Dietrich Ritschl
Zur
der LOG K THEOLOGE Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken
ehr. Kaiser
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Dietrich Ritschl
Zur
der LOG K THEOLOGE Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken
ehr. Kaiser
Dietrich Ritsch!, Zur Logik der Theologie
Dietrich Ritschl
ZUR LOGIK DER THEOLOGIE KURZE DARSTELLUNG DER ZUSAMMENHÄNGE THEOLOGISCHER GRUNDGEDANKEN
ehr. Kaiser
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Ritschl, Dietrich: Zur Logik der Theologie: kurze Darst. d. Zusammenhänge theo!. Grundgedanken I Dietrich Ritsch!. - München: Kaiser, 1984
ISBN 3-459-01541-1 © 1984. Chr. Kaiser Verlag, München. Alle Rechte vorbehalten, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung. Fotokopieren nicht gestattet. Umschlag: Ingeborg Geith. - Printed in Germany. Satz und Druck: Buch- und Offsetdruckerei Sommer, Feuchtwangen. Bindung: H. Klotz, Augsburg.
PATRI OCTOGESIMVM SEXTVM ANNVM AGENTI PRAECEPTORI SVMMAE HVMANITATIS EXEMPLO COLLOCVTORI SACRVM
INHALT
VORWORTE 1. Zum Thema 2. Zum Buch .. 3. Zum Autor .. Erklärung bevorzugter Begriffe . Abkürzungen . . . . . . . . . .
13 15 17
19 24
I. DAS FELD:
DIE SICHTUNG DES GEGENSTANDSFELDES DER THEOLOGIE Voranzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
25
A. KOSMOGONIE UND ANTHROPOLOGIE ALS SCHWEIGENDER HINTERGRUND Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die socio-morphen Bekenntnisse Israels und der Kirche. 2. Das Defizit kosmologischer Reflexion. . . . . . . . . . 3. Die Reduktion anthropologischer Reflexion. . . . . . . 4. Die biblische Kritik an mythologischen Welt- und Menschenbildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
29 30 32 33
B.
C.
DIE ELEMENTE HINTER DER CHRISTLICHEN ALLTAGSSPRACHE Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bilder, Imaginationen, Symbole. . . . . . . . . . 2. Die »Stories« Israels, der Kirche und der Gläubigen 3. Abgeleitete und autonome Begriffe . . . . . . . . 4. Die Komplexität der Ausdrucksformen; Konfessionen. PERSPEKTIVEN DER WELTERKLÄRUNG Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . 1. Perspektivische Wahrheit . . . . . 2. Die Aufteilung der Welt in Welten. 3. Welt- oder Gotteserklärung? . . . .
35
39 40 45 48 51 55 56
60 62
Inhalt
8
4. Das Böse und das Sinnlose. . . . . . . . . . . . . . . 5. Analytisches gegenüber hermeneutischem Vorgehen . D. DIE TRÄGER DER ALTTESTAMENTLICHEN UND CHRISTLICHEN SICHTWEISE Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Frage nach der Breite der Ökumene. . 2. Vorreflektive Intentionalität; »Mitmeinen« 3. Die soziale Vermittlung der Wirklichkeit. . 4. Die Unwirklichkeit des Glaubens. . . . . . 5. Die Konstitution der Welt durch Erinnerung und Hoffnung . 6. Zur Frage der Normalität (normaler und »neuer« Mensch) . 7. Lebensalter, Frömmigkeit und Lebensstil. . . . . . . .. 8. Das Janusgesicht der Kirchengeschichte. . . . . . . . . . E.
F.
DIE STELLUNG DER BIBEL IN DEN AUF SIE FOLGENDEN TRADITIONEN Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Fiktion einer »biblischen Theologie« . 2. Die Transmission der Tradition. . . . . 3. Die besondere Bedeutung der Patristik. 4. Verifikation durch Wiedererkennen. DIE STELLUNG DER LOGIK Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Beziehung christlicher Lehraussagen zueinander. 2. Was sind theologische Fehler? . . . . . . . . . . . 3. Die relative Nützlichkeit von Scheinproblemen und unbegründeten Idealen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Der Unterschied zwischen bleibend Wichtigem und jetzt Dringlichem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 5. Spielerische Gesamtentwürfe und die prophetische Unterbrechung theologischer Logik. . . . . . . . . . . . . . . . .. 6. Die Ebenen von Frage, Problem und Geheimnis. . . . . ..
G. DER GOTTESDIENST ALS ORT DER PRIMÄREN VERIFIKATION Vorüberlegung . . . . . . . . . . 1. Wer treibt und lehrt Theologie?
65
68
72 73 76 79 81 83 85 89 93
97 98 100 102 106 109 110 113 117 120 123 127
130 131
Inhalt
9
2. Im Gottesdienst ist Theologie nicht mehr ihr eigener Gegenstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Die Umkehrung der Frage nach der Relevanz des Evangeliums 4. Verifikation durch den Geist. . . . . . . . . . . . . . . ..
133 134 135
H. DER ÜBERGANG VON DER ALLTAGSSPRACHE ZU REGULATIVER REFLEXION Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 138 1. Drei Grundtypen von Theologie: Direktheit, Wissenschaftlichkeit, Weisheit. . . . . . . . . . . . . 140 2. Regulative Sätze (implizite Axiome). . . 142 3. Monothematische theologische Entwürfe 144 4. Argumente gegen die loci-Methode . . . 145 5. Die Frage nach kulturspezifischer Theologie (»indigenous theology«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 147 6. Die Suche nach ökumenisch konsensfähigen operativen Prin149 zipien . . . . . . .
11. DIE THEORIE: DIE SUCHE NACH DER WAHRHEIT Voranzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
.......
153
A. DIE WIRKLICHKEIT DER ERWÄHLUNG (EKKLESIOLOGIE) Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Israel und die Kirche nach den Katastrophen unserer Zeit 2. Die klassisch westlichen notae ecclesiae. . . . . . . 3. Fünf notwendige funktionale Merkmale der Kirche. 4. Konstitution und Institution der Kirche. . . . 5. Die uneingelöste Rede von der Versöhnung.
159 161 168 169 172 174
DIE IDENTITÄT DER REDE VON GOTT (TRINITÄTSLEHRE) Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Trinitätslehre statt »Gotteslehre« . . . . 2. Gott auf dem Weg zur neuen Schöpfung. 3. Die Unsichtbarkeit und Unbemerkbarkeit Gottes. 4. Gottes Leidensbereitschaft . . . . . . . . . . . . .
176 178 185 192 195
B.
10
Inhalt
5. Die theologischen Nachteile einer separaten Pneumatologie. 6. Ist der Gott der Religionen der dreieinige Gott? . . . . C.
DIE EINGELÖSTE REDE VON DER VERSÖHNUNG (CHRISTOLOGIE) Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die verschiedenen Erwartungen an den Christus praesens (Die Frage der Kirche). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Das Kommen von Jesus, dem »Minimalmenschen« (Die Frage nach Gott) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Wer ist Jesus Christus? (Die Frage der klassischen Christologie). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Was ist durch sein Kommen anders geworden? (Die Frage nach Befreiung und Friede) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 5. Auferweckung, Kreuz und Inkarnation als retrospektive theologische Begriffe (Die Frage nach bleibender Bedeutung).. 6. Das Tragische im Licht der Christologie (Unser aller Frage).
D. DIE FREIHEIT ZUR MENSCHLICHKEIT (ANTHROPOLOGIE) Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Die objektivierenden anthropologischen Wissenschaften als Einladung zur theologischen Integration. . . . . . . . . .. 2. Die Konzepte von Ich und Selbst; die »Story« mit sich und mit anderen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Böse als Fehleinschätzung des Könnens. . . . . . . .. 4. Zur Frage der Veränderbarkeit des Menschen. . . . . . .. 5. Menschenrechte und die Hoffnung auf den neuen Menschen. 6. Die Einheit der Kirche und die Einheit der Menschheit. Schlußbemerkung: Über die Wahrheit der Theorien.
197 203
207 211 215 217 222 226 235
241 246 250 253 258 261 264 267
III. DIE BEWÄHRUNG: DER WEG ZUR ETHIK UND DOXOLOGIE Voranzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
271
A. VOM KOSMOS ZUM MENSCHEN (ZU I A) Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . 1. Die Erwartung der Transfiguration. . . . . .
274 277
11
Inhalt
2. 3. 4. 5. B.
C.
Das Natürliche als Halt und als Problem. Die Freiheit zur unmythologischen Analyse des Natürlichen. Bleibende Probleme jeder Ethik. . . . . . . . . Die Aufgabe theologischer Ethik. . . . . . . . . . . . . ..
VON DER »STORY« ZUM HANDELN (ZU I B) Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . . . 1. Scheinprobleme theologischer Ethik. . . . . . . 2. Der Vorgang ethischer Urteilsbildung . . . . . . 3. Der weiteste Begründungszusammenhang (Die Korrespondenzfrage ) . . . . . . . . 4. Die ethische Kompetenz. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 5. Wille und Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 6. Die engeren Begründungszusammenhänge (Die Freiheit zur Anleihe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
298
VON DER PERSPEKTIVE ZUR HOFFNUNG (ZU I C) Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Dynamik von Hoffnung und Vergebung. 2. Die Hierarchie der Hoffnungen . . . . . . . 3. Was heißt Gottvertrauen? . . . . . . . . . . 4. Ethik der Hoffnung in einer Welt des Todes. 5. Der neue Mensch »aus Juden und Heiden«. . 6. Die Konstanten der Grundhaltung der Gläubigen.
300 303 305 307 309 310 313
D. DIE TRÄGER VON DIAKONIE UND THERAPIE (ZU I D) Vorüberlegung . . . . . . . . . . . 1. Menschen mit dem Wort dienen. 2. Sozial-politische Diakonie . . . . 3. Parteiische oder neutrale Kirche? . 4. Die Verbreitung des Evangeliums in traditionell nicht-christlichen Kulturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Auf dem Weg zu einer therapeutischen Ethik . . . . . E.
279 281 282 284
DOXOLOGIE ALS TRADITION UND VORWEGGENOMMENE VERIFIKATION (ZU I E UND G) Vorüberlegung . . . . . . . . 1. Gott mit dem Wort dienen. 2. Formen des Gebets.
286 289 291 293 295 296
315 317 319 322 324 326
329 330 332
12
Inhalt
3. Zur Frage von Traditionalität und Flexibilität doxologischer Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 4. Die Antizipation der Allmacht Gottes und der Vollendung der Welten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 5. Doxologie und Theologie. . . . ; . . . . . . . . . . . . .. 336 F.
THEOLOGIE ALS WEISHEIT (ZU I FUND H) Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . . . 1. Irenische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . 2. Klärung, Verständigung und Beratung. . . . . . 3. Eindringen in Unbekanntes - Zum Problem der Meditation. 4. Offenheit für den Geist. . . . . . . . . . . . . . . .
339 340 342 343 344
SCHLUSSBEMERKUNG: ÜBER THEOLOGIE IM AKADEMISCHEN BETRIEB.
346
SACHREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
353
.Vorworte
1. ZUMTHEMA
Hat die Theologie überhaupt eine Logik? Logik im Sinn von Grammatik, die der Sprache das Zerfallen in Gedankensplitter und damit in die Zerstörung von Kommunikation verbietet, hat die Theologie schon. Aber ist diese »Grammatik« erkennbar, benennbar und überprüfbar? Und wenn sie es ist, gilt sie dann nicht nur für bestimmte Konfessionen, Gruppen oder einzelne Theologen? Es gibt »implizite Axiome«, »regulative Sätze«, die im Denken und Handeln der Gläubigen einen Unterschied machen, die eine bestimmte Logik haben. Ein großer Teil von ihnen - oder sind es die wichtigsten? - ist den Gläubigen aller Konfessionen gemeinsam. Sie gilt es aufzuspüren. Mir steht als Ziel heutiger theologischer Arbeit eine behutsame Überprüfung - möglichst in kritischer, aber liebevoller Teamarbeit - der Grundfragen der biblisch veranlaßten Theologie vor Augen. Biblisch begründet oder veranlaßt - das schließt aber von vornherein die Juden mit ein. Hier zeigt sich vor allem Anfang der Arbeit die große, offene Wunde, das ökumenische Problem par excellence. Jede Generation neigt zu der Meinung, sie stünde vor ganz neuen Problemen. Ich will nicht darüber streiten, ob auch wir heute dies zu Recht oder zu Unrecht sagen können. Ich jedenfalls habe dieses Buch in dem stetigen Bewußtsein geschrieben, wir lebten in einer Zeit des Übergangs, die-mindestens aus der Sicht christlicher Theologen - von folgenden Problemen gekennzeichnet ist: - Die Gefahren und das Leiden der Welt, in der wir leben, und die Bedrohungen für unser Überleben, sind stärker als wir.
14
Vorworte
- Die Lösungen, die gefordert sind, übersteigen einfache Alternativen und Entscheidungen - auch die jüdischer und christlicher Tradition - um ein Vielfaches. - Das Gewicht der Kirche beginnt sich von der europäischen und nordamerikanischen Welt auf die Dritte Welt hin, besonders auf Afrika, zu verlagern. - Die Kirchen in der Ersten und Zweiten Welt verlieren an Rückhalt in der Bevölkerung. Viele Kinder aus christlichen Häusern kehren den Kirchen den Rücken; die historisch etablierten Kirchen werden immer kleiner. (Im Hinblick auf die Synagogen mögen die Juden für sich selbst sprechen.) - Die relative Homogenität theologischen Denkens in den beiden großen Kirchen des Westens und der östlichen Orthodoxie, d. h. die generelle Anwendbarkeit griechischer und auch römischer Denkweisen, ist ernsthaft in Frage gestellt. Auch die Markierungen, die durch diese großen klassischen Konfessionen gegeben waren, sagen vielen Christen der jungen Generation und auch manchem akademischen Theologen nicht mehr viel. - Die »Großen« in der Theologie, die im ersten und zweiten Drittel unseres Jahrhunderts bestimmend waren, sind tot. Ihre Schulen sind zwar noch in Nachwirkungen erkennbar, aber neue Themen und Probleme, auf die sie nicht vorbereitet waren, treffen sie sozusagen von der Seite: die Aufrüstung in Ost und West, die Energieknappheit und das ökologische Problem, der Welthunger ,die Diskriminierung von großen Minderheiten, die Befreiungsbewegungen, die Nord-Süd-Spannung, die neue ökumenische Situation, die neuen Bewegungen der historischen Weltreligionen, der Pluralismus der Philosophien und Ideologien und nicht zuletzt die wissenschaftstheoretischen Anfragen an die Theologie. Die Bereitstellung von Lösungen dieser Probleme ist schwieriger als Vergleichbares in der Vergangenheit. Bücher zur Dogmatik und Ethik, die in den dreißiger Jahren und noch nach dem Krieg hochgeschätzt waren, muten uns heutige nicht selten als überaus schlicht und über den Dingen schwebend an. Auch die bewundernswerten und mutigen Zeugnisse aus der Zeit des Kirchenkampfes wirken auf uns zwar als historische Vorbilder, in der Anwendung auf heute aber oft als unübertragbar und allzu einfältig. Wir Theologen sind bei aller Gelehrsamkeit und auch aller Bemühung
Vorworte
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um gut ausgebildeten Nachwuchs für die Arbeit an den Lösungen dieser Probleme nicht gut gerüstet. Zwar hat es an analytischer Kraft nicht gefehlt: keine Instanz in der Welt hat seit dem Zweiten Weltkrieg die politischen und sozialen Probleme der Menschheit so genau und nahezu ohne Irrtum vorausgesagt, wie kirchlich-theologische Gremien und besonders die Agenturen des Ökumenischen Rates der Kirchen (man denke über ihre Rezepte wie man will). Aber es fehlt uns die Einsicht in konsensfähige Grundaussagen des Glaubens, und überall mangelt es an Menschen, die anderen und besonders der jungen Generation mit ihrem Credo und ihrem Verhalten Vorbilder sein können. Noch hat kleinliches und provinzielles Verharren auf konfessionellen und nationalen Gewohnheiten weithin die Überhand. Und noch schweben ökumenische und gesamtkirchliche Erklärungen aller Großkirchen meist weit über der sozialen und geistlichen Wirklichkeit der Gläubigen. Und noch verwechseln viele Kirchenleute politisches und soziales Engagement mit parteiischer Darstellung der Wahrheit. Es fehlt uns die Einsicht in konsensfähige Grundaussagen. Die Theologie, die sich dem Verständnis dieser Grundaussagen - oder dieser »Grammatik« - zuwendet, scheint mir irgendwo im Feld zwischen den sprachlich kaum artikulierbaren »regulativen Sätzen« oder »impliziten Axiomen« und dem viel zu wortreich Ausgesprochenen der üblichen Theologien zu liegen. Diesem Zwischenfeld ist das hier vorgelegte Buch gewidmet.
2. ZUMBUCH Ich habe mit der Arbeit an diesem Buch 1969 am Union Theological Seminary in New York im Zusammenhang mit einer Vorlesung über theologische Enzyklopädie begonnen. Ich habe seither alle seine Teile in Vorlesungen und Seminaren bei der jährlichen Rückkehr nach den USA und besonders in mehreren Gastsemestern in Melbourne, Australien, der Kritik von Studenten und Kollegen ausgesetzt. Die meisten Teile sind auch zunächst auf Englisch für die englische Fassung des Buches geschrieben worden. Auch in Mainz habe ich Teil II und Teil III vorgetragen. Das Buch ist im Lauf der Jahre immer kürzer geworden. Ich habe eine nicht geringe Abscheu gegen den Wortreichtum, die Wiederholungen und
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Vorworte
überflüssigen Belehrungen entwickelt, die man weithin in theologischen Büchern finden kann. Das Buch ist auch arm an gelehrten Informationen. Meine geistigen und auch meine leiblichen Vorfahren haben in den vergangenen Generationen ungezählte Bücher mit Tausenden von Fußnoten geschrieben und ich selbst habe auf den großen Bücherstoß auch noch einige Publikationen dieser Art aufgeschichtet. Ich möchte den Ernst und den Wert dieser Arbeitsweise nicht verspotten. Sie ist notwendiger Teil unserer Kultur. Ich habe aber die Freude dar an verloren. Vor allem zweifle ich, ob sie der Theologie unserer Zeit noch angemessen ist. Ich meine, die mit auch anderswo erhältlichen Informationen angeschwollene und mit Zitaten zur Stützung der eigenen Meinung gespickte theologische Literatur habe keine lange Lebenserwartung mehr. Noch weniger Chancen gebe ich der herkömmlichen polemischen und militant positionellen Theologie. Sie langweilt bereits die meisten von uns. Das Buch ist auch nicht mit reichen Diskussionen über Methodenfragen ausgestattet. Diese Abschnitte sind immer mehr zusammengestrichen worden. Die angewandte Methode - die mir sehr wichtig ist - sollte immer noch klar erkennbar sein. Nicht wichtig ist mir die Frage, ob dieses Buch (oder die Theologie überhaupt) von unsern Mitbürgern in der Universität als wissenschaftlich anerkannt wird. Die Theologie sollte zwar jederzeit für den totalen Dialog mit den verschiedenen Wissenschaften bereit sein, aber aus der souveränen Erfahrung ihrer eigenen, langen Wissenschaftsgeschichte einen bescheidenen und zugleich spielerischen Anspruch an ihre eigene Wissenschaftlichkeit stellen. Wer sollte besser und aus längerer Erfahrung als die Theologen wissen, daß wissenschaftlich angeblich erwiesene und begründete Einsichten oft letztlich doch nicht stimmen? Die Freiheit zum seriösen Spiel und der Humor der Leichtigkeit im Umgang mit unserer eigenen Denkkraft, die Einsicht also, daß alles auch anders sein könnte und wir wieder von vorne anfangen müssen - das wären keine schlechten Gaben der Theologie an die Universität und die Welt der Wissenschaften. Und doch soll dieses Buch ganz und gar verständlich sein, auch für einigermaßen akademisch orientierte Nicht-Theologen, sofern sie sich nicht an der dürren Sprache - vor allem der Thesen - stoßen. Mit den drei verwendeten Drucktypen ist folgendes gemeint: - die kursiv gedruckten Thesen vor jedem Unterkapitel können im Zusam-
Vorworte
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menhang mit den» Voranzeigen« zu den drei Teilen und den» Vorüberlegungen« zu den 18 Kapiteln separat gelesen werden; bei der Benützung der zahlreichen Querverweise im eigentlichen Theorieteil (II) sollten dann die Argumente des Buches deutlich werden. - Der normal gedruckte Text erklärt die Thesen oder Teile davon (er sollte für philosophisch und theologisch interessierte Nicht-Theologen verständlich sein). - Die Petitdruck-Stellen dienen - in unsystematischer Weise - der Illustration. Sie sind darin unkonventionell, daß sie gelegentlich »Fälle« (wie in medizinischen Büchern) behandeln und daß sie über die erwähnten Autoren manchmal biographische oder andere Informationen geben. (Die Petit-Stellen sind für die Theologen unter den Lesern geschrieben; es fehlt aber ein Namensregister , denn dies ist ein Buch über Probleme und Argumente, nicht über die Positionen von Autoren). Mir ist völlig bewußt, daß das Buch in seiner vorliegenden, kurzen Form - in der es auch auf Englisch erscheinen wird - sehr verwundbar ist. Aus seinen drei Teilen sollen in späteren Jahren drei Bände entstehen. Sie werden die mündliche und schriftliche Kritik, die ich von den Lesern erbitte, aufnehmen und konstruktiv verwerten.
3. ZUMAUTOR Schriftliche Theologie zielt auf die eigentliche, die mündliche und im tatsächlichen Leben geschehende Theologie hin. Schriftliches ersetzt nicht das Mündliche, es gibt Anlaß dazu. Mir selbst geben Bücher, über deren Verfasser ich etwas weiß, stärkere Impulse als andere. Dem Leser mögen folgende Stichworte zum Verständnis dieses Buches und seiner Absicht nützlich sein: Mir sind Menschen wichtiger als Bücher, die Kirche wesentlicher als die Theologie, Familie und Freunde näher als der Beruf. Ich war lange Gemeindepfarrer (in Schottland und Amerika) und habe dann während zehn Jahren Neues Testament und Patristik studiert und doziert. Seit Ende der sechziger Jahre bemühe ich mich um das Verständnis und die Lehre von systematischer Theologie und Ethik, besonders medizinischer Ethik. Dabei wird mir die theologische und ökumenische Reduktion auf Grundaussagen
18
Vorworte
des Glaubens und ihre Analyse immer wichtiger. Ich freue mich an Details und will sie auch ernst nehmen, halte sie aber letztlich für austauschbar. Zwanzig Jahre in englischsprachiger Theologie und Kirche haben bei mir etwas andere philosophische Interessen und auch kirchliche Präferenzen gebracht, als ich sie bei meinen deutschsprachigen Freunden zu finden meine. Teile der neueren englischen und amerikanischen Philosophie scheinen mir für die Theologie ein nützlicheres Organon zu sein als die klassische deutsche oder als die Existenzphilosophie. Und die freiwillige Mitgliedskirche mit konfessionellem Pluralismus halte ich für bibelgemäßer und zeitgemäßer als das System der großen Volkskirche. Mein Verständnis von der Kirche ist zudem durch eine große und kritische Sympathie mit der anglikanischen Kirche und der östlichen Orthodoxiebeeinflußt, wohl im Zusammenhang mit meiner Vorliebe für die Patristik. Auch die Begegnungen mit Kirchen und theologischen Schulen in der Dritten Welt haben meine Gedanken über Theologie und Kirche stark bestimmt. Neben der theologischen Arbeit bin ich in der analytischen Psychotherapie ausgebildet und tätig. Das ist, sehe ich von meinen Motiven ab, eine rein säkulare Unternehmung. Wie Theologie und Psychotherapie (oder die ihr zugrunde liegende Theorie) zusammengehören, verstehe ich bislang nur sehr unvollkommen. Die verschiedenen Überbrückungsvorschläge und Ansätze zu Synthesen, die es in Amerika und Europa in immer größerer Zahl gibt, überzeugen mich wenig. Hier liegt ein wichtiges Arbeitsfeld für die Zukunft. Ich meine, Theologie solle nicht polemisch und positioneIl, sondern exJ.1likativ und invitativ sein. Ich gehöre zu denen, die keine Lust am Aufreißen von Klüften und am Errichten von Fronten empfinden, und ich kenne auch keine angebliche Wahrheitspflicht, die mich dazu ruft. Umso größer ist meine Neugierde nach Wegen in die Tiefen logischer und theologischer Begründung der Aussagen der Gläubigen und nach verantwortlicher Weisung für unser Handeln. Reigoldswil, BL Juni 1983
D.R.
ERKLÄRUNG BEVORZUGTER BEGRIFFE
Analytische Philosophie Im modernen Sinn die (mit G. E. Moore und B. Russell einsetzende) philos. Strömung gegen philos. Gesamtsysteme und Weltanschauungen; auf Klarheit und Kontrollierbarkeit der Aussagen bedacht, teilte sie sich in bezug auf Sprache in die Philosophie der idealen und der normalen Sprache, letztere durch den späten L. Wittgenstein markiert. Die neue ren Ausprägungen sind sehr differenziert. Anlaß (occasion) Erfahrung oder Gruppe von Erfahrungen, die ungewohnt Neues auslösen (»occasions« bei A. N. Whitehead). Axiome, implizite s. Regulative Sätze Begriffe Ausdrücke, aus Umgangs- und auch Wissenschaftssprache (Termini) stammend, die weder wahr noch falsch, sondern an- oder unangemessen Allgemeines und zugleich Begrenztes über etwas aussagen. Ohne Begriffe kann man nur auf etwas zeigen, nicht über etwas reden. Sie sind zur Kommunikation unerläßlich, erst recht zur Urteils- und Theoriebildung. Es gibt verschiedene Funktionen von Begriffen. Abgeleitet sind theologische Begriffe, deren Zusammenhang mit der biblischen Story (s. dort) noch erkennbar ist, autonom solche, die ohne diesen Zusammenhang im theologischen Verkehr sind. Begründung Das nachvollziehbare Aufzeigen des Rechts zu einer (neuen) Aussage durch die Verwurzelung und Vernetzung im Recht anderer (alter) Aussagen. Die Aussagen können sich auf Tatsachen (s. dort) oder andere Aussagen beziehen. Begründungszusammenhang ist (von H. Reichenbach benannt) der
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Erklärung bevorzugter Begriffe
Komplex von Aussagen innerhalb eines »Entdeckungszusammenhangs«, aus denen Theorien (s. dort) erstellt werden können. Bleibend Wichtiges nenne ich theologische und andere Themen, von denen wir annehmen können, daß sie in tausend Jahren noch ebenso gewichtig wie heute sein werden. Ihnen gegenüber und in Abhängigkeit von ihnen steht das »Jetzt Dringliche«, durch das wir auf das »bleibend Wichtige« aufmerksam werden. Böse, das Das Versäumnis oder die Kraft, durch die verhindert wird, daß das Leben gelingt, gemessen am »bleibend Wichtigen«. Doxologie Anrede an Gott. Obwohl sich askriptives Denken von deskriptivem klar unterscheidet, können in der Anrede (auch an Menschen) deskriptive Elemente in sekundärer Verwendungsweise enthalten sein. Frage s. Problem Gläubige Dieser etwas veraltete Ausdruck wird sehr häufig gebraucht, um in bezug auf die Teilhaber an der Story (s. dort) von Abraham bis heute nicht von »Christen« unter Ausschluß der Juden zu reden. Hoffnung Eine bewußte Haltung von einzelnen oder einer Gruppe, über deren Inhalt die Hoffenden Auskunft geben können. Hoffnungen erwachsen aus Verheißungen, Wünsche aus der Feststellung, daß etwas fehlt. Instanzenlehre Die erklärende Theorie (S. Freuds) von der Beziehung zwischen Ich, Über-Ich und Unbewußtem (Es). Jetzt Dringliches s. Bleibend Wichtiges
Erklärung bevorzugter Begriffe
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Korrespondenz/rage Die testende Rückfrage vom »jetzt Dringlichen« zum »bleibend Wichti,gen«, oder von der Einzel-Story zur übergeordneten Story (s. Story), oder von meinem Leben auf Gottes Verheißungen oder das Leben von Jesus. Perspektive Die einzige Weise, in der wir die Tatsachen (s. dort) wahrnehmen, bedingt durch das »Bewohnen unserer Perspektive«, d. h. durch das »DrinStehen« in unserer Story (s. dort). Problem Im Unterschied zur Frage, die aus Wissen und Routineverhalten beantwortet wird, ist ein Problem ein (thepretischer oder praktischer) Fragenkomplex, der zu seiner Lösung einer ihm angemessen entworfenen, erklärungskräftigen Theorie bedarf. Die Unterscheidung zwischen theoretischen und praktischen Problemen (Aufgaben) ist weniger wichtig als die zwischen Primär- und Folgeproblemen sowie der zwischen lösbaren und unlösbaren Problemen (vgl. I F 6). Regulative Sätze nenne ich die impliziten Axiome,mit denen ein Mensch oder eine Gruppe (mit gemeinsamer Story) ausgestattet ist. Sie sorgen für überprüfbares Denken und Sprechen und für geordnetes Handeln. Sie sind nicht unbedingt und immer sprachlich ausformuliert. (Vgl. Vorüberlegung zu I H undIH2). Repräsentanzenlehre Kritische Weiterentwicklung der Instanzenlehre (s. dort). Beim Aufbau des Ich sind neben den somatischen Quellen der Triebrepräsentanz auch umgekehrt die Objektwelt und das Selbst dem Ich gegenüber in psychischen Bildern repräsentiert. Die Objekt- und Selbstrepräsentanzen integrieren einen Menschen und garantieren seine kontinuierliche Entwicklung.
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Erklärung bevorzugter Begriffe
Story, Detail-Stories Wenig glücklicher und schwer ersetzbarer Ausdruck für das nie vollständig erzähl bare Gesamt aller nacherzählbaren Einzelstories (auch DetailStories) eines Menschen oder einer Sozietät. Das im Begriff Gemeinte entnehme ich sowohl alttestamentlicher Wissenschaft als auch der Psychoanalyse. Ein Mensch (eine Gruppe) ist das, was seine Story erzählt und was er aus seiner Story macht. Sie ist das Bündel und die Heimat seiner Perspektiven (s. dort). Zur Selektion, Interpretation und Summierung der Stories Israels und der Kirche sowie eines einzelnen Menschen sind »regulative Sätze« (s. dort) notwendig. (Vgl. I B 2). Symbole Produkte bewußter, reifer Erkenntnisleistung (nicht Verdrängung, wie S. Freud und E. Jones meinten) durch Repräsentanzen (s. dort) in Form von Worten, Handlungen oder Gesten. Symbole vermitteln, was anders nicht artikultiert werden kann. Verdrängung kann Symbole zu Klischees ab sinken lassen (A. Lorenzer). Tatsachen Der Ausdruck vermeidet die Aufteilung der Welt in Real- und Idealfaktoren und bedeutet (im weiten Sinn bei L. Wittgenstein und als soziologische Kategorie bei E. Durkheim) im Unterschied zu Dingen und Gegenständen ihre Verbindung zu Sachverhalten, die je in unserer Perspektive unsere Welt konstituieren. Tatsachen sind (anders als bei M. Weber) nicht ohne Sprache und Bewertung zugänglich. Theologie Nicht (im weiten Sinn) der rationale Diskurs über die Dinge das Glaubens überhaupt oder die Erklärung von Texten der Bibel und Tradition, sondern (im engen Sinn) die prüfende Reflexion der Funktion »regulativer Sätze« (s. dort) in bezug auf Denken und Handeln der Gläubigen damals und heute. Sie testet Aussagen auf Verständlichkeit, Kohärenz und Flexibilität hin und zielt auf verbindliche Aussagen (Wahrheit). Theologie in diesem Sinn ist nicht für akademische Fachleute reserviert. Theorie Im Unterschied zu induktiv gewonnenen Generalisierungen von empirischen Daten oder zu Abstraktionen sind Theorien auf Erklärung aus.
Erklärung bevorzugter Begriffe
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Nur durch Deduktion von Theorien auf singuläre Aussagen kann Erklärung geschehen. Theorien setzen sich aus erklärungskräftigen Begriffen, Hypothesen und auch Gesetzen zusammen, sie streben eine Totalanschauung eines partiellen Themas an. Ohne Theorien können komplexe Tatsachen (s. dort) wie theologische Sachverhalte und ethische Probleme nicht erklärt und gelöst werden. Ohne Theorie kann es keine sinnvolle Praxis geben. Die Aufgabe der Theologie (s. dort) ist die Erstellung von aussage- und erklärungskräftigen Theorien über bereits bekannte sowie über neuentdeckte Probleme und Aufgaben. Therapeutisch Die Grundbedeutung stammt aus der analytischen Psychotherapie, wo der Therapeut nicht der Gebende und erst recht nicht der moralisch Überlegene ist. Im erweiterten Sinn ist jede auf Hilfe, Tröstung, Heilung und Sinngebung gerichtete Grundhaltung »therapeutisch« (Vgl. III D). Tragische, das Das im biblischen wie im griechischen Verständnis irreversible und von ethischer Haltung unabhängige Lebens- und Sinnzerstörende. Es ist nicht von Gott bewirkt. Verbindlichkeit Nicht die Wahrheit oder Totalsicht als solche, sondern die im Anspruch der Story (s. dort) Israels und der Kirche begründete Zielsetzung auf universalen Konsensus in zentralen Aussagen über die Wahrheit. Die Konsensaussagen sollen für die Teilhaber an der Story verbindlich sein. Welt, Welten Die Gesamtheit der Tatsachen (s. dort), die niemand in ihrer Totalität sieht, ist die Welt. Die von unseren Perspektiven (s. dort) aus konstituierten Lebenswelten sind die Welten (vgl. I C 2). Wiedererkennen Der Vorgang der induktiven Erkenntnis, mit der ein gegenwärtiges Problemfeld oder eine Aufgabe mit latent im Gedächtnis (Israels oder) der Kirche liegenden Elementen verbunden wird (vgl. I E 4).
ABKÜRZUNGEN
Die verwendeten Abkürzungen für Zeitschriften und Büchertitel folgen im allgemeinen dem Verzeichnis der Abkürzungen in RGG (Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Bd. VI, Tübingen 1962).
Öfter zitierte Bücher sind wie folgt abgekürzt: DChrG
G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens 1-111, Tübingen 1979. GL F. Schleiennacher, Der christliche Glaube, 2 Bände, hg. von M. Redeker, Berlin 1960. K. Barth, Die kirchliche Dogmatik, I, 1- IV, 4 ZolliKD kon-Zürich 1932ff. Konzepte I D. Ritschl, Konzepte, Gesammelte Aufsätze Bd. I Patristische Studien, Bern 1976. Memory and Hope D. Ritschl, Memory and Hope, An Inquiry Concerning the Presence of Christ, New York/London 1967. PrChrTh J. Macquarrie, Principles of Christian Theology, New York 1966. SyTh P. Tillich, SystematicTheology, 1-111, Chicago 19511963, dt. Stuttgart 1955-1966. SyTJteol G. D. Kaufman, Systematic Theology, A Historicist Perspective, New York 1968. WissKrTh G. Sauter (Hg.), Wissenschaftstheoretische Kritik der Theologie, München 1973. WissTh W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt 1973.
I. Das Feld:
Die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie
VORANZEIGE
Die drei Teile dieses Buches verhalten sich zueinander wie die Fragen: »Was ist der Fall?«, »Was soll ich denken?«, »Was soll ich tun?«. Damit ist das Problem von Theorie und Praxis berührt und zugleich die Frage nach dem Verständnis von Theologie und ihrem Gegenstand. Die drei Teile sind nur wegen der schrittweisen Darstellung hintereinander gefügt; die Trennung ist künstlich. Einmal wird Teil III bei genauerem Zusehen sogleich wieder zu einem neuen Teil I, zu einem Gegenstandsfeld der Theologie, zum andern kann man ein Gegenstandsfeld schwerlich sichten, ohne schon eine Vorahnung, wenigstens ein intuitives Vorwissen von der Theorie zu haben, mittels derer die Fragen aus dem Gegenstandsfeld auf das Niveau von Problemen erhoben werden. Statt der Aneinanderreihung der drei Teile kann man sich also auch einen Würfel vorstellen, in dem drei durchsichtige Scheiben übereinander liegen: durch die Ebene des Gegenstandsfeldes hindurch sieht man schon die Konturen der erklärungskräftigen Theorie hindurchscheinen, und letztlich erkennt man schon die Umrisse sinnvoller Handlungsorientierung. Theologie ist nicht identisch mit der Gesamtheit des Denkens und Sprechens der Gläubigen. Sie ist nur ein kleiner Tell davon und zwar derjenige, der dieses Denken und Sprechen sowie auch das Tun der Gläubigen sich zu regeln, zu prüfen und zu stimulieren anheischig macht; die Theologie muß ihr Recht, diese Regelungsfunktion auszuüben, von den Gläubigen erhalten. Mit dieser vorläufigen Definition ist eine Entscheidung für einen engen Begriff von Theologie getroffen. Es wäre auch ein weiter Begriff denkbar,
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie
in dem etwa alles verantwortliche und kohärente Denken in der Sozietät der Gläubigen eingeschlossen wäre. So wird sogar meistens verfahren, wenn in der Umgangssprache von »Theologie« die Rede ist. Er spricht aber viel gegen diesen weiten Theologiebegriff. Die engere und präzisere Auffassung von Theologie, die Konzentration auf das Regulative, auf die »Grammatik« sozusagen, auf die Logik verantwortlichen Denkens des Glaubens, bedeutet keineswegs eine Beschränkung auf gewisse Fachleute. Jeder kritisch denkende und erfahrene Mensch in der Kirche und Synagoge (ja auch ausserhalb der Gruppen derer, die dort ihre Identität finden) kann regulative Sätze denken und anwenden, mit denen das Denken, Sprechen und Tun der Gläubigen geprüft und stimuliert wird. Die richtige Einschätzung der Kraft des Denkens und des Gewichts der Erfahrung für die Theologie verlangt Weisheit (vgl. I H 1 u. III F). So eng begrenzt und auf das Konzeptionelle konzentriert die Aufgabe der Theologie im engen Sinn ist, so weit ist aber ihr Gegenstandsfeld. Wenn ihre prüfende und Kreativität stimulierende Funktion sich auf das Denken, Sprechen und Tun der Gläubigen bezieht, so kann man schwerlich und höchstens indirekt sagen, der Gegenstand der Theologie sei Gott. Klarer ist die direkte Aussage, Theologie habe als Gegenstand das Reden der Gläubigen von Gott (oder im Zusammenhang ihrer Erfahrungen mit Gott) und das damit gekoppelte Handeln. Das schließt freilich die Gläubigen aller Zeiten ein, auch die Verfasser und Figuren der biblischen Schriften. Damit kann jede mögliche Frage, jedes erdenkliche Thema, jede Situation, die Anlaß für kritische oder zustimmende Äußerungen der Gläubigen gab, Gegenstand der Theologie werden. Prinzipiell gesprochen gibt es keine Bereiche in der Welt, die nicht Anlaß zur Anwendung regulativer theologischer Gedanken bieten könnten. Das ist aber nur der Möglichkeit nach der Fall. In Wirklichkeit denken die Gläubigen täglich tausende von Gedanken und tun hunderte von Schritten, die viel eher mit festen Denk- und Verhaltensmustern als mit jeweils neuen, der kritischen theologischen Prüfung bedürftigen Glaubenssätzen oder Handlungsprinzipien zu tun haben. Darum ist bei einer phänomenologischen Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie von vornherein eine bestimmte Eingrenzung gerechtfertigt. Die Grenzen verlaufen nicht entlang den Grenzen der Kirche (oder Synagoge), obwohl das Denken und Tun derer, die dort ihre Identität fanden und finden, das nächstliegende Gegenstandsfeld der Theologie ausmacht.
Voranzeige
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Diese Sichtung soll im Teil I vorgenommen werden. Sie beginnt mit einem Aufweis der Tendenz der biblisch orientierten Gläubigen zum sociomorphen Denken, d. h. zur Vernachlässigung der kosmologisch-physischen und der anthropologischen Gegebenheiten (Kap. A). Es folgt eine Sichtung der Grundelemente der Sprache der Gläubigen (Kap. B) und die Skizze einer analytischen Beschreibung ihrer Weitsicht (Kap. C). Diese Sichtweise ihrerseits wird dann Gegenstand einer phänomenologischen Reflexion (Kap. D). Das Ergebnis mündet in ein Kapitel über die Stellung der Bibel (Kap. E), sowie in eine erste Analyse der Logik der Theologie (Kap. F). Der Abschnitt über den Gottesdienst (Kap. G) versucht eine Annäherung an die Frage der Verifikation der Aussagen der Gläubigen und führt am Ende von Teil I (Kap. H) zu der Beobachtung, daß der Übergang von Alltagssprache zu regulativer Reflexion der Bereich für die Erstellung theologische Theorien ist. Der Teil I hat folglich trotz seiner empirischen Grundstruktur und der entsprechenden phänomenologischen Vorgehensweise ein Gefälle zur Frage nach dem Normativen hin. Ausgehend von der Frage »Was ist der Fall?«, wird die Frage nach dem Grund, dem Unverwechselbaren und dem ganz Neuen nun sehr dringlich. Formal kann man diese Fragerichtung als »induktiv« bezeichnen, während die durch Theorien geleisteten Erklärungen nur in deduktiver Richtung geschehen können. Während die Thematik von Teil I nicht eigentlich die Theologie ist, söndern das, was hinter oder unter ihr steht oder ihr als Gegenstand vorliegt, ist der Teil II im strengen Sinn den vier eng aufeinander bezogenen Feldern gewidmet, in denen die regulativen Sätze der Theologie beheimatet sind. Im Teil III wird nach der Möglichkeit gefragt, die Thematik von Teil I sozusagen durch die Optik von Teil II neu zu sehen. Jetzt erst wird aus der phänomenologischen Betrachtungsweise eine verbindlichere Denkweise, wenigstens ein Entwurf einer theologisch gesteuerten Denk- und Handlungsorientierung. Welche Konsequenzen diese Dreiteilung für die akademische Theologie, etwa im Aufbau des Theologiestudiums oder in der Klassifizierung der »Fächer« haben könnte, übersehe ich noch nicht ganz. In der »Schlußbemerkung« am Ende dieses Buches gehe ich etwas auf diese Frage ein. Wegen der Verzahnung von theologischer Theorie (Dogmatik) und der Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie wird man das Feld der Sichtung (Teil I) nicht einzig den Soziologen oder den Historikern überlassen dürfen. Daß ohne sie die Arbeit nicht geleistet werden kann, ist jedoch eindeutig.
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie
Bedeutend ist nach meiner Ansicht das Buch des nach New York emigrierten HusserlSchülers Alfred Schütz, Der sinn hafte Aufbau der sozialen Welt (Wien 1932, Nachdruck Frankfurt 1974), der Max Webers Arbeit kritisch und vertiefend weiterführte. An der N ew School for Social Research in N ew York haben Peter L. Berger und Thomas Luckmann (jetzt Konstanz) Schütz' Anregungen weiter verfolgt, vgl. ihre Buch The Social Construction of Reality (Garden City, 1967, dt. Stuttgart 1969). Wichtig sind mir auch Methode und Ergebnisse bei Ta\cott Parsons in Harvard, der seine Theorie sozialen Handeins durch Einsichten aus der Theorie der Psychotherapie anreichert. - Von großer Bedeutung, aber noch unabgeschlossen, ist auch die heutige Diskussion um die Religionssoziologie von Niklas Luhmann, auf die ich in 11 A zurückkommen werde. Zur Philosophie: Was Kants Kritiken für die Theologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bedeuteten, wird die Analytische Philosophie für die Theologie des ausgehenden 20. und des kommenden Jahrhunderts leisten können. Weil sie ein Minimum an Inhalten und weltanschaulichen Vorgaben bietet (z. B. keine implizite Ethik wie bei Kant), ist sie als Organon optimal geeignet. Sie bietet aber nicht nur eine Hilfe an, sie spricht auch ständig Drohungen aus. Auch darin ist sie dem Einfluß Kants ähnlich. Es ist mir sehr wichtig, schon an dieser Stelle ganz deutlich zu sagen, daß mit der Bevorzugung der Analytischen Philosophie in keiner Weise eine Präferenz für Positivismus, Nominalismus oder für flache Phänomenologie verbunden ist. Mißverständnisse in dieser Richtung sind häufig anzutreffen, sie gehen einerseits zu Lasten einiger Abschnitte in der frühen Geschichte der Analytischen Philosophie, andrerseits aber auch heutiger Theologen, die sich nicht die Mühe gemacht haben, diese Philosophie wirklich zu studieren. Immer wieder hört man z. B. das Urteil, es gäbe doch auch Wirklichkeit »außerhalb der Sprache«, die analytische Sprachphilosophie sei zu eng. Diese hat das aber niemals bestritten, sie will jedoch nur über das reden, worüber man reden kann. Sie hat auch den großen Vorteil, den von Descartes zementierten und auch von Kant nicht überwundenen erkenntnistheoretischen Dualismus nicht zu ihrem Werkzeug zu machen. (In dem neuen Lehrbuch von Wilfried Härle, Systematische Philosophie, Eine Einführung für Theologiestudenten, München 1982, spiegelt sich eine ganz ähnliche Grundhaltung gegenüber der Analytischen Philosophie wider, wie ich sie hier vertrete, vgl. auch Hubertus G. Hubbeling, »Analytische Philosophie und Theologie« in ZThK 67 (1970), 98-127). Nicht nur bei der Erstellung regulativer Sätze in der Theologie (Teil 11), auch bereits bei der Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie wird sich die Hilfe und die Warnung, die von der Analytischen Philosophie ausgeht, bewähren: es wird nicht voreilig nach zeitlosen Bewußtseinsinhalten, nach konkreter und praktischer Anwendung, nach Möglichkeiten der Bewertung gefragt werden. Wir bleiben auf die Frage konzentriert, was im Gegenstandsfeld »der Fall ist«. »Was ist los?« lautet die vordringliche Frage. Das Engagement, die ethische Beteiligung und Solidarität unsererseits sind nicht vorsätzlich Teil des zu Sichtenden. Vielmehr sind sie das Motiv für die ganze Unternehmung der Sichtung.
A. Kosmogonie und Anthropologie als schweigender Hintergrund
VORÜBERLEGUNG
Die klassische Theologie hat unter Berufung auf die Bibel entscheidend wichtige Phänomene und Probleme aus ihrem Gegenstandsfeld ausgeklammert. Darin unterscheiden sich auch jüdische und christliche Theologie wenig. Die Auslassung betrifft das gesamte Feld der Erkenntnisse und Fragen um die Entstehung des Universums, des Lebens, des menschlichen Lebens und seiner Entwicklung über eineinhalb Millionen Jahre, der heutigen biologischen und psychologischen menschlichen Lebensbedingungen. Die Frage nach der möglichen Berechtigung der Bescheidung theologischer Arbeit auf Felder außerhalb dieser Phänomene und Probleme soll hier nicht im Vordergrund stehen. Sie wird im Parallelkapitel III A wieder aufgenommen. Gekoppelt mit der These über die Ausklammerung der Fragen von Astrophysik, Biologie, Anthropologie und Psychologie ist aber die Beobachtung, klassische Theologie habe sich diesen Themen aus apologetischen Gründen gelegentlich zwar zugewandt, aber - viel wichtiger noch - sie haben zu allen Zeiten mit den Ergebnissen dieser Wissenschaften in gewisser Weise gerechnet. Sie bildeten den schweigenden Hintergrund theologischer Arbeit. Damit ist aber im Denken der Gläubigen eine Zweistöckigkeit gegeben.
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie
1. DIE SOCIO-MORPHEN BEKENNTNISSE ISRAELS UND DER KIRCHE
Ein Interesse an Kosmogonie, Kosmologie oder an der Erörterung der objektiv beschreibbaren Stellung des Menschen im Kosmos, seiner Entwicklung und seiner Psyche, ist der Bibel fremd. Auch spätere jüdische und christliche Frömmigkeit und Theologie wendet sich nur am Rande dem Universum, der Natur, den Tieren und Pflanzen zu. Sie konzentriert sich fast ausschließlich auf den socio-morphen Teil der Weltwirklichkeit. Die Erkenntnis, daß Jahwe Gott ist, überkam Israel ohne Vorbereitung und ohne Wahl. Das Erwachen Israels zur Erkenntnis Gottes ist mit der Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten verkoppelt. So wollen die Texte der Exodustradition gelesen werden. Die Vätererzählungen der Genesis mögen, wie wir heute annehmen können, frühere Formen des Jahwe-Bekenntnisses oder gar von drei oder vier Väter-Gottheiten widerspiegeln. Sie wollen aber als Vorgeschichte und Anfang der Verheißung auf die Befreiung und auf die weitere Geschichte Israels hin verstanden sein. Die Selbstbezeichnung Gottes gegenüber Mose als »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs« (Ex 3,6) signalisiert die Verbindung nach rückwärts zu den Vätergeschichten hin. Diese Erzählungen über den Anfang Israels sowie über den Fortgang seiner Geschichte mit Gott kann man ebenso wie die Artikulationen der Verheißung der Zukunft und des Endes darum als »socio-morph« bezeichnen, weil in ihnen Aussagen über die Gemeinschaft mit Gott und mit Mitmenschen, über Gesetz, Land, Krieg und Frieden, Landnahme und Königtum, Exil und Befreiung ganz unzweideutig im Mittelpunkt stehen. »Physiomorphe« Aussagen über die Entstehung der Welt, über die Natur als solehe, über Tiere und Pflanzen, fehlen auf weite Strecken alttestamentlicher Texte völlig oder stehen am Rande. Wo sie sich finden, dienen sie einem bestimmten Interesse, das wiederum socio-morph ist. Sterne und Naturkräfte stehen unter Jahwes Auftrag, wie stark auch immer ihre personale Macht sein mag. Diese Einsicht lädt nur umso mehr zum Lobe Jahwes und seiner Wahl ein, die auf Israel und damit auf den Menschen gefallen ist. Nicht anders steht es mit den Bekenntnissen in den neutestamentlichen
A. Kosmogonie und Anthropologie als schweigender Hintergrund
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Gemeinden. Jesus hat zwar Anteil an Gottes Macht über die Naturkräfte, wenn der Sturm ihm gehorcht (Mk 4,39-41) oder wenn ihm der Epheserund mehr noch der Kolosserbrief kosmische Macht zuschreibt, aber zentral bleiben auch im Neuen Testament die socio-morphen Bekenntnisse über die Gegenwart Gottes in Jesus von Nazareth und im Geist, über Buße und Liebe, den alten und den neuen Menschen, Gottes Güte für böse Menschen und die endgültige Aufrichtung von Friede und Gerechtigkeit. Gott schafft Freude im Leiden, Neues aus Altem, Leben aus dem Tod. Das sind sociomorphe Vorstellungen, denn, auch wenn Offb. 21 von einem neuen Himmel und einer neuen Erde spricht, so geht es hier ebenfalls darum, daß Gott seine Hütte bei den Menschen aufstellt und bei ihnen wohnen wird, daß er alle Tränen abwischt von ihren Augen und der Tod nicht mehr sein wird. Ein Interesse an Kosmogonie, Kosmologie oder an einer Erörterung der objektiv beschreibbaren Stellung des Menschen im Kosmos, seiner Entwicklung und seiner Psyche, ist der Bibel fremd. In der Kirche sind die kosmologischen Fragen zwar später durchaus gestellt worden, zunächst zaghaft im 2. Jahrhundert, dann im späten Mittelalter und seit der Renaissance mit beachtlichem Ernst; die Stellung und Natur des Menschen wurde bei den lateinischen Vätern zum Teilthema der Theologie, aber bis in die jüngste Vergangenheit sind die Fragen nach dem Universum, nach der Natur und ihren Gesetzen, nach der Stellung des Menschen in diesem Gefüge sowie nach seinen eigenen Entwicklungsgesetzen, Aktions- und Reaktionsmechanismen, von der Theologie nur am Rande beachtet worden. Gegen Ende des 1. Jhds. (z. B. I. Clemensbrief) und massiv im 2. Jhd. fanden christliche Theologen stoische Gedanken über die Welt und ihre Gesetze zunehmend attraktiv. Nicht unterschätzen darf man die Bedeutung der platonisch inspirierten Naturspekulationen in patristischer Zeit, das reale Interesse an der Natur im Einf!ußfeld aristotelischer Philosophie (z. B. bei Albertus Magnus) und später freilich im Protestantismus, worüber John Dillenberger, Protestant Thought and Natural Science, A Historical Interpretation (New York 1960) umfassend orientiert. Die biblischen Schriften aber haben zu diesen Nachfragen und Forschungen keinen Anlaß gegeben, vgl. unter vielen möglichen Titeln: Gerhard v. Rad, »Aspekte alttestamentlichen Weltverständnisses«, in Ges. Studien z. Alten Testament (3. Auf!. München 1965) 311-331; Rudolf Smend, Elemente alttestamentlichen Geschichtsdenkens (ThSt Hft 95, Zürich 1968), Walther Zimmerli »Alttestamentliche Traditionsgeschichte und Theologie« sowie »Erwägungen zur Gestalt einer alttestamentlichen Theologie« in Studien zur alttestamentlichen Theologie
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstands/eides der Theologie
und Prophetie, Ges. Aufsätze Bd. 11 (München 1974), 9-26, bzw. 27-54, auch James Barr »Story and History in Biblical Theology« in Explorations in Theology 7 (London 1980), 1-17, Odil Hannes Steck, Welt und Umwelt (Stuttgart 1978). Wichtige Gedanken (sowie Literatur) bringen die beiden parallelen Aufsätze von Horst-Dietrich Preuss bzw. Harald Hegerrnann, »Biblisch-theologische Erwägungen eines Alttestamentlers (bzw. Neutestamentlers) zum Problemkreis Ökologie«, in ThZ (Basel) 39,2 März/April 1983, 68-101, bzw. 102-118.
2. DAS DEFIZIT KOSMOLOGISCHER REFLEXION Heutige Einsichten in die Grenzen der Nutzung der Natur und die Gefahren ihrer Zerstörung sind für die Theologen weitgehend fremde Themen. Sie äußern sich darüber meist in der Form ethischer Ermahnungen, die nicht notwendig integrale Bestandteile ihrer theologischen Sichtweisen sind. Die echte theologische Thematisierung der Dreiecksbeziehung Gott-Mensch-Natur ist durch die christliche Tradition (mindestens des Westens) erschwert und ist noch nicht gelungen.
Wenn Prediger oder theologische Lehrer von Schöpfung, Welt oder Kosmos sprechen, vom »Anfang« und vom »Ende«, so machen sie primär Aussagen über Gott, wohl auch sekundär über den Menschen, aber sie sagen nichts über den Kosmos als solchen, über die Natur. Diese Denkrichtung ist in den Theologien unseres Jahrhunderts, besonders im protestantischen Bereich, mehr oder weniger bewußt zum Programm geworden. Wenn auch die biblischen Schriften die Entscheidung für eine solche Beschränkung nahezulegen scheinen, so ist damit noch nicht die Frage beantwortet, ob heutige Theologie kosmologische Fragen bedenkenlos ausklammern darf. Wir erkennen heute nicht nur mit Angst die Grenzen der Nutzung der Lebens- und Energiequellen der Erde und erschrecken vor der menschlichen Möglichkeit, unseren Planeten zu zerstören, wir lernen auch, die physische Existenz der Erde im Kontext astronomischen Wissens zu sehen. Mindestens müßte denen, die Theologie treiben, der ungeheure Kontrast zwischen der von ihnen gewählten Engführung und der beängstigenden Weite astrophysikalischer Einsichten klar vor Augen stehen.
A. Kosmogonie und Anthropologie als schweigender Hintergrund
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Von einigen Ausnahmen abgesehen wissen die heutigen Theologen über die ökologische Krise wenig inhaltlich Belangvolles zu sagen. Die Argumente für ökologische Verantwortung, in kleinen aber auch in kosmisch erweiterten Dimensionen, für die jetzt lebenden Tiere sowie für die Zukunft ihrer Lebensbedingungen, beschränken sich auf ethische Gedanken und Appelle. Eigentlich theologische Gedanken sind über die Natur kaum gedacht worden, weil wir - mindestens im Westen - Theologie auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch und Mitmenschen reduziert haben. Das Dreieck Gott-Mensch-Natur ist uns als Thema noch nicht gelungen. Stimmen aus der östlichen Orthodoxie sowie aus der anglikanischen Kirche haben gelegentlich auf die Armut im römischen Katholizismus und im Protestantismus im Hinblick auf die theologische Thematisierung der Natur und des Kosmos hingewiesen. Es ist schon richtig, daß bei ihnen in Frömmigkeit und Doxologie die Natur eine größere Rolle spielt, aber zu einer wirklich theologischen Aufarbeitung naturwissenschaftlicher Ergebnisse ist es in diesen Teilen der Kirche auch nicht gekommen. Vgl. Norman Young (systematischer Theologe an der United Theological Faculty in Melboume) Creator, Creation and Faith (London 1976) sowie Eberhard Wölfel, Welt als Schöpfung (ThExh 212, München 1981), auch die Themenhefte der EvTh »Zur Theologie der Natur« (1, 1977) und »Anthropologie und Naturverhältnis« (6, 1974), sowie Günter Altner, Zwischen Natur-und Menschengeschichte (München 1975). Weitere Literatur nenne ich am Ende von 11 B 2.
3. DIE REDUKTION ANTHROPOLOGISCHER REFLEXION
Gerade klassisch geschulte Theologen zeigen oft großes Desinteresse an den Einsichten der Anthropologie, Biologie und Psychologie und sprechen vom Menschen in erstaunlich verallgemeinerter Weise. Es scheint für ihre theologischen Äußerungen über die Menschheit und die Geschichte belanglos zu sein, daß das menschliche Gehirn schon vor ein- bis eineinhalb Millionen Jahren so ausgebildet war, wie es heute ist, und daß biologische und psychologische Erkenntnisse wesentliches über den Menschen aussagen.
Wenn die Entwicklung der Hominiden von der subhumanen zur humanen Phase am Ende des Pliozäns und vor dem Pleistozän stattfand, also vor
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I. Das Feld:· Die Sichtung des Gegenstands/eldes der Theologie
mehr als eineinhalb Millionen Jahren, und wenn danach die Vorfahren der heutigen Menschen als Jäger und Sammler tätig waren und dann vor etwa zwölftausend Jahren die Kunst des Pflanzens und noch später des Zusammenlebens in Dörfern erlernten, und wenn menschliche Aggressionen die gegenseitige Zerstörung vielleicht erst mit dem Seßhaftwerden und dann mit dem Städtebau zu schrecklichen Ausmaßen anwachsen ließen, dann fällt der Beginn des J ahwe-Glaubens in die Spätzeit der Geschichte der Menschheit und zugleich in auffälliger Weise in eine Krisenzeit. Wenn das menschliche Gehirn schon vor ein- bis eineinhalb Millionen Jahren so ausgebildet war, wie es heute ist, dann haben Menschen über eine erstaunlich lange Zeit existiert, bis sich die großen Religionen und der Jahwe-Glaube als Sinngebung, Trost, Anforderung und Hoffnung herausbildeten. Wenn dazu noch bedacht wird, daß die Mehrzahl der Menschen seit einigen Tausend Jahren in Autoritäts-, Abhängigkeits- und Streß-Situationen leben, für die das Gehirn und Nervensystem von Jägern und Sammlern nicht geeignet ist, dann ist gerade der Beginn der Weltreligionen sowie der Geschichte Israels eigenartig mit dem Beginn dieser menschlichen Überforderung verkoppelt. Theologische Reflexion kann an diesen historischen und anthropologischen Grunddaten nicht leichtfertig vorbeigehen, auch nicht unter Berufung darauf, daß die biblischen Schriften davon nichts wußten. Die Ausklammerung der weiten Dimensionen der historischen Phylogenetik der Menschheit aus der Theologie wäre begreiflich, wenn sich Kirche und Theologie umso konkreter die heute lebenden Menschen zum Thema gemacht hätten. Aber trotz ihrer vielfältigen und konkreten Beschäftigung mit Menschen, in der sie Ärzten und Lehrern meist in nichts nachstehen, sprechen Theologen oft in erstaunlich verallgemeinerter Weise über den Menschen. Und trotz der über bald zwei Jahrtausende angesammelten reichen Erfahrung der Christen im Umgang mit Männern und Frauen, Kindern und Alten, in der Beratung, der Pflege von Behinderten, Kranken und Sterbenden, gibt es nur wenig differenzierte Lehren über diese konkreten menschlichen Situationen, in denen allein sich menschliches Leben darstellt. Gerade unter den klassisch geschulten Theologen, denen Kirche und Wissenschaft ehrliche Anliegen sind, bemerkt man eine ängstliche Zurückhaltung gegenüber den Einsichten der Biologie und Psychologie, sei es nun aus der Sorge, nicht dilettantisch in andere Fachgebiete einzudringen, sei es
A. Kosmogonie und Anthropologie als schweigender Hintergrund
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aus echter Angst vor konkreten Wahrheiten, die nicht ins eigene, generalisierte Bild passen. (Vgl. I D 7). Bekanntlich gibt es in der heutigen Gehirnforschung noch keine Einigung über die alte Streitfrage, ob der menschliche Geist (bzw. das Bewußtsein) physikalistisch durch Aktivitätszustände des Nervensystems oder interaktionistisch-dualistisch als ontologisch Eigenständiges neben dem Gehirn zu verstehen sei. Vgl. dazu Kar! Popper und John Eccles, The Self and its Brain (Ber!inlHeidelberg 1977) und summarisch das philosophische Problem darstellend: Otto Creutzfeldt (Neurophysiologe und -biologe in Göttingen) »Philosophische Probleme der Neurophysiologie« in H. Rössner (Hg.), Rückblick in die Zukunft (Berlin 1981) 256-278. Es ist auch theologisch keineswegs entschieden, daß die Würfel zugunsten von Sir John Eccles' dualistischer Konzeption fallen müssen. Die Einsichten der neueren Neurophysiologie sowie der Psycholinguistik sind für die Theologie von großer Wichtigkeit. Sie ermöglichen ungleich tiefgreifendere Aussagen über den Menschen als die Entdeckung der Evolution im 19. Jahrhundert. - Vgl. ErwinJosef Speckmann, Einführung in die Neurophysiologie (Darmstadt 1981) und Hans Hörmann, Einführung in die Psycholinguistik (Darmstadt 1981).
4. DIE BIBLISCHE KRITIK AN MYTHOLOGISCHEN WELT- UND MENSCHENBILDERN
Die implizite und stellenweise auch explizite Kritik biblischer Bücher an mythologischen Welt- und Menschenbildern ihrer Umwelt macht die Bibel zwar nicht zu einem Buch wissenschaftlicher Welt- und Menschenerklärung, erlaubt aber doch die Folgerung, daß biblisch orientierte Theologie auf eine nüchterne, wissenschaftliche Sicht der Weltwirklichkeit hinstreben und ständig mit ihrer Möglichkeit rechnen soll. Dabei spricht vieles dafür, daß biblischer Glaube damals und heute eine Gesamtperspektive naturhafter und anthropologischer Wirklichkeit zur natürlichen Voraussetzung hat. (Pathologische Zerrbilder der Wirklichkeit verzerren auch den Glauben).
Die Frage, ob die biblischen Schriften die heutigen kosmologischen und anthropologischen Basisinformationen kritisch aufgenommen und theologisch kommentiert hätten, wenn sie den alten Autoren und Redaktoren
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstands/eides der Theologie
schon bekannt gewesen wären, ist freilich müßig. Aber die Spekulation darüber ist insofern nicht sinnlos, als dadurch die Aufmerksamkeit auf eine kritische Rückfrage an die Ergebnisse und Erfolge der biblischen Wissenschaften der letzten zweihundert Jahre gerichtet werden kann. Die Einsicht in die Einbettung der biblischen Texte in mythologische Denkweisen und in ihre Abhängigkeit von vorwissenschaftlichen Perspektiven ist zwar unbestrittener Bestandteil wissenschaftlicher Arbeit an der Bibel, wobei freilich engere gegenüber weiteren Mythosbegriffen scheinbar widersprüchliche Bewertungen hervorgerufen haben. Diese Einsicht ist auch seit einigen Generationen genügend applaudiert worden. Aber darüber hinaus ist in den letzten Jahrzehnten eine doppelte Erkenntnis in den Vordergrund gerückt. Erstens ist während und nach der Debatte um die Entmythologisierung deutlich geworden - zumeist nicht durch theologische, sondern durch sprachphilosophische Arbeiten -, daß es Sachverhalte gibt, die besser oder gar nur mythologisch artikulierbar sind. Und zweitens haben religionsgeschichtliche Arbeiten die biblischen Texte im Verhältnis zu ihrer Umwelt in neuem Licht erscheinen lassen. Die Schriften des Alten und Neuen Testaments enthalten ihrerseits eine Fülle von kritischen Reaktionen auf die Mythen ihrer Umwelt. Freilich kann man die innerbiblischen Kritiken an außerbiblischen Mythen nur in sehr beschränktem Rahmen als den Beginn einer »wissenschaftlichen« WeItsicht bezeichnen. Die Kritiken beruhten auch kaum auf dem Anspruch einer besseren oder objektiveren Sicht der Welt oder des Menschen. Nur im Hinblick auf Israels Geschichtsschreibung zeigt sich eine bemerkenswerte Offenheit gegenüber der Vergangenheit, obgleich man die geschichtliche Berichterstattung des Alten (und freilich auch des Neuen) Testaments nicht als sein eigentlich typisches Merkmal ansehen sollte. Es bestehen ja auch neben und innerhalb der in vielfältiger Hinsicht stilisierten Geschichtsschreibung zahlreiche mythische Ätiologien zur Erklärung und Rechtfertigung gegenwärtiger Gebräuche aus der Vergangenheit, sowie Sagen und Märchen, ähnlich wie auch in den eschatologischen Stellen vielerlei Bilder aus eigenen und fremden mythologischen Traditionen verwendet wurden. Auch im Neuen Testament ist in den eschatologischen Passagen die Verwendung solcher Bilder sehr häufig. Und doch ist es unbestreitbar, daß sich in den biblischen Büchern - man denke nur an die bei den Schöpfungsberichte in Genesis und an die großen
A. Kosmogonie und Anthropologie als schweigender Hintergrund
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Propheten, besonders Jesaja - die ersten tiefgreifenden Mythoskritiken der Weltliteratur finden. Diese Tendenz ist im Neuen Testament ähnlich wirksam, unverkennbar bei Paulus und in den johanneischen Schriften. Die theologische Frage, die sich hier stellt, ist doppelter Art. Einmal müßte exegetisch noch klarer als bisher analysiert werden, in wessen Namen und aus welchen Gründen Autoren biblischer Schriften überhaupt Mythoskritik geübt haben. Haben sie einzig von ihrem Jahweglauben her - und im Neuen Testament von der tröstlichen Gegenwart Gottes her - die benachbarten Fruchtbarkeitsmythen und die fernen babylonischen Schöpfungsmythen, später dann in neutestamentlicher Zeit die unsichtbaren Mächte und Gewalten kritisiert und in ihren je eigenen Geltungsbereich zurückgestoßen? Oder war zudem noch ein spezifisches Wirklichkeitsverständnis mit im Spiel? Die zweite Hälfte der Frage betrifft ein weithin vernachlässigtes Problem theologischer Logik: hätte das alte Israel den Exodus, das Gesetz und den Bundesschluß sowie die göttlichen Verheißungen, und hätten die frühen Christen zudem das Kommen und das Geschick J esu überhaupt verstehen, artikulieren, inteipretieren und feiern können, wenn sie nicht eine Gesamtperspektive oder Totalsicht der naturhaften und anthropologischen Wirklichkeit gehabt hätten? Vieles spricht dafür, daß dies der Fall war und daß Juden und Christen auch heute noch ohne diese Sicht nicht auskommen können. Die Literatur zum Verständnis des Mythos und der Mythologie ist fast unübersehbar umfangreich; hilfreich (bis knapp 1960) sind die Bibliographien in RGG 3. Aufl., IV, zu den verschiedenen Aufsätzen zum Thema, Sp. 1263-1282. Zur Geschichte des Mythosverständnisses in der Neuzeit ist der Exkurs unter dieser Überschrift, den Eduard Buess in seinem Buch: Die Geschichte des mythischen Erkennens (München 1953), 85-105 bietet, sehr nützlich. Die bedeutenden Bücher zur »Theologie des Alten Testamentes« aus den letzten Jahrzehnten legen überzeugend dar, wie Israel zwischen dem 8. und 6. Jhd. die zyklischen, naturgebundenen und den Menschen in Anonymität belassenden Mythen hat überwinden und durch die große Leistung seiner Geschichtsschreibung und Prophetie hat kritisieren und ersetzen können. Nun wird Gott nicht mehr in Kosmologien und magischen Praktiken, Hirtenriten und Naturkatastrophen, Bildern und Theophanien angetroffen und erlebt, sondern im Gnaden- und Gerichtsernst der Geschichte, oder, mit Zimmerli zu sprechen: »Israel wird ... nicht durch irgendeine mythischen Verbindung an die Anfänge der Welt gebunden ... An die Stelle der mythischen Verankerung ist ... der Bericht über den Ruf, der den Ahnen mitten im Lauf menschlicher Geschichte trifft, getreten. Die mythische Rückführung auf einen göttlichen Anfang ist ... durch das Gesche-
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstands/eides der Theologie
hen von >Verheißung< ersetzt.« (Walther Zimmerli, Grundriß der alttestamentlichen Theologie, Stuttgart 1972, 23). Aber erst jüngste Arbeiten zur Ethnologie, Psychologie und - das ist das entscheidende - zur Sprachphilosophie haben auch die Einsicht vertieft, daß Menschen zum Sagen des Wesentlichen auch des Mythos bedürfen. Hier gilt es allerdings, scharf zwischen Mythos und Symbol zu unterscheiden (vgl. I BI). Vgl. RodneyNeedham, Belief, Language and Experience (Oxford 1972) sowie Alfred Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion, Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse (Frankfurt 1970) und Claude Levi-Strauss, Mythologiques, I-IV (Paris 1964-1971), dt. Übers. Mythologica I-IV, Frankfurt 1971-75), Mythos und Bedeutung (Frankfurt 1980). Zur Theologie: Hans-Peter Müller, Jenseits der Entmythologisierung (Neukirchen 1979), sowie verschiedene Arbeiten von Paul Ricoeur (s. I BI und C 5).
B. Die Elemente hinter der christlichen Alltagssprache
VORÜBERLEGUNG
Systematisch-theologische Analyse hat sich von jeher mit der Frage beschäftigt, wie theologische Begriffe, Themen und Probleme aus der Alltagssprache der Gläubigen erwachsen, etwa in der Erforschung der Kollisionen zwischen der Sprache der Gläubigen, der Bibel, die sie lesen und der Situation, in der sie leben. Das Verstehen dieser Kollisionen und auch das Standhalten in ihnen ruft nach der Bildung von begrenzten und erklärbaren Begriffen. Die Verständigung unter den Gläubigen - die Kommunikation in der Kirche - verlangt nach thematischer Erklärung des Zusammenhangs von Begriffen. So kommen theologische Themen in Sicht, denen sich einzeln abgrenzbare Lehren widmen. Die Suche nach der Begründung, der Wahrheit, der Lösung komplexer Fragen, führt in das Feld theologischer Probleme und Problemlösungen. Sehr zu Recht hat die Theologie ein Interesse an der Entstehung und Funktion dieser sprachlichen Phänomene, am Herauswachsen begrifflicher Strukturen aus dem Fluß der Alltagssprache. Damit ist aber die Alltagssprache nur nach der einen Seite hin erforscht und beschrieben. Sie ist nicht die »Ebene Null«, von der aus nur in die Richtung der Entstehung einer Begriffswelt, eines Überbaus, gefragt werden kann. Ihr selbst liegen Elemente zugrunde, die aufzeigbar sind. Man kann von ihr aus rückwärts fragend Bauelemente entdecken, die ebenso das Interesse der Theologie verdienen wie die kommunikationsfähigen Begriffe, Themen und Problembezeichnungen. Es gilt, auch vorsprachliehe und vorreflektive Phänomene wie Bilder, Imaginationen, Symbole in die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie miteinzubeziehen. Dies ist umso sinnvoller, als moderne Sprachphilosophie und Psychologie die komplexen Interrelationen zwischen wirklichen und scheinbar vorsprachlichen Elementen, zwischen Bildern und Begriffen, Gefühlen und Konzepten usw. zu erforschen begonnen hat und der Sichtungsarbeit der Theologie bereits Hilfestellungen anbietet.
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1. BILDER, IMAGINATIONEN, SYMBOLE
Die Konzentration der Theologie auf geschriebene und gesprochene Worte läßt nicht nur die Phänomene der Natur und der persönlichen Erfahrung der Lebenswelt in den Hintergrund treten. Sie führt auch leicht zur Unterschätzung der Bedeutung von Gefühlen, Bildern, Imaginationen und Symbolen, ohne die Worte nicht in Funktion treten können. Die Gefahr eines positivistischen Wortverständnisses und die Überbetonung des Kohärenzmodells von Wahrheit haben die jüdische und christliche Theologie durch alle Jahrhunderte begleitet. Die Zurückhaltung der Theologen gegenüber der Natur, kosmologischen und anthropologischen Fakten und Konstituenten, hängt mit der primären Sprach- und Textlosigkeit der Natur zusammen. Die Natur als Gegenstand der Reflexion ist zwar auch sprachlich vermittelbar , und wahre Naturerkenntnis ist auch nur mit der Sprachfähigkeit des Erkennenden möglich. Aber die sprachliche Mitteilung der Naturerkenntnis ist sekundärer Art. Dagegen scheinen die Theologen in Texten und in gesprochener Sprache ihren primären Gegenstand zu haben. Vom alten Israel bis heute operieren die über die Dinge des Glaubens reflektierenden Theologen wort- und textbezogen. Die ))Dinge« sind für sie in der Welt der Sprache zu Hause. Nun entstehen freilich Worte, aus denen die Sprache (neben Gesten und Zeichen aller Art) besteht, nicht aus dem Nichts. Vor ihnen liegt etwas, das in erneuter Weise durch Worte auch wieder ausgelöst werden kann: Bilder, Imaginationen, Symbole. Es ist besser, mit einer solchen Aufgliederung zu beginnen als summarisch von ))Gedanken« zu sprechen. Es ist zwar wahr, daß Worte auf komplexe Weise mit Gedanken verbunden sind, daß sie ihnen folgen und auch vorausgehen. Aber diese Feststellung ist zu allgemein. Hilfreicher ist die Differenzierung in faßbarere Phänomene, etwa Gefühle, Bilder, Begriffe, Symbole usw. Gedanken sind mit Bildern, Gefühlen und Imaginationen ebenso komplex gekoppelt wie mit Worten, sie werden durch Bilder generiert und leiten auch zu neuen Bildern an. Und ohne symbolische Repräsentation, und schließlich Begriffe, können keine Gedanken, die eineq Sinnzusammenhang ergeben, bestehen. Die Symbole wie-
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derum sind von der Erfahrung abhängig. Diese Zusammenhänge - wenn sie auch noch nicht voll erforscht sind - stellen anthropologische Konstanten dar, über die sich die Theologie Rechenschaft ablegen sollte. Die Gefahr eines positivistischen Wort- und Sprachverständnisses hat die Theologie durch alle Jahrhunderte begleitet. Sie ist ihr oft erlegen. Im Zusammenhang damit steht auch die Hochschätzung des Kohärenzmodells von Wahrheit, der Test auf orthodoxe Lehre durch Anpassung der Worte an andere, als wahr und orthodox erkannte oder erklärte Worte. Obwohl die Bibel unerschöpfliches Material an menschlichen Erfahrungen, Gefühlen, Bildern und Symbolen liefert, hat sich die Theologie in ihrer Bemühung um breiten Konsens und um begriffliche Klarheit oft von diesem Reichtum abgewendet und sich einzig auf das Wort konzentriert. Dabei stand und steht das geschriebene Wort - wenn auch zugegeben wird, daß es oft die geronnene Form gesprochenen Wortes ist-deutlich im Vordergrund. Der religions-phänomenologische Satz, das Judentum und das Christentum seien Buchreligionen, ist korrekt, so beobachtend-kühl er auch tönen mag. Wer in seinem Denken und Sprechen in der Tradition des Alten und Neuen Testaments steht, verwendet den Begriff» Wort« in auffallend breiter und vielfältiger Bedeutung. Die Sammlung aller biblischen Bücher wird ebenso als» Wort« im Singular bezeichnet wie ein bestimmter Abschnitt aus einem Buch. Auch die heutigen Äußerungen christlicher Gruppen oder kirchlicher Gremien werden nicht selten als »Wort« zu einer bestimmten Frage oder Lage bezeichnet, wohl im Hinblick auf die intendierte Verbindung zum biblischen »Wort«. Die Verwendung des Begriffs in der Einzahl weist freilich auf den Anspruch hin, hinter oder in den vielen Wörtern, Sätzen, Erzählungen und Erörterungen der biblischen Schriften (und auch der auf sie bezogenen heutigen Rede) das eine Wort Gottes zu hören. Zugleich wird aber auch in theologischer Tradition einem einzelnen Wort oft eine ungemein große Bedeutungskraft zugeschrieben, sei es durch etymologische Studien an einzelnen Wörten, sei es durch die Hochschätzung der Selbstwirksamkeit eines heute gesprochenen, erlösenden oder befreienden Wortes. Die Theologie hat in ihrer Geschichte in wechselnder Stärke der Konzentration das Wort Gottes und das Wort der Verkündigung zu ihrem Hauptthema gemacht. Sie wurde Worttheologie oder Theologie des Wortes. Im
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Vergleich zur nachbiblischen Entwicklung jüdischer Theologie mit ihrer Konzentration auf die Tora, die Lebensregeln, die göttlichen Weisungen, kann man gewiß sagen, daß die christliche Theologie ihre Konzentration auf das Wort in weniger konkreter als vielmehr in theologisch reich befrachteter Weise vorgenommen hat. Ein entscheidender Anlaß dafür muß in der johanneischen Identifikation vom Inkarnierten mit dem Logos gesehen werden. Die Theologie hat dann, wiederum oft nicht ohne biblischen Anlaß, weitere Identifikationen vollzogen. Nach der Einführung der - allerdings neuplatonischen - Unterscheidung von »sichtbarem« und »unsichtbarem Wort« konnte Worttheologie auch mit sakramentalem Denken und Handeln verbunden werden. Auch Verbindungen zwischen Mystik und Wort wurden möglich. Die Theologen haben den Gläubigen keine Kombination und kein Extrem erspart: das Spektrum reicht von absurdem Wortfetischismus bis zur Wortvergessenheit quasi-sakramentalen Aberglaubens, von nüchternen Wortgottesdiensten, in denen kaum gesungen und gebetet aber um so mehr geredet wird, bis zur Verehrung und zum Küssen eines Gegenstandes zur Aufbewahrung des schweigenden aber sichtbaren Wortes. In der Theologie selbst reichen die Extreme von der echten Wiederentdekkung des Wortes, derviva vox evangelii, bis hin zu seiner Verkehrung in abstoßender dogmatischer Rechthaberei, Tabuisierungvon bestimmten Worten (protestantischem Wortterror) oder der ängstlich-hämischen Zählung orthodoxer Schlüsselworte (katholischem Häresieverdacht). Unter den Theologen unserer Zeit findet sich über den grundsätzlichen Respekt hinaus, den man der Worttheologie des mittleren Drittels unseres Jahrhunderts, besonders der Bekennenden Kirche (die vornehmlich um die Freiheit der Wortverkündigurig den Kampf riskierte) zu zollen bereit ist, erhebliche Skepsis gegenüber diesem ungemein breiten Gebrauch des Begriffes »Wort«. Die Identifizierung von }}Wort Gottes« mit Äußerungen in natürlicher Sprache ist zum Problem geworden. Zugang zu dem, was ein Wort ist oder wie es funktioniert, haben wir ja nur durch das Hören oder auch Lesen wirklicher menschlicher Worte aus der natürlichen Sprache, wobei freilich Gesten und Handlungen der Sprecher mit einbezogen werden müssen. Jeder andere Gebrauch des Begriffes }}Wort« ist komplex metaphorisch oder hoch hypostasiert. Bevor diese Verschiebungen auf andere Ebenen verstanden und eventu-
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ell als theologisch notwendig gerechtfertigt werden können, muß die Frage nach der tatsächlichen Funktion von Wort und Sprache durch die Theologie ernsthaft gestellt werden. Die Sorge, daß sie sich dadurch in Sprachphilosophie oder in die psychologische Analyse der Sprachentwicklung auflöse, ist vollständig unbegründet und herrscht nur unter denen vor, die sich bislang der Frage nicht gestellt haben. Hinter der hier zur Diskussion stehenden Frage des Phänomens der Sprache stehen letztlich die in I A 3 erwähnten offenen Fragen der Neurophysiologie. Die verschiedenen Antworten der Psycholinguistik auf die Frage nach der Entstehung der Sprachkompetenz sind eine Widerspiegelung klassischer philosophischer Gegensätze. Es stehen sich vor allem die lerntheoretischen Konzepte der Behaviourismus (z. B. Skinner) und die mentalistischen des Rationalismus (z. B. Chomsky) gegenüber. Jedoch wird heute selten ein rein individualer Erwerb der linguistischen Kompetenz als eines bloßen Ausbaus genetisch bedingter, endogener Kompetenz vertreten. Die Transformation der »Tiefengrammatik «, bzw. die Anwendung ihrer Regeln auf das eigentliche Sprechen hin, ist eine kreative Leistung des Menschen, die auf eine »kommunikative Kompetenz« verweist, ohne die man die Sprachentwicklung nicht erklären könnte. Freilich ist das Verständnis der Zusammenhänge so weit voneinander entfernter Phänomene wie die ererbten und erworbenen Gehirnfunktionen, die Logik der grammatischen Universalien der Sprache (aller Sprachen), die Verwendung dieser endogenen Kompetenz im Zusammenspiel mit der Wahrnehmung von äußeren Bildern und Stimuli in der Entwicklung des Kindes heute noch recht unvollkommen und lückenhaft. Aber es ist schon gewiß, daß sich in der Erkenntnis dieser Zusammenhänge alte philosophische Alternativen wieder aufs neue zeigen. Dabei handelt es sich zum Teil um Probleme, die auch in der Theologie an zentraler Stelle bearbeitet wurden, etwa um das Realismus-Nominalismus-Problem, auch um die Frage der Internalisierung (des persönlichen Akzeptierens mit dem Erfolg der inneren Umgestaltung, Neuwerdung) der »von außen« an den Menschen gelangenden biblischen Botschaft. Heutige Theologen wären sehr unklug, wollten sie ihre klassischen Fragen nicht im Kontext heutiger Erkenntnisse neu bedenken. Vgl. Noam Chomsky, Language and Mind (New York 1968, dt. Sprache und Geist, Frankfurt 1970), Hans Hörmann, Meinen und Verstehen, Grundzüge einer psychologischen Semantik (Frankfurt 1976). Die Verkoppelung der heute noch weitgehend isoliert bearbeiteten Phänomene der Physiologie, der vorsprachlichen Logik bzw. Tiefengrammatik, der psychischen und sozial-kommunikativen Kompetenzen von Kindern, und schließlich der psychisch und sozial »normalen« Verwendung von Sprache im Unterschied zur sprachlich korrekten aber doch pathologischen Anwendung - diese Verkoppelung ist ein Aufgabenfeld, in dem sich naturwissenschaftliche Medizin, Psychologie, Soziologie, Psychopathologie und Philosophie gemeinsam auf ihre Grundlagen besinnen müssen. Es steht für mich außer Zweifel, daß die Theologie hier eine zwar bescheiden-verstehende und die Probleme nach-
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zeichnende, aber doch auch eine integrierende Funktion wahmehmenkann, vgl. 11 D 1. Allerdings scheint mir die von Martin Heidegger kommende deutsche Sprachphilosophie - deren Verständnis mir große Schwierigkeiten macht und die ich vielleicht darum unsachlich beurteile - für diese theologische Integrationsaufgabe wenig günstige Ansätze zu bieten. Die Analytische Philosophie, und innerhalb von ihr am ehesten der linguistische Phänomenalismus, erscheint mir als weit besseres Instrumentarium zur Erkenntnis psycholinguistischer Vorgänge und theologischer Zusammenhänge. Hilfreiche Information über diese Sprachphilosophie findet sich in Eike v. Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache (Frankfurt 1974). Zur theologischen Rezeption von Ludwig Wittgensteins Philosophical Investigations/Philosophische Untersuchungen (Oxford, 3. Aufl. 1967, dt. 2. Auf!. Frankfurt 1980) bietet Ingolf Dalferth eine nützliche Bibliographie in seinem Buch: Sprachlogik des Glaubens, Texte analytischer Religionsphilosophie und Theologie zur religiösen Sprache (München 1974), 293-95; übrigens bietet die ausführliche Einführung Dalferths zu dieser Sammlung übersetzter Texte (960) einen hervorragend klaren Überblick über die Entwicklung neuerer analytischer Religionsphilosophie. Zur eigentlichen Ausformung theologischer Konzepte kommt vor allem früh lan T. Ramsey in seinem Buch Religious Language, An Empirical Placing of Theological Phrases (London 1957). Ramsey war zunächst Mathematikdozent, dann Professor der Philosophie in Oxford, zuletzt Bischof von Durham. Er verdient im deutschen Sprachbereich größere Beachtung. Von ihm (und lohn L. Austin) ausgehend, entwirft Wim A. de Pater seine Theologische Sprachlogik (München 1971). Vgl. auch die theologische Auseinandersetzung mit Wittgensteins Phil. Untersuchungen bei Paul M. van Buren, The Edges of Language (London 1972). Zu Paul van Burens neuen Arbeiten s. 11 A 1 und 11 B 6. Schließlich zur Funktion des Symbols: Die reiche Literatur aus der neueren Diskussion seit Ernst Cassirer faßt Werner letter in: Symbol und Ritual (Göttingen 1978) zusammen, vgl. bes. Kap. 2; Kap. 3 bietet eine wichtige systematisch-theologische Bearbeitung des Phänomens der Symbolisierung. Vgl. auch Rainer Volp (Hg.), Zeichen, Semiotik in Theologie und Gottesdienst (München/Mainz 1982), vgl. auch seinen Aufsatz »Das Bild als Grundkategorie der Theologie« in TRE Bd. VI, 557-568. Ich selbst beziehe mich stark auf Paul Ricoeurs Symbolbegriff, z. B. in »Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion I und 11« in Hermeneutik und Psychoanalyse (München 1974 = dt. Übers. von Le conflit des interpretations, Bd. 11, Paris 1969), sowie auf das am Ende von I A 4 genannte Buch von Aifred Lorenzer , Sprachzerstörung und Rekonstruktion. In I C 1 und I D 2 werde ich an die hier in I B 1 skizzierten Fragen anknüpfen und »normales« von krankhaftem Wahrnehmen und Meinen durch die Steuerung durch Bilder, Symbole und implizite Axiome zu erklären versuchen. Vgl. zum Ganzen I D 6.
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2. DIE »STORIES« ISRAELS, DER KIRCHE UND DER GLÄUBIGEN
Entscheidende Teile der biblischen Bücher bestehen aus Erzählungen. Diese Grundform, die wir aus bestimmten und benennbaren Gründen vorläufig »Story« nennen, ist ein mäßig langes Satzgefüge, das in den selben oder in anderen Worten nacherzählbar und in vier, höchstens fünf verschiedenen Funktionen ve~wendbar ist. Oft wird beim Hören oder Nacherzählen die ursprünglich intendierte Funktion einer »Story« durch eine andere vertauscht. Eine Reihe von Einzel-»Stories« kann eine Gesamt-»Story« ergeben oder auf eine schwer erzählbare Gesamt-»Story« hinweisen. Mit »Stories« kann etwas ausgedrückt werden, wofür andere Idiome ungeeignet wären. Vor allem kann durch »Stories« die Identität eines einzelnen oder einer Gruppe artikuliert werden. Menschen sind das, was sie in ihrer »Story« über sich sagen (bzw. was zu ihnen gesagt wird) und was sie aus dieser »Story« machen.
Mit dem Story-Konzept berühren wir eine Grunderfahrung, mit der wir alle längst umgehen. Vielleicht wirkt das englische Wort etwas prätentiös oder gewollt. Aber im Hinblick auf die Fülle von lateinischen Worten, derer sich die Theologie und Philosophie seit Generationen immer noch bedient, mag ein allgemein verständliches englisches Wort noch hingehen. Das deutsche Wort »Erzählung« ist zu eng und der Begriff »Geschichte« ist zu befrachtet - besonders in der Theologie - um das artikulieren zu können, worum es hier geht. Wenn ich sagen soll, wer ich bin, so erzähle ich am besten meine Story. Jeder von uns hat seine unverwechselbare Story, jeder ist seine Story. Wenn einer nur das ist, was andere über ihn sagen, ohne selbst seine Story erzählen zu können, so ist er nicht reif, nicht erwachsen; wenn er in konflikthaften Stories lebt, seine Story nicht akzeptieren kann, so braucht er Hilfe, Therapie. Ein Mensch ist das, was man zu und über ihn sagt und was er selbst über sich erzählen kann und was er daraus mit seinem Leben macht. Es gilt, Einzel-Stories und Gesamt-Stories zu unterscheiden. Wer die Biographie eines Menschen schreibt, sammelt möglichst alle verfügbaren
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Einzel-Stories und reiht sie so aneinander, daß der Leser eben dieselbe Vision einer Gesamt-Story oder Totalsicht seines Helden vor Augen hat, die ihm beim Sammeln und Ordnen der Einzel-Stories wichtig war. Während die Einzel-Stories mit den ursprünglichen oder auch mit ganz anderen Worten nacherzählt werden können, bleibt die Gesamt-Story - oder die »MetaStory« - nur bruchstückhaft erzählbar. Die angemessene Weise sie aufzuzeigen, ist eben die Aneinanderreihung und Verknüpfung vieler EinzelStories. Wenn Israel sagen will, was es selbst ist und wer Gott ist, so erzählt es seine Geschichten. Dabei steuert die Vision der Gesamt-Story die Selektion und Kombination der einzelnen Geschichten. Wenn die frühesten Christen sagen wollten, wer Jesus war, so erzählten sie viele Einzelgeschichten, wiederum komponiert und selektiert nach der Steuerung einer schwer oder gar nicht erzählbaren Gesamt- oder Meta-Story. Es ist auch kein Zufall, daß das Neue Testament vier solche Sammlungen statt einer definitiven (wie sie Tatian im 2. Jahrhundert in seinem Diatessaron anstrebte) darbietet. Man kann nicht kurz und bündig sagen, wer Jesus ist. Was ich hier »Steuerung« nannte, wird im Teil II unter dem Begriff »regulative Sätze« genauer besprochen. Hier stoßen wir auf die eigentliche Logik der Theologie: das, was schon den Nacherzähler einer Einzel-Story leitet, erst recht aber den Sortierer und Kombinierer von Einzel-Stories im Licht einer umfassenden Gesamtvision, ist »Theologie im engeren Sinn des Wortes«, wie ich sie einleitend bezeichnete. Was sich über die Logik und die Funktion einer Story eines einzelnen Menschen sagen läßt (als die Summe all seiner Einzel-Stories), das gilt auch für Gruppen, sogar für ganze Völker, und letztlich - nach dem Glauben der Juden und der Christen - auch für die ganze Menschheit. Wie in meiner eigenen Lebens-Story Erinnerung und Antizipation sich die Waage halten, meine Story also in der Vergangenheit und zugleich in der Zukunft liegt, so ist es auch bei Stories, die man mit anderen teilt: wir lieben nur die, mit denen wir unsere Story zu teilen bereit sind und an deren Story wir unsererseits Anteil haben wollen. Nur wer Erinnerungen und Hoffnungen teilt, gehört wirklich zusammen. Dabei ist es nur vordergründig wichtig, nach der »objektiven Wahrheit« der Story zu fragen, viel wichtiger ist die Erkenntnis, wie ein Mensch (oder eine Gruppe) seine Story erlebt und was er daraus macht.
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In der gemeinsam mit Hugh Jones verfaßten Schrift: »Story« als Rohmaterial der Theologie (ThExh 192, München 1976) habe ich eine ausführlichere Analyse der möglichen Funktion von Story im allgemeinen sowie in der Theologie geboten. Das Interesse an diesem Phänomen geht auf regelmäßigen Austausch mit den Alttestamentlern J ames Barr (jetzt in Oxford) und James A. Wharton (jetzt in Houston) sowie mit Paul van Burgen zurück. Wir haben ca. 1958 den Begriff in der englischsprachigen Theologie zu verwenden begonnen. Ich habe seither mehrere Symposia zum Thema besucht, zuletzt im März 1982 in Houston (mit Theologen und Psychologen) und im selben Monat in Bern (mit Theologen und Germanisten). Die Literatur ist sehr umfangreich geworden. Theologische Autoren lassen philosophische Analysen weithin unbeachtet, etwa die Arbeiten von Richard Braithwaite, z. B. Scientific Explanation (Cambridge 1953) oder: An Empiricist's View of Religious Belief (Cambridge 1955), sowie von Arthur C. Danto, Analytical Philosophy of History (Cambridge 1965, dt. Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt 1974). Inzwischen ist eine Verwirrung eingetreten, weil besonders deutsch-sprachige Autoren die Beschäftigung mit Story/Erzählung mit dem Programm der »narrativen Theologie« gleichsetzen, so zuletzt Georg Baudler, Einführung in symbolisch-erzählende Theologie (UTB 1180, Paderborn 1982). Hilfreich ist die kurze Zusammenstellung verschiedener Entwürfe durch Bernd Wacker, Narrative Theologie? (München 1977) und vor allem die umfangreichere theologische Aufarbeitung von George W. Stroup (früher in Princeton, jetzt Systematiker in Austin): The Promise of Narrative Theology (Atlanta 1981). Ausgehend von Arbeiten des Linguisten Harald Weinrich und des Theologen Johann Baptist Metz ist im deutschen Sprachbereich eine Beschäftigung mit »narrativer Theologie« entstanden, die durchaus neben dem modischen Programm gewisse Erkenntnisgewinne gebracht haben mag, die sich aber von der hier skizzierten Auffassung von Story, von »abgeleiteten« und »autonomen Begriffen« (I B 3) und von der Suche nach »impliziten Axiomen« bzw. »regulativen Sätzen« (I H) sehr stark unterscheidet. Ich fürchte, daß wir uns unter Theologen gar nicht mehr darüber verständigen können, was theologische Gedanken, Probleme, Aufgaben und Arbeit eigentlich sind, wenn einige im Ernst vorschlagen, dies alles auf Narrationen zu reduzieren. Daß wir ganz wesentlich von Narrationen ausgehen müssen, ist freilich unbestritten. (Vgl. die Begründung dieser Ansicht in der oben genannten Schrift: »Story« als Rohmaterial der Theologie, 36-41).
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3. ABGELEITETE UND AUTONOME BEGRIFFE
Jede »Story« ist dadurch verwundbar, daß sie die Erlaubnis zu ihrer Summierung in sich trägt. Von Summierungen können Ableitungen, von ihnen wieder Ableitungen zweiten, dritten Grades, etc. vorgenommen werden. Zeigen die Ableitungen noch den Zusammenhang mit der ursprünglichen »Story«, so sprechen wir von abgeleiteten Begriffen, zeigen sie ihn nicht mehr, so sprechen wir von autonomen Begriffen. (Obwohl die Phänomenologie der »Story« nichts spezifisch Theologisches ist, wollen wir die hier verwendete Unterscheidung zwischen abgeleiteten und autonomen Begriffen nur auf die Theologie anwenden). »Stories« können nicht nur in anderen Worten, als sie für die erste Fassung verwendet wurden, getreu wiedergegeben, sie können auch summiert werden. Man kann die Geschichte, die ein Mensch von sich erzählt, in sinngetreuer Weise wiedererzählen, ohne ein einziges seiner Worte nochmals zu verwenden. So können auch biblische Geschichten, auch Geschichten über Jesus oder Geschichten, die er erzählt hat (Gleichnisse), in ganz neuer Sprache wiedergegeben werden, ohne damit eine Entstellung oder einen Sinnverlust zu bewirken. Die Frage ist aber, ob es Summierungen gibt, die ohne Sinnverlust leisten, was die ursprüngliche Story leistete. Die Krankengeschichte eines Menschen mit Appedicitis läßt sich vielleicht noch legitim summieren, wenn die eine Schwester zur andern sagt »Im Zimmer 12 liegt ein Bilddarm«. Aber bei der Geschichte einer zerstörten Ehe oder schwerer pathologischer Kontaktstörungen würde den betreffenden Menschen großes Unrecht zugefügt, summierte man ihre Leidensgeschichten mit wenigen Worten oder mit Begriffen aus der Psychopatholo-. gie. (Darum scheut auch moderne Psychiatrie von einfachen Etikettierungen der Patienten zurück und bezeichnet diagnostische Summierungen u. a. als zweite und dritte »Abstraktionsebene« über den Kontakt mit dem Kranken und seiner Story hinaus). Mit biblischen Geschichten steht es nicht anders. Wer könnte die Schöpfungsgeschichten in der Genesis, oder die Vätergeschichten, die Geschichte Jesu oder auch nur eine der Geschichten, die er erzählt hat, etwa die Geschichte vom barmherzigen Samariter oder vom reichen Jüngling, ohne Sinnverlust mit wenigen Worten summieren?
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Aber eben dies ist in der Theologie in ganz hohem Maße geschehen. Der Beginn des Prozesses findet sich schon in den biblischen Schriften selbst. Mein Verständnis von Story kommt einerseits aus alttestamentlicher Wissenschaft, andrerseits aus der Psychoanalyse. Ich habe das Konzept auf die medizinische Ethik angewendet in »Das >Story<-Konzept in der medizinischen Ethik« in Zeitschr. f. Allgemeinmedizin, 58, 3 (lan. 1982),121-126, auch in »Die Herausforderung von Kirche und Gesellschaft durch medizinisch-ethische Probleme«, in EvTh, 41/6 (Nov./Dez. 1981),483507, zum Begriff Story bes. 491-496. - Vg!. die Arbeiten der beiden Psychiater, des Holländers Piet C. Kuiper, »Der Mensch und seine Geschichten« in seinem Buch: Die Verschwörung gegen das Gefühl, Psychoanalyse als Hermeneutik und Naturwissenschaft (Stuttgart 1980, nieder!.: Amsterdam 1976) und der Berliner Psychoanalytikerin Annemarie Dührssen, Die biographische Anamnese unter tiefenpsychologischem Aspekt (Göttingen 1981). Interessant für unser Thema ist auch die kleine Aufsatzsammlung von Friedemann Maurer (Hg.), Lebensgeschichte und Identität (Frankfurt 1981). Sprachlogisch ist die Frage der Summierbarkeit und der Auswechselbarkeit der Wörter einer Story von Belang; psychotherapeutisch die Frage nach der »eigentlichen« Lebensgeschichte eines Menschen und dem Recht zum Eingriff in sie; ethisch (oder medizin-ethisch) die Frage nach der Verknüpfung der Story eines Patienten mit der anderer Menschen und nach seiner antizipierten Story; und philosophisch-theologisch die Frage nach der Artikulierbarkeit der Identität, des Credos eines Menschen oder einer Gruppe.
Man muß freilich sehen, daß alle originalen Stories schon Summierungen einer potentiell viel längeren Geschichte sind. Wer die Geschichte einer Reise oder gar seines Lebens erzählt, leistet sich schon ungeheure Verkürzungen des Erzählbaren, weil er mit Recht annimmt, daß die Hörer selber die Lücken, die er läßt, auffüllen können. Man kann ja nur denen eine Story erzählen, von denen man hoffen darf, sie hätten Ähnliches schon gehört oder erlebt. Ein kleines Kind, das weder Tod noch Krieg, weder Verantwortung noch Berufssorgen kennt, versteht Stories, die aus diesen Welten kommen, ganz anders als es sich die Erzähler vorstellen mögen. Aber dennoch ist bei richtiger Abschätzung der Leser oder Hörer die geraffte Form der Darbietung einer potentiell viel ausführlicheren Story sicher gerechtfertigt. Es bleibt aber die Frage nach dem Grenzwert bestehen, den es bei der Verkürzung zu beachten gilt. Wann entsteht bei der berechtigten quantitativen Reduktion etwas "qualitativ Anderes, ein Zerrbild oder eine Verstümmelung? Es gibt aber noch eine Rechtfertigung radikaler Summierungen, die sich auch die Theologie immer wieder zu Nutze gemacht hat: man verweist dar-
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auf, daß die Hörer die ganze Story schon kennen und daß ihnen darum eine Summierung zugemutet werden, ja sogar als Erinnerungsstütze nützlich sein kann. Es gibt viele Beispiele innerhalb der biblischen Schriften, man denke nur an die Summierungen der Exodus-Tradition oder an christologische Bekenntnisse in den Briefen des Neuen Testaments. Wenn biblische Stories im Verbund mit Doxologien das eigentliche »Rohmaterial« legitimer theologischer Reflexion sind, dann ist wegen der Spannung zwischen den Stories und der Fülle von Summierungen das Geschäft der Theologie schon schwierig genug. Wenn aber Summierungen nicht mehr im direkten Bezug zu den ursprünglichen Stories verstanden werden, sondern Anlaß zu »Ableitungen«, wie ich sie nenne, geben, und sogar »Ableitungen von Ableitungen« möglich werden - also Ableitungen von Ableitungen von summierten Stories - dann sind einerseits dem Mißverstehen und andrerseits dem Aberglauben Tür und Tor geöffnet. Dies ist die Situation der Theologie und Kirche seit der Zeit der Alten Kirche. Denn nun kann man sagen: »Das Blut Jesu rettet«, »Das Kreuz nützt« (auch als Zeichen aus Holz oder Metall, das man dem Feind oder einer Krankheit entgegenhält), »Die Bibel will«, »Der Glaube glaubt«, und ungezählte andere, in sich selbst völlig unsinnige Formulierungen. Wer sie dennoch benützen will, muß komplizierte Umwege der Rückkoppelung suchen und zugleich auch seinen Hörern diese Wege aufzeigen. Geschieht dies nicht, so ist die Verwendung solcher multipler Ableitungen von summierten Stories (u. U. auch von Doxologien) eine direkte Einladung zum Aberglauben. Das Produkt der nicht-erklärten Ableitungen nenne ich »autonome theologische Begriffe«. Sie sind kognitiv wertlos, bilden aber ein sekundäres Feld theologischen Rohmaterials, denn, wenn wir als Pfarrer und Lehrer tätig sind, müssen wir nicht nur Stories der Bibel und heutiger Entwicklungen erklären, ein großer Anteil unserer Arbeit besteht auch aus dem intellektuell recht anspruchsvollen Sichten und Deuten von Begriffen, die gar nicht hätten entstehen sollen. Die klassische Dogmatik hätte gar nicht ein so komplexes Netz vielfältiger Ko- und Subordinationen, Interrelationen und Erklärungen des einen aus dem andern werden können, wenn sich nicht die Alte Kirche und z. T. schon die späteren Teile der biblischen Schriften die Einladung zu autonomen Begriffen geleistet hätten. Man mag und man soll das bedauern. Andererseits muß man sehen, daß langsam gewachsene menschliche Kultur, in-
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nerhalb und außerhalb der Kirche, im Denken und Sprechen gar nicht ohne Ableitungen aus den erfahrenen Stories denkbar wäre. So sehr das Idiom der Story das Ur-Paradigma der Bibel und vielleicht sogar der heutigen Naturwissenschaften sein mag, es reicht nicht aus für die Artikulation dessen, was wir schon sind und noch erstreben. Eine absichtliche Reduktion des Sprechens auf Story-Sprache würde einen Verzicht auf differenzierte Begriffe bedeuten. Aber ohne Begriffe gibt es keine Theoriebildung, und ohne sie keine Weltbewältigung und ethische Bewährung. Hier liegt auch der Grund und das Recht für den Haupteinwand gegen die heutigen Vertreter einer »narrativen Theologie«. Theologie selbst ist regulativ, nicht narrativ. Im sekundären Feld theologischen Rohmaterials gibt es einerseits Möglichkeiten für die Bildung theoriefähiger Begriffe, andrerseits auch echte Scheinprobleme mit »relativer Nützlichkeit«, vgl. dazu I F 3. Zwischen »Basissätzen«, »Sekundär-, Tertiär- und Quartärsätzen«, auch »Füll- und Überleitungssätzen« unterscheidet Koloman N. Micskey in seiner Wiener Habil.Schrift: Die Axiom-Syntax des evangelisch-dogmatischen Denkens (Göttingen 1976), bes. Kap. 11.
4. DIE KOMPLEXITÄT DER AUSDRUCKSFORMEN; KONFESSIONEN
Einfache Begriffsbildung ist ebenso wie das Gedächtnis Bedingung für die Entstehung von Sprache. Die Bildung komplexer Begriffe aber ist eine spezifisch menschliche Leistung, die Tiere nicht erbringen können. In ihr wird auch das Denken für andere und an Stelle anderer möglich. Davon nochmals abzuheben ist die Bildung von Begriffen über Begriffe, die Wissenschaftssprache. Der Glaube Israels und der Kirche kann nicht ohne einfache und komplexe Begriffe artikuliert werden. Er ist aber ohne die Hilfestellung von Wissenschaftssprache erzählbar, denkbar und vollziehbar. Theologie jedoch bedarf der Wissenschaftssprache. Die Gläubigen brauchen Theologie nur aus praktischen, nicht aus prinzipiellen Gründen. Aus praktischen Gründen histori-
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scher Bedingtheit brauchen sie die Hilfestellung der Wissenschaftssprache der Theologie. Einfache Begriffsbildung ist für die Entstehung jeglicher Sprache notwendig. Ebenso ist das Gedächtnis eine notwendig an die Sprache gekoppelte Bedingung ihrer selbst. Es besteht kein Zweifel daran, daß die berühmten Schimpansenmädchen Washoe und Lana, das Gorillamädchen Koko und manche andere Menschenaffen einfache Begriffe zur Formierung von Einwort- und Zweiwortsätzen gelernt haben. Sie konnten der menschlichen Einladung folgen, mehr als nur Zeichen auszutauschen, was ohnehin die meisten höher entwickelten Tiere können; sie haben also den Anfang der Sprache erlernt. Ähnlich mögen Neandertaler über bloße Zeichen hinaus Sprache in Anfangsformen verwendet haben. Aber die Vorfahren heutiger Menschen - schätzungsweise wird die Zeit vor 40000 Jahren genannt - haben erst die eigentliche Leistung der Sprachentwicklung erbracht, wenn auch mehrere Zehntausend Jahre bis zur schriftlichen Fixierung von Sprache vergingen. Die große Leistung war zweifellos - so dürfen wir heute mit Recht schließen - der Übergang von direkter sprachlicher Kommunikation zum Sprechen »für andere« oder im Namen anderer, das Sprechen also über und für nicht-anwesende Menschen. Hier haben Regeln und Vorformen von Gesetzen, besonders aber auch das Erzählen von Stories ihren Platz. Dazu sind neben Unterscheidungen, Generalisierungen und einfachen Begriffen auch Antizipationen von Situationen notwendig, die außer dem aus der Erfahrung gewonnenen Gedächtnis eine allgemein anwendbare Vorstellung von Zeit und Zeitlichkeit voraussetzen. Die zweite »große Leistung«, die sich freilich nicht isoliert fassen läßt, ist die Bildung von Sprache über Begriffe und die Verwendung von Begriffen über Begriffe. Komplexe Situationen und Stories, in die man sich selbst sowie andere, ferne oder vielleicht zukünftige Menschen verwickelt sah, bilden das Rohmaterial für die Entstehung komplexer und differenzierter Begrifflichkeit. Diese auf Wissenschaft hin tendierende Sprache hebt sich zwar von der Alltagssprache ab, sie hat aber ihre Wurzeln dennoch in ihr und muß letztlich auf die reduzierbar sein, denn auch sie dient der Kommunikation zwischen Menschen. Echte Wissenschaftssprache ist am Mitteilen der Suche nach kognitivem Gewinn und an Ergebnissen dieser Suche interessiert. Wenn nun »Ablei-
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tungen von Ableitungen von summierten Stories«, wie wir sie nannten, nicht an dieser Suche beteiligt sind, sondern eher eine Para-Alltagssprache produzieren, mit der sich einige Eingeweihte untereinander austauschen, wie dies in der intern-kirchlichen Sprache ständig geschah und noch geschieht, so kann begriffsträchtige Wissenschaftssprache - sie ist dann ja nur zum Schein wissenschaftlich - nicht·mehr verantwortet werden. In der Theologie hat die Komplexität der Ausdrucksformen zwei Seiten. Einmal gibt es die unverantwortliche Übernahme anfänglich berechtigter Ableitungen und damit gegebener Begriffe, mit denen die Alltagssprache einfach überhöht wird, so als sei Begriffssprache näher an der Wahrheit als Umgangssprache. Komplexe Begriffssprache ist aber nur näher an der Wahrheit, wenn sie der Wahrheit auf der Spur ist, d. h. wenn sie zur Bildung von Theorien nötig ist, mittels derer Sinnzusammenhänge gesehen werden, die man sonst nicht erkennen könnte. Tut sie dies nicht, sondern funktioniert sie als unverständliche Abkürzung oder als unnötiger Ersatz von Alltagssprache, so lädt sie zur Isolation oder zum Abbruch menschlicher Kommunikation ein und ist darum ethisch verwerflich. (Vgl. I F 2). Zweitens gibt es aber eine notwendige und befreiende Funktion komplexer Begrifflichkeit in der Theologie. Nicht weil die biblische Botschaft als solche kompliziert ist, sondern weil die Situationen, in denen Menschen sich nach viel tausendjähriger Entwicklung sozialer und sprachlicher Strukturen befinden, überaus komplex sind, Situationen, die gegenüber dem biblischen Lebensangebot durchsichtig und relevant gemacht werden müssen, ist begrifflich komplexe Theologie notwendig. Komplexe familiäre, soziale, politische, ethische, psychologische und philosophische Gegebenheiten und Probleme können nicht - oder nur in prophetischen Ausnahmesituationen - durch das einfache Nacherzählen biblischer Stories oder durch das Rezitieren zentraler Sätze aus der Tradition geklärt und gelöst werden. (Das gilt auch für die Interpretation komplexer Teile der biblischen Schriften selbst). Die verschiedenen Konfessionen, die sich schon in Ansätzen in der Alten Kirche zeigen und die in späteren Jahrhunderten aus heute weithin erklärbaren kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und freilich auch theologischen Gründen in der Ökumene entstanden sind, kann man unter anderem auch als ein Erstarren oder Einfrieren sowohl unverantwortlicher wie auch notwendiger theologisch komplexer Begrifflichkeit verstehen. (Vgl. I D 1).
