Alice Blanchard
Zahn um Zahn
s&p 06-08/2007
Der Tornado hatte erbarmungslos gewütet. Doch die Familie Pepper, deren L...
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Alice Blanchard
Zahn um Zahn
s&p 06-08/2007
Der Tornado hatte erbarmungslos gewütet. Doch die Familie Pepper, deren Leichen danach in den Trümmern ihrer Farm gefunden wurden, ist nicht dem Unwetter zum Opfer gefallen, da ist sich Charlie Grover, der Polizeichef von Promise in Oklahoma, sicher. Tornados ziehen keine Zähne … ISBN: 978 3 499 24076 8 Original: The Breathtaker (2003) Deutsch von Rudolf Hermstein Verlag: Rowohlt Erscheinungsjahr: März 2006 Umschlaggestaltung: Edda Hars/Angela Jakob
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Autor Alice Blanchard wuchs in Connecticut auf und studierte in Boston Literatur und Film. Nach einem Erzählungsband, der mit dem Anne Porter Prize ausgezeichnet wurde, erschien ihr Roman »Die Gesichter der Wahrheit«. Der Erstling war nicht nur ein großer internationaler Erfolg, sondern wurde ebenfalls mit etlichen Preisen bedacht und von der New York Times Book Review als eines der bemerkenswertesten Bücher des Jahres 1999 ausgezeichnet. »Zahn um Zahn« ist ihr zweiter Roman. Die Autorin lebt in Los Angeles.
Für Doug, mein Licht in der Dunkelheit Odem, komm herzu von den vier Winden und blase diese Getöteten an. Hesekiel, 37,9
PROLOG TANZ IN DER LUFT Auf einen Streit gefasst, betrat Rob Pepper die freundliche gelbe Küche. »Hey, Jenna, was ist jetzt?«, fragte er. Mit dem Hörer am Ohr schaute seine Frau leicht feindselig zu ihm auf. Dauernd ist sie am Telefonieren, in einer Tour. Heute hatte sie zu viel champagnerfarbenen Lippenstift aufgetragen, und auf ihren Augen klebte eine dicke Schicht moosgrünen Lidschattens. »Ich komm gleich«, sagte sie, legte den Kopf in den Nacken und blies Rauch an die Decke. Er schaute auf die Uhr. Jetzt hing sie schon eine Viertelstunde am Telefon und hatte den Anfang des Films verpasst. Verdarb ihrer Tochter den Spaß. Ein verregneter Samstagnachmittag. Popcorn und Jackie Chan. Rob und Jenna hatten einen Waffenstillstand geschlossen. Sie hatten ihrer Tochter Danielle versprochen, dass sie sich nicht mehr streiten und ausnahmsweise mal eine richtige Familie sein wollten. Ha, von wegen. »Mit wem telefonierst du?« »Rita«, sagte sie. »Gut, dann sag jetzt tschüss zu Ritalein und komm endlich mit uns den Film anschauen.« Jenna sah ihn ausdruckslos an. Sie benutzte eine gesprungene alte Cornflakes-Schüssel als Aschenbecher und saß auf dem Küchenstuhl wie ein Äffchen – die Knie an die Brust hochgezogen, die erdnussförmigen Zehen um den Rand des Plastiksitzes gekrümmt. Verflucht sexy in ihrem 4
pfirsichfarbenen Top und den alten Jeans mit den kleinen Löchern. Rob hatte sich schon in der siebten Klasse in Jenna Kulbeck verliebt. Rettungslos verknallt. Das Schulflittchen – er hätte es wissen müssen. So zierlich, dass er sich immer vorstellte, er könnte sie in der Hosentasche mit sich herumtragen. Sie weckte seinen Beschützerinstinkt. Kurz nach dem High-SchoolAbschluss hatten sie geheiratet, auf einem von Pappeln umstandenen grünen Hügel. Und einen Monat später hatte Jenna verkündet, sie sei schwanger. Nach Danielle hatte sie drei Fehlgeburten hintereinander. Drei tot geborene kleine Jungen mit den Namen Robert Jr., Victor, nach Jennas Vater, und Farley, nach seinem Lieblingsonkel. »Wann«, fragte er so sarkastisch wie möglich, »werden Gnädigste denn geruhen, sich zu uns zu gesellen?« »Gleich«, sagte sie. »Nur noch eine Minute.« »Das hast du schon vor einer Viertelstunde gesagt.« Sie stellte sich taub. »Na schön, meinetwegen. Wie du meinst.« Er machte die Kühlschranktür auf, zog ein Bier aus dem Sechserpack und öffnete es mit einem Feuerzeug. Es war warm im Haus, feucht. Fast tropisch. Er schaute aus dem Fenster. Der bedeckte Himmel wirkte bedrohlich. April, kühl und nass, füllt dem Farmer Scheun’ und Fass. Er ließ den Kronkorken in den Mülleimer fallen und ging hinaus. Eine wegwerfende Handbewegung sollte seinen Verdruss zum Ausdruck bringen. Auf dem Flur blieb er einen Moment stehen und lauschte. »… nie kann man … dieses Arschloch …« Arschloch? Hatte sie ihn gerade Arschloch genannt? Er spähte um die Ecke und fragte sich, ob sie ihn provozieren wollte. Ihr Haar war dunkel und weich und bedeckte knapp die Ohren. Den Blick hielt sie starr auf ihre Zigarette gerichtet. Mit launischem Finger klopfte sie die Asche ab. War ihr denn alles egal? Waren 5
ihr selbst die Gefühle ihrer Tochter völlig egal? Rob kam allmählich der Verdacht, sie könnte eine Affäre haben. Zu viele mysteriöse Telefonate in letzter Zeit, zu viele Einkaufsfahrten, um Sachen zu besorgen, die sie unbedingt auf der Stelle brauchten, zum Beispiel Erdnussbutter oder Klopapier oder die Fernsehzeitschrift. Er stand da und suchte nach der Wahrheit. War es seine Schuld, dass es in ihrer Ehe nicht mehr so richtig lief? Na ja, schon … vielleicht. Vielleicht war es seine Schuld. Er war kein Krösus. Im Frühjahr musste er um halb fünf aufstehen, um die Saat auszubringen, den Mähdrescher zu reparieren und sein Düngeprogramm durchzuziehen. Er schuftete achtzehn Stunden am Tag und fiel um Mitternacht ins Bett. Schlief wie ein Toter. Schnarchte. Sie hatten schon länger keinen Sex mehr gehabt. Der Sommer und der Winter waren besser für den Sex. Aber musste sie es an Danielle auslassen? Warum bestrafte sie nicht lieber ihn und nahm Rücksicht auf ihre Tochter? Erbost machte er auf dem Absatz kehrt und ging in die Küche zurück. »Bleib dran«, zischte Jenna ins Telefon. »Was ist denn nun schon wieder?« »Also?« »Also was?« »Wie wär’s?« »Wie war was?« »Na, der Film.« Sie schloss die Augen. Kalt. Verächtlich. »Ich telefoniere.« Du nervst. »Mit Rita?« »Bitte.« Ihre Zehen bewegten sich unabhängig voneinander, wie die Tasten eines elektrischen Klaviers. »Lass mich in Ruhe, Rob.« »Na schön. Wenn du das deiner Tochter antun willst.«
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Ihre betroffene Miene sagte ihm, dass er sie endlich aufgerüttelt hatte. Na endlich, du Biest. Zurück im Wohnzimmer, lächelte er seiner vierzehnjährigen Tochter zu – alles okay – und setzte sich vor den Erkerfenstern auf den Boden. Danielle saß am liebsten in dem alten Korbstuhl mit seinen flachen, geflochtenen Armlehnen, während Jenna sich gern auf der Couch zusammenrollte und die Arme schützend um ihren Körper legte, als drohte Gefahr. Er drehte seine Bierflasche in den flauschigen Teppich, damit sie nicht umfiel, und sah zu, wie Jackie Chan Erstaunliches mit einem Stuhl anstellte. »Hab ich was verpasst?«, fragte er. Danielle verdrehte die Augen. »Der Böse hat versucht, Jackie Chan in den Hintern zu treten, aber Jackie Chan hat den Spieß umgedreht.« »Den Stuhl umgedreht, meinst du.« »Ha, ha. Sehr witzig, Dad.« »Ich bin der coolste Dad auf Gottes Erdboden.« »Cool wie ein Ghul.« »Gib mir mal das Popcorn, Spätzchen.« »Kommt Mom auch?« »Ja, gleich.« Sie warf ihm von der Seite einen Blick zu. »Dicke Luft?« »Nein, nein.« Er hatte in letzter Zeit so viel zu tun gehabt, sich so viel um seine Felder kümmern müssen, dass er nicht auch noch an die Bedürfnisse seiner Frau denken konnte. Wenn man acht Stunden am Stück Traktor fuhr, war einem hinterher nicht danach, überhaupt noch irgendetwas anderes zu tun. Die Ohren dröhnten, der Rücken tat einem weh. Falls sie die Farm satt hatte, konnte er kaum etwas daran ändern. Vor vielen Jahren hatte Jenna immer in ihrem weißen Badeanzug vor ihm auf dem Teppich gelegen, den gebräunten Rücken dem zimtfarbenen 7
Plüschteppich zugewandt und die Füße ausgestreckt wie eine Ballerina in der Horizontalen. Sie hatte so schlanke Beine und so schmale Füße und diese beweglichen Zehen – lange, biegsame Greifzehen, die sie überkreuzen und spreizen konnte wie die Federn eines sich öffnenden Fächers. Dann legte sie die Füße auf seine Schenkel, faltete alle zehn Zehen, pummelig und zupackend wie Babyfinger, um seinen Penis und bewegte sie auf und ab. Sie konnte sogar Gegenstände mit den Zehen aufheben – Bierflaschen, Holzklötzchen und so kleine Dinge wie Büroklammern. Plötzlich war es windstill. Danielle warf den Kopf herum. »Was war das?« Er schaute aus dem Fenster und sah Blätter vom Himmel fallen. Er hatte sich angewöhnt, wie ein Zen-Buddhist auf das Wetter zu reagieren. Man musste es nehmen, wie es kam. »Donner und Blitz«, sagte er. »Gut für die Ernte.« Danielle balancierte die Schale mit dem Popcorn auf der Armlehne ihres Sessels. »Ist das unsere Sirene?« Er drückte den Pause-Knopf. »Ach das. Weißt du noch, was passiert ist, als sie das letzte Mal losging?« Sie schaute ihn an. »Nichts.« »Und das vorletzte Mal?« »Nichts.« »Und das Mal davor und das davor?« Sie lächelte. »Okay, Dad. Hast gewonnen.« »Gut. Also, jetzt gib mir mal das Popcorn, Kleine.« Sie reichte ihm die Schüssel, und er ließ den Blick durch das mit Pflanzen dekorierte Wohnzimmer schweifen, über die abgewetzten Sessel, den voll gestellten Couchtisch, die Campingsachen in der Ecke, den zerknüllten Schlafsack auf dem Boden, die lautlose Uhr. Es war kurz nach zwei Uhr nachmittags, und sie hatten keinen Keller, in den sie sich hätten 8
flüchten können. Auch seine Schuld, klar. Rob Pepper hatte es versäumt, seine Familie mit einem Keller auszustatten, hier mitten in der Tornado Alley. Dieser Trottel. Vielleicht hasste ihn Jenna deswegen so sehr. Weil das Erbe von Generationen von Versagern in seinen Adern floss. Er schaute wieder aus dem Fenster. Die Wolken jagten jetzt über den Himmel. »Hey, Dad?« Danielle trug ihr langes rotes Haar an diesem Tag zu Zöpfchen geflochten. In ihrer Latzhose und dem liebesapfelroten T-Shirt sah sie aus wie ein kleines Mädchen. Aber sie hatte die gleiche geschmeidige Figur wie ihre Mutter, die gleiche anrührend schimmernde Haut und die gleiche Lebendigkeit in den schlanken Gliedern, die jedes männliche Wesen, dem sie von nun an begegnete, zum Wahnsinn treiben würde. »Das wird jetzt richtig unheimlich da draußen.« Er hielt den Hals der Bierflasche an seine Schneidezähne und horchte auf das Brausen des Windes. Die Luft summte wie eine Stimmgabel. Vielleicht hatte Jenna Recht. Vielleicht war es sein Problem, dass er einfach nichts begriff. Er stand auf und trat ans Erkerfenster. Die Wolken wirbelten herum und verdrehten sich, und der Weizen wogte und kräuselte sich. Er schaute zu dem mit Brettern vernagelten Haus auf der anderen Straßenseite hinüber, das seit Jahren unbewohnt war. Die Haustür klappte auf und zu, als sei eine Geisterparade unterwegs in die Berge. Die Peppers wohnten am Ende der Shepherd Street in Promise, Oklahoma, so ziemlich der einsamsten Gegend der Welt. Ringsum gab es meilenweit nichts als Winterweizen und kreisende Habichte, Klapperschlangen und eine dringend reparaturbedürftige Landstraße – auf der man entweder südlich nach El Reno oder nördlich ins Munchkinland fahren konnte. »Dad?« Danielle zupfte ihn am Ärmel, einen Anflug von Panik in den Augen. »Heiliger Strohsack, das ist ja heftig!«
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Er folgte ihrem Blick und sah eine Trichterwolke, die rotierend über die Weizenfelder auf sie zukam. Seine Nackenhaare sträubten sich. Der Trichter war noch Meilen entfernt, kam aber zusehends näher, wobei er Massen von Staub und Dreck in die Luft riss. Sie mussten sofort Schutz suchen. Es blieb keine Zeit mehr, das Vieh freizulassen. »Jenna«, schrie er. »Komm sofort her!« »Mom?«, jammerte Danielle. Sie kam ihnen in der Tür entgegen, offenbar zu Tode erschrocken. »Was ist denn los? Was ist das?« »Ein Tornado«, sagte Rob, »und er kommt rasend schnell näher.« »Du machst wohl Witze, oder?« Sie wollte zur Haustür, aber er riss sie unsanft zurück. »Aua!« Ihre Hände tasteten nach ihm, ihre Finger zuckten. Sie hatte lange, scharfe Nägel, und er ließ sie los. »Sei nicht so grob, du Arschloch!« »Mom«, flehte Danielle und schaute die beiden mit der Besorgnis eines Kindes an, das in puncto Gefühlsskala und menschliche Reife seine Eltern längst überflügelt hat. Jenna rieb sich den Arm, strich über imaginäre Wunden. Ihr Gesicht blieb starr, aber ihre Augen wurden weich. »Kommt, ins Bad, schnell!«, rief sie. »Nein, warte«, sagte Rob. »Wir müssen in der Hausmitte sein … nicht in der Südwestecke.« »Aber man soll sich doch in einem kleinen, fensterlosen Raum im Erdgeschoss aufhalten … in einer Abstellkammer oder in der Toilette.« »Streite jetzt nicht mit mir, Jenna. Diese Ecke wird zuerst nachgeben.« Ihre Augen schienen versunken, vorsichtig. »In die vordere Diele. Schnell!« 10
Sie hatten eine Taschenlampe in der Kommode, auf der der Fernseher stand, und Rob knipste sie an. Mit lautem Geklapper blies der Wind die Rollos ins Zimmer. Rob schnappte sich die Kissen von der Couch und riss den Schlafsack hoch. Das Ding war voller Katzenhaare, sodass er niesen musste. Irgendwo hatte er gelesen: Alte Decken, Federbetten und Matratzen können Sie und Ihre Angehörigen vor herumfliegenden Teilen schützen. Sie trafen sich in der vorderen Diele, und er baute aus den Kissen und dem Schlafsack ein Nest. Danielle kauerte sich mit dem Kinn auf der Brust hinein, und Jenna schlang schützend die Arme um sie. »Bin gleich wieder da«, sagte Rob und rannte die Treppe hinauf. Der erste Stock ächzte wie ein von Schmerzen geplagter Mensch. Mehrere Fenster standen offen, und er wurde von einem seltsamen Luftwirbel erfasst. Festgenagelt, unfähig, sich zu bewegen. Was war das für ein Lärm? Es hörte sich an wie hundert Hubschrauber, die über ihrem weißen Holzhaus schwebten und bald hierhin, bald dorthin abdrifteten. Ein paar panische Sekunden lang umtobte ihn die seltsame Luftströmung wie einen im Sturm schwankenden Baum, dann gab sie ihn jählings frei. Mit einem Brennen in der Brust rannte Rob durch den Flur ins Schlafzimmer, riss die Decken vom Bett, packte die Polyestermatratze an den dünnen elastischen Schlaufen und zerrte sie auf den Boden. Dann wühlte er in der großen Eichenkommode nach seiner braunen Brieftasche, in der all ihre Kreditkarten und Versicherungsscheine waren. Er steckte sie sich in den Hosenbund und schleifte dann die Matratze die Treppe hinunter. In der schmalen Diele lehnte er die Matratze schräg an die Wand, und zu dritt kauerten sie sich in dem Hohlraum darunter zusammen. Er legte die Arme um seine Frau und sein Kind und 11
wartete. Es gab auf der Welt nichts Weicheres als das sanfte Atmen seiner Tochter. »Scheiße!« Jenna nestelte an dem Radio herum, das aber über die ganze Skala nur atmosphärische Störungen von sich gab. »Los, sprich mit uns …« Rob kauerte über ihnen in diesem kläglichen Ersatz für eine Diele und fing ihren wütenden Blick auf. Ihr Mund war wie zugenäht, so als sei das alles irgendwie seine Schuld. Na los, sag ’s schon. Ihm war klar, dass er mit seiner schiefen Nase und seinen altmodischen Hosen kein Hauptgewinn war, aber er hatte verdammt noch mal immer gut für die Familie gesorgt. Ein bisschen Dankbarkeit konnte man schon erwarten. »Wo ist Bullette?«, fragte Danielle unvermittelt. »Pst, Schatz. Katzen sind schlau. Der findet schon ein gutes Versteck«, sagte Rob. Wie gerufen hörten sie trotz der klirrenden Fensterscheiben ein klägliches Miauen. »Bullette!« Danielles Augen füllten sich mit heißen Tränen. »Daddy, du musst ihn retten!« »Scht, wir dürfen uns nicht wegrühren.« Sie begann krampfhaft zu schluchzen, und Jenna starrte über die zuckenden Schultern ihrer Tochter hinweg Rob an. Ein gelblicher Lichtfleck von der Taschenlampe lief zitternd über ihr grimmiges Gesicht. »Hol den Kater!«, sagte sie. »Was?« »Bullette!«, kreischte Danielle und presste sich die Fäuste auf den Mund. »Daddy, bitte hilf ihm!« Na wunderbar. Durch simples Nichtstun hatte er den vollen Zorn seiner Frau auf sich gezogen. Bevor sie richtig in Fahrt kommen konnte, packte er die lange Taschenlampe und kroch unter dem provisorischen Schutzdach hervor.
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Fast augenblicklich verschlang ihn Eiseskälte. Gänsehaut prickelte auf seinen Armen, als er das Licht der Taschenlampe im Bogen über den Mahagoni-Garderobentisch schweifen ließ, den sein Großvater vor fast fünfzig Jahren gebaut hatte, dann über den mit Regenmänteln behängten hölzernen Garderobenständer und die alten Bilder, die gegen die ausgebleichte Tapete schlugen. Er hörte nur den an- und abschwellenden Wind. Hol den Kater! Lachhaft. Auf allen vieren kroch er wie ein schlecht programmierter Roboter über die Hartholzdielen in die Küche. Der Donner klang seltsam – kein ausrollendes Echo, nur ein ersticktes Bumm. Bumm. Abrupt, wie Bombeneinschläge. Die Luft strömte hart und schnell, man kam schlecht gegen sie an. Mein Gott, hilf mir. Er kroch an dem Sessel in der Diele mit seinen massiven Eichenholzbeinen vorbei und leuchtete um die Ecke herum in die Küche. Der gefleckte Kater hatte sich in den Spalt zwischen Herd und Küchenschrank verkrochen. Rob sah seine Augen leuchten. »Na komm, Miezmiez …« Der Kater starrte ihn abwehrbereit an. Blinzel. »Komm her!« Der Kater schauderte. »Jetzt komm schon, du blödes Vieh!« Das Tier machte einen Buckel und floh. »Mist.« Rob drehte den Kopf, seine Nerven lagen blank, dann hörte er ein Knattern, unheimlich weit weg, und einen Donnerschlag, der seinen ganzen Körper erzittern ließ. Er hielt sich genau in dem Moment die Hände über den Kopf, als Glas über ihm zerbarst und der Sturm mit Macht hereinfuhr. Ihm in den Ohren gellte. Ihm ins Gesicht blies. Die Sekunden vergingen langsam. Als er endlich wieder den Kopf hob, sah er einen dicken Ast durchs Küchenfenster hereinragen. 13
»Mein Gott«, sagte er und sah zu, wie die zerfetzten Vorhänge tanzten. Es war, als säße er in einem Staubsauger, der Druck auf seine Ohren wurde immer stärker. Der Wind brachte den Kühlschrank fast unmerklich ins Schwanken, und er leuchtete mit der Taschenlampe in alle vier Ecken des Raums, aber der Kater war verschwunden. Vergiss das dumme Vieh. Er drehte sich um und bemerkte eine Hand voll Nägel, die in der Wand neben seinem Kopf eingebettet waren, und bei dem Anblick spannten sich seine Nerven zum Zerreißen. »Rob?«, ertönte von fern Jennas Stimme. Toilettenpapier entrollte sich über den Fußboden auf ihn zu, richtete sich auf wie eine Kobra und tanzte wie eine lange, gewellte Schlange über seinem Kopf in der Luft, als gäbe es keine Schwerkraft mehr. Seine Augen weiteten sich, während er dem Spektakel zusah. Seine Ohren schienen kurz vorm Platzen. Er kroch zurück zur offenen Tür, die in die vordere Diele führte, und der Druck in den Ohren verstärkte sich. Wenn sie hier jemals lebend herauskamen, würde er sofort einen Schutzraum anlegen lassen, wie sie in Anzeigen angeboten wurden. Er würde Blut spenden. Die Obdachlosen speisen. Jeden Abend das Vaterunser beten. Nie mehr fluchen. Was auch immer. Bitte, lieber Gott, hob Erbarmen mit mir und meiner Familie … Er kroch auf allen vieren in die Diele zurück und ließ den Strahl der Taschenlampe über die Mahagonibeine des Garderobentischs wandern, über den rot-grünen Läufer, ein Paar Sportschuhe an der Haustür … Moment mal. Zurück. Sportschuhe? Nagelneue Joggingschuhe, Shelltops in Weiß und Champagner, ein blendendes Weiß, das dazu einlädt, darauf herumzutrampeln. Er starrte mit offenem Mund die ordentlich gebundenen Schnürsenkel und die mit Jeans bekleideten Beine
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an, die aus den Schuhen emporwuchsen, und stieß dann ein klägliches Quaken aus, als ihm Dreck in die Augen flog. Er konnte nichts mehr sehen. Die Haustür war offen, Laub und Trümmerteile wurden hereingefegt. »Hallo?« Verängstigt blinzelte er nach oben, versuchte, die Tränen wegzuzwinkern. Wer war dieser Mensch? Ein Retter? Ein Eindringling? Bei dem Gedanken wurde ihm flau im Magen. Blind, er war verdammt noch mal blind. Er holte einmal kurz Atem, während der Mensch mit den Joggingschuhen dreist näher kam und Glassplitter unter seinen Sohlen knirschten. Dann fiel die Tür krachend ins Schloss.
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APRIL IST DER GRAUSAMSTE MONAT
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1 Polizeichef Charlie Grover war überrascht, dass die stattlichen Granitgebäude der Main Street noch standen, ihre Butzenscheibenfenster und verschiedenfarbigen Dächer intakt geblieben waren. Auf der Wache hatte er geglaubt, der Himmel stürze ein, aber jetzt sah er mit eigenen Augen, dass die Innenstadt dem Toben der Natur widerstanden hatte. Die Luft war feucht und still, und im Licht seiner Suchscheinwerfer sah er den Dreck und die Trümmer, die der Tornado wie Christbaumschmuck überall verstreut hatte – Bäume waren mit langen Strängen Videoband behängt, schwarze Kabel schlängelten sich über die Straße, Staub von Isoliermaterial wirbelte durch die Luft. Er war arg mitgenommen und brauchte einen Drink. Er hasste sich wegen des Trinkens. Er hatte Maddie an ihrem Sterbebett versprochen, dass er das Zeug nie wieder anrühren würde, aber er hatte es doch getan. Nicht so richtig zwar. Er war nie sturzbetrunken, aber ab und zu brauchte er ein Glas. Und jetzt hatte er wirklich gute Gründe. Vor kaum einer halben Stunde war ein harmlos aussehender milchig weißer F-1 auf der FujitaSkala plötzlich über Promise, Oklahoma, erschienen und hatte sich in kürzester Zeit in einen flatternden F-3 verwandelt, der im Zickzack über das flache Land südlich der Stadt gerast war und ein Chaos hinterlassen hatte. Soeben einlaufenden Berichten zufolge war die Schneise der Verwüstung zehn Meilen lang und fast eine Viertelmeile breit. Charlie war unterwegs, um die notwendigen Rettungsaktionen zu koordinieren und das Ausmaß der Schäden abzuschätzen. Durch das Rauschen und Knistern in seinem Polizeifunkgerät hindurch vernahm er die heisere, eindringliche Stimme von Patrol Officer Tyler Drumright: »…
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das Dach ist weg … wir haben ein Haus, in dem keine Innenwand mehr steht … Chief? Sind Sie da, Chief?« Er nahm das Handmikrofon. »Reden Sie, Tyler.« »Ich bin im Ortsteil Black Kettle. Wir haben hier einen Achtundfünfzigjährigen mit Schmerzen in der Brust und keine Ambulanz in Sicht.« »Wenn der Atem aussetzt, probieren Sie’s mit Herzmassage. Die Sanitäter sind unterwegs.« »Wir haben jede Menge völlig benommener, verwirrter Einwohner hier, die nur Beulen und Kratzer davongetragen haben.« »Bleiben Sie dort, Junge, Sie machen das hervorragend. Ich bin in fünf Minuten da.« Er hängte das Mikrofon wieder in die Halterung und musste aus irgendeinem Grund plötzlich an seine kleine Schwester denken. Seine kleine Schwester in ihrer Wiege. Die kleine Clara Grover war vor dreißig Jahren im Alter von zwei Jahren gestorben. Er erinnerte sich, wie sie in ihrer Wiege gelegen und mit ihren riesigen grünen Augen zu ihm aufgeschaut hatte. Vergessen, vergessen … Der Tornado machte ihn fertig. Tausenderlei zu tun, und er war der zuständige Mann. Unter der Uniform hatte er Angst. Er versuchte erneut, seine Tochter zu erreichen. Wieder nur das Besetzt-Zeichen. Die Telefonleitungen waren unterbrochen. Er atmete tief durch und vertraute darauf, dass der sechzehnjährigen Sophie nichts passiert war. Der Tornado war nicht so weit nach Norden gezogen, aber er brauchte Gewissheit. Er musste einfach ihre süße Stimme hören, ihre wohlige Gleichgültigkeit. »Ah, Daddy, mir geht’s gut. Was gibt’s denn?« Er drückte die Hände gegen das Lenkrad, zog sich in sich selbst zurück. Das Leben konnte einem alles nehmen. Diese 18
Angst, verdammt. Diese Beklemmung in der Magengrube. Die Menschen, die man liebte, mitten in der Nacht entrissen. Es war ungerecht. Er ließ die Schultern kreisen, der Schmerz schoss auf der linken Körperseite hoch wie eine Straße Feuerameisen. Es war der uralte Gestank von Brandwunden und transplantierter Haut, der ihm dieses Unbehagen verursachte. Er hatte den dumpfen, pochenden Schmerz in der vernarbten linken Körperseite schon am frühen Morgen gespürt, die Muskelkrämpfe und Gelenkschmerzen, die normalerweise einen Wettersturz ankündigten. Er hätte sich denken können, dass es ein so schweres Unwetter werden würde – noch nie zuvor hatten ihm seine Gelenke so zugesetzt. Vor dreißig Jahren hatte Charlie Grover auf der linken Seite – Arme, Brust, Brustkorb und Bein – Verbrennungen zweiten und dritten Grades erlitten, ein Patchwork-Quilt aus geschmolzenem Fleisch, der sich vom Ohrläppchen bis zum Fußgelenk erstreckte, wo die Vernarbung abrupt aufhörte, wie ein eng anliegender Strumpf mit abgeschnittenem Fuß. Zum Glück waren Genitalien und Gesicht unversehrt geblieben (danke, Gott), aber einige der hypertrophen Narben mit der transplantierten Spenderhaut waren nicht richtig geheilt, und die dadurch bedingte mangelnde Elastizität zwang ihn seither, sich steif in der Hüfte zu drehen, als wären seine Wirbel miteinander verschmolzen. Eine eigenartige Behinderung, die seine Vorgesetzten zögern ließ, ihn zu befördern. Nicht, dass er ihnen einen Vorwurf daraus gemacht hätte, aber immerhin konnte er genauso gut wie jeder andere eine Waffe abfeuern, einen Strafzettel schreiben oder einen Mordfall aufklären. Trotzdem hatte er besonders hart arbeiten müssen, um Bürgermeister Whitmore und seine Kumpels zu überzeugen. Er hatte sie nie wegen Diskriminierung verklagt, obwohl er oft Gelegenheit dazu gehabt hätte. Und es war allein seiner Beharrlichkeit und Unbeugsamkeit zuzuschreiben, dass die Verantwortlichen sich schließlich hatten umstimmen lassen. Eines wusste Charlie mit 19
Sicherheit – er war für seinen Job perfekt geeignet. Die Bösewichter von Promise hatten einiges von ihm zu befürchten. »Chief?«, quäkte das Funksprechgerät wieder. »Gehen Sie ran!« Er schnappte sich das Mikrofon. »Ja, Tyler?« »Wir haben hier ein Todesopfer! Eine ältere Frau ist aus ihrem Haus geweht worden … O Gott, die ist buchstäblich über die Straße und in einen Stacheldrahtzaun geschleudert worden … Sie war auf der Stelle tot.« »Ich bin auf der Willow Road. Also fast da.« »Wo bleibt verflucht noch mal die Ambulanz? Wo sind die denn alle?« »Die Sanitäter sind unterwegs – versprochen.« »Was man so sieht, sind fünfzehn Häuser zerstört worden, vielleicht zwanzig. Schwere Schäden. Alles rennt in Panik herum.« »Ich bin in ein paar Minuten da. Halten Sie durch, Kumpel.« Er bog an der nächsten Ecke ab, auf die lange Zufahrt zum Ortsteil Black Kettle, wo man einen weiten Ausblick über die Plains hatte. So weit das Auge reichte, erstreckte sich die Ebene mit Weizenfeldern und Wiesen, und es war so viel Bewegung in der Landschaft, dass einem die Augen übergingen. All diese saftig grünen Weiden, all diese roten und orangefarbenen Wildblumen und blühenden Dogwood-Bäume. Das Frühjahr musste feucht sein, wenn die Wildblumen im April ihre Hochblüte erreichen sollten. Charlie war sich der Dringlichkeit der Lage bewusst und trat aufs Gas. Kies trommelte gegen den Boden des Polizeiautos, während er mit hoher Geschwindigkeit an Feldern entlangfuhr, die von dünnen Baumreihen gesäumt waren und deren junges Laub vom Staub zerstörter Dämmstoffe khakibraun gefärbt war. Die Straße führte über eine Eisenbrücke und verlief dann in 20
sanften Bögen weiter. Der April war der Monat der Wiedergeburt, und die ganze Woche hatte das Gras sein Versprechen gehalten, war dicht und grün auf den Wiesen gewachsen und hatte das Unkraut mit seinen Quastenköpfen verdrängt. Die letzten paar Eisflecken in den Wäldern waren endlich getaut, und an ihre Stelle war ein bunter Teppich aus Indianerpinsel und blauen Lupinen getreten. Seltsam, wie sehnsüchtig man auf den Frühling warten und ihn doch verpassen kann, dachte er, während er zu den abziehenden Unwetterwolken hinübersah, die sich am Horizont ballten. Er ließ den Wagen an einem geköpften Stoppschild ausrollen, und von hier aus konnte er auf den Weg der Vernichtung hinabschauen. Der Tornado war wie ein gigantischer Schnitter durchgezogen, hatte eine gefleckte Schneise ins Weideland gefräst und den Ortsteil fast in zwei Hälften zerschnitten. Viele der besseren Einfamilienhäuser hauen nur noch ein Geschoss, und manche waren vollständig von ihrem Fundament gefegt worden. Der blaue Wasserturm war umgestürzt, verletzte Kühe und Schweine von benachbarten Farmen irrten umher. Zerknüllte Wellblechplatten lagen wie Papierfetzen über die Landschaft verstreut. Charlie fuhr schnell das letzte Stück der gewundenen Straße hinunter und kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Zwei Notarzt-Fahrzeuge und ein Streifenwagen standen mitten auf der Straße vor einem Gewirr herabgerissener Stromleitungen. Er stieg aus seinem Streifenwagen. »Hallo?« Offenbar waren alle Retter zu Fuß unterwegs. Er kletterte auf den Stamm einer umgestürzten Eiche und ließ den Blick über den teilweise zerstörten Ortsteil schweifen. Der Wind war noch so stark, dass er seine Mütze festhalten musste. In zwei oder drei Blocks waren Einfamilienhäuser beschädigt, viele davon nicht mehr zu retten. Es war ein erschütternder Anblick – Außenmauern fehlten, Garagentore waren verformt, Dächer eingebrochen. In den Vorgärten lag hüfthoch Schutt, Autos waren gegen 21
Hausmauern geschleudert und wie Ziehharmonikas zusammengedrückt worden, und die meisten Eschen, die in Black Kettle besonders dicht wuchsen, waren kahl rasiert worden, ihre Stämme waren verdreht wie ausgewrungene Waschlappen. Mike Rosengard wohnte in einem dieser Häuser, erinnerte sich Charlie erschrocken. Das dritte Haus von vorne auf der Südseite der Straße, an einer Stelle, die jetzt Zahnstocherstadt hätte heißen können. »Mein Gott«, flüsterte er. Mikes Haus war dem Erdboden gleichgemacht, bis auf die zentrale Treppe, die aus dem Schutt ins Leere aufragte. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er sich einen Weg bergab bahnte, über Glasscherben und zersplitterte Äste und Zweige hinweg. Der Wind kam von hinten und trieb die Abfälle vor ihm her, und Charlie roch Erdgas in der Luft, oder besser gesagt, den Stoff, der dem Gas beigemengt wurde, damit man es am Geruch erkannte. Besorgt schaltete er sein Handy ein und rief in der Wache an. »Polizei Promise«, meldete sich Hunter Byrds nasale Stimme. »Hunter, ich bin in Black Kettle. Hören Sie zu, wir brauchen unbedingt einen Bautrupp vom Gaswerk, sofort. Und versuchen Sie, so viele Bulldozer und Erdbewegungsmaschinen zu buchen, wie Sie kriegen können, um den Weg für die Polizei und die Feuerwehr frei zu räumen. Und alarmieren Sie die Nationalgarde. Wir brauchen hier irgendwelches schwere Räumgerät.« »Okay, Boss.« Sergeant Hunter Byrd, ein ehemaliger Footballspieler, mittlerweile ziemlich rund, mit roten Locken und kantigem Kinn, war der Spaßvogel der Truppe und dachte sich die verrücktesten Streiche aus, bestellte fünfzig Pizzas auf einmal oder machte über die Sprechanlage Geräusche, als versuchte jemand, ihn zu erwürgen. Man wusste nie, ob man ihn
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ernst nehmen konnte oder nicht, aber Charlie merkte, dass es ihm jetzt todernst war. »Wir brauchen einen massiven technischen Rettungseinsatz, um die Stromversorgung wiederherzustellen. Und wo zum Teufel bleibt eigentlich die Feuerwehr?« »Ist unterwegs, Chief.« »Machen Sie denen Feuer unterm Hintern. Bildlich gesprochen.« Genau in diesem Moment drang das Heulen von Sirenen an seine Ohren, er drehte sich um und sah zwei Feuerwehrautos und einen Streifenwagen, die mit hoher Geschwindigkeit näher kamen und mit ihren rot-blauen Blinklichtern die diesige Luft durchdrangen. Charlie packte sein tragbares Funkgerät fester und watete durch den Schmutz und die Trümmer auf Mikes Haus zu, das jetzt nur noch ein Haufen Brennholz auf einem Betonfundament war. Ein riesiger Baum lag quer über dem Vorgarten, wie von einem Bulldozer umgestoßen, und dahinter tauchte plötzlich eine schlanke Frau auf. Es war Jill Rosengard, kaum wiederzuerkennen, weil sie von oben bis unten mit Dreck verschmiert war. »Jill?«, rief Charlie, doch sie reagierte nicht. Sie füllte einen Müllsack mit Trümmern, die sie im Garten aufsammelte. »Jill, bist du das?« Jetzt streckte ein Mann den Kopf aus dem Keller. »Chief?« Charlie erkannte Mike Rosengard an der Stimme, sie war tief und melodisch wie der Klang eines Cellos. Er trug zwei kleine Kinder auf den Armen – zwei kleine Jungen, die so mit Schlamm bedeckt waren, dass man sie für Schokoladenfiguren hätte halten können. »So eine Scheiße. Ist das zu glauben?« Mike stieg über Glasscherben und heruntergerissene Stromkabel und stolperte 23
ohne Schuhe und Strümpfe durch den Matsch. Schlamm lief ihm übers Gesicht und klatschte ihm die Haare an den Schädel. Charlie packte ihn am Arm. »Bist du okay?« »Ja, alles bestens. In Anbetracht der Umstände.« Mikes Söhne Sammy und Jerry starrten Charlie mit weit aufgerissenen Augen an. »Wir haben’s geschafft, Jungs«, sagte ihr Vater und drückte sie liebevoll an sich. »Gott sei Dank haben wir’s geschafft, hm?« Er lachte erleichtert, als die beiden Jungen einträchtig nickten. Detective Sergeant Mike Rosengard war ein guter Freund und ein erfahrener Cop, der über zehn Jahre Polizeidienst auf dem Buckel hatte – sechs als Streifenpolizist und fünf als Detective, der für alles zuständig war, vom Ladendiebstahl bis zum Selbstmord. Er stellte sich gern als der einzige Jude in Oklahoma vor und war einer der Polizisten, die grundsätzlich an einem Fall dranblieben, bis er gelöst war. Er war von durchschnittlicher Größe und Statur, trug immer tadellos gebügelte Anzüge und strahlte ein ruhiges Selbstbewusstsein aus, das nicht überheblich wirkte. Charlie wusste, dass er sich immer auf ihn verlassen konnte. »Hey, uns geht’s gut«, sagte er und ließ seine Jungen auf den Annen reiten. »Das ist doch das Wichtigste, oder?« Er zeigte auf den über und über verdreckten Bronco in der Einfahrt. »Na, ist das nicht eine schöne Kackfarbe?« »Und wie geht’s Jill?«, erkundigte sich Charlie mit aufrichtigem Interesse. »Sie versucht, die Trümmer ihres Lebens wieder zusammenzusetzen«, sagte Mike leise. »Aber es fehlt ihr nichts?« »Ich glaub nicht. Warum?« Er schien plötzlich besorgt.
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»Einer von den Leuten hier sollte sie sich vielleicht mal ansehen.« Er schaltete sein Funksprechgerät ein und wies einen der Sanitäter an, zu Mikes Haus herüberzukommen. Dann stand er da und betrachtete die Überreste des Hauses. Aus den Ruinen stieg hier und da noch ein bisschen Rauch auf. Es war ein Wunder, dass sie nicht allesamt tot waren. »Ich hab ein schrilles Pfeifen gehört, richtig durchdringend«, erzählte Mike. »Dann sind unsere Mülltonnen durch die Gegend geflogen. Danach hat mir der Wind die Haustür ins Gesicht geknallt, und auf einmal war alles totenstill. Verdammt unheimlich. Wir sind in den Keller runter, und ich hab die Jungs an mich gedrückt. Das Haus hat sich gedreht und geschüttelt, man hat es in den Fugen krachen gehört. Ich hab die ganze Zeit Angst gehabt, dass es mir die beiden Kleinen aus den Armen reißt, und das durfte auf keinen Fall passieren, also hab ich sie noch fester an mich gedrückt, so fest, dass sie kaum noch Luft bekamen. Stimmt’s, Jungs?« Tränen zitterten in seinen Augenwinkeln. »Ehrlich gesagt, ich hab noch nie im Leben solche Angst gehabt. Erst haben sich die Wände und die Decken wie aus eigener Kraft bewegt, dann hab ich ein lautes Kreischen gehört … als würden hundert Autos zu schnell durch eine Kurve fahren. Dann ist alles explodiert. Ich schau auf, und da ist nur noch ein Loch, wo vorher das Dach gewesen ist. Weg! Es war weg. Von einer Sekunde auf die andere haben wir alles verloren. Die Hälfte von unserem Viertel ist weg«, sagte er und schüttelte fassungslos den Kopf. »Heute Morgen war noch alles da. Jetzt ist es weg.« Das Nachbarhaus rechts von Mikes Grundstück war auf seinem Fundament um etwa sieben Meter verschoben worden; es hing zusammengesackt da wie ein alter Mann an einem langen Sonntag. »Was ist mit euren Nachbarn? Sind sie okay?«, fragte Char. 25
»Ja, jedenfalls in der unmittelbaren Nachbarschaft.« Das Sprechfunkgerät meldete sich. »Chief? Ich bin’s, Lester. Ich glaube, Sie sollten sofort rüberkommen.« Er hielt das Gerät nahe an seinen Mund. »Wohin rüber, Lester? Wo sind Sie?« »Im Haus der Peppers in der Shepherd Street.« Seine Stimme zitterte. »Mein Gott … Sie werden das nicht glauben … Das ist einfach unbeschreiblich, Chief … Bitte, machen Sie schnell.«
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2 Der Wind frischte auf, als Charlie aus seinem Wagen stieg. Aufgewirbelte Blattstücke und andere Partikel flogen ihm ins Gesicht. Er stand am äußersten Ende der Shepherd Street vor Rob Peppers zerstörter Farm. Die meisten Gebäude waren von den Grundmauern gerissen worden – die Scheune, die Ställe, der Hühnerschlag, der Geräteschuppen. Dicke, zehn Meter lange TTräger waren wie Streichhölzer herumgewirbelt worden. Die großen, Schatten spendenden Bäume, die das Anwesen vor der Mittagssonne geschützt hatten, waren entwurzelt. Der Pick-up der Peppers war über die Straße gerollt und gegen einen umgestürzten Wäschetrockner gestoßen. Große Teile der Weizenfelder waren kahl gefegt, und überall sah man tote Schweine und vom Sturm gerupfte Hühner. Lauter Siegerrassen. Nur das Wohnhaus der Peppers stand unversehrt mitten in dem Chaos. Charlie stieg vorsichtig über abgebrochene Äste und eine abenteuerlich verformte Tupperschüssel, blieb dann stehen und nahm das weiße Holzhaus in Augenschein. Wie viele andere Häuser der Gegend war es nicht unterkellert, hatte also keinen unterirdischen Schutzraum. Der Tornado hatte es nur knapp verfehlt, um schätzungsweise zweihundert Meter. Ein paar Fenster waren eingedrückt, der Kamin war umgestürzt und das Dach teilweise weggerissen, aber im Großen und Ganzen hatte das Haus dem Druck widerstanden, der fast alles andere platt gemacht hatte. Wie war das zu erklären? Er rieb sich die Stirn. Er hatte schon von Tornados mit mehreren Wirbeln gehört, und das war ja auch plausibel. Ein einzelner Tornado konnte manchmal zwei oder mehr kleine, intensive Saugwirbel enthalten, die sein Zentrum umkreisten; diese kleineren Wirbel, die binnen Sekunden entstehen und wieder verschwinden konnten, verursachten meist die schmalen, 27
kurzen Schneisen extremer Verwüstung, die bogenförmig die breiten Schneisen des Tornados durchschnitten. »Chief?«, rief Assistent Chief Lester Deere von der Veranda. »Ich glaube, da oben sind alle tot.« »Was?« »Die Peppers.« Lesters Kleidung war verschmutzt, und er hatte Blut an den Händen. Er war einer von denen, die immer Probleme mit den kleinen Regeln des Tagesablaufs hatten; er kam grundsätzlich zu spät zum Dienst und hatte tausend Entschuldigungen parat. Heute, an seinem freien Tag, trug er das Flanellhemd und die Jeans eines Rancharbeiters. Seit er nicht mehr Football spielte, hatte er einen Kugelbauch, und über seinem großen, massigen Körper thronte ein widerspenstiger sandblonder Haarschopf, den er fast zu penibel mit Gel in Form zu bringen suchte. »Da oben sind alle tot«, wiederholte er monoton, und seine blutunterlaufenen Augen starrten ins Leere. »Ich hab einen Schock. Schauen Sie sich meine Hände an. Das Zittern hört einfach nicht auf.« Charlie schaute auf Lesters blutige Hände. »Was soll das heißen, sie sind alle tot? Das Haus steht doch noch. Was ist passiert?« »Schauen Sie sich’s selbst an.« Seine Stimme klang gepresst. Die Haustür war nicht abgeschlossen. Im Haus war es so dunkel, dass sich Charlies Augen erst umgewöhnen mussten. Ein Schauder lief über seinen Nacken, als ihm der scharfe Kupfergeruch von Blut in die Nase stieg. Mit seiner Taschenlampe beleuchtete er das heillose Durcheinander in der Diele. Der Garderobenständer und das Tischchen waren umgestürzt, Bilder waren von den Wänden gefallen, überall lagen Glasscherben. 28
Langsam ging er weiter, der Strahl seiner Taschenlampe tanzte über die Rosentapete. Ein paar Bilder klammerten sich hartnäckig an die Wand: Amateurfotos von den Peppers am Weihnachtsabend, Rob Pepper beim Tranchieren des Thanksgiving-Truthahns, Danielle und ihre Mutter als die Stoffpuppen Ann und Andy verkleidet an einem längst vergangenen Halloween. In der Mitte der Diele lagen mehrere Sofakissen, eine durchnässte Matratze und ein zusammengeknautschter Schlafsack. Auf dem Fußboden daneben ein kaputtes Radio und eine Taschenlampe, deren Batterien noch funktionierten – sie warf einen Lichtkreis auf die Holzdielen. Er inspizierte die Matratze und entdeckte Blutflecken. Auf dem Boden war eine Blutlache, und dann sah er die Schleifspuren, die zur Treppe führten. Er rannte die Treppe hinauf, folgte den Spuren durch den Gang ins Schlafzimmer und blieb in der Tür stehen, um Luft zu holen. In der Decke klaffte ein riesiges Loch – Balken, Dach und Teile der Wand waren weggerissen. Durch die Öffnung sah er den grauen, bedeckten Himmel und den Garten hinter dem Haus. Das Zimmer war ein Schlachtfeld – Glasscherben, umgestürzte Möbel, alles mit Dreck verschmiert. Einer der Saugwirbel des Tornados musste sich durch das Dach gefressen haben wie ein Riese im Märchen, der ein Stück von einem Knusperhäuschen abbeißt. Die junge Tochter der Peppers hockte in einer Ecke hinter dem Doppelbett, die Arme schützend über dem Kopf. In dem Leichnam steckten Scherben von den zerbrochenen Fensterscheiben und Holzsplitter von dem zerfetzten Dach. Grauenhaft. Entsetzlich. Außerdem war der Körper des Mädchens von einem Gegenstand, der wie ein abgebrochenes Stuhlbein aussah, und der blutigen Spitze einer Zaunlatte durchbohrt worden. Charlie ging in die Hocke und fühlte ihr den Puls. Ihre Haut war wächsern und durchscheinend, beginnende Leichenblässe. 29
Ihre offenen Augen reagierten nicht auf Licht, obwohl die Hornhäute klar waren. Ihr Kiefer wies schon Anzeichen der einsetzenden Leichenstarre auf. Er dachte an Sophie, und es versetzte ihm einen Stich. Das lange rote Haar des Mädchens war zu Zöpfen geflochten, und als er ihr den Schmutz aus dem Gesicht wischte, kamen starke Blutergüsse über dem rechten Auge und dem Wangenknochen zum Vorschein. Als er aufstand und einen Schritt zurücktrat, verschwamm für einen Moment alles vor seinen Augen. Er sah sich im Zimmer um. Auf dem Bett fehlte die Matratze, die Sprungfedern waren regennass. Er hörte ein seltsames Knarren. Es kam irgendwo von oben. In einem Regen von Splittern krachte etwas durch den herabhängenden Deckenputz, und ihm blieb ein Schrei im Hals stecken, während er sich mit einem Satz in Sicherheit brachte. Rob Peppers Oberkörper baumelte kopfüber von der Decke wie ein Schachtelmännchen. Er steckte voller Splitter wie ein Nadelkissen – Gesicht, Hals, Brust. Die untere Körperhälfte steckte noch im bröckelnden Deckenputz, der Oberkörper schwang schauerlich hin und her. Charlie wischte sich mit der Hand über den Mund. Angst stieg in ihm auf. Für einen Augenblick kam alles zum Stillstand. Der Wind rüttelte an dem Haus, und plötzlich fragte er sich, wie lange es noch stehen würde. Vielleicht war es doch stärker beschädigt, als er zunächst angenommen hatte. Er entfernte sich rückwärts von den Leichen und wäre beinahe über einen umgekippten Schaukelstuhl gefallen. Er fing sich wieder, wirbelte herum und sah, dass er am Rand eines Abgrunds stand – die zerfaserten Fußbodendielen ragten ins Leere. Jenna Pepper war von dem Sturm in einen Baum neben dem Haus geschleudert worden, ihr völlig durchnässter Körper lag in einem Gewirr von Ästen und Zweigen wie in einem Nest, nur ein paar Meter von ihm entfernt. Sie war zierlich, kaum einssechzig groß und fünfzig Kilo schwer. Ihr glattes Haar war kurz geschnitten, und sie hatte ausgebleichte Levis und ein 30
pfirsichfarbenes Top an. An den schlanken Füßen weder Schuhe noch Socken. Es würgte Charlie beim Anblick des MahagoniBettpfostens, der wie ein Messergriff aus ihrem Hals ragte. In ihre Brust war ein Stück Holz eingedrungen, das wie der Teil eines Treppengeländers aussah, und die Blutflecken auf ihrem Top waren verteilt wie rote Rosen. Charlie sah genauer hin und meinte, an Händen und Unterarmen Spuren eines Kampfes zu entdecken. Ein Verdacht regte sich in ihm. Die altmodischen Springrollos flappten im Wind, als er zu der Stelle zurückging, wo Rob Pepper von den Dachbalken hing. Charlie griff nach den Händen des Toten und drehte sie mit den Handflächen nach oben. Rob hatte Verletzungen an den Unterarmen, typische Schnittwunden von einem Messer oder einer Klinge. Schleifspuren, die aus dem Erdgeschoss die Treppe hinaufführten … Charlie schaltete sein Funksprechgerät ein und sagte mit eindringlichem Unterton: »Lester? Lassen Sie das Gebiet absperren.« »Aber es sind gerade noch ein paar Rettungsleute angekommen, Chief.« »Schicken Sie sie weg. Der Zugang wird eingeschränkt. Stellen Sie an beiden Enden der Straße eine Wache auf. Wenn jemand Fragen stellt, sagen Sie, wir hätten ein Problem mit undichten Gasleitungen.« Er starrte in Robs Augen -blicklose Augen, die wirkten, als hätten sie sich in unendliches Bedauern zurückgezogen. »Lester? Haben Sie verstanden?« »Sind sie tot?« »J … ja«, sagte er verwundert, »sie sind alle tot.«
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3 An diesem Abend patrouillierte Militär in grünen Jeeps durch die Straßen, während Aufnahmewagen von Fernsehsendern so dicht wie möglich an die Ruinen heranfuhren und nach eindringlichen oder schockierenden Bildern für die Elf-UhrNachrichten Ausschau hielten. Freiwillige mit Kettensägen halfen, die Straßen frei zu räumen, damit die Mannschaft von der Gasfirma nach beschädigten Leitungen suchen konnte. Die meisten Polizisten, die an diesem Tag Dienst hatten, fuhren am Ende ihrer Schicht nicht nach Hause, und die städtische Feuerwehr war die ganze Nacht im Einsatz, um die sporadisch aufflackernden Brände unter Kontrolle zu bringen. Die Sirenen der Ambulanzen und Polizeiautos kamen nicht zur Ruhe. Gegen acht Uhr morgens fiel die Temperatur, und kalte Regenschauer peitschten auf die Stadt herab. Tausend Einwohner verließen ihre ungeheizten, unbeleuchteten Häuser und flüchteten sich in die Wärme der Rot-Kreuz-Unterkünfte, wo Freiwillige ihnen kostenlos Koteletts von Babe’s Bar-B-Q und Texas Toast aus dem Roadside Diner servierten. Am Schauplatz des Unglücks standen die Menschen fassungslos im eisigen Regen, während dichter Nebel, gespenstisch durchzuckt von den farbigen Blinklichtern der Rettungsfahrzeuge, nach und nach alles einhüllte. Männer reichten Flaschen in Papiertüten herum und unterhielten sich leise, und Hausfrauen, die kein Zuhause mehr hatten, ließen einander an Zigaretten ziehen und durchsuchten das Trümmerfeld, um vielleicht noch den einen oder anderen wertvollen Gegenstand zu bergen, bevor man sie endgültig wegschickte. Gebete wurden gesprochen. Die kleinen Tauschgeschäfte mit dem lieben Gott. Bitte, lass es jetzt gut sein. Bitte mach, dass nichts Schlimmes mehr nachkommt.
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Fernsehreporter hielten Charlie ihre Mikrofone unter die Nase und liefen ihm überallhin nach. Er gab sich Mühe, ihre Fragen so gut wie möglich zu beantworten, behielt aber seinen Verdacht auf ein Verbrechen für sich. Das war eine solche Sensationsmeldung, dass er absolut sichergehen wollte. Er hatte keine Lust, sich im Fernsehen zum Gespött zu machen. Er würde mit seiner Erklärung warten, bis die Leichen obduziert waren und er sicher sein konnte, womit sie es hier zu tun hatten. »Die Stadtteile, in denen die Stromleitungen unterirdisch verlegt sind, werden als Erste wieder ans Netz gehen«, teilte er den Reportern vor der Polizeiwache mit. Er war schon heiser, so oft hatte er tausend Einzelheiten wiederholen müssen. »Alle übrigen Privathäuser und Firmen müssen wahrscheinlich ein bisschen länger warten – bis die Freileitungen repariert sind. Ein Problem ist die Beseitigung der riesigen Mengen von Trümmern und Schutt. Wir brauchen noch mehr Freiwillige mit Bulldozern und Sattelschleppern. Wenn Sie das bitte weitergeben könnten.« »Chief? Können Sie schon eine vorläufige Zahl der Todesopfer nennen?« »Bis jetzt sind es sechs.« »Wie sieht es mit finanzieller Hilfe für die Opfer aus?« »Ein Vertreter der staatlichen Katastrophenhilfe wird morgen hier sein und uns bei den Schadenersatzanträgen helfen.« »Chief? Warum ist die Shepherd Street abgesperrt?«, wollte ein Reporter wissen, dessen finster herausfordernder Blick verriet, dass er den Dingen auf den Grund gehen würde, mit Unterstützung oder ohne. »Wir müssen ein paar beschädigte Gasleitungen in dem Gebiet überprüfen«, log Charlie und schaute auf einen Block, auf den schon so viele Notizen gekritzelt waren, dass er seine eigene Handschrift kaum noch lesen konnte. »Etwas über neunhundert Menschen verbringen diese Nacht in den Notunterkünften, drei 33
Dutzend Männer von der Nationalgarde sind angefordert. Wir hatten eine Vorwarnzeit von etwa zwanzig Minuten, was dazu beigetragen hat, dass wir die Zahl der Todesopfer begrenzen konnten, verglichen mit dem, was hätte passieren können. Die Feuerwehr hat ihre Suche nach Todesopfern und Überlebenden im Wohngebiet Black Kettle abgeschlossen, und die Leichenspürhunde sind abgezogen worden. Die Kreisverwaltung ist die ganze Nacht über erreichbar. Von dort werden Sie auf dem Laufenden gehalten.« Er wandte sich zum Gehen, aber eine elegante Reporterin von KVMX vertrat ihm den Weg. »Was sagen Sie zu den Gerüchten, Chief? Von verschiedenen Seiten werden Andeutungen gemacht, einer der Toten sei möglicherweise einem Verbrechen zum Opfer gefallen.« »Dazu kann ich im Moment keinen Kommentar abgeben.« »Chief!« Die Reporter blieben ihm auf den Fersen und bombardierten ihn mit Fragen. »Auf den Helikopter-Aufnahmen sieht man einen abgesperrten Bereich in der Shepherd Street. Was sagen Sie dazu?« »Morgen früh wissen wir mehr. Gute Nacht, Leute.« »Chief! Chief!« Die Fernsehteams umringten seinen Wagen und hinderten ihn am Wegfahren, bis ein paar seiner Leute sie verscheuchten. Charlie trat aufs Gas, und all die gespenstischen Gesichter im Licht seiner Scheinwerfer forderten Aufklärung. Ein jäher Windstoß erfasste den Wagen, und Charlie merkte, dass seine Lippen noch nach Whiskey schmeckten. Sehr unvorsichtig. Einer der Reporter hätte es riechen können, und was dann? Vor einer Stunde hatte er auf der Wache ein frisches Hemd angezogen und heimlich ein paar Schluck aus der JackDaniels-Flasche getrunken, die der Diensthabende in seiner Schreibtischschublade hatte. Jetzt fuhr er durch die Innenstadt mit ihren regennassen Straßen und flachen Ziegelfassaden und dachte daran, wie rätselhaft dieser Fall war. Jenna, Rob und 34
Danielle Pepper hatten Verletzungen an Händen, Unterarmen und Gesicht, die auf einen Kampf schließen ließen. Schleifspuren von zwei oder mehr Körpern führten die Treppe hinauf, und Danielle hatte Kratzer an den Armen und Schmutz auf der Rückseite ihrer Kleidung, ein Hinweis darauf, dass sie geschleift worden war. Was ihre Eltern anging, so konnte er nicht sicher sein, bevor der Gerichtsmediziner am Talon eintraf und die Leichen freigab. Ein Schauer nach dem anderen überlief ihn. Das letzte Tötungsdelikt lag sechs Monate zurück, ein Drogenmord. Und der letzte Tornado hatte Promise, Oklahoma, im Jahr 1924 heimgesucht. Er bog nach rechts in eine schlecht gepflasterte Straße ein, und seine Scheinwerfer schwenkten über die verunstaltete Landschaft. Nach einer alptraumhaften Kindheit und Jugend wurden manche Priester oder Kriminelle. Charlie war Polizist geworden. Er hatte an der University of Oklahoma Kriminologie studiert und seine Ausbildung in Tulsa absolviert, wo er mehrere Jahre auf Streife gegangen war, bevor er nach Hause zurückkehrte. Diese Stadt mit ihren 22000 Einwohnern hatte das übliche Kontingent an Bösewichtern und ein ernstes Drogenproblem, hauptsächlich Pot und Amphetamine. Er arbeitete mit Informanten, Prostituierten und Junkies. Einmal hatte er sich mit drei schweren Jungs eine Schießerei geliefert – ein klassischer Fall von schwerem Muffensausen. Er hatte mit Raubüberfällen, Vergewaltigungen, Schießereien und Messerstechereien zu tun. Man nahm einen großen Schlagstock mit, je nachdem, in welchem Viertel man unterwegs war. Charlie hatte sogar einmal einen Mann erschossen – und er war alles andere als stolz darauf. Vor fünf Jahren hatte ein arbeitsloser Fabrikarbeiter seine eigenen Kinder als Geiseln genommen. Charlie, der an der Universität auch in Verhandlungen mit Geiselnehmern geschult worden war, hatte den gestörten Mann schon fast so weit, dass er aufgab, als der Täter plötzlich die Waffe gegen die eigene vierjährige Tochter 35
richtete und Charlie auf ihn schießen musste. Er war dafür ausgezeichnet worden, hatte aber immer noch Alpträume. Jetzt nickte er dem Mann von der Nationalgarde zu, der am Beginn der Shepherd Street Wache schob. Er hatte alle Leute, die er entbehren konnte, um den Schauplatz des Verbrechens postiert und weitere Beamte in die Main Street und andere Geschäftsviertel beordert, um Verstöße gegen die öffentliche Ordnung zu verhindern. Ein paar seiner Männer gingen in der Nachbarschaft der Peppers von Haus zu Haus, auf der Suche nach irgendwelchen Augenzeugen, die vielleicht an dem Nachmittag etwas Verdächtiges gesehen oder gehört hatten. Der Tatort lag wie ausgestorben da, war aber von den Scheinwerfern taghell erleuchtet und erfüllt vom Brummen der Generatoren. Ein halbes Dutzend Detectives und Polizisten mit gefütterten Handschuhen und Tyvek-Überzügen über den Schuhen waren jetzt im Haus, um Spuren zu sichern und Beweismaterial zu sammeln. Trotz des dichten Nebels kreiste unermüdlich ein Pressehubschrauber über dem Gebiet. Charlie konnte nur hoffen, dass ihm irgendwann der Treibstoff ausging. Gegen Mitternacht drehte der Hubschrauber endlich ab. Neuesten Berichten zufolge herrschte überall in der Stadt Ruhe, die meisten Einwohner waren zu Hause, soweit sie noch ein Zuhause hatten. Der Regen legte sich gegen drei Uhr früh, der Himmel klarte auf, die Sterne kamen hervor. Obwohl sie völlig erschöpft waren, setzten Charlie und seine Leute die Suche nach Beweismitteln am Tatort bis etwa fünf Uhr fort, als Roger Duff, der Gerichtsmediziner, eintraf, um die Leichen wegzubringen. Charlie wollte ihn zum Leichenschauhaus begleiten, doch Duff meinte: »Fahren Sie heim und nehmen Sie Ihre Tochter in den Arm, Charlie. Die Leichen halten sich.« Es war halb sechs, als er in die Red Bud Road einbog. Die aufgehende Sonne blendete ihn und beleuchtete die feinen 36
Härchen auf seinen Fingerknöcheln, sodass sie durchscheinend wurden. Vom pausenlosen Reden hatte er einen rauen Hals. Seine Sachen waren verdreckt, und er hatte Trauerränder unter den Fingernägeln. Er hatte nur noch den einen Wunsch, sich hinzulegen und seine juckenden Augen zu schließen, aber er würde mindestens noch weitere achtundvierzig Stunden keinen Schlaf bekommen. Er stellte den Wagen in der Auffahrt ab und sah, dass die Fahne neben der Haustür losgerissen und mitsamt der Stange um den Ast eines Dogwood-Baums gewickelt worden war. Der Tornado hatte überall seine Spuren hinterlassen. Rosa und weiße Stückchen Isoliermaterial lagen zusammen mit zahllosen Dachplatten im Vorgarten. Briefumschläge waren überall verstreut. Schön, dass trotz allem die Post ausgetragen wird. Der klare blaue Himmel irritierte ihn. Er besah sich das abblätternde weiße Holzhaus mit den dunkelgrünen Fensterläden und seufzte. Wenigstens war nichts Wichtiges weggerissen worden. Die Verkleidung war stellenweise beschädigt, und Äste lagen auf dem Rasen verstreut wie vergessene Krocketschläger, aber das Haus selbst war unversehrt. Seiner Tochter ging es gut. Die frische Luft wirkte belebend. Während er aufs Haus zuging, flatterte eine Schwalbe vorbei, auf der Jagd nach unsichtbaren Insekten. Fast erwartete er, Maddies liebe Stimme zu hören, als er die Haustür aufschloss. Schatz? Aber es gab keine vertraute Begrüßung, keine Umarmung. Nicht die Wärme ihres Körpers und auch nicht den hässlichen Flanell-Morgenmantel in der Farbe von Bratensoße, den sie in den letzten Monaten ihres Lebens getragen hatte. Die schöne Maddie, klüger als er, besser als er. Die Ärzte hatten alle Möglichkeiten ausgeschöpft, aber alles vergebens, und so hatten sie schließlich vorgeschlagen, ihr bestrahlte Metallstifte in den Kopf einzupflanzen, die, so stand zu erwarten, die Krebszellen abtöten würden, sie zusammen mit der Hälfte des Gehirns in die Hölle schickten. Sophie durfte ihre 37
Mutter während der Prozedur nicht im Krankenhaus besuchen, weil es viel zu gefährlich gewesen wäre, und auch Charlie durfte höchstens eine Viertelstunde täglich bei ihr sein. Aber Maddie, seine wunderschöne, sterbende Frau, war über eine Woche in dem speziell ausgestatteten Zimmer geblieben, und die Stifte in ihrem Kopf hatten Strahlung in gefährlich hohen Dosen abgegeben. Bestimmt hatte das mehr geschadet als genützt … Im Flur roch es nach verbranntem Toast. Die gebohnerten Dielen knarrten an denselben Stellen wie schon immer, nur Maddie war nicht mehr da. Am meisten vermisste er sie, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Verstaubte Bilder hingen an den Wänden, und er blieb stehen, um eines gerade zu rücken – eine jugendliche Maddie lächelte auf ihn herab, die Augen zwei fröhliche Halbmonde. Er runzelte die Stirn und ließ sich von Trauer und Schuldgefühlen überschwemmen. Wenn er ganz still hielt, würde es bald wieder vergehen. »Charlie?« Peg Morris kam aus der Küche gelaufen und band den Gürtel ihres blauen Kimonos zu. »Ach du meine Güte. Hast du mir einen Schreck eingejagt!« Peg war ihm ins Haus geflattert, um die Leere nach Maddies Tod auszufüllen, mit ihrem zerknitterten Mutterinstinkt und dem verschlissenen Seidenkimono, dessen Taschen immer von Zigaretten und weiß Gott noch was ausgebeult waren. Sie war Maddies Cousine zweiten Grades und wohnte am anderen Ende der Stadt, blieb aber manchmal über Nacht, wenn Charlie Spätschicht hatte. Selbst kinderlos, hatte sie Sophie unter ihre Fittiche genommen. Dafür würde Charlie ihr ewig dankbar sein. »Danke, dass du dich um sie gekümmert hast, Peg.« »Nicht der Rede wert.« Sie hatte kupferfarbene Haare und ein Muttermal neben dem Mund, der nicht hübsch war. »Du siehst aus wie durch den Fleischwolf gedreht, mein Lieber. Wie wär’s mit French Toast und Speck?«
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»Ich hab keine Zeit, um auch nur an Frühstück zu denken, Peg.« Sie hatte ein Lachen wie verwässerter Scotch. »Und Kaffee? Hast du wenigstens Zeit, an Kaffee zu denken?« »Eine Tasse war nicht schlecht.« »Alles in Ordnung?« »Ziemlich große Schäden. Ein paar Tote.« »Mary Jo Crider, Rob und Jenna Pepper, Danielle, John Payne und Bill Rowley. Mein Gott, wie sie es zum ersten Mal im Radio gebracht haben, wollten wir unsern Ohren nicht trauen.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Man hört sein Leben lang von den Tornados, aber man glaubt einfach nicht, dass es einen auch mal selbst treffen könnte.« »Wie geht’s Ben?«, erkundigte er sich. Ben war Pegs Freund. »Er hat ein paar Pferde verloren, aber wir haben alle überlebt.« Er blieb auf der Treppe stehen. »Kannst du heute Nacht hier bleiben?« »Tut mir Leid, Charlie. Ich hab’s Ben versprochen.« »Ja, klar. Mach dir keine Gedanken. Ich überleg mir schon was.« Er nahm immer zwei Stufen auf einmal und klopfte auf das Schild KATASTROPHENGEBIET, das an der Tür zum Zimmer seiner Tochter hing. »Sofe? Bist du wach?« »Komm rein«, sagte sie verschlafen. Wenn er das helle Zimmer seiner Tochter mit den pfirsichfarbenen Wänden, den elfenbeinweißen Vorhängen und dem vanillebraunen Eichenfußboden betrat, war ihm immer, als tauchte er in einen blassen Pool ein. Katastrophengebiet war eine treffende Bezeichnung – schmutzige Klamotten, wohin man blickte, Zeitschriften und Limodosen, CDs und Kosmetika. In ihrem Zimmer sah es aus wie in einem Müllcontainer, aber sie wusste genau, wo alles war. Sophie lag in Fötusstellung
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unter der Bettdecke. Sie schlief immer mit geballten Fäusten, als müsse sie sich an ein dünnes Seil des Bewusstseins klammern. »Hallo, Süße.« »Dad!« Sie setzte sich auf und umarmte ihn. »Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht!« Sie hatte die weit auseinander stehenden Augen und den sinnlichen Mund ihrer Mutter, dieselbe Mischung aus Unschuld und Selbstständigkeit. Sie hatte auch Maddies langes, zimtbraunes Haar und ihre Porzellanhaut mit dem kräftigen rosa Schimmer auf den Wangen. Aber Achtung, sie war trotzdem die Tochter ihres Vaters. Dickköpfig, methodisch, dieselbe Kummerfalte zwischen den Augen. Mit eins fünfundsiebzig war sie größer als die meisten ihrer Klassenkameradinnen, aber zum Glück hatte sie nichts von der angeborenen Unbeholfenheit ihres Vaters geerbt. Sie war mit Maddies athletischer Anmut gesegnet und bewegte sich wie Quecksilber. »Puh, du stinkst«, sagte sie und hielt sich das Kopfkissen vors Gesicht. Er strich sich über die Bartstoppeln. »Heißen Dank, ich wollte gerade duschen gehen.« »Aber schön warm und lange, ja? Und nicht mit der Seife sparen!«, sagte sie mit einem erstickten Kichern. »Du bleibst doch zum Frühstück?« »Unmöglich.« Sie nahm das Kissen vom Gesicht und schaute ihn an, Enttäuschung in den Augen. »Dad … ich brauch das, ab und zu mit dir zusammen zu sein, nur mit dir.« »Ja, sicher. Ich brauch das auch.« »Also?« »Wie wär’s mit heute Abend? Ich denke, da kann ich mich frei machen.« Sie zog die Stirn kraus. »›Ich denke‹, das reicht mir nicht.« 40
»Also, ich schau mal, was sich machen lässt. Komm her.« Er schloss sie wieder in die Arme und drückte sie lange an sich. Er musste sicher sein können, dass es ihr gut ging. Wenn sie die Ereignisse vom Vortag mehr oder minder unversehrt überstanden hatte, konnte er wieder zur Arbeit gehen und aufhören, sich Sorgen zu machen. »Das ganze Haus hat gezittert wie ein Blatt«, erzählte sie ihm. »Man hat gehört, wie der Hagel von den eisernen Kellertüren abgeprallt ist. Peg und ich haben beide dasselbe Gesicht gemacht: Was war das? Was war das? Wir waren furchtbar aufgeregt. Irgendwann hab ich solchen Schiss gehabt, dass ich dachte, mir platzt das Herz.« »Ein Glück, dass Peg bei dir war.« Sie schaute ihn voller Verzweiflung an. »Ich hab versucht, Opa anzurufen, aber die Leitungen waren unterbrochen.« Sein Gesicht sah angespannt aus. »Keine Sorge«, sagte er, »diese Seite der Stadt ist verschont geblieben.« »Schon, aber trotzdem … meinst du nicht, du solltest mal nach ihm sehen?« »Es geht ihm bestimmt gut.« »Bitte!« Sie nestelte an dem Medaillon, das sie um den Hals trug, das herzförmige Medaillon an dem langen Silberkettchen, das ihre Mutter ihr zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte. Sie legte es nie ab. Sie schlief mit dem verdammten Ding, wahrscheinlich ging sie sogar damit in die Badewanne. Wie bei allen anderen Gegenständen, mit denen sie sentimentale Erinnerungen verband, ertrug sie es nicht, sich davon zu trennen: ihre Cowgirl-Lampe mit dem zerrissenen Schirm, der mottenzerfressene indianische Läufer mit den mystischen Zeichen darauf. Er war überzeugt, dass sie einmal an Altersschwäche sterben und immer noch dieses Kettchen um den Hals tragen würde. »Deinem Großvater fehlt nichts«, versicherte er ihr. 41
»Komm schon, Dad. Bitte! Mir zuliebe!« »Schlaf noch ein bisschen.« »Ja, schon gut. Er ist ja nur dein Vater.« Seine Augen verengten sich. »Willst du mir ein schlechtes Gewissen machen?« »Wie? Ach, weiß nicht. Funktioniert’s denn?« »Also schön. Ich fahr rüber«, sagte er. »Zufrieden?« »Sag ihm, er soll mich anrufen, ja?« »Ich muss vorher noch ein paar Sachen erledigen. Aber ich versprech’s, okay? Und jetzt schlaf, du Nervensäge.« Sie kicherte. »Du musst gerade reden.«
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4 Charlie musste schlucken wegen des Gestanks im Obduktionsraum und betrachtete die höchst anstößige Szene mit zusammengekniffenen Augen. Die drei Opfer lagen nebeneinander auf Chromtischen – Jenna Pepper, Rob und ihre vierzehnjährige Tochter Danielle. Die Leichen waren geröntgt, gewogen und gemessen, alle besonderen Merkmale wie Tätowierungen und vernarbte Wunden waren notiert worden. Die blutdurchtränkten Kleider hatte man in Säcke verpackt und zur Analyse ins Labor gebracht. Jetzt lagen die Opfer nackt und entblößt da, und verschiedene Objekte ragten schauerlich aus ihren Körpern. »Tut mir Leid, dass ich so spät komme.« Roger Duff schloss seinen Labormantel um seine massige Körpermitte, während er hereingestürmt kam. »Wie geht’s Sophie?« »Bestens.« »Gut. Freut mich zu hören. Irgendwelche Schäden am Haus?« »Geringfügig. Und bei Ihnen?« »Meine Katze ist weg.« Duff war ein kleiner Mann von hochfahrendem Wesen, ein säuerlich dreinblickender alter Kämpe, dessen irritierende Arroganz man, wie Charlie schon vor langer Zeit beschlossen hatte, einfach in Kauf nehmen musste. Er war der Gerichtsmediziner und Leichenbeschauer für das ganze County und wurde oft mitten in der Nacht aus dem Bett geholt, zu Tatorten, die so weit entfernt sein konnten wie Camargo. Zwischen ihnen beiden gab es immer ein Hin und Her. Ein intellektuelles Tauziehen. Duff nahm das Klemmbrett von der Wand und las das Informationsblatt, dann rieb er sich nachdenklich das Kinn. »Okay, Charlie. Erzählen Sie mir’s noch mal.« 43
»Alle drei Opfer weisen Abwehrspuren an Händen, Gesicht und Unterarmen auf …« »Stopp!« Er kniff skeptisch die Augen zusammen. »Das könnte auch von Glassplittern herrühren. Man kauert sich hin, die Arme vor dem Gesicht, und dann explodieren die Fenster. Das könnte diese Schnittwunden erklären.« »Wir haben Blut unten in der Diele gefunden. Blut auf den Sofakissen und der Matratze, mit denen sie sich geschützt hatten.« »Trotzdem, Schnitte und Abschürfungen durch Glasscherben. Splitter, die durch die vielen zerbrochenen Fensterscheiben, durch offene Türen und durch das riesige Loch im Dach hereingeblasen wurden.« »Und die Schleifspuren auf der Treppe?« Duff zuckte die Achseln. »Vielleicht wurden Jenna und Danielle verletzt, und Rob hat sie die Treppe hinaufgezogen. Wir tun die seltsamsten Dinge, wenn wir Angst haben. Deswegen sagt man ja auch ›wahnsinnig vor Angst‹.« Charlie war nicht überzeugt. »Und die Kratzer auf Robs Rücken? Wenn er die anderen beiden die Treppe hinaufgehievt hat, wie hat er sich die dann zugezogen?« Duff seufzte vernehmlich. »Irgendwo haben Sie ja Recht, Charlie. Ich behaupte auch nicht, dass da nicht einiges rätselhaft ist. Aber bei Tornados hat man schon die seltsamsten Sachen erlebt. Beispielsweise vor ein paar Jahren in Kansas: Da hebt ein Tornado einen Kuchen im Haus hoch, befördert ihn ins Freie und setzt ihn so sanft auf der Motorhaube eines Autos ab, dass noch nicht einmal der Zuckerguss bröckelt. Kaffee?« Charlie schüttelte den Kopf. »Hier unten schmeckt mir das Zeug nicht.« »Wieso nicht? Wegen dem Geruch? Da gewöhnt man sich dran. Aber schön, meinetwegen, kein Kaffee.« Er hängte das 44
Klemmbrett wieder an den Haken. »Warten wir ab, was bei den Obduktionen rauskommt.« Charlie folgte ihm zu dem drehbaren Tisch, auf dem Rob lag, während Duff ein Tonbandgerät an seinem Gürtel befestigte und sich das Head-Set aufsetzte. »Rob Pepper erlitt eine Pfählungsverletzung an der rechten Brustseite, verursacht durch ein hölzernes Projektil von etwa 75 Zentimeter Länge«, diktierte er in das Gerät. »Ein Objekt, das wie ein Teil eines Treppengeländers aussieht, ist vorn in die Brust eingedrungen und hinten wieder ausgetreten. Die rechte Lunge ist eingerissen und gequetscht. Die Obduktion wird genaueren Aufschluss über die parenchymatöse Schädigung der Lunge geben.« Er hielt einen Moment inne und fuhr sich mit dem Finger über die Kante seines Kiefers. »Erinnern Sie sich noch an den Tornado 1999 in Oklahoma City? Jede Menge perforierende Verletzungen durch herumfliegende Splitter. Schrecklich. Ich hab noch lange danach Alpträume gehabt. Und jetzt sehe ich hier Verletzungen der gleichen Art, Charlie, nur dass …« »Ja?« »Bleiben Sie noch einen Moment hier.« Es wurde allmählich warm in dem Kellerraum. Charlie streifte sein Jackett ab, während Duff langsam den Tisch umkreiste und pfeifend durch die Nase atmete. Er musste Haare in der Nase oder Polypen oder so etwas haben. Durch die schmalen, waagerechten Fenster warf die Sonne helle Lichtinseln auf den Fußboden. Die schmalen Seziertische fuhren auf quietschenden Rollen umher und dienten zum Aufschneiden und Untersuchen von Organen. In der Nähe hing eine kleine Zugwaage zum Abwiegen von Körperteilen, und in einem großen Tank im Boden sammelten sich die Flüssigkeiten von den Autopsietischen.
