Wolfsmond Version: v1.0
Dunkelheit kroch über den Rand der Welt und senkte sich über die Oase. Obwohl der Mond noch un...
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Wolfsmond Version: v1.0
Dunkelheit kroch über den Rand der Welt und senkte sich über die Oase. Obwohl der Mond noch unvollendet war, reichte seine Kraft. Leise ra schelnd fiel das Gewand der Frau und enthüllte eine knabenhaft schlanke Figur mit festen, kleinen Brüsten. Dann verflog alle Schönheit im Bad silbrig-fahler Helle. Jenseits der Mauer zeigte das Rudel erste Anzei chen von Nervosität. Es wollte und sollte nicht län ger warten. Die Alpha-Herrin eröffnete die Jagd …
Was bisher geschah Durch die Magie, welche Liliths fast hundertjährigen Schlaf ermöglichte und die bei ihrem Erwachen frei wurde, mutieren die australischen Schöpferwesen, die Wond jinas. Sie wollen ihre ehemalige Schöpfung zugunsten einer neuen vernichten. Mit der Hilfe Esben Storms gelingt es Lilith, die apokalyptische Gefahr abzuwen den. Im Tod jedoch infiziert eines der bösen Schöpferwesen einen Tasmanischen Teufel mit dem Virus einer magischen Pest. Zwar verschwindet diese nach der Ver nichtung des Nagers, hinterläßt jedoch eine Nebenwirkung: Die Gefühlswelt der Geheilten verkehrt sich ins Gegenteil; aus Sympathie wird Haß. Auch bei Beth und ihrem Kollegen Moskowitz zeigt sich dieses Symptom. Das macht Landru sich zunutze; er verbündet sich mit Beth gegen die nichtsahnende Li lith. Beth soll nachforschen, ob die Halbvampirin eine neue Spur zum Lilienkelch gefunden hat. Landru hat sich entschlossen, die Feindin weiter nach dem Kelch fahnden zu lassen, da sie eine mächtige Verbündete hat – die Macht, die ihrem Ge burtshaus innewohnt. Lilith sucht inzwischen nach einem Gegenmittel für die Auswirkungen der magi schen Pest und erfährt von dem finnischen Seuchenexperten Frans Stålheim. Also bricht sie auf, ihm den »Zero-Patienten« zu bringen: den Kadaver des Tasmani schen Teufels. Kaum hat sie ihn bei Stålheim abgeliefert, erreicht sie ein mysteriöser Anruf: Ihr ehemaliger Gefährte Duncan Luther, vor Monaten in Indien von Vampiren ermor det, meldet sich aus Mauretanien! Er weiß weder von seinem Tod, noch wie er nach Afrika gelangte. Er fleht Lilith an, zu ihm zu kommen. Indem sich Lilith eilig auf den Weg macht, verpaßt sie die Ankunft eines »Kolle gen« Stålheims: eines Dr. Landers. Es ist niemand anderes als Landru, der bei der Suche nach dem Gegenserum »helfen« will. Der Flug nach Mauretanien gestaltet sich schwieriger als geplant: Trolle bringen die Maschine zum Absturz! Sie verfolgen den Dieb eines Elfenschwertes, das dieser im Auftrag der Trolle von den Elfen stahl. Die Hüterin des Schwertes bittet Lilith um Hilfe. Gemeinsam holen sie das magische Schwert zurück, und Lilith setzt die Reise fort …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und der Vampirin Creanna, dazu ge zeugt, eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen. Für 98 Jahre lag sie schla fend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist zu früh erwacht – die Zeit ist noch nicht reif. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Ba stard sehen, bis sich ihre Bestimmung erfüllt. Dabei hilft ihr ein Symbiont. Der Symbiont – ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, ob wohl es fast jede Form annehmen kann. Einst gehörte es Creanna und wurde von ihr an Lilith weitergereicht. Der Symbiont ernährt sich von schwarzem Vampirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Landru – Mächtigster der alten Vampire und der Mörder von Liliths Vater. Seit 267 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, ohne den es keinen Nachwuchs geben kann. Landru scheint irgendei ne Schuld auf sich geladen zu haben – welche, ist noch unklar. Nona – eine Werwölfin aus Afrika, die ein inniges Verhältnis zu Landru pflegt; eine Kampfgefährtin aus alten Tagen. Beth MacKinsey – Journalistin bei einer Sydneyer Zeitung. Bei ihr fand Lilith Unterschlupf. Beth kennt Liliths wahre Identität – und hat sich, gleichge schlechtlich veranlagt, in die Halbvampirin verliebt. Dies wurde jedoch durch die Nachwirkungen der magischen Pest mittlerweile ins Gegenteil verkehrt. Zwar täuscht Beth Freundschaft vor, hat sich aber unter dem Einfluß der Pest mit Landru gegen Lilith verbündet. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vampir be dingungslos gehorcht. Seinerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Anäis Nyn glaubte die Rotation der Erde zu spüren. Sie lauschte der Stille und versank in den Bildern, die ihr der nächtliche Sternenhim mel offenbarte. Es war Vollmond und – hier in der Senke – fast windstill. Nichts trübte die Schärfe der Wahrnehmung. Solche Erlebnisse hatten Anäis süchtig gemacht. Süchtig nach der Wüste. Eigentlich war sie Studentin der Ornithologie, und eigentlich hatte sie nur den mauretanischen Rand der großen Leere, die man Sahara nannte, wie jeder Pauschaltourist bereisen wollen. Aber dann hatte sie Geschichten gehört, Geschichten von unbe schreiblichen Sonnenaufgängen über dem Dünenmeer, von Land schaften, reduziert auf das Wesentliche und dennoch gewaltiger, als menschliche Phantasie sie je ersinnen konnte, und war tiefer ge drungen. Hatte sich Ausflügen in die absolute Einsamkeit ange schlossen, eine Einsamkeit, die auch in enger Gesellschaft anderer Menschen nichts von ihrer schwindelerregenden Tiefe verlor. Aus den drei Wochen, die Anäis ursprünglich während der Se mesterferien in Mauretanien hatte verbringen wollen, waren inzwi schen eineinhalb Monate geworden, und sie hatte große Mühe ge habt, dies den Zuhausegebliebenen plausibel zu machen. Aber sie war noch nicht soweit, die Rückkehr anzutreten. Etwas – fehlte. Sie wußte, daß sie daheim nie wieder Ruhe vor dem Heimweh nach der Fremde finden würde, wenn sie sich nicht zuvor den sehn lichsten Wunsch erfüllte, der ihr während all der geführten Ausflü ge gekommen und immer mehr gewachsen war: Heute, am frühen Morgen, war sie mit einem gemieteten Jeep, ausreichend Trinkwas ser, sonstigen Vorräten und mit einem kleinen Iglu-Zelt aufgebro chen, um sich eine Nacht ganz allein mit der Sahara auseinanderzu
setzen. Diese Nacht. Sie hatte niemandem gesagt, was sie vorhatte. Während der Tage und Wochen unter Moslems malikitischer Prägung hatte sie schnell begriffen, was eine Frau öffentlich sagen und tun durfte – und was nicht. Wobei sie noch den Vorzug einer »Ungläubigen« genoß. Aber selbst diesen wurde nicht immer alles verziehen. Nein, sie hatte es vorgezogen, sich klammheimlich aus ihrem ka kerlakenverseuchten Hotelzimmer zu empfehlen. In Kakerlaken kreisen würde man es ihr danken, denn sie hatte seit ihrer Ankunft fast eine komplette Population ausgelöscht. Eigentlich war es un möglich gewesen, an ihnen vorbeizutreten. Anäis lächelte in der wohligen Überzeugung, in diesem Moment fernab aller vielbeini gen, fühlertänzelnden Chitinmonster zu sein. Sie saß, zurückgelehnt und in eine wärmende Decke gehüllt, auf dem Fahrersitz ihres offenen Jeeps und ließ die schiere Unendlich keit auf sich einwirken. Unwillkürlich dachte sie an die Worte eines Berbers während einer für Touristen organisierten Expedition. Die ser alte, maurische Karawanenführer, dessen Gesicht von denselben Kräften modelliert worden zu sein schien, die auch nach und nach jeden Fels der Sahara pulverisierten, hatte die endlosen Sanddünen mit einem einzigen Satz charakterisiert: »Allah hat aus der Wüste alles Überflüssige entfernt, damit wir Menschen das wahre Wesen der Dinge zu erkennen vermögen!« Er hatte recht. In diesem Moment hegte Anäis nicht den leisesten Zweifel, daß dies die Wahrheit auf den Punkt genau traf. Sie war weit gefahren – einen ganzen Tag durch glühenden, schattenlosen Sand –, um diese Stelle zu erreichen, wo sie sicher sein durfte, nichts als sich selbst vorzufinden. Ungefährlich war ihr Unternehmen nicht. Aber sie führte einen
verläßlichen Kompaß und CB-Funk bei sich. Und beim ersten Mor genblau (ein Grau gab es hier nicht) würde sie den Rückweg antre ten. Würde – trunken von den Eindrücken dieser Nacht – den Heim flug nach Paris buchen … Plötzlich überzog Gänsehaut ihren Körper. Trotz der Decke. Und trotzdem sie – eigentlich – nicht fror. Anäis senkte den Blick. Weg vom Himmelsabgrund. Wenige Schritte vom Jeep entfernt stand ihr Buckelzelt, für den Fall, daß schnödes Schlafbedürfnis über grandiose Eindrücke siegen würde. Zelt und Jeep befanden sich in einer windgeschützten Senke, um schanzt von Verwerfungen, hoch genug, um im Ernstfall die schlimmsten Auswirkungen eines Sturms fernzuhalten. So hatte Anäis es auf den geführten Touren gelernt. Aber obwohl nichts in dieser Nacht unwahrscheinlicher als star ker, sandpeitschender Wind erschien, hatte sich von einem Augen blick zum anderen etwas verändert. Sie vermochte nur noch nicht zu sagen, was es war. Immer noch störte kein Geräusch die Harmonie. Anäis dachte, daß Menschen wie sie es vielleicht schon nicht mehr gewöhnt waren, mit allzu großer Stille umzugehen. Wirklich mit sich allein zu sein. Hier brauchte es keine Wände zur Wahrung einer Intimsphäre. Hier ersetzte Entfernung Mauern. Anäis zog die Decke fester um ihren Körper und versuchte erneut, Zuflucht im atemverschlingenden Panorama zu finden. Die Gänsehaut blieb. Und plötzlich gesellte sich das erstickende Gefühl hinzu, beobachtet zu werden! Sie hielt die Luft an. Gab sich dem unheimlichen akustischen Er
eignis hin, das eigene Blut durch die Adern strömen zu hören. Als sie dem Jeep entsteigen wollte, passierte es.
* Er sah aus wie ein schwarzer Haratin. Gebückt stand er da und ließ sich von seinem Sklaven die mit scharfer Essenz getränkten Tücher reichen. Er war nackt. Er war alt. Und müde. Seine Stimme krächzte, als er befahl: »Sei behutsam. Jahrhunderte drücken auf mich. Ich be trüge den Tod schon zu lange, um ungestraft davonzukommen. Du denkst, du seist zu bedauern. Aber dir geht es so ungleich besser als mir! Was würdet ihr ohne mich tun? Ich zwinge mich, das Brot des Märtyrers zu essen, damit ihr ahnungslosen Kinder geordnet und verwaltet leben könnt. Wie undankbar ihr seid! Ich lese den Haß in deinen Augen. Mich verlangt es, sie dir aus den Höhlen zu reißen und reinzuwaschen von jedem Makel. Hör auf, mich so anzustarren. Ich bin nicht schlecht! Ich bin euer Glück! Ohne mich würdet ihr ve getieren wie die anderen. Ich gebe eurem Sein Sinn! Ihr dient mir zu eurem eigenen Nutzen. Bin ich nicht wie ein gestrenger, gerechter Vater zu euch? Gebe ich euch nicht mein letztes Tuch …?« Der Knabe an seiner Seite schwieg. Seine Augen blickten leer. In seinem negroiden Gesicht zuckte kein Muskel. Er faltete das erste Tuch auseinander und legte es über den Rücken des Greises. Die Nässe ließ es auf der Haut kleben. Ein zweites und ein drittes Tuch folgten auf die Brust und um die Lenden. Der Mund des Klagenden seufzte. »Ihr seid meine Schar, meine Kinder. Ich liebe einen jeden von euch wie mich selbst. Was ge schieht, muß sein. Leben ist auch Leid. Ihr müßt es ertragen, wie ich es tue. Du hältst mich für grausam. Aber du siehst alles nur aus dei nem Blickwinkel. Du ahnst nicht, wieviel Kraft es kostet, euch auf
dem rechten Pfad zu führen. Ihr undankbaren Bastarde! Sterben ist keine Strafe – ihr wechselt über in eine Existenz, die mir verschlos sen bleibt! Wie gern möchte ich die Augen schließen. Weißt du, was es heißt, keinen Schlaf zu finden? Nie? Etwas in mir ist immer wach. Um euch zu hüten. Euch vor Fehlern zu bewahren. Ich bin zu bedau ern, nicht ihr! Die Tücher, die du auf mich legst, sind Fluch, nicht Se gen. Ich wünschte fast, du würdest einmal das falsche nehmen. Es würde sich um meinen Hals legen und … Oh, senke nur den Blick. Ich durchschaue dich! Ich weiß, wie gern du mir diesen letzten Dienst erfüllen würdest! Du bist meine Liebe nicht wert. Dein Ge sicht ist das eines Engels. Ohne Falsch. Aber ich lese dahinter. Du bist wie all die anderen!« Ohne sichtbare Regung legte der Sklave Tuch um Tuch auf. Der Greis wandelte sich zur Mumie. Das letzte Tuch senkte sich über die letzte freie Stelle: Der Kopf verschwand. Keine Lücke blieb entblößt. Und doch haderte der Alte weiter: »Wie ich diese Nächte des Blutes neuerdings hasse. Wie sehr ich mich nach der verlorenen Jugend sehne …« Der Sklave ging. Die Mumie blieb regungslos, aber weiter lamentierend zurück. Die Tücher trockneten die ganze Nacht hindurch. Langsam. Jugend brauchte ihre Zeit. Insbesondere geliehene Jugend.
* Er war plötzlich da. Warnungslos.
Er schleuderte die Decke von ihrem Körper, packte Anäis an den Armen und stieß sie mit ausgesuchter Brutalität neben dem Wagen in den Sand! Alles lief in furchtbarer Geschwindigkeit ab. Das Keuchen des Mannes übertönte alles. Die traditionelle Tracht eines nomadisierenden Berbers schimmerte in der mondhellen Nacht. Verhüllt von Kopf bis Fuß legte sich ein schwerer Körper über Anäis und rang mit ihr. Kompromißlos. Die gespenstische Disziplin, mit der sich der Unbekannte ange schlichen hatte, endete abrupt. Er ließ eine Schimpftirade in Hassa niye, der Umgangssprache der Mauren, auf sein Opfer niederpras seln. Anäis schrie vor Wut und Angst, ohne daran gehindert zu wer den. Als sie nach ihm schlug, bekam sie seine Fäuste zu spüren. Er prügelte sie windelweich. Systematisch wich jeder Widerstand aus ihrem Körper. Er wußte genau, was er tat. Wohin er zu schlagen hat te. Aber noch nie, dachte Anäis in bitterer Erkenntnis, bekam er ein Op fer wie mich auf silbernem Tablett serviert … Was war sie für eine Närrin gewesen! Was – Er hob sie auf wie eine Puppe und schleppte sie zum Zelt. Als er sie auf die Schaumstoffmatratze niederdrückte und ihr die Kleider vom Leib fetzte, konnte sie kaum noch etwas sehen. Ihre Augen wa ren verquollen, und im Zelt war es wesentlich dunkler als draußen. Den Mauren störte es nicht. Es hielt ihn nicht ab, sie wie ein sich selbst gemachtes Geschenk auszupacken. Zwischen jedem Klei dungsstück schlug er zu. Ab und zu fauchte er: »Ich bin ein Beidan! Hör auf, dich zu wehren! Es ist eine Ehre für eine Ungläubige wie dich!«
Anäis graute vor dem, was gleich passieren würde. Ihr graute vor diesem Kerl, der sich Beidan – »Weißer« – nannte und sich an ihr be dienen wollte wie an einem seelenlosen Stück Fleisch. Noch einmal bäumte sie sich gegen ihn auf. Aber seine Faust traf ihr Kinn und schleuderte sie in kurzzeitige Bewußtlosigkeit. Als sie wieder zu sich kam, versuchte er gerade, in sie zu dringen. Zu sehen vermochte sie ihn kaum, und auch er bewies Ungeschick bei seinem niederträchtigen Vorhaben. Anäis spuckte und schrie. Ihr Peiniger erstarrte in seiner suchenden Bewegung, noch bevor er das Ziel fand. Plötzlich schwebte ein Laut von unheimlicher Tiefe über der Wüs tennacht. Dieser Ton, nicht Anäis, hatte den Mauren veranlaßt, inne zuhalten. Anäis betete, daß es dabei bleiben würde. Hoffnung hatte sie nicht. In das furchterregende Heulen mischte sich ein noch furchterre genderer, langgezogener, entmenschter Schrei, der ebenso über gangslos wieder endete. Der Körper des Beidan entfernte sich stumm von Anäis. Anhand der Geräusche konnte sie seinen Weg aus dem Zelt verfolgen und ihn draußen herumfuhrwerken hören. Anäis blieb liegen. Sie war nicht in der Lage, das kleinste Maß an Energie aufzubrin gen. Obwohl der Berber sein Vorhaben unterbrochen hatte, tobte blan ker Haß in ihrem Hirn. In diesem Moment wäre sie psychisch im stande gewesen, ihn zu töten. Wieder zog der schaurige Klang durch die Nacht. Anäis hätte nicht zu sagen vermocht, wie nah oder fern sein Ursprung war.
Draußen vor dem Zelt dauerte der Lärm, den der Maure verur sachte, nur noch kurz an. Die Hast, mit der sich seine Schritte schließlich entfernten, kam einer Flucht gleich. Er hat Angst, dachte Anäis und suchte vergeblich nach Genugtu ung. Die Stille kehrte zurück. Aber Anäis rührte sich immer noch nicht. Sie verfiel in quälenden Halbschlaf, aus dem sie immer wieder aufschrak, weil sie glaubte, ihr Peiniger kehre zurück. Erst als die Sonne in ihr Zelt kroch, streifte sie die Lähmung ab und suchte weinend ihre Kleider zusammen. Auf allen vieren kroch sie ins Freie. Der Jeep stand da wie ein kälteerstarrtes Insekt. Der Beidan hatte – was das anging – ganze Arbeit geleistet. Das Fahrzeug würde sich nicht mehr vom Fleck bewegen. Der Boden darunter war dunkel verfärbt und roch streng. Ein faustgroßes Loch klaffte im Tank. Sämtliche Kanister, die Trinkwasser oder Treibstoff beinhaltet hat ten, lagen entleert im Sand verstreut. Kompaß und Funkgerät blieben unauffindbar.
* Das Abnehmen der Tücher mit anschließender Waschung und Ölung entlockte dem Dunkelhäutigen Seufzer des Behagens. Nach dem er dem warmen Wasser entstiegen war, ließ er seine geglättete Haut von kundigen Händen kneten und durchbluten. Mit Wohlwol len ruhte sein Blick auf dem Sklaven. »Du bist zärtlich wie ein Mädchen«, sagte er weich. »Vielleicht sollte ich es einmal mit dir probieren …«
Der Abid stockte kurz in seinem Tun. Seine Augen bemühten sich um Ausdruck, und sei es nur Angst, aber es gelang ihnen nicht. Wüstenhafte Leere war alles, was sie zustandebrachten. »Wenn die Kräfte nur nicht so schnell schwänden«, seufzte der Herr der Oase. »Und wenn ich nicht schon meiner Liebsten verspro chen wäre …« Er lachte freudlos, stieß den Knaben von sich. Dann befahl er ihm, das Gewand des neuen Tages zu bringen. »Wie seidig es meiner Haut schmeichelt«, schwelgte er. »Wie es die Geister weckt, die schon begraben schienen. Siehst du, wie die Kraft mich durchpulst? Vielleicht sollte ich doch mit dir …?« Er schüttelte den Kopf und verjagte den Abid endgültig aus sei nem Blickfeld. Er selbst wartete eine Weile, ehe er den Brunnen sei ner Jugend verließ, um seine Liebste aufzusuchen – und ihr alle Kraft und alles Ungestüm auf dem Altar ihres Körpers zu opfern. Wie nach jeder Vollmondnacht. Nach jeder Jagd.
* Wasser, dachte Anäis. Sie brauchte Wasser, um nicht zu sterben. Schon jetzt war ihre Kehle wie ausgedörrt. Der Speichelfluß hatte aufgehört. Schlucken verursachte heftigen Schmerz. War ihr der Maure seit ihrem Aufbruch aus der Stadt gefolgt, oder gehörte er einer vorbeiziehenden Karawane an? Anäis schüttelte sich, wenn sie nur an ihn dachte. Hätte sie im Hotel oder beim Wagenverleih hinterlassen, wohin sie wollte, hätte sie irgendwann mit Hilfe rechnen können. Sie hatte es nicht getan.
Ihre einzige Hoffnung blieben die beiden von den Reifen im Sand hinterlassenen Parallellinien. Aber sie war weit ins Dünenmeer vor gedrungen. Fast eine Tagesfahrt, Es war einfachste Mathematik: Marschierend würde sie mindestens die dreifache Zeit benötigen. Warum hat er mir das angetan? Niemand wird ihn je finden und zur Re chenschaft ziehen – niemals! Vielleicht war es das, was sie immer wieder neu einen Fuß vor den anderen setzen ließ. Eine einzige Nacht hatte genügt, ihre hohe Mei nung von stolzen Wüstenkriegern zu zerstören. Zornig schleppte sie sich weiter. Es gab keine Hoffnung. Nicht die geringste. Dennoch überstand sie diesen ersten Tag und flüchtete in eine bit terkalte Nacht, während der sich aber auch noch der Wind gegen sie verschwor. Und die einzige Spur, der sie hätte folgen können, ver wehte …
* »Morgen«, sagte er, »geht die Jagd zu Ende. Ich hasse die Tage, die dann kommen. Dieses Niemandsland meiner Sehnsucht. Wenn ich nur einen Zauber fände, Kraft und Jugend beständig zu erhalten wie jener tausendjährige Bastard …!« Seine Worte endeten in Verachtung. Aber er sprach den Namen des Verachteten nicht aus. Seine Blicke durchbohrten lediglich das makellose Geschöpf, das nach Sonnenaufgang zu ihm geschlüpft war. Auf das er gewartet hatte. Dem er verfallen war. Und sie? bohr ten die vertrauten Zweifel. Wem ist sie verfallen? Es wäre zu schön, wenn ich es wäre. Aber ich bin es nicht. Ich kenne den Namen des Ver
fluchten... »Hör auf damit!« fauchte sie. »Hör auf, dich wie eine Memme zu benehmen! Hast du nicht genossen, was ich dir gerade schenkte? Mußt du jedesmal aufs neue davon anfangen?« Ermattet lag er da. Wenn er genau hinsah, konnte er beobachten, wie die Runzeln und Falten zurückkehrten. Wie der Zauber verflog. Als ob sie mich aussaugen würde. Mein Leben. Meine Illusion von Ju gend … In solchen Momenten vergaß er, daß auch er der Herr der Oase war. Daß sie beide diesen Ort regierten. Seit so langer Zeit schon. »Warum tust du das für ihn? Ich dachte, du hättest ihn endlich überwunden …« Sie lachte kehlig. Verletzend. Herausfordernd. »Ich gehöre nie mandem! Nicht dir, nicht ihm! Du weißt nicht, was ihn und mich verbindet – er weiß nicht, was dich und mich verbindet. Aber er ak zeptiert es. Was bist du nur für ein Kleingeist? Es ist ein Gefallen – mehr nicht. Er versprach, daß es nicht lange dauern wird.« »Wann wird der Gefallen eintreffen?« Ihr Schulterzucken bewegte die kleinen, festen Brüste. Er konnte das Verlangen, sie zu berühren, nicht unterdrücken. »Ich weiß es nicht genau. Bald …« »Und er? Wird auch er sich hierher wagen?« Sie beugte sich vor und küßte seinen Bauch. Ihre Zunge fand die zurückkehrenden Furchen, die sich wie eine Landkarte über seinen verbrauchten Körper weiteten. »Vielleicht sollte ich dir schenken, was mich jung erhält«, bot sie an und lächelte böse. »Daran solltest du nicht einmal denken«, erwiderte er schroff. »Ich bin bereits Sklave der Gezeiten. Auf meine Weise. Ich will nicht auch noch Tier werden!«
»Wie ich.« »Wie du.« Noch einmal zog er sie zu sich und hauchte Küsse aus eingefalle nen Lippen. Sie war sich nicht zu schade dafür. Wie prächtig sie sich verstellen konnte. Wie sehr er sie liebte. Vergötterte. Und haßte.