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie
Obwohl sich die Anfänge der lateinischen patristischen Theologie im Westen gegenüber der damals schon reif entwickelten griechischen Theologie des Ostens als einfach ausnimmt, hat der Westen in späteren Jahrhunderten eine weit größere Neigung zur Differenzierung der Gesamtthematik in isolierte loci gezeigt (vgl. die Kritik an der loci-Methode in I H 4). In der ökumenischen theologischen Bemühung geht es zum guten Teil um das Zurückverfolgen komplexer theologischer Begrifflichkeit auf ihre Ursprünge hin. Man darf sich dieses Zeil aber nicht einfach als ein Abschneiden von Efeu, sozusagen, vorstellen, weil die zentralen Grundaussagen (oder »impliziten Axiome«) nicht einfach wie Uraussagen in der Kirchen- oder Theologiegeschichte vorfindbar sind. Viele von ihnen sind nur antizipiert worden und liegen auch heute sozusagen »vor« uns als noch aufzufindende, zu entdeckende Grundaussagen. Das ist der Sinn der heutigen Rede von »Konvergenztexten« im Unterschied zu »Konsenstexten«. Vgl. I D 1 und vor allem I H 6.
C. Perspektiven der Welterklärung
VORÜBERLEGUNG
Alle Erkenntnis, und somit jedes Urteil, ist von der Perspektive abhängig, in der wir die Dinge sehen. Eine perspektivlose Sicht gibt es nicht, ebensowenig wie eine Perspektive, aus der wir unsere Perspektive sehen und objektiv beurteilen können. Analytische Philosophie hat diese Einsicht, die als solche nicht neu ist, tiefgründig untersucht und begonnen, sie im Detail darzustellen. Mit ihr sind andere Erkenntnistheorien aus der früheren Philosophie- und Theologiegeschichte nicht einfach entwertet oder überholt. Vielmehr sind sie radikal befragt und auf einer tieferen Ebene zu fundamentalen Stellungnahmen genötigt. Der Glaube der Juden und Christen ist als das »Drin-Stehen« und Bleiben in einer Story und der ihr gemäßen Lebenshaltung immer zugleich das »Bewohnen einer Perspektive«. Von ihr aus geschehen alle Interpretationen, zu der das »Drin-Stehen« in der Story ständig nötigt. Interpretiert werden die je eigene Situation mit Mitmenschen, Erinnerungen und Möglichkeiten, die weitere sozial-politische und kulturelle Umgebung sowie die Welt im weitesten Sinn, vor allem aber auch die biblischen Schriften und die ihr folgende Tradition. Juden und Christen bilden historisch gesehen einzigartig "ausdauernde und intensive Interpretationsgemeinschaften. Die Frage soll vorerst offen bleiben, welche Inhalte für die Gläubigen zeitlich oder sinnhafte Priorität haben oder haben sollten. Die einzelnen Gläubigen und ihre Gruppen unterscheiden sich darin zweifellos ohnehin sehr stark. Offen soll zunächst auch die Frage bleiben, ob der biblisch gegründete Glaube ausreichend beschrieben wird, wenn er eine Interpretation, eine Welterklärung genannt wird. Daß die Gläubigen die Welt von ihrer Perspektive oder ihrem Persprektiven-Bündel her ständig erklären, steht aber außer Zweifel.
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie
1. PERSPEKTIVISCHE WAHRHEIT
Perspektive nennen wir die Weise, in der wir die Dinge sehen, denn wir sehen Dinge immer im Modus des »Sehens-Als«. Es gibt keine Perspektive, von der aus wir unsere Perspektive sehen können. Unsere Stories sind die Träger unserer Perspektiven. Drücken sie nicht mehr unsere Perspektiven aus, so fallen sie in den Bereich der Langeweile oder in das Magazin von Materialien für mögliche historische Studien. Sie gehören dann nicht mehr zu unserm Leben. In der sozialen Wirklichkeit sind Gruppen und Gemeinschaften durch gemeinsame Perspektiven-Bündel gekennzeichnet, die in gemeinsamen Stories und Lebenshaltungen Ausdruck finden können. Israel und die Kirche sind solche Gemeinschaften.
Mit der Frage, ob eine erzählte Story oder eine Lebens-Story »wahr« sei, werden entscheidende Probleme auf ein Mal sichtbar. Die cartesianische Unterscheidung zwischen ausgedehnten, real vorhandenen Dingen und dem Gedachten, oder, wie man später sagte, zwischen Real- und Idealfaktoren, ist nur bedingt anwendbar. Wäre sie umfassend gültig, so hätten Stories, die von den realen Dingen abgehoben sind, nur Gültigkeit in den Fällen, in denen sie die Dinge korrekt abbilden oder ihre Zuordnung und Bewegung erzählen. Damit träte einerseits eine große Armut legitimer Stories ein, andrerseits wäre der hohe Anspruch erhoben, daß uns die Realfaktoren so objektiv bekannt sein können, daß sie als Kontrolle über die Idealfaktoren herangezogen werden können. Oder aber es würde eine zweite Klasse von Stories erlaubt, denen jeder kontrollierbare Bezug zu Realfaktoren fehlt, die nur in ihrer freischwebenden Existenz ihre eigene Legitimität setzen würden. (So etwa begründet man seit der Aufklärung »Religionsfreiheit« innerhalb der religiös neutralen, modernen Staaten). Wenn die Frage nach der Wahrheit einer Story oder einer Lebenshaltung innerhalb und aufgrund einer Lebens-Story nur nach dem Modell der Korrespondenz-Wahrheit überprüft wird oder ihr zwar freier Lauf gelassen, aber jede Verbindlichkeit abgesprochen wird, verflüchtigt sich das Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Gott, nach dem Guten, nach Friede und Gerechtigkeit in das Individuelle und Private eines jeden dafür interessierten Men-
C. Perspektiven der Welterklärung
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sehen. Dies war auch durchaus die Position des Neopositivismus. Elemente davon finden sich im Kritischen Rationalismus heutiger Autoren. Es kann ja sein, daß sich alle Modelle von Wahrheit letztlich auf die (aristotelische) adaequatio rei et intellectus zurückführen lassen müssen (vgl. Schlußbemerkung zu Teil 11). Dann käme dem Korrespondenzmodell die fundamentalste Position zu. Das Problem dabei bleibt aber in jedem Fall die Frage, was die res, die »Sache«, ist und wie man sie erkennen kann. Vgl. Jürgen Habermas, »Wahrheitstheorien« in H. Fahrenbach (Hg.), Wirklichkeit und Reflexion, FS f. Walter Schulz (Pfullingen 1973), 221-265, und Wolfgang Stegmüller, Das Wahrheitsproblem und die Idee der Semantik (Wien 1968).
Es ist wahr, daß ein Dichter anders über den Wald spricht als ein Förster. Aber damit ist nicht entschieden, daß nur der Förster Wahres über den Wald sagt. Nicht nur der Dichter sieht den Wald in einer bestimmten Perspektive, der Förster tut das auch. In den letzten Jahrzehnten sind im Bereich der Analytischen Philosophie sehr hilfreiche Gedanken über »perspektivische Wahrheit« entfaltet worden. Wichtige Klärungen der personalen Perspektive stammen von Michael Polanyi, Personal Knowledge, Towards a Post-Critical Philosophy (LondoniChicago 1958): in unserer »tacit knowledge« ist die Perspektive ein stillschweigend akzeptiertes Sinngewebe, ein nicht in Frage gestellter Hintergrund. In der Analyt. Philosophie hat Richard M. Hare die Logik eines »bliks« untersucht, vgl. die dt. Übersetzungen der englischen Diskussion zu Anfang der fünfziger Jahre in der in I B 1 genannten Sammlung von I. Dalferth: Sprachlogik des Glaubens, 84-95. Von zentraler Bedeutung ist das nach seinem Tod erschienene Buch von Ludwig Wittgenstein, On Certainty/Über Gewißheit (Hg.) G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright (Oxford 1969). Theologisch ist die Thematik in bezug auf das Reden von Gott aufgenommen in Joachim Track, Sprachkritische Untersuchungen zum christlichen Reden von Gott (Göttingen 1977), bes. 126-155, sowie in der noch unveröffentlichten Habil.-Schrift meines Mitarbeiters in Mainz Hugh Jones, Die Logik Theologischer Perspektiven, Eine Sprach analytische Untersuchung, 1981.
Freilich werden wissenschaftliche Beobachtungen (in unserm Fall vom Förster) mit der Absicht und der Einschränkung angestellt, sie nach dem Korrespondenz-Modell von Wahrheit zu verifizieren. Das Perspektivische an dieser Weise des Sehens ist nicht so auffällig wie die eines Dichters, Widerstandskämpfers, Liebhabers oder Propheten. Freilich ist es möglich und nötig, Dinge so zu sehen, zu messen und zu zählen, wie sie »da sind«. Wir sind dann in unseren Äußerungen aufgrund der »Fakten« auch widerleg-
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie
bar, wenngleich wir auch bei diesem Vorgang eine Perspektive hatten, nämlich eben diese. Trotz der Möglichkeit des Versuchs, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, sehen wir sie im Modus des »Sehens-als«: einen Stuhl als etwas zum Sitzen, ein Haus als etwas zum Daheimsein, ein Geldstück als etwas zum Kaufen, einen Menschen als einen Mitmenschen, einen Krieg als etwas Schreckliches. Wir sehen die Dinge als Tatsachen. Die Stories, die unser Leben ausmachen (einzeln und in Gruppen), sind die Träger unserer Perspektiven. Sie sind nur solange unsere echten Stories, wie sie unsere Perspektive ausdrücken, umschreiben oder aufzeigen können. Drücken die biblischen Schöpfungsgeschichten nicht mehr unsere Perspektive über Ursprung und Sinn der Welt aus, so können wir sie nicht mehr genuin nachsprechen oder als Antwort auf Fragen verwenden. Sie werden dann ihrerseits nur noch als Gegenstand wissenschaftlicher Nachfrage verwendet und gehören nicht mehr direkt zu unserem Leben. Sprechen die lesus-Geschichten nicht mehr aus, was wir über Liebe, Vergebung und Neuanfang als Perspektive haben, so fallen auch sie zurück in absichtliche Objektivierbarkeit. Esist mit Recht gesagt worden, daß Glaube nicht eine Interpretation von Realfaktoren ist, so, als stünden sich »Reales« und »Interpretatives« wie zwei Entitäten gegenüber, sondern daß wir unsere Perspektiven »bewohnen«. Wir sind in ihnen, oder sie entgleiten uns. Wir können sie nicht begründen, nicht zur Disposition stellen, wir können sie nur durch unser Handeln in unserem Leben aufzeigen. Aus dieser Beobachtung könnte gefolgert werden, daß sich unsere Perspektiven in unserm Verhalten bewahrheiten. Wenn dies richtig ist, so ließen sich letztlich die Credohaften Perspektiven der Gläubigen auf ethische Haltungen und ihnen entsprechende Handlungen reduzieren. Diese Möglichkeit ist in der englischen Diskussion zwischen Anthony Flew, R. M. Hare, Richard Braithwaite, William Hudson, Dewi Z. Phillipsum nur die anfänglichen Diskussionspartner zu nennen - immer wieder zur Sprache gekommen. Sie erinnert an den so oft gehörten kirchen-kritischen Satz »Ich würde die Botschaft der Kirche ja schon glauben, wenn nur die Leute danach lebten!«. Sie erinnert damit auch an den Donatismus der Alten Kirche als einer permanent angebotenen Kurzantwort auf die theologische Wahrheitsfrage.
In der sozialen Wirklichkeit haben sich von jeher Perspektiven-Bündel herausgebildet, die durch Gruppen mit gemeinsamen Stories und ähnlichen Lebenshaltungen zum Ausdruck kommen. Israel und die Kirche sind solche Gruppen. Innerhalb einer Gruppe oder Gemeinschaft, die ein Perspek-
C. Perspektiven der Welterklärung
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tiven-Bündel bietet, sind - so darf man annehmen - die Welterklärungen sehr ähnlich. Die Ähnlichkeit besteht freilich nur in bezug auf die Aspekte, die die Gemeinsamkeit der Gruppe ausmachen. So wird es möglich sein, daß in einer Gemeinschaft von Gläubigen gemeinsame Stücke von Weltwirklichkeit, von Texten, Plänen oder Zielen ähnlich oder einhellig interpretiert werden, während sich die einzelnen Mitglieder der Gruppe in ihren ästhetischen oder emotionalen Dimensionen sehr deutlich voneinander unterscheiden und darum andere Teile der Weltwirklichkeit ganz verschieden interpretieren. (Hier ist das Recht auf die Bewahrung des Privaten innerhalb einer Gemeinschaft festzumachen). Stories sind ebenso wie Perspektiven vielschichtig und von verschieden starkem Einfluß auf die Identität eines Menschen oder einer Gruppe. Die Frage nach der Wahrheit von Stories und Perspektiven ist an die Zuordnung der einzelnen Perspektiven zueinander und an ihre Beziehung zu einer Gesamt-Story und übergeordneten Perspektive gekoppelt. Dabei spielt im Leben der Gläubigen und in der Theologie die Korrespondenz-Wahrheit ihre Rolle in bezug auf biblische Schriften und auf die Angleichung der eigenen Lebens-Story an die Story von Jesus; die Kohärenz-Wahrheit in bezug auf andere Perspektiven, die man selbst hat; die Konsens-Wahrheit in bezug auf die maximale Kommunikation mit anderen Menschen der Gemeinschaft. Man sollte nicht von vornherein aus theologischen Gründen einem der drei üblichen WahrheitsModelle den Vorzug geben. Jedes hat seine Berechtigung im Hinblick auf eine spezifische Frage. Die Reflexion über perspektivische Wahrheit darf nicht an der Frage der Abweichung von psychischer Normalität in pathologische Wirklichkeitsverzerrung vorbeigehen. Die allgemeine Psychopathologie und die praktische Psychotherapie geht - oft ohne es wahrzunehmen - mit einem philosophischen Problem um, wenn sie die »Wahrheit«, d. h. die Angemessenheit an die Situation, der eine Perspektive tragenden Story eines Patienten kritisch bedenkt. Zweifellos sehen wir alle beim Wahrnehmen eines Gegenstandes »mehr, als wir sehen« und hören beim Hören eines Vortrags (oder einer Predigt) »mehr, als wir hören«. Ich nenne diese .Erweiterung unserer Wahrnehmung den »Hof« oder den »Halo«, den wir mit einer Wahrnehmung unwillentIich mitwahrnehmen (vgl. I D 2 über »Mitmeinen«). Wenn wir einen Geldschein auf dem Tisch sehen, so sehen wir nicht nur farbig bedrucktes Papier, sondern wir »sehen-als«, wir sehen Geld als etwas zum Verdienen oder zum Ausgeben; wir sehen ein Messer als etwas zum Schneiden; einen Wald als Nutzholz, als Kapitalanlage, als Erholungsgebiet, als etwas ästhetisch Wunderbares usw. Was aber ist es, wenn jemand beim Sehen eines Geldscheins Schuldgefühle und Magenkrämpfe bekommt, beim Anblick eines Messers Angst oder Aggressionen empfindet
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1. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie
und bei der Aussicht auf ein Waldstück an übergroße Kopfhaare und den Weltuntergang denkt? Man kann auch an komplexere Beispiele denken, gerade im Zusammenhang mit biblischem Gedankengut und mit Predigten. Wer Erfahrung in der Gemeindearbeit hat, weiß, daß psychisch gestörte Menschen völlig andere Inhalte aus Bibeltexten, Predigten und Gebeten entnehmen können als psychisch balancierte Menschen. Was aber sind balancierte Menschen? Wir stoßen hier auf die in diesem Buch so zentral wichtige Suche nach »impliziten Axiomen« (oder »regulativen Sätzen«, vgl. u. a. I H 2). Jede permanent »bewohnte« Perspektive - um den oben verwendeten Ausdruck wieder aufzunehmen - ist von impliziten Axiomen geleitet, die dem psychisch normalen »Bewohner« zu jeder Zeit den Unterschied zwischen einem durch einen »Hof« oder ein »Halo« bereicherten Wahrnehmen und einem pathologischen Zerrbild des Wahrgenommenen (bzw. Gehörten) klarmachen. Das gilt in der Dimension einfacher Wahrnehmungen sowie komplexer theologischer Konzepte und Aussagen. Eine pathologische Verzerrung des Wahrgenommenen ist ebenfalls durch implizite Axiome geleitet. Das Krankhafte ruht nicht in der Wahrnehmung als solcher, auch nicht in der Verwendung von Sprache zu seiner Darstellung, sondern in den Axiomen, die die Wahrnehmung leiten. Dadurch wird die Sprache - wenn auch grammatikalisch und syntaktisch »korrekt« und verständlich - zur Privatsprache. Psychisch abnormale Menschen sind an ihrer Privatisierung der Sprache erkennbar; hier muß auch die Hilfe bzw. Therapie einsetzen. - Diese Feststellung gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für Gruppen. Auch Sekten drücken sich in »privatisierter« Sprache aus. Mit dem Phänomen des Wahns hat sich der Mainzer Psychiater Johann Glatzel in ausführlicher Auseinandersetzung mit den philosophischen Grundlagen moderner Psychiatrie befaßt in seinen Büchern: Das psychisch Abnorme (MünchenlBaltimore 1977), bes. 129-146 und Allgemeine Psychopathologie (Stuttgart 1978). Glatzel kritisiert einleuchtend die auf Max Scheler und Karl Jaspers aufbauende psychiatrische Phänomenologie, aber auch er kann nur umschreibend die Symptomatologie des Wahns bei einem Patienten darstellen, der sich in einem Zimmer, in dem Männer und Frauen in weißen Kitteln stehen und in dem auf hygienisch sauberen und sachlichen Möbeln Brot liegt, wie in einer Bäckerei vorkommt. Was hätte ihn steuern müssen, um zu wissen, daß er sich nicht in einer Bäckerei befindet?
2. DIE AUFTEILUNG DER WELT IN WELTEN
Die Perspektiven einzelner Menschen und Gruppen konstituieren die Welten, in denen sie leben. Verbunden mit ihnen ist die Gesamtwelt, die niemand in ihrer Totalität sehen kann. Die Totalität ist ein unfertig erkanntes Sinnge-
C. Perspektiven der Welterklärung
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webe, das Gegenstand der Analyse der Philosophen und des Credos der Gläubigen ist. Wir leben in einer immer schon gegliederten Welt. Man kann vorerst dahingestellt sein lassen, ob das Dictum, die Grenzen meiner Sprache seien die Grenzen meiner Welt, mit der These identisch wäre, meine Perspektiven, die von meiner Lebens-Story getragen werden, konstituierten meine Welt. Jedenfalls ist es sinnvoll, den breiten Begriff Welt - in kirchlicher und theologischer Rede so oft ohne Präzision verwendet - so aufzugliedern, daß die Konstitutionen von Welten in den Perspektiven einzelner Menschen und Gruppen sich nicht wie mögliche Irrtümer darstellen, denen gegenüber eine reale Welt Selbständigkeit hätte. Wenn die Welt im ganzen »die Gesamtheit der Tatsachen« ist, nicht der Dinge in ihr, und wenn niemand die Totalität der Tatsachen sieht, also der Zusammenhang ein unfertig erkanntes Sinngewebe ist, so müssen wir mindestens zwei Bedeutungen von Welt gelten lassen: die intentional als Bewußtes und Erscheinendes konstituierten Welten als Korrelat der jeweiligen Perspektiven, und andererseits - oder dahinter und darüber - die Gesamtwelt als Gesamtheit der Tatsachen. Ob dieses hierarchische Gefüge einen »sinnhaften Aufbau« nicht nur der sozialen, sondern auch der physischen Welt darstellt, also socio- und physiomorph eine letzte Einheit bildet, ist sowohl Gegenstand der Analyse der Philosophen als auch des Credos der Gläubigen. Es spricht viel dafür, daß die Theologie nicht auskommen kann ohne ein Konzept einheitlicher und sinnhafter Weltwirklichkeit, einer Sinntotalität also. Auch wenn diese Totalität noch nicht faßbar ist, so ist sie Gegenstand der Hoffnung oder des Bekenntnisses der Juden und Christen, daß sich im Gott Israels alle Perspektiven bündeln. In ihm, sagen sie, sind alle Konstitutionen von Welten konstituiert. Ich beziehe mich hier auf die in der Voranzeige zu I genannten Schriften von Alfred Scliütz, Peter Berger und Thomas Luckmann sowie auf die von Karl Mannheim entwikkelte Wissenssoziologie , z. B. die Sammlung Kurt Wolff (Hg.), Wissenssoziologie (Neuwied 1964). Vgl. auch Günter Dux, Die Logik der Weltbilder (Frankfurt 1981). Wolfhart Pannenberg verkoppelt sein Verständnis der Theologie als Wissenschaft von Gott (als der alles bestimmenden Wirklichkeit) mit der von den Gläubigen antizipierten Totalität der Wirklichkeit, einer Sinntotalität, s. WissTh 311-19 u. Ö. Als wissenschaftliche Hypothese oder auch als doxologische Aussage verstanden, ist das Konzept von ei-
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l. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstands/eides der Theologie
ner antizipierten Sinntotalität gewiß unproblematischer als es dies im deduktiven Zusammenhang der auf Erklärung gerichteten Funktion der Theologie wäre. Anders gefragt: könnte man Einzelerklärungen aufgrund der statuierten Sinntotalität vornehmen? Wäre dies möglich, so würde folgen, daß letztlich Gott (die alles bestimmende Wirklichkeit) die Erklärung von einzelnen Phänomenen oder Problemen ermöglicht. Der Glaube an Gott könnte dann eine Aufklärung für die Welt bedeuten. Ich werde in III C diese Frage, deren Entscheidung mir schwer fällt, wieder aufnehmen müssen, wenn ich dort die These erklären will, daß umfassende, letzte Hoffnungen kleinere bzw. nähere Hoffnungen legitimieren. - Es geht bei diesem Problem einerseits um die Gotteslehre bzw. das Verständnis der Funktion von Theologie, andrerseits um den Zusammenhang von menschlicher Erfahrung und Wirklichkeit, vgl. Pannenberg WissTh 312, schon 206-224.
3. GOlT - ODER WELTERKLÄRUNG?
Die Gegenüberstellung von Gott - und Welterklärung als mögliche Aufgaben der Theologie ist vordergründig. Der Gott, von dem und zu dem die Gläubigen sprechen, steht nicht den Perspektiven, die sie »bewohnen«, in denen sie die Dinge sehen und in denen sie auf Sinntotalität hoffen, derart gegenüber, daß er als Separat-Perspektive diesen Perspektiven gegenüber erklärbar wäre. Diese Feststellung spricht auch dafür, die Aufgabe der Theologie nicht in der direkten Erklärung Gottes sondern in der Erklärung des Sprechens über und zu Gott zu sehen.
Von der heutigen theologischen Gesprächslage her gesehen möchte man nur ungerne sagen, die Aufgabe der Theologie bestünde in der Erklärung der Welt. Zu viele Redner und Autoren nämlich, die ursprünglich von der Theologie her kamen, bemühen sich im Wettkampf mit Sozial- und Humanwissenschaftlern um die Erklärung der »Tatsachen«, die die Welt ausmachen. Sie scheuen zwar vor den physio-morphen Problemfeldern meist zurück, d. h., sie äußern sich nicht direkt zur Physik und Biologie usw., aber sie teilen mit andern Humanwissenschaftlern den vielleicht berechtigten Anspruch, socio-morphe Einsichten und Postulate seien aus ethischen Gründen ermächtigt, naturwissenschaftliche, medizinische und technische
C. Perspektiven der Welterklärung
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Fragen zu umgreifen. Sie berufen sich dabei auf die Gefahren, die der Menschheit drohen. Im Gegensatz dazu beharren aber andere darauf, die vornehmliche Aufgabe der Juden und Christen, und damit der Theologen, sei die Erklärung der Dinge Gottes. (Wenn ich auf dieser vordergründigen Ebene zur Entscheidung gezwungen wäre, würde ich die zweite Position wählen, weil es sinnvoller wäre, die Welt als in Gott enthalten zu statuieren, als umgekehrt Gott in der Welt). Nun ist diese Alternative aber vordergründig. Die Lösung liegt auch nur scheinbar in der Berufung auf die Ethik. Freilich ist es gut, wenn sich ein Humanwissenschaftler aus ethischen Gründen zu Problemstellungen und Aktivitäten der Naturwissenschaft, der Technik und der Medizin äußert. Das verlangt schon die politisch-ethische Verantwortung jedes denkenden Menschen. Von den Bekenntnissen Israels und dem Glauben der Christen her ist die Begründung aber tiefgreifender. Darum hat die Theologie auch weitergehende Gründe anzugeben als allein die ethische Verantwortung. Wenn der Gott, von dem Juden und Christen sprechen, nicht nur ein Stammesgott in der Perspektive gerade dieser beiden relativ kleinen Gemeinschaften ist, dann muß es im Zusammenhang mit dem Verständnis der Schöpfung theologische Gründe dafür geben, bei der Deutung dessen, was »Gott« genannt wird, zugleich das, was man »Welt« nennt, zu erklären. Hier bieten sich in der christlichen - auch in der jüdischen - Tradition verschiedene Möglichkeiten an. Die Gotterklärung kann entweder derart direkt sein, daß sie beansprucht, Gottes Beziehung zum Sein und Nichtsein, Werden und Vergehen und zur kausalen Verbindung der Dinge zueinander zu beschreiben. Gott wird dann entweder die Spitze einer Seinspyramide, oder deren Kausalgrund, oder - in modernerer Fragestellung - der erhoffte und erkennbare Sinn der Weltwirklichkeit. Oder sie kann indirekt in der Weise sein, daß sie nicht Gott, sondern die Rede von Gott zum Gegenstand hat. Die Begründung für diese Bescheidung ist wiederum in mehrere Möglichkeiten auffächerbar. Eine entstammt der Resignation, über mehr als sprachliche Entitäten ohnehin nicht sprechen zu können. Eine andere nimmt zum Ausgangspunkt die theologische Erkenntnis, daß Gott, will man ihn überhaupt wahrnehmen, in der Welt und damit auch in der Sprache angetroffen wird. Man könnte aufgrund dieser Ansicht z. B. nicht mehr separat über den Tod eines Mitmenschen und dann, wiederum sepa-
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstands/eides der Theologie
rat, aber mit der Absicht, die beiden Bereiche zu verbinden, über Gott sprechen, so, als sei man seiner habhaft geworden außerhalb des Lebens, in das der Tod des geliebten Menschen eingetreten ist. Man würde dann im tiefen Sinn des Wortes beim »Erklären« sOlWohl Teile der Welten (in denen wir in der Welt leben) erklären, als auch Gott, wiewohl nicht »direkt«, aber dennoch in der Weise, in der er in der Welt ist. Beim Sichten des theologischen Gegenstandsfeldes in Theologie, in der Kirche sowie im Umkreis der Kirche, fällt jedem Beobachter auf, daß die religiöse Erziehung der Kinder und wohl auch die von Theologen gesteuerte Unterweisung der Jugendlichen und Erwachsenen im allgemeinen zu einem doppelten Gottesbild geführt haben. Einmal neigen die Gläubigen und die Menschen in ihrem Umkreis zu einer monistischen Auffassung. »Wo ist Gott?«, fragten sie als Kinder und erhielten wohl oft die Antwort »Überall«. Erwachsene Gläubige vermuten ihn darum nicht selten in der Schönheit der Natur. Zum andern wurde ein dem Dualismus entstammendes Gottesbild vermittelt: Gott steht der Wirklichkeit der Welt wie ein Fremder gegenüber, als ein »ganz Anderer«, der aus nur ihm selbst bekannten Gründen gelegentlich in das Geschehen in der Welt eingreift; sein Eingreifen kann entlang, aber auch entgegen den uns bekannten Naturgesetzen erfolgen. Wenn diese Beobachtung richtig ist, so kann man sagen, daß die Gottesbilder in der christlichen Alltagssprache die klassischen Alternativen der Theologie, auch in ihrer außerbiblischen antiken Form, widerspiegeln. In Memory and Hope, 56-61, hatte ich zu der hier diskutierten Problematik zwischen »world-verification« und »revelation-verification« Typen von Theologie unterschieden und dann die Unterscheidung kritisiert. Jetzt beziehe ich mich nicht nur auf die Verifikation theologischer Aussagen, sondern ganz allgemein auf die Beschreibung des Gegenstandsfeldes der Theologie. Dabei entdecke ich, daß schon diese scheinbar nur ordnende _Vorentscheidung inhaltliche Aussagen über Gott zur Folge hat. Man könnte die Theologen testen: »Sage mir, was du erklären willst, und ich sage dir, welchen Gott du hast.« V gl. den Hinweis in 11 B 1 auf die partielle Rehabilitation der philosophischen Gottesbeweise bei Hubertus G. Hubbeling, Einführung in die Religionsphilosophie (UTB 1152, Göttingen 1981), 77-104. Man kann heute in der Theologie den hier genannten Problemen nicht mehr nachgehen, ohne die verschiedenen Facetten der Prozeßphilosophie und -theologie zu beachten. Zum Ganzen: Michael Welker, Universalität Gottes und Relativität der Welt, Theologische Kosmologie im Dialog mit dem amerikanischen Prozeßdenken nach Whitehead
C. Perspektiven der Welterklärung
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(Neukirchen 1981), sowie seinen Aufsatz »Whiteheads Vergottung der Welt« in NZSTh 24,2 (1982), 185-205. - Entscheidend in der Entwicklung der Prozeßtheologie waren Schubert M. Ogdens Aufsätze »The Reality of God« und »The Temporality of God« in: The Reality of God (New York 1963),1-70 bzw. 144-163.
4. DAS BÖSE UND DAS SINNLOSE
In neuerer Naturwissenschaft ist die griechische, auch noch von Kopernikus und Newton vertretene Unterscheidung zwischen Ordnung und Chaos, Festem und Beweglichem, durch Felder statistisch beschreib barer Wahrscheinlichkeiten weitgehend ersetzt worden. Das Böse und das Sinnlose können nicht mehr einfach mit Unordnung und Chaos, Gott und das Gute mit Ordnung gleichgesetzt werden - will man sich überhaupt in der Theologie durch wissenschaftliche Analysen der Weltwirklichkeit belehren lassen. Die Theodizee-Frage, weshalb Gott Böses zuläßt, stellt sich in neuer Weise und relativiert sich selbst, wenn der Gedanke erwogen wird, Ordnung sei die Ausnahme als statistische Dichte der Abwesenheit von Unordnung. Ist der Übergang von physio-morphem zu socio-morphem Denken erlaubt, so ist der Schluß möglich, Liebe, Friede und Gesundheit seien die Ausnahme, Haß, Krieg und Krankheit die Norm. Das hätte große Konsequenzen für das Verständnis von Gott. In der Konfrontation mit dem Bösen, dem Tragischen und dem Chaos stellt sich die Frage nach der Welt- oder Gotterklärung aufs neue. Soll das Phänomen der Unordnung und des Chaos - wenn man zunächst vom komplexeren Phänomen des Bösen als Ergebnis menschlicher Bosheit und UnvolJkommenheit absehen will- eine Frage an die Welt auslösen, so muß mit der Antwort gerechnet werden, die Welt sei in sich nicht einheitlich sondern zerfiele in geordnete und chaotische Dimensionen. Soll das Phänomen als Frage an Gott gerichtet werden, so muß mit der Möglichkeit gerechnet werden, Gott sei nur partiell an seinen Geschöpfen interessiert, oder er sei in sich gespalten, oder er sei zur Wahrnehmung seines Interesses nur partiell in der Lage.
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1. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstands/eides der Theologie
Die beiden Fragerichtungen haben in der Frömmigkeit der Gläubigen sowie auch in der Theologie ihren festen Platz. Die drei möglichen Antworten auf die Frage an Gott sind ebenso in der Kirche und Theologie immer wieder erwogen worden, wobei die limitierte Fähigkeit Gottes jedoch meist als die unwahrscheinlichste Möglichkeit angesehen wurde. Biblische Belege gibt es für alle genannten Alternativen, auch für die letzte. Die Schwierigkeiten einer Lösung des Problems sind von Hiob bis Auschwitz als so quälend empfunden worden, daß in der Alltagssprache, und sehr wohl auch in der Theologie, oft Scheinlösungen angeboten worden sind. Sie teichen vom Verzicht auf eine Totalsicht unter Berufung auf die Geheimnisse Gottes, bis zur Fragmentierung der Theologie (d. h. der Glaubensthemen) in voneinander unabhängige loci; vom Kurzschluß, alles Leiden sei von Menschen verursacht, bis zum hoffnungsvollen Trost, man würde später als gut ansehen lernen, was einem heute als böse erscheint; von der Bagatellisierung des Bösen bis zu der Aussage, für Gott könnte vielleicht als gut gelten, was den Menschen als böse gilt. In bezug auf Gott sind die Scheinlösungen schwerer falisifizierbar als in bezug auf die Weltwirklichkeit. Denn wer sagen will, Auschwitz - als Paradigma des Bösen und des Leidens in unserer Zeit - sei gottgewollt oder gut, wenn auch nur für spätere Erkenntnis, muß zu reden aufhören, weil mit ihm Theologie und Humanität zu Ende gingen. Will man, wie anfangs beabsichtigt, die Frage nach menschlicher Bosheit zunächst zurückstellen, so wäre es aber s~hon absurd genug, ein Erdbeben oder eine Überschwemmung, bei der Hunderttausende zu Grunde gehen, möglicherweise gottgewollt und gut zu nennen (will man sich nicht in die wenig befriedigende Teilerklärung zurückziehen, Menschen hätten sich nicht in den gefährdeten Gebieten ansiedeln sollen, bzw. nicht ihre unterprivilegierten Mitmenschen dort zum Wohnen nötigen dürfen). Die Weltwirklichkeit scheint bestimmte Gedanken über Gott zu versperren. Ob das umgekehrte auch der Fall ist, daß das Bekenntnis zum Gott Israels und zum Ursprung von Jesus bestimmte Gedanken über die Welt blockiert, ist ein genuines Thema der Theologie. Wenn Welt- und Gotterklärung zusammengehören, so bedingen sich auch die beiden Blockierungen. Das würde aber bedeuten, daß - über die Scheinlösungen des Problems hinaus - auch die echten theologischen Alternativen mindestens teilweise durch die Analyse der Weltwirklichkeit mitbestimmt sind. Die Sorge
C. Perspektiven der Welterklärung
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vor »natürlicher Theologie« ist hier voreilig. In der Tat haben die Ergebnisse der klassischen und dann der heutigen Physik, Astronomie und Biologie einen echten Anteil an der Bearbeitung des ursprünglich theologischen Problems des Phänomens der Unordnung, des Chaos und des Bösen. Klassische Naturwissenschaften hatten sich - parallel zur Theologie - auf Ordnung neben scheinbarer Unordnung konzentriert. Die Unordnung schien am Rand zu verbleiben, die Aufgabe der Forschung wurde als ein Ordnen des bisher als Unordnung angesehenen Feldes definiert. Die Theologie verhielt sich ähnlich: Gott stand auf der Seite der Ordnung. Heute beginnt man anders zu urteilen. Die dualistische Scheidung zwischen Festem und Bewegtem, Geordnetem und Freiem, die auch in der kopernikanischen Wende und durch Newton nicht überwunden wurde, gibt heute einer anderen Sicht Raum, die in diesen Phänomenen ein Feld statistisch beschreibbarer Wahrscheinlichkeiten erkennt. Die Übergänge zwischen gesetzmäßiger Ordnung, Unordnung, »Verschwendung« und Chaos scheinen fließend geworden zu sein. Vielleicht ist das, was man jahrtausendelang als »Ordnung« und als Norm bezeichnete, nur die Ausnahme inmitten statistischer Unwahrscheinlichkeit. Vielleicht ist das, was wir als unsere Umwelt beobachten können, darum weitgehend geordnet, weil unser Leben nur in der »ökologischen Nische« dieser engen Umgebung gelingen kann, wir uns also durch die Alltagswahrnehmung statistisch täuschen lassen. Sollten diese physio-morphen Überlegungen auf die socio-morphen Bereiche übertragbar sein, wie manche heute sagen wollen, so wäre der Schluß erlaubt, Gesundheit sei die Ausnahme von Krankheit. Friede die Ausnahme von Krieg, Liebe die Ausnahme in einer Welt des Hasses. Eine heile Ehe, ja, eine heile Welt, wäre ebenso eine Ausnahme - eine Gnadewie das erfüllte Leben Abrahams: »So starb Abraham in schönem Alter, alt und lebenssatt« (Gen 25,7). Vieles spricht dafür, daß es sich so verhält. Diese Einsicht wäre aber, in klassisch theologischer Weise gesehen, kein genuin theologisches Urteil. Es wäre ein mindestens teilweise aus der Analyse der Weltwirklichkeit gewonnenes Urteil. Ich verdanke zwei großen theologischen Konzepten, von deren Richtigkeit ich zwar nicht überzeugt bin, dennoch die Einsicht, daß die klassische Polarisierung zwischen Offenbarung und Analyse der Weltwirklichkeit vielleicht überwindbar ist. Ich meine die Prozeßtheologie und die zahlreichen Arbeiten von Thomas F. Torrance (der der Prozeßtheologie äußerst kritisch gegenübersteht), vgl. Literatur in der Voranzeige zu Teil II, so-
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstands/eides der Theologie
wie in 11 C 5. - Wie immer man über diese theologischen Entwürfe urteilen mag, es ist ganz gewiß, daß die wissenschaftstheoretische Neuorientierung der Physik und der Biologie (um nur diese zu nennen) dazu beitragen, alte Frontstellungen und Polarisierungen zu überhöhen, wenn auch nur aus dem Grund, daß mit Feldtheorie und neuen Kausalitätskonzepten die klassisch-dualistische Aufteilung in Ordnung und Unordnung aufgehoben ist. - Reiches Material zu diesen Fragen findet sich bei dem Kantianer Carl Friedrich v. Weizsäcker, Die Einheit der Natur (München 1971) und: Der Garten des Menschlichen, Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie (München 1977). Ich kann mir vorstellen, daß Kar! Barth, der Offenbarungstheologe der Neuzeit schlechthin, diese theologische Entwicklung begrüßt und zu ihr beigetragen hätte. Er stand in seiner Zeit aber noch ganz unter dem negativen Eindruck einer naiven Vereinnahmung moderner Naturwissenschaften für theologisch-apologetische Zwecke, die für ihn unmöglich akzeptabel war.
5. ANALYTISCHES GEGENÜBER HERMENEUTISCHEM VORGEHEN Steht das Erklären als mögliche Aufgabe der Theologie überhaupt zur Debatte, was kaum in Frage gestellt werden kann, so müssen die verschiedenen, in der Theologie tatsächlich geübten Interpretations- und Erklärungsweisen in die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie miteinbezogen werden. Dabei zeichnen sich vor allem zwei unterschiedliche Weisen des Vorgehens ab: die analytische und die hermeneutische Methode. Wiewohl letztlich nicht unvereinbar (und in neuerer Wissenschaftstheorie bereits kompliziert gegeneinander balanciert), hat sich doch in der Theologie ein Gegensatz zwischen den beiden Methoden ergeben. Nach langer Vorherrschaft der hermeneutischen Vorgehensweise gelangt heute die analytische Methode zu steigendem Einfluß·
Welterklärung kann in sehr unterschiedlichen Weisen vorgenommen werden. Die spezifischen Fähigkeiten des Menschen, Sachverhalte zu interpretieren, können in unterschiedlicher Gewichtung ausgenützt werden: die Fähigkeit des Bewußtseins, sich an anderm Ort und in anderer Situation vorzustellen, das Bewußtsein zeitlicher Strukturen und Differenzen (Diachronizität), die intellektuelle Möglichkeit der Differenzierung, Generali-
C. Perspektiven der Welterklärung
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sierung sowie der Hypothesenbildung, das Absondern des Wesentlichen aus seinem Umfeld, das Erkennen von Werten u. a. m. Aus diesem Arsenal können einige Faktoren zuungunsten anderer hervorgehoben und zum Ausgangspunkt der Interpretation eines Dinges, einer Tatsache oder irgendeines Gegenstandsfeldes gemacht werden. Die krasseste Unterscheidung möglicher Interpretationsweisen wäre die Fixierung der extremen Positionen des wertneutralen Positivismus gegenüber bewertendem Interpretieren von Bedeutungsinhalten. In der Anwendung auf die Theologie würden sich diese radikalen Positionen aus der Philosophiegeschichte nicht eignen. Auch die mit ihnen verknüpfte Unterscheidung von naturwissenschaftlichem Erklären und geisteswissenschaftlichem Verstehen paßt wenig auf das, was tatsächlich in Theologie und Kirche geschieht, zudem ist diese Aufteilung überstark an den heute veralteten erkenntnistheoretischen Grundthesen der Naturwissenschaften des späten 19. Jahrhunderts orientiert. Eine weniger krasse Unterscheidung läßt sich jedoch durchaus beobachten. Neuere Untersuchungen zum Vorgang des »Verstehens« haben ge- . zeigt, daß auch im Verstehensprozeß von Anfang an »erklärende« Faktoren mit im Spiel sind. Eine Konzentration oder Bescheidung auf den erklärenden Anfang dessen, was man in der Hermeneutik Verstehen oder auch Einfühlung genannt hat, begründet und eröffnet den Weg zum analytischen Vorgehen. Hier trennen sich allerdings bald die Wege zwischen den beiden Weisen, eine Interpretation vorzunehmen. Das analytische Vorgehen beginnt deskriptiv und verleugnet nicht seine Sympathie für einen empiristischen Ansatz (den nur der Unkundige mit Positivismus verwechselt). Es konzentriert sich auf die Analyse der Bedingungen, die zur Konstitution dessen geführt haben, was interpretiert wird. Auch die Frage nach Regeln - durchaus in Analogie zu den »Gesetzen« in den Naturwissenschaften - steht im Mittelpunkt der Suche. (Der Unter• schied zwischen Naturgesetzen und Regeln im Sprach- und Sozial-Verhalte,n der Menschen ist von dem Augenblick an weniger gravierend als bisher, an dem bemerkt wird, daß Naturgesetze nicht die Gesetze sind, nach denen sich die Natur verhält, sondern das Konzentrat menschlicher Verstehensbedingungen für das Verhalten der Natur). Im analytischen Erklärungsprozeß fragt man nach dem, »was der Fall ist«, wie es so hat kommen können, welche Regeln darin offen oder heimlich entdeckt werden können, und
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie
freilich wird auch danach gefragt, ob hier Wahrheit oder Unwahrheit vorliegt und ob und wie man wahre, verständliche Aussagen darüber machen kann. Das analytische Vorgehen ist der Frage nach dem Wert oder Unwert einer interpretierten Sache, die der Fall ist; nicht abhold. Aber es fragt nicht vornehmlich und zuerst danach; vor allem will es sich nicht darauf einlassen, nach der »Bedeutti.ng« einer Sache so intensiv zu suchen, als sei sie von der Sache selbst abhebbar. Das analytische Vorgehen ist zunächst an einer Distanz interessiert, um nachher mit der Analyse der Konstituenten und Regeln der interpretierten Sache umso dringlicher die Frage nach der Wahrheit und Verbindlichkeit zu stellen. Anders ist das hermeneutische Vorgehen. Hermeneutik - im engeren Sinn - ist die Kunst der Interpretation von Gegenständen und vor allem Texten aus der jüngeren und ferneren Vergangenheit, wobei die Suche nach der die Zeit überbrückenden Bedeutung für den Interpreten ganz im Mittelpunkt steht. Die Untersuchung der Traditionsbildung ist ein wichtiger Bestandteil dieses Vorgehens, denn es gilt ihm als sicher, daß die Bedeutungsinhalte der Vergangenheit nur darum tradiert worden sind, weil sie sich in je neuen Taditionen haben durchsetzen können. Der Beobachter selbst sieht sich als Teil der Geschichte der Selbstdurchsetzung der Bedeutungsinhalte. Dadurch erhalten sowohl die Geschichte als auch die in der Existenzphilosophie untersuchten Existentialien ein erhebliches Gewicht in der Reflexion über Interpretation. Bis vor wenigen Jahren galt es in der Theologie als ausgemacht, daß der hermeneutische Denktypus auf sie eher paßt als der analytische. In ihm will man sich keine analytische, anfängliche Distanz leisten, es soll sogleich nach einer die Existenz des Interpreten in Frage stellenden und sie erneuernden Geltung des Interpretierten gesucht werden. Altes wird über die Zeiten hinweg als Neues relevant gemacht, was nur darum möglich ist, weil im Interpretierten bleibend Gültiges ruht: dies zu verstehen ist die Aufgabe der Interpretation nach dem hermeneutischen Denktypus. Was der Autor eines alten Textes sagte, gilt es so vollständig nachzuvollziehen, daß im Verstehen sein geistiges Produzieren und mein Reproduzieren zu meinem neuen geistigen Produzieren wird. Dabei darf Unwesentliches durchaus am Rand liegen gelassen werden, ja, echte Interpretation durchdringt in der Frage nach dem Wesentlichen alle zeitgebundenen Aussagen und Strukturen (»Entmythologisierung« ist möglich und nötig). Das immer gültige Be-
C. Perspektiven der Welterklärung
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deutsame wird in der Form von Axiomen ausgedrückt. Auf die kritische Nachfrage nach der Begründung wird man im hermeneutischen Denktypus leichter als im analytischen auf die Nicht-Objektivierbarkeit und NichtHinterfragbarkeit der Axiome auszuweichen bereit sein. Damit verbindet sich nicht selten eine anti-philosophische und gewiß eine anti-rationalistische Tendenz. Es ist theologie- und ideengeschichtlich gesehen nicht ganz zufällig, daß sich der hermeneutische Denktypus in ausgeprägtester Form am meisten in den lutherischen und den methodistischen Kirchen und Theologenkreisen ausprägen konnte. Erst vor kurzem sind Zweifel an der unumschränkten Geltung der hermeneutischen Methode für die Theologie laut geworden. Der Einfluß der englisch-sprachigen Analytischen Philosophie und der mit ihr im Gespräch befindlichen Theologie hat diese Zweifel systematisiert. Die Literatur zur Frage VerstehenlErklären und zur Hermeneutik aus den vergangenen Jahrzehnten ist sehr breit gestreut. Ich erwähne hier nur: den Artikel von Josef Speck »Erklärung« in J. Speck (Hg.) Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, Bd. I (UTB 968, Göttingen 1980), 175-190 mit Bibliographie, sowie die Hans-Georg Gadamer gewidmeten Sammelbände Hermeneutik und Dialektik I und 11, (Hg.) R. Rubner u. a. (Tübingen 1970); die beiden in I B 1 genannten Bände von Paul Ricoeur: Hermeneutik und Strukturalismus sowie Hermeneutik und Psychoanalyse; Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse (Frankfurt 1968); Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, I u. 11 (Frankfurt 1973) sowie: Die ErklärenNerstehen-Kontroverse in transzendental-pragmatischer Sicht (Frankfurt 1979). Zur Theologie - Ernst Fuchs, Hermeneutik (Bad Cannstatt 1958) sowie: Zum hermeneutischen Problem in der Theologie (Tübingen 1959); Gerhard Ebeling, »Wort Gottes und Hermeneutik« in Wort und Glaube (Tübingen 1962), 319-348. - Zur neueren theologischen Aufarbeitung vgl. Gerhard Sauter, Vor einem neuen Methodenstreit in der Theologie (ThExh 164, München 1970) sowie vor allem seine »Grundzüge einer Wissenschaftstheorie der Theologie« in dem von ihm hg. Buch WissKrTh 211-332; bes. auch in Wolfhart Pannenbergs WissTh das 3. Kap. »Hermeneutik als Methodik des Sinnverstehens.« Beim Vorgang des Verstehens ist die Dimension des Intuitiven sehr wichtig. Beim Verstehen geht es um die Rechtfertigung, Anwendung und Bezeugung eines Vorverständnisses, beim Erklären jedoch nicht. Um einen echten Gegensatz handelt es sich nicht, ~ondern um eine unterschiedliche Erwartung an die Leistung der Interpretation und damit letztlich um verschieden verstandene »Gegenstände« der Interpretation. Die Psychoanalyse illustriert dies deutlich. Vgl. auch die Neubegründung religionspsychologischer Exegese in dem wichtigen Buch von Gerd Theißen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie (Göttingen 1983).
D. Die Träger der alttestamentlichen und christlichen Sichtweise
VORÜBERLEGUNG
Durch die folgende Skizze soll zum Nachdenken darüber eingeladen werden, wer eigentlich die Träger der biblischen Perspektive heute sind und welche soziologischen, psychologischen und historischen Elemente oder Faktoren, die ihre Trägerschaft konstituieren, theologisch von Belang sind. Die in der systematischen Theologie herkömmliche isolierte Betrachtung und Analyse von unterschiedlichen Traditionen und Lehrmeinungen soll im folgenden zwar nicht ersetzt oder abgetan, aber doch durch eine vorgängige phänomenologische Beschreibung in einen weiteren und konkreteren Zusammenhang gestellt werden. Die eigentlichen Träger der alttestamentlichen und der christlichen Perspektiven sind ja nicht die Rabbiner in den Synagogen und die theologischen Lehrer der Kirche, sondern die Fülle der heterogen zusammengesetzten Gruppen und Gemeinschaften von Juden und Christen, die als Kinder und Erwachsene, Alte und Kranke, Frauen und Männer, Gesunde und Behinderte, Arme und Reiche, Privilegierte und Verfolgte, Unwissende und Geschulte mindestens in der Weise zum Judentum oder zur Kirche gehören, daß sie sich - allerwenigstens zeitweise - selbst so definieren oder doch sich auf ihre Zugehörigkeit ansprechen lassen. Das qualvolle und nicht mehr zu lösende Problem auch dieser vorläufigen Analyse liegt in der in der Alten Kirche entschiedenen Abtrennung der Kirche vom Diasporajudentum. Die biblische Rede vom »Volk Gottes« kann nicht mehr ungeniert verwendet werden. Qualvoll, jedoch schon eher behebbar , ist auch die faktische Tyrannis historisch gewordener theologischer Lehrmeinungen über die Gefühle, den Willen und Glauben von Millionen von Gläubigen. Damit verbunden ist das Phänomen der institutionellen Gestalt und Struktur der tatsächlich existierenden kirchlichen Gemeinschaften und Gruppen.
D. Die Träger der alttestamentlichen und christlichen Sichtweise
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Prüft man diese Phänomene und Probleme erneut im Licht der heftigen Kritik an den westlichen Kirchen, ihrer griechisch-römischen Denkstrukturen und euro-amerikanischen Lebensweise, wie sie heute zunehmend aus den Kirchen der Dritten Welt zu uns dringt, dann wird die Fülle der ungelösten Fragen und Aufgaben der Ökumene nur umso krasser deutlich.
1. DIE FRAGE NACH DER BREITE DER ÖKUMENE
Teilweise im Judentum, viel deutlicher aber noch in der christlichen Kirche besteht Unsicherheit über die Abgrenzung der Gruppe der Träger biblischer Sichtweisen. Zur Ökumene gehören Israel und die christliche Kirche, diese Ökumene aber ist faktisch nie dargestellt worden. Darin liegt das eigentlich ökumenische Problem. (Vgl. I H 6). In Theologie und Kirche unserer Zeit besteht eine deutliche Unsicherheit gegenüber der Frage, wer eigentlich die Träger der alt- und neutestamentlichen Sichtweise seien. Die eng an die Bibel angelehnte, aber aufunsere heutige Zeit allzu schnell übertragene Rede vom »Volk Gottes«, die in der theologischen Tradition bis in die jüngste Zeit oft anzutreffen war, will den heutigen Gläubigen nicht mehr leicht über die Lippen. Man befürchtet, damit eine selbstgefällige Eigenprädikation unter Abwertung anderer auszusprechen. Dahinter steht der berechtigte Zweifel, ob es theologisch überhaupt legitim sei, das »Volk Gottes« von anderen Menschen derart abzugrenzen, als sei nicht die ganze Menschheit durch das Kommen, Sterben und Auferwecktwerden von Jesus betroffen, die Geschichte und Erwählung Israels also auf alle Menschen »ausgeweitet«. Auch das Wort »Gläubige«, das in diesem Buch risikoreich verwendet wird, ist doppelt belastet. Zum einen gibt es in allen Religionen und auch Ideologien Gläubige; mit dem Begriff ist also noch nichts Spezifisches gekennzeichnet. Zum andern ist der Begriff nur religionspsychologisch wirklich faßbar, würde also bei einer Verwendung für Juden und Christen nur
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstands/eides der Theologie
für diejenigen zutreffen, die tatsächlich einen echten religiösen Glauben in konkreter Zuspitzung auf den Gott Israels (und seine Selbstpräsentation in Jesus von Nazareth) haben. Das ist darum risikoreich, weil man von vielen Juden und Christen nicht sagen kann, sie hätten ständig, oder über Jahre, oder zu genau benennbaren Zeiten, eben diesen Glauben. Auch wenn man »Glaube« im Sinn der meisten biblischen Schriften als Mitgehen, »DrinStehen«, auf-dem-Weg-Sein versteht, und nicht als ein Akzeptieren von übernatürlichen Wahrheiten oder Einsichten, so möchte man dieses bewußte Teilen der Story Israels und der Kirche nicht leichtfertig als Kriterium der Zugehörigkeit bezeichnen. Die eigentliche Schwierigkeit liegt aber tiefer. Die Trennung der christlichen Kirche von Israel macht eine gemeinsame Bezeichnung zur Qual, weil sie an die unerfüllte Verheißung des Neuen Testaments, besonders des Epheserbriefes, auf das Fallen der Trennwand zwischen Juden und Heiden erinnert, mehr noch, während es bis in unser Jahrhundert für Juden nahezu unmöglich ist, sich bei Verfolgungen von ihrer Identität und ihrem Volk loszusagen, haben Christen zu allen Zeiten mit Leichtigkeit ihren Glauben verleugnen und sich in unverdiente Sicherheit bringen können. Äußerlich gesehen ist das, was bei den Juden kulturelle Assimilation ist, bei den Christen die Volkskirche. Aber in Krisenzeiten nützte und nützt die Assimilation den Juden nichts oder wenig, während die sogenannten Mitglieder der Volkskirche - es gibt sie rechtlich definiert nur in einigen europäischen Ländern - sich jederzeit distanziert verhalten können; ihren eigenen Kirchengemeinschaften gegenüber zeigen sie auch in friedlichen Zeiten eine erwartungsvolle, aber selten einsatzbereite Haltung. Zur Ökumene gehören Israel und die christliche Kirche. Aber diese Ökumene ist faktisch nie dargestellt worden, hat sich nie als solche anreden lassen und sich selbst so bezeichnet. Diese Trennung, oder unerfüllte Hoffnung, geht allen konfessionellen Trennungen und unerfüllten Hoffnungen auf die Einheit der Kirche voraus. Sie ist das eigentlich ökumenische Problem. Ihr gegenüber verblassen die beiden anderen Probleme der innerchristlich verstandenen ökumenischen Bewegung: die tiefen Klüfte, Trennungen, Spannungen und Streitigkeiten zwischen den großen christlichen Traditionen und Konfessionen einerseits, und die schwer definierbaren, ausgefransten Ränder der christlichen Konfessionen und Kommunitäten andererseits.
D. Die Träger der alttestamentlichen und christlichen Sichtweise
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Das erste Problem ist bei Beachtung aller historischen und soziologischen Faktoren, die zur Herauskristallisierung von Konfessionen geführt haben, letztlich ein genuin theologisches Thema. Kann man auf nicht nur verschiedene, sondern auf nicht harmonisierbare Weise die Story Israels und der Kirche erzählen und feiern und sich widersprechende Summierungen und Ableitungen von Summierungen der Story zur Wahrheit erklären, so daß die wirkliche Wahrheit nicht etwa - wegen Detailirrtümern - in der Mitte liegt, sondern von jeder Gruppe für sich beansprucht werden kann? Das andere inner-christliche ökumenische Problem ist die Nicht-Definierbarkeit der Ränder der Kirche. Bei genauerer Analyse stellt sich dieses Problem auf doppelte Weise dar: während die Theologen als Hüter ihrer konfessionellen Traditionen wirken, die anderen Gläubigen aber meist nur durch besondere Belehrung oder gar Überredung die konfessionellen Grenzen wichtig nehmen, besteht für die Organisatoren der ökumenischen Bewegung noch ein zusätzliches Problem in der Frage, welche Klein- und Sondergruppen der alten, westlichen, aber nun auch der Dritten Welt, zur christlichen Ökumene gerechnet werden können. Die »konfessionskundliche« Sicht ist eine typisch akademisch-theologische Perspektive, die gewiß ihr eigenes Recht hat. In ihr spielt die Kompatibilität der ausformulierten Glaubenssätze einer Kirchengemeinschaft oder Konfession mit allgemeinen Grundsätzen der Ökumene, bzw. mit einer schwer artikulierbaren »Mitte« der Ökumene, eine entscheidende Rolle. Dabei werden die einzelnen Mitglieder der jeweiligen Kirchengemeinschaft durch das Ernstnehmen der dogmatischen Konstitutionen ihrer Gruppe durch andere Beurteiler einfach vereinnahmt. Das ist unvermeidlich, deckt die Wirklichkeit aber nur zum Teil ab. Außer der konfessionskundlichen ·Sicht ist folglich auch noch die Frage nötig, inwiefern diejenigen, die als Christen bezeichnet werden, sich selbst spezifisch definieren. Eine Vielzahl von Christen - nicht nur in den europäischen Volks kirchen - tritt nicht durch eigene, bewußte und aktive Artikulation hervor, sondern eher durch Ansprechbarkeit oder mindestens Erinnerbarkeit. Die Ränder der Kirche sind also nicht nur nach außen, sondern durchaus auch nach innen ausgefranst. Einen bedeutenden Neuansatz über die klassische Konfessionskunde hinaus brachte das Buch von H. Richard Niebuhr, The Social Sources ofDenominationalism (New York 1929, 12. Auf!. 1968).
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Die tiefsten und anregendsten Gedanken zur heutigen ökumenischen Arbeit finde ich bei Ernst Lange, Die ökumenische Utopie - oder Was bewegt die ökumenische Bewegung? (Stuttgart 1972). Sein früher Tod bedeutet einen großen Verlust. Es ist sehr wohl möglich, daß - in Hinsicht auf statistisch messbaren Einfluß - die Zukunft der christlichen Kirche in den kommenden Jahrzehnten weitgehend von den Kirchen in Afrika bestimmt werden wird. Im Vergleich zu den schönen Jahren der frühen ökumenischen Bewegung, als sich Protestanten und Katholiken in Begegnungen und Freundschaften neu entdeckten und als zwischen den westlichen Kirchen und der Orthodoxie des Ostens neues und bisher unbekanntes Vertrauen wuchs, wird der Einfluß Afrikas (und Asiens) viel schwerere Probleme bescheren: man wird bei uns die Kirchen dieser Länder entweder idealisieren oder ihren Einfluß als irrelevant bagetellisieren.
2. VORREFLEKTIVE INTENTIONALITÄT: »MITMEINEN«
Ausformulierte Credos oder Glaubenssätze sind nicht Basis oder Anfang persönlichen Glaubens. Sie sind vielmehr Endprodukt und Kristallisation kommunikativen Austauschs zwischen Gläubigen. Ohne die vorgängigen menschlichen Realitäten des Vertrauens und des Willens bleiben sie irrelevant und für den einzelnen unwahr. Der Vertrauenshorizont, an dessen Basis das Akzeptieren der eigenen und fremder Identität sowie eine mindestens minimale Zuversicht in die Stabilität der Welt steht, gibt dem Willen Orientierung und Legitimität. So verhält es sich auch, wenn der Wille auf die »Dinge Gottes« gerichtet ist: auch dann ist das Vertrauen Voraussetzung des Willens und beide Voraussetzung für ausformulierte Glaubenssätze.
Aus verständlichen Gründen neigt man in der Theologie von jeher dazu, korrekte Information sowie die Artikulation von Gedankeninhalten überaus hoch einzuschätzen. Zwei andere als diese rein intellektuellen Faktoren, das Vertrauen und der Wille, sind jedoch wenigstens ebenso wichtig und haben sogar logische und psychogenetische Priorität gegenüber dem Bereich der ausformulierten Gedanken. Nicht, daß man in der Theologie diese Faktoren verneint oder unterschätzt hätte, man hat sie aber gewöhnlich aus dem eigentlichen Bereich der Theologie in die Praxis, Seelsorge, Pädagogik, usw. verwiesen. Das ist darum verständlich, weil sich das Vor-
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reflektive, das Intentionale, das untergründig Gewollte, das Mit-Gemeinte dem intellektuellen Apparat klassischer Theologie eher entzieht und nicht direkt als Thema anbietet. Neuere Erkenntnistheorien aber, sowie auch sprachpilosophische Ergebnisse, rechtfertigen die Trennung zwischen einer auf korrekte Aussagen konzentrierten Theologie und ihrer praktischen Anwendung im menschlichen Bereich des Vertrauens und Tatwillens eigentlich nicht mehr. Freilich kann die Theologie, der es in ihrer eigentlichen Aufgabe um regulative Sätze geht, nicht leicht das Vorreflektive zum Thema ihrer auf Verständlichkeit und Verbindlichkeit gerichteten Reflexion machen. Aber sie sollte den Zusammenhang zwischen den beiden Bereichen nicht aus dem Auge verlieren, so als sei das Ausformulierte, Reflektierte eine eigene Wirklichkeit, die über dem schwebt, was einen gläubigen Menschen ausmacht. Ausformulierte Credos oder auf sie bezogene regulative, theologische Sätze sind nicht, wie man aus praktisch-katechetischen Überlegungen oder historischen Beobachtungen voreilig schließen mag, der Anfang oder die Basis persönlichen Glaubens, Vertrauens und Wollens. Vielmehr sind sie Kristallisation und Endprodukt kommunikativen Austausches innerhalb der Gruppen der Gläubigen und sind damit eher mit der Spitze eines Eisberges als mit dem Fundament eines Gebäudes zu vergleichen. Man ist nicht ein Jude, weil man Dtn 6 für richtig hält, oder ein Christ, weil man das Apostolische oder das Nicänische Glaubensbekenntnis oder die chalcedonensische christologische Formulierung akzeptiert hat. Freilich wird man als Jude, wenn man nach seinem Weg mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs gefragt wird - katechetisch - auf die Tora verweisen und auf Summierungen wie Dtn 6, und als Christ, wenn man über seinen Glauben Rechenschaft geben soll, ein Credo zitieren können. Aber das bedeutet nicht, daß im persönlichen Glauben, Vertrauen, Fühlen, Hoffen und Denken diese Texte am Anfang standen. Von ganz wenigen, absonderlichen Ausnahmen abgesehen, kommt ein Mensch zum Glauben durch den Einfluß anderer Menschen, allermeist der Eltern oder anderer, erfahrenerer Bezugspersonen. Diese simple Wahrheit ist darum theologisch von Belang, weil durch sie auf den weiteren Vertrauenshorizont aufmerksam gemacht wird, innerhalb dessen oder in bezug auf den credo-hafte Aussagen überhaupt erst möglich werden. Wer nichts, aber auch gar nichts in den Welten, in denen er lebt, vertraut: weder seiner
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noch seiner Mitmenschen Identität, weder seinen Urteilen noch denen anderer, auch keinem Fahrzeug, keiner Brücke, keinem Werkzeug, der kann auch die Tora nicht beachten und kein christliches Credo aussprechen. Mit dieser Behauptung ist kein »religiöses Apriori« statuiert, im Gegenteil, der Vertrauenshorizont ist durch Erfahrung, aposteriori, von derfrühen Kindheit an geprägt und getestet worden. Es ist mit dieser These auch keine »natürliche Theologie« behauptet worden. Vielmehr ist durch sie auf das faktische Funktionieren unserer Weise, uns in den Welten der Welt zurechtzufinden, hingewiesen. Niemand kann ohne diese Mitte des Vertrauens, ohne diese Gewißheit der Unverwechselbarkeit seiner eigenen Story und ihrer mindestens minimal stabilen Beziehung zur Umwelt überhaupt leben, jedenfalls niemand, der im weitesten Sinn des Wortes psychisch normal ist. Am Vertrauenshorizont ist auch der menschliche Wille orientiert und legitimiert. Der Wille, eine Sache auszuführen oder bei einem Vorhaben, einer Gruppe, einem Versprechen, einer Hoffnung zu bleiben, setzt diesen Horizont voraus. Aber beides, das Vertrauen und der Wille sind in einem Men: schen schon am Werk, bevor eine intellektuell überprüfbare Artikulation oder Rechenschaftsabgabe möglich wird. Wenn diese Skizze der Zusammenhänge zwischen vorreflektiver Intentionalität und überprüfbarer, begrifflicher Äußerung auch nur im Groben richtig ist, so folgt, daß die mit der Befreiung und Berufung Israels beginnende Perspektive von heutigen Gläubigen keineswegs nur, sondern nur letztlich in theologisch reflektierten Sätzen aufzeigbar ist. Viele Gläubige unserer Zeit, die ihre Teilhabe an der Story Israels und der Kirche persönlich bejahen, finden sich in den theologischen Artikulationen der traditionellen Kirche und der heutigen Theologen nur schwer wieder. Sie verharren oft lieber im Bereich des Vorreflektiven oder sehen in ausformulierten theologischen Sätzen nur Experimente oder austauschbare Credos der Theologen. Diese skeptische oder ablehnende Haltung hat mit der falschen Annahme zu tun - von den Theologen nicht selten bestärktausformulierte Sätze seien die Basis des Glaubens. Die Ironie ist perfekt, wenn man die Lage so sieht: im echten, menschlichen Leben »weiß man mehr, als man sagen kann«, aber in der kirchlichen Lehre sagen die Theologen meist mehr, als man wissen kann. Michael Polanyi (s. leI) erklärt das Phänomen, daß explizite Erkenntnisse auf unspezifischen, stillschweigenden (tacit) Erkenntnissen beruhen. In der »tacit« Erkenntnis verlassen wir uns auf etwas, in der »focal« Erkenntnis
D. Die Träger der alttestamentlichen und christlichen Sichtweise
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konzentrieren wir uns auf etwas. In jedem Fall können wir mehr wissen, als wir sagen können. Der »Vertrauensrahmen« ist breiter als das explizit ausgedrückte Vertrauen. Außer Polanyis Hauptwerk Personal Knowledge, vgl. The Tacit Dimension (New York 1966). Ekklesiologische Folgerungen aus Husserls und neuerer Phänomenologie zieht Edward Farley in: Ecclesial Man, A Social Phenomenology of Faith and Reality (Philadelphia 1975). Das Buch bietet eine anspruchsvolle Morphologie der Wege vom vorbewußten Wahrnehmen und Erkennen zur credo-haften Artikulation. Farley ist Systematiker an der Vanderbilt University. In den 60er Jahren waren wir Kollegen in Pittsburgh, Farley hoffte damals, mit Husserls und Ricoeurs Phänomenologie theologische Konzeptualität neu begründen zu können, vgl. jetzt: Ecclesial Reflection, An Anatomy of Theological Method (Philadelphia 1982). Vgl. zum Ganzen meine Beobachtungen über das »Halo« bzw. den »Hof« beim Wahrnehmen, I C 1.
3. DIE SOZIALE VERMITTLUNG DER WIRKLICHKEIT
Die Basisvorgänge der frühkindlichen und kindlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit und ihre spätere Ausformung müssen auch Thema systematisch-theologischer Reflexion werden. Erst dann läßt sich über eventuell wesentliche Unterschiede zwischen biblischen und heutigen Weltbildern Gültiges ausmachen.
Die Basisvorgänge der Wahrnehmung der Wirklichkeit im Zusammenhang mit Symbolbildung und Sprache werden von der Psychologie, in neuerer Zeit von der Repräsentanzenlehre, untersucht und dargelegt. Sie betreffen die frühkindliche und kindliche Weise der Welt- und Ich-Wahrnehmung und werden in der Soziologie sowie in der Pädagogik als primäre oder erste Sozialisation bezeichnet. Die sekundäre Sozialisation geschieht durch das überaus komplexe Zusammenwirken von persönlichen und institutionellen Beziehungen, Beeinflussungen und Rollenzuweisungen, denen ausnahmslos jeder Mensch in seinem sozialen Umfeld ausgesetzt ist. Die theologische Reflexion über diese Sachverhalte hat in vergangenen Generationen in quasi vorwissenschaftlicher Weise durchaus auch stattge-
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funden. Die Grundlage war jeweils die Erfahrung in der Kindererziehung. Aber erst in jüngster Zeit hat eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den theologischen Dimensionen und Auswirkungen der psychologischen und soziologischen Ergebnisse der Sozialisationsforschung begonnen. Klare Positionen zeichnen sich bisher nur in Umrissen in der praktischen Theologie, aber noch gar nicht in der systematischen Theologie ab, d. h., die Probleme sind bislang nur auf die Anwendung aber noch nicht auf die regulativen Sätze der Theologie hin bearbeitet worden. Neben der Frage der Pluralität der Sichtweisen von Weltwirklichkeit unter den Gläubigen stellt sich als hauptsächliches Problem die Differenz zwischen biblischen und heutigen Konzepten von Weltwirklichkeiten dar. Vermitteln - bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Empfängern des Sozialisationsprozesses - heute die Institutionen und die wesentlichen Bezugspersonen einem Kind und Erwachsenen ein Bild der Wirklichkeit, das vom alt- und neutestamentlichen Bild so radikal verschieden ist, daß dies theologisch wirklich von Belang ist, oder sind die synchronischen Unterschiede nicht erheblicher als die diachronischen? Zur Repräsentanzenlehre: während S. Freud von Repräsentanzen nur im Hinblick auf biologische Triebe sprach, die sich in der Psyche abbilden, spricht neuere Lehre (D. Beres, E. Joseph, H. Hartmann) in differenzierter Weise von der frühkindlichen Entwicklung zur Selbst- sowie zur Objekt-Repräsentanz und versteht unter der dabei eintretenden Symbol bildung nicht mehr - wie Freud - einen Verdrängungsprozeß. Alfred Lorenzer , in Sprachzerstörung und Rekonstruktion (Frankfurt 1973), sowie Kritik des psychoanalytischen Symbolbegriffs (Frankfurt, 2. Auf!. 1972), unterscheidet bewußte Repräsentanzen, die sich in Symbolen darstellen, von unbewußten, die in Klischees abgesunken sind. Theologisch ist von nicht geringem Interesse die Folgerung, daß Symbole Ausdruck eines reifen, normalen Menschen sind, Klischees aber Unfreiheiten, Zwänge und neurotisches Verhalten signalisieren und auch bewirken. S. auch Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 2, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft (Frankfurt 1977). Vgl. freilich auch Erik H. Erikson, Childhood and Society (New York, 1950,2. Auf!. 1963, dt. 3. Auf!. 1968). Zur viel diskutierten Frage des Unterschiedes zwischen den Weltbildern der biblischen Autoren und den unsrigen wird man wohl sagen können, daß sich mindestens das Erlebnis der Körper-, Objekt- und Selbstrepräsentanzen zwischen damals und heute nicht so geändert hat, daß daraus relevante Schlüsse gezogen werden könnten. Die diachronischen Differenzen liegen jedenfalls nicht in diesen den Menschen konstituierenden Basiserfahrungen .
D. Die Träger der alttestamentlichen und christlichen Sichtweise
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DIE UNWIRKLICHKEIT DES GLAUBENS
Wenn es auch wahr ist, daß Gotteserfahrung und Welterfahrung ineinander greifen, nicht zwei Welten oder zwei Wirklichkeiten repräsentieren, die in je separaten Perspektiven ergriffen werden könnten, so widerstreitet doch die erfahrene Wirklichkeit oft dem Inhalt des Glaubens. An dieser Einsicht bricht die doppelte Frage auf, ob etwa die Weltbilder der biblischen Autoren ihrem Glauben mehr kongenial waren als unsere heutigen Weltbilder unserm biblisch begründeten Glauben; und ob die erfahrene Wirklichkeit immer und völlig oder nur zeit- und teilweise den Glauben zu falsifizieren scheint.
Psychologische Überlegungen anhand von exegetischen und allgemein historischen Befunden legen die Ansicht nahe, von einem generalisierten Urteil über die Differenz zwischen der biblischen und der heutigen Weitsicht Abstand zu nehmen. Die Unterschiede innerhalb der Sammlungbiblischer Bücher sind erheblich, und man wäre naiv, wollte man die heute bestehende Vielfalt bagatellisieren. In der Bibel sind die Sichtweisen der Weltwirklichkeit von den großen Propheten bis zur Priesterschrift, vom Deuteronomisten bis zu Hiob, vonPaulus zu Johannes, von der lukanisehen Theologie bis zum Hebräerbrief derart vielfältig, daß es wahrhaft einfältig ist, »ein biblisches Weltbild« etwa durch Dreistöckigkeit, durch besondere Offenheit für Wunder oder durch Dämonenglauben charakterisieren zu wollen. Ähnlich sinnlos wäre es, angesichts der enormen Unterschiede zwischen Menschen heutiger Kulturen, Sozial-, Berufs- und Bildungsschichten einen »modernen Menschen« mit einem für ihn typischen Weltbild statuieren zu wollen. Man will es kaum glauben, daß hochgebildete Autoren beides bis in die jüngste Zeit hinein trotzdem immer wieder versucht haben. Hingegen ist es weder einfältig noch sinnlos, im Gegenüber zum Glauben an die Zusage und Zuverlässigkeit des Gottes der Bibel die von Menschen damals und auch heute erlebte bzw. konstituierte Weltwirklichkeit als einen einheitlichen Widerspruch oder eine Widerlegung des Glaubens anzusehen. Abraham ohne Nachkommen als Empfänger der Verheißung, das hungernde Israel in der Wüste, Hiob vor dem Nichts, Jesus zwischen Verbrechern am Kreuz ohne Gottesbeweis, Paulus im Gefängnis, und seither
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alle, die gegen Evidenz und Beweis aus der Welt um sich herum als Gläubige lebten und starben, erfuhren eine Weltwirklichkeit, die eben ihr Credo nicht unterstützte, sondern gerade in Frage stellte. Es fragt sich nun, welche Dimensionen des Glaubens an den biblischen Gott durch die erlebte Wirklichkeit als unwirklich verurteilt scheinen, ob alle denkbaren, oder nur die an Krisen gebundenen. Sollten es alle denkbaren sein, so wäre der biblische Glaube von aller erfahrbaren Wirklichkeit derart abgehoben, daß Verifikationen jeder Art ausgeschlossen und eine Einwirkung auf die Wirklichkeit selbst fraglich würde oder nur zum Schein bestünde. Das ist die Position des Fideismus. Wenn nur einige Dimensionen des Glaubens oder einige krisenhafte Situationen im Leben der G~äubigen von der Wirklichkeit bestritten oder verhöhnt wären, so müßte man zwischen wirklichkeitsfremden und wirklichkeitsfreundlichen Dimensionen des Glaubens unterscheiden. Vieles spricht für diese Sicht, zumal sich die Wirklichkeit, auch in ihrer Feindlichkeit gegenüber den Menschen und ihrem Glück, nicht als einheitlich darstellt, so, als seien sie und der biblisch begründete Glaube an den Gott Israels und seinen Weg mit den Menschen zwei separate Wirklichkeiten. Die Konsequenzen dieser Alternative für die Ethik sind ungeheuer groß. Sollte einzig der Fideismus gelten, so hätte die Kirche gegenül~er nichtgläubigen Menschen nichts auszurichten, es sei denn, sie könnte sie für sich gewinnen. Gilt die andere Möglichkeit, so steht christliches Leben ständig in der Ambivalenz der krisenhaften Verdächtigung der Unwirklichkeit auf der einen Seite und des Vorbildcharakters für wirkliches und echtes Leben • auf der anderen. Offen bleibt dann die Frage nach den Kriterien der Unterscheidung der beiden möglichen Bezüge. Wann gelten die Aufforderungen aus Mt 5- 7 zum Hinhalten der anderen Backe, zur Feindesliebe, zur Bitte für die Verfolger, zum Verzicht auf die Sorge für morgen und zum Richten anderer für alle, wann nur für die Gläubigen? In den Friedensbewegungen unserer Zeit ist diese Frage zu äußerster Dringlichkeit gesteigert worden. »Der Glaube ist der Vogel, der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist.« (Ein Mädchen) Bei der Frage, ob der biblische. Glaube fideistisch sei, geht es scheinbar ums Ganze, in Wahrheit einfach darum, ob seine Sprache sich zu anderen Sprachen überlappend (und also mindestens zum Teil verstehbar) oder wie ein Bündel isolierter Sprachspiele verhält. In der englisch-sprachigen Diskussion steht Kai Nielsen aus New York als Sprecher der
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Kritiker des Fideismus, s. z. B. Contemporary Critiques of Religion (London 1971), oder »Can Faith Validate God-Talk?« in ThT 20, 1964, 158-73 sowie »Wittgensteinian Fideism« in der Zeitschrift Philosophy 42, 1967, 191-209 mit nachfolgender Diskussion mit W. D. Hudson in derselben Zeitschrift, wobei »Fideismus« keineswegs nur kritische Etikette für christliche Theologie, sondern auch für Wittgensteins implizite Metaphysik ist. So würden unter das Verdikt des totalen, nicht-verifizierbaren Fideismus nicht etwa nur Kierkegaard und der Karl Barth der »Diastase« aus den 20er Jahren, sondern überhaupt jedes Credo in die Verläßlichkeit Gottes fallen. - Einige meiner amerikanischen Freunde sind die Diskussion müde, vermissen ohnehin eine präzise Begriffsbestimmung der »fides« im Fideismus und sagen von sich selbst, sie seien Fideisten. Dabei tröstet die Berufung auf Wittgenstein (z. B. »Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glaube«, Über Gewißheit/On Certainty 253) natürlich nur formal. Vgl. Karl Barth, z. B. KD II/1, § 27,2, bes. über die »circuli vitiosi« und »circuli veritatis«, 276-287, sowie Paul Tillich, SyTh I, Part I, Reason and Revelation. Hier in I D 4 habe ich aber weniger dieses klassische akademisch-theologische Problem im Auge, als die konkrete Erfahrung der Gläubigen in der umgekehrten Richtung, daß nämlich die Wirklichkeit dem Glauben Hohn spricht, nicht nur der Glaube der Wirklichkeit. Das Beispiel dafür ist Hiob. Die tiefste mir bekannte, auf jahrelangen Arbeiten über Hiob beruhende Interpretation dieser Problematik findet sich bei dem in I B 2 bereits genannten Alttestamentler James A. Wharton, »The Unanswerable Answer: An Interpretation of Job« in Texts and Testaments, Critical Essays on the Bible and Early Church Fathers, hgg. von W. Eugene March, (San Antonio 1980, 37-70. Das Buch ist dem Andenken an unseren ehemaligen gemeinsamen Kollegen, den Neutestamentler und Patristiker Stuart D. Currie in Austin gewidmet). Vgl. I E 4 über »Verifikation durch Wiedererkennen« und die Abschnitte über Hoffnung in III C und E.
5. DIE KONSTITUTION DER WELT DURCH ERINNERUNG UND HOFFNUNG
Die früheren und heutigen Träger biblischer Perspektiven und Lebensgestaltung sind, bei allen Unterschieden in ihren Reihen, ganz entscheidend und unverzichtbar durch Erinnerung und Hoffnung geprägt und prägen ihre Lebenswelten durch die erinnerten und erhofften Inhalte von Vergangenheit und Zukunft. Im Vergleich mit den großen Weltreligionen ist diese Haltung der Juden und Christen einzigartig. Sie spiegelt die für die Theologie funda-
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mental wichtige Einsicht wider, daß in bezug auf das Verständnis Gottes die Zeit vor dem Raum Priorität hat.
Die Sozietät, innerhalb derer biblisch verwurzelte Perspektiven beheimatet sind, ist durch eine bestimmte Sicht der Vergangenheit sowie der Zukunft gekennzeichnet. Die zeitlich-geschichtliche Dimension ist formal ein unveränderliches Kennzeichen Israels und der Kirche. Die Unterschiede zwischen den Zeitauffassungen der verschiedenen biblischen Schriften sind freilich ähnlich groß wie die zwischen verschiedenen heutigen Konfessionen in der Kirche oder Strömungen und Lehrmeinungen im Judentum. Jedoch besteht die bemerkenswerte Gemeinsamkeit, daß die Weltgeschichte nahezu nirgends als eine Verfallsgeschichte nach antikem Muster verstanden wird. Wenn auch die Vorstellung eines Paradieses, das durch menschliches Verschulden verloren gegangen ist, in der Bibel am Rand vorkommt, so präsentieren die biblischen Schriften doch keinesfalls die Sicht von einem stetigen Verfall eines ehemals goldenen Zeitalters. Auch in der Frömmigkeitsgeschichte ist diese Sicht die Ausnahme. Die Geschichte eilt vielmehr auf eine Zukunft hin, von der her sie ihr Gewicht und ihren Sinn erhält. Die Vergangenheit ist nicht passe, sondern erhält von der Zukunft her ihr wahres Gesicht, sowohl als Bedrohung wie als Befreiung. Die Zukunft ist nicht ein durch Angst oder Wunsch geprägter Traum, sondern erhält von den Verheißungen in der Vergangenheit ihren Inhalt. Diese Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft ermöglicht auch die Abgrenzung zwischen Wünschen und Hoffnungen. Wünsche entspringen aus dem Vermissen in der Gegenwart, Hoffnungen aus Verheißungen der Vergangenheit. Insofern ist die Erinnerung ein konstituierender Bestandteil der Hoffnung. Erinnerungen erlauben Hoffnungen. Umgekehrt ist aber in den Hoffnungen die Freiheit zur Erinnerung begründet, nämlich zur Hoffnung, daß die Inhalte der erinnerten Vergangenheit die Zukunft mitbestimmen. Hoffnungen erlauben Erinnerungen. Die christliche Verwirklichung dieser formal beschriebenen Verschränkung läge in der Hoffnung, die Vergangenheit möge unsere Zukunft nicht zerstören. Das ist die Hoffnung auf Vergebung. Und umgekehrt läge sie im Vertrauen auf die Zusagen aus der Vergangenheit, die erinnerten Verheißungen mögen sich erfüllen. Das ist die Hoffnung auf das Neue, die neue Schöpfung.
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Nun wird man aber kaum sagen können, die Christen (und Juden) hätten ihren Mitmenschen in den vergangenen zweitausend Jahren als Vorbild im Hoffen auf Vergebung und Vertrauen auf Verheißungen vor Augen gestanden. Hier ist zu sehen, daß nicht nur die außer-jüdische und außer-christliche Weltwirklichkeit den Glauben in Frage stellt, sondern die Lebenswirklichkeit der Gläubigen selbst. In der Theologie muß die Spannung zwischen der Einladung zu befreiter Erinnerung und verheißener Hoffnung und dem Versagen der Gläubigen als Thema gegenwärtig bleiben. Trotz ihres eigenen Versagens sprechen die Gläubigen gern von einer erhofften Welt, so als lebten sie selbst darauf zu. Mindestens dient die Hoffnung als weiterer Begründungszusammenhang der Ethik. In der Klage über die Gefahren der Zerstörung der Hoffnung zeigt sich die Hoffnung oft deutlicher als in positiver Ausrichtung des Lebens nach ihr. Hier besteht also eine auf das Negative bezogene Verbindung zwischen biblisch orientierter Erinnerung und Hoffnung einerseits und Weltwirklichkeit andererseits. Mindestens in diesem Sinn ist es darum korrekt zu sagen, die Gläubigen konstituierten ihre Welt durch Erinnerung und Hoffnung. Vgl. III C und meine Überlegungen in Memory and Hope, bes. 159-163,218-229. Die in der deutschsprachigen Diskussion öfter verwendete Unterscheidung zwischen extrapolierter und adventlicher Hoffnung scheint mir auf einer Verwirrung zu beruhen.
6. ZUR FRAGE DER NORMALITÄT (NORMALER UND »NEUER« MENSCH)
Im allgemeinen hat die Theologie einen eng definierten, bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Menschen im Auge. Sie faßt auch Glück und Unglück, Leiden und Traurigkeit, Tugenden und Bosheit der Menschen ins Auge. Der psychisch kranke Mensch aber fehlt weitgehend im Sichtfeld der Theologie. Spannungsreich und theologisch weithin ungeklärt ist die Beziehung zwischen dem griechischen Ideal von Normalität und der biblischen Rede vom neuen Menschen. Das »Athener« und das »Jerusalemer« Modell vom Men-
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sehen stehen sich unvereinbar gegenüber. Im Alltag schließen sich die Gläubigen dem Athener Modell an, wenn sie auch krassen Hedonismus kritisieren. In Krisensituationen erinnern sie sich des Jerusalemer Modells.
Ähnlich wie die Psychoanalyse für einen nicht allzu schwer Kranken der mittleren und oberen Bildungsschicht konzipiert war, faßt auch die Theologie im allgemeinen einen eng definierten Menschen ins Auge. Er mag traurig, irritiert und wohl auch böse sein, aber an wirklich psychisch Kranke denkt man in der Theologie selten. Das liegt zum Teil daran, daß in den biblischen Schriften nicht mit der begrifflichen Unterscheidung zwischen normalen und psychisch kranken Menschen umgegangen wird. Man muß diese Aufteilung schon nachträglich in die Texte hineinlesen. Zum andern Teil mag es daran liegen, daß den Priestern und Theologen über die Jahrhunderte vor allem eine Soll-Vorstellung des Menschen vor Augen stand, der gegenüber traurige, fehlhafte und psychisch kranke Menschen kategorial mehr oder weniger als eine Einheit erschienen. Bei allem Reichtum der Erfahrung im Umgang mit Menschen hat sich in der Kirche eine schwer zu rechtfertigende Tendenz entwickelt, über »den Menschen« im allgemeinen zu sprechen und dabei im Grunde doch an »normale« Menschen zu denken, die man für ihre Einstellungen und Taten voll zur Verantwortung ziehen kann. Eine therapeutische GrundeinsteIlung ist für die Kirche noch nicht typisch geworden; die idealistische und moralistische Grundhaltung überwiegt noch. Die klassisch-griechische Vorstellung vom Menschen steht auf weite Strecken im Widerspruch zu den verschiedenen Menschenbildern der biblischen Schriften. Zwar kennt die griechische Tragödie durchaus das Scheitern des Menschen, sein Versagen im Kampf mit sich selbst und den Versuchungen und Listen der Götter. Aber das antike populäre sowie philosophische Bild des Menschen ist doch das der Balance, des Ausgleichs, der vollen Selbstentfaltung in körperlicher und seelischer Normalität. Das alte griechische Ideal, das im »normalen« Menschen einen gleichermaßen in der Akademie und auf dem Sportplatz kräftigen, jungen, balancierten und glücklichen Menschen sah, hat auch seinen Einfluß auf die christliche Kirche ausgeübt (Augustin hoffte, im Leben nach dem Tod sähen sich die Menschen wieder als etwa dreißigjährige, gesunde und schöne Männer und Frauen). Was immer man als Verallgemeinerung derverschie-
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denen biblischen Bilder vom Menschen verantworten kann: dies ist nicht das Verständnis der biblischen Schriften. Denn in den Schriften des Alten und Neuen Testaments steht das leidende, böse aber geliebte Israel, steht der verwundete Gottesknecht und die verfolgte Urkirche im Mittelpunkt. Nicht, daß man im Alten Testament nicht von Glück, Stärke und Ausgeglichenheit gewußt hätte; oder im Neuen von guten Ehen, gerechten Regierungen und soliden Zuständen. Aber als »Norm« steht dies alles nicht im Zentrum. In der Geschichte der Frömmigkeit der Kirche hat das klassischgriechische Bild vom normalen Menschen jedoch immer mehr an Gewicht gewonnen. Spätestens in der Renaissance erwachte, was dann in der Anthropologie der Aufklärung und der christlichen Philosophie des Idealismus formuliert wurde. Es ist nicht überraschend, daß außer der Theologie und Philosophie der Neuzeit auch die Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts und auf weite Strecken die heutige Psychotherapie mit einem Konzept von Normalität umgehen, das viel mehr griechische als biblische Wurzeln verrät. Dabei kann Norm sowohl als Durchschnitts- wie als elitäre Zielnorm verstanden werden. Diese Tendenz ist noch krasser in neuen hedonistischen Vorstellungen vom Leben (z. B. in der Kritischen Theorie) und erst recht im Marxismus, der dem Phänomen psychischer Krankheit ideologisch überhaupt nicht gewachsen ist. Die Einsicht in das nahezu völlige Versagen der verschiedenen modernen Seelsorge konzepte hat in jüngster Zeit in der Theologie zu einer begreiflichen aber auch bedenklichen Rezeption hedonistischer und quasitherapeutischer Konzepte vom Sinn des Lebens geführt. Manche Autoren sehen in maximaler Selbstverwirklichung und auch optimaler Anpassung an unveränderliche Gegebenheiten die wahren Ziele des normalen Menschen. Als theologischer Unterbau dieser Ideale wird nicht selten ein Jesusbild konstruiert, in dem auch Jesus das Interesse an Selbstverwirklichung nachgesagt wird. Nun besteht hier aber ein echtes Problem. Zwar läßt sich der Gegensatz zwischen »Jerusalern« und »Athen«, der hier aufleuchtet, nicht durch einfache Synthesen überwinden. Die Spannung zwischen Prometheus und dem gekreuzigten Jesus ist unauflöslich. Und doch würde niemand von uns seinen Kindern nicht die vollste und selbsterrungene Entfaltung und seinen neurotischen und unfreien Bekannten nicht eine maximale Selbstverwirklichung wünschen. Das Problem liegt in der theologisch noch nicht aufgear-
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beiteten Beziehung zwischen »normalem« Menschen, wie ihn unsere Umwelt fordert und zugleich anzubieten versucht, und dem »neuen« Menschen, von dem die biblischen Schriften wissen. Wäre die Situation der Menschheit unserer Zeit so »normal« wie die bürgerliche oder zumeist kleinbürgerliche Umwelt, in der die meisten Christen leben, so würde wohl auch das Problem dieser Spannung weniger stark empfunden werden. Von den viereinhalb Milliarden Menschen unserer Zeit lebt aber fast die Hälfte unter Bedingungen, die von unserer Normvorstellung weit abweichen. Auch in unserer industrialisierten Welt leiden nahezu die Hälfte der Bevölkerung zeitenweise und 10 Prozent permanent unter psychischen Krankheiten und Behinderungen. Die Wirklichkeit des Übermaßes an sozial und psychisch kranken Menschen läßt die beiden Pole »normaler Mensch« und »neuer Mensch« in umso krasserem Licht erscheinen. In »Gesundheit: Gnade oder Rechtsanspruch?", Diakonie, 2,1982,77-80, sowie an anderen Orten bin ich der Frage nach der Beziehung »normaler Mensch«!>>fleuer Mensch« nachgegangen. Ich werde mich gerade diesem Thema in den nächsten Jahren besonders zuwenden. Dabei werden nicht so sehr die körperlich Kranken, als die körperlich und psychisch Behinderten im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Ererbte, angeborene oder bleibende körperliche Behinderungen oder geistige Schäden, auch erworbene und permanente psychische Störungen, unter denen so viele unserer Mitmenschen leiden, strafen viele theologische und philosophische Allgemeinplätze über »den Menschen« Lügen. Zugleich sind aber diese Behinderten und Kranken in besonderer Weise »die Träger der alttestamentlichen und christlichen Sichtweise«, über die wir in diesem Kapitel I D nachdenken. Allerdings glaube ich, daß wirklich psychisch gestörte Menschen - und das sind prozentual recht viele Menschen, besonders unter den Kirchgängerndas Evangelium nur verzerrt verstehen können. Ich weiß aus kirchlicher sowie psychotherapeutischer Praxis von vielen Beispielen solcher Verzerrung, auch unter wirklich aktiven Gemeindegliedern, Gemeinderäten und Theologen. Damit ist ein systematischtheologisches Problem gegeben, denn unsere theologische Behauptung, der Glaube sei ein Geschenk, sei nicht abhängig vom Psychogramm des Gläubigen, sei durch das testimonium Spiritus Sancti internum (im Sinne Luthers und Calvins) bewirkt und erhalten, bleibt eine abstrakte Richtigkeit, solange wir nicht erklären können, welche Komponenten von Normalität nötig sind, um dieses Geschenk annehmen und nutzen zu können. Ich will hier nur kurz erwähnen, daß mir die Arbeiten von Alfred Lorenzer und anderen (vgl. I B 1 und CI), die in den Neurosen »privatisierte Sprache« und zu Klischees verdrängte Symbole sehen, als sehr hilfreich erscheinen. Dahinter liegen - als eigentlicher »Sitz« der Störung - pathologisch verfehlte »implizite Axiome« bzw. »regulative Sätze«, denn die Krankheit liegt nicht (von bestimmten Psychosen abgesehen) im irrigen Gebrauch von Sprache oder in »getäuschter« Wahrnehmung, sondern in derfalschen Steue-
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rung richtiger Sprache und in falscher Interpretation richtiger Wahrnehmung. Und nach »impliziten Axiomen« bzw. »regulativen Sätzen« in ihrer »normalen«, die Kommunikation und verantwortliche Aktion fördernden Funktion fragen wir in diesem Buch ja in allen Kapiteln. Was ist es denn, das »pathologisches« von »normalem« Funktionieren unterscheidet? Ich mag wohl zugeben, daß der Satz sinnvoll ist, Gott habe seine eigenen Möglichkeiten, mit psychisch Gestörten und gar mit psychotisch schwer Erkrankten zu kommunizieren. Aber die Folgerung daraus, sie seien darum ebenso zur Interpretation des Evangeliums und zur Erklärung der Weltsituation ermächtigt und anzuhören wie andere Menschen, kann ich nicht akzeptieren. Wenn Theologen das trotzdem behaupten, so muß ich annehmen, daß sie keine Erfahrung mit psychisch Kranken haben. - Mit diesen Sätzen will ich freilich überhaupt nicht bestreiten, daß psychisch gestörte und auch schwer erkrankte Menschen den Trost und die Freude des Evangeliums annehmen und ihrerseits auch widerspiegeln oder weitergeben können.
7. LEBENSALTER, FRÖMMIGKEIT UND LEBENSSTIL
Die unterschiedlichen Verstehensmöglichkeiten und Glaubensinhalte von Menschen aller Lebensalter, von Gesunden und Kranken, Starken und Schwachen, Reichen und Armen, sind nicht nur Thema praktischer, sondern fundamentaler theologischer Reflexion. Ebenso sind Formen der Frömmigkeit und Grade der Innerlichkeit der Gläubigen, die Wahl ihres Lebensstils und ihre Freiheit zum Privaten, nicht Randfragen der Theologie. Im Unterschied zu erfahrenen kirchlichen Praktikern und Therapeuten operiert die akademische Theologie aus Irritation über die Ergebnisse der Psychologie und aus Sorge um das Überborden individueller Frömmigkeitsformen weithin mit einem fahlen, zeit- und fleischlosen Menschenbild.
Die in der Theologie übliche verallgemeinernde Redeweise vom Menschen im allgemeinen ist nur auf der deutlich gekennzeichneten Ebene genereller theologischer Aussagen gerechtfertigt. Konkretionen und Spezifikationen sind von der Verallgemeinerung her durch Deduktion nicht zu erlangen. Es besteht beim Versuch ungerechtfertigter Ableitung darum die Gefahr der Vernachlässigung wesentlicher Unterschiede innerhalb der
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Menschheit: Unterschiede nicht nur zwischen gesunden und kranken Menschen, sondern zwischen Männern und Frauen, Erwachsenen und Alten, kleinen und größeren Kindern und Jugendlichen, aber auch zwischen verschieden konstituierten und verschieden disponierten Menschen. In Kirche und Theologie sind diese Differenzen meist nur im Hinblick auf praktischtheologische Anliegen zum Thema gemacht worden. Man hat nach besonderen Formen des Unte~richts und der Predigt, also nach den Modalitäten der Anrede und nach der Effektivität kirchlichen Programm-Angebots gefragt. Die Frage muß aber tiefer greifen. Bei der Feststellung der faktisch bestehenden Differenzen unter den Menschen geht es für Kirche und Theologie nicht nur um die unterschiedlichen Verstehensmöglichkeiten bei verschiedenen Altersgruppen und Menschentypen, sondern um verschiedene Inhalte dessen, was kirchlich verkündigt und theologisch reflektiert und konstruiert wird. Die Theologie, die einen - meist männlichen - Erwachsenen mittleren Alters und mitt1erer Intelligenz vor Augen hat, verfehlt nicht nur die Anliegen und das Verständnis der anderen, der größeren Anteile der Menschheit, sie versäumt auch, die verschiedenen Welt- und Gottwirklichkeiten zu bedenken, die tatsächlich unter den Menschen bestehen. Denn für ein Kind sind Gott und die Welt andere Wirklichkeiten als für seine Eltern, und für einen Jugendlichen in der Pubertät ist Gott und auch die Welt anders als für seine Großeltern und deren Altersgenossen. Die Übernahme von Verantwortung und von Schuld, Einsicht in die Situation anderer, das Gespür für die Nähe des Todes, das Zunehmen oder Abnehmen körperlicher Kraft und geistiger Flexibilität, dies und vieles mehr sind theologisch relevante Faktoren, die zugleich starke Unterschiede zwischen Menschen markieren. Ihnen gegenüber verblassen vielfach die durch die heutigen Naturwissenschaften und die Technik bestimmten Erklärungen der Welt und die Möglichkeiten ihrer Bewältigung. Theologische Reflexion kann an den Einsichten in die Stadien der Lebensalter und den mit ihnen verbundenen Reifungs- und Verfallsprozessen nicht ungestraft vorbeigehen. Ebenso gilt es, die Vielfalt menschlicher Konstitutionen, vererbter und gelernter Persönlichkeitsstrukturen nicht nur am Rande der Theologie zu vermerken, sondern in die Überlegungen über die Träger der alt- und neutestamentlichen Sichtweisen, in die Ekklesiologie also, miteinzubeziehen. Die Erwartung eines uniformen Verhaltens der Gläubigen ist durch nichts
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zu rechtfertigen. Auch die verschiedenen Grade und Formen von Frömmigkeit und Innerlichkeit - in sich selbst gewiß keine biblischen oder christlichen Kategorien - kennzeichnen die unterschiedlichen Persönlichkeiten, aus denen sich Israel und die Kirche von jeher zusammensetzten und aus denen sie auch heute bestehen. Frömmigkeit sowie die Sensibilität zur bewußten inneren Verarbeitung von Erfahrungen sind gewiß nur teilweise anerziehbar, sie beruhen als psychologisch beschreibbare Fähigkeiten zum Teil auch auf Veranlagung. Diese Beobachtung ist in der Theologie - vor allem im Protestantismus - oft als Störfaktor empfunden und darum an den Rand geschoben worden. Man kann aber nicht umhin zuzugeben, daß ein gewisses Maß an Frömmigkeit und Innerlichkeit - wenigstens in bestimmten Abschnitten des Lebens - eine notwendige Voraussetzung oder Begleiterscheinung der Annahme der biblischen Erinnerung und Hoffnung ist, auch wenn die Schultheologie sich gegen diesen Gedanken oft gewehrt hat. Wer in seiner kirchlichen Geborgenheit und Bürgerlichkeit noch nie mit zutiefst unfrommen, äußerlichen, selbstzentrierten oder frivolen Menschen zu tun hatte, kann es sich leicht leisten, die ererbten oder erworbenen Tugenden der Frömmigkeit, des Respekts, der Innerlichkeit und der offenen Zuwendung zu Mitmenschen gering zu achten oder als für die wahre Kirche unkonstitutiv zu verspotten. Neben den durch die Altersstufen und Lebensstadien sowie durchgeerbte oder erlernte Konstitution bedingten Unterschieden zwischen den Trägern der biblischen Sichtweise, ist letztlich auch das Recht der Gläubigen auf die private Gestaltung ihres Lebensstils zu bedenken. Für die heute oft diskutierte Suche nach einem christlichen Lebensstil gibt es gewiß gute Gründe: sie wenden sich mit Recht gegen das Überborden des autarken christlichen - vor allem protestantischen - Individualismus' sowie gegen die Anpassung der Gläubigen an ihre jeweilige kulturelle und ökonomische Umwelt, eine Assimilation, die oft bis zur Unkenntlichkeit der distinkten Story der Gläubigen und damit zur Aufgabe ihrer Identität führt. Aber eine Aufgabe der Identität des einzelnen aus den umgekehrten Gründen, einem an Totalitarismus und Faschismus erinnernden Zwang zum konformen Verhalten mit den letzten Modeströmungen - mögen sie auch noch so gut gemeint sein -, kann auch nicht das Ziel sein. Angesichts des Ernstnehmens dieser drei großen Bereiche, in denen sich unverwischbare Unterschiede zwischen den Gläubigen zeigen, meldet sich
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das Problem, ob sich in der Bibel und der Story Israels und der Christen Konstanten finden lassen, die Altersunterschiede und Differenzen zwischen Persönlichkeitsstrukturen überbrücken und die dem einzelnen Mitglied der Gemeinschaft der Gläubigen das Recht auf das Private belassen, ohne einen autonomen Individualismus der Lebensführung zu rechtfertigen. Die hier skizzierten Überlegungen und Erfahrungen unterscheiden sich stark vom üblichen protestantisch-theologischen Interesse. Als stärksten Exponenten dieser Tradition kann man freilich Karl Barth verstehen. Ich meine, daß ich ihm kein Unrecht tue, wenn ich sage, daß er von den hier berührten Fragen nichts sehen und verstehen wollte, (so daß sich auch seine Schüler oft auf ihre Ablehnung der Psychologie und Anthropologie etwas zugute halten und auf ihr Unwissen stolz sind). Die Gründe dafür sind theologiegeschichtlich einsehbar, theologisch jedoch nicht zu rechtfertigen (vgl. 11 D 1). Weil ich mit Karl Barth oft, besonders in seinem hohen Alter, über diese Fragen gesprochen habe, erlaube ich mir dieses Urteil. Die scheinbar auf Erfahrung gegründeten Urteile und quasi-psychologischen bzw. -anthropologischen Passagen etwa in KD 111,4 habe ich nie als wirklich genuin empfunden. Zu stark war Karl Barths Übergehen der Informationen, die von diesen Wissenschaften kommend die Theologie erreichen und eventuell verändern können. Ich frage mich, ob die bewundernswerte christologische Begründung der theologischen Anthropologie bei Barth (KD III,2, §§ 44 und 45) notwendig zu dieser (theologiegeschichtlich bedingten) Ablehnung hätte führen müssen. (Lit. zu dieser Frage und eine schöne Darstellung verschiedener Alternativen der Interpretation von Barths Lehre vom Menschen findet sich bei Christofer Frey, Arbeitsbuch Anthropologie, Christliche Lehre vom Menschen und humanwissenschaftIiche Forschung, Stuttgart 1979,50-67). Außer auf Erik Eriksons Arbeiten ist auch auf neuere Forschungen zur lebenslangen psychologischen Entwicklung des Menschen hinzuweisen, etwa auf Paul B. Baltes (in Berlin): P. Baltes/L. Eckensberger (Hg.), Entwicklungspsychologie der Lebensspanne (Stuttgart 1979). - Auch die umfangreiche Literatur über das Altern bzw. über Gerontologie ist für die Theologie relevant. Ich meine in der Psychotherapie erfahren zu haben, daß Menschen, abgesehen von Kindern und ganz alten Menschen, sich meist als »in der Mitte« ihrer Lebens-Story erleben, daß sie also ebensoviel Zeit vor sich wie bereits hinter sich haben. Das gilt auch für ältere Menschen, die etwa für die Zeit nach der Pensionierung auf so viel Muße hoffen, alte Pläne zu verwirklichen, daß ihnen die noch bevorstehende Zeit als ähnlich lang wie die bereits erlebte vorkommt. Vielleicht hat diese Symmetrie des Zeitbewußtseins mit der um eine unsichtbare Mittelachse zentrierten links-rechts-Wahrnehmung zu tun, die man etwa beim Betreten eines Raumes vornimmt. Trotzdem aber bedeutet eine Predigt über Hoffnung für jüngere Erwachsene etwas anderes als für ältere, weil man als jüngerer Mensch das »Machbare« im Positiven wie im Negativen krasser einschätzt. Zur Frage des »Lebensstils« vgl. Vorüberlegung zu 111 D.
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8. DAS JANUSGESICHT DER KIRCHENGESCHICHTE
Die Tragik und Tiefe der Ambivalenz der Kirchengeschichte kann mit den Mitteln säkular-wissenschaftlicher Geschichtsschreibung nicht ausgelotet werden. Der Kontrast zwischen den Folgen der drei entscheidenden Fehltritte - der Lösung der christlichen Kirche vom Judentum, der Assimilation der Kirche an politische Machtstrukturen sowie die Bevormundung der ökonomisch und bildungsmäßig Armen - und den ungezählten Taten der Barmherzigkeit, Vergebung und therapeutischen Hilfe kann nur von denen, die in der Story Israels und der Kirche »drinstehen«, als das Doppelantlitz einer einzigen Geschichte gesehen und in seinen Konsequenzen übernommen werden. Die Kirchengeschichte als akademisches Fach ist eine mit säkularen wissenschaftlichen, nicht mit kirchlich-theologischen Kriterien und Maßstäben arbeitende Disziplin, deren Gegenstand die Erforschung der Geschichte der Träger der alt- und neutestamentlichen Sichtweisen ist. Was den Trägern selber als ihre Gesamt-Story, zusammengesetzt aus vielen Einzel-Stories, - begründet und begonnen in den biblischen Schriften - erscheint, ist dem Historiker nicht zunächst Anlaß zu Freude, Feier, Scham und Distanzierung, sondern zur Erforschung. Weil aber die meisten Kirchenhistoriker selber sich zu den Trägern der biblischen Sichtweisen und ihrer geschichtlich gewachsenen Unterabteilungen, der christlichen Kirche und ihrer Konfessionen, zählen, haben sich Gewichtungen ergeben, die einem säkularen Historiker nicht gut anstünden. Die erste und entscheidende Selektion war die Isolierung der christlichen Sichtweise von der jüdischen und damit der Patristik von der parallel verlaufenden Geschichte der Entstehung des Talmuds. Diese Abgrenzung war freilich kein Willkürakt der Historiker, vielmehr war und ist sie die Konsequenz der frühchristlichen Ablehnung des Diasporajudentums der Spätantike, ja einer Usurpation des Alten Testaments unter Auslassung der faktisch existierenden jüdischen Gemeinden. In der Folge dieser Ablehnung fand eine Verchristlichung der Schriften des Alten Testaments statt, diewie man heute zu sehen beginnt - nur unter ganz bestimmten und präzis gefaßten theologischen Bedingungen gerechtfertigt ist. Die Entscheidung der Alten Kirche, an der Diasporaexistenz der Juden nicht teilzunehmen, war
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der erste gewichtige Fehltritt der Kirche. Die Folgen sind unabsehbar. Die Kirchengeschichte als Disziplin teilt mit der gesamten christlichen Theologie das Stigma dieser Isolierung. Der zweite, wohl schwerer vermeidbare Fehltritt muß in der Identifizierung der jeweiligen Kirchen mit den kulturellen, politischen und ökonomischen Strukturen ihrer geographischen Umgebung gesehen werden, wodurch - trotz der starken Prägung der Umgebung durch die Kirche - die Spaltung zwischen Ost und West auch zu einer kirchlichen Spaltung wurde. Wiederum waren die Folgen unabsehbar. Es entstanden - trotz Differenzierung innerhalb des Westens und relativer Autonomie der autokephalen Kirchen des Ostens - zwei Großkirchen. In der Folge der ersten, besonders aber der zweiten fatalen Entwicklung, ging der Weg der Kirchen unaufhaltsam weiter in die Richtung der Identifikation und Unterstützung der jeweiligen Interessen und der Eigendynamik politisch-ökonomischer Machtblöcke und - in der Folge des Absolutismus und der Entstehung der Nationalstaaten in der Romantik - der einzelnen Nationen. Wenn auch die Kirchen der industrialisierten Welt nach schrecklichen Leiden diesen zweiten Fehltritt und seine Konsequenzen zu bereuen beginnen, so setzt sich die alte Entwicklung doch in manchen Teilen der Dritten Welt fast ungebrochen fort, wenn die christlichen Kirchen dort nicht nur die Verbindung zu Israel völlig außer acht lassen, sondern auch den neuen Nationalismus ihrer Heimatländer ungehemmt unterstützen. Leider wird diese Entwicklung von kirchlichen Kreisen im Westen - gerade von progressiver Seite, die ihrerseits den Bund von Thron und Altar in der eigenen Kirchengeschichte mit Recht scharf verurteilt - oft kritiklos idealisiert. Ein dritter Fehltritt, verbunden mit dem Verlust des Kontaktes mit dem diskriminierten Judentum in der Diaspora und hervorgegangen aus der Teilhabe an privilegierten Schlüsselpositionen in Ost und West, war die Entwicklung der Kirchen und ihrer Theologen auf eine intellektuell anspruchsvolle Denkweise und ökonomisch hochstehende Lebensweise hin. Dadurch ist den unteren Bildungsschichten und den wirtschaftlich Rückständigen und Benachteilten, wenn auch nicht absichtlich, so doch de facto der Zugang zur Denk-und Lebensform der Kirche erschwert oder versperrt worden. Die Kirchen haben die industrielle Revolution des 19. und die technische Revolution des 20. Jahrhunderts nur in geringem Maß und verspätet als sozialethische und ekklesiologische Probleme erkannt.
