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Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Fantasy Spezial
Zauberträume 9
'Zauberträume' ist eine kost...
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Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Fantasy Spezial
Zauberträume 9
'Zauberträume' ist eine kostenlose Fantasy Anthologie von www.WARP-online.de, dem Fantastik Magazin. Alle Rechte der Geschichten und Bilder verbleiben bei den jeweiligen Autoren und Künstlern.
Zauberträume 9 Copyright 2003 WARP-online Herausgeber: www.WARP-online.de Satz und Layout: Bernd Timm Alle Texte und Bilder sind bereits jeweils einzeln bei www.WARP-online.de erschienen und zur Veröffentlichung durch WARP-online freigegeben. Die Magazin-Reihe ist eine Sammlung von Beiträgen, die zusätzlichen Kreis interessierter Leser anspricht und die Namen der Autoren und Künstler bekannter macht. Weder das Fehlen noch das Vorhandensein von Warenzeichenkennzeichnungen berührt die Rechtslage eingetragener Warenzeichnungen.
1000 Seiten Fantastik www.WARP-online.de bringt das ganze Spektrum der Fantastik: Bilder, Geschichten, Artikel, Projekte, Reportagen, Interviews, Wissenschaft, Comic, Kostüme, SF-Kabarett, Lyrik, Film-& TV-Projekte, Modelle und mehr!
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Inhalt Cover von Sylvia Polster Falsche Vorstellung
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von Kirsten Lang Ninias Schwester wurde von einem bösen Zauberer entführt. Kann das Mädchen sie befreien?
Stab und Feder
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von Dany Reinhardt Geschichtenerzähler kämpfen um das Wohl der Welt: Mit Wort und Tat!
Keine Geschenke
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von Carsten Blume Der Schmied gilt als Versager. Als der Drache kommt, wird er zum Ketzer...
Ein einfacher Diebstahl?
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von Gerald Hollmann Die Zauberkugel des Farani: Goodstuff wagt alles, um sie zu bekommen...
Darkangel
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von Sabine Buchmann Dark, Oberster Engel von Drannor, geht nach Lennox. Hier wartet bereits Lady Lavinia in böser Absicht...
Die Prüfung
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von Markus Regler Chyra begeht den Tag ihrer Prüfung. Und sie trifft recht erstaunliche Meister!
Buntes Gefieder
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von Cindy Ruch Eines Tages taucht ein sonderbarer Vogel auf. Und er muss einen sehnlichen Wunsch erfüllen!
Aus dem Rahmen gefallen von Sabine Hinterberger Scharlatane können täuschen. Manchmal auch sich selbst...
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Falsche Vorstellung von Kirsten Lang
Ninias Schwester wurde von einem bösen Zauberer entführt. Kann das Mädchen sie befreien?
Nichts hatte darauf hingewiesen, dass hier der Eingang lag. Der Wald dehnte sich nach allen Seiten, grün und braun soweit das Auge reichte, und niemand wäre auf den Gedanken gekommen, dass hier ein Gebäude stand. Es war nichts zu sehen. Außer diesem Tor im Nirgendwo. Ninia wäre daran vorbeimarschiert ohne etwas zu ahnen, so, wie sie seit drei Tagen ohne zu überlegen durch den Wald marschierte. Aber dann erschien auf einmal das Tor und die uralte Holztür öffnete sich knirschend. Ninia blieb wie angenagelt stehen und starrte es sekundenlang nur an. Sie wusste sofort, was es war und wohin es führte und um so wütender wurde sie, als sie sich vorstellte, wie einfach sie es übersehen hätte. Sie wäre weitergelatscht bis ans Ende der Zeit. Dann lächelte sie. Jetzt ging es los. Sie fühlte das Schicksal wie ein aufmunterndes Schulterklopfen, lächelte noch einmal, um sich selbst zu ermutigen und trat durch das Tor. Kein Licht reichte aus dem Wald durch das Tor, der Tag hörte wie abgeschnitten an der Schwelle auf. Ninia hatte keine Angst vor dem Dunkeln, aber ihr fiel auf, wie überstürzt ihr Aufbruch drei Tage zuvor gewesen war. Sie hatte nur das Schwert ihres Vaters und ein paar Brote mitgenommen; an eine Fackel hatte sie nicht einmal gedacht. Dann muss es eben ohne gehen, dachte sie trotzig und rückte das Schwert an ihrer Seite zurecht. Als sie ihren Vater um den alten Zweihänder gebeten hatte, war er wütend geworden und hatte ihr verboten, ihn auch nur zu berühren. Das war der Grund für ihren fluchtartigen Aufbruch gewesen; sie hatte das Schwert in der Nacht gestohlen und war sofort gegangen. Ninia hatte ein schlechtes Gewissen wegen dieser Sache, aber sie war überzeugt, wenn ihr Vater sie jetzt sehen könnte, wäre er stolz auf sie. Sie entdeckte die Treppe ziemlich schmerzhaft, in dem sie ungebremst gegen die unterste Stufe lief. Tapfer verbiss sie sich einen Schmerzensschrei und fing humpelnd an zu klettern. Ihre Schwester hatte inzwischen mit Sicherheit Schlimmeres erlebt. Wieder einmal machte sich dieses seltsame Gefühl in ihr breit, eine Mischung aus bodenloser Wut und Genugtuung. Kalte Wut erfüllte sie, wenn sie an diesen Scharlatan – einen Zauberer wollte sie ihn nicht nennen – dachte, der es gewagt hatte, ihr Zuhause zu überfallen und ihre geliebte große Schwester zu entführen. Aber irgendwie war es auch richtig. Tanja hatte ihr Leben lang auf Ninia aufgepasst, sie vor allem Unglück bewahrt und aus Schwierigkeiten herausgeholt. Ninia, die solange sie denken konnte immer nur so perfekt wie Tanja sein wollte, war stets nur die Rolle des dankbaren Opfers zugefallen. Aber jetzt war ihre Zeit gekommen. Eisern stapfte sie weiter, Stufe um Stufe, in völliger Finsternis. Bei jedem zweitem Schritt beglückwünschte sie sich, keine Angst im Dunkeln zu haben. Es wäre sehr schlecht, würde sie jetzt Angst bekommen. Bloß weil es dunkel war. Dunkel. Sie fasste das Schwert fester. Von wegen Angst! Zeit verging. Ninia wusste nicht, wie lange sie schon lief, oder wie viele Stockwerke sie schon passiert hatte. Sie wusste nicht einmal mehr mit Sicherheit, ob die Stufen immer noch nach oben führten, aber das ihre Füße mit jedem Schritt stärker schmerzten uns zogen, das wusste sie. Vor einiger Zeit hatte sie versucht die Stufen zu zählen; bei fünftausend hatte sie sich verzählt 4
und fast die Nerven verloren. Manchmal ist Unsicherheit dem Wissen vorzuziehen. Sie war müde und hatte Hunger. Seit heute morgen – gestern morgen? – hatte sie nichts mehr gegessen und der Hunger war das einzige, was sie noch auf den Beinen hielt. Ninia machte sich nichts vor: Sie brauchte eine Pause. Wenn sie auch nur die geringste Chance gegen den Zauberer haben wollte, musste sie so satt und ausgeruht wie möglich sein. Aufstöhnend sank sie auf eine der breiteren Stufen. Wie hätte sie auch ahnen können, dass diese verdammte Treppe so lang war? Sie packte ihr letztes Wurstbrot aus und biß hinein. Schinken, dick mit Butter unterstrichen und das Brot noch nicht ganz hart. Sie stöhnte noch einmal, diesmal vor Vergnügen und weil sie mit vollem Mund kein anderes Geräusch zu Wege brachte und vertiefte sich schmatzend in private Welten des Genusses. Als sie den letzten Krümel von den Fingern geleckt hatte und ihr Magen zufrieden mit seinem Teil der Arbeit begingen konnte, lehnte sie sich zurück und dachte nach. Das hier war ohne Zweifel die Burg des Zauberers, und folglich musste hier irgendwo Tanja gefangengehalten werden. Ninia versuchte gar nicht erst, sich vorzustellen, was er ihr angetan hatte oder antun würde, wenn sie ihn nicht aufhielt. Sie fragte sich, ob sie sich zuerst um Tanja kümmern oder dem Zauberer einen Besuch abstatten sollte. Sie entschied sich schließlich für den Zauberer, denn er konnte ihr den Weg zu Tanja zeigen, wenn sie mit ihm fertig war und außerdem konnte er sie dann nicht mehr überraschen, während sie ihre Schwester befreite. Lächelnd schlief sie ein. Sie kuschelte sich tiefer in die warmen Polster und drehte sich halb sitzend auf die andere Seite, noch nicht bereit, vollständig aufzuwachen. Es war so warm und bequem - wie zu Hause. Aber tief in ihr drinnen war ein Gefühl erwacht, dass etwas nicht stimmte. Ninia versuchte, es zu ignorieren, aber der kleinen Plagegeist gab nicht auf und piekste sadistisch lächelnd in ihrem Unterbewusstsein herum. Was sollte schon falsch daran sein, dösend in einem Sessel zu liegen? Wenn man auf kalten Treppenstufen eingeschlafen ist? Fragte der Zwerg hysterisch. Was nicht?! Sie riss die Augen auf. Es war hell. Goldgelbes Licht von vielen Kerzen und einem flackernden Kamin glänzte und leuchtete in ihren Augen. Sie saß tatsächlich in einem hochlehnigem, dick gepolsterten Sessel und jemand hatte sie in eine bunte Steppdecke eingewickelt. Es war alles so heimelig und gemütlich, das Ninia wahrscheinlich sofort wieder eingeschlafen wäre, wäre nicht der Zwerg in ihrem Hinterkopf gewesen, der sie lautstark an den Anfangsort dieser Nacht erinnerte. Sie war immer noch müde, aber auf eine angenehme, friedliche Art, in die man sich hineinkuscheln konnte wie in diese Decke. Alles lief auf zwei Fragen hinaus, dass war Ninia klar. Wo war sie? Wie kam sie hierher? Sie entschied mit Frage eins zu beginnen. Sie schloss die Augen, gähnte lautstark und markierte ein langsames Aufwachen. Sie gähnte noch einmal, dieses Mal mit mehr Nachdruck und fragte, wie sie hoffte verschlafen: ”Wo bin ich?” ”Na, da scheint ja jemand aufgewacht zu sein.” sagte eine freundliche Stimme links von ihr. Sie drehte den Kopf und begegnete einer Weste. Einer Veränderung des Blickwinkels verdankte sie es, auch den Mann erkennen zu können, der in die Weste gehörte. Er war nicht klein, wirkte aber so, weil man seine ganze Erscheinung nur als rund bezeichnen konnte. Er hatte kurze Beine, über dem ein tonnenförmiger Bauch thronte, der unbemerkt in die Brust überging, einen kurzen Hals und ein rundes, verschmitztes Gesicht, dass von einer weißen 5
Halbglatze gekrönt wurde. Auf der Nase trug er eine kleine Brille. ”Gut geschlafen?” fragte er lächelnd. Ninia erinnerte sich an ihre Erziehung und bestand deshalb nicht auf ihrer Frage, sondern erwiderte: ”Sehr gut, vielen Dank für ihre Gastfreundschaft.” ”Gern geschehen, gern geschehen.” Er hielt zwei Tassen hoch, ”Kakao zum Frühstück?” Ninia nickte nur und nahm die Tasse mit beiden Händen. Ihr Gastgeber behielt die andere und setzte sich zu ihren Füßen auf einen Schemel. Schweigend tranken die beiden einen Schluck. Der Kakao war heiß und kräftig, nicht so süß, wie ihre Mutter ihn kochte, aber den mochte Ninia sowieso nicht so gerne. ”So meine kleine Ninia, was hast du so allein da draußen auf der Treppe gemacht?” Der Zwerg ermahnte sie nachdrücklich zur Vorsicht, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Herr eine Bedrohung für sie sein sollte und selbst wenn er es gewesen wäre, sie hatte lange genug geschlafen, oder? ”Ich suche meine Schwester Tanja – sie wurde von einem bösem Zauberer entführt und die Treppe gehört zu seiner Burg.” ”Das ist ein heldenhafter Auftrag, aber, wenn du mir die Frage gestattest, wie kommst du darauf, dass der Zauberer so böse ist?” Ninia starrte ihn entrüstet an. ”Er hat meine Schwester mitten in der Nacht entführen lassen! Meine Familie und ich mussten hilflos mit ansehen, wie sie von riesigen Raben davon geschleppt wurde! Er muss böse sein!” Er trank einen Schluck und dachte nach. ”Das klingt wirklich sehr böse, so wie du es schilderst. Und deine Familie hat dich ganz allein geschickt, um so einen bösen Menschen zu stellen?” Ninia spürte, wie sie rot wurde und senkte den Kopf. Auf ihrem Kakao schwammen Schaumflecken. ”Sie haben mich gar nicht geschickt. Ich bin allein losgezogen. Ich musste doch Tanja retten!” Der Fremde nickte. ”Natürlich, das musstest du. Das hätte nicht jeder für seine Schwester getan, aber als ich dich auf meiner Treppe fand, wusste ich gleich, dass du etwas besonderes sein musst. Und ich habe mich nicht getäuscht. Du bist eine Heldin, weißt du das?” Sie sah ihn verlegen an. Es dauerte zwei Sekunden, bis sie begriff, was er gerade gesagt hatte, dann traf sie der Hammer . ”DU!” schrie sie und sprang aus dem Sessel. Sie versuchte, das Schwert zu ziehen, ihre Arme verhedderten sich in den Falten der Decke und die Waffe war nicht zu erreichen. Der Zauberer war sitzen geblieben und sah traurig zu ihr auf. ”Wenn ich wirklich so böse wäre, wie du behauptest,.” begann er leise, ”warum habe ich dich dann hereingeholt, warum habe ich dich nicht eingesperrt oder gleich verhext und warum sitzen wir dann hier und reden freundlich miteinander?” ”Und warum hast du Tanja entführt, wenn du nicht böse bist?” giftete Ninia zurück, aber sie ließ sich wieder in den Sessel fallen, weil es schon ziemlich peinlich war, in einer Steppdecke gefesselt und mit Kakaobart seinem Erzfeind gegenüberzustehen. Ein großer Hund, irgendeine Jagdmischung, tappte herein und ließ sich zwischen die beiden fallen. Der Zauberer kraulte ihn gedankenverloren zwischen den Ohren, während der Hund Ninia unverwandt mit großen, traurigen Augen anstarrte. Der Zauberer lächelte, während er das Tier betrachtete. ”Weißt du,” meinte er versonnen, ”Es ist furchtbar schwer, den richtigen Jagdhund zu finden. Sie müssen klug sein, stur und trotzdem treu. Wenn sie dir nicht treu sind, kommen sie nicht zurück. Wenn sie nicht stur sind bleiben sie nicht auf der Spur, wenn sie nicht klug sind, finden sie die Spur gar nicht erst oder jagen die Beute zu Tode, statt sie zu stellen. Deshalb ist ein Jagdhund allein nichts wert. Keiner von ihnen hat alle diese Fähigkeiten. Sie müssen sich gegenseitig ergänzen. Dieser hat noch keinen Partner. Armer Freund.” er starrte träumend ins Nichts. ”Eine Antwort.” quetschte Ninia zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. 6
Sichtlich betroffen kehrte der Magier in die Wirklichkeit zurück. ”Aber natürlich. Entschuldige, alte Männer und ihre Marotten. Der arme Kerl tut mir leid, einsam wie er ist, dass ist alles. Nun gut. Du hast gesehen, wie Tanja von den Raben fortgemacht wurde und hast daraus geschlossen, dass sie entführt wird. Ein verständlicher Schluss, aber ein falscher.” ”Ach ja?” fragte Ninia herausfordernd, ”Und wie ist der richtige?” ”Sie ist freiwillig mitgekommen. Das ginge auch gar nicht anders, denn weißt du, Magie funktioniert nur mit Vertrauen. Wenn Tanja mir nicht vertrauen würde, hätten die Raben sie niemals tragen können, denn eigentlich sind die nur so” er zeigte es mit den Händen, ”groß.” ”Das glaube ich nicht.” zur Bekräftigung ihrer Worte prostete sie ihm zu und nahm einen Schluck. Aber während der Zauberer weitersprach, spürte sie, wie seine Worte in ihrem Inneren Schaltungen auslösten. Was er sagte kannte sie nur zu gut. ”Deine Schwester ist etwas Besonderes. Ich habe noch nie einen so starken und selbstbewussten Menschen getroffen. Und das ist sie mit Recht. Ich habe sie lange beobachtet und sie ist immer mit jeder Situation fertig geworden, ohne die Nerven zu verlieren. Und sie ist klug. Sogar außerordentlich klug. Ich habe lange vergebens nach jemandem mit ihrer Mischung aus Intelligenz und Stärke gesucht – Jahrhunderte, um genau zu sein – nach jemandem, der mein Nachfolger werden kann. Tanja ist diese Person.” Er machte eine Pause und ließ seine Worte einsickern. Dann holte er tief Luft. ”Sag mir ehrlich, glaubst du allen Ernstes, deine Schwester war mit ihrem Leben bei Euch zu Hause glücklich? Sicher, ihr seid ihre Familie und sie liebt Euch alle von ganzen Herzen, aber für eine Frau von Tanjas Potential kann das doch unmöglich alles gewesen sein. Es wäre eine Sünde, solch ein Talent zu vergeuden. Tanja hat das letztendlich auch eingesehen.” Der letzte Satz klang wie ein Hammerschlag in Ninias Ohren. Natürlich hatte Tanja es eingesehen. Schließlich war es die Wahrheit. Jeder einzelne von ihnen hatte immer gewusst, das Tanja etwas besonderes war, zu gut für den Hof ihrer Eltern. Und obwohl ihre Schwester sich gegen solche Behauptungen gewehrt hatte, war es ganz klar, dass sie schließlich die Wahrheit erkannt hatte. Ninia kam sich schrecklich dumm vor. Wie immer. Tapfer schluckte sie die Tränen herunter und sah dem Zauberer direkt ins Gesicht. ”Wo ist sie? Ich würde mich gern verabschieden.” Er lächelte verständnisvoll und streichelte immer noch den Kopf des Hundes. ”Sie ist leider nicht hier. Ich habe sie zum Rat der Hexer geschickt, um ihre Lehrgenehmigung zu erbitten. Sie müssen entscheiden, ob Tanja würdig ist – dabei habe ich nichts zu suchen. Ehrlich gesagt habe ich auch nicht damit gerechnet, dass man uns so schnell einen Besuch abstatten würde.” Er lächelte und flüsterte beruhigend auf den Hund ein, der unruhig mit den Ohren zuckte. ”Außerdem,” fuhr er eindringlich fort, ”weiß ich keinen Grund, warum du dich von ihr verabschieden solltest. Willst du wirklich nach Hause?” Ninia wollte praktisch automatisch nicken, aber dann fiel ihr die Tracht Prügel ein, die sie von ihrem Vater für den Raub des Schwertes kassieren würde und wie einsam und traurig der Hof ohne Tanja sein würde. Und wie sehr sie sich mit ihrer Rettungsmission blamiert hatte. Niedergeschlagen schüttelte sie den Kopf. Der Zauberer nickte verständnisvoll und tätschelte ihre Armlehne, als würde er nicht wagen, sie wirklich zu berühren. ”Das musst du auch nicht. Genauso wenig, wie du dich von Tanja trennen musst.” ”Aber ich will keine Magierin werden!” begehrte sie auf, denn auf einmal verstand sie den Plan des Zauberers. Aber der lächelte nur leicht belustigt und schüttelte den Kopf. ”Ich will dich nicht verletzten, aber ich glaube nicht, dass du dazu in der Lage wärest. Deine Talente liegen in anderen 7
Gebieten. Lass mich erklären, was ich meinte, bitte. Wenn Tanja vom Rat gebilligt wird, muss ich zur Akademie ziehen, damit sie in allen Fächern der Kunst auf die richtige Art ausgebildet wird. Ich allein könnte das niemals schaffen. Auf der Akademie werden aber nicht nur Zauberer ausgebildet, sondern auch viele andere Handwerke. Unter anderem befindet sich dort eine ausgezeichnete Schule der Kriegskunst. Würde es dir nicht gefallen, eines Tages der Leibwächter deiner Schwester zu sein?” Kriegerin? Eine Heldin? Sie würde ihre Schwester beschützen, nicht umgekehrt! Ihr Traum konnte immer noch wahr werden. Der Zauberer war aufgestanden und sah nun auf sie herab. Sie spürte, wie ein glückliches Lächeln auf ihrem Gesicht wuchs und ihm entgegen strahlte. Ninia sprang auf, kämpfte ihre Arme aus dem Gewirr der Steppdecke und fiel ihm um den Hals. Den kleinen Zwerg, den sie schon seit einer Weile erfolgreich überhörte, setzte sie endgültig vor die Tür. Die Arme des Zauberers schlossen sich fest um sie, er würde sie nie mehr alleine lassen. Seine Augen begannen zu glühen und Ninia spürte, wie der Blick sie anzog und festhielt, bis sie das Einzige waren, was sie noch sehen konnte und wollte. Sie fühlte eine Veränderung beginnen, und einen winzigen Augenblick lang hatte sie Angst, aber dann fiel ihr wieder ein, dass dieser Mensch ihr niemals etwas Böses tun würde und ließ sich freudig fallen. Sie spürte eine Treue zu diesem Mann, ihrem Herren in sich wachsen, der so gut zu ihr war, der sie streichelte und versorgte, der zum wichtigsten Teil in ihrem Leben wurde. Sie reckte sich höher, um ihm näher zu sein, rieb ihren Kopf an seiner Wange und spürte das Kitzeln der Haare. Sie wurde weniger, ging verloren im warmen Gelb und fühlte sich so glücklich wie noch nie. Ihre Hinterbeine wollten sie nicht mehr tragen und zitternd vor Erregung fiel sie zurück auf alle Viere, um sofort wieder hochzuspringen und jaulend zu versuchen ihren Herren abzulecken. Ihr Schwanz zuckte hin und her, als der Zauberer sie lachend wieder nach unten schob und ihre Nase den so lange vermissten Geruch endlich erkannte. Ihre Schwester begrüßte sie mit einem ungestümen Stupser und gemeinsam umkreisten sie die Beine ihres Menschen, aufgeregt und freudig, denn ihr Meister liebte sie und sie waren endlich wieder vereint. ”Jaja, meine Lieben,” lachte der Zauberer, ”Euer Vertrauen soll ja belohnt werden! Wir werden jagen gehen, was denkt ihr, meine kleinen Lieblinge?”