* Die Sonne klebte wie einzementiert im Zenit. Bewegte sich keine verdammte Bogensekunde. Anäis Nyn stand da und starrte hinauf. Es war ihr zweiter Tag im Glutatem der Sahara. Den Sturm, der sich als vergleichsweise harm los entpuppt hatte, hatte sie überstanden. Die Reifenspuren aber wa ren ausradiert vom ewigen Sandstrahlgebläse der Wüste. Ich könnte mich genausogut hinlegen und ein letztes Sonnenbad nehmen, dachte sie. Ich muß mich nicht länger durch ein Meer plagen, das nicht einmal Moses zu teilen vermocht hätte! Der Gedanke amüsierte sie. Genauso lange, wie ein kochender Atemzug dauerte. Dann stolperte sie weiter. Geblendet vom Blick zum Himmel. Sandblind. Ihre Beine bewegten sich längst von selbst. Als hätte ein verborge ner Speicherchip diesen letzten Befehl »getankt«. Von oben – aus der Denkzentrale – kam nichts mehr nach. Anäis’ Hirn war ausgelaugt. Ausgebrannt. Ausgedorrt.
Wie ihr Mund. Ihre Kehle. Ihre Lungen. Sie war schon soweit gewesen, den Schweiß von ihren Armen zu lecken. Aber es hatte keine Linderung gebracht. Das Salz hatte ihre Lippen aufspringen lassen. Sie brannten seither wie Feuer. Und schließlich hatte sie sogar aufgehört zu schwitzen. Sie hoffte immer noch, gefunden zu werden. Und sei es von einer Karawane mit Männern wie jenem, der sie zu vergewaltigen ver sucht hatte. Sie würde stillhalten. Sie würde sie alle zur Hölle … Ihre schwerfälligen Gedanken kamen vollends zum Stillstand. Anäis sah etwas. Mitten in den gleißend hellen, erstarrten Wellen war ein dunkler Punkt. Nicht größer als Mückendreck auf dem Lampenschirm im Haus ihrer Großmutter, wo sie als kleines Mädchen die Sommer verbracht hatte. Draußen auf dem Land, weit weg von Paris … Ein tieftrauriges, sentimentales Gefühl drohte sie zu verschlingen, noch ehe sie herausgefunden hatte, was dieser Punkt im monotonen Einerlei war. Der Punkt lag in der Richtung, die Anäis einzuhalten versuchte, seit die Jeepspuren verschwunden waren. Hoffentlich ist es nicht der Jeep! dachte sie flehentlich. Lieber Gott, wenn es dich gibt, laß mich nicht im Kreis gelaufen sein …! Der zweite Tag neigte sich seinem Ende, als Anäis die Entfernung zu dem unbekannten Objekt zurückgelegt hatte. Es war nicht der Jeep. Es war ein schrecklich zugerichtetes Kamel. Anäis stolperte auch noch darauf zu, nachdem sie erkannt hatte, um was es sich handelte. Sie war am Ende. Ein blutiger Kadaver schreckte sie nicht. In ihrer Verfassung glaubte sie, alles trinken zu
können, wenn es nur etwas flüssiger, etwas erfrischender als Sand war. Noch ehe sie das bestialisch zerfleischte Tier erreichte, entdeckte sie die geballte Faust, die aus dem Sand ragte. Anäis strauchelte. Sie begriff: Ein Mensch war ums Leben gekommen. Mit seinem Reittier! Es konnte noch nicht lange her sein. Der Mann schien vollständig unter der Verwehung begraben zu sein. Seltsam, daß nicht auch das Kamel zumindest teilweise vom kriechenden Sand überdeckt wor den war … Anäis tippte die Faust mit der Stiefelspitze an. Sie brach ab. Sie brach ab? Der getrübte Verstand der Studentin benötigte etwas Zeit. Unter dem Sand lag ganz offensichtlich kein Mensch begraben. Die Faust hatte, knapp unterhalb des Handgelenks vom Arm abgetrennt, nur lose im Boden gesteckt! Was war passiert? Während Anäis’ Gedanken um diese Frage kreisten, grub sie sich mit letzter Kraft eine Kuhle im Schatten des Kamelkadavers und leg te sich hinein. Ein, zwei Stunden lag sie da und versuchte sich zu überwinden, sich die in der Sonne schmorenden Säfte des Kamels einzuverleiben. Es schien die letzte Chance, das Ende ein wenig hinauszuzögern. Doch dann kam ihr eine andere Idee. Das Kamel war viel zu schwer, um es auch nur um Zentimeter zu verrücken. Anäis begnügte sich damit, auf der anderen Seite Sand unter dem steifen Körper wegzuschaufeln. Schon nach wenigen Minuten stieß
sie auf Widerstand. Auf das, was der Körper beim Sturz unter sich begraben hatte. Eine Satteltasche. Einen – geplatzten – Trinkbeutel … Speziell ihn barg Anäis mit der Sorgfalt eines Archäologen. Ihr Herz hüpfte vor Glück, als sie feststellte, daß nicht alles Wasser aus geströmt war. Etwa ein halber Liter war verblieben. Der Kadaver hatte verhindert, daß die Flüssigkeit verdunstete. Anäis trank gierig. Alles. Bis auf den letzten Tropfen. Die Ver nunft, die ihr befehlen wollte, besser zu haushalten, wurde von den Stimmen ihres ausgetrockneten Körpers übertönt. Als sie danach die Satteltasche durchsuchte, fand sie nur etwas Trockenfleisch und … … ein Funkgerät. Diesmal benötigte sie keinen Herzschlag lang, um zu begreifen, daß es ihr Gerät war. Die auf den Fuß folgende Erkenntnis, wessen Faust sie gefunden hatte, traf sie wie ein Schlag in die Magengrube. Ohne die Autobatterie des Jeeps war das Gerät wertlos. Es war kein Handy, sondern wie ein Radiogerät in eine Halterung gescho ben gewesen. Anäis sah sich um. Ihre Gedanken schienen erfrischt. Die Sonne sank. Die schlimmste Glut verflog. Wer hatte den Hurensohn für das bestraft, was er ihr angetan hatte …? Anäis’ Mund verformte sich zu einem Ausdruck, der sie selbst er schreckt hätte. Wilde Genugtuung. Sie stand immer noch kurz davor, den Verstand zu verlieren. Sie umrundete den Tierkadaver. Der Leichnam des Beidan lag auch nicht in weiterem Umkreis. Wo
war der Kompaß, den er ebenfalls gestohlen hatte? In der Sattelta sche nicht. Hatte er sich – ohne Hand – davongeschleppt? Mit dem Kompaß? Anäis schüttelte den Kopf. Sie war überzeugt, daß ein Nomade kein Hilfsmittel dieser Art benötigte, um sich in der Wüste zu orien tieren. Sie selbst war nicht einmal in der Lage, sich am Stand der Gestirne zu orientieren. Sie fand eine Vielzahl von Eindrücken im Sand, die zu hund großen Tieren paßten und dem Reiter bis zu jener Stelle gefolgt wa ren, wo jetzt das verstümmelte Kamel lag – Spuren eines ganzen Ru dels, die sich wieder in die Richtung entfernten, aus der der Beidan geritten gekommen war. Dazwischen gab es nur eine einzige Spur, die einem Menschen ge hören konnte – obwohl dies in dem losen, nachrutschenden Sand schwer zu sagen war. Da diese Spur schon mit den Hufeindrücken des Kamels gekom men war, konnte sie von dem Beidan verursacht worden sein, wenn er sein Kamel an der Leine geführt hatte und später, schwerverletzt, geflohen war … Anäis machte sich viele Gedanken, die viel Zeit in Anspruch nah men. Schließlich kam sie zu dem Entschluß, das CB-Gerät zu nehmen und die Kamelspuren zurückzuverfolgen. Sie mußten ganz in der Nähe des Jeeps vorbeiführen. Von dort aus konnte sie vielleicht einen Hilferuf abstrahlen, der gehört wurde. Die Wahrscheinlichkeit dafür erschien Anäis inzwischen größer als jene, anderweitig Rettung zu finden. Sie würde keine rettende Straße und keine menschliche Behausung erreichen. Sie gestand sich auch ein, daß sie sich wahrscheinlich noch nicht allzuweit von ihrem
Fahrzeug entfernt hatte. Ohne Kompaß mußte man in dieser Leere im Kreis laufen. Vielleicht würde sie nur zwei, drei Stunden bis zum Jeep brauchen. Schon diese Nacht konnte sie Hilfe rufen, und mor gen früh … Sie mobilisierte Kräfte, von denen sie nichts gewußt hatte. Sie taumelte dorthin, woher das Kamel gekommen war. Auch das unbekannte Rudel war dorthin verschwunden. Aber da von ließ Anäis sich nicht mehr schrecken. Was hatte sie zu verlieren? Sie konnte nur gewinnen. Kurz nach Einbruch der mondhellen Nacht fand sie den Toten. Aber es war nicht der Beidan. Er sah aus wie ein Landsmann von Anäis. Auf jeden Fall war es kein Araber, und ebenso sicher fehlte ihm, obwohl übel zugerichtet, keine Hand. Ansonsten fehlte ihm fast alles. Bestien hatten ihm das Fleisch von den Knochen geschält. Dieselben, die das Kamel zerfetzt hatten? Vermutlich. Die Spuren bei dieser Leiche waren so vielfältig und verwirrend, daß sie nicht mehr auseinanderzuhalten waren. Zudem gaukelten Anäis’ Sinne ihr immer wieder Wahrnehmungen vor, die keinen realen Ursprung haben konnten. Stimmen. Schattenhafte Bewegungen im Dunkel. Das Heulen bös artiger Tiere war nicht darunter. Der Tote trug keine Papiere bei sich. Nichts, was seine Identität oder Herkunft verraten hätte. Wie Anäis schien er zu Fuß unterwegs gewesen zu sein. Wenn dem so war, befand sich vielleicht ganz in der Nähe ein von Menschen bewohnter Ort …
Die ganze Nacht taumelte Anäis durch den windbewegten Wüs tensand. Sie merkte kaum, daß sie keiner bestimmten Spur mehr folgte. Ihr sterbender Körper betäubte jeden Schmerz, jedes Gefühl. Das biß chen Wasser war nicht mehr als ein Tropfen auf heißen Stein gewe sen. Es konnte nicht ersetzen, was sie in endlosen Stunden an Flüs sigkeit verloren hatte. Als der Morgen dämmerte, brach Anäis zusammen. Ihr Körper streikte, als hätte er nur noch das Ende der Dunkelheit abwarten wollen, um sie in endgültige Finsternis zu entführen. Vor ihr – in Richtung des aufsteigenden Glutballs – schwebte die Fata Morgana einer grünschattigen Oase, von der eine gütig lächeln de, wunderschöne, unverschleierte Frau auf Anäis zuschritt. Eine Frau, an der irgend etwas (was?) nicht stimmte. Anäis schwanden die Sinne.
* Wochen danach Mauretanien, Bir el Khzaïm, Airport Araber – die wenigsten rassig oder edel wie die weltberühmten, gleichnamigen Pferde – umschwirrten die schwarzmähnige Frau mit dem anmutigen Gesicht und den jadegrünen Augen wie Motten das Licht. Keiner von ihnen ahnte, daß Lilith Eden nur äußerlich wie ein Stern in der Dunkelheit leuchtete. Ihr Lächeln, selbst ihre Schönheit,
waren Maskerade. Tief im Innern herrschte immer öfter finsterste Nacht. Seit sie allein war. Ganz allein. Die Erlebnisse in Finnland reihten sich nahtlos in die Kette ihrer real gewordenen Alpträume ein, obwohl dieser Traum ausnahms weise einmal gut ausgegangen war. Sie verschwendete nur noch un gern Gedanken an das Zurückliegende. Selbst das eigentliche Motiv ihrer Reise nach Europa war in den Hintergrund gerückt. Sie dachte fast ausschließlich an Duncans verwirrten Anruf … Sein Flehen, sie möge zu ihm kommen, ihm helfen … Kein Wort der Erklärung, wie ein Toter aus Indien zum Schwarzen Kontinent gelangen und seine märchenhafte »Auferstehung« mel den konnte – eben mal rasch am Telefon …! Lilith brachte sich vor ihren hartnäckigsten »Verehrern« in ein vor dem Flughafen von Bir el Khzaïm wartendes, klappriges Taxi in Si cherheit. In quälender Fahrt ließ sie sich danach durch hitzedurch glühte, fast schattenlose, von Menschen und Benzinkarossen ver stopfte Straßen chauffieren. Sie sog die Luft ein, die überall auf der Welt ihren ureigenen Cha rakter hatte. Die Aromen schlugen sich in einer dem Blutgeruch fast entwöhnten Nase und auf trockenem, dürstendem Gaumen nieder. Dem Blut fast entwöhnten …? Was dachte sie da für blühenden Un sinn? Sie hatte sich gesättigt, kurz bevor sie ihren unterbrochenen Wei terflug nach Mauretanien angetreten hatte. Sie hatte einen echten Naturburschen zur Blutspende überredet; nur sexuell war sie weit gehend unbefriedigt geblieben. Das mußte sich ändern.
Bald. Aber erst wollte sie die Begegnung mit Duncan hinter sich brin gen. Schnellstmöglich. Wollte ihn finden und die Teufelei entlarven, die man mit ihm – und mit ihr! – beabsichtigte! Seit der Landung hielt sie schon Ausschau. Nach Vampiren. Sie war sicher, erwartet zu werden. Vampire hatten Duncan zur Kreatur gemacht und ihn – aus bislang unerfindlichen Gründen – hier plaziert. Ihm befohlen, sie hierher zu locken. Lilith konnte sich immer noch nicht vorstellen, was genau dahin tersteckte. Der Aufwand, ihr einen vom Keim beherrschten toten ExFreund unterzuschieben, stand in keinem Verhältnis zum absehba ren Nutzen für die Blutsauger. So naiv konnten sie unmöglich sein, daß sie glaubten, Lilith ließe sich von einer Kreatur betrügen – oder gar bezwingen. Sie hatte ihnen oft genug bewiesen, daß sie sich ih rer Haut zu wehren wußte. Auch der Delhi-Sippe. Auch – Landru … Ihr Erzfeind war ihr wieder auf den Fersen. Seit Codds Sterben im Garten der Dämmerung wußte sie es. Seit er Paul (den starken, hübschen, käuflichen Paul) auf unnachahmliche Wei se zur Ader gelassen hatte. Landru hatte Nepal überlebt – wie sie selbst. Steckte er hinter dem Betrug mit Duncan? Insgeheim rechnete Lilith immer noch mit einer ebenso einfachen wie zweckerfüllenden Möglichkeit: Irgend jemand – vielleicht Land ru selbst – hatte mittels Magie Duncans Stimme imitiert. Perfekt nachgeahmt. Vielleicht wartete nicht Duncans zur Kreatur entwerte ter Körper an der Zieladresse, sondern Landru höchstpersönlich! Er konnte ihre Schritte von Sydney über Helsinki und Ivalo bis zu Stålheims Labor in der »Hölle Lapplands« verfolgt haben und sie
dann – Liliths blasses Gesicht verlor noch mehr an Farbe, als ihr der Ge danke kam, Landru könnte den Anruf nur fingiert haben, um sie weit von Stålheim wegzulocken. Um zu verhindern, daß Stålheim das heilende Serum gegen die grassierenden Nachwirkungen der Rattenpest herstellte …! Warum hatte sie nicht gleich an diese Möglichkeit gedacht? Weil dich der Anruf völlig meschugge gemacht hat! antwortete ihr ei gener Verstand. Weil du schon vorher durch Beth’ Rausschmiß völlig me schugge warst! Es stimmte, natürlich. Sie beschloß, vom Hotel aus sofort mit dem Forscher zu telefonie ren. Den Rest der Fahrt lenkte sie sich damit ab, daß sie das Flair der weißen Stadt in sich aufnahm. Weiß war die vorherrschende Tö nung. Weiß kompensierte die allgegenwärtige Hitze am besten. Der Fahrer war nur deshalb so schweigsam, weil sie ihn hatte hyp notisieren müssen. Der Beifahrersitz des Taxis war keiner. Statt des sen befand sich dort eine selbstgezimmerte »Kleinküche«. Die Tisch platte wies eingesägte Öffnungen auf, in denen erschütterungssicher alle Utensilien standen, die man für einen Imbiß und zum Teetrin ken benötigte. Ein Fahrgast hatte nur im Fond eine Chance, beför dert zu werden. Und wenn der Fahrer im Rückspiegel nur ihr ver schwommenes Bild erblickt hätte, das sie als Halbvampirin warf, wäre er mißtrauisch geworden. Also hatte Lilith sich zu vorbeugenden Maßnahmen entschieden. Sie genoß das Fehlen jener Schwatzhaftigkeit, die sie schon beim Passieren der Flughafenkontrollen zur Genüge kennengelernt hatte. Ihre in Helsinki ausgestellten provisorischen Papiere stießen nir gends auf Beanstandung, obwohl das Lichtbild fehlte. Über kurz
oder lang würde sie dieses Problem lösen müssen. Je öfter sie Lan desgrenzen überschritt, desto notwendiger wurden hieb- und stich feste falsche Papiere. Und zu denen gehörte nun einmal ein Paßfoto. Bislang hatte sie keinen Weg gefunden, die unbestechlichen Linsen der Kameras zu überlisten. Auf Zelluloid präsentierte sie sich wie auf jeder Spiegelfläche: nicht ganz unsichtbar wie reinblütige Vam pire, aber völlig verwaschen und konturlos! Ich hätte mich hinter den Spiegeln fotografieren lassen und das Bild mitnehmen sollen, dachte sie selbstironisch. Damals.* Aber es war schon deshalb keine verpaßte Gelegenheit, weil es dort keine Kameras gegeben hatte. Aller »Fortschritt« war auf dem bescheidenen Niveau des Jahres 1728 eingefroren gewesen … Der Wagen stoppte. Lilith ließ sich vom Fahrer den Inhalt seiner Kasse aushändigen, damit sie selbst ein paar Dinar »Handgeld« für zu erwartende eifri ge Dienstboten zur Verfügung hatte. Dann ließ sie sich die Adresse des »bereitwillig Bestohlenen« auf einen Zettel, den sie zur erhalte nen Börse steckte, schreiben. Ohne Gepäck – wie es ihre bevorzugte Art zu reisen war – stieg sie aus, trat durch die beständig drehende, Wind ins Foyer fächelnde Eingangstür in jenes Hotel, aus dem Duncan angerufen hatte – und tauchte übergangslos in eine Atmosphäre der Angst. Barocke Eleganz und das plötzliche Bewußtsein, erwartet zu wer den, empfingen Lilith jenseits der Drehtür, wo nur mittäglich-schläf riger Betrieb herrschte. Alle Augen – zumindest die der Angestellten – ruhten auf ihr. Es war keine Einbildung. Es war … *siehe VAMPIRA 11: »Hinter den Spiegeln«
»Möchten Sie ein Zimmer?« Der hagere, schmalgesichtige Brillenträger hinter der Theke sprach sie bereits an, als sie noch nicht damit rechnete. Lilith blinzelte zu ihm hinüber und legte die letzten paar Schritte geschmeidig zurück. »Nein«, sagte sie. »Ich bin verabredet.« »Mit einem Gast?« Sie nickte. »Wie ist sein Name?« »Luther. Duncan Luther.« In den dunklen Augen hinter Glas blitzte es auf. Ohne in sein Buch zu sehen, sagte der Portier: »Sie kommen zu spät. Er ist bereits abge reist.« Keinerlei Bedauern in der näselnden Stimme. Lilith aber war wie elektrisiert. Immerhin schien er zu bestätigen, daß Duncan hier gewesen war. »Wann war das? Wissen Sie, wohin er von hier aus … weiterreiste? Können Sie ihn mir beschreiben?« Die letzte Bitte stieß auf sichtbare Verwunderung. »Sie wissen nicht, wie er aussieht?« »Nein«, log sie. »Ich weiß nur seinen Namen. Wir waren – ge schäftlich verabredet.« Die detaillierte Beschreibung, die den arabischen Hotelangestellten als scharfen Beobachter entlarvte, beseitigte jeden noch vorhande nen Zweifel. Zugleich forschte Liliths außermenschliches Gespür nach Hinweisen, daß der Portier unter der Knute eines ihm weit überlegenen Wesens stand und ihr eine lancierte Lüge auftischte. Von Landru. Aber sie fand keinen Hinweis. Außer der allgegenwärtigen Angst, die viele Gründe, viele Ursachen haben konnte. »Wann reiste er ab? War er allein?« drängte Lilith.