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Diese drei tragischen Entwicklungen sind nicht mehr rückgängig zu machen. In bezug auf die erste können Neuanfänge im christlich-jüdischen Dialog mindestens das Bewußtsein der Tragik und Schuld wecken. In bezug auf die zweite kann die Bekämpfung des Nationalismus und schließlich die Abschaffung absoluter staatlicher Souveränität zwar geschehenes Unrecht nicht mehr gutmachen, aber doch zukünftiges vermeiden helfen. In bezug auf die dritte Entwicklung kann nur noch versucht werden, das Beste aus einer bösen Situation herauszuholen, indern die Finanzkraft und das verbliebene moralische Prestige der Kirchen der industrialisierten Welt zu Gunsten der Armen dieser Welt eingesetzt werden. Schon wegen dieser Möglichkeit, die bereits in vielen Teilen der Kirche sinnvoll genützt wird, verbietet sich die Verfolgung romantischer Armutsideale in den Kirchen des Westens. Man kann jedoch mit guten Gründen die Entwicklung der Kirchengeschichte auch anders als durch den Hinweis auf entscheidende Fehltritte und Verschuldungen darstellen. Die Gegenthese verweist auf viele befreiende Neuerungen, die durch die Kirche in die antike, die mittelalterliche und die neuere Geschichte eingeführt worden sind; aufTaten der Barmherzigkeit, die nicht im Rampenlicht der Geschichtsschreibung standen, die aber ohne die Kirche nicht getan worden wären; auf Werke der Versöhnung, der helfenden Seelsorge und des Trostes; auf große kulturelle Leistungen und künstlerische Kreativität, die Gründung der Universitäten, die herrlichen Bauten, die Einrichtung von ungezählten Asylen, Heimen und Spitälern, als anderswo auf der Erde körperlich und geistig Behinderte unversorgt und verachtet waren; und schließlich auf die Missionsschulen und -hospitäler und die selbstlose Arbeit der Missionare, denen auch die skeptischsten der heutigen Intellektuellen und Politiker der Dritten Welt größeres Lob spenden als man es im Westen oft wahrhaben will. Auch diese Sicht ist gewiß richtig und kann im Detail belegt werden. Die Kirchengeschichte hat ein doppeltes Antlitz. Mit den säkular-wissenschaftlichen Kriterien der Kirchengeschichtsschreibung allein sind Tragik und Tiefe dieser Ambivalenz nicht auszumachen. Auch ideologische Positionen, etwa zu Gunsten der Armen gegenüber den Reichen oder der Besiegten gegenüber den Siegern, der Leidenden gegenüber den Starken, bieten - so biblisch sie bei erster Prüfung zunächst erscheinen - Zerrbilder, die in Wahrheit wieder aufs neue Menschen Unrecht zufügen und Gräben aufrei-
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ßen können. Einzig im »Drin-Stehen« in der Story Israels und der Kirche kann die unauflösliche Ambiguität von Schande und Liebe, Schuld und Barmherzigkeit, Niedertracht und Großmut ermessen werden. Vier Bücher sind mir im Zusammenhang dieser Frage besonders wichtig: Reinhold Niebuhr, Beyond Tragedy, Essays on the Christian Interpretation ofHistory (New York/ London 1938) und Faith and History , A Comparison of Christian and Modern Views of History (New York/London 1949). Reinhold Niebuhr hat hier, sowie in anderen Schriften, dem westlichen Fortschrittsglauben widersprochen, ohne im Gegenzug die Geschichte des Christentums als Verfallsgeschichte zu deuten. Vg!. auch Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen (Meaning in History , Chicago 1949, dt. Stuttgart 1953), sowie das frühe Buch von Hendrikus Berkhof, Christthe Meaning ofHistory (Nierd!. 1958, eng!. London 1966). Was die hier skizzierten Überlegungen für den akademischen Lehrbetrieb im Fach Kirchengeschichte in der Ausbildung der Theologen bedeuten, ist mir noch nicht völlig klar (vg!. die »Schlußbemerkung« am Ende von Teil 111). 1960 hatte ich in »The Theological Significance of History« (Austin Seminary Bulletin, Nov. 1960,3-27) noch vorgeschlagen, statt Kirchengeschichte sollte in der Theologenausbildung Säkulargeschichte mit besonderer Betonung der Politik-, Sozial- und Kunstgeschichte gelehrt werden. Heute erscheint mir diese Meinung als zu radikal, weil dann die Kenntnis der spezifischen Story der Gläubigen aus allen Jahrhunderten verblassen könnte. Wie immer man sich entscheidet, in jedem Fall sollten die Theologen angeleitet werden, Geschichte nicht nur quellen-bewußt, sondern versäumnis- und schuld-bewußt zu studieren. Über das Thema »Die Kirche und die Armen« in der heutigen ökumenischen Diskussion vg!. III D 2.
E. DIE STELLUNG DER BIBEL IN DEN AUF SIE . FOLGENDEN TRADITIONEN
VORÜBERLEGUNG
Mit dem folgenden Kapitel nähern wir uns dem Themenfeld der Frage nach der Funktion der Theologie. Aber noch stehen nicht fachtheologische Fragen unmittelbar zur Debatte, vielmehr soll an vier Fragen die Wirkung der Bibel auf die Gläubigen und ihre Kirchen und auf ihre Theologen gesichtet werden. Es geht dabei nicht um die Summierung historischer Wahrheiten oder Einsichten, über die es zu diesem Thema ungezählte gelehrte Studien gibt, sondern um das Freilegen der Grundbedingungen und um das Aufzeigen der entscheidenden Alternativen in der Frage der Beziehung der Bibel zu denen, die sie ernst nehmen. Die bisherige Bemühung, möglichst bei jedem Schritt der Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie nicht nur von Christen, sondern von »Juden und Christen«, der Synagoge und der Kirche zu sprechen, stößt nun zunehmend auf Schwierigkeiten. Darin wird die Verwundbarkeit christlicher Theologie überhaupt, und damit unserer Sichtung und des darauf aufgebauten Argumentes in den Teilen II und III dieses Buches deutlich. Sollten wir christliche Theologie immer so betreiben, als schaute uns ein Jude dabei über die Schultern, so gibt es schon im Vorfeld, bei der Sichtung des Gegenstandsfeldes , Gegenstände, die wir lieber vor ihm verbergen möchten. (Die Frage, ob auch er uns gegenüber etwas zu verbergen wünschte, ist uns - nach allem, was Christen Juden angetan haben - wenn nicht theologisch, so doch ethisch verboten).
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie
1. DIE FIKTION EINER BIBLISCHEN THEOLOGIE Theologie im Sinn einer Theoriebildung auf regulative Sätze hin liegt in den biblischen Schriften höchstens in Annäherung vor. Die Erwartung an die Bibel, eine Sammlung einheitlicher, greifbarer und direkt verwendbarer theologischer Lehraussagen im Sinn einer »biblischen Theolgie« zu erhalten, ist eine Fiktion.
Es besteht keine Frage, daß Kirche und Theologie es in fundamentaler Weise mit der Bibel Alten und Neuen Testaments zu tun haben. Das ist schon darum der Fall, weil die Gläubigen in ihrem Denken, Sprechen und Handeln mittelbar oder unmittelbar auf die Bibel Bezug nehmen. Es steht auch außer Frage, daß Kirche und Theologie schlecht beraten wären, wollten sie diesen Bezug minimieren; im Gegenteil, sie sollen sich an ihm messen lassen. Die Frage ist aber, ob die Bibel in dem Sinn Theologie enthält, daß sich heutige Theologie von ihr direkt ihren Inhalt holen oder in der Art ihrer Darstellung ein Vorbild für die eigene Arbeit sehen könnte. Sicher waren Teile der biblischen Schriften für die Gläubigen ihrer Zeit in einer bestimmten Weise »Theologie«. Das heißt aber nicht, daß die theologischen Inhalte in direkter Weise in spätere Zeiten oder Situationen übertragbar sind. Die meisten Teile der Bibel sind, genau genommen, überhaupt nicht übertragbar. Eine wichtige Ausnahme mag die Weisheitsliteratur im Alten sowie im Neuen Testament bieten. Theologie im Sinn der Theoriebildung auf regulative Sätze hin liegt in den biblischen Schriften nur in Annäherung vor. Nur mit Vorbehalten und unter genauen Bestimmungen kann man von der» Theologie Deuterojesajas«, der lukanischen oder johanneischen »Theologie« sprechen, viel eher schon von paulinischer Theologie, weil sich bei Paulus ausgeführte und nachvollziehbare Erklärungen, Begründungen und Eingrenzungen von Aussagen finden. Und doch sind auch im Vergleich zu später ausgeformten Christologien, Trinitätslehren, Lehren von der Kirche, von der Gnade, vom Menschen usw., die Paulusbriefe nur im uneigentlichen Sinn des Wortes Theologie. Noch weniger wird man nach einer gesamtbiblischen Theologie suchen dürfen oder etwa eine spezifische »Lehre von Gott«, »Lehre vom Opfer«,
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»Lehre vom Menschen«, »Konzept von Welt«, »Begriff des Gesetzes«, »Verständnis der Kirche« usw., aus den Schriften des biblischen Doppelkanons herauslesen können. Diese Erwartung an eine materiale, greifbare und direkt anwendbare Sammlung von Lehraussagen der Bibel im Sinn einer »biblischen Theologie« ist eine Fiktion. Für viele Gläubige und Theologen ist diese Einsicht schmerzlich; sie ist auch immer wieder verneint oder verdrängt und durch vereinfachende Generalisierungen ersetzt worden. Zu der Einsicht, daß die biblischen Schriften sich nicht zur Erstellung eines Lehrgebäudes hergeben wollen, kommt noch die durch die biblischen Wissenschaften selbst produzierte Vielfalt exegetischer Ergebnisse. Die alttestamentliche, besonders aber die neutestamentliche Forschung hat neben einer Fülle von konsensfähigen historischen Ergebnissen auch eine große Zahl von widersprüchlichen oder untereinander in Spannung stehenden exegetischen Positionen und Resultaten hervorgebracht und dadurch eine empfindliche Irritation geschaffen. Die Spannungen betreffen keineswegs nur Details: grundsätzliche Fragen, etwa zur Prophetie und zur Eschatologie bzw. Apokalyptik, zum Verständnis des Gesetzes bei Paulus, zur Interpretation des Geistes, der Kirche, des Kommens Jesu und seines Todes, der Auferweckungstexte des N euen Testaments, usw. , sind bis heute ganz weitgehend ungelöst. Ich orientiere mich seit den 50-er Jahren an den Arbeiten meines alttestamentlichen Gesprächspartners und Freundes J ames Barr (in Oxford), vgl. zu der hier aufgeworfenen Frage nach den Schwierigkeiten einer »biblischen Theologie« z. B. The Bible in the Modern World (London 1973), oder die Sammlung The Scope and Authority of the Bible (= Explorations in Theology 7, London 1980) und die historisch-systematische Studie Fundamentalism (London 1977, dt. Übers. gekürzt, Fundamentalismus, München 1981). Vgl. dazu die anders konzipierte These des Mainzer Alttestamentlers Horst Seebaß, Der Gott der ganzen Bibel, Biblische Theologie zur Orientierung im Glauben (Freiburg 1982), s. auch seine Sammelbesprechung »Biblische Theologie«, in VuF, 1/1982, 28-45. In Memory and Hope (1967) hatte ich versucht, den Christus praesens als Bezugspunkt des Glaubens zu verstehen, vgl. Kap I und VI, statt einer Sammlung von Zeugnissen und Berichten von vor 2000 Jahren, der man im Unterschied zu späteren Texten »revelatorisehe« Qualität zuspricht. Darin sei notwendig der Schluß enthalten, es habe Gott einmal verbindlich gesprochen, aber seither gehe es nur um die Ausführung (»Keine Offenbarung nach Esra«). Für die Entwicklung zu dieser folgenschweren Konzeption machte ich vor allem Augustin und den Augustinismus der westlichen Theologie verantwortlich (Kap. III).
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2. DIE TRANSMISSION DER TRADITION
Die Entscheidung der Kirche, mit der Feststellung des Kanons biblische Schriften von späteren Büchern ähnlichen Inhalts qualitativ abzugrenzen, hat ein Problem geschaffen, das erst in den letzten 200 Jahren voll ins Licht gerückt ist: historisch geurteilt besteht kein Unterschied zwischen der Transmission und Rezeption von Tradition innerhalb der biblischen Schriften und in der späteren Kirchengeschichte, theologisch geurteilt wird aber an einem Unterschied festgehalten. Ein heimlicher Deismus ist in diesem Konzept unverkennbar. Wenn es in der Bibel Alten und Neuen Testaments doch ein inneres Muster oder einen roten Faden gibt, den man mit aller angemessenen historischen und exegetischen Vorsicht im «Weitergehen der Story«, wie sie sich in Erinnerung und Hoffnung darstellt, sehen kann, so ist doch im allgemeinen in der Theologie unter dem Abschluß des biblischen Kanons ein Einschnitt in der Story verstanden worden. Die Entscheidung zu dieser Sicht ist folgenschwer, denn mit der Maxime »Keine Offenbarung nach Esra« (in bezug auf das Alte Testament) und der parallelen Behauptung über den Abschluß des Neuen Testaments mit der Aufname seiner jüngsten Schriften in den Kanon ist den biblischen Schriften eine Qualität im Hinblick auf ihre Nähe zur Dynamik der Story zugesprochen, die späteren Schriften nicht mehr zukommt. Diese Schriften (oder mündlichen Überlieferungen) bilden dann die »Tradition«, wobei aber interessant ist, daß die Ähnlichkeit oder völlige Entsprechung zwischen der innerbiblischen Traditionsbildung und der später weiterlaufenden Transmission von Tradition von den Theologen nicht bestritten wird. Trotzdem neigen die meisten dazu, die innerbiblische Rezeption und Transmission von Tradition, also das Muster des Weitergehens der Story, nicht ungebrochen von der Bibel in die Geschichte der Kirche hinein sich fortsetzen zu lassen. Während die Christen des 2. Jahrhunderts noch für den Gedanken offen waren, die Geschichte Gottes mit den Menschen setze sich über die apostolische Zeit hinaus so fort, daß auch neue Inhalte empfangen werden könnten, führte die Theologie bald die Unterscheidung zwischen inspiratio (der Autoren der Bibel) und illuminatio (der jetzigen Gläubigen oder ihrer Lehrer) ein. In der Auseinander-
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setzung mit der Gnosis verengte sich der Begriff der »Offenbarung«, die nun nahezu ausschließlich an die Zeit der Entstehung der biblischen Schriften geknüpft schien. Mit der Einführung des Kanonkonzeptes ist also - spätestens seit der neueren, wissenschaftlichen Arbeit am innerbiblischen Traditionsgefüge ein Widerspruch entstanden. Historisch geurteilt besteht kein Unterschied zwischen der Transmission und Rezeption von Tradition innerhalb der biblischen Schriften und in der späteren Kirchengeschichte, theologisch geurteilt wird aber an einem Unterschied festgehalten. Zur Auflösung des Widerspruchs, oder doch zur Bewältigung seiner Konsequenzen, sind in der Theologie verschiedene Modelle entworfen worden. Es sind vor allem drei unterschiedliche Vorstellungen zu nennen. Erstens: Der starr an die biblischen Schriften gebundene Offenbarungsbegriff operiert mit geoffenbarten Inhalten, die einzig dort, aber nicht mehr in der späteren Tradition vermittelt werden. Tradition und Theologie werden hier zu reiner Explikation und Applikation vorgegebener Inhalte aus einer begrenzten Anzahl von Jahrhunderten in der Antike. Zweitens: Das evolutionistische Konzept sieht in der Bibel keimhaft angelegt, was in der späteren Tradition in reiferer Form ausgebreitet wird. Hier wird die Kirche mit ihrer Tradition zum sensus plenior der biblischen Texte. Drittens: Den kanonischen Schriften wird nur chronologische Priorität gegenüber den späteren Zeugnissen zugesprochen. Hier ist die dem Humanismus sowie dem Historismus verwandte Maxime »je älter, desto wahrer« direkt oder indirekt wirksam. Keines dieser Modelle ist befriedigend. Bei aller Verschiedenheit haben die drei Konzepte einen heimlichen Deismus gemeinsam, weil in jedem von ihnen die Vorstellung mitgegeben ist, Gott habe einmal eine Dynamik oder einen Mechanismus in Gang gesetzt - in diesem Fall den Mechanismus einer Nachrichtengebung - der bereits zu einem Abschluß und Höhepunkt gekommen sei und der seither nur noch des Abrollens und der Entfaltung durch theologische Deutung bedürfe. Die Wahrheit liegt ausschließlich in der Vergangenheit. Zu ihrer Bewahrung und authentischen Explikation werden kirchliche Amtsträger oder wissenschaftlich qualifizierte Interpreten nötig. Der Geist Gottes wirkt nun in geregelten Bahnen und in vorher festgelegter Weise. Dem Geist bleibt nur noch die individuelle Belebung, Erleuchtung und Belehrung der Gläubigen als Aktionsfeld. Die wissenschaftlich adäquate Weise der Bearbeitung dieses Vorgangs ist die herme-
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neutische Methode mit der Grundfrage: wie kann dieser alte Text für mich heute neu und relevant werden? Heutige Theologie steht auch in ihren modernsten und progressivsten Ausprägungen noch weitgehend im Bann dieser Vorstellungen, die der Vergangenheit und speziell dem biblischen Kanon das Übergewicht über die Wahrheit der Zukunft und über die Gegenwart des Geistes zusprechen. lean Danielou hat einmal Oscar Cullmann vorgeworfen, wenn er über apostolische Tradition arbeite, so urteile er theologisch, wenn aber über kirchliche Tradition, dann spräche er als ein Historiker (zitiert in Memory and Hope, 70). Dieser Vorwurf trifft im Grunde nicht nur Cullmann. Zum Problem Schrift und Tradition vgl. Memory and Hope Kap. I, sowie meinen Aufsatz »A Plea for the Maxim: Scripture and Tradition, Ref!ections on Hope as a Permission to Remember«, in Interpretation, lan. 1971, 113-128; vgl. das wichtige Buch über die Geschichte der Exegese von Hans Frei (in Yale): The Eclipse ofBiblical Narrative, A Study in Eighteenth and Nineteenth Century Hermeneutics (New Haven/London 1974, 3. Auf!. 1978). Zum Kanonproblem vgl. jetzt die neueste Arbeit von lames Barr, Holy Scripture, Canon, Authority, Criticism, (Philadelphia 1983). Vgl. Friedrich Schleiermacher, GL §§ 128-32; Kar! Barth, KD I, 2, §§ 19-21; Wolfhart Pannenberg, WissTh 374-392; Gerhard Ebeling, DChrG § 2.
3. DIE BESONDERE BEDEUTUNG DER PATRISTIK
Historisch entspricht der Epoche der christlichen Patristik die Zeit der Entstehung des Talmuds. Zukünftige Theologie müßte diese Gleichzeitigkeit synoptisch zum Thema machen. In den drei großen Teilen der Kirche, dem orthodoxen, dem römisch-katholischen und dem reformatorischen, wird die Patristik unterschiedlich abgegrenzt und auch gewertet. Ihre faktische Vernachlässigung im neueren Protestantismus ist auffällig. Das steht im Kontrast zur großen theologischen Bedeutung dieser Epoche. In heutiger ökumenischer Arbeit verblaßt die Bedeutung mittelalterlicher und reformatorischer Theologie gegenüber den fundamentalen Entwicklungen und Entscheidungen der Alten Kirche.
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In den ersten fünfhundert Jahren der Kirche sind die hauptsächlichen theologischen Alternativen be9acht und präsentiert worden. Die Tragik der Trennung der heidenchristlichen Kirche von Israel wird durch die geschichtliche Tatsache betont, daß in eben dieser Periode auch der Talmud entstanden ist. Eine zukünftige Theologie Israels und der christlichen Kirche, wie sie vielleicht in einigen Generationen möglich werden wird und sollte, müßte diese Gleichzeitigkeit synoptisch zum Thema machen. In den drei großen Teilen der Kirche, dem orthodoxen, dem römisch-katholischen und dem reformatorischen, wird die Zeit der Patristik auf typisch unterschiedliche Weise gewertet. Sieht man von der besonderen Mischform des anglikanischen Kirchenturns und seiner Theologie ab, so ist unter den Großkirchen einzig die Orthodoxie der Patristik programmatisch verpflichtet. Für sie kommt keine andere Epoche der Kirchengeschichte als wesentlich, typisch und normgebend in Frage als nur die Zeit der Patristik. Dabei sind allerdings zwei wichtige Unterschiede in der Bestimmung der Patristik im Vergleich zum katholischen und reformatorischen Verständnis auffällig: für die Orthodoxie steht die lateinische Hälfte der patristischen Literatur weitgehend am Rande, zugleich aber wird die griechische patristische Tradition als weit in die spätbyzantinische Zeit hineinreichend definiert. Für die Ostkirchen gilt noch als patristisch-ökumenisch, was für den Westen schon byzantinische Spezialtradition ist. Zugleich fehlt der östlich~n Orthodoxie der mächtigste und zugleich problematischste Impuls der gesamten westlichen altkirchlichen Theologie und Frömmigkeit, nämlich Augustin und der Augustinismus. Bedenkt man den überragenden Einfluß Augustins und des Augustinismus auf den Westen, so relativieren sich im Vergleich zur östlichen Orthodoxie die Unterschiede zwischen der römisch-katholischen und der reformatorischen Tradition. Trotzdem wird aber die Patristik in den beiden westlichen Haupttraditionen unterschiedlich gewertet. In der katholischen Kirche und Theologie war es bis vor kurzem üblich, die normativ gewerteten Inhalte mittelalterlicher Theologie in die lateinische und auch in die griechische Patristik hineinzulesen, die durchaus bestehenden Differenzen zum Mittelalter also zu minimieren. Dabei spielte und spielt die als selbstverständlich angenommene Kontinuität der Frömmigkeitsgeschichte vom christlichen Altertum über das Mittelalter bis zur Neuzeit eine bedeutende Rolle. Die Namen von altkirchlichen Vätern oder Heiligen werden ebenso
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wie mittelalterliche Namen in Ehren gehalten, als Vornamen für Christen und besonders als monastische Namen gewählt. Auch die Kontinuität der Theologie von den ökumenischen Konzilien der Alten Kirche bis zu den großen Systemen des christlichen Mittelalters galt bis in die jüngste Zeit hinein als selbstverständlich. Allerdings stand dabei die westlich-lateinische Patristik im Vordergrund, die griechische und orientalische wurde durch die Brille des Augustinismus gesehen und in ihrer Eigentlichkeit weithin nicht verstanden. Insgesamt wird man urteilen dürfen, daß für die klassisch römisch-katholische Theologie die Patristik in ihrem lateinischen Schrifttum wichtiger als in ihrer Gesamtheit war, daß die (griechischen) ökumenischen Konzilien ohne ihren komplexen Hintergrund in der griechischen Theologie als bloße Endergebnisse verstanden und in westlichen Kategorien interpretiert wurden, und daß die patristische Theologie überhaupt mit ihren theologischen, liturgischen und populären Texten - in deren Mittelpunkt unangefochten Augustin zu stehen schien - als Reservoir für die eigentliche, die mittelalterliche Theologie betrachtet worden ist. Anders wiederum ist in der protestantischen Theologie geurteilt worden. Die enorme Hochschätzung der Theologie des Reformationsjahrhunderts hat in der klassisch protestantischen Theologie - und in der Theologenausbildung bis zum heutigen Tag - zu einer starken Abwertung des Mittelalters und zugleich zu einer unbestreitbaren Vernachlässigung der Patristik geführt. (Dieses Urteil trifft freilich für die anglikanische Kirche und Theologie nicht zu, auch nicht für die durch Berührung mit anglikanischen Kirchen beeinflußten Teile protestantischer Theologie im englischen Sprachbereich). Hingegen ist bereits gegen Ende der Reformation die Zeit der Alten "Kirche als eine Epoche des möglichen Konsensens - des consensus quinquesaeculari/i - aller christlichen Kirchen eingeschätzt worden. Diese theologisch wenig artikulierte, aber untergründig ernstgenommene Grundhaltung ist im Protestantismus eigentlich zu allen Zeiten bemerkbar gewesen, auch wenn der Urheber des Gedankens vom consensus quinquesaecularis mit historischen Gründen kritisiert worden ist. So sind auch in der reformatorischen Tradition bis in die heutige Zeit die ökumenischen Glaubensbekenntnisse der Alten Kirche respektiert worden, auch wenn sie im liturgischen Leben der betreffenden protestantischen Kirche eine geringe oder auch gar keine Rolle gespielt haben. Man mag das eine Ironie nennen, es ist aber nichts weniger als ein Zeichen für die- unartikulierte aber doch
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ernsthafte Hoffnung, aus der patristischen Theologie Schätze heben zu können, die der Kirche als solcher, der Ökumene, zugute kommen können. Der historisch gesehen irrige Gedanke des consensus quinquesaecularis hat durchaus seinen Sinn. In der Zeit der Alten Kirche - allerdings lateinische, griechisch(1 und orientalische Stimmen eingeschlossen - ist die Story der Bibel auf so erstaunlich reiche und - im Vergleich zur spätantiken und mittelalterlichen Trennung der Kirchen - zugleich doch so einheitliche Weise akzeptiert, interpretiert und mit Doxologie und Ethik verbunden worden, daß es sich verbietet, andere Epochen als eben diese als theologisch wesentlich und vielleicht sogar normativ anzusehen. Mindestens muß man urteilen, daß die entscheidenden theologischen Alternativen und Probleme damals gesehen und reflektiert worden sind, auch wenn letztlich historisch von einem Konsens nicht gesprochen werden kann. Dazu kommt, daß die Kirche damals in lebendiger Auseinandersetzung mit einer nichtchristlichen Umwelt stand. Dies ist ein Faktum, das uns heute mit patristischer Theologie in direkterer Weise verbindet als mit mittelalterlicher oder reformatorischer Theologie, die ganz und gar im Kontext eines christlichen Europas betrieben wurde. Auch das Kanonproblem, das auf die fließenden Grenzen zwischen den biblischen Schriften und späteren Tradition weist, läßt es ratsam erscheinen, der Patristik mehr Gewicht zukommen zu lassen, als es bisher in den westlichen Kirchen üblich war. Eine »biblisch begründete Theologie« ist ohne intensive Kenntnis und ehrliches Ernstnehmen patristischer theologischer Entwicklungen und Entscheidungen nicht sinnvoll, sondern tendiert zu fideistischem und fundamentalistischem Absolutismus und zu biblizistischem Offenbarungspositivismus. Der Bedeutung der Patristik gegenüber verb laßt auch im ökumenischen Dialog die westliche mittelalterliche und reformatorische Theologie. Diese Einsicht wird nur von denjenigen bestritten oder bezweifelt, die an diesem Dialog noch nicht ernsthaft teilgenommen haben. Der Vernachläßigung der Patristik und des Wissens um den Reichtum der Alten Kirche in den heutigen evangelischen Kirchen kann nur durch eine andere Gewichtung in der Theologenausbildung gesteuert werden. Von der Reformation bis heute ist die Polarisierung in der Ausbildung mit jeder Generation stärker geworden, so daß nur noch biblischer Exegese und der jeweils neuesten Theologie ernsthaft Aufmerksamkeit zukam. Daraus erkennt man eine eigentümliche Verzerrung und Verkürzung eines protestanti-
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schen Prinzips, nach dem das Älteste sowie das ganz Moderne das Wahre und einzig Wichtige ist. Vgl. die Schlußbemerkung nach Teil 111 »Über Theologie im akademischen Betrieb«.
4. VERIFIKATION DURCH WIEDERERKENNEN
Einzelne Sätze oder Kapitel der Bibel wirken nur in Ausnahmefällen derart direkt auf die Gläubigen ein, daß sie unmittelbar in die Tat umgesetzt werden können. Der Normalfall ist vielmehr, daß sich in einer bestimmten Situation die Gläubigen aus den latent bewußten und gekannten Traditionsbündeln der Bibel zu einer bestimmten Selektion gedrängt wissen und etwas erinnern, das ihnen ohne diesen »Anlaß« nicht wichtig geworden wäre. »Anlässe« führen zum »Wiedererkennen« von Traditionselementen, die im Gedächtnis der Kirche ruhten.
Die Bibel wirkt auf die Gläubigen, d. h. auf die Kirche, nicht - oder nur in Ausnahmefällen - in der Weise ein, daß bestimmte Sätze oder Kapitel im Bewußtsein der Gläubigen haften und von dort her in die Tat umgesetzt werden. Auch das Denken und Sprechen der Gläubigen ist in der Regel nicht direkt von biblischen Texten her gesteuert. Der Traditionsinhalt der von den frühen biblischen Schriften bis heute weitergehenden Story liegt nicht in gleichmäßiger Verteilung all seiner Elemente im Bewußtsein der Gläubigen in der Weise parat, daß er in neuer Rede und praktischer Tat einfach angewendet werden kann. Vielmehr sind die komplexen Inhalte der Tradition - der biblischen sowie der späteren -latent in ihrer Gesamtheit in der Kirche vorhanden, aber nur geringe Anteile der Tradition werden von den einzelnen Gläubigen oder von kirchlichen Gruppen bewußt aufgenommen und konkret »genützt«. Die unter verschiedenen Gläubigen und besonders in verschiedenen Situationen und Zeiten sich ergebende Selektion aus dem reichen Traditionsbündel geschieht jeweils aus bestimmten und meist auch erklärbaren Gründen. Ich nenne diese Gründe »Anlässe« (auf Englisch occasions). Die Anlässe kommen aus der gegenwärtigen Si-
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tuation der Gläubigen - eines einzelnen oder einer Gruppe oder ganzen Kirche - und leiten in bezug auf die Bibel (sowie auch späterer Tradition) eine spontane Erkenntnis ein, die ich »Wiedererkennen« nenne. Mit dem Begriff Wiedererkennen ist der Vorgang der induktiven Erkenntnis gemeint, mit der ein gegenwärtiges Problemfeld oder eine Aufgabe mit latent im Gedächtnis der Kirche liegenden Elementen verbunden wird. Der Vorgang ist nur für den möglich, der an der Story der Christen und Juden mehr oder minder intensiv Anteil hat. Nur für ihn werden ein Krieg, ein medizinisch-ethisches Problem, Streit und Versöhnung zwischen zwei Menschen usw., zu »Anlässen« des Wiedererkennens oder der Neuentdeckung biblischer (oder späterer) Traditionselemente. Das Wiedererkennen kann positiv sowie auch negativ sein: in der Versöhnung zweier Menschen - Christen oder Nichtchristen gleichermaßen - kann ich die Geschichte vom verlorenen Sohn (oder eine andere, ähnliche Geschichte aus dem Alten oder Neuen Testam~nt) wiedererkennen, so wie mich das Erleben von Haß, Neid, Gewinnsucht, Ausbeutung und Folter im totalen Kontrast zur Botschaft des Alten und Neuen Testaments zum Wiedererkennen eben dieser Botschaft führen kann. Auch das Verhalten und Schicksal eines einzelnen Menschen können zum Wiedererkennen zentraler Elemente der Story führen: im Leiden und Sterben eines Mitmenschen kann ich Aspekte der Passion und des Todes von Jesus wiedererkennen. Man wird kaum im voraus planen können, welche Ereignisse zu Anlässen des Wiedererkennens und welche nicht dazu führen können. Aber wer Anlaß-los lebt, sich der Dynamik und Tragik konkreten Lebens entzieht, der wird die Tradition und die Bibel nicht verstehen, sollte er sie auch noch so intensiv studieren. Das Wiedererkennen kann als Zurückgehen des meist versperrten, direkten Vorwärtsgehens vom biblischen Text zur gegenwärtigen Situation verstanden werden. Die prophetische Direktheit der Anwendung einer Bibelstelle oder eines Traditionselements auf die gegenwärtige Situation ist die Ausnahme; der Alltag aber ist die Offenheit zum Wiedererkennen und Neuverstehen latent gewußter und vertrauter Einzel-Stories beim Erlebnis eines Anlasses. Der Anlaß ist der Moment der »Offenbarung«, und ich möchte diesen Begriff von Offenbarung dem traditionellen Verständnis, in dem Offenbarung den biblischen Schriften und ihrer Epoche zugeordnet wird, vorziehen. (Vgl. I G 4).
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Theologische Ethik kann man als das absichtliche Suchen nach dem Wiedererkennen biblischer (und späterer) Traditionselemente in der gegenwärtig erlebten ethischen Problemsituation definieren. Ich nenne diese generelle Suche - im Unterschied zum ethischen Einzelargument - die »Korrespondenzfrage«: inwiefern korrespondieren mein Handeln, meine Entscheidungen, meine Maximen, den zentralen biblischen Stories? Während das Wiedererkennen meist unbeabsichtigt geschieht, ist es die Aufgabe der theologischen Ethik, die Korrespondenzfrage mit Bedacht und Absicht zu stellen. Zur Korrespondenzfrage vgl. III B 3. - Im spontanen Wiedererkennen (wenn man es von der mit Absicht gestellten »Korrespondenzfrage« unterscheidet) sortiert sich das Traditionsgut sozusagen »von selbst«, d. h. durch Anlässe, »occasions«. Den Begriff der occasion, der in neuerer Philosophie, z. B. bei Whitehead, eine Rolle spielt, habe ich in langem Austausch mit Paul Lehmann, dem Ethiker am Union Seminary in New York (und ehemals Dietrich Bonhoeffers wichtigstem amerikanischen Freund) zu verwenden begonnen. Das Leben ist »voller Anlässe« zur Selektion und Verwendung dessen, was bei mir - oder in meiner Gruppe -latent vorhanden ist. Diese Konzeption setzt freilich voraus, daß es so etwas wie »Grundfiguren« in der Bibel gibt, die je und dann im Leben in anderen Jahrtausenden und Jahrhunderten wieder anzutreffen sind. Ich meine, daß dies tatsächlich gesagt werden kann. Ich habe dabei nicht die zur Genüge diskutierten »Existentialien« im Sinn, vielmehr weit einfachere Muster von menschlichen Erfahrungen und Begebenheiten, deren gebündelte Darstellung in den biblischen Geschichten wahrscheinlich Priorität vor dem erneuten Erkennen im heutigen Leben haben. M. a. W., ich glaube, daß es einen Unterschied macht, ob man innerhalb (oder am Rande) der Story der Juden und Christen aufgewachsen ist, oder völlig außerhalb, um das Phänomen ( die Grundfigur) »Vergebung«, »Trost«, »Passion« u. ä. in der Weise im Leben erkennen zu können, daß eine Rückbeziehung auf biblische Einzelgeschichten überhaupt vollzogen werden kann. Damit will ich freilich nicht einem Hindu oder Shintoisten die Fähigkeit absprechen, beim zufälligen Kontakt mit einer biblischen Geschichte etwas wiederzuerkennen, das er in seinem Leben erfahren hat. Ich möchte aber auf eine generelle Ausweitung der Grundfiguren in Gestalt von anthropologischen Konstanten verzichten und eher konkret und Story-gebunden vom Wiedererkennen von Grundmustern in der direkt oder auch vage erinnerten Story der Juden und Christen sprechen. Damit ist freilich letztlich die steile These gemeint, daß sich für den Gläubigen nicht die ihm gegebene Welt aufgliedert nach der Vorgabe von zentralen biblischen Aussagen oder Einzel-Stories, sondern eher umgekehrt, daß sich ihm die christlich(-jüdische) Tradition und die Bibel aufgliedern in je neu erkannte und tiefer verstandene Einzel-Stories oder in Facetten neu erinnerter Aussagen, vgl. I G 3.
F. DIE STELLUNG DER LOGIK
VORÜBERLEGUNG In der Theologie - besonders in den Kirchen des Westens - sind Denken und Beten so sehr auseinandergerissen worden, daß sie sich wie Fremde oder gar wie Feinde gegenüberstehen. Der Anfang aller Theologie, der auf keiner Stufe theologischer Arbeit überholt oder überboten ist, liegt in der anbetenden Wahrnehmung des Ursprungs und Ziels, des Gebers und verborgenen Themas der Geschichte Israels und der Kirche und letztlich der Menschheit. Wenn Theologie sich darauf bezieht, so muß sie in ihren Interpretationen, Klärungen und Argumenten auf Kommunikation und letztlich auf Konsens hinstreben, muß Gründe für ihre Äußerungen, Gewichtungen und Vorschläge benennen können und kann darum gar nicht umhin, mit ordnenden Konzepten umzugehen. Dabei macht sie von der Logik der Sprachen Gebrauch, in denen sie sich vorfindet, leiht sich auch für komplexere Operationen Handwerkszeug und komplizierte Instrumente aus Philosophie und Wissenschaftstheorie, ohne sich selbst letztlich in diesen Gefilden ansiedeln zu wollen, und sie sucht bei all dem, was sie tut, ständig nach besserer Einsicht in die »Tiefengrammatik« anbetenden, verantwortlichen Redens von Gott. Unumgänglich geht es in der Theologie um Aussagen. Bevor sie Positionen vertritt oder verteidigt - was sie vielleicht nur sehr selten muß - will sie explikativ und invitativ sein zum Nutzen derer, die an dem Interesse haben, was auch sie zu ihrer Arbeit drängt. Heutige Theologen - professionelle und andere - zeigen immer weniger Neigung zu polemischer und positioneller Theologie, mit der Klüfte aufgerissen und Fronten verhärtet werden. Immer größer aber ist die Neugierde nach Klärung und nach Wegen in die Tiefen logischer und theologischer Begründungen der Aussagen der Gläubigen und nach verantwortlicher Wegweisung für ihre Handlungen. Heutigen Theologen ist auch weitgehend die Lust für theologische Gesamtsysteme abhanden gekommen. Wer solche geschlossenen Systeme noch vertritt, wird wie ein Gast aus einer fremdgewordenen Zeit angese·
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hen. Stattdessen schält sich aber langsam eine neue Tendenz zur vorsichtig begründeten Einzelaussage und zu ihrer Verankerung in einem weiteren Begründungsfeld heraus. Damit schwingt das Pendel wieder etwas zurück, denn die beiden letzten Jahrzehnte der (zumindest) westlichen Theologie waren durch eine überstarke Skepsis gegenüber jeglicher Gesamtschau gekennzeichnet. Alles schien sich in Einzelthemen aufzulösen, Begründungen wurden auswechselbar, radikale Privatmeinungen wurden ohne Rücksicht auf ökumenisches Gehör oder gar Konsens hochgespielt, Theologie schien sich vielerorts in Historie (im akademischen Feld) und in Soziologie (im praktischen Interesse) aufzulösen. Im folgenden Kapitel werden einige grundsätzliche Beobachtungen zur Logik christlicher Ausssagen zusammengetragen. Sie münden in die Überlegung, in welchem Ausmaß und in welcher Funktion übergeordnete Perspektiven zur Vision einer Gesamtschau theologischer Themen denkbar sind. Diese Frage wird auch die Kapitel I G und I H bestimmen. Vgl. Frederick FeITe, Language, Logic and God (New York 1961) sowie Joseph M. Bochenski, The Logic of Religion (New York 1965, dt. Logik der Religion, Köln 1968, 2. Aufl. Paderborn 1981), auch Peter Widmann, Thetische Theologie, Zur Wahrheit der Rede von Gott (München 1982). Vgl. auch das in I B 3 zitierte Buch von Koloman N. Micskey, Die Axiom-Syntax des evangelisch dogmatischen Denkens, besonders aber zwei schwedische Bücher: Anders Jeffner, Kriterien christlicher Glaubenslehre, Eine prinzipielle Untersuchung heutiger protestantischer Dogmatik im deutschen Sprachbereich (Uppsala 1977) bes. Kap. 6 »Logische Kriterien« (97-126), sowie Anders Nygren, Sinn und Methode, Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Religionsphilosophie und einer wissenschaftlichen Theologie (Göttingen 1979), der der Religionsphilosophie die Aufgabe einer sprach-logischen Klärungsfunktion zuweist.
1. DIE BEZIEHUNG CHRISTLICHER LEHRAUSSAGEN ZUEINANDER Lehraussagen finden sich in der Kirche in den drei Gestalten des Credos, des Dogmas und der theologischen Lehre. Die Vertauschung ihrer Funktionen bringt folgenschwere Verwirrung. Credos, und teilweise auch Dogmen, haben ursprünglich doxologischen Charakter. Sie wurden nicht nur Menschen, sondern primär Gott zugerufen.
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Dogmen und Lehraussagen sind nicht Gegenstand des Glaubens (wiewohl manche Teile der Kirche dies statuieren), vielmehr sind sie Hilfe für das Verstehen und für die Artikulation des Glaubens. Sie sind auf der Seite des Gläubigen, nicht ihm gegenüber. Theolgoische Lehraussagen insgesamt sind nicht eigentlich »Antworten« auf »Fragen«, sondern Richtungsangaben, Ortungen, Gewichtungen, Klärungen, Einladungen. Sie sind eher daraufhin zu prüfen, ob sie hilfreich, nicht vordringlich ob sie «wahr« oder »falsch« seien. Zwischen den Themen theologischer Lehren besteht inhaltlich komplexe Interdependenz sowie Über- und Unterodnung. Die Aufteilung christlicher Lehre in fixierte loei jedoch widerspricht der Dynamik ihres Inhalts.
Lehraussagen dienen dem besseren Verständnis und der Erinnerung an die Story Israels und der Kirche und weisen auf die heutigen Aufgaben derer hin, die in dieser Story stehen. Lehraussagen kommen in dreierlei Gestalt vor, wobei die Abgrenzungen nicht als systematisch zwingend, sondern eher als historisch geworden angesehen werden müssen. Es handelt sich um Credos, Dogmen und um theologische Lehren. Credos sind Summierungen der Story in bezug auf das persönliche Einstehen der Gläubigen für deren Wahrheit. Dogmen sind - mit Credos in ihrem ursprünglich gottesdienstlichen Gebrauch verwandt - auf breiter ökumenischer Basis anerkannte theologische Propositionen, ohne deren Verwendung das Verständnis des Glaubens der Gläubigen unnötig erschwert wäre. Theologische Lehren (oder Gruppen von Lehraussagen) sind -lockerer als Dogmen - Komplexe von regulativen Sätzen, die das Denken, Sprechen und Handeln der Gläubigen regulieren, testen und auf ihre Wahrheit hin befragen helfen. Wenn auch die drei Gestalten von Lehraussagen nicht scharf voneinander unterschieden werden können, so bringt doch ihre Verwechslung sehr ungünstige Folgen mit sich. Dogmen und Lehren sollten - von Ausnahmesituationen abgesehen - nicht als Credos mißverstanden und verwendet werden. (So sind z. B. die vier chalcedonensischen Begriffe zur Klärung der Beziehung der Naturen Christi keine credo-haften, sondern regulative Sätze). Ebenso wäre es ungut, Credos als Dogmen oder Lehren aufzufassen, was sie nur in wenigen Fällen oder in einzelnen Passagen sind, etwa im nicänischen Glaubensbekenntnis. Durch dogmatisch-lehrhaften Gebrauch
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werden Credos intellektualisiert und leicht ihres ursprünglich doxologischen Chrakters beraubt. Und schließlich ist es auch ungut, wenn theologische Lehren dogmatisiert werden. Sie verlieren dadurch ihre orts- und zeitgebundene Eigenart als regulative Theorien, die von einem oder doch wenigen Autoren entwickelt wurden und nicht von sich aus ökumenische Verbindlichkeit beanspruchen dürfen. Abgesehen von der Unterscheidung der drei Gestalten christlicher Lehraussagen und der Warnung vor ihrer Verwechslung kann auch nach der Beziehung und Interdependenz der isolierbaren Themen der Lehraussagen untereinander gefragt werden. Vorausgesetzt, daß die Isolierung etwa des Themas »Kirche«, »Trinität«, »Christologie«, oder auch »Taufe«, »Abendmahl«, »Rechtfertigungslehre«, »Beziehung zwischen Kirche und Gesellschaft«, »Begründung der Ethik«, usw. überhaupt möglich und auch unumgänglich ist, muß sogleich festgestellt werden, daß einige Themen von Lehraussagen von anderen abhängig sind. Es besteht offenbar eine Verkoppelung und letztlich hierarchische Ordnung der theologischen Themen, unabhängig von der Frage, ob diese Ordnung je als System gesehen oder gar dargestellt werden könnte. Auch wenn kein theologisches System erstellbar ist, bleibt es unbestritten, daß z. B. die Lehre von der Kirche und die Christologie nicht von der Lehre von der Taufe abhängig sind, sondern daß das Umgekehrte der Fall ist. Außer der Frage nach der inneren Zuordnung der theologischen Themen zueinander oder ihrer heimlichen Hierarchie muß das Phänomen der ungleichen Reichweite theologischer Aussagen beachtet werden. Die meisten Lehraussagen beziehen sich auf bestimmte (und historisch im Nachhinein bestimmbare) Fragen. Dadurch wird einerseits ihr zeitgebundener Charakter deutlich, andrerseits auch ihre begrenzte Reichweite. Aufgabe der Theologie ist es unter anderem, die in den jeweiligen Lehraussagen mitgegebenen Reichweiten zu erkennen oder zu bestimmen. Dabei gilt wohl (ähnlich wie in der Jurisprudenz): je größer die Reichweite, desto unbestimmter ist die Lehraussage. Sätze wie »Gott ist gut«, oder »Christus als Herr der Welt« lassen sich ohne nähere Bestimmungen schwer spezifizieren. Umgekehrt gilt gewiß: je spezifischer eine Lehraussage, umso größer die Gefahr, sie für eine Frage zu verwenden, auf die sie nicht gemünzt ist. Das ist die »Überdehnung« von Begriffen und Lehraussagen. Wenn bei einer christlichen Lehraussage (sei sie nun credo-haft doxolo-
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giseh, dogmen-haft ökumenisch, oder lehrhaft explikativ in einer ausführlich dargelegten Lehre) jeweils die Suche nach der Frage nötig ist, auf die diese Lehraussage eine Antwort war oder ist, so könnte der Anschein entstehen, Theologie bestünde letztlich aus Antworten auf Fragen. Das ist aber nur scheinbar oder höchstens teilweise der Fall. Die Begriffe »Frage« und »Antwort« haben ihren genuinen Platz in der Mathematik und Logik und sie sind auch von dorther in die Theologie gelangt. Theologische Lehrsätze bieten in der Regel eher Hinweise, Richtungsangaben, Anregungen und Einladungen, weisen falsche Fragen ab, verursachen Umorientierungen, als daß sie Antworten geben. Mindestens müßte »Frage« in einem breiten und unscharfen Sinn verwendet werden, um dem gerecht zu werden, was in den biblischen Schriften und in der Theologiegeschichte an »Antworten« geboten worden ist. (Sinnlos ist der oft gehörte Satz: »Was ist die Antwort der Theologie auf diese Frage?», und zwar nicht bloß deswegen, weil die Theologie keine sprechende Person ist; die Verteilung von Antworten ist nur in sehr beschränktem Ausmaß Aufgabe der Theologie). Vgl. lan M. Crombie, »Die Möglichkeit theologischer Aussagen», dt. Übers. des Aufsatzes von 1957 in Ingolf U. Dalferth, Sprachlogik des Glaubens (München 1974), 96145. Zu theologischen Aussagen siehe auch Gerhard Sauter, WissKrTh, 271-293.
2. WAS SIND THEOLOGISCHE FEHLER?
Ein theologischer »Fehler« ist vordergründig als Fehler in bezug auf biblische Texte, Dogmen, Konzilien oder auch auf Effektivität der Aussage hin definierbar. Eine Aussage kann aber im Hinblick auf diese Kriterien »korrekt«, in Wahrheit aber doch fehlerhaft sein. Fehler müssen sich an der Optimierung der Kommunikation in der Kirche als Dialoggemeinschaft erkennen und messen lassen. Mit dieser These ist allerdings ein Verständnis von Theologie vorausgesetzt, daß nicht Gott, sondern die Rede von Gott zum Gegenstand hat.
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstands/eides der Theologie
Theologische Gedanken und Sätze sind in ihrer Art so zu verstehen, daß sie immer zugleich Aussagen über das Bekenntnis Israels und der Kirche sowie über eine so oder so verstandene historisch oder empirisch wahrgenommene Situation sind. An dem Problem der Verbindung der beiden Elemente kann die Theologie nicht vorbeigehen. Die Frage, was ein theologischer »Fehler« sei, hängt vom Verständnis der Verbindung dieser beiden Elemente ab. Wenn man die Glaubensaussagen der Bibel etwa - in positivistischer oder fundamentalistischer Weise - mit historischen Sätzen identifiziert, so bestehen theologische Fehler einzig im falschen Umgang mit historischen Texten. Wenn man aber Glaubensaussagen von historischen Berichten in der Weise ablöst, daß sie ohne historischen Bezug artikulierbar sind, dann ist eine Reihe von axiomatischen Glaubenssätzen nötig, um einen theologischen Fehler bestimmen zu können. Wenn z. B. die Liebe Gottes, die innere Stimme des Gewissens, die soziale Neugestaltung der Gesellschaft oder die Feier der Sakramente usw. als Axiome über den historischen Texten schweben und nur locker oder gar nicht mit ihnen verbunden sind, so ist ein Verstoß gegen diese Grundgedanken oder Ideale als ein »theologischer Fehler« charakterisierbar. Das ist auch der Fall, wenn in differenzierterer Weise unter Beachtung der Komplexität des Problems der Verknüpfung von Historie und Glaubensbekenntnis ein kirchliches Lehramt statuiert wird: ein partieller Verstoß gegen die von ihm festgelegten Richtlinien muß dann auch als theologischer Fehler bezeichnet werden. Eine weitere Variante - verwandt mit der zweiten - ist die letztgültige Orientierung an altkirchlichen Dogmen oder an ökumenischen Konzilien der Vergangenheit. Die Feststellung eines theologischen Fehlers ist an das Verständnis der Verifikation theologischer Aussagen gebunden. Liegt die Verifikation einzig in der Biblizität, so ist auch einzig an der Bibelgemäßheit ein Fehler zu erkennen. Liegt sie im Bereich normativer Grundkonzepte, auch lehramtlicher Verlautbarungen oder altkirchlicher Konzilien, so sind Fehler nur an diesen Kriterien zu messen. Liegt sie in der Effektivität der Anwendung theologischer Rede, also im Überzeugen, Trösten und Aktivieren der Hörer, so liegen dort auch die möglichen Fehler. Diese Varianten sind unbefriedigend. Sie messen die Richtigkeit theologischer Rede entweder an einer Auswahl von Texten oder an Dogmen, geronnener Lehre also, die ursprünglich der Wahrheitssuche diente und nicht
F. Die Stellung der Logik
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Objekt des Glaubens sein wollte, oder - pragmatisch und trivial- an ihrem Markterfolg. Der Bezugsrahmen für die Feststellung von Fehlern muß vielmehr in der Optimierung der Kommunikation in der Kirche als Dialoggemeinschaft gesucht werden. Gottes Zuwendung zu Israel und in Jesus Christus zu den Heiden gilt es in der Kirche gemeinsam zu erlernen - »gemeinsam Christus lernen« - und die Rede davon kritisch zu prüfen und erfinderisch-kreativ zu erweitern, so daß Glauben und Handeln, Denken und Beten aufs engste verknüpft werden. Die Logik solcher Rede ist überprüfbar, sie ist nicht mit der Logik Gottes identisch. Theologie sollte sich darum auch nicht, wenn sie in Schwierigkeiten gerät oder kritisiert wird, auf die »Geheimnisse Gottes« oder auf das »Paradox des Glaubens« zurückziehen. Freilich ist ein Verständnis von Theologie, das Gott zum direkten Gegenstand haben will, ständig in Gefahr und sogar unter dem Druck der Notwendigkeit, diesen Rückzug anzutreten. Wenn aber der Gegenstand der Theologie die Rede von Gott und der damit verbundenen ethischen und doxologischen Aufgaben ist, dann ist die Logik der Theologie niemals von der Sprache ablösbar: theologische Fehler sind dann Fehler in der Verwendung der Sprache und ihrer die Kommunikation fördernden Regeln. Sie können sich als Fehler in bezug auf Texte, Dogmen und Konzilien oder auch im Hinblick auf Effektivität erweisen; das sind aber nicht ihre wesentlichen Kennzeichen. Es ist auch möglich, daß eine theologische Aussage in bezug auf diese vier Kriterien richtig ist, trotzdem aber einen theologischen Fehler darstellt. In der theologischen Literatur kann man mühelos zahlreiche Beispiele für kommunikationszerstörende logische Fehler finden, die man etwa in folgender Weise benennen könnte: 1. Die Behauptung eines Erkenntnisgewinns durch Tautologien. 2. Der ungeschützte Gebrauch von autonomen Begriffen (vgl. I B 3). 3. Die Überdehnung von Begriffen über ihre Reichweite hinaus. 4. Die Verkennung der durch analogische Aussagen gesetzten Erkenntnisgrenzen. 5. Die Gleichsetzung von Interpretationen mit dem durch sie Interpretierten. 6. Die Verwechslung von Sprachebenen (auf denen sich z. B. Fragen und Antworten befinden). 7. Beweise durch Neuaufnahame der Prämissen (Zirkelschlüsse). 8. Verschiebung; Rückzug von einem Themenbereich der Theologie in einen anderen ohne Nötigung durch das Argument. 9. Abbruch des Arguments (Dialogs) durch den Verweis auf ein Paradox; durch Verweis auf »naiven Glauben«.
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstandsfeides der Theologie
Von diesen und ähnlichen, leicht aufspürbaren logischen Fehlern, muß man methodische Fehler unterscheiden, etwa: 1. Das Fehlen einer Methode oder methodische Unschärfe. 2. Der Versuch der Erklärung komplexer Probleme ohne Theorie oder mit unpassender Theorie. 3. Die nicht-geklärte Kombination oder Vermischung von komplexen Methoden (z. B. der hermeneutischen mit der analytischen). 4. Die Verwechslung oder Nichtbeachtung von Sprachfunktionen, einschließlich der zu ihnen gehörigen Verifikationsmechanismen. 5. Die Fehleinschätzung des gewählten logischen Systems für die Darstellung, Rechtfertigung und Beweise der eigenen Argumente (»strenge« und »weichere« Logik; intensionale und extensionale Logik). Von diesen Fehlern wiederum müßte man genuin theologische (im engen oder engsten Sinn des Wortes) Fehler unterscheiden könne. Im etwas erweiterten Sinn des Begriffs von Theologie - wie er wohl unvermeidlich in diesem Buch doch immer wieder gebraucht wird - sind freilich die »methodischen Fehler« auch theologische Fehler, vielleicht sogar die zuerst genannten logischen Fehler. Im engsten theologischen Sinn wären theologische Fehler solche, die durch den Fehlgebrauch von »regulativen Sätzen« zustande gekommen sind. Diese »regulativen Sätze« bzw. implizite Axiome sollen in I F 5 und vor allem in I H beschrieben und im Teil II verwendet werden. Vorläufig sei hier als Beispiel angegeben: der Satz »Jesus Christus zeigt sich sowohl als Herr, wie auch als Knecht« (oder ähnlich), ist ein christologisch begründeter, regulativer Satz, zumindest im Hinblick auf die Paulusbriefe. Verneint oder verunmöglicht nun eine theologische Aussage diesen Satz (der als solcher keine eigene Sprachfunktion hat), so liegt ein »theologischer Fehler« vor. Ein zweites Beispiel: der mögliche Satz »Gott will Gutes auch für böse Menschen«, ist ein im Alten wie im Neuen Testament wohlbezeugter Satz, obgleich er als solcher nicht selbstevident und auch kein Bibelzitat ist. Sätze über die letztgültige Verwerflichkeit von bösen Menschen, z. B. über die Rechtfertigung der Todesstrafe, würden darum »theologische Fehler« darstellen. - Ähnlich wäre es mit Sätzen wie »Christen sind besser als andere Menschen», »Neugeborene mit Geburtsschäden soll man töten«, »Gott hat Auschwitz gewollt«, »Beten ist sinnlos«, u. ä. Hinter all solchen Sätzen warnen theologische »regulative Sätze« und machen auf »theologische Fehler« aufmerksam. »Regulative Sätze« (implizite Axiome) müssen von Regeln des Dialogs insofern unterschieden werden, als sie konstitutiv für die Wahrheit sind, was von Dialogregeln nur in funktionaler Hinsicht gesagt werden kann, insofern als sie im Streben auf den Konsens im Dialog einen Konsens über die Wahrheit ermöglichen. Die »impliziten Axiome« hingegen sind (im Unterschied zu Regeln) der Begründung der Aussagen selbst implizit, sie sind wahr, während Regeln - wenn sie beachtet werden - gültig sind. Letztlich geht es in der Theologie um zwei große Fragen: 1. wie findet man implizite Axiome, und 2. inwiefern ist Gott identisch mit der Summe der wahren, impliziten Axiome? Die erste Frage betrifft die theologische Erkenntnislehre auf allen Ebenen, sei es in der Exegese biblischer oder späterer Texte, sei es in systematischer Reflexion als solcher.
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Wie können aus komplexen Aussagesystemen, z. B. den paulinischen Briefen, die dort wirksamen implizite Axiome gewonnen werden? Die zweite Frage betrifft die Denknotwendigkeit der Verkoppelung der durch implizite Axiome konstituierten Wahrheit mit Gott selbst, wenn die Wahrheit nicht eine Wahrheit »über Gott« sein soll, sondern Gott selbst die Wahrheit. (Vgl. Schlußbemerkung am Ende von Teil 11). VgI.IH2.
3. DIE RELATIVE NÜTZLICHKEIT VON SCHEINPROBLEMEN UND UNBEGRÜNDETEN IDEALEN
Aus verschiedenen und benennbaren Gründen sind in der Kirche unzählige Scheinprobleme entstanden. Eine rationalistische Reduktion aller Aussagen in der Kirche auf scheinproblem-Iose Sätze muß nicht nur dem menschenfreundlichen und künstlerisch an Alltagssprache interessierten Beobachter ärgerniserregend, sondern auch dem analytischen Sprachphilosophen als naiv erscheinen. Wenn die Dekuvrierung von Scheinproblemen keinen Erkenntnisgewinn, sondern eher Verarmung der Sprache und Irritation der Gläubigen verursacht, so sprechen ethische Gründe dagegen. Also steht der Theologe, der nach Wahrheit sucht und Wahrheit lehren soll, in einem Dilemma. Angesichts der ungemein langen Geschichte der Entwicklung der Frömmigkeitssprache sowie der theologischen Fachsprache und der vielfältigen Verquickungen mit religiösen Traditionen und philosophischen Systemen ist es nicht erstaunlich, daß in Kirche und Theologie eine Fülle von Scheinproblemen entstanden ist. Gewiß ist es Aufgabe des klaren Menschenverstandes der Gläubigen, unterstützt von wissenschaftlicher Theologie, Scheinprobleme so weit wie möglich aufzudecken und abzubauen. Dabei gilt es aber, Unterscheidungen verschiedener Arten von Scheinproblemen im Auge zu behalten und auch ihre Funktionen, die möglicherweise relativ sinnvoll sein können, zu beachten. Folgende Kategorisierung von Scheinproblemen drängt sich auf. Aus Übersetzungsfehlern der biblischen Texte können scheinbare Probleme entstehen. Sie sind heute meist leicht erkennbar, wenn es auch oft schwierig
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1. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstands/eIdes der Theologie
ist, damit die bereits entstandenen Scheinprobleme aufzuheben. Ebenso sind Fehlurteile über historische Gegebenheiten zum großen Teil leicht nachweisbar. Schwieriger schon sind Probleme zu beurteilen, die aus problematischen Interpretationen stammen und offensichtlich nur Scheinprobleme sind (z. B. Gott schuf die Erde in sechs Tagen, das unsichtbare Jerusalem ist eine Stadt mit zwölf Toren, der Reiche - in Lk 16 - »sah Abraham von Ferne und Lazarus in seinem Schoß«, usw.) Außer den durch Interpretationsfehler entstandenen Scheinproblemen gibt es in Frömmigkeit und Theologie eine Fülle von ursprünglich vermeidbaren Problemen und Dilemmas. Sie sind nur teilweise von irriger Bibelinterpretation abhängig und stellen sich in dreifacher Form dar. Als erstes kommen autonome Ableitungen von summierten Stories in Betracht (z. B. »Der Widerstand des Kreuzes«, wie ein moderner Autor schreibt). Auch multiple Ableitungen (das Kreuzeszeichen schlagen und über die Effektivität nachdenken) gehören in diese Gruppe. Zweitens ist an die Spannungen zu denken, die aus der Kombination von Ableitungen (oder multiplen Ableitungen) enststehen, z. B. aus der Prädestinationslehre einerseits und der Eigenverantwortlichkeit des Menschen andrerseits. Eine dritte Quelle von Scheinproblemen liegt im Transfer von Sinngehalten aus einer komplexen theologischen Lehre in eine andere, z. B. der Übertragung von Aussagen über die Kirche in die Mariologie, oder christologischen Konzepten in die Lehre von der Eucharistie. Ich nenne diesen Transfer »Alloiosis«, indem ich diesen technischen Begriff aus der Dogmengeschichte entleihe und seinerseits einen Transfer erfahren lasse. Diese zweite Gruppe von Scheinproblemen kann auch als Gruppe von Fehleinschätzungen der Reichweite theologischer Aussagen oder der Mißachtung der verschiedenen Frageebenen, für die je spezifische Antworten gelten, verstanden werden. Wer die Reichweite der Aussage von der Allmacht Gottes etwa derart ausweitet, daß Gott zur Ursache aller Wirkungen erklärt wird, kann die Tragik eines tödlichen Autounfalls durch rücksichtsloses Fahren nur noch als Dilemma zwischen seinem Glaubenssatz und seiner eigentlichen Meinung, hier sei ein unverantwortlicher Fahrer schuld, darstellen. Das aber ist ein Scheinproblem. Ähnlich steht es mit einem Theologen, der seine christologischen Konzepte in einer bestimmten Weise in die Abendmahlslehre überträgt, wenn er mit solchen, die etwa andere Vorstellungen über die Präsenz Christi in die Lehre von der Eucharistie
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hineinnehmen, keine Interkommunion pflegen will. Auch das ist ein Scheinproblem, denn die Präsenz Christi im Abendmahl kann unmöglich an der Lehre über diese Frage hängen. Es fragt sich aber doch, mit welchem Grad von Strenge die Theologie auf Klarheit und Wahrheit drängen darf, wenn sie Scheinprobleme in der Kirche erkennt. Manche Scheinprobleme haben in ihrer Folge zur Einsicht in echte Probleme geführt. Das ungemein komplizierte Netz von scheinbaren und genuinen Problemen in der dreitausendjährigen Story Israels und der Kirche kann nur unter großen Verlusten auf unbedingt genuine Probleme reduziert werden. Fragen der Deutung von Träumen, Wundern, Dämonen und Weissagungen waren zu einer Zeit echte und zu einer anderen Zeit vielleicht Scheinprobleme. Eine völlige Reinigung des Problemkatalogs heutiger christliCher Denkweise mit dem Ziel der Restriktion auf wirklich echte Probleme muß doch als naiv erscheinen. So wird auch die »Entmythologisierung«der biblischen Schriften, die nach der Mitte unseres Jahrhunderts so eifrig vertreten wurde, nur noch von denen als Programm hochgehalten, die nicht durch das läuternde Fegefeuer moderner Sprachphilosophie gegangen sind: denn bei ihr lernt man, daß letztlich nahezu alle theologischen Probleme auf dem Boden von Scheinproblemen gewachsen sind, wenn sie auch nicht alle ihrerseits Scheinprobleme sind. Die Befreiung der Kirche und Theologie von Scheinproblemen bleibt trotzdem eine wichtige theologische Aufgabe, die unter ständiger Abwägung der Höhe des Preises immer wieder neu in Angriff genommen werden muß. Wenn aber die Dekuvrierung von Scheinproblemen zu keinem Erkenntnisgewinn und zu keiner Steigerung der Kommunikation in der Kirche führt, sondern eher zur Verarmung der Sprache und zur Verärgerung und Irritation anderer Gläubiger, so ist die Frage nach der Berechtigung einer solchen Unternehmung schon angebracht. Ähnlich wie Scheinprobleme können auch »unbegründete« christliche Ideale einen relativen Nutzen bringen. Viele in der Kirche - oder in Teilen der Kirche -längst tief verwurzelte Ideale lassen sich weder durch die Bibel noch durch Hinweis auf die Tradition der frühen Kirche noch auch durch stringente theologische Argumente begründen. Dazu gehören Formen individueller Frömmigkeit und Gebetspraxis, Gelübde und Weihen, Gehorsamsideale gegenüber Ordensregeln und kirchlichen Autoritäten, bestimmte Vorstellungen von Ehe und Sexualität, einschließlich dem Zölibat,
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aber auch typisch protestantische Ideale von Amts- und Berufspflichten, die Hochschätzung von Familie, Arbeit und Ehrlichkeit, von individuellem Gewissen und Freiheit, usw. Diese und viele andere Ideale können einen großen Reichtum bedeuten und sollten nur zur Disposition gestellt und preisgegeben werden, wenn es sich erweist, daß sie kulturellen Werten und vielleicht vergangenen Zeiten mehr verpflichtet sind als dem Fortgang der Story der Gläubigen. Zur »Alloiosis«: ich verwende seit einiger Zeit Zwinglis Ausdruck (aus der christologischen Kontroverse um die communicatio idiomatum), mit dem er sagen wollte, daß man eine Sache in der Sprache einer anderen Sache ausdrücken kann. Mir scheint, daß durch die Feststellung, daß etliche spezielle Dogmenbildungen nicht einfach eine Überhöhung biblischer Aussagen aufgrund mißverstandener Exegese sind, sondern vielmehr als modus loquendi für eine andere dogmatische Aussage verstanden werden können, im ökumenischen Kontakt eine neue Form »ehrlicher Toleranz« geübt werden kann. Es ist nicht mehr die Toleranz des großherzigen Kompromisses über die Wahrheit, sondern die Einsicht in die Möglichkeiten der »Alloiosis« im theologischen Reden. Ich habe diese Methode im Hinblick auf zwei schwierige theologische Aussagenkomplexe aus der römisch-katholischen Tradition erprobt, in »Überlegungen zur gegenwärtigen Diskussion über Mariologie«, in ÖR, 31/4, Okt. 1982,443-461, sowie in »Überlegungen zur gegenwärtigen Diskussion über Heiligenverehrung« in Festschrift für JeanLouis Leuba, hg. R. Stauffer (Paris 1983) 306-318. Allerdings hebt auch diese Methode kritische Abgrenzungen keineswegs auf. Wenn z. B. mariologische Aussagen als »Alloiosis« für christologische bzw. ekklesiologische Aussagen verstanden werden können, so wird man aber die Logik der richtungsvertauschten »Alloiosis«, nämlich den Schluß auf Marias Sonderstellung unter den Menschen in ihrer immaculata conceptio (das Dogma von 1854), nicht mehr theologisch zulassen können. Wir stehen hier vor demselben Phänomen, das uns im Richtungstausch zwischen theologischer Aussage und Doxologie begegnet: was auf die Basisaussage (die Prämisse) folgt, kann nicht rückwärtsbezogen die Basisaussage erweitern, vgl. III E 5. VgI.IH6.
4. DER UNTERSCHIED ZWISCHEN BLEIBEND WICHTIGEM UND JETZT DRINGLICHEM
Vordergründig mag es so scheinen, als gäbe es wichtige gegenüber weniger wichtigen theologischen Einsichten und Lehraussagen. Hilfreicher ist jedoch die Unterscheidung zwischen »bleibend Wichtigem« und »jetzt Dringli-
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chem«. Zugang zum ersten haben wir durch Konfrontation mit dem zweiten, und das zweite verstehen wir letztlich nur aus der Vision des ersten. Über »bleibend Wichtiges« meditieren, beten und diskutieren wir in Ruhe, für »jetzt Dringliches« kämpfen wir, weil wir daran meist schon schuldig geworden und in unserm Kampf schon zu spät sind. Die Kirche, die sich nur dem »bleibend Wichtigen« widmet, verliert die Gegenwart und den Mitmenchen; wer sich nur dem «jetzt Dringlichen« zuwendet, verliert die Frage nach Gott und nach der Legitimität seines Tuns. Wenn es richtig ist, daß einzelne Lehraussagen zueinander in bestimmter Abhängigkeit stehen, so stellt sich die Frage, ob die abhängigen Aussagen weniger wichtig sind, mindestens zeitgebunden, und ob sie zu anderen, späteren Zeiten vielleicht in relative oder absolute Irrelevanz fallen könnten. Die Geschichte Israels und der Kirche scheint zu bestätigen, daß es Fragen, Probleme und Themen gibt, die mit dem Wandel der Zeiten ihr Gewicht verloren haben und schließlich nur noch dem Historiker vertraut sind. Auch die in die Zukunft gerichtete hypothetische Frage nach den zentralen theologischen Anliegen der Gläubigen in 500 oder in 1000 Jahren wenn die Menschheit und in ihr die Juden und Christen dann noch bestehenlegt es nahe, zwischen bleibenden und vergänglichen Anliegen zu unterscheiden. Wenn in jener Zukunft nicht mehr nach dem Gott Abrahams und Saras, nach dem Gott von J esus, nach Liebe, Vergebung und Friede gefragt wird, dann wird auch die Bezeichnung »Judentum« und »christliche Kirche« sinnlos sein. Aber gilt dies auch, wenn bis dahin jüdische Speiseregelungen und andere Teile der Tora entfallen sein sollten, sowie die christlichen Traditionen der Taufe, Ordination, Ehe, Abendmahl und gar der Unterscheidung zwischen Theologen und anderen Gläubigen, zwischen Päpsten, Priestern und Laien? Schon im Hinblick auf die bereits heute bestehenden Konfessionsunterschiede - vom Judentum und der christlichen Kirche gar nicht zu reden drängt sich der Gedanke unweigerlich auf, es gäbe zentrale und periphere theologische Gedanken und Themen, bleibende Anliegen und solche, die entfallen könnten. Trotzdem empfiehlt es sich nicht, die in der christlichen Kirche mit ihren zahllosen Gruppen und Gemeinden tatsächlich existierenden Lehrmeinungen, Themen und Probleme leichtfertig in »wichtige« und »unwichtige« aufteilen zu wollen. Besser als eine generalisierende und von
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einem fiktiven, statischen Gesamtsystem ausgehende Aufteilung in zentrale und periphere Themen oder Lehrsätze ist die an der Wirklichkeit der verschiedenen Teile der Kirche ablesbare Unterscheidung von »bleibend Wichtigem« und »jetzt Dringlichem«. Denn es kann sehr wohl sein, daß »bleibend Wichtiges«, also bislang nicht Ersetztes oder Überholtes (z. B. die Trinitätslehre ), sich den Gläubigen nicht als »dringlich« darstellt, oberflächlich geurteilt also sogar als »unwichtig« erscheinen könnte. Oft kann das »Wichtigste« warten, das »Dringliche« hingegen verlangt Entscheidungen und Handlungen, die nicht aufgeschoben werden können (z. B. die Beendigung von Rassendiskriminierung, von Kriegshetze und -rüstung). Wenn in Kirche und Theologie nur nach dem »bleibend Wichtigen« gefragt wird, geht der Augenblick verloren; wird nur nach dem »jetzt Dringlichen« gefragt, so gehen die Zeit und die Perspektive verloren. Im »Augenblick« liegen Leben, Freude, Not und jetzt gelebte Menschenwürde; in der »Zeit« liegen die Kriterien für die Sinnfindung des Augenblicks, für Zukunft und Hoffnung. Gegenüber dem »jetzt Dringlichen« werden wir viel häufiger und viel direkter schuldig als gegenüber dem »bleibend Wichtigen«. Aber wir erkennen das Dringliche nur aus der Einsicht in das »bleibend Wichtige« - den »Anlaß« zu dieser Einsicht verdanken wir aber jeweils der Konfrontation mit dem »jetzt Dringlichen«. Für jetzt-dringliche Fragen und Aufgaben kann und soll man kämpfen, denn es gilt, keine Zeit zu verlieren. Für bleibend-wichtige Einsichten und Probleme sind Kampf und harte Stellungnahmen ungeeignete Mittel: hier sind ruhiger Dialog, Abwägen, Meditation und akademische Reflexion am Platz. Obwohl der Kampf um »jetzt Dringliches« Christen verschiedener Traditionen, Christen und Juden, Gläubige und Humanisten tief und beglückend verbinden kann, ist das eigentlich Einigende der Gläubigen und der Menschen überhaupt doch im »bleibend Wichtigen« zu suchen. Denn »jetzt Dringliches« kann auch trennend wirken. Zeitliche und örtliche Unterschiede des als »jetzt dringlich« Erkannten führen auch zu Spaltungen und Spannungen unter den Gläubigen und den Menschen guten Willens. Nur an der Spitze der Hierarchie von allem »jetzt Dringlichem« stehen einige globale Probleme und Aufgaben, die nicht das Spezialanliegen einer Gruppe in einer bestimmten Region sein können: heute ist dies die Sorge um den Frieden, um die Ernährung der Weltbevölkerung, um Menschenrechte und die Resourcen- und Energieknappheit. Hier hat »jetzt Dringliches« inter-
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nationalen und ökumenischen Rang und rührt nahe an die Grundlagen der Erkenntnis des »jetzt Dringlichen«, nämlich an das »bleibend Wichtige«. Es liegt nahe, meine Bezeichnungen »jetzt Dringliches« der Ethik und »bleibend Wichtiges« der Dogmatik zuzuordnen oder mit diesen beiden theologischen Disziplinen identifizieren zu wollen. Diese Aufteilung bewährt sich aber nicht. Es ist zwar richtig, daß sich heute »jetzt Dringliches« vornehmlich im Bereich ethischer Fragen zeigt. Das ist aber nicht immer so gewesen und muß nicht so bleiben. Es gibt auch in der eigentlichen, theoretischen Theologie jetzt-dringliche Fragen, und zweifellos gibt es in der Ethik »bleibend Wichtiges«. Besser als diese Zuordnung zu Ethik und Dogmatik ist die Beobachtung, daß »jetzt Dringliches« akutem, spontanem Denken, Beten und Handeln zugehört, während das »bleibend Wichtige« im großen Themenbogen - in der »Gesamt-Story«, wie ich sie nannte -, in Liturgie, Doxologie und in reflektierender, suchender und staunender Theologie seine Heimat hat. Vielleicht kann man - cum grano salis - sagen, »j etzt Dringliches« sei durch menschliche Taten - im Guten und im Bösen hervorgerufen, »bleibend Wichtiges« aber durch den Willen Gottes. Die Unterscheidung zwischen »bleibend Wichtigem« und »jetzt Dringlichem« (auf Englisch spreche ich von »Issues of Lasting Importance« und »Issues of Momentary Urgency«), erweist sich als besonders hilfreich in der Ethik, wenn die Spannung zwischen dem »weitesten Begründungszusammenhang« und dem »Einzelargument« in den Blick kommt, vgl. III B 3 und 6; s. auch die Anwendung in »Die Herausforderung von Kirche und Gesellschaft durch medizin-ethische Probleme«, EvTh 41,6 (Nov./Dez. 1981) 483507, bes. 491-496.
5. SPIELERISCHE GESAMTENTWÜRFE UND DIE PROPHETISCHE UNTERBRECHUNG THEOLOGISCHER LOGIK
Theologische Arbeit hat ein doppeltes Ziel: die Prüfung der Sprache der Gläubigen und die Einladung zu kreativen Gedanken und Taten. Die Aufgabe der Prüfung gliedert sich in den dreifachen Test der Verständlichkeit, der Kohärenz und der Flexibilität (biblischer und) christlicher Aussagen. Unter den Bedingungen krisenfreier, ruhiger Arbeit gelangt die Theologie so-
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wohl in ihrer prüfenden als in ihrer kreativen Funktion gewöhnlich zu einer annährerungsweisen Totalsicht der Einzelthemen der Theologie und ihrer Interdependenz und Hierarchie. Das Ganze stellt sich wie ein Mobile dar, dessen Teile sogleich aus der Balance geraten, wenn auch nur ein Teil bewegt wird. Die Verhärtung dieser Totalsicht, das Erstarren des Mobiles, der Verlust also des Spielerischen, führt zum toten System, zur Diktatur der Loci über die theologische Kreativität. Sowohl die theologische Logik im Detail als auch die vermeintliche Totalsicht eines theologischen Systems stehen unter einer doppelten Bedrohung: politische und kulturelle Krisen (für den einzelnen Theologen auch persönliche Erlebnisse) können die Balance der theologischen Logik ebenso in Frage stellen und zerstören wie prophetisch-charismatischer Einspruch. Diese beiden die Logik unterbrechenden Kräfte sind oft schwer zu unterscheiden. Der enge Begriff von Theologie, mit dem wir in diesem Buch operieren, für den die verschiedenen theologischen oder mit Theologie verbundenen Aktivitäten wie Exegese, Kirchengeschichte und praktische Theologie zur Reflexion über regulative Sätze zusammenschmelzen, stellt die Aufgabe der Prüfung sowie des Auffindens neuer Einsichten ins Zentrum. Die so verstandene Theologie geschieht im Diskurs der Gläubigen (oder der Gläubigen mit anderen, interessierten Mitmenschen), im Wechsel mit der Denkarbeit einzelner, die sich an den Diskurs erinnern und den nächsten antizipieren. Sie ist keineswegs auf Berufstheologen beschränkt, sondern geschieht in den Gesprächen und in den Köpfen von jedem, der Gedanken und Taten, Aussagen und Gebete aus der Story der Juden und Christen sowie aus der Gegenwart im Hinblick auf seine eigenen Aussagen und Taten überprüft. Die Überprüfung zielt auf Klarifikation bzw. Verständlichkeit hin und dient damit der Kommunikation in der Kirche (freilich auch in bezug auf biblische Texte). Sie zielt ferner auf den Kohärenztest hin, d. h. sie wägt verschiedene Aussagen der gleichen Person oder Gruppe sowie die Aussagen verschiedener Personen oder Gruppen mit der Frage nach dem inneren Zusammenhang, der Widerspruchsfreiheit ab. Und drittens stellt sie bei allem Reden der Gläubigen die Frage nach dem Grad möglicher Flexibilität in der Abweichung von biblischer oder traditioneller Redeweise. Bei allen drei Operationen sind nicht einzelne Bibeltexte (von Ausnahmen abgesehen) oder die Namen von Kirchenvätern oder großen
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Theologen letztlich das Ausschlaggebende, sondern das, was Theologie im engeren Sinn eigentlich ausmacht: regulative Sätze. Diese regulativen Sätze, die in Kap. I H beschrieben werden, sind teilweise schon vorfindbar , zum Teil können sie aber auch als neue Einsichten entdeckt werden. Hier liegt die kreative Funktion der Theologie. Auch sie ist keineswegs auf professionelle Theologen beschränkt. Neuentdeckte regulative Sätze müssen sich an bereits funktionsfähigen regulativen Sätzen messen oder wenigstens mit ihnen in Kontakt und in einen Dialog gebracht werden. Zudem müssen sie auf ihre ökumenische Konsensfähigkeit hin kritisch bedacht werden. Daß regulative Sätze bereits vorliegen, kann jeder beim Lesen dieses Abschnittes mühelos bei sich selbst testen, wenn man sich z. B. die Frage stellt, was einen hindern würde, folgende Sätze als hilfreich und richtig zu bezeichnen: »Nur moralisch perfekte Menschen können Kirchenmitglieder werden«, oder »Jesus muß als politischer Revolutionär gefeiert werden«, oder »Schwer behinderte Neugeborene sollte man töten«, oder »Gott bewirkt alle Autounfälle«, etc. Nur in Ausnahmefällen kann ein einziges Bibeizitat als Regulativ wirken, und nur selten kann eine historische Information einen theologischen regulativen Satz ersetzen, noch seltener kann es die Berufung auf eine anerkannte Autorität. Sollte theologische Arbeit in den Funktionen der Prüfung und auch der Neuentdeckung unter optimal friedlichen Bedingungen und stetigem Einsatz von Fleiß und Zeit möglich sein, so liegt es nahe, daß sich in einer Gruppe von Gläubigen oder auch im Kopf eines einzelnen Theolog~n eine Vision vom Gesamtzusammenhang aller möglichen theologischen Fragen und Themen einstellt. Für beide Formen - Theologien von Gruppen und von einzelnen - gibt es genügend Beispiele aus der Geschichte. Die einzelnen Themenbereiche teilen sich dann auf in klar umrissene Themen und 10ci. Die Geltungsbereiche werden gedanklich oder auch e~pirisch festgestellt. Größere Themen werden von kleineren, peripheren unterschieden. Die Überordnung der einen über die anderen, die Abhängigkeit der kleineren von den größeren also, wird entdeckt oder statuiert. Ein Ganzes beginnt sichtbar zu werden, das man mit einem Mobile vergleichen kann, in dem auch die tragenden, übergeordneten Arme die kleineren Arme halten, und diese wieder die kleinen Ziergegenstände, die das Mobile zu einem hübschen Gebilde machen.
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Wer die Geschichte der Theologie betrachtet oder selbst lange in Kirche und Theologie tätig war, weiß, wie unwahrscheinlich es ist, daß sich solche Visionen von einem Ganzen nicht bilden. Ihre Entstehung ist fast unvermeidlich. Mindestens herrscht bei den meisten nachdenklichen Gläubigen ein zentraler regulativer Gedanke vor, dem sich die andern unterordnen müssen, auch wenn kein fein durchdachtes System dadurch entsteht. (Nicht selten sind die schärfsten Kritiker theologischer Gesamtsysteme ihrerseits Vertreter monothematischer Theologien - vgl. I H 3 -, denen ein einziges regulatives Prinzip zum Ordnen des Gesamten ausreicht). Die Frage ist nicht so sehr, ob eine theologische Totalsicht, ein Mobile der Interdependenz und Hierarchie der Themen oder der regulativen Sätze, verwerflich oder wünschenswert ist. Es gilt vielmehr zu entdecken, wie mit einem bereits vorhandenen oder einem selbstentworfenen Totalsystem umgegangen werden kann. Es ist ja möglich, daß der spielerische Umgang mit ihm - die Offenheit also zu denken, es könnte alles auch anders sein für eine gewisse Zeit, für ein Jahr der Gemeindearbeit, für die Dauer einer Konferenz, für den Tag der Predigtvorbereitung, ja, für die Minuten der Entfaltung eines Arguments in einer Diskussion, einer Kontroverse, einer politischen Versammlung, sogar nötig ist. Es böte dann den Rahmen und die Struktur für die aufzuzeigenden Begründungen und für die Dialogregeln unter den Gesprächsteilnehmern. Vielleicht ist ohne eine solche Vision des Ganzen, wenn auch nur temporär und momentan und auf Abbruch angelegt, theologische Kommunikation, Prüfung und Neuentdeckung gar nicht möglich. Andernfalls würde alles nur aus Gedankensplittern bestehen. Im Zusammenhang unserer Frage ist aber nicht diese Möglichkeit, mit ständig modifizierten, spielerisch entworfenen und sogleich wieder in Frage gestellten Visionen des Gesamtzusammenhangs theologische Einzelaussagen zu verankern, das eigentliche Thema. Vielmehr geht es beim prophetischen Einspruch um ein fixiertes, geronnenes System, in dem jedes der loci seinen festen Platz hat und in dem Gott und die Menschen die Gefangenen eines theologischen Systems geworden sind. Schon die klar definierbare Abgrenzung des Inhalts von theologischen loci ist der Beginn des Weges zum starren System. Isolierte Behandlungen de~ Topoi »Gnade«, »Rechtfertigung«, »Heiligung«, »Vorsehung«, »Sünde«, »Eschatologie«, »Gottes Eigenschaften«, »Heilszuneignung«, »Offen-
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barung«, etc. haben in exegetisch-philologischen sowie in historischen Studien an bestimmten Texten und Autoren wohl ihren Sinn. Sie hätten aber nicht von dort in die eigentliche Theologie übernommen werden dürfen, ohne eben die Gefahr der Entstehung eines fixierten Gesamtsystems zu eröffnen. , Diesen Systemen (freilich auch den spielerisch entworfenen, momentanen Gesamtvisionen) droht Einspruch von zwei Seiten. Einmal rufen politische, kulturelle und intellektuelle Krisen zur Ablösung bislang akzeptierter Systeme auf, schon durch das Infragestellen der philosophischen Voraussetzungen, denen jede Systembildung verpflichtet ist. Daneben, aber meist unentwirrbar mit dem ersten verknüpft, stellt auch der charismatisch-prophetische Einspruch fixierte theologische Systeme in Frage. Die Verknüpfung der beiden kritischen Kräfte wird oft daran sichtbar, daß die prophetische Stimme sich an einem ~~Anlaß« (vgl. I E 4) entzündet, der sehr wohl im politischen oder kulturellen Bereich liegen kann. Der prophetische Einspruch, der »Augenblick des heilig.en Geistes«, kann aber auch durch unscheinbarere oder partikulare Ereignisse ausgelöst werden: durch das Leiden eines Kindes, das erneute Hören einer biblischen Geschichte, die langversäumte Wahrnehmung der Kriegsgefahr in unserer Zeit. Ereignisse dieser Art können, wie die Stimme eines Propheten, theologische Mobiles zerstören und zur völligen Reorganisation der Gedanken einer Gruppe oder eines einzelnen Theologen führen. Für die Theologie ist die Unterscheidung von Wissens- und Wahrheitssystemen und dem gesellschaftstheoretischen Begriff der Kommunikationssysteme, ebenso die Abgrenzung von »offenen« gegenüber »geschlossenen« Systemen wichtig. Vgl. Jürgen Habermas u. Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? (Frankfurt 1971); Hubertus G. Hubbeling, in Einführung in die Religionsphilosophie (UTB 1152, Göttingen 1981) den Abschnitt über logisch-empirische Systeme, 48-56.,
6. DIE EBENEN VON FRAGE, PROBLEM UND GEHEIMNIS
Die Theologie erreicht in ihren erklärenden Aufgaben (d. h. dem Komprehensibilitäts-, dem Kohärenz- und dem Flexibilitätstest in bezug auf Sätze der Bibel und der Gläubigen) immer wieder ihre Grenzen. Sie wird durch ihre
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie
Aufgaben an den Rand ihrer eigenen Sprache und Aussagefähigkeit getrieben. Die Sichtung dieses für die Theologie typischen Vorgangs - es bestehen auch Parallelen zur Philosophie -legt es nahe, nicht einfach generell auf die Grenzen unseres Wissens zu verweisen und dann damit die unbefriedigende Diskussion um Glauben und Wissen wieder heraufzubeschwören. Unter der Voraussetzung, daß der Gegenstand der Theologie das Sprechen von Gott und nicht einfach »Gott« ist, ist auch die Behauptung zulässig, es könne nicht etwas theologisch bearbeitet werden, das nicht auch gedacht und gesagt werden kann. In der Beobachtung theologischer Logik wird man der Topographie von Fragen, Problemen und echten Geheimnissen gewahr. Fragen verlangen Antworten, Probleme theoriegesteuerte Lösungen und Geheimnisse Respekt und Bescheidenheit. Ihre Interrelation ist durch die verschiedenen Ebenen ihrer Beheimatung sowie durch die in der Geschichte immer neu auftretenden Fragen und Probleme komplex und nie endgültig beschreib bar. Es kann darum auch nur in einem begrenzten Sinn von »Fortschritt in der Theologie« gesprochen werden.
Wenn auch die Alltagssprache nicht scharf zwischen Fragen, Problemen und Geheimnissen oder Mysterien unterscheidet, so ist eine auf erklärungskräftige Theorien bezogene Abgrenzung dieser Phänomene gegeneinander doch sehr hilfreich. Die Unterscheidung wird zwar immer eine Unschärfe behalten, weil das Gegenstandsfeld, um das es hier geht, zu umfangreich ist. Aber folgende Einteilung bewährt sich als nützlich und ist mindestens in der damit gegebenen Festlegung der Termini hinreichend scharf. Fragen verlangen nach Antworten, die meist ohne Theorie (oder unter schwacher oder analogischer Beanspruchung von üblichen Erklärungstheorien) gegeben werden können. Sie können oft aus der Routine heraUs beantwortet werden, etwa aus Alltagserfahrung und Wissen, auch Expertenwissen. Im Prinzip sind Fragen immer beantwortbar. Mit ihrer Beantwortung verschwinden die Fragen und werden zum Gedächtnisinhalt der Erfahrung. Probleme hingegen verlangen nach Lösungen, nicht nach Antworten. Lösungen werden durch Hypothesen vorbereitet und innerhalb von Theorien bearbeitet. Es ist durchaus möglich und geschieht häufig, daß schwer beantwortbare Fragen auf die Ebene von Problemen erhoben werden müs-
F. Die Stellung der Logik
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sen. Vermutlich liegt dieser Vorgang der Entstehung aller Probleme zugrunde. Problemlösungen ermöglichen die Bearbeitung mehrerer schwer beantwortbarer Fragen und verwandter Probleme und haben somit eine ungleich größere Reichweite als Antworten auf Fragen. Aber Probleme können sich als lösbar oder als unlösbar erweisen. Nur bei unlösbaren Problemen stößt die Theologie an ihre Grenzen. Es gibt im Bereich des »jetzt Dringlichen« eine unbegrenzte Zahl von unlösbaren Problemen, im Bereich des »bleibend Wichtigen« eine begrenzte, vielleicht sogar benennbare Zahl von bleibenden Problemen. Ist die Notwendigkeit einer erklärungskräftigen Theorie ein wesentliches Merkmal des Unterschiedes zwischen Fragen und Problemen, so gilt dies auch für die Unterscheidung zwischen unlösbaren Problemen und Geheimnissen, aber in einem viel engeren Sinn. Theorien können Geheimnissen gegenüber nichts ausrichten. Geheimnisse müssen bestaunt, nicht gelöst werden. Ob man die rationale Beschreibung von (klassisch-)theologischen Mysterien »Aporien« nennen soll, wie Gerhard Sauter in WissKrTh 241-244, 355, vorschlägt, müßte diskutiert und durch Konvention festgelegt werden. Ich meine, daß eine begrenzte Anzahl von theologischen Aporien feststellbar sei (vielleicht fünf oder sechs, jeweils im Zusammenhang mit kategorialen Erkenntnisbedingungen in bezug auf Raum und Zeit in Spannung mit Basisaussagen über Gott), während die »Mysterien des Glaubens« bzw. die echten Geheimnisse sich der genauen Bestimmung als unlösbare Probleme oder Aporien entziehen. Die Kenntnis der verschiedenen Ebenen von Frage, Problem und Geheimnis, die Einsicht in ihre Topographie sozusagen, kann (trotz der bei der Unterscheidung unvermeidlichen Unschärfe) in Theologie und Theologenausbildung auch Gegenstand des Lemens und des Wissens sein. Es gäbe bessere Prediger und Lehrer und vor allem hilfreichere Seelsorger, wenn die Theologen in ihrer Ausbildung statt der Ansammlung einer Überfülle von totem Wissen ein echtes, durch Lesen, Nachdenken und Erfahrung gewonnenes Wissen über immer wiederkehrende Ebenen von Fragen, Problemen und Geheimnissen mit dazugehörigen typischen Beispielen erworben hätten. Im Festhalten dieser Einsichten zeigt sich auch, daß in gewissem Sinn von »Fortschritt« in der Theologie gesprochen werden kann.
G. Der Gottesdienst als Ort der primären Verifikation
VORÜBERLEGUNG
Die Gottesdienste - so überaus enttäuschend, formelhaft, phantasielos und eng die meisten auch sein mögen - sind der Ort des Redens von und zu Gott, der Raum der primären Verifikation all der Aussagen, die letztlich der Gegenstand der Theologie sind. Hier wird die übergreifende Story gefeiert, in der das »bleibend Wichtige« steckt und aus der das »jetzt Dringliche« erneut sichtbar wird. Hier entdeckt die Theologie ihre Aufgaben und Probleme, hier muß sie sich auch in vorbereitender Klärung und in nachfolgender Kritik und Selbstbesinnung bewähren. Der »Gegenstand«, über den Juden und Christen in ihren Gottesdiensten sprechen, wird von ihnen letztlich als der lebendige Gott begriffen. Obgleich sie es in diesen Worten selten sagen, implizieren sie in ihren gottesdienstlichen Feiern, daß Gott die Wahrheit dessen, was über ihn gesagt wird, selbst verantwortet, und daß sie zu dieser Aktivität Gottes im Gottesdienst Zugang haben. Wie immer ihre Feiern gestaltet und interpretiert sein mögen, niemals wären sie befriedigt mit einer bloßen Feier des Gedächtnisses vergangener Epiphanien Gottes oder mit einer gebetslosen Lehrstunde. Das Kriterium, das ihre Gottesdienste von solchen Feiern unterscheidet, ist im Gebet und im Segen zu finden: Es wird sowohl zu Gott als auch von ihm her geredet, was immer sonst noch im Gottesdienst geschehen mag. Die Vorstellung von der Gegenwart Gottes ist konstitutiv für jedes Verständnis von Gottesdienst. Gottesdienste streben auf die gegenseitige Legitimierung von doxologischer und deskriptiver Sprache hin. Anbetung und Anrede Gottes stehen erzählender, tröstender, ermahnender und auch belehrender Anrede an die Anwesenden gegenüber, so aber, daß die eine Rede von der andern ihre Ermöglichung erhält, die als in Gott selbst gegründet geglaubt wird. Das ist die primäre Verifikation, von der die Gläubigen als dem Werk des Geistes Gottes sprechen. Sie erlaubt auch den immer erneuten Versuch der Vision einer übergeordneten Story Gottes mit der Menschheit und der gesamten
G. Der Gottesdienst als Ort der primären Verifikation
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Schöpfung. Insofern ist die Sprache des Gottesdienstes weitreichender als die der Theologie. Sie beauftragt die Theologie immer aufs neue, ihre sekundäre Verifikationsarbeit aufzunehmen, geregeltes Denken und Handeln vorzuschlagen und zu begründen sowie die für sie charakteristischen Tests der Verstehbarkeit, der Kohärenz und der Flexibilität erneuten Redens von und zu Gott durchzuführen.
1. WER TREIBT UND LEHRT THEOLOGIE? Alle Gläubigen können Theologie treiben und im Prinzip auch lehren, wenn unter Lehre nicht nur die Weitergabe subjektiver Meinungen, sondern die verantwortliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Zukunft der Story der Gläubigen verstanden wird. Dabei hat mündliche Theologie vor ihrer schriftlichen Form gewiß einen Vorrang. Als den eigentlichen Lehrer hinter allen Lehrpersonen und Medien sehen die Gläubigen den Geist Gottes an.
Dem engen Begriff von Theologie folgend, ist es zulässig und sinnvoll zu sagen, daß jeder, der in der Anwendung von regulativen Sätzen die Verstehbarkeit, die Kohärenz und die erlaubten sprachlichen Umgestaltungen des Redens der Gläubigen testet, Theologie treibt. Ähnliches gilt für die Teilnahme an der über die kritische Überprüfung hinausgehenden, der kreativen Seite der Theologie. Aber diese Feststellung ist nur im Prinzip interessant, denn sie erlaubt die grundsätzliche Forderung nach einer breiten Beteiligung der Gläubigen an den Aufgaben der Theologie, unabhängig von ihrer Ausbildung oder ihren kirchlichen Ämtern. Näher an der sozialen Wirklichkeit der Kirche - und auch der Synagoge - ist aber die Feststellung, daß zum Betreiben der Theologie die Intention und der Wille Voraussetzungen sind, diese Denkarbeit über lange Zeit hin und in der Wahrnehmung gemeinsamer Verantwortung und dialogischen Austauschs durchzuführen. Die vieldiskutierte Frage nach dem Unterschied zwischen Theologie und Philosophie läßt sich gerade an dieser Intention weitgehend beantworten: Nur denjenigen werden wir einen Theologen nennen wollen, der sich in seinem Denken gegenüber den Gläubigen der Vergangenheit und
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1. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstands/eides der Theologie
der Gegenwart verantwortlich weiß und sich auch darauf ansprechen läßt. Der Philosoph hingegen kann auch als einsamer Denker oder als gelegentlicher Gesprächspartner die von ihm erkannten regulativen Sätze kritisch und kreativ verwenden. Theologische Lehrer sind sowohl die Gläubigen, die Kirche insgesamt, als auch einzelne Gläubige. Hinter beiden sehen die Gläubigen den Geist Gottes als den eigentlichen Lehrer. Theologisch stichhaltige Richtlinien für die Gestaltung der Lehrfunktion der Kirche oder die Qualifikation einzelner Lehrer können letztlich nicht erstellt werden. Die Begründung beschränkt sich auf die Rechtfertigung traditioneller (meist konfessionsgebundener) Musteroder auf praktische Überlegungen. M. a. W.: keine der sehr unterschiedlichen Praktiken der verschiedenen Konfessionen der christlichen Kirche (sowie der verschiedenen Synagogen) läßt sich letztlich theologisch widerlegen. Ich möchte hier nicht auf die langwierigen Diskussionen über Predigen vs. Lehren eingehen, die vor Jahren wohl durch C. H. Dodds krasse Unterscheidung zwischen Kerygma und Didache (später von ihm zurückgenommen, vgl. meine Diskussion in A Theology of Prociamation, Richmond 1960, 100ff) ausgelöst worden ist. Auch auf die heikle Ämterfrage möchte ich weder hier noch in 11 A - wo man sie erwarten würde - zu sprechen kommen. Stattdessen nenne ich nur einige sehr simple Beobachtungen: 1. In den amerikanischen Kirchen, in denen - wegen des Verbots von Religionsunterricht in den staatlichen Schulen - das die ganze Woche über laufende und am Sonntag kulminierende Unterrichtsprogramm unerhört aufwendige und imponierende Ausmaße angenommen hat, liegt die Verantwortung für die Lehre in den Händen von den Gläubigen, die nicht Theologie studiert haben, während die Studierten, die eigentlich lehren sollten, nur einmal am Sonntag predigen. 2. In der baptistischen Kirche in der UdSSR fand ich das umgekehrte Muster: unstudierte Gläubige halten im Gottesdienst mehrere, kurze Predigen, legen Zeugnis ab von ihren Glaubenserfahrungen, während der ausgebildete (und hauptberufliche) Pfarrer die Serie der Zeugnisse mit einer Lehrpredigt beschließt, die ihm auch die Möglichkeit zur Korrektur des vorher Gesagten gibt. 3. In den Kirchen der östlichen Orthodoxie sind die theologischen Lehrer, die Professoren, bekanntlich nicht-ordinierte Laien. 4. Für uns westliche (von der Kirche ordinierte) Theologen sind gerade die Tätigkeiten als Monopole reserviert, für die unser Studium nicht wirklich nötig war: die Taufe, das Abhalten von Eucharistie-Gottesdiensten, wohl auch Beerdigungen und Trauungen. Die Ironie dieser Beobachtungen wird noch krasser, wenn man die damit bezeichnete Praxis mit der Tradition der Synagoge vergleicht, an der wir uns im Grunde orientieren müßten.
G. Der Gottesdienst als Ort der primären Verifikation
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2. IM GOTTESDIENST IST THEOLOGIE NICHT MEHR IHR EIGENER GEGENSTAND
Wenn Theologie als ihren Gegenstand das Reden von Gott hat, so ist es richtig zu sagen, daß im Gottesdienst die Theologie suspendiert wird, denn im Gottesdienst sprechen die Gläubigen nicht über Gott, sondern zu ihm und von ihm her. Die Suspension ist allerdings nie vollständig, denn jeder Gottesdienst bietet Anlaß für neue theologische Reflexion. Darum ist es richtig zu sagen, daß Theologie im Gottesdienst ihren Ursprung hat.
Während die Theologie mit dem reichen Inhalt ihres Gegenstandsfeldes (hier Teil I) auch mit sich selbst zu tun hat, mindestens in Form der Suche nach regulativen theologischen Gedanken oder Sätzen, die in der Kirche gedacht werden und wirken (hier Teil 11), sowie dem Bewährungstest dieser Regulative in der Ethik und der Doxologie (hier Teil III) ,so hört sie doch im Gottesdienst auf, sich selbst zum Gegenstand und damit Gott nur indirekt zu ihrem Gegenstand zu haben. Im Gottesdienst gedenkt die Gemeinde nicht einer Lehre von Gott, sondern Gottes selbst; sie spricht nicht über ihn oder über die Möglichkeit und die Bedingungen solcher Rede, sondern sie redet zu ihm im Gebet und von ihm her in der Predigt. (In Liedern und Liturgien sind beide Elemente kombiniert). Im Gegensatz zu kirchlichen Lehrstunden oder akademisch-theologischen Veranstaltungen ist im Gottesdienst die vom Lehrer, Pfarrer oder Priester vermittelte Information oder Darstellung seiner eigenen Position nicht das die Anwesenden verbindende Thema. Die Suspension der Theologie aus dem Feld der Aufmerksamkeit geschieht allerdings auch im Gottesdienst nie vollständig. Die Anwesenden reflektieren immer noch über die theologischen Regulative des Pfarrers, der Liederdichter und der Liturgie, und sie suchen den regulativen Sätzen der Autoren der verlesenen Bibelstellen auf die Spur zu kommen. Sie tun dies aber - ideal gesprochen - in der Absicht, hinter den analytischen Fragen Gott selbst zu hören. Es gilt also, den Unterschied zwischen der Analyse des theologisch Richtigen oder Falschen und dem Warten auf Gott, bzw. der Anrede an Gott, festzuhalten.
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie
Mit diesen Überlegungen will ich freilich nicht sagen, daß im Gottesdienst Gott in seiner Aseität angesprochen und erlebt würde. Nie hebt er sich für die Hörenden und Betenden von ihrer eigenen Welt und Sprache so ab, daß sie ihn ohne ihre Welten (vgl. I C 2) erfahren würden. Vgl. Geoffrey Wainwright, »Der Gottesdienst als >Locus Theologicus< oder: Der Gottesdienst als Quelle und Thema der Theologie«, in KuD 1982/4, 248257.
3. DIE UMKEHRUNG DER FRAGE NACH DER RELEVANZ DES EVANGELIUMS
Zugespitzt gesagt ist die Aussage richtig, daß es im Gottesdienst nicht darum geht, vergangene Ereignisse und Texte relevant zu machen, sondern die Gegenwart auf ihre Relevanz zu dem im Gottesdienst erhofften und erinnerten Gott zu prüfen.
In der hermeneutisch konzipierten Methode theologischer Arbeit steht die Frage im Vordergrund, wie das Bedeutsame aus vergangenen Texten und Ereignissen heute »zur Sprache kommen« könnte, wie es heute relevant werden kann. Das Bedeutsame wird in diesem Verstehens- und Aneignungsprozeß vom Unbedeutsamen unterschieden. Das Bedeutsame ist das immerGleichbleibende. Der Gottesdienst muß, will er dieser Erwartung entsprechen, den Brückenschlag zwischen damals und heute leisten. Auf die Veranstalter des Gottesdienstes, etwa den Prediger, fällt die ungeheure Last der Verantwortung, die Inhalte der Bibel (und auch der ihr folgenden Tradition) in die Lebenssituation der Hörer hinein zu transponieren. Im analytischen oder induktiven Vorgehen der Theologie aber stehen die Wahrnehmung und die Frage nach der Struktur bzw. der Konstitution eines Aussagekomplexes im Vordergrund. Es wird nicht nach immer gleichbleibenden Bedeutsamkeiten, sondern nach der Angemessenheit, Brauchbarkeit und Nützlichkeit von Aussagen gefragt. Die Aufmerksamkeit richtet sich primär auf heute Gesagtes und Geschehenes. Die Entdeckung des Evangeliums geschieht im Vorgang der Analyse der gegenwärtigen Situation, einer Gegenwartsfrage oder -lage, die ihrerseits auf ihre »Relevanz«
G. Der Gottesdienst als Ort der primären Verifikation
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zu dem im Gottesdienst gefeierten und erinnerten Gott befragt wird. Die Entdeckung ist ein »Wiedererkennen« (vgl. I E 4), in dem die Gegenwart in neuem Licht erscheint. Insofern kann man freilich auch sekundär von einer »Relevanz« der alten Texte für die Gegenwart sprechen. Modelle für die Umkehrung der in westlicher Theologie üblich gewordenen Relevanzfrage sind im Alten Testament sowie in den neutestamentlichen Gemeinden zu finden: Deuterojesaja interpretierte die Exodustradition im Licht der Gegenwart, er versuchte nicht primär, die Tradition über das vergangene Ereignis auf seine Bedeutsameit hin zu befragen und für die Gegenwart relevant zu machen. Die urchristlichen Gemeinden interpretierten die Nachrichten über das Kommen und Wirken von Jesus sowie über seine Kreuzigung im Licht ihrer Erfahrung des Christus praesens. (So haben sie sogar das Alte Testament insgesamt interpretiert, was freilich zur Entstehung erheblicher Probleme geführt hat). Vgl. IE4. Aus dem Gesamtduktus dieses Buches wird dem Leser sicher deutlich, daß es mir - gewiß noch in sehr unvollkommener Weise - um die Ausführung gerade dieses Programms geht: nicht alte Texte, und seien sie uns noch so lieb und vertraut, gilt es für die Gegenwart »relevant« zu machen, sondern die Gegenwart mit ihren Rätseln, Nöten und Angeboten soll gegenüber den alten Texten unserer Story relevant, durchsichtig und nutzbar gemacht werden. Ich meine nichts Humorvolles oder Despektierliches, wenn ich sage, daß mir Rudolf Bultmann und Billy Graham in der hier diskutierten Frage dasselbe Ziel zu haben scheinen: beide wollen alte Texte für die neue, fremde Gegenwart modern, relevant und anwendbar machen. Dahinter liegt ein Gottesbegriff, der stark auf die (neuplatonische) Zeitlosigkeit abhebt, vgl. Memory and Hope, 34-47 und Kap. IV.
4. VERIFIKATION DURCH DEN GEIST
Der Begriff der »Offenbarung« im herkömmlichen Sinn sollte in der Theologie vermieden werden. Er ist ein aus komplizierter Kombination von autonom gewordenen Begriffen (vgl. I B 3) erstelltes theologisches Konstrukt, das nur unter ausführlichen Erklärungen verantwortlich und ohne Risiko schwerer Mißverständnisse verwendet werden kann. (Vgl. I E 2).
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie
Der Moment der Wahrnehmung eines »Anlasses« in der Gegenwart zum »Wiedererkennen« von Traditionselementen (Vgl. I E 4), die in den biblischen Schriften oder im Gedächtnis der Kirche ruhen, ist ein Augenblick der »Offenbarung«. In ihm wird das über eine Situation, eine Thematik oder ein Problem offenbar, das vorher unbekannt und verborgen war. In der Ausdrucksweise klassischer Wort- und Offenbarungstheologie: »es wird dem Menschen etwas gesagt, was er sich nicht selbst sagen kann«. Die Gläubigen interpretieren den Moment dieser Offenbarung als den Augenblick des Geistes Gottes. Der Geist bestätigt etwas bisher Unbestätigtes, er gibt etwas bisher Unbekanntes bekannt. (Erkenntnistheoretisch ist es allerdings problematisch, vom Erkennen eines bisher Unbekannten zu sprechen). Werden viele Erlebnisse der Bestätigung oder Bekundung dieser Art im Gedächtnis der Gläubigen gesammelt und einander zugeordnet, so kann das Gesamt dieser Erfahrungen und ihrer Zusammenhänge als »die Offenbarung Gottes« bezeichnet werden. Diese summierende, begriffliche Ableitung kommt schon im vorchristlichen Spätjudentum vor (»Keine Offenbarung nach Esra«) und wird in der christlichen Kirche vom 2. Jahrhundert an auch üblich. (Vgl. I E 2). Das Vertrauen auf die immer wieder erfahr bare Verifikation von Einsichten, Interpretationen und Credos durch den Geist Gottes ist ein vollständig unverzichtbares Element im Leben und Denken der Gläubigen. Nicht gegen die Entstehung, aber gegen die Verwendung des Gesamtbegriffs »Offenbarung« lassen sich aber schwere Bedenken anmelden. Sie konzentrieren sich auf die fast unvermeidliche Gefahr, mit ihm entstünde eine Doppelstöckigkeit des Denkens oder der Wirklichkeit, eine doppelte Wahrheit, auch eine Abwertung weltlicher Weisheit und empirischer Wissenschaft. Die Theologiegeschichte demonstriert, daß die Kirche und ihre Theologen diesen Gefahren weitgehend erlegen sind. Der Gesamtbegriff »Offenbarung« sollte in theologischen Argumenten und in der kirchlichen Lehr- und Verkündigungssprache vermieden werden, weil die notwendige und Mißverständnisse verhindernde Erklärung seiner komplizierten logischen Herleitung unmöglich jedesmal gegeben werden kann, wenn der Begriff verwendet wird.
