Schatten eines Cooper-Falken, der sich hoch über ihm in den Himmel schwang. Reifenspuren jedoch sah er nicht, aber das hatte er auch nicht erwartet. Das wäre ein glücklicher Zufall gewesen, und Leaphorn rechnete nicht mit dem Glück. Statt dessen verließ er sich auf die Ordnung aller Dinge, auf den natürlichen Verhaltensablauf, auf die Ursache, die eine natürliche Wirkung erzeugte, auf den Menschen, der sich so verhielt, wie es für ihn natürlich war. Damit rechnete er. Außerdem verließ er sich auf seine Fähigkeit, das Chaos observierter Fakten zu entwirren und in ihnen ebenfalls diese natürliche Ordnung zu entdecken. Leaphorn wußte aus Erfahrung, daß er in dieser Kunst außergewöhnlich geschickt war. Für ihn als Polizisten war das ein Talent, das ihm eine Menge Arbeit ersparte. Es war ein Talent, das ihm, wenn es besonders gut funktionierte, ein leichtes,, unterbewußtes Unbehagen bereitete und seiner eingewachsenen Navajo-Überzeugung, daß jede Abweichung von der menschlichen Norm etwas Unnatürliches und daher Ungesundes sei, zuwiderlief. Und es war ein Talent, das ihm in dem Augenblick, da sich die Fakten nicht zu einem der Natur
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und der Navajo-Art entsprechenden Schema ordnen ließen, auch ein starkes geistiges Unbehagen bereitete. Er spürte dieses Unbehagen schon, seit Horseman tot aufgefunden worden war, und zwar im Gegensatz zur Natur und zu Leaphorns Logik weit von dem Ort entfernt, an dem er sich nach den Regeln der Natur und der Logik hätte befinden müssen. Doch als Leaphorn jetzt sein geliehenes Pferd die letzten steilen Meter zum Kamm des Ceniza-Sattels hinaufführte, war dieses Unbehagen verschwunden. Der Hügelkamm war kaum mehr als ein schmaler First. Es würde nicht schwer sein, die Reifenspuren zu finden, und diese Reifenspuren würden genau das Muster aufweisen, das Billy Nez ihm aufgezeichnet hatte. Davon war Leaphorn fest überzeugt. Wenn er die Spuren untersuchte, würde er feststellen, daß der Landrover leer den Sattelkamm entlang zur Mesa hinaufgefahren und mit einer schweren Last auf den Hinterreifen wieder heruntergekommen war. Und dann würde endlich Ordnung in die so ärgerlich wirre Affäre Luis Horseman kommen, und nur noch ein paar unwichtige Fragen würden zu klären sein. Der schmale Kamm bot wenig Platz; auch ein Fahrzeug mit Vierradantrieb konnte sich hier seinen Weg nicht wählen. Daher fand Leaphorn die Reifenspuren sofort. Aber es waren vier statt der erwarteten zwei, also mußten zwei Fahrten bergauf und zwei bergab stattgefunden haben. Er machte keinen Versuch, die Bedeutung dieser Tatsache zu enträtseln. Er konzentrierte sich vielmehr auf die frischeren Spuren und las aus der Profilrichtung, welche den Abhang hinaufführten. An einer Stelle mit weichem Boden kontrollierte er die Tiefe der Reifenabdrücke. Es war genau, wie er es erwartet hatte: Auf der Talfahrt hatten sich die Hinterreifen über einen Zentimeter tiefer eingedrückt. Hinter ihm schnaubte und stampfte das Pferd, um die lästigen Fliegen abzuwehren.
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«Pferd», sagte Leaphorn, «es entwickelt sich alles genau, wie wir es uns vorgestellt haben.» Leaphorn erhob sich aus der Hocke und verscheuchte eine Fliege vom Rücken des Pferdes. Jetzt war nicht eine Spur mehr von jenem bohrenden Gefühl des Falschdenkens und der Zeitnot geblieben, das ihn seit Tagen gequält hatte - nichts mehr von jener vagen, undefinierbaren Empfindung, daß sich in dieser Gegend etwas Unnatürliches, Böses abspielte. Jetzt hatte er alles genau begriffen. Ein gutes Gefühl! Und dann ging Lieutenant Joe Leaphorn zwei Schritte weiter und studierte die älteren Spuren. Er registrierte die Tatsache, daß sie von mindestens einem Regenschauer verwischt worden waren. Er stellte fest, daß sich auch dieses Spurenpaar in der Tiefe der Abdrücke an den Hinterreifen unterschied. Joe Leaphorn dachte zunächst, es seien eben zwei Fahrten nötig gewesen, um die Reste der zerborstenen Rakete hinunterzuschaffen. Einen Sekundenbruchteil später jedoch hatte sein Verstand verarbeitet, was seine Augen sahen. Bei dieser Hin- und Rückfahrt hatte der Landrover die schwere Last bergauf geschleppt - nicht bergab! Die Navajo-Sprache ist zu präzise für wirksame Schimpfworte. So fluchte Leaphorn denn zunächst auf spanisch und anschließend - noch ausgiebiger - auf englisch. Es kostete ihn beinahe drei Stunden, annähernd zu rekonstruieren, was sich auf dem Sattel und der Mesa, zu der er hinaufführte, abgespielt hatte. Er widerstand seiner Neigung zur Eile und arbeitete methodisch und sorgfältig. Und als er die Stücke des Puzzles zusammengesetzt hatte, stand er von neuem vor einem Rätsel, das ihm nicht den geringsten Anhaltspunkt für eine Lösung bot. Zu Leaphorns Überraschung war der Landrover von Südosten her, quer über die Chinle-Wüste, auf den Sattel zugekommen - aus Richtung der Lukachukai-Berge. Auf der ersten Bergfahrt - ungefähr einen Monat zuvor - hatte er eine
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schwere Ladung auf der Hinterachse getragen. Der Fahrer hatte mehrmals angehalten, um Gestrüpp aus dem Weg zu räumen, bisweilen mit einer Axt, gelegentlich auch mit einer Motorsäge. Beim Überwinden des steilsten Hanges - dort, wo sich der Sattel in scharfem Winkel zum Mesa-Rand emporzog - hatte er immer wieder eine Seilwinde benutzt, um das Fahrzeug hinaufzuziehen. Oben angelangt, war der Wagen in ziemlich gerader Linie ungefähr eine Meile weit über die Mesa gefahren. Auf einer flachen Sandsteinplatte war etwas Schweres, Metallisches abgeladen worden, das hier und da den weichen Stein zerkratzt hatte. Von hier aus war der Landrover zurückgesetzt, gewendet und genau auf der ersten Spur zurückgefahren worden. Obwohl die anderen Spuren um Wochen frischer waren, hatte Leaphorn zum Rekonstruieren der zweiten Fahrt wesentlich länger gebraucht. Zuletzt war er zu dem Schluß gekommen, daß der Landrover bei dieser Tour direkt zu der Sandsteinplatte gefahren war. Dann war er dorthin zurückgekehrt, wo sich der Sattel mit dem Mesa-Rand traf. Hier waren mehrere kleine Bäume gefällt und eine Anzahl Felsblöcke bewegt worden - anscheinend, um einen breiteren Weg zu räumen. Am Ort dieser Schwerarbeit fand Leaphorn die Spuren von Billy Nez' gummibesohlten Leinenschuhen, Abdrücke von den Stiefeln des Großen Navajo, ein Brotpapier und eine leere Würstchendose. Nachdem Billy Nez hiergewesen war - und vermutlich mit dem gestohlenen Hut des Navajo das Weite gesucht hatte -, war der Landrover wieder zur Mesa hinauf und zur Sandsteinplatte gefahren. Dort war der schwere Gegenstand aufgeladen und der Land-Rover dann von der Mesa hinuntergefahren worden. Soweit war alles klar. Leaphorn hatte drei Kiefernstämme gefunden, die offenbar als Dreibein für den Flaschenzug benutzt worden waren, mit dem der Große Navajo den Gegenstand ab- und wieder aufgeladen hatte.
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Leaphorn rieb sich die Stirn und versuchte genau zu ergründen, was der Große Navajo bei diesem zweiten Besuch auf der Ceniza Mesa getan hatte. Zuerst war er zu dem schweren Gegenstand gefahren. Und dann? Hatte er sich ihn angesehen? Sich vergewissert, daß er noch da war? Zurechtgerückt? Gefüttert? Treibstoff hineingefüllt? Abgeschaltet? Oder angestellt? Unmöglich zu erraten. Dann war der Große Navajo zum Mesa-Rand zurückgekehrt, um die steile Abfahrt zu verbessern. Warum? Wenn er den beladenen Land-Rover mit der Winde den Abhang hinaufgezogen hatte, dann konnte er ihn doch ebensogut auch so wieder hinablassen - vorausgesetzt allerdings, er hatte genügend Zeit. War das der springende Punkt. Zeit? Wußte er, daß er sich bei der Abfahrt beeilen mußte? Vielleicht, dachte Leaphorn. Vielleicht war das die Lösung. Zeit. Aber Navajos beeilen sich nie. Es gab in der Navajo-Sprache nicht einmal ein Wort für Zeit. Und dann hatte der Große Navajo entdeckt, daß ihm der Hut gestohlen worden war; er hatte Billy Nez' Fußspuren gefunden und gewußt, daß er beobachtet worden war. Mit diesem Bewußtsein war er zur Sandsteinplatte zurückgekehrt, hatte den schweren Gegenstand aufgeladen und ihn von der Mesa hinuntergeschafft. Warum? Möglicherweise, weil Billy Nez ihn sonst finden würde. Aber wohin hatte der Mann den Gegenstand gebracht? Und was war es überhaupt für ein Gegenstand? Leaphorn stand am Mesa-Rand und blickte über das ChinleTal zu den Hängen der Lukachukais hinüber. Die Sonne war untergegangen. Die oberen Spitzen der Haufenwolken über den Bergen strahlten noch immer in sonnenbeschienenem Weiß, unter der Fünfzehntausend-Fuß-Grenze jedoch wurden sie im Schatten der heraufziehenden Nacht dunkelblau. Die Wüste war rosa, rot und purpurn gestreift: das reflektierte Nachglühen der Wolkenformationen im Westen.
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Normalerweise hätte Leaphorn diese überwältigende Schönheit in vollen Zügen genossen. Jetzt aber bemerkte er sie kaum. Er starrte auf die dunkler werdende Silhouette der Lukachukais und suchte nach den tiefschwarzen Punkten, den Mündungen der Canons, die den Bergen als Abflußrinnen dienten. Da der Landrover von Südosten her über das ChinleTal gekommen war, mußte er aus einem dieser Canons gekommen sein. Er konnte ihn möglicherweise zurückverfolgen. Zwanzig Meilen, schätzte er. Höchstens fünfundzwanzig, doch eine weite Strecke davon über nackten, glatten Fels. Sogar bei Tageslicht würde er kaum eine Meile pro Stunde schaffen. Bei Nacht war es vollkommen unmöglich. Eine Höhleneule kam mit ausgebreiteten Flügeln, eine Thermik als Lift benutzend, zu ihm heraufgeschwebt. Nur wenige Meter unter ihm lag sie ruhig auf dem warmen Luftstrom und suchte mit ihren gelben Augen den Klippenrand nach unvorsichtigen Nagern ab. Leaphorn beneidete sie um ihre Flugkunst. Seit dem Augenblick, da seine ordentliche, logische Erklärung von Luis Horsemans Tod durch die harten Tatsachen der Landrover-Reifenspuren zerschlagen worden war, beherrschte ihn wieder das vertraute Gefühl, keine Zeit zu haben. Er hatte dem Drang zur Eile nur mit Hilfe seiner gesamten Willenskraft widerstanden und sich auf die Entschlüsselung der Ereignisse auf der Mesa konzentriert. Jetzt widerstand er ihm nicht mehr. Statt dessen beschäftigte er sich mit ihm, dachte intensiv über ihn nach. Was war es denn nur, was ihn so beunruhigte? Er lachte, und die Eule, die gerade mit einem zweiten Anlauf die Mesa-Wand ganz geschafft hatte, schrak auf. Hastig flatterte sie mit ihrem zwitschernden Schrei an ihm vorbei, um in den Schatten zu verschwinden. Alles macht mich nervös, dachte Leaphorn. Nichts ist mehr logisch. Alles ist unlogisch. Aber warum dieses Gefühl, daß
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keine Zeit zu verlieren ist - dieses Gefühl einer drohenden Gefahr? Leaphom steckte sich eine Zigarette an und rauchte langsam. Er überlegte angestrengt. Luis Horseman war umgebracht worden. Billy Nez hatte in der Nähe von Horsemans Versteck die Reifenspuren des Landrover gefunden, der dem Großen Navajo gehörte. Ein Navajo war getötet worden, und ein Navajo hatte ihn getötet - so lautete die Mutmaßung. Leaphorn wendete diese Mutmaßung hin und her und suchte abermals nach einer Antwort auf seine Kernfrage: Warum? Warum töteten Navajos überhaupt? Sie töteten keinesfalls so leichtfertig wie Weiße, weil ja die NavajoArt das Leben zum höchsten Wert, den Tod dagegen zu ewigem Entsetzen erklärt. Gewöhnlich war das Motiv für Mord in der Reservation sehr einfach: Wut, Angst oder beides zusammen. Oder eines von beiden, mit Alkohol kombiniert. Navajos töteten nicht mit kaltblütigem Vorsatz. Und töteten ebensowenig aus Profitgier. Das hätte den Wertbegriffen Des Volkes widersprochen. Über die Befriedigung primitivster Bedürfnisse hinaus wertete die Navajo-Art das Eigentum nur gering. Ja, reicher zu sein als die anderen Clan-Angehörigen galt sogar als soziales Stigma. Es war unnatürlich und daher verdächtig. Von weit hinten auf der Mesa kam der Ruf der Eule. Ta-huuu, tönte er. Huuu! Wo also war das Motiv? Irgend etwas an all diesen Vorgängen widersprach der Navajo-Art. Und dennoch war der große Mann, der den Landrover fuhr, ein Angehöriger Des Volkes. Das wußte Leaphorn genau, denn er erinnerte sich deutlich an das Gesicht, das er bei Shoemaker gesehen hatte. Zu Anfang hatte Leaphorn mit den Gesichtern der Weißen Schwierigkeiten gehabt. Er hatte nur die runden Augen und die bleiche Haut bemerkt, und alle Belacani hatten für ihn gleich ausgesehen. Mit den Gesichtern der Dinee dagegen kannte er sich aus. Der große Mann hatte das Gesicht und die Figur
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eines Tuba City Navajo : grobknochig, ohne das Zarte und Weiche, das eine Mischung mit dem Pueblo-Blut ergab. Und er trug Zöpfe. Das Kennzeichen der Männer, die sich an die Navajo-Art hielten. Nur - weshalb waren die Zöpfe so kurz? Darüber dachte Leaphorn einen Augenblick nach. Und hatte urplötzlich die Antwort gefunden. Nicht auf alles. Immerhin aber eine Antwort, die ihn veranlaßte, das Pferd weit schneller den Sattelkamm hinabzutreiben, als das ermüdete Tier eigentlich wollte. Eine Antwort, die ihm verriet, daß sich Billy Nez, der in den Lukachukai-Canons seinen Anti jagte, in Todesgefahr befand. Eine Antwort, die ihm befahl, bei Tagesanbruch beim Hogan von Charley Nez zu sein. Um dort die Spur des Jungen aufzunehmen. Das unbeschlagene Pferd dürfte nicht schwer zu verfolgen sein. Der Mars stieg über dem schwarzen Umriß des Toh-ChinLini Butte herauf, als Leaphorn über die zerrissene ChinleEbene fuhr. Seine Stimmung paßte zu der immer dichter werdenden Dunkelheit. Ihm waren die Worte eingefallen, die er bei Shoemaker dem Großen Navajo gesagt hatte - jene beiläufigen Worte, die, wie er jetzt sicher zu wissen glaubte, Luis Horseman den Tod gebracht hatten.