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Bestattungsinstitut Ripley vor zwei Jahren. Maddie auf einer Rollbahre, an einem Gehirntumor gestorben. Die gestärkten weißen Laken bis über ihre Schultern hochgezogen. »Maddie?« Um ihren Kopf, der für die Operation kahl rasiert worden war, lief wie ein Stirnband eine lange Narbe; ihr zimtbraunes Haar war dicht und dunkel nachgewachsen. Seltsam wie die Blumen, die nach Hiroshima in den Trümmern geblüht hatten. Dicht und dunkel und ominös. Eine trauernde Haarkappe. »Maddie?« Sie hatte es gar nicht gemocht, dass die Leute ständig an ihren Tumor dachten, ständig danach fragten. Sie wollte nicht darüber reden, sie wollte lieber nur Charlies brau sein. Sophies Mutter. Ein normaler Mensch, nicht ihre Krankheit. Charlie beugte sich über die Bahre, fühlte sich einen Moment lang überhaupt nicht mehr mit ihr verbunden. Stattdessen wurde ihm bewusst, dass draußen auf dem Gang ein Mann und eine Frau auf ihn warteten. Sie hatten den Aufbahrungsraum eigens für ihn geöffnet. Er starrte hinab auf Maddies geschwungene Augenbrauen, die feine Kurve ihres Mundes, diesen Skihang von einer Nase. »Mein Gott, Maddie, es tut mir ja so Leid«, sagte er, in der Hoffnung, sie würde ihm verzeihen und die Augen aufschlagen. Aufwachen und ihn von seinem grauenvollen Elend erlösen. Duff hielt die Geländerstrebe aus Robs Brust in den behandschuhten Händen. »Seltsam«, sagte er. »Was denn?« Charlie fiel auf, dass das eine Ende des Holzstücks, das Ende, das in Robs Körper gesteckt hatte und mit Blut verkrustet war, so spitz und scharf war wie eine Messerklinge. »Mein Vater hat immer Messer aus Holz geschnitzt«, sagte Duff. »Das ist ganz einfach. Man sucht sich ein Stück Hartholz mit gerader Maserung und schnitzt es zur Form einer Klinge 46
zurecht. Dann trocknet man es über einem offenen Feuer, bis es oberflächlich verkohlt ist. Je trockener das Holz, umso schärfer wird die Spitze. Die Spitze legt man etwas exzentrisch an, weil das Mark der weichste Teil ist.« »Sie meinen also«, sagte Charlie, dessen Gliedmaßen langsam steif wurden, »was wir da sehen, ist eine Waffe?« Duff zeigte auf Robs Brust. »Sehen Sie diese mehrfachen Einstiche rings um die Öffnung, wo das Teil eingedrungen war?« »Ja, und?« »Diese oberflächlichen Stiche lassen meines Erachtens darauf schließen, dass der Täter eine geeignete Stelle gesucht hat. Ein normales Messer würde schon bei relativ geringem Kraftaufwand in Fleisch und Muskeln eindringen, aber ein Holzmesser … da ist viel Kraft nötig.« Charlie schaute auf. »Sie meinen, Kraft in den Armen?« Duff nickte. »Außerdem dringt ein Holzmesser leichter ein, wenn man den Knochen ausweicht.« Charlie überlief es kalt. Duff stellte die Geländerstange weg. »Moment mal«, sagte er, und seine Nase pfiff wie ein melancholischer Wind. »Dieser Bluterguss kommt mir verdächtig vor.« Er nahm eine Lupe zur Hand und beugte sich über Rob Peppers starres Gesicht. »Sehen Sie hier die Rötung um den Mund?« Charlie reckte den Hals und erkannte eine flockige weiße Kruste im Mundwinkel des Toten. »Hm.« Duff schwieg ungewöhnlich lange. »Was ist, Duff?« »Entschuldige, Rob«, sagte er, bevor er dem Opfer die behandschuhten Hände auf beide Gesichtshälften legte. Mit einem scharfen Ruck brach er den Kiefer auf. Charlie prallte entsetzt zurück. 47
Duff zog die Lippen des Toten auseinander und starrte ihm in den Mund. »Da stimmt was nicht«, sagte er. Charlie wusste nicht, was er meinte. »Sehen Sie den Zahn da?«, fragte Duff. »Der gehört hier nicht hin.«
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5 Der Zahnarzt der Familie Pepper, Peter Forgaard, war ein hässlicher Grobian mit einem zerknautschten Gesicht, der filterlose Zigaretten rauchte und, wenn er nicht gerade bohrte und Füllungen machte, am liebsten auf Pferde wettete. Die drei Männer – Charlie, Duff und Forgaard – standen mit düsteren Mienen im Halbkreis um Rob Peppers nackten Leichnam, dem man einen stabilisierenden Block unter den Kopf gelegt hatte. »Sie haben Recht«, sagte Peter mit ungewohnt leiser Stimme. »Der Zahn gehört da nicht hin, Roger.« »Mir ist die Schwellung am Kiefer aufgefallen«, erklärte Duff. »Dann hab ich gesehen, dass der rechte obere Eckzahn im Verhältnis zu den äußeren Schneidezähnen leicht schief steht … und das Zahnfleisch hat geblutet …« Peter strich sich mit dem Finger über die Unterlippe. Sein blaues Sweatshirt und die grauen Jogginghosen waren vom morgendlichen Training durchnässt, und seine Augen glänzten. »Darf ich?«, fragte er Charlie. »Nur zu.« »Soll ich ihn entfernen?« »Ja, entfernen Sie ihn.« Peter zog ein Paar ungepuderte Gummihandschuhe an, wählte eine Zange und packte den ungewöhnlich aussehenden Zahn. Durch Hin- und Herbewegen des Ellbogens extrahierte er ihn rasch. »Wenn ein Zahn gezogen wird«, sagte er, »bildet sich in der Alveole ein Blutgerinnsel. Ist der Patient schon tot, entsteht kein Gerinnsel. In Robs Fall sieht es so aus, als hätte es eine Blutung gegeben.« 49
»Sie meinen …« Charlie sah Peter entgeistert an. »Er war noch am Leben, als es passiert ist?« Peter nickte. Ein Schock. Eine vage, unangenehme Benommenheit. »Am Leben«, präzisierte Duff, »aber bewusstlos.« »Höchstwahrscheinlich«, bestätigte Peter. Charlie schwitzte jetzt stark, das Hemd klebte ihm am Rücken. Er spürte, wie seine Emotionen sich in seinem Körper zusammenballten – Abscheu, Wut und ein überwältigendes Gefühl der Verwirrung. Er schaute in Peters fleischiges, großporiges Gesicht. »Was ist da passiert? Wie ist der Zahn da reingekommen, Peter? Verständlich ausgedrückt.« »Also, Robs rechter oberer Eckzahn wurde extrahiert, und ein ›Ersatz-Eckzahn‹ wurde an derselben Stelle in das Bindegewebe implantiert. Die Wurzel des Ersatzzahns ist schon seit langem tot.« Charlie und Duff gingen mit ihm zur Abtropfplatte eines großen Ausgusses auf der gegenüberliegenden Seite, wo Peter eine Röntgenaufnahme von Robs Gebiss von der Wand nahm. »Er hatte drei Kronen und fünfundzwanzig gut erhaltene Zähne. Das macht zusammen achtundzwanzig, abzüglich der vier Weisheitszähne. Wie Sie auf den Röntgenbildern sehen, ist der Ersatzzahn etwas kleiner als das Original – auf der labialen Oberfläche stärker gekrümmt. Seine Wurzel ist tief und kräftig ausgebildet. Die Krone ist groß und abgeflacht. Die konvexe labiale Oberfläche weist drei Längsgrate auf.« Er senkte den Blick. »Kein Zweifel, das sind zwei völlig verschiedene Zähne.« Charlie holte tief Luft und atmete langsam aus, die Wirkung des Adrenalins ließ allmählich nach. Und der Schock setzte ein. »Und Jenna?«, fragte er. »Wollen Sie, dass ich nachschaue?« »Ja, wenn schon, dann sehen wir uns alle drei an.«
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Sie gingen in düsterem Gleichschritt zu dem Chromtisch hinüber, auf dem Jenna Pepper still wie eine Staubschicht lag. Peter schluckte einmal, bevor er gewaltsam ihren zarten, starren Mund öffnete und methodisch ihr Gebiss untersuchte. Er brauchte nicht lange. »Da.« Er zeigte mit dem Finger. »Der zweite obere Backenzahn.« »Ich seh’s«, sagte Charlie. Nachdem Duff ein paar Fotos gemacht hatte, griff Peter zur Zange und extrahierte den Zahn in etwa fünf Sekunden. »Wie Sie auf ihren Röntgenbildern sehen«, sagte er mit einer Geste zum Leuchtkasten hin, »hatte sie in ihrem zweiten oberen Backenzahn eine große Amalgamfüllung, aber dieser Zahn ist … kerngesund.« Er hielt ihn ins Licht und kniff die Augen zusammen. »Absolut makellos.« »Und Sie wissen sicher, dass es nicht ihr eigener ist, wegen der Füllung?« Peter nickte. »Das ist definitiv nicht ihr eigener Zahn.« Charlie hielt sich krampfhaft aufrecht, er wollte sich auf keinen Fall auch nur die geringste Schwäche anmerken lassen. Allmählich begriff er den Ernst der Situation, die Monstrosität des Verbrechens. Er sah die Angst in Duffs angespannten Zügen und Peters grimmigem Gesicht und wusste, dass auch sie insgeheim entsetzt waren. »Ihre Zähne sind lingual stark abgenutzt … hier, diese beiden stehen im Mund nicht ganz richtig nebeneinander. Sehen Sie die unterschiedlichen Abnutzungsmuster? Auch die Form ist anders. Hals, Krone …« »Die Farbe stimmt auch nicht«, sagte Duff. Peter fing Charlies Blick auf. »Das hat wohl kaum der Tornado bewirkt?«
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Charlie sah Duff an und sagte: »Wir müssen Sie bitten, die Sache vertraulich zu behandeln, Peter.« »Natürlich. Sie können auf meine Diskretion zählen.« »Wir wissen noch nicht, was sich da abgespielt hat. Wir sind noch dabei, die Teile des Puzzles zusammenzusetzen. Aber das Verbrechen wurde ungefähr zur selben Zeit begangen, als der Tornado zuschlug.« Peter überlegte. »Darf ich Sie was fragen, Charlie?« »Sicher.« »Was ist mit den echten Zähnen passiert?« Duff fixierte Charlie. »Es muss eine Art Ritualmord sein. Das ist die einzige Erklärung.« »Wir haben die Obduktionen noch nicht abgeschlossen«, sagte Charlie zu Peter. »Wir haben noch nicht alle Fakten.« »Wir wissen genug«, unterbrach ihn Duff, »um davon auszugehen, dass der Täter die echten Zähne als Trophäen an sich genommen hat.« »Mann«, stöhnte Peter. »Haben Sie es hier unten absichtlich so warm, Roger? Man kommt ja schier um vor Hitze.« Duff schaltete den lautlosen Entlüftungsventilator ein, während Peter sein Taschentuch hervorholte und sich das schweißtriefende Gesicht abwischte. »Sollen wir eine Pause einlegen?«, fragte Charlie. »Nein, es geht schon. Es ist bloß, diese armen Menschen …« »Also machen wir weiter?« Er nickte. »Wenn Sie mir bitte folgen, meine Herren.« Charlie und Roger gingen zu Danielles Tisch und schauten in bedrücktem Schweigen zu. »Die Krone hat zwei Höcker.« Peters Vortrag war trocken und ausdruckslos, aber man spürte doch bei jedem Wort, wie aufgewühlt er tatsächlich war. »Der Hals ist oval, die Wurzeln 52
sind seitlich zusammengedrückt. Der vordere Backenzahn ist der größte in der Reihe, aber hier, der zweite Backenzahn … sehen Sie, wie abgenutzt der Schmelz ist? Man würde hier eine entsprechend stark abgenutzte Stelle erwarten, aber die ist nicht vorhanden. Auf der Röntgenaufnahme sieht man, dass dieser Backenzahn leicht abgesplittert sein müsste, aber das ist nicht der Fall.« Er räusperte sich. »Sie hat noch alle Weisheitszähne. Nach meinen Unterlagen müsste hier eine Füllung sein …« Der Zahnarzt wirkte so hager und blass, dass Charlie fürchtete, er könnte ohnmächtig werden, und es schob ihm einen Stuhl hin. »Diese armen Menschen.« Peter setzte sich. »Die Überraschung auf ihren Gesichtern – als hätten sie nicht verstanden, warum sie sterben mussten.« »Helfen Sie mir herauszufinden, wer das getan hat«, sagte Charlie. »Sagen Sie mir alles, was Sie wissen, Peter.« Er zuckte die Achseln. »Viel gibt’s da nicht zu sagen. Diese ›Ersatzzähne‹ … die stammen von Menschen. Aber sie wurden nicht in letzter Zeit gezogen. Vielleicht vor einem Jahr, vielleicht noch früher. Ich weiß nicht, wem sie gehört haben, aber keinem von meinen Patienten, so viel steht fest.« Er zupfte an seiner aufgesprungenen Unterlippe. »Grundsätzlich ziehe ich nur ungern einen Zahn. Die Leute sehen dann nämlich vor der Zeit alt aus. Wenn irgend möglich, versuche ich, einen Zahn zu retten.« »Muss man Zahnarzt sein oder braucht man Spezialwissen, um einen Zahn zu ziehen, Peter? Ist es schwierig?« »Nein, eigentlich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Der Zahn wird in seiner Alveole von einem Ligament gehalten, das die Wurzel mit dem Knochen verbindet. Ich nehme am liebsten ein Instrument, das wir Wurzelheber nennen. Es erweitert den Abstand zwischen den Ligamenten und dem Knochen und zerreißt die winzigen Fasern, aus denen die Verbindung besteht. Aber man braucht nicht unbedingt einen Wurzelheber zum Zahnziehen. Bei einer einfachen Extraktion packt man den Zahn 53
einfach mit einer Zange und lockert ihn durch Hin- und Herbewegen. Man dreht ihn links herum, dann rechts herum … und dann zieht man. Das ist alles.« »Könnte man auch eine Kombizange nehmen?« »Natürlich, das würde auch reichen. Vor allem, wenn man nicht darauf achten muss, keine benachbarten Zähne zu beschädigen. Dass sie keine Sprünge bekommen und so weiter.« Er starrte mit glasigem Blick auf die Leichen. »Kann ich jetzt gehen?« »Ja, sicher.« Er stand auf und schlurfte zur Tür. »Ich hoffe nur, ich kann irgendwann vergessen, was ich hier gesehen habe.« »Bis dann, Peter«, sagte Charlie, und sein Magen verkrampfte sich noch mehr beim Anblick der Furcht und Fassungslosigkeit in den Augen des Älteren. »Danke für Ihre Hilfe.«
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6 Die Dakota Road begann mit einem Lichtblick – Pop Okie’s Ribs – und schlängelte sich dann meilenweit vorbei an hohen weißen Getreidesilos und ausgetrockneten Ölquellen bis in den weitläufigen westlichen Außenbezirk von Promise, wo niemand Designer-Klamotten trug oder nachts die Haustür abschloss. Charlie parkte in der zerfurchten Zufahrt und hielt inne, um das Bilderbuch-Farmhaus unter dem allmählich heller werdenden Himmel zu betrachten. Es war weiß mit roten Fensterläden und einem Giebeldach. Dieser Ortsteil hatte noch immer keinen Strom, aber das Anwesen seines Vaters hatte offensichtlich keinen nennenswerten Schaden genommen. Der 51er Loadmaster-Pick-up – tiefgelegt und haifischgrau grundiert – stand vor der Scheune, und dahinter begannen die schlammigen Felder, aus denen Isaac Grover seit einem halben Leben fruchtbares Ackerland zu machen versuchte. Charlie saß fröstelnd in seinem Polizeiauto. Der sich abkühlende Motor knackte. Seine Arme fühlten sich schwer an, wie morsche Rundhölzer. Er hatte den Schock noch immer nicht ganz überwunden. Ein Dreifachmord. Rituelle Tötung. Hier bei ihnen, in Oklahoma. Er schloss die Augen und spürte fast augenblicklich das Trommelfeuer der Schläge, die behaarten Fäuste seines Vaters, die sein Gesicht bearbeiteten. Er machte die Augen wieder auf und sah ein Eichhörnchen mit federnden Sprüngen über den Rasen huschen. In dieses Haus waren sie gezogen, nachdem das alte in der Kidwell Road bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. Charlies Mutter Adelaide und seine kleine Schwester Clara waren dabei ums Leben gekommen. Charlie spürte noch den einstigen Zorn, die einstige Trauer, die dicht unter der Oberfläche brodelten. Seine Brandwunden erinnerten ihn immer wieder an die 55
Vergangenheit. Er brauchte nur an sich hinunterzuschauen. Gott hatte ihm ein gigantisches Brandzeichen aufgedrückt: schwielige, hypertrophe Narben, die in Kaskaden über seinen linken Arm und die linke Brusthälfte liefen; die erhabenen gelben Bereiche der Hauttransplantationen am Gesäß; die Einschnürung am linken Bein. Die anderen Kinder hatten ihn gehänselt. Der Verbrannte. Kokel-Charlie. Wenn er von der Schule heimkam, setzte er sich stoisch auf die Kante seines Bettes und hielt die Hände über verschiedene Teile seines Körpers, um den Prozentsatz der Verbrennungen dritten Grades zu ermitteln. Ein Prozent am Kopf, acht Prozent am Arm, elf Prozent am Bein, acht Prozent am Rumpf. Egal, wie oft er es machte, er kam immer auf 28 Prozent. Er stieg aus dem Auto und ging vorsichtig auf das Haus zu. Der penibel gepflegte Rasen lag vor ihm wie eine unbehagliche Gesprächspause. Der alte Mann war so stolz auf seinen Vorgarten, war ständig am Mähen und Unkrautjäten – ein neuer Mensch, seit er vor dreißig Jahren mit dem Trinken aufgehört hatte. Er hatte damit aufgehört am Tag nachdem das Haus abgebrannt war. Junge, das war ein Schuss vor den Bug. Schon möglich. Aber er kam zu spät, als dass es noch jemandem genützt hätte, dachte Charlie bitter. Jetzt beeindruckte Isaac die anderen Kirchgänger mit seinem golfgrünen Rasen und seinem reuevollen Gebaren. Sie hatten den Sünder ins Herz geschlossen, hatten ihm zu schnell verziehen. Charlie meinte förmlich zu hören, wie die Wurzeln all dieser perfekten Grashalme das Wasser aus der Erde saugten, während er die Stufen zur Veranda hinaufstieg und an die klappernde Fliegentür klopfte. »Pop?« Keine Antwort. Es war dunkel und still im Haus. Die Fliegentür quietschte in den Angeln. Charlie streifte sich die Schuhe ab und trat ein. In der Diele roch es nach Bohnerwachs. Er verspürte eine bleierne Schwere im Magen, als er den Garderobentisch sah, auf dem sich die Post von einer Woche 56
stapelte. Lauter unbezahlte Rechnungen. Sein Vater würde wieder versuchen, sich Geld von ihm zu leihen. »Pop? Bist du da?«, rief er in die hallende Stille, dann ließ er den Blick über die zehn oder zwölf Fotos an den Wänden gleiten, ausgebleichte Bilder von ihm und seiner Familie; uralter Kram, der Schmerz in den Augen seiner Mutter noch immer sichtbar. Die arme Adelaide. Und die kleine Clara mit ihrer großen Liebe. Und ein jüngerer, dunkelhaariger Isaac, der mit beduselter Gleichgültigkeit in die Kamera lächelte. Kaum war die Kamera nicht mehr auf ihn gerichtet, kehrte die Wildheit in seinen Blick zurück. Sie hatten ihm zu schnell verziehen. Isaac hörte am Tag nach dem Brand mit dem Trinken auf, aber er tauschte lediglich eine Sucht gegen eine andere ein – Trinken gegen Storm-Chasing. Jetzt ging er auf Sturmjagd, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Er ging am Sonntag in die Kirche und an den übrigen Wochentagen auf die Jagd nach extremen Wettererscheinungen. Vater und Sohn hatten nie wieder über jene Nacht gesprochen. Das Haus war sauber und aufgeräumt, alles an seinem Platz. Charlie dachte an das unordentliche, mit allem möglichen Kram voll gestopfte Haus an der Kidwell Road. Der Einsatzleiter der Feuerwehr war zu dem Schluss gekommen, dass der Brand im Keller ausgebrochen war, wo all die Lumpen und Zeitungen und Petroleumlampen waren, vielleicht ausgelöst durch einen Funken aus dem Kohleofen. Sein Vater war im Winter täglich dreimal hinuntergegangen, um das Feuer zu schüren. Und hatte dabei geflucht wie ein Droschkenkutscher. Komm schon, du altes Mistding. Oben im Wohnzimmer stieg dann ein Schwall heißer Luft durch das schmiedeeiserne Gitter wie der Atem des Teufels. »Charlie?« Die vertraute raue Stimme. Er fuhr herum. »Halt, nicht schießen!« 57
Isaac ließ sein Gewehr sinken – es war das, mit dem er sonst auf Hirschjagd ging. »Ich hab gedacht, es sind vielleicht Einbrecher.« »Nein, ich bin’s bloß.« »Setz dich schon mal vors Haus. Ich hol uns ein Root Beer.« Isaac Grover war ein kräftig gebauter Mann von zweiundsechzig Jahren mit einem von Entbehrungen gezeichneten Gesicht. Zäh wie zu lange gebratenes Rindfleisch und zu jeder Schandtat bereit. Er litt unter Schlaflosigkeit und blieb oft nächtelang auf, um sich als Amateurfunker mit den einzigen anderen Erdlingen, die zu solch gottloser Zeit wach waren – den Deutschen oder den Chinesen –, bis in die frühen Morgenstunden auf Pidgin-Englisch zu unterhalten. Er bewirtschaftete fast hundert Hektar, aber die Landwirtschaft warf nur wenig ab. Er hatte ein paar Kühe und Hühner und baute Sojabohnen an, aber seine Haupteinnahmequelle war der Weizen. Reich war er nicht. »Ich hab dich gestern gesehen«, sagte Isaac und faltete seine kräftigen Hände. »Du mich wohl nicht, oder?« »Wo war das?« »In der Black Kettle Road. Ich hab bei den Aufräumungsarbeiten geholfen.« Charlie runzelte die Stirn. »Warum bist du denn nicht gekommen und hast mich begrüßt?« »Du hattest ja alle Hände voll zu tun. Na, mach schon, nimm dir einen Stuhl auf der Veranda.« »Ich kann nicht lange bleiben, Pop.« »Ach komm, jetzt setz dich endlich.« Charlie verkniff sich eine gereizte Antwort. »Fünf Minuten, dann muss ich wieder los.« Er ging hinaus und setzte sich in einen der alten Korbsessel, die schon immer da standen, wie die Pyramiden. Er hörte, wie der alte Mann sich in der Küche zu 58
schaffen machte, den Farmbericht im Radio anstellte und im Kühlschrank kramte. Er musste an den langen Kampf seines Vaters mit der Farm denken. Immer wieder hatten Schädlinge und Unkraut ihm die Ernte vermasselt, und den eigentlichen Profit machte ohnehin der Zwischenhandel. »Wenn ich auch nur ein bisschen Geld hätte, wäre ich die längste Zeit Farmer gewesen. Ich würde mir ein Boot kaufen und um die Welt segeln.« Isaac ließ die Fliegentür hinter sich zufallen und reichte Charlie ein eiskaltes Root Beer. Sie stießen mit den altmodischen Flaschen an. »Die arme Mary Jo«, sagte Isaac Grover und setzte sich in den Korbstuhl gegenüber, dessen brüchiges Geflecht unter seinem Gewicht ächzte. Er meinte Mary Jo Crider, die ältere Frau, die von dem Tornado aus dem Haus geschleudert worden war. »Sie war früher bei mir und Bo Babysitter, hab ich dir das schon mal erzählt? Einmal hat sie Bo-Bo drei Dosen Schweinefleisch mit Bohnen essen lassen. Er hat das alte Mädchen abgöttisch geliebt. Sie hat jeden Tag einen anderen Pullover angehabt.« Sein Blick wurde träumerisch. »Zwanzig Meter weit aus dem Haus geschleudert, in einen Stacheldraht. Ist das zu fassen? Das fragt man sich wirklich.« Charlie nippte vorsichtig an dem alkoholfreien Getränk. »Gestern«, sagte er. »Mir kommt’s vor, als wär’s Monate her.« »Gestern ist der Himmel eingestürzt.« Isaac warf seinem Sohn einen raschen, taxierenden Blick zu. »Kommst du klar? Wie wirst du damit fertig?« »Ich hab ziemlich zu kämpfen, Pop«, gab er zu. »Na, nun mal nicht so einsilbig. Sag schon.« Charlies Augen erforschten unruhig flackernd das Gesicht des Vaters. »Es war grauenhaft.« »Der Tod ist immer grauenhaft.« 59
»Ja, sicher … Aber das war schon besonders grauenhaft.« Sag ihm nichts davon. Sag ihm nicht die Wahrheit. Sie erfahren es alle noch früh genug. Im Laufe des Vormittags würde er eine Pressekonferenz abhalten. Wenn Isaac blinzelte, sah man seinem Gesicht an, wie viel er durchgemacht hatte. Er trug eine zerknitterte Jacke über einem zerknitterten Hemd; seine persönliche Hygiene unterlag offenbar nicht dem zwanghaften Ordnungssinn, den er im Haus und bei der Pflege seines Rasens an den Tag legte. Er trug immer dieselben Schuhe, bis sie ihm buchstäblich von den Füßen fielen, jedem neuen Paar war ein quälend langsamer Tod an seinen stinkigen, alten, hühneraugengeplagten Füßen bestimmt. Er war wie ein Heimatloser. »Warst du gestern auf der Jagd?«, fragte Charlie, und sein Vater nickte. »Ich bin auf der I-10 nach Westen gefahren und dann nach Norden Richtung Cradle Rock. Vom ersten Gewitter hat sich eine nach links laufende Zelle abgespalten, also bin ich wieder zurückgefahren. Mann, um ein Haar hätte ich ihn verpasst. Ich war fast in perfekter Position, fast unter der Mesozyklone, und zehn Minuten später schon viel zu weit weg.« »Es soll ein F-3 gewesen sein, heißt es.« Er blinzelte in die aufgehende Sonne. »Dieser Kumulus ist buchstäblich himmelwärts explodiert. Man konnte sehen, wie der Turm sich aufgebaut hat. Mein Gott, ich kenn Rob Pepper, seit er so groß war.« Er wiegte stumm den Kopf, und sein feines weißes Haar schimmerte im Morgenlicht. Er trug es jetzt schulterlang; früher hatte er einen militärisch kurzen Schnitt bevorzugt. »Ich weiß noch, wie Stretch Pepper immer rot glühende Hufeisen in die Luft geworfen und sie mit einer Zange aufgefangen hat. Rob war sein Erstgeborener. Stretch hat Yoohoo-Schokoladendrinks anstelle von Zigarren verteilt. Das war 60
an dem Tag, als Bob Schul die fünftausend Meter gewonnen hat.« Isaac Grover tippte sich an die Stirn. »Da drin ist jede Menge unnützes Wissen gespeichert.« Jeder wusste, dass die Peppers dem gestrigen Tornado zum Opfer gefallen waren. Aber noch wusste niemand, was Charlie wusste. Isaac nahm sein Gebiss heraus und legte es auf die breite Armlehne des Korbsessels. Solange Charlie denken konnte, hatte sein Vater keine eigenen Zähne mehr. Früher hatte er immer Nachbarskinder erschreckt, indem er sein Gebiss mit der Zunge herausdrückte. Er sagte gern im Scherz, dass seine eigenen Zähne im Jenseits auf ihn warteten, bei Adelaide. »Ich habe auch Jenna Peppers Mama gekannt«, sagte Isaac. »Celine Kulbeck. Eine richtige Wildkatze. Wie die Mutter, so die Tochter.« »Hm?« Charlie schaute auf. »Was meinst du damit?« »Ach, nichts. Es ist bloß … es gibt Gerüchte.« »Was für welche?« Er zuckte die Achseln. »Dies und das.« Er wollte es ihm nicht sagen. Von dem süßen, kalten Getränk taten Charlie die Zähne weh. Sein Vater war so zäh wie ein alter Texas-Stiefel, aber heute wirkte er ausgelaugt – abgezehrt und blass, mit eingefallenen Wangen. Charlie fragte sich, ob er wohl genug aß. Ein frischer Wind blies durch die Bretterfugen der mit Fliegengitter umgebenen Veranda. Draußen kreisten Raben am Himmel. Die Overalls, Boxershorts und verschlissenen Badetücher auf der Wäscheleine waren nass vom Tau. Wie hört sich das Nichts an? Ein Knoten bildete sich in Charlies Magengrube und wollte nicht wieder verschwinden. Plötzlich fühlte er sich in die gute alte Zeit zurückversetzt, in jene unglücklichen Jahre, als seine Eltern sich ständig anbrüllten und 61
einander mit Gegenständen bewarfen. Bitte mach, dass sie aufhören … Charlie, der in seiner Mansarde zuhörte, wie sich unten die Eltern stritten. Irgendetwas zerschellte, er fuhr zusammen. Das Baby schrie. Die zweijährige Clara quäkte ständig. Sie hatte weißblondes Haar und eidechsengrüne Augen wie sonst niemand in der Familie, und das trieb Charlies Vater offenbar zum Wahnsinn. »Ist das Baby von mir? Antworte, Weib!« Vor Charlies Füßen lagen seine kaputten Spielsachen. Er war gerade sieben geworden, und unten tobte ein fürchterlicher Sturm. Bitte, lieber Gott, mach, dass sie aufhören, ich will auch brav sein … Immer wenn sein Vater seine Mutter verprügelte, verkroch sie sich hinterher in ihrem Zimmer und weinte, bis ihr die Wimperntusche über die Wangen lief und sie wie ein Clown aussah. Dann kam sein Vater die Treppe ins Dachgeschoss heraufgetrampelt, und Charlie wusste, jetzt war er dran. Er japste, als der Mann mit der finsteren Miene und den großen, schwieligen Händen ihn am Schlafittchen packte und ihn, Stufe für Stufe, die Treppe hinunterschleifte, bis in den ersten Stock, wo er ihn dann anschrie: »Wie hört sich das Nichts an, du kleiner Bettnässer?« Immer und immer wieder, während Charlie ihn nur entsetzt anstarrte. Sein Vater steigerte sich weiter in seine Wut hinein, schnallte seinen dicken Ledergürtel ab und prügelte Charlie windelweich. Der Junge hielt sich die Hände über den Kopf, und die Schläge prasselten auf ihn herab, überall knackte und knirschte es. »Wie hört sich das Nichts an, du kleiner Bettnässer?« Minuten später war Isaac Grover aus dem Haus gestürmt. Die Haustür fiel krachend ins Schloss. Der Alte gab Gas, dass der Kies spritzte, und raste mit qualmenden Reifen bis zur Kidwell Road hinunter. Charlie hockte zitternd und weinend zusammengesunken in einer Ecke des Flurs und wartete auf Trost und Erlösung; aber seine Mutter nahm ihn nicht wie sonst 62
in die Arme. Sie starrte ihn nur mit wilden, verständnislosen Augen an und ging weg. Später am Abend vergaß sie, ihm seinen Gutenachtkuss zu geben. Allein in seiner Mansarde, lag Charlie ganz still in seinem Bett. Ihm war so kalt und er hatte solche Angst, dass er nicht wusste, was er tun sollte. Vielleicht hatten sie Glück, und der Vater würde auf dem Heimweg einen Unfall haben. Vielleicht würde er voll gegen die große Eiche an der Ecke fahren. Doch dann kam der Vater kurz nach Mitternacht ins Haus gewankt, betrunken und zerzaust, und sang mit seiner tiefen Stimme, während er tapp, tapp, tapp die Treppe heraufstieg. Charlie hörte den Krach, den er machte, und dann die quengelnde Stimme seiner Mutter. Schon bald stritten sie wieder. Seine Mutter schrie, nur ein einziges Mal … dann herrschte unheimliche Stille. Charlie hielt den Atem an, als im Zimmer unter seinem die Sprungfedern zu quietschen anfingen. Sie quietschten sehr lange, und dann war nichts mehr zu hören. Charlie lag still wie ein Stein und blinzelte in die Dunkelheit, seine Augen verfolgten die Schatten und die gezackten Silhouetten der von einem Halbmond schwach erhellten Nacht. Jeden Moment konnte jetzt sein Vater die Treppe heraufgepoltert kommen und ihn wieder verprügeln. Er wusste es. Sobald er die Augen schloss, hörte er schon die Treppe knarren. irgendwann roch es nach Rauch. Bald konnte er kaum noch atmen. Rauch breitete sich über die Treppe aus wie Sahne im Kaffee. Er lief zum Treppenabsatz, konnte aber durch die Rauchwolken hindurch nichts erkennen. »Mama!«, rief er. »Mama!« Er rannte zum Fenster und schaute in die friedliche Mondnacht hinaus, und plötzlich wurde ihm klar, dass sich niemand kümmerte, nicht die Kühe, nicht die Eulen und auch der Halbmond nicht, der die Felder mit Sternenstaub überzog. Minutenschnell fraß sich das Feuer bis unters Dach hinauf, 63
begleitet von giftigem Rauch, der ihm kaum noch Luft zum Atmen ließ. Charlie lehnte sich aus dem Fenster und schrie um Hilfe, doch als eine blassblaue Flammenschicht über den Boden kroch und seine Sohlen erreichte, sprang er. Er sprang, um seine Haut zu retten, aber seine Haut sollte nur zu zwei Dritteln gerettet werden. Und jetzt saßen sie hier zusammen, Vater und Sohn. Zwei einander völlig fremde Menschen. Er wollte weg. Sie hatten alles gesagt, was zu sagen war. Blieb nur noch eine kleine Peinlichkeit, die unausgesprochene Forderung seines Vaters nach Geld. Um es hinter sich zu bringen, fragte Charlie: »Soll ich dir einen Scheck ausschreiben?« Isaac wurde sofort ärgerlich. »Wenn ich deine Hilfe bräuchte, hätte ich darum gebeten.« »Okay, Pop. Ist doch kein Thema.« Sein Vater zeigte mit einem arthritischen Finger auf ihn. »Tu das nie wieder.« »Was?« »Mich wie einen Sozialfall behandeln. Ich sag verdammt noch mal Bescheid, wenn ich deine Hilfe brauche.« »Schon gut, Pop. Tut mir Leid, dass ich überhaupt davon angefangen habe.« Voller Verachtung trank Isaac sein Root Beer auf einen Zug aus. »Sechs Tote. Sechs Tote. Die Leute reden von nichts anderem. Keiner hält’s für nötig, auch nur zu erwähnen, dass auch Hunderte verletzt wurden, und manche davon wären besser tot.« Charlie musterte das Profil seines Vaters – die lange, gerade Nase, die er ihm vererbt hatte, die hervortretenden Adern am Hals, die Höhe und Breite der Stirn, die Pokerspieleraugen. Würden auch seine Augenbrauen einmal so weiß werden und Flügel bekommen? Würde er auch einmal solche Hängebacken 64
haben? Würden auch seine Knöchel arthritisch anschwellen? In diesem Moment bemerkte er die teuer aussehende Uhr mit dem silbernen Gliederarmband am Handgelenk seines Vaters. »Ist die neu?« »Was, die da?« Er schaute auf die Uhr. »Ich hab gestern einer Familie geholfen. Sie haben sich erkenntlich gezeigt.« »Die haben dir die Uhr geschenkt?« Charlie sah ihn skeptisch an. Du meinst, die hast du aus dem Dreck geklaubt. »Welche Familie?« »Weiß ich nicht mehr.« Charlies Mund verhärtete sich. »Du weißt nicht mehr, wie sie heißen?« »Sie haben’s mir gar nicht gesagt, glaub ich.« Er stellte sein Root Beer hin und stand auf. »Ich muss los.« Isaac schaute ihn an wie eine Fliege in der Suppe. »Warum behandelst du mich so?« »Wie?« »Wie jemanden, dem man nicht trauen kann.« »Hab ich irgendwas gesagt?« »Du brauchst gar nichts zu sagen.« Er rutschte auf seinem Sessel hin und her und zupfte am ausgebeulten Schritt seiner Hose. »Du meine Güte, du halst dich wohl für oberschlau.« »Was soll das heißen?« »Du glaubst mir also das mit der Uhr nicht? Glaubst nicht, dass es noch Leute gibt, die wissen, was Dankbarkeit ist? Die sich dankbar erweisen?« »Aber du weißt nicht mal, wie sie heißen?« »Ich hab nein gesagt, vielleicht hat es wie ja geklungen.« Angewidert sah Charlie sich um. »Sophie hat sich Sorgen gemacht deinetwegen, deshalb bin ich vorbeigekommen, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist.« 65
Isaacs Stirnrunzeln war wie fortgeblasen, als er den Namen seiner Enkelin hörte. Er schüttelte den Kopf und kicherte in sich hinein. »Wirklich? Sie hat sich Sorgen um ihren alten Opa gemacht?« »Ja, stell dir vor. Sie hat bei dir angerufen, aber die Leitung war gestört.« »Mein Engel.« »Du kennst sie ja. Ruf sie an.« »Geht’s ihr gut?« »Bis dann, Pop.« Er stützte sich mit beiden Händen auf den Sessellehnen ab und richtete sich drohend auf. »Charlie, geht’s meiner Enkeltochter gut?« »Das hätte verdammt noch mal deine erste Frage sein müssen«, sagte er und ging.
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7 Charlie hatte sich gerade ins Auto gesetzt, als er über Funk gerufen wurde. »Ja?«, meldete er sich gereizt. »Chief?« Es war Hunter. »Wir haben auf einer zusammengefalteten Serviette in Jenna Peppers Handtasche eine Telefonnummer gefunden. Kein Name, nur eine Nummer. Rat mal, wer sich gemeldet hat?« »Bitte keine Spielchen, Hunter. Sag schon.« »Jake Wheaton.« »Was?« »Sollen wir rüberfahren?« »Nein, das übernehm ich«, sagte Charlie, hängte das Mikrofon ein und fuhr los. Die Wheatons wohnten am anderen Ende der Stadt auf einem Grundstück, dessen festgestampfte Erde mit Autoleichen übersät war. Die alten Gebäude der heruntergekommenen Farm waren über und über mit Graffiti beschmiert. Charlie hatte keine Ahnung, was die da anbauten. Er wusste nur, dass in dem Trailer Park auf der anderen Straßenseite jede Menge Drogendeals abgewickelt wurden. Er fand Jake Wheaton in der Einfahrt, über einen mehr oder weniger schrottreifen Chevy-Pick-up gebeugt. Der Neunzehnjährige hatte eine Taschenlampe im Mund und zog mit seinen dünnen, ölverschmierten Fingern den Zahnriemen straff. »Jake?« Die Taschenlampe fiel ihm aus dem Mund, und er fing sie mit einer Hand auf. Er grinste Charlie dümmlich an. »Ah, das Auge des Gesetzes.« Er war high oder betrunken oder beides, seine Augen waren zwei Landkarten aus roten Äderchen. 67
»Hast du einen Moment Zeit?« »Für was?« »Nur ein paar Fragen.« »Klar, von mir aus.« Seine Zunge war mit einem Stahlstift gepierced, und er war nur Haut und Knochen. Seine Tattoos waren ziemlich schön – schmale schwarze Bänder um die Oberarme, mystische Symbole auf den abgemagerten Unterarmen. Seine langen, fettigen Haare hatte er hinter die Ohren zurückgestrichen, und er trug ein schwarzes T-Shirt in Übergröße und Jeans, die absichtlich, aber wie zufällig mit einem Bleichmittel bespritzt worden waren. »Du hast doch das von den Peppers gehört, oder?«, fragte Charlie, und Jake nickte. »Könntest du den Motor mal kurz abstellen?« Der avocadogrüne Pick-up stand in einer Pfütze aus Benzin und Rennöl. Jake setzte sich in den Wagen und schaltete die Zündung aus, dann sackte er hinter dem Lenkrad zusammen und steckte sich eine Zigarette an. »Rauchen verboten.« Er machte sie aus. Charlie dachte, er würde wieder aussteigen, aber das tat er nicht. »Was machst du?« »Bisschen chilien.« Er trommelte mit den Fingern auf das gepolsterte Lenkrad. »Steig aus.« Der junge Mann gehorchte. In leicht feindseliger Haltung stand er vor Charlie. »Du hast gehört, dass die Peppers in dem Tornado umgekommen sind?« »Ja, war ja im Fernsehen.« Er ließ den Kopf hängen. Atmete ein. Atmete aus. »Voll krass, so sterben zu müssen.« 68
»Hast du sie gekannt?« »Klar. Danielle.« Er nickte. »Und meine Freundin hat Mrs. Pepper in Ernährungswissenschaft.« »Ernährungswissenschaft? Hast du sie persönlich gekannt? Mrs. Pepper, mein ich. Oder nur über deine Freundin?« Er blinzelte. »Wie meinen Sie das?« »Ob du irgendwelche persönlichen Beziehungen zu Mrs. Pepper gehabt hast, will ich wissen.« Jake reagierte betont gleichgültig und schaute zur Straße. »Wir durften immer essen, was ihre Schülerinnen an dem Tag gebacken haben. Pommes, Burritos und so’n Zeug.« »Ihr habt also die Sachen nach Schulschluss probieren dürfen?« »Ja, genau.« »Und du hast ein bisschen mit ihr geplaudert?« Er zog betont unschuldig die Augenbrauen hoch. »Stimmt.« »Worüber habt ihr gesprochen?« »Wer, ich und Mrs. Pepper?« »Ja, du und Mrs. Pepper.« Er zuckte die Achseln. »Nur so.« »Zum Beispiel?« »Das Leben und solchen Mist halt … Und da war noch das eine Mal, wo sie mich in ihrem Pontiac mitgenommen hat.« »Ach ja? Wann war das?« Er kniff die Augen zusammen, als könnte er die Antwort aus der Luft zwischen ihnen ablesen. »So vor sechs Monaten.« »Sechs Monate? Nach Schulschluss?« »Ja, nach Schulschluss.« »Und?« »Und was?« 69
Sie sahen einander bedeutungsvoll an. »Wo ist sie mit dir hingefahren? Mrs. Pepper.« »Och, aufs Land. Wir haben Kürbisse gebraucht.« »Kürbisse?« »Ja. Ich hab ihr geholfen, die Kürbisse für die Schule zu kaufen. Sie wollte ihren Schülerinnen zeigen, wie man Kürbiskuchen backt. Wir haben eine Tonne von dem Zeug gekauft, den ganzen Kofferraum voll.« »Ist noch irgendwas anderes gewesen, als ihr die Kürbisse geholt habt?« Diese Frage nahm er Charlie sichtlich übel. »Was denn, zum Beispiel?« »Na ja … ich weiß nicht. Ich möchte nur gern wissen, wieso wir deine Telefonnummer in ihrer Handtasche gefunden haben.« »Ach so.« Er rieb sich entnervt die Augen. »Wieso hatte sie deine Telefonnummer, Jake?« Er kniff die Augen zusammen, dachte scharf nach. »Weiß nicht.« »Nein?« Er schüttelte den Kopf. »Jake … du lächelst andauernd.« Er hob mühsam den Kopf. »Ja. Und?« »Findest du Zähne toll?« »Was?« »War nur so eine Frage.« »Ob ich Zähne toll finde?« »Sag mir einfach, warum sie deine Telefonnummer in ihrer Handtasche hatte.« Er zuckte die Achseln. Hinter seinen Augen spielte sich sehr wenig ab. Jedenfalls hatte es den Anschein. 70
»Jetzt spuck’s schon aus«, sagte Charlie. Nach einem Moment trotzigen Schweigens ließ Jake die Schultern hängen und gab zu: »Sie ist mit mir Kürbisse kaufen gefahren, und dann haben wir geknutscht.« »Ihr habt geknutscht?« »Ja.« »Du und Mrs. Pepper? Du und die Kochlehrerin?« »Ja. Ehrlich.« »Seid ihr bis zum Äußersten gegangen?« »Bis wohin?« »Hast du Sex mit ihr gehabt?« »Nein, wir haben … nein.« »Ihr beiden habt auf der Kürbisfahrt geknutscht? Hast du sie danach wieder gesehen?« »Zweimal. Wir haben uns noch zweimal mit ihr getroffen.« »Wer ›wir‹?« »Was?« »Du hast gesagt, ›wir haben uns zweimal mit ihr getroffen.‹« »Ich hab gesagt, wir haben uns noch zweimal getroffen. Sie und ich.« »War da sonst noch jemand dabei?« Er schwieg und schaute auf seine Schuhe hinunter, vergammelte Arbeitsstiefel, deren Schnürsenkel im Dreck schleiften. »Jake?« »Ich hab genug gesagt.« »Wie ist es, kommst du mit aufs Revier?« »Bin ich verhaftet?« »Noch nicht.« 71
Er ließ sich nicht anmerken, ob er erschrocken oder verärgert war oder dergleichen. Er setzte sich einfach wieder in seinen Pick-up, ließ den Motor an und jagte ihn hoch. »Wo warst du gestern Nachmittag?«, fragte Charlie. Er stützte sich mit der Hand am Dach des Wagens ab und sah Jake durch das heruntergekurbelte Fenster an. Jake schaltete das Radio ein. Ein Rap-Song lief, und er fing an, im Rhythmus heftig mit dem Kopf zu nicken. Wahrscheinlich hatte er sich damit schon das Gehirn verquirlt. »Es könnte sein, dass ich dich auffordern muss, demnächst ins Revier zu kommen und uns näher zu erläutern, was du eben gesagt hast«, sagte Charlie. Jake trommelte nur mit den Fingern aufs Lenkrad. »Okay?« »Ja, okay.« »Du arbeitest mit uns zusammen?« »Ich überleg’s mir.« Er schlug zum Abschied mit der Hand auf den Türholm.
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8 Kurz vor Mittag hielt Charlie eine Pressekonferenz ab, auf der er die Morde bekannt gab und dann die Fragen der Reporter beantwortete, so gut es ging. Die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer und sorgte für neue Unruhe in der Stadt, und Charlie wusste, dass es in den Eisenwarenläden einen Ansturm auf Sicherheitsschlösser geben und im Waffengeschäft die Nachfrage nach Munition sprunghaft ansteigen würde. Bis zwölf Uhr hatten sich schon Hunderte von Schaulustigen in der Nähe des Tatorts eingefunden. Das Institute for Disaster Studies kartierte die Verwüstungsschneise, während ein FEMATeam versuchte, dem Tornado eine Stufe auf der F-Skala zuzuordnen. Über drei Dutzend Einfamilienhäuser im Ortsteil Black Kettle waren zerstört worden, weitere einhundertfünfzig wiesen erhebliche Schäden auf, und fünfhundert Einwohner hatten noch immer keinen elektrischen Strom. Die Schadensstrecke verlief quer durch gut hundert Hektar künstlich bewässerter Felder, auf denen das hoffnungsvolle Aprilgrün sich in riesige braune Flächen verwandelt hatte. Im Leichenschauhaus entfernten Charlie und Duff die restlichen Splitter aus den Toten und untersuchten sie genau, bevor sie sie für weitere Analysen ans Staatslabor schickten. Insgesamt gab es acht Objekte, die als Waffen benutzt worden waren. »Wollen wir hoffen, dass wir auf einem davon Fingerabdrücke finden«, sagte Duff. Als Nächstes fuhr Charlie in die Shepherd Street, und das Rattern des gasbetriebenen Generators drang an sein Ohr, bevor er auch nur aus dem Wagen gestiegen war. Er ging hinten herum, wo ein Teil des Dachs in Einzelteilen im Garten der Peppers lag und alle möglichen Trümmer in den kahlen oberen Wipfeln der wenigen Bäume hingen, die stehen geblieben 73
waren. Er nahm seine Sonnenbrille ab und öffnete die Küchentür. Mike Rosengard schaute auf. »Hi, Chief.« »Mike? Was machst du denn hier?« »Also, zunächst einmal finde ich jede Menge glatte Handschuhabdrücke.« Er beugte sich über die Spüle und wirkte aufs Äußerste konzentriert, während er mit einem Pinsel blaues Fingerabdruckpulver auf den Wasserhahn und die Griffe auftrug. Er hatte eine Stirn wie aus poliertem Granit und dichtes, dunkles Haar mit einer vorzeitig ergrauten Strähne, so als sei aus einem bestimmten Bereich seines Gehirns ein besonderer Kummer aufgestiegen. Er trug den obligaten Anzug mit Krawatte, makellos gebügelt. »Wer das gemacht hat, der kennt sich mit den Methoden der Spurensicherung aus. Scheiße. Ich hasse das.« »Als ob ich nicht schon genug Sorgen hätte.« »Ich hab das mit den Zähnen gehört. Hunter hat mich informiert.« »Hat er dir auch von den Splittern und allem anderen erzählt?« »Ja, alles, die ganze Latte.« Charlie hörte, wie der Wind melancholisch durch die freigelegten Dachbalken pfiff. »Ich weiß, du hast gesagt, ich soll mir die Woche freinehmen, Chief, aber was soll ich machen? Rumsitzen und Däumchen drehen, während hier der Teufel los ist?« Vor elf Jahren war Mike aus Boston zugezogen, wo wirklich was los war. Dort passierten echte Verbrechen, nicht nur mickrige Drogendiebstähle und Einbrüche und Ehekräche, bei denen die Beteiligten einem hinterher bald diese, bald jene Version auftischten. Charlie hatte sich schon oft Sorgen gemacht, sein bester Detective könnte sich angesichts von nur einem Dutzend Tötungsdelikten pro Jahr langweilen; jetzt aber 74
sah alles nach einem rätselhaften Fall aus, an dem sich auch ein Kriminaler aus Boston die Zähne ausbeißen konnte. »Wo bist du und deine Familie eigentlich untergekommen?«, erkundigte sich Charlie. »Bei meinem Schwager. Wir mussten absprechen, wer sein Auto wo hinstellt und wer wann duschen darf. Ich komme mir vor wie in einem Studentenwohnheim.« Er kratzte sich die Stirn, und ein Fleck aus blauer Asche blieb in der Mitte zurück wie ein drittes Auge. »Ich habe gestern Abend versucht, die Jungs zu beruhigen, aber Sammy hat nicht aufgehört zu weinen. Trotzdem, ich kann mich nicht beklagen. Wir haben ein Dach über dem Kopf und drei Mahlzeiten pro Tag. Wir sind dankbar, dass wir noch am Leben sind.« »Wenn ich irgendwas für dich tun kann …«, sagte Charlie. »Egal was.« »Danke, Boss.« Er streckte die Arme aus, und Charlie bemerkte, dass die Ärmel seines grauen Anzugs zwei Fingerbreit zu kurz waren. Der Schlips war blau mit grünen Punkten. Mike lächelte. »Tja, was bleibt einem übrig. Ich nehm’s mit Humor.« »Ich kann dir ein paar Krawatten borgen. Aber meine Anzüge werden dir nicht passen.« »Die Krawatten nehm ich gern«, sagte Mike. »Die hier ist noch die konservativste, die mein Schwager besitzt.« »Der Täter hat also Handschuhe getragen?«, fragte Charlie. »Was bedeutet, dass es ein vorsätzliches Verbrechen war.« »Multiple Stichwunden, da steckt Wut dahinter. Das ist was Persönliches.« »Er hat also die Opfer gekannt?« »Das wissen wir noch nicht.« »Vorsatz, dazu die Bösartigkeit der Angriffe – lässt das nicht den Schluss zu, dass er sie gekannt hat?« 75
»Möglich ist es natürlich.« Charlie öffnete den Kühlschrank und inspizierte den Inhalt: Tupper-Behälter mit undefinierbaren Resten, ein Teller mit hart gewordenen Bratkartoffeln, ein Stück Zitronenbaisertorte, mit Alufolie abgedeckt. Er machte die Tür wieder zu. Dabei fielen ihm die Magnete an der Tür auf – Oscar the Grouch, ein Smiley mit einem Einschussloch in der Stirn, ein phosphoreszierender »Erde aus dem All« -Magnet. Sie waren symmetrisch angeordnet, bis auf eine Stelle in der Mitte, wo anscheinend einer fehlte. Er speicherte diese Information in einem Winkel seines Gehirns. »Sobald du ein bisschen Luft hast«, sagte er, »möchte ich, dass du deine Kumpels drüben beim National Weather Service anrufst und dir einen möglichst vollständigen Bericht über den Tornado geben lässt.« »Gute Idee«, sagte Mike. »Wenn man an die vielen Sturmjäger mit ihren Digitalkameras denkt.« »Auch das Regionalfernsehen. Die hatten doch scharenweise Leute draußen, die versucht haben, den Tornado auf Band festzuhalten. Vielleicht haben wir ja längst das Auto des Täters auf Film und wissen es nur noch nicht.« Mike nickte. »Fabrikat und Modell. Nummernschilder.« »Zumindest können wir auf diese Weise noch ein paar Zeugen auftreiben.« Die Glassplitter auf der Fensterbank glitzerten in der Sonne. Der hereinragende Ast hatte die Vorhänge mit ihrem schlichten Muster von hin und her laufenden Pferden zerrissen, und der Putz rings um den Fensterrahmen war rissig und teilweise herausgebrochen. Die Arbeitsplatte hatte sich unter einer Welle von Schlamm und Regen verzogen. Charlie konnte sich Rob Pepper draußen im Garten vorstellen, wie er die Bäume mit einer verlängerten Gartenschere und einer Säge zurückstutzte. Er war ein umgänglicher, fleißiger Mann gewesen, dessen Ehrgeiz an seiner eigenen Grundstücksgrenze endete, während Jenna sich offenbar mehr vom Leben erträumte. Sie hatte immer 76
diesen entrückten Ausdruck in den Augen. Die Frage war: Hatte Rob gewusst, dass sie ihn betrog? Noch dazu mit einem Teenager? Über den Feldern hinterm Haus rüttelte ein Habicht und stieß dann im Sturzflug herab. »Man kommt von hier ziemlich schnell zur Landstraße«, sagte Charlie. »Auf der Strecke von der Eisenbahnlinie zur Landstraße liegen ungefähr zehn bis zwölf Farmhäuser, alle ein Stück zurückgesetzt.« »Womit geklärt ist, warum niemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist. Kein verdächtiges Fahrzeug, kein seltsames Verhalten.« Er holte rasch Luft. »Duff meint, es ist gar nicht so schwer, ein Messer aus Holz zu schnitzen. Er hat mir erklärt, wie man das macht.« »War das die Mordwaffe? Ein Messer aus Holz?« Hölzerne Messer, Dolche, Splitter, Dorne, Speere, Latten … Man würde einen neuen Ausdruck erfinden müssen. »Wir haben acht einzelne Bruchstücke gefunden, die zu Waffen umfunktioniert worden sind. Eine Geländerstange, Stuhlbeine, Zaunlatten und so weiter. Sie waren fachmännisch bearbeitet worden. Wenn wir nicht jedes Stück genau untersucht hätten, wäre uns das womöglich entgangen.« »Ja, aber … Kann man mit einer Holzklinge wirklich einen menschlichen Körper durchbohren?« »Duff meint, die Opfer wurden zunächst bewusstlos gemacht. Dann geht es leichter. Man muss dann nur durch Probestiche eine Stelle finden, wo keine Knochen im Weg sind.« Mike legte den Pinsel weg. »Mit was für einem perversen Schwein haben wir’s da zu tun?« Charlie massierte sich mit den Daumen die Schläfen. »Die Röntgenaufnahmen zeigen stumpfe Verletzungen. Frakturen, Risse, Abschürfungen. Wir glauben, dass er die Opfer mit einem 77
Schlag auf den Kopf betäubt hat … Aber gestorben sind sie letztlich an den Stichwunden. Jenna ist an einer Blockade der Atemwege gestorben, die anderen beiden sind verblutet.« Mike schaute ihn mit großen Augen an. »Und womit hat er sie bewusstlos geschlagen? Mit einem Brett? Einem Baseballschläger?« »Duff hat in einigen der Abwehrverletzungen Holzsplitter mit ungleichmäßigen, gezackten Rändern gefunden.« »Holzsplitter?« »Vielleicht von einem Scheit.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Ein Holzscheit mit einem Astknoten am einen Ende kann wie ein Keule wirken. Das Gewicht des Knotens verleiht dem Schlag mehr Wucht.« Charlie nickte. »Das Ding könnte hier noch irgendwo rumliegen.« »Ist dir klar, was das bedeutet?« Mike sah ihn an. »Es bedeutet, dass er die Waffen mitgebracht hat. Er hat gewusst, dass gestern Nachmittag ein Tornado genau hier durchziehen würde. Irgendwie hat der Scheißkerl das gewusst.« »Lass noch mal alles genau absuchen, nach Planquadraten. Und dabei besonders nach einem Holzscheit Ausschau halten, an dem Blut oder Hirngewebe klebt.« Charlie mochte im Grunde nicht wahrhaben, was das bedeutete, und seufzte tief, als hätte er eine Zeit lang die Luft angehalten. »Wo ist Lester?«, fragte er. »Oben. Er nimmt mit dem Staubsauger Haare und Fasern auf.« »Schaut Hunter ihm auf die Finger? Diesmal darf uns auch nicht die kleinste Faser durch die Lappen gehen.« »Ja, Boss. Er sitzt Lester schon den ganzen Vormittag im Nacken.« Charlie ging zur Treppe. Lester war manchmal ziemlich nachlässig, was das Sammeln von Beweisstücken betraf, und 78
Charlie wusste, wie sehr es ihm gegen den Strich ging, dass er nicht das uneingeschränkte Vertrauen seines Vorgesetzten besaß, aber so war es nun mal, wenn man ein fauler Kerl war, der seine glorreiche Football-Vergangenheit nicht vergessen konnte. Die Spannungen zwischen ihnen hatten sich in letzter Zeit verschärft, genau genommen seit Lesters Beförderung im vergangenen Jahr. Eigentlich war Mike der aussichtsreichste Kandidat für den Posten des stellvertretenden Polizeichefs gewesen, aber dann hatte prompt die Politik ihr hässliches Haupt erhoben. Es hatte sich herausgestellt, dass Lester mit dem Bürgermeister verwandt war. Charlie wollte Mike haben, Bürgermeister Whitmore wollte Lester. Preisfrage: Wer hat gewonnen? Charlie mochte es nicht, wenn man ihm die Pistole auf die Brust setzte, und so gab es jetzt Ressentiments auf beiden Seiten. Im ersten Stock knarrten die Dielen vor Altersschwäche. Er fand Lester in Danielles Zimmer mit dem handgemalten Kornblumenmuster an den Wänden und den nach Osten gehenden Fenstern. Bei schönem Wetter war es wahrscheinlich das freundlichste Zimmer im ganzen Haus gewesen. Lester saß mit dem Rücken zur Tür zusammengesunken auf dem Bett. »Lester?« Er stand auf, den Handstaubsauger in der Hand. Seine Augen waren blutunterlaufen, als hätte er in letzter Zeit nicht viel geschlafen. »Hey«, sagte er teilnahmslos. »Mein Gott, Lester … kann ich mich auf Sie verlassen?« Er runzelte die Stirn. »Natürlich, Chief.« »Tun Sie einfach, was Hunter Ihnen sagt, okay?« Er schien gekränkt. »Ja, natürlich, was denn sonst?« Plüschtiere schmückten das ungemachte Bett – die billige Sorte, Made in Taiwan. Charlie musterte die umfangreiche Sammlung von Porzellanpuppen, und ihre ernsten Augen taxierten ihn ihrerseits. Auf dem überladenen Schreibtisch stand 79
ein Plexiglaswürfel mit Fotos, Bilder aus Danielles Bibelfreizeit. Sie trug ein »Jesus Luvs U« -T-Shirt und blinzelte unbefangen lächelnd in die grelle Sonne. Auf dem Nachttisch lag ein Stapel Rock-Kassetten neben einem großen Radiorekorder, und Charlie untersuchte auch diese Gegenstände. Sein Atem ging flach. Irgendjemand, da war er sich sicher, war vor kurzem in diesem Zimmer gewesen, jemand, der hier nichts zu suchen hatte. Ein Fremder war hereingekommen und hatte den Kassettenstapel geordnet. Ein verrückter Gedanke, aber er konnte ihn nicht abschütteln. Der Stapel war einfach zu ordentlich für einen Teenager. »Haben Sie diese Kassetten angefasst, Lester?« »Nein, Sir.« »Bestimmt nicht?« Lester reagierte auf den verkappten Tadel mit einem angestrengten Lächeln. »Nein, Boss. Warum?« »Saugen Sie den ganzen Bereich sorgfältig nach Haaren und Fasern ab. Und Finger weg von den Kassetten. Sagen Sie Mike, er soll sie einstäuben, um eventuell vorhandene Fingerspuren zu sichern. Verstanden?« Lester legte die Stirn in Falten. »Warum trauen Sie mir nicht, Chief?« In dem nun folgenden Schweigen hörte man das Tuckern des Generators hinter dem Haus. Statt zu antworten, stellte Charlie ihm eine Gegenfrage: »Woher stammte das Blut?« »Was für Blut?« »Das an Ihren Händen gestern, als ich hier angekommen bin. Sie hatten Dreck an Ihren Klamotten und Blut an den Händen.« »Da muss ich wohl die Leiche angefasst haben … das Mädchen, Danielle.« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß schon, dass man nichts anfassen soll, aber ich musste mich ja davon
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überzeugen, dass sie wirklich tot war, Chief. Vielleicht hab ich auch die Matratze berührt.« Charlie nickte zögernd. »Okay, dann hab ich’s halt vermasselt. Ich weiß, man soll nichts anfassen, aber in dem Moment wusste ich ja noch nicht, dass sie alle tot waren.« »Aber als ich kam, da haben Sie’s schon gewusst.« »Hm?« »Als ich ins Schlafzimmer kam, hab ich Danielles Leiche in der Ecke gesehen, aber Rob war nicht zu sehen. Der ist durch die Decke gekracht, während ich da stand.« »Ich hab ihn gesehen, Chief. Die Decke war ja weg, und ich hab mit der Taschenlampe nach oben geleuchtet und einen Körper oben zwischen den Balken gesehen. Außerdem hab ich Jen … Jenna in dem Baum gesehen.« Sein Blick bekam einen harten Ausdruck, so als hätte er sein Leben lang noch nie gelacht. »Mein Gott, es war schrecklich.« »Was haben Sie denn gestern überhaupt hier gemacht?«, fragte Charlie. »Sie hatten doch einen freien Tag.« »Ich war unterwegs, auf der Sturmjagd«, sagte er bockig. Er wirkte müde. »Ich fuhr auf der Interstate Richtung Norden, und direkt über mir waren riesige Gewittertürme, und irgendwann ist mir durch den Kopf gegangen: ›Mann, woher kommen die vielen Blätter, die da durch die Luft fliegen?‹ Bloß dass es keine Blätter waren, es waren Autoreifen oder Baumäste und so Zeug. Dann seh ich ein Auto, das über ein Feld gewirbelt wird, und ich denk mir: ›Heilige Scheiße! Jetzt musst du sterben.‹ Ich bin bestimmt hundert gefahren. Ich hab die Ausfahrt Shepherd Street genommen, und so bin ich hierher gekommen.« »Sie sind also umgekehrt und hierher gefahren?« »Auf der 412 nach Osten. Ich bin bei der Ausfahrt Shepherd Street raus und hab die Bescherung hier gesehen. Da hab ich 81
angehalten und versucht, mich nützlich zu machen. Ich dachte, ich könnte …« Er schüttelte den Kopf, die weich bewimperten Augen voller Bedauern und noch etwas anderem. Irgendetwas, was Charlie nicht definieren konnte. »Sie haben die Peppers gekannt, stimmt’s?« Er nickte ruckartig. »Ich hab das von Jake Wheaton gehört«, sagte er. »Ich wäre bei der Vernehmung gern dabei.« »Das machen Mike und ich.« »Ich würde aber gern dabei sein«, beharrte er. »Wir werden sehen.« Charlie klopfte ihm auf den Rücken und beschloss, seine Fragen vorerst zurückzustellen. »Also dann erst mal viel Erfolg hier.« »Was haben Sie jetzt vor, Chief?« »Ich werde mit einer Windexpertin reden.«
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9 Das Windtechnologische Institut war im zweiten Kellergeschoss des Umweltforschungslabors am Dryden Technical College in Montoya, Oklahoma, untergebracht. Charlie betrat die bulldozergelbe Empfangshalle, fuhr mit einem Lastenaufzug zwei Stockwerke tiefer und ging durch lange, mit grauem Teppich ausgelegte Korridore in den Bereich, wo sich die verschiedenen Versuchsanlagen befanden – der Wasserschleppkanal, die Aufpralltestanlage und die Windkanäle. Die Luft hier unten war unangenehm kühl und trocken, und ein seltsames Summen von den vielen Generatoren des Gebäudes drang durch die Wände. »Vorsicht, Stufe«, sagte Rick Kripner, als sie gemeinsam den Windkanalbereich betraten. Rick, Anfang dreißig, hatte den steifen Gang, der auf eine disziplinierte Erziehung schließen lässt, und wirkte hochgradig zerstreut. Wie die meisten Naturwissenschaftler sammelte er Stifte und Kugelschreiber. Sie hatten schon zweimal miteinander zu tun gehabt, und jedes Mal hatte Rick überaus freundlich und sachkundig über den Schutz vor Tornados referiert, aber Charlie war diesmal nicht seinetwegen gekommen. »Sie muss jeden Moment kommen«, sagte Rick. »Höchstens zehn Minuten. Wir machen gerade einen Testlauf.« Er sprach mit sanfter Stimme und klopfte suchend die Taschen seines Laborkittels ab. »Hier entlang, Chief.« Durch einen schmalen Gang, in dem Rohre und Kabel verlegt waren, gelangten sie in den hinteren Teil des Gebäudes, wo ein riesiger, aus Metall erbauter Windkanal auf sechs Meter hohen Stelzen unter der zwanzig Meter hohen Decke stand. Charlie sah mindestens noch zwei andere Kanäle innerhalb der lagerhausgroßen Anlage – das Gebäude hatte gewaltige 83
Dimensionen – und stieg dann hinter Rick über eine weiß gestrichene Leiter in einen von Glasscheiben umgebenen Kontrollraum hinauf. Rick setzte sich an eine Konsole und betätigte verschiedene Schieber und Knöpfe. »Könnten Sie bitte die Tür schließen?« Charlie machte sie zu, und das Summen wurde schlagartig schwächer. Er setzte sich auf einen der kalten Klappstühle aus Metall und schaute sich um. Der Windkanal hatte auf der ganzen Länge Beobachtungsfenster, und er konnte Willa Bellman jetzt klar und deutlich durch die Scheiben sehen. Sie stand im Versuchsbereich und machte sich am maßstäblich verkleinerten Modell eines Hochhauses zu schaffen. Sie trug ein extrakleines weißes T-Shirt unter dem obligatorischen Labormantel, schwarze Ballerinaschuhe und eine Khakihose mit kurzen silbernen Reißverschlüssen über den Taschen und an den Hosenbeinen. Ungewöhnlich. Ihm gefiel ihr ausgefallener Geschmack. »Rate mal, wer da ist«, sagte Rick. »Komme gleich«, antwortete Willa, ohne aufzuschauen, und Charlie begriff, dass die Sprechfunkanlage eingeschaltet war. »Lassen Sie sich ruhig Zeit«, sagte Charlie, und seine Stimme hallte von den Betonwänden wider. Willa: geschmeidig, hübsch, Anfang dreißig, mit Porzellanhaut und neugierigen blauen Augen, außerdem mit einem schwarzen Lockenkopf und einem so ausgewogenen Knochenbau, dass Charlie sich an eine seltene Katzenrasse erinnert fühlte. Vor sechs Monaten hatten sie einen ganzen Nachmittag zusammen im Außenlabor verbracht und über Tornado-Notfallmaßnahmen gesprochen. Das Außenlabor bestand aus einem fünfzig Meter hohen Wetterturm und einem Datensammelraum, in dem sie so nahe beieinander gearbeitet hatten, dass er sich noch an einige ihrer Düfte erinnern konnte – Erdbeershampoo, Pfefferminzpastillen, ein leicht nach 84
Mottenkugeln riechender Pullover, der so steif war, dass er wahrscheinlich von allein stehen konnte. »Ich hab Sie heute Mittag im Fernsehen gesehen«, sagte Rick. Charlie nickte, veränderte aber seinen Gesichtsausdruck nicht. »Die sind also ermordet worden?« »Ich kann noch nichts Näheres sagen.« »Ja, ich verstehe schon.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich weiß nicht, wie Sie das schaffen, Chief. Ständig mit Leichen zu tun zu haben. Mir wird schon ganz anders, wenn jemand Nasenbluten hat.« Er zuckte die Achseln. »Das gehört nun mal zu meiner Arbeit.« »Und das hier gehört auch dazu? Dass Sie hierher kommen?« Er beugte sich vor. »Ich würde mich nämlich freuen, wenn ich Ihnen irgendwie helfen könnte. Falls Sie irgendwas über Tornados wissen wollen, bin ich Ihr Mann.« Charlie war an übereifrige Bürger gewöhnt, die ihm ihre Hilfe aufdrängen wollten. Er schaute auf die Uhr und sagte: »Dann erzählen Sie mir mal was über die Windkanäle.« Rick machte eine Kopfbewegung zu der Scheibe hin. »Was Sie da sehen, ist ein wunderhübsches Maschinchen. Die von einem B-39-Flugzeugpropeller erzeugten Luftströme gehen durch diesen Abschnitt da. Die Windgeschwindigkeiten können bis zu hundertzwanzig Meilen pro Stunde erreichen, und wir können alle möglichen atmosphärischen Kuriositäten reproduzieren … thermische Inversionen, Luftschichtungen, was Sie wollen.« Zehn Meter von ihnen entfernt versuchte Willa, das Modell auseinander zu schütteln. Sie gab ein gereiztes Knurren von sich. »Rrrrr! Scheiße!« »Sachte«, sagte Rick. »Vergiss nicht, wir sind nicht allein.« »Wie reagieren denn die Drucksensoren?«, fragte sie. 85
Er tippte etwas in seinen Computer ein. »Ganz einfach: überhaupt nicht.« »Nichts?« »Nada. Null.« »Jesus liebt mich«, murmelte sie leise. Charlie lächelte. Er konnte es nicht leiden, wenn Schweiß auf seine Stirn trat. Vor sechs Monaten. Warum hatte er nicht angerufen? »Ich bin nicht zufrieden mit diesen Sensoren«, sagte sie. »Überhaupt nicht zufrieden.« Sie verstellte einiges an der Nordfassade des Modells, dann seufzte sie frustriert. »Was tun, Rick?« »Weiß nicht. Verlangen, dass Gordo sie noch mal macht?« »Ich hab endgültig die Nase voll davon, immer wieder warten zu müssen, dass Gordo endlich mit seinem Zeug rüberkommt! Es fehlen mindestens hundert Sensoren. Ich wollte das so präzise wie möglich machen.« Sie hob das Modell hoch und schüttelte es. »Vorsicht. Das Ding könnte dich ein Auge kosten.« Sie stellte den Wolkenkratzer wieder hin, streifte ihre Schuhe ab und kam in Strümpfen über den glatten Fußboden auf sie zu. »Das ist doch zum Kotzen!« »Immer mit der Ruhe.« Er schaltete die Sprechanlage aus und lehnte sich zurück. »Sie ist eine Perfektionistin. Ihre Daten sind fundiert, aber es dauert natürlich alles zu lange. Das wäre nicht weiter schlimm, aber wir haben leider einen knappen Termin bei diesem subventionierten Projekt. Ich höre schon Jacobs: ›Was soll das heißen, Sie konnten den Test nicht abschließen?‹« Er klopfte wieder seine Taschen ab. »Schlüssel, wo seid ihr?« »Jacobs?«, fragte Charlie. »Ja, Professor Jacobs. Der Typ, der den Zoo hier leitet.« 86
Willa kam in den Kontrollraum geplatzt, die Augen wach, die Wangen rosig. »Ah, hi«, sagte sie. »Hallo, Chief.« Sie gab ihm die Hand. »Lange nicht gesehen.« »Charlie«, korrigierte er sie. »Okay, Charlie. Ha. Mein Freund Charlie, der Polizist.« Sie schenkte ihm ein breites, schiefes Lächeln und warf einen ledernen Aktenkoffer auf den Konsolentisch. »Tust du mir einen Gefallen, Rick?«, sagte sie und zog einen unordentlichen Stapel Akten heraus. »Würdest du diese Aufprallstatistiken für mich fertig machen? Ich bin so weit zurück, dass es schon nicht mehr schön ist.« Er lehnte sich im Sitzen bedenklich weit zurück. »Nur, wenn du am Freitag für mich einspringst.« »Klar, kein Problem.« »Abgemacht?« »Freitag.« Er nahm die Akten von ihr entgegen – eine ganze Menge Material – und klemmte sie sich unter den Arm. »Aufprallstatistiken?«, wiederholte Charlie. »Wir testen eine neue Produktlinie«, erklärte sie. »Hier schneien andauernd irgendwelche Kunden herein, die ihre überirdischen Tornado-Schutzbauten und Schutzräume zertifiziert haben wollen. Diese Firma nennt sich Schott Industries …« »Schitt würde besser passen«, murmelte Rick. »Ja, genau. Du bist ja heute so witzig.« Sie lachte und warf dann Charlie einen so ernsten Blick zu, dass sein Herz einen Moment lang ins Stolpern geriet. »Im Ernst, dieses Produkt dürfte eigentlich nie auf den Markt kommen, Charlie. Angeblich schützt es den Käufer vor jeder bekannten Art von Sturmschäden, aber ich schwöre bei Gott, es bräuchte bloß eine Maus drauf furzen, und puff!« 87
»Richtig feminin, meine Kollegin, was?«, sagte Rick stolz. »Wir bilden im Grunde genommen die letzte Verteidigungslinie.« »Da seid ihr ja, ihr Schelme.« Rick schnappte sich seinen dicken Schlüsselbund von der Konsole. »Direkt vor meiner Nase.« »Wo willst du hin?«, fragte ihn Willa. »Ich bin in meinem Büro, falls das irgendwen interessiert. Bis zum Hals in Papierkram, werde ich mein Thunfisch-Sandwich verspeisen.« »Hör auf zu jammern«, sagte sie. »Dafür kannst du dir Freitag freinehmen. Ach, fast hätt ich’s vergessen, das da brauche ich bis fünf Uhr, okay?« »Ja, das lässt sich machen.« Er wandte sich an Charlie. »Hat mich gefreut, Sie wieder mal zu sehen, Chief.« »Ja, ganz meinerseits, Rick.« Rick ging hinaus, und plötzlich waren sie zu zweit allein. Einen Moment lang herrschte eine Verlegenheit zwischen ihnen, die sie besser überspielte als er. Er wusste nicht, wohin mit seinen Händen. Er steckte sie in die Hosentaschen, dann kippte er seinen Stuhl so weit nach hinten, dass er gegen die Wand stieß. »Cola gefällig?« Sie schlang ihr lockiges Haar zu einem Knoten. Ein paar Strähnchen hingen als feine Schleier über ihre Ohren – Ohren, die so gerundet und perlmuttern waren wie die Innenseite einer Mondschnecke. »Wir nennen es hier unser Anti-Schlaf-Tonikum.« »Ja, könnte ich jetzt gut brauchen.« Sie öffnete den Minikühlschrank, holte schwungvoll zwei Dosen heraus, riss die Verschlüsse auf und gab ihm eine. Ihre Finger berührten sich kurz, und er sah, dass ihre Augen grau waren und nicht blau. Grau wie die Abenddämmerung, ohne 88
irgendwelche Pünktchen oder Glanzlichter. Gut möglich, dass man sich in diesen dämmerungstiefen Augen verlieren konnte. »Ich war gestern dort«, eröffnete sie ihm. »In Promise.« Das holte ihn in die Wirklichkeit zurück. »Ich war hinter richtigen Dreckschleudern von Gewittern her, oben im Norden, und als ich tanken musste, bekam ich die Tür kaum auf, so stark war der Wind.« Sie fröstelte und band den Gürtel ihres Kittels enger. »Die Eiseskälte sagte mir, dass ich nördlich von der Kaltfront war und weiter runter nach Süden musste, um den kräftigen Südwind auf dem Gesicht zu spüren. Und zu sehen, wie er auf die Kaltfront prallt. Ich kam gerade noch rechtzeitig. Der Tornado hatte das klassische verdrillte Aussehen. Ich würde sagen, es war ein F-3. Die Schäden waren jedenfalls entsprechend.« »Ja, es war ziemlich schlimm.« »Wir haben von den Morden gehört. Muss ja ein furchtbarer Tag für Sie gewesen sein.« Sie nickte ihm mitfühlend zu. »Wie geht’s Ihrer Tochter?« »Gut, danke.« Sie erinnerte sich also noch an ihre Unterhaltung vor sechs Monaten. Das ließ hoffen. »Meine Mutter ist gestorben, als ich elf war«, sagte sie. »Das kann schon ein schwerer Schlag für ein junges Mädchen sein.« »Sie kommt ziemlich gut damit klar.« »Das täuscht, Charlie, glauben Sie mir.« Bis auf ihre Augen war ihr Gesicht reglos. »Aber was führt Sie heute zu mir?« »Ich wollte mich mit Ihnen ein bisschen übers Wetter unterhalten.« Sie runzelte die Stirn und ließ sich tief in ihren Sessel rutschen. »Schießen Sie los.« »Ich muss unbedingt wissen, ob ein Sturmjäger halbwegs genau vorhersehen kann, wann und wo ein Tornado zuschlagen wird.« 89
Sie legte die Stirn in Falten. »Wenn wir genau vorhersagen könnten, wo ein Tornado durchziehen wird, würde das Ganze nur halb so viel Spaß machen. Deshalb heißen wir ja Jäger, Charlie. Wir mögen es spannend. Wir lieben das Spiel.« »Es ist also ein Ratespiel?« Sie legte den Kopf in den Nacken und trank. Ihr Adamsapfel trat hervor wie der Knöchel eines abgewinkelten Fingers. »Die Meteorologie ist keine exakte Wissenschaft, aber Mutter Natur gibt uns ein paar Tipps. Beispielsweise gilt: Je besser organisiert ein Unwetter ist, desto schwerer wird es wahrscheinlich werden. Und da Tornados oft zusammen mit starken Unwettern auftreten, ist das zunächst mal das Ziel. Dass man ein gut organisiertes Unwetter findet.« »Und wie geht man da vor?« Ihr Gesicht entspannte sich. »Man steht früh auf und hört sich die Wettervorhersage an.« »Und das wär’s schon?« »Nein.« Sie lächelte. »Als Nächstes geht man online und sieht sich die mit Hilfe von Computermodellen erstellten Vorhersagen an. Man studiert die Analysen, um festzustellen, wie die Luftmassen strukturiert sind. Dann schaut man sich noch die Satellitenfotos und Radarbilder an und entwirft seine eigene Vorhersage.« »Und wie geht das genau?« Sie legte die Arme auf die Plastiklehnen ihres Sessels und ließ die Hände herabhängen, die Finger leicht gekrümmt. Katzenpfoten. In seiner Nähe war sie entspannt wie eine Katze. »Also gut, zurück zu den Grundlagen«, sagte sie. »Drei Dinge braucht man, um einen Tornado zu erzeugen, Charlie. Genügend Feuchtigkeit, Dynamik, damit die Luft hochgerissen wird, und Strahlströme, die eine Rotation begünstigen. Jedes FernfahrerRasthaus hat heute eine Telefonbuchse, wo man seinen Laptop 90
anschließen und sich Wetterdaten aller Art runterladen kann. Jeder kann online gehen und sich die Strukturen an der Oberfläche und in den oberen Luftschichten ansehen, aber man muss was von Meteorologie verstehen, um sich einen Reim drauf machen zu können. Als Erstes kontrolliert man die harten Daten. Und wenn die Jagd begonnen hat, hält man die Augen offen und verfolgt, was sich so am Himmel tut.« »Angenommen, ich hab meine vorläufige Vorhersage. Wie geht’s dann weiter?« »Sie postieren sich unter einem schweren Unwetter und warten ab.« »Ich warte ab, sonst nichts?« »Sie bleiben, wo Sie sind. Und warten.« »Und? Worauf genau muss ich achten?« Sie kicherte. »Sie sagen ziemlich oft ›genau‹.« »Ach ja?« »Allerdings.« Er lächelte. Sie lächelte. »Wall Clouds. Gewittertürme. Ambosse. Sie achten auf Instabilität, Bewegung, Rotation. Manchmal ist der Himmel so dunstig, dass man die Hand vor den Augen nicht sieht. Dann wieder gibt es so viele Luftmassengrenzen, dass man einfach nicht weiß, wohin man fahren soll, weil jede Richtung etwas für sich hat. Aber wenn man Glück hat und etwas Interessantes entdeckt, dann legt man einen Abfangkurs fest.« »Das sagt Captain Kirk immer.« Sie lachte. »Verwirre ich Sie?« »Ein bisschen schon.« »Sie haben keine Ahnung von der Materie, oder?«
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Er zuckte die Achseln. »Mein Vater hat mich mal auf die Jagd mitgenommen. Es war ein Desaster ohne mildernde Umstände.« »Ohne mildernde Umstände?« »Ein Fiasko.« »Was ist passiert?« »Wir haben uns in eine Sackgasse manövriert. Überschwemmungen, Gewitter, Hagel. Wir hatten fast kein Benzin mehr, als ein furchtbarer Sturm aufzog.« Sie lächelte. »Klingt doch gut.« »Ja, genau. Selten so gelacht.« »Was für einen Wagen fährt er denn?« »Einen grauen Loadmaster Pick-up, circa 1951.« Ihre Augen leuchteten auf. »Trägt immer einen Cowboyhut? Weiße Haare? Einer von diesen hartgesottenen Jägern, die auf Technologie pfeifen und grundsätzlich aus dem Bauch heraus entscheiden?« »Sie kennen ihn?« »Ich hab ihn öfter mal gesehen, ja.« Sie lächelte und biss sich auf die Unterlippe. »Ich bewundere ja diese zähen alten Knaben. Einige der besten Jäger, die ich kenne, verzichten auf das ganze Drumherum und folgen einfach ihrer Nase.« »Und wie machen Sie’s?« »Ich? Hm. Ich halte viel vom Drumherum.« Es funkte. Es funkte gewaltig. Ihm wurde Angst und Bange. »Und wie sind Sie dazu gekommen?«, fragte er. Er bekam langsam feuchte Hände. »Ich bin in Texas aufgewachsen. Rote Erde, Sandstürme, was Sie wollen. In unserem Kaff war nicht viel los. Bloß Kirche, Filmmatineen und Storm-Chasing.« »Also sind Sie ziemlich früh auf den Geschmack gekommen?« »Ich geb’s zu. Ich bin ein Adrenalin-Junkie.« 92
»Gehen Sie oft auf die Sturmjagd?« »So oft ich kann.« Sie lächelte ihn weiter herzlich an. »Im Grunde genommen gibt es keine festen Regeln, Charlie. StormChasing ist eine Kunst.« Er schwenkte seine Cola in der Dose; er wollte noch nicht gehen. Er wollte sie fragen, ob sie mit ihm ausgehen würde, brachte aber nicht den Mut auf. Manche fühlten sich von seinen Narben abgestoßen. Er sah es ihnen an den Augen an. Er wollte es nicht in ihren sehen. Auf der Wache krempelte er manchmal die Ärmel hoch, um Straßen-Punks mit seinen Narben einzuschüchtern, ihnen ihre Selbstgefälligkeit auszutreiben; aber bei Frauen wusste man nie. Nachdem Maddie gestorben war, hatte er ein paar kurze Liebesaffären gehabt – wenn man es überhaupt so nennen konnte –, vom Alkohol beflügelte Begegnungen mit Sekretärinnen, die in Bars herumhockten, und nicht mehr ganz jungen Verkäuferinnen. Torkelnd mit zu ihr. Nervöses Gefummel an Knöpfen. Whiskeyfahne. Und jedes Mal konnte er es kaum erwarten, wieder wegzukommen. Es tat ihm Leid, dass er sie nicht noch einmal angerufen hatte hinterher, nicht einmal aus bloßer Höflichkeit. Er wollte eigentlich keiner dieser Mistkerle sein. »Also sind Sie Ihr Leben lang noch nie auf Sturmjagd gewesen?«, fragte sie und zog eine Augenbraue hoch. »Muss ich mich dafür entschuldigen?« Eine dunkle Rötung stieg von ihren Schlüsselbeinen nach oben. »Es würde Ihnen gefallen, Charlie. Im Ernst. Es reißt einen einfach mit, wenn der Himmel, der gerade noch friedlich war, plötzlich explodiert und die Straße einem auf einmal so schmal vorkommt … Man jagt dem Schwanz des Drachen nach … Hagelkörner tanzen auf der Fahrbahn … Gewaltige Blitze fahren aus der Wall Cloud herab und zu ihr hinauf …« »Klingt überwältigend.« »Ist es auch.« Sie schaute auf ihre Uhr. 93
»Halte ich Sie auf?« »Ja, aber auf höchst angenehme Art.« Ein elektrischer Strom schien durch den Raum zu gehen. Aber Charlie war geübt darin, den Ball fallen zu lassen. »Eine Sache noch«, sagte er. »Kennen Sie irgendjemanden, der wirklich gut ist im Aufstöbern von Tornados? Ich meine, außergewöhnlich gut?« Sie trank einen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Ich kenne niemanden, der in der Lage wäre, halbwegs zuverlässig vorherzusagen, wann oder wo ein Tornado zuschlagen wird.« Einen Moment lang sahen sie einander an. Ihre Augen waren groß und neugierig, nahmen alles in sich auf, und ein Glücksgefühl durchströmte ihn. Er stand auf und stellte die leere Coladose auf die Sitzfläche des Stuhls. »Tja, also dann … danke für Ihre Hilfe.« »Danke? Ist das alles?« Ein merkwürdiges Lächeln teilte ihre Lippen. »Wieso auf einmal so förmlich? Wissen Sie was, Charlie? Ich würde Sie schrecklich gern demnächst mal auf Sturmjagd mitnehmen. Sie in das Spiel einweihen. Auf die Art könnten Sie sich selber überzeugen, wie unberechenbar das ist.« »Vorsicht. Ich könnte Sie beim Wort nehmen.« »Sie wissen ja, wo Sie mich finden.« Er spürte, dass verschiedene Empfindungen zwischen ihnen schwangen, und das machte ihm Angst. Ein unbehaglicher Moment, aber auch schön. Das letzte Mal hatte er sich so gefühlt, als Maddie noch lebte. Als er und Maddie das erste Mal miteinander schliefen, hatte sie ihn unbedingt ausziehen wollen, und er hatte beharrlich ihre Hände abgewehrt. Er zog sich die Schuhe aus – nur die Schuhe –, legte sich vollständig angezogen aufs Bett und drückte sich lange Zeit an sie, wollte sich nicht von ihr anschauen lassen. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, und sie öffnete sie langsam und vorsichtig und küsste 94
seine feuchten offenen Handflächen. Sie nahm seinen Mittelfinger in den Mund und lutschte ganz sacht daran, und schließlich ließ er es zu, dass sie sein Hemd aufknöpfte, ihm die Jeans auszog, seine Unterwäsche abstreifte. Er überließ sich ihr ganz, während sein Körper glühte. Federleicht strichen ihre Hände über seine entstellte Haut. »Das ist schön«, flüsterte sie, »wie eine Landkarte … Eine wunderschöne, lebendige Landkarte.« In fassungslosem Staunen ließ er sie seinen ganzen Körper erkunden, bis seine Schüchternheit schwand und das Verlangen die Oberhand gewann. Er strebte zur Tür, aber Willa hielt ihn zurück. »Charlie?« Er sah, dass sie die Fingernägel im selben Wedgewood-Blau lackiert hatte wie ihre Zehennägel, die durch die zimtfarbene Strumpfhose schimmerten. »Heute Mittag, als ich von den Morden gehört habe. Das hat mich an was erinnert.« Er wartete. »Erinnern Sie sich noch an den F-3 letzten März in Texas?« Er schüttelte den Kopf. »Da sind viele unter den Trümmern begraben worden. Die Rettungsdienste waren nicht gleich zur Stelle, also haben wir selbst eine Such- und Rettungsmannschaft zusammengestellt. Da war ein Haus … Es war konventionell gebaut, die hölzernen Grundplatten waren einfach auf den Sockel genagelt. Keine Schellen oder Fundamentanker. Ich meine, ein Haus genau wie das in der Tornado Alley. Bei solchen Häusern ist der Rahmen nur mit ein paar Nägeln am Fundament befestigt.« Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. »Was rede ich für einen Quatsch.« »Stand das Haus auch in der Verwüstungsschneise?« Sie nickte. »Ich hab vergessen, wie die Leute hießen. Ein junges Ehepaar. Traurige Geschichte. Jedenfalls, wir haben nach Überlebenden gesucht. Beide Opfer waren von herumfliegenden Teilen durchbohrt worden … Es war grässlich. Der Mann war auf der Stelle tot, aber die Frau war noch halb bei Bewusstsein.« 95
Charlie nickte. »Sprechen Sie weiter.« »Sie ist fünf Stunden später ihren Verletzungen erlegen. Sie hat’s nicht geschafft.« Sie überlegte. »Aber als ich sie ins Krankenhaus fuhr, hat sie ein paar Sachen gesagt, die mir komisch vorkamen. Sachen, die mich verstört haben.« »Zum Beispiel?« »›Bitte bringen Sie mich nicht um.‹ Solche Sachen. Es hat sich angehört, als hätte sie furchtbare Angst. ›Da ist jemand im Haus … Nein, nicht … Bitte tun Sie uns nichts.‹ Immer wieder. Ich hab’s darauf geschoben, dass sie im Delirium war. Ich dachte, sie halluziniert, aber jetzt muss man das wohl in einem ganz anderen Licht sehen.« Seine Augen verengten sich. »Wo war das noch, sagten Sie?«
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10 Am späteren Nachmittag ließ er das Weizen- und Sonnenblumenland hinter sich und fuhr über die Grenze nach East Texas, wo die meisten unbefestigten Straßen, die sich durch die Prärie schlängelten, an verstreuten Ölquellen endeten, die ein paar Barrel kostbares Rohöl pro Tag ausspuckten. Er sah die vogelartig nickenden Pumpen in den fernen Hügeln, wo das Gras ungehindert wucherte. Ein Kaninchen flitzte vor dem Auto über die Straße; er erschrak und packte das Lenkrad fester. Er nahm die Ausfahrt nach Wink. Windhosen tanzten über die Stoppelfelder, und auf die Grundmauern längst eingestürzter Häuser waren Sprüche gesprüht wie »Hey, Dorothy!« und »War hier, hab’s getan!«. Der Tornado vom letzten Jahr hatte eine sechzehn Meilen breite Schneise durch die Countys Parson und Cribbs geschlagen, und zurückgeblieben waren Trümmergrundstücke und Reihen von Telegrafenmasten, deren Kiefernholz wie frisch geschliffen aussah. Das Zentrum von Wink war eine Ansammlung ebenerdiger Gebäude unter einem niedrigen grauen Himmel. Die Stadt litt sichtlich. Die Main Street war breit und einladend, an die Parkuhren waren Luftballons und andere Werbegeschenke gebunden, und viele Sonderangebote in den Schaufenstern verrieten, dass es um die Geschäfte nicht zum Besten stand. WOW! UNSCHLAGBAR NIEDRIGE PREISE! Charlie folgte den Hinweisschildern, vorbei an der einzigen Bank der Stadt mit ihrem außen angebrachten Geldautomaten und dann eine ausgestorbene Landstraße entlang, wo zwei Hunde eine Zeit lang mit hängender Zunge neben dem Auto her hechelten. Nach ein paar weiteren Meilen bog er in einen Trailer Park ab, in dem der Sheriff vorübergehend sein Büro hatte, nachdem der Tornado im März letzten Jahres das Rathaus 97
abgedeckt hatte. Das Mirador Motor-In war mit WohnmobilAnschlüssen, einem öffentlichen Ruheraum und einem Diner mit zehn Barhockern ausgestattet. Das Pepsi-Thermometer über der Tür zeigte sommerliche 27 Grad an. Charlie fand den Wohnwagen auf Anhieb, es war ein Bluebird Wanderlodge, dessen blau und silbern lackierte Karosserie mit Hageldellen übersät war. Sheriff Jimmy L’Amoureux empfing ihn an der Tür. Er war ein gut aussehender Indianer mit wettergegerbter Haut und beneidenswert dichtem Haar, das ihm bis auf die Hüften herabhing. L’Amoureux schaute mit zusammengekniffenen Augen zu den verstaubten Feldern hinter Charlies Schulter hinüber und sagte: »Von hier aus hat man früher mein Haus gesehen. Aber dann ist Mutter Natur mit der Abrissbirne angerückt.« Sie gaben sich die Hand. Mit eins zweiundneunzig war Charlie für gewöhnlich die größte Respektsperson in jedem Raum, aber L’Amoureux überragte ihn noch um eine halbe Spanne. Beim Hineingehen mussten sich beide unter der Tür durch bücken. »Ich stecke gerade mitten in einer wichtigen Sache, aber ein paar Minuten kann ich mir für Sie Zeit nehmen«, sagte L’Amoureux höflich, aber nicht unbedingt freundlich. »Da bin ich Ihnen dankbar.« Charlie nahm die Mütze ab und folgte ihm in einen langen, schmalen Raum, der mit Büromöbeln voll gestellt war. Er betrachtete die gediegene Einrichtung aus Muningaholz. Am äußersten Ende des Wohnwagens befand sich ein zweckmäßig wirkender Küchenbereich, in der Chromspüle stapelte sich schmutziges Geschirr. An eines der Fenster hatte jemand mit dem Finger »Putz mich!« in den Staub geschrieben. »Nehmen Sie Platz«, sagte L’Amoureux und legte seine in Cowboystiefeln steckenden Füße auf die Schreibtischplatte, die so mit alten Akten und Munitionsmagazinen beladen war, dass nirgends mehr das Holz hervorschaute. 98
»Sieht aus, als ob ihr euch langsam berappelt«, sagte Charlie aufgeräumt. Der Sheriff sah ihn nachdenklich an. »Sie halten es vermutlich für einen Fortschritt, wenn ein Kannibale eine Serviette benutzt«, sagte er mit seinem dicken Texas-Akzent. Charlie runzelte die Stirn. Mit Sarkasmus hatte er nicht gerechnet. L’Amoureux verschränkte die langen Arme vor der mächtigen Brust. »Sehen Sie, ich weiß, was Sie denken. Sie denken: ›Die Stadt wird sich berappeln, dann ist alles besser als zuvor.‹ Das denken Sie doch, oder nicht?« Charlie nickte zögernd. »Letztes Jahr haben die Ladenbesitzer die Scherben zusammengekehrt, alles war hin. Die Trümmer lagen hüfthoch – demolierte Autos, ramponierte Wohnhäuser und Geschäfte. Und ich hab die ganze Zeit nur gedacht: ›Wir stehen das durch, alles wird besser, als es jemals war.‹ Bla, bla, bla.« Er zuckte wegwerfend die Achseln. »Aber warten Sie’s ab.« »Sieht es so schlecht aus?« Er lächelte verhalten, die Augen halb geschlossen. »Wenn man erfährt, dass das Factory Outlet nicht wieder aufgebaut wird, verdirbt einem das schon die Laune. Die haben fünfundsiebzig Leute beschäftigt. Vier andere Firmen haben ebenfalls ihre Pachtverträge gekündigt. Sie sehen also, wir berappeln uns wunderbar«, sagte er bitter. Charlies Rückgrat versteifte sich. »Hören Sie zu, ich stecke bis zum Hals in der Scheiße, Sheriff. Ich bin mit freundlichen Absichten hergekommen, weil ich mir ein bisschen Kooperation erwartet habe, aber Sie halten mir hier nur Vorträge.« L’Amoureux, der zum Fenster hinausgeschaut hatte, fasste Charlie ins Auge. »Also, worum geht’s? Was verschafft mir die Ehre?« 99
Charlie räusperte sich. »Ich interessiere mich für alles, was Sie mir über das junge Paar sagen können, das letztes Jahr hier umgekommen ist.« »Die Keels?« L’Amoureux leckte sich die Lippen. »Audra war Hausfrau. Hübsches kleines Ding. Hat sich für die Rettung der Wale und andere Hippie-Anliegen eingesetzt. Matt war Handelsvertreter. In seinen Taschen hat es ständig gepiept und gesummt – Handys und Pager und was weiß ich. Er war Hobbyfotograf, sah aber ehrlich gesagt aus wie ein Turniertänzer. Immer piekfein.« »Ich hab gehört, ihr Haus ist zusammengebrochen?« »Ja.« »Und die Frau hat noch gelebt, als sie aus den Trümmern gezogen wurde?« »Stimmt.« »Und sie hat noch was gesagt?« L’Amoureux warf ihm einen schrägen Blick zu. »Worauf wollen Sie hinaus, Chief?« Charlie beschloss, ein bisschen zu dramatisieren, um den Sheriff aus seiner Gleichgültigkeit aufzurütteln. Er beugte sich vor. »Sie haben doch von dem Dreifachmord bei uns gehört?« Er nickte knapp. »Er wurde ungefähr zur selben Zeit begangen, als der Tornado zugeschlagen hat. Eine Familie wurde kaltblütig ermordet, auf rituelle Art. Sie wurden mit Waffen angegriffen, die aus Holz angefertigt waren, aber aussahen wie zufällig entstandene Bruchstücke.« »Sie kommen also mit der freundlichen Absicht, mir mitzuteilen, dass die Keels ebenfalls ermordet wurden.« »Nein, ich will herausfinden, ob es so war.« L’Amoureux schnaubte verächtlich und schüttelte den Kopf. Sein langes graues Haar schimmerte wie Quecksilber. 100
»Sind Sie sich ganz sicher? Dann will ich Ihnen mal was sagen. Im Schatten von einem F-3 verübt keiner einen Mord. Ende der Ansage. Tornados sind unberechenbar. Sie sind gefährlich, und sie schlagen wahllos zu. Nehmen Sie uns hier, Grover. Wir haben Abzeichen und Revolver, aber wenn ein Tornado über uns herfällt, können wir verdammt noch mal überhaupt nichts machen. Da gibt es eben Tote. Häuser stürzen ein. Das passiert nun mal. Sie können länger den Atem anhalten, als es gedauert hat, das alles zu zerstören.« Er nickte vage zum Fenster hin, den Blick in unbestimmte Fernen gerichtet. »Wer immer die Peppers umgebracht hat, muss gewusst haben, dass ein schwerer Sturm im Anzug war. Und während der Sturm seinen Lauf nahm, konnte er seine Vorhersage noch korrigieren.« L’Amoureux verdrehte die Augen. »Wir haben glatte Handschuhabdrücke und handgemachte Waffen am Tatort gefunden, und das bedeutet, dass Vorsatz im Spiel war. Das Verbrechen selbst wurde unheimlich exakt geplant und ausgeführt. Ich kann mir deshalb kaum vorstellen, dass es die erste Tat dieser Art war. Ich frage Sie also nochmals: Hat Audra Keel kurz vor ihrem Tod noch eine Aussage gemacht?« L’Amoureux verschränkte seine großen Hände. »Sie hat was gesagt, aber nur wirres Zeug.« »Was hat sie gesagt?« »Sie hat nur vor sich hin gelallt.« Charlie öffnete den Briefumschlag auf seinem Schoß. »Diese Obduktionsberichte wurden auf Anordnung des Gerichts versiegelt. Bestimmte Einzelheiten werden bis heute geheim gehalten. Ich möchte, dass das so bleibt.« Mit einem Raunzen nahm L’Amoureux die Füße vom Tisch.