G. Der Gottesdienst als Ort der primären Verifikation
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Man könnte sich veranlaßt sehen, an dieser Stelle die gesamte Diskussion über Vernunft und Glaube, Natur und Übernatur in der mittelalterlichen Diskussion sowie etwa den mächtigen Protest der Theologie Kar! Barths und seiner Freunde nach dem Ersten Weltkrieg gegen den von ihnen so genannten Kulturprotestantismus wiederaufleben zu lassen. Es geht mir nicht darum, die Errungenschaften dieser Diskussionen in Frage zu stellen oder zu ersetzen. Ich meine aber, daß die echten Probleme heute nicht mehr in den damaligen Positionen klar erlaßt und in der Wiederholung der dazu gehörigen Termini hilfreich angegangen werden kann. Ich denke, daß es möglich sein muß, in der Theologie in Zukunft ohne den klassischen Begriff der Offenbarung auszukommen. Dieser klassische Begriff entstand in der christlichen Kirche erst in Berührung mit der gnostischen Welt- und Gottesanschauung; vgl. Memory and Hope, Kap. I. Ein seiner Zeit weit vorausgreifendes Verständnis von »Offenbarung« findet sich in dem wichtigen Buch von H. Richard Niebuhr, The Meaning of ReveIation (New York 1941), das auch den hier so reichlich verwendeten Begriff der »Story« darbietet (Kap. 11) und »relevation« als weitergehende Revolution Gottes und metanoia der Menschen versteht. Zum Thema der Verifikation durch den Geist, vgl. Gerhard Sauter, »Geist und Freiheit«, in EvTh 41,3 (Mai/Juni 1981), 212-223. In der englisch-sprachigen Diskussion über Verifikation (Ian T. Ramsey, John Hick u. a.) ist mit Recht immer wieder hervorgehoben worden, daß durch die Bewahrheitung im Geist ein kognitiver Gewinn, nicht einfach eine Bestätigung von Bekanntem erwartet werden muß.
H. Der Übergang von der Alltagssprache zu regulativer Reflexion
VORÜBERLEGUNG Die Kontroversen um die Frage, ob es sinnvoll sei, von spezifisch »religiöser Sprache« und der ihr eigentümlichen Regeln, Rechtfertigungs- und Verifikationsverfahren zu sprechen, sind insofern abgeklungen und relativ uninteressant geworden, als es sich erwiesen hat, daß die Frage aufs ganze gesehen mit guten Gründen bejaht oder verneint werden kann. Die Antwort hängt von der Entscheidung ab, an welchem Punkt des Übergangs von empirischen Aussagen zu solchen Sätzen, die sich auf Transzendenz beziehen, die Behauptung festgemacht wird, alle jetzt folgenden Sätze seien kognitiv nicht mehr sinnvoll bzw. durch die Erfahrung begründ- oder widerlegbar. Die Entscheidung für den frühest möglichen Punkt (etwa im logischen Atomismus oder Empirismus) bestreitet den Anspruch kognitiv sinnvoller Aussagen für eine überwältigende Fülle von Aussageklassen, so daß ethische, ästhetische und religiöse Sprache, auch die Sprache der Liebenden und der Dichter, nur noch ihrem Typus nach unterschieden, in Wahrheit aber aus der Konkurrenz kognitiver Sätze herausgenommen werden. Hingegen führt die Entscheidung für einen möglichst späten Ansatz zu einer Sichtung der Alltagssprache, in der die strenge (und auch simple) Trennung zwischen kognitiv (deskriptiv) und emotiv einer differenzierteren Sicht der sprachlichen Funktionsschichten Platz macht. Die Einsicht in die Verbindung zwischen Sprache und Lebenspraxis, in das Phänomen regelgeleiteten Sprachgebrauchs und in den Zusammenhang von Verwendungsweisen, läßt es zu, auch religiöser Sprache kognitiven Sinn zuzusprechen und empirische Verwurzelungen in ihr zu erkennen. Es fragt sich aber, ob hier (im linguistischen Phänomenalismus) auch in Zukunft ein Interesse an einer spezifisch »religiösen Sprache« aufrecht erhalten werden muß, weil es in der Konsequenz dieser sprachphilosophischen Sicht liegt, gerade die multiple Funktion gleichlautender Sätze ernst zu nehmen, bzw. umgekehrt, die gleiche Funktion völlig verschiedener Aussagen anzuerkennen.
H. Der Übergang von der Alltagssprache zu regulativer Reflexion
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Die Entscheidung, ob wir die Alltagssprache der Gläubigen (in bezug auf ihren Glauben und ihr Handeln) »religiöse Sprache« nennen, hat keinen Erkenntniswert. Der Begriff ist zu breit und unspezifisch, um die auf Transzendenz bezogenen Sätze der Gläubigen (der Juden und Christen) kennzeichnen zu können, und er ist zu eng, um die Vielfalt der von ihnen tatsächlich verwendeten Sprachen abzudecken. In einer sinnvollen Klassifikation müßten ja mindestens die Sprache des Gebets oder der Doxologie, die narrative, diskursive und auch die metasprachliche Verwendungsweise unterschieden und enthalten sein. Die Sprache theologischer Theoriebildung hat nur schwer benennbare Gemeinsamkeiten mit einer Predigt, und diese wiederum geschieht auf einer anderen Sprachebene als das private, helfende Gespräch oder das persönliche Gebet. Die Suche nach der »Mitte« zwir schen diesen Sprachen bzw. Sprachspielen führt zu keinem sinnvollen Ergebnis, ebensowenig der Versuch einer Markierung ihrer Grenzen als Gesamt gegenüber anderen Verwendungsweisen. Die Festlegung einer »Mitte« wäre zu unscharf und verlöre den Kontakt mit den wirklich verwendeten Sprachen, die Markierung der Grenzen würde die ausgefransten Ränder des Gesamts dieser Sprachen übersehen. Das Gemeinsame der Verwendungsweisen von Sprache durch die Gläubigen liegt sozusagen »hinter« ihren Verwendungen. Sowohl theologische Theoriebildung als auch Predigten, seelsorgerliche Gespräche und die Formulierung von Gebeten werden direkt oder indirekt gesteuert bzw. reguliert. Ich nenne die Steuerungsmechanismen »regulative Sätze«, obwohl es sich nicht unbedingt und nicht in jedem Fall um tatsächlich ausformulierte Sätze handeln muß; es käme auch der Ausdruck »regulative Gedanken« in Frage. Gegen diesen Terminus scheint mir die Schwierigkeit der Abgrenzung gegenüber der Vorstellung von theologischen »Ideen« zu sprechen. »Regulative Sätze« haben in der Theologie aber immer einen noch aufspürbaren Bezug zur Geschichte und zur Empirie, wenn sie teilweise auch wie »Ideen« oder Prinzipien funktionieren. Sie sind implizite Axiome. Die Fragen, die hier vordringlich beantwortet werden müssen, drängen auf eine Klärung der Entstehung regulativer Sätze, ihrer Beziehung zueinander in hierarchischer Zuordnung, ihrer Wahrheit als eigentlich theologischer Wahrheit, und schließlich ihrer Funktion im praktischen Vollzug in der Abgrenzung gegenüber anderen, nichttheologischen Regulativen. Wüßte man die endgültigen Antworten auf diese Fragen, so stünde der Er-
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie
stellung einer konsensfähigen ökumenischen Theologie kaum mehr etwas im Wege. Von diesem Ziel sind wir aber noch weit entfernt.
1. DREI GRUNDTYPEN VON THEOLOGIE: DIREKTHEIT, WISSENSCHAFfLICHKEIT, WEISHEIT
Theologische Reflexion erwächst aus der Alltagssprache der Gläubigen. Dieser Vorgang kann innerhalb der biblischen Schriften sowie in der Geschichte der Theologie und in der Gegenwart beobachtet und analysiert werden. HilfesteIlungen leisten dabei die verschiedenen philosophischen Modelle zum Verständnis der Reflexion. Sie ermöglichen das Verständnis der Entstehung verschiedener Grundtypen von Theologie, die je verschiedenen Praxiserwartungen entsprechen. Wenn die Ergebnisse der Reflexion geordnetes Denken darstellen, so kannen mit einer endlichen Zahl von sprachlich formulierten (oder formulierbaren) regulativen Sätzen unendlich viele Sätze gerechtfertigt werden. Auf dieses Ziel, das man die Erstellung konstitutiver Regeln nennen könnte, strebt jede Theologie hin, wenn die Annahme richtig ist, daß es keiner ernstzunehmenden Theologie einzig darum geht, einmal fixierte Sätze zu rezitieren und keine neuen Sätze und Handlungen zuzulassen. In jedem Fall also (außer dem genannten, absurden Verständnis von Theologie) gleicht der Vorgang des Übergangs vom allgemeinen Sprechen und Handeln der Gläubigen zur Reflexion und von dort zum erneuten, erweiterten Sprachgebrauch der Form einer Sanduhr.
Es sind jedoch wenigstens drei Grundformen von Theologie benennbar , die durch unterschiedliche Reflexionsvorgänge und Praxiserwartungen gekennzeichnet sind: 1. Die Reflexion in Direktheit, d. h. in direkter Übernahme biblischer Sätze und Regeln aus der Tradition in heutiges Denken und Handeln; die Reflexion führt nicht eigentlich zu regulativen Sätzen, eher zur offenbarungspositivistisch vollzogenen Selektion und direkten Anwendung zentraler biblischer Sätze, (z. B. des Exodus aus Ägypten auf spätere politische Situa-
H. Der Übergang von der Alltagssprache zu regulativer Reflexion
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tionen, der Landnahme auf das heutige Israel, der Kriege im Alten Testament auf heutige Kriege, der Offenheit Gottes in seiner Offenbarung auf die heutige Ablehnung von Geheimdiplomatie, paulinischer Briefstellen über die Ehe auf heutiges Eheverständnis , usw.). 2. Die Reflexion in der zentralen Ausrichtung auf Wissenschaftlichkeit, die Inhalte theologischer Reflexion werden auf Verifikation hin sortiert, meist im Hinblick auf nicht -theologisches Wissenschaftsverständnis ; exegetisch-historische Begründung und logische Überprüfbarkeit sind unter stärkster Beachtung methodischer Klarheit Ziel ihrer selbst; das Verharren im Territorium verantwortlicher Reflexion kennzeichnet diesen Typus von Theologie. 3. Reflexion auf Weisheit hin; Gottes Weisheit als Lebensweisheit für uns transparent zu machen ist das Ziel dieser Art von Reflexion; Voraussetzung ist die Absage an den ersten Typus und die vorsichtige Inanspruchnahme des zweiten Typus von Theologie. Bei dieser Typisierung drängt sich der Eindruck einer Ähnlichkeit mit den in diesem Buch verwendeten drei Stufen qes Vorgehens auf. Theorieloses Verharren im »Gegenstandsfeld« (Teil I) entspräche der Reflexion in »Direktheit«, das Verbleiben in der Theorie (Teil 11) der der Wissenschaftlichkeit, und das Streben auf Ethik und Doxologie der theologischen Weisheit. Je nachdem ob man mit neueren Systemtheorien des Phänomen der Reflexion überhaupt ablehnt (weil das reflektierende Subjekt selbst als Teil des Systems gesehen wird) oder ob man sich klassischen Reflexionskonzepten anschließt, wird man die Reflexionsleistung der Theologie einschätzen. Der erste der hier genannten Typen von Theologie kann sich weitgehend auf das Modell empirischer Reflexion stützen, das zweite ist vom transzendentalen Modell der Bestimmung von Erkenntnisbedingungen abhängig, das dritte vielleicht vom Typus phänomenologischer Reflexion. Beim dritten Typus wird man aber die eventuell anwendbare Methode der phänomenologischen Reduktion genau bestimmen müssen, denn es kann nicht darum gehen, den biblisch begründeten Glauben und die Weisheit Gottes auf eine endliche Zahl von säkularen bzw. »story-losen« Weisheitssätzen zu reduzieren. Das hat auch etwa John Henry Newman in seiner Suche nach »principles« zu vermeiden gewußt (vgl. sein Buch Grammar of Assent, 1870). Vgl. III F Theologie als Weisheit.
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstands/eides der Theologie
2. REGULATIVE SÄTZE (IMPLIZITE AXIOME) Die Steuerungsmechanismen, die bei einem Menschen oder bei einer Gruppe für überprüfbares Denken und Sprechen und für geordnetes Handeln sorgen, kann man »regulative Sätze« nennen. Sie sind nicht unbedingt und in jedem Fall sprachlich ausformulierte Sätze, sie verlieren aber an Steuerungswert, wenn sie sich der Formulierung völlig entziehen. Auf der anderen Seite liegt die Gefahr ihrer vorschnellen Ausformulierung in unerwünschter Fixierung und damit nicht selten in inhaltlicher Verflachung und Trivialisierung. Eine Reduktion regulativer Sätze auf privatsprachliche Ebenen gilt in der Psychotherapie und sprachphilosophischen Sicht der Psychoanalyse mit gutem Recht als Kennzeichen der Neurose. Die Kommunikation des Neurotikers mit der Umwelt, mit anderen Menschen und mit sich selbst ist durch die für ihn charakteristische Ausrichtung seiner regulativen Sätze auf seine Privatsprache verwirrt und gestört. Das gilt, beachtet man die dann notwendigen Modifikationen dieses Konzepts, auch für Gruppen. Im Denken und Handeln der Gläubigen sind »hinter« der Alltagssprache regulative Sätze wirksam, die auf Klärung und Kommunikation aus sind und die sich letztlich immer erneut die Wahrheitsfrage gefallen lassen müssen, ja, die selber nach der Wahrheit drängen. Die Theologie befaßt sich mit diesen Sätzen, ja, sie besteht aus regulativen Sätzen. Theologie im engsten Sinn des Wortes ist das Gesamt der als wahr verantworteten regulativen Sätze (impliziten Axiome).
Ein Beispiel für einen regulativen Satz in der Theologie des Apostels Paulus wäre etwa: »Jesus Christus ist zugleich Herr und Knecht«, oder, negativ gesagt: »Christus ist nicht einmal Herr, dann Knecht und dann wieder Herr«. Dahinter steht vielleicht der regulative Satz: »Gott ist leidensfähig« , oder negativ gesagt: »Gott ist nicht als durch menschliches Leiden unberührbar zu denken.« Daneben stehen eventuell Sätze wie: »Ungerechte Menschen werden gerecht durch Gott«, oder, negativ gesagt: »Man wird nicht durch sich selbst gerecht«; oder: »Gottes Wille richtet sich auf Israel sowie auf die Völker der Heiden«, negativ: »Der Gott des Alten Testaments kann nicht vom Schicksal der Menschheit isoliert werden.« Diese und ähnliche, hypothetisch formulierten regulativen Sätze des Paulus sind nur zum Teil in ähnlicher sprachlicher Ausformulierung in den
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paulinischen Briefen zu finden. Vielleicht wäre es möglich, seine regulativen Sätze durch sorgfältig ausgesuchte, wörtliche Zitate zu stützen oder zu ersetzen. Damit wäre aber nicht viel gewonnen, was schon daraus deutlich wird, daß eine ähnliche Bemühung etwa im Hinblick auf das J ohannesevangelium viel schwieriger wäre. Es gibt offenbar Texte oder Aussagenkomplexe, die nahezu wörtlich ihre dahinterliegenden regulativen Sätze enthalten - vielleicht die Paulusbriefe -, und solche, die sich gegen die Absicherung durch zitierte Einzelstellen sträuben, vielleicht die johanneischen Schriften, Origenes, Augustin, Bonaventura, Luther, Wesley, Buber. Die Frage nach der direkten Formulier- und Zitierbarkeit regulativer Sätze ist von geringerer Bedeutung als die Frage nach ihrer Entstehung und Begründung, ihrer gegenseitigen Zuordnung und ihrer Funktion in der Erstellung längerer Aussagenkomplexe in der Theologie. Damit verbunden ist auch die Frage ihrer Anzahl und möglichen Reduktion oder doch Zuordnung auf einige wenige oder gar einen einzigen regulativen Satz. Es gilt auch zu bedenken, was den Unterschied zwischen positiv und negativ formulierten regulativen Sätzen ausmacht. Schließlich zielen all diese Fragen auf die Frage nach der Möglichkeit einer ökumenisch verbindlichen Theologie, wenigstens einer fundamentalen Theologie minimaler, konsensfähiger Aussagen mit maximaler Reichweite. Eine Fülle von Fragen, die sich hier aufdrängen, lasse ich jetzt in pragmatischer Absicht undiskutiert. Dazu gehört die prinzipielle Lösung des Problems, ob die Metaphysik die Aufgabe hat, das in der Sprache liegende Selbstverständliche zu klären (P. F. Strawson) und ob diese Aufgabe durchführbar ist. Ferner müßte der Unterschied zwischen impliziten Axiomen und Summierungen, der hier nur mit Betonung behauptet wird, grundsätzlich geklärt sein. Diese Klärung wäre darum nicht einfach, weil die impliziten Axiome zweifellos durch ein der Reduktion verwandtes Verfahren gewonnen werden und darum in die Nähe von Summierungen rücken. Schließlich müßte beschreibbar werden, wie regulative Sätze/implizite Axiome mit der Weitsicht, der Perspektive bzw. der sie tragenden Story derer, die von ihnen gesteuert werden, zusammenhängen, vgl. I B 1 und I C 1 und 2. (Diese Beschreibung soll allerdings teilweise im Teil 11 geleistet werden). Vgl. zum logischen Rekonstruktivismus das in I F 5 genannte Buch von H. G. Hubbeling, 66-71, auch die Appendices 4-7, sowie R. G. Collingwood, Essay on Metaphysics (Oxford 1940). Dieses Buch ist durch die Präokkupation mit Collingwoods Geschichtsphilosophie in der deutschsprachigen Diskussion (in der er zudem mißinterpretiert wurde, wie ich meine) übersehen worden. Schließlich bedürfen drei weitere Fragen der grundsätzlichen Klärung. 1. Wie nehmen implizite Axiome ihre regulative Funktion wahr? Es fragt sich, ob es verallgemeinerbare Beschreibungen der Steuerungsfunktionen gibt, vergleichbar etwa den allgemeinen psy-
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstands/eides der Theologie
cholinguistischen und psychologischen Bestimmungen der Funktion von Symbolen, Klischees usw. oder den klassischen Vorstellungen von der Funktion der »Stimme« des Gewissens, die man immer hört, auch wenn man ihr nicht folgt. 2. Wie verhalten sich die impliziten Axiome zueinander? Eine Topographie der regulativen Sätze/impliziten Axiome in der Theologie (vgl. I F 1 bez. Lehraussagen) legt den Gedanken nahe, es gäbe eng verbundene, sub- und koordinierte, sowie unverbundene, weit voneinander entfernte implizite Axiome, vielleicht auch ein einziges, allen anderen übergeordnetes Axiom, (vgl. I F 5 sowie I H 4). 3. Wie verhalten sich die impliziten Axiome der Theologie zu außertheologischen Axiomen, z. B. in der Rechtsphilosophie, der politischen Theorie und Philosophie undwie bereits öfter erwähnt - der Psychotherapie? Sind sie nur durch ihren Inhalt, nicht aber durch ihre Funktionsweise unterschieden, sind sie also für die Gläubigen und ihre Theologen formal das gleiche, was in der Sicht des Psychologen ein »fOot metaphor« ist? Ich sehe keinen Grund, dies zu bestreiten (vgl. die Vorüberlegung zu I H mit der Absage an die Forderung, religiöse Sprache von anderer abzuheben). Vgl. I C 1 über den »Hof« (Halo), der um das Wahrgenommene erscheint, auch ID 2; sowie I D 6 über pathologisch verzerrte implizite Axiome. V gl. auch meine Aufsätze »Some Comments on Imagination Versus Logieal Stringency« in der Festschrift für J. Davis McCaughey, Imagination and the Future, hg. John A. Henley (Meibourne 1980), 23-37, sowie »Some Theses on Regulative Sentences in Theology«, in der Festschrift für den neuseeländischen Alttestamentler L10yd Geering, Faith in an Age ofTurmoil (Auckland 1984).
3. MONOTHEMATISCHE THEOLOGISCHE ENTWÜRFE Die berechtigte Sorge, die Theologie könnte durch die sorgfältige Analyse der regulativen Sätze, ihrer Entstehung und gegenseitigen Zuordnung, ihres Verweisungszusammenhanges also, zu einem geschlossenen und damit leblosen System werden, hat zum Ruf nach monothematischen Theologien geführt. Sozial-politische und psychische Befreiung sei das Zentralthema; das Leben, die Kirche und die ganze Welt seien sakramental zu verstehen; alles sei von der Rechtfertigung sola gratia her zu interpretieren; die individuelle Bekehrung und Heiligung des Menschen sei das Ziel des ganzen Evangeliums - diese und andere wichtige Themen sind als die je einzigen und unvertauschbaren Brennpunkte biblisch begründeter Theologie propagiert worden. (Zerrbilder monothematisch organisierter Glaubensweisen finden sich in Gruppen wie den Sabbatisten u. ä., obgleich bei ihnen oft das ursprünglich kennzeichnende Merkmal zu einem peripheren Credo geworden ist).
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Monothematische Totalvisionen sind im wirklichen Vollzug theologischen Argumentierens oft unerläßlich (vgl. I F 5), aber ihr Erstarren zu bleibenden Organisationsprinzipien - so dynamisch und gegenwartsbezogen sie auch sein mögen - verhindern gerade nicht die Bildung geschlossener Systeme, sie begünstigen sie vielmehr. Was sich im »jetzt Dringlichen« monothematisch darstellt, ist im Hinblick auf das »bleibend Wichtige« (vgl. I F 4) nicht mehr monothematisch . Was bei erster Betrachtung als ganz abwegig erscheint und auch gewiß der subjektiven Absicht der Autoren nicht entspricht: niemand hat in unserer Zeit härtere theologische Totalsysteme errichtet, als die verschiedenen Vertreter monothematischer Theologien. Für viele von ihnen stellt das verabsolutierte Generalthema den Zwang zu einer sogenannten abgeschlossenen Theorie dar, auch wenn dies nicht gewollt war. Einzig durch die Analyse der gegenseitigen Bedingtheit der regulativen Sätze/impliziten Axiome, d. h. der Art und der Intensität, in der sie selbst aufeinander verweisen, läßt sich die Vernetzung der Regulativen und der von ihnen gesteuerten theologischen Lehraussagen bzw. Handlungsanweisungen ttrkennen. (Mit dem Wort »Vernetzung«, oder einfach »Netze«, habe ich als möglichen Titel für dieses Buch gespielt). Zu abgeschlossenen bzw. offenen Theorien vgl. C. F. v. Weizsäcker, Die Einheit der Natur (München 1971), 193-195, 208ff, 233ff, sowie Der Garten des Menschlichen (München 1977), 95-101, 583.
4. DIE ARGUMENTE GEGEN DIE LOCI-METHODE
Die Aufsplitterung der Story Israels und der Kirche in vermeintlich isolierbare Einzelheiten ist aus der Bemühung um genaue Bearbeitung von Problemen, die auf verschiedene Weise gelöst werden können, erwachsen und ist darum verständlich. Diese Methode führt aber unvermeidlich entweder zur Verfremdung der Probleme durch die Ablösung aus ihrem Kontext oder zur Erstellung eines theologischen Totalsystems . Die berechtigte Sorge, die Theologie könnte durch die Leidenschaft der Konzentration auf ein Thema oder eine jetzt dringliche Aufgabe zentrale Themen aus den Augen verlieren, hat zur Entwicklung der loci-Methode geführt. Sie ist weitgehend charakteristisch für die klassische Theologie des Westens. Autonom gewordene Themen und Begriffe (vgl. I B 3) sind unter
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie
Abschätzung ihres Volumens bzw. ihrer Reichweite einander zugeordnet und in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit lociert worden. Die angestrebten Vorteile dieser Bemühung um Klassifizierung, Unterteilung und Vernetzung von theologischen Einzelthemen sind unschwer zu verstehen und die Entwicklung der Lokal-Methode kann historisch relativ leicht erklärt werden. Die Voraussetzung für die Anwendung der loci-Methode ist die Isolierung vermeintlicher Teilthemen der Story Israels und der apostolischen Kirche, z. B. die Lehre von der Gnade, von der Sünde, von der Rechtfertigung, von der Heiligung, von den Eigenschaften Gottes, von der göttlichen Vorsehung, von der Vergebung, von der Hoffnung und Vollendung, von der Autorität der Bibel, usw. Durch solche Isolierung von Einzelthemen werden die Teilinhalte der Bibel fast unvermeidlich verfremdet und die zeitlichen und situationsbezogenen Unterschiede zwischen den biblischen Schriften nivelliert. (Vgl. I F 5). Eine zweite Kritik an der loci-Methode betrifft die Tendenz zum Aufbau eines permanenten theologischen Systems. Die Bearbeitung von Einzelthemen muß zwar nicht notwendig zur Erstellung eines Gesamtsystems führen, sie kann sogar Anlaß zur praktischen Vernachlässigung anderer Teilthemen (und damit einer Gesamtsicht) bieten. Sie erlaubt auch das Ausweichen von einem Teilthema auf ein anderes und macht somit die Durchführung eines theologischen Diskurses letztlich unmöglich. Trotzdem ist die Besorgnis, die loci-Methode tendiere auf ein geschlossenes theologisches System hin, berechtigt. Wenn die Behandlung autonom gewordener Einzelthemen zu einem sinnvollen Ziel führen soll, so kann das nur in einer relativ abgeschlossenen Darstellung und Lösung der in ihnen enthaltenen Probleme geschehen. Die Gesamtsumme dieser - wenn auch nur relativabgeschlossenen Subsysteme stellt ein Totalsystem dar. So bieten auch in der tatsächlichen Ausführung der loci-Methode die meisten der klassischen und der heutigen Bücher über systematische Theologie Totalsysteme an. Tun sie dies nicht, z. B. wegen der absichtlichen Unabgeschlossenheit der Bearbeitung der einzelnen loci, die dann nur als lockeres Organisationsraster dienen, so trifft sie zwar nicht die zweite, umso mehr aber die erste Kritik an der loci-Methode. Vgl. I F 5.
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Die Skepsis nahezu aller Berufsexegeten gegenüber der »systematischen Theologie«, die ich aus Gesprächen in mehr als 35 Jahren in recht verschiedenen Ländern im Ohr habe, möchte ich als vollständig berechtigte Kritik an der Iod-Methode verstehen. Meine Freude über diese Unterstützung ist aber dadurch eingeschränkt, daß ich bisher wenig Exegeten getroffen oder gelesen habe, die über ihre handwerkliche Arbeit hinaus, oder gar als deren Ziel, nach impliziten Axiomen/regulativen Sätzen gesucht haben. Das bedeutet aber nichts weniger als die Feststellung, daß die meisten von ihnen als Philologen und Historiker, nicht als Theologen operieren.
5. DIE FRAGE NACH KULTURSPEZIFISCHER THEOLOGIE (»INDIGENOUS THEOLOGY«) Das Problem der verschiedenen kulturspezifischen Theologien in der Dritten Welt (und nicht nur dort), die mit grundsätzlicher Kritik an der griechisch-römischen Denktradition und der euro-amerikanischen Kultur gekoppelt sind, ist letztlich auf die Frage reduzierbar, wie in den nicht-euro-amerikanischen Kulturen das Wiedererkennen (vgl. I E 4 u. G 3 u. 4) der biblischen Paradigmata in der eigenen Geschichte und gegenwärtigen Situation möglich ist. Die Frage, ob für das Auffinden von regulativen Sätzen (impliziten Axiomen), die trans kulturell gültig sind, griechisch-römische Denkkategorien nötig sind, kann man als sekundär einstufen. Im Prinzip müßte Theologie auch ohne diese Kategorien möglich sein. Die Kritik aus Kirchen der Dritten Welt an der griechisch-römisch bedingten Denkweise westlicher (z. T. auch östlicher) Theologie artikuliert sich auf verschiedenen Ebenen. Der radikalste Einspruch betrifft nicht nur Ausdrucksformen, Argumentationsweisen, Selektionsprinzipien und Gewichtungen, die für europäisch-amerikanische Theologie typisch geworden sind, sondern auch die Inhalte altkirchlicher Credos sowie der biblischen Bücher. Wenn auch klar sein sollte, daß das Evangelium nicht in einer nackten, kulturell ungebundenen Form zu hören und zu haben ist, so ist damit noch keineswegs entschieden, daß die letzten regulativen Sätze oder impliziten Axiome nicht transkulturell theologische Gültigkeit haben sollten. Sind sie
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I. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie
aber nicht apriori wahr, sondern letztlich in den Stories Israels, Jesu und der apostolischen Kirche empirisch verwurzelt, so stellt sich das Problem, wie Gläubige in solchen Kulturen, die nur sehr indirekt - oder über koloniale Beherrschung - mit der Geschichte Israels und der Kirche verbunden sind, Zugang zur eigenen Auffindung solcher regulativer Sätze haben können. Sie sind noch stärker als alle seit dem 1. oder 2. Jahrhundert christlich gewordenen Gruppen von der Erfahrung des »Wiedererkennens« von Paradigmen ihrer eigenen Geschichte in den biblischen Geschichten abhängig (v gl. I E 4), weil ihre eigene Geschichte erst in jüngster Zeit, und dann unter Zwang, mit der biblisch beeinflußten Kultur Europas in Kontakt gekommen ist. Es stellt sich darum für sie in noch viel krasserer Form als für unsere romanischen, germanischen, keltischen und slawischen Vorfahren in Europa und Amerika die Frage, mit welchem Recht und in welchem Grad von Echtheit sie die geliehene Sprache der Stories Israels und der frühen Kirche zu ihrer eigenen machen können. In »Westliche Theologie im Licht der Kritik aus der Dritten Welt, Kritisches zum Begriff ,Indigenous Theology«<, in EvTh 39,5 (Sept./Okt. 1979),451-465 habe ich versucht, die Schwierigkeiten des Begriffs »Kulturspezifischer Theologie« zu klären und die kulturelle und geographische Unangemessenheit der Bezeichnungen »afrikanische« und (erst recht) »asiatische Theologie« zu illustrieren. Bei wiederholten Reisen nach Afrika, Asien, den Südpazifik und Mittelamerika konnte ich mich davon überzeugen, daß wir in Europa (und den USA) die Tendenz zu einer romantischen Einschätzung der kulturspezifischen Theologien in diesen Ländern haben. Ein erheblicher Teil der Kritik an westlicher Theologie aus den Kirchen und Colleges der Dritten Welt betrifft veraltete (und konservative) Formen europäisch-amerikanischer Theologie und deckt sich weitgehend mit bei uns längst artikulierten Einwänden und Selbstkritiken. Die wirklich vorhandenen und tatsächlich Neues bietenden »kulturspezifischen« Theologien habe ich versucht, in vier immer krasser werdende Kritiken am westlichen Denken zu typisieren, wobei die vierte Stufe bereits eine Kritik an der Bibel und an der zentralen Bedeutung Israels für christliche Theologie darstellt. Es steht aber für mich außer Frage, daß wir von diesen Kritiken viel lernen können und daß jeder euro-amerikanische Hochmut und jeglicher Monopolanspruch verwerflich und unsachgemäß ist. Am wesentlichsten und konstruktivsten erscheint mir Choan-Seng Songs Kritik am westlichen Kontinuitätsmodell von Geschichte und der damit gegebenen Schwierigkeit für Christen aus außereuropäischen Kulturen, die Paradigmata der israelitisch-christlichen Geschichte zu übernehmen (Belege im gen. Aufsatz 460-62), vgl. seither Songs Buch: Die Tränen der Lady Meng (= Polis, Neue Folge, Bd. 9 Basel 1982, mit einem Nachwort von Lukas Vischer). Song illustriert hier seine Hauptthese, daß die Geschichte Gottes die Geschichte des Volkes, nicht allein des jüdischen-christlichen Volkes, sondern auch die Geschichte der Millionen und Milliarden von Asiaten sei.
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Vgl. zur kulturspezifischen Theologie: Den Glauben neu verstehen, Beiträge zu einer asiatischen Theologie, von verschiedenen asiat. Autoren, mit einer Einleitung hg. von Ludwig Wiedenmann (FreiburgiBaseUWien 1981) sowie John. S. Pobee, Grundlinien einer afrikanischen Theologie (Göttingen 1981), die ich beide in Rezensionen kritisch beurteilen mußte (s. ThLZ Jg. 1982, Nr. 11,849-851, bzw. ThZ (Basel) 1983,253-255). Bei aller Zuversicht, daß Gottes Story die Geschichte der Menschen der Dritten Welt einschließt und uns Ch.-S. Song eine berechtigte Kritik vorhält, möchte ich annehmen und behaupten, daß die regulativen Sätze/impliziten Axiome der Theologie transkulturell wahr sind. Vgl. II B 6.
6. DIE SUCHE NACH ÖKUMENISCH KONSENSFÄHIGEN OPERATIVEN PRINZIPIEN
Ist die Erwählung Israels und ihre Ausweitung auf die Kirche aus Juden und Heiden (vgl. II A) nicht ein Selbstzweck, sondern liegt in ihr die Ermöglichung und Erlaubnis zur Hoffnung auf die Einheit der Kirche und llie Einheit der Menschheit, so hat die Suche nach ökumenisch konsensfähigen Sätzen und Axiomen nicht nur den pragmatischen Sinn der Überwindung von schmerzlichen und peinlichen Spaltungen unter den Gläubigen, sondern ihr letzter Sinn und Zweck ist die Suche nach der Wahrheit und die Freude an ihr. Die Vermutung liegt nahe, die Kirchen wollten sich wegen größerer Effektivität ökumenisch verständigen oder zusammenschließen. Diese Hoffnung ist aber nur in bestimmten Verhältnissen, z. B. in der Dritten Welt, angebracht, und auch dort nur bedingt. Die Suche nach Einheit ist eine Suche nach Wahrheit. Aber die Tiefe der Einsicht in die Wahrheit, die durch einen regulativen Satz (ein implizites Axiom) angezeit wird, steht nicht in einem direkten Verhältnis zu seiner Konsensfähigkeit. M. a. W., die wichtigsten oder die wahrsten steuerungsfähigen Sätze sind nicht die, über die am leichtesten ein Konsens hergestellt werden kann. Hier liegt eine entscheidende Schwierigkeit ökumenischtheologischer Arbeit. Sie wird nicht selten noch dadurch vergrößert, daß unter vielen Teilnehmern an der ökumenischen Bewegung der Irrtum vor-
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l. Das Feld: Die Sichtung des Gegenstandsfeldes der Theologie
herrscht, die Wahrheit liege im Konsens, d. h. in der Rezeption der durchschnittlich von der Mehrheit akzeptierten Tradition, während in Wirklichkeit theologisch-ökumenischer Konsens ein Konsens über die Wahrheit ist. Bei der Suche nach konsensfähigen Sätzen oder Prinzipien, die aus einem oder mehreren impliziten Axiomen (vgl. I H 2) erwachsen, ist die Einsicht in die historisch gegebene Tatsache wichtig, daß verschiedene Sätze und Aussagenketten, die sich zu widersprechen scheinen, trotzdem auf denselben Sachverhalt hinweisen können. Die theologische Anlayse muß herausarbeiten, ob etwa röm.-katholische Lehren über »Mariologie« letztlich auf impliziten Axiomen im Feld der Ekklesiologie oder der Christologie basieren, die auch protestantischer oder orthodoxer Tradition eigen oder mindestens zugänglich sind. Die Ausformulierung von regulativen Sätzen (impliziten Axiomen) in der Form von wirklichen Sätzen kann schon im Ansatz eine Verfremdung oder eine Alternative unter anderen darstellen. Wenn die metaphorische Rede von der »Tiefengrammatik« der Theologie einen Sinn hat, dann müßte er sich hier zeigen: kann man - und wie kann man?aus einer Mehrzahl von miteinander in Spannung stehenden Aussagen (oder expliziten Lehren) durch theologische Analyse diej enigen impliziten Axiome entdecken, die entweder ursprünglich diesen Aussagen zugrunde gelegen haben oder die sich in Zukunft daraus entwickeln könnten? Wenn ich oben (I F 3) vom »modusloquendi« und von der »Alloiosis« gesprochen habe, die es bei der Analyse theologischer Aussagen zu beachten gilt, dann ist damit nicht allein die Suche nach ursprünglichen, sondern auch die nach möglichen zukünftigen Axiomen und Sätzen ins Auge gefaßt. Um beim Beispiel der Mariologie zu bleiben: es gilt nicht nur, die eventuell hinter den mariologischen sowie den nicht-katholischen ekklesiologischen und christologischen Sätzen liegenden Gemeinsamkeiten, die durch »Alloiosis« verfremdet worden sind, zu entdecken, vielmehr müssen auch neue, bisher noch nie entdeckte und gedachte Sätze und Zusammenhänge für möglich gehalten und erhofft werden. Es ist darum sehr sinnvoll, daß in den vergangenen Jahren in der Ökumene öfter nicht nur von »Konsenstexten« sondern auch von »Konvergenztexten« gesprochen worden ist. »Konvergenz« markiert den Vorgang des möglichen Zusammenwachsens im neuen Erlernen der Wahrheit. Am Schluß dieser Überlegungen, die sich weitgehend auf inner-christliche Divergenzen bezogen haben, möchte ich statt einer Aufzählung wichtiger Bücher und Aufsätze
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- und es gibt viele ausgezeichnete Publikationen zur Grundlegung ökumenischer Theologie - nur noch einmal die These wiederholen (vgl. I D 1), daß das eigentlich ökumenische Problem und die wirkliche Aufgabe in der nicht verwirklichten Einheit von Israel und der Kirche besteht. Vgl. 11 AL
II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
VORANZEIGE
Es ist nicht wahr, daß alle Wahrhe.it in Aussagewahrheiten eingeschlossen ist. So sollte man die Analytische Philosophie nicht mißdeuten. Aber nur die in Aussagewahrheiten gefaßte Wahrheit kann für weitere Aussagen und Orientierungen überprüft werden. Es ist auch nicht richtig zu sagen, daß Wahrheit nur durch Theorien gefunden werden kann. So sollte man die Wissenschaftstheorie nicht mißverstehen. Aber komplexe Tatsachen in der Welt bedürfen zu ihrer Erklärung Theorien, die auf sie und ihr Umfeld bezogen sind und aus berechtigten Einzelaussagen, Begriffen, Hypothesen und der Kenntnis bestimmter Gesetzmäßigkeiten ein Netz flechten, das über das zu Erklärende sozusagen geworfen werden kann. Die Bestandteile der Theorie müssen nicht nur in sich stimmig sein, die Theorie als solche muß auch stets den Zusammenhang mit anderen Theorien - zunächst mit den themenverwandten - beachten. Diese allgemeinen Beobachtungen gelten auch für die Theologie. Die Theologie ist ihrem Wesen nach Theorie, auch wenn ihre Anwendung mit gutem Recht Weisheit genannt werden kann. Es ist aber nicht wahr, daß die göttliche und menschliche Wahrheit (und Weisheit), um die es im Glauben geht, nur durch Theologie zugänglich ist. Vielleicht könnte man sogar sagen, daß - statistisch geurteilt - im Leben der Gläubigen, auch im direkten Bezug auf die Dinge des Glaubens, Theologie die Ausnahme sei. In der Wirklichkeit des täglichen Lebens halten wir uns an Verhaltens- und Denkmuster, an Routine und Gewohnheit. Wir müssen das tun um unserer psychischen Normalität willen. Zudem leben wir zumeist im Spannungsfeld
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
von Fragen und Antworten, wozu wir keine Theorien brauchen. Erst wenn Fragen aus dem allgemeinen Routinezusammenhang herausfallen, werden sie zu Problemen und müssen in einen neuen, einen Problemzusammenhang gerückt werden, zu dessen Bearbeitung Theorien nötig sind. In der Aufteilung dieses Buches in die Teile I, 11 und 111 würde das eben Gesagte bedeuten, daß im normalen Leben die Gläubigen von den im Teil I beschriebenen Gewohnheiten zu den im Teil 111 genannten Grundhaltungen und Handlungen übergehen, daß sie nur im Zweifelsfall die eigentliche Theorie der Theologie (Teil 11) konsultieren müßten. Das entspräche etwa der Situation einer Mutter, die bei der Erziehung ihrer kleinen Kinder hundertmal aus Routine handelnd das Richtig tut, aber nur im Problemfall einen pädagogischen oder therapeutischen Experten aufsucht, nicht um selbst Expertin zu werden, sondern um dieses spezielle Problem mit ihrem Kind sachgemäß lösen zu können. An diesem Vergleich mit der Theoriefunktion der Theologie ist ein gutes Stück Wahrheit. Nun verhält sich aber die Theologie (als Theorie) zum gelebten Glauben nicht genau wie die wissenschaftliche Kinderpsychologie zur praktischen Erziehung oder wie etwa die Musikwissenschaft zum Musizieren. Der Unterschied - bei allen offenkundigen Gemeinsamkeiten -liegt einzig darin, daß wesentliche Bestandteile theologischer Theorie zugleich die persönlichen und die seit Jahrhunderten verehrten Credos der Gläubigen sind. Ähnliches wird man von den Bestandteilen psychologischer oder musikwissenschaftlicher Theorien niemals sagen können. Strukturell aber verhält es sich mit der theologischen Theoriebildung nicht anders als mit der Bildung erklärungskräftiger Theorien anderer, komplexer Sachverhalte. Weil die Elemente theologischer Theoriebildung, »Basissätze« etwa aus Bibel und Tradition, Konsenssätze und hypothetische Erwartungen aus Kirche und Frömmigkeit, auch die Theorien selbst (wie etwa die Lehre von »Evangelium und Gesetz«, die Rechtfertigungslehre oder eine bestimmte Sakramentslehre ) zugleich Gegenstand des Respekts und Ausdruck der Frömmigkeit sind, ja weil sogar völlig umfassende Theorien wie die Trinitätslehre (mindestens in der östlichen Orthodoxie) direkt Gegenstand der Anbetung geworden sind, zeigt sich in der Kirche ein ganz verständlicher Widerwille gegen die Behauptung, im Herzstück der Theologie ginge es um Theorie. (Bei den Angehörigen der Synagogengemeinden wird der Antiintellektualismus teilweise geringer, das Vorurteil jedoch gewiß ähnlich
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sein). Daß sich aber auch Theologen diesen Gefühlen anschließen und statt erklärungskräftiger Theorien sich oft historischer Feststellungen oder einer Kumulation apodiktischer oder sonst unbegründeter Urteile bedienen, ist schon eher ein Grund zur Klage. Das Verharren im Vortheoretischen ist gewiß berechtigt, solange es sich nicht um den Anspruch von Erklärungen komplexer Sachverhalte handelt. Wenn dies aber der Fall ist und keine durch eine Theorie organisierte Zuordnung von historischen Urteilen, Basissätzen, impliziten Axiomen, Hypothesen usw. erstellt wird, so geht die Verwundbarkeit der Theologie durch kluge philosophische Anfragen und Kritiken eindeutig zu Lasten der Theologen und nicht etwa des »Ärgernisses des Evangeliums« oder des »Paradoxes« der Weisheit Gottes. Nicht minder beklagenswert als die Sprödigkeit gegenüber sachlicher Theoriebildung ist die verführerische Entscheidung für eine theologische Generaltheorie über Gott, Welt und Geschichte, die man besonders bei deutschsprachigen Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts nicht selten findet. Hier wird von einer übergeordneten und im Grunde einzigen Theorie her alles andere deduzierend erklärt. Die loci-Methode, die trotzdem mit Leichtigkeit angewendet werden kann, gibt den trügerischen Anschein einer theoretischen Differenzierung. In sinnvoller Theoriebildung muß es um die Erstellung mehrerer in sich schlüssiger Aussagezusammenhänge gehen, die wie die Teile eines Mobiles in balanciertem Gesamtzusammenhang ihre Funktion haben. Nur im künstlichen Extremfall ergibt sich daraus ein theologisches Gesamtsystem. Eine Minimalforderung an erklärungskräftige Theorien in der Theologie ist jedoch gewiß die Kohärenz zwischen ihren einzelnen Erklärungen: Die Trinitätslehre kann als ein Ganzes und in ihren Teilen nicht letztlich der Christologie widersprechen, und diese nicht den Teiltheorien über Themen aus der Ekklesiologie, usw. Die Kunst theologischer Arbeit besteht zum nicht geringen Teil in der ständigen Bemühung um gleichzeitige Isolierung und Verbindung einzelner Theorien und ihrer Themen. Man kann darum die Begründung der in den Theorien erklärten Aussagen eher mit einem komplexen Wurzelsystem einer Baumgruppe als mit einfachen, aus der Mechanik des 18. und 19. Jahrhunderts stammenden Eins-zu-Eins Relationen vergleichen. Im folgenden Teil 11 werden die Bauelemente für mögliche theologische Erklärungstheorien zusammentragen: historisch verwurzelte Summierun-
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
gen von Aussagen, über reine Hinweise hinausgehende Begriffe, credohafte regulative Sätze bzw. implizite Axiome, ausgeprägte und Konsens heischende Credos, Schlüsse und Rückschlüsse in der Gestalt von Hypothesen (z. B. auf dem Weg zur »immanenten Trinitätslehre«), Teilbegründungen und ähnliches. Die aus ihnen entworfenen Theorien sind ausnahmslos auf Erklärung von Problemen oder komplexen Tatbeständen aus: z. B. dem Phänomen der Kirche, qer Unsichtbarkeit Gottes, des Leidens und des Bösen in der Welt, des Kommens von Jesus in Schwäche, der Hoffnung auf den neuen Menschen, usw. Dabei wird sich zeigen, daß die Problemfelder und die ihnen zugehörigen erklärenden Theorien nicht alle gleichrangig nebeneinanderstehen. Und doch läßt sich keine e.ndgültige Hierarchie, kein unveränderbares ))Mobile« entdecken, außer daß die hier herausgestellten vier Themenbereiche sich immer wieder als 7;entral und völlig unverzichtbar erweisen - auch in dieser ganz kurzen Darstellung. Auch sie müßten eigentlich nicht nacheinander, sondern alle gleichzeitig besprochen werden, was praktisch freilich nicht möglich ist. Ideal gesprochen müßte in jedem der vier Teile und sogar ihrer Unterteilungen jedes genuin theologische Thema mitbedacht sein, obwohl es nicht darum gehen kann, ))dasselbe immer wieder anders« zu sagen, sondern mit jeder Teiltheorie wirklich nur einen bestimmten Bereich einzufangen - aber im Licht aller anderen. Freilich ist die Aufteilung in vier Felder nicht zwingend. Ich habe lange versucht, mit einer Zweiteilung ))GottlMenschen« alle Felder für notwendige, erklärende Theorien zu ordnen. Dann habe ich versucht, die sogenannte Anthropologie in die Christologie aufzunehmen. Die jetzige Aufteilung hat den Vorteil, daß die Erwählungslehre - die für die Gläubigen das ist, was für klassische Philosophen der Gottesbeweis - in ihrer Schlüsselstellung für alle theologische Theoriebildung klar heraussteht. Zugleich spiegelt die jetzige Kapitelfolge noch einmal indirekt unsere bevorzugte Reihenfolge: Gegenstandsfeld - Theorie - Bewährung wider, wobei die Kapitel Bund C die Theologie im ureigentlichsten Sinn benennen. Einige Überlegungen zur Wahrheit der Theorien folgen in einer Schlußbemerkung am Ende von Teil 11.
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Die Literatur zur modemen Diskussion über Theoriebildung ist sehr umfangreich: Philosophisch habe ich die wichtigsten Anregungen empfangen von Michael Polanyi, Personal Knowledge, Towards a Post-Critical Philosophy (ChicagolLondon 1958) und von so unterschiedlichen Wissenschafts theoretikern wie Kar! R. Popper, Logik der Forschung (Wien 1935, erweitert 1966, 4. Aufl. Tübingen 1971) und Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions (Chicago 1962, dt. Frankfurt 1967); aus dem Übergangsfeld von Wissenschaftstheorie und Religion: Ian G. Barbour, Myths, Models and Paradigms, The Nature of Scientific and Religious Language (N ew Y ork/London 1974) ein in englischsprachigen Ländern sehr einflußreiches Buch -, sowie die zusammenfassende Darstellung von Paul Weingartner, W.issenschaftstheorie I (Stuttgart 1971). Theologisch auseinandergesetzt habe ich mich mit folgenden Autoren, die zur Theoriebildung Wesentliches gesagt haben: Kardinal John Henry Newman hat schon hundert Jahre vor Michael Polanyi von dem über bloßes Wissen hinausgehenden »ilIative sense« in der Erkenntnis Gottes gesprochen, beharrte aber trotzdem auf dem kognitiven Charakter des Glaubenswissens. Seine »principles« operieren ähnlich wie unsere »impliziten Axiome« (I H 2 und 6), vgl. u. a. sein Buch: Grammar of Assent von 1870. - Einen großen Entwurf theologischer Theorie hat Bernard J. F. Lonergan, S. J., in Harvard, erarbeitet. Unter mehreren Büchern nenne ich hier nur: Method in Theology (London 1972). Zur Interpretation seiner Thesen gab es bereits mehrere internationale Symposia und Kongresse. - Ein beachtlicher Entwurf einer »true theory of religion«, wie er es nennt, findet sich im Hauptwerk des früheren Edinburgher Systematikers John Baillie, The Interpretation of Religion, An Introductory Study ofTheological Principles (New York 1928), einem im deutschen Sprachbereich kaum wahrgenommenen, wichtigen Buch. Auch der spätere Edinburgher Dogmatiker Thomas F. Torrance - bei dem ich 1957 promovierte.,.. hat, teilweise unter Verwendung von Michael Polanyis Konzepten sowie von Karl Barths Theologie, eine theologische Theorie entwickelt, vgl. vor allem: Theological Science (London 1969). Am hilfreichsten erscheinen mir Gerhard Sauters Arbeiten zur theologischen Theoriebildung, zumal auch er von der These ausgeht, der Gegenstand der Theologie sei das Reden von Gott, nicht Gott selbst, woraus freilich die Notwendigkeit geordneten Redens umso klarer und ohne entschuldigenden Hinweis auf die Andersartigkeit von Gottes Gedanken erwächst, vgl. u. a. das grundlegende Kapitel »Grundzüge einer Wissenschaftstheorie der Theologie« in dem von ihm hg. Band Wissenschaftstheoretische Kritik der Theologie (München 1973), 211-332, und bereits 1970, wenn auch noch unschärfer, in »Die Aufgabe der Theorie in der Theologie«, in Erwartung und Erfahrung (München 1972),179207. Vor allem aber beziehe ich mich bei vielen wichtigen Entscheidungen immer wieder auf Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie (Frankfu-rt 1973), vgl. auch die Aufsätze aus dem Umkreis von Wolfhart Pannenberg, Jürgen Werbick, »Theologie als Theorie?« und Falk Wagner, >>Vernünftige Theologie und Theologie der Vernunft«, in KuD 24/1978, 204-228 bzw. 262-284. - Provokativ und vorwurfsvoll ist das anregende Buch des Kierkegaard- und Wittgenstein-Kenners Paul L. Holmer, The Grammar of Faith (New York 1978). Holmer ist Systematiker an der Yale Divinity
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1I. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
Schoo\. - Ingolf U. Dalferth hat in seiner Sammlung Sprachlogik des Glaubens (München 1974) wichtige Texte zur Logik religiöser Sprache übersetzt, z. B. von lan Crombie und John Hick, die zwar Teilaspekte, aber noch keine vollen Entwürfe theologischer Theorie bieten. Vg\. auch Wilfried Joest, Fundamentaltheologie (Stuttgart 1974), bes. §§ 8-10, sowie Hans-Georg Fritzsche, Lehrbuch der Dogmatik, Teil I, Prinzipienlehre (Berlin 1964, 2. Auft. Göttingen 1982), bes. § 2.
A. Die Wirklichkeit der Erwählung (Ekklesiologie)
VORÜBERLEGUNG
Der Satz, Jahwe habe in seiner ureigentlichen Freiheit aus allen Völkern das Volk Israel und in J esus Christus aus Juden und allen Heiden die Kirche erwählt, ist der eigentliche Ursatz biblisch begründeten Bekenntnisses und damit jeder christlichen Theologie. Negativ gewendet besagt er, daß kein christliches Bekenntnis und keine darauf bezogene Theologie aussagen soll, Israel habe J ahwe erfunden oder erwählt und die Kirche habe sich in historischer Zufälligkeit im Anschluß daran und unter dem Einfluß des Lebens und der Lehre von Jesus aus jüdischen und nicht-jüdischen Personen entwickelt. Dieser Satz von der Erwählung Israels und der Kirche erlaubt und begründet fundamentale regulative Sätze der Theologie. Sie beziehen sich aber nicht auf die Erwählung als eines Ausdrucks der Superiorität Israels vor andern Völkern oder als eine Bestätigung der Arroganz der Kirche, sich besser zu dünken als andere Gemeinschaften von Menschen. Die Rede von der Erwählung bezeichnet vielmehr die Art der Zuwendung Gottes zu den Menschen, ihre in ihm liegende Begründung und Zielsetzung. Dabei ist in jeder Hinsicht und in jeder Teilüberlegung und in den in ihnen begründeten regulativen Sätzen die Erwählung des Schwachen gegenüber dem Starken, die Parteinahme für die Leidenden und Armen, ja, die direkte Teilnahme Gottes am Leiden selbst, nicht zusätzlicher, sondern zentraler Inhalt: Der kleine David ist erwählt, nicht der Riese Goliath; Jesus ist erwählt, nicht Pilatus
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
oder der Kaiser. Und ebenso ist in jeder Hinsicht und in jedem Teilaspekt des Verständnisses von Erwählung die Einsicht und die Hoffnung zentral, daß die Erwählten in eine Funktion gerufen werden, die zugunsten der Nichterwählten ausgeübt werden soll. Weder Israel noch die Kirche sind um ihrer selbst willen erwählt, obwohl beide dies oft so verstehen wollten. Sie sind zugunsten der Menschheit die ersten Empfänger der leidens bereiten Zuwendung Gottes; und die Menschheit wird ihr Empfänger zugunsten der Tiere und der gesamten belebten und unbelebten Schöpfung. Dies ist in der Perspektive der Gläubigen das Urmaterial für Bekenntnisse und für die Begründung regulativer Sätze in der Theologie. Das Konzept der Erwählung als solches aber, isoliert vom Erwählenden und von der Funktion der Erwählten betrachtet, ist kein sinnvolles, genuines Thema der Theologie. Es kann nicht einfach als eines der loci der Theologie rangieren. Die Theologiegeschichte bietet genügend Beispiele für die Verwirrung, Vernachlässigung, für moralische Fehlinterpretationen oder philosophische Aporien, die durch die Isolierung des Erwählungskonzeptes in der Form der Lehren von der providentia (universalis, specialis, specialissima) und der praedestinatio (simplex oder gemina, post oder ante praevisa merita) entstehen mußten. Ein Erkenntnisgewinn ist durch die Verwendung dieser Lehren in der Theologie nie erreicht worden, vielmehr wurde nur allzu oft der Blick auf die zentrale Verkoppelung von Erwählung und Ekklesiologie getrübt, wenn die Theologen aus philosophischen oder humanitären Gründen die gesamte Erwählungslehre meinten ablehnen oder in Klammem setzen zu müssen. Die Ekklesiologie als das Territorium von Regelsätzen über Israel und die Kirche im Licht der Erwählung ist unter allen möglichen Territorien für Regelsätze der Theologie am ehesten geeignet, am Anfang zu stehen. Zwar wäre die Frage des Anfangs nur dann letztlich wichtig,
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wenn die Summe aller möglichen regulativen Sätze ein geschlossenes System bildete, was nicht der Fall ist. Wenn aber die Theologie der Kommunikation in der Kirche dient, so sprechen nicht letztlich inhaltliche, aber doch praktische Gründe dafür, der Ekklesiologie den Vorrang vor der Reflexion über die Trinität einzuräumen. Die Wahrnehmung Gottes nämlich, die Erfahrung der Erwählung in ihrer Wirklichkeit, also in der Übernahme der Funktion der Erwählten, geschieht eben in der Kirche. Nicht dort, sondern bei einem anderen Feld regulativer Sätze zu beginnen, würde zu einem künstlichen Absehen von dem Feld nötigen, in dem die theologisch Fragenden sich von Anfang an befinden. Dort, in der Kirche, ist der kognitive Ausgangspunkt aller Theologie beheimatet.
1. ISRAEL UND DIE KIRCHE NACH DEN KATASTROPHEN UNSERER ZEIT
Der Satz von der Erwählung Israels durch Jahwe und der Erwählung der Kirche aus Juden und Heiden in Jesus Christus ist der zentralste Satz aller Theologie. Er schließt die von den Juden nie akzeptierte und von den Christen nie praktizierte Einheit und Versöhnung zwischen Juden und Heiden notwendig ein. Die Ironie ist unverkennbar: keine christliche Kirche hat je den Satz von der Erwählung bestritten, auch wenn ihre Theologen keine explizite Erwählungslehre bereitgestellt hatten. Seit bald zweitausend Jahren lehren und feiern Israel sowie die Kirche die Versöhnung und bleiben doch unversöhnt miteinander in einer Welt voller Haß, Krieg und Unversöhnlichkeit. Die unversöhnliche Trennung zwischen
. Konsequenz lIA5 IIIC4u.5
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Explikation IDI Grundlage IID6 Konsequenz III C 5
Explikation IC4 II C 6
lI. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
Juden und Christen ist die offene Wunde, die die Gläubigen und ihre Theologie an sich tragen. Sie verhöhnt die Erwählung und macht die Ausgestaltung einer abgerundeten und schlüssigen Ekklesiologie unmöglich. Sie erweist auch den Irrtum der Voraussage paulinischer Theologie, in Jesus Christus würde die Trennung zwischen Juden und Heiden überwunden, würde aus beiden ein neuer Mensch. Diese Voraussage ist im Licht der zweitausendjährigen Geschichte des Hasses zwischen Juden und Christen auf eine eschatologische Zukunft verschoben. Alle Symbole für das Elend der Welt, in der wir leben: Dresden und Hiroshima, Calcutta und die Sahelzone, Archipel Gulag und Vietnam, Ausbeutung und Atomrüstung, sind in dem Generalsymbol A usch witz aus der Sicht der biblisch orientierten Gläubigen auf entsetzlich konkrete Weise aufgehoben. Der Mord Kains an Abel ist als Mega-Mord zum Zeichen unserer Zeit geworden. Der Vorschlag, das Nachspüren und Nachzeichnen der inneren Logik biblisch begründeter Theologie mit der Ekklesiologie beginnen zu lassen - wenn auch die Frage des »Anfangs« in der Theologie als eines nicht-geschlossenen Systems letztlich nicht entscheidend ist - mag verwunderlich erscheinen. Es ist dazu ein Umdenken in die Richtung auf ein Zurückgehen auf die Gründe für kognitive theologische Aussagen überhaupt nötig. Die über tausendjährige Gewöhnung an die Aufgabe, das Glaubensgut theologisch verantwortlich zu sichten, zu prüfen und zu erklären, hat die Praxis nahegelegt , in der Theologie eher der vermuteten Seins- als der wirklichen Erkenntnis ordnung entsprechend vorzugehen. Das Gefälle verlief demnach von Gott zur Frage nach dem Heil, zur Kirche und zur menschlichen Wirklichkeit hin, wobei wie die Theologiegeschichte zeigt - die zentralen Fragen der Erwählung, der Trinität, der Beziehung zwischen Israel und der Kirche, oft zu Randfragen absinken konnten
A. Die Wirklichkeit der Erwählung
oder undiskutiert vorausgesetzt wurden. Das bewußte Zurückgehen auf die letzten Gründe, weshalb Juden und Christen überhaupt von Gott, von Israel und der Kirche sprechen, kann diese Fehlentwicklung und falsche Gewichtung vermeiden helfen, wenn es auch dazu gewiß keine Garantie bietet. Es gibt gute, wenn auch nicht zwingende Gründe dafür, die Ekklesiologie an den Anfang der Beschreibung der Logik der Theologie zu stellen. Der einfachste Test für die Relevanz der Entscheidung für diese Sequenz ist die Planung eines Lehrkurses über zentrale Fragen der Theologie in einer Ortsgemeinde, einer Schule oder in der Theologenausbildung. Gerade hier spricht viel dafür, mit der empirischen Kirche zu beginnen, ihren Aufgaben und Traditionen, ihren Spannungen und ihrem Versagen. In manchen theologischen Schulen in der Dritten Welt wird auch Kirchengeschichte von der Gegenwart aus rückwärts in die Vergangenheit hinein gelehrt.
Noch erstaunlicher aber mag es erscheinen, an den Anfang der Ekklesiologie die» Wirklichkeit der Erwählung« zu stellen und damit einerseits den steilsten theologischen Satz, der je gedacht wurde, auszusprechen, und andererseits zugleich die Wunde der ungeheilten Beziehung zwischen Juden und Christen wieder aufzureißen. Hierzu ist mehr als ein Umdenken und sinnvolles Abwägen nötig, vielmehr muß man sich auf voller Breite der Scham der Verhöhnung, Bagatellisierung und Usurpierung Gottes stellen, die durch jüdische und christliche Theologien, durch die Verfolgung der Juden durch Christen, durch jüdische Isolation und christlichen Monopolanspruch immer wieder geschichtliche Wirklichkeit geworden ist. Sie ist die einzig ehrliche Selbsteinschätzung unserer gesamten jüdisch-christlichen Geschichte. Wenn auch der Kläger letztlich Gott ist, so ist die Ablehnung und der Spott der Ungläubigen gegenüber jüdischem Leben nach der Tora und christlicher Glaubensüberzeu-
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gung und Theologie in unserer Zeit Anlaß genug, die Theologie nach Auschwitz nicht mehr unter Ausklammerung dieser fundamentalen Verwundung zu betreiben. Wenn schon die Frage nach einem liebenden Gott angesichts eines einzigen unter dem Haß von Menschen leidenden Mitmenschen Anlaß genug ist, nach den ersten und zentralsten Sätzen über Gottes Beziehuri'g zu den Menschen zu fragen, wieviel mehr noch das totale Scheitern der Glaubensbeziehung und Liebe zwischen den einzigen Menschen, die überhaupt von einem liebenden, leidensbereiten und zugleich gerechten Gott sprechen: den Juden und den Christen, Israel und der Kirche. »Wir erkennen heute, daß viele Jahrhunderte der Blindheit unsere Augen verhüllt haben, so daß wir die Schönheit Deines auserwählten Volkes nicht mehr sehen und in seinem Gesicht nicht mehr die Züge unseres erstgeborenen Bruders wiedererkennen. Und wir begreifen, daß wir ein Kainsmal auf unserer Stirn tragen. Im Laufe der Jahrhunderte hat unser Bruder Abel in dem Blute gelegen, das wir vergossen - und er hat Tränen geweint, die wir verursacht haben, weil wir Deine Liebe vergaßen. Vergib uns den Fluch, den wir zu Unrecht an den Namen der Juden hefteten. Vergib uns, daß wir Dich in ihrem Fleische zum zweitenmal ans Kreuz schlugen! Wir wußten nicht, was wir taten ... « (Johannes XXIII. zugeschrieben)
Im Licht der nie geschlossenen Versöhnung zwischen den legitimen Botschaftern der Versöhnung, den Juden und den Christen, muß aller Haß und alle von Menschen verursachte Vernichtung als ein großes Ausbleiben des Erweises der liebenden Zuwendung Gottes zu den Menschen, die in der Erwählung seiner Vorboten begann, gesehen werden. Auch die Gläubigen sehen das Ausbleiben und wissen von ihrer Funktion als Vorboten; sie geben die messianische Hoffnung nicht auf. Aber die überwiegende Mehrheit der Menschen nimmt das Ausbleiben des gottgewollten Friedens als Erweis der Ungültigkeit der Rede von Gottes menschenfreundlicher Erwählung
A. Die Wirklichkeit der Erwählung
und schafft sich ihre eigenen Hoffnungen. Entsetzliche Katastrophen - in ihrer Mitte die Vernichtung von Millionen von Juden - bestärken sie in ihrer These, letztlich sei die Welt sinnlos und gottverlassen, jüdisches und christliches Reden von Gott sei nichts anderes als historisch bedingter Ausdruck religiösen Bedürfnisses, das man aus Gründen der Religionsfreiheit respektieren müsse oder um der Stärkung der Moral willen begrüßen könne. Das ist die Situation, in der wir Theologie treiben. Die paulinischen und deuteropaulinischen Stellen im Neuen Testament, die von der Einheit von Jude und Grieche (Sklave und Freiem, Mann und Frau) in Christus, vom Frieden zwischen Juden und Heiden, vom Abbrechen der Trennwand, vom Zusammenwachsen der zwei in einen neuen Menschen sprechen, können nach 1900 Jahren des Hasses und der Trennung nur als fernes eschatologisches Zukunftsbild verstanden werden, gewiß entgegen ihrer ursprünglichen Intention. Wir sollten unserer theologischen Arbeit zu jeder Zeit so nachgehen, als blickte uns ein Jude über die Schulter. In manchen ökumenischen Gremien, zu denen ich in Amerika gehörte, waren regelmäßig Rabbiner anwesend. Das in Pittsburgh gegründete und nun in Philadelphia erscheinende »Journal of Ecumenical Studies« hat über die Jahre hin in vielen Nummern ausführlich über jüdischchristliche Dialoge berichtet und konstruktiv dazu beigetragen (in unvollständiger Aufzählung nenne ich die Nummern: 211965, 2 u. 3/1968,1/1969,211972,3/1973,411975,4/1976,3/1977,2 u. 311978, 21 1979). Ich habe nicht feststellen können, ob diese gründlichen Arbeiten in Europa je beachtet worden sind. Vgl. aber die Themenhefte der EvTh 6/1977,3/1980 und 211982, die sich z. T. auf die Diskussion um den Synodalbeschluß der Evang. Kirche im Rheinland vom 12.1.1978 und die Reaktionen der Bonner und der Heidelberger theologischen Fakultäten beziehen. Wichtig ist auch die Vortragsreihe Heidelberger Dozenten: Rolf Rendtorff u. Ekkehard Stegemann, Auschwitz - Krise der christlichen Theologie (München 1980). Ich nenne hier nur diese schmale Auswahl amerikanischer und deutscher theologischer Publikationen, um dem Leser dieses Kapitels einen Hinweis auf Arbeiten zu geben, die reiches bi-
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Il. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit bliographisches Material enthalten. - Auf das Buch von Paul v"dn Buren, meinem Freund und theologischen Gesprächspartner seit 25 Jahren, verweise ich in II B 6, ebenso auf das Buch von Peter v. d. Osten-Sacken.
Der steile Satz von der Erwählung Israels und der Kirche ist - trotz seiner häufigen Mißinterpretationen im alten und neuen Israel, in der christlichen Kirche und im Volksmund - der stärkste unter allen denkbaren Widersprüchen gegen die These von der Sinnlosigkeit der Welt und der Gottlosigkeit der Menschheit. Er verneint die Eigenmächtigkeit und Selbstbezogenheit der Kirche und er bejaht das Wagnis der messianischen Hoffnung, das Juden und Christen verbindet. Der Satz von der Erwählung nimmt unter allen regulativen Sätzen der Theologie eine fundamentale Stellung ein: er verhindert eine Fülle möglicher Aussagen und verlockender Erklärungen über Sinn und Unsinn der Geschichte, Gutes und Böses, Heiliges und Profanes, Kirche und Welt; er fordert zentrale Aussagen über die Funktion der Kirche und ermöglicht einen Fächer von regulativen Sätzen über die Kirche und den Sinn des Lebens. Seine Verbote sind logisch zwingend, seine Forderung nach dem vikariatsmäßigen Selbstverständnis der Kirche deckt sich mit seinem Inhalt, aber die durch ihn gebotenen Möglichkeiten lassen sich nicht zwingend durch Deduktionen herstellen. Er verhindert z. B. keine konfessionellen Differenzen im Verständnis von Kirche. Er ist insofern nicht der Schlüssel zu einem theologisch einheitlichen System. Die verschiedenen jüdischen Lehrmeinungen und die drei großen christlichen Konfessionen, die Orthodoxie, der römische Katholizismus und die reformatorischen Kirchen, haben ohne Ausnahme in ihren Lehrtraditionen dem Satz von der Erwählung - wenn auch nur indirekt und ungenutzt - eine zentrale Stellung eingeräumt, ohne dadurch ihre beträchtlichen Differenzen zu verringern.
A. Die Wirklichkeit der Erwählung Der tschechische Philosoph Milan Machovec sagte mir schon Jahre vor seinem intensiveren Kontakt mit christlichen Theologen (und freilich lange bevor er seine Lehrtätigkeit in Prag aufgeben mußte), nach seiner Ansicht sei der aufregendste Gedanke und das eigentliche Herzstück der Theologie die Lehre von der Erwählung Israels. Er sähe sie im Werk Karl Barths am klarsten vermittelt (vgl. seine Schrift über die dialektische Theologie in tschechischer Sprache - mit deutscher Zusammenfassung - Prag 1962). Ich habe über dieses Urteil noch oft nachgedacht, gerade in den Jahren meiner kritischen Auseinandersetzung mit Karl Barths Theologie, und ich glaube, daß Milan Machovec völlig richtig gesehen hat. - (Vgl. auch Hans Urs v. Balthasar, Karl Barth, Köln 1951,4. Auf). 1976, 137).
Theologische Arbeit, sowie auch Gottesdienst und Gebet, müssen die furchtbare Spannung zwischen dem Satz von der Erwählung und der Wirklichkeit von Haß, Krieg, Hunger und Bedrückung von Menschen durch Menschen aushalten, als deren zentrale Manifestation die Trennung von Juden und Christen erscheint. In dieser Spannung geht es ums Ganze, in ihr müssen konfessionelle Differenzen und Unterschiede persönlicher Lehrmeinungen verblassen. Der Satz von der Erwählung ist am Grund des Glaubens und am Rand der Sprache. Er ist durch keine Deduktion beweisbar und ist im Leben und Denken der Gläubigen, in Gottesdienst und Theologie, nur in ständiger Auseinandersetzung mit der gesamten Vernetzung der zentralen Aussagen der Bibel und ihrer Aufnahme in der Tradition begründbar . Friedrich Schleiermacher, GL §§ 117-120. Karl Barth, KD 11/2, §§ 32-35.
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2. DIE KLASSISCH WESTLICHEN NOTAE ECCLESIAE
Grundlage IH2 IF6
Grundlage IB3
Explikation ID8
Will man über Kirche reden, so ist dazu ein Begriff von Kirche notwendig. Und wird mit dem Begriff von Kirche die soziologisch beschreibbare Gegebenheit von Kirche derart in Deckung gebracht, daß eine Erklärung ihrer Konstitution und Funktion sowie anderer wesentlicher Aussagen über sie angestrebt wird, so ist dazu eine theologische Theorie notwendig. Sowohl Begriffe als auch Theorien von Kirche sind in der klassischen westlichen Theologie in mehreren Varianten bereitgestellt worden. Sie basieren und kulminieren in der altkirchlichen Bezeichnung der Kirche als »una, sancta, catholica und apostolica«; sie differenzieren sich auf katholischer Seite durch die Definition der Kirche als hierarchisch geordnete Stiftung durch Jesus Christus und auf reformatorischer Seite durch ihre Konstitution als creatura verbi. Mit diesen (Summierungen von) Theorien ist aber noch nicht hinreichend die Funktion der Kirche erklärt und ist auch noch nicht über die Differenzen zwischen den verschiedenen möglichen Sichtweisen der faktischen Gegebenheit von Kirche entschieden. Die altkirchlichen notae betreffen das Wesen der Kirche, die klassisch-katholischen Definitionen die Historizität (wobei es historisch zweifelhaft ist, ob die Kirche wirklich eine Stiftung Jesu ist), die klassisch reformatorische Definition betrifft die Konstitution der Kirche. Diese Begriffe, mit denen Theorien von Kirche ermöglicht werden können, bieten keinen Ansatz für eine einheitliche Theoriebildung über die Funktion der Kirche und über ihre Stellung in der Gesellschaft. Eine solche Theorie ist aber dringend nötig, zumindest in unserer Zeit.
A. Die Wirklichkeit der Erwählung
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Man wundert sich, weshalb ihre Notwendigkeit nicht schon früher empfunden worden ist. Bis vor wenigen Jahrzehnten gab es keine ausgeprägte römisch-katholische Theorie der Kirche in bezug auf diese Dimension ihrer Existenz. Auch die reformatorischen Bekenntnisschriften und die darauf folgenden Ausformungen systematischer Theologie karnen nahezu ohne Ekklesiologie aus, wenigstens im Hinblick auf die Frage der Funktion der Kirche und ihrer Stellung im Ganzen der Gesellschaft. Hans Küng, Die Kirche (FreiburglBasel/Wien 1967); Claude WeIch, The Reality of the Church (New York 1958); Trutz Rendtorff, Kirche und Theologie, Die systematische Funktion des Kirchenbegriffs in der neueren Theologie (Gütersloh 1966). Vgl. auch Johannes Dantine, Die Kirche vor der Frage nach ihrer Wahrheit (Göttingen 1980).
3. FÜNF NOTWENDIGE FUNKTIONALE MERKMALE DER KIRCHE
Begründet im Zusammenhang der fundamentalsten biblischen Aussagen über Jahwe und Israel, Gott und Jesus, Jesus Christus und die Gläubigen, ergibt sich als Ergebnis der Testfrage nach dem »bleibend Wichtigen« einer hypothetischen Zukunftssituation der Kirche in späteren Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden, daß die Kirche aufhört Kirche zu sein, wenn sie in allen ihren Teilen und permanent folgende fünf Funktionen nicht mehr ausübt: 1. Die Anbetung, 2. Das Wiedererzählen der Story von Abraham bis Jesus und bis zur Gegenwart, 3. Das persönliche Einstehen für diese Story, 4. Das vikariatsmäßige Eintreten für andere Menschen, und 5. Die Freiheit, allein die Kirche als matrix ethischer Kriterienfindung zu sehen.
Grundlage 11 A 1 IIC IF4
Explikation IIIE IB2 IIID IIIB
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
Die Kennzeichnung der Funktion der Kirche als einer Institution, die der wahren Menschwerdung des Menschen dient oder der Bewältigung von Grenzsituationen oder der Integration des Möglichen in der Vielzahl von Möglichkeiten - um drei Beispiele aus moderner Religionssoziologie zu nennen - ist zu schmal, um die Funktion der Kirche als Manifestation der Gegenwart Gottes in der Gesellschaft zu umfassen. Eine pragmatische Sammlung von notwendigen Charakteristika führt weiter: Sie ist im alttestamentlichen Erwählungskonzept begründet und in den neutestamentlichen Büchern entfaltet. Sie ist in dem Sinn pragmatisch, als sie in ihrer Fünfgliedrigkeit für den hypothetischen Dialog mit heutigen, autonomen Kirchen entwickelt wurde, die dem Ökumenischen Rat der Kirchen beitreten möchten. Wenn eine neugegründete kirchliche Gemeinschaft von sich sagen muß, daß sie niemals eine der fünf Funktionen ausgeübt hat oder ausüben möchte, so kann mit Fug und Recht bezweifelt werden, ob es sich wirklich um eine Kirche, d. h. um einen Teil der in den klassischen notae beschriebenen Kirche handelt. Freilich wird man beachten müssen, daß manche neue und auch alte kirchliche Gemeinschaften und Denominationen diese fünf Funktionen nicht in gleicher Weise und in der gleichen Intensität erfüllen. Die Gründe dafür können in der Trägheit der Gläubigen, aber auch in der gesellschaftlichen Situation liegen, in der eine kirchliche Gemeinschaft existiert. Kurze Explikation der fünf funktionalen Merkmale: 1. Anbetung soll im weitesten Sinn verstanden sein als Anrede an Gott. Eine Gruppe von Gläubigen, in der diese Anrede niemals (gemeinsam oder einzeln) geschieht, gehört nicht zur Kirche. 2. Das Wiedererzählen der Story kann auch am leichtesten negativ bestimmt werden: sollte heute - oder auch in ferner Zukunft - eine Gruppe von Gläubigen bestehen, die vergessen hatten, wer Abraham und Moses waren, Paulus und Petrus, oder gar Jesus, so ist es nicht sinnvoll, sie als Teil der Kirche zu bezeichnen. Freilich ist eine quantitative Bestimmung des Wissens - der nötigen »notitia« - na-
A. Die Wirklichkeit der Erwählung hei:u unmöglich. Schwierig und in bezug auf die heutigen Kirchen der Dritten Welt umstritten ist auch die Benennung von entscheidenden Stationen in der Story von der neutestamentlichen Urgemeinde bis heute, zumal es sich dabei weitgehend um Geschichte im europäischen Raum handelt. 3. Das Einstehen für die Story geht über das bloße Wissen und Rezitieren hinaus, es bedeutet eine Bekanntgabe - ein Bekenntnis der eigenen Identifikation mit dieser Story, genauer: des Bekenntnisses, in dieser Story die eigene Identität zu haben. Der äußerste Grenzfall dieses dritten Merkmals der Kirche ist das Martyrium. 4. Das vikariatsmäßige Eintreten für andere: sind Anbetung, Erzählung der Story und persönliches Eintreten dafür nur Handlungen zugunsten und im Interesse der Gläubigen, so können sie nicht als Teil der Kirche verstanden werden. Alles Denken und Tun der Gläubigen muß sich daran messen lassen, ob es wirklich oder potentiell für andere - für Nichtgläubige - geschieht oder geschehen kann. 5. Die Freiheit, die Kriterien für ethisches Handeln immer so zu suchen und zu sehen, daß die Handelnden sich als Glieder der Kirche verstehen, unterscheidet die Mitgliedschaft der Gläubigen in der Kirche von der Zugehörigkeit zu einem Verein oder Club, die nur zu Zeiten und bei gewissen Anlässen ein bestimmtes Verhalten fordert. Diese fünf funktionalen Merkmale der Kirche könnte man als Folgerungen aus fünf impliziten Axiomen/regulativen Sätzen aus der Ekklesiologie verstehen. Man gewinnt sie aus synoptischer Sicht alt- und neutestamentlicher Texte sowie komplexen Einsichten in die Gefahren der Kirche in ihrer Geschichte. Für mich war der Anlaß für ihre Formulierung die Überlegung, was man legitim erfragen darf, wenn eine Gruppe oder neuformierte Kirche (etwa die Kimbangisten in Zaire oder eine Pfingstkirche in Lateinamerika) die Mitgliedschaft im Ökumenischen Rat der Kirchen sucht. Verbale Zustimmung zu altkirchlichen Credos oder zu den vier klassischen notae ecc1esiae kommen in einem solchen Fall nicht ernsthaft in Betracht, es sei denn, man würde auf komplizierten Umwegen fragen, ob diese Texte und Begriffe mutatis mutandis aus der Situation der Gesuchsteller heraus auch für sie als akzeptabel interpretiert werden könnten. Damit ist man aber bereits bei den hier genannten fünf Merkmalen angelangt. Zur ökumenischen und rechtlichen Dimension der notae ecc1esiae vgl. Eckhard Lessing, Kirche - Recht - Ökumene, Studien zur Ekk1esiologie (Bielefeld 1982).
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
4. KONSTITUTION UND INSTITUTION DER KIRCHE
Grundlage
"A 1 " B 1 u. 2 ID3
Explikation
"D 6
Konsequenz III D 2 u. 3
Wenn die Erwählung Israels und der Kirche auf einen Zweck außerhalb ihrer selbst zielt, nämlich auf die Aufrichtung von Gottes Recht und Frieden für die Menschheit, dann ist die Konstitution der Kirche (in den katholischen sowie reformatorischen Varianten) nicht abtrennbar von ihrer Funktion als soziales Teilsystem der Gesellschaft. Beide müssen in Beziehung aufeinander theologisch erklärt werden. Dabei steht sowohl die Frage der Teilhabe des Teilsystems am Ganzen der Gesellschaft als auch der Beziehung zu andern Teilsystemen in der Gesellschaft zur Aufgabe. Die kirchenimmanenten Institutionen (Gemeindeversammlung, Taufe, Eucharistie, Seelsorge, Kirchenleitung) stehen als erste institutionelle Ebene mit der zweiten, der sozialen Konstitution der Kirche als Teilsystem der Gesellschaft, in unterschiedenem aber direktem Zusammenhang. Mit diesen regulativen Sätzen ist noch nichts über die Alternative Mitglieds- oder Landeskirche, Basisgemeinde oder etablierte Servicekirche entschieden. Hier kommt das Problem ins Blickfeld, ob und wie die Kirche als Teilsystem der Gesellschaft zugleich Vorbote einer neuen Gesellschaft - des Reiches Gottes - und auch gesellschaftliche Randgruppe sein kann. Heutige Religionssoziologie diskutiert die Frage, ob die Kirche als ein Teil nicht nur der Gesellschaft, sondern auch der ursprünglich gesamtgesellschaftlichen Funktion der Religion - also auch als Minorität - die Aufgabe einer integrierenden gesamtgesellschaftlichen Religion übernehmen kann. Dies ist dann nicht mehr eine allein soziologische Problematik, wenn theologisch deutlich gemacht
A. Die Wirklichkeit der Erwählung
werden kann, daß eine Theorie der Kirche mit der Gegenwart Gottes in der Kirche so rechnet, daß damit zugleich die Zukunft Gottes und der Menschen ins Auge gefaßt wird. In der Kirche wird letztlich nicht nur über die Gegenwart und Zukunft Gottes gesprochen, sondern sie geschieht dort auch. Die Bestimmung der Institutionen in der Kirche kann nicht allein theologisch deduziert werden, etwa aus dem Satz von der Erwählung oder aus neutestamentlichen Sätzen. Die Ämterlehren der verschiedenen Konfessionen lassen sich nicht direkt theologisch begründen. Zu stark ist die Einwirkung der Gesellschaft auch auf die kirchenimmanenten Institutionen. Bei jeder theologischen Theoriebildung über die Institution der Kirche in Beziehung auf die Gesellschaft muß mitbedacht werden, welche irreversiblen Entwicklungen dadurch eingetreten sind, daß die christliche Kirche nicht bereit gewesen ist, die Diasporaexistenz Israels als die eigentliche Lebensform der Gläubigen zu teilen. Ich beziehe mich hier vor allem auf die jüngste Diskussion um Niklas Luhmanns systemrationale Erklärung von Kirche, zuletzt in Funktion der Religion (Frankfurt 1977). Kritisch zu Luhmann vgl. Herbert Kaefer, Religion und Kirche als soziale Systeme (Diss. Bonn 1975), sowie Trutz Rendtorff, Gesellschaft ohne Religion? (München 1975) und Wolfhart Pannenberg, »Religion in der säkularen Gesellschaft, Niklas Luhmanns Religionssoziologie«, Ev Komm 11, 1978,99-103 sowie Hans G. Ulrich, »Hat Religion eine kirchliche Zukunft« in VuF 1/1978, 54-65. Allgemeiner zur Frage der Institutionalität vgl. Gerhard Sauter, »Kirche als Gestalt des Geistes«, EvTh 4, 1978,358-369. Vgl. auch Leo Dullaart, Kirche und Ekklesiologie, Die Institutionenlehre Amold Gehlens als Frage an den Kirchenbegriff in der gegenwärtigen systematischen Theologie (München/Mainz 1975). Vgl. auch Paul Tillich, SyTh 111, Teil V, 11, sowie lohn Macquarrie, PrChrTh, Kap. XVII, besonders Abschnitt 62., und Gordon Kaufman, SyTheol, Teil IV, Abschnitt 31.
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5. DIE UNEINGELÖSTE REDE VON DER VERSÖHNUNG
Explikation IIB 2 IIC4
Konsequenz IIID2u.3
Die inhaltliche Begründung für den Beitrag der Kirche als eines Teilsystems am Ganzen der Gesellschaft zu den Aufgaben der Gestaltung der Gesellschaft und des individuellen Lebens bezieht sich auf einen der Gesellschaft fremden Inhalt: auf Gottes Ziel in der Erwählung, d. h. auf das Reich Gottes. Der Grund kirchlichen Redens und Tuns kann mit den Gründen und Zielen, die die Gesellschaft in ihren verschiedenen Teils)'stemen sowie als Ganzes kennt, nur mittelbar verbunden werden. Hier liegen die Wurzeln für die Mißverständnisse, enttäuschten Erwartungen und Kritiken, denen sich die Kirche aussetzt, aber auch für die innerkirchlichen Differenzen über die Art der Wahrnehmung ihrer öffentlichen Verantwortung. Wie immer kirchliche Gruppen und einzelne Sprecher auch ihren Beitrag zur politischen Gestaltung und sozialen Veränderung der Gesellschaft begründen mijgen, sie beziehen sich in jedem Fall auf eine sozial-politisch noch nicht eingelöste Verheißung. Sie reden von einer noch nicht sichtbaren Versöhnung. Nicht nur eilen ihre Worte ihren eigenen Taten voraus, sie reden auch von etwas, das Gott noch nicht getan hilt.
Nicht nur die klassischen notae ecclesiae sowie die römisch-katholischen und reformatorischen Begriffe für eine mögliche Theorie der Kirche, auch die modeme Religionssoziologie läßt die Beachtung der zentralen Bedeutung der eschatologischen Dimension der Kirche vermissen. Es könnte allerdings sein, daß aus der ungelösten Spannung zwischen der eschatologischen Dimension der Kirche und sozial-politischem Engagement auch Erkenntnisgewinne resultieren, etwa gröBere Realitätsnähe der Kirche, vertieftes ProblembewuBtsein in
A. Die Wirklichkeit der Erwählung der Gesellschaft, Neubesinnung auf die messianische Gestalt des biblisch begründeten Glaubens u. ä. Man könnte dies beispielhaft an verschiedenen Situationen aus der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart deutlich machen, etwa an der Bewährung bzw. Kritik der Theorie von H. Richard Niebuhr über Kirche, Denominationen und Gesellschaft in den letzten drei oder vier Jahrzehnten in den USA; in der theologischen Reflexion über die Legitimität der kirchen amtlichen Selbstdefiniton der (prot.) Kirche in Ungarn als einer »Kirche des Dienens«; der Stellung des Vatikans zur kirchlich-politischen Situation in Lateinamerika, vgl. dazu das sehr umfangreiche Schlußdokument der IH. Vollversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Puebla, Die Evangelisierung Lateinamerikas in Gegenwart und Zukunft (dt. Übers. Bonn 1979).
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B. DIEIDENTITÄTDERREDE VON GOTT (TRINITÄTS LEHRE)
VORÜBERLEGUNG
Biblisch begründete Rede von Gott erhält durch den klassischen Theismus keine Stütze, sondern eher den Sog zur Unfreiheit. Der reflektierte Atheismus in der westlichen Philosophie sowie der unbeteiligte Vulgäratheismus der Mehrzahl der Menschen in der Ersten und Zweiten Welt ist eine Folge der christlich philosophischen Betonung der Notwendigkeit theistischer Konzepte. Diese Konzentration auf einen für die Erklärung der Welt und des Lebens notwendigen Theismus war in patristischer Zeit konzipiert, in der mittelalterlichen Scholastik tiefer begründet und in der Neuzeit als Programm thematisiert worden. Aber die Welt und das Leben können auch ohne theistisches Gotteskonzept erklärt werden. Der Atheismus ist eine echte Reduktion des Theismus unter den Bedingungen neuerer Welterkenntnis. In der Spannung zwischen dem Leiden und Bösen in der Welt und dem theistischen Konzept eines allmächtigen, außermenschlichen Gottes entsteht das Dilemma des Dreiecks - ein Trilemma - zwischen dem Elend in der Welt, Gottes Allmacht und Gottes Liebe. Das Übergewicht des philosophisch konzipierten Theismus hat in diesem Trilemma prinzipiell nur zwei Lösungen erlaubt: die Uminterpretation des Elends und des Bösen (»vielleicht doch zu etwas gut«, »vielleicht gut in Gottes Augen«) oder der Liebe Gottes (»Gottes Liebe ist nicht Liebe in unserm Sinn«, »Gott straft aus pädagogischen Gründen«). Die Allmacht des außermenschlichen Got-
B. Die Identität der Rede von Gott
tes aber bleibt unangetastet und ihre Uminterpretation scheidet als Möglichkeit aus. Diese Zwangsjacke des theistischen Gottesmodells, das Postulat eines selbstgenügsamen, souveränen Gottes, der ohne Bezug zu den Menschen denkbar ist, erlaubt letztlich nur die unfreie Unterwerfung unter die Herrschaft eines rätselhaften Gottes oder die Entscheidung zur vermeintlichen Freiheit der Gottlosigkeit. Insofern ist es richtig zu sagen, daß der klassische Theismus keine Freiheit ermöglicht - er verlangt entweder das Opfer der eigenen Menschlichkeit oder des Glaubens an Gott. Das biblische Verständnis von Gott, das in der Trinitätslehre mündet, also von Gott nie unter Absehung seiner Beziehung zu den Menschen, seiner Teilnahme am Leiden Israels und aller Menschen, seiner Übernahme des Todes und seiner Gabe des Geistes sprechen will, geht ganz andere Wege als der klassische Theismus. Trotzdem ist es nicht sinnvoll und modisch überrissen, wenn heute gelegentlich gesagt wird, der christliche Glaube sei nicht »theistisch« sondern »atheistisch«. Die Theologie muß sich auch der sprachphilosophischen Frage stellen, wie sie vom trinitarisch verstandenen Gott sprechen will: ob univok, äquivok oder analogisch, und welche Möglichkeiten zur Kommunikation zwischen den Gläubigen durch analogisches Reden gegeben sind. Denn wenn vom trinitarischen Gott gesprochen wird, so bieten sich immerhin Probleme der Begründung dieser Rede, die mit den Problemen des Redens von Transzendenz gegeben sind. Der simple Hinweis darauf, daß die Gläubigen nicht nach der Möglichkeit des Redens von Gott fragen, sondern von seiner Wirklichkeit ausgehenein an sich völlig richtiger Satz -löst die anstehenden Fragen nicht. Noch weniger hilfreich ist der oberflächliche Satz, Rede von Gott bezöge sich wegen der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus nicht auf Transzendenz. Mit einem billigen Trick lassen sich die größten Fragen
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
des Glaubens nicht eilig lösen. Und die Frage nach Gott, nach dem Geheimnis der Trinität, ist die größte Frage. Friedrich Schleiermacher, GL §§ 79-85, 164-169, 170-172; Albrecht Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion (Bonn, 3. Auf!. 1886), §§ 11-18; KarlBarth, KD 11/1; Paul Tillich, SyTh, Bd. I, Teil 11; Gerhard Ebeling, DChrG Bd. I, §§ 8-10; Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt (Tübingen 1977); Jürgen Moltmann, Trinität und Reich Gottes (München 1980); Walter Kasper, Der Gott Jesu Christi (Mainz 1982); Joachim Track, Sprachkritische Untersuchungen zum christlichen Reden von Gott (Göttingen 1977); Ingolf U. Dalferth, Religiöse Rede von Gott (München 1981); sowie Gordon G. Kaufman, The Theological Imagination, Constructing the Concept of God (Philadelphia 1981). Vgl. auch Hans G. Ulrich, «Erwartungen an das Reden von Gott«, in EvTh 43,1 (Jan./Feb. 1983),36-52.
1. TRINITÄTSLEHRE STA TI »GOTIESLEHRE«
Grundlage leI u. 3 IB2
Explikation IIB 5
Die Perspektive, in der die Gläubigen die Story von Abraham über die Geschichte Israels, zu Jesus und der Geschichte der Kirche sowie ihres eigenen Lebens sehen, führt zum Staunen über die Kontinuität der Identität der Rede von Gott. Sie ist eine Perspektive, die den Geschichtsbildern der Historiker nicht widerspricht, die aber durch religionshistorische Studien nicht gewonnen werden kann. Sie entspringt aus der gegenwärtigen Anbetung Gottes und drängt auf die gedankliche Verklammerung des Wirkens des Geistes in der Kirche mit dem Kommen und Gehen von Jesus und dem Gott Israels und Schöpfer der Welten. Diese Verklammerung ist die sogenannte Trinitätslehre, die für die Gläubigen die entscheidende theologische Hilfe bieten soll, nicht - wie so oft in den westlichen Kirchen -
B. Die Identität der Rede von Gott
ein Hindernis und eine zusätzliche Schwierigkeit. Sie ist als Konsequenz der Anbetung nicht notwendig an die klassischen »heilsgeschichtlichen« Konzepte gebunden. Ihre erste Form ist jedoch die »historische« oder »ökonomische« Trinitätslehre (nach der göttlichen Ökonomie der Zeitepochen genannt). Sie wird durch den Rückschluß auf die Einheit und Einzigkeit Gottes in den drei Manifestationen (Hypostasen) Geist (in der Kirche), Gottes Gegenwart im Menschen Jesus, Gottes Wirken in Israel gewonnen. Obwohl durch Anbetung ausgelöst, ist die Artikulation dieser Perspektive deskriptiver Art, sie ist eine Lehre, eine erklärungs kräftige Anschauung, eine Theorie. Ihre Überhöhung durch den Umkehrschluß, daß Gott »ad extra« nicht ein anderer als »ad intra« sein könne, ergibt die sogenannte »immanente Trinitätslehre«: sie ist das Wagnis, von Gottes innerem Wesen zu sprechen. Dies aber ist doxologische, askriptive Rede - gleichsam Gott als Geschenk im Gottesdienst dargebrachte, offen-endende Gedanken. Deduktionen von den doxologischen Sätzen der »immanenten Trinitätslehre« in der Gestalt der Ableitung deskriptiver von askriptiven Sätzen stiften Verwirrung und haben in den Kirchen - besonders des Westensoft zu einer tiefen Skepsis gegenüber der Trinitätslehre überhaupt geführt und eine Hinwendung zum un-trinitarisehen, philosophischen Theismus begünstigt. Es spricht vieles dafür, die blassen Begriffe »Person« oder »Seinsweisen« im Hinblick auf die Trinität wenig oder gar nicht zu verwenden. Auch die Titel »Vater« und »Sohn« sind aufs schwerste belastet und verlangen für verantwortliche Verwendung eine derart komplexe Interpretation, wie sie nur in Ausnahmesituationen geleistet werden kann. (Wer diese Ansicht für übertrieben hält, sollte in seiner Ortsgemeinde fragen, was die Gläubigen unter »Person« in der Trinität oder unter »Sohn Gottes« verstehen, auch die röm.-katholische Diskussion
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Grundlage IFI
Explikation III E 1 u. 4 u. 5
Konsequenz IIIF4 IG4
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1I. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
um Hans Küngs Vorsicht im Umgang mit dem Terminus »Sohn« noch einmal analysieren, um die Verwirrung zu ermessen, die hier ohne Zweifel besteht). Optimal wäre eine Sprachregelung in der Kirche, die auf jede Fixierung der lebendigen Aktivität Gottes durch kurze Termini oder Formeln verzichtet. Mindestens sollten Serien von auswechselbaren und sich gegenseitig durchdringenden und ergänzenden Substantiven verwendet werden, um anzuzeigen, daß der trinitarisch angebetete Gott als Erwähler, als Mitl~idender und als Heilender (oder als Rufender, als Sterbender und als Geist; oder als Schöpfer, als die alte Schöpfung Beendender und die neue Schöpfung Beginnender) begriffen und gefeiert werden kann. Diese die Story noch widerspiegelnde Sprachweise würde auch den theologischen Dialog mit den Juden erheblich konkretisieren und erleichtern. Für die Gläubigen Israels und der apostolischen Kirche ist die Story Israels bzw. Israels und der neutestamentlichen und späteren Gemeinde das Territorium, in dem die Aussagen über Gott verwurzelt und vernetzt sind. Diese Story ist für die Gläubigen, was für Philosophen das Fragefeld ihrer Gottesbeweise ist. H. G. Hubbeling hat in seiner Einführung in die Religionsphilosophie (Göttingen 1981), S. 77-104 in erfrischender Offenheit dargelegt, daß auch den Gläubigen ein »Gottesbeweis« nicht gleichgültig sein muß. Kants Widerlegungen der Gottesbeweise sind ja in der Tat heute umstritten und neu diskutiert. Eindeutig ist nur, auch für Hubbeling, daß man mit möglichen Gottesbeweisen, d. h. mit Demonstrationen der Plausibilität einer Annahme, daß ein Gott sei, recht wenig gewinnt. Das, worauf es uns "ankommt, was unser »einiger Trost im Leben und im Sterben« (Heidelb" Kat. Fr. 1) ist, wird dadurch nicht abgedeckt.
Der tröstende und heilende Gott, der Befreiung und eine neue Schöpfung schafft, ist in Israel, im Kommen von Jesus und in der Sendung des Geistes zu finden, wovon die Trinitätslehre handelt. Sie wurde, für die Alte
B. Die Identität der Rede von Gott
Kirche abschließend, 381 in Konstantinopel formuliert und hat ihren Niederschlag im Nicaeno-Constantinopolitanischen Credo gefunden. Die Begrifflichkeit der alten Welt vorausgesetzt, ist diese Ausprägung der Trinitätslehre ein hervorragendes Beispiel für ökumenischen Konsens über die Wahrheit. Die Diskussion über die Entstehung dieses Credos habe ich versucht darzustellen und mit einer theologischen Reflexion über ihren Wahrheitsgehalt verbunden in »Warum wir Konzilien feiernKonstantinopel 381« in ThZ (Basel), 38, 1982, 213-225. Einige Hintergründe der griechischen und lateinischen Trinitätslehre habe ich erklärt in »Zur Geschichte der Kontroverse um das Filioque und ihrer theologischen Implikationen«, in Lukas Vischer (Hg.), Geist Gottes - Geist Christi (Frankfurt 1981, = Beiheift Nr. 39 zur ÖR), 25-42. Mindestens zur skizzenhaften historischen Stützung der hier vorgebrachten Thesen zitiere ich meinen Beitrag»Trinität« in Ökumene Lexikon (Frankfurt 1983). 1. Funktion der Trinitätslehre: Die Trinitätslehre ist nicht ein Spezialgebiet der ehr. Gotteslehre, sondern sie ist deren gesamter Erkenntnisrahmen und Inhalt. Das ist darum der Fall, weil ehr. Nachdenken über Gott von allem Anfang an den Gott Israels, das Kommen, Leiden und Sterben Jesu sowie das Wirken des HI. Geistes zum Thema hatte. Nicht nur triadische Formeln im NT, auch die ganze Reflexion über den Zusammenhang zwischen Jesus und dem Vater, Gott und dem Geist, Jesus und dem Geist, bezeugen dies. Zögernd im 2. und deutlicher erst im 3. Jahrh. wurden diese sozusagen innerbiblischen Gedanken mit den philosophischen und allgemein-religiösen Gottesbegriffen, die damals herrschten oder nachwirkten, konfrontiert. Dadurch kam es, teils in abwehrender, teils in positiv-konstruktiver Grundhaltung zur eigentlichen Entfaltung der Trinitätslehre, die 381 in Konstantinopel ihre definitive Gestalt fand. Die Konstrukteure dieser letztlich sehr komplizierten Lehre, vor allem Athanasius, später Basilius, Gregor v. Nazianz und Gregor v. Nyssa, wollten mit ihr gegenüber dem bibI. Zeugnis nichts Neues hinzufügen. Vielmehr suchten sie nach einer Klärung des bei den Gläubigen tatsächlich wirkenden und im Gottesdienst doxologisch artikulierten Glaubens. Die Trinitätslehre sollte Hilfe, nicht Hindernis für den Glauben sein. Die Legitimität der Anbetung erwies sich immer wieder als Testfrage, ähnlich wie in der Christolo-
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Il. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit gie die Frage nach der Wirklichkeit der die Menschen erlösenden menschlichen Natur von Jesus Christus. Beide Fragekomplexe waren - und bleiben bis heute - kompliziert ineinander verwoben. Jedoch bleibt die einfache Grundthese, bei der Trinitätslehre ginge es um die Legitimation der Anbetung, sicher richtig. Es geht um die Partizipation am Vater durch den Sohn im Geist. 2. Veränderte Rezeption der Trinitätslehre durch spätere Theologen: Spätere Theologen (und von ihnen geprägte oder sie leitende Äußerungen der Frömmigkeit) haben die Trinität nicht immer so gesehen. Sie konnte Ausgangspunkt für scholastische Spekulationen werden oder gar als akademische Spezialfrage ganz in den Hintergrund treten. Das erklärt sich einmal aus der relativ unzulänglichen Widerlegung immer wiederkehrender trinitarischer »Irrlehren« in der Zeit der Alten Kirche, zum andern aus der unterschiedlichen philosophischen und damit auch theologischen Denkweise in Ost und West, und letztlich - bes. im Hinblick auf den Protestantismus des 19. Jahrh. - aus dem Unverständnis gegenüber dem Zusammenhang von Doxologie und Theologie. Dies gilt es im folgenden (Abschn. 3, 4 und 5) zu skizzieren, denn hier liegen auch die Wurzeln konfessioneller Unterschiede und zugleich das Material für zukünftige ökumenische Arbeit. 3. Auseinandersetzungen um Trinitätsbegriff in der Alten Kirche: So wie die kirchI. Christologie mehrere Generationen hindurch den schmalen Pfad zwischen den verlockenden, aber falschen Konzepten, Jesus sei ein göttlicher Scheinmensch (Doketismus) oder ein menschlicher Halbgott (Adoptianismus) suchen mußte, so stand auch die Trinitätslehre unter dem Druck, die bereits von respektablen Bischöfen vertretenen Extreme zu vermeiden: a. Gott sei nur den Erscheinungsweisen (modi) nach dreieinig, (Modalismus, Sabellianismus), oder b. er sei überhaupt nicht dreieinig sondern (monotheistisch) als Monarch zu denken (Monarchianismus), der seinen Geist (oder den Logos) in Jesus von Nazareth wirken ließ, oder c. der ewige Sohn (Logos) sei dem Vater untergeordnet (Subordinatianismus), oder d. der ewige Sohn, nicht aber der Geist sei dem Vater wesensgleich (Pneumatomachen), oder gar e. in der Trinität wirkten drei verschiedene Subjekte (Tritheismus). In den langwierigen Auseinandersetzungen waren die christologischen Fragen im Gewand soteriologischer Anliegen jeweils präsent, denn bei aller Schwankungsbreite der Theologie war den Vätern immer bewußt, daß ein Trinitätsbegriff oder eine Definition der Naturen Christi unter Absehung der Frage nach dem Heil wertlos wäre. Erschwerend war auch, daß die trinitarische Diskussion bis zum alternden Athanasius hin im Grunde als »binitarisches« Thema behandelt
B. Die Identität der Rede von Gott wurde, denn erst von ihm - und letztlich erst 381 in Konstantinopel - wurde der Hl. Geist als dem Vater wesensgleich (homoousios) verstanden. Dazu kamen terminologische Unklarheiten (bis zu Basilius' Zeit) und - im Hinblick auf den Westen - die Sinnverschiebungen durch die Übersetzungen zentraler Begriffe ins Lateinische. So waren u. a. die antimodalistischen und anti-monarchianisehen theologischen Argumente nicht griffig genug gewesen, um solche Tendenzen ein für allemal abzuwehren. Immerhin hatte man mit den Lehren von den »Appropriationen« (Vater, Sohn und Geist haben je unverwechselbare Charakteristika, propria) und von der »Perichoresis« (keine der drei Personen ist oder wirkt isoliert von den anderen) ein wenigstens zur Abgrenzung von krassen Irrtümern nützliches Instrument geschaffen. Aber auch nach dem Konzil von Konstantinopel (eine Ousia in drei Hypostasen mit je eigenem Prosopon) blieben stark differierende Interpretationen möglich. 4. Differenzen zwischen Ost und West: Die Differenzen - bes. zwischen Ost und West - erklären sich teils aus umgekehrter Fragerichtung, teils aus den unterschiedlichen philosophischen Hilfsappparaturen. Im Osten tendierte man dazu, von der Dreiheit Vater (Schöpfer), Sohn und Geist auszugehen und nach der Einheit Gottes zu fragen, im Westen dagegen setzte man eher die Einheit voraus und fragte nach dem Sinn der Auffächerung in drei Personen. Im Osten verwahrten sich die Kappadokier erfolgreich gegen den Vorwurf des Tritheismus, aber im Westen mißlang Augustin und den späteren Vätern letztlich die Abwehr der Gefahren der typisch modalistischen Fragerichtung. Bis hin zu K. Barths »Seinsweisen« Gottes, der dreimal anders derselbe ist, steht die westliche Theologie heimlich (Barth, Rahner, Tillich) oder offen (Schleiermacher) in der Tradition des Modalismus. Das ist eine Folge von Augustins Verwendung des Relationen-Begriffs in der Trinitätslehre, die sich dann (z. B. in der Kunst und in Symbolen) wie ein gleichschenkliges Dreieck vorstellen läßt. Diese Symmetrie erlaubte, ja verlangte die Lehre vom ewigen Ausgang (processio) des Geistes vom Vater sowie vom Sohn (filioque), was man in der Ostkirche als gefährliche Lehre von zwei göttlichen Ursprüngen verstehen mußte und - auch abgesehen von der unkanonischen westlichen Zufügung des »Filioque« in das Credo von 381- radikal ablehnt. Die Ostkirche sieht mit dieser Hineinnahme der heilsökonomischen Reihenfolge (Jesus verheißt die Sendung des Geistes) in die immanente Trinität ihre Lehre von der unbedingten Einzigkeit des Vaters als Ursprung, Quelle und Wurzel (aitia, pege, riza) zerstört. Zudem kritisiert sie die westliche Kühnheit, ohne eine Lehre von den »Energien« direk-
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit ten Zugang zum göttlichen Wesen (Ousia) zu beanspruchen. (Die Altkath. Kirche hat das Filioque aus dem Nic.-Constant.-Credo gestrichen, die Lambeth-Conference 1978 die Streichung empfohlen, ähnlich die Church of Scotland; Papst Joh. Paul 11 ließ es 1981 bei den Jubiläumsfeiern für 381 aus). 5. Ökonomische und immananete Trinität: In der Tat liegen die Probleme weitgehend in der Zuordnung der »ökonomischen« oder heilsgeschichtl. zur »immanenten« Trinitätslehre. Erstere hat historisch und logisch zweifellos Priorität. Sie ist durch den Rückschluß gewonnen, der sich aus dem Staunen über die Kontinuität der Geschichte Israels, Jesu und der Kirche aufdrängt. Dies war und blieb der Ansatz der östl. Orthodoxie, die damit - entgegen allem Anschein - den geschichtlichen Ansatz auf ihrer Seite hat. Über Gottes inneres Wesen, die »immanente« Trinität, kann man letztlich nur anbetend, doxologisch sprechen. Will man dieses askriptive Sprechen als deskriptive Rede verstehen, so beruht dies auf einer Umkehrung des Rückschlusses, die durch das Axiom geleitet ist, Gott könne ad extra kein anderer sein als ad intra. Die Theologien der westlichen Kirchen oszillieren zwischen dieser Ineinssetzung von ökonomischer und immanenter Trinitätslehre und einer tiefen Skepsis gegenüber dem Begriff der Trinität überhaupt. Der Preis dafür ist hoch, denn in den Gemeinden der Westkirchen zeigen sich Desinteresse und Unverständnis gegenüber der Trinität, während die Theologen sich in den trockenen Atheismus-Debatten der vergangenen anderthalb Jahrhunderte engagieren mußten. Es gilt, ohne unkritische Übernahme der griechischen und byzantinischen Trinitätslehre, auch im Westen neu trinitarisch beten und denken zu lernen.
*** Eberhard Jüngel geht in seinem eingangs erwähnten Buch, Gott als Geheimnis der Welt, erst ganz zum Schluß auf die Trinitätslehre ein (514-543), darin Schleiermachers Plazierung der Trinitätslehre in den §§ 170-72 der GL nicht unähnlich. Im Argument des Buches erkennt man sehr wohl die Bedeutung des Erkenntniswerts trinitarischen Denkens, ich frage mich nur, weshalb es explizit so wenig zum Ausdruck kommt. Auch bei Gerhard Ebeling erscheint mit § 42, dem letzten Paragraphen des dreibändigen Werkes, die Trinität mehr als Abschluß denn als Krönung. Etwas anders steht es bei Walter Kasper, wo im Teil 111 die Trinitätslehre sehr ausführlich dargelegt wird und auch eher als von Anfang an angesteuertes Ziel der Gotteslehre verstanden werden kann. - Die umgekehrte
B. Die Identität der Rede von Gott Schwierigkeit habe ich mit Jürgen Moltmanns Buch zur Trinität. Ich teile seine grundsätzliche Tendenz im Argument (vgl. meine für eine breite Leserschaft bestimmte Besprechung im Dt. Allgm. Sonntagsblatt vom 19.4.1981), mußte aber zu meinem - und auch zu seinem - Kummer in einer genaueren Analyse viel Kritisches sagen, denn im Detailargument führt seine Fassung der Trinitätslehre doch zu einer Überbetonung der Appropriationen der drei »Personen« der Trinität und zudem zu überstarken Kritiken an Kar! Barth (und Karl Rahner), dem er doch selbst so viel verdankt; ich gab meinen kritischen Bemerkungen den provokativen Titel »Die vier Reiche der >drei göttlichen Subjekte<, Bemerkungen zu Jürgen Moltmanns Trinitätslehre«, in EvTh 5/1981, 463-471. Vgl. T. F. Torrance, »Toward an Ecumenical Consensus on the Trinity« in ThZ (Basel) 31, 337-350 über die Konsultation der »Acadernie Internationale des Sciences Religieuses« in St. Niklausen, Obwalden, März 1975, sowie W. Schachten, »Das Verhältnis von >immanenter< und >ökonomischer< Trinität in der neueren Theologie« in Franzisk. Studien 61 (1979), 8-27.