»Heute früh.« Der Portier kratzte sich im Nacken. Es wirkte ge ziert. Als hätte ein Bühnenschauspieler seinen einstudierten Text vergessen und warte auf das Stichwort einer geheimen Souffleuse. »Allein?« wiederholte Lilith, die das Verhalten auf ihre Weise deu tete. Sie schob dem Mann einige der vom Taxifahrer erhaltenen Scheine über den Tresen. Diskret. Wieder blitzte es in den Augen des Angestellten auf. »Überstürzt«, erfuhr sie ein nicht erwartetes Detail. »Beim Früh stück erhielt er den Besuch eines alten Mann …« »Woher wissen Sie das?« »Der Alte fragte bei mir nach Mr. Luther.« »Kannten Sie ihn?« »Den Alten?« Der Portier verneinte. »Ein Europäer?« »Ein Berber.« »Was war danach?« »Mr. Luther kam zu mir und verlangte die Rechnung. Er sagte, er müsse noch in derselben Stunde abreisen.« »Wohin?« Täuschte sie sich, oder huschte ein kurzer Krampf über das Ge sicht ihrer Auskunftei? »Zu El Nabhals Oase.« Lilith starrte ihn an. Er starrte zurück. Sie schluckte und fragte: »Hatte Mr. Luther Papiere bei sich, als er sich hier einschrieb? Ausweispapiere? Haben Sie sie gesehen?« Der Portier bestätigte das. »Und er – frühstückte? Sie sind völlig sicher?«
Der Portier lächelte schmallippig. »Ich stand nicht daneben, wie Sie sich denken können. Wir zählen unseren Gästen nicht die Bissen ab, die sie zu sich nehmen …« »Wer könnte mir Auskunft darüber geben?« fragte Lilith unbeein druckt. Der Portier wies zögernd auf eine Tür, die in einen angrenzenden Saal führte. »Fragen Sie das Personal, das drüben bedient. Vielleicht kann man Ihnen dort Antwort geben.« Ihm lag offenbar mehr auf der Zunge, mehr auf dem Herzen, als er zu sagen wagte. Lilith ließ ihn stehen. Eine Kreatur aß und trank nicht gesittet. Jedenfalls keine Brötchen und keinen Kaffee. Wenn Luthers Frühstück oder eine andere Mahlzeit bestätigt wur de und sie das Gefühl bekam, nicht belogen zu werden, mußte sie umdenken. Schleunigst. Und sie mußte ihn finden, weil er dann in echter Gefahr schwebte. Weil mehr als eine simple Falle hinter sei nem Anruf steckte. Weil … »Ja …?« Lilith war durch eine zurückschwingende Pendeltür in den Saal mit den bereits fürs Dinner gedeckten Tischen getreten. Ein hübscher Junge, etwas jünger, als ihr Aussehen es weismachte, trat ihr entgegen. Lilith widerstand der dringenden Versuchung, mehr von ihm zu verlangen als bloße Auskünfte. »Du bedienst hier?« fragte sie kehlig. Er nickte und musterte sie unverschämt. (Wie sie ihn.) »Auch heu te morgen?« »Ich fange früh an, um früh aufhören zu können. Das Leben be steht nicht nur aus Arbeit …«
Lilith spürte einen kurzen, heißen Stich in der Brust. Unverhofft wurde sie an Beth erinnert, die kurz vor ihrer Trennung dasselbe ge sagt hatte. »Wie ist dein Name?« »Jebal.« Sie stellte Jebal die gleiche Frage wie dem Portier. Ihr wurde be reitwillig geantwortet. Ja, Mr. Luther habe zugelangt – tüchtig! »Und hast du auch gesehen, daß er Besuch erhielt?« Jebal nickte. »Ein Berber. Sehr alt, sehr unfreundlich, sehr …«, er lächelte, »…geizig.« Lilith verstand den Wink mit dem Holzpflock. Wieder wechselte ein zerknitterter Schein den Besitzer. »Hast du ihn davor schon oder danach noch einmal gesehen?« »Nein.« »Hast du gehört, wohin Mr. Luther anschließend so überstürzt ab reiste?« Jebal blickte sie vertrauensselig an. »Aber nein. Ich hatte zu arbei ten. Ich höre nicht, was Gäste tuscheln – selbst wenn ich es höre.« Als Lilith seinem Berufsethos mit einem weiteren Schein Genugtu ung verschaffen wollte, wehrte er entschieden ab. »Wie ich sagte: Ich habe nichts gehört …!« Lilith sah ihn schweigend an. Wieder spürte sie die Unruhe, die seine regen Augen in ihr auslösten. … dem Blut fast entwöhnten Gaumen … »Weißt du«, fragte sie rauh, die Begierde zurückweisend, »wie ich am schnellsten zu El Nabhals Oase gelange?« Sie erzitterte innerlich, als sie den Namen des Ortes wiederholte, den sie an der Rezeption erfahren hatte. Ihre Zunge stockte an die sen Silben, die sie vor längerer Zeit an anderem Ort, aus anderem
Mund und in anderem Zusammenhang gehört hatte. Es gab keine Zufälle dieser Art. Jebal schüttelte den Kopf. »Wirklich nicht?« Er blieb dabei, empfahl ihr aber eine örtliche Karawanserei mitten im Bazar. Dort gab es, wie er meinte, einen kundigen einheimischen Führer, der sich nicht zu schade war, des schnöden Mammons we gen auch Touristen zufriedenzustellen. Mehr als den Anflug eines Lächelns bewirkte seine Anspielung bei Lilith nicht. Ihre Gedanken hatten sich erneut in den Rätseln um Duncans ungeklärtes Schicksal verstrickt. Sie verließ das Hotel.
* Das Mimikrykleid zur Abwechslung einmal bieder, knöchellang und hochgeschlossen bis zum Hals zu erleben, war schon seltsam. Aber angesichts islamischer Eiferer mußte das Outfit in der Öffent lichkeit eines arabischen Landes wohlüberlegt sein. Selbst im Flug zeug waren kurz vor der Landung via Lautsprecher einschlägige Tips verteilt worden, wie man sich als Gast Mauretaniens verhalten sollte, um unnötige Spannungen zu vermeiden. Neben islamischen Vorstellungen entsprechender Kleidung galt es – wie schon in Indien – als unschicklich, die »unreine« linke Hand im Umgang mit Einheimischen zu gebrauchen. Da Lilith beidhändig war, würde sie sich in dieser Hinsicht zusammenreißen müssen. In der Nähe des Hotels fragte sie einen kleinen Jungen nach dem Weg zum Bazar. Es war ein Fehler, obwohl er wort- und gestenreich und durchaus nachvollziehbar erklärte. Überhaupt wirkte er bereits
im zarten Alter wie ein verkleinertes Abbild seines unbekannten Va ters. Ein Erwachsener im Miniaturformat. Die Handvoll Dirhams, die Lilith ihm anschließend zum Lohn schenkte, lockte sofort eine ganze Schar von Bettelkindern aus den Gassen, und Lilith mußte einsehen, daß sie besser einen richtigen Er wachsenen befragt hätte. Die Kinder stürzten sich auf sie. Keines glaubte ihr, daß sie alles Kleingeld bereits hergegeben habe. Unverzagt, aufdringlich, sogar unverhohlen aggressiv hefteten sie sich an Liliths Fersen. Selbst der Junge, der etwas von ihr bekommen hatte, beteiligte sich an der Hetzjagd. Möglicherweise nur, um von sich selbst abzulenken. Kurz vor Erreichen des Bazars paßte Lilith eine günstige Gelegen heit ab. Sie vergewisserte sich, daß außer den Kindern niemand in der Nähe war. Dann zeigte sie ihnen für Sekunden ihr anderes Ge sicht. Noch während sie die Metamorphose wieder rückgängig machte, stob die Meute schreiend in alle Winde davon. Lilith hoffte, daß sie nirgendwo Alarm schlugen. Aber selbst wenn – wer würde die Geschichte kleiner Tagediebe glauben? Wenig später tauchte sie in das bunte Treiben des Bazars. Und wurde erneut vereinnahmt. Ein hibbeliger, dicker kleiner Teppichhändler warf sich ihr – be hängt mit allerlei Musterstücken – in den Weg. Die bescheidene Art, wie er seine Waren pries, verurteilte Lilith zu längerer Sprachlosig keit. »Vergiß die Halsabschneider an den anderen Ständen, du Weib al ler Weiber! Wenn du einen Teppich frei von Ungeziefer und bösem Zauber erwerben und auf diesem Teppich bleiben willst, kauf ihn bei Abn el Gurk Ben Amar Chat Ibn Lot Fuddel dem Fünften – bei keinem anderen …!« Zwischendurch kratzte er sich an seinen Blu
menkohlohren und setzte in vertraulichem Ton die Option: »Aber wenn du unbedingt Ungeziefer oder bösen Zauber in deinem Tep pich haben willst, bekommst du das beste Ungeziefer und den bes ten bösen Zauber ebenfalls bei Abn el Gurk Ben Amar Chat Ibn Lot Fuddel dem Fünften! Hör dich nicht um, aber jeder, der seinen Stand so lange hier betreibt wie ich, kann dir bezeugen, daß du es mit einem Ehrenmann zu tun hast – mein Wort gilt, solange der Teppich hält … Was ist? Einmal Probeliegen …?« Lilith wußte immer noch nicht, ob sie ihn bewundern und links liegen lassen sollte. »Hast du auch fliegende Teppiche?« fragte sie schließlich. »Nicht vorrätig. Aber ich könnte dir einen bestellen. Abn el Gurk Ben Amar Chat Ibn Lot Fuddel der Fünfte kann alles bestellen! Wie groß soll er sein? Handgeknüpft oder maschinell gearbeitet? Ja, auch die Hersteller von Zauberteppichen müssen mit der Zeit gehen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Alles eine Preisfrage. Preisfrage: Wo kommst du her, Weib aller Weiber? Du könntest einen alten Mann wie mich noch auf schädliche Gedanken bringen – wie den Gedan ken an einen Rabatt! Wenn du mir …« Seine behaarte Zunge leckte über die wulstigen Lippen (Lilith hatte noch nie Haare auf irgendei ner Zunge gesehen). Abn el Gurk Ben Amar Chat Ibn Lot Fuddel der Fünfte blieb ihr nicht allein deshalb in Erinnerung. »Wenn ich dir …?« »Du könntest mir zwei fliegende Teppiche abkaufen!« griente der knubbelige, teppichmusterbehängte Orientale. »Das ist deine Bedingung?« »Jede andere grenzte an Gotteslästerung«, erwiderte er mit Stoß seufzer, Augenaufschlag und resignierend zum wolkenlosen Him mel gereckten Armen. »Allah hat mich bestimmt nicht mit dieser Er
scheinung gestraft, damit Geschöpfe wie du mir verfallen … Allah ist grausam. Er labt sich an meinem Unglück beim Flirt mit schönen Frauen …« Lilith musterte Abn el Gurk Ben Amar Chat Ibn Lot Fuddel den Fünften noch einmal abschätzig vom Kopf bis zu den Zehen. Ehe sie sich entschieden abwandte und ihn stehenließ, nickte sie bestimmt und sagte: »Ich denke, er weiß, was er tut.« Während die Sprachlosigkeit erstmals dauerhaft Abn el Gurk Ben Amar Chat Ibn Lot Fuddels Lippen versiegelte, setzte Lilith ihren Weg fort.
* Das Zelt des von Jebal empfohlenen Karawanenführers Erg Ubari erhob sich etwa in der Mitte des arkadengesäumten, schattigen Ba zarviertels. Abn el Und-so-weiter hatte Lilith abgeschüttelt und wohl auch nachhaltig vergrätzt. Andere Händler, nicht halb so originell im An preisen ihrer Waren, waren an seine Stelle getreten. Lilith wußte nicht, was sie an sich hatte, daß jeder Händler – ob Besitzer eines festen Standes oder eines mickrigen Bauchladens – in ihr das geborene Opfer zu sehen schien. Jedenfalls war sie heilfroh, endlich das Schild der Karawanserei zu entdecken. Mit funkelnden Augen betrat sie das geräumige Zelt, in das man von außen keinen Einblick erhielt. Lilith hatte aufgehört, sich zu wundern, daß sie alle gängigen Sprachen und Schriften perfekt beherrschte, mit denen sie seit ihrem Erwachen konfrontiert worden war. Selbst vergessene Schriften wie jene, in der die EWIGE CHRONIK abgefaßt worden war, stellten
kein Problem dar … Angenehme Kühle und Dämmerlicht empfingen sie. Ihre Augen stellten sich spontan auf die Lichtverhältnisse ein, sonst wäre ihr der in einer Ecke zwischen einem Berg Kissen kauernde Berber wahr scheinlich nicht sofort ins Auge gesprungen. Er saß da, paffte an ei ner Wasserpfeife und blickte Lilith teilnahmslos entgegen. »Salam«, grüßte Lilith und legte die flache Hand unter ihr Herz. Der zerknitterte alte Mann grüßte zurück. Er wiegte leicht den Kopf. In den tiefen Furchen seiner Haut schien sich etwas wie durch die Schluchten einer finsteren Wolkenkratzerstadt zu bewegen. Lilith schüttelte den Kopf. Sie schrieb die Täuschung der tro ckenen Hitze zu, die ihr etwas zu schaffen machte. Binnen zu kurzer Zeit hatte sie zu viele Klimazonen durchquert. Vom australischen Südosten in den europäischen Norden und von dort aus fast ohne Aufenthalt weiter in die Sahara, die – so unglaublich es klang – ein Gebiet größer als der gesamte australische Kontinent umspannte … »Ich muß schnellstens zu einer bestimmten Oase und suche jeman den, der mich dorthin bringt«, sagte Lilith. »Sie wurden mir emp fohlen.« »Tritt näher, schwarze Taube. Meine alten Augen vermögen nicht mehr so gut zu sehen. Ich bin ein alter Wüstenfuchs. Nur draußen fühle ich mich wohl … Ich sehe, du bist erlesen schön. Welche Oase ist dein Ziel?« »Mir wurde gesagt, sie hieße El Nabhal … Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Name wahr ist.« Der Alte kicherte ins Mundstück des Schlauchs, der ihn mit der kunstvoll verzierten Pfeife verband. »Warum sollte er nicht wahr sein? Es ist eine wunderschöne Oase – aber zwei Tagesritte entfernt.« »Ritte? Ginge es schneller mit einem Wagen?«
Der Alte schnaubte. »Du beleidigst mein Ohr, schwarze Taube.« Während Lilith ihn musterte, erschien es ihr immer wahrscheinli cher, daß sie von Jebal gefoppt worden war. Dieser Berber würde sie nirgendwohin bringen. Er machte nicht den Anschein, als könnte er aus eigener Kraft auch nur das Zelt verlassen. Sie wollte sich enttäuscht abwenden, als hinter ihr die Plane vom Eingang zurückgeworfen wurde. Ein finster dreinblickender Mann trat ein, streifte Lilith mit einem einzigen Blick, der ihm zu genügen schien, um sich ein ausreichen des Bild von ihr zu machen, und stapfte dann an ihr vorbei zu dem alten Mann. Lilith wurde Zeuge, wie sich die beiden in hartem Azent miteinan der unterhielten. Dabei stellte sich heraus, daß sie mit dem Vater des Karawanenführers gesprochen hatte. »Junior« drehte sich ihr erst wieder zu, nachdem er gehört hatte, wohin Lilith wollte. Auch in seinen viel weniger ausgeprägten Furchen schien etwas zu … krab beln, als er sich an Lilith wandte. »El Nabhals Oase«, erklärte er strikt, »ist ein den Ungläubigen un zugänglicher Ort!« Lilith legte ihren ganzen Sexappeal in die Waagschale. Sie nahm den fremdartig-anregenden Duft des Karawanenführers in sich auf und vergaß fast, daß sein Vater sie immer noch nicht aus den Augen ließ. »Ich muß –«, setzte sie an. In diesem Augenblick betraten vier andere Personen das Zelt. Männer, nach einheimischer Sitte gekleidet. Selbst die Gesichter wa ren hinter dem Tuch, das ihre Köpfe vor der Sonne schützte, verbor gen. Nur die Augenpartien blieben frei. An der Art, wie sie zielstrebig auf Lilith zurückten, erkannte die Halbvampirin frühzeitig die Bedrohung, die von dieser Gruppe aus
ging. Als auch noch der Karawanenführer gebieterisch befahl, sie mögen Frieden wahren in seinem Zelt, war für Lilith endgültig klar, daß es sich weder um einen Geschäfts- noch um einen Freund schaftsbesuch handelte. Unter den weitfallenden Gewändern des Quartetts kamen plötz lich Klingen zum Vorschein. Zwei der Bewaffneten gingen kommen tarlos auf den Karawanenführer und dessen Vater zu und preßten ihnen Dolche gegen die Kehlen. Die beiden Verbliebenen nahmen Lilith in die Zange. Alles ging schnell, wie hundertfach einstudiert. Die Choreographie des Überfalls überrumpelte Lilith nur kurz. Dann zeigte sie, was in ihr steckte. Ehe sich der nächststehende Ein dringling versah, entwand sie ihm seinen Krummsäbel und blockte damit einen Streich des anderen ab. Als sich die beiden Klingen be rührten, legte sie alle Kraft in den Waffenarm, und hinter dem Tuch rann ein gedämpfter Laut der Verblüffung aus dem Mund des Wüs tenkriegers. Er taumelte unter Liliths wuchtigem Stoß zurück, fing sich aber umgehend und warf sich ihr erneut entgegen. Lilith wich spielerisch zur Seite. Ihr Blick kreuzte sich kurz mit dem des in Schach gehaltenen Karawanenführers. Er starrte kühl und frei von Angst um das eigene Leben zu ihr herüber. Auch sein Vater verfolgte die bewaffnete Auseinandersetzung, in die er im merhin – wenn auch passiv – eingebunden war, mit stoischer Ruhe. Liliths Gegner prallten miteinander zusammen. Der Krummsäbel des einen zerfetzte die Kleidung des anderen und brachte auch et was zum Vorschein, das bewies, daß Lilith es mit Gegnern aus Fleisch und Blut zu tun hatte. Rotes Blut. Der Anblick jener Köstlichkeit lenkte sie ab. Sie war durstig, kein Zweifel.
Aber in den Köpfen der Eindringlinge rumorte etwas. Eine andere Form von Blutdurst, dem ihren in gewisser Weise ebenbürtig … »Halt!« Als der hochgewachsene Beduine den nächsten Angriff führen wollte (jener, mit dem er zusammengeprallt war, lag noch betäubt am Boden), besann sich Lilith auf ihre Hypnosefähigkeit. »Keinen Schritt mehr!« Die Augen des Berbers glommen wie frisch gebrochene Kohle. Al les, was Lilith mit ihrem Beeinflussungsversuch erreichte, war, daß er noch gereizter gegen sie vorging. Wieder konnte sie ihm auswei chen. Doch diesmal fiel es ihr schon merklich schwerer, den ge wandten Kämpfer mit einer Finte zu täuschen und ins Leere laufen zu lassen. Sein Ehrgeiz wurde nur um so mehr angestachelt. Sein keuchen der Atem erfüllte das Zelt, und für seine Begleiter (auch für den, der sich jetzt wieder aufrappelte und dessen Säbel Lilith in der Faust hielt) schien es keiner Absprache zu bedürfen, um untereinander klarzumachen, daß dies nun vorrangig eine Sache zwischen Lilith und dem Säbelschwinger war. Lilith besaß keinerlei Erfahrung in solchem Kampf. Ihre Gegner waren auch keine Vampire, die zu töten sie anstrebte. Deshalb zö gerte sie länger, als gut für sie war. Der nächste Angriff fügte ihr eine klaffende Fleischwunde am rechten Oberarm zu. Als er ihr Blut sah, blieb dem Berber der Triumphschrei im Halse stecken. Die Farbe von Liliths Blut war das Wenigste, was ihn irritierte. Viel mehr erschreckte ihn die mit den Augen verfolgbare, gespensti sche Selbstheilungskraft ihres Körpers. Lilith selbst legte nach dieser Attacke alle Zurückhaltung ab. »Haltet ihr den Wahnsinnigen auf – wenn euch sein Leben lieb ist!«
fauchte sie in Richtung seiner Begleiter. Sie imitierte die schnalzende Sprechweise der Einheimischen und legte ihre ganze Gewalt in den Befehl. Umsonst. Heiseres Gelächter war die einzige Reaktion. Alle wider standen ihrer Hypnose. Und der Vermummte, der den Vater des Karawanenführers mit seinem Krummdolch in Schach hielt, rief: »Es ist uns lieb.« Im nächs ten Moment schlitzte er seiner Geisel die Kehle auf. Der alte Mann sackte in sich zusammen. Sein Sohn sah zu, wie er zu Boden ging. Immer noch seltsam kühl und unbeteiligt. Lilith fror trotz der Hitze. Der brutale Mord lähmte sie sekunden lang. Und die Stimme des Mörders tat ein übriges: »Hör auf, dich zu wehren, oder er –«, der Beduine wies auf den stolzen Karawanen führer, »– ist der nächste!« Das erneute Herannahen ihres unmittelbaren Gegners machte ihr klar, daß dies kein Einlenkungsangebot war, sondern die unver blümte Aufforderung, sich wehrlos abschlachten zu lassen. Die Beduinen dachten nicht daran, sie davonkommen zu lassen! Keiner von ihnen! »Zur Hölle!« fluchte Lilith. Sie warf sich dem Angreifer entgegen. Etwas in ihrer Brust schien zu explodieren, noch kurz bevor sie ex plodierte. Sie packte zu. Ihre Bewegungen kamen schneller, präziser als die des Vermummten. Sie brach ihm den Arm, als er ihrem Versuch, ihm seine Waffe zu entwinden, widerstand. Der Krummsäbel polterte zu Boden. Lilith kickte ihn außer Reichweite. Sie zog den Beduinen zu sich heran, riß ihm das Tuch vom Gesicht und preßte die Säbelspitze in die weiche Stelle zwischen markantem Kinn und Kehlkopf. Dabei
machte sie erneut die Entdeckung, daß etwas in den Hautfurchen auch dieses Mannes zu wandern schien. »Wer seid ihr?« keuchte sie und zerrte seinen Kopf am Haarschopf weit in den Nacken. »Rede, verachtenswürdiger Wicht!« Der »Wicht« von fast zwei Metern starrte sie an. Seine Augen waren weit aufgerissen. Aber nicht aus Furcht, sie könnte ihm das Leben nehmen. Er starrte unerbittlich. Mit zusam mengebissenen Zähnen fauchte er: »Bringt sie um! Nehmt keine Rücksicht auf mich! Worauf wartet ihr …?« Als sie heranrückten, fiel der Karawanenführer zu Boden. Lilith wußte nicht, ob man ihm ebenfalls die Kehle durchgeschnitten hatte. Sie wollte es nicht wissen. Sie stieß ihre Geisel gegen die mordlustige Gruppe und wandte sich um. Hinter ihr stand eine fünfte Gestalt, packte Liliths Arm und zerrte sie – ehe sie überhaupt wußte, wie ihr geschah – hinaus ins Freie. Sie begriff, daß dies keine weitere Attacke war. Sie erkannte den Boy aus dem Hotel. Jebal. »Was –?« Sie holte Luft. Er winkte brüsk ab. »Kein Wort! Wir müssen den Schergen des Magiers entkommen! Schweig und folge mir – keine Fragen!« Hinter ihnen entstand Bewegung. Ihre Verfolger stürmten hinter ihnen her und schrien: »Haltet die Ungläubige und ihren Kompli zen! Sie hat den edlen Erg Ubari getötet! Haltet sie …!« Der gesamte Bazar geriet in Aufruhr. Empörtes Geschrei flutete durch die enge Gasse. Dutzende Augenpaare durchbohrten die vermeintlichen Verbre cher. Irgendwo glaubte Lilith die Kugelgestalt Abn el Gurk Ben
Amar Chat Ibn Lot Fuddels des Fünften wahrzunehmen. Ein flie gender Teppich wäre ihr jetzt mehr als gelegen gekommen. Sich in eine Fledermaus zu transformieren, wagte sie angesichts einer halb en Stadt von Zeugen nicht. Außerdem hätte sie in dieser Gestalt nie manden mitnehmen können … Jebal riß sie herum und zog sie in eine Lücke zwischen zwei mau rischen Häusern. Er trieb sie zur Eile. »Wenn wir ihnen in die Hände fallen«, keuchte er, »sind wir tot!« »Wir haben nichts getan … Du schon gar nicht!« Er lachte humorlos. »Das Unglück ist, daß sie uns gesteinigt ha ben, bevor sie uns danach fragen!« Sie brauchte nur hinter sich zu schauen, um jeden Zweifel an die ser Behauptung zu verlieren. »Komm …!« Sie folgte ihm. Sie ordnete sich seiner offensichtlichen Ortskenntnis unter. Jebal rannte voraus. Hinter dem Ende des Hauses schwenkte er nach rechts und hetzte eine steile, steinerne Treppe hinauf. Lilith folgte auf das Dach des niedrigen Gebäudes. Jebal entpuppte sich als ausdauernd und artistisch begabt. Er bewegte sich unmittel bar vor Lilith, die mühelos jeden seiner Haken mitmachte und dabei von Gebäude zu Gebäude sprang. Die sehnige, gutgewachsene Gestalt des Jungen gefiel ihr zuneh mend, obwohl ihre Gedanken sich besser um andere Dinge gedreht hätten. Das war ein Problem. Vermutlich würde es immer ein Problem bleiben … Plötzlich tauchte Jebal ab. Statt die Kluft zum nächstgelegenen Dach im Sprung zu überwinden, ließ er sich einfach fallen.