ENDE
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Stab und Feder von Dany Reinhardt
Geschichtenerzähler kämpfen um das Wohl der Welt: Mit Wort und Tat!
Rauchschwaden durchzogen das Dämmerlicht des kleinen Schankraumes. Der bittersüße Duft von glimmenden Calabrysblättern lag in der Luft und machte das Atmen schwer. Ein Mann im rotbraunen Burnus der Wüstenbewohner beobachtete interessiert die anderen Gäste. Er lehnte mit dem Rücken am Tresen, wobei er sich mit den Ellenbogen abstützte. Es herrschte bereits reger Betrieb, gut zwei Dutzend Reisende - zumeist Handwerker und Söldner - sowie einheimische Bergleute und Edelsteinschleifer nahmen einen Großteil der Taverne ein. Unter den Besuchern konnte er aber auch drei verhüllte Gestalten einer anderen Zunft zuordnen. Diese Kopfgeldjäger waren allgegenwärtig, seit vor wenigen Jahren die Handelsgilde die Führung der Wüstenkolonien übernommen hatte. Der Mann ließ seinen Blick nicht länger auf den Vermummten verweilen. Zum Einen konnten diese zwielichtigen Gestalten sehr reizbar sein, wenn sie sich beobachtet glaubten, zum Anderen langweilten sie ihn, denn sie töteten erbarmungslos und in seinen Augen ohne Verstand und Ehre andere Menschen für ein paar Silbermünzen. Einziger Trost bei dieser Tatsache war, daß die Händler sowohl Auftraggeber als auch Opfer der Meuchler waren, denn stets wurden diese skrupellosen Killer von machthungrigen oder rachsüchtigen Händlern angeheuert, um einen Rivalen ihrer Gilde unschädlich zu machen. Am anderen Ende der Theke saß ein Priester, der schon seit geraumer Zeit unverständliche Gespräche mit einem imaginären Gegenüber führte. Er hatte einen hochroten Kopf und offenbar in großem Maße dem "grünen Knüll", einem stark alkoholischen, mit Kräutern versetzten Pilzlikör zugesprochen. Den Hauptertrag der ansässigen Opalminen machten natürlich die Edelsteine und zahlreiche Halbedelsteine aus, doch berühmt wurde dieser Landstrich durch die leicht fluoreszierenden Knüll-Pilze, die an den Wänden der tiefer gelegenen Minenschächte wuchsen und aus denen die Wüstenbewohner einen hochviskosen, fast geschmacksneutralen Schnaps brannten. Dieser wurde im Laufe der Zeit mit allerlei Beiwerk zu immer neuen Mischgetränken variiert und gewann so selbst an den entfernten Höfen fremdländischer Herrscher an Bedeutung. Der Geistliche brütete weiter vor sich hin, hingebungsvoll mit einem unbekannten Schicksal hadernd. Der Wirt ließ den Beobachter aufschrecken, als er ihm einen Krug dünnes Sauerbier servierte. Er strich die ihm dargebotenen Kupfermünzen ein und widmete sich wieder dem Polieren seiner Gläser und Krüge. Der Gast verzog enttäuscht das Gesicht, nachdem er einen Schluck des schalen Getränks probiert hatte. Wie gern hätte er jetzt ein dunkles Starkbier aus den nördlichen Wüstenregionen! Doch dieses wässrige Gebräu war die einzige Flüssigkeit in dieser Einöde, die nicht mit Pilzen versetzt war. Selbst das Trinkwasser hatte einen leicht grünlichen Schimmer, weil auch in den Brunnen und Zisternen diese penetranten Knülle wucherten. Seine Gedanken schweiften ab, durchstreiften die letzten Ereignisse und ließen ihm seinen Kampf gegen die um sich greifende Ignoranz und Unaufgeklärtheit der jüngeren Generation sinnlos erscheinen. Seit der Machtübernahme der Gilde wurde in den wenigen Schulen des Landes nur noch Rechnen und Schreiben gelehrt, die alten Lehrer mit ihrem Wissen um Geschichte, Kultur und Ethik wurden entmündigt oder des Landes verwiesen. Selbst seine eigene Zunft, der "Bund von Stab und Feder" wurde von den Verführungskünsten der Handelsherren - die allesamt Hexer waren - entzweit, so daß eine Splittergruppe der einst so ehrenhaften Kämpfer nun Kinder in den Stabkünsten unterwies, ohne ihnen vorher die "Grundregeln der Einigkeit" beizubringen, die den Schülern Mitgefühl und Verständnis für die Beweggründe des Anderen vermitteln sollten. Ziel der Händler war es wohl, eine Armee von überlegenen Kämpfern auszubilden, die nicht über ihre Taten nachdachten - perfekt für 9
die Gildenführer, wahren Meistern der Manipulation - dumm, stumm und dienend. Sein Ziel war es, diesem Treiben ein Ende zu bereiten. Nicht, indem er die Gruppe der Abtrünnigen im Kampf dezimierte, sondern indem er ihnen - getreu den Leitsätzen des Bundes - eine Geschichte erzählte, die sie zum eigenständigen Denken anregte. Schon öfter ließ er einen unwissenden Stabkämpfer zu seinen Leuten zurückkehren, ohne dass dieser den Keim des Zweifels bemerkte, den die Geschichte des Erzählers in sein Herz pflanzte. Nach und nach verdichteten sich bei den jungen Menschen die Zweifel ihrer Taten und sie begannen über das Richtig und das Falsch nachzudenken. Nun, was richtig war wussten vermutlich auch nicht die Weisesten, doch die unerfahrenen Kämpfer kamen bald zu der Erkenntnis, dass ihr bisheriger Weg ihre Freiheit und Persönlichkeit in eisernem Griff hielt und dass der Weg der gewissenlosen Hexer der falsche war. So lehnten sie sich auf und entkamen den Fesseln der Gilde, um wieder zum ursprünglichen Bund des Fechtens und des Erzählens zurückzukehren. Nur selten verließen die ehemaligen Diener ihre verruchten Herren allein, meistens steckten sie mit ihrem Freiheitsdrang ihre Gefährten an und flohen in kleinen Gruppen. So erzielten die Geschichtenerzähler des Bundes große Erfolge, ohne dass die Gilde ihre eigenen Verluste auf den "Bund von Stab und Feder" zurückführen konnte. Doch nun war der "Bewahrer" wie er und die anderen reisenden Geschichtenerzähler in Kreisen des Bundes genannt wurden, hinter einem der Anführer der korrupten Splittergruppe her. Er war Talomir - denn das war der Name des Verräters - schon zweimal dicht auf den Fersen, konnte ihn jedoch nie selbst zu Gesicht bekommen. Jedes mal fand er nur die halbherzig verwischten Spuren des Abtrünnigen vor, etwa das Grab eines Herausgeforderten, der im Ring der Stäbe sein Ende fand, oder den Hinweis auf einen plötzlich verschwundenen Stabkämpfer, der sich offensichtlich der Gefolgschaft Talomirs angeschlossen hatte. Auffällig war, dass in allen Fällen nur die (nach den Novizen) rangniedrigsten Krieger betroffen waren... Nachdem er zum wiederholten Male erfolglos blieb, ersann der Jäger eine neue Taktik, die ihn für den jungen Talomir zum Gejagten machen sollte. Da der Fehlgeleitete nicht wusste, dass er verfolgt wurde, ließ der Bewahrer in verschiedenen Lokalitäten verlauten, dass ein umherziehender Meister des magischen Stabkampfes des öfteren den Namen eines gewissen Talomir mit Hohn und Spott befleckte. Er sorgte auch dafür, dass sein eigener Name ins Spiel gebracht wurde und ließ niemanden im Unklaren über seinen Aufenthaltsort. Diese Finte war nicht besonders einfallsreich, doch aus Erfahrung wusste der weitgereiste Geschichtenerzähler und Stabmagier, dass Talomirs überheblicher Stolz die Falle zuschnappen lassen würde. Nun brauchte er nur auf die Ankunft des Überläufers warten. Dies tat er mit der Geduld einer Spinne, die ihr Netz gewoben wusste. Durch das milchige Fenster neben der Tür konnte er sehen, dass die Sonne bereits im Begriff war, ihren Weg hinter dem Horizont fortzusetzen. Gerade berührte der glühende Ball die rote Wüste, als die zweiflügelige Tür aufgestoßen wurde. Sandiger Wüstenwind drang in den Schankraum und alle Anwesenden - mit Ausnahme des betrunkenen Priesters - beäugten größtenteils missmutig den Neuankömmling. "Ich suche den Todgeweihten, den man Mel den Bewahrer nennt." Der suchende Blick blieb an einem Gast im rotbraunen Burnus hängen, der mit dem Rücken am Tresen lehnte. Auch Mel hatte in dem Jungen sofort den gesuchten Talomir erkannt. Die Blicke der beiden Männer trafen sich und es kehrte Stille ein. Der junge Krieger mit dem - für sein Alter erstaunlichen - Rang eines Stabhüters fixierte mit rastlosen Augen sein Gegenüber. Nach der Herausforderung war der Ring der Stäbe, ein Kreis von etwa fünf Schritt Durchmesser, begrenzt von dreizehn Kampfstäben im Nu abgesteckt. In Ermangelung einer so großen Anzahl an Stäben wurden kurzerhand Besen- und Schaufelstiele verwendet, die der Wirt großzügig zur Verfügung stellte, denn ein Stabkampf im Ring war hierzulande eine gern gesehene Darbietung, die des öfteren mit Wetten um Lokalrunden 10
einherging. Mel beobachtete indessen jede Bewegung des Herausforderers, um eine eventuelle Schwachstelle ausfindig zu machen. Talomir machte einen etwas ungestümen Eindruck, doch er schien nicht die geringste Unsicherheit zu verspüren. Vielmehr sprach aus seinen Augen die pure Kampfeslust. Mel nahm sich vor, diesen Kampf möglichst schnell zu beenden und seinen Gegner keinesfalls zu unterschätzen. Er holte seinen Stab hervor, der wie der seines Gegners nur knapp drei Ellen maß. Während dieser jedoch seine Waffe durch gewandte und kompliziert wirkende Gesten zu voller Größe entfaltete, hielt Mel den Stab mit ausgestrecktem Arm schräg vor die Brust und befahl ihm mit einem Wort, seine wahre Gestalt anzunehmen; "Harmonie!" Um den Stab züngelten plötzlich unzählige schlangenähnliche Gestalten, zu schnell und zu winzig als dass man ein einzelnes dieser Wesen hätte ausmachen können. Der gesamte Stab schien mittlerweile lebendig, und die Zuschauer gaben Laute des Erstaunens von sich, als die Waffe aus sich selbst heraus zu wachsen schien, bis sie die die volle Größe ihres Meisters erreicht hatte. So überraschend die kleinen Wesenheiten aufgetaucht waren, so plötzlich waren sie auch wieder verschwunden. Der Stabmagier ließ seine Waffe sinken und sah Talomir herausfordernd an. "Nun, junger Hüter, lasse Taten deinen großen Worten folgen!" Doch wider Erwarten stürmte der Stabhüter nicht mit seiner Waffe auf den Gegner los, sondern eröffnete den Kampf mit einem Zauber. Aus den Fingerspitzen seiner hocherhobenen Linken stießen Feuerzungen hervor, die sich im Bereich der Handfläche vereinigten und mit geballter Kraft auf Mel niederstießen. Dieser hatte zwar nicht damit gerechnet, dass der Jüngere schon zu Beginn einen großen Teil seiner magischen Kraft aufwandt, doch die Flammenlanze war eine der Standardattacken im Ring, so dass er jederzeit auf einen solchen Angriff vorbereitet war. Leider steckte Talomir voller unvorhersehbarer Überraschungen. Die elementare Lanze galt nicht Mel selbst, der bereits einen Gegenzauber gewoben hatte, sondern seinem Stab! Als der Feuerzauber mit ungebremster Wucht in den Stab einschlug, wurde Mel herumgerissen und ein stechender Schmerz fuhr ihm in die rechte Schulter. Geistesgegenwärtig hielt der Stabmagier die linke Hand an das andere Ende seines Stabes und krümmte die Finger. Er murmelte eine Formel vor sich hin, die er schon seit der Novizenzeit nicht mehr benötigt hatte. Damals diente ihm dieser Spruch dazu, aus einem Feuer eine kleine Flammenkugel herauszulösen, um diese als tragbare Lichtquelle zu nutzen. Jetzt zog er die Hitze der gesamten Feuerlanze aus seinem Stab heraus und beschwor den elementaren Wind in der Absicht, die Flamme zu verstärken und auf seinen Widersacher zu schleudern. Mit wenigen Sätzen war Talomir heran und schlug mit seinem durch einen weiteren Zauber verstärkten Kampfstab auf den Magier ein, der sich gerade wieder zu ihm herumdrehen wollte. Er musste den Kampf beenden, bevor der weitaus mächtigere Bewahrer Mel zurückschlagen konnte. Mit voller Wucht traf seine Waffe auf die ungeschützte Seite des Feindes. Mel spürte die Nähe seines Gegners im Nacken. Sein experimenteller Zauber verließ mit dem Schwung der Drehung seines Körpers die Handfläche, als ein mächtiger Hieb die Luft aus seinen Lungen trieb. Mit einem unangenehm berstenden Geräusch gaben einige seiner Rippen dem ungeheuren Druck nach. Mel sank mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Knie und kämpfte gegen die drohende Ohnmacht an. Talomir hörte mit Genugtuung die Knochen seines Gegners brechen. Er musste nachsetzen, er musste hier und jetzt den Sieg davontragen! Seine magischen Kräfte waren fast völlig aufgebraucht, er musste... seine Gedanken verglühten in einem zerstörerischen Feuerball. Mel schaffte es, seinen geschundenen Körper wieder aufzurichten und sog pfeifend die Luft ein. Am anderen Ende des Ringes lag zusammengekrümmt und stöhnend Talomir. Der Kampf war entschieden. Doch der Bewahrer schalt sich selbst einen Narren. Er war sehr unvorsichtig gewesen! Eine seiner Schwächen war es Leute zu unterschätzen, die aus für ihn niederen Beweggründen handelten. Wie konnte jemand, der sein Leben allein dem Wohlstand und dem 11
Machtgewinn widmete einen Gelehrten und sich des Daseins gänzlich bewussten Mann derartig überrumpeln? Nun, er hatte es gesehen und konnte froh sein, überhaupt mit dem Leben davongekommen zu sein. Er schleppte sich zu seinem Herausforderer, der nun seinerseits versuchte, eine abwehrende Haltung einzunehmen. Sein Brustharnisch war vom Feuer größtenteils vernichtet worden. Aus den Resten des darunter liegenden Hemdes quollen blasig geschwärzte Hautfetzen hervor. Als Talomir klar wurde, dass er sich nicht gegen einen möglichen weiteren Angriff zur Wehr setzen konnte, kamen ihm die Tränen und er erflehte die Vergebung seines Bezwingers. Zu seinem Entsetzen wurden nun Rufe der Zuschauer laut, die den Sieger aufforderten, den Besiegten zu töten. Mel beugte sich über ihn und sah ihn lange schweigend an. In den Augen seines Gegenübers sah Talomir das Gesicht eines vereinsamten und verängstigten Kindes. Er senkte seinen Blick, als der Magier leise und eindringlich zu sprechen begann. "Warum sollte ich euer Leben schonen? Ihr seid keine Zier für unsere Zunft. Ihr messt euch mit anderen um Ruhm zu erlangen, nicht um zu lernen. Ihr sucht den Kampf um ihn zu bestehen, nicht um das Leben im Angesicht des Todes zu begreifen, und nun winselt ihr um Gnade ohne auch nur einen einzigen Gedanken an die Bedeutung dieses gehaltvollen Wortes zu verschwenden! Die heuchlerische Existenz euresgleichen ist ausreichende Begründung, allem Glauben an die Vernunft abzuschwören, doch damit nicht genug! Ihr vergiftet die Gedanken derer, die ihren Weg noch suchen, ihr benebelt ihren unreifen Geist und erstickt damit jede Hoffnung auf eine Besserung dieser grausamen Welt. Das Netz der Torheit zieht immer weitere Kreise, kaum zerschneidet man einen Faden, werden an anderer Stelle zwei neue gewoben." Mel hielt in seiner verbitterten Rede inne, um die Gedanken Talomirs zu ergründen. "Ja, ich werde euch euer armseliges Leben lassen, doch im Gegenzug werdet ihr mich ein Jahr und einen Tag begleiten. Ich werde euch Geschichten erzählen und euch die Tugenden des Bundes lehren. Nach dieser Zeit könnt ihr euer weiteres Dasein fristen, wie es euch beliebt." Damit wandte er sich ab und verschwand wieder in der kleinen Taverne. Auch die Beobachter des Kampfes zerstreuten sich und verschwanden in verschiedenen Gebäuden der Siedlung. Zurück blieb ein staubiger Schatten im glühenden Licht der untergehenden Sonne. Etwa ein Jahr später kehrte ein einsamer Reiter in der Taverne ein. Unter seinem rotbraunen Gewand trug er einen kurzen Stab. Er bestellte ein Bier, das einzige Getränk ohne KnüllpilzZusatz und beobachtete die anderen Gäste. Der Wirt überlegte eine lange Weile und fragte dann den Fremden, ob er ihn nicht schon einmal hier gesehen habe. Dieser antwortete, dass ihm diese Frage häufiger gestellt werde, es musste wohl jemanden geben, der ihm ähnlich sähe. Der Wirt wandte sich mit einem Schulterzucken ab und der Fremde richtete seinen Blick wieder auf die zweiflügelige Eingangstür. Der junge Beobachter fügte leise hinzu: "Dieser Jemand ist vor über einem Jahr gestorben". Ein Priester, der am anderen Ende der Theke saß, glotzte den jungen Mann abwesend an und nickte beifällig. Ein Schatten verdunkelte die Tür, die kurz darauf aufgestoßen wurde. Talomir lehnte sich zurück und lächelte.