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Bergen McKee hatte geträumt. Er stand, losgelöst von sich selber, am Ufer eines gefrorenen Sees und sah sich über die Fläche schreiten. Mit der Allwissenheit des Träumers wußte er, daß unter dem Eis kein Wasser war, sondern nur Leere, und fürchtete sich vor dem Sturz, der unvermeidlich kommen mußte. Dann drängte sich das heisere Krächzen der Raben in den Traum, zerriß ihn, und McKee erwachte. Sekundenlang blieb er regungslos sitzen, verstört von dem dämmrigen Licht und der nackten Wand, die vor ihm aufragte. Dann kehrte das volle Bewußtsein zurück und damit die Erkenntnis, daß er, eiskalt und steif, auf dem staubigen Fußboden eines Raumes des Anasazi-Felsenhauses hockte. Er schob sich mit dem Rücken an der Wand hinauf und betrachtete Ellen Leon, die ihm gegenüber mit dem Gesicht zur Mauer lag und im Schlaf tief und regelmäßig atmete. Er sah auf die Armbanduhr. Es war fast fünf, also hatte er ungefähr sechs Stunden geschlafen. Bald würde auf der Mesa über dem Canon der Morgen heraufdämmern. Dieser Gedanke rief unvermittelt ein Gefühl der Dringlichkeit in ihm wach. Er musterte seine Hand, die jetzt fest bandagiert war, und ließ den Blick anschließend durch das Zimmer wandern. Es war zu groß für ein Wohnquartier, mußte also entweder als Versammlungsraum für die geheime Kriegervereinigung des Pueblo oder als Getreidelager gedient haben: drei Steinwände, an die Vorderseite der Klippen gebaut und, genau wie der Fels, oben leicht schräg nach innen geneigt. Der einzige Ausgang war der Weg, durch den sie auch hereingekommen waren: ein Loch in der Decke an jener Stelle, wo die Mauer an den Felsen stieß. Ohne Leiter war dieses Loch nicht zu erreichen, und die Leiter hatte der Große
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Navajo wieder heraufgezogen, nachdem er sie hierher verfrachtet hatte. Draußen schrie schon wieder ein Rabe, dann trat Stille ein. McKee lehnte sich an die Wand und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Was immer hier vorging, war sorgfältig geplant worden. Soviel stand fest. Hinter den Büschen am Fuß der Klippen hatten vier Teile einer Leiter aus Aluminium-Legierung gelegen. Der Mann, der Eddie hieß, hatte sie geschickt aneinandergefügt, mit Bolzen und Flügelmuttern verschraubt und aufgestellt. Sie reichten von einem massiven Sandsteinblock, der den Geröllhang krönte, genau bis zu diesem Felsvorsprung. Wenn die Leiter nicht extra zu diesem Zweck angefertigt worden war, dann waren jedenfalls die Bolzenlöcher für diese Felsenwohnung angebracht worden. Oben angekommen, hatte Eddie die Leiter emporgezogen und außerhalb ihres Gesichtsfeldes versteckt. Jeder Handgriff schien ihm seit langem Gewohnheit geworden. Falls unten jemand vorbeikam, gab es nicht den geringsten Hinweis darauf, daß sich auf diesem Felsvorsprung Menschen befanden. Ebenso deutlich war, daß dieses sonderbare Versteck seit Wochen bewohnt wurde. Hinter einem Gebüsch tief unter dem Felsüberhang lagerten alle Ausrüstungsgegenstände, die man für ein Dauercamp brauchte: ein Kerosinkocher mit zwei Kochstellen, ein halbes Dutzend Zwanzig-Liter-Brennstoffbehälter und eine Zeltbahn, die zum Schutz der Kartons und Kisten dicht über den Boden gespannt war. Außerdem gab es zwei Schlafsäcke. Falls noch ein Dritter in diese Sache verwickelt war, mußte er anderswo schlafen. Vielleicht wurde das Unternehmen von außen geleitet. Nach allem, was Eddie gesagt hatte, sollte ihnen von anderer Seite aus das Signal zum Aufbruch gegeben werden. Und wer immer die anderen Teilnehmer sein mochten - auf jeden Fall hatten sie ein Funksprechgerät. Als Eddie
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Konserven mit Fleisch und Bohnen unter der Zeltbahn hervorgeholt, ihnen zu essen gegeben und seine, McKees, Hand in heißem Wasser gebadet hatte, war der Große Navajo wieder die Leiter hinuntergestiegen. Er war ziemlich lange im Landrover sitzen geblieben und hatte, als er wiederkam, Neuigkeiten mitgebracht. McKee rieb sich mit der Faust über die Stirn und versuchte sich genau zu erinnern. Der große Mann hatte gegrinst, als er zu Eddie hinübergegangen war. Über das ganze Gesicht gegrinst. «Girlie sagt, daß es vielleicht morgen nachmittag klappt», hatte der Navajo gesagt. Eddie hatte gestrahlt, aber nur eine nichtssagende Bemerkung gemacht. Girlie habe sich schon einmal geirrt, oder so ähnlich. Ach nein! Girlie habe sich schon dreimal geirrt, denn anschließend hatte der Indianer gelacht und gesagt: «Dann ist die Vier eben unsere Glückszahl.» McKee war der Gedanke gekommen, daß sie den Brief, den er schreiben sollte, doch eigentlich nicht mehr brauchten, wenn sie schon morgen abfuhren. Hatten sie alles erledigt, was sie hier erledigen wollten, und verließen sie diesen Canon, spielte es doch keine Rolle mehr, ob man nach Canfield, Miss Leon und ihm selbst suchte, nicht wahr? Wichtig war nur, daß niemand am Leben blieb, der eine Personalbeschreibung von ihnen liefern konnte. Bei dieser Überlegung hatte er beschlossen, dem Großen Navajo den Wassertopf an den Kopf zu werfen und sich auf Eddie zu stürzen, um dessen Pistole in die Hand zu bekommen. Er hatte zwar nicht geglaubt, daß das gelingen würde, aber er hatte ja nichts mehr zu verlieren. Und dann hatte ihn der Navajo wieder ganz durcheinandergebracht. «Dr. McKee», hatte er nämlich gesagt, «ich glaube, wir sollten versuchen, Ihren Finger wieder einzurenken und zu schienen. Ich habe morgen viel zu tun, aber bis abends muß ich den Brief unbedingt haben.»
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Auch als er jetzt darüber nachsann, wußte McKee nicht recht, was er davon halten sollte. Eddie hatte einen Teil der Leiter zu dieser Felsenruine getragen, und sie waren hinaufgeklettert. Und dann wieder hinab in die pechschwarze Finsternis dieses Gemachs. Der Navajo hatte ihm befohlen, sich auf den Boden zu setzen und seine Hand auszustrecken. Vergebens hatte er dem Indianer klarzumachen versucht, das Fingergelenk sei gebrochen und nicht nur ausgerenkt. Der Große Navajo hatte gelacht. «Das Gefühl hat man immer, wenn man sich etwas ausgerenkt hat. Aber wir werden es schon wieder hinkriegen.» Der Mann hatte sich neben ihn gehockt, während Eddie die Szene von oben mit einer Taschenlampe ausleuchtete, und plötzlich hatte er einen unerträglichen Schmerz verspürt. Als er wieder zu sich kam, hielt Miss Leon seinen Kopf, und seine Hand war dick bandagiert. Er hatte sich übergeben müssen, heftig übergeben, und dann hatten sie sich unterhalten. «Wo sind sie hin?» hätte McKee gefragt. Die Dunkelheit in ihrem Gefängnis war undurchdringlich; sie wurde nur durch das Mondlicht, das durch die Dachöffnung hereinschien, ein wenig gemildert. «Eben habe ich sie noch gehört», hatte Miss Leon geantwortet. «Ich glaube, sie waren beide draußen bei ihren Schlafsäcken. Und dann hörte ich ein Geräusch, als werde die Leiter weggenommen.» «Vermutlich sind sie hinuntergeklettert», meinte McKee. Nun folgte eine lange Pause. McKee fühlte ihren Schuh an seinem Bein. Es war wie eine ganz persönliche, intime Berührung und wirkte überaus tröstlich auf ihn. «Dr. McKee?» Das klang bedrückt. «Ich habe nicht alles gehört, was Sie und der Navajo besprochen haben, als wir bei Dr. Canfields Kombiwagen waren. Aber ich glaube, daß Dr. Canfields Leiche im Wagen lag. Habe ich recht? Der Indianer hat Dr. Canfield umgebracht?»
