Info: William King Warhammer 40.000
Wolfskrieger Für Ragnar scheint der glücklichste Tag in seinem noch jungen Leben a...
42 downloads
487 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Info: William King Warhammer 40.000
Wolfskrieger Für Ragnar scheint der glücklichste Tag in seinem noch jungen Leben angebrochen zu sein. Von einer Winterlichen Schiffsreise zu den Eiseninseln zurückgekehrt, steht seine Aufnahme in die Reihen der Männer in einem Fest bevor. Doch die ausgelassene Feier währt nicht lange. Die arglos Zechenden werden von Grimmschädeln überfallen, die jene Insel zurückerobern wollen, von der sie vor vielen Jahren vertrieben wurden. Ragnar kämpft wie ein Berserker und erschlägt zahlreiche Feinde, bis er schwer verwundet auf dem Schlachtfeld liegen bleibt. Er ist der einzige Überlebende seines Stammes und wird von unbekannten Magiern gesund gepflegt. Nach seiner Genesung wird er in ein Übungslager mit kampferprobten Jugendlichen gebracht, wo er im Kampf gegen Seine Kameraden, wilde Bestien und die unerbittliche Natur zu einem verwegenen Krieger heranreift. Ragnar beschleicht ein entsetzlicher Gedanke: Ist die kleine, beschauliche Welt, die er kannte, in Wahrheit eine Zuchtstätte für den Nachwuchs des mächtigen Wolfsordens? Und wer ist der Feind, der solche Anstrengungen erfordert? Ragnar erklimmt Stufe um Stufe in der Hiararchie der Space-Marines, doch die eigentliche Bewährungsprobe steht ihm noch bevor ...
Scan, Korrektur, Layout by Larentia Mai 2003 Diese digitale Kopie ist NICHT für den Verkauf bestimmt !
In gleicher Ausstattung erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY die Serien: WARHAMMER
Jack Yeovil: Drachenfels • 06/5571 Jack Yeovil: Die untote Geneviève • 06/5575 David Pringle (Hrsg.): Das Gelächter dunkler Götter •06/5576 Jack Yeovil: Bestien in Samt und Seide • 06/5577 KONRAD-TRILOGIE :
David Ferring: Konrad • 06/5572 David Ferring: Schattenbrut • 06/5573 David Ferring: Kriegsklinge • 06/5574 ORPHEUS-TRILOGIE:
Brian Craig: Zaragoz • 06/5578 Brian Craig: Seuchendämon • 06/5579 Brian Craig: Sturmkrieger • 06/5580 DIE ABENTEUER VON GOTREK UND FELIX :
William King: Schicksalsgefährten • 06/9116 William King: Der Graue Prophet • 06/9117 William King: Die Chaos-Wüste • 06/9118 William King: Der Hort des Drachen • 06/9119 (in Vorb.) William King: Dämonenkrieger • 06/9120 (in Vorb.) WARHAMMER 40000
Ian Watson: Inquisitor • 06/5551 Ian Watson: Space Marine • 06/5552 Ian Watson: Harlekin • 06/5553 Neu Jones & David Pringle: Genräuber • 06/5554 Ian Watson: Kind des Chaos • 06/5556 William King: Wolfskrieger • 06/5557 William King: Ragnars Mission • 06/5558 (in Vorb.)
WARHAMMER 40.000
WILLIAM KING
Wolfskrieger Roman Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/5557
Titel der englischen Originalausgabe SPACE WOLF Deutsche Übersetzung von Christian Jentzsch
Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt Deutsche Erstausgabe Redaktion: Ralf Oliver Dürr Copyright © 1999 by Games Workshop Ltd. Erstausgabe by Black Library/Games Workshop Ltd. Warhammer® und Games Workshop Ltd.® sind eingetragene Warenzeichen Umschlagbild: Wayne England/Games Workshop Ltd. Copyright © 2002 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München http: //www.heyne.de Printed in Germany 2002 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin ISBN 3-453-21318-1
PROLOG
STURM AUF HESPERIDA Überall standen Gebäude in Flammen. Ragnar schritt durch den Moloch der Schlacht und rief seinen Männern Befehle zu. »Bruder Hrolf - schießt sofort zwei Krak-Raketen auf diese vorgeschobene Geschützstellung ab! Die übrigen Brüder sollen sich neu formieren und sich auf den Sturmangriff vorbereiten, sobald der Zugang freigesprengt ist.« Über den Ohrstöpsel, der ihn mit dem Funknetz verband, kamen Bestätigungen. Er spurtete von dem Eingang, wo er Deckung gesucht hatte, zu einem riesigen Trümmerblock, der seinem Ziel gute zwanzig Meter näher war. Gegnerische Laserstrahlen pulverisierten den Beton hinter seinen Fersen, aber selbst in seiner verstärkten Schlachtrüstung bewegte er sich noch so schnell, dass die Ketzer ihn nicht richtig ins Visier bekamen. Er duckte sich hinter den Trümmern und wartete einen Moment. Das Donnern schwerer Geschütze lag in der Luft. Irgendwo in der Ferne war das Heulen von Thunderhawk-Triebwerken und ein mehrfacher Überschallknall zu hören, als die Flugmaschinen ihre Umlaufgeschwindigkeit verringerten. Gleich darauf durchdrangen strahlend gelbe Kondensstreifen die bleiernen Wolken, und die Kampfhubschrauber wurden sichtbar. Raketenbündel lösten sich von ihren Tragflächen, rasten erdwärts und schlugen Augenblicke später in die Stellungen der Ketzer ein. Er prüfte seine Waffen mit der aus einem Jahrhundert der Erfahrung geborenen Präzision, holte tief Luft, murmelte ein an den Kaiser gerichtetes Gebet und wartete. Er war sich allem bewusst. Sein Primärherz schlug regelmäßig. Die geringfügigeren Schnitte und Kratzer, die ihm
umherfliegende Splitter zugefügt hatten, verheilten bereits. Er spürte, wie sich eine Schramme in seiner Wange schloss. Seine Sinne - weitaus schärfer als diejenigen des Menschen, der er früher einmal gewesen war - versorgten ihn mit einem steten Fluss von Informationen über das Schlachtfeld ringsumher. Er konnte die beruhigende Anwesenheit seiner Schlachtbrüder in der Nähe riechen, eine Mischung aus gehärtetem Ceramit, Öl, dem Fleisch von Fenris und den subtilen Duftstoffen, die verrieten, dass sie nicht ganz menschlich waren. Mehr noch, er konnte die schwachen Pheromone von Wut, Schmerz und gut beherrschter Furcht wahrnehmen. Er überprüfte seine Rüstung, um sich zu vergewissern, dass ihr struktureller Zusammenhalt nicht gelitten hatte. Hier und da waren ein paar Schrammen, wo Splitter vom gehärteten Ceramit der Rüstung abgeprallt waren. An zwei Stellen hatte die Tarnbemalung Blasen geworfen, die von der flüchtigen Bekanntschaft mit dem Strahl einer Laserkanone kündeten. An einem Schulterpolster hatte ein Geschoss die leicht erhöhte Umrandung durchschlagen. Nichts Ernstes. Die Servomotoren, die den mächtigen Kampfanzug mit Energie versorgten, arbeiteten gegenwärtig mit 75 Prozent Wirkungsgrad, da die meisten Systeme leerliefen, um Energie zu sparen. Die in den Anzug eingebauten Auto-Sensoren informierten ihn über schwache Spuren von Schadstoffen, Verseuchungsstoffen und Neurotoxinen, welche die Ketzer zu Beginn des Aufstands bei ihrem Überraschungsangriff auf die loyalistischen Truppen eingesetzt hatten. Kein Grund zu übermäßiger Sorge, gelobt sei Russ. Die Fähigkeit seines Körpers, Gifte abzubauen, wurde kaum benötigt, um mit den Schadstoffen fertig zu werden. Er hatte schon mit Giften zu tun gehabt, die stark genug waren, um Kopfschmerzen, Muskelkrämpfe und Schwindelanfälle zu verursachen, während sein Körper sich daran anpasste. Diese hier waren nicht annähernd von so einem Kaliber. Alles in
allem sah es gar nicht so schlecht aus. Um die Wahrheit zu sagen, er genoss die Situation sogar. Nach einem Monat der Meditation in seiner Zelle im Fang und einer Woche beklemmender Enge an Bord eines der großen ImperiumsSternenkreuzer auf dem Weg zu diesem unbedeutenden Kriegsschauplatz schwelgte er förmlich in der Aktivität. Tatsächlich war das kaum überraschend: er war dazu geboren und ausgebildet. Sein ganzes Leben war eine Vorbereitung auf diesen Augenblick. Denn schließlich war er ein Kaiserlicher Space Marine vom Orden der Space Wolves. Was konnte er mehr vom Leben verlangen als das hier? Er hatte eine geladene Bolzenpistole in der Hand und die Feinde des Kaisers vor sich. In diesem Leben gab es kein größeres Vergnügen, als seine Pflicht zu erfüllen und dem Leben jener verblendeten Ketzer ein Ende zu setzen. Das Mauerwerk in seinem Rücken erbebte. Steinbrocken prallten von seiner Rüstung ab. Jemand hatte seine Deckung unter Beschuss genommen, vielleicht mit einer Rakete oder einer schweren Bolzengranate. Es spielte keine Rolle. Aus langer Erfahrung wusste er, dass der metallverstärkte Beton so etwas verkraften konnte. Er studierte die Zeitanzeige, die sich über sein Gesichtsfeld legte. Eine Minute und vier Sekunden waren verstrichen, seit er Bruder Hrolf seine Befehle erteilt hatte. Seiner Schätzung nach würde Hrolf zwei Minuten brauchen, um Stellung zu beziehen, und weitere zehn Sekunden, um die Raketen auszurichten und abzufeuern. Das war mehr als genug Zeit für den Rest seiner Streitmacht, um in Stellung zu gehen. Für die Ketzer hingegen reichte die Zeit nicht aus, um seine Deckung zu pulverisieren, wenn sie nicht mehr Feuerkraft aufwendeten, als dies augenblicklich der Fall war. Offenbar war dem gegnerischen Kommandant dieser Gedanke ebenfalls gekommen. Ragnar hörte den Lärm monströser Ketten näher kommen. Er wusste, dass er von
einem feindlichen Vehikel verursacht werden musste. Die Streitkräfte des Imperiums hatten gerade erst mit der Landung begonnen, wobei die Space Wolves die Speerspitze bildeten. Sie konnten noch keine Panzerfahrzeuge abgesetzt haben. Die logische Schlussfolgerung war simpel. Was immer sich näherte, war nicht freundlich gesinnt. Unmittelbar darauf bestätigte ein Ruf über Funk diese Einschätzung. +Truppe Ragnar. Feindlicher Panzer vom Typ Predator nähert sich Ihrer Stellung. Wünschen Sie Unterstützung? Ende+
Ragnar überlegte kurz. An dieser Stelle wurde die Luftunterstützung der Thunderhawks anderenorts dringender gebraucht, um den Einheiten zu helfen, die sich gerade im kritischen Stadium der Landung befanden und vom Feind unter Beschuss genommen wurden. Er wollte diese Hilfe nicht von seinen Schlachtbrüdern abziehen. Insbesondere nicht, um sich eines einzigen feindlichen Panzers zu erwehren. +Hier Ragnar. Negativ. Wir kümmern uns selbst um den Predator. Ende.+ +Nachricht erhalten und verstanden. Möge der Kaiser über euch wachen. Ende.+
Ragnar wog seine Möglichkeiten ab. Er konnte hören, wie der Panzer sich näherte, und die stechenden Abgase seiner Auspuffanlage riechen. Beton wurde unter seinen Ketten zermahlen. Er konnte Bruder Hrolf auffordern, den Panzer mit den schweren Artilleriewaffen der Abteilung zu zerstören, aber das hieße, den Angriff auf den Bunker abzublasen, während Hrolf eine neue Stellung bezog, doch dafür bestand keine Notwendigkeit, wenn er sich selbst um den Panzer kümmerte. Er überprüfte die Fächer in seinem Vielzweckgürtel. Alles war an Ort und Stelle. Injektoren mit Heilmitteln, Granatspender, Reparaturpflaster. Er tippte gegen den Granatspender, und eine Krak-Granate fiel in seine Hand. Die würde reichen. Er spähte aus seiner Deckung und sah den
langen Geschützlauf des Predator um die Ecke biegen. Augenblicke später wurde der ganze Panzer sichtbar. Es handelte sich um das Standardmodell eines Imperiumspanzers, doch anstelle der akuraten Lackierung der Kaiserlichen Planetaren Armeen war er in aller Hast blutrot eingesprüht worden, und auf die Flanke hatte man mit gelber Farbe ein primitives achtarmiges Chaos-Symbol gepinselt. Beim Anblick des verhassten Emblems bleckte Ragnar die Zähne. Es war das Zeichen der Dämonenanbeter, die geschworen hatten, alles zu stürzen, für dessen Erhaltung Ragnar sein Leben lang gekämpft hatte, und sein bloßer Anblick weckte die animalische Wildheit, die Bestie, die ein Teil seiner Natur als Space Wolf war, und ließ sie in den Vordergrund treten. Er erhob sich und maß mit geübtem Auge die Entfernung zwischen sich und dem Panzer. Nicht mehr als hundert Schritte, schätzte er. Die Entfernung verringerte sich rasch, da der Panzer vorwärts rumpelte. Er konnte erkennen, dass die leichten Turmgeschütze bereits auf ihn einschwenkten. Seine Stellung war umgangen worden. Nur gut, dass er ohnehin beschlossen hatte, sie aufzugeben. Die Servomotoren seiner Rüstung jaulten, als er über das offene Gelände dem Panzer entgegenrannte. Abermals waren ihm die Laserstrahlen dicht auf den Fersen, aber wie er gehofft hatte, waren die Schützen zu überrascht über seinen unvermuteten Ausbruch aus der Deckung, um ihn schnell aufs Korn zu nehmen. Auch die Schützen im Panzer trauten offenbar ihren Augen nicht. Leuchtspurgeschosse zischten über seinen Kopf hinweg. Die Bemühungen der Schützen waren halbherzig. Sie schienen zu glauben, dass er unter ihrem heranrasenden Vehikel zerquetscht würde. Ragnar hatte die Absicht, sie eines Besseren zu belehren. Sie würden dafür büßen, einen der Söhne von Leman Russ unterschätzt zu haben. Er lief dem Panzer geradewegs entgegen. Er wuchs rasch in
seinem Blickfeld. Obwohl er oft neben solchen Vehikeln marschiert war oder sich an ihnen festgeklammert hatte, während sie ihn und seine Schlachtbrüder ins Gefecht trugen, überraschte es ihn, wie groß dieser jetzt aussah. Er lächelte. Es war immer etwas anderes, wenn man mit einem Panzer tatsächlich kämpfen musste. Der Abstand zwischen ihm und dem Predator verringerte sich rasch. Das Summen der Vibrationen seines Motors lag in der Luft. Der Gestank der Abgase drang ihm jetzt fast überwältigend stark in die Nase. Das Flackern des Laserbeschusses kam seinen Fersen noch näher. Im letzten Augenblick warf er sich nach rechts und brachte damit den Predator zwischen sich und das Feuer aus dem Feindbunker. Er warf die erste Krak-Granate zwischen die Steuerräder und die mit ihnen verbundenen Ketten. Der Zünder war auf drei Sekunden eingestellt. Reichlich Zeit für Ragnar, noch eine Granate nachzulegen. Als sie explodierten, wurden Teile der Kette weggesprengt, und die Steuerräder kamen knirschend zum Stillstand, als die Kraftübertragung ins Stocken geriet. Ein riesiges Stück Kette riss sich flatternd los und hätte Ragnar beinahe getroffen. Nur seine blitzschnellen Reflexe, die infolge der Anspannung der Schlacht auf übermenschliche Schärfe eingestellt waren, ermöglichten ihm, sich gerade noch rechtzeitig zu ducken. Die schiere Wucht, mit der die gegliederten Metallsegmente sich bewegten, hätte sicher ausgereicht, um ihn sauber zu enthaupten. Des Antriebs einer Kette beraubt, drehte der Predator sich jetzt langsam auf der Stelle. Die Kette auf der anderen Seite funktionierte noch und trieb das Vehikel vorwärts, aber es würde nirgendwohin fahren, nur noch im Kreis. Darüber war Ragnar froh. Da der Geschützturm bereits in die Richtung seiner Einheit schwenkte, wurde es Zeit, zur nächsten Phase seines Plans überzugehen.
Mit einem gewaltigen Satz sprang Ragnar oberhalb des Kettenschutzes auf die Seite des Predator. Er landete leichtfüßig und mit einem Klirren seiner Ceramitstiefel auf der Wandung, dann lief er vorwärts, während er bei Russ hoffte, dass in dem Panzer noch niemand durchschaut hatte, was vorging. Er konnte gedämpft das Bellen von Befehlen und verwirrtes Geschrei hören, also nahm er an, dass noch alle im Dunkeln tappten. Gut. Sie würden niemals erkennen, was über sie gekommen war. Er lief weiter zum Geschützturm und sah, dass die Luke geschlossen war. Ein Jammer, dachte Ragnar, aber nichtsdestoweniger hatte er genau damit gerechnet. In einer Nahkampfsituation würde kein Panzerkommandant mit entblößtem Haupt herumfahren. Trotzdem war es dumm von ihnen, dass sie ohne Infanterieunterstützung so weit vorgerückt waren. Die Ausführung seines Plans wäre ihm in Anwesenheit bewaffneter Fußtruppen erheblich schwerer gefallen. Er nahm an, dass der Panzer auf ein verzweifeltes Hilfeersuchen des Bunkers hin so rasch wie möglich gekommen war. Nun, er würde dafür sorgen, dass die Ketzer für diesen Fehler büßten. Er packte den Griff auf dem Geschützturm mit beiden Händen und wappnete sich, dann spannte er seine verstärkten Muskeln an und zog mit aller Kraft. Nichts geschah. Er führte den Servomotoren seiner Rüstung immer mehr Energie zu, bis die Muskelfasern kurz vor der Überladung standen und die in seinem Blickfeld aufleuchtenden Wartungsanzeigen sich immer weiter in den roten Bereich schoben. Langsam und mit einem grässlichen Knirschen löste sich die Luke aus ihren Angeln. Ceramit bog sich unter der furchtbaren Kraft des Space Wolfs. Ragnar hätte fast das Gleichgewicht verloren, als die Luke sich gänzlich aus den Angeln löste. Ein Strom schlechter Luft zischte aus dem Panzer, und Ragnar erkannte den Gestank der Mutation. Diese Ketzer hatten wahrhaftig den Preis dafür bezahlt, ihren finsteren Herren Gefolgschaft geschworen zu haben. Er warf den
Lukendeckel weg und entnahm seinem Gürtelspender eine Krak-Granate. Er schaute hinab ins Innere des Panzers. Ein rascher Blick zeigte ihm abscheulich veränderte Mutantengesichter, die zu ihm hochsahen. Eines war mit riesigen roten Warzen übersät, die alle in einem Auge endeten. Das andere war geschmolzen und zerlaufen, als bestehe es aus Kerzenwachs. Das Zeichen ihrer Schlechtigkeit haftete ihnen unübersehbar an, da ihr Äußeres verändert und an die innerliche Verdorbenheit durch die bösen Mächte angepasst worden war, die sie verehrten. Einer der Mutanten griff nach seiner gehalfterten Pistole. Dem Ausdruck blinder Panik auf dem Gesicht der Kreatur konnte Ragnar entnehmen, dass sie sich zusammengereimt hatte, was gleich geschehen würde. Und sie hatte Recht. Ragnar ließ die Granate durch die offene Luke fallen und sprang ab. Im Sprung griff er nach einer weiteren Granate und warf sie ebenfalls durch das offene Turmluk. Es war gerade noch möglich, dass es den Mutanten gelang, eine Granate rechtzeitig aufzuheben und durch die Luke nach draußen zu werfen. Beide konnten sie nicht erwischen. Der Panzer befand sich immer noch zwischen ihm und dem Bunker. Er riss seine Waffen heraus. In der Seite des Predator hatte sich eine Luke halb geöffnet. Eines der Besatzungsmitglieder hatte erkannt, was geschah, und versuchte sich zu retten. Ragnar trat die Luke zu und sprang zurück, als zwei gewaltige Explosionen den Panzer erschütterten. Eine blutige Fontäne schoss durch das offene Turmluk in die Höhe. Ragnar rannte schnell in Deckung, da es nur allzu gut möglich war, dass die Antriebssysteme des Panzers hochgehen würden. Glücklicherweise waren die Insassen des Bunkers durch das Schicksal des zu ihrer Unterstützung abkommandierten Predator abgelenkt, und so warf er sich gerade in dem Augenblick in die Deckung des Mauerwerks, die er kurz zuvor
verlassen hatte, als eine gewaltige Explosion das mächtige Vehikel in Stücke riss. Riesige Fetzen Metallpanzerung bogen sich durch die Wucht des explodierenden Antriebsblocks nach außen. Öliger schwarzer Rauch kräuselte sich aus den Überresten himmelwärts. In diesem Augenblick drang der Donner einer weiteren Explosion an Ragnars Ohren. Bruder Hrolf hatte die Tür des Bunkers mit dem Raketenwerfer beschossen. Ragnar. sprang auf, wobei er mit Befriedigung zur Kenntnis nahm, dass der Plastahl von der Explosion vollkommen aus den Angeln gesprengt worden war und der Überflügelungstrupp der Space Wolves bereits von beiden Seiten in Stellung ging. Unter Ragnars aufmerksamen Blicken warf Bruder Snagga sich flach auf den Boden, robbte unterhalb des Feuerbereichs der Bunkerbesatzung zum offenen Eingang und beförderte eine Hand voll Mikrogranaten hindurch. Explosionen und Schmerzensschreie waren seine Belohnung. Binnen Sekunden waren zwei Space Wolves in den Bunker eingedrungen. Schüsse knallten, als sie die Überlebenden niedermachten. Ragnar lächelte und entblößte zwei große wölfische Reißzähne. In seinen gelblichen Wolfsaugen erschien ein Funkeln des Triumphs. Er hatte einen weiteren Sieg errungen. In diesem Augenblick registrierte er das schwache Funkeln von Sonnenlicht auf Glas irgendwo rechts von ihm. Sein Instinkt riet ihm, sich flach auf den Boden zu werfen, aber es war bereits zu spät. Er sprang zwar, aber das Geschoss des Scharfschützen, raketengetrieben und panzerbrechend, war bereits unterwegs und zu schnell, um ihm noch ausweichen zu können. Seine Bewegung brachte seinen Körper lediglich teilweise aus der Schussbahn. Die Granate, die auf sein Herz gezielt war, explodierte stattdessen in seiner Brust. Schmerzen zuckten durch seinen Körper. Boten der Qual rasten seine Nerven entlang. Er stürzte vorwärts in eine Lavagrube unsäglicher Pein.
***
»Keine Sorge, Bruder Ragnar«, hörte er eine Stimme aus weiter Ferne sagen. »Wir haben dich.« Ragnar wunderte sich darüber und fragte sich, ob es nicht bereits zu spät sei. Die Stimmen klangen bereits so, als kämen sie vom oberen Ende eines riesigen Schachts. Es kam ihm so vor, als falle er nach unten, der kalten Hölle seines Volks entgegen, wo ihn seine Familie und seine Freunde und auch seine alten Feinde begrüßen würden, die er persönlich dorthin befördert hatte. Es war merkwürdig, dass er so weit weg von zu Hause und so viel später sterben sollte, als er dies erwartet hatte. Diese sonderbare Empfindung hatte etwas Tröstliches. Er wusste, was er zu erwarten hatte. Er sollte es auch wissen. Schließlich war er schon einmal gestorben. Eisige Klarheit ergriff Besitz von seinem Verstand. Seine Erinnerung flutete zurück. Seine Seele raste durch die Jahrhunderte in die Vergangenheit. Und erinnerte sich.
1
DAS DRACHENMEER »Wir werden alle sterben!«, schrie Yorvik der Harpunier, während er sich mit vor Furcht weit aufgerissenen Augen umsah. Blitze zuckten über den Himmel von Fenris und beleuchteten das gequälte Gesicht des Mannes. Das schiere Entsetzen machte seinen Schrei über das Tosen des Windes und das Donnern der Wellen gegen das Schiff hinweg hörbar. Die Regentropfen, die ihm übers Gesicht liefen, hatten unheimliche Ähnlichkeit mit Tränen. »Sei still!«, schrie Ragnar ihn an und verpasste dem entsetzten Mann eine Ohrfeige. Schockiert darüber, von einem Jugendlichen geschlagen worden zu sein, der gerade alt genug war, den Flaum der Mannbarkeit auf den Wangen zu tragen, vergaß Yorvik vorübergehend seine Furcht und griff nach seiner Axt. Ragnar schüttelte den Kopf und funkelte den älteren Mann mit seinen kalten grauen Augen an. Yorvik hielt inne, als ginge ihm gerade auf, wo er war und was er tat. Sie standen für alle Krieger sichtbar im Bug des Schiffs. Ein Angriff auf den Sohn seines Kapitäns würde ihm weder in den Augen der Götter noch in denen der Besatzung zur Ehre gereichen. Yorviks Wangen überzogen sich mit dem Rot der Scham, und Ragnar schaute weg, um den Mann nicht noch mehr zu erniedrigen. Ragnar warf den Kopf in den Nacken, um die Mähne schwarzer Haare aus den Augen zu bekommen. Während er durch das Peitschen des Windes und die salzige Gischt der stürmisch wogenden See blinzelte, gab er Yorvik insgeheim Recht. Sie würden sterben, wenn kein Wunder geschah. Er fuhr zur See, seit er laufen konnte, und hatte noch nie einen so schlimmen Sturm erlebt. Finstere Wolken jagten über den Himmel. Es war so dunkel
wie in der Nacht, obwohl Mittag war. Gischt wogte, als der Schiffsbug durch die nächste riesige Welle pflügte. Die Drachenhaut des Decks hallte wie eine gewaltige Trommel unter der Wucht des Aufpralls. Er mühte sich, auf dem unablässig schwankenden Deck das Gleichgewicht zu bewahren. Auch über das Dämonengekreisch des Windes konnte er das Ächzen der Schiffsknochen hören. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Meer das Boot verschlang. Es war ein Wettrennen zwischen dem Bemühen der Wellen, die Speer von Russ in tausend Stücke zu schlagen, und dem Bestreben der Drachenhaut, sich unter dem steten Wasserdruck vom Skelett des Schiffs zu schälen und sie damit kentern zu lassen. Ragnar schauderte nicht nur wegen der kalten, durchweichten Nässe seiner Kleidung. Für ihn wie für alle Angehörigen seines Volks war Ertrinken der schlimmste aller möglichen Tode. Es bedeutete schlicht, in die Klauen der Meerdämonen zu sinken, wo seine Seele in ewiger Knechtschaft gefangen sein würde. Dort gab es keine Möglichkeit, sich seinen Platz unter den Auserwählten zu verdienen. Er würde nicht mit Axt oder Speer in der Hand sterben. Er würde weder einen ruhmreichen Tod noch einen raschen Weg zum Saal der Helden in den Götterbergen finden. Ein Blick über das regengepeitschte Deck zeigte Ragnar, dass all die gewaltigen Krieger ebenso verängstigt waren wie er, obwohl sie ihre Furcht gut verbargen. Die Anspannung stand in jedem bleichen Gesicht und in jedem blauen Auge. Der Regen durchnässte ihre langen blonden Haare und verlieh ihnen ein hoffnungsloses, heruntergekommenes Aussehen. Sie saßen zusammengekauert auf ihren Bänken und hielten nutzlose Ruder bereit. Regenjacken aus massiver Drachenhaut lagen über ihren Schultern oder flatterten im Wind wie Fledermausflügel. Jeder der Krieger hatte seine Waffen neben sich auf dem klatschnassen Deck liegen, Waffen, die ohnmächtig gegen den Feind waren, der jetzt ihr Leben
bedrohte. Der Wind heulte, hungrig wie die großen Wölfe Asaheims. Das Schiff fiel die andere Seite der riesigen Welle hinunter. Der Drachenzahn am Bug durchschnitt das schäumende Wasser wie ein Speer. Über ihnen mühten die Segel sich redlich und spannten sich. Ragnar war froh, dass sie aus reinem Drachendarm genäht waren. Nichts anderes hätte die reißenden Krallen des Sturms überstanden. Vor ihnen türmte sich ein weiterer riesiger Wasserberg auf. Irgendwie schien es unmöglich zu sein, dass das Schiff es überleben konnte, wenn diese Wassermassen über ihm zusammenstürzten. Ragnar fluchte vor Zorn und Enttäuschung. Es hatte den Anschein, als sei sein kurzes Leben vorbei, bevor es richtig begonnen hatte. Er würde nicht einmal seine Reife zur Mannbarkeit in der nächsten Jahreszeit erleben. Er war noch nicht richtig im Stimmbruch und schon dazu verdammt, im Meer unterzugehen. Er schirmte die Augen ab und starrte in den Sturm in der Hoffnung, das Langschiff seiner Sippe zu erspähen. Es war nirgendwo zu sehen. Wahrscheinlich lag es bereits auf dem Meeresgrund. Die Leichen würden Nahrung für Drachen und Kraken abgeben, während die Seelen den Dämonen als Sklaven dienen würden. Er drehte sich um und warf einen wütenden Blick auf den Fremden, der sie in diese Lage gebracht hatte. In dem Wissen, dass er ebenfalls sterben würde, lag einige Befriedigung. Sofern er kein Zauberer oder verkappter Meerdämon war, der ausgesandt worden war, den Klan der Donnerfäuste ins Verderben zu locken. Wenn er den alten Mann so betrachtete, wie er auf dem vom Wasser überspülten Deck stand, furchtlos und unerschrocken, kam ihm dies nur allzu wahrscheinlich vor. Dieser knorrige uralte Mann hatte etwas Übernatürliches an sich. Er sah trotz der Furchen, die das Alter in seine Stirn gegraben hatte, stark wie ein Krieger in der Blüte seiner Jahre aus und hielt das Gleichgewicht trotz der zahlreichen Spuren
von Weiß in seinen Haaren besser als viele Seefahrer, die halb so alt wie er waren. Ragnar wusste, dass er ein Zauberer war. Wer außer einem Zauberer würde die Felle jener gewaltigen Wölfe um die Schultern und jene sonderbare Metallrüstung tragen, die seinen ganzen Körper umhüllte und so anders als die Ledertuniken der Seeleute war? Wer außer einem Zauberer würde sich mit all diesen absonderlichen Amuletten und Talismanen behängen? Wer außer einem Zauberer konnte seinem Vater und ihrer Sippe so viele kostbare Eisenbarren anbieten, dass sie die selbstmörderische Fahrt durch das Drachenmeer in dieser Jahreszeit der Stürme versuchten? Ragnar sah, dass der Fremde auf etwas zeigte. War das irgendein Zaubertrick, fragte er sich, oder wirkte der Fremde einen Zauber? Ragnar drehte sich um und spürte, wie sein Mund vor Angst trocken wurde. Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel. Ragnar sah, dass ein riesiger Kopf die Wellen neben dem Schiff durchbrochen hatte, als habe der Fremde ihn beschworen. Ein Albtraumgesicht voller dolchartiger Zähne ragte vor ihnen auf. Der lange Hals spannte sich, und der Kopf senkte sich auf der Suche nach Beute herab. Es war ein Meerdrache und kein Jungtier, ein vollständig ausgewachsenes Ungeheuer, so groß wie das Schiff und von der Wut des Sturms vom Meeresgrund emporgelockt. Der Donner sprach seine zornigen Worte. Der Tod schlug eine Armlänge neben Ragnar zu. Er spürte den Luftzug der Bewegung, als die riesigen Kiefer des Drachen sich um Yorvik schlossen. Große Fänge durchbohrten das harte Leder von Yorviks Rüstung, als sei sie aus Papier. Knochen gaben nach. Blut spritzte. Der schreiende Mann wurde emporgehoben, und seinen rudernden Armen entfiel die Harpune. Ein höhnisches Lächeln umspielte Ragnars Lippen. Er hatte schon immer gewusst, dass Yorvik ein Feigling war, und jetzt hatte er den Beweis. Er würde sich einen Platz in den kalten Höllen Frostheims suchen. Der Drache biss zu und schluckte, und ein
Teil Yorviks verschwand in seinem Schlund. Der andere Teil fiel neben Ragnar aufs Deck. Die heraufbrandenden Wellen säuberten ihn von Blut und Galle. Die Krieger sprangen von ihren Bänken und hoben trotzig ihre Äxte und Speere. Ragnar konnte mühelos erkennen, dass sie tief im Herzen froh waren. Hier war ein rascher Tod und ein heldenhafter noch dazu: der Kampf gegen ein Ungeheuer aus den Tiefen des Meeres. Vielen musste es so vorkommen, als habe Russ ihre Gebete erhört und ihnen diese Bestie geschickt, um ihnen einen großartigen Untergang zu gewähren. Das gewaltige Haupt senkte sich erneut herab. Der Anblick ließ mehrere Krieger erstarren. Als sei sie geschickt worden, Feiglinge auszumerzen, schlug die Bestie sie nieder und biss sie mit ihren reißenden Fängen entzwei. Andere DonnerfaustKrieger benutzten ihre Waffen. Äxte prallten wirkungslos von den massiven gepanzerten Schuppen ab. Einige wenige Speere bohrten sich ins Fleisch, aber die Kreatur schenkte den Stichen so viel Beachtung wie ein Mensch einem Nadelstich. Der Schmerz stachelte sie lediglich zu größerer Wut an. Der Drache öffnete das Maul und stieß ein entsetzliches Bellen aus, das sogar das Tosen der Wellen übertönte. Die schiere Lautstärke lahmte alle Krieger. Sie erstarrten, als seien sie von einem Zauberbann überwältigt worden. Ragnar sah, dass die Bestie sich halb aus dem Wasser erhoben hatte. Ihre gewaltige Länge überragte das Boot. Sie brauchte sich lediglich vornüber fallen zu lassen, dann würde ihre gewaltige Körperfülle das Boot entzwei brechen. Irgendetwas riss in Ragnar. Seine Wut auf den Sturm, auf die Götter, auf diese gewaltige Bestie und auf seine feigen Kameraden kochte über. Er bückte sich und hob die Harpune auf, die Yorvik hatte fallen lassen. Ohne sich mit Nachdenken und Zielen aufzuhalten, damit ihn jene riesigen triefenden Kiefer nicht vor Angst erstarren ließen, warf er die Harpune ins Auge der Bestie. Es war ein guter Wurf. Die Knochenspitze
des Speers traf ihr Ziel und bohrte sich bis zum Schaft in das Auge des Drachen. Das Ungeheuer schraubte sich noch höher und brüllte vor Wut und Schmerzen. Ragnar glaubte, sein Schrei müsse ihn taub werden lassen. Er war jetzt sicher, dass er sterben, dass das gesamte Schiff von der erzürnten Bestie in Stücke geschlagen würde. Dann hörte er ein anderes Geräusch, ein stotterndes Tosen, das vom Heck des Schiffs kam. Er riskierte einen Blick auf den Fremden und sah, dass er die Quelle des Lärms war. Der Alte hatte irgendeine Ikone aus massivem Eisen aus einem Futteral an seiner Seite gezogen, die er in die Höhe hielt, um damit auf die Bestie zu zeigen. Ein sengender Feuerstrahl zuckte begleitet von jenem tosenden Geräusch aus dem Ende des heiligen Talismans. Ein Blick zurück auf den Drachen zeigte Ragnar, dass überall auf seinem Rumpf riesige klaffende Wunden entstanden - Zeugnis der starken Magie des Fremden. Der Drache riss das Maul auf, um vor Schmerzen zu brüllen, und der Fremde hob seinen Talisman noch höher. Ein Loch erschien im Oberkiefer des Drachen, und einen Augenblick später explodierte seine Schädeldecke. Die Kreatur kippte hintenüber und verschwand unter den Wellen. Der Fremde warf den Kopf in den Nacken und lachte. Seine lautstarke Freude übertönte das Tosen des Sturms. Ragnar überlief ein Schauder abergläubischer Furcht. Zwei gewaltige Eckzähne ragten aus dem Mund des Fremden nach unten. Er trug Russ' Zeichen! In ihm floss das Blut der Götter. Wahrhaftig, er war ein Zauberer oder sogar noch mehr. Tief geduckt, sodass er trotz aller Schiffsbewegungen mühelos das Gleichgewicht hielt, drehte Ragnar sich um und wandte sich in Richtung des Steuerruders. Gischt rann ihm wie Tränen übers Gesicht. Als er sich über die Lippen leckte, schmeckte er Salz. Auf gleicher Höhe mit dem Fremden schlug eine Welle über dem Schiff zusammen. Er spürte den Druck
vieler Tonnen von Wasser und schwankte. Die Kraft der Welle hob ihn vom Deck und spülte ihn davon. Im Toben der Wellen konnte er nicht klar erkennen, wo er sich befand. Er wusste nur, dass er über Bord geschwemmt und ins Verderben gerissen würde. Er knurrte vor Zorn und bezwang die Furcht. Allem Anschein nach hatte er die Kiefer des Drachen nur überlebt, um von den Meerdämonen geholt zu werden. Dann krampften sich Finger wie Eisenklammern um sein Handgelenk. Enorme Kraft kämpfte gegen die Urgewalt des Meeres. Dann war das Wasser verschwunden. Augenblicke später lag Ragnar zappelnd auf dem Deck, von dem Fremden gerettet, der den Drachen gebannt hatte. »Bleib ruhig, Junge«, sagte der Zauberer. »Es ist nicht meine Bestimmung, hier zu sterben. Und deine auch nicht, glaube ich.« Mit diesen Worten wandte sich der Fremde ab und schritt zum Bug des Schiffs. Dort blieb er stehen und starrte nach vorn wie ein uralter Gott. Von Furcht und einer merkwürdigen Ehrfurcht erfüllt, ging Ragnar zu der Stelle, wo sein Vater stand. Als er aufschaute, erblickte er Verständnis in seinen Augen. »Ich habe es gesehen, mein Sohn«, rief sein Vater. Ragnar wusste, dass keine weitere Erklärung nötig war. ***
Als habe der Tod des Drachen einen bösen Bann gebrochen, beruhigte sich das Meer allmählich. Bereits wenige Stunden später war es glatt wie Glas, und vom leisen Klatschen der Wellen gegen den Schiffsrumpf abgesehen, war der gleichmäßige Trommelschlag des Rudermeisters das einzige Geräusch.
Der Fremde stand immer noch im Bug, als halte er Wache gegen die Dämonen des Meeres. Er suchte den entfernten Horizont ab, indem er die Augen mit einer knorrigen Hand abschirmte, da er etwas zu suchen schien, das nur er sehen konnte. Hoch über ihnen brannte die Sonne hernieder, nicht mehr die kleine blasse Kugel des Winters, sondern ein riesiger feuriger Ball, der den Himmel mit seinem goldenen Licht erfüllte. Das Auge von Russ war vollständig geöffnet und begutachtete seine Auserwählten dabei, wie sie die Schrecken von Fenris' langem, hartem Sommer ertrugen. Das auf Deck verbliebene Wasser verdampfte unter seinem Blick. Die Krieger waren still. Ehrfurcht war über sie gekommen. Von dem üblichen Gerede und der Prahlerei, wie normalerweise von Leuten zu erwarten war, die solch ein furchtbares Unwetter überlebt hatten, war nichts zu hören. Auch nichts von der damit verbundenen guten Laune und dem Gesang. Ragnars Vater hatte nicht befohlen, zur Feier des Tages das Alefass anzustechen. Eine Ehrfurcht, die an Entsetzen grenzte, schien von der gesamten Besatzung Besitz ergriffen zu haben. Ragnar konnte mühelos verstehen, warum. Sie hatten gesehen, wie der Fremde einen Drachen mit der Macht seiner Magie bezwungen hatte. Mit einem Strahl hatte er einen Schrecken der Tiefe vernichtet. Mit seinem Blick hatte er den Sturm besänftigt. Gab es nichts, was er nicht vermochte? Dennoch blieben Fragen offen, dachte Ragnar. Wenn der Fremde so mächtig war, warum hatte er dann ihr Schiff mieten müssen, indem er mit kostbarem Eisen bezahlt und noch mehr versprochen hatte, um zu seinem Ziel zu gelangen? Warum hatte er nicht einfach Magie angewandt? Gewiss hätte er seine Meisterschaft der Runen benutzen können, um ein Luftschiff oder einen geflügelten Wolf zu beschwören und sich an seinen Bestimmungsort tragen zu lassen. War diese Reise mit irgendeinem finsteren Hintersinn unternommen worden?
Ragnar versuchte den Gedanken abzutun. Vielleicht hatte der Zauberer sich die Feindschaft der Sturmdämonen zugezogen und konnte nicht fliegen. Vielleicht erstreckte sich seine Meisterschaft nicht auf die Beherrschung der entsprechenden Runen. Woher sollte Ragnar das wissen? Er hatte keinen blassen Schimmer von der Zauberkunst und kannte auch niemanden, der etwas darüber wusste, wenn man vom alten Skalden der Donnerfäuste, Imogrim, absah, und der hatte den Fremden mit abergläubischer Scheu angesehen, sich geweigert, etwas über ihn zu sagen, und seinen Leuten lediglich aufgetragen, dem Fremden unbedingten Gehorsam zu leisten. Ragnar bezweifelte, dass die abergläubische Scheu, die den Fremden wie ein Mantel umgab, irgend jemanden dazu bewegt hätte, diese Reise zu unternehmen, hätte der Skalde dies nicht nahegelegt. Ihr Bestimmungsort, die Insel der Eisenmeister, wurde von allen seefahrenden Völkern und Sippen außerhalb der Handelssaison im Frühjahr gemieden. Das letzte Frühjahr war vor über fünfhundert Tagen zu Ende gegangen, und die Handelssaison war längst vorbei. Wer wusste, wie die geheimnisvollen Schmiede der Inseln jetzt Fremde begrüßen würden? Sie blieben meistens für sich und verteidigten ihre Bergwerke mit dem kostbaren Eisen so, wie ein Troll seinen Hort bewachte. Dennoch, überlegte Ragnar, wenn der Fremde verlangt hätte, dass sie ihn auch ohne seine ansprechende Bezahlung dorthin brachten, hätten sie ihm dieses Ansinnen abschlagen können? Ragnar bezweifelte, dass selbst das gesamte Dorf der tapferen Donnerfaust-Krieger der Magie hätte standhalten können, die der Fremde gewirkt hatte. Ragnar bezweifelte sogar, dass ihre Waffen überhaupt nur die zweite Haut aus Metall durchdringen konnten, die seinen Körper umgab. Der alte Mann hatte etwas Faszinierendes an sich, und Ragnar sehnte sich danach, mit ihm zu reden und ihm Fragen zu stellen. Der Fremde hatte ihn gerettet und ihn angesprochen,
und das musste doch etwas zu bedeuten haben. Trotzdem stand Ragnar wie angewurzelt auf Deck. Die Vorstellung, mit dem Zauberer zu reden, war furchteinflößender als die Begegnung mit dem Maul des Drachen. Er blieb noch einen Moment wie erstarrt, dann nahm er seine ganze Entschlossenheit zusammen. Sei nicht albern, sagte er sich. Du hast ihm nicht einmal für deine Rettung gedankt. Schweigend trat Ragnar vor. Vorsichtig wie beim Beschleichen einer wilden Ziege näherte er sich dem Schiffsbug. »Was gibt es, Junge?«, fragte der Fremde, ohne sich umzudrehen, bevor Ragnar sich ihm auch nur bis auf zehn Schritt genähert hatte. Ragnar erstarrte. Hier war ein weiterer Beweis für die Zauberkräfte des Fremden. Ragnar hatte sich leise bewegt. Seine Füße hatten kein Geräusch auf dem Deck verursacht. Bei seinen Leuten galt er als großer Jäger. Doch der Fremde wusste, dass er da war, ohne auch nur den Kopf zu drehen. Ragnar war sicher, dass der Fremde das zweite Gesicht besaß. »Ich habe dir eine Frage gestellt, Junge«, sagte der Fremde, indem er sich zu Ragnar umdrehte. In seiner Stimme lag kein Zorn, nur Autorität. Er klang wie ein Mann, der daran gewöhnt war, dass er seinen Willen bekam. Auch seiner Sprechweise haftete etwas Merkwürdiges an. Er redete sehr langsam, und sein Akzent war antiquiert. Er erinnerte Ragnar an die Art, wie der Skalde sprach, wenn er die Epen von Russ und dem Allvater zitierte. Ragnar hatte den Eindruck, dieser alte Mann mochte direkt aus einer dieser Sagen getreten sein. Er hatte eine Art an sich, wie sie einer der alten Helden besessen haben mochte. »Ich möchte Euch danken, dass Ihr mir das Leben gerettet habt, Jarl«, sagte Ragnar, indem er die respektvollste Anrede benutzte, die er kannte. Das Gesicht des alten Mannes hatte etwas Seltsames an sich, ging ihm jetzt auf. Es war lang und barbarisch, die Nase war riesig und hatte gewaltig aufgeblähte
Flügel. Die ledrige, über den Wangen eingefallene Haut verlieh ihm ein wölfisches Aussehen. Und was hatten die drei in die Stirn eingelassenen Knöpfe zu bedeuten?, fragte sich Ragnar. Und wie waren sie dorthin gelangt? In seiner Sippe fiel ihm keine Möglichkeit ein, wie man so etwas erreichen konnte, ohne dass sich die Geister des Wundbrands einnisten würden. »Deine Zeit zu sterben war noch nicht gekommen«, sagte der Zauberer und wandte sich wieder der Betrachtung des Horizonts zu. Wie konnte der Fremde das wissen, staunte Ragnar. »Was sucht Ihr?«, fragte Ragnar, von seiner Kühnheit selbst überrascht. Der Fremde schwieg eine Weile, und Ragnar fürchtete, er werde nicht antworten. Doch in diesem Augenblick zeigte der Zauberer auf etwas. Ragnar konnte erkennen, dass sein Finger in Metall gehüllt war und das Sonnenlicht reflektierte. Er schaute dorthin, wohin der Fremde zeigte, und hielt den Atem an. Vor ihnen erhoben sich mächtige Gipfel über den Horizont, gewaltige Zinnen aus Speeren, welche die Wolken durchbohrten. Die Wälle dieser Gipfel waren weiß, und etwas wie Eis glitzerte auch auf ihren Hängen, wo sie ins Meer flossen. »Die Wälle der Götter«, sagte Ragnar und beschrieb das Runenzeichen von Russ über der Brust. »Die Gipfel Asaheims«, murmelte der Fremde leise und lächelte dann, so dass seine gewaltigen Fänge enthüllt wurden. »Ich muss in deinem Alter gewesen sein, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, Junge, und das liegt gute dreihundert Jahre zurück.« Ragnar starrte ihn mit offenem Mund an. Der Fremde hatte zugegeben, ein übernatürliches Wesen zu sein. Niemand auf Fenris, nicht einmal der älteste Graubart, lebte länger als fünfunddreißig Jahre. »Ich bin froh, dass ich die Gelegenheit habe, sie noch einmal
zu sehen«, sagte der Fremde und klang dabei ganz so wie einer der alten Männer des Dorfs, bevor er ging, um sein Totengedicht zu skandieren. Der Fremde schüttelte den Kopf und grinste mit jenen beunruhigenden Fängen auf Ragnar herab. »Ich muss langsam senil werden, dass ich so vor mich hin plappere«, sagte er. Ragnar erwiderte nichts, sondern sah ihn nur an, ihn und dann die weit entfernten Berge. »Lauf zurück und sag deinem Vater, er soll den Kurs ändern. Haltet nach Steuerbord und folgt der Küste. Desto eher werden wir unser Ziel erreichen.« Er sagte es mit der Kraft einer Prophezeiung, und Ragnar glaubte ihm. *** Die nächsten zwei Tage segelten sie die Küste Asaheims entlang. Zwei Tage ruhiger See und kalten Windes sowie einer Stille, die nur vom Krachen gewaltiger Eisbrocken durchbrochen wurde, welche von den Bergen fielen und aufs offene Meer trieben. Dies war in der Tat Asaheim, der Ort weit im Norden, wo die großen Eisberge entstanden, das gefrorene Land, aus dem die eisigen schwimmenden Berge stammten. Am Himmel kreisten mächtige Seeadler, und hin und wieder sichteten die Männer die Wasserfontänen großer Orca-Herden, wenn sie aus dem kalten, sauberen Nass auftauchten, um Luft zu holen. Sie passierten die Einmündungen großer Fjorde, Orte von erstaunlicher Schönheit, und manchmal sahen sie die Steindörfer des Gletschervolks hoch oben auf ihren Hängen thronen. Dann ruderten sie schneller, denn die Fjordbewohner waren grimmig, manche sagten, trollblütig, und verspeisten angeblich ihre Gefangenen, anstatt sie in Knechtschaft zu
nehmen. Solch ein Schicksal ließ selbst die Klauen der Meerdämonen verführerisch erscheinen. In der ganzen Zeit, in der sie die Küste entlangsegelten, verließ der Fremde kein einziges Mal seinen Posten im Bug des Schiffs. Bei Sonnenuntergang stand er in das Licht der letzten Strahlen des Auges von Russ gehüllt da. Im Morgengrauen, wenn die Tagwache aufstand, stand er immer noch da. Ragnar redete mit der Nachtwache und war nicht im Geringsten überrascht, dass der Fremde nicht geschlafen hatte. Wenn er Müdigkeit verspürte, ließ der Fremde es sich jedenfalls nicht anmerken. Seine Augen blieben so klar und strahlend, wie sie es am Tag des Kampfes mit dem Drachen gewesen waren. Ragnar hatte keine Ahnung, warum er dort stand und beobachtete, er war nur froh, dass der alte Mann es tat. Er hatte das Gefühl, dass ihnen nichts Böses zustoßen konnte, solange der Zauberer Wache hielt. Dann fiel das Land hinter ihnen zurück, und sie waren wieder auf dem offenen Meer. Das Wetter blieb freundlich. Der Fremde schnupperte im Wind und verkündete, das Meer werde ruhig bleiben, bis sie ihren Bestimmungsort erreichten. Als habe es Angst, ihm nicht zu gehorchen, fügte sich das Meer. Nach zwei Tagen auf hoher See sahen sie Rauch voraus und Feuer, die den Nachthimmel erhellten. Die Männer beteten in abergläubischer Scheu zu Russ, befürchteten aber, er werde sie nicht erhören. Sie wussten, dass sie ein Gebiet erreicht hatten, das den Feuerriesen heilig war, und hier hatten Russ und der Allvater nur geringes Gewicht. Am nächsten Tag, als sie sich den Inseln näherten, erkannte Ragnar, dass sie in Flammen standen. Ihre Spitzen brannten. Der geschmolzene rötliche Speichel der Feuerriesen rann an ihren schwarzen Flanken herunter und zischte und dampfte, wenn er ins Wasser glitt. Das Gebrüll der gefangenen Riesen ließ sie erzittern.
Voller Beklommenheit näherte Ragnar sich wieder einmal dem Zauberer. Es beruhigte ihn zu sehen, dass der Alte keine Spur von Furcht erkennen ließ, lediglich ein stilles Vergnügen und eine gewisse Traurigkeit wie bei einem Mann, der eine Reise genossen hat und sich nicht auf ihr Ende freut. »Es heißt, Ghorghe und Sla Nahesh seien in diesen Inseln gefangen«, sagte Ragnar, indem er etwas wiederholte, das der Skalde nach dem Frühjahrshandel gesagt hatte. Trotz seiner Furcht war er aufgeregt. Noch nie zuvor war er mit seinem Vater so weit gesegelt. »Es heißt, Russ habe sie dort eingesperrt, als die Welt noch jung war.« »Das sind böse Namen, Junge«, sagte der Zauberer. »Du solltest sie nicht erwähnen.« »Warum nicht?«, fragte Ragnar, zur Abwechslung einmal nicht von dem Fremden eingeschüchtert. Seine Neugier überwand seine Ehrfurcht. Der Fremde betrachtete ihn und lächelte. Die Frage schien ihn nicht zu verstimmen. »Das sind die Namen von großen Übeln, die an einem Millionen Meilen entfernten Ort und vor vielen Millennien geboren wurden. Russ hat sie nicht eingesperrt. Niemand konnte es. Nicht einmal der Kaiser - der Allvater persönlich - in den Tagen seiner Herrlichkeit.« Ragnar war nicht überrascht, von ihrem großen Alter zu erfahren. Schließlich hatte Russ in grauer Vorzeit gegen sie gekämpft, bevor er sein Volk aus Asaheim verbannt hatte. Er war jedoch überrascht zu erfahren, dass sie Millionen Meilen entfernt geboren waren. Das war eine Entfernung, die er sich nicht vorstellen konnte. »Ich dachte, sie seien die Kinder der Drachengöttin Skrinneir aus ihrer Ehe mit dem dunklen Gott Horus.« »Und das ist noch ein Name, den du nicht aussprechen solltest, Junge. Denn du hast keine Ahnung von seiner wahren Bedeutung.«
»Werdet Ihr mir seine Bedeutung verraten?« »Nein, Junge, das werde ich nicht. Wenn es deine Bestimmung ist, solche Dinge zu wissen, wirst du sie noch früh genug erfahren.« »Und wie werde ich sie erfahren?« »Indem du stirbst, Junge, und wiedergeboren wirst.« »Seid Ihr so zu Eurer großen Weisheit gelangt?«, fragte Ragnar, über die Antwort des Fremden verärgert und vom Sarkasmus seines Tonfalls verblüfft. Zu seiner Überraschung lachte der Fremde nur. »Du hast Mumm, Junge, und außerdem ganz Recht.« Er wandte sich von Ragnar ab und starrte auf das Meer. Vor ihnen erhoben sich dunkle Wolken, und das Meer war ölig schwarz gefleckt. Im Westen erbebte der Berg, und eine riesige Feuersäule erhob sich aus seiner Spitze. »Der Feuerberg ist heute zornig«, sagte der Zauberer. »Das ist ein schlechtes Zeichen.«
2
DER EISENTEMPEL »Bei Russ, hast du so etwas schon mal gesehen?«, fragte Ulli mit ehrfürchtiger Stimme. Ragnar schaute seinen Wolfbruder an und schüttelte den Kopf. Er musste gestehen, dass dies nicht der Fall war. Der Hafen war riesig und fremdartig, eine ausgedehnte Kluft in den schwarzen Klippen, die zu einem großen, von einem schwarzen Ufer gesäumten See führte. Die Anlage war so ausgedehnt, dass tausend Drachenschiffe gleichzeitig hätten anlegen können, ohne den Hafen wirklich auszufüllen, und Ragnar wusste, dass dies in der Handelssaison durchaus vorkam. Dann kamen von allen Küsten des riesigen Ozeans Leute, um Axtköpfe, Speerspitzen und alle möglichen Metallwaren zu erstehen. Es war nicht die schiere Größe des Hafens, die Ragnars Aufmerksamkeit so vollkommen fesselte. Vielmehr waren es die umliegenden Gebäude. Das kleinste von ihnen war doppelt so groß wie das große Langhaus daheim, das größte Bauwerk, welches Ragnar bis zu diesem Augenblick in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Noch viel bemerkenswerter war die Tatsache, dass alle Gebäude aus Stein gefertigt waren. Stein, dachte Ragnar und schauderte. Das war fast unvorstellbar. Was, wenn eines der gewaltigen Erdbeben sie einstürzen ließ? Würden dann nicht alle Leute in den Gebäuden von den Steinlawinen zu blutigem Brei zerquetscht? Diese gewaltigen, rußgeschwärzten Bauwerke waren Todesfallen. Jeder wusste, dass die einzig vernünftige Art, ein Haus zu bauen, dieselbe war wie die, ein Drachenschiff zu bauen - aus Drachenhautleder als Bespannung für ein Gerüst aus Drachenknochen. Für heilige Bauwerke konnte man auch in Erwägung ziehen, kostbares Holz zu verwenden, obwohl es
verbrennen mochte, falls bei einem Beben eine Öllampe umfiel. Ragnar hatte so etwas schon erlebt. Jeder hatte das. Fenris' Inseln waren gefährdet und waren es schon gewesen, bevor Russ sein auserwähltes Volk hierher geführt hatte. Es war Wahnsinn, aus Stein zu bauen, aber diese Leute hatten es getan. Und nicht einfach, indem Stein auf Stein getürmt worden war, wie man einen Schutzwall errichtete. Nein, diese Häuser bestanden aus gewaltigen behauenen Steinblöcken, die man zu perfekten Quadern gemeißelt und dann in einem verschachtelten Muster angeordnet hatte. Und den schwärzlichen Moosen an den Seiten und den dicken Rußschichten nach zu urteilen, welche die Mauern überzogen, waren die Häuser uralt. Sie sahen auch alt aus und verwittert, wie die ältesten Runensteine im großen Ring auf dem Donnerberg. Der Skalde behauptete, sie seien schon seit Anbeginn der Zeit dort. Es gab nicht nur ein großes Gebäude, sondern Hunderte davon, manche so groß wie Hügel. Aus einigen Dächern ragten mächtige Schlote, aus denen schwarzer Rauch quoll und hin und wieder gigantische Flammenzungen in die Höhe schossen. »Sie haben die Feuerelementare gezähmt«, sagte Ulli. »Das sind große Zauberer.« Es sah ganz gewiss danach aus, dachte Ragnar. Diese Leute fürchteten sich sicher nicht vor dem Feuer. Sie mussten in der Tat mächtige Zauberer sein, wenn sie sich weder vor dem Beben der Erde noch vor der Bedrohung des Feuers fürchteten. Und wie hatten sie diese riesigen Hallen errichtet? Hatten sie Magie benutzt, um die Steine an Ort und Stelle zu fügen? Oder hatten sie ihre gefangenen Dämonensklaven die ganze Arbeit verrichten lassen? Die hier am Werk befindliche Macht und das offenkundige Geschick waren ehrfurchtgebietend. Dennoch war Ragnar nicht sicher, ob es ihm gefallen hätte, hier zu leben. Die Luft roch schlecht und stechend, und es
schien ein ähnlicher Gestank vorzuherrschen, wie er daheim von den Gerbereien ausging, nur vielfach verstärkt und tausendmal schlimmer. Rußschwaden trieben durch die Luft wie schwarze Schneeflocken und ließen sich auf Haar und Kleidung nieder. Das Wasser hatte eine sonderbare Farbe und sah an einigen Stellen schwarz und zähflüssig aus, an anderen rot oder grün, von Abwässern verfärbt, welche von den schwarzen Rohren ausgespien wurden, die sich bis zum Hafen zogen. »Bei Russ' Knochen«, hauchte Ulli. »Sieh dir das an!« Ragnar schaute in die Richtung, in die Ulli deutete, und sah das Erstaunlichste von allem. Es war ein Turm vollständig aus Eisen, einem der kostbarsten Metalle überhaupt. Er erhob sich gleich am Rande des Wassers. Als er das Bauwerk genauer betrachtete, erkannte Ragnar, dass es sich um eine seltsame Konstruktion handelte. Der Turm war nicht solide. Er bestand aus einem Gitterwerk aus Metallstreben, wie das Skelett, um das man ein Langhaus baute. Mit dem Unterschied, dass dieses Gitterwerk nicht mit Drachenhaut bespannt war. Der Rahmen war der Luft und den Elementen ausgesetzt, und man konnte die komplizierte Maschinerie darin sehen. Es gab riesige Zahnräder und große Metallarme, die sich in einer regelmäßigen, rhythmischen Bewegung wie das Schlagen eines großen Herzens hoben und senkten. Ein schwarzes Zeug, flüssig und schleimig, quoll aus Rohren in der Turmspitze und durch lange Leitungen herab, um an der Basis des Turms in Holzbottichen aufgefangen zu werden. Kleine Gestalten liefen umher, die ständig die Bottiche verschoben und mit Eimern leerten. Es war das seltsamste, beeindruckendste und verwirrendste Bauwerk zugleich, das Ragnar je gesehen hatte. »Warum fürchten diese Leute die Beben nicht?«, fragte er Ulli, mehr um seiner Neugier Ausdruck zu verleihen, denn in Erwartung einer Antwort.
»Weil sie sie nicht zu fürchten brauchen, Junge«, sagte die Stimme des Zauberers. »Diese Inseln wurden seit Jahrhunderten nicht erschüttert, und so wird es noch viele weitere sein.« Ragnars Gedanken überschlugen sich. Die Vorstellung war ungeheuerlich. Ein Land, das nicht ständig zitterte und bebte wie ein angeleintes Tier. Ein Ort, an dem keine Gefahr bestand, dass die Erde sich öffnete und einen verschlang. Ein sicherer Zufluchtsort vor der größten und am weitesten verbreiteten Katastrophe von allen, welche Russ' Volk heimsuchten. Konnten die Bewohner dieser Inseln wirklich derart gesegnet sein? Ragnar kam ein weiterer Gedanke, der jedem Angehörigen seines Kriegervolks gekommen wäre. »Warum hat dann noch niemand die Inseln erobert? Die Klans würden für so einen sicheren Zufluchtsort töten. Wie haben diese Leute so lange überlebt, ohne überwältigt zu werden?« »Das wirst du schon sehr bald sehen, Junge. Sehr bald.« Der Fremde schüttelte den Kopf und schien zu versuchen, seine Belustigung zu bezähmen. *** »Nennt euer Begehren, Fremde, oder bereitet euch darauf vor zu sterben!« Die Stimme des Insulaners war harsch und guttural, und in jedem Wort lag eine offenkundige Drohung. Sie wurde durch einen Metalltrichter in seiner Hand verstärkt, der sie noch kategorischer klingen ließ. Ragnar starrte staunend auf das Schiff, das auf sie zukam. Plötzlich fürchtete er sich sehr. Hier war wahrhaftig ein Zeugnis großer Zauberei zu bestaunen. Das Schiff hatte keine Segel und war aus Metall. Wie kam es, dass es nicht sank wie ein Stein? Und was trieb es an? Geknechtete Feuerelementare?
Vielleicht quoll deshalb Rauch aus dem Schornstein im Heck des Schiffs. Das kam ihm wie eine Beleidigung der Meerdämonen vor, funktionierte aber ganz offensichtlich. Vielleicht war irgendein absonderlicher Pakt geschlossen worden ... Bevor Ragnars Vater antworten konnte, schwang sich der Zauberer auf den Bug und streckte grüßend einen Arm aus. »Ich bin's, Ranek Eiswanderer. Sie haben mich auf mein Ersuchen hergebracht. Ich wünsche eine Unterredung mit dem Eisenmeister.« Diese Ankündigung hatte hektische Aktivität auf den Decks des Metallschiffs zur Folge. Mehrere Gestalten kauerten sich zur Beratung zusammen, bevor der Sprecher wieder seinen Verstärkertrichter hob. »Es heißt, Ranek sei tot. Bist du ein Meergeist, der sich aus dem Wasser erhoben hat?« Diese Frage sandte einen Schauder des Entsetzens über die Decks der Speer von Russ. Die Männer rutschten unbehaglich auf ihren Ruderbänken herum. Das dröhnende Gelächter der Zauberers hallte über das Wasser. »Sehe ich wie ein Geist aus? Klinge ich wie ein Geist? Werden sich meine Stiefel wie die eines Geists anfühlen, wenn ich euch für eure Unverschämtheit in den Hintern trete?« Vom Deck des anderen Schiffs antwortete ihnen Gelächter. »Dann komm an Land, Wolfpriester, und sei hier willkommen. Bring deine Begleiter mit, dann werden wir feiern.« Das seltsame Schiff vollführte ein Manöver, das Ragnar übernatürlich vorkam. Ohne zu wenden, änderte es die Fahrtrichtung und fuhr rückwärts zur Küste zurück, so dass es das Drachenschiff die ganze Zeit im Blick hatte. Der Trommelschlag des Rudermeisters ließ die Speer von Russ wieder zum Leben erwachen, sie sich auf den Weg zur Anlegestelle machte.
*** Ragnar folgte dem Wolfpriester, wenn dies denn sein Titel war, durch die Straßen, ohne wirklich zu wissen, warum er dies tat, aber er war entschlossen, ihn zu begleiten und Fragen zu stellen, denn er konnte nicht wissen, ob sich ihm in seinem Leben je wieder so eine Gelegenheit bieten würde. Die übrigen Besatzungsmitglieder warteten in einer Hafentaverne oder wanderten durch die Straßen. Ragnar war mit dem Zauberer allein. Ragnar ging durch Straßen, die mit Steinen gepflastert waren, durch einen Irrgarten aus verrußten Häusern und engen Gassen. Es roch nach Rauch und stechenden alchemistischen Ausdünstungen. Die Leute waren fremd und neu für ihn und redeten in einem Dialekt, den er nicht verstand. Viele kamen ihm klein, bucklig und hager vor. Sie trugen Tuniken und Hosen in grauen und braunen Farben und keine Waffen. Sie sammelten Reste und Abfälle von den Straßen und eilten mit Lasten beladen oder auf Botengängen dahin. Sogar hier, auf diesen durch das Metall reichen Inseln, gab es Armut. Die wenigen Herrscher der Insel waren überaus wohlhabend. Sie trugen eine Metallrüstung und Stahlklingen in Scheiden aus Drachenhautleder. Es waren hochgewachsene, gutgebaute Männer mit dunkler Haut und braunen Augen. Sie nickten ihm mit distanzierter Höflichkeit zu, wenn er vorbeiging, und er reagierte entsprechend. »Warum folgst du mir, Junge?«, fragte der Wolfpriester. »Weil ich Euch Fragen stellen will.« Der alte Mann schüttelte den Kopf, aber er lächelte und enthüllte dabei seine furchterregenden Fänge. »Es sind immer Fragen, Fragen in deinem Alter, nicht wahr? Dann frag.« »Warum seid Ihr hergekommen? Oder vielmehr, warum habt
Ihr uns dafür bezahlt, Euch herzubringen? Hättet Ihr nicht stattdessen Eure Magie benutzen können?« »Ich verfüge nicht über Magie, Junge. Nicht so, wie du es meinst.« »Aber Euer Talisman ... wie Ihr den Drachen getötet habt ...« »Das war keine Magie. Der >Talisman< war eine Waffe, wie eine Axt oder ein Speer, nur komplizierter.« »Eine Waffe?« »Gewiss.« »Dann seid Ihr kein Zauberer?« »Russ behüte, nein! Ich kenne einige, die du als Zauberer bezeichnen würdest, Junge, und ich würde nicht für alles Eisen auf diesen Inseln mit ihnen tauschen wollen.« »Warum nicht?« »Sie tragen eine furchtbare Bürde.« Ragnar schwieg. Es schien auf der Hand zu liegen, dass der alte Mann nicht mehr preisgeben wollte. Ragnar war sicher, dass Raneks eiserner Talisman mächtige Magie enthielt, mochte der Wolfpriester sagen, was er wollte. Sie marschierten weiter durch die Straßen und an geöffneten Läden vorbei. Als er einen eingehenderen Blick in diese Läden warf, sah er, dass es sich um Werkstätten mit Schmiedeöfen handelte. Die Schatten wurden vom Schein rotglühenden Metalls aufgehellt. Er konnte das Klirren von Hammer auf Amboss hören, das ihm verriet, dass in diesen Werkstätten die Waren der Eisenmeister gefertigt wurden. »Ihr habt meine erste Frage nicht beantwortet«, sagte Ragnar, selbst über seine Kühnheit erstaunt. »Ich weiß nicht, ob ich sie auf eine Weise beantworten kann, die du verstehen würdest - oder ob ich sie überhaupt beantworten soll.« »Warum nicht?«
Das dröhnende Lachen des alten Mannes hallte durch die Gassen. Ragnar sah, wie alle sich zu ihnen umdrehten, um dann das Zeichen des Hammers zu beschreiben und rasch wegzuschauen. »Du lässt dich nicht leicht entmutigen, nicht wahr, Junge?« »Nein.« »Warum auch? Ich hatte einen Auftrag. Es gab einen Unfall. Mein Gefährt wurde zerstört. Ich musste hierher zurück und Verbindung mit meinen ... Brüdern aufnehmen. Um eine so große Entfernung möglichst schnell zu überwinden, brauchte ich das Schiff deines Vaters, und für seine Hilfe wird er belohnt.« »Was war das für ein Auftrag?« »Das kann ich dir nicht sagen«, erwiderte Ranek in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »War es für die Götter?« »Es war für meine Götter.« »Sind nicht alle Götter gleich? Jeder auf den Inseln verehrt Russ und den Allvater.« »Ich auch, aber anders als ihr.« »Wie kann das sein?« »Eines Tages findest du das vielleicht heraus, Junge.« »Aber nicht heute?« »Nein. Nicht heute.« Sie betraten einen großen Platz auf dem Hügel. Er war von gewaltigen Häusern umgeben. Ein jedes war so breit, dass sie geduckt wirkten, obwohl sie die Größe eines Mannes um das Zehnfache übertrafen. Die Mauern waren auf seltsame Art verziert. In die gewaltigen Steinblöcke waren ineinander greifende Zahnräder gemeißelt. Metallrohre zogen sich durch das Mauerwerk wie Ansammlungen riesiger Würmer, die an
einer Stelle aus der Erde ragten und an anderer wieder darin eintauchten. Ruß schwärzte die Mauern, und aus den Rohren waren einst Abwässer gesickert und hatten große Flecken in der Farbe von Rost auf den Mauern hinterlassen. Von drinnen ertönte der Lärm monströser Maschinen, ein Klirren und Rattern, als hämmerten Riesen auf gewaltige Ambosse. Der Geruch nach Rauch und heißem Metall drang scharf in Ragnars Nase. Er fragte sich, ob er der Einzige in dem ganzen Bienenstock war, dem Lärm und Gestank etwas ausmachten. Sie schritten über den Platz zum größten der Gebäude. »Dies ist der Eisentempel«, sagte Ranek der Wolfpriester leise. »Und hier trennen sich unsere Wege einstweilen.« Ragnar schaute an dem großen Haus empor. Es war eine gedrungene Festung, aber es stellte alle Gebäude ringsumher in den Schatten. Schießscharten funkelten in seinen Mauern wie die Augen einer hungrigen Bestie. Hoch oben auf dem Gebäude war eine große Metallblume so groß wie ein Drachenschiff. Ragnar konnte ihre Bedeutung nicht einmal erahnen. Große metallbeschlagene Türen versperrten am Beginn der Rampe den Weg. Die Glätte und die Vertiefungen verrieten Ragnar, dass in Hunderten von Jahren viele Füße diesen Weg beschritten hatten. Seltsame Runen, ganz anders als alle, die Ragnar je gesehen hatte, prangten über dem Türbogen. Zwei Posten, bewaffnet mit Harpunen mit Metallspitzen, bewachten den Weg. Die Männer sahen aus, als seien sie aus Metall. Eine eiserne Rüstung umschloss sie wie eine zweite Haut. Metallhelme schützten ihren Kopf. Schilde aus Stahl, die mit denselben Runen wie über dem Eingang gezeichnet waren, hingen an ihrem linken Arm. »Sind die hier Eure Sippe?«, fragte er Ranek. Der Kopf des alten Mannes fuhr rasch zu ihm herum und betrachtete ihn. Die scharfen Augen bohrten sich in seine. So nah bei ihm ging
Ragnar auf, wie groß der Wolfpriester war. Er selbst galt unter seinen Leuten als hochgewachsen und gutgebaut, aber verglichen mit diesem alten Mann hatte er nur die Größe eines Kindes. Ranek überragte ihn um Kopf und Schultern und wäre auch ohne seine merkwürdige Rüstung weitaus stämmiger gewesen. »Nein, Junge, die Eisenmeister sind eine eigene Sippe. Auf allen Inseln des Großen Ozeans gibt es keine wie sie. Sie sind ein eigenes Volk.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Ragnar. »Wo sie doch all dieses Metall haben und diese Magie ... Warum haben sie nicht versucht, die Herrschaft über die ganze Welt zu erringen? Sie könnten sie doch gewiss erringen, oder nicht?« »Die Eisenmeister streben ausschließlich nach der Herrschaft über Metall und Feuer. Eroberungen sind nicht ihre Art. Sie kämpfen nur, um sich zu verteidigen. Das ist Bestandteil des Alten Pakts.« »Des Alten Pakts?« »Genug Fragen, Junge. Ich muss gehen.« »Ich hoffe, dass wir uns eines Tages wiedersehen, Jarl«, sagte Ragnar ernst. Der alte Mann drehte sich um und betrachtete ihn. Der Ausdruck in seinen Augen war seltsam. »Ich mag dich, Junge, also gebe ich dir einen guten Rat. Bete, dass wir uns nie wiedersehen. Denn wenn wir es tun, wird es ein Tag des Verhängnisses für dich sein.« Etwas im Tonfall des alten Mannes traf Ragnar bis ins Mark. Die Worte waren mit der Eindringlichkeit einer Prophezeiung geäußert worden. »Wie meint Ihr das? Würdet Ihr mich töten?« »Du wirst es erfahren, falls es je dazu kommen sollte«, sagte Ranek, dann wandte er sich ab und ging weiter. Ragnar beobachtete den alten Mann bei seinem Marsch die Rampe empor. Die großen Türen schwangen lautlos auf. Ranek
wurde von einer gebückten Gestalt gegrüßt, die ganz in Schwarz gewandet und deren Gesicht hinter einer Metallmaske verborgen war. Ragnar sah den Wolfpriester in die Düsternis des Hauses treten und stand noch lange Minuten sinnend da. Nach einer Weile hörte er ein summendes Knirschen. Die große Blume auf dem Dach des Gebäudes hatte angefangen, sich zu bewegen und sich zum entfernten Asaheim wegzudrehen. Während er staunend zusah, entfalteten sich ihre metallenen Blütenblätter. In ihrer Mitte pulsierten unheimliche Lichter. Ragnar wusste nicht, was diese Magie zu bedeuten hatte, aber er war sicher, dass sie etwas mit dem alten Zauberer zu tun hatte. Auf dem großen Platz sich selbst überlassen, wurde Ragnar von Furcht übermannt. Er wandte sich um und eilte zurück zum Hafen. *** Der Trommelschlag hallte laut in Ragnars Ohren, als die Speer von Russ das dunkle Wasser des Hafens der Eisenmeister verließ und ins offene Meer lief. Er atmete die saubere, frische Luft tief ein und lächelte, froh, die stinkende und schmutzige Stadt hinter sich gelassen zu haben. Die Insulaner mochten reich sein, aber sie lebten auf eine Art, die ihm ungesünder vorkam als diejenige der niedrigsten aller Knechte und Leibeigenen. Im Heck des Drachenschiffs lagerte eine Fracht aus eisernen Axtschneiden und Speerspitzen, die in Drachendärme gehüllt waren, um sie vor der zersetzenden Wirkung des Meeres zu schützen. Sie bedeuteten großen Wohlstand für den Donnerfaust-Klan, und Ragnar war stolz, an der Fahrt teilgenommen zu haben, die ihn errungen hatte. Aber dieser Wohlstand hatte auch etwas Beunruhigendes an sich. Er
misstraute glücklichen Fügungen und glaubte dem alten Sprichwort, dass die Götter die Menschen für ihre Geschenke bezahlen ließen. Keiner der anderen an Bord schien seine Besorgnis zu teilen. Sie sangen fröhliche Trinklieder, da sie erleichtert waren, den Hafen zu verlassen und den Wolfpriester nicht mehr an Bord zu haben. So sehr sie ihn auch geachtet und so viel Ehrfurcht sie ihm auch entgegengebracht hatten, seine Anwesenheit hatte ihre Lebensfreude gedämpft. Jetzt scherzten sie und erzählten Geschichten über die Ereignisse der Fahrt. Sie aßen freudig ihre gesalzenen Dörrfleischstreifen und tranken ebenso freudig Krüge mit Ale. Gelächter hallte über das Deck und weckte gleichermaßen Freude in Ragnars Herzen. Plötzlich gab es einen Knall wie ein Donnerschlag. Ragnar schaute voller Furcht empor. Nicht eine dunkle Wolke war am Himmel, und nichts deutete auf ein nahendes Unwetter hin. Es gab nicht den geringsten Grund für das Geräusch. Seine scharfen Augen suchten den Horizont nach einer Ursache ab. Überall ringsumher verstummte das Gelächter, und Schutzgebete wurden an Russ gerichtet. Da! In der Ferne aus der Richtung Asaheims sah er etwas kommen. Es war kaum mehr als ein schwarzer Punkt, der einen weißen Schweif hinter sich herzog wie ein Meteor am Nachthimmel, nur dass heller Tag und der Schweif eine weiße Linie auf dem Hellblau des Himmels war. Er beobachtete, wie der schwarze Punkt in ihre Richtung umschwenkte, um dann mit unfassbarer Schnelligkeit zu wachsen. Die Verwünschungen und Gebete wurden lauter, und die Männer griffen nach ihren Waffen. Ragnar hielt den Blick fest auf den Punkt gerichtet und fragte sich, worum es sich dabei handeln mochte. Er konnte jetzt erkennen, dass das Ding zwei Flügel hatte wie ein Vogel, die sich aber nicht bewegten. Was für ein Ungeheuer war es? Ein Drache? Ein Lindwurm? Irgendein Dämon, beschworen durch mörderische Magie?
Nein, es schien kein lebendiges Wesen zu sein. Als es näher kam, konnte er erkennen, dass es Ähnlichkeit mit einem der eisernen Schiffe im Hafen hatte. Seine Gedanken überschlugen sich. Wie es unmöglich erschien, dass so etwas schwimmen konnte, so musste es diesem Ding ganz gewiss unmöglich sein zu fliegen. Und doch tat es das ganz offensichtlich. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als seinen Augen zu trauen. Es wurde langsamer, je näher es kam, und verlor etwas von der entsetzlichen Geschwindigkeit, mit der es schneller als alle Vögel über den Himmel gejagt war. Das laute Donnerhallen war einem heulenden Tosen gewichen, als schrien tausend verlorene Seelen in äußerster Qual. Das Ding flog niedrig und wühlte das Meer unter ihm auf und peitschte die Wellen schaumig. Es schien jetzt direkt auf sie zuzufliegen, und Ragnar fragte sich, ob sie sich durch irgendeine Tat den Zorn der Götter zugezogen hatten. Vielleicht war diese schreckliche Erscheinung geschickt worden, um sie zu vernichten. Es flog dicht über sie hinweg. Als er es von unten betrachtete, konnte Ragnar erkennen, dass es sich um irgendein Vehikel aus Metall handelte, um eine Kreuzgestalt mit Flügeln, auf deren Seiten und Flügeln ein Adler gemalt war. Einen Moment lang glaubte er, vorn Fenster und dahinter menschliche Gesichter gesehen zu haben, aber er tat diesen Eindruck als vorübergehende Verwirrung ab. Er folgte dem Ding mit seinem Blick und sah Flammen aus dem Heck züngeln wie der Atem eines Drachen. Es heulte in die Ferne und zur Insel der Eisenmeister, wo es innehielt. Lange Flammenstrahlen schossen nach vorn. Einen Augenblick schwebte es über dem Eisentempel, und Ragnar sah atemlos zu, da er nicht wusste, was er zu erwarten hatte. Halb fragte er sich, ob das Ding die Stadt mit seinen Flammen vernichten würde, und halb glaubte er, dass er jeden Augenblick Zeuge einer absonderlichen und entsetzlichen Magie würde.
Nichts dergleichen geschah. Das Vehikel ließ sich langsam auf dem Dach des Eisentempels nieder. Alle sahen schweigend zu und fragten sich, was als Nächstes geschehen würde. Ragnar hörte sein Herz laut in der Brust schlagen. Fünf Minuten später erhob sich der metallene Vogel wieder in den Himmel und schoss in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Als das Ding über ihnen war, wackelte es wie zum Gruß mit den Flügeln. Plötzlich wusste Ragnar irgendwie, dass Ranek der Wolfpriester ein neues Transportmittel gefunden hatte, das ihn überallhin bringen würde, wohin er auch wollte. Danach waren alle an Bord der Speer von Russ noch für Stunden still.
3
DAS FEST DES ÜBERGANGS Ragnar lächelte nervös. Das war albern, sagte er sich. Er war jetzt ein Mann. Er hatte den Geistern der Vorfahren auf dem Runenaltar seinen Treueeid geschworen. Er hatte seine eigene Axt und seinen Schild aus Drachenhautleder, der über einen Rahmen aus Knochen gespannt war. Er hatte sogar damit begonnen, sich sein schwarzes Haar lang wachsen zu lassen, wie es sich für einen Wolfbruder ziemte. Er war jetzt ein Mann. Er durfte keine Angst davor haben, ein Mädchen zum Tanz aufzufordern. Und doch musste er zugeben, dass genau dies der Fall war. Schlimmer noch, er hatte keine Ahnung, warum. Das Mädchen, Ana, schien ihn zu mögen. Jedes Mal, wenn er sie sah, lächelte sie ihm ermutigend zu. Und natürlich kannten sie sich schon, seit sie Kinder waren. Er konnte nicht den Finger darauf legen, was genau sich zwischen ihnen verändert hatte, aber er wusste, dass irgendetwas anders geworden war. Seit seiner Rückkehr von der Insel der Eisenmeister vor all diesen Monden war etwas anders. Er betrachtete seine Kameraden, die Wolfbrüder, mit denen er Bluteide geleistet hatte, und es war schwer, nicht zu lachen. Sie sahen wie Jungen aus, die sich für Männer ausgaben. Sie hatten noch den Flaum der Jugend auf den Lippen. Sie gaben sich alle Mühe, den schaukelnden Gang erwachsener Krieger nachzuahmen, und doch schien es irgendwie nicht richtig zu sein. Sie sahen aus wie Kinder, die Krieger spielten, nicht so, als seien sie selbst Krieger. Und doch war dies nicht der Fall. Sie alle waren zur See gefahren. Sie alle hatten schon bei Sturm an den Rudern gezogen und bei der Jagd auf Drachen und Orcas geholfen. Sie alle hatten ihren Anteil an der Beute erhalten. Einen kleinen Anteil, zugegeben, aber eben doch
einen Anteil. Nach den Bräuchen ihres Stammes waren sie Männer. Ragnar sah sich um. Es war ein Spätherbstnachmittag, und das Wetter war herrlich. Es war der Tag des Erinnerns, der erste Tag der letzten Hundert-Tage-Periode des Jahres, der Beginn der kurzen Herbstsaison, in der für allzu kurze Zeit das Wetter gut und die Welt friedlich sein würde. Das Auge von Russ wurde kleiner am Himmel. Die Zeit der Beben und Eruptionen war fast vorbei. Viel zu bald würden die Schneefälle einsetzen, und dann würde sich der lange Winter über die Welt senken, da das Auge noch kleiner würde. Der Atem von Russ würde die Welt erkalten lassen, und das Leben würde in der Tat sehr hart sein. Er schob den Gedanken beiseite. Jetzt war nicht die Zeit, an solche Dinge zu denken. Jetzt war die Zeit zu feiern, lustig zu sein und sich zu verloben, solange das Wetter gut und die Tage noch lang waren. Er sah sich um. Die Feierstimmung hatte von jedem Besitz ergriffen. Die Hütten waren mit frischer Drachenhaut bespannt. Die Holzwände des Langhauses waren rot und weiß bemalt. Ein großer Scheiterhaufen stand in der Mitte des Dorfs. Ragnar roch den minzigen Duft der Kräuter, der die Luft erfüllen würde, wenn der Haufen erst einmal brannte. Die Braumeister rollten bereits große Fässer ins Freie. Die meisten Leute arbeiteten noch, aber Ragnar und seine Freunde waren von den Schiffen. Dieser Tag war ein Feiertag für sie, und sie hatten nichts anderes zu tun, als in ihrer besten Kleidung herumzulungern. Sie waren aus ihren Hütten geworfen worden, so dass ihre Mütter fegen und sauber machen konnten. Ihre Väter waren bereits im Langhaus und erzählten sich Geschichten über die große Schlacht mit den Grimmschädeln. Irgendwo in der Ferne hörte er, wie der Skalde sein Instrument stimmte und seine Lehrlinge einfache Rhythmen auf den Trommeln schlugen, mit denen sie ihn begleiten würden.
Ein magerer Hund kreuzte seinen Weg und sah freundlich zu ihm auf. Er streckte die Hand aus und kraulte ihn hinter den Ohren, wobei er die Wärme des Fells spürte, das zur Vorbereitung auf den kommenden Winter bereits dichter wurde. Der Hund leckte ihm mit einer Zunge rau wie Sandpapier über die Hand und rannte dann aus schierer Freude am Laufen die Straße entlang. Plötzlich wusste Ragnar, was das für ein Gefühl war. Er nahm einen tiefen Zug von der salzig-frischen Luft und verspürte den Drang, aus schierer Freude darüber, am Leben zu sein, zu heulen. Stattdessen wandte er sich an Ulli, zog ihn am Ohr und rief: »Du bist es!« Er fuhr herum und lief los, bevor Ulli Gelegenheit hatte zu begreifen, was vorging. Als sie sahen, dass das Spiel begonnen hatte, sprengten die anderen Wolfbrüder auseinander und rannten zwischen Hütten und geschäftigen Leuten hindurch, so dass die Hühner gackernd aufflogen. Ulli rannte ihm nach und rief dabei Herausforderungen. Ragnar machte auf der Stelle kehrt, wobei ihn sein Schwung beinah zu Fall gebracht hätte, und schnitt Ulli ein Gesicht. Sein Freund stürzte sich mit ausgestreckten Armen auf ihn. Ragnar ließ ihn fast an sich herankommen, bevor er sich wieder umdrehte und weiterlief. Er schwenkte nach rechts und rannte eine schmale Straße entlang. Er wich nach links aus, um nicht gegen das Fass eines Brauers zu prallen, und dabei rutschte er auf einem glitschigen Grasbüschel aus und fiel. Bevor er sich wieder aufrappeln konnte, warf Ulli sich auf ihn, und sie rangen auf dem Boden, Muskelkraft gegen Muskelkraft, wie verspielte Hundewelpen. Sie wälzten sich hierhin und dorthin und rollten schließlich einen Hang hinunter, bis sie mädchenhaftes Kreischen hörten und gegen etwas stießen. Ragnar öffnete die Augen und stellte fest, das er in Anas hübsches, schmales Gesicht starrte. Sie zupfte an ihrer Haarflechte, während sie ihn betrachtete, und dann lächelte sie. Ragnar erwiderte ihr Lächeln und spürte, wie er errötete.