ENDE
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Keine Geschenke von Carsten Blume
Der Schmied gilt als Versager. Als der Drache kommt, wird er zum Ketzer...
Theandors Hammer senkte sich mit ungestümer Kraft auf das glühende Werkstück hernieder. Die Funken stoben in alle Himmelsrichtungen davon um auf ihrem Weg zum staubigen, rußigen Boden der Schmiede zu verglühen wie kleine Sternschnuppen auf ihrer Reise durch die Gestirne der Nacht. Theandor ächzte, seine Muskeln schmerzten vom immer wiederkehrenden Schwingen des Schmiedehammers und seine Augen brannten vom Qualm des Schmiedefeuers als seien sie selber entbrannt. Wieder fokussierte er im Halbdunkel seiner Werkstatt das glimmende Metallstück, wieder holte er aus und der Hammer fuhr hernieder, dass die Funken stoben. Er hielt einen Moment inne und sann darüber nach, ob es wirklich klug war, die Hütte, in der eine Schmiede sein sollte, ohne Fenster zu errichten, gerade eine Schmiede, dachte er. Aber schließlich war es Theandors eigener Wunsch gewesen, genau dies wollte er. Keine Fenster, bloß keine Fenster, er wollte nicht, dass das Volk von draußen hereinschaut, ihm, Theandor, auf die Finger schaut bei seiner Arbeit. Nein, er war lieber allein, er brauchte sie alle nicht. Nur einer war ihm über die Jahre seines Schaffens in diesem Dorf lieb und wichtig geworden: Jurgol. „Jurgol, heiz das Feuer weiter an und leg noch einige der trockenen, kleinen Scheite hinzu, das Feuer braucht mehr Kraft!“ „Ja Meister, sofort!“, antwortete der Junge. Jurgol mochte vielleicht fünfzehn Lenze zählen, auf einen mehr oder weniger kam es ohnehin nicht an. Er war ein kräftiger, junger Bursche der gut zupacken konnte, das schätzte Theandor an ihm. Jurgol schnappte sich einige der an der ruß-schwarzen Mauer aufgestapelten Scheite und heizte die Esse erneut an. Die Flammen tauchten den Raum mit ihrem Schein in ein wohlig warmes Licht. Theandor legte das Eisen in das frisch angefachte Feuer und trat einen Schritt zurück. Er wischte sich mit dem Unterarm einige Schweißperlen von der Stirn, die Hitze machte selbst ihm nach den langen Stunden der harten Arbeit zu schaffen. Er betrachtete Jurgol, dessen Blick verträumt den Rauchschwaden folgte, welche durch den Abzug in der Mitte des Daches entwichen. Der Himmel begann langsam sich rot zu färben, der Abend nahte. „Es ist schon spät.“, bemerkte Theandor, „Geh lieber heim, du bist am Rande deiner Kräfte und den Rest schaffe ich auch alleine.“ Jurgol nickte ihm zu und wandte sich zur Tür, er öffnete sie und schirmte mit der Hand seine an das Halbdunkel gewöhnten Augen gegen das gleißende Licht der untergehenden Sonne ab. Die Tür fiel hinter ihm zu und Theandor war alleine. Dennoch fiel ihm die nun herrschende Stille nicht auf. Er und Jurgol hatten nie viel gesprochen, sie brauchten es nicht, sie verstanden durch Blicke oder Gesten das auszudrücken, was sonst vieler Worte bedarf. Die Tür flog auf und begleitet von einem kühlen Hauch der abendlich frischen Luft betrat ein Mann den Raum. Die kalte Luft ließ in ihrem stetigen Bemühen sich mit der siedenden Hitze der Schmiede zu verbinden den Rauch der Esse in kleinen Wirbeln tanzen. Theandor schauderte es, als die Kälte seinen schweißnassen Oberköper umspielte um sich in seinem durchnässten Hemd zu fangen. „Theandor, du Lump! Schon seit fünf Sonnenläufen versprichst du mir, dass mein Schwert endlich fertig ist! Erkläre dich!“, es war Marim, der die Schmiede betreten hatte. „Wie ihr seht, arbeite ich gerade daran. Ein gutes Werk ist nicht in einem Tag vollbracht, es braucht seine Zeit, mein Herr!“, Theandor umrundete geschickt Marim um zu verhindern, dass ein weiterer Zug kalter Luft durch die noch offene Tür hereindrang. 13
„Gute Werke sucht man bei Euch doch wohl vergebens! Nichts weiter als ein Nichtsnutz, der kaum zu mehr als einem durchschnittlichen Schmied taugt, seid ihr! Morgen bei Anbeginn der Dämmerung erwarte ich mein Schwert in den Händen zu halten und keinen Deut später!“, mit diesen Worten stieß Marim erneut die Tür auf und verschwand wutentbrannt in die heraufziehende Dunkelheit. Theandor schloss die Tür abermals. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen sie und sank mit einem tiefen Seufzer zu Boden. Bedächtig und erschöpft ließ er sein raues, stoppeliges Kinn auf seine Brust sinken. Bis zum Morgengrauen sollte er das Schwert vollenden. Es erschien ihm unmöglich. Die Kälte, die durch das Holz der Tür, an der er lehnte, in jede Faser seiner Muskeln kroch, ließ ihn die Ermattung nur noch deutlicher spüren, aber er musste es schaffen. Marim hatte recht, schon zu lange hatte er ihn vertröstet. Doch bevor er sich daran machen würde, die Nacht hindurch den kläglichen Versuch zu machen das begonnene zu vollenden, brauchte er eine Stärkung. Ein kühles Met und eine deftige Mahlzeit, das war es was er nun brauchte, und ein Besuch in der Taverne sollte genau dies Verlangen stillen. Noch einmal schürte er die Esse, bis die Flammen hell und klar herausloderten, er würde bald zurück sein und die Hitze brauchen. In der Taverne kamen Fischer und Jäger zusammen um bei einem kühlen Glas Met ausgelassen den reichen Fang des Tages zu feiern oder die Wut über das anhaltende Ausbleiben des selben zu ertränken. Zu dieser späten Stunde glich dieser Ort der Zuflucht einem Bienenstock. Theandors Gedanken jedoch waren weit fern dieses Ortes, sie schweiften einzig und allein um das Feuer, das Eisen. Allein bei dem flüchtigen Gedanken an den herniedersausenden Hammer schmerzte sein Arm. Sein Körper war zwar hier in der Taverne, doch sein Geist ließ nicht ab von der Marter der Arbeit, die noch auf ihn wartete. Er hatte das ohnehin karge Licht der Öllampe in der kleinen Nische, in der er alleine saß, noch weiter zurückgenommen, so dass die Lampe stets gegen das nahe Erlöschen kämpfte. Auch seine Augen sollten einen Deut Schonung bekommen, wenn auch einen viel zu kurzen. Ohne es wirklich wahrzunehmen aß und trank er, Theandor schmeckte weder noch roch er, einzig und allein spürte er, wie Kraft und wohlige Wärme wieder durch seinen Körper zu strömen begannen. Die Stimmen und Rufe der anderen Gäste drangen nur wie ein gedämpftes Tosen in seinen Geist hinein. Doch das Tosen nahm zu. Es wurde lauter und lauter bis an die Grenze des Erträglichen heran. „Und dieser Mann ist Schuld!“ Theandor wurde schlagartig aus seinen Gedanken gerissen. Ein kräftiger, hochgewachsener Mann mit halbzerrissenem Beinkleid deutete mit seinem von getrocknetem Blut bedeckten Finger auf ihn. Erst jetzt bemerkte Theandor den Grund des lauten Getöses. Ein Verletzter war auf einer Bahre hereingetragen worden. Er kannte den aus zahlreichen Wunden blutenden Mann. Es war Smergil, einer der besten Jäger des Dorfes, und der Mann, der noch immer mit wutverzerrter Fratze auf ihn deutete, musste sein Bruder Gmerdil sein. „Du bist Schuld!“, wiederholte er, „Es war deine Klinge, die brach und sich in seine Schulter bohrte, als der Eber ihn niederriss! Du dreckiger Bastard!“ Theandor erhob sich und verließ unter den anhaltenden Beschuldigungen und Verunglimpfungen des Gmerdil die Taverne. Noch zu viel gab es zu tun, als dass er sich mit diesem einfältigen Jäger, der verzweifelt einen Sündenbock suchte, hätte abgeben können. Wie erwartet war das Feuer der Esse noch heiß als Theandor zurückkehrte. Seine Hand umgriff den Hammer und er begann wie ein verletztes Tier auf das Eisen einzuhämmern. Bei jedem Schlag und jedem monotonen Aufprall des Hammers schoss es ihm durch den Kopf: 14
„Du bist Schuld“, „Du bist ein Nichtsnutz!“, „Nicht mehr als Durchschnitt!“, er ließ den Hammer ruhen. Sie hatten recht. Er war nicht mehr als ein einfacher durchschnittlicher Schmied. Aber dennoch wünschte er sich auch nicht mehr zu sein. Er wollte nur ein einfaches Leben als einfacher Schmied in aller Ruhe führen. Das war es was Theandor wollte. Erneut wurde Theandor aus seinen Gedanken gerissen als ein unermesslich lautes Krachen, gleich dem einstürzender Häuser, durch die Strassen des Dorfes gellte. Es folgte Stille. Eine unermesslich lange, tiefe Stille. Es war eine Stille von Sekundenbruchteilen gleich der Stille, die ein Stein hören musste, wenn er nach dem Eintauchen auf den Grund des Sees sank. Dann plötzlich Schreie. Irgendetwas war geschehen. Theandor ließ seinen Hammer fallen und stürmte gleich einem aufgeschreckten Raubtier aus der Schmiede. Die Strassen waren gefüllt mit hysterischen Menschen, die Theandor entgegenkamen. Er lief gegen den Strom der Menschen an. Immer wieder wurde er von rempelnden Schultern oder Mauern gleichenden Menschenmassen behindert und zurückgedrängt. Doch schließlich sah er ihn, dort mitten auf dem Marktplatz, wo eben noch die Taverne stand, thronte er, es war unfassbar, es war ein Drache. Dort stand er, keine fünfzig Schritte von Theandor entfernt, ein wahrhaftiger Drache. Die grünbläuliche Farbe seiner schuppigen Haut ließ ihn fast mit dem sternenbesetzten Nachthimmel verschmelzen. Das Firmament seiner ledrigen Schwingen bedeckte eine Fläche von sicherlich fünfzehn mal vierzig Schritt. Sein wuchtiger Rumpf und die tödlichen Klauen ließen Theandor erschaudern. Dieses Wesen kam bestimmt nicht in Frieden, dies war klar. Und wer es nicht aus der infernalischen Statur dieses Geschöpfes erkennen konnte wusste dies, wenn er seine Augen sah. Von einer Höhe, die drei Hütten entsprach, stieren sie auf einen herab. Diese unheilvollen, seelenlosen Augen, wie zwei blau funkelnde kleine Sterne, wie Aquamarine des Todes und des Bösen. Doch er rührte sich nicht. Nahezu majestätisch beherrschte er rein durch seine Anwesenheit diesen Ort. Ein Speer, er flog durch die Luft, beherzt geschleudert sollte er sein Schicksal als Vorbote des nahen Todes erfüllen. Erst jetzt bemerkte Theandor, wie sich in seinen Augenwinkeln die Schatten zwischen den Trümmern und Hütten sammelten. Leise huschten die geübten Jäger von einer Nische in die nächste, wie graue Katzen vermochten sie sich im fahlen Mondlicht mit dem Grund, vor dem sie weilten, zu verbinden. Es war Gmerdil, der den Speer schleuderte. Und er flog, er flog in weitem Bogen direkt auf das Ungetüm zu. Das Band, das die Spitze des Speers zierte, wurde zum Spielball des Windes. Die scharfe Klinge teilte kaum hörbar Luft, Nacht, Stille und Frieden entzwei. Sie traf, sie traf die Brust des Drachen. Unter einem gleißenden Klirren zerbarst die Spitze des Speers an den Schuppen des Kolosses. Er stand, er stand dort und rührte sich nicht. Einzig seine Augen blitzten als Zeichen des nahen Endes. Wie ein Mahnmal ruhte sein Blick auf Gmerdil. Ein Flackern, ein kleiner Lichtblitz, das war alles was Theandor verriet, dass jemand auf der anderen Seite des Marktplatzes sein Schwert gezogen hatte, in dem sich nun der Mondschein wie ein Versprechen spiegelte. Das Lichte löste sich erst hektisch, dann tanzend wie ein Glühwürmchen in einer lauen Sommernacht aus den Reihen der Schatten. Es war ein junger Jäger, der, unfähig den Feind einzuschätzen, hervorpreschte. Er lief gleich einem Kind, das in freudiger Erwartung der Heimkehr seiner Eltern ist, den ausgestreckten Armen des Todes 15
entgegen. Doch der Drache rührte sich nicht. Der Jüngling hieb auf die Klaue des Drachen ein, er hieb und hieb, unfähig auch nur eine Scharte in eine der Schuppen zu schlagen. Theandor stockte der Atem. Er sah es, er sah wie langsam, nahezu unmerklich vor dem dunklen Sternenhimmel eine Bewegung auszumachen war. Es war nichtmals eine wirkliche Bewegung, doch er sah es, er sah wie sich die Schuppen leicht bewegten, wie sich die Reflexion des Mondes in ihnen änderte, er sah wie sich jeder Muskel, jede Faser im Körper dieses Kolosses spannte. Es folgte der Ausbruch. Fast zu schnell für das menschliche Auge, unzumutbar schnell für einen solchen Giganten schnellte seine Klaue empor. Sie traf den Jäger direkt am Rumpf, aus dem das Blut wie aus einer frischen Quelle zu rinnen begann. Der Körper des Jünglings wurde empor geschleudert und noch bevor er wieder den Boden berührte war er tot. Kein Schrei war zu hören, zu schnell war er gestorben. Die Schatten lösten sich, sie entrissen sich selbst der Dunkelheit um den Freund zu rächen. Alle Scheu war vergessen. Aus einer Gruppe erfahrener Kämpfer wurde ein Rudel wilder Tiere, die man in die Enge getrieben hatte. Sie griffen an. Ihre Äxte und Schwerter wutentbrannt dem Gegner entgegenreckend, die Gesichter entstellt vom Schmerz des Verlustes, stürmte wohl ein gutes Dutzend in wilder Entschlossenheit dem Drachen entgegen. Zu blind vor Hass, zu blind vor Gier nach Vergeltung, blieb es ihren Augen verschlossen, dass sich der Rachen des Ungetüms öffnete. Die Schar hatte den Marktplatz gut und gerne zur Hälfte hinter sich gelassen, als es geschah. Eine Feuerlanze schoss gleißend aus dem weit aufgerissenen, zahnbewährten Maul des Drachen und ergoss sich mitten in die heraneilenden Kämpfer. Es war anders, es war nicht zu vergleichen mit dem Feuer wie man es in einer Esse kannte, es war von einem strahlend hellen Blau. Es war kalt und doch brannte es. Es ergoss sich in die Menge und doch traf es wie Stein. Es war weniger eine Feuerlanze als denn ein Hauch des Todes. Die Männer schrieen. Ihre Schwerter schmolzen, die Rüstungen brannten sich tief in alles was brennen konnte, die Welle des Feuers fegte sie von den Beinen und der Dunst verschnürte ihre Kehlen. Theandor haderte, er rang mit sich selbst, was sollte er nur tun? Tief in ihm fand ein Kampf statt. Jede Faser seines Körpers begehrte auf, sie wollte sich in den Kampf werfen, wollte all dies beenden. Doch warum? Warum sollte er diesen Menschen, die ihn mit Nichtachtung und Geringschätzung straften, helfen? Sie würden seine Hilfe wahrscheinlich weder wollen noch gutheißen! Nein, er würde sich nicht in diesen ungleichen Kampf werfen, nicht für diesen Preis! Der Marktplatz war von Leichnamen gesäumt, auf dem Schlachtfeld war Ruhe eingekehrt. Es wagte niemand, sich den Schatten zu entreißen. Ein Bild des Todes regiert vom ungekrönten König der Verdammnis, dem Drachen. Jeder Moment wurde zur Ewigkeit, zur dunklen, tristen Ewigkeit. Es schienen Äonen vergangen zu sein, als die Stille durch ein kaum hörbares Geräusch zerrissen wurde. Selbst dieser leise Laut reichte um Theandor in Mark und Bein zu erschüttern. Metall kratzte auf Metall, die Melodien eines Schwertes, das den Weg aus der Scheide findet, vereint in der Komposition des Kampfes. Eine fast zierliche Gestalt trat aus einer Gasse hervor und bewegte sich festen Schrittes auf den Drachen hinzu. Er trug einen glänzenden Helm und eine schillernde Brustplatte. In der Hand umklammert hielt er sein Schwert. Mit jedem Schritt, den er auf den staubigen Boden des Marktplatzes setzte, beschleunigte er sein Tempo, bis er schließlich gleich einem wilden Büffel auf den erbitterten Widersacher zurannte und sein Schwert zu einem mächtigen Hieb empor riss. Blitzschnell schnellte dem Angreifer eine Klaue entgegen, die ihn wie eine Naturgewalt von den Füßen fegte. Der Angreifer landete 16
hart. Er hatte sein Schwert verloren und der Helm rollte von der Wucht des Schlags hinfortgerissen auf dem Boden des Marktplatzes entlang. Sein Gesicht war schmerzerfüllt. Doch das war es nicht, was Theandor in diesem Moment verkrampfen ließ, der Schmerz in dem Gesicht war nicht das, was ihn erbleichen ließ, es war Jurgols Gesicht. Jurgol war der Mann, der dort vorne auf dem Boden lag. Theandor schluckte hart. In diesem Moment sah er, wie sich ein Schatten über Jurgols Gesicht legte, ein verhängnisvoller Schatten. Die Klaue des Untiers kreiste über ihm, jederzeit bereit ihr teuflisches Werk zu vollenden. „HALT!“, dieses Wort ließ alles Lebende erstarren. Es war von solcher Lautstärke und Intensität, dass es immerfort in den Ohren und Köpfen aller Überlebenden nachhallte, selbst der Drache hielt inne. Theandor hatte gesprochen. „Nun messe dich mit einem dir ebenbürtigen Gegner!“, Theandor trat in die Mitte des Marktplatzes. Eine Art von Lächeln umspielte die Fratze des Drachen. Wäre er dazu imstande gewesen hätte er ihn wahrscheinlich ausgelacht. Blitzartig spie der Drache erneut eine verheerende Feuerlanze aus, direkt in das Zentrum des Marktplatzes gerichtet, direkt auf Theandor. Doch Theandor rührte sich nicht. Erst kurz bevor der Strahl ihn traf, reagierte er. Theandor erhob seine Arme, die Hände zu Fäusten geballt. Er spürte die Magie, die er schon seit vielen Sommern nicht genutzt hatte, frisch wie eh und je durch seine Adern strömen. Die Elemente des Lichts und des Feuers waren immer noch stark in ihm. Er wirkte die Magie, als hätte er nie etwas anderes in seinem Leben getan. „Licht und Feuer steht mir bei! Lux et ignis mihi subvenite!“ Als der Schwall des Höllenfeuers wieder abflaute, konnte man die Wirkung erkennen. Theandor war von einer leuchtend roten Kugel eingeschlossen, so leuchtend rot, dass kein Sonnenuntergang der Welt ihr hätte das Rot abspenstig machen können. Langsam verengte sich die Kugel um den Körper Theandors, bis sie ihn letztendlich wie eine zweite Haut einschloss. Kleine Flämmchen begannen aus der glatten roten Hülle zu entspringen, beständig mehr und mehr. Theandor sammelte seine Kräfte. Er war von einer Aura des Feuers umgeben, und mit jedem Moment wuchs seine Kraft, wie eine menschliche Fackel zierte er den Marktplatz und erleuchtete alles wie die Sonne es nicht besser vermocht hätte, kein Schatten konnte nunmehr die Anwesenden, die allesamt mit offenen Mäulern gafften, verhüllen. „DU SOLLST NUN DEIN ENDE ERFAHREN DÜRFEN!“, die Stimme, die dies sprach, schien von nirgends und überall herzukommen. Es war keine menschliche Stimme, und doch war sie es. Sie war wie das Knistern und Knacken eines lodernden Feuers. Ein flammender Ball löste sich aus der menschlichen Fackel, bestimmt einen Schritt messend am dicksten Punkt. Der Feuerball schwebte einen kurzen Moment vor Theandor auf und nieder, bevor er mit einem schrillen Kreischen auf den Drachen zupreschte. Der Drache breitete seine Schwingen aus und erhob sich mit unerwarteter Geschmeidigkeit in die Lüfte, doch der Ball folgte ihm. Er kam näher und näher, bis eine Feuerwalze den Himmel erhellte und der Drache sein Leben mit einem letzten verbitterten Schrei aushauchte. Sein glühend siedender Kadaver landete nur wenige Momente später auf eben der Stelle, auf welcher er so stolz gethront hatte. Auch das Feuer um Theandor war erloschen und der Schmied kniete um Atem ringend auf der Glasscheibe, zu der sich der Staub des Bodens verschmolzen hatte. Langsam traten die Menschen, die sich bis dahin in den Gassen versteckt gehalten hatten, auf 17
den Marktplatz. Tumultartig entstanden wahre Menschentrauben, die das Unfassbare, das Geschehene diskutierten. Freudenrufe über die Bezwingung des Drachens mischten sich mit Angst und Bewunderung. Einige Herzschläge später löste sich ein älterer Mann aus einer der geschäftigen Trauben, er deutete mit dem Finger auf Theandor und sprach: „Dies ist ein Ketzer! Dieser Mann ist mit derselben teuflischen Magie im Bunde, mit welcher der Drache fast dieses Dorf zerstört hätte! Er ist eine Gefahr für uns alle! Und er ist ein Zerstörer des wahren Glaubens!“ Die Menge nahm seine Rufe, wie ein gieriges Tier, willig auf! „Ketzer!“, „Gotteslästerer!“, „Eine Gefahr!“, schallte es schon bald von allen Seiten des Marktplatzes. Ein Stein traf Theandor hart an die Schulter, sein erschöpfter Körper erzitterte vor Schmerz. Ein weiterer traf ihn ans Bein, bald ein weiterer in den Rücken. Er stemmte, mit dem zehrenden Schmerz kämpfend, seinen Körper hoch und erhob sich. Unter den schändlichen Rufen und immer wieder von Steinen getroffen schleppte er sich in Richtung des nahen Waldes. Er spürte plötzlich eine Hand an seiner Schulter. „Warum? Warum gehst du? Warum jagen sie dich davon? Du hast doch alle gerettet!“. Es war Jurgols Stimme. Theandor drehte sich nicht um. „Es gibt keine Erklärung, außer einer. Alles im Leben hat seinen Preis. Der Preis meiner Gabe ist die Einsamkeit. Denk immer daran: Das Leben macht keine Geschenke!“, mit diesen Worten verschwand Theandor im Wald und ward nie mehr gesehen.