2. GOTT AUF DEM WEG ZUR NEUEN SCHÖPFUNG
Folgte die klassische Theologie in der Darlegung des trinitarischen Glaubens nicht der Erkenntnis-, sondern der vermuteten Seinsordnung, begann sie also mit Gott dem Schöpfer, so hat sie sich damit zugunsten einer Objektivierung Gottes und einer zeitlichen Sequenz in der immanenten Trinität entschieden, die große Probleme nach sich zieht. Die Objektivierung gibt jeder möglichen Schöpfungslehre von vornherein ein Gefälle auf Kosmogonie hin und erlaubt theologische Totalvisionen von Kausalität und ordo des Universums. Die Annahme einer zeitlichen Sequenz in der immanenten Trinität erforderte zwar eine Korrektur, die im arianischen Streit und danach auch geliefert worden ist, ermöglichte aber doch die Festigung des
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Explikation IIB6
Grundlage 11 A und C
Konsequenz III AI
Explikation IIB4
Konsequenz IC4 III E 4
II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
Vulgärglaubens, der Schöpfergott sei der universale Gott der Menschheit, die sogenannte zweite und dritte »Person« der Trinität hingegen seien christliche Speziallehren. Theologische Sätze über Gott als Schöpfer sind abhängig von Sätzen über die Erwählung und deren Zielsetzung, diese wiederum sind in Aussagen über Gottes Mitleiden in Jesus Christus und über seine Gegenwart im Geist besser und direkter ausgedrückt als in einer Schöpfungs lehre, denn sie weisen auf Gottes andauernde Schöpfertätigkeit und die Zielsetzung auf »neue Schöpfung« hin. Die kürzeste mögliche Charakterisierung Gottes als dem, der Leben aus dem Tod, Licht aus der Finsternis und Neues aus Altem hervorruft, verweist - auch in solch analogischer Redeweise - auf die Zukunft Gottes, auf die noch ausstehende Erfüllung. Man spricht sachgemäß über Gott, wenn man sagt, daß er zu seinem Ziel hin unterwegs sei.
Trotz der folgenschweren Entscheidung klassischer Theologie, der vermuteten Seinsordnung entsprechend zunächst objektivierend von Gott dem Schöpfer zu sprechen (nicht nur »remoto Christo« also, sondern auch unter Absehung der Gegenwart Gottes im Geist in der anbetenden Gemeinde) ist von Anfang an die Ausgestaltung einer autonomen Schöpfungslehre im Sinne einer auf die Anfänge des Universums und den Beginn des Lebens gerichteten Erklärung immer schwierig gewesen. Der formale und historische Grund dafür liegt in der spröden Zurückhaltung der biblischen Schriften gegenüber einer Konzentration auf diese Fragen. Der innere Grund aber, der auch heutiger Theologie eine Schöpfungslehre dieser Art nur hypothetisch und nur als Korrektur gegenüber einer einseitig socio-morphen Betrachtungsweise erlaubt, liegt in der Notwendigkeit einer engen Zuordnung von Aussagen über Gott als Schöpfer und Gottes Zukunft. Die kreative Dimension Gottes ist nicht bloß auf die Vergangenheit, viel eher auf die Zu-
B. Die Identität der Rede von Gott
kunft, auf die neue Schöpfung hin artikulierbar. Die Einsicht in diese Verknüpfung von Schöpfung und Zukunft hat wiederum exegetische Gründe. Es ist bemerkenswert, daß in der Theologiegeschichte immer dann autonome, rückwärtsbezogene Schöpfungslehren und Spekulationen über Kausalzusammenhänge verlockend wurden, wenn der exegetische Bezug in den Hintergrund getreten war und einer mehr philosophischen Kosmologie Platz geboten hatte. Die innere Verbindung zwischen Aussagen über die Schöpfung und die Erwählung bzw. die Erlösung stand den griechischen Vätern durchaus vor Augen, wenn auch die Ausformung der Trinitätslehre in ihrer Endgestalt dies nicht mehr deutlich macht. Leider ist die Verknüpfung, die Athanasius noch so deutlich gesehen hat, in späterer Tradition zurückgedrängt worden. Immerhin ist die offizielle Konzilstheologie der Alten Kirche - wenn sie auch weder damals noch heute voll verstanden wurde durch den arianischen Streit bzw. durch die Arbeit der Kappadokier dem Gedanken entgegengetreten, der Schöpfer sei der »eigentliche Gott« und der Logos bzw. der Geist seien inferiore Manifestationen dieses Gottes. Trotzdem ist dies die Tendenz im Denken der Gläubigen geworden. Zu Athanasius vgl. meine Schrift: Athanasius, Versuch einer Interpretation (Zürich 1964; wiederabgedr. in Konzepte I, 21ff), und zum problematischen Einfluß Augustins auf die Gottes-und Schöpfungslehre in weitgehend nicht-trinitarischer Gestalt meine Aufsätze »Die Last des augustinischen Erbes« (1966) in Konzepte I, 102ff und »Some Comments on the Background and Influence of Augustine's lex aeterna Doctrine« (1976) in Konzepte I, 123ff.
Aus Gründen, die man historisch erklären kann, ist die Ausgestaltung einer trinitarischen Schöpfungslehre, die von der Neuschöpfung her verstanden wird, in der klassischen Theologie praktisch nie gelungen. Allerdings kann man dafür nicht nur den Einfluß Augustins und den für
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
den Westen typischen Modalismus verantwortlich machen, zumal auch die Orthodoxie des Ostens, die unter Vermeidung des modalistischen Theismus echte trinitarische Denk- und Frömmigkeitsweisen bewahren konnte, ebenfalls keine hilfreiche Verknüpfung von Trinitätsund Schöpfungslehre zustande gebracht hat. Hier liegen wichtige Aufgaben für zukünftige theologische Theoriebildung. Die Problemlage habe ich im Beitrag »Schöpfung« für das Ökumene-Lexikon (Frankfurt 1983) zu umschreiben versucht. Weil ich keine bessere Summierung und angemessenere Typologisierung entwerfen kann, zitiere ich hier den Text: Die Lehre von der Schöpfung ist über die Jahrhunderte hin in Inhalt, Form und Zuordnung zu anderen theologischen Lehren größeren Schwankungen unterworfen gewesen als jede andere Frage der Theologie. Ihr Thema ist nicht nur durch neue dogmatische und philosophische Strömungen oder durch exegetische Erkenntnisse beeinflußbar, es ist durch seine völlige Abhängikeit vom Wandel des Weltbildes, des Naturbegriffs, des Verständnisses von Zeit, Materie und Kausalität sogar bis zur Unkenntlichkeit auswechselbar. Von den (wenigen) Schöpfungsberichten im AT und den wichtigen Texten über die »neue Schöpfung« im NT führt über die Fülle von dualistischen, monistisch-stoischen, idealistisch-platonischen, naturnah-aristotelischen, waghalsig-spekulativen, spinozistischpantheistischen Konzepten ein verschlungener Weg zu Schleiermacher und Hegel, zu Evolutionstheorien des 19. und des 20. Jahrh., zu A. N. Whiteheads Prozeßphilosophie, zur modernen Astrophysik und Biologie bis hin zur socio-politisch und theologisch reflektierten brennenden Sorge und drängenden Verantwortung um die Zukunft der Erde, die wir bewohnen. Dieser Weg ist kaum beschreibbar, weil er weitgehend mit dem Wandel des gesamten menschlichen Welt- und Selbstverständnisses identisch ist. Von apologetischen Zänkereien mit den Naturwissenschaften des 19. Jahrh. und ihrer aus der Überschätzung ihrer Ergebnisse stammenden Attacken befreit, steht die Theologie heute wie gelähmt vor der Überfülle traditioneller Konzepte und der Herausforderung neuester Naturwissenschaft und Ökologie. Dabei sind die neuen Aufgaben keineswegs nur auf die erhöhte ethische Sensibilisierung und die Bereitschaft zu einem neuen Lebensstil, zur Diakonie allem Le-
B. Die Identität der Rede von Gott bendigen und zur Liebe der »Schwester Erde« gegenüber beschränkt, vielmehr stehen die gesamten theologischen Fragen nach Gott und Welt, Natur- und Menschengeschichte, Zufall und Planung, nach dem Bösen und der Sünde, nach Ursprung und Ziel des Lebens, nach Freiheit zur Hoffnung auf eine erneuerte Gesellschaft und auf einen >>fleuen Himmel und eine neue Erde« erneut zur Disposition. Wegen dieser umfassenden Verzahnung ist eine abgrenzbare Lehre von der Schöpfung heute nur schwer darstellbar, es sei denn sie wäre methodisch als Ausgangspunkt oder Leitfrage konzipiert. Immerhin ist beschreibend folgende Gruppierung klassischer Systeme sowie neuer Ansätze möglich und sinnvoll. 1. Gott und Mensch als Teil des ordo: Die durch antike und mittelalter!. ordo-Konzepte geprägten Schöpfungslehren sahen den Menschen als Teil des ordo der sichtbaren und unsichtbaren Welt. Der Mensch ist kein Beobachter, er ist im Guten sowie im Bösen ein Beteiligter. Auch Gott ist dem Geordneten nicht gegenüber, es ist Teil Gottes und er darum seinerseits Teil, wenn auch als Schöpfer das höchste, ordnende und verursachende. Zum Bösen in der Welt steht Gott in ebenso indirekt-gebrochenem Verhältnis wie es der wahre Gläubige tun sollte. Eine letzte Erklärung des Bösen ist nicht möglich (auch Augustin überhöhte die von ihm akzeptierte neuplatonische Vorstellung von der privatiö boni durch massiv dualistische Gedanken). Das Denkmodell ist »protologisch«: am Anfang stand der Idealzustand (und der Mensch in statu integritatis), dann folgte der Fall, danach die Errettung, die eine restitutio ad integrum ist (vielleicht aber so, daß keine Wiederholung möglich ist; das wäre dann eine theologische Kritik am Mythos von der ewigen Wiederkehr). 2. Gott-Mensch-Natur: Gegen die (augustinische) Engführung der Theologie auf die Beziehung Gott-Mensch (oder Seele) gab es immer wieder ernsthafte Bemühungen, das Dreieck Gott-MenschNatur zu denken. Die Frömmigkeit (mehr als die Theologie) der Ostkirche, Teile franziskanischer Tradition, wohl auch Alb. Schweitzer sowie allerjüngste christ!. Strömungen im Westen sind hier zu nennen. (Vgl. auch d. Weltkonferenz über Glaube, Wissenschaft und die Zukunft, Boston, Juli 1979). Der Mensch ist Mitverantwortlicher von Gottes Schöpferkraft und Liebe. 3. Schöpfung und Erhaltung: In reformatorischer Theologie ist Modell Nr. 1 zu einem deutlicheren Gegenüber von Gott und Schöpfung (Betonung der creatio ex nihilo) modifiziert und inhaltlich durch die Koppelung von Schöpfung und Erhaltung (Luther), Schöpfung und providentia (Calvin) spezialisiert. Gott schafft und erhält die Welt durch sein Wort. Damit ist die Schöpfung als weiter-
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/l. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit gehende Aktivität Gottes verstanden (so schon griech. Kirchenväter). Modell Nr. 2 wirkt in reformatorischer Theologie kaum. 4. Regnum civile und regnum Christi: Die luth. Spezifizierung des creatio-conservatio-Modells geschieht mit der Absicht der Abhebung der Schöpfungsgnade von der Erlösungsgnade; regnum civile und regnum Christi werden unterschieden (im Gegensatz dazu Modelle Nr. 6-8 am stärksten Nr. 7). Diese Grundentscheidung erlaubt mit der Zwei-Reiche-Lehre die Entfaltung verschiedener Konzepte eigenständiger Schöpfungs- (und Erhaltungs-) Ordnungen, die für morderne lutherische Theologie typisch sind. 5. Der Mensch als Beobachtender: Es werden deistische, auch pantheistische Schöpfungstheorien entwickelt, in denen nun, im Gegensatz besonders zu Modell Nr. 1, der Mensch eine Beobachterrolle als denkbar beansprucht, Religion aber nicht selten deren Preisgabe definiert. Wissenschaftliche Welt- und Naturerklärungen heben sich von religiösen ab, können mit ihnen in Konkurrenz treten; aber Theologie als auch Wissenschaft sehen in Schöpfung und Kosmos ein geschlossenes System. 6. Schöpfungslehre als Bundes- und Gnadenlehre: Dieses Modell zeigt die Verlagerung des »geschlossenen Systems« vom Universum auf Gottes gnädigen, freien Bundeswillen, der als innerer Grund der Schöpfung verstanden wird, (K. Barth und andere). Die Entfaltung der Schöpfungslehre ist Bundes- und Gnadenlehre und ist weit entfernt von kosmologischen oder biologischen Fragen. 7. Schöpfung als eschatologisches Modell: in der Radikalisierung von Nr. 6 ist Schöpfung als eschatologisches Modell ein »offenes System« auf Gottes neue Schöpfung hin. Schöpfungs- und Erlösungsgnade werden nicht getrennt (gegen Nr. 4). Die Hoffnung lädt zur herrschaftsfreien Mitmenschlichkeit und zur Gemeinschaft mit der Erde ein. Kontakt mit neue ster Naturwissenschaft wird für die Theologie sinnvoll und dringend, (J. Moltmann, W. Pannenberg, D. Ritschl u. a.). 8. Schöpfungslehre aus dem Dialog mit Naturwissenschaften: Es zeigt sich eine Spezialisierung auf den tatsächlichen Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften (auch Anthropologie und Medizin) mit Ansätzen zu differenzierten Erkenntnis- und Zeitbegriffen (C. F. v. Weizsäcker, G. Picht, A. M. Klaus Müller), Neufassungen der Evolutionstheorien und des Phänomens Leben (G. Altner u. a.), aus denen eine neue Schöpfungslehre im umfassenden (oder mindestens die Theologie steuernden) Sinn erwartet wird, (z. B. J. Hübner, Chr. Link, andersE. Wölfel; auch T. F. Torrance, L. Gilkey). Diese Entwürfe stehen in engem Zusammenhang mit neuerer Wissenschaftstheorie (z. B. I. G. Barbour).
B. Die Identität der Rede von Gott 9. Schöpfung als Prozeß: Zeitlich schon vor Nr. 8 ist aus Whiteheads Philosophie in den USA die' Prozeßtheologie erwachsen (D. D. Williams, J. Cobb u. a.), die erst jetzt im dt. Sprachraum rezipert wird (vgl. M. Welker). Hier wird (weniger spekulativ als bei Teilhard de Chardin) die prozeßhafte Werdung des Universums zum Rahmen und Inhalt der Schöpfungs- und Gotteslehre. 10. Existential-kerygmatische Schöpfungslehre: Den Modellen Nr. 6-9 gegenüber verblaßt heute die auf die Frage nach der Schöpfung der Welt verzichtende existential-kerygmatische Reduktion der Schöpfungsthematik auf die existentielle Situation des Menschen (R. Bultmann, J. Macquarrie). Die neuen Modelle einer Schöpfungslehre sind nicht mehr deutlich konfessionell identifizierbar, jedoch im prot. Bereich häufiger. Aus den Traditionen der 3. Welt, besonders den afrikanischen Kirchen, können neue Anstöße zum Verständnis der Schöpfung erwartetwerden. Lit.: W. Pannenberg, Erwägungen zu einer Theologie der Natur, (Gütersloh 1970). G. Altner, Zwischen Natur und Menschengeschichte (München 1975). J. Moltmann, Zukunft der Schöpfung (München 1977) bes. 123-139. C. F. v. Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen (München 1977). G. Ebeling, Dogmatik d. ehr. Glaubens, I, (Tübingen 1979), Kap. 3. E. Wölfel, Welt als Schöpfung, (München 1981). M. Welker, Universalität Gottes und Relativität der Welt (Neukirehen 1981). Uber diese kurze Literaturliste für den Handbuchartikel hinaus nenne ich noch die Kapitel und Bücher, die für mich bei der Ausarbeitung der These von 11 B 2 wichtig waren: Friedrich Schleiermacher, GL § 40-41; Kar! Barth, KD III, 1; Langdon Gilkey, Maker of Heaven and Earth, The Christian Doctrine of Creation in the Light of Modern Knowledge, (Garden City, N. Y., 1959); John Macquarrie, PrChrTh Kap. X; Gordon Kaufman, SyTh Kap. 1822. - Wenn Kar! Barth auch keine explizite Schöpfungslehre und vor allem keinen echten Dialog mit den Naturwissenschaften entwickelt hat, so ist doch seine Verbindung von Schöpfung und Bund eine einzigartige theologische Leistung, hinter die wir nicht mehr zurückkönnen.
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
3. DIE UNSICHTBARKEIT UND UNBEMERKBARKEIT GOTTES
Grundlage IB IG 104
Grundlage ICI
Konsequenz III C 1 u. 2 Grundlage lOS
Konsequenz III C 3 III E 2
Die Freiheit neuerer Theologie zum Verständnis metaphorischer, analogischer und auch poetischer Sprache, also die Befreiung aus der über Jahrhunderte selbstgewählten Gefangenschaft im Zwang zur Verifikation theologischer Sätze als deskriptiver Sätze über reale Sachverhalte im Sinn denotativen Gebrauchs von Sprache, bedeutet noch keineswegs die Überwindung des Urproblems der Gläubigen aller Jahrtausende, nämlich, daß Gott nicht sichtbar ist. Die dem Neuplatonismus verpflichtete, klassisch westliche Sakramentslehre vom »verbum visibile« ist eine analogische Beschreibung, nicht eine Überwindung des Problems. Ebenso ist der Hinweis auf die »großen Taten Gottes« und auf das Kommen, Wirken, Leiden und den Tod von Jesus einzig von der Perspektive der Gläubigen aus eine Manifestation der Bemerkbarkeit und Gegenwart Gottes. Diese Perspektive ist durch erinnerte Hoffnungen, nicht durch die Analyse der betreffenden Ereignisse als solcher, aufzeigbar und begründbar. Ebenso verhält es sich mit dem Phänomen der credo-haften Bezeugung von Gottes Behütung oder der Erhörung von Gebeten. Für die Phänomene als solche können auch andere als credo-hafte Erklärungen geboten werden. Empirisch geurteilt ist Gott unsichtbar und unbemerkbar. Ohne jeden Zweifel gilt: »Niemand hat Gott jemals gesehen« (Joh 1,18), und dieser Satz wird nur in der Perspektive des Glaubens durch den anderen aufgehoben: »Wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen« (Joh 14,9). Nun gibt es freilich eine Erfahrung, die mit dem üblichen Sehen nicht identisch ist. Sie muß aber insoweit trans-individuell sein, daß sie sich als überprüfbar und
B. Die Identität der Rede von Gott
kommunizierbar darstellt, sonst kann sie nicht in eine Theoriebildung über das Erfahrene eingehen. Obwohl es richtig ist zu sagen, daß das Material für die Entfaltung der Trinitätslehre, also einer umfassenden Gott-Theorie, in der Story der Gläubigen von Abraham bis heute liegt, sind die Bauelemente für die Trinitätslehre nicht einfach dort vorfindbar. Die Perspektive, aus der erst sie gesehen werden können (vgl. I Cl), entsteht nicht durch historische Forschung, sondern durch die Erfahrung der Gegenwart Gottes im Geist unter den Teilhabern eben dieser Story. (Vgl. I G 3 u. 4). Aus der Überfülle von theologischer Literatur zu diesem klassisch theologischen Problem nenne ich in ganz enger Auswahl nur folgendes: Das wichtige Buch von Van A. Harvey, dem systematischen Theologen an der Standford University: The Historian and the Believer (N ew Y ork 1966). Es trägt den programmatischen U ntertitel »The Morality of Historical Knowledge and Christian Belief«. Sodann das Buch von Gordon D. Kaufman: God the Problem (Cambridge, Mass. 1972), das in dieser Frage noch über seine SyTheol (1968) hinausgeht, wie erst recht das am Ende der Vorüberlegung zu II B genannte neueste Buch. Auch im deutschen Sprachbereich ist das Phänomen der Erfahrung, das den einzelnen Elementen der Story jeweils zugrunde lag, wieder aufs neue thematisiert worden, vgl. Christian Link: Die Welt als Gleichnis, Studien zum Problem dernatürlichen Theologie (München 1976), dort besonders den wichtigen Teil B (153-245) über die Erfahrung der Welt und die Trinitätslehre. Hilfreich sind auch die Abschnitte III und IV in Eilert Herms: Theologie - Eine Erfahrungswissenschaft (München 1978), sowie Kap. 3 der Schrift von Gerd Theißen: Argumente für einen kritischen Glauben (München 1978).
Noch stärker als die Schwierigkeit der Verifikation und Kommunikation von Erfahrungen Gottes hat jedoch die Erfahrung der Sinnlosigkeit der Welt zur Rede vom Tod Gottes gedrängt, (vgl. I C 4, I D 4 u. III C 4). Letztlich gibt es nur drei Möglichkeiten, den Ort der Sinngebung zu bestimmen: 1. aller Sinn ruht nur in Gott, 2. die Welt
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Il. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
als Schöpfung ist sinnerfüllt als Abbild von Gottes Sinngebung, und 3. Sinn kann nur in der Welt und nicht in Gott gefunden werden. Am Scheitern der 2. Alternative bricht die Rede vom Tod Gottes auf. Diese Gestalt der Verneinung Gottes ist konsequenter als die These, in Gott läge zwar aller Sinn, er hätte aber die Realität des menschlichen Lebens nicht erreicht. Diese Schwierigkeiten der Varianten des klassischen Theismus können einzig durch ein trinitarisches Verständnis vermieden oder überwunden werden. Nur in ihm kann die allmächtige Liebe Gottes in der Gestalt des leidenden Menschen erzählbar und denkbar werden und kann die theistische Sehnsucht nach dem Erweis einer physikalisch-mechanischen Allmacht Gottes über eine sinnlose, leidende Welt verdrängen. Eine umfassende und tiefe Diskussion dieser Einsicht bietet Eberhard Jüngel in: Gott als Geheimnis der Welt, Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus (Tübingen 1977).
Die Theologie muß die traditionelle Rede von der Allgegenwart Gottes ganz neu überprüfen. Dabei stehen ihr die durch den Einfluß stoischer Philosophie noch verstärkten Tendenzen zur Verwendung räumlicher Kategorien im Reden von Gott im Wege. Die für Gott eigene Art der Anwesenheit und der Abwesenheit wird die Theologie neu zu denken lehren müssen (vgl. Hel). Dabei wird auch die eigentümliche Entsprechung zu einem der fundamentalen Phänomene psychischer Gesundheit und Krankheit, der Bedeutung von »Nähe« und »Ferne« zu anderen Menscl}en, mit zu analysieren sein.
B. Die Identität der Rede von Gott
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4. GOTTES LEIDENSBEREITSCHAFT Soll trinitarisches Sprechen von Gott im Hinblick auf Jesus Christus mehr aussagen als eine erhöhte Verbindlichkeit prophetischer Rede oder eine tröstliche Nähe Gottes, soll auch seine wirkliche Teilhabe am menschlichen Leiden und Sterben damit bezeichnet werden, so muß folglich der klassische Gedanke von der Allmacht Gottes aufgegeben werden. Regulative Sätze über Gottes Omnipotenz im Sinne einer grenzenlosen Fähigkeit, Kausalzusammenhänge zu beginnen, zu unterbrechen oder zu ändern, müssen in Sätze über die Allmacht seiner Liebe umgeformt werden. Wenn die Gläubigen in doxologischer Rede die Allmacht Gottes preisen, so antizipieren sie damit die zukünftige Aufrichtung seines Rechts, seiner Gerechtigkeit und seines Friedens. Zu überwältigend ist die Fülle alt- und neutestamentlicher Aussagen, daß Gottes Allmacht erst bei der Aufrichtung seines Reiches wirksam und sichtbar sein wird, und zu offensichtlich sind das Böse und das Leiden in unserer Welt, als daß die Gläubigen mit der ungenierten philosophischen Rede von der Omnipotenz Gottes weiterhin Gott zu beschreiben versuchen könnten. Es fehlen uns aber nicht nur die Begriffe und Kategorien, den Modus seiner Anwesenheit und Abwesenheit sinnvoll zu denken, auch die Allmacht und Ohnmacht Gottes können wir bislang nur poetisch umschreiben. Zwei Probleme müßten zunächst einer Lösung zugeführt werden: 1. Sind das Mitleiden, das Leiden und der Tod in derselben oder einer ähnlichen Weise im dreieinigen Gott präsent, wie es nach der Theologie der Alten Kirche der Logos ist? Wenn das der Fall wäre, so müßte sogleich entschieden werden, wie Gott im Gegenüber zur leidenden
Explikation
HC H D 4-6
Konsequenz III C3
Konsequenz IIIE 4
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1I. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
Welt gedacht werden müßte: als separat und doch als Teile (Ur-Teile?) des Leidens und des Todes enthaltend und damit auch von Ewigkeit präfigurierend? Er wäre dann auch letztlich der Urheber des Leidens und des Todes, nicht nur der Mitleidende. Oder sollte die Trinitätslehre nicht vielmehr Anlaß sein, die ganze Wirklichkeit als vom dreieinigen Gott umklammert zu verstehen und etwa in Anlehnung an das Konzept des Panentheismus Gott nicht wie einen der Schöpfung gegenüberstehenden Vater, sondern eher im Bild einer die Schöpfung in sich tragenden Mutter zu denken? Vieles spricht für diesen Ansatz, wiewohl auch hier wieder das räumliche vor dem zeitlichen Denken die Überhand zu gewinnen droht. 2. Ist die in der Hoffnung antizipierte Allmacht Gottes wirklich von der Art, die der philosophische Gedanke von einer die Kausalität durchbrechenden und überhöhenden Omnipotenz darstellt? Man könnte argumentieren, daß da, wo Gottes Recht und Friede endgültig herrschen, auch keine Durchbrechung oder Überhöhung von Kausalität mehr nötig ist. Bei der Beantwortung dieser Frage hängt viel davon ab, wie man mit den in I A 1-3 und I C 4 skizzierten Konzepten von Ordnung und Chaos umgeht und worauf sich die in III Alerwähnte Transfiguration bezieht. Gewiß richtig ist der theologische Satz, daß Gottes Leidensbereitschaft und sein tatsächliches Mitleiden Ausdruck der Allmacht seiner Liebe ist. In der Konsequenz dieses Satzes muß unmißverständlich deutlich werden, daß eine Trinitätslehre nicht ein in sich geschlossenes Gefüge sein kann, das nachträglich auf die leidende Welt und die Menschheit hin geöffnet wird. Sie umschließt beides, die Welt und die Menschen, von ihren Anfängen her. Insofern ist die Trinitätslehre (wenn sie so gestaltet ist) auch der Ort der in klassischer Theologie sogenannten Lehre von der Erlösung sowie der Grundlegung der Sozialethik. Vgl. III C 4 und III E 4.
B. Die Identität der Rede von Gott Die Ablehnung des sog. Patripassianismus im 3. Jahrhundert geschah nicht nur aus begrüßenswerten Gründen. Zu stark war damals die mittel- und neuplatonische Konzeption der Unveränderlichkeit und der Leidensunfähigkeit Gottes als regulatives Prinzip akzeptiert. Waren damals (und letztlich auch noch bei Dietrich Bonhoeffer) allerdings modalistische Konzepte im Hintergrund, so hat sich bei Jürgen Moltmann eher modalistische Redeweise (Der gekreuzigte Gott, München 1972) mit tri-theistischen Inhalten verbunden, vgl. Trinität und Reich Gottes (München 1980), Kap. 11 »Die Passion Gottes«. Ich spreche hier von Tendenzen und will keine oberflächliche Kritik aussprechen, vgl. die Bemerkungen am Ende von 11 B 1.
5. DIE THEOLOGISCHEN NACHTEILE EINER SEPARATEN PNEUMATOLOGIE
Das weit verbreitete Verlangen nach einer eigenständigen Lehre vom Heiligen Geist kann aus trinitarisch-theologisehen Gründen nur um den Preis komplizierter Absicherungen gegen Mißdeutungen gestillt werden. Der Geist ist selber, was es im Glauben zu verstehen und auszusprechen gilt, er steht nicht Gott oder den Gläubigen als etwas Separates gegenüber. Absicherungen sind nicht nur gegenüber Tritheismus oder einer Aufteilung Gottes in drei Zeitoder Wirkungsepochen nötig, sondern vor allem gegenüber einer Vergegenständlichung des Geistes, die entweder in (stoisch-)materialistischer oder in idealistischer Form möglich ist. All diese Mißdeutungen sind in westlicher Theologie, der die» Energien«-Lehre der östlichen Orthodoxie fehlt, vertreten oder ausprobiert worden. Legitime regulative Sätze über den Heiligen Geist müssen von der Einsicht ausgehen, daß über Gott überhaupt keine Sätze »außerhalb« des Heiligen Geistes möglich sind, d. h., daß der materiale Inhalt einer Lehre vom Geist Gottes zugleich
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Konsequenz 104 111 F 4 11 B 6 111 D 4
II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
sein kognitiver Zugang ist. Gott ist Geist und soll im Geist und in der Wahrheit angebetet werden. Der Geist ist der Geist der Adoption, der Menschen in die Gemeinschaft von Vater und Sohn aufnimmt und sie in ihrer echten Menschlichkeit die Spannung zwischen Leiden und Hoffnung aushalten läßt. Das Ertragen dieser Spannung zeigt das höchste Maß an Freiheit an. Der Geist wird darum der Geist der Freiheit genannt.
Zwei wichtige Lehren aus der östlichen Orthodoxie haben in der Tradition des Westens nur ungenügende Entsprechungen gefunden: die Lehre von den »Energien« und die breite Rahmenvorstellung von der Adoption »durch den Sohn im Geist«. Die Energienlehre besagt, daß zwar in Gott die »Energien« (energeiai) nicht vom »Wesen« (ousia) unterschieden seien, daß es aber für die Gläubigen unmöglich ist, Gott in seiner eigenen ousia, die alles Sein, alle Namen und Konzepte übersteigt, zu erreichen. Jedes Sein hat sein Dasein nur in den energeiai Gottes, und die Gläubigen können nur durch Partizipation in Gottes Energien überhaupt in Gemeinschaft mit Gott treten. Diese Lehre wurde verknüpft mit der Ausgestaltung der (biblischen) Konzeption von der »Adoption« der Gläubigen, die-nicht wie im Westen, wo es zur autonomen Begriffsbildung über »Rechtfertigung« und »Heiligung« kam - streng trinitarisch verstanden wird: adoptiert vom Vater, durch den Sohn, im Geist. Freilich wird man die alte Terminologie nicht unbest
B. Die Identität der Rede von Gott Zur altkirchlichen Lehre von der Adoption vgl. meinen Aufsatz »Die Einheit mit Christus im Denken der griechischen Väter«, in Konzepte I, 78-101, und zur Energien- und Geistlehre die in II B 1 genannte Darstellung zur Geschichte der Kontroverse um das Filioque, bes. 32ff. Einige Illustrationen und Informationen, die der Begründung der obigen Thesen dienen könnten, habe ich unter dem Stichwort »Heiliger Geist« für die Neuauflage des TRT (Göttingen 1983) zusammengestellt. Einen Teil daraus gebe ich hier wieder: Der Ruf nach einer neuen Entfaltung einer eigenständigen Lehre vom HI. Geist ist bei uns, besonders aber in den englischsprachigen Kirchen und in der Dritten Welt weit verbreitet. Er verbindet sich oft mit der Klage über das Fehlen einer spezifischen Geistlehre (man benützt das unschöne Wort »Pneumatologie«) in den meisten der klassischen oder auch neueren Gesamtdarstellungen der christlichen Theologie. Dabei wirken echte Wißbegierde nach der Erklärung der fundamentalen Bedeutung des Hl. Geistes, neuere charismatische Bewegungen und alte Kritiken aus der östlichen Orthodoxie, der Westen habe in Glaube und Lehre den Hl. Geist vernachlässigt, nahezu unabhänig voneinander in dieselbe Richtung. Es trifft auch zu, daß unsere westlichen Kirchen in Frömmigkeit und Theologie wenig Eigenständiges, Greifbares und Verständliches zur Frage des Hl. Geistes bieten. Es fragt sich aber, ob das überhaupt möglich wäre, ob also der Geist Gottes (des Vaters und des Sohnes) wie etwas Eigenständiges thematisiert, wie etwas Greifbares definiert und wie etwas Verständliches expliziert werden kann. Er steht ja Gott (dem Vater, dem Schöpfer) und Jesus (in dem Gott gegenwärtig war) nicht wie etwas Separates gegenüber, auch nicht den Gläubigen, denn deren Glaube wird ja gerade ein Werk des Hl. Geistes genannt! Und greifbar kann er kaum sein, wenn er Geist ist und weht, wo er will; auch verständlich expliziert kann er kaum werden, ist er doch selbst das Verstehen dessen, was es im Glauben zu verstehen gilt. So scheint der Ruf nach neuer, verständlicher Pneumatologie ein unerfüllbarer Wunsch zu sein. Eine resignierte Bescheidung oder gar eine entschuldigende Rechtfertigung der typisch westlichen Vernachlässigung der Lehre vom Geist ist aber auch nicht am Platz. Über den biblischen Befund hinaus und im Licht wichtiger Einsichten aus der Geschichte der Theologie können durchaus hilfreiche theologische Gedanken zum Verständnis des Redens vom Hl. Geist gedacht und z. T. sogar neu entdeckt werden. 1. Die alt- und neutestamentlichen Stellen. Der biblische Befund ist
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
überreich und zugleich markant uneinheitlich. Er ist in zahllosen wissenschaftlichen Arbeiten mit philologischen, historischen und religionsgeschichtlichen Mitteln analysiert worden. Dabei sind in den vergangenen Jahrzehnten die innerbiblisch auffälligen Uneinheitlichkeiten im Vergleich mit altorientalischen und griechischen Geistvorstellungen doch wieder zu einer relativen Einheitlichkeit zusammengerückt. Mindestens kann man negativ sagen, was die überwiegende Mehrzahl der biblischen Stellen über den Geist nicht ausdrücken: etwa eine automatische Ausstattung aller Menschen (oder besonderer Würdenträger, z. B. Könige) mit göttlichem Geist, oder die Vorstellung einer Steigerung menschlichen Geistes zur Höhe göttlichen Geistes, oder eine permanente Feindschaft zwischen Geist und Leib, oder eine Ver1eiblichung und Materialisierung des Hl. Geistes. So verschieden auch die biblischen Aussagen über den Hl. Geist sind (die entscheidenen Unterschiede-liegen nicht etwa zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, eher schon zwischen Paulus/Johannes und dem Lukasevangelium/Apostelgesch.), Lehren dieser Art finden sich in der Bibel nicht oder nur am Rande. Positiv gesagt - aber hier ist eine gerechte Summierung schwieriger - kennen die biblischen Schriften den Hl. Geist immer als Geist Gottes: ja, Gott ist selbst Geist und soll im Geist angebetet werden. Der Geist ist Gottes nahes Wirken, er wirkt Leben, Wahrheit und Gerechtigkeit. Der Tod ist sein Gegenteil. Der Geist wirkt Neues, er ist Schöpfer-Geist. Geistbegabung einzelner Menschen kennt schon das frühe Israel; die Richter sind vom Geist geleitet, später die Könige (aber keinesfalls automatisch), und freilich die Gegenspieler so vieler Könige, die Propheten. Auf dem Messias-König »wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn« (Jes 11,2). Nicht nur er ist Geistempfänger , sondern der Bund mit den Menschen wird in ihren Herzen vom Geist gewirkt, die Endzeit wird ganz vom Geist gezeichnet sein, und er wird über »alles Fleisch« ausgegossen werden (JoeI2,28). Diese und ungezählte andere alttestamentliche Stellen über den Geist Gottes werden im Neuen Testament immer wieder zitiert und als erfüllt - oder bald erfüllt - verstanden. Sie werden in den neutestamentlichen Schriften eigentlich nicht überboten oder mit neuen Inhalt gefüllt, aber konkretisiert und - wenn der Ausdruck etwas hergibt - »vergeschichtlicht« im direkten Bezug auf Jesus und auf das Pfingstereignis in der Gemeinde. In ihr hat der Hl. Geist Wirkungen, die ganz den Erinnerungen und Verheißungen Israels entsprechen. Neu sind hingegen die Andeutungen einer Zu-
B. Die Identität der Rede von Gott ordnung zum Kommen und zur Sendung von Jesus sowie die starke Betonung der Verbindung von HI. Geist und dem Wirken des auferweckten (johanneisch: des verherrlichten) Herrn. 2. Vom Neuen Testament ausgelöste Probleme. Gerade mit der Zuordnung des HI. Geistes zum Kommen Jesu und zu seinem Weiterwirken nach Tod und Auferweckung sind schwerwiegende Probleme aufgekommen. Während Paulus und vor allem Johannes die Sendung des Geistes durch Jesus betonen, sehen die andern Evangelien in Jesus eher den Geistbegabten. Und während Lukas im HI. Geist eher die Weiterführung des Werkes von Jesus sieht, verstehen Paulus und Johannes die Wirkung des Geistes als ein Hineinziehen der Gläubigen in die Gemeinschaft zwischen dem Vater und dem Sohn. Damit ist das eigentliche Thema der Trinitätslehre gegeben. Aber hätte nicht eine »Binität«, eine Zweieinigkeit genügt: Gott, der Vater und Schöpfer, erreich,t durch seinen Mittler die Schöpfung und besonders die Menschen? Der Mittler wäre der geistbegabte Jesus, der Messias, dessen irdisches Werk nach seinem Tod durch Gottes Geist, der einst in ihm wohnte, fortgesetzt wird. Wäre das nicht eine ideale, einfache Lehre gewesen, auch akzeptabel für die jüdischen Gläubigen und verständlich für die interessierten Griechen? Es waren weniger die andeutungsweise trinitarischen Formeln im Neuen Testament (Segensworte, Missionsbefehl Mt 28,19), als vielmehr der Johannes-Prolog, der diese Entwicklung christlicher Lehre verhinderte. Dort ist ja »das« in Gott, was in Jesus inkarniert war, eben nicht der Geist, sondern der Logos. Aber es gibt auch noch einen viel tieferen, inneren Grund: Geist und Logos sind - bei aller innigen Zuordnung von Wort und Geist - nicht ein und dasselbe (oder derselbe). Jesus, der wahre Sohn, ruft im Leiden und in der Gottverlassenheit »Abba«, Vater, und der so ruft, ist der Geist und nicht der Logos. Vor allem Röm 8,1-18 legt dar, daß Menschen nur darum in den »Leiden der jetzigen Zeit« »Abba« rufen können, weil sie im Geist an Sohnesstatt angenommen sind, weil auch sie Kinder Gottes geworden sind. Der Geist ist der Geist der Adoption, der Menschen in die Gemeinschaft von Vater und Sohn aufnimmt und sie in echter Menschlichkeit die Spannung zwischen Leiden und Hoffnung aushalten läßt. Er ist der Geist der Freiheit. In der Geschichte der Kirche ist das nicht immer so gesehen worden. (Eine neue »Pneumatologie« müßte gerade hier ansetzen). Vielmehr waren Gott und Christus (Vater und Sohn) Zentrum der Aufmerksamkeit, der HI. Geist - in bezug auf seine Wirkung in der Kirche freilich nicht unterschätzt - kam wie ein problematisches
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Il. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit Drittes in die Trinitätslehre hinein, letztlich erst im vierten Jahrhundert, offiziell erst beim Konzil von Konstantinopel 381. Meist wurde der Geist als »Brücke« zwischen Gott und Schöpfung, zwischen dem Wort und den Gläubigen, verstanden. Das kann trivialem Verständnis ausgesetzt sein, denn der Geist ist nicht ein vermittelndes »Etwas«, ein greif- und erklärbares göttliches Phänomen im Raum zwischen Gott und Mensch, sondern die Kraft der Sohnschaft in der Spannung des Lebens der Gläubigen. 3. Trinitätslehre und Filioque (Vgl. 11 BI). Die Trinitätslehre ist als Hilfe für den Glauben, nicht als Hindernis gedacht. Sie verklammert Israel (und den Schöpfergott) mit dem Kommen von Jesus (dem Logos) und dem Funktionieren der Kirche (im Geist). Diese historische Wurzel ist in der Ostkirche eher in Erinnerung geblieben als im Westen, wo die drei »Personen« in Gott fast ununterscheidbar waren und darum der Geist meist nur in der »Vermittlung« theologisch zum Thema wurde (in bezug auf die Schöpfung, die Kirche, die verschiedenen Gnadengaben, die Ämter, die Rechtfertigungslehre, usw.). Im Westen hat man auch mit der eigenmächtigen Zufügung des Wortes »filioque« ins nizänische Glaubensbekenntnis den Geist als vom Vater »und dem Sohn« ausgehend definiert, so als sei er die Verlängerung oder die Stellvertretung Christi. Der Osten hat dagegen bis heute stark protestiert, dort hält man an der ursprünglichen, stärkeren Unterscheidung von »Sohn« und »Geist« fest, die beide direkt vom Vater ausgehen. Das erlaubt den Gedanken, daß der Geist auch außerhalb der Kirche wirkt (vgl. Beispiele aus russischer Frömmigkeit und den großen Schriftstellern). Ohne Gefahren ist auch die ostkirchliche Lehre nicht, sie ermöglicht aber eine freiere und reichere Lehre vom HI. Geist. Einige westliche Kirchen (vor allem die anglikanische) sind heute zur Streichung des »Filioque« bereit, wollen aber gewährleistet wissen, daß der HI. Geist immer als >;Geist Christi« und nicht als etwas frei Schwebendes verstanden wird (besonders in Erinnerung an die Barmer Erklärung von 1934 in Abwehr gegen ideologische Berufungen auf einen neuen »Geist«). Von den in der Literaturliste angegebenen Titeln erwähne ich hier nur das wichtige Buch des anglikanischen Theologen G. W. H. Lampe, God as Spirit (Oxford 1977) sowie Paul Tillichs SyTh III, Teil IV.
B. Die Identität der Rede von Gott
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6. IST DER GOTI DER RELIGIONEN DER DREIEINIGE GOTI?
Die Absage an den philosophischen Theismus darf biblisch orientierte Rede vom trinitarischen Verstehen Gottes nicht in der Weise zur Verabsolutierung der Partikularität Israels und der Kirche verleiten, daß damit die Gottesvorstellungen und -hoffnungen anderer Kulturen relativiert und verachtet werden. Der Grund für diese Offenheit liegt aber nicht in der Vorstellung eines von allen Religionen anerkannten Gottes, über den Israel Geschichtliches und die Kirche zudem spezifisch Trinitarisches zu sagen hätten, sondern einzig im Verständnis des Heiligen Geistes als der Wahrheit, die sich in allen jüdischen und christlichen Irrtüm-ern und Theologien und so auch in den Weltreligionen durchsetzen kann. Diese Durchsetzung von Gottes Wahrheit ist nicht an historische Religionen gebunden, sondern kann in jedem Menschen Wirklichkeit, wenn auch nicht artikuliertes Bekenntnis werden. Religiöse Menschen stehen den Christen nicht näher als andere Mitmenschen, aber die Ernsthaftigkeit ihrer Gedanken und der Reichtum ihrer Tradition bieten Anlaß für echtes Interesse und freimütigen Dialog. Der Satz, daß es außer dem von den Gläubigen trinitarisch angebeteten und verstandenen Gott keinen andern Gott gibt, ist sinnvoll und verantwortbar. Er legitimiert auch die Missionstätigkeit der Kirche. Einzig den Juden gegenüber ist eine christliche Missionstätigkeit nicht legitim.
Die verschiedenen, von der Theologie bereitgestellten Modelle zum Verständnis der Beziehung zwischen christicher Trinitätslehre und den Göttern der Weltreligionen sind im Grunde alle unbefriedigend. Sei es nun der Gedanke der Selbstentäußerung des absoluten Geistes oder die Betonung der historischen Entwicklung der Religio-
Grundlage II B 5
Konsequenz III e5 III D 4 III F 4
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/l. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
nen auf Höchststufen hin, oder seien es auch die beiden verlockenden Entwürfe aus dem 20. Jahrhundert, die Thesen nämlich, die biblische Offenbarung sei die Verneinung und das Ende der Religion oder in den Religionen würde »anonymes Christentum« praktiziert - diese Entwürfe sind samt und sonders ungenügend. Sie spiegeln auch eine Denkweise und Selbsteinschätzung unserer Kultur wider, die noch nicht durch die offenen und weltweiten Kontakte innerhalb der Menschheitsfamilie gekennzeichnet war. Die Autoren (oder Autorengruppen) der eben genannten vier Entwürfe haben in ihrem eigenen Leben andere Kulturen und Religionen nie wirklich kennengelernt. Wenn ich diese Entwürfe ungenügend nenne, so ist ihnen damit nicht jeder Wahrheitsgehalt abgesprochen. Hegels Grundkonzept hat einen starken trinitarischen Gehalt; Schleiermachers Vorstellung von geschichtlicher Entwicklung nimmt das in den Blick, was ich hier "Story« nenne, wenn auch leider gerade er Israel und damit das Alte Testament nicht so verstehen konnte, wie er es seinem Ansatz nach eigentlich hätte tun können und müssen; Karl Barth hat in seiner »Lichterlehre« (KD IV, 3,40-188) differenzierter über Religionen geurteilt als in seinen frühen Werken, und Karl Rahner hat in seinen Überlegungen zum »anonymen Christsein« u. a. auch die Erkenntnis im Blick gehabt, daß der Geist Gottes überall bei Menschen wirken kann oder, wie es Dietrich Bonhoeffer in Anlehnung an Kierkegaard nannte, daß Christus »inkognito« gegenwärtig sein kann.
Entscheidend für eine zukünftige theologische Erklärung der Beziehung des Gottes der Bibel zu den Weltreligionen scheinen mir zwei Grundeinsichten in ihrer Verschränkung zu sein: das Verhältnis Israel/Kirche (Juden/ Christen) und eine umfassend trinitarische Gotteslehre. Wer in seinen Bemühungen um theologische Erklärungen Israel (und die heutige Synagoge) zu den dem Christentum fremden Weltreligionen zählt (oder nur im alten Israel eine historische Basis für die Entstehung der Kir-
B. Die Identität der Rede von Gott
che anzunehmen bereit ist), kann auch keine wirklich erklärungskräftige Trinitätslehre entfalten und wird darum große Schwierigkeiten haben, das Wirken des Geistes außerhalb der Kirchengrenzen anders als mit Konzepten der stoischen Philosophie (etwa dem logos spermatikos) annehmen zu können. Die Literatur zur Frage der Beziehung Israel/Kirche (Juden/ Christen) ist in jüngster Zeit sehr umfangreich geworden. Vieles davon ist nicht frei von Ideologie und Einseitigkeiten und wird darum wenig Chancen haben, sachlich rezipiert zu werden. Ich erwähne hier vor allem das Buch von Paul van Buren: Discerning the Way, A Theology of the Jewish-Christian Reality (New York 1980), dort besonders das Kap. 3 über die Trinität. Das Buch ist der erste Band einer vierbändigen systematischen Theologie, die die »zwei Wege« zu Gott (und mit Gott), den Weg Israels mit Moses und den Weg der Heiden mit Christus, thematisiert. Die Anlehnung an Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung (1921,3. Auf!. Heidelberg 1954) ist nicht zu übersehen. Ich habe die Entstehung von Paul van Burens Buch über die Jahre hin in vielen Gesprächen und Briefen verfolgen können. Eine deutsche Übersetzung ist in Vorbereitung. - V gl. auch Peter v. d. Osten-Sacken: Grundzüge einer Theologie im christlich-jüdischen Gespräch (München 1982), wo allerdings die Trinitätslehre nur implizit als Teil der Christologie wichtig wird.
Angeregt durch tatsächlich stattgefundene Dialoge mit islamischen Theologen und Vertretern der großen asiatischen Religionen sind in den letzten beiden Jahrzehnten neue Einsichten in die eigene christliche Lehrtradition entstanden. Dabei zeichnet sich nicht selten aufs neue die Gefahr einer Verwendung alter theistischer Konzepte ab, aus denen nun doch wieder vermeintliche Obersätze über einen allgemeinen Gottesbegriff erstellt werden. Nicht ein untrinitarischer Gott ist der allgemeine Weltgott, sondern der in der Erfahrung der Story Israels und der Kirche höchst unzulänglich und unter Irrtümern Beschriebene, der in Jesus ohnmächtig Gegenwärtige und aus der Tiefe des Leidens und Todes vollmächtig in sei-
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1I. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
nem eigenen Geist Angerufene. Eine weitere Reduktion des Inhalts der Trinitätslehre auf einen noch engeren, universelleren und story-fremden Satz über Gott ist für biblisch orientierte Theologie nicht möglich. Damit reduziert sich aber die Frage der Beziehung des Gottes der Bibel zu den Weltreligionen auf das Problem, wie die einzelnen Etappen der Story von Abraham bis heute Paradigma-Charakter für andere Religionen haben können (vgl. I H 5). Das gilt freilich in beiden Richtungen: nicht nur die Dialogpartner aus den großen Weltreligionen müssen sich fragen, wie sie Abraham, Exodus, Königtum, Exil, besonders aber Jesus von Nazareth pradigmatisch in ihren Vorstellungsrahmen einfügen könnten, auch wir müßten uns fragen, inwieweit es berechtigt wäre, nach der Übertragbarkeit unserer Story-Etappen als Paradigmen zu forschen, ohne sie damit zu relativieren. Die Einsicht, daß die Wahrheit in der Zukunft liegt, jedenfalls im Modus ihrer Erschließung für die Wahrheitssuchenden, ist bei diesen Dialogen eine wichtige Hilfe, zugleich aber auch eine Gefahr.
C. Die eingelöste Rede von der Versöhnung
(Christologie)
VORÜBERLEGUNG
Die übergeordnete Frage im Nachdenken über Jesus Christus, von deren Beantwortung auch die Beurteilung der Ausgangsfragen und der Teilantworten der klassischen sowie der umstrittenen modernen Christologien abhängt, lautet in einfacher Sprache: war das Kommen von Jesus von Nazareth wirklich die Erfüllung der Verheißungen, die Israel empfangen hatte? Und was heißt »Erfüllung«? In weiten Teilen der jüngeren Theologie des 20. Jahrhunderts ist die Rede von» Verheißung« und »Erfüllung« freudig aufgenommen und breit angewendet worden, so als sei es ausgemacht, daß nicht das Judentum mit Mischna und Talmud,.sondern die christliche Kirche mit ihren Vätern und Konzilien die wahre Fortsetzung des Alten Testaments ist. Diese Entscheidung beruht, was historisch leicht zu zeigen ist, nicht auf einer Selbsteinschätzung der Kirche als der Verlängerung Israels (hätte doch nur die Kirche die Diaspora-Existenz Israels auch auf sich genommen!), sondern auf dem Urteil der Urgemeinden über Jesus von Nazareth. War - und ist noch heute - das Urteil, das Credo, in ihm seien Jahwes Verheißungen erfüllt, sei der Gott Israels in seiner Selbigkeit präsent und habe seine Rede von damals eingelöst, legitim? Das ist die christologische Frage par excellence. In ihr ist aber der Begriff der »Erfüllung« theologisch problematisch und bedarf wohl begründeter Abgrenzungen gegenüber der Vorstellung einer Automatik von Ansage
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Il. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
und Eintreffen, von Vorläufigem und Endgültigem oder vom »Ende« der Geschichte. Was ist als »erfüllt« zu bezeichnen? Das Gesetz, die Prophezeiungen oder die Hoffnungen Israels? Wie nun ist im Kommen von Jesus die angekündigte und erwartete Versöhnung Wirklichkeit geworden? Antworten sind freilich in vielfältiger Form möglich. Sie reichen von assertorischen Konstruktionen einer linearen Heilsgeschichte bis zur völligen Abtrennung messianischer Konzepte vom Versöhnungsgeschehen. Letztlich wird aber jede noch so differenzierte Christologie die christologische Grundfrage nach der »Erfüllung« mit Ja oder Nein beantworten. Die positiven sowie auch die negativen Antworten sind jedoch - das zeigt die Geschichte der Christologie - fast ausnahmslos ohne eine Reflexion über die Fortsetzung der Geschichte Israels im talmudischen, mittelalterlichen und neuen Judentum ausgekommen. Die negative Antwort auf die Grundfrage scheint die Historie für sich zu haben, sie hat aber um so größere systematische Schwierigkeiten, die Einzigartigkeit und Unvertauschbarkeit von Jesus als dem Christus darzutun. Die positive Antwort hat die Historie zwar nicht gegen sich, muß aber ihr Credo an Interpretationen, die im Prinzip vertauschbar sind, festmachen. Die Texte, um die es dabei geht, sind von anderer Warte aus auch anders interpretierbar, (z.B. synoptische Stellen über den messianischen Anspruch J esu in nachträglich konstruiertem Rückbezug auf alttestamentliche Weissagungen). Beide, die Gruppe der negativ und der positiv Antwortenden, sind im Gespräch mit dem Judentum der These gegenüber hilflos, das Leiden Gottes mit den Menschen sei nicht einzig in dem einzelnen Menschen Jesus, sondern viel krasser und wirklicher im Leiden mit seinem Volk, letztlich in Auschwitz, deutlich geworden. Es ist nicht eigentlich die Trinitätslehre, die Christen von Juden
C. Die eingelöste Rede von der Versöhnung
trennt, sondern die Spezifikation der früher sogenannten »zweiten Person« der Trinität: ist es der Einzelne Jesus von Nazareth gewesen oder das Volk selbst, die Vergasten in Auschwitz? (Bei diesen Überlegungen ist freilich vorausgesetzt, daß Juden nicht einfach - wie in manchen Reform-Synagogen - theistisch und allgemein religiös denken, sondern daß sie differenzieren zwischen Gott und seinem auf Menschen ruhenden Geist und seiner Leidensbereitschaft - einer im Grunde dem trinitarischen Denken der Christen gegenüber offenen Sichtweise). Die negative Antwort auf die christologische Grundfrage zerstört genuin trinitarisches Denken über Gott, mindestens verunmöglicht sie den Ansatz bei der historischen (ökonomischen) Trinitätskonzeption. Will sie über den klassischen Adoptianismus hinauskommen, so muß sie eine Gotteslehre entwickeln, die den Gedanken ermöglicht, das Kommen von Jesus sei - da es nicht als Sendung und als Erfüllung verstanden wird - das Kommen eines exemplarischen Menschen gewesen, der in jeder Hinsicht und unüberbietbar Gottes Willen und Plan für die Menschen entspricht. Nur so könnte er - unter Ablehnung des Konzeptes der Sendung und der Erfüllung von Verheißungen an Israel- immer noch als der Christus und der Kyrios bezeichnet und gefeiert werden. Das ist das idealistische Modell der Christologie. Die postive Antwort auf die christologische Frage par excellence aber fordert letztlich das Wagnis einer historisch nicht eindeutig beweisbaren Sicht von einer Kette von Ereignissen, Worten und Hoffnungen, die in der Qualifikation von Jesus von Nazareth als dem Gesendeten, dem Erwarteten und Verheißenen, wirklich legitime Aussagen zu erkennen beansprucht. Die neutestamentlichen Zeugen dieses Anspruchs sagen einhellig, dieses Wagnis sei durch den Heiligen Geist, also durch Gott selbst, initiiert und verifiziert. Am Anfangsgrund dieser
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
Christologie wird also ein Zirkel schluß erkennbar. Der Streit um eine Christologie »von oben« oder »von unten« ist insofern müßig - vorausgesetzt, diese Christologien wollen auch von Jesus als dem Gesendeten, der »Erfüllung« sprechen - als es sich bei dieser Entscheidung nur um den Einstieg in einen Zirkel handeln kann: Beginnt man mit der historischen Frage nach dem irdischen Jesus (»von unten«), mit der trinitarischen Frage nach der Sendung und Mission des Menschgewordenen (»von oben«) oder mit der ekklesiologischen Frage nach der Gegenwart Gottes, dessen Name nicht mehr vom Namen Jesus Christus abtrennbar ist - in jedem Fall wird es um eine Christologie gehen, die Gott voraussetzt. Vorausgesetzt wird auch ein Verständnis von Welt und vom Menschen, wenn auch zugleich die Offenheit bekundet wird, dies Verständnis durch den Inhalt der Christologie modifizieren zu lassen. (Beteuerungen neuerer Theologen, diese Voraussetzungen seien nicht gesetzt, alles sei erst durch J esus Christus zur Erkenntnis gebracht, sind logisch nicht nachvollziehbar; sie sind tendenziös und nur als Korrektiv gegenüber »natürlicher Theologie« verstehbar). Die positive Antwort auf die christologische Grundfrage bietet in all ihren Varianten nicht das idealistische Modell, sondern lädt zu einem viel geschichtsgebundeneren, jüdischeren Verständnis von Jesus als Urbild und Anfang ein. In ihr wird »Erfüllung« nicht als automatische Verwirklichung der Hoffnungen Israels oder als Beweis der Wunderkraft von Prophezeiungen verstanden, sondern als endgültige Aufrichtung der göttlichen Wahrheit der Versöhnung, nicht nur der Versöhnung Israels, sondern in der Expansion der Erwählung auf dem Weg zum neuen Menschen aus Juden und Heiden, als die Aufrichtung dieser Wahrheit für alle Menschen. Die folgenden sechs Fragen sollen die Bedingungen für die Erstellung von regulativen Minimalsätzen für die Christologie sichtbar werden lassen. Ihre Voraussetzung
C. Die eingelöste Rede von der Versöhnung
211
ist die positive Beantwortung der christologischen Grundfrage. Wiederum beginnen wir mit der Sichtung des Gegenstandsfeldes, mit den unter den Gläubigen tatsächlichen gestellten Fragen und bewährten Aussagen. Ich beziehe mich u. a. auf folgende Literatur: Zum Historischen: Johannes Feiner/Magnus Löhrer (Hg.) Mysterium Salutis, Bd. 111/1, Das Christusereignis (Einsiedeln/Zürich/ Köln 1970), um nur ein, allerdings sehr gewichtiges Werk zu nennen. Zur systematischen Fragestellung: Friedrich Schleiermacher , GL §§ 92-105; Albrecht Ritschl, Unterricht in der chr. Religion (Bonn, 3. Auf!. 1886), §§ 19-25, 34-45; KariBarth, KD IV, 1; Paul Tillich, SyTh 11; John Macquarrie, PrChrTh, Kap. XII und XIII; John Mclntyre, The Shape of Christology (London 1966); Walter Kasper, Jesus Christus (Mainz 1974) und Gerhard Ebeling, DChrG Kap. 5,6 und 8. Vgl. auch meine Überlegungen in Memory and Hope, Kap. VI sowie in Konzepte I, 78-101.
1. DIE VERSCHIEDENEN ERWARTUNGEN AN DEN CHRISTUS PRAESENS (DIE FRAGE DER KIRCHE)
Jesus Christus wird in der Kirche als der Gegenwärtige gefeiert. In seinem Namen wird gesegnet, gebetet, gepredigt. In der Hoffnung auf seine Gegenwart wollen die Gläubigen sich gegenseitig lieben und vergeben, trösten und heilen und diese Diakonie zur Grundlage ihrer Sozialethik überhaupt machen. Anspruch und Legitimation dieses Credos sind konstitutiv für die Kirche, sie sind auch der einzige Anlaß für die Erstellung christologischer Sätze. In der Christologie wird vom Christus praesens aus rückwärts auf das apostolische Zeugnis, den irdischen Jesus und die erinnerten Hoffnungen Israels hin argumentiert. Erst von da aus erschließt sich die Fülle theologischer
Explikation
HA
Grundlage ID5
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Konsequenz III A 1
Il. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
Möglichkeiten in der Entfaltung verschiedener Christologien.
I1IC
Die eigentümliche und in Analogien schwer faßbare Art, in der sich der irdische Jesus nach seinem Tod absentiert hat, entspricht der für ihn eigentümlichen Art, sich den Gläubigen.präsent zu machen. Absenz und Präsenz stehen in Korrelation, wenn auch seine Absenz nur poetisch beschreibbar ist. Die Wahrnehmung seiner Präsenz aber ist analogisch und damit befriedigend beschreibbar: sie geschieht im Hören und Fühlen, im Sehen und Schmecken, meist jedoch im Modus der Erinnerung oder der Erwartung seiner Präsenz, also in der Modalität einer Interpretation. Ist die Art der Wahrnehmung also nicht übernatürlich oder mysteriös, so ist doch die Verifikation des Credos, daß es sich um die Präsenz von J esus Christus handelt, nicht Sache der Gläubigen und ihrer intelligenten Schlußfolgerungen, sondern sie hängt von dem ab, der sich präsent macht. Darüber besteht in allen Teilen der christlichen Kirche Konsens; dies ist die Weiterführung der alttestamentlichen Einsicht, daß Gott sich durch sich selbst bekannt gibt. Keine letztliche Klarheit jedoch besteht darüber, wer das Subjekt der Selbstpräsentation ist, wenn der Christus praesens gefeiert wird. Was heißt: Präsenz von Jesus Christus? Die Antworten, die in der Kirche seit der Antike auf die Frage nach den Modi der Präsenz von J esus Christus gegeben worden sind und noch heute gegeben werden, legen den Schluß nahe, daß ohne trinitarisches Denken über Gott die Antwort auf die Frage nach dem Subjekt völlig unbefriedigend oder verwirrend ausfallen muß. Was heißt »Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt« (Mt 28,20)? Die klassischen Antworten weisen auf etwa sieben Modi der Präsenz, die sich freilich nicht gegenseitig ausschließen, wenn auch die starke Betonung einzelner und die Abwertung anderer
C. Die eingelöste Rede von der Versöhnung
gerade konstitutiv für verschiedene christliche Konfessionen zu sein scheint. Die Antworten benennen die Anwesenheit des Christus praesens im Wort (u. a. in der Predigt), im Geist (u. a. in vollmächtigen Geistesgaben), in den Sakramenten, in der Taten der Liebe (u. a. an den Armen), im Leiden, im persönlichen Gebet und in der zukünftigen Gerechtigkeit (bzw. in der traditionellen Rede von der Wiederkehr). Bei diesen Antworten spielen der Gottesdienst und die Versammlung der Gläubigen keine ausschließliche, aber eine wichtige Rolle. In ihnen allen heißt »Präsenz von Jesus Christus« nicht Gegenwart eines Menschen, der früher gelebt hat; oder Gegenwart eines unbestimmten Geistes oder Gottes. Der Modus der Gegenwart an die Erinnerung eines verehrten Menschen - wie sie uns etwa einen geliebten Verstorbenen wieder gegenwärtig machen kann - ist zwar mitgemeint, wenn die Gläubigen den Christus praesens feiern, aber dies ist nicht konstitutiv. Die Gläubigen erheben den Anspruch, die Gegenwart Christi enspräche dem Modus der Gegenwart Jahwes in alttestamentlichen Berichten oder der Schekhina in rabbinischer Lehre. Im Neuen Testament und in der kirchlichen Tradition ist es aber durchaus nicht eindeutig, ob der Gegenwärtige - in klassisch trinitarischer Terminologie gesprochen der Sohn oder der Geist ist. Und wenn es der Geist ist, so ist nicht eindeutig, ob der Geist den Logos, der in Gott wohnt, oder die Menschheit (die menschliche »Natur«) von Jesus vergegenwärtigt, d. h. als wirklich gegenwärtig repräsentiert. Exegetisch können keine eindeutigen Antworten aus den Texten entnommen werden. Die regulativen Sätze, die in der griechischen Patristik - besonders in der alexandrinischen Schule - dazu erstellt worden sind, legen großes Gewicht auf die menschliche Natur Christi, in der allein die Liturgie bzw. die Doxologie der Gläubigen an Gott gerichtet werden kann. Vermutlich muß heutige Theologie an dieser Einsicht weiter arbeiten, um den
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
paulinischen modus loquendi, der auf den »Leib Christi« weist, sinnvoll mit der altkirchlichen Rede von der Adoption von Menschen als Gottes Kinder »im Geist durch den Sohn« verbinden zu können, denn beides sind hilfreiche regulative Sätze. Die Aufgabe besteht in der Lösung des Problems, was genau es heißt, daß der Geist Gottes Jesus Christus gegenwärtig macht und Menschen nach dem Bild Christi umgestaltet. Wir können eine Gegenwart des Geistes denken, sofern durch den Geist ein Inhalt gegeben ist (etwa der irdische Jesus oder Jahwe in seiner Bereitschaft zum Mitleiden), aber eine Gegenwart des Heiligen Geistes ohne kognitiven Inhalt können wir ebensowenig denken wie die über eine übliche Vergegenwärtigung durch Erinnerung hinausgehende »Gegenwart« eines verstorbenen Menschen. Die Lösung dieses Problems liegt nur scheinbar im Hinweis auf die Auferweckung von Jesus, also etwa auf den Modus seiner Gegenwart in einem Auferstehungsleib, denn das ist ja gerade die Schwierigkeit, daß wir aus Mangel an Analogien dies nicht denken können. Der Verweis auf die Auferweckung Jesu als Lösung der Frage des Verständnisses seiner Präsenz wäre eine der typischen theologischen Verschiebungen (vgl. I F 2), durch die kein Erkenntnisgewinn erreicht werden kann. Was der Modus der Gegenwart des Auferstandenen ist, weiß nur, wer im Geist von seiner Gegenwart weiß. Das ist aber ein Zirkelschluß. Einzig eine Trinitätslehre kann das, was vielleicht immer ein Zirkelschluß bleiben wird, in den weiteren Rahmen dessen stellen, was wir denken können: Gott als Erwählender, als in Jesus Mitleidender und als im Geist Heilender. Die Bemühung um das Verstehen des Christus praesens weist primär auf den Geist, der in der Gemeinde gegenwärtig ist und nur sekundär auf die Auferweckung von Jesus, denn diese kann nur von dort her, wenn überhaupt, gedacht werden. Vgl. Memory and Hope, Kap. 1.
C. Die eingelöste Rede von der Versöhnung
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2. DAS KOMMEN VON JESUS, DEM »MINIMALMENSCHEN« (DIE FRAGE NACH GOlT)
Mit dem Kommen und Gehen von Jesus von Nazareth ist eine Kommunität entstanden, in der als zentrale und in immer neuen Formen artikulierte Aussage das Bekenntnis stand, das Kommen und Gehen von Jesus sei nicht nur für diese Kommunität, sondern für Juden und Heiden, für die ganze Menschheit insgesamt von entscheidender Bedeutung. Man muß die historisch beschreibbare Entstehung der urchristlichen Gemeinde von der textlich überprüfbaren Sprachbildung in den Aussagen über Jesus unterscheiden. Die urchristliche Gemeinde hat über Jesus weit mehr gesagt, als er über sich selbst gesagt hatte. Die Frage nach der Legitimität dieses Sprachgewinns, der Spracherweiterung .- weitgehend aus dem Alten Testament und jüdischen Hoffnungen geschöpft - ist inhaltsgleich mit der Frage der Kirche aller Jahrhunderte nach dem Christus praesens. Es ist die Frage nach Gott in Jesus. Der ungeheure Sprachgewinn in bezug auf Jesus wird noch deutlicher, wenn er mit der minimalen Existensweise von Jesus kontrastiert wird, dessen Lebenswerk in völliger Verwundbarkeit, in Besitz-, Ehe- und Schutzlosigkeit darin bestand, jeden Menschen so ernst wie Gott zu nehmen. Wenn gerade dieses Leben und Leiden von Gott gerechtfertigt wird, wie es das apostolische Zeugnis behauptet, dann ist damit Entscheidendes über Gott sowie über das menschliche Leben von Jesus ausgesagt.
Der provokative Ausdruck »Minimalmensch« soll anzeigen, daß Jesus das, was er war und wurde, nicht durch Zusätzliches gegenüber dem Leben bedeutender Menschen oder auch uns, sondern sozusagen durch Reduk-
Grundlage !IA Konsequenz !IBI
Grundlage lE lCI 1B 2
Konsequenz lC4 ID6 IIIC5u.6
Explikation IIB4 !IA
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
tion und Konzentration menschlicher Leistungen geworden ist. Die Erfüllung des Doppelgebotes der Liebe ist von ihm nicht durch Höchstleistung, sondern durch totales Ernstnehmen von Gott und Mitmenschen erfolgt. Hier ist auch zweifellos der Punkt, an dem eine uneingeschränkte »imitatio Christi« für die Gläubigen sichtbar wird; die an anderen Stellen festgemachte Vorschrift der Imitatio seines Lebens ist gewiß problematisch. Die totale Erfüllung des Doppelgebotes der Liebe durch diesen Menschen verbindet Gott und Menschen, es versöhnt und erlöst sie - darin liegt der Wahrheitsgehalt der fragwürdigen Satisfaktionslehren. Diese über das moralische Beispiel weit hinausgehene Wirkung des Lebens und Sterbens von J esus wird aber nur erkennbar, wenn der »ungeheure Sprachgewinn«, der nach dem Tod von Jesus eintrat, als legitim erwiesen werden kann. Der, der so lebte wie er, ist Empfänger zahlreicher alttestamentlicher und anderer Titel bzw. inhaltlicher Beschreibungen durch Credos und Hymnen geworden. Sie alle, so unterschiedlich sie in ihrer Herkunft, Bedeutung und vor allem späteren Verwendung auch sein mögen, weisen auf zwei implizite regulative Sätze: er ist gesendet worden, und er ist unverwechselbar. Es scheint eindeutig zu sein, daß unter Verzicht auf diese beiden Axiome keine Christologie entworfen werden kann, daß aber die Axiome selbst eine Fülle unterschiedlicher Christologien gestatten, wie sie das Neue Testament ja in Ansätzen auch bietet. Die bei den Axiome selbst aber sind Konsequenzen aus den Axiomen (oder regulativen Sätzen), aus denen die Trinitätslehre entworfen werden muß. M.a.W.: soll Jesus anders als ein Modellmensch, der sich selbst ernannt hat und darum im Prinzip auch auswechselbar ist, verstanden werden, so ist die Einsicht durch den Geist Gottes in das erwählende Handeln Gottes Voraussetzung. »Niemand kann sagen: Kyrios ist Jesus, außer im heiligen Geist« (1Kor 12,3). Der alte, provokative Aus-
C. Die eingelöste Rede von der Versöhnung
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spruch »Ohne Jesus wäre ich Atheist« ist also - zumindest auf dieser Sprachebene - unsinnig. Die Frage nach dem Kommen von Jesus ist erst dann theologisch befriedigend geklärt, wenn regulative Sätze erstellt werden können, die zu Aussagen anleiten, weshalb nicht irgend ein anderer Mensch, der akkurat wie J esus gelebt hat und wie er gestorben ist, der Kyrios genannt werden kann.
3. WER IST JESUS CHRISTUS? (DIE FRAGE DER KLASSISCHEN CHRISTOLOGIE) Die klassische Christologie der Alten Kirche sowie seither alle akademischen Bemühungen um eine Christologie dienen einzig dem Zweck, regulative Sätze zur Artikulation des Verständnisses von Jesus in der erweiterten Sprachform aufzustellen. Daß die Alte Kirche dabei griechische Begriffe und Theorien verwendete, ist ihr nicht vorzuwerfen. Keine Theologie kann die Wissenschaftstheorie ihrer Zeit umgehen. Vielmehr sind der klassischen Christologie zwei andere Vorwürfe zu machen: die Reduktion des breiten Fächers neutestamentlicher Einladungen zu regulativen Sätzen über Jesus Christus auf die einzige Frage nach der gleichzeitigen Präsenz von Gott und Mensch in Jesus sowie die Abstraktion dieser Frage von dem Kontext, aus dem heraus sie allein angegangen werden kann, nämlich der gesamten Geschichte Gottes mit Israel, der Story, mit Jesus selbst sowie mit den Gläubigen. Darum fehlen den klassisch-christologischen Formeln alle Bezüge auf den Grund für das Kommen von Jesus, auf seine Verbindung mit den Menschen (Juden und Heiden), auf den Christus praesens sowie auf die Zukunft Gottes mit den Menschen,
Grundlage IH2
Grundlage IB2
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Explikation I1B
Konsequenz III C 3-6
Il. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
d. h. auf die christliche (und jüdische) Hoffnung. Ist in den Urgemeinden ein ungeheurer Sprachgewinn in bezug auf Jesus eingetreten, so in der klassischen Christologie ein auffälliger Sprachverlust. Die Frage, wer ist Jesus Christus? kann sachgemäß nur im trinitarischen Denkzusammenhang behandelt werden, d. h. in derBemühung um das Verständnis der Verklammerung von Israels Erwählung, Gottes Teilnahme am Leiden und Tod der Menschen und Gottes therapeutischer Aktivität im Geist. Die Christologie ist insofern eine Spezialisierung der Trinitätslehre. Wenn man schon den fragwürdigen und hochgradig interpretationsbedürftigen Begriff der Offenbarung verwendet und auf Jesus anwendet, so entsteht noch dadurch eine zusätzliche Schwierigkeit: daß Jesus nicht gekommen ist, um sich selbst zu offenbaren, sondern den Vater. Die Kritiken verschiedener Autoren an den Vätern der klassischen Christologie von Chalcedon, sie hätten sich zu stark der Was-Frage und nicht deutlich genug der Frage Wer ist Jesus? zugewandt, ist nur in gewissen Grenzen berechtigt. Die Was-Frage ist sehr zentral und kann nicht - jedenfalls nicht personalistisch gefaßt durch die Wer-Frage ersetzt werden. Mindestens gehören die beiden Fragen zusammen. Was hat denn Jesus gebracht, getan, oder geoffenbart (wenn dieser Begriff angewendet wird)? Er hat gerade nicht sich besonders herausgestellt oder erläutert und hat in auffälliger Weise anderen verwehrt, ihn zu definieren. Es scheint seine guten Gründe zu haben, daß wir mit der Wer-Frage Schwierigkeiten haben. Damit hängt wohl auch zusammen, weshalb es für viele gläubige Christen nicht einfach ist zu sagen, ob sie »Jesus lieben« können. Ich möchte mich zu ihnen zählen. Die direkte Übertragung der Liebe der Jünger zu ihrem Meister auf unsere Situation scheint problematisch genug. Vielleicht ist der tiefere Grund aber der, daß Jesus
C. Die eingelöste Rede von der Versöhnung
nicht zur Liebe zu ihm, sondern zu Liebe Gottes und der Menschen, einschließlich unserer Feinde, eingeladen hat. Ich möchte mit dieser Überlegung freilich nicht die reiche Tradition der Jesus-Mystik und der Versenkung in sein Leben und seine Passion kritisieren, ich will jedoch die Frage aufwerfen, ob die Aufforderung, Jesus zu lieben, wirklich schlüssig aus dem Evangelium folgt. Zur Diskussion über die Wer- und die Was-Frage in bezug auf Jesus, vgl. Dietrich Bonhoeffers Christologie-Vorlesung vom Sommer 1933 in Ges. Schriften III, hg. Eberhard Bethge, (München 1960), 166ff. In der Alltagssprache der Gläubigen ist Jesus Christus Grundund Orientierungssymbol (in einem ontologischen Urteil), oder er ist - ganz altkirchlich geurteilt - die Erfüllung alter und aller Hoffnungen, oder er wird als der göttlich geschenkte Friede und als Befreiung im jetzigen Leben gefeiert (in einem existentiellen Urteil). Die Theologie wird sich fragen müssen, wie aus diesen Urteilen Elemente für regulative Sätze der Christologie entnommen werden könnten. Die Aufgabe der Theologie ist die Analyse der »Tiefengrammatik« der neutestamentlichen und der heutigen »Alltagssprache« der Gläubigen zunächst in der Form einer synchronischen Analyse, die nicht unmittelbar nach der Verwendbarkeit fragt, sodann aber in diachronischer Weise im Vergleich der damaligen mit den heutigen Aussagen und Aussagemöglichkeiten. Bei diesen Analysen stößt die Theologie auch bald auf heutige Schlüsselbegriffe, mit denen das Denken über Jesus und die eigene Situation, letztlich über Gott, gesteuert werden. Kann Jesus als Sozialreformer oder als Revolutionär bezeichnet und gefeiert werden, oder als Therapeut, als Ursakrament, als Protektor einer bestimmten Kultur, Nation oder sozialen Schicht? Fragen dieser Art sind heute zum Teil heiß umstritten. Man wird bei den Begründungen theologischer Erklärungen und Abgrenzungen darauf achten müssen, ob diese Designationen von Jesus im rein partikularen und momentanen Interesse ausgesprochen werden (z. B. in heutiger lateinamerikanischer Situation), oder ob mit den Bezeichnungen ein ökumenischer Anspruch auf allgemeine Rezeption und Verwendung gestellt wird. Gewiß ist niemand unter den Gläubigen an die wenigen (und zudem sehr unterschiedlich ernst genommenen) neutestamentlichen Titel gebunden, so daß er in bestimmtem Kontext sicher »Therapeut«, »Revolutionär« und »Protektor« - und weshalb nicht »Vorsitzender«? - genannt werden kann, aber ein Anspruch auf ökumenische Breite dieser Bezeichnungen kann im Ernst nicht erhoben werden. - Ich habe Fragen dieser Art ausführlicher diskutiert in einer Christologie für Nicht-Theologen: Concerning Christ,
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Il. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit Thinking of Our Past, Present and Future With Hirn (Houston 1980), bes. Kap. III.
Es besteht kein Zweifel, daß die Aussagen über Jesus nach der Zeit seines Lebens durch einen - wie ich es mehrfach nannte - ungeheuren Sprachgewinn verbreitert und erweitert worden sind. Und es folgt daraus, daß die Christologie um die Klärung der Legitimität dieser sprachlichen Erweiterung bemüht sein muß. Es kann aber ebensowenig bezweifelt werden, daß die konziliare Theologie der Alten Kirche sich einen ungeheuren Sprachverlust geleistet hat, indem sie - spätestens vom vierten Jahrhundert an - die Frage nach Jesus auf die Möglichkeit der Präsenz von Gott und Mensch in einem individuellen Menschen reduziert hat. Dadurch sind wenigstens vier zentrale Aspekte der Phänomens »Jesus Christus« ausgeklammert worden: der Grund für sein Kommen in der Erweiterung der Erwählung von Israel auf die Menschheit hin, die Verbindung zwischen ihm und der Menschheit (also seine vikariatsmäßige Funktion), die unverzichtbare Bedeutung des Christus praesens für die Erkenntnis von all dem, was in der Christologie überhaupt zur Debatte steht, und letztlich der Inhalt der Hoffnung, die durch sein Kommen verbürgt ist. Wer die Details der Christologie der Alten Kirche und der Verantwortlichen für die konziliare Theologie kennt, weiß freilich, daß ein Teil dieser Fragen (die Juden waren zwar - bis auf Ausnahmen in antiochenischer Theologievergessen) damals implizit mitgestellt oder mindestens nicht für unwesentlich erachtet wurde. Aber im Endeffekt blieben diese Fragen doch ausgeblendet. Wenn man dazu bedenkt, daß der Westen der Alten Kirche nur die Ergebnisse der konziliaren Theologie übernahm, nicht aber ihre Hintergründe verstand, so mutet die ungeheure Reduktion legitimer christologischer Fragen umso tragischer an. Die Rechtsfertigungslehre sowie die komple-
C. Die eingelöste Rede von der Versöhnung
xen Sakramentslehren mußten entwickelt werden, um die Brücke zwischen den Endergebnissen der konziliaren Christologie des Ostens und den im Westen tatsächlich lebenden Gläubigen herzustellen. Diese Zusammenhänge habe ich versucht in Memory and Hope (1967) darzustellen. Freilich sollte mit den kritischen Beobachtungen über die Entwicklung im Westen nicht automatisch diejenige des Ostens gutgeheißen werden. Die byzantinische Christologie verlangte auch nach einem besonderen Brückenschlag zwischen den orthodoxen Sätzen über Jesus Christus und der Lebenswirklichkeit der Gläubigen.
Trotz der Fülle von berechtigten Kritiken, die man an der Christologie des Konzils von 451 in Chalcedon anbringen kann und muß, wäre die Forderung, diese Christologie einfach fallen zu lassen, sehr unklug. Sie besteht aus regulativen Sätzen, die sich in der Geschichte der Kirche immer wieder - wenigstens negativ - als Warnungen nützlich erwiesen haben. Fatal wäre es aber, sie als ausschließliche Kriterien für das, was es positiv zu sagen gilt, einzuschätzen. Dazu reicht ihre Kraft niemals aus, man denke nur an die Tragik, daß Menschen sich durch das Chalcedonense als »orthodox« ausweisen konnten, während sie zur gleichen Zeit die entsetzlichsten Untaten vollbringen und damit den wahren Glauben des Volkes Gottes furchtbar verhöhnen konnten. Die Formeln von Chalcedon, in Jesus Christus seien in einer Person die göttliche und menschliche Natur »unvermischt« und »ungetrennt« präsent, war in doxologischem Kontext entstanden und beruhte auf den Ergebnissen komplizierter Kontroversen in der Kirche. Es ist sinnlos, diese Leistung geringschätzen zu wollen. Aber es steht außer Zweifel, daß die breite Fülle von »Erlaubnissen« wie ich sie nenne -, die das Neue Testament zur Entfaltung von Christologien gibt, in Chalcedon dramatisch reduziert worden ist.
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Il. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit Vgl. H. Grillmeier/H. Bacht, Das Konzil von Chalcedon, Geschichte und Gegenwart, Bd. I-III (Würzburg 1951-54). Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie (Gütersloh 1964),291334 (Aporetik der Zweinaturenlehre). .
4. WAS IST DURCH SEIN KOMMEN ANDERS GEWORDEN? (DIE FRAGE NACH BEFREIUNG UND FRIEDE)
Explikation IIA5
Grundlage lCl lB lG Konsequenz
IIIE
Spekulativ und müßig ist die Frage, wie die moderne Welt aussähe, wäre Jesus nicht gekommen noch auch die Kirche mit ihrer Botschaft von seiner weitergehenden Existenz im Modus des Geistes. Aber eine überzeugende Epiphanie Gottes war sein Kommen nicht, es brachte auch nicht ein Ende der Feindschaft zwischen Juden und Heiden, eine Befreiung der Unterdrückten, eine Ende von Leiden und Tod. Es war auch nicht der Anfang bleibenden Weltfriedens, nicht der Beginn einer glücklicheren Menschheit. Sein Kommen btachte auch nicht die Belohnung menschlicher Selbstdisziplin und Frömmigkeit, eher die Entwertung alter Hoffnungen darauf Die Beantwortung der Frage verlangt die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Aussage-Ebenen: primär ist die Frucht des Kommens, Leidens, Sterbens und der Auferweckung von Jesus die Versöhnung. Sie kann als Versöhnung Gottes mit der Welt oder als Versöhnung der Welt mit Gott interpretiert werden. In jedem Fall betrifft sie das Verhältnis zu Gott. Der Inhalt der Versöhnung auf der primären Aussageebene ist unsichtbar, unbeweisbar; er ist aber aussagbar in der sprachlichen Gestalt der Hoffnungen und Erinnerungen Israels sowie der Urgemeinde. Wem diese Sprache fremd ist, dem bleibt auch die primäre Rede von Versöhnung unverständlich und uninteressant. Auf der sekundären Aussage-Ebene stehen die von den
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C. Die eingelöste Rede von der Versöhnung
Gläubigen gesetzten Zeichen und die kommentierenden Worte. Die Gläubigen ihrerseits sind durch die Wahrnehmung der Aussagen und Zeichen auf der sekundären Ebene zur Einsicht in das versöhnte Gottesverhältnis gekommen. (Die Erkenntnisordnung entspricht dem Weg von der ökonomischen zur immanenten Trinität). Das zentrale Zeichen der geschichtlichen Verwirklichung der Versöhnung, die Ausweitung der Erwählung Israels auf alle Völker soll das Ineinanderwachsen von Juden und Heiden zu »einem neuen Menschen« sein. Gerade dieses Zeichen istnoch nicht geschichtliche Wirklichkeit geworden. Aber es gibt allgemeine, aus derselben Wurzel stammende Zeichen, die in der sozialen und politischen Wirklichkeit wahrnehmbar sind und zugleich neue Wirklichkeit schaffen: Taten der Liebe, Drängen auf Befreiung Unterdrückter, Heilung von Traurigen und Kranken, Versöhnung der Feinde, Eintreten für Gerechtigkeit aus der Hoffnung auf das Reich Gottes. Die primären Aussagen über Versöhnung haben ihren Ort im Gottesdienst und kulminieren im Wagnis der Einsicht, daß durch das Kommen, Leiden und Sterben von Jesus in Gott selbst etwas anders geworden ist, daß er sich in unmittelbarer Nähe zu allem Leiden und Sterben der Menschen, vielleicht auch der Tiere und Pflanzen, befindet. Hier haben auch die analogielasen Aussagen über Auferweckung ihren Ort. Und von hier aus kann die aller Wirklichkeit Hohn sprechende Rede von der Überwindung des Todes riskiert werden. Keine dieser primären Aussagen ist verifizierbar. Aus der Perspektive der Gläubigen handelt es sich dabei insofern um primäre Aussagen, als sie aus den biblischen Schriften entnommen sind. In ihrer theologischen Reflexion aber sind es Aussagen, die durch die Frage nach dem Grund der von Gott und den Gläubigen gesetzten Zeichen erst gewonnen werden müssen. Das Kommen von Jesus wird in ihrem Bekenntnis als das entscheidende Zeichen Gottes gesehen.
Grundlage II BI
Explikation II A 5 Konsequenz III E4
Explikation III C 4 u. 5 IIID ID 6 IC4
Grundlage IG
Explikation IIIE Grundlage ID4
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
Die sekundären Aussagen über Versöhnung und ihre Zeichen sind in ihrem Effekt, wenn auch nicht in ihrem Grund, allen rationalen und verantwortlichen Menschen zugänglich. Daß sie auch zum Wohl der Menschen und zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen dienen, ist bleibende Aufgabe der Gläubigen. Die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Aussageebenen macht deutlich, daß Theologie und Glaube nicht ein und dasselbe sind. Die Theologie kann aus scheinbar primären Aussagen den Weg zu den wirklich primären Axiomen zurückgehen und von dorther die Begründung für scheinbar primäre Aussagen gewinnen, etwa für das Zeichenhafte. Sie ist darin mit der Metaphysik Analytischer Philosophie verwandt, die im Selbstverständlichen und Gegebenen, dem scheinbar Primären, den Anlaß zur Suche nach dem Grund sieht, vgl. I H 2. Was ist anders geworden durch die »Ausweitung der Erwählung« Israels auf alle Völker? Dreierlei ist benennbar: 1. die Freiheit ist entstanden, ohne Gott Gegengaben anzubieten, sich seiner Geschöpflichkeit zu erfreuen und seine Verwundbarkeit zu akzeptieren, weil Gott das Leben von Jesus radikal mitgelebt und gutgeheißen hat; 2. die Hoffnung auf die Aufrichtung von Gottes Recht und Gerechtigkeit, d. h. auf den Sieg der Liebe über den Haß, des Neuen über das Alte, des Lebens über den Tod, ist begründeter als sie es vor dem Kommen von Jesus war; 3. die unaussprechliche und analogielose Einsicht ist provoziert und ermöglicht, daß durch das Kommen, Leiden und Sterben von Jesus in Gott selbst etwas anders geworden oder verwirklicht worden ist: daß er jetzt teilhat an allem Leiden und Sterben der Menschen, vielleicht auch der Tiere und Pflanzen. Dieser Gedanke kann nur trinitarisch gefaßt werden.
C. Die eingelöste Rede von der Versöhnung
Die Freiheit und die Hoffnung bilden darum auch die Grundlage der Ethik der Gläubigen. Ihre Freiheit im Glauben läßt sie auch für soziale und politische Befreiung einstehen. Sie fürchten sich nicht vor Veränderungen, sie wünschen sie herbei, vgl. In AL Ihre Hoffnung auf das Reich Gottes läßt sie auch für vergängliches Recht und temporäre Gerechtigkeit sich stark machen, vgl. In c. Und das Wagnis der Einsicht in eine innere Dynamik Gottes drängt sie zur doxologischen Anrede an Gott im Gottesdienst als eines mit dem Geschick der Welt verwickelten Gottes, vgl. In E. Eine klassische und eine neue theologische Lehre sind hier in enger Verknüpfung berührt: die Rechtfertigungslehre und die Gotteslehre der Prozeßtheologie. Zur Rechtfertigungslehre - der ich als isolierter, autonomer Thematik der Theologie kritisch gegenüberstehe - sind mir wichtig: Hans Joachim Iwand, Rechtfertigungslehre und Christusglaube, Eine Untersuchung zur Systematik der Rechtfertigungslehre Luthers in ihren Anfängen (1930, 2. Auf). München 1961); das 111. Buch von Johannes Calvins Institutio; Friedrich Schleiermacher, GL § 91-112; Karl Barth, KD IV, 1, 573-718; Paul Tillich, SyTh 11, besonders Teil 11. Vgl. auch die Schrift von Wilfried Härle und Eilert Herms, Rechtfertigung, Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens (Göttingen 1980), aus der die Vernetzung der Rechtfertigungsthematik in sämtlichen Teilthemen der Theologie gut sichtbar wird. Daß sich durch das Kommen von Jesus nicht nur bei den Menschen, sondern auch bei Gott etwas verändert hat, konnte klassische Theologie so nicht aussprechen. Der Gedanke ist aber letztlich unumgänglich, wenn das trinitarische Verständnis nicht in statischem Modalismus verharren will. Noch weithin unentschieden ist die Frage, ob neuere Prozeßtheologie, die bekanntlich höchstens implizit trinitarisch vorgeht, hier sinnvolle Hilfen wird anbieten können. Ihr ist der Gedanke der Veränderbarkeit Gottes, oder einer Bereicherung, die er erfährt, wichtig. Es fragt sich nur, ob christliche Prozeßtheologie nicht letztlich die Ewigkeit Gottes bestreitet und auch Schwierigkeiten mit der Artikulation von Sätzen über seine Selbigkeit in der Veränderung hat. Vgl. Michael Welkers umfassende Darstellung und Analyse der Gotteslehre im Prozeßdenken: Universalität Gottes und Relativität der Welt (Neukirchen 1981). Eine scharfe Kritik der Prozeßtheologie bietet Robert
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
C. Neville, Creativity and God, AChallenge to Process Theology (New York 1980).
Ist nun das Neue, das durch das Kommen von Jesus eingetreten ist, eine rein geistige Realität? Darauf wird man mit Ja antworten müssen aber allerdings die Zeichen miteinschließen wollen, die aus dieser geistigen Wirklichkeit erwachsen. Außer, Glaube, Liebe und Hoffnung unter den Gläubigen gibt es nicht viele Zeichen dafür, daß die Welt durch das Kommen von Jesus anders geworden ist. Und auch sie werden ständig durch die Geist- und Lieblosigkeit der Gläubigen ins Zwielicht gerückt. Die Funktion christlicher Sakramentslehren als Antwort auf die Frage nach einem Erweis der Gegenwart Gottes ist mir weitgehend unverständlich, weil ich meine, hier läge ein Zirkelschluß vor. Können kirchliche Sakramente etwas anderes sein als Bestätigungen auf anderer Ebene von bereits Gehörtem und Gefeiertem? Wichtig ist für mich das Buch meines katholischen Kollegen aus den Mainzer Jahren, Theodor Schneider, Zeichen der Nähe Gottes, Grundriß einer Sakramententheologie (Mainz 1979). Vgl. auch die Ergebnisse der Konferenz für Glaube und Kirchenverfassung in Lima, Januar 1982: Taufe, Eucharistie und Amt (Faith and Order Paper No. 111, dt. Frankfurt 1982).
5. AUFERWECKUNG,KREUZUND INKARNATION ALS RETROSPEKTIVE THEOLOGISCHE KONZEPTE (DIE FRAGE NACH BLEIBENDER BEDEUTUNG)
In der herkömmlichen Frage nach der Bedeutung des Kommens von Jesus, seines Wirkens, seiner Passion und seiner Hinrichtung ist ein Gefälle zur Objektivierung eingetreten, die zwar bestimmte Deduktionen ermöglicht und
C. Die eingelöste Rede von der Versöhnung
auch zu Aussagen über die bleibende Wirkung von Jesus einlädt, die aber zugleich Verzerrungen bewirkt. Erstens bewirken objektivierende Feststellungen über die Bedeutung von Jesus Christus notgedrungen eine gewisse Distanz vom Geschehen selbst und vor allem von seinem Kontext, der Gesamt-Story. Zweitens drängt die vergegenständlichende Frage nach separater Thematisierung einzelner Abschnitte im Gesamtphänomen des Kommens von Jesus, nämlich der sogenannten Inkarnation, dem Wirken, der Passion, der Kreuzigung und den Erscheinungen des Auferweckten, und zwar in dieser Reihenfolge. Hervorstechend sind besonders die bald zu autonomen theologischen Begriffen erhobenen Termini: Inkarnation, Kreuz und Auferweckung. Sie werden bei klassischen und vor allem heutigen Autoren oft bis zur logischen Unerträglichkeit autonom verwendet und personalisiert, z. B. »Das Kreuz will. .. «, »die Inkarnation duldet nicht. .. « u. ä. Zudem laden die separat thematisierten Begriffe trotz der Beteuerungen vieler Autoren, sie nur in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zu behandeln, zu unterschiedlichen Gewichtungen ein. Nur so konnten die typischen »Inkarnations-«, »Kreuzes-« und österlichen Theologien entstehen, die grosso modo auch für die verschiedenen großen Konfessionen in der christlichen Kirche charakteristisch sind. Die objektivierenden Begriffe Auferweckung, Kreuz und Inkarnation, können - in dieser Reihenfolge - nur als retrospektive theologische Konzepte sinnvoll zur Erstellung regulativer Sätze verwendet werden, wobei der Begriff der Inkarnation zweifellos der problematischste ist.
Freilich ist die Frage nach der bleibenden Bedeutung von Jesus ein verständlicher Anlaß für die Bildung von Begriffen, die eigens herauskristallisierte Abschnitte oder Aspekte des Lebens und Sterbens von Jesus umfassen sollen. Dabei gilt es zunächst zu unterscheiden zwischen dem Begriff der Inkarnation als dem weitesten,
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Grundlage IB 2 IH3
Grundlage IB 3
Explikation IFl IH2
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
schon eine erklärende Theorie signalisierenden; dem Begriff des Kreuzes als einem Symbolbegriff, der Leiden und Sterben in ihrer Bedeutung anzeigen will und dem Begriff der Auferweckung, der - als einziger - auf die direkte Erfüllung einer Verheißung aus den heiligen Schriften weist (indirekt ist auch der Begriff des Kreuzes in biblischer Verheißung verwurzelt, aber nur über den Begriff des Opfers). Ich nenne diese Begriffe retrospektiv, weil ihre Verwendung mindestens eine Rückschau aus der Zeit der Kirche auf die Zeit Jesus einschließt, teilweise auch eine zweite Rückschau in die Erinnerung an biblische Hoffnungen aus der Zeit vor Jesus. Die beiden Gefahren der Verwendung dieser Begriffe sind die vergegenständlichende Distanzierung vom Leben und Sterben von Jesus sowie die unvermeidliche Aufgliederung in unterschiedene Einzelfragen nach der Signifikanz von Jesus. Auch die in der Kirche von jeher geschehene Rückverwandlung von sekundären Symbolen und Begriffen in primäre Symbole (»Kreuzesmystik«, »Inkarnationsglaube« usw.) ändert nichts an der Präsenz dieser Gefahren. Nun »rettet das Kreuz«, man »glaubt an die Aufersteheung«, statt - stricte dictu - an Gott, der im Gekreuzigten litt und im Auferweckten die Gegenwart seines Geistes wirksam sein läßt. Die Schwierigkeit des Inkarnationsbegriffs besteht darin, daß er die Gegenwart Gottes im Menschen Jesus auf eine hohe Abstraktionsebene hebt und vom Benützer dieses Begriffs eine beobachtende, fast neutrale Perspektive verlangt, die Gott und Welt und Jesus umgreift. Alttestamentliches und jüdisches Denken hat sich eine solche Totalsicht nicht geleistet. Es ist aber vom griechischchristlichen Denken der Alten Kirche nicht mehr verstanden worden und wurde ja auch durch die Verwendung des Inkarnationskonzeptes als vorläufig und überholt in den Hintergrund gedrängt. Wie hätte auch Gottes Gegenwart in Israel so vollkommen und total sein kön-
C. Die eingelöste Rede von der Versöhnung
nen, wie die im Inkarnierten? Formuliert man den Sachverhalt so, dann sieht man sogleich, daß im Inkarnationsbegriff theologische Gefahren, wenn nicht Fehler, impliziert sind. Denn gewiß ist es nicht richtig, die Gegenwart Gottes im Geist im alten Israel gegenüber seiner Präsenz im Menschen Jesus abzuwerten. Die Intention hinter der Verwendung des Inkarnationsbegriffs hingegen ist sicher das legitime Anliegen, in Jesus den Gesendeten und den unverwechselbaren Träger des Geistes Gottes und seines Mitleidens, den unwiederholbaren Messias zu sehen. Wenn der Begriff überhaupt Verwendung finden soll, dann müßte er mit diesen und ähnlichen biblischen Inhalten gefüllt verwendet werden. Obwohl Adolf v. Harnacks Kritik (und die seiner Lehrer und Schüler) an der Inkarnations- und Erlösungslehre der griechischen Väter, besonders an Athanasius, gewiß zu weit geht und auch auf Mißdeutungen beruht, ist das gesamte griechische Konzept der Inkarnation doch als eine bedauernswerte Verkomplizierung der Sprachregelung in der Christologie zu beurteilen. Vgl. meine Schrift: Athanasius (Zürich 1964; auch Konzepte I, 21ff) sowie Memory and Hope (1967) Kap. VI, S. 202ff. Auf einem überaus hohen Abstraktionsniveau macht Thomas F. Torrance in Edinburgh in all seinen Arbeiten seit Anfang der sechziger Jahre Gebrauch von einem die neue Physik und die klassische Inkarnationstheologie verbindenden Konzept der Aufhebung des Dualismus. Er beklagt die griechische dualistische Naturphilosophie und ihren Einfluß über Galileo und Newton hinaus und sieht einzig in der griechischen Patristik und in heutiger Zeit in Einstein sowie in Karl Barth Wege zur Überwindung der fatalen Trennung in Festes und Bewegliches, Bleibendes und Kontingentes. Neue Feldtheorie und Theorie der Elementarteilchen weise auf Kontingenz sowie Intelligibilität des Universums, von dessen wirklichem Funktionieren wir nur winzige Aspekte, aber immerhin diese, einsehen können. Mit Maxwells elektromagnetischer Feldtheorie (Torrance bearbeitet z. Z. eine Neuausgabe von J. C. Maxwells »A Dynamical Theory of the Electromagnetic Field«) begann die Revolution moderner Physik, indem nun ursprünglich disparate Vorstellungen über Energieformen auf Dahinterliegendes reduzierbar wurden, eine Revolution, die sich mit Einstein und moderner Quantenmechanik fortsetzte. Torrances Grundthese ist die, daß
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lI. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit schon Athanasius und nach ihm Kyrill v. Alexandrien einsahen, daß die griechische Wissenschaftstheorie nicht ausreicht, um Gottes Kommen in Jesus zu artikulieren. Im Gegenzug hätten sie aus christologischen Gründen Ansätze zur Neugestaltung der Philosophie gezeigt, die - sehr verspätet durch den Einfluß des traditionellen Dualismus in Astronomie und Physik - nun im 20. Jahrhundert zum Zuge kommen könnte. Kar! Barths Trinitätslehre und Auslegung der Homousie von Gott dem Vater und dem inkarnierten Sohn sei darum so entscheidend, weil dadurch die (dualistische) Trennung zwischen Gottes Sein und seinem Handeln (das eine von der Alten Kirche, das andere von der Reformation überbetont) aufgehoben sei. Vgl. u. a. Torrances Theology in Reconciliation (London 1975), meine Besprechung in The Ecum. Review, Vol. XXVIII, Okt. 1976. - Eine Summierung von Torrances christologischen Thesen findet sich im Themenheft »Von Gott reden« der EvTh 43, 1 (Jan./Feb. 1983) mit einem Aufsatz von Torrance »Homoousion«, 16-25 sowie drei Diskussionsbeiträgen dazu. In englischsprachigen Ländern ist durch das Buch: The Myth of God Incarnate, hg. von John Hick (London 1977) eine heiße Diskussion entbrannt. Viele in diesem Buch vertretene Positionen waren allerdings keineswegs neu, jedenfalls nicht für deutschsprachige Leser. Zwei Bände mit gelehrten, auch philosophisch und wissenschaftstheoretisch anspruchsvollen Beiträgen, die nun auch für deutschsprachige Theologen neue Gesichtspunkte bieten, spiegeln die Diskussion wider: Michael Goulder (Hg.), Incarnation and Myth: The Debate Continued (London 1979), dort besonders die Beiträge von Nicholas Lash, Brian Hebblethwaite, Don Cupitt und Stephen Sykes, sowie A. E. Harvey (Hg.), God Incarnate: Story and Belief (London 1981), dort besonders die Beiträge vom Oxforder Alttestamentler James Barr (der seit den sechziger Jahren mein Story-Konzept stark beeinflußt hat) und von Macquarrie.
Die Schwierigkeit des Kreuzesbegriffs liegt in der Ausblendung des Lebens und der Lehre von Jesus und in der hinter der Betonung des Kreuzes liegenden Opfervorstellung. Man kann es kaum für wahrscheinlich halten, daß in zukünftigen theologischen Erklärungsversuchen ein Opfergedanke im Sinn einer Bezahlung oder Leistung für Gott eine zentrale Bedeutung haben wird, anders denn als modus loquendi für eine dahinterliegende Konzeption von allgemeiner Schuld der Menschheit, die
C. Die eingelöste Rede von der Versöhnung
Jesus nicht teilte. Von bleibender und überragender Bedeutung aber ist die Erklärung der einmütigen Aussagen der neutestamentlichen Gemeinden und aller späteren Tradition, der Tod Jesu sei kein privater, sondern ein vikariatsmäßiger Tod gewesen. Ohne dieses Axiom ist keine Christologie denkbar. Offen bleibt aber weitgehend, was diese Aussage für unsern Tod und unsere Angst vor dem Tod zu sagen hat. Welcher Tod ist durch den Tod Jesu (und durch seiner Auferweckung) überwunden? Gibt es außer dem Tod, der uns alle erwartet, noch einen anderen Tod, dessen Überwindung hier gemeint sein könnte? Und wenn die Christologie mit zwei Konzepten vom Tod umgehen muß, so entsteht die Frage, ob entweder die Kirchen und ihre Liturgien fahrlässig zwielichtig über die Überwindung des Todes gesprochen haben, oder ob die Überwindung bzw. das Außerkrafttreten des Todes im zweiten Verständnis eine direkte Auswirkung auf unsem Tod im ersten, im üblichen Verständnis hat. Wenn letzteres der Fall ist, so müßte die Theologie verständliche Erklärungen dieser Auswirkung bereitstellen können. (Ein elementarer Teil einer solcher theologischen Erklärung ist zweifellos der Begriff der Stellvertretung). Vgl. dazu die exegetische Studie von Markus Barth: Was Christ's Death a Sacrifice? (Edinburgh/London 1961) und Bertold Klappert (Hg.), Diskussion um Kreuz und Auferstehung (WuppertaI1967). Jürgen Moltmann, Der gekreuzigte Gott (München 1972) löste eine Diskussion aus, die Michael Welker in einem Band herausgegeben hat: Diskussion über Jürgen Moltmanns Buch "Der gekreuzigte Gott« (München 1979).
Die Schwierigkeit des Auferstehungsbegriffs liegt in seiner Verwurzelung in der uns fremden spät jüdischen Apokalyptik und in der Analogielosigkeit der darin verankerten Aussagen über die Erscheinungen von Jesus nach seinem Tod. Einerseits hilfreich, andrerseits irritierend ist die Flexibilität neutestamentlicher Aussagen, die
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je nach Adressaten viel, wenig oder keinen Gebrauch von spätjüdischen Auferstehungserwartungen machen (vgl. 1Kor 15 etwa mit lTim 3,16). Die Fremdheit der apokalyptischen Sicht von Weltwirklichkeit und von Gott, die man in Kauf nehmen oder überwinden muß, um im Sinn der Zeugen des 1. Jahrhunderts von Auferweckung sprechen zu können, ist erheblich größer als die Schwierigkeit, mit johanneischen Sätzen (oder eben mit 1Tim 3,16) von »Erhöhung« oder »Hinaufnahrne« zu sprechen. Nicht nur im Gespräch mit Christen, sondern gerade im Dialog mit jüdischen Theologen und auch mit den historischen Weltreligionen wird christliche Theologie in Zukunft deutlicher als bisher klarstellen müssen, welche Erklärungen als für christliche Gläubige legitim angesehen werden können. Hier besteht wegen des bald zweitausendjährigen Sprachgebrauchs in· direkter und zentraler Beziehung zu Jesus Christus eine begreifliche Scheu, den Satz »Er ist auferstanden« auf eine eventuell dahinterliegende Bedeutung zurückzuführen. Wenn »auferstanden« nicht heißt »ein Toter ist zum vorherigen Leben zurückgekehrt«, was heißt es dann? Es kann dann heißen: Erhöhung in das Leben in Gott, in das auch andere, wir, erhöht werden können. Und soll »ist« heißen, daß dies mit J esus in der Weise im 1. Jahrhundert geschehen ist, daß wir in der Rückschau sagen können: es war so? Die Beantwortung spaltet sich in zwei Möglichkeiten, auch wenn sie positiv ausfällt. Einmal kann das »war« im Sinn einer Einordnung in erzählbare und im Prinzip normal verifizierbare Geschichte verstanden werden, dann ist auch die historische Rückfrage von den Ostererscheinungen auf ein Geschehen (sei es Auferweckung, sei es Erhöhung) sinnvoll. Oder das »war« wird im Sinn eines durch Gott verbürgten zukünftigen Geschehens verstanden, entsprechend dem Satz »Gott ist Herr der Geschichte«, der im Blick auf die Vergangenheit zur logischen Folgerung berechtigt »er war (schon) früher ihr Herr«.
C. Die eingelöste Rede von der Versöhnung
Nimmt man den Satz »Gott ist Herr der Geschichte« (oder der Welt) als Vergleichs satz zu Hilfe und bedenkt zugleich, daß - stricte dictu - dieser Satz etwas aussagt, das wir gar nicht aussagen wollen (nämlich, daß die ganze Geschichte Gottes Herrschaft und Wille entspricht), dann könnte der Satz »Er ist auferstanden« - gleich wie der Vergleichssatz - nur noch bedeuten, daß die von Gott verheißene und herbeigeführte Zukunft so sicher verbürgt ist, daß es angemessener ist, »ist« statt »wird sein« zu sagen. Sollte die Lösung in dieser zuletzt genannten Richtung zu finden sein, so ergeben sich wiederum zwei Möglichkeiten. Entweder ist Jesus in dem Sinn auferstanden (bzw. erhöht), daß er es absolut sicher sein wird, oder er ist es bereits (er war es) in einem Sinn, den wir erst in Zukunft verstehen werden. Das noch Ausstehende ist dann nicht das ihn Betreffende, sondern betrifft unser Verstehen. Zu dieser zweiten Lösung greifen manche Autoren, die sich der Schwierigkeiten anderer Lösungsversuche bewußt sind. Beide Lösungen aber haben dieses gemeinsam, daß sie als das Entscheidende die Präsenz Gottes in Jesus aussagen und zwar in dem Sinn, daß Gott in der Auferweckung durch den Geist (bzw. der Erhöhung) nicht sich selbst auferweckt oder erhöht, sondern den Menschen Jesus, den er dadurch in seinem Leben, Lehren, Leiden und Sterben verteidigt und rechtfertigt. Das ist nun in der Tat auch das einhellige Zeugnis der neutestamentlichen Gemeinden und verlangt nach dem impliziten Axiom der altkirchlichen Christologie, das hinter der sogenannten Zwei-Naturenlehre liegt, so unvorteilhaft deren Ausformung auch sein mag. Das heißt nichts weniger als daß nicht nur das Sterben, sondern auch die Auferweckung (bzw. Erhöhung) von Jesus als vikariatsmäßig verstanden und gefeiert werden darf. (An diesem Punkt wird auch deutlich, daß die als Verästelungen und Spekulationen oft kritisierten altkirchlichen Lehren von
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der An-und Enhypostasie auf legitime Fragen zu antworten suchten). Zur Diskussion über die Frage, ob die Apokalyptik »die Mutter christlicher Theologie« sei (Bultmanns Frage an Käsemann, 1964), orientiere ich mich am Sammelband Klaus Koch / Joh. Michael Schmidt (Hgs.), Apokalyptik (Wege der Forschung, Bd. CCCLXV, Darrnstadt 1982). Neuere exegetische Information habe ich erhalten von John Alsup, The Post-Resurrection Appearance Stories ofthe Gospel Tradition (Stuttgart 1975) und von Ulrich Wilckens, Auferstehung, Das biblische Auferstehungszeugnis historisch untersucht und erklärt (Gütersloh 1977). Über theologische Diskussionen informiert Adriaan Geense, Auferstehung und Offenbarung (Göttingen 1971) sowie Willi Marxsen u. a. (Hg.), Die Bedeutung der Auferstehungsbotschaft für den Glauben an Jesus Christus (Gütersloh 1966), dort besonders Hans-Georg Geyers Beitrag, 91ff. Sehr wichtig waren für mich drei Aufsätze zur Auferstehungsthematik von Wolfhart Pannenberg in: Grundfragen systematischer Theologie, Ges. Aufsätze Bd. 2 (Göttingen 1980), 146ff, 160ffund 174ff sowie der Teil »Der auferweckte und erhöhte Christus« in Walter Kasper, Jesus der Christus (Mainz 1974), 145ff. Zur Lehre von der An- und Enhypostasie gibt es jetzt - im Hinblick auf Karl Barths Verwendung, aber mit breiter Information und Diskussion - ein hilfreiches Buch: Hans Stickelberger, Ipsa assumptione crdltur, Karl Barths Rückgriff auf die klassische Christologie und die Frage nach der Selbständigkeit des Menschen (Bern 1979).
Die drei »retrospektiven Konzepte« der Christologie, Inkarnation, Kreuz und Auferstehung - sollte der Begriff Inkarnation überhaupt verwendet werden - sind in umgekehrter Reihenfolge besser aneinander zu knüpfen als in einer quasi historischen Abfolge. Trinitarisches Denken bestimmt den Rahmen der christologischen Thematik durch die Hervorhebung der Funktion des Geistes. Damit wird auch die These unterstützt, die Erkenntnis der Präsenz Gottes in Jesus hätte ihren Anfang in der Wahrnehmung des Christus praesens im Gottesdienst. Von hier aus gilt es rückwärts im Verstehen vorzudringen
c. Die eingelöste Rede von der Versöhnung
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auf die Erscheinungen des Auferweckten, der der Gekreuzigte ist. Walter Kasper hat seine oben genannte Christologie auch weitgehend in dieser Sequenz der Erkenntnisordnung angelegt. Wolfhart Pannenberg aber hatte Bedenken, mit dem Christus praesens und nicht mit den Berichten über die Auferweckung bzw. die Erscheinungen einzusetzen, als wir im August 1980 vor einem gemeinsamen Hörerkreis eine Woche lang Vorträge zur Christologie hielten.