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«ja», sagte McKee. Sie jetzt noch zu belügen war sinnlos. «Ich glaube schon.» «Dann wird er uns auch umbringen», stellte sie fest. «Nein», widersprach McKee. «Wir werden einen Fluchtweg finden.» «Es ist unmöglich, hier herauszukommen», sagte Miss Leon. «Dazu müßte man schon ein Zauberer sein.» McKee war froh über die Dunkelheit. Nach ihrer Stimme zu urteilen, konnte sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. «Ich hatte noch keine Gelegenheit, es Ihnen zu sagen», wich er daher aus. «Wir sind der Ansicht, daß dieser Elektroingenieur, nach dem Sie suchen, irgendwo weiter oben in diesem Canon arbeitet.» «Jim? Und haben Sie ihn gefunden?» «Ein paar Indianer haben einen Kastenwagen hier herauffahren sehen. Wissen Sie, ob er einen Generator mitgenommen hat?» «Er hatte einen kleinen Anhänger. Könnte das der Generator sein?» «Vermutlich.» In Gedanken suchte McKee angestrengt nach einer Möglichkeit, das Gespräch in Gang zu halten. Sie sollte nicht ständig an ihren bevorstehenden Tod denken. «Ich habe gesehen, daß Sie einen Ring tragen, Miss Leon. Ist dieser Dr. Hall - dieser Jim - Ihr Verlobter?» «Warum nennen Sie mich nicht Ellen?» antwortete sie. Dann machte sie eine Pause. «Ja. Ich wollte ihn heiraten.» McKee fiel sofort auf, daß sie in der Vergangenheit sprach. Und dann wußte er auch den Grund: Sie war überzeugt, daß sie bald sterben mußte. «Wie ist er eigentlich?» erkundigte sich McKee. «Erzählen Sie mir ein bißchen von ihm.» «Er ist groß», begann sie, «und ziemlich schlank. Blondes Haar, blaue Augen. Sieht sehr gut aus. Und ist... na ja,
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gelegentlich ein bißchen deprimiert. Aber manchmal auch sehr, sehr fröhlich. Und immer sehr gescheit.» Sie hielt inne. Ich selber besitze keine dieser Eigenschaften, dachte McKee. Höchstens, daß ich auch manchmal niedergeschlagen bin. «Er hat sein Examen magna cum laude bestanden.» Abermals eine Pause. Dann: «In unserer Gesellschaft hat man nicht den gebührenden Respekt vor magna cum laude.» «Kann sein», antwortete McKee. Ellen lachte. «Ich habe nur Jim zitiert», erklärte sie. «Jim ist... nun, überaus ehrgeizig. Er hat sich große Ziele gesetzt, und außerdem ist er sehr, sehr gescheit, und... und deswegen wird er auch alles erreichen, was er sieh vornimmt.» «Ich weiß nicht, warum - aber ich bin eigentlich nie sehr ehrgeizig gewesen.» McKee bereute seine Worte sofort. Sie klangen so scheußlich nach Selbstmitleid. «Was gibt es sonst noch von ihm zu berichten?» Im Grunde hatte er etwas dagegen, daß sie soviel von diesem Mann sprach. Aber es war besser für sie, wenn sie ein bißchen erzählen konnte besser, als stumm in der Dunkelheit dazuhocken und sich vor dem Morgen zu fürchten. Sie sprach jetzt sehr schnell, so daß es fast klang, als habe sie schon lange darauf gewartet, jemandem all dies erzählen zu können. Und manchmal auch so, als rede sie mit sich selbst, um das, was sie erzählte, endlich ganz zu begreifen. Sie hatte Jim an der Pennsylvania State University kennengelernt, am ersten Vorlesungstag des ShakespeareKurses. Er hatte sich auf den Platz links neben ihr gesetzt, und sie hatte ihn erst bemerkt, als der Professor die Anwesenheitsliste vorlas. Als der Professor den Namen «Jimmie Willie Hall» ausrief, hatte er dabei die Stimme ein wenig fragend gehoben. Das war keineswegs böse gemeint, und er unterstrich das noch, indem er zu Jimmies «Hier!» freundlich nickte. Doch irgend jemand in den hinteren Reihen
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hatte gekichert, und das war Ellen sehr peinlich gewesen - vor allem, weil sie bei diesem komischen Namen ebenfalls lächeln mußte. Sie hatte den jungen Mann angesehen und plötzlich bemerkt, daß er Cowboy-Stiefel trug und einen breitrandigen grauen Filzhut unter seinen Stuhl geschoben hatte. An einer Universität, wo der lässige, zwanglose Stil der Jugend von Philadelphia den Ton angab, war beides recht fehl am Platz. Und als sie ihn dann ein zweites Mal ansah, hatte sie festgestellt, daß zwar Gesicht, Hals und Hände bei ihm tief gebräunt, die Unterarme oberhalb der Handgelenke jedoch so weiß waren wie das Hemd, das er trug. «Er wirkte sehr absonderlich und fehl am Platz», sagte Ellen. Und lachte plötzlich. «Ich dachte mir, er wäre vielleicht einsam.» Ihr Ton war ungläubig. Sie hatte Jimmie Willie Hall im Gang vor den Hörsälen angesprochen. Auf ihre Frage hatte er geantwortet, er sei nicht aus dem Osten, sondern aus Hall in New Mexico; und als sie wissen wollte, wo das liege, hatte er ihr erklärt, er sei im Grunde auch nicht aus Hall, sondern die Ranch seiner Eltern liege einundzwanzig Meilen weiter nordwestlich in den Vorbergen der Oscura Mountains. Er sage das immer nur, weil sie sich ihre Post nach Hall schicken ließen. Vermutlich könne man viel eher behaupten, daß er aus Corona sei, denn das sei eine größere Stadt und liege außerdem etwas näher. Es sei ein oberflächliches, nichtssagendes Gespräch gewesen, so wie die erste Unterhaltung mit Fremden nun einmal sei, erinnerte sich Ellen. Sie hatte gefragt, warum sie sich ihre Post nach Hall schicken ließen, da doch Corona größer sei und näher liege, und er hatte ihr erklärt, daß es keinen Weg von der Hall Ranch nach Corona gebe. Um hinzukommen, müsse man durch das Oscura-Gebirge und die Reservation der Jicarilla-Apachen oder über den Malpais sieben Meilen zerklüfteter Lavalandschaft. Nicht einmal einem Pferd sei das zuzumuten. Als er es trotzdem einmal versucht
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habe, sei das Pferd gestürzt, habe sich ein Bein gebrochen, und er selbst sei von einer Klapperschlange gebissen worden. «Das klingt, als hätte er Eindruck schinden wollen», erklärte sie, «aber das wollte er nicht. Als Mädchen spürt man so was. Er wollte damit nichts weiter sagen, als daß er einen Fehler begangen hatte.» Ellens Stimme brach ab. «Ich glaube, ich wußte damals schon, daß er im Grunde gar nicht einsam war», fuhr sie dann nachdenklich fort. «Und daß ich noch nie einem Menschen wie ihm begegnet war.» Im Dunkeln streckte McKee die Hand aus und suchte die ihre. «Es wird bestimmt alls gut», tröstete er sie. «Wir werden hier herauskommen und ihn finden.» «Aber verstehen Sie denn nicht?» gab sie, auf einmal ärgerlich, zurück. «Weshalb sollte ich Mitleid haben mit einem Menschen wie Jimmie Hall? Weshalb soll man jemanden bemitleiden, der alles hat?» McKee wollte keine Antwort einfallen. «Vielleicht, weil er gar nicht weiß, daß er alles hat?» meinte Ellen nachdenklich. «Weil er nicht glücklich ist? Manchmal ist er es, doch meistens nicht. Er ist ein zorniger junger Mann. Er sagt, er sei in einem System gefangen, das die Menschen an eine Tretmühle fesselt. Vierzig Jahre in der Tretmühle, sagt er. Er redet sehr viel davon. Und auch davon, daß man eine Million Dollar braucht, um das System zu besiegen, um sein eigenes Lösegeld zu bezahlen, um sich sein Leben zurückzukaufen.» Sie lachte wieder; es klang verbittert. «Ich nehme an, er wird... Na ja, ich nehme an, Jim wird diese Million Dollar bekommen.» «Aber nicht als Lehrer an einer Ingenieurschule», sagte McKee. «O nein, das will er auch nicht», gab sie zurück. «Er geht zu einer Firma, die elektronische Kommunikationsapparate herstellt, und bringt ihnen eines seiner Patente mit. Ein ausgezeichneter Job.»
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«Arbeitet er hier draußen an diesem Patent?» erkundigte sich McKee. «Will er es hier testen?» «0 nein. Hier handelt es sich, soviel ich weiß, um etwas anderes. Ich wünschte nur, ich würde mehr davon verstehen. Es hat etwas mit Schallübertragung zu tun. Er hat es mir immer wieder erklärt, aber ich kapiere es einfach nicht.» McKee war drauf und dran, sie zu fragen, weshalb sie Dr. Hall so dringend suchte, verkniff sich die Frage aber noch rechtzeitig. Die Antwort erklärte sich von selbst und ging ihn außerdem nichts an. Eine Frau, die einen Mann liebt, möchte einfach bei ihm sein. «Dr. Canfield war ein sehr netter Mann», sagte Ellen jetzt. «Er war zu höflich, um mich zu fragen, weshalb ich so hinter Jimmie herlaufe. Und Sie sind ebenfalls ein netter Mann. Wollen Sie es wirklich nicht wissen?» «Das ist Ihre Privatangelegenheit», erwiderte McKee. «Nein. Ich will es wirklich nicht wissen.» «Ich möchte es Ihnen aber sagen. Ich muß es jemandem sagen. Ich bin gekommen, um Jim etwas mitzuteilen. Ich wollte ihm sagen, daß er auf dem falschen Weg ist und daß er jetzt wählen muß. Er darf nicht ständig hinter dieser Million Dollar her sein. Er muß damit aufhören. Deswegen bin ich gekommen. Das muß er einfach einsehen!» Diese Erklärung klang in McKees Ohren ganz und gar feminin. Sie war das Gegenteil von Saras Logik und enthielt eine sehr viel leichter erfüllbare Forderung. Sogar einem gescheiten, ehrgeizigen Mann konnte der Versuch, ein Vermögen zu verdienen, sehr leicht mißlingen. Wie sollte es dann erst ein Bergen McKee anstellen, zu Reichtum zu kommen - er, der doch prädestiniert für die Tretmühle war? Mit diesem Gedanken war McKee nach vierzig Stunden ohne Ruhepause fest eingeschlafen. Er war jetzt ganz wach und rappelte sich auf, um den Raum zu untersuchen. Der Fußboden war mit dicken
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Staubablagerungen bedeckt. Er spürte sie wie Mehl unter den Schuhsohlen. Ansonsten war der Zustand des Raumes überraschend gut. Er war fast vollkommen intakt. Zwar hatte sich die Decke an einer Ecke, wo die Dachbalken verrottet waren, ein wenig gesenkt - am unteren Teil der Wände jedoch haftete noch fast überall der Putz. Mit dem Daumennagel löste McKee ein Stückchen Mauerbewurf, zerbröckelte es und untersuchte das Material. Es war innen fast ganz schwarz - eine Mischung aus Tierblut und Chilesalpeterlehm, wie sie von den Pueblo-Erbauern immer benutzt worden war. Sie war steinhart und würde Jahrhunderte überdauern - ebenso wie die Dachbalken aus Zedernholz, solange sie durch den Felsüberhang vor Wind und Wetter geschützt waren. Hätten diese den Schutz allerdings nicht gehabt und wäre das Haus sich selbst überlassen geblieben, so wäre das Dach schon vor langer Zeit verwittert und der obere Teil der Mauern nach innen gestürzt. Nein, diese Ruine mußte teilweise wiederaufgebaut worden sein - vermutlich von einem der späteren Pueblo-Völker, die diesen Canon bewohnten, ehe sie von den Navajo vertrieben wurden. In diesem Augenblick sah er das Gesicht. Vorübergehend starrte er es regungslos an und überlegte, was es zu bedeuten habe. Dann stieg ungeheure Erregung in ihm auf. Das Gesicht war mit einer gelben Farbe auf den Putz gemalt worden, vermutlich mit Ocker. Es war jetzt allerdings verblaßt und dort, wo der Putz abgefallen war, auch zerstört: ein grob gezeichnetes Rund mit Haarknoten auf dem Kopf, langen Ohren und einem Kragen. Die Figur stellte ganz zweifellos einen Hopi-Kachina dar, entweder den Schlammträger oder den Schlammkopfclown. Rechts unterhalb davon waren zwei weitere stilisierte Zeichnungen auszumachen. In der einen erkannte McKee an den vier schwarzspitzigen Federn, die senkrecht von dem eckigen Kopf aufragten, und
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dem horizontalen roten Band, das die Augen bedeckte, Chowilawu, den Geist der Schrecklichen Macht aus der HopiMythologie. Der dritte Kopf war durch den abblätternden Putz fast vollständig zerstört. Nur der kaum sichtbare Umriß eines Ohres und der senkrechte Doppelstreifen auf der Wange, der einen Kriegergeist kennzeichnete, waren erhalten geblieben. Weiter unter an der Wand fand er noch einige kleine Malereien: die Zickzacklinie eines Blitzes, Vogelspuren, die treppenförmigen Dreiecke der Wolken und eine Reihe phallischer Symbole. Zweifellos hatte ein Hopi-Clan dieses Haus als Zeremonien-Kiva benutzt. Er blieb einen Augenblick stumm und nachdenklich stehen. Dann hockte er sich neben Miss Leon und legte ihr die Hand auf die Schulter. «Aufwachen! Es wird Zeit.» Sie rieb sich mit der Hand über die Augen. «Fast wie zu Hause», lautete sein Kommentar. Sie sah zu ihm auf und stemmte sich an der Wand empor. Mit den Fingern versuchte sie ihr zerzaustes Haar zu entwirren. «Wieviel Uhr ist es denn?» «Ungefähr Viertel vor fünf», antwortete McKee. «Wir hätten nicht soviel Zeit vertun dürfen. Wir müssen hier raus!» «Hier raus? Aber ich wüßte nicht wie.» Miss Leon blickte zur Dachöffnung hinauf und dann zu McKee hinüber. «Was haben Sie vor? Wie sollten wir das anfangen?» «Hier haben Hopi gelebt. Sie haben das Haus wieder instand gesetzt. Haben Sie schon mal davon gelesen, wie die Hopi ihre Pueblos angelegt haben?» McKee merkte sofort, daß seine Frage überheblich klang, und wurde verlegen. Ellen machte ein verständnisloses Gesicht. «Sie haben unten in eine Wand stets eine Fluchtöffnung eingebaut», erklärte er ihr. «Ein Loch, das in den Nebenraum führt. Das füllten sie mit Steinen, die leicht herauszuziehen
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waren. Auf diese Weise vermieden sie, bei einer Belagerung in einem Teil des Bauwerks eingeschlossen zu werden.» «Ach so!» sagte Ellen. «Sie glauben also, daß es einen Weg nach draußen gibt.» «Jawohl, das glaube ich. Wir werden sehen. Er müßte sich an einer Innenecke befinden.» Und höchstwahrscheinlich in der Ecke, die an den Felsen stößt, dachte er. Dort ist es leichter, die Öffnung abzufangen. In der Ecke lag ein Haufen zerbrochener Zedernstecken. Die Feuchtigkeit, die immer wieder vom Felsen herabgesickert war, hatte den langsamen Verfall beschleunigt. Die Erbauer hatte Löcher in den weichen Stein gebohrt, in die sie die Enden der Dachbalken steckten, und hier hatte es mit dem Verrotten begonnen. McKee suchte sich einen Stock heraus und begann den Schutt aus der Ecke zu räumen. Er arbeitete vorsichtig und möglichst geräuschlos. Trotzdem stieg eine Wolke pudrigen Staubes um ihn empor. Ellen kniete sich neben ihn und schob den Staub behutsam mit beiden Händen beiseite. «Machen Sie nur keinen Lärm!» «Haben Sie eine Ahnung, um was es bei dieser ganzen Affäre überhaupt geht?» fragte sie flüsternd. «Weshalb wollen die unbedingt, daß Sie diesen Brief schreiben?» «Ich weiß es nicht», antwortete McKee. «Vielleicht, weil sie wahnsinnig sind.» «Ich glaube aber doch, daß Sie es wissen. Wenigstens, was den Brief angeht.» Miss Leon hörte zu graben auf und sah ihn an. Ihr Gesicht war kalkweiß vom Staub. Weiß und erschöpft. McKee wandte den Blick ab. «Er hat mir erklärt, wozu er den Brief braucht», gab er zu. «Aber wenn Sie es ihm geglaubt hätten, dann hätten Sie ihm geschrieben», erwiderte Ellen. Sie hockte sich auf die Absätze, ohne ihn aus den Augen zu lassen. «Weshalb behandeln Sie mich noch immer wie ein Kind? Sie wissen so
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gut wie ich, daß diese Leute den Brief nicht brauchten, wenn sie uns wirklich freilassen wollten.» «Okay», lenkte McKee jetzt ein. «Vermutlich haben Sie recht. Sie verlangen den Brief, weil sie wissen, daß man eines Tages nach uns suchen wird, und weil sie nicht wollen, daß man an dieser Stelle sucht. Sie wollen überhaupt nicht, daß man in diesem Canon sucht - jedenfalls nicht, bevor sehr viel Zeit vergangen ist.» «Aber warum denn nicht? Wissen Sie das auch?» «Nein. Ich könnte es nicht mal erraten. Aber es kann nur so sein.» Er lehnte sich gegen den Felsen und wischte sich den Staub aus dem Gesicht. «Zuerst war ich anderer Ansicht. Ich dachte, daß sie im Zuge dessen, was sie hier vorhaben, hier warten müßten und daß sie nicht wüßten, wie lange sie warten müssen. Und daß sie deswegen nicht gestört werden wollten. Aber das kann nicht sein, weil nämlich das, worauf sie warten, schon heute eintreten soll. Sie könnten uns also einfach hier zurücklassen, und dann würde es sehr lange dauern, bis uns jemand findet. Wesentlich länger, als sie brauchen, um wegzukommen.» «Das gleiche habe ich mir auch gedacht», warf Ellen ein. «Haben Sie gesehen, wie sie ihr Lager eingerichtet haben?» fragte McKee. «Keine Abfallgrube. Leere Dosen und anderen Müll tun sie in Jutesäcke. Und als Eddie den Kocher anzündete, hat er das gebrauchte Streichholz in seine Westentasche gesteckt.» «Das hatte ich nicht bemerkt. Ich habe überhaupt nicht darauf geachtet.» «Wenn sie das Lager also abbrechen, werden keine Spuren davon zurückbleiben. Jedenfalls nicht länger als bis zur Regenzeit im August. Gibt es nicht einmal dann eine Veranlassung für eine Suche, wird niemand jemals erfahren, daß sie hier waren.»