»Was macht ihr zwei da?«, fragte Ana mit ihrer leisen heiseren Stimme. »Nichts«, erwiderten Ragnar und Ulli gleichzeitig und brachen dann in lautes Gelächter aus. *** Strybjörn Grimmschädel stand im Bug des Drachenschiffs und starrte grimmig auf den Horizont. Er räusperte sich und spie einen dicken Klumpen Schleim verächtlich ins Meer. Er spürte, wie sich die Kampfeslust in ihm regte, und hoffte, dass er den Kampf bald bekommen würde. Vor der Flotte lag die Heimatinsel der Grimmschädel, die Stätte ihres heiligen Runensteins und der Ort, von dem sie vor zwanzig langen Jahren von den verfluchten Donnerfäusten vertrieben worden waren. Natürlich war das vor Strybjörns Geburt geschehen, aber das spielte keine Rolle. Er war mit unzähligen Geschichten über die Schönheit der Insel aufgewachsen und hatte das Gefühl, sie bereits zu kennen. Ihr Bild hatte sich aus den Erzählungen seines Vaters klar in seinen Verstand eingeprägt. Dies war das geheiligte Land, aus dem sie vor vielen Jahren durch die Heimtücke der Donnerfäuste vertrieben worden waren und das sie sich heute, am Jahrestag ihres Verlusts, endlich zurückholen würden. Wut auf die Eindringlinge erfüllte ihn. Er empfand sie so schneidend wie jeder Überlebende des Angriffs und des anschließenden Massakers, als die Donnerfäuste gelandet waren, um sich das Land mit Gewalt zu nehmen. Zehn Drachenschiffe hatten die zahlenmäßig unterlegenen Grimmschädel überwältigt, da die überwiegende Mehrheit der Krieger auf See war und den Orca-Herden folgte. Als die tapferen Krieger heimgekehrt waren, hatten sie feststellen müssen, dass ihr eigenes Land gegen sie befestigt worden war
und die Donnerfäuste ihre Frauen und Kinder in Knechtschaft genommen hatten. Nach einem kurzen Kampf am Ufer waren sie zu ihren Schiffen gedrängt und auf See vertrieben worden, wo sie das Elend der Langen Suche hatten ertragen müssen. Strybjörn teilte ihre Verbitterung angesichts dieser schrecklichen Reise. Die vergeblichen Angriffe auf andere Siedlungen, die fruchtlosen Bemühungen, eine neue Heimat zu finden. Er erinnerte sich an die Namen all jener, die vor Hunger und Durst oder im Kampf gestorben waren, als seien sie seine eigenen Vorväter. Er schwor wieder einmal, dass er sie rächen und ihre Geister mit Donnerfaust-Blut beschwichtigen würde. Er wusste, dass es so sein würde, denn war es nicht so von den Göttern bestimmt worden? Hatte schließlich nicht Russ selbst es für richtig gehalten, die Beharrlichkeit der Grimmschädel-Krieger zu belohnen? Sie waren auf das Dorf Ormskrik gestoßen, dessen Bewohner halb tot von der Pest waren, und sie hatten es überwältigt, die Männer getötet und die Frauen und Kinder den uralten Bräuchen entsprechend geknechtet. Und dann hatten sie sich niedergelassen, um sich zu erholen und zu vermehren. Und in all den langen Jahren hatten sie niemals die Stätte ihres angestammten Runensteins vergessen. Zwanzig lange Jahre hatten sie Pläne geschmiedet und Vorbereitungen getroffen. Söhne waren geboren worden. Die Götter hatten gelächelt. Eine neue Generation war zu Männern gereift. Aber immer hatten die Grimmschädel sich an die Heimtücke der Donnerfäuste und an die mächtigen Vergeltungseide erinnert, die sie geschworen hatten. Heute Nacht würden sich diese Eide erfüllen. Die Götter lächelten wahrhaftig, denn war heute nicht auf den Tag genau der Jahrestag des Angriffs der Donnerfäuste? Es war ein Zeichen des Himmels, dass genau zwanzig Jahre nach dem Verlust des Landes ihrer Vorväter die Grimmschädel dieses Land zurückerobern würden.
Strybjörn war stolz auf seine Männer. Es wäre leicht gewesen zu vergessen. Es wäre leicht gewesen, in der Behaglichkeit ihres neuen Landes zu versinken. Doch das war nicht die Art der Grimmschädel. Sie kannten den Wert eines Eides. Sie waren verpflichtet, Vergeltung zu üben. Sie hatten ihre Kinder verpflichtet, Vergeltung zu üben, sobald sie alt genug waren, ihre Mannbarkeitsschwüre zu leisten. Als Strybjörn ein Wolfbruder geworden war, hatte er geschworen, dass er nicht ruhen würde, bis der Runenstein sich wieder in ihrem Besitz befinden und er die geheiligte Erde ihrer Vorväter mit stinkendem Donnerfaust-Blut getränkt haben würde. Er strich sich mit breiter, starker Hand über die zerfurchte Stirn, schirmte die Augen ab und starrte zum fernen Horizont. Bald würden sie landen, und dann mussten sich die Donnerfäuste vorsehen. *** Ragnar sah zu, wie der Hohe Jarl Torvald die großen Leuchtfeuer entzündete. Die brennende Fackel flog auf das ölgetränkte Holz, und die Flammen schossen in die Höhe wie tanzende Dämonen. Der Geruch nach Ambra und Krautern wallte durch die Straßen. Die Hitze der Flammen überzog sein Gesicht mit Röte. Er schaute sich um. Alle Dorfbewohner hatten sich um das Freudenfeuer versammelt und sahen dem Häuptling des Stammes dabei zu, wie er ernst seine feierlichen Pflichten erfüllte. Torvald schwang seine Axt. Zuerst nach Norden, nach Asaheim und dem großen Berg der Götter, dann nach Süden, hin zum Meer und den dort ansässigen Dämonen zum Trotz. Er hob die Waffe hoch über den Kopf, nahm sie in beide Hände und wandte sich der untergehenden Sonne zu. Er stieß ein gewaltiges Brüllen aus, und alle fielen ein und skandierten
Russ' Namen in der Hoffnung, sich die Gunst des Gottes für ein weiteres Jahr zu sichern, wie sie es in jedem Jahr getan hatten, seit Russ ihnen zugelächelt und den Sieg ermöglicht hatte. Als der Häuptling in die Reihen seiner Krieger zurückkehrte, hinkte der alte Skalde Imogrim in den Schein des Feuers und gebot Stille. Seine Lehrlinge folgten ihm mit ihren Instrumenten und begannen, seine Worte mit einem leisen Rhythmus zu unterlegen. Imogrim hob seine Harfe und zupfte ein paar Akkorde. Seine Finger bewegten sich sanft über die Saiten, während er einen Moment völlig still dastand und seine Gedanken zu ordnen schien. Ein Lächeln umspielte seine dünnen, blutleeren Lippen. Der Feuerschein beleuchtete jede Furche in seinem faltigen Gesicht und verwandelte seine Augen in tiefe Höhlen. Sein langer weißer Bart glänzte im flackernden Licht. Die Menge wartete atemlos darauf, dass er begann. Ringsumher war die Nacht still. Ragnar sah sich um und erblickte Ana. Es hatte den Anschein, als habe sie ihn angesehen, denn als ihre Blicke sich begegneten, sah sie fast schüchtern weg, den Blick auf den Boden gerichtet. Imogrim fing an zu singen. Seine Stimme war leise und doch überraschend voll, und seine Worte schienen im Einklang mit dem Trommelschlag aus seinem Mund zu fließen. Es war, als habe er eine riesige Quelle der Erinnerung in sich angezapft, deren Wasser jetzt sacht, aber unaufhaltsam strömte. Er beschwor die Taten der Donnerfäuste, sang das Lied ihrer Vorfahren, eine Arbeit, die in den vergessenen Tiefen der Zeit vor Hunderten von Generationen begonnen worden war und zu der seitdem jeder Skalde beigetragen hatte. Es war Imogrims Lebenswerk, sich das Lied einzuprägen, einen Abschnitt hinzuzufügen und es an seine Lehrlinge weiterzugeben, wie sie es an ihre weitergeben würden. Eine alte Redensart besagte, dass der Jarl das Herz und der Skalde das Gedächtnis eines Volkes war. In Zeiten wie diesen begriff Ragnar, wie viel
Wahrheit in dieser Redensart steckte. Natürlich würde an diesem Abend nicht genug Zeit für die ganze Geschichte sein, also begnügte Imogrim sich mit Auszügen. Er spielte nur kurz auf die uralten Zeiten an, als die Menschen in von den Göttern erbauten Schiffen noch zwischen den Sternen gesegelt waren. Er sang von Russ, der die Menschen gelehrt hatte, wie man in den finsteren Zeiten überleben konnte, als die Welt gebebt hatte und uraltes Böses in die Welt gekommen war. Er sang von der Zeit des Auswählens, als Russ sich aus allen Klans die besten zehntausend Krieger ausgesucht und sie fortgeführt hatte, um nie wiederzukehren und im Krieg der Götter zu kämpfen. Er sang von den alten Kriegen und den gewaltigen Taten der Donnerfäuste, wie Berak den großen Drachen Thrungling erschlagen und dafür eine Schatulle mit Eisen und die Hand des Donnergeists Maya verlangt hatte. Wie der große Seefahrer Niai in seinem mächtigen Schiff Windwolf um die Welt gesegelt war. Von der Nacht, als die Trolle gekommen waren und die Donnerfäuste aus dem Land ihrer Vorfahren vertrieben hatten. Er schlug den Bogen zur Gegenwart mit der Geschichte, wie Ragnars Vater und dessen Stamm diese Insel, die unter der Herrschaft der grausamen und brutalen Grimmschädel stand, gefunden und sie nach einem Tag blutiger Auseinandersetzung erobert hatten. An dieser Stelle des Lieds hatten einige der Anwesenden gejubelt. Andere starrten ins Feuer, als gedächten sie gefallener Kameraden und der brutalen Kämpfe der Vergangenheit. Und schließlich, nach langen Stunden, erreichte die Geschichte die jüngsten Begebenheiten. Ragnar spürte, wie sein Herz vor Stolz einen Satz machte, als Imogrim von ihrer Reise berichtete, auf der sie den Wolfpriester Ranek zur Insel der Eisenmeister gebracht hatten und auf der Ragnar dem Drachen den Speer ins Auge geschleudert hatte, bevor die Bestie von dem alten Zauberer und seiner Magie endgültig
vernichtet worden war. Er wusste nun, dass sein Name ewig leben würde. Denn solange sein Klan existierte, würden sich der Skalde und seine Lehrlinge an seinen Namen erinnern und vielleicht sogar an hohen heiligen Tagen und anderen Festen von ihm singen. Auch später, wenn er in die Halle der Erschlagenen eintrat, würde sein Name fortleben. Er drehte sich um und sah den Stolz auf Anas Gesicht. Er war so entzückt, dass er dem Rest des Lieds kaum Beachtung schenkte. *** Wie entgegenkommend von den Donnerfäusten, ein Leuchtfeuer anzuzünden, das ihnen den Weg wies, dachte Strybjörn, während er das flackernde Freudenfeuer am Horizont betrachtete. Es strahlte hell, und sein Spiegelbild auf den Wellen schien das Licht nur noch zu verstärken. Zuerst hatte Strybjörn gedacht, bei dem Leuchtfeuer handele es sich um ein Warnzeichen und man habe die GrimmschädelFlotte gesichtet, aber es gab keinerlei Anzeichen für Kriegsvorbereitungen. Der Strand war verlassen. Keine Drachenschiffe rückten aus, um ihnen zu begegnen. Es hatte einige Bestürzung hervorgerufen, als entsprechende Meldungen kursierten, aber bis jetzt war nichts geschehen. Zuerst hatte Strybjörn geargwöhnt, es könne eine Falle sein. Noch ein Beweis für die Heimtücke und Verschlagenheit der Donnerfäuste, als sei noch einer nötig. Dann hatte die Nachricht die Runde durch die Ruderbänke gemacht, dass die Donnerfäuste höchstwahrscheinlich den Jahrestag ihres berüchtigten Sieges feierten und sich voller Häme über das Massaker freuten, das sie mit ihrer Heimtücke angerichtet hatten. Sehr bald würden sie am eigenen Leib spüren, wie sich
die derart Besiegten fühlten. Der Jarl hatte ihnen befohlen, in der Grimmbucht außer Sicht des Dorfs zu landen. Von dort war es nur ein kurzer Marsch zur raschen und endgültigen Vergeltung. Strybjörn spürte, wie ihn eine Welle des Zorns erfasste, die auch seine Klansbrüder erfasst hatte. Bei Russ, und wie diese Donnerfäuste büßen würden. *** Bald darauf war das Singen vorbei, und es wurde Zeit, zu feiern und zu tanzen. Der Jarl und sein Leibwächter gingen zum Langhaus voran. Dort ächzten die Tische unter der Last von gebratenem Geflügel und frisch gebackenem Brot. Berge von Käse türmten sich über den Böcken auf. Seen von Honig glänzten in ihren Schüsseln. Der Geruch nach Ale lag in der Luft. Die Brauer füllten bereits große Krüge, und Trinkhörner wanderten von Hand zu Hand. Ulli grinste ihn an und reichte ihm einen Lederhumpen. Ragnar stürzte das bittere Gebräu hinunter, wie er es ältere Krieger hatte tun sehen. Dies war nicht das den Jungen vorbehaltene Leichtbier. Dies war das Festtagsgetränk für Krieger, und es war stark und kräftig. Das Kribbeln hätte ihn beinah ausspeien lassen, und die starke Bitterkeit überraschte ihn, aber er behielt die Flüssigkeit bei sich und entehrte sich nicht, da er den ganzen Humpen in wenigen Schlucken unter dem bewundernden Applaus seiner Kameraden bis zur Neige leerte. Nicht weit entfernt sah er seinen Vater das große Trinkhorn ansetzen und beobachtete dann, wie dessen Inhalt unaufhaltsam in seine Kehle rann, während die älteren Krieger von zehn abwärts zählten. Das ganze Horn war leer, als sie bei fünf angelangt waren. Es war eine gute Zeit. Das Horn wurde
wieder gefüllt und weitergereicht, und diesmal begann die Zählung bei fünf, aber der neue Trinker war kein Gegner für Ragnars Vater und konnte das Horn nicht leeren, bevor die anderen ausgezählt hatten. Verlegen gab er das Horn dem nächsten Krieger. Ragnar ging zu den für die Wolfbrüder gedeckten Tischen und nahm sich von dem heißen Huhn und dem frischen Brot. Das warme Fleisch schmeckte wunderbar. Die Säfte liefen ihm über das Kinn, und er wischte das gerinnende Fett mit Brotstücken auf, bevor er sie in den Mund steckte. Das Ale war in seinem Bauch zur Ruhe gekommen, und er fühlte sich wunderbar, wenn auch wegen der ungewohnten Stärke des Gebräus ein wenig benebelt. Ulli stieß ein langes Heulen aus, dem ein Rülpsen folgte. Er sah Ragnar an und warf dann einen vielsagenden Blick auf die Tische, wo die unverheirateten Mädchen saßen. Ragnar lächelte und nickte, da er nicht mehr ganz so nervös war. Bald würde es an der Zeit sein zu tanzen. *** Strybjörn half den anderen Kriegern dabei, das Drachenschiff an den Strand zu ziehen und auf den Sand zu setzen. Seine Muskeln schmerzten von der Anstrengung, und sein Atem kam stoßweise. Das Schiff war schwer, auch wenn die volle Besatzung von vierzig Kriegern daran zog. Seine Füße waren nass von den Wellen, und seine Hose war bis zu den Knien durchweicht, seitdem er im flachen Wasser von Bord gesprungen war. Er fühlte sich ein wenig wacklig auf den Beinen, da die Unverrückbarkeit des Landes zunächst ein wenig ungewohnt war. Die Wochen auf See bewirkten, dass er immer noch das Schaukeln des Boots ausgleichen wollte. Doch er sagte sich, dass es nicht lange dauern würde, bis er sich
darauf eingestellt hatte. Er schloss sich seinen Wolfbrüdern an, junge Männer wie er und darauf bedacht, in dieser ihrer ersten großen Schlacht Ruhm zu erwerben, sich einen Namen zu machen und die Aufmerksamkeit des Jarl und der Götter zu erlangen. Er richtete ein Gebet an Russ, in dem er gut zu kämpfen gelobte und versprach, falls er sterben musste, dies nur mit schweren Wunden und erst dann zu tun, wenn er die Aufmerksamkeit der Erwähler der Gefallenen auf sich gezogen hatte. Am Strand formierten sich die Grimmschädel-Krieger zu langen Reihen und machten ihre Waffen bereit. Als sie sich zu Kampftrupps zusammengetan hatten, erklommen sie rasch und lautlos den Weg zum Dorf der Donnerfäuste. *** Ragnar stieß einen Jubelruf aus und hakte seinen Arm bei Ana unter. Er war betrunken und glücklich. Die Tänzer hatten lange Reihen gebildet und woben zur Musik des Skalden und seiner Lehrlinge komplizierte Muster. Ana lächelte ihn mit gerötetem Gesicht an, während sie im Kreis umherwirbelten, bevor sie einen Platz weiter wieder in ihre jeweilige Reihe zurückkehrten. Auf diese Weise kam jeder junge Mann dazu, mit jedem Mädchen zu tanzen. Es war ein allgemeiner Wirbel. Paartänze würden später noch folgen. Aus der Ferne hörte er Gesang und Trinklärm, da die Älteren ihr Fest im Langhaus fortsetzten. Langsam kamen jetzt auch die verheirateten Paare nach draußen, um am Tanz teilzunehmen. Hunde bellten. Gänse schnatterten. Ziegen blökten. Die Festivitäten regten sie auf, wie nichts anderes es vermochte. Plötzlich hörte die Musik auf, als der Skalde und seine Burschen abbrachen, um ihren Durst mit Ale zu stillen. Einer Eingebung folgend, ging Ragnar zu Ana. Sie wechselten einen
Blick. Ohne zu reden, schritten sie davon, Arm in Arm, in die Dunkelheit und weg vom Langhaus. Ragnar sah, dass das Gesicht des Mädchens gerötet war. Ihre Haare waren in Unordnung. Ihre Augen kamen ihm im flackernden Fackelschein riesengroß vor. Ragnar legte ihr den Arm um die Taille, und sie tat es ihm nach. Sie sahen einander an und kicherten wie Verschwörer, als sie im Schatten der Hütten untertauchten. Während sie im Dunkeln standen und den vergnügten Geräuschen aus dem Dorf lauschten, spürte Ragnar, dass hier etwas Wichtiges geschah. Er fühlte sich mit derselben Kraft zu dem Mädchen hingezogen, die den Magnetstein nach Norden zog. Das sagte er ihr auch, und zwar in der Erwartung, dass sie lachen würde. Sie schaute ihn an und lächelte, wobei sich ihre Lippen ein wenig öffneten. Er war sich augenblicklich ihrer Schönheit und der weichen Wärme ihres Körpers an seinem bewusst. Ohne nachzudenken, zog er sie an sich. Ihre Lippen trafen sich. Ihre Arme kamen hinter seinem Kopf hoch, umschlossen sein Gesicht von beiden Seiten und führten ihn. Nach einem langen Augenblick lösten sie sich voneinander und lächelten ihr Verschwörerlächeln, dann wandten sie sich wieder dem Küssen zu. *** Strybjörn und seine Wolfbrüder näherten sich auf leisen Sohlen dem Dorf der Donnerfäuste. Er war verblüfft. Die Dummköpfe fühlten sich so sicher, dass sie nicht einmal eine Wache aufgestellt hatten. Das üppige Leben im Land von Strybjörns Vorfahren hatte sie weich gemacht. Tja, dachte er, bald würden sie für ihren Fehler büßen. Er wusste, dass rings um das ganze Dorf GrimmschädelKrieger in Stellung gingen. Bald würden erfahrene Krieger
über die Palisade klettern und das Tor von innen öffnen. Dann würden Strybjörn und die Seinen über ihre törichten Feinde herfallen wie Wölfe über eine Schafherde. Nichts konnte sie jetzt noch aufhalten. *** »Wünsch dir was«, sagte Ana, während sie ihr Kleid ordnete. Ragnar hielt im Zuknöpfen seiner Tunika inne und schaute in die angezeigte Richtung. Er sah ein Licht am Himmel. Zuerst dachte er wie das Mädchen, dass es eine Sternschnuppe war, aber dann fiel ihm der feurige Kometenschweif auf, den die Erscheinung hinter sich herzog. Er erinnerte ihn an etwas anderes. Im Augenblick war er vom Bier und den Umarmungen so benebelt, dass er nicht mehr wusste, woran. In der Ferne bellten Hunde wie als Reaktion auf den Anblick des fallenden Meteors. Er wälzte sich herum, packte das Mädchen und zog es zu sich herunter, um es zu küssen. Ana zierte sich einen Moment, bevor sie sich zu ihm auf den Boden sinken ließ. Er glaubte nicht, schon jemals in seinem Leben so glücklich gewesen zu sein wie in diesem Augenblick, aber der Gedanke an jene vom Himmel fallenden Flammen nagte weiterhin in seinem Hinterkopf. Schließlich fiel ihm wieder ein, wo er schon einmal solche Flammen gesehen hatte. Sie waren aus dem Heck des Luftschiffs gekommen, das den Wolfpriester Ranek von der Insel der Eisenmeister abgeholt hatte. Welche Bedeutung konnten sie haben, fragte er sich träge, bevor er in der Leidenschaft des Augenblicks gänzlich zu denken aufhörte. Als das Geschrei einsetzte, bemerkte er es kaum.
*** Strybjörn hielt seine Axt fest umklammert und rannte durch das offene Tor. Ringsumher taten seine Wolfbrüder es ihm nach, die Augen glänzend vor Vorfreude, den Mund weit aufgerissen. Strybjörn fühlte sich plötzlich für einen Moment schwach. Er wusste, er würde vergehen: das Gefühl überkam ihn jedes Mal, bevor er einer Gefahr begegnete. Es war wie ein Zeichen, dass sein Körper auf die Begegnung vorbereitet war. Unvermittelt war er sich bewusst, dass sein Atem sich beschleunigte, sein Herz schneller schlug und der Schweiß auf seinen Handflächen es erschwerte, die Axt richtig zu halten. Mit seinen Kameraden lief er in das Dorf, aus dem Klänge nach Musik und Tanz zu ihnen drangen. Plötzlich waren Leute vor ihnen. Es waren keine Grimmschädel. All seine Sinne spannten sich wie eine Trosse. Strybjörn brauchte keine weitere Provokation. Er schlug mit seiner Axt zu. Es gab ein grässlich feuchtes Sauggeräusch, als die Klinge traf und dann zurückgezogen wurde. Strybjörn schlug wieder zu und spürte, wie warmes Blut aus dem Körper des Mannes spritzte, der ihm vor die Füße fiel. Er stürmte tiefer in die Leiber hinein. Sonderbarerweise spielte die Musik weiter. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Als verkünde er der ganzen Welt den Angriff, ertönte hoch oben am Himmel ein Knall wie Donner. *** »Was war das?«, fragte Ana, während ein Ausdruck der Furcht auf ihrem Gesicht Gestalt annahm. Ragnar löste sich von ihr und sah auf.
»Ich weiß es nicht«, sagte er, dann ging ihm plötzlich auf, dass er sich irrte. Er hatte so ein donnerndes Krachen schon einmal gehört, als das Luftschiff sich der Insel der Eisenmeister genähert hatte. War dies ein Omen? Und was war das für ein Lärm? Es klang so, als sei vor dem Langhaus ein gewaltiger Streit ausgebrochen. Er kam langsam auf die Beine. Ana erhob sich neben ihm. Ihre Hand haltend, tastete er sich durch die Dunkelheit zwischen den Hütten zurück und dem Lärm entgegen. Was er sah, war schlimmer als alles, womit er gerechnet hatte. Fremde waren unter den Feiernden, große stämmige Männer mit dunklen Haaren. Ihre Züge waren zerfurcht und ihre Kiefer breit. Sie sahen fast wie Trolle aus, und Ragnar erkannte sie augenblicklich aus den Liedern des Skalden wieder. Es war, als seien sie aus einem seiner Lieder gestiegen. Sie waren Grimmschädel. Einen Moment ließ abergläubische Furcht Ragnar erstarren. Waren sie aus dem Grab zurückgekehrt, um sich die Seelen ihrer Bezwinger zu holen? War hier schwarze Magie am Werk? Konnten die Toten auferstanden sein, um Rache an den Lebenden zu nehmen? Vor seinen Augen machte ein Halbwüchsiger mit brutalen Zügen, der wie ein Wolfbruder gekleidet war, Ullis Vater nieder. Der alte Mann sah immer noch benebelt vom Bier und von der Überraschung aus, während er sich an den Bauch griff und versuchte, die Eingeweide festzuhalten, die herausglitten. »Wir werden angegriffen!«, rief Ragnar und schob Ana in die Schatten zurück. »Es ist ein Überfall.« Im tiefsten Innern seines Herzens wusste er, dass es nicht nur ein Überfall war. Nach der Menge der anwesenden Krieger und der Anzahl der Schlachtrufe zu urteilen, die er von überall her hören konnte, handelte es sich um eine regelrechte Invasion mit der Absicht, seinen Klan zu versklaven oder zu vernichten. Er
fluchte in dem Wissen, dass der Angriff zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt erfolgte, da alle Krieger betrunken waren und tanzten. Und es war ihre eigene Schuld. Sie hätten Wachposten aufstellen müssen. Sie hätten vorbereitet sein müssen, aber sie waren es nicht. Die langen Jahre des Friedens hatten sie eingelullt und ihnen ein falsches Gefühl der Sicherheit gegeben, wie es kein Mensch auf Fenris je haben durfte. Und jetzt büßten sie dafür. Wut und Verzweiflung rangen in Ragnars Herzen. Einen langen Augenblick stand er starr da. Alles war hoffnungslos. Über die Hälfte der Dorfbewohner waren bereits tot oder lagen im Sterben, von diesen furchtbaren Eroberern zerschmettert wie verrottete Drachenknochen. Die Angreifer waren gut ausgerüstet und in Formation, und sie kämpften mit einer schrecklich zielstrebigen Disziplin. Die Donnerfäuste waren unbewaffnet, führungslos, verwirrt und unfähig, viel mehr zu tun, als sich wie Hühner abschlachten zu lassen. Plötzlich wusste Ragnar, dass der Untergang der Donnerfäuste bevorstand.
4
DAS LETZTE AUFBÄUMEN »Geh zurück!«, rief Ragnar, indem er Ana in die nächste Hütte schob. Sie konnte ihnen nur wenig Schutz bieten, denn die Angreifer mochten sehr bald alle Gebäude niederbrennen. Aber er brauchte Zeit zum Nachdenken, und er wusste ohne den Schatten eines Zweifels, dass es in der Hütte Waffen gab, die besser waren als der Dolch an seinem Gürtel. Ohne richtig zu verstehen, was eigentlich los war, wehrte Ana sich, aber er war stärker und drängte sie hinein. Er legte ihr die Hand auf den Mund. »Sei still, wenn dir dein Leben lieb ist!«, sagte er zu ihr und sah einen Ausdruck entsetzten Wissens in ihre Augen treten, der rasch fester Entschlossenheit wich. Sie war eine wahre Tochter ihres Volkes, das konnte Ragnar jetzt deutlich sehen. Schreie und Kriegsrufe hallten gedämpft durch die Drachenhautwände der Hütte. Drinnen war es dunkel. Ragnar tastete hektisch herum, bis er einen Schild und eine Axt fand. Rasch band er sich den Schild an den Arm und nahm die Waffe in die Hand. Er fühlte sich ein wenig besser, wusste aber immer noch nicht, was er tun sollte. Was er gesehen hatte, hatte sich bereits unauslöschlich in seinen Verstand eingebrannt. Er erinnerte sich an den Ausdruck des Entsetzens auf dem Gesicht von Ullis Vater. Er wusste noch, dass er den alten Horgrim im Dreck hatte liegen sehen, dem die obere Schädelhälfte gefehlt hatte. Er sah noch die furchtbar pulsierende Wunde in der Brust von Ranald dem Brauer vor sich. Dinge, die er zu diesem Zeitpunkt kaum wahrgenommen hatte, brannten sich jetzt in sein Bewusstsein. Tränen liefen sein Gesicht hinunter. Das hatte er nicht erwartet. Das war nicht die Art Schlacht, von der die Skalden sangen. Dies war
das brutale Abschlachten Unbewaffneter durch einen tödlichen Feind. Und doch sagte ihm ein kleiner Teil seines Verstandes, dass dies in der Tat eine Schlacht war. Es gab immer Tote und Sterbende und furchtbare Wunden. In einer Schlacht ging es selten anständig zu, und immer endete es mit schrecklichen Toden. Die Frage lautete: Was sollte er tun? Würde er in dieser Hütte hocken bleiben wie ein geschlagener Hund, oder würde er nach draußen gehen und sich dem Tod stellen wie ein Mann? Er wusste, dass er kaum eine Wahl hatte. Er würde ohnehin sterben, und am besten begegnete man den Geistern der Vorfahren mit ungeheuren Wunden und blutiger Waffe in der kalten toten Hand. Und doch hielt ihn etwas davon ab, das Unvermeidliche zu tun. Sein Blick wanderte immer wieder zu dem verängstigten Mädchen, das trockenen Auges und bleich in der Ecke stand. Ana wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ab und versuchte ihn anzulächeln. Es war eine furchtbare Grimasse, und er hatte das Gefühl, das Herz müsse ihm brechen. Wie sein Leben sich doch binnen weniger Minuten verändert hatte. Noch vor weniger als einer Stunde war er vollkommen glücklich gewesen. Er und Ana waren zusammen gewesen. Ihre gemeinsame Zukunft schien nach Art des Dorfs geregelt zu sein. Sie hätten geheiratet, Kinder bekommen, zusammengelebt. Jetzt gab es diese Zukunft nicht mehr. Nichts war mehr übrig außer Blut, Asche und vielleicht das ehrlose Leben eines Knechts, wenn er verschont wurde. Er wusste, dass er das nicht ertragen konnte. Was sollte er tun? Er konnte nicht bleiben. Wenn er das tat, gefährdete er nur ihr Leben. Vielleicht kam es zu einem Kampf, und es kam nicht selten vor, dass wütende Männer Unschuldige niederschlugen. Wahrscheinlich würde sie verschont und die Frau oder Leibeigene eines Grimmschädels
werden. Das war der Lauf der Welt. Der Gedanke schmerzte ihn mehr, als er sagen konnte, aber wenigstens würde sie leben. Und trotzdem konnte er nicht gehen. Derselbe Magnetismus, der ihn früher zu Ana hingezogen hatte, hinderte ihn jetzt daran, sie zu verlassen. Stattdessen ging er zu ihr, legte die Axt nieder, berührte ihr Gesicht und zog die Konturen mit den Fingern nach in dem Versuch, sie sich einzuprägen, so dass er die Erinnerung daran in die Hölle mitnehmen konnte, wenn es sein musste. Sie war das Beste, was ihm in seinem ganzen Leben je widerfahren war. Jetzt zerriss es ihm das Herz, zu wissen, dass es mehr nicht geben würde, dass ihr Leben vorbei war, bevor es richtig begonnen hatte. Er zog sie für einen letzten Kuss an sich. Ihre Lippen trafen sich für einen langen Augenblick, und dann schob er sie weg. »Leb wohl«, sagte er leise. »Es wäre so schön gewesen.« »Leb wohl«, sagte sie, genug Kind ihres Volkes, um nicht zu versuchen, ihn zurückzuhalten. Er trat in die brennende Nacht hinaus, in das heulende Chaos und in den Wahnsinn. Und dann wusste er nur noch, dass eine gewaltige Gestalt mit hoch erhobener Axt vor ihm aufragte. *** Strybjörn pirschte durch die Nacht und tötete dabei. Er heulte frohlockend in dem Wissen, dass die Stunde der Rache gekommen war. Der Geschmack nach Blut war süß in seinem Mund. Ihm gefiel das Töten, das Gefühl der Macht, das es ihm gab. Ihm gefiel das Kräftemessen Sehne gegen Sehne, Mann gegen Mann. Aber diese Donnerfäuste waren schwache Gegner und kaum den Grimmschädel-Stahl wert. Sie waren betrunken und schlecht bewaffnet und schienen kaum zu begreifen, was
geschah. Wie war es ihnen nur gelungen, sein Kriegervolk von seiner Heimatinsel zu vertreiben? In einer kurzen Kampfpause kam ihm ein Gedanke. War dies ein Teil der Strafe für das Leben auf diesen Inseln? Hatte das Wohlleben seine Vorfahren verweichlicht, wie es die Donnerfäuste verweichlicht hatte? Hatte sein Volk früher auch einmal seine kriegerische Ader verloren wie diese Schafe hier? Das musste er mit seinem Vater bereden, wurde ihm klar. Es durfte nicht wieder geschehen. Würde nie wieder geschehen, wenn er Häuptling war. *** Verzweifelt parierte Ragnar den Hieb des Angreifers. Die Wucht des Aufpralls ließ seinen Arm taub werden, obwohl der Schild einen Teil auffing. Ragnar zielte einen Konter auf den Kopf des Mannes, der jedoch ebenfalls pariert wurde. Er schlug mit seinem Schildarm zu und traf den Angreifer im Gesicht. Als der Mann zurücktaumelte, setzte Ragnar nach und spaltete ihm mit seiner Axt den Schädel. Er sah sich um. Sein Heim stand in Flammen. Das Langhaus brannte. Es war ein Wahnsinn. Schattenhafte Gestalten hackten und töteten in der Düsternis. Es war wie eine Szene aus der Hölle. Frauen rannten durch die Nacht und trugen Kinder. Hunde schnappten nach den Beinen der Angreifer. Ein Huhn flatterte mit brennenden Flügeln gackernd durch die Nacht. Wo war sein Vater?, fragte sich Ragnar. Höchstwahrscheinlich beim Langhaus, wo er versuchen würde, die Krieger um sich zu scharen. Wenn er noch lebte. Ragnar versuchte hektisch, den Gedanken zu verdrängen, aber wie ein Messer durchfuhr es ihn, dass am Ende dieser Nacht nicht nur sein Vater, sondern jeder andere Krieger, den er kannte, und vermutlich auch er selbst tot sein würde.
Trotzdem blieb nichts weiter, als zu kämpfen, wie hoffnungslos die Lage auch sein mochte. Alle Sinne aufs äußerste angespannt, lief Ragnar zum Langhaus, wobei er wider alle Vernunft hoffte, seinen Vater und die anderen lebendig vorzufinden. *** Abermals rauschte das seltsame Heulen über ihn hinweg, und Strybjörn erkannte, dass sich ein riesiger geflügelter Schatten über das Schlachtfeld gelegt hatte. Er schaute auf und sah den brennenden Kometenschweif dicht über sich hinwegfliegen. Für einen Augenblick hörten die Kämpfe auf, und alle betrachteten ehrfürchtig die magische Erscheinung. »Die Erwähler der Gefallenen!«, rief jemand. Strybjörn wusste nicht, ob es ein Grimmschädel oder eine Donnerfaust war. Er wusste nur, dass der Sprecher Recht hatte. Ein Schauder überlief ihn. Die Boten der Götter waren hier. Sie beurteilten die Kämpfer. Jetzt! In diesem Augenblick schauten sie mit ihrem brennenden Blick herab, um festzustellen, ob jemand würdig war, sich den großen Kriegern im Saal der Helden anzuschließen. Es war möglich, dass in dieser Nacht ein Krieger lebendig zu dem legendären Berg gebracht wurde, wo die Auserwählten der Götter in unsterblicher Pracht und Herrlichkeit wohnten. Strybjörn wusste, dass sie nur die Tapfersten der Tapferen und die Grimmigsten der Grimmigen erwählen würden. Nur die Kühnsten waren der Unsterblichkeit würdig. Die Namen der Auserwählten würden in Ewigkeit leben und in den Heldenliedern der Skalden genannt werden. Brennender Ehrgeiz erwachte in seinem Herzen. Er wusste jetzt, was er zu tun hatte. Irgendwo unter diesen gepeitschten Hunden musste er Gegner finden, die seines
Stahls würdig waren. Er musste Gegner finden, deren Name es wert war, genannt zu werden, und sich im Zweikampf mit ihnen messen. Die Erwähler erschienen nicht bei jeder Schlacht. Vielleicht würde sich so eine Gelegenheit nie mehr bieten. Es war möglich, dass er in seinem ganzen Leben nie wieder einem so greifbaren Beweis für die Anwesenheit dieser mysteriösen Wesen begegnen würde. Er sah sich um. Dieselbe Erkenntnis schien auch allen anderen Kriegern gekommen zu sein, welchem Klan sie auch angehörten. Die Grimmschädel lösten sich von ihren Feinden und gaben ihnen Zeit, sich bessere Waffen zu beschaffen. Strybjörn wartete gespannt ab, was als Nächstes geschehen würde. *** In einer Kampfpause schaute Ragnar auf und sah das Luftschiff über sich hinwegfliegen. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass er es vom Deck der Speer von Russ beobachtet hatte, obwohl es in Wirklichkeit nur zweihundert Tage waren. Vielleicht war es nicht dasselbe Schiff. Vielleicht gab es mehr als eines. Wer außer den Göttern wusste solche Dinge? Langsam schlich sich der Gedanke in sein Bewusstsein, dass die Erwähler hier sein mussten, ihn vielleicht sogar in diesem Augenblick beobachteten, um festzustellen, ob er würdig war, in den Saal von Russ einzugehen. Es war ein seltsam erhebender Gedanke. Er verlieh den Grausamkeiten ringsumher Bedeutung. Plötzlich war dies kein schlichter Überlebenskampf mehr, sondern eine Prüfung der Ehre und Würdigkeit. Natürlich waren das angeblich alle Schlachten, aber nur bei sehr wenigen gab es einen tatsächlichen Beweis für die Anwesenheit der Götterboten. Dies war so eine Schlacht. Es war durchaus möglich, dass ein Mann von hier aus
direkt in die Legende einging. Der massige, stämmige Krieger, mit dem er noch eine Sekunde zuvor Hiebe gewechselt hatte, sah ihn an, und etwas wie Begreifen dämmerte in seinen brutalen grauen Augen. Sie traten auseinander. Ragnar wich zum verbliebenen Rest seiner Sippe zurück, der sich am brennenden Langhaus sammelte, während die Grimmschädel sich zurückzogen. Ragnar sah sich nach Leuten um, die er kannte. Ulli war da, und auch sein Vater, wie er mit einem Seufzer der Erleichterung sah. Jarl Torvald stand noch, obwohl er aus einer gezackten Kopfwunde blutete. Der Kriegerhäuptling riss gerade den Ärmel von seiner Tunika und wickelte ihn sich um den Kopf. Sie alle wechselten merkwürdig gehetzte Blicke. Sie alle wussten, dass sie so gut wie tot waren. Es war nur eine Frage der Zeit. Ein Blick auf die versammelte Horde der Grimmschädel machte offensichtlich, dass sie mindestens fünf zu eins unterlegen waren. Viele Krieger der Donnerfäuste waren gleich beim ersten Ansturm gefallen. Sie konnten unmöglich hoffen, so viele zu überwinden, auch wenn sie sich als weit bessere Krieger als ihre Gegner erwiesen. Und der Grausamkeit der Grimmschädel nach zu urteilen, die sie bereits erlebt hatten, war dies nicht der Fall. Mann gegen Mann schienen sie gleichwertig zu sein - oder vielleicht sogar den Grimmschädeln unterlegen, musste Ragnar widerstrebend zugeben. Dennoch hatte das Auftauchen des Luftschiffs für eine Veränderung gesorgt, so viel war offensichtlich. Die Grimmschädel hielten sich im Augenblick zurück. Ebenso wie die Donnerfäuste wollten sie die himmlischen Beobachter beeindrucken. Sie waren dazu übergegangen, anstelle eines Gemetzels den Kampf mit einem würdigen Gegner zu suchen. Ein Funke des Zorns loderte in Ragnars Brust auf.
Jetzt waren sie bereit, ehrenhaft zu kämpfen. Jetzt, da sie wussten, dass die Augen der Götter auf ihnen ruhten, waren sie bereit, ihren Feinden einen anständigen Kampf zuzugestehen. Noch vor wenigen Minuten waren sie dazu nicht bereit gewesen. Das konnte kaum als anständig bezeichnet werden. Ein kleiner Teil Ragnars lachte über seine Blauäugigkeit. Was hatte es für einen Sinn, sich über Anständigkeit oder Unanständigkeit zu ereifern? Die Götter würden ihr Urteil auf ihre übliche unergründliche Art fällen und sich nicht täuschen lassen, das hoffte er zumindest. Warum hätte er protestieren sollen? Die Grimmschädel gaben ihm die Gelegenheit, einen würdigen Tod zu suchen, auch wenn sie schlimme Heuchler waren. Und zumindest sorgten sie dafür, dass die Donnerfäuste einige wenige von ihnen mit in die Dunkelheit nehmen würden. Einige Krieger der Donnerfäuste liefen ins brennende Langhaus und kehrten mit Armladungen von Waffen und Schilden zurück. Die Grimmschädel schienen bereit zu sein, ihren Feinden zuzugestehen, sich zu bewaffnen und anständig auf den Kampf vorzubereiten. Spannung lag jetzt in der Luft. Sie war so greifbar, als habe die Anwesenheit der Erwähler eine eigene elektrische Energie erzeugt. Krieger lockerten die Muskeln und zerteilten die Luft mit Probeschlägen. Die Anführer der Grimmschädel kauerten beieinander und schienen darüber zu streiten, wie weiter zu verfahren sei - zweifellos debattierten sie, wie sie es bewerkstelligen konnten, in Russ' Augen am besten auszusehen. Unter den Donnerfäusten gab es keine derartigen Debatten, dachte Ragnar. Ihre Pflicht war klar: Sie mussten ihr Leben so teuer wie möglich verkaufen und gut und ehrenhaft kämpfen, bevor sie starben. Es gab keine andere Wahl. Irgendwo in ihren Reihen weinte ein Mann. Es klang nach
Ranald Einzahn. Das überraschte Ragnar, denn er kannte Ranald schon sein ganzes Leben lang, und er war immer ein ausgeglichener Mann gewesen, unerschütterlich auch im Angesicht des schlimmsten Unwetters oder des gewaltigsten Orcas. Bei allen Überfällen und Schlachten, an denen er teilgenommen hatte, hatte er sich gut gehalten. Er war sogar dem Nachttroll von Gaunt im Zweikampf gegenübergetreten und siegreich daraus hervorgegangen. Warum verließ ihn jetzt der Mut?, fragte sich Ragnar. Von allen anwesenden Männern war er derjenige, dem die Gunst der Erwähler vielleicht am sichersten gewesen wäre. Seine Tapferkeit war immer wieder auf die Probe gestellt worden. War es möglich, dass ein Mann in seinem Leben nur eine begrenzte Menge Mut aufbringen konnte und ihn verlor, wenn diese verbraucht war? Oder ließ ihn die Anwesenheit der Erwähler verzweifeln? Das Wissen, dass die Augen der Götter auf einem ruhten, mochte seltsame Dinge mit einem Mann anstellen, dachte Ragnar. Oder vielleicht lag es auch an dem sicheren Wissen, dass die Donnerfaust-Krieger sehr bald gerichtet und ihr endgültiges Schicksal kennen würden. Es war eine Sache, in ein Unwetter zu geraten oder sich in eine Schlacht zu stürzen, wenn man wusste, dass man mit etwas Glück oder durch das Wohlwollen der Götter oder auch dank eigener Kraft und Geschicklichkeit überleben mochte. Es war eine ganz andere, wenn man ohne den geringsten Schatten eines Zweifels wusste, dass das Leben in Kürze vorbei sein würde. Ragnar schaute tief in seine eigene Seele und stellte fest, dass dort Furcht war, aber keine überwältigende. Er war nervös und auf eine seltsame Art aufgeregt, aber er war nicht verängstigt oder entsetzt. Mehr noch, in ihm war Zorn und ein Durst nach Rache an den Grimmschädeln für deren Heimtücke, und neben diesen Empfindungen war seine Furcht gering und unbedeutend. Er spürte, dass er sich am Rande eines rasenden
Tötungswahns befand. Tief im Herzen wartete er ungeduldig darauf, seinen Feinden gegenüberzutreten, und sehnte sich danach, dass das Töten endlich begann. Und er musste zugeben, dass das Verlangen nach der Gunst der Götter überhaupt nichts damit zu tun hatte. Er war sicher, glücklich in die Hölle zu fahren, wenn er einen Grimmschädel mitnehmen konnte, und dass sein Leben nicht sinnlos gewesen sein würde, wenn er zwei mitriss. Da sein Leben vorbei war, hatte er nichts mehr zu verlieren. Für ihn gab es jetzt nur noch die Gelegenheit, es teuer zu verkaufen. Es war merkwürdig, dass ein Mann im Laufe eines Abends so viele Veränderungen durchleben konnte. Er versuchte, sich an Anas Gesicht zu erinnern, das einzuprägen er sich noch vor wenigen Minuten so große Mühe gegeben hatte, und stellte fest, dass er keine klare Vorstellung mehr davon hatte. Ein Jammer, dachte Ragnar kalt. Es wäre gut gewesen, die Erinnerung an etwas Schönes mit ins Jenseits zu nehmen. Die Krieger der Donnerfäuste hatten sich mittlerweile bewaffnet und waren zum Kampf bereit. Die Grimmschädel schienen jetzt ihre Krieger ausgewählt zu haben. Sie musterten einander über die Schatten der brennenden Lichtung hinweg. Für einen langen Augenblick musterten sie einander mit Furcht und Hass. Dann wurden alle Blicke von einer massigen Gestalt angezogen, die aus den Schatten trat. Es war ein monströser stämmiger Mann, der eine Metallrüstung und das Fell eines riesigen Wolfs um die Schultern trug. Ragnar traf die Erkenntnis wie ein Schlag. Es war der Wolfpriester, den sie vor wenigen kurzen Hunderttagen zur Insel der Eisenmeister gebracht hatten. Mit einem Aufwallen der Furcht fielen Ragnar wieder die letzten Worte des Wolfpriesters ein. Dies war in der Tat ein Tag des Verhängnisses für ihn. Allem Anschein nach war Ranek nicht nur ein Zauberer, sondern auch ein Seher. Alle warteten ab, ob der Wolfpriester eingreifen würde, aber
er tat nichts, sondern betrachtete sie lediglich mit seinen blitzenden Augen. In diesem Moment sah Ragnar mit äußerster Klarheit, dass Ranek etwas Unmenschliches oder sogar Übermenschliches an sich hatte. Was mit ihm auch geschehen war, es hatte ihn von der übrigen Menschheit entfernt und ihn in etwas Ungeheuerliches verwandelt. In ihm war keine Furcht. Er stand mit äußerstem Vertrauen in seine Unverwundbarkeit da wie ein Mann, der Kindern bei einem Streit zusah und nicht einer Schlacht zwischen erwachsenen und bewaffneten Kriegern. Es war, als wisse er, dass ihm nichts Schaden zufügen konnte, als könne er sie alle mühelos töten, sollten sie ihn gegen sich aufbringen. Ragnar erinnerte sich, wie er den Meerdrachen besiegt hatte, und bezweifelte nicht, dass es so war. Ein anderer Gedanke schob sich in sein Bewusstsein. Ranek war mit dem Luftschiff eingetroffen. Er war nicht nur ein Zauberer. Er war einer der Erwähler der Gefallenen, ein Abgesandter der Götter. Derselbe Gedanke schien auch den anderen Kriegern gekommen zu sein, als sie sahen, wie der Feuerschein von der glänzenden Rüstung des Wolfpriesters reflektiert wurde. Ein Gefühl der Ehrfurcht überkam alle Anwesenden. Sie wussten, dass etwas Übernatürliches zugegen war. Der schreckliche Alte beobachtete sie ungeduldig, als warte er darauf, dass sie endlich begannen. Ragnar hatte den Verdacht, dass seine Anwesenheit die Krieger eingeschüchtert hatte. Sich selbst überlassen, hätte für einen kurzen Moment sogar die Möglichkeit bestanden, dass sie gänzlich zu kämpfen aufhörten. Dann bedeutete ihnen der alte Mann fortzufahren. Die beiden Streitmächte wappneten sich wie Wölfe kurz vor dem Sprung und stürzten sich dann vorwärts in das rasch entstehende Getümmel.
*** Strybjörn durchzuckte Erregung, als der gewaltig gerüstete Alte aus den Schatten trat. Im Innersten seines Herzens wusste er, dass dies einer der Erwähler war, ein Wesen, das ihm Unsterblichkeit und endlose Schlachten bis in alle Ewigkeit gewähren konnte, wenn es wollte. Sein Blick wurde von der gerüsteten Gestalt angezogen wie Eisenfeilspäne von einem Magneten. Dem Erwähler haftete die Aura einer ehrfurchtgebietenden Macht an, die Strybjörn mit Neid und Sehnsucht erfüllte. Er wollte an dieser Macht teilhaben und in der Lage sein, mit derselben Sicherheit mitten in einem Gemetzel zu stehen. Er wollte etwas von demselben Stolz besitzen. Hier war jemand, neben dem der größte aller Grimmschädel-Krieger nur ein Trottel war. Was der alte Mann auch haben mochte, er wollte es auch. In der bevorstehenden Schlacht wollte er sich als Held beweisen oder wenigstens bei dem Versuch sterben. Wenn er die Gelegenheit dazu bekam. Er war nicht in der ersten Welle der Krieger, die sich mit den Donnerfäusten im Zweikampf messen durften. Er warf einen Blick auf die Gegner, um zu schätzen, wie viele von ihnen noch übrig waren, und sah, dass einer der Donnerfäuste, ein Jugendlicher in seinem Alter, den Alten mit einem Ausdruck des Wiedererkennens anstarrte. War es möglich, dass er den Erwähler kannte? Nein, das konnte nicht sein. Es musste daran liegen, dass ihn der Todeswahnsinn gepackt hatte. Strybjörn prägte sich das Gesicht des jungen Mannes so gut wie möglich ein. Er war plötzlich von einer unerklärlichen Abneigung gegen ihn besessen und betete inbrünstig, dass er die anfängliche Schlacht überleben würde, sodass er ihn persönlich töten konnte. Auf das Signal des alten Mannes stürmten die Grimmschädel vorwärts.
*** Ragnar tauchte unter dem Hieb eines großen stämmigen Kriegers hinweg. Er schwang seine Axt aufwärts und traf den Mann in die Brust. Knochen splitterten, und Blut und Eingeweide quollen heraus. Er fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um dem Hieb eines anderen Grimmschädels auszuweichen, und spürte dann zu seinem Entsetzen, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Der Sterbende, der in einer Lache seines eigenen Bluts lag, hatte Ragnars Bein umklammert. Er schien den Entschluss gefasst zu haben, seinen Bezwinger mit in den Tod zu nehmen. Durch die Kraft des tödlich Verwundeten an Ort und Stelle gefesselt, war diese Möglichkeit sehr wahrscheinlich geworden. Der zweite Grimmschädel hieb nach ihm, und Ragnar gelang es gerade noch, den Schlag mit seinem Schild abzuwehren. Durch den Zug an seinem Bein beeinträchtigt, war es schon schwierig genug, überhaupt das Gleichgewicht zu wahren. Er setzte zu einem Gegenangriff an, der seinen Angreifer zurückspringen ließ. In dieser kurzen Kampfpause entschied er sich dafür, ein unerhörtes Risiko einzugehen. Ohne Bewegungsfreiheit konnte er unmöglich überleben. Er riskierte es, für einen kurzen Moment den Blick von seinem Angreifer abzuwenden, nach unten zu schauen und einen Hieb gegen das Handgelenk des Arms zu führen, der ihn festhielt. Die scharfe Schneide der Axt fuhr durch Fleisch, Knochen und Sehnen und trennte die Hand sauber ab. Heißes Blut nässte Ragnars Bein. Der Sterbende stieß einen Schrei aus wie die Verdammten. Ragnar sprang gerade noch rechtzeitig beiseite, um seinem Angreifer auszuweichen. Als der Mann an ihm vorbeistürmte, schlug Ragnar mit seiner Axt zu und traf ihn mit einem furchtbaren Hieb im
Nacken. Die Axt grub sich durch die Halswirbel, und der Kopf des Mannes wurde fast vom Hals getrennt. Die Leiche wusste noch nicht recht, dass sie tot war, und lief noch ein paar Schritte weiter, bevor sie über den handlosen Mann stolperte und auf den blutgetränkten Boden fiel. Ragnar richtete sich auf und sprang vorwärts, wobei er mit seiner Axt nach links und rechts hieb. Sein erster Schlag traf einen überraschten Krieger an der Schläfe und zerschmetterte ihm den Schädel. Sein zweiter Schlag wurde von einem kleinen, untersetzten Grimmschädel-Krieger pariert. Er und Ragnar wechselten in Windeseile einen Wirbelsturm von Hieben. Eine Schmerzwelle schoss durch Ragnars Arm, wo sich dessen Speerspitze tief hineinbohrte. Ragnars Erwiderungshieb ließ den Mann geradewegs in die Hölle torkeln. Ragnar war überrascht, wie gut er kämpfte. Alles rings um ihn schien sich viel langsamer zu bewegen als sonst. Er kämpfte mit perfekter Koordination und einem Tempo, das er nicht für möglich gehalten hätte. Sein Verstand war kristallklar, kalt wie ein von Gletschern gespeister Gebirgsbach. Er fühlte sich stark und schnell und spürte kaum die Schmerzen seiner Wunden. Natürlich hatte er von älteren Kriegern gehört, dass es manchmal so war, und sein Körper würde später die Anstrengungen der Schlacht teuer bezahlen. Doch jetzt, in diesem Augenblick, fühlte er sich unüberwindlich. Ein rascher Rundumblick verriet ihm, wie irreführend dieses Gefühl war. Es schien noch immer eine endlose Horde von Grimmschädel-Kriegern zu geben. Wenn einer fiel, sprang ein anderer vor, begierig, den Kampf aufzunehmen. Die verbliebenen Donnerfäuste schlugen sich jetzt gut, aber über die Hälfte von ihnen war gefallen. Als er sich weiter umschaute, sah Ragnar seinen Vater tot auf dem Boden liegen. Er starrte mit blicklosen Augen himmelwärts, die Hände immer noch um seine Axt gelegt und zwei tote Grimmschädel zu
seinen Füßen. Entsetzen packte Ragnar. Dies war der Mann, der ihn nach dem Tod seiner Mutter allein aufgezogen hatte. Er war da, solange Ragnar zurückdenken konnte, ein Pfeiler unbeugsamer Stärke. Es war einfach unmöglich, dass er tot war. Feinde wie Spreu niedermähend, erzwang er sich einen Weg zu der Stelle, wo sein Vater lag. Der junge Donnerfaust-Krieger beugte sich über den Leichnam und legte die Hand auf die Stirn seines Vaters. Die Haut war bereits kalt. Als er die Hand auf die Kehle legte, konnte er keinen Puls ertasten. Kummer erfüllte ihn und lahmte ihn für einen Moment. Ein Grimmschädel lief auf ihn zu. Ragnar sah ihn kommen. Sein Kummer verhärtete sich. Die Notwendigkeit zu töten loderte in Ragnars Seele auf. Der Grimmschädel bewegte sich so langsam, dass er durch Melasse zu waten schien. Ragnar konnte jede Einzelheit an seinem Angreifer erkennen, von der Warze auf dessen linkem Handrücken bis zu den Kerben im funkelnden Stahl seiner Klinge. Allem haftete eine tödliche Klarheit an. Dem Hinken des Mannes konnte er entnehmen, dass er sich das Bein verdreht hatte, aber die Beeinträchtigung verlangsamte ihn nicht sehr. Er sah zu, wie der Mann mit seiner Axt zu dem Hieb ausholte, der Ragnar enthaupten würde. Es war so, als widerfahre dies alles einem anderen. Dann konnte er schräg hinter dem Angreifer den alten Mann sehen, den Wolfpriester Ranek, der ihn beobachtete. In den Augen des alten Mannes stand etwas. Es mochte Mitgefühl sein oder auch Verachtung. Ragnar konnte es nicht sagen. Jene Wolfsaugen waren für einen Sterblichen wie Ragnar unergründlich. Und doch brach der Blick den Bann, unter dem er stand. Kalte Wut und heißer Hass erfüllten ihn. Er explodierte förmlich schnellte aus seiner geduckten Haltung unter dem Hieb hindurch und prallte gegen seinen Angreifer. Er trat dem Mann gegen sein verwundetes Bein, was diesen zurücktaumeln und dann vollends das Gleichgewicht verlieren
ließ. Als er stürzte, spaltete Ragnar ihm den Schädel wie ein Scheit Feuerholz und rückte gegen die Reihen der Grimmschädel vor. Jetzt kämpfte er wie ein Gott. Nichts konnte ihm widerstehen. Sein Hass und seine Wut verliehen ihm ungeahnte Kräfte. Er kannte keine Furcht. Er lebte nur, um zu töten, und ihm war jetzt völlig gleichgültig, ob er lebte oder starb. In seiner Wut pflügte er durch die Grimmschädel wie ein Drachenschiff durch stürmische See. Alles, was ihm in die Quere kam, wurde niedergemacht. Irgendwo in dem Wahnsinn spaltete der Hieb einer Grimmschädel-Axt seinen Schild. Er tötete den Mann, der diese Kühnheit besessen hatte, und fing dessen umherwirbelnde Axt im Fall auf. Mit einer Waffe in jeder Hand stürmte er vorwärts wie ein Wirbelwind des Todes und tötete alles in seiner Reichweite. Nachdem er den zwanzigsten Grimmschädel erschlagen hatte, zählte er nicht mehr weiter. Er gewöhnte sich an den Ausdruck der Furcht und des Entsetzens, den er in den Gesichtern der Männer sah, die ihm gegenübertraten. Es war jener Ausdruck, den man aufsetzte, wenn man sich einem Dämon zum Kampf stellte. Ragnar bekümmerte dies nicht. In diesem Augenblick fühlte er sich auch wie ein Dämon. Vielleicht hatte einer von ihm Besitz ergriffen. Wenn das der Fall war, begrüßte er ihn, wie er alles begrüßen würde, was ihm dabei half, Grimmschädel zu töten. Einen Moment schien es so, als könne er ganz allein das Blatt wenden. Die Donnerfäuste versammelten sich hinter ihm, bildeten einen Keil und pflügten ermutigt durch Ragnars Kraft und Geschick durch die Feinde. Aber es konnte nicht andauern. Einer nach dem anderen fielen seine Leute. Nichts konnte diesen furchtbaren, übermenschlichen Grad der Wildheit aufrechterhalten, der von Ragnar Besitz ergriffen hatte. Er blutete aus einem Dutzend kleiner Wunden. Das Parieren Dutzender wuchtiger Schläge raubte ihm allmählich die Kräfte.
Er wurde langsamer, nahm seine Schmerzen wieder wahr und kehrte auf die Ebene der Menschlichkeit zurück. *** Strybjörn hieb eine weitere Donnerfaust nieder und versuchte den jungen Krieger auszumachen, auf den er vorher aufmerksam geworden war. Er war nirgendwo zu sehen und musste zu einem anderen Teil des Schlachtfelds gezogen sein. Das war bedauerlich. Immerhin war es Strybjörn gelungen, den alten Mann zu erwischen, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jüngeren hatte. Für eine Donnerfaust hatte er einen ziemlich guten Kampf geliefert. Strybjörn war stolz auf sich. Nun, da die Donnerfäuste neuen Mut gefasst hatten, verwandelten sie sich in würdige Gegner, und er hatte bereits fünf getötet. Er war ziemlich sicher, dabei den Blick des Erwählers auf sich gespürt zu haben. Er hatte sich seine Feinde mit Bedacht ausgesucht. Alle waren Krieger in der Blüte ihrer Jahre gewesen, und alle waren seiner Axt zum Opfer gefallen. Erneut erfüllte ihn die schiere Lust am Blutvergießen. Er war so glücklich wie noch nie zuvor in seinem kurzen hasserfüllten Leben. Der Akt des Tötens bereitete ihm mehr Freude als Essen, Schlaf oder Ale. Er war süßer als Honig und süßer als die Küsse eines Mädchens. Indem er den Tod brachte, gewann ein Krieger Macht, die derjenigen der Götter gleichkam. Oder vielleicht auch nicht, vielleicht gab es noch etwas Besseres als das, etwas, das nur den Erwählern und ihren Herren bekannt war. Strybjörn hoffte jedenfalls, es herauszufinden. Und jetzt war es an der Zeit, die von ihm auserwählte Beute zu suchen. Es war an der Zeit, wieder zu töten. ***
Müdigkeit überkam Ragnar. Er spürte, wie er langsamer wurde. Die Kräfte verließen ihn. Er parierte den Hieb eines Grimmschädel-Kriegers und wich einem zweiten Hieb aus. Die Schneide der Axt zerriss seine Tunika und hinterließ eine blutige Strieme auf seiner Brust. Er ließ die Axt an sich vorbeisausen, rückte nach und hackte mit seiner zweiten Waffe ein beträchtliches Stück aus der Axt seines Angreifers. Ein Hieb von rechts schickte den Mann zu seinen Vorfahren. Hinter ihm waren noch viele Grimmschädel. Es schien so, als träten für jeden Getöteten zwei neue vor, um dessen Platz einzunehmen. Nicht, dass Ragnar dies etwas ausgemacht hätte. Er war nur auf Töten aus, darauf, sie für den Tod seines Vaters und den Diebstahl des Lebens, das er mit Ana hätte führen sollen, büßen zu lassen. Wenn er in die kalten Höllen einging, würden ihn viele begrüßen, die er getötet hatte, und dieses Wissen machte ihn froh. Er bedauerte nur, dass es ihm nicht gelingen würde, alle zu töten, und dass er den Tötungswahn nicht aufrechterhalten konnte, der ihn so viele Feinde hatte überwältigen lassen. Ein Hagel von Hieben erledigte die nächsten beiden Angreifer, und dann wusste Ragnar, dass seine Kraft verbraucht war. In dieser Schlacht hatte er seine Kraft verbrannt wie ein Feuer Holz. Es war nichts mehr übrig. Er kämpfte nur noch reflexhaft. Seinen Schlägen fehlte die tödliche Wucht, die sie bis vor wenigen Augenblicken gehabt hatten, und dann stand er plötzlich dem Mann gegenüber, der ihn töten würde. Es war ein jugendlicher Grimmschädel-Krieger, der ihm schon zuvor aufgefallen war. Ein Krieger ungefähr in Ragnars Alter mit einer Stirn wie eine Klippe und einem gewaltig vorspringenden Kinn. Er lächelte grausam und enthüllte dabei Zähne wie Mühlsteine. In seinen Augen stand ein Ausdruck blutgierigen Wahnsinns, der Ragnars eigenem entsprechen
musste. Sie hielten kurz inne, um einander zu messen. Beide hatten das Gefühl, in dieser Begegnung die Hand des Schicksals zu spüren. *** Strybjörn betrachtete sein auserwähltes Opfer. Endlich hatte er den Krieger gefunden, der eine Schneise der Zerstörung in den Reihen von Strybjörns Kameraden hinterlassen hatte. Er hatte denjenigen gefunden, den er sich zuvor ausgesucht hatte, den Krieger, der den Erwähler wiedererkannt zu haben schien. Er sah nicht nach viel aus, war nur ein weiterer schmächtiger Donnerfaust-Bursche mit einer ungewöhnlichen Mähne schwarzer Haare, doch Strybjörn unterschätzte ihn nicht. Er hatte selbst gesehen, welche Verwüstung dieser junge Krieger angerichtet hatte. Nun, damit war jetzt Schluss. Es war Strybjörns Bestimmung, diesen Schlächter zu töten und damit den Beifall der Götter zu erringen. Dieses Zusammentreffen war schon vor langer Zeit vom Schicksal festgelegt worden, dessen war er ganz sicher. »Ich bin Strybjörn«, sagte er. »Und ich werde dich töten.« »Ich bin Ragnar«, erwiderte der Donnerfaust-Krieger. »Versuch's nur.« *** Ragnar sah den Ausdruck des Hasses in den Augen des Grimmschädels, registrierte den flackernden Blick, der besagte, dass er jetzt angreifen würde, und wich zurück, als Strybjörn zuschlug. Der Grimmschädel war schnell, kein Zweifel. Ragnar gelang es kaum, den Hieb mit seiner Axt abzuwehren, ganz zu
schweigen davon auszuweichen. Und als er es dann doch tat, rückte Strybjörn nach und schlug ihn mit seinem Schild von den Beinen. Die Wucht des Hiebs ließ Sterne vor Ragnars Augen tanzen. Er stolperte rückwärts über Leichen. Schon fuhr die Axt des Grimmschädels in glitzerndem Bogen nieder. Ragnar blieb kaum Zeit genug, sich herumzuwälzen. Blut bespritzte ihn, als die Axt mit einem Geräusch in die Leiche fuhr, als treffe ein Schlachter mit seinem Hackbeil eine Fleischseite. Ragnar trat zu in dem Versuch, dem Grimmschädel die Beine unter dem Körper wegzutreten, aber sein Gegner wich zur Seite und ließ seine Axt niedersausen. Diesmal gelang es Ragnar, seine linke Axt hochzureißen, aber seine Position war schlecht, und die Wucht des Hiebs drückte seine Waffe zusammen mit der Klinge des Grimmschädels gegen seine Brust. Er zuckte vor Schmerzen zusammen und spürte, wie ihm sein eigenes Blut über die Brust lief. Strybjörn hob die Axt zu einem weiteren Hieb. Ragnar wälzte sich noch einmal zur Seite und sprang auf, um gleich darauf gerade noch rechtzeitig vorwärts und unter dem nächsten Hieb hindurch zu hechten. Er landete der Länge nach auf dem Boden, aber diesmal war er vorbereitet, so dass er sich abrollte und wieder aufsprang. Sogleich sah er sich mit einem anderen Grimmschädel-Krieger konfrontiert. Der Mann hob seine Klinge zum tödlichen Hieb. »Nein, lass ihn! Er gehört mir«, hörte er Strybjörn hinter sich brüllen. Der zweite Grimmschädel hielt überrascht inne. Ragnar nutzte seine Verwirrung aus, um dem Mann seine Axt in die Rippen zu schmettern, und fuhr dann gerade noch rechtzeitig herum, um Strybjörns nächsten Hieb zu parieren. Diesmal bewirkte die Wucht des Schlages mehr als nur ein Gefühl der Taubheit in seinem linken Arm. Er spürte, wie etwas in seinem Handgelenk nachgab, und dann schoss ein brennender Schmerz seinen Arm empor. Die Axt entfiel seiner
gefühllosen linken Hand. Strybjörns wulstige, brutale Lippen verzogen sich zu einem triumphierenden Grinsen. »Jetzt stirbst du, Ragnar Donnerfaust«, knurrte er. Ragnar zahlte das Grinsen mit gleicher Münze zurück und schlug mit der ihm verbliebenen Waffe zu. Der Hieb kam schnell, schneller als der des Grimmschädels, und Strybjörn blieb kaum genug Zeit, um auszuweichen. Die rasiermesserscharfe Klinge streifte ihn und löste einen großen Hautfetzen von seiner Stirn. Blut tropfte Strybjörn in die Augen. Er schüttelte den Kopf, um sein Blickfeld zu klären. Ragnar trat zurück, um sein Werk zu betrachten, da er jetzt im Vorteil war, wenn er die nötige Geduld aufbrachte. Das aus der Wunde laufende Blut würde seinem Gegner bald die Sicht nehmen, und dann konnte Ragnar ihn mühelos töten. Offenbar war Strybjörn derselbe Gedanke gekommen, da er jetzt einen wütenden Schrei ausstieß und wie ein wütender Keiler vorstürmte. Der Hagel von Schlägen, mit dem er Ragnar eindeckte, hätte beinahe ausgereicht, den Donnerfaust-Krieger zu überwältigen, aber irgendwie gelang es ihm zurückzuweichen, ohne dabei mehr als ein paar Kratzer abzubekommen. Dabei ging ihm jedoch auf, dass seine Lage hoffnungslos war. Strybjörns Angriff hatte ihn rückwärts in einen großen Halbkreis von Grimmschädel-Kriegern getrieben, von denen jeder Einzelne auf die Gelegenheit brannte, seine abgeschlachteten Kameraden zu rächen. Ragnar hatte keine Möglichkeit, sich gegen sie und Strybjörn gleichzeitig zu verteidigen. Augenblicklich traf er eine Entscheidung. Er würde dafür sorgen, dass er noch einen letzten Feind in die Dunkelheit mitnahm. Er gab jede Deckung auf, wappnete sich gegen den tödlichen Hieb und warf dann seine Axt. Er spürte das Gewicht des Todes in seinem Wurf, noch bevor die Klinge ihr Ziel traf. Er wusste, dass das Schicksal seines Angreifers besiegelt war.
Die Axt traf Strybjörn in die Brust. Rippen brachen, Eingeweide quollen heraus. Einen Moment empfand Ragnar nur Befriedigung darüber, dass er Rache genommen hatte, dann spürte er eine Welle grellen Schmerzes durch seine Brust rasen. Mit einem reflexhaften tödlichen Hieb hatte Strybjörn seine Waffe tief in Ragnars Brust versenkt, dann rückten seine Kameraden vor, um sein Werk zu vollenden. Von den Schmerzen dieses Hagels von Schlägen geschüttelt, fiel Ragnar vornüber in die Dunkelheit, in der ihn der Tod erwartete, um ihn willkommen zu heißen.
5
DER ERWÄHLER DER GEFALLENEN Ragnar trieb in einem Meer aus Schmerzen. Sein ganzer Körper brannte. Er litt auf eine Weise, die er nicht für möglich gehalten hätte, ertrug Qualen, wie sie keinem Sterblichen bestimmt sein konnten, dessen war er ganz sicher. Also war dies die Hölle, dachte er. Sie war nicht so, wie er erwartet hatte. Es war nicht kalt. Es gab nur Schmerzen. Wo waren die anderen, die er erschlagen hatte? Warum waren sie nicht hier, um ihn zu begrüßen? Wo waren die Richter der Toten? Wo waren sein Vater, seine Mutter und seine übrigen Verwandten? Trotz der Schmerzen wurde er sich eines schrecklichen Gefühls der Enttäuschung bewusst. Er war nicht erwählt worden. Er war nicht an der großen Festtafel im Saal der Helden hoch oben auf dem Berg der Ewigkeit erwacht. Er hatte sich nicht als würdig genug erwiesen. Er war herabgesetzt worden. Es war ein mürrischer Gedanke, und dann wusste er nichts mehr. *** Erneut wurde er sich seiner Schmerzen bewusst, aber sie kamen ihm nicht mehr so stark vor. In seinen Ohren dröhnte ein seltsames Stampfgeräusch und das Tosen eines mächtigen Windes. Langsam ging ihm auf, dass das Stampfen der Schlag seines Herzens und der Wind das Keuchen seines Atems sein mochten. Dann war es, als bohrten sich rotglühende Schürhaken überall dort in seine Brust, wo er verwundet worden war. Er wollte schreien, aber er konnte den Mund nicht öffnen. Kein
Laut kam über seine Lippen. Er hatte das Gefühl, als würden ihm Eisnadeln durch die Haut gestochen und ein Faden aus geschmolzenem Blei benutzt, um seine Wunden zu nähen. Die Hölle, dachte er, war ein Ort der Folter und, der Qual. Schwärze. Stille. *** Jetzt war es kalt. Eis umgab ihn und hielt ihn in klirrender und brennender Umklammerung zugleich. Das kam der Sache schon näher. Die Skalden und ihre alten Lieder hatten ihn dazu gebracht, ebendies zu erwarten. Es war der Ort der unendlichen Kälte, an dem die verlorenen Seelen umherwanderten, bevor alle Erinnerung verblasste und sie in den Urstoff des Universums eingingen. Doch wo waren die anderen ruhelosen Toten? Und warum konnte er sie nicht sehen? Er bekam keine Antworten. Er trieb Äonen durch die Unendlichkeit, bis ihn das Bewusstsein verließ. *** Ihm wurde wärmer. Sein Körper bebte. Schmerzen und Hitze schienen ununterscheidbar zu sein. Sie hüllten ihn ein wie ein Schleier. Er zitterte. Er fühlte sich sehr müde. Sein ganzer Körper schmerzte. Er fühlte sich, als sei sein Geist lange umhergewandert und habe jetzt alle Kraft verloren. Dennoch war er sich noch seiner selbst bewusst. Irgendwie existierte er immer noch in der einsamen Leere, die er ausfüllte. Er war sich nur der Schmerzen und seiner eigenen Erinnerungen bewusst, aber immerhin hatte er ein Bewusstsein von ihnen. Daran konnte er sich klammern. Er war kaum zu
diesem Schluss gekommen, als er spürte, wie die Messer wieder zu schneiden anfingen und er in die lange Dunkelheit des Vergessens fiel. *** Ein Gewicht wie das einer ganzen Insel lag auf ihm, erstickte ihn. Er konnte nicht atmen und empfand zum ersten Mal überhaupt einen Luftmangel. Er war sich seiner Gliedmaßen bewusst, aber sie schienen zu schwer zu sein, um sie zu bewegen. Er spürte seine Augenlider, konnte sie aber nicht öffnen. Er hatte den Eindruck, dass jemand irgendwo, sehr weit entfernt, seinen Namen rief. Konnten es die Toten sein?, fragte er sich, wobei er bereits wusste, dass sie es nicht waren. Er zwang sich, bei Bewusstsein zu bleiben. Er versuchte, die Augen zu öffnen. Es war, als ringe er mit einer unendlichen Last. Er wusste jetzt, wie Russ sich gefühlt haben musste, als er es mit der gewaltigen Kraft der Mittweltschlange aufgenommen hatte. Das Vorhaben schien seine Kräfte zu übersteigen und doch gestattete er sich nicht aufzugeben. Er konzentrierte seine gesamte Willenskraft darauf, die Augen zu öffnen. Sie widersetzten sich ihm so nachhaltig, wie die Erde des Grabes sich den Bemühungen eines lebendig Begrabenen widersetzen mochte. Er hörte nicht auf, es zu versuchen, wollte sich nicht gestatten aufzugeben. Er zwang sich weiterzumachen. Schmerzen stachen durch alle seine Gliedmaßen, doch er ließ sich von ihnen nicht ablenken. War das Schweiß, was ihm über die Stirn lief? Er wusste es nicht, denn er konnte die Hand nicht heben, um ihn abzuwischen. Er konnte nur alle Kraft seines Lebens in den Versuch legen, die Augen zu öffnen. Für einen Mann, der so wie er in einer derart gewaltigen Schlacht
gekämpft hatte, hätte dies eine triviale Aufgabe sein müssen, aber das war es nicht. Es war das Schwerste, was er je unternommen hatte. Er brachte sich dazu, an seine Eltern und Freunde zu denken. Wenn er es schaffte, die Augen zu öffnen, konnte er sie wiedersehen. Er würde in das Land der Toten schauen. Der Gedanke war beängstigend, aber was konnte er sonst tun? Er war nun dort. Früher oder später würde er sich dem stellen müssen, und er war kein Feigling. Er kannte sich gut genug, um zu wissen, dass dies stimmte. Warum war er dann so widerwillig? Warum verspürte er diese sonderbare Angst in der Magengrube? Fürchtete er sich vor dem Blick auf das Unbekannte, oder fürchtete er sich davor, jene wiederzusehen, die er einmal geliebt hatte, und ihnen gegenübertreten zu müssen? Er zwang sich fortzufahren und wurde mit einem Schimmer von Licht belohnt. Plötzlich wurde die Dunkelheit von einem blau-weißen Blitz zerteilt. Das hatte er überhaupt nicht erwartet. Er zwang sich, es weiterhin zu versuchen, die Augen ganz zu öffnen, und langsam dämmerte ihm, dass er in einen Himmel starrte, der genauso wie der von Fenris war. Die Nachwelt war wahrhaftig nicht, was man ihn glauben gemacht hatte. Er kam sich ein wenig betrogen vor. Als sei das Erblicken des Himmels ein Signal, überfluteten andere Wahrnehmungen sein Gehirn. Er wurde des Geruchs der Erde gewahr, des Gesangs der Vögel, des entfernten Tosens einer Brandung. Dann folgten der bittere Geruch nach Asche, rauchiger Brandgeruch und der bittersüße Gestank nach Menschenfleisch auf Scheiterhaufen. Unter ihm war etwas Weiches. Er spürte Gras zwischen seinen Fingern, als sie sich in feuchtes Erdreich bohrten. Er registrierte Schmerzen und ein merkwürdiges Gefühl der Taubheit, das sich dazwischen schob, so ähnlich, wie das Bier
ihn von der Welt entfernt hatte, nur dass diese Taubheit tausendmal stärker war als Alkohol. Ein großer grauhaariger Kopf schob sich in sein Blickfeld. Kalte blaue Augen wie Splitter vom Himmelsgewölbe starrten ihn an. Er erkannte das zerfurchte, abgespannte Gesicht. Es gehörte Ranek, dem Wolfpriester, dem Erwähler der Gefallenen. »Also seid Ihr mir hierher gefolgt«, wollte er sagen, aber aus seinem Mund kam nur ein unverständliches Gurgeln. »Nicht sprechen, Junge«, sagte Ranek. »Du hast einen langen Weg hinter dir. Es ist eine gewaltige Reise zurück aus dem Land der Toten in das Land der Lebenden, und es ist keine Reise, die vielen vergönnt ist. Spar deine Kraft. Du wirst sie noch brauchen.« In einer Sprache, die Ragnar nicht kannte, sagte er etwas zu jemandem, der außerhalb seines Gesichtsfelds stand. Ragnar spürte einen stechenden Schmerz im Arm, dann ergoss sich etwas so kalt wie ein Gletscherbach in seine Adern, und das Bewusstsein verließ ihn. *** Diesmal erwachte er schlagartig und war sich augenblicklich der Sonne auf seinem Gesicht und dem Streicheln der Finger des Windes auf der Wange bewusst. Er fühlte sich ausgeruht und hatte kaum Schmerzen. Er versuchte sich aufzurichten. Es war eine gewaltige Anstrengung, aber er schaffte es. Er sah, dass er nackt war. Instinktiv hob er die Finger, um die Stelle zu berühren, wo Strybjörns Axt sich in seine Brust gebohrt hatte. Zu seiner Überraschung fand er nur eine winzige Narbe und eine empfindliche Stelle vor, die ihm beim Betasten Schmerzen
bereitete. Ein Blick nach unten zeigte ihm eine frische rosafarbene Narbe und einen gelblichen Fleck, der wie eine ältere Prellung aussah. Auf seiner Brust waren noch viele andere Narben und Blutergüsse, und er bezweifelte nicht, dass sein Rücken genauso aussah. Was ging hier vor? Er sah, dass er nahe bei dem riesigen Luftschiff lag. Als er sich umschaute, konnte er etwas ausmachen, das wie die Überreste eines verbrannten Dorfs aussah. Es war seltsam: die Nachwelt hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit der wirklichen Welt. Nur einige Dinge stimmten nicht ganz. Wo sich das Dorf der Donnerfäuste hätte befinden müssen, stand eine Ansammlung von Ruinen. Das Dach des eingestürzten Langhauses schwelte noch immer. Am Strand brannten Scheiterhaufen. Gruppen von Frauen und Kindern wurden in Drachenschiffe getrieben, die auf den Wellen tanzten. Langsam dämmerte es Ragnar, dass er sich vielleicht tatsächlich in der Welt der Lebenden aufhielt. Er erinnerte sich an die große Schlacht mit den Grimmschädeln und an die Brände, die gewütet hatten. Nach solch einer Schlacht würde sein Heimatdorf in der Tat so aussahen, so viel war sicher. Oder vielleicht war dies auch eine neue und unbekannte Hölle, die Dämonen heraufbeschworen hatten. Vielleicht war es ein Ort, der ihm die Niederlage der Donnerfäuste vor Augen führen sollte. Düster genug war die Szenerie jedenfalls. Er hörte gewichtige Schritte auf dem Boden hinter sich und erblickte Ranek, als er sich umdrehte. Der alte Wolfpriester betrachtete ihn mit wissendem Blick. »Du weilst wieder unter den Lebenden, Junge«, sagte er. Es war keine Frage. »Tue ich das? Seid Ihr nicht einer der Erwähler der Erschlagenen?« Das dröhnende Gelächter des alten Mannes hallte durch die
Ruinen. Mehrere Gestalten drehten sich erschrocken zu ihm um. »Immer Fragen, was? Du hast dich nicht verändert, Junge.« »Ich bin kein Junge mehr. Vor ein paar Tagen habe ich die Robe der Mannbarkeit erworben.« »Und was das für Tage waren, wie? Nun, du hast dich auf dem Schlachtfeld ausgezeichnet, das muss ich dir lassen. Du bist ein Kämpfer, Junge. So ein Gemetzel habe ich seit Bereks Zeiten nicht mehr erlebt und die ... na ja, die sind schon sehr lange her.« »Also seid Ihr tatsächlich ein Erwähler?« »Ja, Junge, das bin ich. Aber nicht so, wie du glaubst.« »Wie dann? Entweder seid Ihr ein Erwähler oder nicht.« »Eines Tages wirst du es verstehen, falls du überlebst. Das Universum ist nicht annähernd so einfach, wie du glaubst. Das wirst du schon sehr bald herausfinden.« »Wenn ich überlebe?« Ragnar schaute staunend auf die Stelle, wo sich eine klaffende Axtwunde hätte befinden müssen. »Aber ich ...« »... war doch schon tot? Wolltest du das sagen? Ja, das warst du. Dein Herz hatte aufgehört zu schlagen, und du hattest viel Blut verloren. Dein Körper hat viel Schaden genommen, aber nicht genug. Unser Heiler ist zu dir gelangt, bevor der Hirntod bei dir eintrat, und es überstieg nicht unsere ... Magie, dein Leiden zu kurieren.« Ragnar war sicher, dass Ranek ein anderes Wort gemurmelt hatte, bevor er »Magie« sagte, aber dieses Wort hatte er noch nie zuvor gehört und es ergab keinen Sinn, aber das musste man von Zauberern auch erwarten. Sie sprachen in Rätseln und Unsinn. Dennoch erfüllten seine Worte Ragnar mit Hoffnung. »Ihr könnt die Toten zurückholen? Dann ist mein Vater ...« »Deinem Vater kann niemand mehr helfen, Junge«, sagte
Ranek. Er deutete zu den Scheiterhaufen. »Warum habt Ihr ihm nicht geholfen, wenn Ihr mir geholfen habt? Ihr hättet es tun können.« Ragnar schämte sich, dass seine Stimme nicht völlig gemessen klang, sondern ein wehleidiger Unterton darin lag. »Er hatte sich unserer Hilfe nicht würdig erwiesen. Du hingegen bist auserwählt worden, Junge.« »Auserwählt wofür?« »Das wirst du noch früh genug erfahren, falls das deine Bestimmung ist.« »Das sagt Ihr ständig.« »Ich sage das ständig, weil es stimmt.« Der alte Mann bleckte die Zähne zu jenem beunruhigenden Lächeln. »Jetzt gehörst du zu den Wölfen. Mit Leib und Seele!« *** Ragnar erhob sich unsicher wie ein Neugeborenes. Er versuchte einen Fuß vor den anderen zu setzen, stellte aber fest, dass er schwankte und torkelte. Sogleich verlor er das Gleichgewicht und ging mit schmerzhafter Wucht zu Boden. Er ließ sich davon nicht aufhalten. Mit beiden Händen stieß er sich vom Boden ab und erhob sich wieder. Diesmal gelangen ihm ein paar Schritte, und bevor er erneut stürzte, hielt er inne und blieb schwankend stehen. Ihm war ein wenig übel. Sein Magen spielte verrückt. Er fühlte sich schrecklich, aber auch unendlich erleichtert. Er war nicht tot. Er weilte unter den Lebenden. Welche mysteriösen Gründe sie dafür auch haben mochten, Ranek und seine Kameraden hatten beschlossen, ihn zu retten. Es hatte in der Tat den Anschein, als hätten sie ihn auf irgendeine Weise
auserwählt. Zwar war es nicht so gewesen wie in den Heldengeschichten, die er kannte, aber man hatte ihn dennoch ausgesucht. Sie waren in der Tat mächtige Zauberer. Sie hatten seine Wunden geheilt und ihn von den Toten zurückgeholt. Oder etwa nicht? Handelte es sich vielleicht um irgendeine schlimme Zauberei, wie sie angeblich von den Meerdämonen ausgeübt wurde? Hatten sie seine Seele unter Anwendung finsterster Zauberei an seine Leiche gebunden? Würde sein Körper bald in den Zustand der Verwesung übergehen? Er wandte sich zu dem Wolfpriester um. »Bin ich tot?«, fragte er. Es war eine wahnsinnige Frage, das wusste er, aber Ranek betrachtete ihn mit einer Miene, die Verständnis und vielleicht sogar Mitgefühl auszudrücken schien. »Soweit es diese Leute betrifft, bist du es, Junge. Du gehörst zu den Erschlagenen. Du wirst diesen Ort verlassen und niemals zurückkehren. Dein Schicksal liegt jetzt anderswo, im endlosen Eis und vielleicht in den Sternen.« Ragnar glaubte Ana zu sehen, wie sie gerade auf eines der Drachenschiffe gestoßen wurde. Plötzlich wusste er ohne den geringsten Schatten eines Zweifels, dass er zu ihr musste. Er setzte sich schwankend wie ein Betrunkener in Richtung Strand in Bewegung. Er rechnete damit, dass Ranek ihn aufhalten würde, doch der Wolfpriester ließ ihn gehen. Ragnar hatte keine Ahnung, wie lange er brauchte, um den Strand zu erreichen. Er wusste nur, dass er so schwer keuchte wie nach einem zwanzig Meilen langen Lauf durch den Sand, als er dort angelangt war. Er sah, wie die GrimmschädelKrieger sich alle umdrehten und ihn ansahen. Auf ihren Gesichtern lag Staunen und Entsetzen. Sie beschrieben das Zeichen von Russ, um dann weiter ins Meer zu waten und ihre Schiffe zu besteigen.
Ragnar wollte ihnen folgen, aber die Wellen schlugen ihm entgegen und er strauchelte. Das Wasser überspülte ihn und drang in seine Lunge. Er erhob sich und fing an zu husten. Er versuchte sich wieder in Bewegung zu setzen, aber eine starke Hand schloss sich um seine Schulter. Er fuhr herum und schlug zu. Schmerzen zuckten durch seinen Arm, und es fühlte sich an, als habe er sich die Finger gebrochen. »Ceramit ist nacktem Fleisch gegenüber unnachgiebig, Junge«, sagte Ranek, während er ihn trotz seiner Gegenwehr so mühelos hochhob, als sei er ein Welpe. »Du brichst dir nur die Hände, wenn du so weitermachst.« Vom Wasser hallten Trommeln herüber, und Ruderblätter klatschten ins Wasser. Die Drachenschiffe entfernten sich vom Ufer. »Wohin fahren sie?« »Sie kehren mit ihren neuen Leibeigenen nach Hause zurück, Junge. Jetzt werden sie sich hier nicht mehr niederlassen. Nach dieser Schlacht werden sie glauben, dass es auf dieser Insel spukt. Deine Wiederauferstehung wird diesem Standpunkt nur zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen. In kurzer Zeit wird diese Insel ein heiliger Ort sein, daran habe ich keinen Zweifel. Und dann werden sie alles vergessen. Menschen vergessen immer.« Ragnar sah den über die Wellen gleitenden Schiffen hinterher, und er fragte sich, ob die schmächtige Gestalt, die ihm zuzuwinken schien, Ana war. Das ließ sich jetzt nicht mit Bestimmtheit sagen, und er bezweifelte, dass er es je herausfinden würde. Ranek ließ ihn herunter, und er winkte dennoch zurück, wobei er sich fragte, ob die salzige Nässe in seinen Augen Tränen oder lediglich Meeresgischt war. ***
Ragnar kehrte schwankend zu dem Hügel zurück, auf dem das Luftschiff lag. Er versuchte sich das Dorf einzuprägen, denn er glaubte Raneks Worten, niemand werde jemals wieder hierher kommen. Er ging an der zerstörten Hütte unweit des eingestürzten Langhauses vorbei, die Ullis Heim gewesen war. Ulli war jetzt tot, das wusste er. Er musste mit seinem Vater in der Schlacht gestorben sein und war nicht auserwählt worden. Es kam ihm unmöglich vor, dass er Ulli nie wiedersehen würde, aber es war so. Den Freund, mit dem er in seiner ganzen Kindheit gespielt hatte, gab es nicht mehr. Es gab niemanden mehr. Ragnar konnte sich noch erinnern, wie er hier auf diesem Boden Fangen, Tretball und Held-und-Ungeheuer gespielt hatte. Wenn er angestrengt lauschte, glaubte er die Phantomstimmen jener spielenden Kinder zu hören, aber natürlich war das Unsinn. All das war jetzt Vergangenheit, vergangen und vorbei, und würde nie zurückkehren. Es war so kalt wie die Asche der ausgebrannten Hütte. Ragnar kam an der Stelle vorbei, wo sein Vater gefallen war, und er schob den Gedanken weit von sich. Später war noch genug Zeit, sich damit zu befassen. Wenn er zuließ, dass die Vorstellung sein Denken auch nur berührte, würden ihn Kummer und Zorn ganz gewiss verschlingen. Er mied ausdrücklich die Stelle, wo die Hütte seines Vaters gestanden hatte, das einzige Heim, an das er sich erinnern konnte, wenn er vom Deck der Speer von Russ absah. Seine Schritte führten ihn zum Rand des Dorfs. Es war ein Fehler gewesen, durch die Ruinen zu wandern. Die Erinnerung daran und das Entsetzen waren noch zu frisch, um sich dem zu stellen. Er wollte nur noch weg. So schnell er konnte, marschierte er zum Luftschiff der Erwähler.