6. DAS TRAGISCHE IM LICHT DER CHRISTOLOGIE (UNSER ALLER FRAGE)
Das Leiden und Sterben von Jesus kann nicht als Tragik bezeichnet werden, wenn Tragik die zukunftslose Ausweglosigkeit bedeutet, in der jede Entscheidung in den Abgrund oder zur Schuld führt. Die Welt ist aber voller Tragik in genau diesem Sinn des Wortes, in menschlichen Einzelschicksalen sowie auch in der Politik. Ebensowenig kann aber durch das Sterben und die Auferweckung von Jesus des Tragische endgültig als abgetan und überwunden erklärt werden, wie es in protestantischer Tradition weithin geschah. Der Tod ist zwar als Strafe oder Trennung von Gott überwunden, das Tragische aber zeigt sich im Leben vor dem Tod oder bei den Überlebenden und behält dort die Dimension der [rreversibilität und damit der faktischen Ausweglosigkeit, wenn auch das christliche Verständnis von Tragik sich vom griechischen in der Freiheit zur Annahme von Vergebung unterscheidet.
Theologie, besonders in der protestantischen Tradition, vermeidet gerne den Begriff des Tragischen. Der of-
Explikation lIAS III C4
Explikation IIB4 III A2 II1C
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
fenkundige Determininismus im klassisch-griechischen Verständnis und die dort freimütig konstatierte begrenzte Macht der Götter, die nicht Erschaffer und auch nicht Hüter der Menschheit sind, die schicksalhafte Gebundenheit und Verlorenheit der Menschen, deren Glück nur Schein ist, das Schreckliche der Wahrheit und Unausweichliche der Verfehlung - dies alles hatte schon Jakob Burckhardt zur Rede vom »grie.chischen Pessimismus« veranlaßt. Christliche Theologen wollten darin keine der biblischen Botschaften angemessene Beschreibung der Weltwirklichkeit sehen. Im Detail in vielem überholt aber im ganzen immer noch großartig ist Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorffs Einleitung in die griechische Tragödie (Berlin 1907). Die Dissertation (bei Wolfgang Schadewaldt) meiner Griechischlehrerin im Gymnasium, Ruth Camerer, Zorn und Groll in der sophokleischen Tragödie (Leipzig 1936) hat mich schon früh angeregt. V gl. auch Siegfried Melchinger, Die Welt als Tragödie, Bd. I u. 11, (München1979 u. 1980), sowie die Aufsätze von Günther Bornkamm, >,Mensch und Gott in der griechischen Tragödie und in der urchristlichen Botschaft« und »Mensch und Gott in der griechischen Antike«, in Ges. Aufsätze Bd. I (München 19582. Aufl.), 173ff bzw. Bd. 11 (1959), 9ff. Eine Ausnahme unter den Theologen, den Begriff des Tragischen positiv aufzunehmen, bieten die drei Kapitel über Ironie, Transzendenz und Ethik in Verbindung mit dem Tragischen in den Gifford Lectures des früheren systematischen Theologen in Cambridge, Donald McKinnon, The Problem ofMetaphysics (Cambridge 1974), 114ff, 122ff und 136ff. Das Buch und sein Autor genießen in England und Schottland großen Respekt.
Wenn auch das Leiden und der Tod von Jesus, gemessen an dem ungeheuer niedrigen Anspruch seines Lebens und den nahezu unauffindbaren Selbstdefinitionen, nicht tragisch genannt werden kann, so ist es doch unüberhörbar, daß er seinen Schülern und Nachfolgernkein leidensfreies oder gar todesfreies Leben verheißen hat. Und wenn auch die Christen durch ihr Wissen um Versöhnung auf den in Vergebung möglichen Neuanfang
C. Die eingelöste Rede von der Versöhnung
hoffen, so leben sie doch in einer Welt, in der neben dem Trivialen das Tragische übermächtig zu sein scheint. Welchen Einfluß hat das Kommen, Leben, Sterben und Auferstehen von Jesus darauf? Die Theologie der Kirchen scheint immer noch darauf eingerichtet zu sein anzunehmen, die Mehrzahl der Mitmenschen sei durch den Trost des Evangeliums erreicht oder könnte doch im Prinzip erreicht werden. Aber die überwiegene Mehrzahl der Menschen in der Welt sowie in den ehemals christlichen Ländern, in denen wir leben, ist durch die guten Dinge, mit denen sich die Christologie befaßt, nicht im mindesten berührt. Dadurch stellt sich um so dringlicher die Frage nach der ontologischen Gestalt, der überpersonalen und transekklesialen Wirkung von Gottes Tun in Jesus. Dieses Problem ist nahezu unlösbar. Abgesehen von der Hoffnung, Gottes Recht und Friede würden aufgerichtet werden und sowohl gläubige wie ungläubige Menschen unserer Zeit könnten im Kleinen diese große Hoffnung abbilden und soziale Wirklichkeit werden lassen, sehe ich auch keinen Ansatz für eine Lösung. Das ist klassischer Theologie gegenüber insofern eine Neuerung, als es ihr - allerdings in sehr unterschiedlichen Graden der Intensität - darum ging, den Gläubigen eine über den individuellen Tod hinausgehende Versöhnung mit Gott, ein Nachlassen oder Ablassen seiner Strafabsichten ihnen gegenüber nahezubringen und zu erklären. So wichtig mir die theologische Rehabilitation der Vorstellung und der Hoffnung auf das ewige Leben in Gott nach unsenn Tod ist - eine Hoffnung, die vor allem protestantische Theologie zu leichtfertig preiszugeben bereit war - so unerträglich scheint mir der Gedanke, die entscheidende Wirkung des Kommens und Sterbens von Jesus läge darin, daß ich nach meinem Tod nicht bestraft werde. In breiten Anteilen ist die Weltpolitik tragisch verlaufen: sowohl in der Entwicklung zur Nationalstaatlichkeit und ungleichen Verteilung der Bodenschätze als auch im Sozialen, in der Zunahme der Bevölkerung, in ungerechter Machtkonzentration, in den Konsequenzen von Verträgen, kolonialer Geschichte oder Eroberungen. Aus der Vogelperspektive des Historikers mögen dies alles keine tragischen Ereignisse sein, weil sie sich im Verlauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte günstig verschieben oder auflösen können. Aber
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für die jetzt lebenden Menschen bedeutet diese Perspektive wenig oder nichts. Sie leben jetzt millionenfach in zukunftsloser Ausweglosigkeit, in der jede Entscheidung sinnlos ist. Ich meine damit nicht nur die Armen, etwa in Westafrika, Asien und Südamerika, sondern auch ihre und unsere Politiker, die in Obligationen verstrickt sind, bevor sie mit Entscheidungsprozessen beginnen. Die ungeschriebene Geschichte hinter der Tragik der Weltgeschichte besteht aus den ungezählten Einzel-Stories von Kindern, die in Angst und Haß aufwachsen, überforderten Müttern, gescheiterten Ehen, enttäuschten Männern, verbitterten Alten - also nicht nur den Einzelschicksalen unerfüllten, sondern auch unerfüllbaren Lebens. Wer, wenn nicht Pfarrer, Seelsorger und Therapeuten, sollte dies als die soziale Wirklichkeit auch unserer Lebenswelt erkennen? Was bedeutet Tod und Auferweckung (bzw. Erhöhung) von Jesus in bezug auf diese Wirklichkeit?
Wenn es richtig ist, daß durch das Kommen von Jesus eine Kommunität entstanden ist, deren Bekenntnis zu ihm gerade darin besteht zu sagen, daß seine Bedeutung nicht nur auf diese Kommunität beschränkt ist, sondern die ganze Menschheit betrifft (so war die These in II C 2), so ist die Wirksamkeit des Trostes und der Hilfe für die Gläubigen selbst nur der eine Teil dessen, worum es geht. Was ist der andere Teil? Es gibt zwei Möglichkeiten der Beantwortung. Die erste wäre eine auf die Gläubigen selbst bezogene Minimalaussage dahingehend, daß ihnen durch das Kommen von Jesus eine neue Interpretation der Welt und ihrer Tragik erschlossen worden ist. Mindestens können sie sich selbst und anderen sagen, daß das Tragische nicht von Gott kommt oder von ihm gewollt ist. Wenn ihnen dadurch auch keine Uminterpretation des Tragischen selbst möglich wird, so doch eine sinnvolle und konstruktive Interpretation der Chancen, die sich nun trotzdem noch zeigen. (Im Sinn dieser Minimalaussage wäre es auch gewiß nicht die Aufgabe der Gläubigen oder ihrer Pfarrer, den sinnlosen und tragischen Tod eines Menschen zu »interpretieren« oder ihm - auch einem Krieg oder Auschwitz-
C. Die eingelöste Rede von der Versöhnung
doch noch »einen Sinn abzugewinnen«, vielmehr müssen sie nach dem Sinn der Zukunft suchen, auch wenn er darin bestehen sollte, die Ausweglosigkeit zu akzeptieren). Aber es gibt darüber hinaus noch eine zweite Möglichkeit, die nicht auf die Interpretation durch die Gläubigen beschränkt ist. Nach ihrer Kenntnis Gottes, artikulierbar in trinitarischer Gestalt, ist es ihnen möglich zu sagen, daß auch Gott seinerseits die Welt interpretiert und aus dieser Interpretation - wenn man das so ausdrücken will - seine Konsequenzen zieht. Das ist der Hintergrund der klassischen Lehre von der Erhaltung der Welt durch den Schöpfer. Den Gläubigen erscheint es darin sinnvoll zu sagen, daß die Welt und ihre Menschen gar nicht weiterbestehen könnten, wenn Gott sie nicht am Auseinanderfallen hinderte. Wenn diese Lehre aber von ihrer Bezogenheit auf die Erwählung Israels und das Kommen von Jesus (in dem diese Erwählung auf Nicht-Israel erweitert ist) abgetrennt wird, so gibt sie Anlaß zu schweren Mißdeutungen, etwa zu der Vorstellung, der Schöpfergott wolle die Welt genauso haben, wie sie jetzt vorzufinden ist, er sei primus motor an ihres Geschehens, usw. Wird diese Lehre aber im engen Bezug auf Gottes Mitleiden mit Israel und seine Gegenwart in Jesus in jeder Form des Tragischen verstanden und entfaltet, so wirft sie ein Licht auf Gottes Handeln auch an den Menschen, die ihn nicht kennen. Mit der metaphorischen Aussage, Gott interpretiere die Welt, ist freilich das alte Problem der »Gleichzeitigkeit« von Jesus mit anderen Generationen wieder aufgeworfen. Jesus war nicht, wie ein Denker, Maler oder Komponist es sein kann, »seiner Zeit voraus«, und doch war er damals und ist noch heute darin unzeitgemäß, daß er sowohl Gott als auch die Mitmenschen, einschließlich der Feinde, vollständig und bedingungslos ernst nahm. Ihm darin es »direkt« gleichzutun, ist immer der Grenzfall. Es ist nicht überspitzt, wenn man sagt, daß in Jesus etwas passiert ist, was noch nicht passiert sein kann und doch schon Gegenstand der dankbaren Erinnerung ist. (Ein solcher Gedanke muß wohl hinter dem eigenartigen
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Text Mt 27, 52f - nach dem Bericht über den Tod Jesu - stehen: »und die Grüfte öffneten sich und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt«, der ja, wenn man im üblichen Schema von Zeit und Kontingenz denkt, absurd ist). - Sören Kierkegaard hat in mehreren Büchern, in bewußter Abgrenzung gegen Hegels Zeitverständnis, solche christologischen Gedanken entwikkelt, vgl. meinen Aufsatz »Kierkegaards Kritik an Hegels Logik« ThZ (Basel), 11/1955, 437-465 (wiederabgedr. in H.-H. Schrey, Hg. Sören Kierkegaard, Wege d. Forschung Bd CLXXIX, Darmstadt 1971, 240-72). Wichtig sind auch immer noch die Bücher von Oscar Cullmann, Christus und die Zeit, (Zürich, 2. Auf!. 1948) und John Marsh, The Fulness ofTime (New York 1952). Zur Gegenwart der Gnade in unserer Zeit, auch außerhalb der Kirche und in jedem Menschen, sagt das Buch des brasilianischen Theologen Leonardo Boff, Erfahrung von Gnade, Entwurf einer Gnadenlehre (Düsseldorf 1978) Großartiges und wirklich Neues. Boff lehrt an der Theologischen Hochschule in Petropolis und der katholischen Universität von Rio de Janeiro.
D. Die Freiheit zur Menschlichkeit (Anthropologie)
VORÜBERLEGUNG
Wenn die Überlegungen zur Ermöglichung regulativer Sätze über die Erwählung (11 A), über die Identität Gottes (11 B) und über Jesus Christus (11 C) richtig sind, so ist der traditionelle theologische Satz, es sei Sinn und Ziel eines jeden lebenden Menschen, Gott zu erkennen, nicht mehr richtig. Gottes Tun für die Menschen ist nicht von ihrer Gotteserkenntnis abhängig. Vielmehr sind Sätze richtig, die auf die Freiheit zur Menschlichkeit weisen, die Gott in der Erwählung Israels und in der Sendung von . Jesus für alle Menschen gewollt und angeboten hat, wenn sie auch ihrerseits nur zum kleinen Teil subjektiv dieses Angebot verstehen und aktiv an der Verkündigung des Grundes der Freiheit teilhaben. Theologische Anthropologie kann darum nicht nur auf solche Menschen bezug nehmen, die ihrerseits von einer bewußt wahrgenommenen Gotteserfahrung oder von ihrem Christusglauben sprechen. Der traditionelle Satz, die theologische Lehre vom Menschen habe es - im Unterschied zu den von den verschiedenen Wissenschaften entwickelten Anthropologien - mit der »Gottesbeziehung« oder dem Gottesverhältnis des Menschen zu tun, ist darum irreführend. Mindestens muß er dahingehend interpretiert werden - wie er von den meisten seiner Vertreter nicht gemeint war-, daß er von einer von den Gläubigen behaupteten Bestimmung Gottes für alle Menschen handelt. Sätze wie »Der Mensch ist nur im Glauben an Gott frei« oder »Nur ein vom Wort Gottes bestimmtes Gewissen befreit und leitet
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den Menschen« u. ä. sind unrichtig. Sie beschränken die Verwirklichung der Bestimmung des Menschen auf Juden und Christen. Theologische Anthropologie ist insofern von trinitarischen und christologischen Fragen und Credos verschieden, als ihr Gegenstand zwar in der Perspektive der Gläubigen in ein besonderes Licht tritt, aber nicht nur von dort her verstehbar wird. Es wird hier die eigentümliche Spannung zwischen der Partikularität Israels und der Behauptung seiner Erwählung zugunsten anderer oder aller Völker sowie auch zwischen der Provinzialität und geschichtlichen Kontingenz des Kommens von Jesus und der Deutung seines Todes und seiner Auferweckung auf »alle« hin deutlich. Diese Spannung wird in der theologischen Anthropologie geradezu zum Thema, indem das theologische Nachdenken sich auf »alle«, d. h. auf die »Menschen überhaupt« richtet. Dabei kann es keineswegs nur um einen »Einfluß« Israels oder eine »Wirkung« von Jesus auf spätere Menschen gehen, zumal jaim Gegenteil - solcher Einfluß zu mehr Mißdeutungen, Enttäuschungen und Irrtümern geführt hat, als die Geschichte Israels oder das Leben von Jesus hätten vermuten lassen können. Es geht vielmehr, so verkündigt es die Kirche im Einklang mit dem apostolischen Zeugnis, um Leib und Leben, geistiges und geistliches Wohl und Heil der »Menschen überhaupt«, der Menschen aller Zeiten, Kulturen und Rassen. Ist diese Behauptung richtig, so wäre eine Einengung der Beziehung zwischen der Geschichte Israels und dem Kommen von Jesus einerseits und der ganzen Menschheit andererseits auf die Ethik nicht gerechtfertigt. Das bedeutet aber, daß die elegante und scheinbar so viele Probleme lösende These, theologische Anthropologie berühre sich mit den anderen anthropologischen Wissenschaften in der Ethik, denn dort allein könnte sie ihren genuin theologischen Beitrag leisten, ganz ungenügend
D. Die Freiheit zur Menschlichkeit
ist. Als ebenso ungenügend und unrichtig erweist sich dann die heute nicht selten vertretene These, die Theologie habe auf die verschiedenen wissenschaftlichen Anthropologien nur kritisch zu reagieren, habe höchstens hier oder dort einen eigenen Beitrag zu bieten und müsse sich im allgemeinen auf die sozialethische Aufarbeitung der Stimuli und Warnungen moderner anthropologischer und soziologischer Erkenntnisse beschränken. Solch scheinbare Bescheidenheit ist in Wahrheit ein ungerechtfertigter Verzicht auf die theologische Durchdringung der Frage nach dem Menschen und auf die Erstellung einer Theorie integrierter Anthropologie. In früheren Jahrhunderten war die Theologie wohl mit solchen Theorien ausgerüstet, konnte über Ehe und Kinder, Krankheit und Leiden, das Sterben und den Tod sprechen und hatte darin den Kontakt mit der Empirie, mit den wirklich lebenden Menschen nicht verloren. Wir können die damaligen Theorien und die Antworten auf die großen Lebensfragen heute schwerlich einfach wiederholen, aber es gilt unbedingt, beides wiederzugewinnen, den wirklichen Menschen sowie die Bereitschaft und den Mut für eine theologisch integrierte Anthropologie. Dabei sollten die Ergebnisse keiner der ernstzunehmenden wissenschaftlichen Anthropologien ausgelassen oder als Konkurrenz verstanden werden. Soweit sie Wahres über den Menschen sagen, müssen ihre Aussagen als Mosaiksteine im Gesamtbild vom Menschen als eines für die von Gott angebotene Freiheit zur Menschlichkeit entwickelten und auf ihre Verwirklichung wartenden Wesens verstanden werden. Dabei werden die entwicklungsgeschichtlichen Erkenntnisse der Menschwerdung der Hominiden, die heutigen biologischen und psychosozialen Bedingtheiten in der Spannung zwischen natürlicher Anlage und Beeinflussung durch Umwelt und Gesellschaft, die linguistische Kompetenz und die Funktion der Sprache überhaupt sowie die kultur-, geschlechts- und alters-
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spezifischen Charakteristika der Menschen usw. zu unverzichtbaren Komponenten theologischer Anthropologie. Ohne die Aufnahme dieser Einsichten in die theologische Theoriebildung verlöre die Theologie nicht nur viele Menschen als Hörer - dieser Nachteil wäre noch wettzumachen, zumal theologische Theoriebildung nicht primär missionarisch orientiert ist - sondern sie verlöre den Menschen selbst aus dem Auge. Die konkret lebenden Menschen gingen ihr als Thema verloren und würden durch ein theologisches Abstraktum ersetzt. Mit dieser These werden allerdings sogleich methodische Probleme einer theologischen Anthropologie sichtbar. Will es ihr nicht primär um kritische Stellungnahmen zu den verschiedenen Anthropologien und ihren möglichen Verabsolutierungen oder Ideologisierungen gehen, auch nicht um kleine eigene Beiträge hier oder dort, noch viel weniger um ein dilettantisches Mitreden in fremden Forschungsgebieten, so muß die Theologie bei der Erstellung regulativer Sätze im Gebiet der Frage nach dem Menschen methodisch mit großer Sorgfalt vorgehen. Mit den sehr wenigen, direkt das Thema betreffenden Bibelzitaten ist es hier nicht getan. Auch die kirchliche Tradition mit ihrer historisch durchaus erklärbaren Konzentration auf Themen wie die Seele, die Ordnungen der Schöpfung, die Sünde oder den Begriff der Imago Dei kann nur nach aufwendiger Interpretation und Modifikation nutzbar gemacht werden. Wie kann sich die integrierende Funktion theologischer Anthropologie von dem Anspruch einer Überhöhung oder Krönung der verschiedenen anthropologischen Wissenschaften unterscheiden? Wie kann sie auch nur die Ergebnisse dieser Wissenschaften aufnehmen, ohne an ihren Wegstrecken selbst teilgenommen zu haben? Inwiefern sind die oben genannten »Komponenten« als Informationen oder als Fragen zu verstehen? Wenn es sich um Informationen handelt, etwa historischen Daten in den Bibelwissen-
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schaften vergleichbar, so ist ihre Aufnahme weniger problematisch als wenn es sich um offene Fragen handelt. Kann die Theologie offene Fragen der verschiedenen Wissenschaften beantworten? Diese und andere methodische Fragen müßten in den kommenden Jahren, will die Theologie wirklich zu integrativer theologischer Theoriebildung in der Anthropologie kommen, im innertheologischen sowie im interdisziplinären Gespräch sorgsam bearbeitet werden. Im folgenden finden sich einige Ansätze zur Lösung dieser Aufgabe. Sie gehen von der Möglichkeit einer theologischen Verarbeitung der biblischen Nachricht aus, die Menschlichkeit der Menschen sei in ihrer Verwundbarkeit und Schwäche nicht verdunkelt, sondern erkennbar; ihre Freiheit läge in ihrer Beschränkung oder Geschöpflichkeit; ihre Bestimmung würde durch ihre Zufälligkeit nicht ausgelöscht; ihr Leben sei in einer Welt des Todes möglich. Die Verwundbarkeit Israels (der alten Israeliten und der Juden aller Zeiten) sowie die Passion und der Tod von Jesus sind Anlaß für diese Sicht. Ungeschichtlich und unpoetisch ausgedrückt ist - in der Sprache philosophischer Anthropologie - unser Ausgangspunkt nicht die Frage nach dem Wesen des Menschen, sondern die Frage nach seinem Können, das Nachdenken über die Differenz zwischen seinem Können und seinem Verhalten. Daran läßt sich, so scheint es mir, am ehesten eine Konzeption integrativer Anthropo~ logie festmachen, der die Ergebnisse der verschiedenen anthropologischen Wissenschaften nicht gleichgültig, sondern im Gegenteil kostbare Informationen sind. Insbesondere haben mich Argumente aus den folgenden Werken angeregt: Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (Darmstadt 1928), Amold Gehlen, Der Mensch, seine Natur und seine· Stellung in der Welt (1940; 8. Auf!. Bonn 1966) sowie Jürgen Habermas' Kritik an Gehlens »Moral und Hypermoral« von 1969 in Philosophisch-politische Profile, (Frankfurt 1971), 20Off. Claude
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
Levy-Strauss, Strukturale Anthropologie (1958; dt. Frankfurt 1967), Erich Fromm, Die Seele des Menschen - Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen (Stuttgart 1979), sowei Carl Friedrich v. Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen, Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie (München 1977). Und zur theologischen Anthropologie: Reinhold Niebuhr, The Nature and Destiny of Man, Bd. I u. 11 (New YorkiLondon 1941 u. 1943), Karl Barth, KD III, 2, lohn Macquarrie, PrChrTh, Kap. III und in Kap. X Nr. 35, Gordon Kaufmann, SyTheol Teil III (wobei die Versöhnungslehre mit eingeschlossen ist), Günter Altner, Zwischen Natur und Menschengeschichte (München 1975), Hermann Fischer (Hg.), Anthropologie als Thema der Theologie (Göttingen 1977), Gerhard Ebeling, DChrG, Bd. I Kap. 4 und Bd III Kap. 9.
1. DIE OBJEKTIVIERENDEN ANTHROPOLOGISCHEN WISSENSCHAFfEN ALS EINLADUNG ZUR THEOLOGISCHEN INTEGRATION
Grundlage II A 1 IIC IA3u.4
Explikation IF5
Die theologische Reflexion über die Bestimmung des Menschen und die Unverwechselbarkeit jedes einzelnen Menschen ist am Verständnis der Erwählung Israels und am Kommen von Jesus festgemacht. Sie wird durch die Erkenntnisse der verschiedenen anthropologischen Wissenschaft im Hinblick auf das Können und das Verhalten des Menschen thematisch erweitert und zugleich an ihre natürlichen Grenzen erinnert. Die theologische Reflexion strebt nicht eine Korrektur oder Überhöhung anthropologischer Forschungsergebnisse an, vielmehr entwirft sie kohärente Konzepte mit der Absicht der Integration der Teilergebnisse zu einer Gesamtsicht. Das methodische Problem theologischer Integration wird allerdings u. a. an der Gefahr sichtbar, durch Totalentwürfe die Beantwortung konkreter Probleme zu erschwe-
D. Die Freiheit zur Menschlichkeit
ren sowie den historischen und kulturellen Verschiedenheiten nicht gerecht zu werden. Aber wenn auch die Theologie in bezug auf Gott, die Geschichte und das Universum auf Totalentwürfe verzichten sollte, so ist doch das Können und das Verhalten der Menschen ein hinreichendfaßbares Thema, um Gegenstand theologischer Interpretation und Integration sein zu können. Die theologisch begründete Konzeption von der Einheit der Menschheit fordert geradezu das Wagnis einer Gesamtsicht. Freilich muß sie so entworfen sein, daß von ihr partielle Begründungen, etwa der Menschenrechte oder der Lösungen anderer konkreter Probleme, abgeleitet werden können. Durch dieses Vorgehen mit dem Ziel einer theologisch begründeten integrativen Gesamtsicht anthropologis,cher Einzelergebnisse entsteht ein kommunikationsfähiger und überprüjbarer Beitrag der Christen (und Juden) zur Frage der Menschen nach sich selbt, der seinerseits wiederum in andere Gesamtentwürfe integriert werden kann. Diese Vereinnahmung muß sich die Theologie gefallen lassen, will sie nicht ihre Sicht vom Menschen für den Kreis der Gläubigen reservieren oder. - im Gegenzug - der ganzen Menschheit aufdrängen.
Es ist gar nicht verwunderlich, daß ein überaus komplexes Thema wie die Frage nach dem Menschen zur Auffächerung in zahlreiche Frageperspektiven und zur Anwendung sehr unterschiedlicher Methoden geführt hat. Wenn es auch in der Geschichte anthropologischer Forschung und Reflexion nicht an absurden Einseitigkeiten und arroganten Verabsolutierungen gefehlt hat, so wäre man doch heute gut beraten, wenn man der überwiegenden Mehrzahl der Vertreter der verschiedenen wissenschaftlichen Anthropologien die Einsicht zutraute, sie wüßten sehr genau, daß sie mit den Ergebnissen ihrer Forschung nicht den ganzen Menschen oder den »Menschen überhaupt« in den Griff bekommen. Sie mö-
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Explikation IID6 II D 5 III e5
Konsequenz IIIA3
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I/. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
gen das in ihren Publikationen nicht sagen, aber sie wissen es, spätestens, wenn ihre Kinder älter werden, wenn ihre Ehen in Gefahr sind, wenn ihre Freunde sterben, oder wenn sie das unermeßliche Leiden der Menschen, die gleichzeitig mit uns leben, bemerken. Die Vielfalt der Frageperspektiven in der Anthropologie ist der Fülle von wissenschaftlichen Möglichkeiten und dem Methodenpluralismus vergleichbar, in dem historische Texte - u. a. die Bibel- bearbeitet werden können. In bezug auf den Menschen lassen sich die aus verschiedenen Gründen und in für sie je typischen Epochen der Wissenschaftsgeschichte entstandenen Disziplinen aufteilen in solche, die der Biologie, der Psychologie, der Ethnologie, der Sprachforschung und der Philosophie zugeordnet sind. Für die theologische Integrationsbemühung bieten diese anthropologischen Wissenschaften, schematisch geurteilt, folgende abgrenzbare Bestimmungen: Die Humanbiologie bietet Informationen über das menschliche Können; die Psychologie über die Spannung zwischen den Fähigkeiten und dem Verhalten; die Ethnologie über die soziale Bedingtheit des Verhaltens; die Linguistik und Sprachphilosophie über menschliche Erkenntnis und die Grundlagen der Kommunikation; die Philosophie schließlich bietet mit Entwürfen zur Sinntotalität (oder ihrer Unmöglichkeit) Alternativmodelle zur den Entwürfen einer theologischen Gesamtsicht. Dabei empfängt die Theologie die stärksten Warnungen und Erinnerungen an ihre Grenzen von der Biologie, die schärfste Ma!:mung zum Ernstnehmen des konkreten Menschen von der Psychologie, die breiteste Aufforderung zur Wahrnehmung der Fülle menschlicher Möglichkeiten von der Ethnologie, die hilfreichste Unterstützung ihres eigenen Anliegens von Linguistik und Sprachphilosophie, und die ernsthafteste Kritik, Konkurrenz und Ermutigung von der philosophischen Anthropologie. (Einzig die Unverwechselbarkeit des Menschen wird
D. Die Freiheit zur Menschlichkeit
durch diese Frageperspektiven nicht letztlich konstituiert). Bei aller wissenschaftlichen Bemühung um das Verständnis des Menschen wird die Theologie in ihrer integrativen Absicht nicht übersehen dürfen, daß es ein vor-wissenschaftliches Wissen des Menschen um sich selbst gibt. Hier liegt auch das relative Recht aller auf das Bewußtsein seiner selbst aufbauenden Psychologien und Philosophien über den Menschen. Das Wissen um sich selbst betrifft gerade die auch für theologische Reflexion wichtigen Dimensionen: die Gebundenheit des Menschen an den Körper und die Offenheit für die noch nicht gestaltete Zukunft. Eine interessante und freilich nicht unbestrittene These bietet Julian Jaynes, The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind (Boston, 1976), der anhand von Neurophysiologie sowie zahlreichen antiken Texten und archäologischen Ergebnissen nachzuweisen sucht, daß noch zur Zeit von Homer (und in andern Kulturen wesentlich länger) die Menschen durch klar getrennte Funktionen der beiden Gehirnhemisphären bestimmt waren. Sie erhielten darum klare »Weisungen« von der einen (rechten) Hemisphäre und führten sie mit sozusagen technischer Intelligenz aus, nicht unähnlich dem Verhalten heutiger Schizophrener. Griechische Helden warteten auf die Stimme der Göttin etwa, um den Zeitpunkt zu wissen, wann sie den Feind angreifen und erschlagen können. Man folgte Träumen, ohne moralisch abzuwägen und sah sich überhaupt mehr als Instrument, nicht so sehr als bewußtes, eigenverantwortliches Individuum. Bewußtsein im modernen Verständnis des Wortes, d. h. die Fähigkeit, sich selbst an anderen Orten, Zeiten und in anderen Menschen zu denken, kam erst mit dem »breakdown« des bi-cameralen Denkens und führte sogleich bei diesen Menschen zu einer gewaltigen Überlegenheit über andere, etwa der spanischen Eroberer Mittelamerikas. -Jaynes' These betont eine kulturelle Evolution, der die biologische nicht nacheilen kann. Die Anwendung der Vorstellung einer revolutionären Änderung im menschlichen Bewußtsein zwischen dem trojanischen Krieg und der griechischen Klassik, oder zwischen den Vätergeschichten und Deuterojesaja, ist nicht ohne Verlockung. - Zur Frage der zwei Gehirnhemisphären und der Funktion der Sprache s. auch Paul Watzlawick, Die Möglichkeit des Andersseins, Zur Technik der therapeutischen Kommunikation, (BernlStuttgarti Wien 1977). Vgl. zur gesamten Thematik u. a. Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Der vorprogrammierte Mensch, Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhalten (Wien u. a. 1973), sowie die
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit Bände »Biologische Anthropologie« in Hans-Georg Gadamer u. Paul Vogler (Hg.), Neue Anthropologie Bd. 1-7 (MünchenlStuttgart 1972-75). Zur Theologie: Jürgen Hübner, Biologie und christlicher Glaube (Gütersloh 1973), sowie William Nicholls (Hg.), Conflicting Images of Man (New York 1966). Vgl. IA 2 und 3 und die dort angegebene Literatur zur Neurophysiologie, sowie die umstrittenen Thesen (vgl. IA 3) von John C. Ecc1es in seinen Gifford Lectures von 1977-78, dt. Das Rätsel Mensch (München 1981).
2. DIE KONZEPTE VON ICH UND SELBST; DIE »STORY« MIT SICH UND MIT ANDEREN
Grundlage ID3u.7
Grundlage IBI
Die Tatsache, daß die Gesellschaft aus Menschen besteht und durch sie bestimmt wird, daß andererseits die Gesellschaft (bzw. die Umwelt) die einzelnen Menschen formt, ist das gemeinsame Thema der verschiedenen anthropologischen Wissenschaften und wird von ihnen in den je für sie typischen Perspektiven und Methoden unterschiedlich behandelt. Fundamental für das Verständnis des Menschen im Verhältnis zu sich selbst und zur Umwelt ist die moderne IchPsychologie und besonders die sogenannte Repräsentanzenlehre. Die Repräsentanzen des Selbst und der Objekte, die Herausbildung des Ichs als Zentrum der Symbolbildung, sowie das Verständnis der Erlebnisstrukturen der Menschen und ihrer unbewußten Entwürfe von sich selbst sind im Rahmen sprach- und kommunikationstheoretischer Analysen heute keine bloß spielerischen Hypothesen mehr. Sie sind der sogenannten Instanzenlehre der klassischen psychoanalytischen Theorie, dem Modell vom dreistufigen Selbst, das sie kritisch modifizieren, durch den direkteren Bezug auf Geschichte und Gesellschaft überlegen. Die neuere Ich-Psychologie im Zusammenhang mit
D. Die Freiheit zur Menschlichkeit
Sprachtheorie ist zudem für die Theologie weit nützlicher als die spätantike Lehre von der Seele, die in der Theologie fast zweitausend Jahre lang das beherrschende philosophisch-anthropologische Konzept war. Die Relevanz und das Gewicht dieser Theorien kann nUr von denen bezweifelt werden, die sich noch nicht mit ihnen vertraut gemacht oder sie nicht in praktisch-therapeutischer Arbeit erprobt haben. Im Licht der Erkenntnisse heutiger Ich-Psychologie und der mit ihr verknüpften Kommunikations- und Sprachtheorien wird die für die Theologie wesentliche Frage nach der» Wirkung des Wortes« besonders interessant. Was heißt es, wenn einem Menschen »etwas gesagt wird«? Inwieweit ist es richtig zu sagen, daß »ein Mensch das wird, was ihm gesagt wird«? Wird ein Kind - und ein Leben lang ein Erwachsener - mit Worten der Liebe, Zuneigung und Freiheit angeredet, so wird er ein liebenswerter und freier Mensch werden. Ist das eine psychologische Erfahrung oder auch ein theologisch wahrer Satz? Dabei gilt es noch mitzubedenken, welche Bedeutung die Eigenverantwortung hat, die ein Mensch für sich übernimmt. Wahrscheinlich ist die doppelte Aussage richtig, daß ein Mensch das wird, was zu ihm gesagt wird und was er selbst aus seiner »Story« in seinem Leben macht.
Die Frage, die hier theologisch bearbeitet werden muß, kann man sich an den Debatten um die strafrechtliche Verj ährung besonders deutlich klar machen (vgl. dazu unten 11 D 4). Wie gelangt ein Mensch zu seinem »Selbst«, wie kann er sich bei sich selbst behaften, wie kann er von anderen auf sich selbst festgelegt werden? Die primäre Frage ist hier die nach d~r Unverwechselbarkeit eines Menschen, die auch allen sinnvollen Konzepten von Menschenrechten zugrunde liegt. Vermassung und Verklavung lassen keine Individualität und keine konkreten Menschenrechte mehr zu, und doch liegt das
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Grundlage IB2
Grundlage leI
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1/. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
»Humanum« nicht in der Individualität begründet. Mit diesem Problem muß die theologische Bemühung um Integration der anthropologischen Wissenschaften konstruktiv umgehen können. Auf der Ebene der individuellen menschlichen Existenz zeigt sich die Frage nach anthropologischen Konstanten in der Dimension der Zeit, im Ablauf der individuellen Story. Dabei spielt die frühkindliche Ich-Werdung und die Frage nach ihrer Kontinuität eine entscheidende Rolle. Sie ist weder psychologisch noch theologisch befriedigend beantwortet. Auf der Ebene gesellschaftlicher Existenz kommt die Frage nach transkulturellen anthropologischen Konstanten ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Bedeutet für eine Bantu-Frau die Geburt eines Kindes dasselbe wie für eine Frau in unsern westlichen Kulturen? Wird der Tod eines Partners hier und in Indien ähnlich empfunden? Haben Demütigungen und Abwertungen eines Menschen in Japan und bei uns dieselbe Wirkung auf die Selbsteinschätzung und auf die Entfaltungsmöglichkeiten? Sollten die Antworten auf diese Fragen negativ ausfallen, oder zumindest weitgehend negativ, so wäre die Suche und das Streben nach einer universalisierbaren Ethik oder doch nach einem allgemein akzeptierten Negativkatalog (vgl. III Bund C 6) nicht mehr sinnvoll. Sollte die Frage positiv beantwortet werden, so wäre damit indirekt zugegeben, daß dreitausend Jahre jüdische und zweitausend Jahre christliche Tradition keinen merklichen Unterschied im Verständnis des menschlichen Lebens gemacht haben. Die anthropologischen Konstanten liegen wahrscheinlich auf einer sehr tiefen, durch kulturspezifische Einflüsse nicht veränderbaren, sondern nur überlagerten Ebene. Sie werden in heutiger Ich-Psychologie besonders durch die Repräsentanzenlehre beschrieben. Sind die von dort kommenden erklärungskräftigen Theorien richtig, so erhebt sich umsomehr die Frage, ob der im Glauben entstehende »neue Mensch« nur in seinen sozialen
D. Die Freiheit zur Menschlichkeit
und kulturspezifischen Bezügen »neu« und anders sei, nicht aber in seiner Tiefe. Es wäre unverzeihlich, wenn die Theologie die Fragen, die durch neuere Psychologie an sie herantreten, unbearbeitet liegen ließe. Wie tief und wie neuschaffend ist denn die Wandlung, die bei einem Menschen durch das Wort gewirkt werden kann? Es will mir scheinen, als habe sich die Theologie bisher nur . in abstrakter und apodiktisch-thetischer Weise über diese Frage geäußert. Zur Ich-Psychologie: vgl. Ludwig Barth, »Ich-Psychologie, Historische Wurzeln, heutige Bedeutung und Beziehung zur Praxis«, in der Zeitschrift Psychotherapie und Psychosomatik, 25,5 (Sept. 1980),237-245 (mit vielen Lit.-Angaben). Zur Repräsentanzenlehre: s. I D 3. Zur Frage der Unfertigkeit und der »Neuwerdung« des Menschen sind Kierkegaards Gedanken über »Stadien« sowie über den »Sprung« von großer Wirkung auf neuere Philosophie und Theologie gewesen. Vgl. Kar! Barth, KD 111, 2 § 47 (Der Mensch in seiner Zeit), sowie IV, 2, § 66, 4 (Die Erweckung zur Umkehr). Auch Gerhard Ebeling, DChrG III, § 32 (Der alte und der neue Mensch). Zur Unfertigkeit des Menschen bzw. zur offenen Kreativität der »imagination« schrieb der amerikanische Systematiker Ray L. Hart ein großes und anregendes Buch: Unifinished Man and the Imagination (New York 1968).
3. DAS BÖSE ALS FEHLEINSCHÄTZUNG DES KÖNNENS
Ihrem Selbstverständnis nach ist die Soziologie eine wertneutrale Wissenschaft. So ist auch die »soziologische Anthropologie« nicht an der Setzung, sondern nur an der Beschreibung und Analyse von Normen interessiert. Neuere gesellschaftspolitisch und teleologisch orientierte Ansätze
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Explikation JC4
Explikation III C 4
Explikation IC4
Konsequenz III A 2
Grundlage JA3
II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
zur soziologisch-philosophischen Theoriebildung mit ihrer Kritik gegenüber künstlicher und absichtlicher Wertneutralität stellen im Grunde schon eine Grenzüberschreitung in das Gebiet der politischen Philosophie hinein dar. Die anthropologischen Komponenten auch dieser Variante soziologischer Anthropologie sind zwar an der Existenz und wohl auch Beschreibung des »Bösen«, nicht aber an der Durchdringung der philosophischen Frage nach seinem Ursprung interessiert. Nicht viel anders steht es mit der Ethnologie (oder Sozialanthropologie) und der Psychologie. Auch hier haben moralische Kategorien höchstens indirekt eine Funktion in der Beschreibung der die Organisation der Gesellschaft oder die Selbstverwirklichung des Individuums störenden Faktoren. Die Frage nach dem »Bösen« hat hier kein Hausrecht. Wer fragt eigentlich nach dem »Bösen«? Die Frage ist im vorwissenschaftlichen Erleben der Welt und im wirklichen Leiden der Menschen beheimatet. Sie hat darum von alters her in den Mythen und vorwissenschaftlichen Philosophien ihren Ort. Mit den von dort ererbten Fragestellungen verbindet sich heute die neugierige Nachfrage nach einer möglichen Klärung von seiten der Humanbiologie: Ist der Mensch von Natur aus aggressiv? Werden Kriminalität, Streit, Mord und Krieg nie aufhören, weil der Mensch so angelegt ist? Wenn Aggression in ihrer destruktiven Seite dem »Bösen« gleichzusetzen ist - was noch auszumachen wäre -, und wenn sie dem einzelnen Menschen angeboren ist, so könnte gefolgert werden, das »Böse« in der Welt sei die Summe der destruktiven Aggressionen aller einzelnen Menschen. Dieses Argument könnte durch die Beobachtung unterstützt werden, daß das menschliche Nervensystem in seiner Evolution durch Ackerbau und Städtegründungen vor zehn und mehr Tausend Jahren überholt worden und seither durch die hohen Anforderungen der Kultur in einer übervölkerten Welt hoffnungslos
D. Die Freiheit zur Menschlichkeit
überlastet ist. Damit würde zugleich das scheinbar umgekehrte Argument unterstützt, die Gesellschaft bzw. die Umwelt sei der Sitz des »Bösen«, sei es in der Form struktureller Gewalt, ungerechter Sozial- und Wirtschaftsstrukturen, falscher Sexualerziehung usw., und mache aus unschuldigen Neugeborenen böse Menschen. In der Perspektive biblischen, d. h. durch die Erwählung Israels und das Handeln Gottes im Kommen von Jesus bestimmten, theologischen Verständnisses des Menschen haben beide Argumente ihren sinnvollen Platz, sowohl die Vorstellung des »Bösen« als Summe der Natur der Individuen als auch die These vom Einfluß der Umwelt auf den Einzelnen. Aber in beiden Sichtweisen ist das »Böse« als solches noch nicht erklärt; es wird in beiden als prinzipiell überwindbar beschrieben. Die immer neu zu leistende Interpretation der biblischen Symbolik des Bösen greift tiefer und deutet auf eine umfassendere Einsicht in die Differenz zwischen menschlichem Können und Verhalten hin. Sie ermöglicht ein Verständnis der »condition humaine« jenseits von Naturpessimismus und Kulturoptimismus. Die Sonderstellung des Menschen gegenüber dem Tier kann für theologische Anthropologie nicht durch die Annahme eines durch einen unmittelbaren Schöpfungsakt bewirkten Sprungs in der Evolution des Menschen erwiesen werden. Nichts zwar spricht gegen die Konzeption 'der Gegenwart Gottes in der Evolution und der evolutiven Selektion im Übergangsfeld TierIMensch, wenn die Gläubigen damit eine sinnvolle Aussage über Gott zu machen wünschen. Biologische Erkenntnisse über die Sonderstellung des Menschen werden dadurch freilich nicht gewonnen. Das Interesse an der schöpferischen Gegenwart Gottes in der Evolution des Übergangs von den Hominiden zum Menschen vor 2 bis 10 Millionen Jahren, ist durch eine solche dogmatische Behauptung keineswegs gewahrt, sie ist, im Gegenteil, dadurch für die noch
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Grundlage IB2 ICI
Explikation II C 6
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II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
größere Zahl von Jahrmillionen der Evolution des Lebens überhaupt praktisch verneint. Die faktisch entstandene Unterscheidung von Tier und Mensch zeigt sich in einer Fülle von beschreibbaren Merkmalen, von denen die Sprachfähigkeit, das Selbstund das Zeitbewußtsein sowie die Fähigkeit des Menschen, sich sowohl in die Vergangenheit und Zukunft als auch in die Situation anderer Menschen hineinzuversetzen, für die theologische Anthropologie die wichtigsten sind. Sie sind Merkmale positiver Fähigkeiten, die jede für den einzelnen Menschen sowie für die Menschheit der Zukunft wohl auch ausbau- und verbesserungsfähig sind. Sie erhalten ihre Eingrenzung sowohl durch die biologische Konstitution als auch durch die soziale Bedingtheit des einzelnen Menschen und der Menschen insgesamt. In der Vernetzung und gegenseitigen Abhängigkeit der Komponenten dieser Fähigkeiten und Eingrenzungen wird aber eine Differenz zwischen Können und Verhalten sichtbar, die für Tiere nicht besteht. Der Hinweis auf diese Differenz ist die formale Beschreibung des Feldes, in dem das Symbol des Bösen seinen Ort hat. Die Differenz selbst ist nicht das Böse, sonst wäre die Feststellung der permanenten Überlastung des menschlichen Nervensystems seit der Zeit des geordneten Ackerbaus und der Städte gründungen schon eine vollständige Erklärung der Entstehung des Bösen. In der Differenz zwischen menschlichem Können und Verhalten liegen die Freiräume für die Verwirklichung menschlicher Existenz jenseits biologischer und sozialer Bedingtheit, der Verwirklichung des Bösen. Das Böse ist nicht die Folge der Bedingtheiten, es ist vielmehr die Nichtbeachtung der Freiräume in der Fehleinschätzung des menschlichen Könnens. Der Mißbrauch der Freiheit kann aber nur in einem moralischen Urteil als »böse« bezeichnet werden, nur gegenüber göttlichen oder menschlichen Gesetzen oder Ordnungen. Es wäre nicht sinnvoll,
D. Die Freiheit zur Menschlichkeit
Aggressionen oder Imponiergehabe von Tieren als böse zu bezeichnen. (Schon eher wird man von domestizierten Tieren eine Anpassung an menschliche Ordnungen erwarten und darum einen Schäferhund, der seine Schützlinge angreift, im übertragenen Sinn »böse« nennen und bestrafen.) Die Tiere haben die Möglichkeit zum Mißbrauch der Freiheit nicht. Für die Menschen aber ist Mißbrauch gerade an die zahlreichen Merkmale, die sie von den Tieren unterscheiden, gebunden. Das Böse wohnt im Mißbrauch der Kräfte und Merkmale, die den Menschen vom Tier unterscheiden. Wird dies Geist oder Geistfähigkeit genannt, so wohnt das Böse im Geist, nicht im Körper. (Das Neue Testament nennt den durch den verführenden Geist permanent zum autonomen Kriterium des Lebens gemachten Körper »Fleisch«). Das Böse ist die Hybris. In biblischer Perspektive entsteht das Böse gerade im Griff nach der autonomen Freiheit, Gutes und Böses unterscheiden zu können. (Die Schlange sagte: »Ihr werdet wie Gott sein«). Andere, als in dieser Weise verführte Menschen, sind empirisch nicht vorzufinden - das ist der Sinn der symbolischen Rede vom Fall des ersten Menschenpaares. Darum ist es richtig zu sagen, daß nicht nur das Böse im Menschen wohnt, sondern der Mensch auch im Bösen. Das Böse ist nicht nur Fehler der Menschen, es ist auch ihr Schicksal. Gottes Korrektur dieses Mißbrauchs menschlichen Könnens ist das Thema der biblischen Rede von Gottes »Gericht«. Das Gericht ist die Zerstörung der die Menschen zerstörenden Autonomie und ist darum immer zugleich Abschluß und kreativer Neubeginn. In Gottes Gericht geschieht auch die Befreiung der Menschen von ihrem zwanghaften Streben nach dem absolut Guten und der daraus notwendig abgeleiteten moralischen Erhebung und Empörung über andere. Die biblische Rede von Gott und seinem Gericht in der Geschichte verbietet letztlich menschliches Richten und
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Il. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
verhindert eine Quantifizierung des Bösen. (Hier ist ein wichtiger Einsatzpunkt für das Verständnis der Rechtfertigung aus Gottes Gnade, nicht aus dem Können des Menschen). Sollen diese grundsätzlichen Aussagen als regulative theologische Sätze dienen oder nach weiterer Analyse ihrer inneren Logik letztlich zu solchen Sätzen führen, dann muß eine Reihe von schwer lösbaren Problemen bearbeitet werden. Zu ihnen gehört die Beziehung zwischen der letztlichen Entkräftung menschlichen Autonomiestrebens, Urteilens und Richtens einerseits und der Wahrnehmung echter Verantwortung in der Erkenntnis und Abwehr des Bösen, in der Erziehung, der Sozialethik und im Strafrecht andererseits. Auch die Rede von »Gottes Gericht« darf nicht völlig von geschichtlichen Ereignissen abgelöst oder einzig auf die Kreuzigung von Jesus bezogen werden. Schließlich bedarf die Beziehung zwischen personalem und strukturell-sozial verstandenem Bösen immer wieder erneuter Klärung Vgl. Friedrich Schleiermacher, GL §§ 66-78; Albrecht Ritschl, Unterricht in der chr. Religion (Bonn 3. Aufl1886) §§ 26-33; Karl Barth, KD III, 3 § 50 (Gott und das Nichtige); Paul Tillich, SyTh II, Teil III, I C und D (über Entfremdung, Hybris und Sünde). Zur Frage der Aggression (Konrad Lorenz), vgl. Wolfhart Pannenberg, »Aggression und die theologische Lehre von der Sünde«, in ZEE, 21, 3 (Juli 1977),161-713.
4. ZUR FRAGE DER VERÄNDERBARKElT DES MENSCHEN
Die empirisch erfahrbare Identität eines Menschen ist Ausdruck seiner geschöpflichen Unverwechselbarkeit. Sie ist Voraussetzung für bleibende mitmenschliche Partner-
D. Die Freiheit zur Menschlichkeit
schaften, die im Verständnis der Gläubigen Abbild von Gottes Identität und Treue sind. Der tröstlichen Erfahrung, daß Menschen, die wir lieben, über die Jahrzehnte des Lebens dieselben bleiben, steht die unmenschliche Möglichkeit gegenüber, Mitmenschen eine Veränderung ihrerselbst zu verbieten und sie an ihrer einmal erfahrenen Identität zu behaften. Diese Spannung scheint zwar durch vielfältige Modifikationen im tatsächlichen Umgang mit Mitmenschen gemildert zu sein, etwa durch die Beachtung altersspezifischer Veränderungen, des Einflusses von Rollen auf ihre Träger, der zeitweisen oder permanenten Persönlichkeitsveränderungen durch Krankheiten usw. Die Lebenserfahrung lehrt zwischen gleichbleib enden Charakteristika und veränderbaren, wachsenden und abnehmenden Komponenten in der Persönlichkeit eines Mitmenschen zu unterscheiden. Aber die Grunderfahrung, die sich in der allgemeinen Grundhaltung der Menschen zueinander widerspiegelt, ist doch die Annahme der prinzipiellen Unveränderbarkeit der Einzelpersönlichkeit. Auf quasi-wissenschaftlicher Ebene wird diese Haltung durch psychotherapeutische Erfahrung und Theorie voll bestätigt. Theologische Anthropologie wird diese empirisch verwurzelten Grundhaltungen nicht einfach verneinen dürfen, wenn sie von der Neuwerdung des Menschen spricht. Wird der »neue Mensch« nicht nur christologisch interpretiert, sondern auch einzig auf Jesus Christus hin gedeutet, so ist es relativ leicht, unter Absehung der konkreten Menschen vom »neuen Menschen« zu sprechen. Wie aber wird es theologisch verantwortet, von der Veränderung eines konkreten Menschen vom Alten zum Neuen hin, von der Unfreiheit zur Freiheit zu sprechen? Die Auskunft reformatorischer Theologie, der »neue Mensch« sei nie zu fassen und bliebe immer im Horizont der Hoffnung, ist theologiegeschichtlich verständlich gegenüber einer statisch verstandenen Habitus-Lehre. Sie befriedigt aber nicht mehr.
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Grundlage ID7 ID6
Grundlage II C 1 II B 2 III C 5
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Konsequenz 107 III C 5 u. 6 III D4u. 5
II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
Wenn in der Kirche eine neue Humanität vorgelebt werden soll, so muß die Veränderbarkeit der Menschen dort - und auch außerhalb ihrer Mauern - konkret erfahrbar sein. Die Rede vom neuen Menschen darf nicht nur Interpretament sein.
Sich selbst akzeptieren und Mitmenschen über Jahre und Jahrzehnte lieben heißt die Ambivalenz aushalten, daß ein Mensch ein unvollendetes Wesen und zugleich doch unveränderlich immer derselbe ist. Der enge Spielraum zwischen diesen beiden Polen markiert das Feld, in dem Lernfähigkeit, Wachsen durch Lebenserfahrung und mitmenschliche Gewährung von persönlicher Freiheit ihren Ort haben. Soll das Leben gelingen, so muß sich die genetisch und sozial bedingte Unveränderbarkeit im Ausschöpfen und Reifen der Möglichkeiten und Eigenschaften eines Menschen bewähren. Unsere Selbigkeit über die Jahrzehnte müßte für uns selbst sowie für die Mitmenschen Hilfe und Stabilität, nicht Last und Langeweile bedeuten können. Ich zweifle keinen Moment daran, daß nur relativ wenigen Menschen das Leben in dieser Weise gelingt, und es scheint mir unmöglich zu sein, die Grenze zwischen ihnen und dem Rest mit der Grenze zwischen Gläubigen und anderen Menschen gleichzusetzen. Wenn das aber richtig ist, so folgt, daß die Gläubigen nicht Menschen sind, denen das Leben besser gelingt als anderen, oder daß ungläubige oder atheistische Menschen größere Schwierigkeiten mit dem Gelingen ihres Lebens haben als Juden und Christen. Theologische Anthropologie - gerade im Licht der biblischen Rede vom »neuen Menschen« - müßte diesem Sachverhalt gerecht werden können, ohne abstrakt über einen gar nicht existierenden Typ des gläubigen Menschen zu sprechen. Die idealtypische Konstruktion läßt sich nur allzu schnell auf einen eschatologischen Menschen oder auf Jesus reduzieren, wobei nicht übersehen
D. Die Freiheit zur Menschlichkeit
werden darf, daß die biblischen Schriften Jesus gerade nicht als den »neuen« oder den idealen Menschen bezeichnen. Was ist eigentlich neu, was unterscheidet einen Menschen von anderen, wenn er an Gott glaubt und in Hoffnung und Vergebung zu leben bereit ist? Inwieweit ist die Primärpersönlichkeit eines Menschen dadurch verändert und bestimmt? Unvergeßlich konkret haben mich diese Gedanken beschäftigt, als ich bei einer theologischen Konferenz Gast in einem Dominikanerinnen-Kloster war, dessen Angehörige nahezu alle in ihrem »früheren Leben« Kriminelle oder Prostituierte gewesen waren. Beim Essen und im Gottesdienst versuchte ich in ihren Gesichtern das »Neue« zu finden und meinte es auch gesehen zu haben. Und doch werden die Primärpersönlichkeiten dieser Menschen nicht wirklich zerstört und ersetzt worden sein. Verwandt mit dieser Frage ist das Phänomen der Gesundung bei psychisch kranken oder gestörten Menschen. Die Grundstrukturen einer Persönlichkeit, etwa die schizoiden, depressiven, zwanghaften oder hysterischen Strukturen, sind auch nach der Gesundung nicht verschwunden, sondern markieren immer noch deutlich spürbar den betreffenden Menschen, seine Grenzen und Gefahren. Auch Charaktereigenschaften (so unscharf dieser Begriff auch ist) bleiben über Heilungsprozesse hinweg auch bei psychisch schwer gestörten Patienten erhalten. Aber zweifellos verschieben sich die einzelnen Bausteine, die einen Menschen ausmachen, in psychischer Erkrankung und Heilung, vergleichbar etwa den Glasstücken in einem Kaleidoskop: durch die Bewegung können die Elemente in neue Kombinationen fallen und eine begrenzte Zahl von neuen Bildern ergeben.
5. MENSCHENRECHTE UND DIE HOFFNUNG AUF DEN NEUEN MENSCHEN
Eine ausschließlich theologische Begründung der Menschenrechte ist nicht möglich. Nicht nur verharrten die Kirchen den Menschenrechten gegenüber lange skeptisch und haben dadurch stark an Glaubwürdigkeit eingebüßt,
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Explikation IC4 ID 6
I/. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
es ist auch theoretisch nicht möglich, die Menschenrechte einzig aus theologischen Kategorien herzuleiten. Die Versuche, dies mit traditionellen theologischen Naturrechtskonzepten oder mit dem Imago-Dei-Begriff doch zu versuchen, haben keinen echten Erkenntniswert, sie kommen eher einer innerkirchlichen Aufforderung zur Mitarbeit an der Durchsetzung der Menschenrechte gleich. Die Theologie wird vielmehr ihre Gesamtentwürfe zum Verständnis des Menschen in der Weise in den Fächer der Begründungen der Menschenrechte einfügen wollen, daß ihre integrierende Funktion zum Tragen kommt. Die philosophisch-anthropologischen, juristischen, gesellschaftspolitischen, medizin-ethischen Faktoren, die in die Begründungen der Menschenrechte einfliessen, sind ihrerseits anthropologische Problemfelder, die für integrierende Bearbeitung offenstehen. Die ausformulierten Menschenrechtsdeklarationen und -pakte stellen mehr als eine Integration dieser Faktoren dar. Sie spiegeln ein optimistisches Menschen- und Weltbild wider, das allen Menschen das Beharren auf dem eigenen Recht und dem des anderen zur Pflicht macht. Sosehr dieses Konzept allen bisherigen rechtlich ausformulierten Ordnungen überlegen ist und damit als das beste aller die Menschen schützenden und die Welt erhaltenden Systeme angesehen werden muß, so ist es doch nicht einfach mit der biblischen Perspektive identisch, in der es um die Rechte des alten Menschen im Licht des neuen geht. Der Rückbezug von der Hoffnung auf den neuen Menschen in die Diskussion um die Begründung der Menschenrechte läßt die Differenz zwischen dieser Hoffnung und dem Streben nach der Universalisierung der Menschenrechtsethik sichtbar werden. Sie fordert aber zugleich die theologische Unterstützung dieser Ethik, die vielleicht überhaupt die einzige bisher erstellte wirkungskräftige Ethik ist.
D. Die Freiheit zur Menschlichkeit
Theologische Anthropologie kann trotz ihrer Funktion, die verschiedenen anthropologischen Komponenten hinter der Menschenrechtsdiskussion zu integrieren, nur partielle Begründungen der Menschenrechte liefern. Von der Hoffnung auf den neuen Menschen her kann sie aber die weltweite Bemühung um das Recht des alten Menschen nur voll bejahen. Die Frage einer theologischen Beurteilung oder Begründung der Inanspruchnahme der auf die »Religionsfreiheit« bezogenen Menschenrechte stellt ein Sonderproblem dar, das mit Hilfe regulativer Sätze aus der Ekklesiologie bearbeitet werden muß. Aus der Fülle der hier berührten Probleme soll nur das der Differenz zwischen dem Einsatz für das Recht anderer und dem Pochen auf das eigene Recht herausgegriffen werden. Es ist eine Sache, ob die Gläubigen sich für die Menschenrechte anderer Menschen einsetzen, freilich auch unter Verwendung theologischer Begründungen und der Beachtung des Unterschiedes zwischen einer guten Rechtsordnung und dem Reich Gottes. Es ist aber eine andere Sache, wenn die Gläubigen - unter denselben Berufungen - auf ihre eigenen Rechte zu pochen beginnen. Die Teilbegründung der Menschenrechte durch Ableitung aus theologischen Obers ätzen scheint nur für das vikariatsmäßige Handeln der Gläubigen legitim zu sein, (vgl. III D). Letztlich können die Gläubigen nicht für sich selbst eine säkulare Ableitung aus dem erhofften Recht Gottes begehren. Ich habe diese zunächst befremdliche Einsicht von den schwarzen Christen unter den Mitstreitern in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gelernt. Sie machten an wichtigen Schnittpunkten der jahrelangen Bemühungen und Demonstrationen immer wieder klar, daß ein Christ im Grunde nicht eigene Rechte erheischen soll, jedenfalls nicht im Namen des Evangeliums, sondern nur im stellvertretenden Einsatz für andere auf neue Rechte pochen darf. Aus diesem Grund ist auch für die Gläubigen unter allen Menschenrechten die von Staat und Gesellschaft verbriefte Religionsfreiheit ein
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Konsequenz III Cu. D
II. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
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besonderes Problem, weil ihnen hier ein staatliches Privileg aus dem gemacht wird, was sie nach ihrem Glauben von Gott erhalten haben. Über die heutigen ideologischen Differenzen in der Begründung der Menschenrechte orientiert der Aufsatz von Ludwig Raiser, »Menschenrechte in einer gespaltenen Welt«, in Ev. Komm. 4/ 1975, 199ff, über die innertheologischen Unterschiede Heinz-Eduard Tödt, »Die Grundwerte im Menschenrecht«, in Ev. Komm. 5/ 1977, 266ff,. über »Religionsfreiheit als Menschenrecht« Klaus Schlaich in Ev. Komm. 3/1978, 138ff. Historisches und Juristisches habe ich verarbeitet in »Der Beitrag des Calvinismus für die Entwicklung des Menschenrechtsgedankens in Europa und Nordamerika«, in EvTh 4/1980, 333-345, sowie in »Menschenrechte und medizinische Ethik«, in WzM 111976, 16-33.
6.
Grundlage IIA3 Explikation IIID 5 Konsequenz IIIC5 Konsequenz III D 2 u. 3
Grundlage IIC4 Explikation IIIC5 ID 1 IH6
DIE EINHEIT DER KIRCHE UND DIE EINHEIT DER MENSCHHEIT
Obwohl es keineswegs das Ziel der Kirche ist, die ganze Menschheit zur Kirche zu machen, hängen die Fragen der Einheit der Kirche eng mit den Fragen nach der Einheit der Menschheit zusammen. Versteht die Kirche ihre Aufgabe gegenüber ihren Zeitgenossen als vikariatsmäßiges Hören auf Gott und Sprechen zu Gott, als Darstellung versöhnter Mitmenschlichkeit und als solidarisches Eintreten für solche, die weder beten noch versöhnt sind, für Arme und Entrechtete, so ist das ökumenische Streben nach kirchlicher Einheit keineswegs nur eine Sache kirchlichen Eigeninteresses zur strategischen Stärkung ihrer Wirkung nach innen oder nach außen. Vielmehr zielt die Bemühung um Einheit der Kirche - letztlich basierend auf der Verheißung der Einheit von Juden und Heiden - auf die Einheit der Menschheit. Die Einheit der Kirche soll die erhoffte Einheit der Menschheit präfigurieren. Die Einheit der Menschheit ist nur indirekt und partiell hu-
D. Die Freiheit zur Menschlichkeit
manbiologisch begründbar. Der entscheidende Faktor ist die gemeinsame »Story«, nicht nur jedoch im Hinblick auf die Vergangenheit, auf kulturgeschichtliche Gemeinsamkeiten, sondern auch auf die Zukunft, auf die »antizipierte Story«. Auch wenn verschiedene Menschen durchseparate Lebensgeschichten getrennt sind oder ganze Kulturen durch das völlige Fehlen einer gemeinsamen Geschichte keinen Anlaß zur Vorstellung einer Einheit der Menschheit bieten, liegt doch in der Erwartung gemeinsamer Zukunft eine gemeinsame Geschichte, eine »antizipierte Story«, die mindestens dasselbe Gewicht hat wie die vom Historismus des 19. Jahrhunderts so stark betonte Bedeutung gemeinsamer Vergangenheit. Heute sind die gemeinsamen Gefahren, die das Überleben der Menschheit in Frage stellen, die Knappheit an Rohstoffen und Energie, das Problem der Überbevölkerung und das Hungers, die bleibenden Schäden der Verschmutzung der Erdoberfläche und vor allem die Gefahr von Kriegen mit ABC-Waffen, der stärkste Ausdruck der Einheit der Menschheit. Darum können auch Negativkataloge in internationalen Vereinbarungen am ehesten auf Konsens hoffen. Der Imperativ der Angst beginnt mehr Bedeutung als das gemeinsame Erbe zu haben. Angesichts der neuen - oder neu verstandenen - Weltsituation wird die Theologie ihre wohl begründete Abneigung gegenüber der Vorstellung, die Menschheit sei vor allem durch ihre gemeinsame Sünde in Solidarität verbunden, neu bedenken müssen. Die Bedeutung gemeinsamer Überlebenshoffnung, also einer noch nicht stattgefundenen Geschichte der Zukunft, verbindet die verschiedenen menschlichen Gruppen und Kulturen so stark, daß auch der mögliche Erweis einer nicht einheitlichen Entstehung des Menschen, d. h. eines an verschiedenen Stellen der Erde und zu verschiedenen Zeiten geschehenen Übergangs vom Hominiden zum Menschen -, etwa im Interesse der Apartheitsideologie -,
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Grundlage IB2
Explikation IIIC
Konsequenz III D 4
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Konsequenz IIJ A 1
Explikation IIJC
Grundlage 11 C 3
Explikation 11 B 2
ll. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
die Hoffnung auf die Einheit der Menschheit nicht entkräften würde. Diese Überlegung verweist auf die zukunJtsbezogene Begründung der rigorosen Ablehnung aller Formen des Rassismus, die unter den eine neue Humanität präfigurierenden Aufgaben der Kirche Vorrang hat. Die Hoffnung auf die Einheit der Menschheit ist die Hoffnung auf die Freiheit der Menschen. Befreiungstheologien und -programme stehen zu dieser letztgültigen Hoffnung im selben Verhältnis wie die Menschenrechte zur Rechtfertigung aus Gottes Gnade. Außer der hier skizzierten theologischen Argumentation entlang den Linien alttestamentlicher Hoffnung auf die Aufrichtung von Jahwes Recht, ist auch eine streng christologische Argumentation möglich. Sie geht von der Rede von der Einheit des Leibes Christi aus und versteht die Kirche als einen zu ihrem Haupt wachsenden Organismus. Von dieser Sichtweise her liegt es nahe, einen die Welt umspannenden oder kosmischen Christus zu denken und Jesus - wie in alexandrinischer Christologie - als Repräsentanten der ganzen Menschheit zu verstehen. Bei genauerem Zusehen erweist sich diese christologische Argumentation aber als Ableitung aus der alttestamentlich-eschatologischen.
Die Einheit der Menschheit kann nur Ziel der Hoffnung sein, wenn sie eine Einheit in Freiheit ist, nicht eine Vereinheitlichung in Vermassung. Individuelle Kreativität und gesellschaftliche Komplementarität muß an die Stelle von passiver Uniformität und sozialer Konkurrenz treten. Die erhoffte Einheit muß anders und besser begründet sein als durch den augustinischen Gedanken der alle Menschen verbindenden Sünde, es sei denn, unsere heutige Erkenntnis der die ganze Menschheit bedrohenden Gefahren würde als heutiger Ausdruck dieser alten und problematischen Einsicht genommen.
D. Die Freiheit zur Menschlichkeit
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Zur Begründung der Hoffnung auf die Einheit könnte man freilich den in meinen Argumenten bewußt ausgeklammerten Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen - der Menschen - verwenden. So ist auch vielfach argumentiert worden. Ich sehe in dem Konzept der Gottebenbildlichkeit aber ein abgeleitetes und autonom gewordenes Idiom, das ich nur im Hinblick auf die Öffnung des Menschen für die Partnerschaft mit Gott verwenden möchte, nicht als ontologische Begründung des Status der Menschheit, (dies ist meine Sorge in Jürgen Moltmann/J. Milic Lochman (Hg.), Gottes Recht und Menschenrechte, (Neukirchen 1976)). Ernst Troeltsch hat unter Rückgriff auf Novalis' Fragment von 1799 »Die Christenheit oder Europa« die Einheit Europas als katholischen Standpunkt der Mannigfaltigkeit des Protestantismus gegenübergestellt und hat, unter Vermeidung eines »Europäerhochmuts«, die Einheit der Menschheit als einheitlichen historischen Gegenstand bestritten; Der Historismus und seine Probleme, in Ges. Schriften Bd. 3 (Tübingen 1922). Vom Historismus her gesehen ist das ein vernünftiges und faires Urteil. Die Frage für uns ist heute, wie die noch ausstehende Geschichte die Einheit der Menschheit aufzeigen kann, wenn die vergangene es nicht getan hat. Vgl. auch J. Robert Nelson u. Wolfhart Pannenberg (Hg.), Um Einheit und Heil der Menschheit (Frankfurt 2. Aufl. 1976) sowie atto Hermann Pesch (Hg.) Einheit der Kirche - Einheit der Menschheit (Freiburg 1978).
SCHLUSSBEMERKUNG: ÜBER DIE WAHRHEIT DER THEORIEN Nach dem Versuch, die Einbettung regulativer Sätze/impliziter Axiome in der Sprache der Gläubigen aufzufinden und erklärungskräftige Theorien zur Kirche (11 A), zur Trinitätslehre (11 B), zur Christologie (11 C) und zur theologischen Anthropologie (11 D) zu skizzieren, muß noch einmal die bereits in I G und I H berührte Frage nach der Wahrheit besprochen werden. Dabei soll hier eine Fülle von wichtigen Fragen ausgeblendet werden, zumal viele von ihnen in der heutigen wissenschaftstheoretischen Diskussion in der Theologie schon befriedigend beschrieben und teilweise beantwortet
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Il. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
worden sind. Dazu gehört die Prüfung der drei heute vielfach wie gleichwertige Konzepte behandelten Wahrheitstheorien, der Korrespondenz-, der Kohärenz- und der Konsenstheorie, über deren tatsächliche Unterschiedlichkeit durch die Beheimatuilg auf unterschiedlichen Frageebenen in der Philosophie aber weitgehend Konsens erreichbar scheint. Auch die theologische Nutzung des Konsensmodells ist von manchen Autoren (und Gremien) in Hinsicht auf die Verbindlichkeit kirchlicher Lehre sinnvoll und befriedigend beschrieben und durchgeführt worden. Schließlich ist die Diskussion um die Verifikation theologischer Aussagen in der englischsprachigen Religionsphilosophie in sehr differenzierter Weise geführt worden. Wenn man auch nicht von einem erreichten Konsens sprechen kann, so sind die Probleme doch mit hinreichender Klarheit benannt und die noch anstehenden Aufgaben deutlich gekennzeichnet worden. Es ist gut, daß diese Gesprächsergebnisse mit denen der deutschsprachigen Diskussion um Methoden und Wissenschaftstheorie der Theologie endlich verknüpft werden. Es ist nun an der Zeit, daß nach all diesen mühseligen und geduldigen Vorarbeiten - und seien sie auch noch unabgeschlossen - die deutschsowie die englischsprachige Theologie in ihrer evangelischen sowie katholischen Form den ersten Nutzen aus diesen methodischen Analysen zu ziehen beginnt in direkter Anwendung auf die zentrale theologische Frage nach der Wahrheit der impliziten Axiome und der von ihnen ermöglichten Theorien. Unter Rückgriff auf Hans v. Sodens Marburger Rektoratsrede von 1927: "Was ist Wahrheit? Vom geschichtlichen Begriff der Wahrheit«, schrieb Wolfhart Pannenberg 1962 den schönen Aufsatz" Was ist Wahrheit?« (in Grundfragen systematischer Theologie, Göttingen 1967, 202-222), der in der Frage nach der Einheit der Wahrheit kulminiert, und setzte 18 Jahren später die Frage fort mit »Wahrheit, Gewißheit und Glaube« (in Grundfragen systematischer Theologie, Bd. 11, Göttingen 1980, 226-264), in dem er auf die angelsächsischen Diskussionen um »Aussagenwahrheit« eingeht, vgl. auch seine WissTh 218-221, 416-424. Hilfreich ist Gerhard Sauters Abschnitt »Die Wahrheit der Theologie im Konsensus der Kirche« in WissKrTh 316-332, wenn sich seine Überlegungen auch mehr auf die Klärung eines Programms als auf eine Ausführung konzentrieren. Vgl. Konkretes in: Verbindliches Lehren der Kirche heute, Arbeitsbericht aus dem Deutschen Ökumenischen Studienausschuß und Texte der Faith and Order-Konsultation Odessa 1977, hg. Dt. Ökm. Studienausschuß (Frankfurt 1978). Theologiegeschichtlich wesentlich, aber im Ergebnis unbefriedigend ist der Niederschlag der Kontroverse zwischen Hans Albert und Gerhard Ebeling, vgl. Hans Albert,
D. Die Freiheit zur Menschlichkeit
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Traktat über kritische Vernunft (Tübingen 2. Auf!. 1969), Gerhard Ebeling, Kritischer Rationalismus? Zu Hans Alberts ,Traktat über kritische Vernunft< (Tübingen 1973), sowie Hans Albert, Theologische Holzwege, G. Ebeling und der rechte Gebrauch der Vernunft (Tübingen 1973). Vgl. Albert Keller, S. J., »Kritischer Rationalismus-eine Frage an die Theologie?«, in Theologie der Gegenwart 17, 1974,87-95. Weder Albert noch Ebeling bedienen sich sprach analytischer Methoden, darum wirkt Alberts massive Kritik an der Theologie altmodisch-rationalistisch, Ebelings Verteidigung verkündigend. - Ich habe mehrfach Seminare über diese und die damit verbundenen Publikationen gehalten und bin bis heute nicht überzeugt, daß wir ohne die Hilfe der Analytischen Philosophie die zwischen Albert und Ebeling verhandelten Probleme werden lösen können. Der jetzige Stand der Diskussion ist zutiefst unbefriedigend, zumal man - jedenfalls ich - zu der Methode des kritischen Rationalismus viel gut begründete Zuneigung haben kann, von der Solidarität mit Ebelings Credo ganz zu schweigen. - Vgl. auch Christian Link. »In welchem Sinn sind theologische Aussagen wahr?«, in EvTh 42, 6 (Nov./Dez. 1982),518540.
Aber abgesehen von diesen mit hinreichender Klarheit beschriebenen Problemen sowie der theologischen Nutzung der Wahrheitstheorien von Gottlob Frege bis zum späten Ludwig Wittgenstein, von A. N. Whiteheads und B. Russells Principia Mathematica zu A. Tarski und P. F. Strawson, muß doch letztlich in der Theologie die Frage gestellt werden, was es heißt, daß Gott selbst die Wahrheit ist. Die These, daß Gott die Wahrheit sei, muß im Rahmen der Überlegungen dieses Buches sicher zu einer Folgethese und vielleicht zu einer zweiten These führen. Die erste wird besagen, daß die Wahrheitsfindung in den verschiedenen theologischen Operationen zur Lösung von Problemen, sei es im gelehrten theologischen Diskurs, sei es im Streben nach kirchlich-ökumenischem Konsens, nicht durch den Konsens der Gesprächspartner zustande kommt, sondern daß sie einen Konsens über die Wahrheit darstellt. Darauf muß sich die Theologie - und sei es auch eine theologia ludens - einstellen. Sie stellt die Wahrheit nicht durch Diskurs und Konsens her, sondern sie entdeckt sie dort. Diese zweite These, die möglicherweise aus der Grundthese erwächst, wäre die risikoreiche Feststellung, daß die regulativen Sätze/impliziten Axiome biblisch begründeter Theologie nicht nur anzeigen, wer und wie Gott ist, sondern daß sie mit seiner Rationalität identisch sind. Sind die Axiome alle in der Story Gottes mit den Menschen (die Israel und die Kirche aus ihrer Story mit ihm erschließen) verwurzelt, und ist Gott als der ver-
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ll. Die Theorie: Die Suche nach der Wahrheit
standen, der sich trinitarisch mit dieser Story identifiziert, so bleibt es zwar wahr, daß Theologie die Prüfung des Redens zu Gott und über Gott ist und nicht eine» Analyse Gottes« (wie wenn er ihr direkter Gegenstand wäre), es folgt aber aus diesen Prämissen, daß mit der Entdeckung der impliziten Axiome Gott selbst entdeckt wird. Ich nenne diese These eine mögliche These, weil sich mit ihr eine Fülle von Schwierigkeiten ergeben, die zunächst in vorsichtiger Arbeit behoben werden müßten. Es müßte sichergestellt werden, daß die Analyse der Rationalität der Welt nicht automatisch zur Gotteserkenntnis führt, daß auch nicht der umgekehrte Weg eingeschlagen werden kann: von der Kenntnis Gottes her die Natur und unsere Welten entschlüsseln zu können. Aber eine letztgültige Koinzidenz zwischen den in der Story erkannten Regulativen und Gottes Weisheit wird die Theologie als das Ziel ihres Suchens erhoffen dürfen, und sollte sie auch nur doxologisch darüber reden können (vgl. 111 E). Denn über letztgültige implizite Axiome in bezug etwa auf Gottes Liebe, Gerechtigkeit und Bereitschaft zum Mitleiden, können wir nur sagen, daß sie nie nicht-gültig, nie unwahr sind. Damit aber ist sehr viel gesagt, mehr als Hypothesen ausdrücken können. In Gott bündeln sich alle Perspektiven der Welt (I Cl und 2). Trotz Reserven gegenüber den weichen Übergängen zwischen naturwissenschaftlichen und theologischen Sachverhalten und der damit gegebenen Versuchung zu einem Totalentwurf Gottes und des Universums, meine ich, daß Thomas F. Torrances Vorstellungen von der letzten Einheit zwischen der Rationalität des Universums und Gottes ernsthaft geprüft werden sollten. Vgl. u. a. sein Buch: God and Rationality (London 1971) sowie den Aufsatz »Ultimate Beliefs and the Scientific Revolution«, in Cross Currents, Sommer 1980, 129-149. Die zahlreichen Berührungspunkte mit mittelalterlicher Theologie, die freilich nicht mit Torrances (bzw. Michael Polanyis) Kenntnissen neuer Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften ausgestattet war, müßten zur Erhärtung dieser zweiten These mit aller Vorsicht und Umsicht analysiert werden.
III. DIE BEWÄHRUNG: DER WEG ZUR ETHIK UND DOXOLOGIE
VORANZEIGE
Theorien kann man nicht »in die Praxis umsetzen«, wie es der Volksmund haben will. Sie sind von anderer Art als praktische Gedanken und Pläne. Aber Theorien können zur Praxis anleiten, darin können und sollen sie sich bewähren. Um noch einmal das altbekannte Beispiel aus der Psychologie zu verwenden: die »Instanzenlehre« Freuds oder die modernere »Re präsentanzenlehre«sind unverzichtbare Instrumente zur Erklärung komplexer Sachverhalte - unverzichtbar jedenfalls bis zur Entdeckung angemessenerer Theorien -, aber es würde niemand in den Sinn kommen, von einem Therapeuten zu verlangen, diese Lehren oder Theorien »in die Praxis umzusetzen«. Ausgerüstet mit diesen Theorien, in der Sicht der komplexen Dinge geschärft und bereit zur Erklärung grundlegender Fragen und Probleme, soll sich der Therapeut an die Arbeit machen und sich praktisch bewähren. Nur in diesem Sinn kann man von der »Bewährung von Theorien« sprechen. Nicht anders steht es in der Theologie. Die Schwierigkeit, in der Theologie von Theorien zu sprechen, oder die eigentliche Aufgabe der Theologie gar eine theoretische Aufgabe zu nennen, ist rein psychologischer Art. Während es einem Patienten in der Psychotherapie zunächst recht gleichgültig sein kann, mit welchen Theorien seine komplexen Probleme angegangen werden, auch einem Finanzminister oder Kaufmann, welche Anteile seiner Gedanken man »Theorie« oder »Praxis« nennt, fällt es einem gläubigen Menschen schwer, die Leitgedan-· ken, Rahmenvorstellungen und impliziten Axiome, die ihn bewußt oder
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III. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
unbewußt bestimmen, als Theorien bezeichnet zu hören. Ich muß von mir selbst sagen, daß ich beim Nachlesen der Thesen und Ausführungen im Teil 11 den Eindruck nicht loswerde: so trocken, kühl und distanziert kann man eigentlich nicht über die Dinge reden, die uns im Leben am wichtigsten sind. Aber man sollte sich dennoch nicht scheuen, eben dies zu tun. Zu viel in Theologie und Kirche ist durch dieses Gefühl des Genierens schon verdeckt und darum in nur halber Ehrlichkeit und in unzureichender Klarheit abgehandelt worden. Auch im folgenden geht es nicht um eine Homilie, nicht um ein Abweichen vom analytischen, argumentativen Stil. Es sollen in aller Kürze nur die Grundgedanken - die Folgen der impliziten Axiome der Theologie - ausgeführt und erklärt werden. Es wird dabei deutlich aufTeil I zurückgegriffen, aber eine volle eins-zu-eins-Systematik wird nicht angestrebt. Es ist ja nicht so, daß unsere Sichtung des Gegenstandsfeldes (Teil I) zu derart klaren Ergebnissen geführt hätte, daß ihre Einzelteile nun alle unter der Lupe angemessener Begriffe und in der Vernetzung erklärender Theorien in neuer Klarheit und Wahrheit erstehen würden! Aber es sollte doch möglich sein, die Hauptthemen, die uns bei der Sichtung aufgefallen sind, im Licht der Theologie - genau gesagt der theologischen Theorie - nochmals neu zu betrachten. Die Gewichtung auf die beiden Brennpunkte: Therapie und Doxologie haben - das muß ich freimütig zugeben - zunächst viel mit meiner eigenen Erfahrung zu tun. Aber ich glaube trotzdem nicht, daß das folgende hauptsächlich autobiographisch bedingt ist. Biblisch veranlaßte Theologie, unser Glaubenswissen - wie ich es unter Umgehung der alten Kontroverse um Glauben und Wissen nennen möchte - drängt auf diese beiden Grundhaltungen: helfendes und heilendes Verstehen der Mitmenschen im privaten und im sozialen Bereich - und dankbare, lobende und auch klagende Anrede an Gott. Darin soll sich die Wahrheit des Credos der Gläubigen bewähren, im denkenden Tun und Beten, nicht in der isolierten Verifikation des Denkens als solchem. Zu Beginn dieses Teiles III möchte ich zwei sehr verschiedene theologische Bücher nennen, an denen die Theologie unserer Zeit nicht leicht vorbeigehen kann. Der Ethiker J ames M. Gustafson in der University of Chicago hat nach mehreren umfangreichen Entwürfen zur Ethik nun ein großes Werk vorgelegt: Ethics from a Theocentric Perspective, Vol. I Theology and Ethics, Vol. 11 Ethics and Theology (Chicago 1981ff) »Theozentrisch« heißt für ihn, daß der Mensch nicht mehr im Zentrum des Uni-
Voranzeige
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versums steht und Gott als »moral agent« beanspruchen kann, daß er vielmehr in völlig neuem Überdenken der Rede von Gottes Regierung über alle Dinge Gott als Quelle alles Guten verstehen muß und seine Ethik von daher gestalten kann. Geoffrey Wainwright, der englische Theologe, der lange in Kamerum und dann an der Universität in Birmingham gearbeitet hat, ist seit wenigen Jahren auf dem Lehrstuhl für systematische Theologie am Union Seminary in New Y ork. In dem Buch Doxology, The Praise of God in Worship, Doctrine and Life (New York/London 1980) legt er eine umfassende, von der Doxologie her verstandene Theologie vor.
A. VOM KOSMOS ZUM MENSCHEN (ZU I A)
VORÜBERLEGUNG
Im Handeln der Gläubigen - in der Ehtik also - geht es nicht um eine direkte Ableitung aus biblischen Texten oder aus der Gotteserfahrung, also nicht um eine »Anwendung« eines zunächst in sich schlüssigen, aber wirklichkeitsfernen Glaubensgutes auf das Feld wertneutraler Wirklichkeit. Vielmehr geht es um die dem Glauben gemäße Aneignung und Umgestaltung der Wirklichkeit, der Welt, in der die Gläubigen sich jeweils vorfinden. Darum stellt sich die Frage nach dieser Wirklichkeit in umso dringlicherer Weise. Man kann nicht »Glaube« und »Wirklichkeit«, »Evangelium« und »Welt« (oder Welten) getrennt voneinander zu erfassen suchen. Diese Suche muß mißglücken und hat in der Geschichte noch immer zum gnostischen Zerrbild des Glaubens und zum Verlust der Weltwirklichkeit geführt. Hier zeigt sich der tiefe Unterschied zwischen der lebendigen Story der Juden und Christen, die mit ihrer auf Gott bezogenen Erinnerung und Hoffnung sich als Teil der auf Gott hin geschaffenen Wirklichkeit verstehen, und dem Phänomen der Ideologien, die sich auf ein Depositum von Konzepten gründen, das sie der Wirklichkeit überzustülpen suchen. Von der kompromißlosen Trennung zwischen Glaube und Ideologie hängt viel ab. Die Trennung ist in der Geschichte der Kirche (und auch Israels), sowie auch - akademisch gesprochen - in der Geschichte der Ethik, keineswegs immer gelungen. Auch moderne, kritische Theologie - sogar im Gefolge der dialektischen Theologie - hat sich oft nicht befreien können von der Tendenz zur Begründung einzelner ethischer Maximen oder Forderungen aus biblischen Einzel- oder dogmatischen Obersätzen. Das Pathos monokausaler theologischer »Begründungen«, die man in vielen kirchlichen Erklärungen zu wichtigen ethischen Fragen findet, etwa zur Friedensund Abrüstungsfsrage oder zu den Gefahren der friedlichen Nutzung der Atomkraft, verfehlt so oft die erhoffte Wirkung, weil die »Begründung« höchstens für Gläubige einen Wert hat (in Wahrheit einen Scheinwert),
A. Vom Kosmos zum Menschen
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und weil die ethische Forderung letztlich auf eine gesinnungsethische Haltung reduziert wird. Die Nähe zur Ideologisierung des Glaubens ist hier unverkennbar. Wenn das Handeln der Gläubigen - verbunden mit ihrem Beten - auf die dem Glauben gemäße Aneigung und Umgestaltung der Weltwirklichkeit aus ist, so stellt sich die Frage, ob nicht durch die socio-morphe Konzentration der biblischen Bücher und der klassischen Theologie ein viel zu breiter Bereich der Wirklichkeit ausgeblendet worden war. Vieles spricht in der Tat dafür, daß dies so ist. Die Einengung der Territorien, in denen die Funktion Gottes sowie des darauf antwortenden Glaubens gesehen wurden, führte zur Konzentration auf personalistisch gefaßte Gottesbeziehungen und zwischenmenschliche Interaktionen als den für den Glauben allein wichtigen Bezugsfeldern. Diese Begrenzung erlaubt nachträglich auch eine vielleicht unbeabsichtigte Trennung zwischen der Welt des Glaubens und der Weltwirklichkeit, besonders auch der unbelebten Natur. Es gilt, das theologisch legitime Verständnis des alle Wirklichkeit umspannenden Dreiecks Gott-Mensch-Natur zu gewinnen. Nur dann kann der Dualismus des gnostischen Zerrbildes des Glaubens oder der idealistischen Welterklärung vermieden und überwunden werden. Aber ein nicht-trinitarisches Gottesverständnis wird dies nicht leisten können. Es wird entweder in der idealistischen Zuordnung eines überweltlichen Gottes zur ungöttlichen Natur verharren und dem Menschen eine respektable Mittelposition einräumen, oder es wird zur Vergöttlichung der Natur und zur Gleichsetzung ihrer vermeintlichen Gesetze mit dem Wesen Gottes führen. Der trinitarische Zugang zum Verständnis und zur Anbetung Gottes führt aber zugleich zum Verständnis des Menschen und der Natur, die beide nicht zum Gegenstand der Anbetung werden sollen. Die Verwurzelung der ökonomischen Trinitätslehre in der Story Gottes mit denen, die ihn anbeten und erkennen, verweist auf die unaufgebbare historische Dimension auch im Verständnis des Menschen und der Natur. Man kann geradezu von einem theologischen Grund für die Notwendigkeit sprechen, den Menschen sowie die Natur in ihrer Geschichte und Entwicklung zu verstehen zu versuchen. Erkenntnisse der Astrophysik und Theorien der Kosmogonie sind ebensowenig wie naturwissenschaftliche Anthropologie und Entwicklungslehre theologisch irrelevante oder gar mit der Theologie konkurrierende Betrachtungsweisen.
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III. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
Wir sind heute mit einer trinitarisch gefaßten Interpretation der »condition humaine« und erst recht der belebten und unbelebten Natur noch nicht weit fortgeschritten. (Die anregenden Ansätze in der »Prozeßtheologie« zum Verständnis der Beziehung zwischen Gott und Kosmos, Kosmos und Mensch lassen noch die trinitarische Sichtweise vermissen). Letztlich wird uns eine Entsprechung der Zuordnung von Christologie und Anthropologie zur Verbindung von Pneumatologie und Naturverständnis als Ziel vor Augen sein müssen. So wie in Jesus Christus, dem von Gott gerechtfertigten »Minimalmenschen«, der gottgewollte Mensch sichtbar wird, so müßte im heiligen Geist, dem vom Vater ausgehenden creator spiritus, die belebte und unbelebte Natur als Schöpfung im Prozeß Gottes erkennbar werden können. Wenn Ethik nicht einfach Anwendung biblischer oder christlicher Ideen ist und auch nicht die direkte Ableitung aus theologischen Obersätzen, wenn sie vielmehr auf die Gestaltwerdung von Gottes Gerechtigkeit und Friede durch die Transfiguration der alten in eine neue Welt aus ist, dann bedarf sie dieser trinitarischen Grundlegung. Ob das Wollen, Handeln und Hoffen der Gläubigen im strikten Sinn »Ethik« genannt werden kann, ist eine zweitrangige Ermessensfrage. Es empfiehlt sich, statt von »christlicher Ethik« von der hier und dort vorfindbaren und beschreibbaren (vielleicht auch vorbildlichen) »Ethik der Christen« zu sprechen. (Mutatis mutandis müßte von der »Ethik der Juden« gesprochen werden, wobei die für sie über alle Jahrhunderte typische Kasuistik im ökumenischen Gespräch neue Beachtung finden müßte; sie ist anderer Art als die klassische Kasuistik katholischer Moraltheologie). Die Reflexion über den Zusammenhang der Ethik der Gläubigen mit ihrem Credo sowie mit den von ihnen vorgefundenen Ethiken ist die Aufgabe der sogenannten »Theologischen Ethik«. Zur Verbindung von Natur und Ethik vgl. Günter Altner, Schöpfung am Abgrund (Neukirchen 1974) sowie Zwischen Natur und Menschengeschichte (München 1975). Kar! Barths Warnung vor dem Konstrukt eines biblischen Weltbildes oder einer christlichen Weltanschauung (KD 111,2, § 43,1) ist gewiß zu beherzigen, fraglich bleibt aber doch die Beschränkung, »daß der Glaube an Gottes Wort niemals in der Lage sein kann, in der Totalität der Geschöpfwelt sein Thema zu erblicken. Er glaubt an Gott in dessen Verhältnis zu dem unter dem Himmel auf der Erde existierenden Menschen; er glaubt nicht an diese und jene Beschaffenheit des Himmels und der Erde«. KD 111,2,7. Freilich soll man nicht »an« die Beschaffenheit der Erde glauben, aber soll sie nun vom theologi-
A. Vom Kosmos zum Menschen
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sehen Fragen ganz ausgeblendet werden, so als sei Gott nur auf menschliche Geschichte zu beziehen? In 11 C 5 habe ich auf die Arbeiten von Thomas F. Torrance hingewiesen, der in neuer Naturwissenschaft sowie in der Theologie das Ende der dualistischen Weltauffassung genaht sieht. Die InteIligibilität des Universums wird zwar nicht - wie in früherer »natürlicher Theologie« - zur Erkenntnisquelle, zumal wir nur winzige Aspekte davon erkennen können, aber sie wird Gegenstand der Auslegung der Natur in neuen Feldtheorien, die letztlich nach keinen anderen Prinzipien funktionieren als die theologischer Schöpfungslehren und der Christologie. Dabei geht es freilich um eine Anwendung und Weiterentwicklung von Michael Polanyis Konzepten zur Ontologie des Erkennens: Erkennen ist im Sein begründet, persönliches Erkennen stellt den Kontakt her zur rationalen Struktur der Realität, die ihrerseits schon unsere intuitive Erfahrung der phänomenalen Welt begründet. Darum »wissen« wir schon, bevor wir etwas wissen, bzw. es genau wissen und bewiesen haben. - Bei der Prüfung dieser Thesen darf man nicht übersehen, daß die Anwendung in der Ethik, d. h. die praktische Auswirkung, davon abhängt, ob Polanyis und Torrances Ankündigung vom Ende der dualistischen Struktur des Universums auch Zustimmung findet. Was nützte es, wenn es so wäre, aber niemand außer einigen Gelehrten sähe es? Zur Prozeßtheologie vgl. Michael Welker, Universalität Gottes und Relativität der Welt (Neukirchen 1981), die einzige, umfassende Darstellung und kritische Analyse der Prozeßtheologie in deutscher Sprache; sowie das Buch des australischen Biologen Charles Birch und des amerikanischen Prozeßtheologen John B. Cobb, The Liberation of Life: From the Cell to the Community (Cambridge 1981). Bei beiden Autoren scheint mir noch ungelöst, wie man den Übergang von rein physio-morphen Strukturen in die soziale Dimension menschlichen Lebens rechtfertigt. Ich habe mit ihnen ausführlich gesprochen und sehe noch nicht, wie die ethischen Forderungen nicht auch anders als durch Prozeßphilosophie bzw. -theologie begründet werden könnten. Können sie das aber, dann ist die Ableitung nicht zwingend. Vgl. meine »Anfragen an die Prozeßtheologie« in Theologie in den Neuen Welten (München 1981), 82-95 sowie meine Besprechung von Welkers Buch in ThZ (Basel) 39,2 MärzlApril1983, 122-125.
1. DIE ERWARTUNG DER TRANSFIGURATION
Wie immer man das Nachdenken der Gläubigen über ihr Handeln und Beten nennen mag - ob Reflexion über Ethik, oder Nachfolge, Gottes- und Menschendienst, Gestaltwerdung Christi oder Erfüllung von Gottes Willen und Plan - es geht in jedem Fall um die Transfiguration des Alten in das Neue.
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III. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
Das Handeln der Gläubigen - und ihr Beten als dankbare und erwartungsvolle Anrede an Gott - orientiert sich aber nicht nur an der Hoffnung auf eine zukünftige Gesamt- Transfiguration des Himmels und der Erde und der menschlichen Gesellschaft, vielmehr ist jede noch so kleine Tat aus Glauben und Hoffnung, auch in der Routine des Alltags, eine Zeichen setzende Transfiguration, eine therapeutische Umgestaltung von Altem in Neues. Diese ständige Erwartung der Verwirklichung von Transfiguration würde zu einer über allem wirklichen Leben schwebenden Wunschhaltung werden, bezöge sie nicht die Hoffnung auf die Umgestaltung auch der unbelebten Natur mit ein. Die Gläubigen verstehen ihre eigene Verkettung in die Natur nicht als Unfreiheit, sondern als gnädige Einbettung in die Begrenzung aller Geschöpfe, weil sie die Natur nicht als gottfremde Wirklichkeit, sondern als Schöpfung verstehen.
Es mag dahingestellt bleiben, ob der Begriff der Transfiguration, der in der östlichen Orthodoxie von so großer Bedeutung ist, heute schon von uns im Westen sinnvoll verwendet werden kann. Zu stark noch denken wir in den Dimensionen personaler Begegnung und zwischenmenschlicher Interaktionen als den alleinigen Kategorien für die Erklärung und die Gestaltung des Lebens der Gläubigen. Diese Dimensionen sind von größter Wichtigkeit, aber ohne ihre Einbettung in den viel breiteren Zusammenhang der Entstehung und der Geschichte des Kosmos, der Entwicklungsgeschichte der Menschen und ihrer gegenwärtigen natürlichen Konstitution sind sie dem Mißverständnis als ideologischer Überbau, der in das Belieben der Ausübung der Religionsfreiheit gestellt ist, ausgesetzt. Die Rede von der Erwartung der Transfiguration ist eine Totalkritik der Welt. Sie bleibt so lange im rein Metaphorischen, als noch keinerlei sichtbare Zeichen der Neuwerdung erkennbar sind. Wegen des Mangels an solchen Zeichen und der fehlenden Beweiskraft der Auferweckung von Jesus (vgl. 11 C 5), d. h. dem Ausbleiben breiter Zustimmung über den Kreis der Gläubigen hinaus, ist die Theologie immer wieder versucht, ihre Hauptinhalte als Gegenstände der Hoffung in die Zukunft zu projizieren. Vergegenwärtigt man sich diese Situation ganz nüchtern, dann wird auch sogleich deutlich, welche Beweislast auf den Gläubigen und dem von ihnen gelebten Leben liegt. Ich vergesse nicht, wie mir Glieder der baptistischen Gemeinde in Leningrad erklärten, weshalb ihre Zahl stetig wächst: wir alle, sagten sie, versuchen für unsere Nächsten in der Arbeit und im Wohnquartier einzustehen, sie zu trösten, ihnen Neues vorzuleben, und wenn sie uns nach Jahren fragen, weshalb wir das tun, dann erzählen wir ihnen mit Wor-
A. Vom Kosmos zum Menschen
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ten die gute Botschaft der Bibel. Ich vergesse das darum nicht, weil ich hier von ganz unintellektuellen Gläubigen gelernt habe, was es heißt, zuerst zu handeln und dann zu reden. Die Zeichen des Neuen bestehen nicht nur aus Worten.
2. DAS NATÜRLICHE ALS HALT UND ALS PROBLEM
Das Natürliche betrifft die Existenz des Menschen in dreifacher Begrenzung: in den Grenzen des Ortes, der Kraft und der Zeit. Sie sind in fundamentalerer Weise anthropologische Konstanten als die menschlichen Triebe und Wünsche, die in der klassischen Theologie so viel Aufmerksamkeit fanden. Zum Verständnis des Natürlichen sind Naturwissenschaften und Psychologie unverzichtbare Partner der Theologie. Eine theologische Integration der Teilergebnisse dieser Wissenschaften läßt das Natürliche sowohl als Halt wie auch als Problem erkennbar werden. Für den Gläubigen wird die dreifache Begrenzung durch das Natürliche als Begrenzung der Geschöpflichkeit und darum als Halt erkennbar. Prometheus leidet unter den Grenzen und sieht ihren Sinn nur im Appell zur Auflehnung.
Der menschliche Körper kann gleichzeitig nur an einem Ort sein, während der Geist zu andern Orten und in andere Zeiten wandern kann. Nur durch diese Fähigkeiten erfährt der Mensch von seiner Begrenzung und Bindung an seinen Leib. Die physische und psychische Kraft des Menschen ist vom ersten Lebenstag an begrenzt und bedroht und bringt eine immerwährende Abhängigkeit von anderen Menschen sowie von menschlichen Erfindungen zur Lebenssicherung mit sich, die in verschiedenen Altersstufen verschieden stark erfahren wird. Die unerbittlichste Grenze ist die Bemessung der Lebenszeit durch Geburt und Tod. Die Wahrnehmung dieser Begrenzungen kann den philosophischen Pessimisten zur Resignation und den prometheischen Menschen zur Auflehnung führen. Der Gläubige ist in Gefahr, das Natürliche und seine konkreten Begrenzungen des individuellen Lebens als Stimme Gottes zu mißdeu-
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III. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
ten. Die Erkenntnis des Natürlichen als Geschöpflichkeit muß aber nicht zu dem Schluß führen, individuelle Krankheits- und Todesschicksale seien gottgewollt oder als von Gott verursacht hinzunehmen. Diese drei Begrenzungen sind elementare Manifestationen des Natürlichen im menschlichen Leben. Sie bedingen die Natur des Menschen. Zu ihr gehören im einzelnen die Bedingtheiten der komplementären Natur des Menschen als Mann und Frau, die Sexualität, die genetische Konstitution des einzelnen Menschen, die akute Wirkung oder die bleibenden Folgen von Krankheiten und Unfällen sowie bis zu einem gewissen Grad auch die Einbettung des Menschen in eine bestimmte Zeit der biologischen, geologischen und klimatischen Entwicklungen oder Gegebenheiten. All dies ist das »Natürliche«. Es ist letztlich unverfügbar und kann nur innerhalb enger Grenzen durch geistige oder andere Anstrengungen teilweise oder zeitweise kompensiert werden. Das Natürliche wird für die Ethik zum Problem, wenn in ihm das Normale als das Ethische gesucht wird, wenn aus den elementaren Begrenzungen durch das Natürliche bereits allgemeingültige, elementare ethische Verbindlichkeiten aufgezeigt werden sollen. Sind aus den anthropologischen Konstanten der Grenzen des Menschenmöglichen menschliche Verbindlichkeiten ableitbar? Im christlichen Mittelalter ist diese Frage unter Zuhilfenahme der Unterscheidung zwischen natürlicher Vernunft und übernatürlicher Gnade bejaht worden. Nicht grundsätzlich anders urteilten die Reformatoren mit Hilfe der Zwei-Reiche-Lehre bzw. der Differenzierung zwischen allgemeiner und besonderer Offenbarung. In neuerer protestantischer Theologie ist dieser Weg aber ganz abgelehnt worden, sieht man von englisch-sprachiger Theologie ab. Auf dem Kontinent wird auch von Rechtsphilosophen eine Begründung des Rechts aus dem Naturrecht weithin als petitio principii, als ein Hineinlesen in das Natürliche von vorher gewußten Inhalten kritisiert. Angesichts der Bedrohung unserer Überlebenschancen beginnen wir heute aber dieses Thema aufs neue zu überprüfen. Seit den großen Diskussionen um die »natürliche Theologie« ist die Theologie in der Frage der ethischen Relevanz der Natur im Grunde um keinen Schritt weiter gekommen. Natürlich läßt sich mit naturrechtlichen Argumenten Apartheid, Krieg, sogar Todesstrafe und anderes Unrecht indirekt legitimieren, aber damit ist die ethische Relevanz des Natürlichen als solche noch nicht schlüssig erwiesen, bzw. bestritten, will man von negativen Folgen her die Grundlegung anfechten.
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Zur juristischen Diskussion vgl. Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus? (Darmstadt 1966), eine Sammlung von über 30 wichtigen Aufsätzen. Zum Geschichtlichen s. Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (Göttingen 1951) sowie Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre (Karlsruhe 2. Auf!. 1959). Zur systematischen Theologie s. meinen Beitrag in der Torrance-Festschrift »Some Comments on the Background and Inf!uence of Augustine's lex aeterna Doctrine«, wiederabgedr. in Konzepte I, 123-140.
3. DIE FREIHEIT ZUR UNMYTHOLOGISCHEN ANALYSE DES NATÜRLICHEN
Während es nicht als ausgemacht gelten kann, daß die Gläubigen grundsätzlich ohne mythologische Redeweisen auskommen müssen, kann es als sicheres Ergebnis sowohl biblischer Exegese als auch theologischer Reflexion naturwissenschaftlicher Einsichsten gelten, daß sie das Natürliche frei von jeder mythologischen Erklärungsweise analysieren können. Die mit der Erwählung Israels beginnende Story Israels und der Kirche drängt die Träger dieser biblischen Perspektive zur uneingeschränkten Bejahung nüchterner wissenschaftlicher Analysen der physischen, psychischen und sozialen Dimensionen der Weltwirklichkeit. Die Freiheit zur Bejahung der Forschung bedeutet für die Gläubigen zugleich die Ablehnung jeder mythologischen Überbewertung und Verabsolutierung von Wissenschaft und Technik.
Obwohl die Gläubigen darin nicht wissenschaftsgläubig sind, daß sie mythologische Sprache überhaupt ablehnen, fürchten sie sich vor keinen mythologisch gesetzten Grenzen wissenschaftlicher Forschung. Es gibt für sie keine Glaubensgründe, aus denen der Fortschritt der Forschung als solcher verneint werden müßte. Die einzigen Gründe für ihre Forderung nach einer Begrenzung liegen im Ethischen. Interessante Beispiele der Forderung nach Kontrolle und Begrenzung der Forschung auch außerhalb der Kirchen bieten die verschiedenen Typen von Ethikkommissionen oder Review Boards, mit denen in den USA naturwissenschaftliche und medizinische Forschung aus ethischen Gründen in bestimmte Grenzen gewiesen werden. In
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III. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
Europa setzten sich langsam an den medizinischen Fakultäten solche Ethikkommissionen durch. Ihr praktischer Wert ist freilich nicht unumstritten. Noch weithin unausgeschöpft sind die reichen Berichte über die Konferenz über »Glaube, Wissenschaft und die Zukunft«, veranstaltet von der Abteilung Kirche und Gesellschaft des ÖRK in Boston, Juli 1979, vgl. Faith and Science in an Unjust World, Vol. I hg. von Roger Shinn, Vol. 11 von Paul Albrecht (Genf 1980). Zu den mediz. Ethikkommissionen vgl. E. Deutsch in Neue jurist. Wochenschr. 12,614ff (1981) sowie H. J. Wagner, »Aspekte und Aufgaben der Ethik-Kommissionen«, in Dt. Ärztebl. 78, 168ff (1981). In bestimmten medizinischen Forschungsgebieten, z. B. der Humangenetik, mögen Selbstbeschränkungen der Forscherteams empfehlenswert oder auch schon wirklich vorgekommen sein. Anders verhält es sich mit der 1981 aufgebrochenen Diskussion um Beteiligung oder Verweigerung der Mitarbeit in der sogenannten Katastrophenmedizin: Es . wird befürchtet, daß eine Ausbildung des medizinischen und paramedizinischen Personals in Notfallmedizin für den Fall eines Atomkrieges die Möglichkeit des Einsatzes nuklearer Waffen erhöht. Die Diskussion ist sehr heiß und es stehen weitreichende ethische Fragen auf dem Spiel, vgl. »The Nuc1ear Arms Race and the Physician«, in New England Journal of Medicine, März 1981,726-729 (in europ. Zeitschriften nachgedruckt), auch Psychologie heute, Dezember 1981, 56-61 sowie den Aufruf »Ärzte warnen vor dem Atomkrieg«, in Dt. Ärzteblatt, Hft. 35, August 181 und den Angriff darauf von Volrad Deneke in Hft. 40, Oktober 1981, 1856-57. Zum Problem vgl. Helmut Piechowiak, »Notfallmedizin und Katastrophenvorsorge, Kritische Anmerkungen zur Diskussion um die Ethik der Katastrophenmedizin«, ebd. Hft. 5, Februar 1983,1-5, (der Verf. ist Internist und Theologe in München). Wirklich »wertfrei« kann nach unserer heutigen Sicht der Gefahren für das Überleben der Menschheit letztlich kein Forschungsgebiet und auch keine praktische Ausbildung sein, die auf solchen Forschungen beruht. Vgl. zum Ganzen Hans-Rudolf Müller-Schwefe, Technik und Glaube (Göttingen/ Mainz 1971).
4. BLEIBENDE PROBLEME JEDER ETHIK
Die theologische Ethik teilt mit jeder Reflexion und Theoriebildung auf Handlungsorientierung hin eine Reihe von theoretischen Problemen, die nicht grundsätzlich lösbar sind, sondern nur im Vollzug ethischer Urteilsbil-
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dung annährengsweise bewältigt werden können. Zu ihnen gehört vor allem das Problem der Konkretion eines allgemein wahren Satzes sowie das der Ausdehnung einer Maxime von einem Gültigkeitsbereich auf einen anderen durch Analogie. Zu den bleibenden praktischen Problemen gehört besonders die Spannung zwischen ethischer Einsicht und dem Willen zur Tat, die Unterscheidung zwischen Dringlichkeitsstufen, die Isolierung des Ethischen in einem komplexen Problem sowie die Grenze zwischen freier Verantwortung und Sachzwang. Diese Probleme bestehen unbeschadet der Vorentscheidung, ob Ethik anthropologisch als Beantwortung der Frage nach dem idealen Menschsein oder soziologisch als Weisung für erfolgreiches Zusammenleben verstanden wird. In jedem Fall müssen ethische Sätze präskriptiv und universalisierbar seÜl. In der Begründung der ersten Qualifikation liegen die Probleme der Begründung der Ethik überhaupt, in der zweiten die Probleme ihrer Anwendung. Die Parallelität zu den Grundproblemen der Rechtsphilosophie sind auffällig. Die bleibenden praktischen Probleme sind auf psychologische, charakterliche und gesellschaftlich-strukturelle Phänomene rückführbar , sie haften also jeder Ethik an, sind aber selbst nicht Probleme ethischer Theorie. Hans Biesenbach, Zl!r Logik der moralischen Argumentation, Die Theorie Richard M. Hares und die Entwicklung der Analytischen Ethik (Düsseldorf 1982) bietet in Kap. 11 einen Überblick über die Geschichte der Analytischen Ethik und verbindet in den Kap. III und IV die »Ordinary Language Philosophy« mit der Ethik. Seine eigenen, interessanten Thesen finden sich auf S. 261ff. Werner Schwartz verfolgt in seiner preisgekrönten Mainzer Dissertation, Analytische Ethik und christliche Theologie (Göttingen 1984), den Weg der Analytischen Ethik und verbindet, ausgehend von Richard Braithwaites Story-Konzept, das in diesem Buch verwendete Story-Konzept mit der Ethik. Zur Rechtsphilosophie vg!. außer H. L. A. Hart, The Concept ofLaw (Oxford 1961, dt. Übers. 1973) die historische Orientierung bei Carl Joachim Friedrich, Die Philosophie des Rechts in historischer Perspektive (Berlin/GöttingenlHeidelberg 1955; erweitert in der eng!. Übersetzung, Chicago 1958, 4. Aufl. 1963) sowie den heute lebhaft diskutierten Versuch einer Neubegründung des Rechtsphilosophie (und Ethik) von John Rawls, A Theory ofJustice (Cambridge, Mass. 1971); vg!. dazu RobertP. Wolff, Understanding Rawls (Princeton 1977).