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Der Putz hinter dem Trümmerhaufen in der Ecke wirkte beinahe neu. McKee stocherte mit seinem Stecken daran herum und fluchte leise, als das morsche Holz brach. Jetzt hätte er gut sein Taschenmesser gebrauchen können, aber das hatte ihm der Große Navajo ja abgenommen, als er ihn durchsuchte. Oder nicht? In diesem Moment erst spürte McKee das schwere Gewicht des Messers in seiner Hemdtasche. Er hatte es, mit seinen Zigaretten, da hineingesteckt, als er in aller Eile aus dem Zelt aufbrach, um zu fliehen, und hastig alles mögliche zusammengerafft hatte. Es war ein höchst ungewöhnlicher Platz für ein Taschenmesser, daher hatte es der Navajo wohl übersehen. McKee nahm es heraus und klappte es auf; dabei stellte er fest, daß er es durchaus zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand halten konnte, ohne allzu starken Schmerz zu verspüren. Jetzt, da der Knöchel wieder eingerenkt war, ging die Schwellung offenbar zurück. Jetzt konnte er dem Navajo nicht mehr vormachen, er könne nicht schreiben. Der Putz blätterte in großen Stücken ab, und darunter kam eine große, mit Mörtel verfugte Steinmauer zum Vorschein. Als gleich darauf eine quadratmetergroße Platte herunterbrach, entdeckte McKee, daß seine Vermutung richtig war. Das verfugte Mauerwerk endete in der Ecke etwa zwei Fuß über dem Boden in einem angedeuteten Bogen. Der erste Stein, an dem er zog, war zwar recht fest hineingepaßt, der zweite jedoch glitt leicht heraus. McKee hockte sich auf die Absätze und musterte den Stein. Er hatte ungefähr die Größe einer Grapefruit und lag ihm schwer in der linken Hand. Als er ihn in die rechte nehmen wollte, fiel er in den Staub. Miss Leon betrachtete zuerst den Stein und dann McKee. «Ich glaube, hier werden wir raus können», stellte er fest. «Falls nicht der Raum nebenan eingestürzt und das Ausschlupfloch mit schweren Trümmerstücken bedeckt ist.»
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«Was machen wir aber, wenn wir draußen sind?» Ihre Stimme klang bedrückt. «Haben Sie sie während der Nacht zurückkommen hören?» «Nein. Ich habe überhaupt nichts gehört. Aber wir wissen ja nicht mal genau, ob sie auch wirklich fort sind. Vielleicht ist ja nur einer hinuntergestiegen.» «Der Große Navajo hat gesagt, daß er fort muß», erwiderte McKee. «Und daß er nicht vor heute abend wiederkommt. Falls Eddie nicht hier auf der Felsbank geblieben ist, werden wir versuchen, einen Weg nach unten zu finden.» Miss Leon zog ein skeptisches Gesicht. «Kommen Sie», sagte McKee. «Die Hopi haben hier so lange gelebt, daß sie dieses Haus wiederaufgebaut haben, und das war ein Volk, das nicht viel von Plätzen hielt, an denen es unter Umständen in einer Falle saß. Sie haben bestimmt einen geheimen Ausgang von dieser Felsplatte angelegt. Sie hielten sich immer eine Fluchtmöglichkeit offen.» Es blieb ihnen keine andere Wahl. Wenn sie keine Möglichkeit fanden, die Klippe zu verlassen, konnten sie nur noch versuchen, Eddie und den Indianer am Heraufkommen zu hindern. Er konnte die beiden abfangen, wenn sie auf der Leiter waren, und mit einem von oben herabgeworfenen Felsblock außer Gefecht setzen. Das Überraschungsmoment würde das Vorhaben vielleicht gelingen lassen. Im Landrover aber lag ein Gewehr. Und die beiden waren bestimmt gute Schützen, vermutlich sogar sehr gute. «Aber wenn Eddie nun hier oben geblieben ist?» wandte Ellen ein. «Ich möchte fast wetten, daß er hier ist.» «Ich weiß es nicht», antwortete McKee. «Hoffen wir, daß er weg ist.» Er gab sich Mühe, zuversichtlich zu grinsen, doch ohne Erfolg. Er mußte an die Geschicklichkeit denken, mit der Eddie seine Pistole gehandhabt hatte. Zum erstenmal wurde ihm klar, welches Problem unter Umständen auf ihn wartete: Er
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würde vielleicht einen Menschen umbringen müssen. Doch vorerst schob er den Gedanken weit von sich. Draußen vor dem Loch blieb er zunächst einmal still stehen, um konzentriert zu lauschen. Die Raben waren davongeflogen, und nur der Morgenwind und das leise Pfeifen der Ohrenlerche auf dem Canon-Rand hoch über ihm waren zu hören. Die Hopi hatten auch diesen Raum repariert - das sah er an den Überresten des Putzes. Vom Felsen darüber hatte sich jedoch eine Steinplatte gelöst, war durch das Dach gebrochen und hatte einen großen Teil der Ostwand nach außen gedrückt. Seiner Stütze beraubt, war auch das Dach zusammengebrochen, und der Wind hatte im Lauf der Jahrhunderte einen richtigen Berg von Sand und Staub an den Mauerresten zusammengetragen. Über diesen Hügel hinweg betrachtete McKee nun das, was noch vom Ostteil der Ruinen zu sehen war. Der Felsvorsprung wurde nach Osten zu immer schmaler. Soweit er gestern vom Canon-Boden aus gesehen hatte, bestand der gesamte Ostteil aus verfallenen Mauern, die erst kurz vor der Stelle endeten, an der eine Strukturverwerfung die Canon-Wand von oben bis unten spaltete. Dort mußte er nach einem Fluchtweg suchen. Der enge Kamin bot vermutlich den einzigen Weg nach oben. Bei diesem Gedanken zog sich ihm allerdings der Magen zusammen: Als Student war er einmal bei Mesa Verde einen solchen Spalt hinaufgeklettert, um zu einem Felsenhaus zu gelangen, und die Erinnerung daran war eine unangenehme Mischung aus Angstund Schwindelgefühl. Vorsichtig stieg er über die Trümmer der Außenwand bis an den Rand des Vorsprungs und schaute in den Canon hinab. Der Landrover war nicht zu sehen. Das dürfte bedeuten, daß der Navajo noch nicht von seinen Geschäften zurückgekehrt war. Aber auch von Eddie nirgends ein Zeichen. Doch das wollte nichts besagen. Eddie mochte in tausend Verstecken da
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unten liegen und schlafen. Oder er befand sich nur wenige Meter entfernt auf dem Felsvorsprung selbst. Hier hatten die Anasazi ihre Behausung fast ganz bis an den Klippenrand herangebaut und nur am Abgrund entlang einen schmalen Pfad frei gelassen, der jetzt aber unter Schutt vergraben lag. McKee bewegte sich vorsichtig darauf weiter und hielt sich so dicht an der Wand des Lagerraumes, wie es die herabgefallenen Trümmer erlauben wollten. An der Ecke hinter einem verdurstenden Wacholdergebüsch machte er halt. Wenn er jetzt um die Ecke sah, würde Eddie dort stehen. Eddie würde die Pistole in der Hand halten und ihn erschießen, ohne mit der Wimper zu zucken. McKee dachte einen Augenblick darüber nach. Nun gut, vielleicht würde Eddie, genau wie gestern, als er sich ihm am Landrover vorgestellt hatte, eine bedauernde Grimasse ziehen. Doch schießen würde er. McKee stand eng an die Wand gepreßt und blickte über den Canon hinaus. Es war fast ganz hell geworden. Das Licht der Sonne, die knapp unter dem Horizont stand, warf einen rötlichen Schein auf eine Wolkenformation irgendwo hinten im Osten und wurde von ihr auf die Spitzen der gegenüberliegenden Klippen reflektiert. Ein Holzhäher stob ein Wirbel von Schwarz und Weiß - aus einem Wacholdergebüsch auf der anderen Canon-Seite hervor. Und auch die Raben waren wieder zu hören - weit oben im Canon. Es war ein herrlicher Morgen. McKee beugte sich vor und spähte um die Ecke. Eddie war nicht zu sehen. Die ausgespannte Zeltbahn war da, der Kocher und einige andere Ausrüstungsgegenstände ebenfalls. Aber die Schlafsäcke waren verschwunden. Und die Leiter. McKees Spannung legte sich. Eddie mußte hinuntergestiegen sein und sie hier auf dem Felsvorsprung allein gelassen haben.
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Auf einmal fiel McKee jetzt ein, daß er von unten deutlich zu sehen sein mußte. Rasch zog er sich hinter den Wacholder zurück und überdachte seine Lage. Er sah auf die Uhr. Fünf Uhr morgens. In diesem Augenblick hörte er Eddie pfeifen. Eddie kam, kaum zwanzig Meter von ihm entfernt, um die herabgefallenen Felsbrocken am Westende der Platte geschlendert. Er trug seinen Schlafsack zusammengerollt unter dem rechten Arm und hatte sich die Jacke über die linke Schulter gehängt. Er pfiff irgendeine bekannte Melodie. Dann warf er den Schlafsack hin, legte sein Jackett sorgfältig auf einen aus dem Boden ragenden Sandstein und hockte sich vor den Kocher. McKee starrte benommen durch die Wacholderzweige. Natürlich, der Große Navajo hatte nichts dem Zufall überlassen. Er hatte die Leiter mitgenommen, dafür aber einen Wachtposten zurückgelassen. Eddie kämmte sich. Das Holster mit der Pistole hatte er über die Weste geschnallt. Ungefähr zwanzig Meter, schätzte McKee. Zehn Meter konnte er zurücklegen, bis Eddie ihn sah, dann noch einmal fünf, bis Eddie die Pistole gezogen hatte, und dann würde Eddie so oft abdrücken, wie es eben notwendig war. Der erste Plan, den McKee erwog, während er sich langsam am Klippenrand entlang zurückzog, hätte erfordert, daß er sich hinter der Ecke des Lagerraumes in den Hinterhalt legte, bis Eddie die Leiter hinaufstieg, um ihnen das Frühstück zu bringen. Er glaubte, die drei Meter zur Leiter im Sprint hinter sich bringen zu können, bis Eddie, von den Lebensmitteln behindert, seine Pistole gezogen hatte. Dann wollte er die Leiter unter ihm wegtreten und ihn triumphierend entwaffnen. Es konnte klappen - falls Eddie ihnen das Frühstück brachte. Zu dieser Annahme bestand allerdings kein Grund. Weit eher würde er seine Gefangenen zunächst einmal mit der Pistole in der Hand kontrollieren kommen.