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»Geben Sie schon her«, sagte er und streckte die Hand aus. Er las ein paar Minuten mit äußerster Konzentration und schaute dann auf. »Okay, Sie haben mich neugierig gemacht. Was genau wollen Sie denn hier erreichen?« »Ich möchte die Leichen exhumieren lassen.« L’Amoureux legte die Fingerspitzen aneinander. »Schauen Sie, das ist ein bizarrer, rätselhafter Fall. Aber Sie werden mir vertrauen müssen. Wir haben die Leichen am Tatort untersucht. Todesursache waren in beiden Fällen Verletzungen infolge eines Unwetters mit Windgeschwindigkeiten bis zu zweihundert Meilen pro Stunde.« »Haben Sie irgendwelche Kampfspuren bei den Opfern festgestellt? Haben Sie die Trümmer durchsucht? Hat Ihr Coroner den Mund der Leichen untersucht?« Der Sheriff beugte sich vor, an seinem Stiernacken traten marmorierte Adern hervor. »Wollen Sie meine Arbeitsmethoden kritisieren, Chief?« »Nein, natürlich nicht.« Charlie wählte seine Worte sorgfältig. »Aber wie Sie selbst sagen, Sie hatten an dem Tag alle Hände voll zu tun. Niemand kann erwarten, dass Sie sich inmitten von Chaos und Verwüstung die Zeit nehmen, nach möglichen Anzeichen für ein Verbrechen zu suchen. Hunderte von Verletzten, Zerstörungen großen Ausmaßes. Sie und Ihre Leute waren im Wesentlichen auf sich allein gestellt. Die Suche nach Überlebenden. Bulldozer und Kräne. Undichte Gasleitungen. Ich weiß, wovon ich rede, ich hab das selbst gerade durchgemacht. Da weiß man nicht mehr, wo einem der Kopf steht.« L’Amoureux’ Stimme hatte einen zweifelnden Unterton. »Acht Todesopfer, das ist viel für so ein kleines Nest wie das unsrige. Hunderte von Verletzten. Kein Krankenhaus. Wir sind buchstäblich im Dunkeln getappt.« Charlie studierte seine Handflächen, aus deren Linien man ja angeblich seine Zukunft ablesen kann. »Ich weiß nur eines: 102
Wenn die Keels Opfer desselben Mörders waren, könnten wir das auf Anhieb anhand ihrer Zähne feststellen.« »Und wenn Sie sich irren?« »Dann ist das nicht Ihr Problem.« L’Amoureux schaute ins Leere, er überlegte. Er hatte ein grobes Gesicht mit breiten Backenknochen und einem festen Blick, der jede Möglichkeit eines Zögerns auszuschließen schien. »Okay«, entschied er. »Ich rede mit den nächsten Angehörigen.« »Super.« »Aber die Entscheidung liegt bei ihnen. Sie haben schon genug durchgemacht. Wenn sie nein sagen, dann war’s das.« »Einverstanden.« Der Minikühlschrank legte einen anderen Gang ein, und im selben Moment piepte Charlies Pager. Ein Frösteln überlief ihn. Er atmete tief durch und schaute nach der Nummer. Es war Mike. »Kann ich mal telefonieren?« »Bedienen Sie sich.« L’Amoureux schwang den altmodischen Telefonständer herum, ging ans Ende des Wohnwagens und machte sich daran, das Geschirr zu spülen. »Hey, Boss«, sagte Mike. »Gute Nachrichten. Unsere Kumpels drüben beim NWS haben uns gerade per FedEx einen Stapel Bilder vom Promise-Tornado geschickt. Die haben anscheinend Unmengen davon, und sie kriegen laufend noch mehr rein. Die Wetterfreaks helfen den Wetternieten.« »Hervorragend. Setzen Sie sofort Nick dran. Er soll feststellen, ob irgendwelche Fahrzeuge und Gesichter zu erkennen sind, Nummernschilder usw., Sie wissen schon. Schicken Sie mir die Ergebnisse so bald wie möglich nach Hause.« »Zu Ihnen nach Hause?« »Ja. Ich arbeite heute Abend zu Hause. Hab’s Sophie versprochen. Sie ist allein.« 103
»Bestellen Sie ihr einen schönen Gruß von mir, bitte. Und noch was, Chief. Ich hab Jake Wheaton gebeten, aufs Revier zu kommen, nur um uns ein paar Fragen zu beantworten, und wissen Sie was? Er hat mir mit dem Anwalt gedroht.« »Okay, lassen Sie das erst mal auf sich beruhen. Provozieren Sie ihn nicht noch mehr. Was war mit Rob Peppers Bruder?« »Der hat ein wasserdichtes Alibi. Wir haben uns entschuldigt und ihn gehen lassen. Er hat keinerlei relevante Informationen geliefert.« »Sind die Ergebnisse der Blutuntersuchungen schon da?« »Zu früh, Chief.« »Rufen Sie Art Danbury an. Die sollen Dampf machen.« »Okay, Boss.« »Und fragen Sie ein paar Leute aus.« Er drückte auf die Gabel und wählte die Nummer seiner Tochter. »Ich bin’s«, meldete sich Sophie atemlos, als hätte sie seinen Anruf erwartet. »Hallo, du. Und hier bin ich.« »Dad! Ich weiß, was ich uns heute zum Abendessen koche. Vegetarische Lasagne.« »Mmm. Klingt ja abenteuerlich.« »Für dich vielleicht, du Fleischfresser. Aber du kommst heute Abend heim, ja?« »Was für eine Frage! Würde ich mir nie entgehen lassen.« »Gut, ich mach uns nämlich Lasagne zum Abendessen.« »Das hab ich schon beim ersten Mal verstanden.« »Nicht, dass du wieder alles wegwirfst.« »Hör zu, Naseweis. Stell einen Teller mehr auf den Tisch, ich bring einen Gast mit.« »Einen Gast?« Sie erschrak hörbar. »Was für einen Gast?« 104
»Ich hab die betreffende Person noch nicht gefragt.« »Mann, Dad. Bist du in der Midlife-Crisis, oder was? Wer ist denn diese geheimnisvolle Person?« »Du wirst doch nett zu ihr sein?« »Zu ihr? Ist es eine Sie?« »Du wirst nett und höflich sein und nicht allzu ironisch, versprochen?« Sie tat beleidigt. »Was denkst du denn von mir?« »Ich denke, dass du ein normaler Teenager bist. Das macht mir ja gerade Sorgen.« »Pünktlich um sechs«, sagte sie. »Komm nicht zu spät. Du und deine Mrs. Misterioso.« Er legte auf und starrte die Wählscheibe an. Er versuchte, sich einen Spruch zurechtzulegen. Ganz beiläufig! Er konnte diese Nervosität in der Magengegend nicht leiden. Jetzt reiß dich zusammen! Siebenunddreißig und immer noch Bammel vor einem Rendezvous? Sie hat gesagt, du sollst sie anrufen. Was willst du noch? Er nahm den Hörer ab, wählte das Windtechnologische Institut und ließ sich mit Willa verbinden. »Rick Kripner«, ertönte es am anderen Ende. Mist. Er spürte, wie das Blut aus seinem Kopf wich. »Hey, Rick, hier ist Charlie Grover. Ist Willa da?« »Die kommt heute nicht mehr, Chief.« »Oh.« Er sprach schnell, um seine Verlegenheit zu kaschieren. »Ich wollte sie fragen, ob sie sich ein paar Fotos ansehen würde … Bilder von Jagdfahrzeugen, die wir heute vom NWS bekommen haben. Ich dachte, sie erkennt vielleicht den einen oder anderen Wagen wieder und kann mir die Eigentümer nennen …« »Wissen Sie was? Ich gehe auch seit Jahren auf Sturmjagd. Ich kenne die Leute. Ich weiß, was sie fahren.« 105
Er zögerte. »Mögen Sie Lasagne?« »Klar.« »Wie wär’s mit sechs Uhr?« »Bestens. Wo wohnen Sie?« Charlie kam sich vor wie ein Trottel und ratterte die Adresse herunter.
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11 »Möchten Sie einen Hund kaufen?«, fragte Sophie Rick, der ihr gegenübersaß und sie anlächelte. »Eher nicht.« Er grinste. »Ach, kommen Sie«, sagte sie. »Nur fünfzig Dollar.« »Was für einen Hund?«, fragte Charlie, der erst jetzt merkte, dass seine Tochter Kerzen angezündet hatte, wohl in Erwartung der ausgebliebenen ›Flamme‹ ihres Vaters. »Wir haben doch gar keine Hunde.« Sie saßen am Esstisch, und die flackernden Kerzen ließen ihre Gesichter goldgelb erstrahlen. Die letzten Reste der Dämmerung waren aus dem Himmel gewichen, es war ganz dunkel draußen. Charlie und Rick teilten sich eine Flasche Wein, und Charlie fühlte sich angenehm beschwipst, wenn auch ein wenig verwirrt wegen dieses Geredes über Hunde. »Ich hab mich zum freiwilligen Einsatz für die Waisen gemeldet, Dad.« »Waisen? Was für Waisen?« Er hatte keine Ahnung, wovon seine liebreizende Tochter redete. »Die vielen streunenden Hunde von dem Sturm«, erklärte sie. »Bis jetzt hat sich noch niemand gemeldet, der einen zurückhaben will, und im Tierheim ist einfach nicht genug Platz. Also müssen wir neue Besitzer für sie finden.« Sie wandte sich Rick zu. »Ein paar haben Infektionen der Atemwege, aber sie erholen sich schon wieder. Und sie sind alle geimpft worden. Und sie sind wirklich, wirklich süß.« Er schüttelte den Kopf. »Zu viel Verantwortung. Man kann nicht mehr alles stehen und liegen lassen und auf die Jagd gehen, wenn man einen Hund hat. Trotzdem danke für das Angebot.« 107
»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie sich’s anders überlegen?« Er lachte. »Du bist richtig gut. Sie ist richtig gut.« »Meine Tochter«, prahlte Charlie, »würde sogar einer Schwuchtel ihre Perücke abschwatzen.« Sophie hatte sich die kastanienroten Haare aus dem Gesicht gestrichen und sah im Kerzenschein wie das leibhaftige Ebenbild ihrer Mutter aus. Ihre unschuldige Schönheit rührte ihn zutiefst. Dieses offene, aufrichtige Gesicht. Es war halb acht, und sie hatten fast die ganze Lasagne aufgegessen. Auch vom Knoblauchbrot war nur noch der Kanten übrig, und sogar die ein bisschen angegrauten Erbsen waren nicht verschmäht worden. »Was ist in dem Medaillon?«, fragte Rick. »In dem da?« Sie strahlte, und ihre Wangen röteten sich. Sie öffnete das silberne Medaillon, das sie am Hals trug, und zeigte stolz das Bild, auf dem sie und ihre Mutter Wange an Wange lächelten. »Meine Mom. Ist sie nicht schön?« »Wow. Klassefrau.« Das gefiel ihr offenbar. »Die Leute haben uns immer für Schwestern gehalten«, sagte sie, machte das Medaillon wieder zu und schaute dabei ihren Vater an. »Sie ist vor zwei Jahren gestorben.« »Oh, das tut mir Leid.« Rick schaute voller Mitgefühl durch seine Nickelbrille. Er hatte sein dunkelblaues Flanellhemd mit den Perlmuttknöpfen in den Bund seiner Jeans gesteckt, und sein dichtes braunes Haar war flach an den Kopf gedrückt, in der Form der Baseballmütze, die er bei seiner Ankunft getragen hatte. In diesem Augenblick gähnte Sophie, und Charlie verspürte eine Welle der Zuneigung zu ihr. Sie gähnte immer, wenn sie nervös wurde oder über etwas nicht sprechen wollte. Außerdem hatte sie noch die Angewohnheit, an den Nägeln zu kauen und unter der Woche zu lange aufzubleiben, um sich Conan 108
anzuschauen. Sie war sehr gut in Mathe, Biologie, Englisch und Ballett, und wenn Charlie überhaupt an etwas glaubte, dann daran, dass seiner Tochter alle Möglichkeiten offen standen. Sophie konnte Ärztin, Anwältin, Lehrerin oder Balletttänzerin werden, einfach alles, wonach ihr der Sinn stand. Dabei war sie so ein dickes Kind gewesen, ein richtiger Pummel. Er erinnerte sich, dass Maddie sie immer auf die Füße gestellt und zugesehen hatte, wie sie stolperte und schwankte und ihre dicken Beinchen mit den Fettpolstern über den Knien ausprobierte. Sophie fixierte ihn. »Hallo! Erde an Dad.« Er blinzelte, um die Erinnerung zu verscheuchen. »Hm?« »Ich hab gefragt, was du heute in Texas gemacht hast.« »Ach, nur was überprüft.« »Was denn?« »Die Stadt ist letztes Jahr von einem Tornado heimgesucht worden. Ich hab mir mal angesehen, wie weit die mit dem Wiederaufbau sind«, log er. Sie wusste von den Morden, aber er hatte nicht vor, ihr jede blutrünstige Einzelheit mitzuteilen. »Hoffentlich wird diesmal stabiler gebaut«, sagte sie, »damit nicht wieder alles einstürzt.« »Man kann tatsächlich Gebäude so konstruieren, dass sie Windgeschwindigkeiten von zweihundert Meilen pro Stunde aushalten«, sagte Rick. »Aber die Kosten wären immens.« »Ich kapier das nicht.« Sie schaute die beiden Männer mit dem großäugigen Ernst einer Miss Universum an, die den Hunger in der Welt besiegen möchte. »Warum werden nicht alle Schulen in Oklahoma so gebaut, dass sie Tornados standhalten? Und wieso hat nicht jedes Haus einen Keller?« Rick zuckte die Achseln. »Tja, so ist das Leben, Mädchen.« Sie sah ihren Vater an und zog die Stirn kraus. Süß. Sie war die Anmut selbst, wie ein junges Reh auf einer Waldlichtung, das in den Lauf eines Jagdgewehrs blickt und die Gefahr nicht 109
erkennt. Sie lächelte wildfremde Menschen einladend an, wünschte sich Frieden auf der ganzen Welt und glaubte fest daran, dass ihr lieber alter Dad für alles eine Lösung wusste. Ja, genau. »Boone sagt, die meisten kümmern sich um gar nichts, bis es dann zu spät ist«, sagte sie. Durch Charlie ging ein Ruck. »Boone?« »Dad …« »Boone Pritchett? Seit wann gibst du was drauf, was Boone Pritchett denkt?« Sie reagierte nicht darauf, sondern wandte sich Rick zu. »Das ist ein Sturmjäger. Kennen Sie ihn?« »Ja, ich hab ihn öfter mal gesehen.« Rick verdrehte die Augen. »Der Junge schaut einfach zu viele Stock-Car-Rennen im Fernsehen.« »So schnell fährt er auch wieder nicht«, verteidigte sie ihn und schaute über den Rand ihres Wasserglases ihren Vater an. Charlie hatte eine böse Vorahnung. Boone Pritchett war einer jener gefährdeten jungen Männer, denen die gefährdete Jugend ihren schlechten Ruf verdankte. Sein Vater, ein Radrennfahrer, arbeitete in einer Fabrik für Dichtungsmassen, seine Mutter war eine klapperdürre Alkoholikerin, und Boone definierte sich am liebsten über seine Schandtaten – Ladendiebstähle, Schuleschwänzen, Pot-Rauchen. Früher oder später würde er ernsthafte Schwierigkeiten bekommen, und Charlie wollte nicht, dass seine Tochter sich mit so einem abgab. »Der fährt einen alten Ford-Pick-up, stimmt’s?«, fragte Rick. »Bonbonrosa. Die Kiste ist kaum noch verkehrstauglich. Er sitzt gern tief beim Fahren, lässt die ganze Luft aus seinem Air-RideSitz raus, hat den Cowboyhut bis über die Nase gezogen – wie kann der überhaupt noch was sehen?« »Wieso interessierst du dich auf einmal für Boone Pritchett?«, fragte Charlie seine Tochter. 110
»Dad …«, setzte sie an und errötete. Durch und durch Eleganz und Selbstbeherrschung. Ein bescheidenes Lächeln auf den Lippen. »Kein Grund zur Aufregung.« »Kein Grund zur Aufregung? Der wird eines Tages auf einen Turm steigen und wahllos Leute abknallen.« »Hör doch auf«, sagte sie und setzte ein höfliches Puppengesicht auf. »Außerdem, mir tut keiner was, ich bin schließlich die Tochter des Polizeichefs.« »Das will ich auch keinem geraten haben.« Sie räusperte sich und wechselte das Thema. »Sie sind also Windingenieur?«, fragte sie Rick. »Wie kommt man dazu, sich ausgerechnet mit Wind zu befassen?« Er antwortete mit einer Gegenfrage. »Du kennst doch die Fujita-Skala?« Sie nickte. »Dann weißt du auch, dass ein F-1 leichte, ein F-2 erhebliche, ein F-3 schwere und ein F-4 … nun ja, verheerende Schäden anrichtet. So richtig wie im Zauberer von Oz.« Er rückte ein Stückchen auf seinem Stuhl vor. »Und was dann ein F-5 macht, wollen wir uns lieber gar nicht vorstellen.« Ihre Augen blitzten. »Haben Sie schon mal einen gesehen?« »Ja, als ich dreizehn war.« Er wischte sich den Mund an seiner Papierserviette ab und legte sie sich wieder ordentlich aufs Knie. »Dieser irrsinnige Hagelsturm ist plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht und hat im Umkreis von mehreren Meilen um unser Haus den ganzen Weizen platt gedrückt. Damals war ich schon mit meinem Vater allein. Mom war schon lange tot, Gott hab sie selig. Nach dem Hagel sind wir rausgegangen, um uns den Schaden anzusehen, aber es gab nichts zu sehen. Absolut nichts. Totale Verwüstung. Und so wie der Himmel aussah, war es auch noch nicht vorbei.« Er schaute an die Decke. »Ich weiß noch, wie der Sturm in meinen Ohren getobt hat. Ich hab nichts von 111
dem verstanden, was mein Vater sagte, aber ich sah, dass sich hinter ihm am Himmel eine furchtbare Gewalt zusammenballte. Ich wollte weglaufen, aber er hörte nicht auf mich. Die ganze Ernte war futsch. Dabei hing in dem Jahr für ihn alles davon ab. Er war hoch verschuldet. Ich weiß noch, dass die Hunde gekläfft haben, dann kam dieses schrecklich dumpfe Grollen, und auf einmal war der Himmel schwarz wie die Nacht. Man hat gesehen, dass mehrere kleine Tornados unten aus dieser gigantischen rotierenden Wolke herauswuchsen … Wie Lassos, die über den Boden wirbeln. Dann senkte sich einer bis auf die Erde. Erst hatte er die Form eines Seils. Dann nahm er Kegelform an. Und schließlich wurde daraus der größte Keil, den ich je gesehen habe. Ich meine damit: Heulende, pfeifende Winde mit einer Geschwindigkeit von zweihundertsechzig, zweihundertsiebzig Meilen pro Stunde kamen direkt auf uns zu.« Er senkte die Stimme. »Diese Unwetter können mit beängstigender Geschwindigkeit Lücken schließen. Der Strudel bewegte sich mit ungefähr sechzig Meilen pro Stunde vorwärts. Unglaublich. Blitze zuckten in alle Richtungen. Dad stand da wie versteinert. Ich zog ihn ständig am Arm, aber er stieß mich weg und fing an, den Himmel anzubrüllen. Das werde ich nie vergessen. Er war wie eine Ameise, die einen Elefanten beschimpft – er hat getobt und geflucht und die Fäuste geschüttelt. Dann hat er sein Gewehr genommen und auf das verdammte Ding geschossen, als könnte er es erlegen wie einen Hirsch. Ich hab mich hingeschmissen und Dreck in den Mund bekommen. Der Keil war inzwischen genau über uns. Ich werde nie das unheimliche Geräusch vergessen, das er gemacht hat … schrill … fast menschlich. Und dann hab ich senkrecht nach oben in diese kreischenden Innereien geschaut. Das Ding war innen ganz hohl und erleuchtet und drehte sich wie so eine rotierende Säule im Friseursalon, erst orange, dann violett, dann
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neonrot, und gezackte Blitze sind wie Querschläger hin und her gezuckt.« Er verstummte und sah die beiden nur noch an. »Und dann?«, fragte Sophie atemlos. »Der Sturm hat meinen Vater buchstäblich aus den Stiefeln gesaugt. Aus seinen alten, mit Mist verkrusteten Scheißtretern. Buchstäblich aus den Stiefeln gehoben. Ich hab geblinzelt, und er war weg.« Sie hob die gespreizten Finger ans Gesicht. »Dann ist der Tornado über mich weg und direkt in die Scheune«, fuhr er fort. »Die Tore wurden aus den Angeln gerissen. Das Dach wurde abgehoben wie ein Pappdeckel. Die Hunde sind japsend durch die Luft gewirbelt. Hinterher musste ich drei Pferde einschläfern. Seht ihr das?« Er streckte ihnen die rechte Hand hin, sodass sie die gebogene Kuppe des kleinen Fingers sehen konnten. »Irgendein herumfliegendes Teil hat ihn mir fast abgerissen. Er ist nie mehr richtig verheilt.« »Was war mit Ihrem Vater?«, fragte Sophie mit einer zögernden Höflichkeit, die Rick offenbar anziehend fand. »Tut mir Leid«, sagte er. »Eigentlich kein Thema für ein Tischgespräch.« Charlie räusperte sich. »Ja, reden wir von was anderem.« »Dad«, sagte Sophie leise, »ich komm schon klar.« »Wisst ihr«, erklärte Rick, »für mich sind das nicht einfach nur Stürme. Jeder davon ist ein kleines Universum für sich. Eine Mauer aus schierer Kraft, sechzig bis siebzig Meilen breit und über zehn Meilen hoch. Luft und Feuchtigkeit strömen machtvoll zusammen und bilden diese zwölf Meilen dicken Walzen. Sie können einen halben Staat verdunkeln. Ich meine, überlegt mal … Etwas, was größer ist als das Empire State Building, sollte sich doch nicht so bewegen können.« Sophie war hingerissen. »Klingt ja unglaublich.«
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Charlie schob seinen Teller ein Stück von sich weg und hüstelte. »Die Lasagne war toll.« »Mhm, lecker«, stimmte Rick zu. »Danke.« Sie lächelte bescheiden, und die Haut auf ihrer Stirn zog sich zierlich zusammen. »Vielleicht esst ihr von jetzt ab kein Fleisch mehr, hm?« »Soll das heißen, da war kein Fleisch drin?«, fragte Rick mit gespielter Verwunderung. Sie lachte. »Ich hab stattdessen Seitan genommen.« »Satan?« »Sei-tan.« Sie legte stolz die Hände in den Schoß. »Ein Sojaprodukt.« Charlie erinnerte sich, wie sehr sie sich immer im Dunkeln gefürchtet hatte, als sie klein war. Sie dachte, der schwarze Mann hätte sich unter ihrem Bett versteckt. Jeden Abend mussten er und Maggie sie mit zahllosen Gutenachtgeschichten und dem Hinweis beruhigen, sie seien ja gleich im Zimmer nebenan. So klein war sie gewesen und so verängstigt, und jetzt saß sie hier und verteidigte ausgerechnet Boone Pritchett. Er sehnte sich nach der Zeit zurück, als sie noch Sommersprossen hatte und den Jungen aus tiefstem Herzen misstraute. Musste sie denn unbedingt groß werden? Der Lauf der Zeit war wie ein Sturz in einen Brunnenschacht – man konnte sich in die Wände krallen, aber man konnte nicht verhindern, dass man fiel und fiel. »Hast du keine Schularbeiten zu machen?«, fragte er. »Dad …« »Dein alter Herr ist der Boss«, sagte Rick mit einem freundlichen, beschwichtigenden Lächeln. »Sein Wort ist Gesetz.« »Als Mom noch gelebt hat, war das nicht so«, murrte sie. »Hey«, sagte Charlie. 114
»Okay, bin schon still.« Sie stand auf und fing an, die Teller zu stapeln. »Den Abwasch machen wir nachher, Schatz. Geh jetzt rauf.« Widerstrebend stellte sie die Teller ab. »Hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen«, sagte sie und gab Rick die Hand. »Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite, Sophie.« Sie drückte die Schneidezähne auf die Unterlippe, dann wanderte ihr Blick wieder zu ihrem Vater. »Peg hat gesagt, ich soll dir sagen, dass die Dachtraufen verstopft sind, Dad.« »Danke, Schatz.« »Ja dann … gute Nacht.« »Nacht.« Rick winkte ihr nach, als sie die Treppe hinauflief. »Kommen Sie. Gehen wir in mein Arbeitszimmer.« Charlie geleitete seinen Gast durchs Wohnzimmer, das Maddie mit Merimeko-Kissen und dekorativen Läufern, einer antiken Muskete über dem Kamin und vielen traditionellen amerikanischen Möbeln angefüllt hatte. Seit ihrem Tod waren sämtliche exotischen Pflanzen im Haus eingegangen – die Usambaraveilchen und die Moor-Orchidee, die schneeweiße Amaryllis. Nein, das stimmte nicht ganz. Nach ihrem Tod hatte Charlie in besinnungslosem Schmerz alle Blumentöpfe im Haus zertrümmert, jeden einzelnen. Es war eine schreiende Ungerechtigkeit, dass sie tot war – warum also sollten ihre Pflanzen weiterblühen dürfen? »Sie haben eine wunderbare Tochter«, sagte Rick. »Sie kann so herrlich morbid sein.« Rick ging lächelnd im Arbeitszimmer umher, sah sich das Kiefernholzregal mit Charlies vielen Medaillen und Auszeichnungen an. Da waren Fotos von Charlies Urgroßeltern, die stolz und aufrecht vor ihrem Rasensodenhaus standen, von seiner Großmutter, die während der Großen Depression als 115
Backfisch Tomaten verkaufte, den Scheffel für fünf Cent, von entfernten Verwandten, deren Augen wegen der langen Belichtungszeit unscharf waren, als hätte der Gang der Zeit die Erinnerung an sie verwischt. Rick inspizierte die Daguerreotypien und sagte: »Mein Urgroßvater hat das Anwesen der Familie beim Pokerspiel gewonnen. Stellen Sie sich vor, das wäre heute auch noch möglich.« »Wo wohnen Sie?«, fragte Charlie. »In Pixley, wie ich zu meiner Schande gestehen muss. Ich habe die falschen Vorfahren. Ich könnte jetzt umziehen, wohin ich will, aber ich bin in dem Haus aufgewachsen. Pixley besteht nur aus einer Kirche, einem Postamt und einem Feuerwehrhaus, aber es gibt da noch viel freien, offenen Raum.« »Verstehe.« Rick zeigte auf ein Bild von Adelaide. »Ist das Ihre Mutter?« »Ja.« »Ich erinnere mich nicht an meine. Sie soll zierlich gewesen sein, ein richtiger Hänfling. Als ich größer wurde, sind die Mädchen oft aus Mitleid mit mir ausgegangen. Wahrscheinlich fühlen sich manche Frauen zu mutterlosen Jungen hingezogen. Das weckt ihren Mutterinstinkt.« Er nahm eine von Charlies Leichtathletik-Trophäen in die Hand. »Zweihundert Meter, hm?« »Ja, in grauer Vorzeit. War eine gute Therapie.« »Ah. Ja.« Rick warf einen Blick auf die Brandnarben. »Meine Beziehung zum Sport beschränkt sich auf die Wohnzimmercouch, leider.« Er stellte die Trophäe an ihren Platz im Regal zurück. »Sie haben ganz schön Medaillen gesammelt, Chief.«
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Charlie setzte sich an den Schreibtisch und legte die Hände auf die marineblaue Schreibunterlage. »Deswegen bin ich auch nicht mutiger als mancher andere.« »Mag sein.« Rick setzte sich ihm gegenüber in den Sessel. »Aber auf alle Fälle mutiger als ich.« »Ich hab die selber noch nicht gesehen.« Er öffnete den Umschlag, den einer seiner Streifenpolizisten am Nachmittag vorbeigebracht hatte, und entnahm ihm einen zwei Fingerbreit dicken Stapel von Fotos. Er blätterte sie rasch durch und sagte dann: »Es sind Aufnahmen, die verschiedene Reportageteams und Sturmjäger gestern Nachmittag gemacht haben. Könnten Sie mal schauen, ob Sie einen davon …« Der Rest des Satzes blieb ihm im Halse stecken, denn er hatte ein Foto vom 51er Loadmaster-Pick-up seines Vaters entdeckt. Es war stark verwischt, offenbar war er mit hoher Geschwindigkeit an der Sturmschneise vorbeigefahren, aber Charlies Nackenhaare sträubten sich wie an einem kalten Morgen. Nein, Moment, das war ja völlig harmlos; sein Vater hatte ihm ja gesagt, dass er gestern auf Sturmjagd gewesen war. Und sich an den Aufräumungsarbeiten beteiligt hatte. Er hatte eine Armbanduhr geklaut … »Ist was?« »Nein, nichts.« Er legte das Foto in die Schublade und gab Rick die übrigen. »Könnten Sie mal schauen, ob Sie eines dieser Fahrzeuge wiedererkennen?« Rick nahm den Stapel. »Wissen Sie, Chief, die meisten von denen sind ganz vernünftige, wohl erzogene Typen. Das wollte ich nur schon mal zu Protokoll geben.« »Ich nehm’s zur Kenntnis.« »Also gut, fangen wir an.« Er begann, die Fotos durchzusehen. »Also der hier, das ist ein Hardcore-Jäger. Der taucht praktisch überall auf. Er heißt Paul Soundso … fällt mir gleich wieder ein. Dieser Ranger gehört einem jungen Kerl, der total durchgeknallt 117
ist – Kind reicher Eltern, hat nichts Besseres zu tun, als allen im Weg rumzustehen. Preston J. Hale, aus Kansas City. Hm. Den Wagen kenn ich nicht … Den auch nicht …« Charlie knipste seinen Kugelschreiber an und aus. »Waren Sie gestern in Promise?« »Ja.« Er schaute auf. »Wir haben Daten gesammelt.« »Sie und Willa?« Er nickte. »Haben Sie Fotos gemacht?« Er schüttelte den Kopf. »Ich will keine Kamera zwischen mir und dem Sturm haben, Chief. Das ist, als würde man sich ein Kondom überziehen.« Charlie lächelte. »Wir arbeiten als Zweierteam, aber manchmal trennen wir uns auch. Wir müssen bei ein und demselben Sturm verschiedene Daten sammeln, also kriegt mal der eine den Transporter und mal der andere. Gestern hatte sie ihn. Ich hab meinen GMC Sierra genommen. Man braucht Allradantrieb, weil man nie weiß, in welches Gelände man gerät.« Charlie hatte Ricks Wagen in der Einfahrt stehen gesehen, es war ein schwarzer GMC Sierra mit einem Wald von Antennen. »Ich bin bis auf fünf Meilen an ihn rangekommen, Chief. Ich fuhr auf der 412 Richtung Osten, als der Sturm ausgesprochen HPmäßig wurde. Das bedeutete starke Niederschläge, einschließlich Hagel, im Abwärtsstrom auf der Hinterseite. Ich bin auf die Wichita Avenue gekommen und hab versucht, die nächste Flanke zu erreichen, als ich über eine Kuppe fuhr und dieses hübsche Ofenrohr nach Nordosten ziehen sah.« »Und dann?« »Er hat sich in die Wolken zurückgezogen und aufgelöst. Also bin ich weiter auf der Interstate nach Osten, durch Cleo Springs und Ringwood, wo ich versucht habe, vor Anbruch der 118
Dunkelheit noch einen anderen abzufangen. Aber der Abwärtsstrom wurde immer stärker und sah ziemlich übel aus, also hab ich abgebrochen und bin zurückgefahren.« Er legte den Kopf schräg. »Sie waren enttäuscht, als Sie vorhin angerufen haben und ich dran war, stimmt’s?« Charlie lächelte, sagte aber nichts. Sie beäugten einander verlegen. »Es wird ihr Leid tun, dass sie das verpasst hat.« Rick sah sich die übrigen Fotos an. »Okay, dieser blaue Mustang gehört einer Sonntagsjägerin namens Becky Callahan. Ah … Conrad Holzman. Der ist aus Tulsa. Der Junge ist in Ordnung, ein leidenschaftlicher Jäger, weiß sehr viel. Bei denen hier hab ich keine Ahnung. Das da ist ein Ingenieur, könnte aus Utah sein.« Er trommelte mit den Fingern auf das oberste Foto, das letzte im Stapel, das jetzt obenauf lag – die unscharfe Aufnahme von einem weißen Transporter, der mit hoher Geschwindigkeit auf die ferne Trichterwolke zufuhr. »Okay, Jonah Gustafson. Den müssen Sie sich mal genauer ansehen.« »G-u-s-t-a-f-s-o-n?« Charlie notierte sich den Namen auf seinem Block. »Ein reizbarer Typ. Achtet nie auf seine Geschwindigkeit. Unheimlich ehrgeizig. Lenkt gern andere Jäger von einem guten Sturm ab.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Sieht verboten aus. Ich weiß nicht, womit er sein Geld verdient und woher er kommt. Nicht, dass man ihm direkt was vorwerfen könnte, Chief, ich kann ihn nur einfach nicht leiden. Keiner kann ihn leiden. Er bleibt meistens für sich. Ein richtiger Sonderling.« Charlie nickte. »Beschreiben Sie ihn mir.« »Eins achtzig bis eins fünfundachtzig groß. Schlank. Dürr, besser gesagt … wie ein Hemd an einem Zaunpfahl. Trägt immer dieselbe schmierige ›Night Train‹-Baseballmütze.« Charlie notierte sich alles. 119
»Und er ist fast nie nüchtern.« »Irgendwelche Narben oder Tattoos?« »So nah komm ich nie an ihn ran.« »Und Sie haben keine Ahnung, woher er kommt?« Rick schüttelte den Kopf und legte das Foto weg. »Darf ich Sie was fragen? Glauben Sie wirklich, ein Sturmjäger hat Zeit, anzuhalten und einen Mord zu begehen?« »Sie sind der Fachmann. Sagen Sie’s mir.« Er rieb sich nachdenklich das Kinn. »Es ist denkbar, würde ich sagen.« Er zog hörbar die Luft durch die Zähne ein. »Es war total irre, wenn einer von den Jungs, die ich kenne, ein kaltblütiger Mörder wäre … ausgenommen Jonah Gustafson. Bei dem könnte ich mir’s vorstellen.« Charlie faltete die Hände auf der Schreibtischplatte. »Was halten Sie von Boone Pritchett?« Rick zuckte die Achseln. »Er geht gern mitten rein. Ist auch nachts unterwegs. Das ist bescheuert, aber es setzt auch ein gewisses Geschick voraus.« »Wie gut sind Sie in der Vorhersage?« »Ich?« Er zuckte die Achseln. »Besser als die meisten.« »Haben Sie schon mal leidlich genau vorhergesagt, wann und wo ein Tornado zuschlagen würde?« Er schnaubte. »Ja, sicher. Es ist schwer, am Morgen die MesoSkala-Einflüsse vorherzusagen, die sich im Laufe des Tages einstellen werden, aber manche haben das schon sechsunddreißig Stunden im Voraus geschafft. Das sind entweder Hellseher oder Genies.« »Und wer sind die?« »Von denen, die ich kenne, sind die Einzigen, die regelmäßig ziemlich nah dran sind, Jonah Gustafson, Conrad Holzman und Willa.« 120
Charlies Lippen zuckten. »Willa?« Ihre Blicke trafen sich. »Sie hat doch alles, Chief, oder? Grips. Schönheit. Mumm.« Er versuchte, zwischen den Zeilen zu lesen. Ich war als Erster da. Sie gehört mir. Verzieh dich. »Wenn wir das nächste Mal rausfahren, würden wir Sie gern mitnehmen.« »Darf ich auch mit?«, bat Sophie, die in der Tür stand. Ihr Lächeln war für Charlies Geschmack ein bisschen zu unternehmungslustig. »Ach, bitte.« »Okay, Holly Golightly«, sagte er und stand auf. »An den Abwasch.«
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12 Jake Wheaton fuhr 50 in einer 35-Meilen-Zone, dabei fuhr er nur in seinem Chevy-Pick-up spazieren, um sich die Zeit zu vertreiben, bis es zehn war. Er war mit ein paar Gramm Marihuana verabredet. Jetzt sah er im Rückspiegel Lester Deeres Chevy Blazer auftauchen. Er holte zusehends auf. »Ja, ja, ich seh dich ja, Bullenarsch.« Lester blinkte und wechselte langsam auf die Standspur. Als er mit Jakes Chevy gleichauf war, machte er ihm ein Zeichen, dass er zur Seite fahren solle. Jake hob seine Bierdose. »Prost, Dreckarsch!« Lester sah ihn durch die Fensterscheibe an. »Was?«, rief Jake. »Ich versteh dich nicht.« Lester gab Gas, überholte ihn und bremste dann direkt vor ihm. »Scheiße!« Jake trat voll auf die Bremse und spürte, wie sein Nasenbein brach, als er mit dem Gesicht aufs Lenkrad aufschlug. Mit quietschenden Reifen kam sein Wagen zum Stehen. Einen Moment lang saß er völlig benommen da, knöcheltief in Bierdosen, bis Lester unversehens die Tür aufriss, den Arm hereinstreckte und Jake an seinem Flanellhemd herausriss. »Du hast sie gefickt?«, schrie er und boxte Jake in den Bauch. Jake krümmte sich und schnappte nach Luft. »Du hast sie gefickt, du verlogenes Schwein?« Jake war vor Schmerzen kotzübel. »Was war das, Schwanzlutscher? Hast du was gesagt?« Lesters Faust sauste wie eine Peitsche auf ihn nieder.
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Jake taumelte rückwärts, und ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Kiefer. Er hielt sich das Kinn und machte auf schwankenden Beinen ein paar Schritte. »Nein, nein, nein …« »Lüg mich nicht an, Jake!« Lester keuchte, in seinen Augen glomm Mordlust. »Hast du? Na, na? Auf dem Revier hat es sich jedenfalls schon rumgesprochen.« »Nein!« »Lüg mich nicht an, Junge.« Er packte Jake mit beiden Händen am Kragen und drückte zu. »Lügst du mich an?« Jake hatte Angst, in dieses Gesicht zu schauen. Etwas Rohes, Wildes flackerte hinter diesen Knopfaugen. »Ja, okay«, gab er zu und krümmte sich noch tiefer. »Aber nur das eine Mal, Lester, ich schwör’s bei Gott …« Der Ältere stieß ein schreckliches Gebrüll aus und brach Jake mit einem gewaltigen linken Haken den Kiefer. Der junge Mann flog über die Straße und landete auf dem Rücken. Mit einem gutturalen Zischen entwich alle Luft aus seiner Lunge. Als er zu sich kam, starrte er in den Nachthimmel mit seinen Millionen von Sternen hinauf. Er war benommen und verwundert. Lester trat ihm in die Rippen. »Dass du mir ja niemandem auch nur ein Wort von dem hier erzählst, verstanden? Nicht ein Wort«, schrie er. »Hörst du, du kleines Arschloch?« Jake stöhnte und spuckte Blut. Er rollte sich auf die Seite und versuchte davonzukriechen, aber ein schwerer Fuß trat ihm auf den Nacken und drückte sein Gesicht in den Staub. »Kein Wort«, schrie Lester erneut. »Hast du verstanden?« »Ja.« »Wie bitte?« Seine Brust war verknotet wie ein altes Tau, als er versuchte, Luft zu holen. »Ja, Sir«, keuchte er, »ich tu’s nicht.« »Was tust du nicht?« 123
»Ich sag kein Wort. Ich schwör’s.« Lester rollte ihn herum und sah ihm direkt ins Gesicht. Seine Augen zuckten hin und her wie die Finger einer Stenografin. »Untersteh dich, mich zu verpfeifen«, zischte er. »Das wär im höchsten Grade ungesund für dich.« »Ich sag nichts«, versprach Jake, halb wahnsinnig vor Angst und Ekel. »Du und ich? Wir kennen uns nicht.« Lester spuckte Jake ins Gesicht, ging zu seinem Wagen zurück und raste in einer Staubwolke davon.
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13 Am nächsten Abend bekam Charlie einen Anruf von Sheriff Jimmy L’Amoureux. »Wir exhumieren heute Abend die Leichen«, sagte er, »falls es Sie interessiert.« »Heute Abend?« Er schaute an die Decke, ungefähr dorthin, wo Sophies Zimmer lag. »Hat das nicht Zeit bis morgen?« »Jetzt oder nie, Chief. Kommen Sie? Oder soll ich die Angehörigen anrufen und die Sache abblasen?« »Nein, natürlich komm ich. Bin schon unterwegs.« Es war eine lange Fahrt bis in das triste Städtchen Wink in Texas mit seinen Geisterstraßen und kaputten Gehwegen. Charlie fingerte am Radio herum, er versuchte, einen Sender zu finden, dessen Empfang laut genug war, um das Rumpeln des angesengten Ventils zu übertönen. Die Scheinwerfer bohrten sich in die Nacht, und über den fernen Bergen sah man Wetterleuchten. Er nahm die Ausfahrt Drury und fuhr weiter auf einer Landstraße, die wie mit dem Lineal gezogen war. Nach ein paar eintönigen Meilen hielt er vor einem Friedhof auf der dünn besiedelten Seite der Stadt. Über dem verrosteten, schmiedeeisernen Tor stand REST HAVEN PARK. Von Park konnte keine Rede sein. Zwischen den Grabsteinen blinkte die Notbeleuchtung. Sheriff L’Amoureux empfing ihn am Tor. Seine Uniform war verwaschen, und er trug einen dicken Ledergürtel mit klobiger Silberschnalle, die mit Einlegearbeit aus Montana – Achat verziert war. »Trinken Sie Whiskey?«, fragte er. »Ich trinke überhaupt keine harten Sachen«, sagte Charlie und stieg aus. »Na ja, manchmal schon, aber am nächsten Morgen bereu ich’s.«
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»Ich hab mir gedacht, wenn wir schon Tote ausbuddeln müssen, könnten wir uns doch vorher im Büro des Coroners Kaffee und Whiskey genehmigen.« »Hört sich gut an.« Rest Haven Park war ein Gewirr aus Schwarzeichen und verwitterten Grabsteinen, die aus der Zeit um die Jahrhundertwende stammten. Kalte Feuchtigkeit kitzelte Charlies Gaumen. In den ungemähten, von Büschen überwucherten Gräben lagen weggeworfene Bierdosen. Die beiden Lichtkegel ihrer Taschenlampen beleuchteten Kalksteinengel, denen Vandalen die Flügelspitzen abgebrochen hatten, und in Granit gehauene feierliche Sprüche wie »Die Furcht vor dem Herrn ist aller Weisheit Anfang«. »Die nächsten Verwandten leben ein paar Countys weiter«, sagte L’Amoureux und tupfte sich die feuchte Oberlippe mit Zeigefinger und Daumen ab. »Wollten nicht dabei sein. Kann’s ihnen nicht verdenken.« Sie stolperten eine Böschung hinunter auf eine befestigte Straße, deren Asphalt mit wellen- und kreisförmigen Reifenspuren übersät war, wo die einheimischen Kids ihre Fahrkünste ausprobiert hatten. Sie überquerten die Straße, betraten den neueren Teil des Friedhofs, in dem die Keels vor über einem Jahr beerdigt worden waren, und fanden nach ein paar Minuten ihre schlichten Grabsteine. Auf und neben den Gräbern wuchs wie aus Pietät gegenüber den Toten kein Gras. Auf beiden Steinen stand dasselbe Todesdatum – 31. März. Die Grabstätten waren völlig verwahrlost. Ein alter Kranz lag vor Matthew Keels Grabstein, und vor Audras Stein lag ein halb verschimmelter rosa Teddybär. Zwei verdorrte braune Rosen ragten vor jedem der beiden Granitblöcke aus dem Boden. Ein Lichtbogen schwang plötzlich zitternd durch die Luft, und Charlie fuhr herum. Ein Bulldozer näherte sich ihnen auf der 126
Straße, seine Scheinwerfer zerschnitten die Dunkelheit, und aus dem Auspuff quoll eine Wolke von Dieselrauch. »Ed Olson, der Bauunternehmer«, sagte L’Amoureux. Ed hatte ein weiches, fliehendes Kinn, wie geschaffen zum Sabbern. Er stellte den Bulldozer am Straßenrand ab und kletterte herunter. Die Schaufelzähne des Bulldozers hatten die Größe einer Männerfaust. Ed war von kleiner Statur und hatte dichtes eisengraues Haar. Er besprach ein paar Minuten lang mit L’Amoureux die Anweisungen, sprang dann wieder in die Fahrerkabine hinauf und legte den Gang ein. Charlie trat ein paar Schritte zurück, während der Motor rülpste und der Bulldozer methodisch in seiner Spur vor- und zurückfuhr wie ein zögernder Elefantenbulle. Von zwei Leuchtstoffröhren beleuchtet, streckte sich der Schubarm wie ein riesiger Fühler, und die hellgelbe Schaufel grub sich ins Erdreich. In der Ferne tauchten Lichter auf, und zwei weitere Fahrzeuge kamen über die vom Regen sauber gewaschene Straße heran. Das erste war ein weißer Pick-up, den eine Frau mittleren Alters mit orangefarbenen Haaren fuhr. Sie trat auf die Bremse, und ihr Wagen kam schlingernd zum Stehen. »Ich bring die Schaufeln, Jimmy«, sagte die Frau, stieg aus und schlug die widerspenstige Tür mit Gewalt zu. »Bronnie ist unsere Hausmeisterin«, erklärte L’Amoureux. Sie kam auf hochhackigen Schuhen angetrippelt und hielt zwei schwere Schaufeln in den Händen. Hinter ihr kam ein schwarzer Mustang zum Stehen. Der Fahrer hupte und brachte damit wilde Hunde zum Bellen. »Und hier haben wir Hodge, unseren Coroner.« Ein beleibter Mann in Big-Boy-Jeans stieg aus dem Mustang und kam mit schweren Schritten auf sie zu. Er hatte ein rundes
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Gesicht mit Eulenaugen und einen so herzlichen Händedruck, dass er dafür beide Hände brauchte. »Hey, Jimmy, wie geht’s?« »Kann nicht klagen, Hodge. Das ist Charlie Grover, ich hab dir von ihm erzählt. Hodge Rodgers, unser Coroner.« »Angenehm.« Kräftiger, herzlicher Händedruck. »Ganz schön trüber Abend für so was, oder? Hallo, Bonnie! Hallo, Ed!« »Hallo, Hodge«, kam die zweistimmige Antwort. Hodge baute sich zu seiner vollen Größe auf. »Mann, Jimmy, ich kann ja kaum noch schlafen. Fehlende Zähne, rumfliegende Splitter – was genau hat’s damit auf sich?« »Chief Grover ist der Mann mit den Fragen.« Hodge wandte sich an Charlie und setzte wichtigtuerisch seine kräftige Stimme ein. »ich hab voriges Jahr nichts Ungewöhnliches festgestellt, großes Indianerehrenwort. Sie werden keine losen Zähne in den Mündern oder irgendwelche anderen Seltsamkeiten finden. Glauben Sie mir.« »Ich geh lieber auf Nummer Sicher«, meinte Charlie. »Verstehe. Aber jeder hat nun mal seine Arbeitsweise. Also vergessen Sie das mit dem Verbrecher, okay?« »Wir haben sie ja noch nicht mal exhumiert, Hodge«, sagte L’Amoureux. Hodge machte eine wegwerfende Handbewegung. Ein großer gelber Vollmond brach plötzlich durch die Wolken, und Charlie versuchte, den zunehmenden Schmerz in seinem linken Arm durch kreisende Schulterbewegungen zu lindern. Es passierte manchmal, dass die alten Narben plötzlich wieder schmerzten. L’Amoureux war sehr kräftig gebaut und erledigte zusammen mit Charlie und Ed die schwere Hebearbeit. Trotz Winde brauchten sie mehrere Stunden, um die Särge aus den Gräbern zu hieven und sie in die Pathologie zu schaffen. 128
Die Fahrt bis ins Zentrum von Wink war kurz. Charlie hielt vor einem alten, verwitterten Haus und parkte hinter dem rostigen Funkwagen des Sheriffs, dessen Blaulicht gespenstische, unruhige Schatten warf. Das Tor ging mit einem saugenden Quietschen auf. Er überquerte den Rasen, der verfilzt war wie eine Fußmatte, als seien in letzter Zeit viele Menschen darübergetrampelt. In der Ferne hörte man das Gejohle von Baseball spielenden Kindern. Er schaute auf die Uhr. Neun Uhr, Freitagabend. Sophie war mit ihren Freundinnen unterwegs. Sie hatte um Mitternacht Zapfenstreich, und er hoffte, bis dahin zurück zu sein. Er bog in eine dunkle Gasse ein, die von dichten Büschen gesäumt war, hinter denen eine Reihe von Eichen wuchs. Wenn die Wolken aufrissen, sah er kleine Inseln glitzernder Sterne. Hinten am Haus war ein Schild angebracht, auf dem stand: WER EINTRITT, KANN ERSCHOSSEN WERDEN. Die graue Holzfassade brauchte dringend einen neuen Anstrich. Hinter den Fenstern im Erdgeschoss waren die Vorhänge zugezogen. Ein Schweißtropfen lief Charlie den Nacken hinunter, als er die Stufen zur hinteren Veranda hinaufstieg und an die verrostete Fliegentür klopfte. »Kommen Sie rein«, sagte L’Amoureux mit gedämpfter Stimme, als wären sie in einer Bibliothek. In dem engen Flur schlug Charlie ein scharfer Kühltruhengeruch entgegen. Steife Porträts längst verblichener County-Beamter zierten die Wände, und die von der Decke hängende nackte Glühbirne verbreitete ein staubiges Licht. Sie gingen eine schmale Treppe hinunter in ein schwach beleuchtetes Tiefgeschoss, wo ein Standventilator die schlechte Luft aus einer Ecke in die andere blies. Hier unten stank es nach etwas Weichem, Verfaulendem in den Wänden. Die versiegelten Särge waren mit rotem Lehm verschmiert und mussten aufgebrochen werden. Verwesungsgestank breitete sich aus. Die Leichen trugen ihren Sonntagsstaat und waren 129
erstaunlich gut erhalten. Audra Keel hatte goldene Stecker in den Ohren und hielt ein Sträußchen verwelkte Gänseblümchen in den gefalteten Händen. Ihre Haut war mit feinem weißem Schimmelpulver bedeckt. Sie war eine große, grobknochige Frau und trug einen rosa Rock und eine weiße Bluse mit einem Peter-Pan-Kragen. Matthew Keel war eine Handbreit kleiner als seine Frau, sein blauer Anzug war makellos, der Kopf kahl rasiert. In der nächsten halben Stunde ging Hodge die zahnärztlichen Unterlagen der beiden Toten durch. Er atmete keuchend wie unter körperlicher Anstrengung, öffnete den Opfern die Kiefer und kontrollierte die Füllungen, fuhr mit zahnmedizinischen Instrumenten über geschädigten Zahnschmelz. Mit zitternden Händen notierte er die vorhandenen Zähne, dann wandte er sich an L’Amoureux und sagte: »Es fehlen keine Backenzähne, bis auf die Weisheitszähne. Bei beiden Leichen ist das Gebiss im selben Zustand wie nach ihrem letzten Zahnarztbesuch.« »Danke, Hodge«, sagte L’Amoureux, goss sich eine Tasse Kaffee ein und kippte einen kräftigen Schuss Whiskey dazu. »Bedienen Sie sich.« Er fixierte Charlie. »Bestehen Sie noch immer auf einer neuerlichen Obduktion?« Charlie spürte, wie er unter dem Gewicht dieser Eröffnung innerlich zusammensackte. Keine Ersatzzähne, das bedeutete, dass die beiden nicht ermordet worden waren. »Nein, lassen wir’s gut sein«, sagte er. Die drei Männer stellten sich um Matthew Keel herum auf, um ihn wieder in den Sarg zu legen, als Charlie eine raue Stelle am Handrücken des Toten spürte. »Moment mal«, sagte er und drehte die Hand um. Über die Knöchel zogen sich gelbe Abschürfungen, die die Haut pergamentartig durchscheinend machten. »Was ist das?« »Hm«, sagte Hodge und bückte sich darüber. »Sieht aus wie Kratzspuren. Die entstehen normalerweise postmortal.« 130
»Was heißt das?«, wollte L’Amoureux wissen. »Solche Abschürfungen entstehen, wenn das Opfer bereits tot ist, wenn die Leiche über einen Fußboden geschleift wird.« Sie warfen sich unbehagliche Blicke zu, und dann rollte Hodge Matthew auf die Seite. Nachdem er Jackett und Hemd entfernt hatte, entdeckte er ähnliche Spuren am Rücken des Leichnams. Ein langes Schweigen entstand. »Ich glaube, wir sollten sie obduzieren«, sagte Charlie. Hodge wandte sich an L’Amoureux. »Du entscheidest, Jimmy.« »Na gut, machen wir’s.« Es wurde immer stickiger in dem Raum, während die Opfer entkleidet und obduziert wurden. Hodge öffnete beide Leichen, trennte Wundnähte auf und wühlte in Plastiktüten voller innerer Organe. Er untersuchte alte Verletzungen und sah sich Röntgenaufnahmen an, während allen dreien von den aufsteigenden scharfen Dämpfen die Augen tränten. »Wenn man davon ausgeht, dass sie ermordet wurden – wenn, sage ich –, dann haben sie multiple Stichwunden in Brust und Unterleib bekommen. Im Obduktionsbericht sind zwei Stuhlbeine, eine Geländerstange und eine Zaunlatte erwähnt, die in die Körper der Opfer eingedrungen waren. Es gibt ein Foto von den Objekten, die in den Körpern steckten … Ich weiß nicht, schwer zu sagen. Wir müssen die Objekte noch einmal untersuchen, aber ich fürchte, die sind nicht mehr vorhanden. Stimmt’s, Jimmy?« »Ich hab’s nicht für nötig gehalten, sie aufzubewahren.« »Ich hatte alle Hände voll zu tun mit den Toten und Verletzten«, verteidigte sich Hodge. »Wir haben den Stadtkämmerer und seine Frau verloren, den Organisten meiner Kirche, drei junge Leute. Verflixt … Das sieht tatsächlich nach
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Kampfspuren an Händen und Armen aus. Wie konnten wir das übersehen, Jimmy?« »Weiß der Geier.« »Sie hätten immerhin auch von herumfliegenden Splittern stammen können.« Er fuhr mit der eingehenden Untersuchung fort. Charlie nahm die alten Obduktionsberichte zur Hand und betrachtete die Fotos. Audra Keels Verletzung durch eine Zaunlatte war besonders obszön. Die Spitze der Latte war dem Opfer in die Brust gerammt worden, hatte den Blusenstoff mit hineingezogen und das Muskelgewebe und die Körperhöhle durchbohrt. »Das sind Matthews Röntgenbilder.« Hodge hielt eines ins Licht. »Abschürfung in der rechten Supraorbitalregion. Außerdem ein Hämatom, eine große fokale Blutansammlung an der rechten Wange. Es sind auch Druckstellen an der Kopfhaut sichtbar.« Er warf die Röntgenbilder auf die Arbeitsplatte und riss sich die Gummihandschuhe herunter. »Stumpfe Verletzung am Kopf, multiple Stichwunden. Ich weiß nicht, schieben Sie’s darauf, dass den beiden ihr Haus über dem Kopf zusammengebrochen ist.« Er verschränkte die Arme. »Und Sie haben immer noch keinen von Ihren so genannten Ersatzzähnen.« Ein Gedanke keimte in ihm auf. »Vielleicht hat der Tornado den Mörder überrascht«, sagte Charlie. »Das Haus wurde direkt getroffen, richtig?« L’Amoureux blinzelte. »Vielleicht hat seine Vorhersage an dem Tag nicht ganz gestimmt. Vielleicht hat der Tornado ihn mitten in seinem Ritual unterbrochen, und er konnte sein Vorhaben nicht mehr ganz ausführen. Das Ritual mit den Zähnen! Und was, wenn er das Haus verlassen musste, bevor es von dem Tornado erfasst wurde?« 132
»Möglich. Trotzdem haben wir noch keinen stichhaltigen Beweis.« Charlie rieb sich die Stirn. »Ich bin dafür, dass wir Schluss machen«, grollte Hodge. »Ich auch«, sagte L’Amoureux. »Die Verwandten haben ihr Einverständnis zur erneuten Obduktion gegeben, und die hat soeben stattgefunden. Wir müssen die Leichen wieder dahin zurückbringen, wo sie hingehören.« »Moment noch.« Charlie kaute auf seiner Unterlippe herum. »Was würden Sie tun, wenn Sie mitten in einer Tätigkeit unterbrochen würden?« »Keine Ahnung. Die Arbeit später fertig machen?« »Genau.« »Ja, und?« »Haben Sie hier ein Sieb?« Es war halb zwölf, als Bonnie, die Hausmeisterin, mit einem Karton voller verschiedener Siebe zurückkam – einem Mehlsieb, zwei Seihern, einem Passiersieb und einem Tiefkühlkorb. Sie siebten die Friedhofserde und suchten nach allen Objekten, die kleiner waren als eine Murmel. Das schloss auch Zähne mit ein. Charlies Theorie war, dass der Mörder in einer dunklen Nacht nach der Beerdigung den Friedhof aufgesucht und jeweils einen Zahn in die Erde über den Gräbern gesteckt haben könnte. Einigermaßen unwahrscheinlich, aber man musste alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Gegen Mitternacht hörte der Landregen auf, aber der Himmel flackerte immer noch von Blitzen. L’Amoureux trank Black Jack aus der Flasche, während Charlie und der dünnlippige Bauunternehmer schufteten. Sie lockerten die Erdklumpen mit den Schaufeln und siebten die Erde durch. Ein Haufen entstand, dann noch einer. Nicht lange, und Charlie spürte ein Prickeln am Ende des Rückgrats. Es saß tief, fing als schmerzfreier Krampf 133
an, dann begannen die Muskeln rings herum, sich zu dehnen und zu ziehen. »Kann ich mal die Flasche haben?«, fragte er. »Wenn ich mir aussuchen könnte, wie ich auf die Welt kommen will«, sagte L’Amoureux, »würde ich am liebsten in einer Eruption von flüssigem Gestein aus dem Boden der Tiefsee aufsteigen …« Charlie sah ihn an. »Sie sind betrunken.« »Noch nicht ganz. Aber fast.« »Geben Sie schon her.« Plötzlich wollte er aufholen. Er trank gierig mehrere große Schlucke, aber der Schmerz wurde nur noch schlimmer und strahlte von der Leistengegend bis ins Knie aus. Seine alten Narben spielten wieder mal verrückt. Der Schmerz breitete sich weiter aus, ein Gefühl wie von Trockeneis. Hodge fuhr gegen Mitternacht nach Hause und nahm Bonnie mit. Sie ließ ihr Fahrzeug mit der Kettenwinde zurück, und Charlie und L’Amoureux betranken sich weiter, widmeten sich der Flasche mit einer Entschlossenheit, als gehörte das Trinken zur Arbeit. Als wäre es ihre Bürgerpflicht. Gegen ein Uhr gab endlich auch Ed auf, und Charlie spürte keine Schmerzen mehr, überhaupt keine. Er hörte sein Blut in den Ohren flüstern. Als seine Hände von dem vielen Schaufeln zu brennen anfingen, verdoppelte er seine Anstrengungen. Die Luft über den Gräbern roch wie nasser Stein, und der Wind trug aufgeregtes Hundegebell heran. »Das ist ja vielleicht ein Ding, mein Freund«, sagte L’Amoureux. »Ich tu mir das bloß deshalb an, weil ich nicht nüchtern heimkommen will. Ich hab immer wieder denselben Alptraum. Er geht so: Meine Mutter wedelt mit einem Messer über meinen Eiern. Die Klinge saust runter, und dabei schreit sie: ›Die brauchst du doch nicht, oder?‹ An der Stelle wach ich immer auf.« 134
Charlie lachte. Der Himmel klarte auf, und unzählige Sterne funkelten. Die Venus glomm wie ein aufglühendes Stück Kohle. Seine Haut war mit einem rauen Schmutzfilm überzogen, und von dem vielen Staub in der Luft musste er husten. »Eins muss man Ihnen lassen«, sagte L’Amoureux, »Sie sind enorm hartnäckig.« »Das ist aber auch das Einzige, was ich bin.« Außer dem Kratzen der beiden Schaufeln war nur ihr Atmen zu hören. Nachtfalter tanzten im Licht der Scheinwerfer, und Charlie bekam Blasen an den Händen. Angst griff nach seinem Herzen, während er den Geruch des Todes ausatmete. Ein großer Schweißtropfen bildete sich an seiner Schläfe und lief ihm seitlich übers Gesicht, und er hatte das Gefühl, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Wenn sie einmal eine Pause einlegten und zu schaufeln aufhörten, meinte er zu spüren, dass die Toten sie beobachteten. Legionen von Toten. Ein Sekundenbruchteil genügte – eine einzige falsche Bewegung, und schon würde man hier liegen, und nach und nach würde die Erde den Leichnam auslaugen. »Machen wir Schluss?« »Noch nicht«, sagte Charlie. »Auf mich wartet nämlich ein Cheeseburger bei Ruby’s.« »Um zwei Uhr nachts?« »Die haben immer geöffnet. Die haben da so viele Fliegen, dass ihren Cheeseburgern Flügel wachsen.« Der Wind frischte auf und ließ das dürre Laub rascheln, und Charlie hörte mit dem Graben auf. Seine Arme fühlten sich an, als hätte jemand heißes Blei darüber gegossen. Starke Schmerzen und ein fürchterliches Brennen breiteten sich jetzt über Nacken und Schultern aus und machten sich an den Schulterblättern besonders unangenehm bemerkbar. »Die Flasche«, keuchte er, und L’Amoureux reichte sie ihm. 135
»Wir sind doch beide völlig fertig«, sagte der Sheriff. »Zeit, das Handtuch zu werfen, Kumpel. Wir müssen auch noch die Särge runterlassen.« Sie ließen den Motor laufen und wickelten die schwere Kette von der Winde ab, befestigten sie an den Haken an Audras Sarg und ließen ihn langsam in die Grube hinab. Die Winde kreischte laut, und der Dieselmotor grollte, dann stieß der Sarg unten auf. Charlie würde in das Grab steigen müssen, um die Kette loszumachen. Das steife Unkraut knisterte unter seinen Sohlen, als er an den Rand von Audra Keels Grab trat und seine Taschenlampe anknipste. Der stechende Geruch von ausgehobener Erde stieg ihm in die Nase. Er sprang hinein, ein Gefühl, als würde er verschlungen, und machte die Kette los. Ein Schauder überlief ihn, als er wieder herausstieg. Audras Schatten lief sein Rückgrat hinauf. Sie ließen auch den anderen Sarg hinab und füllten die Gräber auf. Als sie fertig waren, war Charlies linke Körperhälfte steif und tat höllisch weh. »So, das war’s«, sagte L’Amoureux und schlug die Hände zusammen. »Kommen Sie mit?« »Um einen flugfähigen Cheeseburger zu verdrücken?« »Verräucherte Decke. Sechs verschiedene Pasteten. Echter Kartoffelbrei. Mmm.« Ein unbestimmter Zweifel machte Charlie immer noch zu schaffen. Die beiden Fälle waren fast völlig identisch, bis auf die Sache mit den Zähnen. Es war nicht ungewöhnlich, dass Psychopathen Beweisstücke für die Polizei am Tatort zurückließen. Manche hatten den unbewussten Wunsch, erwischt zu werden, andere hatten Spaß daran, die Obrigkeit an der Nase herumzuführen. Er richtete seine Taschenlampe auf Audra Keels Grabstein. Geliebte Ehefrau und Mutter. Mist. Sophie. Er hatte sie total vergessen. Wie spät war es? Da glitzerte etwas in der Erde. 136
Ach so. Die verwelkten Rosen. Er ging auf die Knie und fing an zu graben. »Was machen Sie da?« »Ich grab die Rosen aus.« »Rosen? Was für Rosen?« Seine Finger berührten Glas, und die erste Rose kam zum Vorschein. Ihr gekürzter Stängel steckte in einem Röhrchen. Der Stängel führte durch einen Stöpsel, der auf dem ursprünglich mit Wasser gefüllten Röhrchen saß. »Ach«, sagte L’Amoureux, »die.« Mit zitternden Händen richtete Charlie die Taschenlampe auf das Glasröhrchen, und siehe da, unten drin klapperte etwas. Ein Zahn. Ein harmloses Klümpchen Dentin, Zahnschmelz und Pulpa. »Schauen Sie«, sagte er und hielt den Zahn hoch wie einen Hauptgewinn, »da haben Sie Ihren Beweis.«
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14 Charlie kam gegen drei Uhr morgens nach Hause und fand das Haus leer. »Sophie?« Sie war nicht in ihrem Zimmer. Sie war nicht im Wohnzimmer und auch nicht in der Küche. In seinem Arbeitszimmer brannte noch Licht, und auf dem Schreibtisch lagen lauter hässliche Tatortfotos verstreut. »Mist.« Er musste sie vergessen haben. Er ließ sonst nie irgendwelche Beweisfotos herumliegen, wo Sophie sie sehen konnte. Mit einer großen Taschenlampe in der Hand schob er sich durch die rückwärtige Fliegentür und suchte hinterm Haus zwischen den Mülltonnen und dem Gemüsegarten nach ihr, tappte durch die jungen Bohnen-, Mais-, Tomaten- und Kürbispflanzen. Der Strahl seiner Taschenlampe tanzte vor ihm her und beleuchtete zitternd die Astern und Indianerpinsel, während er auf die Wiesen hinausging, wo sie sich wahrscheinlich aufhielt. Vor Jahren, als Maddie noch lebte, hatten sie auf diesen Wiesen oft Picknick gemacht und waren in dem hohen Gras praktisch verschwunden. Dort draußen stand auch der Lieblingsbaum seiner Tochter, zu dem sie nach dem Tod ihrer Mutter immer gegangen war, um zu weinen. Mit schnellen Schritten lief er an den buschigen EschenAhornbäumen vorbei, hinter denen die offene Prärie begann. Er atmete erleichtert auf, als er unter der Pappel eine kleine Gestalt sitzen sah. »Sophie?«, rief er leise, um sie nicht zu erschrecken. Sie wandte sich ihm zu, das Gesicht verschattet. »Dad?« Sie saß am Fuß des Baumes, hatte die Knie hochgezogen und die dünnen Arme schützend um sie geschlungen. Es war eine mächtige alte Pappel mit einem über einen Meter dickem Stamm, und in den dunklen Spalten der Rinde wimmelte es von Blattläusen und Zecken. Der Stamm verzweigte sich zu einer 138
ausladenden Krone, deren unzählige spitze Blätter sacht an ihren abgeflachten Stielen zitterten. Immer wenn der Wind blies, glitzerte die Krone silbrig und lockte schon aus weiter Ferne, und wenn man darunter stand und die Augen schloss, erinnerte das Rauschen der Blätter an Meereswellen. Er setzte sich neben Sophie und bekam sofort einen feuchten Hosenboden. Als sein Atem wieder ruhig ging, sagte er: »Weißt du, wie spät es ist?« Jetzt konnte er sich den Luxus leisten, ärgerlich zu sein. »Du hast mich zu Tode erschreckt. War das deine Absicht? Dass dein armer alter Vater einen Herzanfall bekommt?« »Ja, mein teuflischer Plan funktioniert.« Sie zuckte zurück. »Mein Gott, hast du eine Fahne! Hast du getrunken?« Er wandte das Gesicht ab. »Du fährst betrunken Auto und machst dir Sorgen um mich?« »Du solltest nicht mitten in der Nacht draußen sein«, sagte er. »Im Ernst, Sophie. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?« »Wechsel nicht das Thema.« »Aha. Und was ist unser Thema?« »Dass du betrunken bist. Du hast mich angelogen. Du hast gesagt, du würdest bis Mitternacht zurück sein. Du bist ein trunksüchtiger Lügner!« Es traf ihn wie ein Schlag. Er rieb sich das müde Gesicht. »Du hast wieder vergessen, dein Handy einzuschalten. Ich konnte dich nicht erreichen.« »Warum hast du nicht Peg angerufen?« »Weil ich ihr nicht auf die Nerven gehen wollte. Ich wollte nur, dass du heimkommst.« »Sei mir nicht böse, Schatz. Ich hab heute Nacht was wirklich Unangenehmes tun müssen.« Sie sah ihn bekümmert an. »Ja? Was denn?« 139
»Das kann ich dir nicht sagen.« »Warum nicht?« »Es gibt nun mal Dinge, über die ich nicht mit dir reden kann, Sophie.« Ein Kaleidoskop von Bildern zog an seinem inneren Auge vorüber, entnervende Bilder, die ihn meist mitten in der Nacht heimsuchten, wenn er sich am wenigsten vor ihnen schützen konnte. »Trotzdem … Mom würde fuchsteufelswild werden.« »Ich weiß.« Er ließ den Kopf hängen. »Ich hab dich lieb, Dad, aber du stellst meine Geduld auf eine harte Probe.« Er konnte nichts dagegen tun. Er lächelte, verkniff es sich gleich, aber sie hatte es schon gesehen und betrachtete ihn jetzt mit kaum verhohlener Verachtung und leicht geöffnetem Mund. »Du findest das auch noch lustig?« »Nein. Überhaupt nicht.« Sie wandte sich mit gespieltem Ekel von ihm ab. Er spürte ihren Vorwurf wie einen Knoten in der Brust und betrachtete ihr verärgertes Gesicht. Sie roch nach billigem Parfüm, diesen Pröbchen, die sie in den Kaufhäusern verteilten. »Hey«, sagte er. »Verzeih mir.« »Mom hätte dir das nicht durchgehen lassen.« »Ich weiß.« Die Worte glitten ihm wie Rauch von der Zunge und in die Nacht hinaus. »Du hast ja Recht. Keine Ausreden mehr.« Im Mondschein regte sich neues Leben auf den fruchtbaren Wiesen und Feldern, grüne Blättchen gleich zusammengerollten Pfötchen entfalteten sich. »Ich bin hierher gekommen, und eine Weile war es wunderschön«, sagte sie, »aber dann hab ich überall so komische Schatten gesehen.« 140
»Ist ja gut. Ich bin ja wieder da.« Sie vergrub das Gesicht in den Händen. »Es kommt nicht mehr vor, ich versprech’s dir.« Er strich ihr übers Haar. »Das Letzte auf der Welt, was deine Mutter ertragen würde, wäre, dass du unglücklich bist.« »Weißt du noch, unsere Picknicks hier?«, fragte sie, wischte sich die Augen und setzte ein tapferes Lächeln auf. »So was machen wir überhaupt nicht mehr.« Er spürte einen bohrenden Schmerz in der Herzgegend. »Ich bin wohl in letzter Zeit kein besonders guter Vater gewesen, hm?« Sie kauerte sich ganz eng zusammen, und eine Zeit lang schwiegen beide. Seine Absätze rutschten immer wieder auf dem weichen, feuchten Boden weg. Vor ihnen zirpten die Grillen, ein schriller, rhythmischer Chor. Er knipste die Taschenlampe aus, und langsam offenbarte sich ihnen die Nacht. Klar schimmerte die Luft im Mondlicht. Biergelb flimmernde Lichter in der Ferne zeigten an, wo das Zentrum von Promise lag. So also sah die Welt aus, wenn sie endlich wieder zu Atem kam. »Weißt du, was für mich das Schrecklichste überhaupt ist?«, fragte sie mit heiserer Stimme. »Ja?« »Dass ich nicht bei ihr sein konnte, als sie gestorben ist.« »Deiner Mutter ist es am Ende sehr, sehr schlecht gegangen.« Sie wischte eine Träne weg. »Ich hab die erste Zeit ständig von ihr geträumt, aber jetzt träum ich nicht mehr von ihr, Dad.« Er nickte stumm. Er auch nicht. Er dachte oft an Maddie, aber seine Träume lösten sich mit dem Morgennebel auf. Nur die Alpträume waren hartnäckig. Sie sah ihn an, einen entschlossenen Zug um den Mund. 141
»Grandpa sagt, wir sind sowieso alle nur Futter für die Würmer.« »Dein Großvater ist ein alter Narr. Hör nicht auf ihn.« Sie schaute zum Himmel, in ihren ernsten Augen spiegelten sich zwei winzige Monde, zwei glitzernde runde Scheibchen. Tränen quollen durch ihre Wimpern und liefen ihr die Wangen hinab. »Ich hab vergessen, ihr was zu sagen«, gestand sie. »Was denn?« »Ich hab vergessen, ihr zu sagen, was für eine wunderbare Mutter sie war.« »Dann sag’s ihr doch jetzt.« Gänsehaut überlief seine Arme, als er zusah, wie sie ihre traurigen, liebevollen Gedanken in die Nacht schickte. Er konnte es nicht mehr sehen und wandte sich mit einem Kloß im Hals ab. Das Gras vor ihren Füßen teilte sich im Wind in Kanäle und Flüsse. Er hörte das geschäftige Treiben der Nachttiere – Fledermäuse flatterten, Waschbären raschelten, Stinktiere schlurften leise umher. Sein Hals war ausgedörrt, und plötzlich sah er kristallklar das Feuer vor sich, die Funken sanken herab wie Schneeflocken. Er erinnerte sich an den ohnmächtigen Zorn seines Vaters, an die Riemen und die Fäuste. Vielleicht, dachte er, war er als Kind so verroht, dass er manchmal gleichgültig gegenüber dem Schmerz seiner Tochter sein konnte. »Meinst du, sie hat mich gehört?«, fragte sie leise. »Natürlich«, sagte er. Er hätte es auch gern gewusst. Er legte die Arme um sie, und nach und nach erlahmte ihr Widerstand. Als er nicht losließ, schmiegte sie sich schließlich an ihn und brach in Tränen aus, und ihr Schluchzen klang rein und klar wie Glockengeläut.
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DEM MAI WILL STURM DIE BLÜTENPRACHT NICHT GÖNNEN
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1 Alle Bretter im Haus kreischten auf einmal, als würden tausend Nägel gleichzeitig aus den Wänden gezogen. Es folgte ein dumpfer Schlag, und die vierundfünfzigjährige Birdie Rideout fürchtete um ihre modernen schwedischen Möbel, die niedrigen Segeltuchstühle im Wohnzimmer, Sailors Fernsehsessel, die Esszimmergarnitur und das Schlafzimmer mit seiner Tapete in Rosé und Persimone. Ihr Haus, ihr wunderschönes Haus, krachte in allen Fugen. Der Tornado musste schon sehr nahe sein. »Es wird uns doch nichts passieren?«, fragte sie zum hundertsten Mal ihren Mann. Es war nach Mitternacht an einem kalten 10. Mai, und der Sturm war plötzlich und unerwartet losgebrochen. Schon zehn Minuten nach dem Heulen der städtischen Sirene war der Strom ausgefallen. Sailor Rideout griff sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel. Er ärgerte sich über seine Frau und setzte eine steinerne Miene auf, um wenigstens ein Mindestmaß an männlicher Tapferkeit zur Schau zu tragen. Sie saßen dicht nebeneinander in der Garderobe auf dem schmalen Polsterbänkchen an der Wand, und sie hielt die Taschenlampe. Von unten beleuchtet, erinnerte sie Sailors Gesicht an einen Halloween-Kürbis. Es wirkte auf theatralische Art gespenstisch. »Uns passiert schon nichts, altes Mädchen«, sagte er. »Aber er kommt auf uns zu. Ich spür das.« »Gott hat uns doch immer beschützt, oder?« Seine Hand fühlte sich kühl an auf ihrer Haut. Sailor konnte schon seit Jahren seine Gürtelschnalle nicht mehr sehen, aber Birdies Puls ging immer noch schneller, wenn sie ihn in einem unbeobachteten Moment sah, während er gerade sein graues Haar glatt strich oder seine
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Hühner beobachtete und sein Bauch wie eine Teigmasse über den Bund seiner Jeans hing. Jetzt hämmerte etwas auf das Dach, als wollte es hereingelassen werden, und einen prickelnden Moment lang stellte sie sich vor, sie beide würden weggeweht werden wie Löwenzahnsamen. Sie umarmte Sailor ganz fest. Vor einer Dreiviertelstunde hatte sie noch wohlbehalten auf der Couch im Wohnzimmer gelegen und sich in dem altersschwachen Zenith alte Filme angesehen. Ihr Mann konnte schlafen wie ein Toter, aber Birdie nicht. Sie musste sich mit Bechern warmer Milch, Extrakissen auf der Couch und jeder Menge Fernsehen spät in der Nacht einlullen. Und jetzt saßen sie hier, hockten in der Garderobe wie zwei verängstigte Kinder und warteten darauf, dass der Tornado sie zerkaute und über den weiten Ebenen wieder ausspie. Die Wohnzimmerfenster machten Radau wie unruhige Gäste. Überall im Haus krachte und knallte es, und sie spürte es jedes Mal bis in die Knochen. Der Tornado war ein Düsenflugzeug, das auf sie herabstieß. Sailor saß vor Erschöpfung in sich zusammengesunken da, und als sie ihm die Hand auf den Arm legte, spürte sie, dass er heftig zitterte. »Sailor?« Sie ließ die Taschenlampe fallen und nahm seine Hand, dann spürte sie die nächste Erschütterung in ihren Beckenknochen. Die Bank, auf der sie saßen, vibrierte. Die Dachbalken über ihnen kreischten. Sie wollte nicht sterben. Es gab noch so viel zu tun. »Da, sieh mal!«, sagte sie, unwiderstehlich angezogen von einem ovalen Lichtschein, der unter dem Türspalt blinkte. Sailor wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. »Das sind bloß Blitze.« »Nein, sind es nicht!« Bevor er sie zurückhalten konnte, stand sie auf und öffnete die Tür. Ihr langes graues Haar peitschte ihr ins Gesicht. Ihr war, als hätte sie in dem Chaos und der 145
Dunkelheit des Hauses eine Gestalt gesehen, und sie folgte dem Phantom mit den Augen, aber es war niemand da. Sie erinnerte sich fröstelnd … Partykleider … Weihnachtsessen … ihr erster Lippenstift, ihr erster BH … die aufregenden Jungen … die Geburt ihrer beiden Söhne. Birdie hatte immer hier in Dogtooth, Texas, gelebt; ihre zwei älteren Schwestern waren nach Houston geflüchtet. Eine hatte einen Arzt geheiratet, die andere einen Anwalt, sie selbst war ihrem High-SchoolLiebsten treu geblieben. Sie schauderte und stieß die Tür gegen den Winddruck zu, dann setzte sie sich wieder neben ihn. »Ich liebe dich!«, schrie sie, um das Heulen des Sturms zu übertönen. »Das weißt du doch?« »Sei nicht albern«, rief er zurück. »Uns passiert schon nichts.«
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2 Tief in den Eingeweiden des Windtechnologisches Instituts in der Aufpralltestanlage herrschte konzentriertes Schweigen. Und ausgerechnet jetzt musste Willa Bellman der Magen knurren. Sie hatte am Morgen nur ein paar Bissen Toast gegessen und zu viel Kaffee getrunken. Sie hatte nichts hinunterbekommen. Das musste an diesem Wetter liegen. Es brachte sie ganz durcheinander. Willst du wohl Ruhe geben, du blöder Magen. Rick schraubte einen Kunststoff-Führungsring ins Ende des sieben Kilo schweren Bolzens. Er war heute ganz emsige Geschäftigkeit, ganz stirnrunzelnde Genauigkeit. Komm schon, Rick, sei ausnahmsweise mal ein bisschen spontan. Die beiden arbeiteten gut zusammen, und jeder wusste im Voraus, was der andere als Nächstes tun würde. Es lief alles wie ein Uhrwerk ab. Wie ein komplizierter Tanz. »Fertig«, sagte er, und gemeinsam schoben sie den fast zwei Meter langen hölzernen Bolzen, der aus Kiefernholz bestand und an der Spitze einen Radius von fünfunddreißig Zentimetern hatte, von vorn in den Lauf der Luftkanone. »Wie viele Tests müssen wir noch machen?«, fragte Willa und rang innerlich die Hände. »Aufprall und zyklische Ermüdung.« »Ach du meine Güte. Da stehen wir ja noch den ganzen Tag hier.« »So war’s auch gedacht, meine Liebe.« »Drei oder vier Stunden noch, Minimum.« Sie schaute auf die Uhr. Es war zehn Uhr an diesem bedeckten Montagmorgen mitten in der Hochsaison für Tornados, und sie spürte, wie sich in ihren Achselhöhlen Schweiß bildete – wieder einmal ließ ihr teures Deo sie im Stich. Heute war nicht ihr Tag. Sie hatte sich 147
hastig angezogen – Schlabberhosen und große Ohrringe –, und ihre fettigen, nach Kokosnuss riechenden Haare fielen ihr wie ein nasser Mop über den Rücken. Sie schnappte sich einen Gummiring und band sich rasch einen Pferdeschwanz, dann schaute sie sehnsüchtig auf den Bildschirm des Apple-Laptops auf dem voll gepackten Tisch. Die heruntergeladenen Oberflächendaten zeigten ein starkes dynamisches System, das heute durch Texas und Teile von Oklahoma zog, ein hübsches Wirbelmuster in Rot. O Gott. Radarbilder, die so atemberaubend waren, dass ihr buchstäblich das Wasser im Mund zusammenlief. Sie war das ganze Wochenende auf Sturmjagd gewesen und gierte nach mehr. Mehr, mehr, mehr. Sie konnte nicht genug davon kriegen. Es war wie eine Sucht. »Die SPC hat eine Tornadowarnung für East Texas sowie für die nördlich zentralen und nordwestlichen Gebiete von Oklahoma herausgegeben«, sagte sie zu Rick. Die SPC war die Sturmwarnzentrale in Norman, Oklahoma. »Gordo hat gerade angerufen: Nördlich von Texola baut sich noch ein Turm auf …« »Mein schlimmster Alptraum wird wahr«, sagte er. »An einem solchen Tag im Büro festzusitzen.« »KXDI Radio hat gerade eine weitere Warnung für den Panhandle durchgegeben, aber die Radar-Loops vom Wettersender zeigen dort noch nicht mal ein Echo an.« »Das ist das Problem. Die Information ist nicht aktuell.« »Schaust du dir mal diese Rotation an?« Sie stieß einen leisen Pfiff aus. Die Satellitenaufnahme zeigte ein phantastisches rotierendes Wolkenmuster, eine große rote Zelle, die von Südwest nach Nordost zog. »Da müssen wir hinterher, oder? Oder, Rick?« Sie schenkte ihm ihren speziellen Augenaufschlag und klimperte mit den Wimpern. »Was«, fragte er leicht irritiert, »jetzt?«
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»Ja, jetzt. Warum nicht? Oder willst du dir diesen Mordsspaß entgehen lassen?« Er lächelte, ein Opfer widerstrebender Emotionen. Aber er war nun mal eine Nervensäge, er war nun mal ein Korinthenkacker ersten Grades: Er schüttelte den Kopf. »Halt den Mund und führe mich nicht in Versuchung. Jacobs wollte die Testergebnisse schon gestern haben. Er reißt uns den Kopf ab.« »Ja, na ja … wie die Queen of Soul sagen würde, ich bin nicht zu stolz, um zu bitten.« Ihr Komplize hatte die ernste, berechnende Miene aufgesetzt, über die sie sich gern lustig machte. Zu kurz geraten, Streberin, Mathegenie, ich wette, die anderen Kinder haben dich gehänselt, dir Reißzwecken auf den Stuhl gelegt und dir Zettel an den Rücken geklebt – und ob sie ihr das angetan hatten! Ach je, man hat’s nicht leicht, wenn man arm ist, wenn … Immer nur getragene Sachen, immer zu groß oder zu klein – und unmodern. Zwei ältere Schwestern, und sie musste immer die alten Sachen auftragen. Nicht genug Wasser im Brunnen, sodass sie sich nur einmal die Woche die Haare waschen konnte, und als die Pubertät einsetzte, bekam sie Akne und Schuppen … Schuppen auf den Schultern, und die anderen Mädchen waren gemein zu ihr, weil sie so arm und gescheit war, ein doppelter Fluch … gescheiter, als ihr zustand. Sie hänselten sie erbarmungslos, wie es Mädchen manchmal tun, und immer suchen sie sich die Schwächste dafür aus … Ihr Lockenhaar wurde zum Wochenende hin immer fettiger … Ihr Vater hatte sie in eine neue Welt eingeführt, die Welt der Sturmjäger. Er hatte sie von ihrem Kleinmädchenunglück erlöst, und sie hatte tolle Leute kennen gelernt, intelligente Leute, Leute mit viel Humor. Wenn man Jagd auf Stürme machte, spürte man den Boden unter den Füßen nicht mehr und wurde an einen anderen Ort versetzt … einen ganz besonderen Ort. Ihr Dad war so intelligent und lustig und zitierte immer Shakespeare: »Soll ich denn einen Sommertag dich nennen, 149
dich, der an Herrlichkeit ihn überglänzt? Dem Mai will Sturm die Blütenpracht nicht gönnen, und Sommers Herrschaft ist so eng begrenzt.« Er beschimpfte die anderen Sturmjäger immer mit erfundenen Shakespeare-Sonetten: »Was wechselst du so jählings deine Spur? Gebricht es dir an einem Blinker, Narr?« Er war lustig, aber er konnte auch streng sein und akzeptierte nur die besten Noten, obwohl Mädchen nicht intelligent zu sein brauchten, zumindest dort, wo Willa aufgewachsen war. »Du denkst, ich trau mich nicht, Jacobs zu bitten, dass er uns heute Nachmittag freigibt?«, fragte sie ihn. »Du denkst, ich schaffe es nicht, mich vor ihm in den Staub zu werfen?« Sie zeigte auf den Bildschirm. »Schau! Hohe Aktivität!« »Ich ziehe zweifelnd die Braue hoch.« »Das ist Twister-Wetter, mein Lieber. Todsicher.« »Darf ich um Konzentration bitten? Auf die vor uns liegende Aufgabe?« »Na schön. Es ist deine Beerdigung, Kumpel.« Die Aufpralltestanlage bestand aus einer Luftdruckkanone, mit der man Holzstücke mit Geschwindigkeiten bis zu 120 Meilen pro Stunde auf ein Testmaterial abfeuern konnte, um die Resistenz des Materials gegen herumfliegende Trümmer zu testen. Die Kammer war zwölf Meter lang und fünf Meter hoch, und Rick und Willa waren daran gewöhnt, dass ihre Stimmen in diesem Tunnel vielfach widerhallten. Man hatte die tristen Wände der Anlage orange gestrichen, um sie etwas freundlicher erscheinen zu lassen, aber die künstliche Heiterkeit verstärkte nur noch den trostlosen Eindruck. Nach ein paar Stunden hier unten überkam einen der unbändige Drang nach Bewegung unter freiem Himmel. Und an diesem Tag waren sie schon seit sieben Uhr morgens hier. Willa schaltete das geeichte elektronische Messgerät ein, mit dem man die Aufprallgeschwindigkeit des Geschosses ermitteln konnte. Dann ging sie ans Verschlussende der Kanone und 150
stellte den Arbeitsdruck ein. Der Lauf war sechs Meter lang, ein orangefarben gestrichenes PVC-Rohr, das vorn und hinten auf je einer Metallstütze ruhte. Gegen den Rückstoß war die Kanone durch drei Winkelstreben gesichert, die im hinteren Teil der Kammer am Boden befestigt waren, und die Stützen wurden zusätzlich durch mehrere Sandsäcke gesichert. An diesem Tag testeten sie eine Charge Türblätter aus »Foamcrete« auf ihre Widerstandsfähigkeit, aber das Material hielt nicht, was der Hersteller versprach. Die Firma, KeepSafe, war auf oberirdische Tornado-Schutzbauten spezialisiert und wollte den neuen Werkstoff von der NASA zertifizieren lassen, aber daraus würde nichts werden. Jedenfalls nicht, solange Willa Bellman ein Wörtchen mitzureden hatte. »Warum können wir nicht einfach ›Das Zeug taugt nichts‹ in das Formular schreiben?«, fragte sie, und Ricks verklemmter Ausdruck wich einem Lächeln. »Ah, ein Riss in der Fassade! In einer Stunde zweimal gelächelt!« »Du bist unmöglich.« »Schaust du dir das bitte mal an?« Sie zeigte auf den RadarLoop. »Aufeinander prallende Luftmassen! Starke Stürme wahrscheinlich!« Er arbeitete systematisch weiter, kontrollierte alles zweimal und brachte Ordnung in seine Daten, aber sie sah ihm an, dass seine Entschlossenheit allmählich schwand. »Du willst es doch auch«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Du hältst es kaum aus!« »Es reicht.« »Komm schon, gib’s zu.« Aus dem Radio kam die schöne, tiefe Stimme von Lou Reed in seiner Velvet-Underground-Periode.