*** Als er sich dem Schiff näherte, fiel Ragnars Blick auf eine am Boden liegende Gestalt. Sie lag auf einer Bahre aus Metall, und alle möglichen durchsichtigen Röhrchen bohrten sich in ihre Haut. Die Röhren endeten in einem Gerät, das wie eine große Spinne auf der Brust des jungen Mannes lag. Flüssigkeiten durchströmten sie. Seltsame Runen leuchteten in grellem Rot und Grün. Als Ragnar näher kam, sah er, dass es sich um Strybjörn handelte, um den Grimmschädel, mit dem er gekämpft hatte. Allem Anschein nach wirkten die Erwähler ihre Magie auch an ihm, und langsam dämmerte Ragnar die Erkenntnis, dass dies nur eines bedeuten konnte: Strybjörn war ebenfalls erwählt worden. Hass und kalte Wut tobten jäh in Ragnars Eingeweiden. Anscheinend war der Feind, den er getötet zu haben glaubte, seinem Verhängnis entronnen. Als er daran dachte, wie der Grimmschädel seine Sippschaft niedergemetzelt hatte, und als er sich an seine hasserfüllte Miene zu Beginn ihres Kampfes erinnerte, fragte Ragnar sich, ob die Götter ihn verspotteten, indem sie seinen Feind verschonten, wie sie ihn verschont hatten. Ohne nachzudenken, bückte er sich und hob einen großen Stein auf. Er hatte die Absicht, Strybjörn den Schädel einzuschlagen und das seltsame Gerät auf seiner Brust zu zerstören. Er wusste nicht, ob es funktionieren würde. Vielleicht würden ihn die Erwähler noch einmal von den Toten zurückholen. Vielleicht war ihre Magie so mächtig. Ragnar wusste es nicht, hatte aber die Absicht, es herauszufinden. Als er sich der reglosen Gestalt Strybjörns näherte, hatte er nichts anderes als Mord im Sinn. Er betrachtete sein Opfer. Strybjörn sah trotz seines Zustands
noch grimmig aus. Sein riesiger Kiefer und die vorspringende Stirn ließen ihn wie einen Wilden aussehen. Ragnar spürte, wie ihn eine schreckliche, ekelhafte Freude überkam, als er den Stein hob. In diesem Augenblick kümmerte es ihn nicht, was die Erwähler denken mochten. Ihn kümmerte nicht, dass er dem Willen der Götter trotzen mochte. Ihn kümmerte nur seine Rache. Und er hatte die Absicht, sie zu nehmen. Ein Hochgefühl überkam ihn, als er den Arm herabsausen ließ. Er grinste in freudiger Erwartung des Augenblicks, wenn der Stein Strybjörns Kopf treffen und ihn zu Brei schlagen würde. Der Augenblick kam nie. Stahlharte Finger schlossen sich um seinen Arm und hielten ihn fest. Ragnars Versuche, sich zu bewegen, waren so vergeblich, als habe er gerade versucht, einen Berg zu heben. »Bei Russ, Junge, du bist wahrhaftig ein Wilder«, sagte Ranek. »Der geborene Schlächter. Aber der hier ist nicht für dich. Er ist auserwählt worden, und du darfst ihn nicht töten.« »Ich werde ihn sterben sehen«, sagte Ragnar mit einer schrecklichen Ernsthaftigkeit. »Wohin du gehst, Junge, könnte dies tatsächlich geschehen. Andererseits ist es genauso gut möglich, dass er dein Ende erlebt.« »Wie meint Ihr das?« »Das wirst du noch früh genug herausfinden. Jetzt geh! Steig in den Thunderhawk!« Der alte Mann zeigte auf das fliegende Schiff. Mit einem Gefühl großer Beklommenheit stieg Ragnar ein. *** Das Innere des Luftschiffs sah so aus, wie Ragnar es sich niemals hätte vorstellen können. Der Boden war vollständig
aus Metall. Die Wände ebenfalls, wenn man von kleinen kreisrunden Fenstern absah, durch die man nach draußen schauen konnte. Der Sitz, auf den er geschnallt war, bestand aus einem merkwürdig muffigen Leder. Unbekannte Runen flackerten über Leisten unweit seines Kopfes. Seltsam tosende Geräusche ließen das ganze Gefährt erbeben, da es sich mühte, sich in die Luft zu erheben. Ragnar zappelte unruhig hin und her. Die neue Kleidung, die er von den Wolfpriestern bekommen hatte, fühlte sich komisch an. Es handelte sich um eine einteilige graue Tunika, die sich wie eine zweite Haut an seinen Körper schmiegte. Über dem Herzen prangte das Abbild eines Wolfskopfes, das Zeichen von Russ. Das Kleidungsstück hüllte ihn mit Ausnahme des Kopfes vollständig ein. Es bestand aus einem Stoff, wie Ragnar noch nie einen gesehen hatte. Er dehnte sich, damit er passte, aber er war leicht, und man konnte darin atmen. Der Stoff klebte nicht auf der Haut, sondern fühlte sich nur mäßig warm an. Ragnar hatte das Gefühl, durch einen Schneesturm wandern zu können, ohne die Kälte zu spüren, was seltsam war, denn der Stoff war nicht dicker als feinstes Kalbsleder. Plötzlich erzitterte das ganze Gefährt. Das Tosen schwoll an und wurde schriller. Er wurde in den Sitz gepresst. Als er aus dem Fenster schaute, überkam ihn Übelkeit, da er sah, wie das Land unter ihm wegkippte. Es war unnatürlich, dies zu beobachten, da das Luftschiff den Fängen der Schwerkraft entkam und in den Himmel sprang. Alles wurde kleiner. Er sah die Ruinen des Dorfs unter sich liegen wie Kinderspielzeuge und den Strand, der sich um die Insel zog. Langsam erhoben sie sich über die Hügelkuppen, dann setzte die Vorwärtsbewegung ein. Als er seine Aufmerksamkeit auf das Innere des Luftschiffs richtete, sah Ragnar, dass sich der Boden geneigt hatte. Der Bug des Schiffs zeigte nun steil aufwärts. Er schaute aus dem Fenster und sah, dass sie nun in die Höhe flogen und seine
Heimatinsel bereits in der Ferne schrumpfte. Auf dem Meer erblickte er die Schiffe der Grimmschädel-Flotte, die durch die Wellen pflügten, und dachte an die Leute, die er kannte und die an Bord waren. Dann sammelte sich grauer Nebel um das Luftschiff, das zu zittern anfing. Furcht griff nach Ragnar, als er sich fragte, ob die Winddämonen sie aus der Luft pflücken würden oder sie sich in den Klauen einer bösen Magie befanden. Dann dämmerte ihm langsam, dass sie durch die Wolken flogen. Kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, als sie in strahlendes Sonnenlicht getaucht wurden und das Zittern aufhörte. Unter sich konnte Ragnar einen endlosen weißen Ozean sehen, der stellenweise mit Blau durchsetzt war. Ihm ging auf, dass er von oben auf die Wolken schaute und sich ihm ein Anblick bot, wie er nur wenigen Sterblichen vergönnt war. Für einen Moment empfand er Staunen und Dankbarkeit. Das Luftschiff stieg weiter. Ragnar wurde immer noch in seinen Sitz gepresst. Er hatte das Gefühl, von einer gigantischen Faust zerdrückt zu werden. Er warf einen Blick auf die anderen und sah, dass das Fleisch auf Ragnars Wangen wie von unsichtbaren Fingern zurückgeschoben wurde. Welche neue Zauberei war dies?, fragte er sich zu erstaunt, um sich zu fürchten. Was es auch war, es schien den alten Mann nicht zu beunruhigen, denn er grinste nur und zeigte Ragnar den erhobenen Daumen. Ein neuerlicher Blick durch das Fenster zeigte Ragnar Dunkelheit und Sterne. Unter ihnen war eine gigantische Halbkugel zu sehen, die so groß war, dass ihre Wölbung fast das ganze Blickfeld ausfüllte. Sie war hauptsächlich blau und weiß, aber hier und da waren auch grüne Sprenkel zu sehen. Ragnar kam der Gedanke, dass er vielleicht die Weltkugel sah und das Blaue das Meer, das Weiße die Wolken und das Grüne das Land war.
Der Druck auf seiner Brust verschwand mit erstaunlicher Plötzlichkeit, und er spürte, wie er sich langsam von seinem Sitz löste. Er hatte den Eindruck, nur noch von den Gurten gehalten zu werden. Er hatte das Gefühl, als habe sein Körper kein Gewicht mehr, eine absonderliche und nicht unangenehme Empfindung. Der Schiffslärm hatte sich gelegt, und die Stille war beinahe unheimlich. Plötzlich kehrte sein Körpergewicht zurück. Die Nase des Luftschiffs neigte sich abwärts, und die Weltkugel wuchs, bis sie sein gesamtes Blickfeld ausfüllte. Wiederum fing das Schiff an zu zittern. Als er aus dem Fenster schaute, sah Ragnar, dass die Flügelspitzen kirschrot glühten wie Kohlen in einem Feuer. Eine Welle des Entsetzens überflutete ihn. Stand das ganze Schiff kurz davor, von magischen Flammen verzehrt zu werden? Waren die Luftdämonen erzürnt? Er riskierte einen weiteren Blick auf Ranek. Der Wolfpriester hatte die Augen geschlossen und machte einen vollkommen gelassenen Eindruck. Ragnar rang einen langen Moment um seine Beherrschung, dann beschloss er, sich keine Sorgen zu machen. Vielleicht waren die flammenden Flügelspitzen lediglich Teil des Zaubers, der das Schiff in der Schwebe hielt. All das überstieg sein Begriffsvermögen. Jedenfalls schien Ranek nicht im Geringsten beunruhigt zu sein. Solange niemand anders Besorgnis erkennen ließ, brauchte er sich wohl auch keine Sorgen zu machen. Das Luftschiff bebte noch lange Minuten. In gewisser Weise wurde Ragnar an eine Schlittenfahrt mitten im Winter erinnert. Dann erwachte das Luftschiff tosend zum Leben. Ragnar hatte den Eindruck, dass gewaltige Kräfte entfesselt wurden. Der Druck auf Ragnars Brust stellte sich wieder ein, als das Gefährt abbremste. Die Sterne verschwanden. Die Farbe des Himmels wechselte von Tiefschwarz über Dunkelviolett zu Dunkelblau und Blau.
Die Wolken hoben sich ihnen entgegen, und sie stürzten erneut in die neblige Leere. Das ganze Vehikel kippte wie ein Schiff, wenn es seitwärts von einer Welle erwischt wurde, dann richtete es sich aus, und Ragnar erblickte zum ersten Mal das Land unter ihnen. Es war gewaltig: eine zerklüftete Landschaft aus Felsen und Bergen, aus Flechten und Schnee. Der Horizont schien weit entfernt zu sein. Gewaltige Gletscher zogen sich durch die Gipfel. In der ganzen Weite war keine Spur von Leben zu sehen. Alles wirkte so tot und fremdartig wie die Oberfläche des Mondes. Das Luftschiff raste weiter über die trostlose, endlose Weite, die anders war als alles, was er bisher gesehen hatte. »Asaheim«, hörte er Ranek murmeln. Das Land der Götter, dachte Ragnar und fragte sich, was ihn dort erwartete.
6
DIE AUSERWÄHLTEN »Ihr seid alle auserwählt worden«, verkündete Ranek, der vom Rednerstein auf die Neuankömmlinge herabblickte. Der gewaltige Steinbrocken ragte wie ein Fangzahn in die Höhe. Ein Teil der Spitze war weggemeißelt worden, um ein Podium zu schaffen. Der gesamte Fels war behauen, so dass der dem Publikum zugewandte Teil wie der Kopf eines knurrenden Wolfs aussah. »Und jetzt fragt ihr euch alle, warum.« Ragnar starrte an Ranek vorbei auf die weit entfernten Berge und schauderte. Ja, das fragte er sich in der Tat. Er warf einen Blick auf die anderen. Ihren Mienen konnte er entnehmen, dass sie alle dasselbe dachten. Ihre Blicke klebten mit beinah fanatischer Intensität an dem alten Wolfpriester. Außer ihm selbst waren vielleicht drei Dutzend andere anwesend. Sie hatten sich beim ersten Licht des Tages auf dem ebenen Gelände am Rande des Dorfs versammelt, um die Rede des Wolfpriesters zu hören. Ein jeder trug die seltsame Tunika, die Ragnar im Luftschiff angehabt hatte, und die vielen Schrammen und Narben auf den Gesichtern und Händen der anderen verrieten Ragnar, dass sie einer ähnlichen Heilung unterzogen worden waren. Ragnar schauderte. Es war kalt, und sein Atem bildete Wolken vor seinem Mund. Ihm fiel eine seltsame Eigenschaft auf, die das Licht hier in den Bergen hatte. Alles wirkte heller, und die Luft kam ihm unnatürlich dünn und klar vor. Er hatte das Gefühl, viel weiter sehen zu können als früher auf den Inseln. »Ihr alle seid von mir oder einem anderen Wolfpriester auserwählt worden, weil wir die Möglichkeit sahen, dass ihr würdig sein könntet, euch uns anzuschließen. Ich betone das Wort >könntet<.
Aber zuerst müsst ihr viele Dinge verlernen. Euch wurde erzählt, dass man sterben muss, um sich zu den Helden von Russ in ihrem Langhaus zu gesellen. In manchen Fällen und für einige von euch hat sich das bewahrheitet. Ihr wart tot, und wir haben euch durch unsere Magie zurückgeholt. Andere unter euch sind lebendig hierher gebracht worden. Es macht keinen Unterschied. Aber merkt euch eines: Ein nächstes Mal wird es nicht geben. Wenn ihr hier sterbt, seid ihr endgültig tot. Eure Seele wird ins Jenseits eingehen und sich zu euren Vorfahren gesellen. Und merkt euch noch etwas - wenn ihr hier sterbt, dann deswegen, weil ihr nicht würdig seid, zu den Helden zu gehören. Hier und jetzt werdet ihr Gelegenheit erhalten, zu beweisen, dass ihr würdig seid, zu den größten Helden unserer Welt gezählt zu werden. Ihr werdet die Möglichkeit haben, zu zeigen, dass ihr euch eignet, zu den Auserwählten von Russ zu gehören und euch den Kompanien der Wölfe anzuschließen. Derzeit könnt ihr noch nicht verstehen, was für eine Ehre das ist und was für eine Bürde der Verantwortung euch damit eines Tages vielleicht auferlegt wird. Einstweilen müsst ihr es mir einfach glauben. Es ist keine Kleinigkeit, die von euch erwartet wird, und keine geringe Aufgabe, die zu erfüllen man von euch verlangt. Sie kann euch in den Zeiten, die da kommen mögen, in furchtbare Dunkelheit führen und euch an Orten, die eure Vorstellungskraft übersteigen, in Kämpfe mit den schlimmsten Feinden verwickeln. Man mag sich auf euch berufen, wenn es gilt, die Menschheit vor ihren ärgsten Feinden zu beschützen und gegen Ungeheuer zu kämpfen, die furchtbarer sind als alle Legenden. Es mag sein, dass ihr in jenen letzten Tagen, wenn die Kräfte des Bösen sich erheben werden, um alles Existierende zu zerstören, neben Russ selbst kämpfen werdet. All das könnte sich ereignen - falls ihr euch als würdig erweist. Wir bieten euch eine Aufgabe, die eines Helden würdig ist.
Und der Lohn ist kein Tand. Wenn ihr Erfolg habt, wird euer Leben viel länger währen als das eines gewöhnlichen Sterblichen, und ihr werdet Kräfte haben, die ebenso groß sind wie die jedes legendären Halbgotts. Ihr werdet Reisen über den Himmel hinaus zu den fernsten Sternen unternehmen und an Schlachten teilnehmen, die eine Herausforderung für jeden Krieger sind. Es wird unzählige Gelegenheiten geben, Ruhm und Ehre und die Achtung jener zu erwerben, deren Achtung etwas wert ist. Wenn ihr euch beweist, erringt ihr Macht, Ruhm und Unsterblichkeit. Wenn ihr versagt, ewigen Tod. Das sind die Wege, die euch offen stehen. Von diesem Tag an gibt es keine anderen mehr. Ihr werdet entweder siegen oder sterben. Habt ihr mich verstanden?« Ragnar sah den Wolfpriester an. In ihm waren jetzt weder Freundlichkeit noch Mitgefühl. Dies war wieder der Zauberer, den er scheinbar vor einer Ewigkeit an Bord der Speer von Russ kennen gelernt hatte. Der alte Mann schien gewachsen zu sein und hatte sich in eine ehrfurchtgebietende Aura gehüllt. Seine Worte hatten die Kraft eines Propheten und brannten sich förmlich in Ragnars Verstand. Sie waren beängstigend und ermutigend zugleich, und obwohl Ragnar nicht viel von dem Gehörten verstand, spürte er doch die Bedeutung, die der Wolfpriester in seine Worte legte, und das machte sie auch für Ragnar bedeutsam. »Habt ihr mich verstanden?«, wiederholte der alte Mann. »Ja«, antwortete es einstimmig im Chor. »Gut. Ihr seid jetzt Anwärter für den Orden der Space Wolves - der Raumwölfe. Wenn ihr die Bedeutung dessen begreift, werdet ihr auch das Ausmaß der Ehre begreifen, die ihr erringen könnt. Und jetzt stelle ich euch Hakon vor. Er ist der Mann, der euch lehren wird, was ihr wissen müsst, und der beurteilen wird, ob ihr würdig zu leben oder zu sterben seid.
Lauscht aufmerksam seinen Worten, denn sie bedeuten jetzt Leben oder Tod für euch.« Der Wolfpriester deutete auf den Neuankömmling, der das Podium betrat und sie mit strahlenden Wolfsaugen und einem verächtlichen Lächeln musterte. Ragnar studierte aufmerksam das Gesicht des Mannes. Es war schmal und wirkte beinah skelettartig. Die Haut schien zu straff zu sein und von Dutzenden Narben gespannt zu werden, die seine Wangen in einen Flickenteppich verwandelten. Seine Haare waren grau und im Nacken zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sein Gesicht wurde von durchdringenden Augen, einer großen Nase und dünnen, grausamen Lippen beherrscht. Er sah wie ein Raubtier aus, wie ein Wolf in Menschengestalt, und im Augenblick betrachtete er die versammelten Jugendlichen auf eine Weise, wie ein Wolf eine Herde Schafe betrachten mochte. Sein kalter Blick hatte nichts, aber auch gar nichts Beruhigendes an sich. Nach der Vorstellung sprang Ranek ohne weitere Umstände vom Podium und schritt in Richtung des Dorfs. Ragnar fiel auf, dass Hakon selbst nicht auf den Felsen stieg. Vielmehr ging er um ihn herum und stellte sich vor ihn. Der riesige Wolfskopf aus Stein schien ihm über die Schultern zu starren, und es war schwer zu sagen, was grimmiger aussah, die Skulptur oder der Mensch. »Willkommen in Russvik, Hunde! Ich bezweifle, dass ihr hier überleben werdet. Wie ihr gehört habt, bin ich Hakon«, sagte der Neuankömmling. »Ich bin Sergeant Hakon. Das ist mein Dienstgrad und Rang. Ihr werdet mich mit >Sergeant< und >Sie< anreden. Sonst, bei Russ, werde ich euch jedes Glied einzeln ausreißen wie ein kleiner Junge, der Fliegen quält.« Ragnar starrte den Sprecher an und rang ein sofortiges Hassgefühl nieder. Sergeant Hakon war eine furchterregende Gestalt, aber in diesem Augenblick empfand Ragnar nichts als
blanken Hass. Hakon war groß und stark. Wie Ranek war er viel größer als ein normaler Mensch und wäre auch ohne die funkelnde Rüstung, die seinen Körper umhüllte, viel breiter gewesen. Wie Ranek hatte er lange Eckzähne, die sichtbar wurden, wenn er lächelte, was er oft und auf grausame Weise tat. Wie Ranek trug er viele kleine Talismane von offensichtlich mystischer Bedeutung. Er trug ein großes Schwert mit sägeartig gezähnter Schneide, eine mystische Waffe wie jene, mit der Ranek den Drachen getötet hatte, sowie verschiedene andere Ausrüstungsgegenstände. Weder die Rüstung noch die Fetische waren so kunstvoll wie diejenigen des Wolfpriesters, aber sie waren ganz offensichtlich von derselben Machart und mussten aus denselben Schmieden stammen. Ragnar fragte sich, wo diese Schmieden sein mochten. Er sah nicht die geringsten Anzeichen für Schmiedeöfen oder Essen, sondern lediglich das kleine befestigte Lager mit Hütten aus Holz und Stein, die ganz anders waren als die Hütten daheim. Oder vielmehr dort, wo er früher einmal daheim gewesen war, korrigierte er sich. Jetzt gab es keinen Ort mehr, wohin er zurückkehren konnte. »Ihr mögt glauben, dass ihr auserwählt wurdet. Aber das wurdet ihr nicht! Ihr seid auserwählt worden, zu beweisen, dass ihr würdig seid, zu den wahrhaft Auserwählten zu gehören. Wenn ich euch erbärmliche Kreaturen so ansehe, bezweifle ich, dass es auch nur einer von euch ist. Ich glaube, die Wolfpriester haben einen Fehler gemacht und mir einen Haufen dumme, unnütze Kinder geschickt. Was meint ihr?« Niemand war so dumm zu antworten. Hakons Stimme war harsch und guttural. Der Tonfall war beständig höhnisch und eine Beleidigung ihrer Männlichkeit. Im Dorf der Donnerfäuste hätte Hakon sich mit diesem Verhalten eine sofortige Herausforderung zum Duell eingehandelt. Hier schien er reden zu können, wie er wollte. Trotz seines Hasses bezweifelte
Ragnar, dass einer der Neuankömmlinge etwas dagegen tun konnte. Hakon war im Gegensatz zu ihnen bewaffnet und mochte Magie zur Anwendung bringen. »Keiner von euch hat Mumm in den Knochen, was?«, sagte Hakon. »Allesamt ohne Rückgrat, habe ich Recht? Wie ich vermutet habe. Kein einziger Mann unter euch.« »Du bist bewaffnet, und wir sind es nicht«, sagte eine Stimme, die, wie Ragnar zu seiner Überraschung erkannte, Strybjörn gehörte. Es entsetzte ihn, dass der Grimmschädel es wagte, das Wort zu ergreifen, wo alle anderen davor zurückscheuten. »Wie heißt du, Junge?« »Strybjörn Grimmschädel, und ich bin kein Junge. Ich habe das Mannbarkeitsritual hinter mir.« Strybjörns dicke, brutale Lippen verzogen sich verächtlich. Wut flammte in seinen kalten Augen auf. »Wohl eher Strybjörn Dickschädel. Bist du dumm, Junge?« »Nein.« Strybjörn trat einen Schritt vor, die Fäuste geballt. Die versammelten Anwärter stießen einen kollektiven Seufzer aus. Niemand konnte die Verwegenheit des Grimmschädels richtig glauben. »Warum glaubst du dann, ich würde Waffen brauchen, um mit einem unverschämten Welpen wie dir fertig zu werden?« »Ach, das würdest du nicht? Große Worte für einen Mann in Rüstung, der eine Klinge trägt. Ohne sie wärst du vielleicht weniger mutig.« Der Sergeant lächelte, als habe er gehofft, jemand würde genau das sagen. Er trat vor, bis er vor Strybjörn aufragte. Der Grimmschädel war groß und stark, aber Hakon war viel größer und massiger. Sein Lächeln enthüllte jene unheimlichen Eckzähne, Einander widersprechende Gefühle überschlugen sich in Ragnars Verstand. Es sah so aus, als habe der
Grimmschädel einen furchtbaren Fehler gemacht und als bestehe die Möglichkeit, dass Hakon ihn tötete. Ragnar nahm nicht so sehr Anstoß daran, dass der Grimmschädel getötet wurde, sondern vielmehr an der Tatsache, dass nicht er selbst ihn erledigen würde. Andererseits schien sich in diesem Augenblick nichts daran ändern zu lassen. Der Sergeant zog seine Klinge aus der Scheide und hob sie hoch. Strybjörn zuckte mit keiner Wimper. Ragnar musste zugeben, dass der Grimmschädel tapfer war - wenn auch ein Dummkopf. Hakon rammte die Klinge vor Strybjörn in den Boden, wo sie zitternd stecken blieb. Ragnar konnte erkennen, dass die Waffe seltsam und fremdartig aussah. Die Klinge war von kleinen gezähnten Klingen umgeben und schien einen komplizierten Mechanismus zu enthalten. »Heb's auf, Junge«, sagte der Sergeant. »Benutz es - wenn du kannst. Dann bist du bewaffnet und ich nicht.« Strybjörn sah Hakon einen Moment an. Er schien verwirrt und auch ein wenig erschocken zu sein. Dann leuchtete das Licht des Blutdursts in seinen Augen auf, und seine Lippen verzogen sich zu einem brutalen Grinsen. Er griff zu und packte das Heft der mächtigen Waffe. Er zog daran und erwartete offenbar, die Waffe ebenso mühelos hochheben zu können wie der Sergeant. Nichts dergleichen geschah. Die Klinge rührte sich nicht. Strybjörn packte sie mit beiden Händen. Die Muskein an seinem Hals traten hervor wie Schiffstaue. Seine Bizeps wölbten sich. Sein Gesicht lief rot an. Schließlich zog er mit großer Mühe die Waffe aus dem Boden. »Zu schwer für dich?«, höhnte Hakon. »Vielleicht hättest du gern etwas Leichteres? Ich hätte hier noch ein Messer.« Mit einem wütenden Aufbrüllen warf Strybjörn sich vorwärts und ließ die Klinge auf den ungeschützten Kopf des Sergeants herabsausen. Angesichts des Gewichts der Waffe und Strybjörns offensichtlicher Stärke und Schnelligkeit konnte
der Sergeant unmöglich überleben, wenn der Hieb traf. Und er schien in der Tat zu treffen. Die Klinge sauste in pfeifendem Bogen heran, und der Sergeant unternahm keinen Versuch, sie abzulenken oder auszuweichen. Und gerade in dem Augenblick, als es so schien, als werde ihm der Schädel gespalten, war Hakon plötzlich nicht mehr da. Er trat einfach zurück, und die Klinge fuhr durch die Luft, wo er noch vor weniger als einem Zehntel Herzschlag gestanden hatte. »Du benutzt die Klinge wie ein Mädchen, Junge. Du könntest nicht mal Holz spalten. Gib dir mehr Mühe!« Strybjörn brüllte und schwang die Klinge in Hüfthöhe. Sein Gesicht war rot und wutverzerrt. Offensichtlich gefiel es ihm nicht, verspottet zu werden. Ragnar prägte sich dies ein, da es sich später noch einmal als nützlich erweisen mochte, wenn der unvermeidliche Tag kam, an dem sich ihm die Gelegenheit bieten würde, seine Rache zu nehmen. Wieder wartete Hakon bis zum letzten Augenblick und sprang dann einfach hoch. Die Klinge fuhr unter ihm hindurch. Er landete leichtfüßig auf dem Boden, während es Strybjörn gerade noch gelang, das Gleichgewicht zu halten. »Du bist unbeholfen, Junge. Ich gebe dir noch eine letzte Chance, wenn du den Mut hast, sie zu ergreifen. Aber sei gewarnt, dass es schlimm für dich enden wird, wenn du scheiterst.« Diesmal zielte Strybjörn hoch, und der Schlag ging seitlich zum Kopf des Sergeants. Der Sergeant duckte sich und ließ den plumpen Schlag über sich hinwegzischen. Einen Moment lang stand er mit einem gemeinen Grinsen da und schlug dann zu. Obwohl Ragnar aufs Äußerste gespannt und die Aufmerksamkeit in Person war, ging alles fast zu schnell, um es verfolgen zu können. Hakon schlug mit einer Faust zu. Sie traf Strybjörns Kiefer mit entsetzlicher Wucht und lautem Krachen. Der Grimmschädel taumelte rückwärts und war schon
bewusstlos, bevor er zu Boden ging. Die Waffe fiel ihm aus der Hand. Hakon pflückte die sich überschlagende Waffe ohne sichtliche Anstrengung mit einer Hand aus der Luft und hielt sie dann in die Höhe. Er berührte einen Knopf am Heft, und plötzlich erwachte die Waffe zu magischem Leben. Die Klingen rings um die eigentliche Schneide bewegten sich rotierend und beschleunigten dabei so stark, dass sie unsichtbar wurden. Alle beobachteten entsetzt, wie Hakon die Klinge durch die Luft zischen ließ, während sie darauf warteten, was der Sergeant tun würde. Würde er Strybjörn enthaupten und seinen Kopf als Trophäe benutzen? Es schien nur allzu gut möglich. Die Erdbrocken, die noch daran hafteten, nachdem die Klinge im weichen Boden gesteckt hatte, spritzten in alle Richtungen davon. Nach einigen Augenblicken drückte Hakon abermals auf den Knopf, und die Klingen stellten mit einem nervenzerfetzenden Kreischen die Bewegung ein. Hakon vergewisserte sich, dass sie sauber waren, bevor er das Schwert zurück in die Scheide schob. Dann ging er zu Strybjörn und sah mit verächtlichem Blick auf ihn herab. Ragnar bemerkte, dass die Brust des Grimmschädels sich immer noch hob und senkte. Er wusste nicht, ob er sich freuen oder enttäuscht sein sollte. >»Dickschädel< war richtig«, sagte Hakon. »Dieser Schlag hätte jedem den Kopf gekostet, der nicht den Schädel eines Ochsen hat.« Die nervöse Spannung entlud sich explosionsartig, als alle Neuankömmlinge zu lachen anfingen. Zu seiner Überraschung hörte Ragnar sich selbst einfallen. Hakons finsterer Blick ließ sie rasch verstummen. »In ein paar Minuten wird euch allen das Lachen vergehen. Ihr zwei bringt ihn zum zweiten Langhaus und meldet euch dann bei den Schmiedeöfen. Der Rest folgt mir. Es wird Zeit, euch vernünftig auszurüsten.«
*** Die Neuankömmlinge folgten Sergeant Hakon durch das kleine Dorf. Sie überschritten den Graben, der um die Holzpalisade verlief, welche Russvik umgab, und gingen weiter durch das offene Tor. Mit Speeren bewaffnete Wachposten auf hölzernen Wachtürmen beiderseits des Eingangs starrten auf sie herab. Ragnar sah sich voller Überraschung die Gebäude an. Dies war die erste Gelegenheit, sie eingehend zu betrachten, und er erkannte jetzt, wie sehr sie sich von denjenigen unterschieden, in denen er aufgewachsen war. Das vorherrschende Baumaterial war nicht Drachenhaut und Drachenknochen, sondern Holz, Stein und Stroh. Einige der Gebäude waren Blockhäuser: schlichte, einfache Gebilde aus den Stämmen toter Bäume, deren Dächer mit Erde bedeckt waren. Andere bestanden aus übereinander gestapelten Steinen nach Art des Dammbaus auf den Inseln. Auch bei diesen waren die Dächer mit Erde gedeckt. Beide Sorten hatten ein Loch im Dach, das als Abzug für das Herdfeuer diente. Die Straßen waren eher verschlammte Wege. Schweine suhlten im Matsch, und Hühner flatterten gackernd um improvisierte Ställe herum. Die Anwesenheit dieser Haustiere sorgte für eine seltsam heimelige Atmosphäre. Sie erinnerten Ragnar ein wenig an sein Zuhause. Das galt jedoch nicht für die sonderbaren Schnitzereien an jeder Wegkreuzung. Sie waren aus Holz und stellten sämtlich Wölfe dar, die sich aufbäumten, Beute beschlichen, knurrten, sprangen. Alle Schnitzereien waren ausgezeichnete Arbeiten und auf eine seltsame Art sehr lebensecht. Ragnar hatte keine Ahnung, was die in sie geschnitzten Runen bedeuteten, war aber sicher, dass sie irgendeine mystische Bedeutung hatten.
Auf den Straßen wimmelte es von jungen Männern, die alle Waffen trugen und ihren Angelegenheiten mit einer Gelassenheit nachgingen, wie sie in Ragnars Gruppe niemand besaß. Sie betrachteten die Neuankömmlinge im Vorbeigehen mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung. Hier und da waren auch ältere Krieger zu sehen, die wie Hakon gekleidet waren. Diese wurden von allen, die ihnen begegneten, mit wachsamem Respekt behandelt. Einige aus Ragnars Gruppe betrachteten die Steingebäude mit ehrfürchtigem Staunen, welches Ragnar verriet, dass sie Inselbewohner waren wie er selbst, aber im Unterschied zu ihm niemals die Insel der Eisenmeister gesehen hatten. Alles war mehr als sonderbar. Russvik lag in einem langen Tal an einem dunkelblauen See. Zu beiden Seit erhoben sich Berge in Höhen, die Ragnar bisher unbekannt waren. Neben diesen Gipfeln schrumpfte all vom Menschen Geschaffene zur Bedeutungslosigkeit. Es war beinah so, als sei dieser Ort absichtlich gewählt worden, damit die Neuankömmlinge sich klein fühlte Vielleicht war das tatsächlich der Fall, erkannte Ragnar. Vielleicht war alles darauf angelegt, in ihnen ein Gefühl völliger Bedeutungslosigkeit zu wecken. Er hatte keine Ahnung, warum das so sein sollte, aber er sah ganz deutlich, dass und wie es möglich war. Der Ort, die Rede des Wolfpriesters, Hakons Art, all das blies ins gleiche Horn. Es sagte einem, dass man nicht zählte, dass man sich erst beweisen musste. Irgendwo tief in sich spürte Ragnar, wie sich ein winziger Funke der Auflehnung entzündete und aufloderte. Er wusste nicht, wogegen er sich auflehnen würde, aber er war ganz sicher, dass es dazu kommen würde, und dabei würde er auch den verhassten Strybjörn erledigen! Er sah sich um und versuchte Blickkontakt zu den anderen aufzunehmen. Nur einer erwiderte den Blick und lächelte. Alle
anderen schienen zu sehr in ihre eigenen Überlegungen vertieft zu sein. Ragnar war nicht überrascht. Es gab viel zum Nachdenken. Er hatte so viele neue Dinge gesehen, dass er kaum glauben konnte, dass seit seiner Ankunft erst ein Tag verstrichen war. Am Abend hatte er Ranek Rede und Antwort gestanden. Der Wolfpriester hatte jede Einzelheit in ein großes ledergebundenes Buch im Haupthaus eingetragen. Danach hatten ihn Leute, die Ranek als Eisenpriester bezeichnet hatte, einer eingehenden körperlichen Untersuchung unterzogen. Sie hatten viele merkwürdig aussehende Amulette gehabt, mit denen sie an ihm entlanggefahren waren, und seinen Körper so gründlich inspiziert, als suchten sie nach den Stigmata der Mutation. Wäre die Situation nicht so seltsam gewesen, hätte Ragnar sich beleidigt gefühlt. Unter den Donnerfäusten hatte es keine Mutanten gegeben. Jeder Säugling, der auch nur die geringsten Spuren der Male des Chaos aufwies, war gleich nach der Geburt ertränkt worden. Bis man ihm gestattet hatte zu gehen, war es längst dunkel gewesen. Man hatte ihn zu einem Langhaus geführt, das vollständig aus Holzbohlen bestand. Drinnen roch es nach Pinienharz. Bei seinem Eintreffen hatten die Anwesenden ein wenig gemurrt. Er hatte sich eine Strohmatte gesucht und sich darauf gelegt und war sofort eingeschlafen. Erst am Morgen hatte er seine Kameraden gesehen und bemerkt, dass sich auch Strybjörn unter ihnen befand. Er musste in das Langhaus gekommen sein, nachdem Ragnar eingeschlafen war. Welche Wunden er sich auch in der Schlacht eingehandelt hatte, die Heiler hatten sie mit ihrer Magie kuriert. Ragnar bekam immer noch eine Gänsehaut, wenn er daran dachte, dass er die ganze Nacht unter demselben Dach verbracht hatte wie sein eingeschworener Feind. Ein Feind, den er bereits getötet hatte! Ragnar spie voller Abscheu auf den Boden. Es war jedoch keine Zeit geblieben, deswegen etwas zu
unternehmen, denn zuvor war der Wolfpriester gekommen und hatte sie dorthin geführt, wo sie seiner Rede gelauscht und Sergeant Hakon kennen gelernt hatten. Es war nicht einmal die Zeit geblieben, sich einem der Fremden vorzustellen. Jetzt spürte Ragnar die Seltsamkeit ihrer Lage mehr denn je. Er war von Leuten umringt, die Dutzenden verschiedener Klans angehörten. Unter normalen Umständen wären sie alle seine Feinde gewesen, ausgenommen bei einer Begegnung auf einem der großen Feste. Hier war jedoch niemand bewaffnet, und in diesem Augenblick schien auch keiner von ihnen zu Feindseligkeiten zu neigen. Sergeant Hakon hatte ihnen viele andere Dinge zum Nachdenken gegeben. Außerdem hatte Ragnar den Eindruck, dass die meisten der anderen zu wissen schienen, wohin sie unterwegs waren. Jedenfalls hatten die beiden, die Strybjörn forttrugen, gewusst, wohin sie ihn zu bringen hatten. Dies verriet Ragnar, dass die meisten dieser junger Krieger sich zumindest schon so lange in diesem trostlosen Lager aufhielten, dass sie sich mit den Örtlichkeiten vertraut gemacht und eine Ahnung hatten, wovon Hakon redete. Er wusste, dass er hier ein Neuling war, und Ragnar kam zu dem Schluss, dass es einstweilen das Klügste war, den Mund geschlossen und die Augen offen zu halten. Sie erreichten eines der größten Holzhäuser in Russvik. Hakon ging hinein und kam nach wenigen Minuten mit einem Stapel Waffen heraus, um sofort mit dem Aufrufen von Namen zu beginnen. Bei jeder Namensnennung trat einer der Jungen vor, und dann drückte Hakon ihm einen Speer und einen Dolch in die Hand und befahl ihm, in Reih und Glied zurückzukehren. »Ragnar Donnerfaust!«, hörte Ragnar seinen Namen und trat vor. Der Sergeant ragte vor ihm auf. Bis hierher hatte Ragnar keine richtige Vorstellung davon gehabt, wie groß und massig Hakon tatsächlich war. Jetzt konnte er erkennen, dass der Sergeant der massigste Mann war, dem er je begegnet war, noch größer und breiter als Ranek. Seine Rüstung war mit
kleinen Mechanismen wie denjenigen bedeckt, von denen er annahm, dass sie die kleinen Klingen am Schwert des Sergeants zum Kreisen brachten. Ragnars Respekt vor Strybjörns Tapferkeit - und Torheit - steigerte sich noch um eine Winzigkeit. »Worauf starrst du, Junge?« »Auf Sie, Sergeant!« Hakons Schlag erfolgte blitzschnell, und doch sah Ragnar ihn irgendwie kommen. Er wich gerade so weit zurück, dass er dem Schlag die größte Wucht nahm. Dennoch reichte er aus, um ihn in den Staub zu schicken, aber er rollte sich ab und kam sofort wieder hoch. Er hatte das Gefühl, von einem Schmiedehammer getroffen worden zu sein, und vor seinen Augen tanzten Funken, aber wenigstens war er noch bei Bewusstsein. »Du hast gute Reflexe, Junge«, sagte der Sergeant und warf Ragnar den Speer und die Scheide mit dem Messer zu. Ragnar gelang es, die Waffen aufzufangen und sich dennoch auf den Beinen zu halten. Er sah, dass die anderen ihn mit einer Mischung aus Neid und Respekt betrachteten. Das erfüllte ihn mit einem Gefühl der Befriedigung. Die Scheide war aus Leder. Der stählerne Verschluss hatte die Form eines Wolfskopfes. Diese Zurschaustellung von Prunk verblüffte Ragnar. In seinem ganzen Leben hatte er solche Reichtümer erst ein Mal gesehen, und zwar auf der Insel der Eisenmeister. Bei den Inselklans war der kostbare Stahl ausschließlich Klingen, Speerspitzen und Werkzeugen vorbehalten. Ein wohlhabender Jarl besaß vielleicht einige wenige eiserne Armreifen als jederzeit verfügbare Wertgegenstände, aber das kam nur selten vor. Er zog die Klinge aus der geölten Lederscheide und begutachtete sie. Die Qualität war erlesen, die Schneide rasiermesserscharf. Der Knauf endete in einem kleinen Wolfskopf, der demjenigen auf dem Verschluss entsprach. Der Speerschaft bestand aus bestem Eschenholz. Die Spitze war dünn wie eine Nadel und wies
nicht die geringste Rostspur auf. Winzige Runen waren in den Schaft eingraviert. Die Waffe vermittelte den Eindruck ausgiebiger Verwendung. Ragnar sah plötzlich Generationen von Neuankömmlingen vor seinem geistigen Auge, welche diese Waffe schon vor ihm benutzt hatten. Er wusste nicht, ob ihm das eine Beruhigung war oder nicht. Hakon sprach erneut. »Das sind jetzt eure Waffen. Gebt auf sie Acht. Sie könnten euer wertloses Leben retten. Verliert sie auch nicht und kommt dann zu mir gelaufen. Ersatz gibt es nicht. Für den unwahrscheinlicher Fall, dass irgend jemand von euch die Zeit hier überlebt wird die Rückgabe der Waffen erwartet. Falls welche von euch sterben, wird von den Überlebenden erwartet dass sie die Waffen der Toten zurückbringen. Lasst die Leichen für die Krähen, wenn ihr wollt - aber bringt die Klingen zurück. Jetzt werde ich euch euren Klauen zuteilen. Eine Klaue ist die kleinste und grundlegendste Kampfeinheit. Alle Mitglieder einer Klaue üben zusammen, essen zusammen, jagen zusammen und sterben höchstwahrscheinlich zusammen. Wenn ich eure Namen aufrufe, tretet vor!« Hakon rief fünf Namen auf, die Ragnar nicht kannte. Fünf der Neuankömmlinge traten vor den Sergeant. Er bedeutete ihnen, zur Seite zu treten, und rief die nächsten fünf Namen auf. Ragnar fragte sich, ob sein Name dabei sein würde, doch das war nicht der Fall. Weitere fünf Namen wurden genannt, dann noch fünf. Ragnars Name war immer noch nicht gefallen. Kurz darauf waren nur noch er selbst und drei andere Jugendliche übrig. »Kjel Falkner, Sven Drachenfeuer, Strybjörn Grimmschädel, Ragnar Donnerfaust, Henk Winterwolf.« Ragnar betrachtete seine Kameraden. Er sah einen kleinen, verdrossen dreinschauenden Jugendlichen, der sehr breit und sehr stark aussah. Einen pausbäckigen Jungen, der jünger aussah als alle anderen Anwesenden und einen großen,
sommersprossigen blondhaarigen Burschen mit einem offenen, lächelnden Gesicht. Seine Laune verschlechterte sich, als ihm aufging, dass er derselben Gruppe zugeteilt war wie der Grimmschädel. Er erwog kurz zu protestieren, doch ein Blick auf Hakon verriet ihm, dass er sich damit keinen Gefallen tun würde. Dem boshaften Lächeln nach zu urteilen, das die Lippen des Sergeants umspielte, schien Hakon vielmehr ganz genau zu wissen, was er tat. Andererseits, dachte Ragnar, hatte diese Einteilung auch ihre Vorteile. Zumindest war der Grimmschädel in ständiger Reichweite für Ragnars Rache. Hakons bestürzendes Grinsen wurde breiter. »Seht euch um«, sagte er. »Seht euch eure Kameraden an. Prägt euch die Gesichter ein und schreibt Euch hinter die Ohren: Wenn ihr nicht etwas ganz Besonderes seid – und ich glaube nicht, dass einer von euch das ist -, wird mindestens die Hälfte von euch tot sein, wenn ihr hier fertig seid.« Ragnar spürte, wie es ihn kalt überlief. Die Worte des Sergeants klangen bestürzend wahr. *** Vor dem Langhaus heulte der Wind. Es schien so kalt zu sein wie im Innern einer Eishöhle. Die Anwärter lagen auf ihren Matten und sehnten sich nach einem Feuer. In einer Ecke gab es eine Feuerstelle, aber kein Holz. Die einzelnen Gruppen waren zusammen eingetroffen und hatten Matten nebeneinander bezogen. In Ragnars Gruppe gab es eine leere Matte, die für Strybjörn reserviert war. Ragnar lag auf dem Rücken, starrte an die Decke und dachte über die Ereignisse des Tages nach. Weitere Untersuchungen. Noch mehr Ansprachen von Hakon. Eine Vielzahl harter Übungen. Eine Mahlzeit aus Grütze, Rüben und etwas, das Schweineschmalz
ähnelte. »Der gute Hakon ist etwas grimmig, findest du nicht?«, sagte eine ruhige, freundliche Stimme. Ragnar wandte den Kopf, und sein Blick fiel auf den sommersprossigen Jungen, der sie alle angrinste. Seine Züge waren länglich, und er hatte eine kleine Stupsnase, die ihm ein freches und zugleich fröhliches Aussehen verlieh. Lange blonde Haare rahmten sein Gesicht ein. Er machte einen geradezu irrsinnig glücklichen Eindruck, wenn man die Umstände bedachte. Ragnar musste das Lächeln unwillkürlich erwidern. »Ja«, sagte Ragnar. »Etwas grimmig.« »Ich bin Kjel von den Falknern.« Kjel streckte freundschaftlich die Hand aus, und Ragnar schüttelte sie. »Ragnar von den ... Donnerfäusten.« »Du scheinst dir dessen nicht sehr sicher zu sein.« »Ich bin nicht sicher, ob es noch Donnerfäuste gibt«, sagte Ragnar nur. »Ach, so ist das.« »Ja.« »Ich nehme an, du wurdest nach der Schlacht auserwählt, in der dein Klan ... Schaden genommen hat.« »Ja.« »War es eine große Schlacht?« »Sie war grimmig und hart. Ich weiß nicht, ob ich sie groß nennen würde. Mein Dorf wurde niedergebrannt, und meine Verwandtschaft getötet. Mein Mädchen ...« »Ja?«, fragte Kjel. Er machte einen mitfühlenden Eindruck. »Ich weiß es nicht.« »Dann vergisst du sie besser«, sagte der vierschrötige, brutale Junge auf der nächsten Matte. Er lächelte, als gefalle es ihm, der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein. Ragnar
sah, dass seine Zähne, groß, kantig und gleichmäßig waren. Seine Nase war gebrochen und nur unzureichend gerichtet worden. Seine rötlichen Haare waren auf eine für einen Inselbewohner ungewöhnliche Art geschnitten, nämlich kurz bis fast auf den Schädel. »Du wirst sie nie wiedersehen. Du wirst niemanden wiedersehen, den du einmal gekannt hast.« »Es gibt keinen Grund, deswegen so erfreut zu klingen«, sagte Ragnar. Der Jugendliche schüttelte den Kopf und ballte eine Faust. Doch es war keine drohende Geste, erkannte Ragnar, mehr ein Ausdruck der Verärgerung. »Bei Russ' eisernen Eiern, ich bin nicht erfreut deswegen! Ich bin über nichts von alledem erfreut. Ich hatte damit gerechnet, zu den Auserwählten zu gehören und in den Saal der Helden eingelassen zu werden. Und was habe ich bekommen? Den verfluchten Sergeant Hakon und seine verfluchte Ansprache darüber, wie verflucht nutzlos wir alle sind.« »Vielleicht solltest du diesen Punkt noch einmal zur Sprache bringen«, schlug Kjel mit einem Grinsen vor. »Vielleicht tue ich das sogar. Andererseits, nachdem ich gesehen habe, was mit Strybjörn und Ragnar passiert ist, lasse ich es vielleicht doch lieber. Jedenfalls so lange, bis ich weiß, was ihn so anders macht.« »Du glaubst, dass ihn etwas so gemacht hat?«, fragte Ragnar neugierig. »Du glaubst nicht ...« »Das habe ich nur hier im Lager gehört, aber anscheinend werden die Überlebenden dieser kleinen Gruppen zu irgendeinem uralten Tempel gebracht, wo Magie gegen sie gewirkt wird. Sie werden in Bestien oder in Menschen wie Hakon und Ranek verwandelt. Bei der Elfenbeinlosung des Eisbären, ich bin verflucht hungrig. Was glaubt ihr, wann werden sie uns etwas zu essen geben?« »Du hältst Hakon für einen Menschen?«, fragte das vierte Mitglied der Gruppe, derjenige, der zu jung aussah, um
überhaupt bei ihnen zu sein. Ragnar betrachtete ihn eingehender. Seine Züge waren fein, und er sah zierlich und intelligent aus, mehr wie ein Skalde denn wie ein Krieger. »Jedenfalls ist er kein Geist«, sagte Ragnar. »Jedenfalls nicht so, wie er mich heute geschlagen hat.« »Ich war ziemlich erstaunt, dass es dir fast gelungen wäre, ihm auszuweichen«, sagte der Jüngling. »Ich hätte nicht gedacht, dass das jemand schaffen könnte.« »Ragnar hat es auch nicht geschafft.« »Aber fast.« »Wer bist du, Sven Drachenfeuer oder Henk Winterwolf?«, fragte Ragnar. »Ich bin der verfluchte Sven«, sagte der Vierschrötige. »Und bei des Eisbären heiliger rechter Arschbacke, du hast ein gutes Gedächtnis.« »Ich bin Henk«, sagte der Jüngste und erhob sich, um allen die Hand zu schütteln. Ragnar ging ebenso darauf ein wie Kjel, doch Sven blieb mit unter dem Kopf verschränkten Händen liegen und starrte an die Decke. »Das würde bedeuten, der letzte in unserer verfluchten lustigen kleinen Truppe ist Strybjörn Grimmschädel«, sagte Sven. »Ja«, spie Ragnar förmlich. Selbst er war überrascht über den Hass in seiner Stimme. Svens graue Augen richteten sich sofort auf ihn. »Du magst ihn nicht, Ragnar, nicht wahr? Warum?« »Er gehörte zu dem Abschaum, der mein Dorf überfallen hat.« »Das ist nicht gut«, sagte Kjel. »Er müsste tot sein. Ich dachte, ich hätte ihn getötet«, sagte Ragnar.
»Dann hast du, verflucht noch mal, keine gute Arbeit geleistet«, sagte Sven. »Wenn man bedenkt, dass er lebendig ist und in der Gegend umherläuft - oder zumindest hat er das getan, bis der alte Hakon ihn ins Land der Träume befördert hat.« »Die Wolfpriester haben ihre Magie eingesetzt, um ihn zu heilen. Sie haben dasselbe für mich getan«, sagte Ragnar. »Ich glaube, das haben sie für uns alle getan.« Kjel öffnete seine Tunika und zeigte eine lange Narbe, die sich über Brust und Bauch zog. »Ich glaube nicht, dass jemand eine solche Wunde ohne Magie überlebt hätte.« »Wie bist du hierher gekommen?«, fragte Ragnar. »Es gab eine Schlacht«, sagte Kjel. »Ich glaube, das versteht sich, verflucht noch mal, von selbst«, höhnte Sven. Kjel warf ihm einen angewiderten Blick zu. »Ich gehörte zu einer Gruppe auf Beutezug am Fuß der großen Gletscher. Wir waren auf der Suche nach Schafen ...« »Schafe!«, krähte Sven. »Was wolltet ihr mit denen anfangen?« »In den Tälern wird der Wert eines Mannes an der Größe seiner Herden gemessen.« »Darauf wette ich, verflucht noch mal«, sagte Sven, und sein Tonfall war eine einzige Anspielung. »Jedenfalls gerieten wir bei Einbruch der Dunkelheit in einen Hinterhalt der Wolfsköpfe. Der Kampf war heftig und grimmig. Ich muss vielleicht fünf von den Wolfsköpfen getötet oder verwundet haben, bevor mich einer von ihnen mit dem Speer traf. Ich dachte schon, dass alles vorbei wäre, aber dann sah ich einen alten Mann auf dem Berghang, bevor mich die Dunkelheit verschlang. Als ich erwachte, stand der alte Mann neben mir, aber ich befand mich in einem fliegenden Schiff
und war auf dem Weg hierher. Was ist mit dir, Sven - welche große Heldentat hast du vollbracht, um auserwählt zu werden?« »Ich habe acht Männer im Zweikampf getötet.« »Acht? Alle auf einmal?« »Nein. Einen nach dem anderen, verflucht. Sie waren alle Brüder. Sie haben meinen Onkel getötet und sich geweigert, Weggeld zu bezahlen, also habe ich sie beim Allthingfest herausgefordert. Der Wolfpriester hat zugesehen, wie ich sie getötet habe, und mir dann gesagt, ich gehörte zu den Auserwählten.« »Du bist nicht verwundet worden? Du bist nicht ... gestorben?« »Acht Männer sind gestorben. Acht erwachsene Männer und Krieger. Sie sind gestorben, ich nicht. Ich habe nicht einen Kratzer abbekommen.« »Wahrhaftig, Sven, du musst ein mächtiger Krieger sein«, sagte Henk. »Wahrhaftig«, bemerkte Ragnar trocken. »Du glaubst mir nicht?«, sagte Sven plötzlich. Jähzorn flackerte in seinen Augen. »Ich habe nichts dergleichen gesagt«, antwortete Ragnar. »Schließlich bist du hier, oder nicht?« »Und dass du das, verflucht noch mal, ja nicht vergisst«, sagte Sven. »Was ist mit dir, Henk?«, fragte Kjel. Der Jüngling errötete und schien verlegen zu sein. »Ich habe mit einem Troll gekämpft«, sagte er, »und ihn mit dem Speer getötet. Er hatte meinen Onkel und all seine Brüder umgebracht und war bereits verwundet, also war es keine große Leistung.« »Der Wolfpriester muss es geglaubt haben.«
»Er hätte ihn wahrscheinlich mühelos getötet, wenn ich es nicht getan hätte.« »Warum war er da?«, fragte Sven. »Das weiß ich nicht. Vielleicht hat unser brennender Bauernhof seine Aufmerksamkeit erregt. Wer kann das sagen?« Ragnar sah den Jüngling erstaunt an. Er hatte sich der tödlichsten Bestie, die es auf Fenris gab, zum Kampf gestellt und sie getötet, nachdem sie seine Familie umgebracht hatte, und er redete darüber, als sei das gar nichts. Tatsächlich schien ihm die Anerkennung sogar peinlich zu sein. Ihren Geschichten nach zu urteilen, verdienten alle seine Kameraden Achtung. Vielleicht sogar der Grimmschädel. Eine Windbö heulte durch das Langhaus, und alle richteten den Blick auf die geöffnete Tür. Sergeant Hakon trat ein, die immer noch bewusstlose Gestalt Strybjörns auf der Schulter. Er stapfte zu einer freien Matte und ließ ihn ohne weitere Umschweife auf das Stroh fallen. »Am Besten, ihr seht zu, dass ihr etwas Schlaf bekommt. Morgen werdet ihr eure Kräfte brauchen.« Ohne ein weiteres Wort ging er durch den Saal und löschte die Wandöllampen mit seinen gerüsteten Fingern, um dann in der jähen Dunkelheit zur Tür zurückzukehren, ohne auch nur über eine einzige der ausgestreckt daliegenden Gestalten zu stolpern. Das Zuschlagen der Tür kündete von seinem Verschwinden. Stille senkte sich über das Langhaus. Ragnar lag lange in der Dunkelheit und fragte sich, ob er sein Messer nehmen und dem Grimmschädel die Kehle durchschneiden sollte. Am Ende entschied er sich dagegen. Er wollte, dass sein Feind bei Bewusstsein war, wenn er ihn tötete. »Das komische Gurgeln, das ihr hören könnt, ist mein verfluchter Magen«, murmelte Sven. »Bei den Eiern des
Eisbars, ich bin verflucht hungrig.«
7
DIE JAGD Ragnar stach blitzschnell mit seinem Holzstab zu und traf Strybjörn am Auge. Der Stock wurde von der vorspringenden Stirn abgelenkt und prallte ab. »Das Auge! Ich gewinne!«, rief er, indem er zurückwich. Die zu einem Kreis versammelten Anwärter brüllten ihren Beifall heraus. Ragnar riskierte einen Blick auf Sergeant Hakon, um zu sehen, ob dieser seinen Sieg bestätigte. Der Grimmschädel knurrte und schlug mit seinem eigenen Holzstab zu. Die gebogene Spitze traf Ragnar unter den Rippen und presste ihm die Luft aus der Lunge. Der Stoß war mit der ganzen Kraft und dem vollen Gewicht des massigen Grimmschädels erfolgt. Dies war Kampfausbildung mit dem Messer, und die Hiebe und Stiche wurden nicht nur angedeutet. Hakon wollte nicht, dass sie sich daran gewöhnten, gegen Feinde zu kämpfen, die nicht ernsthaft zustachen. Ragnar krümmte sich vor Schmerzen zusammen und hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Er fühlte sich kaum noch in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Alles drehte sich um ihn. Ringsumher konnte er die feixenden Gesichter der anderen sehen. Sie hatten einen Kreis gebildet, um den Kampf zu beobachten. Strybjörn ließ den Stab auf Ragnars Schädel krachen, und der jugendliche Donnerfaust-Krieger sah Sterne. Er stieß einen langen Seufzer des Schmerzes aus und fiel auf die Knie. Strybjörn holte mit dem Fuß aus, um ihm einen Tritt zu verpassen. Plötzlich machte sich kalte Wut von irgendwo tief in Ragnar Luft. Er ließ sich nach vorn fallen und schlang im letzten Augenblick die Arme um die Beine des Grimmschädels. Mit einem harten Ruck holte er Strybjörn von den Beinen. Ein
lautes Knacken ertönte, als der Schädel seines Feindes gegen einen aus dem weichen Boden ragenden Stein stieß. Ragnar gestattete sich ein triumphierendes Knurren und warf sich vorwärts, um sich rittlings auf Strybjörn zu schwingen. Er nahm seinen Holzstab, legte ihn quer über die Luftröhre des Grimmschädels und drückte in der festen Absicht zu, seinen Feind zu erwürgen. Der Jubel der Menge drang an seine Ohren. Offenbar begriffen sie seine Absicht nicht. Plötzlich packte eine gerüstete Hand Ragnars Nacken und hob ihn von Strybjörn herunter. Ragnar schlug mit dem Holzstab zu, traf aber lediglich den harten Panzer von Hakons Rüstung. Der Sergeant sah ihn an. »Einige ungewöhnliche Messer-Techniken, das muss ich euch beiden zugestehen. Immerhin habt ihr so gekämpft, als meintet ihr es ernst.« Er setzte Ragnar auf dem Boden ab und warf einen Blick auf Strybjörn. Der Grimmschädel hustete, keuchte und funkelte Ragnar hasserfüllt an. »Ich habe gewonnen«, japste er. »Nein, hast du nicht«, sagte Hakon. »Dein letzter Hieb hätte Ragnar den Bauch aufgeschlitzt, sicher, aber hätte er ein richtiges Messer gehabt, hätte sein letzter Stich dein Auge durchbohrt und wäre in dein Gehirn gedrungen.« Ragnar gestattete sich ein triumphierendes Grinsen, Die klare Bergluft schmeckte süß vorn Sieg. Es gelang ihm sogar, den Schmerz in seinen Rippen zu ignorieren »Ich hätte ihn trotzdem mit meiner Erwiderung getötet«, sagte Strybjörn mürrisch. »Vielleicht hättest du das tatsächlich«, sagte Hakor »Wild genug dazu bist du.« Er wandte sich der Menge zu und zeigte auf Kjel und einen Neuling, den Ragnar nicht kannte. »Ihr zwei! Vorwärts! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Ragnar funkelte Strybjörn noch einmal in dem Wissen an,
den Grimmschädel mit Sicherheit getötet zu haben, wenn Hakon sich nicht eingemischt hätte. *** Ragnar hörte seinen keuchenden Atem. Die Bergluft schien plötzlich zu dünn zum Atmen zu sein. Die frühmorgendliche Kühle zwickte ihn. Sein Herzschlag dröhnte laut in seinen Ohren. Schweiß lief ihm über die Stirn und stach in den Augen. Die langen schwarzen Haare klebten an seiner Stirn. Seine Beine fühlten sich wie Gelee an. Die Steigung vor ihm schien kein Ende zu nehmen. »Vorwärts!«, brüllte Sergeant Hakon. »Das könnt ihr viel besser. Das ist doch nur ein kleiner Hügel.« Kjel schloss zu Ragnar auf und rang sich ein mattes Grinsen ab. »Der hat leicht reden. Wir sind schließlich nicht halb Ziege und halb Wolf«, japste er. »Spar dir den Atem fürs Laufen«, keuchte Ragnar. »Vergiss nicht, wer zuletzt oben ist, muss alles noch mal machen.« »Dann lasse ich dich wohl besser hinter mir.« Kjel überholte ihn und eilte mit langen Schritten über das zerklüftete Gelände. Ragnar mobilisierte seine letzten Kraftreserven und stürmte mit dem Gedanken weiter, dass Kjel Recht hatte. Beim Sergeant hatte alles ganz leicht ausgesehen. Er war später als sie losgelaufen, hatte die leicht bekleideten Anwärter aber trotz seiner massiven Rüstung rasch überholt. Er hatte die Hügelkuppe erreicht, während sie noch auf halbem Weg waren, und jetzt stand er gelassen dort oben und bellte sie an. Was war sein Geheimnis?, fragte sich Ragnar. »Vorwärts! Lauft!«, schrie Hakon. Ragnar riskierte einen Blick zurück. Tief unter ihnen im Tal konnte er' Russvik sehen. Aus dieser Höhe sah es winzig aus. Bisher hatten sie eine gewaltige Entfernung zurückgelegt. Als er die winzigen Gestalten seiner Kameraden
wie an der Schnur aufgereiht hinter sich sah, erkannte er voller Dankbarkeit, dass er wenigstens nicht Letzter war. Und er sorgte besser dafür, dass es auch dabei blieb. Auf wackligen Beinen stolperte er müde der Hügelkuppe entgegen. *** »Wer von euch kann jagen?«, fragte Sergeant Hakon. Etwa ein halbes Dutzend müde Stimmen bejahten. Sie waren alle erschöpft. In der vergangenen Woche hatten sie hart trainiert. Sie waren so oft den Hügel emporgestürmt, in dessen Schatten das Lager errichtet war, dass Ragnar das Gefühl hatte, es im Schlaf zu können. Sie hatten Holz gehackt. Sie waren den Hügel mit Holzscheiten auf den Schultern emporgestürmt. Jene, die nach Hakons Geschmack nicht schnell genug gewesen waren, hatten die Übung eins ums andere Mal wiederholen müssen, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrachen. Sie hatten endlose Übungen hinter sich, die ihre Körper an die Grenzen ihrer physischen Leistungsfähigkeit getrieben hatten, bis sie sich nach Luft schnappend auf den kalten Boden geworfen hatten, während ihre Muskeln zuckten und brannten. Sie hatten mit Speer und Dolch geübt. Man hatte ihnen gezeigt, wie man mit der Äxten kämpfte, mit denen sie Holz hackten. Sie hatten mit dem Speer auf Strohpuppen geworfen. Die Gelegenheiten, bei denen sie Übungskämpfe aus getragen hatten, waren beinahe vergnüglich gewesen fand Ragnar, und er hatte sich dabei hervorgetan. Er war in seiner Fünfergruppe immer als Bester auserkoren worden, um gegen die Besten der anderen Klauen anzutreten. Das schien Strybjörn und Sven zu verdrießen, aber sie konnten nichts dagegen tun. Er hatte sie bei den Übungskämpfen beständig
besiegt. Mit Waffen war er besser als sie beide. Beim Ringkampf zahlten sie ihm die blauen Flecken heim, die er ihnen mit den stumpfen Waffen beibrachte. Beide waren stark, schnell und grausam. Ragnar hoffte, dass sie bald anfangen würden, mit echten Waffen zu üben. Dann würde es einen Unfall geben, und Strybjörn Grimmschädel würde sich in dem Wissen zu seinen Vorfahren gesellen, dass Ragnar ihn dorthin geschickt hatte. »Es müssen doch mehr von euch wissen, wie man jagt«, sagte Hakon mit spöttischem Unterton. Die Anwärter sahen einander wachsam an. Sie hatten gelernt, dem Sergeant gegenüber nicht zu großspurig aufzutreten. Das endete gewöhnlich mit Strafübungen oder einer ordentlichen Tracht Prügel, wenn ihre Fähigkeiten nicht Hakons Erwartungen entsprachen. »Nun, wenn keiner von euch weiß, wie man jagt, werden wir es euch wohl beibringen müssen. Nur so werdet ihr je wieder Fleisch zu sehen bekommen.« *** Die kleine Gruppe der Jäger folgte in einer Reihe dem langen felsigen Pfad. Ragnar drehte sich um und warf einen Blick zurück. Der kühle Wind peitschte ihm die langen schwarzen Haare ins Gesicht. Die über den Himmel jagenden Wolken schienen irgendwie näher denn je zu sein. Aber wenigstens waren sie weiß und vereinzelt, nicht dunkel und schwer und ein Versprechen von Regen. Es roch nach Pinienduft. Am seltsamsten war für ihn die Abwesenheit des salzigen Meergeruchs, den er sein Leben lang tagtäglich wahrgenommen hatte. Weit unter ihnen war Russvik als winzige Ansammlung von Hütten zu sehen, die von einer Palisade und einem Graben
umgeben waren. Überall ringsumher reckten sich gewaltige Berggipfel himmelwärts. Er atmete schwer. Das taten sie alle. Von der beständigen Anstrengung, den steilen Anstieg zu erklimmen, fühlten sich seine Oberschenkel wie Gelee an. Seine Knie waren wacklig. Sein Gesicht war gerötet. Es war eine Erleichterung zu sehen, dass keiner von den anderen besser aussah. Das ständige Bergsteigen der letzten Zeit ergab jetzt langsam einen Sinn. Ragnar bezweifelte, dass es auch nur einer von ihnen ohne Rast in diese Höhe geschafft hätte, wären sie nicht durch die Übungen darauf vorbereitet worden. Es war ein erhebendes Gefühl. Am vergangenen Tag waren sie weiter gekommen, als man auf Ragnars Heimatinsel marschieren konnte, ohne das Meer zu erreichen, und dabei hatten sie erst einen Bruchteil dieses unglaublich weiten Landes gesehen. Es schien sich in die Unendlichkeit zu erstrecken. Die Gipfel der Berge schienen das Himmelsgewölbe zu stützen das unendlich weit über ihnen lag. Die Wolken waren grauweiß und rochen nach Schnee. Seltsame Bäume bedeckten die Hügel. Statt Blättern hatten sie Nadeln, und unter ihnen lagen Holzzapfen auf dem Boden. Man hatte sie gelehrt, dass es höchstwahrscheinlich regnen würde, wenn diese Zapfen geöffnet waren. Wenn sie geschlossen waren, blieb das Wetter gut. Auch das gehört zu den seltsamen Dingen, die man ihnen in Russvik beibrachte. Große Vögel nisteten in diesen Bäumen. Sven hatte bereits vorgeschlagen, in den Nestern Eier zu suchen, aber die anderen hatten weitermarschieren wollen, um einen Hirsch oder eine wilde Ziege zu erlegen um damit vor den anderen Klauen zu prahlen. Dies war das erste Mal, dass Ragnars Klaue zur Jagd abkommandiert worden war. Es wurde als Ehre betrachtet, dass ihnen zugetraut wurde, sich ganz allein in die Berge zu begeben, was an und für sich ein Ärgernis war, eine schmerzliche Beleidigung des Stolzes der grimmigen jungen
Krieger. Niemand hatte gewagt, sich bei Sergeant Hakon darüber zu beschweren, dass man sie wie Kinder behandelte. Jetzt waren sie selbstbewusst wegen ihrer neuen Fähigkeiten. Sie hatten viele Tage mit dem Erlernen grundlegender Überlebenstechniken zugebracht. Wie man in den heulenden Schneestürmen Asaheims überlebte. Wie man sich nur mit Hilfe der Sterne orientierte. Das hatte Ragnar als ziemlich leicht empfunden, da er Seereisen gewöhnt war. Zugegeben, hier in Asaheim waren die Sterne ein wenig anders, aber die Konstellationen waren dieselben. Sie hatten gelernt, wie man schnell ein Feuer anzündete. Wie man aus Zweigen und Ästen einen Unterschlupf errichtete, um wenigstens etwas Schutz vor den rauhen Elementen zu finden. Man hatte ihnen die Grundlagen des Jagens in der Wildnis beigebracht. Sie waren nicht so schwierig zu meistern. Sie wussten jetzt, dass sie nach Wasserstellen Ausschau halten und die Augen nach Fährten offen halten mussten. Sie wussten, wie man Fallen für Kaninchen und Hasen baute. Jenen, die es nie gelernt hatten, wurde beigebracht, wie man ein Tier ausnahm, indem man ihm das Fell abzog, ihm den Bauch aufschlitzte und die Gedärme herausgleiten ließ. Auch das hatte Ragnar, der sein ganzes Leben lang Fische ausgenommen hatte, leicht gefunden. Und jetzt hatte man sie mit Speer, Schild und Dolch bewaffnet in die Wildnis geschickt. So einfach war das. Sie sollten erst zurückkehren, wenn sie Frischfleisch erlegt oder bei dem Versuch einen Krieger verloren hatten. Allem Anschein nach bestand die Ausbildung, ein Wolf zu werden, daraus, ins Wasser geworfen zu werden und dann um sich zu schlagen, bis man zu schwimmen gelernt hatte. Ragnar kam es so vor, als gingen Hakon und alle anderen in Russvik davon aus, dass es dort, wo sie herkamen, noch reichlich Anwärter gab. Es war Ragnars Pflicht, sich zu beweisen, denn niemand anders würde mehr auf ihn Acht geben. Tatsächlich war Ragnar in mancherlei Hinsicht froh darüber,
dem wachsamen Auge Sergeant Hakons entronnen zu sein. Er war glücklich darüber, dass die Klaue allein ausgesandt worden war. Er wusste, dass jede Möglichkeit bestand, dass Strybjörn vor dem Ende dieses Ausflugs einen tödlichen Unfall erleiden würde Er würde sogar mit Sicherheit einen erleiden, wenn Ragnar es einrichten konnte. Er drehte sich um und war einen Blick auf den Grimmschädel. Ohne große Überraschung nahm er zur Kenntnis, dass Strybjörn ihn ansah Ragnar schauderte ein wenig, als er dem brennender Blick seines Feindes begegnete. Es war nur allzu wahrscheinlich, dass der Grimmschädel über Ragnar in den selben Bahnen dachte. Mit einem leisen Grunzen er kannte Ragnar, dass er hier draußen in der Wildnis vorsichtig sein musste. Auch er konnte derjenige sein, der von einem Saumpfad stürzte oder von einer Steinlawine oder einem Erdrutsch überrascht wurde, wenn er nicht aufpasste. Aber im Augenblick hatte er das Kommando. Sergeant Hakon hatte verfügt, dass Ragnar am besten geeignet war, der Klaue Befehle zu erteilen. Kjel und Henk folgten willig seinen Anweisungen. Nur Sven und Strybjörn hatten gemurrt. Ragnar hielt kurz inne und schaute zum Himmel. Die rote Sonne versank langsam im Westen. Der Himmel am fernen Horizont hatte die Farbe von Blut, und rötliches Licht fiel durch die Wolkendecke und verlieh den Bergen ein finsteres Aussehen. Ragnar kam es nur allzu wahrscheinlich vor, dass diese Gegend von Trollen oder sogar noch grässlicheren Bestien heimgesucht wurde. Geschichten über ein Wesen, das Wolfen genannt wurde, hatten in den vergangenen Tagen im Lager die Runde gemacht. Niemand wusste genau, wer damit angefangen hatte, aber wenn auch nur ein Körnchen Wahrheit in den Geschichten über Entleibungen und grässliche Tode steckte, war der Wolfen in der Tat eine Bestie, die man fürchten musste. Ragnar vermutete, dass Hakon hinter diesen Schauergeschichten steckte.
Diese furchtbare Kreatur war angeblich ein Ungeheuer, teils Mensch, teils Wolf und von normalen Waffen praktisch nicht zu verwunden, hieß es. Die Geschichten kündeten von einem Wolfen-Dämon, der sich nach Russvik schlich und Anwärter fortschleppte. Niemand war sicher, ob das stimmte oder nicht, obwohl alle wussten, dass vor ein paar Tagen ein Anwärter namens Loka einfach verschwunden war, während er Wache gestanden hatte. Niemand wusste genau, ob er einfach nur desertiert war. Es war möglich, dass er sich von Trollen oder bösen Zauberern in die Flucht hatte schlagen lassen. Dennoch hatten die Geschichten über den Wolfen die Runde gemacht. Hakon und die anderen Anführer hatten sich bewaffnet und aufgemacht, wobei sie einer Spur folgten, die anscheinend nur mit ihren verschärften Sinnen zu erkennen war. Falls sie etwas entdeckt hatten, ließen sie nichts dergleichen verlauten. Ihren grimmigen Gesichtern hatte Ragnar bei ihrer Rückkehr entnommen, dass sie nichts gefunden hatten. Ihre Jagd war vergeblich gewesen. Als sich in der hereinbrechenden Dunkelheit diese Geschichten in seinen ermüdeten Geist schlichen, versuchte Ragnar nicht daran zu denken, welche Ungeheuer wohl in diesem gewaltigen Gebirge auf der Lauer liegen mochten. Ein paar Meilen zurück hatten sie eine Höhle passiert. Sie hätte ihnen als Unterschlupf für die Nacht dienen können, aber in stillschweigender Übereinstimmung war die ganze Klaue daran vorbeimarschiert, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Niemand von ihnen wollte begegnen, was sich in dieser Höhle eingenistet hatte. Möglicherweise war sie leer, aber wer konnte das wissen? Sie konnte auch einen Troll, einen Zauberer, einen Bären oder einen Wolfen beherbergen. Nicht einmal Sven oder Strybjörn schienen geneigt zu sein, es herauszufinden. Ragnar war froh, dass sie schon Feuerholz gesammelt hatten. Als die Dunkelheit weit fortgeschritten war, wählte er einen geeigneten Platz aus, um das Lager aufzuschlagen. Nicht weit
entfernt plätscherte ein Bach der Berg hinunter, der zum felsigen Kiesufer eines kleinen Sees am anderen Ende der Lichtung führte. Das ruhig schwarze Wasser sah so tief aus wie das Meer, und Ragnar fragte sich, ob wohl Fische darin schwammen Heute Abend würden sie sich jedoch mit ihrem Proviant begnügen, da jetzt rasch die Nacht hereinbrach. Ragnar befahl Kjel und Henk, für das Feuer zu sorgen, während Strybjörn und Sven Zweige und Äste sammelten, um einen Unterstand für die Nacht zu errichten, wie man es ihnen in Russvik beigebracht hatte. Er selbst wanderte zum Bach und holte Wasser. Er wollte die Gelegenheit nutzen, um eine kleine Weile für sich allein zu sein und um ihre Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen. Trotz der zunehmenden Dämmerung war Ragnar sicher, als er den Blick über die wilden Hügel, felsigen Schluchten und ausgedehnten Wälder schweifen ließ, die sich unzählige Meilen weit in alle Richtungen erstreckten, dass ein Mensch hier hätte glücklich werden können, wären nicht die Bestien und Ungeheuer gewesen, die dieses wilde Land heimsuchten. Er nickte in stummer Bejahung seiner Gedanken. Hier in den Bergen war Platz genug für eigene Anwesen, es gab Wasser und Holz. Nach allem, was die anderen gesagt hatten, wären die Hügel ein guter Weidegrund für Schafe oder Ziegen. Hier konnte ein Mann eine Familie gründen und in Frieden leben, vielleicht sogar einen Grad von Zufriedenheit finden, eine Zuflucht vor allem Hass und Hader. Ragnars Gedanken kehrten zu Ana zurück, und er spürte die mittlerweile vertraute Traurigkeit seine Seele erfüllen. Ein Blick zurück zu Strybjörn verwandelte Kummer in bitteren Hass. Ragnar würde den Grimmschädel büßen lassen. Das war jetzt in seinem Leben die einzige Gewissheit. Mit einem ärgerlichen Knurren tauchte Ragnar seinen Wasserschlauch in den Bach, als sei er der Kopf des Grimmschädels, den er unter Wasser hielt, bis die Kette silbriger Blasen ein für alle Mal abriss. Während er den
Wasserschlauch in das eisige Wasser hielt, keuchte Ragnar ob seiner schneidenden Kälte. Das Wasser war so eisig, dass es ihn bis auf die Knochen zu verbrennen schien. Binnen Sekunden waren seine Hände taub. Ragnar zwang sich, den Schmerz zu ertragen, dann zog er den tropfenden Schlauch aus dem Wasser und warf einen grimmigen Blick auf die entfernten Berggipfel. Dies war Schmelzwasser, ging Ragnar auf, geschmolzener Schnee aus den Bergen. Es war bei weitem kälter als das Wasser, das man auf den Inseln aus den tiefsten Brunnen schöpfte. Diese Gedanken erinnerten ihn abrupt daran, wie weit er von seinem Zuhause entfernt war. Nicht, dass er noch ein Zuhause gehabt hätte, wohin er hätte zurückkehren können. Ragnars rauhes Gelächter hallte durch die dunkler werdenden Schatten. Das Feuer brannte. Die Schatten sammelten sich um den Unterstand. Strybjörn und Sven hatten aus den immergrünen Zweigen, die sie von den hohen Bäumen rings um die Lichtung gerissen hatten, einen durchaus brauchbaren Schutz zusammengefügt. Der Kochtopf war mit blubbernder Hafergrütze gefüllt, der einzigen Nahrung, die sie bei sich hatten. Jeder trug einen Sack davon und etwas Salz bei sich. Die Grütze schmeckte nicht besonders, aber sie würde sie sättigen, sobald sie in die Holzschalen gefüllt war, die sie alle in ihrem Rucksack hatten. Ragnar ließ den Blick um das Feuer kreisen und sah, dass die Gesichter seiner Kameraden vom flackernden. Feuerschein seltsam verfremdet wurden. Er änderte die Konturen ihrer Gesichter, sodass sie auf subtile Weise anders aussahen. Dasselbe galt für die Umgebung. In den wenigen Tagen in Russvik hatte Ragnar sich an das Lager gewöhnt. Trotz der Entbehrungen und Härten war es zu dem Ort geworden, wo er und seine Kameraden eine neue Heimat gefunden hatten. Jetzt waren sie an einem ebenso absonderlichen und doch ganz anderen Ort, und in gewisser
Weise wurden sie dadurch in seiner Vorstellung auch zu anderen Menschen. Zu Fremden. Der Vollmond war hell und freundlich aufgegange n Das Wolfsgesicht war auf seiner Oberfläche zu sehen ein großer Schatten ungefähr von der Form eines knurrenden Wolfskopfs. Es hieß, dass Russ persönlich seine Wolf Graumähne dorthin beordert hatte, um bis zu seiner Rückkehr über die Welt zu wachen. Wie zur Antwort auf diesen Anblick ertönte irgendwo in der Ferne ein beängstigendes Heulen, ein Laut, der von unvergleichlicher Einsamkeit und Hunger kündete. Die Mitglieder der Klaue sahen einander an. »Es ist nur ein Wolf«, sagte Kjel mit einem aufmunternden Grinsen. Es wäre weitaus überzeugender gewesen, hätte das Gesicht des Jugendlichen im Mondlicht nicht so blass ausgesehen. »Russ weiß, dass ich genug Wölfe habe heulen hören. Sie haben unseren Schafen in den Tälern schwer zugesetzt.« »Ich wette, sie waren nicht die Einzigen, die euren verfluchten Schafen schwer zugesetzt haben«, sagte Sven mit einem verächtlichen Unterton. »Wie meinst du das?« Bevor Sven antworten konnte, wurde das Heulen des Wolfs von der anderen Seite des Tals beantwortet. Der langgezogene Laut hallte durch die Weite und verjagte alle anderen Gedanken aus Ragnars Bewusstsein. Es schien das Signal für einen ganzen Chor zu sein. Auf jedem Gipfel, so schien es, heulten riesige Wölfe den Mond an. »Ein Rudel auf der Jagd«, sagte Kjel. »Was du nicht sagst«, bemerkte Strybjörn. »Da wäre ich, verflucht noch mal, nie darauf gekommen«, fügte Sven hinzu. »Das reicht«, sagte Ragnar gereizt.
»Keine Sorge«, sagte Kjel. »Wölfe greifen nur selten Menschen an. Gewöhnlich trauen sie sich nicht einmal in die Nähe eines Feuers. Es sei denn, sie sind am Verhungern oder verzweifelt.« »Wie es um sie steht, weiß ich nicht«, sagte Sven, »aber bei der gesegneten rechten Arschbacke Eisbars, ich bin ganz sicher verflucht noch mal am Verhungern. Wenn sie mir zu nahe kommen, ziehe ich ihnen das Fell ab und esse sie!« »Und was gibt es sonst Neues?«, fragte Ragnar. Nichtsdestoweniger musste er Sven beipflichten. »Henk, verteil die Grütze.« »Sicher«, pflichtete der junge Anwärter bei, beugte sich vor und begann damit, die Hafergrütze auf die Teller zu löffeln, die sie ihm hinhielten. »In Russ' Namen, was würde ich für ein schönes Stück Fisch geben«, sagte Sven. »Oder Huhn«, bemerkte Strybjörn. »Oder Hammel«, sagte Kjel. Das Geheul wurde lauter. »Die Wölfe scheinen ganz eurer Meinung zu sein«, sagte Ragnar. Niemand lachte. *** Es war spät. Das Geheul der Wölfe war in der Ferne verklungen. Vielleicht hatten sie eine andere Beute gefunden, dachte Ragnar. Oder vielleicht näherten sie sich auch nur lautlos und verstohlen. Aus dem Unterstand auf der anderen Seite des Feuers ertönte vernehmliches Schnarchen. Es war laut und pfeifend, eine Mischung aus Blasebalg und Sägen. Es reichte beinahe aus, um Ragnar alle Gedanken an Schlaf aus dem Kopf zu schlagen. Er schaute weg vom Feuer, wie Hakon
es sie gelehrt hatte. Es hatte keinen Sinn, sich die Nachtsicht zu verderben, wenn man Wache hielt. Er nahm den Speer fest in die Hände und fragte sich, was er wohl tun würde, wenn die Wölfe oder ein Ungeheuer der Finsternis angriffen. Diese Nacht in den Bergen hatte etwas seltsam Unheimliches an sich, wie er es von zu Hause nicht kannte. Vielleicht war es auch das Gefühl der Weite und Einsamkeit der Berge, was irgendwie vermuten ließ, dass es hier draußen für alles einen Platz zum Verstecken gab, wie unmenschlich oder böse es auch sein mochte. Auf der Insel hatte Ragnar das Gefühl gehabt, nahezu alles über das felsige Land zu wissen, auf dem sein Stamm gelebt hatte und gestorben war. Wenn sie als Jungen außerhalb des Dorfs lagerten, waren sie nie weit von den anderen entfernt gewesen und hatten sich unvermeidlich auf einem Gebiet befunden, auf dem sie schon hundert Mal gespielt hatten. Hier in den Bergen hatte Ragnar das Gefühl, dass ein Mensch hundert Leben lang umherwandern konnte und immer noch nicht alles gesehen hatte. Es war ein beängstigender und zugleich anregender Gedanke. Ragnar staunte jedoch, wie schnell er sich angepasst hatte. Trotz der Absonderlichkeit des Ortes sah er doch, dass er sich rasch an das Leben in Russvik, an seine neuen Kameraden, an die ständigen Übungen und an die harte Disziplin gewöhnt hatte. Es gab jetzt Zeiten, in denen ihm sein Leben auf den Inseln bereits wie ein Traum vorkam und alle Leute, die er früher gekannt hatte, kaum mehr als Schatten zu sein schienen. War er wirklich bei Sturm über das Deck der Speer von Russ geschritten? Hatte er Netze voller Meeresfische eingeholt? Hatte er zugesehen, wie Orcas harpuniert und Meerdrachen abgeschlachtet wurden? Verstandesmäßig wusste er, dass es so war. Aber in seinem Herzen war es manchmal schwierig, es noch als wirklich zu empfinden. Warum saß er hier auf einem Berghang im Dunkeln und starrte in die Finsternis? Er hatte keine genaue
Vorstellung. Er hatte im Grunde auch keine Ahnung, warum er auserwählt worden war. Er hatte ganz einfach überlebt, während andere gestorben oder in die Knechtschaft verschleppt worden waren. Dieser Gedanke weckte wiederum schmerzliche Gefühle. Er erinnerte sich unvermittelt an die Toten und Sterbenden und daran, wie ein Mädchen von der Flotte der Grimmschädel verschleppt worden war. Das Wissen, dass einer der Angreifer keine zwanzig Schritt entfernt lag und schnarchte, weckte in ihm den Wunsch, vor Wut laut zu schreien, seinen Speer zu nehmen und ihn Strybjörn in den Bauch zu bohren. Er konnte sich fast vorstellen, wie er es tat, beinah den warmen Schein der Zufriedenheit spüren, der sich in ihm ausbreiten würde, wenn er sich mit seinem ganzen Gewicht auf den abgenutzten Schaft lehnte und die funkelnde Spitze aus gehärtetem Stahl in nachgiebiges Fleisch bohrte. Ragnars Lippen verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln, und er war versucht, aufzustehen und es auf der Stelle zu tun - als er leise Schritte hörte, die sich ihm näherten. Instinktiv hob er den Speer, aber ein Blick verriet ihm, dass es sich bei dem herannahenden Schatten nur um Kjel handelte. Kjel hockte sich neben ihn. »Ich kann ebenso gut gleich deine Wache übernehmen«, sagte er. »Jetzt, da die beiden so laut schnarchen wie Donnergrollen, kann ich sowieso nicht schlafen.« »Bist du sicher?«, fragte Ragnar. »Du bist nicht zu müde?« »Wenn ich müde genug werde, kann ich vielleicht später schlafen.« Ragnar nickte, rührte sich aber nicht vom Fleck. Er war nicht müde, und ihm war nach Reden. Er war sicher, dass sie die Schlafenden nur wecken würden, wenn sie laut schrien. »Das ist eine sonderbare Gegend«, sagte er schließlich. »Meinst du das Tal oder diese Berge?«
»Das ganze Land. Ich habe noch nie auch nur etwas Ähnliches gesehen. Jeder Einzelne dieser Berge scheint größer zu sein als die Insel, auf der ich aufgewachsen bin.« »Das sind sie wohl auch in gewisser Weise. Oder wenigstens könnten sie sehr wohl genauso groß sein.« »Wie meinst du das?« »Mir ist zu Ohren gekommen, dass die Inseln früher einmal Berge waren, die vom Meer verschlungen wurden, so dass jetzt nur noch die Spitzen aus dem Wasser ragen.« »Das ist eine seltsame Geschichte.« »Sie ist Teil einer alten Legende. Darin heißt es, in den Tagen vor Russ' Ankunft hätte es viel mehr Länder gegeben, die alle so groß wie Asaheim waren, aber dann wäre die große Flut gekommen, es hätte hundert Jahre geregnet, und alles Land außer Asaheim wären untergegangen. Es heißt auch, dass die Meerdämonen in den Ruinen der versunkenen Städte hausen, die alle so groß wie eine Insel sind.« »Glaubst du das, Kjel?« »Warum nicht? Es könnte stimmen. Oder auch nicht. Meine Leute sind keine großen Seefahrer. Sie leben in den Tälern unter den großen Gletschern und verbringen die Zeit mit Krieg und Jagd.« »Ich habe gehört, die Leute vom Gletscher segeln mit einem Schiff nur dann außer Sichtweite ihres Landes, wenn sie die Insel der Eisenmeister besuchen.« »Das stimmt mehr oder weniger. Warum würde jemand auch so weit aufs Meer segeln wollen, dass er kein Land mehr sieht? Sicher würden ihn die Meerdämonen holen.« »Ich habe auch gehört, die Leute vom Gletscher wären ... na ja, Menschenfresser.« Kjel lachte. »Ehrlich? Ich habe immer gehört, dass es die Inselbewohner wären, die einander verspeisen, weil es auf den
kleinen Inseln nicht genug zu essen gäbe.« »Es gibt immer Fisch und Orca-Fleisch«, platzte es aus Ragnar heraus. Er war wütend, des Kannibalismus beschuldigt worden zu sein. Andererseits hatte er zuvor Kjel mehr oder weniger desselben Vergehens bezichtigt, welches Recht hatte er also, sich beleidigt zu fühlen? In der Dunkelheit musste er über die Ironie ihrer Legenden und die sich in ihnen widerspiegelnde Ignoranz grinsen. »Aber du hast Recht mit diesem Tal«, sagte Kjel. »Es weckt schlimme Gefühle.« »Wie meinst du das?« »Das weiß ich selbst nicht. Etwas daran bewirkt, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Es ist so, als wäre etwas da draußen und beobachtete uns.« »Wölfe?« »Mag sein. Vielleicht auch Trolle oder Nachtgänger.« Ragnar schauderte. »Hast du je einen Nachtgänger gesehen?« »Nein, aber ich kannte mal einen Mann, der welche gesehen hat. Es waren entstellte, böse Biester mit leuchtender Haut. Sie hausen in alten Orten unter der Erde und kommen heraus, um sich an Menschenfleisch zu laben. Außerdem heißt es, dass sie die Finsteren Mächte des Chaos anbeten.« »Ich habe noch nie von solchen Dingen gehört. Wir sollten nicht darüber reden.« Ragnar beschrieb eine schützende Geste zur Abwehr alles Bösen. »Du hast auf den Inseln gelebt. Das Meer ist frei von solchem Unrat.« Ragnar nickte. Trotz des Angstschauders, den Kjels Worte verursacht hatten, reckte er sich und gähnte. Er war plötzlich sehr müde.
