E. R. Greulich
... und nicht auf den Knien Roman vom streitbaren Leben des Artur Becker 9. Auflage • 456 Seiten • Ganz...
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E. R. Greulich
... und nicht auf den Knien Roman vom streitbaren Leben des Artur Becker 9. Auflage • 456 Seiten • Ganzleinen 7,60 M
Das Buch ist alles andere als eine Aufzählung äußerlicher Daten, als der erweiterte Lebenslauf Artur Beckers vom lernbegierigen Knaben zum Vorsitzenden des Kommunistischen Jugendverbandes und jüngsten Reichstagsabgeordneten der Wahlperiode von 1930. ... hier wird vor dem Leser ein Mensch lebendig mit seiner Liebe zur Wahrheit, seiner Unbestechlichkeit, seinen Sorgen, seiner Angst, seinem Mut und seinen Erfolgen, die er nie für sich persönlich erheischte. Immer wieder steht er vor Entscheidungen in politischen und persönlichen Dingen. Da kommt ein Augenblick, in dem er sich bewußt wird, welch hohes Ansehen er bei seinen jungen Genossen genießt, welchen großen Einfluß er auf sie auszuüben vermag. Wie leicht kann einem so etwas in den Kopf steigen. Er sieht das ganz klar, weil er sich selbst gegenüber ehrlich ist. Und indem er diese Gefahr erkennt, ganz bewußt, weiß er ihr auch zu begegnen. So lernt man den liebenswerten Menschen Artur Becker von den verschiedensten Seiten her kennen und damit zugleich auch die Zeit, in die er hineingeboren wurde.
Verlag Neues Leben Berlin ISBN 3-355-00924-5
32 706
Scanned by Manni Hesse eBook nicht zum Verkauf berstimmt!
Klaus Kießling
Zeitalter
Verlag Neues Leben Berlin
Illustrationen von Karl Fischer
ISBN 3-355-00924-5
©Verlag Neues Leben, Berlin 1989 Lizenz Nr. 303(305/125/89) LSV 7503 Umschlag: Karl Fischer Typografie: Walter Leipold Schrift: 9p Timeless Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland Bestell-Nr. 644 703 5 00025
Na also! Gelungen, und niemand hatte etwas bemerkt. Vorsichtig löste Arn Soling die Kontaktlinsen von seinen Augen und legte sie behutsam in das Samtpolster, schloß das Kästchen und verwahrte es sorgfältig im Wandsafe. Nicht in dem offiziellen, von dem etwas zu üppig gerahmten Piranesi bedeckten, sondern in dem geheimen hinter der Wandleuchte mit der verborgenen Feder, von dem weder seine vertrautesten Bekannten noch die Sicherheitsleute des Instituts etwas wußten. Dann setzte er die gewohnte Brille auf, schloß die Vorhänge und öffnete im Halbdunkel das Köfferchen, das ihn schon nach Guantänamo und Baracoa begleitet und dabei seine Bewährungsprobe bestens bestanden hatte. Daß dies auch ein Test für den heutigen Ernstfall war, konnten weder die Flughafenzöllner in Havanna noch ihre Kollegen in Schkeuditz ahnen, die jeweils verwundert in das bereitwillig geöffnete Behältnis und auf den wohl etwas schrulligen Reisenden geschaut und dann einen Vorgesetzten geholt hatten. Ganz gewöhnliche Geckos? Kopfschüttelnd hatten sie ihn hier wie dort nach kurzem Hin und Her passieren lassen. Jetzt, knapp zehn Stunden nach seiner Heimkehr, tummelten sich jene wertlosen Mitbringsel unter den anderen Reptilien des großen Gesellschaftsterrariums im Keller. Niemand würde sie sonderlich beachten, sie hatten den Formalitäten Genüge getan, hatten Papiere geliefert für die wirklichen Kleinodien, die Soling jetzt im Köfferchen vor sich sah. Das Herz schlug ihm bis zum Halse, als er das Sauerstoffgerät und den Thermostaten abschaltete und die Einsätze mit den beiden Tieren herausnahm und behutsam in das vorbereitete Terrarium stellte. Starr preßten sich die nur gut handlangen Echsen an den Boden, unscheinbar gelbgrau gefärbt, nur die großen lidlosen Augen leuchteten im Dämmer und musterten aufmerksam durch das Plexiglas die fremde Umgebung, obwohl doch vor ihnen der Weg in die beschränkte Freiheit offen war. Dann, fast gleichzeitig, huschten beide Tiere blitzschnell auf den trockenen, warmen Sand und verschwanden unter den üppigen tropischen Pflanzen. Eine Stunde später gab er Futter. Flink, gefräßig wie alle Echsen, erjagten die Tiere sofort die eingesetzten Insekten, vertilgten die Mehlwürmer, fielen über die Raupen her und verschmähten auch nicht den zerteilten Regenwurm. Arn Soling rückte sich seinen Schausessel vor dem geräumigen Behälter zurecht und gab sich reglos dem Beobachten hin. Satt hing das Weibchen an der Seitenwand, gleichmäßig in einem warmen Farbton zwischen Gold und Kupfer schimmernd. Das Männchen saß aufgereckt auf einem flachen Stein, tiefschwarz bis auf die beiden spitzen Höcker über den Augen und den fast bis zur Schwanzspitze reichenden Rückenkamm, die in feurigem Rot erstrahlten und dem harmlosen Tier den Namen Teufelskopf eingetragen hatten. Und dieses so satanisch aussehende Wesen sang, sang mit Engelsstimme! Das war nicht das Keckem seiner Stammesverwandten, deren Rufen 3
dieser Echsenfamilie den Namen Gecko gebracht hatte, sondern das war ein tiefer, reiner Alt, ein schwingender Glockenton, nachhallend und schmelzend weich, ein herrliches, himmlisches Tönen, wie es kein anderes Tier dieser Erde zuwege brachte. Der Singende Teufelskopf, Kephalosatanas cantor, vor achtzig Jahren in der kubanischen Provinz Oriente entdeckt und nirgends sonst aufgefunden! Arn Soling hatte die Fachliteratur sorgfältig studiert, nicht nur die populärwissenschaftliche, sondern auch und besonders gründlich die seriösen biologischen Arbeiten; und jetzt besaß er das einzige Pärchen, das davon in der Alten Welt existierte. Die Teufelssänger waren der I-Punkt in der Präsentation seines Erfolges. Er schwenkte den Sessel und ließ seinen Blick mit Wohlgefallen durch den Raum gleiten, seinen Salon, über die wertvollen Möbel mit den Handschnitzereien, den Flügel (Original Steinway), die Vietnamteppiche, den Piranesi, über die Informationselektronik: All das konnte sich sehen lassen, und er ließ es auch sehen und bewundern. Es war jedoch nur materieller Reichtum eines kultivierten Menschen, eines Wissenschaftlers und Ingenieurs mit Rang und Namen zwar, aber doch in den Grenzen, die sein mehr aufs Technische orientiertes Fachgebiet vorzugeben schien. Das moderne, komfortable Haus hätte sich jeder selbständige Handwerksmeister bauen können. Die deutlich sichtbaren kulturellen Interessen des Inhabers hoben ihn schon von dieser Schicht des manuellen und organisatorischen Erfolges ab, machten ihn und seinen Besitz aber noch nicht unverwechselbar. Erst mit den Kephalosatanas konnte er nun ein Spitzenexponat auf einem dem Broterwerb nicht so nahestehenden seriösen Gebiet vorweisen. Das machte ihm keiner nach, das hatte niemand sonst im Lande, ja auf der ganzen Hemisphäre! Allerdings, es gab dieses Echsenpärchen noch einmal, ja sogar in der Stadt, im Reptilienhaus des mehrhundertjährigen Botanischen Gartens. Dort nahm das schuppenhäutige Sängerpaar einen Ehrenplatz ein, als Gastgeschenk der kubanischen Präsidentin anläßlich ihrer Ehrenpromotion dem dekorierenden Senat überreicht. In weniger als einem halben Jahr, am Abend des achten September, würden die Tiere dort gestohlen und danach niemals aufgefunden werden. Aber das wußte noch niemand außer Arn Soling. Er hatte sein Pärchen, das ja auch zur Familie der Geckos gehörte, nachweislich aus Kuba mitgebracht, zweimal beim Zoll vorgewiesen und in der Deklaration eingetragen. Heute würde er sein Institut nicht mehr aufsuchen. Erstens war er ja erst in der Nacht heimgekehrt, und zweitens konnte er sich das als Chefbioelektroniker sowieso gelegentlich erlauben. Er rief aber Professor Tasko an, den Direktor, meldete sich zurück und ließ sich dann seine Abteilung geben, um die Kollegen auf den Abend zu sich einzuladen. Ein kleiner Umtrunk nach längerer Auslandsreise war fester Brauch, und außerdem sollten möglichst viele Augen und Ohren seine listenreich erworbenen Tiere sehen und hören. 4
Doch er mußte sich noch einen Tag gedulden: Das Ministerium hatte den S8-Termin für das Massenteleportgerät um zwei Monate vorverlegt, das gesamte Institut für Kosmische Transporte stand köpf, und für den heutigen späten Nachmittag war ein aufwendiges Experiment angesetzt. Auch gut, ihn konnte es nicht stören. Er hatte in seiner Arbeit einen persönlichen Vorlauf, von dem niemand etwas ahnte. Und daß sein Prinzip funktionierte, hatte sich am Vormittag erwiesen. Ein wenig enttäuscht strich er durch das Haus. Dieses Heim war sein erster großer Erfolg, denn er hatte es von seinem ersten Patent gebaut, einem Geheimpatent selbstverständlich: die unsichtbare Pikoelektronik. Er hatte den Transistoreffekt an den Grenzschichten mehrfacher Blankätzung entdeckt und konnte damit einen Großcomputer auf der Oberfläche eines Uhrglases unterbringen. Berühmt gemacht hatte ihn die Pilotenbrille: Das eine Glas barg einen Terabitrechner, das andere die Biowellen-Steuereinheit, in den Bügeln lagen Batterie, Lautsprecher und ein Sender. Am Nachmittag fuhr er zum Reisebüro und buchte einen Flug an den Balaton, über den achten September hinweg. Eigentlich überflüssig, aber so würde er zusätzlich ein Alibi haben. Die Kollegen zeigten sich am nächsten Abend hellauf begeistert von den possierlichen Tierchen und von dem Gesang des so diabolisch aussehenden Männchens, und bald wußte jeder im Institut, wie der Chefbioelektroniker die Zöllner zweier Kontinente zwar nicht belogen, aber doch hinters Licht geführt hatte. Man schmunzelte auch darüber, wie Soling vor dem Flughafen von Havanna dem Denkmal dort übermütig zugewinkt haben wollte, das Reptilienköfferchen in der anderen Hand, wie jedoch der so begrüßte Nationalheld Jose Marti nicht einmal den Kopf nach dem Verehrer gewendet habe. Das Teufelssängerpärchen lebte sich ein und fühlte sich offensichtlich wohl. Häufig kamen neugierige Besucher, und stolz führte ihnen Soling seinen kostbaren Besitz vor. Vor den Gästen vom Botanischen Garten waren die Tiere sehr scheu und träge. Besonders die Leiterin des Reptilienhauses betrachtete das gar nicht sangeslustige Männchen sehr eingehend, als suchte sie irgendeine Besonderheit daran zu entdecken. Soling hatte sich vorbereiten können und wußte, die Tiere würden die geringe Barbituratdosis schnell überwinden. Das Institut für Kosmische Transporte unterbot den revidierten Termin um einen weiteren Monat. Der Stellvertretende Minister war auf Solings Linie eingeschwenkt und predigte jetzt Miniaturisierung: Das Gerät brauche nicht groß wie ein Kleiderschrank zu sein, wenn nur das Feld die erforderliche Ausdehnung habe. Doch gab es in der Planung Leute, die einen Apparat erst dann ernst nahmen, wenn er eine halbe Tonne Stahl und Kupfer und au5