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Der zweite Plan - von noch kürzerer Lebensdauer verlangte, daß Miss Leon irgendwie Lärm schlug, möglicherweise laut rief, sie sei krank. Dann würde Eddie vermutlich die Leiter hinaufsteigen, um durch das Loch im Lagerhausdach zu sehen. Aber er würde sich sehr vorsichtig und wachsam verhalten. Dem dritten Plan widmete McKee ein etwas längeres Nachdenken, denn wenn dabei alles klappte, war es nicht nötig, daß er sich Eddies Pistole stellte. McKee hatte vor, sich zusammen mit Miss Leon - unbemerkt natürlich - bis ans Ostende des Felsvorsprungs vorzuarbeiten. Dort würden sie im Felskamin den Fluchtweg der Hopi finden und in die Freiheit klettern. Eine höchst angenehme Vorstellung, doch leider absolut undurchführbar. Ellen würde die Kletterpartie niemals schaffen, und außerdem würde sie ihnen bestimmt nicht gelingen, ohne dabei Geräusche zu machen. Einen Augenblick überlegte McKee, was für ein Gefühl es wohl wäre, an Handgriffen dreißig Meter hoch im Kamin zu hängen, während Eddie unten stand und auf ihn zielte. Schnell wandte er sich anderen Möglichkeiten zu. Eine davon war, in den Ruinen ein Versteck zu suchen und mit einem Stein in der Hand zu warten, bis Eddie ihn aufspüren kam. Der Nachteil daran sprang jedoch sofort ins Auge. Eddie hatte es überhaupt nicht nötig, ihn aufzuspüren. Er brauchte nur zu warten, bis der Navajo wiederkam: Er war ja überzeugt, daß es keinen Fluchtweg gab. Also mußte er dafür sorgen, daß Eddie hinter ihm herkam. McKee legt sich auf den Bauch, um durch das Loch wieder in den Raum zu kriechen. «Ich bin schon hier», flüsterte Ellen. «Ich hörte ihn pfeifen. Hat er Sie etwa gesehen?» «Nein», antwortete McKee. «Er macht das Frühstück.» «Wissen Sie was?» sagte Ellen. «Ich habe doch gesagt, daß man ein Zauberer sein müßte, um aus diesem Raum hinauszukommen. Sie sind einer.»
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«Hm. Hören Sie, vergessen Sie ja nicht, Ihre Uhr aufzuziehen», gab er zurück. «Ich möchte, daß Sie jetzt genau dreißig Minuten warten und dann hier herauskommen und irgendwie Lärm machen. Schlagen Sie einen Stein von der Mauer los, tun Sie irgend etwas, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Aber laufen Sie auf keinen Fall davon. Geben Sie ihm keine Veranlassung zu schießen.» «Was haben Sie vor?» Sie flüsterte so leise, daß er sie kaum verstehen konnte. «Merken Sie sich: Sobald er kommt, geben Sie auf. Heben Sie die Hände. Und sagen Sie ihm, daß ich über den Fluchtweg hinten, am Ostende der Ruine - da, wo die Felswand gespalten ist -, hinausklettere. Sagen Sie ihm, daß ich die Polizei holen will.» «Gibt es denn wirklich eine Stelle, an der man hinausklettern könnte?» «Das weiß ich noch nicht. Der Zweck der Übung ist vorläufig nur, mir Gelegenheit zu einem Überraschungsangriff zu geben.» «Aber es gibt hier doch gar keinen geeigneten Hinterhalt! Er wird Sie umbringen.» Eine sehr nüchterne Feststellung. Falls Ellen noch etwas sagte, so hörte McKee es nicht mehr. «Ellen», flüsterte er, «haben Sie verstanden, was Sie tun sollen?» «Ich glaube schon. Aber reicht eine halbe Stunde denn?» McKee überlegte. Eddie konnte sie jeden Augenblick kontrollieren kommen. Auch der Navajo konnte plötzlich zurückkehren. McKee war sich auf einmal im klaren darüber, daß er mit dieser Zeitspanne vermutlich bestimmte, wie lange er noch zu leben hatte. «Ich glaube ja», antwortete er. Doch Eddie ließ ihm genau acht Minuten weniger Zeit. Es hatte nicht lange gedauert, bis McKees Hoffnung, in den Ruinen einen günstigen Platz für einen Hinterhalt zu finden,
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zunichte wurde. Die Mauern entlang dem schmalen Pfad am Klippenrand waren zu sehr zerfallen, um ein Versteck zu bieten, von dem aus er den Überfall durchführen konnte. Am Ende des Felsbandes, wo eine gewaltige geologische Verwerfung vor Äonen die Erdkruste bewegt und die Klippenwand gespalten hatte, gab es überhaupt keinen Unterschlupf. McKee schob sich vorsichtig an der letzten, eingestürzten Hausecke vorbei. Hier war der Pfad gänzlich unter herabgefallenen Steinen verborgen. Ein falscher Tritt bedeutete den Sturz in den durch die Verwerfung entstandenen Abgrund. McKee sah auf die Armbanduhr. Er hatte dreizehn Minuten gebraucht und nicht das geringste erreicht. Hier, an ihrem Beginn, war die Felsspalte ungefähr fünf Meter breit. Drüben setzte sich der Vorsprung fort, allerdings ein wenig weiter unten. Nach einigen Metern endete er. Von da, wo er stand, konnte McKee nicht sehen, wie die Spalte verlief. Die Anasazi hatten ihre Häuser ganz eng an die Felswand gebaut. Die Außenwand war zwar nach vorn über den Abgrund gefallen, aber die Äste einer Pinie versperrten den schmalen Durchgang. Vorsichtig stieg er über die Reste der Trennwände und blieb nur einmal stehen, um in die Spalte hinabzublicken. Sie lief ganz glatt bis unten durch und war, obwohl zum Teil mit Geröll gefüllt, noch immer zu tief, um hinunterzuspringen. Als er über die Trümmer der Rückwand kletterte, stieß sich McKee wieder an seiner Hand. Vor übergroßem Eifer und Neugier auf die Möglichkeiten, die ihm die Felsspalte bot, hatte er einen Augenblick lang seinen Finger vergessen und sich daraufgestützt. Während er sich vorsichtig in das Dunkel hinter der Mauer hinabließ, war ihm noch immer übel vor Schmerz. Minutenlang blieb er im Staub sitzen, hielt seine Hand und wartete, bis das Pochen endlich nachließ und seine Augen
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sich an die Finsternis gewöhnten. Was er dann sah, enttäuschte und ermutigte ihn zugleich. Entgegen seiner Hoffnung gab es keinen natürlichen Weg in den Spalt. Der Vorsprung lief hier nicht weiter. Aber die Anasazi hatten Hand- und Fußgriffe in den Sandstein gehauen, so daß man sich bis in die Tiefe des Risses vorarbeiten konnte. Irgendwo weiter hinten, wo sich die Spalte verengte und man sich zwischen den gegenüberliegenden Wänden feststemmen konnte, würde es einen Weg nach oben geben. Wenn er nur Eddie los wurde! Dann konnte er es schaffen. Aber was sollte er mit Eddie machen? McKee überdachte seine Lage. Es gab zwei Wege in diese dunkle Sackgasse zwischen Wand und Felsspalte, in der er jetzt saß: über die zerfallene Mauer, über die er gekommen war, oder an den ausladenden Ästen der Pinie vorbei. Eddie würde vermutlich den Weg über die Mauer wählen, und zwar aus denselben Gründen wie er: die Pinie hatte sich weit dem Sonnenlicht entgegengereckt. Man konnte zwar an ihr vorbeikommen, doch wenn man sich um ihre dicken Äste herumwand, mußte man balancieren wie auf dem Hochseil so nahe war man dem Abgrund da bei. Da Eddie nicht wußte, wo McKee sich versteckt hatte, würde er das bestimmt nicht riskieren. Also würde er sich für die Mauer entscheiden. McKee erwog seine Möglichkeiten. Falls Eddie schnell über die Mauer kam, würde er durch den Wechsel vom strahlenden Morgenlicht in die Dunkelheit hier geblendet sein, und er, McKee, bekam seine Chance. Doch das war sehr unwahrscheinlich. Niemals würde Eddie ein Risiko eingehen. Statt dessen würde er langsam, mit schußbereiter Pistole, die Mauertrümmer erklimmen. Oben würde er einen Augenblick stehenbleiben und in die Dunkelheit hinabspähen. Und wenn er das tat, saß McKee in der Falle. Er prüfte den weit hinausragenden Hauptast der Pinie. Konnte er ihn zurückziehen und festbinden, wirkte der Weg am
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Baum vorbei direkt einladend. Er konnte sein Hemd zerreißen, ein Seil daraus drehen und es möglichst weit außen am Ast befestigen. Wenn er sich mit seinem ganzen Gewicht dahinterlegte, konnte er den Ast ein gutes Stück vom Klippenrand wegziehen und einen bequemen Pfad frei machen. Aber woran sollte er den Ast festbinden? Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, da hörte er Ellen rufen. Ihre Stimme klang schrill, beinahe hysterisch. Danach kam Eddies Stimme, sehr aufgebracht, und dann wieder Ellens. Diesmal schrie sie laut. Dann fiel der Schuß. Ein einzelner, scharfer Knall, der ein Gewitter von Echos auslöste. «Jetzt ist sie tot», dachte McKee. «Canfield ist tot, und sie ist auch tot.» Er nahm die Ecke seines Hemdkragens zwischen die Zähne, straffte den Stoff mit der linken Hand und trennte den Kragen behutsam mit dem Messer ab. Es tat zwar weh, das Messer zu halten, aber der Schmerz war einigermaßen erträglich. Er riß den Hemdrücken mitten durch, drehte die beiden Teile zusammen und verknotete sie zu einem provisorischen Seil. Dann zog er seinen Gürtel aus der Hose und schlang ihn um einen Felsvorsprung neben der Mauer. Jetzt würde es reichen. Während er kräftig an dem Ast zog, dachte er benommen daran, daß Eddie ihm nicht die erwarteten dreißig Minuten Zeit gelassen und Ellen angesichts der Pistole einen Warnruf ausgestoßen hatte. Angestrengt zerrte er an seinem Hemdseil, bis er es durch die Gürtelschlaufe ziehen und zweimal herumschlingen konnte. Seine rechte Hand war für eine so schwere Arbeit nicht zu gebrauchen, darum nahm er zum Festzurren des Knotens die Zähne zu Hilfe. Gleich würde er Eddie gegenüberstehen. Er war jetzt fast fertig. Er legte das Messer auf einen vorspringenden Mauerstein und suchte sich aus den Trümmerbrocken zu seinen Füßen einen heraus, der gut in der
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linken Hand lag. Nur wenige Minuten noch - dann war alles vorbei. Eddie würde kommen. Wenn er den Weg am Baum vorbei nahm, würde er, McKee, das Hemd zerschneiden, damit der Ast Eddie entgegenschnellte. Und wenn er das Seil zerschnitten hatte, würde er mit dem Stein in der Hand über die Mauer kommen. War Eddie durch den Ast geblendet, verletzt oder auch nur verwirrt, würde er ihn sofort töten. Auf jeden Fall würde es dann vorüber sein. An diesen Gedanken klammerte sich McKee. Das war weit besser, als an Ellens Stimme und an den Pistolenknall zu denken. Fast wäre Eddie wieder zu früh gekommen. McKee hatte gerade auf dem Geröllhaufen Stellung bezogen, um über die Mauer zu blicken, da war Eddie da. Er stand auf dem Pfad an der Ecke, wo der Felsvorsprung von der Spalte durchschnitten wurde, und beobachtete die Ruinen. Als Eddie sich in seine Richtung drehte, duckte sich McKee hinter den schützenden Vorhang aus Pinienzweigen. Die Weste seines Gegners stand offen, die Pistole hielt er in der rechten Hand dicht am Körper. Der Lauf folgte, wie McKee feststellte, immer der Blickrichtung - wie die Taschenlampe eines Mannes, der im Dunkeln etwas sucht. McKee spürte einen Druck auf der Brust und merkte, daß er den Atem anhielt. Langsam stieß er ihn wieder aus und packte den Stein. Jetzt schlich Eddie weiter. Er pirschte sich, genau wie McKee, direkt am Rand der Felsspalte entlang und stieg vorsichtig über die Trümmer der Trennmauern. Ungefähr sechs Schritt von McKee entfernt blieb er geduckt stehen und musterte prüfend Mauer und Baum. «McKee», sagte er im Gesprächston «ich habe Ihr Mädchen erschießen müssen.» Er lauschte einen Augenblick - ein höfliches Warten auf eine Antwort. «Wenn ich Sie töte, kostet mich das dreißigtausend Dollar», fuhr Eddie fort. «Und George
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kostet es das Doppelte.» Abermals hielt er inne. «Wollen Sie mich wirklich dazu zwingen?» McKee merkte, daß er schon wieder den Atem anhielt. Eddie betrachtete die Mauer; er traf seine Wahl. McKee sah auf den Stein in seiner Hand hinab. Er drehte sich, holte aus und warf ihn in hohem Bogen in die Felsspalte. Mit dröhnendem Echo prallte er von einer Wand an die andere. Eddie tat fünf schnelle Schritte den Pfad entlang und blieb abrupt dicht vor der Pinie stehen. McKee setzte das Messer an das straff gespannte Seil. Eddie sah an der Mauer empor und ging dann in die Hocke, um an den unteren Pinienzweigen vorbeizuspähen. Er war jetzt so nah, daß McKee nur noch seine linke Schulter und einen Teil seines Rückens sah. Und dann geschah alles sehr schnell. Als Eddie rasch in den Zwischenraum zwischen Baum und Abgrund trat, hieb McKee mit dem Messer zu. Das Seil zerriß, und McKee wußte im selben Augenblick, daß Eddie wieder stehengeblieben war. Er hatte die Vorsicht des Mannes doch unterschätzt. Beim Sprung über die Mauer erfaßte McKees Verstand nur einen Bruchteil all dessen, was sich jetzt gleichzeitig abspielte. Ein Feuerstoß aus der Pistole traf den schwingenden Pinienast, während Eddie selbst in blitzschneller Reaktion einen Satz rückwärts tat, sich duckte, den Pistolenlauf herumriß und auf McKee richtete. Und dann war Eddie auf einmal nicht mehr da. Statt dessen ertönte ein Schrei - ein Laut aus Überraschung, Wut und Angst gemischt -, und kurz darauf ein krachender Aufschlag. Sein instinktiver Sprung hatte Eddie über den Klippenrand hinausgetragen. Er war in die Felsspalte gestürzt. Als McKee hinunterspähte, war er überzeugt, daß Eddie tot sein müsse. Der Mann war anscheinend zwanzig Fuß unterhalb des Felsvorsprungs auf eine schräge
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Sandsteinplatte geprallt, von dort aus gegen einen schwarzen Steinblock geschleudert worden, der mitten in der Spalte steckte, und anschließend noch zehn Fuß tiefer gefallen. Jetzt war er, halb zusammengeklappt wie ein Taschenmesser, ungefähr fünfzehn Fuß über dem sandigen Boden der Spalte zwischen Felsbrocken eingeklemmt. Die Pistole war ihm aus der Hand gefallen. Sehnsüchtig starrte McKee darauf hinab. Aber sie war für ihn ebenso unerreichbar wie der Mond. Dann sah er auf einmal, daß Eddie den Kopf bewegte und zu ihm heraufschaute. Er blutete aus der Nase und mußte durch den Mund atmen. Verlegen, mitleidig starrte McKee auf ihn hinab. «Ich bin gefallen», sagte Eddie verwundert. «ja», antwortete McKee. «Beim Zurückspringen.» Er wollte noch sagen, daß es ihm leid tue, verbiß es sich aber lieber. «Können Sie zu mir runterkommen? Ich brauche Hilfe.» «Ich weiß es nicht. George hat die Leiter mitgenommen. Ist Ihnen ein anderer Weg bekannt?» «Ich sollte fünfundvierzigtausend Dollar kriegen», klagte Eddie. «Wir hatten abgemacht, daß ich fünfzehntausend kriege, sobald sie fertig sind, und dann noch dreißigtausend, wenn nach einem Jahr noch nichts rausgekommen ist. Deswegen sollten Sie den Brief schreiben.» Das Blut aus der Nase rann Eddie jetzt übers Kinn. Er hustete. «Ich spüre meine Arme nicht.» «Wer ist <sie>?» fragte McKee. «Was wollten Sie überhaupt hier?» «George sollte mehr kriegen, weil er den Vertrag abgeschlossen hatte und alles von ihm abhing», sagte Eddie. «Wenn wir den Job zu Ende gebracht hätten, dann hätte- ich zweihunderttausend Dollar gehabt.» Er hustete wieder, und sein Kopf sank nach vorn. «Eddie, wo ist George jetzt? Wann kommt er zurück?»