*** Er legte sich ans Feuer und fiel in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von vielen absonderlichen und schrecklichen Dingen. Er träumte von den blinden Würmern auf dem Grund des Ozeans, die an den Wurzeln seiner Insel nagten. Er träumte von entstellten Nachtgängern und monströsen Wölfen. Er träumte von einer gewaltigen Bestie in der Gestalt eines Menschen, aber mit einem Wolfskopf. Der bloße Anblick in seinem Traum ließ ihn ruckartig aus dem Schlaf schrecken, und er richtete sich jäh auf und sah sich mit gehetztem Blick und wild pochendem Herzen um. Plötzlich regte sich eisige Furcht in seinen Eingeweiden, denn es kam ihm so vor, als stehe außerhalb des Feuerscheins die Kreatur, von der er gerade geträumt hatte. Er schüttelte den Kopf, um einen klareren Blick zu bekommen, da er hoffte, dass es sich nur um ein Nachbild aus seinem Traum handelte, aber das war es nicht. Es stand immer noch dort draußen im Dunkeln, und es war so wirklich wie Ragnar selbst. Ragnar erstarrte für einen Augenblick und musterte es. Nein. Es war nicht wie das Wesen in seinem Traum. Es hatte keinen Wolfskopf. Vielmehr konnte er erkennen, dass der Körper monströs und verunstaltet war. Große Hörner ragten aus der Haut und verliehen seiner Silhouette etwas Gezacktes. Der Kopf war gewaltig, der Kiefer breit und die Ohren waren riesig und abstehend wie bei Fledermäusen. Die Augen leuchteten in einem unheimlichen grünen Licht. Langsam dämmerte es Ragnar, dass er einen Troll anstarrte. Eine Kreatur, über die schlimmste Geschichten kursierten. Und wahrscheinlich einen hungrigen Troll, denn er näherte sich jetzt langsam dem Feuer. Wo war Kjel, fragte sich Ragnar, oder wer in Russ' Namen gerade Wache hatte? Nicht, dass es eine große Rolle gespielt
hätte. Er würde selbst etwas unternehmen müssen. Verstohlen griff er nach Speer und Schild und betete dabei leise zu Russ, der Troll möge seine Bewegungen nicht bemerken. Er stieß einen langgezogenen Seufzer der Erleichterung aus, als er die Waffen in den Händen hielt, und erhob sich leise in eine geduckte Kampfhaltung. Im Feuerschein konnte er erkennen, dass die anderen noch schliefen. Strybjörn und Sven schnarchten laut. Kjel lag am Feuer. Henk saß mit dem Gesicht der Dunkelheit zugewandt, aber die Art, wie sein Kopf auf der Brust lag, verriet Ragnar, dass der Junge schlief. Ihm ging auf, dass es an ihm liegen würde, den Troll abzulenken, während sich seine Kameraden kampfbereit machten. Und ihm ging auf, dass er es bald tun musste. Aber warte noch eine Minute, flüsterte eine innere Stimme, vielleicht suchte sich die Kreatur Strybjörn aus und nahm ihm seine Rache ab. Ragnars Lippen verzerrten sich zu einem kranken Grinsen. Das war ein guter Gedanke, flüsterte ihm die innere Stimme zu. Nein, sagte er sich. Das war nicht die richtige Art, dies zu regeln. Er wollte seinen Feind mit eigenen Händen töten, nicht durch einen Akt des Verrats. Und es gab auch keine Gewähr, dass der Troll sich Strybjörn aussuchen würde. Vielleicht nahm er sich einen der anderen vor, und er musste zugeben, dass sie auf dem besten Weg waren, seine Freunde zu werden. Das Ungeheuer hatte das Feuer beinahe erreicht, und Ragnar wusste, dass die Zeit gekommen war zu handeln. »Aufwachen!«, schrie er. »Aufwachen! Ein Troll greift uns an!« Bei diesen Worten sprang er auf und lief dem Troll entgegen. Aus der Nähe konnte er die schuppige, ledrige Echsenhaut erkennen. Der Schleim, den sie absonderte, glänzte im Mondlicht. Das Wesen vermittelte den Eindruck, gerade noch nass gewesen zu sein, als sei es aus dem nahen See
gestiegen. Ragnar näherte sich ihm rasch. Aus der Nähe wirkte das Ungeheuer noch größer und beängstigender. Es war fast doppelt so groß wie Ragnar und viel, viel schwerer. Die Brust war so muskulös wie die der größten Bären und die Hände mit den Schwimmhäuten zwischen den Fingern waren fast so groß wie sein Schild. Jeder Finger endete in einer dolchgroßen Kralle. Das Ding riss das Maul auf und stieß ein ohrenbetäubendes Bellen aus. Ragnar konnte erkennen, dass dieses Maul von mehreren Reihen großer spitzer Zähne gesäumt wurde. Er stieß mit seinem Speer in der Hoffnung zu, eines der großen Telleraugen zu durchbohren, aber das Wesen drehte seinen Kopf, und Ragnars Klinge ritzte nur du Wange an. Zu seinem Entsetzen schloss sich die ledrige Haut vor seinen Augen mit einem widerlichen Sauggeräusch. Das sieht nicht gut aus, dachte er. Der Troll schlug nach ihm. Ragnar duckte sich unter einem Hieb hinweg, der ihm bei einem Treffer den Kopf abgerissen hätte, und stach nach dem Unterleib der Bestie. Er wurde mit einem unheimlichen schrillen Kreischen belohnt, das ihn beinah taub machte. Das Ding antwortete mit einem weiteren mächtigen Hieb. Ragnar hob seinen Schild und neigte ihn in dem Bemühen, wenigstens einen Teil der Wucht abzulenken. Seinem Bemühen war wohl Erfolg beschieden, aber die Wucht des Hiebs ließ ihn dennoch rückwärts taumeln. Er landete neben dem Feuer und roch den Gestank versengter Haare, als seine schwarze Mähne Feuer fing. Er fühlte sich benommen und schwach, aber er rappelte sich wieder auf und sah sich nach den anderen um. Mittlerweile waren sie alle wach und hatten Waffen und Schild ergriffen. Kjel holte gerade mit seinem Speer aus und warf ihn. Er flog in gerader Linie und traf zielsicher eines der riesigen Augen des Trolls. Ragnars Herz tat einen Sprung. Wenn er je einen tödlichen Wurf gesehen hatte, dann diesen. Er
wartete darauf, dass der Troll umfiel und starb, aber das tat er nicht. Vielmehr griff er nach dem Speer und packte ihn. Bei dem unbeholfenen Versuch, die Waffe herauszuziehen, brach er lediglich den Schaft ab und ließ die Spitze im Auge stecken. Jetzt zischte der Troll vor Wut wie eine Riesenschlange. Der Laut drang Ragnar durch Mark und Bein. Strybjörn und Sven sprangen vor und stachen mit dem Speer zu. Die scharfen Eisenblätter durchtrennten die ledrige Haut des Trolls. Grünliches Blut floss für einen Augenblick, doch auch diese Wunden begannen unnatürlich schnell zu verheilen. Der Troll streckte einen Arm aus und packte Sven mit seiner gewaltigen Hand. Ragnar sah Blut fließen, wo die Krallen sich in Svens Haut bohrten, aber wenn er Schmerzen hatte, ließ er es sich nicht anmerken. »Nimm das, du höllengeborener Hund von einem Troll!«, schrie Sven, während er den Speer umdrehte und ihn tief in die sehnige Hand des Trolls bohrte. Der brüllte vor Schmerzen und ließ ihn fallen. Einen kurzen, schrecklichen Moment befürchtete Ragnar, Sven werde unter den gewaltigen Füßen des Ungeheuers zertrampelt, aber es gelang Sven, sich gerade noch rechtzeitig zur Seite zu wälzen. Mittlerweile war Strybjörn vorgesprungen und hatte den Troll sauber in die Brust getroffen. Sein Speer bohrte sich genau unterhalb der Rippen in die Brusthöhle und traf dabei auch die Stelle, an der sich bei einem Menschen das Herz befunden hätte. Der Troll schrie jedoch lediglich auf und machte keine Anstalten, zu Boden zu gehen. Konnte denn nichts dieses Ding aufhalten?, fragte Ragnar sich. Furcht regte sich in ihm. Dann fiel ihm etwas anderes auf. Merkwürdige Dämpfe wehten aus dem Bereich um den durchbohrten Bauch des Ungeheuers, und der Schaft von Strybjörns Speer begann zu schmelzen. Natürlich, erinnerte sich Ragnar, in allen Geschichten waren die Verdauungssäfte eines Trolls so ätzend, dass sie solides Gestein zersetzen konnten. Die Lage wurde
immer verzweifelter Mit einem Rückhandschlag schleuderte das Ungeheuer Strybjörn zehn Schritt durch die Luft. Dass musste weh getan haben, dachte Ragnar. Unter normalen Umständen wäre er über das Ableben des Grimmschädels mehr als erfreut gewesen, aber ihm ging auf, dass sie hier und jetzt jeden einzelnen Krieger brauchten. Bisher war es ihnen nicht einmal gelungen, das Ungeheuer langsamer zu machen. »Wir müssen mit Feuer angreifen!«, schrie Henk. »Was?« »Wir müssen Feuer benutzen. So habe ich den Troll beim letzten Mal getötet. Es ist mir gelungen, ihn in das brennende Haus zu locken. Die Wunden schließen sich nicht, wenn sie durch Feuer verursacht werden.« Langsam sickerten Henks Worte ein. Das klang vernünftig. Feuer war die beste Waffe der Menschen gegen viele Schrecken der Nacht, und er hatte oft genug die Geschichte vom alten Imogrim gehört, wie die Männer von Jarl Kraki eines der Ungeheuer mit brennenden Fackeln und Pfeilen vertrieben hatten. Er riss ein brennendes Scheit aus den Flammen und schwang es um den Kopf, um das Feuer anzufachen. Als das Scheit aufloderte, stürzte sich Ragnar mit Henk an seiner Seite ins Getümmel. Henk hielt ebenfalls ein brennendes Scheit. Der Troll bückte sich gerade nach dem immer noch am Boden liegenden Sven, der sich das Ungeheuer mühsam vom Leib hielt, indem er mit seinem Speer hektisch nach dessen unversehrtem Auge stach. Dann war Ragnar heran und schwenkte das Scheit vor dem Gesicht des Trolls, der sich ihm augenblicklich mit einem übermächtigen Brüllen zuwandte. Als ihn die Wolke schalen Atems erreichte, nahm Ragnar unwillkürlich wahr, dass er nach verdorbenem Fisch roch. Der Gestank ließ ihn würgen. Er schlug mit seinem Feuerscheit zu und traf den Troll. Haut knisterte, brannte und wurde schwarz,
heilte aber nicht. Russ sei Dank, dachte Ragnar, Henk hatte Recht. Aus dem Augenwinkel sah Ragnar Feuer auflodern, was ihm verriet, dass Kjel seinem und Henks Beispiel gefolgt war. Der Falkner schwang in jeder Hand ein brennendes Holzscheit. Wo die Scheite Trollfleisch berührten, entstanden Brandwunden, die nicht heilten. Der Troll drehte sich jetzt unsicher im Kreis, da ihn die brennenden Scheite verwirrten. Henk stieß einen triumphierenden Schrei aus und sprang vorwärts, um dem Ungeheuer sein Scheit ins Gesicht zu schlagen. Er hinterließ eine große schwarze Strieme. »Nimm das, Bestie«, rief er und lachte im Gefühl des Sieges. Das Antwortgebrüll des Trolls übertönte ihn mühelos. Das Ungeheuer packte zu und hob Henk hoch. Seine Krallen bohrten sich in sein Fleisch und trennten den Arm ab, der die Fackel hielt. Er schob sich den Kopf des Jungen in sein gewaltiges Maul und biss zu. Blut spritzte, und Henks Schrei brach abrupt ab, als sein Kopf abgetrennt und heruntergeschluckt wurde. Entsetzt blieb Ragnar stocksteif stehen. Er konnte nicht glauben, dass Henk tot war. Vor einem Moment war der junge Krieger noch neben ihm gewesen, lebendig und voller Kampfesmut. Jetzt war er nicht mehr da. Der Tod hatte die Hand nach ihm ausgestreckt. Die furchtbare Erkenntnis machte sich in ihm breit, dass ihm ohne weiteres dasselbe zustoßen mochte, dass der Troll, wenngleich verwundet, immer noch ein Wesen von gewaltiger Kraft war, das sie alle töten mochte. Es war offensichtlich, dass allen anderen derselbe Gedanke gekommen war, denn sie standen wie erstarrt da und, schienen nicht zu wissen, was sie tun sollten. Der Drang, sich abzuwenden und zu fliehen, erfüllte Ragnar, aber wenn er das tat, würden die anderen ebenfalls fliehen, und dann würde Hanks Tod ungerächt bleiben. Schlimmer noch, es war durchaus möglich, dass der Troll sie einholte und tötete. In
einem Augenblick der Entscheidung erkannte Ragnar, dass er zwar Angst hatte, aber nicht fliehen würde. »Vorwärts, ihr Hunde!«, brüllte er. »Wenn schon sterben, dann mit vielen Wunden!« Die anderen hörten auf sein Kommando. Sven raffte sich auf und stach nach dem Troll. Kjel ging mit seiner Fackel auf ihn los, während Ragnar von der anderen Seite kam. Strybjörn hatte sich erhoben und ebenfalls ein brennendes Scheit ergriffen. Von allen Seiten von den verhassten Flammen umgeben, geblendet und von Schmerzen erfüllt, fuhr der Troll herum und floh den Bach entlang, Henks kopflose Leiche immer noch in seiner gewaltigen Pranke. Blut, das im fahlen Mondlicht schwarz aussah, spritzte ins eisige Wasser. Ragnar und die anderen folgten ihm über den zerklüfteten Boden, wobei die Scheite immer heller aufloderten, da der Wind an ihnen vorbei pfiff. Es war eine schnelle, aber vergebliche Hetzjagd, denn trotz seiner Größe und ungeschlachten Gestalt war der Schritt des Trolls viel länger als ihrer. Das Ungeheuer erreichte das Seeufer und stürzte sich hinein, wobei es eine Schaumspur in seinem Kielwasser zurückließ. Ragnar und die anderen blieben am Ufer stehen und sahen zu, wie der Troll langsam ins Tiefe watete. Schließlich tauchte sein Kopf unter die Wasseroberfläche und war verschwunden. »Glaubt ihr, dass er ertrunken ist?«, fragte Strybjörn. »Nein«, erwiderte Kjel. »Trolle können unter Wasser leben. Wahrscheinlich hat er dort unten seinen Bau.« »Können wir rausschwimmen und ihn töten?«, fragte Sven. »Wie?«, sagte Ragnar. »Die Fackeln brennen unter Wasser nicht.« »Aber er hat Henk«, erwiderte Sven. »Henk ist tot. Wir können nichts mehr für ihn tun.«
Trotzdem blieben sie am Ufer und hielten Wache, bis die Sonne aufging. Der Troll tauchte nicht wieder auf. »Was nun?«, fragte Kjel. »Wir kehren nach Russvik zurück und berichten, was geschehen ist«, sagte Ragnar. Darauf freute er sich nicht gerade. Schließlich war er der Anführer der Klaue und hatte die Verantwortung für Henk gehabt. Alle wechselten einen Blick. Ragnar meinte, sie müssten ihn anklagen, aber er sah nur Mitgefühl in ihren Augen, sogar in Strybjörns. Es war so, als habe der gemeinsame Kampf gegen den Troll ein Band zwischen ihnen geschmiedet. Ragnar schob den Gedanken weit fort. Es würde einen Waffenstillstand geben, bis sie wieder im Lager waren. Bis dahin wurde jeder Krieger gebraucht, denn wer wusste schon, welche anderen Grauen noch von den umliegenden Hügeln herabsteigen mochten. Aber nach ihrer Rückkehr hieß es wieder, jeder für sich, entschied Ragnar. Besonders, was Strybjörn betraf. Der Grimmschädel konnte sein Mitgefühl für sich behalten, dachte Ragnar. *** »Du bist ganz sicher, dass es sich so abgespielt hat?«, fragte Hakon. Ragnar nickte. Der Sergeant taxierte ihn mit seinem Blick. Er ließ Ragnar dessen Beschreibung des Vorfalls Wort für Wort wiederholen und schwieg dann eine ganze Weile. Ragnar starrte über die Schulter des Sergeants ins Leere, während er sich an den Rückmarsch nach Russvik erinnerte. Er war nicht angenehm gewesen. Er hatte ständig über Henks Schicksal grübeln und daran denken müssen, dass dessen Verhängnis leicht sein eigenes hätte sein können. Henk war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Ragnar wusste mit
schrecklicher Gewissheit, dass es ebenso gut ihn hätte erwischen können. Ein Blick auf die verängstigten, müden Gesichter seiner Kameraden verriet ihm, dass innen derselbe Gedanke gekommen war. Auf dem langen Rückmarsch zum Lager hatte sie das Heulen der Wölfe zu Tode erschreckt. Bei jedem Schatten hochfahrend, hatten sie damit gerechnet, auf der Stelle zu sterben, doch nichts dergleichen war geschehen. Nur das unheimliche Heulen schien ihnen durch Mark und Bein zu dringen und dort nachzuhallen wie die schrille Stimme des Verhängnisses. Ragnar war sicher, es würde von nun an jede Nacht durch seine Träume geistern und er werde den Troll, die Wölfe und den toten Henk dort untrennbar verbunden wiedersehen. Er fühlte sich für den Tod des Jungen verantwortlich, und das hatte er auch zu Hakon gesagt, als der Sergeant mit seiner Befragung begonnen hatte. Hakon hatte ihn ungerührt angesehen und ihn ausreden lassen. Ragnar war sich der Last seines Versagens bewusst, und es gab Zeiten, in denen es ihm so vorkam, als könne er Henks junges Gesicht sehen, wie es ihn anklagend ansah. Das war fast so schlimm wie jenes Gefühl, das er nach der Zerstörung seines Dorfs empfunden hatte. Er fragte sich, wie das möglich war - schließlich hatte er Henk kaum gekannt, während er mit seinem Klan sein ganzes Leben verbracht hatte. Doch ein Teil von ihm argwöhnte, dass er die Antwort bereits kannte. Bei den Donnerfäusten war er ein Gefolgsmann gewesen, von dem man nur erwartete, für seine Leute zu kämpfen und zu sterben. Bei seiner Klaue, allein in der Wildnis von Fenris, war er ein Anführer gewesen. Er war für das Schicksal seiner Wolfsklaue verantwortlich. Vielleicht war es so, ein Jarl oder Schiffskapitän zu sein. Er wusste nicht, ob ihm das wirklich gefiel, und zum ersten Mal in seinem Leben hatte Ragnar das Gefühl, Rang und Ruhm könnten ein nicht gänzlich ungetrübtes Vergnügen sein.
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte Ragnar. »Werden wir den Troll zur Strecke bringen?« »Warum sollten wir das tun?« »Weil er einen von uns getötet hat.« »Wenn einer von uns so schwach war, sich von ihm töten zu lassen, hat uns der Troll einen Gefallen getan.« »Ich glaube nicht, dass es so ist.« »Niemand hat nach deiner Meinung gefragt.« »Sind wir hier fertig?«, fragte Ragnar angewidert. Hakon nickte. Mit einem jähen Gefühl der Leere und Erschöpfung erhob Ragnar sich von seinem Stuhl und wandte sich zum Gehen. »Ragnar!« Er drehte sich um und funkelte den Sergeant an, und dann sah er zu seiner Überraschung etwas wie Mitgefühl auf Hakons strengen Zügen. »Ja, Sergeant?« »Es ist niemals leicht, einen Mann zu verlieren. Glaub mir, ich weiß es.« Ragnar nickte und verließ den Raum.
8
PRÜFUNGEN »Noch mehr Spuren«, sagte Ragnar kopfschüttelnd. Er sah sich in der trostlosen Landschaft nach Anzeichen für einen Überraschungsangriff um. Die Pinien fielen mit dem Hang unter ihnen ab. Klippen versperrten den Weg nach rechts. Es gab reichlich Deckung, aber nichts rührte sich. Er hatte nicht das Gefühl einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und strich sich die Haare aus den Augen. Der große Hirsch hatte sie umhergehetzt, und sie hatten sich weit von dem Weg entfernt, der nach Russvik zurückführte. »Das ist das fünfte Mal in dieser Woche«, sagte Kjel grinsend. »Vielleicht werden wir beobachtet.« »Vielleicht«, sagte Ragnar. Er starrte auf den dampfenden Kadaver des toten Hirschs. Strybjörn hatte ihn ausgeweidet, während Ragnar und Kjel diese neue Fährte inspizierten. »Versuch etwas vorsichtiger mit dem Messer umzugehen, Grimmschädel«, fügte er hinzu. Strybjörn funkelte ihn an. »Wenn du glaubst, dass du es besser kannst, Letzter der Donnerfäuste, warum ziehst du dann nicht deinen Dolch und kommst her? Dann zeige ich dir, wie man etwas anderes ausweidet als einen Hirsch.« Ragnars Hand zuckte zu seinem Dolchgriff. Heißer Hass erfüllte ihn. Kjel, der sah, was vorging, trat zwischen sie. Sven sah zu und wartete ab, was passieren würde. »Das reicht«, sagte Kjel. »Jetzt, da Henk tot ist, können wir es uns nicht leisten, noch einen Mann zu verlieren. Nicht, wenn andere in der Nähe sind und wir uns den Rückweg freikämpfen müssen. Strybjörn, vergiss nicht, Hakon hat Ragnar das Kommando gegeben.«
»Aye, und es hat uns wirklich viel genützt«, murmelte der Grimmschädel. Ragnar machte Anstalten, auf ihn loszugehen, doch Kjel schob ihn zurück. Er registrierte das unmerkliche Kopfschütteln des Falkners. Langsam ließ seine Wut nach. Kjels Worte waren nicht nur eine Erinnerung für Strybjörn, sondern auch für ihn. Es ging nicht an, dass er als Anführer noch einen seiner Krieger verlor, vor allem dann nicht, wenn er ihn selbst tötete. Er fand den Gedanken beinahe erheiternd, und die Spannung verließ ihn. Er gab sich damit zufrieden, den Grimmschädel anzugrinsen. Sven und Strybjörn banden den Kadaver an die Stange, an der sie ihn zurück nach Russvik tragen würden. Ragnar fand den Anblick des roten tropfenden Fleisches nicht mehr so bestürzend wie noch vor gar nicht so langer Zeit. Er hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, da er Dutzende der herrlichen Kreaturen erlegt und ausgeweidet hatte. Jedenfalls war ein toter Hirsch kein Grund zur Sorge. Das Problem war diese Fährte. Wem gehörte sie? Woher kamen diejenigen, welche sie hinterlassen hatten? Die Spuren schienen von menschenähnlichen Wesen hinterlassen worden zu sein, aber nachdem er noch nie Spuren von Wölfen oder Nachtgängern gesehen hatte, neigte Ragnar zu äußerster Vorsicht. Er konnte der Fährte folgen und dabei vielleicht in einen Hinterhalt geraten. Höchstwahrscheinlich war der Versuch, der Fährte zu folgen, ein sinnloses Unterfangen. Der frische Winterschnee, der in den höheren Lagen während der Schneestürme fiel, würde sie in Bälde zudecken, und die Gejagten würden verschwinden wie ein Wolfen in der Nacht. Vielleicht ganz genau wie ein Wolfen, dachte Ragnar. Aber es hatte den Anschein, als träfen die Gerüchte und Legenden über Asaheim nicht zu. Als er alle Gedanken an böse Unwesen, die sie verfolgten, für einen Augenblick verbannte, erkannte Ragnar, dass Fährten eben Fährten waren und hier irgendwelche Leute lebten. Jedenfalls gehörten diese Fährten
nicht zu den Anwärtern aus Russvik, so viel stand fest. In den Bergen mussten noch andere Leute leben. Ragnar hatte das Gefühl, sich die Frage sparen zu können, ob sie feindselig waren oder nicht. Allem Anschein nach war der natürliche Zustand auf Fenris der, dass alle Leute Feinde waren. So war es schon immer gewesen. So würde es immer sein. Russ hatte es vor langer Zeit so verfügt, um sein Volk stark zu halten. Dass die Fährte von Kriegern stammte, bezweifelte Ragnar nicht. Er bezweifelte hingegen, dass sie den Anwärtern Mann gegen Mann gewachsen waren. In Bezug auf die Anzahl mochten sich die Dinge jedoch anders verhalten. Er hatte in den vergangenen Monaten genug über das Fährtenlesen gelernt, um eine genaue Schätzung abgeben zu können, wie viele Personen die Gruppe gezählt hatte, die hier vorbeigekommen war: mindestens ein Dutzend. Die Frage war jetzt, ob die Fährten, welche die anderen Anwärter Russviks entdeckt hatten, zu derselben Gruppe oder zu einer anderen gehörten. Ragnar beschloss, Hakon bei seiner Rückkehr von ihrem Fund zu berichten. Im Augenblick schien er kaum etwas anderes tun zu können. *** Ragnar stapfte den Hang nach Russvik hinunter. Im Tal konnte er die Lichter der Laternen in den Langhäusern glitzern sehen. Er sah auch die flackernden Funken, die aus den Kaminen im Dach des großen Langhauses stoben, das sich in der Dunkelheit als massiver Klotz abzeichnete. Unbekannte Sterne standen am Himmel. Das Gurren der Nachtvögel lag in der Luft. Er konnte Holzrauch und den lehmigen Geruch der nahenden Nacht wahrnehmen. Wie immer kam es ihm so vor, dass seine anderen Sinne stärker wurden, wenn das Licht nachließ, um dieses Fehlen auszugleichen. Irgendwo in der
Ferne heulte ein Wolf. Er warf einen Blick zurück, um sich zu vergewissern, dass Sven und Strybjörn noch da waren. Er konnte ihre schattenhaften Umrisse in der Dunkelheit erkennen, wie sie den toten Hirsch zwischen sich trugen. Voraus sah er Kjel in der Finsternis umherspringen, der den Weg auskundschaftete. Seine Klaue würde keinen Krieger mehr verlieren, wenn er es verhindern konnte. Nicht, dass es jetzt noch wahrscheinlich war. In den seit Henks Tod verstrichenen Monaten waren seine Kameraden nur härter und zäher geworden. Unter dem Druck beständiger Übungen und Höchstleistungen waren sie stärker, schneller und ausdauernder geworden, als es je ein Inselbewohner gewesen war, den Ragnar gekannt hatte. Er seufzte nachdenklich. Er hatte in den vergangenen Monaten so viel gelernt, dass ihm schwindelte. Er kannte die gesamte essbare Flora und Fauna in den umliegenden Bergen. Er wusste, wie man einen Unterschlupf errichtete und Feuer machte. Er konnte sogar ein kleines Iglu aus dem Winterschnee bauen, das vor den Eisstürmen schützte. Er wusste, wie man Wunden und Erfrierungen behandelte. Er hatte gelernt, mit bloßen Händen zu kämpfen, und war jetzt im Kampf ohne Waffen ebenso tüchtig wie Sven und Strybjörn. Er war schon immer gut mit Speer und Harpune gewesen, aber er bezweifelte, dass es in seinem alten Dorf jemanden gegeben hatte, der sich mit seinen Fähigkeiten hätte messen können, nicht einmal die Meisterharpuniere. Es war nicht leicht gewesen. Die Hälfte der Anwärter war mittlerweile tot. Von den anfänglich gut drei Dutzend lebten nur noch ungefähr zwanzig. Einige waren von den Klippen gestürzt, auf denen sie das Klettern geübt hatten, andere waren nicht von der Jagd zurückgekehrt, ein Opfer von Wölfen, Trollen oder Wölfen. Zwei waren bei Waffenübungen mit Axt und Speer zu Tode gekommen. Einer war von Sergeant Hakon für irgendein unaussprechliches Verbrechen hingerichtet
worden. Natürlich waren neue Rekruten eingetroffen, frischgesichtig und voller Staunen und Furcht. Ragnar verblüfften seine eigenen Gefühle der Überlegenheit beim Anblick dieser Neuankömmlinge. Die wenigen Monate seit seiner Erwählung hätten ebenso gut ein ganzes Leben sein können. Zwischen ihm und den Neuankömmlingen schien eine Altersunterschied zu liegen, der größer war als jener zwischen Wolfbruder und knorrigem Ältesten in seinem Heimatdorf. Er fragte sich, wohin jene gegangen waren, die bei seiner Ankunft hier gewesen« waren. Viele von ihnen waren verschwunden, von einem Luftschiff zu einem unbekannten Bestimmungsort gebracht. Nur Sergeant Hakon wusste genau, wohin sie gebracht wurden, und niemand hatte je gewagt, ihn danach zu fragen. In dieser Zeit hatte Ragnar es geschafft, seinen Hass auf Strybjörn im Zaum zu halten. Er war nicht verschwunden, sondern wartete lediglich auf einen passenden Zeitpunkt. Und auf eine seltsame Art hatte er, solange Strybjörn noch lebte und Ragnars Hass kalt in ihm brannte, noch ein zartes Band zu seinem alten Leben auf der Insel. Ragnar wollte nicht, dass Strybjörn starb, während er zu seiner Klaue gehörte. Er war bereit, ihn zu verschonen, bis er keine Verantwortung mehr für ihn hatte. »Beeilen wir uns«, sagte er. »In Russvik gibt es hungrige Mäuler zu füttern.« »Friss nicht alles auf, bevor wir dort sind, Sven«, riet Kjel. Ragnar war aufgefallen, dass Sven sich unterwegs Portionen rohen Fleisches in den Mund gestopft hatte. »Ja, du hattest schon genug«, sagte Ragnar. »Hatte ich, verflucht noch mal, nicht«, erwiderte Sven und rülpste laut. Die anderen lachten laut, und ihre Lebensgeister hoben sich,
bevor sie weiter bergab gingen, dem flackernden Lampenlicht Russviks entgegen. *** »Ich sage euch, es waren über hundert«, sagte Nils. Er war ein schmächtiger Bursche, aber aufgeweckt und von rascher Auffassungsgabe, der Anführer einer der anderen AnwärterKlauen, die am Tag von Ragnars Ankunft zusammengestellt worden waren. Bisher hatte er zwei von seinen Leuten verloren, wenngleich nicht durch sein Verschulden. Eigentlich nur durch Pech. Ragnar musterte ihn mit Interesse, genau wie alle anderen, die im Langhaus ihr Gulasch aus Wildbret und Rüben aßen. Dies war die erste eindeutige Sichtung einer großen Gruppe von Fremden. »Wo hast du sie gesehen?«, fragte Strybjörn. »Auf dem Axtkopfpass. Wir waren talaufwärts und haben sie uns aus den Bäumen angesehen. Wir hatten seit einigen Stunden einen großen Hirsch und seine zwei Rehe verfolgt, als wir sie sahen. Wir dachten, wir kommen besser zurück und melden es Sergeant Hakon.« »Um die hundert«, sagte Kjel. »Das sind ziemlich viele.« Ragnar wusste, dass alle dasselbe dachten wir er. Die neuen Anwärter eingeschlossen, waren sie höchstens vierzig Krieger in Russvik, Hakon und etwaige gerüstete Besucher nicht gerechnet. Das war kein gutes Kräfteverhältnis, wenn es zum Kampf kam. Andererseits gab es immer noch die magischen Waffen, die der Sergeant und seinesgleichen trugen. Ob es hundert waren oder tausend, es würde keine Rolle spielen gegen die Zauberei, die einen ausgewachsenen Meerdrachen in Stücke reißen konnte. »Was hat der Sergeant gesagt?«, fragte Khel.
»Er hat nur gelacht und gemeint, wir brauchten uns keine Sorgen zu machen. Das sei nur die Winterwanderung der Fremden. Er sagte, sie würden uns keinen Ärger machen, wenn wir sie in Ruhe ließen.« Ragnar dachte darüber nach. Eine Winterwanderung - das klang danach, als sei diese Gruppe Teil einer viel größeren Bewegung von Leuten. Wiederum wurde ihm seine Unwissenheit in Bezug auf das Land bewusst in dem das Luftschiff ihn abgesetzt hatte. Er wünschte, er hätte mehr darüber gewusst. Er wünschte, jemand würde ihm Gelegenheit geben, mehr zu erfahren. Eines wurde jedoch zunehmend offensichtlicher. Die Fremden töteten bei ihrem Vorbeizug einen Großteil des Wilds. Der Hirsch, den Ragnars Klaue nach Russvik gebracht hatte, war seit geraumer Zeit das erste Fleisch, das eine Gruppe von Anwärtern erlegt hatte. Es mochte das letzte gewesen sein, nun, da der Winter hereinbrach. Und das war noch nicht das Schlimmste daran. Die Vorräte in den Häusern gingen langsam zur Neige. Es waren noch Säcke mit Korn übrig und auch noch etwas welkes Gemüse, aber kaum noch etwas anderes. Ragnar fragte sich, wie lange die Vorräte noch reichen würden. Er fragte sich außerdem, was Sergeant Hakon und die anderen Wölfe aßen. Er hatte sie noch nie mit den Anwärtern essen sehen. Bei näherem Nachdenken hatte er sie überhaupt noch nicht essen sehen. Das hatte etwas Übernatürliches. Er zuckte die Achseln und schob den Gedanken beiseite. Natürlich war es möglich, dass der Sergeant aß, wo niemand ihn sehen konnte. Vielleicht hatte er einen geheimen Nahrungsmittelvorrat, an dem er sich gütlich tat. Auch dieser Gedanke kam ihm lächerlich vor. Sergeant Hakon gehörte nicht zu der Sorte, die irgendetwas heimlich tat. Warum sollte er auch? Er war der unumschränkte Herr und Meister dieses Lagers. Dennoch war Ragnar beunruhigt. Der Winter wurde
strenger. Das Essen wurde knapper. Weitere Anwärter hatten sich zu ihnen gesellt. Eine Katastrophe zeichnete sich ab. *** »Bring ihn um! Bring das Schwein um!«, schrie die Menge hungriger Anwärter. Der Kampf im Langhaus war rasch ausgebrochen, und dabei waren Holztische und Teller mit dampfender Grütze umgeworfen worden. Kjel hatte versehentlich Mika und Vol, zwei aus Nils' Klaue, angerempelt, die alle für Grütze anstanden. Der Inhalt eines Tellers war verschüttet und die Burschen mit Essen bespritzt worden. Durch Wochen des Hungers, harter Übungen und Sergeant Hakons Bestrafungen waren arg strapazierte Geduldsfäden gerissen. Augenblicke später waren die beiden über Kjel hergefallen, und Mika stemmte ihn auf den Tisch, während Vol ihn trat und schlug. Ragnar fluchte. Sowohl Mika als auch Vol waren groß und stämmig, und beide waren sehr gute Ringer. Sven und Strybjörn waren beide noch nicht hier. Ihm blieb nichts anderes übrig. Wenn niemand eingriff, würden Nils' Klauenbrüder Kjel womöglich totschlagen. Keiner sah so aus, als wolle er eingreifen. Alle waren viel zu beschäftigt damit, die Angreifer anzustacheln. Ragnar lief los. Er sprang auf eine Bank, rannte über einen Tisch und stieß sich ab. Sein Schwung trug ihn mitten ins Getümmel. Er packte Mika und Vol am Kragen und riss sie zu Boden. Mikas Kopf schlug auf die festgestampfte Erde des Bodens. Ragnar rollte sich geschmeidig ab und kam rasch wieder auf die Beine, wobei er sich zu Vol drehte. Der Anwärter erhob sich mit erstaunlicher Schnelligkeit. Ragnar trat zu und erwischte ihn mit dem Fuß unter dem Kinn. Er hielt die Zehen gekrümmt, wie man es ihm beigebracht hatte, so
dass er sein Ziel mit dem Fußballen traf. Durch die Wucht des Tritts wurde Vols Kopf in den Nacken geschleudert, und er fiel auf einen anderen Tisch und verspritzte dabei Grütze in alle Richtungen. »Das kannst du nicht machen!«, schrie ein stämmiger Neuankömmling, den Ragnar nicht kannte, während er über den Tisch setzte, um ihn anzugreifen. »Kann ich das nicht, Bürschchen?«, knurrte Ragnar und fällte ihn mit einem Schlag unter das Kinn. Den Freunden des Angreifers gefiel dies offenbar nicht, und so setzten sie die von ihm begonnene Attacke für ihn fort. Als er sich mit grimmigem Lächeln zu diesen neuen Gegnern umwandte, spürte er einen kalten Luftzug im Rücken. Die Tür des Langhauses hatte sich geöffnet, und Ragnar hörte Svens und Strybjörns Freudengeheul angesichts der sich entwickelnden Schlägerei. Zwei schwere Leiber, die durch die Reihen der neuen Angreifer pflügten, verrieten Ragnar ihr Eintreffen. Es war, als sei ein Signal für den Beginn eines allgemeinen Getümmels gegeben worden. Teller mit Grütze flogen durch das Langhaus. Bänke wurden zerbrochen, Kamerad prügelte Kamerad, Freund schlug Freund in dem allgemeinen Wahnsinn. Rasch hieß es nur noch, jeder für sich und gegen alle. Ragnar trat zurück und stieß mit jemandem zusammen. Er fuhr mit erhobener Faust herum und sah, dass es Kjel war. Der Falkner sah ebenso bereit aus, ihn zu schlagen, doch als er sah, wer sein Gegenüber war, zuckte er die Achseln und grinste. »Duck dich«, rief er plötzlich. Ragnar hatte gerade noch Zeit, sich auf den Boden zu werfen, als auch schon eine Bank über seinen Kopf flog. Er hielt sich nicht damit auf, sich umzusehen, sondern trat mit dem Fuß zu und wurde mit einem schrillen Kreischen belohnt, als er seinen Angreifer im Unterleib traf. Er wälzte sich zur Seite, um einem
vorzuckenden Stiefel auszuweichen, und fand sich unter einem Tisch wieder, wo er aus dem unmittelbaren Kampfgetümmel heraus war. Ringsumher regierte der Wahnsinn. Gebrüll und Schmerzensschreie hallten durch die Luft. Blut spritzte auf den Boden. Die Anwärter bekämpften einander mit einer Wut, die jeden Feind in Angst und Schrecken versetzt hätte. Auf eine seltsame Art schienen sie sogar Spaß daran zu haben. Kämpfen und Raufen war immer Teil des Lebens auf Fenris gewesen, und es schien den Burschen gut zu tun, ihrer Frustration auf diese Art Luft machen zu können. Ragnar spürte die Erregung selbst und stürzte sich gerade rechtzeitig in das Getümmel, um von Nils einen Schlag ins Gesicht zu bekommen. Der Hieb war so heftig, dass Sterne vor Ragnars Augen tanzten. Er verzog die Lippen zu einem Grinsen grimmigster Freude, das Nils erstarren ließ, bevor Ragnar den Mann mit einem Hagel von Hieben zu Boden schickte, um sich dann auf das nächste Knäuel Kämpfender zu stürzen. »Das reicht«, bellte eine Stimme wie Donnerhall. Die Schlägerei endete augenblicklich. Ragnar verharrte wie angewurzelt. Sergeant Hakon schob sich in sein Blickfeld. Das Grinsen auf seinem Gesicht war kein angenehmer Anblick. »So«, sagte er. »Ihr wisst also nichts Besseres mit eurer Zeit anzufangen, als euch zu prügeln, was? Und ihr mögt das Essen so wenig, dass ihr es als Waffe benutzt. Das überrascht mich nicht. Asa kocht die Grütze so klumpig, dass man sie als Munition für Schleudern benutzen könnte. Trotzdem ist es eine Verschwendung. Wer hat den Kampf angefangen?« Niemand antwortete. Der Sergeant sah sich im Langhaus um. Sein Blick begegnete Ragnars. Der zwang sich, Hakons Blick standzuhalten. »Niemand, was? Tja, ich schätze, das heißt, ihr könnt alle vor dem Schlafengehen noch zwei Mal den Hügel hochlaufen. Das heißt, nachdem ihr diesen Schweinestall
ausgemistet habt.« Lautes Ächzen hallte durch das Langhaus. Niemand war glücklich bei dem Gedanken, vor dem Schlafen durch Dunkelheit und Schnee laufen zu müssen. Kjel trat vor. »Ich war's, Sergeant«, sagte er. »Ich habe angefangen.« »Wie, Junge?« »Na ja ...« Mika meldete sich. »Er hat mich angerempelt, Sergeant, aber ich habe zuerst zugeschlagen.« »Und dann?« »Dann habe ich mich eingemischt«, sagte Ragnar. Er erwähnte nicht, dass Mika und Vol Kjel gemeinsam in die Mangel genommen hatten. Das zu bestrafen oblag nicht dem Sergeant, sondern war bereits durch die Schlägerei geregelt worden. »Aha.« »Dann bin ich dazugekommen«, sagte Nils. »Und ich auch«, rief eine andere Stimme. Plötzlich schrien alle im Langhaus durcheinander, da alle Anwärter ihren Anteil an der Schuld geltend machten. Man könnte meinen, die Schwachköpfe wetteifern darum, wer einen Troll erlegt hat, dachte Ragnar, war aber dennoch merkwürdig stolz auf sie alle. »Tja, dann habt ihr wohl alle den Lauf verdient, oder nicht?«, sagte Hakon. »Aye!«, riefen sie zurück. »Dann fangt am besten gleich damit an«, sagte er. »Außer Kjel, Ragnar, Mika und Nils. Ihr macht hier zuerst sauber.« Damit machte Hakon auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Die Anwärter folgten ihm nach draußen in den Schnee. Die verbliebenen vier sahen einander an. »Dann holen wir wohl am besten die Eimer«, sagte Nils
schüchtern, als rechne er damit, dass Ragnar ihn gleich wieder schlagen würde. Ragnar nickte. Kjel warf ihm einen Blick zu und grinste. »Danke, Ragnar, dass du mir geholfen hast«, sagte er. »Denk dir nichts dabei«, sagte Ragnar. »Du würdest dasselbe für mich tun.« »Aye, das würde ich.« Sie verschränkten die Hände und schüttelten sie nachdrücklich. »Danke für das blaue Auge, Ragnar«, sagte Nils. »Aber nicht viel.« »Ach, was soll's«, sagte Mika grinsend. »Das war der beste Kampf seit einer Ewigkeit. Das müssen wir irgendwann mal wiederholen.« Damit machten sie sich an die Arbeit. *** Ragnars Finger bluteten, was gefährlich war. An dieser Tatsache hatte er keinen Zweifel, da er an einem gefrorenen Vorsprung fast hundert Schritt über dem Boden hing. Er hatte sie zum Schutz vor der Kälte mit Hirschfell umwickelt, bevor er mit dem Klettern begonnen hatte, aber das Fell war beim Aufstieg ausgefranst, und jetzt schnitt das scharfkantige Gestein in seine Finger. Der Wind zupfte an seiner Tunika und an dem hirschledernen Überwurf, den er selbst angefertigt hatte. Er blies ihm die langen schwarzen Haare in die Augen und ließ diese gleichzeitig tränen. Sein Herz hämmerte. Der kalte Schweiß fühlte sich an, als gefriere er auf seinem Gesicht. Er versuchte sich einzureden, dass er sich nicht zu fürchten brauchte, dass es keinen Grund zur Sorge gab, dass er schon Schlimmeres überlebt hatte. Angesichts des Abgrunds unter
seinen Fersen und der Windböen, die an ihm zerrten, waren seine diesbezüglichen Versuche nicht sonderlich überzeugend. Viele Anwärter waren an dieser Felswand gestorben. Erst gestern war Vol in den Tod gestürzt. Ragnar wollte nicht daran denken, wie er lange Minuten dagelegen hatte, mit gebrochenem Rückgrat und zermatschten Eingeweiden, während sein Blut den Schnee rötete und sein Leben verrann. In wenigen Sekunden mochte ihn dasselbe Schicksal ereilen. Ragnar versuchte seinen Griff zu ändern, aber seine Finger fanden auf dem glatten, eiskalten Felsen keinen Halt. Er suchte verzweifelt nach einem Halt für die Füße, aber das vereiste Gestein widersetzte sich ihm. Er rutschte langsam in den Tod. Vor seinem geistigen Auge sah er sich bereits abstürzen. Er spürte fast schon den kurzen Fall durch die Leere, das triumphierende Heulen des Windes in den Ohren, das Aufflammen unerträglicher Schmerzen, wenn der kalte Boden ihn willkommen hieß, und dann die lange Dunkelheit des Todes. Ein Teil von ihm sehnte sich beinah danach. Nach den Strapazen der vergangenen Wochen würde es eine Erlösung sein. Seit der Schlägerei hatte sich vieles verschlimmert. Das Essen war noch knapper geworden und die Ausbildung noch härter. Es hatte weitere Schlägereien und Prügel gegeben. Einer der neuen Anwärter war zu Tode getreten vor dem Langhaus gefunden worden, und diesmal war niemand vorgetreten, um die Verantwortung zu übernehmen. Sergeant Hakon hatte den Fall nicht einmal besonders gründlich untersucht. Er sagte, die Wahrheit werde schließlich ans Licht kommen, und die Schuldigen könnten sich nicht ewig verstecken. Ragnar hatte den Gedanken nicht sonderlich beruhigend gefunden. Er wünschte, er hätte die Zuversicht des Sergeants teilen können. Andere waren nicht mehr in der Lage gewesen, mit der Belastung fertig zu werden, und in die Kälte gewandert. Ihre erfrorenen Leichen hatte man unweit des Lagers gefunden. Sven hatte im Scherz vorgeschlagen, man
könnte sie in die Küche bringen. Wenigstens hoffte Ragnar, dass es scherzhaft gemeint war. Er schüttelte den Kopf. Woran dachte er eigentlich? Wie immer in Augenblicken extremer Gefahr schien sein Verstand mit unglaublicher Schnelligkeit zu arbeiten, aber er nutzte das lediglich dazu, in den Tag zu träumen und sich an die Vergangenheit zu erinnern. Er musste sich retten, und zwar sofort, bevor seine Finger von dem Vorsprung glitten und er ins Verderben stürzte. Er ließ den Vorsprung mit einer Hand los und spürte, wie er abrutschte. Er drehte sich, warf sich vorwärts und streckte die freie Hand aus, um an dem kalten Fels nach Halt zu suchen. Seine abgestorbenen Finger reagierten kaum, aber er konzentrierte seine ganze Willenskraft auf sie und brachte sie dazu, sich zu bewegen. Triumphierend spürte er etwas unter seinen Fingern. Es fühlte sich beinah an wie menschliches Haar. Es musste Moos oder eine Flechte sein, dachte er. Das Triumphgefühl verwandelte sich rasch in Verzweiflung, als er spürte, wie das Zeug nachgab. Sein Gewicht riss es an den Wurzeln aus. Seine Finger verloren den Halt, und er drohte zu fallen. Für einen kurzen, schwindelerregenden Augenblick spürte er, wie er sich von der Felswand löste. Sein Rücken krümmte sich, da sein langer Fall ins Leere begann. In diesem Augenblick wusste er, dass er sterben würde, und diesmal würde ihn weder Magie noch Zauberei ins Leben zurückholen. Dann schlossen sich starke Finger um sein Handgelenk, und sein Fall wurde aufgehalten. Er schaute auf und sah Kjel über sich. Er dankte Russ, dass Kjel seine Schwierigkeiten bemerkt hatte und zurückgekehrt war. Erleichterung überflutete ihn, und plötzlich fühlte er sich schwach. Er registrierte den Ausdruck äußerster Anstrengung auf dem Gesicht des Falkners einen Sekundenbruchteil, bevor
er spürte, wie Kjel langsam abrutschte. Nein, dachte Ragnar, indem er auf die Zähne biss und wieder nach einem Halt suchte, da er jetzt ebenso befürchtete, Kjel mit ins Verderben zu reißen, als selbst abzustürzen. Dank des zusätzlichen Halts durch Kjels Griff gelang es ihm diesmal, einen festen Halt zu finden und sich ganz auf den Vorsprung zu ziehen. »Das war viel zu knapp«, keuchte Ragnar nach einem Augenblick des Ausruhens. Die Angst und die Anstrengung hatten seine Stimme zu einem flüsternden Krächzen reduziert. »Ja«, sagte Kjel mit immer noch weißem Gesicht. »Ich schulde dir mein Leben«, sagte Ragnar. Kjel schaute das verbliebene Stück der Felswand empor. Es erstreckte sich noch etliche Meter in die Höhe. Ragnar war klar, dass Kjel die wenige ihnen noch verbliebene Kraft mit dem Rest der Kletterpartie verglich. Die Miene auf seinem Gesicht verriet ihm, dass Kjel ihre Aussichten nicht gerade als rosig einstufte. »Danke mir, wenn wir es beide lebend überstanden haben«, sagte Kjel. Müde setzten sie den langen Aufstieg fort. Als sie oben mit vor Erschöpfung zitternden Gliedern und rasselndem Atem ankamen, wartete Sergeant Hakon auf sie. Sein Gesicht hatte einen nachdenklichen Ausdruck. »Ragnar, finde dich morgen bei Tagesanbruch mit deiner Klaue im großen Haus ein.« Seinem Tonfall konnte Ragnar nicht entnehmen, ob es eine gute oder eine schlechte Neuigkeit war. *** Das trübe Morgenlicht fiel durch die Schlitze, die im großen
Haus als Fenster dienten. Es roch nach Rauch und altem Schweiß. Sergeant Hakon hatte sich vor Ragnars Klaue aufgebaut. In seinem Schatten kam Ragnar sich wie ein Zwerg vor. In den Augen des Sergeants stand ein sonderbares Funkeln, aber in seinem versteinerten Gesicht konnte Ragnar keinen besonderen Ausdruck erkennen. Er schien über sie nachzudenken, vielleicht im Hinblick darauf, sie zu töten, vielleicht auch mit anderen Absichten im Hinterkopf. »Ihr habt euch wacker geschlagen«, sagte er schließlich. »Zumindest habt ihr euch so gut geschlagen, dass ihr es bis hierher geschafft habt. Ihr habt alle überlebt, und ihr habt euch keine Schande gemacht. Hier in Russvik könnt ihr nicht mehr viel lernen, und ihr seid so zäh, wie euer jämmerlicher Körper es zulässt.« Alle Blicke waren jetzt auf den Sergeant gerichtet. Dies war etwas Neues. Seine Worte ließen auf eine Veränderung schließen. Vielleicht würden sie den anderen Klauen folgen. Das gab Ragnar zu denken. Keiner dieser Anwärter war jemals zurückgekehrt. Das Herz pochte ihm im Hals vor Aufregung. »Ihr bekommt die Gelegenheit, euch von hier abzusetzen«, fuhr Hakon fort. »Glaubt nicht, dass es leicht wird. Dort, wohin ihr geht, werdet ihr auf eure Zeit in Russvik als angenehme kleine Vergnügungsfeier zurückschauen.« Er hielt kurz inne, um seine Worte wirken zu lassen. Bei jedem anderen hätte Ragnar geglaubt, die Worte seien eine Übertreibung, um ihnen Angst einzujagen, aber da sie von Hakon kamen, wusste er, dass sie lediglich die Feststellung einer Tatsache waren. »Es mag sein, dass ihr ausgewählt werdet, ins nächste Stadium eurer Ausbildung einzutreten. Das setzt voraus, dass es euch gelingt, Morkais Tor zu passieren.« Ragnar gefiel nicht, worauf das hinzudeuten schien. In den Legenden seines Volks war Morkai Russ'
zweiköpfiger Hund. Er bewachte die Tore der tiefsten Hölle. Ein Blick auf seine Klauenbrüder verriet ihm, dass auch sie die Bedeutung dieses Namens kannten. »Wie gelangen wir dorthin, Sergeant?«, fragte Kjel. Ragnar merkte ihm an, dass er sein Bestes tat, um fröhlich zu klingen, aber es gelang ihm nicht, den ängstlichen Unterton aus seiner Stimme herauszuhalten. »Das werdet ihr noch früh genug herausfinden.«
9
MORKAIS TOR Wieder einmal befand sich Ragnar an Bord eines der großen Luftschiffe. Er wusste jetzt, dass es Thunderhawk genannt wurde. Vielleicht war es der Thunderhawk, aber irgendwie bezweifelte er das. Wie Hakon und die anderen darüber redeten, hatte er den Eindruck, dass es mehr als einen gab. Kjel, Strybjörn, Sven und er waren nicht die Einzigen, die an Bord gingen und sich anschnallten. Er nahm zur Kenntnis, dass Nils und Mika ebenfalls da waren. Außerdem erkannte er noch Lars, Hrolf und Magnus aus der Schar der mit ihm angekommenen Anwärter. Es hatte den Anschein, als seien sie die einzigen Überlebenden. Keiner von ihnen sah sonderlich fröhlich aus, und Ragnar nahm an, dass sie Sergeant Hakons Ansprache ebenfalls gehört hatten. Zumindest Nils versuchte sie anzulächeln, aber seine Miene war eher nachdenklich als glücklich. Wie Ragnar fragte er sich, was sie hinter Morkais Tor erwartete. Ein Tosen erhob sich, als der Thunderhawk zum Leben erwachte und sich vom Boden erhob. Als er durch das runde Bullauge schaute, konnte Ragnar sehen, dass der Schnee auf den Schwingen des Luftschiffs verdampfte. Die Kraft der Beschleunigung presste ihn in den Sitz. Er hielt den Blick jedoch fest auf das Fenster gerichtet, da er entschlossen war, einen letzten Blick auf Russvik zu werfen. So verrückt es nach den Entbehrungen, die sie dort erlitten hatten, auch zu sein schien, Ragnar empfand so etwas wie Wehmut. In den letzten Monaten war Russvik seine Heimat gewesen. So beschwerlich sein Leben dort auch gewesen sein mochte, er hatte sich daran gewöhnt. Jetzt wurde er fortgeschickt, um sich etwas Unbekanntem zu stellen, und das an sich war schon beängstigend. Nichts von allem, was er seit seiner Ankunft in
der eisigen Einöde Asaheims erlebt hatte, war angenehm gewesen, und er bezweifelte, dass sich daran so bald etwas ändern würde. Der Gedanke an die Heimat ließ ihn einen Blick auf Strybjörn werfen. Abermals überrollte ihn eine Woge des Hasses, als er die brutalen Züge des Grimmschädels betrachtete. Ragnar erkannte, dass ihm sein beständiger Hass bestürzenderweise ein grimmiges Gefühl der Befriedigung gab. Er war vielleicht sein einziger zuverlässiger Begleiter. Strybjörn bemerkte Ragnars Blick und erwiderte ihn mit einem Funkeln. »Hast du Angst, Letzter der Donnerfäuste?«, fragte er. »Nein«, sagte Ragnar. Eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft würde er seine Rache nehmen, das wusste er. Er war ganz sicher. Der Waffenstillstand, der für Russvik gegolten hatte, war vorbei. Er würde sich bald mit Strybjörn befassen, vorausgesetzt, sie überlebten den Gang durch Morkais Tor. *** Der Thunderhawk raste über das schneebedeckte Land Diesmal sprang er nicht so hoch, dass er die Sterne zu berühren drohte. Diesmal jagte er durch die langen Täler zwischen den Bergen, und das Donnern ihres Vorbeiflugs erschreckte die Tiere tief unter ihnen auf der Schneefeldern. Ragnar hatte keine Ahnung, wie schnell sie flogen aber ihre Geschwindigkeit war unglaublich. Allem Anschein nach legten sie in einer Stunde eine Strecke zurück, wie sie ein gesunder Mann vielleicht in einem Monat bewältigen konnte. Ihr Schatten jagte viel schneller über die Wildnis unter ihnen als das jedes beliebigen Raubvogels. Das ganze Land unter ihnen war nur da nicht völlig weiß vom Schnee, wo das Grün der Pinien die Hügel bedeckte. Hier
und da schoss ein Bach in eine Gletscherspalte und in einem langen Gischtfächer dem Boden entgegen. Seltsamerweise wirkten die Berge aus ihrem dahinrasenden Thunderhawk noch größer. Sie erhoben sich in unendlichen gefrorenen Wellen dem Horizont entgegen, mächtige Wächter, die Schulter an Schulter dem ewig währenden Ansturm von Wind, Regen und Schnee trotzten. Jetzt flog das Gefährt über die mit Felsbrocken übersäte Oberfläche eines Gletschers, der im durch die Wolken einfallenden Sonnenlicht kalt glitzerte. Als er nach unten schaute, sah Ragnar eine Gruppe von Menschen über die gefrorene Oberfläche marschieren. Sie trugen keine Felle wie alle anderen Leute, die er gesehen hatte. Nach dem kurzen Blick hätte Ragnar geschworen, dass sie gerüstet waren wie Sergeant Hakon und auch dieselben Waffen trugen. Sie schienen dem Luftschiff im Vorbeiflug zuzuwinken und waren einen Augenblick später verschwunden. Zerfranste Wolkenbänder zogen unter dem Thunderhawk hinweg, der jetzt ein wenig bebte. Ragnar verspürte einen geheimen Schauder im Herzen. So mussten sich die Götter fühlen, wenn sie auf die Welt schauten, dachte er. Da ging ihm auf, dass Hakon und seine Brüder mächtige Magier und mit den Geheimnissen einer Zauberei gesegnet waren, die stark genug war, diese Welt zu beherrschen, wenn sie darauf Wert gelegt haben würden. Dann kam ihm der Gedanke, dass sie das vielleicht schon taten und die Welt so geordnet war, wie sie es war, weil sie es aus unergründlichen Motiven so wollten. Vielleicht waren alle Klans auf Fenris nicht mehr als das Nutzvieh der grausamen Götter. Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf geschossen, als irgendein Instinkt Ragnar sagte, dass er der Wahrheit entsprach. Saß er nicht in einem Gefährt, wie es von den Erwählern der Erschlagenen benutzt wurde, und waren die Erwähler nicht die Boten der Götter? Vielleicht bedeutete das,
dass sie bei den Göttern wohnten, oder vielleicht bedeutete es auch, dass sie auf irgendeine Weise selbst Götter waren. Ranek und Hakon besaßen jedenfalls viele der legendären Attribute, die Russ zugeschrieben wurden. Sie hatten die seltsamen Wolfsaugen und auch Russ' lange Eckzähne, seine gewaltigen Muskeln und seine enorme Körperkraft. Dass sie unzweifelhaft mit ihm verwandt waren, ließ sich nicht übersehen, jedenfalls kam es Ragnar so vor. Er bezweifelte nicht, dass er bald mehr herausfinden würde. Der Thunderhawk trug ihn noch tiefer in das Herz des Rätsels. Stunden verstrichen, und das Gelände, das sie überflogen, wurde immer wilder und trostloser. Hier und da schossen mächtige Geysire aus Lava hoch in den Himmel, und der Schnee schmolz in zischenden Wolken von der dampfenden Oberfläche des schwarzen Felsgesteins. Wenn je ein Land dazu bestimmt war, den Eingang zur Hölle zu enthalten, dann dieses, fand Ragnar. Die Berge wurden noch höher und kahler. Hier und da sprangen monströse Gestalten durch die mit Flechten bedeckten Felsen. Ganze Rudel riesiger Wölfe hoben den Kopf und heulten wie zum Gruß, wenn der Thunderhawk vorbeiflog. Die Münder gewaltiger Höhlen säumten die kahlen Hänge. Der spärliche Pflanzenwuchs war verdorrt und verkrüppelt. Die Täler wurden immer steiler, ihre unergründlichen Tiefen schwarz und unheimlich, die Berge immer höher. Tatsächlich ließen die zerklüfteten Riesen die Berge rings um Russvik jetzt wie kleine Erhebungen aussehen, welche die Bezeichnung Berge kaum verdienten, obwohl sie bis dahin die höchsten waren, die Ragnar je gesehen hatte. Die Berge, durch die sie flogen, waren in ihren Ausmaßen wahrhaftig ehrfurchtgebietend und wirkten wie eine von den Göttern errichtete Mauer zum Schutz vor Dämonen. Ihre bloße Größe war atemberaubend. Durch die Geschwindigkeit des Thunderhawk in ihre Sitze gepresst, schossen sie durch lange,
dunkle Täler voller Geröll und über Gletscher, die wie Flüsse aus Eis glitzerten, wo sie von den tastenden Fingern der Sonne berührt wurden. Der rasch dahinhuschende Schatten fiel auf gefrorene Seen und stürzte in die Wolken unterhalb hoch aufragender Klippen. Der Thunderhawk brüllte noch lauter, als er durch die Berge flog, als habe selbst dieser Streitwagen der Götter Mühe, in der dünner werdenden Luft zu steigen. Der Himmel wurde immer dunkler, und Ragnar war überzeugt, das kalte Funkeln der Sterne zu sehen. Dann legte sich das Luftschiff in eine scharfe Kurve, und während Ragnar sich fast der Magen umdrehte, sah er ihn: den höchsten Berg von allen, den höchsten Berg, den er je gesehen hatte und je sehen würde, und vermutlich den höchsten Berg in der gesamten Geschichte der Schöpfung. Er überragte die anderen Gipfel wie ein Erwachsener Kinder. Seine tieferen Hänge fielen Meilen um Meilen herab in die Wolken unter ihnen. Es war ein Berg von einem epischen Maßstab, ein Berg, wie er als Wohnsitz der Götter nicht geeigneter hätte sein können. Ragnar wusste, dass dies ihr Bestimmungsort war, auch wenn es ihm niemand gesagt hatte, und als er sich im abgedunkelten Innern des Thunderhawk umsah, stellte er fest, dass auch die anderen angesichts der Großartigkeit des gewaltigen Bergs in ehrfürchtiges Schweigen versunken waren. Nun, da er diesen hoch aufragenden Berg im Licht der Morgensonne betrachtete, wusste er, dass er diesen Augenblick niemals vergessen würde, so lange er lebte. Er würde niemals das Staunen und die Furcht vergessen, die der Anblick dieser mächtigen Felsspitze in seinem Herzen wachrief. *** Das Tosen des Luftschiffs änderte sich beim Anflug, da sie
tiefer gingen und langsamer wurden. Als der Gipfel näher kam, ging der Anblick des Bergs in seiner ganzen Gewaltigkeit verloren und wich landschaftlichen Einzelheiten. Auf dem Berghang wimmelte es von großen Höhlen, und in jeder befand sich eine gewaltige Metalltür, deren Ausmaße sein Begriffsvermögen überstieg. Bis zu diesem Augenblick hätte Ragnar nicht gedacht, dass es auf ganz Fenris genug Metall gab, um auch nur eine dieser Türen mit Eisen zu beschlagen. Er hatte keine Ahnung, was hinter diesen Portalen lauern mochte, und nicht das Verlangen, es herauszufinden. Ragnar konnte sich einfach nichts vorstellen, was so groß war, dass es so riesige Öffnungen brauchte. Er schauderte, von Ehrfurcht ergriffen. Es gab noch andere Dinge: riesige Komplexe aus Metall, die durch monströse schlangengleiche Röhren miteinander verbunden waren. Zuerst glaubte Ragnar, die Weltschlange hielte den Berg umschlungen, aber als er genauer hinsah, wurde diese Vorstellung durch die nicht weniger schockierende ersetzt, dass die gewaltigen Bauwerke aus Metall das Werk von Menschen oder vielleicht von Göttern waren. Sie verbanden die stählernen Gebäude, aus denen riesige Flammenstrahlen schossen. Er hatte keine Ahnung, welchem Zweck diese unheimlichen Maschinen dienten, aber er spürte, dass er gewaltig war. Warum wären sie sonst hier auf dem Berg der Götter gewesen? Als sie tiefer sanken, konnte er erkennen, dass jedes der gigantischen Metallgebilde so groß wie eine kleine Insel und ein eigener kleiner Berg aus kostbarem Stahl war. Riesige Schüsseln, die ihn an diejenigen auf dem Eisentempel erinnerten, welche er erst ein halbes Leben zuvor gesehen hatte, drehten sich auf diesen mächtigen Gebilden. Einige von ihnen schienen sich zu bewegen und den Thunderhawk zu betrachten. Ragnar blinzelte, klammerte sich an seinen Haltegurt und schnappte nach Luft, da er all die Wunder und
Schrecken unter sich gar nicht fassen konnte. Der Thunderhawk verharrte unweit einer der riesigen Metalltore mitten in der Luft. Ein Blick nach unten zeigte Ragnar etwas auf dem Boden unter ihnen, das wie eine riesige Zielscheibe aussah, und dann senkte sich der Thunderhawk darauf herab. Das Luftschiff setzte genau im Zentrum dieser großen Zielscheibe auf. Die erstaunliche Präzision des Vorgangs traf Ragnar wie ein Schwerthieb. Sie hatten Hunderte Meilen Land und einen riesigen Kontinent überflogen, und irgendwie hatte es der Steuermann dieses fliegenden Schiffs geschafft, genau diese Stelle zu finden und das Schiff dort festzumachen. Er war sicher, dass diese Präzision kein Zufall, sondern das Produkt einer mächtigen Zauberei war, die sein Vorstellungsvermögen weit überstieg. Über das leiser werdende Tosen des Antriebs hinweg und durch die dicke Metallhülle des Thunderhawk hörte Ragnar ein merkwürdig pumpendes Knirschen. Entsetzen packte ihn, als er sah, dass das Schiff im Boden versank. Steinwände schienen sich rings um den Thunderhawk aus dem Boden zu erheben, da die Erde ihn verschlang. Sein Magen tat einen Satz, und sein Mut sank, bis ihm ein Augenblick der Überlegung verriet, dass dieser Vorgang Absicht und die steinerne Scheibe eine Plattform war, die das Luftschiff in die Tiefen der Erde befördern sollte. Er blinzelte aus dem Fenster nach oben und wurde mit einem letzten Blick auf den Gipfel belohnt, der sich senkrecht in den Himmel erhob wie ein auf den Bauch des Himmels zielender Speer. *** Sie stiegen aus dem Luftschiff in eine riesige Höhle, die so groß zu sein schien wie das Himmelsgewölbe. Die Wände
hatten einen glasigen Schimmer, als seien sie unter gewaltiger Hitze geschmolzen worden. Wolken trieben unter den gewaltigen Torbögen und verdeckten die riesigen Deckengemälde. Ragnar starrte ehrfürchtig auf die teilweise verdeckten Darstellungen einer Schlacht zwischen Wesen, bei denen es sich nur um Götter und Dämonen handeln konnte. Überall an den Wänden der gewaltigen Kammer standen riesige Statuen in gleichermaßen riesigen Nischen. Jede war hundertmal so groß wie ein Mensch, und jede stellte eine Gestalt dar, die gerüstet und bewaffnet war wie Sergeant Hakon oder Ranek der Wolfpriester. Hier, dachte Ragnar, gab es Zauberei in einem wahrhaft niederschmetternden Maßstab. Ragnar hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Der riesige Raum wurde von magischen Laternen erhellt, die ein Licht heller als tausend Walöllampen abstrahlten, so dass es in der Kaverne fast taghell war. Überall waren absonderliche und geheimnisvolle Gestalten mit unergründlichen Dingen beschäftigt. Ragnar sah Gestalten in derselben Rüstung, wie Sergeant Hakon und ihr Steuermann sie trugen, und mit ihren Waffen im Anschlag durch die Kaverne zu anderen Luftschiffen gehen. Er sah Männer, die mehr als nur halb Maschine zu sein schienen, wie sie die Luftschiffe mit langen Metallstangen bearbeiteten, aus denen Funken und Flammen sprühten. Ähnliche Gestalten brachten lange Rohre am Bauch der Luftschiffe an. Er sah menschenähnliche Gestalten, die gänzlich aus Metall zu bestehen schienen, Wartungsarbeiten an den Schiffen ausführen. Wie sie ihren Pflichten nachgingen, erinnerten sie Ragnar an die Schiffszimmermänner in seiner früheren Heimat. Sie erweckten den Eindruck von Männern, die vollkommen in ihrer Tätigkeit aufgingen. Der Lärm war ohrenbetäubend. Das Tosen der Luftschiffe vermischte sich mit dem Scheppern von Metall auf Metall und den Rufen aus tausend Kehlen. Die Metallmenschen klirrten
und surrten. Die Maschinen, auf denen sie fuhren, grollten wie Donner. Ragnar horchte aufmerksam und erkannte, dass die Sprache, in der diese Leute riefen, nicht die geringste Ähnlichkeit mit seiner Muttersprache hatte. Sie war noch harscher und gutturaler, und dennoch schienen einige der Worte gleichsam zu fließen. Es roch nach Chemikalien. Nicht so wie die Gerbereien auf den Inseln oder wie in der Stadt der Eisenmeister. Es roch sauber und minzig mit einem Anflug von Öl und anderen Substanzen, die Ragnar an Maschinen denken ließen. Die Luft in seinen Lungen und der Boden unter den Füßen schienen in dem Tumult zu vibrieren. Alle seine Sinne wurden von Dingen bestürmt, wie er sie nie zuvor erlebt hatte. Nach einem Augenblick der Verwirrung fiel sein Blick auf das eine in all dieser Fremdartigkeit, das er wiedererkannte. Aus einer weiter entfernten Zone größerer Dunkelheit näherte sich ihnen der Wolfpriester Ranek. Ragnar überlief ein jäher Schauder der Furcht. Das Erscheinen des Zauberers hatte bisher immer gewaltige Veränderungen in seinem Leben angekündigt. »Willkommen im Fang! Im Wohnsitz der Wölfe!«, bellte er. »Ich hoffe, ihr seid bereit, durch Morkais Tor zu treten.« *** Ranek führte sie durch lange Flure tief in die Eingeweide des Berges. Er marschierte mit dem zielgerichteten, zuversichtlichen Schritt eines alten Wolfs. Er wusste genau, wohin er ging und wie er dorthin gelangte. Darüber war Ragnar froh, denn der ganze Komplex war ein Irrgarten in einem Maßstab, wie er ihn sich nie hätte vorstellen können. Seine gesamte Heimatinsel hätte mühelos in eine der kleineren Kammern gepasst.
Es gab Zeiten, in denen er das Entsetzen niederringen musste, das ihn erfüllte. Beängstigende Gedanken stürzten auf ihn ein. Was hielt diesen ausgehöhlten Berg davon ab, auf sie einzustürzen? Was, wenn er einstürzte und sie alle lebendig begrub? Wie würde er je wieder einen Weg nach draußen finden? Ein Blick auf die blassen Gesichter der anderen verriet ihm, dass sie seine Befürchtungen teilten. Maschinen, Krieger und jene, die halb Mensch und halb Maschine waren, hielten sich neben ihnen. Sie wurden von großen Karren mit Rädern überholt, die kein sichtbares Mittel des Antriebs aufwiesen und Lasten beförderten, wie sie selbst zwanzig starke Männer nicht hätten tragen können. Wahrhaftig, dachte Ragnar, hier war mächtige Magie am Werk. Die Bewohner des Fangs besaßen Maschinen, neben denen sich die größten Maschinen der Eisenmeister wie Kinderspielzeuge ausnahmen. Er hatte das Gefühl, endlich im heimlichen Herzen der Welt eingetroffen zu sein. Es war, als sei ein Vorhang gelüftet worden, um den Ort zu zeigen, wo die Dunkler Weber das Schicksal der Menschen woben. Die Mechanismen der Bestimmung wurden bloßgelegt. Er könnte jetzt sehen, wie die Götter lebten, und es war ein ehrfurchtgebietender Anblick. Ranek führte sie zu zwei höhlenartigen Öffnungen in der Seite des Bergs, aus denen ein seltsames Brausen drang. Über beide Öffnungen war das Zeichen eines großen zweiköpfigen Adlers gemeißelt. In den Klauen hielt er eine Scheibe mit Russ' Wolfskopf-Emblem. Neben einer Öffnung war ein grünlich schimmernder Pfeil gemalt, der nach oben wies. Der Pfeil neben der anderen Öffnung zeigte nach unten. »Geht hinein«, sagte Ranek, indem er mit einer in Metall gehüllten Hand auf die linke Öffnung zeigte. Ohne nachzudenken, folgte Kjel der Aufforderung. Ein Geräusch wie ein Schrei ertönte, als er prompt abwärts verschwand. Die anderen blieben wie angewurzelt stehen. War dies eine Falle?,
fragte sich Ragnar. Erwartete sie eine große Grube? War dies Morkais Tor? Hatte man sich so viele Umstände mit ihnen gemacht, um sie hier wie Schafe abzuschlachten? Das war unwahrscheinlich. War dies irgendeine sonderbare Form von magischem Opfer? Er konnte nicht einmal eine Vermutung anstellen. Die Dinge, die er hier gesehen hatte, überstiegen sein Begriffsvermögen. »Geht!«, befahl Ranek. Trotz des Entsetzens, das in ihm aufwallte, gelangte Ragnar zu der Überzeugung, dass er dem alten Zauberer vertrauen musste. Er trat in die Öffnung. Für einen furchtbaren Augenblick spürte er nichts unter den Füßen, dann befand er sich im Schacht und fiel. Obwohl er entschlossen war, nicht zu schreien, entwich seinen Lippen ein Seufzen der Furcht. Der Magen drehte sich ihm um, während er durch den Schacht sauste. Rote und gelbe Lichter flackerten an seinen Augen vorbei, da er rasch und mit zunehmender Geschwindigkeit abstürzte. Er wusste jetzt, dass dies tatsächlich eine Falle und sein Leben vorbei war. Er spürte gerade, wie ihn schwarze Wut über die Sinnlosigkeit seines unmittelbar bevorstehenden Endes überkam, als ihn eine unsichtbare Kraft packte und seinen Fall abbremste, so dass er sanft auf dem Boden des Schachts landete. Als er leicht wie eine Feder aufsetzte und ihm aufging, dass er nicht sterben würde, musste er unwillkürlich laut lachen. Er sah einen weiteren Ausgang und den breit grinsenden Kjel davor stehen. »Das war verblüffend«, sagte der Falkner. Ragnar konnte nur nicken und das Grinsen erwidern. »Pass auf!«, rief eine Stimme über ihm. Ragnar schaute nach oben und sah Svens Stiefel dicht über seinem Kopf. Er hatte gerade noch Zeit, aus dem Schacht zu springen, bevor Sven landete. Sven verschwendete keine Zeit, ihm zu folgen, da ihm die restlichen Anwärter einer nach dem anderen folgten.
Ranek kam als Letzter. Er landete leichtfüßig und mit einer Beugung der Knie, die davon kündete, dass er es schon unzählige Male zuvor getan hatte. Auf seinem Gesicht stand kein idiotisches Grinsen. Die Magie, die in dem Schacht wirksam war, musste schon vor langer Zeit aufgehört haben, etwas Besonderes für den Zauberer zu sein. Ranek bedeutete ihnen zu folgen und ging weiter. *** Das Gelände, das sie passierten, hätte durchaus ausgewählt worden sein können, um Entsetzen wachzurufen, dachte Ragnar und erkannte dann, dass es sich höchstwahrscheinlich auch so verhielt. Es war dunkel. Hier gab es keine leuchtenden Deckenkugeln, die den Rest des Labyrinths erhellten. Die einzige Lichtquelle waren die flammenden Feuergruben und das kirschrote Glühen der blubbernden Seen aus geschmolzener Lava, die sie umgaben. Es war warm und roch nach Schwefel. Wolken eines sengenden Nebels wallten über die Wege. Ragnar achtete ganz genau darauf, wohin er trat. Hier den Halt zu verlieren war gleichbedeutend mit einem Sturz in den sicheren Tod. Ranek ging weiter, ohne sich auch nur ein Mal umzudrehen. Offenbar war er sicher, dass sie ihm folgten. Er hatte auch allen Grund, sicher zu sein, erkannte Ragnar. Was konnten die Anwärter sonst tun? Keiner von ihnen kannte den Rückweg oder hatte eine Ahnung, welche Geheimnisse und Gefahren an diesem Ort auf den arglosen Eindringling lauerten. Vor ihnen erhob sich ein gewaltiger Torbogen, in den grinsende Wolfsköpfe und Runen einer unheimlichen Art gemeißelt waren, von denen Ragnar nicht wusste, wie man sie lesen sollte. Ranek blieb stehen und drehte sich zu ihnen um.