ENDE
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Ein einfacher Diebstahl? von Gerald Hollmann
Die Zauberkugel des Farani: Goodstuff wagt alles, um sie zu bekommen...
Farani saß in einem großen ledernen Sessel. Um sich herum hatte er eine Illusion einer sehr alten Bibliothek entstehen lassen. Gedämpftes Licht ließ den Staub auf ungezählten Büchern verblassen. Hohe gut gefüllte Regale aus dunklem poliertem Holz reichten vom Boden bis zur Decke. Dicke geknüpfte Teppiche schluckten jedes Geräusch. Ein großer Globus zeigte eine Welt vor Hunderten von Jahren. Der lange schwarze mit einem braunen Pelzkragen besetzte Mantel lag über der Lehne eines anderen Sessels. Den spitzen schwarzen Zaubererhut hatte Farani weiterhin auf seinem Kopf. Diesen legte er nur zum Schlafen ab. Und auch das sehr ungern. Der weiße Bart reichte im Stehen bis zu seinen Füssen. Nun lagen die Enden sauber gefaltet auf seinen Knien. Seinen langen Zauberstab mit dem kugelförmigen Handknauf hatte der Zauberer an seinen Sessel gelehnt. Bücher brauchte der Zauberer eigentlich gar nicht, um seine Phantasie anzuregen. Aber er war nun einmal sentimental und romantisch veranlagt. Vor sich hatte Farani seine blaue Kugel, in der er sich die Welt ansah. Eine Welt zu einer Zeit, die längst vergangen war, oder irgendwann noch kommen würde. Oder gerade in diesem Augenblick? Jeder Zauberer beneidete Farani um seine Kristallkugel. Mit ihr konnte er die mögliche Zukunft voraussagen und sich darauf vorbereiten, oder sich über Geschehnisse informieren, die ganz woanders stattfanden. Der Neid ging so weit, das schon mancher seiner Standeskollegen versucht hatte, sich dieser Kugel zu bemächtigen. Doch bisher hatte es noch keiner geschafft. Aber wie heißt es doch so schön: Es gibt immer ein erstes Mal...... *** Das Schloss lag wunderschön rotfarben in der untergehenden Sonne zwischen grünen Hügeln. Vier Türme, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können, ragten in den strahlend blauen Himmel. Einer war viereckig, mit einer ummauerten Plattform, wie man sie nur bei befestigten Burgen erwartete. Ein anderer war ebenfalls viereckig, hatte aber ein spitzes Dach. Der dritte war rund und wurde von einer kupfernen Kuppel bedeckt, welche einer Zwiebel nicht unähnlich war. Der letzte aber war der größte und höchste der vier Türme. Er überragte sie alle. Achteckig war er und direkt unter seinem spitzen Dach, welches einem Zauberhut nachempfunden schien, befanden sich Fenster in alle acht Richtungen. Goodstuff verließ den schützenden Wald und wanderte langsam den Weg zum Schloss entlang. Mit seinem spitzen Zaubererhut, dem langen Stab mit dem dicken Knauf und seinem langen schwarzen Mantel, sah er wie einer der Zauberer aus, die tagtäglich durch das Land zogen. Wie in jedem Jahr hatte auch diesmal der größte aller Zauberer, Farani, zu einer Zusammenkunft geladen, um mit den anderen Zauberern über die Weltlage zu diskutieren. Und unter diesen vielen Zauberern, die sich schon im Schloss befanden, sollte Goodstuff in seiner Verkleidung gar nicht erst auffallen. Forschen Schrittes legte er den letzten Rest des Weges zurück und stand nun vor dem großen zweiflügeligen Tor. „Bleibt stehen, Fremder. Was führt euch her?“ Ein paar böse Augen sah durch ein Guckloch, welches sich in dem schweren Tor befand, das den Eingang zum Schloss versperrte. Zu diesen Augen gehörte wohl auch die leicht krächzende Stimme, die sich an Goodstuff gerichtet hatte. So eine Stimme bekam man, wenn man zu viele Nächte bei Wind und Wetter, 19
Sturm und Regen an einem Guckloch stehen musste. „Ich bin einer dieser Zauberer, die im Schloss zusammen kommen und über die Weltlage diskutieren wollen.“ Goodstuff wusste, das er mit der Wahrheit am besten fuhr. „Sagt das doch gleich.“ Und um einiges lauter: "Öffnet das Tor. Hier ist wieder einer von diesen Zauberern, die hier im Schloss zusammen kommen und über die Weltlage diskutieren wollen!“ Mit lautem Kreischen beschwerten sich die Scharniere, als die beiden Flügel des Tores aufgeschoben wurden. Goodstuff nutzte die Gelegenheit und schritt durch das Tor. Ohne von irgend jemandem angehalten oder geführt zu werden, gelangte der falsche Zauberer in die große Eingangshalle. Viel Licht durchflutete den ganzen Saal. Dicke, wertvolle Teppiche waren dekorativ an den Wänden verteilt. Die Säulen waren wie es schien aus massivem Marmor gefertigt. Wenn der Rest des Schlosses auch so pompös ausgestattet war, hätte Goodstuff nichts dagegen gehabt, sofort einzuziehen. Doch hier sollte sein Glück vorerst ein Ende haben. Ein Zwerg stellte sich ihm in den Weg. Goodstuff wusste, das Farani zu den jährlichen Treffen gern Zwerge einlud, um seine Gäste zu unterhalten. „Los, verzauber mich!“ rief der Zwerg. „Wer, ich?“ „Ja, los verzauber mich!“ Verzückt sprang der kleine Mann mit der blauen Zipfelmütze um Goodstuff herum. Eigentlich war alles an dem Zwerg blau. Blau war, wie gesagt, die Mütze. Blau war der Umhang. Blau waren auch seine Schuhe. Einfach ein blauer Zwerg. „Nö, ich will dich jetzt nicht verzaubern.“ Das hätte Goodstuff beim besten Willen auch gar nicht gekonnt. „Doch, verzauber mich!“ Kinder und Zwerge können einem manchmal gewaltig auf die Nerven gehen. Ebenso Schwiegermütter. „Na gut. Abrakadabra!“ Goodstuff schwang etwas mit dem dicken Ast, der ihm als Zauberstab diente. „Und? Ist ja gar nichts passiert. Versuchs noch mal.“ Der Zwerg schien ein wenig enttäuscht zu sein. „Also gut, Simsalabim! Nun schläfst du!" sagte der falsche Zauberer lustlos. „Nee, ich bin wach,. Wacher geht’s nicht.“ „Abrakadabra, du schläfst.“ „Ich bin aber immer noch wach.“ Sagte es und sprang fröhlich vor dem Dieb hin und her.“ „Hokuspokus, du schläfst.“ „Aber ich bin immer noch wach.“ „Ippedi Pippedi Bumm, du schläfst.“ „Ich bin hellwach, ätsch-bätsch.“ „Runzel Rübe Rübensaft, du schläfst.“ „Ich schlaf ja gar nicht“, sang der Zwerg. „Ich bin noch ganz wach. Siehst du: ich spring um dich herum und bin überhaupt nicht müde......“ Goodstuff schwang noch einmal seinen Stab und traf mit dem dicken Knauf den Zwerg direkt über der Nase. Dieser fiel um wie ein frisch geschlagener Baumstamm und schlief nun tief und fest „Siehst du: du schläfst. Wenn Worte allein nicht reichen, müssen schon mal Taten folgen.“ Goodstuff packte den Zwerg bei den Füssen und schleifte ihn in eine dunkle Ecke unter der großen Treppe. Hier würde er nicht so schnell wieder gefunden werden. Und vermissen würde ihn wohl auch niemand so schnell. Da der Dieb wusste, wo er die Kristallkugel zu suchen hatte, erklomm er die breite Treppe und stieg hinauf. Auf den verschiedenen Etagen drang lautes Gelächter und Gläserklirren an seine Ohren. Die Zauberer waren also beschäftigt und niemand würde sich um ihn kümmern. Im dritten Stockwerk blieb Goodstuff dann stehen und musste sich erst einmal orientieren. 20
Wo war jetzt der achteckige Turm? Denn dort bewahrte Farani seine Kristallkugel auf. An der Wand gegenüber waren kleine Täfelchen befestigt. Diese wiesen in verschiedene Richtungen. „Zur Bibliothek“ stand auf einem. „Zum blauen Salon auf einem anderen“. Und auf einem weiteren stand dann „Zum achteckigen Turm“. Also wandte sich der Dieb in eben diese Richtung. Vorbei an verschiedenen Schlafräumen. Und auch wieder vorbei an einem großen Salon in dem sich einige Zauberer aufhielten und in regen Diskussionen vertieft waren. In diesem Schloss würde wirklich kein weiterer Zauberer auffallen. Ob echt oder nicht. Goodstuff schlich weiter. Immer darauf bedacht, irgendwem zu begegnen. Sei es nun ein anderer Zauberer oder einem Bediensteten aus dem Schloss. Zu solchen Zusammenkünften wurden viele Untergebene gebraucht, welche die Gäste zu bewirten hatten. Denn das sich jeder seine Verpflegung selber zaubern sollte, konnte man nun mal niemandem zumuten. Als nächstes kam der Dieb an der riesigen Schlossküche vorbei. Warum sich diese in der dritten Etage befand, wusste wohl allein der Schlossherr, nach dessen Wünschen dieses Bauwerk aus seinen Gedanken materialisiert war. Goodstuff konnte sich nicht zurückhalten. Hatte doch sein Magen schon eine ganze Weile geknurrt und gedroht den Eindringling lautstark zu verraten. Also schlich er sich in die Küche und stibitzte ein paar Delikatessen von den vorbereiteten Tabletts. Und das waren schon gute Sachen, die da auf seiner Zunge zergingen wie nichts. Nur die erlesensten Zutaten ließ Farani auffahren. Und für seine vorzüglichen Weine war er weithin bekannt. Aber dann wurde es Goodstuff zu gefährlich. Hatte er doch nicht nur die Kristallkugel zu stehlen, so musste er ja auch wieder aus dem Schloss heraus kommen, und das mitsamt der Kugel. Und dann auch noch möglichst lebend und ungefesselt. Am besten, es würde niemand merken, dass er überhaupt da gewesen war. Wenigstens so lange, bis Farani vorhatte, in seinen achteckigen Turm zu steigen, um in seine Kugel zu schauen. Goodstuff wanderte also weiter den Gang entlang und fand am Ende eine schmale Treppe, die nach oben führte. Das er auf dem richtigen Weg war, bewies das verkleinerte Abbild der Kristallkugel, welches sich an der Wand neben dem Treppenaufgang befand. Und wieder stieg der Dieb Stufe um Stufe höher. Langsam spürte er das ewige Steigen in seinen Knien. Gott sei Dank würde es zurück nur hinab gehen. Und so ihn das Glück nicht verließ, die Treppen wieder hinab und nicht senkrecht an einer Schlossmauer. Endlich hatte es Goodstuff geschafft. Er stand am obersten Treppenabsatz vor einer dicken, schweren Eichentür. Nur war diese verschlossen und einen Schlüssel besaß der Dieb nicht. Sollte er nun den ganzen Weg wieder hinab steigen und im Schloss nach dem Schlüssel suchen? Oder hatte Farani ihn vielleicht sogar bei sich? Was einen Diebstahl erheblich erschweren würde. Also versuchte es Goodstuff einmal auf die naive Tour: Er drückte einfach die Klinke herunter. Und siehe da, die Tür ließ sich nicht öffnen. Sie war ja verschlossen. Aber einen Versuch war es wert gewesen. Warum sollte nicht auch ein Zauberer einmal vergessen, eine Tür abzuschließen? Dem war aber nun nicht so gewesen. Also musste sich der Dieb etwas anderes einfallen lassen. Goodstuff drehte sich langsam um die eigene Achse und schaute sich um. Da war ein Fenster im Treppenaufgang. Sollte es vielleicht möglich sein, von diesem Fenster aus zu einem der Fenster im Turmzimmer zu gelangen? Wer sollte ihm diese Frage nun beantworten, wenn nicht er selbst? Also blieb ihm nichts anderes übrig, als den Fenstersims zu erklimmen, den Fensterflügel zu öffnen, sich auf die Brüstung zu stellen und einen gehörigen Schreck zu bekommen. Das ging aber doch erheblich tief hinab. War es das nun gewesen? Sollte hier sein klägliches Leben ein Ende finden? Sollte sein kleiner magerer Körper am Fuße dieser Schlossmauer zerschellen? Hatte er sich nicht fest vorgenommen, auf dem Weg hinunter, die Treppe zu benutzen? Also was sollte das Gejammer? Goodstuff holte einmal tief Luft, verschluckte die 21
eingeatmete Fliege und sah langsam an seinen Beinen hinab. Richtig. Neben seinem Fuss ging ein schmaler Sims an der Mauer entlang. Gerade mal die Hacken seiner Schuhe konnte der falsche Zauberer darauf setzen. Den Rücken an die Mauer gepresst, am ganzen Körper zitternd wie von Schüttelfrost, schob er sich langsam Millimeter für Millimeter weiter. Mit den Fingerspitzen der rechten Hand erfühlte Goodstuff plötzlich das Ende der Mauer. Er war also an einer der Ecken angelangt. Sollte er Glück haben und schon an dieser Seite stand ein Fenster offen? Der Dieb weigerte sich strikt hinab zu sehen. Langsam schob er sich um das Mauereck herum und stand dann wieder mit dem Rücken an die Steine gepresst. Gern hätte er tief Luft geholt, doch aus Angst, seine Lunge würde Übergewicht bekommen und ihn nach vorne ziehen, atmete Goodstuff in kleinen Zügen. Und wieder fühlten die Fingerspitzen der rechten Hand etwas. Das musste das Fenster sein. Langsam bewegte er sich immer näher heran. Immer mit den Finger fühlend, ob das Fenster offen war. Aber so einfach sollte es ihm doch nicht sein, in das Turmzimmer zu gelangen und die Kristallkugel zu stehlen. Kristallkugel? Durchfuhr es Goodstuffs Gedanken. Wie sollte er den Rückweg über diesen schmalen Sims antreten und dabei auch noch die Kristallkugel heile befördern? Aber dieses Problem wollte er erst dann in Angriff nehmen, wenn er die Kugel einmal in seinen Händen hielt. Dieses Fenster war also geschlossen. Blieben also noch sechs. Denn, dass das Fenster zum Treppenaufgang offen war, wusste Goodstuff. Er hatte es ja selbst geöffnet, um hindurch zu kriechen. Der Dieb machte sich nun daran, die nächste Ecke zu erreichen, um an der folgenden Seite nach einer Chance zu suchen, in das Zimmer zu gelangen. Aber auch dieses Fenster erwies sich als geschlossen. Und auch das dritte war versperrt. Die Hoffnung schwand so langsam in Goodstuff. War die ganze Mühe umsonst gewesen? Erlitt er hier in luftiger Höhe Höllenqualen, für nichts und wieder nichts? Einsam und allein, wie er sich hier den schmalen Sims entlang schob? *** Einsam und allein? Nein, wirklich nicht. Eine kleine Taube hatte es sich gerade mit ihrem Mittagessen auf dem Sims bequem gemacht und war nun nicht gewillt, zur Seite zu hüpfen. Sollte der Typ doch warten, bis sie ihr Mal beendet hatte. Genauso gut konnte er ja auch anders herum laufen. Das waren schon zwei Möglichkeiten. Genug für die Taube, um sich mit diesem Problem nicht weiter zu befassen. Es war nun auch nicht ihr Problem. Sollte es aber werden! Goodstuff schob langsam seinen rechten Fuß etwas weiter und trat dabei auf einen kleinen Wurm. Eben diesen Wurm, den die Taube gerade eben noch verspeisen wollte. Nun war es ihr Problem. Wütend hackte sie in das dünne Leder des Stiefels, welchen der Dieb sein eigen nannte. Wie konnte dieser Typ so dumm sein und auf ihr Mittagessen treten? *** War das Leder auch dünn, war jetzt nicht der rechte Zeitpunkt, um nach der Ursache zu forschen, welche das Pochen in seinem rechten Stiefel verursachte. Goodstuff schob sich bis zur nächsten Ecke, gewillt, diese Sache zu Ende zu bringen. *** Die kleine Taube hüpfte wieder einmal ein Stück weiter. Merkte der Kerl denn gar nicht, das sie hier um ihr Mittagsmahl kämpfte? Gut, dann mussten eben härtere Geschütze aufgefahren werden. Die Taube drehte demonstrativ hier Hinterteil dem Eindringling entgegen und hinterließ ihr bereits verdautes Frühstück auf dem Stiefel. Taubenkot ätzt und so würde der 22