ßerdem mindestens ein Dutzend kaum beschaffbarer Substanzen enthielt. Daß der Energieverbrauch nicht von der transportierten Masse, sondern nur von der Größe der Schaltung abhing, hatten sowieso nur fünf, sechs Leute begriffen, und auch die nicht einmal bis ins letzte. Eine Anweisung des Ministers schuf Ordnung, und dann ging alles sehr schnell. Soling hatte die Zeichnungen für die Schaltung so ausführen lassen, daß man aus den Farben die einzelnen Ätzungen ableiten konnte, und nach wenigen Wochen war ein Prototyp des Gerätes fertig: eine Glasplatte, die in der Brieftasche Platz fand, völlig durchsichtig bis auf die briefmarkengroße, in einen Schlitz eingeschobene Flachbatterie. Jetzt konnte man beliebige Massen trägerfrei und damit lichtschnell transportieren, tote wie lebende Materie. Soling ließ sich nicht ungern dazu bewegen, ein Demonstrationsexperiment vor dem Weltfernsehen selbst vorzunehmen: Er wurde zum Mond teleportiert und kehrte binnen weniger Minuten zurück, einen Mondstein zwischen den Handschuhen des Skaphanders. Der Stein hatte dort oben im Sonnenschein gelegen und war so heiß, daß niemand ihn anfassen konnte. Die Institute der Weltraumforschung, auch die Kosmosbehörden, vor al6
lern aber die Raumfahrtunternehmen tobten vor Begeisterung oder Empörung. Das neue Gerät revolutionierte alles. Künftig würde es nun möglich sein, ohne Raketen oder Raumfähren Satelliten auszusetzen und einzubringen, ja ganze Stationen samt Mannschaft zu beliebigen Punkten im Kosmos zu expedieren und zurückzuholen, lichtschnell und mit lächerlich geringem Energieaufwand. Niemand würde auf solcher Reise altern: Man hatte eine Präzisionsuhr zum Mond und zurück transferiert, und hinterher ging sie zweieinhalb Sekunden nach. Reisen mit Lichtgeschwindigkeit - aber eben nur so schnell wie das Licht. Flüge zu anderen Sternen würden auch so noch Jahre oder Jahrzehnte dauern. Solings Teufelssängerweibchen legte zwei Eier. Daraus schlüpften zwei Weibchen. Das Paar im öffentlichen Reptilienhatis erbrachte zwei Männchen. Soling schrieb über seine gelungene Nachzucht einen Artikel für die Augustnummer der Liebhaberzeitschrift und schenkte seine Jungtiere dem Botanischen Garten. Die Arterhaltung in der öffentlichen Einrichtung habe Vorrang, erklärte er dem Redakteur des örtlichen Tageblatts, und nachgezogene Tiere seien jedenfalls stabiler angepaßt als jeder noch so vitale Import. Am zweiten September flog er nach Budapest. Zwei Beauftragte der Ungarischen Akademie der Wissenschaften fingen ihn am Flughafen ab und baten ihn um ein improvisiertes Gespräch mit einem kleinen ausgewählten Kreis. Arn Soling rief seinen Minister in Berlin an. Was Sie sagen dürfen? Alles, auch die weiteren Vorhaben und Perspektiven. Meinetwegen können Sie es auch in die Zeitung setzen. Niemand kann Konkretes damit anfangen ohne die Schaltung, und die kann man uns nicht stehlen, sie ist ja unsichtbar. In der Akademie fand Soling fünf Damen und neunzehn Herren vor, die meisten in dem, was er sich unter Akademiealter vorstellte. Der kleine, weißhaarige, agile Präsident entschuldigte sich angelegentlich für den Überfall und bat um einige Worte zu Solings eigenen Arbeiten, um ein paar unausgegorene Ideen und auch Träume: Nur die wären wichtig, Theorien könnten sie überall lesen und hätten sie selbst zur Genüge entwickelt; nur das Unreife bringe Einsichten in den kreativen Prozeß, in die Spannung zwischen Motivation und Auftrag. Fieberhaft suchte Soling nach einem brillanten Einstieg. Ihm fiel aber nichts Passendes ein. Das war ihm bisher noch nie geschehen. Immer war es ihm gelungen, auch das trockenste Thema mit einem scherzhaften Wort zu beginnen und auch zwischendurch aufzulockern. Er hielt sich einiges darauf zugute. Doch die unausgesprochenen Grenzen, die jeder Rede sonst gesetzt 7
waren und die er stets auf amüsante Weise ein wenig durchbrochen hatte, waren jetzt einfach aufgehoben durch diesen kleinen Alten hier am Tisch; was Soling sonst hatte einschmuggeln müssen, war jetzt erwünscht und wollte sich nicht einstellen. Auch seines Ministers Großzügigkeit verwirrte ihn. Alles sagen dürfen - wie oft hatte er sich gewünscht, nicht stets und ständig achthaben zu müssen auf seine Worte. Freilich konnte er auch hier nicht alles sagen. Nichts von seinen geheimen Ambitionen und Aktivitäten, nichts von seinem wissenschaftlichen Vorlauf und von der Kunst, immer der Erste zu sein, und vor allem nichts von dem, was mit den Normen der Moral und mit der Gesetzgebung unvereinbar war. Soling begann bei den Büchern und Träumen seiner Knabenzeit, sprach von Weltraumabenteuern und Zeitfahrern, von der Sucht nach prickelnd Neuem, Ungeschautem, Einzigartigem und nach, damals und lange noch uneingestanden, Erfolg und Ehren, nach Einfluß und Geltung. Die Zeitreisen hatten es ihm besonders angetan. Er erkannte, worin das Hauptproblem dabei bestand: im trägerfreien Materietransport. Irgendwie wollte man ja ohne spürbare Ortsveränderung eine andere Zeit erreichen und auch an denselben Ort zurückkehren, wenn zunächst auch keiner recht sagen konnte, was das war: derselbe Ort. Schon die Erdrotation vollzöge sich ja am Äquator mit anderthalbfacher Schallgeschwindigkeit, eigentlich dürfte man dort gar nichts hören (vierundzwanzigfaches höfliches Schmunzeln, das bei keinem die Augen erreichte), und der Weg um die Sonne brächte fast das Hundertfache. Keine Zeitreise also ohne Materietransfer, und Soling erzählte, "wie er vom Träumen und Wollen zum Studieren und Arbeiten gekommen war, wie er Interesse erweckt und Hilfe gefunden und wie sich schließlich der Erfolg eingestellt hatte. Und weiter einstellen würde: als nächstes die echte, eigentliche Zeitmaschine, eine Bagatelle nach allem Bisherigen, und erst die würde die Raumfahrt wirklich revolutionieren. Was brächte denn ein Flug etwa zur Wega, wenn man ein halbes Jahrhundert auf die Rückkehr warten müßte, uneffektiv so etwas, wenn man nicht anschließend um diese fünf Jahrzehnte zurückspringen könnte. Das Gerät dafür - er hob seine Stimme - würde er in wenigen Monaten präsentieren. Er spürte, er kam nicht an. Nicht einmal der Knüller am Schluß hatte die Langeweile von den scheinbar konzentrierten Gesichtern bannen können. Soling war nahe daran, noch eine Pointe daraufzusetzen und von den ätzfertigen Zeichnungen zu sprechen, die in seinem Geheimsafe lagen, in einer Magnetkristallkassette gespeichert, und von den Kontaktlinsen daneben, der fertigen und erfolgreich getesteten Zeitmaschine. Doch er hielt sich zurück, denn zum einen würde auch dies die hier versammelten zweimal zwölf heiligen Väter und Mütter der ungarischen Wissenschaft kaltlassen, die riß auch der schärfste Paprika nicht aus dem Sessel; zum anderen hätte er sich dann die ganze Reise sparen können, ja, es wäre das Ende. Danebengegangen, dachte er und erkannte plötzlich: Das Gerede von Er8
folgen und Ergebnissen und Effektivität interessierte diese Leute nicht im geringsten, weil sie ihre Erfolge schon hinter sich hatten. Effektivität war für sie als Verhältnis von Nutzen und Aufwand ein ökonomischer Begriff, der in den Bereich der Anwendung gehörte. Diesen Männern und Frauen ging es um die Effizienz des menschlichen Handelns, um die Spur, die einer in den Hirnen und Herzen der anderen hinterläßt. Jetzt sprach Soling von seinen Mißerfolgen, von den Irrwegen, die er allein oder mit seinen Kollegen gegangen war, von den Schwierigkeiten mit der Ad : ministration, von der Verzweiflung des Nichtweiterwissens und von dem Preis an Kraft, Nerven und Material, den sie wieder und wieder entrichtet hatten. Erneut spürte er, daß er an den Zuhörern vorbeiredete. Er erzählte, wie er die Schwierigkeiten gemeistert hatte, und damit kehrte er die Mißhelligkeiten einfach ins Positive. Zorn wuchs in ihm auf. Was wollen die eigentlich hören? Was erwarten diese verkalkten Leuchten der Wissenschaft von mir? Ich gebe ihnen eine exakte Analyse der Arbeit, berichte über die konkrete Planung, umreiße die Perspektiven, aber sie sind nicht zufrieden! Ich nehme eine konkrete kritische Wertung vor, offen und umfassend, und es gefällt ihnen auch nicht! Ja, was denn dann? Wie hatte der Alte gesagt? Unreifes, Träume - Irrationales. Wie soll man denn damit systematisch arbeiten! Systematisch? Hatte er, Arn Soling, systematisch gearbeitet? Er hatte immer ein Ziel, und er erreichte es stets. Aber wie er dahin kam, woher er seine inneren Antriebe, seine Ideen nahm, darüber hatte er niemals nachgedacht. Irrational! Das war doch unlogisch, unwissenschaftlich, Schamanentum, freilich waren diese Magyaren schon halbe Türken; mystisch-orientalisch, undeutsch! Soling erschrak. So ging das ja nun auch nicht. Unpreußisch vielleicht, wenn das nicht genauso anrüchig oder gar noch schlimmer wäre. Ungewohnt, ungewöhnlich waren diese Männer hier, südländisch-fremd, irrational ganz gewiß. Sie betrieben ihre Wissenschaft anscheinend wie ein Kunsthandwerk, als irrationale Kultur des Rationalen. So hatte er seine Arbeit noch nie gesehen, wenn auch Unwägbares, Unbewußtes, Irrationales darin vorkam. Hatte er zuerst geschildert, wie er die Stufenleiter seiner Erfolge errichtet hatte, welche Bretter er genommen und wie er sie stabil zu einer sicheren Treppe gefügt, so war er danach doch nur darauf eingegangen, welche Bohlen er als ungeeignet hatte aussondern müssen. Diese Männer hier aber wollten wissen, woher er das Holz genommen und wie die Bäume aussahen, aus denen die Bretter geschnitten waren, in welchen Wäldern sie gestanden und welche Tiere in ihren Zweigen und in ihrem Schatten gelebt hatten. Das wußte er nicht. So gut kannte er sich nicht. Dazu konnte er nichts sagen. Er war überfordert. Dieses-Scheitern würde er nur zur Seite drängen, aber wohl niemals überwinden können. Dies war seine Grenze, die erste, die er jemals erreicht hatte. Sie schmerzte. 9