Einer nach dem anderen versammelten sich die Anwärter. Unbewusste Disziplin, wie sie ihnen in Russvik eingetrichtert worden war, veranlasste sie dazu, sich in Reih und Glied aufzustellen. Eine Aura der Furcht lag über diesem Ort. Ragnar spürte sie förmlich in der heißen schwefeligen Luft. Schweiß kleisterte ihm die Haare an die Stirn. Sein Gesicht war von der Hitze gerötet. Es fühlte sich an, als sei er in der Heimat der Feuerdämonen. Uralte und starke Kräfte waren hier am Werk, und Ragnar spürte unsichtbare Präsenzen, vielleicht Geister oder Gespenster. In diesem Torbogen und dem, was sich dahinter verbergen mochte, lag Macht. »Seht Morkais Tor«, sagte Ranek, indem er auf den Torbogen zeigte. »Durch dieses Tor führt der Weg zu Tod oder Ruhm. Einmal hindurch, gibt es kein Zurück mehr, außer als jemand, der würdig ist, mit Leib und Seele zu den Wölfen zu gehören. Es gibt jetzt keinen anderen Weg mehr für euch. Ihr könnt diesen Ort nicht lebend verlassen, ohne durch dieses Tor zu schreiten. Ich werde jeden, der sich weigert, in die Feuergruben werfen, und dort werden die Dämonen seine Seele verzehren. Hier gibt es nur noch eine Frage zu beantworten wer von euch geht zuerst?« Schweigen. Alle Augen waren auf den Torbogen gerichtet. Das Gefühl einer lauernden bösen Präsenz verstärkte sich. Abergläubische Furcht schlich sich verstohlen in die Gedanken jedes einzelnen Anwärters. Ragnar wusste, dass alle anderen genauso empfanden wie er. Es war nicht mehr so, als schauten sie durch einen von Nebel erfüllten Bogen. Es war, als starrten sie in das Maul einer gigantischen Bestie, die sie mit einem Haps verschlingen würde. Sie hätten sich um die Ehre, als Erster zu gehen, streiten müssen, und doch rührte sich keiner von ihnen. Hier war mächtige Magie am Werk, was Ragnars Herz mit Schrecken erfüllte und kalte Finger der Furcht sein Rückgrat
emporwandern ließ. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde es schwerer, sich zu bewegen, schwerer zu sprechen, sogar schwerer zu denken. Es war, als sei er ein kleiner Vogel, den eine Schlange hypnotisiert hatte. Er wollte etwas tun, und doch konnte er es nicht. Da kam ihm der Gedanke, dass die Prüfung bereits begonnen hatte, dass diese merkwürdige Magie Teil der Prüfung war, dass Tapferkeit eine der wichtigsten Messlatten war, die man anlegen würde, um zu beurteilen, ob er würdig war. Er zwang seine belegte Zunge, sich zu bewegen. Er zwang seine erstarrten Lippen, sich zu öffnen. Mit einem Gefühl immenser Beklommenheit hörte er sich sagen: »Ich werde durch das Tor gehen.« »Dann geh, Junge! Worauf wartest du noch?« Wie ein Automat oder das Opfer eines Zaubers in irgendeiner großen Saga trat Ragnar steifbeinig vor, um durch Morkais Tor zu gehen. Dabei überkam ihn ein Schwindelgefühl. Die Runen des Tors leuchteten auf. Die darin eingemeißelten Wolfsköpfe schienen lebendig zu werden und aus dem Gestein zu fließen, um ihn zu begrüßen: Wolfgeister, neblig und vage, die einen Kometenschweif hinter sich herzogen. In seinen Ohren glaubte er ein leises schrilles Heulen zu hören, wie es vielleicht die Geister eines längst toten Wolfsrudels verursacht hätten. Die Geister umschwirrten ihn, als er dem Torbogen entgegenschritt. Sie strömten in seinen geöffneten Mund und seine Nasenlöcher. Er spürte, wie der Nebel durch seine Kehle rann und seine Lunge ausfüllte. Er dachte, er werde an der stechenden, dumpfen Luft ersticken, zwang sich aber dennoch, weiterzugehen und sich dem mächtigen Torbogen immer mehr zu nähern ... ***
Für einen Moment glaubte er, er sei hindurch. Er erhaschte einen kurzen Blick auf drei schreckliche alte Männer, die Rüstungen trugen und sich das Fell eines großen weißen Wolfs um die Schultern gelegt hatten, und dann stellte sich ein Gefühl entsetzlicher Kälte ein, auf das eine Welle sengender Hitze und ein Gefühl des Fallens folgten, das weitaus schlimmer war als der Fall durch den Schacht. Zeit und Raum veränderten sich. Seine Haut schien Blasen zu werfen und zu schmelzen, und plötzlich war er ganz woanders. Er stand auf einer eisbedeckten Ebene. Weit entfernt konnte er Menschen und Maschinen sehen. Manche trugen eine graue Rüstung in der Art, wie Hakon und Ranek sie trugen. Andere waren in eine blutrote Rüstung gehüllt, die mit kunstvoll gestalteten Messingschädeln verziert war, ansonsten aber eine absonderliche Ähnlichkeit mit der Rüstung der Männer in Grau aufwies. Die Männer in Grau kämpften gegen die Männer in Rot unter dem kalten Licht einer fahlen weißen Sonne. Ragnar sah, dass er auf einem Leichenhaufen stand. Ein abgetrennter Kopf rollte von seinen Füßen fort. Gliedmaßen wurden unter seinen Stiefeln zerquetscht. Ihm ging auf, dass er ebenfalls eine graue Rüstung trug, die an tausend Stellen Kratzer und Dellen aufwies. Öl und Flüssigkeit vermischten sich auf ihrer glatten Oberfläche mit seinem Blut und demjenigen seiner Feinde. Er hielt eines der seltsamen magischen Schwerter, wie Sergeant Hakon immer eines trug, in jeder Hand. Eines war zerbrochen, die Sägezähne waren abgesplittert. Das andere hatte Aussetzer. Es erwachte vorübergehend zum Leben und kreischte und vibrierte in seinen Händen, um dann wieder innezuhalten, als sei der Zauber, der ihm Leben verlieh, erloschen. Als er sich umsah, fiel sein Blick auf die Leichen von Kjel, Sven und Strybjörn und sogar auf diejenigen von Sergeant Hakon und Ranek. Er war von Männern in Rot umzingelt. Einige von ihnen hatten das Visier ihres Helms
hochgeschoben, und ihre Gesichter waren zu furchtbaren Parodien menschlicher Antlitze verzerrt. Rot leuchtende Augen funkelten in entsetzlichem Hass aus den Helmen der anderen. Er wusste, dass sie zu zahlreich und zu stark für ihn waren. Ohne dass man es ihm zu sagen brauchte, erkannte er, dass dies die Diener Horus' waren, die Anhänger der letzten Dunkelheit und Russ' Feinde. Er wusste, dass es im ganzen Universum keine tödlicheren Kämpfer gab. Und er wusste, dass ihr nur noch Augenblicke vom Tod trennten. Eine der Gestalten in roter Rüstung bedeutete den anderen zu warten. Sie hielten einen Moment inne wie Hunde, die dem Befehl ihres Herrn gehorchten, aber Ragnar wusste, dass es sich nur um einen vorübergehenden Aufschub handelte. Sie dürsteten nach seinem Blut, und selbst der Wille ihres schrecklichen Anführers konnte sie nicht lange zügeln. Der Anführer sprach jetzt, und seine metallische Stimme klang ernst und aufrichtig. »Du bist ein mächtiger Krieger, Ragnar«, sagte er. »Du bist ein gewaltiger Schlächter. Du bist würdig, dich uns anzuschließen. Leg deine Waffen nieder. Nimm am Ritual des Bluts teil. Biete Khorne deine Seele an. Leb ewig und erfahre die Ekstase der endlosen Schlacht.« Wer war Khorne?, fragte sich Ragnar. Der Name klang merkwürdig vertraut, aber auch böse. Und warum waren seine Anhänger auf Ragnars Gefolgschaft aus? Nicht, dass es eine große Rolle spielte. Dies war ein ehrliches Angebot, und ein Teil von ihm war davon fasziniert. Der rotgerüstete Krieger bot ihm eine Ewigkeit blutigen Kampfes, wie sie den Helden versprochen wurde, die Russ folgten. Mehr noch, er wusste, sobald er an ihren Ritualen teilgenommen und ihre rote Rüstung angelegt hatte, würde ihm das Gemetzel mehr Freude denn je bereiten, und dafür würde er von einer Macht belohnt werden, die so groß war wie die eines Gottes. Einen Moment lang verspürte er den Kitzel der Versuchung. Warum sollte er
sich nicht diesen gewaltigen Kriegern anschließen? Warum sollte er diesem Khorne nicht seine Seele anbieten? Warum sollte er nicht Unsterblichkeit erringen? Doch noch während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, schreckte ein anderer Teil von ihm voller Abscheu zurück. Diese Anhänger der Finsternis waren verloren und verdammt. Ihnen fehlte etwas Wichtiges, und dieser Verlust hatte aus ihnen etwas Geringeres als Menschen gemacht. Sie mochten eine gewisse Art von Ehre haben, aber dies war nicht die Ehre, wie Ragnar sie verstand. Ihre Missgestalten waren ein Spiegel ihrer entstellten Seele, und diese Tatsache konnte auch die Schönheit ihrer künstlerisch gestalteten Rüstungen nicht verbergen. Ragnar lachte und spie dem Anführer ins Gesicht, dann sprang er mitten unter die Rotgerüsteten, wobei er nach rechts und links Hiebe austeilte. Nicht einmal der Biss der ChaosKlingen, die sich in seine brechenden Knochen gruben, veranlassten ihn dazu, seine Entscheidung zu bereuen. Eine Grube aus Finsternis öffnete sich zu seinen Füßen, und zu plötzlich für ihn, um die Art des Übergangs zu verstehen, befand er sich an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit. Er war von Mauern aus Fleisch in der Farbe von Blutergüssen umgeben. Dicke Rohre wie Adern durchzogen sie, in denen seltsame Flüssigkeiten brodelten. Gelbliche Säulen aus Knochen und Knorpel in der Farbe verfaulter Zähne stützten die Decke. Alles war von einem widerlichen klebrigen roten Schleim bedeckt. Seine Stiefel verursachten ein scheußliches Schmatzen, wenn er sie von dem zungenartigen Boden hob. Die Luft hatte die Temperatur von Blut. Es war eng und stickig. Er spürte Leben einer fremden Art überall ringsumher. Er fühlte sich, als sei er bei lebendigem Leib von einer gewaltigen Bestie verschlungen worden. Er trug wieder die graue Rüstung und hielt auch die seltsamen und mächtigen Waffen in den Händen. Entfernt und
zugleich unmittelbar hörte er das Geschnatter von Stimmen, die er kannte: Kjel, Strybjörn und Sven. Irgendeine Magie trug ihm ihre Worte zu, die seltsam ton- und gefühllos klangen. Er hörte sie reden, und ihre Stimmen kündeten von Staunen und Furcht. Ist dies wirklich?, fragte er sich. Er war sich nicht sicher. Es fühlte sich wirklich an. Unter den Füßen vibrierte der Boden im Einklang mit der Blasebalg- Atmung der riesigen Bestie. Er konnte den exotischen Gestank ihrer Innereien riechen. Merkwürdige Geschmacksrückstände hielten sich wie Gift in seinem Mund. Aber wie konnte dies wirklich sein? Er war unter den Klingen der rotgekleideten Krieger gestorben. War er wie nach der Schlacht mit den Grimmschädeln wieder zum Leben erweckt worden? Oder war nichts von alledem wirklich? Befand er sich im Banne irgendeines mächtigen Zaubers? Dieser hat eine starke Seele. Die Stimme hallte in seinem Schädel. Er kannte sie nicht, aber sie klang uralt und weise. Unmittelbar im Anschluss an die Worte spürte er eine Kraft in seinen Verstand eindringen, die seine Zweifel zerstreute, seine Erinnerung veränderte und ihn zwang, nur in der Gegenwart zu leben. Seine Zweifel zerliefen wie Blut in einem Gebirgsbach. Alle Gedanken, die sich mit anderen Dingen befassten als der unmittelbaren Gefahr, verschwanden, als er das entfernte Gebrüll einer gewaltigen Bestie hörte. Die Stimmen der anderen Anwärter hallten laut in seinen Ohren. Sie kündeten von unbändiger Furcht. Er riskierte einen Blick zurück und sah blankes Entsetzen und nackte Angst in Kjels Zügen. Die anderen blieben hinter ihnen zurück. Die Hände hielten Waffen wie jene, die Ranek vor so langer Zeit in Ragnars anderem Leben benutzt hatte, um den Meerdrachen zu töten. Ihm war klar, dass sie sich fragten, was sie hier taten. Sie alle erwarteten von ihm Führung und beispielhaftes Handeln wie in jener Nacht, als sie Henk verloren hatten. Sie verließen
sich auf seine Nerven, seinen Mut, sein Wissen. Und das Schlimmste daran war, dass er keine Ahnung hatte, was sie tun sollten. Er wusste nicht, wo sie waren, wie sie hierher gelangt waren und welcher Feind sich ihnen näherte. Er war nur sicher, dass sich irgendein Feind näherte, und zwar mit entsetzlicher Schnelligkeit. »Bleibt ruhig«, sagte er zu ihnen in der Hoffnung, dass niemand von ihnen die Unsicherheit in seiner Stimme bemerkte. Abermals ertönte das Gebrüll, und Ragnar überlief ein Schauder. Was für ein Ungeheuer diese Laute auch verursachte, es musste riesig sein. Und es gab mehr als eines. Dieses Brüllen war aus einer anderen Richtung gekommen als das erste. Es wurde von einem sonderbaren Ruf aus dem Gang voraus beantwortet. Dieser Ruf klang wie das Quieken Tausender Ratten oder vielleicht wie das Klicken Hunderter chitingepanzerter Klauen. Das Geräusch kam näher. Er hörte Kjel vor Angst aufschreien und rang um seine Beherrschung, um zu verhindern, dass Kjels Entsetzen sich auf ihn übertrug. Dies gelang ihm nur teilweise. Der Anblick dessen, was durch den Gang auf ihn zuraste, hätte ihn beinahe all seiner Kraft beraubt. Es waren Hunderte von Kreaturen, Ungeheuer größer als ein Mensch. Jedes hatte vier Arme, die in riesigen Klauen endeten, und Albtraumgesichter aus winzigen Augen und monströsen Kiefern. Sie waren viel schneller als ein Mensch und überbrückten die Entfernung fast zu rasch für das Auge, um ihnen zu folgen. »Wir werden alle sterben!«, rief Kjel, und Ragnar stimmte ihm insgeheim zu. Dennoch, auch wenn er sterben musste, würde er noch einige dieser Bestien mit in den Tod nehmen. Und er würde in jedem Fall dafür sorgen, dass die anderen seinem Beispiel folgten. »Bleibt stehen und kämpft«, schrie er. »Oder ich töte euch
eigenhändig, ihr blutlosen Feiglinge!« Das Tosen magischer Waffen wurde laut. Dieselbe Magie, welche auch den Drachen getötet hatte, forderte ihren Tribut von den Angreifern. Ragnar duckte sich, als Feuerstrahlen über seinen Kopf hinwegzuckten und die Ungeheuer trafen. Sie starben, aber nicht schnell genug. Köpfe explodierten. Leiber wurden zerfetzt. Blut und ekelhafte Flüssigkeiten liefen über den lebenden Teppich. Trotzdem liefen die Angreifer weiter, eine unaufhaltsame Flut aus unmenschlichem Hunger und Hass. Verzweiflung drohte Ragnar zu überwältigen. Welchen Sinn hatte ihr Kampf? Warum legten sie sich nicht einfach hin und starben? Er weigerte sich nachzugeben. Vor Wut und Hass schreiend, sprang er vor und in die Masse der Ungeheuer, wobei er mit seinen Klingen nach allen Seiten hieb. Einige hielten inne, um gegen ihn zu kämpfen, aber die meisten rasten an ihm vorbei, um zu seinen Kameraden zu gelangen. Er war von einem Wirbelsturm aus Zähnen und Klauen umgeben, die seine Rüstung und ihn selbst zerfetzten. Immer noch kämpfend, immer noch tötend, rang er die Qualen nieder, die ihn zu überwältigen drohten, während sich Dunkelheit über ihn senkte. Wieder erwachte er unbeschadet. Seine Augen erfassten die Umgebung mit einem Blick. Es war dunkel. Der Himmel wurde von gewaltigen Ausbrüchen von Licht erhellt. Ein Geräusch wie Donnerhall ließ die Luft erzittern. Er war von den Ruinen einer gewaltigen Stadt umgeben, die größer als alles war, was Ragnar je gesehen hatte, vielleicht mit Ausnahme des Fangs. Die geschwärzten Stümpfe hoher Gebäude ragten vor ihm in die Höhe. Jedes Gebäude schien fast so hoch zu sein wie ein Berg. In der Ferne, am Ende der Straße, sah er große MaschinenBestien aus Metall, die sich bewegten. Sie waren Menschen nachempfunden, aber vielleicht zehn Mal so groß. Sie hielten
riesige Waffen in den Händen, aus denen Lichtstrahlen über den Himmel zuckten wie Blitze der Götter. Auch aus ihren Schultern zuckten Blitze. Für einige Augenblicke lag ein schrilles Jaulen in der Luft, und dann war in der Ferne das markerschütternde Donnern einer Explosion zu hören. Der Boden unter seinen Füßen zitterte wie ein geprügelter Hund. Eine Wolke aus schwarzem Rauch und Trümmern jagte hoch in den Himmel, bevor sie in überraschend langsamer Bewegung wieder auf den Boden sank. Ragnar betrachtete die Szenerie. Wiederum trug er die graue Rüstung mit dem Wolfszeichen. Mittlerweile war er daran gewöhnt. Sie passte ihm wie eine zweite Haut und machte ihn schneller und stärker. Wieder einmal hielt er jene seltsamen, mächtigen Waffen in den Händen. Er fragte sich kurz, was er hier tat, aber erneut spürte er die mächtige Ausstrahlung jener uralten Präsenzen, und alle Zweifel wurden davongeschwemmt. Er sah sich um. Er war allein. Er war von seinen Kameraden getrennt worden. Zum ersten Mal seit Russ weiß wie vielen Monaten war er ganz allein. Niemand war da, um ihm Rückendeckung zu geben, um ihm zu helfen, wenn er strauchelte, um über ihn zu wachen, wenn er verwundet wurde. Er hatte keine Ahnung, wo die anderen waren und wie er an diesem ausgedehnten und entsetzlich fremdartigen Ort von ihnen getrennt worden war. Ihm fiel auf, dass die Sonne eine aufgeblähte rote Kugel war und der Himmel eine kobaltblaue Farbe hatte, wie sie ihm noch nie zuvor begegnet war. Er hatte ein Gefühl von großer Ferne, als sei er so weit von zu Hause weg, dass er die Entfernung gar nicht begreifen konnte. Er wusste, dass er die anderen finden musste, dass sie irgendwo dort draußen waren und ihren Anführer brauchten, aber er konnte nicht wissen, wo und warum Plötzlich kam er sich unbedeutend vor, verloren und allein wie ein Kind in der Wildnis. Er rang das Gefühl der Schwärze und Verzweiflung
nieder und marschierte los in Richtung des Schlachtfelds. Dabei bekam er einen besseren Eindruck von seiner Umgebung, und sein Staunen vertiefte sich noch. Menschen hatten diese Stadt erbaut. Das konnte er den Dingen entnehmen, die zwischen den Trümmern lagen. Bilder von Familien, mit so vielen Einzelheiten gemalt, dass sie beinahe wirklich schienen, in Kristallen gefangen, welche das Bild aus verschiedenen Blickwinkeln zeigte, wenn man sie drehte. Bücher in einer Sprache, die er nicht kannte, geschrieben in einer seltsamen mechanischen Regelmäßigkeit, wie es sie auf Fenris nicht gab. Kinderspielzeuge aus fremdartigen Stoffen, die glatt und kühl waren. Langsam dämmerte ihm der Maßstab dessen, was er hier erlebte. Dies war Krieg, und er wurde auf eine Weise ausgetragen, die bei seinem Volk unvorstellbar war. In dieser Stadt mussten mehr Leute gewohnt haben als auf seiner ganzen Welt, und sie war von den hier entfesselten Kräften so gründlich zerstört worden, als hätten die Götter sich aus dem Himmel herabgebeugt und sie zerschmettert. Vielleicht war genau das geschehen. Ihm schwindelte, als er sich die schiere Zerstörungskraft vorzustellen versuchte, die man auf diese Stadt gerichtet hatte. Kräfte, die zu erfassen sein Vorstellungsvermögen überstieg. Ragnar spürte, dass er hier herausgefordert und geprüft wurde und zu dieser Prüfung auch gehörte, sich an das anzupassen, was er sah, es zu begreifen und handlungsfähig zu bleiben. Er wusste, dass viele Angehörige seines Volks vor der bloßen Angst, durch diese titanischen Ruinen zu laufen, gelähmt gewesen wären. Er kam zu dem Schluss, dass es ihm nichts ausmachte. Er war Ragnar, und er würde hier ebenso gut kämpfen wie auf dem Deck eines Drachenschiffs, und er würde weiterkämpfen, ob seine Kameraden bei ihm waren oder nicht. Er gratulierte sich gerade zu seiner seelischen Stärke, als der Boden erbebte und er das bedrohliche Stampfen sich nähernder
Schritte hörte. Eine der entfernten riesigen Gestalten, die er anfangs gesehen hatte, bog um eine Ecke und kam in Sicht. Das Ding war fast zehn Mal so groß wie er und wie ein Mann proportioniert, nur größer und schlanker. Der Kopf war länglich, schnittig und oval, und der Art, wie er aufmerksam gedreht wurde, konnte er entnehmen, dass dieses Ding von Ragnars Anwesenheit wusste. An den Schultern flatterten rote und gelbe Wimpel im Wind. Seine gewaltigen Klauen hielten merkwürdige längliche Waffen. Es sprang vorwärts und bewegte sich dabei viel schneller als ein Mensch. Ragnar spürte, dass er vor Entsetzen erstarrt war. Gegen dieses Monstrum konnte er nichts unternehmen. Sein Schwert kam ihm so jämmerlich vor wie ein Zahnstocher, den ein Kind gegen einen ausgewachsenen Krieger schwang. Dieses Ding konnte ihn unter einem seiner enormen Füße zerquetschen, ohne auch nur langsamer zu werden. Tatsächlich schien es genau diese Absicht zu haben. Verdrängte Luft peitschte an Ragnars Gesicht vorbei Ein riesiger Schatten huschte an der Sonne vorüber, als der gewaltige Fuß sich herabsenkte. Im letzten Augenblick fasste er sich, entschlossen, etwas zu tun. Er versuchte sich zur Seite zu werfen und so aus dem Bereich zu entkommen, den der Fuß abdecken würde, aber es war zu groß. Er konnte dem Fuß nicht mehr entkommen. Vor Wut heulend und entschlossen, dem Ding das ihn tötete, etwas anzutun, hob er in einer letzter vergeblichen Geste des Trotzes sein Schwert. Funken sprühten, als die Zähne der Klinge auf Metall trafen. Es war das Letzte, was er sah, bevor sich eine gewaltige Last auf ihn senkte und seine Knochen zu Brei zerquetschte. Immer noch schreiend, schoss er kerzengerade in die Höhe und fand sich in einer neuen Umgebung wieder. Dies war die Hölle, davon war er überzeugt. Er würde die Ewigkeit damit zubringen, tausend Tode an Orten zu sterben, die er nicht verstand, und gegen Kräfte antreten, die er nicht begriff. Nein,
sagte er sich, während er in gequältem Trotz aufschrie, all das war nur eine Illusion, ein Zauber, der von diesen verbitterten Alten gewoben worden war, die hinter Morkais Tor warteten, und davon würde er sich nicht unterkriegen lassen. Dieser ist tatsächlich sehr stark, Brüder, sagte die dröhnende Stimme in seinem Kopf. Wenn er überlebt, wird er zu den Mächtigen zählen. Wieder spürte Ragnar eine gewaltige Woge der Macht durch seinen Verstand spülen, die seinen Willen betäubte und seinen Widerstand aufzehrte. Diesmal wehrte er sich dagegen und setzte jede Unze seiner Grausamkeit und seines Hasses ein. Er würde sich nicht noch einmal gegen seinen Willen in jene fremdartigen Welten zwingen lassen. Er würde nicht die willenslose Marionette uralter Zauberer sein. Er würde nicht nachgeben ... Wem oder was? Wem oder was würde er nicht nachgeben? Er konnte sich nicht erinnern. Es gab keinen Grund, sich zu erinnern. Er stand an einem Strand und betrachtete den Sonnenuntergang. Merkwürdige Bäume schwankten in einer sanften Brise. Es war warm und roch nach fremdartigen Düften. Unter den tastenden Fingern des Windes schwankten Blumen, die viel üppiger waren als alles, was je in der kahlen Öde von Fenris geblüht hatte. »Ragnar.« Er drehte sich um. Die schönste Frau, die er je gesehen hatte, ging auf ihn zu. Doch diese Beschreibung war nicht liebreizend genug, um die Eleganz ihrer Bewegungen zum Ausdruck zu bringen. Ihre Haut war bernsteinfarben. Ihre Haare waren von einem Schwarz, das sie flüssig wirken ließ. Etwas an ihren Zügen erinnerte ihn an Ana, aber an eine Ana ohne Makel, eine Ana, aus der alle Unzulänglichkeiten ausgemerzt worden waren. Sie lächelte, und Ragnar spürte, wie sein Herz einen Sprung tat. Es war ein Lächeln, das seine Umgebung erwärmte,
wie es sonst nur die Sonne vermocht hätte. Er fühlte sich durch eine subtile Kraft zu ihr hingezogen, obwohl ihr Lächeln kleine spitze Fänge entblößte wie diejenigen einer blutsaugenden Bestie. »Dann hast du dich also entschlossen«, sagte sie. Ihre Stimme war melodisch und so erregend wie die Sünde. Von ihrem bloßen Klang wurde er so trunken wie von einem Schlauch Wein. »Entschlossen? Wozu?« »Spiel nicht mit mir. Du hast dich entschlossen, dich uns anzuschließen? Dich mit uns zu verbinden und deine Seele unserem großen Herren Slaanesh anzubieten?« Was redete sie da? Wer war Slaanesh? Er hatte im Grunde keine Ahnung, aber allein der Name weckte das Empfinden von etwas Bösem. Mehr noch, er spürte, dass ihre Worte noch eine tiefere Bedeutung hatten, wie auch ihre verderbte Schönheit auf eine tiefergehende Wirklichkeit hinwies. War da eine Andeutung von Gereiztheit in ihrer Stimme? Verwechselte sie ein Missverstehen mit einer Weigerung? Was ging hier eigentlich vor? »Ich habe mich noch nicht entschlossen«, sagte er, um Zeit zu gewinnen. »Das ist bedauerlich«, erwiderte die Frau und beugte sich vor, um ihn zu küssen. Seine Lippen kribbelten von ihrer Berührung. Ihre Haut schien subtile Rauschmittel abzusondern. Ihre bloße Berührung bereitete ihm ein so intensives Vergnügen, dass es fast schmerzhaft war. Je länger der Kuss dauerte, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, dass ihm etwas entzogen wurde, nämlich die Essenz seiner Persönlichkeit, seine Seele. Das war nicht schmerzhaft. Es war angenehm, als döse man auf einem weichen Daunenbett mit einer wunderschönen Frau neben sich ein, nachdem man sich alle nur erdenklichen Freuden bereitet hatte. Und doch war
irgend etwas nicht richtig. Mit Ana hatte es sich anders angefühlt. Plötzlich erkannte Ragnar, dass er sich nicht in diese sanfte Zerstörung all dessen, was er war, fügen wollte, nicht mehr, als er es begrüßen würde, vom stählernen Fuß einer mächtigen Kriegsmaschine zerquetscht zu werden. Er kämpfte dagegen an, und dabei erkannte er ihre Kraft. Es war, als werde man von einer starken Strömung unter Wasser gezogen. Man konnte sich wehren, so viel man wollte, und würde dennoch zu den Meerdämonen herabgezogen werden. Er versuchte zu widerstehen, und dennoch wurde ihm weiterhin seine Lebenskraft entzogen, und Schwärze umwölkte die Ecken seines Blickfelds. Wieder erwachte er in einem Albtraum. Diesmal stand er vor einem riesigen schwarzen Altar. Überall tollten seltsame Gestalten herum. Hoch über ihm schwebte ein gehörnter Zauberer auf einer großen leuchtenden Scheibe und trotzte der Schwerkraft mit seiner Magie. Kaum hatte Ragnar ihn erblickt, als er herabsank. Ein Lichtkreis umspielte die Klauenhände des Zauberers, doch bisher hatte er noch nichts Bedrohliches unternommen. Ragnar hob seine Waffe, schlug aber nicht zu, weil er wissen wollte, was geschehen würde. »Was kann mein Herr dir im Tausch für deine Seele gewähren?«, fragte der Zauberer mit einer Stimme, in der die Macht der Zauberei mitschwang. »Was wünschst du dir? Du brauchst nur daran zu denken, und es ist dein.« Augenblicklich und ungebeten kam ihm das Bild von Strybjörns Leiche in den Sinn. Bevor er auch nur versuchen konnte, seine Gedanken zu verschleiern, tauchte Strybjörn gefesselt auf dem Altar auf, und plötzlich hielt Ragnar ein großes Opfermesser fest in beiden Händen. Hass ließ seine Eingeweide verkrampfen. Er sah seinen Vater tot in den ausgebrannten Ruinen seines Heimatdorfs
liegen. Er sah, wie die überlebenden Angehörigen des Klans als Leibeigene auf die Drachenschiffe der Grimmschädel geführt wurden. Er durchlebte erneut das Duell, in dem er Strybjörn erschlagen zu haben glaubte und in dem der Grimmschädel beinah auch ihn erschlagen hatte. Der Drang, seinem Feind das Opfermesser in die ungeschützte Brust zu stoßen, war überwältigend, und fast hätte er es getan. Er wollte spüren, wie die Klinge in Strybjörns Brust eindrang, wie der Stahl auf Knochen traf, wollte spüren, wie das Blut über seine Hände spritzte. Das Einzige, was seine Hand für einen Moment ruhig hielt, war die Tatsache, dass Strybjörn ein Amulett mit demselben Wolfskopf-Emblem trug, wie es auch auf Ragnars eigener grauer Rüstung prangte. »Los! Stich zu!«, sagte der Zauberer. »Nimm deine Rache. Die Seelen deiner Vorfahren schreien danach. Stich zu, und die Rache ist dein.« Ragnars Hand zitterte, so groß war der Drang zuzustechen. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nichts sehnlicher gewünscht. Obwohl er wusste, dass seine Seele im gleichen Augenblick dem Gott des Zauberers gehören würde, war der Drang, den Dolch niedersausen zu lassen, fast zu stark für ihn. Obwohl er wusste, dass es Verrat an seiner Rüstung und an seinen Kameraden war, erfüllte ihn dieses Verlangen. Subtiles Wissen flutete in seinen Verstand. Wenn er jetzt zustieß, würde er zu einem Verräter an seinem ganzen Volk werden, in den Fang zurückkehren und die Diener Russ' an ihre Feinde verraten. Wenn er zustieß, würde ganz Fenris und sein Volk der Vernichtung und der Sklaverei anheimfallen. Einen Moment stand er da wie auf einer Messerklinge, mit seinem Hass auf der einen und seinem Pflichtgefühl auf der anderen Seite. Das Schicksal der Welt hing in der Schwebe. In der einen Waagschale lag sein allesverzehrender Hass. In der anderen lag das Wissen, dass sein Name auf ewig verflucht sein würde.
Was spielte das für eine Rolle?, sagte eine ruhige, leise Stimme. Was bedeuteten ihm die Bewohner von Fenris? Alle seine Blutsverwandten waren tot, erschlagen von diesem Mann und seinen Leuten. Und was hatten die Bewohner des Fangs je für ihn getan, außer ihn zu zwingen, Schmerzen, Demütigungen und Entbehrungen zu ertragen? Wenn er dadurch, dass er Strybjörn tötete, die Zerstörung seiner Welt verursachte, was machte das schon? In dem allgemeinen Sterben würden die Grimmschädel in einer Woge von Blut hinweggeschwemmt werden, und dann war die endgültige Rache sein. Eine Rache, die so vollständig war, dass sie nie übertroffen werden konnte. Seine Hand zitterte, und die Klinge senkte sich langsam. Er kämpfte gegen den Drang an. Dies war nicht die Art von Rache, die er gewollt hatte. Dies war nicht das Kräftemessen in der hitzigen Erregung eines tödlichen Zweikampfs. Dies war das Abschlachten eines gebundenen Feindes, dessen Seele von einer dunklen Macht verschlungen würde. Dies war keine würdige Art der Rache. »Nimm deine Rache, wie es dir gefällt«, sagte der Zauberer. »Aber nimm sie!« Er gestikulierte, und die Ketten fielen von Strybjörn ab. Der Grimmschädel sprang auf. »Verräter!«, kreischte er und warf sich auf Ragnar. Der fällte ihn mit einem Faustschlag und hätte seinem Feind beinahe das Messer in die Brust gestoßen. Wieder konnte er sich gerade noch zurückhalten. Und wieder wurde er sich der Tatsache bewusst, dass er der Spielball von Mächten größer als er war. Erneut sah er jene furchtbaren alten Männer vor sich, die hinter Morkais Tor lauerten. Er wusste, dass sie irgendwo dort draußen waren, mit ihm spielten, die innersten Geheimnisse seines Wesens ergründeten, seine Gedanken lasen und beurteilten, ob er
würdig war. Die Vorstellung erfüllte ihn mit einem Zorn brennender als sein Hass. Wer waren sie, über ihn zu urteilen? Wer waren sie, seinen Verstand ihrem Willen zu unterwerfen? Er wollte nichts mehr davon wissen. Er biss sich auf die Zunge, bis Schmerzen ihn durchzuckten. Er nahm das Messer und stieß es sich in den eigenen Leib. »Keines von diesen Spielen mehr!«, rief er, indem er auf die Knie fiel und zusah, wie sich sein Blut vor seinen Füßen in einer Lache sammelte. Schmerzen brannten sich durch seine Adern. Seine Lippen verzogen sich zu einem Knurren der Wut und der Schmerzen. Die Welt erzitterte. Felsen fielen von der Decke. Alles schien sich zu bewegen, zu tanzen, zu zerfließen. »Ich bin Ragnar, und ich trotze euch!«, tobte er, als ihn zum letzten Mal vollständige Dunkelheit verschlang.
10
DER WOLFENKELCH Ragnar erwachte langsam und unter Schmerzen. Er fühlte sich so müde, als sei er gerade von den Toten auferstanden. All seine Energie, all seine Lebenskraft schien verbraucht zu sein. Er konnte sich nur noch an sehr wenig von seiner Feuerprobe erinnern. Sie war ein endlos erscheinender Albtraum der Gewalt und des Todes, in dem jede Schwäche seiner Psyche entblößt worden war. Als er an sich herabschaute, nahm er zu seiner Überraschung zur Kenntnis, dass er keine Wunden oder Schrammen davongetragen hatte. Er hatte das Gefühl, als sollten dort welche sein. Er war nackt und lag auf einer kalten Steinplatte in einer Höhle. Das Licht stammte aus einer der seltsamen Zauberkugeln. Auf anderen Steinplatten lagen andere Anwärter. Er erkannte Sven, Strybjörn und Kjel. Kalter Atem drang aus ihrem Mund und verband sich zu kleinen Wolken, wo er auf die Kälte der Höhle stieß. Ragnar schauderte und bemerkte erst jetzt, wie kalt ihm war. Er richtete sich mühsam auf, glitt von der Steinplatte und trat an den anderen. Einer von ihnen, ein Anwärter, den er nicht kannte, schien nicht mehr zu atmen. Ragnar ging weiter, während die eisige Kälte ihm das Gefühl in den Füßen raubte, und untersuchte den Jungen. Er legte dem Anwärter eine Hand auf die Brust. Sie war kalt und ohne Herzschlag. Die Leichenstarre hatte die Glieder bereits steif werden lassen. Also stimmte es, dachte Ragnar. Man konnte sterben, wenn man durch Morkais Tor schritt. Ihm schauderte wieder, und diesmal wusste er nicht, ob aus Kälte oder vor Furcht. Er war nur knapp demselben Verhängnis entgangen, das diese arme Seele ereilt hatte. Er spürte, wie in ihm eine ruhige, eisige Wut Gestalt
annahm. Er war wütend darüber, dass jemand seine Gedanken und Erinnerungen durchwühlt hatte wie ein Plünderer ein Haus. Was gab diesen Leuten das Recht, so etwas zu tun? Oder vielmehr, was vermittelte ihnen den Eindruck, sie hätten das Recht dazu? Etwas ließ ihn innehalten und nachdenken. Wer sie auch waren, sie mussten es aus einem ganz bestimmten Grund tun. Hinter all diesen gnadenlosen Prüfungen und Aussonderungen, hinter diesem endlosen Ausmerzen der Schwachen und Unwürdigen musste ein großer Plan stecken. Anders machte es keinen Sinn. Es konnte nicht einfach nur eine Form grausamer Belustigung für die Götter sein, oder? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er fror und müde und hungrig war und von diesem schrecklichen Ort fort wollte. Er ging zur Einmündung der Höhle und sah, dass dahinter noch eine Höhle lag. Darin gab es noch mehr Steinplatten, die aber leer waren. Eines der seltsamen Wesen, halb Mensch, halb Maschine, stand da und beobachtete ihn. Ein Auge war menschlich und blau. Das andere war aus Glas und Stahl und reflektierte das Licht wie eine winzige Sonne. Es drehte sich in seine Richtung, und als es den Kopf bewegte, ertönte ein seltsames Surren. Der Hals war zum Teil mit Metall bedeckt und ein stählerner Kragen in die Metallplatte eingepasst, die seine Brust bedeckte. »Komm mit mir«, sagte er mit einer seltsam gleichgültigen Stimme und einem Akzent, den Ragnar nicht kannte. Er folgte ihm durch mehrere Metalltüren. Nach jeder Tür wurde es wärmer. In der letzten Kammer gab es Gewänder aus demselben dehnbaren Material wie die Tuniken, welche man den Anwärtern in Russvik gegeben hatte. Diese wiesen jedoch außer dem Wolfskopf-Emblem noch krallenartige Streifen auf der Brust auf. Ragnar blieb stehen und zog eines an, ohne dass man ihn aufgefordert hätte. Dann folgte er der MenschMaschine in eine große Kammer, wo Ranek mit den drei
schrecklichen alten Männern wartete, die jenseits von Morkais Tor alles beobachtet hatten. Er musterte Ragnar seltsam und lächelte dann kalt, wobei er jene gewaltigen Eckzähne zeigte. »Du hast uns vor ein Rätsel gestellt, Junge.« Ragnar sah ihn nur an und ließ dann den Blick über die alten Männer in ihren Rüstungen und Wolfsfellen wandern. Sie schienen nur unwesentlich weniger ergraut als Ranek und waren von einer Aura der Macht und Absonderlichkeit umgeben. Die drei hatten eine Spur des Unheimlichen an sich, dachte Ragnar, und daran konnte kein Zweifel bestehen. Er hatte schon oft Ranek in Verdacht gehabt, ein Zauberer zu sein, aber er erkannte jetzt, dass er sich geirrt harte. Diese drei waren die wahren Magier, die Runenweber, die Seher, die in die Gedanken der Menschen schauen konnten. Er spürte, wie sich seine Wut und Furcht auf sie richtete. Wenn sie dies spürten, gaben sie es nicht zu erkennen. Sie sahen ihn an, wie ein Mann einen Hund ansehen mochte, dessen Kauf er erwog. Ragnar richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Ranek. »Niemand war je näher daran, bei dieser Prüfung durchzufallen«, sagte Ranek. »Du hast einen Makel in dir, Junge, und der könnte einmal dein Verderben sein.« »Einen Makel?« »Hass. Du besitzt ein unglaubliches Vermögen zu hassen.« »Seit wann ist Hass ein Makel in einem Krieger? Seine Feinde zu hassen macht einen Mann stark.« »Gewiss, aber seine Kameraden zu hassen ist ein Luxus, den ein Krieger sich nicht leisten kann. »Ach?« »Du hasst den Grimmschädel und willst dich an ihm rächen.«
Ragnar sah keinen Sinn darin, das zu bestreiten. »Ja.« »Du bist nicht der Erste, der auf diese Weise hierher kommt, Junge. Oft wählen wir Krieger von beiden Parteien einer Schlacht aus. Mitunter schließen sich uns alte Feinde zur gleichen Zeit an. Sie lernen, Seite an Seite zu kämpfen.« »Das überrascht mich.« »Das sollte es nicht. Die Ausbildung der Anwärter knüpft starke Bande. Nur in deinem Fall war das Verfahren nicht von Erfolg gekrönt.« »Man kann nicht von mir erwarten, dass ich meinen Feind am Leben lasse.« »Du musst dich entscheiden, was dir wichtiger ist. Deinen Feind zu töten oder dein Leben im Dienst einer großen Sache zu führen. Glaub mir, falls du überlebst, wirst du in Zukunft Feinde genug haben, um deine Kampfeslust zu befriedigen.« »Also muss ich Strybjörn verschonen, sonst falle ich durch eure Prüfungen?« »Nein, du musst Strybjörn verschonen, sonst wirst du sterben.« »Warum erzählt ihr mir das?« »Weil du das Zeug hast, ein großer Krieger zu werden, Junge. Und wir brauchen dringend große Krieger. Aber diese Krieger müssen ihren Kameraden gegenüber loyal und aufrichtig sein, sonst sind sie nutzlos, sowohl für uns als auch für sich selbst. Sei auf der Hut, Junge, dein Weg in die Dunkelheit führt durch deinen Hass. Vergiss das niemals.« Ragnar sah den alten Mann nachdenklich an. Ihm fiel darauf keine Antwort ein, also schwieg er. Er warf einen Blick auf die anderen, aber deren Mienen waren unergründlich. »Geh ins Vorzimmer und warte dort«, sagte Ranek zu ihm. »Du wirst sehr bald erfahren, was das alles zu bedeuten hat.«
*** Ragnar stand am Rande eines riesigen Amphitheaters an der Seite des Fangs. Es war so groß, dass es Platz für Zehntausende bot, nicht nur für die wenigen Dutzend Anwärter, die dort warteten. Vereinzelt brachen Sonnenstrahlen durch die aufgewühlten Wolken. Es war kalt, und kleine Schneeflocken trieben im Wind. In der Mitte der Arena stand ein riesiges Podest, das mit dem Wolfskopfsymbol versehen war. Große wolfsköpfige Statuen bewachten den Eingang. Ranek stand in der Mitte und sah sie an. Unter seinem kalten Blick fühlte Ragnar sich klein. »Ihr habt euch sehr gut geschlagen, da ihr es bis hierher geschafft habt«, sagte der Wolfpriester. Seine gelassene, schroffe Stimme erfüllte mühelos die gesamte Arena. Er war ein guter Redner, und die Akustik war perfekt, erkannte Ragnar. Seine Worte hatten eine merkwürdige Wirkung auf Ragnar. Er spürte Stolz in seiner Brust aufwallen. Dies war das erste Lob, das die Anwärter jemals von ihm oder einem der anderen Meister bekommen hatten. »Ihr seid aus Russvik, Grimnir und Valksberg gekommen, alles Orte, wo Anwärter ausgebildet werden. Ihr habt überlebt, wo andere gestorben sind. Ihr habt euch als würdig erwiesen, dass man erwägt, euch in unsere Reihen aufzunehmen.« Er hielt einen Augenblick inne, um seine Worte wirken zu lassen. Ragnar konnte das Grinsen auf den Gesichtern der anderen sehen. Raneks Worte hatten dieselbe Wirkung auf sie wie auf ihn. Was auch so beabsichtigt war, dachte er verdrossen. »Ja. Aber das ist alles, was ihr bewiesen habt. Alles, was ihr bisher erlebt habt, war nur ein Kinderspiel verglichen mit dem, was euch noch bevorsteht. Die wahre Prüfung fängt gerade erst an.«
Ein Ächzen entwich den Lippen aller Anwärter. Ranek lächelte gemein, bevor er fortfuhr. »Jammert nicht. Wenn ihr erst begreift, warum es getan werden muss, werdet ihr auch unsere Absicht erkennen. Ihr werdet erfahren was ihr ertragen müsst, und ihr werdet erfahren, warum ihr es ertragen müsst. Ihr seid bis hierher gekommen und habt es verdient, zumindest dies zu erfahren.« Alle waren jetzt still. Sie spürten, dass sie kurz davor standen, in ein großes Geheimnis eingeweiht zu werden. Ragnar stellte fest, dass er sich vorgebeugt und die Ohren gespitzt hatte, auf dass ihm kein einziges Wort des Wolfpriesters entgehen möge. Wie alle anderen wollte er unbedingt wissen, was all das sollte. »Wofür haltet ihr uns?«, fragte Ranek. »Wer, glaubt ihr, lebt in diesem riesigen Berg?« »Russ' Krieger!«, bellte Strybjörn. Ranek lachte, und sein Gelächter ließ Ragnar frösteln. »Aye, das sind wir. Wir sind in der Tat die Auserwählten. Wie auch unsere Vorgänger auserwählt waren und deren Vorgänger. Und so weiter bis zum Anbeginn der Zeit, als Russ unter den Menschen wandelte und der Allvater, der Kaiser, seine großen Kriege gegen die Mächte der Finsternis führte. Ihr steht in der Tat vor der Heimat der Auserwählten. Dies ist der Fang. Der Fang ist eine mächtige Festung in einem gewaltigen und endlosen Ringen zwischen der Menschheit und jenen Kräften, welche die Menschheit vernichten wollen. Es ist ein Ort, von dem große Krieger aufbrechen, um zwischen den Sternen zu fahren und Missionen auszuführen, die das Schicksal von Millionen beeinflussen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie bedeutsam diese Missionen sind. Wie solltet ihr auch? Wenn ihr überlebt, wird es viele Jahre, vielleicht sogar viele Lebensalter dauern, wie Menschen diese Dinge messen, bis ihr auch nur die leiseste
Ahnung habt. Ihr glaubt, man hätte euch auserwählt, euch den Reihen der Unsterblichen anzuschließen, um am Tag des Zorns neben Russ zu kämpfen. Das ist nichts weniger als die Wahrheit. Der Fang ist die Heimat einer Bruderschaft von Kriegern, eines Ordens, wie wir sie nennen. Wir sind die Söhne von Russ und entstammen seinem Volk. Wir nennen uns die Space Wolves Raumwölfe -, und eines Tages werdet ihr verstehen, warum. Ich will euch von Russ erzählen. Manche von euch stellen sich ihn als mächtigen Geist vor, als Gott, der über euch wacht. Das war er nicht. Wenigstens nicht in dem Sinn, in dem ihr es glaubt. Er war ein Mensch. Aye, und auch mehr als ein Mensch. Er war ein Primarch, ein Supermensch, der durch die Kraft und Technologie des Allvaters über all die anderen Sterblichen gehoben wurde. Er war stärker, schneller, zäher, widerstandsfähiger und mächtiger als alles, was ihr euch vorstellen könnt. Er hat unseren Orden gegründet, auf dass er ihm in die Schlacht folgen möge. Er hat unser Volk, die Bewohner von Fenris, als seine Krieger auserwählt. Er hat nur die zähesten und die besten unserer Vorfahren auserwählt, denn nur diese waren dieser letzten Auszeichnung würdig. Dies ist eine Tradition, die wir auch in diesen dunkleren Zeiten bewahrt haben.« Er hielt einen Augenblick inne und sah sie an. Ein Sonnenstrahl fiel auf seine Augen, und plötzlich schienen sie wie Feuer zu brennen. Keiner von ihnen konnte seinem Blick standhalten. »Ich trage Russ' Zeichen in mir. Alle Mitglieder der Wölfe, denen ihr in dieser Festung begegnen werdet, tun das. Das ist etwas, das mich verändert hat. Etwas, worin ich mich von sterblichen Menschen unterscheide. Es hat mein Leben um Jahrhunderte verlängert und mich schneller, stärker und mächtiger gemacht als jeden Sterblichen, dem ihr je begegnet seid und je begegnen werdet. Es kann dasselbe für euch tun.«
Er hielt erneut inne. Alle Anwärter sahen einander fragend an. Ragnars Gedanken überschlugen sich nach allem, was er gehört hatte. Wie konnte dieser alte Mann wissen, wie Russ war? Wie konnte er mit solcher Gewissheit über uralte Zeiten sprechen? Er war nicht verrückt, soweit Ragnar dies beurteilen konnte. Er klang so, als sei er von der Richtigkeit seiner Worte überzeugt. Und natürlich unterschied er sich von allen Sterblichen, denen Ragnar je begegnet war. Er war größer, stärker, schneller. Er besaß jene furchtbaren Reißzähne und jene seltsamen Wolfsaugen. »Ich sage >kann<, weil es noch eine andere Möglichkeit gibt. Es kann euch umbringen, und es kann noch Schlimmeres mit euch anstellen. Es kann euch in eine abscheuliche Bestie verwandeln, in einen Wolfen, ein Ding mehr als ein Tier und weniger als ein Mensch. Auch andere Dinge können misslingen.« Der alte Mann beschrieb eine Geste, und plötzlich wurde es dunkel. Er allein war beleuchtet, da er in einer Insel aus Licht stand. Ragnar hörte einige Anwärter etwas über Zauberei murmeln, aber er war nicht so sicher. Er hatte viele Dinge gesehen, seit er hier war. Es war ebenso wahrscheinlich, dass dem alten Mann verborgene Mittel der Herrschaft über jene ewig brennenden Lampen zur Verfügung standen. Es schien möglich zu sein, dass sie einfach nur Maschinen waren, weitaus komplexere Versionen der Lampen, die es daheim gegeben hatte. Was als Nächstes geschah, veranlasste ihn dazu, seine selbstzufriedene Einschätzung zu überdenken. »Passt jetzt genau auf«, sagte Ranek. »Gleich werdet ihr den ersten Schritt auf dem Weg des Wissens machen.« Er beschrieb eine weitere Geste, und plötzlich schwebte ein nackter Jugendlicher in der Luft über ihm, der ungefähr im gleichen Alter war wie die Anwärter. Er sah so wirklich aus, dass Ragnar zunächst vermutete, er sei wie ein Geist aus dem Nichts beschworen worden. Nach einigen Augenblicken
erkannte er jedoch, dass die Gestalt sich nicht bewegte und man bei genauem Hinsehen fast durch sie hindurchsehen konnte. Der Bursche war in der Tat so durchscheinend wie ein Geist. Ragnar staunte über die Magie, die damit verbunden sein musste. »Dies ist ein junger Mensch. Ein Bursche ähnlich wie ihr. Passt auf, was gleich passiert. Ihr werdet sehen, was geschieht, wenn die Canis-Helix hinzugefügt wird. Das ist Russ' Zeichen.« Vor Ragnars Augen begann der Jugendliche, sich zu verwandeln. Sein Körper wurde muskulöser und haariger. Die Fingernägel wurden dicker und krallenähnlich. Die Augen bekamen jenes merkwürdige wolfsähnliche Aussehen, das er schon von Raneks und Hakons Augen kannte. Reißzähne wuchsen. Der Junge bekam die Aura der Seltsamkeit und Kraft, die Ragnar mittlerweile mit den Herren des Fangs verband. Er konnte das verblüffte Keuchen der anderen Anwärter hören, die ebenfalls gebannt zusahen. »Am Ende der Verwandlung, wenn alles gutgeht, werdet ihr viele Male stärker und schneller sein als jetzt. Wunden werden rascher verheilen. Eure Sinne werden viel schärfer. Ihr werdet tapferer und wilder sein, als ihr es je wart ... Wenn alles gutgeht. Wenn etwas bei der Verwandlung schiefgeht, kann Schlimmes mit euch geschehen.« Ein Ausdruck idiotischer Wildheit und des Wahnsinns trat in die Augen der Projektion. Die Gestalt sank auf eine widerlich raubtierhafte Weise nach vorn. Alle Intelligenz wich aus ihrem Blick. »Ihr könnt wahnsinnig werden oder schwachsinnig.« Die Verwandlung schritt voran. Der dichte Haarwuchs spross weiter, bis er den ganzen Körper bedeckte wie das Fell eines Tiers. Die Gesichtszüge waren darunter kaum noch zu erkennen. Die Nägel an den Fingern und Zehen wurden länger, bis es richtige Krallen waren. Die Reißzähne wurden so groß,
dass sie über das Kinn ragten. Ein Ausdruck wilden Hungers verzerrte die Züge des Jugendlichen. Ragnar erinnerte sich an die Kreatur, von der er einmal geträumt hatte. Sie hatte genau so ausgesehen, nur das Fell hatte eine etwas andere Farbe gehabt. Er bezweifelte jetzt nicht mehr, dass er einen Wolfen im Traum gesehen hatte. »Oder ihr könnt zu einem Wolfen werden. Wie kommt das, fragt ihr euch? Es liegt daran, dass Russ Zeichen den Geist der Bestie loslässt, der in uns allen ist Manche Menschen sind stark genug, um diese Bestie zu beherrschen. Andere lassen sich von der Bestie beherrschen. Wenn das geschieht, wird ein Wolfen geboren. All diese Dinge können geschehen, wenn ihr aus den Wolfenkelch trinkt. Wenn ihr die erste Verwandlung übersteht, seid ihr auf dem besten Weg, ein Space Wolf zu werden. Die Frage, die sich euch jetzt stellt, ist die ob ihr habt, was nötig ist, um gegen die Bestie in euch zu bestehen. Oder ob ihr versagt und vollständig von ihr verzehrt werdet.« Ragnar sah den alten Mann an und dachte über seine Worte nach. Allem Anschein nach ließ man ihnen keine Wahl. Dies war eine weitere Prüfung, der sie unterzogen wurden und die sie bestehen mussten. Würden die Prüfungen niemals enden? *** Im Fang gab es keine Möglichkeit, Nacht und Tag zu unterscheiden. Sie bekamen Einzelzellen und wurden darin eingesperrt. Eine Mahlzeit wartete auf ihn in dem kleinen Gemach. Sie bestand aus heißem Fleisch, frisch gebackenem Brot und Ale, das ein wenig metallisch schmeckte. Er schlang alles hinunter, als könne die Mahlzeit seine letzte sein. Es schmeckte besser als alles, was er je gegessen hatte. Kaum hatte er die Mahlzeit beendet, als er damit begann, in
seiner Zelle auf und ab zu marschieren. Er rüttelte an der Tür, aber sie war abgeschlossen, und es überstieg seine Kräfte, sie zu öffnen. Augenblicke später erlosch das Licht, und der Raum wurde in Dunkelheit getaucht. Unfähig, etwas anderes zu tun, legte er sich auf seine Matte und war Augenblicke später eingeschlafen. Seine Träume waren finster. Er wurde in einem Labyrinth von einem Ungeheuer verfolgt. Wie schnell er auch lief und wie schlau er sich auch versteckte, es war immer da, immer nur wenige Schritte hinter ihm. Doch er wagte es nicht, sich umzuschauen, denn wenn er es tat, würde er sehen, dass die Züge des Ungeheuers seine eigenen waren. Er war in kalten Schweiß gebadet, als er erwachte. *** Der Tempel war kunstvoll mit erlesenen Steinmetzarbeiten verziert, die das Alter abgenutzt hatte, doch trotz all dieser Pracht fand Ragnar, dass es ein düsterer Ort war. Künstliche Leuchtlampen warfen ihren Natriumglanz in eine sorgfältig ausgerichtete Insel gelblichen Lichts, in der sich der Mittelpunkt der uralten Kammer befand. Wolfsköpfe verzierten den Altar, der aus einem einzigen Felsen gemeißelt zu sein schien. Auf der reich ornamentierten Steinplatte ruhte ein Kelch aus irgendeinem unbekannten Metall, der ebenfalls das Wolfskopfsymbol der Space Wolves trug. Ranek sah so alt wie der Berg selbst aus. Er wurde von zwei maskierten Kriegern flankiert, die ähnliche Rüstungen wie er trugen. Ragnar konnte erkennen, dass einer der maskierten Krieger einen Arm aus Metall hatte. Entblößte Teile des Arms klickten und surrten, wenn er bewegt wurde. Beide hielten einen Gegenstand, der wie ein Hammer aussah. Ragnar musste sofort an Russ' Hammer denken, den Blitzbringer. Vielleicht waren diese
Waffen seine Ebenbilder. Ranek funkelte sie alle an und schritt dann vorwärts zum Altar. Er nahm den großen Kelch mit seinen mächtigen knorrigen Händen und hob ihn dann fast so in die Höhe, als wolle er ihn auf den Boden schmettern. »Seht den Wolfenkelch«, sagte er. In seiner Stimme lag eine Heiserkeit, die Ragnar nach einem Augenblick der Überlegung als Ehrerbietung deutete. »Seht ihn und staunt. Ihr seht einen Gegenstand vor euch, der älter ist als diese Festung. Ein Artefakt, das am Anbeginn der Zeit von den Dienern des Allvaters geschmiedet wurde. Dieser Kelch ist vom Orden durch den gesamten Großen Kreuzzug getragen worden. Er war Teil unseres Erbes in den dunklen Zeiten der Großen Ketzerei und des Krieges mit Horus. Russ hat diesen Kelch in der trüben Dämmerung der Zeit selbst in den Händen gehalten. Seht ihn euch an und denkt dabei an meine Worte.« Ragnar sah genauer hin. Wenn es stimmte, was Ranek behauptete, und er sah keinen Grund, an den Worten des Wolfpriesters zu zweifeln, war dies ein Artefakt, das der Gott seines Volkes in den Händen gehalten hatte. Es war viel älter als alles, was ihm je begegnet war. Auf den ersten Blick sah der Kelch nicht nach viel aus, aber dann glaubte er, funkelnde Runen aus Licht auf der Wandung aufleuchten zu sehen. Ein Nimbus seltsamer Energien schien darum zu spielen. »Wir nennen dies den Wolfenkelch aus einem ganz bestimmten Grund. Die Alten, die dieses Gefäß fertigten, haben mächtige Magie darin verankert. Wer aus diesem Gefäß trinkt, wird, wenn er würdig ist, Russ' Zeichen übernehmen und mit ihm einen Teil der Kräfte des Gott-Menschen. Ist er unwürdig, zahlt er einen schrecklichen Preis. So hört denn die Geschichte der Wolfen und erfahrt den Grund. Damals in den Zeiten, als Russ erstmals nach Fenris kam, um seine Krieger zu rekrutieren, gab es einen Jarl namens Wolfen.
Er war ein mächtiger Mann, grimmig und stark und stolz auf seine Kraft. Er war ein Mann mit einer überragenden Begabung für die Kriegskunst und wurde in seinem ganzen Leben nur ein einziges Mal besiegt, und zwar von Russ, der ihn vor all seinen Leuten demütigte, ihn aber, da er einen würdigen Krieger vor sich sah, verschonte und ihm einen Platz unter seinen Kriegern anbot. Russ sprach zu den versammelten Männern von Fenris und erzählte ihnen von seinem Plan. Er bot ihnen Macht an und eine riesige Lebensspanne, wenn sie ihm folgten, um Krieg zwischen den Sternen zu führen. Sie brüllten ihre Zustimmung und jubelten Russ als ihrem Anführer zu. Er verriet ihnen, dass sie ein starkes Gebräu aus dem großen Becher trinken müssten, wodurch ihre Verwandlung beginnen werde. Wolfen war der Erste, der vortrat, und das herrliche Met von Russ aus dem Kelch trank. Doch in Wolfen lauerte immer noch das Böse. Er wurde von einem geheimen nagenden Hass auf Russ verzehrt und hatte vor, verräterische Rache an dem Gott-Mensch zu nehmen. Der Schutzgeist in dem Kelch sah dies in dem Augenblick, als Wolfen ihn an die Lippen setzte, und wirkte einen Zauber gegen ihn, der bewirkte, dass sein äußeres Selbst seinem inneren Bösen entsprechen möge. Zum Entsetzen der Zuschauer verwandelte sich der große Häuptling. Er wurde zu einem schrecklichen Ding, halb Mensch, halb Wolf, und er sprang Russ mit einem hasserfüllten Heulen an. Doch Russ war nicht um eine Antwort verlegen. Mit einem einzigen Hieb zerschmetterte er Wolfens Schädel und erschlug die Bestie, die zum Vorschein gekommen war. Er wandte sich an seine Anhänger und erklärte ihnen, dass Wolfen unwürdig sei und dies das Schicksal all jener sein würde, die mit Bösem im Herzen daraus tränken. Er verriet ihnen, dass all jene, die es wünschten, jetzt gehen könnten, ohne zu trinken. Zur Ehrenrettung unserer Vorfahren muss gesagt werden, dass
niemand ging. Alle tranken und gewannen die Kraft, die zu erringen Russ ihnen eröffnet hatte. Und so begann die Gründung unseres Ordens. Jene Männer schritten hinaus und schrieben ihren Namen in die Geschichtsbücher aller Menschenwelten. Jene, die nun aus diesem Kelch trinken, werden es ihnen nachtun, wenn sie würdig sind. Denkt einen Augenblick darüber nach.« Ragnar tat es. War dies nur eine Geschichte? Irgendwie bezweifelte er es. Bisher hatte man ihnen nichts ohne eine bestimmte Absicht erzählt, und Ranek sah nicht wie jemand aus, die jetzt damit anfangen würde, Dinge zu erfinden. Mittlerweile hatten die beiden gerüsteten Krieger damit begonnen, ein seltsames Gebräu in den Kelch zu leeren, den Ranek ihnen hinhielt. Die Zutaten stammten aus zwei getrennten Flaschen, und als sie sich in dem Kelch vermischten, fing die Flüssigkeit an zu brodeln und zu dampfen. Dabei sprach Ranek beständig Worte in jener sonderbaren Sprache, die Ragnar schon zuvor gehört hatte. Wenn er aus diesem Kelch mit Bösem im Herzen trank, war er anscheinend dazu verurteilt, ein Ungeheuer zu werden und zweifellos wie der ursprüngliche Wolfen getötet zu werden. Er fragte sich jedoch, woher dann die Wolfen genannten Ungeheuer kamen. Wenn es sich bei ihnen um unwürdige Anwärter handelte, warum lebten sie dann noch? Wie entkamen sie aus dem Fang? Wiederum spürte er hier ein Geheimnis Eines, das zu enträtseln er noch nicht in der Lage war. Eine weitere Frage beschäftigte ihn. Hatte er Böses im Herzen? Würde er Wolfens furchtbares Schicksal teilen? Er dachte darüber nach, was man ihm über seinen Hass auf Strybjörn gesagt hatte. War dieser Hass böse? Er glaubte es nicht. Jeder Krieger auf Fenris würde angesichts der Mörder seines Klans so empfinden. Warum hatte man ihn dann davor gewarnt?
Die Priester waren mit dem Vermischen des Inhalts der beiden Flaschen fertig. Ranek stellte den Becher auf den Altar. Alle Anwärter konnten den Inhalt darin brodeln sehen wie eine Teufelsbrühe. Der Wolfpriester sah sie alle an, dann griff er in seinen Beutel und holte eine Hand voll Holzspäne heraus. »Jeder von euch muss trinken. Ihr werdet nicht gefragt, ob ihr euch freiwillig meldet. Das wäre sinnlos. Wir lassen Russ über die Reihenfolge entscheiden. Ich halte hier eine Reihe von Holzspänen in der Hand. In jeden Holzspan ist eine bestimmte Anzahl von Kerben geritzt. Jeder von euch zieht einen Span. Beginnend mit demjenigen, der die höchste Anzahl von Kerben hat, werdet ihr trinken. Ihr werdet der Reihe nach vortreten, vor dem Altar niederknien und einen Schluck vom heiligen Met aus dem Kelch trinken, ist das klar?« Alle von ihnen bellten ihr Ja. Jede Stimme hatte einen nervösen Unterton, fand Ragnar. Und das war kein Wunder. Jeder von ihnen musste an die Möglichkeit denken, dass er sich in eine reißende Bestie verwandelte. Ranek kam ihnen mit ausgestreckten Händen entgegen. Einer nach dem anderen zogen die Anwärter einen Holzspan aus dem Bündel in seiner Hand. Ragnar beobachtete ihre Gesichter, um eine Reaktion darin zu erkennen. Er wurde belohnt, als Strybjörns Miene sich zu einem Ausdruck der Bestürzung verzog. Als Ragnar an die Reihe kam, war seine Hand ruhig, als er die Hand ausstreckte, um seinen Holzspan zu ziehen. Bevor er ihn auch nur betrachten konnte, hatten seine Finger ihn bereits betastet und nur eine Kerbe entdeckt. Anscheinend würde er als Letzter trinken. Er wusste nicht, ob er sich freuen oder ob er es bedauern sollte. Ranek sagte ihnen, dass sie die Hände öffnen und sich ihren Span ansehen sollten. Er ordnete sie nach der Anzahl der Kerben und wandte sich dann dem Altar zu. Ragnar sah, dass Strybjörn ganz vorn stand, gefolgt von Sven und Kjel. Zwischen ihm und seinen Kameraden standen andere. Wie er
sich gedacht hatte, war er der Letzte. »Der Erste möge zum Altar treten«, sagte Ranek. Strybjörn trat vor. Sein Gesicht war blass, wirkte aber entschlossen. Er wusste, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren und auf seine Reaktion warteten. Er würde keine Furcht zeigen. Hass rang in Ragnar mit Bewunderung für den Mut des Grimmschädels, als ihm dessen fester Schritt auffiel. Strybjörn kniete vor dem Altar nieder und erhob sich dann stolz, um den Wolfenkelch mit fester Hand zu ergreifen. Er hob ihn an die Lippen, warf den Kopf in den Nacken und trank. Ranek musste eingreifen und den Becher herunterziehen, um ihn daran zu hindern, ihn zu leeren. Strybjörn stand einen Augenblick da. Sie alle sahen mit angehaltenem Atem zu, was geschehen würde. Ragnar konnte seinen Herzschlag hören und den Schweif auf seinen Handflächen spüren, während er wartete. Er war bereit, vorzuspringen und Strybjörn mit bloßer Händen niederzuschlagen, falls sich bei ihm auch nur das geringste Anzeichen einer Veränderung zeigte. Er bezweifelte, dass er die Zeit haben würde, etwas vor Ranek zu unternehmen, aber er würde es wenigstens versuchen. Augenblicke verstrichen. Nichts geschah. Ranek bedeutete Strybjörn, wieder in die Reihe zu treten, und der Grimmschädel wich zurück. Sven war der Nächste Seine Bewegungen waren eckig. Er hielt das Kinn hoch. Als er niederzuknien vergaß, half Ranek mit einem Schlag nach. Sven schüttelte den Kopf, grinste den Wolfpriester ohne Bosheit an und erhob sich, um aus dem Kelch zu trinken. Als er fertig war, schmatzte er sogar mit den Lippen und brachte ein Rülpsen zustande. Zu Ragnars Überraschung schlug Ranek ihn nicht noch einmal. Vielmehr lachte er nur und sagte zu Sven, er möge sich entfernen. Wiederum fand keine Verwandlung statt. Kjel trat vor. Er sah blass und erschüttert
aus, aber er nahm den Kelch und trank. Er verzog das Gesicht, als er seinen Teil getrunken hatte, und sah aus, als wolle er ausspeien, aber irgendwie brachte er alles hinunter, um dann ebenfalls zurückzuweichen. Keine Verwandlung überkam ihn. Einer nach dem anderen traten die Anwärter vor. Einer nach dem anderen tranken sie. Keiner von ihnen verwandelte sich in ein Ungeheuer. Dann, allzu rasch, war die Reihe an Ragnar. Er marschierte vorwärts und spürte die Blicke der anderen im Rücken. Jetzt beobachteten ihn alle und fragten sich, ob er wohl derjenige sein würde, der scheiterte. Sie hatten alle bestanden. Sie waren in Sicherheit. Er nicht. Er ging steten Schrittes zum Altar. Er kniete davor nieder, richtete ein lautloses Gebet an Russ und erhob sich dann, um den Wolfenkelch aus Raneks Händen entgegenzunehmen. Er war schwerer, als er erwartet hatte. Das Metall war kühl, und seine Hände kribbelten bei der Berührung. Ja, hier war in der Tat Magie im Spiel, dachte er. Er hob das Gefäß an die Lippen und hielt einen Augenblick inne. Die Warnung, die man ihm an Morkais Tor mit auf den Weg gegeben hatte, ging ihm durch den Kopf. Stellte sein Hass auf Strybjörn den Makel dar, der die Bestie in ihm entfesseln würde? Ein vorübergehender Drang, den Kelch fallen zu lassen, überkam ihn, als habe er sich in seinen Händen in eine Giftschlange verwandelt. Wenn die Flüssigkeit verschüttet wurde, brauchte er sie nicht zu trinken. Dann konnte aus ihm kein Ungeheuer werden. Hatten die anderen auch so empfunden? Waren sie versucht gewesen, den Kelch wegzuwerfen? Hatten sie über ihre Fehler nachgedacht, bevor sie tranken? Er wappnete sich. Er würde sich jetzt nicht entehren. Keiner der anderen hatte es getan, und er würde den Donnerfäusten keine Schande bereiten. Er war der Letzte von ihnen. Wenn es seine Bestimmung war, sich in eine grässliche Bestie zu verwandeln, dann sollte es so sein. Er würde sich dem Verhängnis, welches das Schicksal für ihn bereithielt, wie
ein Krieger stellen. Er hob den Becher an die Lippen und trank. Dem Geruch nach hatte er damit gerechnet, dass das Gebräu widerlich schmecken würde. Dem war nicht so. Tatsächlich konnte er gar keinen Geschmack ausmachen. Seine Zunge kribbelte, und sein Gaumen wurde taub. Seine Kehle fühlte sich an, als habe er einen Kübel eiskaltes Wasser getrunken. Er trank und trank, bis er spürte, wie der Wolfpriester ihm den Kelch sanft aus den Händen wand. Jetzt kribbelte seine Haut. Sein ganzer Körper fühlte sich kalt an. War es das?, fragte er sich. War dies das Vorspiel für seine Verwandlung in eine Bestie? Würde er sich jeden Augenblick in ein Ungeheuer verwandeln und erschlagen werden? Er schaute auf und blickte in Raneks Augen. Er konnte dort nichts entdecken. Kein Mitgefühl, kein Entsetzen, keine Beunruhigung. Er fühlte sich ein wenig schwindlig, und es kam ihm so vor, als verlasse ihn alle Kraft. Er konnte seinen Herzschlag jetzt so laut wie Donnerhall hören und war sicher, jeden Augenblick zu spüren, wie seine Muskeln sich verdrehten und zerrissen, wenn die Verwandlung über ihn kam.
11
DER GEIST DER BESTIE Es war wieder der Traum. Er lief durch einen dunklen Gang in einem endlosen Labyrinth unter einem gewaltigen Berg. Hinter ihm schloss die Bestie auf. Sie war groß und wild, und wenn sie ihn einholte, würde sie ihn verschlingen. Seine Füße waren wie Blei. Der Boden klebte an seinen Sohlen wie Teer und verlangsamte ihn, behinderte seinen Verfolger aber nicht im Geringsten. Das Heulen der Bestie hallte durch die düsteren Gänge. Ihr Atem brannte heiß in seinem Nacken. Ihr widerlicher Geifer tropfte auf seine Haut, und als er sich zu ihr umdrehte, hatte sie sein Gesicht, doch schrecklich entstellt, wie er gewusst hatte, dass er sich verändern würde. Er hob die Hände, um sich zu schützen, doch es war sinnlos. Die Bestie streckte ihre riesigen Krallen nach ihm aus. Sie bohrten sich in seine Haut, und er fing an zu bluten. Die Schmerzen waren wie rotglühende Eisen in seiner Hüfte. Er erwachte, den Mund weit aufgerissen, und schaffte es gerade noch, nicht laut zu schreien. Einen Moment sah er einen der ektoplasmischen Wolfgeister, die beim Passieren von Morkais Tor in ihn eingedrungen waren, gerade außer Reichweite schweben. Als er atmete, schimmerte der Geist und verschwand, da er beim Einatmen offenbar wieder von ihm eingesogen wurde. Ein Traumgespinst, sagte sich Ragnar. Nur ein Streich, den ihm sein fiebriges Hirn spielte. Sein ganzer Körper schmerzte. Er hatte das Gefühl, auf eine Streckbank geschnallt worden zu sein. Sein Kopf tat weh. Sein Zahnfleisch blutete. Seine Hände brannten. Ihm war abwechselnd zu heiß und dann wieder zu kalt. Auf seiner Haut bildeten sich grundlos Schweißperlen. Das Denken fiel ihm schwer. Seine Gedanken waren zäh wie Melasse. Und die Schmerzen erschwerten das Denken noch mehr. Er war taub.
Fror. Hatte kein Gefühl mehr. Ragnar starrte staunend auf seine Hände, wobei er blinzelte, um besser sehen zu können. Seine Hand sah anders aus. Sie war breiter und flacher. Die Muskeln waren stärker ausgeprägt. Die Nägel waren dicker und spitzer. Tatsächlich sah die ganze Welt anders aus. Seine Augen tränten wieder. Zumindest war das besser als der sengende Schmerz, wenn er manchmal das Gefühl hatte, als habe ihm jemand eine heiße Nadel ins Auge gestochen. Er schnupperte. Da war wieder dieser seltsame Geruch. Was war es? Er schüttelte den Kopf. Er hatte keine Ahnung. Seit einer Woche stürzte eine Flut von Gerüchen auf ihn ein, die so stark waren, dass sie ihn zu überwältigen drohten. Die glatten Laken unter ihm klebten an seiner Haut. Er schälte sie förmlich ab. Die Reibung der sich von dem Leinen lösenden Haut fühlte sich an, als bearbeite ihn jemand mit einer Feile. Er war viel zu empfindlich. Irgendwo in weiter Ferne konnte er jemand murmeln hören. In der Zelle nebenan hörte er Sven atmen. Das Geräusch war entsetzlich, als bearbeite jemand einen Blasebalg. Er schüttelte noch einmal den Kopf und wartete darauf, dass die Sinneseindrücke nachließen. Das taten sie nicht. Was ihn nicht überraschte. Manchmal taten sie es. Manchmal eben nicht. Eigentlich taten sie es meistens nicht. Manchmal glaubte er, dass es nicht die Empfindungen waren, die nachließen, sondern dass seine Fähigkeit, sie zu ertragen, zunahm. Aber er war sich dessen nicht sicher. Er war sich gar nichts mehr sicher. Er war eigentlich nur noch krank. Ihm war übel, aber gleichzeitig hatte er auch Hunger. Es war eine fast unerträgliche Qual. Wilde Wut durchzuckte ihn. Er biss sich auf die Innenseite seiner Wangen, bis der salzige Geschmack von Blut seine Lippen benetzte. Er hämmerte in blinder Wut gegen die Wand, bis Blut floss. Die Schmerzen waren für seine verschärften Sinne fast unerträglich, aber auf eine seltsame Art halfen sie
ihm auch dabei, sich zu beruhigen und ihn zur Vernunft zu bringen. Er rieb die dehnbaren, miteinander verflochtenen Glieder des Metallreifs an seinem Arm und hielt inne, als seine Finger die Metallscheibe berührten, die mit seiner Rune beschriftet war. Das hatten die Eisenpriester getan, nachdem er aus dem Wolfenkelch getrunken hatte. Jeder Anwärter erhielt eine. Sie hatten nichts Magisches an sich, soweit er das sagen konnte, obwohl eine Rune eingraviert war. Jeder Anwärter hatte eine andere Rune. Er und Kjel und die anderen hatten sie verglichen. Die Rune auf Ragnars Armband sah aus wie das Bild eines Mannes mit zwei Wellenlinien darüber. Die Linien mochten Wolken andeuten oder auch überhaupt nichts. Kjels Rune zeigte einen stilisierten Falken. Wenn man bedachte, dass sie dadurch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem doppelköpfigen Adler-Emblem aufwies, dem man hier überall begegnete, konnte man dies als gutes Zeichen betrachten. Ständig verschwammen seine Gedanken. Denk nach, sagte er sich. Erinnere dich! Du heißt Ragnar. Du bist der Letzte der Donnerfäuste. Du bist ein menschliches Wesen, keine geistlose Bestie. Du bist nicht krank. Du verwandelst dich. Du trägst Russ' Zeichen in dir. Er betrachtete wieder seine Hände. Ja. Der Handrücken wies eindeutig mehr Haare auf als am Tag zuvor. Auch auf der Brust waren mehr Haare und an seinem ganzen Körper. Er erhob sich schwankend und kämpfte gegen das jäh einsetzende Schwindelgefühl an. Einen Moment stand er da, schwach und zitternd, und dann war das Schwächegefühl ebenso schnell vorbei, wie es gekommen war, und er fühlte sich stark, unglaublich stark, stark genug, um Stahl zu zerreißen und durch massives Gestein zu brechen. Er rannte aus seiner Kammer und durch den Gang, da er entschlossen war, etwas zu essen zu finden, um den Hunger zu stillen, der in seinen Bauch wütete. In den Gängen war es angenehm dunkel. Es spielt keine
Rolle. Seine Augen konnten jetzt besser im Dunkeln sehen als früher. Er brauchte sie ohnehin nicht, nur das Essen zu finden. Er konnte es riechen. Er konnte das rohe frische Fleisch riechen, obwohl es Hunderte vor Schritten entfernt war. Er lief weiter und an den Zellen vorbei, in denen die anderen lagen. Keiner von ihnen sah besser aus als er. Eigentlich sahen viele von ihnen sogar schlimmer aus. Aber jeder sah anders aus. Als er an Kjels Zelle vorüberging, sah er den Falkner dort liegen. Seine Augen waren offen, und sie reflektierten das matte Licht wie die eines Hundes oder Wolfs. Sie wurden wie die Augen von Ranek und Hakon und all den anderen, die sie hier im Fang gesehen hatten. Ragnar nahm an, dass seine nicht anders aussahen. Kjel sah massiger und muskulöser aus. Er schien wie Unkraut zu wachsen und Muskelmasse zuzulegen. Das war bei ihnen allen so. Der Teil von Ragnars Verstand der noch funktionierte, fragte sich, ob dies einer der Gründe war, warum die Welt so anders aussah. Er war in den letzten Tagen so stark gewachsen, dass seine Augen sich höher über dem Boden befanden. Seine ganze Perspektive hatte sich verändert. Das war eine Quelle des Staunens für ihn. Einem anderen Teil von ihm war dies völlig egal. Dieser Teil wollte nur Fleisch. Er wollte seinen Hunger stillen und dann seinen Durst, und dann wollte er sich auf den Boden legen und schlafen. Und er war bereit, alles zu töten, was ihn daran hindern wollte. Der Teil Ragnars, der noch ein Mensch war, wollte schaudern. Er wusste, dass die Bestie in ihm stärker und manchmal sogar so stark wurde, dass sie sein Bewusstsein unterdrückte und ihm jeden vernünftigen Gedanken austrieb. Er versuchte dagegen anzukämpfen, denn für den Wolfgeist würde es umso leichter sein, wieder die Herrschaft zu übernehmen, je öfter dies geschah. Schließlich würde er dauerhaft die Herrschaft übernehmen, und dann würde es so sein, als sei Ragnar gestorben, denn als Mensch würde es ihn nicht mehr geben.
Er zwang sich zu denken. Es war so, als habe er jetzt zwei Seelen, eine menschliche und eine tierische. Nein, es war mehr so, als sei seine Seele zweigeteilt, ein Teil Tier, ein Teil Mensch, und als rängen die Teile um die Herrschaft. Er wusste jetzt, dass ihr Triumphgefühl verfrüht gewesen war, als sich keiner von ihnen veränderte, nachdem sie aus dem Wolfenkelch getrunken hatten. Die Verwandlung erfolgte nicht so wie in der Geschichte, die Ranek ihnen erzählt hatte. Sie erfolgte nicht augenblicklich. Sie ging langsamer voran, subtiler. Es hatte Tage gedauert, bis die Bestie aus dem Schatten getreten war und sich ihre inneren Veränderungen auch äußerlich zu manifestieren begannen. Sie hatten alle viel zu früh geglaubt, sie hätten gewonnen. Ranek und die anderen, die beiden Eisenpriester, wie er sie nannte, hatten es besser gewusst. Ragnar erinnerte sich daran, wie er durch die Gänge des Fangs in seine Zelle geführt worden war. Zuerst war es ihm seltsam vorgekommen, dass der gesamte Abschnitt mit vergitterten Metalltüren abgeriegelt war. Es sah aus wie ein Gefängnis und nicht wie ein Aufenthaltsort für Anwärter, die gerade einen Eignungstest bestanden hatten, und genau das war es - ein Block mit sicheren Gefängniszellen. Man hatte sie in diesen düsteren Kammern eingesperrt, um dort die Verwandlung über sich ergehen zu lassen und, wie es schien, wahnsinnig zu werden. Zuerst war ihnen gar nicht klar gewesen, was vorging. Dann hatten sie sich krank gefühlt. Dann waren die Kämpfe ausgebrochen; sie waren aggressiv und hungrig geworden, und das Sehnen nach Fleisch hatte sie übermannt. Ragnar schüttelte den Kopf, als ihn eine Woge raubtierhafter Wut durchzuckte. Der bloße Gedanke daran, dass jemand versuchen mochte, ihn daran zu hindern, sich sein Essen zu holen, erfüllte ihn mit Zorn. Sollten sie es versuchen, dachte er. Er würde ihnen mit bloßen Händen das Fleisch von den
Knochen reißen und es verschlingen. Hör auf damit, sagte er sich, so benimmt sich kein Mensch. So benimmt sich kein Krieger. Ein Krieger hat Stolz. Ein Krieger hat Beherrschung. Irgendwo tief in ihm heulte die Bestie höhnisch auf. Er gelangte in den Bereich, wo das Essen lag. Der blutige Kadaver eines großen Hirschs war auf die kalten Steinfliesen geworfen worden. Er hatte Glück. Von den anderen war noch keiner erwacht. Nein. Augenblick! Was war das? Ragnar hörte plötzlich das Geräusch bloßer Füße hinter sich. Nacktes Fleisch klatschte auf die Fliesen. Als er sich umdrehte, sah er Strybjörn heranstürmen. Mit seinem vor Hass und Hunger verzerrten Gesicht sah Strybjörn ganz anders aus als der Jugendliche, den Ragnar aus Russvik kannte. Seine Züge waren breiter, harscher und sogar noch brutaler. Seine Augen blickten irr. Seine Nase war größer, die Nasenlöcher breiter. Er war größer, breitschultriger und muskulöser und verfügte über die geschmeidige Kraft eines erwachsenen Kriegers. »Meins«, kreischte er und warf sich vorwärts, die Finger ausgestreckt und die Nägel wie Krallen gekrümmt. Einen winzigen Augenblick stand Ragnar wie erstarrt da. Der noch menschliche Teil in ihm war entsetzt. Hätten Dämonen Besitz von dem Grimmschädel ergriffen, hätte das Ergebnis nicht furchtbarer sein können. In sein Gesicht war ein bestialischer Ausdruck gemeißelt, der grässlich anzusehen war. Seine Augen funkelten vor Wut. In diesem Augenblick sah er so aus, als habe er die Absicht, Ragnar zu töten. Einem Teil Ragnars machte dies nichts aus. Ein Teil von ihm begrüßte es. Jetzt war die Gelegenheit da, endgültige Rache an seinem Feind zu nehmen. Im letzten Augenblick sprang Ragnar zur Seite. Strybjörns Nägel kratzten seine Rippen an, so dass Blut floss. Der salzige Geruch drang ihm in die Nase, und irgendwo tief in ihm rührte sich die Bestie. Plötzlich war er wieder wütend, von Ärger und einem schwarzen, brütenden Zorn erfüllt. Alle bewussten
Gedanken verblassten und wichen dem Verlangen, zu reißen und zu fetzen. Animalische Grausamkeit durchflutete sein Hirn. Es schien, als werde sein Verstand untergehen wie ein Drachenschiff, das bei stürmischer See kenterte. Er wehrte sich, versuchte die Welle animalischer Gefühle in Schach zu halten, denn neben seiner animalischen Schläue und Wildheit würde er auch seine Intelligenz brauchen, um den bevorstehenden Kampf zu überleben. Strybjörn sprang erneut. Diesmal duckte Ragnar sich und ließ Strybjörn über sich hinwegfliegen. Im passenden Moment richtete Ragnar sich wieder auf, packte den Grimmschädel und schleuderte ihn zu Boden. Strybjörn flog davon. Ragnar drehte sich um und sah gerade noch, wie er unglücklich landete, sich aber dennoch abrollte, um die Wucht des Sturzes abzufangen, und sich dann wieder erhob. Ein Teil Ragnars war sich der Tatsache bewusst, dass einer von ihnen beiden sterben oder wenigstens schwer verwundet würde, wenn dieser Kampf bis zum Ende ausgetragen wurde. Die Bestie in ihm heulte und geiferte. Ihr war das egal. Sie wollte nur kämpfen. Töten oder getötet werden, und wenn sie überlebte, fressen. Und ein Teil des menschlichen Ragnars wollte unbedingt dasselbe. Ragnar ging auf, dass er diesen Kampf auf mehreren Ebenen ausfocht, nicht nur mit Strybjörn, sondern auch mit sich selbst, mit dem Ding, das in ihm lauerte. Wenn er der Bestie nachgab, wurde sie nur noch stärker, und das würde am Ende zu einer Vernichtung führen, die ebenso unvermeidlich war wie alles, was Strybjörn ihm antun konnte. Der Grimmschädel ging zum Angriff über. Mit flinken Schritten und offenem Mund kam er näher, die Zähne zu einem widerlichen Grinsen gebleckt, das seine gewachsenen Eckzähne enthüllte. In diesem Augenblick sah er wahrhaftig dämonisch aus. Er schlug zu, die Finger gestreckt, die Nägel zu Krallen gekrümmt, um zu kratzen und zu zerreißen. Wieder
floss Blut. Ragnar stellte fest, dass er nicht nur gegen die Schmerzen ankämpfte, sondern auch gegen die unwiderstehliche Flut des Zorns und des Hasses, die ihn drängte, vorzuspringen und die Zähne in Strybjörns Hals zu vergraben. Die Warnung, die Ranek ihm nach Morkais Tor mit auf den Weg gegeben hatte, ging ihm durch den Kopf. Er erkannte jetzt, dass sein Hass in der Tat eine Schwäche war, die der Bestie in ihm gestatten würde, sein menschliches Selbst zu überwältigen. Jetzt nachzugeben würde nur zur Zerstörung seiner Seele führen. Seine Rache war nicht den Verlust seiner Persönlichkeit wert. Er würde warten und später Rache nehmen. Anstatt in bestialischer Raserei anzugreifen, ballte er die Hand zur Faust, schlug zu und erwischte Strybjörn mit seinem Hieb genau über dem Herzen. Als der Grimmschädel zurücktaumelte, schlug Ragnar noch einmal zu. Seine Faust traf ihn so hart unter dem Kinn, dass Strybjörn ein wenig hochgehoben wurde, bevor er bewusstlos zu Boden ging. Ragnar kämpfte den Drang nieder, sich auf seinen reglos daliegenden Feind zu werfen, zu reißen und zu fetzen, um ihn zu töten und zu verschlingen. In diesem Augenblick hatte er das Gefühl, als schwanke seine Seele am Rande eines tiefen Abgrunds, in den sie fallen würde, um nie wieder in die Welt der Menschen zurückzukehren. Wenn er diesem Drang nachgab, würde er sein Menschentum verlieren, endgültig und für immer. Das Verzehren von Menschenfleisch war eines der stärksten Tabus seines Volkes, und wenn er es brach, würde er sich seiner selbst schämen, was Ragnar die Bestie stärker und Ragnar den Menschen schwächer machen würde. Das durfte nicht geschehen. Und doch wollte ein Teil von ihm es trotzdem tun, wollte nachgeben, wollte sich der beständigen schweren Last des bewussten Denkens entledigen und weniger als ein Mensch und doch mehr als ein Tier werden. Er wusste, dass ein
Verräter in ihm lauerte, der einfach nur nachgeben und diesen einseitigen Kampf beenden wollte, um eine Welt zu betreten, in der alles einfach und grundlegend war und in der es keine Notwendigkeit für Vernunft, Nachdenken und Ehre gab. Ein Teil von ihm wollte dem verbotenen Drang nachgeben und Menschenblut trinken. Und schlimmer noch, ihm ging auf, dass dieses finstere Ding schon immer dagewesen war und nur darauf gewartet hatte, dass das Gebräu im Wolfenkelch es zum Vorschein brachte und stark machte. Jetzt war Ragnar nicht mehr sicher, ob er es daran hindern konnte, ihn zu verzehren. Für vielleicht ein Dutzend Herzschläge stand er da, im Krieg mit sich, und rang um Beherrschung. Der Kampf war ebenso rasch, heftig und tödlich wie derjenige, den er gerade mit Strybjörn ausgetragen hatte, und er wusste, dass dessen Ausgang ebenso bedeutsam war. Er rang um die Herrschaft, suchte einen Weg, der Bestie Fesseln anzulegen. Er zwang sich dazu, sich an all die unerledigten Dinge zu erinnern, die unerledigt bleiben würden, wenn er der Bestie nachgab. Er würde niemals die Geheimnisse der Space Wolves erfahren. Er würde niemals ihre Magie verstehen. Langsam, Atemzug für Atemzug, beruhigte er sich. Sein Herz hörte auf zu rasen. Es gelang ihm, den Blick auf das Essen zu richten, das der äußere Anlass für den Streit mit Strybjörn gewesen war. Er griff zu und riss mit den Fingern ein großes Stück blutigen Fleisches ab. Er stopfte es sich in den Mund! und kaute das kalte, rohe Fleisch hungrig. Er schluckte rasch und schlang noch mehr hinunter, da er entschlossen war, sich zu sättigen, bevor irgendjemand ihn daran hindern konnte. Er biss und kaute, bis sein Hunger gestillt war, und erst da hielt wieder so etwas wie Vernunft Einzug in ihm. Er ging zur Tränke, wo kaltes Wasser in einen steinernen Trog lief. Irgendeine Magie bewirkte, dass er nie überlief. Wenn der Trog voll war, hörte das Wasser auf zu fließen. Er senkte den Kopf, um zu trinken, und erstarrte, als er sein
Spiegelbild erblickte. Er sah sich selbst, und es war kein beruhigender Anblick. Sein Haar , war zerzaust. Seine Augen leuchteten seltsam. Blut war « aus seinen Mundwinkeln gelaufen und hatte Hände und Kleidung befleckt. Sein Gesicht war hager wie das eine« Wahnsinnigen. Er öffnete den Mund. Seine Zähne waren länger und spitzer geworden. Die Eckzähne bekamen immer größere Ähnlichkeit mit Reißzähnen. Er sah monströs und raubtierhaft aus. So muss ein Wolfen aussehen dachte er, wenn er aus seinem Bau kommt, um zu fressen. Rasch ließ er die Hände sinken und wölbte sie, um Wasser darin zu schöpfen. Er sagte sich, dass er es tat weil er Durst hatte. In seinem tiefsten Innern wusste Ragnar jedoch, dass der eigentliche Grund der war, das Wasser aufzuwühlen, sodass sein Spiegelbild unkenntlich wurde. *** Ragnar fühlte sich jetzt ruhiger. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Zuerst hatte er versucht, mit Kratzern in der Zellenwand festzuhalten, wie viele Tage vergangen waren, oder wenigstens wie oft das Licht trüber und wieder heller geworden war. Er wusste, dass das nicht immer funktioniert hatte. Es hatte lange Zeiträume gegeben, die er im Delirium oder in bestialischer Raserei verbracht hatte. Er stand auf und ging zur Fütterungsgrube, denn so dachte er mittlerweile darüber. Er war immer noch hungrig, verspürte aber nicht mehr jenen allesverzehrenden brennenden Heißhunger, der gedroht hatte, seine Seele zu verschlingen. Die Bestie war noch da, aber er hatte sie jetzt durchschaut. Sie war ein Teil von ihm, doch er hatte sie unter Kontrolle. Seine Sinne waren nicht mehr so scharf, dass es schmerzte. Er wusste, dass sie weit besser waren als je zuvor, aber er hatte sich an sie gewöhnt. Er konnte die Informationen, die sie ihm
übermittelten, durchgehen und verstehen. In gewisser Weise war dies kaum weniger als ein Wunder. Er konnte im Dunkeln sehen, Leute anhand ihres Geruchs verfolgen und eine Feder fallen hören. Und er fühlte sich schneller und stärker als je zuvor. Er bezweifelte nicht, dass die meisten normalen Leute sich für ihn jetzt wie Schnecken bewegten, falls es je zum Kampf mit ihnen kam. Er war auch breiter. Er konnte die große Steinbank in seiner Zelle hochheben, eine Leistung, bei der er sich in Russvik das Kreuz gebrochen hätte. Er hatte das Gefühl, Meilen laufen zu können, ohne zu ermüden, und er war sicher, dass er viel zäher und gesünder war. Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie besser gefühlt. Nicht alle hatten so viel Glück gehabt. Er wand sich innerlich, wenn er sich an einige der Dinge erinnerte, die sich ereignet hatten. Sie waren wie vage Szenen aus einem entsetzlichen Albtraum. Einige der Anwärter waren verrückt geworden. Er wusste noch, wie Blarak gegen eine Wand gelaufen war und sich den Schädel eingeschlagen hatte, und dann hatte ein anderer versucht, das herausgespritzte Gehirn zu essen. Er war nur froh, dass nicht er es gewesen war. Es wäre leicht möglich gewesen, als ihn der Wahnsinn überkommen hatte. Er schauderte, als er sich fragte, ob wahrhaftig alles vorbei war, ob er tatsächlich wieder sein eigener Herr war oder der Wahnsinn nur vorübergehend nachgelassen hatte. In der Fütterungsgrube, das wusste er, erwartete ihn frisches rohes Fleisch. *** Die Eisenpriester zogen Ragnar aus dem Sensorsarg. Das war auch gut so, dachte er. Er wusste nicht, ob er es noch länger ausgehalten hätte. Die Metallwände, die ihn in ihrem
kalten Griff hatten, die Drähte der Sensorsonden, die sich wie Schlangen über seine Haut wanden, die merkwürdigen Empfindungsstöße, als die Priester ihre magischen Maschinen beschworen, all das hatte sich verschworen, um ihn in den Wahnsinn zu treiben. War er Stunden, Tage oder vielleicht sogar Jahre in diesem kalten Grab eingekerkert gewesen? Er konnte es nicht sagen. Die Bestie in ihm hatte geheult und getobt, da sie die Gefangenschaft nicht ertragen konnte, sie hatte unbedingt entkommen wollen, und zur Abwechslung war Ragnar einmal völlig einer Meinung mit ihr gewesen. Er wusste jetzt, dass dies einem Zweck diente, dass die Eisenpriester ihn testeten, da sie sehen wollten, wie sein Körper sich den Veränderungen anpasste, und sie ihn untersuchten, um festzustellen, ob etwas schiefgegangen war. Die Blutproben, die sie ihm mit ihren Messingnadeln entnahmen, wurden irgendwohin geschickt, wo sie mit uralten Maschinen analysiert wurden, und die Reflextests, die sie mit ihren gebändigten Blitzschlägen anstellten, wurden von den Priestern sorgfältig begutachtet. Dennoch, das Wissen, dass diese Härten, diese Tests, zu seinem Besten waren, trug nicht im Geringsten dazu bei, das Gefühl irrsinniger Klaustrophobie zu mildern, das Ragnar erlebte, da er meinte, von der Enge zerquetscht zu werden, und er im Geiste nach den weiten offenen Räumen der Außenwelt schrie. Und natürlich, dachte er verdrossen, würde ihm letzten Endes all das nichts nützen. Ihre Magie mochte den Priestern eine Prognose ermöglichen, was mit ihm geschehen würde. Allem Anschein nach konnten sie erkennen, wer dem Wahnsinn verfallen, wer mutieren und wer sich in einen Wolfen verwandeln würde, sobald die Verwandlung einmal begonnen hatte. Sie würden nur nichts deswegen unternehmen. Es schien ihnen zu reichen, diesen Dingen ihren Lauf zu lassen und die Resultate in ihre großen, muffigen ledergebundenen Bücher einzutragen. Sie schienen der Ansicht zu sein, dass es
noch reichlich Anwärter gab, aus deren Reihen man auswählen konnte, und wenn ein einzelner scheiterte, tja, dann war es eben der Wille der Götter. Er schüttelte den Kopf und sah sich in der Kammer um. Sie war riesig und wurde vom flackernden Schein der alten Leuchtkugeln erhellt. Überall summten und surrten mächtige Maschinen. Sie schienen unvorstellbar alt zu sein und waren zum Teil verrostet. Gewaltige Bündel von Drähten, die mit Kupferschlingen umwickelt und mit altersgrauen Runen beschriftet waren, liefen von Maschine zu Maschine und verbanden sie mit den massiven Steueraltären, hinter denen die Eisenpriester saßen und beteten und die merkwürdigen elektrischen Geister riefen, die sie anbeteten. Es roch nach Ozon, Öl und den Salben, mit denen die Maschinen geputzt wurden. Lichtkreise spielten um die aktiven Maschinen, was die Anwesenheit der beschworenen Geister anzeigte. Von seinem Platz aus konnte Ragnar Strybjörn sehen, der in einen gewaltigen Kupferkreis geschnallt war. Seine Arme und Beine waren weit gespreizt. Der Kreis schwebte in einem anderen Kreis und drehte sich erst nach links, dann nach rechts, dann aufwärts, so dass Strybjörn verkehrt herum stand, und dann wieder in die Ausgangsposition. Dabei bildete sich in der Luft neben der Maschine ein Bild. Es hatte ungefähr dieselbe Größe wie Strybjörn und hatte auch seine Umrisse, die mit leuchtenden Lichtlinien nachgezeichnet wurden. An manchen Stellen, hauptsächlich um Kopf und Brust, hatten die Linien eine kräftige rote Farbe. An den meisten anderen Stellen waren sie grün oder gelb. Ragnar vermutete, dass die verschiedenen Farben erkennen ließen, wo die meisten Veränderungen im Körper des Anwärters stattfanden, aber wie bei allen neuen Dingen, die er hier erlebte, wusste er es nicht mit Sicherheit. Nach einem Augenblick des Zögerns kam Ragnar zu dem Schluss, dass es nur eine Möglichkeit gab, es herauszufinden. »Was bedeuten die Linien an dieser leuchtenden Figur?«,
fragte er, indem er in Strybjörns Richtung zeigte. Der Eisenpriester drehte sich zu ihm um. Seine Züge waren hinter der ausdruckslosen Metallmaske verborgen. Er betastete eine der Runen, welche in die Eisenbarren um seinen Hals eingraviert waren, und starrte Ragnar an, als überlege er, ob er eines der geheimen Mysterien seines Ordens enthüllen sollte. Ragnar erkannte überrascht, dass die Rune einer derjenigen entsprach, welche in die Seiten des Eisentempels auf den Inseln des Feuers eingemeißelt waren. Gab es eine Verbindung zwischen den beiden Orden?, fragte er sich. »Die roten Bereiche im Holoschatten weisen auf jene Stellen im Körper des Anwärters hin, wo noch große Veränderungen seiner Körperchemie stattfinden. Die gelben Bereiche sind diejenigen, welche sich gerade stabilisieren oder zu verwandeln beginnen. Die grünen Bereiche sind stabil.« Ragnar hatte keine Ahnung, was das Wort »Chemie« bedeutete, aber er sah, dass sein erster Eindruck richtig gewesen war. Er war erstaunt, dass der Priester ihm das erzählte. Früher waren die Diener Russ' schweigsam und gereizt gewesen, doch nun veränderten sie sich möglicherweise. Dieser schien ihn immer noch nicht als gleichberechtigt zu akzeptieren, aber zumindest betrachtete er ihn anscheinend als jemanden mit geringen Verdiensten. Eine Woge der Erregung durchzuckte Ragnar. Vielleicht konnte er jetzt erkennen, wie Strybjörns Verwandlung ablief und ob seine Omen günstig waren. Oder vielleicht war es auch besser, nichts dergleichen in Erfahrung zu bringen, unwissend in tobender Bestialität zu versinken, falls dies sein Schicksal war. Er beschloss festzustellen, ob er es herausfinden konnte. Der Eisenpriester dachte lange über seine Frage nach, bevor er mit seiner trägen, kalten Stimme antwortete. Diesmal war Ragnar ziemlich sicher, den Akzent der Insel des Feuers aus der Stimme des Mannes herauszuhören. »Deine Verwandlung schreitet langsam und auf kontrollierte
Weise voran«, sagte er schließlich. »Ist das schlecht?«, fragte Ragnar, während sich in seinen Eingeweiden die Besorgnis regte. »Negativ. Normalerweise ist das ein positiver Indikator. Ein Körper, der sich auf langsame, stetige Weise anpasst, reagiert gewöhnlich günstig auf die genetischen Implantate. Normalerweise prognostizieren wir eine eher bedauerliche Entartung in der Testperson, wenn die Verwandlung rapide und in unkontrollierten Schüben erfolgt.« »Also werde ich überleben.« »Das habe ich nicht gesagt. In diesen Auguren liegt immer Spielraum für Irrtümer. Manchmal sieht ein Anwärter monatelang gut aus und scheint die Verwandlung erfolgreich zu überstehen, um dann im letzten Augenblick zu scheitern. Manchmal beginnt bei einem Anwärter die Entartung, aber er erholt sich wieder. Nichts ist sicher. Alles ist Zufall und unterliegt dem Willen von Russ und den Blutgeistern.« Ragnar schauderte. Er hätte sich denken können, wie die Antwort des Priesters ausfallen würde. Allem Anschein nach bestand immer noch die Möglichkeit, dass er scheiterte. *** Wochen vergingen. Ragnar fühlte sich viel besser. Er fühlte sich wie damals als Kind, als er sich vom roten Fieber erholte. Solange er krank gewesen war, hatte es so ausgesehen, als werde er nie wieder genesen. Jetzt, da er sich erholt hatte, war er zutiefst dankbar für das neue Gefühl von Gesundheit und Kraft. Alles sah strahlender und farbenprächtiger aus. Die Luft roch lieblicher. Das Essen schmeckte besser. Das Gefühl des merkwürdigen Stoffs auf der Haut war keine Qual mehr, sondern ein Vergnügen.