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5. DIE AUFGABE THEOLOGISCHER ETHIK
Letztlich »haben« Juden und Christen nicht eine Ethik, sondern sie orientieren ihr Handeln an der Tora, an Erinnerungen und Hoffnungen aufVerheißungen, an der Gegenwart des Geistes Gottes und der Erwartung der Transfiguration. Das Bezugsfeld zur Überprüfung ihrer Entscheidungen ist die Gemeinde. Vorletztlich aber haben die Gläubigen immer wieder die Notwendigkeit empfunden, bereits vorhandene Ethiken zu übernehmen oder eigene Konzepte zur Handlungsorientierung zu gestalten. Heutige theologische Ethik macht diese Übernahme oder Gestaltung zu ihrem Gegenstand. Auch für sie ist die Aufgabe der Ethik die Reflexion über die Wirklichkeit im sozialen und persönlichen Bereich in Verbindung mit der Bildung von handlungsspezifischen Theorien. Aber sowohl die Reflexion über die Gegebenheiten als auch die Theoriebildung ist für sie abhängig von dem Credo, das Gott in Israel und in Jesus Christus zum Inhalt hat. Diese Abhängigkeit bietet den »weitesten Begründungszusammenhang« der verschiedenen Ethiken der Gläubigen und drängt zur »Korrespondenzfrage« (vgl. III B 3). Die »Korrespondenzfrage« dient nicht nur als Test, sie provoziert auch die Einsicht in »Konstanten der Grundhaltung« der Gläubigen (vgl. III C 6). Sie sind die Implikate der im Mittelalter sogenannten theologischen Tugenden: Glaube, Liebe, Hoffnung. Die Gläubigen bemühen sich, diese Haltungen im täglichen Leben darzustellen. Im weitesten Sinn kann dies die Orientierung genannt werden, die aus theologischer Ethik erwächst. Sie ist primär auf Christen (Juden) hin entworfen. Der intendierte Gültigkeitsbereich über die Gemeinschaft der Christen (Juden) hinaus hängt vom faktischen Einfluß der Kirche (Synagoge) auf die Gesellschaft im ganzen ab. Weil aber das Credo der Christen (Juden) die zukünftige Verwirklichung der Gerechtigkeit Gottes zum Inhalt hat, beziehen sich die bleibend wichtigen Sätze theologischer Ethik in der Perspektive der Hoffnung nicht nur auf die Gläubigen, sondern auf die ganze Menschheit. Diese unverzichtbare Einsicht ist kaum vor dem Mißverständnis zu schützen, die Gläubigen wollten ihre ethischen Ansichten anderen Menschen und Kulturen aufdrängen.
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Mit den verschiedenen Teilen dieser These wird die Thematik der folgenden Kapitel III B bis D summiert. Wenn auch ein Konsens über den Inhalt der These denkbar ist, so besteht doch kein Zweifel, daß heutige Theologen sehr unterschiedliche Konsequenzen aus dem hier thesenhaft Zusammengefaßten ziehen können und tatsächlich gezogen haben. Das ist ein weiteres Indiz für die Unmöglichkeit, eine einheitliche christliche Ethik aus den credo-haften Obersätzen der Gläubigen abzuleiten. VgJ. so differierende Entwürfe wie Ernst Wolf, Sozialethik, Theologische Grundfragen (Göttingen 1975), Franz Böckle, Fundamentalmoral (München 1977) und Trutz Rendtorff, Ethik, Grundelernente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, I und 11 (Stuttgart usw. 1980 u. 1981). Man denke auch an die Diskussion um die Bedeutung des biblischen Gesetzes sowie um die Beziehung zwischen Gesetz und Evangelium. Der Weg vom Kosmischen zum Menschlichen ist unübersehbar weit, und die strukturellen Verbindungen sind nur in Umrissen aufzeigbar. Das ist heute eine umso beängstigendere Überlegung, als die Einsicht in die Gefahren der Zerstörung der Erde durch die Menschen und der Menschheit durch kosmische Kräfte oder deren Fehlen immer unausweichlicher wird.
B. VON DER »STORY« ZUM HANDELN (ZU I B)
VORÜBERLEGUNG
Wenn es richtig ist, daß das »Drin-Stehen« der Gläubigen in der Story, die mit der Erwählung Israels beginnt, im Erklärungsmodell der ökonomischen (historischen) Trinitätslehre die Story Israels und der Kirche mit Gottes eigener Geschichte und Zielsetzung verbindet, dann ist die Frage nach der Begründung des ethischen HandeIns der Gläubigen letztlich identisch mit der Frage nach dem Teilhaben an dieser Story. Die Story selbst ist ja das Handeln. Dies gilt aber nur im weitesten Sinn, denn das handelnde ethische Subjekt ist nur im weitesten Sinn identisch mit der Gesamtheit der Träger der alttestamentlichen und christlichen Sichtweise (um die Formulierung aus I D wieder aufzunehmen). Wenn auch letztlich - in doxologischer Sprache der Anrede gesprochen - Gott das ethische Subjekt ist (vgl. GaI2,20: »ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir«), so ist die freie und verantwortliche Entscheidung für ethisches Handeln doch die Leistung der einzelnen Gläubigen oder der kleinen Solidaritätsgruppen, zu denen sie zur Zeit ihrer Entscheidung gehören mögen. Wenn das richtig ist, so wäre auch die Beobachtung richtig, daß die Ethik der Christen (und Juden) auf eigentümliche Weise zugleich eine heteronome sowie eine autonome Ethik ist. Der Weg von der Story zum Handeln ist jedoch nicht ohne Schwierigkeiten nachzuzeichnen. Die Warnung klassischer Philosophie, man könne aus Ist-Sätzen keine Soll-Sätze ableiten, gilt es ernst zu nehmen. Zu leichtfertig haben Theologen immer wieder von dem »Indikativ«, der einen »Imperativ« begründet, gesprochen. Sie mögen dabei meist etwas anderes als die Begründung der Ethik im Auge gehabt haben, nämlich die Explikation der grundlegenden oder ontologischen Bedeutung des Tuns Gottes in Israel und in Jesus. Aber allzu unreflektiert hat sich daran die Behauptung gefügt, das ethische Sollen der Gläubigen sei in diesem »Indikativ begründet«. In den folgenden sechs Thesen und den sich daran knüpfenden Argu-
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menten soll doch versucht werden, diesen Weg von der Story zum ethischen Handeln nachzuzeichnen. Das Ergebnis wird gewiß nicht eine Skizze »christlicher Ethik«, sondern höchstens der Möglichkeiten der Christen (prinzipiell gesprochen auch der Juden) zur Adaption bereits vorhandener Ethiken im Gesamtrahmen ihres weitesten Begründungszusammenhangs, ihrer Story, sein. Wer dies als ein zu bescheidenes Programm ansieht, soll an die ungeheuren Differenzen zwischen den verschiedenen Entwürfen christlicher Ethik, die in der klassischen sowie in der heutigen Theologie von den großen und verantwortlichen Autoren hervorgebracht worden sind, erinnert werden. Eine einheitliche »christliche Ethik«, die ökumenischen Konsens findet, wird niemals erstellt werden können. Nur wer sich von der Klage darüber befreit weiß und - im Gegenteil - die Freiheit zum ethischen Pluralismus unter den Gläubigen begrüßt, kann den Zusammenhang zwischen möglichen ökumenischen Konsenssätzen zum Credo und der Vielfalt ethischer Einzelentwürfe kreativ nützen. Es ist gerade die Bindung an die Story der Gläubigen, die der Reflexion über das Handeln der Gläubigen die Möglichkeit versperrt, eine ein für alle Mal gültige »Ethik der Gläubigen« zu entwerfen, zu lehren und als verbindlich hinzustellen. Wäre die Story - auch in ihren Detail-Stories - eine immer wieder vorzunehmende Wiederholung irgendeiner Ur-Story, eine »Vergegenwärtigung« (eng!. »re-enactment«) einer Ur-Wahrheit, so könnte freilich eine solche immer gültige Ethik als Extrakt der handlungsspezifischen Aspekte der Ur-Wahrheit doch entworfen werden. Aber gerade so stellt sich die Dynamik der Story von Abraham bis Jesus und bis heute nicht dar, und zwar nicht etwa wegen der Kreativität und des Einfallsreichtums der Gläubigen - die neigten noch immer zur Wiederholung und zum »re-enactment«, man denke an die alttestamentlichen sowie die christlichen Feste-, sondern wegen der Lebendigkeit Gottes, wie wir ihn trinitarisch anbeten und verstehen können: als Erwähler, als Mitleidender und als therapeutischer, Neues schaffender Geist. Es ist also letztlich das Leben Gottes selbst, in das er die Menschen hineinzieht, das eine ein für alle Mal fixierte Ethik unmöglich macht. Aus dieser Einsicht sollte aber nicht geschlossen werden, daß - in akademischer Nomenklatur gesprochen - die Dogmatik die Ethik in sich aufsauge. Freilich ist das Credo der Gläubigen, das Material also der Dogmatik, eine Kritik alles menschlichen Denkens und aller ethischen Konzepte, aber
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es befreit die Gläubigen zugleich zu ihrer sinnvollen Verwendung. Sie können sie nicht unter Verweis darauf, daß Gott in seiner Story mit ihnen immer von neuem spricht und Neues schafft, in Bausch und Bogen ablehnen. Die historischen Beispiele des Schwärmerturns aller Jahrhunderte sowie der zum Prinzip erstarrten Form desselben Grundkonzepts im biblizistischen Mißbrauch der Bibel zeigen deutlich die Gefahren der Anmaßung der Gläubigen, jede ihrer Handlungen als unmittelbar von Gott gewollt hinzustellen. Theologische Ethik als Theorie der Praxis der Gläubigen wird also weder eine »Ethik der Gläubigen« aufzurichten versuchen, noch die vorhandenen Ethiken verantwortlicher und vernünftiger Menschen unter Hinweis auf die direkte Stimme Gottes vom Tisch wischen, vielmehr wird sie immer wieder neu die Bedingungen der Anleihe - sei es in Adaption oder Modifikation - bei bereits vorhandenen oder im Diskurs mit ethisch verantwortlichen Menschen neu gewonnenen ethischen Konzepten überprüfen. Eine andere Frage ist es, ob es bei dieser Überprüfung und im faktischen Vollzug der temporären Aufrichtung ethischer Theorien und praktischer Handlungsorientierungen möglich sein wird, fundamentale moralische Prinzipien zu entdecken, die für Juden, Christen und alle verantwortlichen Menschen in gleicher Weise Gültigkeit haben. Es ist nicht unmöglich, daß wir uns jetzt in der Menschheitsgeschichte an der Schwelle befinden, an der diese Entdeckung in Sicht kommt. Zum ersten Mal in der Geschichte befassen und besorgen sich heute Juden, Christen und Nicht-Christen mit weltumspannenden und im tiefsten Sinn des Wortes gemeinsamen Problemen und Aufgaben. Wenn uns auch keine gemeinsame Story über die Kulturen und Religionen hinweg verbindet, so zeichnet sich die gemeinsame Angst vor der Bedrohung des Überlebens der Menschheit als eine alle Menschen verbindende Zukunfts-Story der Sorge bereits ab. Als erste Frucht der gemeinsamen Sorge kann man die universalen Deklarationen der Menschenrechte ansehen, so verschieden sie auch noch in Ost und West interpretiert und so oft sie auch mit Füßen getreten sein mögen. In der Gegenwart zeichnet sich ein Negativ-Katalog von moralisch verwerflichen Handlungen ab, der sich auf Krieg und Massenvernichtungswaffen, Rohstoffknappheit und Zukunft der Erdoberfläche, Folterung und Diskriminierung bezieht. Wenn dieser Negativ-Katalog auch noch weit von universaler Zustimmung und Anwendung entfernt ist, so wäre er doch neben den Menschenrechtsdekla-
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rationen und -pakten, und teilweise auf ihnen basierend, ein Novum in der Geschichte. Es wird theologisch die Frage zu bearbeiten sein, weiche Funktion der Story von Abraham bis heute in dieser neuen Entwicklung zukommt, (vgl. dazu III C). Die »Konstanten der Grundhaltung« der Gläubigen (vgl. III C 6 und III D) werden hier sichtbar werden müssen. (Vgl. auch 11 C 5). Vgl. earl Friedrich v. Weizsäcker, Wege in der Gefahr, Eine Studie über Wirtschaft, Gesellschaft und Kriegsverhütung (München 1976) sowie: Deutlichkeit, Beiträge zu politischen und religiösen Gegenwartsfragen (München 1978). Ich habe großes Zutrauen zu Weizsäckers Rationalität in der Analyse unserer Situation und unserer Aufgaben, das erst durch seine jüngsten Äußerungen über Meditation, mystische Erfahrungen der Einheit, Indien (vgl. bereits das eilige Buch: Indiengespräche, München 1970) geschmälert worden ist.
1. SCHEINPROBLEME THEOLOGISCHER ETHIK
Die Suche nach der Begründung theologischer Ethik ist in der theologischen Literatur durch zahllose Scheinprobleme belastet, Philosophisch-ethische Systeme, auch Einsichten der Psychologie und der Sozialwissenschaften, sind oft als Alternativen oder als Konkurrenz zur theologischen Ethik aufgefaßt und kritisch dargestellt worden. Schon die Zielsetzung einer ausschließlich theologischen Begründung einer ethischen Theorie ist ein Scheinproblem. So sind auch die häufigen Polemiken theologischer Autoren gegen allgemein-ethische Begriffe wie »das Gute«, das Gewissen, das Humanum und die »Selbstverwirklichung«, den »guten Willen«, Vorsatz und Verzicht, Sozialisation und Motivation, Chrarakterschulung und gute Gewohnheit usw. theologisch und ethisch von geringem Erkenntniswert. In wenig sinnvoller Verlängerung anti-pelagianischer Argumente fallen diese wichtigen Bausteine einer jeden Ethik oft unter theologisches Verdikt. Damit wird aber nicht mehr erreicht als mit den klassisch-protestantischen Angriffen auf die Lehre von den» guten Werken« . Worum sonst soll es in der Ethik gehen, wenn nicht um »gute Werke«? Um was, wenn nicht
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um »das Gute«, um gute Vorsätze und gewissenhafte Entscheidungen? Nur wer nicht durch das läuternde Feuer moderner Analytischer Philosophie gegangen ist, kann meinen, mit Begriffen wie» Wille Gottes«, Gebot Gottes, »Gehorsam« und »Nachfolge« diese anderen Begriffe inhaltlich zu ersetzen. Durch solche wohlmeinende aber unbeholfene Restriktion der sprachlichen Bauelemente für ethische Theoriebildung ist die theologische Ethik (und damit auch die konkret-ethische Verkündigung und der Ton kirchlicher Handlungsempfehlungen) weithin in ein Ghetto geraten. Die geringe Beachtung, die theologischer Ethik und kirchlichen Verlautbarungen zu wichtigen Fragen meist zuteil wird, steht in keinem Verhältnis zu der oft umfangreichen und sorgfältigen Vorarbeit auf Seiten der Autoren. Theologische Ethik beansprucht zu viel, wenn sie die temporären ethischen Theorien, die sie erstellen will und soll, einzig aus theologischen Sätzen begründen will. Sie leistet zu wenig, wenn sie in kritischer Abwehr gegen die Gefahren der Verabsolutierung philosophischer Ethiken verharrt.
Die Wirkung theologischer Idiosynkrasien gegenüber einer ganzen Fülle normaler und sogar unentbehrlicher ethischer Begriffe und Termini hat die theologische Ethik wie durch eine Tabuisierung in eine ungemein unglückliche Sprachverengung geführt. Bücher zur theologischen Ethik haben sogar unter den Gläubigen eine auffallend geringe Wirkung. Theologisch begründete, öffentliche Stellungnahmen, die sogenannten »Worte« zu bestimmten Situationen und Aufgaben, werden von der Öffentlichkeit meist nur als verklausulierte Äußerungen einer Gesinnungsethik der Gläubigen aufgenommen, respektiert oder auch übergangen. Ich fürchte, daß diese pessimistische Beschreibung eigentlich noch viel krasser auffallen müßte. In bezug auf die Ethik sind die Theologien schon im Sprachlichen von Zwängen bedroht, sie vermeiden oft ganze Klassen von Konzepten und Ausdrücken, man denke nur an die ängstliche Verbannung des Wortes »Moral« oder moralisch. Inhaltlich zeigen sich gerade in der Ethik die schärfsten Differenzen unter den Theologen und engagierten Gläubigen. Dabei werden oft die Differenzen im Endurteil in die Begründung zurückprojiziert, in der heutigen Zeit besonders in der politischen Ethik. Es läßt sich aber oft leicht zeigen, daß scharfe Unterschiede im konkreten Urteil- z. B. in der Frage der N ach- oder Aufrüstung, oder auch der Atomkraftwerke - auf identischen oder sehr ähnlichen Begründungen beruhen. Die einzige theologische Ethik, von der nachweislich starke Wirkungen innerhalb und außerhalb der Kirche in unserm Jahrhundert ausgegangen sind, ist Reinhold Niebuhrs
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Ethik gewesen. Seine Bücher sind wirklich von Politikern, Gewerkschaftlern, Ärzten, Militärs und Industriemanagern gelesen worden, aber auch sie haben bekanntlich nach der Reokkupation Ungarns 1956 die Entstehung zweier feindlicher Lager, die sich beide auf Niebuhr beriefen, nicht verhindert. Eine Entsprechung zu der noch auf das Social Gospel indirekt zurückgehenden Wirkung Reinhold Niebuhrs in Amerika ist im deutschsprachigen Raum einzig in Albert Schweitzers Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben zu finden, auch wenn seine Bücher nicht wirklich gelesen worden sind. In der Generation vorher war es wohl die Wirkung Leo Tolstois gewesen, die man damit vergleichen könnte. Dietrich Bonhoeffers Ethik ist, wenn ich es recht sehe, mehr im Sinn der Weisheitsliteratur als in der Gestalt ethischer Theoriebildung einflußreich, das sieht man schon daran, daß seine Ethik meist im Zusammenhang mit seinen anderen, für Nichttheologen verständlicheren Büchern und den Briefen aus dem Gefängnis erwähnt wird. Ein Test für die Richtigkeit dieser Behauptung, theologische Ethik befände sich im Ghetto, ist das Feld der medizinischen Ethik, in der ich seit langer Zeit tätig bip.. Auch solche Patienten, Ärzte und Pfleger, die dem biblischen Glauben und sogar der Kirche gegenüber eine positive und erwartungsvolle Haltung einnehmen, stehen in ihren faktischen Entscheidungen weisungslos und theologisch-ethisch ahnungslos da. Unter Katholiken ist die ethische Orientierung bis vor wenigen Jahrzehnten klarer und einheitlicher gewesen. Aber das hat sich in jüngster Zeit durch die an sich begrüßenswerten Neuerungen in der Moraltheologie, speziell auch der katholischen medizinischen Ethik, geändert. Vgl. das von mir hg. Themenheft »Medizinische Ethik«, EvTh 6/1981, in dem acht Mitglieder der »Arbeitsgemeinschaft für medizinische Ethik« in der Bundesrepublik die Ergebnisse unserer Arbeit zusammenfassen; s. auch Jürgen v. Troschke und Helmut Schmidt (Hgs.), Ärztliche Entscheidungskonflikte, (Stuttgart 1983).
2. DER VORGANG ETHISCHER URTEILSBILDUNG
Sieht man von den gerade in ethischen Fragen häufigen Vorurteilen und unrefLektierten, stimmungsgemäßigen Meinungsäußerungen ab, so voLLzieht sich die Bildung eines ethischen UrteiLs grundsätzlich auf zwei Ebenen: in der über vieLe Lebensjahre sich erstreckenden Rechtfertigung des RoutineverhaLtens sowie im echten ethischen Entscheidungsurteil. Das echte ethische Entscheidungsurteil ist im Leben eines Menschen oder einer Gruppe die Ausnahme. Es voLLzieht sich nach keinen andern RegeLn aLs die BiLdung eines UrteiLs überhaupt, nämlich in der Wahrnehmung des Pro-
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blems, in der Reflexion über die Beurteilungs- und Handlungsmöglichkeiten sowie in der Bemühung um die Verifikation der gewählten Möglichkeit. Man kann diese drei Schritte auch als Wahrnehmung des Lebenszusammenhangs, des Entdeckungs- bzw. Möglichkeitszusammenhangs und schließlich des Begründungszusammenhangs bezeichnen. Die Überprüfung der Routine sowie die konkrete ethische Entscheidung im Erkennen eines Problems und der Begründung für die Handlung stehen für die Gläubigen unter der Vorgabe der Story, in der sie sich vorfinden. Von daher haben sie eine Einsicht in ihre Aufgaben, die der Problemerkenntnis vorausgeht. Nur scheinbar diktieren die Probleme ihres Lebenszusammenhangs ihre Aufgaben. Hier wird ein wesentlicher Unterschied zwischen den temporär erstellten Ethiken der Gläubigen und anderen Ethiken sichtbar: die Gläubigen handeln primär im Rahmen der Mission ihrer Gemeinde (d. h. ihr Lebensstil und -ziel ist ekklesiologisch bestimmt) und wollen von daher die Probleme ihrer Lebenswelt erkennen; sekundär bedienen sie sich ethischer Überprüfungs- und Entscheidungsmechanismen.
Eine konkrete Beschreibung der ethischen Urteilsbildung muß von vornherein mit der Unterscheidung zwischen genuiner Entscheidung und Rechtfertigung des ethischen Routinerverhaltens operieren. In beiden muß sich ethische Veranwortung bewähren. Oft stellt sich die genuine Entscheidung als ein Spezialfall der Rechtfertigung der Routine dar. Die in der These genannten drei Schritte der Urteils bildung sind idealtypisch zu verstehen. Im gelebten Leben nimmt man selten die drei Schritte in bezug auf verschiedene Felder separat wahr, meistens wählt man zwischen zwei schon intuitiv ins Auge gefaßten Lösungen eines Problems, wobei die Begründungen schon implizit mitgegeben sind. Aber in ethischer Konfliktberatung (z. B. Eheberatung, Rechtfertigung eines Schuldspruchs u. ä.) sowie im Streitgespräch zwischen einzelnen und Gruppen kristallisieren sich die drei Zusammenhänge und die ihnen entsprechenden Schritte durchaus klar heraus. Die Einbettung der Entscheidung bzw. der Routine in die Story, in den ekklesiologischen Zusammenhang (vgl. II A 3), heißt nichts weniger als daß die Gläubigen letztlich keine »Individualethik« kennen. Sie fällen ihre Entscheidungen und rechtfertigen ihre Routine im Rückblick und V orausgriff auf die Story ihrer Gruppe. Darum werden sie letztlich auch nicht
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durch die Probleme ihres Lebens gesteuert, sondern durch ihre »Grundhaltung« (vgl. III C 6 und III D). »Individualethisch« bleibt jedoch die immer wiederholte Rückfrage des einzelnen an die Gründe für seine Bindung an die gemeinsame Story der Gruppe bzw. Kirche. Die Partizipation eines einzelnen an der Story der Gruppe löscht das Recht zum Privaten, wie ich es nennen möchte, nicht aus. Idealtypisch ist ein einzelner zu der ethischen Grundhaltung (oder auch dem Programm) einer Gruppe in vier Stufen in Verbindung getreten: 1. durch das Interesse (an der Gruppe, an ihren Zielen), 2. durch die Intention, sich dort zu identifizieren und zu engagieren, 3. durch wirkliche Partizipation, die also über die geistige Intention und den Wunsch hinausgeht, und 4. durch echte Kooperation, bei der man sich behaften und verpflichten läßt. Dieser Prozeß ist aber nie abgeschlossen. Der einzelne durchläuft immer wieder Stadien dieses Solidarisierungsprozesses und oszilliert zwischen Widerstand und Solidarisierung. Ich verstehe meine eigene Beziehung zu Israel und zur Kirche in dieser Weise und meine, sie sei typisch für nahezu alle Menschen, die mit der Story von Abraham bis heute in Verbindung gekommen sind. (Freilich gilt diese Phänomenologie überhaupt im Hinblick auf einzelne und Gruppen). Über »intuitives« Erkennen und Antizipieren im Vorgang der Urteilsbildung haben sich sowohl Michael Polanyi als auch Paul Ricoeur an verschiedenen Stellen ihrer Werke ausführlich geäußert. Vgl. Jam es M. Gustafson, Christ and the Moral Life (New York 1968) sowie Theology and Christian Ethics (Philadelphia 1974). Zur Beziehung Individuum und Gesellschaft in der ethischen Entscheidung vgl. Gibson Winter, Elements for a Social Ethic (New York 1966, dt. Grundlegung einer Ethik der Gesellschaft, MüncheniMainz 1970).
3. DER WEITESTE BEGRÜNDUNGSZUSAMMENHANG (DIE KORRESPONDENZFRAGE)
Der weiteste Begründungszusammenhang der Ethik der Gläubigen ist nicht eine Kette von Wahrheiten, sondern eine Geschichte, die aus unzähligen Stories besteht. Diese Gesamt-Story geht auf ein Ziel zu, von dem nur im Gleichnis gesprochen werden kann (vgl. I B 2 u. I D). Das Gleichnis ist Abbild der Möglichkeit der Welt, oder, in der Sprache der doxologischen Vorausnahme von Gottes Zukunft, Abbild der von Gott bestimmten Wirklichkeit. Die gesamte Welt sowie die Welt des einzelnen Gläubigen kann das werden, was
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schon im Gleichnis dargestellt ist: Friede, Versöhnung, Vergebung, die zweite Meile gehen, den ganzen Mantel geben, nicht richten, nicht für den andern Tag sorgen. Diese Gesamt-Story ist der weiteste Begründungszusammenhang der Ethik der Gläubigen, ihr Ziel ist die Transfiguration aller Wirklichkeit (vgl. III Al) in die neue Welt von Gottes Gerechtigkeit. Für die Christen nimmt Jesus Christus eine zentrale Stelle in dieser Gesamt-Story ein. Einzelentscheidungen können aber aus ihr nur in seltenen Ausnahmefällen prophetischer Vollmacht abgeleitet werden. Im Alltag ethischer Routine sowie der verantwortlichen Einzelentscheidung bietet der weiteste Begründungszusammenhang den Rahmen für die »Korrespondenzfrage«, an der sich Routine-Verhalten und Einzelbegründungen messen müssen. Korrespondenzfragen wie etwa: »Wie mißt sich diese oder jene politische Entscheidung an dem Ziel der Hoffnung Israels und der Kirche?«, oder: »Wie vergleicht sich mein Lebensstil mit der Gestalt von Jesus?« u. ä., können nicht leichthin durch den Hinweis auf eine Trennung von geistlichen und politischen Bereichen oder durch die traditionelle Kritik an der »Imitatio Christi-Lehre« vom Tisch gewischt werden. Im Stellen der Korrespondenzfrage zeigt sich die Logik des» Wiedererkennens« biblischer Muster von bleibender Bedeutung, (vgl. I E 4). Unter Aufnahme der Konzeption von drei Schritten in bezug auf drei Zusammenhänge (den Lebens-, den Möglichkeits/Entdeckungs- und den Begründungszusammenhang, vgl. III B 2) richtet sich hier unsere Aufmerksamkeit besonders auf den »weitesten Begründungszusammenhang«. Ich nenne ihn den »weitesten« aus zwei Gründen: 1. weil er alle möglichen Inhalte von Entscheidungen und von Routine umfaßt und eine grundsätzliche Mißachtung oder Überschreitung nicht zuläßt, und 2. weil er Begründungen im engeren Sinn nicht (oder nur in Ausnahmefällen) erlaubt. M. a. W., die Rückfrage auf diesen weitesten Zusammenhang, die ich »Korrespondenzfrage« nenne, würde mir nicht erlauben, für die Welt Böses zu hoffen, Haß und Unfriede als das letzte Ziel zu propagieren, andere zu foltern und zu unterdrücken; aber als Begründung für Einzelentscheidungen ist der Zusammenhang zu weit. Es ist kein Wunder, daß wichtige Gebote im Dekalog mit »Du sollst nicht« negativ formuliert sind, denn aus dem Vorspann und der Selbstpräsentation Gottes im 1. Gebot (»Ich bin der Herr dein Gott, der
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ich dich aus dem Lande Ägypten, aus dem Sklavenhause, herausgeführt habe« Ex 20,2), dem »weitesten Begründungszusammenhang«, lassen sich direkt eher negative als positiv-präskriptive Solls ätze ableiten. Man kann den weitesten Begründungszusammenhang auch mit dem »Bleibend Wichtigen« prallelisieren, das ich in I F 4 beschrieben habe. Im Unterschied zum »Jetzt Dringlichen«, das uns auf den Nägeln brennt, ist das »Bleibend Wichtige« der Legitimationsrahmen für dringliche Einzelentscheidungen, deren Inhalt aber nicht aus der Deduktion von diesem Rahmen ermittelbar ist. Eine ausführlichere Darstellung dieser Beziehungen und der Funktion der »Korrespondenzfrage« habe ich in »Die Herausforderung von Kirche und Gesellschaft durch medizinisch-ethische Probleme« in EvTh 6/1981, 483-507 gegeben. Vgl. auch Heinz Eduard Tödt, >,versuch zu einer Theorie ethischer Urteilsfindung«, in ZEE 1/1977, 8193, der ein sechsstufiges Urteilsschema vorgeschlagen hat, das aber die Frage der Normen nur andeutungsweise beantwortet; kritisch dazu Christian Link, »Überlegungen zum Problem der Norm in der theologischen Ethik«, in ZEE 3/1978,188-199. Auch verschiedene Arbeiten des Luzerner Moraltheologen Franz Furger habe ich mit Gewinn gelesen. Zum Dekalog: lan Milic Lochman, Wegweisung der Freiheit, Abriß einer Ethik in der Perspektive des Dekalogs (Gütersloh 1979), vgl. meine Besprechung in Reformatio 29,10 (Okt. 1980) 646-48).
4. DIE ETHISCHE KOMPETENZ
Obwohl Fachleute in der Ethik (der theologischen sowie der philosophischen) für ethische Entscheidungen nicht besser qualifiziert sind als Dilettanten, gibt es eine ethische Kompetenz. Nur der Mensch kann beanspruchen, im ethischen Diskurs ernstgenommen zu werden, der 1. die Problemanalyse intellektuell bewältigt oder bewältigen will, 2. die Konsequenzen seiner Entscheidung zu tragen bereit ist und sich an seinem Credo behaften läßt, und 3. zugleich versucht, so objektiv wie möglich zu urteilen. Im Hinblick auf tatsächlich gefällte Entscheidungen - nicht in der Reflexion darüber - sind alle Menschen im Prinzip Laien; niemand ist Fachmann für ethisch korrekte Entscheidungen. Aber nicht jeder Mensch kann in glei-
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IIl. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
cher Weise emstgenommen werden, wenn Entscheidungen (oder die Rechtfertigung ethischer Routine) auf dem Spiel stehen. Die in der These genannten Kriterien für ethische Kompetenz oder Reife stehen zueinander in Spannung, besonders das zweite (von der jüngeren Generation mit Recht betonte) und das dritte (von den Erfahreneren zu Recht erwartete). Das Verhältnis der drei Kriterien zueinander ist selbst ein ethisches Problem, weil die Spannung zwischen Engagement und Objektivität selten durch einfache Verrechnung aus ihrer Ambivalenz befreit werden kann. (Vgl. auch III D 3). Zum ersten Kriterium, der Bewältigung der Problemanalyse, gehören so schwierige Vorgänge wie die Isolierung des Ethischen in einem komplexen Problem, die Erkenntnis der Dringlichkeitsstufen im Umfeld des Problems, die Einordnung in den Rahmen des möglichen »Wiedererkennens« biblischer Muster (vgl. I E 4), und die Abschätzung von eventuellen »Folgeproblemen« nach der Lösung des Problems. In der medizinischen sowie der politischen Ethik kann man sich diese Vorgänge am deutlichsten vor Augen steIlen. Wahrscheinlich kann man die These rechtfertigen, daß die meisten Differenzen in bezug auf ethische Fragen sich aus ungenügenden Problemanalysen ergeben haben. Wenn das richtig ist, so folgt, daß die unbewältigten Probleme unserer Zeit sowie die harten Gegensätze zwischen den Lösungsvorschlägen weitgehend nicht ethischer, sondern intellektueller Art sind, denn Problemanalyse ist ein intellektueller, nicht ein ethischer Vorgang. Trotzdem läßt sich das Böse aber nicht vollständig als Dummheit definieren, weil die Selektion von Problemen, die nach Lösungen verlangen, durch Grundhaltungen (vgl. III C 6) und nicht einzig durch Überlegungen zustande kommen. Probleme liegenzulassen, an Nöten vorbeileben und Dringliches zu verkennen, sind ethische, nicht intellektuelle Fehler.
5. WILLE UND WERTE Es ist sinnvoll, Güter von Werten zu unterscheiden, weil Güter dem Wollen und Handeln der Menschen vorgeordnet sind, Werte hingegen als Anlaß und Grund des Wollens vom ethisch Handelnden erkannt und akzeptiert sein müssen. Ob die dem Handeln vorgeordneten Güter letztlich auf ein höchstes eschatologisches Gut, die Gemeinschaft mit Gott, die Aufrichtung seiner Gerechtig-
B. Von der »Story« zum Handeln
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keit, bezogen werden können, ist in der Theologie strittig. Zweifellos bezieht die Rechtsphilosophie die Rechtsgüter auf einen letzten Begriff von Gerechtigkeit. Zwischen Gütern kann der ethisch Handelnde abwägen, zwischen Werten nicht. Werte - in der klassischen Tradition der Philosophie sprach man von Ideen und auch Tugenden - sind Kristallisationen ethischer Erfahrung, die dem Willen des ethisch Handelnden Inhalt und Richtung geben. Es wird schwerlich möglich sein, der Story Israels und der Kirche bestimmte »biblische« oder »christliche Werte« direkt zu entnehmen. Trotzdem wäre es keineswegs verfehlt, für die Gläubigen eine materiale Wertethik, auch eine Güterethik, zu entwerfen und für notwendig zu erklären. Sie wäre aber nichts anderes als eine Anleihe bei philosophischen Ethiken, die der »Korrespondenzfrage« (III B 3) standhalten kann. Die Reflexion über den Willen des ethisch Handelnden führt notwendig auch zum Nachdenken über seine Motive, guten Vorsätze, sein Durchhaltevermögen und seine Belastbarkeit, seine Gewohnheiten und seinen Charakter, seinen »Habitus« - alles Themen, die besonders in der neueren protestantischen Theologie leichtfertig vernachlässigt oder gar verspottet worden sind.
Die spannungsreiche Konkurrenz zwischen der platonischen Tradition, in der das Tun des Guten eine Frage der Erkenntnis war, und der augustinisehen, nach der es als eine Frage des Willens gesehen wurde, ist im Prinzip überwindbar. Die Theologie allein kann aber eine solche Synthese nicht leisten. Es sind dazu eingehende erkenntnistheoretische, psychologische und logische Konzepte und Theorien notwendig, mit denen die Theologieschon um der Plausibilität ihrer ethischen Maximen willen - im Dialog stehen muß. Neben den in III A 4 genannten Arbeiten von Hans Biesenbach und Werner Schwartz, erwähne ich hier das letzte Werk meines Lehrers in der Philosophie, Wilhelm Weischedei, Skeptische Ethik (Frankfurt 1976). Das Buch ist im Grunde ein erschütterndes Dokument des Versuchs, Ethik unter Verzicht auf einen »weiteren Begründungszusammenhang« zu erstellen. Während mir Kar! Barths Ablehnung der Idee einer Autonomie der Moral nicht mehr als erstrebenswertes und aus der Theologie schlüssig abzuleitendes Programm erscheint, erschrecke ich doch über die Folgen eines ethischen Entwurfes, der zutiefst hoffnungslos orientiert ist. Einen Überblick über die Gesprächslage in der theologischen Ethik bis 1975 bietet Hans G. Ulrich, »Grundlinien ethischer Diskussion«, in VuF 20,2 (1975),53-99.
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III. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
6. DIE ENGEREN BEGRÜNDUNGSZUSAMMENHÄNGE (DIE FREIHEIT ZUR ANLEIHE)
Wenn die Erwartung der Transfiguration (IlI A 1) im weitesten Begrü"ndungszusammenhang der Ethik der Gläubigen (IIl B 3) als handlungsorientierendes Ziel erscheint, so ist damit zugleich eine Totalkritik an der Welt und der Menschheit und ihren Ethiken gegeben wie auch die Freiheit, diese Ethiken zu verwenden, sofern sie der »Korrespondenzfrage« standhalten können. Es gibt wohl kaum eine spezielle ethische Entscheidungstheorie, die im Prinzip und zu allen Zeiten der Korrespondenzfrage der Gläubigen standhalten kann. Umgekehrt ist kaum ein ernsthaftes ethisches Entscheidungsmodell benennbar, das nicht zu Zeiten und für gewisse Situationen der Gläubigen hilfreich sein könnte. Ethische Theorien bzw. EntscheidungsfindungsModelle können von den Gläubigen wie verschiedene Transportmittel, Handwerkszeuge oder therapeutische Methoden in Freiheit verwendet werden. Die konkrete Wahl wird in hohem Maß von der frühkindlichen Sozialisation und der kulturellen Umwelt, vom Einfluß der kirchlichen Bezugsgruppe und der eigenen Lebenserfahrung abhängen. Biblisch auf die Glückseligkeit nach dem Tod interpretierte eudämonistische Ethiken kommen im Prinzip ebenso in Frage wie eine deontologische Pflichtethik aus dem preußischen Protestantismus oder eine dem Marxismus nahestehende teleologische Sozialutopie. Die »Korrespondenzfrage« - ihrer Logik nach eine teleolgoisch- ethische Theorie - wird jeweils die Wahl kritisieren oder rechtfertigen. In jedem Fall wird es für die Christen (und Juden) um die Begründung bzw. Rechtfertigung ethischer Theorien bzw. moralischer Prinzipien gehen, die im offenen Diskurs mit Gläubigen und Ungläubigen zur Disposition gestellt werden, auch wenn dabei ein steiles Credo als Begründung genannt wird, z. B. in einer rationalen Diskussion über Folterung oder Todesstrafe. Die eigentliche Entscheidung über die Anleihe bei den bestehenden Ethiken soll aber im Kontext der Gemeinde fallen. Hier liegt dannfreilich auch die Quelle für Fehlentscheidungen. Die Freiheit zur Verwendung schon bestehender philosophischer Entscheidungsmechanismen besteht nicht nur für dieselben ethischen Subjekte
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in verschiedenen Situationen, sondern auch für verschiedene Gruppen unter den Gläubigen. Unter ihnen setzt sich sozusagen der Diskurs mit der Philosophie fort, wenn verschiedene Gruppen (oder Konfessionen) von markant unterschiedlichen Theorien zur Begründung einer Entscheidung Gebrauch machen. Unter den traditionellen philosophischen Modellen scheinen mir einzig krasser Hedonismus und auch Solipsismus - wenn sie überhaupt Entscheidungstheorien sind - für Juden und Christen außerhalb echter Wahlmöglichkeiten zu liegen. Ein Diskurs über Begründungen ethischer Handlungen oder Entscheidungen ist nur in akademischer, idealtypischer Verkürzung ein Nachspüren der Wege vom Einzelnen zum Ganzen, vom Großen zum Kleinen, d. h. von der »Korrespondenzfrage« zur Einzelentscheidung und zur Berechtigung, ein bestimmtes philosophisches Modell zu verwenden. In der Realität ist eine Diskussion um eine Handlung oder Entscheidung meistens eine Diskussion zwischen verschiedenen philosophischen Entscheidungsmodellen, auch über inkonsequent verwendete Mischformen. Das kennt jeder von uns aus seiner Lebenserfahrung. Um es aber auch literarisch festzumachen, erwähne ich nochmals das in 111 B 1 genannte Buch »Ärztliche Entscheidungskonflikte«, in dem 33 exemplarische Fälle, von Ärzten berichtet, von einigen Juristen und theologischen Ethikern kritisch kommentiert wurden. Die referierten Entscheidungsfälle waren darum so interessant und bereiteten uns auch darum so viel Mühe, weil zum großen Teil Mischformen von ethischen Argumentationen vorlagen. Das legt sich schon darum nahe, weil Ärzte meist von mehreren Gesichtspunkten aus gleichzeitig entscheiden (»nihil nocere« für den Patienten, Kosten, berufsständische Regeln, Rücksicht auf Familie, deontologische Prinzipien, usw.) und sich doch zugleich als »Laien in der Ethik« und als Fachleute in der Medizin verstehen und fast immer dazu neigen, ethische Entscheidungen mit medizinischer Kompetenz zu verwechseln. - Aus der politischen Ethik könnte man täglich ganz parallele Phänomene benennen. Außer diesen Überlegungen über den Pluralismus der Entscheidungsmechanismen soll noch die Vielfalt der Charismata, der Gnadengaben in der Gemeinde, erwähnt werden. Es entspricht nicht der biblischen Vorstellung von Gemeinde (von einem »Leib« mit vielen Gliedern), daß alle Mitglieder gleichmäßig auf allen Entscheidungsebenen tätig sind. Nicht alle Gläubigen sehen dieselben Dringlichkeitsstufen, nicht alle können genötigt werden, sich politisch zu engagieren oder seelsorgerlich tätig zu sein. Die in dieser Beobachtung implizierte ethische oder auch soziologische Grundweisheit müßte - soll das, was die Gläubigen ethisch denken, paradigmatisch für die Gesellschaft sein - auch für die Menschheit im allgemeinen, nicht nur für Juden und Christen gelten.
C. VON DER PERSPEKTIVE ZUR HOFFNUNG (ZU I C)
VORÜBERLEGUNG
Die Perspektive der Gläubigen, getragen von ihren Einzel-Stories als Teil der Gesamt-Story ihres Credos, bliebe im Intellektuellen oder Meditativen verharren, wenn sie nicht Ausdruck fände in konkreter Hoffnung und auch in lebendiger Emotionalität und in praktischen Grundhaltungen. Die persönlichste und darum in der Geschichte der Kirche am intensivsten thematisierte Konkretion der Hoffnung auf Gott ist die Vergebung. Sie ist die Hoffnung, daß Gott die Elemente der Vergangenheit, aus denen unsere Gegenwart besteht, nicht zur Zerstörung unserer Zukunft verwenden, sondern vielmehr zu ihrer Ermöglichung umgestalten möge. Damit ist nicht direkt gesagt, daß Gott die Vergangenheit ändern kann, wohl aber, daß er die Anteile, die als Bausteine der Zukunft verwendet werden können, so oder so gestalten kann. An dieser Stelle liegt der logische Ansatz der sogenannten forensischen Rechtfertigungslehre: sie bezieht sich auf die überwiegende Mehrzahl der neutestamentlichen Stellen, die in der Metaphorik der Gerichtsszene davon handeln, daß Gott Recht oder Unrecht ansieht oder anrechnet - einer forensischen Sicht also. Der exegetische Befund, daß die biblischen Bücher in den Passagen über die Rechtfertigung vornehmlich die forensischen Metaphern verwendet, heißt nicht, daß Gott die Elemente unserer Vergangenheit nur sozusagen intern bei sich »verrechnet«: er ermöglicht die wirkliche Gestaltung der Zukunft der Gläubigen in ihrem tatsächlichen Leben. Die Hoffnung auf die Aufrichtung von Gottes Recht ist die Erlaubnis und Ermöglichung konkreter und auf den einzelnen Menschen und seine Mitmenschen bezogenen Hoffnungen. Eine rein individuelle »Rechtfertigung aus Glauben« eines einzelnen Menschen ist - trotz der paradigmatischen Zitierung von Abrahams Glaube - den biblischen Schriften, besonders den paulinischen Briefen, fremd. Wohl ist der einzelne gemeint, aber nicht oh-
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ne seinen sozialen Zusammenhang mit anderen, seinen Freunden und Feinden, den Reichen und Armen, Frauen und Männern, Freien und Sklaven. Die augustinisch-Iutherische Ausprägung der westlichen Rechtfertigungslehre ist als »regulativer Satz« unaufgebbar, darf aber nicht mit einer Beschreibung des Vorgangs im Leben der Gläubigen verwechselt werden. Sie ergibt nur ein ganz abstraktes Bild vom Menschen. Die »Rechtfertigung« und die ihr entsprechende Freiheit ist die partielle Vorausnahme von Gottes eschatologischer Aufrichtung des Rechts in einer Gruppe von Menschen, die ihr Vertrauen in die Zukunft Gottes setzen, die ihre Story in seine hineinnehmen lassen. Die paulinische und anti-pelagianische Betonung, daß dieser Vorgang durch Gottes Gnade initiiert wird und nicht aus der moralischen Qualität der Gläubigen erwächst, ist letztlich auf den Satz re duzierbar , daß es sich bei der Rechtfertigung als der Anwendung und Vorausnahme der Hoffnung auf Gottes Recht ins eigene Leben und in die eigene soziale Gruppe eben um Gottes Recht und nicht um das eigene handelt. Bei dieser Überlegung bricht die Frage nach der effektiven Behütung des Lebens durch Gott auf, die Frage des Gottvertrauens. Die Reduktion aufs Forensische wäre hier sinnlos, denn was wäre das für ein Vertrauen auf Gott, in dem wir unsere Kinder und die von uns geliebten Menschen in der Weise Gottes Behütung anvertrauen, daß sie nur in seiner internen »Verrechnung« oder Ansicht behütet sind, in Wahrheit aber schrecklich scheitern und verderben? Ein Frommer mag sich ja mit der Gewißheit trösten, daß er und die Seinen bei Gott selbst (rein forensisch) als »gerecht«, d. h. als Vorläufer der transfigurierten neuen Welt und neuen Gerechtigkeit, angesehen werden. Aber im echten Gottvertrauen erwarten wir doch mehr, mehr Heutiges und Jetziges, von Gott: er möge sich jetzt als der zeigen, der uns und andere vor allem Schaden und Gefahr behüten kann. Die Lebenserfahrung drängt uns hier den Gedanken auf, daß Gottes Allmacht, diese Behütung durchzuführen, heute noch nicht vollkommen verwirklicht, sondern in der Doxologie der Gläubigen zu antizipieren ist. Dieser Gedanke ist bei uns heute auch darum so übermächtig stark, weil wir viel weniger Angst vor Gottes zukünftigem Gericht im Leben nach dem Tode haben als vor der Wiederholung von Auschwitz, Dresden und Hiroshima. Die Appropriation der letzten Hoffnung auf unser konkretes Leben befreit uns von der Vorstellung einer Konkurrenz zwischen der Hoffnung »auf Gott« und der Hoffnung auf die »Zukunft der Menschheit«. Die bei den
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III. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
Hoffnungen sind inhaltsgleich, wenn das Credo Israels und der Kirche richtig ist. Für die Gläubigen muß es auch keine Spannung geben zwischen dem Vertrauen auf Gott und der Einsicht, daß wir Menschen für die Zukunft verantwortlich sind. Die Schaffung eines »neuen Menschen« aus Juden und Heiden ist für die Gläubigen das Paradigma für jegliche Reflexion über die Neugestaltung des Völkerrechts und der politischen Neuordnung der Gesellschaft. Von dieser kardinalen Orientierung, daß im Kommen von Jesus die tiefsten Trennungen zwischen Gott und Mensch und zwischen Menschen und Menschen ungültig geworden sind, wollen wir nicht lassen, auch wenn die meisten unserer Zeitgenossen das Paradigma vom neuen Menschen »aus Juden und Heiden« als zeit- und situationsgebunden begatellisieren mögen. Die peinliche Frage, ob die Hoffnung der Gläubigen sie von anderen Menschen merklich unterscheidet, ist nur scheinbar genierlich, nur dann nämlich, wenn die Selbstdefinition der Gläubigen sich am Vergleich mit anderen Menschen orientiert. Richten sich die Gläubigen nach ihrer Hoffnung, stellen sie also die »Korrespondenzfrage« nicht nur im Hinblick auf die Adaption verschiedener Konzepte von Ethik, sondern im Blick auf ihr eigenes Leben, so entdecken sie eine Anzahl von »Konstanten der Grundhaltung« der Gläubigen aller Jahrhunderte, denen sie sich nicht verschließen können. Sie müssen sich um das Erlernen dieser Grundhaltungen bemühen, um Barmherzigkeit, kritische Zärtlichkeit, Bereitschaft zur Vergebung und zum Verstehen, Ehrlichkeit und Verläßlichkeit und manche andere. Die Theologie erweist den Gläubigen (und ihren skeptischen Beobachtern) einen schlechten Dienst, wenn sie die Bemühung um diese Grundhaltungen als »gesetzlich« abtut. Sie sind die unverzichtbaren Elemente des Lebensstils der Gläubigen - unverzichtbar nicht wegen Gottes Wohlwollen, sondern um der Freude und des Trostes der Mitmenschen willen. Zur Rechtfertigungslehre: Markus Barth, »Gottes und des Nächsten Recht« in der Festschrift zum 80. Geburtstag seines Vaters Karl Barth, Parrhesia, (Zürich 1966), 447469; Gerhard Ebeling, DChrG III, Kap. 10; Wilfried Härle u. Eilert Herms, Rechtfertigung, Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens (Göttingen 1979). Über die Frage zu Gottes Allmacht oder eben der Begrenzung seiner Macht, Menschen zu behüten, auch über »Gottvertrauen«, gibt es wohl meditative und homiletische Literatur, aber, soviel ich sehe, keine argumentativen theologischen Studien aus den letzten Jahrzehnten. Eine Ausnahme bildet das Buch eines meiner theologischen Gesprächspartner in Melbourne, John Cowburn, S. J., Shadows and the Dark, The Pro-
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blems of Suffering and Evil (London 1979), in dem argumentiert wird, daß Gott ein begrenztes Vorauswissen, nicht aber begrenzte Fürsorge und Liebe habe. Allerdings ist auch das ältere, viel diskutierte Buch von John Hick zu beachten: Evil and the God of Love (New York 1966). Vgl. auch Gordon D. Kaufman, The Theological Imagination, Constructing the Concept of God (Philadelphia 1981), bes. Kap. 6 »Evil and Salvation: An Antropological Approach«, auch Walter Kasper, der Gott Jesu Christi (Mainz 1982), 199-205.
1. DIE DYNAMIK VON HOFFNUNG UND VERGEBUNG
Die Einzel-Stories, die als Träger unserer Perspektiven unser Leben ausmachen (vgl. I C 1), sind der übergeordneten Gesamt-Story, der trinitarischen Geschichte Gottes so zugeordnet, daß wir in unsern Einzel-Stories uns von der Gesamt-Story lösen können, Gott in seiner Geschichte aber die EinzelStories immer mit einbezieht und umgreift. Mit diesem Satz ist in der auf das Story-Konzept abgestellten Begrifflichkeit der biblische Satz umschrieben, daß Gott treu bleibt, wenn wir untreu werden (2 Tim 2,13), und es ist mit ihm der Hintergrund der klassisch-theologischen Lehren von der Sünde und der Vergebung angezeigt. Schon die klassischen Lehren hätten es nahelegen sollen, von Gott primär in den Kategorien der Zeit und nicht des Raumes zu sprechen. Erst die Umgestaltung, Neuwerdung und Einbeziehung aller Einzel-Stories in die trinitarische Gesamt-Story Gottes ist das, was die Gläubigen als Inhalt ihrer Hoffnung das Reich Gottes nennen. Wird diese Hoffnung rückwärts auf unsere Einzel-Stories gerichtet, also in die Vergangenheit, so wird damit gehofft, daß die Elemente der Vergangenheit nicht die Gestaltung der Zukunft verderben. Die Erfüllung dieser Hoffnung nennen wir Vergebung, den Vorgang als solchen »Rechtfertigung«. Menschen Lernen von der MögLichkeit von Vergebung durch frühkindliche Erfahrungen mit anderen Menschen. Wenn sie reifer werden und ihre eigenen Lebens-Stories mit biblischen und späteren Stories der Gläubigen sich messen und zusammenwachsen, Lernen sie, daß die ErmögLichung zu zwischenmenschLicher Vergebung, aLso die WirkLichkeit der Vergebung, in Gott ruht.
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IIl. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
Es fragt sich, ob das theologische Dictum richtig ist, daß wahre Schuld nur durch Vergebung erkennbar ist. Es gibt auch Anhaltspunkte für die Meinung, daß Schuld an Forderungen und Normen gemessen voll erkennbar wird. Freilich wird es sinnvoll sein, von verschiedenen Typen von Schuld zu sprechen. Ich möchte drei Typen unterscheiden: 1. Die individuelle - moralische Schuld, die auch rechtlich definierbar ist, 2. die Solidarschuld, die nur teilweise juristisch erfaßbar, sonst aber ethisch bestimmbar ist und 3. die tragische Verstrickung in historisch entstandene Schuld einer Gruppe, eines Volkes, einer Sozietät wie der Kirche, und vielleicht der ganzen Menschheit. Es läge nahe, nur den zweiten und besonders den dritten Typus von Schuld als theologisch relevant anzusehen. Das wäre aber ein problematischer Schluß. Als Gegenargument könnte schon die Einsicht gelten, daß es für Gläubige möglich ist, in Solidarität mit anderen einzutreten, die auch individuell-moralisch schuldig geworden sind. Die Gläubigen kennen die Kategorie der vikariatsmäßigen Übernahme von Schuld, auch von Individualschuld. Die logisch und theologisch möglichen Rechtfertigungen für das Aussprechen von Absolution basieren zum Teil auf dieser Einsicht. Wenn die Einzel-Stories, die unser Leben ausmachen, die Träger unserer Perspektiven sind (vgl. I C 1), so ist die Hoffnung auf das Hineingezogenwerden unserer Steiries in die Geschichte Gottes - und das ist das Credo der Gläubigen - zugleich die Erwartung, daß unsere Perspektiven von Gottes übergeordneter Perspektive bereichert, geleitet, korrigiert und kritisiert wird. Wir begegnen aber Gottes »übergeordneter Perspektive« nur durch frühere und heutige Menschen, und der Prozeß der göttlichen Rechtfertigung bzw. des Gerichts über unsere Perspektiven vollzieht sich darum in der Dimension der Interpretation der Perspektiven anderer Gläubiger, vorab (aber freilich nicht nur) der biblischen Autoren, durch die wir zugleich unsere Perspektiven interpretieren lassen. Dieser Vorgang kann sich nicht ohne Irrtum, Hochmut, Gegenwehr und Selbstrechtfertigung vollziehen. - Im Licht dieser Überlegungen muß auch die Frage geprüft werden, ob Schuld letztlich immer Schuld gegen Menschen ist, d. h. in fehlerhafter Interpretation der Perspektiven anderer oder in der Gegenwehr gegen die Interpretation der eigenen. Im Satz »schuldig gegenüber Gott« wäre dann Gott verstanden als Totalperspektive aller korrekten Perspektiven, so daß eine konkrete Schuld gegenüber Menschen (früheren, heutigen und noch kommenden; auch gegenüber sich selbt) figurativ gesprochen eine Schuld gegenüber Gott genannt werden könnte. Wenn man die modernen Standardwerke über Dogmatik und Ethik daraufhin durchsieht, was sie zu Schuld und Vergebung sagen, so findet man meist viele allgemeine Bemerkungen über Gottes Vergebungsbereitschaft, wenig über die Veränderung, die da-
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durch im menschlichen Leben entsteht und zumeist gar nichts über gegenseitiges Vergeben unter Menschen.
2. DIE HIERARCHIE DER HOFFNUNGEN
Auch wenn niemand die Totalität aller» Tatsachen« in der Welt sieht, so kann Gott im Glauben als der angeredet werden, in dem sich alle Perspektiven bündeln und der daher alle Tatsachen sieht bzw. kennt. Wenn diese Anrede an Gott Ausdruck des Credos ist, daß er die Tatsachen der Welt zu ihrem guten Ende führen wird in der Transfiguration des Alten in das Neue, dann ist jede Teilperspektive, in der wir die Dinge und die Tatsachen sehen, durch diese übergreifende Hoffnung entweder gerechtfertigt oder kritisiert. Es besteht eine Hierarchie in der Beziehung der letzten Hoffnung auf Gottes Gerechtigkeit zu den zahlreichen größeren, kleineren und kleinsten Hoffnungen, die wir hegen. Die größeren erlauben oder verneinen die je kleineren Hoffnungen. (Vgl. I C). Hoffnung auf die Transfiguration des Alten in das Neue ist wie eine nach vorne gerichtete Erinnerung an Gottes Verheißungen, während das Vertrauen auf Vergebung wie eine nach rückwärts gerichtete Hoffnung ist (vgl. I D 5). In beiden Fällen ist die Hoffnung in Hierarchien gestaffelt - und zwar so, daß die engsten und zeitlich unmittelbarsten Hoffnungen am leichtesten, die umfassendsten und weitesten Hoffnungen am schwersten artikulierbar sind. Ich verdeutliche das an der Zukunftshoffnung (obwohl es auch für die Hoffnung auf Vergebung gilt): die unmittelbare Hoffnung, unfallfrei nach Hause gelangen zu können, kann zur Befriedigung aller Gesprächspartner eindeutig beschrieben werden; sie erhält ihre »Erlaubnis« aber erst von einer breiteren Hoffnung auf die Erfüllung meines Lebens, die Pflichten gegen meine Kinder und Mitmenschen usw., die schon schwerer zu artikulieren sind; und diese Hoffnungen wiederum ruhen in noch weiteren, legitimen Hoffnungen, die nur skizzenhaft umschrieben werden können. Die letzte Legitimation für auch diese Hoffnungen ruht in der
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IIl. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
Hoffnung der Transfiguration, über die ich nur metaphorisch sprechen kann. Das Wichtigste kann man nur metaphorisch, nur poetisch sagen. Im Zusammenhang der Frage nach verantwortlichem ethischen Tun läßt sich diese Beobachtung so anwenden: ich kann keine konkret beschreibbaren, nahen Hoffnungen etwa auf die Vernichtung meines Nachbarn oder den Geschäftszusammenbruch meines Konkurrenten hegen, auch nicht eine schwerer beschreibbare Hoffnung auf die Glorie meines eigenen Landes und die Zerstörung eines anderen, weil es für solche Hoffnungen keine »Erlaubnisse« in nächst höheren Hoffnungen gibt, die letztlich in der Erwartung der Transfiguration des Alten in das Neue, auf das Reich Gottes legitimiert sind. Ich habe diese Zusammenhänge zuerst in dem Buch Memory and Hope (1967) untersucht und sie seither in vielen Formen überprüft, im christlich-marxistischen Dialog in der Tschechoslowakei (vor 1968) und in Indien, auch im Gespräch mit Buddhisten, dann in der medizinischen Ethik. - Ein Bedenken scheint mir bei all diesen Überlegungen und auch bei der Lektüre der Bücher über Hoffnung aus den sechziger Jahren, z. B. von Gerhard Sauter (Zukunft und Verheißung, Zürich 1965) und Jürgen Moltmann (Theologie der Hoffnung, München 1964) und auch von Heinz Kimmerle (Die Zukunftsbedeutung der Hoffnung, Bonn 1966) sowie von Carl E. Braaten (The Future of God, New York 1969) schwer auszuräumen zu sein: Wo liegen die Grenzen für die Erlaubnis, ungelöste theologische Probleme oder zu Problemen führende Phänomene durch die Verlagerung auf die Zukunft hypothetisch zu lösen? Welche Vorstellungen von Kontinuität in unserer Zeit und in der »Zeit Gottes«, d. h. von einer gewissen Automatik der Relation »Verheißung/Erfüllung« liegen hier eigentlich zugrunde? (Kritisches dazu vgl. Vorüberlegung zu 11 C). Diese kritischen Gegenfragen treffen natürlich nicht nur die eben genannten Bücher, sondern auch mein Buch Memory and Hope und teilweise auch die Thesen in diesem vorliegenden Teil 111. Ich erwähnte oben, daß die »Hierarchie der Hoffnungen« auch im Hinblick auf die Hoffnung auf Vergebung besteht. Damit meine ich, daß es in ähnlicher Weise wenig sinnvoll wäre, eine momentane, wenn auch berechtigte Hoffnung direkt in der Hoffnung auf das Reich Gottes zu begründen, wie wenn man einen kleinen Fehler, auf dessen Vergebung oder Verzeihung man hofft, direkt in Zusammenhang mit der Kreuzigung von J esus brächte. Diese Überlegung ist freilich weniger harmlos, als es zunächst den Anschein hat: Wird sie radikalisiert, so kann sie zur Rechtfertigung übelster Strafmaßnahmen - bis hin zur Todesstrafe - mißbraucht werden, indem die Distanz zwischen einer Straftat und der göttlichen Vergebung in Jesus Christus derart betont wird, daß aus ihr ein ;tbsalute Trennung wird. Von Menschen ausgeführte Strafen sind dann in keiner Weise mehr durch die Botschaft von der göttlichen Vergebung kritisiert und relativiert.
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3. WAS HEISST GOTTVERTRAUEN?
Die Hoffnung der Juden und Christen, daß Gott seine Gerechtigkeit und sein Recht aufrichten wird, also alle Tatsachen der Welt transfigurieren und vollenden wird, basiert auf dem Glauben an die Verläßlichkeit seiner Verheißungen, die in der Erwählung Israels ihren ersten Ausdruck gefunden und in der Liebe und Freiheit Gottes ihren Grund hat. Diese Einsicht ist Anlaß und Berechtigung für die klassischen Formen der» Theologie des Wortes Gottes«. Gottvertrauen ist in fundamentaler Weise das Vertrauen in diese Verläßlichkeit auf Gottes Ausführung der Gesamt-Story. Der Inhalt dieses Vertrauens ist aber bedenklich unpersönlich und für das konkrete Leben mit seinen Ängsten und Leiden unwirklich. Die konkrete Anwendung dieses Vertrauens auf meine Einzel-Story und ihre Details im täglichen Leben kann nicht die automatische Bestätigung meiner Gewohnheiten oder meiner alten Erwartungen sein, auch nicht die Annahme, Gott würde Menschen, deren Einzel-Stories seiner Verheißung zu entsprechen scheinen, eher behüten als andere Menschen. Persönliches Gottvertrauen muß mit dem Gedanken fertig werden, daß Gott ein Flugzeug voll selbstloser Missionare und Krankenpfleger nicht eher vor dem Absturz behüten wird als eines voller Diktatoren und Folterknechte. Es ist gegen alle Evidenz der Berechtigung ein Vertrauen auf die Verwendung oder gar Transfiguration meiner Einzel-Story als eines Zeichens für das Neue durch Gottes persönliche Zuwendung. Wenn wir jemandem Gottes Segen für das neue Jahr oder Behütung auf der Reise wünschen, dann meinen wir nicht weniger als gerade dieses: daß auch die Details dieses Einzellebens als Zeichen und Gleichnis für das gottgewollte Neue verwendet oder umgestaltet werden mögen. Dabei sind wir immer unfertig mit dem Nachdenken über das Mißlingen dieser Nutzung, wenn wir sie für angebracht hielten. Die biblischen Bücher sprechen dann vom »Gericht Gottes«, wenn dieses Mißlingen nachträglich als gottgewollt erkannt wird. Uns drängt sich trotzdem der Gedanke auf, Gott selbst sei das Gelingen mißlungen, seine Allmacht zur Durchsetzung des Neuen sei erst im Erhofften vollkommen.
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Ill. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
Freilich ist es so, daß die Haltung der Hoffnung nicht nur eine Erwartungshaltung ist, die auf automatisches Eintreffen der verheißenen Zukunft aus ist. Das in der Hoffnung Artikulierte ist nicht nur eine Entdeckung, es ist auch eine kreative Handlung der Hoffenden. Hoffnung schafft neue Realitäten. Und doch läßt sich Gottes Tun nicht auf die Ausführung der Taten der Hoffnung der Hoffenden reduzieren, es sei denn, man fügte an diesem Schnittpunkt eine markante Lehre von der göttlichen Vorsehung und Bewahrung ein. Sie müßte aber zweierlei leisten: Gottes »Taten« müßten, obgleich sie völlig in den Taten von Menschen aufgingen, dennoch Gottes Taten bleiben und auf sein verheißenes Ziel hin wirken, und ferner müßte klargestellt werden, weshalb Menschen die Zukunft der Menschheit nicht doch in eigener Regie gestalten sollen. Die Schwierigkeiten dieser Konzeption sind wahrscheinlich geringer als die der klassischen Lehren, wonach Gott teils durch Menschen, teils auf andere Weise die Geschicke der Menschheit lenkt, zugleich aber als allmächtig und allgütig gedacht wird. Ich sehe bessere Gründe für die Rechtfertigung der ersten Variante. Sie muß aber mit dem trinitarischen Verständnis von Gott und mit den Einsichten in Gottes Mitleiden ausgestattet sein, damit nicht die Begrenzung von Gottes Macht - oder sollte man besser sagen: von der Kraft zur Ausführung seiner Verheißungen? - zugleich eine Einschränkung seiner Liebe ist. Es ist doch viel eher so, daß die Allmacht seiner Liebe die Begrenzung seiner Macht ist, die sich in seinem Mitleiden zeigt. Verfolgt man diesen Argumentationsstrang weiter, so kann man die Gerichte Gottes nur auf einer Ebene als »Strafe« für die Beteiligten interpretieren, auf einer anderen sind sie Gottes selbstgewählte Niederlage und Teilnahme am Nichtgelingen der menschlichen Geschichte. Es kommt dann darauf an, weIche Zeichen aus diesen Gerichten erwachsen können. Als Aufrichtung eines Zeichens und Gleichnisses mitten im Gericht Gottes und der von Menschen gemachten Tragödie könnte man dann folgende Begebenheit interpretieren. Ein Priester in der Sowjetunion erzählte mir, weshalb er Priester geworden ist: Er hatte in der Schlacht seine an der Halskette befestigte Ikone verloren, ließ sich Urlaub geben, um die Mutter um eine neues Amulett zu bitten und fand bei der Rückkehr seine ganze Einheit vernichtet. »Ich hatte als einziger überlebt und wollte zum Zeichen dafür Priester werden.« Freilich sehen dieses Zeichen all die anderen Mütter nicht, deren Söhne zugrunde gegangen sind.
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4. ETHIK DER HOFFNUNG IN EINER WELT DES TODES
Die Glaubenden wissen, daß die Weltwirklichkeit nicht zu Gott paßt. Die Ungläubigen sagen, daß Gott nicht zur Weltwirklichkeit paßt. Damit ist aber nicht der Gläubige auf die Seite Gottes und der Ungläubige auf die Seite der durch die Perspektiven der Menschen konstituierten Welten getreten. Als glaubende Teilhaber an der Story Gottes in der Welt sind wir nirgend anders als dort und damit auch auf der Seite derer, für die Gott nicht zur ihrer Wirklichkeit paßt. Das ist der Hintergrund des manchmal ausgesprochenen, steilen Satzes, die Gläubigen seien auf der Seite der Atheisten. Sie stehen aber in einer größeren Spannung als diese, weil sie mit der Frage nach Gott und dem Sinn der Weltwirklichkeit nicht fertig sind. Im Gegenteil, sie beginnen immer wieder, beides, das Leben und Gott, in ihrem unauflöslichen Zusammenhang zu interpretieren. Sie können dadurch zu einer Angst erregend nüchternen Wahrnehmung des Leidens und das Bösen gelangen, die nur durch ihr Wissen um Vergebung und durch ihre Hoffnung ermöglicht wird. Der Unterschied zwischen Glaubenden und Ungläubigen (Atheisten) stellt sich nur scheinbar in der Differenz der Beurteilung Gottes dar, in Wahrheit wird er an der unterschiedlichen Interpretation der Wirklichkeit und Möglichkeiten der Welt, d. h. des Leidens und Todes und der Chancen für Zukunftsgestaltung manifest. Während Ungläubige entweder die Vergangenheit idealisieren und sich vor der Zukunft fürchten, oder umgekehrt, die Zukunft als die Zeit der Bewahrheitung ihrer Ideologie preisen und sich vor der Wahrheit der Geschichte fürchten, können die Glaubenden furchtlos in die grauenvollen Abgründe der Geschichte blicken, weil sie von Vergebung wissen, und der Zukunft gegenüber offen und konstruktiv sein, weil sie eine Hoffnung haben. In Wahrheit verhalten sich die gläubigen Juden und Christen aber nur sehr selten so. Ihre Normalhaltung ist von der der Atheisten nicht zu unterscheiden. Darum sind Gottesdienste von so unerläßlicher Bedeutung, weil in ihnen die Gläubigen das aussprechen, was sie von sich aus kaum aussprechen und in ihrem Leben nur in gebrochener Form darstellen.
Das in dieser These Summierte wäre mißverstanden und in seinem tröstlichen Wert unterschätzt, wenn es als psychologisch beschreibbare Haltung
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IlI. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
interpretiert würde. Es geht in dieser Summierung um das Ganze des biblisch begründeten Glaubens. Weder eine wehleidige Ablehnung der Weltwirklichkeit mit ihren Leiden und Sinnlosigkeiten, noch eine überhebliche Parteinahme für einen über dem Bösen stehenden Gott kommen jemals ernsthaft für die Gläubigen als Grundhaltung in Frage. Und doch neigen die Gläubigen aller Jahrhunderte zu eben diesen Haltungen. So ist das Leiden in der Zugehörigkeit zu den Gläubigen, zu den Teilnehmern an der Story von Abraham bis heute, doppelt gekennzeichnet. Die Gläubigen leiden an der gottfremden Welt und an sich selbst. Die Klage dürfte darum im Gottesdienst einen viel größeren Raum haben, als die christliche Tradition es herkömmlicherweise zugelassen hat. Letztlich ist die Klage - man denke an die Psalmen und an viele andere Teile des Alten Testaments - aber eine Klage gegenüber Gott. Wenn es so ist, daß sich in Gott alle Perspektiven bündeln, so ist es auch berechtigt, die Klagen über unsere Lebenswelt und über unsere Mitgläubigen in einer Klage gegenüber Gott münden zu lassen.
5. DER NEUE MENSCH »AUS JUDEN UND HEIDEN«
Die Hoffnung auf die Aufrichtung von Gottes Recht und Gerechtigkeit begründet nicht eine Konkurrenz zwischen der Hoffnung auf Gott und der Hoffnung auf die Zukunft der Menschheit. Weil es keinen anderen als den der Menschheit verbundenen und mit ihr mitleidenden Gott gibt, ist die H offnung auf sein Recht und seinen Frieden zugleich auf das Recht und den Frieden der Menschheit gerichtet. Darum ist das Denken und Handeln der Gläubigen umso leidenschaftlicher auf die Menschenrechte und die politische Verbesserung der »condition humaine« gerichtet, je eschatologischer ihre theologische Grundorientierung ist. Das Paradigma der Hoffnung auf die Zukunft der Menschheit ist der »Neue Mensch« (vgl. IID 5 u. 6). In zentraler Verknüpfung von Einsichten in die Erwählung Israels und in die Bedeutung des Kommens von Jesus als dem Christus für Juden und Heiden können wir in paulinischer Sprache den »neuen Menschen« als den in ihm aus Juden und Heiden geschaffenen neuen
C. Von der Perspektive zur Hoffnung
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Menschen verstehen. Noch konkreter konnte man die Überwindung des die Menschheit Trennenden damals nicht ausdrücken als durch die Hoffnung des Einswerdens der Erwählten und der Heiden. Bis heute ist auf unheimliche Weise Spannung und Haß zwischen Heiden und Juden paradigmatisch für Diskriminierung und Völkermord. Die Gläubigen sehen aus der Perspektive ihrer Story jede Diskriminierung von Rassen, Klassen und Geschlechtern und jeden Völkermord in irgend einem Teil der Erde von diesem Paradigma her. Entsprechend ist auch die Hoffnung auf Neuorientierung des Völkerrechts, auf eine herrschaftsfreie und partizipatorische Gesellschaft, in der Macht zwar nicht verschwindet, aber verantwortlich gehandhabt wird, in diesen Kategorien definiert. In der Gestaltung der Bedingungen für menschliches Leben wird es nie um etwas anderes und höheres gehen als um die Zuwendung des Rechts und der Freiheit der Geliebten der Erwählung auf alle Menschen, um die Überwindung des Gegensatzes von Landnahme und Diaspora und um die soziale Verwirklichung der Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit von jedem menschlichen Wesen. Die Menschenrechte müssen unzweideutig als Rechte des »alten Menschen« verstanden sein. Das schließt den Rückbezug der Hoffnung auf den »neuen Menschen« nicht aus, sondern gerade ein (lID 5). Die entscheidende theologische Grundlage für den Beitrag der Gläubigen in der Diskussion um die Menschenrechte ist die Einsicht in die Unverwechselbarkeit eines jeden Menschen. Das zeigt sich nicht nur dramatisch in der Ablehnung der uralten Idee, neu heranwachsende junge Männer könnten gefallene Soldaten »ersetzen«, sondern auch im kritischen Durchdenken der Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs im Fall der Gefahr für den Fötus oder die Mutter mit dem festen Vorsatz, bald ein »neues« Kind zu zeugen. Die Entscheidung dafür muß Gründe benennen, die dem Axiom von der Unverwechselbarkeit eines jeden Menschen gewachsen und überlegen sind. Das ist freilich nicht unmöglich. Wie aber ist die Hoffnung auf den »neuen Menschen«, die schon dem »alten Menschen« zugute kommen soll und die Menschenrechte für alle verlangt, an das Einswerden von Juden und Heiden gebunden? Exegetische Einsichten stehen in Spannung mit der geschichtlichen Entwicklung und mit heutiger Realität, (vgl. II Al). Die neutestamentlichen Stellen über »Juden« und »Heiden« sind auf uns
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III. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
heute freilich nicht ohne weiteres direkt übertragbar. Handelt es sich hier nur um ein Paradigma, das im Grunde auch von Aussagen über amerikanische Weiße und Schwarze oder über ceylonesische Singhalesen und Tamilen abgedeckt werden könnte? An dieser Frage entscheidet sich viel, vgl. 11 B 6 und 111 D 4. Sinkt die Rede vom Einswerden der Juden und Heiden ganz in die Auswechselbarkeit mit anderen Paradigmen ab, so ist es auch nicht mehr nötig zu wissen, daß Jesus ein Jude war. Der Weg ist dann frei für eine idealistische Christologie, für die das Alte Testament nur noch als Hintergrund und zur Erläuterung der Herkunft des Sprachschatzes wesentlich ist. Die Einbettung des Glaubens in die Story, die mit Abraham begann, ist dann nur noch beispielhaft interessant. Soll dies aber vermieden werden, so besteht die Schwierigkeit, die Gläubigen in den Kulturen außerhalb Euro-Amerikas an dieses eine Paradigma zu binden. Können sie wirklich ihre Leiden und die Erfahrung des Völkermordes (man denke an Georgien, Armienien, die Inkas, China, Indonesien, um eine winzige Auswahl zu nennen) durch Israel und Auschwitz interpretieren und ihren Frieden als Einheit von »Juden und Heiden« verstehen, ist das vielleicht nur ein Theologumenon? - Die Erfahrung eines Nachmittags im kleinen Kreis mit Yassir Arafat in einem Flüchtlingslager außerhalb von Beirut vor einigen Jahren, als wir ihn seine Vision eines echten Friedens im Nahen Osten erörtern hörten, hat mir wieder sehr direkt die heutige Relevanz der alten biblischen Hoffnung vor Augen geführt. Allerdings ging es hier nun buchstäblich um die Juden und ihre Nachbarn in einer Diskussion, die auch geographisch in der Nähe des klassischen Landes der Verheißung stattfand. Wie aber wäre die biblische Friedenshoffnung übertragbar auf politisch ähnliche Situationen in anderen Kontinenten und mit anderen V ölkern? Vgl. weiteres hierzu in 111 D 4. Die Hoffnung auf die »Aufrichtung von Gottes Recht und Gerechtigkeit« - die Summe des jüdischen und christlichen Credos - besagt für mich nichts weniger als die konkrete Hoffnung, daß es uns wirklich gelingen wird, nicht nur den Krieg abzuschaffen, sondern auch einen seiner hauptsächlichen Gründe, die Vorstellung nationaler Souveränität. Dieses Konzept ist eine Frucht der Romantik (wiewohl es im späten Mittelalter Vorbilder für den Nationalstaat gab), das heute auch irrtümlich von »progressiven« Stimmen in bezug auf Länder der Dritten Welt und auf die sog. Nicht-Einmischungs-Doktrin verwendet wird. Damit kann viel Unrecht gutgeheißen werden, nicht zuletzt die ungerechte Verteilung der Bodenschätze.
C. Von der Perspektive zur Hoffnung
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6. DIE KONSTANTEN DER GRUND HALTUNG DER GLÄUBIGEN
Wenn auch aus Erinnerung und Hoffnung der Gläubigen, aus ihrer Story also, keine bleibende und universalisierbare ethische Theorie als Handlungsorientierung abgeleitet werden kann, so lädt der weiteste Begründungszusammenhang für ethische Entscheidungen und für die Adaption philosophischer Ethiken (vgl. III B 3 u. 6) zweifellos auch zur Ausbildung von Grundhaltungen im Leben der Gläubigen ein (vgl. III A 5). Diese Grundhaltungen sindbei aller Wahrung des Privaten und der individuellen Persönlichkeitsmerkmale - transindividuelle und ökumenische Aufgaben in der Lebensgestaltung eines jeden Trägers der biblischen Perspektive. (Inwieweit sie Bausteine ethischer Theoriebildung sind, muß im spezifischen Einzelfall für die betreffende Gruppe und ihre zeitgebundene Situation erarbeitet werden). Es besteht kein theologischer Grund zur Scheu davor, diese Konstanten als Bemühungen der Gläubigen zu bezeichnen. Sie versagen ihnen gegenüber immer aufs neue und ermahnen sich gegenseitig, Neuanfänge der Bemühung zu machen. Die Weisheitsliteratur des Alten Testaments und die weisheitlichen und paränetischen Stellen des Neuen Testaments enthalten eine Fülle von solchen Ermahnungen, die man nicht in die Zwangsjacke der traditionellen Debatte über »Gesetz und Evangelium« stecken sollte. Vergebungsbereitschaft und Zärtlichkeit, Zuhören-Können und Fairneß im Urteil, Mut zur Rationalität und Ehrlichkeit im Alltäglichen, Barmherzigkeit und Hilfsbereitschaft - diese und viele andere Grundhaltungen können nicht nur, sondern müssen die erkennbaren Merkmale der Gläubigen sein. Sie haben die Funktion von Zeichen auf das Neue hin, zugleich erleichtern sie das Weiterleben in der Welt des Todes. Die Grundhaltungen entsprechen im Hinblick auf Handeln und Lebensstil den »regulativen Sätzen« oder impliziten Axiomen (vgl. I H 2) des Denkens und Sprechens. Sie sind nicht angeboren, sondern erworben; nicht Teil des Charakters, eher schon Teil der Erfahrung. Obwohl natürlich die Grenzen zwischen den natürlichen Charaktereigenschaften und den hier zur Diskussion stehenden Grundhaltungen doch fließend sind, verstehe ich unter ihnen nicht etwa das, was Eric Beme und andere Vertreter der Transaktionalen Ana-
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III. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
lyse unter dem »Skript«, dem unbewußten Lebensplan eines Menschen verstehen. Eher schon kommt die Lehre des Thomas v. Aquin von der »consuetudo«, der Gewohnheit und »zumeist geübten, ständigen Weise konkreten Verhaltens« in die Nähe des Gemeinten. VgJ. dazu Franz Böckle, Fundamentalmoral (München 1977), § 21. Zur Überwindung der innerprotestantischen Kontroverse über »Gesetz und Evangelium« vgJ. das gleichnamige Buch von Albrecht Peters (Gütersloh 1981). Die folgenden Kapitel III D und E sind ein Versuch, die Grundhaltungen zu bescIYeiben.
D. DIE TRÄGER VON DIAKONIE UND THERAPIE (ZU I D)
VORÜBERLEGUNG
Nach den mehr grundsätzlichen Überlegungen zur Ethik in ihrer Beziehung zur Weltwirklichkeit und Natur (III A), zur Story der Gläubigen (lU B) und zu ihrer Hoffnung (lU C), soll in den beiden folgenden Kapiteln D und E versucht werden, die Grundhaltung der Gläubigen gegenüber Menschen und gegenüber Gott zu skizzieren. Wenn es, wie wir bisher haben argumentieren müssen, keine einheitliche und universalisierbare Ethik der Gläubigen, also etwa eine »christliche Ethik« gibt, so ist damit nicht gesagt, daß auch keine allgemeine Grundhaltung benennbar sei. Das war auch das Ergebnis der Gesamtüberlegung in IU C 6. Mit der Unterscheidung zwischen »universalisierbarerEthik« und »allgemeiner Grundhaltung« ist ein enger Ethikbegriff angewendet, was sich auch in der Diskussion mit Philosophie und Humanwissenschaften heute empfiehlt. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist besonders in ökumenischen Kreisen öfter der Ruf nach einer Darlegung des den Gläubigen gemäßen »Lebensstils« laut geworden. Diese Erwartung ist gerade dann völlig verständlich und berechtigt, wenn man sich vergegenwärtigt, wie ungeheuer verschieden die Lebensbedingungen der Gläubigen und der Menschen überhaupt heute sind, wie ungerecht das »Lebensglück« verteilt ist und wieviel an dieser ungerechten Verteilung tatsächlich veränderbar ist. Zudem liegt im Ruf nach einem neuen »Lebensstil« auch die ganz legitime Klage über die unerträgliche Gefangenschaft theologischer Ethik im Ghetto wissenschaftlicher Einzeldebatten und Methodenstreitigkeiten. Die Gläubigen wollen endlich von ihren Theologen in verständlicher Sprache hören, auf welche Empfehlungen für einen überzeugenden, veranwortlichen Lebensstil in dieser Welt voller Haß, Krieg, Hunger und Menschenverachtung man sich ökumenisch-theologisch einigen könnte! Ich glaube tatsächlich, daß man sehr einfache und überzeugende Emp-
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IIl. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
fehlungen aufstellen kann, die gewiß auch ökumenischen Konsens zwischen den Kirchen, vielleicht sogar zwischen Christen und Juden, finden dürften. Ich zweifle aber, ob sich diese Emfpehlungen (man kann hier an die klassischen »consilia evangelica« denken) wirklich auf den »Lebensstil« der Gläubigen und nicht viel eher auf ihre »Grundhaltungen« beziehen sollten. Es bedeutet keinen Rückzug in eine Gesinnungsethik, wenn ich meinen Lebensstil nur ungerne, meine Grundhaltung aber sehr wohl mit der anderer Christen vergleichen lasse. Zu oft schon haben die Kirchen und ihre Sprecher für bestimmte Zeiten und in Anlehnung an bestimmte Gesellschaftsschichten einen spezifisch christlichen Lebensstil als Norm empfohlen oder sogar befohlen, als daß wir heute uns noch freiwillig diesen Eingriff in die Frage, wie ich mich kleide und was ich esse, ob und welches Auto ich fahre und wie ich ein Fest gestalte, wünschen könnte. Im Protestantismus des 19. und 20. Jahrhunderts - gewiß noch mehr als im Katholizismus - ist eine am Kleinbürgertum orientierte Norm als Lebensstil mit massiven Einwirkungen auf die Geschmacksbildung in der Kunst, freudlosem Sexualverhalten und oft kleinlichen Umgangsformen im Alltag weithin akzeptiert gewesen. Eine Verlängerung oder Neubelebung dieser Tendenzen will wohl niemand im Ernst erhoffen. Aber auch die heutige Protesthaltung gegen diese Verbürgerlichung in der Bewegung der »Alternativen« ist, bei allem Respekt vor ihrer ethischen Konsequenz und persönlichen Bescheidenheit im Materiellen, gewiß keine Basis für Empfehlungen auf einen allgemeinen Lebensstil der Gläubigen aller Altersgruppen hin. Wenn nicht über den Lebensstil, so sind doch einfache und weitgehend universalisierbare Aussagen über die Grundhaltung gegenüber Mitmenschen und gegenüber Gott möglich und sogar notwendig. »Grundhaltung« heißt so viel wie grundsätzliche Bereitschaft und Willenshaltung, alle Bereiche des Lebens den Konsequenzen der Story von Abraham bis heute, der »Korrespondenzfrage« (IH B 3) auszusetzen. Man muß auch ein Gläubiger sein wollen, nicht den Vorsatz zum Dabeibleiben durch die theologische Richtigkeit ersetzen, die Gläubigen seien sola gratia Gläubige. Die Grundhaltung ist weitgehend eine Frage des Willens. Die Gläubigen wollen, daß ihr Reden und Tun als diakonisches Handeln, als Hilfeleistung und Tröstung, als aufbauend und nicht zerstörend, als heilend und nicht als verletzend wirksam wird. Ihre Grundhaltung zielt auf die Ermöglichung von lebensgestaltenden Bedingungen der Mitmenschen hin.
D. Die Träger von Diakonie und Therapie
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Das Leben soll gelingen. Die Gläubigen haben also eine »therapeutische Grundhaltung«. Mit dieser Formel ist kein bestimmter Lebensstil präjudiziert, auch sind keine spezifisch ethischen Vorentscheidungen getroffen, außer einem schmalen, aber umso härteren Negativ-Katalog von ausgesprochen zerstörerischen Handlungen und Einstellungen, die als anti-therapeutisch und darum für die Gläubigen als verwerflich gelten müssen. (Freilich kann der Begriff des Therapeutischen, der mir in den vergangenen Jahrzehnten immer wichtiger geworden ist, auch mißverstanden werden, so nämlich, als schöpfe der therapeutisch eingestellte Mensch aus großer Überlegenheit und aus dem Reservoir psychischer Kraft, Einsicht und Voraussicht; wer selbst therapeutisch tätig ist, weiß, wie falsch dieses Zerrbild vom Therapeuten ist; die »hilflosen Helfer« sind die echtesten). Scheut man nicht vor einer kurzen, eingängigen Formel zurück, so kann man mit guten Gründen sagen, daß die Einstellung der Gläubigen gegenüber allen Menschen, Tieren und Pflanzen, ja, allen Dingen in der Welt, durch eine therapeutische Grundhaltung charakterisiert sein soll. Die Begründung dafür soll im folgenden Kapitel markiert werden. (Die andere KurzformeI, mit der die Grundhaltung gegenüber Gott gekennzeichnet werden kann, die »doxologische Grundhaltung«, wird im darauffolgenden Kapitel E besprochen werden).
1. MENSCHEN MIT DEM WORT DIENEN
Die Gläubigen nützen und dienen ihren Mitmenschen freilich nicht ausschließlich, aber doch vor allem mit gesprochenen und geschriebenen Worten. Auch ihre diakonischen Taten sind auf die Rechenschaft durch Worte angelegt und wollen darum als tätiger Ausdruck der Story der Gläubigen, als schweigende Predigt verstanden sein. Der Wortdienst an den Mitmenschen verwirklicht sich vor allem in den vier Bereichen: 1. Der Verwirklichung von Gnade und Liebe (in Zeugnis und Predigt), 2. 1m Sagen der Wahrheit über die Tatsachen der Welt (in individueller und politischer Diakonie), 3. 1m Heilen und Trösten (in der Therapie), und 4. Im Reden von Gott im Angesicht des Todes (in der Beerdigung).
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III. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
Im Unterschied zu früheren Generationen und Jahrhunderten ist uns heute aber der Glaube, bzw. Aberglaube an die Selbsteffizienz des Wortes verlorgengegangen. Fast niemand mehr rechnet mit der magischen Wirkung eines erlösenden Wortes oder fürchtet sich vor den Folgen eines Fluches. Diese Entwicklung ist nicht zu bedauern. Umso erstaunlicher ist es, daß viele Theologen noch der traditionellen Vorstellung von der Selbsteffizienz des Wortes anhängen und unrealistische Erwartungen an die Wirkung ihrer Worte in der Predigt und besonders in der Seelsorge stellen. Auch eine große Zahl von kirchlichen» Worten« zu Tages- und Weltproblemen ist von der naiven Hoffnung auf ihre Selbstwirksamkeit geprägt. Zweifellos haben die Christen zu viele Worte gemacht und zu wenig Taten vollbracht. Wären unsere Worte Kommentare zu mutigen Taten, so hätte man uns eher gehört. Trotz dieser selbstkritischen Überlegungen gibt es eine theologische Rechtfertigung der Priorität von Worten vor eigenen diakonischen Taten. Es ist schon richtig zu sagen, daß für die Gläubigen unter den vier Bereichen des Wortdienstes der erste, die Verkündigung in der Predigt, einen Vorrang hat und für die anderen Bereiche konstitutiv ist. Es fragt sich nur, was mit dieser Feststellung tatsächlich gewonnen wird. Der Vorrang kann nicht darin bestehen, daß die drei anderen Bereiche weniger wichtig seien, vielmehr verwirklicht sich in ihnen die Aufgabe, die im Zeugnis und in der Predigt wahrgenommen wird. Gewiß hört die Kirche auf Kirche zu sein, wenn die Gläubigen auf die Dauer in allen vier Bereichen versagen (vergl. II A 3).Die biblischen Modelle für den Wortdienst der Gläubigen sind der alttestamentliche Priester, der von Gott her zu den Menschen und von ihnen her zu Gott spricht; der Prophet, der in der Vollmacht des Geistes gegenüber einem Repräsentanten der Gesellschaft in eine spezifische Situation hinein spricht; und der Weise, der sich niemandem aufdrängt, der jederzeit zur Konsultation bereit und zur Erklärung der Bibel und des menschlichen Lebens gerüstet ist, dessen Zurückhaltung und Schweigen ebenso wichtig sein kann wie die Worte eines emsigen Lehrers. Die Beobachtung ist nicht unwesentlich, daß die christliche Kirche das alttestamentliche Priesteramt wegen der Erfüllung der hohepriesterlichen Funktion durch Jesus nur in Umdeutung übernehmen konnte, daß aber zugleich das Judentum mit der Zerstörung des Tempels und Jerusalems im
D. Die Träger von Diakonie und Therapie
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Jahr 70 das traditionelle Priestertum verloren hat. Während die spätere Kirche - bis zum heutigen Tag - sich in eine Priester- und eine Lehrer/Prediger-orientierte Kirchentradition spaltete, hat sie die Funktion des Weisen weitgehend vernachlässigt, mindestens nie zu einem anerkannten, kirchlichen Amt erklären wollen. Die heutigen christlichen Konfessionen sind in einseitiger Verlängerung des alttestamentlichen Priesteramtes und der alt- und neutestamentlichen Funktion des Propheten und Lehrers in Altar- bzw. Kanzel-orientierte Richtungen gespalten. Die Differenzen zwischen den beiden Richtungen sind in der heutigen Ökumene sehr gravierend. Der protestantische Glaube an die Selbsteffizienz des gesprochenen Wortes entspricht - das ist oft beobachtet worden - dem Vertrauen in die Effizienz der Sakramente in der katholischen Tradition. Das sind bekannte Überlegungen. Aber erst neuere Sozialisationsforschung und Theorie der Psychotherapie haben zeigen können, wie wahr es ist, daß das Hören und Akzeptieren von Worten unter Umständen nicht die geringste Veränderung bei einem Menschen bewirken kann. Zur Psycholinguistik vgl. Hans Hörmann, Meinen und Verstehen, Grundzüge einer psychologischen Semantik (Frankfurt 1976), das breite Informationen und für Theologie und Homiletik sehr anregende Gedanken bietet. - Selbst noch zu stark unter dem Eindruck der Selbstwirksamkeit des verkündigten Wortes stehend schrieb ich 1960 A Theology of Proclarnation (Richmond 1960, 2. Auf!. 1963).
2. SOZIAL-POLITISCHE DIAKONIE
Nicht nur im Weitererzählen und Erklären der Story der Gläubigen (vgl. II A 3), sondern auch im Eintreten für andere Menschen wird die Story der Gläubigen, die letztlich Gottes eigene Geschichte ist, fortgesetzt. Die Diakonie der Gläubigen im sozialen und politischen Bereich zeigt sich im vikariatsmäßigen Handeln für andere. An diesem letztlich aus der Christologie gewonnenen Begriff läßt sich die gesamte Aufgabe der Diakonie festmachen. Im Eintreten in die Solidarität mit anderen, besonders Kranken, Armen und Entrechteten, Bösen und Verirrten, werden die Gläubigen bewußt in die Bedingungen dieser Mitmenschen eintreten, werden aber nur im Grenzfall dabei
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III. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
selber krank, entrechtet, böse und verirrt. Im Normalfall sollten sie den Rückhalt der Gemeinde mit ihrem Drängen auf Humanisierung der Lebensbedingungen aller Menschen haben. Wenn Diakonie als Eintreten-für-andere verstanden wird, so können die Gläubigen bei dieser Aktivität sich von dem Zwang befreit wissen, die Empfänger ihrer Diakonie persönlich zu beeinflußen oder für ihren Glauben zu gewinnen. Ihre Diakonie hat nur den einen Zweck, anderen zu helfen, das Leben gelingen zu lassen. Grund und Zweck sind in der Diakonie also deutlich unterschieden. Wenn diese Überlegung richtig ist, dann ist auch der Gedanke einer Konkurrenz zwischen christlicher (jüdischer) Diakonie und den Einrichtungen eines modernen Sozialstaates nicht erlaubt. Die Gläubigen müssen nicht immer selbst die Diakonie ausführen. Sie können auch die Gesellschaft zur Diakonie anregen und können gegen fehlende Diakonie protestieren. Den Gläubigen bleibt noch immer Raum für Fantasie und Anregungen, für das Präsentieren von Modellen und Vorbildern, und für konstruktive Kritik an Staat und Gesellschaft. Auch das sind sinnvolle Formen von Diakonie. Wenn Diakonie - auch Diakonie mit Worten - so verstanden wird, dann ist sie von der Verkündigungsaufgabe der Gläubigen zu unterscheiden. Die Abhebung ist wichtig, um danach die Zuordnung von diakonischem Handeln (und sei es mit Worten) und verkündigender Predigt verstehen zu können. Gewiß nicht die schlechteste Erklärung dieser Zuordnung findet sich in klassischer Theologie, vor allem in der reformierten Tradition, wo die guten Werke im diakonischen Handeln als Ausdruck der Dankbarkeit der Gläubigen für die in der Verkündigung erhaltenen Geschenke des Glaubens verstanden werden. Die Frage, ob Gott nur gegenwärtig ist, wo seine Story erinnert und antizipiert wird, oder ob er auch da anwesend ist, wo Diakonie geübt wird, auch wenn die Empfänger ihn nicht kennen, hat seit der in England entstandenen Diskussion um die »New Morality« manche Kontroverse ausgelöst. Die Frage scheint durch Mt 25 (»Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr mir getan«) eindeutig so beantwortet, daß die Empfänger nicht als im gottfernen, neutralen Feld stehend verstanden werden. Aber dadurch ist unter ihnen noch nicht Gemeinde oder Kirche entstanden. Das ist auch nicht das Ziel der Diakonie.
D. Die Träger von Diakonie und Therapie
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Wenn auch die Grundhaltung der Gläubigen gegenüber ihren Mitmenschen und Gott sich vor allem in Worten zeigt - so groß die Nachteile dabei sein mögen - und wenn ihre Worte mit Taten so verknüpft sind, daß die Taten der Rückfrage nach den dahinterliegenden Worten standhalten können, so ist das Ziel der Diakonie doch nicht die Umstimmung der Empfänger der Diakonie zum Glauben ihrer Täter. Der Grund der Diakonie soll nicht mit ihrem Ziel verwechselt werden: die diakonische Solidarisierung mit Armen und Entrechteten kann ohne den heimlichen Zielgedanken getan werden, die Empfänger vom Grund der Diakonie zu überzeugen. Bei einer Kleidersammlung für Erdbebengeschädigte steckt man nicht Bibeln und Bekehrungsschriften in die Taschen der Mäntel und Hosen, und in christlichen sowie jüdischen Krankenhäusern und Heimen nötigt man nicht die Patienten zur Annahme der Grundhaltung derer, die diese Häuser leiten und die Pflege durchführen. Ebensowenig wird man in kirchlich finanzierten Projekten der Entwicklungshilfe hoffen und fordern, daß die Benützer der landwirtschaftlichen Maschinen, der medizinischen Apparate, der Brücken und Bewässerungsanlagen durch diese diakonischen Taten zu bewußten Teilhabern der Story von Abraham bis heute, zu Gläubigen werden. In Fortsetzung dieser Beispiele kann man auch sagen, daß psychologische Beratung und Psychotherapie, von Gläubigen ausgeführt, nicht mit der Hinwendung der Klienten und Patienten zum christlichen (oder jüdischen) Glauben rechnen darf oder nur dann einen Sinn in diesen Tätigkeiten sehen soll, wenn eine solche Hinwendung erfolgt. Die Bekehrung der Empfänger diakonischer Werke zum Glauben der Diakone ist ein besonderes und zusätzliches Wunder der Gegenwart des Geistes Gottes. Es ist nicht das Ziel der diakonischen Tätigkeit. (Zur Umkehrung des Satzes »Gott ist Liebe« in den Satz »Wo Liebe ist, ist Gott«, vgl. meine Diskussion in Kap. V von Memory and Hope, »New Morality« and »Anonymous Christianity«, 181-201). Das stellvertretende Einstehen für andere, die Solidarisierung, kann so verstanden werden: 1. Es besteht eine dialektische Spannung zwischen der geistigen Souveränität, die für einen echten Akt der Solidarisierung nötig ist, und der Übernahme von Schuld oder Mitschuld (mindestens dem Risiko, mißverstanden zu werden), die durch einen solchen Akt erfolgt. 2. Es gibt Abstufungen in den Graden der Direktheit der Solidarisierung von rein geistiger Sympathie und Fürbitte bis hin zur Übernahme physischer Leiden und Strafen. Jede Not kann Anlaß für Solidarisierung sein, die Abstufungen können nicht im voraus ethisch bewertet werden. Eine geistige Solidarisierung kann persönlich kostspieliger und ethisch bewundernswürdiger sein als der freiwillige Aufenthalt in Hungergebieten und Straflagern. 3. In der Solidarisierung erfolgt nicht eine Bestätigung oder Bejahung der Gedanken oder Credos derer, für die man eintritt. Solidarität ist ein Eintreten in die Bedingungen, nicht in die Credos der Armen, Entrechteten und Verfolgten. 4. Solidarisierung mit den Armen ist die provokativste Kurzfassung des Inhaltes der biblischen Botschaft: die Gläubigen handeln entsprechend dem Handeln Gottes in seiner Erwählung, wenn sie für die hören, die nicht hören können, reden, für die, die nicht re-
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/lI. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
den können, stellvertretend beten und hoffen und entsprechend solcher Stellvertretung auch handeln. Die »Kommission für Kirchlichen Entwicklungsdienst« des Ökumenischen Rates der Kirchen (CCPD) hat in die z. Z. lebhafte Diskussion um das Thema »Die Kirche und die Armen« mit einer beachtlichen, aber nicht unumstrittenen Stellungnahme eingegriffen, »Towards a Church in Solidarity with the Poor« (deutsch epd-Dokumentation 25a/80 vom 2.6.1980), vgl. dazu Wolfgang Schweitzer in ÖR 2/1981,182-190, und kürzlich die Stellungnahme des »Deutschen Ökumenischen Studienausschusses« in ÖR 1/1983, 9699, die ihrerseits nicht unumstritten ist. Wir haben sie in Zusammenarbeit mit Experten aus verschiedenen Gebieten in der Absicht erstellt, dem Genfer Dokument soviel kritische Aufmerksamkeit wie möglich zukommen zu lassen. Eine in den Diskussionen der letzten Jahre um politische Diakonie noch nicht ausgeräumte Unklarheit liegt in der Frage, ob und inwieweit man die Aussage rechtfertigen kann, der Gott Israels sei der Befreier der Armen und Jesus sei für die Armen gestorben. Dabei geht es nur zum Teil um die Frage, was unter Armen verstanden wird; tiefer noch liegt das Problem der Beziehung zwischen Vergebung und Befreiung. Was klassische Theologie unter Rechtfertigung verstand, wird heute teilweise durch die Arbeit für Gerechtigkeit in der Welt ersetzt. Das ist mehr als eine Akzentverschiebung oder Entscheidung für eine scheinbar modernere Ausdrucksweise.
3. PARTEIISCHE ODER NEUTRALE KIRCHE?
Die Gläubigen einer Kirche (oder auch Synagoge) finden sich immer in einer Situation vor, in der andere stellvertretend für sie sprechen können. Diese Sprecher können als Gremien oder als Einzelne die Dachorganisation oder Kirchenleitung einer Denomination bilden (bei Christen eher als bei Juden), sie können aber auch die konkreten Gemeindeleiter, Priester, Pfarrer oder Gemeinderäte einer speziellen Gemeinde sein. Wenn Konsens über diese Feststellung besteht, so ist die Frage noch unbeantwortet, in wessen Namen letztlich diese stellvertretenden Sprecher sprechen. Eine rein demokratisch verstandene Repräsentation der tatsächlichen Meinung der statistischen Mehrheit der Gläubigen kommt darum letztlich nicht in Frage, weil die Wahrheit des Glaubens nicht identisch ist mit dem empirisch vorfindbaren Konsens unter den Gläubigen. Unklarheit über diesen Sachverhalt trübt seit jeher die Diskussion über die
D. Die Träger von Diakonie und Therapie
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politische Funktion der Kirche. Die meisten Kontroversen brechen auch an dieser Frage auf, obgleich es oft den Anschein hat, als sei die veranlassende politische Frage Gegenstand des Streites. Letztlich kann nicht strittig sein, daß die Kirche eine politische Funktion, einen die »Polis« betreffenden Auftrag in der Weiterführung ihrer Story hat. Soll sie ihn parteiisch oder neutral wahrnehmen? So lautet die Frage, nicht etwa, ob sie den Auftrag politisch oder unpolitisch ausführen soll; denn eine »neutrale« Haltung ist auch eine politische Position. Es ist kein Zweifel an dem Satz denkbar, daß die Kirche für Kranke, Schwache, Arme, Entrechtete, Diskriminierte, Gefangene und Verfolgte eintreten muß. In diesem Sinn muß die Kirche parteiisch sein. Es widerspricht aber ihrem Auftrag und ist ethisch unerträglich, wenn sie sich durch ihre Sprecher auf diese oder jene politische Ideologie festlegt und die geschichtliche Wahrheit parteiisch darstellt, wie sie .dies in Ost und West, Nord und Süd heute vielfach tut. In dieser Beziehung muß die Kirche den Mut zu Objektivität und echter Neutralität haben.
Die Sehnsucht nach einer Kirche, die die Wahrheit sagt, steht keineswegs im Widerspruch zu einer engagierten, mit den Armen solidarischen Kirche. Es ist qualvoll und unerträglich und geht nicht nur zu Lasten der Massenmedien, sondern durchaus auch der Kirchen, daß viele Menschen (in den Kirchen) in den USA meinen, ihre Bomber hätten im letzten Weltkrieg nur militärische Ziele bombardiert; daß viele Deutsche glauben, nur die SS hätte Juden hingeschlachtet und Geiseln erschossen; daß meine europäischen Studenten meinen, nur die faschistischen Rechtsregime in Mittelamerika ermordeten ihre Gefangenen, während meine Gesprächspartner in Amerika jedes Jahr beteuern, dies täten nur die Linksterroristen; daß die Kirchensprecher in Osteuropa den Westen als kriegslüstern und kolonialistisch hinstellen und die sie selbst bestimmende Supermacht von Vorwürfen reinwaschen; daß westliche Presse- und Kirchenleute der Bevölkerung einreden, die Mächte des Warschauer-Paktes warteten nur auf die Gelegenheit, von Thüringen aus nach Hessen zu marschieren; daß wir in Zeitung und Kirche nur selten die Wahrheit über Südafrika, Angola und Äthiopien, über französische, russische und schweizerische Waffenexporte erörtert finden. Beschämend, daß der Mut zur geschichtlichen Wahrheit so gering ist: daß das Regime in Cuba ebensoviele Morde auf dem Gewissen hat wie das in Chile; daß nur ein kleiner Teil der Franzosen zur Resistance gehört hat, aber über 100000 zur freiwilligen SS; daß im letzten Krieg mehr russische Gefangene in deutscher als deutsche in russischer Gefangenschaft zugrunde gegangen sind; daß die Maoris in Neuseeland sich untereinander viel schrecklicher abgeschlachtet haben, als sie je von Weißen bedrängt worden sind ... Ich sehne mich nach ei-
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IlI. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
ner Kirche, in der all dies nicht nur gelegentlich erwähnt, sondern ständig ehrlich vertreten und der jungen Generation als die Wahrheit unserer Weltwirklichkeit dargestellt wird. In der Realität aber haben Verzerrungen der Gegenwart und Unwahrheit über die Geschichte in der Kirche ebensoviel Raum und Einfluß wie unter völlig ungläubigen Menschen. Die heute öfter als Rechtfertigung parteiischer Darstellung der geschichtlichen Tatsachen vorgebrachte Behauptung, es gäbe nicht »die Wahrheit«, schon modeme Naturwissenschaft sähe dies, beruht auf einem naiven KategorienfehIer. Natürlich gibt es, wie die soeben genannten Beispiele zeigen, geschichtlich greifbare Wahrheit, Tatsachen, über die man Wahres und Falsches sagen kann. Aus einer Fülle von hilfreicher Literatur nenne ich zwei hervorragende, kurze Bücher: Daniel L. Migliore, ein systematischer Theologe in Princeton, Called to Freedom, Liberation Theology and the Future of Christi an Doctrine (Philadelphia 1980), und Wolfgang Huber, Der Streit um die Wahrheit und die Fähigkeit zum Frieden (München 1980).
Die Bereitschaft zu sozial-politischem Engangement in der Verpflichtung zu politischer und geschichtlicher Wahrheit kann nur aus einer ideologiefreien, therapeutischen Grundhaltung erwachsen. Wahrheitsfanatismus um seiner selbst willen ist keine echte Alternative zu naiver und ideologischer Parteinahme.
4. DIE VERBREITUNG DES EVANGELIUMS IN TRADITIONELL NICHTCHRISTLICHEN KULTUREN
Von der Perspektive ihrer Story aus können die Gläubigen außer-biblische Religionen letztlich nicht verstehen. Sie haben nicht die Ungebundenheit des Religionsphänomenologen, weil sie die Freiheit für alle Menschen in der Erfüllung ihrer Hoffnung auf Gottes Recht und Gerechtigkeit sehen. Sie können sich aber die Gegenwart und Wirkung von Gottes Geist außerhalb der Sozietät der so Hoffenden durchaus vorstellen, und dies ist für sie Anlaß für nicht geringeres Staunen als über seine Gegenwart bei den Gläubigen. Weil der Inhalt der Hoffnung die ganze Menschheit, die belebte und unbelebte Natur betrifft, können die Gläubigen die von ihnen erinnerte und erhoffte Story mit allen Menschen teilen, die zuzuhören bereit sind. In diesem Sinn ist die Mission der Kirche, auch die früher sogenannte »äußere Mission«, völlig
D. Die Träger von Diakonie und Therapie
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berechtigt. Daß die wahre Legitimation der Mission immer wieder an tausend Stellen der Erde durch die Verkehrung des Evangeliums in eine aggressive Ideologie und des Dienens in Herrschen verhöhnt worden ist, kann niemand bestreiten. Es gehört aber zum Janusgesicht der Kirchengeschichte (vgl. I D 8), daß durch die Präsenz von Christen in traditionell nicht-christlichen Ländern auch unendlich viel Gutes gewirkt worden ist. Die heute modische Kritik an christlicher Missionstätigkeit im 19. und 20. Jahrhundert beruht meist nicht auf wirklicher Kenntnis. Die noch ungelöste Aufgabe im Dialog mit den großen Weltreligionen ist vor allem die theologische Bearbeitung der Frage der Übertragbarkeit entscheidender Paradigmen aus der Story von Abraham bis heute in völlig außer-biblischen Kulturen und Religionen (vgl. II B 6 und III C 5). Es ist leichter, mit Hindus oder auch Buddhisten nach gemeinsamen Inhalten der Hoffnung zu suchen, als sie einzuladen, in den entscheidenden Stationen der Geschichte Israels und der Kirche Paradigmen für ihre eigene Geschichte zu finden. Diese Einladung kann zur Verneinung der Relevanz ihrer eigenen Geschichte führen; ihre Preisgabe hingegen zur Auswechselbarkeit zentraler biblischer Stories.
Außer den öfter genannten (11 B 6, 111 C 5) grundsätzlich theologischen Problemen der Verbreitung des Evangeliums, d. h. der Verbreiterung des Teilnehmerkreises an der Story von Abraham bis heute, ist die sogenannte äußere Mission als ein ethisches Problem zu verstehen. Das in keiner Situation ungültige Kriterium in der ethischen Selbstkritik der missionierenden Kirche ist die Testfrage nach dem therapeutischen Wert der Verbreitung des Evangeliums. Diese pragmatische Testfrage mag schnell auf Ablehnung stoßen. Sie ist auch nicht die Begründung der Mission, sondern Markierung ihrer Grenzen zur Abwehr eines fanatischen Expansionismus oder naiver Proselytenmacherei. Bekanntlich gibt es schon im Alten und Neuen Testament zwei sich ergänzende Modelle der Mission: die Ausbreitung, das Hinausgehen, das Hinabfließen des Wassers vom Tempelberg hinunter zum Toten Meer, wo dann Grünes und Frisches zu wachsen beginnt - und die Sammlung, die Ernte, das Hineinnehmen, die Versammlung am Berg Zion, wenn »zehn Männer aus Völkern aller Zungen einen Juden beim Rocksaum fassen und sagen: Wir wollen mit euch gehen; denn wir haben gehört, daß Gott mit euch ist« (Sach 8,23). - Ich habe in Mittelamerika, Afrika und Asien glaubwürdige und ethisch verantwortliche Ausführungen beider Modelle gesehen und kann die in Europa so weit verbreitete Kritik an der Missionsarbeit der
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III. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
Kirchen nur als uninformiert angesehen. Freilich haben wir allen Grund, dem ersten der beiden biblischen Modelle gegenüber heute eher Zurückhaltung zu üben, denn zu eng war die Verbreitung der guten biblischen Botschaft mit der Ausbreitung von Macht und Einfluß gekoppelt gewesen - von der Spätantike bis in die moderne Zeit. Aber auch in bezug darauf sind verallgemeinernde Urteile wenig sinnvoll. Vgl. zur deutschen Missionsgeschichte Klaus Bade (Hg.), Imperialismus und Kolonialmission, Kaiserliches Deutschland und koloniales Imperium (Wiesbaden 1982). Vgl. auch I H 5.