Lilith folgte auch diesem Beispiel. Federnd setzte sie auf dem har ten Pflaster auf. Ein Arm zerrte sie in die Deckung eines Treppen aufgangs. Sekunden später trampelte über ihnen eine ganze Horde Verfolger vorbei. Sie warteten, bis die Schritte verklungen waren. Dann warteten sie – aneinandergepreßt – noch eine ganze Weile länger, ehe Jebal in die Gasse zurückkroch. Lilith spürte Bedauern. Aber sie beherrschte sich. Was blieb ihr übrig? Gestenreich bedeutete er ihr, auch jetzt noch zu schweigen. Offen bar gab es hinter jeder Tür Ohren, die ihnen gefährlich werden konnten. Stumm und auf allerlei Nebenwegen gelangten sie schließlich zu einem abseits des Bazargeschehens liegenden Haus, in das Jebal Li lith drängte. Kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloß gefallen, brach der jun ge Araber das Schweigen. »Geschafft! Hier wird uns niemand suchen!« Lilith blickte skeptisch. Dann sprudelte das aus ihr hervor, was ihr die ganze Zeit auf der Seele gebrannt hatte. »Warum hast du eingegriffen? Bist du mir vom Hotel aus gefolgt? Warum die Feindseligkeit dort – und auf dem Bazar?« Jebal entzündete eine Karbidlampe. Die Fensterläden blieben ver schlossen. Lilith sah eine karge Behausung. Außer dem Raum, in dem sie sich aufhielten, gab es offenbar noch andere Kammern. Zwei Türen zweigten ab. »Du bist Lilith«, sagte Jebal.
Ich weiß, lag ihr auf der Zunge. Bis sie begriff, daß er ihren Namen nicht hätte kennen dürfen. Sie hatte ihn weder im Hotel noch im Zelt der Karawanserei erwähnt. »Ich staune«, sagte sie. Er lächelte. Sein Lächeln erzeugte weitere Spannungen in ihrem Bauch. Und tiefer. »Alle im Hotel«, fuhr er fort, »warteten auf dich.« Lilith preßte die Lippen zusammen. Suchend sah sie sich um. Jebal zeigte auf eine Sitzgelegenheit, einen einfachen Schemel. Sie setzte sich. Er selbst nahm im Schneidersitz unmittelbar vor ihr auf dem Boden Platz. Als er zu ihr aufsah, fragte sie: »Was meintest du vorhin mit Schergen des Magiers?« Wieder lächelte er dieses Lächeln, dem man alles verzieh. »Ich glaube, ich bin dir Erklärungen schuldig – aber du mir auch. Ich bin ein sehr wißbegieriger Mensch!« »Fang an«, verlangte sie kehlig. »Wer bist du wirklich? Doch kein einfacher Bediensteter …« »Wer bist du wirklich?« fragte er. »Ich habe noch nie erlebt, daß die, die unter El Nabhals Fuchtel stehen, solchen Aufwand wegen einer einzelnen Person – noch dazu einer Frau – betreiben!« »Ich denke«, seufzte sie, »ich werde dieses beleidigende Frauen bild nicht aus euren Köpfen schlagen können – selbst wenn ich noch so oft zuschlage. Lassen wir es also dabei.« »Ich mag Frauen«, sah Jebal sich zur Verteidigung seiner Ehre ver anlaßt. »Ich werde darauf zurückkommen«, erwiderte Lilith trocken. »Zu nächst kommen wir zum Grund meines Hierseins: Wie ich schon im Hotel verriet, suche ich einen alten Freund.«
»Wie alt?« »Ein paar Jahre älter als du.« »Und du.« Er blinzelte ihr wider besseren Wissens zu und gab ihr den wohlgemeinten Ratschlag: »Du solltest dich nicht zu sehr auf alte Männer konzentrieren. Wir jungen machen mangelnde Erfah rung mit Kondition und Leidenschaft wett.« Er wurde schlagartig ernst. »Dieser Freund, den du suchst, scheint jedenfalls von großem Interesse für El Nabhal zu sein …« Ehe er weitersprechen konnte, unterbrach ihn Lilith. »Reden wir über dein Interesse. Warum hast du mir geholfen? Und bitte keine Ausflüchte!« »Du gefällst mir.« »Und der wirkliche Grund?« »Wir haben offenbar denselben Feind.« »Was heißt das? El Nabhal?« Jebal nickte. Seine Augen wichen ihr aus. Er ballte die Fäuste. In seiner Stimme lag plötzlich der Schmerz eines unersetzlichen Ver lustes. »Ich kann nicht darüber sprechen …« »Das solltest du aber. Vertrauen gegen Vertrauen!« Er zögerte. In seinem Gesicht fand Lilith nichts von der mysteri ösen Bewegung zwischen den Hautporen und Furchen, die sie nun schon bei so vielen hier bemerkt hatte. »Meine gesamte Familie wurde verschleppt«, sagte er endlich. »Die Spur führt zur Oase …!« »Verschleppt?« echote Lilith. Er nickte. »Sie sind nicht die ersten – und sie werden nicht die letz ten sein. Ständig verschwinden Menschen. Die Behörden ermitteln in den meisten Fällen nicht einmal – oder nur zum Schein. Die Spur führt in das Hotel, wo ich arbeite. Es scheint ein Knotenpunkt auf
dem Verschiebeweg zur Oase zu sein. Seit ich dort bin, habe ich einige interessante Unterhaltungen be lauscht …« Lilith beugte sich vor und nahm sein Gesicht zwischen die Hände. »Und du hast Duncan Luther, den ich suche, wahrhaftig im Hotel ge sehen?« Jebal ließ keinen Zweifel daran. »Noch heute morgen. Dann ver schwand er mit einem von El Nabhals Vertrauten!« »Dir ist nichts … an ihm aufgefallen?« »Doch.« Lilith wartete angespannt. »Daß er deiner nicht würdig ist! Er hatte nichts, keinerlei Persön lichkeit!« »Benahm er sich auffällig?« »Nein.« »Sagte er, wie er hierhergekommen ist – was er hier will?« »Er redete kaum. Zumindest nicht mit mir. Aber auch nicht –« Je bal zog die Stirn in Falten, »– mit dem Alten beim Frühstück. Der Alte redete. Unentwegt.« »Hast du gar nichts von der Unterhaltung verstanden?« »Nein. Ich versuchte es. Aber jedesmal, wenn ich mich dem Tisch näherte, verstummte der alte Mann.« Lilith schloß kurz die Augen. Die Hände beließ sie an Jebals Wan gen. »Und du glaubst, daß deine Familie dort draußen in der Oase zu finden ist? Wann wurde sie verschleppt? Warum redest du nicht mit der Polizei über deinen Verdacht?« »Warum redest du nicht mit der Polizei über deinen Verdacht?« »Ich vertraue niemandem.«
»Du solltest mir vertrauen.« »Wir werden sehen.« Jebal nickte. »Das werden wir. Ich bringe dich zur Oase.« »Das klingt, als hättest du bereits einen Plan.« »Mehr als das. Alles ist vorbereitet. Seit Tagen.« Lilith verhehlte ihr Mißtrauen nicht. »Du hast nur auf mich gewar tet? Tut mir leid, aber das solltest du näher erklären. Ich habe nicht vor –« »Ich habe auf jemanden gewartet«, unterbrach er sie. »Jemanden, der selbst ein Interesse hat, zu El Nabhal vorzudringen. Es ist immer besser, einen Verbündeten zu haben. Als sie im Hotel von dir tu schelten und davon, daß sie dich dem Magier in die Hände spielen sollten, erwartete auch ich gespannt deine Ankunft.« Lilith schwieg. Etwas stimmte nicht. Und dann wußte sie, was bei der ganzen Ge schichte nicht paßte. Der Überfall. »Du selbst hast mir den Tip mit der Karawanserei gegeben. Und euer Portier wies mir die Spur zu El Nabhals Oase«, sagte sie. Jebal nickte. »Ich ahnte nicht, daß man dir im Bazar nachstellen würde, sonst …« Lilith nickte. »Genau das ist das Seltsame.« »Wie meinst du das?« »Ich war bereits auf dem besten Weg zur Oase. Auch wenn sich dieser Erg Ubari noch etwas zierte, ich hätte ihn überredet! Warum, um alles in der Welt, sollte man dann noch diesen Überfall anzetteln und Menschen umbringen? Hätte man mich töten wollen, wäre dies im Hotel sicherlich auch schon, sogar einfacher, möglich gewesen. Wer also steckt hinter diesem Überfall, der so offensichtlich mir ge
golten hat? El Nabhal scheidet aus!« Jebal schüttelte den Kopf. »Er liebt die verschlungenen Wege! Er ist ein Sadist! Aber ich werde ihn zur Rechenschaft ziehen. Bald wird sein Name nur noch Geschichte sein …« Lilith sah ihn an und überlegte, ob es wirklich ratsam war, sich der Unterstützung eines Fanatikers zu versichern. Sie hatte keine Wahl. »Wann brechen wir auf?« »Nach Einbruch der Dunkelheit. So lange sollten wir ruhen und Kraft schöpfen. Uns erwarten große Strapazen.« Er zeigte Lilith ein Lager, wo sie sich hinlegen konnte. Jebal löschte das Licht, ehe er in einen Nebenraum verschwand. »Laß die Tür offen«, bat sie. Mit der Erkenntnis, daß sie vergessen hatte, Stålheim anzurufen, und dies auch so bald nicht würde nach holen können, schlief sie ein.
* Sydney Nachbarn hatten die Polizei über schreckliche Schreie und Kampfge räusche aus einer Wohnung in der Craigend Street informiert. Ge funden worden war der übel zugerichtete Leichnam eines Callboys … Lenny Woodview grunzte, als er ihn ins Kühlfach schob. »Junge, Junge, was hast du bloß, was ich nicht habe … Ich meine, außer durchschnittener Kehle …« Dumpfkühe, dachte er sodann. Und meinte die Weiber, die für ein
Schäferstündchen mit einem solchen Typen bis zu einem halben Wochenlohn hinblätterten, während Männer wie Lenny große Mühe hatten, eine Frau einmal im Leben und ohne die Hand aufzuhalten ins Bett zu locken. Irgend etwas lief falsch in dieser Welt. Ganz beschissen falsch …! Lenny war Assistent eines Assistenten. Mit anderen Worten: Er machte die Drecksarbeit in der Gerichtsmedizin. Lenny hier, Lenny da. Wenn andere pfiffen, hatte er zu flitzen. Das Leben kotzte ihn an, und dieser Tote ganz besonders. Er pfiff On the sunny side of life und schloß die Klappe hinter der Rollbahre. Dann pilgerte er zu seinem Stuhl neben der Tür zurück und stellte sich daneben. Er hatte keine Lust, sich hinzupflanzen. Jetzt nicht. Der tote Typ regte ihn auf. Immer noch. Verdammt, da war Alyson aus dem dritten Stock. Schon am ersten Tag hatte er versucht, sie mit einem Joke zur Unkeuschheit zu über reden. Okay, Alyson war verheiratet. Aber sie legte sich auch für diesen Arsch MacCoy hin. Nicht offiziell, klar. Aber Lenny hatte die beiden in der Kleiderkammer erwischt. Gestern. Die hatten ihn gar nicht bemerkt, so waren die am Machen gewesen! Das Wandtelefon neben der Tür blieb stumm. Kein Aas verlangte irgendeine Leiche. Faule Säcke, dachte Lenny. Tage wie diesen verpennte man am bes ten. Dann versäumte man auch nichts und konnte wenigstens in Ruhe von den wirklich guten Girls träumen. Hier verging einem doch die Lust an allem! Das Telefon schwieg immer noch, aber es klopfte. »Herein!« fauchte Lenny. Er haßte Höflichkeit. Er haßte die nötigende Art, wie manche ihre
Höflichkeit zelebrierten. »Herein!« knurrte er noch einmal. Aber es klopfte nur weiter. Lenny öffnete die Tür. Draußen stand niemand. Obwohl es weiterklopfte. Lenny drehte sich um. Er hustete kurz und pulte mit den Fingern in seinen Gehörgängen, doch auch nach dem Durchputzen wieder holte sich das Klopfgeräusch ungeniert. Irrtum ausgeschlossen. Plötzlich dämmerte es Lenny. Hatte Atkinson vorhin nicht geradezu verboten schmierig ge grinst, als er den toten Typen brachte? Patsch! Lenny schlug sich gegen die niedrige Stirn. Er arbeitete erst zwei Wochen hier. Sein Schwager hatte ihm den Job vermittelt und ihn von Anfang an gewarnt, daß er mit derben Späßen und makabren Aufnahmeritualen rechnen müsse. Mediziner seien keine normalen Menschen … Für Lenny war es plötzlich eine abgemachte Sache, daß dies doch noch sein Tag werden konnte. Man wollte auf seine Kosten kräftig ablachen, aber er würde den Spieß umdrehen … Ganz cool, Boy! Klopf-klopf, machte es. »Klopf-klopf«, kicherte Lenny und stakste breitbeinig, als hätte er einen Gaul zwischen den Schenkeln, auf das gerade geschlossene Fach zu. Er legte die Handfläche gegen das kühle Metall und spürte die Erschütterung, jedesmal, wenn es von innen dagegenpochte. Lennys Verachtung für den toten Typen war längst verraucht. Er war phantastisch gut geschminkt. Vielleicht sogar von Alyson, der
kleinen Schlampe, die jetzt wie alle anderen darauf lauerte, daß ihm die Muffe ging. Daß ihm das Klappern der Zähne die Plomben sprengte und er schreiend davonrannte … Pustekuchen! »Was willst’n eigentlich?« schnauzte er. »Gib Ruhe – du bist tot!« Hahaha. Das sollte ihm mal einer nachmachen. »Auf-ma-chen!« röchelte eine Stimme wie aus dem Grab. Das Klopfen verstummte. Verdammt, hoffentlich merkte niemand Lennys Gänsehaut. Jedes Härchen am Körper stellte sich ihm auf. Er hebelte den Verschluß auf. Über die Schulter spähte er zur Tür, die er halboffen gelassen hatte. Dort war nichts zu hören. Kein Laut. Er gab sich einen Ruck. Er riß die Luke auf. Der Kopf des »Toten« hatte schon in Lennys Richtung gezeigt, als er ihn ins Fach geschoben hatte. Anders hätte er es auch kaum ge schafft, sich in der Enge zu drehen. Statt auf dem Rücken lag er jetzt auf dem Bauch. Das Gesicht war Lenny entgegengehoben. Am Hals klaffte die Wunde. Durchtrennte Adern und Gefäße, tief wie ein kleiner Finger lang, waren zu bestaunen … Kein Make-up der Welt brachte dies zustande. Außerdem war hier nicht Hollywood! Lenny warf sämtliche guten Vorsätze über Bord. Und kippte um.
*
Bir el Khzaïm Noch vor Einbruch der Dunkelheit schrak sie aus ihrem leichten Schlaf. Die stete innere Unruhe war schuld daran. Und die schlech ten Träume. Sie dachte wieder pausenlos an Duncan. An die Unmöglichkeit all dessen, was sie seit ihrer Ankunft erfah ren hatte. Daß er aß und trank. Daß er im KEUR MASSADA abgestiegen und von dort aus weitergereist war wie ein ruheloser Abenteurer. Daß er außer einer gewissen Verwirrung keine besonderen Merkma le gezeigt hatte. Nichts, was jemanden wie Jebal besonders mißtrau isch gemacht hätte … Auch ihr eigenes Gespräch mit Duncan stieg immer wieder an die Oberfläche ihres Bewußtseins zurück. Auch da hatte er verwirrt und verängstigt geklungen. Als wüßte er selbst nicht, wie er von Indien hierhergelangt war. Als wüßte er nicht einmal, warum Lilith nicht bei ihm gewesen war, als er wieder zu sich fand! Es war Monate her, seit sie ihn im TAJ MAHAL, einem Hotel in New Delhi, tot zurückgelassen hatte. Sie hatte den Verlust einiger maßen verarbeitet gehabt. Auch weil Beth ihr geholfen hatte. Nun hatte sich Beth von ihr distanziert, und dafür war ein Toter zurück gekehrt. Dahinter konnte nur eine Teufelei stecken! Eine Falle der Vampire! Schon in Sydney, kurz vor der Abreise nach Finnland, hatte sich Landru ihr gewiß nicht zufällig ins Gedächtnis zurückgerufen. Er verfolgte die Absicht, sie zu belauern und sie dies auch wissen zu
lassen … Lilith erhob sich lautlos von ihrem Lager. Der Symbiont hatte sein Aussehen nicht verändert. Immer noch formte er ein an Tristesse und Einfallslosigkeit schwer überbietbares Kleid, das all die sonst offensichtlichen Reize ihres Körpers zu schlucken versuchte. Es war ihr gleich. Noch. Sie blickte auf die offene Tür, die zu Xebal führte. Etwas in ihr zog sich knotenartig zusammen. Sie kämpfte dagegen an. Auch weil sie in letzter Zeit eine erschreckende Entdeckung hatte machen müssen: Immer häufiger verlangten unterschwellige Stimmen in ihren Ge danken von ihr, die Spender im Anschluß an den Blutgenuß zu tö ten. Seitdem machte ihr das Trinken beseelten Blutes keine rechte Freude mehr. Die Einflüsterungen bedrückten und verunsicherten sie. Dennoch konnte sie nicht völlig auf Blut verzichten. Ihr Organis mus akzeptierte nichts anderes. Mein einziger Vorteil ist, dachte sie mit Galgenhumor, daß ich nicht schwitze. Sonst bräuchte ich in diesem Wüstenklima Unmengen von Blut, um meinen Flüssigkeitshaushalt zu regulieren! Sie durchwanderte den Raum, schlüpfte durch die Tür. Ihre Augen entzauberten auch hier die Dunkelheit. Jebal lag auf dem Rücken. Seine Augen waren geschlossen und öffneten sich auch jetzt nicht. Sein regelmäßiger, flacher Atem verriet, daß er schlief. Ein ganzes Sortiment unterschiedlich gefärbter und verzierter Tü cher hing an einer Leine, die von einer Wand zur anderen gespannt war. Wie zum Trocknen. Aber sie waren nicht feucht. Sie bewegten sich bereits in dem leisen Windhauch, den Liliths Eintreten erzeugte. Die Halbvampirin entdeckte faszinierende Muster von fast hypno tischer Kraft. Auf Zehenspitzen bewegte sie sich an Jebal vorbei und
strich über das erstbeste Tuch. Nachdem sie es berührt hatte, mußte sie es auch von der Leine nehmen. Lautlos und seidig lief es durch ihre Finger, entfachte ganz eigentümliche Gefühle. Lächelnd legte sich Lilith das Tuch um den Hals. Es streichelte ih ren Nacken und löste die Knoten in ihrem Bauch. Jede Verspannung wich aus ihrem Körper. Und selbst ihre Seele schien zu frohlocken, als sich das Tuch fast selbständig weiter entfaltete, ihren Rücken hinabrieselte wie ein warmer Wasserfall. Nach vorn über ihre Brüste fiel und daran zu saugen und zu lecken schien … Lilith stand da wie angewurzelt. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, aus Angst, der Zauber könne verfliegen. Etwas Seltsames geschah: Auch der Symbiont zollte den Liebko sungen des Geschmeides Tribut. Ohne daß Lilith bewußt einen ent sprechenden Wunsch äußerte, löste sich das unattraktive Kleid auf und (sie sog den Atem ein) entblößte ihren Körper völlig. Splitter nackt stand sie neben Jebal. Wie eine unbekannte Macht sie erschaf fen hatte. Nur ein exotischer, das Gesicht unterhalb der Augen ver hüllender Schleier, in den der Symbiont sich verwandelt hatte, war geblieben. Lilith nahm es hin. Mehr noch: Sie nahm es als Aufforderung. Sie machte nicht einmal den Versuch, sich gegen das Verlangen zu sträuben, das plötzlich ihr Nervengeflecht durchströmte. Sie glühte wie im Fieber. Sie umschloß ihre eigenen Brüste und preßte sie kurz zusammen. Das Gefühl war unbeschreiblich. Es gierte nach mehr. Das seidige Tuch streichelte wie schwerelos über ihre Haut. Lilith brauchte es nicht in Bewegung zu halten. Es bewegte sich selbst. Ohne zu hindern. Hauchzart … Lilith ging neben Jebal in die Hocke. Ihre Hand legte sich auf sein
vom Gewand bedecktes Geschlecht. Sie tat es verlangend, aber nicht derb. Sie wußte, wie empfindlich dieser Bereich bei einem Mann war. Natürlich weckte sie ihn. Natürlich riß er die Augen auf und wußte, wer bei ihm war, auch wenn er nichts oder wenig sah. Ein Lächeln prägte sich um seinen Mund. Er sagte kein Wort. Lilith liebkoste sein Glied durch den Stoff hindurch. Es reagierte wie erhofft. Ihr Gesichtsschleier berührte Jebals Lippen. Zu seinem Lächeln gesellte sich Verwunderung. »Träume ich?« fragte er rauh. Das Tuch auf ihrem Körper streichelte auch ihn. Dies als Antwort schien ihm zu genügen. Verzückung leuchtete in seinen hübschen Augen. Er hob die Hand und schob ihren Schleier zur Seite. Mit der anderen Hand umklammerte er ihren Nacken und zog ihre Lippen auf seinen Mund herab. In Liliths Schoß sammelte sich warme Feuchte. Als würde ein Stück Butter darin geschmolzen. Sie stöhnte. Ein Urgefühl über mannte sie. Jebals Zunge tanzte in ihrem Mund, und der Austausch der Säfte machte Lilith fast verrückt. Sie schmeckte den fremdarti gen Speichel dieses Mannes, und es war, als würden letzten Schran ken davon niedergerissen. Sie schob sich über ihn. Die harten Spitzen ihrer Brüste rieben über sein Gewand, bis sie dieses Hindernis nicht mehr ertrug. »Zieh es aus!« bat sie heiser. Er tat es, ohne daß sie ihn noch einmal freigab. Sie blieb auf ihm sitzen. Bewegte sich wie eine Schlange. Half ihm, wo Hilfe ange bracht war. Und dann hatte sie ihn so, wie es ihr gefiel.
Wie es ihm gefiel. Das an ihr verbliebene, hauchdünne Tuch störte nicht. Der Schleier des Symbionten störte nicht. Beides wurde eingebunden. Beides schürte die lodernde Leidenschaft. Jebal verlor keine Zeit. Während er an Liliths üppig-festem Busen saugte, kneteten seine Hände ihre Pobacken, streichelten ihren Schoß und zeigten schließlich dem hoch aufgerichteten Glied den Weg in Liliths Pforte. Lilith wurde von Wogen höchster Wonne überrollt. Bereitwillig ließ sie sich treiben. Sie schrie, als er unbeherrscht in sie stieß. Er füllte sie so machtvoll aus, daß ihr die Sinne vollends zu schwinden drohten. Vielleicht schwanden sie ihr tatsächlich. Sie achtete nicht darauf. Sie war eine Gefangene ihrer Libido. Intensiver als in diesen Mo menten hatte sie ein Liebesspiel nie genossen. Jebal brauchte nicht einmal viel zu tun. Aber alles, was er tat, tat er auf eine nie zuvor erlebte Weise. Jede leise Berührung seiner Haut versetzte Lilith in enthemmte Schauer. Trotzdem vergaß ihre Zunge nie den arabischen Dialekt, als wirke die »Programmierung«, die Li lith einst erfahren hatte, tiefer als ihr bewußtes Sein. »Ja«, flüsterte sie. »Du tust so gut …« Auch er stöhnte. Auch er preßte Komplimente hervor. Auch seine Lust suchte Worte als Ventil. Er wollte sie auf den Rücken werfen, aber sie ritt gerade einem neuen Gipfel entgegen und wehrte ab. Ihre Hände suchten Halt, um sich gegen sein Ungestüm zu behaupten. Sie fanden eines der ande ren an der Leine hängenden Tücher, krallten sich hinein, rissen es herab und … … der Zauber verging! Zumindest bei Jebal.