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»Probieren wir’s diesmal mit einer niedrigeren Geschwindigkeit«, sagte er. »Niedriger? Wie viel niedriger? Warum bewerfen wir das Zeug nicht gleich mit Schildkröten? Dieses Material erfüllt offensichtlich nicht die FEMA-Anforderungen. Die beiden letzten Platten entsprechen eindeutig nicht der Norm, muchacho.« »Jetzt tu mir doch den Gefallen.« Sie seufzte, von Frustration überwältigt. Sie wollte den wolkigen Tag im Gesicht spüren, den Wind in den Haaren. Ihr Vater hatte sich immer erst seine Kamera und dann sie geschnappt, und sie waren in seinem ramponierten Rambler aufgebrochen, nur sie beide auf einer Fahrt ins Blaue. Er konnte mit den Ohren wackeln. Er konnte Blitze riechen. Sie kurbelte immer ihr Fenster herunter und hielt das Gesicht zum Himmel, dicke Regentropfen küssten ihre Lippen und Wimpern. Ein Donnerschlag, und schon hielten sie wieder an und bauten das Stativ auf. »Der Todeskuss«, sagte er. »Das Aufbauen einer Kamera für ein Blitzfoto ist der Todeskuss. In dem Moment, wo man den Verschluss aufmacht … pfft, kein Blitz mehr.« Am anderen Ende der Kammer, unter der schalldämmenden Deckenverkleidung, war eine Testplatte mit der Aufschrift »KeepSafe« mit acht gelben Klammern an einem Reaktionsrahmen befestigt. Der Reaktionsrahmen hatte zwei Funktionen: Zum einen hielt er die Testplatte aufrecht, zum anderen verhinderte er, dass das Geschoss in die Rückwand eindrang. Willa wartete ungeduldig darauf, dass der Luftdruck in dem 200-Liter-Wassertank im Raum nebenan die erforderliche Höhe erreichte. Der Wassertankraum war nicht größer als ein Wandschrank und von der Aufpralltestanlage durch eine lange, schmale Glasscheibe getrennt. Der Wassertank war mit der Luftdruckkanone durch einen Vollkern-Kugelhahn verbunden, der per Fernsteuerung bedient werden konnte. 152
»Im Vorhersagegebiet besteht hohes Risiko«, sagte sie. »Es ist möglich, dass sich am Nachmittag einzelne Superzellen abspalten.« »Stopp.« Er richtete das PVC-Rohr sorgfältig auf den Mittelpunkt der Testplatte aus. »Du nervst.« »Komm schon, du Feigling.« »Du bist in einer ganz komischen Stimmung.« »Heftige Gewitter.« »Reiß dich zusammen, Weib.« »Soll ich’s bleiben lassen, willst du das wirklich?« Er sah sie einen Moment lang beunruhigt an. »Die Wahrheit?« »Die Wahrheit.« »Nein.« »Hey, wow, ist ja toll! Schnell, schnell! Die Wettergötter lächeln auf uns herab.« »Machen wir erst noch diesen Test fertig, okay?« »Okay.« Sie blies sich ein paar lange wilde Haarsträhnen aus den Augen. »Der Druck baut sich noch auf«, sagte sie, sah auf die Uhr und warf dann wieder einen Blick auf den Laptop. Während sich die Konvektion zusammenbraute, wurden sicher schon in zwei Staaten Wachen aufgestellt und Warnungen herausgegeben. Gute Nachrichten für ein paar, schlechte Nachrichten für viele. Innerhalb weniger Sekunden alles zu verlieren, was man besaß, war keine Kleinigkeit. Zwanzig Tonnen Druck auf ein kleines Haus, und es gelangte ziemlich schnell an die Grenze seiner Widerstandsfähigkeit. Immer und immer wieder hatte Willa die unvorstellbare Gewalt dieser Stürme erlebt. Doch die Statistiken waren eindeutig: Tornados forderten in Amerika jährlich nur achtzig Menschenleben; beim Baden kamen viertausend um, durch Verkehrsunfälle vierzigtausend.
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»Ich habe die Aufprallgeschwindigkeit diesmal auf hundert gesetzt«, sagte sie. »Das ist niedrig genug.« Er schaltete die Videokamera ein und nahm die Fernbedienung zur Hand. »Achtung, es geht los.« Sie setzte sich ihre orangefarbenen Ohrenschützer auf, die alle Geräusche dämpften, und atmete tief ein, während Rick auf die Fernbedienung drückte. Fast unmittelbar entließ der Kugelhahn mit einem unangenehmen Geräusch die Pressluft aus dem Wassertank, und der Luftdruck trieb das Testgeschoss aus dem Lauf der Kanone. Der sieben Kilo schwere Bolzen kam mit einer solchen Geschwindigkeit aus dem Lauf, dass das Auge nicht folgen konnte, und das minderwertige KeepSafe-Material barst in tausend Stücke. Willa atmete hörbar aus. »Schau dir das an«, sagte Rick und notierte etwas auf seinem Klemmbrett. »Die Testplatte wurde glatt durchschlagen.« Willa nahm die Ohrenschützer ab, glättete ihr Haar und ging nach vorne zu der zerstörten Testplatte, vor der rauchende Splitter lagen. Der Bolzen war nur leicht beschädigt. Sie nahm die Klemmen ab und legte die Reste der Testtafel auf den Boden. »Er hat die Außenhaut zerstört und die Isolierung durchschlagen«, sagte sie. »Das Material weist auf der Rückseite schuppenartige Beschädigungen auf.« »Ja, das hab ich mir schon gedacht. Die gemessene Geschwindigkeit betrug hundertzwei Komma acht Meilen pro Stunde. Noch ein erfolgloser Test.« »Tja, die Jungs werden sich noch mal an die Zeichenbretter setzen müssen«, sagte sie, nahm die Schutzbrille ab und massierte sich die Nasenwurzel. Sie nahm ihr Klemmbrett und machte sich ihre Notizen. Damit ein Kunde die Zertifizierung bekam, mussten Wände, Dach und Türen des Schutzbaus dem Aufschlag vom Sturm herumgewirbelter Objekte standhalten. 154
Erfüllte das Material nicht die Anforderungen der Norm, SSDT 11-93, dann fiel es durch. Und wer keine Zertifizierung bekam, machte auch keine Umsätze. »Ich, Willa Bellman«, las sie aus dem Zertifizierungsformular vor, »Angestellte von dadada, beeidigte und so weiter, erkläre hiermit nach bestem Wissen und Gewissen, dass die Aufschlagtests an diesen Platten nicht bestätigt haben, dass der Werkstoff den Anforderungen genügt … Nicht unterstrichen.« »Das ist ein Kastendrachen. Fehlt bloß noch die Schnur.« »Stempel ein großes dickes F auf das Zeug.« Sie schaute wieder auf die Uhr. »Ich geh jetzt zu Jacobs. Bist du so nett und machst den Papierkram noch fertig, Rick? Wir müssen um eins los, sonst verpassen wir das Beste.« Er lachte zynisch. »Du bist dir deiner Sache aber sehr sicher.« »Nur die Ruhe. Der Herr Professor ist Wachs in meinen Händen.« Sie überlegte einen Moment mit den Händen in den Hüften. »Was meinst du, sollen wir Charlie mitnehmen?« Er warf ihr einen herablassenden Blick zu. »Charlie?« Er grinste sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Du bist doch scharf auf ihn.« Sie spürte, dass sie rosa Ohren bekam. »Oder etwa nicht? Komm schon, gib’s zu. Wir sind ja unter uns.« »Drei Worte: Halt dein Lästermaul.« »Na, na, wer wird denn gleich so empfindlich sein!« »Was soll der Quatsch? Ich hab ihm angeboten, ihn mal auf die Jagd mitzunehmen. Er hat gesagt, das würde ihm bei den Ermittlungen helfen. Was ist dagegen einzuwenden? Und dieser Tag heute ist so gut wie jeder andere, n’est-ce pas?« »Aber klar doch.« Er senkte den Kopf und füllte weiter seinen Bericht aus.
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Sie stand vor ihm und sah ihn an, als brauchte sie seine Erlaubnis. Sie fühlte sich ein bisschen schwindlig. Schmetterlinge im Bauch. »Hm, lass mich mal noch einen Moment überlegen und die Sache noch ein bisschen hinauszögern.« Rick schaute auf. »Du treibst mich noch zum Wahnsinn. Worauf wartest du noch?« »Ich weiß nicht. Worauf warte ich?« Sie spielte zerstreut mit ihrem Pferdeschwanz, zog den Gummiring ab und ließ das schwarze Haar über ihre Schultern fallen. »Vielleicht ist es doch keine so gute Idee.« »Und warum nicht?« »Ich weiß nicht.« »Du solltest dich sehen. Du siehst hinreißend aus.« Sie zuckte zusammen. »Ich habe ein großes Mondgesicht. Und abstehende Ohren.« »Gib nicht so an. Du machst mich krank.« Er warf ihr sein Handy zu. »Hier. Tu, was du nicht lassen kannst.« Sie ging an den Laptop, wo das heruntergeladene Radarbild sich verführerisch immer wieder neu aufbaute – jag mich, jag mich. Diese gewaltige Wolkenmasse, die sich da über zwei Staaten hinwegwälzte. Rick stellte sich taub, als sie die Nummer des Polizeireviers wählte. »Hallo?«, sagte sie und spürte, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich. Sie musste sich hinsetzen. »Charlie? Ich bin’s, Willa Bellman … Hören Sie zu, möchten Sie heute mit auf die Jagd gehen?« Charlie zögerte. »Jetzt gleich?« Der Empfang war gestört. »Ja, warum nicht? Der Himmel sieht viel versprechend aus. Wie wär’s mit ein Uhr?« Langes Schweigen.
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»Wissen Sie, die Satellitenbilder sind phantastisch.« Sie fühlte ihr Herz klopfen. »Der Taupunkt ist von unter zehn auf über zwanzig Grad gestiegen. Wir erwarten heute Nachmittag eine Tornado-Lage in Oklahoma, und zwar infolge einer östlichen Komponente des Bodenwindes nördlich der Frontalzone …« Er musste lachen. »Was war das?« »Englisch.« »Praric-Englisch vielleicht.« »Sie sind ziemlich witzig für einen Polizisten.« »Und Sie sind ziemlich witzig für eine Wind … was auch immer Sie sind.« »Windingenieurin.« Sie lächelte froh. »Also abgemacht? Um eins? Ich hol Sie ab?« »Klingt gut.« Er beschrieb ihr den Weg, und sie notierte es sich, die Faust um den Bleistift gekrampft. »Okay«, sagte sie, legte auf und drehte sich um. Sie wunderte sich über sich selbst. Hatte sie ihm gerade eine Sturmjagd versprochen, bevor sie auch nur mit Jacobs geredet hatte? War sie nicht mehr ganz bei Verstand? Rick schob seine Brille hoch. »Und? Kommt er mit?« »Ja. Alles okay. Also, folgender Plan: Ich werde bei Jacobs vorstellig. Und du machst das Rattenmobil fahrbereit.« Sie holte ihre Schlüssel hervor und warf sie ihm zu. Rick fing sie mit einer Hand auf. »Okay, Ricky?« »Ich bin dicht hinter dir, Lucy.« Grinsend ging sie zur Tür.
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3 Mike Rosengard stand in seinem tadellos gebügelten Anzug in der Tür, und die Lider hingen ihm schlaff über die feuchten Augen. »Na, gute Nachrichten?«, fragte er, als er Charlies Lächeln sah. »Ich geh wahrscheinlich heute Nachmittag auf Sturmjagd.« Sein Freund Mike, der Einzige, der ihm ins Gewissen reden durfte, schaute aus dem Fenster. »Mutter Natur in düsterer Stimmung heute. Da geht man ihr wohl besser aus dem Weg.« »Ich hab mir nur gedacht, vielleicht entdecke ich noch ein paar Nummernschilder. Und kann mit ein paar Sturmjägern sprechen.« Er zupfte an seiner Lippe und beäugte dann den Umschlag, den Mike in den tintenverschmierten Händen hielt. »Gute Nachrichten, hoffe ich?« »Wir haben endlich die Laborwerte bekommen, Chief. Die Blutproben wurden als die der Opfer identifiziert.« »Ausnahmslos?« »Ja, alles – Spritzer, Schmierer, Flecken.« Das half ihnen nicht weiter. »Und die Fingerabdrücke?« Mike zog den Stapel Papier aus dem Umschlag und setzte sich. »Von den dreiundneunzig latenten Abdrücken, die wir am Tatort genommen haben, wurden achtzehn Bob Pepper, einundzwanzig Jenna, zwölf Danielle und mehrere Dutzend Freunden, Verwandten und Kriminalbeamten am Tatort zugeordnet. An den hölzernen Waffen waren keine Fingerspuren.« »Er hat also nie die Handschuhe ausgezogen?« »Sieht so aus.«
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Charlie schaute sich in seinem Eckbüro um. Alles erinnerte an die Wochen, die er damit verbracht hatte, die ermüdenden Details des Falles durchzuarbeiten. Zeugenaussagen, Tatortfotos, leere Kaffeetassen, von Memos überquellende Eingangskörbe. Man musste schon eine Engelsgeduld haben, um mit einem solchen Fall leben zu können. Sie hätten von allem mehr gebraucht – mehr Personal, mehr Geld für Überstunden, mehr Ressourcen, mehr Glück. »Und die Haarproben?«, fragte er. »Ein paar lassen sich mit einiger Sicherheit Jenna, Rob und Danielle zuordnen«, sagte Mike. »Dann haben wir noch ein blondes unbekanntes und sieben braune unbekannte Haare unterschiedlicher Länge.« Charlie schüttelte den Kopf. »Selbst wenn wir da eine Übereinstimmung mit dem Haar des Täters nachweisen könnten, würde das vor Gericht nicht ausreichen. Der Tornado könnte sie im Haus verteilt, sie von anderswo hergeweht haben.« Mike sah die restlichen Seiten des Berichts durch. »Keine Haarwurzeln. Eine DNA-Untersuchung ist also nicht möglich.« Charlie wusste, dass kein Kriminaltechniker mit absoluter Sicherheit feststellen kann, ob ein bestimmtes Haar vom Kopf einer bestimmten Person stammt, jedenfalls nicht, wenn keine DNA-Untersuchung gemacht wird, und die DNA kann man nur untersuchen, wenn man eine Haarwurzel oder anhaftendes Follikelgewebe hat. »Also, wenn ich das richtig sehe, haben wir kein Blut, keine Fingerabdrücke und keine Verdächtigen.« Er schaute Rat suchend zur Decke. »Vielleicht sollte ich’s mal mit einem Medium probieren.« »Wieso erkennt eigentlich kaum ein Medium, dass du ein Bulle bist?« Charlie lächelte schwach. Ein Windstoß ließ die Jalousien klappern. Aus seinem Bürofenster hatte er einen schönen Ausblick auf den Parkplatz und ein handgemaltes Plakat für Bernies Kläranlage. Die Polizeiwache war in den granitenen 159
Eingeweiden des Kreisverwaltungsgebäudes untergebracht und bestand aus vier Häftlingszellen, einem Aufenthaltsraum, der auch als Speisesaal herhalten musste, und dem Schreibtisch des Diensthabenden in der Ecke des Bereitschaftsraums. Charlies Büro im Erdgeschoss war voll gestopft mit Pappkartons und alten Dienstplänen. Die Papierkörbe wurden aufgrund von Sparmaßnahmen nur noch einmal die Woche geleert. »Dann haben wir noch das hier.« Mike gab ihm ein Foto von einem unvollständigen Schuhabdruck – hellviolett, weil er mit Diaminobenzidin behandelt worden war. »Woher hast du das?« »Die Jungs im kriminaltechnischen Staatslabor sind unermüdlich«, sagte Mike. »Weißt du noch, der Haufen Glasscherben in der Küche? Die haben alle wieder zusammengesetzt wie ein Puzzlespiel und daraufhin diesen unvollständigen Abdruck gefunden. Ganz schön clever, was? Wie sich herausgestellt hat, stammt er von einem Joggingschuh einer bekannten Marke, dem linken. Die Labortechniker konnten sich allerdings über die Schuhgröße nicht einigen.« Charlie nickte. »Sie sind sich nicht einig?« »Sie tippen auf dreiundvierzig oder vierundvierzig, männlich. Aber sie müssten den Abdruck mit einem Schuh des Verdächtigen vergleichen, um absolut sicher sein zu können. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« »Du meinst, mit etwas, das wir nicht haben?« »Ja, genau.« Er lachte bedauernd, holte dann sein Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn ab. Sein Gesicht war gerötet und grobporig. »Wie kommt’s eigentlich, dass mich dieser Fall so ins Schwitzen bringt und dich anscheinend nicht?« Charlie lächelte. »Hast du letzte Nacht überhaupt geschlafen?«
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»Soll das ein Witz sein? Ich wälze mich die ganze Nacht herum, und dann, gerade wenn ich am Einnicken bin, fängt das Gehämmer an.« Charlie wusste, wovon er sprach. Jeder Morgen begann mit dem Klopfen von Hämmern. Zu nachtschlafener Zeit, noch bevor die Vögel aufwachten, verkündete das Grollen von Bulldozern die Ankunft der Bauarbeiter, Dachdecker, Klempner, Maler und Tapezierer. Ein Drittel der Stadt sah aus wie ein Kriegsgebiet, mit seinen Lagerfeuern und entlaubten Bäumen, seinen Trümmerhaufen, auf die ZU VERKAUFEN – RENOVIERUNGSBEDÜRFTIG gesprüht war. Man sah so viele Schilder in den Vorgärten wie in einem Wahljahr. Die Menschen zogen in Scharen weg, während die Schadensschätzungen stiegen und stiegen. Die Federal Emergency Management Agency hatte erschütternde Zahlen für das County veröffentlicht: 137 Einfamilienhäuser waren zerstört, weitere 420 Häuser waren mehr oder weniger stark beschädigt, 65 von insgesamt 760 Farmen waren verwüstet. In Promise war der Wasserturm, zerdrückt wie eine Bierdose, quer über die Straße gestürzt und hatte eine ganze Hühnerfarm fortgeschwemmt. Die Gesamtschäden wurden auf 40 Millionen Dollar geschätzt, und die Schadensregulierungsstelle hatte einen Tag der offenen Tür nach dem anderen. »Ich bin aus der Großstadt weggezogen«, sagte Mike, »weil man in Boston nur die Hintertür vom Nachbarn gesehen hat. Hier draußen hat man freien Blick bis zum Horizont. Aber genau dieser Horizont jagt mir inzwischen eine Heidenangst ein.« »Hauptsache, du machst dich nicht wie so viele andere aus dem Staub.« »Kommt nicht in die Tüte. Wir halten durch. Wir sind Rosengards.«
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Charlie gab ihm lächelnd das Foto zurück. »Was hast du sonst noch für mich, Mike?« »Das hier wird dir gefallen. Fasern von den Kleidern der Opfer.« Er zog noch einen Laborbericht aus dem Umschlag. »Zahlreiche blauschwarze Wollfasern, die bei allen drei Opfern gefunden wurden.« Schnell, aber mit großem Interesse las Charlie den Bericht. »Wir suchen also nach einem blauschwarzen Kleidungsstück aus Wolle? Handschuhe, Pullover, Schal … vielleicht eine Skimaske?« »Eigentlich ein bisschen zu warm für Wollsachen, oder?« »So richtig warm war’s am fünfzehnten April nicht. Vor dem Sturm war es ziemlich schwül, aber dann gab es einen jähen Temperatursturz.« »Trotzdem, wer trägt denn bei solchen Wetterverhältnissen Wollsachen?« Charlie rieb sich die verspannten Nackenmuskeln. Seine Haut ließ sich zu leicht über den Knochen verschieben. Er hätte merken müssen, dass etwas nicht in Ordnung war, bevor Maddie krank wurde. Alle Anzeichen waren da – Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel, Alpträume, Schlaflosigkeit. Symptome eines Gehirntumors. »Das ist die Grippe«, hatte sie behauptet. »Ich hab in letzter Zeit viel Stress gehabt, das vergeht.« Aber es war nicht vergangen. Schlechte Nachrichten kündigten sich immer durch alle möglichen Zeichen an. Die ganze Zeit hatte er das unheimliche Gefühl gehabt, dass etwas Schlimmes bevorstand. Er hätte es nicht ignorieren dürfen. »Wir sind im Umkreis von drei Meilen von Tür zu Tür gegangen und haben alle befragt.« Mikes Augenlider flatterten wie Mottenflügel. »Niemand hat einen Fremden gesehen oder ein verdächtiges Fahrzeug.« 162
»Und Conrad Holzman?« »Der hat ein bombensicheres Alibi, Chief.« »Jonah Gustafson?« Mike rieb sich das Auge und betrachtete seine Fingernägel. »Ein paarmal Trunkenheit am Steuer und eine Anzeige wegen versuchter Vergewaltigung, das war 1981. Wir haben eine Telefonnummer, aber er geht nicht ran.« Charlies Finger zuckten auf der Schreibunterlage. »Bleib dran. Ich will mit ihm reden.« »Das Beste habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben.« Mike zog noch einen Bericht aus dem Stapel und überflog die mit Kaffeeflecken verzierten Seiten. »In Jenna Peppers Vagina wurde Sperma gefunden, und es war nicht das von Rob. Es stammt von einem anderen. AB positiv.« Charlie fasste sich ans Kinn und fuhr über seine Bartstoppeln. »Und das Mädchen?« Mike überflog eine andere Seite. »Hier steht: ›Keine Rissoder Quetschwunden. Keine Verletzungen durch vaginale Penetration. Keine Spermaspuren in oder auf dem Körper. Auch kein Sperma unter dem Mikroskop zu erkennen.‹ Ihr Jungfernhäutchen war intakt. Wenigstens etwas.« Mike schüttelte sein Unbehagen ab. Niemand dachte gern an das tote Mädchen. »Von Jenna müssten sie bald die DNA-Untersuchung haben.« »Zeig her.« Charlie studierte den Bericht. Er hatte ursprünglich angenommen, dass beide weiblichen Opfer Vergewaltigungsspuren zeigen würden, da multiple Stich- oder Schnittwunden am ganzen Körper für eine sexuelle Motivation sprachen. »Auch bei Jenna keine Riss- oder Quetschwunden. Keine Hinweise auf sexuelle Verletzungen oder sexuelle Verstümmelung. Nur Spermaflüssigkeit im Körperinneren.« Er
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zuckte die Achseln. »Wann können wir mit den DNAErgebnissen rechnen?« »In circa einer Woche.« »Geht’s nicht ein bisschen schneller?« »Ich rede mal mit Art Danbury.« Er grinste. »Ich hab noch was für dich.« Charlie blickte auf. »Du steckst ja heute voller Überraschungen.« »Rate mal, wer im Vernehmungszimmer sitzt.« »Sind wir hier in einer Quizsendung?« »Jake Wheaton.« Er zog die Brauen zusammen. »Ist er freiwillig hier?« »Nein. Verhaftet wegen Drogenbesitz. Hast du einen Moment Zeit?« »Da fragst du noch?« Charlie stand auf. »Dann wollen wir ihm mal ein bisschen das Leben schwer machen.«
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4 Jake Wheaton saß da und starrte seine Hände an. Er trug ein Sweatshirt mit Kapuze, Jeans und billige Straßenschuhe. »Welche Schuhgröße hast du?«, fragte ihn Charlie. »Was?« »Schuhgröße. Komm schon.« Jake zuckte die Achseln. »Vierundvierzig. Warum?« Charlie setzte sich ihm gegenüber, während Mike zum Fenster ging und die Jalousien zuzog. Der Raum war eng und unangenehm. Nur ein Tisch und Stühle, eine Glühbirne an der Decke und ein Hartholzboden. Das war’s. »Ich will meinen Dad anrufen«, sagte Jake. Einzelne Strähnen seiner langen dunklen Haare waren dick gegelt und standen ab, er hatte Ringe unter den Augen. Charlie nickte. »Erst unterhalten wir uns ein Weilchen.« »Glaub ich nicht.« »Hör mal zu, Jake. Du bist wegen Drogenbesitz verhaftet worden. Aber das könnten wir unter Umständen vergessen.« Er schaute auf, flackernden Zweifel in den Augen. »Na, interessiert?« »An was … Eine Art Deal?« »Vielleicht.« Mike nickte. »Wenn du hübsch kooperativ bist, können wir das aus der Welt schaffen.« »Bis jetzt hat noch niemand ein Protokoll geschrieben«, sagte Charlie. Der junge Mann zupfte an seiner Kapuze, zog den Stoff nach vorn und wischte sich das fettige Kinn damit ab. »Ich müsste
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aber doch erst mit meinem Daddy telefonieren«, sagte er. »Hab ich nicht das Recht auf einen Anruf oder so?« »Wir machen dir aber ein Angebot.« »Hör auf ihn«, sagte Mike. »Er meint es gut mit dir.« »Überleg’s dir«, sagte Charlie. »Es geht um deine Zukunft.« Schweigen senkte sich über den Raum. Jake musterte Charlie kritisch, wie in einem Spiegel. »Was soli ich tun?« »Uns was über Jenna Pepper erzählen.« Sein Blick trübte sich. Nach einer Weile sagte er: »Na gut, von mir aus.« »Du bist bereit, uns alles zu sagen? Mit wem sie sich eingelassen hat? Zeiten? Verabredungen? Einzelheiten?« Jake ließ den Kopf hängen. »Okay, dann verpfeif ich eben meinen Freund.« Charlie und Mike wechselten einen Blick. »Welchen Freund?«
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5 Sophie Grover saß auf dem Mäuerchen hinter der High-School und trank noch einen Schluck von ihrer Cola light. Boone Pritchett schaute sie an. Seine Augen waren so blau, dass man meinen konnte, er hätte sie aus einem Säckchen Murmeln gestohlen. Seine Motorradstiefel waren weiß gefärbt, und er trug seinen Geldbeutel an einer Kette. »Komm doch mal mit auf die Sturmjagd, Sofe«, bat er. Sie musste das Lachen unterdrücken. Mit ihren hochhackigen roten Schuhen trommelte sie einen ungleichmäßigen Rhythmus auf die Betonsteine der niedrigen Mauer, im Takt mit der alten Jazzmelodie, die aus Boones hässlichem altem Kofferradio kam. »Mein Vater hat was dagegen, dass ich mich mit dir abgebe«, sagte sie. »Er meint, du hast einen schlechten Einfluss.« »Stimmt ja vielleicht.« Sie sah ihn von der Seite an. »Ich bin halt gegen das System. Was ist daran falsch?« Die Mauer war über und über mit Spinnweben bedeckt, in denen sich Blattstücke und tote Insekten verfangen hatten. »Komm schon«, sagte er. »Trau dich wenigstens ein einziges Mal.« »Ich kann nicht.« »Warum nicht?« »Weil ich noch nie die Schule geschwänzt habe.« »Ha. Die merken das doch nicht mal, wenn du fehlst.« Sie lächelte ihn nervös an. Auf der anderen Straßenseite saß eine Reihe Spatzen auf einer schwankenden Telefonleitung, und dahinter lag der westliche Horizont. Die Wolken hatten dunkle Streifen. Es würde regnen. 167
»Siehst du den Cirrostratus?«, fragte er. »Das ist die Luft, die wir brauchen. Heute passiert noch was, das spür ich.« »Echt?« »Alles passt. Wir haben Hitze, Feuchtigkeit und aufeinander prallende Luftmassen. Mehr braucht es nicht. Wir holen uns ein bisschen Knete aus dem Geldautomaten und tanken die Karre voll.« »Im Ernst, Boone. Mein Vater würde mich umbringen.« »Der erfährt’s doch gar nicht.« Sie sah ihn an. »Doch. Die würden ihm sagen, dass ich unentschuldigt gefehlt habe.« »Ach was. Ich kenn alle Tricks. Was hast du als Nächstes?« Sie lachte. »Jetzt hör schon auf.« Seine Zähne waren vorn ein bisschen unregelmäßig, und wenn er lächelte, hellte sich sein ganzes Gesicht auf – die Augen und alles –, und er war plötzlich ein ganz anderer Mensch. Nicht so beinhart. »Du kannst dich dein Leben lang an die Vorschriften halten und unglücklich sein«, sagte er. »Oder du kannst deinen Träumen folgen und mit mir mitkommen.« Es war verlockend. Die Sonne kam für einen Moment hinter den Wolken hervor, und Sophie hob den Kopf, um die flüchtige Wärme zu genießen. Hinter ihnen wurden Schließfächer zugeknallt, die Mittagspause war fast vorbei. »Hey«, sagte er und drückte seine dritte Zigarette aus, »da drüben ist gerade dein Vater vorgefahren.« Sie machte die Augen auf. Ihr Vater hatte neben Boones bonbonrosa Pick-up eingeparkt. Er stieg aus und kam mit strenger Miene unter seiner Polizeimütze auf sie zu. Er hatte Sorgenfalten auf der Stirn, eine für jedes Jahr, seit Sophie ein Teenager war, wie er gern scherzte. Sie fand es eine schreckliche Angewohnheit von ihm, dass er seinen vernarbten 168
rechten Arm immer hinter dem Rücken versteckte. Das gab ihr das Gefühl, ihn beschützen zu müssen. »Dad?«, sagte sie und stand auf. »Hi, Schatz.« Er warf Boone einen finsteren Blick zu, sprach aber weiter mit ihr. »Musst du wieder zum Unterricht?« »Ja. Ich wollte gerade reingehen.« Er sah die Zigarettenkippen vor ihren Füßen. Boone wollte sich unauffällig verdrücken. »Moment mal, junger Mann«, sagte ihr Vater. »Wir müssen miteinander reden. Hast du einen Moment Zeit?« »Ja, Sir.« »Bis nachher, Sophie.« »Okay, Dad. Ich geh dann mal rein. Ciao.« Sie verschwand in dem schattigen Gebäude, blieb dann aber stehen und beobachtete die beiden durch die Glastür. Ihr Vater machte eine Geste zum Parkplatz hin, und sie gingen über den Asphalt zu dem Pick-up, wo Boone voller Besitzerstolz die Hand auf die Motorhaube legte. Beklommen schaute sie noch eine Weile hinüber und fragte sich, ob irgendjemand in der Schule hören konnte, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug.
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6 Bei einer Vernehmung durfte man sich keinerlei Spannung anmerken lassen. Man musste sich ganz und gar unter Kontrolle haben und auf jede ernst gemeinte Frage fünf irreführende stellen. Und man durfte es nicht zu eilig haben, nach und nach würde die Wahrheit schon ans Licht kommen. Aber Charlie glühte innerlich vor Entrüstung und Besorgnis. Seine Tochter war in einen Jungen verknallt, der es mit einer Frau getrieben hatte, die doppelt so alt war wie er. Wer weiß, was für Horrorgeschichten noch hinter dieser unschuldig wirkenden Stirn lauerten. »Du hast Sex mit Jenna Pepper gehabt«, sagte er unverblümt. »Du und Jake Wheaton.« Boone ließ gleichgültig den Blick schweifen, während er zu begreifen versuchte, was da gerade passierte. »Hast du mir dazu was zu sagen?« Charlie schluckte und fuhr sich einmal kurz durchs Haar. Dann setzte er seine Mütze wieder auf. »Erzähl mir davon. Erzähl mir, was für eklige Spielchen du mit Jenna auf der Rückbank von ihrem Pontiac getrieben hast.« Boone ließ sich nichts anmerken und zündete sich betont lässig eine Zigarette an. Dann schaute er zur Schule hinüber, als sehne er sich danach, dort zu sein – recht amüsant, wenn man bedachte, dass Boone der Schulschwänzer des Jahres war. Greisenbart hing in dekorativen Klumpen von den Eichen, die den Eingang überwölbten, und Schüler kehrten in kleineren Grüppchen aus der Pause zurück. Charlie kannte Boone schon, seit er ein schmächtiger kleiner Bengel mit dem Gesicht eines Chorknaben gewesen war. Schon im zarten Alter hatte er zu gestörtem Verhalten geneigt. In seinen Augen hatte immer dieses seltsame Feuer geglommen. Charlie war wirklich bemüht gewesen, ihn auf den rechten Weg zu bringen. Er hatte ihn für 170
das Mittagessen in der Schule angemeldet, ihm einen Job als Zeitungsausträger besorgt und seine Mutter mehrmals in die Reha geschickt. Aber es hatte alles nichts genützt. Boone war der Typ, den man sich keinesfalls als Freund seiner Tochter wünschte – immer arrogant, manchmal charmant, nie vertrauenswürdig. Bei entsprechender Konzentration hätte Charlie ein Loch in den Schädel dieses Punks brennen können. »Also, wie war das am fünfzehnten?«, fragte er. »Wo warst du am fünfzehnten April?« »Ich?« Boone begann sich einzuigeln. »Auf Sturmjagd.« »Hier in Promise?« »Nein, Mann. Ich war ein ganzes Stück südlich.« »Und wo genau?« »Dauert das noch lange? Ich hab nämlich jetzt Mathe.« »Ich verspreche, dass ich nur siebeneinhalb Minuten deiner kostbaren Zeit in Anspruch nehme«, sagte Charlie sarkastisch. »Also, klär mich bitteschön auf. Wo warst du am fünfzehnten April? Komm schon. Einzelheiten, wenn ich bitten darf.« Boone vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Da hat sich dieser gigantische Sturm aufgebaut, diese riesige Wolkenwand unten bei Burns Flat und Roll und Reydo. Da in der Gegend.« »Hast du jemand mitgenommen?« »Nein, Mann.« »Damit das ein für alle Mal klar ist: Ich bin nicht ›Mann‹ für dich, verstanden? Ich bin dein schlimmster Alptraum. Sag gefälligst ›Sir‹ zu mir, wenn du mit mir redest.« »Ja, Sir«, nuschelte Boone. »Hast du irgendwo getankt?« Er strich sich mit der schmuddeligen Hand das Haar glatt. »Ja, glaub schon.« »Ja oder nein?« 171
Boone sah ihn gelangweilt und zugleich feindselig an. »Hey, bin ich Luft für dich, oder was? Langweile ich dich, Pritchett? Oder denkst du nur nach? Ah, anscheinend denkst du nach. Es riecht brenzlig. Hast du getankt?« Sein Blick wurde drohend. »Ja, hab ich doch gesagt.« »Wie oft?« »Zweimal, glaub ich.« »Wie hast du bezahlt?« »Was?« »Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert. Ich stecke meine Kreditkarte in den Schlitz, schieb die Zapfpistole rein und tanke voll. Wie machst du’s denn?« »Ich hab bar bezahlt.« »Okay, das vereinfacht die Sache. Nächste Frage, Einstein: An welchen Tankstellen warst du?« Jake zuckte die Schultern. »Weiß nicht. Shell, wahrscheinlich.« »Beide Male?« »Denk schon.« »Es ist besser für dich, wenn du mir die Wahrheit sagst.« Boone murmelte etwas Unverständliches. »Wie war das?« Er lächelte trotzig, und Charlie versetzte ihm einen solchen Schlag ins Gesicht, dass er nach hinten taumelte. Charlie sah die pulsierende Schlagader an seinem Hals und hätte sie ihm am liebsten herausgerissen. Vor ihm stand irgendeiner dieser drogensüchtigen Jungen aus einem zerrütteten Elternhaus, die Mädchen wie Sophie mit abgrundtiefer Verachtung behandelten. Nimm sie dir und wirf sie weg.
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»Ich steh halt auf extremes Wetter«, knurrte Boone. »Verklagen Sie mich meinetwegen. Aber behalten Sie Ihre Dreckpfoten bei sich!« Charlies transplantierte Hautpartien spannten. Er hätte dem jungen Kerl am liebsten die Gurgel zugedrückt, bis er sich verfärbt hätte. »Und du lässt die Finger von meiner Tochter«, sagte er leise. »Hörst du?« »Ja, ja, ich hör Sie.« »Du hörst mich, aber hast du’s auch kapiert?« Seine Augen verengten sich. »Sie muss sich von dir nicht ihr Leben versauen lassen. Sie ist ein ernsthafter Mensch. Ich lasse das nicht zu.« Ein hörbares Schlucken. »Und vergiss nicht: ich hab dich höflich aufgefordert.« in diesem Moment klingelte Charlies Handy, und er drehte dem jungen Mann den Rücken zu. »Ja?«, meldete er sich gereizt. »Chief?« Er erkannte auf Anhieb Lester Deeres Stimme. »Was gibt’s, Lester? Ich hab zu tun.« »Oh, mein Gott, ich muss Ihnen was Wichtiges sagen.« »Worum geht’s, Lester?« »Ich hab meine Pistole auf dem Schoß und behalte die Tür im Auge.«
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7 Charlie betrat die Bar und blieb erst einmal stehen, um seine Augen an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Lester saß an einem Tisch in der hintersten Ecke des Howling Dog Saloon; er hatte den Stuhl seitlich verrückt und sich die Pistole in den Hosenbund gesteckt. Das war nichts Ungewöhnliches. Die meisten Cops setzten sich in einem Lokal so hin, dass sie die Tür sahen, denn man wusste nie, wer oder was da plötzlich hereinstürmen konnte. »Zwei Kaffee«, sagte Charlie zur Bedienung, einer langbeinigen Rothaarigen, die offenbar mit sich und der Welt haderte. Als Lester ihn hereinkommen sah, drückte er die Hände fest gegen seine Schläfen und sagte: »Sachte, sachte, auf keinen Fall vor dem Chief ausflippen.« Charlie setzte sich ihm gegenüber und runzelte die Stirn. »Wo liegt das Problem?« »Ich bin ziemlich in Flüssigkeit aufgelöst«, gab Lester zu. »Ist mir schon aufgefallen.« »Sie Chief.« Er zeigte auf seine Brust. »Ich achtzig Prozent Scotch.« »Okay, versteh schon. Ich muss mich auf Ihr Niveau der Beschränktheit begeben.« Er legte den Ellbogen auf die karierte Wachstuchdecke und machte sich darauf gefasst, sich eine ganze Weile ausführlich über nichts und wieder nichts unterhalten zu müssen. Lester hielt seine Zigarette wie ein schlechter Filmschauspieler senkrecht mit der Glut nach unten. Der runde Tisch war so klein, dass man darüber Händchen halten konnte. Die zerschrammte, abblätternde Bar war leer bis auf die Bedienung und den kleinwüchsigen, bärtigen Barmann an der Registrierkasse. Hinter dem Tresen war ein Korallenriff zu 174
sehen – ein fades tropisches Motiv, das so gar nicht zu dem ganzen Cowboy-Krempel passen wollte. Einen qualvollen Moment lang starrte Lester Charlie an. Er hatte früher eine gute Figur gehabt, aber dann war etwas passiert, und in relativ kurzer Zeit hatte er einen Bauch angesetzt und war teigig und schlampig geworden. Zweilagebart. Leicht schielende, blutunterlaufene Augen. »Ich war gern Footballspieler. Ehrlich, Chief. Ich mochte die Herausforderung, verstehen Sie? Das Spiel, der Dress, die Aufmerksamkeit, die Mädchen. Aber was macht man, um da wieder reinzukommen? Was macht man, wenn es aus ist?« »Ich weiß es nicht, Lester. Geben Sie mir bitte Ihre Waffe?« Als er nicht reagierte, drehte sich Charlie zu der Bedienung um, schraubte seine Stimme so hoch, dass er die ohrenbetäubende Nummer der Lynyrd Skynyrd übertönte, die in der Jukebox lief, und reklamierte: »Zwei Kaffee, Miss?« Ein knappes, gelangweiltes Nicken war die Antwort. »Beinahe-Miss«, korrigierte Lester ihn. »Was?« »Sie hat mir vorhin erzählt, dass sie einmal beinahe in einem Sturm ums Leben gekommen war, deswegen nenn ich sie Beinahe-Miss.« »Aha.« Trinken. Er konnte es nicht leiden. Es erinnerte ihn an den Ledergürtel mit der Metallschließe. Er nahm Lester das Glas weg und kippte das Zeug hinunter – Scotch, pur, kein Eis. Es brannte. Mmm. Ah. Jetzt hasse ich mich selbst. »Alles weg.« Er stellte vor Lesters ungläubigen Augen das leere Glas auf den Tisch. »Hey … Sie haben meinen Drink weggezaubert.« »Geben Sie mir die Waffe.« Lester starrte ihn an.
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»Sie sind ein guter Polizist, Lester. Gehen Sie heim und schlafen Sie Ihren Rausch aus, und dann melden Sie sich wieder zum Dienst.« »Ich will Sie was fragen.« Tiefe Krähenfüße gingen von seinen Augenwinkeln aus, vom vielen Blinzeln in der prallen Sonne. Das hatten sie alle. Seine mittellangen blonden Haare glänzten. Er sprühte irgend so ein Zeug drauf. Verzweifelte Versuche, die verlorene Jugend zurückzugewinnen – Gel, Haarspray. Was war als Nächstes dran? Wimperntusche? Eine Fettabsaugung? Auf dem Tisch standen eine nicht angezündete Kerze in einer roten Glaskugel und ein silbernes Pappschälchen mit Erdnüssen – der fettigen, gesalzenen Sorte, die Maddie ihm immer als ungesund vermiest hatte. Charlie steckte sich eine der verbotenen Nüsse in den Mund; sie war rau und schmeckte ölig. Lester schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Erdnüsse in ihrem Schälchen hüpften. »Scheiße, Chief. Ich will Ihnen was sagen, aber Sie hören einfach nicht zu.« »Werden Sie jetzt hübsch artig sein und tun, worum man Sie bittet?« Lester saß auf der Stuhlkante, als müsste er jederzeit aufspringen können. Seine Augen waren wässrig vom vielen einsamen Grübeln. »Ich hatte die besten Voraussetzungen, und jetzt bin ich unglücklich. Ich hab alles verloren, was mir wichtig war. Man denkt, das Leben wird so sein, wie man es sich vorstellt, Chief … Man glaubt, es wird immer so sein, man hält es nicht für möglich, dass es sich jemals ändern könnte. Doch dann, Jahre später, merkt man, dass man plötzlich nicht mehr dort ist, wo man angefangen hat.« Er machte der Bedienung ein Zeichen. »Hey, noch einen Scotch. Aber ein bisschen plötzlich.« »Du wirst es erwarten können.« Sie warf ihnen einen finsteren Blick zu. »Nur die zwei Kaffee«, sagte Charlie. »… Beinahe-Miss.« 176
»Lassen Sie’s gut sein, Lester.« Es war Viertel vor eins. Charlie überlegte, ob er Willa anrufen und ihr sagen sollte, dass er sich ein bisschen verspäten würde. Die Bar roch schal wie letzte Weihnachten. Im Aquarium schwamm kein einziger Fisch. Es gab eine Tradition im Howling Dog Saloon: Wenn man zu betrunken war, um seine Autoschlüssel aus dem trüben Wasser zu fischen, war man zu betrunken, um mit dem Auto nach Hause zu fahren. Der eine oder andere Piranha hätte das Niveau der Bar heben können, dachte Charlie. Die Bedienung brachte den Kaffee auf einem Tablett, weiße Keramiktassen, die auf hauchdünnen Untertassen klapperten. »Drei fünfzig«, sagte sie, die Hand auf der Hüfte. »Ach, Schwester! Ich nehm die Rigatoni in Wodkasauce …« »Beachten Sie ihn nicht«, sagte Charlie, holte seinen Geldbeutel hervor und gab ihr einen Fünfer. »Der Rest ist für Sie.« Sie wurde eine Spur freundlicher, stellte Lesters leere Gläser vorsichtig auf das Lacktablett und entfernte sich. »Stimmt es?« Lester bekam jetzt Schlagseite nach Steuerbord. »Was?«, fragte Charlie, der zusehends ungeduldig wurde. »Das Gerücht.« »Was für ein Gerücht?« »Es geht das Gerücht, dass Sie als Kind aus einem Fenster im zweiten Stock gesprungen sind. Weil, ich mein, bei acht, da hat man noch eine Fifty-fifty-Chance zu überleben. Alles über acht Meter ist eindeutig … ein Selbstmordversuch.« Charlie wischte sich die Hände an einer Papierserviette ab. »Ich an Ihrer Stelle würde das nächste Mal nicht ganz so tief ins Glas schauen, mein Freund.« Lester hielt ihm drohend den Finger unter die Nase. »Ich bin bloß neugierig. Kein Grund zur Aufregung.« 177
Wut stieg in Charlie auf. »Wir haben nie über solche Dinge gesprochen.« »Beantworten Sie einfach meine Frage, Chief. Also … Sind Sie aus so großer Höhe runtergesprungen, ja oder nein? Ist das ein Staatsgeheimnis oder was?« Charlie beobachtete das träge Pochen von Lesters Puls. Wie zwei ungeborene Tiere hinter der papierdünnen Haut an seinen Schläfen. Lester war der geborene Verlierer, ein Feigling, der anderen hinterhältige Streiche spielte und nur mutig wurde, wenn er drei, vier Drinks intus hatte. Er begriff anscheinend nicht, dass Charlie sich keinen Deut darum scherte, mit wem er verwandt war. »Und warum reden wir nie?«, fragte Lester und erhob sich schwankend. »Warum mögen Sie mich nicht?« Ein schaler Alkoholgeruch stieg Charlie in die Nase und weckte all die schrecklichen Erinnerungen. Machogehabe, unzusammenhängendes Gelalle. Er konzentrierte sich auf Lesters zuckenden Mund. »Sagen Sie doch irgendwas, Chief.« »Setzen Sie sich wieder hin, verdammt noch mal.« »Also?« Lester ließ sich hart auf seinen Stuhl fallen, und sein Schatten an der Wand hinter ihm wurde größer. »Haben Sie’s getan? Hm?« Charlie saß reglos da. »Sind Sie gesprungen oder nicht, Sie blöder Arsch?« Charlie packte ihn am Kragen, damit er nicht vom Stuhl fiel, und versetzte ihm dann einen Schlag mitten ins Gesicht. Blut spritzte nach allen Seiten, und Lester wich vor ihm zurück und hielt sich die Hände vors Gesicht. »Oh mein Gott … oh Gott, warum haben Sie das getan?« Er starrte Charlie fassungslos an.
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Charlie musterte seine Hände, die er um die zarte Kaffeetasse gelegt hatte. Die Knöchel begannen anzuschwellen. »Mist, ich blute!« Charlie gab ihm ein Taschentuch. »Wissen Sie, was eine Verbrennung dritten Grades ist, Lester?« Der Jüngere hielt sich das Taschentuch vor die Nase und starrte ihn mit tränenden Augen an. »Das bedeutet, dass die Haut bis auf die subkutane Fettschicht zerstört ist. Als ich an dem Abend ins Krankenhaus eingeliefert wurde, war meine Haut stellenweise völlig verschmort. Überall trat Flüssigkeit aus, das Bett war im Nu klitschnass. Sie mussten mir vierzehn Beutel Blutplasma geben, um mich am Leben zu erhalten. Man konnte ohne weiteres die Haare aus meinem verbrannten Fleisch ziehen. Mein linker Arm war so eingeschnürt, dass sie einen dreißig Zentimeter langen Schnitt in die Haut machen mussten, um die Durchblutung in Gang zu halten. Schon die kleinste Infektion hätte mich umbringen können, wenn das nicht die Schmerzen schon vorher erledigten. Dann kam das Débridement. Das ist bloß ein hochtrabender Ausdruck für das Abkratzen, Rausschneiden und Abziehen der toten Haut.« »Mir ist schlecht.« Lester beugte sich vor und erbrach sich auf den Fußboden, Charlie konnte seine Füße nicht rechtzeitig zurückziehen. »Ach du Scheiße.« Er nahm zwei Papierservietten vom Tisch und wischte sich damit die Schuhe ab. Das rosa Erbrochene sickerte zwischen den Schnürsenkeln durch in die Ösen, wo er es wahrscheinlich nie wieder herausbekommen würde. Lester schlang die Arme um sich und wiegte sich hin und her. Der Barmann kam herüber und streute grünes Sägemehl auf den Boden.
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Charlie schaute auf die Uhr. Es war fast eins. Er hatte eine Verabredung, die er nicht verpassen wollte. »Geben Sie mir die Waffe, Lester.« »Ich kann eh nichts damit anfangen. Hier.« Er gab sie ihm, und Charlie prüfte, ob sie gesichert war. »Ich hab eine Affäre mit Jenna Pepper gehabt«, sagte Lester. »Was?« »Ich hatte eine Affäre mit Jenna Pepper.« Charlie durchfuhr es bis in die Zehenspitzen. Er war so verblüfft, dass es ihm die Sprache verschlug. Lester sah aus, als hätte er innere Blutungen. »Rob hat nichts geahnt. Sie hat sich immer wieder unter irgendeinem Vorwand aus dem Haus geschlichen. Sie wollte ihn verlassen. Er war ein Gefühlssadist, wissen Sie. Hat Psychospielchen gespielt. Die beiden haben nicht mehr miteinander geschlafen. Sie hat ihn Dufus genannt. Sie ist sich in ihrem eigenen Haus wie im Gefängnis vorgekommen.« »Lester …« »Gleich als ich sie zum ersten Mal gesehen hab, war mir klar, dass ich mir mit der jede Menge Ärger einhandeln würde. Ich hätte die Finger von ihr lassen sollen, aber sie hat mir so viel Selbstbewusstsein gegeben, verstehen Sie? Wenn ich mit ihr zusammen war, war ich stark. Und mutig. Und so weiter.« Schlagartig wurde Charlie alles klar: Lester war der erste Polizist am Tatort gewesen, er hatte Blut an den Händen gehabt; er war Rechtshänder; er war begeisterter Sturmjäger; und er hatte ein Motiv. Schuhgröße? Schätzungsweise dreiundvierzig. Charlie stand auf. »Nehmen Sie Ihre Mütze mit.« »Wohin?« »Stehen Sie auf. Ich tu Ihnen einen Gefallen.« Lester kam mühsam auf die Beine. »Sie wären mir sowieso draufgekommen«, lallte er. »Mike sagt, die machen einen DNA180
Test. Ich hab am Abend zuvor mit ihr geschlafen. Das Sperma ist von mir.« »Alles, was Sie jetzt noch sagen, kann irgendwann gegen Sie verwendet werden. Verstehen Sie?« Charlie packte ihn am Arm. »Kommen Sie.« »Wo bringen Sie mich hin?« »Nach Hause.« »Ja, schon … Aber was soll ich denn jetzt machen?« »Wenn Sie zu Hause sind«, sagte Charlie bestimmt, »schlafen Sie erst mal Ihren Rausch aus. Und dann besorgen Sie sich einen guten Anwalt.«
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8 Nachdem sie fast zwanzig Minuten lang Wolkentürmchen und tief liegenden Wolkenwalzen nachgejagt waren, diesen langsam rotierenden, waagerechten Luftschläuchen, bogen sie von der Schnellstraße ab und fuhren über eine schlechte Staatsstraße, wo der Wagen viel Lärm machte und Staub aufwirbelte. Charlie spürte jedes Holpern bis in die Zähne. Der Griff seiner Pistole stieß ihn immer wieder in die Rippen, und die Augen brannten ihm, weil er zu lange und zu angestrengt in den Himmel gestarrt hatte. Auf dem Vordersitz lagen Straßenkarten und Telefonverzeichnisse, eine Autoapotheke und ein Laptop. Der Rücksitz war ein einziges Durcheinander von Versandtaschen, Taschenlampen, Isolierband, Fernglas, Fotoausrüstung und Insektenschutz. »Und wieso müssen wir mit dieser Klapperkiste fahren?«, fragte er Willa, die ihr schulterlanges schwarzes Haar hinter die Ohren gestrichen hatte, diese allerliebsten perlweißen Öhrchen. »Sie sind gut.« Sie sah ihn von der Seite an. »Man braucht doch ein Fahrzeug, das man im Ernstfall zu Schrott fahren kann.« »Ist die Karre Warp-Speed-fähig?« »Charlie, Ihre Star-Trek-Witze werden immer lahmer.« Sie grinste ihn an. »Machen Sie mal halblang. Ich komm nicht viel raus.« »Der Motor ist in Ordnung, man müsste nur einen neuen Wagen drumherum bauen.« Sie musterte den Himmel. »Hm. Gebrochener Stratocumulus. Diesig. An der Spitze matschig. Reißt einen nicht vom Hocker.« Der 82er Ford-Kombi mit seinen nicht zusammenpassenden Türen war innen geräumig, wenn auch ein bisschen muffig, und 182
hatte 175000 Meilen auf dem Buckel. Das Furnier am Armaturenbrett war mit kleinen Dellen übersät, und die beigefarbene Karosserie hatte überall ansteckend aussehende Rostflecken. In das Armaturenbrett waren allerlei teuer wirkende Geräte eingebaut – Funkgeräte, Scanner, GPSEmpfänger, eine Videokamera auf einem Morganti-Saugstativ. Sie folgte seinem Blick. »Meine Brieftasche kriegt jedes Mal die Krise, wenn ich an das viele Geld denke, das ich schon für diesen Krempel ausgegeben habe. Aber ich stamme nun mal aus einer Familie von Technik-Freaks.« »Das Auto gehört also Ihnen? Nicht dem Labor?« »Hey, ich bin froh, dass ich es habe. In den letzten sieben Jahren hab ich sechs Jagdautos gehabt, Charlie. Sie halten meistens nur eine Saison.« Sie warf ihm einen Blick zu. »Immerhin länger als die meisten Ehen.« »Sie sind geschieden?« Sie zuckte die Achseln. »Er war mein Meteorologieprofessor. Ich war jung und dumm. Wenn ich heute darüber nachdenke, war ich wohl eher von ihm beeindruckt als in ihn verliebt.« »Noch Freunde?« »Ha. Nächste Frage.« Sie zeigte mit dem Finger – der manikürte Nagel war purpurrot lackiert. »Da drüben, Charlie. Sehen Sie diese Haube, diese deutlich ausgeprägte Haube? Sehen Sie, wie sich die gerade Unterseite der Wolke in einen Cumulusturm mit abgerundetem Ende hineindreht?« »Ja.« Sie fuhren über eine Rinne, und Charlie stieß mit dem Kopf an das nur noch stellenweise gepolsterte Dach. »Au.« »Das könnte ziemlich interessant werden.« Sie gab Gas. Der Himmel hatte die Farbe von nassem Zement, und der Taupunkt lag über zwanzig Grad – ein gutes Zeichen, wie sie ihm mehrmals sagte. Das NOAA-Wetterradio hatte für den Nachmittag eine explosive Entwicklung in einigen 183
Gegenden in Mittel- und Nordwest-Oklahoma vorhergesagt, aber bis jetzt waren sie immer nur einem Haufen Wolken nachgefahren, hatten zugesehen, wie sie sich teilten und auflösten, und waren dann auf einen anderen Wolkenhaufen zugesteuert. Während der gelegentlichen Stopps hatte Willa die Computerausdrucke und Radarberichte in dem DopplerTransporter kontrolliert, in dem Rick ihnen folgte – ein brauner Doppler-Transporter mit der Aufschrift »Environmental Sciences Lab« auf einer Seite. Vor fünf Minuten hatten sie ihn aus den Augen verloren. Das Wetterradio meldete sich mit einer weiteren Aktualisierung. »Soeben wurde eine Tornadowarnung herausgegeben«, sagte die müde Männerstimme im Lautsprecher, »und zwar für Nord-, Mittel- und NordwestOklahoma, für heute Nachmittag …« »Ah. Hört sich schön düster an.« Sie warf ihm eine zerknitterte Straßenkarte hin. »Okay, Charlie, Sie sind der Navigator. Wir müssen alle ungeteerten Straßen und alle Sackgassen meiden, um uns Fluchtwege offen zu halten.« »Fluchtwege? Davon war bis jetzt aber nicht die Rede.« Sie schaute ihn an. »Keine Sorge, Sie stehen unter meinem Schutz. Ich verstehe wirklich was von der Sache. Lehnen Sie sich zurück, und entspannen Sie sich.« Sie trug einen elfenbeinfarbenen Overall und einen schwarzen Pullover, und mit ihren Clogs rutschte sie immer wieder vom Bremspedal ab. »Wofür brauchen wir Fluchtwege?« »Mann, hier draußen kann alles Mögliche schief gehen. Flutwellen, Hagelschlag, unterbrochene Stromleitungen, solche Sachen. Welches ist die kürzeste Route nach Lawton?« Er suchte die Karte ab. »Sie müssen … äh … bei der nächsten Gelegenheit rechts abbiegen.« Sie trat das Gaspedal durch. An der Cloverleat-Auffahrt nahmen sie wegen Aquaplaning wieder die Schnellstraße und 184
fuhren mit hoher Geschwindigkeit an Lastwagen vorbei, deren Luftdruckbremsen in einem Wirbel von Dieselabgasen aufkreischten. Der Wagen wirkte im Gegenwind lahm. Charlie wusste nicht, was er von Lesters Eröffnung halten sollte. Lester gehörte damit eindeutig zum Kreis der Verdächtigen. Sie würden ihn jetzt offiziell vernehmen müssen, und wahrscheinlich würde er sich dem Lügendetektortest unterziehen müssen, um jeglichen Verdacht zu zerstreuen. Charlie glaubte nicht, dass Lester Deere – so töricht und orientierungslos, wie er war – auch nur annähernd zu so etwas wie einem Mord fähig war. Allerdings hätte er den Gedanken, Lester und Jenna Pepper könnten eine Affäre gehabt haben, vor einer Stunde auch noch weit von sich gewiesen. Man glaubt, die Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung zu kennen, aber eigentlich weiß man nichts über sie. »Wir folgen einer langsam ziehenden Unwetterfront zehn Meilen südwestlich von uns«, sagte Willa. »Richtung Nordnordost. Ich ermittle einen Abfangkurs. Wir müssen eine nach Süden führende Straße finden, um hinter den Sturm zu kommen.« Sie sah ihn von der Seite an. »Alles in Ordnung mit Ihnen?« »Ja.« »Tut’s Ihnen Leid?« »Überhaupt nicht. Ich genieße es.« Lächelnd sagte sie: »Erzählen Sie mir von Maddie.« Er warf ihr einen Blick zu und kam zu dem Schluss, dass es ihr ernst war. »Sie war aufrichtig und unprätentiös.« Wie du, dachte er. »Eines Tages wurde sie ohne Vorwarnung ohnmächtig. Ich tippte auf einen Hitzschlag und fuhr sie ins Krankenhaus. Unterwegs fing sie an zu nicken. ›Ja, ja, ja‹, sagte sie immer wieder, auf die verschiedensten Fragen von mir. Ich hab furchtbare Angst bekommen. Ich fuhr rechts ran und bestellte eine Ambulanz. Ich dachte, sie hat einen Schlaganfall und 185
braucht sofort ärztliche Hilfe. Sie wusste ihren Namen nicht mehr. Sie fummelte ständig mit ihrem Geldbeutel und ihrer Brieftasche herum und suchte nach ihrem Personalausweis.« Der Himmel bot jetzt ein chaotisches Schauspiel voller Gegensätze, aber er sah es nicht; stattdessen sah er Maddie vor sich, wie sie am Verschluss ihrer Handtasche nestelte, bis ihr schließlich der ganze Inhalt auf den Schoß fiel. »Sie wusste ihren Namen nicht mehr«, wiederholte er und durchlebte noch einmal seinen damaligen Schock. »Ich bin hinter der Ambulanz hergefahren, und als sie in die Notaufnahme gebracht wurde, sagte sie: ›Das ist aber nett von dir, dass du dir einen Tag freigenommen und mich hierher gebracht hast.‹« »Es tut mir Leid.« Willas Stimme war voller Mitgefühl. »Ich hab meine Mutter verloren, als ich zwölf war, und das geht mir bis heute nach … Aber das ist noch gar nichts im Vergleich zu dem, was andere ertragen müssen. Ich komme mir ein bisschen egoistisch vor, weil ich immer davon rede, als ob ich der einzige Mensch auf der Welt wäre, der jemals Kummer hatte. Hey, ich hab’s überlebt. Es hat mich stark gemacht. In gewisser Weise hat’s mir geholfen, verstehen Sie?« Sie fuhren eine Zeit lang schweigend weiter; dann sah Charlie für einen kurzen Augenblick durch einen Spalt in den Wolken die Gewittertürme. Eine dramatische Wolkenlandschaft ragte vor ihnen auf, in einer Breite von vollen 180 Grad. Die gewaltigen Cumuluswolken wuchsen in den Himmel wie der Staub einer Atomexplosion. Er fühlte sich winzig klein und hilflos. Sprühregen setzte ein. Binnen Sekunden goss es wie aus Eimern, und die Sicht verschlechterte sich dramatisch. »Ich seh rein gar nichts mehr«, sagte Willa nervös. »Wir brauchen eine südliche Route. Charlie?« »Oh. Genau.« Er faltete die Straßenkarte auseinander und versuchte, ihren Standort zu bestimmen. »Moment noch …« 186
»Haben Sie’s?« »Ja, gleich …« »Charlie?« »Also die nächste … links«, vermutete er. Was auf der Karte als befestigte Straße eingezeichnet war, entpuppte sich als ein vernachlässigter Fahrweg mit tiefen Rinnen. Willa machte eine Vollbremsung, und sie rutschten mit blockierten Rädern weiter, bis sie auf ein hartes Hindernis stießen und der Ford ein paar Zentimeter zurückprallte. Einen Moment lang saßen sie wie betäubt da, während ringsum der Regeln niederprasselte und Nebel wie Zigarettenrauch durch die Fenster hereinkam. Er war halb und halb darauf gefasst, dass sie ihn beschimpfen würde, weil er sie falsch geleitet hatte, aber sie lachte nur und sagte: »Alles in Ordnung?« »Ja, ich glaub schon.« Er rieb sich das Kinn. Er hatte sich die Zunge blutig gebissen. Der Regen peitschte gegen das Auto. »Dieses Hindernis ist offenbar nicht in der Karte eingezeichnet.« »Wir sind in Oklahoma, Charlie. Hier gibt es massenhaft Sachen, die in keiner Landkarte stehen.« Sie griff sich einen Regenumhang vom Rücksitz, streifte ihn über und sprang aus dem Auto, um sich den Schaden zu besehen. Der Regen war eine kalte, silbrige Wand. Dicke Tropfen zogen im Scheinwerferlicht ihre glitzernden Bahnen, der Himmel hatte all seine Schleusen geöffnet. Willa machte die Tür auf und sagte: »Mein Auspufftopf ist aus der Halterung gerissen. Ich muss das schnell richten.« Er stieg aus, um ihr zu helfen. »Was war’s denn?« »Ein Baumstumpf.« Sie schaute ihn an, wie eine Frau einen Mann manchmal anschaut. »Kein Beinbruch. Mir reißt es
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mindestens zweimal im Jahr das Auspuffrohr ab. Das ist etwas, was Sie über mich wissen sollten, Charlie.« Er lachte: »Die Straße ist eine Katastrophe.« Der vordere Stoßdämpfer war zerknittert wie eine Bierdose. Willa nahm eine Rolle Isolierband aus dem Kofferraum, und Charlie stand hilflos im Regen herum, während sie den Auspufftopf notdürftig befestigte. Ihre Clogs blieben immer wieder im Matsch stecken. Als sie fertig war, half er ihr auf. »Mein Vater hat immer gesagt, es gibt nichts, was man mit einem bisschen Sandpapier nicht in Ordnung bringen könnte. Was immer er damit gemeint hat.« Er küsste sie. Sie schien überrascht, der Regen lief ihr übers Gesicht. »Was war das?«, fragte sie. »Ein Übergriff. Verzeihung.« »Wieso denn? Ich bin sehr wählerisch im Hinblick darauf, wen ich auf eine Sturmjagd mitnehme.« Sie schlang die Arme um ihn und erwiderte seinen Kuss. Ihre Lippen waren süß und weich und verlangend. Ein Blitz schlug kaum eine Meile vor ihnen ein, und er nahm die Hand von ihrer Schulter. »Fun, das war nah.« »Wir sollten sehen, dass wir hier wegkommen.« Sie stiegen rasch ein, und Willa wendete. Als Nächstes nahmen sie eine befestigte Straße, die wie mit dem Lineal gezogen war. Die Bäume waren dunkel und nass, und ihr Laub glänzte im strömenden Regen wächsern grün. Durch ein kleines Loch in der Wolkendecke sah Charlie, dass die Blumenkohlköpfe der Cumuluswolken mit Blasen und aquamarinblauen Splittern durchsetzt waren. Er warf einen Blick auf die Benzinuhr – halb voll. »Tornado mit Bodenberührung!«, ertönte es aus dem Radio. Er musterte den Himmel, sah aber nichts. 188
»Überall interessante Strukturen, aber keine bestätigten Tornados«, sagte Willa. »Oder sehen Sie einen, Charlie?« »Nein.« »Dann müssen wir hier im Bereich der unsichtbaren Rotation sein, weil hier weit und breit kein Tornado ist.« Die Wolkentürme, zuvor über Meilen hinweg gut zu sehen, waren in einem düsteren Dunst verschwunden. Willa kontrollierte die Frequenzeinstellung ihres Funkgeräts und schnappte sich das Mikrofon. »Rick?«, sagte sie. »Bist du noch in unserer Nähe? Ich hab das Gefühl, dass wir jetzt wirklich irgendwo reingeraten.« »Passt auf, dass ihr auf der Südseite bleibt, falls es stärker wird«, drang seine Stimme durch lautes Pfeifen und Rauschen. Sie stellte das Mikrofon ein. »Die einströmenden Winde sind stark. Die Blitze kommen näher. Seit zwei Stunden geben sie jetzt Warnungen durch.« »Ich hab eine Wolkenwand direkt vor der Nase. Fahr weiter nach Süden. Das Doppler-Radar in Amarillo entdeckt eine Wirbel-Signatur in ungefähr sechzig Meilen Entfernung. Außerdem nähert sich von hinten ein irres System in der Höhe mit Winden um hundertfünfzig Knoten. Sieht aus, als würden wir einen Zweier kriegen, Bellman.« Kin Warnsignal durchbrach die Störgeräusche aus dem NOAA-Wetterradio. Sie hängte das Mikrofon in die Halterung und wendete erneut, wobei das hohe Gras von der vorderen Stoßstange niedergedrückt wurde und sich hinter ihnen wieder aufrichtete. »Diesmal nähern wir uns dem Unwetter von der klaren Luftmasse hinter der Trockenlinie aus«, sagte sie. »So haben wir eine bessere Sicht. Einverstanden?« »Ich würde nie wagen, Ihnen zu widersprechen.« Sie lächelte. »Sie können mir widersprechen, wann immer Sie wollen, Charlie. Das macht mir nichts aus.« 189
Er grinste, und sie fuhren durch eine weitere friedliche kleine Präriestadt, vorbei an einer Reihe trostloser, heruntergekommener Häuser mit Gemischtwarenläden, in denen man so ziemlich alles kaufen konnte, von Schnupftabak über Bier bis hin zu Jagdscheinen. Hinter den gezackten Dächern brodelte der bleigraue Himmel wie auf kleiner Flamme köchelnder Brei. »Sehen Sie den Überhang auf der rechten Seite im Südwesten?« Er nickte zögernd. »Die Konvektion auf der Rückseite maskiert allmählich die CB-Köpfe.« »CB?« »Cumulonimbus. Wolken mit starkem vertikalem Wachstum in Form von Bergen oder riesigen Türmen, mit einem Amboss obendrauf. Was man gemeinhin als reife Gewitterzelle bezeichnet.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ich weiß nicht, welche wir nehmen sollen. Sieht aus, als ob das zweite Gewitter weiter südlich Mesozyklone hat. Wir fahren besser auf der 277 zurück.« Sie wartete einen Moment und sagte dann: »Charlie?« »Ach ja, das ist mein Job.« Er nahm die Karte, die sich klebrig anfühlte. Das Auto gab wieder ein unheimliches Rattern von sich. »Ist dieses Gefährt wirklich sicher?« »So sicher, wie ein Sturmjagd-Auto eben sein kann.« Er schaute sie an. »Was soll denn das heißen?« »Tja, man muss wissen, dass ein Auto während eines Tornados der gefährlichste Aufenthaltsort ist.« Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu. »Also nicht sicher genug.« »Da bin ich ja beruhigt.« »Willkommen in meiner Welt.« »Erinnern Sie mich, dass ich Sie dieser Tage mal einlade, bei einem meiner Einsätze mitzufahren.«
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Immer dunkler werdende Wolken schickten Regenschauer, und der Himmel nahm ein zerklüftetes Aussehen an. Der kräftige, frische Geruch nasser Erde kam von draußen herein. Gemästete Cumuluswolken türmten sich immer höher auf, während Massen warmer und kalter Luft zusammenprallten, und über dem Horizont hing drohend ein milchig trübes Gebilde in Form einer Untertasse. Schon bald gerieten sie wieder in dichteren Regen. Sie pflügten sich durch die dicke Wasserschicht auf der Straße, vorbei an einem Schild mit der Aufschrift »Willkommen in Splitback, Oklahoma, 2830 Einw.«. Am Rande dieses gottverlassenen Nests sahen sie einen schwach ausgebildeten Trichter, der von einer ominös rotierenden Wolkenmasse herabbaumelte. Er verlängerte sich nach unten, und kaum hatte er den Boden berührt, erhob sich ein Vorhang aus roter Erde in die Luft – die berühmte rote Erde von Oklahoma. Jetzt gab der regionale Radiosender eine Warnung durch: »Begeben Sie sich unverzüglich an einen sicheren Ort! Soeben wurde uns von einem Tornado mit Bodenberührung berichtet.« Der schlauchförmige Tornado schwebte kaum drei Meilen entfernt über der grünen Landschaft, hob dann elegant vom Boden ab und verwandelte sich wieder in einen »Saugwirbel«. Charlie hielt den Atem an. Die Luft sirrte vor Energie. Jetzt war jede Fehleinschätzung ein Risiko – in welcher Richtung würde er ziehen? Der Meteorologe im Radio sagte: »Hört auf mich Leute, ihr müsst euch in Sicherheit bringen! Diese Stürme können tödlich sein.« Charlie sah Willa an, die inzwischen sechzig fuhr. Der Wind gellte in seinen Ohren. Einzelne Hagelkörner knallten auf die Karosserie, und die Steppenhexen flogen einen Meter hoch durch die Luft. Die Straßenränder waren von Sturmjägern gesäumt, die zusahen, wie die Wolkenwand zahlreiche Fäden 191
Richtung Erde ausschickte. Diese Wolkentrichter drehten sich in einem gespenstischen Tanz um den eigentlichen Saugwirbel, um sich dann rasch wieder aufzulösen. Der Saugwirbel verlängerte sich erneut erdwärts und berührte wieder den Boden. Er riss Erde, Pflanzenteile und ganze Büsche in die Höhe – alles, was ihm im Weg stand. »Ich würde ihm eine F-1 auf der Fujita-Skala geben«, sagte Willa. »Nicht schlecht für einen elften Mai.« Es herrschte eine Bombenstimmung – Autos voller junger Leute mit begeistert aufgerissenen Augen, Kameras, die aus Fenstern gehalten wurden. Sie alle beobachteten den scheinbar bleistiftdünnen Rüssel, der elegant über die flache Landschaft tänzelte und kapriziös die Richtung änderte. Der Himmel hatte sich so verdüstert, dass Charlie zum ersten Mal die Armaturenbeleuchtung wahrnahm. Fast unmerklich begann der Beton unter ihren Reifen zu grollen wie ein langsam herankommender Eisenbahnzug. Ein paar Sekunden später zog sich der F-1 in den Regen zurück und verschwand endgültig. »Das war phantastisch.« »Schauen Sie mal da rüber zu den Rissen in den Stratocumuluswolken«, sagte Willa und zeigte nach Südwesten. »Gut zu erkennen, wie der andere Turm immer noch scharfe Kanten ausbildet. Sehen Sie, wie der Regen die Wolkenwand einhüllt? Und nördlich von dem Schwanz ist eindeutig ein Hagelstrich zu sehen. Dem müssen wir ausweichen.« Sie gab Gas, und sie fuhren zügig in südlicher Richtung, wo sich eine noch größere rotierende Wolke von der Form eines Biberschwanzes dunkel über den Horizont wälzte. »Diese Unwetter bringen Menschen um, jetzt, in diesem Moment«, sagte der Meteorologe im Radio hörbar besorgt. Sie bogen auf eine holprige zweispurige Landstraße ab, und nach einer Weile sah Charlie, dass ihnen zwei Schweinwerter in gleich bleibendem Abstand folgten. Ihm fiel ein, dass er ja eine 192
Kamera in der Hand hielt, er drehte sich um und machte ein paar Bilder. Ein blauer Mazda-Pick-up und ein alter Buick Electra tauchten hinter ihnen auf, zusammen mit einem dunkelbraunen Chevy Caprice Classic und noch einem Pick-up. Bonbonrosa. Boone Pritchetts Wagen. Der kleine Scheißer hatte ihn angelogen. »Viel zu viele Dilettanten unterwegs heute«, beklagte sich Willa nach einem Blick in den Rückspiegel. »Geht doch Gleitschirmfliegen, ihr Idioten! Geht doch Bungee-Springen, und lasst uns in Ruhe!« Sie trat das Gaspedal durch, und sie rasten auf die zweite Wolkenwand zu, unter der sich Staubwirbel und kurzlebige Kondensationsschläuche tummelten. Der Wolkenturm quoll weit über den Cirrus-Amboss hinaus in die Höhe, und von der Basis des Gewitters rissen sich Wolkenfetzen los und trieben südwärts. Die übrig bleibenden tief hängenden Wolken weiter östlich zogen schnell nach Norden. Gewaltige platinfarbene Blitze zuckten quer über den Himmel und schossen dann direkt an der Wolkenwand entlang in den Boden. Charlies Adrenalinspiegel stieg, als er beobachtete, wie sich plötzlich ein schmaler Wirbel auf dem Boden bildete und wie ein elektrischer Mixer durch die Landschaft fräste. Der Trichter stieg unglaublich schnell in die Höhe. Er war fünf Meilen entfernt, aber deutlich zu sehen. Er verengte und straffte sich und bohrte sich dann als klassischer Elefantenrüssel in den Boden, der alles klein häckselte und wie ein gigantischer Staubsauger in die Höhe riss. »Bingo. Wir haben den Tornado des Tages«, sagte Willa mit einer Stimme, in der sich reine Faszination mit professioneller Bewunderung mischte. Sie trat auf die Bremse, und Charlie wurde auf seinem Sitz ruckartig nach vorn gerissen. »Jetzt fahrt doch, ihr Schisser!«, schrie sie.
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Vor ihnen hatte sich eine Autoschlange gebildet, weil mehrere Trödler angesichts des hinreißenden Schauspiels vergaßen, dass sie nicht allem auf der Straße waren. »Der hat anscheinend Angst vor Aquaplaning, bei seinen zwanzig Meilen pro Stunde«, sagte Willa und drückte auf die Hupe. Vor ihnen scherten zwei Wagen aus und überholten die blutigen Anfänger, und Willa schloss sich ihnen an. »Bleibt doch hier hocken, bis ihr euch im Kreis dreht!« Sie zeigte den Trödlern den Mittelfinger. Charlie warf ihr einen schockierten Blick zu. »Ist was?«, fragte sie mit vor Erregung geröteten Wangen. Er grinste von einem Ohr zum anderen. »Sie sind vielleicht eine Marke.« »Ja. Ich hab schon Schlimmeres zu hören bekommen.« Die Luft im Wagen lud sich elektrisch auf. Seine Haare knisterten. Das Auto tuckerte beunruhigend, während sie an verlassenen Weiden vorüberfuhren, auf denen Büsche und Bäume vom Sturm gepeitscht wurden, und alles wurde von den jetzt unaufhörlich zuckenden grellen Blitzen in fahles Licht getaucht. Khakifarbene Blätter wirbelten durch die Luft, und der Tumult wurde umso stärker, je näher sie dem Ungeheuer kamen. Charlie biss die Zähne zusammen, als der Tornado sich zusehends verbreiterte und an Gewalt zunahm. Jetzt verstand er, warum man danach süchtig werden konnte. Ringsum fuhren gleißende Blitze aus den Wolken herab, und riesige Regentropfen prallten fast waagerecht gegen die Windschutzscheibe. Dann fing es an zu hageln. »Halten Sie Ihre Mütze fest«, sagte Willa, während um sie herum die Erde weiß gesprenkelt wurde und die Eisbrocken wie Querschläger von Dach und Motorhaube abprallten.
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»Wenn man ein hühnereigroßes Hagelkorn auf den Schädel kriegt, tut’s weh«, sagte sie. »Aber keine Sorge, Hagelkörner mit einem Durchmesser bis zu zwei, drei Zentimetern können Blech und Windschutzscheiben nicht durchschlagen. Wenn sie allerdings größer werden, kriegen wir ein Problem.« »Danke für die Aufklärung.« Er hielt die zerfledderte Tankstellen-Straßenkarte mit beiden Händen lest und versuchte, ihren Standort zu bestimmen. Er riss sich vom Anblick des Tornados los, um nach Straßenschildern Ausschau zu halten, aber es stellte sich heraus, dass die Straße, auf der sie fuhren, falsch eingezeichnet war. Der Motor des Ford jaulte und ächzte, und die Temperaturanzeige stieg, doch dann hatten sie den Hagelzug hinter sich, und es wurde heller. Auf der anderen Seite des hellen Streifens sahen sie den kegelförmigen Tornado jetzt sehr deutlich, er hob sich dunkel und an den Rändern rosa vom kohlschwarzen Himmel ab. Das Toben der Elemente war unglaublich. Der Sturm drückte das Gras platt auf den Boden, und Pflanzenteile wurden durch die Luft gewirbelt. »Riesenauftrieb heute«, sagte Willa mit einem Blick in den Rückspiegel auf die Kolonne der Wagen hinter ihnen, die aufzuholen versuchten. Charlie drehte sich um und machte noch ein paar Aufnahmen. Seine Hände waren schweißnass, die Haare klebten ihm am Kopf. Sie bogen links auf die Eyebright Road ab, von der aus sie einen Panoramablick über die mit roten und gelben Wildblumen übersäte Prärie hatten. Als die Sonne kurz hervorbrach, färbte sich der dunkle Wirbel plötzlich milchig weiß. Die Sonne schien einen Moment ins Auto, bevor sie wieder verschwand, und das Heulen des Sturms schwoll zu einem Donnern an, während sie parallel zur Zugbahn des Tornados weiterfuhren. Charlie war es nicht geheuer, dass sie ihm derart nahe gekommen waren. »Ich hör deutlich seine Stimme«, sagte Willa. »Hören Sie, wie er mit uns redet?« 195
Er horchte. Er hörte es. Gurgelnd und rauschend. Wie Wasser. Ein kalter, schwerer Geruch hing in der Luft. Der Tornado schlug eine Schneise durch die Ebene, schnitt durch Büsche und Sträucher, zerkleinerte alles und ließ es wie einen Heuschreckenschwarm durch die Luft wirbeln. Er hüllte sich in einen Mantel aus Platzregen und kreischenden Höhenwinden, und innerhalb des nordöstlichen Randes dieses Mesozyklons griffen große Wolkenwirbel nach der Erde und lösten sich dann auf. Willa umklammerte das Lenkrad und versuchte, auf einer Höhe mit dem Tornado zu bleiben. »Ach, Mist«, sagte sie, als sie plötzlich die Herrschaft über den Wagen verlor. Das Auto brach aus und schleuderte über die regennasse Straße. Als sie auf die Bremse trat und beide nach vorn geschleudert wurden, hob Charlie automatisch den Arm, um sie zu schützen. Durch die Windschutzscheibe sah er mit ungläubigem Staunen zu, wie der Tornado schrumpfte. Er zog sich in die Länge wie Kaugummi, wurde dünn wie ein Seil, wich in die Wolke zurück und war im nächsten Augenblick verschwunden. Willa hatte einen roten Kopf bekommen, ihre Augen waren glasig. »Nicht zu fassen, dass ich so die Kontrolle verlieren konnte«, sagte sie. »Was soll das? Sie waren phantastisch!« Sie schlug mit den Handballen aufs Lenkrad. Draußen tanzten immer noch Blitze über die langsam zurückweichende Wand von Gewitterwolken, die sackartigen Mammatuswolken leuchteten silbern und golden in der Abendsonne, das Unwetter fiel allmählich in sich zusammen. »Und jetzt?«, fragte er, während sein Herzschlag allmählich wieder zu seinem normalen Rhythmus fand.
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»Jetzt halten wir an irgendeiner Frittenbude und analysieren die Daten.« Sie schaute ihn an und lächelte in all ihrer ungewöhnlichen Schönheit. Er rutschte ein Stückchen zu ihr hin, mit dem Gedanken, sie noch einmal zu küssen, als plötzlich ein Rettungswagen mit heulender Sirene aus der Gegenrichtung kam und an ihnen vorbeiraste. Ohne Zögern legte Willa den Gang ein und wendete mitten auf der Straße. Sie verfolgten das Blinklicht über eine einsame Landstraße nach der anderen, bis der Rettungswagen irgendwo außerhalb einer Ortschaft am Rand der unzulänglich asphaltierten Straße hielt und Charlie sich ruckartig vorbeugte. Boones Pick-up hatte sich um den entrindeten Stamm einer Eiche gewickelt. Kahl rasierte Stellen neben dem Baum zeigten an, dass der Tornado hier durchgezogen war. Sie sprangen aus dem Auto und liefen hinüber, wo ein Sanitäter und eine Sanitäterin Boone bereits auf einem breiten Brett fixierten. Er lag flach auf dem Rücken und war offenbar nur halb bei Bewusstsein. Sein Cowboyhut war nirgends zu sehen, und in seinem kurz geschorenen schwarzen Haar hing gelber Staub. Er hatte offenbar viel Blut im Mund, und der Sanitäter wischte ihn ihm rasch mit dem Finger aus, während seine Kollegin ihm eine Halskrause anlegte. »Den Kopf stabilisieren …« »Keine ausgeschlagenen Zähne … Wir müssen ihn absaugen …« Charlies Hemd war durchgeschwitzt. Niedrige kleine Wolken jagten über den Himmel. Der Tornado hatte einen Graben mit verflochtenem Präriegras hinterlassen – einen Meter lange Spartgrashalme waren auf eine Art und Weise um abgebrochene Seidenpflanzenstängel gewickelt, wie man es nie für möglich gehalten hätte. Mehrere Eichen waren völlig entlaubt und entrindet worden, und die Weizenfelder waren niedergedrückt 197
und zerzaust. Der Sturm musste den Wagen wie ein Spielzeug hochgehoben und gegen die mächtige Eiche geschleudert haben, die den Blechhaufen mit ihren abgeknickten Ästen umfing. Das Wrack war mit Löchern von herumfliegenden Trümmern übersät, und alle Fenster waren eingeschlagen. »Sinusbradykardie, fünfzig Schläge pro Minute.« »Laden wir ein und fahren los.« Der Wind peitschte das Gras. Durch das Pfeifen hörte Charlie etwas anderes – einen Schrei, fast wie von einem Menschen. Clara. Sie brüllt vor Wut, weil sie verlassen wurde, die Spitzen ihrer Zähne glitzern wie Entenmuscheln, die aus dem gesunden rosa Zahnfleisch hervorwachsen. »Daddy?!« Als er Sophies Stimme erkannte, sah er auf einmal alles schart und klar. Er fuhr herum, das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Seine Tochter kam taumelnd unter einer Gruppe von Bäumen hervor, kam durch den vom Sturm gepeitschten Weizen auf ihn zu. Als er zu schlucken versuchte, schmeckte er seine eigene Panik. »Sophie?« Er rannte über die Straße und riss sie in die Arme. Er drückte sie so fest, dass sie ihm ins Ohr quietschte. »Fehlt dir was?« Er atmete scharf ein. »Bist du verletzt?« »Ist er tot?«, jammerte sie und blickte ihrem Vater über die Schulter, die Augen in namenlosem Entsetzen aufgerissen. Er glaubte, wahnsinnig zu werden. Sein Herzschlag dröhnte ihm in den Ohren. Wie kam sie hierher? Sie war ziemlich übel zugerichtet. Er tastete ihren Kopf unter dem nassen, im Wind flatternden Haar ab. »Hast du dich am Kopf verletzt?« Ihre Augenbrauen hoben sich in sanfter Überraschung. »Ist er tot?«, fragte sie. »Ist er gestorben?« »Nein.« Sein Blut wurde kalt. »Bewusstlos.« »Wird er sterben, Daddy?« 198
»Pst. Beruhige dich, mein Schatz.« Er schluckte seinen Zorn hinunter. »Wir waren in dem Wagen. Es ist so finster geworden, und es hat furchtbar geschüttet. Wir sind immer näher an den Tornado rangekommen, als plötzlich ein dicker Ast angeflogen kam und die Windschutzscheibe eingeschlagen hat. Boone wollte verhindern, dass der Wagen umkippt, aber dann hat uns der Tornado erwischt.« Sie brach in Tränen aus, und er hielt sie in den Armen, wollte sie für immer vor dem Sturm, dem schwarzen Mann, allem Bösen beschützen. »Ich war angeschnallt«, sagte sie schaudernd, »aber Boone hatte seinen Gurt nicht angelegt. Er ist aus dem Auto geflogen, aber ich hatte den Gurt um, Daddy … deswegen ist mir nichts passiert. Ich hab ihn abgemacht und bin ausgestiegen.« »Gott sei Dank.« Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. »Wird er wieder gesund?« »Pst.« »Sag doch!« Sie schluchzte an seiner Schulter. »Hast du dir den Kopf angestoßen? Wie geht’s deinem Kopf? Ist dir schwindlig?« Er tastete immer wieder mit einem Gefühl der Unwirklichkeit ihren Kopf ab. »Hierher!«, schrie er den Sanitätern zu, und schließlich kam die Frau herüber. »Hast du irgendwo Schmerzen?«, fragte sie und hörte Sophie dann ohne Eile mit dem Stethoskop ab. »Kannst du normal atmen?« »Nehmen Sie sie mit«, sagte Charlie zu ihr. »Wir fahren Ihnen nach.« »Daddy?« »Wir bleiben dicht hinter dir, Schatz.«
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9 Charlie ging hinter den Sanitätern her in die Notaufnahme, wo Sophie auf der Rolltrage um sich schlug. Haare klebten ihr auf dem verschwitzten Gesicht. »Was ist los?«, fragte sie. »Wo ist Boone?« Er hielt ihre Hand, während ein halbes Dutzend Ärzte und Schwestern um sie herumtanzten und CATs, Röntgenaufnahmen und Blutuntersuchungen anordneten. Dann fing eine Schwester an, Sophies Kleider aufzuschneiden. »Daddy?«, schrie sie entsetzt auf. »Ruhig, Schatz.« Er war in Schweiß gebadet. »Alles wird gut.« »Was machen die mit mir?« »Sie helfen dir.« Er ließ ihre Hand nicht los, bis eine der Schwestern übernahm. »Ich kümmere mich um sie«, sagte sie. »Sie können draußen warten.« Auf dem Gang drückte Willa immer wieder ihr zerzaustes Haar herunter, als müsste sie es beruhigen. »Charlie? Alles in Ordnung?« »Ich glaub schon. Ich hoffe. Mein Gott, ich zittere ja richtig.« Sie legte ihm sacht die Hand auf den Arm. Das Wartezimmer roch nach verwelkten Blumen und unterschied sich kaum von dem, das er vor so vielen Jahren hassen gelernt hatte – dieser taubenblaue Warteraum vor der Intensivstation. Damals hatte es noch keine auf Verbrennungen spezialisierte Abteilungen in Krankenhäusern gegeben, und er hatte wochenlang auf der Intensivstation gelegen, bevor er in die Kinderabteilung im fünften Stock verlegt worden war. Wartezimmer. Schon der Name war eine Zumutung. Ein Ort, wo die Zeit nicht verging, 200
wo jeder Stuhl ein Folterinstrument war. Besser, man ging die Korridore auf und ab, seinen Infusionsständer im Schlepptau. »Ich bring ihn um«, sagte Charlie. Hose und Hemd waren mit dem Blut seiner Tochter beschmiert. Willa suchte seinen Blick. »Das wird schon wieder.« »Das darf nie wieder passieren.« »Charlie«, sagte sie und drückte ihm die Hand, »Sophie kommt schon wieder in Ordnung. Sie war angeschnallt. Sie ist bei Bewusstsein, spricht zusammenhängend, kann sich normal bewegen.« »Ich hab meine Schwester verloren. Meine Mutter. Maddie. Ich will nicht auch noch meine Tochter verlieren, schon gar nicht an diesen kleinen Mistkerl.« Er starrte vor sich hin. Nach ein paar Minuten stand er auf und sprach mit der Frau an der Aufnahme, einer Brünetten mit stahlgrauen Augen, die ihm sagte, »jeden Moment« werde ein Arzt mit ihm sprechen. Jeden Moment. Er wusste, was das bedeutete. Er lehnte sich auf der ramponierten grünen Couch zurück und starrte die schmutzigen weißen Wände und die erdfarbenen Fliesen an. Willa saß schweigend bei ihm, und der Fernseher produzierte ein beständiges Hintergrundgeräusch, wie Regen auf einem Dach. Sein Mund war ausgedörrt. Am Wasserkühler legte er sich einen Plan zurecht. Er würde ihr für einen Monat Hausarrest geben, sie auf eine Privatschule schicken, sie in einem Schlossturm einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Er setzte sich wieder hin, versuchte, seine überschäumende Phantasie zu zügeln, und strich sich das Haar aus der Stirn. Wartezimmer. Wie viele Operationen hatte er insgesamt über sich ergehen lassen? Zwanzig? Fünfundzwanzig? Als junger Patient mit Brandwunden hatte er immer die Schwestern verflucht, die ihn zwangen, seine schmerzenden Gliedmaßen anzuwinkeln. Er verfluchte die Verbände, die Antibiotikum-Salbe, die tägliche Wundreinigung. Zweimal täglich zwang ihn eine Schwester – 201
vor allem eine grobknochige Schwedin mit dem Gemüt eines Feldwebels –, in einem nach Desinfektionsmittel stinkenden Whirlpool seine Beweglichkeitsübungen zu machen. Wenn man sich nicht bewegte, bekam man Gelenkfibrose. Schwester Natalie, mit Augen von der Farbe unreifer Birnen, hatte ihm das Leben schwer gemacht. Sie hatte ihn unnachsichtiger angetrieben als je ein anderer Mensch davor oder danach, aber heute war er ihr dankbar dafür. »Chief Grover?« Ein stirnrunzelnder, sehr junger Arzt kam auf ihn zu. Auf seinem Namensschild stand »Dr. med. Russ Pressler«. Charlie erhob sich. »Wie geht es ihr?« Pressler hatte kleine, tief liegende Augen und kurz geschnittenes Haar. »Sie können von Glück sagen.« Er sprach mit professionell distanziertem Tonfall. »Keine Knochenbrüche, keine Gehirnerschütterung. Wir haben ihre kleineren Verletzungen versorgt und ihr eine Tetanusspritze gegeben. Die wird sie morgen spüren. Ich empfehle Bettruhe und viel Tylenol.« »Und die Schnittwunden im Gesicht und an den Armen?« »Sicherheitsglas zerspringt unter einem Schlag in kleine Würfel. Die Kratzer auf der Haut Ihrer Tochter sind linear, rechtwinklig und ganz oberflächlich.« »Das gibt sich also wieder?« Der Arzt nickte knapp. »Die heilen ab. Wir warten noch auf das CAT, und wenn das auch ohne Befund ist, wird sie entlassen. Sie ist jetzt bei dem anderen Patienten. Er liegt im Koma, ist aber stabil. Er ist intubiert und wird ständig überwacht.« Charlies Miene verdüsterte sich. »Wo liegen die beiden?« Der Arzt ging mit ihm auf die Intensivstation und zeigte auf einen dottergelben Vorhang in der Ecke. 202
Boone Pritchett lag bewegungslos auf seinem Bett, und an seinem Mund war ein Endotrachealtubus mit Klebeband befestigt. Seine Augen waren leicht geöffnet, aber blicklos. Sein Beatmungsgerät bewegte sich geräuschvoll zischend auf und ab. Sophie, die einen Pflegerkittel trug, stand neben dem Bett. Man hatte ihr das Haar aus dem Gesicht gekämmt, und sie hielt eine Plastiktüte mit ihren eigenen blutbeschmutzten Sachen an sich gedrückt. »Da ist ständig kalte Luft durch den Boden gekommen«, sagte sie, ohne aufzuschauen. »Ich hatte eisige Füße.« Charlie blieb einen Moment stehen und betrachtete ihren babyzarten Teint und ihr ausdrucksloses Gesicht. »Es ist alles so schnell gegangen.« Sie wischte sich eine Träne ab. »Es wurde finster, und dann kam der Regen. Ich hab gemerkt, wie der ganze Wagen abhob. Ich hab die Augen nicht mehr aufgemacht …« »Er hat dich einer furchtbaren Gefahr ausgesetzt«, sagte Charlie. »Das vergess ich ihm nie.« Sie drehte sich um, und sie wirkte so schutzbedürftig, dass er sie am liebsten auf der Stelle weggebracht und nie mehr aus den Augen gelassen hätte. »Er ist nicht so schlimm, wie du denkst«, sagte sie. »Sophie … Der Kerl taugt nichts.« Er sah die Panik in ihren Augen. »Er ist intelligenter, als die meisten ihm zutrauen … Bloß weil sein Dad ein Neandertaler ist …« »Schatz, du darfst dich nicht mehr mit ihm treffen.« Tränen des Zorns stiegen ihr in die Augen. »Das ist so heuchlerisch«, rief sie. »Wie kannst du so was Heuchlerisches sagen?« »Deine Mutter würde es nicht wollen. Ich will es nicht.« Sie verschränkte die Arme, wiegte den Oberkörper hin und her und kämpfte gegen die Tränen an. 203
»Das darf nie wieder passieren.« »Warum tust du mir das an?«, fragte sie mit hoher, dünner Stimme. Sie hatte noch nicht begriffen, was gerade passiert war, dass sie nur um Haaresbreite dem Tod entgangen war. »Du hast mich angelogen«, sagte er. »Du hast gesagt, du müsstest zurück in den Unterricht.« »Ja, und?« Schockwellen. Fassungslosigkeit. Bis zehn zählen und tief Luft holen. »Wie bitte?« »Begreif doch endlich, Dad! Ich bin nicht vollkommen.« Er musste an sich halten, um nicht auszurasten. »Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt zu reden. Wir besprechen das alles später.« Sie ließ den Kopf noch tiefer hängen. »Du hast kein Recht, mir vorzuschreiben, mit wem ich mich treffen darf und mit wem nicht«, sagte sie und nestelte an ihrem Medaillon, das an einem silbernen Kettchen hing. »Wir leben in einem freien Land.« »Verstehst du überhaupt, was ich sage?« »Du bist derjenige, der nichts versteht!« Sein Pager piepte, und er nahm ihn vom Gürtel. Es war Mike. »Schatz«, sagte er zu ihr und tätschelte sie, »ich muss da mal eben ran.« »Rühr mich nicht an!« Sie riss sich los. »Dann mach doch deinen dämlichen Anruf.« Er schaltete sein Handy ein. »Was ist, Mike?« »Es hat einen Doppelmord gegeben, Chief. Letzte Nacht in Texas. Ein älteres Ehepaar, ungewöhnliche Tatumstände. Ein Tornado ist ungefähr hundert Meter von dem Haus entfernt durchgezogen.« Ihm war, als kitzelte ihn eine Feder am Nacken. »Wann kannst du dort sein?«, fragte er. 204
10 Es war dunkel, als sie am Tatort eintrafen. Die Blinklichter mehrerer Übertragungswagen begrüßten sie mit ihren gespenstisch lautlosen roten und blauen Blitzen. In ganz Dogtooth war Stromausfall, und das Haus war in grauen Dunst gehüllt. Charlie klopfte das Herz bis zum Hals, während er und Mike nebeneinander die Stufen zur Veranda hinaufstiegen und ihre Schatten von den Lichtkegeln der Taschenlampen vertrieben wurden. Drinnen war es stockfinster. Charlie zuckte unwillkürlich zusammen, als er seine Lampe auf die verblichene Tapete in der Diele, die lehmverkrusteten Stiefel und die Kleiderhaken mit den schlaffen Regenumhängen richtete. Einen Moment lang fühlte er sich in die siebziger Jahre zurückversetzt: die BlumenAbziehbilder an der Kellertür und der violett gestrichene Handlauf des Treppengeländers, das noch mit Weihnachtslämpchen umwickelt war. All die bunte Fröhlichkeit führte in die Schwärze am oberen Ende der Treppe. Ihm fiel auf, dass ein paar Geländerstreben fehlten – die Lücken waren grotesk wie die Zahnlücken einer Kürbislaterne. Als hinter ihnen die Fliegentür im Luftzug zufiel, fuhren sie beide zusammen. »Oh, Scheiße.« Mike sah ihn an und grinste dümmlich. Eine barsche Stimme ertönte aus der Dunkelheit: »Nichts anfassen.« Sie kam aus der offenen Tür am Ende der Diele. Sie gingen durch einen engen Vorraum und um die Ecke in ein großes Wohnzimmer, dessen Möbel nicht zueinander passten. Schränke und Kommoden waren aus Mahagoni und Eiche und hatten kannelierte Pfosten, die Luft roch schal und feucht und nach etwas vage Vertrautem.