Natürlich, sagte er sich, war es auch möglich, dass das nichts damit zu tun hatte, dass er sich besser fühlte. Es mochte einfach eine Folge der Veränderungen sein, die durch den Trank aus dem Wolfenkelch herbeigeführt worden waren. Seine Sinne schienen jetzt alle viel schärfer zu sein, und was Kraft und Ausdauer betraf, fühlte er sich besser denn je. Die Eisenpriester hatten ihrer Zufriedenheit mit dem Voranschreiten seiner Verwandlung Ausdruck verliehen, obgleich es ihnen wie immer gelungen war, auch noch ein paar geheimnisvolle Warnungen auszusprechen. Ragnar brauchte ihre Warnungen nicht, um das zu erkennen. Er spürte, dass die Bestie immer noch in ihm lauerte, obwohl er sich, um die Wahrheit zu sagen, von Tag zu Tag wohler mit ihrer Anwesenheit fühlte. Sie war jetzt ein Teil von ihm, etwas, das ihm Kraft und Wildheit geben würde, wenn er sich darauf berief, und das ihn in die Lage versetzte, die Informationen zu verstehen, die seine geschärften Sinne lieferten. Er hatte jetzt ein Gefühl, als sei er teils Mensch und teils Wolf oder vielleicht etwas Größeres als eines davon. Ein Blick auf die anderen Anwärter reichte, um zu erkennen, dass nicht alle so empfanden. Vielleicht fanden sie es schwieriger, sich anzupassen. Kjel sah gehetzt aus. In seinen Augen stand ein merkwürdig todgeweihter Ausdruck, und sein Gesicht war hager und angespannt. Seine Blicke irrten ständig hin und her wie bei einem in die Enge getriebenen Tier. Wenn er spürte, dass Ragnar ihn ansah, knurrte und geiferte er, als wolle er ihn warnen. Ragnar fiel auf, dass Kjel überall Haare wuchsen. Sie bedeckten seine Handrücken und ragten aus Kragen und Ärmeln seiner Tunika. Auch seine Haltung hatte sich verändert. Sie war vorgebeugt, so dass die Hände tief herabhingen, und die Finger waren wie Klauen gekrümmt. Ragnar fiel es schwer, den fröhlichen Kjel in dieser verstörten Kreatur wiederzufinden, der er einmal gewesen war. Kjel
kratzte das Armband an seinem Handgelenk und machte sich hartnäckig daran zu schaffen, bis Blut floss. Er hatte etwas an sich, das Ragnar an einen Wolf erinnerte, dessen Pfote in einer Falle klemmte. Sven war hingegen äußerlich kaum verändert, vielleicht weil er von Anfang an brutaler ausgesehen hatte. Er grinste Ragnar an, wobei er seine neuen Fänge zeigte, und in seinen Augen fing sich das Licht der Leuchtkugeln und reflektierte es auf unheimliche Weise. Sven war noch breiter und muskulöser geworden. Seine Arme waren jetzt so dick wie Ragnars Oberschenkel, und seine Brust war rund wie ein Fass. Ragnar spürte, dass Sven die Verwandlung genoss und sich mit der Bestie beinahe ausgesöhnt hatte, die in ihm tobte. Als er einen brennenden Blick auf sich ruhen spürte, drehte er sich um und sah Strybjörn. Hier war ein Mann, der nicht im Geringsten ausgeglichen war. Der Grimmschädel war so angespannt wie ein Tau im Sturm. Er hatte etwas Wildes an sich, einen wahnsinnigen Zorn, der in seinen Augen Amok lief, und dieses Etwas war auch in seiner Haltung offensichtlich. Strybjörn sah aus, als sei er in jedem Augenblick bereit, bei der geringsten Provokation zuzuschlagen. Als Ragnar in seine hohlen Augen schaute, war es nur zu leicht für ihn, die Bestie wahrzunehmen, die dort lauerte. Ragnar fand es immer noch merkwürdig, beinah unangenehm, wie er in der Lage zu sein schien, die Stimmungen der anderen zu spüren und vielleicht einen Eindruck von ihren Gedankengängen zu bekommen. Vielleicht war das eine weitere Auswirkung der Verwandlung. Vielleicht bekamen sie etwas von Wölfen in einem Rudel und konnten einander durch andere Mittel als Worte und Gesten verstehen. Vielleicht entnahm er der Haltung und Witterung der anderen Anwärter alles Nötige. Das war zumindest ein Teil der Erklärung. Ragnar hatte das Gefühl, als könne er ihre Stimmung riechen. Kjels Seltsamkeit roch merkwürdig
stechend. Der Geruch von Strybjörns beherrschter Wut erinnerte ihn an schwelendes Holz, Svens Fröhlichkeit an den Geruch von Ale. Er wusste, dass dies eine unpräzise Art war, die Dinge auch nur sich selbst zu beschreiben, aber ihm fehlten die Worte, um es anders auszudrücken. Seine Sprache hatte nichts an sich, was es ihm gestattet hätte seine Vorstellungen in Worte zu kleiden, die Gerüche zu beschreiben oder die Millionen subtiler Abweichungen in den Gerüchen zu unterscheiden. Ragnar sah sich die anderen an. Sein Mut sank. So wenige waren noch übrig. Nils war noch da und ein Fremder namens Mikal. Von den anderen war keine Spur zu sehen. Er hatte keine Ahnung, was mit ihnen geschehen war. Irgendwo im Fieberwahn der Erinnerungen an seine Verwandlung glaubte er Bilder von den Eisenpriestern ausmachen zu können, wie sie eintraten und Anwärter wegbrachten, aus denen schleichende Ungeheuer geworden oder die in kichernden Irrsinn versunken waren, aber er war nicht sicher. Solange er lebte, würde er nie ganz sicher sein, was in dieser Phase seines Lebens geschehen war, und in gewisser Weise war er froh darüber. Er war nicht sicher, ob er in dieser Zeit etwas getan hatte, woran er sich lieber nicht erinnern würde. Die Metalltür glitt auf magische Weise auf. Ranek stand in kompletter mystischer Aufmachung da. Er betrachtete sie einen Augenblick und lächelte grimmig. Seine anschließenden Worte sandten einen Schauder der Furcht durch Ragnars innerstes Wesen. »Ihr seid nicht mehr viele«, sagte Ranek. »Überhaupt nicht mehr viele. Und bald werdet ihr noch weniger sein. Es wird Zeit für die letzte Prüfung.«
12
DIE LETZTE PRÜFUNG Ragnar schauderte. Es war kalt, es war dunkel, und er war allein. Er ließ den Blick über die eisige Landschaft und die titanischen Gipfel schweifen und erkannte, dass er hier ohne Weiteres sterben konnte. Zum ersten Mal seit Monaten war er wirklich und wahrhaftig ganz allein. Im Umkreis Hunderter von Meilen gab es außer ihm niemanden. Der Thunderhawk wurde in der Ferne kleiner und verschwand in den schweren grauen Wolken in der Richtung des Fangs. Er war als Letzter im Schnee abgesetzt worden. Alle anderen waren ebenfalls weit entfernt irgendwo zwischen den einzelnen Gipfeln ausgestiegen. Ragnar war nicht klar gewesen, dass es so viele Anwärter gab, bis er sie an Bord des Thunderhawk gesehen hatte. Alles in allem hatte er über zwanzig gezählt. Offensichtlich, dachte er, wurden Kandidaten für die Space Wolves auch von anderen Orten als Russvik eingeflogen und in vielen abgesonderten Bereichen des Fangs untergebracht. Er hatte keine Ahnung, warum dies so war, aber es musste so sein. Es war die einzige Erklärung, die ihm einfiel. Rasch tat er den Gedanken als unerheblich für seine gegenwärtige Situation ab. Er musste an sein Überleben denken. Ragnar sah sich in der öden und trostlosen Landschaft um. Gewaltige Felsbrocken waren in das Tal gestürzt und verdeckten die Sicht. Einige der gewaltigen Felsen waren mit Flechten bedeckt, die zeigten, dass zumindest Pflanzen in dieser öden Wildnis überleben konnten. Viele der Felsen waren bereits mit Schnee bedeckt. Große Flocken fielen, langsam und leise, aber unaufhörlich. Nachdem er die trostlose Szenerie einen Augenblick betrachtet hatte, schüttelte Ragnar den Kopf, um seine wirren Gedanken zu klären, nahm einen tiefen Zug von der kalten Luft und machte sich seine Lage bewusst.
Er trug lediglich die graue Anwärter-Tunika und den Ledergürtel, in dem sein Dolch und die Scheide steckten. Das war alles. Er hatte keinerlei Proviant bei sich. Nichts anderes, was ihm dabei helfen mochte, in dieser tödlichen Wildnis zu überleben. Auf den ersten Blick mochte seine Aufgabe einfach erscheinen: Er musste zum Fang zurückkehren und sich den Space Wolves präsentieren. Wenn er überlebte, würde man ihn in die Reihen der Space Marine aufnehmen. Wenn er scheiterte, würde er sterben. So einfach war das. Die Dinge standen nicht so schlimm, sagte sich Ragnar. Sie hätten schlimmer sein können. Zumindest war seine aus irgendeinem sonderbaren grauen Material gefertigte AnwärterTunika geradezu unheimlich warm. Außerdem hatte er sein Messer. Das klang nicht einmal für Ragnar nach viel, da er allein in der Dunkelheit in den Schneewüsten hoch in den Bergen Asaheims stand. Aber wenigstens war der Fang leicht zu finden. Er überragte alle anderen Gipfel in dem Gebirge und war am Horizont zu sehen. Doch kaum hatte er das gedacht, als ein anderer Teil seines Verstands ihm zuflüsterte, dass sein Schicksal besiegelt sei. So vieles konnte schiefgehen. So warm seine Tunika auch war, er bezweifelte, dass sie warm genug sein würde, wenn der Wind kräftig blies und die Temperaturen sanken. Und es bestand immer die Möglichkeit, dass er sie unterwegs zerriss. Ragnar fragte sich, ob sie sich auch dann noch ihre wunderbar wärmenden Eigenschaften bewahren würde. Ja, der Fang war zu sehen, aber aus seiner Zeit in den weitaus weniger hohen Bergen rings um Russvik wusste Ragnar, dass sich jederzeit Wolken und kalter Nebel bilden und die Sicht verringern konnten. Diese Täler waren sein Labyrinth, und wenn der Nebel kam, würde es nur allzu leicht möglich sein, sich darin zu verirren. Und was würde er in Bezug auf Essen unternehmen? Diese Gegend war so öde und kahl wie die Hölle. Er glaubte nicht, dass er hier irgendetwas
Essbares finden konnte. Und wenn doch, würde es ihn vielleicht ebenso essbar finden. In diesen Bergen mochten Rudel der großen eisengrauen Wölfe unterwegs sein, aber auch Trolle, Nachtgänger und kannibalische Stammeskrieger oder, schlimmer noch, Wolfen. Nicht einmal sein Wissen, wie Wolfen entstanden, ließ ihn seine Furcht vor diesen Ungeheuern abschütteln. Nun, dachte Ragnar, es blieb immer noch Zeit genug, sich deswegen Sorgen zu machen, falls er ihnen begegnete. Jetzt machte er sich besser auf den Weg. Vielleicht fand er eine Höhle, bevor es richtig dunkel wurde. *** Voraus war ein verkrüppelter Baum. Das forsche Gewächs ermunterte Ragnar seltsamerweise. Es war klein und verkümmert, aber zumindest wuchs es und klammerte sich mit seinen Wurzeln an den Berghang. Es trotzte dem Berg und zeigte, dass Lebendiges hier überleben und gedeihen konnte. Mehr noch, wenn er es geschickt anstellte, würde es ihm dabei helfen zu überleben. Wenn er weiter abwärts kletterte, würde er bald andere Bäume sehen. Er war lange genug in den Bergen, um zu wissen, dass es eine Grenze gab, oberhalb derer Bäume nicht mehr wuchsen, und dass es auf den höchsten Hängen und Gipfeln keine Vegetation außer Moos gab. Er hob eine Hand voll Schnee auf und schob ihn sich in den Mund. Zumindest würde er nicht verdursten, solange er auf dem Boden lag. Nach allem, was Hakon ihnen in Russvik erzählt hatte, wusste er, dass Krankheitsgeister in solcherart ungereinigtem Wasser lauern mochten, aber im Augenblick war ihm das egal. Durst war eine weitaus wirklichere und unmittelbarere Gefahr, und derzeit hatte er weder eine Möglichkeit, Feuer zu machen, noch einen Topf, um den
Schnee zu schmelzen und das Wasser abzukochen. Der Schnee war kalt an Zähnen und Zahnfleisch, aber er schluckte das geschmolzene Wasser. In der Hand hielt Ragnar einen Brocken Feuerstein, den er sich aus einer der trügerischen Geröllhalden am Berghang geholt hatte. Er wünschte, er hätte einen Beutel gehabt, um ihn darin zu verstauen, aber er hatte keinen, also konnte er ihn nur in der Hand halten. Der Stein würde einem doppelten Zweck dienen, hoffte Ragnar. Zum einen konnte er damit nach etwaigen umherstreifenden Bestien werfen. Wegen seiner neuen Muskelkraft war Ragnar äußerst zuversichtlich, einen scharfkantigen Stein sehr fest werfen zu können. Der Gedanke zauberte ein wölfisches Lächeln auf sein Gesicht. Der zweite Verwendungszweck des Feuersteins bestand darin, dass er ihn mit seinem Messer anschlagen, Funken erzeugen und somit ein Feuer entfachen konnte. Was für eine Hoffnung, dachte Ragnar, während die Kraft aus ihm wich, als er die feuchte Rinde des Baums betrachtete. Jetzt hatte er reichlich Holz, aber es war nass und kalt und er hatte keine Möglichkeit, das Holz unter diesen Umständen anzuzünden. Ragnar schauderte und fragte sich kurz, wie es den anderen wohl erging. Waren ihre letzten paar Tage ebenso hart gewesen wie seine, ein langer ermüdender Marsch durch Schnee und Kälte in dem Versuch, den Tälern zu folgen und dabei immer den großen Gipfel des Fangs im Auge zu behalten? Hatten sie in den eisigen Böen des Windes gezittert, während sie über schmale, vereiste Grate stiegen, die über furchtbare, mit Geröll übersäte Schluchten führten? Hatten sie immer die Ohren gespitzt, um etwaige Schreie der großen Bestie, des Wolfen, zu hören, vor der sie sich so sehr fürchteten? Hatten sie ehrfürchtig zugesehen, wie ein mächtiger Steinadler über sie hinwegflog und in der trostlosen Landschaft nach Beute Ausschau hielt mit Augen, die scharf genug waren, um eine
umherhuschende Maus noch aus tausend Fuß Höhe ausmachen zu können? Hatten sie auch überlebt, indem sie Moos gegessen hatten und Eier, die sie aus den Nestern von Gebirgsvögeln stahlen? Ragnar schauderte. Es war möglich, dass die anderen bereits tot waren. Er hatte auf seinem Marsch schon so viele Gefahren gesehen und war doch erst ein paar Tage unterwegs. In den sturmgepeitschten Bergen bestand ständig die Möglichkeit eines Steinschlags. Dann war da die kräftezehrende Kälte, die bewirkte, dass man sich hinlegen und sterben wollte. Es gab schmale Pfade, auf denen ein einziger Fehltritt den Sorglosen in einen unendlich tiefen Abgrund riss. Vielleicht waren sie von Bestien gefressen worden. Vielleicht waren sie wahnsinnig geworden. Vielleicht waren sie von den verzögerten Auswirkungen der Verwandlung überwältigt worden und hatten sich selbst in Ungeheuer verwandelt, die gerade auf der Jagd nach Ragnar waren, um ihm Glied für Glied einzeln auszureißen. Von allen möglichen Verhängnissen, die ihm durch den Kopf gingen, setzte dieses Ragnar am meisten zu. Auch jetzt noch bestand die Möglichkeit, dass etwas schiefging. Die Eisenpriester hatten ihm verraten, dass es mindestens einen Monat dauerte, bis ein Anwärter sich nach der Verwandlung sicher fühlen konnte, und möglicherweise nicht einmal dann. Die Bestie, die tief in ihm lauerte, mochte immer noch vorspringen und seine Seele verschlingen. Vielleicht war nur diese wilde Umgebung nötig, um sie herauszulocken und dazu anzuspornen, völlig Besitz von ihm zu ergreifen. Das war kein beruhigender Gedanke. Ragnar zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, denn er musste bald eine Stelle finden, wo er die Nacht verbringen konnte. Auch mit seinen veränderten Augen war es Selbstmord, im Dunkeln durch diese Berge zu wandern. Es war immer möglich, etwas zu übersehen, auf loses Gestein zu
treten, eine Gerölllawine auszulösen und von ihr in die Tiefe gerissen zu werden oder in einen schwer zu erkennenden Spalt zu fallen. Außerdem sank die Temperatur in der Nacht noch weiter, und er hatte nicht den Wunsch, die wärmespeichernden Eigenschaften seiner Tunika noch mehr zu strapazieren, als er dies ohnehin schon musste. Bei seinem Aufenthalt in Russvik hatte er gelernt, dass das Überleben unter diesen Umständen in erster Linie davon abhing, dass man nichts tat, was die Schicksalsgöttinnen provozierte. Der Trick bestand darin, es nicht darauf ankommen zu lassen und dafür zu sorgen, dass möglichst viele Faktoren vorteilhaft für einen blieben. Das bedeutete auch, dass man nur dann ein Risiko einging, wenn einem nichts anderes übrig blieb. Auch wenn man stark und zuversichtlich war, wie Ragnar es mit seinen neuen Fähigkeiten sein musste, konnte unter diesen erschwerten Bedingungen bereits ein geringes Missgeschick ausreichen, um den Tod zu finden. Schon ein kleiner Unfall, ein verstauchter Knöchel, ein verrenktes Glied, eine leichte Krankheit konnte reichen. Ragnar wusste, dass solch ein Unfall immer Müdigkeit mit sich brachte, den Geist erschöpfte, Kräfte raubte und auch den zähsten Krieger zu einer leichten Beute für andere Gefahren machte. Mit der Zeit konnten unbedeutende Kleinigkeiten immer schlimmer werden, bis sie auch den Stärksten bei den Space Wolves zur Unbeweglichkeit verurteilten. Ragnar kam zu dem Schluss, dass der Trick darin bestand, alle vermeidbaren Missgeschicke auch tatsächlich zu vermeiden. Was leichter gesagt als getan war. Er sah sich nach einer Stelle um, wo er rasten konnte, und entdeckte unweit des Baumes eine kleine Einbuchtung unter einem Überhang, der die Höhlung vor den schlimmsten Windböen und dem Schneefall schützte. Ragnar entschied, dass er bis zum Einbruch der Nacht wahrscheinlich keinen besseren Unterschlupf finden würde. Er hackte auf den Baum ein, sammelte Zweige, Nadeln und Zapfen als Feuerholz und
darüber hinaus einen dicken Ast, der ihm sowohl als Keule als auch als Stütze dienen würde. Mit einiger Mühe gelang es ihm sogar, einen längeren, geraden Ast abzubrechen, den er zu einem Speer zurechtschnitzen wollte. Es dauerte einige Zeit, bis Ragnar alles aufgesammelt und zu seinem Unterschlupf gebracht hatte. Es dauerte noch länger, bis er den Versuch aufgab, mit seinem Messer an dem Feuerstein Funken über einem kleinen Haufen aus Nadeln und Zapfen zu schlagen, um ein Feuer zu entzünden. Die Nadeln waren feucht und konnten unmöglich Feuer fangen. Zumindest hielten ihn diese Bemühungen wach, und Ragnar glaubte, dass das in dieser gefrorenen und trostlosen Landschaft wahrscheinlich besser so war. Durchgefroren und müde, wie er war, machte er sich einen Teppich aus Nadeln, um wenigstens ein klein wenig Schutz vor dem eiskalten Fels des Bodens zu haben, legte sich hin und schlief ein. Sein letzter Gedanke war die Frage, ob er je wieder aufwachen werde. *** Ragnar träumte von Wolfen. Er träumte von Bestien, die halb Mensch und halb Wolf waren. Er träumte, dass sie ihn in den endlosen Felsschluchten im Schatten der Berge beschlichen. In seinen Träumen fror er. Im Geiste spürte er die Anwesenheit des anderen, der Bestie, die in ihm erwacht war, als er aus dem Wolfenkelch getrunken hatte. Die Bestie reagierte ebenfalls auf das Heulen. Zur Abwechslung schien sie sich einmal nicht gegen seine Herrschaft wehren zu wollen. Sie schien einzusehen, dass sie sich einen Körper teilten und ihre Existenz ebenfalls enden würde, wenn Ragnar starb. Sie war ebenso wachsam wie er, was Gefahren betraf, und zum ersten Mal sah Ragnar eine andere Möglichkeit als die eines unbehaglichen Waffenstillstands zwischen ihm und seiner dunkleren,
bestialischeren Seite. Im Traum begann Ragnar, seinen Feind zu beschleichen, anstatt davonzuhuschen, und von dem Wolfgeist in sich geleitet, wusste er, dass er Beute in den Steintälern finden und bald in der Lage sein würde, seine Fänge in heißes, blutiges Fleisch zu schlagen. *** Er erwachte bis auf die Knochen durchgefroren und zitternd, unsicher, ob das Geräusch, das er hörte, aus der Schattenwelt seines Traums oder aus der harschen, felsigen Wirklichkeit stammte, die ihn umgab. Er musste nicht lange warten, um es herauszufinden. Das Heulen ertönte erneut, und zwar lauter und näher. Gewiss war es das Heulen eines Sturmdämons, der seine Brüder rief. Ein Schrei unvorstellbaren Hungers, Leidens und Müdigkeit. Ragnar erkannte darin das Heulen eines der großen Wölfe Asaheims. Er schauderte in dem Wissen, dass sein Leben bald vorbei sein würde, falls weitere Artgenossen der Kreatur in der Nähe waren. Falls er sie überraschen konnte, gelang es ihm vielleicht, die große Bestie im Kampf zu besiegen, aber er konnte sich unmöglich gegen ein ganzes Rudel behaupten. Wenn die Wölfe auf Fenris im Rudel jagten, konnten sie einen Troll oder sogar einen Eisdrachen zur Strecke bringen. In allen Einöden Asaheims gab es keine tödlicheren Kreaturen. Er spitzte die Ohren, um zu lauschen, und schnüffelte im Nachtwind. Er glaubte etwas zu riechen, die Überreste einer sauren Ausdünstung, die von den kalten Fingern des Windes bereits zerfasert wurden. Es war ein Geruch, den er instinktiv einem großen Wolf zuordnete. Er zog sich so tief wie möglich in seine Höhlung zurück und ging seine Möglichkeiten durch. Die Situation hatte zumindest ein Gutes. Im Augenblick kam
der Wind aus der Richtung des Wolfs, was bedeutete, dass der Wolf ihn nicht wittern konnte. Natürlich konnte sich das so rasch ändern, wie sich die Windrichtung ändern mochte, aber dagegen ließ sich nichts unternehmen, außer zu Russ beten, dass es eben nicht geschah. Und der Witterung des Wolfs haftete noch etwas anderes an - ein Makel, ein Gestank, ein Geruch von Krankheit. Ragnar war noch nicht erfahren genug, um genau zu wissen, was dieser Geruch zu bedeuten hatte, aber er hoffte, dass die Kreatur lediglich krank und nicht der Überträger irgendeiner Seuche war. Er überprüfte seine Waffen. Er hielt sein Messer in der linken Hand und seinen Speer in der rechten. Die Keule lag griffbereit in der Nähe, sobald er seinen zugespitzten Stock geworfen hatte. Ragnar erhoffte sich nicht viel davon. Er hatte die Absicht gehabt, die Spitze in den Flammen des Feuers zu härten, das anzuzünden ihm nicht gelungen war, also wusste er nicht, wie wirksam die Waffe sein würde. Dennoch musste sie besser sein als gar nichts. Ragnar fand es bedauerlich, dass er keinen Schild hatte. Er zuckte die Achseln. Ebenso gut hätte er sich eine von Raneks magischen Waffen wünschen können. Beides war gleich unerreichbar für ihn. Ragnar beruhigte sich innerlich. Seine Nackenhaare sträubten sich, als er das leise Kratzen von Krallen auf Stein hörte, und dann kam der Fenris-Wolf auf dem steinigen Pfad in Sicht. Während er über die Fähigkeit seiner Augen staunte, auch im Dunkeln noch so viele Einzelheiten wahrnehmen zu können, erkannte Ragnar sofort, dass der Wolf alt und verwundet war. Sein Fell war weiß und struppig, und eine alte Wunde in seiner Flanke, die sich entzündet hatte, war die Ursache des widerlichen Gestanks. Der Wolf hinkte ein wenig und schonte die rechte Vorderpfote. Ragnar hielt den Atem an. Es war ein alter Wolf, vielleicht ein Rudelführer, der im Kampf gegen jüngere, wildere Wölfe unterlegen und verjagt worden war. Er war offensichtlich
geschwächt und ausgehungert und sah dennoch nach einem furchterregenden Gegner aus. Seine Schulterhöhe entsprach derjenigen Ragnars, und er musste sogar in seinem geschwächten Zustand noch doppelt so viel wiegen wie er. Die Fänge waren wie Dolche, und in den Augen brannte roter Wahnsinn. Während Ragnar all das sah, schien der Wolf ihn jetzt zum ersten Mal zur Kenntnis zu nehmen. Er riss das Maul auf, stieß ein langgezogenes verlorenes Heulen der Wut und des Hasses aus und sprang. Ragnar warf seinen Speer direkt auf die Brust der gewaltigen Bestie. Von der vollen Kraft der stählernen Muskeln Ragnars getrieben, bohrte die Spitze sich in den Wolfskörper. Blut floss, wo das Fell sich teilte. Der Wolf taumelte, und der Schaft brach. Ragnar hoffte, dass die Spitze in der Wunde stecken geblieben war. Er wartete nicht, um die Keule aufzuheben, sondern sprang vorwärts, da er seinen Vorteil ausnutzen wollte. Der gewaltige Wolf knurrte und warf sich auf ihn. Ragnar sprang zur Seite und schlang der vor Wut halb wahnsinnigen Bestie einen Arm um den Hals, ohne von den tödlichen Fängen erwischt zu werden. Er bezweifelte nicht, dass ein einziger Biss seine Kehle zerreißen oder einen Arm zu blutigem Brei zermalmen würde. Ragnar hatte die Absicht, die Bestie niederzuringen, da er Zutrauen in die Kraft seiner übermenschlichen Muskeln hatte, jeden gewöhnlichen Wolf überwinden zu können. Als die Bestie knurrte und sich ins Zeug legte, den Anwärter zu besiegen, lernte Ragnar rasch, dass sein blindes Zutrauen unbegründet war. Es war wie der Versuch, einen Erdrutsch aufzuhalten. Gewaltige Sehnen wie Taue traten unter dem matten Fell hervor. Der Geruch des stinkenden Wolfsatems stach Ragnar in die Nase. Mit der Schläue seines Alters warf der große Wolf sich mit seinem ganzen Gewicht auf Ragnar und schleuderte ihn gegen die scharfkantigen Felsen, die überall auf dem
Talboden verstreut lagen. Messerscharfe Splitter schnitten an einem Dutzend Stellen in seine Arme, und seine Hände waren rasch glitschig von seinem eigenen Blut. Die Last der alten Bestie auf der Brust presste Ragnar die Luft aus der Lunge. Nach kurzer Zeit keuchte er, und vor seinen Augen tanzten bunte Lichter. Der Wolf knurrte tief aus der Kehle. Ragnar schlang seinen Arm noch fester um dessen Hals und legte alle Kraft in sein Bemühen, die Bestie festzuhalten. Plötzlich fuhr der Wolf herum und schnappte nach ihm. Die furchtbaren Kiefer schlossen sich wie eine Bärenfalle nur wenige Fingerbreit vor Ragnars Nase. Sein Atem kam nur noch in japsenden Stößen, als er sein Messer hochriss und es immer wieder in das warme nachgiebige Fleisch der Wolfskehle stieß. Er zog das Messer nach rechts und links und spürte den Widerstand von Muskeln, Sehnen und Adern. Blut spritzte, als die Kehle der Bestie durchschnitten war. Warme, rote Flüssigkeit sprudelte auf den kalten grauen Fels. Während das Blut in der kalten Nachtluft dampfte, hielt Ragnar den Wolf so lange fest, bis dessen krampfhafte Bewegungen nachließen, schwächer wurden und schließlich vollständig aufhörten. Dann machte er sich daran, das Tier auszuweiden. *** Ragnar war sehr zufrieden mit seinem nächtlichen Werk. Er hatte einen neuen Umhang aus ungegerbtem Wolfsfell. Zugegeben, das ausgekratzte Fell stank, aber es bot seinem Körper den zusätzlichen Schutz vor Kälte und Wind. Das rohe Fleisch und die Innereien des Kadavers hatten seinen brennenden Hunger gestillt, und das warme Blut hatte ihn erfrischt. Besser noch, die Sehnen des Wolfs versorgten ihn mit einer Schnur, die es ihm gestattete, sein Messer an die Spitze eines Speers zu binden, was ihn zu einer wirklich beachtlichen Waffe machen würde, sobald er einen geeigneten Zweig fand.
Ein Stück Fell diente bereits als Beutel, in dem er seine Feuersteine verwahrte. Außerdem hatte er aus den Überresten von Fell und Sehnen eine Schleuder gebastelt, mit der er scharfkantige Steine über große Entfernungen schleudern konnte. Unterwegs übte er damit und brachte es bald zu einer beachtlichen Fertigkeit. Ragnar musterte den Himmel, und was er sah, gefiel ihm nicht. Große schwarze Wolken verbargen den Fang und den südlichen Teil des Himmels. Er glaubte in der Ferne Donnergrollen zu hören. Aber er konnte nichts anderes tun, als weiterzumarschieren. Einen feuchten Streifen Wolfsfleisch kauend, lief er leichtfüßig den Hang hinunter. *** Ragnar setzte seinen Weg durch den Wald fort, indem er seinen Speer als Wanderstab benutzte. Er war sehr zufrieden mit seiner neuen Waffe. Der lange Zweig war stark. Der Dolch saß fest an der Spitze. Er war jetzt bereit, es mit so gut wie jeder Gefahr aufzunehmen. Hier gefiel es ihm besser, dachte er, während er die Pinien betrachtete, von denen der Pfad umgeben war. Der Wald schien endlos zu sein, aber es war wärmer, und er war jetzt weit unterhalb der kahlen Hänge oberhalb der Baumgrenze. Schmelzwasser und Regen führende Bäche plätscherten abwärts. Vögel sangen und zwitscherten, und überall fanden sich Spuren von kleinen Tieren. Er wusste jetzt, dass er weder verhungern noch verdursten würde. Er war bereits auf Bäume geklettert und hatte Eier aus Nestern gestohlen, um sie durch ein kleines in die Spitze gebohrtes Loch auszusaugen. Das Bachwasser war kalt und erfrischend, und er wünschte, er hätte ein Gefäß gehabt, um es transportieren zu können. Wenn er in diesem Wald blieb,
konnte er hier überleben, dachte Ragnar. Vielleicht sollte er das versuchen. Schließlich musste er nicht zum Fang zurückkehren, und er schuldete der Space Wolves nichts außer einer Menge Schmerzen. Ragnar bezweifelte, dass ihn jemand finden würde, wenn er sich entschloss, im Wald zu bleiben. Tatsächlich bezweifelte er, dass jemand es überhaupt versuchen würde. Die Einstellung der Space Wolves schien die zu sein, das sie niemanden wollten, der nicht ihren Maßstäben entsprach, und, wenn er nicht zurückkehrte, hätte er diese Prüfung ohnehin nicht bestanden. Je länger er marschierte, desto mehr Anzeichen sah Ragnar, dass ein Mensch in diesen Wäldern recht gut würde leben können. Er konnte sich einen Unterschlupf bauen, wie man es ihn gelehrt hatte, bis er eine geeignete Höhle fand. Er konnte Holz trocknen und ein Feuer machen. Er konnte jagen und essbare Pflanzen suchen. Er konnte hier nach seinen eigenen Regeln in einen Land leben wie in seinem eigenen kleinen Königreich. Und doch wusste Ragnar in seinem tiefsten Innern, dass er sein Unternehmen nicht abbrechen konnte. Es war nicht nur eine Frage des Stolzes, obwohl der gewiss eine Rolle spielte. Er hatte im Fang noch etwas mit Strybjörn zu regeln, falls der Grimmschädel-Bastard immer noch lebte. Aber da war noch mehr, und das war noch wichtiger. Ragnar wollte nicht allein hier draußen in den Bergwäldern leben. Etwas im Fang rief ihn, wie die Kameradschaft eines Rudels einen einzelnen Wolf rufen mochte. Ragnar hatte sich verändert, als er aus dem Wolfenkelch trank, das wusste er. Er war jetzt mehr und zugleich weniger als ein Mensch. Es war, als habe die Bestie, die in ihm erwacht war, ihn zumindest teilweise zu einem Wolf gemacht, und der Wolf in ihm sehnte sich nach der Gesellschaft des Rudels. Er sehnte sich danach, seinen Platz darin zu finden. Er sehnte sich danach, sich seine Stellung in der Hierarchie zu erkämpfen.
Mehr noch, Ragnar wusste jetzt, dass es im Fang selbst etwas gab, wonach er sich sehnte. Zwar hatte er von Ranek und Hakon und ihresgleichen nur Schläge eingesteckt, aber er wusste jetzt, dass sie Supermenschen waren, die Hochachtung verdienten, und dass sie ihre Lebensaufgabe als ehrenhaft und würdig betrachteten. Ragnar wollte, was sie hatten: ihre Sicherheit, ihren Stolz, ihre Macht und ihre Magie. Er wollte einer der heimlichen Herren dieser Welt sein, und noch mehr als das wollte er würdig sein, zu ihnen zu gehören. Und das würde ihm nicht gelingen, wenn er hier in den Wäldern blieb, wie anziehend der Gedanke auch sein mochte. Ragnar wusste, dass er sich verändert hatte, seit er auserwählt worden war, und zwar nicht nur, weil er aus dem Wolfenkelch getrunken hatte. Eine ganz neue Welt hatte sich ihm erschlossen, ein Ort, der größer und wilder war als alles, was er sich auf seiner Heimatinsel je hatte vorstellen können. Er hatte Dinge getan, wie sie keiner aus seinem Volk je erlebt hatte: er war in fliegenden Schiffen gefahren, durch Morkais Tor gegangen und hatte die wolkenverhangenen Türme des Fangs gesehen. Er hatte angefangen zu verstehen, dass die Welt nicht so war, wie er sie sich immer vorgestellt hatte, und dass es größere und schrecklichere Dinge im Universum gab als Stammeskriege und lange Seereisen. Er hatte zu spüren begonnen, dass die Space Wolves einen großen und furchtbaren Zweck hatten und all diese Prüfungen, die ihm so gefährlich erschienen, nötig waren, damit sie diesen Zweck erfüllen konnten. Seine Vision in Morkais Tor hatte ihm einen Eindruck von der gewaltigen und entsetzlichen Natur ihrer außerweltlichen Feinde und von der Bestimmung vermittelt, die ihn vielleicht erwartete, falls er sich als würdig erwies. Ragnar war überzeugt, dass diese Vision kein Zufall gewesen war. Er war sicher, dass jene Alten, die ihn prüften, ihm dieses grundlegende Wissen absichtlich vermittelt hatten, und er hatte das Gefühl, es könne sogar mit zur Prüfung gehören, wie er mit
diesem Wissen umging. Aus Gesprächen mit den anderen Anwärtern wusste Ragnar, dass einige von ihnen sich einfach weigerten, diese schrecklichen Visionen zu glauben, geschweige denn zu akzeptieren, und dies war sicherlich ein Fehler. Auf eine seltsame Art war Ragnar sogar zufrieden, jetzt hier inmitten der hoch aufragenden Berge zu sein. Er erlebte die wilde und schreckliche Schönheit der Natur an einem Ort, den seiner Ansicht nach noch kein Mensch je zuvor erblickt hatte. Wie das Segeln auf einem sturmgepeitschten Ozean oder der Anblick der roten untergehenden Sonne am Ende eines harten Tages am Ruder war das an und für sich schon aufregend. Er empfand sogar etwas wie Dankbarkeit gegenüber den Space Wolves, da sie ihn in die Lage versetzt hatten, die unglaubliche Einsamkeit dieser Gegend zu erfahren. Kopfschüttelnd atmete Ragnar aus und sah, wie sein « Atem in der frischen kühlen Luft eine Wolke vor seinem Mund bildete. Er musste weitermarschieren. Er hatte die Absicht, den Rückweg zum Fang zu finden. Und er wollte nicht der Letzte sein, dem dies gelang. *** Der Nebel war dicht und träge und reduzierte alles zu schattenhaften Umrissen. Die Felsen rings um Ragnar waren Phantome. Der Pfad war kaum zu sehen und verschwand wenige Schritte voraus im wesenlosen Grau. Manchmal wogten und wallten die Schwaden, und er konnte ein wenig weiter sehen, aber meistens war er von matten, unstofflichen Wänden umgeben, die Geräusche und Sehvermögen dämpften und den Weg unsichtbar machten. Ragnar fühlte sich an die Vorstellung seines Volkes von der Hölle erinnert - ein kalter und nebliger Ort, wo die Schatten der
Toten ein ödes und felsiges Land durchstreiften. Dieser Ort entsprach der Beschreibung ziemlich genau, und in diesem Augenblick kam es Ragnar durchaus wahrscheinlich vor, dass er irgendwie gestorben war, ohne es zu wissen, und nun durch die Tore des Todes stolperte. Er lauschte den sanften Bewegungen des Windes, schnüffelte in der Luft nach Witterungen und betete, dass dies nicht stimmte. Wenn doch, kam es ihm wenigstens so vor, als könne er selbst im Tod seine neuen Kräfte behalten. Dennoch hatte Ragnar das Gefühl, dass es ungerecht ihm gegenüber wäre, wenn er so weit gekommen und dann gestorben war, ohne es zu wissen. Er schob den Gedanken als Gespinst seiner zu regen Phantasie beiseite. Er war noch am Leben. In seinen Adern floss immer noch Blut. Seine Haut kribbelte von der Kälte. Feuchtigkeit hatte sich auf dem Stoff seiner Tunika niedergeschlagen, und er spürte die Tröpfchen, als er sie abwischte. All das war wirklich. Er konnte wahrhaftig hier sterben, aber er war noch nicht tot. Er grinste grimmig in sich hinein. Der Nebel war gefährlich. Das bezweifelte Ragnar nicht. Er folgte einer langen Kammlinie zwischen zwei mächtigen Gipfeln. Der Pfad war beschwerlich. Stellenweise war er extrem schmal und drohte unter seinen Füßen wegzubröckeln. Oft war es nur ein Vorsprung über einem Abgrund, dessen Tiefe Ragnar nicht ermessen konnte. Er wusste nur, dass er sie nicht herausfinden wollte, indem er hinunterfiel. Vielleicht das Schlimmste daran war, dass der Pfad gewunden war und beständig Biegungen beschrieb, so dass immer die Gefahr bestand, dass er plötzlich nach rechts oder links abknickte und Ragnar seinen Fuß ins Leere setzte, bevor er in sein nebliges Verhängnis stürzte. Ragnar benutzte den Griff seines Speers als Stab und ertastete mit ihm den Weg über den Vorsprung. Er hatte nicht die geringste Ahnung, ob er in die richtige Richtung
marschierte oder nicht, war aber einfach überzeugt davon, dass er sich beeilen musste. Für einen kurzen Augenblick teilte sich der Nebel, und Ragnar hatte einen ungehinderten Ausblick. Für einen Moment hatte er das Gefühl, auf Schwingen hoch über den Wolken zu schweben. Tief unter ihm waren Täler und Kämme in Finsternis gehüllt, aber überall ringsumher tauchten Gipfel aus den Wolken auf wie Inseln aus den Meeren von Fenris. Die kümmerliche Sonne warf Lichtspeere in den Nebel. Ragnar hielt den Atem an, als er die gewaltige Säule des Fangs vor sich sah, der mit finsterer, majestätischer Größe aus den wirbelnden grauen Wolken ragte. Dies war wahrhaftig ein Anblick von staunenswerter Schönheit. Ragnar hatte das Gefühl, die Mauern des Himmels zu erklimmen, dass er auf den Wolken marschierte. So musste es sein, wenn man Russ war, dachte er, oder ein Gott. Es war auf eine merkwürdige Art das Beeindruckendste, was er je gesehen hatte, und es bewegte ihn tief. Ragnar schwoll das Herz in der Brust, und eine grimmige Freude überkam ihn. Er würde überleben! Er würde in den Fang zurückkehren, um seinen rechtmäßigen Platz bei den Wölfen einzunehmen! Einen Moment später hoben sich die Wolken wie gewaltige Brecher, die über einer sturmgepeitschten Küste zusammenschlugen. Der feuchte Nebel ballte sich erneut um ihn zusammen. Der Ausblick verschwand. Einen Schauder unterdrückend, zog Ragnar sich das stinkende Wolfsfell enger um die Schultern und marschierte vorwärts ins Reich der Schatten. Seit einiger Zeit spürte Ragnar etwas dort draußen im dunklen Grau des dichten Nebels. Er wusste nicht, was es war, aber er war sicher, dass ihn etwas beobachtete. Er bildete sich ein, den brennenden Blick spüren zu können, der sich wie eine Klinge in seinen Rücken bohrte. Ragnar warf zum zehnten Mal in ebenso vielen Minuten einen Blick zurück und sah nichts. Er schnüffelte beständig und war sicher, die Witterung von etwas
wahrzunehmen, das vertraut und zugleich seltsam fremdartig war, einen bitteren Geschmack in der Luft, eine Witterung, die ihn schaudern ließ. Ragnar wusste, dass der Fang jetzt nicht mehr weit war. Nach einer in unruhigem Schlaf auf einem hohen Kamm verbrachten Nacht hatte er an diesem Morgen von den sich immer höher erhebenden Hügeln die niedrigeren Hänge des Fangs erblickt. Als es dämmerte und die Dunkelheit hereinbrach, sah er regelmäßige Lichtmuster auf dem Berghang, welche die Anwesenheit menschlicher Wesen verrieten. Vor seinem geistigen Auge konnte er sich die gewaltigen Strukturen vorstellen, die er bei seinem ersten Eintreffen gesehen hatte, und er hatte wenig Mühe, die Lichter in Übereinstimmung mit den Umrissen jener gigantischen Maschinen zu bringen. Jetzt kamen sie ihm so verheißungsvoll vor, wie sie zuvor furchterregend und absonderlich gewesen waren. Er hatte einen langen Marsch hinter sich. Sieben harte Tage von der Stelle, wo man ihn abgesetzt hatte, bis zu diesem letzten Berg. Er war müde und hungrig und er fror, aber das Gefühl, etwas erreicht zu haben, war so stark wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er hatte alle Lektionen angewandt, die er in Russvik gelernt hatte. Er hatte Unterschlupf, Nahrung und Wasser gefunden. Er hatte sich seine Gesundheit bewahrt, sowohl in körperlicher als auch in geistiger Hinsicht. Er hatte ausgiebig Gebrauch von seinen neu gewonnenen, schärferen Sinnen gemacht. Er hatte sich am Leben erhalten, und dabei hatte ihm nichts und niemand geholfen außer Russ' Segen. Und die Wahrheit war, dass er bis vor wenigen Augenblicken noch selten ein besseres Gefühl in Bezug auf sich selbst oder die Welt gehabt hatte. Jetzt spürte er jedoch, wie ihn ein Schauder der Furcht überlief, da er das Gefühl hatte, von einer unmenschlichen und bösen Kreatur beschlichen zu werden. Ragnar vermutete, dass ihn ein weiterer Tagesmarsch zu
einem der Außenposten der Space Wolves führen würde, falls es kein Unglück gab, und er hatte sich schon darauf gefreut, an diesem Abend zu rasten, um am nächsten Morgen zeitig wieder aufzubrechen. Jetzt verspürte er einfach den Drang, im Licht des Vollmonds in Bewegung zu bleiben. Er musste sich zusammennehmen, um nicht loszulaufen wie ein Hase, der von einem Fuchs verfolgt wurde. Seine menschliche Logik sagte Ragnar, dass er keinen Beweis dafür hatte, dass ihm überhaupt etwas folgte, dass seine Nerven nach der langen Quälerei einfach überreizt waren. Der animalische Instinkt der Bestie tief in seinem Innern erzählte ihm etwas ganz anderes. Er schrie ihn an, er möge fliehen oder kämpfen, zurückweichen oder sich wehren, und mittlerweile respektierte Ragnar die Bestie. Er spürte, dass eine Flucht wenig aussichtsreich sein würde. Bei unsicherem Licht über zerklüftetes Gelände zu laufen würde mit Sicherheit zu einem Unfall führen, der sich als tödlich erweisen mochte, falls er in jenem Augenblick angegriffen wurde. Das Beste war, ein Lager aufzuschlagen, unter Benutzung seines Beutels voller getrockneter Blätter, Zweige und Stöcke ein Feuer zu machen und zu versuchen, sich auszuruhen. Vielleicht verscheuchten die Flammen den Beobachter, wer es auch sein mochte. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls war es einen Versuch wert. Irgendwo tief in sich spürte er die Anwesenheit der Bestie. Sie beobachtete und wartete und baute eine grimmige Wut in sich auf. Ihr gefiel nicht, dass sie gejagt wurde. Ihr gefiel nicht, Beute zu sein anstatt Jäger. Sie wollte innehalten und mit Zähnen und Klauen gegen ihren Verfolger antreten. Merkwürdigerweise beruhigte das Ragnar, und er stellte fest, dass er sich in Übereinstimmung mit der Bestie befand. Durch die Dunkelheit zu fliehen würde nicht helfen, und dasselbe galt für Furcht und Besorgnis. Sie würden ihn nur lahmen und seiner Energie berauben. Bei seinem grimmigen Seufzer der
Entschlossenheit erkannte Ragnar, dass er eine Entscheidung getroffen hatte. Nicht weit entfernt standen mehrere große Felsbrocken, enorme Schatten in der Finsternis. Ihr Windschatten würde ihm einigen Schutz vor den Elementen bieten. Er schlug die entsprechende Richtung ein, entschlossen, ein Feuer anzuzünden. Und zu warten. *** Die Flammen flackerten. Der Geruch von harzigem Rauch stieg Ragnar in die Nase. Er aß die Nüsse und Beeren, die er früher am Tag gesammelt hatte, und wünschte, er hätte etwas Wasser gehabt, um seinen Mund zu befeuchten. Morgen würde er einen Bach finden, sagte er sich. Falls er dann noch lebte. Er vermied es, in die Flammen zu schauen, um sich seine stark verbesserte Nachtsicht nicht zu verderben. Er war sich des Gefühls der Anwesenheit einer anderen Kreatur immer noch stark bewusst. Ragnar lauschte aufmerksam den Geräuschen der Nacht und witterte in der kalten Luft. Die Haare in seinem Nacken sträubten sich, als er hörte, wie einige Kiesel ins Rutschen gerieten, da sie von etwas Schwerem bewegt wurden. Von einer Kreatur, die sich mit verstohlener Vorsicht bewegte. Ragnar griff nach seinem Speer und erhob sich zu einer geduckten Haltung, wobei er sich mit dem Rücken an den größten Felsen schmiegte, einen Steinbrocken, der vielleicht eineinhalb Mal so hoch war wie er selbst. Auf diese Weise konnte er wenigstens nicht von hinten überrascht werden. Was es auch war, es musste sich seinem Zorn stellen. Und wenn er sterben musste, würde Ragnar mit einem Maximum an Wunden sterben, wie sein Vater es ihn gelehrt hatte. Er leckte sich die Lippen, und seine Hände krampften sich um den Schaft seines einfachen Speers. Der Gestank, den er schon viel früher wahrgenommen hatte,
wurde stärker. Darin lag ein Anflug vor etwas Menschlichem und von etwas Animalischem. Der Geruch war wie der von einem Wolfsfell. Jetzt konnte er ein leises Schnüffelgeräusch hören, als versuche ein großes Tier Witterung aufzunehmen. Seine Finger schlossen sich noch fester um den Speerschaft, und sein Körper spannte sich wie eine Feder, als er sich bereitmachte gegen den unsichtbaren Feind zu kämpfen. Furcht brodelte in seiner Magengrube. Die feinen Härchen an seinem Körper sträubten sich. Er erkannte die Umrisse des Wesens, das im Feuerschein auftauchte. Es war groß und schwer und menschenähnlich. Rumpf war mit den Überresten einer zerrissenen grauen Tunika bekleidet, die jetzt viel zu klein für die ungeheuer muskulöse Gestalt war. Die Hände endeten in langen, klauenartigen Krallen. Der Kopf war noch menschlich, aber mit dichtem, verfilztem Fell bedeckt, und das knurrende Maul bleckte gewaltige Fänge. In den Augen des Ungeheuers brannten Hunger, Wut und eine verblüffende Intelligenz. Es öffnete das Maul und stieß ein leises raubtierhaftes Knurren aus. Ragnar antwortete mit einem ähnlichen Laut, der ungebeten über seine Lippen kam. Es war ein Wolfen. Ragnar wusste jetzt, was ihn beschlichen hatte, wusste auch, dass er es die ganze Zeit geargwöhnt hatte und dies auch die Ursache seines Unbehagens gewesen war. Die Bestie in ihm hatte den Wolfen erkannt. Dass das Ding die Absicht hatte, ihn zu töten und aufzufressen, bezweifelte er keinen Augenblick. Es ging darum, zu töten oder getötet zu werden. Er wusste, er würde rasch und ohne Gnade zuschlagen müssen, wenn er überleben wollte. Er hob seinen improvisierten Speer und wappnete sich für den entscheidenden Stoß. In seinem Innern war auch die Bestie zum Kampf bereit. Und in diesem Augenblick erstarrte seine Hand. Er stellte fest, dass er es nicht über sich bringen konnte, den tödlichen Wurf anzubringen. Dieser Wolfen war einmal ein Mensch wie
er gewesen. Ein Anwärter. Er hatte aus dem Wolfenkelch getrunken. Er hatte dieselbe Veränderung durchgemacht und dieselben Qualen erlitten wie Ragnar. In Russ' Namen, dieser Wolfen hätte auch er selbst sein können, wenn die Bestie die Herrschaft übernommen hätte. Tatsächlich war es nur allzu wahrscheinlich, dass diese Kreatur jemand war, den er kannte. Der Wolfen konnte Kjel, Sven oder sogar Strybjörn sein. Konnte er ihn einfach so töten? Allem Anschein nach empfand der Wolfen etwas Ähnliches. Er hielt einen Augenblick inne. Sein Blick wanderte von Ragnar zum Feuer und dann wieder zurück zu Ragnar. Er knurrte noch einmal. Ragnar sah, wie er die Muskeln spannte. Er konnte jetzt erkennen, dass am Handgelenk des Wolfen ein Armband ganz ähnlich wie seines glitzerte, und mit einem Entsetzens Schauder wusste er, dass es sich um einen seiner ehemaligen Kameraden handelte. Aber um wen?, fragte er sich. War er ein Freund oder ein Feind? Einen Augenblick später waren alle derartigen Überlegungen müßig. Der Wolfen sprang. Einem instinktiven Reflex folgend, stieß Ragnar ihm den Speer in die Brust. Die lange Klinge fand einen Weg durch die Rippen und bohrte sich ins Herz des Ungeheuers. Der Schaft bog sich und brach dann unter dem Gewicht des Wolfen und der Gewalt seines Sprungs. Ragnar wurde gegen den Felsen geschleudert und starrte der Kreatur einen Moment lang in die Augen. Menschliche Intelligenz schien in sie zurückzufluten. Die verzerrten Lippen formten ein einziges Word »Ragnar«, dann starb der Wolfen. Ragnar starrte auf die zusammengesunkene Gestalt, und seine Tat erfüllte ihn sowohl mit Entsetzen als auch mit Triumph. Er hatte einen Wolfen getötet. Allein. Aber er hatte den Wolfen auch als Mensch gekannt und als guten Freund. Ragnar bückte sich, um das Armband am Handgelenk der Kreatur zu betrachten und herauszufinden, wer es gewesen
war, wobei er wider alle Vernunft hoffte, es möge Strybjörn sein. Im flackernden Licht des Feuers war die in das Metall geritzte Rune deutlich zu sehen: das Zeichen des Falken. Ragnar brüllte ein lautes Heulen der Wut und de Kummers in die kalte, gleichgültige Nacht hinaus, da er soeben Kjel getötet hatte, seinen einzigen wahrer Freund.
13
AUFNAHME Ragnar lag wieder auf dem Operationsaltar. Er schaute zu den maskierten Gesichtern der Eisenpriester auf. Er konnte das unterschwellige Brummen ihrer Maschinerie, die merkwürdigen rituellen Gesänge und das gelegentliche Schreien eines Kriegers hören, wenn die kreisrunden Messer der Priester in ihr Fleisch schnitten. Der Tisch unter ihm war klebrig von seinem geronnenen Blut, und dessen Geruch sowie derjenige verschiedener Chemikalien drangen ihm in die Nase. Seine Finger krampften sich um die Metallgriffe an den Seiten des Altars. Er holte tief Luft und zwang sich zur Ruhe. Seit seiner Rückkehr in den Fang waren viele merkwürdige medizinische Rituale an ihm vollzogen worden. Man hatte ihn in verschiedene technische Maschinen gesteckt und untersucht. Eisenpriester hatten ihn mit Sensorstäben gepiekt, seinen Kopf in Scannerhelme gesteckt und Aufzeichnungskabel an seinen Gliedern festgeklemmt. Man hatte ihn mit einer Diät aus Fleisch und Ale gefüttert, die mit dem chemischen Makel vieler fremdartiger Drogen versetzt war. Seine verbesserten Sinne hatten ihm die Zusätze verraten, aber er ging davon aus, dass sie zu seinem Besten darin enthalten waren, so dass er sich deswegen keine Sorgen machte. Nicht, dass ihm Besorgnis etwas genützt hätte, da er vollkommen der Willkür der Eisenpriester ausgeliefert war. Wenigstens lebte er noch. Das galt nicht für alle anderen Anwärter. Sven war wieder da. Strybjörn ebenfalls. Und auch viele andere, aber nicht alle. Wenigstens fünf, unter ihnen auch Kjel, waren nicht von der letzten Prüfung zurückgekehrt. Ein ganzer Monat war vergangen, und es war unwahrscheinlich, dass es noch einer von ihnen schaffen würde.
Ragnar zwang sich, den Gedanken an Kjel zu verdrängen. Er dachte nicht gern darüber nach. Kjel war sein bester Freund unter den Anwärtern gewesen, und jetzt war er tot. In letzter Zeit hatte Ragnar oft wach gelegen und sich gefragt, wie es für den Falkner wohl gewesen war, allein durch die unendliche Wildnis zu wandern, während sein Körper sich in etwas Unmenschliches verwandelte und die Bestie in ihm seinen Geist und seine Seele verschlang. War ihm ständig bewusst gewesen, was vorging? Oder war ihm schon früh gnädiges Vergessen vergönnt gewesen? Ragnar würde es nie erfahren. Die Eisenpriester versicherten ihm, dass die durch den Wolfenkelch hervorgerufenen Veränderungen abgechlossen seien, dass sein Körper das magische Ding, das sie Canis-Helix nannten, vollständig integriert habt und dass er bereit sei, in die nächste Phase des Vorgangs einzutreten, der ihn zu einem Space Wolf machen würde. Er war bereit, sich das Ding einsetzen zu lassen welches sie Gensaat nannten. Ragnar holte noch einmal tief Luft und bemühte sich ruhig zu bleiben. Der Bestie, der animalischen Seite seines Wesens, gefiel das nicht. Sie hasste es, angeschnallt eingesperrt und dem Willen anderer unterworfen zu sein. Ihr gefiel diese Sache ganz und gar nicht. Er konnte nichts dagegen tun. Er wandte den Kopf ein wenig und sah, dass sich einer der Eisenpriester näherte. Er hielt einen Glaskelch ehrerbietig in beiden Händen. Darin befand sich ein schwammiges, fleischiges Ding, aus dem verschiedene Knötchen und Geweberöhrchen ragten. Der Singsang der Priester rings um Ragnars Altar wurde lauter und rhythmischer. Dies war die Gensaat, wie Ragnar wusste, als er sich an die Dinge erinnerte, die er in den letzten Wochen gelernt hatte. Dies war der Hauptbestandteil, von dem alle anderen abhingen und der ihm die Verwandlung in einen echten Space Wolf ermöglichte. Er würde seinen Körper in die Lage versetzen, sich anzupassen, und die Kontrolle über die Vielzahl anderer
Implantate übernehmen, welche die Eisenpriester in seinen Körper einsetzen würden. Das Ding sah nach nichts aus, aber es war heilig. Dieser Fetzen blutigen Fleisches war von vielen Wölfen vor Ragnar getragen worden und stammte ursprünglich aus dem Fleisch und Blut von Russ persönlich. Er war ein unmittelbares Bindeglied zu den alten Zeiten und zu dem Gott seines Volkes. Für Ragnar war es ein schwindelerregender Gedanke, dass sich bald ein Teil seines Gottes in seinem Körper befinden würde. Andererseits traf das auf alle Space Wolves zu, was natürlich auch einiges hinsichtlich ihrer übermenschlichen Eigenschaften erklärte. In einem sehr reellen Sinn waren sie mit den Göttern verwandt. Und sehr bald, dachte Ragnar, war er das auch, wenn alles klappte! Der Eisenpriester kam immer näher. Ragnar spürte, wie eine Nadel in seinen Arm gestochen wurde. In seinem hypersensiblen Zustand fühlte sich der Piekser wie ein Schwertstich an. Einem kurzen Aufflammen von Schmerzen folgte Kühle, die ausgehend von dem Einstich durch seine Adern floss. Augenblicke später war er entspannt und taub und sich seines Körpers nur noch als weit entferntes Anhängsel bewusst. Es war, als treibe seine Seele auf einer Wolke aus Eis und schaue den Dingen zu, die seinem Fleisch widerfuhren. Er spürte seine Haut beben und einen sanften Druck auf der Brust, als ihn einer der Eisenpriester mit einer Spaltsäge schnitt. Fleisch teilte sich. Blut floss. Ragnar bezweifelte, dass mit einem Axthieb mehr Schaden hätte angerichtet werden können, und doch spürte er nur ein vorübergehendes Unbehagen. Er sah, wie der hohe Eisenpriester eine komplizierte Geste über dem Gefäß beschrieb, in dem die Gensaat ruhte, bevor er mit einer behandschuhten Hand hineingriff und das fleischige Ding herausholte. Er hörte ein merkwürdiges Sauggeräusch, als die Gensaat in seinen Brustkorb gelegt wurde und damit begann, sich mit seinen Nerven Adern und Sehnen zu verbinden. Es war ein
sonderbares Gefühl, wie er es noch nie erlebt hatte. Es war so, als krabble ein Lebewesen in seiner Brusthöhle umher. E stellte sich vor, wie Tentakel aus Fleisch aus der äußerer Umhüllung wuchsen und Adern sprossen wie Wurzeln aus einem Samenkorn, wie sich Nervenenden mit denen seines Körpers verbanden. Diese Vorstellung erfüllte ihn, als er wieder von einer Nadel gestochen wurde. Geschmolzene Schmerzen durchzuckten ihn und zerstreuten die kühle Losgelöstheit, und sein Geist versank einen dunklen Abgrund. *** Ragnar kniete in der Meditationskammer. Er fühlte sich jetzt besser. Seine Brust fühlte sich nicht mehr geschwollen und durch die Anwesenheit der Gensaat beengt an. Die Narben der Zeremonie verblassten bereits, obwohl erst ein paar Tage verstrichen waren. Er spürte nur noch bei Berührungen eine leichte Empfindlichkeit in dem gesamten Bereich. Er hatte die Stelle jeden Tag betastet, wie man ein Loch im Zahn mit der Zunge sondieren würde. In diesem Augenblick kam es ihm unvorstellbar vor, dass sowohl die Narben als auch die Empfindlichkeit ein Zeichen von Russ' Gunst waren, und doch wusste er, dass es so sein musste. Die Dinge, die er in den vergangenen Tagen gelernt hatte, ließen daran kaum einen Zweifel. Er schlug sich die Gedanken mit einer bewussten Anstrengung aus dem Kopf und konzentrierte sich auf, Ranek. Der Wolfpriester stand wieder einmal vor den Anwärtern und bedeutete ihnen, mit dem Ritual zu beginnen. Ragnar reinigte den Geist, wie man es ihn gelehrt hatte, und begann mit dem merkwürdigen Gebet. Er spürte, wie er sich entspannte, als er die Hand ausstreckte und die Krone des Wissens aufhob. Sie war ein geheimnisvolles und uraltes Gebilde aus Messing und
Eisen und über pulsierende Kabel aus Kupfer und Glas mit den Maschinen des Wissens verbunden. Ranek hatte ihnen erklärt, die Kronen seien mit großen Wissensmaschinen verbunden, in denen die gesamte Geschichte des Ordens und darüber hinaus viel altes Wissen gespeichert sei. Durch das Aufsetzen der Krone könne dieses Wissen direkt in seinen Kopf gepumpt werden, und zwar mit einem Tempo, das viel größer sei als das, mit dem eine Person sich normalerweise Dinge einpräge. Ragnar fand den ganzen Vorgang beängstigend und magisch. Als die Krone an Ort und Stelle saß und die Priester die entsprechenden Litaneien intoniert hatten, kam das Wissen. Nicht nur in Form von Worten und Erinnerungen, sondern auch in Geräuschen, Bildern und Gefühlen. Ragnar wusste, dass seine eigenen Gefühle von den Maschinen irgendwie verändert wurden, aber das war ihm egal: der Besitz des Wissens war den Preis wert. Er hatte in so wenigen Tagen so viel gelernt. Auf seine ganz eigene Weise war es ein erhellendes Erlebnis. Je mehr er erfuhr, desto besser verstand er die Space Wolves, und je besser er den Orden verstand, desto mehr sehnte er sich danach, ihm zu dienen und Teil von ihm zu werden. Er wusste jetzt, dass die Welt viel größer und komplizierter war, als er je geglaubt hatte. Tatsächlich gab es nicht nur eine Welt, sondern viele. Fenris war eine Kugel, die das Auge von Russ umkreiste. Und diese Kugel war wiederum nur eine von vielen solcher Welten, die im Raum um diese gewaltige Sonne kreisten. Und das Auge von Russ war wiederum nur eine von Millionen Sonnen, aus denen die Galaxis bestand, und von denen viele von anderen bewohnten Welten umkreist wurden. Das Seltsamste war jedoch, dass nicht alle diese Welten von Menschen bewohnt waren. Manche wurden von grünhäutigen Ungeheuern besiedelt, die Orks genannt wurden. Andere waren die Heimat eines hochgewachsenen und wunderschönen, aber völlig fremdartigen Volks, das die Eldar genannt wurde. Ein ganzer Abschnitt der Galaxis war die Heimat von Dämonen
und jenen, die ihnen dienten. Der Großteil der Menschenwelten wurde vom Imperium beherrscht, dem die Space Wolves dienten. Das Imperium wurde vom Kaiser regiert, dem Allvater und verkrüppelten Gott, der Russ und dessen Brüdern das Leben geschenkt hatte und dessen zerschmetterte Hülle jetzt in einer großen Maschine auf der Welt der Vorfahren existierte, die Terra genannt wurde. Dem Kaiser diente ein gewaltiges Heer von Priestern, Magistraten, Regenten und Steuereinnehmern. In seinem Namen zogen riesige Armeen in gewaltigen Schiffen durch die Galaxis, die zwischen den Sternen segelten. Alle anderen Rassen, Nationen und Königreiche, von denen Ragnar erfahren hatte, waren Feinde des Kaisers und der Menschheit und würden alles tun, um die Herrschaft des Allvaters zu untergraben und sein Reich zu vernichten. Überall in der Galaxis tobten grausame Kriege zwischen den Legionen des Kaisers und jenen seiner Feinde, und die Wölfe kämpften in vielen dieser Kriege an vorderster Front. Er sah die Gründung der Wölfe vor unendlich vielen Jahren, als der Allvater noch jung war und unter den Menschen wandelte. Er sah Russ' Ankunft auf Fenris und das Eintreffen des Allvaters, der seinen verlorenen Sohn suchte. Er sah, wie Russ seine Ehrengarde aus Kriegern rekrutierte und sie die Wölfe des Weltraums taufte. Er sah auch, dass der Allvater viele starke Söhne hatte, die Primarche genannt wurden und ihre eigenen Orden gründeten, wie Russ es getan hatte. Er erfuhr, dass diese Krieger, die alle die Gensaat ihres Primarchs teilten, in ihrer Gesamtheit als Space Marines bezeichnet wurden. Ragnar sah die Gründung des Imperiums und dann den furchtbaren Krieg mit dem Erzketzer und Verräter Horus, der das neu gegründete Reich zerriss und zur Verkrüppelung des Allvaters und zu Horus' Tod führte. Er sah, dass viele der Space Marines und ihrer Primarche Horus in dessen Torheit
folgten und ihren dem Kaiser geschworenen Eid brachen. Er sah sie zu dem seltsam verdrehten Bereich der Galaxis aufbrechen, der als Auge des Schreckens bekannt war, und erlebte, wie sie sich zu Wesen zurückentwickelten, die weniger als ein Mensch waren. Ragnar wusste jetzt, dass ihm Wissen zugänglich gemacht wurde, das der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung vorenthalten blieb, und er dieses Wissen niemals und in keinem Fall jemandem mitteilen durfte, der es noch nicht kannte. Ihm schauderte, als er von den vier Großmächten des Chaos erfuhr, den ultimativen Erzdämonen, die immer und ewig daran arbeiteten, das Reich der Menschheit zu zerstören. Da war Khorne, der Blutgott, der Herr des Schlachtens, dessen Anhänger lachend ins Feld zogen und von einem unstillbaren Durst nach Gemetzel erfüllt waren. Da war Tzeentch, der Große Mutator, der seine Anhänger verwandelte und in die finstersten Geheimnisse der Zauberei einweihte. Da war Nurgle, der Seuchenfürst, dessen Anhänger Krankheiten bis in die entferntesten Winkel des Kosmos verbreiteten. Und da war Slaanesh, der verderbte Gott der unaussprechlichen Freuden. Er wusste jetzt genug, um in einigen der Wesen, denen er in seinen Visionen jenseits von Morkais Tor begegnet war, ihre Anhänger zu erkennen. Ragnar betete sehr ernsthaft, er möge niemals mehr erfahren müssen. Er erfuhr von Russ' Verschwinden auf seiner großen Queste, die Samen des Lebensbaums zu finden, die seinen Kaiser heilen würden, und von der langen und ehrenhaften Geschichte der Wölfe bis in die Gegenwart. Mehr und mehr Wissen strömte in sein williges Hirn, und er sog es auf wie ein Schwamm. Er sah jetzt, wie groß und schrecklich die Feinde der Menschheit waren und wie groß der Bedarf an mächtigen Kriegern war, um ihnen entgegenzutreten. Er begriff jetzt, warum die Prüfung der Anwärter so grausam und unerbittlich
war. In diesen dunklen Zeiten konnte kein Makel in jenen geduldet werden, welche sich zwischen die Menschheit und ihre Feinde stellten. Gesänge, Litaneien und Gebete erfüllten seinen Geist. Er verstand jetzt viele davon. Sie sollten die Gedanken eines Kriegers sammeln, um dessen Glauben so stark zu halten wie seinen Arm. Er wusste, dass es andere gab, die ihm helfen würden, seine neuen Fähigkeiten einzusetzen, die er täglich hinzugewann, da die Eisenpriesten ihre Arbeit taten. Er verstand die Veränderungen jetzt besser, die in seinem Körper stattfanden. Man gab ihm das Wissen, das ihm beim Verständnis half. Er wusste, dass man ihm ein zweites Herz und dazu verstärkte Muskeln und Drüsen gegeben hatte, die ihn in die Lage versetzten, giftige Luft zu atmen und vergiftete Nahrung zu sich zu nehmen, ohne Schaden zu nehmen. Seine Sinne waren noch schärfer und sein Körper noch widerstandsfähiger gemacht worden. Er konnte sich von praktisch jeder Wunde erholen, die ihn nicht augenblicklich umbrachte und zwar auch ohne medizinische Hilfe, wenn er genug Zeit hatte. Er lernte die Grundlagen der Feldmedizin für das Ausbrennen bei Amputationen. Der größte Teil seines Körpers war in einen biegsamen schwarzen Metallpanzer gehüllt. Die verschiedenen daraus hervorstehenden Knoten aus Plastahl waren Kontaktpunkte, die seinen Körper in die Lage versetzten, sich mit der Rüstung zu verbinden, die alle Space Marines wie eine zweite Haut trugen. Er war erstaunt, dass er jetzt über das Vokabular und das Wissen verfügte, um diese Begriffe und Konzepte zu verstehen. Die Macht dieser alten Maschinen war wahrhaftig groß. Immer mehr Wissen floss in seinen Verstand. Er erfuhr von verschiedensten Waffen und ihrem Gebrauch. Er lernte alles über Taktik und Organisationsstrukturen. Er lernte die zehn grundlegenden Angriffsmanöver und die vier starken
Verteidigungen. Und er lächelte, als er dies tat, da das Lustzentrum seines Gehirns von den unglaublich komplizierten und raffinierten Mechanismen der alten Maschinen stimuliert wurde. Er sah die Organisation seines Ordens. Er sah, dass er in zwölf große Kompanien eingeteilt war, die jede von einem mächtigen Anführer befehligt wurde, der seiner Kompanie auch ihren Namen gab. Er sah, dass es eine dreizehnte große Kompanie gab, die zum Anführer des Ordens gehörte und aus allen Priestern und den übrigen Kriegern bestand. Er sah die Beförderungsmöglichkeiten und Dienstränge innerhalb des Ordens. Er erfuhr, dass er, falls man ihn aufnahm, eine Blutkralle sein würde, Teil eines Rudels gleichartiger jugendlicher Krieger, die sich mühten, die widerspenstige Bestie in sich zu zähmen. Wenn er überlebte, würde er zuerst ein Grauer Jäger und später, wenn er älter, weiser, mächtiger und schlauer war, ein Langfang werden. Immer weiter floss der endlose Wissensstrom, brannte sich in sein Gedächtnis ein, machte ihn klüger und veranlasste sein Hirn, vor Liebe zu seinem Orden, zu Russ und zum Kaiser zu strahlen. *** »Heb deinen Arm«, sagte der Eisenpriester. Servomotoren jaulten, als Ragnar es tat. Der Priester nickte mit seinem maskierten Kopf und zog dann mit seinem Elektroschrauber ein Gelenk nach. Ragnar spürte, wie er es tat. Die Empfindung war merkwürdig, nicht direkt schmerzhaft, aber sie ließ ihn wissen, dass etwas mit seinem Plastahl-Panzer geschah. Das in sein Hirn implantierte Wissen verriet ihm, dass er in den kommenden Monaten und Jahren besser darin werden würde, die Bedeutung dieser Empfindungen zu erkennen.
»Jetzt beweg deine Finger.« Ragnar tat, wie ihm gel heißen. Abermals nahm der Priester einige Korrekturen vor. Sofort fühlte sich seine Hand besser, gelenkiger und stärker an. Der Priester hielt den Maschinengeistern eine Litanei und verbeugte sich dann noch einmal. Es hatte den Anschein, als sei seine Arbeit bei endet. »Du darfst aufstehen«, sagte der Priester. Ragnar erhob sich vom Altar. Dabei zogen sich die verschiedenen Kabel und Leitungen, die der Priester an ihn angeschlossen hatte, in die geheiligte Steinplatte zurück. Er konnte sich frei bewegen. Ragnar lächelte und betrachtete seinen Körper. Seine massige Gestalt war in Plastahl und Ceramit gehüllt, aber er fühlte sich nicht viel anders als vorher. Er hatte nicht das Gefühl, in einer schweren Rüstung gefangen zu sein. Wenn überhaupt, fühlte er sich leichter, ausdauernder und stärker. Er wusste jetzt, dass die starken Servomotoren in der Rüstung ihre Arbeit taten und dabei halfen, sein Gewicht zu tragen, um ihn beweglich zu machen. Der Eisenpriester hatte diese Art von Lächeln offenbar schon oft gesehen und kannte seine Bedeutung. »Du musst in den nächsten Tagen sehr vorsichtig sein, weil du deine Kraft noch nicht richtig kennst.« Ragnar sah ihn an, da er ihm nicht ganz folgen konnte. Ein kleiner Robot-Diener kam auf die Geste des Priesters näher. Ein Fach in seiner Brust öffnete sich, und ein langer Teleskoparm wurde ausgefahren und reichte dem Priester einen Stein. Ragnar staunte über die scheinbar mystische Art, wie der Priester und seine Maschine miteinander kommunizierten. Nicht ein Wort war gesprochen worden. »Nimm diesen Stein«, sagte der Eisenpriester. »Keine Sorge. Es ist vollkommen ohne Bedeutung. Ich will dir nur etwas zeigen.« Ragnar nahm den Stein und staunte dabei über die Empfindlichkeit der Handschuhe, die ihn die Struktur des
Steins spüren ließen, obwohl sie dick genug waren, um einen Axthieb aufzuhalten. Es war nicht ganz so, als berühre er den Stein mit der nackten Haut. Es fühlte sich mehr so an, als trage er ganz dünne Handschuhe. Der Eisenpriester hatte Recht. Es würde einige Zeit dauern, bis er sich daran gewöhnt hatte. »Zermalme den Stein«, sagte der Eisenpriester. Ragnar sah ihn an, da er nicht ganz begreifen konnte, was der Priester verlangte. Er wusste, dass es den Systemen in den Handschuhen theoretisch möglich war, genug Druck zu erzeugen, um das zu schaffen, doch irgendein Instinkt in seinem Kopf wehrte sich gegen die Vorstellung. Es war nicht möglich. Menschliche Wesen konnten nicht mit den bloße Händen Steine zermalmen. »Tu es«, sagte der Priester. Seine Stimme enthielt einen befehlenden Unterton, dem er sich nicht widersetzen konnte. Ragnar schloss die Faust. Augenblicklich spürte er Widerstand, und instinktiv lockerte er den Griff, aber der Eisenpriester wiederholte seinen Befehl noch einmal. Ein Knirschen ertönte, als der Stein zerbröselte wie eine Eierschale. Ragnar öffnete seine Hand und sah, dass von dem harten Stein nur noch kleine Krümel übrig waren. Er atmete ganz langsam aus. Jetzt begann er wahrhaftig die Macht zu verstehen, die man ihm verliehen hatte. *** »Das sind eure persönlichen Waffen«, sagte der Rüstmeister. »Ihr seid selbst für sie verantwortlich. In jede ist euer Runenzeichen eingestempelt, so dass ihr sie erkennen könnt und wir in der Lage sind, sie im Falle eures Todes zu identifizieren.« Ragnar nahm die Waffen ehrerbietig an sich. Es gab eine
Projektilwaffe, die Bolzenpistole genannt wurde. Sie ähnelte der magischen Waffe, mit der Ranek den Meerdrachen getötet hatte, war jedoch kleiner. Und es gab ein Kettenschwert, eine der mächtigen Waffen, die Sergeant Hakon getragen hatte. Im Gürtel, an dem die Pistole in einem Halfter steckte, befand sich ein Spender für weitere kleine, aber nicht weniger mächtige Waffen, die als Mikrogranaten bezeichnet wurden. »Seid vorsichtig damit«, sagte der Rüstmeister. »Für Dummköpfe sind sie ebenso gefährlich wie für Feinde. Jetzt folgt dem Diener und meldet euch auf den Übungsständen.« Ragnar sah sich um und erblickte Sven, Nils, Strybjörn und die anderen, die dastanden und ihre Waffen begutachteten. Sie sahen jetzt alle anders aus, größer, schwerer und stämmiger, und sie hatten den Kopf bis auf eine lange Haarsträhne kahlrasiert und waren in eine Rüstung gehüllt. Auf ihren Gesichtern stand derselbe Ausdruck von Stolz und Staunen, der sich, wie er wusste, auch auf seinem Gesicht zeigte. Sie sahen alle so aus, als habe man ihnen gerade Zauberwaffen aus der Legende überreicht, und in gewisser Weise war genau das geschehen. Er warf Strybjörn noch einen langen harten Blick zu. Es war durchaus möglich, dass der Grimmschädel auf den Übungsständen einen Unfall erlitt. Strybjörn sah auf und begegnete seinem Blick, und Ragnar hatte plötzlich das Gefühl, dass sein Gegner gerade dasselbe in Bezug auf ihn dachte. *** Die Bolzenpistole ruckte in Ragnars Hand. Trotz der Stärke seiner Rüstung und seines veränderten Körpers war der Rückschlag ziemlich heftig. Die Pistole schlug aus wie ein wildes Tier, das in der Falle seines Griffs gefangen war. Die Granate pfiff am Ziel vorbei, traf die Steinmauer
dahinter und sprengte ein beachtliches Stück aus der Höhlenwand. Ragnar war in Hochstimmung wegen des schieren Machtgefühls, das die Benutzung dieser Waffe ihm vermittelte, aber gleichzeitig war er auch enttäuscht über seine Unfähigkeit, das Ziel zu treffen. Nicht zum ersten Mal ging ihm der Unterschied zwischen dem theoretischen Wissen, das die alten Maschinen in seinen Kopf verfrachtet hatten, und der tatsächlichen Fähigkeit auf, etwas zu tun. Er wusste alles über diese Waffe. Er wusste, wie sie funktionierte und dass sie hülsenlose selbsttreibende Munition verschoss, die in der Lage war, noch auf mehrere hundert Schritt Entfernung Panzerung zu durchschlagen. Er kannte das Fassungsvermögen des Magazins. Er wusste in der Theorie, wie man die Waffe auseinandernahm, reinigte und reparierte. Er wusste alles darüber, wie man mit ihr schoss. Er wusste, dass man sich beim Zielen entspannte und beim Abdrücken sanft ausatmete. Bedauerlicherweise gab es einen großen Unterschied zwischen diesem Wissen und der Fähigkeit, es auch umzusetzen. »Mach dir keine Sorgen, Junge«, sagte Sergeant Hengist, ihr Waffenausbilder. »Lass nur nicht locker. Irgendwann lernst du es. Übung macht den Meister. Und meistern musst du es. Ob du es glaubst oder nicht, es gab einmal eine Zeit, als ich nicht einmal ein Scheunentor getroffen hätte. Jetzt ...« In einer einzigen flüssigen Bewegung und scheinbar ohne zu zielen oder sich zu konzentrieren, zog Hengist seine eigene Pistole und schien dann lediglich den Arm auszustrecken und abzudrücken. Ein Fächer von drei Schüssen traf das Schwarze direkt über dem Herzen einer Zielscheibe in der Form eines Menschen. Ragnar sah ehrfürchtig zu. »Bei Ihnen sieht es so leicht aus, Sergeant«, sagte er. »Nichts ist so leicht, wie es aussieht, Junge. Und es ist das
Kennzeichen des Meisters, schwierige Dinge leicht aussehen zu lassen.« Ragnar nickte. Er hörte Hengist gern zu, und es machte ihm Spaß, von dem grau gewordenen Veteranen zu lernen. Das war eines der angenehmsten Dinge, die sein neuer Status mit sich brachte. Er und die anderen Anwärter waren nicht gleichgestellt, aber wenigstens wurden sie auch nicht wie entbehrliche Dinge behandelt. Sie hatten jetzt einen Wert für die Space Wolves Sie mochten zu einem späteren Zeitpunkt in den Orden aufgenommen werden. Oder vielleicht war Hengist auch einfach nur freundlicher als die anderen Space Marines. Eines wurde Ragnar immer bewusster, dass nämlich all diese furchterregenden Männer verschieden waren. Sie waren Personen an und für sich, so verschieden wie die Leute in seinem Heimatdorf. Seinem ehemaligen Heimatdorf, korrigierte er sich. In einem anderen, weit entfernten Leben. Er wusste nicht, warum ihn das überraschte. Vielleicht lag es einfach daran, dass er sich angewöhnt hatte, alle Space Wolves als gleich zu betrachten. Jedenfalls sahen sie alle gleich aus. Sie waren alle viel größer und stärker als sterbliche Menschen, und sie besaßen alle jene seltsamen Wolfsaugen und beängstigenden Fänge. Und in mancherlei Hinsicht hatten sie alle dieselbe grimmige, wölfische Art. Und natürlich trugen sie alle die graue Rüstung, in denen sie manchmal nicht wie Menschen, sondern wie Maschinen aussahen. Dennoch gelangte Ragnar zu der Erkenntnis, dass sie trotz alledem Menschen wie er selbst waren. Und er respektierte sie auch immer mehr, denn alle hatten dasselbe durchgemacht wie er oder Schlimmeres und außerdem noch unzählige Jahre Krieg überlebt. »Versuch's noch mal, Junge«, sagte Hengist freundlich. »Und denk diesmal nicht so sehr darüber nach, was du tust. Entspann dich und tu es einfach. Tu es tausendmal, wenn es sein muss, aber tu es immer wieder. Eines Tages wird dein
Leben und das deiner Kameraden von deiner Treffsicherheit abhängen. So sicher, wie Russ ein Trinker war, ist das die Wahrheit.« Ragnar nickte und hob wieder die Pistole. Er drehte sich um, weil er sehen wollte, ob Hengist ihn beobachtete, aber der Sergeant schritt bereits weiter die Reihe der Anwärter ab und redete jetzt leise mit Sven. Ragnar schloss ein Auge, atmete tief ein und drückte beim Ausatmen ab. Die Granate der Bolzenpistole flog am Ziel vorbei und grub sich in die Wand. Ragnar stieß einen enttäuschten Seufzer aus. Er würde noch lange und ausgiebig üben müssen. *** Ragnar stürmte durch das Dschungeldickicht. Es war heiß und feucht. Grüne Palmwedel peitschten ihm ins Gesicht. Fleischfressende Pflanzen schnappten nach seinen Knien. Er duckte sich unter eine Schlingpflanze hindurch, rutschte auf den Knien weiter und rollte sich vorwärts über den Blattmulch und hinter den umgestürzten Überresten eines gewaltigen Urwaldriesen in Deckung. Er hörte ein Rascheln vor sich im Unterholz. Er wischte sich Sporen aus dem Gesicht, zielte an seinem Pistolenlauf entlang und gab einen Schuss ab. Er durchschlug das Blätterdickicht und explodierte. Svens geduckte Gestalt wurde mit einer Farbwolke überschüttet. »Erwischt«, rief Ragnar. Mit einem Ächzen presste Sven die Hände auf die Brust und drückte dabei auf den Knopf, der sein Funkgerät ausschaltete, um sich dann theatralisch fallen zu lassen. Ragnar lächelte zufrieden. Sven war das dritte Mitglied der Roten Gruppe, das er im Laufe dieser Übung ausgeschaltet hatte. Noch eines, dann hatte seine Gruppe gewonnen, und er würde das gesamte gegnerische Team erledigt haben. Er hatte seinen Spaß daran.