Im Tihany Central Palace, einem Fünfstemehotel, traf Soling auf ein sympathisches Dresdner Ehepaar. Hardy Dommann war Augenarzt, seine Frau Brix Psychophysikerin. Der Mann war in Maßen Fußballfreund wie Arn Soling, und das kam diesem sehr gelegen. Die drei verbrachten mehrere Tage fast nur miteinander. Über Berufliches sprachen sie niemals. Soling hielt sich nicht aus gewohnter Vorsicht und Schweigepflicht (von der er ja in gewissem Grade entbunden war) zurück, sondern aus Unsicherheit, die manchmal schon an Angst grenzte. Seit Budapest fehlte ihm etwas von seinem bisherigen Leben, und er konnte nicht einmal sagen, was es war. Als hätte er jahrzehntelang etwas falsch gemacht. Budapest war wie ein^ verpatzte Prüfung. Durchgefallen, weil er die Fragen nicht verstanden hatte. Nicht einmal zu einem kurzen Gespräch war es gekommen. Kreativer Prozeß! Freilich hing das mit der Motivation seines täglichen Handelns zusammen, doch über die wollte er lieber nicht nachdenken. Am Nachmittag des achten September sahen sich Soling und die Dommanns gemeinsam die Übertragung eines Fußballspiels an, Dynamo Dresden gegen Vasas Györ, Semifinale des UEFA-Pokals, gespielt in Budapest. Brix wollte dazu auf dem Zimmer bleiben, doch Arn bestand auf dem Gemeinschaftsempfang im Gelben Salon: Fußball könne man nur in der Menge richtig genießen. Es wurde recht vergnüglich, die Dresdner gewannen 4:3, und das gute Dutzend Fans im Gelben Salon würde die Solingschen spritzigen Kommentare und manchmal etwas hintersinnigen Glossen wohl nicht so bald vergessen. Sollten sie ja auch nicht. Nach dem Spiel sah Soling zur Uhr, und eine heftige Angst überfiel ihn: In weniger als drei Stunden würden daheim aus dem Botanischen Garten die Singenden Teufelsköpfe gestohlen werden. Hoffentlich ging alles gut. Dann schalt er sich einen Idioten, denn erstens war er ja schon vor Monaten wohlbehalten und erfolgreich zurückgekehrt, und zweitens hatte er ein erstklassiges Alibi. Er rief zum Feiern und versprach, einen auszugeben auf den zehnten Jahrestag seiner Ehescheidung. (Danach unter anderem hatte er den Termin gewählt; von dem Fußballspiel konnte er im Frühjahr noch nichts wissen.) Sie stürmten den Luxor-Keller und fanden irgendwie Platz. Immer wieder ertappte sich Soling dabei, daß er auf seine Uhr blickte; als könnte er das vergangene, künftige Geschehen zu Hause damit unter Kontrolle behalten. Hatte er damals, nachher auch wirklich keinen Fehler gemacht? Schließlich löste er die Uhr vom Handgelenk und steckte sie in die Hosentasche, aber damit wurde es noch schlimmer, denn nun versuchte er überall auf fremde Uhren zu spähen. Nach und nach spürte er den Alkohol. Die Zeiten verwischten sich, Zukunft und Vergangenheit flössen ineinander, die Gegenwart schien sich darin unrettbar aufzulösen. Dann war der Zeitpunkt vorüber. Die Teufelssänger aus dem öffentlichen 10
Tierhaus waren verschwunden, untergetaucht in der Zeit, unauffindbar. Jetzt konnte er nichts mehr ändern. Die Zeiten hatten sich wieder zurechtgerückt, es gab wieder eine deutlich fühlbare Gegenwart, und es gab sehr viel Vergangenheit, die all die soeben noch bedrohliche Wirrnis aufgesogen hatte. Aber die Angst blieb. Die Getränke lösten nicht diese Stimmung, soviel er auch in sich hineingoß. Im Gegenteil, sie enthemmten, und die Angst konnte sich ungehindert entfalten. Die lärmenden, schwitzenden Menschen störten. Der ganze Raum, aus graubraunem Stein auf ägyptisch zurechtgemacht, bedrückte ihn wie ein Tempelverlies, wie ein Grab. Die massigen Säulen schienen zu wachsen und zu quellen, die so merkwürdig verdrehten Figuren auf den Reliefs blickten alle zur Seite, die großen wie die kleinen. Gehörte er selbst zu den Riesen oder zu den Winzlingen? Er wußte es nicht mehr seit Budapest. Wie eine Anklageschrift oder ein Richterurteil bedrohten ihn die Hieroglyphen über der Bar, die schwarzen Vögel dazwischen, Raben, Totenvögel. Er drängte zum Aufbruch. Zu fünft fielen sie in die freundliche, sonnenhelle Batavia-Bar ein. Anderntags erwachte er am späten Vormittag. Wann und wie er in sein Bett gekommen war, wußte er nicht. Er fühlte sich jämmerlich. Einen Tag 11
später, am zehnten September, einem Donnerstag, fuhr er vorzeitig nach Hause. Mit der Bahn. Zur gewohnten Zeit fuhr er am nächsten Morgen in sein Institut, obwohl er noch nicht erwartet wurde. Am Neutor Verkehrskontrolle. Auch ihn fischten sie heraus. Reserverad, Abschleppseil, Zulassung, Führerschein. Personalausweis. Den besahen sich die beiden Uniformierten sehr genau, blätterten ihn von vorn bis hinten durch, verglichen sorgfältig das Paßbild. Dann gab der Ältere, ein Hauptmann, den Ausweis zurück: Sie sollten sich einen neuen ausstellen lassen; lange hält er nicht mehr, und das Paßfoto ist Ihnen auch nicht mehr sehr ähnlich. Gute Weiterfahrt! Am Nachmittag ließ sich Soling fotografieren und ging zur Paßstelle. Ärger mit der Polizei wollte er keinesfalls haben. Die Kollegen überraschten ihn mit einer brisanten Stadtneuigkeit: Aus dem Botanischen Garten war das Gastgeschenk eines Ehrendoktors der hiesigen Universität, eines Staatsoberhauptes sogar, gestohlen worden, ein Echsenpärchen, die Singenden Teufelsköpfe. Sicherlich sei er, Soling, das gewesen, stichelten sie und wollten wissen, wo er denn gesteckt habe. Er grinste und meinte: Ich käme ja wohl als letzter in Frage, ich habe selbst ein Pärchen davon, schon lange. Nichts da, rief einer, wir kommen nachsehen heute abend. Einverstanden! Soling lachte. Da sie offensichtlich nur auf eine Einladung aus waren, sollte es ihm recht sein. Mehrere vermuteten einen Dieb aus der Zukunft. In absehbarer Zeit mußte ja die Zeitmaschine fertig werden, und was wußte man denn, welcher Mißbrauch damit später getrieben würde? Außerdem hieß es noch, auf dem Westbahnhof wäre am Morgen nach dem Diebstahl ein Mann mit gefälschten Papieren verhaftet worden. Das kam Soling sehr gelegen. Wenn man eine heiße Spur hatte, stand er weniger im Blickfeld. Als einziger weiterer Besitzer einer solchen Rarität hatte er ja zu den gestohlenen Tieren eine offensichtliche und unverwechselbare Beziehung, wenn auch nicht ersichtlicherweise juristischer oder gär krimineller Art. Trotzdem mußte er mit der Aufmerksamkeit der Sicherheitsorgane rechnen. Sie kamen am Sonnabend. Nein, nur einer stand Soling in der Tür gegenüber, in Zivil. Major Roederlinck, mit oe und ck. Soling führte ihn in den Salon und plazierte ihn so, daß er das Schauterrarium gut betrachten konnte. Der Offizier berichtete vom Diebsta'hl der Staatsechsen und von den Wel12
len, die das Ereignis geschlagen hatte (Der Staatsratsvorsitzende war nicht sehr erfreut!), und bat Soling als interessierten Liebhaber und Experten um seine Unterstützung. Leider habe man noch nicht die geringste Spur. Ein Mann auf dem Westbahnhof? Das sei nichts Brauchbares, habe sich sehr schnell zerschlagen, gewissermaßen in Luft aufgelöst. Dann zeigte er sich sehr angetan von den in vollem Farbenschmuck prangenden Tieren, von dem unvergleichlichen Gesang und von ihrer offensichtlichen Vitalität. Prachtexemplare! lobte er und fragte: Keine Futterprobleme? Keine Krankheiten? Niemals beim Tierarzt gewesen? Soling veraeinte, fast empört. Anerkennend nickte der Major und bat Soling, ihm zu schildern, wie er zu dieser Rarität gekommen sei. Der brannte schon darauf, seine Geschichte loszuwerden, und erzählte von seiner Kubareise, von Oriente und von dem kleinen Jose, der ihm für ein billiges Transistorradio die Tierchen gefangen habe. Er berichtete von den Zollbeamten jenseits und diesseits des Ozeans, suchte nach der Zolldeklaration und fand sie nicht sogleich, blätterte zweimal sorgfältig und doch mit sichtlich wachsender Nervosität alle seine Reisepapiere durch und holte das Dokument schließlich aus den Zuchtunterlagen hervor, dazu den Artikel mit den Fotos von der gelungenen Nachzucht. Roederlinck las erst sorgfältig die Veröffentlichung und studierte dann das Zollformular. Geckos, schmunzelte er, davon gibt es ja immerhin an die tausend Arten. Nicht übel! Er lachte und reichte das Papier zurück. Noch eine Kleinigkeit, fuhr er fort. Sicherlich haben Sie genug Kriminalgeschichten gelesen, um zu wissen, daß meine nächste Frage weder einen Verdacht bedeutet noch sonst irgendwie ehrenrührig ist: Wo waren Sie am Achten und Neunten? Jetzt lachte Soling: Am Balaton, im Tihany Central Palace. Aber ein Alibi für die Nacht habe ich nicht. Wir haben den Sieg von Dynamo Dresden gefeiert, und ich war so besoffen, daß ich nicht weiß, wann und wie ich ins Bett gekommen bin! Roederlinck hob die Brauen. Ein Dresdner Ehepaar war dabei, beantwortete Soling die unausgesprochene Frage, Hardy und Brix Dommann. Er holte ein Notizbuch und las die Adresse vor. Der Major notierte nichts. Anscheinend verließ er sich auf sein Gedächtnis. Als der ungebetene, aber nicht unerwartete Besucher gegangen war, begann sich Soling zu ärgern. Was war er doch für ein Esel! Warum hatte er gerade das Staatspärchen nehmen müssen? Da waren ja noch zwei Jungpaare gewesen, die dort geschlüpften Männchen und die von ihm selbst gestifteten 13