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»Sind Sie’s, Grover?« Sheriff Chester McNeese war eher zierlich, ein kleiner Mann, in dessen Innerem irgendetwas Großes am Werk war. Er trug sein helles Haar millimeterkurz geschoren, und er hatte ein auffällig pockennarbiges Gesicht und die abstoßende Angewohnheit, an seinen Schneidezähnen zu saugen. »Sheriff.« Das Händeschütteln im Dunkeln war seltsam intim. »Das ist Detective Rosengard.« »Hallo.« McNeese gab Mike die Hand. »Rosengard – ist das ein jüdischer Name?« »Ja«, sagte Mike und spulte das übliche Ritual ab, »ich bin der einzige Jude in Oklahoma.« »Na, wenn schon. Ich lauf auch nicht ständig mit der Bibel unterm Arm rum. Ich achte alle Religionen.« Mike lächelte dünn. »Amen, Bruder.« »Hinter Ihnen«, sagte McNeese, und sie drehten sich um. Der grausige Anblick verschlug Charlie die Sprache. Zwei leblose Körper saßen nebeneinander auf einer abgewetzten Ledercouch, den Mund offen, die Augen misstrauisch. Der Mann trug einen Flanell-Schlafanzug, und die dunkle Sonnenbräune seines Gesichts ließ seine Lippen fast weiß erscheinen. Die breithüftige Frau hatte die Beine untergeschlagen und war leicht gegen ihren Mann gekippt. Sie trug eine grüne Stretchhose und kleine weiße Schuhe. Beide waren etwa Mitte fünfzig. Er hielt einen halb gerauchten Zigarillo in der Hand, sie sah aus wie eine gefriergetrocknete Aprikose. Die Pfählungsverletzungen gingen teilweise durch den ganzen Körper, hatten also eine Eintritts- und eine Austrittsöffnung. Hölzerne Objekte steckten in verschiedenen Winkeln in den Leichen, ein groteskmakabrer Effekt.
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Charlie zuckte zusammen, und seine Narben begannen gewissermaßen stellvertretend zu schmerzen. »Das war wohl wieder Ihr Mann?«, sagte McNeese, und das Zittern in seiner Stimme verriet die Angst, die er sich nicht anmerken lassen wollte. Er hatte ständig die Hand auf seinem Pistolenhalfter. »Der, von dem die Zeitungen voll sind?« Charlie nickte grimmig. Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Der Täter machte sich nicht mehr die Mühe, seine Morde zu verschleiern. Die Opfer saßen einfach da auf der Couch. Er forderte die Polizei jetzt offen heraus. »Der Twister hat dreihundert Meter nördlich von hier den Boden berührt«, berichtete McNeese. »Die Verwüstungsschneise ist sieben Meilen lang. Er hat einen Trailer Park erwischt. Da hatten wir seit gestern Abend am meisten zu tun. Drei Tote, zahllose Verletzte. Knochenbrüche, Kopfverletzungen. Die Leute sind einfach jammernd herumgeirrt, mit zerfetzten Kleidern. Wir haben die beiden hier erst am Spätnachmittag gefunden, ein besorgter Nachbar hatte nachgeschaut.« Er kratzte sich am Kopf, man hörte das Geräusch von Fingernägeln auf trockener Kopfhaut. »Wenn das nicht verdammt noch mal völlig verrückt ist …« »Nicht allzu viele Blutspritzer im Wohnzimmer«, sagte Charlie. »Keine Kampfspuren, keine umgestürzten Möbel.« Mike sah ihn in stummem Einverständnis an. »Keiner hat daran gedacht, mal hier nach dem Rechten zu sehen«, fuhr McNeese fort. »Das Haus blieb verschont. Wir hatten die ganze Nacht alle Hände voll zu tun: Brände löschen, Verschüttete ausgraben. Mein Cousin ist tot. Ich kann’s immer noch nicht fassen.« Blutstropfen und Schleifspuren führten über den Orientteppich in die Küche, wo die Magnete und Rezeptkarten von der Kühlschranktür abgefallen und in einer Blutlache gelandet waren. Der Teekessel fühlte sich kühl an. Eine Tasse kalter Tee 207
stand auf dem Eichentisch. Das Telefonverzeichnis war über und über bekritzelt. Fußboden, Wände und Decke waren voller Blutspritzer. Und noch etwas. Auf der rosa Resopalarbeitsplatte waren Küchengeräte aufgereiht – eine Küchenmaschine, eine Knetmaschine, ein elektrischer Dosenöffner, eine Kaffeemaschine und ein Mixer. Jedes Gerät war an eine Steckdose angeschlossen, und in der Knetmaschine, der Küchenmaschine und dem Mixer waren Dutzende von Besteckteilen – Gabel, Messer, Löffel. Charlie seufzte ratlos und richtete den Strahl seiner Taschenlampe nach unten. Das Blut auf dem Boden war teilweise aufgewischt worden – er entdeckte Wischspuren auf dem Linoleum. Der Mop stand aufrecht in einem Blecheimer in der Speisekammer. Wenn sie den Boden mit Luminol einsprühten, wurde bestimmt ein kreisförmiges Muster von Blutspuren erscheinen, das der Eimer hinterlassen hatte. Im Wohnzimmer waren inzwischen drei Hilfssheriffs zugange – sie machten Blitzfotos. Die Stimmung war nüchtern und sachlich. Charlie beleuchtete die Couch. »Was hat das mit dem Besteck zu bedeuten?«, fragte er McNeese. »Fragen Sie mich was Leichteres.« Der kleine Mann zuckte die Achseln. »Gabeln und Löffel in einem Mixer? Was meinen Sie?« Charlie betrachtete die mit Strass besetzte Brille der Frau, die jetzt mit Blut bespritzt war und schief saß. »Wer sind die beiden?« »Birdie und Sailor Rideout.« McNeese saugte geräuschvoll an seinen Schneidezähnen. »Sie sind Farmer, er ist außerdem Maurer. Er ist der ruhigste Mann in der ganzen Stadt, und sie backt einen phantastischen Pekannusskuchen. Sie haben vier Kinder großgezogen, alles angesehene Bürger. Meine Tochter geht mit einem ihrer Enkelkinder zur Schule. Sailor und ich sind 208
über drei Ecken verwandt. Wir haben einen gemeinsamen UrurWasweißich.« Eine Katze sprang am Fliegengitter eines Fensters hoch und versuchte verzweifelt, sich festzukrallen. Charlie spürte die Angst bis ins Mark. »Schsch«, machte McNeese und ging hinüber, um sie zu verscheuchen. Mit einem seltsamen Gefühl, eine Mitschuld zu tragen, trat Charlie näher an die Couch heran und musterte die prall gefüllten Kissen, die Kleenex-Schachtel auf dem Couchtisch und die Rollos, die sich nicht mehr ganz hinaufziehen ließen. Die verschiedenen Uhren waren sich nicht einig, wie spät es war. Auf den Fensterbänken lagen alte Steinwerkzeuge, wie man sie auf den Feldern finden konnte – Pfeilspitzen und Tonscherben. Überreste einer untergegangenen Kultur. Sailors Armmuskeln schienen sich für einen Moment zusammenzuziehen, und Charlie überlief es kalt. Eine optische Täuschung, hervorgerufen durch die sich kreuzenden Strahlen der Taschenlampen. Er beugte sich vor und meinte, eine leichte Rötung um Sailors Mund zu entdecken. Birdies Kiefer war etwas geschwollen. »Sagen Sie Ihrem Coroner, dass er die Zähne der Opfer überprüfen soll«, sagte er dem Sheriff. »Außerdem müssen Sie Ihre Ermittlungsergebnisse geheim halten. Ich hätte gern eine Kopie vom Obduktionsbericht, wenn sich das machen lässt.« »Klar, Kollege. Ich hab da keinen Ehrgeiz.« Der Fernseher stand direkt vor den Opfern. An den Abdrücken im Teppich sah man, dass er vor kurzem verrückt worden war. Etwa einen Meter hinter dem Gerät stand ein Staubsauger, das Kabel steckte in der Steckdose. Charlie leuchtete den verstaubten Fernseher an, auf dem allerlei Nippes stand – Kühe aus Keramik und handbemalte, selig lächelnde Fliegenpilze. Der Staubsauger war ein großer brauner Hoover, er stand aufrecht 209
auf dem Orientteppich. In der gegenüberliegenden Ecke sah er ein Bücherregal aus Kiefernholz mit einer großen Schallplattensammlung. In der Mitte des Regals befand sich eine Pioneer-Stereoanlage mit zwei mittelgroßen Boxen. Charlie konzentrierte sich auf das Szenarium und nahm nicht mehr wahr, was um ihn herum geredet wurde. Diesmal waren die Morde offensichtlich, und das bedeutete, dass der Täter seine Vorgehensweise geändert hatte. Ein Furcht einflößender Gedanke. Er wurde dreister. Charlie besah sich den Staubsauger. Hatte der Täter Birdie beim Staubsaugen überrascht? Unwahrscheinlich. Die meisten Blutspuren befanden sich in der Küche, wo der ursprüngliche Angriff stattgefunden haben musste. Warum aber hatte der Täter diese Szene aufgebaut? Weil er Gott spielte. Weil die Opfer seine Puppen waren, seine Spielsachen. Er konnte mit ihnen tun, was er wollte. Charlie spürte, dass der Täter ruhig und systematisch vorgegangen war. Er hatte viel Zeit gehabt. Stürmisches Wetter schreckte ihn nicht. Er war in seinem Element. Er spielte Katz und Maus mit der Polizei. Auch böse Menschen sehen fern. Und lesen Zeitung. Während er die Einzelheiten Revue passieren ließ, fühlte er sich von den anderen getrennt durch eine Membran geschärften Bewusstseins, so dünn und verletzlich wie die Haut einer Seifenblase. Plötzlich tat es einen lauten Schlag, und der Strom war wieder da. Alle Lampen und Elektrogeräte im Haus gingen auf einmal an. Charlie riss seinen 38er aus dem Holster und hielt ihn an sein Hosenbein, während die verschiedensten Maschinengeräusche an sein Ohr drangen – die Knetmaschine in der Küche rotierte knirschend, das im Mixer tanzende Besteck machte einen Höllenlärm, die Küchenmaschine jaulte wie ein Schrapnell, Gelächter und Gepolter kam aus dem Fernseher, der Staubsauger fuhr heulend über den Teppich. Und durch all diesen Krach meinte Charlie einen leisen, lieblichen Song aus der Stereoanlage zu hören. 210
Gänsehaut überzog seine Arme. Er hielt den Revolver locker in der Hand und versuchte, die Angst niederzukämpfen, die wie Galle in seiner Kehle hochstieg, während er sich nach den anderen umschaute, die hypnotisiert dastanden wie Rehe im Scheinwerferlicht. Die Stereoanlage war leise gestellt, als hätte der Mörder ihnen die aus den fünfziger Jahren stammende Aufnahme der Platters von »Smoke Gets in Your Eyes« ins Ohr flüstern wollen. Der Schreck hatte sich wie glühende Kohle in Charlies Eingeweide gebrannt. Er spielte mit dem Abzug des Revolvers. Das ganze Haus vibrierte wie eine Lunge. Selbst die beiden Toten wirkten plötzlich wach und munter. Schweißüberströmt wandte er sich an Mike und sagte: »Okay. Das ist genau die Reaktion, die er gewollt hat.«
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11 Sophie trug ein übergroßes Fußballtrikot als Nachthemd. Ihr Gesicht war mit blauen Flecken und kleinen Kratzern übersät, die Arme waren bandagiert. Es brach ihm das Herz. »Sie ist nett«, sagte sie und schaute mit zusammengekniffenen Augen zu ihm auf, wie vom Grund eines Brunnens. »Miss Misterioso, mein ich.« Er nickte lächelnd. Lange feuchte Haarsträhnen klebten ihr an der Stirn, er strich sie mit dem Daumen weg. »Schlaf jetzt«, sagte er. Sie drehte sich zur Wand, und er merkte, dass sich ihr Groll auf ihn noch nicht gelegt hatte. »Soll ich die Tür offen lassen?« »Nee. Nacht.« Er schloss die Tür hinter sich und ging durch das leere Haus, hängte seine Jacke über die Lehne der Couch und machte einen Abstecher in die Küche, um Bier zu holen. Der Kühlschrank summte und ratterte. Wahrscheinlich würde er irgendwann dieser Tage den Geist aufgeben. Und dann würde er, Charlie, ihn nicht reparieren können. Er verstand nichts von Technik, und von Elektrotechnik schon gar nicht, er war alles andere als ein Bastler und Heimwerker. Eine herbe Enttäuschung für seinen Vater, der auf Charlies Ankündigung, dass er zur Polizei wolle, mit einem verständnislosen, starren Blick reagiert hatte. Er zerrte zwei Flaschen Bier aus der Verpackung und setzte sich zu Willa auf die hintere Veranda, wo die Luft kühl und dicht war und die Sterne hell funkelten. Die Wolken waren zum größten Teil verschwunden. Sie saßen im schwachen Licht des elektrischen Insektenvernichters auf der knarzenden 212
Holzschaukel, und er fühlte sich zugleich schwerelos und niedergedrückt. »Alles in Ordnung?«, fragte sie. »Du wirkst völlig ausgelaugt.« »Ich wurde heute der Heuchelei beschuldigt.« Er rieb sich das Gesicht und stützte sich dann auf die Ellbogen. »Danke, dass du auf sie aufgepasst hast.« »Kein Problem. Sie ist ein tolles Mädchen.« »Sie kommt nach ihrer Mutter.« »Ach, sie hat durchaus auch ein bisschen was vom Vater.« Willa kickte ihre lehmverschmierten Clogs weg und stellte die bloßen Füße auf den gestrichenen Holzboden. Er lächelte. »Jedenfalls hat sie ihren eigenen Kopf.« »In Sophies Alter hatte ich Pickel und noch keinen Busen, und mein kostbarster Besitz war ein Skateboard. Ich war die Perverse an unserer Schule. Ich hab immer Penisse auf den Rand meiner Englischarbeiten gezeichnet und dann den Rest der Stunde damit zugebracht, sie wieder wegzuradieren, bevor die Arbeiten eingesammelt wurden.« Er lehnte sich zurück, sodass die Schaukel ein wenig ins Schwingen geriet. Es war schön, lächeln zu können. Ihr langes schwarzes Haar schimmerte im violetten Licht des Insektenvernichters, und unter dem weiten Pullover zeichneten sich die Umrisse ihrer Brüste ab. Sie setzte die Flasche an den Mund und neigte den Kopf nach hinten, sodass die sandige Unterseite ihres Kinns sichtbar wurde. Er sah ihre Schluckbewegungen. Sie wartete einen Moment und fragte dann: »Also, was ist heute passiert?« »Ein Doppelmord in Texas.« Er kniff die Mundwinkel zusammen. »Nette Leute. Kein Feind weit und breit.« »Wie alt?«
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»Mitte fünfzig, ein Ehepaar.« Er hörte die melancholischen Rufe der Wildgänse. Ein geisterhaftes Geräusch. Er liebte die Wildheit der Nacht in Oklahoma. Er fand es schön, wie sie von ihr eingehüllt wurden – ringsum nichts als Dunkelheit, der Lichtschein reichte nur bis zum Rand der Einfahrt. »Wurden sie auf die gleiche Art umgebracht wie die anderen?«, fragte Willa mit zitternder Stimme. »Ja.« Er sah, dass sie Mühe hatte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. »Es könnte jemand sein, den du kennst«, sagte er. Sie war dabei, das Etikett von ihrer Bierflasche abzuziehen. »Einer der Sturmjäger?« »Ich lass dir morgen früh ein paar Bilder schicken. Ich möchte, dass du sie dir ansiehst und mir sagst, ob du irgendwelche Fahrzeuge wiedererkennst, die wir noch nicht identifizieren konnten. Würdest du das für mich tun?« »Sicher.« Die Kälte des Bieres drang durch das Glas der Flasche in seine Fingerspitzen. »Ich will dir keine Angst machen.« Sie schaute in die Dunkelheit und fröstelte. »Die meisten Jäger, die ich kenne … Also, das ist ein Haufen Besessener. Sie sind süchtig nach extremen Wetterverhältnissen. Die würden Tausende von Meilen fahren, nur um fünf Minuten lang einen Tornado beobachten zu können.« Er schaute über den Rand des Lichtscheins hinaus in das große Mysterium der Nacht. Irgendwo da draußen in der weiten Landschaft der Plains war ein Mann, der sich durch den Tod anderer definierte. »Der Tornado ist diesmal bis auf dreihundert Meter ans Haus der Opfer herangekommen. Wie kann dieser Mensch das so genau vorhersehen?«
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Sie überlegte einen Moment. »Er muss in einer ganz anderen Liga spielen. Er hat’s raus, Charlie. Und er ist allen anderen ein Dutzend Schritte voraus.« »Was müsste er dafür im Kopf haben?« Sie zuckte die Achseln. »Entweder, er besitzt überragende Kenntnisse in der Radartechnik, in der DopplerGeschwindigkeitsbestimmung und in der Interpretation meteorologischer Anzeichen, oder aber …« »Oder aber was?« »… einen ausgezeichneten Instinkt. Einen direkten Draht, sozusagen.« Er schaute sie an. Sie schwiegen beide. Er hörte den Wind in den Bäumen, das leise Rascheln der Blätter. Sie strich ihm mit der Fingerspitze über die Handfläche, und das erregte ihn. Er versuchte sich vorzustellen, wo sie aufgewachsen war, und malte sich ein Kaff am Ende der Welt aus, ein heruntergekommenes Haus und einen Haufen ungebärdiger Kinder; sie war der Texas-Wildfang mit Zöpfchen, der nur darauf wartete, dass es anfing zu regnen. Immer ein Auge auf den Himmel. »Das ist so ein Klischee«, sagte sie. »Der Schmetterlingseffekt. Hast du bestimmt schon mal davon gehört, oder?« »Ein Schmetterling schlägt in China mit den Flügeln, und am nächsten Tag gibt es in Oklahoma einen Tornado.« Sie nickte. »Das globale Wetter ist extrem empfindlich. Eine Region beeinflusst die andere. Man kann es nicht beherrschen. Eine weltweite Vorhersage ist nicht möglich. Ich hoffe, ich kann demnächst mal nach China fahren und zusehen, wie dieser Schmetterling seine Flügel bewegt. Ich möchte die Entstehung eines Tornados beobachten.« Ihre Hand wurde warm in seiner. »Es ist wirklich ein Rätsel, wie etwas so Zartes und Schönes zu solchen Verwüstungen führen kann.« 215
Während sie so leicht schaukelnd nebeneinander saßen, betrachtete Charlie ihre anmutigen, wohl proportionierten Gesichtszüge. Die Augen fielen ihr zu. Sie schaute auf die Uhr. Als sie seine Hand losließ, kam er sich nackt vor. Sie schlüpfte wieder in ihre Clogs und stand auf. »Ich muss jetzt wirklich los, Charlie.« Er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Es war ein langer Tag.« Sie stellte die halb geleerte Flasche hin und klimperte zerstreut mit ihren Schlüsseln. »Wir könnten doch mal zusammen abendessen?« »Wär schön.« »Ja?« »Ich ruf dich an.« Er beugte sich vor. Sie küssten sich lange, bis sie sich schließlich losmachte. Sie atmete tief durch und lächelte. »Du rufst mich ganz sicher an«, entschied sie. Er lachte. »Na komm, Hiawatha. Ich bring dich zu deinem Auto.«
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12 Drei Tage danach besuchte Sophie Boone im Krankenhaus. Er lag mit geschlossenen Augen im Bett, und immer, wenn das Beatmungsgerät eine Pause machte, hielt sie die Luft an und zählte die Sekunden, bis Boone wieder atmete. »Gehirntod.« Das hieß, kein Würgreflex und kein Blinzelreflex mehr. Schwesterngerede. Die redeten alles Mögliche. »In solchen Situationen muss man realistisch sein. Seine Chancen stehen nicht allzu gut, statistisch gesehen.« Sie huschten von Bett zu Bett, versorgten die Kranken, überprüften die Krankenblätter der Patienten und machten Bemerkungen, die einem Angst einjagten. Sophie wollte nichts davon hören. Sie wollte heute nur positive Gedanken zulassen. Er wird die Augen aufschlagen und mich anlächeln … Ihre Trauer kam in Schüben. Die helle Sonne, die durch die Lamellen der Jalousie hereinfiel, machte ihr Hoffnung. Sie saß zusammengekauert in einem Sessel, den sie ans Bett gerückt hatte, und hielt Boones feuchte, schlaffe Hand. Sie erinnerte sich an die Zeit, als ihre Mutter im Krankenhaus gewesen war. Sophie hatte sie wahnsinnig vermisst, aber als sie zwei Wochen später nach Hause kam, hatte Sophie sich unbehaglich und distanziert gefühlt. Beinahe wütend. Erst später war ihr klar geworden, dass sie die Nähe ihrer Mutter mied, um sich nicht von ihr verabschieden zu müssen. Sie hatte sich trotzdem von ihr verabschieden müssen. Und dann war alles anders geworden. Die Welt wurde dunkler. Niemanden schien es zu kümmern. Niemand verstand, was sie durchmachte. Nicht einmal ihre beste Freundin, Katlin, die immer nur ganz kurz über Sophies Trauer reden konnte und dann unruhig wurde oder das Thema wechselte. »Du musst drüber wegkommen. Das Leben geht weiter.« Damit war sie am 217
wenigsten zurechtgekommen – dass die Leute sich nicht auf das Unglück anderer einlassen wollten, auch wenn sie einen noch so gern hatten. Boone war anders. Er hörte ihr stundenlang zu, wenn sie von ihrer Mutter erzählte. Er war der einzige Mensch auf der Welt, der zu begreifen schien, was sie durchmachte. Wegen dieser Freundschaft waren alle möglichen Leute von Sophie enttäuscht. Ihr Vater hatte ihr zwei Wochen Hausarrest verordnet, ihre Freundinnen benahmen sich kleinkariert. Sie konnten Leute nicht leiden, die nichts mit dem College am Hut hatten, dabei war Amerika doch angeblich eine klassenlose Gesellschaft. Das Kinn auf ihren Unterarm gestützt, betrachtete Sophie den schlafenden Boone. Er hatte den Teint eines Kindes – rosig und glatt – und wunderschönes, makellos gekämmtes Haar. Normalerweise standen seine Haare in alle Himmelsrichtungen ab, aber am Vormittag war seine Mutter bei ihm gewesen und hatte es gebändigt – alles glatt zurückgekämmt, wie bei einem kleinen Jungen. Außerdem hatte sie einen Karton mit Sachen von ihm ans Fußende des Bettes gestellt – seinen Gameboy und sein Skateboard, ein paar Videospiele mit ominösen Namen wie Doom und Resident Evil. Als ob er seine Spielsachen dringender brauchte als die Liebe seiner Mutter. Wahrscheinlich hockte sie inzwischen schon wieder in irgendeiner Bar und ließ sich volllaufen. Sophies Herz schlug ihm entgegen. Auch er hatte lernen müssen, in einer mutterlosen Welt zu leben, genau wie sie. Eine sommersprossige Schwester kam herein und zog die Jalousien auf, sodass Sophie die Sonne voll ins Gesicht schien. »Wie geht es ihm?«, fragte Sophie und blinzelte in dem grellen Licht. »Unverändert«, sagte die Schwester. Sie überflog sein Krankenblatt und justierte seinen Infusionsschlauch. »Aber der Druck auf sein Gehirn hat nachgelassen.« 218
»Ist das ein gutes Zeichen?« »Vielleicht. Aber machen Sie sich keine zu großen Hoffnungen.« Sie fühlte ihm den Puls, schüttelte seine Kissen auf und ging wieder. Sophies Bauchmuskeln spannten sich, und sie ließ sich matt in ihren Sessel sinken. Vielleicht war der Tod doch nicht so schlimm, wie alle dachten. Vielleicht war der Tod so, wie wenn man mitten am Tag einschläft. Vielleicht schmolz man langsam in der Sonne, wie ein Eiszapfen, und die Moleküle, aus denen man bestand, schwärmten durch die warme, sacht bewegte Luft aus. Vielleicht war der Tod ein Gefühl der Vollendung und der Fülle. Sie saß da und starrte gedankenverloren vor sich hin, als sich plötzlich Boones Hand in der ihren bewegte. Sie setzte sich ruckartig auf. »Boone?« Seine Augenlider flatterten. »Schwester!«, schrie sie. Sie drückte seine Hand und spürte die Knochen unter der Haut, die Sehnen und Muskeln. Gespannt wartete sie in der Stille, dass er reagieren würde. »Boone?« Er bewegte die Finger, und sie unterdrückte ein Kichern. »Ich liebe dich«, sagte sie. Sein Gesicht hatte sich zur Andeutung eines Lachens verzogen. Sie spürte, wie es in ihr zuckte. Er schlug seine leuchtend blauen Augen auf.
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13 »Wo zum Teufel ist Lester?« Charlie kam aus seinem Büro gestürmt. Sergeant Hunter Byrd schaute von seinem Schreibtisch auf. »Keine Ahnung, Chief.« Unter der Neonröhre glänzte sein lockiges rotes Haar kupfern, als hätte er es mit Chemikalien behandelt. »Wie oft haben Sie ihm schon auf den Anrufbeantworter gesprochen?« »Drei Mal.« »Tun Sie mir den Gefallen und rufen ihn noch mal an, ja? Sagen Sie ihm, er soll gefälligst hier antreten. Ich will ein freundliches Gespräch mit ihm führen.« »Freundlich?« »Haben Sie was gegen das Wort ›freundlich‹?« Hunter nahm achselzuckend den Telefonhörer ab. »Nein, Boss. Das Wort ist okay.« »Ich hab die Obduktionsergebnisse von den Rideouts«, unterbrach Mike. »In mein Büro.« Sie gingen in sein Büro. Charlie setzte sich an seinen Schreibtisch und klapperte mit den Eiswürfeln in seinem Plastikbecher. Eine vage Unruhe hatte sich seiner bemächtigt. Seit drei Tagen hatten sie nichts mehr von Lester gehört oder gesehen, und Charlie hatte den Verdacht, dass sein Stellvertreter über die verheimlichte Affäre hinaus noch andere Geheimnisse hatte. »Was ich dich die ganze Zeit schon fragen wollte«, sagte Mike, während er sich hinsetzte. Er schlug die Beine 220
übereinander. Aus seiner Jackett-Tasche baumelte ein roter Schlips. »Wieso ›Smoke Gets in Your Eyes‹? Der Song aus der Stereoanlage der Rideouts.« Charlie schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« »Überleg doch mal. Der Mörder hatte die Wahl unter Hunderten von Songs. Ich hab mir die ziemlich umfangreiche Plattensammlung der beiden angesehen. Warum nicht ›Little Tilings Mean a Lot‹ von Kitty Kallen oder ›Wake Up Little Susie‹ von den Everly Brothers?« Charlie stellte seinen Becher hin. Sein Schreibtisch war mit Papierkram beladen. Sie hatten genügend Material über die drei Mordfälle zusammengetragen, um ein Dutzend Aktenordner damit zu füllen. Ein Ventilator rotierte lautlos an der Decke und ließ die Papiere rascheln. Draußen war es schön, die kräftige Nachmittagssonne schien durch die Ritzen der Jalousien herein, aber nichts vermochte seine Unruhe zu vertreiben. »Worauf willst du hinaus, Mike?« »Ich glaube, es hat was zu bedeuten. Die Platte. Der Text. ›Smoke Gets in Your Eyes‹. Überleg doch mal.« Die feinen Härchen in seinem Nacken prickelten, all seine Ängste kamen auf einmal hoch. »Der Kerl ist ein hochintelligenter, völlig ungenierter Psychopath. Er probiert aus, wie viel er über sich preisgeben kann, ohne erwischt zu werden. Ich glaube, alles gehört zu seinem perversen Spiel.« »Du meinst, der Täter kennt mich? Willst du das damit andeuten?« Mike zuckte die Achseln. »›Smoke Gets in Your Eyes‹. An wen könnte das sonst gerichtet sein?« Der Gedanke war Charlie unangenehm. Lester Deere, Boone Pritchett, Jake Wheaton, Jonah Gustafson. Eine ungute Liste. 221
Sie hatten bestimmt schon über hundert Sturmjäger vernommen, die an dem Tag in der Nähe des Tatorts fotografiert worden waren, aber bis jetzt hatten sie nur Nieten gezogen. Die meisten der Befragten hatten sich mit plausiblen Erklärungen aus der Affäre gezogen. Die Öffentlichkeit, die Presse, seine Vorgesetzten, alle wollten endlich Ergebnisse sehen, aber Charlie hatte nichts anzubieten. Nicht das Geringste. Auf seinem Schreibtisch lag ein Obduktionsfoto von Danielle. Er drehte es um, damit er es nicht ständig ansehen musste. »Vielleicht kennt er dich nicht persönlich«, überlegte Mike. »Vielleicht hat er dein Bild in der Zeitung gesehen und beschlossen, dir eine Nachricht zukommen zu lassen. Was weiß ich. Ich hab nur dieses deprimierende Gefühl, dass er den Song mit einer ganz bestimmten Absicht ausgesucht hat.« Sein Gesicht war schweißnass. »Es gibt für alles einen Grund. Oft einen ziemlich verdrehten, aber jedenfalls einen Grund.« Charlie schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Der Parkplatz stand voller Autos, Hitze stieg vom Asphalt auf. Er und seine Männer hatten in mühseliger Arbeit die Verletzungen der Peppers mit den Blutflecken verglichen, die sie in dem Haus gefunden hatten, und waren zu dem unwiderlegbaren Schluss gekommen, dass der Mörder Rechtshänder war. Es war ihnen gelungen, aus Laborberichten, Fotos und Blutspuren den Tathergang zu rekonstruieren. Der Mörder hatte zuerst vorn in der Diele Rob Pepper angegriffen, ihm mit einer Keule oder einer ähnlichen Waffe Schläge auf Brust, Unterarme, Unterleib und Kopf versetzt. Ein zweiter Schlag auf den Kopf hatte ihm das Bewusstsein geraubt. Dann hatte der Mörder Jenna Pepper mit derselben Waffe – einem knotigen Stock, den sie auf dem Grundstück gefunden hatten – angegriffen und sie so lange auf Kopf, Brust und Unterarme geschlagen, bis sie bewusstlos war. Beide Opfer hatten Schleifspuren an den Wänden der Diele und
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auf dem rot und grün gemusterten Läufer hinterlassen, auf dem sie offenbar davonzukriechen versucht hatten. Danielle hatte sich unterdessen in die Küche geflüchtet. Der Killer war ihr gefolgt und hatte ihr einen gewaltigen Schlag auf den Hinterkopf verpasst. Trotz der schweren Verletzung war es ihr noch gelungen, sich ins Wohnzimmer zu schleppen und sich hinter dem Klavier zu verstecken (sie hatten Staubflusen in ihrem Haar gefunden). Der Täter hatte sie aus dem Versteck gezerrt und ihr einen lähmenden Schlag auf die Stirn versetzt, dann alle drei Opfer nach oben ins Schlafzimmer geschleift, wo er mit unvorstellbarer Brutalität den übelsten Teil seines Werkes verrichtet hatte. Der Mann, dachte Charlie, musste relativ stark und absolut furchtlos sein und kannte offenbar weder moralische Bedenken noch Gewissensbisse. Es handelte sich um eine monströse Wahnsinnstat, die großen Hass voraussetzte, mit einem hohen Risiko verbunden war und für die es keinerlei vernünftige Erklärung gab. Mike schlug die Akte auf. »Birdie und Sailor Rideout, Alter vierundfünfzig bzw. sechsundfünfzig Jahre. Die Blutflecken entsprechen den Blutgruppen der Opfer. Abwehrverletzungen an Armen und Händen, stumpfes Schädeltrauma. Pfählungsverletzungen …« Er schaute auf. »Das geht noch lange so weiter. Ich fasse besser mal zusammen.« Er überflog die nächsten Seiten. »Hier steht, dass am Tatort interessante Erdproben und Pflanzenteile gefunden wurden. Dämmstofffasern, Asbestfasern und ganz geringe Gipsspuren. Diese Spuren sind sehr alt, etwa hundert Jahre. Nichts davon passt jedoch zu dem Haus.« »Dann bringt es nichts. Es ist möglich, dass all das durch den Sturm in das Haus gelangt ist.« Mikes fein gestreiftes Hemd spannte sich über seiner Brust, als er seinen Stuhl zurückstieß. »Keine blauschwarzen Wollfasern, Chief. Nur ein paar weiße aus Baumwolle.« 223
Charlie zuckte die Achseln. »Das ist so gewöhnlich, dass man nichts damit anfangen kann.« »Alle Haare aus den Abflussrohren gehören den Opfern, aber im Haus wurden auch mehrere unbekannte entdeckt. Zwei Strähnen mittellanger Haare einer Person weißer Hautfarbe wurden gefunden, ein kurzes blondes Haar, ein kurzes schwarzes und ein mittellanges weißes, alle ebenfalls von Weißen.« Charlie legte die Stirn in Falten. Aus irgendeinem Grund musste er an seinen Vater denken. Mittellanges weißes Haar. »Außerdem mehrere schwarze Kaninchenhaare.« »Kaninchen?« »Sagt jedenfalls das Staatslabor.« »Hatten die Rideouts Kaninchen?« »Soviel ich weiß, nicht. Deswegen finde ich es ja so interessant.« Er blätterte um. »Im Haar von Birdie Rideout haben sie eine einzelne grüne Teppichfaser gefunden und unter ihren Fingernägeln Bluejeans-Fasern.« »Das bringt nichts. Bluejeans-Fasern sind so verbreitet wie weiße Baumwolle. In diesem Fall nutzlos.« »Aber jetzt die Zähne«, sagte Mike. Er hielt den Bericht mit seinen Wurstfingern fest. »Der rechte obere Eckzahn des weiblichen Opfers wurde extrahiert und durch einen noch nicht analysierten anderen Zahn ersetzt. Der linke untere Schneidezahn des männlichen Opfers ist auf ähnliche Weise ausgetauscht worden.« »Die Zähne«, sagte Charlie und ließ die Eiswürfel in seinem Becher klirren. »Da müssen wir ansetzen. Die werden uns auf die Spur des Mörders bringen.« »Ganz meine Meinung.« »Tu mir einen Gefallen. Frag McNeese, ob er uns diese Zähne vorübergehend leiht, ja?« 224
»Klar.« Mike blätterte die restlichen Seiten durch. »Keine sexuellen Handlungen. Kein Sperma. Keine nachträglich geordneten Kleider, die auf eine Vergewaltigung schließen ließen. Keine Augenzeugen. Keine Berichte über irgendwelche verdächtigen Vorgänge. Das wär’s im Großen und Ganzen.« Charlie spürte ein langsames, stetiges Pulsieren in seinem Hals. »Und die Peppers? Irgendwas Neues von der Front?« »Abgesehen von den ständigen Anrufen irgendwelcher Verrückter?« Mike grinste. »Jeder hat eine Theorie. Jeder besitzt auf einmal hellseherische Fähigkeiten.« »Irgendwas über Gustafson?« »Ja, wir haben eine Adresse.« Er rückte seinen Stuhl vor. »Ich hab mir gedacht, ich fahr mal rüber und rede mit ihm. Auf unsere Anrufe reagiert er ja nicht.« Charlie stand auf. »Worauf warten wir noch?« Auf dem Weg nach draußen hielt Hunter sie auf. »Chief. Da ist eine Frau am Telefon … Sie will Sie unbedingt persönlich sprechen. Angeblich geht es um unseren Fall.« »Geh schon mal vor«, sagte Charlie zu Mike und ließ sich von Hunter das Telefon geben. »Hallo?« »Chief Grover?« Es klickte in der Leitung. »Wie kann ich Ihnen helfen?« »Ich wollte etwas berichten über die Morde letzten Monat.« »Ja? Ich höre.« »Tja, also«, sagte sie mit einem starken texanischen Akzent, »als ich ein kleines Mädchen war, hatten wir hier in Dime Box, Texas, einen Tornado. Einen F-2. Es war schrecklich. Mama, Dickie und ich haben uns in der Abstellkammer verkrochen. Die war direkt unter der Treppe, deshalb haben wir gedacht, da sind
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wir sicher. Ein furchtbarer Tag, ich weiß nicht, ob Sie sich noch erinnern … Jedenfalls ist die halbe Stadt weggefegt worden.« Charlie runzelte die Stirn. »Ja?« »Also, wir sitzen da zusammengedrängt in der Kammer, halb wahnsinnig vor Angst, und wie ich einmal vorsichtig durch die Tür schaue, sehe ich einen kleinen Menschen, der in unserem Haus rumläuft. Ich dachte, das muss ein Troll sein oder so was … Heute würde ich sagen, es war einfach ein kleiner Junge. Er ist durch die Diele gewandert. Ein kleiner Junge, ungefähr … ach, ich weiß nicht. Fünf oder sechs Jahre alt?« Charlie wurde ungeduldig. Eine sinnlose Geschichte. »Als der Tornado sich verzogen hatte, waren natürlich keine Trolle und auch keine kleinen Jungen bei uns im Haus. Ich dachte, ich hätte geträumt. Aber bald darauf haben wir mit fassungslosem Staunen festgestellt, dass unser ganzes Essbesteck weg war. Unser Fernseher war weg. Das Radio war weg. Ich meine, verstehen Sie, wir waren zwar nicht weit von der Tornadoschneise entfernt, aber unser Haus stand noch, und die Sachen hatten sich scheinbar in Luft aufgelöst. Als wäre jemand oder etwas ins Haus gekommen und hätte sie weggezaubert. Ich dachte mir nur, Sie sollten wissen …« »Ich danke Ihnen jedenfalls sehr für Ihren Anruf.« »Ich weiß nicht, vielleicht hat der Wind die Sachen ja auch fortgeweht. Mir geht jedenfalls dieser Tag nicht aus dem Kopf.« »Wir werden der Sache nachgehen. Vielen Dank für Ihren Anruf.« »Nein, ich danke Ihnen, Chief Grover«, sagte sie. »Ich danke Ihnen und Ihren Männern für die großartige Arbeit, die Sie leisten.« »Ich wollte, ich hätte mir ein solches Lob verdient«, sagte er und legte auf.
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14 Jonah Gustafson wohnte zwischen zwei Autobahnauffahrten irgendwo östlich von Tulsa. Er hatte mittellanges braunes Haar, große, knotige Gelenke und einen leicht manischen Ausdruck in den Augen. Er saß auf einer mit Plastik bezogenen Couch, und durch die altmodischen Fensterscheiben schien die untergehende Sonne herein. Er trug Jeans, eine Lederweste und keine Schuhe an den schmutzigen Füßen, aber Charlie schätzte seine Schuhgröße auf vierundvierzig. An der Wand hinter ihm hing eine gerahmte Mondlandschaft, und Charlie fiel auf, dass seine Hände zitterten, als er sich eine Zigarette drehte. »Danke, dass Sie sich bereit erklärt haben, mit uns zu sprechen«, sagte Charlie. »Schon gut, kein Problem.« In der Einfahrt stand ein schneeweißer Transporter, der so blitzblank poliert war, dass man sich, hätte man ihn zu lange angestarrt, die Augen verdorben hätte. In den hinteren Zimmern hörte man Kinder spielen. »Sie haben Kinder?«, fragte er. »Drei Jungen. Drei Teufelsbraten.« Jonah sah ihm nicht in die Augen. Er hatte sich einen großen Bourbon mit Soda genehmigt und war kaum fähig, das Glas an den Mund zu führen. Charlie nickte unverbindlich. Die Jungen schrien sich gegenseitig an, der Klang ihrer Stimmen drang an Charlies Ohr wie das Summen von Bienen. »Wir haben auch mit anderen Sturmjägern gesprochen, die am fünfzehnten in der Gegend von Promise waren. Wenn Sie uns irgendwelche Hinweise geben könnten, wären wir Ihnen sehr dankbar.« »Reine Routine, hm?« »Genau. Routine, sonst nichts.« 227
An der Stelle, wo die rechte Augenbraue hätte sein müssen, hatte Jonah eine auffällig weiße Narbe. »Was wollen Sie wissen?« »Wo waren Sie an dem Tag?« »Ich bin in Ponca City losgefahren.« »Kansas?« Er nickte. »Die Unwetterwarnungen sind in immer kürzeren Abständen gekommen, also hab ich meinen Laptop angeworfen und auf Anhieb zwei Tornadowarnungen südwestlich von mir gesehen. Nexrad und Doppler haben es bestätigt. Ich kehr also um, und eh ich’s mich verseh, rappelt’s auf meiner Motorhaube. Und ich denk mir, so weit, so schlecht.« »Mit schlecht meinen Sie gut?« »Sie haben’s erfasst.« Er grinste. Er trank. Er blies Rauch aus. »Schlecht bedeutet immer gut.« Charlie schaute sich in dem Zimmer um. Einfach und schmucklos. Keine Pflanzen, keine Vorhänge, kein Komfort. Nur altersschwache Rollos, Discount-Möbel und jede Menge selbst gezimmerte Schränke und Regale. »Sie schreinern selber?«, fragte er. »Allerdings, ja. Den Küchentisch da hab ich aus Spanplatten gemacht. Sehen Sie den CD-Ständer? Auch selbst gebaut. Und die Fernsehtruhe da drüben? So eine kann ich Ihnen für fünfzig Eier plus Materialkosten bauen. Hey, habt ihr sie noch alle da hinten?«, brüllte er über die Schulter zurück. Er nahm das Glas mit der rechten Hand vom Tisch und lächelte entschuldigend. »Meine Frau hat mich verlassen. Drei Kinder – dabei ist der eine noch nicht mal von mir.« Charlie nickte langsam. Der Täter ist Rechtshänder. An zwei Tatorten sind braune Haare unbekannter Herkunft gefunden worden. Ein Schuh Größe dreiundvierzig, das war die richtige Größenordnung. 228
»Sie ist jedes Mal mit mir mitgefahren auf die Jagd, meine Frau. Wir haben uns in einem Hagelsturm kennen gelernt. Sind wie die Kinder rumgerannt und haben ein paar Hand voll Hagelkörner mitgenommen. Die haben wir dann erst mal in die Tiefkühltruhe gelegt. Sechs Monate später hat meine Frau bei unserer Hochzeit Hagel-Cocktails serviert.« Er zog an seiner Selbstgedrehten und inhalierte den ungefilterten Rauch. »Das Erste, was sie zu mir gesagt hat, war: ›Ein weißer Transporter. Warum weiß?‹ Weiß wird immer gleich dreckig wie Sau. Aber macht nichts, man braucht ja nur mal mitten rein zu fahren, oder? Ein Platzregen ist besser als jede Waschanlage. Ein Klasseweib, meine Frau. Einen Arsch hatte die!« »Was ist passiert?« »Das miese Stück ist mit einem Autoklempner auf und davon.« »Nein, ich meine … am fünfzehnten«, sagte Charlie. »Ach ja.« Sein schmales, dreieckiges Gesicht ließ ihn zugleich gerissen und dumm erscheinen. »Ich bin also nach Oklahoma zurück, wo sich der Sturm anscheinend neu gebildet hat. Kuppel und Amboss wirklich vom Feinsten. An der Nordflanke ein hübscher Turm, und die Nordwestflanke hat bis in die Stratosphäre gereicht … Eine unglaubliche Explosion.« »Sie waren also an dem Tag in Promise?«, fragte Mike. Er nickte. »Südlich der Innenstadt. Auf einmal fängt es zu schütten an, und der Beton unter meinen Rädern rumpelt. Rumpelt wie bei einem Erdbeben. Ich denk, jetzt ist es aus mit mir. Es kann sich alles so verdammt schnell ändern, wissen Sie. Ich hab ihn auf der anderen Seite der Landstraße auftauchen sehen. Er hat einen Sattelschlepper glatt umgekippt. Und dann fällt plötzlich direkt vor mir ein halbes Haus vom Himmel.« Er beugte sich vor, der ganze Körper angespannt. »Ich hab schleunigst meine Position verändert. Der Trümmerhagel ist nämlich auf mich zugekommen.« 229
»Sie sind woanders hingefahren?« »Klar, Mann. Ich hab gemacht, dass ich wegkomm.« »Und wohin sind Sie gefahren?« »Es hat noch eine Tornadowarnung gegeben, unten in Burns Flat und Reydon, in der Gegend. Wussten Sie, dass die in Burns Flat einen Twister Park haben? Traurig, aber wahr.« »Waren Sie an dem Tag irgendwann mal in der Nähe der Shepherd Street?«, fragte Charlie, und Jonah sah ihn gleichmütig an. »Absolut nicht.« »Sie sind nicht zufällig am Haus der Peppers vorbeigekommen?« Jonah kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Das geht mir jetzt aber langsam zu weit. Diese ganzen Unterstellungen.« »Würde es Ihnen was ausmachen, wenn ich mich mal ein bisschen umsehe?« »Allerdings.« Es klang gekränkt. Man hörte Schritte. »Dad?« Ein kleiner Junge, dem zwei Schneidezähne fehlten, stand in der Tür. Charlie stutzte. »Komm her, du.« Jonah zog den Jungen zu sich heran. Über seinem Hosenbund schauten seine Boxershorts heraus, als er den Jungen an sich drückte. Der Junge drehte sich um und sah Charlie unverhohlen feindselig an. Er starrte auf sein glänzendes Abzeichen. »Wie heißen Sie?«, fragte er. »Ich bin Chief Grover. Und wie heißt du?« In Jonahs Augen blitzte etwas auf. »Grover? Sind Sie verwandt mit Izzy Grover?« Charlie nickte. »Ja, das ist mein Vater.« »Mann, das ist vielleicht ein harter Brocken.« Jonah lachte meckernd. »Der Typ kann kriminell gefährlich werden, das sag 230
ich Ihnen. Fährt wie eine gesengte Sau, hängt sich einem an die Stoßstange, drängt kleine Japaner in den Straßengraben. Wen kümmert’s, wer schuld ist? Den Kerl müsste man sich mal zur Brust nehmen, mitsamt seiner krätzigen alten Jacke.« Charlie stellte sich vor, wie sein Vater seine alte Matrosenjacke aus den Mottenkugeln hervorzog. »Wir reden über Isaac Grover, oder? Zweiundsechzig Jahre alt? Weiße Haare?« »Ja, ja. Man braucht nur den kleinsten Fehler zu machen, und er walzt einen mit seinem klapprigen alten Pick-up platt wie einen Pfannkuchen.« Charlie verspürte eine leichte Übelkeit. Sein Vater mottete die alte marineblaue Jacke im Sommer ein, holte sie im Herbst hervor und trug sie dann manchmal bis in den Juni hinein. Die dunkelblaue Matrosenjacke. Da passte was zusammen. Blauschwarze Wollfasern. »Izzy Grover, Mann, und sein beschissener Loadmaster. Als wir das letzte Mal den Motor ausgebaut haben, war ein Pleuelstangenlager gebrochen und hatte der Kurbelwelle den Garaus gemacht. Die Kiste hat Hunderttausende von Meilen auf dem Buckel. Die sollte er sich demnächst mal ganz neu bauen lassen. Besser heute als morgen.« Charlie spürte bei sich eine Bewusstseinsveränderung wie eine Schwankung des Luftdrucks. »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, sagte er und stand auf.
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15 Schlamm bespritzte die Radkästen seines Polizeiautos, als er durch die Kurven an der Baptistenkirche und dem abgestorbenen Hain von Pekanbäumen vorbei zum Haus seines Vaters fuhr. Er hielt am Ende der langen Einfahrt, hörte auf das Knacken des Motors und schaute auf den frisch gemähten Rasen und das schwarze Astgewirr der Bäume. So im Mondschein machte ihm das Haus Angst. Anstelle von Wärme und Geborgenheit sah er Gefahr. Und Schmerz. Er stieg mit klopfendem Herzen aus und lief die Verandastufen hinauf. »Hallo?« Er klopfte an die Tür. Als keine Antwort kam, trat er an eines der Fenster zur Veranda und spähte hinein. Sein Vater lag auf der Wohnzimmercouch und döste im flackernden blauen Licht des Fernsehers. Es sah aus wie ein Stillleben. Charlie klopfte kräftig an die Fensterscheibe, und der alte Mann fuhr hoch. »Pop? Wir müssen reden.« Sein Vater erhob sich von der Couch und machte ein paar unsichere Schritte wie ein Schlafwandler. »Charlie?«, rief er, »bist du’s?« Nach einer Weile knarrte die Fliegentür in den Angeln. »Was willst du denn hier?«, fragte er schlaftrunken. Charlie sah, wie die Verandalampe den Kopf seines Vaters beleuchtete und die Umrisse seines Schädels hervortreten ließ – die breite Stirn, die eingefallenen Wangen, die schmalen Lippen über den zahnlosen Kiefern –, und ihm wurde schlagartig bewusst, was er die ganze Zeit verdrängt hatte. Sein Vater war Rechtshänder, hatte Schuhgröße vierundvierzig, ging leidenschaftlich gern auf Tornadojagd und war ein 232
aufbrausender Mensch mit gewalttätiger Vergangenheit. Sein Loadmaster-Pick-up war am 15. April in der Nähe des Tatorts fotografiert worden, und ein weißes Haar mittlerer Länge war im Haus der Rideouts gefunden worden. Und jetzt auch noch die Matrosenjacke. Schwarzblaue Wolle. Sein Vater? Lächerlich. »Steh nicht so rum«, sagte Isaac. »Komm rein.« Modriger Altersgeruch umfing ihn. Er konnte das Haus seines Vaters nicht betreten, ohne innerlich sofort in Abwehrstellung zu gehen. Er hatte Dutzende weißlicher Narben auf dem Rücken, von den Striemen, die vor Jahren ein Ledergürtel hinterlassen hatte. Der Körper erinnert sich immer, auch wenn der Geist längst vergessen hat. »Was zu trinken?« »Nein, danke.« Das Wohnzimmer war sauber und aufgeräumt und mit kleinen Möbelgruppen geschmackvoll eingerichtet. Die Zierleisten waren einfach, die Hölzer dunkel. Aber die strenge Ordnung wurde durch kein einziges dekoratives Element aufgelockert – keine Blumen, keine Bilder, keine Bücher. Nur ein Eimer voll Pennys und Stapel alter Zeitschriften, eine Scanner-Ausrüstung und ein Fernseher, der die Gesichter der Leute rot-violett färbte. Charlie zögerte. Der CD-Player war neu. Desgleichen der Laptop. »Woher hast du das alles?«, fragte er. »Von Dirty Ed. Gebraucht gekauft. Genehmigt?« Der Laptop stand geöffnet auf dem Couchtisch. Der Bildschirm zeigte ein Satellitenfoto von einer rotierenden Wolkenmasse. Von Misstrauen ergriffen, erstarrte Charlie. »Seit wann gehst du online?«, fragte er. »Ich dachte, du kannst das ganze Drumherum nicht ausstehen.« »Da sieht man mal wieder, wie wenig Ahnung du hast«, schnaubte Isaac. »Das gehört alles zur Grundausstattung eines
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Jägers – Laptop, GPS, Handy. Außerdem hab ich mir einen Satz nagelneue Reifen für meinen Wagen gekauft. Genehmigt?« Meilen lagen zwischen ihm und seinem Vater. Epochen des Missverstehens. »Wir müssen reden, Pop.« »Worüber?« »Woher hast du die Armbanduhr?« Der Alte bekam einen trotzigen Zug um den Mund. »Hab ich dir doch schon gesagt.« »Ja, schon. Aber wie wär’s zur Abwechslung mal mit der Wahrheit?« Isaac streifte das Gliederarmband am Handgelenk hoch, sodass es im Ärmel seines orangefarbenen Sweatshirts verschwand. »Wie gesagt, ein nettes Ehepaar …« »Hat’s dir geschenkt, ich weiß. Wie heißen sie?« Sein Vater fixierte ihn böse. »Dad, ich weiß, dass du die Uhr geklaut hast.« Sein Mund verhärtete sich. »Verlass sofort mein Haus.« »Weißt du, man hört immer wieder mal echte Horrorgeschichten von Polizisten außer Dienst und Sanitätern, die am Schauplatz einer Katastrophe alle möglichen Wertsachen mitgehen lassen, und das ist so ziemlich das Niederträchtigste, was man tun kann. Die Angehörigen der Opfer trauen sich einfach nicht zu fragen: ›Alle mal herhören, wer hat den Schmuck und die Brieftasche an sich genommen?‹ Also sag’s mir jetzt, Pop, hast du die Uhr gestohlen? Oder hast du sie irgendwo gefunden? Bitte sag, dass du sie gefunden hast.« »Du willst die Wahrheit hören? Na schön, kannst du haben.« Er starrte ihn an und ließ sich dann auf die hässliche geblümte Couch fallen, die sich um den Mosaik-Couchtisch bog. »Schau dich doch an, jeden Abend kommst du spät heim, und sie soll auf dich warten, einsam und allein in dem großen leeren 234
Haus. Was denkst du dir eigentlich? Denkst du, es gefällt ihr, ganz ohne Eltern aufzuwachsen?« Einen solchen Tiefschlag hatte er nicht erwartet. »Sie trauert immer noch, und du bist fast nie zu Hause. Sie braucht ihren Dad, damit er sie tröstet und ihr zuhört. Nach allem, was sie mir erzählt, warst du auch so gut wie nie da, als Maddie noch gelebt hat. Sophie hat gehört, wie sich ihre arme Mama nachts in den Schlaf geweint hat, nur hat Maddie sich geweigert, dir die Schuld dafür zu geben. Sie hat gesagt, damit müsste sich eine Polizistenfrau nun mal abfinden. Sie hat gesagt …« »Halt den Mund!« Mit einem hasserfüllten Blick brachte er den alten Mann zum Schweigen. »Wehe, du sagst auch nur noch ein Wort!« Er zeigte mit dem Finger auf das höhnische Gesicht des Vaters. »Ich hab gedacht, du willst die Wahrheit hören«, sagte Isaac mit so selbstzufriedener Gleichgültigkeit, dass Charlie der Magen wehtat. »Wie kommst ausgerechnet du dazu, mir hier Predigten zu halten, Pop? Ausgerechnet du! Mein Gott … Du hast mich regelmäßig windelweich geprügelt.« »Ich hab dich schon seit Jahren nicht mehr geschlagen«, flüsterte Isaac erbost. »Seit dem Brand nicht mehr.« »Ach, und nun ist alles vergeben und vergessen? Jetzt ist alles in Butter?« Charlies Nüstern blähten sich vor Wut. »Ich würde keinen Hund so behandeln, wie du mich behandelt hast. Einmal hast du mich ein Stück Dreck genannt. Kannst du dich erinnern?« Isaac saugte durch sein künstliches Gebiss die Luft ein. »Diesmal die Wahrheit, wenn ich bitten darf. Jetzt soll alles ans Licht kommen. Erzähl mir von dem Brand, Pop. Von dem Feuer, in dem Mama und Clara umgekommen sind. Du hast es 235
gelegt, hab ich Recht? Oder warst du zu betrunken, um dich an die Einzelheiten zu erinnern?« Isaac sah Charlie in die Augen. »Komm schon, sprechen wir über den Brand, Pop.« Er merkte, dass er etwas Scharfes in der Faust hielt. Seine Autoschlüssel. »Hast du das Feuer gelegt? Hast du das Haus in Brand gesteckt?« Sein Vater schaute weg. »Es war ein Unfall.« »Na wunderbar, streite ruhig alles ab. Darin bist du ja Meister.« »Du hast ja keine Ahnung, wovon du redest.« »Stimmt«, sagte Charlie sarkastisch, »ich war nicht dabei, woher also sollte ich es wissen? Nachdem du Mom geschlagen hattest, immer wenn du sie grün und blau geschlagen hast, hab ich mich auf ihre Bettkante gesetzt und ihr den Handspiegel gehalten, damit sie sich sehen konnte. Ich hab zugeschaut, wie sie Make-up aufgetragen hat, um die blauen Flecken zu kaschieren. Sie hatte lauter so kleine Pinsel und Döschen. Und einmal, als sie eine besonders brutale Lektion darüber bekommen hatte, was passieren kann, wenn man Testosteron, Alkohol und meinen Vater mischt, hab ich sie in ihrem Zimmer weinen hören … Und weißt du, was ich gemacht habe? Ich hab mich unterm Bett versteckt. Sie hat andauernd meinen Namen gerufen, aber ich hab mich in meinem Zimmer versteckt und so getan, als wär ich tausend Meilen weit weg … Da bin ich heute noch stolz drauf.« Isaac senkte den Kopf und schlug mit den Fäusten auf die Couchkissen ein. »Bitte, hör auf …« »Daddy?«, ließ sich eine helle Stimme vernehmen. Charlie spürte, wie sich die Röte in seinem Gesicht bis in die Augenpartie ausbreitete, und fuhr herum.
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Sophie stand in der Tür, das Gesicht verschwollen vom Schlaf. Sie hatte ihren Baumwollschlafanzug an, ihre Haare waren zerzaust. »Wie spät ist es?«, fragte sie. Er blinzelte, traute seinen Augen nicht. »Was machst du denn hier?« »Ich hab Grandpa besucht. Du warst ja nicht da, also …« »Hol deine Jacke«, schnauzte er. »Und zieh deine Schuhe an.« »Warum? Wo fahren wir hin?« »Nach Hause«, sagte er. »Ich bring dich nach Hause.« »Was hast du denn?« Er packte sie am Arm und zog sie auf den Flur hinaus. Und er versuchte, sein wild pochendes Herz zu besänftigen. Er riss die Tür des Garderobenschranks auf und durchwühlte die Jacken, Regenmäntel und muffig riechenden Pullover. »Ich hab keine Jacke dabei«, protestierte sie. »Dad?« Die Matrosenjacke war nicht da. »Komm jetzt«, sagte er. »Und meine Schuhe?« »Du hast genug Schuhe zu Hause.« »Daddy!« Er bugsierte sie unsanft zur Tür hinaus.
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16 »Was war denn los?«, fragte Sophie auf der Heimfahrt unüberhörbar kritisch. »Ach, nichts.« »Nichts? Ihr habt euch ja richtig angeschrien.« »Wir haben nicht geschrien.« Vor ihnen fuhr ein riesiger weißer 1960er Polara-Kombi Schlangenlinien über die ganze Breite der Straße. Vier Teenager hatten sich auf der vorderen Sitzbank zusammengequetscht. Die Fahrerin hatte einen wüsten Haarschopf und ein ans Ohr festgewachsenes Handy. Er hätte sein Blaulicht einschalten und sie stoppen müssen, aber er und Sophie waren mitten in einem Streitgespräch, und deshalb unternahm er ausnahmsweise nichts. »Worüber habt ihr euch gestritten?«, wollte sie wissen. »Gegenfrage: Weißt du nicht, was ›Hausarrest‹ bedeutet?« »Ich hab mich einsam gefühlt! Peg hat ihr eigenes Leben, weißt du. Sie kann nicht jede Sekunde des Tages bei mir sein. Was soll ich denn sonst tun? Du bist ja nie zu Hause.« Der Kombi vor ihnen kam plötzlich ins Schleudern, und Charlie trat auf die Bremse. »Was soll das, Lady?« »Die hat keine Ahnung, wie gefährlich sie ist«, sagte Sophie leise. Er drückte mehrmals kurz auf die Hupe, und der Kombi bog nach rechts auf einen Fahrweg ab und verschwand mit Vollgas in einer Staubwolke. »Dad, willst du die nicht verhaften?« »Nein.« Sie fuhren in eisigem Schweigen weiter, und er bekam Migräne vom Brummen des Motors. Er musste unter 238
irgendeinem Vorwand noch einmal zu seinem Vater fahren, das Haus durchsuchen, die Matrosenjacke finden und ein paar Fasern zur Analyse im Staatslabor mitnehmen. Wenn die Fasern nicht übereinstimmten, wäre das Problem erledigt. Er wollte möglichst schnell diesen grotesken Verdacht aus der Welt schaffen und an der Lösung des Falles weiterarbeiten. »Also«, sagte sie, »sagst du’s mir jetzt oder nicht?« »Was soll ich dir sagen?« »Was das ist zwischen dir und Grandpa. Was schon immer zwischen euch gestanden hat.« Er spürte, wie er blass wurde. Vor ein paar Minuten hatte er von seinem Vater verlangt, der Wahrheit über ihre Vergangenheit ins Auge zu sehen, und doch hatte er eben diese Wahrheit immer vor Sophie verheimlicht. »Zwischen uns hat es nie gestimmt«, gab er zu. »Klar.« Sie sah ihn unverwandt an. »Dein Großvater war nicht immer so ein netter Mensch.« »Wie meinst du das?« »Wir alle haben nicht nur eine Seite, Sophie. Wir sind alle kompliziert.« Seine Nackenmuskeln verspannten sich. »Dein Großvater war in einer bestimmten Phase seines Lebens ein bösartiger Alkoholiker.« Sie sagte nichts. Offenbar konnte sie nicht glauben, was sie da hörte. »Das war, bevor unser Haus abgebrannt ist«, fuhr er fort. »Der Brand hat ihn zur Besinnung gebracht. Aber bis dahin war er ein brutaler Mann.« Sie sah ihn an, erschrocken und besorgt. »Hat er dich geschlagen?« Kälte breitete sich in seiner Magengrube aus. Nasenbein gebrochen. Knochenbrüche. Der Gürtel. Und ob er mich geschlagen hat. 239
»Er hat mich immer zu streng bestraft«, sagte er. »Wenn er einmal angefangen hatte, konnte er sich nicht mehr beherrschen.« »Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?« »Warum, warum. Ich wollte nicht, dass du ihn hasst.« Sie war vor Angst wie versteinert. Sank in sich zusammen, schauderte. »Ich hab dreierlei von meinem Vater gelernt«, sagte er. »Nichts sagen, niemandem trauen, nichts fühlen. Ich hab lange gebraucht, um darüber hinwegzukommen. Ich empfand tiefe Scham, so als wäre ich für sein Elend verantwortlich. Ich dachte, ich wäre an allem schuld. Und ich war überzeugt, kein liebenswerter Mensch zu sein.« Sie sah ihn voller Mitgefühl an. »Mit einem Alkoholiker ist es, als würde man mit einem wilden Tier zusammenleben«, sagte er, nach Erklärungen suchend. »Man weiß nie, wann es über einen herfällt. Ich war in ständiger Angst, wenn ich zu Hause war.« Sie rutschte näher an ihn heran. »Ich hab dich sehr lieb, mein Schatz. Ich hab’s dir nicht erzählt, weil es so hässlich ist.« Sie legte ihm den Kopf auf die Schulter, und er dachte an ihre Mutter. Er war Maddie siebzehn Jahre lang treu gewesen, obwohl sie in ihrer Beziehung durchaus auch schwere Krisen durchgemacht hatten. Es war ein Auf und Ab gewesen, wie bei allen anderen, aber er hatte sie von ganzem Herzen geliebt. Sie hatte ihn akzeptiert, mitsamt seinen Narben, mitsamt seinen Fehlern. Er war nicht zurechnungsfähig gewesen, als sie sich kennen lernten – einundzwanzig Jahre alt und nichts als Trinken und Unfug im Kopf. Idiotisch. Sie hatte ihm geholfen, erwachsen zu werden. Sie hatte ihm geholfen, ein Mann zu werden. 240
»Ich weiß, dass Grandpa seine Fehler hat«, sagte Sophie, »aber wenn ich das höre, wird mir richtig übel.« »Du darfst ihn trotzdem nicht hassen.« »Warum nicht?« »Weil … Er braucht auch etwas Gutes in seinem Leben.« »Aber wo er doch …« »Das ist lange her. Er hat seit dreißig Jahren nicht mehr getrunken. Aber du hast mich gefragt. Und ich wollte dich nicht anlügen.« Er bemühte sich, wieder normal zu atmen. »Sieh mal«, sagte er, »es tut mir Leid, dass ich vorhin so ausgerastet bin. Ich hatte kein Recht, derart aus der Haut zu fahren.« »Schon in Ordnung.« »Nein, ist es nicht. Und es tut mir auch Leid, dass ich nicht jeden Abend zu Hause sein kann, bei dir.« »Manchmal hab ich fast das Gefühl, du bist sauer auf mich.« »Nein. Nie. Ich bin bloß überarbeitet.« Sie lächelte, die Hände anmutig in den Schoß gelegt. »Soll ich dir was Seltsames erzählen?« »Ja, was?« Sie atmete stockend. »Letzten Monat, während des Tornados … Also, da hat der Sturm die Rosen in Moms Rosengarten zerzaust, und sie waren so schön. Sie haben im Wind geschwankt, und die Blütenblätter sind in den Himmel hinauf gewirbelt. Es war schön, aber auch beängstigend, beides zugleich … Als wär sie im Garten … und würde auf mich aufpassen.« Er lächelte, doch in diesem Moment klingelte sein Handy und zerstörte die Stimmung. »Entschuldige«, sagte er. Sie nickte verzeihend. »Schon gut, geh ran.« Das Telefon fühlte sich kühl an. »Ja?«
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»Charlie«, sagte Roger Duff, »ich brauche dich so bald wie möglich hier in der Pathologie.« »Was gibt’s denn, Doc?« »Das musst du dir schon selbst ansehen. Glaub mir.« Sophie verdrehte die Augen. »Fahr hin«, sagte sie. »Wirklich?« Er steckte das Handy ein. »Es dauert nicht lange.«
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17 »Ich hab mir gedacht, dass Sie sich das sofort ansehen wollen, Charlie.« In Duffs Stimme schwang Angst mit. »Dr. Robles drüben im Staatslabor ist Experte für solche Sachen. Ich hab gerade eine Stunde lang mit ihm telefoniert.« Charlie stand auf der anderen Seite des Edelstahltisches, auf dem fünf menschliche Zähne, jeder in einem eigenen Plastiktütchen, wie ein Pokerblatt aufgefächert lagen. »Zwei Schneidezähne, ein Eckzahn, ein Prämolar und ein Molar.« Duff zeigte mit seinem Kugelschreiber darauf. »Das ist bis jetzt unsere Ausbeute. Fünf Visitenkarten.« »Die Ersatzzähne?« Duff wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann warf er sich in die Brust. »Wir kommen alle mit der Anlage für zwei Gebisse auf die Welt, Charlie. Die Milchzähne und die bleibenden Zähne. Bei den meisten fallen schon einige Milchzähne bis zum Ende des dritten Lebensjahrs aus, dann, zwischen dem vierten und dem sechsten Jahr, brechen die ersten bleibenden Zähne durch. Mit dreizehn haben wir mehr oder weniger unser komplettes bleibendes Gebiss. So weit alles klar?« Charlie nickte. »Okay. Die Zähne jedes Menschen sind einzigartig«, fuhr er fort. »Ihre Form, ihre Anordnung im Mund und so weiter. Dr. Robles hat nun, durch Analyse und Vergleich und ohne einen der Zähne zu diesem Zweck zu zerstören, festgestellt, dass diese fünf Zähne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit alle aus ein und demselben Mund stammen.«
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Charlies Herz machte einen Satz, eine bisher ungekannte Furcht griff nach ihm. »Aber …«, sagte Duff. »Aber …« Er zeigte auf die verschiedenen Plastiktütchen. »Jeder Einzelne wurde in einem anderen Lebensstadium des Opfers extrahiert.« Charlie schaute auf, Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn. »Zwei sind Milchzähne, drei sind bleibende Zähne. Die drei bleibenden Zähne wurden entfernt, bevor das Opfer dreizehn Jahre alt war.« »Und woher wissen Sie das?« »Dr. Robles hat die Unebenheiten der Kauflächen verglichen – mikroskopisch kleine Vertiefungen, abgebrochene Ränder, Abnutzungsmuster. Außerdem hat er ihre Anordnung innerhalb des Kiefers rekonstruiert.« Charlie starrte die Zähne an, die für den Laien nicht voneinander zu unterscheiden waren. »Woher weiß er, dass manche davon Milchzähne sind und andere nicht?« »Die Wurzeln der Milchzähne sind so beschaffen, dass sie sich auflösen, wenn die bleibenden Zähne sich entwickeln.« Er zog ein Blatt aus dem Stapel von Laborberichten. »Mit der so genannten Panorama-Aufnahmetechnik konnte er das Sekundärdentin in der Pulpa messen. Es besteht eine Korrelation zwischen der Verkleinerung der koronalen Pulpahöhle und dem chronologischen Alter des Opfers, aber dieses Verfahren arbeitet nur mit einer Genauigkeit von plus minus fünf Jahren. Die gängigste Methode der Altersbestimmung beruht auf der mikroskopischen Untersuchung der strukturellen Veränderungen im Zahnkörper. Außerdem gibt es noch chemische Tests, aber leider setzen beide Methoden die vollständige Zerstörung des Zahns voraus. Und dazu sind wir doch jetzt noch nicht bereit, oder, Charlie?«
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»Wenn ich Sie richtig verstehe«, sagte Charlie empört, »dann sind irgendeinem armen Kind Jahr für Jahr Zähne gezogen worden.« Duff rieb sich die silbernen Bartstoppeln. »Dr. Robles hat auf manchen Oberflächen Zangenabdrücke im Zahnschmelz gefunden, ja. Aber passen Sie auf. Er ist sich nicht hundertprozentig sicher, dass alle fünf Zähne von derselben Person stammen. Das ist vorläufig nur eine Hypothese. Um ganz sicher zu gehen, müsste er eine Mitochondrien-DNAUntersuchung durchführen, und auch dafür müssten die Zähne vollständig zerstört werden.« »Möglicherweise stammen sie also doch von verschiedenen Opfern?« »Ja, die Möglichkeit besteht noch, Charlie.« Er legte den Bericht weg. »Möglich ist auch, dass das Opfer oder die Opfer tot sind.« Charlie sah Jonah Gustafson vor sich, wie er seinen Sohn umarmte. »Ich habe gerade einen Verdächtigen vernommen, der ein Kind hat, dem ein paar Zähne fehlen.« »Wie alt?« »Sieben oder acht. Nach eigener Aussage war der Mann am fünfzehnten auf Tornadojagd. Man hat mir gesagt, dass er ziemlich genau vorhersagen kann, wo und wann ein Tornado zuschlagen wird. Er hat drei Söhne. Wie alt die anderen beiden sind, weiß ich nicht, ich hab nur den einen gesehen.« »Okay. Passen Sie auf. Uns muss es vor allem um die Kinder gehen«, sagte Duff. »Wenn sie missbraucht werden, dann müssen sie da weg.« Charlie nickte. »Ich informiere die zuständigen Stellen.« Duff steckte seinen Kugelschreiber in die Brusttasche zurück. »Ich hab versprochen, die Zähne so bald wie möglich ins Labor zurückzubringen.« 245
Charlie verschränkte die Arme. »Also haben wir jetzt noch ein Opfer, um das wir uns Sorgen machen müssen? Das Kind oder die Kinder, denen diese Zähne gehört haben?« Die Neonröhren an der Decke strahlten ein grelles Licht ab. »In meiner langjährigen Tätigkeit als Gerichtsmediziner habe ich so etwas noch nie erlebt, Charlie. Und ich habe weiß Gott genug Bösartigkeit, Grausamkeit und blinde Wut gesehen. Aber das hier … Ich begreif’s einfach nicht. Wo soll da ein Sinn sein?« »Es gibt keinen Sinn, Duff«, sagte Charlie und fragte sich, wie lange der Mörder wohl neben seinen Opfern gesessen und ihnen ins Gesicht gesehen hatte. »Überhaupt keinen.«
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18 Am nächsten Tag wurde Jonah Gustafson von Amts wegen das Sorgerecht für seine Söhne entzogen. Als offizielle Begründung wurde Verwahrlosung angegeben. Im Kühlschrank vier Sechserpacks, aber keine Milch. Jede Menge Bourbon, aber keine Vitaminpräparate. Eine untersetzte Frau vom Jugendamt stopfte die Sachen der Jungen in eine Sporttasche, während mehrere Polizisten Jonah in Schach hielten. Er stand schluchzend in dem verwilderten Vorgarten, als der Gefängniswagen abfuhr, an dessen Rückfenster drei fassungslose kleine Gesichter wie blasse Abziehbilder klebten. Jonah krümmte sich, als hätte er einen Schlag in den Bauch bekommen, und sah dann Charlie ins Gesicht. »Was machen Sie mit mir?«, schrie er. Charlie hatte ein schlechtes Gewissen. Er wusste genau, wie er sich fühlen würde, wenn jemand versuchte, ihm seine Tochter wegzunehmen. Es würde ihm das Herz brechen. Nach Maddies Tod war er für kurze Zeit nachlässig und verantwortungslos gewesen, alles andere als ein guter Vater. Bevor er beschlossen hatte, mit dem Trinken aufzuhören, war er auf eine Sauftour gegangen, die mehrere Wochen dauerte, in der stillen Hoffnung, sich in einer Flasche Whiskey, Tequila oder was immer ertränken zu können. Drei Wochen lang war Mike ihm von einer Kneipe zur nächsten nachgefahren und hatte ihn mit Engelsgeduld immer wieder ermahnt: »Okay, Chief. Zeit, nach Hause zu fahren.« Hatte ihn erinnert: »Sophie wartet auf dich.« Sein bester Freund, sein leibhaftiges Gewissen, hatte ihn mehr als einmal zur Raison gebracht und nach Hause gefahren. Geduldig hatte er sich Charlies Gelalle angehört. Er hatte zu ihm gehalten. Niemand ist unschuldig. An irgendetwas trägt jeder von uns die Schuld. 247
»Meine Jungen.« Jonah steigerte sich immer mehr hinein. »Warum tun Sie mir das an?« »Das haben Sie sich selbst zuzuschreiben«, sagte Charlie, dessen Mitleid verflogen war. Der Moment war vorüber. Jonah hatte ein ganzseitiges Sündenregister: Körperverletzung, Prügeleien, wiederholt Trunkenheit am Steuer, Drogenbesitz mit Veräußerungsabsicht. Es war allgemein bekannt, dass er mit Drogen handelte, aber die Polizei in Tulsa hatte ihm bislang nichts nachweisen können. Und da Charlie ihn auch noch nicht mit den Morden in Verbindung bringen konnte, blieb er auf freiem Fuß. Hauptsache, die Kinder waren in Sicherheit. Charlie besuchte die Gustafson-Jungen im Kinderheim. Drei strohblonde kleine Kerlchen, alle unter zehn, saßen nebeneinander auf einem Bett und starrten auf ihre wippenden Füße. »Na, wie geht’s euch, Jungs?« »Gut«, murmelten sie. Charlie wusste aus eigener Erfahrung, dass das Leben mit einem Alkoholiker wie Sackhüpfen auf einem Minenfeld war. Eigentlich hatte er ihnen sagen wollen, dass sie es hier besser hätten als bei ihrem pflichtvergessenen Vater, er hielt dann aber doch lieber seinen Mund. Das war nicht seine Aufgabe. Die leere Sporttasche lag vor dem Bett auf dem Boden, und ihm fiel auf, dass an den blauen Nylongriffen eine kreideähnliche gelbe Substanz haftete. »Was ist denn das für gelbes Zeug?«, fragte er und zeigte auf die Tasche. Sie schauten hin. Zuckten die Achseln. Der älteste war neun, die anderen beiden sieben und fünf. Alle drei hatten Zahnlücken, und wenn sie lächelten, sah man, dass es auch um die vorhandenen Zähne nicht zum Besten stand. »Hat euer Vater euch manchmal geschlagen?«, fragte er den ältesten Jungen. »Euch den Hosenboden versohlt?« 248
»Ja«, gab er zu. Er hatte blaue Augen unter seinem hellblonden Haar und war hübsch wie ein Mädchen, aber wenn er den Mund aufmachte, sah man die braunen Kariesflecken. »Mit der Hand oder mit einem Gürtel?« Der Junge zuckte die Achseln. »Mal so, mal so, würd ich sagen.« Charlie sah sie mit unendlichem Mitgefühl an, hatte den Wunsch, sie vor allem Bösen zu beschützen. Sie trugen schlabbrige Cordhosen, dunkelblaue Sweatshirts mit Kapuzen und Baseballmützen. »Darf ich mir mal kurz deinen Rücken ansehen?«, fragte er den Neunjährigen und sah, dass die beiden anderen sich verstohlene Blicke zuwarfen. »Nur einen Moment?« Der Junge kniff den Mund zusammen. Er stand vom Bett auf und kam zu Charlie herüber, drehte sich um und hob Sweatshirt und Unterhemd hoch. Er hatte alte Narben am Rücken – blassrosa, so groß wie zwei Finger, die das V-Zeichen machen. »Woher hast du die?« »Ach, da haben wir mal rumgealbert. Ich bin auf einen Zaun gefallen oder so.« »Oder so? Genau weißt du’s nicht mehr?« Es war genau die Art Lüge, die Charlie auch immer erzählt hatte. »Okay, setz dich wieder hin.« Er ging zu seinen Brüdern zurück. »Dürfen wir jetzt wieder heim?«, bat er. Charlie holte geduldig Luft. »Ihr werdet eine Weile hier bleiben müssen.« »Wieso?« »Es ist besser so.« Der Siebenjährige bewegte die Zunge an der Innenseite seiner Wange. »Woher haben Sie die da?«, fragte er und zeigte auf Charlies vernarbten linken Arm. 249
Charlie schaute hinunter. »Ich hatte mal schwere Verbrennungen. Ich war in einem Haus, das abgebrannt ist.« »Hat das wehgetan?« »Die nicht ganz so schweren Verbrennungen waren furchtbar schmerzhaft. Die schlimmsten haben nicht wehgetan, weil da auch die Nerven verbrannt waren. Euer Vater hat euch nie Zähne gezogen?« Die Jungen sahen sich ratlos an, offenbar verwirrt von seiner Frage. »Nein«, sagte der Neunjährige. »Er hat nie geholfen, dass ein Zahn leichter rausgekommen ist? Bei keinem von euch?« »Doch, hat er schon«, gab der Kleinste zu. »Halt die Klappe«, sagte sein älterer Bruder, »wenn du Dad noch mal wiedersehen willst.« Charlie sah dem Fünfjährigen in die Augen und fragte: »Und wie hat er das gemacht?« Der Junge zeigte in seinen Mund. »Hat sie mit ner Zange rausgezogen.« Charlie schauderte. »Er wollte dir doch bloß helfen, weil der Zahn sowieso schon gewackelt hat wie ein Lämmerschwanz«, sagte der Neunjährige. »Besser, wir reden nicht mehr davon.« »Noch eine Frage …« »Dad hat gesagt, wir brauchen der Polizei nichts erzählen«, sagte er trotzig. Er wandte sich seinen Brüdern zu. »Noch ein Wort, und ich sag’s Dad, kapiert?« Charlie ließ es gut sein, und sie unterhielten sich noch eine Weile über Sport. Die Jungen mochten Baseball am liebsten. Sie waren Fans der Sooners und der Greg Dobbs. Sie erzählten, ihre Mutter hätte sie an einem schönen Frühlingstag verlassen und sei nie wiedergekommen. 250
»Ihr habt sie seitdem nie mehr gesehen?«, fragte Charlie. Sie schüttelten die Köpfe. »Und auch nicht mit ihr telefoniert?« Die Augen des Neunjährigen füllten sich plötzlich mit Tränen. »Bestimmt hat sie uns inzwischen ganz vergessen.« Sie hatten Gustafsons Frau nicht ausfindig machen können. Allem Anschein nach war sie vor mehreren Jahren spurlos verschwunden. Jonah war nicht angeklagt worden, weil es keine Leiche gab und keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen. Aber natürlich hatte man ihn verdächtigt. Die ganze Sache war faul, und Charlie beschloss, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um den Fall doch noch aufzuklären. Er fuhr noch einmal zu Jonah, um ihn zu befragen, aber der führte ein Telefongespräch nach dem anderen, um seine Kinder zurückzubekommen. Jonahs Strafverteidiger kam Charlie vor dem Haus entgegen. Vorsichtig, um nicht auf irgendwelche Spielsachen zu treten, gingen sie aufeinander zu. Der Anwalt, Andrew Findale, hatte so viele Haarimplantate, dass seine Kopfhaut wie ein Puppenkopf aussah. Er trug eine Tweedjacke und eine Hornbrille, und in den Augen hatte er den gereizten, nervösen Ausdruck eines Mannes in der MidlifeCrisis. »Jonah will jetzt nicht mit Ihnen sprechen«, sagte er, jede Silbe betonend. »Er fühlt sich verraten.« »Der Mann ist ein beschissener Drogenhändler und weiß Gott was noch alles«, erwiderte Charlie aufgebracht. »Bestellen Sie ihm, ich werde dafür sorgen, dass seine Kinder in guter Obhut bleiben.« Er fuhr der untergehenden Sonne entgegen, so müde, dass er kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Sein Handy klingelte. »Ja?« »Dad?« Es war Sophie. »Du bist spät dran.«
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19 Willa Bellman lebte drei Städte weiter. Mit dem Auto fünfunddreißig Minuten. Sie hatte ihm den Weg beschrieben – vorbei am Rocker Roadside Diner, geradeaus durchs Stadtzentrum, dann die Erste links und weiter auf einer kurvenreichen Landstraße. Es war ein Haus wie aus dem Märchenbuch – Lattenzaun, Blumengarten, Katzen auf der Veranda. Der Grillplatz war im Garten hinter dem Haus – Lampions, vom Grill aufsteigender Rauch, große Stücke rotes Fleisch mit Grillsauce übergossen. Zu Charlies Überraschung stand Rick Kripner am Grill, mit einem Bier in der einen und einem Pfannenwender in der anderen Hand. Er trug schlabbrige Shorts und ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Dryden Tech Rules!«. »Hallo, Chief!« Sie gaben sich die Hand. »Wie läuft’s mit dem Fall? Gibt’s was Neues?« »Wir kommen weiter«, sagte Charlie. Er hatte keine Lust, über sein Unbehagen zu reden, seinen zunehmenden Verdacht, dass sie den Mörder womöglich schon im Visier hatten. »Ein Bier?« Willa sah so sexy aus, dass es wehtat. Sie trug ein rotes Top und verwaschene Jeans. Die baumelnden großen Silberohrringe lenkten seinen Blick wieder auf das Gesicht zurück. »Was ist?«, fragte sie lachend. »Ich genieße nur die Aussicht.« »Du hast nicht die geringste Ahnung, worauf du dich da einlässt, oder?«, fragte sie mit einem aufreizenden Lächeln. »Du hast es geschafft!« Sophie kam wie ein Fohlen angaloppiert und schlang ihre dünnen Arme um ihn. Sie sah 252
schon besser aus, die Kratzer im Gesicht und am Hals waren fast verheilt, nur an den Armen hatte sie noch kleine Schorfstellen. »Rick hat uns tolle Geschichten erzählt … Erzählen Sie noch mal das mit den Hühnern … Wie war das noch?« »Manche Hühner sind so gestresst, wenn ein Tornado den Boden berührt«, sagte Rick, »dass ihnen die Federn ausgehen und fortgeweht werden.« Sophie zog die Nase kraus. »Und das andere, das mit den Fröschen!« »Es ist schon vorgekommen, dass ein Tornado Hunderte von Fröschen hochgesaugt und davongetragen hat. Ochsenfrösche. Fische. In Colorado sind einmal Tausende toter Enten vom Himmel gefallen. Es hat buchstäblich Enten geregnet. Bei demselben Tornado ist ein Krawattenständer mit sieben Krawatten vom Wind vierzig Meilen weit fortgetragen worden, und alle Krawatten sind auf dem Ständer geblieben.« Sophies Miene verriet grenzenloses Staunen. Sie kaute an ihrer Unterlippe, und ein bisschen von ihrem rosa Lippenstift färbte auf ihre Schneidezähne ab. Charlie begriff, warum sie sich in letzter Zeit so sehr für schlechtes Wetter interessiert hatte. Zwei Worte – Boone Pritchett. Boone erholte sich zusehends von seinem Koma, und Charlie hatte den Verdacht, dass die beiden per Telefon und Internet heimlich miteinander in Verbindung waren. Ein paarmal war er überraschend in ihr Zimmer gekommen, und sie hatte jedes Mal sofort die Hand über die Sprechmuschel gehalten und abgewartet, bis er wieder gegangen war. Er beschloss, nichts dagegen zu unternehmen. Er ahnte, dass er sie durch Verbote mit noch größerer Wahrscheinlichkeit in Boones tätowierte Arme treiben würde. »Würden Sie ihr bitte auch vor Augen führen, wie gefährlich Tornados sein können?«, sagte Charlie. »Dad«, stöhnte sie, »hör bitte auf, dir Sorgen zu machen.«
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»Wie wär’s, schöner Mann, ich bräuchte jemanden, der mir mit der Kühlbox behilflich ist«, sagte Willa zu ihm, und sie gingen zusammen ins Haus. Die Küche duftete nach den Blaubeertörtchen, die noch dampfend auf der Arbeitsplatte standen. Charlie half ihr, die Kühlbox mit dem Bier und den Limos hinauszutragen, dann setzten sie sich an den Picknicktisch, während Sophie und Rick den Holzkohlengrill beaufsichtigten. »Ich möchte mich jetzt schon für all die abscheulichen Dinge entschuldigen, die ich möglicherweise in absehbarer Zukunft tun werde«, sagte Willa und nuckelte an einer Flasche Bier. »Ich versteh nicht.« »Ich bin einer dieser Ehrgeizlinge, die anderen furchtbar auf den Geist gehen können. Ich kann nichts dagegen tun. Also entschuldige ich mich schon mal prophylaktisch.« Charlie lächelte. »Also, Moment mal: Du bist so ehrgeizig, dass du sogar Entschuldigungen bunkerst?« »Du hast es erfasst.« Er lachte und sah zu Sophie und Rick hinüber, die ins Gespräch vertieft waren. »Hast du ihn eingeladen?«, fragte er so harmlos wie möglich. »Nein«, sagte sie, »das war Sophie.« Er zog überrascht die Brauen hoch. »Sophie hat ihn eingeladen?« »Ja.« Er grinste. »Warum?« »Ach, nur so. Es ist bloß … Ich spüre immer eine leichte Gereiztheit zwischen Rick und mir, sobald von dir die Rede ist.« Sie lachte. »Ach was. Er ist wie ein Bruder für mich.« »Weiß er das auch?« 254
Sie beugte sich vor und gab ihm einen raschen Kuss. Irgendwie standen sie sich an diesem Abend ein bisschen schüchtern gegenüber. Die Sonne war unter den Rand der Welt gesunken, und es gefiel ihm, wie das Abendrot sich in ihren feuchten Lippen spiegelte. Sie war so schön, dass er die Augen nicht von ihr lassen konnte. Ausgerechnet in diesem Moment klingelte sein Handy. Es lag zwischen ihnen auf dem Tisch. »Willst du nicht rangehen?«, fragte sie. »Ist nicht wichtig.« Sie schnappte es sich. »Hallo? Ja, Moment.« Sie gab es ihm. »Für dich.« Er verdrehte die Augen und nahm es. »Es ist was passiert.« Es war Mike. »Ist dir klar, dass ich so was wie ein Privatleben habe?« »Ja, sicher. Ich aber auch. Lester ist verschwunden.« »Was?« »Ich hab mit seinen Eltern telefoniert. Sie machen sich große Sorgen. Der Bürgermeister macht sich auch Sorgen.« »Mein Gott …« »Seit drei oder vier Tagen hat ihn niemand mehr gesehen. Eltern, Onkel, Cousins. Sie haben in der Gegend herumtelefoniert. Sie sind in Panik. Was soll ich tun?« Charlie schaute zum Himmel auf und sah den Planeten Venus. Sterne funkeln, Planeten nicht. »Schick jemand zu Lesters Haus.« »Tyler ist gerade zurückgekommen. Das Haus war nicht besonders aufgeräumt, aber das ist normal für Lester. Außerdem ist sein Wagen weg.« »Also schön, benachrichtige alle Polizeistationen und die Highway Patrol, sie sollen die Augen offen halten. Ich glaube 255
nicht, dass was Ernstes dahinter steckt. Warten wir ab bis morgen.«
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20 Am nächsten Morgen fuhren Charlie und Mike zu Lester Deeres Anwesen. Er wohnte weit draußen in der Pampa, wo man in der Mittagshitze die Blechdächer von Ställen und Schuppen knacken hörte. An diesem wolkenlosen Maimorgen tränten Charlie die Augen, weil er ständig auf die glänzende Motorhaube des Polizeiautos und den heißen Asphalt davor blicken musste. Es war einer dieser prachtvollen Frühlingstage mit leichtem Wind, wolkenlosem Himmel und sich wellenden Grasflächen beiderseits der Straße. Sie fuhren in die holprige Einfahrt. Hohe Grasbüschel streiften den Wagenboden. Um das weiße, einstöckige Holzhaus standen keine Bäume. Auf dem Dach war eine Satellitenschüssel, im Vorgarten standen Lautsprecherboxen. Schwalben von einer benachbarten Farm segelten umher und vollführten Sturzflüge. Der Weg zum Haus war mit Steinplatten belegt. Auf der Veranda standen drei Aluminiumstühle. »Lester?« Charlie hämmerte mit der Faust gegen die Tür. »Hallo? Jemand zu Hause?« Keine Antwort. Sie gingen hinein. Im Haus roch es streng nach abgestandenem Bier, und der warme Wind ließ die Stores flattern. Im Wohnzimmer stapelten sich leere Bierdosen, Pizzaschachteln und Schmutzwäsche. »Muss ja ’ne tolle Party gewesen sein«, sagte Charlie und kickte eine Bierdose beiseite. Sie durchsuchten das Erdgeschoss nach Kampfspuren. Die Wände der Küche waren himmelblau gestrichen. Sie fanden keine Hinweise auf ein Verbrechen – keine Blutspritzer an den Wänden oder Blutflecken auf dem Boden, keine umgeworfenen Möbel. 257
Das Wohnzimmer war gemütlich, man merkte, dass noch bis vor kurzem jemand darin gewohnt hatte. Im Videorekorder war eine bis zum Ende durchgelaufene Kassette. Charlie nahm sie heraus. Pirates gegen Tigers. Lester sah sich gern die Aufzeichnungen seiner glorreichsten Football-Momente an. Er konnte arrogant und bescheiden zugleich sein, einer dieser Typen, die nur in der Vergangenheit lebten – Sportkanone an der High-School, Schulsprecher, Frauenheld. Genau wie all die anderen, die Charlie im Laufe der Jahre gepiesackt hatten. Genau wie Hoyt Bledlin … Während er seinen Rundgang durch das Haus fortsetzte, versuchte Charlie, nicht an den guten alten Hoyt zu denken, den Klassenkameraden, der ihn in der Schule und auch noch an der High-School am meisten gequält hatte. Nach dem Brand waren Charlie die Haare ausgefallen, und es hatte lange gedauert, bis sie nachgewachsen waren. Vor allem in der dritten Klasse hatte er es schwer gehabt. »Hey, Glatzkopf! Hey, Telly Savalas!« Er hatte dagesessen und gespürt, wie die Haut an seinem Bein spannte, weil das vernarbte Gewebe nicht so schnell wuchs wie der übrige Körper. Und ständig diese geflüsterten Hänseleien. »Verseucht! Er ist verseucht, bloß nicht nahe rangehen!« So etwas steckte man als Achtjähriger nicht so ohne weiteres weg. Und an der High-School hatte sich Hoyt dann einen besonders lustigen Streich ausgedacht – er riss Zündhölzer an und warf sie Charlie ins Gesicht. Außerdem ließ er gern Kracher hinter seinem Rücken losgehen, nur um zu sehen, wie hoch er springen würde. »Hey, Kokel! Erinnert dich das an was?« Hoyt zerknüllte auch Cellophan dicht an Charlies Ohr, um ihn an den Brand zu erinnern. Der gute alte Hoyt, tot und begraben. Vor fünf Jahren hatte er sich nach einer letzten Zechtour einen Staubsaugerschlauch in den Mund gesteckt. Der Schmerz war trotzdem noch da. Im ersten Stock durchsuchten sie rasch einen Raum nach dem anderen. Die Kommodenschubladen im Schlafzimmer waren 258
aufgerissen, Kleider im ganzen Raum verstreut. Brieftasche, Dienstwaffe, private Waffe und Uhr waren nicht aufzufinden. Lester ging nie aus dem Haus, ohne diese Uhr anzulegen, eine bis zweihundert Meter wasserdichte, stoßgeschützte, digitale Eagleton. »Ich hatte gleich so ein komisches Gefühl«, sagte Charlie. »Ich hatte ihn zu einer Unterredung bestellt. Ich wollte ihn offiziell von der Liste der Verdächtigen streichen.« Mike blinzelte ungläubig. »Du meinst, er ist auf der Flucht?« »Schon möglich.« »Was hat er denn zu verbergen? Schön, er hatte eine Affäre mit einem der Mordopfer, na und? Dadurch wird er doch nicht gleich zum Mordverdächtigen.« »Wir müssen uns die Liste seiner Telefongespräche beschaffen.« Mike schüttelte den Kopf. »Wie kommt dieser Idiot dazu, so einen Quatsch zu machen?« »Ich weiß es nicht.« Er seufzte. »Was sollen wir dem Bürgermeister sagen?« Charlie schüttelte den Kopf. Heute war nicht sein Tag.