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Es dauerte eine Weile, bis Eddie den Kopf hob. «George ist weg, um die Geräte aufzudecken, und dann...» Eddie hustete wieder. «Dann wollten wir hier abhauen. Einen Tag hätte George noch gebraucht, um alles wieder wegzuräumen, dann wären wir fertig gewesen.» «Aber wann kommt George wieder?» «Das weiß ich nicht.» «Bitte!» sagte McKee. «Ich muß es wissen.» «Nein. Es würde Ihnen nichts nützen. Er arbeitet von Los Angeles aus, aber ich habe sogar drüben im Osten von ihm gehört. Es heißt, daß er noch nie einen Vertrag gebrochen hat.» Eddie hustete wieder. «Noch nie einen Job vermasselt. Er wird Sie und diese Frau dahinten umbringen und dann allein weitermachen.» McKee sah plötzlich einen Hoffnungsschimmer. Der jedoch sofort wieder verlosch. «Haben Sie sie denn nicht umgebracht?» «Ach ja!» sagte Eddie mit schwacher Stimme. «Das hatte ich ganz vergessen.» Stirnrunzelnd schaute er zu McKee herauf. «Ich hab sie gewarnt, sie soll nicht schreien», erklärte er. «Vielleicht ist sie doch nicht ganz tot.» McKee ließ ihn weiterreden und eilte, hastig über die zerfallenen Mauern springend, zu der Stelle zurück, wo er Ellen vermutete. Sie hing fast ganz aus dem Fluchtloch heraus. Anscheinend war sie gerade auf Händen und Knien hervorgekrochen, als Eddie auf sie schoß. McKee starrte sie lange an; er fühlte sich unendlich einsam und erschöpft. Erst als er sie in die Arme nahm, merkte er, daß sie noch lebte. Die Kugel hatte eine Furche durch ihre Wange gezogen, war vom Wangenknochen abgeprallt, hatte die Schulter durchschlagen und war hinten durch ihre Bluse wieder ausgetreten. McKee holte Wasser, Lebensmittelkonserven,
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den Erste-Hilfe-Kasten und einen Schlafsack vom Lagerplatz. Er legte Ellen auf den Schlafsack und untersuchte ihre Wunden. Die Kugel hatte ihr anscheinend das rechte Schulterblatt gebrochen. Sie war durch den Rückenmuskel ausgetreten und hatte ein Loch gerissen, an dem das austretende Blut schon zu stocken begann. Er spülte die Wunden aus, bestäubte sie mit desinfizierendem Puder, verband ihr das Gesicht und legte ein Mullkissen auf die Rückenwunde. Mehr konnte er nicht für sie tun. Er trabte zur Felsspalte zurück. Vielleicht konnte ihm Eddie noch ein paar nützliche Informationen geben. Eddie starrte noch immer auf den Felsen vor seinem Gesicht, aber er würde keine Fragen mehr beantworten. McKee blickte auf den Toten hinab und dachte über das nach, was ihm der Blonde mitgeteilt hatte. Der Große Navajo stammte also aus Los Angeles. Vermutlich ein - Abkömmling einer jener unglücklichen Familien, die während der dreißiger Jahre aus der von Dürre heimgesuchten Reservation in die Städte gezogen waren. Das war eines der katastrophalsten Experimente des Bureau of Indian Affairs gewesen, das aus hungernden Schafhirten hungernde, alkoholsüchtige Städter gemacht hatte. Wenn George in Los Angeles aufgewachsen war, erklärte das auch, warum er die Gutturallaute der Navajo-Sprache so schlecht beherrschte, sowie die Tatsache, daß er seine Kenntnisse über Antis aus Büchern bezogen hatte. Und außerdem erklärte es vielleicht, wieso der Indianer, wie Eddie es angedeutet hatte, Beziehungen zur Unterwelt besaß. Nicht erklären konnte er dagegen, warum George und Eddie den Auftrag hatten, die Schafhirten aus der Canon-Region zu verscheuchen. Und warum es so überaus wichtig war, daß niemand von ihrer Anwesenheit hier erfuhr.
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Das Metall der Pistole blitzte in der Morgensonne. Wenn ich die Pistole hätte, dachte McKee, brauchte ich nur auf den Großen Navajo zu warten, ihn zu erschießen, Ellen die Leiter hinunterzutragen und sie mit dem Landrover ins Krankenhaus zu bringen. Aber er kam nicht an die Pistole heran. Es gab keine Möglichkeit, in den Abgrund zu steigen, und auch keine, von unten wieder heraufzukommen. Er überlegte. Ohne Pistole konnte er den Großen Navajo zwar am Heraufsteigen hindern. Lebensmittel und Wasser gab es im Lager in ausreichender Menge. Er hatte Zeit. Doch Ellen würde inzwischen sterben. McKee biß sich auf die Lippe und suchte verzweifelt nach der besten Lösung. Da fiel ihm auf einmal der Kastenwagen ein. Alte-Frau-grauer-Fels hatte gesagt, er stehe im Hard Goods Canon, neun Meilen vom Eingang des Many Ruins Canon entfernt. Das dürfte nicht weit von hier sein, höchstens zwei Meilen. Er faßte einen Entschluß. Nach wenigen Minuten hatte er Ellen Leon an einer Stelle versteckt, an der sie der Große Navajo vermutlich nicht fand: Auf seinen Armen trug er sie mitsamt dem Schlafsack in die Ruinen unter der Klippe zurück, legte sie in einem Raum nieder, stellte Lebensmittel und Wasser neben sie und befestigte ihren Gesichtsverband neu. In diesem Moment sah er, daß sie die Augen offen hatte. «Bergen!» Sie streckte die Hand aus, die er ergriff. Wie klein und zierlich sie war! «Still liegen bleiben», mahnte er. «Ich werde jetzt hinausklettern und Hilfe holen.» «Bergen», bat sie, «seien Sie vorsichtig!» Er lief zur Felsspalte zurück. Er wollte hinausklettern und den Kastenwagen suchen. Irgendwie würde er ihn finden. Andernfalls brauchte er bis zu Shoemaker einen Tag und eine Nacht zu Fuß. Achtzehn bis zwanzig Stunden, nach seiner Schätzung. Zwölf mehr, als er sich leisten konnte.
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An der Pinie vorbei schob er sich in die dunkle Felsspalte hinein. Energisch unterdrückte er seine Angst vor dieser Klettertour. Sie hatte gesagt, daß Hall gescheit sei - brillant sogar. Fand er Jim Hall, war dieser vielleicht sogar gescheit genug, um seine Verlobte zu retten.
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Die Sonne stand fast im Zenit, als McKee die Drähte fand. Er hockte sich in den Schatten eines Wacholders und untersuchte sie: ein fingerdickes Kabel, und parallel dazu ein dünnerer Draht. Beide waren dick mit grauem Gummi isoliert und auf dem felsigen Untergrund kaum zu erkennen. Das Kabel führte vermutlich Strom. Der Draht konnte alles sein, möglicherweise sogar eine Telefonleitung. Beides mußte zur Testausrüstung für Dr. Halls Schall-Experiment gehören, und dieser Gedanke gab McKee zum zweitenmal, seit er vor drei Stunden aus dem Kamin geklettert war, Grund zur Hoffnung. Das erste Mal war vor einer Stunde gewesen, als er den Jungen auf dem Pferd sah. Er war stehengeblieben, um Atem zu schöpfen und sich auf dem Plateau zu orientieren. Dabei hatte er sich umgedreht und urplötzlich den Jungen gesehen, der aus etwa zweihundert Schritt Entfernung zu ihm herüberstarrte. Ein Junge mit einer roten Mütze. Als dann McKee gewinkt und gerufen hatte, waren Roß und Reiter lautlos verschwunden. So unvermittelt, daß McKee beinahe geneigt war, an eine Sinnestäuschung zu glauben. Er weiß, daß er hier im Revier der Antis ist, dachte McKee. Er fürchtet sich. Jeder Versuch, ihm zu folgen, wäre nur Zeitverschwendung gewesen. Den Drähten zu folgen dürfte jedoch nicht weiter schwierig sein. An einem Ende würde vermutlich ein Apparat hängen, wie er von den Elektroingenieuren benutzt wurde, am anderen Ende würde er mit etwas Glück den Ingenieur selber antreffen. Und Hall besaß einen Lastwagen und möglicherweise sogar ein Funkgerät. Das Kabel lief nach Südosten über das Plateau auf das Kam-Bimghi-Tal, nach Nordwesten auf den SeitenCanon zu, an dessen Rand McKee entlangmarschiert war. Die
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Wahl fiel nicht schwer. Dem Kabel folgend, trabte McKee auf den Canon zu. Das Kabel zog sich über die Felskante nach unten, verschwand stellenweise im Gebüsch und tauchte wieder auf, wenn es sich über einen Felsbuckel spannte. McKee blieb am Canon-Rand stehen und sah hinter dem Kabel her. Dieser Seiten-Canon war wesentlich flacher als der Many Ruins Canon, und seine zerklüfteten Wände versprachen einen verhältnismäßig leichten Abstieg. Vom Canon-Boden her hörte McKee ein Ping, Ping, Ping herauftönen - den Klang von Metall auf Metall. Erleichterung löschte jede Müdigkeit in ihm aus. Da unten mußte Hall mit seinem Lastwagen sein. Nicht mehr als eine Viertelmeile entfernt! Der Schmerz kam ohne jede Vorankündigung, als er den ersten Schritt vom Rand hinunter tat. Ungefähr eine Sekunde nach dem Schmerz erst kam der trockene Knall eines Gewehrschusses, der in großer Entfernung abgefeuert worden war. Dann merkte er nur noch, daß er fiel und keine Luft mehr bekam, daß er verzweifelt um Atem rang, den seine Lungen nicht einsaugen wollten. Er lag jetzt auf einem Geröllhaufen dicht unter den Randfelsen auf dem Rücken. Der Himmel vor seinen Augen war dunkelblau. Er konnte auch wieder atmen, obwohl das Lufholen schmerzhaft war. Und wieder klar denken. Er legte die Hand dorthin, wo der Schmerz wühlte auf die rechte Brustseite. Seine Finger berührten etwas Heißes, Feuchtes. Irgend jemand hatte auf ihn geschossen. Aber wer? Der Junge auf dem Pferd? Der hatte doch gar keinen Grund. Der Große Navajo? Aber natürlich! McKee schob sich so weit nach oben, daß er gegen die Randfelsen gelehnt dasaß, und tastete behutsam seinen Körper ab. Die Schußwunde im Rücken war wie ein brennender Fleck. Die Kugel war links von seiner linken Brustwarze ausgetreten und hatte ein Loch gerissen, aus dem
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das Blut strömte. Rippen gebrochen, dachte er. Aber die Lunge schien nicht getroffen zu sein. Sie arbeitete. McKee mußte husten und zuckte bei dem messerscharfen Schmerz in seiner Seite zusammen. Er versuchte zu überlegen. Der Große Navajo mußte zum Felsenhaus zurückgekehrt sein und Ellen gefunden haben. Sinnlos, noch weiter zu denken! Ein Stück weiter oben im Canon ertönte das dumpfe, knatternde Geräusch eines Zweikreismotors. Vermutlich ein Generator. Deswegen und weil er sich auf dem Canon-Boden befand, hatte Hall den Schuß wohl nicht gehört. Oder er hatte ihn zwar gehört, aber keinen Grund zur Beunruhigung darin gesehen. Er mußte Hall unbedingt rechtzeitig erreichen und ihm alles genau erzählen. McKee zog sich hoch, machte drei Schritte über das Geröll und blieb wieder stehen. Keuchend klammerte er sich an das über die Felsen gespannte, gummiumkleidete Kabel. Wenn er so weitermachte, brauchte er eine halbe Stunde, bis er den Lastwagen erreichte. Und so viel Zeit hatte er nicht. Als er über den Canon-Rand hinausblickte, konnte er zunächst nichts weiter sehen als das weite Plateau, vereinzelte Tuffs Büffelgras, hier und da eine von der Dürre verkrüppelte Pinie, einige Wacholder- und Kreosotbüsche eine Steinwüste, auf der sich keine Bewegung zeigte. Doch dann entdeckte er links die Gestalt eines Mannes, der langsam, das Gewehr mit dem Zielfernrohr quer über der Brust, näher kam. Er bewegte sich ohne Eile, doch unaufhaltsam auf die Stelle des Canon-Randes zu, von der McKee herabgefallen war. Dort, eine knappe halbe Meile von ihm entfernt, marschierte, mit gleichgültiger Miene unter dem breitrandigen schwarzen Hut, der sichere Tod. McKee bekämpfte den verzweifelten Wunsch, einfach die Flucht zu ergreifen. Als er die Panik endlich bewältigt hatte, verspürte er statt dessen einen harten, kalten, übermächtigen