Er warf sie so heftig ab, daß es ihm selbst am meisten weh tun mußte. Er entriß Liliths Händen das Tuch, das sie – wie zuvor das andere – zu umschmeicheln begonnen hatte, und schleuderte es in den fernsten Winkel des Raumes. Erst als es dort leicht, wie eine Fe der niedersank (nur Lilith vermochte es zu sehen, Jebal konnte es nur ahnen), erkannte Lilith den kurzen Anflug von Entsetzen auf dem erhitzten Gesicht des Mauren. »Was ist?« fragte sie. »Überkommt dich die Reue? Warum?« Sie fühlte sich unbefriedigt und immer noch zerfließend vor Be gierde. Warum tat er ihr das an? Er trat auf sie zu. Er spürte sie in der Dunkelheit. Seine Hände glit ten über ihre Brüste. Sie seufzte, weil sie dachte, er würde die Eksta se, in der sie immer noch gefangen war, vertiefen. Statt dessen entriß er ihr auch das Tuch, das ihre Blöße umschmeichelte. Ernüchtert beobachtete Lilith, wie er es in den Raum schleuderte. Sie schwankte kurz unter dem Eindruck eines Verlusts. »Was …?« »Kannst du jetzt wieder klar denken?« fragte er. »Wie meinst du das?« Sie fühlte sich verletzt. »Deine Unbeherrschtheit hätte mich fast getötet!« warf er ihr vor. Er entfernte sich tastend von ihr und zündete eine Petroleumlam pe an. Nackt kehrte er zu ihr zurück. Seine Erektion war verschwun den. Aber sein Körper erregte Lilith immer noch – wenn auch un gleich weniger als Minuten zuvor. »Wie kommst du darauf?« fragte sie ärgerlich. »Dein Vorwurf ist –« »Berechtigt!« unterbrach er sie. »Du hast keine Ahnung, womit du gespielt hast. El Nabhals Tücher sind Segen und Fluch, je nachdem, welches man erwirbt. Du hättest mich getötet, wenn ich nicht sofort
eingeschritten wäre … Zumindest hättest du es versucht …« Lilith begriff immer noch nicht. Aber der Begriff »El Nabhals Tü cher« rief ihr den heimlich beobachteten Sex zwischen Landru und der Werwölfin Nona ins Gedächtnis zurück. »El Nabhal sei geprie sen!« hatte Landru damals im Rausch der Sinne geseufzt, und jetzt erinnerte sie sich auch wieder, daß Vampir und Werwölfin während des Liebesakts von kunstvollen Tüchern wie von lebendigen Derwi schen umtanzt worden waren. Tücher, die Nona aus dem Schrank genommen hatte, in dem sich Lilith verborgen hielt … Damals hatte sie den Namen El Nabhal zum erstenmal vernom men. Dann erst wieder hier in Bir el Khzaïm im Hotel. El Nabhals Tücher. El Nabhals Oase … Jebals Augen hingen an Liliths Körper. Staunend maß er kurz den Schleier und fragte sich wohl, woher sie ihn genommen hatte. Aber dann zog die vollkommene Form ihrer Figur seine Blicke auf sich. Es besänftigte Lilith ein wenig, zu sehen, wie eingenommen er von ihr war. Immer noch. Sie überwand die Kluft, die sie trennte. Sie schob den Schleier zur Seite, küßte seinen Hals und spielte mit sei nem weichen Glied, das augenblicklich anschwoll. »Du schuldest mir eine Erklärung«, sagte sie. »Was immer ich im Bann der Tücher tat oder noch getan hätte – du bist schuld. Warum bewahrst du solche Versuchung in deinem Haus?« Er rieb sich an ihr. Er schmeckte die Haut ihrer Brüste, die nicht salzig wie bei einem Menschen war, sondern ein anderes, ihn be geisterndes Aroma besaß. »Was bist du nur für ein Geschöpf«, stöhnte er. »Ich sah nie eine Frau, die deiner Vollkommenheit auch nur nahekäme. Allah muß dich in bester Laune erschaffen haben.« »Nichts weniger als das«, bekundete sie und schlang ihre Arme
um seinen Hals. Er wußte sofort, was sie wollte. Sie zog sich an ihm hoch, und er unterstützte ihr Bemühen mit sei nen muskulösen Armen. Sie liebten sich im Stehen. Langsam und genußvoll, auch ohne von erotisierendem Gewebe umschmeichelt zu werden. Erst als Jebal in ihr kam, übermannte ihn die Schwäche, und er sank mit Lilith zu Boden. Schweigend lagen sie eine Weile nebeneinander, ehe Jebal, immer noch schwelgerisch, die Stimme hob: »Ich erwarb dieses Sortiment von einem der Händler, die hier in El Nabhals Namen dessen Macht verbreiten. Jeder Erwachsene in der Stadt weiß, daß die Verspre chen, mit denen die Handlanger werben, wahr sind. Sie bieten Tü cher für alle Lebenslagen feil. Tücher zur Potenzsteigerung, zur Beru higung, Glückstücher, die ihre Träger den lieben langen Tag in Eu phorie herumlaufen lassen, und andere, die man nur erwirbt, wenn man haßt. Du hast nach einem solchen gegriffen – vorhin. Es ist ein Tuch, das den Träger alle Hemmungen fallen und vergessen läßt. Alle. Es bewirkt, daß er ohne Wimpernzucken einen Mord zu bege hen vermag – und sich nichts sehnlicher wünscht, als dies zu tun …« »Wovor –«, Lilith räusperte sich, »– hattest du dann Sorge? Ich hasse dich nicht. Es wäre nichts geschehen. Und was ist mit dir? Du müßtest alle Tücher fürchten, weil sie auch dich in ihren zwanghaf ten Bann schlagen. Aber du hast sie hier aufgereiht, als könnten sie dir nichts anhaben!« Er nickte. »Es gibt Maßnahmen, die man ergreifen kann, wenn man den Zauber eines Tuches kennt. Nur unvorbereitet würde auch ich ihm verfallen …« Er verstummte. Dann fügte er hinzu: »Ich wollte die Tücher erforschen, um zu erfahren, wie El Nabhals Magie
wirkt. Wie groß seine Macht ist.« »Und? Hast du es herausgefunden?« Er formte ein Lächeln frei von Bedauern. »Du kamst dazwischen.« »Du kamst dazwischen«, korrigierte sie und deutete dorthin, wo er jederzeit wieder willkommen war.
* Zur selben Zeit Als sich die Tür öffnete, ballte der Magier das zuvor mit beiden Händen aufgespannte Tuch wieder zusammen. Die Bilder, die dar auf erschienen waren, erloschen. »Ich sorge mich ein wenig«, sagte die rothaarige Werwölfin, mit der gemeinsam er die Oase regierte. Sie sah aufregend aus wie immer. Ihr Charme war der eines Mischwesens, halb Mensch, halb hinreißende Bestie. Die Augen konnten nicht verhehlen, daß sie einer Wölfin gehörten. Animalisch wie die Lust, die sie auslebte, wann immer es sie verlangte. Auch zwischen den Mondphasen. Auch ohne mich, dachte El Nabhal bitter. »Warum?« fragte er und legte das Tuch zur Seite. Er drehte sich ihr zu. Sie kam nur noch selten zwischen den Zeiten. Anfangs hatte er geglaubt, sie täte es aus Rücksichtnahme ihm gegenüber. Weil sie ihn nicht ständig daran erinnern wollte, daß er ohne die Mondkräf te, die er in seinen Tüchern sammelte, kein vollwertiger Mann war. Alt und verbraucht vegetierte er zwischen Neumond und Wolfs mond dahin.
Mittlerweile wußte er, daß sie einfach keine Lust hatte, ihre Men schentage in Gegenwart eines Greises zu vergeuden, der sich mit Mühe und Magie über die Runden rettete. Immer öfter kehrte die Werwölfin der Oase den Rücken und be reiste die Welt jenseits der Wüste. Noch kehrte sie zurück. Noch be richtete sie ihm von den Erlebnissen »draußen«. Aber selbst dabei hegte El Nabhal immer häufiger den Verdacht, daß sie es nur tat, um ihn zu martern. Mit Vorliebe erzählte sie von erotischen Begeg nungen, die sie während ihrer Reisen erlebte. Und mit besonderem Vergnügen hatte sie ihm jüngst ihre Wiederbegegnung mit Landru geschildert. In allen Details … El Nabhal sog tief den Atem in seine unelastisch gewordenen Lun gen und wartete auf ihre Antwort. »Ich habe keine Nachricht aus der Stadt. Ich weiß nicht, wie die Ankunft jener, die uns angekündigt wurde, verlaufen ist. Sie müßte bald hier eintreffen. Was sagen deine Fetzen?« Er bewegte keine Miene. Seine Gedanken, auch wenn sie beleidi gend wurde, blieben sicher behütet wie in einer eisenbeschlagenen Truhe. »Noch keine Anzeichen von ihr.« Sie wiegte zweifelnd den Kopf. »Was ist mit dem Aussatz. Haben wir von ihm etwas zu befürchten?« »Ich konnte nichts Gegenteiliges erkennen. Außerdem stehen die, auf die du wartest, unter meinem Schutz«, log er erneut. Sekundenlang musterte sie ihn mit ungewohnter Schärfe. Es bestä tigte nur, was er längst wußte. Sie dachte fast nur noch an ihn – Landru. Wie sie ihn wohlgesonnen stimmen konnte. Ihn! Bevor sich die beiden nach langer Zeit wiedergetroffen hatten, war alles seinen geregelten Gang innerhalb der Oase gegangen. Die Jagden hatten auch El Nabhal erfreut. Weil seine Vertraute danach immer beson
ders leidenschaftlich, besonders anhänglich gewesen war. Landrus Bote und das, was er gebracht hatte, stellten dies alles in Frage. Der »Gefallen« war ein Schlag ins Gesicht des Magiers. Denn ihn hatte Landru nicht gefragt. Nur die Herrin der Wölfe. Nur … … Nona, seufzte er in Erinnerung an bessere Zeiten. Auch dies fand keinen Niederschlag auf seinem Gesicht. »Leih mir einen Fetzen«, sagte sie. Wie immer klang es nicht bittend, nicht einmal respektvoll, nur einfach fordernd. Wie immer fragte El Nabhal: »Welchen Zaubers?« »Ich will fremde Träume sichtbar machen.« »Wessen?« Sie machte eine herrische Geste. Ihre Nasenflügel blähten sich auf. Sie war nicht sehr geduldig an diesem Abend. »Hast du ein Tuch, das dies vermag?« Er öffnete den Schrank, in dem er seine Experimente aufbewahrte. Die nicht ganz alltäglichen Wünsche-Erfüller. »Du weißt, daß die Tücher ihrem Besitzer nicht nur geben, son dern auch nehmen. Sei vorsichtig …« Sie lachte abfällig. »Wo willst du hin?« rief er ihr nach, als sie Anstalten machte, sich mit dem Tuch unverzüglich zu verabschieden. Sie hielt es nicht einmal für nötig, zu antworten. El Nabhal sah ihr ausdruckslos nach. Erst als er wieder sein Tuch aufspannte und die um die Oase streunenden Killer beobachtete, hellte sich seine Miene auf.
*
Nona durchquerte die von Dattelpalmen umsäumte und von über dachten Gassen beschattete Stadt, deren Gebäude wegen der großen Tageshitze so wenig Öffnungen wie möglich aufwiesen. Das Leben hier ging seinen gewohnten Gang. Nona war seiner längst überdrüssig geworden. Sie sehnte sich nach der abwechs lungsreichen Welt draußen und gestand sich ein, daß nur die Furcht vor El Nabhals Rache, falls sie ihn eines Tages für immer verlassen würde, sie hier hielt oder zur Rückkehr bewegte, wenn sie einmal fort war. Alles, was sie ihm zwischenzeitlich an Schroffheit und Seelenver letzung beifügte, waren im Grunde nur Tests. Sie wollte Grenzen abstecken. Die Stärke, die sie nach außen ver mittelte, hätte sie sich im Innersten gewünscht. Immer häufiger fragte sie sich, was sie über El Nabhal eigentlich wußte. Wie war es zu ihrer unseligen Allianz gekommen? Bedeutete ihr Unvermögen, sich daran zu erinnern, nicht schon, daß sie unter seinem Einfluß stand? Was war mit den süchtigmachenden Tüchern, von denen sie gera de ein weiteres verlangt hatte? Sie gaben und nahmen. Was nahmen sie? Auch das hatte Nona vergessen, aber ihr Stolz verbot es, dies dem Erschaffer der Tücher gegenüber einzugestehen … Der Wächter ließ sie wortlos passieren. Er verneigte sich speichel leckend. Nona maß ihn mit kühlem Blick. Der brutale Zug um sei nen Mund gefiel ihr. Doch dann konzentrierten sich ihre Gedanken ausschließlich auf den Gefangenen. Sie schloß die Tür mit dem au ßen steckenden Schlüssel auf und trat in den halbdunklen Raum, wo
der »Gefallen«, den sie Landru erwies, schlief. Er war, seit er hier angekommen war, ohne Bewußtsein. Eingehüllt in ein entsprechendes, schlaf erzwingendes Tuch aus El Nabhals ma gischer Webstube. Nona blieb vor ihm stehen, nachdem sie die Tür hinter sich zuge drückt hatte. Durch ein vergittertes Fenster drangen Alltagsge räusche herein. Nona nahm sie kaum wahr. Sie blickte auf den blon den Mann hinab, den ein Inder in Bir el Khzaïm »abgeliefert« hatte. Von dort aus hatte ihn einer von El Nabhals Gewährsleuten zur Oase gebracht. Seit seiner Ankunft hatte er nichts gegessen und nichts getrunken. Das Webzeug, das ihn bedeckte, reduzierte die Bedürfnisse seines Körpers auf ein absolutes Minimum. Aber der Mann, über dessen genaue Bewandtnis Nona wenig erfahren hatte, träumte. Ein paar mal hatte er im Schlaf geredet. Nur war diesen kurzen, abgehackten Äußerungen nichts zu entnehmen gewesen. Nona vertraute Landru völlig, obwohl sein Bote ein großes Ge heimnis über Sinn und Zweck dieses Mannes gemacht hatte. Sie war entschlossen, auf eigene Faust etwas über ihn zu erfahren, bevor jene Ereignisse eintraten, die der Bote vorausgesagt hatte. Nona hatte sich nicht nehmen lassen, ihn eigenhändig zu entklei den und mit dem Schlafzauber zu umgarnen. Die Sachen, die er ge tragen hatte, lagen neben der Bettstatt auf einem Schemel. Sie selbst setzte sich in Höhe des Kopfes neben ihn auf den Rand des Lagers. Sie strich kurz über sein kühles Gesicht und durch das struwwelige Haar. Er hatte einen hübschen Mund und blaue Augen, die jetzt nicht zu sehen waren. Aber etwas an ihm wirkte für ihren Ge schmack zu weich. Sie bevorzugte eine gewisse Härte bei Männern. Eine Weile betrachtete sie den Schläfer, der sich trotz gebremster Motorik ein paarmal unruhig wälzte. Dann breitete sie sorgfältig das
mitgebrachte Tuch über seinen Kopf. Sofort wurde er ruhiger. Sofort huschten schattenhafte Reflexe – heller als das Zwielicht des Raumes – über die Oberfläche des Tuchs, das Nona etwas straffer zog. Es dauerte ein wenig, bis sich die Traumbilder stabilisierten, aber dann wurde Nona Zeugin seltsamer Begebenheiten, von denen sie auch hinterher nicht wußte, ob es bloße Träume oder Aufarbeitun gen vergangener realer Geschehnisse waren.* Sie ließ sich darauf ein. Ließ die Zeit verstreichen im Bann eines Bilderkabinetts, das Sze nen wirrer Eindringlichkeit entwarf. Eine Wohnung. Unbekannt. Eine Frau auf einer Couch. Unbekannt. Ein Mann daneben auf dem Teppich. Unbekannt. Obwohl es finster war, war alles zu »sehen«. Der Mann erhob sich urplötzlich. Durchstreunte die Wohnung. Kam dabei immer näher auf das »Auge« zu, das diese Szene be trachtete. Als der Kontakt zustande kam, riß er die Arme hoch und verzerr te das Gesicht zu einem Ausdruck blanken Entsetzens. Der ganze Körper hielt wie gelähmt inne. Das »Auge« schloß sich … Eine Weile blieb das Tuch dunkel. Chaotische Muster huschten darüber. Chaos im Hirn eines Menschen. Nona bewies Geduld, die sie selbst verwunderte. Wer war dieser Mann? Warum wollte Landru, daß sie ihn hier »aufbewahrte«, bis … Ein anderer Raum. Unbekannt. Käfige mit weißen Mäusen. Aufruhr. Panik. Der Hauch des Todes, spürbar in jeder Reaktion dieser Tiere, die sich wie toll benahmen. Die ihre Käfige durchbrachen und doch nicht weit *vergleiche mit VAMPIRA 17: »Der Schattenbote«
flüchteten, sondern von unsichtbarer Hand dirigiert, geordnet und gemor det wurden. Deren Leichen lesbare Schrift formten. Unvollendet: HÜTE DICH VOR MIR. GLAUBE MIR NICHT. ICH WERDE – Ein Mann mit schulterlangen, blonden Haaren, ein Gewehr in der Hand, stürmte den Raum. Das »Auge« schloß sich … Nona erbebte und glaubte zunächst, es läge an der unheimlichen Art, eine Warnung hinzuschreiben, die das Tuch ihr enthüllt hatte. Aber dann erkannte sie, daß das Beben ein vertrautes Vorzeichen der immer stärker werdenden Gezeitenströme war. Bald würde sie ihr Rudel wieder anführen. Bald … Wieder eine andere Wohnung. Unbekannt. Ein anderer Mann. Unbe kannt. Aber gutaussehend. Eine Frau. Unbekannt. Aber Vampirin. Offen sichtlich. Ihre Zähne traten über die sinnlichen Lippen. Dann verformten sich die Züge ins Wölfische. Vampire adaptierten gern jenes Tier, das Inbe griff aller Stärke und Schläue war … Aber hier kam der Wolf nicht zum Ausbruch. Hier packten scheinbar zarte Hände einen Männerhals, um ihn zu zerquetschen. Das »Auge« schloß sich … Diesmal erhielt Nona kaum Gelegenheit, über das Gesehene nach zudenken. Die nächste Szene folgte auf dem Fuß, verschwommener und irgendwie unwirklicher als jede zuvor, aber dennoch erkenn bar. Ein Gebirge. Unbekannt. Ein gesichtsloser Mann in schwarzem, wehen dem Umhang. Unbekannt. (Natürlich.) Ein gewaltiger, betörener Mond. Wohlbekannt. Eine Frau, die verzweifelt versuchte, sich dem Gesichtslosen zu nähern. Wohlbekannt – seit der vorherigen Szene. Der Mund der Frau bewegte sich, als würde sie dem Mann etwas zuschreien. Der Mann schrie zurück. Plötzlich hatte sich ein Mund in der leeren Fläche gebildet. Das »Auge« schloß sich …
Was dieser kraftstrotzende Mann auf dem Gipfel des Berges aus strahlte, erinnerte an Landru. In »jungen« Jahren mochte er so aus gesehen haben. Mühelos vermochte Nona sein Bild in das fehlende Gesicht hineinzuprojizieren. Und wußte doch zugleich, daß er es nicht war. Wer dann? Wieder zogen die Geschehnisse auf dem Tuch ihre Aufmerksam keit magisch an. Ein Gewölbe. Unbekannt. Unterirdisch. Naß. Eine schattenhafte Gestalt. Unbekannt. Wieder krochen Tiere heran, diesmal Ratten, die sich von Schattenhand ordnen und töten ließen. Die »Schrift«, die sie formten, lau tete: LANDRU. VORSICHT. INDIEN. HÜTE DICH VOR MIR. SIE ZWINGEN MICH ZUM VERRAT. ICH BIN TOT. ABER ICH FINDE KEINE RUHE. DUNCAN. Im nächsten Moment jagte ein fledermausartiges Geschöpf aus einem der Zugänge auf die Tierkadaver zu und wischte mit einer Schwinge darüber. Zerstörte Teile der Warnung. Und floh in den nächstgelegenen Schacht. Das »Auge« schloß sich … Benommen schaute Nona auf El Nabhals Traumspiegel. Sie ver mochte die tiefere Bedeutung dessen, was das Tuch enthüllte, nicht zu begreifen. Der Schlafende hieß Duncan Luther. Und er träumte offenbar davon, jemanden vor sich selbst zu warnen. Mit unge wöhnlichen, vom Ruch des Todes umgebenen Mitteln. Galt seine Angst der, die auf dem Weg hierher war? Nona kannte nur ihren Namen, wenig von ihrer Bedeutung. Schon in Sydney hatte Landru von ihr gesprochen. Aber orakelhaft ver brämt. Es sei nichts, was eine Werwölfin interessieren müsse, hatte er abgewiegelt. Damals hatte er alles daran gesetzt, die aufgetauchte Feindin zu töten. Inzwischen vertraute er offenbar einer anderen Lö sung …
Nona wartete vergeblich auf neue Traumepisoden. Alles, was sich in der Folge auf El Nabhals Tuch spiegelte, war entweder »unlesbar« oder bekannt. Manche Dinge wiederholten sich. Erstaun lich dabei war, daß der Schläfer »Normales« überhaupt nicht zu träumen schien. Nona nahm das Tuch und verließ den Fremden. Den »Gefallen«. Auch wenn sie immer noch nichts über Landrus Absichten mit diesem Mann herausgefunden hatte, traf sie Vorbereitungen, um al les Weitere nach den Wünschen des Vampirs zu gestalten. Er würde es ihr lohnen. Irgendwann.
* Nach Einbruch der Dunkelheit verließen sie die Stadt. Auf Kamelen. Jebal hatte erklärt, El Nabhals Oase läge – nicht zu verfehlen – in Richtung des untergehenden Mondes. Ein für Liliths Gemüt eher va ger Begriff – weitab von brauchbarer Orientierungshilfe. Es war ein eigentümliches und für Lilith höchst ungewohntes Ge fühl, auf dem Rücken eines genügsamen »Wüstenschiffes« hin und her geschaukelt zu werden. Jebal hatte ihr die Grundbegriffe des Kamelreitens beigebracht. In aller Eile. Und als gelehrige Schülerin hatte sie versucht, den Groß teil der Ratschlage umzusetzen. Dennoch dauerte es länger als eine Stunde, bis sie sich einigermaßen wohl auf dem gesattelten Höcker fühlte.
Jebal war kurz weg gewesen, um die Reittiere zu organisieren. Li lith hatte auf ihn gewartet und einige Male im letzten Moment das Bedürfnis erstickt, die Eigenschaften der anderen magischen Tücher zu erkunden. Es war zu gefährlich. Und dennoch verlockend. Regelrecht erschrocken gestand sie sich ein, daß sie von dem Er lebnis mit dem erotisierenden Tuch fast süchtig nach einer Wieder holung geworden war. Und nach seiner Rückkehr hatte Jebal ihr be stätigt, daß Sucht eine der möglichen Gefahren jener mysteriösen Tü cher war. Lilith blickte immer wieder beunruhigt hoch zu den Sternen. Es war die Nacht vor Vollmond, wie sich unschwer erkennen ließ. »Angst?« fragte Jebal, der sie im Licht der Sterne nicht aus den Au gen ließ. »Natürlich«, antwortete sie. »Nur Narren haben keine Angst.« »Dann bin ich ein Narr.« »Du fürchtest diesen El Nabhal nicht, der für das Schicksal deiner Familie verantwortlich ist?« »Ich werde ihn zur Rechenschaft ziehen!« »Wie willst du ihn bezwingen?« Er schwieg. Dann fragte er: »Und dieser Mann, den du suchst? Wart ihr ein Paar – so wie wir beide heute?« Lilith glaubte nicht, daß sie darauf antworten wollte. Sie bewegten sich durch eine unwirkliche Landschaft. Ihre Trink wasser- und Essensvorräte reichten für zwei Personen, aber Lilith wußte schon jetzt, daß sie nichts davon anrühren würde. Wie sie es Jebal begreiflich machen konnte, ganz ohne diese Dinge auszukom men, wußte sie noch nicht.