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KNIETIEF IM JUNI
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1 Der sechzehnjährige Toby Lake stopfte die Wäsche in die Waschmaschine, schüttete Waschmittel hinein, schloss den Deckel und schaltete die Maschine ein. Seine Mutter war einkaufen gegangen, und der Tag entwickelte sich seltsam. Erst war es kalt, dann wurde es schwül, und jetzt tauchten diese merkwürdigen Streifen über dem Horizont auf. Er schauderte und streifte den Pullover über, den seine Mutter ihm letzten Herbst in ihrer Mrs.-Brady-Phase gestrickt hatte. Die Waschmaschine begann zu zittern wie immer, und er schlug mit der Faust auf den Deckel. Er setzte sich seinen Kopfhörer auf, ging ins Wohnzimmer zurück und knallte sich auf die Couch. Ein jäher Windstoß ließ die Stores an den Fenstern flattern. Er richtete sich auf und nahm den Kopfhörer kurz wieder ab. »Duke?«, sagte er und sah sich nach dem Hund um. »Komm her, mein Alter!« Der kurzsichtige schwarze Labrador war wahrscheinlich draußen und machte Jagd auf Präriehunde. Toby zog sich den Schild seiner Texas-Ranger-Kappe tiefer über die Augen und schlug mit der Fußspitze den Takt zu dem Eminem-Song. Im Fernsehen laberte ein Nachrichtensprecher in einem teuren Anzug irgendwas von einem heraufziehenden Unwetter. Bei den Typen war alles immer gleich eine Jahrhundert-Tragödie. Er nahm den Kopfhörer ab und hörte einen Moment lang zu. »… hier, um uns mehr über Tornados und die Schäden zu sagen, die sie anrichten können. Wir …« Da fiel der Strom aus. »Uff«, machte Toby, stand von der Couch auf und ging ans Fenster, wo die Vorhänge sich ihm entgegenbauschten. Es schüttete. Sein Atem schlug sich auf der Fensterscheibe nieder, 261
und er wischte den Fleck mit der Hand weg. Drüben hinter der Viehweide zuckten Blitze herab. Hinter all den großen Farmen in Wolf Pass, dort, wo die Landstraße endete und die Schotterstraßen anfingen, lag ihr bescheidenes Anwesen. Nie im Leben wollte er ein Farmer werden wie sein Vater. Er wollte zum Rundfunk oder zum Fernsehen. Die Haustür flog auf, und Toby rannte hin, um sie zuzumachen. Aber sie ging sofort wieder auf, er schloss sie wieder, sie flog wieder auf, er drückte sie mit Gewalt zu, und endlich schnappte der Riegel ein, und er lehnte sich schwer atmend dagegen. »Duke?« Er schlang die Arme um seinen Oberkörper. Es war zu dunkel im Haus für diese Uhrzeit. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr und drehte sich um, dann stand er da und ließ den Blick schweifen. Hatte er nicht gerade jemanden in die Küchen gehen sehen? Scheiße. Jetzt hatte er schon Halluzinationen. Toby nahm seinen Aluminium-Baseballschläger. »Hallo?« Er fasste den Schläger fester und ging langsam auf die Küchentür zu. »Ist da jemand?« Er blieb in der Tür stehen, aber er sah nur den Tisch und die Stühle, den Kühlschrank und den Geschirrschrank aus Kiefernholz. »So was«, murmelte er und schüttelte den Kopf über sich selbst. Manchmal war er ein richtiger Angsthase. Er spürte den Schlag auf den Kopf, schnell und brutal, und erstarrte. »Oh Gott …« Blut lief ihm übers Gesicht, während er ins Wohnzimmer zurücktaumelte, wo er sich in blinder Panik hinter die Couch flüchtete. Endlos lange Sekunden kauerte er dort, vor Entsetzen bebend, während draußen Hagelkörner aufs Dach prasselten und der Wind ein unerträglich schrilles Heulen produzierte. Er hockte inmitten von Dukes Spielsachen und atmete Staub ein, dann hörte er den Hund draußen aufjaulen. »Duke?«, schrie er. Etwas traf ihn am Hinterkopf, und der Baseballschläger fiel 262
ihm aus den Händen. Er wurde an den Haaren aus seinem Versteck hervorgezerrt, unerbittlich, obwohl er trat und schrie. Er schlug um sich und riss sich schließlich los, doch dann traf ihn ein Schlag mitten auf die Stirn, und Blut schoss ihm in die Augen. Er drosch auf Schatten ein. Wirbelte herum. Taumelte zur Tür hinaus, auf die Wiese hinterm Haus, wo die blaue Luzerne wuchs und diese fleischigen, rehbraunen Pilze in Grüppchen aus dem Boden schossen. »Duke!«, schrie er und zwinkerte das Blut aus seinen Augen. Er stolperte über den umgerissenen Zaun und stand auf der Kuhweide. In der Ferne sah er einen Einkaufswagen, der langsam und ruckweise die Straße heraufkam. Der hohe gelbe Weizen gab einen Pfeifton von sich. Die Vögel hockten unter den Bäumen zusammen, und der Sturm war so stark, dass seine Haare seitwärts abstanden. Er schaute in den schwarzen Himmel hinauf und sah weiße Prärieblumen wie Schneeflocken herabschweben. »Duke? Wo bist du?« Kein Hund kam durch den Vorhang aus grauem Dunst angehechelt. Stattdessen stieg aus einem Feld in der Nähe dichter Nebel auf und begann herumzuwirbeln. Dann passierte das Unglaublichste – ein großer, kegelförmiger Trichter schoss aus der Nebelbank in die Höhe und kam langsam auf ihn zu, wie in einem Traum. Tobys Schultern hoben sich, als er beklommen Luft holte. Trümmer kamen aus dem unteren Teil des Tornados geflogen und wurden hoch in die Luft geschleudert, und er sah, dass etwas direkt auf ihn zuschoss. Kreiselnd kam es näher, mit etwa vierzig Meilen pro Stunde. Er konnte sich nicht bewegen. Er konnte nicht denken. Sein letzter Schrei blieb ihm in der Kehle stecken, als die durch die Luft sausende dünne Metallplatte seinen Hals durchschnitt.
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2 Missmutig fuhr Charlie rechts ran und hielt. Auf dem Briefkasten stand LAKE. Ein halbwüchsiger Junge war tot. Die zerfließenden Sturmwolken sahen aus wie graue Gehirnmasse, und die Abendsonne sandte ihre müden Strahlen auf die Erde – Jesusstrahlen sagten manche dazu. Ein nachtblauer Buick lag umgestürzt in der Einfahrt. Der F-2 von gestern hatte das Haus verschont, war nur bis auf achtzig Meter an es herangekommen und hatte eine mit Trümmern übersäte Landschaft hinterlassen. Das Farmhaus war alt und heruntergekommen – abblätternde Farbe, rostige Fliegengitter. Charlie stieg die Verandastufen hinauf. Der Türknauf wackelte. Er ging durch die dunkle Diele und blieb in der Wohnzimmertür stehen. Das Zimmer hatte einen Dielenboden und einen Kanonenofen, und durch die Stores schien vorsichtig die Sonne herein. Das Opfer befand sich auf einer alten Couch mit kariertem Überzug, die mitten im Zimmer stand, aber mit der Lehne zur Tür. Charlie sah den Kopf des Jungen, der auf einem Kissen ruhte, von hinten. Er hatte eine Baseballmütze der Texas Rangers und Kopfhörer auf. Der Fernseher vor der Couch war mit Blut bespritzt. »Chief Grover?« Er drehte sich um. Stämmig und muskulös, mit gerunzelter Stirn und kalten Augen stand Sheriff Dorsey in der Küchentür. »Wir haben den Tathergang aus den Blutspuren rekonstruiert«, sagte er. »Wir nehmen an, er stand genau hier, als er den ersten Schlag bekam.«
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Es waren Blutspritzer an den Wänden und an der Decke – Blut und Gewebeteile, von einer mehrmals herabsausenden und wieder hochgerissenen Waffe verspritzt. »Wurde die Szene arrangiert?« »Sehen Sie selbst.« Ekel und Abscheu erfassten Charlie, als er sich der Couch näherte. Der Rumpf des Jungen fehlte. Sein abgetrennter Kopf war gegen ein besticktes Kissen gelehnt worden, und ein Zaunpfahl steckte im blutigen Stumpf seines Halses. Auf dem Gesicht des Jungen lag ein Ausdruck von Überraschung, als sei er beim Griff in die Keksdose ertappt worden. Sein Haar war schulterlang und hellblond, wie der Weizen im Spätsommer, und seine Augen waren braun und lang bewimpert. Charlie schluckte schwer. »Wie heißt er?« »Toby.« »Wo ist der Rest von ihm?« »In der Küche«, sagte Sheriff Dorsey. »Als seine Mutter heimkam und ihn so fand, ist sie ohnmächtig zusammengebrochen.« Charlie ging um die Ecke. Der Inhalt von Einkaufstüten war über den gesprenkelten Linoleumboden verstreut. Das Hundefutter in dem Plastiknapf hatte noch die Form der Dose. Schleifspuren führten von der Hintertür zum Küchentisch, und an dem Tisch saß der kopflose Junge, die Ellbogen beiderseits auf ein strohgelbes Platzdeckchen gestützt. Ein Computer war vor ihm aufgebaut worden, und jemand hatte die Wettervorhersage heruntergeladen. Die Website zeigte Rohdaten von einem Satelliten, ein Hook-Echo rotierte über den Bildschirm. Charlie kämpfte mit Ekel und Übelkeit. Wenn jemand Serienmorde beging, änderte sich die Vorgehensweise im Allgemeinen von Mal zu Mal, blieb aber in mancher Hinsicht 265
doch immer gleich. Dies hier war etwas anderes, eine Enthauptung: Der Killer wurde immer dreister, ging ein immer höheres Risiko ein. Der Schnitt war zu glatt für eine Axt oder eine Säge. Hinter ihm sagte Sheriff Dorsey: »Wir haben draußen eine Blechplatte gefunden … Allem Anschein nach ist er vom Tornado geköpft worden.« Charlie kam ins Grübeln. Die Enthauptung passte wahrscheinlich zu der krankhaft übersteigerten Vorstellung des Mörders von sich selbst. Er und der Sturm waren jetzt Komplizen; sie waren eins geworden. »Sie nennen diesen Kerl den Trümmermörder, ist das die Möglichkeit?« Sheriff Dorsey schüttelte den Kopf. »Ein Spitzname für dieses perverse Schwein!« »Trümmermörder, Tornadomörder, Prärieschlitzer«, sagte Charlie und zog ein Paar Latexhandschuhe an. »Die haben eine ganze Menge Namen für den Kerl. Darf ich?« »Ja, sicher, nur zu.« Er ging ins Wohnzimmer zurück und nahm ganz vorsichtig den Kopf des Jungen in die Hände. Der blasse Mund zeigte schon erste Anzeichen der Totenstarre. Charlie bog die Lippen zurück und untersuchte die Zähne. »Da.« Ein unterer Schneidezahn war entfernt und durch einen blutigen fremden Zahn ersetzt worden. Sheriff Dorsey kniff die Augen zusammen. »Was gibt’s?« »Der Zahn ist ausgetauscht worden.« Der Sheriff stieß einen leisen Pfiff aus. »Lassen Sie ihn von Ihrem Coroner zur Untersuchung ins Staatslabor schicken. Die haben auch die anderen.« Er schaute auf. »Die anderen?« »Ja. Es ist uns bis jetzt gelungen, es vor der Presse geheim zu halten. Achten Sie bitte darauf, dass alle Beweisstücke sofort versiegelt werden.« 266
Draußen bellte ein Hund, und Sheriff Dorsey ging zur Tür. »Na, du?«, sagte er und ging in die Knie, um den Hund zu streicheln. »Tut mir Leid, aber du darfst hier nicht rein.« Charlie hatte plötzlich eine Idee. Der Mörder hatte den Hund verschont. Hatte es auch eine Zeit gegeben, in der er den Menschen verschont und den Hund getötet hatte?
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3 »Wir sammeln jetzt seit ungefähr sechs Jahren Statistiken über Tote und Verletzte, ja.« Rick saß über die Tastatur seines Computers gebeugt. »Gesamtzahl der Todesfälle durch Tornados, Verluste an Nutzvieh, solche Sachen.« Charlie trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Ricks Büro lag in einer Ecke der unterirdischen Anlage, das Gehirn der Firma nannte er es scherzhaft. An der Wand hing ein nachgemachtes Straßenschild mit der Aufschrift ACHTUNG, GENIE, überall klebten kleine gelbe Notizzettel, und wohin man auch sah, standen modernste technische Geräte. An dem chaotischen schwarzen Brett hing auch ein Zettel mit der handschriftlichen Mitteilung »Bin auf Sturmjagd« in schwarzem Marker. Aus einem Laserdrucker stammte dagegen der Text: »Rezept für eine langsame Trombe: Man vermische folgende Zutaten: Mesoskalige Verwellung der Trockenlinie + Wind in 700 hpa größer 20 Knoten + verfügbare potenzielle Energie (› 4000); Wind in 500 hpa dazugeben und 3 Stunden warten.« »Also, was haben wir da … Pferde, Rinder, Schweine.« Rick tippte einen Befehl ein, und die Daten erschienen auf dem Bildschirm. »Manchmal liegen hinterher so viele Kadaver herum, dass man die Felder umpflügen und sie in einem Massengrab verscharren muss.« Charlie schaute auf den Fernseher, auf dem sich spiralförmig ein kommaförmiges Wolkenmuster über den Bildschirm bewegte. »Sind das Radarsignaturen von einem anderen Planeten?« Rick grinste. »Keine Sorge, Chief. Sie lernen’s schon noch. Willa sagt, Sie sind ein Naturtalent.« Charlie sah ihn nur an. 268
»Ist was?« »Was ist eigentlich zwischen Ihnen und mir?« »Nichts. Machen Sie sich keine Gedanken.« »Ich hab aber das dumpfe Gefühl, dass da was ist.« »Aber nein. Willa und ich sind nur gute Freunde, wenn Sie das meinen.« »Nicht mehr? Wenn doch, dann sollten wir darüber reden.« »Kommen Sie, Chief. Sie ist wie eine Schwester für mich.« »Na gut«, sagte Charlie zögernd. »Wenn Sie meinen.« »Ich bin heute nur ein bisschen schlecht drauf. Ich hab die ganze Nacht an diesen Algorithmen gearbeitet. Krämpfe in den Händen, überanstrengte Augen. Reicht Ihnen das als Begründung?« »Ich rechne Ihnen das hoch an, dass Sie mir behilflich sind.« »Okay, dann wollen wir mal. Haustiere. Katzen und Hunde. Überprüfen Sie das. Jemand hat mal ein Lama verloren … Hatte sich auf einer Zaunlatte aufgespießt … Musste eingeschläfert werden.« »Ich hätte gern eine Liste aller Haustiere, die in den letzten Jahren durch herumfliegende Trümmer getötet wurden.« »Für die ganzen USA oder nur für die Tornado Alley?« »Im Umkreis von fünfhundert Meilen um Promise. Könnten Sie mir das ausdrucken, bitte?« »Sicher.« Seine Finger tanzten spinnenbeinig über die Tastatur. Er gab den Druckbefehl ein und wandte sich dann Charlie zu, seine Brille saß tief auf der krausgezogenen Nasenspitze. »Sie suchen nach Übereinstimmungen, nach Gesetzmäßigkeiten, stimmt’s? Genau das machen wir nämlich hier auch. Wir suchen nach Gesetzmäßigkeiten im Wetter, so
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wie Sie nach Gesetzmäßigkeiten im Verbrechen suchen. In der Wissenschaft geht’s immer um Gesetzmäßigkeiten.« »Mir ist nur der Gedanke gekommen, dass er vielleicht mit Tieren angefangen hat. Die meisten Serienmörder fangen mit Tieren an und gehen dann zu Menschen über.« Rick schauderte unwillkürlich. »Sie wollen also Hinweise auf seine Lehrzeit finden, sozusagen?« Charlie zuckte die Achseln. »Man geht allen möglichen Hinweisen nach, in der Hoffnung, irgendwo einen brauchbaren Anhaltspunkt zu finden.« Der Drucker spuckte mehrere Seiten aus, und Charlie nahm sie an sich. Er warf einen kurzen Blick darauf und runzelte die Stirn. »Was ist, Chief?« »Vor ungefähr drei Jahren sind auffällig viele Hunde gestorben. Jetzt muss ich nur noch jemanden dazu bringen, einer Exhumierung seines Haustiers zuzustimmen.«
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4 Dreizehn Leute auf der Liste weigerten sich, aber fünf erklärten sich einverstanden, und Charlie verbrachte den Rest der Woche damit, in verschiedene Gegenden von Texas, Oklahoma und Nebraska zu fahren, in Privatgärten zu graben und die Zähne toter Haustiere zu untersuchen. Am Freitag um vier Uhr nachmittags befand er sich in einer jener verschlafenen Kleinstädte von Kansas, die mehr Buchstaben in ihrem Namen haben als Einwohner. Die Cavitts hatten ihren Golden Retriever vor vier Jahren verloren, und auf ihrer Farm wimmelte es von Hühnern, Ziegen, kleinen Jungen auf Fahrrädern und Mädchen auf Skateboards. Mr. Cavitt hatte tief liegende Augen, glattes graues Haar und einen vorspringenden Adamsapfel. Er begrüßte Charlie mit einem kräftigen Händedruck und einer rostigen Schaufel. »Kommen Sie mit nach hinten«, sagte er mit stiller Würde. Sie gingen ums Haus herum in den Garten, der im Schatten einer schönen großen Ulme lag. »Also, ich finde ja, Kindern muss man die ganze Wahrheit sagen«, sagte Mr. Cavitt, als sie sich dem Grabmal näherten, einem großen rosa Steinquader. »Nicht alles in Zuckerguss verpacken. Erzählt man ihnen, dass der Hund ›eingeschläfert‹ wurde, tun sie womöglich in der Nacht kein Auge mehr zu. Also sagt man ihnen klipp und klar, dein armer alter Hund ist tot.« Charlie half ihm, den Stein zu verrücken, und dann trat Mr. Cavitt auf die Schaufel und brach die Erde auf. »Salem war ein guter Hund«, sagte er, während er grub. »Wenn ich von der Arbeit heimgekommen bin und die Tür aufgemacht hab, war er da.« Er legte eine Verschnaufpause ein und stemmte die schwieligen Hände in die Hüften. »Ich glaube, 271
ich werd auf meine alten Tage rührselig«, sagte er mit Tränen in den Augen. »Es ist schwerer, als ich gedacht hätte.« »Lassen Sie mich mal.« Charlie nahm die Schaufel und grub im kühlen Schatten des alten Baumes das Hundeskelett aus. Zwischen den Knochen waren Fliegenpuppen. Er hob den Schädel auf, öffnete den Kiefer – und fand auf Anhieb, was er suchte: einen Zahn, der offenbar von einem Menschen stammte, denn er war viel kleiner als der, an dessen Stelle er getreten war.
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5 Am selben Abend ging Sophie auf eine Party, auf der Jugendliche ihres Alters Bier tranken und zu Heavy-MetalMusik flirteten und schmusten. Sie ging mit Boone in den dunklen Garten, in dem die Bäume bereits wieder austrieben, ein grüner Schleier, der sich über alles legte. Sie setzten sich auf zwei gleich aussehende Gartenstühle, und Boone ließ seine Krücken ins Gras fallen. »Ich bekomme Diazepam und Skelaxin«, sagte er. »Ich habe keine Schmerzen.« Er zog nachdenklich an seiner Zigarette, als nähme er an einem Geschmackstest teil. Er trug Sportschuhe ohne Schnürung, ein schwarzes geripptes Unterhemd und Bluejeans. Das eine Hosenbein war aufgeschlitzt, damit es über den Gips passte. »Mann, sieh dir bloß diesen Himmel an.« »Schöner Mist, was?« »Saublöd.« Über der Ebene ging der Abendstern auf, und der Mond kam hinter einer Wolkenbank hervor. »Du kannst sowieso nicht auf Sturmjagd gehen«, erinnerte sie ihn. »Du hast ein Gipsbein, und deine Kiste ist Schrott.« »Und wie wär’s, wenn du mich fährst, Sofe?« Sie lachte, insgeheim erleichtert, dass die Tornado-Saison fast vorüber war. Es hatte schon genug Tote gegeben. Wenn der Wind die Bäume aufrauschen ließ, bekam sie Bauchweh. »Schöne Pleite, hm?«, sagte sie. Er beugte sich hinüber und küsste sie. Sie schmeckte Salz auf seinen Lippen und empfand eine seltsame Euphorie, wie wenn man längere Zeit unter Wasser gewesen ist. Sie wich zurück. In ihrem Herzen Verwirrung und Angst. 273
»Sollen wir nach oben gehen?« Sie sah ihm tief in die Augen und sagte: »Okay.« Das Haus gehörte einem Freund von Boone, dessen Eltern übers Wochenende weggefahren waren. Im ersten Stock fanden sie ein freies Zimmer mit einem großen Bett, einem Fernseher und einem orangefarbenen Sessel am Fenster. Sophie ging auf die Toilette und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Das Licht war grell. Das Waschbecken glänzte weiß wie ein Augapfel. Sie begriff die Veränderungen nicht, die ihr Körper durchmachte, obwohl sie in Sexualkunde nie gefehlt hatte. Das wirkliche Leben war eben doch anders, als es in den Büchern beschrieben wurde. Irgendwo hatte sie gelesen, dass eine Frau im Durchschnitt mit zwanzig Männern schläft, bevor sie heiratet, aber das konnte sie nicht glauben. Sie hatte noch nie mit einem Jungen geschlafen und wollte nur mit einem schlafen. Als sie ins Zimmer zurückkam, stand Boone nackt vor dem Fernseher, und das bläuliche Licht schimmerte auf seiner Haut wie eine Aura. »Ich hab ein Kondom«, sagte er. Sie nickte und ging zu ihm hinüber. »Darf ich dich ausziehen?«, fragte er mit belegter Stimme, und sie ließ es zu, dass er den Reißverschluss ihrer Jeans aufzog. Anfangs tat es weh, als er in sie eindrang, aber dann öffnete sich etwas, und sie spürte, wie sein Herzschlag den ihren überlagerte. Er bewegte sich rhythmisch auf ihr, und sein Atem kam in zischenden, grunzenden Stößen, und dann fing Sophie an zu zucken und konnte gar nicht mehr aufhören. Sie drückte beide Augen fest zu gegen diese Lust. Danach lag er hinter ihr und schrieb mit dem Finger Worte auf ihren nackten Rücken. Sie erriet kein einziges. »Woran denkst du?«, fragte er. Sie zuckte die Achseln. Ruhe und Frieden erfüllten sie. 274
»Du findest, dass dein Vater ein guter Mensch ist, oder?« »Was?« Sie drehte sich zu ihm um. »Du denkst, alle Cops sind gute Menschen.« »Worauf willst du hinaus?« Er war in Gedanken versunken. Sophie fror plötzlich und zog sich die Bettdecke bis unters Kinn hoch. Sie fühlte sich wund zwischen den Beinen, und der Schmerz wollte nicht vergehen. »Boone? Was ist los?« »Es gibt Sachen, die ich dir gern erzählen würde, aber ich kann sie dir nicht erzählen.« »Was für Sachen?« »Vergiss es.« Sie streichelte ihm mit dem Finger die Wange. »Wir gehören zusammen, du und ich.« »Ich weiß«, flüsterte sie, schlang die Arme um ihn und drückte sich eng an ihn. Eine Stunde später lief Sophie durch den Garten auf ihr Haus zu. Nachtfalter umschwirrten die Verandalampe, und die Luft war schwer von Fliederduft. Das Haus war noch dasselbe, aber sie selbst hatte sich verändert. Drinnen blieb sie unter dem großen Bogen zum Wohnzimmer stehen. Ihr Vater saß auf der Couch und las. Er klappte das Buch zu und schaute auf. »Hi, Dad«, sagte sie, und ihr Mund war plötzlich trocken. »Ich geh gleich ins Bett. Gute Nacht.« »Du warst heute Abend nicht bei Katlin«, sagte er mit monotoner, feindseliger Stimme. Sie ließ die Schultern hängen. Er sah sie einen Augenblick lang wütend an. »Entschuldige, Dad.« 275
»Ich habe Katlin angerufen. Sie hat gesagt, du bist mit Boone Pritchett auf einer Party. Ich werde es nicht dulden, dass du mich hintergehst, Sophie. Das passt nicht zu dir.« Es war so still, dass sie das weiße Rauschen in jedem Raum hörte. »Es war doch nur eine Party, Dad«, sagte sie. »Kein Grund zur Aufregung.« »Nur eine Party?« Ihr Lachen klang falsch. Es tat noch immer weh zwischen den Beinen, und auf ihrem Slip waren Blutflecken. »Du hast mich belogen«, brauste er auf. »Du hast dich hinter meinem Rücken davongeschlichen. Ich sitze hier schon eine ganze Weile und horche auf jedes Auto, weil ich jedes Mal hoffe, dass du es bist.« Er starrte sie an. »Mein Gott, bist du betrunken?« Sie lehnte sich an die Wand. »Ein bisschen … Ich bin bloß … Ich bin ein bisschen beschwipst. Ich hab ein Bier getrunken.« Er stand auf und kam mit langen Schritten auf sie zu. »Jetzt reicht’s, du kriegst einen Monat Hausarrest.« Ihre Gedanken wuchsen wie Arme, Arme mit Fäusten, die blindwütig um sich schlugen. »Ich hasse dich!«, schrie sie. »Jedes Auto, das vorbeifährt, und ständig hab ich damit gerechnet, eine Sirene zu hören«, sagte er. »Tu mir das nie wieder an.« »Ich hab dir was getan?« »Du darfst dich nicht mehr mit ihm treffen. Ich verbiete es.« »Ich hasse dich!« »Na schön. Dann hasst du mich eben. Ist mir doch egal. Aber ich lasse nicht zu, dass du dir dein Leben kaputtmachst.« »Es ist mein Leben!« Sie rannte hinauf und ließ sich auf ihr ungemachtes Bett fallen, so verzweifelt und erschöpft, dass sie nicht einmal die Kraft aufbrachte zu weinen. 276
6 Charlie ließ die Straßen mit den Lebensmittelläden und Schweißereien hinter sich und fuhr aufs offene Land hinaus, wo die Grillen ihren eintönigen Chor sangen. Er kam an eine Gabelung, riss den Wagen herum und fuhr durch ein so tiefes Schlagloch, dass er sich fast den Fußknöchel verrenkt hätte. Auf diesen schmalen Landstraßen war praktisch kein Verkehr. Sie wurden kaum ausgebessert, und ihr Zustand wurde immer katastrophaler. Boone wohnte mit seinen Eltern auf der falschen Seite der Stadt, dort, wo die Leute bettelarm waren und es deshalb in den Familien oft zu Handgreiflichkeiten kam. Bei den meisten Anrufen aus diesem Viertel ging es entweder um häuslichen Unfrieden oder um Drogenprobleme. Charlie ermahnte sich, Ruhe zu bewahren. Sachte, sachte. Schließlich war es seine eigene Schuld. Er hatte seine Tochter so erzogen, dass sie naiv und unschuldig geblieben war. Sie urteilte nicht. Sie war offen und ehrlich und vertrauensvoll. Nicht annähernd kritisch genug. Boone Pritchett war für jeden außer ihr auf Anhieb zu durchschauen. Sophie war in zu reiner Luft aufgewachsen. Alles seine Schuld. Er parkte am Straßenrand und stieg aus. Hinter dem Stacheldrahtzaun mit dem Eintritt-verboten-Schild lag etwas, was zu verwildert war, um Wiese genannt zu werden. Inmitten von hohem Gras und allerlei Gerümpel stand Boones Wrack, ein bonbonrosa Akkordeon. Dahinter parkte in der Einfahrt der große rostrote Pick-up, der seinem Vater gehörte. Charlie hatte Eddie Pritchett schon mehrmals wegen verschiedener kleinerer Delikte und Trunkenheit am Steuer drangekriegt. Er öffnete das quietschende Tor, ging durch den verwahrlosten Vorplatz auf das einstöckige Haus zu und klopfte an die Tür. 277
»Polizei! Aufmachen!« Der Junge kam an die Tür und sah Charlie mit einer Mischung aus Spott und Bösartigkeit an. »Was wollen Sie?«, knurrte er. Charlie krümmte einen Finger. »Komm raus.« »Wozu?« »Ich muss mit dir reden.« »Bin ich verhaftet?« »Noch nicht.« Boone starrte ihm unverfroren mit seinen blauen Augen ins Gesicht und sagte: »Dann brauch ich auch nichts sagen.« Charlies Faust landete auf Boones Nase, und er fiel um wie ein Sack Getreide. Charlie packte ihn an seinem Kapuzen-Sweatshirt und schleifte ihn zur Tür hinaus und durch das wuchernde Gras. Boone heulte und hielt sich die Nase. Blut lief ihm zwischen den Fingern durch. Er stemmte die Füße in die Erde, um Charlie zu bremsen, aber das machte Charlie nur noch wütender. »Sieht aus, als bräuchtest du noch ein paar Tanzstunden, Kumpel.« Charlie richtete ihn auf. Sie standen im schwachen Schein der Straßenlaterne an der nächsten Ecke. Charlie packte Boone vorne an seinem Sweatshirt und sagte: »Wenn du dich noch einmal an meine Tochter ranmachst, bist du ein toter Mann.« Die Zähne des Jungen waren blutverschmiert. »Aha, ich muss mich also von ihr fernhalten, weil Sie so ein großer Macker sind. Und Leuten, die nichts verbrochen haben, gleich eins in die Fresse geben. Was soll der Scheiß?« Charlie packte ihn an den Ohren und schrie ihn an: »Die Sache ist ganz einfach. Du lässt ab sofort die Finger von meiner Tochter. Ist das klar?« Boones Stimme wurde schrill. »Was hab ich Ihnen denn getan?«
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»Es geht nicht darum, ob du mir was getan hast, du armseliger Wichser. Es geht darum, was du meiner Tochter antun willst.« »Ich tu ihr überhaupt nichts an, Sie Perverser.« Ein hoch gewachsener Mann tauchte in der Haustür auf. »Was ist denn da draußen los, verdammt noch mal?« Eddie Pritchett sprach breiten Dialekt, und ein freundlicher Umgangston war offenbar seine Sache nicht. »Ich rede mit Ihrem Sohn«, sagte Charlie. »Halten Sie sich da raus.« »Sie dürfen mit einem Minderjährigen nicht ohne Erlaubnis der Eltern reden«, schrie Eddie. Sein Haar war verfilzt, und er schob sich ein paar widerspenstige Strähnen hinter die Ohren. Er trug enge Jeans und Motorradhandschuhe, und sein Oberkörper – ein Hemd hatte er nicht an – war über und über mit Totenschädeln tätowiert. »Entweder Sie verhaften ihn, oder Sie verlassen sofort mein Grundstück.« Charlie musterte Boone, als wollte er ihm auf den Grund seiner störrischen Seele sehen. Er zögerte einen Moment, dann ließ er ihn los. »Komm wieder rein, du Blödmann«, blaffte der alte Pritchett. Der Wind strich sanft über das hohe Gras, als Boone sich zurückzog. Bevor er ins Haus ging, drehte er sich noch einmal zu Charlie um und sagte: »Ich würde ihr nie ein Haar krümmen.« »Ich warne dich«, sagte Charlie mit ausgestrecktem Zeigefinger. »Lass dich noch einmal in ihrer Nähe blicken, und ich mach dich platt.« »Solche Einschüchterungsversuche nützen Ihnen gar nichts«, sagte Boones Vater. »Sie hören von unserem Anwalt!« »Halten Sie den Mund.« »Polizei-Brutalität! Wir verklagen Sie!«
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»Ja, ja«, murmelte Charlie. »Bist glimpflich davongekommen, du Schwachkopf.«
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7 Charlie juckte der Daumenballen, und er konnte kaum noch die Augen offen halten. Koffein nützte auch nichts mehr. Vielleicht sollte er es sich spritzen? Wenigstens hatte er es raus, sich so hinzusetzen, dass niemand es merkte, wenn er kurz einnickte. Er richtete den Blick auf den Aktenberg auf seinem Schreibtisch und stützte die Stirn mit einem Unterarm ab, sodass es aussah, als sei er tief in Gedanken versunken. Auf diese Weise konnte er gefahrlos die Augen schließen und ein Nickerchen machen, vorausgesetzt, der Kopf fiel ihm nicht doch noch auf den Schreibtisch. Es klopfte. Charlie fuhr hoch. »Na, der Schlaf des Gerechten?«, fragte Mike lachend. »Lass gut sein, Mike. Ich krieg weniger Schlaf als ein Haifisch.« »Willkommen im Club. Rate mal, welcher Song auf Toby Lakes Walkman lief?« Charlie schüttelte den Kopf. »›I’m on Fire‹, von Bruce Springsteen.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, aber in Wahrheit war er zutiefst beunruhigt. »Zufall«, sagte er. Draußen vor dem Fenster stand flirrende Hitze über dem Asphalt, und die Pappeln entließen einen großen Schwarm Vögel in den klaren blauen Himmel. »Was Neues über Lester?« »Wir haben eine Vermisstenmeldung rausgegeben und die Umgebung von seinem Haus genauestens abgesucht. Wir haben ein Foto von ihm im ganzen County herumgezeigt und über hundert Freunde und Verwandte von ihm befragt. Immer noch kein Hinweis auf seinen Verbleib.« 281
»Aber irgendwo muss er doch sein.« »Also, was tun wir jetzt?« Charlie knurrte ungnädig. Sie ertranken in Routinearbeit, das Übliche im Juni – Sexualdelikte, Trunkenheit am Steuer, Einbrüche, Drogentote. Und jetzt das. Lester war spurlos verschwunden. Es wurmte ihn, dass der Rest der Welt keinen Finger rührte, während sie mit Hochdruck versuchten, ihren wichtigsten Fall zu lösen. »Und die Telefonlisten?«, fragte er. »Nick arbeitet noch daran. Und an den Kreditkarten.« »Gut. Warten wir’s ab, was dabei rauskommt.« Es sollte alles wieder so werden, wie es vorher gewesen war. Ein Bier, eine Zeitung, die Füße auf dem Couchtisch. Lange entbehrter Luxus. »Ist das der Obduktionsbericht Toby Lake?« »Die Verletzungen passen ins Bild.« Mike setzte sich und öffnete die Akte auf seinem Schoß. »Stumpfe Gewalteinwirkung auf den Schädel, Kampfspuren an beiden Armen, Kopf auf einen Zaunpfahl aufgespießt …« Charlie hörte gespannt zu. »Drei glatte Handschuhabdrücke«, fuhr Mike fort. »Kein Blut außer dem des Opfers. Kein Sperma. Keine Hinweise auf gewaltsames Öffnen einer Tür. Alles wie gehabt.« »Gar keine Spuren?« »Wir haben Glück.« Er zog eine Seite heraus. »Sie haben auf den Socken und den Hosenaufschlägen des Opfers mikroskopisch kleine Pünktchen gefunden.« »Pünktchen?« »Von einem gängigen Kunststoff. Polyvinylchlorid. Wird in vielen Produkten verwendet, von Gartenschläuchen bis zu verschiedenen Haushaltsgegenständen. Hier steht: Mikroskopisch kleine gelbe Pünktchen.« Charlie erstarrte. »Winzige gelbe Flecken.« Mike zuckte die Achseln. »Hier steht Pünktchen.« 282
»An den Fußknöcheln?« »Socken und Hosenaufschlägen.« Die Rollen von Charlies Bürostuhl quietschten über den Teppich, während er zum Telefon griff. »Hunter? Die Polizei in Tulsa.«
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8 Sergeant Dwight D. Harbuck von der Kriminalpolizei Tulsa war in der schlechten alten Zeit einmal mit Charlie zusammen Streife gegangen. Seit im Fall des Trümmermörders überregional ermittelt wurde, arbeiteten sie zusammen. Demnächst sollte ein gemeinsamer Haftbefehl ergehen. Charlies Freund D.D. war ein ordnungsliebender Mensch. Er legte großen Wert auf eine stets makellose Uniform und reine Gedanken. »Hoffentlich wird der Kerl gegrillt«, sagte er zu Charlie, als sie scharf rechts in Jonah Gustafsons Einfahrt einbogen. »Ich würde höchstpersönlich den Strom einschalten, das würde mir nichts ausmachen. Ich hab kein Mitleid mehr mit solchem Abschaum.« Ein Funkwagen hielt hinter ihnen, und zwei Beamte stiegen mit gezogenen Pistolen aus. »Ihr beide geht hintenrum«, befahl Harbuck seinen Männern. Der weiße Kleinlaster des Verdächtigen stand vor dem Haus. Charlie klopfte auf seine Brusttasche, in der er den Haftbefehl hatte, und hielt seinen .38er an die Hosennaht gedrückt, sodass er nicht zu sehen war. Er stieg hinter Harbuck die roh gezimmerten Verandastufen hinauf, und Harbuck hämmerte mit der Faust gegen die Tür. »Polizei. Aufmachen!« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern trat die Tür auf und ging unerschrocken voraus. Die Sonne schien durch die großen Wohnzimmerfenster herein und tauchte alles in einen goldenen Vermeer-Schimmer. Harbuck ging rasch durch den Flur und schwenkte dabei den Revolver. »Polizei! Das Haus ist umstellt!«
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Charlies Waffe fühlte sich kalt an. Er folgte Harbuck in die Küche, wo der Teekessel pfiff und die beiden anderen Beamten den Verdächtigen bereits gestellt hatten. Jonah Gustafson stand mit erhobenen Händen am Herd. In der einen Hand hielt er eine Kaffeetasse. »Was soll der Scheiß?«, sagte er verblüfft. »Na, wie geht’s denn so?« Harbuck steckte seine Waffe ins Holster und drehte Jonah die Arme auf den Rücken. »Sie sind verhaftet. Kann bitte mal einer den Teekessel abstellen?« Einer seiner Beamten schaltete ihn aus. »Was soll ich denn getan haben?«, fragte Jonah mit vor Schreck geweiteten Augen. »Zeigen Sie ihm den Haftbefehl.« Charlie legte die Kopie für den Beschuldigten auf den Küchentisch und nahm dann dem Verhafteten die schmierige »Night Train« -Baseballmütze ab. Jonah war extrem mager und hatte mittellanges braunes Haar. Braunes Haar, Weißer. Charlie durchsuchte den Mann und fand mehrere Münzen in seinen Taschen, einen Pager und eine Opus-X-Pyramid-Zigarre aus der Dominikanischen Republik. »Ihre Lieblingsmarke?«, fragte Harbuck und steckte die Zigarre ein. »Warum verhaften Sie mich denn, verdammt noch mal?«, schrie Jonah. »Kann ich das bitte endlich erfahren?« »Am neunten Juni wurde ein Junge ermordet«, sagte Charlie. »In Wolf Pass, Texas. Wir haben Spuren gefunden, die auf Sie als Täter hinweisen.« »Auf mich?« Er schien ehrlich erschüttert. »Das gelbe Zeug auf Ihrer Reisetasche.« »Gelbes Zeug? Was für gelbes Zeug?« »Es heißt PVC. Polyvinylchlorid, ein Kunststoff, der viel im Haushalt verwendet wird. Das Staatslabor hat eine 285
Übereinstimmung festgestellt. Wir haben dasselbe Material auf den Socken und an den Fußgelenken des Opfers gefunden.« »Moment, Moment. Neunter Juni? Da war ich den ganzen Tag zu Hause.« Sein braunes Haar war sauber in der Mitte gescheitelt und mit Gel angeklatscht, und er gab sich redlich Mühe, freundlich und einsichtig zu erscheinen. »Kann das jemand bezeugen?« Jonah schüttelte den Kopf. »Sehen Sie, ich will ja nur meine Jungs wiederhaben. Ich hab mich für das Zwölf-StufenEntzugsprogramm eingeschrieben. Ich bringe alles in Ordnung. Ich kooperiere ja.« »Sie halten sich wohl für sehr schlau, was?«, sagte Harbuck. »Nein«, gab Jonah zu. »Ich bin dumm wie Bohnenstroh.« Sein Gesicht sah aus, als würde es gleich platzen. »Glauben Sie mir, ich hab niemand umgebracht … Also ehrlich, Jungs, das ist doch lächerlich.« »Das ist aber komisch, denn Sie sind gerade wegen Mordes verhaftet worden.« Harbuck legte ihm Handschellen an und schloss sie so eng wie möglich. Jonah kniff die Augen zu. »Oh Mann … Also gut, passen Sie auf. Ich hatte früher mal ein Paar gelbe Arbeitshandschuhe«, sagte er. »Die waren schon ziemlich alt. Weißer Stoff … Na ja, gar so weiß waren sie zuletzt nicht mehr … Weiß mit gelben Plastikverstärkungen an den Handflächen. Aber der Kunststoff ist ausgetrocknet, und mit der Zeit haben sich Flocken davon gelöst, ja? Wahrscheinlich ist was davon auf meine Reisetasche gekommen. Aber ich schwöre bei Gott … Ich hab die Scheißdinger schon vor Monaten verloren.« »Verloren?«, wiederholte Charlie. »Ja, genau, vor zwei oder drei Monaten, ich schwör’s. Wissen Sie was? Scheiß drauf! Ich will meinen Anwalt sprechen.« Harbuck hielt Jonah seinen knotigen Finger unter die Nase. 286
»Sie Mistkerl. Kommen Sie, gehen wir raus in den Garten.« »Von mir aus, nur zu, geben Sie mir einen Grund, die Stadt zu verklagen.« Das war erledigt. Sie durchsuchten das Anwesen und sammelten Beweismaterial – Reste eines weißen Pulvers auf einer Waage, leere Plastikbeutel, über tausend Dollar in bar. Charlie durchsuchte die Schränke und Schubladen nach einem blauschwarzen Kleidungsstück, fand aber nichts. Nirgends im Haus waren Blutflecken. Keine grünen Teppichfasern. Die Fußmatten des Chevy waren braunrot. Auch die weißen Handschuhe mit den gelben Handflächen waren nicht aufzufinden. Jonah hatte Sportschuhe Größe vierundvierzig, Nike und Adidas. Die packten sie ein. Und sie packten sein Schreinerwerkzeug ein. Sie packten alles ein, was irgendwie interessant sein konnte, dann schafften sie Jonah in den vergitterten Wagen. Jonah schaukelte wie verrückt in dem Käfig hin und her. »Das ist doch kompletter Blödsinn! Ich hab niemand umgebracht!« Harbuck nahm noch einmal den Gang heraus und drehte sich um. »Ruhe da hinten!« »Ich bin kein Scheißmörder!«, schrie er, und die Adern an seinem Hals traten hervor. »Ihr hirnverbrannten Idioten! Aber meinetwegen, fahrt mich in die Stadt und sperrt mich ein. Ist ja bloß mein Leben, das ihr ruiniert!« Charlies Handy klingelte. »Ja?« »Chief?« Es war Mike. Er brüllte ihm ins Ohr, weil die Verbindung schlecht war. »Sie haben Lesters Wagen gefunden …«
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9 Zwanzig Meilen westlich der Grenze zwischen Oklahoma und Texas hatte ein State Trooper Lester Deeres dunkelblauen Chevy Blazer hinter einem verlassenen Farmhaus mit eingeschlagenen Fensterscheiben und zerbröckelnden Mauern gefunden. Charlie fuhr querfeldein durch das hohe Gras, eine Anhöhe hinauf und auf der anderen Seite vorsichtig wieder hinunter, bis er auf einen Feldweg stieß. Er hielt an, stieg aus und ließ den Blick über den Horizont schweifen. Cirrusschleier warfen ihre weichen Schatten über die Prärie – durchbrochene Schatten, die schnell über die Wölbungen ferner Ebenen huschten. Der Wind blies heiß wie aus einem Heizlüfter. Das Land sah aus, wie es schon immer ausgesehen hatte, wie Büffel und Regen und Wind es gestaltet hatten – abgeschliffen wie eine polierte Oberfläche, wie ein Stein auf dem Grund eines Flussbetts. Mike kam durch das hohe Gras auf ihn zu gewatet. »Ich hab die nähere Umgebung abgesucht, Boss. Keine fremden Reifenoder Fußspuren. Man kann noch sehen, wo er von der Straße abgebogen ist und den Wagen im Gras abgestellt hat, aber da endet die Spur.« »Suchen wir weiter.« Sie gingen nebeneinander eine kleine Böschung hinunter und stiegen wieder hinauf. Schwärme von Heuschrecken hüpften vor ihren Füßen auf. Vorsichtig stiegen sie noch einen Abhang hinunter und kamen endlich auf einen breiten, von wildem Wein gesäumten Feldweg. Gemeinsam musterten sie die Reifenspuren, die bis zu der Stelle führten. Lesters Blazer stand schräg hinter einer Ruine, auf deren zerbröckelnden Grundmauern ausgebleichte Grasbüschel wuchsen.
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»Keine Schäden an der Karosserie«, sagte Charlie, nachdem sie einmal um den Wagen herumgegangen waren. »Die Türen nicht verschlossen. Sogar der Zündschlüssel steckt.« »Er kann also nicht weit sein, oder?« Mike schirmte mit der Hand seine Augen ab und spähte hinein. »Der Tageszähler steht auf dreihundertdreizehn.« »Es sind nur hundert Meilen von hier nach Promise.« »Keine sichtbaren Blutflecken auf den Sitzen oder am Boden.« Charlie trat zurück. Die Hosenbeine seiner Uniform flatterten in der steifen Brise. Er spähte zu den mit Beifuß bewachsenen Anhöhen und den fernen Felsen hinüber. Er sah förmlich die Dinosaurier vor sich, die hier durch die urzeitlichen Sümpfe gewatet und im Schlamm stecken geblieben und deren Gebeine im Lauf von Jahrmillionen allmählich versteinert waren. Dieses Land war ursprünglich vom Meer geformt worden – die übereinander geschichteten, trapezförmigen Hügel, die dahinfließende Prärie. Fossilienjäger fanden noch immer im Kalkstein eingeschlossene marine Lebewesen – Armfüßer und Trilobiten, die körnchengroßen Fusulinen. Charlie entdeckte einen kreisenden Vogel. Um ihre Beute irrezuführen, hatten die hier heimischen Habichte das Aussehen von Geiern angenommen, nur dass ein Geier graue und keine gelben Füße hat. Er sah zu, wie der graubeinige Vogel herabstieß und hinter einer Bodenwelle verschwand. Geier. Er rannte durch das harte, hohe Gras und achtete nicht auf das krampfartige Gefühl im Bauch, das ihm sagte, was er noch nicht wahrhaben wollte. Die Luft blieb ihm weg, als er am oberen Rand des steilen Abhangs stand und auf die rissige, von der Sonne hart gebackene Erde hinabschaute. »Was ist denn da?«, rief Mike. Charlie spürte, wie sich Angst in seinen Eingeweiden ausbreitete. Zwei Körper lagen mit dem Gesicht nach unten im Gras. Und dann sah er den Geier. Halb lief, halb rutschte er den 289
Abhang hinunter. Der Vogel pickte gerade nach der blutigen Masse, die einmal ein Kopf gewesen war. Charlie fuchtelte mit den Armen, und der Geier hüpfte widerwillig von dem Leichnam herab und flog davon. Mike stand oben am Rand des Abhangs und warf ihm einen düsteren Blick zu. »Ist es Lester?« Charlie hatte das Gefühl, als sei er mit einem Omnibus zusammengestoßen. Er kniete neben dem Leichnam mit den blonden Haaren nieder. Es roch schwach nach Kordit. Der Hinterkopf des Opfers war dort, wo die Kugel ihn getroffen hatte, mit Blut und Gehirnmasse verschmiert, und neben der rechten Hand lag ein Dienstrevolver auf der Erde. NikeSportschuhe, schwarzer Ledergürtel. Nagelneue Jeans und in die Hose gestecktes Lacoste-Hemd. Die Eagleton-Uhr tickte noch. Charlie spürte, wie sich sein Schädel um das Gehirn zusammenzog, als wollte er es ausquetschen wie eine Grapefruit. Er gab sich einen Ruck und drehte die Leiche um. Beim Anblick von Lester Deeres verunstaltetem Gesicht schwankte einen Augenblick lang der Horizont. Die Leichenstarre hatte sich bereits wieder gelöst, die Fliegen hatten ihre Eier abgelegt. Seit mehreren Tagen tot, mindestens. Charlie wischte sich nervös den Mund und unterdrückte den Brechreiz. Er ließ den Leichnam wieder in die ursprüngliche Lage zurückfallen und untersuchte ihn dann nach Beweisen für die Identifizierung. In der Gesäßtasche fand er Lesters Brieftasche samt Führerschein und Kreditkarten. Mike kam Staub aufwirbelnd den Abhang heruntergestolpert und blieb stehen, um einen schmutzigen Geldschein vom Boden aufzuheben. Er faltete ihn auseinander. »Schau dir das an. Ein Hundertdollarschein.« Charlie lockerte seinen Schlips, um der Übelkeit Herr zu werden, und richtete den glasigen Blick in die Ferne. Die Prärie dehnte sich ringsum meilenweit. Es lagen noch mehr Banknoten 290
herum, hier und da flatterte eine im Wind. Ein Vogel trillerte ganz in der Nähe, und hoch oben schlug der Geier mit den Flügeln, um dann wieder im Aufwind zu segeln. Charlie überwand seinen Abscheu und drehte auch den anderen Toten um. »Wer ist das?«, fragte Mike. »Jake Wheaton.« Er schaute mit starrer Miene auf den jungen Mann hinab. Jakes Gesicht wirkte wie das einer Puppe, er trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Don’t Ask Me 4 Shit«. Auf dem Hemd waren Blutspritzer. Er hatte die Augen offen, und seine Hände waren zu Fäusten geballt. Charlie spürte, wie sich seine Gesichtsmuskeln anspannten, eine unwillkürliche Reaktion, wenn er aufgeregt war oder wütend wurde – das Blut strömte an die Stellen, wo die Brandnarbenbildung am stärksten war. »Komm, wir sperren das Gelände ab und reden mal mit der hiesigen Polizei.« »Glaubst du, die haben sich wegen dem Geld gegenseitig umgebracht?«, fragte Mike, der die Hunderter aufsammelte. »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich glauben oder nicht glauben soll«, sagte Charlie, und Präriestaub knirschte zwischen seinen Zähnen.
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10 Später stand Charlie im Haus seines Vaters in der Diele und sah sich in dem marmorierten Spiegel. Seine Narben juckten. Und sein Gehirn schien ebenfalls zu jucken vor Erschöpfung und vom vielen Nachdenken. Er hatte sich immer als Monster gesehen und sich eingeredet, sein »wahres« Selbst wohne irgendwo unter seinem entstellten Äußeren. Unter seiner Schmelzkäse-Haut. Das Haus war leer. Sein Vater arbeitete auf dem Feld. Charlie öffnete den Garderobenschrank und kämpfte sich durch die Mäntel und Jacken, wozu er die Kleiderbügel von einem Ende der Stange ans andere schob. Keine Matrosenjacke. Kein Glück. Er schloss den Schrank und hörte das Zwitschern zahlloser Vögel. Die Abendsonne malte ein Laubmuster an die gegenüberliegende Wand. Er stieg in den ersten Stock hinauf und schaute kurz ins Zimmer seines Vaters, das er nie hatte betreten dürfen. Alles still. Sein Blick glitt über die Toilettensachen auf der Kommode, die Pantoffeln unter dem Bett, das Wasserglas auf dem Nachttisch, in dem sein Vater sein falsches Gebiss aufbewahrte. Falsches Gebiss. Ersatzzähne. Er verwarf den Gedanken. Sie hatten ihren Mörder. Jonah Gustafsons Haftprüfungstermin war auf den nächsten Tag festgesetzt worden. Die Kaution würde hoch sein. Er würde im Gefängnis bleiben müssen. Charlie konnte sich entspannen. Sie hatten ihren Mann. Außer dass … Er war darauf trainiert, sich nie auf einen bestimmten Verdächtigen festzulegen. Dreh irgendeinen Stein um, und du findest darunter ein Gewirr von wimmelndem, pulsierendem Leben. Geheimes Leben … Eine Unterwelt. 292
Er durchsuchte den Kleiderschrank seines Vaters – Hemden, Hosen, ein Krawattenhalter mit einem Dutzend dunkler Schlipse, die er nie mehr trug. Der Ledergürtel mit der Metallschließe. Er schmeckte seine eigene Panik. Er hatte den Gürtel seit Jahren nicht mehr gesehen. Keine Matrosenjacke. Kein Glück. Er ließ noch einmal den Blick durch das Zimmer schweifen. Da fiel ihm ein, dass die Matrosenjacke wahrscheinlich draußen im Wagen seines Vaters war, der vor dem Schuppen stand, in dem der Alte sein Schreinerwerkzeug hatte. Charlies Rückenmuskeln zuckten. Er hätte hinausgehen und nachsehen müssen, aber er hatte Angst. Bei der Vorstellung, sein Vater könnte ihn dabei erwischen, war er plötzlich wieder der siebenjährige Junge. Am Fuß des Bettes stand ein verstaubter Überseekoffer, in dem die Wintersachen verwahrt wurden. Er machte ihn auf und sah die Stapel von Pullovern, Handschuhen und Schals durch, wobei ihm von dem Mottenkugelgeruch die Augen tränten. Alte Militärdecken. Keine Matrosenjacke. Am Boden des Koffers lag eine zerknitterte Papiertüte. Neugierig schaute er hinein. Drinnen waren Dutzende alter Luftballons – rote, grüne, blaue, gelbe. Das war seltsam. Wieso hob sein Vater eine Tüte mit alten Luftballons auf? Er legte die Tüte zurück und schloss den Deckel. Dann hörte er ein Geräusch und neigte den Kopf. Wagte kaum zu atmen. Sein Vater war im Haus und lief im Erdgeschoss herum. Die Dielen knarrten unter seinen Füßen. Charlie kniff den Mund zusammen. Wie sollte er nur erklären, was er hier oben machte? Die Kühlschranktür wurde auf- und zugemacht. Die Schritte entfernten sich. Die Hintertür fiel ins Schloss. Charlie hielt den Atem an und ging zur Treppe. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, und er machte, dass er wegkam. 293
11 Die beiden Leichname waren unten im Leichenschauhaus, in Trockeneis verpackt. »Wir haben in ihrem Blut eine hohe Konzentration an Äthylalkohol gefunden«, sagte Duff, »was darauf schließen lässt, dass sie beide betrunken waren, als sie sich gegenseitig erschossen haben.« Charlie sah auf. »Und Letzteres steht eindeutig fest?« »Auf der Waffe waren die Fingerabdrücke beider Opfer. Der Test auf Schmauchspuren an den Händen war positiv.« Duff untersuchte die Innenseite von Lesters Kopfhaut. Der freigelegte Schädel war aufgeschlagen wie ein Ei. »Lester hat Jake zweimal in den Bauch geschossen, während sie um die Waffe kämpften. Dann hat Jake die Waffe an sich gerissen und Lester einmal in den Kopf geschossen. Verbrennungen auf der Zunge. Geschossreste fächerförmig.« Charlie versuchte, es sich nicht allzu lebhaft vorzustellen. Er lehnte sich an den Ausguss und verschränkte die Arme. Jakes Leichnam lag neben dem von Lester auf dem Obduktionstisch. Er hatte zwei saubere Einschusslöcher im Unterleib, jedes von einem grauen Ring umgeben. Die unscharf begrenzten Austrittswunden waren am Rücken. Dort hatten starke Blutungen stattgefunden. »Was nehmen Sie als Todeszeitpunkt an?« »Wir haben eine grünliche Verfärbung der unteren Unterleibsquadranten, eine Gesichtsschwellung, fleckige Haut. Ich würde sagen, er war seit drei Tagen tot, als Sie ihn gefunden haben. Bei dem Jungen dasselbe.« Charlie legte die Totenscheine weg. »Also, Lester hat zuerst auf Jake geschossen, dann hat Jake geschossen und Lester
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getötet … und kurz danach ist Jake seinen Verletzungen erlegen?« »Ja, er hat in kurzer Zeit sehr viel Blut verloren.« Nachdem er das gummiartige Gehirn entnommen hatte, löste Duff die harte Hirnhaut von der Innenfläche des Schädels ab, um die Geschossbahn zu ermitteln. »Der Schädel ist zertrümmert, hier, wo die Kugel eingedrungen ist«, sagte er und zeigte mit dem Skalpell auf die Stelle. »Dabei haben sich Knochensplitter gelöst, die wie Projektile gewirkt und weitere Gewebeschäden verursacht haben. Die Wunde am Hinterkopf ist groß und ausgefranst. Hier drängte all das zusammengepresste Gewebe gewaltsam nach außen. Wie viele Patronenhülsen haben Sie gefunden?« »Vier.« »Alle aus Lesters Dienstwaffe?« Charlie nickte. »Zwei Schüsse in den Bauch, einer in den Kopf und einer daneben.« Duff drehte vorsichtig Lesters Gesicht wieder nach oben. »Spuren eines Kampfes am Körper. Bissmarken am Arm. Die Schüsse wurden aus kürzester Entfernung abgegeben. Jake hat Blut und Gewebeteilchen an den Händen.« Duff rieb sich den Nacken. »Ich hab nicht den geringsten Zweifel, Charlie. Die beiden Idioten haben sich gegenseitig ins Jenseits befördert.« »Wir haben über fünfzehnhundert Dollar am Tatort verstreut gefunden, außerdem Marihuana und Kokain in Lesters Wagen.« Charlie fasste sich an die Nasenwurzel. »Bin ich eigentlich blind? Einer meiner Beamten handelt unter meiner Nase mit Drogen, und ich merke nichts?« »Beruhigen Sie sich.« Duff streifte seine Handschuhe ab und warf sie in den Abfall. »Niemand ist vollkommen, Charlie.« Eine Oldie-Band, Jimmy Dorsey, spielte im Radio. Wenn man Duff außerhalb des Leichenschauhauses traf, fiel einem immer 295
sofort auf, dass er nach Formaldehyd stank. Der saure Geruch des Todes haftete ihm an wie der Rauch billiger Zigarren. »Jenna Pepper hat dabei eine Rolle gespielt. Und Boone Pritchett. Ich versuche schon den ganzen Vormittag, ihn zu erreichen.« Er hatte Sophie mehrmals eingeschärft, sich von Boone fern zu halten, und er machte sich jetzt Sorgen, dass er es ihr vielleicht nicht entschieden genug verboten hatte. Duff breitete ein Laken über Lesters Leichnam und begann, seine Instrumente säuberlich wegzulegen. »Allem Anschein nach haben Sie innerhalb der letzten achtundvierzig Stunden zwei große Fälle gelöst, Charlie. Gratuliere.« Es ärgerte ihn, dass Duff nichts begriffen hatte. Er hätte Lester auf die Schliche kommen müssen. Er hätte die Katastrophe verhindern müssen. Lester hatte mit ihm reden wollen, aber Charlie hatte nur daran gedacht, den Dienstweg einzuhalten – Anwälte, Lügendetektor, Alibis. Er rieb sich das Kinn und schaute ins Leere. »Charlie?« »Ja?« »Jonah Gustafson. Der Trümmermörder.« »Ach ja.« Duff verschränkte die Arme. »Was bedrückt Sie?« Er zuckte die Achseln. »Ach, nur so ein dumpfes Gefühl.« »Jetzt machen Sie schon. Spucken Sie’s aus.« »Wir haben die Handschuhe nirgends gefunden. Gustafson behauptet, er hat sie vor ein paar Monaten verloren.« »Ist das glaubhaft?« Charlie schüttelte den Kopf. »Manche von den Typen lügen, wenn sie den Mund aufmachen. Man weiß nie.« Gelbe Pünktchen, blauschwarze Fasern, schwarzes Kaninchenfell, eine einzelne grüne Teppichfaser, Schuhe Größe 296
dreiundvierzig bis vierundvierzig. Beweisstücke und Verdachtsmomente waren in seinem Kopf übereinander gespeichert und bildeten ein verwirrendes Gitter. Er holte tief Luft. »Ich weiß nicht, Duff. Vielleicht bin ich auch bloß müde.« Der Ältere klopfte mit den Knöcheln leicht auf den Tisch. »Gehen Sie Ihrer Nase nach, Charlie.« »Meiner Nase? Meine Nase sagt mir, dass wir viel zu viele Spuren haben. Gelbe Pünktchen, blauschwarze Wollfasern, Kaninchenfell, unbekannte Haare, eine einzelne grüne Teppichfaser …« Duff nickte. »Ja, und?« »Das passt alles nicht zusammen. Der Täter versteht so viel von polizeilicher Spurensicherung, dass er damit rechnet, dass wir diese mikroskopisch kleinen gelben Flecken finden, oder? Er geht absolut methodisch vor. Wenn Gustafson schuldig ist, wieso unterläuft ihm dann so ein grober Schnitzer?« »Der Täter achtet offenbar sehr genau darauf, dass er keine Spuren hinterlässt. Er trägt Handschuhe, wischt seine Fußabdrücke auf …« »Eben, und wenn ich in der Richtung weiterdenke …, wenn er Gustafson die Handschuhe gestohlen hat, um den Verdacht auf ihn zu lenken und uns zu verwirren? Ich meine, ist es schwer, einem Sturmjäger was zu klauen? Es gibt jede Menge Orte, wo die Kerle rumhängen … Rastplätze, Diner, Motels. Da kann es ja nicht so schwer sein, jemandem ein Paar gelbe Arbeitshandschuhe zu stehlen, oder? Er nimmt die belastenden Gegenstände an sich und lässt sie später am Tatort zurück. Was ist, wenn Gustafson die Wahrheit sagt, Duff? Wenn er unschuldig ist?« In der Stille des Leichenschauhauses hörte Charlie Duffs Atem durch die Nase pfeifen. »Ist Ihnen das Locard-Prinzip ein Begriff?«, fragte Duff. 297
»Jeder Kontakt hinterlässt eine Spur. Niemand, und wenn er sich noch so schlau vorkommt, kann sämtliche Spuren seiner Person beseitigen.« »Der Kriminelle wird also immer etwas von sich am Schauplatz hinterlassen und irgendetwas mitnehmen. Es ist Ihre Aufgabe herauszufinden, welche Spur bedeutsam ist.« »Also die Spur, die er aus Versehen zurückgelassen hat?«, fragte Charlie. »Genau.« Weißes Haar. Blauschwarze Wollfasern. Doch sein Vater? Der Gesichtsausdruck des Gerichtsmediziners wurde eine Spur weicher. »Wissen Sie was, Charlie? Sie müssen mal auf andere Gedanken kommen. Fahren Sie heim, und nehmen Sie Ihre Tochter in die Arme.« Er schluckte seine Erbitterung hinunter. »Jetzt machen Sie schon.« Duff knipste die Deckenbeleuchtung aus. »Hören Sie auf mich.« Charlie nahm seine Jacke vom Stuhl. »Und Sie, Duff. Was machen Sie jetzt?« »Ich fahr heim und mache Seifenblasen für meine Katze.«
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12 Sophie war in ihrem Zimmer und machte Schularbeiten. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf ihrem ordentlich gemachten Bett und kaute an einem Bleistift. »Hallo, Schatz«, sagte Charlie von der Tür her. »Hi«, erwiderte sie, ohne aufzuschauen. Sie wirkte ernst und konzentriert, und an der Stellung ihrer Mundwinkel sah er, dass ihr Groll gegen ihn noch lange nicht verflogen war. »Was machst du?« »Lernen.« »Was?« »Wir schreiben eine Geschichtsklausur.« »Wie war die Englischarbeit?« »Gut.« »Wirklich?« »Ich hab ein A gekriegt.« »Super. Freut mich für dich.« Er wollte sehen, was sie las. »Also, morgen schreibst du eine Geschichtsklausur?« »Mhm.« Ihre Socken waren dick und hässlich pinkfarben, die gleiche Farbe wie ihr Sweatshirt. Er schaute sich um. Ein paar Teddybären gluckten in einer Ecke zusammen, ihr Pelz war an manchen Stellen vom vielen Streicheln abgewetzt. Computer, Fernseher, CD-Spieler. Kinder brauchten heutzutage ihr Zimmer nicht zu verlassen. »Sonst alles in Ordnung?«, fragte er. Sie wedelte ungeduldig mit dem Fuß. »Was willst du?«
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»Wieso? Nichts. Wie lange gedenkst du noch sauer auf mich zu sein?« Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Ganz die Mutter. »Man darf auch mal jemandem verzeihen, weißt du«, sagte er. »Willa hat schon dreimal angerufen. Ich hab sie auf den Anrufbeantworter sprechen lassen. Ist dein Handy kaputt?« Er klopfte seine Taschen ab. »Muss es irgendwo liegen gelassen haben.« Ihre wachsende Ungeduld machte sich in unkontrollierten Bewegungen von Armen und Beinen Luft. »Hörst du eigentlich nie deine Nachrichten ab? Mein Gott, du bist ja schon schlimmer als Grandpa.« »Ich hab mir in letzter Zeit den A … aufgerissen, falls dir das entgangen sein sollte. Was hat sie gesagt?« »Bin ich jetzt deine Telefonistin?« »Ich dachte, du hättest mir verziehen.« Sie starrte ihn unversöhnlich an. »Siehst du nicht, wie reif ich mich verhalte? Ich bin mit deiner Wahl einverstanden, aber du nicht mit meiner.« »Hör zu.« Er dämpfte seine Lautstärke. »Versprich mir, dass du dich nicht mehr mit Boone triffst.« »Dad! Das ist unfair!« »Hier geht’s nicht um Fairness, klar? Ich kann nicht fair sein, wenn es um dich geht.« »Boone hat nichts mit dem ganzen Zeug zu tun.« »Du musst mir vertrauen, Sophie.« Sie verdrehte die Augen. »Ein toller Vertrauensbeweis, Dad.« »Ich vertraue dir voll und ganz.« Sie sah ihn aufsässig an. »Lässt du dann Willa auch aus deinem Leben verschwinden, ja? Na los, ruf sie an.« Sie nahm 300
ihr Buch zur Hand, ihre Mundwinkel zuckten vor rechtschaffener Entrüstung. Er blieb in der Tür stehen. Er hatte wieder einmal alles vermasselt. Den Graben zwischen ihnen nur noch vergrößert. »Was stehst du hier rum?«, sagte sie. »Offen lassen oder zumachen?« »Zumachen.« Er zog die Tür zu und ging hinunter, um sich Willas drei Nachrichten anzuhören. Eine halbe Stunde später überfuhr Charlie törichterweise ein Stoppschild, dann trommelte er vor jeder Ampel mit den Händen aufs Lenkrad und versuchte durch schiere Willenskraft, Rot in Grün zu verwandeln. Der tiefe Nachthimmel hing über dem Land wie eine schwarze Eisscholle, der Mond glomm nur schwach durch die Nebel hindurch. Charlie fuhr quer durch die Stadt und bog dann nach links auf eine unbeleuchtete Landstraße ab, wo einzelne Glühwürmchen in der Dunkelheit aufblitzten. Charlie fuhr in die kreisförmige Einfahrt am Ende der Straße und zögerte einen Moment, während der Mond hinter einer dünnen Wolkenschicht verschwand. Er stieg aus, lockerte seine Krawatte und sah das pfirsichfarbene Haus mit den minzgrünen Umrandungen an, die von Farben überquellenden Blumenbeete. Stiefmütterchen, Tulpen, wilde Iris. »Hallo«, sagte sie und öffnete die Fliegentür. Sie trug ein vorn geknöpftes Hanes-Unterhemd, Jogginghosen und billige Sandalen. Ihr Mund wirkte zugleich spöttisch und resolut. »Du verstehst es wirklich, dich rar zu machen.« Er legte ihr die Arme um die Taille und küsste sie. Er drückte sie an sich, froh, wieder in ihre komplizierte Wirklichkeit zurückkehren zu können. »Ich hab dich vermisst«, sagte er. 301
Zwei Katzen sprangen über das Geländer und strichen ihr um die Beine. »Mein Fanclub«, sagte sie. Nachtfalter schwirrten gegen die Verandalampe, und die Katzen bettelten um Aufmerksamkeit. »Ich bin der größte Widerling auf der Welt«, sagte er. »Magst du was trinken? Bier? Eistee?« Sie drückte seine Hand und lachte. »Ich weiß nicht, was Cops so mögen.« »Ich mag dich.« Sie grinste. »Setzen wir uns hier draußen hin. Da drinnen sind zu viele Bücher.« »Bücher?« »Massenweise Bücher und kein Platz, wo man sie hinstellen könnte.« Sie setzten sich in die knarrende Schaukel auf der hinteren Veranda und hörten dem Gesang der Ochsenfrösche unten am Wasser zu – ein Bach oder ein Flüsschen. Der Himmel klarte kurz auf, und Sternbilder entfalteten sich wie Blüten. Charlie sog den betörenden Duft nach Erde und Gras ein und betrachtete dann die rosa Kurven ihres Mundes. Sie roch leicht nach Cistrose. Ihre Hände waren ein zartes Geheimnis. »Tut das weh?«, fragte sie leise und berührte seinen vernarbten Arm. »Nein.« Sie streichelte die linke Seite seines Halses. »Wie oft haben sie dich operiert?« »Ich weiß es nicht mehr. Sehr oft.« Sie schüttelte sich mitfühlend. »Als Zugabe haben sie mir ein Kinn implantiert.« Ihr Lachen war herzerwärmend, ihr Mund so weich und süß, dass er ihn einfach küssen musste. Mit verzweifelter Sehnsucht 302
ließ er sich auf die Knie nieder, schlang die Arme fest um ihre Schenkel und vergrub den Kopf in ihrem Schoß. Verziehen.