Typ schon seiner Strafe bewusst werden. Erleichtert und mit sich und der Welt wieder halbwegs im Reinen hob der kleine Vogel seine Flügel und machte sich auf den Weg, ein neues Mal zu suchen. *** Der falsche Zauberer merkte von all dem nichts. Und wenn er es gemerkt hätte, dann wäre ihm das in dem Moment egal gewesen. Seine Fingerspitzen ertasteten nämlich gerade nichts. Nichts hieß in diesem Fall: Hier war sein Leben zu Ende, oder aber ein Fenster stand offen. Auf letzteres hoffend und all seiner Kräfte beraubt ließ sich Goodstuff rückwärts in dieses Nichts fallen, um kurz darauf mit seinem Hinterteil schmerzhaft auf dem Dielenboden des Turmzimmers auf zu schlagen. Es war schon ein recht einfach eingerichteter Raum. Nach sieben Seiten gingen Fenster hinaus. An der achten Seite befand sich die Tür zum Treppenaufgang. Wie Goodstuff jetzt bemerkte, war der Riegel der Tür von Innen vorgeschoben. Eine einfache aber doch recht wirksame Vorrichtung zum Schutz vor Dieben. Wenn so etwas auch nur ein Zauberer vollbringen konnte. Aber dieser Zauberer hatte nicht mit Goodstuff gerechnet. Dem klügsten Dieb aller Zeiten, dachte Goodstuff. Die einzigen Möbelstücke im Raum waren ein großer alter Schrank und ein Schreibtisch, auf welchem die hellblau schimmernde Kristallkugel auf einem Samtkissen ruhte. Der falsche Zauberer förderte einen kleinen Leinenbeutel aus einer seiner vielen Manteltaschen zu Tage, ergriff die Kristallkugel und schob sie vorsichtig hinein. Dies war also geschafft. Nun brauchte er nur noch den Riegel der Tür zurück schieben, die Treppen hinab eilen und das Schloss verlassen. Hörte sich doch alles recht einfach an. Also machte sich Goodstuff daran, den Riegel zurück zu schieben. Zuerst versuchte er es mit zwei Fingern. Doch das nützte gar nichts. Der Riegel bewegte sich keinen Millimeter. Dann umklammerte er ihm mit der ganzen Hand und zog daran. Auch diesmal geschah nichts, außer das sich die Haut über den Knöcheln weiß färbte. Als letzen Versuch trat Goodstuff nah an die Tür und schlug mit der geballten Faust gegen den Riegel. Nichts. Was blieb ihm nun noch übrig? Wieder zurück durch das Fenster und über den Sims? War wohl die einzige Möglichkeit, diesen Raum zu verlassen. Wütend und frustriert schlug Goodstuff noch einmal gegen den Riegel. Diesmal aber aus der anderen Richtung. Und siehe da: der Riegel glitt leicht und geräuschlos zurück. Nun wurde Goodstuff noch wütender. Jetzt aber auf sich selber. Er hätte sich ja denken können, das der Zauberer es ihm nicht all zu leicht machen würde. Entschlossen öffnete Goodstuff die schwere Tür und trat hinaus auf die Treppe. Stufe für Stufe stieg er langsam und vorsichtig hinab. Aufregung hatte er für heute genug gehabt. Da brauchte er nicht plötzlich auch noch einen plötzlich auftauchenden Farani. Aber der Dieb hatte auch hier wieder Glück. Niemand begegnete ihm auf der Treppe. Unbehelligt erreichte er den langen Gang vorbei an dem Saal und der Küche. Goodstuff musste sich schwer zurück halten, um den restlichen Weg nicht zu laufen. Aber das wäre dann wohl doch zu auffällig gewesen. Auch die Haupttreppe erreichte der falsche Zauberer ohne Überraschung. Nun brauchte er nur noch die Treppe hinab zu steigen und er wäre wieder in der Eingangshalle. Das sollte doch auch noch zu schaffen sein. Und wieder ging es Stufe für Stufe die Treppe hinab. Schon erreichte Goodstuff die 2. Etage. Auch im ersten Stock war nichts ungewöhnliches. Blieb noch die letzte Treppe zum Erdgeschoss. Dann noch durch die große Halle, vorbei an dem Typen am Tor und die Kristallkugel hatte das Schloss verlassen. Noch drei Stufen - zwei - eine - geschafft. Fast! 23
"Heh, was bist du denn für ein Zauberer? Von dir kriegt man ja Kopfschmerzen." Der blaue Zwerg war wieder erwacht. Aber Goodstuff konnte nichts mehr aufhalten. Kurzerhand wirbelte er den imaginären Zauberstab über seinem Kopf und traf den Zwerg noch einmal an der selben Stelle, wie beim ersten Mal. Und wieder fiel der Zwerg hinten über und wandelte im Tal der Träume. "Das mit den Kopfschmerzen ist nun einmal eine lästige Nebenwirkung von dieser Art Magie. Da musst du mit leben", meinte der Kristallkugeldieb. Am Tor, welches Goodstuff noch von der Außenwelt abhielt, erwartete ihn das nächste Problem. Der Torwächter! Der war es nicht gewohnt, dass ein Zauberer vor dem Ende der Festlichkeiten das Schloss verließ. "Ähm?" meinte er verlegen. "Wo wollt Ihr denn schon hin?" "Ich habe meinen Zauberstab vergessen. Ich geh nur schnell, ihn holen", entgegnete Goodstuff. "Aber du hast ihn doch in der Hand?" "Wie? Ach so. Nein, das ist nur ein Leihzauberstab. Meiner ist in der Reparatur. Und nun geh ich ihn schnell holen." Goodstuff machte einen weiteren Schritt in Richtung Tor. "Was kann denn an einem Zauberstab kaputt sein?" "Ähm, die Magie in der dritten Ebene der Hochtoleranzwerte entwickelte sich überaus langsam." Und Goodstuff schwitzte. "Na gut. Dann will ich Euch nicht weiter aufhalten." Sagte es und wandte sich gen Himmel. "Macht das Tor auf!" Wie von Geisterhand öffnete sich das Tor und Goodstuff huschte hindurch, bevor es sich doch wieder schließen konnte. Er hatte es geschafft. Er hatte es wirklich geschafft. Eiligst machte er sich auf den Weg zu seinem Auftraggeber. Dieser hatte ihm einen schönen Betrag in Goldmünzen versprochen. Und Goodstuff bekam sie auch. *** Glücklich und erwartungsvoll setzte sich der neue Besitzer der Kristallkugel vor seinen Tisch. Die Kugel ruhte auf einem Leintuch, da Goodstuff vergessen hatte, das Samtkissen bei dem Diebstahl mit zu nehmen. Mit starrem Blick sah er in die Kugel und nach mehreren Versuchen hat er dann auch ein klares Bild. Dieses zeigt Farani, wie er in seinem achteckigen Turmzimmer vor dem Schrank stand und kopfschüttelnd eine hellblau schimmernde Kugel herausnimmt und auf das Kissen legt, wo vor gar nicht langer Zeit die gestohlene Kugel lag. Und es war ihm noch, als ob Farani ihm aus der Kristallkugel heraus verschmitzt zu zwinkerte, als das Bild verblasste. Vor sich hatte er nun nur noch eine gewöhnliche, undurchsichtige Glaskugel.
ENDE
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Darkangel von Sabine Buchmann
Dark, Oberster Engel von Drannor, geht nach Lennox. Hier wartet bereits Lady Lavinia in böser Absicht...
Dark schritt langsam den Säulenweg entlang, dem Wald entgegen. Es krachte leise, als er über die dünne Eisschicht dem Ende des Weges entgegenschritt. Schnee lag vereinzelt am Wegesrand. Die Säulen waren eisverhangen, denn es war bitterkalt. Diese Eiseskälte durchzog das gesamte Land. Drannor war die Heimat von Dark, über deren Schutz er als der oberste Engel zu wachen hatte. Dark blieb am Ende des Weges stehen und atmete tief die schneidend kalte Luft ein, als er sich umsah. Es war tiefste Nacht. Das vage Mondlicht erhellte die düstere Schnee- und Eislandschaft auf geheimnisvolle Weise. Alles schien ruhig zu sein, aber Dark konnte das leise Knacken des Eises hören. Nebelschwaden zogen langsam über den fest gefrorenen Boden dahin. Außer dem leichten Dahingleiten des Nebels bewegte sich nichts, nicht einmal die Bäume des Waldes. Dark wartete. Er wartete sogar sehr lange in der eisigen Dunkelheit, aber nichts geschah. Er drehte sich langsam um und ging wieder den Säulenweg zurück Richtung Stadt. Die dunklen Häuser von Drannora lagen vor ihm. Unzählige Eiszapfen schmückten die Fassaden und eiskalt gefrorene Eisblumen zierten die Fenster, die nun fast alle dunkel waren. Nur ein paar wenige waren spärlich beleuchtet. Dark ging den breiten Weg entlang, der durch die Stadt zur Burg seines Herren führte. Lord Elvin würde ihn schon ungeduldig erwarten, deshalb wurden Dark`s Schritte etwas schneller. Er ging den kurzen Weg zur Burg hinauf und passierte das Tor. Der Innenhof wurde von ein paar Fackeln erhellt, die aber keine Wärme ausstrahlten. Auch hier war alles mit Eis bedeckt. Eine kleine Treppe führte von einem Seitengang hinauf zu den privaten Gemächern von Lord Elvin. Dark klopfte an die Tür und wartete auf die Erlaubnis eintreten zu dürfen. Die Türe wurde von einem Bediensteten geöffnet und Dark betrat Lord Elvins Privatgemächer. Ein großer steinerner Kamin befand sich an der gegenüberliegenden Seite des Raumes, der Schein der Flammen tanzten über die Wände und tauchten den Raum in ein angenehmes Licht. Die Möbel waren stilvoll aus Rotbuchenholz gearbeitet und mit zahlreichen Ornamenten verziert. Viel Mobiliar gab es hier nicht, denn Lord Elvin liebte die Schlichtheit. Lord Elvin saß in einem der bequemen Sessel, die vor dem offenen Kamin standen. Als Lord Elvin Dark bemerkte, stand er auf und ging ihm entgegen. Dark erstatte Meldung. „Mylord..... sie ist nicht erschienen....“ Lord Elvin sah Dark bestürzt an. „Das kann doch nicht sein! Wir haben doch um ein Treffen gebeten....“ Sein Gesichtsausdruck wechselte zu einer Spur Resignation. Er seufzte und Dark sah den erbitterten Blick seines Herrn. „Dark... wir müssen jemanden nach Lennox schicken, der mit Lady Lavinia nochmals spricht. Die Menschen frieren schon fast ein Jahr und bald wird es auch nichts mehr zu Essen geben, die Vorräte sind fast verbraucht! Die Felder können nicht mehr bewirtschaftet werden, bei dieser Eiseskälte....“ Dark kannte die Lage und er kannte auch Lady Lavinia, sie führte einen unerbittlichen Krieg gegen Lord Elvin. Die ersten Schlachten zeigten schnell, dass keine Seite gewinnen konnte. Deshalb hatte sie vor einem Jahr zu einem Schlag ausgeholt, den nie jemand hätte wagen dürfen. Sie hatte den großen Magier Kronos für sich gewinnen können. Dieser hatte einen Fluch auf das Land Drannor gelegt. Er hatte es mit Schnee und Eis überzogen und das dauerte nun schon ein Jahr... Sie wollte ihn, Dark.... wollte IHN zwingen, sich zu beugen um ihr zu dienen! Lord Elvin wusste von dieser Absicht nichts, er hatte vermutet, dass Lavinia Drannor erobern 25
wollen würde. Dark schüttelte fast unmerklich den Kopf. „Mylord, das wird keine Lösung bringen, Sie kennen Lady Lavinia, sie ist unerbittlich, auf ihre vorherigen Angebote hat sie nicht reagiert...“ Lord Elvin nickte leicht und sprach in Gedanken versunken. „ Ich weiß, Dark... und die Tatsache, dass White nicht erschienen ist, beweist, dass Lavinia kein Interesse an einer friedlichen Lösung hat, ich hätte es mir gleich denken können. Sie will das ganze Reich, mit der angebotenen Hälfte gibt sie sich nicht zufrieden. Dark, was können wir denn noch tun?“ Dark sagte nichts, denn er überlegte, überlegte sogar sehr lange. „Mylord, ich sehe nur eine Möglichkeit: Ich werde nach Lennox gehen und mit Lady Lavinia reden, vielleicht gibt es doch noch eine Lösung.....“ Lord Elvin sah Dark bestürzt an. „Dark!!! Wenn Sie nach Lennox gehen, weiß niemand was sie dort erwarten wird! Lavinia ist unberechenbar....und wenn Sie nicht mehr zurückkehren..... dann ist Drannor verloren!“ Resigniert seufzend fuhr er fort: „Wenn dies die einzige Hoffnung ist, Dark.... dann...muss ich Sie gehen lassen....“ Ohne eine Gefühlsregung schaute Dark Lord Elvin an. „Mylord.... ich werde mich sofort auf den Weg machen...“ Er drehte sich langsam um und verließ fest entschlossen Lord Elvins Gemächer. Dark begab sich in seine Unterkunft, die in einem abgelegenen Teil der Burg lag. Diese war sehr spartanisch eingerichtet, keinerlei Beiwerk zierte die Steinwände. Dark brauchte nicht viel, eine Schlafstatt und eine Truhe genügten ihm völlig. Zielstrebig ging er auf seine Truhe zu und hob den schweren Deckel an. Fast andächtig nahm er sein Schwert und seinen Schild aus der Truhe, dies waren die einzigen Dinge, die er benötigte um aufzubrechen. Der Griff des Schwertes war mit fünf großen Rubinen verziert, zu einem Kreuz angeordnet. Das Schwert war ein Zweihänder und wog schwer in Darks Hand, denn er war der Einzige, der dieses Schwert mit einer Hand führen konnte. Sein Schild war aus massivem schwarzem Metall, niemand kannte dieses Material... Dark schnallte sich die Scheide des Schwertes auf den Rücken und verließ die Burg. Er hätte nach Lennox fliegen können, aber das dauerte zu lange, Dark wollte so schnell wie möglich nach Lennox. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen er musste Drannor retten, schnell... und er war der Einzige, der dies noch vermochte, er ganz allein. In Gedanken durchquerte er die vereisten Strassen der Stadt, Eiszapfen hingen von den Dächern, fast wie Orgelpfeifen, so viele waren es. Die Stadt lag schon wieder hinter ihm, als er den eiskalten Säulenweg ein zweites Mal entlang schritt. Die eisige Kälte machte Dark nichts aus, er fror nicht, konnte nicht frieren wie die Menschen, die hier lebten. Er war ein Angel.... Die Nacht währte nun schon ein Jahr, ein Jahr ohne einen einzigen Sonnenstrahl. Drannor würde bald nicht mehr existieren... nur noch ein braches, vereistes Land sein... Dark folgte dem Weg in den Wald, die Bäume standen links und rechts des kleinen Weges, wie erfroren standen sie da. Das fahle Mondlicht war zwischen den Bäumen auszumachen, beleuchtete den eisigen Weg nur spärlich, aber Dark kannte den Weg. Er bahnte sich seinen Weg durch die Bäume hindurch, ließ den kleinen Pfad hinter sich. Hie und da schlugen ihm niedere Äste entgegen und etwas Schnee fiel vereinzelt von den Ästen. Dark marschierte eine Zeitlang durch dichten Wald, bis er an einer kleinen Lichtung ankam. Der Mond schien hier heller. Dark blieb stehen und sah sich um. Diese Waldlichtung kannte er - und hier müsste es sein.... das Portal. Langsam begab er sich in die Mitte der Lichtung und blieb stehen. Er griff hinter sich und zog seinen Zweihänder aus der Scheide. Langsam beschrieb er mit der Klinge einen Bogen in der Luft und schloss die Augen. Er konzentrierte sich. Fast unmerklich begann 26
die Luft zu flimmern, dort wo Dark den Bogen mit dem Schwert beschrieben hatte, er öffnete seine Augen. Vor ihm flimmerte die Luft jetzt wie eine Fata Morgana. Dark glitt hinein in das Flimmern und verschwand.... Augenblicklich befand er sich woanders.... Er war in Lennox. Dark befand sich hier ebenfalls auf einer Waldlichtung, die Bäume in sommerliches Abendrot getaucht. „Ich habe mir gedacht, dass du kommen wirst, Dark....“ Dark drehte sich um und sah White. Sie war eine wunderschöne Frau, ebenfalls aus dem Geschlecht der Angels, wie Dark. Ihre weiße leichte Rüstung schimmerte wie Perlmutt, ihr Schwert über den Rücken geschnallt stand sie vor ihm. Das Licht des Abendrotes färbten ihre blonden Haare leicht rötlich, ebenso wie ihre angelegten Flügel. White sah Dark spöttisch an. „Du kommst spät, ich habe dich schon früher erwartet..“ Dark stand vor ihr und stützte seinen Zweihänder auf dem Waldboden auf. „Ich habe auf dich gewartet, White, aber du bist nicht gekommen.... warum nicht?“ White lächelte ihn weiterhin spöttisch an und lachte leicht auf. „Du wusstest genau, dass ich nicht kommen würde... Lady Lavinia wünscht dich zu sehen, und zwar hier in Lennox.... du wusstest das....“ Dark sah White in ihre tiefblauen Augen und nickte leicht. „Ja.... ich wusste es....sie will mich. Nicht Drannor ist ihr wichtig, sondern mich will sie haben, befehligen... weil ich der Stärkste der Angels bin.“ White sah Dark argwöhnisch an. „Bist du denn der Stärkste? Woher willst du das denn wissen?“ Dark schüttelte leicht den Kopf und sah auf den Griff seines Zweihänders, wie als ob er die Steine mustern würde. „White... ich behaupte das nicht von mir. Warum Lavinia das denkt, kann ich dir nicht sagen. Aber wenn sie der Meinung ist, dass ich mich ihr anschließen würde um Drannor zu retten, dann hat sie sich geirrt....“ White nickte wissend und setzte sich in Bewegung. „Lass uns jetzt gehen, Dark, Lady Lavinia erwartet dich zu sehen.....“ Dark sah, wie White zwischen den Bäumen verschwand und folgte ihr nach. Hier in diesem Wald war alles ruhig und friedlich. Dark hörte vereinzelt Vögel zwitschern, die in der Abenddämmerung ihre Lieder anstimmten. Er folgte White bis zu einem Waldweg, dann holte er sie ein und ging neben ihr. Den Blick auf den Boden gerichtet fragte er: „Du kennst die Gesetze der Angels....nicht wahr?“ White blickte leicht verdutzt zu Dark. „Natürlich kenne ich unsere Gesetze.......warum fragst du das jetzt?“ Dark antwortete nicht sofort auf White`s Gegenfrage, er schaute auf und konnte in der Ferne die Silhouette von Lady Lavinias Burg über den Bäumen erkennen. Er schaute verstohlen zu White, sie war eine Schönheit unter den Angeln, war die Schönste der Whiteangels, so empfand Dark.... White strahlte eine gewisse Faszination auf Dark aus. Sein Blick glitt wieder über die Landschaft vor ihm. „Die Gesetze schreiben vor, dass wir Angels einem Land dienen müssen.... es beschützen müssen....“ White sah verständnislos zu Dark und erwiderte: „Das wissen wir alle, Dark... und ich habe versucht, Lady Lavinia davon zu überzeugen, dass es gegen unsere Gesetze verstoßen würde, wenn zwei Angels für ein Reich kämpfen sollten.... aber sie wollte von unseren Gesetzen nichts wissen....“ White schaute fast traurig in die Ferne. 27