Sie wußte auch nicht, wann ihr spezieller Hunger, ihr spezieller Durst wieder erwachen würde. Sie wunderte sich selbst, wie genüg sam sich ihr Fleisch in dieser Umgebung benahm. Zugleich wußte sie aus Erfahrung, wie plötzlich sich dies ändern konnte. Je ferner Sydney lag, desto entschlossener war sie, den Stimmen zu widerstehen, die sie dort zuletzt heimgesucht hatten. Einflüsterun gen, die von ihr verlangten, daß sie ihre Opfer nicht – wie bisher – geringfügig bestahl, sondern daß sie sich an ihnen geradezu orgias tisch verging. Sie austrank. Tötete. Nein! Diesen Preis wollte sie nicht bezahlen! Sie war immer noch nicht sicher, ob die Stimmen mit den Bißver letzungen zu tun hatten, die ihr die Pestratten in Sydney zugefügt hatten. Oder ob sie aufgekommen waren, nachdem Lilith Codd im Garten der Dämmerung verloren hatte. Als die Nacht endete, meinte Lilith, jetzt jeden Moment bei ihrem Ziel ankommen zu müssen. Die Umgebung sah bereits seit Stunden aus, wie sie sich Wüste vorstellte: Vollkommene Ödnis. Leere. Sand verwerfungen, die wie erstarrte Meereswellen wirkten, daß der Be trachter meinte, es bedürfe nur eines kleinen Anstoßes, um sie wie der in Bewegung zu setzen. Aber nach Sonnenaufgang begann ihr Sahara-Ritt erst richtig. Die trockene Hitze drang mühelos unter die Kleidung, die Jebal ihr be sorgt hatte. Der Symbiont hatte sich im Beisein des jungen Berbers nicht wieder gestaltgewandelt. In einem unbeobachteten Augen blick war der »Schleier« vor Liliths Gesicht verschwunden. Hatte sich wie eine Schlange in den Kragen ihres Gewands verabschiedet. Lilith spürte ihn seither nicht mehr, wußte aber, daß er noch da war. Stunde um Stunde zogen sie durch die Hitze, die sich um die Hufe
der Kamele wie ein Polster staute. Sie sprachen wenig. Nur Jebal machte Lilith immer wieder Komplimente, die ihr Ansporn waren, sich noch weniger anmerken zu lassen, wie sehr sie zunehmend un ter den ungewohnten Belastungen litt. Das Geschaukele im Sattel machte sie nicht »seekrank«, aber es förderte auch nicht unbedingt ihr Wohlbefinden. Hin und wieder zerbiß sie einen Fluch zwischen den Zähnen. Der Gleichmut, mit dem Jebal die Strapazen meisterte, nötigte ihr Respekt ab. Sein Körper machte jede Bewegung des Kamels mit, als wäre er damit verschmolzen. Zugleich schien Jebal sich in meditati ve Gefilde zurückgezogen zu haben. Was oberflächlich wie schlich tes Dösen aussah, war angesichts der Verhältnisse eine regelrechte Kunst. Lilith wünschte, auch sie hätte »abschalten« können. Aber die Ner vosität in ihr stieg beständig, je näher sie dem Ort kamen, wo sich – hoffentlich – Duncan aufhielt. Warum er dort war, was er in El Nabhals Dunstkreis verloren hat te, wußte sie nicht. Aber sie verband den Namen des Magiers mit Nona, der Werwölfin, und Nona mit Landru. Was unter dem Strich bei dieser simplen Rechnung herauskom men würde, blieb dennoch ungewiß … Erst als es dunkelte, ließ sich Jebal zu einer Rast erweichen. Er tat es – wie er sagte – in der Hauptsache wegen der Tiere. Sie campierten auf freiem Geläuf. Überall sah es gleich aus. Mühe los ließ sich die Landschaft überblicken. Dennoch wirkte Jebal nicht mehr so locker wie in Bir el Khzaïm, und es schien beinahe, als such ten seine Augen immer wieder furchtsam die Umgebung ab. Furcht? Der wagemutige Jebal, der sie – nur ein wenig selbstsüchtig – aus Erg Ubaris Zelt gerettet hatte …?
»Wie weit ist es noch?« fragte Lilith, obwohl sie sich die Frage selbst hätte beantworten können. Zwei Tage hatte Erg Ubaris Vater für die Reise abseits der regulären Karawanenroute veranschlagt. Dies bedeutete, daß sie – möglicherweise unter Einbezug einer län geren Rast – noch einmal einen solchen Hitzetag wie heute überste hen mußten, um zum Ziel zu gelangen. »Kommende Nacht werden wir El Nabhals Oasengarten errei chen«, sagte Jebal. El Nabhals Oasengarten … Kommende Nacht … Wenn Menschen augen wenig sahen. (Auch die eines Magiers …?) Jebal breitete Tee geschirr aus und versuchte, aus mitgebrachtem Material ein kleines Feuer zu entfachen. Es gelang ihm nicht, obwohl er mit großem Ge schick zu Werke ging. Aber schneller als die erste lodernde Flamme im trockenen Reisig war das Heulen eines Wolfs, das Jebal ebenso wie Lilith zusammen zucken ließ. Seine Warnung, die er Lilith zurief, kam zu spät. Ringsum leuchtete bereits ein Dutzend Augenpaare im Sternen dunkel. Augen, in denen sich das Licht des fast vollen Mondes zu focussieren schien. Falsch, dachte Lilith. Nicht der Mond leuchtet in den Schädeln der Wölfe. Es ist der pure, blanke Haß …!? Im nächsten Moment schon griff das aus dem Nichts gekommene Rudel an.
* Zur selben Zeit …
Anäis hätte schreien mögen, so überfallartig bemächtigte sich ihrer die Angst. Zitternd und verwirrt hielt sie inne in dem, was sie gera de tat. Teig auswälzen für Fladenbrote? Vor einem hitzeglühenden Ofen, mitten in der Nacht? Sie glaubte den Boden unter den Füßen zu verlieren, als Schicht für Schicht – wie die Schalen einer Zwiebel – die Lüge aus ihrer Er innerung gelöscht wurde. Sie stützte sich auf dem Tisch ab, vor dem sie stand. Ihre Handbal len versanken in Teig und Mehl. Sie blickte in das Gesicht des Man nes, der ihr erst vorhin das Gewand geteilt und sie von hinten ge nommen hatte. Wie es sein Anrecht war. Sein Anrecht? Anäis kannte den dunkelhäutigen Mann nicht, der jetzt wissend ihren Blick erwiderte. Es klopfte hart gegen die Tür des fensterlosen Hauses. Der Fremde erhob sich, was er nie zuvor getan hatte, wenn sein Weib zur Hand war. Er ging und öffnete. Und dann vermochte Anäis ihren Schrei nicht mehr zu unter drücken. All das Verschüttete brach aus der Kruste, die sich um ih ren Verstand gelegt hatte. Das Monster trat ein.
* Wölfe in der Sahara? Lilith blieb keine Zeit für Zweifel. Sie sah sie. Vierbeinige Killer.
Mit Killerinstinkt. Sie hetzten heran. Der junge Maure stieß einen unartikulierten Schrei aus. Toten bleich leuchtete seine Haut in der Nacht. Er schien waffenlos. Lilith besaß den Symbionten. Ob dies ein Vorteil gegen diesen Gegner war, mußte sich jedoch erst zeigen. Zunächst sah es nicht danach aus. Lilith sah nur eine Chance, wenn sie ihre Tarnung aufgab. Nach dem sie zu dieser Erkenntnis gelangt war, ging alles rasend schnell. Der erste Wolf sprang sie an, als die Anmut aus ihrem Gesicht ge wichen war. Als ihre Augen wie die der Angreifer glommen und Finger zu Klauen, Nägel zu Krallen gekrümmt wurden! Lilith führte einen ansatzlosen Streich. Der gegen sie prallende Wolf büßte es mit zerfetztem Hals und aus dem Rachen schießen dem Blut. Sein hohes Heulen erstarb abrupt. Dennoch ließen sein Schwung und sein Gewicht Lilith straucheln. Mit äußerster Mühe wahrte sie ihr Gleichgewicht. Ihre Hände gruben sich in das Fell des toten Wolfs und schleuderten ihn zu Boden. Sie hoffte, der Rest des Rudels würde sich über den Artgenossen hermachen, aber dies ge schah nicht. Der eigene Bruder war ihnen sicher. Die eigentlich er hoffte Beute noch nicht … Jebals Schrei ließ Lilith herumfahren. Er lag lang ausgestreckt am Boden. Auf dem Rücken. Das Bild, das er bot, war Kapitulation pur: Er rührte sich nicht. Angststarre hatte seinen Körper wie mit einem unsichtbaren Schutzschild überzogen. Vier Wölfe hatten sich jeweils in ein Hand- oder Fußgelenk verbis sen. Ein fünfter hatte seinen Rachen um Jebals Kehle gelegt, aber noch nicht zugebissen. Seine Augen, in denen tödliches Kalkül leuchtete, starrten zu Lilith herüber. Sie wollte nicht glauben, was sie sah.
Es war, als versuche der Wolf, sie ebenfalls zur Kapitulation zu er pressen! Jebals Leben als Pfand! Aus Liliths Brust rollte ein unmenschlicher Ton. Niemals! Sie würde nicht klein beigeben! Ihr und Jebals Leben war keinen Pfifferling mehr wert, wenn sie es tat! Die nächsten Wölfe schnürten um sie herum. Die nächsten setzten zum Sprung an. Ihre Köpfe waren von Dämonie entstellt. Ihr Knur ren nahm eine Qualität an, die Lilith unter die Haut ging. Sie riß sich die weiten Kleider, die sie von Jebal erhalten hatte, vom Leib. Gewiß nicht, um die wilden Bestien zu betören. Verblüfft stellte sie fest, daß der Symbiont, obwohl sie ihn kaum fühlte, wieder sehr präsent war. Jebal mußte ihn sehen. Und sich fra gen, warum Lilith bei einer Reise in die Gefahr ein solches Outfit un ter dem züchtigen Gewand trug. Bestimmt hatte er ähnliches noch nie gesehen. Die Wölfe ließ die hautenge, lederartige Mischung aus oberarm langen, fingerfreien Handschuhen und mit »Strümpfen« verbunde nem Netzbody kalt. Auch Lilith hegte keinerlei erotische Absicht. Sie dachte auf das Wesentliche reduziert – und das Wesentliche hieß: Überleben! Um jeden Preis! Das abgelegte Gewand wickelte sie sich um den rechten Arm und schmetterte damit den nächsten »Anflug« eines Wolfs ab. Ein ande rer verbiß sich zähnefletschend darin, und Lilith führte auch ihm einen tiefen Streich entlang des empfindlichen Unterbauchs zu. Sie glaubte, warme, dampfende Gedärme zu fühlen, und fuhr zurück. Die Wolfszähne verbissen sich im Sterben noch tiefer in den Stoff, so daß Lilith gezwungen war, diesen Schutz preiszugeben, um sich von dem zuckenden »Anhängsel« zu befreien.
Ein einziger Moment der Unachtsamkeit brachte sie dann zu Fall. Von hinten sprangen sie zwei Wölfe gleichzeitig an und verbissen sich in ihrem Rücken. Sie stürzte. Wild um sich schlagend suchte sie nach einem Halt, um ihre Ge genwehr anzusetzen. Zuvor zerfetzten Pranken jedoch Teile des Symbionten – und dieser gab den Schmerz an Lilith weiter. Tausend winzige, scharfe, mit Widerhaken versehene Zähne bissen sich in ihren Körper! Tiiieeef …! Später wußte sie nicht zu sagen, ob der Symbiont ganz bewußt so gehandelt hatte. Tatsache war, daß erst der Schmerz Liliths wahre Reserven weckte. Ihr Verstand setzte aus. Dunkle Instinkte griffen nach der Herr schaft über das Potential, das verborgen in ihr schlummerte. Sie wütete wie ein Berserker. Sie tötete Wolf um Wolf. Die Nacht war erfüllt von entsetzlichen Schreien, verzweifelt-wü tendem Geheul und dumpfem Grollen. Lilith dachte nicht mehr über Jebal nach. Sie wußte nicht, warum er ihr plötzlich so gleichgültig war. Und dann waren nur noch die, die ihn als Geisel hielten, übrig. Liliths Bewußtsein kehrte zurück. Entschlossen trat sie den Wölfen entgegen, mied aber Jebals Blick. »Ihr habt ihn nicht umgebracht!« rief sie kehlig. »Das war klug! Ihr werdet es auch jetzt nicht tun, sonst –« Weiter kam sie nicht. Sie büßte ihren Fehler. Sie büßte den Glauben, es nur mit Wölfen zu tun zu haben.
»Wir werden sehen«, grollte eine grabestiefe Stimme, »wie ernst es dir damit ist, deinen Begleiter zu opfern!« Als sie herumfuhr, sah sie nicht nur eine riesige Meute weiterer Wölfe über dem Dünenkamm auftauchen. Sie sah auch die Mischwesen, halb Mensch, halb Wolf, die sich als Anführer zwischen dem neuen Rudel bewegten. Werwölfe! Nonas Brüder und Schwestern …!?
* Der mächtige Mond übergoß die Landschaft und das primitive La ger der Wölfe mit fahlweißem Licht. Zwischen den primitiven Zelten brannten Feuer. Kessel dampften und verbreiteten berauschende Düfte. Wohin bin ich geraten? dachte Lilith. Dies ist keine Oase. Ihr Blick irrte zu Jebal, der – wie sie – in Eisen geschlagen an einem galgenartigen Gerüst aufgeknüpft hing. Seine Ketten klirrten häufiger als ihre. Lilith stand völlig still. Sie beobachtete, nachdem sie zuvor drei, vier Stunden durch die Nacht getrieben worden waren. Von wortkargen Bestien, die beson ders mit Jebal umsprangen wie mit einem Stück Vieh. Bei Lilith hiel ten sie sich – noch – zurück. Sie wußte nicht, ob es ein Fehler gewesen war, sich zu ergeben. Aber sie hatte sofort begriffen, daß der Wolfsmensch, mit dem sie gesprochen hatte, nicht gezögert hätte, Jebal hinrichten zu lassen. Der Maure hatte kein Wort mehr mit Lilith getauscht, obwohl es
möglich gewesen wäre. Während des Marsches. Und jetzt. Nur we nige Schritte Distanz trennten sie voneinander. Sie waren nicht gek nebelt. Sie hörten und sahen alles, was um sie herum geschah. Und Lilith sah die Angst in Jebals Augen. Neben etwas, das nur schwer zu deuten war. Wahrscheinlich war es das erste Mal, daß er mit solchen Wesen konfrontiert wurde. Er hatte einen Magier als Gegner erwartet, kei ne Gestalt gewordenen Alpträume … War es so? Lilith suchte immer häufiger seinen Blick. Die Feuer erhellten das Rund zusätzlich zum Mond. Aber Jebal starrte nur dumpf vor sich hin. Dorthin, wo die Kessel kochten. Lilith konnte es sich nur damit erklären, daß er sie im Kampf er lebt hatte. Daß er nun wußte, wie wenig auch sie einem normalen Menschen ähnelte. Vielleicht ekelte er sich vor ihr. Vielleicht ertrug er den Gedanken, sich mit ihr vereinigt zu haben, nicht mehr … Sie versuchte Nachsicht zu üben. Aber das war nur ein Randpro blem. Von eigentlicher Bedeutung war, wie sie von hier entkommen konnten. Beide. Im Grunde erwartete sie jeden Moment, Nona irgendwo auftau chen zu sehen. Doch die Zeit verrann, und als lange nach Mitternacht endlich Be wegung bei den Zelten entstand, näherten sich wieder jene, die draußen in der Wüste ihre Gefangenen gemacht hatten. Der Anführer war über zwei Meter groß, breitschultrig und hatte die Ausstrahlung eines Menschen, der zu oft getreten worden war,
zu oft Schläge eingesteckt hatte. Im übrigen ein Merkmal, das auch auf seine Begleiter zutraf. Er kam direkt auf Lilith zu. »Wer bist du?« fragte er ohne Einleitung. »Warum wirst du so ge spannt in der Oase erwartet?« Lilith versuchte den Hintergrund dieser Fragen zu deuten. »Wo bin ich hier?« reagierte sie mühsam beherrscht. »Wer gab euch den Auftrag, uns aufzulauern? El Nabhal? Landru? Nona?« Jeder der Namen, die sie ausstieß, schien nur heftiger den Haß in den Gestalten zu schüren. Obwohl bei Landru Zweifel blieben. Er war der einzige, der kaum eine Reaktion hervorrief. »Wer bist du?« wiederholte der wolfsbehaarte, wolfsgesichtige Anführer. »Welche Bedeutung hast du für den Folterer?« »Den Folterer?« »Du nanntest seinen Namen!« fauchte er. Seine Krallen krümmten sich ins eigene Fleisch, ohne daß er dies zu spüren schien. »El Nabhal?« Seine animalische Physiognomie blieb verschlossen. Er bewegte sich, leicht geduckt, auf sie zu und kratzte mit dem Nagel zwischen Liliths Nabel und Busen entlang. Die Spur, die er hinterließ, war blutig, weil vom Symbionten ungeschützt. Lilith unterdrückte den brennenden Schmerz und versuchte, ihre Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Genau darauf schien der Wolfsmensch gewartet zu haben. »Du bestätigst erneut, daß du kein Mensch bist. Aber du bist auch keiner wie wir. Was dann?« Lilith überlegte fieberhaft. Hieß die Tatsache, daß diese Geschöpfe den Bewohnern der Oase nicht wohlgesonnen waren, automatisch, daß sie Verbündete gefunden hatte?
Die ganze Ausstrahlung des Wesens im Wolfspelz machte diese Hoffnung zunichte. Er war kein »Schaf«. Er war ein Geschundener. In seinen Augen glühte Haß. Auf alles. Auf jeden. »Ich«, sagte sie vorsichtig, »suche einen Freund, der in El Nabhals Gewalt ist. Mit Jebal zusammen –«, sie nickte zu ihrem Begleiter, »– der ähnliche Gründe hat, bin ich unterwegs, ihn zu …« Sie brach ab. Gelächter aus wölfischem Rachen ließ sie verstummen. »Der ähnliche Gründe hat …?« Der Anführer legte Lilith die blut benetzte Pranke unter das Kinn und hob es fast sanft an. »Entweder bist du sehr raffiniert – oder sehr, sehr dumm …« Seine Klaue packte ihre Kehle. Lilith trotzte seinem Blick. Sie trotzte seinem Haß. Genauso plötzlich, wie er zugepackt hatte, ließ er sie wieder los. »Du willst wirklich wissen, wo du bist und wer wir sind?« fragte er mit dunkler Stimme. Wölfe – echte Wölfe – rieben ihre Schnauzen an seinen Beinen und schnurrten wie bettelnde Katzen. Er vertröste te sie. Verweigerte ihnen das Mahl, das sie ersehnten. Noch. Lilith nickte. »Das will ich!« versicherte sie klamm. Daraufhin ließen sie sie allein. Selbst die Wolfsschar zog mit der Gruppe jener, die wölfische Attribute neben menschlichen zur Schau trugen. Sie gingen zu Jebal. Dort sagte erneut der Anführer: »Verrate ihr, wo ihr euch befindet!« Jebals Kopf ruckte hoch. Er schüttelte sich. Er zerrte an den Ketten. »Sag es!« Er hielt inne. Das kurze Aufbegehren schien ihn bereits erschöpft
zu haben. »Das Lager der … Verdammten …«, hauchte er schließlich. Die Pranke des Anführers traf sein Gesicht. Lippen platzten. Blut spritzte. Jebals Augen füllten sich mit unerwarteter Stärke, während böse Flüche auf ihn niederprasselten: »Nicht wir sind die Verdammten – nicht wir!« bellte der Anführer. »Weiter! Versuche es noch einmal! Aus deiner Kehle klänge es doppelt süß, falls du dich der Wahrheit besinnen könntest!« Jebal schüttelte den Kopf. Seine Augen hatten nun eine seltsame Tiefe erreicht. Wieder zerrte er an seinen Fesseln. Sie hatten ihm bisher sein Gewand gelassen. Doch nun zerrten sie es ihm vom Leib. Lilith kannte den darunter befindlichen Körper. Der Anführer befahl: »Zeichnet die Kreise!« Zwei der Wolfsmenschen sprangen vor und machten Jebal mit hastigen Bewegungen zum Mittelpunkt eines im Sand verlaufenden Doppelkreises. Unmittelbar daneben, so daß die Dämpfe in seine Mund- und Nasenöffnungen steigen mußten, stellten sie anschlie ßend ein eisernes Dreibein mit einem Kessel, unter dem sie etwas Glut von den Lagerfeuern häuften und darüber neues Holz schichte ten. Lilith fragte in diesen Momenten nicht einmal, woher das Holz in dieser Ödnis stammte. Es gab Möglichkeiten. Wind und Sand begru ben hier draußen so vieles. Es gab fossiles Wasser, das die Oasen speiste, und es gab fossiles Holz – man mußte es nur zu finden und auszugraben wissen. Lilith wurde von einer Gänsehaut befallen, als die Wolfsmenschen ein Wolfsfell um Jebals Hüfte schlangen, ihn mit einer seltsamen, übelriechenden Paste einschmierten – von Kopf bis Fuß – und dann
einen monotonen Beschwörungsgesang anstimmten, der den jungen Mauren vollends aus seiner Apathie riß. Er gebärdete sich wie toll. Die Muskulatur seines Körpers war in ständiger, dramatischer Bewegung, als wollte sie die Haut, in die sie gepfercht war, sprengen. Die Werwölfe intonierten mit zum Firmament erhobenen Fratzen: »Mach ihn zum Männerfresser! Mach ihn zum Frauenfresser! Mach ihn zum Kinderfresser! Mach ihn zu dem, was er verbirgt!« Jebal schrie sich das Leben aus dem Leib. Er war lauter als der Sprechgesang, dennoch gelang es ihm nicht, ihn zu übertönen. Lilith spürte, daß sie einschreiten mußte. Aber sie wußte auch, daß sie gegen diese Übermacht – ohne Unterstützung des Symbionten – keine wirkliche Chance hatte. Und der Symbiont vermittelte nicht den Anschein, als wollte er, wie so oft gegen Vampire, ihr Waffen bruder sein. Dieser Gegner war anders. Aber konnte das Grund und Entschuldigung sein, sich tot zu stel len? Die Beschwörungsformeln der Wolfsmenschen wechselten. Der Anführer sang: »Ihr Geister der erdgebundenen Toten, die lautlosen Schrittes gehen – ihr Geister der Bäume, die sich wie Phantome im Staub der Sahara wiegen – ihr Geister der Luft, der Hitze und des Feuers, der Kälte und des Eises … OFFENBART UNS UND IHM, WER ER IST!« Ganz allmählich dämmerte Lilith, was sie offenbar vorhatten – was sie vielleicht auch mit ihr beabsichtigten: Sie wollten ihn zum Wolf unter Wölfen machen. Zum Werwolf …! So einfach sollte das sein?