Weibchen, zwar nicht in einem der Schaubehälter, aber er hätte ja nur ein wenig zu suchen brauchen. Die allgemeine Aufregung wäre bei weitem geringer, würden nur zwei Jungtiere fehlen. . Dann fiel ihm ein, mit den Nachwuchsexemplaren hätte er ja selbst noch keinen Zuchterfolg haben können, keinen Zeitschriftenartikel, keine Jungweibchen als Geschenk für das Reptilienhaus. Am achten September wären also dort außer dem erwachsenen Paar hur zwei Jungmännchen gewesen, und die hätte er gewiß nicht genommen. Es wäre also gar nicht anders gegangen, dachte er, ich habe nichts falsch gemacht. Langsam beruhigte er sich. Außerdem, grübelte er weiter, ich habe zwei Tiere genommen und zwei gegeben; wo ist da eigentlich ein Schaden entstanden? Drei Wochen später kam der Major wieder. Wir haben noch immer keine Spur, gestand er anscheinend freimütig, wir werden die Ermittlungen wohl einstellen müssen. Vorläufig wenigstens, bis sich ein neuer Hinweis ergibt. Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: Wir haben alles Denkbare getan, ohne Erfolg. Niemand kann uns ein Versäumnis vorwerfen. Nun müssen wir die Akte so vollständig abschließen, wie es nur geht. Der Staatsanwalt ist da sehr genau. Jetzt ist da noch diese Sache mit dem Balaton ... Die Dommanns sind nicht mehr in Ungarn, und sie sind auch in Dresden nicht eingetroffen. Sie haben nur eine Postkarte geschrieben aus München, man möge vorerst nicht mit ihnen rechnen. Wir können sie also nicht befragen, und mit der Amtshilfe ist das bei den Münchner Kollegen so eine Sache ... Sie wissen ja, die Bayern mögen keine Preußen, und zu denen rechnen sie auch uns, völlig irrigerweise, aber es ist nun einmal so. Und das Hotel... ... hat uns bestätigt, für welche Tage Sie dort bezahlt haben, nicht, wo Sie sich aufhielten. Ihren Rückflug haben Sie verfallen lassen. Warum nur war er vorzeitig und mit dem Zug abgereist? Keine Buchung, keine Namen, keine Fahrkahrte mehr (die hob er bei Privatfahrten niemals auf), nur an der Grenze - ja, das war es. Meine Grenzübergänge sind ja festgehalten! Deswegen bin ich ja hier, erwiderte Roederlinck, darf ich Ihren Personalausweis einmal sehen? Soling sank zurück. Der Personalausweis! Seit zwei Wochen hatte er einen neuen. Den haben Sie doch schon! Der Major war verwundert. Sie, die Polizei! Seit vierzehn Tagen habe ich einen neuen, den alten hat die Paßstelle. Dort kann man ja nachsehen. Mit trauriger Miene schüttelte der Major den Kopf. Die alten Dokumente 14
werden sofort vernichtet, noch an demselben Tage. Sehen Sie, da gab es einmal vor langer Zeit einen bösen Fall, nicht bei uns und auch in einem völlig anderen Dokumentensektor, aber immerhin... Sicherlich kennen Sie die Sache: Die Bank von England hatte abgenutzte Geldscheine aus dem Verkehr gezogen und von Schottland nach London zum Vernichten geschickt, einen ganzen Waggon voll in einem Postzug, und der wurde auf freier Strecke ausgeraubt. Man ist vorsichtiger geworden, überall. Aber - mit wem hatten Sie dort sonst noch Kontakt? Mit dem Personal selbstverständlich. Das hilft uns ja nicht weiter. Ja, dann ... Ich War fast nur mit den Dommanns zusammen. Und sonst: eine Gruppe Spanier, eine Familie aus Aberdeen, zwei Brüder aus Haifa ... auch an dem Fußballabend. Langsam wiegte Roederlinck den Kopf, unzufrieden. Ja freilich, dachte Soling, wenn es mit München Probleme gibt, dann sicherlich auch mit Madrid, London und Tel Aviv. Und andere Gäste? Ein paar Gesichter, Stimmen, Kleider - Bilder, Schall und Rauch, ja nicht einmal Namen. Der Major erhob sich. Vielleicht fällt Ihnen noch etwas ein. Rufen Sie mich an. Ich hoffe es, setzte er leise hinzu, ich hoffe es sehr. Columbo! fluchte Soling, als er wieder allein war. Das herrliche Alibi - zerronnen ins Nichts. Und er brauchte es, schien es dringend zu brauchen. Fieberhaft überlegte er, wie es zu retten wäre, erdachte und erwog viele Varianten, eine abenteuerlicher als die andere, und konnte sich doch zu nichts entschließen, denn nichts schien ihm sicher oder wenigstens machbar. Also brauchte er ein anderes Alibi. Wie aber sollte er das erklären? Erst erzählte er die Tihany-Story und dann eine andere Geschichte? Man würde ihm dann gar keine glauben. Doch, es gab eine Lösung: Das neue Alibi mußte ein wenig ehrenrührig sein, für ihn selbst oder für eine andere Person. Dann konnte er verschämt gestehen, bisher geflunkert zu haben. Was war dafür geeignet? Ehrenrührig, aber nicht kriminell? Eine kleine dienstliche Verfehlung vielleicht? Nein, nur das nicht! So etwas wusch sich niemals wieder ab. Eine Bettgeschichte? Marga! Ja freilich, Marga, deren Mann dauernd m der Welt umherreiste und die der letzte Stein des Anstoßes und der Anlaß für die Ehescheidung der Solings gewesen und nun seit langem versunken und vergessen war. Marga also. Zurückspringen, die kritische Nacht bei ihr verbringen, eine nachweisbare Spur hinterlassen und dann wiederkommen und die Affäre gestehen, von Mann zu Mann. 15
Vorzubereiten war nicht viel. In eine selten benutzte Aktentasche packte Soling das Notwendigste für einen Tag und eine Nacht, dazu für etwaige tote Stunden irgendein Taschenbuch. Dann legte er die Kontaktlinsen an und sprang zurück in den achten September, in die Zeit vor dem Morgengrauen, verließ vorsichtig, anscheinend ungesehen, sein Haus und marschierte zur nächsten Haltestelle für Über» landbusse. Mit dem ersten haltenden Wagen fuhr er bis zu einer Bahnstation und von dort, zweimal umsteigend, mit dem Zug nach Freiberg. Sein Auto stand am Flughafen Schkeuditz im Parkhaus, und das war gut so. In Freiberg frühstückte er auf dem Bahnhof, rief dann in der Bergakademie an, verlangte, Margas Gatten zu sprechen, und erfuhr, der Kollege sei nach Teheran geflogen und komme erst im Oktober zurück. Zufrieden schlug er den Rest des Vormittags tot, speiste im Ratskeller und hob die Rechnung auf. Dann rief er Marga an. Sie war sehr überrascht und nicht allzu böse auf ihn ob seines langen Schweigens. Ab fünfzehn Uhr wollte sie zu Hause auf ihn warten. Mit Blumen, Wein und einer Schallplatte ihres Geschmacks erschien er dort kurz nach der angegebenen Zeit, und es wurde ein angeregter Abend. Kurz vor Mitternacht holte er eine Flasche Sekt aus der Gaststätte nebenan und zahlte mit Scheck. Der Wirt verlangte Bargeld, doch als er den eingesetzten Betrag sah, griff er rasch nach dem grünen Papierchen. Der wird mich nicht so schnell vergessen, dachte Soling. Die Kontaktlinsen trug er die ganze Zeit über, für den Fall irgendeiner Komplikation stets zum Rücksprung in seine Startzeit und sein Haus gerüstet. Scheinbar widerstrebend blieb er zur Nacht und nahm am Morgen den Vieruhrzug (der Dienst!), mit Platzkarte. Das war spät genug für ein Alibi und ließ ihm andererseits genug Spielraum, in einer verkehrsarmen Zeit sein Haus zu erreichen und dort unbeobachtet zurückzuspringen. Die Bahnfahrt gehörte noch zum Alibiprogramm. Ob sich sofort nach der Zugankunft eine günstige Gelegenheit zum Rücksprung bieten würde, wußte er nicht. Auf dem Westbahnhof kam er fast eine Stunde zu früh an. Der morgendliche Berufsverkehr war noch in vollem Gange, und seinen Kollegen wollte Soling nicht begegnen. Er ging in die Bahnhofswirtschaft, ließ sich Kaffee bringen unA-wartete. Zwei Bahnpolizisten traten ein, gingen von Tisch zu Tisch und baten die Gäste höflich um die Personalpapiere, warfen jeweils einen Blick hinein und auf den Inhaber und bedankten sich freundlich. Soling fiel ein, was man ihm nach seiner Rückkehr aus Ungarn, am Elften, erzählt, hatte: auf dem Westbahnhof ein Mann mit gefälschten Papieren verhaftet. 'Er wartete gespannt, vielleicht würde er sogar Augenzeuge. Dann reichte er seinen Ausweis hin. Der Leutnant nahm ihn, sah hinein, stutzte, wies mit dem Finger auf eine Stelle und ließ den anderen, Rangniederen, hineinblicken. Dann sahen 16
beide Soling an, und der Offizier fragte sarkastisch: Wir sind wohl etwas zu früh gekommen? Heute haben wir den neunten September, und Ihr Ausweis ist am sechzehnten ausgestellt worden, heute in einer Woche. Soling war wie vor den Kopf geschlagen. Daran hatte er nicht gedacht. Jetzt hatten sie ihn. Nur fort vorn hier! Gut, daß er die Kontaktlinsen nicht abgelegt, die Zeitmaschine stets einsatzbereit gehalten hatte - so brauchte er nur den Rückkehrbefehl zu denken. Nein, nicht hier. Das Aufsehen wäre zu groß, und Major Roederlinck wäre sofort alles klar. Mit ungläubigem Gesicht stand er auf und streckte die Hand nach dem Dokument aus: Darf ich? Im Rücken hatte er die Wand, zu beiden Seiten standen die Blauen, dahinter mit großen Augen und halboffenem Mund der Kellner. An Flucht war nicht zu denken. Er erhielt das unheilschwangere Büchlein zurück und blickte kopfschüttelnd hinein. Deshalb al^o die Verkehrskontrolle in zwei Tagen, nach ihm würden sie unauffällig suchen, deshalb so sorgfältig seinen Ausweis prüfen. Aber übermorgen hatte er ja noch seinen alten, das würde die braven Polizisten vollends verwirren. Zugleich wußte er nun auch, daß ihm die Flucht gelingen mußte. Er wurde ruhig und kalkulierte völlig nüchtern. Stehend stürzte er den Rest seines Kaffees hinunter, suchte in den Taschen nach Kleingeld und steckte dabei wie unbeabsichtigt den Ausweis wieder ein, legte eine Münze auf den Tisch und nickte dem Leutnant zu. Als er nach seiner Tasche greifen wollte, kam der andere Polizist ihm zuvor. Soling zuckte die Achseln. Die Mappe enthielt nichts Verfängliches. Alles, was auf ihn deuten konnte, trug er bei sich. Sie hatten zwar Namen und Adresse, aber kein Beweisstück. Zwischen den beiden ging er hinaus. Draußen bat er, austreten zu dürfen, der Schreck sei ihm auf die Blase geschlagen. Die Polizisten begleiteten ihn zur Toilette, der Leutnant ging erst allein hinein, kehrte zurück und gab den Weg frei. Drinnen war niemand, die beiden bewachten das Häuschen von außen, und Soling gab sofort den Gedankenbefehl und sprang zurück in seine Zeit und sein Haus. Nur einen neuen Rasierapparat mußte er kaufen. Da aber die Sache jetzt Wochen zurücklag, konnte daran niemand Anstoß nehmen, zumal er ja stets glattrasiert aufgetreten war. Zwar kannten sie seinen Namen und seine Anschrift, aber etwas Gesetzwidriges konnten sie ihm nicht nachweisen, hatten sie ihm bisher nicht nachgewiesen. Allerdings war er nun wieder ohne Alibi, und das war schlimmer, als er zuvor geahnt hatte. Des Majors eindringliches Bestehen auf der Balaton-Geschichte hatte einen neuen Hintergrund erhalten. Jetzt sah Soling nur noch einen einzigen Ausweg: Die Tiere mußten zurück! Zwar besaß er sie dann nicht mehr, aber dieses Problem konnte er im eigenen Hause lösen. Diesmal ließ er die Zeitmaschine aus dem Spiel. Am hellichten Tage fuhr 17