Schweigend gingen sie den steinigen Waldweg entlang bis sie zu einem kleinen Waldsee kamen. Dieser lag ruhig vor ihnen. Der Waldweg führte ein kurzes Stück am See entlang. Dark blieb stehen und ließ seinen Blick über den See gleiten. White bemerkte, dass Dark stehen geblieben war und trat an seine Seite. Sie sah Dark an. „Woran denkst du....?“ Dark konnte die untergehende Sonne im See sich spiegeln sehen und seufzte, „Es wird schwer werden, Lady Lavinia von ihrem Wunsch abzubringen.... ihr unsere Gesetze zu erklären.... warum ich nie und nimmer an deiner Seite kämpfen kann....“ White drehte sich zu Dark um, nahm seine Hand und sah ihm tief in die Augen. „Dark.... ich hoffe, dass du sie überzeugen kannst... denn wenn das passieren sollte, was ich vermute.....dann....“ White stockte und ließ schnell Dark`s Hand los. Abrupt drehte sie sich um und setzte sich wieder in Bewegung. „Lass uns jetzt gehen.....“ Sie gingen schweigend den Waldweg weiter, White und Dark hingen ihren eigenen Gedanken nach. Später, kurz bevor die Sonne unterging, erreichten sie Lady Lavinias Burg. Dark betrachtete im Näherkommen die schlichte anmutige Burg. Sie war aus naturweissen Steinen erbaut worden in einem Stil, den er nicht kannte. White und er gingen die wenigen Stufen zum Portal hinauf, das von ihr geöffnet wurde. White führe ihn durch die Empfangshalle zum Thronsaal. Dark stand in einem großen Saal und blickte direkt auf den etwas erhöhten Thron vor ihm auf der anderen Seite des Saales. White geleitete ihn bis zu den Stufen, die zum Thron führten. „Warte hier.....“ sagte sie und verschwand links hinter dem Thron durch eine kleine Seitentüre. Dark sah sich um. Dieser Saal bot Platz für viele Menschen, links und rechts waren Säulengänge und weiter oben befand sich eine Empore, wo bei festlichen Anlässen eine kleine Musikergruppe ihre Lieder spielen konnten. Die kleine Seitentüre ging auf und White trat ein. Dark bemerkte, dass White ihren Spiegelschild um den Arm geschnallt hatte. Lady Lavinia betrat durch den großen Saaleingang den Raum, gefolgt von Kronos, dem großen Magier. Sie war eine pompöse Erscheinung, das musste Dark zugeben. Sie war eine dunkle Schönheit, ihre braunen Locken zu einer kunstvollen Frisur aufgesteckt und ihr dunkelblaues Samtkleid war mit vielen Edelsteinen besetzt. Lady Lavinia ging auf ihren Thron zu ohne Dark eines Blickes zu würdigen, als sie an ihm vorüber schritt. Kronos hielt sich dezent im Hintergrund. Erst als Lady Lavinia Platz genommen hatte sah sie Dark mit eisiger Miene an. „Nun Dark..... wie ich sehe, bist du erschienen..... das heißt nun für mich: Du schließt dich mir an?“ Ihre tiefe Stimme hallte leise einen kurzen Augenblick nach. Dark schüttelte den Kopf und zögerte etwas. „Mylady.... White berichtete Ihnen, dass wir Angels Gesetzen folgen müssen, dazu haben wir die Pflicht, diese einzuhalten. Ich bin hierher gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass ich Kraft Gesetz der Angels niemals gemeinsam mit einem anderen Angel für ein Reich kämpfen kann! Ich und White müssen uns an diese Gesetze halten.... ich werde niemals für Sie kämpfen, solange ein Angel an ihrer Seite ist....“ Lady Lavinia sagte nichts, es schien, als ob sie überlegen würde. „Nun gut, mein „guter“ Dark....wenn ich dich nicht dazu überreden kann, eure Gesetze zu missachten..... dann..... wird es doch euer Gesetz zulassen, dass zwei Angels „gegeneinander“ kämpfen.... nicht wahr?“ Sie sah Dark an, mit einem spöttischen Zug um die Lippen. Dark sah zu White, die etwas weiter entfernt neben ihm stand und blickte sie an. White schaute Dark fragend an. Dark sah wieder zu Lady Lavinia und erwiderte: „Das.... kann 28
vorkommen, wenn zwei verfeindete Reiche gegeneinander kämpfen....“ Dark sah, wie Lady Lavinia sich langsam erhob und mit triumphierender Miene White ansah. Der spöttische Zug um ihre Lippen verwandelte sich in ein grausames Lächeln. „Wenn ich euch beide nicht befehligen kann... so kann ich wenigstens den Stärkeren für mich gewinnen! Und nun befehle ich dir: WHITE!.... KÄMPFE GEGEN DARK!.... MÖGE DER STÄRKERE SIEGEN!“ White sah erschrocken zu Lady Lavinia, dann zu Dark und sagte traurig: „Lady Lavinia gab mir den Befehl.... es tut mir leid.... Dark.... ich muss....“ Und sie griff nach hinten zu ihrer Scheide auf den Rücken und zog ihr Schwert und wartete auf Dark, der ebenfalls seinen Zweihänder aus der Scheide zog. „Ich weiss....White.....“ White stürmte vor und hieb ihr Schwert auf Dark ein. Dieser blockte den schnellen Schlag mit einem Konterschlag ab. Als die Schwerter aufeinander prallten, stoben Funken davon. White schrie: „Kronos! Schaff mehr Licht! Ich muss mein Spiegelschild einsetzen können!“ Während sich Dark und White einen erbitterten Schlagabtausch lieferten, trat Kronos aus dem Hintergrund hervor und durch einige gemurmelter Worte wurde der Thronsaal von hellem Licht erstrahlt. White zog sich zurück, Dark verfolgte sie und hieb einige schwere Schläge auf White ein. Diese blockte seine gewaltigen Schläge mit dem Schild ab, und einige Male trafen Dark dessen reflektiertes Licht. Er musste die Augen zusammenkneifen um überhaupt etwas sehen zu können. White holte mit ihrem Schwert in einer wahnsinnigen Schnelligkeit aus und nützte diese Gelegenheit, um damit auf Dark einzustossen. Dark spürte die Schneide in seine linke Seite eindringen, aber da er sich geschickt zur Seite drehte, war es nur eine kleine Verletzung. Dark hingegen hieb mit so einer solchen geballten Kraft auf White ein, dass diese ihren Schild nicht mehr effektiv einsetzen konnte. Ein gewaltiger Schwerthieb von Dark traf White`s Spiegelschild, dass dieser in einem weiten Bogen durch den Thronsaal geschleudert wurde und irgendwo an der Seite liegen blieb. White war nun ohne Deckung! Dark warf seinen schwarzen Schild ab, wie als ob er ihm lästig geworden wäre. „Wenn wir kämpfen, White.... dann zu gleichen Bedingungen.....!!!“ Dark`s Ruf hallte nach. Und wieder stürmte White vor und holte mit ihrem Schwert blitzschnell aus, doch Dark`s Gegenschlag traf. White`s Arm blutete aus einer Wunde. Blutstropfen rannen über ihren Arm und tropften zu Boden. Beide keuchten und sahen sich in die Augen. White griff wieder an und Dark hieb mit geballter Kraft auf sie ein. Ein hässliches Klirren der Schwerter erfüllte den Saal. Beide kämpften wie besessen, beide wehrten die Schwerthiebe des anderen ab, White war die Schnellere, aber Dark der Stärkere. Es war ein erbitterter Kampf, beide gaben alles, schenkten sich nichts. Keuchend und schwitzend vom Kampf sahen beide sich in die Augen, die Kampfeslust blitzte aus ihren Augen. In einem Moment der Unachtsamkeit drehte sich Dark blitzartig zu Lavinia um, lief mit rasender Geschwindigkeit auf sie zu. Lavinia erstarrte vor Schreck. Dark brüllte und holte mit seinem Zweihänder aus und schlug mit einem gewaltigen Schlag Kronos` Kopf ab, der neben Lavinia gestanden hatte. Blut spritzte aus dem Hals, als Kronos´ Haupt zur Seite weggeschleudert wurde. Lavinia schrie. White stürmte heran und stieß mit ihrer ganzen Kraft ihr Schwert in Darks Rücken, mitten ins Herz. Dark drehte sich zu White um, blickte ihr in die ewigblauen Augen und lächelte.... und stieß White mit schwindender Kraft seinen Zweihänder in die Brust. Lavinia heulte vor Wut auf. White und Dark fielen zu Boden, blieben kraftlos liegen. Dark blickte mit letzter Kraft hoch und sah White neben sich auf dem Rücken liegen. Er sah, wie sie ihren Kopf zu seiner Seite drehte und ihm in die Augen blickte. „Dark.... lass uns gehen..... zurück nach Angelsfalls....“ Dark nahm seine letzten Kräfte zusammen und kroch unter unsagbaren Schmerzen zu White und blieb keuchend neben ihr liegen. “White.... meine..... Liebe.....wir.... werden.... wiedergeboren....“ 29
Darks Lippen berührten White`s Lippen, ein Kuss....... und ihre beiden Körper blieben reglos liegen. Lavinia sah gleißend glühende Umrisse, die von den toten Körpern aufstiegen. Dieses Glühen der Umrisse war grell, eines weiß, eines dunkelgrau. Beide vereinigten sich in einem explosiven Ausbruch von blendendem Licht. Die Burg explodierte vollständig, die Kräfte der sich vereinigenden Angels hatte alles um sich herum zerstört. Die Burg von Lennox war Vergangenheit und Drannor blühte wieder auf im Schein der Sonne, denn der Fluch des Kronos endete mit seinem Tod...
ENDE
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Die Prüfung von Markus Regler
Chyra begeht den Tag ihrer Prüfung. Und sie trifft recht erstaunliche Meister!
Kurz nach Sonnenuntergang verschwand der letzte Begleiter aus ihrer Umgebung und die Kandidatin war auf sich allein gestellt. Vor ihr erhoben sich die gewaltigen Schwarzen Tannen des Silbertränenwaldes. Dieser war seit Jahrhunderten Stätte der letzten Prüfung, die ein angehendes Mitglied des Ordens der Schwarzen Magier und Hexen zu bestehen hatte. Für Chyra war dies der Tag der Prüfung. In wenigen Stunden würde sie den Lohn für alle durchstandenen Anstrengungen ernten. Dann war sie Angehörige des Ordens und die Welt stand ihr offen, insbesondere die Welt der Schwarzen Magie. Dann war sie endlich am Ziel ihrer Mühen. Die Natur der Prüfung war ihr unbekannt. Niemand hatte ihr auch nur den kleinsten Hinweis gegeben und doch fühlte sie sich gewappnet. Sie hatte sich mit allen möglichen Zaubern gerüstet, all ihre Flüche präpariert und ihren Zauberstab noch einmal getestet. Mit festen Schritten ging sie in den Wald hinein. Ganz unvermittelt wurde das Licht des Vollmonds schwächer und die Sterne schienen zwischen den Wipfeln zu verblassen. Chyra schockte das nicht. Sie hatte schon genügend Erfahrung mit solch unheimlichen Orten und so beeindruckten sie die knorrig-korkigen Gesichter kein bisschen. Auch die Nebelschwaden waren ein alter Hut. Selbst die Menschenfressenden Nebel in England hatte sie überwunden. In ihrer Laufbahn waren ihr allerlei seltsame Gestalten und Wesen begegnet, was sollte ihr noch passieren. Zwar erzählten die Gerüchte von Hexen und Magiern, die wahnsinnig geifernd wieder aus dem Wald zurückgekehrt waren, aber Chyra war fest entschlossen, die Gefahren zu überstehen und in den Orden einzutreten. Sie hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, seit ihre Bewunderung für die Meister des Bösen erwacht war. Sie war fasziniert ob der gewaltigen Macht der Magier gewesen und hatte schließlich Kontaktpersonen ausfindig gemacht. Schon als junges Mädchen hatte sie alles für sich gewollt. Und dabei war sie in der Wahl ihrer Mittel nicht immer zimperlich gewesen. So lag es nahe, auch in der Hexerei den mächtigsten Weg zu Wählen: den schwarzen. Seit mehr als 30 Jahren bemühte sie sich nun um die absolute Macht, die ihr von den Meistern persönlich am Ende dieser Prüfung verliehen werden sollte. Eine dürre Hand reckte sich ihr aus dem feuchten Erdreich entgegen. Ein kleiner Fluch zerfetzte sie und Chyra setzte ihren Weg fort. Nach und nach wurde das Unterholz entlang des Weges dichter und alles noch düsterer. Es roch nach Moor. Immer wieder ertönte ein leises Knacken oder ein hektisches Scharren, was die Hexe jedoch weniger beeindruckte. Sie war ihrer Leistungsfähigkeit sehr sicher. Und doch erschrak sie nicht unwesentlich, als ein zweiköpfiges Monster mit tellergroßen Augen und drei Hörnern auf jedem Kopf vor ihr durch die niedrigen Zweige brach. Das Wesen brüllte und hob eine Pranke zu einem fürchterlichen Schlag. Chyra schrie auf. Ihre Hände zeichneten magische Symbole in die Luft und ihre Lippen formten mächtige Zaubersprüche. Das Monster hob sich in die Luft, knallte gegen diverse Bäume und drehte sich um die eigene Achse. Klagende Laute erklangen, als es schließlich mit Wucht gegen eine große Eiche krachte und benommen liegen blieb. Chyra baute sich vor ihm auf, bereit die arme Seele über den Jordan zu schicken. Doch plötzlich erklang eine Stimme rings um sie. „Lass meinen treuen Diener des Weges ziehen!“ Sekundenlang lauschte Chyra dem Nachhall. „Wer spricht da?“ Ein Lachen, das einem Nepalesischen Zwergriesen zur Ehre gereicht hätte, erfüllte die Luft. „Die einzige Macht dieser Welt, der du dich zu beugen hast, Hexe!“ Halb vor Furcht und halb vor Erregung zitternd richtete sie sich auf. „Ihr seid...“ 31
„Jawohl ich bin ein Meister des Bösen. Und nun lass den armen Kerl laufen. Ihm darf nichts geschehen.“ Das Monster kroch winselnd zurück ins Unterholz und Chyra ließ es gewähren. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Dann ertönte die Stimme wieder. „Deine Prüfung ist nun zu Ende. Geh den Weg noch etwa hundert Schritt entlang. Dann findest du den Eingang einer Höhle. Folge einfach den Fackeln.“ Dann war Stille. Verwundert starrte die Hexe in die Luft. Die Prüfung schon zu Ende? Das war doch kaum möglich, oder? Sie hatte noch nichts geleistet, was nicht jede Anfängerin im dritten Lehrjahr konnte. Sie zuckte mit den Schultern und marschierte weiter. Der Höhleneingang lag offen vor ihr und war nicht, wie sie vermutet hatte, durch einen Zauber gesichert. Die Fackeln erleuchteten den Gang spärlich und bereits nach der ersten Biegung fand sie eindeutig menschliche Knochen. Na also, dachte sie, es ist doch noch nicht vorbei. Eine Finte. Na, die werden mich nicht reinlegen. Vorsichtig tastete sie sich weiter voran. Alle paar Meter untersuchte sie den Gang vor sich, doch die einzige Falle, die sie fand, war eine offene Grube mit spitzen Pflöcken. Spinnweben überzogen die Skelette, die zwischen den Pflöcken hingen, und verliehen ihnen so ein beinahe gespenstisch-lebendiges Aussehen. Wo blieben die Prüfungen? „Was brauchst du denn so lange?“ Chyra fuhr zusammen als die Stimme durch den Gang hallte. Sie sah sich um, konnte aber niemanden erkennen. „Wir warten auf dich, du Trödelliese!“ Die Kandidatin riss die Augen auf. „Meinst du mich?“, fragte sie nun doch ein wenig verunsichert. „Ja wen denn sonst? Siehst du noch jemanden? Jetzt beeil dich, sonst wird das heute nichts mehr!“ Chyra verstand die Welt nicht mehr. Hatte sie etwas falsch gemacht? Konnten es die Meister des Bösen etwa nicht mehr erwarten, sie für ihre Unfähigkeit zu bestrafen? Doch sie beschleunigte nun ihre Schritte. Befehl war Befehl und wenn die Meister sie zu sich riefen, hatte sie zu gehorchen. Der Stollen machte noch einige Biegungen und mündete schließlich in einen großen runden Raum. Auf halber Höhe war im Halbdunkel eine Art Galerie zu erkennen, die sich um das ganze Rund zog. Unter der Decke schwebte ein Lichtball, der einen quaderförmigen Felsklotz in der Mitte, einen Altar, beleuchtete. Davor standen drei Gestalten in braunen Kutten. Ihre Gesichter waren unter den Kapuzen nicht zu erkennen. Chyra ging gemessenen Schrittes auf die drei Meister zu. Sie war sich der Bedeutung und Würde des Augenblickes wohl bewusst. Noch wusste sie nicht, was sie erwartete, aber das Protokoll gab klare Anweisungen vor. Sie warf sich einige Schritte vor dem Altar auf die Knie und breitete die Arme aus. „Ihr Meister des Bösen, verfügt über mich Unwürdige.“ Die drei Gestalten sahen sich an. „Ich bin gekommen, um die Erste Prüfung des Ordens abzulegen und von euch die Segnung zu erhalten.“ Wieder warfen sich die Meister Blicke zu. Chyras Selbstsicherheit hatte bereits Schaden genommen. Das lief alles gar nicht so ab, wie sie es sich vorgestellt hatte. Nach einigen Sekunden der Stille glaubte sie ein Stöhnen unter einer der Kapuzen zu hören. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten. Waren die Meister bereits der Kandidatin überdrüssig? Eine der Gestalten trat vor. „Nun gut, du bist aufgenommen.“ Chyras Kopf zuckte nach oben. Der Meister drehte sich um und schickte sich an, mit seinen Mitbrüdern wegzugehen. 32