Sie hatte immer geglaubt, auch Werwölfe gäben einen Keim weiter, wenn sie sich zu vermehren gedachten oder von einem gerissenen Opfer weggescheucht wurden, ehe sie es zu fressen vermochten … Hier geschah nichts dergleichen. Vor ihren Augen lief ein Ritual ab. »Hört auf!« schrie sie. »Hört auf, ihn zu mißhandeln! Er haßt El Nabhal so sehr wie ihr! Er –« Ohne seine Beschwörung zu unterbrechen, gab der Anführer ein Zeichen. Sofort trat ein Artgenosse an Lilith heran. Ein mächtiger Prankenschlag ins Gesicht raubte ihr fast das Bewußtsein. Zusätzlich zu den Fesseln hielten sie nun auch noch rechts und links grobe Klauen fest. Sie mußte einen Schrei unterdrücken. Ihren Peinigern schien es Spaß zu machen, sie zu quälen. Und Spaß, Jebals Leiden zu verfolgen. Die ihren Höhepunkt erreichten. Tu etwas! dachte Lilith. Der Befehl war an sie selbst gerichtet. Aber sie zauderte immer noch. Was mit Jebal geschah, schürte ihre Verachtung ebenso wie ihre Faszination. Denn etwas geschah tatsächlich. Sichtbar. Jebals Körper reagierte. Er streckte und bog sich wie auf einer Streckbank. Lilith hörte seine Knochen und Gelenke knistern und knacken. Aus seinem Mund lösten sich unglaubliche Mengen zähen Speichels. Seine Augen schienen sich tiefer in die Höhlen zurückzu ziehen. Dafür drängte seine Nase hervor, weitete sich, wurde grö ßer, anders, riß die Mundpartie in der Veränderung mit … Und dennoch wurde er nicht zu einem Abbild derer, die ihn mar terten. Die Haare fehlten.
Selbst sein Haupthaar zog sich zurück, anstatt zu wachsen, die fahle Nacktheit mit Büscheln wölfischen Pelzes zu überwuchern … Den Anführer der Werwölfe schien dies nicht zu irritieren. Mit zu friedenem Ausdruck kehrte er zu Lilith zurück und wies mit ausge strecktem Arm zu Jebal. Zu dem, was er aus ihm gemacht hatte. »Was siehst du?« Lilith beschloß, ihn zu töten. Ihn büßen zu lassen für das, was er Jebal angetan hatte. Schneller, als sie ihre Absicht in die Tat umsetzen konnte, gab der Anführer dem bei Jebal stehenden Werwolf ein Zeichen, dessen Be deutung Lilith erst erkannte, als schon nichts mehr zu ändern war. Der Wolfsmensch bohrte dem Mauren etwas in den Leib, von dem nicht zu sagen war, ob es sich um eine Klinge oder einen Bestandteil seiner Klaue handelte. Die erbarmungslose Brutalität entlockte Liliths Kehle ein Stöhnen. »Sieh hin!« befahl der Anführer. »Sieh hin, wenn du erfahren willst, wessen Feind er ist!« Selbst wenn sie es gewollt hätte – in diesem Moment wäre sie un fähig gewesen, die für ihr Vorhaben notwendige Konzentration auf zubieten. Gefesselt hing ihr Blick an Jebal. Jebal? »Warum tut ihr ihm das an, ihr Bestien?« stieß sie hervor. »Weil wir Bestien sind!« erfuhr sie den Sarkasmus einer solchen. Zugleich offenbarte sich dort, wo Jebals Innerstes bloßgelegt wur de, die Wahrheit über den feurigen Liebhaber vergangener Stunden. Aber welche Wahrheit? Lilith sah, was der Anführer und die anderen Werwölfe ihr zeig ten. Sie sah das letzte noch fehlende Attribut, das Jebal zu einem der
ihren machte: ein Fell. Ein nach innen wachsendes, dichtes Haar kleid! »Begreife«, grollte das Wesen neben ihr. »Jebal ist Nonas Bastard! Jeder kennt ihn, der einmal in der Oase war … So wie wir alle, bevor wir verstoßen wurden von dem gnadenlosen Hexer! Es gibt nur einen, dessen Haar nach innen wächst: Nonas Liebling! Ihr Gespiele in mancher Nacht zwischen den Monden …!« Lilith begriff, was er ihr sagen wollte. Nicht das Ritual, behauptete er, hätte Jebal zur Wolfskreatur gemacht – es hätte lediglich sichtbar gemacht, was er schon lange vorher war …! Ihr Blick wechselte kurz zwischen ihm und dem Anführer. Als ihre Augen zu Jebal zurückfanden, hörte sie ihn, den Blick zum Mond gewandt, hervorpressen: »Schmilz die Kugel, stumpfe das Mes ser, laß den Knüppel faulen, damit niemand mir das Fell abziehen kann! Mein Wort ist stark, stärker als die Kraft von Helden …!« Aber der Mond erhörte ihn nicht. Das letzte Wort kam nur noch als Röcheln. Von hinten packte ihn der Wolfsmensch, der ihm schon den Bauch aufgetrennt hatte, und riß ihm den Kopf ab. Wieder erschrak Lilith über die beispiellose Brutalität dieser … ja, was? Geächteten? Bei El Nabhal in Ungnade Gefallenen? Warum aber dies? Im Grunde war es gleich. Sie wußte, was sie von ihnen zu erwar ten hatte. Noch während sie zusah, wie Jebals in Qual erstarrtes Haupt ins nächste Feuer geworfen wurde, aktivierte sie den Impuls, der die Rettung bedeuten konnte. Oder den endgültigen Untergang. Schließlich war es noch leichter, einer Fledermaus den Kopf abzu
reißen als einem Menschen oder Werwolf …
* Anäis rannte um ihr Leben. Sie rannte zwischen mächtigen Dattelpalmen und hörte hinter sich die Geräusche der Jäger. Das Wild war sie. Ihr Blick flog hinauf zum vollen Mond, der wie ein bleiches, zer klüftetes Gesicht auf ihr bleiches Gesicht herabschien. Was war geschehen? Sie erinnerte sich wieder der Geschehnisse in der Wüste. An die Odyssee durch das endlose Dünenmeer, nachdem der Beidan sie überfallen hatte. Die grausigen Funde, die sie gemacht hatte … Dann die Oase … Die lächelnde Frau, die auf sie zugekommen war und die sie in die von einer Mauer umgebene Oasenstadt geführt und in bequeme Tücher gehüllt hatte … Von da an, dachte Anäis, war alles nur noch Illusion. Grausame Lüge. Ihr Tage zählendes Leben an der Seite eines Mannes, mit dem sie vermählt zu sein glaubte. Der mit ihr verfuhr wie mit einem Abid, ei nem Sklaven. Sie hatte es erduldet. Hatte sich nicht gewundert, daß ihre Haut hell und die der meisten anderen Frauen der Oasenstadt dunkel war. Bis heute nacht. Als der Wölfische in Menschengestalt kam und die Schleier der Lüge zerrissen. »Lauf!« hatte er gesagt. »Lauf um dein Leben! Die drei Nächte des
vollsten Mondes gehören uns. Du bist das Wild dieser Nacht. Wenn du die Helle des Morgens erreichst, wird dir kein Haar gekrümmt. Dann darfst du weiter in El Nabhals Schatten, weiter in unserer Ge meinschaft leben. Aber stell es dir nicht zu einfach vor. Du mußt draußen überleben – außerhalb der Stadtmauer. Du kannst dich nicht in einem Haus verkriechen. Du mußt rennen … fliehen … kämpfen vielleicht …« Er verzog die Wolfsfratze zu einem bösen Grinsen, als er vom Kämpfen sprach. Aber für Anäis war schon zuvor eine Welt zusammengebrochen. Ich liege immer noch irgendwo in der Wüste, dachte sie hilflos. Die Sonne dörrt mir das Gehirn und schickt mir Todesvisionen, schlimmer als LSD-Träume … Wem konnte sie noch trauen wenn schon dem eigenen Verstand nicht mehr? Hatte sie wirklich tagelang wie hypnotisiert in anderer Identität verbracht? Das größte Handicap dieser Flucht durch mondhelle Nacht war, daß sie im innersten Kern auch an der Realität dieser »Jagd« zweifel te. Ihre wirkliche Angst unter der Oberfläche war geringer, als es in solcher Situation guttun konnte. Sie hoffte immer noch, Opfer neuer Gaukeleien zu sein. Jeden Moment auch aus diesem Alptraum geris sen zu werden … Wohin sollte sie? Hinter jedem Baum konnte der Tod in Gestalt eines Mischwesens lauern! Anäis wandte sich hinaus in die offene Wüste. Knurren und Heu len begleiteten ihre Flucht, die ihr schon jetzt sinnlos erschien. In Träumen gab es kein Entkommen. Und falls dies doch die Wirklich keit war – auch nicht …
* El Nabhal betrachtete seinen wiedererstarkten Körper in hängenden Tüchern, die wie Spiegel waren. Der Abid war gegangen, nachdem die monatliche Waschung und Ölung beendet war. Er hatte die verbrauchten Tücher mitgenom men. Der Magier war allein. Nona war noch nicht heimgekehrt. Erst im Morgendämmern wür de sie zu ihm schlüpfen. Seine Jugend kosen und besteigen, bis Alter und Falten zurückkehrten mit jedem Stoß, den El Nabhal in ihren Schoß schickte … Er seufzte. Er haßte diese Existenz, aus der es kein Entrinnen gab und für de ren Qualen er den Schuldigen längst ausgemacht hatte. Vielleicht würde alles wie früher werden, wenn diese seltsame, schwarzhaarige Frau nie hier ankam, nie den »Gefallen« des Ver haßten abholte … El Nabhal warf sich, bis zu Nonas Ankunft, ein togaähnliches Tuch über und entfaltete dann ein weiteres, um sich vom Gang der Dinge fernab der Oase zu unterrichten. Während der Stunden, die er wie eine Mumie verbracht hatte, um die folgenden Stunden mit Nona genießen zu können, war jede Verbindung zur Außenwelt ab gerissen. Bewegung zeichnete sich auf dem Stoff ab, den er zwischen den Händen spannte. Meine Tücher, dachte er warm, lassen mich nie im Stich. Alle anderen taten es!
Selbst auf jene, die er im Stich gelassen hatte, war kein Verlaß! Enttäuscht verfolgte El Nabhal, was sich im Lager jener abspielte, die bei Nona in Ungnade gefallen waren. Die Verstoßenen. Der »Aussatz«, wie Nona sie nannte … El Nabhal konnte nicht sagen, daß er Trauer empfand, als er sah, welches Schicksal Nonas Liebling Jebal erlitt. Aber er wußte, daß Nona ihm diesen Verlust übelnehmen würde. Er hatte versprochen, Jebal und die von Landrus Boten angekündigte Frau sicher durch die Linien der Geächteten zu leiten. Dumm gelaufen, dachte er. Am liebsten wäre ihm gewesen, die Fremde wäre schon dem von ihm befohlenen Überfall im Bazar zum Opfer gefallen. Aber Jebal hatte es verhindert. Es war eine verfahrene Geschichte. Nun war Jebal tot, und die Fremde … El Nabhal schrak auf, als er Geräusche im Nebenraum hörte. Nona war zurück. Noch vor dem Morgen. Der Magier senkte das Tuch. Die Werwölfin trat ein. El Nabhal wußte nicht, wie es möglich war, aber selbst in dieser Gestalt, die jeden Normalempfindenden abstoßen mußte, faszinierte sie ihn. »Ich habe dich noch nicht erwartet«, sagte er, entblößte aber den noch unverzüglich seinen verjüngten Körper. »Ich habe die Jagd abgebrochen«, fauchte sie. Wie sie dastand, war sie personifizierte Gewalt und Grausamkeit. El Nabhal wußte, was mit den auserwählten Opfern einer jeden »Jagd« geschah. Wen die Werwölfe aufspürten, der wurde zerrissen und aufgefressen. Es galt, eine Gier zu stillen, die jedes Gefühl für
Erbarmen ausschaltete. »So ist dein Hunger nicht gestillt?« fragte er. »Warum?« »Ich hatte plötzlich dieses Gefühl …« Sie kam auf ihn zu. Etwas schwerfällig, als müßte sie erst mühsam all die Kraft und Barbarei, die diesen Körper beseelte, bändigen. El Nabhal erwartete sie furchtlos. Es gab Gedanken, die außerhalb jeder Vorstellung lagen. Der, daß Nona versuchen könnte, ihn anzu greifen, zählte dazu. »Welches Gefühl?« fragte er. Eine Handspanne vor seinem Gesicht blieb sie stehen. Er spürte ih ren Atem, der frei war vom Geruch frischen Blutes oder rohen Flei sches. Sie reagierte nicht darauf, daß er über ihre unter dichtem Fell sich wölbenden Brüste tastete. »Daß ich dir nicht mehr trauen kann!« sagte sie. Er nahm die Hände zurück. Er spielte den Empörten perfekt. »Ich bin gewohnt, daß du mich beleidigst. Aber nun gehst du zu weit …!« »Das wird sich zeigen«, sagte sie. Ihre Augen glühten, als wüßte sie bereits sicher, daß er sie betrog. Nein, beruhigte er sich. Sie kann nichts wissen. Ahnen vielleicht, ja … Aber nicht wissen! »Ich bin tief enttäuscht«, sagte er. »Was ich bin, verrate ich dir, sobald du meine Bitte erfüllt hast.« »Bitte?« »Ich will sie sehen. Mit eigenen Augen! Enthülle dein Tuch und zeige mir, wo sie sich im Moment befindet!« El Nabhal gab sich nicht die Blöße zu fragen, wen sie meinte. Es hätte sie nur noch mehr erbost. Ohne Zögern erfüllte er ihren Wunsch.
»Du wirst dich heute sehr erkenntlich zeigen müssen, um mich diese Beleidigung verzeihen zu lassen«, murmelte er, während die Oberfläche des Stoffes Nonas Augen preisgab, was El Nabhal preis zugeben bereit war. Was längst schon Vergangenheit war. Ihre aggressive Haltung schwand unverzüglich. »Du siehst«, sagte er, »dein Jebal weiß das Nützliche mit dem An genehmen zu verbinden.« Eine Weile verfolgte Nona das tabulose Vergnügen, das das Tuch wiedergab. »Das also ist sie«, sagte sie schließlich, »vor der Landru solchen Re spekt hat … Sie ist atemberaubend schön.« »Davon scheint auch Jebal überzeugt. Offenbar ist er noch dabei, ihr die Notwendigkeit einer Wüstenreise nahezulegen …« »Man müßte hören können, was sie sprechen …« »Wenig«, lächelte El Nabhal. »Sie betreiben eine eher wortkarge Konversation. Aber ihre Körpersprache sollte uns ein gutes Beispiel sein …« Sie sah zu ihm auf. »Du bekommst, was du verdienst. Offenbar kann ich dir immer noch mehr als meinen Gefühlen trauen … Komm!« Sie reichte ihm die Klaue, die sich zur feingliedrigen, zarten Frauenhand zurückbil dete. Ihr wölfisches Wesen wich purer Sinnlichkeit. El Nabhal folgte ihr ins Nebengemach, wo sie sich ein Tuch der Wollust um die Augen band …
* Ihre Schwingen trugen sie dem Mond entgegen. Er war ihre einzige
Orientierung. In Richtung des untergehenden Mondes, hatte Jebal gesagt, läge die Oase des Hexers! Jebal … Lilith war dem Lager der Werwölfe entflohen, indem sie sich in eine Fledermaus verwandelt und ihre Ketten abgeschüttelt hatte. Die Überraschung war auf ihrer Seite gewesen. Bis zuletzt schie nen die Ausgestoßenen nichts von ihrem wahren Wesen geahnt zu haben. Konnte es sein, daß sie nie einem Vampir begegnet waren oder von solchen gehört hatten? Nur, wenn sie ein völlig isoliertes Dasein geführt hätten! Aber wie vertrug sich dieser Gedanke mit Nonas Kontakten zu Landru? Stellten sie und dieser El Nabhal Ausnahmen dar? War der Rest der Oase ein Ort der Knechtung …? Ich werde es herausfinden, dachte sie. Wenn ich jemals ankomme! Noch immer war das Ausleben dieser fliegenden Tarngestalt ein höchst ungewohntes Erlebnis für Lilith. Noch immer erforderte es ein enormes Maß an Konzentration, damit umzugehen. Und Kraft. Je länger ihre Schwingen die Lüfte teilten, desto bewußter wurde ihr, was sie schon zu lange vermißte. Das Brot der Vampire. Blut! Wäre sie gesättigt aufgebrochen, hätte die Schwäche sie nicht so bald beeinträchtigt, wie dies nun der Fall wurde. Aber wessen Blut hätte sie trinken sollen? Im Lager der Werwölfe bot sich kein Spender an, und im nachhin ein war sie froh, sich bei Jebal beherrscht zu haben. Sie hatte keine Vorstellung, welche Folgen es brächte, wenn sie Wolfsgift in ihren Körper bekäme.
Im Grunde konnte sie auch am Ziel ihres Verzweiflungsfluges nicht sicher sein, ein unbedenkliches »Opfer« zu finden. Wenn Jebal in der Lage gewesen war, sein wahres Ich vor ihr zu verheimlichen, würde es auch anderen möglich sein. Lilith wußte, daß sie dennoch bald keine Wahl mehr haben würde. Und keine Zeit, wählerisch zu sein … Sie flog dem untergehenden Mond entgegen. Vielleicht würde sie mit ihm untergehen. Immer rapider schwanden ihre Kräfte. Und Duncan? Wartete er wirklich in der Oase? Ein Toter, der aß und trank und – telefonierte …? Sie gestand sich ein, daß sie überstürzt gehandelt hatte, als sein Anruf sie in Stålheims Forschungsstation erreichte. Stålheim … Beth … Das Ratten-Virus … Sollten all die offenen Fragen daran scheitern, daß sie scheiterte? Von Minute zu Minute erlahmte ihr Flügelschlag. Ihr Geist, einge zwängt in einen winzigen Schädel, verzweifelte mehr und mehr, als sie erkannte, daß diesem Körper nicht mehr an Stärke abzupressen war. Sie flog dem Mond entgegen, der bereits halb versunken am fer nen Horizont hing. Aber eine Oase, eine noch so flüchtige Unterbre chung der Leere, war nirgends auszumachen …
*
El Nabhal sammelte seinen wieder vergreisten Körper und erhob sich. Nonas Atem ging ruhig. Sie schlief. Er hatte das seine dazu beige tragen. Lautlos verließ er das Gemach und suchte den Raum auf, wo seine teuersten Tücher lagerten. Die Zeit brannte ihm unter den Nägeln, und er verfluchte das Alter, das jede Zelle seines Fleisches zurück erobert hatte. Rasch begab er sich zu dem Tuch, mit dem er Nona getäuscht hat te. Nun, da er es spannte, rief er keine darin gespeicherte Vergan genheit ab, sondern aktuelle Gegenwart! Er wankte, als er sah, wie weit die Fremde bereits gekommen war. Wie nah. Wenn sie die Oase erreichte – spätestens dann –, würde Nona den Betrug durchschauen …! El Nabhal vertiefte sich in die Bilder, die seine Magie hierher spie gelte. Er verfolgte den Flug der Fledermaus, die keine solche war. Vampire bewegten sich so. Eine Vampirin kam, um den Mann zu suchen, der hier auf Land rus Geheiß gefangengehalten wurde … »Was ist das?« El Nabhal hielt das Bild noch sekundenlang aufrecht, weil er unfä hig war, sich zu rühren. Nona trat dicht hinter ihn und verfolgte das Treiben in der Nacht. Sie wirkte seltsam gelassen, als sie fragte: »Warum?« Sie hätte lange Sätze formulieren können, aber im Grunde genügte dieses eine Wort, in das sie alles hineinbettete, was sie ihm ankreide te. El Nabhal senkte das Tuch.
»Ich dachte, du schläfst.« »Ich wußte, daß du mich betrügst«, sagte sie. »Woher?« »Die Bilder, die du mir zeigtest, spielten in einem von einer Lampe erhellten Raum. Aber durch die Ritzen der Fensterläden sickerte Licht. Draußen war Tag, nicht Nacht, wie es hätte sein müssen …« El Nabhal lauschte ihrer Stimme. »Ich habe dich unterschätzt.« »Es ist nicht wiedergutzumachen.« »Du hast mich auch betrogen. Du spiegeltest mir Schlaf vor …« »Ein todeswürdiges Verbrechen«, höhnte sie, »wie das deine!« Er sah sie an. Voller Mitleid, das auch sich selbst galt. »Landru hat deinen Charakter vergiftet!« preßte er hervor. Alter Atem begleitete jedes Wort. Sie schüttelte den Kopf. »Was ist geschehen?« fragte sie. »Wo ist Jebal, wenn das –«, sie zeigte auf das Tuch, »– gerade die angekün digte Person war?« »Du wußtest, daß ich dich betrüge, und hast mir dennoch höchste Wonnen geschenkt?« Trauer schäumte über in ihren Augen. »Was ist mit Jebal?« wie derholte sie. »Auch einer, der mein Vertrauen mißbrauchte – immer und immer wieder. Ihn hätte ich dir verziehen, gegönnt sogar zwischen den Monden – aber du mußtest meine Geduld überstrapazieren mit die sem …« Er schwieg. »Was ist mit ihm?« Sie machte eine kurze Pause zwischen jedem Wort. Nackt stand sie vor ihm. Gertenschlank. Brüste wie Äpfel, die man
nur zu pflücken brauchte. Ein Schoß, herbsüß wie eine wilde Frucht … »Er ist tot«, sagte El Nabhal. Irgendwie fühlte er sich erleichtert, es endlich ausgesprochen zu haben. Sie reagierte kaum. Sie ging zu dem Schrank, hinter dessen Türen die erlesensten Schätze aus El Nabhals Werkstatt lagerten. »Was tust du?« rief er sie an. »Ein Tuch? Jetzt? Wessen Zaubers …?« »Warum?« fragte sie, ohne darauf einzugehen oder sich zu ihm umzudrehen. »Warum tust du das? Warum hast du nicht alles las sen können, wie es war?« Er lachte bitter. »Weil du nichts ließest, wie es war! Ein kleiner Ge fallen für Landru … Es war kein kleiner Gefallen! Niemand hat mich auch nur gefragt, ob ich damit einverstanden wäre!« »Gekränkte Eitelkeit …« Sie nickte. »Was hast du noch alles getan, um den Gefallen zu vereiteln?« »Wozu darüber reden? Es ist gescheitert. Du und er – ihr habt ge wonnen. Sie ist unterwegs hierher. Sie wird finden, was sie finden sollte. Nehmen, was sie nehmen soll …« Zielsicher ergriff Nona ein Tuch, dessen Bewandtnis El Nabhal klarer war als jedem anderen. »Hör auf mit dem Unsinn!« fauchte er. »Du spielst mit dem Feuer! Diesen Haß, einmal entzündet, kannst auch du nicht beherrschen!« »Ich weiß …«, erwiderte sie rauchig. Und flocht sich das Tuch um den anschwellenden Hals. Noch war die Sonne nicht auf-, der Mond nicht völlig untergegangen. Der Magier rannte auf Nona zu. Er wollte rennen.