er zum Botanischen Garten und betrat das Palmenhaus. Nicht die Reptilienanlage - vielleicht hatten sie dort inzwischen eine versteckte Kamera oder dergleichen installiert. Unter dem Arm trug er eine bunte Pappschachtel. Daraus entließ er unbeobachtet die Echsen auf den Boden, wo sie sofort im Pflanzendickicht verschwanden. Auf der Straße dann drückte er den Karton zusammen und warf ihn in einen Papierkorb. Wieder in seinem Hause, fuhr er zurück in den Mai, in den fünfzehnten, einen Sonnabend, und holte von dort das Pärchen in die Gegenwart. Wichtig war, daß er sie später irgendwann zurückbrachte in jene Zeit, in den sechzehnten Mai zum Beispiel. An jenem Wochenende war er in Helsinki gewesen. Er wollte nicht gern sich selbst begegnen. Genauer: Er wußte, daß er sich nicht begegnet war und daß er die Tiere nicht vermißt hatte. Bis zu diesem Rücktransport mußte er sie vorzeigen können und Nachzucht erzielen, so viele Nachkommen, daß später das Fehlen der Erstexemplare nicht mehr auffiel. Drei Tage darauf kam wieder der Major, und Soling freute sich zum erstenmal, ihn zu sehen. Mit deutlicher Befriedigung berichtete Roederlinck, die vermißten Tiere hätten sich wieder angefunden. 18
Soling tat überrascht und erleichtert und gratulierte dem Offizier. Der wehrte ab: Damit ist ja die Straftat noch nicht aufgeklärt. Nur der Schaden ist behoben, wenigstens vordergründig, materiell. Jetzt werden sich in der Öffentlichkeit und bei der Obrigkeit die Wogen der Empörung glätten. Wir können ohne Druck die Ermittlungen zügig fortsetzen und hoffentlich bald abschließen; es sieht nicht ungünstig aus. Soling erschrak. Noch war die Gefahr nicht gebannt, ja im Gegenteil, sie wurde immer bedrohlicher. Er fuhr zusammen. Der Major räusperte sich und sah ihn aufmerksam an, als hätte er ihn etwas gefragt. Freundlich bat der Gast, die Tiere des Hausherrn sehen zu dürfen. Blitzschnell verschwanden die behenden Echsen im Pflanzengewirr, als die Männer vor das Vivarium traten, wurden dann wieder sichtbar und saßen an zwei Stengeln, unbeweglich, nur die lebhaften Augen musterten aufmerksam die Umgebung. Anerkennend nickte Roederlinck und sagte beiläufig: Übrigens sind die aufgefundenen Tiere tatsächlich mit den vermißt gewesenen identisch, zumindest das Männchen. Es mußte einmal nach einer bösen Beißerei operiert werden, und das jetzige Röntgenbild zeigt deutlich die Narben. Bei den letzten Worten wandte er mit einem Ruck den Kopf und sah Soling ins Gesicht. Dem war der erneute Schrecken deutlich anzusehen. Was wäre geschehen, dachte er, wenn sie damals mein Männchen mitgenommen und durchleuchtet hätten? Und wenn sie es jetzt noch taten? Das Tier hier hinter der Glasscheibe hatte ja dieselben Narben. Nein, wie sollten sie darauf kommen. Um abzulenken, gab er einige Futtertiere hinein und sah zu, wie sie binnen kurzem vertilgt wurden. Wirklich hervorragend akklimatisiert! lobte der Besucher. Ich denke schon, sagte Soling stolz, und wenn es mit der Nachzucht weiter so klappt... Nachzucht? Die Stimme des Majors klang merkwürdig. Ja, ich habe schon ..., setzte Soling an und suchte nach seinem Artikel in der Liebhaberzeitschrift. Da war das Heft, die Augustnummer dieses Jahres, er schlug sie auf, auf der sechsten und siebenten Seite, und erstarrte: Da schrieb nicht Arn Soling über Kephalosatanas cantor, sondern Peter Pederzani über Testudo anatolica. Das Inhaltsverzeichnis gab nichts anderes her. Auch in den anderen Heften fand sich kein Wort aus Solings Feder, so verzweifelt er auch suchte. Der Major entschuldigte sich höflich (wofür überhaupt?) und ging. Arn Soling stand da und verstand gar nichts mehr. Nach und nach dämmerte ihm die Erkenntnis. Er hatte in die Vergangenheit eingegriffen, am fünfzehnten Mai die Tiere aus ihrer Zeit herausgenommen und damit von diesem Tage an den Gang der Dinge verändert. Das Weibchen würde zwischen April und Oktober keine Eier legen, keine Jung19
tiere würden schlüpfen, und er selbst würde logischerweise keinen Artikel schreiben, hatte keinen Artikel geschrieben. Die ursprüngliche Entwicklung hatte er durch seinen Eingriff zerstört. Sie war einfach nicht geschehen. Sie existierte nur in seiner Erinnerung und nirgends sonst. Die Redaktion hatte keinen Text von Soling, sie nahm den von Pederzani. Und selbstverständlich hatte der Botanische Garten keine Jungweibchen als Geschenk erhalten. Verflucht und zugenäht! Was mochte der Major jetzt denken? Der war ja heute schon merkwürdig genug gewesen. Wenn er nur diesen überhöflichen Schnüffler wieder aus dem Spiel herausbringen könnte! Spiel? Nach und nach schien bitterer Ernst daraus zu werden. Hätte er doch die Teufelsbiester nicht einfach im Palmenhaus ausgeschüttet, sondern mit der Zeitmaschine in jene Septembernacht zurückgebracht ja freilich: am Abend des Achten gestohlen, ausgeliehen, nein, gestohlen stimmt schon, und um Mitternacht oder gegen Morgen zurückerstattet, dazwischen fast ein halbes Jahr lang in Besitz gehabt, so wie es ja gewesen war - kein Mensch hätte etwas bemerkt. Daß dabei die Tiere binnen weniger Stunden um-ein halbes Jahr gealtert wären, hätte auch niemand erkennen können. Wieder einmal hatte er übereilt gehandelt und dadurch überaus ungeschickt. Doch das Aussetzen im Palmenhaus konnte er nicht zurückdrehen. Bald darauf erlebte Arn Soling endlich wieder einmal einen Erfolg, einen sehr schönen sogar. Seit Anfang September waren sein Selbstwertgefühl, seine Sicherheit und Selbstgewißheit arg angefochten worden. Er fühlte sich auch physisch nicht in bester Form, war oft abgespannt, müde, erschöpft, konnte sich selten richtig konzentrieren; seine Wendigkeit war in Trägheit und Gleichgültigkeit ertrunken. Bisweüen saß er viertelstundenlang bar jedes-Gedankens am Schreibtisch, manche Worte und Sätze hallten ungehört an ihm vorüber, mitunter verlor er beim Reden mitten im Satz den Faden. Manchmal meinte er den Herbst seines Lebens mit hartem Knöchel an seine Tür pochen zu hören, schob dieses Gefühl aber stets rasch wieder weit von sich. Anfang Fünfzig war doch noch kein Alter, auch wenn die weißen Fäden im Haar in der letzten Zeit rapide zugenommen hatten. Er schob diese Minderung seiner selbst, diese Beschwerlichkeiten einfach auf die wachsende Spannung, der er seit Budapest und seit dem Auftauchen des Majors unterlag und die sich als Dauerstreß ja auch physisch manifestieren mußte. Einen spektakulären beruflichen Erfolg konnte er dringend brauchen, und er hoffte, künftig wieder wie früher arbeiten und auftreten zu können, Probleme wegzulächeln und ein Flair von Leichtigkeit und Siegesgewißheit um sich zu verbreiten. Das Ereignis war auch ganz dazu angetan. Ein großes Bauteil sollte mittels 20
des trägerfreien Materietransfers zum Mars teleportiert werden. Nicht nur ein paar Sklerosoftplatten, sondern die Außenkuppel für die neue Station Aron 7 am Krater Nicholson, eine mehr als tausend Quadratmeter bedekkende Tiolonstahlschale von etlichen hundert Tonnen. Der rote Planet stand ungünstig, die Entfernung war mit 340 Millionen Kilometern größer als der Durchmesser der Erdbahn. Doch diese Situation würde sich erst in etlichen Monaten langsam verbessern, die nächste Opposition des Planeten stand erst in fünf Vierteljahren ins Haus. Abzuwarten paßte dem Weltkosmosministerium nicht in seine Neuen Pläne, und bei der neuen Transportmethode spielte ja die Entfernung keine Rolle. Ja, Aufsehen und Reklamewert waren sogar viel größer, und Panavision berichtete live im Ersten Kanal. Arn Soling war an diesem Tage wieder vpllig der alte, strahlendes Lächeln im Gesicht und Triumph im stürmisch schlagenden Herzen. Alles klappte wie ein Paradeexerzieren: Zielabweichung zwei Komma drei Millimeter, vom Marsorbit aus gemessen, das war weniger als nichts. Die anschließende Feier verließ Soling vorzeitig. Schon nach anderthalb Stunden fand er sich zu Tode erschöpft und deprimiert wie in den schwärzesten Stunden der Wochen zuvor. Am nächsten Tag ereilte ihn ein neues Desaster. Der Chef ließ ihn kommen und zeigte ihm den Bericht eines Außendienstmitarbeiters, eine vertrauliche Vorinformation: Zwei Münchner Wissenschaftler, Brix und Hardy Dommann, hatten ein Verfahren zum Patent angemeldet, Energie aus den Lidbewegungen der menschlichen Augen zu gewinnen und damit auf Kontaktlinsen untergebrachte Pikoelektronik zu betreiben. Soling schwammen die Zeilen vor den Augen. Das war doch sein Verfahren! Aus dieser Energiequelle speiste er seine heimliche Zeitmaschine, und deswegen hatte er die Methode bisher verschwiegen. Jetzt rächte sich seine über lange ZSit bewährte Taktik, Neuheiten im Vorlauf zu entwickeln und erst dann darüber zu sprechen, wenn sie verlangt oder gebraucht wurden. So konnte er immer wieder den Anschein erwecken, schwierige Probleme im Handumdrehen und mit Eleganz zu lösen. An solchem Ruf war ihm immer sehr gelegen, die im vorhinein investierte Arbeit brauchte ja niemand zu kennen. Jetzt aber war ihm jemand zuvorgekommen, noch dazu bei einer Sache, deren Brisanz geradezu täglich zunahm. Tihany fiel ihm ein, die Nacht, an die er sich nicht erinnern konnte. Er hatte also geprahlt und über Dinge geschwatzt, von denen niemand wissen durfte. Mein Gott, dachte er, was habe ich da im Suff vielleicht noch alles erzählt? Nur gut, daß diese Dommanns nicht zurückgekommen sind! Professor Tasko holte ihn in die Wirklichkeit zurück: Das hätte eigentlich auch uns einfallen können! 21