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Zorn. Er sah sich suchend nach einer Waffe um, und da fiel ihm auf einmal die weiche Gummi-Isolierung des Kabels ein, das er umklammert hielt. Du Schwein! Du Schuft! Du wirst mich nicht abknallen wie ein verwundetes Tier! Du mußt schon kommen und mich holen! Wäre der Große Navajo unvorsichtig gewesen, wäre er direkt auf den Randfelsen zugekommen, dann hätte McKee nicht genügend Zeit gehabt. Aber der Große Navajo ging niemals ein Risiko ein. Als McKee endlich seine Schritte hörte, kamen sie von weiter unten. Der Jäger pirschte sich behutsam an, indem er die Stelle umging, an der er McKee, von seiner Kugel getroffen, hatte verschwinden sehen. Er ließ sich Zeit. McKee hatte inzwischen fieberhaft gearbeitet. Er zog das schlaffe Kabel über einen Felsblock und hämmerte mit einem Stein darauf. Das Kabel riß, und das eine Ende schnellte mit einem Funkenregen davon. Vom toten Ende schälte er mit seinem Taschenmesser ein ungefähr fünf Fuß langes Stück der dicken Gummihülle herunter. Während er arbeitete, nahm ein Plan in seinem Kopf Gestalt an. Nicht weit von ihm war eine riesige Goldkiefer schräg gegen die Felswand des Canons gestürzt - ein abgestorbener Stamm, dicht von Kiefernschößlingen überwuchert. Dort, wo es dunkel war, wollte er sich verstecken, das Gummi als Katapult an zwei Schößlingen befestigen, sich aus einem dritten Schößling eine Lanze schnitzen und hoffen, daß der Große Navajo einen Fehler beging. Aber der Große Navajo beging keinen Fehler. McKee sah ihn jetzt halb geduckt unterhalb der Randfelsen näher kommen. Der große Mann starrte zu der Stelle hinauf, an der McKees Blut auf den Steinen klebte. Im Schatten des Hutes erkannte McKee deutlich das scharfe Profil. Es war ein fast schönes Profil, falkengleich und gespannt. Der Große Navajo stieg zu dem Felsblock hinauf und kniete sich daneben auf den Boden. Sorgfältig untersuchte er das blutverschmierte
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Geröll, stand wieder auf, musterte den Abhang unter ihm und folgte dann aufmerksam der Spur, die McKee zurückgelassen hatte. McKee stemmte die Absätze tiefer in die Kiefernnadeln und testete mit der Lanze die Zugkraft des Katapults. Er hatte sich ein armlanges Stück von einem dreiviertelzölligen Kiefernstamm heruntergeschnitten, ihn zugespitzt und dann das Treibeisen seines Taschenmessers eine Handbreit vom dickeren Ende entfernt in das weiche Holz geschlagen'. Wenn er die Stahlspitze von seinem Messer abbrach, bildete sie den Haken, in den das Katapult-Gummi gehängt wurde. Er lag lang ausgestreckt und zog mit ganzer Kraft an dem starken Gummi. Den Speer entlangspähend, sah er den Hut des Navajo langsam höher kommen. Dann tauchten die Schultern auf, dann der Gürtel. Jetzt blieb der Mann stehen. Er musterte den umgestürzten Baum, die dicht wachsenden Jungkiefern. Angestrengt starrte der im Sonnenlicht Stehende in den Schatten hinein. McKee hielt den Atem an; er mußte ein Schwindelgefühl bekämpfen. Noch vier bis fünf Schritte näher, betete er. Komm doch, komm! Aber der Navajo blieb stehen und blickte genau auf die Stelle, an der McKee auf ihn lauerte. Seine Miene war nachdenklich. Auf einmal lächelte er. «Aha», sagte er, «da sind Sie ja!» McKee hatte den Eindruck, daß alles, was nun kam, im Zeitlupentempo abrollte. Mit der rechten Hand hob der Große Navajo langsam das Gewehr an die rechte Schulter, richtete mit der linken den Lauf auf ihn und brachte das Auge ans Zielfernrohr. All das geschah in der Sekunde, in der McKee die Lanze abschoß. Sicherlich lag es am Zielfernrohr. Mit bloßem Auge hätte der Indianer die Lanze sofort gesehen - also rechtzeitig genug, um noch zur Seite zu treten. Durch das Zielfernrohr jedoch entdeckte er sie zu spät. Es gab ein
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Geräusch, das McKee niemals vergessen würde: als träfe ein Hammer auf eine Melone. Scheppernd schlug das Gewehr auf die Steine, und dann fiel der Große Navajo mit dumpfem Poltern rückwärts den Hang hinab. McKee kroch aus dem Dickicht hervor und holte sich das Gewehr. Es war unendlich schwer für ihn. Der Große Navajo war mit dem Kopf voran zwischen zwei Felsblöcken steckengeblieben. McKee warf nur einen kurzen Blick auf ihn und wandte sich schnell wieder ab. Der Kiefernschaft hatte den Indianer tief in die Brust getroffen. Ausgeschlossen, daß er noch lebte. Der schwarze Hut lag neben dem Felsblock, die silbernen Conchos glitzerten in der Sonne. Ein Stück weiter oben am Hang lag ein mit einer Lederschnur zusammengehaltenes pelziges Bündel. McKee löste die Schnur: Es war ein Wolfsfell. McKee wurde von einem wirbelnden Schwindelgefühl gepackt. Ich habe mir schon immer ein Werwolfsfell gewünscht. Als Wandschmuck für mein Büro. Oder als Geschenk für Canfield. Dann fiel ihm ein, daß Canfield j a tot war. Außerdem merkte er, daß es an seiner linke Seite feucht wurde und daß das Hosenbein an seinem Schenkel klebte. Er hängte sich das Wolfsfell über den Arm und stieg den Abhang zum CanonBoden hinab. Einmal stürzte er. Aber er dachte an Ellen Leon und rappelte sich wieder auf. Und erreichte endlich den sandigen Boden, wo ihm das Gehen leichter fiel. «Werfen Sie das Gewehr weg!» «Was?» fragte McKee. Hinter einer Weidengruppe stand ein Junge. Neben ihm, mit hängenden Zügeln, ein Pferd. «Werfen Sie das Gewehr weg!» Der Junge trug eine rote Baseballmütze und hielt ein kurzläufiges Gewehr in der Hand. Eine alte 30-3o. Der Lauf war auf McKee gerichtet.
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McKee ließ das Gewehr des Großen Navajo fallen. Das Wolfsfell rutschte ihm ebenfalls vom Arm und blieb als dunkles Häufchen auf dem Sand liegen. «Wo ist der andere Anti ?» «Was?» fragte McKee abermals. Er mußte über diese Frage unbedingt erst nachdenken. «Er ist tot», sagte er nach einem Moment. «Er hat auf mich geschossen, und ich habe ihn umgebracht. Dahinten, unter den Randfelsen.» McKee stieß mit der Fußspitze an das Wolfsfell. «Das hier ist sein Werwolfsfell», erklärte er dann in der Navajo-Sprache. «Ich bin kein Anti. Ich bin der Mann, der in der Schule unterrichtet.» Der Junge sah ihn ausdruckslos an. «Ein Stückchen weiter steht ein Lastwagen», fuhr McKee fort. «Du mußt mich gehen lassen, damit ich den Lastwagen erreiche. Der Mann dort wird mir helfen.» «Also gut.» Der Junge zögerte; er dachte nach. «Sie gehen vor. Ich gehe hinter Ihnen.» Erst als er auf dreißig Schritt herangekommen war, sah er den Wagen - in einem Dickicht aus Tamarisken und Weiden gleich oberhalb des Canon-Bodens versteckt. Daneben stand ein laufender Benzingenerator. Die Hecktür des Kastenwagens stand offen, das Vorhängeschloß baumelte in der Haspe. Aus dem Wagen kam leises Pfeifen, und gleich darauf ein Hämmern von Metall auf Metall. McKee blieb stehen. «Hallo!» rief er. Die eigene Stimme war ihm fremd. McKee tat noch zwei Schritte auf den Lastwagen zu. Das Pfeifen hatte aufgehört. Nun kam ein Mann an die Tür des Wagens - blond, in Drillichjacke, größer und jünger als McKee, mit einem Hörapparat hinter dem linken Ohr. Die blauen Augen, die sekundenlang auf McKee ruhten, verrieten Überraschung und Schreck.
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«Zum Teufel, was ist denn hier los?» fragte er. Sofort stieg er aus und kam auf McKee zugelaufen. «Bin angeschossen worden», stammelte McKee. «Jemand hat auf mich geschossen.» Seine Stimme klang belegt. «Die Blutung muß gestillt werden.» Unvermittelt setzte er sich in den Sand. Der Blonde sagte etwas. «Reden Sie nicht, hören Sie zu», verlangte McKee. «Sind Sie Jim Hall?» «Woher wissen Sie das?» «Hören Sie», sagte McKee, «erklären Sie diesem Jungen hier, daß ich kein Anti bin, dann wird er Ihnen helfen.» Er machte eine Pause und begann dann von neuem. Er mühte sich, die Worte deutlich zu artikulieren. «Ellen Leon ist auch verwundet. Ellen Leon. Sie ist oben in dem großen Felsenhaus in einem Canon...» Krampfhaft versuchte McKee zu denken. «In dem Canon, der südwestlich von hier in den Many Ruins mündet.» Der Mann hatte sich dicht neben McKee gehockt. Es fiel McKee schwer, sich auf das Gesicht zu konzentrieren. Es war ein erstauntes, verwundertes, erregtes, vielleicht sogar verängstigtes Gesicht. «Ellen, sagten Sie?» erkundigte sich der Mann. «Was in aller Welt hat Ellen hier draußen zu suchen? Was ist ihr zugestoßen?» «Man hat auf sie geschossen. Braucht Hilfe», stammelte McKee. «Gehen Sie, helfen Sie ihr.» «Wer hat auf sie geschossen?» fragte Hall. «Ein Mann. Eddie.» McKee war unsäglich müde. Warum ging dieser Idiot denn nicht? «Keine Angst», sagte er, «Eddie ist tot.» Er hörte, daß der Mann ihn noch etwas fragte, aber er wußte keine Antwort darauf. Und dann spürte er die Hände des Mannes an seinem Kopf, und der Mann sprach ihm direkt ins Gesicht.
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«Hören Sie, Sie müssen mir alles sagen! Was ist mit Eddie? Was ist ihm zugestoßen? War noch ein Mann dabei? Wo ist der Mann, der noch dabei war?» McKee wußte nicht, was er antworten sollte. Irgend etwas stimmte hier nicht. Er wollte sagen: «Tot.» Aber Jim Hall sprach schon weiter. «Antworten Sie mir, verdammt noch mal!» befahl Dr. Hall in wütendem Ton. «Ist die Polizei unterrichtet? Hat jemand die Polizei informiert?» McKee nahm sich vor, gleich, in wenigen Sekunden, darauf zu antworten. Zunächst mußte er sich jedoch darauf konzentrieren, nicht seitlich umzukippen. Jim Hall stand auf. Er redete auf den Jungen mit der roten Baseballmütze ein, und dann gab der Junge eine Antwort. McKee konnte nur einen Teil verstehen. «Hast du den Anti gesehen, den er getötet hat?» Die Antwort des Jungen hörte er nicht. «Du hattest recht», sagte Hall darauf. «Dieser Mann ist der Navajo-Wolf. Gib mir dein Gewehr.» McKee hörte nicht weiter zu. Er überlegte, wieso Jim Hall von dem Mann wußte, der bei Eddie gewesen war, überlegte, weshalb sich Hall so seltsam verhielt. Und hatte fast unmittelbar darauf die Antwort gefunden. Eine klare, erschütternde, deprimierende Antwort. Hall war der zweite Helfer des Großen Navajo! Der Junge hatte Hall das Gewehr nicht gegeben. Er stand mit unsicherer Miene regungslos da. «Dann leg das Gewehr da in den Wagen», verlangte Hall. «Wir werden den Anti hier liegenlassen. Aber zuerst werden wir ihn gut fesseln. Und dann werden wir nach Chinle fahren und die Polizei benachrichtigen.» Hall hielt inne. «Gib mir das Gewehr. Ich lege es in den Wagen.» «Nicht», sagte McKee. «Gib ihm das Gewehr nicht!»