Aber er war alterslahm. Als er sie erreichte, um ihr das Tuch vom Körper zu reißen, war ihre Verwandlung bereits abgeschlossen. Der Prankenhieb schleu derte ihn mit solcher Wucht gegen den offenen Schrank, daß er leicht betäubt daran herabsank. Im Fallen griff er das erstbeste Tuch und schleuderte es der Halb wölfin entgegen. Es verwandelte sich in einen Fallstrick, der sich um ihre Beine zu legen versuchte. Sie sprengte das Tuch wie Seidenpapier und kam auf ihn zu. Un widerstehlich. Der nächste Hieb schälte Haut von El Nabhals Ge sicht. Alte, verbrauchte, immer wieder aufpolierte Haut. Auch sie zerriß wie hauchdünnes, sprödes Papier. Er blutete. Schwach. »Hör auf!« schrie er. »Oder –« »Oder?« hechelte sie dicht an seinem Ohr. Sie hatte sich über ihn gebeugt. Das ihren Haß verstärkende und sie enthemmende Tuch schlang sich immer noch um ihre Wolfskehle. Es schien seinen Er schaffer zu verhöhnen. »Wußtest du –«, raunzte sie, »– wußtest du, daß ich dich immer fürchtete? Deine Magie, die mir so groß und unüberwindlich schien, daß ich auch noch zurückkehrte, als ich es längst nicht mehr wollte?« Er sah zu ihr empor. Der Geschmack eigenen Blutes füllte seinen Mund. »Ich werde dich strafen! Niemand darf, niemand kann mich be-« Weiter kam er nicht. Sie riß ein anderes Exemplar hinter ihm aus dem Schrank. Jetzt erst fiel ihm auf, daß sie ihm über die Monate hinweg allzu häufig Fragen zu der Beschaffenheit der Tücher und ihren Erkennungsmerkmalen gestellt hatte. Nun wußte er warum. Er streckte selbst die Hand nach einem Zauber aus, der seine Kraft noch einmal aufgefrischt hätte. Aber sie schlug ihm den Arm nieder,
daß er fast brach. Mit aufgerissenen Augen sah er, wie sie ein »Glückstuch« wählte – eines, das Euphorie wie eine Droge auslöste. Dieses Gewebe stopfte sie ihm in den offenen Mund. El Nabhal erstickte fast daran. Er versuchte es auszuspeien, aber es entfaltete bereits seine Magie, und ehe er sie neutralisieren konnte, durchpulste ihn unbeschreibliche Freude über das, was Nona ihm antat. Er starb lachend. Die Werwölfin stieß ihm den Nagel ihrer Klaue wie einen Dorn ins müde Herz. Dann flüchtete sie aus dem Raum.
* Verzweiflung traf Verzweiflung. Als Lilith schon nicht mehr glaubte, die Oase zu finden, entdeckte sie eine Gestalt in der Wüstennacht. Eine Frau. Sie trug Kleidung wie für die Bewohner dieses Landes üblich, aber sie war keine Farbige, keine arabisierte Afrikanerin. Und sie wurde verfolgt von einer Kreatur, wie Lilith sie hinter sich gelassen zu haben glaubte. Ein Werwolf! Dem Verfolger schien es Vergnügen zu bereiten, sie in weitem Ab stand zu hetzen, obwohl es ein leichtes für ihn gewesen wäre, diesen Vorsprung einzuholen. Er war riesig. Seine Bewegungen kamen – im Gegensatz zu denen
der Flüchtenden – kontrolliert und geschmeidig. Ab und zu stieß er ein zuversichtliches Heulen aus. Jedesmal drohte die Fliehende zu erstarren. Lilith spähte in die Richtung, aus der sie kamen. Sie flog niedrig. Als sie etwas an Höhe gewann, erkannte sie die Wipfel schlanker, hoher Palmgewächse. Aber nicht einmal das vermochte Kraftreser ven in ihr zu mobilisieren. Sie war leer. Ausgelaugt. Es gab nur einen Weg, dies schnell zu ändern. Sie landete. Direkt vor der Frau verwandelte Lilith sich in ihre menschliche Gestalt zurück. Der Symbiont reagierte prompt und umschmiegte sie mit einem Catsuit, das auch Arme und Beine vollständig bedeck te. Die Frau erschrak. Sie war jung. Und schön. Und am Ende ihrer Kräfte. Wie ich, dachte Lilith, fackelte nicht lange, packte sie, ohne auf be sondere Gegenwehr zu stoßen, und grub ihre Zähne in ihre Hals schlagader. In den Quell des Lebens. Die Frau wurde ganz ruhig, ganz entspannt in Liliths Umarmung. Sie lehnte ihren Körper gegen Lilith und seufzte hingebungsvoll. Die Strapazen hatten sie in eine Art Delirium versetzt. Über ihre Schulter hinweg sah Lilith den Werwolf heranhetzen. Mit großen, weit ausgreifenden Sätzen, denn er hatte begriffen, daß etwas Au ßergewöhnliches die bereits sicher gewähnte Beute in Frage stellte. Lilith trank tief und gierig, bemühte sich aber dennoch, ihrem Op fer keine irreparablen Schäden zuzufügen.
Wieviel Schwund an Blut verkraftete ein bereits geschwächter menschlicher Organismus? Es wurde ein Drahtseilakt. Als die Frau das Bewußtsein verlor, hörte Lilith abrupt auf und ließ den Körper in den kalten Sand sinken. Als sie aufsah, stoppte der Werwolf einen Steinwurf entfernt. Stumm blickte er zu ihr herüber. Als Lilith auf ihn zuspurtete, war er so perplex, daß er sich re flexartig umdrehte und selbst zu rennen begann – in die Richtung, aus der er gekommen war. Aus dem Jäger war ein Gejagter geworden. Lilith, von neuer Kraft durchdrungen, holte ihn spielend ein und brachte ihn zu Fall. Sein Gesicht grub sich in den losen Sand der Wüste, und als er knurrend wieder hochschnellen wollte, lähmte sie ihn mit einem wuchtigen Fausthieb zwischen die Halswirbel. Benommen blieb er liegen. Lilith setzte sich auf ihn und packte seinen Kopf an den spitzen, behaarten Wolfsohren. »Ich reiße dir den Kopf ab«, prophezeite sie ihm, »wenn du dich nicht augenblicklich in deine Menschengestalt verwandelst! Ich habe deinesgleichen viele getötet auf diese Weise …!« Es war gleichgültig, ob er ihrer Übertreibung Glauben schenkte oder nicht. Das Fell wich von seinem Körper. Knochen und Gelenke knirsch ten unter Lilith, die nicht aufhörte, ihn niederzudrücken, bis aus dem furchterregenden Mischwesen ein fast zierlicher, dunkelhäuti ger Mann offenbar maurischer Abstammung geworden war. Erst dann stieg sie von dem nackten Mann herab und zerrte ihn auf die Beine. Sie selbst behielt eine respekteinflößende Teilmeta
morphose bei. Ihre Züge, ihre Klauen verströmten unerbittliche Här te, und ihr befehlender Ton verwirrte die Gestalt noch mehr. »Wie ist dein Name?« »Azis.« »Beim geringsten Anzeichen, daß du dich verwandelst, töte ich dich, Azis! Hast du verstanden?« Er nickte grimmig. Seine Brauen wuchsen über der Nasenwurzel zusammen. »Du weißt, wer ich bin?« fragte Lilith. Er verneinte. »Ich werde nicht … erwartet?« Er schüttelte abermals den Kopf. Beide Male glaubwürdig. Lilith wußte nicht, was sie davon halten sollte. Inzwischen war klar, daß Jebal sie zur Oase El Nabhals locken sollte. Und dort? Sie trieb ihn das Stück zurück bis zu der ohnmächtigen Frau, de ren Blut sie erfrischt hatte. Da sie von einem Wolfswesen verfolgt worden war, hoffte Lilith, es nicht auch mit einer Werwölfin zu tun zu haben – mit einer weiteren, gezielten Heimtücke. Sie befahl dem Zierlichen, die Frau aufzuheben und zu tragen. Er gehorchte. Er war zäh und wankte unter dem Gewicht nicht einmal. Gemeinsam marschierten sie zur Oase, die sie, als die Sonne auf ging, erreichten und wo ein ungeheures Chaos sie empfing.
* Die Beziehung zwischen Nona und ihrem »Rudel« war weit ober flächlicher, als Außenstehende es vermutet hätten. In vielen Rang
kämpfen hatte sie zur Vollmondzeit bewiesen, daß sie die Stärkste unter den hier Lebenden war. Aber sie konnte jederzeit ohne die an deren leben – und die anderen ohne sie. Keinerlei Sentimentalität war im Spiel, als sie die Werwölfe, die von ihrer nächtlichen Hatz zurückgekehrt waren, zusammentrom melte und sie über El Nabhals Tod informierte. Über das Ende der Gemeinschaft. Alle hatten längst bemerkt, was in der Oasenstadt vorging. Überall irrten verwirrte Menschen durch die Gassen und zu den offenen To ren hinaus. Die ordnende Hand, die alles zusammengehalten hatte, war verschwunden. El Nabhals Magie war versiegt. Kein Mensch ohne wölfische Begierden hatte sich freiwillig hier aufgehalten. Nona verabschiedete sich von ihresgleichen und stellte jedem frei, ob er in der Oase bleiben oder fortziehen wollte. Sie würde nicht bleiben. Sie wollte nur noch sehen, ob Landrus Ansinnen doch noch – anders als geplant – seine Erfüllung fand. Sie stieg auf die Stadtmauer und wartete im Morgendämmern dar auf, die Gestalt zu erspähen, die sie, im Liebesspiel versunken, auf El Nabhals Tuch gesehen hatte.
* Im Schatten der Mauer legte Azis seine lebendige Last auf Liliths Be fehl ab. Die Frau atmete ruhig, auch wenn sie immer noch ohne Bewußt sein war. Großes Geschrei herrschte jenseits der Mauer. Die Tumulte schie nen auch Azis zu verblüffen. Seine Unruhe wuchs. Und damit auch
seine Gefährlichkeit. Während des Marsches hatte Lilith ihn nach Duncan befragt. Of fenbar wußte Azis nur gerüchteweise von einem Mann, auf den ihre Beschreibung zutraf. »Wo kann ich ihn finden?« fragte sie jetzt. »Wo verwahrt man Ge fangene?« Er zögerte. »Es gibt keine Gefangenen in dieser Stadt«, behauptete er schließ lich. »El Nabhal kümmert sich um jeden Zugang persönlich. Die Neuen leben mitten unter den anderen. Sie glauben, hier heimisch zu sein. Niemand käme auf den Gedanken zu fliehen, solange der Bann besteht …« »Vielleicht früher.« Lilith zeigte zum offenen Tor, aus dem ein Strom von Menschen quoll. Die meisten zu Fuß, einige auf Kamelen. »Es sieht so aus, als hätte sich dies geändert!« Sie faßte ihn schärfer ins Auge und zischte: »Im übrigen steht mein Angebot noch immer: Du hilfst mir, oder stirbst! Ich habe weder Lust noch Zeit für Diskus sionen! Wo also würde man einen Gefangenen einsperren, wenn man einen hätte …? Ich frage nur einmal. Überlege deine Antwort gut!« Er erkannte den Ernst. Ob er nach Sonnenaufgang überhaupt noch fähig gewesen wäre, den Wolf in sich zu erwecken, wußte Lilith nicht. Sie blieb weiterhin auf der Hut, als er sie in die Stadt führte. Die Frau, die Lilith neue Kraft gespendet hatte, ließen sie an der Mauer zurück. Lilith wollte sich später um sie kümmern. Zunächst mußte sie sich überzeugen, wieviel Wahrheit hinter dem Lügengebilde steckte, das sie hierhergelockt hatte. Sie rechnete immer noch damit, auf Landru zu treffen. Oder auf seine wölfische Geliebte Nona. Sie rechnete mit jeder Hinterlist …
Azis führte sie zu einem Turm im Zentrum der kleinen, merkwür digen Stadt, in der El Nabhal das Zepter schwang. Oder geschwungen hatte. Etwas war passiert. Überall herrschte Aufbruchstimmung. Verwir rung. Der Turm war unbewacht. Früher, behauptete Azis, dem die Verhältnisse spürbar zusetzten, hatte hier immer eine Wache gestanden. »Obwohl es keine Gefangenen gibt?« konterte Lilith sarkastisch. Er schwieg. Und dann wurde sie selbst still. Sie unterdrückte ein Zittern bei dem Gedanken, Duncan – ein To ter! – könnte hinter den Turmmauern auf sie warten. »Laß mich gehen«, verlangte Azis. »Wohin?« »Herausfinden, was hier geschah … und geschieht.« »Erst gehen wir beide hier hinein. Du könntest mich sonstwohin gelotst haben!« Er schüttelte den Kopf. Sie packte ihn im Nacken und lenkte den Störrischen entschieden durch die unverschlossene Tür.
* Nachdem Nona den Weg der Ankömmlinge verfolgt hatte und si cher sein konnte, daß nun doch noch alles den von Landru ge wünschten Gang nahm, kehrte sie noch einmal in El Nabhals Gemä cher zurück. Sie wollte ein paar nützliche Tücher mit auf die Reise nehmen. Aber als sie das erste berührte, spürte sie sofort, daß jeder
Zauber daraus gewichen war. Selbst da bedauerte sie nicht, den schrecklich Anhänglichen besei tigt zu haben. Endlich konnte sie wieder frei atmen! Endlich! Dennoch verlangte ein innerer Zwang, noch einmal jenen Raum aufzusuchen, in dem sie El Nabhal sterbend zurückgelassen hatte. Als müßte sie sich selbst noch einmal versichern, daß sie seiner auch wirklich für alle Zeiten ledig war … Der Greis lag mit gebrochenen Augen neben dem offenen Schrank, in dem sich andere, wertlos gewordene Tücher drängten. In seinem offenen Mund stak noch immer das »Glückstuch«, das sein Pech nicht verhindert hatte. Nona breitete das Tuch, das ihren Haß verstärkt hatte, über das Gesicht des toten Magiers. Dann ging sie. Mit einem kleinen, ihr in diesem Moment selbst unerklärlichen Schaudern.
* Sie erkannte ihn im selben Moment, als die Tür nach innen auf schwang. Er kauerte in der äußersten Ecke des Raumes auf einem Lager aus Stroh. Sein Kopf war gesenkt, sein Gesicht nicht voll zu sehen. Dennoch wußte Lilith sofort, wen sie vor sich hatte. Sie stolperte in den Raum. Azis blieb hinter ihr zurück und nutzte diese Gelegenheit. Hasten de Schritte, die kaum in Liliths Bewußtsein drangen, verrieten seine
Flucht. Er machte keinen Versuch, sie hinterrücks anzugreifen, ob wohl dies in diesem Moment innerster Erschütterung durchaus er folgversprechend gewesen wäre. Aber er rettete lieber seine eigene Haut, während Lilith vor dem Mann zu stehen kam, der wie Dun can Luther aussah und doch nur Augen für das Tuch in seinen Hän den zu haben schien. Seine Nacktheit störte Lilith nicht. Sie bestätigte nur im Detail, daß es Duncan war …! »Duncan …?« Ihre Stimme schaffte, was ihr geräuschvolles Erscheinen bislang nicht vermocht hatte. Er sah auf. Im Halbdunkel mußte auch er sie erkennen, wenn … Er erkannte sie. Wankend versuchte er, sich zu erheben. »Lilith …!« Es war seine Stimme. Es war sein Blick – wenn auch zutiefst ver stört. Lilith mußte sich zwingen, den Argwohn aufrechtzuerhalten. Die ses Menschenbündel vor ihr war so fernab davon, eine Bedrohung zu verkörpern, daß sie eigentlich nur Mitleid empfand. Ihre Hand ging zu seinem warmen Hals. Zu seiner pochenden Ader. Er lebte! Keine Kreatur, wisperte es in Lilith. Aber was dann? Dies hier war von langer Hand geplant. Es gab keinen Zweifel – so wenig wie daran, daß Duncan wahrhaftig lebte.
Ihre Stimme klang mürbe, als sie ihn bat, sich umzudrehen. Er gehorchte. Was sich in seinem Gesicht widerspiegelte, raubte Lilith schier den Atem. Seine Erleichterung – fast Erlösung –, sie zu sehen, übertraf alles, was sie in Gedanken an Möglichkeiten durch gespielt hatte. Sein Rücken war entlang der Wirbelsäule vernarbt. Reste von Nähten, chirurgisch perfekt aneinandergereiht, waren erkennbar. Eine lebensrettende Operation? In Delhi? Es konnte nicht stimmen! Lilith zwang sich zu Logik angesichts etwas, das nur als Wunder bezeichnet werden konnte. »Du erinnerst dich an deinen Anruf?« Er nickte. »Dann sage mir, wie du mich in Muonio finden konntest!« »Beth gab mir die Adresse. Ich sprach zuerst mit Beth …« Liliths Gedanken liefen auf höchsten Touren. Dies, gestand sie sich ein, war die einzige akzeptable Erklärung – die aber von Beth noch bestätigt werden mußte. »An was erinnerst du dich sonst?« »An … wenig. Delhi … Der Angriff der Vampire …« »Das liegt Monate zurück!« unterbrach sie ihn. »Und wie lange liegt es für dich zurück?« Als er ihr verzweifelte, stumme Blicke zuwarf, verzichtete sie auf eine direkte Antwort und zeigte auf seine Kleider, die jemand säu berlich über einen Schemel gelegt hatte. »Zieh dich an. Wir müssen sehen, daß wir irgendwo ein Reittier erwischen, um von hier wegzukommen. Die Chancen stehen schlecht. Die Stadtflucht boomt momentan …«
Er stockte. Mit hängenden Schultern stand er vor ihr, die Arme halb angewin kelt, als sehnte er sich nach nichts mehr, als daß sie ihn in ihre Arme nähme. Aber das konnte sie nicht. Sie konnte es nicht … ENDE
Überlieferte Realfälle · Krankheiten · Erklärungsversuche In verstaubten Archiven rund um die Welt finden sich Zeugnisse von Chronisten, deren Niederschriften man aus heutiger – meist auch schon aus damaliger – Sicht mit dem Mythos Lykantrophie in Verbindung setzen kann. Einige Beispiele: 1591, Köln und Bedburg Auf den umliegenden Feldern wurden häufig Arme und Beine er mordeter Erwachsener und Kinder gefunden. Eines Tages wurde ein Wolf zufällig entdeckt und von beherzten Männern eingekreist. Bei genauem Hinsehen mußten sie erkennen, es nicht mit einem Wolf, sondern einem ihnen bestens vertrauten Menschen zu tun zu haben. Sein Name war Peter Stubbe. Offenbar hatte er sich durch Zauberei in einen Werwolf verwandelt. Stubbe wurde aufs Rad geflochten und gestand eine Reihe von Greueltaten. Angeblich hatte er einen magischen Gürtel geradewegs vom Teufel erhalten. Der Gürtel machte ihn stark und mächtig und förderte seine Verwandlung zum Wolfswesen. Da der Gürtel unauf findbar blieb, gingen die Richter davon aus, daß der Teufel ihn sich zurückgeholt habe. 13 Kinder und zwei schwangere Frauen zählten zu Stubbes mutmaßlichen Opfern. Alle hatte er auf grausamste Wei se zerfetzt, um ihre Herzen »heiß und roh« zu essen. Er selbst be schrieb sie als »die zartesten Leckerbissen, die seinen Hunger stillten und auf das Köstlichste mundeten«. 1603, Frankreich In Aquitaire wurde ein körperlich und geistig zurückgebliebener
Junge von 13 oder 14 Jahren gefaßt und vor Gericht bezichtigt, Kin der der Gegend, darunter einen Säugling, entführt zu haben. Der Junge, Jean Grenier, gestand 50 Morde und das Verspeisen seiner Opfer. Grenier behauptete, Sohn eines Priesters zu sein, was nach weislich falsch war. Seinen Ausführungen zufolge sei er im tiefen Wald vom »Herrn des Waldes« auf den Mund geküßt worden. Von diesem Wesen habe er auch einen Wolfspelz und geheimes Wissen erhalten, das ihn fortan zu seinen Taten befähigte. In seiner anschlie ßenden Gefangenschaft weigerte sich Grenier hartnäckig, normale Nahrung zu sich zu nehmen. Er aß, wie es heißt, nur blutig rohe Fleischstücke. 1685, Bayern Der »Werwolf von Ansbach«, den man für die Wiedergeburt eines kurz zuvor verstorbenen Bürgermeisters hielt, wütete unter Frauen und Kindern. Als er in einen Brunnen stürzte, fiel er den Dorfbe wohnern in die Hände. Er wurde erschlagen und mit einer Wolfs maske sowie Kleidern und Perücke des toten Bürgermeisters zur eindringlichen Warnung öffentlich aufgeknüpft. 1764-1767, Südostfrankreich Ein gewaltiges Raubtier, die sogenannte »Bestie von Gevaudan«, tötete und verstümmelte insgesamt mehr als 100 Menschen. Zwar ging einem Bauern zwischenzeitlich ein großer Wolf in die Falle, das Morden hörte jedoch nicht auf. Erst nach einer speziell abgehaltenen Messe und dem Tod eines zweiten Wolfes fand der Schrecken sein Ende. Soweit die historisch belegten Fälle. Zu den »normalen« Erklärungs versuchen für Lykanthropie zählen Drogen, Psychosen, Tollwut und
andere Erkrankungen, die Menschen kurz- oder längerfristig sowohl psychisch als auch körperlich verändern. Eine seltene Mangel-Erbkrankheit namens Porphyrie weist als Sym ptome extreme Lichtempfindlichkeit und ein mit Fortschreiten der Krankheit immer schrecklicheres Aussehen auf. Die Befallenen scheuen das Licht und führen ein Dasein fast nur in Schatten und Dunkelheit. Hautverfärbungen und eine ungewöhnlich starke Be haarung von Gesicht und restlichem Körper zählen zu den weiteren Eigenarten der Porphyrie sowie die Neigung zu Hautverletzungen, aus denen sich sofort Geschwüre entwickeln, welche auf Knorpel und Knochen übergreifen. Besonders betroffen sind Nase, Ohren, Augenlider und Finger. Zähne und Fingernägel verfärben sich röt lich. Psychische Störungen begleiten allerhäufigst diese Stadien der Krankheit bis hin zu ausgewachsenen Psychosen. Porphyrie ist ge netisch bedingt. Nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen lassen sich viele Fälle angeblicher Lykanthropie auf die Wirkung halluzinogener Pflanzen und von Pilz befallenem Getreide zurückführen. Im Mittel alter ein Allerweltsheilmittel war Belladonna (die Tollkirche). Doch diese Pflanze erzeugt, zu hoch dosiert, Halluzinationen und Wahn vorstellungen einer Verwandlung. Mangelhaftes Wissen um Gefah ren der Nahrungsaufnahme führte wiederum zu Vergiftungen mit dem sogenannten »Mutterkorn«, einem Pilz, der LSD-ähnliche Alka loide enthält und ebenfalls starke, lang anhaltende Halluzinationen hervorruft. Natürlich wurden auch bewußt Stoffe eingesetzt, um die »Bestie im Lykanthropen« zu entfesseln. Ein typisches Gebräu mit halluzinoge
ner Wirkung bestand aus: Opium, Mohn, Aloe, Bilsenkraut, Schier ling, Petersilie, Gift aus Nachtschattengewächsen wie Solanin und Stinkasant sowie Milchsaft aus der Wurzel des Steckenkrauts. Eine typische Salbe setzte sich zusammen aus: Kampfer, Eisenhut, Anis, Opium, Pappelblättern, dem Blut von Fledermäusen, Ruß und aus gekochtem Katzenfett. Eine wesentliche, wenn nicht die Rolle in der Lykanthropie spielt der Mond. Was in der Lage ist, Meere zu bewegen, vermag nach land läufiger Meinung auch Schrecklicheres. Tatsächlich behauptet ein amerikanischer Professor, der menschliche Gehirnströme mißt, daß mit den unterschiedlichen Mondphasen erkennbare Veränderungen in der elektrischen Aktivität auftreten. Daneben scheinen Enzyme und Hormone im Körper vom Vollmond beeinflußt und zu erhöhter Tätigkeit angeregt zu werden. Adrian Doyle Quelle: Wesensverwandlungen, Time-Life-Bücher, Amsterdam
Das zweite Leben von Adrian Doyle So unglaublich es klingt: Duncan Luther scheint seinen Tod verges sen zu haben. Ohne Zweifel ist er keine Dienerkreatur der Vampire, und auch sonst kann Lilith keine alarmierenden Merkmale an ihm finden. Doch wie soll sie mit einem Menschen umgehen, dessen Existenz der Natur selbst spottet? Kann sie Duncan noch vertrauen? Zumindest ihr zweites privates Dilemma hofft Lilith zu beenden: Sie verabreicht Beth, die ihr seit der magischen Pest nur noch Haß entgegenbringt, das Gegenmittel von Dr. Stålheim – und beschreitet damit genau den Weg, den Landru ihr vorgibt …