Ein klarer, harter Vorwurf. Versagt. Noch zwei, drei solche Patzer, dachte Soling, und ich kann mir einen anderen Schreibtisch suchen. Eine neue Angst erstand in ihm. Damit, fuhr der Chef fort, hätten wir die Pilotenbrille auf Kontaktlinsen umstellen können. Mit angehaltenem Atem wartete Soling auf die Fortsetzung des Satzes: ... und später die Zeitmaschine. Doch diese Fortsetzung kam nicht. Noch nicht. Solings Kephalosatanaspärchen legte zwei Eier, und daraus schlüpften zwei Weibchen. Er schrieb einen Artikel für die Liebhaberzeitschrift, für den er ganze Passagen noch im Gedächtnis hatte, und tauschte eins der Nachzuchttiere gegen ein Jungmännchen aus dem Botanischen Garten. Dort freute man sich sehr, hatte man doch damit ein junges Pärchen, überhaupt wieder ein Pärchen, nachdem das alte, das Staatsgeschenk, eingegangen war, beide Tiere im Abstand von zwölf Tagen verendet. An Altersschwäche. Eindeutig. Und merkwürdig. Als Soling dies erfuhr, eilte er nach Hause, legte die Kontaktlinsen an und nahm seine Elterntiere aus dem Vivarium heraus. Nur zurück damit in den vorigen Mai, aus dem er sie in die Jetztphase geholt hatte! Unvorstellbar, wenn ihm seine auch eingingen. Doch halt, das waren ja dieselben Tiere, sie konnten doch nicht zweimal krepieren? Nein. Nicht, wenn er sie um diese vierzehn Monate zurückbrachte, in den Mai des Vorjahres. Wenn er sie hierließ, wenn er sie jetzt und hier einbüßte, dann wären sie schon vor vierzehn Monaten verschwunden, niemals im Palmenhaus wieder aufgetaucht, nicht im Botanischen Garten an Altersschwäche gestorben. Und der Major hätte sie auch nicht gesehen. Eine andere Variante im Lauf der Dinge wäre eingetreten, mit unabsehbaren Konsequenzen und Komplikationen. Die Katastrophe. Nicht einmal auf die Vergangenheit konnte man sich noch verlassen. Nur schnell fort mit den Tieren, dachte er, mit diesen Teufelsbiestern, wahrhaftig! Und wenn jemand sie vermißt, morgen? Macht nichts: Exitus, meine auch. Außerdem habe ich ja jetzt noch das junge Pärchen. Ein wenig benommen, vor Aufregung wohl, langte er an, entledigte sich der Tiere und begab sich auf den Rückweg. Als er zu sich kam, lag er auf dem Teppich und fühlte sich sterbenselend. Wie kann man auch, dachte er, aus dem kalten Maiabend mitten in diesen heißen Julitag ... Langsam nur kam er hoch. Acht Wissenschaftler und Techniker hatten die Marsstation Aron 7 eingerichtet und vier lokale Tage nach dem spektakulären Kuppeltransport bezogen. Neunzehn Tage später kam das abendliche Routinegespräch mit der Hauptstation Aron Central nicht zustande. Zwar hatten die Computer die 22
Funkverbindung hergestellt und die Startroutine einschließlich der programmierten Sprechtexte abgefahren, aber keiner der Menschen in Aron 7 meldete sich. Da ein Unglücksfall nicht auszuschließen war, entsandten Aron Central und die dem Nicholson am nächsten gelegene Station, Aron Olympus, Rettungsfahrzeuge. Bis zu deren Eintreffen würden mindestens elf, zwölf Stunden vergehen, zumal die Station am Olympus hoch oben an den Hang des gewaltigen Berges gebaut worden war, nur elf Kilometer unter dem Gipfelkrater, sechzehn Kilometer also über Normalnull. Diese Lage der Station war ein für die Pionierzeit der bemannten Marsforschung typischer Kompromiß zwischen der in Warschau ansässigen Internationalen Akademie für das Sonnensystem (MASS) und der Marseiller Associated Nations Space Agency (ANSA): Die MASS-Leute forderten, die Station am Fuße des Berges zu errichten, am Ostrand der Amazonentiefebene; im Gegensatz zu diesen Amazoniern verlangten die Olympier, die ANSA nämlich, den Bau mitten auf dem Gipfelplateau bei ausschließlicher Flugverbindung. Die nach mehrjährigen Debatten beschlossene Hangvariante vereinte fast alle Nachteile beider Originalprojekte und ließ keinen der ins Feld geführten Vorzüge richtig zum Wirken kommen. Erst seit der Konföderation der beiden großen Staatenbünde gab es neben der UNO-Weltraumkommission ein Ministerium für Kosmische Angelegenheiten beim Konföderationsrat; die Kosmische Kammer wurde gebildet und koordinierte die Arbeiten der MASS, der ANSA und der UNO-Universität. Erst seitdem hatten die Rangeleien aufgehört, doch hatte man mit deren Folgen noch lange mancherlei Sorgen. So brauchte der nach Aron 7 entsandte Turborover mindestens vier Stunden für den Abstieg, bevor er die verhältnismäßig ebenen restlichen anderthalbtausend Kilometer unter die Ketten nehmen konnte. Das andere Fahrzeug würde erst viele Stunden später eintreffen. Aron Central lag fünftausend Kilometer entfernt im Graben des Glanzes an einem zwar planetologisch interessanten, aber verkehrsungünstigen Platz. Die Aufnahmen der Fotosatelliten zeigten bis zum Sinken der Dämmerung nichts Auffälliges an Aron 7. Auf den danach gespeicherten Infrarotbildern sah man eine sehr geradlinige Wärmespur, die sich vom unteren Kuppelrand über sechzehn Meter bis fast zum Scheitelpunkt erstreckte. Ein schmorendes Kabel? Ein Riß? Warmwasser? Man vermutete und stritt und konnte doch nichts anderes tun, als weiter zu rufen und die Ankunft des ersten Fahrzeugs abzuwarten. Im planetaren Morgengrauen fanden die Leute von Aron Olympus die mehrere Zentimeter starke Tiolonstahlkuppel von unten bis oben aufgerissen. Bis zu zwei Zentimeter breit klaffte die Wunde glatt wie ein Messerschnitt neben einem der Spanten. Niemand hatte überlebt. Die gesamte Atemluft war sofort entwichen, denn auch die Hermetik der Innenräume war weitgehend aufgehoben. Sieben Menschen, darunter die drei Frauen, mußten beim plötzlichen Druckverlust sofort umgekommen sein. Den achten fand man in 23
einem fast unbeschädigten Raum bei knapp halbem Luftdruck neben einem Sauerstoffgerät und mit einer tiefen Kopfwunde, offenbar bei einem Sturz geschlagen. Er war bis ungefähr zwei Stunden vor dem Auffinden am Leben gewesen, wenn auch schon längere Zeit ohne Bewußtsein. Ob man ihn drei, vier Stunden früher noch hätte retten können, blieb ungewiß. Aron Central informierte sofort die Erde, versetzte alle Marsstationen in erhöhte Alarmbereitschaft und entsandte zum Nicholson weitere Fahrzeuge mit Spezialisten, Geräten und der engeren Leitung. Von der Erde startete einen Tag später «ine Untersuchungskommission der Kosmischen Kammer zum Katastrophenort. Der Rektor hatte Soling gebeten, im Rahmen einer Sonntagsuniversität genannten öffentlichen und auch populären Veranstaltungsreihe über technische und gesellschaftliche Aspekte von Zeitreisen zu sprechen. Über dreihundert Zuhörer waren erschienen, viel mehr als gewöhnlich. Soling hatte vorher mehrere dieser Vorlesungen besucht, um sich auf Atmosphäre und Publikum einzustimmen. Sehr viele Jugendliche waren da, sicherlich Phantastikfans; viele Männer und noch mehr Frauen in den Dreißigern und Vierzigern, die meist gediegenes eigenes Fachwissen und daneben oder deshalb vielfältige andere Interes24
sen hatten und am Ende sachliche Fragen stellen würden. Die Altersgruppe dazwischen fehlte fast völlig. In der fünften Reihe saßen zwei schwarzgekleidete Männer, die wie Priester aussahen. Teils schon lange vor dem Beginn gekommen waren viele Ältere, vielleicht Alleinstehende, die nur irgendein Gemeinschaftserlebnis suchten. Soling war zuversichtlich. Hier konnte nichts schiefgehen. Dann sah er weit hinten auf einem Randplatz Major Roederlinck sitzen. Unruhe ergriff ihn und ließ ihn die ganze Veranstaltung über nicht mehr los. Er hatte sich sorgfältig vorbereitet, hatte sogar, eingedenk seiner jetzt häufigen Konzentrationsschwächen, den gesamten Redetext geschrieben vor sich. Obwohl er nur abzulesen brauchte, verirrte er sich mehrmals in seinen Zetteln und mußte sich dann korrigieren. Peinlich, vor allem vor dem Rektoratssekretär, der wie üblich die Veranstaltung leitete. Die Aussprache brachte Soling ohne Zwischenfall über die Runden, und dann geschah, was er die ganze Zeit über befürchtet hatte: Der Major kam auf ihn zu. Jetzt aber fiel alle Beklemmung von Soling ab. Monatelang hatte ihn Roederlinck in Ruhe gelassen, was sollte denn jetzt noch geschehen? Nein, diese Sache war vorüber, ausgestanden, erledigt Lachend empfing er den Ungebetenen: Leider habe ich Sie enttäuschen müssen. Da wir die Zeitmaschine noch nicht so bald haben werden, bleiben Ihnen vorerst nur die klassischen Ermittlungsmethoden. Es wäre doch zu schön: im leeren Banktresor zurückspringen und den Räuber in flagranti erwischen... Der Major wehrte lächelnd ab: Der wäre ja dann auch zurückgesprungen und hätte ein hieb- und stichfestes Alibi. Nein nein, da seien Gott vor und der Generalsekretär, ich bleibe lieber bei meinen alten Methoden: fragen, ein bißchen nachdenken und einfühlen, Computeranalysen, Fingerabdrücke ... Aber ich halte Sie unnötig auf. Ich habe da vielleicht etwas für Sie, ich weiß nicht so recht. < Bei diesen Worten holte er aus seiner Tasche ein kleines Päckchen hervor, in zartes weißes Florpapier eingeschlagen, wickelte es auf, ohne den Inhalt zu berühren, und hielt es Soling entgegen: Wir haben dies im Schreibtisch eines Kollegen gefunden, den wir nicht mehr danach fragen können. Ein Zettel lag dabei mit Ihrem Namen und Ihrer Adresse. Vielleicht gehört es Ihnen? Soling griff danach, es war eins der beliebten und begehrten cc-Taschenbücher: Deinhold, Die Deltakersage. Scheinbar ratlos wandte er das schmale Bändchen hin und her, er wußte ganz genau, er hatte es für die mißlungene Alibifahrt nach Freiberg eingepackt und mit der Aktentasche im Stich gelassen. Sie hatten es sogar in Klarsichtfolie eingeschweißt! Achselzuckend legte er das Büchlein in das Papier zurück: Ich habe so viele Bücher ... Freilich habe ich dieses gelesen, aber ob ich es besitze oder besessen habe, ob es mir etwa verlorengegangen ist, kann ich nicht sagen. Al25