Ihm gefiel es an diesem seltsamen Ort, und ihm gefielen die Manöver. Diese große Höhle voller exotischer Pflanzen war der Ort, an dem die Rekruten die Grundlagen des Dschungelkriegs lernten. Es war ein Stück kontrollierte Umwelt tief unterhalb des Fangs, wo Hitze und Feuchtigkeit konstant gehalten wurden, um die genaue Kopie einer richtigen Dschungelwelt zu erschaffen. Er war zufrieden mit sich. Seine Treffsicherheit hatte sich im Laufe der Zeit und mit viel Übung verbessert, wie Sergeant Hengist versprochen hatte. »Erwischt«, murmelte er in dem Wissen, dass er jetzt nur noch Strybjörn finden musste, das letzte Mitglied des Roten Teams. »Und ich habe dich, Ragnar«, sagte eine Stimme hinter ihm. Ragnar fuhr herum und bemühte sich, seine Pistole in Anschlag zu bringen, aber es war zu spät Strybjörn stand da und hatte seine Waffe bereits auf ihn angelegt. Er drückte ab, und der Aufprall der Granate warf Ragnar um. Eine Farbwolke bedeckte seine Rüstung. Ragnar erwog kurz, den Treffer zu ignorieren und das Feuer auf Strybjörn zu erwidern, doch sein Ehrgefühl ließ es nicht zu. Das und das Wissen, dass Sergeant Hengist sie vermutlich durch eines der Kameraaugen der Drohnen beobachtete, die durch die Höhlen flogen. Frustriert drückte er auf den Knopf seines Funkgeräts und klinkte sich damit aus dem Kommunikationsnetz aus. Ragnar fluchte. Er würde die ganze Nacht schrubben müssen, um seine Rüstung wieder sauber zu bekommen. Trotzdem war er dankbar, dass es nur eine Farbgranate und keine scharfe Munition gewesen war, als Strybjörn geschossen hatte. Er fragte sich, ob der Grimmschädel auch so schnell abgedrückt hätte, wäre die Waffe mit scharfer Munition geladen gewesen. Ragnar wusste, dass er selbst kein Problem damit gehabt hätte.
*** Ragnar betrachtete Vrotwulfs Leiche. Es war eine ziemliche Schweinerei. Sein Hinterkopf war nicht mehr da, und ein Brei aus Blut und Hirnmasse zierte die Wand über der Koje des Anwärters. »Bei Russ' Knochen«, hauchte Ragnar. Alles war so schnell gegangen. Gerade hatte Vrotwulf noch lachend und scherzend dagesessen und seine Bolzenpistole gereinigt. Dann hatte es geknallt, und sein Kopf hatte sich aufgelöst. Alles war so schnell gegangen, dass der Junge nicht einmal Gelegenheit zum Schreien gehabt hatte. Sven kam herüber und betrachtete die Leiche. Er hob die Pistole auf und untersuchte sie. »Idiot!«, murmelte er. »Das Magazin war noch darin.« Ragnar sah genauer hin. »Und der Sicherungsknopf war nicht gedrückt«, fügte er hinzu. Sie sahen einander an. Ragnar nahm an, dass sie beide dasselbe dachten. Es kam immer noch zu Todesfällen in der Ausbildung, meistens infolge schlichter Achtlosigkeit. Langsam erkannte er die Zeichen. Dies war in der Tat ein Teil des Problems, wie ihnen das Wissen vermittelt worden war. Alle Anwärter wussten viele Dinge, aber das Wissen war noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen. Sie kannten alle die Vorgehensweise beim Reinigen ihrer Waffen, aber sie hatten noch nicht den absoluten Respekt verinnerlicht, den die Schusswaffen geboten. So war es mit einem Großteil ihres neuen Wissens. Wie immer gab es einen gewaltigen Unterschied zwischen theoretischem Wissen und seiner Umsetzung in die Praxis. »Ich denke, jemand sollte es oben melden«, sagte Sven. Er sah Ragnar vielsagend an in der Hoffnung, er werde sich freiwillig melden.
»Dann geh«, sagte Ragnar. Sven knurrte und zeigte seine sich entwickelnden Fänge, erhob aber keine Einwände. Er und Ragnar waren in den vergangenen Wochen oft aneinandergeraten, da sie ihre Stellung innerhalb des Rudels finden mussten, doch Ragnar hatte sich jedes Mal durchgesetzt. Die anderen lernten, ihn nicht herauszufordern, sei es zu einem einfachen Wettstreit der Willenskraft oder zu einem Schlagabtausch. Ragnar widmete sich wieder der Betrachtung der Leiche. Er richtete ein Gebet an Russ. Tja, dachte er, sie lernten den Respekt auf die harte Tour. Er fragte sich nur, wie viele von ihnen noch sterben würden, bis die Ausbildung vorbei war. *** Seines Wissens starben nur noch zwei weitere. Einem Anwärter namens Logi gelang es, sich bei einer Übung mit scharfen Waffen mit seiner eigenen Krak-Granate in die Luft zu sprengen. Ein anderer Anwärter, Hrald, war eines Tages einfach beim Essen umgekippt. Seine Leiche war von den Robot-Dienern weggekarrt worden, so dass sie von den Eisenpriestern seziert werden konnte Niemand begriff, was eigentlich passiert war, obwohl es hieß, dass sein Körper entweder die Gensaat oder die neu implantierten Organe abgestoßen habe. Ragnar wusste nicht, wie das möglich sein sollte, aber das neue in seinem Hirn verankerte Wissen verriet ihm, dass menschliche Körper manchmal eben keine Implantate akzeptierten, dass sie sich gegen jede Veränderung wehrten und dass die Person ganz einfach starb. Das war kein aufheiternder Gedanke, weder für Ragnar noch für die anderen Anwärter, aber sie konnten diesbezüglich nichts unternehmen, außer nachts in ihren Zellen wachzuliegen und sich zu fragen, ob ihnen das wohl auch widerfahren würde. Nach ein paar
Tagen hörte Ragnar einfach auf, sich deswegen Sorgen zu machen. Er war nicht gestorben, und alle weiteren Überlegungen in dieser Richtung schienen eine sinnlose Energieverschwendung zu sein. Außerdem gab es so viel zu lernen und zu tun, dass sein Verstand ständig beschäftigt war. Jeden Tag im Morgengrauen stand er auf und ging in eine der großen Meditationskammern, wo er sich damit beschäftigte, die Litaneien zu rezitieren, die ihm am Tag zuvor übermittelt worden waren. Nach drei Stunden des Nachdenkens über religiöse Mysterien und der Einstellung des Geistes auf den Krieg nahm er ein herzhaftes Frühstück zu sich. Während sein Körper verdaute, war er an eine der alten Lehrmaschinen angeschlossen und ließ sich mehr Wissen ins Hirn pumpen und mit dem Wissen auch eine bedingungslose Verehrung für Russ und den Kaiser. Gegen Mittag wurde er steif, aber nicht ermüdet, von diesen uralten rätselhaften Gerätschaften getrennt und ging zur Waffenkammer. Je nach Ausbildungsplan übte er dann den Rest des Tages den Kampf ohne Waffe oder mit den an sie ausgegebenen Waffen oder er trainierte Ausdauer und Fitness. Alle paar Tage wurden sie in eine der Umweltkammern geschickt, die irgendwelchen fremdartigen Landschaften nachempfunden waren, und übten sich dort in den Disziplinen der Kriegführung und das Überleben in solch einer Umgebung. Ragnar wusste nach einiger Zeit immer schon vorher, wann so ein Tag anstand, da ihm am Tag zuvor das entsprechende Wissen vermittelt wurde. Danach zogen sie sich für das Abendmahl ins Refektorium zurück, und dann folgte noch eine abschließende Sitzung, entweder mit den Lehrmaschinen oder den Eisenpriestern. Die Dinge, die sie jetzt lernten, waren immer technischer Natur und drehten sich gewöhnlich um die Wartung ihrer Waffen und Rüstungen oder um die neuen Organe, die man ihnen implantiert hatte. Der Tag endete mit einer mehrstündigen
Sitzung in den Meditationszellen, und wenn Ragnar anschließend zu Bett ging, fiel er sofort in einen tiefen Schlaf. Jeden siebten Tag versammelten sie sich in der Kammer der Anwärter, wo Ranek ihnen zum ersten Mal den Zweck ihres Daseins erklärt hatte. Auch der Wolfpriester kam und predigte vor ihnen. Er erzählte alte Geschichten über die ruhmreichen Taten des Ordens und rührte sie mit Schilderungen von Heldentaten derjenigen, die ihnen vorangegangen waren. Dann wurden sie im Fang herumgeführt, und man zeigte ihnen Orte, die sie noch nicht kannten. Natur und Zweck der großer Anlagen, die zu sehen man ihnen gestattete, wurden ihnen zusammen mit Beispielen für ihre erfolgreiche Anwendung erklärt. Mit Ehrfurcht betrachtete Ragnar die Schauplatz alter Schlachten mit den Mächten des Chaos aus jenen dunklen Epoche, als der Fang selbst angegriffen worden war. Staunend sah er zu, wie mächtige Luftschiffe abhoben mit dem Ziel, die Lufthülle um Fenris zu durchstoßen und sich mit jenen gewaltigen Schiffen zu treffen, welche die unvorstellbaren Entfernungen zwischen den Sternen überwanden. Er starrte auf die riesigen automatischen Fabriken, in denen Waffen und Munition für die Space Wolves aus den Knochen des Planeten, aus den durch Tiefenbohrungen gewonnenen Metallen, Mineralien und Öl, hergestellt wurden. Als aus den Tagen Wochen und aus den Wochen Monate wurden, fand er sich immer besser mit seiner neuen Stellung zurecht. Er lernte viele der Leute im Fang mit Namen kennen und sah, dass er zunehmend als einer von ihnen anerkannt wurde, je mehr er lernte, wuchs und überlebte. Er stellte sich immer besser auf den speziellen Rhythmus dieses Ortes und auf die Tatsache ein, dass die eigentlichen Space Wolves nur selten im Fang waren, da sie praktisch ständig im Dienst des Kaisers in der Galaxis unterwegs waren. Er wusste jetzt mehr über die Organisation des Ordens und
seine Einteilung in große Kompanien, die das bewaffnete Gefolge mächtiger Heerführer waren, und dass es in der Tat nur selten vorkam, dass sich zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr als eine solche Kompanie im Fang aufhielt. Manchmal kehrten die Kompanien kurz nach Hause zurück, um sich neu bewaffnen und ausrüsten zu lassen und um in der Schlacht erlittene Verluste mit neuen Rekruten aus den Reihen der Anwärter auszugleichen. Er wusste, dass ein beständiger Fluss von Anwärtern den Fang durchlief und es seine Bestimmung war, eines Tages ausgewählt zu werden, eine jener großen Kompanien zu den Sternen zu begleiten. Er sah viele neue Anwärter eintreffen, die von Russvik und anderen Orten in Asaheim kamen und die durch Morkais Tor gehen mussten. Er erkannte auch diejenigen wieder, die vor ihm eingetroffen waren. Manchmal sah er auch richtige Space Wolves in den Meditationskammern. Ergraute Krieger, die von unglaublichen Abenteuern zurückkehrten und einen Augenblick des Friedens in den heiligen Stätten des Fangs suchten, bevor sie sich wieder ihren Pflichten widmeten. Bei solchen Gelegenheiten wollte er nichts mehr, als sich ihnen anschließen und sich auf den Weg machen zu den großen Schlachten in den entlegensten Gegenden des Universums, aber tief im Herzen wusste er, dass er noch einen weiten Weg zurückzulegen hatte, bevor dieser Tag kommen würde. Ragnar hatte von den älteren Anwärtern erfahren, dass manchmal Jahre verstrichen, bevor sie sich ihren Brüdern im Einsatz anschließen durften. Andererseits, sagte er sich, war das gar nicht schlecht, weil es ihm reichlich Zeit gab, seine Fertigkeiten zu üben und sicherzustellen, dass er sich nicht blamierte, wenn der große Tag kam. Sein Hass auf Strybjörn wurde zu einem dumpfen Schmerz, der an ihm nagte, aber der Grimmschädel war dennoch zu einem Teil seines neuen Lebens geworden wie Sven, Nils und die anderen. Sie trainierten alle zusammen und als Gruppe, und
ihnen war allen klar, dass sie Teil eines Kampftrupps waren und gemeinsam an die Front entlassen würden, wenn die Zeit gekommen war. Sie waren immer noch keine vollwertigen Blutkrallen oder einem Heerführer zugeteilt worden, aber sie wussten, der Tag würde kommen, an dem das geschah. Niemand bezweifelte noch, dass sie gut genug waren oder dass sie den Abschluss schaffen würden. Allen war klar, dass es nur eine Frage der Zeit war. *** Ranek betrachtete sie von der Empore. Sein vernarbtes Gesicht spiegelte einen Stolz wider, wie er sich auch in Ragnars Herz und auf den Zügen aller anwesenden Anwärter fand. »Ihr habt euch gut geschlagen«, sagte er zu ihnen »Ihr habt alles gelernt, was euch aufgetragen wurde und ihr habt Prüfungen überlebt, wie sie nur wenige Menschen ertragen, geschweige denn überleben könnten. Ihr habt ein Recht darauf, stolz zu sein. Aber nicht zu stolz, denn alles, was ihr hier gelernt habt, sollte eure Gedanken in die Richtung einer großen Wahrheit lenken. Das Leben eines Raumwolfs ist eine einzige lange Prüfung, und es gibt immer noch zahllose Möglichkeiten für einen Krieger, durch diese Prüfung zu fallen. Er mag feige werden oder lasch in seiner Pflichtauffassung, oder er mag einem Irrtum oder der Sünde erliegen. Er mag einen kleinen Spalt des Zweifels oder des Hasses ...« War es nur seine Einbildung, oder sah der Wolfpriester Ragnar bei diesen Worten an? »... des Makels oder der Schwäche offen lassen, durch den unsere dämonischen Feinde in seine Seele eindringen und ihn korrumpieren können. Wir dürfen niemals vergessen, dass es
einigen Orden unserer Vorfahren in uralten Zeiten so ergangen ist und dass sie in vielerlei Hinsicht mächtige Männer waren, mächtiger noch als wir. Wir dürfen nie vergessen, dass die Kriege, die wir ausfechten, in vielerlei Hinsicht ebenso sehr spirituelle Auseinandersetzungen sind wie körperliche Schlachten und dass unser Glaube an Russ und den Allvater unser Schild ist. Und wir dürfen niemals den Zweck dieses langen Lebens der Prüfungen und Entbehrungen vergessen. Er besteht darin festzustellen, ob wir würdig sind, unserem Primarch in den letzten Tagen beizustehen, wenn die Mächte des Chaos wie Drachen aus ihren Höhlen kriechen, um das Universum zu verschlingen, und das Ende aller Dinge bevorsteht. Denn in diesen Tagen werden die Auserwählten neben Russ stehen und Krieg gegen das Böse führen, auf dass sich das Schicksal von allem entscheiden möge. Haltet euch das in Zukunft vor Augen, wenn man von euch verlangt, dass ihr für eure Kameraden und für den Orden euer Leben aufs Spiel setzt. Wenn ihr euch als würdig erweist, wird eure Belohnung darin bestehen, in der wichtigsten aller Schlachten neben den allergrößten Helden zu stehen, und mehr kann kein Krieger verlangen. Jetzt seid ihr für würdig befunden worden, euch vor dem geheiligten Altar von Russ zu verpflichten und den Reihen der Wölfe beizutreten. Tretet vor, kniet vor dem Altar nieder und schwört, dass ihr diesem Orden immer und zu allen Zeiten dienen werdet, bis zum Tod und darüber hinaus, mit Leib, Geist, und Seele.« Als Ragnar dies tat, war es der stolzeste Augenblick seines Lebens. ***
Ragnar und Sven stießen mit ihren Alekrügen an. Ragnar warf den Kopf in den Nacken und trank das schaumige Gebräu in einem einzigen Zug. Er wischte sich die Lippen mit seinem gerüsteten Unterarm ab und stieß einen langen Rülpser aus. Er war betrunken und wusste es auch. Dieses Ale musste ziemlich stark sein, ging ihm auf, wenn es trotz der Fähigkeit seines Körpers, Gifte zu neutralisieren, eine derartige Wirkung auf ihn hatte. Vielleicht war dies der Ursprung der Legenden über jene, die angeblich gestorben waren, nachdem sie das Ale der Götter getrunken hatten. Nicht, dass ihm das im Augenblick wichtig gewesen wäre. Er sah sich in der Halle um. Sie war voll. Es schien so, als hätten sich alle im Fang anlässlich des Fests der Aufnahme hier versammelt. Die Kammer war mit langen Klapptischen vollgestellt. Die neu aufgenommenen Anwärter hatten eine große Bank für sich allein. Kreaturen halb Mensch, halb Maschine versorgten sie unablässig mit Ale und Tellern mit frischem Wildbret, das auf riesigen Spießen am Ende des Raums gegrillt wurde. Auf dem Tisch standen Teller mit Brot, Butter und Käse. Er glaubte, dass ihm Essen noch nie so gut geschmeckt hatte. Vielleicht lag das nur an seinen verbesserten Sinnen, vielleicht war das Essen aber auch nur von besserer Qualität, als Ragnar es gewöhnt war. »Noch einen, Ragnar«, sagte Sven, dessen Gesicht vor Glück und Ale gerötet war, »und dann messen wir uns im Armdrücken.« »Gut!« Ragnar trank mehr Ale und spürte Raneks Blick auf sich ruhen. Er hob seinen Krug und prostete dem Wolfpriester zu. Ranek erwiderte die Geste herzlich. Ihm folgten gerüstete Gestalten auf allen Seiten. Spontan stimmten die versammelten Wölfe lautstark ein frivoles Lied an. Ragnar kannte den Text zwar nicht, aber er fiel trotzdem ein, indem er die Melodie mitgrölte und nur innehielt, um sich mehr Essen in den Mund zu stopfen und es mit Ale hinunterzuspülen.
Sein Glück wurde nur von der Anwesenheit Strybjörns an seinem Tisch getrübt. Bald würde es eine Abrechnung geben, dachte er. Er hatte seine Rache viel zu lange aufgeschoben. Nachdem Ragnars benebeltem Verstand diese Erkenntnis gekommen war, kam ihm der Abend lange nicht mehr so strahlend, das Bier nicht mehr so köstlich und der Gesang nicht mehr so erhebend vor.
14
IM FELD Ragnar umklammerte das Heft des Kettenschwerts fester, während er dem startenden Thunderhawk nachsah. Das Triebwerk des Luftschiffs flammte grell auf, als es über die Berge davonraste. Sekunden später ertönte ein Geräusch wie ein Donnerschlag, und das Vehikel war verschwunden. Er warf einen Blick auf die anderen, um festzustellen, wie sie damit zurechtkamen. Niemand im Rudel sah nervös oder betroffen aus, was gut war, wenn man bedachte, dass dies die erste aktive Mission der Blutkrallen war. Sie alle, auch Ragnar, schauten Sergeant Hengist an und warteten auf seine Befehle, aber der ältere Raumwolf schien in diesem Augenblick eigenen Gedanken nachzuhängen, also richtete Ragnar seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Umgebung. Das Rudel war an einem trostlosen Ort gelandet. Nicht ganz so wild wie die Berge, die er vor seiner Aufnahme durchwandert hatte, aber doch so zerklüftet, dass es den meisten zu denken gab. Sie standen auf der Lichtung eines Waldes in einem langgestreckten Tal. Überall ringsumher reckten gewaltige Berge ihre schneebedeckten Gipfel in den Himmel. Irgendwo in der Ferne konnte er das Geräusch plätschernden Wassers hören. Das musste der Fluss sein, den sie aus der Luft gesehen hatten, dachte er, der das Tal durchschnitt und sich weiter unten mit den Seen vereinigte. Der Wald ringsumher war dunkel und finster. Er konnte Pinien, Graublätter und andere zähe und widerstandsfähige Baumarten riechen, die in dieser Höhe noch wuchsen. Er konnte das Rascheln kleiner Tiere im Unterholz und Vögelgezwitscher hören. Strahlen frühmorgendlichen Lichts durchbrachen die Wolken und ließen den grauen Morgen etwas
freundlicher erscheinen. In der Ferne sammelten sich rußschwarze Gewitterwolken, und Ragnar erkannte, dass es noch vor Einbruch der Dunkelheit ein Gewitter geben würde. Das bereitete ihm keine Sorgen. Er hatte sich an das extrem wechselhafte Wetter in den Bergen gewöhnt. Oder wenigstens hoffte er das. Eine leise, behutsame innere Stimme wandte ein, dass kein Mensch sich je an das Klima hier gewöhnte und jedem Mensch, der etwas anderes dachte, das frühe Grab eines Dummkopfs bestimmt war. Es war immer das Beste, die elementaren Gewalten der Natur zu respektieren. Soweit er das sagen konnte, gab es keine unmittelbaren Gefahren, aber auch das hatte nichts zu bedeuten. Man hatte ihm beigebracht, immer auf Schwierigkeiten vorbereitet zu sein. Wer konnte es also sagen? Alles Mögliche mochte dort draußen im Hinterhalt lauern. Vielleicht war es so dem Rudel zuvor ergangen. Ragnar musterte die Umgebung über den Lauf seiner Bolzenpistole, da er Ausschau nach einem Ziel hielt. Nichts war zu sehen außer einigen Eichhörnchen, die am Fuß eines Baumes in der Nähe Nüsse suchten. Keine finsteren Truppen waren zu sehen. Vielleicht hatte das Rudel sich verirrt oder war aufgehalten worden, oder vielleicht war ihre Kommunikationsanlage ausgefallen. Ragnar lächelte in sich hinein. Er bezweifelte die Stichhaltigkeit einfacher Erklärungen. Ein Rudel Blutkrallen, das von einem erfahrenen Sergeant der Space Wolves angeführt wurde, konnte sich nicht in den Bergen Asaheims verirren. Sie hatten Kompasse und Peilgeräte und alle möglichen zuverlässigen Ausrüstungsgegenstände, deren Vielseitigkeit Ragnar immer noch staunen ließ. Natürlich konnten Radarstürme die Peilgeräte und Kommunikationsnetze stören, und Magnetstrudel konnten Kompasse unbrauchbar machen. Aber wie groß waren die Chancen, dass beides gleichzeitig geschah? Und dass ein Nebel aufkam, der Orientierung nach Sicht
unmöglich machte? Gering, dachte er, aber waren sie gleich null? Es blieb die Tatsache, dass das andere Rudel überfällig war und sein Rendezvous mit dem Thunderhawk versäumt hatte. Zweifellos war irgendetwas vorgefallen, und jetzt war es die Aufgabe von Hengists Rudel, herauszufinden, was geschehen war. Ragnar warf einen Blick auf den Sergeant. Er untersuchte die unzähligen Pfade, die von dieser Lichtung wegführten. Ragnar bezweifelte, dass er irgendetwas finden würde. Alle Witterungen würden über eine Woche alt sein, und wahrscheinlich hatte der Regen alle Spuren fortgewaschen. Andererseits wussten sie dies erst mit Bestimmtheit, wenn sie nachschauten. Die anderen Blutkrallen schienen ebenso ungeduldig zu sein wie er selbst. Sie zählten ein Dutzend, die Überlebenden sämtlicher Anwärter-Gruppen, mit denen Ragnar angekommen war. Da waren Strybjörn, Sven und Nils. Er sah auch den sonderbaren, hellsichtigen jungen Lars, von dem alle behaupteten, es sei ihm bestimmt, eines Tages Runenpriester zu werden. Dann waren da noch Snori, Wulf und Kezan und noch ein paar andere, die Ragnar nicht so gut kannte. Sie brannten alle darauf, aktiv zu werden, da sie diese Gelegenheit ergreifen wollten, um sich in Sergeant Hengists Augen zu beweisen. Ragnar war froh, dass Hengist ihr Anführer war. Die Anwesenheit des alten Veteranen war äußerst beruhigend. Er schien über eine Weisheit und Besonnenheit zu verfügen, wie sie ihnen allen fehlte. Vielleicht kam all das mit den Narben und den langen Fängen, dachte Ragnar. Hengist war von einer Aura der Traurigkeit umgeben, der Traurigkeit eines Mannes, der weit über seine Zeit hinaus gelebt hatte. Ragnar wusste, dass Hengist wie viele Ausbilder im Fang und an Orten wie Russvik der einzige Überlebende seines Rudels war. All die alten Kameraden, mit denen er die Grundausbildung beendet
und an deren Seite er im Laufe seines Lebens gekämpft hatte, waren tot, so dass Hengist seine letzten Tage allein verbringen musste. Ragnar sah sich um, und nachdem er seine Kameraden betrachtet hatte, ging ihm auf, dass es durchaus möglich war, dass einem von ihnen später einmal dieselbe Rolle zufallen würde. Er betete zu Russ, dass er es nicht sein würde. Ab und zu hielt der Sergeant inne und konsultierte das kleine Peilgerät in seiner rechten Hand. Ragnar ging auf, dass der Sergeant nicht einfach nur nach einem Zeichen Ausschau hielt, sondern seine logischen Fähigkeiten zu Rate zog und überlegte, welchen Pfad die Gesuchten von hier zu ihrer letzten bekannten Position wohl am wahrscheinlichsten genommen hatten. Nach etwa fünf Minuten nickte der Sergeant zufrieden und bedeutete ihnen, ihm zu folgen, da er den Pfad beschritt, den er ausgesucht hatte. Als sie in die Schatten der Bäume traten, trällerte irgendwo in weiter Ferne ein Vogel. Ragnar kannte den Vogel nicht, aber etwas daran war bestürzend. Er schauderte, da ihn plötzlich die Vorahnung einer drohenden Katastrophe überkam. Er schaute sich um und sah, dass Lars anscheinend genauso empfand. Sein asketisches Gesicht war verzerrt, und in seine Augen trat für kurze Zeit ein verstörter Ausdruck. Ragnar schaute weg. Selbst nach den Maßstäben der Blutkrallen, die sich gerade an die Auswirkungen des Wolfenkelchs gewöhnt hatten, galt Lars als ziemlich verschroben. *** Ragnars Rüstung jaulte, als er entschlossen den Hügel empormarschierte. Die Servomotoren und Gyrostabilisatoren gaben sich alle Mühe, ihn auf diesen langgezogenen Hängen
im Gleichgewicht zu halten, und seine gepanzerten Füße wühlten große Brocken aus der Erde, während die Space Marines dahineilten. Die kalte klare Luft und die Schönheit der Umgebung versetzte Ragnar in Hochstimmung. Seine verstärkten Muskeln fühlten sich nicht im Geringsten müde an. Es schien so, als leiste die Rüstung den Großteil der Arbeit und marschiere für ihn, so dass er noch ewig so weitermarschieren konnte, wenn er wollte. Vor ihm knurrte Sven vor sich hin. Die Canis-Helix schien seinen Charakter verändert zu haben. Er redete mehr mit sich selbst, murrte oft und viel und war beständig von einer Aura des Trübsinns umgeben. So war es eben, dachte Ragnar mit einem innerlichen Achselzucken. Heute war mehr nötig als Svens schlechte Laune, um Ragnars Wohlbefinden zu beeinträchtigen. Natürlich, erinnerte sich Ragnar, hatte das Erwachen der Bestie bei ihnen allen Spuren hinterlassen. Ihm war vollkommen klar, dass er selbst aufbrausender und seine Bereitschaft viel größer war, sich von Kleinigkeiten provozieren zu lassen. Jedes Mal, wenn jemand Ragnar widersprach oder versuchte, ihn in die Schranken zu weisen, verspürte er den Drang, über den Betreffenden herzufallen und ihm seine Überlegenheit durch schiere Körperkraft zu beweisen. Schlimmstenfalls führte das dazu, dass er den Drang verspürte, ihnen die Kehle durchzubeißen. In solchen Momenten brauchte er seine ganze Willenskraft, um die Bestie im Zaum zu halten, und alle Gelassenheit, die ihm das Rezitieren der alten Litaneien brachte. Das Schlimmste daran war, dass ihm diese Ausbrüche erst dann auffielen, wenn sie vorbei waren. Sie schienen so etwas wie eine natürliche Reaktion zu sein. Und das waren nur die Veränderungen, die ihm aufgefallen waren. Er fragte sich oft, ob es vielleicht andere, tiefergehende gab, die ihm einfach nicht bewusst waren. Bei einigen anderen verhielt es sich jedenfalls so. Sven schien gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass er Selbstgespräche führte. Nils war sich nicht bewusst, dass er
beständig witterte, als schnüffle er nach der Anwesenheit von Feinden. Strybjörn war noch schweigsamer, noch grimmiger und brütender als je zuvor. Es schien, als müsse ein Preis für die unglaublichen Fähigkeiten, die sie erworben hatten, entrichtet werden und als zahle ihn jeder auf seine Art. Das war ein bestürzender Gedanke. Man hatte ihnen gesagt, dass sie sich mit der Zeit alle anpassen würden, aber gerade in diesem Augenblick fand Ragnar das schwer zu glauben. Um sich von diesen düsteren Überlegungen abzulenken, dachte Ragnar über ihre Mission nach. Das ursprüngliche Rudel war an diesen entlegenen Ort geschickt worden, um einen seltsamen Meteoritenregen zu untersuchen, der über diesem Gebiet niedergegangen war. Anscheinend ereignete sich so etwas recht häufig in diesem Teil Asaheims. Dennoch musste so ein Vorkommnis untersucht werden, denn manchmal versuchte der Feind, sich auf die Planetenoberfläche zu schleichen, indem er solche Meteoritenregen als Tarnung benutzte. Ragnar wusste nicht, was der Feind unternehmen mochte, nachdem er gelandet war, aber er hatte gelernt, dass die Space Wolves nur selten etwas ohne guten Grund taten. Als er an die ungeheuren Kräfte der Feinde der Menschheit dachte, ging Ragnar auf, dass dieser Orden allen Grund hatte, wachsam zu sein. Es gab viele seltsame magische und auch technische Dinge, die in dieser abgelegenen Gegend in Stellung gebracht werden konnten. Ein Spion konnte zum Beispiel alle Geheimnisse der Fang-Akademie in Erfahrung bringen und damit eine regelrechte Invasion einleiten. Er wusste, dass so etwas früher schon vorgekommen war und sich jederzeit wiederholen konnte. Jedenfalls sollten sie die Überlebenden der ersten Patrouille finden, falls es welche gab, und jede mögliche Hilfe leisten. Wenn es keine Überlebenden gab, sollten sie die Leichen finden und die geheiligte Gensaat retten und darüber hinaus in Erfahrung bringen, was das erste Rudel vernichtet hatte. Immer
vorausgesetzt, dass Hengists Rudel nicht ebenfalls ausgelöscht wurde. Diese Möglichkeit bestand immer, dachte Ragnar. Schließlich war die vorherige Einheit ebenso zahlreich und gut bewaffnet gewesen wie sie. Der Unterschied war, sagte sich Ragnar, dass sie gewarnt und somit darauf vorbereitet waren, dass etwas geschah. Darüber musste er unwillkürlich lächeln. Ein Space Marine war immer vorbereitet. Jede Mission sollte so ausgeführt werden, als sei sie eine Sache auf Leben und Tod. Schließlich musste sich diese vernünftige Annahme irgendwann als schmerzliche Wahrheit enthüllen. *** Sie lagerten in dieser Nacht weniger, weil sie Ruhe brauchten, sondern um auszuschließen, dass sie in der Dunkelheit etwas übersahen. Sie waren dem letzten bekannten Standort der Gesuchten jetzt viel näher. Ragnar sah jetzt, warum es klug gewesen war, sie in einiger Entfernung davon abzusetzen und sie den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen zu lassen. Sie waren von langen, schmalen, bewaldeten Tälern umgeben, in denen es keinen offensichtlichen Landeplatz für einen Thunderhawk gab. Der einzig vernünftige Weg war der zu Fuß. Außerdem hatten sie einige Spuren des verschwundenen Rudels entdeckt: weggeworfene Verpflegungsröhrchen und Stellen, wo das Unterholz mit Kettenschwertern beseitigt worden war. In gewisser Hinsicht waren das Anzeichen für Achtlosigkeit oder übermäßiges Selbstvertrauen. Hengists Truppe achtete darauf, keine Spuren zu hinterlassen. Ragnar hatte keine Ahnung, auf was der Sergeant zu stoßen befürchtete, aber ganz offensichtlich ging er kein Risiko ein. Feuer waren nicht entzündet worden. An strategischen
Stellen rings um das Lager waren Wachen postiert. Sämtliche Kommunikation wurde mit Richtfunk und Zerhacker abgewickelt. Jemand, der sie belauschen wollte, würde größte Probleme haben. Ragnar musste sich immer noch daran gewöhnen, dass ein kleiner Knopf im Ohr und ein weiterer in der Kehle ihm ermöglichten, sich mit anderen Blutkrallen über große Entfernung zu unterhalten, ohne schreien zu müssen, aber er war sehr froh, dass es diese Möglichkeit gab. Ein Posten konnte sie rasch und beinahe lautlos warnen, wenn er etwas bemerkte. Falls jemand hoffte, sich anschleichen und sie überraschen zu können, würde dieser jemand rasch herausfinden, dass der Spieß umgedreht worden war. Ragnar warf einen Blick auf Sven. Das Selbstgespräch schien vorbei zu sein, und er war wieder ganz der Alte. Mit einer Grimasse sog er Nahrungspaste aus einer selbstschließenden Tube. »Ich frage mich, ob sie diese Hundescheiße gleich in die Tuben füllen oder ob sie als Unterlage zuerst Katzenkotze hineingeben«, sagte er mit einem wehmütigen Grinsen, während er die Tube leersog. Ragnar wusste, was Sven meinte. Der Feldproviant mochte nahrhaft sein und alles enthalten, was ein Krieger brauchte, um im Feld zu überleben, aber er schmeckte nicht einmal annähernd wie richtiges Essen. »Wenn du deine nicht willst, gib sie mir«, sagte Nils. Ragnar konnte einfach nicht begreifen, wie jemand, der so hager und dürr war, so viel essen konnte. Diese Meinung wurde von Sven offensichtlich geteilt. »Du willst noch mehr davon?«, fragte er. »Mit dem Zeug ist alles in Ordnung. Ich mag es.« Ein Ausdruck der Ungläubigkeit flackerte über Svens Gesicht. Ragnar fiel auf, dass er trotz seiner Proteste keine Anstalten machte, seine Essenstube weiterzugeben. »Gibt es nichts, was du nicht essen würdest?«, fragte Sven.
»Ich weiß nicht. Bis jetzt habe ich noch nichts gefunden. Offenbar gibt es nur sehr wenig, was mein neuer Magen nicht verarbeiten kann.« Das stimmte. Sie hatten gelernt, dass man ihrem Magen alle möglichen »Enzyme« und »Drüsen« zusammen mit der Gensaat hinzugefügt hatte. Sie konnten jetzt Holz essen, wenn sie mussten, und selbst Gift, hatte man ihnen gesagt, würde sie nicht umbringen. Ragnar war froh darüber, dass er diesbezüglich noch nie die Probe aufs Exempel hatte machen müssen. »Ich habe gesehen, wie er vorhin ein paar Zweige gegessen hat«, sagte Strybjörn. »Auf einem davon war eine schöne fette Schnecke«, sagte Nils mit einem Ausdruck des Genusses. Ragnar wusste nicht, ob das tatsächlich stimmte oder er sich das nur ausgedacht hatte, um die anderen Blutkrallen anzuwidern. »Aber ich weiß gar nicht, warum Sven sich immer darüber auslässt, was ich esse. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so viel isst wie er.« Sven grinste. »Ja, aber nur richtiges Essen. Wild, Brot und Käse. Nicht dieses Zeug.« »Im Moment würde ich für ein Stück Käse töten«, sagte Lars. Ragnar gab ihm Recht. Vom bloßen Gerede über richtiges Essen lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Plötzlich schmeckte die Essenspaste noch widerlicher als sonst. »Versucht etwas zu schlafen«, sagte Sergeant Hengist. »Wer weiß - vielleicht habt ihr alle bald genug Gelegenheit dazu.« *** Ragnar sah zu, wie der Morgen über die Berge hereinbrach. Es war das Ende seiner Wache, und er war nicht einmal ein
wenig müde. Die Schönheit des Naturschauspiels war auf seine ganz eigene Weise atemberaubend. Zuerst waren die Berge nur ein klein wenig mehr als unsichtbar. Ihre Umrisse waren wie ein unregelmäßiges Loch im Stoff der Nacht. Als sich der Himmel aufhellte, kamen sie langsam in Sicht, wirkten aber flach, wie eine gemalte Kulisse auf einer Steinwand. Je heller es wurde, desto mehr Substanz, Tiefe und Einzelheiten bekamen sie, bis sie plötzlich wie neu erschaffen in der Sonne glitzerten. Nebel erhob sich wie Rauch aus den Bäumen unter ihnen. Es war, als gebaren die Berge die Wolken im Morgenlicht. Oder als habe ein Zauberer mit irgendeinem geheimnisvollen magischen Trick, der Rauch ohne Feuer erzeugte, den Wald in Licht getaucht. Ragnar wusste, dass dies nicht der Fall war, dass der Dunst sich bald auflösen würde wie ein Geist im Sonnenlicht. Dennoch genoss er es, die wiedergeborene Welt zu betrachten und dem Chor der Vögel zu lauschen, welche die Sonne begrüßten. In der Ferne hörte er Sven und Nils über Essen streiten. Sven beschuldigte die andere Blutkralle, während der Nacht seine Essenstuben gestohlen zu haben. *** Sie eilten den Hang hinunter und einem seltsam entstellten Gebiet im Wald entgegen. Alle waren längst verstummt und wachsam. Auf ihrem Weg den Pfad entlang hatten sie das Gebiet unter ihnen gesehen. Der Wald erschien tiefer und dunkler, die Bäume sahen aufgebläht und widerlich aus. Sergeant Hengist betrachtete sie durch ein Fernglas, bevor er etwas sagte. »Das ist neu«, sagte er. »Davon hat Urlek nichts berichtet.« »Es sieht so aus, als hätten diese Bäume die Pest«, bemerkte
Ragnar. »Sag nicht so etwas«, warf Sven ein. »Nils wird sie essen wollen.« Es sah wirklich so aus, als seien die Bäume von irgendeiner Seuche befallen, dachte Ragnar. Sie waren verkrüppelt und gebeugt wie kranke Menschen. Alle machten den Eindruck, als würden sie verfaulen und absterben. Sonderbar leuchtende Pilze klebten an den Seiten, deren schwacher Schein sogar im wässrigen Tageslicht zu sehen war, das durch das Blätterdach des Waldes fiel. Ragnar hatte noch nie etwas gesehen, das auch nur entfernte Ähnlichkeit mit diesem Wald hatte. Er sah sich um. Lars' Gesicht hatte sich zu einer Grimasse verzogen. Ragnar konnte verstehen, warum. Er hatte ebenfalls ein schlechtes Gefühl. Etwas roch falsch. Der ganzen Gegend haftete ein Geruch nach Verfall und Verwesung an, und die Luft hatte einen kaum merklichen, aber extrem unangenehmen Beigeschmack, bei dem sich seine Nackenhaare sträubten. Es war offensichtlich, dass Sergeant Hengist genauso empfand. Er nahm über einen Breitbandkanal Verbindung mit dem Fang auf, um Meldung zu erstatten. Statisches Knistern ertönte. Irgendetwas störte das Funksignal. Einen Moment lang hatte Ragnar das unheimliche Gefühl, die Krankheit der Bäume habe etwas mit der Funkstörung zu tun, aber er tat den Gedanken als lächerlich ab. Wie konnte das sein? Irgendwo in den Tiefen seines Verstandes hatten die alten Maschinen das Wissen verankert, dass schon viel merkwürdigere Dinge passiert waren. Ragnar fragte sich, was der Sergeant tun würde. Er konnte mit ihnen in größere Höhen zurückkehren und hoffen, den Bereich der Funkstörung hinter sich zu lassen, und er konnte ihnen befehlen weiterzumarschieren. Einen Moment schien es so, als sei Hengist unentschlossen, aber dann gab er das Signal zum Vorrücken. Es sah so aus, als würden sie weitermarschieren.
*** Sie hatten die letzte bekannte Position des vermissten Rudels erreicht. Dies war der letzte Bezugspunkt, wo es den hochentwickelten Ortungssystemen des Fangs gelungen war, sie auszumachen. Ragnar begriff jetzt, warum. Der Pfad durch den kranken Wald endete vor einer Steilwand. Der einzige Weg voran führte durch eine Höhleneinmündung, die in der Bergwand klaffte. Sergeant Hengist gab ein Handzeichen, das Ragnar auftrug, vorzurücken und zu erkunden. Mit bereitgehaltenen Waffen rückte er behutsam vor, als sei die Höhle ein Drachenmaul, das jederzeit zuschnappen und ihn verschlingen mochte. Je näher er kam, desto ausgeprägter wurde der sonderbare Gestank, und Ragnars Unbehagen wurde stärker. Irgendwie spürte er, dass es etwas in der tintigen Schwärze der Höhle gab, das ihm nicht gefiel, die Andeutung einer Verkommenheit viel größer als alles, was in dem kranken Wald ringsumher zu finden war. Vorsichtig tastete Ragnar sich bis zur Einmündung vor und lugte in die Düsternis. Er sah nichts außer einem langen Pfad, der in die Dunkelheit unter dem Berg führte. Er hatte das Gefühl, in den Schlund einer riesigen Bestie zu starren. +Irgendwas zu sehen?+, fragte Hengist über Sprechfunk. »Nur ein Tunnel«, erwiderte Ragnar. »Was nun?« +Wir gehen rein+, ertönte Hengists Stimme in seinem Ohr. Ragnar hatte bereits befürchtet, dass Hengist das sagen würde.
15
IM DUNKELN Ragnar sah sich in der Düsternis um. Die Schulterlampe an seiner Rüstung sandte einen hellen Lichtfinger aus, der sich in die stygische Finsternis bohrte. Im Augenblick zeigte er nur die feuchte Wand der Höhle, aber Ragnar hatte das bestimmte Gefühl, dass sich dies bald ändern würde. Die Wände schillerten im Licht der Lampe wie Perlmutt. Irgendetwas stimmte einfach nicht. Jeder verstärkte und superscharfe Sinn, den Ragnar besaß, schrie ihm diese Tatsache ins Gesicht. Aufs Äußerste gespannt, lauschte er auf der ihnen zugewiesenen Funkfrequenz, hörte jedoch lediglich statisches Rauschen und Knistern. Irgendeine Kraft, vielleicht Hintergrundstrahlung von den umgebenden Felsen, störte den Funkverkehr. Das war nicht gut. Alle Übungsmissionen, an denen Ragnar beteiligt gewesen war, hatten gezeigt, wie wichtig eine gute Kommunikation für die Effektivität einer Einheit war. »Was ist das?«, fragte Sven. Ragnar konnte erkennen, dass Sven, der die Spitze bildete, stehen geblieben war und sich bückte, um etwas im nassen Sand des Tunnelbodens zu untersuchen. Ragnar behielt das Gebiet jenseits seines Kameraden im Auge, falls etwas Unerwartetes und zweifellos Bedrohliches aus der Dunkelheit kam. Er blieb in Bewegung, bis er an Sven vorbei war, und bezog dann eine Stellung, die es ihm ermöglichte, den ganzen grob aus dem Gestein gehauenen Gang mit seinen Waffen zu bestreichen. Dabei erhaschte er einen flüchtigen Blick auf das, was Sven untersuchte. Ceramit glitzerte im Sand, da es den blau-weißen Schein von Svens Schulterlampe reflektierte. Es schien sich um ein Stück aus der Rüstung eines Space Marines zu handeln, das halb im Sand vergraben war, vielleicht ein Fetzen aus einer Brustplatte. Ein isolierter Teil von Ragnars Verstand nahm beinahe abwesend
zur Kenntnis, dass sich die bruchstückhaft sichtbare Insignien mühelos als Teil der Wolfskopf-Rune identifizieren ließ. Während er diese Tatsache geistig abspeicherte, starrte Ragnar in den Tunnel und hielt sich dabei auf den Fußballen, um möglichst auf der Hut zu sein, während sein Verstand mit dieser Information rang. Diese neue Entwicklung war nicht gut. Sehr wenige Naturkräfte konnten Ceramit-Panzerung spalten. Ragnar ging davon aus, dass es kein Erdrutsch und auch kein Tier war, was den Träger der Rüstung getötet hatte. Wenn der Träger tatsächlich getötet worden war und nicht verletzt oder gefangen irgendwo in diesen scheinbar endlosen Gängen lag. All das führte zu einem weiteren bestürzenden Gedanken. Ragnar fragte sich, ob er den Träger dieser Rüstung wohl gekannt hatte. Hatte sie einer der älteren Blutkrallen gehört, die vor ihm in den Orden aufgenommen worden waren? Er hatte viele davon im Fang gesehen. Ragnar begann damit, eine der alten Litaneien lautlos im Geiste zu rezitieren, wie man es ihn gelehrt hatte. Während er die Worte herunterbetete, fühlten sie sich wie alte Freunde an, die ihn daran erinnerten, im Hier und Jetzt zu bleiben, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren und sich nicht von Erinnerungen ablenken zu lassen. An diesem finsteren Ort kam ihm all das sorgsam Gelernte wie ein guter Rat vor. Ragnar versuchte zu schätzen, wie weit sie gekommen waren. Es kam ihm so vor, als seien sie meilenweit durch die Gänge marschiert, um kaum vorhandenen Spuren zu folgen. Der in seine Rüstung integrierte Schrittmesser zeigte an, dass sie genau fünf Komma null-sechs impériale Kilometer zurückgelegt hatten, aber das ließ keinen Schluss darauf zu, wie tief sie sich unter der Erde befanden. Die Gänge hatten sich geschlängelt und gewunden wie eine betrunkene Schlange. Sie mochten sich tief in den Eingeweiden von Fenris befinden oder auch nur hundert Schritte von ihrem Ausgangspunkt entfernt sein. Das ließ sich unmöglich sagen.
Einer Sache war er sich ganz sicher. Der Geruch an diesem Ort gefiel ihm nicht. In der kühlen, klammen Luft lag die Andeutung von Verdorbenheit und einer Witterung, bei der er die Fänge blecken und alles angreifen wollte, was ihm über den Weg lief. Es war etwas Unnatürliches, und die Bestie in ihm begehrte instinktiv dagegen auf. Nur die Anwesenheit seiner Schlachtbrüder vermittelte Ragnar überhaupt so etwas wie Zuversicht. »Ceramit-Panzerung«, hörte er Hengist mit seiner rauhen, kategorischen Stimme sagen. »Und noch dazu ein sauberer Bruch. Die Bruchstelle lässt darauf schließen, dass jemand eine Magnetstahlklinge benutzt hat. Sehr interessant.« Hengist hätte auch die wesentlichen Merkmale einer automatischen Kampfdrohne in den Übungsgruben des Fangs beschreiben können, so viel Gefühl lag in seiner Stimme. »Ich wusste gar nicht, dass die Einheimischen Magnetstahlschmieden haben«, sagte Sven. »Vielleicht haben sie auch keine«, erwiderte Hengist. »Was wollen Sie damit sagen, Sergeant?« »Wir werden sehen. Es geht weiter. Ragnar, du scheinst die Spitze übernommen zu haben. Da kannst du ebenso gut dort bleiben.« »Jawohl, Sergeant.« Ragnar tastete sich tiefer in die alles umhüllende Dunkelheit vor. ***
»Sieht wie ein Platz zur Lagerung aus«, sagte Ragnar, während er sich in der ausgedehnten Höhle umsah. Roh behauene Wände mit grau-grüner Färbung reckten sich über
ihnen in die vollkommene Dunkelheit. Roststellen von Mineralerzen befleckten die Wände wie altes Blut. Ragnar bezweifelte, dass diese Höhle natürlichen Ursprungs war. Der rötliche Sand unter ihren Stiefeln war hier trockener und knirschte beim Gehen. Fledermausflügelige Kreaturen flatterten auf der Flucht vor ihrem Licht auf wie losgelöste Schattenfetzen. Von einem Dutzend Schulterlampen tasteten sich Lichtstrahlen suchend voran und ließen lange Schatten entstehen. Das leise Jaulen der Rüstungsservos und das Flattern der Fledermauswesen waren die einzigen Geräusche. Überall an den Wänden standen tönerne Urnen. Ragnar ging zur nächsten, während er sich fragte, ob er den Deckel hochheben sollte. Hengist kam ihm zuvor und zerschmetterte ihn mit der Faust. Ein schaler Geruch nach altem Korn und Schimmel drang in Ragnars Nase. »Sieht so aus, als hättest du Recht«, sagte Hengist. Ragnar sah sich um, während der Rest des Rudels in die Höhle marschierte. Diesem Ort haftete etwas sehr Sonderbares an, ging ihm auf. Teile der Kaverne waren natürlich, und andere Teile sahen eindeutig aus wie von Menschenhand geformt. Ragnar hätte schwören können, dass er ein Stück von einem Plastahlträger sehen konnte, der fast vollständig vom Gestein umschlossen war. Er wies den Sergeant darauf hin. »Sieh dir das näher an«, sagte Hengist. Ragnar hielt nach Halt in der Felswand Ausschau und kletterte empor. Dabei drang ihm ein übler Gestank nach Exkrementen in die Nase. Offenbar hatten die Fledermauswesen hier genistet. Auf seinem Weg nach oben passierte er einige Nischen, die in der Tat wie Nester aussahen. Der Rest des Rudels war tief unter ihm und wurde vom flackernden Strahl seiner Schulterlampe beleuchtet. Dann erreichte er das Kavernendach und war nicht überrascht, als er feststellte, dass seine ursprüngliche Annahme richtig war. Es handelte sich eindeutig um Träger aus Plastahl, die zum Teil verrostet waren. Das von den Lehrmaschinen des
Fangs in seinem Kopf verankerte Wissen verriet ihm, dass sie unglaublich alt sein mussten. Es dauerte Jahrtausende, bis Plastahl zu rosten begann. Er ließ sich wieder auf den Boden herab und meldete Hengist seinen Fund. »Es scheint fast so, als hätten wir eine Stätte der Alten entdeckt«, sagte der Sergeant. »Und offensichtlich sind wir nicht die Ersten.« Ragnar sah ihn fragend an. »Die Menschheit ist schon sehr lange auf Fenris, lange vor Russ und dem Imperium. Die ursprünglichen Siedler haben in diesen Kavernen vor den Elementen Schutz gesucht und sich hier im Zeitalter der Katastrophe versteckt.« Ragnar nickte. Das klang einleuchtend. Diese Höhlen waren ein perfekter Ort, um vor Kälte, Gewittern und Meteoritenregen Schutz zu suchen. Und dieser Teil Asaheims war stabil. Keine Beben. Natürlich warf das die Frage auf, warum sie geräumt worden waren. Ragnar fragte Hengist. Der Sergeant verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Es gibt nur noch Legenden, aber es heißt, dass in den Felsen eine alte Kraft steckte, die zu Mutationen führte und die Bewohner empfänglich für den Einfluss des Chaos machte. Manche sagen, dass es sich um etwas Natürliches gehandelt habe, andere behaupten, es sei das Resultat der Zündung alter verbotener Waffen gewesen. Jetzt weiß es niemand mehr mit Bestimmtheit. Man weiß nur noch, dass die Höhlenstädte aufgegeben wurden und Russ persönlich verboten hat, sich darin niederzulassen. « »Es sieht so aus, als sei Russ' Gebot missachtet worden«, sagte Ragnar. »Ja«, stimmte Hengist zu. »Es gibt immer Leute, die verbotene Dinge tun, und sei es nur deshalb, weil sie verboten sind. Das liegt in der menschlichen Natur.« Ragnar stellte zu seiner Überraschung fest, dass er zumindest
teilweise mit den Ansichten jener sympathisierte, die sich in den Höhlen niedergelassen hatten. Schließlich waren sie ein idealer Schutz vor den wilden Stürmen Asaheims. Die Nöte der Gegenwart waren oft stärker als alte Tabus. Er sprach diese Gedanken jedoch nicht laut aus. Kurz flackerte der Verdacht auf, dass diese ketzerischen Gedanken vielleicht gar nicht seine eigenen waren, sondern das Produkt eines äußeren Einflusses, der heimtückisch auf seinen Verstand einwirkte, aber dann tat Ragnar diese Überlegung als unsinnig ab. »Wir gehen besser weiter, wenn wir eine Spur unserer vermissten Brüder finden wollen«, sagte Hengist. *** Voraus konnte Ragnar das beständige Tropfen von Feuchtigkeit hören, die an der Höhlendecke kondensierte und dann in einen tiefen unterirdischen Teich fiel. Als er um eine Ecke bog, sah er zu seiner Überraschung einen blassgelben Schein voraus. Er trübte seine Schulterlampe und gab den Blutkrallen hinter sich ein Zeichen, an Ort und Stelle zu bleiben, dann rückte er langsam zur Lichtquelle vor. Der Tunnel wurde schmaler, und der Boden des Gangs hob sich ein wenig. Ragnar war gezwungen, sich mit einer Hand abzustützen, während er die Steigung erklomm. In der rechten Hand hielt er die Bolzenpistole in Bereitschaft. Als sein Kopf sich über das Niveau des Gangs hob, bot sich ihm ein absonderlicher Anblick. Er sah, dass er aus einer Öffnung hoch in der Seite einer riesigen Kaverne hinabschaute und dass sich tief unter ihm in einer Art natürlicher Schüssel ein großes Gewässer befand. Phosphoreszierende Algen wirbelten wie gefangene Nebel unter der schwarzen, öligen Wasseroberfläche. Diese Algen waren es, die für den grünlich-gelben Schein verantwortlich
waren. Von den Stellen, wo die wie Speichel von den riesigen Stalaktiten-Fängen der Decke tropfenden Flüssigkeitsperlen in den Teich fielen, breiteten sich Ringe aus und störten die Ruhe der Oberfläche. Fast kam es Ragnar so vor, als würden er und die anderen Blutkrallen von irgendeiner riesigen Bestie lebendig verschlungen. Es war, als sei der Berg selbst lebendig und als werde er immer tiefer in seinen Magen gesogen, um verdaut zu werden. Das Gefühl ließ ihn schaudern. Eine Rampe aus losem Felsgestein und Sand führte steil zum Teich hinunter. Ragnar drehte sich um und bedeutete Sven und Strybjörn vorzurücken. Seine beiden Kameraden huschten an ihm vorbei. Während er ihnen Deckung gab, eilten sie wie Krebse zum Teich hinunter. Ragnar wartete gespannt, während er halb damit rechnete, dass irgendein riesiger Kopf aus dem Wasser auftauchen und nach ihnen schnappen würde, aber nichts dergleichen geschah. Die einzigen Geräusche waren das leise Tropfen des Wassers und das Rascheln der Stiefel der beiden Blutkrallen auf dem schlüpfrigen Fels sowie ein gelegentliches Zischen oder Surren eines Kompensators, der sich um Ausgleich bemühte, wenn unter dem Gewicht der Rüstung eines der Space Marines Steinbrocken beiseite glitten. Sven und Strybjörn standen lange Augenblicke wartend da, den Kopf zur Seite geneigt, da sie witterten, und gaben dann das Zeichen, dass alles in Ordnung war. Einer nach dem anderen rückten die übrigen Blutkrallen in die Kammer vor, zu denen sich auch Sergeant Hengist gesellte. Als alle unten waren, ging auch Ragnar zu ihnen. »Das ist hoffnungslos«, hörte er Sven murmeln. »Wir werden sie nie finden.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, spie er einen Klumpen Schleim in der Teich. »Das heißt, wenn sie überhaupt je hier waren.« Hengists scharfe Ohren hörten selbst diese leiser Worte. »Wir marschieren weiter, bis wir das Schicksal unserer
Wolfbrüder kennen«, knurrte der alte Sergeant »Das ist unsere Pflicht und unsere Art.« »Aye«, sagte Sven. »Das ist wohl angebracht.« Er trat geistesabwesend gegen einen Steinbrocken, der in der Teich flog und mit einem matten Platschen versank »Trotzdem sieht es hier ziemlich übel aus. Ich rechne jeden Augenblick damit, einem Haufen Trolle zu begegnen.« Ragnar hätte das Erscheinen derart monströser Kreaturen beinahe begrüßt. Das hätte seine seltsame Anspannung gemildert und ihm auch dabei geholfen, das seltsame Gefühl zu verjagen, von feindseligen Augen beobachtet zu werden, ein Gefühl, das ein Kribbeln zwischen den Schulterblättern auslöste. Vielleicht war es nur seine übermäßig aktive Einbildung, die ihm Streiche spielte. Irgendwie bezweifelte er es diesmal. »Das ist wie ein verfluchtes Meer«, sagte Sven mit ironischem Unterton. »Vielleicht können wir uns ein paar Fische fürs Mittagessen fangen.« »Ich würde nichts essen, was aus diesem üblen Gewässer stammt«, sagte Lars. »Und ich würde auch nicht daraus trinken.« Ragnar musste ihm beipflichten. Dieser unterirdische See und seine leuchtende Oberfläche hatten etwas zutiefst Beunruhigendes an sich. Von seinem Platz konnte er das andere Ufer nicht sehen. Seine Furcht davor hatte nicht im Geringsten abgenommen und auch nicht der Verdacht, dass jeden Augenblick ein monströses Haupt die Oberfläche durchbrechen würde. Ragnar fragte sich, ob die großen Meerdrachen vielleicht Verwandte hatten, die in den Gewässern dieser unterirdischen Kavernen beheimatet waren. Alle paar Herzschläge ertappte er sich dabei, wie er einen raschen Blick auf das Wasser warf, bevor er sich umdrehte, um sich zu vergewissern, dass sich nichts von hinten anschlich.
Etwas in Witterung und Haltung der anderen Blutkrallen verriet ihm, dass sie trotz ihrer Bemühungen, ihre Nervosität zu verheimlichen, ebenso empfanden. Keiner von ihnen konnte vergessen, dass ein anderes Rudel ihrer Brüder verschollen und vielleicht hier unten gestorben war. Hin und wieder hatte er das sichere Gefühl, watschelnde Schritte hinter sich zu hören, aber wenn er einen Blick über die Schulter warf, konnte er in der düsteren, geröllübersäten Weite der Kaverne nichts erkennen. Es erstaunte ihn, als Sergeant Hengist sich langsam zurückfallen ließ und dabei gelegentlich innehielt, um der einen oder anderen Blutkralle Anweisungen zu geben. Als er zu Ragnar kam, flüsterte er ihm zu: »Schalte deine Schulterlampe aus. Wir zwei werden hier warten und überraschen, wer immer hinter uns herschleicht.« Ragnar nickte und gehorchte. Jetzt wusste er, dass auf seine Instinkte Verlass war. Dieses Wissen gab ihm eine grimmige Befriedigung. Ragnars Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit. Das schwache Leuchten des Sees erzeugte gerade genug Licht, um einigermaßen sehen zu können. In der Ferne konnte er die Lichter der übrigen Blutkrallen ausmachen, die immer kleiner wurden. Außerdem hörte er ihre Schritte auf dem Gestein. Aufregung und Furcht krampften seinen Magen zusammen. Er wusste, dass die anderen beim ersten Anzeichen von Ärger kehrtmachen und zurückeilen würden, aber er fragte sich, ob sie noch rechtzeitig eintreffen würden. Die Anwesenheit des Sergeants, der hinter einem nicht weit entfernten Felsen kauerte, war äußerst beruhigend. Hengist war ein lange erprobter und kampferfahrener Krieger, vor dem Ragnar gewaltigen Respekt hatte. In einer Situation wie dieser, da sein erster richtiger Kampf seit der Schlacht in seinem Heimatdorf bevorstand, war dies eine wichtige Überlegung. Er konzentrierte sich auf die Litaneien, die er im Fang gelernt
hatte, um seinen Geist von Furcht, Besorgnis und anderen Gefühlen freizumachen, die seine Überlebenschancen verringern mochten. Er betete zu Russ und zum Allvater, auf dass sie seinen Arm stark und sein Auge sicher machen und ihn durch die bevorstehende Auseinandersetzung führen mochten. Bereitschaftssignale huschten an seinen Sinnen vorbei, da seine Rüstung ihm meldete, dass alle Kampfsysteme voll funktionstüchtig seien. Ragnar war für den bevorstehenden Kampf bereit. Das hieß, falls es einen Kampf gab. Ragnar war immer noch nicht überzeugt, dass es dazu kommen würde. Bisher hatten seine scharfen Sinne noch keine Spur von einem Verfolger entdecken können. Vielleicht bildete Sergeant Hengist sich nur etwas ein. Gleichzeitig wusste er, dass dies lediglich Wunschdenken war. Hengists Sinne waren viel schärfer als seine eigenen, und der Sergeant hatte ihm unzählige Jahre der Erfahrung voraus, was die Interpretation der von ihnen aufgeschnappten Daten betraf. Es war äußerst unwahrscheinlich, dass Hengist ein Fehler unterlief. Außerdem bestätigten Ragnars üble Vorahnungen und scharfe Instinkte auf einer tieferen Ebene, dass Gefahr in der Nähe lauerte. Irgendwo in den Tiefen seines Verstandes rührte sich die Bestie, da sie auf die Bedrohung reagierte. Plötzlich war Ragnar froh über ihre Gegenwart, froh über all die Implantate und die Ausbildung, die er im Fang genossen hatte. Er fühlte sich stark und mächtig und fähig. Er wusste, dass ihm und seinen mächtigen Waffen kein gewöhnlicher Sterblicher gewachsen war. Der vorsichtigere Teil seines Verstandes erinnerte ihn daran, dass ein Rudel seiner gleichermaßen befähigten und gut ausgerüsteten Brüder hier unten verschollen war, und seine schlimmen Vorahnungen kehrten mit doppelter Wucht zurück. Ein aus dem Augenwinkel aufgeschnapptes Handzeichen verriet ihm, dass Hengist etwas ausgemacht hatte. Einen
Moment später hörte Ragnar ein leises Watscheln wie von unbeschuhten Füßen auf dem nassen Sand - und da wusste er, dass der Sergeant Recht hatte und sie verfolgt wurden. Er packte seine Waffen fester und wappnete sich. Sein Körper spannte sich wie eine große Feder und war bereit, jeden Augenblick zuzuschlagen. Er spürte, wie der Sergeant sich ebenfalls kampfbereit machte. Ragnar spähte in die Finsternis und sah, dass sich ihnen eine Reihe schattenhafter humanoider Gestalten näherte, die sich so leise, verstohlen und zielstrebig bewegten, wie die Flut einen Strand hochkroch. Sein Mut sank, als er sah, wie zahlreich ihre Verfolger waren. Es mussten Hunderte sein. In diesem Augenblick kam es ihm so vor, als müsste die Übermacht unüberwindlich sein. Er schüttelte den Kopf, empfahl seine Seele Russ und dem Kaiser und machte sich bereit zu sterben. Dann sah er plötzlich, wie Hengist sich bewegte, und hörte gleichzeitig etwas durch die Luft fliegen. Einen Augenblick später zuckte ein Lichtblitz durch die Kaverne, und ein Knall wie ein Donnerschlag ertönte, als etwas mitten in der sich nähernden Menge explodierte. Ragnar brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass der Sergeant eine Granate geworfen hatte, bevor sich der ganze Schrecken der Szenerie, von der gewaltigen Detonation beleuchtet, in sein Hirn brannte. In diesem kurzen flammenden Augenblick, in jenem höllischen Licht erhaschte er seinen ersten richtigen Blick auf die Bewohner der Höhlen tief unter der Oberfläche von Fenris. Er sah jetzt, dass es sich bei ihnen unbestreitbar um Nachtgänger handelte. Sie waren bestialisch. Ihre Körper waren annähernd humanoid, aber gebückt und affenartig. Große Telleraugen, um auch noch den kleinsten Lichtfunken aufzunehmen, beherrschten ihre affenartigen Gesichter. Ihre Haut war fahlweiß und leprös, stellenweise aufgebläht und wies bizarre Geburtsmale sowie die Stigmata von Mutation und Krankheit
auf. Ragnar fühlte sich auf merkwürdige Art an den kranken Wald erinnert, und ihm ging auf, dass diese Leute in gewisser Weise die menschliche Entsprechung jener entstellten Bäume waren. Aber das Furchtbarste war, dass diese Wesen ganz offensichtlich Menschen waren oder früher einmal gewesen waren. Sie oder ihre Vorfahren waren einst ebenso menschlich gewesen wie sein eigener Klan. Wie lange hatte diese Verwandlung gedauert?, fragte sich Ragnar. Wie viele Äonen waren in langsamer Rückentwicklung unter der Erde nötig gewesen, um diese Rasse von Ungeheuern hervorzubringen? Waren die Stigmata der Mutation von Generation zu Generatior langsam schlimmer und das Höhlenvolk ebenso schleichend immer bestialischer und unwissender geworden? Oder war alles auf einen Schlag geschehen, das Produkt einer absonderlichen Magie, die hier in dieser finsteren Welt tief unter dem Berggipfel entfesselt worden war? Nicht, dass es im Augenblick eine Rolle gespielt hätte. Die Nachtgänger erholten sich vom Schock der Explosion in ihrer Mitte. Sie wogten durcheinander und hielten nach der Ursache Ausschau. Diesen Augenblick wählte Hengist, um noch eine Granate zu werfen. Abermals vertrieb der gewaltige Lichtblitz die Jahrtausende alte Finsternis. Wieder starben einige der entstellten Bewohner der Unterwelt, während Blut, Fleischfetzen und Knochensplitter auf die Überlebenden regneten. Durch das ungewohnte Licht der Explosion geblendet, wichen sie zurück, während Hände mit Krallen und Schwimmhäuten ihre Telleraugen bedeckten. Der Blutgeruch in Verbindung mit der Anspannung des Wartens stachelte die Bestie in Ragnar zu äußerster Wut an. Er sprang aus seinem Versteck, und seine Bolzenpistole spie Tod und Verderben. Er gab Schuss um Schuss in die Menge ihrer Verfolger ab. Sie standen so dicht, dass alle seine Patronen ein Ziel fanden. Manchmal durchschlugen sie auch die
Fleischmassen und bohrten sich in ein anderes Ziel. Schmerzensschreie vermischten sich mit bestialischem Wutgebrüll. Und doch, so missgestaltet sie auch waren, den Nachtgängern mangelte es nicht an Mut. Entweder das, oder sie waren übermäßig mit Dummheit gesegnet. Ragnars eigenes Volk wäre zumindest vorübergehend vor dem übernatürlichen Tod geflohen, der auf sie herabregnete, aber diese Unterweltbewohner flohen nicht. Sie waren aus härterem oder vielleicht auch wahnsinnigerem Holz geschnitzt. Rasch erkannte Ragnar, dass es ein Fehler gewesen war, das Feuer zu eröffnen. Das Mündungsfeuer seiner Pistole und die Kondensstreifen der Treibladungen in den Patronen verrieten den Nachtgängern seine Stellung. Sie konnten gar nicht anders, als zur Kenntnis zu nehmen, wo er sich befand, und mit einem gewaltigen Gebrüll irrer Wut rannten sie ihm entgegen. Ragnar beantwortete ihren Schlachtruf mit einem wölfischen Geheul und hörte zu seiner Beruhigung dessen Echo aus den Kehlen seiner herbeieilenden Kameraden. Er drückte immer wieder ab und sandte der heranstürmenden Masse der Mutanten Bolzenpatrone auf Bolzenpatrone entgegen. Köpfe explodierten, und Rümpfe wurden zerfetzt, wenn die Granaten im Ziel detonierten. Die Nachtgänger hatten keine Rüstung, die imstande gewesen wäre, jenen furchtbaren Geschossen zu widerstehen. Für sie sprachen lediglich die Anzahl und ihr irrsinnig grimmiger Mut. Hengist warf Granate auf Granate aus seinem Versteck, und jede einzelne richtete ein furchtbares Blutbad unter den Nachtgängern an. Ragnar kam es fast so vor, als greife die Hand eines Riesen in die Mitte ihrer Feinde und wirble sie umher wie Blätter im Wind. Die Nachtgänger waren jetzt so nah, dass er Einzelheiten erkennen konnte. Das schockierende Ausmaß ihrer Mutation wurde deutlicher. Einige der erbarmlichen Kreaturen hatten ein
Fell, anderen ragten Hörner aus dem Kopf, und manche hatten Hufe und Krallen und Zahnreihen wie Haie in den grässlich verlängerten Kiefern. Sie waren wie Widernatürlichkeiten aus den wildesten Tiefen eines Albtraums. Es war, als hätten sich die Tore der Hölle geöffnet, um eine Horde schnatternder missgestalteter Wesen auf die Welt loszulassen. Während er schoss, fragte sich ein losgelöster und berechnender Teil von Ragnars Verstand, ob sich diese Nachtgänger wirklich so sehr von ihm unterschieden. Schließlich besaß er ebenfalls eine übermäßige Körperbehaarung, die an ein Fell grenzte, und dazu hatte er Fänge und veränderte Augen. Er schob diese Gedanken rasch beiseite. Sie hatten nichts mit diesem Kampf zu tun, und sie näherten sich bedenklich der Ketzerei. Die Veränderungen seines Körpers waren Merkmale seiner Verwandtschaft mit Russ, Zeichen der Gunst und des Segens des Kaisers. Sie waren Produkte eines uralten mystischen Vorgangs, der ins Dunkle Zeitalter der Technologie zurückreichte. Die Stigmata dieser Nachtgänger waren Zeichen für etwas anderes. Vielleicht waren sie das Merkmal des Chaos und jener, deren Seelen durch seinen entstellenden Einfluss ebenso verdorben worden waren wie deren Körper. Die Nachtgänger kamen immer näher. Ragnar sprang auf den Felsen, hinter dem er gewartet hatte. Die Nachtgänger hatten nicht auf ihn geschossen, und daher benötigte er keine Deckung. Im Nahkampf würde ihm die Höhe einen zeitweiligen Vorteil geben. Mit einem raschen geistigen Befehl erhöhte er die Lichtstärke seiner Schulterlampe, so dass sie jeden Nachtgänger blenden würde, der direkt in das Licht sah. Die Berührung eines Schalters aktivierte sein Kettenschwert. Es vibrierte zornig in seiner Hand, da die gezackten Sägeblätter auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigten. Ragnar lachte laut, als er spürte, wie ihn die Kampfeswut überkam. In seiner Seele brüllte die Bestie und verlangte ihre uneingeschränkte
Freilassung. Die Nachtgänger hatte ihn fast erreicht. Hengist warf eine letzte Granate, die noch einmal eine Lücke in ihre Reihen riss, und dann hörte Ragnar, wie auch der Sergeant sein Kettenschwert aktivierte. Er schaute auf das Meer der Mutantengesichter herab, stieß ein langgezogenes wütendes Heulen aus und stürzte sich dann auf sie wie ein Schwimmer, der in eine aufgewühlte See springt. Noch vor der Landung schlug er mit seinem Kettenschwert zu. Es schnitt durch die Mutanten wie ein Hackbeil durch Fleisch. Der Geruch nach durchsägten, erhitztem Knochen drang Ragnar in die Nase, während sich eine schrillere Note in das Kreischen des Kettenschwerts mischte, als es Knochen durchtrennte. Der Augenblick verstrich, da das Kettenschwert das Glied säuberlich abtrennte. Blut spritzte aus dem Stumpf. Ragnar schlug einen Kopf ab, indem er die Halswirbel durchschnitt, und ließ gleich darauf den nächsten folgen. Währenddessen gab er ständig Schüsse aus seiner Bolzenpistole auf Leiber ab, die zu dicht standen, um sie verfehlen zu können. Das Geschrei und Geheul der Getroffenen hallte in seinen Ohren und stachelte die Bestie in ihm zu größerer Wut an, was ihm noch grimmigere Kräfte verlieh. Nach wenigen Augenblicken hatten die Nachtgänger sich vom Schock seines Angriffs erholt und begegneten ihm. Sie waren nur mit primitiven Beilen sowie Keulen und Speeren mit Steinspitzen bewaffnet. Sie schlugen nach ihm, zunächst wild und unbeherrscht, so dass ihre Hiebe seine sich rasch bewegende Gestalt entweder gar nicht erst trafen oder harmlos vom sanft gerundeten Ceramit seiner Rüstung abglitten. Er war sich ihrer Schläge so bewusst, wie ein Mann niederprasselnden Regen zur Kenntnis nahm. Es war allenfalls unbehaglich, aber gewiss nicht schmerzhaft. Er huschte durch seine Feinde wie ein Wirbelsturm des
Todes und ließ tote und sterbende Nachtgänger in seinem Kielwasser zurück. Einen kurzen triumphalen Augenblick hatte er das Gefühl, als könne ihm nichts widerstehen. Er war unüberwindlich, unaufhaltsam, ein Gott des Todes, der das Leben seiner Feinde beendete. In diesem ekstatischen Augenblick hatte er eine schwache Vorstellung, wie Russ sich nach seiner Apotheose gefühlt haben musste. Er wirbelte, schlug und trat und spürte Knochen unter seiner Klinge nachgeben. Er stampfte vorwärts und zerquetschte Finger und Schädel gefallener Feinde zu Brei. Er heulte lange und frohlockend, und in den Rufen seiner Kameraden spiegelte sich sein Blutdurst wider. In diesem Augenblick hatte Ragnar das Gefühl, sie nicht zu brauchen, ganz allein in der Lage zu sein, die Nachtgänger zu töten oder wenigstens in die Flucht zu schlagen. Es spielte keine Rolle, wie zahlreich sie waren oder wie tapfer. Sie hatten schlichtweg keine Möglichkeit, ihn zu überwinden. Der Kampf war viel zu einseitig. Dann empfand er einen stechenden Schmerz in der Brust. Er schaute an sich herab und sah eine Axtklinge im gehärteten Ceramit seiner Rüstung stecken. Die Klinge bestand aus schwarzem Eisen und hatte dennoch eine der härtesten je im Fang hergestellten Substanzen durchschnitten. Wie war das möglich? Dann fielen ihm die rötlich leuchtenden Runen auf der Klinge auf, und damit hatte er seine Antwort. Hier war böse Zauberei am Werk. Einen Moment wallte Panik in ihm auf. Er rechnete halb damit, üble magische Kräfte durch seinen Körper fließen zu spüren wie Gift. Er wusste von solch niederträchtigen Waffen, da Geschichten über ihr Wirken von den Lehrmaschinen der Space Wolves in seinem Gedächtnis verankert worden waren. Sie konnten alle möglichen furchtbaren Kräfte haben, die ihnen von ihren dämonischen Machern verliehen wurden. Wer wusste schon, wozu diese in der Lage war? Er stand einen Moment wie erstarrt da, und die Nachtgänger
nutzten seine Verwirrung aus, um über ihn herzufallen und aus Leibeskräften auf ihn einzuschlagen. Ein Hieb von einer steinernen Keule schlug ihm die Bolzenpistole aus der Hand. Ein weiterer Hieb von einer Axt kratzte seine Stirn an und hinterließ eine blutige Schramme. Einige Nachtgänger klammerten sich an seine Beine, andere an seine Arme. Sie heulten in triumphalem Blutdurst, da sie davon überzeugt waren, ihre Beute gefangen zu haben. »Im Namen des Kaisers, kämpf, Junge!«, hörte er Hengist rufen. Die Worte rissen ihn aus seiner Benommenheit, und plötzlich ging ihm auf, dass es keine Rolle spielte, ob er vergiftet oder verflucht worden war. Wenn er sich nicht wehrte, würde er ohnehin in wenigen Sekunden tot sein, da die Nachtgänger mit ihren Waffen auf die Gelenke und Schwachstellen seiner Rüstung einschlugen. Mit einem Aufbrüllen spannte er die Glieder. Servomotoren jaulten unter der Belastung, als er die Nachtgänger abschüttelte und sie wegschleuderte, als seien sie aus Stroh. Er fuhr herum und schwang beidhändig das Kettenschwert, um jedem Nachtgänger in seiner Reichweite Kopf oder Glieder abzuschlagen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie ein Häuptling oder Schamane der Nachtgänger eine der verfluchten Äxte hob, um sie auf ihn zu werfen. Vor Wut knurrend, sprang Ragnar vor und ließ das Kettenschwert in tödlichem Bogen herabsausen. Es traf den Kopf des Schamanen und schnitt ihn entzwei, durchschlug Kopf, Hals, Brust, Bauch und Hüftknochen. Gedärme und Eingeweide purzelten auf den Steinboden der Kaverne. In diesem Augenblick sah Ragnar, dass er sich ein wenig Luft verschafft hatte, da kein Gegner mehr in seiner unmittelbaren Nähe war. Er nutzte die Gelegenheit, um die Axt aus seiner Rüstung zu reißen und das widerliche Ding so weit weg zu schleudern wie möglich. Ein Rundumblick zeigte ihm, dass Hengist eine Schneise des
Todes durch die Horden der Nachtgänger geschlagen hatte und gerade kehrtmachte, um erneut auf sie loszugehen. Während der Sergeant sich auf das neuerliche Gemetzel vorbereitete, stießen die verbliebenen Nachtgänger ein Heulen der Bestürzung aus, da die übrigen Blutkrallen eingetroffen waren und durch ihre Reihen pflügten. Hengist und Ragnar stürzten sich gemeinsam ins Getümmel. Das war selbst für den Mut der Nachtgänger zu viel Diesmal machten sie kehrt und flohen und ließen die Leichen ihrer zahlreichen Toten überall auf dem Kavernenboden verstreut zurück.
16
DER CHAOS-TEMPEL Ragnar betrachtete die Szene des Gemetzels. Er konnte nicht einmal damit beginnen, die toten Nachtgänger zu zählen, aber seiner Schätzung nach waren mindestens hundert gestorben. Überall ringsumher hörte er sporadische Schüsse, da die anderen Blutkrallen auf die fliehenden Feinde feuerten. Er hätte ebenfalls weitergeschossen, war aber neugierig, was Sergeant Hengist plante. Der Veteran hatte sich über die Leiche des toten Schamanen gebeugt und inspizierte dessen Wurfaxt, ohne sie zu berühren. Ragnar trat neben seinen Anführer. »Was haben Sie herausgefunden, Sergeant?«, fragte er. »Diese Waffen sind mit den Kräften des Chaos in Berührung gekommen«, erwiderte Hengist. »Das dachte ich mir. Eine von ihnen hat meine Rüstung durchschlagen.« »Was? Lass mich sehen.« Hengist beugte sich vor und begutachtete die Stelle, wo die Waffe das Ceramit durchschlagen hatte. Er untersuchte die Bresche eingehend und schnüffelte auch daran. »Kein Blut«, sagte er. »Die Axt hat deine Haut nicht einmal geritzt. Du hast Glück gehabt.« »Glück?« »Manchmal sind diese Waffen vergiftet oder verbreiten den Makel des Chaos. Das allein kann schon ausreichen, um Menschen in den Wahnsinn zu treiben.« Er tippte gegen den Vielzweckgürtel um Ragnars Taille. »Besser, du flickst die Bruchstelle mit Zement. Der sollte deine Rüstung wenigstens bis zu unserer Rückkehr
in den Fang zusammenhalten.« Ragnar tat, wie ihm geheißen, und schmierte die rasch härtende Paste auf den Riss in seiner Rüstung, um dann die paar Augenblicke abzuwarten, bis das Material an der Luft hart geworden war. »Was nun?«, fragte er. »Wir gehen weiter«, sagte Hengist. *** Das Rudel Blutkrallen drang tiefer in den Berg ein. Unterwegs nahm Ragnar weitere Anzeichen für die Anwesenheit von Lebewesen zur Kenntnis. Hier und da lagen Knochen in den Gängen, die in dem Bestreben, ans Mark zu gelangen, geknackt waren. Eine eingehendere Untersuchung zeigte, dass sie Menschen oder menschenähnlichen Wesen gehört haben mussten. »Was essen diese Leute?«, fragte Sven. »Du denkst wirklich nur ans Essen, was?«, erwiderte Nils. »Du meinst, wenn sie sich nicht gegenseitig verspeisen?«, fügte Strybjörn hinzu. Ragnar nickte. Mochte er sich auch noch so bemühen, es war schwer, sich auszumalen, wovon die Nachtgänger sich ernährten, wenn sie nicht die riesigen Schaben aßen, die hier und da vom Scheinwerferlicht aufgescheucht wurden und davonhuschten. Vielleicht aßen sie die Fledermauswesen oder die unheimlich leuchtenden Pilze, die an den Wänden wucherten. Oder vielleicht unternahmen sie Jagdausflüge an die Oberfläche. Strybjörns Worte beschworen noch ein anderes Bild von gegeneinander Krieg führenden Klans der widerlichen Mutanten, wie sie einander im Dunkeln bekämpften und anschließend ihre toten Gegner aßen.
War das dem Rudel vor ihnen zugestoßen?, fragte er sich. Hatten die Nachtgänger ihre Rüstungen geknackt und ihnen das Fleisch von den Knochen gerissen, wie Ragnar es manchmal mit Krebsfleisch tat? Aber wie hatte so etwas passieren können? Es erschien ihm unmöglich, dass die Nachtgänger ein vollständig bewaffnetes und gut ausgebildetes Rudel Blutkrallen überwinden konnten. Bei Russ, er und Sergeant Hengist hatten eine beträchtliche Anzahl von ihnen ganz allein in die Flucht geschlagen. Ihre Waffen waren zu primitiv und ihre Taktiken zu simpel, um ein ganzes Rudel überwältigen zu können. Und warum war das andere Rudel überhaupt erst hergekommen? Sein Auftrag hatte in der Routineuntersuchung eines Gebiets bestanden, auf dem ein großer Meteoritenregen niedergegangen war. Waren sie hierher ins Verderben gelockt worden? Geschah dasselbe gerade auch mit Ragnar und seinen Kameraden? Er wünschte, er hätte Antworten auf diese Fragen gehabt, aber die hatte er nicht. Andererseits, sagte er sich, die Wahrheit würde er zweifellos noch früh genug herausfinden. *** »Es sieht so aus, als sei dieser Höhlenkomplex gerade geräumt worden«, sagte Lars. »Du hast Recht«, sagte Ragnar, während er sich rasch umschaute. Töpfe und Pfannen, Statuetten, Halsketten aus Fingerknochen und Ledersäcke gefüllt mit irgendwelchem Kram lagen überall verstreut herum, als seien die Sachen gerade erst dort abgelegt worden. Ragnar schnüffelte. Die Witterung der Nachtgänger war noch überall frisch und stark. Einige der Duftspuren waren ein wenig anders. Wahrscheinlich Frauen und Kinder, vermutete Ragnar.
»Sie müssen gewusst haben, dass wir kommen«, sagte Sven, wobei ein gemeines Grinsen sein hässliches Gesicht verzerrte. »Vielleicht sind die Überlebenden unserer letzten Schlacht hierher gekommen und haben sie gewarnt, uns nicht in die Quere zu kommen.« »Oder vielleicht wollten sie nur ihre Frauen und Kinder in Sicherheit bringen, bevor sie den Berg über uns zum Einsturz bringen«, mutmaßte Lars. Sven bleckte die Zähne zu einem Knurren. Der Tonfall der anderen Blutkralle gefiel ihm nicht. Hengist trat zwischen sie, um jede mögliche Schlägerei im Keim zu ersticken. Jetzt war nicht die Zeit für einen Streit um die Hackordnung im Rudel. Sven und Lars gingen sofort auseinander. »Ich denke nicht, dass das geschehen wird«, sagte Hengist. »Nein, ich glaube, uns erwartet etwas anderes.« »Und das wäre?«, fragte Ragnar. »Ich wünschte bei Russ, ich wüsste es. Aber was es auch sein mag, eines ist sicher. Es wird nicht angenehm.« Ragnar sah sich gezwungen, ihm beizupflichten. Wie der Sergeant konnte er die Anwesenheit von etwas anderem in der Luft spüren und auch, wie sich Kräfte sammelten, um ihnen entgegenzutreten. Hier, tief unter dem Berg, gab es irgendeine Macht. Er war sich dessen sicher. Und er war sicher, dass diese Macht stark und uralt und böse war. Er kam zu dem Schluss, dass er einen Gedanken, der ganz offensichtlich allen Blutkrallen im Kopf herumging, wohl besser laut aussprach. »Vielleicht sollten wir umkehren, Sergeant«, schlug er vor. »Noch nicht«, sagte Hengist. »Wir haben noch nicht gefunden, weswegen wir hergekommen sind.« »Und ich bezweifle, dass wir es noch finden«, murmelte Sven. Es sei denn, wir wären gekommen, um den Tod zu finden,
dachte Ragnar. *** »Was war das?«, fragte Lars. Ragnar sah ihn an. Er brauchte nicht zu fragen, was die blondhaarige Blutkralle gemeint hatte. Er hatte es auch gehört. Irgendwo in der Ferne schlug eine große Trommel. Ihre Vibrationen waren durch die Felswände hindurch spürbar wie der Schlag eines gewaltigen Herzens. »Unsere untermenschlichen Freunde lassen ihre Artgenossen wissen, dass das Essen serviert ist. Und dass es aus zarten jungen Blutkrallen besteht«, sagte Sven in seinem mürrischsten Tonfall. Nils schüttelte den Kopf. »Essen. Du denkst immer nur ans Essen«, sagte er spöttisch. *** Der Gang führte abwärts. Der Weg wurde von Leuchtpilzen erhellt. Der feuchte Boden und die Wände waren mit aufgeblähten Pilzen überwuchert, die einen unheimlichen grünen Schein erzeugten. Ragnar konnte ihre Sporen auf der Zunge schmecken, und ihr Geruch überdeckte fast alle anderen. Er war süßlich und widerlich und ließ Fäulnis und Verdorbenheit erahnen. Er hatte etwas an sich, das ihn an Verwesung erinnerte. Hier und da hingen Fäden aus einem leuchtenden Schleim zwischen den Gewächsen und verschwanden in den Wänden des Tunnels in großen Löchern. Eine Vorstellung von widerlichen schneckenähnlichen Kreaturen nistete sich in Ragnars Gedanken ein und wollte nicht mehr verschwinden. Vielleicht ernährten sich die Nachtgänger von solchen Kreaturen.