„Ist das schon alles?“, rief Chyra? Sollte das wirklich die Aufnahme gewesen sein? All die Stunden der Vorbereitung quasi umsonst? „Ist das das ganze Aufnahmeritual?“ Die drei Vermummten blieben stehen. „Oha, du scheinst ja sehr schwer zufrieden zu stellen zu sein.“ Täuschte sich Chyra oder klang das amüsiert? „Natürlich ist das nicht alles. Wir wollten dich nur ein wenig verschaukeln, hihi.“ Die Stimme wirkte unnatürlich hoch und leicht näselnd. „Wie jeder Prüfling bekommst auch du etwas von uns.“ Endlich. Das klang schon besser. Schließlich hatte jeder Orden ein äußeres Zeichen der Zusammengehörigkeit. Eine Narbe, eine immerzu blutende Wunde oder auch nur einen Ring. „Und du bekommst etwas ganz besonderes.“ Er wirbelte herum. Chyras Nerven standen unter Hochspannung. „Eine PARTY!“ Auf dieses Kommando hin leuchteten noch mehr Lichtbälle in allen möglichen Farben auf. Die ganze Höhle war hell erleuchtet und wie aus dem nichts entstanden Bars, Buffets und Sitzgruppen um eine Tanzfläche. Aus verschiedenen Eingängen strömten wild aussehende Gestalten. Auf der Galerie nahmen Tänzerinnen Aufstellung und fetzige Musicalklänge erfüllten die Luft. Die drei Meister schleuderten ihre Kutten zur Seite und sprangen auf Chyra zu. Sie erkannte die Melodie eines Stückes aus der Rocky Horror Show und sah völlig geschockt zu, wie die Anwesenden zu tanzen begannen. Es war eine beeindruckende Darbietung, eine gesangliche und musikalische Meisterleistung. Chyra fand keine Worte dafür. Sie war am Ende mit ihrem Latein, fertig mit der Welt. Der erste der Meister trug ein schwarzes Netzhemd, knallenge Latexhosen und pinke Stiefeletten. Dezentes Make-up betonte die Augen, farblich mit den perfekt gestylten Haaren abgestimmt. Der zweite wartete eher feminin mit Minikleid, knalligem Lippenstift und Strapsen auf. Er zog lasziv an einer Zigarette mit Mundstück und spielte mit der dreireihigen Perlenkette um seinen Hals. Der dritte war in schwarzes Leder gekleidet und sehr muskulös. Seine Augen waren hinter der dunklen Sonnenbrille nicht zu erkennen. Die Krönung war hier die Polizeimütze, die er tief in die Stirn gezogen trug. Sie sprangen geschmeidig auf Chyra zu, griffen sie unter die Arme und tanzen mit ihr auf den Altar zu. Der Kerl im Minikleid sprang auf den Klotz und tanzte dort dermaßen exzessiv, dass alle Anwesenden zu Brüllen begannen. Der Ledertyp sprang zu ihm hinauf und das Publikum brodelte. Chyra fühlte sich gepackt und auf die freie Fläche vor dem Altar gezogen. Beinahe apathisch betrachtete sie die Tänzer vor sich, die zum Teil eine richtige Revue zum besten gaben oder sich einfach nur so bewegten. Der Meister im Netzhemd neben ihr erhob seine Stimme, welche die Musik problemlos übertönte. „Liebe Freunde!“ Er klang völlig unmännlich und viel zu hoch. „Ich möchte euch ein neues Mitglied vorstellen! Ihr Name ist Chyra und ihretwegen geben wir diese tolle Party! Applaus!“ Die Menge klatschte und kreischte. „Ihr wisst, ich tanze sonst lieber mit wirklichen Mit-Gliedern, aber heute mache ich mal ne Ausnahme, hihi. Chyra, ich bitte um deinen ersten Tanz hier. Mein Name ist übrigens Arenus“ Und noch bevor Chyra protestieren konnte, zog er sie an sich und begann sich mit ihr im Klang der Musik wiegen. Die Gäste klatschten noch einmal alle Beifall und fingen ihrerseits wieder an zu tanzen. Arenus wirbelte seine Partnerin hin und her und ihr blieb nichts anderes übrig, als ihn gewähren zu lassen. Ihr Gedanken schlugen Purzelbäume. Was war hier los? Waren die Meister wirklich das, wonach sie aussahen? Oder war sie schon tot und hatte es nur nicht gemerkt? Minuten später war das erste Stück zu Ende und Arenus führte sie zu einem Tisch. Mit einer kurzen Handbewegung ließ er zwei Cocktails erscheinen und bot ihr Platz an. Er selbst schlug die Beine dermaßen damenhaft übereinander, dass es selbst die Prinzessin von Bethanien nicht besser gekonnt hätte. „Ich bin mir sicher, dass dich das eine oder andere hier ein wenige verwundert.“, begann er und tätschelte ihre Hand. „Aber wenn du dich einmal daran gewöhnt hast, wirst du immer 33
wieder kommen wollen. Glaub mir, es ist wirklich spaßig hier.“ Chyra sah ihn an. Noch immer rang sie um ihre Fassung. Die Meister des Bösen, ihre übermächtigen Idole, waren... „Schwul, genau! Ja, Chyra, du hast vollkommen richtig gedacht.“ Sie sah Arenus verwundert an, bis ihr klar wurde, dass er ihre Gedanken gelesen hatte. „Aber... aber... ihr seid die Meister des Bösen! Ihr könnt nicht so... so...“ „tuffig sein?“, half ihr Arenus. „Genau das. Ihr seid die höchste Instanz der Schwarzen Magie auf dieser Welt, die Führer des Schwarzen Ordens...“ Mit einer Handbewegung unterbrach sie Arenus. „Ja ja, das war früher einmal.“ Er wedelte mit den Händen als wolle er eine Fliege vertreiben. „Früher haben wir mal so gelebt, ja ja. So richtig mit schwarzen Messen, Katzen schlachten, Blut trinken und so weiter. Aber das ist ja soo gräääßlich.“ Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas, jedoch nicht ohne die Eleganz zu wahren. „Aber irgendwann wird das dermaaaßen langweilig. Immer böse sein und Menschen quälen und so.“ Chyra schüttelte ungläubig den Kopf. „Und warum seid ihr dann... dann...“ „schwul geworden?“, ergänzte Arenus lächelnd. „Ja, eines Tages hat ein unvorsichtiger warmer Bruder unseren Wald betreten und wir haben ihn uns geschnappt. Es stellte sich heraus, dass er eine Vorliebe sein eigenes Geschlecht hatte und das hat uns dann doch ein wenig interessiert. Du weißt ja: diese ganzen Helden, die uns auslöschen sollten, waren ja sonst immer Heteros und sollten am Ende die schöne Prinzessin bekommen. Es war etwas völlig neues für uns“ Er kicherte geziert-amüsiert. „Und deshalb haben wir ihn behalten. Er hat uns was über die Schwulenbewegung erzählt und wie viel Spaß das alles macht. Wir haben dann unsere dunklen Gestalten abgelegt und uns diese hier gegeben.“ Er schlug die Hände zusammen. „Ach wenn ich nur dran denke, wie hässlich wir vorher waren. Unglaaaaublich.“ Chyra war am Boden zerstört. Ein Weltbild war für sie zusammengebrochen. Alles war unwichtig geworden. Nichts gab mehr einen Sinn. Die Organisation des Ordens war so zu sagen vernachlässigbar, nachdem der Kopf... das Lager gewechselt hatte. „Und wann hattet ihr vor euer coming-out zu feiern?“, fragte sie resigniert. „Ihr könnt doch nicht Dutzende Hexen und Magier härteste Qualen auf sich nehmen lassen, um ihnen dann ihren gerechten Lohn zu versagen.“ Arenus sah sie an. Sein Kopf wackelte ein wenig nervös hin und her. „Na ja, wir wollten schon immer mal wieder unseren Untergebenen Bescheid sagen. Aber wie das halt so ist. Einmal hat man einen Termin hier, dann kommt just in dem Moment eine Einladung oder man muss selbst eine Party vorbereiten. Es ist alles nicht so einfach. Außerdem hat jeder seinen Lohn bekommen und ist in den Orden aufgenommen worden. Leider haben das die letzten Kandidaten nicht verkraftet. Ich weiß gar nicht genau warum.“ Mit einem Tuch tupfte sich Arenus die Stirn ab. „Oder aber sie sind gleich hier geblieben. Du kannst gern bleiben, wenn du willst.“ Chyra beeilte sich zu versichern, dass sie darüber gründlich nachdenken würde. Sie hatte sich ihr Leben als Ordensmitglied eher anders vorgestellt. Eine Frage quälte sie jedoch noch. Arenus kannte sie schon wieder vorher. „Wie wir es geschafft haben, nicht mehr böse zu sein? Aber, aber mein Täubchen, ganz haben wir das Böse noch nicht aus uns verbannt.“ Er senkte die Stimme. „Wenn du wüsstest, was wir ab und zu abends in unserem Gemeinschaftsraum treiben, hihihi. Besonders Kortheus ist da ganz wild.“ Kichernd zeigte er auf den Schwarzledernen, der inzwischen alleine auf dem Altar tanzte, sich dabei in den Schritt griff und laut kreischte. „Komm ich zeig dir alles.“ Arenus packte Chyra bei der Hand und zog sie mit sich. Das ganze Höhlensystem war in grellen Farben eingerichtet. Überall vergnügten sich Männer und Frauen in den wildesten Klamotten und ein paar Stunden und Cocktails später war sie mittendrin. Sie tanzte sogar alleine, ohne dass irgendjemand sie dazu auffordern musste. Es war ein rauschendes Fest und mit der Zeit genoss sie es. Lange hatte sie sich wegen der Prüfungen so etwas nicht mehr gegönnt. Der dritte Meister, Fornos, gab ihr 34
praktische Schminktipps und Kortheus lud sie sogar zu einer Tasse Kaffee ein. Eigentlich war er sehr schüchtern und zurückhalten, dachte sie. Doch jedes Fest geht einmal zu Ende und so auch dieses. Chyra bekam das aber schon nicht mehr mit. Völlig übermüdet war sie auf einem Sofa zusammengesunken und eingeschlafen. Als sie wieder aufwachte, ging gerade die Sonne auf. Sie lag am Rande des Silbertränenwaldes im Moos und niemand war zu sehen. Verblüfft sah sie sich um. War die Prüfung vorüber? Hatte sie bestanden? Langsam kamen Erinnerungen wieder hoch. Die Höhle, dunkle Gestalten in Kutten, ein Fest. Genau ein Fest bei den Meistern! Jetzt erschien ihr das alles schon ein wenig skurril. Auf dem Rückweg machte sie sich so ihre Gedanken. Sie hatte von einer Droge gekostet, die sie schon jetzt wieder zur Höhle zurückzog. All die Jahre hatte sie zurückgezogen nach der Macht gesucht, nach der absoluten Macht. Jetzt konnte sie nur noch an die nächste Feier denken. Die Einladung hatte sie in einer Tasche entdeckt. Sie hatte etwas genossen, das sie nie zuvor geschmeckt hatte: Lebensfreude.
ENDE
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Buntes Gefieder von Cindy Ruch
Eines Tages taucht ein sonderbarer Vogel auf. Und er muss einen sehnlichen Wunsch erfüllen!
„Nein, nicht schon wieder!“ Wütend starrte ich auf meinen quietschgelben Wecker, der eine Uhrzeit anzeigte, bei der ich schon längst nicht mehr im Bett liegen sollte. Acht Uhr. Schulbeginn. Wieso passierte immer mir das? Wieso gab der Wecker immer dann den Geist auf, wenn wir an so einem Tag eine äußerst wichtige Arbeit in der ersten Stunde schrieben? Ich stieß einige Flüche aus, bei der sich der Magen meiner Tante wahrscheinlich dreimal um sich selbst gedreht hätte, und sprang aus dem Bett. Peng! Mit voller Wucht raste ich gegen die Decke über mir. Wann würde ich mich wohl endlich daran gewöhnen, dass ich ein Hochbett hatte? Wahrscheinlich nie. Mit meiner kalten Hand presste ich gegen die werdende Beule an meinem Hinterkopf und lief ins Bad. Schnell wusch ich mir mein Gesicht, sagte meinem Spiegelbild mit meinem grässlichsten Lächeln „Guten Morgen“ und zog mich um. Vier Minuten später saß ich auf meinem Fahrrad. So viel Glück wie ich heut hatte war natürlich Nebel. Und zwar dickster Nebel. Mit zusammengekniffenen Augen fuhr ich die lange gerade Straße entlang, die zu meiner Schule führte. Ich merkte, wie mir die Wassertropfen vom Nebel über die Stirn liefen. Ich schrieb ja eigentlich jetzt, in diesem Moment, Chemie. Und da fragte der Lehrer wahrscheinlich auch ab, wie Nebel entstand. Doch das interessierte mich jetzt grad gar nicht. Ich wusste nur, dass ich ihn am liebsten verwünscht hätte. Noch während ich in meinen Gedanken schwelgte und die Straße mit rekordverdächtiger Geschwindigkeit entlang sauste, sah ich vor mir auf der Straße plötzlich ein dunkles Etwas liegen. Instinktiv bremste ich und drehte mich dabei einmal um meine eigene Achse. Ich schnaufte. Dann sah ich, was vor mir lag. Ein kleiner Vogel. Ich stellte mein Fahrrad am Straßenrand ab und beugte mich vorsichtig über das kleine Tier. Ich spürte den Nebel kaum noch, eine wasserdichte Aura schien mich zu umgeben. Behutsam drehte ich den kleinen Kopf, der mit dem Gesicht nach unten lag, auf die Seite. Ein lilafarbener, großer Schnabel prangte mitten im Gesicht des kleinen Vogels. Die Augen waren geschlossen. Irritiert sah ich mir den Schnabel an. Soweit ich wusste, gab es keine winzigkleinen Vögel mit riesigen, lilafarbenen Schnäbeln. Leicht berührte ich den Schnabel. „Hey, mach deine Hand weg, ich krieg doch keine Luft mehr.“ Erschrocken machte ich einen Satz nach hinten. Sofort war ich wieder von dichtem Nebel eingehüllt. War diese piepsige Stimme gerade eben eine Halluzination gewesen? Irritiert schüttelte ich den Kopf und beugte mich abermals zu dem Vogel hinunter. Ich könnte ihn ja meinem Bio-Lehrer mitbringen, der würde mir dann vielleicht sagen, was das für eine Art sei. Ich griff nach dem Vogel. Im selben Moment ertönte ein schriller Schrei, der leicht mit einem Indianerruf aus dem Fernsehen zu verwechseln war. Fast hätte ich den Vogel fallengelassen, doch sein Schnabel bohrte sich in meine Hand. Beinahe hätte ich auch angefangen zu schreien. Schnell schloss ich die Hand um den Vogel, und hätte ihn abermals fast fallen gelassen, als eine Stimme aus dem Inneren meiner Hand ertönte. „Verdammt, mach deine Hand auf. Ich brauch doch auch Luft...!“ Unwillkürlich gehorchte ich und öffnete meine Hand. Der Vogel sah mich mit grünfarbenen Augen an. „So, und jetzt hörst du mir mal zu!“ Die Stimme, die aus dem lilafarbenen Schnabel kam, klang verärgert. „Ich habe keine Ahnung, was mit euch Menschen los ist. Wieso ihr immer wieder vor dem Glück davonrennt. Vielleicht kannst du mir das ja irgendwann mal erklären. Schau nicht so bedeppert drein, immerhin hast du einen Wunsch frei. Hast du eine Ahnung, wie viel Tage ich schon hier lieg, mich immer wieder überfahren lasse, bis endlich mal einer anhält?! Aber jetzt bist ja endlich du da. Muss wohl Schicksal sein. Jedenfalls kannst du mir nur helfen, wenn ich dir helfe...“ 36
„Und wie geht das?“ Ich sprach doch nicht allen Ernstes hier mit einem Vogel, oder? Ich musste grinsen, als ich überlegte, wie ich wohl grad aussah. Ein nasses Mädchen steht am frühen Morgen mitten auf der Straße und unterhält sich mit einem Vogel. Wahrscheinlich hatte ich schon einen Vogel. In meinem Kopf. „Können wir nicht irgendwo reingehen?“, fragte die ulkige Stimme. Eine halbe Stunde, eine miese Arbeit über Nebel und eine unglaubwürdige Ausrede später saß ich auf der Schultoilette, auf meinem Schoß der Vogel. Er schien sich prächtig erholt zu haben und sein Gefieder schillerte in den buntesten Farben. Er erklärte mir die Spielregeln. Von was sie sein würden, wusste ich bis dahin auch noch nicht. „Also, ich bin ein Engel, Zauberer, Magier oder wie du das auch immer nennen willst. Jedenfalls muss ich einem Menschen seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen, damit ich wieder in den VoHi zurück darf. Du hast ja keine Ahnung, wie schön es im VoHi ist, galaktischgenial. Schönes Wort, nicht?! Hab ich vorhin bei so Mädchen gehört...“ „Stop!“ Ich unterbrach seinen Redeschwall. Ich hatte doch zu viele Fragen und außerdem kam mir das alles noch ein bisschen fachgriechisch vor. „Auf Bildern sehen Engel immer wie Menschen mit Flügeln aus, also kannst du gar kein Engel sein, oder?!“ „Doch, natürlich. Schau dir doch meine wunderschönen Flügel an!“ Als Beweis breitete er sie aus und flog einmal zu meinem Kopf und wieder zurück auf meinen Schoß. „Na gut. Und kannst du gar nicht sterben? Du hast dich schließlich oft genug überfahren lassen, wie du mir erzählt hast.“ „Ich bin ja schon tot. Nur Feuer kann mich vernichten, weil es aus der Hölle kommt, aber das darfst du niemandem sagen! Ups, darf ich das überhaupt erzählen? Ich glaub nicht...“ Ich ignorierte seinen Versprecher einfach. „Was ist VoHi?“, fragte ich ihn. „Vogelhimmel. Der ist so wunderschön, sag ich dir, und...“ Auf einmal wurden wir durch eine Mädchenstimme vor der Kabine unterbrochen. „Bist du da drinnen, Mara? Ich hab ja schon immer gewusst, dass du Selbstgespräche führst, aber dann noch mit so einer komischen Stimme?!“ „Lasst mich in Ruhe! Außerdem war das nicht meine Stimme, da muss noch jemand anderes neben mir in der Kabine sein.“ „Verdächtigst du etwa mich, Mara... ?“ Oh nein. Die zickigste Zicke aller Zeiten. Den Rest der Gemeinheiten lies ich zähneknirschend an mir vorbeiziehen und verhielt mich still, wobei ich mit meiner rechten Hand den lilafarbenen Schnabel zuhielt. Dann waren sie endlich wieder draußen. Der Vogel sah mich mit großen Augen an und sagte mit seiner ulkigen Stimme: „Du hast nicht viele Freunde, oder?!“ Ich senkte die Augen. „Nein.“ Es läutete zum zweiten Mal. „Ich muss jetzt wieder in den Unterricht. Was machst du derweilen?“ „Ich verstecke mich in deiner Jackentasche, in Ordnung?! Und überlege dir einen Wunsch, du hast nur noch eine Stunde Zeit!“ Eine Stunde nur noch? Oje, was sollte ich mir nur wünschen? Was war denn mein sehnlichster Wunsch? Ich lief in das Klassenzimmer und setzte mich an meinen Tisch. Ich saß allein und hatte viel Zeit, um mir einen Wunsch zu überlegen, aber ich schien plötzlich wunschlos glücklich zu sein. Mir viel kein einziger Wunsch ein. Außerdem lenkte mich das bunte Gefieder ab. „Was ist denn das für ein komischer Vogel da vorne?“ „Mein Lehrer.“ Ich grinste. “Aber so leer scheint er gar nicht zu sein. Der redet ja und redet... und hört gar nicht mehr auf. Für was soll das gut sein? Und wieso tust du dir das jeden Tag an?“ Ich zuckte die Schultern. Bis zur neunten Klasse war Schulpflicht, doch ich hatte jetzt schon die zehnte angefangen. „Ohne einen Abschluss hat man hier einfach keine Chance.“ Er überlegte kurz. „Ihr Menschen seid schon komisch.“ Er sprach mir aus der Seele. Nach einer Weile versuchte er ein Portrait von sich auf meinem Matheheft zu malen, was total misslang. Ich musste mein Lachen hinter vorgehaltener Hand unterdrücken. Er stellte sich einfach zu drollig an. Der Lehrer warf mir einen fragenden Blick zu, den ich ebenfalls fragend 37