5. AUF DEM WEG ZU EINER THERAPEUTISCHEN ETHIK
Wenn es richtig ist, daß der Inhalt der Hoffung der Gläubigen die ganze Menschheit betrifft und daß die einzelnen diakonischen Werke zeichenhaften Charakter haben und die Neuwerdung der ganzen Welt im kleinen abbilden, dann kann auch die Gesamtorientierung der Ethik der Gläubigen als therapeutische Ethik bezeichnet werden: eine Rahmenorientierung, die auf Heilung und Neuwerdung aus ist. Die Bezeichnung von Jesus als »Therapeut« ist höchstens in einem äußerst eng begrenzten Sinn legitim. Viel eher kommt alten, östlichen Liturgien das Recht zu, Gott in seiner auf das Heil der Menschen gerichteten Geschichte als Arzt und Therapeuten anzusprechen. Diese Metaphorik ist nicht sinnlos: Gott ist in seiner trinitarischen Geschichte auf die Heilung der Wunden von Mensch und Natur aus: er richtet die Gebeugten auf, Waisen und Witwen hilft er (Ps 146) und heilt alle Gebrechen (Ps 103), schafft der Stadt Heilung (Jer 33) und dem ganzen Volk (Hos 6): er ist »dein Arzt« (Ex 15) genannt. Es ist daher auch richtig, die Träger der Story von Abraham bis heute, die letztlich Gottes Geschichte ist, als Teilhaber an dieser therapeutischen Aktivität Gottes zu bezeichnen. Wenn Therapie nicht einfach - wie früher in medizinischen Lehrbüchern als »restauratio« zum status qua ante oder als »restitutio ad integrum« verstanden wird, sozusagen story-los und ungeschichtlich als Reparatur eines Defektes, sondern vielmehr als Zeichen einer großen, noch gar nicht beschreibbaren Neuwerdung aller Kreatur, dann ist nicht nur jede medizinische
D. Die Träger von Diakonie und Therapie
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und psychotherapeutische Heilung, sondern auch jeder Trost, jedes Eintreten für das Recht eines andern, jedes verstehende Zuhören und Mahnen, jede Hilfe für Hungernde und Gefangene eine therapeutische Handlung. Der wahre Dienst der Gläubigen an den Mitmenschen, primär mit Worten und - davon abgeleitet und die Worte beglaubigend - mit fantasiereichen Taten und sinnvollen Opfern, ist unter der Kontrollfrage, ob er aus einer therapeutischen Grundhaltung erwachsen sei, erkennbar.
Zur praktischen Ausübung der therapeutischen Grundhaltung müssen die beiden unaufgebbaren Elemente unseres Erbes zum Tragen kommen: Rationalität und Barmherzigkeit. Neben und in all dem Unguten und Grausamen, das wir getan und ererbt haben, ist dies das doppelte Erbe, das wir um jeden Preis ins kommende Jahrhundert - und es wird ein neues Jahrtausend sein - mitnehmen müssen. Es ist das Doppelerbe Athens und Jerusalems, das, wenn auch tausend- und millionenfach verraten, mißbraucht, in sein Gegenteil verkehrt und vor unsern und vor fremden Augen der Lächerlichkeit preisgegeben, unser Schönstes und Bestes ist. In ihm bedingen sich gegenseitig kühle, furchtlose Rationalität und warme, zärtliche Barmherzigkeit. Zur Therapie unserer Welt ist beides unverzichtbar. »Rationalität: die Griechen hören auf Gründe, wo die Barbaren nur fertige Meinungen haben; sie suchen nach Gründen, wo andere sich mit der bloßen Erscheinung zufrieden geben. Sie argumentieren, bauen Satz an Satz und Teil an Teil, befragen sich selbst und laden zum Verstehen ein, wo andere Behauptung gegen Behauptung stellen und das Eigene intolerant absolut setzen. Sie analysieren und diskutieren, zerstören Tab~s und Aberglaube, suchen im Wahren auch das Schöne, begründen und verbinden so Wissenschaft und Kunst, Ethik und Technik. Durch römische Kultur und Jurisprudenz gefiltert und durch arabische Weisheit reich beschenkt haben diese in der Weltgeschichte ganz einmaligen Errungenschaften der Griechen unsere gesamte europäische Kultur vom Ural bis Kalifornien bestimmt. Rationalität - das Eingangstor zu den großen Geheimnissen der belebten und unbelebten Natur, der menschlichen Lebensbedingungen und Möglichkeiten, der menschlichen Gesellschaft und der Aufgabe, ihr eine Rechtsordnung zu geben, sie ist, verantwortlich verwendet, ein köstliches Erbe. Nur ängstliche und unfreie Menschen - seien sie durch psychische Schäden oder durch ideologische Unfreiheit gekennzeichnet - nur sie fürchten Rationalität, wollen nicht, daß die Gründe freigelegt werden, scheuen vor vernünftiger Kommunikation mit dem anderen zurück. Ich glaube, wir hätten ohne den vollen Einsatz von Rationalität und furchtloser Wahrheitssuche überhaupt keine Aussicht, die fünf großen, zum Überleben der Menschheit unabdingbaren Aufgaben zu lösen: die Steuerung der Bevölkerungsexpolosion, die Bekämpfung des
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III. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
Hungers, die internationale Verteilung der Bodenschätze, die Abschaffung des Krieges und die Beendigung von Diskriminierung und persönlicher Unfreiheit. Und das andere köstliche Erbe: Barmherzigkeit. Hier besteht nun eine Spannung zum griechischen Erbe. Es ist die Spannung zwischen Athen und Jerusalem. In Athen ist der ein wahrer Mensch, der im Körper und im Geist, auf dem Sportplatz und in der Akademie in gleicher Weise stark, balanciert und wettberwerbsfähig ist. Im alten Israel aber ist der Schwache der Erwählte, der kleine David und nicht der Riese Goliath, und der leidende Gottesknecht ist näher an der Humanität als der Starke, der Alleswisser, der Erfolgsmensch. In keiner Weltreligion gibt es so zarte Stellen über Gott und den Menschen, wie im Alten Testament. Wie eine Mutter sich über Kinder beugt, so will Gott mit Menschen und sollen Menschen mit Menschen umgehen. In den großen Propheten lesen wir Erstaunliches, wenn mitten im Kriegsgetümmel, Völkerhaß und in religiös verbrämten Hoffnungen, diese Vision von Barmherzigkeit aufleuchtet, wenn kultische Religionen kritisiert und Geschichtslügen entlarvt werden. Die törichte Behauptung, der Gott des Alten Testaments sei ein grausamer Gott, kann nur aussprechen, wer es nicht gelesen hat. Dort finden wir die erste und entscheidende Kritik an Schöpfungs- und Fruchtbarkeitsmythen, und in der alten Geschichte von Abraham und Isaak die erste Kritik an Menschenopfern, die die Weltliteratur hervorgebracht hat. Welch ein Erbe, das da auf uns gekommen ist, im Neuen Testament zu weltweiter Erfüllung und Anwendung erweitert und legitimiert! Wenn etwas unbarmherzig an diesen beiden Teilen der Bibel ist, dann die schonungslose Offenheit gegenüber geschichtlicher Wahrheit, der bösen und der guten Vergangenheit und der Hoffnung für die Zukunft - eine Offenheit, die gerade uns heute so unerhört nützlich wäre. Und wenn die Wahrheit unbarmherzig, schonungslos offen aufgedeckt wird, dann nur, wirklich nur im Interesse der Barmherzigkeit, der Gerechtigkeit und des Friedens. Rationalität und Barmherzigkeit ... die Doppelwurzel der großen Erfindung des Rechtsstaates und der Gestaltung eines humanen Strafrechts, der Entfaltung der Wissenschaft in einem auf echte Weise säkularisierten Raum, der Enttabuisierung und Vermenschlichung des Verständnisses von physischer und psychischer Krankheit und der daraus folgenden Pflege, Fürsorge und Rehabilitation der Kranken, der Freiheit der Künste, der gewaltigen Entfaltung der Technik als der entscheidenden Hilfe für menschliches Leben und Zusammenleben. Dieses Erbe ist bleibend wichtig.« (Ich zitiere diese Stelle aus einem Festvortrag, den ich vor einer nicht-akademischen und nicht-kirchlichen Zuhörerschaft hielt. Privatdruck als Broschüre: Sichtung des bleibend Wichtigen, Gedanken über unsere Zukunft, Waldkirch 1982).
E. DOXOLOGIE ALS TRADITION UND VORWEGGENOMMENE VERIFIKATION (ZU I E UND G)
VORÜBERLEGUNG
Obwohl anredendes, doxologisches Sprechen zu Gott in den jüdischen und christlichen Traditionen meist in seit langem festgelegten Sätzen geschieht, ist es Ausdruck echter Freiheit der Gläubigen im Gegenüber zu Gott. Die alten Texte der Anrede zwingen nicht zur sklavischen Repetition, so als säße Gott den Gläubigen im Nacken und zwänge sie zum Nachsprechen vorgegebener Sätze - vielmehr laden sie zum Lernen ein, eigene Worte in der freien Partnerschaft mit Gott zu wählen. So bewegt sich Doxologie zwischen freiwilliger Aufnahme der tröstlichen Wortstützen der Tradition und dem Wagnis der Neugierde, Gott in neuen Worten nie zuvor gedachter Gedanken anzureden in der Erwartung seiner erneuten Gegenwart. Es ist wohl nicht richtig zu behaupten, man könne »Gott alles sagen«, er würde so als Gesprächspartner abgewertet und nur zum alter Ego des Gläubigen. Man kann ihn gewiß auch nicht »um alles bitten«: auch der einfachste und ungeschulteste Gläubige hat »regulative Sätze« bzw. Gedanken, die ihn daran hindern, Gott um Eigensüchtiges, Zerstörerisches oder auch Triviales zu bitten. Gott wird verhöhnt, wenn man ihn um den Ruin des Nachbarlandes oder seines Geschäftspartners bittet, und die eigene Freiheit des Menschen als Ebenbild Gottes macht lächerlich, wer Gott um einen Parkplatz bittet. Aber andererseits kann man gewiß Gott viel mehr an Gedanken und Affekten darbringen, als es die offiziellen Liturgien und Gewohnheiten der Frömmigkeit zu gestatten scheinen: Erinnerungen und Pläne, Klagen über Menschen und über Gott selbst, Enttäuschungen und Ängste, Versprechungen und Entschuldigungen. Ob dabei das Lob Gottes vor dem Bitten oder das Bitten vor dem Dank Vorrang haben, ist eine wahrhaft akademische Frage, die zur Klärung der Grundhaltung der Gläubigen wenig beiträgt. Man kann mit gutem Recht neben der im Kapitel D vorgeschlagenen
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I/I. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
Kurzformel der »therapeutischen Grundhaltung« gegenüber Menschen und Tieren hier von einer »doxologischen Grundhaltung« gegenüber Gott sprechen. Die Grundhaltung der Gläubigen gegenüber Gott ist weniger die des Gehorchens, des Fürchtens, Wartens und Dienens - so wichtig diese spezifischen Haltungen im Leben eines jeden Gläubigen zu zeiten sein mögen - vielmehr ist es die Grundhaltung der jederzeit möglichen Anrede an ihn. Doxologisches Sprechen schafft nicht nur die Verbindung zur Tradition, es stellt zugleich einen Entwurf der eigenen Zukunft und der Zukunft Gottes dar. In ihm läßt sich ein Mensch oder eine Gemeinde in Gottes verheißene, aber noch nicht verwirklichte Zukunft hineinziehen. Es wird in der Doxologie etwas über Gott und Menschen als wahr ausgesprochen, das so in deskriptiver Sprache nicht gesagt werden könnte, mag auch die Doxologie deskriptive Sprach elemente enthalten. Von dieser Einsicht her ist auch die Aussage verständlich, daß es letztlich der Geist Gottes selber ist, der betet (Röm8). Mir ist die Suche nach dem Verständnis von Doxologie seit langem wichtig, vgl. Memory and Hope, 89-96, 166-176 u. ö., auch Konzepte I, 78-101, sowie kürzlich »Zur Geschichte der Kontroverse um das Filioque und ihrer theologischen Implikationen« in Geist Gottes - Geist Christi (hg. L. Vischer), Beiheft zur Ökum. Rundschau 39 (Frankfurt 1981), 25-42 und »Warum wir Konzilien feiern? Konstantinopel 381«, in ThZ (Basel) 38,4 (Juli/August 1982), 213-25. Vgl. Edmund Schlink, »Die Struktur der dogmatischen Aussage als ökumenisches Problem«, in: Der kommende Christus und die kirchlichen Traditionen (Göttingen 1961),24-79, sowie Wolfhart Pannenberg, »Analogie und Doxologie«, in Grundfragen systematischer Theologie (Göttingen 1967), 181-201.
1. GOTT MIT DEM WORT DIENEN
Der eigentliche auf Gott gerichtete Dienst besteht nicht im Vollbringen von bestimmten ethischen Taten oder in der Ausübung von Handlungen (und seien es auch liturgische), sondern darin, daß die Gläubigen Gott mit Worten sagen, daß er ihr Gott ist. Das hat zum Inhalt, daß sie seiner Zusage auf sein Reich Glauben schenken, daß sie seine Gegenwart im heiligen Geist feiern
E. Doxologie als Tradition und vorweggenommene Verifikation
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und daß sie die von ihm bewirkte Vergebung und Befreiung von der Vergangenheit mit Worten dankbar bestätigen. Dieser doxologische Dienst geschieht in Israel sowie bei den heutigen Juden im Namen der Väter in der Fortsetzung der Tradition, mit der die Christen einzig durch Jesus Christus verbunden sind. Sie beten zum dreieinigen Gott »durch Jesus Christus«, d. h. in der Legitimation des Gebetes von Jesus. Die klassische Theologie sprach mit vollem Recht vom Gebet »im Geist und durch den Sohn«, und meinte damit die damals sogenannte »menschliche Natur« von Jesus, d. h. sein eigenes Gebet aus der Tiefe der menschlichen Existenz und Gottverlassenheit. Nur durch sein Gebet können nicht-jüdische Christen überhaupt zu Gott sprechen. Die Frage, ob Gott auch ohne die Doxologie der Menschen Gott sei, ist in der Bibel sowie in der Tradition der Kirche mit dem Hinweis auf die Anbetung der Engel positiv beantwortet worden. Wenn uns diese Metaphorik heute schwierig erscheint, so muß nach einer anderen gesucht werden, um das Credo auszudrücken, daß Gott schon vor der Erwählung Israels und auch vor der Entwicklung der Menschen aus den Hominiden der dreieinige Gott war. Für jede theologische Reflexion über das Gebet sind die beiden Einsichten unverzichtbar: 1. daß das Gebet nicht im eigenen Namen, sondern für Israel im Namen der Väter und für die Christen im Namen von Jesus geschieht, und 2. daß das Gebet nicht an eine zeitliche Kraft, sondern an den ewigen Gott gerichtet ist. In beiden Grundeinsichten ist das trinitarische Verständnis von Gott entscheidend. Wo es fehlt - wie weitgehend in der »Prozeßtheologie« - stößt das Denken über das Gebet und über die Ewigkeit Gottes auf Schwierigkeiten. Die Legitimation des Gebetes durch das Beten von Jesus (in seiner »menschlichen Natur«) war ein zentrales theologisches Thema bei den griechischen Vätern des 4. und 5. Jahrhunderts. Unsere Dogmengeschichten berichten meist nur über die eine Hälfte der Bedeutung des Gottesdienstes für die Dogmenbildung, nämlich die Homoousie des Sohnes mit dem Vater, ohne die die Anbetung Idolatrie würde. Das ist richtig. Nicht minder wichtig ist aber die Bedeutung der Einsicht in die Partizipation der Gläubigen in ihrem Gebet an der »menschlichen Natur« Christi, etwa bei Athanasius und bei Cyrill, vgl. Thomas F. Torrance, »The Mind of Christ in Worship, The Problem of Apollinarisanism in the Liturgy«, in Theology in Reconciliation (London 1975), 139-214, ein gelehrter, aber historisch auch verwundbarer Aufsatz; ich nenne ihn hier wegen der theologisch wichtigen und in partristischen Studien weithin vernachläßigten Grundtendenz.
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IIl. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
Vgl. in Geoffrey Wainwright, Doxology, The Praise of God in Worship, Doctrine and Life (New York 1980) die Kap. VII »Lex Orandi« und VIII »Lex Credendi« sowie seinen Aufsatz »Der Gottesdienst als >Locus Theologicus«< in KuD 4/1982, 248-258; auch Michael Plathow, »Geist und Gebet« in KuD 1/1983,47-65.
2. FORMEN DES GEBETES
Die Frage, ob man als Urgebet, als die eigentliche, primäre und für alle Formen des Gebets grundlegende Weise der Anrede an Gott die Anbetung, die Bitte oder den Dank bezeichnen solle, ist von allen sprach logischen und theologischen Gesichtspunkten her geurteilt ziemlich irrelevant. All diesen Formen des Gebets liegt die Anrede zugrunde. Die offene Frage ist vielmehr, ob nicht-verbale Gebete als echte Doxologie verstanden werden können - Gedanken und Meditationen, Musik und Gedichte, Gefühle und Visionen, auch die konzentrativen Vorsätze im autogenen Training. Klassische Theologie - vor allem im Protestantismus - hat diesen oft wortlosen Gebetsformen gegenüber große Skepsis geäußert. Die Gläubigen haben diesen theologischen Verbalrigorismus meist nicht verstanden. Vielleicht ist aber die These, daß ein Gebet in Worte gefaßt sein muß, doch berechtigt. Es würde sich in ihr die Einsicht widerspiegeln, daß Gottes Wirklichkeit in seiner Story mit den Menschen zu finden ist.
Die vielfältigen psychologischen und psycholinguistischen Forschungen zur Funktion von Bildern, Symbolen und vorsprachlichen Artikulationen sind von der Theologie noch nicht systematisch aufgearbeitet worden (vgl. I BI). Trotzdem hat die Kirche, besonders die katholische und die orthodoxe, einen reichen Erfahrungsschatz in der Anleitung zu Meditation und Gebet. Er müßte im Zusammenspiel mit neuen Einsichten der Psycholinguistik kritisch genutzt werden können. Protestantische Theologie und Kirche zeigen heute eine besondere Armut in den Fragen der praktischen Ausübung und des Erlernens des Betens. Das wachsende Interesse, das auch in protestantischen Kirchen alten und neuen Kommunitäten, auch Meditationskursen entgegengebracht wird, beweist, wieviel in den
E. Doxologie als Tradition und vorweggenommene Verifikation
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Ortsgemeinden mit ihren schulstundenhaften Gottesdiensten versäumt und von den Menschen vermißt wird. Gewiß wird dabei auch mit problematischen Formen der Vertiefung und Meditation experimentiert, aber eine hochmütige Ablehnung im voraus seitens der Theologen zeigt nur das Ausmaß der Vernachläßigung dieser wichtigen Dimension im Leben der Gläubigen (vgl. III F 3).
3. ZUR FRAGE VON TRADITIONALITÄT UND FLEXIBLILITÄT DOXOLOGISCHER SPRACHE
Alles Reden aus dem Glauben der Teilhaber an der Story von Abraham bis heute, sei es Reden zu Menschen oder doxologische Anrede an Gott, steht in der Spannung zwischen Traditionalität und Modernität. Ist die Rede der Gläubigen nicht mehr Teil der Tradition, so besteht die Gefahr der Verleugnung der Story der Väter und Mütter sowie des Verlusts von ökumenischer Breite. Ist jedoch ihr Reden nicht Ausdruck ihrer geistigen und sprachlichen Situation, erschöpft sie sich also in Wiederholungen früherer und heute nicht mehr gebräuchlicher Sprache, so gehen nicht nur Predigt und Lehre, sondern auch das Gebet der Gegenwart des Geistes Gottes verlustig. In beiden Extremfällen verkümmert die Doxologie, im ersten zur unökumenischen Privatisierung des Betens, im zweiten zur Anonymität unecht geliehener Sprache. Prinzipiell ist diese Spannung nicht auflösbar, weil sich in ihr das Problem von Glaube und Geschichte, bzw. die Struktur der weitergehenden Story widerspiegelt. Praktisch aber sind in der Gestaltung von regelmäßigen Gottesdiensten Kompromisse in der Kombination von traditionellen und modernen Elementen durchaus möglich. Auch der einzelne Gläubige wird im Verlauf seines Lebens lernen wollen, sowohl in der Sprache der Psalmen als auch in ganz modernen Formulierungen zu beten, sowohl jüdische wie christliche Gebete zu verwenden und sich auch in die Sprache der Gebete von anderen, ihm zunächst fremden christlichen Konfessionen vertiefen. Hier kann das tiefste Eindringen in die ökumenische Einheit der Kirche sowie der Juden und Christen erlernt werden.
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III. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
Die oft leidenschaftlich kritischen Urteile in den Kirchen über altväterlich-verkrustete bzw. über allzu gewagte moderne Sprache der Gebete, Liturgien (und auch Bibelübersetzungen) zeigen an, in welch hohem Maß die Sprache des Betens kühler intellektueller Prüfung entzogen ist. Die Urteile sind vorreflektiver Art und spiegeln Trennungsängste bzw. den Wunsch nach starker Solidarisierung mit modernen Mitmenschen wider. Unbeschadet der darunterliegenden theologischen Spannung zwischen Traditionalität und Flexibilität müssen die vorreflektiven Urteile auf der ihr entsprechenden Ebene behandelt werden. Das sprechendste Beispiel für dieses praktisch-kirchliche Dilemma ist die Entscheidung der römisch-katholischen Kirche, die Messe nicht mehr auf Lateinisch, sondern in der Umgangssprache zu lesen. Die Widerstände dagegen übertrafen oft noch bei weitem die Ablehnung protestantischer Kirchgänger gegen neue Bibelübersetzungen oder Neufassungen altvertrauter Gebete. Sie können ebensowenig mit theologischen Argumenten überwunden werden wie umgekehrt die heftigen Kritiken an traditioneller Sprache und herkömmlichen Liedern, die unter der jüngeren Generation weit verbreitet sind.
4. DIE ANTIZIPATION DER ALLMACHT GOTTES UND DER VOLLENDUNG DER WELTEN
Wenn die Gläubigen im doxologischen Reden Gott sagen, daß er ihr Gott sei, so sagen sie ihm dabei zugleich, wer er laut seinen Zusagen sein wird. Er wird in der Doxologie als der Herr der Welt und all ihrer Tatsachen (vgl. I C) gepriesen, wiewohl er das im Zeitmaßstab der heute betenden Gemeinde und der leidenden Menschen noch nicht ist. Die Hoffnung auf die Bewahrheitung der Aussagen aus der Perspektive der Gläubigen im Gottesdienst (vgl. I G) ist die theologische Entsprechung zur doxologischen Antizipation von Gottes endgültiger Offenbarung seiner Allmacht. Gottes Allmacht kann nicht als Feststellung über die Welt und all ihrer Tatsachen (in den Perspektiven, die unsere Welten konstituieren) behauptet werden. Sie ist Inhalt der doxologischen Anrede an Gott. Zahlreiche zentrale Stellen im Alten und Neuen Testament laden zur Logik dieser Einsicht ein:
E. Doxologie als Tradition und vorweggenommene Verifikation
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Gott wird Sieger sein; er wird seine Herrschaft und sein Recht aufrichten; wir werden erkennen, daß wir sein Volk sind; alle Knie werden sich beugen und bekennen, daß er der Herr ist. Die Allmacht Gottes, daß er alles in allem ist und sein Wille auch auf der Erde geschieht, ist gleichbedeutend mit der Transfiguration und Vollendung aller Welten (vgl. III A). Darum ist die Sprache, in der diese Vollendung antizipiert ist, die doxologische Sprache, ihrerseits eine transfigurierte Sprache. Sie hebt sich von deskriptiver Sprache und ihren Verifikationsmöglichkeiten so ab, wie Gerechtigkeit von Ungerechtigkeit, Liebe von Haß, Vollendung von Weltwirklichkeit. Wenn diese Bestimmung von doxologischer Sprache richtig ist, dann kann Doxologie nur das offene Ende, nicht aber der Anfang von Deskriptionen, Stories und theologischen Argumentationen sein (vgl. I E 5) . Jedenfalls kann derselbe Gedanke, der doxologisch ausgedrückt wurde, nicht der Anfang einer deskriptiven und argumentativen Gedankenkette sein, wie etwa in den illegitimen Deduktionen aus der »immanenten Trinitätslehre« (vgl. II B 1) in scholastischen und spekulativen Theologien. Auch wenn doxologische Rede deskriptive Elemente enthält - wie z. B. in vielen Psalmen - so erklärt sich dies daraus, daß die Gläubigen aus den Welten ihrer Weltwirklichkeit ihre Sprache entnehmen müssen, denn es gibt keine Himmels- oder ZukunJtssprache, die nicht aus Tradition und Gegenwart extrapoliert wäre.
Daß die auf Transfiguration gerichtete doxologische Sprache ihrerseits eine transfigurierte Sprache ist, bedeutet sprachphilosophisch nichts weniger, als daß sie stets dazu tendiert, ein autonomes Idiom zu werden, ein sich von anderen Bereichen abhebendes Sprachspiel. Das Eintreten in die doxologische Sprachebene bedeutet also eine Distanzierung aus den Bereichen der Sprache, die für allseitige Kommunikation im Prinzip offen sind. In krasser Form kann dies das Eintreten in esoterische, von jeder Verifikationsmöglichkeit abgehobene Sprache bedeuten. Dann wäre die an der Projektion zentraler Glaubensinhalte in die Sprache der Hoffnung angebrachte Kritik (vgl. III Al und C 2) zugleich eine Totalkritik an doxologischer Sprache, mindestens in ihrer antizipatorischen Funktion. Es ist ja in der Tat so, daß die Gläubigen aller Zeiten in doxologischer Sprache nicht nur askriptiv, sondern auch deskriptiv »von etwas« sprechen, wovon sie eigentlich nicht sprechen können.
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III. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
In Memory and Hope bin ich den Gefahren und den legitimen Möglichkeiten dieses »Sprachgewinns« nachgegangen, bes. S. 143-180. Metaphorisches Sprechen - nicht ohne bezug zur Erfahrung, aber weit darüber hinausgehend - ist in der Sicht der Gläubigen näher an Gottes Wirklichkeit als ein Labor-Report in seiner Offenheit für externe Verifikation an der von ihm beschriebenen Wirklichkeit. Darin liegt freilich ein sehr hoher Anspruch. Bei Gerhard Sauter, »Reden von Gott im Gebet«, in Bernhard Casper (Hg.), Gott nennen (Freiburg/München 1981),219-242 kommt sehr schön die Einsicht zur Sprache, daß der Betende seinen Willen in den Willen Gottes einfügt. Auch die große Bedeutung der Doxologie überhaupt wird deutlich, aber unklar bleibt die damit verbundene These, die Doxologie habe Priorität vor der Theologie. Ich kann hier mein ausführliches Schreiben an G. Sauter zu diesem Aufsatz nicht wiedergeben, meine aber, die Ebene, auf der die Behauptung möglich ist, Reden von Gott begänne mit dem Reden zu ihm, müßte noch klarer bestimmt werden. Obwohl freilich die Erkenntnis historischer Abläufe nicht automatisch eine theologische Einsicht vorzeichnet, ist es doch wichtig zu bedenken, daß sowohl im alten Israel das Erzählen der Story mit Jahwe als auch in der frühen Kirche die Nacherzählung Priorität vor der Doxologie hatten. Auch z. B. in Röm 11 krönt eine Doxologie (33-36) die lange, auf Nacherzählen und Reflektieren der Story Gottes mit Israel und mit den Heiden basierende theologische Argumentation des Paiilus.
5. DOXOLOGIE UND THEOLOGIE
Theologie ist von Doxologie ebenso verschieden wie vom Nacherzählen der Story. Theologie ist nicht identisch mit der Anbetung Gottes, mit doxologischer Anrede in Lob, Dank und Bitte, ebenso wenig wie sie aus dem Nacherzählen der Story oder der Detail-stories der Gläubigen besteht. Vielmehr reflektiert sie beides, das doxologische Reden zu Gott und das Nacherzählen für die Ohren der Mitmenschen; sie prüft beides mit Hilfe regulativer Sätze (vgl. I H) auf Verständlichkeit, Kohärenz, Flexibilität und letztlich auf Verbindlichkeit. Die Bezeichnungen »doxologische Theologie« bzw. »narrative Theologie« sind beide ganz irreführend. Diese indirekte und kritische Beziehung der Theologie zu den Grundfiguren der Story und der Doxologie schließt unmöglich den Gedanken ein, die Theologen könnten sich selbst vom »Drin-Stehen« in der Story und von der Teilnahme an der Doxologie dispensieren. Die Betonung dieser engen Bezie-
E. Doxologie als Tradition und vorweggenommene Verifikation
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hung zwischen Prüfen und Bekennen, Denken und Beten ist der Grund für die mißverständliche Behauptung mancher Autoren, Theologie sei mit Nacherzählung bzw. mit Doxologie identisch. Es ist aber richtig, daß doxologische Sätze, die aus dem »Drin-Stehen« in der Story und aus der Erfahrung der Gegenwart Gottes erwachsen, insofern Teil der Theologie und ihrer Aussagen werden, als sie das offene Ende aller Credos (vgl. I F 1) und der an sie anknüpfenden Gedankenketten aufzeigen. In diesem Sinn hat die Theologie aufbreiter Front einen »doxologischen Rand«, eine offene Flanke, indem ihre in Rückschlüssen gewonnenen Endergebnisse (z. B. die Trinitätslehre, vgl. II B) auf doxologische Sprache hindrängen, in der offene theologische Aussagen - metaphorisch gesprochen - Gott zum Geschenk dargebracht werden. Der »doxologische Rand« der Theologie soll nicht als W esens- oder Funktionsbestimmung der Theologie verstanden sein, vielmehr als Markierung ihrer Grenzen. Wenn das Bild sinnvoll ist, so könnte man sagen, daß die Wurzeln der Theologie in der Story Israels und der Kirche ruhen, die Enden ihrer Äste und die Früchte auf die Doxologie hin ausgerichtet sind. Oder anders noch: die Credos der Gläubigen wurzeln in der Geschichte und münden in doxologische Öffnung auf Gott hin, die Theologie überprüft diesen Weg, ohne mit ihm identisch zu sein. Wenn Gedanken in Aussageketten mit deutlich markiertem Unterschied zwischen Anfang und Ende auftreten, so steht bei den Gedanken der Gläubigen die Doxologie am offenen Ende, nicht am Anfang. Die Umkehrung dieser Reihenfolge führt zur Scholastik, wie man dreimal in der Geschichte christlicher Theologie deutlich beobachten kann: in der nachkonziliaren Patristik, in der westlichen mittelalterlichen Theologie und dann in der nachreformatorischen Orthodoxie. Vgl. dazu meine Überlegung in »The Difference Between Doxology and Metaphysics«, in Memory and Hope, 166-176; sowie Konzepte I, 78-101. Die Umkehrung der legitimen Reihenfolge ist freilich nicht nur in den genannten, klassischen Epochen zu beobachten. Wenn Karl Barth sowie auch Jürgen Moltmann (Trinität und Reich Gottes, München 1980) aus der trinitarischen Struktur Gottes Grundstrukturen des menschlichen Dialogs und Personseins (Karl Barth) oder Stufen der Befreiung der Menschen (Jürgen Moltmann) ableiten, so gehen sie ebenso vor. Trotzdem mag man sich hier nicht in vorschneller Kritik äußern, denn bei beiden Autoren liegt der gewiß berechtigte
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IIl. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
Wunsch vor, mit der Trinitätslehre nun wirklich theologisch zu operieren. Vgl. meine Diskussion »Die vier Reiche der >drei göttlichen Subjekte<, Bemerkungen zu Jürgen Moltmanns Trinitätslehre" ,in EvTh 5/1981, 463-471. Zum »Drin-Stehen« (wie ich es salopp nannte) des Theologen in Story und Doxologie möchte ich zwei Erfahrungen nennen. Im Unterschied zu der unbegreiflichen und auch unerträglichen Trennung zwischen Theologie und Gottesdienst, in der wir unsere Theologiestudenten in den deutschsprachigen Universitäten ausbilden, haben wir in Amerika - jedenfalls an den vier Fakultäten, an denen ich unterrichtet habe - akademische Lehre und regelmäßige Gottesdienste zu verbinden gesucht. Alle Dozenten, einschließlich dem Bibliothekar, und mindestens die älteren Studenten wechseln sich im Abhalten der täglichen, kurzen Gottesdienste ab. Ich kann aber nicht verhehlen, daß die Andachten oft zu einer Routine wurden, die man zuzeiten gerne mit einer säkularen Universität vertauscht hätte, weil im Gottesdienst Positionen vorweggenommen wurden, die theologisch noch nicht erarbeitet waren. Und die zweite Erfahrung: an der United Theological Faculty in Melbourne, wo ich öfter ein Gastsemester verbringen kann, treffen sich Studenten und Dozenten aller Konfessionen (zusätzlich zu ihren eigenen Andachten) zu gemeinsamen interkonfessionellen Gottesdiensten, in denen jeweils die protestantische, die anglikanische oder die katholische Gottesdienstordnung bestimmend ist. In dieser Fakultät wird die akademische Theologie gemeinsam betrieben, die Gottesdienste sind Merkmal konfessioneller Identität aber mit vollem »Gastrecht« für alle konfessionsfremden Teilnehmer. Dadurch wird das doxologische Sprechen zur einer Antizipation einer noch nicht verwirklichten Einheit der Kirchen und darin zu einem echten Stimulus theologischer Arbeit. Im Vergleich dazu die theologische Situation an der Universität Mainz, wo ich 13 Jahre lang tätig war: im selben Gebäude kontaktlos und gottesdienstlos die evangelische und die katholische Fakultät, zwei Bibliotheken, alle Lehrstühle je zweimal besetzt, alle Vorlesungen und Seminare doppelt und völlig getrennt gehalten - ein Hohn auf die Einheit der Kirche und ein berechtigter Anlaß zur Skepsis der Universität, ob solche separatistischen Theologien eigentlich als Wissenschaften zu vertreten seien.
Zu III D und E: Wenn die Gläubigen die beiden Grundhaltungen, die therapeutische und die doxologische, für ihr Leben bestimmend sein lassen, so ist ihr Leben eine Auslegung des Doppelgebotes der Liebe (Mt 22,37-40.)
F. Theologie als Weisheit (zu I Fund H)
VORÜBERLEGUNG
In I H 1 habe ich drei Grundtypen von Theologie unterschieden und mich vom ersten, der direkten Übernahme biblischer und traditioneller Sätze auf die heutige Situation hin, distanziert. Der zweite Typus, die wissenschaftliche Reflexion auf Verifikation hin, habe ich als vorsichtig verwendete Stütze des dritten Typus, der theologischen Reflexion auf Weisheit hin, zulassen wollen. Es geht nun um den dritten Typus, Theologie als Weisheit. Weisheit ist durchaus auch akkumulierte menschliche Erfahrungs- und Erkenntnisweisheit. Sie ist aber letztlich - die Gläubigen sagen mit Recht: erstlich - Gottes eigene Weisheit, Gottes Lebensweisheit. Wir sprechen ja nicht nur über Gott in metaphorischer Rede, sondern auch von der »condition humaine«, denn es ist j a nicht so, daß das eine unbekannt und das andere bekannt wäre. Metaphorisch können wir also sowohl von »Gottes Lebensweisheit« sprechen als auch davon, daß es uns im Leben darum geht, daß »das Leben gelingen soll«. Die Verknüpfung von Gottes Weisheit mit unserer Torheit, oder krasser: das Eingehen Gottes in die Torheit der Predigt (1Kor 1) zur Relativierung der »Weisheit der Weisen«, ist das Thema theologischer Weisheit. Wie immer man die Gewichte setzen will, das Entscheidende an der Arbeit der Theologen ist gewiß nicht die Anerkennung durch die Wissenschaften in der Universität, noch auch der Erfolg in modischer Akkomodation an Kulturgeist und Zeitgeschmack. Entscheidend ist die Offenheit für den Geist Gottes. Theologie als Weisheit erlaubt die Lösung vom ängstlichen und konkurrenzbewußten Verharren in der Wissenschaftlichkeit; sie respektiert zwar die Reflexionskraft des professionellen Akademikers, lebt aber in der Freiheit einer »zweiten Naivität«, nicht der unschuldig-vorkritischen, sondern der verantwortlich nachkritischen Naivität. (Ähnliches meinte Gabriel Marcel wohl, wenn er von »reflexion seconde« sprach).
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I/l. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
1. IRENISCHE THEOLOGIE
Die» Therapeutische« (I/I D) und die »doxologische Grundhaltung« (I/I E) der Gläubigen ist zwar ein Thema, das immer neu kritisch-theologisch bearbeitet werden muß, das aber nicht im Status eines Themas verbleiben darf, ohne zugleich persönliches Kennzeichen der Theologen und der von ihnen betriebenen Arbeit zu sein. Wir brauchen dringend einen neuen Stil theologischer Arbeit. Polemische Theologie und Verharren auf Positionen haben abgewirtschaftet. Wir müssen lernen, kritisch und zugleich zärtlich miteinander umzugehen, wenn wir gegenüber den Gläubigen und anderen Mitmenschen eine sinnvolle, aufbauende Funktion wahrnehmen wollen. Nur eine irenische Theologie hat in der Ökumene eine Zukunft. Es ist Aufgabe der Gläubigen, und unter ihnen besonders der Theologen selber, einen neuen Stil theologischer Arbeit zu finden. Dabei ist das oberste Kriterium nicht die Effektivität und Überzeugungskraft, sondern die therapeutische Grundhaltung gegenüber allen, die am theologischen Diskurs teilnehmen oder Lehr- und Predigtstunden besuchen und unsere geschriebenen Texte lesen, sowie auch die doxologische Grundhaltung, die all unsere Gedanken und Argumente unter der Testfrage prüft, ob sie nicht nur Menschen nützen, sondern auch Gott als Geschenk übereignet werden könnten. Die Anhäufung und Ausbreitung von eitlem Wissen, die Überfülle von Worten und Wiederholungen eigener sowie fremder Gedanken, die rhetorische Stützung unbegründeter Sätze in vielen theologischen Schriften und Vorträgen sind nur äußere Zeichen für eine selbstbezogene und lieblose Einstellung vieler professioneller Theologen gegenüber ihren Lesern und Hörern. Schwerer noch wiegt in der Verachtung der therapeutischen Funktion der Gläubigen die für uns Theologen seit Jahrhunderten typische Polemik im Diskurs. Von ganz wenigen Ausnahmesituationen in wirklichen Krisenzeiten abgesehen, sind die theologischen Rechtfertigungen der polemischen und positionellen Arbeitsweise in der Theologie nicht stichhaltig und, psychologisch beurteilt, nicht glaubwürdig.
F. Theologie als Weisheit
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Wir in der westlichen Welt sind von Kindheit an zu alternativem und positionellem Denken erzogen worden. So haben sich auch nur die Wissenschaften und die Technik entwickeln können, das soll nicht bezweifelt oder bagatellisiert werden. Es gibt auch einen echten und ethisch verantwortlichen Wettlauf mit dem Denken anderer und damit eine Bestrebung zum Beharren auf der Abgrenzung der eigenen Position. In der Theologie bestehen aber sehr selten wirkliche Gründe für harte Abgrenzungen. Meist ist das positionelle, polemische Denken psychologisch und nicht inhaltlich-theologisch bestimmt. Ich habe wohl noch nie einen konfessionell engen oder stark schulmäßig gebundenen, streitbaren Theologen getroffen, bei dem mir nicht letztlich eine persönliche Unsicherheit und fehlende Souveränität als bestimmend aufgefallen wäre. Diese Merkmale der Persönlichkeit machen freilich nicht automatisch die vertretene Meinung ungültig, sie reduzieren aber doch sehr stark ihre Attraktivität und Autorität. Viele militante Kontroversen in der neueren Theologiegeschichte sind im Grunde blamabel und hätten ohne Polemik und persönliche Beleidigungen und Unterstellungen den wirklichen Erkenntniswert der vertretenen Positionen viel besser herausgestellt. In den Streitigkeiten zwischen liberalen und orthodoxen Theologen vor dem Ersten Weltkrieg ist ein hämisch-rechthaberischer Diskussionsstil entwickelt worden, der auch noch die zwanziger Jahre bestimmte, bis dann im Kirchenkampf aus wirklich gegebenen Gründen die Polemik im Nachhinein sozusagen legitimiert wurde. Die ältere Generation hat noch bis in unsere Zeit hinein nicht selten den Kirchenkampf auch da gemeint weiterführen zu müssen, wo er gar nicht bestand. Mit diesen Überlegungen will ich nicht bestreiten, daß es im »status confessionis« echte Kampfsituationen gibt, in denen das Irenische zurückgestellt werden muß. Diese Situationen sind aber ausnahmslos Produkte früherer Entscheidungen und Versäumnisse auch auf seiten derer, die jetzt den status confessionis reklamieren. Das kann man am Kirchenkampf in Deutschland in den dreißiger Jahren und seiner Vorgeschichte genauso nachweisen wie am Beispiel der Bürgerrechtsbewegung in den USA in den fünfziger und sechziger Jahren, als wir dort nicht nur politisch-ethisch, sondern auch theologisch den status confessionis als gegeben sahen. Heute ist in bezug auf die Rüstung mit ABC-Waffen noch solange kein innerkirchlicher status confessionis gegeben, als es noch keine (nennenswert starke) Kirche oder Teilkirche gibt, die atomare Vernichtung befürwortet; noch kann man miteinander reden. Eher schon bahnt sich das neue Phänomen eines »außerkirchlichen status confessionis« an. Zu dieser sehr umstrittenen Frage habe ich Stellung genommen in »Ethische Entscheidungen im Hinblick auf Massenvernichtungsmittel«, in Atomwaffen und Gewissen, hgg. von C. Küper u. F. Rieger (Herderbücherei Bd. 1043, Freiburg 1983), 73-80. Kumulatives statt alternatives Argumentieren, komplementäres statt konkurrierendes Denken, solidarisches statt individualistisches Bekennen und Lehren, das schienen mir ideale Formen theologischen Arbeitens zu sein. Ich habe diesen »neuen Stil« theologischer Arbeit auch schon real erlebt in verschiedenen, über Jahre bestehenden Arbeitsgemeinschaften. Ich gebe ihm für die Zukunft mehr Chancen als der privatistischen oder solistischen Arbeitsweise der klassischen Professoren.
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IIl. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
2. KLÄRUNG, VERSTÄNDIGUNG UND BERATUNG
Das Vorbild für den Theologen der Zukunft ist der Weise. Seine Züge sind zum Teil im klassischen Rabbiner erkennbar. Der Weise übt sich ständig in der Kunst des Verstehens der Bibel und der Menschen. Er drängt sich nicht auf und will andere nicht überwältigen mit dem, was er zu erkennen meint. Es geht ihm um Klärung und Verständigung. Er will mehr katalytisch als überredend wirken, weil er dem Geist Gottes mehr zutraut als dem menschlichen Erkenntnisvermögen. Er unterscheidet sich aber vom Einsiedler durch die Leidenschaft seiner Teilnahme am sozialen Leben seiner Zeit. Dabei wird er auch schuldig und wird für viele als unweise erscheinen. Theologen können auch prophetische und priesterliche Funktionen wahrnehmen, aber konstitutiv sind diese Funktionen nicht. Das Prophetische kann nicht erlernt und gewollt werden, das Priesterliche hingegen durchaus.
Freilich soll kein Theologe daran gehindert werden, prophetisch zu wirken, wenn er wirklich dazu legitimiert ist. Durch eigenes Vorhaben oder durch Selbsternennung wird man gewiß kein Prophet. Hingegen kann man sich vornehmen, ein priesterliches Leben zu führen, d. h. von den Mitmenschen her zu Gott und von ihm her zu ihnen zu sprechen. Aber auch das ist keine Forderung für alle Theologen. Konstitutiv für sie ist, zugespitzt gesagt, die Kenntnis der Bibel und die Kenntnis der Menschen, und das heißt konkret: die ständige Bemühung um die Klärung von Sachverhalten (biblischen, historischen und gegenwärtigen), um die Maximierung von Kommunikation zwischen Menschen (gläubigen und anderen) und um die Beratung derer, die um Rat fragen (geistlichen und säkularen). Das aber sind die Eigenschaften des Weisen, es sind die in der biblischen Weisheitsliteratur beschriebenen Tugenden. Vom philosophischen Einzelgänger oder vom Psychotherapeuten alten Typs (der nach ethischer Neutralität strebte) unterscheidet sich wohl der hier beschriebene Theologe durch die Unmöglichkeit, sich abseits von Spannungen, Kontroversen und von menschlicher Not und Gefahr zu halten. Immer wieder muß er seine abwartende, auf katalytische und sokratische Wirkung zielende Haltung verlassen und sich profilierten Meinungen zu Politik, Moral und Erziehung anschließen oder sie gar selber entwerfen. Unvermeidlich erschreckt und verletzt er damit Menschen, für die er bereits eine bestimmte
F. Theologie als Weisheit
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Verantwortung übernommen hatte oder die berechtigte Erwartungen an ihn stellen. Letztlich ist er stets auf die vergebende und verständnisvolle Erlaubnis seiner Mitmenschen angewiesen, nach krasser Meinungsäußerung wieder zur klärenden, verstehenden und beratenden Haltung des Weisen zurückkehren zu dürfen.
3. EINDRINGEN IN UNBEKANNTESZUM PROBLEM DER MEDITATION
Den Gläubigen unserer Zeit, den Teilhabern an der Story von Abraham bis heute, sind eine Fülle von Praktiken aus der jüdischen und christlichen Tradition der Jahrtausende verloren gegangen, die es kritisch zu sichten und vielleicht wiederzugewinnen gilt. Die intellektuelle Kritik der Theologie an der Mystik und an Meditationspraktiken mag viel Abstruses abgewehrt haben, sie hat aber auch den Zugang zum Reichtum der Frömmigkeitspraxis erschwert. Wenn das trinitarische Verständnis von Gott auf das Weitergehen der Geschichte Gottes mit sich selbst und mit den Menschen weist (vgl. II BI u. 2 und III E), so muß es auch für möglich gehalten werden, daß die Gläubigen in ihren diakonisch-therapeutischen Aktivitäten und in ihren Gebeten zu Einsichten gelangen, die bisher noch niemand hatte. Dazu mögen durchaus neue Formen der Meditation, des Verständnisses der Beziehung der Psyche zum Körper und überhaupt der Medizin und Therapie gehören. Mit den Überlegungen, die hinter dieser These stehen, möchte ich einbreiteres Feld möglicher neuer Entdeckungen benennen als in 111 E 2, wo vor allem vom Gebet und den Möglichkeiten erweiterter Gebetsformen die Rede war. Es geht überhaupt um die Entdeckung neuer menschlicher Dimensionen, Fähigkeiten und Aufgaben. Wenn es auch einerseits wahr ist, daß das menschliche Nervensystem seit der Entwicklung dörflicher und städtischer Kultur weit überfordert ist (vgl. IA 3,11 D 3) und sich das Böse und das Leiden weitgehend von daher erklären lassen, so ist es andererseits ebenso wahr, daß die Möglichkeiten des menschlichen Gehirns und vor allem die Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens und -arbeitens auch
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III. Die Bewährung: Der Weg zur Ethik und Doxologie
noch nicht annähernd ausgeschöpft sind. Für Medizin und Psychologie, für die Handlungswissenschaften und auch für die Kunst, liegen gewiß die größeren Territorien noch unerforscht vor uns. Die Theologie würde ihr eigenes Herzstück, die Rede von der Erwählung Israels und der Menschheit, mit allem, was daraus folgt, nicht mehr ernst nehmen, wäre sie nicht an diesen Möglichkeiten brennend interessiert. Einer spektakulären Zukunftsforschung soll hier nicht das Wort geredet werden. Ob wir mit genetischer Manipulation Sonder-oder identische Massenmenschen herstellen können, ist ein für die nächste Zukunft ohnehin unwirkliches Problem, vor dem immer noch rechtzeitig gewarnt werden kann und wird. Vielmehr geht es um schon greifbar nahe medizinische und therapeutische Möglichkeiten der Steigerung der Effizienz menschlicher Eigenschaften, der Minimierung von Aggression, der Verbesserung von Kommunikation und von Wissensaneignung, -speicherung und -verbreitung, der meditativen und konzentrativen Erhöhung der Gedächtnisleistung, der zwischenmenschlichen Kontakte in Ehe, Familie, Beruf und Gesellschaft. Es wäre unverantwortlich, wollte man auch in der Dimension der Frömmigkeit und der Gestaltung des Lebens der Gläubigen diese Möglichkeiten von vornherein als pelagianische Leistungssteigerung ablehnen.
4. OFFENHEIT FÜR DEN GEIST
Anders als in der Philosophie ist in der Theologie sowie in der Praxis der Gläubigen dadurch alles offen und vorläufig, daß nicht nur dem menschlichen, sondern dem göttlichen Geist Neues zugetraut wird. Dadurch ist die Theologie einerseits progressiver und unfertiger als andere Bereiche menschlichen Erkennens und Denkens; andererseits ist sie durch das Vertrauen auf die Verläßlichkeit der Verheißungen des Gottes Israel darin konservativer als andere, als sie vom Neuen, das der Geist bringt, niemals eine Selbstverneinung Gottes erwarten kann. Diese Spannung charakterisiert auch die Probleme, die für die Gläubigen durch das erneute Auftreten starker charismatischer Bewegungen - teilweise aus außerbiblischen, östlichen Quellen schöpfend - entstanden sind. Die Bindung der Gläubigen an die Story, letztlich an die Erwählung Israels und der Kirche, erweist sich heute mit besonderer Intensität als das kardinale
F. Theologie als Weisheit
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theologische Problem. Wenn der Geist Gottes außerhalb dieser Story, die die Erwählung widerspiegelt und erzählbar macht, Neues bringt, welchen normativen Wert hat dann diese Story? Mit dieser Frage ist die zentrale These dieses Buches, die Erwählung Israels und der Kirche sei der wichtigste und ursprünglichste theologische Gedanke überhaupt, erneut thematisiert. Das wirklich Neue, das wir von Gott erwarten können und müssen, soll seine Geschichte mit uns wirklich weitergehen, sehe ich nur zu einem kleinen Teil in den heutigen charismatischen Bewegungen repräsentiert. Freilich wird man vorsichtig unterscheiden wollen zwischen krassen pfingstlichen Gruppen, die in Zungen reden und sich gerne von anderen Gruppen in den Kirchen absetzen, und wirklich echten charismatischen Erneuerungen. Oft beginnen diese Erneuerungsbewegungen im überstarken Protest gegen die Verkrustungen der traditionellen Kirchen und zeigen ihren wahren Beitrag erst in späteren Entwicklungsphasen. Mir sind in Amerika, besonders aber in Australien und Neuseeland, nur allzu viele Gemeinden bekannt geworden, die durch charismatische Bewegungen tief gespalten waren, als daß ich mich von einer sehr vorsichtigen Haltung leicht abbringen ließe. Besonders auffällig war mir die über die Kontinente hinweg stereotype Sprache und Idealbildung der Charismatiker. Wer wirklich das Neue kennt, was von Gott kommt, strebt nicht nach stereotyper Rede- und Verhaltensweise. Ich glaube, daß wir viel mehr wirklich Neues aus den Kirchen der Dritten Welt erfahren und erlernen können als aus der oft etwas zwanghaften und an die Religiosität der Bekehrungstheologien des 19. Jahrhunderts erinnernden Ausdrucksformen heutiger charismatischer Bewegungen. Viel eher sollten wir mit neugieriger Offenheit in die Kirchen Asiens und vor allem Afrikas blicken.
Schlußbemerkung: Über Theologie im akademischen Betrieb
Die Dreiteilung dieses Buches entspricht einer allgemeinen und auch theologischen Methode des Vorgehens von der Sichtung des Gegenstandsfeldes zur theoretischen Erörterung der Probleme hin zur Bewährung im Denken und Handeln, in Grundhaltung und Offenheit für Neues. In der Darstellung des dritten Teiles ist deutlich geworden, wie stark auch die Beschreibung der Bewährung wieder eine erneute Sichtung des Gegenstandsfeldes nötig macht. Das liegt in der Natur der Beziehung von Theorie und Praxis. In diesem Buch kamen drei wesentliche Dimensionen theologischer Arbeit nur skizzenhaft am Rand vor, damit wenigstens ihr Ort angezeigt wäre: biblische Exegese, Historie und philosophische Überprüfung. Bei der beabsichtigten Kürze und der Thesenform und Darstellung war das von Anfang an so geplant. Die erhofften Kritiken der Thesen und der angewandten Methode durch Kollegen und Studenten sollen in einigen Jahren zum Beginn der Ausarbeitung einer dreiteiligen Theologie führen, bei der die drei fehlenden Dimensionen nicht mehr an den Rand gedrängt sein werden. Aber schon jetzt soll die Frage nach der möglichen Einwirkung der hier angewandten Methode auf den akademischen Lehrbetrieb in der Theologie wenigstens kurz und provokativ aufgeworfen werden. Ich schreibe die folgenden Überlegungen in die Annahme ,daß es den erfahreneren unter den Lesern dieses Buches in vieler Hinsicht nicht anders ergeht als mir: wir haben uns mit dem aus der Spätantike ererbten System des Theologiestudiums, das einer lebenslangen Berufstätigkeit vorausgeht, abgefunden, ohne von seiner Richtigkeit voll überzeugt zu sein. Wir halten viel von dem, was die Amerikaner »continuing education« nennen, aber wir wissen, wie teuer das ist und wie wenig bislang damit Wissensstand, Flexibilität und Kreativität der beruflich tätigen Theologen gefördert worden ist. Wir alle wissen, wie stark veraltet schon sehr bald das Rüstzeug der Pfarrer und Lehrer sein kann, die wir noch vor zwei und drei Jahrzehnten selbst unterrichtet hatten. Es tröstet uns nur wenig, daß die Situation bei Ärzten nicht viel und bei Juristen und Lehrern gar nicht anders ist. Wir wissen also, daß das Problem der Beziehung von Theorie und Praxis in der Ausbildung der
Schlußbemerkung: Über Theologie im akademischen Betrieb
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Theologen keineswegs gelöst ist. Sei es, daß die Lebenserwartung heute viel größer ist als im Mittelalter, sei es, daß die autoritären Strukturen von früher fast gänzlich erledigt sind, sei es auch, daß die Theologie und die mit ihr verknüpften Wissenschaften schneller als früher zu neuen Erkenntnissen kommen und die Quantität dessen, was es zu lernen gilt, will man sich einen studierten Theologen nennen, ungleich größer ist als im letzten J ahrhundert und davor - das Phänomen eines vier- oder fünfjährigen Theologiestudiums ist zutiefst unbefriedigend. Von ganz wenigen, überdurchschnittlich interessierten und bereits von der Schule her gut ausgerüsteten Studenten abgesehen, fehlen in jedem Theologiestudium entscheidende Komponenten: Exegese oder Historie, Philosophie und Psychologie, politische Bildung und Kunst, Logik und Allgemeinbildung, Kenntnis anderer Religionen, Konfessionen und Länder ... Ich komme von dem Gedanken nicht los, daß wir uns mit dem Stückwerk, das wir betreiben und verlangen, an unsern jungen Theologen schuldig machen. Nicht besser steht es mit der Vorbereitung der zukünftigen akademischen Lehrer. Wer uns Ältere einholen will in Kenntnis an Literatur, in der Erfahrung der Betreuung und Bewertung von hunderten von Seminararbeiten und vielen Dissertationen über alle möglichen Themen, der begibt sich heute in ein menschenunwürdiges Rennen und ein unethisches Konkurrieren und verstärkt dadurch gerade diejenigen Anteile an der euroamerikanischen akademischen Tradition, die entbehrlich und problematisch sind. Viele unserer zukünftigen akademischen Lehrer der Theologie haben darum auch nie Zeit gefunden, Pfarrer zu sein. Ich möchte nichts Kränkendes sagen, aber ich traue letztlich keinem theologischen Lehrer - außer vielleicht einem Fachmann in Exegese und Historie -, der nicht lange Pfarrer gewesen ist, Alte und Kranke besucht hat, Kinder und Jugendliche beerdigen und sich jeden Sonntag, auch wenn ihm nichts Neues einfiel, vor der Gemeinde hören lassen mußte. Und schließlich nehme ich auch an, mit den Lesern dieses Buches die Unbefriedigung über die traditionelle Fächertrennung in der Theologie zu teilen. Die Geschichte dieser Aufteilung ist wohlbekannt. Sie hat sich im späten 19. Jahrhundert verhärtet und hat bis in die Struktur der theologischen Colleges in der Dritten Welt und in kleine Missionsfakultäten hinein ihre Auswirkungen gezeigt. Besonders problematisch ist die Abtrennung der sogenannten praktischen Theologie von den drei klassischen Disziplinen,
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Schlußbemerkung: Über Theologie (m akademischen Betrieb
der biblisch-exegetischen, der historischen und der systematischen Theologie. Sie hat den schlimmen Irrtum anscheinend bestätigt, der früher nur bei den pragmatischen Angelsachsen, heute aber überall en vogue ist, die eigentliche Theologie sei ein Reservoir theoretischen Wissens, das es zum Teil zu erlernen, vor allem aber in die Praxis »umzusetzen« gälte. Schleiermachers interessante Dreiteilung der Theologie in Philosophische, Historische und Praktische Theologie (vgl. seine Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 1811) ist zwar viel bewundert und diskutiert worden, hat aber auf die Struktur unserer Fakultäten keinen Einfluß gehabt. Ganz entgegen seinem Vorschlag ist die praktische Theologie aus dem Bereich der streng akademischen Theologie ausgeklammert worden. Die philologisch-historischen Disziplinen haben sich durch das starke Anwachsen von Material und unvermeidlichen Nebenfächern in Altes und Neues Testament, Kirchen- und Dogmengeschichte, und die systematische Theologie in Dogmatik und Ehtik aufgespaltet . Durch den übergroßen Einfluß der historischen Arbeitsweise ist die systematische Theologie im Lehrbetrieb und darum in der Vorstellung der Studenten weithin zu einer Verlängerung der Theologiegeschichte geworden: Man lernt Positionen anderer auswendig, statt eigene Gedanken argumentativ zu entfalten. Noch unglücklicher als die Aufteilung der Disziplinen ist die Abtrennung theologischer Fakultäten und Abteilungen nach Konfessionen sowie das völlige Ausbleiben des Kontaktes mit jüdischen Theologen, sieht man von erfreulichen Ausnahmen in den USA ab. Verknüpfe ich meine Erfahrungen mit theologischen Ausbildungsstätten in mehreren Ländern mit der in diesem Buch angewendeten Methode, so komme ich zu zwei Gruppen von Vorschlägen, die ich wie folgt skizzieren möchte: 1. Solange die Theologie noch in den Universitäten gelehrt werden kann (was bekanntlich in staatlichen Universitäten in den USA und in Australien, in Lateinamerika und in allen sozialistischen Ländern - von der DDR abgesehen - nicht möglich ist), sollten die verschiedenen Fakultäten der Universität für die Ausbildung der Theologen viel intensiver genützt werden. Bestimmte Leistungsnachweise aus nicht-theologischen Fächern sollten von jedem Theologen verlangt werden.
Schluß bemerkung: Über Theologie im akademischen Betrieb
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2. Wo aus historischen Gründen der Anachronismus von zwei christlichen theologischen Fakultäten an einer Universität immer noch besteht, sollten Leistungsnachweise der Studierenden paritätisch aus beiden Fakultäten gelten. Wenn der geldgebende Staat Lehrstühle einsparen will, sollten zunächst die exegetischen und historischen Abteilungen der beiden Fakultäten zusammengelegt werden. 3. Die Aufteilung der Disziplinen könnte im Hinblick auf die Designation der Lehrstühle sowie den Studiengang der Studenten dreiteilig sein: - Beschreibende Theologie, Analyse und Beschreibung der Felder, in denen theologische Gedanken, Positionen und Probleme beheimatet waren und noch sind. Hier treffen sich philosophisch-phänomenologische, soziologische und historische Arbeitsmethoden. Eine Unterteilung dieses Gebietes in »exegetisch-historische« und in »philosophisch-soziologische« Fachgebiete ist durchaus denkbar. - Theoretische Theologie, Prüfung der Gründe für die Bekenntnisse von Juden und Christen, Argumentationsgänge über die Wahrheit dieser Credos, Überprüfung der Berührungen mit den verschiedenen Wissenschaften. Hier treffen sich philosophisch-theologische mit exegetischtheologischen Arbeitsmethoden. Eine Unterteilung in verschiedene Fachgebiete erscheint mir nicht als sinnvoll. (Die hermeneutisch orientierte Theologie sprach hier von Fundamentaltheologie, die analytisch orientierte hat noch keine spezifische Bezeichnung bevorzugt). - Handlungsorientierte Theologie, Prüfung der Möglichkeiten für den Dialog mit den Handlungswissenschaften, mit Ethik und Politologie, mit den therapeutischen Wissenschaften und mit Pädagogik, mit Futurologie und den Kommunikationswissenschaften, mit Ökumenik und Religionswissenschaft. Eine Unterteilung in Fachgebiete einzelner Spezialisten ist hier unumgänglich, aber das Gesamtgebiet ist nicht mehr identisch mit der bisherigen sogenannten Praktischen Theologie. Ihre klassischen Themen (Homiletik, Pädagogik und Seelsorge) wären nun über die drei Gebiete der Theologie mehr oder minder gleichmäßig verteilt bzw. ganz aus dem Universitätsstudium der Theologen in spätere Kurse verlagert. Auch im Hinblick auf das Studium selbst ergeben sich aus dem Gesagten einige Vorschläge:
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Schlußbemerkung: Über Theologie im akademischen Betrieb
1. Man muß den Mut haben, zwischen der Ausbildung von Pfarrern/Priestern und Gymnasiallehrern einerseits und zukünftigen theologischen Doktoranden und akademischen Lehrern andrerseits noch stärker als bisher zu unterscheiden. 2. Für das normale Studium müßten vier Jahre ausreichen, wenn während der ganzen Zeit sowohl Hebräisch und Griechisch als auch Philosophie und Psychologie gelehrt und geübt würden im stetigen Zusammenhang mit den exegetischen und theologischen Arbeiten. (Einmalige Sprachund Philosophieprüfungen sollten als lernpsychologisch veraltete Einrichtungen entfallen). Ernsthafte Lateinkenntnisse sollten nur von Promovenden verlangt werden. 3. Die sogenannte Ausbildungsphase (Vikariatszeit) sollte nach einer einleitenden Basisorientierung von einem knappen Jahr über ca. 15 Berufsjahre hin in der Form von jährlichen Kursen von einem Monat verteilt werden. In diesen Kursen sollte nicht nur die bislang sogenannte Praktische Theologie gelehrt werden. Zur Aufrechterhaltung ihrer Lizenz bzw. Fakultas sollten diese Kurse sowohl von Pfarrern wie vom Gymnasiallehrern im Fach Religion/Theologie verlangt werden. 4. Ein bestimmter Anteil der Praktika in den Gemeinden sowie der jährlichen Weiterbildungskurse sollten in Einrichtungen der jeweils anderen Konfession absolviert werden. (Ich strenge bereits jetzt im »Deutschen Ökumenischen Studienausschuß« (DÖSTA), und in der »Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen« (ACK) eine solche Initiative zum interkonfessionellen Austausch der Vikare an). 5. Promovenden sollten über das normale Studium hinaus eine ganz ihren Interessen und Begabungen entsprechende akademische Schulungsund Forschungstätigkeit ausüben, die auch obligatorische Praktika in Kirche und Schule, Krankenhaus und Heimen und vor allem auch Aufenthalte im Ausland einschließt. 6. Promovenden aus Kirchen der Dritten Welt (die im Vergleich zu Frankreich und englisch-sprachigen Ländern bei uns bedenklich unterrepräsentiert sind) sollten nicht alle Hürden unserer Examina nehmen müssen, sondern eigens für sie entworfene Prüfungen absolvieren, die ihnen die wissenschaftliche Vertiefung in ihrem Spezialgebiet auf dem von unsern Doktoranden erwarteten Niveau erlaubt.
Schlußbemerkung: Über Theologie im akademischen Betrieb
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Bei allen diesen und ähnlichen Überlegungen sollte nicht übersehen werden, daß manche Gruppen von Juden und manche Kirchen schon über lange Generationen ohne geregelte Theologenausbildung existieren konnten. Die Theologie ist für das Bestehen des biblisch begründeten Glaubens letztlich nicht notwendig. Sie ist nur um der Kompliziertheit unserer Geschichte willen praktisch unverzichtbar.
Sachregister (Erstellt von Ulrike Link-Wieczorek)
Aberglauben 42,50,318 Ableitung ---> Methode, theol.: Grundbegriffe Adaption (s. auch: Anleihe) 288, 302, 313 Adoptianismus 182, 209 Adoption im Geist ---> Geist Aggression 34,254,258, 344 Allgegenwart Gottes ---> Gott Allgüte Gottes ---> Gott Allmacht Gottes ---> Gott Alloiosis ---> Methode, theol.: Grundbegriffe Alltagssprache ---> Sprache Altes Testament ---> Bibel Analyse 61, 67, 72, 75, 133, 134, 145, 150,281,349 diachronische 219 synchronische 219 wissenschaftliche 281 Analytische Philosophie 19, 28, 44, 55, 57,71,117,153,224,269,290 Anbetung ---> Doxologie Anhypostasie 234 Anlaß (Occasion) 19,26,106,107,108, 122, 127, 136,211,224 (s. auch: Einladungen) Anleihe (bei anderen Wissenschaften) 288,289 Anrede an Gott ---> Doxologie Anthropologie 40,87,92,156,190,241267,276 biologische 243, 248, 254, 264/65 ethnologische 248,254 integrative 243, 244, 245, 246, 247, 252,262,263 linguistische 243,248
naturwissenschaftliche 275 neurophysiologische 249 philosophische 245,248 psychologische 248,254 soziologische 243, 253/54 theologische 92,241-67 verschiedene 243, 244, 245, 246, 247, 250 Antizipation 46, 52, 195, 265, 293, 301, 320,334,335,338 doxologische 334 Antwort (s. auch: Fragen) 111,113,115 Appropriationen 183,185 Artikulation 76,78,79,111,332 Astronomie (Astrophysik) 29, 32, 188, 230,275 Atheismus 176,184,194,217,309 Athener Modell (s. auch: Jerusalemer Modell) 85, 86, 87, 327, 328 Auferweckung ---> Christologie Augustinismus 99,103, 187 Auschwitz 66, 162, 163, 165, 208, 238/ 239,301,312 Aussage 19/20, 70, 134, 187, 211, 215, 334 analytische 115 empirische 138 kognitiv-sinnvolle 138 konsensfähige 143 theologische 76/77,89,98,108,109, 110, 113, 114, 116, 120, 124, 150, 162,217,220,337 universalisierbare 316 Angemessenheit von A. 134 Brauchbarkeit von A. 134 Nützlichkeit von A. 134 Reichweite von A. 112, 118, 143
354 s. auch: Test der A. auf Aussageebenen 222-24 primäre 222,223,224 sekundäre 222,223,224 Aussagenwahrheit 153,268 Aussagesystem 117 Aussagezusammenhang 155 Axiome 71, 114,311 implizite: s. Regulative Sätze letztgültige 270 pathologische verzerrte 144
Barmherzigkeit 93,95,327,328 Basisaussage ~ Methode, theol.: Grundbegriffe Basissätze .~ Methode, theol.: Grundbegriffe Befreiung 30,84,222,225,322,331 psychologische 144 sozialpolitische 144 -stheologie 266 Begriff 19,39,40 abgeschlossener 19,47 autonomer 19,48,50,115,135,145, 227, 267, 335 erklärungskräftiger 22 komplexer 51,52,53,54 Reichweite von 115,146 Überdehnung von 112 Begriffsbildung 50,51 Begründung 18/19,39,71,109,110,116, 126,134,160,177,224,274,283,317 ethischen Handeins 286, 290 ethischer Theorien 298 monokausal-theologische 274 partielle 247 theologisch-ethische 289 der Menschenrechte 262,265,267 Begründungsfeld 110 Begründungszusammenhang 19/20, 85, 287,292,294 im engeren Sinn 298-99
Sachregister
im weiteren Sinn 123, 284, 293-95, 297,298,313 Bekenntnis ~ Credo 110,114,159,160, 171,203 Bewährung ~ Methode, theol.: Grundbegriffe Bewahrung, göttliche ~ Gott Bewegungen, charismatische 344, 345 Bibel 22,27,30,31,34,35,41,92,97108,199,248,279,331,342 bibI. Geschichten 48,58, 108, 148 bibI. Kanon 100-02, 105 bibI. Schriften 48,50,55,59,74,81, 84,86,87,88,93,98,100,101,106, 113, 119, 136, 140, 146, 147, 261, 274,275,300,307 »bibI. Theologie« 98, 99 Altes Testament 22,30,31,36,37,41, 49, 81, 87, 93, 98, 99, 100, 116, 135, 170,188,199,200,208,212,213,310, 312,313,325,328,334/35 Neues Testament 30/31,36,37,41,74, 81,87,98,99,100,116,135,165,170, 181,188,199,200,201,208,213,216, 219,257,325,328,334/35 Bilder 39,40-41,44,332 Biologie 29,33,34,62,67,68,188,190 Bleibend Wichtiges (s. auch: Jetzt Dringliches) 20, 120-23, 129, 130, 145, 169, 295,328 Böse, das 20,65-68,176,189,195,253258,296,309,310,343 Chaos 65,67,196 Chalcedon 77,111,218,221",222 Christentum, anonymes 204 Christologie 150, 156, 181, 182, 201, 207-40,276,277,319 alexandrinische 266 idealistische 209/10, 312 klassische 217-22 von oben - von unten 210 christologische Grundfrage 207 -11
Sachregister Christus praesens 99, 135, 211-14, 215,217,220,234 Jesus Christus 46, 178, 181182, 186, 207-40,276,294,331 Auferweckung 214, 222, 223, 226228,231-34,235 Inkarnation 226-30,234/35 Kommen von Jesus 73, 207-10, 215-17,222,224,226,227,242,246, 255,310 Kreuz 226-28,230,234/35 Minimalmensch 215/16, 276 »Naturen« Christi 111,213,221,222, 331 Zwei-Naturen-Lehre 233 homoousios 183,230, 331 Sendung 209,210,216,228,241 s. auch: Unverwechselbarkeit = Einzigartigkeit Jesu Credo (= Bekenntnis) 61,76,77,78,82, 83, 110, 111, 112, 114, 136, 144, 147, 154, 156, 159, 160, 171, 181, 192, 203, 211, 272, 276, 284, 287, 298, 300, 302, 304,305,312,321,337,349 Deduktion ~ Methode, theol.: Grundbegriffe Denken 77,109,111,115,131,140,142, 313 polemisches 341 des Glaubens 22, 25, 26, 29, 41, 106, 136 Detail-Story ~ Story Deismus 100,101 Diakonie 211, 315, 316, 317, 318, 319, 320 individuelle 317 politische 317,322 sozial-politische 319-22 Grund der 320,321 Ziel der 320,321 Dialoggemeinschaft 113,115 Dialogregeln 116, 126
355 Diasporaexistenz ~ Judentum Diskurs ethischer 288,295,299 theologischer 340 der Gläubigen 124,146 Dogma 110,111,114, 120 Dogmatik 27,50,123,287,304 Doketismus 182 Donatismus 58 Doxologie 20,33,50,105,110,112,120, 123, 133, 141, 179, 181, 182, 184,213, 271, 272, 273, 301, 329, 331, 332, 333, 336-38 Anbetung 130, 154, 169, 170, 171, 178, 179,182,198,200,275,331,332,336 der Engel 331 Anrede an Gott 130,133,264,272,278, 305,329,330,332,334,336 Gottesdienst 27, 111, 130, 133, 134, 135,179,213,223,234,309,310,331, 332,333,334,338 Grundhaltungen, doxologische ~ Grundhaltungen »Rand, doxologischer« 337 Dringlichkeitsstufen 283,295,296,299 Dualismus 28, 35, 64, 67, 68, 189,229/ 230,275,277 »Drinstehen« ~ Story Dritte Welt 14, 18, 73, 75, 76, 94, 147, 149, 191, 199,219, 312, 325, 345, 347, 350
Einheit der Kirche ~ Kirche der Menschheit ~ Menschheit Einladungen 111,113,123,217 (s. auch: Anlaß) Einspruch, prophetischer 123, 126, 127 (s. auch: Prophetische, das) Einzelargument ~ Methode, theol.: Grundbegriffe Einzelentscheidung ~ Entscheidung Einzel-Story ~ Story
356 Einzigartigkeit Jesu --+ Unverwechselbarkeit des Menschen --+ Unverwechselbarkeit Ekklesiologie (s. auch: Kirche) 78, 90, 150, 160/61, 162, 163, 168-75, 292 Energienlehre 183/84,197,198,199 Enhypostasie 234 Entdeckungszusammenhang (= Möglichkeitszusammenhang) 20, 292, 294 Entmythologisierung --+ Mythos Entscheidung -smechanismen 292, 299 -smodelle, philosophische 299 -stheorie, ethische 298 -surteil, ethisches 291,296 Einzelentscheidung 294, 299 Entstehung von Sprache --+ Sprache Erfahrung 40,41,52,62,79,83,86,91, 108,128,136,138,148,161,192/93,272, 312,313,336 ethische 297 frühkindliche 303 intuitive 277 Basiserfahrung (= Grunderfahrung) 45,80 Gotteserfahrung 81, 193, 241, 274, 337 Welterfahrung 81 Erfüllung 186,207-10,219,228,306 Erinnerung 46, 55, 75, 83, 84, 85, 91, 100, 111, 212, 213, 214, 222, 228, 239, 274,284,305,313,320,324,329 Erkennen, intuitives 293 Erkenntnisgewinn 115; 117, 119, 160, 174,214 Erkenntnislehre 116 Erkenntnisordnung, wirkliche (s. auch: Seinsordnung) 162,185,223,235 Erkenntnistheorie 55,69,76,136 Erklären 68,69,71 Erklärung komplexer Sachverhalte 155 Erlernen der Wahrheit--+ Wahrheit Erlösung 187, 196, 216
Sachregister Erörterung --+ Meth\>de, theol.: Grundbegriffe Erwählung 30, 73, 149, 156, 159-61, 162, 163, 164, 166, 167, 170, 173, 174, 180, 186, 187, 210, 214, 216, 218, 220, 223, 224, 239, 241, 242, 246, 255, 281, 307,310,311,321,328,331,344,345 Eschatologie 126,174,190 Ethik 62,63,349 anthropologische 283 autonome 286 »christliche« 285,287,315 medizinische 49,290,296,299, 306 heteronome 286 philosophische 289, 290, 295, 313 politische 290, 296, 299 soziologische 283 therapeutische 326 theologische 105, 123, 133, 141, 271, 272,274,276,282,287,290,295,304 universalisierbare 252,262,315 Ethik der Gläubigen 82,85,225,288 Ethikkommissionen 281,282 Aufgabe der E. 284-85 s. auch: Begründungszusammenhang s. auch: Diskurs, ethischer s. auch: Entdeckungszusammenhang s. auch Entscheidung Gegenstand der E. 284 Gesinnungsethik 290,316' Individualethik 292, 293· Isolierung des Ethischen 296 Kompetenz, ethische 295,296 Kriterienfindung, ethische 169 Pflichtethik, eudämonistische 298 Pluralismus, ethischer 287 s. auch: Routine, ethische Sätze, ethische präskriptive 283, 295 universalisierbare 283 Sozialethik 196,211,243 Überprüfungsmechanismen, ethische 292
Sachregister s. auch: Urteil s. auch: Verbindlichkeit, ethische Evangelium und Gesetz, Lehre von 154 Evolution 35, 101, 188, 190, 249, 254, 255,256 Existentialien 108 Existenzphilosophie 70 Fachsprache, theologische ~ Sprache Fehleinschätzung des Könnens ~ Können des Menschen Fehler, theologischer ~ Methode, theol.: Grundbegriffe Feldtheorie 68,229,277 Fideismus 82,83, 105 Filioque 183,199,202,330 processio 183 Flexibilität (s. auch: Test auf) 22, 333334 Fragen (s. auch: Antwort) 25, 111, 113, 115, 121, 127, 128, 129, 154, 162,244, 245 Frageebene 118 Frageperspektiven, Vielfalt der 247, 248,249 Freiheit 84,177,198,201,224,225,235, 241,243,245,256,257,266,281,329 Frömmigkeit 66, 91, 119, 154, 329, 343, 344 -sgeschichte 87, 103 -ssprache ~ Sprache Fundamentalismus 105,114 Futurologie 349 Gesetz 69,275,285,302 Gesetz und Evangelium 313,314 Gesinnungsethik ~ Ethik Gesundheit (s. auch: Krankheit) 65,67, 194,261 Gläubige 20, 25, 26, 55, 59, 72, 73, 76, 77,78,80,82,83,85,86,88,89,90,91, 92,97,98,101,106,111,117,119,121, 125, 126, 131, 132, 136, 148, 153, 154,
357 226, 260, 274, 278, 279, 284, 290, 292, 299, 302, 315, 316, 318, 320, 321, 324, 332,340 Glaube 34,51,55,58,72,74,76,77,78, 81,82,85,88,89,99,111,115,154,157,
177/78,224,241,275,291,305,310,312, 318,320,321,330,333,351 Glauben und Wissen 128 Glaubenssätze 26,75 Glaubenswissen 272 Grundaussagen des Glaubens 15, 171 18,54 Vernunft und Glaube 137 Gnade 67,126,317 Gottes ~ Gott Gott (s. auch: Erwählung; s. auch: Trinität) tröstender und heilender 180,214 der Bibel 81,82,177,204 und Leiden 159,160,164,186,195197,205,208,214,218,235-40, 308,310 -ebenbildlichkeit ~ Imago Dei -erklärung 62,63,65,66 -erfahrung ~ Erfahrung -esbeweise 64, 81,156,180 -esbeziehung, personalistische 275 -esbild, doppeltes 64 -esdienst ~ Doxologie -eslehre 62 -vertrauen 301,302,307-308 -wirklichkeit 90, 336 Aktivität Gottes 130 therapeutische 218 Allgegenwart Gottes 194 Allgüte Gottes 308 Allmacht Gottes 118, 176177, 194, 195-97,301,302,307,308,334,335 Anrede an Gott ~ Doxologie Bewahrung, göttliche 308 Gegenwart Gottes 130,170,173,186, 192,193,195,205,210,226,228,229, 255
358 Gerechtigkeit Gottes 224, 276, 284, 294,305,310,312,324 »Gericht« Gottes 257/58, 301, 304, 307,308 Geschichte Gottes 286, 303 Gnade Gottes 240,258, 301 Lebendigkeit Gottes 287 Liebe Gottes 164, 176, 194, 195,270, 307 Ausbleiben des Erweises liebender Zuwendung Gottes 164 Seinsweisen Gottes 179,183 Unsichtbarkeit Gottes 192-95 Veränderung Gottes 224,225 Gott-ist-tot-Theologie 193/94 Gebet 109, 115, 119, 130,133, 139, 192, 213,278,331,332-34,343 Gedanken 40,66,76,271,329 theologische 114 regulative 139, 329 Gefühle 40,72,77 Gegenstandsfeld 25, 26, 28, 29, 39, 64, 68,89,141 Gegenwart 84,132,134,135,136,300 Gottes ~ Gott Geheimnis 128,129,137 Geist (s. auch: Pneumatologie) ~ Trinitätslehre Geisteswissenschaften 69 Gerechtigkeit Gottes ~ Gott »Gericht« Gottes ~ Gott Gesamtentwürfe (= Totalentwürfe ) 246/47,270 spielerische 123 Gesamtsicht (= Totalsicht) 23, 27, 46, 66,110,123,126,127,228,246,247 Gesamt-Story ~ Story Gesamtsystem, theologisches (= Totalsystem, theologisches) 19,109,122,126, 127,145,146,155 Gesamt-Transfiguration ~ Transfiguration
Sachregister
Gesamtvision (= Totalvision) 46, 145, 185 Gesamtwelt ~ Welt Gesamtzusammenhang 125,126,155 Geschichte 33, 37, 70, 84, 93, 95, 110, rn,m,~,W8,n3,n7,n8,~0, 2~,n4,2~,n7,~8,3~,3TI,TI7,
351 Gottes ~ Gott Geschöpflichkeit ~ Schöpfung Gesellschaft 172,174,250,254,255,284, 327 »Grammatik« 13,15,26 Grundfrage, christologische ~ Christologie Grundhaltungen 154,293,296,300,310, 313,314,315,316,321,329 doxologische 317,330,338,340 idealistische 86 moralische 86 therapeutische 86 Erlernen der 302 Konstanten der 284, 289, 302, 313314 Grundtypen von Theologie ~ Reflexionsvorgänge Güter 296,297 Gute, das (65-68),290,297 absolutes 257 Habitus-Lehre 259 Handeln 26,58,108,111,115,131,140, ~,2ß,n4,n5,n6,n8,~4,~6,
287,296 Handlungsorientierung 25, 27, 284, 313 Handlungsprinzipien 26 Hedonismus 86, 87, 299 Heilung 317,326 medizinische 326 psychotherapeutische 327 Heiligung 144, 198 Heilsgeschichte 208
Sachregister Hermeneutik --> Methode, hermeneutische Hierarchie der Hoffnungen --> Hoffnung Historie 347, 349 Hof(= Halo) 59,60,79,144 Mitmeinen 59 Sehen als »Sehen als« 56, 58 Hoffnung 20,46,61,77,78,83,84,85, 91,92,100,122,149,164,165,192,211, 218, 219, 220, 222, 224,225; 237, 266, 274, 278, 284, 300, 301, 302, 303, 304, 307,308,309,313,324,326,328,335 Hierarchie der 305-06 Hominiden 33,243,255,265,331 homoousios --> Christologie Humangenetik (s. auch: Anthropologie, biologische) 282 Humanwissenschaften 62,63,315 Hybris 257 Hypostasen --> Trinitätslehre Hypothesen --> Methode, theol.: Grundbegriffe Ich 21,250,252 Ich-Psychologie 250,251,252,253 Ideale, unbegründete 117,119-20 Ideen 297 theologische 139 Identität 45,49,74,76,77,258-61 Ideologie 73,87,274,275,309,323,324, 325,327 Idiom --> Begriff Imaginationen (s. auch: Bilder) 39, 4041 Imago Dei 262, 267, 329 Indigenous Theology --> Theologie, kulturspezifische Individualethik --> Ethik Induktion --> Methode, theol.: Grundbegriffe Inkarnation --> Christologie Instanzenlehre 20,250,271 Institution 72,80,170,172/73
359 Interpretation 50,58,59,68,69, 70, 71, 89, 109, 115, 118, 136, 208, 212, 238, 239,244,304,309,312 Israel--> Judentum Jerusalemer Modell (s. auch: Athener Modell) 85,86,87,327,328 Jesus Christus --> Christologie Jetzt Dringliches (s. auch: Bleibend Wichtiges) 20-23,129, 130, 145 Judentum 42,72,73,84,93,94,121,206, 208,318,348 Israel 13, 30, 34,46, 159/60, 161-67, 173,207,208,213,228,229,242,245, 312,328,331 Diasporaexistenz 72,93,173,207 JudenundChristen 20,55,63,72,73,74, 83,97,130,151,180,203,204,205,207, 208/09,232,242,260,274,299,333 Trennungvon 74,103,161-67 Juden und Heiden 74,159,161,165,215, 217,222, 310-12 (s. auch: Auschwitz) Kanon, biblischer --> Bibel Kasuistik 276 Katastrophenmedizin --> Medizin Kausalität(sdenken) 63,68,195, 196 KJrche 14,18,31,33,64,72,75,76,93, 94, 95, 101, 102, 106, 132, 133, 159/60, 161, 166, 168-75, 266, 318, 319, 320, 322,323,324,326,332,345 anglikanische 18,33,103 engagierte 323 neutrale 322,323 parteiische 322,323 Einheit der 74,149,264-67,333,338 Konstitution der 168, 172-73 politische Funktion der 323 Kirchengeschichte 93-96,100,101,221, 325 Kirchentradition 319
360 Klischee (s. auch: Symbol) 22, 80, 88, 144 Kohärenz (s. auch: Test auf; s. auch: Wahrheitstheorien) 22, 26, 155 Kommen von Jesus ~ Christologie Kommunikation 13, 19, 39, 52, 53, 59, 76,77,89,109,113,115,119,124,126, 142,162,177,193,327,335,342,344 Kommunikationssysteme 127 Kommunikationswissenschaft 349 Kompetenz, ethische ~ Ethik Können des Menschen Differenz Können - Verhalten 245, 246,247,255,256 Fehleinschätzung des Könnens 253, 258 Konfessionen 13, 15, 18, 51, 53, 71, 74, 75,84,93,121,132,150,166,168-72, 182, 191, 213, 227, 299, 319, 333, 338, 347,348,350 Konsens 109,116 ökumenischer 110,125,140,149-51, 181,269,287,386 über Wahrheit ~ Wahrheit universaler 23 unter Gläubigen 322 Konsensfähigkeit 149 Konsenssätze 154 Konsenstexte 150 Konsenswahrheit --> Wahrheitstheorien Konstanten, anthropologische 41,108,252,279, 280 der Grundhaltung ~ Grundhaltungen Konstitution der Kirche ~ Kirche Kontrollfrage ~ Testfrage Konvergenztexte 150 Konzepte, retrospektive theologische ~Theologie
von Wirklichkeit ~ Wirklichkeit Korrespondenzfrage ~ Methode, theol.: Grundbegriffe
Sachregister
Korrespondenzwahrheit ~ Wahrheitstheorien Kosmogonie 29,30,31,185,275 Kosmologie 30,31,32,35,37,40,187, 190 Kosmos 30, 31, 32, 33, 190, 274, 276, 278,285 Krankheit (s. auch: Gesundheit) 65,67, 194,243,259,280 psychische 86,87,88,328 Kriterienfindung, ethische ~ Ethik Kritischer Rationalismus 57, 269 Kritische Theorie 87 Kulturen 81, 148, 252, 265, 284, 288, 312,324,325
Leben konkretes 307 nach dem Tod 237 Lebendigkeit Gottes ~ Gott Lebenserlahrung 298,299,301 Lebenshaltung 56,58 Lebensstil 89, 91, 92, 292, 302, 313, 315,316 Lebens-Story ~ Story Lebenswirklichkeit 85 Lebenszusammenhang 292,294 Lehraussagen 98,110, 120 Überdehnung von 112 Lehren, theologische 39,98/99,110-13, 118,119,131,132,150,154,160,333 Lehrer, theologischer 131,132,133,346, 350 Leiden 13,66, 159, 176, 194,.195, 196, 205,213,224,235,309,310,343 Liebe Gottes ~ Gott Liturgie 123,213,231,329,334 Loci 111,124, 125 Loci-Methode 54,66,145-47,155,164 Logik, theologische 13, 26, 27, 37, 46, 109-29 Logos ~ Trinitätslehre
Sachregister Mariologie 118,120, 150 Meditation 332, 333, 343 Medizin 43,62,63,87,190,281,343,344 Katastrophenmedizin 282 Mensch (s. auch: Anthropologie) 30,31, 33, 34, 45, 81, 85, 86, 89, 90, 274, 275, 276,326,342 »alter« 311 konkreter 34, 259 >>neuer« 85, 88, 162, 210, 223, 252, 259,260,261,261-64,302,310-12 normaler 85,86,87,88 psychisch kranker 85,86,88 Charakteristika des 242/43, 247/48, 255/56 Unveränderbarkeit des 259,260 s. auch: Unverwechselbarkeit eines Menschen s. auch: Verbindlichkeit, menschliche Veränderbarkeit des Menschen 258261 Menschenbild 87, 89 Menschenrechte (s. auch: Begründung) 247,251,261-64,266,288,289,310, 311 Menschheit 33, 46, 73, 88, 90, 109, 121,160,215,220,237,242,266,284, 298,299,304,310,324,326,327 Einheit der 149,247,264-67 Gefahren für die 13, 63, 265, 266, 285,327 Methode 116 analytische 68-71, 116, 134, 349 deduktive 27 deskriptive 69 empirische 69 hermeneutische 68-71, 101/02, 116, 134,349 induktive 27 theologische 16, 346, 349 Grundbegriffe der: Ableitung 48,50,51,52,53,75,89, 179,263,266,267,274,276,277
361 autonome 118 multiple 118 summierende 136 Alloiosis Ü8, 120, 150 s. auch: Aussage s. auch: Begriff s. auch: Begründung Bewährung 271, 346 Basissätze 51, 154, 155 Basisaussage 120 Deduktion 22, 62, 89, 155, 166, 167, 173,179,226,295,335 Einzelargument 123 Erörterung 346 Fehler, theologische 113-17, 214, 229 genuin theologische 116 logische 116 methodische 116 Hypothesen 23,61,128, 154, 155 Induktion 27 Korrespondenzfrage 21, 108, 284, 293,294,295,298,299,303,316 s. auch: Regulative Sätze Rückschluß 156,179,184,337 Sichtung 22,26,27, 28,39,64,68, 97,128,211,272,346 Summierungen 143,168 Verifikation 27,57,64,82,106,114, 116, 135, 136, 137, 141, 192, 193, 209, 212, 223, 268, 292, 329, 335, 336 primäre 130, 272 sekundäre 131 Vernetzung 19, 145, 146, 167,256, 272 Zirkelschluß 115,210,214,226 Minimalmensch ~ Christologie Mission 95,203,324,325 Mitmeinen ~ Hof Modalismus 182,183,188,197,225 Modernität 333-34
362 Möglichkeitszusammenhang ~ Entdekkungszusammenhang Monarchismus 182, 183 Mythos 35-38,281,328 Entmythologisierung 36, 119 Mystik 217, 343 Naivität, zweite 339 Natürliches 279-82 Natur 30, 31, 32, 33, 40, 64, 189, 191, 275,276,277,280,324,326,327 -erkenntnis 40 -gesetze 69 -verständnis 276 -wissenschaften 33,51,62,63,65,67, 68, 69, 90, 188, 190, 191, 270, 277, 279,281,324 »Naturen« Christi ~ Christologie Neurophysiologie 33, 35, 43, 249/50, 254/55 Neurose 80,87,88,142 Nicaeno-Constantinopolitanum 77, 181 Nominalismus 28, 43 Norm 65,67,87,316 Normales 280 Normalität (s. auch: Athener Modell) 85, 86,87,88 psychische 153 Objektivierung 185,186,197,226,227, 228 Ökologie 32,33, 188 Ökumene 13, 15, 53, 54, 73, 74, 75, 76, 96,102,105,110,111,120,123,147-49, 149-51, 170, 171, 219, 264, 276, 313, 315,319,322,333,340,350 Ökumenik 349 (s. auch: Verbindlichkeit, ökumenische) Offenbarung 67,100,101,105,107,126, 135,136,137,218,280,334 Offenheit 107, 126, 249, 309, 328, 335, 337,339,344-45 Ordnung 65,67,196
Sachregister Orthodoxie, östliche 14, 18, 33, 76, 103, 132, 183, 184, 188, 189, 197, 198, 199, 202,278,332 Pädagogik 76,79,349 Panentheismus 196 Patripassianismus 197 Patristik 18, 93, 102-06, 182, 187, 190, 195,213,217,337 Perichoresis 183 Perspektive 21,22,55-62,72,78,81,84, 110, 143, 160, 178, 192, 193,223, 242, 255, 262, 270, 281, 284, 300, 309, 311, 334 P. bündel 55, 56, 58, 59, 61, 305, 310 Gesamtperspektive 35,37,304,324 Träger der P. 72,73,83,88,90,91,93, 281,286,303,304,313 Pfarrer 133,346,347,350 Pflichtethik ~ Ethik Phänomenalismus, linguistischer 138 Phänomenologie 27,28,72,78,79,349 Philosophie 18,28,43,87,108,109,117, 128, 131, 132, 140, 144, 155, 286, 297, 299,315,342,344,347,349 Physik 62, 67, 68, 229/30 physio-morph 30,61,62,65,67,277 Pluralismus, ethischer ~ Ethik Pneumatologie (s. auch: Geist) 197-202, 276 Pneumatomachen 182 Politologie 349 Positivismus 28,40,41,69,114 Präfiguration 264, 266 Predigt 90, 92, 132, 133, 139, 317, 318, 320,333,339 Priester 133,318,319,350 Priesterliche, das 342 Probleme 21,25,39,119,121,127,128, 129, 154, 156 bleibende 129, 282 genuine 119 komplexe 116
Sachregister
scheinbare 119 unlösbare 129 Problem analyse 295,296 Problem lösungen 128 Problemsituation, ethische 108 Problemzusammenhang 39,154 processio ~ Filioque Prophet 318,319 Prophetische, das 342 Psyche 30,31,80,343 Psychiatrie 48 Psychoanalyse 22,49,71,86, 142 Psychogenetik 76 Psycholinguistik 35, 43, 44, 143/44,319, 332 Psychologie 29,33,34,37,39,43,79,81, 92,144,271,279,289,332,344,374 Psychopathologie 43,59 Psychotherapie 18, 23, 28, 59, 87, 92, 142,271,319,321,342 Prozeßphilosophie 64/65,188,190,277 Prozeßtheologie 64/65, 67, 190, 225, 226,276,277,331
Rabbiner 72, 342 Rationalität 71, 289, 327, 328 Gottes 269 der Welt 270 Rationalismus (s. auch: Kritischer Rationalismus) 43 Raum (räumliches Denken) 83, 194, 196,303 Rechtfertigung 144, 258, 266, 301, 303, 304,322 individuelle 300 -slehre 154,198,220,225,301,302 forensische 300,301 Rechtsphilosophie 144,280,283,297 RedevonGott 63,64,113,115,128,130, 133,176,177,178,195,257,317 Reduktion 143,217,220 phänomenologische 141
363 Reflexion 77, 124, 140, 141, 284, 292, 331 empirische 141 phänomenologische 141 regulative 27, 138 theologische 34,78,79,140 Reflexionsvorgänge, theologische 140, 337 Direktheit 140,141,337 Wissenschaftlichkeit 141,337 Weisheit 141,337 Regulative Sätze (= implizite Axiome) 13,15,21,22,26,27,28,44,46,47,54, 60,77,80,88,89,98,111,116,117,124, 125, 126, 131, 132, 133, 139, 140, 14244, 147, 148, 149, 150, 155, 156, 157, ~9,~,m,~,m,m,21O,n3,
214,216,217,219,221,224,227,231, 233, 244, 267, 269, 271, 272, 301, 313, 329,336 Reich Gottes 174,223,225,303,306 Reichweite von Aussagen ~ Aussage Reichweite von Begründungen ~ Begründung Rekonstruktivismus, logischer 143 Relevanz des Evangeliums 70, 102, 134, 135 Religionen 34,73, 83, 203-06, 288, 324, 325,328,347 Dialog mit 203,205,206,232, 325 Religionsphänomenologie 324 Religionssoziologie 28,170,172,174 Religionswissenschaft 349 Repräsentanzenlehre 21,22,79,80,250, 252,253,271 Routine, ethische 153, 154, 278, 291, 294,296 -zusammenhang 154 Rückschluß ~ Methode, theol.: Grundbegriffe Sabellianismus 182 Sätze, ethische ~ Ethik
364 Sakramente 144,213,226,319 Sakramentslehre 154,192,213,221,226 Satisfaktionslehren 216 Scheinprobleme 51,117-19,289 Scheinwert 274 Schöpfer (s. auch: Gott) 185,187,239 Schöpfung 32,63,160,187,276,278 neue 84,186,187,188,190 -slehre 185, 186, 187, 188, 188-91 Geschöpflichkeit 245, 279, 280 Schuld 304, 321 historisch entstandene 304 individuell-moralische 304 Solidarschuld 304 Schwärmertum 288 Seele, Lehre von der 244,251 Seelsorge 76,87,318 Sehen als »Sehen als« -+ Hof Seinsordnung, vermutete 162,185, 186 Seinsweisen Gottes -+ Gott Selbst 21,250,251 Sendung -+ Christologie Sichtung -+ Methode, theo!.: Grundbegriffe Sichtweisen, Pluralität der 80,81 Sinn 28,63 -gebung 193/94, 239 -loses 65, 310 -totalität 61, 62 antizipierte 62 -verlust 48 Situation 39,52, 53,55,82,88,98, 106/ 07,114,134,136,147,298,299,318,322 socio-morph 27, 30, 31, 61, 62, 65, 67, 186,275 Sohn -+ Trinität Solidarisierung 293,321,334 Solidarität 28,264,265,304,319 Sozialethik -+ Ethik Sozialisation 79 primäre 79, 298 sekundäre 79 -sforschung 79,319
Sachregister -sprozeß 80 Sozialwissenschaften 62, 289 Soziologie 27,28,43,79,110,253,349 Spannung 85,87,88,118,150,167,174, TI6,m,2m,2m,2G,2~,259,2~,
321,328,333,334,342,344 Sprache 40-44,79,82,88,89,109,115, 117, 119, 120, 123, 130, 134, 138-40, 143,148,333,334 äquivoke 177 ästhetische 138 analytische 177,186,192,212,214, 223,224,231 askriptive 20,179,184,335 assertorische 208 denotative 192 deskriptive 20, 130, TI9, 184, 192, 330,335 diskursive 139 doxologische 61,130,139, TI9, 184, 195, 221, 225, 270, 286, 293, 329, 333-36,337,338,345 (s. auch: Doxologie) ethische 138,139 (s. auch: Ethik) metaphorische 192, 239, 306, 336, 339 metasprachliche 139 mythologische 281 (s. auch: Mythos) narrative 139 poetische 192,195,212,306 religiöse 138,144 symbolische 88, 144, 257, 332 (s. auch: Symbol) transfigurative 335 univoke 177 Sprachanalyse 269 Sprachebenen 115 Sprachentwicklung 43,52 Spracherweiterung 215,217,222 Sprachfähigkeit 40, 52 Sprachfunktion 116 (s. auch unten: Funktionsschichten, sprach!.) Sprachgewinn 215,216,218,220,336
Sachregister
Sprachkompetenz 43 Sprachphilosophie 28, 36, 38, 39, 43, 44,76,117,119,138,142,177,335 Sprachspiele 82, 335 Sprachtheorie 251 Sprachverengung 290 Sprachverlust 218,220 Sprache des Gebets 139 (s. auch: Gebet) Sprache des Gottesdienstes 131 (s. auch: Gottesdienst) Sprache der theologischen Theoriebildung 139 (s. auch: Theorien, theol.) Sprache der Wissenschaft 51,52,53 Alltagssprache 27,39-54,64,66,117, 128,138-42 Entstehung von Sprache 51,52 Fachsprache, theologische 117 Frömmigkeitssprache 117 (s. auch: Frömmigkeit) Funktionsschichten, sprachliche 138 Regeln der Sprache 115 Stellvertretung (52),231,322 Story 21,22,45-47,48-51,52,53,56, 58, 59, 74, 75, 78, 91, 92, 93, 96, 105, 106, 108, 111, 119, 124, 130, 131, 135, 137, 143, 145, 146, 148, 1~9, 169, 17071, 178, 180, 193, 204, 205, 206, 217, 227, 230, 251, 252, 265, 269, 274, 275, 281, 283, 286, 287, 288, 292, 293, 301, 309, 310, 311, 312, 313, 315, 316, 317, 319, 320, 323, 324, 325, 326, 332, 333, 336,338,344,345 antizipierte 49,265 biblische 46, 50 Detail-Story 21,287,336 »Drinstehen« 21, 55, 74, 93, 96, 286, 336,337 Einzel-Story 45,46,93,107,108,300, 303,307 Gesamt-Story 45,46,59,93,123,293, 300, 303, 307 Lebens-Story 21, 287, 336 Zukunfts-Story 288
365 Ableitungen von Stories 118 (s. auch: Ableitung unter Methode, theol.: Grundbegriffe) Grundmuster der Story 108 Nacherzählen der St. 336 Träger der St. 326 Vision einer übergeordneten St. 130 Weitergehen der St. 100 Strafe 237,308,321 Subordinatianismus 182 Sünde 265,266,303 Summierungen -'> Methode, theol.: Grundbegriffe Symbol (s. auch: Klischee) 22, 38, 39, 40-41,44,162,228,250 -bildung 79,80 Systeme geschlossene 127 offene 127 Systemtheorie 141
Talmud 93,102,103 Tatsachen 22,61,62,153,305,307,317, 334 Technik 62, 63, 90 Test der Aussagen auf Flexibilität 22,123,124,127,131,336 Kohärenz 22,123,124,127,131,336 Verständlichkeit 22, 123, 124, 127, 131,336 Testfrage 169,181,325,327,340 Theismus 176-77, 179, 194, 203, 205, 209 Theodizee 65-68 Theologenausbildung 105,129,346-51 Theologie 22, 40, 51, 76, 77, 79/80, 97, 98,131,133,140,153-58,159,160,163, 224,336-38,339-45 akademische 27,346-51 beschreibende 349 doxologische 336 (s. auch: Doxologie)
366 handlungsorientierte 349 im engeren Sinn 25/26, 116, 124, 131, 142 im weiteren Sinn 25/26, 116 irenische 340,341 klassische 29,33,34,50,67,76,104, 145, 168, 174, 179, 185, 192, 196, 207,212,217,225,227,237 kulturspezifische 147-49 monothematische 126,144-45 mündliche 131 narrative 47,51,336,337 natürliche 67,77/78,210,277,280 ökumenische 54,76, 140, 143, 149151 polemische 340,341 theoretische 349 Aufgabe der 62,63,68, 112, 113, 127 Gegenstand der 26,27,113,115,128, 133 Grenzen der 337 Grundorientierung, theologische 310 Grundtypen von -') Reflexionsvorgänge Konzepte, retrospektive theologische 226,227,228 s. auch: Methode, theologische Themen der 39,75,110,112,115,121, 146 fiktive 122 periphere 122 Theorie 19,22/23,25,51,116,145,153157, 179, 192/93, 228,252,267,271/272 biblisch veranlaßte 272 erkenntnistheoretische 279 (s. auch: Erkenntnistheorie) erklärungskräftige 128, 129 ethische 289,291 (s. auch: Ethik) handlungsspezifische 348 logische 297 politische 144 psychologische 297 (s. auch: Psychologie) regulative 112
Sachregister
teleologisch-ethische 298 theologische' 27, 153-58, 168, 173, 188,192/93,243,268,272 universalisierbar-ethische 313 (s. auch: Ethik) Theoriebildung, theologische 98 Theorie und Praxis 23,346 therapeutisch 23,93,272,278, 315, 317,325,327,343 Beratung 34,321 Tiefengrammatik 109,150,219 Tod 31,196,223,231,238/39,243,286, 317 Tora 42,77,121,164,284 Totalentwürfe -') Gesamtentwürfe Totalsicht -') Gesamtsicht Totalsystem -') Gesamtsystem Totalvision -') Gesamtvision Tradition 41, 53, 55, 63, 70, 72, 73, 74, 75,92,97,100,101,102,103,107,108, 117, 119, 121, 132, 135, 136, 140,244, 329,330,331,335,343 Traditionsbündel 106 Traditionalität 333 Transmission und Rezeption von T. 100,101 Träger der Perspektive -') Perspektive Träger der Story -') Story Tragische, das 23,65,235-40 Transfiguration 196, 276, 277, 284, 294, 296,301,305,306,307,335 Gesamt-Transfiguration 278 transkulturell 147,149 Transmission und Rezeption von Tradition -') Tradition Transzendenz 138,139,177 Trinität (s. auch: Gott) 161, 178, 180, 194, 195, 197, 198,204,275, 276, 287, 308,331,337,343 -slehre 122, 177, 178, 179, 181-85, 193,196,201,202,203,205,206,208/ 09,213,214,216,218
Sachregister
immanente 179, 183, 184, 185, 223, 335 ökonomische 179, 184, 185, 209, 223,239,275,286 Hypostasen 179,183,270 Geist 130, 131, 132, 135, 136, 178, 187, 197-202, 203, 206, 209, 213, 214, 216, 234, 276, 330, 344-45 (s. auch: Pneumatologie) Adoption im 197, 198, 199,201, 214 Gegenwart des 284, 321, 324, 330,333 Logos 42,201,213 Sohn 179/80,201,213,331 Vater 179,201,276,331 Tritheismus 182, 183, 197 Überdehnung von Begriffen ~ Begriff Umwelt ~ Gesellschaft Universum 30,31,190 Unordnung 65,67 Unsichtbarkeit Gottes ~ Gott Unveränderbarkeit des Menschen ~ Mensch Unverwechselbarkeit (= Einzigartigkeit) 78 Jesu 208,209,216,217,239 eines Menschen 248,251,258-61,311 Urteil 19,55,67,77,81 -sbildung 291-93,295 Entscheidungsurteil, ethisches 291, 296 Fehlurteile 118 Vater ~ Trinitätslehre Veränderbarkeit des Menschen ~ Mensch Veränderung Gottes ~ Gott Verbindlichkeit 23,27,58,70,77,336 ethische 280 menschliche 280 ökumenische 112 Vergangenheit 83, 84, 101, 102, 131, 186,232,265,300,303,309,328,331
367 Vergebung 84,85,93,108,300,303,304, 305,306,309,331 Verheißung 20, 30, 38, 74, 81, 84, 85, 174,207,209,228,284,305,306,307, 308,344 Verifikation ~ Methode, theol.: Grundbegriffe Verkündigung 318,320 Vernetzung ~ Methode, theol.: Grundbegriffe Vernunft und Glaube ~ Glaube Versöhnung 95,107,161,163,174,207210,216,222,233,236,237 Verständlichkeit~ Test auf Verstehen 69,71,89,90,111,134 Vertrauen 76,77,78,85,136,301,305, 307,344 Verweisungszusammenhang 144 Verzerrung der Wahrnehmung ~ Wirklichkeitsverzerrung vikariatsmäßig 166, 169, 171, 220, 231, 233,263,264,304,319 Vision einer übergeordneten Story ~ Story Völkerrecht 311 Volkskirche 74/75 Vollendung aller Welten 334,335 vorreflektiv 39,77,78,334 -e Intentionalität 76, 78 Vorsehung, göttliche 308 vorsprachlich 39,332 . vorwissenschaftlich 36,79,249,254 Wahn 60 Wahrheit 15,22,23,53,56,57,59,70, 75, 101, 102, 111, 116, 117, 119, 120, 130, 139, 142, 149, 153, 181, 203, 206, 267-70,272,317,322,324,327,349 doppelte 136 geschichtliche 323,328 perspektivische 57, 59 Erlernen der 149 Konsens über die 116, 150, 269
Sachregister
368 Wahrheitsfrage 142 Wahrheitstheorien 57,268,270 Kohärenzw. 40,41,59,268 Konsensw. 59,150,268 Korrespondenzw. 56,57,59,268 Wahrheitssysteme 127 Wahrnehmung 88,89,92,134,136,291 kindliche 79 Verzerrung der ~ Wirklichkeitsverzerrung, pathologische Weisheit 26,136,153,291,313,318,339, 342 Gottes ~ Gott W~
n,~,hl,M,~,n,~,~,w,
108,274,293,305,307,326,334 -bilder 35,79,80,81 -en 23,60,61,77,78,81,134,178, 274,309,334,335 -erfahrung ~ Erfahrung -erklärung 55,59,62,66,68 idealistische 275 -sicht 19, 27, 36 -wirklichkeit 35, 65, 66, 81, 84, 85, 90,236,274,275,309,310,315,324 Gesamtwelt 60. 61 Werte 296,297 Wiedererkennen 23. 106,107,108,135, 136,147,148,294,296 Wille (s. auch: Wollen) 72, 76, 78, 131, 283,296,297,316 Wirklichkeit 28, 37, 62, 77, 79, 80, 81, 82,83,88,122,136,203,223,275,278, 293 erfahrene 81,82 geistige 226 geschichtliche 223
neue 223 soziale 56, 58, 238, 281 wertneutrale 274 Konzepte von 80 Lebensw. ~ Leben Wirklichkeiten 81,90 Wirklichkeitsverzerrung, pathologische (s. auch: Wahn) 59,60,88 Wissenschaft 136 therapeutische 349 -stheorie 68, 109, 153, 157, 190, 217, 230,267,268 Wissenssoziologie 61 Wissenssysteme 127 Wollen (s. auch: Wille) 77,276,296,316 Wort 40,41,42,43,213,251,253,317, 319,321,327,332 -dienst 317,318,327,330 Gottes 41,42 W.theologie 41,42,136,307 Zeichen 162, 223, 224, 226, 278, 279, 307,308,313,326 Zeit (zeitliches Denken) 52, 70, 83, 92, 122,129,135,196,240,303,334 Zerrbilder 95,144,275,317 Zeugnis 317,318 Zirkelschluß ~ Methode, theol.: Grundbegriffe Zukunft 83,84,102,121,122,131,162, W,m,W6,ll7,2~,2M,~0,~2,
303,306,309,310,328,330 Gottes ~ Gott Zwei-Naturen-Lehre ~ Christologie, Naturen Christi Zwei-Reiche-Lehre 190,280