Er wusste, dass es Tunnel gab, die parallel zu demjenigen verliefen, in dem sie sich befanden. Er spürte, dass es in diesen Tunneln von Horden der Nachtgänger wimmelte. Ab und zu erhaschte er einen flüchtigen Blick auf sie, wenn sie an einer Abzweigung zu einem Seitentunnel vorüberkamen, aber die Mutanten hielten Abstand. Entweder hatten sie ihre Lektion gelernt, oder sie warteten auf etwas, das bald geschehen würde. Ragnar hatte den Verdacht, dass Letzteres zutraf. Hengist schien all das nicht zur Kenntnis zu nehmen und trieb sie weiter voran, da er einer Spur folgte, die nur für ihn offensichtlich zu sein schien. Ragnar wusste nicht, ob dies an den schärferen Sinnen des Sergeants und seiner größeren Erfahrung lag oder ob der Sergeant eine Todesahnung hatte und seinem Schicksal folgte. Ragnar hatte gehört, dass dies auch schon anderen passiert war. Dann hörten sie die Sirenen von ihrem bevorstehenden Verhängnis singen und erhoben sich vom Tisch, um geradewegs in die Höhle eines Trolls und in ihr Verderben zu laufen. Er sah nicht ein, warum einem Space Wolf so etwas nicht widerfahren sollte, obwohl er es im Augenblick für das Beste hielt, seine Überlegungen für sich zu behalten. Ragnar riskierte einen Blick über die Schulter. Weit entfernt glaubte er das Funkeln leuchtender Augen zu sehen. Er beeilte sich, um nicht den Anschluss an das Rudel zu verlieren. *** Plötzlich war der Weg zu Ende. Vor ihnen spannte sich eine lange Steinbrücke über einen riesigen Abgrund. Ragnar stand am Rande des Abgrunds. Irgendwo tief unter sich glaubte er Wasser rauschen zu hören. Sven hob einen Stein auf und ließ ihn in den Abgrund fallen. Sie blieben beide stehen und zählten die Sekunden, hörten aber beide kein Aufplatschen. Auf der
anderen Seite des Abgrunds befand sich ein Torbogen in der Wand. Er war aus behauenem Stein, und sogar auf diese Entfernung konnte Ragnar erkennen, dass in jeden Steinblock ein grinsender Dämonenkopf eingemeißelt war. Allem Anschein nach hatte Hengist gefunden, weswegen sie gekommen waren. Der Sergeant wandte sich an seine Blutkrallen. Sein altes, runzliges Gesicht sah im Licht ihrer Schulterlampen blass und abgezehrt aus. Die Augen hatten einen fiebrigen Glanz. »Wie ich vermutet habe«, sagte er. »Ein Chaos-Tempel.« »Vielleicht sollten wir jetzt umkehren und unsere Entdeckung melden«, sagte Lars. Hengist machte auf dem Absatz kehrt, hielt seine Waffen bereit und schritt auf die Brücke zu. Als er sie erreichte, hielt er inne, denn als Anführer war es nicht seine Aufgabe, sich unnötigen Risiken auszusetzen. Er blieb einen langen Augenblick stehen und sagte dann: »Ragnar, du rückst vor und erkundest den Eingang. Sei vorsichtig. Die Brücke ist vielleicht nicht sicher.« Als brauchte ich jemanden, der mir das sagt, dachte Ragnar, als er losmarschierte. Er war sicher, in der Ferne ein Murmeln wie von einer großen Menge zu hören. *** Gerade breit genug für einen Space Marine und mehrere hundert Schritt lang, fühlte die Steinbrücke sich solide unter seinen Füßen an, aber Ragnar ging kein Risiko ein. Er tastete sich vorsichtig vorwärts, indem er langsam einen Fuß vor den anderen setzte und immer nur allmählich mit seinem vollen Gewicht belastete. Er konnte es sich nicht leisten zu vergessen, wie schwer er jetzt trotz seiner Schnelligkeit und Gewandtheit
in seiner Rüstung war. Außerdem gab es vielleicht Falltüren oder andere Fallen auf der Brücke. Ragnar wusste, dass man angesichts des teuflischen Verstands der Chaos-Anbeter nichts, aber auch gar nichts ausschließen durfte. Das Gestein sah solide aus, aber wenn es auch nur die geringste Möglichkeit gab, dass es unter ihm nachgeben und in den Abgrund stürzen konnte, wollte Ragnar darauf vorbereitet sein. Wenn er hier starb, wollte er sein Leben in der Schlacht aushauchen. Das war die einzige Art und Weise, wie ein Krieger sich verabschieden sollte. Woher war nun dieser Gedanke gekommen, fragte sich Ragnar, als er spürte, wie die Bestie in ihm sich wachsam regte. War er aus dem Tempel am Ende der Brücke gekommen? Er konnte die Ausstrahlung von etwas darin spüren, so sicher, wie er die kalte, feuchte Brise auf der Stirn spürte. Sie pulsierte durch die Düsternis wie ein unsichtbares spektrales Leuchtfeuer. Er richtete ein Gebet an Russ und an den Kaiser, in dem er um die Unversehrtheit seiner Seele bat, und ging weiter, während seine gepanzerten Füße Staub von der schmalen Brücke fegten. Vor ihm wurde der Torbogen immer größer. Ihm ging auf, dass er riesig war. Die Brücke war länger, als es zunächst den Anschein gehabt hatte, und auch der Durchgang war entsprechend größer. Er bekam eine Ahnung davon, wie viel Arbeit in die Erschaffung dieses obszönen Ortes geflossen war. Der ganze Bau war nicht erst kürzlich entstanden. Die Fliesen, über die er schritt, waren von vielen Füßen abgenutzt worden. Dies alles war Jahrhunderte alt, wenn nicht gar Jahrtausende. In der Düsternis waren seine Augen durch die große Entfernung getäuscht worden. Jetzt ging ihm langsam das ganze Ausmaß der Täuschung auf. Er schätzte, dass der Torbogen das zehnfache seiner eigenen Höhe hatte und jeder der Blöcke, aus denen er bestand, mindestens so groß war wie er selbst. Die in den Stein gemeißelten, abscheulich entstellten
Köpfe sahen groß genug aus, um einen ausgewachsenen Mann mit einem Bissen verschlingen zu können. In gewisser Hinsicht war die künstlerische Meisterschaft ihrer Erschaffer wunderbar. Sie sahen aus wie die Köpfe lebendiger Ungeheuer, die sich jeden Augenblick in voller Größe aus den Steinblöcken lösen würden. Er rechnete fast damit, dass jene halb geöffneten Mäuler noch weiter klaffen und bei seiner Annäherung nach ihm schnappen würden. Aus dem Torbogen glaubte Ragnar ein leises Murmeln oder eine Art Singsang zu hören, war aber nicht sicher. Er ging weiter, bis er vor dem eigentlichen Torbogen stand. Dort blieb er einen Augenblick stehen und schaute hindurch, und was er sah, raubte ihm den Atem. Er schaute eine breite Marmortreppe herab und in eine gewaltige Kammer, die in das Herz des Berges gehauen war. Am entfernten Ende der Kammer stand eine riesige Statue, bei der es sich nur um die Darstellung eines enormen Dämons handeln konnte. Die Statue schien aus irgendeinem Kristall gehauen und mit Intarsien aus Knochen verziert zu sein. Jede einzelne Schuppe der funkelnden Haut war ein Juwel. Die Farben veränderten sich ständig und flackerten über die gesamte Oberfläche. Die Statue war vielleicht fünf Mal so groß wie ein Mensch, aber die Aura der Macht, welche sie umgab, ließ sie viel größer erscheinen. Die Augen flackerten wie Flammen. Das Leuchten der Haut hatte etwas an sich, das es schwierig machte, sich darauf zu konzentrieren, und verwirrte Ragnars Sehvermögen, da er den Eindruck hatte, die Statue könne jeden Augenblick ihre Gestalt verändern oder gar zu magischem Leben erwachen. Große Metallschwingen waren um die Schultern der Statue gefaltet wie ein Umhang. Der Kopf hatte eine seltsame Ähnlichkeit mit dem eines Vogels. Die Statue streckte riesige Krallen in einer Geste aus, die auf absonderliche Weise menschlich und äußerst bedrohlich wirkte. Das Götzenbild
erweckte den Eindruck von etwas, das bestialisch und gottgleich zugleich war, von etwas, das einerseits viel mehr, aber andererseits auch viel furchtbarer als ein Mensch war. Und von dieser Statue schienen Wellen finsterer Macht in regelmäßigem Puls auszustrahlen wie der böswillige Herzschlag eines wahnsinnigen Gottes. Ragnar wusste, ohne dass es ihm jemand hätte sagen müssen, dass dies ein Bildnis irgendeines Aspekts von Tzeentch war, dem Großen Mutator, dem Dämonenfürst übler Zauberei. Sein implantiertes Wissen verlieh ihm hinsichtlich dieser furchtbaren Tatsache absolute Gewissheit. Von der magischen Ausstrahlung kribbelte seine Haut. Die Statue hinterließ einen derart nachhaltigen Eindruck und fesselte seinen Blick so sehr, dass es einige Herzschläge dauerte, bevor Ragnar damit beginnen konnte, die Kammer in Augenschein zu nehmen. So beeindruckend die Statue war, so widerlich war der Rest. Bunte Flammenzungen zuckten aus den Wänden der Kammer und warfen ihr infernalisches Licht in jede Ecke. Ihrem stechenden Geruch und der Art, wie sie tanzten, entnahm Ragnar, dass die Flammen durch das Verbrennen von natürlichem Gas erzeugt wurden. Erschreckend war, was ihr Licht enthüllte. Überall auf dem Boden verstreut lagen schrecklich mutierte Leichen, aufgebläht und entstellt, aber sofort als früher einmal menschlich erkennbar. Es sah aus, als sei ihr Fleisch verflüssigt worden und zu neuen, bizarren Gestalten zerlaufen. Köpfe waren wie Ballons auf das Doppelte ihrer ursprünglichen Größe geschwollen. Finger hatten sich verbunden und bildeten Flossen. Eingeweide waren aus Bäuchen gequollen und hatten sich in entstellte Tentakel verwandelt, die aussahen, als hätten sie ihre Besitzer erwürgt. In einigen Fällen waren aus kleinen Eckzähnen riesige Hauer geworden. Manchen war ein Fell gewachsen. Bei anderen war die Haut durchsichtig geworden, so dass die inneren Organe sichtbar waren. Ein armer Teufel
hatte seine Haut abgestreift wie eine Schlange, so dass die rosa Masse der Muskeln und Adern darunter zum Vorschein gekommen war. Hier war ein fürchterliches Beispiel für die wahre Macht Tzeentchs. Ragnar kannte nun endlich das Schicksal des anderen Rudels. Ihre Rüstungen und Waffen hingen an großen Gestellen aus bearbeitetem Knochen. Unwillkürlich drang ein Heulen des Entsetzens und der Wut aus Ragnars offenem Mund. Im flackernden Licht der Flammenstrahlen schien die große Statue Tzeentchs spöttisch zu lächeln. Er machte kehrt und bedeutete seinen Kameraden, ihm zu folgen. Sie eilten viel schneller über die Brücke als er zuvor, indem sie von einer Steinplatte zur nächsten sprangen. »Bei Russ!«, hörte er Sven murmeln. »Was für ein schlimmer Ort.« »Ein Tzeentch-Tempel«, sagte Hengist. »Das ist der Große Mutator. Einer der vier größten Feinde des Allvaters.« »Wir müssen ihn zerstören«, sagte Strybjörn. »Ausgezeichnete Idee«, sagte Lars. »Aber wie?« »Mit Granaten«, schlug Nils vor. »Das wird nicht funktionieren«, wandte Hengist ein. »Wenn mich nicht alles täuscht, wird diese Statue durch böse Zauberei geschützt. Es bedarf mächtigerer Waffen als unserer, sie zu zerstören. Wir müssen den Orden über unseren Fund informieren.« »Ich glaube, du wirst dich um andere Dinge kümmern müssen, falscher Marine«, sagte eine kalte und spöttische Stimme. Ragnar sah auf. Eine Gestalt war vor dem Tzeentch-Altar aufgetaucht. Er wusste nicht, wie es kam, dass sie plötzlich da war, denn er hatte niemanden in den Tempel kommen sehen. Ragnar stellte fest, dass der Sprecher seinen Blick magisch
anzog. Es war schwer, dem Impuls zu widerstehen, ihn anzustarren. Der Neuankömmling war wie die Parodie eines Space Marine gekleidet. Seine Rüstung war klobig und schien von archaischer Machart zu sein. Mehr noch, es sah so aus, als seien Teile entfernt und durch Streifen aus goldenem und schwarzem Eisen ersetzt worden. Rote leuchtende Augen brannten in einem massiven und mit geschwungenen Hörnern versehenen Helm. In jeder Hand hielt er eine Bolzenpistole gleichermaßen antiker Konstruktion. Ragnar konnte erkennen, dass die Rüstung unglaublich reich verziert war. Funkelnde Juwelen und Dämonenköpfe waren überall in die Rüstung eingelassen und schimmerten im Licht der Flammenstrahlen. Vielleicht war es nur ein Streich, den das Licht den Augen spielte, aber einige der Köpfe schienen zu grinsen, zu gähnen und zu blinzeln, wobei sie sich auf eine Weise streckten, wie dies kein natürliches Metall konnte. Den von den Lehrmaschinen des Fangs in seinem Verstand hinterlegten Informationen konnte er entnehmen, dass er einen der tödlichsten Feinde der Menschheit betrachtete, einen Chaos Marine. »Du bist der falsche Marine«, erwiderte Hengist. »Schließlich waren es du und deinesgleichen, die den dem Kaiser und der Menschheit geleisteten Eid gebrochen haben.« »Dein seniler Gott war es, der das Vertrauen in uns verloren hatte. Er war zu schwach. Und die Menschheit erwies sich als undankbar und unserer Herrschaft unwürdig.« Die Stimme vermittelte einen Anflug von Arroganz, vielleicht sogar Langeweile. »Der Herrschaft von Dämonen und ihren Anbetern. Der Herrschaft jener, die das Knie vor unseren ältesten Feinden beugen. Du bist Abschaum, schlimmer als Abschaum.« »Und du wirst noch eine Menge Zeit haben, um diese Worte
zu bereuen und Ihn, der bald deine Seele verschlingen wird, um Gnade anzuflehen. Und glaub mir, deine Bitten werden nicht erhört.« »Du wirst nicht mehr so stolz daherreden, wenn ich dir den Kopf abgeschlagen und deine stinkende Leiche in den Abgrund geworfen habe.« Der Chaos Marine lachte. Es war kein angenehmes Lachen, dachte Ragnar. Es war zu spöttisch und kündete von zu viel Selbstvertrauen. Kein Krieger sollte so lachen, wenn er es mit einem ganzen Rudel Space Wolves zu tun bekam. Der blau und golden gerüstete Krieger schien seine Gedanken zu lesen. »Das könntest du nicht einmal mit der Hilfe all deiner kläffenden Welpen schaffen.« »Nicht? Der Schwächste dieser Blutkrallen ist ein besserer und wahrhaftigerer Krieger als du, Eidbrecher.« Hengist spie auf den polierten Boden des Chaos-Tempels. »Ich gebe zu, dass sie sich gegen die unwissenden, abergläubischen Untermenschen durchaus nicht ungeschickt angestellt haben, aber wie du siehst, bin ich mindestens so gut gerüstet wie ihr.« Der Chaos Marine beschrieb eine theatralische Geste. »Vielleicht sollte ich meine Waffen ablegen und mit dem Speer gegen euch kämpfen. So hättet ihr wenigstens eine Chance. Aber nein, das wäre immer noch zu leicht. Ich könnte meine bloßen Hände benutzen.« »Du redest ziemlich tapfer für einen, der sich im Dunkeln unter der Welt versteckt!«, warf Ragnar ein, der spürte, wie sein Zorn immer größer wurde. »Ich muss nichts beweisen, Sklave eines falschen Gottes. Der Name Madok lässt meine Feinde seit zehntausend Jahren vor Furcht zittern.« »Nur die willensschwachen Narren, die sich durch leere Drohungen einschüchtern lassen.«
»Deine Prahlereien ermüden mich, Jüngling, und da du so nett warst, meinen Brüdern Zeit genug zum Eintreffen zu lassen, können wir, glaube ich, mit dem Gemetzel fortfahren.« Bei diesen Worten öffneten sich Seitentüren in den Tempelwänden, und weitere Chaos Marines wurden sichtbar. Hengist hob seine Pistole und schoss, doch Madok war schneller. Seine beiden Pistolen ruckten hoch und spien Patronen, die den Sergeant eindeckten, während er sich hinter dem Torbogen in Deckung warf. Zwei Mitglieder des Rudels hatten nicht so viel Glück und gingen im Geschosshagel der Chaos Marine zu Boden. Ragnar folgte Hengists Beispiel und hechtete aus der Schusslinie. Strybjörn, Sven und mehrere andere Mitglieder des Rudels hielten Stand und erwiderten das Feuer. Ihre Patronen flogen durch den Tempel, aber irgendeine böse Macht schien sie abzulenken, so dass sie harmlos auf den Steinplatten rings um die Chaos Marines explodierten. Ragnar sah Hengist an, da er auf Befehle wartete. Der Sergeant spurtete am Torbogen vorbei und warf sich neben Ragnar in Deckung. »Da drinnen muss sich ein ganzer Trupp Chaos Marines aufhalten, vielleicht sogar noch mehr. Sie werden sich als zu stark für ein Rudel Blutkrallen erweisen. Der Orden muss gewarnt werden. Nimm Sven, Strybjörn, Nils und Lars mit und kehr an die Oberfläche zurück. Wir übrigen werden sie so lange wie möglich aufhalten.« Ragnar wollte protestieren. Die Bestie in ihm war stark. Der Blutgeruch bewirkte, dass sich seine Nackenhaare sträubten, und erfüllte ihn mit Mordlust. Vor allem hatte er das Gefühl, dass es ungerecht war, ihm die Möglichkeit vorzuenthalten, einen Heldentod zu sterben. Hengist schien zu spüren, welche Gefühle seine Worte in Ragnar entfachten. »Manchmal ist das Leben eines Space Marine nicht leicht«, sagte er. »Jetzt nimm die anderen und geh.« Er brüllte den
Blutkrallen, die Ragnar folgen sollten, zu, sich zurückzuziehen. Dabei sah Ragnar Kraki und Volgard unter dem Beschuss der Chaos Marines zu Boden gehen. Er sah außerdem, dass die Chaos Marines noch keine Verluste erlitten hatten, obwohl sie langsam und unbarmherzig wie Automaten über das offene Gelände des Tempels vorrückten. Er konnte ihr außerweltliches, entnervendes Gelächter hören. Sie mussten in der Tat von irgendeiner bösartigen Macht beschützt werden, dachte Ragnar. Da wusste er mit Sicherheit, dass es an der Zeit war zu gehen.
17
KÄMPFENDER RÜCKZUG »Vorwärts!«, rief Ragnar und lief über die Steinbrücke zurück und weg vom Tempel. Er brauchte sich nicht umzuschauen, um sich zu vergewissern, dass die anderen ihm folgten. Er spürte ihre Anwesenheit hinter sich und nahm ihre verängstigte, zornige Witterung wahr. Er nahm an, dass sie ebenso wie er selbst wütend und enttäuscht darüber waren, dass man ihnen befohlen hatte, den Kampf mit den Chaos-Verrätern abzubrechen. Innerlich fluchte er darüber, dass solch eine Blasphemie überhaupt Einzug in den heiligen Boden von Fenris gehalten hatte, und fragte sich, wie lange der ChaosAbschaum wohl schon unter Asaheims Erde lauerte. Er vermutete, dass die Chaos Marines im Schutz des letzten Meteoritenregens eingetroffen waren, aber ein Teil von ihm würgte bei der Vorstellung, dass sie vielleicht schon seit Monaten, Jahren oder Jahrzehnten hier waren. Unmöglich! Ragnar weigerte sich, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Und nun, da sie dieses Schlangennest in ihrer Mitte aufgespürt hatten, mussten sie fliehen! Nicht, dass ihnen die Kämpfe erspart bleiben würden. Ein Stück voraus wurde der Weg durch eine Horde Nachtgänger versperrt, die von einer Gestalt angeführt wurden, bei der es sich um einen Schamanen zu handeln schien, der eine Runenwaffe schwang. Der Schamane zeigte mit einem langen, in einem Schädel auslaufenden Stab auf Ragnar. Ein unheimliches rotes Licht an der Spitze nahm Gestalt an, und dann zuckte ihm ein sengender Strahl aus mystischer Energie entgegen. Der Space Wolf sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, und der Strahl zerschmetterte das Gestein hinter Ragnar. Ohne nachzudenken, hob Ragnar seine Bolzenpistole und gab einen Schuss ab. Die langen Zielübungen auf dem
Schießstand bewiesen ihren Nutzen. Die Patrone raste ihrem Ziel mit äußerster Präzision entgegen, und der Kopf des Schamanen explodierte wie eine Qualle unter dem Schlag eines Schmiedehammers. Die Nachtgänger ließen ein bestialisches Gebrüll hören und setzten sich geschlossen in Richtung Brücke in Bewegung. Sie schwenkten wütend ihre Keulen und Äxte und skandierten Tzeentchs Namen. Ragnar bereiteten weniger ihre Anzahl und ihre Waffen Sorgen, sondern viel eher die Tatsache, dass die schiere Masse ihrer Leiber die Blutkrallen verlangsamen und ihre Flucht so lange aufhalten mochte, bis sie von den Chaos Marines eingeholt wurden. Er war entschlossen, dem Orden Sergeant Hengists Nachricht zu überbringen. »Granaten!«, befahl er. »Jetzt!« Wie ein Mann entnahmen die Blutkrallen den Spendern an ihrem Vielzweckgürtel Mikrogranaten und warfen sie auf die heranstürmenden Horden. Eine Reihe von Explosionen zerriss die Reihen der Nachtgänger. Fleischfetzen und Blutfontänen flogen überallhin. Die schiere Gewalt des Angriffs stoppte den Ansturm der Nachtgänger. Die wimmelnde Masse schwankte und bebte für einen Moment. »Mehr Granaten!«, rief Ragnar, und die Blutkrallen schleuderten die Mikrogranaten mit doppeltem Grimm. Immer mehr Nachtgänger fielen. Der Geruch nach Blut und zerfetzten Leibern lag in der Luft. Dann, im letzten Augenblick, erkannte Ragnar seinen Fehler. Die Zerstörungskraft der auf engstem Raum zur Explosion gebrachten Menge von Granaten zog die Brücke in Mitleidenschaft. Vor seinen Augen barsten große Brocken ab und fielen in den Abgrund. Ihm ging auf, dass die ganze Brücke einstürzen und die Blutkrallen mit in die Tiefe reißen würde, wenn sie sie nicht rasch verließen. Um alles noch schlimmer zu machen, verfehlte eine Bolzenpatrone nur knapp seinen Arm und traf das
Seitengeländer der Brücke. Er warf einen Blick zurück, um festzustellen, ob aus dem Tempeleingang auf sie geschossen wurde, sah aber lediglich die Überreste von Hengists Häuflein Überlebender, die zwar in ihren Stellungen festsaßen, sich aber immer noch wehrten. Sein Blick fiel wieder auf die Nachtgänger, und seine scharfen Augen sahen, was sie suchten. Einige der Anführer der Mutanten waren mit Bolzenpistolen bewaffnet. Manche von ihnen sahen genauso aus wie seine eigene Waffe. Zweifellos waren sie den gefallenen Space Wolves im Tempel abgenommen worden. Andere Waffen sahen ebenso archaisch aus wie diejenigen der Chaos Marines. Sie mussten von den Ketzern mitgebracht worden sein, dachte Ragnar. Nicht, dass dies noch eine Rolle spielen würde, wenn sie nicht bald von der Brücke herunterkamen. Er sah sich um, ob auch die anderen bemerkt hatten, was ihm aufgegangen war. Er entnahm sofort ihrer Witterung und ihrer Haltung, dass dies der Fall war. Er brauchte ihnen nicht mehr den Befehl zu geben, keine Granaten mehr zu werfen. Mit der Unabhängigkeit echter Space Wolves hatten sie diese Entscheidung bereits selbst getroffen. Dennoch deckten sie den Feind mit einem Geschosshagel ein, der verheerend war. Ragnar sah sofort, dass ihnen nur noch eines zu tun blieb. »Vorwärts!«, rief er. »Schnell! Wir müssen weiter!« Er lief voran, während er spürte, wie die Brücke bei jedem Schritt zitterte und bebte. Sie war nur noch wenige Augenblicke vom Einsturz entfernt. Voraus fielen immer mehr Steinplatten in den Abgrund. Die gähnende Kluft zwischen dem noch stabilen Brückenteil und dem sicheren Boden auf der anderen Seite wurde immer breiter. Während er so schnell wie möglich rannte, fragte er sich, ob seine verstärkten Muskeln ihn in die Lage versetzen würden, so eine große Entfernung zu überspringen. Nun, dachte er, während er die Zähne zu einem wölfischen Grinsen bleckte, es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.
Jeder Schritt brachte Ragnar näher an den Rand des Abgrunds. Er hörte seinen Herzschlag laut in den Ohren hallen und roch seine eigene Anspannung und Aufregung. Er wusste, dass er den Sprung ganz genau abpassen musste. Ein einziger Fehltritt konnte ihn über den Rand tragen und abstürzen lassen. Zu früh zu springen würde sich als ebenso fatal erweisen, wenn er nicht die ganze Entfernung überbrücken konnte. Er umklammerte seine Pistole und sein Schwert noch fester, lief so dicht an den Rand, wie er es wagte, und sprang. Augenblicklich war er sich der gewaltigen Kluft unter seinen Füßen sehr deutlich bewusst. Wind zauste an seinen Haaren. Er fühlte sich, als bewege er sich verlangsamt. Er konnte jede Einzelheit der Mutantengesichter vor sich erkennen, jede Warze und Beule sehen, die ihre verzerrten Gesichter entstellten, und die Poren in ihrer Haut. Noch nie in seinem ganzen Leben war er sich einer Sache so bewusst gewesen. All seine übermenschlichen Sinne arbeiteten auf einer neuen Leistungsstufe, die absolut verblüffend war. Dem Tode so nah, hatte Ragnar sich noch nie so lebendig gefühlt. Er stieß einen langgezogenen Schlachtruf aus. Noch während er durch die Luft flog, hob Ragnar seine Pistole und gab einen Schuss auf einen Nachtgänger am Rande des Abgrunds ab. Der Mutant hielt sich die Hände vor den Bauch und kippte in den finsteren Abgrund. Ragnar gab noch einen Schuss ab und fällte einen weiteren Feind, dann überkam ihn eine Welle der Erleichterung, als er festen Boden unter den Füßen spürte. Während seine Knie die harte Landung auf dem felsigen Boden abfederten, schrie Ragnar der Masse der Nachtgänger seine trotzige Verachtung entgegen. Er lebte, und jetzt würden sie büßen! Jetzt würden sie den wahren Zorn eines Space Wolfs am eigenen Leib erfahren! Er stürmte mit wirbelndem Kettenschwert vorwärts und versuchte verzweifelt, sich einen Weg durch die dichtgedrängten Leiber der Nachtgänger zu hacken, bevor seine Brüder landeten. Unter den gegeben
Umständen war es durchaus möglich, dass ihnen bei der Landung bereits so stark zugesetzt wurde, dass sie das Gleichgewicht verlieren und alle in den Abgrund stürzen mochten. Fleisch teilte sich, und Knochen splitterten unter der Wucht seines Kettenschwerts. Mit seiner Bolzenpistole schoss er einfach ziellos, da er wusste, dass jede Patrone in dieser Masse dichtgedrängter Leiber ein Ziel finden würde. Ragnar hackte sich seinen Weg durch die Nachtgänger wie ein Schiff, das durch schwere See pflügt. Er wurde zu einer lebenden Maschine der Zerstörung, zu einem Wirbelwind des Todes, der sich drehte und heulte und sich durch die massierten Reihen der Mutanten wand. Hinter sich hörte er den Gesang seiner Brüder, die seinem Beispiel folgten. Nach kurzer Zeit lag ein feiner roter Nebel in der Luft, eine Folge des blutigen Gemetzels, das sein Kettenschwert anrichtete. Die Schreie der Sterbenden waren trotz der Schalldämpfer in seinem Helm nahezu ohrenbetäubend. Tief in seiner Seele, hervorgelockt durch den Geruch des Gemetzels, wurde die Bestie stärker. Ragnar kämpfte jetzt rein instinktiv. Er brauchte nicht zu denken. Die Bestie hatte die Kontrolle. Reflexe, Nerven und Sehnen waren in perfekter Harmonie. Auf jede von seinen hyperscharfen Sinnen wahrgenommene Bedrohung reagierte er mit Gedankenschnelle. In diesem Augenblick übertraf sein Kampfgeschick bei weitem das eines gewöhnlichen Sterblichen. Nichts konnte ihm den Weg versperren. Hinter ihm hieben sich die anderen Blutkrallen durch die Mutanten wie eine scharfe Axt durch morsches Holz. Albtraumgesichter grinsten, die Mäuler zum Schrei aufgerissen, da er sie niedermähte. Entstellte Leiber gaben unter seiner Klinge nach. Die Hiebe steinerner Keulen prallten von seiner Rüstung ab. Er duckte sich, um einem vorbeipfeifenden Schleuderstein auszuweichen. Seine Sinne waren so scharf, dass der Stein scheinbar verzögert flog und er
alle Zeit der Welt zu haben schien, ihm aus dem Weg zu gehen. Er drehte den Kopf und wurde mit dem Aufschrei eines Nachtgängers hinter sich belohnt, der in der Flugbahn des Steins stand. Mit einem raschen Schuss zerschmetterte er den Schädel des Schützen und setzte seinen Weg in Richtung Freiheit fort. Ein Strahl magischer Energie zischte durch die Luft, eine bunte Schlange aus bläulich-violettem Licht, die sich ihm entgegenwand. Er roch Ozon und etwas Bitteres, als der Strahl näher kam. Ragnar versuchte beiseite zu springen, über den Kopf eines Nachtgängers hinwegzusetzen, aber der knisternde Strahl änderte die Richtung und rauschte ihm entgegen. Er hob seine Klinge, um zu parieren, aber der Finger zuckender, widerlicher Energie wand sich vorbei und traf Ragnars Rüstung mitten auf die Brustplatte. Augenblicklich badete sein ganzer Körper in Schmerzen, wie Ragnar sie noch nie erlebt und auch nie für möglich gehalten hätte. Jeder Nerv schrie gequält auf. Ragnar spürte, wie seine Rüstung Blasen warf und zu schmelzen begann. Funken sprühten, als Systeme sich kurzschlossen. Irrwitzige Interferenzmuster zuckten über sein Visier, und in seinen Ohren dröhnte statisches Knistern. Die Haare standen ihm zu Berge. Energieschübe veranlassten seine von der Rüstung unterstützten Glieder, unkontrolliert zu zucken und sich zu verkrampfen. Ragnar hatte das Gefühl, seine Augen kochten in ihren Höhlen. Er roch seine versengten Haare. In violettes Feuer gehüllt, schwankte er umher wie ein Betrunkener. Mit einer gewaltigen Willensanstrengung zwang Ragnar sich zu konzentrieren und seinen Feind zu suchen. Zähneknirschend nahm er den Kupfergeschmack seines eigenen Blutes auf der Zunge wahr. Ein Blick nach oben zeigte ihm einen gackernden Schamanen der Untermenschen, der hoch über der Menge, nahe der Höhlendecke, wild auf einer Scheibe aus Licht tanzte.
Noch mehr verfluchte Zauberei, dachte Ragnar. Die Energieschlange wand sich aus dem Schädelende des Zauberstabs in den klauenartigen Händen des Ketzers. Ragnar versuchte mit seiner Pistole zu zielen, aber ihm standen Tränen vor Schmerzen in den Augen, so dass er nur verschwommen sah. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Schwarze und violette Sterne tanzten vor seinen Augen, und die Zunge klebte ihm am Gaumen. Ragnar wusste ohne den leisesten Zweifel, dass er in wenigen Augenblicken sterben würde. Plötzlich flog eine Bolzenpatrone in die Höhe und bohrte sich ins Herz des Schamanen, der von der bereits abstürzenden Lichtscheibe geschleudert wurde. Im Fallen breitete der Schamane die Arme aus, und die Energieschlange flackerte und erlosch. Noch bevor der Magier der Nachtgänger auf dem Boden aufschlug, wurde er von einer weiteren Patrone getroffen, die seinen Fall durch die schiere Aufprallwucht vorübergehend aufhielt. Die Patrone traf das Auge und trat am Hinterkopf in einer Fontäne aus Gehirnmasse und Blut wieder aus. Ragnar schaute sich nach dem Bruder um, der seinem Feind den Garaus gemacht hatte, und sah zu seiner Überraschung, dass es der verhasste Strybjörn war. Sein eingeschworener Feind hob eine Hand zum Gruß und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf das Niedermetzeln der Mutanten. Ragnar kämpfte gegen das Schwindelgefühl an, das ihn zu überwältigen drohte. Seine Rüstung war bereits bei der Ausführung der automatischen Systemtests, und über die Peripherie seines Gesichtsfelds huschte eine endlose Reihe von Icons. Aus dem Augenwinkel sah er eine Granate auf sich zufliegen. Der Richtung nach zu urteilen, hatte sie keiner von seinen Kameraden geworfen. Es musste sich um eine der Waffen handeln, welche die Nachtgänger den toten Space Marines abgenommen hatten. Eines war sicher, der Werfer gab wenig auf das Leben seiner Artgenossen. Ragnar war von
heulenden Nachtgängern umringt, die alle sterben würden, wenn die Granate explodierte. Trotz seiner Benommenheit wusste Ragnar, dass seine Rüstung nicht in der Verfassung war, einen direkten KrakGranatentreffer zu verkraften. Er konnte den Schaden im atonalen Jaulen der Servos hören, und die blinkenden roten Icons auf seinen Anzeigen erzählten ihre eigene unschöne Geschichte. Er hatte nur eine Chance, und die hing davon ab, auf welche Zündzeit die Granate eingestellt war. Er hob sein Schwert, hieb mit der flachen Seite seines Kettenschwerts zu, traf die Granate im Flug und schlug sie weg, wobei er entgegen alle Wahrscheinlichkeit hoffte, der Schlag werde die befürchtete Explosion nicht auslösen. Einen kurzen Augenblick, in dem ihm der Herzschlag stockte, rechnete Ragnar damit, dass die Explosion ihm den Arm aus dem Schultergelenk reißen werde, aber dann flog die Granate rückwärts in die dicht gedrängten Massen der Nachtgänger. Einen Augenblick später erfolgte die Detonation, die in tausend Stücke gerissene Untermenschengestalten umherschleuderte. Ragnar taumelte vorwärts. Die Nachtgänger spürten seine Schwäche und fielen über ihn her. Steinbeile und Keulen schmetterten auf die Bruchstellen in seiner beschädigten Rüstung. Ceramitstücke fielen auf den Steinboden. Ragnar schlug mit dem Kolben seiner Pistole zu und zerschmetterte einen Schädel, stach die Spitze seines Kettenschwerts in die Brust des nächsten Nachtgängers und spaltete dessen Leib dann mit einer raschen Aufwärtsbewegung. Die nächsten Mutanten sahen die eiserne Entschlossenheit auf seinem Gesicht und machten Anstalten zurückzuweichen. Das gab Ragnar den Raum, den er brauchte, um sein Kettenschwert wie ein Berserker im Kreis herumzuwirbeln und dabei Leiber und Köpfe zu durchtrennen. Er wirbelte durch die Massen wie eine Windhose mit Rasiermessern an den Außenrändern, um dann einen Augenblick später zu erkennen, dass er keine Gegner
mehr hatte. Er war nicht mehr von Nachtgängern umringt. Keuchend und atemlos warf Ragnar einen Blick zurück und sah, wie Sven, Nils, Lars und Strybjörn sich einen Weg durch die Massen der Mutanten hackten. Sie schienen durch ein Meer aus rohem Fleisch und sprudelndem Blut zu waten. Nachtgänger gingen zu Boden wie Korn unter einer Sense. Die Blutkrallen schienen unmenschlich, unüberwindlich und unaufhaltsam zu sein. Aber dann sah Ragnar eine weitere Granate auf Strybjörn und Sven zufliegen. Er heulte eine Warnung, sah die Blutkrallen herumfahren und wusste instinktiv, dass seine Warnung zu spät kam. Sven gelang es, sich gerade noch rechtzeitig zur Seite zu werfen. Er hechtete kopfüber in eine Gruppe Nachtgänger und schlug dabei mit seinem Kettenschwert um sich. Strybjörn war nur einen Sekundenbruchteil zu langsam. Mehrere Nachtgänger hatten sich an ihn geklammert, um ihn zu Boden zu reißen, so dass sie mit ihren Keulen auf seinen verwundbaren Schädel einschlagen konnten. Im letzten Moment schüttelte er sie mit lautem Gebrüll ab und versuchte der Granate auszuweichen, doch er hatte seinen Sprung gerade erst begonnen, als die Granate detonierte. Die Explosion traf seine Rüstung und schleuderte Strybjörn durch die Luft wie eine von einem Kind achtlos beiseite geworfene Puppe. Ragnar stand einen Augenblick wie gelähmt da, zwischen seltsam gemischten Gefühlen hin- und hergerissen. Allem Anschein nach war sein verhasster Feind tot, von der Explosion getötet, die Ragnar seiner Rache beraubt hatte. Aber das war nicht das Schlimmste daran. Plötzlich kam es Ragnar so vor, als sei seine Rache, verglichen mit der Bedrohung durch die Chaos Marines und dem bösen Gott, den sie anbeteten, eine unbedeutende Angelegenheit. Das Chaos war eine Gefahr für die ganze Menschheit, und Strybjörn war im Kampf dagegen gefallen. Mehr als das, er hatte Ragnar das Leben gerettet, als er ihn vom bösen Zauber des Schamanen erlöste, und jetzt
konnte Ragnar diese Schuld nicht mehr begleichen. Er heulte vor Wut und Verzweiflung, da ihm plötzlich aufging, dass er nach all diesen Monaten des dumpfen Hasses nicht wollte, dass Strybjörn auf diese Weise starb, dass er vielleicht gar nicht mehr wollte, dass der Grimmschädel überhaupt starb. Verglichen mit der Gefahr, die tief in diesem Berg lauerte, kamen ihm ihre alten Stammesfehden kleinlich und albern vor. Sven hatte bereits kehrtgemacht und kämpfte sich durch die Masse der Leiber zu der Stelle, wo Strybjörn zu Boden gegangen war. Plötzlich tauchte Strybjörn aus dem Meer stinkender Leiber auf und kam schwankend auf die Beine. Seine Rüstung war geborsten, und die Maschinerie war zu sehen. Auf einer Gesichtshälfte hatte sich die Haut abgeschält, und Zähne und Kieferknochen lagen bloß. Ein Arm hing schlaff und blutig herab, aber er kämpfte dennoch weiter und tötete mit seinem blitzenden Kettenschwert einen Gegner nach dem anderen. Wenn schon nichts anderes, so war Strybjörn doch zumindest ein großer Krieger, dachte Ragnar, der seine Lähmung überwand und sich wieder ins Getümmel stürzte, um sich zu Sven und Strybjörn durchzukämpfen. Augenblicke später hatte er einen Weg freigeräumt, und dann hatten er und die anderen Blutkrallen sich von den Nachtgängern gelöst. Er packte den schwankenden Strybjörn am Arm und stützte ihn, während sie weitereilten. Sven und Nils rief er zu: »Granaten!« Sven grinste boshaft und begann damit, Granate um Granate in das Gedränge der Nachtgänger zu werfen. Augenblicke später folgte Nils seinem Beispiel. Die Höhlen hallten von Detonationen wider, und die Blitze erleuchteten sie wie ein Gewitter die Nacht. All das war zu viel für die Nachtgänger. Seit dem Tod ihres Schamanen führerlos, machten sie kehrt und zogen sich in Richtung des Abgrunds zurück. Der Druck der Leiber und ihre schiere Masse riss sie in den Abgrund. Ragnar konnte ihre Schreie hören, als sie in die ewige
Dunkelheit fielen. Rasch holte er die Erste-Hilfe-Ausrüstung aus seinem Gürtel. Ragnar musste schnell handeln, wenn er Strybjörns Leben retten wollte. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis die Chaos Marines sich an ihre Fersen hefteten. Als er aufschaute, sah er Sven vor sich stehen. Seine Rüstung war mit geronnenem Blut und Hirnmasse verschmiert. »Guter Kampf«, grunzte Sven. Ragnar sah ihn an und nickte, während er sich fragte, wie lange es wohl noch dauern würde, bis die Chaos Marines über sie herfielen. Es war unbedingt erforderlich, dem Orden ihren Fund zu melden, aber er wusste auch, dass er Strybjörn nicht seinem Schicksal überlassen würde. Ihm fiel wieder ein, was ihm die alten Zauberer hinter Morkais Tor über seinen Hass gesagt hatten: dass er eine Schwäche sei, die dem Bösen einen Zugang zu seiner Seele geben würde. Er wusste jetzt, dass sie Recht hatten und es nur einen Weg für ihn gab, wie er sich dieses Hasses entledigen konnte. Rasch gelangte er zu einer Entscheidung, und er ließ ein kurzes Stoßgebet folgen, es möge die richtige sein. »Sven, nimm Lars und Nils und verschwinde. Schlagt euch zur Oberfläche durch. Legt so viel Abstand zwischen euch und diese verfluchten Höhlen, wie nötig ist, damit die Funkgeräte wieder funktionieren, und verständigt den Orden.« Statt zu antworten griff sich Sven an den Helm und öffnete die Verschlüsse. Der Helm fiel mit dumpfem Knall auf den nassen Sand und enthüllte das grimmige Gesicht des Space Wolfs, das wutverzerrt war und im flackernden Licht von Ragnars Schulterlampe wie das eines Dämons aussah. »Sollen wir dich und Strybjörn hier zurücklassen, damit ihr die Kämpfe und den Ruhm für euch allein habt?« Sven schüttelte heftig den Kopf. »Bist du wahnsinnig oder hältst du mich dafür?« Trotz der aussichtslosen Situation, in der sie sich befanden, konnte sich Ragnar ein Lächeln nicht verkneifen. Er legte Sven
seine gepanzerte Hand auf die Schulter. »Setz deinen Helm auf und geh jetzt, du Idiot, sonst beiße ich dir die Kehle durch. Siehst du denn nicht, dass es viel wichtiger ist, dass die Space Wolves erfahren, was hier geschieht, als dass du den Heldentod stirbst?« »Das sagst du! Ich sehe aber, dass du bleibst.« Sven funkelte Ragnar mit Augen an, die sich zu winzigen Schlitzen verengt hatten, und seine Stimme war ein bedrohliches Flüstern. »Strybjörn hat mir das Leben gerettet, daher werde ich ihn nicht allein zurücklassen.« »Du gehst! Ich bleibe!« Svens Augen leuchteten im Schlachtfieber, und er betastete nervös die Zähne seines Kettenschwerts. Ragnar verlor die Geduld mit Svens Halsstarrigkeit. »Ich sag's dir nicht noch mal!«, brüllte er. »Geh jetzt, oder ich bringe dich eigenhändig um.« Ihre Blicke trafen sich. Sie bleckten die Zähne. Der Gestank nach Wut und Streit lag in der Luft. Ragnar spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Einen Augenblick später spürte Sven instinktiv Ragnars Entschlossenheit und er wich zurück wie ein Wolf vor dem Rudelführer. »Also gut«, lenkte er ein, indem er seinen Helm aufhob und blutbefleckte Sandkörner vom Visier abwischte. »Ich gehe. Aber beim nächsten Mal bleibe ich mit den Verwundeten zurück.« Ragnar grinste ihn an. »Das ist nur fair«, sagte er. Sven sah kurz weg, dann bellte er Nils und Lars Befehle zu. »Also, ihr zwei, ihr habt den Helden gehört. Auf geht's. Und ich will keinen Widerspruch hören, sonst reiße ich euch das Herz heraus und verspeise es vor euren Augen.« »Immer denkt er ans Essen«, murmelte Nils. Im Vorbeigehen grüßte er Ragnar mit erhobenem Daumen.
»Wir sehen uns wieder«, sagte Lars. »Ich weiß es.« »Ich bete zu Russ, dass du Recht hast«, sagte Ragnar und sah dann zu, wie das Trio in der Dunkelheit der Tunnels verschwand. *** Ragnar nahm einen Kanister mit Kunstgewebe und sprühte es auf Strybjörns Gesicht. Das Gewebe verband sich sofort mit der Haut und bedeckte die bloßen Knochen und Zähne. Es sah nicht hübsch aus, aber wenigstens würde das Gewebe die Wunde sauber und steril halten. Nachdem er die gerissenen Energieleitungen geflickt hatte, stopfte er mit dem Reparaturzement ebenso rasch die Risse und Sprünge in Strybjörns Rüstung. Schließlich, nach einem letzten Blick, um sich zu vergewissern, dass alles einigermaßen gerichtet war, injizierte er der verwundeten Blutkralle ein starkes Aufputschmittel. Strybjörn öffnete die Augen und stieß ein schmerzerfülltes Heulen aus. »Du bist immer noch da, Donnerfaust. Das überrascht mich.« Seine Stimme klang heiser und kam stoßweise und ließ die Schmerzen erahnen, die seine Wunden ihm bereiten mussten. »Du hast mir das Leben gerettet. Ich zahle meine Schulden.« »Ich brauche deine Hilfe nicht«, zischte Strybjörn zähneknirschend und versuchte aufzustehen. Er schaffte es, sich auf die Knie zu erheben, geriet dann aber ins Wanken. Ragnar stützte ihn, indem er Strybjörn die Hand unter den linken Arm legte. Sein Kettenschwert war gehalftert, und er hielt die Bolzenpistole in der Linken. Blut lief in dünnen Rinnsalen durch die Risse in Strybjörns Rüstung und färbte Ragnars Arm rot.
»Wir machen uns besser auf den Weg. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Nachtgänger neuen Mut schöpfen oder die Chaos Marines ihnen dabei helfen.« Trotz seiner Schmerzen gelang es Strybjörn, nachdenklich dreinzuschauen. »Ich frage mich, wie es Hengist und den anderen ergeht.« Ragnar lauschte einen Moment. Er konnte keine Kampfgeräusche aus der Ferne hören. Allem Anschein nach war Hengist mit dem Rest des Rudels getötet worden oder, schlimmer, in Gefangenschaft geraten. Ragnar hoffte, dass die eingestürzte Brücke die Chaos Marines noch eine Weile aufhalten würde, aber irgendwie war ihm klar, dass dies für die Verfolger kein unüberwindliches Hindernis sein würde. Strybjörn stützte sich auf Ragnar, als sie sich auf den langen Weg durch die Dunkelheit der Tunnels machten. *** Ragnar versuchte den Weg einzuschlagen, auf dem sie in den Chaos-Tempel gelangt waren, was nicht leicht war. Er nahm hier und da Witterungsspuren der Space-Wolves war, die jedoch so stark vom stechenden Gestank der Nachtgänger überlagert waren, dass es kaum noch möglich war, seine Brüder zu wittern. Ragnar erkannte jetzt, dass man sie in eine Falle gelockt hatte. Man hatte ihnen gestattet, immer tiefer in den Berg einzudringen, während sich ringsherum eine riesige Streitmacht von Nachtgängern sammelte. Der Tempel war ihnen offen gestanden, und sie waren hineinmarschiert wie lebendige Opfer für den Großen Mutator. Es war kein erhebender Gedanke. Ragnars Schulterlampe sondierte die Finsternis voraus. Er bückte sich und sah frische Anzeichen dafür, dass Sven und die anderen hier entlang gekommen waren. Zumindest das war
ermutigend. Ein Ächzen hinter ihm verriet ihm, dass Strybjörn in keiner guten Verfassung war. Als er sich umdrehte, sah er, dass der Grimmschädel blass war und seine Haut eine gelbliche Färbung annahm, die Ragnar in seinem früheren Leben auf den Inseln mit dem Tod zu verbinden gelernt hatte. Er hoffte nur, dass Strybjörns übermenschliche Kraft den Ausschlag geben und ihn durchbringen würde. Ragnar fragte sich, wie er herausfinden konnte, was mit dem Grimmschädel nicht stimmte. Vielleicht hatte er innere Verletzungen erlitten, die zu behandeln er weder die Fähigkeit noch die Mittel besaß. Ihm war klar, dass dies nur allzu gut möglich war. Oft waren es nicht die offensichtlichen Wunden, die einen Krieger umbrachten. Als Junge hatte Ragnar Geschichten über Männer gehört, die scheinbar einen leichten Treffer an den Kopf bekommen und danach die Schlacht durchgekämpft hatten, um dann im Augenblick des Sieges tot umzufallen. Vielleicht drohte Strybjörn ein ähnliches Schicksal. »Geh ohne mich weiter, Donnerfaust«, sagte Strybjörn. Die Worte klangen seltsam aus seinem verstümmelten Kiefer. »Ich warte hier. Wenn Verfolger kommen, halte ich sie auf.« »Du kommst mit mir, Grimmschädel, und wenn ich dich bewusstlos schlagen und tragen muss. Du bist bis hierher gekommen. Sei Manns genug, den ganzen Weg zu gehen.« Ihre Blicke trafen sich. Wie bei Sven spürte er Widerstand, und wie bei Sven überwand er ihn. Er hatte das Gefühl, dass Strybjörn im Vollbesitz seiner Kräfte nicht gehorcht hätte, aber in seinem geschwächten Zustand brachte er nicht die Willenskraft auf, Ragnar zu trotzen. »Du gewinnst«, sagte er. »Weiter.« Die Motoren in Strybjörns Rüstung keuchten asthmatisch, als er sich wieder in Bewegung setzte, und aus seinem Rucksack spien geborstene Leitungen Dampf aus, aber der Grimmschädel hinkte weiter den Tunnel entlang.
Ragnar konnte gar nicht übersehen, dass Strybjörn sich kaum noch auf den Beinen hielt.
*** Ragnar stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er erkannte diesen Ort wieder. Es war der große unterirdische See. Er hätte sich nie träumen lassen, dass er einmal so froh sein würde, dessen widerliches Wasser wiederzusehen, aber jetzt war er es zweifellos. Der Anblick der See rings um seine Heimatinsel hätte ihn in diesem Augenblick nicht glücklicher gemacht. Wie trostlos und abscheulich dieser Ort auch sein mochte, er war ein Orientierungspunkt und vermittelte Ragnar das Wissen, dass er auf dem richtigen Weg war. In den letzten Stunden hatte er oft das Gefühl gehabt, sich verirrt zu haben. Auf dem Weg zurück an die Oberfläche sahen die Tunnel ganz anders aus. Ragnar begriff durchaus den Grund dafür. Es lag einfach daran, dass er jetzt in die entgegengesetzte Richtung marschierte und die Gänge und Höhlen aus einem anderen Blickwinkel sah als noch vor wenigen Stunden. Hinzu kam, dass er müde war. All diese Dinge hatten sich verschworen, um seine Wahrnehmung zu verändern und diesen Ort in etwas Unbekanntes, Bedrohliches und Feindseliges zu verwandeln. Er schüttelte den Kopf und machte sich klar, dass die Tunnel all das tatsächlich waren. »Ist das der See der Toten?«, fragte Strybjörn, dessen Stimme ein blubberndes Flüstern war. Ragnar erkannte, dass sein Wolfbruder halluzinierte. »Sind wir endlich da?« »Nein«, sagte Ragnar. »Das ist er nicht. Es ist nur der widerliche, vom Chaos verunreinigte See, in den Sven auf dem Hinweg gespuckt hat.« Ragnar versuchte zu lächeln, doch ihm gelang nur eine Grimasse.
»Du bist es, Donnerfaust. Damals habe ich dich getötet und du mich, und wir sind zusammen zur Hölle gefahren.« Ragnar schauderte. Einen Moment lang schien diese Möglichkeit durchaus gegeben zu sein. Ihm schwindelte bei der Vorstellung. Vielleicht hatte Strybjörn Recht. Vielleicht lagen ihre Leichen in den Ruinen des Donnerfaust-Dorfs. Vielleicht war der Flug nach Russvik und die Aufnahme in die Reihen der Wölfe nur eine Halluzination, eine letzte TraumPhantasie, die sich sein schmerzgepeinigtes Hirn in den letzten Augenblicken seines Lebens ausgedacht hatte. Vielleicht waren sie jetzt wirklich tot. Da sie sich gegenseitig erschlagen hatten, waren sie vielleicht gemeinsam zur Hölle gefahren. Ragnar klammerte sich an den letzten Rest seiner geistigen Gesundheit. Er atmete die widerliche Luft tief ein und roch abgestandenes Wasser, Schimmel und Pilze. Er sah die Blutspuren, wo die Leichen der von ihnen erschlagenen Nachtgänger verschleppt worden waren, vermutlich um verspeist zu werden. Er spürte das kühle Ceramit der Handschuhe, die seine Finger umhüllten, und den Kolben der Bolzenpistole in der Hand. Er begutachtete die Umgebung mit Sinnen, die schärfer waren als diejenigen eines sterblichen Menschen. Nein, sagte er sich. Ich bin nicht tot. Ebenso wenig wie Strybjörn. Jedenfalls noch nicht. Wir sind Space Wolves, von Russ erwählt, und wir werden nicht aufgeben. Er machte eine weitere Phiole des schmerzstillenden Mittels in seiner Erste-Hilfe-Ausrüstung bereit und drückte sie auf das Induktionsventil in Strybjörns Rüstung. Mit einem Zischen leerte sich die Phiole, und die Chemikalie drang in Strybjörns Blutkreislauf ein. Der Grimmschädel stieß ein langgezogenes Ächzen aus, schüttelte den Kopf und sah sich um. Seine riesigen Augen waren schmerzerfüllt, aber nicht mehr ganz so fiebrig.
»Gehen wir weiter«, sagte er. Ragnar nickte zustimmend. In der Ferne glaubte er die Geräusche von Verfolgern zu hören. *** »Was war das?«, fragte Strybjörn. Ragnar war überrascht, dass der Grimmschädel überhaupt noch etwas hörte. In der letzten Stunde war er immer schwächer geworden und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. »Nichts«, log Ragnar. Es war das Geräusch metallverkleideter Füße, die sich hinter ihnen durch den Tunnel bewegten. Die Echos hallten rauh. Es war schwierig, die Entfernung zu schätzen, aber Ragnar konnte nicht glauben, dass sie groß war. Wer ihnen auch folgte, er war sehr zuversichtlich, da er sich keine Mühe gab, seine Annäherung zu verheimlichen. Und er näherte sich schnell. Ragnar fluchte. Ihm ging auf, dass sie sich in der langen Galerie befanden, wo er zur Decke geklettert und sich die uralten Träger angesehen hatte. Ragnar kam es so vor, als seien seitdem Tage oder Wochen verstrichen. Die Oberfläche war jetzt nicht mehr weit entfernt, wenn er sich recht erinnerte. Sie hatten es fast geschafft. Fast. Immerhin, tröstete er sich, schienen Sven, Lars und Nils entkommen zu sein. Er hatte unterwegs keinerlei Anzeichen dafür entdeckt, dass ihnen etwas zugestoßen war. Mittlerweile mussten sie die Oberfläche erreicht haben, dachte Ragnar. Vielleicht hatten sie sogar schon die Interferenzzone verlassen und Hilfe herbeigerufen. Sie mussten den langen Anstieg aus dem dunklen Herzen des Berges an die Oberfläche viel schneller als er bewältigt haben, weil sie nicht mit der Bürde des verwundeten Strybjörn belastet waren. »Gehen wir weiter«, sagte Ragnar. »Jetzt ist es nicht mehr weit.«
Strybjörn nickte und hinkte weiter. Sie hatten die Galerie beinahe durchquert, als Ragnar eine vertraute melodiöse, doch finstere Stimme in seinem Rücken hörte. »Wohin gehst du, Welpe? Dreh dich bitte um. Ich will dich ansehen, denn ich schieße niemandem gern in den Rücken.« Ragnar erkannte die Stimme. Sie gehörte dem Chaos Marine, der Sergeant Hengist verspottet hatte. Langsam drehte er sich um, während er Strybjörn zu Boden gleiten ließ und sich dann an den Gürtel griff, um sein Kettenschwert zu ziehen. Ragnar zuckte fast zusammen, als er seinen Feind sah. Er hatte eigentlich damit gerechnet, einen ganzen Trupp der gefürchteten Chaos Marines und eine Horde Nachtgänger zu sehen. Er konnte jedoch lediglich eine einsame Gestalt ausmachen. »Madok!«, spie er den Namen förmlich aus. Ragnar nahm zur Kenntnis, dass einige der Icons auf der Rüstung des Chaos Marine leuchteten, zweifellos unter dem Einfluss chaotischer Energien. Ragnars Nackenhaare sträubten sich. Was ging hier vor? Wurde gerade ein Chaos-Zauber gewirkt? »Du erinnerst dich. Ich bin geschmeichelt. Aber das ist gut so. Wenn deine Seele in der Hölle ankommt, kannst du wenigstens jedem erzählen, wer dich getötet hat.« Die Worte hallten durch die klamme Kaverne. »Noch bin ich nicht tot.« »Glaub mir, es ist nur eine Frage von Augenblicken, bis ich das ändere.« »Wo sind deine Brüder? Alle tot?« »Nein. Sie jagen die wenigen Überlebenden deiner kleinen Gruppe, die wie Feiglinge vom Schlachtfeld geflohen sind.« »Ich glaube dir nicht.« Ragnar spürte, wie die Bestie in ihm ob der Beleidigung wütend fauchte und weiter in den
Vordergrund trat. »Was du glaubst oder nicht glaubst, ist unerheblich.« Wieder vermeinte Ragnar einen Anflug von Langeweile aus der Stimme des Chaos-Anhängers herauszuhören. »Warum erzählst du mir dann all das, Abschaum?« Der gerüstete Zauberer seufzte, als staune er über die Unwissenheit des Welpen vor sich. »Weil es lange her ist, dass ich das Vergnügen hatte, einen deiner Art aus der Nähe zu verspotten. Und ich habe die Absicht, es zu genießen. Es ist eine winzige Facette der Rache für die Verbrennung Prospères, aber in diesen Tagen hole ich mir mein Vergnügen, wo ich kann.« »Dann bist du also einer der Tausend Söhne.« Ragnar wusste jetzt, dass Madok einer der ältesten und gefürchtetsten Feinde seines Ordens war, teuflischer Magier ebenso wie furchtbarer Krieger. Die Space Wolves hatten die Heimatwelt der Tausend Söhne, Prospero, im Anschluss an Horus' Rebellion vor Tausenden von Jahren verbrannt. Die verräterischen Marines hatten ihnen das nie vergessen. Seitdem hatten sie mehrfach Fenris angegriffen, anscheinend in der Absicht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Ragnar fragte sich, ob Madoks Anwesenheit auf eine Neuauflage dieses Plans schließen ließ. Natürlich, dachte er, das musste es sein. Darum war es so wichtig, dass jemand entkam, um die Space Wolves zu warnen. Der Gedanke daran, dass Sven die Nachricht übermitteln und die Vergeltung nicht lange auf sich warten lassen würde, erfüllte Ragnar mit Trost und Zuversicht. »Bravo. Dann lehren die Idioten im Fang also immer noch einige Aspekte der alten Wahrheiten.« »Sie haben mich genug über deine verräterische Brut gelehrt, um einen unrettbar verlorenen Feind der Menschheit zu erkennen, wenn ich einen sehe.« Zu Ragnars Überraschung lachte Madok. Seine spöttische
Stimme bekam einen belehrenden Unterton. »Sie haben dich gar nichts gelehrt. Nicht wir haben euren Orden angegriffen. Ihr habt heimtückisch unsere Heimat angegriffen.« »Nachdem ihr eurer Pflicht der Menschheit und dem Kaiser gegenüber abgeschworen hattet.« Madok schüttelte den Kopf. »So viel Gewissheit. So wenig Wissen. Nicht wir haben dem Kaiser abgeschworen. Er hat uns im Stich gelassen. Er hat seine Wölfe geschickt, um uns anzugreifen, nur weil ihm der Weg nicht gefiel, den unser Primarch, der verehrte Magnus, entdeckt hatte: den Weg zu Wissen und grenzenloser Macht.« »Grenzenlosem Bösen, meinst du.« Madok schüttelte bekümmert den Kopf. »Es heißt völlig zu Recht, dass es sinnlos ist, mit jenen zu streiten, die ihren Geist verschließen. Und kein Orden hatte je verschlossenere und uneinsichtigere Geister als die Space Wolves. Ich weiß nicht, warum ich meine Zeit mit dem Versuch vergeudet habe, dich aufzuklären.« Das fragte sich auch Ragnar. Wartete der Chaos Marine auf etwas? Vielleicht hoffte er, dass seine Kameraden eintreffen und ihm dabei helfen würden, Ragnar gefangen zu nehmen. In diesem Augenblick war Ragnar das völlig egal. Jede Minute, die er Madok aufhielt, war eine Minute mehr für Sven, um die Brüder im Fang zu verständigen. »Wir mögen uneinsichtig sein, aber wir halten unsere Eide«, knurrte Ragnar. »Jedenfalls seid ihr beharrlich in eurer Dummheit.« Ragnar fragte sich, was Madok meinte. Ihm fiel jetzt langsam etwas auf, ein Zauber, der an seinen Sinnen zupfte und ihn zwang, dem zu lauschen, was der Chaos Marine zu sagen hatte. Handelte es sich um einen subtilen Zauber, der ihn empfänglich für die Ketzerei machen sollte?
Er kam zu dem Schluss, dass er besser etwas unternehmen sollte. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab zu handeln. Sein Verstand fühlte sich an, als habe er sich in einem Netz verstrickt. Leuchteten die funkelnden Juwelen auf Madoks Rüstung jetzt heller? Waren sie der Grund für seine Vorsicht? Während er den Kopf schüttelte, um klare Gedanken fassen zu können, fragte Ragnar den Chaos Marine: »Wie seid ihr nach Fenris gekommen?« »Wir haben die Gebete derjenigen erhört, die den Großen Mutator anbeten. Wir sind unter dem Schutz des Meteoritenregens gelandet, den deine kindischen Brüder untersuchen wollten. Wir kamen, weil wir von denen gerufen wurden, die uns verehren. Der Tempel im Berg ist von einem meiner Brüder geweiht worden, der nach unserem letzten Angriff auf den Fang auf dieser Welt geblieben ist. Er hat diese Mutanten den wahren Glauben gelehrt. Er hat sie vom Irrtum erlöst und in die Freiheit geführt.« Ragnar nickte. Das letzte Mosaiksteinchen war an Ort und Stelle. Er zwang seinen Arm, sich zu bewegen, sich gegen den Zauber zu wehren, mit dem Madok ihn belegt hatte. Langsam, als kämpfe er gegen eine schwere Last an, hob er seine Bolzenpistole, bis sie fast direkt auf den Chaos Marine zielte. Als habe Ragnar den Bann gebrochen, erlosch das Leuchten der Juwelen auf der Rüstung des Chaos Marine. »Du hast einen stärkeren Willen, als ich dachte, Welpe«, sagte Madok, dessen Tonfall vor Spott und Hass troff. »Ich glaube, jetzt muss ich dich doch töten. Ein Jammer. Es wäre erfreulicher gewesen, wenn du bereitwillig zu Tzeentchs Altar marschiert wärst und dich selbst dem Großen Mutator angeboten hättest. Aber wir können wohl nicht alles haben.« So schnell, dass die Bewegungen verschwammen, riss Madok seine Waffe hoch und schoss. Ragnars träge Reflexe waren ihm hoffnungslos unterlegen. Bevor er auch nur reagieren konnte, wurde ihm die Pistole aus der Hand gerissen.
Es war ein Meisterschuss. Nun, da Ragnar wusste, dass er nur noch eine Chance hatte, hob er sein Kettenschwert und stürmte Madok entgegen. Der Lauf von Madoks Bolzenpistole blieb ständig auf ihn gerichtet. Die Mündung sah so groß aus wie der Eingang zu einer Höhle. Ragnars verschärfte Sinne sahen, dass der Lauf der Waffe tatsächlich wie ein Dämonenkopf geformt war, dessen Mund Kugeln spie. Im gleichen Augenblick wusste er, dass er sterben würde. Auf diese Entfernung konnte ihn ein Krieger wie Madok gar nicht verfehlen. Er zuckte zusammen, als er den Knall eines Schusses hörte, bevor ihm klar wurde, dass er unglaublicherweise nicht getroffen war. Vielmehr sah er, dass ein großes Stück aus der Rüstung des Chaos Marine gebrochen war und der Zauberer rückwärts taumelte. Strybjörn, grinste Ragnar innerlich. Der Grimmschädel musste irgendwie wieder zu sich gekommen sein und geschossen haben. Madok taumelte rückwärts, fand das Gleichgewicht jedoch sofort wieder und gab fast beiläufig einen Schuss auf Strybjörn ab. Das Kreischen nachgebender Rüstung und ein schmerzerfülltes Ächzen verrieten Ragnar, dass die Patrone ihr Ziel getroffen hatte. Dennoch hatte der Grimmschädel ihm eine Chance verschafft, und Ragnar hatte die Absicht, sie zu nutzen. Im Laufen schüttelte er die Reste der durch den Zauber hervorgerufenen Lethargie ab, und er wusste, dass er wieder er selbst war: ein Space Wolf im Schlachtfieber. Mit einem lauten Kriegsruf schwang er sein Kettenschwert in weitem Bogen in der Absicht, die Klinge sauber durch den Ketzer zu ziehen. Madok fuhr verzweifelt herum und versuchte seine Bolzenpistole auf ihn anzulegen. Beinahe hätte er es auch geschafft, aber ihm gelang lediglich, die Waffe zwischen sich und Ragnars Schwert zu bringen. Das Kreischen von Metall auf Metall ertönte. Funken sprühten, als die beiden Waffen aufeinander trafen. Dann schnitt das Kettenschwert sauber durch die Pistole des Chaos
Marine. Immerhin verschaffte die Verzögerung Madok die Zeit, die Pistole fallen zu lassen und zurückzuweichen. Der Zauberer streckte die Hand aus und beschrieb eine Geste des Greifens. Aus der Scheide an seinem Gürtel glitt ein Runenschwert und sprang in seine Hand. Die Klinge war schwarz. Auf ihrer gesamten Länge leuchteten rote Runen vor aufgestauter Energie. Ragnar wusste augenblicklich, dass jeder Treffer dieser Klinge tödlich sein würde. Er schlug beidhändig zu, um mehr Wucht in den Hieb zu legen. Madoks Dämonenschwert hob sich zur Parade. Klinge traf mit einem Klirren auf Klinge, als schlage ein Hammer auf einen Amboss. Madok schlug zurück. Ragnar wich mit einem Sprung aus und versuchte es mit einem Gegenschlag. Wiederum parierte Madok mühelos. Sie umkreisten einander, wachsam und mit stoßbereiter Waffe. Ragnars Haare sträubten sich, als Madoks Klinge plötzlich ein leises, unheimliches Stöhnen aussandte. Die Klinge war auf irgendeine Weise lebendig und zu bewusstem Denken fähig, spürte Ragnar. »Stimmt genau«, schnurrte Madik, der die Richtung ahnte, die Ragnars Gedanken nahmen. »Diese Dämonenwaffe wird deine Seele verzehren, wenn sie dein Blut trinkt. Sie ist durstig, musst du wissen.« »Zuerst muss sie mich treffen«, sagte Ragnar. Ein leises Knurren drang aus seiner Kehle, und er hieb nach dem Chaos Marine. Madok duckte sich und parierte blitzschnell. »Ich glaube nicht, dass das ein Problem wird«, sagte er, indem er einen Wirbel von Hieben entfachte. Ragnar bemühte sich verzweifelt, ihnen zu entgehen. Er parierte, duckte sich, sprang gerade noch zur Seite. Schnelligkeit und Kraft des Chaos Marine waren unglaublich. Ragnar kannte seine eigene Stärke, aber verglichen mit Madok hätte er ebenso gut ein Kind sein können. Und warum auch nicht, dachte Ragnar, während er mit Mühe
den nächsten wuchtigen Hieb ablenkte. Der Schock des Aufpralls ließ seinen Arm taub werden. Verglichen mit dem Chaos Marine war er tatsächlich nur ein Kind. Madok hatte Jahrtausende der Erfahrung und dazu alles, womit die Mächte des Chaos aufwarten konnten. Sich auf einen Kampf mit diesem Mann einzulassen war mehr als Wahnsinn, es war schiere Dummheit. Es war vollkommen unmöglich, solch einen Feind zu bezwingen. Ragnar hatte das Gefühl, ebenso gut aufgeben zu können. Am Ende würde es weniger schmerzhaft sein. Wieder ging Ragnar auf, dass diese Gedanken von außen kamen, dass er dem Einfluss einer äußeren Macht unterworfen wurde. Das jammervolle Klagelied des Runenschwerts beeinflusste ihn. Die Wirkung war subtil und niederschmetternd. Ihr höllisches Kreischen beraubte Ragnars Arm und Willen seiner Kraft. Wiederum wappnete er sich und schüttelte den Bann ab, um dann Madoks nächsten Hieb zu parieren und selbst die Initiative zu ergreifen und zu einem Hagel von Schlägen anzusetzen, der den Chaos Marine Schritt für Schritt zurückdrängte, bis Ragnar sämtlichen Boden zurückgewonnen hatte, den er bei Madoks Angriff hatte preisgeben müssen. Er spürte den Grimm des Chaos Marine ob dieses unerwarteten Widerstands. Seine Lippen verzogen sich zu einem wölfischen Grinsen, als er einen neuerlichen Hieb niedersausen ließ. Dieser durchstieß Madoks Deckung und rasierte einen der grinsenden Dämonenschädel von dessen Rüstung. Für einen kurzen Moment glaubte Ragnar bereits, er habe den Mann getroffen, aber dann sah er, dass rotglühendes flüssiges Metall aus der getroffenen Stelle floss. Es blubberte wie Lava und verflüchtigte sich dann zu einer silbrigen Giftwolke. Ragnar wich hastig zurück, da er instinktiv wusste, dass das Einatmen dieser üblen Dämpfe seinen Tod zur Folge haben würde. Nicht einmal die übermenschlichen Fähigkeiten
seines Körpers würden ihn vor der Zauberkraft dieses ChaosGifts retten. »Ein guter Hieb«, sagte Madok zynisch. Völlig unerwartet trat er mit dem Fuß zu. Er traf Ragnar im Schritt, und dieser spürte, wie der Schutz seiner Rüstung unter der Wucht des Tritts nachgab. Der Tritt schleuderte ihn durch die Luft, bis er kopfüber gegen die Wand prallte und neben der reglosen Gestalt Strybjörns zu liegen kam. Er fühlte sich kaum in der Lage, sich wieder zu erheben, und schüttelte den Kopf in dem verzweifelten Bemühen, wieder zu Sinnen zu kommen. Inzwischen hatte Madok die Entfernung zwischen ihnen mit erschreckender Schnelligkeit überbrückt. Sein heulendes Runenschwert war hoch erhoben und zum tödlichen Hieb bereit. In diesem Augenblick spürte Ragnar, wie ihn eine geradezu betäubende Schwäche überkam. Er wusste, dass er nicht mehr die Kraft hatte, den tödlichen Hieb abzuwenden, und dass sein Leben vorbei war. Ragnar konnte nur noch zusehen, wie der Chaos Marine immer näher kam. Die leuchtenden Runen und das klagende Lied der Klinge faszinierten ihn. Er wusste, dass er in wenigen Augenblicken ihren kühlen Biss spüren würde, und wenn es stimmte, was der Ketzer gesagt hatte, würde ihm die Seele aus dem noch lebenden Leib gesogen. Als Madok an Strybjörns verstümmelter Gestalt vorbeiging, öffneten sich die Augen des Grimmschädels. Mit einem Keuchen äußerster Willensanstrengung bewegte er seinen unverletzten Arm, umklammerte mit letzter Kraft den Knöchel des Chaos Marine und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Madok hatte nicht mehr mit einem Angriff aus dieser Richtung gerechnet, und er stolperte und fiel. Ragnar hob instinktiv sein Schwert, um sich vor dem stürzenden Krieger zu schützen. Das Kreischen von Metall auf Metall war zu hören, als die rotierenden Sägezähne auf die Rüstung trafen. Funken stoben, als sie durch das Höllenmetall schnitten. Ragnar hatte gerade
noch Zeit, sich zur Seite zu wälzen, als das giftige Gas ausströmte, und dann fiel Madok zu Boden und trieb sich die surrenden Klingen noch tiefer in seine Brust, bis sie auf dem Rücken wieder austraten. Ein brodelnder Geyser aus üblem Qualm strömte zur Decke und verteilte sich langsam, während Ragnars Sinne von einem langgezogenen Klagen aus Äonen der Verzweiflung bestürmt wurden. Madoks Helm löste sich von der Brustplatte seiner Rüstung, und Ragnar sah, dass er leer war, als sei er von niemandem getragen worden. Vielleicht war das sogar der Fall, dachte er. Vielleicht existierte der Körper des Chaos Marine schon lange nicht mehr, und die Rüstung wurde nur noch von einem üblen Rückstand oder der bösen Essenz seiner verruchten Seele animiert. Ragnar erhob sich und blieb einen Moment schwer atmend stehen. Sein Körper wurde von starken Schmerzen geschüttelt. In diesem Augenblick empfand er keinerlei Triumph, obwohl er eigentlich allen Grund dazu hatte. Mit Strybjörns Hilfe hatte er einen der mächtigsten Feinde überwunden, mit dem ein Space Marine es zu tun bekommen konnte. Wider alle Wahrscheinlichkeit hatten sie gewonnen. Ja, dachte Ragnar, aber mit mehr Glück als Verstand. Mit Glück und weil der Feind seiner Sache zu sicher gewesen war. Unter den gegebenen Umständen war Ragnar jedoch über den Sieg glücklich, ganz gleich, wie er zustande gekommen war. Mehr konnte man nicht erwarten. Ragnar zog sein Schwert aus der reglosen Gestalt seines Feindes. Er hob Strybjörns auf dem Boden liegende Pistole auf und schob sie in sein Halfter. Er bückte sich und hievte sich den Grimmschädel über die Schulter, dann atmete er tief durch und setzte sich langsam in Richtung Oberfläche in Bewegung. Seine beschädigte Rüstung knirschte und ächzte unter dem Druck, und Ragnar nahm sich vor, dem Rüstmeister persönlich dafür zu danken, dass er die uralte Rüstung so sorgfältig
gepflegt hatte. Bei seinem ersten richtigen Einsatz hatte sie ihm gute Dienste geleistet. Ragnar grinste, als er an die schwere Last auf seiner Schulter dachte. Heute verdanke ich dir drei Mal mein Leben, Strybjörn, dachte er. Und diese Schuld werde ich begleichen, und wenn es mich umbringt. Aber, ging ihm auf, das war nur möglich, wenn sie es beide lebend an die Oberfläche schafften. Den Mund zu einer Grimasse der Entschlossenheit verzogen, schritt Ragnar den Tunnel entlang. Er hoffte, dass es nicht mehr weit war. *** Die kühle Nachtluft schlug Ragnar entgegen, als er aus dem Höhleneingang trat, und mit ihr kam ein seltsam chemischer Geruch nach Öl und Benzin. Sein schmerzgepeinigter Verstand brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass er es an die Oberfläche geschafft hatte. Er brauchte einen weiteren Moment, bis ihm klar wurde, dass in dem gesamten Gebiet um den Höhleneingang das Laub entfernt worden war. Und schließlich dauerte es einen weiteren Sekundenbruchteil, bis er registrierte, dass die Mündungen von einem halben Hundert Waffen auf ihn gerichtet waren. Seine Nüstern blähten sich, und er witterte seine Ordensbrüder. Viele. »Ich bin es, Ragnar«, sagte er, um ihnen zu verstehen zu geben, dass er kein Feind war. Er war zwar sicher, dass sie ihn bereits erkannt hatten, aber unter den gegebenen Umständen war äußerste Vorsicht geboten. Es wäre ein alberner, sinnloser Tod, den langen gefährlichen Weg durch diesen Dämonenberg überlebt zu haben, um dann von seinen eigenen Schlachtbrüdern niedergemäht zu werden. Scheinwerferstrahlen fielen auf Ragnar und tauchten ihn in grelles Licht. Seine geweiteten Pupillen verengten sich
augenblicklich, um die Helligkeit zu kompensieren, aber er war dennoch für einen Moment geblendet. Eine Sekunde später spürte er die Berührung mächtiger Geister, die sorgfältig seine Gedanken sondierten, und er war sicher, die drei Alten zu spüren, die vor langer Zeit hinter Morkais Tor gewartet hatten. Diesmal öffnete sich Ragnar ihnen, da er sichergehen wollte, dass es keinerlei Missverständnisse gab. Geistige Finger zupften an seinen Gedanken, und er spürte, wie er erkannt und anerkannt wurde. »Es ist Bruder Ragnar mit Bruder Strybjörn«, sagte eine Stimme. »Und sie haben nicht den Makel des Chaos an sich. Russ sei gelobt.« »Tritt vor, Junge, und übergib Bruder Strybjörn der Obhut der Priester«, ertönte es aus der Dunkelheit. Ragnar erkannte Raneks Stimme. Die Scheinwerferstrahlen erloschen, und er konnte die Positionslichter und die geisterhaften Umrisse mehrerer Thunderhawks über sich ausmachen. Allem Anschein nach hatte der Orden die Nachricht erhalten und unverzüglich und mit aller Macht reagiert. Ragnar wusste, dass es ein Anzeichen dafür war, wie ernst diese Bedrohung genommen wurde. Ragnar mobilisierte seine allerletzten Kraftreserven und schritt seinen Schlachtbrüdern entgegen, wobei er sich zwang, trotz seiner Schmerzen, der beschädigten Rüstung und der schweren Last des Grimmschädels auf den Schultern aufrecht zu gehen. Mehrere Brüder eilten zu ihm, um ihm Strybjörn abzunehmen. Er sah, dass sie die Insignien der Heiler trugen. Einer von ihnen betrachtete ihn kurz und bedeutete ihm dann, ihm den Hang hinunter zu folgen. Nach ein paar Dutzend Schritten stand er im Eingang eines Feldlazaretts. Die Heiler hatten bereits ihre seltsamen Vorrichtungen mit Strybjörns Rüstung verbunden und begannen mit dem Skandieren ihrer arkanen Rituale. Ragnar sah, dass einer der Sanitäter auch an ihm Gerätschaften anschloss.
»Wie geht es Strybjörn?«, fragte er. »Wird er überleben? Er hat mir nämlich das Leben gerettet.« Die Worte klangen albern, kaum dass sie über seine Lippen gekommen waren, aber der Heiler lächelte nur. »Und du hast höchstwahrscheinlich seines gerettet, indem du ihn noch rechtzeitig hierher geschafft hast. Jetzt sei still. Ich muss mich um dich kümmern.« Die Worte waren zwar ein Befehl, aber freundlich und ohne Groll geäußert, also gehorchte Ragnar. Er hörte das Zischen der Luft, als Chemikalien in die entsprechenden Vorrichtungen seiner Rüstung gespritzt wurden, dann ein Klicken, als sich die Paneele seiner Brustplatte öffneten. Einen Augenblick später fühlte er sich entspannt. Er schüttelte den Kopf, da alles vor seinen Augen ein wenig zu verschwimmen schien, und dann sah er, dass Sven im Eingang des Zelts stand. »Also hast du es geschafft, Bruder«, sagte Sven. »Ich bin froh.« »Wie es scheint, habt ihr es auch geschafft und die Nachricht weitergeleitet.« »Ja, und wir haben Blut und Wasser geschwitzt. Ich dachte, wir würden nie aus der Interferenzzone herauskommen. Wir mussten sechs oder sieben Meilen zurücklegen, bevor ich über Funk Kontakt mit dem Fang aufnehmen konnte.« »Was ist dann passiert?« »Dann war die Hölle los. Fünf Minuten nachdem ich meine Botschaft durchgegeben hatte, sah ich die Feuerschweife der Thunderhawks in der Luft. Sie kamen im Tiefflug und schossen chemische Raketen in den Wald. Binnen zwei Minuten hatten sie den Wald im Umkreis von tausend Schritt rings um den Höhleneingang entlaubt. Wenige Sekunden nach dem Erlöschen der chemischen Feuer landeten die Thunderhawks und spien anscheinend jeden Wolf aus dem Fang aus. Sie sind alle hier - Ranek, die Bibliothekare, die
Eisenpriester. Es gibt eine große Monstermaschine, die sie Björn die Todeshand nennen. Sie sagen, er sei einer von den Alten und neben Russ marschiert. Alle Brüder aus den Meditationszellen sind hier und eine Menge Ausrüstung. Anscheinend haben wir in ein Hornissennest gestochen, und sie haben die Absicht, es ein für alle Mal auszuräuchern. Nils, Lars und ich sind erst vor ein paar Minuten zurückgekehrt. Ich dachte, ich komme vorbei und sehe nach, wie es dir geht, bevor wir in den Berg gehen.« »Du gehst wieder zurück?« »Versuch mal, mich daran zu hindern! Die ersten Gruppen sind bereits unterwegs. Sie legen Funkleitungen, spüren Fallen auf und vergewissern sich, dass es keine großangelegte Falle ist und uns der Berg auf den Kopf fällt, wenn wir alle unten sind. Die Thunderhawks suchen nach anderen Ausgängen. Sobald das Signal kommt, dass alles klar ist, gehen wir runter und räuchern den Chaos-Abschaum aus.« »Wir haben einen erledigt«, sagte Ragnar. »Strybjörn und ich. Wir haben den Anführer getötet. Madok.« »Das haben wir schon gehört. Die Bibliothekare haben die Nachricht verbreitet. Der ganze Orden redet darüber. Anscheinend ist es lange her, dass eine Blutkralle einen Kampf gegen einen Chaos-Meister wie Madok gewonnen hat. Du hast eine Heldentat vollbracht.« »Wir hatten Glück.« »Wenn ich die Wahl zwischen einem Anführer mit Weisheit und einem mit Glück hätte, würde ich immer den mit Glück nehmen«, sagte Sven. »Aber sag es nicht zu laut, sonst verdirbst du noch alles. Zum ersten Mal, seit ich nach Russvik kam, hat uns jemand so behandelt, als seien wir wichtig.« »Ich glaube nicht, dass das stimmt. Sie haben uns immer so behandelt. Deshalb waren sie so hart gegen uns.« »Wie auch immer. Komm nach unten und begleite uns, wenn
deine Wunden versorgt sind. Nils hat uns etwas zu essen besorgt.« »Das überrascht mich nicht im Geringsten«, sagte Ragnar und lächelte. Endlich stellte sich das Hochgefühl ein. Er hatte seine Feuertaufe überstanden, ohne sich zu entehren. Er wusste, dass sie dieses Schlangennest bald ausräuchern und ihre gefallenen Brüder rächen würden. Und Ragnar freute sich darauf, seine Rolle in der bevorstehenden blutigen Rache zu übernehmen.
EPILOG »Bruder Ragnar«, sagte eine kalte, klare, gebieterische Stimme. »Bruder Ragnar, wach auf.« Ragnar schlug die Augen auf. Plötzlich war er sich seiner Umgebung bewusst, des frischen minzigen Geruchs medizinischen Räucherwerks, des kühlen Marmors des Operationsaltars unter seinem Rücken, der Wolken, die sein Atem in der kalten Luft vor seinem Mund bildete. Er schaute auf und sah ein faltiges vernarbtes Gesicht, das ihn anlächelte. Die beiden durch das Grinsen gebleckten Fänge verrieten, dass er sich in Gesellschaft seiner Schlachtbrüder befand. Die Schmerzen in seiner Brust verrieten ihm, dass er wieder unter den Lebenden weilte. »Ich kann nicht in der Hölle sein, Bruder Sigard. Du bist zu hässlich, um durch ihre Tore gelassen zu werden.« »Und du bist zu hartnäckig zum Sterben, Bruder Ragnar. Obwohl es, um die Wahrheit zu sagen, eine Zeitlang auf Messers Schneide stand. Deine beiden Herzen hatten aufgehört zu schlagen, und deine Seele hatte sich bereits von deinem Körper gelöst. Da dachten wir, wir hätten dich verloren, aber irgendwas hat dich zurückgeholt. Ich weiß nicht genau, was.« »Ich habe noch einiges unter den Lebenden zu erledigen, Bruder. Ich muss Feinde erschlagen und Schlachten gewinnen. Noch bin ich nicht zum Sterben bereit. Wie läuft der Krieg?« »Nun ja. Wir haben die Landestelle geräumt, und Imperiumstruppen sichern die Umgebung. Wir hatten einen guten Start, aber die Schlacht geht weiter. Diese Ketzer sind zäh, und es gibt Gerüchte, die besagen, dass sie durch ChaosTruppen verstärkt wurden. Tatsächlich könnte es sogar sein, dass die Tausend Söhne wieder dabei sind. Einige Gerüchte besagen, Madok sei gesichtet worden und führe ihre Truppen
an.« »Und da sind schon meine unerledigten Dinge, Bruder. Zwei Mal dachte ich schon, ich hätte ihn getötet. Aller guten Dinge sind drei.« »Ich wünsche dir alles Gute bei diesem Unterfangen, Bruder. Und es könnte sein, dass dein Wunsch bald erfüllt wird, denn unsere Feinde bereiten einen gewaltigen Gegenangriff vor.« »Wie bald kann ich hier weg?«, fragte Ragnar. »In ein paar Tagen, Bruder.« »Das reicht nicht«, sagte Ragnar, indem er den Schmerz ignorierte und sich vom Altar erhob. Die Lebenserhaltungssysteme zogen sich sofort aus den Anschlussöffnungen in seiner Rüstung zurück. »Der Orden wird bei dem bevorstehenden Konflikt jeden Mann brauchen.« »Wie du willst, Bruder Ragnar«, sagte Sigard. Ragnar nickte und ging langsam zur Tür. Von draußen hörte er den willkommenen Schlachtendonner.