erwiderte. Die beste Antwort war das wahrscheinlich nicht. „Was gibt’s hier zu lachen, Mara?“ Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte sich schon ein anderes Mädchen eingemischt. Es musste vorhin auch auf der Toilette gewesen sein. „Ach, wissen Sie, Herr Lanze, Mara führt sehr gerne Selbstgespräche, wie wir vorhin schon mitbekommen haben.“ Einige meiner Klassenkameraden kicherten. „Wahrscheinlich hat sie sich gerade eben wieder einen Witz mit ihrer komischen Zweitstimme erzählt.“ Feindselig starrte ich sie an. Ich wünschte... Bevor ich meinen Gedanken zu Ende führen konnte und all meine Klassenkameraden dorthin wünschen konnte, wo der Pfeffer wächst, wurde ich von dem Vogel heftig in den Oberschenkel gepiekst. Ich blickte ihn an und er flüsterte mir so leise zu, dass nur ich es hören konnte. „Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst. Es könnte in Erfüllung gehen!“ Las er etwa Gedanken? Aber ich befolgte seinen Spruch und starrte die anderen nur gleichgültig an. Die waren doch alle viel zu schade für einen Wunsch! Auch diese Schulstunde ging zu Ende und ich hatte nur noch 15 Minuten Zeit. Ich lief auf dem Pausenhof hin und her, den Vogel in meiner Tasche. Auf einmal kamen mir zwei meiner Klassenkameradinnen entgegen. Sie kamen sich anscheinend furchtbar cool vor, da sie beide eine Zigarette in der Hand hielten. Ich schaute an ihnen vorbei, doch auf gleicher Höhe nahm eine von beiden plötzlich ihre Zigarette aus dem Mund und drückte sie fest gegen meine Jacke. Der Vogel fing an, wie verrückt zu zappeln und ich starrte sie erschrocken an. Sie lachte nur. „Vielleicht findest du ja mal eine schönere Jacke, Darling.“ Sie kamen sich wirklich vollkommen cool vor, als sie kichernd weiterliefen. Ich sah an mir runter, konnte jedoch keinen Brandfleck entdecken. Der Vogel zappelte immer noch wie wild. Hastig rannte ich vom Schulhof und zog ihn aus meiner Tasche. Auf seinem schönen Schnabel war ein großes schwarzes Loch, das sich immer weiter auszubreiten schien. Seine Augen starrten mich groß an und mit heißerer Stimme sagte er: „Die Hölle. Feuer aus der Hölle. Ich sterbe...“ „Nein!“ Erschrocken sah ich ihn an und strich ihm immer wieder über das bunte Gefieder. „Sag mir, wie ich dir helfen kann. Jetzt sag schon!“ Sein Schnabel war schon fast ganz verbrannt. Ich verstand ihn kaum, als er mir versuchte, etwas mitzuteilen. Er durfte doch jetzt nicht einfach sterben! Er war doch so lieb und nett zu mir gewesen, was schon seid langer Zeit niemand mehr gewesen war. Und das alles nur wegen diesen dummen Mädchen aus meiner Klasse! Ich wünschte... schlagartig erinnerte ich mich daran, was der Kleine vorhin zu mir gesagt hatte und versuchte, den Gedanken nicht zu Ende zu denken. Vielleicht konnte ich mir ja was wünschen, und das würde ihn in den Himmel zurückbefördern. Mir musste nur was einfallen! Ich blickte ihn an und mir kamen die Tränen. Der Schnabel war vollständig verbrannt. Die Augen hatte er geschlossen. Mit flüsternder Stimme beugte ich mich über ihn. „Ich wünsche mir einen Freund, der so lieb ist wie du es bist.“ Ganz kurz öffnete er noch einmal die Augen und blinzelte mir nickend zu. Und plötzlich war er weg. Meine Hand war leer. Ich habe nie erfahren, ob er in den Himmel kam oder in die Hölle. Aber ich hoffe, in den Himmel. Der Wunsch wurde erfüllt. Denn wir zogen um und niemand hatte mehr irgendwelche Vorurteile gegen mich. Ich konnte wieder ganz von vorne anfangen. Dank einem kleinen, bunten Vogel. Oder?
ENDE
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Aus dem Rahmen gefallen von Sabine Hinterberger
Scharlatane können täuschen. Manchmal auch sich selbst...
Scharla war die Beste ihres Jahrgangs. Das war sie nicht erst seit ihrer Abschlussprüfung vor dem ‚Großen Orden der Scharlatane’. Letzte Woche hatten die ‚Großen Zehn’ sie geprüft. Jeder war Meister in seinem Fach. Und jedes Fach war unverzichtbarer Bestandteil der Grundausbildung eines Staatlich Anerkannten Scharlatans. S war der Meister der Seher. Heute hieß sein Fach Psychologie. Es musste den Anforderungen des 21. Jahrhunderts angepasst werden. Seher gehörten dem Mittelalter. Psychologen waren die neuen Seher der Moderne. C war der Meister des Charismas. H war die Hexe des Ordens. Auch ihr Unterrichtsstoff wurde gerade reformiert und immer mehr von der Technik des Computer- und Handyzeitalters ersetzt. Sie war nebenbei schon führende Vorstandsvorsitzende bei einer der marktführenden Telekommunikationsfirmen in Europa. A war der Alchemist. R war der Rätselmeister. L war der Listigste. A’ war die ungekrönte Königin der Anpassung. T war, wenn er mal in seiner wahren Gestalt zu sehen war, der Meister der Tarnung und Täuschung. A’’ war der Angeber des Ordens, der in seinen Vorlesungen als sehr launisch und eitel galt. Doch er vermittelte grundlegende Fachkenntnisse, die jeder Scharlatan zu seiner perfekten Ausstrahlung unbedingt brauchte. N war der Neunmalkluge und der Jüngste der Zehn. Er hatte die wenigsten Schwierigkeiten seine Vorlesungen mit modernen Marketing- und Merchandisingstrategien zu bereichern, ohne die ein Scharlatan von heute ein Nichts war und blieb. Und, wenn nicht die Großen Zehn Scharlatane, wer sollte dann vorgeben, auf dem Zenit des Weltbildungslevels des 21. Jahrhunderts zu stehen. Image war Programm. ‚Pisa’ machte auch vor Scharlatanen nicht Halt. Scharla überzeugte sie alle Zehn. Ausnahmslos. Die Großen Zehn waren sich schnell, nach einem Jahrzehnt, einig. Im letzten Jahrhundert hatte sie noch nie jemand so professionell getäuscht. Überdurchschnittlich begabt. Besonders wandlungsfähig. Ausgesprochen intuitiv und risikofreudig. Die erste und beste Scharlatanin des neuen Jahrhunderts hatte ihr Diplom mit Auszeichnung bestanden. Ihr wurde eine große Zukunft vorausgesagt... Scharla war Berufsanfängerin in einer Zeit, in der Scharlatane wieder gefragt waren. Im neuen Jahrtausend mehr als in den beiden vorhergehenden. Die Ausbildung dauerte ein Jahrhundert, ohne Berufsanerkennungsjahr. Nur wenige überlebten die Zeit. Zu viele verirrten sich in den menschlichen Kämpfen um Macht und Anerkennung. In Familien, als kleinster menschlichen Einheit genauso wie in den größten, politisch organisierten Menschengruppen, den Nationen. Nur zu oft war ein Scharlatan ein gern gesehenes Bauernopfer für die Menschen. Viele wechselten schnell die Fronten und wurden menschlicher als sie es sich je hätten vorstellen 39
können. Doch, wenn sie das erkannten, war es schon zu spät. Waren Scharlatane einmal enttarnt, als solche, die sie waren, bzw., als solche, die sie nur vorgaben zu sein, wurden sie in die Menschheit verbannt. Sterblichkeit war der Preis, den sie zahlen mussten. Scharla lebte für ihre Berufung. Ihr Einsatzgebiet erstreckte sich über alle Bereiche des öffentlichen Lebens der Menschen: Politik, Wirtschaft, Gesundheitswesen, Sport, Kunst, usw.. Eben überall dort, wo Scharlatane gebraucht wurden, die für eine begrenzte Zeit überzeugend glaubwürdig einen Menschen spielten, der er selbst nie sein würde. Scharla stellte Menschen mit bestellten Eigenschaften dar. Inszenierte neue Lebensgeschichten auf Zeit. Ihr Honorar war Spielgeld und somit Verhandlungssache. Im Berufspraktikum hätte sie fast einen Job in der deutschen Politik bekommen. Sie sollte als neue, kompetente, ehrgeizige Bundeskanzlerkandidatin einer konservativen Partei in Deutschland engagiert werden. Ziel: Die erste Frau an der Spitze. Doch eine Nacht vor der Vertragsunterzeichnung bekamen die ‚Großen Zehn’, nach einem Anruf aus dem südlichsten deutschen Bundesland, kalte Füße. Sie schoben fadenscheinige Richtlinien und veränderte Prüfungsordnungen von 1789 vor, um nicht aussprechen zu müssen, dass die menschliche Gesellschaft in diesem Land mit einer Frau an der Spitze einfach noch überfordert sei. Den Job übergaben sie einem älteren, zur Zeit arbeitslosen Scharlatan. Wenig erfolgsversprechend. Scharla kannte ihn aus ihrer Ausbildungszeit. Doch, ob ihr die Geschichte recht geben würde, hing von dem Ergebnis der diesjährigen Bundeskanzlerwahl ab... Scharla schwor sich, nie einen Job aus der menschlichen Politik anzunehmen. Seitdem suchte sie sich ihre Auftraggeber noch viel sorgfältiger aus. Das zahlte sich aus. Ihr Ruf übernahm das übrige. Und schon bald konnten es sich nicht mehr viele leisten, Scharla zu engagieren. Scharla schaffte es von der Prüfung weg direkt in ihren ersten Auftrag engagiert zu werden. Menschliches Gesundheitswesen. Urlaubsvertretung einer Psychiaterin. Die bezahlte im voraus. Gab ihr die Schlüssel zu den Praxisräumen und verabschiedete sich mit den Worten: „Ab heute nachmittag sind sie hier die weibliche Ausgabe unseres Sigmund Freud.“ Scharla kannte ihn. Aus den ersten Ausbildungsjahren. Sie verstand bis heute nicht, was die Menschen immer noch so sehr an ihm faszinierte. Aber, das waren ihre Scharlatanneurosen, die hier nicht hin gehörten. „Der Kalender mit den Terminen liegt auf dem Schreibtisch. Der Rest ist ihre Sache. Schließlich sind sie die Scharlatanin“ Die Tür schloss sich hinter ihr und Scharla war allein. Sie sah den Stapel Akten, der akkurat, Kante auf Kante, neben dem Telefon aufgebaut war. Zehn. Zehn große Meister der Scharlatane. Am Zehnten des Monats war sie vor zweihundert Jahren zur Welt gekommen. Die zehn Zeichen standen gut. Jemand klopfte zaghaft an die Tür. Als er in das Zimmer trat, erkannte ihn Scharla mit seinem Namen: Tan. Sie besaß die seltene intuitive Gabe der Seher. Das Erkennen des Anderen im Bruchteil einer menschlichen Sekunde. Ein Blick in seine Augen genügte: Blau. Blaue Augen, die sich etwas unbeholfen ihr gegenüber setzten. Scharla genoss diese abwartende, gespannte Stille, in der alle Anfänge ihrer und seiner Welt noch verborgen waren. „Sie sind hier, weil sie sich bei allem, was sie tun, einsam und wertlos fühlen!“ Scharla scherte sich nicht um menschliche Höflichkeitsfloskeln. Sie fragte auch nicht. Sie kam sofort auf den Punkt. „Ja.“ Seine Antwort war ebenso knapp wie sicher. „Sie schützen sich mit einer Sicherheit, die sie nicht wirklich verbirgt. Die keine ist.“ Scharla sorgte dafür, dass sich die Worte langsam auf ihn zu bewegten. Tan wartete ab. Wartete auf die Wirkung, die ihre Worte auf seine Sicherheit hatten. Ihre Worte waren sanft. Vorsichtig. 40
Seine Sicherheit trotzig. Standhaft. Vorerst. Eine wortlose Viertelstunde später setzte sich Tan zu Scharlas Worten. Ein angenehmes Schweigen, das sie für ihn inszeniert hatte. Diese Stille bereitete den Boden für neue Worte, die so noch nie ausgesprochen wurden. Sie spürte, dass er es versuchte. Noch wortlos. „Wieso?“ Nur diese eine Frage platzierte Scharla als Brücke zwischen ihm und ihr. Er schaute sie sich lange an: „Wenn ich mit Sicherheit auf die Menschen zu gehe, kann ich weiter gehen, ohne ängstlich stehen zu bleiben...“ „Was passiert, wenn sie ohne die fremde Krücke laufen?“ „Ich stürze.“ „Brauchen sie jetzt hier, in diesem Gespräch mit mir, auch ihre Krücke?“ „Ich sitze.“ Tan lachte. Scharla lachte zurück: „Dann setze ich mich zu Ihnen.“ Sie nahm den Stuhl und rückte ihn näher zu ihm. „OK?“ „Ja, ich gewöhne mich gerade daran.“ „Und, was stellen sie jetzt wieder zwischen uns?“ Scharla spürte, dass er Worte suchte, für das, was er bisher immer zwischen sich und andere Menschen gestellt hatte: Seine Einstellung. Seine kleine menschliche Sicht der Welt, hinter der er sich verkroch. Verbarg und nur den Menschen zeigte, von denen er glaubte, dass er akzeptiert wurde. Tan wäre ein genialer Scharlatan, dachte Scharla. Leider war er ein Schlechter für sein eigenes Leben. „Welchen Menschen darf ich sehen? Was von ihnen dürfen sie mir zeigen?“ Wieder diese überlegende Stille, die die menschlichen Minuten nur so dahin kriechen ließ. Für Scharlatane nur ein kurzes Wimpernzucken. Scharla hatte gelernt zu warten. Zu warten und zu beobachten. „Ich komme mir klein, unfähig und minderwertig vor...“ Jedes Wort war eine Qual, die Tan deutlich im Gesicht stand. Er holte tief Luft. Die Worte, die er laut aussprach, nahmen ihm die Luft zum atmen. „Woher kommt dieses Gefühl?“ Scharla überbrückte seine nachlassende Atemnot mit einer frischen, neuen Frage. Tan kannte die Antwort: „Immer, wenn ich unter Menschen bin, ist es besonders schlimm. Ich ziehe Vergleiche. Bewerte mich durch die Augen der Anderen, die doch nur meine sind. Ich verliere...“ „Sie verlieren immer dann, wenn sie es zulassen. Wenn sie diesem Teil in ihnen soviel Macht geben.“ „Entmachten, ist das Schlüsselwort, oder?!“ Er schluckte. Es war keine Frage. Scharla spürte, wie ihm sein Kopf recht gab. Doch etwas in ihm glaubte nicht daran. Konnte es nicht zulassen, dass er es erlebte. „Warum erlauben sie es sich nicht, ihr Leben zu lassen? Sein Schweigen war Antwort genug. „Was erhält sie dann am Leben?“ Tan versuchte ihre Frage, dem ihr Blick folgte, zu entkommen. Lange schaute er völlig gedankenversunken in sich hinein. Als er wieder aufblickte, waren seine Augen stur geradeaus auf die rote Ziegelmauer gerichtet. Scharla folgte seinem Blick. Es war das Bild mit dem brüchigen Holzrahmen, das alleine schief an der Wand hing: Klares blaues Wasser. In die rechte untere Bildecke gerutscht. Mit in die Ecke gerutscht, ein Segelboot. Horizont. Wolken. „Deshalb!“ Seine Antwort überraschte Scharla nicht wirklich. „Weil irgendwo da draußen mein Leben auf mich wartet!“ Scharla stand ohne zu zögern auf. Tan schrak zusammen. Sah kurz auf seine Armbanduhr. Sie ging zu dem Bild und rückte es gerade. Nur den Rahmen. Nicht das Bild dahinter: „Manchmal genügt es, etwas gerade zu rücken!“ 41
Tan lachte. Das Segelboot war vorher nicht von der Stelle gekommen. Eingeklemmt in der unteren rechten Bildhälfte. Auf Grund gelaufen. Jetzt konnte es befreit lossegeln. Heraus aus dem Rahmen. Hinein in das Zimmer. Immer dem Horizont entgegen. Und aus der Tür heraus. Bis zum heutigen Tag wurden ScharlaTan nicht wieder gesehen. Was zurück blieb, war die kleine Wasserlache unter dem leeren Holzrahmen. Und die fehlende zehnte Krankenakte.
ENDE
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