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13 Am nächsten Morgen starrte Charlie das Foto auf seinem Schreibtisch an – ein Bild vom grauen Loadmaster-Pick-up seines Vaters, der mit hoher Geschwindigkeit an der Unglücksstelle vorbeifuhr. Es war einer jener schwülen Tage mit bedecktem Himmel, an denen sich alles leicht klebrig anfasst. Er fühlte sich mutlos. Angespannt. Die Frage war: Wie hatte der Alte, nachdem er vor dreißig Jahren mit dem Trinken aufgehört hatte, seine aufgestaute Wut abreagiert? Mike stand in der Tür. »Wegen der Beweismittel, die wir in Lesters Haus gefunden haben«, sagte er. »Kokainrückstände, eine nicht registrierte Waffe. Wir rekonstruieren gerade, wo er sich im letzten Monat aufgehalten hat, werten seine Telefongespräche und seine Abhebungen an Geldautomaten aus … Vor dem 15. April hat er oft mit Jenna Pepper telefoniert. Danach hat er mehrmals Jake Wheaton und Boone Pritchett angerufen.« Charlie zupfte an seiner Unterlippe. »Wir müssen Pritchett aufstöbern.« Mike nickte. »Ich gehe davon aus, dass Lester seine Drogen im Austausch gegen sein Schweigen von hiesigen Dealern bekommen hat. Jake und Boone haben sie dann an der HighSchool abgesetzt.« Er trat unbehaglich von einem Bein aufs andere. »Ich hätte Lester mein Leben anvertraut. So kann man sich täuschen.« Charlie nickte niedergeschlagen. »Was hast du da?« Mike tippte auf die Mappe, die er in der Hand hielt. »Sie haben in der Einfahrt der Lakes unbekannte Reifenspuren gefunden und sie im Staatslabor analysieren lassen. Sheriff Dorsey hat uns gerade die Ergebnisse geschickt. Die Spuren 304
stammen von einem großen Pick-up mit nagelneuen MichelinReifen.« Charlie musste an sich halten. Sein Vater fuhr einen großen Pick-up. Und er bevorzugte Michelin. Er hatte sich gerade einen Satz neue Reifen gekauft. »Damit wäre Gustafson aus dem Schneider«, sagte er. Mike schaute auf. »Gustafson fährt einen Kombi – mit Goodyear-Reifen.« Ein kaltes Gefühl der Gewissheit stieg in ihm auf. »Was ist, wenn er die Wahrheit sagt, Mike? Wenn der Trümmermörder Gustafson die Handschuhe geklaut und damit eine falsche Spur gelegt hat?« Mike stutzte einen Moment, dann sagte er. »Möglich ist alles.« Charlie ließ die Schultern hängen. Er rieb sich die müden Augen. »Mein Vater hat einen großen Pick-up«, sagte er und hielt die unscharfe Aufnahme hoch. »Und er hat sich gerade neue Michelin-Reifen gekauft.« Mikes Nasenflügel zitterten. »Aha. Und?« »Wir waren bettelarm, als ich ein Kind war. Mutter konnte nie was wegwerfen. Unser Haus war so voller Gerümpel, dass nicht einmal die Sozialarbeiter reinkommen wollten. Der Feuerwehrhauptmann hat gemeint, das Feuer sei im Keller ausgebrochen, wo die alten Zeitungen, Lumpen und Petroleumlampen waren …« Mike stand so unbeweglich wie eine stehen gebliebene Uhr. »Aber ich hab mir schon öfter gedacht … Wenn es nun doch kein Unfall war? Vielleicht hat ja doch mein Vater das Feuer gelegt?« »Das ist bloß die Erschöpfung, deswegen kommen dir solche Gedanken, Charlie.« »Er trägt in der Jagdsaison immer seine Matrosenjacke. Blauschwarzer Wollstoff. Er ist Rechtshänder. Er ist 305
Tornadojäger.« Er sackte in sich zusammen. »Und er war früher gewalttätig, Mike. Er hat Schuhgröße dreiundvierzig, das passt. Im Haus der Rideouts wurde ein mittellanges weißes Haar gefunden. Und dann die Zähne … Wusstest du, dass mein Vater ein Gebiss trägt?« »Ich weiß ja, das ist eine traurige Geschichte.« Mike lächelte nicht. »Dein Vater war ein richtiger Scheißkerl. Es ist sogar möglich, dass er in der Vergangenheit etwas Kriminelles gemacht hat. Aber du solltest auch nicht überreagieren.« Der Wind frischte auf, rüttelte an den Rollos. Am Nachmittag würde es regnen, zu Lesters Beerdigung. »Im Schuppen hat er allerlei Schreinerwerkzeuge«, fuhr Charlie fort, den Blick auf das Foto gerichtet. »Wenn du wüsstest, was ich über ihn weiß …« Mike konnte seine Skepsis nicht verhehlen. »Das lässt sich doch leicht klären. Wir vergleichen die Reifenprofile. Und wir können auch Haare und Fasern vergleichen. Beruhige dich, Boss. Es wäre nicht das erste Mal, dass wir den falschen Baum anbellen.« »Ja«, sagte Charlie. »War ja auch zu verrückt.« »Du solltest aber schon mit ihm reden. Hört sich an, als müsstest du dir die eine oder andere Sorge vom Hals schaffen.« Charlie sah auf die Uhr. »Die Beerdigung ist in einer Stunde«, sagte er. »Wir müssen los.«
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14 Mehrere hundert Menschen erschienen zu Lester Deeres Beerdigung. Seine Eltern waren Stützen des Gemeinwesens, und noch wollte niemand das Schlimmste über ihren Sohn glauben. Nach der Trauerfeier bewegte sich ein langer Leichenzug durch die Stadt zum Friedhof. Charlie und sein Vater gingen zusammen mit den anderen Trauergästen zum Grab. Isaac trug einen aschgrauen Stetson und einen formlosen braunen Regenmantel über seinem billigen schwarzen Anzug. »Wenn ich sterbe, Charlie, kannst du dir die Formalitäten sparen und einfach meine Asche im Auge eines Sturms ausstreuen.« »Du willst kein Begräbnis, Pop?« Mürrisch ließ der alte Mann den Blick über die Trauergemeinde schweifen. »Pfft. Auf den guten Willen und die scheußlichen Frisuren kann ich verzichten.« Eine Schwarze Königsnatter lag zusammengerollt auf einem Grabstein und nutzte die letzten Sonnenstrahlen aus, bevor die Sonne hinter den Wolken verschwand. Der Himmel begann sich zu verfinstern, meilenweit türmten sich Cumulonimbuswolken am Horizont, eine giftige Masse, die sich von Südwesten heranwälzte. Charlie nahm seine Mütze ab und ließ sich den Wind durchs gelichtete Haar wehen. »Wir müssen reden, Pop.« »Reden?« Sein Vater beäugte ihn skeptisch. »Worüber?« »Es gibt da ein paar Dinge die geklärt werden müssen.« Der alte Mann lutschte etwas – eine Hustenpastille oder ein anderes Bonbon –, hielt es im Mund wie ein saures Geheimnis. »Ich hab eine Theorie über dich«, sagte Isaac. »Willst du sie hören?« 307
Jetzt kommt’s. »Wir leben in einem freien Land.« »Erinnerst du dich an diesen rotznasigen Bengel, der dich immer gepiesackt hat?«, fragte Isaac. »An die Namen, die er dir gegeben hat? ›Der Verbrannte‹, ›Kokel-Charlie‹ … Ich hätte den Rotzlöffel am liebsten über den Haufen geschossen.« Das war ein erstaunliches Eingeständnis, das Liebevollste, was sein Vater seit vielen Jahren geäußert hatte. Charlie nahm den Schwefelgeruch des aufziehenden Unwetters wahr. Blitze zuckten, und aus einem indigoblauen Gewitterturm kam dumpfes Grollen. »Also, meine Theorie geht so: Du wartest schon dein Leben lang auf eine Gelegenheit, mit mir abzurechnen.« Er klopfte Charlie mit feindseligem Nachdruck auf die Brust. »Jetzt hast du die Chance, dich für die vielen Jahre des Leids zu rächen … all die Jahre, in denen du dir so ohnmächtig vorgekommen bist. Schau dich an, Charlie, du entwickelst dich zum moralischen Schiedsrichter der ganzen verdammten Stadt. Du nimmst dir heraus, Leute rumzuschubsen, Leute ins Gefängnis zu werfen, jeden zu schikanieren, der dir irgendwie nicht passt … einschließlich deines alten Herrn.« Charlie stieß ärgerlich die Hände in die Hosentaschen. »Und warum sollte ich dich schikanieren, Pop?« Sein ledriges Gesicht fing die letzten blanken Sonnenstrahlen ein, dann verschwand die Sonne endgültig hinter den Wolken. »Wegen der Dinge, die ich dir irgendwann mal angetan oder auch nicht angetan habe.« »Was meinst du? Dass du Mama bewusstlos geschlagen hast?« »Ich bin kein Monster, Charlie. Also tu nicht so, als ob ich eins wäre.« Er richtete seine kalten, wässrigen Augen auf die Menge der Trauernden. »Du hast ja keine Ahnung, was deine Mutter und ich durchgemacht haben. Du weiß nicht mal …« Jahre der Wut arbeiteten in ihm. Muskelgedächtnis. Ein brutales Bild entfaltete sich mit Ekel erregender Deutlichkeit vor 308
seinem inneren Auge – das speichelfleckige Gesicht seines Vaters und der verzerrte, schreiende Mund. »Die Zeremonie beginnt«, sagte Charlie tonlos. Sie schlossen sich den anderen Trauernden am Grab an. Sam Deere trug eine bunte Krawatte und ein bitteres Lächeln, Tammy Deere wirkte so fassungslos und verzweifelt, dass Charlie sie am liebsten wie einen verwundeten Vogel in die Arme genommen hätte. »Wir sind an diesem Ort der Ruhe und des Friedens versammelt, um einem guten Polizisten und liebevollen Sohn die letzte Ehre zu erweisen«, begann Reverend Cavenaugh. »Lester Deere ging wie ein Mann durchs Leben, und wir sind alle stolz auf ihn …« In diesem Moment setzte der Wolkenbruch ein, und Dutzende schwarzer Regenschirme öffneten sich. Eine Viertelstunde später, als der Sarg hinuntergelassen und die letzten Gebete gesprochen waren, kamen Lesters Eltern mit verwundert hochgezogenen Augenbrauen auf Charlie zu. Er suchte nach irgendetwas halbwegs Menschlichem, was er ihnen hätte sagen können, aber es gingen ihm nur all die abgedroschenen alten Klischees durch den Kopf. Lesters Lieblingsthema war immer er selbst gewesen, und trotzdem fiel Charlie jetzt, da er es am dringendsten nötig hatte, keine einzige Anekdote ein, an die er ein paar tröstliche Worte hätte knüpfen können. »Wir waren stolz auf ihn«, sagte er und nahm ihre Hände. »Er war ein guter Polizist und ein guter Freund.« »Sie werden ihn doch von diesen Vorwürfen entlasten, nicht wahr, Chief?« Er sprach ein paar unaufrichtige Worte des Trostes, und sie nahmen diese Brösel mit unendlicher Dankbarkeit entgegen, die er seiner Meinung nach nicht verdient hatte. Müde und seiner selbst überdrüssig, ging er weg. Müde und seines Leids überdrüssig. Die Trauer machte einen fertig, und manchmal 309
waren eine große Flasche und ein kleines Glas die einzige Antwort. Er wusste aus Erfahrung, dass immer, wenn der Schmerz gerade vergehen wollte, etwas anderes des Weges kam und eine andere Erinnerung auslöste – der Regenwassergeruch im Haar der Mutter, der Schluckauf eines Fremden, der einen an das Gelächter seiner im Kindesalter verstorbenen kleinen Schwester erinnerte, und schon war man seinen federnden Gang wieder los. Die Luft troff vor Regen. Er nahm die Mütze ab, hob das Gesicht zum Himmel und ließ den Regen auf sich herabströmen. Vorübergehend hatte er das Gefühl, aus seiner Haut schlüpfen zu können, doch dann hörte er das Quietschen von Gummi auf Asphalt, drehte sich gerade noch rechtzeitig um und sah das Heck des Loadmaster-Pick-ups seines Vaters in den Nebel entschwinden. Charlie trabte durch den rötlich blühenden Klee, vorbei an einem verwüsteten Blumenbeet und auf den Parkplatz des Friedhofs, wo er in das einzige Zivilfahrzeug einstieg, das seine Dienststelle ihr eigen nannte – ein limonenfarbener Chevy Cavalier –, den Motor anließ und den Gang einlegte. Er fuhr mit durchdrehenden Rädern vom Parkplatz auf die Straße und hinter dem alten Mann her, dessen rote Rücklichter im strömenden Regen gerade noch auszumachen waren. Auf einer langen, geraden Asphaltstraße holte er den Loadmaster ein. Die Scheibenwischer arbeiteten mit Höchstgeschwindigkeit. Er war nicht mehr bei Trost: Sein Vater ein Mörder? Absurd. Regentropfen spritzten durch den Nebel wie tausend Zweifel. Isaac Grover war einmal ein schlechter Mensch gewesen, ja, aber hatte er nicht bereut? Hatte er nicht gelitten? Es war nicht recht von ihm, an seinem eigenen Vater zu zweifeln. Ihn schlimmerer Sachen als vielleicht kleiner Diebstähle zu verdächtigen. Die Armbanduhr. Andererseits, gab es ein besseres Alibi, als dass man an dem betreffenden Tag am Schauplatz des Verbrechens gewesen war, zusammen mit 310
Dutzenden anderer Sturmjäger? Und gab es eine bessere Möglichkeit, sich den Fragen des eigenen Sohnes zu entziehen, als ihn seinerseits in die Defensive zu drängen? Ich hab eine Theorie über dich … Die Straße senkte sich leicht und stieg dann unmerklich wieder an, vorbei an grünen Wiesen mit grasenden Angus-Rindern und hinaus in die offene Landschaft südlich der Stadt, wo es scheinbar so wenig Leben gab. Hatte sein Vater Recht? Hatte er diesen Beruf gewählt, um sich rächen zu können? Warum war er nicht in Tulsa geblieben? Warum war er überhaupt zur Polizei gegangen? Weil er die Wahrheit herausfinden wollte … die Wahrheit darüber, was in jener Nacht geschehen war … die Wahrheit über die Brandnacht … weil er sich Gedanken machte über sein ganzes Leben … und Jahr für Jahr seine Zweifel verdrängt hatte … Charlie folgte weiter den roten Rücklichtern, hielt aber mindestens dreißig Meter Abstand. Furcht und Zweifel erhielten neue Nahrung, als er einen ölig glänzenden schwarzen Müllsack auf der Ladefläche des Pick-ups sah. Unwillkürlich musste er an die Vorgehensweise des Mörders denken. Er hatte die Trümmer, mit denen er seine Opfer durchbohrte, jeweils an den Tatort mitgebracht – Stuhlbeine, Geländerstreben, zersplitterte Zaunpfähle. Wie? In einem Müllsack auf der Ladefläche seines Pick-ups? Der Loadmaster bremste ab und bog in eine schmale Straße ein, die zur städtischen Müllkippe führte. Charlie spürte, wie ihm heiß wurde, als er auf die Bremse trat und ebenfalls abbog. Hinter Maschendrahtzäunen wuchsen beiderseits der Straße Aschenberge in die Höhe, und der Gestank von verfaultem Gemüse und schwelenden Möbeln lag in der Luft. Der Loadmaster hielt an, und Charlie beobachtete aus sicherer Entfernung, wie sein Vater ausstieg, den Müllsack packte und damit eine Böschung hinunter entschwand. 311
Er stellte den Motor ab und stieg aus. Kalter Regen peitschte ihm ins Gesicht und lief ihm in den Kragen. Er nahm den Regenumhang vom Rücksitz und ging auf die Stelle zu, wo er seinen Vater zum letzten Mal gesehen hatte. Hinter den qualmenden Müllhalden sah er die im Wind schwankenden Weizenfelder. Das Getreide wogte wie Wasser unter den Windböen und Regengüssen. Der Qualm von dem brennenden Müll ließ seine Augen tränen, während er sich dem Pick-up näherte. Auf den ersten Blick entdeckte er nichts Ungewöhnliches. Die Stoßstangen und die Haube waren mit Hageldellen übersät; die Michelin-Reifen waren tatsächlich nagelneu. Auf dem hinteren Teil der Ladefläche lag ein Stapel durchnässter alter Zeitungen neben einer Kühltasche aus Plastik, einer Werkzeugkiste und einer rostigen Schaufel. Charlie hatte keine Befugnis, den Wagen zu durchsuchen, denn er hatte nichts in der Hand, was einen begründeten Verdacht gerechtfertigt hätte. Ohne einen Durchsuchungsbeschluss durfte man ein Fahrzeug nicht ohne Einwilligung des Eigentümers durchsuchen oder Gegenstände daraus entfernen. Durchsuchungen von Kraftfahrzeugen führten fast immer zu Scherereien vor Gericht. Man musste seine Untersuchung also darauf beschränken, was man durch die Fenster sehen konnte. Auf dem Vordersitz nur Ausrüstungsgegenstände für die Sturmjagd. Keine Blutflecken, Wischspuren oder Waffen, soviel er sah. Ein Blitz fuhr herab und hellte die Schatten auf, als er den oberen Rand der Böschung erreichte und auf den Stetson seines Vaters hinabsah. Der alte Mann schien einen Moment zu zögern und warf dann den Müllsack den Abhang hinunter. Charlie sah zu, wie der glänzend schwarze Plastiksack abwärts kollerte und an den Beinen eines ausrangierten Klavierhockers hängen blieb. Nun war der Sack juristisch gesehen herrenloses Gut und durfte von jedermann durchsucht werden. »Dad!« 312
Sein Vater fuhr herum. »Was ist in dem Müllsack?« Der alte Mann spähte zu ihm hinauf und blinzelte, weil ihm Regentropfen ins Gesicht fielen. »Das geht dich einen Scheißdreck an!« »Pop?« Charlie machte sich an den Abstieg. »Ich brauche keinen Beschluss, um in den Sack zu schauen.« »Wie kommst du überhaupt hierher?«, ereiferte sich Isaac. »Bist du mir nachgefahren?«
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15 Charlies Puls beschleunigte sich, und er wurde hellwach, als er den Abhang hinunterstolperte, auf Kartoffelschalen und Kaffeesatz ausrutschte und versuchte, die finsteren Gedanken zu verscheuchen, die ihm durch den Kopf gingen. »Was ist in dem Sack?«, wiederholte er. »Geht dich einen Scheißdreck an.« »Geh zur Seite, Pop.« Sein Vater sah ihn hasserfüllt an. »Fahr zur Hölle!« Charlie drängte sich an ihm vorbei und trat mit dem Absatz ein Loch in den Sack. Heraus fielen Dutzende leerer Wodka- und Whiskeyflaschen. Klirrend rollten sie den Abhang hinunter. Charlie drehte sich erschrocken um. »Seit wann trinkst du wieder?« Isaac wich seinem Blick aus, sein Hals rötete sich. »Ich hab nie aufgehört.« In der erstickenden Stille starrten sie einander an, wie Kinder es manchmal tun. Dann verhärtete sich der Blick des alten Mannes, und er sah weg. Charlie roch den heranziehenden Sturm, ein metallischer Geruch wie nach nassem Kupfer. Die Luft war seltsam warm geworden, wie bei einem Hurrikan. »Ich werde dir jetzt eine Frage stellen«, sagte er langsam, »und ich will eine ehrliche Antwort.« Das Gesicht seines Vaters war schweißüberströmt. »Was hast du am fünfzehnten April gemacht?« Isaac war sichtlich gekränkt. »Du weißt verdammt gut, wo ich an dem Tag war. Das hab ich dir schon gesagt.« Charlie nickte. »Und am elften Mai?«
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»Die Sturmfront hat vier Tornados in drei Staaten produziert, wenn du dich erinnerst. Ich hab’s nicht weiter nach Süden geschafft als bis nach Ardmore und Durant. Ich hab die ganze Nacht nach verwertbarem Müll gesucht.« »Kannst du beweisen, dass du in der Nacht nicht in Texas warst?« »Wie soll ich das denn beweisen?« »Hast du irgendwo getankt, gegessen oder übernachtet? Mit anderen Sturmjägern geredet?« »Du hältst es also für möglich …« Sein Vater sah ihn unverwandt an, »dass ich ein kaltblütiger Mörder bin? Das ist doch deine eigentliche Frage, oder?« Aus seinem Mund klang es absurd. Charlie verspürte den Drang, ihn in die Arme zu nehmen, ihn zu drücken, ihn nicht mehr loszulassen. Er hatte Angst vor seiner nächsten Frage. Es schnürte ihm die Kehle zu. Ringsherum glommen Feuer in den fernen Aschehaufen. »Ja, und?« Er schluckte. »Bist du einer?« Isaac machte Schlitzaugen. »Ich hab mir in meinem Leben schon viel anhören müssen, Charlie. Ich bin ja vielleicht wirklich ein mieser Kerl und ein Versager, aber für so ein Hobby bin ich einfach nicht abgebrüht genug.« »Ich will dir ja glauben, Pop.« Seine Miene verdüsterte sich, und ein Netz von Fältchen überzog sein Gesicht. »Du kannst mich mal.« Er raffte seinen Regenmantel und machte Anstalten, wieder den Abhang hochzusteigen, aber Charlie packte ihn am Arm und drehte ihn um. »Was ist in der Nacht passiert, als unser Haus abgebrannt ist?« Isaacs Gesicht verschloss sich noch mehr. »Es ist besser, wenn du das nicht erfährst.« Charlie packte seinen Vater so fest an den Armen, dass er das Gesicht verzog und die Luft durch seine falschen Zähne einsog. 315
»Du kommst hier nicht weg, ehe du mir nicht gesagt hast, was damals passiert ist.« Isaac riss sich los und glättete seinen Regenmantel. Dann rückte er seinen Hut zurecht. »Ich hatte Träume«, sagte er ärgerlich. »Große Träume, Charlie. Ich wollte die Welt sehen. Zur Küstenwache gehen. Schiffe, das Meer … Das hat mein Blut in Wallung gebracht. Aber Adelaide musste ja im denkbar ungeeignetsten Moment schwanger werden.« Charlie spürte, wie das Blut in seinen Schläfen pulsierte. Der Wind wirbelte schon einzelne Stücke von den Müllhalden auf, und das Rauschen des Regens wurde lauter. »Wir hatten Pech. Mir ging alles viel zu schnell. Ich hab sie wirklich geliebt, aber heiraten? Aber man hat ja eine Verantwortung.« Die Haut um seine Augen spannte sich. »Du erinnerst dich doch noch an das Leiden deiner Mutter?« Charlie wich zurück. »Was für ein Leiden?« »Die Nerven, hat’s geheißen. Ein Nervenleiden. Weißt du nicht mehr, wie unausstehlich sie sein konnte? Ausschließlich mit sich selbst beschäftigt? Es hat Tage gegeben, da ist sie nicht einmal aufgestanden, um Wasser zu kochen. Dann wieder war sie außer Rand und Band und hat hundert Sachen gleichzeitig in Angriff genommen.« In Charlies Kopf surrte es wie in einem Einmachglas voll eingeschlossener Fliegen. »Wenn sie himmelhoch jauchzend war oder zu Tode betrübt, dann war nicht mit ihr zu reden.« Er rieb sich das Kinn. »Und an solchen Tagen hab ich mich immer abgeseilt. Soll sie sich doch in ihrem Unglück suhlen, hab ich mir gedacht. Ich hab einfach nicht begriffen, wie krank sie war. So ist das mit Gemütskrankheiten. Man denkt, der andere legt es drauf an, einen zur Weißglut zu treiben. Man denkt, er brauchte sich nur ein bisschen am Riemen zu reißen …« 316
Charlies Kleider wurden klamm, und der Regen lief ihm kalt den Nacken hinunter. »Es war ein Teufelskreis«, sagte sein Vater. »Sie hat ihre Depressionen bekommen, ich bin auf Sauftour gegangen. Ich bin auf Sauftour gegangen, sie hat ihre Depressionen bekommen. Eines Tages dann, ich weiß nicht mehr, warum …« Er leckte sich die Lippen, seine rosa Zunge glitt über die welke Haut. »Wegen dieser Sache schäme ich mich. Eines Tages bin ich wahrscheinlich zu weit gegangen.« Du hast sie vergewaltigt, du Scheißkerl. Charlie wollte schlucken, aber Mund und Rachen waren ausgedörrt. Der Blick des alten Mannes war jetzt ganz nach innen gerichtet, verloren im trüben Nebel der Erinnerung. »Deine Mama hat sich in der Nacht furchtbar gerächt. Schrecklich und selbstzerstörerisch. Ich habe nicht mal geweint. Es war zu furchtbar. Offiziell hat niemand den Verdacht geäußert, es könnte Brandstiftung gewesen sein. Man hat es auf eine falsch verlegte elektrische Leitung und den vielen Krimskrams im Keller geschoben. Petroleumlampen und überlastete Steckdosen. Ich hab ihnen nie die Wahrheit gesagt. Warum auch? Wir haben das Geld von der Versicherung gebraucht. Warum sollten wir dafür bestraft werden, was eine arme, gepeinigte Seele getan hatte?« »Du lügst!!« Charlie stürzte sich auf ihn, riss ihn zu Boden. In einem Knäuel aus Armen und Beinen rollten sie über die stinkenden, schwelenden Abfälle den Abhang hinunter, bis sie unten ankamen, wo Glockenblumen aus der Asche wuchsen. Charlie packte seinen Vater am Kragen und schrie: »Du verdammter Lügner!« Der Wind riss dem Alten den Hut vom Kopf, und er schaute verzweifelt zu Charlie auf. »Ich hab nur noch gewusst, dass ich auf ihr eingeschlafen bin. Als ich aufgewacht bin, kam schon 317
dicker Rauch ins Zimmer. Ich hab kaum noch Luft gekriegt. Ich bin aus dem Bett gesprungen und zur Tür gerannt, und da hat sie gestanden … Haare haben ihr an den Wangen geklebt. Hinter ihr sind die Flammen schon die Treppe heraufgezüngelt. In ihren Augen war nichts … Nicht das geringste Anzeichen, dass sie mich auch nur erkannt hätte, Charlie. Sie hat mich einfach nur angesehen, hat sich umgedreht und ist gegangen, und das war das Letzte, was ich von ihr gesehen hab.« Charlie roch Zitronensaft und Alkohol im Atem des alten Mannes, und ihm wurde übel. Der älteste Trick der Welt. Warum war es ihm nicht schon früher aufgefallen? Er legte die Hände um den Hals seines Vaters und drückte zu. »Charlie …« Er drückte dem alten Mann die Kehle zu, seine Arme zitterten vor Wut. Er atmete stoßweise, während Isaac versuchte, sich aus dem Würgegriff zu befreien. Seine Lippen verfärbten sich blau. Er zuckte und zappelte unter Charlie – so schwach und unbedeutend. Dieses abscheulich verzerrte Gesicht. Diese geblähten Nasenflügel. Ein Gedankenblitz: Er konnte ihm das Genick brechen. Wie hört sich das Nichts an? Wie hört sich das Nichts an, du kleiner Bettnässer? Die Hände taten ihm weh, aber er drückte noch fester zu. Hör auf, du bringst ihn um. Ganz plötzlich sprang etwas in seinem Inneren um. Er ließ seinen Vater los und stand mühsam auf. Gedemütigt. Zornbebend. Seine Hände zitterten angesichts dieser neuen Erkenntnis. Ein furchtbarer Schlag, wenn man seine niederen Instinkte entdeckt. Grauenhaft. Er schaute zum gefurchten Himmel hinauf, zu den Hügeln hinüber, wo die Mesquitbüsche und Schwarzeichen von den Müllbränden versengt waren. Selbstbeherrschung. Reiß dich zusammen. »Charlie?«, keuchte sein Vater. Hinter seinen Augen tobte ein furchtbarer Kampf. Sein Stetson war davongeweht, weiße 318
Haarzungen leckten ihm die eingefallenen Wangen. »Hilf mir auf.« Charlie zog ihn hoch. »Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?«, fragte er mit belegter Stimme. »Du blöder Idiot, warum hast du’s mir nicht gesagt?« »Charlie, überleg doch mal … Was hätte das genützt?« Die in Aufruhr geratene Luft hielt sie wie in tausend Schlingen gefangen, eine Ahnung keimte in ihnen auf. Als sein Handy klingelte, spürte Charlie den Schmerz in seinem Kopf wie ein Bündel Messerklingen. »Ja?« »Charlie?«, sagte zögernd eine Frauenstimme. »Ich bin’s, Peg. Hör zu, ich bin bei dir zu Hause …« Sie schien ein wenig außer Atem, und er sah sie vor sich, wie sie am Küchenschrank lehnte, in ihrem blau-gelben Jogginganzug, den sie immer trug, obwohl sie noch nie im Leben joggen gegangen war. »Was gibt’s denn, Peg? Ich stecke hier mitten in einer wichtigen Sache.« »Sophie ist nicht da. Dabei müsste sie längst hier sein.« Ihn fröstelte. »Wir wollten heute Nachmittag einkaufen gehen. Das hatten wir fest ausgemacht.« Er wich dem Blick seines Vaters aus. »Hast du auch draußen nachgesehen?« »Draußen, oben, unten. Sie hat mir einen Zettel geschrieben.« »Und was steht drauf?« »Dass sie auf Sturmjagd ist.« »Auf Sturmjagd?«, schrie er beinahe. »Ganz alleine?« »Da steht nur, dass sie auf Sturmjagd ist. Punkt.« Eine furchtbare Angst packte ihn, die Angst, die einen heimsucht, wenn etwas völlig Unerwartetes passiert. »Hat sie den Wagen genommen?« 319
»Nein, der steht in der Einfahrt«, sagte Peg gereizt. »Und ich hab extra eine Bridgepartie abgesagt.« In seinem Kopf schrillten die Alarmglocken. Boone Pritchett. Sie musste mit Boone Pritchett auf Sturmjagd gegangen sein. Der hatte ein gebrochenes Bein, also musste sie fahren. Den Civic hatte sie zu Hause stehen gelassen, Boones bonbonrosa Pick-up war Schrott, doch sein Vater hatte einen großen rostroten Pick-up, den Charlie oft genug gestoppt hatte. Sophie konnte Schaltwagen fahren. Würde sie das wirklich fertig bringen? Sicher, sie war sauer auf ihn, aber würde sie sich so offen seinem Verbot widersetzen und einfach nur eine Nachricht hinterlassen? Hatte sie sich schon so vollständig von ihm gelöst? »Bleib, wo du bist«, sagte er zu Peg. »Ich ruf gleich zurück.« Er legte auf und wählte Willas Nummer im Institut, bekam aber nur den Anrufbeantworter. Ungeduldig versuchte er, sie über ihr Handy zu erreichen. Isaac stand unruhig neben ihm. »Was ist, Charlie?« Er bekam Willas Mailbox und hinterließ eine Nachricht. »Hallo, ich bin’s. Ruf mich bitte sofort zurück, wenn du das abhörst.« Dann wählte er mit ungeschickten Fingern die Mobilnummer von Rick Kripner. »Ja?« »Rick? Hier ist Charlie Grover.« »Hallo«, sagte Rick herzlich. »Was kann ich für Sie tun?« »Ich fürchte, meine Tochter ist in Schwierigkeiten. Sie ist ohne Erlaubnis auf Sturmjagd gefahren. Eigentlich hat sie Hausarrest … Ich halte es für möglich, dass sie mit Boone Pritchett unterwegs ist. Ich muss sie schnellstens auftreiben.« »Hm. Wahrscheinlich sind sie nach Westen gefahren«, sagte Rick. »Nach Westen?«
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»Ja. Für East Texas wurde heute Nachmittag eine Tornadowarnung ausgegeben.« Charlie schloss die Augen. »Wo ist Willa?« »Sie macht Tests im Grenzschichtwindkanal.« »Könnten Sie ihr bitte sagen, dass ich angerufen habe?« »Ja, sicher. Kann ich sonst noch was tun?« »Vielleicht. Gehen sie heute auch noch auf Tornadojagd?« »Also, ehrlich gesagt, bin ich schon unterwegs. Warum?« »Gut, gut. Könnten Sie bitte nach ihr Ausschau halten?« »Sicher. Was für einen Wagen fahren die?« »Einen rostroten Ford-Pick-up mit Nummernschildern aus Oklahoma.« »Verstanden. Ich halte die Augen offen.« »Rufen Sie mich an, wenn Sie sie sehen?« »Versprochen.« Er legte auf. »Ist was mit Sophie?« Isaac blinzelte das Regenwasser aus seinen Augen. »Sagst du mir jetzt vielleicht, was los ist?« Charlie steckte das Handy ein. »Komm.« Er packte den alten Mann an seinem modrig riechenden Regenmantel und zog ihn den Abhang hinauf. »Wo zum Teufel willst du hin?« »Du nimmst mich jetzt mit auf Sturmjagd, Pop.«
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16 »Ist dir kalt?« Sophie fröstelte. »Ein bisschen.« »Willst du meine Jacke?« »Nein, danke«, sagte sie höflich. »Wer hat Sie da gerade angerufen?« »Ein Kumpel, auch ein Sturmjäger.« Rick Kripner betrachtete sie interessiert durch seine Nickelbrille. Seine Augen waren intelligent und freundlich. »Du willst meine Jacke also nicht?« »Nein, danke, geht schon.« Sie unterdrückte ihr Zittern. Sein Haar war zerzaust von dem Wind, der durch die offenen Fenster hereinwehte. Er nahm die Brille ab und griff sich an die Nasenwurzel, massierte mit den Fingerspitzen die roten Druckstellen. Ohne Brille sieht er besser aus, dachte sie, mit seinen großen braunen Augen und dem netten Lächeln. Und dann der überraschend muskulöse Körper unter den L.-L.-BeanKlamotten. Das langte, um Boone ausflippen zu lassen. Er hatte vor drei Tagen mit ihr Schluss gemacht und es nicht einmal für nötig gehalten, ihr den Grund zu erklären. Es ist aus, mehr hatte er nicht gesagt. Sie hatte sich das Gehirn zermartert. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie nicht mehr so viel geweint. Er beantwortete keine Anrufe und redete nicht mit ihr in der Schule, und sie hatte den Verdacht, dass ihr Vater dahinter steckte. Als Boone an diesem Tag nicht in der Schule aufgetaucht war, hatte sie sich gedacht, dass er vielleicht mit einem seiner Kumpels auf Sturmjagd gegangen war. Daher hatte sie die Gelegenheit beim Schopf gepackt, als Rick vorbeikam und sie einlud, mit ihm auf Sturmjagd zu fahren. Wenn sie zufällig Boone begegneten und er sie mit Rick sah, würde er ausrasten. Vielleicht wurde ihm dann klar, wie sehr er sie liebte. 322
Sophie fröstelte immer noch. Vor lauter Aufregung hatte sie ihren Pullover zu Hause vergessen, und jetzt fuhren sie im strömenden Regen auf der Interstate. Es war so kalt im Auto, dass sie eine Gänsehaut bekam. Rick fuhr einen GMC Sierra, einen vor Antennen nur so starrenden schwarzen Pick-up mit Allradantrieb. Eigentlich tat es ihr schon wieder Leid. Ihr Vater würde außer sich sein. Aber dann sagte sie sich, dass ja eigentlich alles seine Schuld war. Sollte er ruhig das Schlimmste befürchten, sollte er so leiden, wie sie die letzte Zeit gelitten hatte. »Wozu brauchen Sie denn diese ganze Ausrüstung?«, fragte Sophie. Rick warf sich in die Brust. »Also, was wir hier haben, ist ein komplett ausgestattetes Wetterfreakmobil, voll beladen und einsatzfähig. Dazu gehört ein C-Band-Doppler-Radargerät mit dreihundertfünfzigtausend Watt … ein Funkgerät, in diesem Fall das phantastische Icom 2100. Weiter geht’s mit tone encode/decode/scan und jeder Menge Speichern, alphanumerischen Speichern. Hervorragende Leistung. Außerdem haben wir einen mobilen Satellitenempfänger, ein Nokia-Handy mit Laptopanschluss für Echtzeit-Nexrad, ein Satelliten-Telefon für den Remote-Zugriff auf Wetterdaten von jedem Punkt der Tornado Alley aus, wo man mit dem Handy kein Netz bekommt. Eine Rundstrahl-Eggbeater-Antenne. Einen digitalen Camcorder auf einem Morganti-Saugstativ, der ständige Videoaufzeichnungen während der Jagd ermöglicht. Tja, und was sonst noch? Ein GPS-Navigationssystem, damit man sich auch in unbekannten Gegenden jederzeit zurechtfindet. Ein Cassiopeia-PDA für drahtlosen Internetzugang, einen 15Zoll-Flachbildschirm und« – er holte tief Luft – »jede Menge superschlaue Software.« »Wow«, sagte sie lachend. »Sie sind wirklich ein Freak.« »Nennen wir es lieber ›ernsthafter Wetter-Aficionado‹.« 323
Sie kicherte. »Also gut, Mr. Aficionado.« »Siehst du diese tief liegenden Wolkenwalzen?« Sie kniff die Augen zusammen und schaute durch die regennasse Windschutzscheibe zum Himmel hinauf, wo die Wolken die Köpfe zusammensteckten. »Du erlebst in diesem Augenblick … gleich da drüben … die Geburt einer Mega-Tornado-Superzelle.« »Einer Mega-Was?« »Superzelle.« »Gesundheit.« Er sah sie lächelnd an. »Scherzkeks. Siehst du die Kette von Mammatuswolken da hinter der Superzelle?« »Pilatuswolken?« »Mammatus.« Er grinste. »Hast du gewusst, dass schwache Höhenwinde dazu führen können, dass das Gewitter die Niederschlagpartikel immer wieder recycelt und so schließlich in einen HP-Klumpen verwandelt?« Sie verdrehte die Augen. »Ist das ein wissenschaftlicher Ausdruck? Klumpen?« »Fürwahr, auf Ehre und Gewissen.« »Sie sind vielleicht ein komischer Vogel.« Sie warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. »Aber keine Sorge, ich bin auch einer.« »Dann bin ich ja in bester Gesellschaft. Hey, du zitterst wie Espenlaub. Nimm schon meine Jacke. Keine Widerrede.« »Aber dann frieren Sie womöglich«, wandte sie ein. »Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.« Er zog seine wollene Matrosenjacke aus, wobei er eine Hand am Lenkrad behielt, schüttelte dann den anderen Ärmel ab und gab ihr die Jacke. »Bitte«, sagte er. »Mein Großvater hat genauso eine.« 324
»Wir sind eben verwandte Seelen.« Das kühle blaue Futter der Jacke juckte kein bisschen, und die Ärmel rochen schwach nach Kiefernzapfen. Beim Anziehen spürte sie, dass ihre silberne Kette an dem Stoff hängen blieb. Sie griff nach dem Medaillon, aber zu ihrer Überraschung hielt sie es plötzlich lose in der Hand. »Oh, nein«, stöhnte sie. »Was ist denn?« »Der Verschluss ist kaputtgegangen.« »Das kann ich reparieren.« »Wirklich?« Er nickte. »Wir sind ohnehin bald da.« »Wo denn?« »Beim Windtechnologischen Institut.« Er hielt die Hand auf. »Ich lauf schnell rein und bring das in Ordnung. Du kannst hier im Wagen warten. Dauert nicht lange.« Sie sah ihn bekümmert an. »Ich hab es noch nie abgenommen, seit Mom gestorben ist. Es wäre furchtbar, wenn ich es verlieren würde. Also vielen Dank.« »Kein Problem.« Sie gab ihm die Kette, und ihr Körper entspannte sich allmählich beim leisen Brummen des Motors, während der Regen in senkrechter Schraffur vom Himmel fiel.
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TWISTER
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1 Das Handy zwischen Schulter und Wange eingeklemmt, raste Charlie mit 80 Meilen pro Stunde auf der I-40 nach Westen. Die Gewitterwolken waren metallisch blau und am Horizont rauchig bronzerot. Er konnte den Himmel nicht deuten. Als Polizist verstand er sich höchstens auf die Interpretation von Körpersprache und Gesichtsausdrücken. Es war schwül draußen, so drückend, dass einem die Kleider am Leib klebten. Ein schwarzer Regenvorhang weit vor ihnen verdunkelte die Fernsicht wie eine Mückenwolke. Er telefonierte mit Mike und gab sich Mühe, vernünftig zu bleiben. »Boone Pritchett ist mit meiner Tochter unterwegs, obwohl ich ihm ausdrücklich verboten habe, sich noch mal mit ihr zu treffen. Die trampeln beide ungeniert auf meinen Gefühlen rum.« »Sollen wir sie festnehmen?« »Ja, spuckt dem Kerl in die Suppe.« »Wird gemacht.« Charlie legte auf und fuhr schweigend weiter. Isaac nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Reiseflasche. »Sie ist mit Boone Pritchett zusammen?« Er warf ihm einen Blick zu. »Kennst du ihn?« »Klugscheißer. Punk.« Isaacs Miene verdüsterte sich. »Sophie hat mir von dem Unfall erzählt. Heutzutage kann jeder Strolch auf vier Rädern Sturmjäger werden. Man braucht keine Ausbildung, keine Lizenz, und manche von diesen Amateuren denken, die Straße gehört ihnen.« Er sah Charlie an, als hätte er noch etwas zu sagen, ein dringendes Geständnis, aber Charlie war nicht in der Stimmung dafür. Er war mit all seinen Gedanken bei seiner kleinen Tochter. »Am ersten Abend im 327
Krankenhaus haben sie mich nicht zu dir gelassen, bevor ich mich nicht gründlich gewaschen hatte.« Charlie hielt den Blick auf die Straße gerichtet, er wollte es nicht hören. »Ich musste mir Hände und Gesicht waschen und einen Papierkittel anziehen. Sie haben gesagt, deine Überlebenschance war ungefähr fifty-fifty. Ich weiß noch, wie ich in die Intensivstation gekommen bin und ein kleiner Mensch auf dem Bett lag, den ich nicht wiedererkannte. Die Haut in Fetzen. An Schläuchen hängend. Lauten Geräten. Und ich dachte immer nur … fifty-fifty, fifty-fifty … Ich hab an deinem Bett gesessen und deine Hand gehalten … Die Hand war ja nicht verbrannt.« Er sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. »Hast du noch irgendwelche Erinnerungen daran?« Charlie schüttelte den Kopf. »Die wollten mich nicht zu dir lassen, wegen der Infektionsgefahr. Keine Blumen, keine Spielsachen, kein Essen. Ausnahmen wurden nicht gemacht. Außer Luftballons. Frag mich nicht, warum, aber Luftballons waren erlaubt.« Er lächelte bei der Erinnerung. »Also hab ich zwei Dutzend auf einmal gekauft. In allen Regenbogenfarben.« Charlie sah seinen Vater von der Seite an und dachte an den Überseekoffer, an die alten Luftballons. Man lernte, mit den Narben zu leben, aber nicht mit dem Kummer im Herzen. »Es tut mir Leid wegen all der Jahre, die ich nicht rückgängig machen kann«, sagte Isaac heiser. »Und es tut mir Leid, dass ich dir so lange die Wahrheit vorenthalten habe.« Charlies Handy klingelte mitten in dieses beachtliche Bekenntnis hinein. »Mike?«, sagte er. Seine Hand umklammerte das Handy fester. »Geht’s ihr gut?«
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»Ich hab eben mit Boone Pritchett gesprochen. Er war zu Hause, und er schwört Stein und Bein, dass er deine Tochter heute nicht gesehen hat.« »Er lügt.« »Ich hab Tyler hingeschickt.« »Nein, schick Hunter mit ein paar Männern. Und sag ihnen, sie sollen äußerst vorsichtig sein. Es geht um meine Tochter. Ruf mich sofort an, wenn du was Neues weißt.« Ein kalter Windstoß blies ihm ins Gesicht. »Was ist denn nun schon wieder?«, wollte Isaac wissen, während Charlie auf die Bremse trat. »Was machst du denn?« »Umkehren.« »Warum?« »Sie ist gar nicht auf Sturmjagd gegangen. Das war ein Täuschungsmanöver.« »Ein Täuschungsmanöver.« »Sie ist in der Stadt.« Er wählte Ricks Nummer. »Hallo?« »Hey, ich bin’s noch mal. Anscheinend ist Sophie doch nicht auf Sturmjagd. Nur, damit Sie Bescheid wissen.« »Nein?« »Nein. Also machen Sie sich keine Gedanken.« »Alles klar, großer Häuptling. Wenn Sie’s sagen.« »Danke, Rick.« Er legte auf. »Wer war das?«, fragte Isaac. »Rick Kripner.« »Der Wunderknabe?« Charlie sah ihn an. »Was?« »Das ist sein Spitzname. Wunderknabe.« »Wovon redest du?« 329
»Vor siebzehn, achtzehn Jahren hat er in Wewoka einen F-5 überlebt … Deswegen nannten sie ihn in allen Zeitungen nur den Wunderknaben.« »In Wewoka? Nicht in Pixley?« Isaac schüttelte den Kopf. »Ich hab früher ab und zu Pferde bei einem Rancher in Wewoka gekauft, deshalb hab ich mir den Namen gemerkt. Es war in allen Zeitungen. Hundert Häuser sind an dem Tag zerstört worden. Sechsunddreißig Menschen sind gestorben, darunter auch Ricks Vater.« Er lächelte verwundert. »Rick ist aus dem Haus geschleudert worden und unversehrt auf einem Feld gelandet.« Charlie erstarrte innerlich. »Mir hat er was anderes erzählt.« »Ja, na ja … wahrscheinlich schämt er sich zuzugeben, dass sein Vater ein Dieb war.« »Was? Moment mal. Schön der Reihe nach. Eins nach dem andern.« »Es hat sich rausgestellt, dass Rick Kripners Vater ein Einbrecher war. In den siebziger und Anfang der achtziger Jahre ist er in der ganzen Tornado Alley jedem Sturm nachgefahren, immer auf der Suche nach Häusern, die er ausrauben konnte. Er ist einfach reingelatscht, frech wie Oskar, weil die meisten Leute sich aus Angst im Keller oder in der Rumpelkammer oder sonst wo verkrochen hatten. Dann hat er das Tafelsilber und weiß der Geier was noch alles mitgehen lassen. Ich glaube, er hatte den Jungen immer dabei. Eines Tages, als er gerade ein Haus in Wewoka ausgeräumt hat, ist der Tornado genau dort durchgezogen. Sechs Leute sind umgekommen, nur der Junge hat überlebt. Die Presse erfindet ja immer Spitznamen für solche Leute.« Isaac legte eine Pause ein. »Wunderknabe. Nicht dass das noch irgendjemand wüsste.« Er tippte sich an die Stirn. »Ich hab hier alle möglichen trivialen Sachen gespeichert.« 330
Charlie aktivierte sein Handy und wählte noch einmal Ricks Nummer, aber diesmal war nur die Mailbox dran. In wachsender Panik rief er Peg Morris an. »Charlie?«, beklagte sie sich. »Ich sitze hier auf Kohlen und warte, dass du mich zurückrufst.« »Lies mir den Zettel vor, Peg«, unterbrach er sie. »Was?« »Sophies Nachricht. Lies sie mir vor.« Er hörte, wie sie nach ihrer Brille suchte. »Also, da steht nur: ›Bin auf Sturmjagd.‹« Sein Herz krampfte sich zusammen. »Sonst nichts?« »Nur die drei Worte: ›Bin auf Sturmjagd.‹« Er dachte an die Unordnung in Ricks Büro, an den Zettel mit der Aufschrift ›Bin auf Sturmjagd‹ in schwarzem Marker. »Tu mir den Gefallen und bleib, wo du bist, Peg.« »Charlie, du klingst so besorgt. Ist alles in Ordnung?« »Rühr dich nicht vom Fleck.« Er legte auf und rief Mike an. »Hör zu, ein ganz neuer Aspekt. Du musst unbedingt eine Fahndung nach einem schwarzen GMC Sierra herausgeben. Das ist ein großer Pick-up. Der Eigentümer ist Rick Kripner. Die Nummer kannst du dir von der Zulassungsstelle besorgen, oder du rufst beim Windtechnologischen Institut am Dryden Tech an …« »Wieso das denn, Charlie? Was läuft denn da?« »Ich halte es für möglich, dass Sophie in Wirklichkeit mit diesem Rick auf Sturmjagd gefahren ist.« Verblüffte Stille am anderen Ende der Leitung. »Freiwillig?« »Also, wenn es so war, wie ich glaube, dann ist er zumindest uneingeladen in meinem Haus aufgetaucht.« Etwas in ihm spannte sich so straff wie eine Klaviersaite. »Ich weiß nicht, wohin sie gefahren sind. Ich weiß überhaupt nicht, wie es dazu 331
kommen konnte. Der Typ ist dreißig – was kann der mit einem Teenager vorhaben?« »Okay, Chief. Keine Sorge. Ich kümmer mich drum.« »Geh beiden Spuren nach, und halt mich auf dem Laufenden.« Charlie steckte das Handy ein. Sein Vater sah ihn zweifelnd an. »Es wird ihr doch nichts passieren?« »Ich weiß es nicht, Pop. Hör auf mit der Fragerei.« Er wählte Ricks Nummer, bekam aber wieder nur die digitale Ansage. Er schaute geradeaus in den silbrigen Regen und zog eine Zwischenbilanz: Rick war ein überragender Sturmjäger; er war Rechtshänder; er hatte mittellanges braunes Haar … Aber welche Schuhgröße? Charlie war sich nicht sicher. Er war außergewöhnlich gepflegt und gut organisiert und ein hervorragender Wissenschaftler, führte Listen über alle Tornado-Ereignisse sowie ausführliche Statistiken über die Todesopfer. Er war leidenschaftlicher Sturmjäger, verwegener als alle anderen, und er hatte den Hinweis auf Gustafson geliefert. Hatte den Verdacht auf ihn gelenkt und entsprechende Beweise fingiert. Charlie kam ein Gedanke. »Pop? Wo ist deine alte Matrosenjacke?« »Ach die. Die muss ich irgendwo verloren haben, verdammt«, sagte er. »Und seitdem hat mich das Glück verlassen.« Ihm wurde schwarz vor den Augen. »Kannst du dich erinnern, ob du damals Rick Kripner begegnet bist? Hast du mit ihm geredet oder ihn kurz gesehen?« Isaac runzelte die Stirn. »Wir sind uns ein paarmal über den Weg gelaufen. Warum?« »Damals, als du deine Jacke verloren hast?« »Was soll die Fragerei, Charlie?«
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Er zügelte seine Angst und schüttelte den Kopf. »Smoke Gets in Your Eyes« war eben doch eine bewusste Wahl gewesen. »I’m on Fire.« Eine Nachricht für Charlie. Hey, Chief, ich kenne Sie. Ich bin hinter Ihnen her. Ich verfolge jeden Ihrer Schritte. Der steife Gang und die zugeknöpften Hemden. Das leichte Hinken, das auf einen starken Schmerz schließen ließ, von dem er nie sprach. Bei seinem Vater hatte der kleine Rick Kripner gelernt, Tornados abzufangen und Häuser auszurauben, während deren Bewohner Todesängste ausstanden. Der Anruf aus Dime Box, Texas, fiel ihm ein. »Also, wir sitzen da zusammengedrängt in der Abstellkammer, halb wahnsinnig vor Angst, und wie ich einmal vorsichtig durch die Tür schaue, sehe ich einen kleinen Menschen, der in unserem Haus rumläuft. Ich dachte, das muss ein Troll sein oder so was … Heute würde ich sagen, es war einfach ein kleiner Junge.« Der kleine Rick und sein Vater waren auf der Tornadojagd in fremde Häuser eingebrochen und hatten sie ausgeräumt, während die Sirenen heulten und schlimmste Verwüstungen drohten … Aber eines Tages hatten sie Pech gehabt. Das Haus, in dem sie gerade waren, lag genau in der Bahn des Tornados, und Rick und sein Vater wurden wie Trümmer auf die Felder geschleudert. Wunderknabe. Durch das furchtbare Erlebnis hatte er einen psychischen Knacks bekommen. Er hatte ja schon vorher einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Er half seinem Vater, schutzlose Bürger zu berauben … Da fiel es ihm sicher nicht sonderlich schwer, die Gewalt noch ein Stück weiter zu treiben, vom Einbruchdiebstahl zu animalischer Grausamkeit überzugehen. Vom Töten von Hunden zum Töten von Menschen. Bin auf Sturmjagd. Das hatte Sophie geschrieben. Und wer noch? Rick Kripner. Bin auf Sturmjagd. Scheiße, und in diesem Moment war seine Tochter … unvorstellbar. Nein, lächerlich. Wieder einmal jagte er einem Hirngespinst nach. Rick doch nicht. Aber er musste die Sache klären. Er 333
brauchte mehr Beweise. Beweise dafür, dass es doch möglich war. Er nahm die nächste Ausfahrt. »Wo willst du denn jetzt wieder hin?«, brummte Isaac. »Nach Pixley.« »Pixley. Was gibt’s denn da?« »Vielleicht eine Antwort«, sagte Charlie.
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2 Charlie bog auf eine schmale Landstraße mit schadhafter Asphaltdecke ab, die über einen Bahnübergang und durch einen Landstrich voller bunter Wildblumen führte. Der Regen war stärker geworden, und als sie vor Rick Kripners Haus hielten, goss es wie aus Kübeln. Das graue viktorianische Wohnhaus stand in vornehmer Zurückgezogenheit auf mehreren Hektar brachliegender Felder. Die kupfergerahmten Erkerfenster hoben sich von dem mit grünem Schiefer gedeckten Mansardendach ab, das von einer Wetterfahne gekrönt war. In den Buntglasfenstern wiederholte sich ein Azaleenmuster, und die Verandalampe glomm wie ein Leuchtturm in dem schlechten Wetter. »Bleib im Wagen«, sagte er zu seinem Vater. »Wo willst du hin?« »Bin gleich wieder da.« Er stieg aus, und der Regen prasselte auf seine Mütze. Das große alte Haus kam ihm in der Düsternis vor wie ein monströses Gesicht – die Veranda der strenge Mund, die Haustür die Nase, die Fenster starr blickende Augen. Er sprang die hölzernen Stufen hinauf und blieb dann stehen, um auf das Gluckern des Regenwassers in den Dachrinnen zu horchen, in das sich ein seltsames Klingeln mischte. Er schaute nach oben. Von den Balken des Verandadachs hingen Dutzende von Windspielen herab, deren dissonante Geräusche ihm wie ein böses Omen vorkamen. Die massive Haustür war von zwei bleigefassten Milchglasfenstern flankiert. Er schlug mit der Faust an die Tür. Als sich nichts rührte, trat er an ein Fenster mit normalen Scheiben und spähte hinein. Was er da sah, ließ ihm den Atem stocken: Aus dem Fensterbrett waren große Stücke herausgebrochen, als hätte es jemand mit der Axt bearbeitet. 335
Eine der tragenden Wände des kleinen rechteckigen Raums war völlig freigelegt, und durch das gelbe Isoliermaterial hindurch sah man die Adern und Gedärme des Hauses – herabhängende Stromkabel und kaputte Rohrleitungen. Er donnerte mit der Faust an die Eichentür. »Aufmachen! Polizei!« Alles blieb still. Er probierte die Tür, stellte fest, dass sie nicht abgeschlossen war, und blieb dann zögernd auf der Schwelle stehen. Scheiß auf hinreichenden Verdacht. Er ging hinein. »Sophie?«, rief er in die riesige Diele. »Bist du hier?« Er horchte. Nichts. Die über drei Meter hohe Decke hatte Stuckverzierungen, und der Hartholzboden bestand noch aus den ursprünglichen Spiegelschnittbrettern. Charlie erschrak, als plötzlich eine Taube die zentrale Treppe zum ersten Stock hinaufflog. In dem eichenen Treppengeländer fehlten mehrere Streben – offenbar hatte jemand sie einfach herausgerissen, nur die gesplitterten Stümpfe waren noch vorhanden. Mit einem bangen Gefühl löste Charlie den Sicherungsriemen an seinem Holster und ging zu dem kleinen dunklen Raum, in den er von der Veranda aus hineingesehen hatte. In der Tür blieb er stehen. Das Zimmer sah aus, als hätten die Vandalen darin gehaust. Stellenweise waren die Löcher im Putz so tief, dass man bis aufs Holz sehen konnte. Eine ganze Wand war nur noch als Holzgerüst vorhanden – Ständer, Bundbalken, Riegel, Streben. Der Raum enthielt kein einziges Möbelstück, nur eine Trittleiter lehnte an einer Wand, und ein Heer von Holzameisen kam in Kaskaden aus der Celluloseisolierung hervor. Mit gezogener Waffe ging Charlie in die dunkel getäfelte Diele zurück. Das zugige alte Haus war voller Geräusche. Der Wind pfiff durch die Dachbalken, Regen tropfte. Auch in der Diele war an vielen Stellen der Putz von den Wänden geschlagen worden, sodass große Flecke freigelegter Holzverkleidung mit der verspielten viktorianischen Tapete 336
kontrastierten. Zu seiner Rechten war ein Salon voller einfacher Möbel und hoher Büchertürme, säuberlich gestapelter Zeitungen und Videokassetten. Die alten Fenster hatten noch ihre ursprünglichen Rahmen mit einfacher Verglasung. An den Scheiben lief das Regenwasser herab. Durch die Fenster sah Charlie weitere Windspiele vor der grauen Regenwand. Er ging durch ein schmales Vestibül in ein streng wirkendes Wohnzimmer. Der aus Feldsteinen gemauerte Kamin war noch vor kurzem in Betrieb gewesen – in der Asche lagen auch verbrannte Papierschnipsel. Das Zimmer war mit einem dicken Wollteppich ausgelegt, und die vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster hatten fransenbesetzte Volants über malvenfarbenen Vorhängen. Die Einrichtung war ein Sammelsurium verschiedener Erbstücke – eine Art-décoStehlampe, eine wuchtige Kommode, eine Standuhr, eine Garnitur Stühle. Auf dem antiken Schreibtisch in der Ecke fehlte der Computer, aber die Kabel lagen noch auf der polierten Nussbaumplatte. Unbezahlte Rechnungen waren über den Fußboden verstreut, und die Schreibtischschubladen standen offen. Charlie untersuchte den langen, niedrigen Tisch, auf dem allerlei Geräte standen – ein GPS-Empfänger, ein Anemometer, mehrere Barometer. Er strich mit dem Finger über das glatte Holz – nicht das geringste Stäubchen. Als er in die Küche trat, blinzelte er und machte dann die Augen weit auf. Überall Listen. Was man nicht aufschreibt, existiert nicht. Ein eingebauter Geschirrschrank, mehrere Hängeschränke mit Glastüren und eine rustikale Spüle. Die Konservendosen waren alle mit dem Etikett nach vorn gestapelt, sodass man auf Anhieb wusste, was jede enthielt. Charlie öffnete den Kühlschrank; er war leer bis auf ein paar Sechserpacks und etwas kalten Braten. Das Gefrierfach war voll mit Hagelschloßen, jede in einer sorgfältig etikettierten Plastiktüte verpackt. Murmelgroß, golfballgroß, softballgroß,
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stachelig, glatt. Fundort und Datum. Auf der Hinterseite des Hauses war eine baufällige Veranda. Im ersten Stock wartete eine Überraschung auf ihn. Am oberen Ende der Treppe war die schräge Decke so niedrig, dass man sich ducken musste. Die kleinen, düsteren Räume waren allesamt bis an die Dachbalken voll gestopft, und jeder Stapel war gut leserlich beschriftet. Das Chaos eines Pedanten. In einem Zimmer fand Charlie ein Bündel knorriger Baumäste, einen Stapel Bilder aus alten Sonntagsschulheften, mindestens zwanzig Tupperschüsseln, zerbrochen oder vom Wind verbeult, und einen Haufen schwarzer Kabelstücke. Rick hatte jeden einzelnen Gegenstand gewissenhaft etikettiert, mit Datum, Ort, F-Skala. Und dann … wie Feuerholz aufgeschichtete Stuhlbeine und Geländerstreben. Plastikbeutel voller Kühlschrankmagnete – der Pillsbury Dough Boy, Felix the Cat, My Little Pony. Charlie überlief es kalt. Wenn man mit diesem Menschen bei Tisch saß, merkte man womöglich auf einmal, dass die Gabel, die man in der Hand hielt, die Aufschrift »Gabel« trug. Im nächsten Zimmer fand Charlie einen Turm aus Betonbrocken, die von unten nach oben immer stärker beschädigt waren, eine Sammlung von bunten FlaschengeistFlakons, einen Haufen Armband- und Wanduhren, die wahrscheinlich genau in dem Moment stehen geblieben waren, als der Tornado zuschlug. Es gab Bündel zerfetzter Kleider und herausgerissene Buchseiten. Hunde- und Katzenhalsbänder. Verformte Verkehrsschilder. Plattenspieler und Radios aus den siebziger und achtziger Jahren. Intaktes Porzellan- und Zinngeschirr. Eine Micky-Mantel-Baseballkarte, die wahrscheinlich einiges wert war. Im Badezimmer, das avocadogrün gestrichen war und Mosaikfußboden hatte, fand er kleine Plastiktüten mit abgeschnittenen Fingernägeln. Die Nackenhaare sträubten sich ihm. Was für ein verkorkster, perverser Typ. Unter dem Toilettentisch waren mindestens fünfzig Rollen Klopapier 338
gestapelt. Und alles war in doppelter Ausgabe vorhanden: zwei Zahnbürsten, zwei Rasierer, zwei Seifenschalen. Im Medizinschränkchen stand alles alphabetisch angeordnet, beginnend mit Aspirin. Charlie betrachtete die gusseisernen alten Armaturen: alles blitzblank. Als würde von einem Zahnpastafleck im Waschbecken die Welt untergehen … Nur das bescheidene Zimmer am Ende des Flurs sah bewohnt aus. Es wirkte überraschend unschuldig. Auf den Kiefernborden waren Plastikfigürchen aufgereiht, wie man sie als Zugabe in Fertigmahlzeiten fand. Durch ein großes Fenster kam schmutziggraues Licht herein. Der gemauerte Kamm war offensichtlich noch der alte. Durch das Rauschen des Regens hörte man den Wind durch Ritzen im Dach pfeifen. Das Bett war ordentlich gemacht. Die Wände waren in einem seltsam giftigen Blau gestrichen. Auf dem alten RCA-Plattenspieler lag Gloria Swansons 1932er-Aufnahme von »I Love You So Much I Hate You«. Auf dem Nachttisch stand ein Glas, halb voll mit einer klaren Flüssigkeit. Charlie hob es auf und roch daran. Wasser. Er stellte es wieder hin. Er öffnete den Überseekoffer am Fußende des Bettes und fand Stapel vergilbter, zerbröselnder Zeitungsausschnitte aus mehreren Jahrzehnten. Er blätterte sie durch: Artikel über alte Tornado-Katastrophen und die jüngste Serie von Morden. Er legte alles zurück. Er holte tief Luft und atmete langsam aus. Stand auf. Der Kleiderschrank war geschlossen. Er ging hinüber und öffnete die Türen. Kleider auf Plastikbügeln, auf Abstand, damit sie nicht knitterten, auf dem Boden blitzblank geputzte Schuhe ordentlich paarweise nebeneinander. Vier Paar völlig gleiche NikeSportschuhe – weiß-champagnerfarbene Shelltops. Mit der Spitze seines Kugelschreibers fuhr er in einen der Schuhe. Größe vierundvierzig, die Spitzen waren mit Watte ausgestopft. Alle anderen Schuhe im Schrank hatten Größe zweiundvierzig. 339
Mit klopfendem Herzen ging er auf den Flur hinaus. Kein hinreichender Verdacht. Illegale Durchsuchung. Er hatte Angst vor seinen Impulsen, seinen Übertretungen. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, dass er den Fall wegen irgendwelcher juristischer Spitzfindigkeiten vermasselte, aber immerhin war seine Tochter verschwunden. Seine Tochter. Das war das Einzige, was zählte. Er starrte an die Decke. »Sophie?«, rief er. »Bist du da oben?« Er öffnete die Klappe, zog die Dachbodentreppe herunter und stieg hinauf. Es roch nach Mottenkugeln. Alles alt. Uralter Groll. Schmerz. Tränen. Fußbodendielen aus Kiefernholz und ein Oberlicht. Alte, unverkleidete Pfosten und Sparren. Eine nackte Glühbirne, die unheimliche Schatten auf die Dachschrägen wart. Charlie zog den Kopf ein. Rechts vom Treppenschacht lag ein Haufen verstaubter Whiskeyflaschen, jede noch mit einem Rest alter bernsteinbrauner Flüssigkeit. Und jede hatte ihr eigenes bizarres Etikett. »1981, rechter Eckzahn oben.« Er holte tief Luft und atmete langsam aus. Fast körperlich spürte er die ungute Atmosphäre in dem Haus. Links von ihm stand ein elektrisches Klavier, das aussah, als wäre es seit Jahrzehnten nicht mehr gespielt worden – auf dem Mahagonideckel hatte sich eine dicke Staubschicht gebildet. Wieder hörte er die dissonanten Klänge der vielen Windspiele. Die Windspiele, so stellte er sich vor, waren Fühler, die sensibel jeden bevorstehenden Wetterumschwung anzeigten. Das ganze Haus vibrierte wie eine Glocke, oder besser gesagt, es zitterte wie ein Tier, das auf wechselnde Winde reagiert. Am westlichen Ende des Dachbodens befand sich ein schmales Fenster, durch das man die Felder hinter dem Haus und den fernen Horizont sehen konnte. Schräg davor stand ein großer Stuhl aus irgendeiner robusten Holzart. Zwei alte Ledergürtel waren um die Rückenlehne gespannt – Gürtel, die grotesk deformiert und vom Alter verhärtet waren. Während 340
Charlie den Stuhl langsam umkreiste, schien die Zeit stehen zu bleiben. Ein Tropfen eiskalten Wassers fiel ihm hinten in den Kragen. Entsetzt schaute er nach oben. Aber es war nur Regenwasser, das durch eine Ritze in der Verschalung herabtropfte. Auf dem Boden vor dem Stuhl waren Blutspritzer, wie die konzentrischen Echos eines verhallenden Schreies. Die Spindeln des Stuhls waren mit grünem Schimmel überzogen und mit Blut verkrustet. Auf einem Holztisch nicht weit davon lag ein Sortiment alter zahnärztlicher Instrumente – eine Zange, ein Spiegel, ein Wurzelheber und ein Meißel, Nadeln und Nylonfäden und zwei Einmachgläser. In einem waren altersgelbe Wattetupfer. In dem anderen … Charlie überlief es eiskalt, als er das Glas hochnahm und vorsichtig schüttelte. Er traute seinen Augen nicht. In dem altmodischen Einmachglas lagen Dutzende extrahierter menschlicher Zähne zusammen mit Tierzähnen. Von Hunden, von Rindern. Mochte er sich noch so zusammenreißen und sich zu professioneller Nüchternheit ermahnen, er konnte nicht verhindern, dass ihm beim Anblick dieses letzten Beweisstücks die Hände zitterten. Er wich einen Schritt zurück, umschwirrt von den Seelen der Toten. Er kannte ihren Zorn. Ein fast unerträglicher Schmerz baute sich in seinem Kopf auf. Er stand wie gebannt da und versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen. Und im selben Moment wurde ihm klar, wie tief die Wunden waren, wie weit dieses unmenschliche Verbrechen in die Vergangenheit zurückreichte.
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3 Charlie fuhr einen Umweg, um einem langen Stau auszuweichen, und landete auf einer armseligen Straße weit draußen in der Mitte von Mayberry. Wegen des starken Regens konnte er nur noch Schritttempo fahren. »East Texas klingt vielversprechend.« Isaac hatte seinen Laptop aufgeklappt auf dem Schoß. »Vielversprechend? Geht’s vielleicht ein bisschen genauer, Pop?« Charlie rieb sich mit abrupten, unwirschen Gesten das Gesicht. Außer Atem. Das Grauen in diesem Haus. Die entsetzliche Entdeckung. Rick war der Trümmermörder. Daran gab es keinen Zweifel mehr. »Wir haben noch nicht mal einen Sturm, den wir anpeilen könnten«, sagte er verärgert. »Wir wissen nicht, wohin zum Teufel wir fahren.« »Ich versuche ja gerade herauszubekommen, wo sich am ehesten ein Tornado bilden könnte, in welche Richtung er ziehen wird. Wir müssen wissen, wo wir sein sollten und wo lieber nicht. Das Mesonet Texas zeigt die höchsten Taupunkte an. Ich glaube, ein Unwetter wird sich in der Gegend von Matador bilden und dann bei Aberdeen oder irgendwo da zu einem Tornado ausarten, aber ich brauche noch eine Bestätigung.« Er schnappte sich das CB-Mikrofon, hielt es dicht an den Mund und sagte: »Hier ist Poppa Vein, kann ich mal was sagen?« Er drehte am Lautstärkeknopf und an der WattEinstellung, während ein Stimmengewirr aus dem Lautsprecher kam. »Kanal 10?« Charlie drückte das Gaspedal durch, um den Loadmaster auf eine Geschwindigkeit zu beschleunigen, zu der er wahrscheinlich gar nicht fähig war. Die quellenden Cumuluswolken trieben in einer flotten Nordostströmung, die den Wagen in warme Luft hüllte. Es ging auf halb sechs. Er 342
kämpfte gegen seine Panik an, und plötzlich kam ihm eine zärtliche Erinnerung an Sophie als Baby, wie sie in ihrer Wiege der Welt entgegenstrampelte, ihre Augen dunkelblaue Quellen der Liebe und der Neugier. Noch hatte er nicht ganz die Bedeutung dessen erfasst, was er vorhin gesehen hatte. Seine Hände zitterten. »Hört der Fahrer des ostwärts fahrenden roten Wilson gerade mit?«, fragte sein Vater und regelte die Lautstärke. »Kann ich mal einen Kanal 10 haben?« »Wer drängelt denn da so?«, kam die lakonische Antwort. »Poppa Vein«, sagte Isaac. Das war sein Spitzname. »Hey, Poppa, hier ist Cloudy. Pass auf, was hinter dir kommt, wir haben heute einen Haufen Cowboys auf der Straße.« »Wie sieht’s in Texas aus? Hast du ein Gewitterobjekt für mich, Cloudy?« »Wo bist du?« »Ich fahre gerade durch das County Hardeman, nach Westen.« »Ich hab starke Gewitter in Childress …« »Ich bin auf der Suche nach dem ganz besonderen einen Prozent … Einer Terawatt-Superzelle, die in ihrem Aufwind einen Tornado erzeugt. Was hältst du von Aberdeen?« »Aberdeen sieht richtig hübsch aus«, antwortete er. »Wir haben einen großen kreisförmigen Sturm mit Obergrenze fünfzigtausend Fuß, der mit ungefähr fünfunddreißig Meilen pro Stunde nach Nordosten zieht.« »Klingt super.« »Ist jedenfalls die größte Chance.« »Ich melde mich wieder auf dem Rückweg.« Isaac hängte das Mikrofon wieder in die Halterung. »Das ist unser Unwetter«, sagte er. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Nase und liefen in die tiefen Furchen neben seinem Mund. »Wir haben vielleicht 343
eine Stunde, sonst ist die ganze Show vorbei, wenn wir hinkommen.« »Eine Stunde? Mehr nicht?« Er machte Schlitzaugen, als sei das eine Fangfrage. »Wir müssen nach Aberdeen, mein Sohn.« Charlie starrte düster vor sich hin, die Straße vor ihm schrumpfte wie durch ein falsch herum gehaltenes Fernglas. Falls die State Police oder die Highway Patrol nicht bald Ricks schwarzen GMC Sierra sichtete, blieb Charlie nur die Möglichkeit, den nächsten Tornado anzusteuern und – wenn er großes Glück hatte – Rick abzufangen, bevor er Sophie etwas antun konnte. Alles hing davon ab, dass der Mörder nicht zuschlug, bevor er einen Tornado gefunden hatte, der ihm zusagte, und dass sie irgendwie eingreifen konnten, bevor er so weit kam. Charlie weigerte sich, darüber nachzudenken, wie absurd diese Hoffnung war. Er verpasste die Auffahrt zum Highway, trat auf die Bremse und schlitterte über die Straße, als hätte er Erdnussbutter in den Bremsleitungen. Fluchend legte er den Rückwärtsgang ein und fuhr in Schlangenlinien zurück. Der Regen leuchtete im Scheinwerferlicht auf, als sie eine Böschung hinunterfuhren und der Kühler des Loadmaster bedenklich steil gen Himmel gerichtet war. »Was machst du denn da, um Himmels willen?« Isaac hielt sich die Hände über den Kopf, um sich keine Beule zu holen, während sie rückwärts den nassen Abhang hinunterrutschten. »Wir müssen zurück auf die 1-40«, sagte Charlie, als sie wieder waagerecht standen und er Gas gab, doch im nächsten Moment platzte mit lautem Zischen der Kühlwasserschlauch. »Mist!« Er riss das Lenkrad herum, während die Temperaturanzeige auf null fiel. »Was zum Teufel …« »Ich hab’s, ich hab’s.« Sein Vater war ausgestiegen und kramte im Regen auf der Ladefläche herum. Er flickte den 344
Schlauch mit Isolierband, sprang wieder ins Auto und knallte die Tür zu. »Okay, fahr los!« Charlie trat aufs Gaspedal und spürte, wie die Räder des Loadmaster auf den Rändern einer Rinne balancierten, dann waren sie wieder auf der Straße und fuhren zu der Auffahrt zurück. »Du solltest dir mal neue Bremsbeläge zulegen, meinst du nicht? Und das Getriebe macht’s auch nicht mehr lange.« »Der Motor stirbt gern, wenn man an der Ampel steht, aber wenn die Karre mal am Laufen ist, schlägt sie sich eigentlich noch ganz wacker.« »Ich seh so gut wie gar nichts«, sagte Charlie und spähte an den flappenden Scheibenwischern vorbei. »Genauso gut könnte Ray Charles am Steuer sitzen.« »Fahr einfach auf dem kürzesten Weg nach Texas.« »Ich hoffe, du hast Recht, Pop«, sagte Charlie mit unverhohlener Skepsis. »Ich werd meine Vorhersage laufend den neuesten Gegebenheiten anpassen.« Sekunden später waren sie wieder auf der 1-40 und fuhren nach Westen. Charlies Handy klingelte, und er meldete sich mit banger Stimme. »Mike?« »Wir haben eine Suchmeldung für den ganzen Staat durchgegeben, Chief. Alle verfügbaren Leute haben den Auftrag, nach dem Fahrzeug Ausschau zu halten.« »Hör zu, wir haben uns mit Gustafson geirrt. Ich war gerade im Haus von Rick Kripner. Ich habe die Ersatzzähne gefunden.« »Mein Gott … Bist du da ohne Durchsuchungsbeschluss rein?« »Verflucht noch mal, der Kerl hat meine Tochter!« »Chief …« »Ich sag dir, Rick Kripner ist der Trümmermörder.« 345
»Bist du dir ganz sicher?« Charlie holte tief Luft. Er war so benommen, dass er kaum geradeaus schauen konnte. »Mike? Du musst mir jetzt einfach glauben.« »Ja … natürlich.« »Ich vermute, dass er nach Aberdeen will.« »Bleib dran, ich hab einen Anruf auf der anderen Leitung.« »Ruf mich gleich noch mal zurück.« Charlie legte sich das Handy in den Schoß und umklammerte das Lenkrad. Im Staub auf dem Armaturenbrett war ein Handabdruck, klein und zart. Sophie hatte ihn hinterlassen, als sie das letzte Mal im Wagen ihres Großvaters gesessen hatte. »Es stimmt, was du über mich gesagt hast«, sagte Charlie zu seinem Vater. »Wäre ich öfter zu Hause gewesen … dann wäre das alles vielleicht nicht passiert.« »Klar.« Sein Vater warf ihm einen verzeihenden Blick zu. »Und ich bin der Vater des Jahres. Jeder macht Fehler. Charlie. Es war dumm von mir, dir vorschreiben zu wollen, wie du dein Leben leben sollst.« Seine Kehle war so zugeschnürt, dass er keinen Ton herausbrachte. Er fühlte sich schutzlos und ausgesetzt. »Ich finde einen Tornado«, sagte sein Vater. »Einen richtig dicken Brummer. Wir kriegen sie wieder, das verspreche ich dir.« Charlie fühlte sich an all die tröstlichen Lügen erinnert, die er im Lauf der Jahre Sophie aufgetischt hatte. Deiner Mutter wird’s bald wieder besser gehen … Als das Handy klingelte, zuckten sie beide zusammen. »Chief? In Montoya ist gerade ein schwarzer GMC Sierra gesehen worden«, sagte Mike, »auf der 1-40 in östlicher Richtung unterwegs. Sie haben ihn vor fünf Minuten aus den Augen verloren, aber ich könnte mir denken, er will zum …« »Windtechnologischen Institut«, beendete Charlie den Satz. 346
»Genau.« Sein Adrenalinspiegel stieg ins Unermessliche. Er schaute in den Rückspiegel. Es war niemand hinter ihnen, also trat er voll auf die Bremse. Die erschrockenen Augen seines Vaters ähnelten den gekräuselten Wolken. »Was in Dreiteufelsnamen machst du denn jetzt schon wieder?« »Ich wende.« »Wozu?« »Er ist in Montoya.« »Montoya? Aber hast du nicht gerade gesagt …« Sie holperten über den Mittelstreifen. Charlie ließ einen MackTruck vorbeidonnern, der ihre Türen klappern ließ, dann gab er Gas und fuhr wieder Richtung Osten. Er hörte Mikes Stimme in seinem Ohr summen. »Chief? Sollen wir die örtliche Polizei benachrichtigen?« »Nein, warte noch damit. Wir müssen vorsichtig sein.« »Also holst du keine Verstärkung?« »Was ich nicht will, ist irgend so ein schießwütiger Cop, der das Leben meiner Tochter aufs Spiel setzt. Benachrichtige den Sicherheitsdienst vom College, und sag denen, es soll jemand auf dem Parkplatz auf mich warten.« »Verstanden.« »Und schick einen Hubschrauber zum Freeway.« Er legte auf und sah nach, ob seine Waffe geladen war. Am Atem seines Vaters merkte er, wie aufgeregt der alte Mann war. »Der Plan wurde geändert«, sagte er. »Hab ich schon mitbekommen.« »Festhalten, Pop«, sagte er und trat das Gaspedal durch.
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4 Es war bereits Nachmittag, als sie auf den Parkplatz der Environmental Science Laboratories fuhren. Charlie sah sofort Ricks GMC Sierra, der ziemlich schief vor dem Haupteingang des Gebäudes geparkt war. Es regnete in Strömen. »Bleib sitzen«, sagte er zu seinem Vater, sprang aus dem Wagen und machte drei Schritte, bevor er gestoppt wurde. »Chief Grover? Ich sollte hier auf Sie warten, Sir.« Der Wachmann war untersetzt, trug eine beige Uniform und hatte einen blassen Teint, wahrscheinlich, weil er seit Jahren Nachtdienst machte. »Es hat geheißen, ich soll …« »Hören Sie mir genau zu«, unterbrach ihn Charlie. »Wir haben eine Geiselnahme in dem Gebäude. Können Sie mir so weit folgen?« Der Mann nickte teilnahmslos. »Sie begleiten mich jetzt da hinein. Sie unternehmen von sich aus nichts, sondern halten sich genau an meine Anweisungen. Verstanden?« »Ja, Sir«, sagte der Mann steif. »Sie folgen mir einfach und tun genau, was ich Ihnen sage.« Ein knappes, gezwungenes Lächeln. Charlie zog seine Waffe und ging rasch über den Parkplatz auf den GMC Sierra zu. Der Motor lief. Am Zündschlüssel baumelte ein Talisman, eine Kaninchenpfote. Er biss die Zähne zusammen. Schwarzes Kaninchenfell. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe ins Wageninnere. Die Fußmatten waren grün. Grüne Teppichfaser. Das Locard-Prinzip …
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Er stellte den Motor ab und steckte den Schlüssel ein. Dann strebte er zum hufeisenförmigen Eingang des riesigen Betonbaus. »Environmental Sciences« war über der Eingangstür in rosa Marmor graviert. Er lief die Marmorstufen hinauf und rüttelte an der Glastür, doch die war schon verschlossen. »Aufschließen«, befahl er dem Wachmann. »Sollten wir nicht zuerst Verstärkung anfordern?« Der junge Mann sah ihn nervös an. Sie standen in einem gelben Lichtkegel, so nahe beieinander, dass Charlie die Poren in seinem teigigen Gesicht sehen konnte. »Schließen Sie die Tür auf«, wiederholte er mit einem drohenden Unterton. Gehorsam tippte der Wachmann den Zutrittscode ein und steckte seine Plastikkarte in den Schlitz. Dann zog er mit einem scharfen Klick einen Riegel zurück, und die Tür ging auf. »Nichts da!« Charlie vertrat seinem Vater den Weg. Er war aus dem Nichts aufgetaucht. »Geh und setz dich wieder in den Wagen.« »Ich komme mit.« Er reckte angriffslustig das Kinn vor. »Wir können uns keine Panne leisten, Pop.« »Sie ist meine Enkeltochter«, sagte er trotzig. Charlie hatte vor langer Zeit gelernt, dass es nichts nützte, sich mit dem alten Mann anzulegen. »Ich komm dir schon nicht in die Quere«, versprach Isaac. Charlie schaute auf die Uhr. Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Mit den beiden Männern im Schlepptau betrat er das riesige gelbe Foyer, und die schwere Glastür fiel hinter ihnen ins Schloss. Ihre Tritte hallten durch das hell erleuchtete Gebäude. »Hier entlang«, sagte der Wachmann, aber Charlie achtete nicht auf ihn und ging durch einen sich gabelnden Korridor auf eine Reihe von Lastenaufzügen zu, vorbei an dunkel getäfelten Wänden und einfach gerahmten Bildern von stolzen 349
Wissenschaftlern mit ihren Maschinen. Mehrmals drückte er auf den »Abwärts« -Knopf. »Mach schon«, zischte er durch die zusammengebissenen Zähne. »Genau. Da kommt er bestimmt schneller«, sagte Isaac sarkastisch. »Halt den Mund, Pop.« Er zeigte mit dem Finger auf ihn. »Du wartest hier.« »Ich komme mit, Charlie.« »Keine Diskussion.« Einer der Lastenaufzüge hielt, die Metalltüren glitten auf, und alle drei traten hinein. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich die Türen wieder schlossen, und dann fuhren sie Schulter an Schulter hinab in die Eingeweide des Gebäudes. Charlie sah seinen Vater grimmig an, aber der alte Mann wich einfach seinem Blick aus. Der Wachmann hatte die Hand auf dem Holster seiner Dienstpistole. »Haben Sie das Ding schon mal benutzt?«, fragte ihn Charlie. »Ja, Sir. Ich war ROTC-Elitekadett.« »Gut. Dann sind Sie meine Verstärkung.« »Wonach suchen wir eigentlich, Sir?« »Ein Weißer, Anfang dreißig, Größe und Körperbau durchschnittlich, Haarfarbe braun, Augen braun, Nickelbrille. Er hat ein Mädchen in seiner Gewalt … meine Tochter.« Der Aufzug hielt mit einem Ruck und einem mechanischen Surren, und Charlie schaute dem Wachmann in die Augen. »Wenn Sie sie verletzen … Wenn Sie irgendwas tun, wodurch sie zu Schaden kommt … dann werden Sie es bereuen.« Schweißperlen traten dem Wachmann auf die Oberlippe. »Ich … Ich pass auf.« »Möchte ich Ihnen auch geraten haben.« 350
Die Aufzugtüren öffneten sich, und Charlie trat allein auf den Flur hinaus. Eisige Lichtfinger stachen durch das Gestänge unter der Decke, und aus den Wänden kam ein orninöses Summen, wie ein gebrochener Akkord auf einem elektrischen Klavier. Er bog im rechten Winkel in einen Korridor mit höherer Decke ab und sah sich erst nach allen Seiten um, bevor er die beiden anderen heranwinkte. Die Testanlagen waren verschlossen. Charlie probierte alle Türen durch, während der Wachmann mit seinem riesigen Schlüsselbund hantierte. Auf kleinen Bronzeschildern neben den Türen stand, welche Anlage sich jeweils dahinter befand. »Die hier, schließen Sie die auf.« Ungeduldig wartete Charlie, bis der Wachmann den passenden Schlüssel gefunden hatte, aufschloss und das Licht anknipste. Sie standen im gleißenden Natriumlicht der hangargroßen Windkanalanlage, und etwas zog seinen Blick auf sich – weißer Rauch, der sich im hinteren Bereich kräuselte. Er lief an den mit Kühlrohren und Stromkabeln bedeckten Wänden entlang, bis er den fünfundzwanzig Meter langen Grenzschichtwindkanal erreicht hatte. Hinter den Beobachtungsfenstern des Testbereichs brodelte weißer Rauch. »Einen Feuerlöscher, schnell«, rief er dem Wachmann zu, während er die Leiter hinaufstieg. »Das ist kein Rauch«, rief der Wachmann zurück. »Das ist so ein chemisches Zeug, mit dem sie den Wind sichtbar machen – das Gleiche, was Himmelsschreiber verwenden.« Die Tür ließ sich nicht bewegen. Charlie sah, dass ein Bleistift zwischen die Klinke und die Metallplatte geklemmt war. Er rüttelte daran, und plötzlich brach sie ab. Die spröde Feder gab ein lautes Geräusch von sich, als die Tür aufsprang und der weiße Nebel herausquoll und ihn fast erstickte. Hustend und würgend wich er ein Stück zurück.
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»Willa?« Er verspürte eine plötzliche Scheu, eine gewisse Zärtlichkeit oder Angst. Angst, sie zu verlieren. Er zögerte. Die chemische weiße Substanz füllte die gesamte Testkammer aus. Er rannte hinein, konnte aber in dem Nebel nicht viel sehen; er wedelte mit den Armen, richtete jedoch wenig damit aus. Er schaltete die Ventilatoren ein. »Willa?«, sagte er, dann bekam er einen Hustenanfall. »Bist du hier drin?« Er stieß an ein Paar Beine und ließ sich auf die Knie nieder. Willa trug keinerlei Schutzkleidung. Sie lag reglos da, in ihren Jeans und ihrem Labormantel, in dessen Taschen sie Schlüssel und Kugelschreiber und die kleinen Notizbücher hatte, in die sie ständig etwas eintrug. Er packte sie an den Armen und zog sie zur Tür. Ihr Gesicht war so bleich, dass er sich bückte und ihr den Puls fühlte. Sie war nicht bei Bewusstsein. Sie atmete kaum noch. Ihre Augen waren geschlossen. Ihre Lippen waren blau verfärbt. »Atme«, sagte er, hielt ihr die Nase zu, zog ihren Kopf nach hinten und beatmete sie einmal. Keine Reaktion. »Hey.« Er tätschelte ihre Wangen. »Willa?« Panik. Entsetzen. Wir haben uns gerade erst verliebt, und du willst mich schon verlassen? »Willa!« Seine Stimme hallte von den gefliesten Wänden wider, während der weiße Nebel weiter durch die Tür entwich. Er beugte sich über sie und beatmete sie noch einmal. Sie hustete. Spuckte. Setzte sich auf. »Charlie?« Er lachte fast vor Erleichterung. »Bist du okay?« »Nein, ich bin … Ja.« Sie wirkte benommen. Er drehte sich zu dem Wachmann um. »Rufen Sie den Notarzt!« Der Wachmann hantierte mit seinem Sprechfunkgerät.
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»Meine Sauerstoffmaske hat nicht funktioniert«, sagte sie, »und ich hab keine Luft mehr bekommen. Ich wollte hinaus, aber die Tür hat geklemmt.« Erschüttert und wütend nahm er sie in die Arme. »Ich muss Rick finden. Weißt du, wo er ist?« Sie schüttelte den Kopf, fiel ihm dann um den Hals und drückte ihn an sich. Offenbar verstand sie, was seine Frage zu bedeuten hatte, war aber noch nicht bereit, der Wahrheit ins Auge zu sehen. »Er hat die Schlüssel von dem DopplerTransporter mitgenommen«, sagte sie. »Vom Doppler-Transporter?« Er wandte sich an den Wachmann. »Wissen Sie, ob der Doppler-Transporter auf dem Parkplatz steht?« Eine senkrechte Falte erschien auf der Stirn des Wachmanns. »Es hat sich keiner eingetragen, aber mir ist aufgefallen, dass er nicht da war.« »Wann war das?« »Ungefähr vor einer Viertelstunde. Das kommt schon mal vor, dass sich einer den Transporter ausborgt, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen. Aber bisher haben sie ihn immer wiedergebracht.« Er zögerte. »Ich hab’s in mein Protokoll eingetragen«, verteidigte er sich. In diesem Moment kam ein durchdringender Schrei aus dem Korridor. »Charlie?« Es war sein Vater. »Bin gleich wieder da«, sagte er zu Willa. »Ja, geh nur.« Sie lächelte ihm tapfer zu. »Kümmer dich nicht um mich.« »Bleiben Sie bei ihr«, sagte er zu dem Wachmann. Dann kletterte er die Leiter hinunter und lief in den Hauptgang zurück. »Pop?« »Hier unten.«
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Hinter der nächsten Ecke stand sein Vater vor einer offenen Tür, durch die helles Licht auf den Korridor fiel. Auf dem Bronzeschild stand »Aufpralltestanlage«. Isaacs Augen waren schreckgeweitet. »Es war offen.« »Bleib hier.« Den Revolver im Anschlag, näherte sich Charlie mit äußerster Vorsicht der Tür wie einem Nest von Klapperschlangen. Er atmete durch den Mund, machte einen Schritt in den Raum hinein und schwenkte seine Waffe im Kreis. »Polizei!« Aber es war niemand in der Aufpralltestanlage. Eine lange orangefarbene Röhre auf zwei Metallstützen nahm die Mitte des schmalen, rechteckigen Raums ein. Charlie spürte, dass ihm das Herz bis zum Hals schlug, während er auf das lange, schmale Fenster am hinteren Ende des Raumes zuging. Durch die beschlagene Scheibe sah er einen großen Wassertank in einem kleinen Raum, sonst nichts. Er ließ die Waffe sinken. »Die Luft ist rein«, sagte er, und sein Vater betrat vorsichtig den Raum. In diesem Augenblick nahm Charlie etwas aus dem Augenwinkel wahr – etwas hell Blinkendes. Am anderen Ende des Raumes hing in der Mitte einer Sperrholzplatte ein Gegenstand, den er sofort wiedererkannte. Sophies silbernes Medaillon war der einzige Schmuck, den sie nie ablegte. Die Kette hing an einem Nagel und klirrte leise im Luftzug. Der Schweiß brach ihm aus. »Um Gottes willen …« Sein Vater trat dicht vor die Platte. »Nein!« Isaac drehte sich um und sah ihn fragend an. Ein kurzes Zischen, und die Pressluftkanone ging los. Ein zweieinhalb Meter langer hölzerner Bolzen schoss aus dem Lauf und traf seinen Vater genau in der Körpermitte. Ein leiser
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Klagelaut kam aus Isaacs Mund, während der Bolzen ihn durchbohrte und ihn rückwärts gegen die Wand schleuderte. Charlie brach in die Knie. Sein Herz raste. Er bekam keine Luft. Wie aus einem dunklen Tunnel hörte er ferne Schreie: »Oh, mein Gott … Oh, mein Gott.« Dann wurde ihm klar, dass die Schreie von ihm selbst kamen. Er blinzelte die blendend roten Flecke weg, die ihm vor den Augen schwammen, und schaute an sich hinunter. Seine Uniform war von oben bis unten mit Blut bespritzt. Er rappelte sich mühsam auf und ging ans andere Ende des Raumes, wo sein Vater wie ein Käfer in einer Sammlung aufgespießt war. »Pop?« Er fühlte ihm den Puls. »Pop?« Das fahle Licht ließ allzu viel erkennen. Das Projektil hatte Isaacs Brusthöhle aufgerissen, sein Herz war sichtbar, es pulsierte schwach in der Eintrittswunde, daneben war ein zusammengefallener Lungenflügel. Überall war Blut, es bildete schon Lachen um seine Füße. »Pop?« Charlie starrte seinem Vater ins Gesicht. Seine Lippen waren so grau wie Pfeifenrauch. Isaac wollte noch etwas sagen, dann war es aus. Charlie versuchte, den Bolzen aus der Wand zu ziehen, aber das Ding rührte sich keinen Millimeter. Er legte einen Arm um seinen Vater und übte Druck auf die Wunde aus, aber alles gab nach. Das zerfetzte Herz hatte aufgehört zu schlagen. Er hätte die gebrochenen Rippen zählen können. »Pop?« Die Pupillen des alten Mannes waren verschieden groß, und es zeigte sich keine Reaktion, als Charlie die Linse des einen Auges vorsichtig mit der Fingerspitze berührte. Starr und erweitert. Er strich seinem Vater mit zitternden Fingern ein paar Haarsträhnen aus dem erstarrten Gesicht, dann hörte er eine Stimme in seinem Kopf. Die Stimme seines Vaters. Kümmer dich nicht um mich. Rette unsere Kleine. 355
5 Laufschritte auf Asphalt. Mit rasendem Herzen und hämmernden Beinen sprintete Charlie über den Parkplatz und riss die Tür des Pick-ups auf. So kann es nicht enden, dachte er grimmig und stieg ein. Er ließ den Motor an, legte den Gang ein und fuhr mit quietschenden Reifen los. Dabei redete er sich selbst zu, Ruhe zu bewahren. Lass dich nicht unterkriegen. Atme tief durch. Sei ein Mann. Sein Vater, wie er im Krankenhaus mit ihm sprach, ihm die Hand hielt. Es regnete immer noch. Er schaltete sein Handy ein und wählte das Polizeirevier. »Mike?« »Was gibt’s, Chief?« »Nichts Gutes.« Er spürte, wie seine Lippen bei jedem Wort zitterten. »Mein Vater ist tot.« »Was?« »Rick Kripner hat den Auslöser einer Pressluftkanone mit einem Stolperdraht verbunden. Er hat Sophies Medaillon als Köder benutzt. Das Medaillon hat sie nie abgelegt.« Bei diesem unaussprechlichen Gedanken schnürte sich ihm die Kehle zusammen. »Ich weiß nicht, was er mit ihr gemacht hat, aber ich kann nicht glauben, dass er ihr was angetan hat. Er kennt sie. Warum sollte er ihr wehtun?« »Charlie, beruhige dich.« »Ich fahr diesem Sturm hinterher, Richtung Aberdeen …« »Moment mal, Boss. Was ist passiert? Was ist schief gegangen?« »Rick war im Institut. Wir haben ihn nur knapp verpasst. Er hat den Sierra stehen lassen und den Doppler-Transporter genommen. Er hat Willa Bellman in der Anlage eingesperrt und irgendeinen Hahn aufgedreht. Sie wär beinahe gestorben. Mein 356
Vater ist tot. Sophie hab ich nicht gefunden. Ich nehme an, er hat sie mitgenommen. Ich hab so eine Ahnung … Mein Gott, ich hab gewusst, dass er seine Vorgehensweise ändert, aber wer denkt denn an so was.« Die Angst umschloss ihn wie ein Netz. »Sie darf nicht tot sein.« »Beruhig dich, Charlie.« »Ich tippe darauf, dass er erst einen Tornado finden will, bevor er … noch einen Mord begeht.« »Wir stehen hinter dir. Mit all unseren Ressourcen.« »Es gibt eine Tornadowarnung für die Gegend um Aberdeen. Wahrscheinlich ist er inzwischen schon auf halbem Weg dorthin. Ich hab vielleicht vierzig Minuten, um ihn einzuholen … Ich muss mich wirklich ranhalten, Mike … Die verlorene Zeit aufholen. Sag bei der örtlichen Polizei Bescheid, dass ich unterwegs bin.« Die Erschöpfung machte sich bemerkbar. Er fühlte sich vollkommen schwerelos. »Ich nehme an, er ist dem Tornado auf der Spur. Gib eine Suchmeldung raus nach einem braunen Doppler-Transporter mit der Aufschrift ›Environmental Sciences Lab‹. Und schick ein paar Hubschrauber hin. Weise alle darauf hin, dass höchste Gefahr besteht. Sag ihnen, dass er eine Geisel hat. Sie ist sechzehn, eins fünfundsiebzig, braunes Haar, blaue Augen … Mein Gott, Mike. Hast du alles?« »Ja, alles notiert, Boss.« »Und ich kann dich ständig erreichen?« »Ich bleib hier sitzen. Wir telefonieren wie die Weltmeister. Wir finden diesen Verrückten, keine Sorge.« »Aber sag allen, sie sollen vorsichtig sein. Es geht um meine Tochter.« »Keine Sorge.« Er legte auf und schaute zum Himmel. Superzelle. Du musst eine Superzelle finden. Er musste so schnell wie möglich nach Aberdeen. Sobald er in East Texas war, würde er nach einer 357
dieser rotierenden Wolken Ausschau halten, die einem Atompilz ähnelten. Ein Schweißtropfen lief ihm die Stirn hinab, als er durch die regennasse Windschutzscheibe zum Himmel schaute. Sein Blick wanderte zu einer fernen Cumuluswolke, deren Unterseite wie malvenfarbige Wolle aussah. Er zog sich die Straßenkarte auf den Schoß. Zittrig. Nervös. Vergiss es. Vergiss die Karte. Er schob die Karte wieder auf den Beifahrersitz, während in seinem Kopf die Sekunden tickten. Seine Zähne klapperten, und er konnte nichts dagegen tun. Die Welt war riesig und verschwommen und außer Reichweite. In der Ferne, hinter der gezackten Zaunlinie der Hügel, sah er einen Wagen, der sich langsam über eine Landstraße bewegte. Sophie konnte nicht tot sein. Er war überzeugt, dass sie noch am Leben war, irgendwo da draußen jenseits der Luzernefelder und Rinderweiden. Wenn es dunkel wurde und dann ein geliebter Mensch ganz allein dort draußen war … Das machte einen fertig. Keine Verluste mehr. Kein Kummer mehr. Ihm wurde übel vom Geruch seiner eigenen Angst. Er nahm sein Handy und wählte mit fliegenden Fingern noch einmal Ricks Nummer. Ohne damit zu rechnen, dass er abnehmen würde. »Hallo?« Eine tonlose Stimme. Charlie betrachtete im Rückspiegel sein schweißnasses Gesicht mit dem fragenden Lächeln. In seinem Blick lag Entsetzen. »Rick?« Nach einem kurzen, misstrauischen Schweigen sagte er: »Ja?« »Hier ist Charlie Grover.« Ein ersticktes Lachen. »Oh … hallo.« Sein Herz klopfte wie wahnsinnig. »Könnte ich bitte Sophie sprechen?« 358
Kurze Pause. »Na ja«, sagte Rick schließlich, »ich hab mir gestern Abend eine dieser Wolken angesehen und konnte einfach nicht widerstehen.« Charlie überlegte. Ricks ausweichende Antwort bedeutete, dass Sophie noch lebte – und dass sie mithörte. Sonst hätte er sich die Mühe sparen können. »Lassen Sie mich mit ihr sprechen.« »Nein, ich glaube nicht.« »Geht es ihr gut?« »Aber natürlich.« Rick war raffiniert. Er hatte bis jetzt Charlies Namen nicht ausgesprochen, und das bedeutete, dass Sophie zuhörte. So konnte sie nicht wissen, dass ihr Vater am anderen Ende war. Daraus konnte er zweierlei folgern: Erstens: seine Tochter ahnte nicht, in welcher Gefahr sie schwebte. Zweitens: Sie war nicht gefesselt und geknebelt. Hätte Rick sie geknebelt, hätte er sich nicht die Mühe gemacht, vor ihr zu verheimlichen, dass er mit ihrem Vater sprach. Charlie war, wenn auch vor langer Zeit und nur kurz, in Verhandlungen mit Geiselnehmern ausgebildet worden. Der Mensch, mit dem er es jetzt zu tun hatte, war ein Psychopath, der ausschließlich seine eigenen Interessen verfolgte. Seine Beziehungen zu anderen waren manipulativ und auf die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse ausgerichtet. Er musste immer bekommen, was er wollte und wann er es wollte. Er gab anderen die Schuld an seinem Verhalten und hatte keine Skrupel oder Schuldgefühle wie die meisten. Er konnte extrem kühl und berechnend sein. Pass auf. Am Ende fragt er dich aus. Durch Strafandrohung konnte man sein indiskutables Verhalten nicht ändern. Die Lösung musste so sein, dass er sein Gesicht wahren konnte, sonst würde es zu einer Schießerei kommen. Taktische Lösungen waren die besten. Ruhe bewahren. Geduld haben.