lenfalls könnte ich nachsehen, ob ich ein gleiches Exemplar zu Hause habe, dann wäre dieses wohl nicht mein Eigentum, aber sonst... Oh, das macht nichts, erwiderte der Major mit zuckersüßer Stimme und verwahrte das Päckchen wieder in der Tasche, das macht gar nichts, wir brauchen ja nur die Fingerabdrücke auf der Folie und auf dem Einband zu vergleichen, eine unserer klassischen Methoden, wissen Sie ... Beinahe hätte ich vergessen, noch etwas stand auf dem Zettel, und damit wissen wir nun gar nichts anzufangen: ein Datum, der neunte September vorigen Jahres, und die Nummer eines Personalausweises. Das Personaldokument mit der notierten Nummer wurde aber erst am sechzehnten September von unserer Paßstelle ausgegeben. Panikstimmung hatte Soling ergriffen. Der Major wußte alles! Vermutete eine betriebsfähige Zeitmaschine, ein Labormuster vielleicht, und konnte damit alle Vorfälle erklären. Ging Roederlinck von der Hypothese aus, sein Kontrahent verfüge über ein solches Gerät, dann gab es in Solings Handeln und Reden, in den Fakten und Indizien Sinn und System. Verneinte der Major die Hypothese, so verfing sich alles in Widersprüchen. Die Hypothese war also richtig, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Die Existenz einer Zeitmaschine war damit bewiesen. Doch dieser Beweis war ein wissenschaftsmethodischer, erkenntnistheoretischer, nicht aber ein juristischer. Kein Gericht würde sich darauf einlassen. Jeder Jurist würde verlangen, daß Roederlinck eine solche Maschine vorführte oder ihre Existenz durch eine Zeugenaussage oder durch ein gestempeltes, unterschriebenes Papier einer seriösen Institution bewiese. Soling konnte sich nur verhältnismäßig sicher fühlen, solange es noch keinen Zeittransporter gab. Er würde sofort in die Mühlen der Justiz gezogen und dort gänzlich zerrieben, sobald der erste Test einer Zeitmaschine positiv verlaufen und dem Major bekannt wäre. Folglich durfte es solch einen Testerfolg nicht geben. Wenigstens nicht, solange Roederlinck hinter Soling her war. Von nun an hintertrieb Soling seine eigene Arbeit. Er sabotierte. Niemand kam auf die Idee, daß er die Pannen und Fehlschläge selbst hervorrief. Ihn deckte eine Denkhemmung aller seiner Vorgesetzten und Kollegen: Wer wird denn gegen seinen eigenen Erfolg angehen - Soling schon gar nicht! Er mogelte Fehler in Zeichnungen, in Ableitungen und Computerprogramme, er verunreinigte oder vertauschte Materialien, brachte Unordnung in Papiere, vergaß etwas zu beschaffen oder anzuweisen. Das Vergessen und Verwechseln unterlief ihm auch ungewollt des öfteren, und mitunter fing er da oder dort einen kritisch-mitleidigen Blick ein: Na, mein Junge, du wirst wohl alt? 26
Daß er rasch alterte, wußte und fühlte er. Auch konnten sein Leistungsabfall und seine Müdigkeit, seine gebeugte Haltung und vor allem das geschwinde Ergrauen seines Haares niemandem auf die Dauer verborgen bleiben. Welch ein Unterschied gegenüber der Zeit, da er die Kephalosatanas cantor noch nicht besaß! Früher war es selbstverständlich, daß er der Klügste, Wendigste, Brillanteste war, der Größte einfach. Nichts gab es, was er sich nicht zugetraut hätte, sobald er es nur wollte. Auch die Singenden Teufelsköpfe gehörten zu dem anstandslos Erlangten. Und jetzt? Die Tiere waren ihm höchst gleichgültig geworden; er hätte sie längst abgestoßen, wenn er nicht dadurch irgendein neues Unheil heraufzubeschwören gefürchtet hätte. Oft sehnte er sich nach einem bequemen, beschaulichen Dienst, und es würde wohl kaum noch lange dauern, bis man ihm diskret zu verstehen gäbe, ein bescheidenerer Platz entspräche besser seinen veränderten Verhaltensweisen und Möglichkeiten. Überdies hatte er nun noch ganz konkret gegen die Zeitmaschine vorzugehen, und um dies richtig zu können, mußte er seinen Sessel möglichst lange behaupten. Das war ein Dilemma, das täglich, stündlich seine ganze Kraft forderte. Bald hielt er sich nur noch mit Stimulanzien in Gang, und irgendwann würde auch das nicht mehr möglich sein. Aber vorläufig mußte er noch durchhalten um jeden Preis, um jeden. Lieber ein Leben im Medikamentenrausch, in Mißerfolg und Mitleid, mit müdem Leib, leerem Kopf und schmerzenden Gliedern, blamiert und belächelt - lieber alles dies als in den Fängen der Justiz! Die Kommission für die Untersuchung der v4ron-7-Katastrophe kehrte zurück und arbeitete mehrere Wochen lang hinter verschlossenen Türen in Labors und Sitzungszimmern. Dann legte sie ihre Ergebnisse vor. Die Öffentlichkeit erfuhr von einem Meteoriteneinschlag, von höherer Gewalt und vom Andauern der Ermittlungen. Dem Institut für Kosmische Transporte aber unterbreitete die Komission alle ihre Erkenntnisse, auch die widersprüchlichen oder undeutbaren Fakten und Thesen. Über die eigentliche Unglücksursache war sich die Kommission jedoch einig: Materialermüdung. Materialermüdung? Die Wissenschaftler des Instituts schüttelten ungläubig die Köpfe. Die Kuppel war kein halbes Jahr alt gewesen, nach modernsten, gesicherten Verfahren hergestellt und quadratzentimeterweise röntgenstereographisch geprüft! Zudem lagen der Kommission widersprüchliche Meßresultate vor. Die Radiologen hatten Teilchen und Isotope ausgezählt und gaben das Alter der stählernen Schale mit höchstens elf Monaten an. Die Analyse der inneren Struktur dagegen ließ auf ein Mindestalter von achtzig Jahren schließen. Professor Tasko berief ein vertrauliches ganztägiges Seminar aller wissenschaftlichen Leiter und Mitarbeiter des Instituts ein und nahm als erster das Wort. Bitte verzeihen Sie mir eitlem altem Dickschädel, begann er, daß ich als ; 27
Zoologe mein Amt mißbrauche und zu dieser üblen Angelegenheit als erster spreche und daß ich dabei noch Banalitäten wiederhole, die jeden von Ihnen langweilen müssen. Das Folgende ist nur eine Hypothese, die man diskutieren kann und verwerfen, wenn sie nichts taugt. Einige nickten freundlich, sie kannten ihren Alten, und Tasko fuhr fort: Für den Materietransfer benutzen wir als Träger die im gesamten Kosmos gegenwärtigen Neutrinoströme, denen wir ein bitransversal moduliertes Wellenbündel aufzwingen. Damit übertragen wir an das Ziel die aus dem Startobjekt gewonnenen Strukturinformationen und die Energieimpulse für die Restruktion des Objekts. Überlegen wir nun einmal, was mit diesem Wellenbündel auf dem Wege geschieht, den es zwar mit Lichtgeschwindigkeit, aber doch in einer meßbaren und bei kosmischen Entfernungen immerhin beachtlichen Zeit zurücklegt; bei dem zur Debatte stehenden Transport nach Ann 7 waren es neunzehn Minuten. Die aufmodulierte Energie- und Informationsmasse durchquert also zunächst unsere Atmosphäre mit allen ihren Schichtungen und Eigenheiten, dann den Van-Alien-Gürtel, das kosmische Vakuum, das ja durchaus nicht leer, sondern mit harmlosen und mit energiereichen Wellen, mit Meteoriten, kosmischem Staub und auch mit Satelliten, mit atomaren Prozessen und mit all den Dingen angefüllt ist, die wir noch nicht entdeckt haben. Durch dieses Getümmel mußte sich unser Wellenbün28
del neunzehn Minuten lang hinduchschlagen. Die Neutrinos lassen sich davon nicht beeindrucken, sie fliegen weiter und durchdringen ungehindert alles, Energien, Felder, Staub und Planeten, sie sind nur zur schwachen Wechselwirkung imstande, aber zu dieser doch immerhin, zu einer Wechselwirkung mit all den vielfältigen physikalischen Prozessen des scheinbar leeren Weltraums. Tasko hob ein wenig die Stimme: Und jetzt..., jetzt folgt ein Gedanke, auf den mich Kollege Soling gebracht hat. Soling war baß erstaunt. Doch, doch! Die schwache Wechselwirkung der Neutrinos ist auch eine schwache Wechselwirkung mit unserem aufgeprägten Wellenbündel und hat eine winzige Auswirkung auf die übertragene Information und damit auf das restruierte Objekt. Unsere Stahlkuppel kam also auf dem Mars mit einer ungeheuren Anzahl winziger Fehlinformationen an, die regellos, statistisch verteilt sind und erst in zunehmender Häufung erkennbare Strukturmängel ausmachen. Das ist genau das, was wir Biologen als Altern bezeichnen. Materialermüdung. Sollten wir diese Hypothese als plausibel akzeptieren, dürfte damit der Stab gebrochen sein über der Anwendung des trägerfreien Materietransports auf bemannte oder unbemannte Weltraumflüge und erst recht über dem Projekt der Zeitmaschine, die ja auch wesentlich darauf beruht. Zehn Minuten Pause. Niemand stand auf, niemand sprach ein Wort. Nach und nach richteten sich aller Augen auf Soling, den der eine oder andere seit Taskos Erwähnung unbewußt im Blick behalten hatte - Soling saß totenbleich und steif aufgerichtet in seinem Sessel, den Blick stier auf die Tischplatte vor sich gerichtet, als bannte ihn von dorther der Leibhaftige. Altern, dachte er, mein Gott, jede Zeitreise ist ein Flug durchs Weltall. Eine Woche Zeitreise, überschlug er, die Erde ist um zwanzig Millionen Kilometer weitergeflogen, eine Lichtminute also, eine Woche hin und zurück, das sind zwei Minuten Aufenthalt im freien Raum, neunzehn Minuten, macht achtzig Jahre, haben sie gemessen, und wie viele Wochen bin ich vorwärts und rückwärts gefahren, wie ein Verrückter den Kalender hinauf und hinunter, wie viele Minuten war ich da draußen und habe meinen Astralleib der kosmischen Strahlung ausgesetzt, wie viele hundert Jahre bin ich schon alt, und wenn nun ein Hindernis dazwischenliegt, der Mond, wenn der Mond genau im ersten oder dritten Viertel steht und man fliegt hindurch, kommt man dann vielleicht verstümmelt an, oder durch die Erde, um einen halben Tag springen heißt genau auf die andere Seite, mitten durch den Erdkern, dreitausend Grad Hitze, o Mann, o Mann, hab ich ein Glück gehabt. Fieberhaft versuchte er, alle seine Zeitsprünge durchzugehen, ob er etwa durch das Erdinnere gefahren wäre: Flog man ein kleines Stück in die Zukunft, mußte man vormittags abspringen und nachmittags ankommen, wenn 29