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Hall wandte sich zu ihm um. McKee konzentrierte sich auf sein Gesicht. Es wirkte wütend. Und dann sah es auf einmal gar nicht mehr wütend aus. Denn eine andere Stimme hatte etwas gesagt. In der Navajo-Sprache. «Ganz recht, Billy Nez. Gib ihm dein Gewehr nicht.» Noch während McKee Jim Hall ansah, verschwand die Wut auf dessen Gesicht, und es wirkte nur noch erschrocken und elend. Dann war es fort. McKee gab auf. Er kippte zur Seite. Viel besser so. Mit einem metallischen Klappen fiel die Tür des Kastenwagens ins Schloß. Dann kam eine Stimme - die Stimme Joe Leaphorns - und kurz darauf ein einzelner, lauter Knall. Ich darf nicht ohnmächtig werden, ermahnte sich McKee. Ich muß ihm zuerst noch von Ellen erzählen. Dann wurde er ohnmächtig.
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Zuerst nahm er nur den widerlichen Äthergeruch, die Glätte der Bettlaken, den Zinkleimverband um seine Brust und die Schiene an seiner fest bandagierten rechten Hand wahr. Es herrschte Dunkelheit im Zimmer. Am Fenster stand die Silhouette eines Mannes, der in das Sonnenlicht hinaussah. Der Mann war Joe Leaphorn. «Habt ihr sie gefunden?» erkundigte sich McKee. «Gewiß», antwortete Leaphorn. Er kam herüber und setzte sich ans Bett. «Wir haben sie sogar eher gefunden als dich.» Er schnitt McKees Frage ab. «Sie liegt hier auf demselben Flur. Gebrochener Wangenknochen, Schulterblattbruch und Blutverlust.» Grinsend musterte er McKee. «In dich haben sie unglaubliche Mengen Blut hineinpumpen müssen. Vollkommen ausgetrocknet.» «Wird sie sich wieder erholen?» «Sie hat sich schon wieder erholt. Du selbst bist jetzt seit zwei Tagen hier.» McKee überlegte eine Weile. «Ihr Freund...» fragte er dann. «Wie ist die Sache im Canon eigentlich ausgegangen?» «Der Lump hat sich erschossen», berichtete Leaphorn. «Ist einfach in den Wagen gestiegen, hat die Tür hinter sich zugeschlagen, hat sie verschlossen, hat eine kleine 22.er rausgeholt, die er da drinnen liegen hatte, und hat sich in den Kopf geschossen.» Leaphorn machte ein empörtes Gesicht. «Und das, während ich daneben stand», fügte er hinzu. Es klang, als könne er es noch immer nicht fassen. McKee wurde übel. Vielleicht lag es am Äther.
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«Du hast jetzt mehr Navajo-Blut in den Adern als ich», sagte Leaphorn. «Der Doktor meint, deine Ölwanne hätte ein Loch. Zig Liter haben dir gefehlt.» «Du hast sie vermutlich über Hall aufklären müssen.» «Sie weiß Bescheid.» «Er muß verrückt gewesen sein», sagte McKee. «Verrückt auf Reichtum», ergänzte Leaphorn. «Ihr nennt es Ehrgeiz. Wir nennen es manchmal Bösen Zauber. Du kennst doch den Ur-Mythos, in dem Erste Frau den Falken in die Vierte Welt zurückschickt, um ihr das Zauber-Bündel zu holen. Sie befahl ihm, hinabzutauchen und ihr < die Kunst, Geld zu machen> zu bringen.» «Hör auf mit der Philosophie!» stöhnte McKee. «Was ist eigentlich passiert? Wie habt ihr sie gefunden?» «Ich habe schon oft festgestellt, daß Belacani-Frauen klüger sind als Belacani-Männer», sagte Leaphorn. «Miss Leon hat sich auf dem Felsvorsprung zum Campingkocher geschleppt. Sie hat Kerosin ausgegossen und damit ein nettes kleines Rauchfeuerchen gemacht. Man konnte es meilenweit sehen.» Grinsend blickte er auf McKee hinab. «Und dann ist ihr noch ein Gedanke gekommen, der möglicherweise für dich von Interesse ist. Sie hatte bereits ihre Zweifel im Hinblick auf Hall, als ich sie fand. War fürchterlich aufgeregt. Du wärst ihn suchen gegangen, erklärte sie mir, und nun fürchtete sie, daß dir etwas zustoßen könnte. Sie wollte, daß ich diese Felsspalte hinaufklettere und dir über das ganze Plateau nachlaufe, um dir zu helfen.» McKee fühlte sich schon viel besser. Er fühlte sich sogar großartig. «Weshalb bist du nicht auf den naheliegenden Gedanken gekommen, ein Rauchfeuer zu machen?» erkundigte sich Leaphorn. «Diese Kaminkletterei war doch nur Angabe.» «Woher sollte ich wissen, daß du da draußen herumwanderst?» entgegnete McKee. «Normalerweise ist es
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doch immer die Kavallerie, die sofort zur Stelle ist. Nicht die Indianerpolizei.» Jetzt fiel McKee etwas ein, was ihn ernüchterte. «Du weißt vermutlich, daß ich die beiden Männer umgebracht habe, nicht wahr?» «Nach offizieller Lesart hast du nichts dergleichen getan», gab Leaphorn zurück. «Nach offizieller Lesart haben wir nur zwei Tote. Nach offizieller Lesart sind Dr. Canfield und Jim Hall bei einem Autounfall umgekommen, bei dem Miss Leon und du verletzt wurden. Und nach offizieller Lesart haben Eddie Poher und George Jackson überhaupt nicht existiert.» «So hießen sie also! Was ging da überhaupt vor? Was machte Hall da in dem Canon?» «Das ist ein Staatsgeheimnis.» «Ich pfeife auf dein Staatsgeheimnis», schimpfte McKee. «Wenn du von mir verlangst, daß ich über Canfields Tod ein Märchen erzähle, dann gibt es vor mir keine Staatsgeheimnisse.» «Ich darf eigentlich nicht mal selbst davon wissen.» «Aber du weißt davon.» Leaphorn sah seinen Freund lange an. «Nun ja», meinte er dann, «du hast schließlich eines von seinen Kabeln durchschnitten, also wirst du vermutlich auch wissen, daß Hall auf jenem Plateau überall tragbare Radargeräte verteilt hatte. Und weiterhin wirst du wissen, daß dieses Plateau direkt unter der Luftlinie zwischen der Tonepah Range oben in Utah und dem White-Sands-Übungsgelände im Süden liegt.» «Gewiß», antwortete McKee, «das ist mir bekannt.» Er fragte sich, wieso er nicht schon lange auf Radar gekommen war. «Hall saß mit seinem Radar direkt unter dem, was das Militär die nennt, und wenn die Vögel von Tonepah abflogen, gaben die Radargeräte dem Computer, den Hall in
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seinem Kastenwagen hatte, Informationen ein, die Hall auf Band aufnahm.» «Was wurde denn da vom Militär getestet?» «Der militärische Geheimdienst pflegt der Navajo-Polizei derartige Dinge gewöhnlich nicht mitzuteilen.» «Aber ich wette, daß du es dir denken kannst.» Leaphorn warf ihm einen Blick zu. «Vielleicht die MIRV, eine Interkontinentalrakete. Newsweek hat schon darüber berichtet. Ein einzelnes Geschoß, das aber fünf bis sechs Sprengköpfe und ein paar Attrappen abschießt. Wenn ich mal raten sollte, würde ich darauf tippen.» «Aber ich sehe noch immer keinen Sinn dahinter. Was hat er mit diesen Informationen angefangen, und wieso hat sich ein Mann wie Hall überhaupt mit solchen Verbrechern eingelassen?» «Wenn du mal fünf Minuten den Mund halten würdest, dann könnte ich es dir erklären.» Nach allem, was bis jetzt bekannt sei, berichtete Leaphorn, seien Hall, Poher und Jackson vor nahezu zwei Monaten getrennt in die Reservation gekommen. Ein Fingerabdruckvergleich war überaus aufschlußreich gewesen. Poher war relativ unbekannt. Eine Festnahme wegen Verdachts auf Vorbereitung eines Bankraubes, einige MafiaKontakte an der Ostküste, aber keine Verurteilung. Mit Jackson dagegen war es eine andere Sache. Der war außerdem unter den Namen Amos Raven, Big Raven und George Thomas bekannt. Sein Vorstrafenregister enthielt mehrere Jugendstrafen aus den späten dreißiger Jahren in Los Angeles, eine Erwachsenenstrafe wegen bewaffneten Raubüberfalls und ein halbes Dutzend Festnahmen zur Befragung im Zusammenhang mit den verschiedensten Gewaltverbrechen allesamt Mafia-bezogen.
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«Ein Umsiedler-Indianer. Jackson ist anscheinend in Los Angeles geboren.» Leaphorn lachte. «Ein Navajo aus Kalifornien. Das hat mich irregeführt. Ich hatte erwartet, daß er sich wie ein Angehöriger Des Volkes verhielt. Dabei hatte er eindeutig alles, was er über Das Volk wußte, aus Büchern.» «Zum Beispiel aus den < Case Studies in Navajo Etbnic Aberrations >», warf McKee ein. «Von John Greersen.» «Jedenfalls», fuhr Leaphorn fort, «wurde Jackson anscheinend nur für diese Aufgabe gewählt, weil er ein Navajo war und auch so aussah. Er muß den Auftrag gehabt haben, Hall beim Aufstellen der Geräte zu helfen und dafür zu sorgen, daß niemand erfuhr, was sich dort tat. Vermutlich haben sie das aus denselben Gründen für einfach gehalten, aus denen das Militär diese Route für die Raketengeschoßbahn ausgesucht hat: die Gegend ist praktisch menschenleer. Hall schlug sein Lager im Many-Ruins-Canon-Komplex auf, den Das Volk wegen der Geister der Anasazi meidet, und Jackson verscheuchte die wenigen, die sich trotzdem hineinwagten, indem er den Werwolf spielte.» «Bis auf Horseman», unterbrach ihn McKee. «Ja. Bis auf Horseman.» Leaphorns Ton war trocken. «Es war nicht deine Schuld», tröstete ihn McKee. «Weißt du nicht mehr, was ich im Handelsposten zu Jackson gesagt habe? Ich sagte, wenn Horseman nicht freiwillig herauskomme, würden wir ihn uns holen. Deswegen hat Jackson ihn für uns hinausgebracht und dort deponiert, wo wir ihn mit Sicherheit finden mußten.» «Denk doch mal nach, Joe! Das hättest du niemals verhindern können.» «Ich habe zu lange gebraucht, um darauf zu kommen», entgegnete Leaphorn. «Ich habe geahnt, daß mit Jackson etwas nicht stimmt. Aber ich verließ mich darauf, daß er wie ein Navajo reagieren würde. Dabei reagierte er wie ein Weißer Mann.»
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«Vielen Dank», sagte McKee. «Als Navajo hätte für ihn der Mord an Horseman das Ende der Angelegenheit bedeutet - ohne Rücksicht auf das, was er hier sonst noch plante. Er hätte sich irgendwo zurückgezogen, ein Dampfbad genommen, hätte sich einen Sänger gesucht, sich heilen lassen und alles vergessen.» Leaphorn berichtete McKee von dem Feindzauber und wie er die Stelle gefunden hatte, an der Jackson den Fahrweg zur Ceniza Mesa hinauf geräumt hatte. «Er hatte da oben eines der Radargeräte aufgestellt und wollte den Fahrweg verbessern, um es später schnell und ohne Zuhilfenahme der Winde wieder herunterholen zu können. Als er seinen Hut vermißte, wurde ihm klar, daß ihn jemand gesehen hatte, also holte er das Radargerät wieder vom Plateau herunter. Zu dem Zeitpunkt wußte ich noch nichts von den Radargeräten, aber ich erkannte immer deutlicher, daß es um eine Menge Geld gehen mußte. Diese beiden Faktoren zusammen - viel Geld und ein Mord - sind widernatürlich und daher atypisch für einen Navajo.» «Nun gut», sagte McKee, «das will ich dir abkaufen. Aber wie ist Jim Hall da hineingeschlittert?» «Ich weiß es nicht», antwortete Leaphorn. «Wie ich höre, schnüffelt die Bundespolizei augenblicklich in einer kleinen Elektronikfirma an der Westküste herum, die der Mafia gehört. Ich glaube, Hall hat früher schon mal für sie gearbeitet, aber legal.» Er sah McKee nachdenklich an. «Hast du dir denn gar nichts dabei gedacht, daß Jackson unbedingt diesen Brief von dir haben wollte?» «Er sagte mir, er wolle verhindern, daß man dahinten nach uns sucht», antwortete McKee. «Was sollte ich mir sonst dabei denken?» «Überleg doch mal», sagte Leaphorn. «Wenn jemand einen Haufen Computerstreifen mit genauen Informationen über das Raketensystem des Gegners besitzt, dann ist das eine Menge
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Geld wert. Noch mehr wert ist es allerdings, wenn der Gegner keine Ahnung hat, daß man diese Informationen besitzt. Habe ich recht?» «Weil er sonst das System ändern würde», ergänzte McKee. «Eddie sagte tatsächlich etwas Dahingehendes. Daß der Brief eine Menge Geld wert sei.» Jetzt kam eine Krankenschwester herein, eine NavajoIndianerin in der Tracht des Indian Service Hospital. Sie machte Leaphorn Vorwürfe, daß er viel zu lange geblieben sei, maß McKees Temperatur und gab ihm einen Schluck Wasser und eine Kapsel zum Einnehmen. Als McKee wieder erwachte, stand ein Tablett mit einem zugedeckten Teller neben seinem Bett, und neben dem Teller lag ein Brief. Er drehte den Umschlag in seiner gesunden Hand hin und her, bevor er ihn öffnete: Wie immer lag sein Verstand mit seinem ewigen, unverbesserlichen Optimismus im Streit. Der Brief kam von Ellen Leon. Morgen, so fing er an, werde der Arzt ihr erlauben, ihn zu besuchen. Dies waren nicht nur siebzehn nüchterne Worte in blauer Tinte auf blauem Papier. Nein, dies war ein langer, langer Brief.
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