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»Was machen Sie denn für Sachen?«, fragte Charlie in sachlichem Tonfall. »Ich dachte, wir sind Freunde.« »Ja, sicher. Gute Freunde.« Gib ihm Gelegenheit, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. »Was soll denn das? Hab ich Sie irgendwie gekränkt?« »Ach, wissen Sie. Kommen Sie mir jetzt nicht philosophisch.« »Ich möchte wissen, wo Sie der Schuh drückt. Sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann, Rick.« »Sie können nichts tun.« Überzeuge ihn, dass es zu seinem eigenen Besten ist, die Geisel unversehrt freizulassen. Versuch nicht, ihn zu übertölpeln. Er reagiert auf Respektspersonen; die Einschaltung eines Unterhändlers, der nicht zur Polizei gehört, könnte alles noch schlimmer machen. Halt ihn auf Trab. Biete ihm eine Gegenleistung für ein Zugeständnis seinerseits an. »Wenn Sie sie gehen lassen«, sagte Charlie, »ziehe ich mich von dem Fall zurück. Ich verfolge ihn dann nicht weiter.« Wieder das erstickte Lachen. »Ich verfolge Sie nicht. Sie können gehen, wohin Sie wollen. Aber lassen Sie meine Tochter frei. Bitte. Ich bitte Sie.« »Ja, also das … klingt ja einigermaßen glaubwürdig.« Charlies Hände krampften sich um das Lenkrad, während er an einer Tankstelle vorbeifuhr und der Regen herabströmte und die Tropfen von der Haube des Pick-ups wegspritzten. Er sah sich wieder im Rückspiegel, hielt aber seinem verzweifelten Blick nicht stand. »Bitte … hören Sie. Lassen Sie uns verhandeln.« »Kommt nicht in Frage.« Er packte das Lenkrad fester und hatte das Gefühl, dass er sich auflöste. Lass dir nicht anmerken, dass du gereizt bist. Unterbrich ihn nicht. »Ich weiß, wohin Sie wollen«, sagte er. »Ich bin hinter Ihnen.« 360
»Oh, das möchte ich doch sehr bezweifeln.« »Ich bin dicht hinter Ihnen.« »Mhm.« Keine Reizwörter verwenden … »Sie perverses Schwein. Ich sitze Ihnen im Genick. Sie werden gleich mein Gesicht im Rückspiegel sehen, Sie geisteskranker Mistkerl. Es ist der graue Loadmaster-Pick-up, nur damit Sie’s wissen.« »Was, diese uralte Klapperkiste? Diese inkontinente Schrottkarre? Damit würden Sie sogar in der Dritten Welt nur Hohn und Spott ernten.« Nicht wütend werden … nicht zu streiten anfangen. »Ich hol Sie ein und reiße Ihnen eigenhändig das Herz aus dem Leib, Sie jämmerliches kleines, widerliches Arschloch.« »Na schön, wenn Sie meinen.« Nicht den Knüppel rausholen, nicht in die Defensive drängen lassen. »Ich bin Ihnen auf den Fersen, Sie gehirnamputiertes Monster … Sie degenerierte Missgeburt … Ich bring Sie um, verlassen Sie sich drauf.« »Hören Sie zu«, sagte Rick kühl. »Weil Sie so ein netter Kerl sind, sag ich Ihnen, was ich mache. Ich verrate Ihnen ein Berufsgeheimnis. Verlassen Sie sich nicht auf die Vorhersagemodelle. Nutzen Sie sie selektiv. Sie sind schon so manchem zum Verhängnis geworden. Ich meine, sicher … Sie können einen Blick drauf werfen und halbwegs eine Vorstellung bekommen. Beispielsweise heute. Heute geht allen einer ab, wenn sie Aberdeen hören. Überzeugen Sie sich selbst. Stellen Sie fest, ob die Vorhersagen der letzten zwölf Stunden Ihrer momentanen Analyse entsprechen, aber ich rate Ihnen, urteilen Sie aus dem Bauch heraus. Da kommt das Schicksal ins Spiel.«
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Charlie drückte mit den Fingern auf seine Augenlider und blinzelte die Tränen weg. »Moment mal.« »Viel Glück.« Es rauschte nur noch im Hörer. »Hallo! Mieses Schwein!!!« Charlie warf das Handy weg und griff nach den alten analogen Knöpfen des CB-Funkgeräts; aus dem Lautsprecher kam eine Kakophonie unzähliger durcheinander redender Stimmen. Er nahm das Mikrofon aus der Halterung und sagte so normal wie möglich: »Kann ich mal was sagen? Wie sieht’s in Texas aus? Und in Aberdeen? Weiß jemand, wie der neueste Stand ist?« Aus den atmosphärischen Störungen drangen Fetzen einzelner Berichte an sein Ohr: »… wir sind auf dem Boulevard, Fahrer, also gehen wir’s an … passt auf, was hinter euch ist, es hagelt Tennisbälle … geht vom Gas, nach dem nächsten Rastplatz trefft ihr auf einen Haufen Boy Scouts …« Charlie suchte den dunkelnden Himmel ab, dann schlug er so lange mit der Faust aufs Lenkrad, bis sie ihm wehtat. Er sackte über dem Lenkrad zusammen. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen, die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sein geschundener Körper rebellierte. Die Zeit verrann wie Regen auf einer Windschutzscheibe. Erschöpft und durch und durch verwirrt dachte er an den braunen Doppler-Transporter und sah einen Moment lang Rick Kripner hinter dem Lenkrad. Im Geist sah er sich schon auf gleicher Höhe mit dem Transporter fahren, mit dem Revolver auf Ricks Kopf zielen und abdrücken … ihm das Gehirn wegpusten. Du musst sie finden. Halt den Mund und such sie. Die Stimme seines Vaters. Neue Wut fuhr ihm in die Glieder. Er drückte auf die Hupe und raste auf das gelbe Licht zu. Der Fahrer eines blauen
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Pontiacs hinter ihm machte eine Vollbremsung, während Charlie mit hoher Geschwindigkeit die rote Ampel überfuhr.
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6 Sophie tastete nach der Stelle über dem Brustbein, wo sonst immer ihr Medaillon hing. Rick hatte sie im Wagen warten lassen und versprochen, die Kette zu reparieren; doch als er aus dem Gebäude kam, hatte er die Kette nicht dabei. »Wir holen sie auf dem Rückweg«, hatte er gesagt. Das war vor zwanzig Minuten gewesen. Jetzt waren sie in westlicher Richtung auf der 1-40 unterwegs, und Rick faselte in einer Tour von Tornados – bla, bla, bla –, während sie nur an ihre Kette denken konnte. Sie hätte sie ihm gar nicht geben dürfen. »Was?«, sagte sie zerstreut. »Katastrophal.« Er wischte mit dem Daumen einen Fleck von der Windschutzscheibe. »Kataklysmisch.« »Du hast eine Vorliebe für diese ›Kata‹-Wörter.« Er lachte. »Du musst doch zugeben«, sagte sie, während ein Donner über der Ebene verhallte, »dass Sturmjagen ein ziemlich abartiges Hobby ist.« Er warf ihr einen Blick zu. »In meinem Buch sind das alles Helden.« »Du hast ein Buch?« »Ja. Ich habe ein Buch. Und ein Motto. Cogito, ergo zoom.« »›Ich denke, also jage ich.‹ Siehst du, ich bin kein Spielverderber. Neulich hätte es mich bei der Jagd auf einen F-2 fast erwischt.« »Ich weiß. Du hast es mir erzählt. Und es hätte dich vor allem deshalb beinahe erwischt, weil dein Freund Boone Pritchett keine Ahnung hat. Hast du Hunger?« »Nein, danke.« 364
»Im Handschuhfach ist ein Schokoriegel. Bedien dich«, sagte er. »Nein, danke.« »Nimm schon. Nur keine falsche Bescheidenheit.« Sie machte das Handschuhfach auf und tastete nach dem Schokoriegel, aber mehr aus Höflichkeit. So hungrig war sie eigentlich gar nicht, aber sie riss trotzdem die Verpackung auf und biss einmal ab. »Es wird langsam spät«, sagte sie. »Meinst du nicht auch?« »Nö. Das ist die beste Tageszeit. Außerdem haben wir phantastische Voraussetzungen. Eine solche Gelegenheit wollen wir doch nicht verpassen, oder?« Sie zuckte die Achseln. »Na ja, nein.« »Nur zu. Iss auf. Du musst bei Kräften bleiben.« Sie biss noch einmal ab, aber allmählich kamen ihr ernste Zweifel an der ganzen Sache. Reue packte sie. Rick hatte sie mehr oder weniger überredet. Er hatte versprochen, ihren Vater anzurufen, und sogar den Zettel selbst geschrieben. »Ich weiß nicht«, sagte sie. Sie dachte an ihren Vater, wie er sich ärgern würde. »Vielleicht sollten wir die Sache abblasen.« »Soll das ein Witz sein? Wir haben nicht mehr allzu viel Zeit bis Sonnenuntergang, und auch dann – au weia. Schau nicht hin, aber da will uns ein Sattelzug platt machen.« Im Außenspiegel sah sie einen kobaltblauen Mack-Truck, der zusehends aufholte. »Der kann von Glück reden, dass ich so ein netter Kerl bin«, sagte Rick und ging leicht vom Gas. »Wenn ich so einen dicken Brummer von hinten kommen sehe, fahre ich fünf bis zehn Meilen langsamer und lasse ihn vorbei. Man will ja so was nicht ständig an der Stoßstange hängen haben.« Der Truck überholte laut hupend.
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»Ich hab dich schon gesehen, du Neandertaler!« Er legte einen Schalter um, und der 15-Zoll-LCD-Bildschirm über dem Beifahrersitz wurde hell. Ein Radar-Loop blinkte überwiegend rot. »Wow. Schau dir diese dicken Brocken in East Texas an«, sagte er. »Wir müssen nach Norden.« »Nach Norden?« Sie sah ihn verwirrt an. »Ich dachte, wir fahren nach Aberdeen.« »Nein, Texas ist Pipifax. Wir nehmen eine andere Route ins Paradies.« Sie legte sich den angebissenen Schokoriegel in den Schoß. Sie hatte keinen Appetit mehr. »Siehst du diese beiden Stürme?« Er zeigte auf den Bildschirm. »Und den anderen da weiter nördlich? Das ist ein richtiges Mutterschiff. Wenn der nach oben durchbricht, dann ist was los. Wenn mich nicht alles täuscht, können wir schon bald mit diesem Baby spielen.« »Aber ist denn normalerweise nicht Schluss, wenn die Sonne untergegangen ist?« »Hast du Schiss?« Sie schüttelte den Kopf. Ihr war auf einmal schwindlig. Sie schaute auf den Schokoriegel hinunter. Ihr Kopf war wie betäubt. »Ich hab gedacht, du wolltest unbedingt, dass dir ein Spezialist mal einen Tornado aus der Nähe zeigt«, sagte er. »Ja, ich wollte, ich meine, ich will.« Ihre Gesichtsmuskeln verkrampften sich. »Ich glaub schon.« »Du glaubst?« Er machte Schlitzaugen. »Hast du nicht gerade gesagt, dass du kein Spielverderber bist?« »Schon, aber …« »Aber was?« Er sah sie von der Seite an. »Du wirst mir doch nicht schlapp machen, Sophie?« »Nein …« 366
»Du hast mich angebettelt, ich soll dich mal auf die Sturmjagd mitnehmen, schon vergessen?« »Nein, aber …« »Aber was? Was soll der ewige Aber-Scheiß?« Er sah sie herausfordernd an. »Verdirb mir nicht die Laune. Wenn ich erst mal so eine richtige Stinklaune hab …« Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. Ihr war immer noch schwindlig. Irgendetwas stimmte nicht. Es war eiskalt in dem Auto, weil er die Klimaanlage so hoch eingestellt hatte. Sie fuhren an einer verlassenen Tankstelle vorbei, deren Schild im Wind hin und her schwang. Sie hatte keine Ahnung mehr, wo sie waren. Der Regen klopfte wie mit Klauen auf das Wagendach. Er schaute sie an, und seine Knöchel traten hervor. »Tut mir Leid«, sagte er. »Ich wollte dir keine Angst machen.« »Nein, nein«, sagte sie. »Schon okay.« Er hatte rosa Flecken auf den Wangen. »Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen?« Sie schloss für einen Moment die Augen. Sie hatte keine Lust auf Geheimnisse. »Weißt du noch, wie mein Vater gestorben ist?« »Ja«, sagte sie. Der Tornado, der Weizen, die Scheune. Er grinste sie an, bis auch sie lächeln musste. »Was ist?« »Ich hab gelogen.« »Wieso?« »Er ist wirklich in einem Tornado umgekommen, aber es war anders.« Sie wurde schläfrig. Das Brummen des Motors lullte sie ein, und der Regen färbte die Luft bläulich. »Ich versteh nicht«, hörte sie sich sagen. 367
Sein Gesicht verriet sowohl Unbehagen als auch Erregung. »Ich will mal so sagen.« Er sah sie durch die Wimpern hindurch an. »Mein Vater war ein Dieb.« »Was?« Ihr Interesse erwachte. »Er war Einbrecher.« »Echt?« »Er hat in Orten, für die akute Tornadowarnung bestand, Häuser ausgeraubt. Aber bevor du mich verurteilst … Würdest du nicht auch lügen, wenn dein Vater ein Einbrecher wäre und kein Polizist?« Verwirrt holte sie Luft. Sie verstand wirklich nicht, worauf dieses Gespräch hinauslaufen sollte. Sie klemmte die Hände zwischen ihre Knie. »Aber egal, wie er gestorben ist«, sagte er. »Tatsache bleibt, es ist ihm recht geschehen.« Sophie sah ihn unter ihren immer schwerer werdenden Lidern hervor an. »Wie kannst du so was sagen?« »Meinst du nicht, dass manche Menschen so schlecht sind, dass sie den Tod verdient haben?« Es wurde so still, dass es sie schauderte. Sie sah wie gebannt auf den Horizont. Ob sie wollte oder nicht, die brodelnden, durchhängenden Wolken hypnotisierten sie förmlich. Sie hörte nur das Trommeln des Regens auf dem Dach und das Geräusch der Scheibenwischer. In ihm war irgendeine Veränderung vorgegangen. Sie hatte das vage Gefühl, dass ihr Gefahr drohte, aber sie hatte nur noch den einen Wunsch, die Augen zu schließen, zu schlafen und sich später Sorgen darüber zu machen. Rick sprach zögernd. »Du hättest mich damals sehen sollen. Ich war der netteste Junge in unserem Viertel. Der Pfadfinder von nebenan. Aber dann hab ich mit der Zeit einen Hass auf die ganze Welt bekommen, verstehst du?« 368
Sie zog sich ganz still in sich selbst zurück, hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht. Ihr Blick schwenkte auf die Straße. Sie hatten die 1-40 verlassen und rasten durch die wilde Prärie, vorbei an verlassenen Häusern, an zusammengebrochenen Zäunen und verrosteten Wracks von Pick-ups. Der Regen trommelte gleichmäßig aufs Dach, und ringsherum krachte der Donner wie Meeresbrandung. »Ich war nicht immer so«, fuhr er fort. »Ich war weich und offen, wie du. Na ja, vielleicht nicht ganz so wie du. Du gehörst dazu, stimmt’s?« Sie antwortete nicht. »Ich hab nie dazugehört. Ach, ich kann schon so tun als ob. Ich kann mich ganz gut verstellen. Aber es ist, wie wenn man von draußen in sein eigenes Leben reinschaut.« Er musterte sie, als müsste er überlegen, ob er weitersprechen sollte oder nicht. Er streckte die Hand aus. »Siehst du das?« Sie erinnerte sich: Ein Finger war an der Spitze verkrümmt, von herumfliegenden Trümmern verkrüppelt. »Das hat er mir angetan.« Er schob den Ärmel seines Flanellhemdes hoch, um ihr mehrere Narben von der Größe kleiner Geldstücke auf seinem Arm zu zeigen. »Er hat mich immer mit seinen Zigaretten verbrannt, wenn ich etwas angestellt hatte. Er war schon sehr früh zu dem Schluss gekommen, dass ich unverbesserlich war. Ich musste ihn jedes Mal um Erlaubnis fragen, wenn ich aufs Klo musste. Wenn ich es einmal vergessen habe, hat er mich mit der Zigarette verbrannt.« Ihre Hände in ihrem Schoß kamen ihr so klein vor wie Katzenpfoten. »Aber das ist noch gar nichts gegen das, was passierte, wenn ich wirklich einmal Mist gebaut habe.« Er schaute sie an. »Als ich so alt war wie du, hatte ich keinen einzigen Zahn mehr im Mund.« 369
»Was?« Sie setzte sich erschrocken auf. »Ein Zahn für jede Missetat.« Er klapperte mit den Zähnen. »Irgendein dummer Fehler. Irgendeine Unfolgsamkeit, und er hat mir wieder einen Zahn gezogen.« Sie starrte auf seinen Mund, und es stimmte – seine Zähne wirkten nicht ganz echt. Sie waren zu vollkommen. Zu weiß. »Meine ganze Kindheit und Jugend über hab ich in den Spiegel geschaut und gedacht, ich bin tot«, sagte er. »Ich war klein für mein Alter und o-beinig. Ich wurde viel gehänselt. Ich hab auch im Sommer langärmelige Hemden getragen, damit die anderen Kinder meine Narben nicht sehen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals glücklich gewesen zu sein.« Er starrte sie an. »Aber so, wie ich mich entwickelt habe … wie ich heute bin … also, ich würde mit niemandem auf der Welt tauschen wollen.« Sie hörte ihr eigenes Herz in ihren Ohren pochen. »Auf dem Dachboden war ein Stuhl, ein ganz besonderer Stuhl, der für mich reserviert war.« Der Motor des Transporters brummte hypnotisch. »Er hat mich auf dem gottverfluchten Stuhl festgeschnallt und mich allein gelassen. Er hat mich warten lassen, mit meinen schrecklichen Ängsten. Ich hab da mutterseelenallein gesessen und gewartet, halb wahnsinnig vor Angst, und mir das Schlimmste ausgemalt. Der Stuhl hat zum Fenster hin gestanden, und ich hab zugesehen, wie draußen der Wind über das Weizenfeld streicht. Ich hab gedacht, das ist der liebe Gott, der mir mit seinem Finger Nachrichten schreibt.« Er lachte. »Ich hab gedacht, er will mir etwas sagen.« Sie zupfte zerstreut an den großen Knöpfen der Matrosenjacke und versuchte, ihn auszublenden. Ich will nach Hause, ich will nach Hause … »Bis zum heutigen Tag halte ich es nicht aus, eingesperrt zu sein. Ich könnte nie in ein Flugzeug steigen. Und ich lehne es entschieden ab, einen Sicherheitsgurt zu benutzen.« 370
Sie sah, dass er nicht angeschnallt war. »Ich hab auf dem Stuhl gesessen und zugesehen, wie sich neue Zellen am Horizont gebildet haben … und Ambosse … und Regenschwaden, die über die Ebene gezogen sind …« Ihr Haar fiel vornüber und verbarg ihr Gesicht. »Ich hab dagesessen und gewartet, dass er kommt und furchtbare Sachen mit mir macht. Die Treppe herauf«, sagte er. »Er ist die Treppe heraufgekommen und hat sich blindwütig auf mich gestürzt. Wenn ich geschrien hab, ist er noch brutaler geworden … hat mir Whiskey übers Gesicht und in den Hals geschüttet … die Zange gepackt. Ich hab die ganze Zeit geschrien. Mit der Zeit lernt man, sich emotional zu verschließen. Man starrt aus dem Fenster, fängt an, Sachen zu sehen.« Seine Stimme wurde leise. »Ich erinnere mich noch an meinen ersten Tornado. Es hat nur rrrr, rrrr, rrrrr gemacht. Ein winziger F-1, nicht dicker als ein Seil, aber für mich war er ein richtiges Monster. Ich war auf den Stuhl geschnallt, hilflos, als mir auf einmal klar wurde … Ich wollte dieses … dieses atemberaubende Ding sein …, wollte durch den Weizen fahren und auf das Haus zurasen und alles umbringen, was mir im Weg steht, einschließlich meines Vaters. Wir haben zugesehen, wie die ganze Weizenernte vernichtet wurde. Dad hat angefangen zu weinen, und ich hab gesagt: ›Mach dir keine Sorgen, Daddy, das kriegen wir schon wieder hin.‹ Aber insgeheim hab ich gedacht, dass ich den Weizen vernichtet hatte. Ich. Ich hatte diesen gequälten Ausdruck auf sein Gesicht gebracht. Und das war ein verdammt gutes Gefühl.« Langes Schweigen. Er wandte sich ihr zu. »Bist du böse auf mich?« »Warum?«, fragte sie mit verschleierten Augen. »Sollte ich?« »Ich weiß nicht. Du wirkst so abwesend.« 371
Sie fühlte sich immer kleiner und kleiner werden. »Nein, ich bin dir nicht böse.« »Hab ich dir Angst gemacht?« Sie zögerte, wusste nicht, wie sie antworten sollte. »Ich wollte dir keine Furcht einjagen.« Sein Ausdruck veränderte sich. Seine Augen wurden freundlicher. »Ich hatte letzte Nacht einen Traum, Sophie. Von uns beiden.« Sie schaute auf den Türgriff. Starrte ihn an. Sie fuhren sechzig, und im Umkreis von Meilen war nichts, gar nichts. Buchstäblich nichts außer Gras. Ob sie springen sollte? »Sophie?« Sie hüllte sich in Schweigen. »Festhalten«, sagte er, während er beschleunigte. »Das wird die Fahrt deines Lebens.«
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7 Charlie, der auf der 1-40 westwärts fuhr, musste auf Schritttempo abbremsen, weil ein TV-Übertragungswagen mitten auf der Straße stand und den Verkehr aufhielt, während der Kameramann, der einen interessanten Hintergrund für den Reporter brauchte, seine Kamera auf der Überholspur aufbaute. Charlie hupte mehrmals und schlängelte sich dann an den haltenden Fahrzeugen vorbei, wobei er sich immer wieder entschuldigte, und schließlich fuhr er aus schierem Frust neben der Straße und wühlte sich durch ein Feld. Als er wieder Asphalt unter den Rädern hatte, weinte er. Jämmerlich. Die Tränen liefen ihm nur so übers Gesicht. Er hörte Flüsterstimmen. Verlassen Sie sich nicht auf die Vorhersagemodelle. Nutzen Sie sie selektiv. Sie sind schon so manchem zum Verhängnis geworden. Warum hatte Rick das gesagt? Warum hatte er ihm überhaupt einen Rat gegeben? Was hatte er vor? Wollte er ihn irreführen? Spürte er irgendwie, dass Charlie scheitern würde? Dass sein Gefühl ihn auf die falsche Spur bringen würde? Der Panhandle und Aberdeen waren an diesem Abend ein meteorologischer Hexenkessel. Warum sollte er nicht den Hinweisen anderer folgen? Vielleicht war es genau dies, was sein Bauch ihm sagte. Tränen der Frustration liefen ihm übers Gesicht, während die Stimmen ihm nach wie vor ihre widersprüchlichen Ratschläge zuflüsterten. Überzeugen Sie sich selbst. Fahr geradewegs nach Texas, mein Sohn. Hier kommt das Schicksal ins Spiel. Er tippte mit ängstlichen Fingern auf das Lenkrad, versuchte sich zu konzentrieren. Er hatte Spotter-Berichte bis nach Clarendon, Texas, abgehört, wo ein gewaltiges Unwetter F-1er und F-2er ausspuckte, schwächere Tornados, die den Boden berührten, ohne größeren Schaden anzurichten, und sich rasch auflösten. 373
Jeder Sturmjäger irgendwo auf der Welt, so schien es, raste mit irgendeiner neuen Scheißkiste nach East Texas: Explorers, Chrysler New Yorkers, ein großer alter Impala mit einem aufgemalten Road Runner auf der Haube. Und was machte Charlie? Er war unterwegs nach Aberdeen, wie alle anderen auch. Aberdeen, da müssen wir hin, mein Sohn. Ich rate Ihnen, urteilen Sie aus dem Bauch heraus … Fieberhaft ließ er den Blick über die Ausrüstung des Pickups gleiten – ein Laptop, ein Internetanschluss über Satellit und eine tragbare Satellitenschüssel für neunundneunzig Dollar zum Herunterladen von Daten. Sein Vater hatte sich auf die Grundausrüstung beschränkt. Ein normales drahtloses Modem, das nur 9600 bps schaffte – was bedeutete, dass man Pech hatte, wenn man in einem Funkloch oder in einem Gebiet mit starken Störungen war. Ein CB-Funkgerät. Charlie dachte an Willas Rat: CB wird heutzutage nicht mehr so viel verwendet, aber Trucker gibt es überall, und die sind besser als die amtlichen Wetterfrösche, wenn man wissen will, in welchem Zustand die Straße ist und wie’s am Himmel aussieht. Die können deine Augen und Ohren sein. Er bediente mit einer Hand den Laptop und lud einen aktualisierten Bericht vom National Weather Service herunter. Die Satellitenbilder der letzten achtundvierzig Stunden zeigten eine eindrucksvolle Luftmasse, die sich von Westen her Aberdeen näherte. Auf dem Radarbild waren große rote Flecke zu sehen, die sich von Südwesten nach Nordosten bewegten, über ganz East Texas und Teile von Oklahoma hinweg. Er hörte fernes Donnergrollen. Aus dem Bauch heraus urteilen. Sein Bauch taugte nicht als Ratgeber. Er brauchte einen Experten, jemanden, der ihm den Weg aus diesem Alptraum zeigen konnte. Er brauchte Willa. Willa. Hoffentlich ging es ihr gut; sie schien sich einigermaßen erholt zu haben, als er sie 374
verließ. Er tastete nach dem Handy und wählte hastig ihre Nummer, aber es meldete sich niemand. Er legte auf und rief seine Dienststelle an. »Mike? Du musst Willa Bellman für mich auftreiben. Es könnte sein, dass sie auf dem Weg ins Krankenhaus ist … Mike?« Die Verbindung war stark gestört. Er hörte nur Bruchstücke: »… Chief? … mussten die Hubschrauber zurückholen … Wetterlage kritisch …« »Was?« »… die Hubschrauber gestrichen … wir können einfach nicht …« »Ich kann dich nicht verstehen!« Aus dem Telefon kamen nur noch atmosphärische Störungen. »Mike? Die Verbindung wird immer schlechter.« »… die Highway Patrol alarmiert … glaube nicht …« Ein Knackser, und die Verbindung war endgültig weg. »Mist!« Er war in einem Funkloch. Er warf das nutzlos gewordene Telefon weg und suchte den Himmel ab. Wo fuhr er hin? Wo zum Teufel fuhr er hin? Er spähte zur Wolkendecke hinauf. Nichts. Er hatte einfach kein Glück. Er versuchte, die aufsteigende Panik zurückzudrängen, während in Schatten getauchte Erinnerungen an Sophie kamen und gingen wie die zusammengewürfelten Bilder einer Videomontage. Mager, sommersprossig, auf den Fußballen wippend; lachend, weinend, fremdelnd. Sophie in ihrem Xena-Kostüm, bemüht, ominös zu erscheinen. Ihr lustiges kleines Lächeln. Bubblegum, Flip-Flops, Theatergruppe. Sophie im Spotlight, wie sie blass wurde, als sie ihren Text nicht mehr wusste. Sein Herz, das sich nach ihr sehnte. Um sie bangte.
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Im Rückspiegel sah er einen Kühllaster, der sich ihm unaufhaltsam näherte. »Ist denn der wahnsinnig, der klebt mir …« Der Laster riss seinen Außenspiegel ab, ließ fast seine Fenster bersten und vermittelte ihm den Eindruck still zu stehen. Der Wind rüttelte an dem Loadmaster, während der Truck vorbeidonnerte. Als er vorbei war, sah Charlie den Aufkleber »Tausche Bier gegen Sex«. Er schaltete den CB-Funk ein, schnappte sich das Mikro und sagte: »Hey, wo brennt’s denn?« Der rücksichtslose Trucker meldete sich mit einem lakonischen: »Du da hinten, was ist dein Spitzname?« Charlie hatte keinen Spitznamen. »Wer kehrt da hinter mir die Blätter zusammen?« »Kokel-Charlie«, sagte er schließlich. »Wie war das, Popel-Charlie?« »Kokel-Charlie«, wiederholte er aufgebracht. »Verstanden, Kokel-Charlie. Hier ist Reefer. Bin unterwegs nach Shaky Town über Lubbock. Wolfgang Puck will seine Rauke immer frisch gepflückt, weißt du. Pass auf, ein Stück weiter vorn steht eine Blitze, beim Meilenstein eins sechs null.« »Ich brauche Hilfe, ich muss ein Auto ausfindig machen«, sagte Charlie. Er hörte auf das Knistern und Rauschen und schaute hinaus auf das sanft gewellte Land hinter dem hypnotisierenden Schtscht der Scheibenwischer. Beiderseits der Straße wuchs nur Gras, wildes Gras, das sich dem Wind beugte, der bald in schmalen Strähnen, bald auf breiter Front daherkam. Regenschauer prasselten gegen die Windschutzscheibe und erzeugten ein Schallzelt. Er versuchte, mit fester Stimme zu sprechen, als er das Mikro wieder einschaltete: »Ich suche einen
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braunen Doppler-Transporter mit der Aufschrift ›Environmental Sciences‹ an der Seite.« »Hab keine Doppler-Trucks gesehen …« »Nein, ein Transporter … ein brauner Doppler-Transporter … Das ist ein Notfall.« »Tut mir Leid, Kumpel. Ich muss auf die Tube drücken. Kanal 9 ist für Notfälle reserviert.« »Kanal 9?« Das CB-Gerät klickte und verstummte. Charlie sah zu, wie der Kühllaster im Regen verschwand, fuhr dann auf die Standspur und ließ den Motor laufen, während die Wagen der anderen Sturmjäger links an ihm vorbeizischten. Charlie klopfte auf seine Waffe im Holster, und wieder packte ihn die Angst. Wie ein glühender Stein sank sie in seine Eingeweide. Er wollte nicht an Sophie denken. Wenn er an seine Tochter dachte, drehte er womöglich noch vollends durch, und damit wäre keinem geholfen. Er suchte den stahlgrauen Westhimmel ab und ließ seinen Blick dann langsam nordwärts wandern, wo durch die dunkleren Wolken Blitze pulsierten. Nach Nordosten zu sah der Himmel vielversprechender aus, keine Frage. Er konnte sich das nicht erklären. Warum bloß waren heute Abend alle nach Texas unterwegs? Er verstellte den Kanalwähler des CB-Funkgeräts und übermittelte eine Botschaft. »Ich suche nach einem DopplerTransporter.« Er machte knappe, aber detaillierte Angaben. »Hat ihn jemand gesehen? Ich suche nach einem Doppler-Transporter mit der Aufschrift ›Environmental Sciences‹ an der Seite … ein brauner Doppler-Transporter … Das ist ein Notfall.« Ein paar Leute reagierten, aber keiner hatte irgendwo in der Nähe irgendwelche Doppler-Transporter gesehen. Er steckte das Mikro wieder in die Halterung, senkte den Kopf und drückte die Faust an die Stirn. »›Keine Nachrichten sind gute Nachrichten.‹ Den Spruch muss sich ein Idiot ausgedacht 377
haben«, murmelte er. Der Klang seiner eigenen Stimme machte ihn wütend. Er dachte an die mit Trümmern gespickten Leichen, die sie gefunden hatten. Zornröte stieg ihm ins Gesicht. Er würde nicht zulassen, dass Rick sich an seiner Tochter vergriff. Das sagte er sich immer wieder. Er würde nicht zulassen, dass irgendjemand ihr auch nur ein Haar auf ihrem hübschen Kopf krümmte. Sein Gehirn war wie ausgedörrt. Er blinzelte zwanghaft. Die Beine schliefen ihm ein. Die winzigen landwirtschaftlichen Gemeinden im nordwestlichen Oklahoma bestanden meistens nur aus ein paar Häusern und einem Laden für Farmerbedarf und lagen am Schnittpunkt mehrerer Straßen, die durch eintöniges Grasland führten. Er suchte den Horizont ab, meilenweit nichts als Prärie und Telegrafenmasten. Er trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. Im Radio spielten sie die Hymne der Tornadojäger, »Bad Moon Rising«. Urteilen Sie aus dem Bauch heraus. Der bedeckte Himmel wirkte wie mit dem Meißel bearbeitet, der Horizont wurde nach Norden zu, wo die revolverfarbenen Wolken mit Blitzen geädert waren, immer bedrohlicher. Über der hässlichen Wolkenbank lag eine Masse elfenbeinfarbener Gewitterwolken, die in die Höhe schossen wie ein Atompilz. Man braucht dreierlei für einen Tornado, fiel ihm ein: genügend Feuchtigkeit, Dynamik, die für Konvektion sorgt, und Strahlströme, deren Scherwinde die Entstehung einer Rotation begünstigen. Ein Zusammentreffen von Zeitpunkt, Position und Glück. Sein Gefühl im Bauch sagte ihm, dass er nach Nordosten fahren sollte und nicht nach Westen, gegen jeden Rat der Experten. Urteilen Sie aus dem Bauch heraus. Bei dem Gedanken überlief es ihn kalt. Und wenn sein Bauch sich irrte? Folgen Sie der gelben Ziegelstraße. In welcher Richtung? Aus einer bloßen Ahnung heraus löste er die 378
Handbremse, schaute über die Schulter, legte den Rückwärtsgang ein und nahm die nächste Abfahrt von der Interstate. Er fuhr mehrere Meilen nach Osten, dann überkam ihn wieder die Panik. Das ist die falsche Richtung … dreh um. Fahr nach Aberdeen, du Versager. Du darfst sie nicht verlieren. Er schaute auf die Karte, die auf dem Beifahrersitz lag, und fuhr mit dem Finger von seiner derzeitigen Position nach Nordosten. Er wechselte wieder den CB-Kanal, schaltete das Mikro ein und sagte: »Ich möchte was sagen. Ich suche nach einem Doppler-Transporter in der Umgebung von Erick oder Texola …« Urteilen Sie aus dem Bauch heraus. Gehen Sie ein Risiko ein. Ein hellblauer El Camino aus der Gegenrichtung rauschte vorbei. »Hey, Breaker, suchst du einen Tornado?«, sagte der Fahrer. »Ja, alles in der Art.« »Ich hab grad eine Durchsage von meinem Nowcaster gekriegt. Er sagt, das ganze Tamtam um Texas war umsonst, aber irgendwo nördlich von uns braut sich mächtig was zusammen.« »Nördlich?« »Ja, in der Gegend von Sweetwater. Mein Nowcaster sagt, es ist gerade eine Tornadowarnung rausgegangen. Ich mach mich aus dem Staub … Viel Glück!« Charlie ging aufs Gas und hielt die Augen offen nach einer Ausfahrt, die ihn nach Sweetwater bringen würde. Nach ein paar Minuten verdüsterte sich der Himmel. Es wurde so dunkel, dass er eine Taschenlampe brauchte, um die Straßenkarte zu lesen. Mehrere Tornadojäger kamen ihm mit hoher Geschwindigkeit entgegen, fuhren also Richtung Texas. Zweifel nagten an ihm.
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Er ging wieder auf Kanal 9. Die erste Höflichkeitsregel der CB-Funker besagte, dass man zuhören muss, bevor man sendet, aber Charlie beging die Todsünde und platzte wieder mitten hinein. »Hier ist Kokel-Charlie. Ich hab eine dringende Bitte, es ist ein Notfall …« Er nannte wieder sein Anliegen. Hörte undeutlich verschiedene Stimmen. »… Rollschuh, fette Seite nach oben …« Die CB-Funker nutzten Frequenzen, die dicht über dem Boden und in mehr oder weniger gerader Linie vom Sender zum Empfänger übertragen werden. Die maximale Reichweite beträgt fünfundzwanzig bis fünfundsiebzig Meilen, je nach der Beschaffenheit des Geländes und den Antennen des Fahrzeugs. Auf einem bestimmten Kanal kann immer nur einer senden, sonst gibt es ein Chaos. Jetzt löste eine tiefe Stimme die atmosphärischen Störungen ab. »Kokel-Charlie? Hier ist Reserverad. Du suchst einen Doppler-Transporter?« Charlie schaltete das Mikro ein. »Hast du ihn gesehen?« »Ja, vor fünf Minuten … Komm, wir wechseln auf Kanal eins zwei.« In manchen Gegenden wurde Kanal 9 als Rufkanal genutzt. Man musste also unmittelbar nach dem ersten Ruf den Kanal wechseln, damit Kanal 9 wieder frei wurde und Notrufe besser durchkamen. »Wo war das?« Ein Krachen im Lautsprecher ließ ihn zusammenfahren. Viele Stimmen überlagerten sich, und er drehte an den Knöpfen des analogen Geräts. »Hallo? Sagst du’s noch mal, Reserverad? Irgendjemand hat dich rausgeschmissen.« »… in nördlicher Richtung …« »Und wo?« Vor Angst blieben ihm die Worte im Hals stecken. »Ich hab dich nicht verstanden.«
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»In nördlicher Richtung auf der Route 30«, schaltete sich der Trucker ein. »Ich fahr die Route 30 nicht so oft, das ist die reinste Rüttelstrecke. Alle paar Meter ein Schlagloch.« »Route 30?« »Drei Meilen westlich von Sweetwater. Die Wetterfreaks vom Dryden Tech erzählen bloß Scheiße. Heute spielt die Musik in Aberdeen. Dem Kerl muss einer ins Gehirn geschissen haben.« »Tausend Dank.« Charlie hängte das Mikro ein, schaltete hoch und fuhr nach Osten, bis die Route 30 genau im rechten Winkel kreuzte. Dann fuhr er nach Norden … Norden … über Schlaglöcher, die so groß waren, dass man in ihnen hätte angeln können. Wenn er nun doch zu spät kam? Sein Herz krampfte sich zusammen. Allmächtiger Gott, mach, dass es nicht schon zu spät ist.
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8 »Psst.« Rick kniff den Mund zusammen. »Was ist?«, fragte Sophie leise, denn sie hörte nur gläserne Stille. »Hör mal.« Sie starrte ihn voller Unbehagen an. Sie kam sich vor wie in Trance. Sie hatten am Straßenrand gehalten, und die Welt draußen hatte sich methylgrün verfärbt. Sie zog gegen die Kälte ihren Kragen zusammen und hielt den Atem an, aber sie hörte nur den zitternden Wind, das unaufhörliche Trommeln des Regens auf dem Dach und das Quietschen des leise schaukelnden Wagens. »Diese Inversion ist thermonuklear geworden«, sagte Rick. »Ich wette, wir kriegen gleich was auf die Mütze. Sollen wir weiterfahren oder bleiben, wo wir sind, Mädchen?« Sie sah ihn ratlos an. »Riesige Türme. Unglaubliche Dynamik am ganzen Himmel.« Er runzelte die Stirn. »Wir bleiben hier und schauen uns das eine Weile an.« Sie nickte, und im selben Moment wurde der Himmel ganz plötzlich noch schwärzer, ein Schatten fiel über den Wagen, über die Straße, über sie. »Wenn ein Sturm zusammenbricht, sind die Hagelkörner nur so groß wie Murmeln. Also hofft man natürlich auf größere. Je größer der Hagel, desto stärker der Sturm.« Er legte den Kopf schräg. »Horch.« »Auf was?« »Da kommt er.«
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Ein großes Hagelkorn knallte gegen die Windschutzscheibe, und sofort erschien ein silbriges Netz in dem dunklen Glas. Ihr blieb das Herz stehen. Sie drückte die Handflächen auf den Bezugsstoff des Sitzes, hob dann die Hände und strich über die Wolljacke, die vor Elektrizität knisterte. »Können wir jetzt fahren?«, fragte sie, bemüht, nicht allzu verängstigt zu klingen. »Bitte!« Sein Gesicht verhärtete sich seltsam, während er zusah, wie die silbernen Geschosse durch die Lichtkreise der Scheinwerfer flogen. »Fahren wir?« »Noch nicht.« Sie brachte nicht den Mut auf, ihm zu widersprechen. »Das wird ein tolles Schauspiel. Schwere Schloßen. Das darfst du dir doch nicht entgehen lassen.« Der Transporter wackelte, als der Hagel einen Moment lang gegen die rechte Seite des Fahrzeugs trommelte. Sophie griff nach ihrem Medaillon, dann fiel ihr ein, dass es weg war. Tränen schossen ihr in die Augen und tropften auf ihre Wangen, und ihr wurde ganz elend bei dem Gedanken, wie weit weg von zu Hause sie war. »Sehen sie nicht schön aus?«, sagte Rick. »Glatt. Manche auch stachelig. Könnte sein, dass wir tennisballgroße Körner bekommen.« »Bitte tu mir nichts«, flüsterte Sophie. Er sah sie streng an. »Wenn sich das Wetter ändert …« Sein Blick löste sich nicht von ihrem Gesicht, »… dann verliert man die Kontrolle … Man verliert die Kontrolle, und alles wird anders …« Sie spürte, wie ein kleiner Schrei in ihr aufstieg. »Ich verleugne nicht, was aus mir geworden ist.« Er schaute wieder zum Fenster hinaus. »Es baut sich langsam in einem auf. 383
Und dann sagt eine Stimme: ›Dieses Haus‹ oder ›Das Haus da‹. Ich kann es einfach nicht ertragen, das alles da stehen zu sehen. Ich möchte, dass es vom Sturm fortgeweht wird.« Voller Angst vor dem Sturm, vor ihm, rüttelte sie an der Tür und konnte sie nur mit äußerster Kraft gegen die Gewalt des Windes aufstoßen. Sie schrie auf, als ein Hagelschauer über den Wagen ging, ein Trommelfeuer von Eis auf Metall. Peng, peng, peng … Eine noch gewaltigere Salve von Hagelkörnern prasselte gegen die Windschutzscheibe und hinterließ körnige Brüche im Glas. Sie schrie und schrie, während der Hagel ringsherum herabrauschte, einen Höllenlärm auf dem Dach machte, gegen die Türen schlug, die Haube wie mit Hammerschlägen bearbeitete. »Ich will weg.« Sie schauderte. »Bring mich heim.« Er warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Glaubst du wirklich, dass du dort sicherer bist?« Eine bedeutungsvolle Pause trat ein. Sie spürte die Anspannung in ihrem Gesicht, als er näher rückte. Sie stieß ihn weg. »Lass mich!« In animalischer Angst wehrte sie ihn ab. »Lass mich in Ruhe!« Wieder streckte sie die Hand nach dem Türgriff aus, aber er packte sie an den Handgelenken und zog sie an sich – so dicht, dass sie ihn atmen hörte und die gestrichelte weiße Linie seines Mundes sah. Spürte, wie seine Beine sich neben ihr anspannten. »Wenn die Blitze so nahe sind«, zischte er ihr ins Gesicht, »dann muss man im Auto bleiben, das ist doch wohl klar.«
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Sophie schrie. Sie schrie, bis ihr die Lunge brannte, während ringsum der Donner krachte und gezackte Blitze den Himmel Furcht erregend nahe brachten. Sie warf sich hin und her, aber er schlug sie unversehens mit der flachen Hand auf die Luftröhre. Ihre Atmung geriet durcheinander. Sie spürte den Schlag im weichen Gewebe ihres Halses … und zitterte am ganzen Leib … Dann wurde alles schwarz.
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9 Die Straße aus der Hölle, die Route 30, war so gerade wie eine Ameisenstraße. Charlie fuhr über ein besonders großes Schlagloch und schmeckte Blut. »Scheiße!« Wieder kam er durch einen Ort mit einer einzigen Verkehrsampel. Er holperte über die tief gefurchte Straße und fühlte sich ganz krumm und verschwitzt. Ein Aufwind wehte einen Haufen Zweige und Blätter gegen den Wagen, und ein paar vereinzelte Hagelkörner knallten auf das Dach. Im Rückspiegel sah er den Nordrand der gewaltigen Sturmfront – eine riesige Superzelle, die mit schätzungsweise vierzig Knoten nach Nordnordost zog, eine ganze Atmosphäre im schnellen Vorwärtsgang. Böiger Wind drückte das Gras nieder und wirbelte die Vögel durch die Luft. Er rüttelte die Bäume und spie Blätter und Zweige aus wie Melonenkerne. Die Augen brannten Charlie vor Müdigkeit. Die Schutzhülle, die er sich in den vergangenen Stunden so mühevoll aufgebaut hatte, begann zu reißen. Krähen flatterten von den Tintenklecksen überfahrener Tiere auf der Straße auf, und Blitze zuckten zwischen den Wolken hin und her. Die lange, schnurgerade Straße sog ihn weiter, vorbei an Dreckhaufen und Bäumchen, die zu klein waren, als dass man sich hinter ihnen hätte verstecken können. Die Monotonie der Landschaft drang einem ins Blut wie ein langsam wirkendes Gift. Eines Tages wacht man auf und weiß, dass man an keinem anderen Ort mehr leben könnte. »Komm schon, komm schon …« Er schaltete herunter, und der Pick-up quälte sich eine leichte Steigung hinauf. Er versuchte sich nicht vorzustellen, was Sophie gerade durchmachte – so klein, so hilflos –, und klammerte sich an
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einen letzten Hoffnungsschimmer. Sie hatte Mumm, sie würde sich wehren. Jetzt sah er vor sich auf der Straße ein einzelnes Fahrzeug und ging vom Gas. Er nahm seinen 38er aus dem Holster und legte ihn auf den Beifahrersitz. Das Auto stand am Straßenrand. Charlie bremste und sah eine Satellitenschüssel auf dem Dach des Wagens. Der braune Doppler-Transporter. Erleichterung durchflutete ihn. Am liebsten wäre er sofort aus dem Wagen gesprungen, aber er unterdrückte den Impuls. Wenn er jetzt hinter dem Transporter hielt, wäre Rick im Vorteil und würde Sophie womöglich etwas antun. Charlie musste überlegen. Versuchen Sie nicht, alles auf einmal zu lösen. Arbeiten Sie darauf hin, dass der Täter kampflos aufgibt. Er fuhr vorsichtig an dem Doppler-Transporter vorbei und sah zwei Gestalten in der Fahrerkabine, von der Innenbeleuchtung gelb erhellt. Nicht anhalten. Nicht anhalten. Hinter ihm fraß sich ein riesiger geschichteter Aufwind langsam durchs Land. Anscheinend waren sie am Fuß eines richtiggehenden HP-Biests angelangt. Es sah aus wie ein Atompilz: ein steinharter Turm, ein cumuliformer Amboss mit den typischen Einkerbungen an der Unterseite. Langsam fuhr Charlie noch mehrere Minuten weiter, bis er sicher war, dass der Transporter ihm nicht gefolgt war. Die rotierende Wall Cloud veränderte plötzlich ihre Form – aus transparentem Nebel wurde eine kompakte braune Masse. Sie stand im vollkommenen Gegenlicht der Crepuskulärstrahlen, die an der Westseite des Aufwindschlauches durch den Dunst brachen. Aus dieser braunen Wolkenmasse wuchs ein bleistiftdünner Tornado nach unten und bohrte sich wie ein Eispickel in die Erde.
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Ignorieren Sie die Geisel. Widmen Sie ihr nur geringe Aufmerksamkeit. Sonst wird sie nur noch wertvoller für den Geiselnehmer. Er schaltete die Scheinwerfer aus, bremste und schaltete in den Leerlauf. Er nahm den Fuß vom Gas und drehte das Lenkrad um neunzig Grad, sodass der Wagen mit quietschenden Reifen über die nasse Straße schlitterte. Das Heck schwang herum. Gegenstände auf der Ladefläche stießen aneinander, Metall auf Metall. Der Loadmaster kam ruckartig zum Stehen. Er hörte ein hohes Summen von einem Transformator irgendwo in der Nähe, während vor ihm zwei Regenfahnen im Fernlicht des DopplerTransporters glitzerten. Die Luft war voller Staub und Trümmer. Er biss die Zähne zusammen, nahm seinen Revolver und stieg aus.
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10 Stille herrschte in ihrem Innern, eine merkwürdige Ruhe. Ihr Unterkiefer schmerzte dumpf. Der Wind machte Harmonikageräusche, er pfiff durch den Wagen. Wieder prasselten Hagelkörner gegen die Scheiben. Peng, peng, peng … Benommen schlug Sophie die Augen auf. Rick Kripner beugte sich mit seltsam fasziniertem Ausdruck über sie. Sie fürchtete sich vor ihm. Sie kannte ihn nicht. Sie schrie auf und schlug ihm ins Gesicht. Er zuckte zusammen und hielt ihren Arm fest. »Da ist ja jemand wach geworden.« Sie schrie erneut. Sie hatte Blut im Mund. »Willst du so weitermachen, oder wirst du wieder vernünftig?« »Loslassen!« Sie schlug nach ihm, Sterne tanzten vor ihren Augen. Sie schnappte nach Luft. »Lass mich los!« Unversehens und scheinbar gleichgültig ließ er sie los und legte die Hände aufs Lenkrad. Besitzergreifend krümmten sich seine Finger darum. Er trommelte mit den Daumen im Takt der Scheibenwischer und schaute wie hypnotisiert ins Dunkel hinaus. Erneut ging ein Hagelschauer nieder. Das Fenster auf der Fahrerseite zersprang, ein Spinnennetz bildete sich im Glas. Hinter ihnen sah sie im Licht der Blitze eine gut ausgebildete, rüsselförmig gebogene Trombe. Sie hatte schon den Türgriff in der Hand und wollte aus dem Auto springen, als er sie zurückriss. »Es läuft nicht immer alles so, wie wir es gern hätten, Sophie«, sagte er. »So ist das Leben.« 389
Sie unterdrückte ihren Abscheu und griff wieder nach dem Türöffner. Ihr Atem kam stoßweise. Peng, peng, peng … Er riss sie zurück. Peng, peng, peng … Dann geschah etwas Schreckliches. Das Fenster auf der Fahrerseite barst, die Glasscherben flogen wie tausend Eiszapfen in die Kabine, und eine große Faust traf Rick mitten ins Gesicht. Sein Kopf wurde herumgerissen, sein falsches Gebiss flog heraus. Die obere Prothese traf Sophie am Kopf, die untere landete auf ihrem Schoß. Das Ding war rosa und nass und eklig, und sie schrie, bis ihr die Stimme versagte. Jetzt griff ein Arm durch die kaputte Scheibe und versuchte, Rick aus dem Wagen zu zerren. Sophie griff nach dem Zündschlüssel, aber Rick trat aufs Gas und löste gleichzeitig die Handbremse, und sie schossen vorwärts, in den blendenden Sturm. Der Transporter schlitterte mit quietschenden Reifen über die Straße, und Rick blaffte: »Ssehne! Ssehne!« »Was?« Er streckte die Hand aus. »Ssehne!« Entsetzt schaute sie in das zahnlose Loch. Er schnappte sich die untere Prothese und setzte sie sich mit einer Hand ein, wobei er ein obszönes Gebrüll ausstieß.
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11 »Scheiße!« Charlie feuerte drei Salven auf den flüchtenden Transporter ab und zielte dabei auf die Hinterreifen. Er hatte seine Tochter gesehen, sie lebte. Der Wind verwandelte seine Uniform in ein flatterndes Etwas. Sein Nasenbein war gebrochen, seine Knöchel bluteten. Er hatte die Fensterscheibe mit seinem Gummiknüppel eingeschlagen, aber die Knöchel schmerzten vom Zusammenprall mit Ricks Kieferknochen. Einen Moment lang stand er wie gelähmt, während ringsum Hagel in Regen überging und die Rücklichter des Transporters im Nebel verschwanden. Dann steckte er seine Waffe in das Holster zurück und setzte sich in Trab, wobei seine Stiefel im Schlamm versanken. Er riss die Tür des Loadmaster auf und sprang hinein. Ein Windstoß schlug die Tür hinter ihm zu. Er umklammerte das Lenkrad und trat aufs Gaspedal, die Reifen drehten durch. Der Wagen rutschte seitlich weg – es war, als schwimme er auf einer Schicht Eiskrem –, doch dann gelang es Charlie, ihn gerade auszurichten, und er fuhr los. Schlechter Straßenzustand, falsche Lenkbewegungen und Gewichtsverlagerungen konnten dazu führen, dass ein Fahrzeug umkippte, aber das wusste Charlie zu verhindern. Er hatte seine Tochter lebend gesehen – sie war angeschnallt. Braves Mädchen. Er hatte auch gesehen, dass Rick nicht angeschnallt war. Schön dumm. Das gab ihm die Möglichkeit, den Transporter von hinten zu rammen, ihn von der Straße zu schieben und zu verhindern, dass Rick entkam; Sophie war angeschnallt. Also musste er das Risiko eingehen. Der Doppler-Transporter war jetzt wieder in Sichtweite, bog plötzlich scharf nach links ab und fuhr eine Abkürzung über ein Feld. Charlie fuhr hinterher. Die Michelin-Reifen schleuderten 391
faustgroße Erdklumpen hoch und holperten über Furchen. Die Räder drehten bedenklich durch, als er wieder einmal eine schlecht asphaltierte Landstraße entlangfuhr. Der alte Motor brummte und knirschte. Die Sicht besserte sich, als er den Hagelsturm hinter sich ließ. Rosa Lichtschlieren tauchten aus den verstreuten Wolken auf. Er sah die Rücklichter des Transporters vor sich auf der Straße, und noch weiter vorne bot sich ein schrecklicher Anblick – schwefelgelbe elektrische Entladungen schossen aus dem Kerngebiet des Starkniederschlags hervor, und der dunkle, staubige Keil selbst tobte wie ein kosmischer Wutanfall. Eine Haube aus explodierendem Azulen türmte sich vor einem hellen Hintergrund aus Blitzen und mit Saugrüsseln, die an den äußersten Rändern rotierten. Die Trümmerwolke war am unteren Ende mindestens eine halbe Meile breit, und Kanthölzer und Baumäste wurden darin herumgewirbelt wie Streichhölzer. Das Monster war doppelt so breit wie hoch, ein riesiger Kreisel, der mit rasender Geschwindigkeit rotierte. Charlie hielt es für besser, sich davon fern zu halten. Der nächste Blitz spaltete den Himmel, und ein eisiger Wind fuhr in die Kabine. Charlie schaute auf den Tachometer. Die Nadel hatte schon die 60 hinter sich gelassen, und der Tank war fast leer. »Lass mich jetzt nicht im Stich, du wunderbare alte Mistkarre.« Er trat das Gaspedal durch. Die neuen Reifen krallten sich in den glitschigen Asphalt, und er holte zusehends auf. Als er dicht hinter dem Transporter war, wechselte er auf die Überholspur und suchte sich eine Stelle auf der hinteren Stoßstange aus. Er wartete einen Moment, dann riss er das Lenkrad scharf nach rechts. Bei schätzungsweise 70 Meilen pro Stunde rammte er den Transporter. Er spürte, wie sich seine Gesichtshaut über den Knochen spannte, als der Loadmaster mit voller Wucht auf den Transporter krachte. Sekunden später riss sich der Transporter los und kam mit qualmenden Reifen von der Straße ab. 392
Charlie trat auf die Bremse, und alle vier Räder blockierten sofort. Er verlor die Kontrolle, der Wagen drehte sich gegen den Uhrzeigersinn, das schwerere Vorderteil mit Motor und Getriebe zog den übrigen Wagen hinter sich her. Gegenstände flogen durch die Kabine, Plastikteile brachen ab und explodierten wie Schrapnelle. Ein schwarzer Werkzeugkasten traf ihn am Kopf, und er sah Sternchen. Die Zeit dehnte sich. Er fiel in eine eisige Stille, in eine dichte, sich krümmende Dunkelheit, während der Pick-up durch die Luft wirbelte.
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12 Sophie drückte sich tief in ihren Sitz, als der Transporter ins Schleudern geriet und seitwärts über die Straße schlitterte. Sie drehten sich und rumpelten durch Schlaglöcher. Mit einem kreischenden Ächzen kam das Fahrzeug zum Stehen, und alles wurde still. Schmerz durchzuckte sie. Sie leckte an ihren Lippen und schmeckte Blut. Als sie die Hände ans Gesicht hob, fiel ihr absurderweise auf, dass ihr tiefroter Nagellack stellenweise abgesplittert war. Sie hörte ein Geräusch wie von schnell fließendem Wasser. Es wurde lauter. Tiefere Töne ließen sich vernehmen. Die Windschutzscheibe war in tausend kleine Risse zersprungen, und durch das kristalline Glas meinte sie Insekten zu sehen, die im Scheinwerferlicht tanzten. Nur waren es, wie ihr bald klar wurde, keine Insekten, sondern Trümmer, die von einer gewaltigen Luftströmung in die Höhe gerissen wurden. »Mist.« Rick rieb sich die Stirn, und sie sah ihn verständnislos an. Er erwiderte den Blick, die Mundwinkel verzerrt. Wieder packte sie die Angst vor ihm. Der Wagen wurde von bösartigen Windstößen durchgerüttelt, und sie hörte ein Knacken wie von brechendem Holz. Draußen war es stockfinster. In der Nähe explodierte ein Transformator, blaue Funken stoben in die Höhe wie bei einem Feuerwerk, und einen Moment lang sah sie den keilförmigen Tornado, der auf sie zu waberte. Sie hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend, wie eine Blase, die nicht platzen wollte. Ihre Hände fühlten sich taub an. Sie hatte Glassplitter im Haar. Ihr Herz raste so schnell, wie sie es noch nie erlebt hatte. Blitze in der Farbe von Tigerlilien zuckten über den Himmel, während der Tornado den ersten Telegrafenmast in einer langen Reihe erfasste und blaue Funken
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waagerecht wegsprangen. Einer nach dem anderen wurden die Masten in den kreiselnden Schlund gesogen. Rick löste die Bremse und drehte den Zündschlüssel um, der Motor sprang mit einem rauen, ohrenbetäubenden Geräusch an. Sie tastete nach der Tür, aber er hielt sie am Arm fest. Verzweifelt versuchte sie, sich loszureißen, und ein Schrei krallte sich in ihrer Kehle fest. Plötzlich flog die Tür auf, und ein hagerer Mann richtete einen Revolver ins Wageninnere. Sein Gesicht war über und über voll Blut, und die nasse Uniform klebte ihm am Leib. »Daddy?«, schrie sie. Rick trat das Gaspedal durch, und der Wagen wühlte sich aus dem Straßengraben. Ihr Vater sprang auf das Trittbrett und hielt sich am Rahmen fest. Sophie nestelte an ihrem Sicherheitsgurt, während ihr Vater mit der frei schwingenden Tür kämpfte. Dann zielte er und drückte ab. Der Knall war ohrenbetäubend. Rick wurde die Unterlippe weggerissen. Sophie riss entsetzt die Augen auf. Alles war mit Blut bespritzt. Der Transporter tanzte in einem Funkenregen über die Straße. Sophie klinkte ihren Sicherheitsgurt aus, aber Rick hielt sie eisern fest. Erneut rumpelte der Wagen über ein Hindernis, und ihr Vater verlor beinahe das Gleichgewicht. Sie spürte einen Schmerz in der Herzgegend und biss Rick mit aller Kraft in den Arm, grub ihre Zähne tief in die verschwitzten, angespannten Muskeln, bis sie im Rachen einen warmen Blutstrom schmeckte. Er entriss ihr seinen Arm. Er schrie und zitterte vor Wut. Der Anblick seines entstellten Gesichts ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Der zahnlose Mund, die zerfetzte Lippe. 395
Ihr Vater packte sie um die Taille und drückte sie fest an sich, und zusammen sprangen sie ins Ungewisse. Ihr war, als fiele sie mit Lichtgeschwindigkeit von der Erde ins All. Sie schlugen auf und rollten über den Boden, und sie hielt ihn fest umklammert. Sie kollerten durchs nasse Gras, bis ein Erdwall sie aufhielt. Sophie schnappte in dem dichten Unkraut nach Luft, die Lunge tat ihr furchtbar weh. Versuch’s noch mal. Endlich füllte sich ihre Lunge wieder mit Luft. Sophie gab einen schwachen Laut der Dankbarkeit von sich. Er half ihr hoch, und gemeinsam stemmten sie sich gegen den Wind. Violette Blitze. Die Luft rings um sie war in brüllendem Aufruhr. Wohin jetzt? Sie schauten zurück zu dem DopplerTransporter. Rick wollte wegfahren, aber der Wagen war in den Sog des Tornados geraten, und die Räder drehten durch. Ihr Vater legte den Arm um sie. »Schau nicht zurück!«, sagte er. »Lauf!«
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13 Rick war in einen tückischen Wirbel geraten, der heulende Keil war jetzt direkt vor ihm. Die Luft wurde mit ungefähr achtzig Meilen pro Stunde angesaugt, Dreck und Blätter flogen wie in einer kräftigen Strömung vorbei. Er hörte das berühmte Güterzugrauschen, während er herunterschaltete. In höchster Panik. Dieses Monster … das Monster spielte mit ihm wie mit einem Yo-Yo. Nach Luft schnappend wie ein Fisch auf dem Trockenen, legte er den Rückwärtsgang ein und trat das Gaspedal durch. »Nein, nein, nein.« Multiple Saugwirbel sprossen aus der indigoblauen Wolkenwand, und jeder dieser Fühler war groß genug, um selbst als Tornado zu gelten. Sein Kopf schien zu zerspringen. Das war doch nicht möglich. Eine Splitterwolke rannte gegen das Fahrzeug an, und irgendetwas wurde vom Dach gerissen – die Satellitenschüssel. Er spürte, wie sich seine Adern zum Bersten mit Blut füllten, während er verzweifelt versuchte, der Vernichtung zu entkommen. Mit einem lauten Krachen barsten alle Scheiben gleichzeitig. Beide Türen wurden durch den Luftdruck aufgerissen und knallten wieder zu. Er wurde mit Glassplittern bespritzt, manche fügten ihm tiefe Verletzungen zu. Die Welt drehte sich. Geräte stießen in der Luft zusammen, Computerschaltungen explodierten. Er trat aufs Gaspedal, aber die Räder drehten sich vergeblich auf der nassen Straße. Die Sicht war schlecht, die Traktion noch schlechter. Ein Reifen platzte, wodurch der Wagen ins Schleudern geriet, und er spürte die Vibration in den Knochen, als seine schlimmsten Ängste ihm die Lunge zusammenpressten. »Nein!« 397
Der Transporter hielt die Spur nicht mehr. Rick brachen die Nägel ab, als er die Finger ins Lenkrad grub und versuchte, den Wagen wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Jetzt komm schon, komm schon … du Biest!« Der Wagen wurde seitwärts geweht und unter heftigem Getöse in den Trichter gesogen. Schaudernd atmete er ein, während er mit Haut und Haaren geschluckt wurde. Der Wind hob das Fahrzeug in die Luft. Ricks Haare knisterten wie ein Fell unter statischer Elektrizität, und Luftblasen entstanden unter seiner Haut, während der Rahmen des Wagens knirschte und sich bog. Schmerzmeldungen überfluteten sein Gehirn. Funkenstiebend flog das Dach weg. Dann wurde er unter lautem Zischen nach oben gesogen, und der Wagen fiel unter ihm weg. Er wurde herumgeschleudert. Seine Gliedmaßen ruderten in Zeitlupe. Er schwebte über allem. Gefangen in einem Wirbel aus Glassplittern und Stacheldrahtschlingen, gesplitterten Kanthölzern und schmutziggrauen Hagelkörnern. Seine Arme waren Windmühlenflügel, seine Beine Windräder. Die Zeit verlangsamte sich in der vibrierenden Dunkelheit. Und dann spürte er mit grauenvoller Gewissheit, dass er nun gleich in die Tiefe stürzen würde.
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14 Der gigantische Keil entwurzelte jetzt kleine Bäume und wirbelte sie herum wie Strohhalme. Charlie nahm seine Tochter an der Hand und rannte mit ihr durch das Gras. Irgendetwas stimmte nicht. Ihre rechte Wange war geschwollen und voller Abschürfungen, und sie hatte Blut am Mund; er hätte gute Lust gehabt, noch einmal auf Rick zu schießen. Scheinbar eine Ewigkeit stapften sie über die nasse Wiese, und schließlich erreichten sie die Straße. Der Regen kam jetzt von der Seite und strömte über ihre Gesichter. Er hielt inne und sah sich nach dem Pick-up um. Er blinzelte den Regen aus seinen Augen und erblickte die Lichtkegel der Schweinwerfer, die eine pelzige Dunkelheit durchschnitten. »Lauf!«, rief er. Sophie wollte seine Hand nicht loslassen. Sie streckte den Arm aus, als er sich von ihr entfernte, sodass ihre Finger einander berührten. Sie sprangen in den Pick-up und zogen die Türen zu, und augenblicklich füllte sich die Kabine mit dem Keuchen ihres Atems. »Schnell, Daddy!« Er drehte den Zündschlüssel und trat aufs Gaspedal, aber der Motor wollte nicht anspringen. »Daddy?« Die Luft hatte die Farbe von schmutzigem Wasser. Ein großes Brett tanzte über die Erde und flatterte davon wie ein Vogel. Die Baumwipfel bogen sich alle in dieselbe Richtung – weg von dem gigantischen Keil, der sich wie ein Korkenzieher über das Land bewegte. »Mach schnell!!«
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Nicht weit von ihnen stand eine Pappel, deren glänzende Blätter wie tausend Zungen wackelten. Der Stamm war dick und trug eine wild schwankende Krone, an der ein Vogelschwarm vorbeiflog. Doch es waren keine Vögel, sondern Traktorreifen und Baumäste. Die Luft selbst wurde wie von Messern zerschnitten. »Daddy?« Er betätigte den Anlasser und trat mehrmals auf das Gaspedal, und schließlich sprang der Motor an. Er legte den Rückwärtsgang ein und gab Gas, und sie fuhren rückwärts die schnurgerade Straße entlang. »Pass auf!«, schrie Sophie. Hinter ihnen bog sich ein Telegrafenmast wie ein Pfeifenreiniger und zerbrach schließlich; Holzspäne spritzten durch die Luft, während der abgebrochene Teil auf sie zugeflogen kam. Charlie konnte gerade noch ausweichen, dann krachte der Mast auf die Straße und verfehlte sie nur um Haaresbreite. Er wendete. Trümmer prallten von der Karosserie ab. Der Motor begann zu stottern, Fehlzündungen knallten. Die Temperaturanzeige stieg und stieg. »Na los, beweg dich, du alte Scheißkarre!« An der Kreuzung schwankten die Ampeln bedenklich an ihren Kabeln. Vor einer Gebrauchtwagenhandlung an der Auffahrt zum Highway bog der Sturm große Büsche fast bis auf die Erde. Überall zuckten Blitze, und der Regen wurde noch stärker. Und dann wurde es richtig ungemütlich. Geradezu gemeingefährlich. Blitze zuckten im Innern der Trichterwolke, hinter ihr, beiderseits von ihr … wie riesige Zündfunken, die einen gigantischen Himmelsmotor zum Laufen brachten. Charlie behielt das Monster im Auge, hielt aber gleichzeitig Ausschau nach einem Straßengraben, in dem sie sich notfalls verkriechen konnten.
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Dann hörte er es: das Geräusch der Hölle, die sich mit eisernen Klauen in die Erde krallt. Das Geräusch von in sich zusammenbrechenden Räumen. Staubwolken wälzten sich heran, eine Reihe von Formen und fliegenden Phantomen. Der Lärm wurde ohrenbetäubend. Irgendetwas flog mit einem Salto direkt über sie hinweg, landete vor ihnen und bewegte sich weiter. Ein Mazda rollte wie ein Fass über die Straße und krachte Funken sprühend gegen die Leitplanke. Als Nächstes erhob sich ein Dodge Caravan in die Luft und stürzte wieder herab – der Wagen bohrte sich mit dem Kühlergrill voran in den Asphalt, mit solcher Wucht, dass Charlie es bis in die Knochen spürte. Andere Autos von dem Abstellplatz torkelten über die Straße wie Betrunkene. »Ach du Scheiße!« Charlie trat abwechselnd aufs Gaspedal und auf die Bremse, während Autoteile aus der strudelnden Trümmerwolke auf sie zugeflogen kamen, gespenstisch aus der Dunkelheit auftauchend. Eins nach dem anderen wirbelten die Autos durch die Luft wie Bauklötzchen und versprühten Benzin und Bremsflüssigkeit über die Straße. Es war ein bizarres Bild – leuchtend und hyperreal. Zerbeulter, zerknautschter Stahl wetzte über den Asphalt. Es regnete Autos. Halb Detroit hatte abgehoben. Charlie legte den Rückwärtsgang ein, trat aufs Gas und fuhr rückwärts die Straße entlang, während etwas anderes kreiselnd in den Himmel stieg – ein Auto mit eingeschalteten Scheinwerfern. Er trat auf die Bremse, riss das Lenkrad herum und schlitterte seitwärts, genau in dem Moment, als ein apfelgrüner Pontiac auf sie zugeschossen kam. Sophies Schreie waren wie aus Papier ausgeschnitten – scharf, tief und blutleer. Der fliegende Pontiac schlug dicht hinter ihnen auf, das Dach wurde mit einem Klang ähnlich dem Läuten einer Kirchenglocke zusammengedrückt. Metall schürfte auf Metall, die Windschutzscheibe explodierte, der Wagen rollte weiter und 401
schob sich zusammen wie ein Akkordeon. Alligatorspuren gleich, flogen die zerfetzten Reifen aus den Radkästen. »Bring uns hier weg!« Sophie hielt sich die Augen zu. Er bremste, der Wagen schleuderte. Er drückte seine Tochter auf den Boden, als der Wagen zu zittern begann. Sie spürten den steigenden Luftdruck in den Ohren, als das Heck des Pick-ups abhob. Der Tornado hatte sie erfasst, und sie wurden in die Höhe gerissen. Mein Gott, bis hierher haben wir’s geschafft, und jetzt das. Der Tornado hatte sie. Sie würden sterben. Er hätte schwören können, dass sich der Wagenboden und die Türen wellten. Die Luft roch nach Dingen, die lange Zeit unter einem Haus versteckt gewesen waren. Sie trieben in einem tintenschwarzen Fluss, so dickflüssig und zäh, dass Charlie ihn fast berühren konnte. Dann erwachte der Pick-up wieder zum Leben, bäumte sich auf und bewegte sich in Bocksprüngen über die Straße. Trümmer knallten auf die Ladefläche wie Geschosse. Sie wurden herumgewirbelt und durcheinander gerüttelt, und als sie wieder auf der Erde landeten, biss Charlie sich die Zunge blutig. Ein letztes Erschauern, und ebenso plötzlich wie unbegreiflich war alles still. Sie saßen in der unheimlichen, sich verdichtenden Stille. Er wartete einen Moment und schaute dann zum Himmel auf. Der Tornado schrumpfte allmählich, wurde kleiner und kleiner, während er sich widerstrebend von ihnen fortbewegte. Dann zog sich der Rüssel in die Wolken zurück und hinterließ nur ein dünnes, dampfiges Abbild seiner selbst. Einen Dunstschleier wie die Abgasfahne eines Rennautos. Charlie blieb einen Moment reglos sitzen, dann half er Sophie vom Wagenboden auf. »Bist du okay?« Ein schwaches Lächeln. »Ja.« »Sieht so aus, als hätten wir’s geschafft.« Sie lachte und umarmte ihn. 402
Von jetzt an würde er sie nie wieder allein lassen.
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15 Schweigend fuhren sie dahin. Der Verkehr staute sich immer wieder, weil Autos sich um Straßenlaternen gewickelt hatten oder auf Reklametafeln hingen. Sophie hatte den Kopf an Charlies Schulter gelegt. Sie atmete flach und zuckte beim leichtesten Donnergrollen zusammen. Ihre Finger waren voller Schnittwunden und Abschürfungen. Ihr Kiefer war geschwollen, und sie hatte eine frische Zahnlücke: Das Scheusal hatte ihr einen unteren Backenzahn gezogen. Es beunruhigte Charlie, dass sie heute ihre Unschuld verloren hatte. »Fahren wir jetzt heim?« Sie hob benommen den Kopf. »Pst, Schätzchen. Ich bring dich ins Krankenhaus.« »Mir fehlt nichts, Dad. Ich möchte lieber nach Hause.« »Pst, lehn dich zurück und ruh dich aus.« Sie nickte widerstrebend und schmiegte sich wieder an ihn. »Aber vom Krankenhaus fahren wir gleich nach Hause, ja?« »Ehrenwort.« »Ich hab dich lieb«, sagte sie leise. »Ich hab dich auch lieb, meine Kleine.« Er entspannte sich ein wenig, und sofort überkam ihn lähmende Müdigkeit. Er roch den Gestank seines eigenen Schweißes. Er war von oben bis unten verdreckt und übel zugerichtet, aber sie hatten es geschafft. Sie lebten noch. Es war ein Wunder. Er war endlich zum Krankenhaus durchgekommen, Willa ging es gut. Sie war erleichtert, dass Sophie nichts passiert war. Sie hatten es alle drei geschafft. Der Himmel hatte sich wieder aufgehellt und zeigte ein buntes Farbenspiel, Wolkenhaufen wie frisch geschürte glühende Kohlen schwammen hinter dem sich zurückziehenden Unwetter her. Die Luft roch süß wie Minze, und der Abendstern war über der Ebene aufgegangen. Er war 404
froh, am Leben zu sein. Demütig und dankbar. Endlich waren Herz und Kopf wieder im Einklang. Dann sah er ihn. Den braunen Doppler-Transporter. Er fuhr rechts ran und hielt. »Was ist?« Sophie bewegte sich schlaftrunken, das Haar ganz auf einer Seite. Der Doppler-Transporter lag mit den Rädern nach oben auf einer überschwemmten Wiese. Der Kühlergrill war verbeult, die Reifen zerfetzt. Sophie setzte sich auf. »Dad?« »Bin gleich wieder da.« »Was ist denn?« Sie riss die Augen auf. Ihre Wimpern waren nass. »Alles wird gut.« Er zog sie mit einem Arm an sich. »Mach dir keine Sorgen, Schätzchen.« »Bitte lass mich nicht allein.« Er zog seine Waffe. »Ich bleib in Hörweite.« »Sei vorsichtig«, flüsterte sie. »Okay?« Er sprang die Böschung hinunter in das struppige, nasse Gras. Mit äußerster Vorsicht näherte er sich dem umgestürzten Fahrzeug. Die Spurstange ragte hervor wie ein gebrochener Knochen, und die Stoßstange war um mehr als einen halben Meter nach oben verschoben. Über dem Wrack spannte sich ein phantastischer Regenbogen. Charlie brachte den Revolver in Anschlag und sagte: »Kommen Sie heraus! Sofort! Nehmen Sie die Hände hoch, so, dass ich sie sehen kann!« Die Fensterscheiben waren herausgebrochen, das Dach abgerissen. Ohne die Waffe zu senken, umkreiste er langsam das Wrack und bückte sich dann, um hineinzusehen.
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Es war niemand drinnen. Er richtete sich auf und betrachtete den Horizont mit den Farmen, die sich schwarz vom roten Himmel abhoben. Eine träge Wolke von Schmetterlingen fing die letzten Strahlen ein, während die Sonne hinter dem Horizont versank. Stellenweise hatte der Tornado das Gras bis auf kurze Stoppeln abrasiert. In der weitgehend unberührten Prärie hatte er eine viele Meilen lange Schneise der Verwüstung hinterlassen. Charlie schaute zu dem Pick-up zurück, in dem seine Tochter saß und mit angstgeweiteten Augen zu ihm hersah. Er hatte das silberne Medaillon in seiner Brusttasche, aber er musste erst das Blut abwaschen, bevor er es ihr zurückgab. Auch vom Tod ihres Großvaters würde er ihr erst erzählen, wenn alles sich wieder beruhigt hatte. »Daddy?« »Ich bin hier.« Sie winkte ihm traurig zu. Der Moment würde ihm immer im Gedächtnis bleiben. Er warf noch einen letzten Blick auf das Wrack und steckte dann seine Waffe ins Holster. Er würde die örtliche Polizei benachrichtigen müssen. Sollten die sich darum kümmern. Seine Tochter wartete. Plötzlich sah er in einiger Entfernung einen hellen Haufen auf der dunklen, kalten Erde. Er zog erneut seine Waffe und lief über die Wiese, über Trümmer und mit nassem Laub verstopfte Furchen, und der Geruch frisch gepflügter Erde stieg ihm in die Nase. Bei jedem Schritt sank er in den weichen Boden ein, und er atmete schnell und flach, während er sich immer weiter von der Straße entfernte. Von Sophie. Auf Zehenspitzen ging er auf den Rändern einer Rinne, nichts Gutes ahnend, und dann blieb er stehen. Das Hemd war weg. Schuhe und Socken fehlten ebenfalls. Das verstümmelte Opfer trug nur ein Paar Bluejeans, die übrige Kleidung hatte offenbar der Sturm fortgerissen. Charlie bückte 406
sich, um besser zu sehen. Weizenhalme lagen auf der Brust des Opfers wie die Stacheln eines erschreckten Stachelschweins. Das Gesicht war nicht mehr zu erkennen. Am beunruhigendsten waren der grotesk verdrehte Hals und der eingedrückt wirkende Schädel – offenbar war der Mann aus großer Höhe herabgestürzt. Die Augen – glänzend schwarz wie fressende Insekten – waren weit offen und blickten starr. Er war tot, wer immer er sein mochte. Charlie drehte den Leichnam um. Alte Narben überzogen Rumpf und Oberarme, manche davon fingerdick. Schreckliche Spuren von Misshandlungen im Kindesalter. Er unterdrückte seine aufsteigende Wut. Die gebrochenen Beine steckten in einem Gewirr von Stacheldraht. Man würde den rostigen Draht durchschneiden müssen, um an die Hosentaschen zu kommen, in denen vielleicht eine Brieftasche oder ein Personalausweis war. Ganz schwach hörte er in der Ferne Sirenen. Um den Mund des Opfers zu untersuchen, zog er die zerfleischten Lippen auseinander und stellte fest, dass keine Zähne vorhanden waren. Dann fuhr er vorsichtig mit dem Finger über den Oberkiefer. Es musste Rick sein. Er musste es sein. Der Doppler-Transporter ganz in der Nähe. Die richtige Haarfarbe. Die fehlenden Zähne. Plötzlich kam Charlie ein Gedanke. Er griff nach dem rechten Arm des Toten, hob ihn hoch und drehte ihn um – und da war sie – eine deutliche Bisswunde. Der Abdruck von Sophies Zähnen in dem kalkweißen Fleisch. Es war eindeutig Rick Kripner. Daran bestand kein Zweifel mehr. Charlie ließ den erkalteten Arm fallen und versuchte, sich zu sammeln, aber das Dröhnen in seinen Ohren wollte nicht aufhören. Er hatte den Killer gefunden – und war trotzdem nicht zufrieden. Sein Blick verweilte auf dem zerschmetterten Körper, der vor ihm lag – den toten Augen. Nichts ergab irgendeinen Sinn. Nichts würde für ihn jemals mehr einen Sinn ergeben. Rick Kripner war ein so normaler Mensch gewesen. 407
Er stand auf. Er war todmüde. Die Sirenen wurden lauter. Er schaute auf seine Füße hinunter, wo ein Styroporbecher halb in der Erde vergraben war. Styropor, Pfeilspitzen. Größere Schlachten als ihre waren auf diesem geheiligten Boden ausgetragen worden. Auch durch die Geschichte blies der Wind. »Daddy?« »Ich komme.« Er entdeckte eine Veränderung in der Atmosphäre und fühlte sich plötzlich ermutigt, als hätte ihn jemand an der Schulter berührt. Eine freundliche Berührung. Eine Warnung. Er drehte sich um, aber es war niemand da – nur eine Krähe, die ihn zu beobachten schien. Er blieb noch einen Moment stehen und sah zum fernen Horizont, wo Eichen im Wind schwankten. Dann wehte ihm ein verspielter Windstoß die Mütze vom Kopf, aber er fing sie auf, bevor sie fortgetragen wurde. Der Wind wehte, anmutig und ohne Hast, und brachte sein lichtes Haar ebenso durcheinander wie seine Selbstgefälligkeit; er trudelte und tanzte über das geschundene Land, strich in einem uralten Tanz über die eingefallene Schulter der Prärie. Er stieß ihn an. Er gab ihm das Geschenk des Atems, und dann zog er weiter.
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EINE WOCHE SPÄTER Es gibt ein Gebiet, Cross Timbers genannt, das Oklahoma fast genau in zwei Hälften teilt, ein undurchdringlicher Streifen von Schwarz- und Zwergeichen, der sich mitten durch den Staat zieht. Östlich der Cross Timbers liegt bewaldetes Land, wo die jährliche Niederschlagsmenge manchmal über eintausendzweihundert Millimeter beträgt. Nach Westen zu liegt die trockenere Hälfte von Oklahoma, einst Heimat der Prärie-Indianer, kriegerischer Nomaden, die den wandernden Büffelherden folgten. Hier begann der Wilde Westen, in der ariden Ebene der Great Plains. Von West nach Ost fällt das Land stufenweise ab, die Hochebenen des Panhandle werden abgelöst von absteigenden Sedimentschichten. Roter Sandstein aus den Canyons des sandigen Flusstals weht in großen Wellen über das Land. Die Erde ist rot, der Weizen gelb, der Himmel in der TornadoSaison manchmal grün, aber das Herz von Oklahoma schlägt rot, weiß und blau. Charlie stand mit Willa und Sophie auf einer Anhöhe, dem Südhimmel zugewandt, wo der Horizont in einer dunstigen Linie verschwamm und das ferne Gewitter über fünfzigtausend Fuß hoch reichte. Regenschauer, Nebel, beständiges Donnergrollen. Sein Vater hätte beifällig genickt. Sophie hielt die Urne mit der Asche ihres Großvaters in den Händen. Die Trauer hatte sie verstummen lassen. Ihr silbernes Medaillon hing wieder von ihrem Hals herab. Der Nordhimmel war von Streifenwolken durchzogen, und wenn die Sonne hervorkam, sah man schimmernde Wiesen, auf denen Hunderte von Wildblumen standen, die im Wind verschiedene Schattierungen von Rosa und Rot annahmen. 409
Charlie, der ein weißes Hemd und eine breite Krawatte trug, half seiner Tochter, die Urne zu öffnen, und gemeinsam bereiteten sie sich darauf vor, Isaacs Asche in den Wind zu streuen. Sophie erhob sich, während Willa ein Gedicht von Christina Rossetti vorlas. »Wer je den Wind sah? Keiner, mein Kind. Doch wenn die Bäume sich neigen, weißt du, da geht der Wind.« Sophie wurde nervös. »Mach du’s«, sagte sie und gab ihrem Vater die Urne. Charlie warf die Asche in die Luft. »Mach’s gut, Pop.« Die Aschestäubchen verteilten sich wie die ephemeren Körper schwärmender Insekten, und durch die Wolken brach ein überirdisches Licht. Was an ihm stark war, hatte er von seinem Vater; was an ihm verkehrt war, hatte er auch von seinem Vater, und damit konnte er sich abfinden. Willa klappte das Buch zu und schaute die beiden zutiefst mitfühlend an. Charlie drückte sie an sich. Er dachte daran, wie einsam er sich jeden Morgen fühlte, wenn sie aufstand, um zur Arbeit zu gehen, dachte an die kleine warme Kuhle, die sie neben ihm im Bett hinterließ. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn, und eine einzelne Träne lief über ihre runde Wange hinab. Die Sonne beleuchtete gerade noch ihre Gesichter, und einen zitternden Moment lang war die Welt in Ordnung. Charlie Grover war ein Mann voller Hoffnung. »Da geht Grandpa dahin«, sagte Sophie leise. »Da geht er hin.« Sie standen nebeneinander und sahen auf das bewegte Gras. Kegelblumen und Prachtscharten belebten das Land, auf dem vor langer Zeit die Büffelherden geweidet hatten, Herden, die bis zu fünfundzwanzig Meilen lang und fünfzig Meilen breit gewesen waren. Die Herden waren verschwunden. Ihre Trauer strömte dahin wie der Wind.
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DANKSAGUNG Mein Dank gilt: Sara Ann Freed, Jamie Raab und Larry Kirshbaum, Carter Blanchard, Helen Fremont, Wendy Weil, Rich Green und Keya Khayatian, Harvey-Jane Kowal, Kristen Weber, Molly Kleinman und Emily Forland, Eric Brown und Mike Rudell; und vor allem meinem Mann Doug, dessen Klugheit in diesen Seiten steckt.
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