man die Erdkugel nicht durchqueren wollte, rückwärts umgekehrt; und mit Grausen stellte er fest, daß er rein zufällig diese Regel wohl nicht verletzt hatte, also wohl rein zufällig noch am Leben war. Und wenn ich genau um ein halbes Jahr gesprungen wäre, an den gegenüberliegenden Punkt der Erdbahn, mitten durch die Sonne, Millionen Grad, die Kernfusion, das wäre der Tod gewesen - Glück gehabt, unwahrscheinliches Glück noch, nur alt geworden dabei, sehr schnell, sehr alt ... Immer wollte ich der Größte sein, ein Gelehrter, ein Genie ..., habe nach Gunst und Geltung, nach Gut und Geld gegiert und gegeilt..., und nun ein Greis um ein Geckopärchen habe ich gespielt, und der Einsatz ist mein Leben gewesen, verloren, aus ... Langsam sank er vornüber, dumpf schlug sein Kopf auf die Tischplatte, die Arme rutschten herab, der Körper sank zur Seite und glitt zu Boden, einen kleinen Moment nur aufgehalten von dem an der Tischkante hängengebliebenen Kinn. Man sprang hinzu, Tasko fand noch Leben, mehrere stürzten zum Telefon, brachten Wasser, einer sogar Kognak, etliche holten Arzneien aus ihren Taschen, und Tasko staunte darüber, wie viele seiner Leute ständig Notfallmedikamente bei sich hatten. Im Krankenwagen kam Soling zu sich, schmerzhaft schnitt die Sirene in alle Fasern seines hinfälligen Leibes. Professor Jarring, zwei Ärztinnen, Pfleger, Schwestern. Mit dem EKG waren sie nicht zufrieden, wechselten im Gerät etwas aus und wiederholten die Prozedur. EEG, unendlich lange, mehrmals grelle Blitze, dann sah er bunte Lichterspiele hinter den geschlossenen Lidern, herrliche, klare, reine Farben wogten daher und woben sich ineinander ..., so schön und so sauber müßte das Leben sein, hätte es sein können. Mittendrin versank er im Bodenlosen und fand sich durch Rütteln und leichte Wangenschläge von neuem ins Bewußtsein gerufen. Die Weißkittel gingen hinaus, und er lag allein auf der schmalen Pritsche. Angenehm spürte er das kühle, sanfte Tuch unter seinen Händen. Jemand raschelte mit Papier, war aber nicht zu sehen. Soling lächelte. Jetzt war alles gut, er brauchte sich nicht mehr zu sorgen. Er war nicht fähig, irgend etwas zu unternehmen, also konnte er weder etwas falsch machen noch etwas für seine Sicherheit tun. Sicherheit, was war das schon. Vielleicht brachten sie ihn hier wieder so weit hoch, daß er später Spazierengehen konnte, täglich eine Stunde, mit einem Stock, ein Röhrchen Tabletten in der Tasche. Der Major? Der Major ging leer aus. Eine Schwester stöckelte eilig herein und ging ins Nebenzimmer. Soling hörte den Professor sprechen:... Hundertjährigen - warum klopfen Sie nicht an? Dann ein Krankenzimmer, Einzelzimmer. Ein winziges Meßgerät, mit Heftpflaster auf die Brust geklebt, ein Löffel Medizin, Ruhe. Schlafen ... 30
Selten wußte er, ob er dem Wachen näher war oder dem Träumen. Besucher waren plötzlich da, bewegten sich wie zerfließende Schemen, sprachen wie durch Watte, verschwanden wie aufgelöst. Kollegen, Bekannte, Offizielle, Freunde - nein, wirkliche Freunde hatte er nicht. Burschikoser Optimismus: ... wird schon wieder ..., haut uns doch nicht gleich um ... Lügner, dachte er, sie sollten wenigstens ein bißchen Respekt vor meinen weißen Haaren haben. Dann dachte er daran, wie er zu diesem bleichen Kopfschmuck gekommen war, und fand, Respekt davor zu fordern, hatte er vielleicht doch kein Recht. Roederlinck. Der Major mit oe und ck. Lachsrote Gerbera, ein kleines Buch, verhaltene Stimme: Deinholds Deltakersage mitgebracht ..., gegenstandslos ... eingestellt, ... wußte, daß Sie eine Zeitmaschine haben ... Alibi schiefgegangen ... Balaton nachträglich eingefädelt, ... wußten ja, daß die Dommanns nicht zurückkehren würden ... Unbewegten Gesichts lachte Soling in sich hinein: Dummkopf, der - und alle Hochachtung! Getroffen und doch daneben. Professor Tasko: Weder ist hier der Ort, noch hat es irgendeinen Sinn, mit Ihnen zu rechten. Sie haben bezahlt, teuer bezahlt, aber das weiß ich erst seit Aron 7. Daß Sie die Zeitmaschine haben, ahnte ich seit Ihrer Kubareise. Auf der ganzen Insel gibt es nämlich keine freilebenden Kephalosatanas cantor mehr. Diese Tiere sind auf den tropischen Regenwald angewiesen, und das letzte kubanische Stück davon wurde bei dem Großbrand im Jahre achtunddreißig vernichtet. Tja, das wissen eben wir Wald- und Wiesenbiologen. Einen Diebstahl aus dem Zoopark Havanna würde ich Ihnen niemals zutrauen, dafür sind Sie viel zu sensibel und, verzeihen Sie, viel zu nervös. Ergo konnten Sie die wirklich prachtvollen Exemplare nur aus der Vergangenheit haben. Getroffen und doch daneben, und wie! Drei Gestalten schweben herab, zwei davon in Skaphandern, mit Schriftzeicheh auf der Brust: Aron 7. Hinter den Helmscheiben Totenschädel. Zwischen den beiden, von ihnen an den Händen gehalten, Marga, das Haar weiß, straff gescheitelt. Die Toten legen auf Solings Decke einen großen Stahlsplitter mit bizarren schartigen Rißrändern, blutig. Marga gleitet heran. Warum, denkt er, trägt sie das kesse gelbe Kleidchen von damals, als ich sie zum erstenmal sah? Sie stellt eine Flasche Sekt auf das Bettschränkchen und legt ein flaches Kästchen dazu: die Kontaktlinsen. Dann ergreift sie seine Hände: Komm noch einmal zu mir! 31
Soling durfte täglich zweimal für eine halbe Stunde das Bett verlassen. Oft packten ihn Schwindelanfälle, noch häufiger ergriff ihn eine unerklärliche, würgende Angst. Wahrnehmungen und Halluzinationen verwoben sich zu wirren, bedrückenden Bildern. Fragte er nach den Chancen einer Heilung oder auch nur Besserung, wich man ihm aus. Nichts also späterhin mit einsamen Spaziergängen. Er wußte, niemals mehr würde er sich ohne Aufsicht bewegen dürfen. Eines Tages bat er Professor Jarring um die Erlaubnis, für ein, zwei Stunden sein Haus aufzusuchen. Wozu? Ihnen fehlt hier nichts, was wichtig wäre, Ihre Tiere werden versorgt, und alles andere hat erst einmal Zeit. O nein, ich habe da etwas in Ordnung zu bringen, was schon lange fällig ist. Das kann nur ich selbst erledigen, und ich brauche dazu meinen Safe. Na gut. Ich schicke aber jemanden mit, und zum Abendessen sind sie wieder hier! Ein Wagen brachte Soling und eine resolute Schwester zu seinem-Haus. Er inspizierte alle seine exotischen Tiere, die von einem in der Nähe wohnenden Liebhaber umsichtig betreut wurden, saß eine kurze Zeit lang vor den Singenden Teufelsköpfen, dem prächtig entwickelten Jungpaar, und lauschte versunken und mit feuchten Augen dem glockenreinen Gesang. Die Schwester ließ ihn keinen Augenblick allein. Dann ging er in das Zimmer mit dem Geheimsafe, schickte mit Mühe die aufdringliche Person hinaus, lehnte seinen Stock in eine Ecke, holte mit zitternden Händen das Kästchen mit den Kontaktlinsen hervor, öffnete es und schaute minutenlang auf den schwarzen Samt mit den so unscheinbaren Gläsern. Dann legte er sie an und ging zurück zu seinen Lieblingstieren. Ein Viertelstündchen noch, bat er und schickte die Wächterin nach einer Erfrischung. Allein, verfiel er in hektische Erregung:... ein halbes Jahr ... mitten durch die Sonne ..., der erste, der sich in die Sonne stürzt ..., der erste ... Dann beruhigte er sich mittels der erlernten autogenen Methode und begann zu programmieren: Einschaltcode. Befehl: Zeitsprung vorwärts. Distanz: 182 Tage, 15 Stunden. Typ der Ortsangabe: Relativ terra lokal. Verschiebungsvektor: Null-nüllnull. Start! Arn Soling blieb spurlos verschwunden. Ein halbes Jahr später ging sein Haus in Flammen auf.
Ulrich Broker
Lebensgeschichte und natürliche Abenteuer des armen Mannes im Tockenburg Mit einer Einführung von Joachim Nowotny und einem Nachwort von Michael Niedermeier • Illustriert von Ralf Bergner • 236 Seiten • Ganzleinen 9,20 M
Was hat ein armer Schlucker, Hütejunge, Salpetersieder, zwangsrekrutierter Soldat, Weberknecht und Hausierer schon Großes erlebt, das er als Abenteuer anbieten könnte? ... Dem Mädchen, das er heiß begehrte, galt es zu entsagen. Der Krieg, zu dem man ihn gepreßt hatte und der nicht seiner war, fand bald ohne ihn statt ... So einer weiß dann keinen launigen Reisebericht zu geben. Der spricht lieber von der Genugtuung, wieder daheim zu sein. Über die Ehe mit der ungeliebten, aber vernünftigen Frau. Über den Tod von zwei der sieben Kinder. Über Handel und Wandel, die allemal zu leeren Taschen und in den Konkurs führten ... Und doch sind wir Zeuge eines atemberaubenden Vorgangs, der seine Aktualität nicht verliert: der Umwerfung und Erneuerung von für ewig und unwandelbar gehaltenen Ansichten über den Sinn des irdischen Lebens ... (Auszugsweise aus der Einführung)
Verlag Neues Leben Berlin